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Full text of "Romanisches und Keltisches"

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ROMANISCHES 



UND 



KELTISCHES. 



GESAMMELTE AUFSÄTZE 



VON 



HUGO SCIIUCIIARDT. 



BERLIN. 
VEKLAG VON ROBERT OPPENHEIM. 

1886. 



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HARVARD COLLEGE LIBRARY 

FROM THE LIBRARY OF 

FERNANDO PALMA 

DECEMBEI^ 3, 1928 




4869. 
TJebersetznngsreoht yorbelislten. 



MEINER 



LIEBEN MUTTER 



ZUM 



GEBURTSTAG. 



Äis ich im Schatten der heimischen An- 
lageny vor Ungeduld brennend den Libellen 
nachzujagen oder den Zirbelnüssen nachzu- 
steigen^ mit Dir Les Petits Bearnais 
lesen musste, als jede Bemühung mir die rich- 
tige Aussprache von aimable beizubringen, 
sich als vergeblich erwies, damals war nicht 
daran zu denken dass ich jemals in den 
romanischen Studien irgend welche Erfolge 
erzielen würde. Auf solche die mich wahrhaft 
befriedigten, kann ich auch jetzt nicht hin- 
blicken; das Meiste und Beste blieb nur ge- 
wollt, und zudem hege ich über alle Produktion 
unseres wissenschaftlichen Kleingewerbes ziem- 
lich pessimistische Ansichten. Nur das ist uns 



ja wirklich und dauernd werth bei dessen 
Schaffen unsere Pulse höher geschlagen haben ; 
es verknüpft sich mit unsern theuersten Erin- 
nerungeny ja seine Wurzelfasern verzweigen sich 
bis in jene Zeit zurück da unser geographischer 
Horizont nicht weiter reichte als die Stimme 
der sorgenden Mutter, und kaum in nebelhaften 
Umrissen ein einziges wunderbares Sonnenland 
auftauchte , das uns die süssen Apfelsinen und 
die duftenden Vanillenschoten sandte. Wenn 
bei dergleichen Aufsätzen wie die hier gesam- 
melten sindy das persönlich Empfundene und 
Aufgefasste in der Seele Anderer keine mit- 
tönenden Schwingungen hervorzurufen vermag, 
dann besitzen sie kein Anrecht auf die Öffent- 
lichkeit; die Absicht populärer Belehrung 
würde mit Unrecht und wohl auch vergeblich 
angeführt werden. Daher habe ich, von ein 
paar Strichen und Wortverbesserungen ab- 
gesehen, in diesen Aufsätzen, die ein Jahr- 
zehnt ausfüllen^ Alles belassen wie ich es zuerst 



niedergeschrieben hatte. Am wenigsten habe 
ich an gewissen Äusserungen rühren wollen 
welche seiner Zeit bei manchen meiner Lands- 
leute ernsten Anstoss erregten. Denn sie sind 
aus dem Bemühen entsprungen in nationalen 
Dingen gerecht zu urtheilen und unduldsam 
nur gegen die Unduldsamkeit zu sein; und 
stets wird von dem Traumbild eines auch noch 
so fernen allgemeinen Völker friedens durch all 
das Wirrsal hindurch das uns bedrängt oder 
bedräut y ein Schimmer leitend und erleuchtend 
zu mir dringen. 

Graz, den 27. Mai 1886. 



I. 

Pompei und seine Wandinschriften.*) 

Von den Gestaden des klassischen Alterthums, 
die wir sonst nur aus weiter Ferne sehnsüchtig be- 
trachten, streckt sich uns eine freundliche Landzunge 
so nahe entgegen dass wir vermeinen sie mit den 
Händen zu greifen. Es ist Pompei. Zwar Vieles und 
Schönes haben wir von Griechen und Kömern über- 
kommen. Aber fast alles dieses war gleich anfangs 
mehr auf die Nach- als auf die Mitwelt berechnet, 
ja nicht weniges auf jene allein: ruhmredige Zeugnisse 
von Haupt- und Staatsaktionen, riesige Auswüchse 
kindischer Eitelkeit, Denkmäler des Todes und nicht 
des Lebens. Die Zeit, vom menschlichen üebermuth 
herausgefordert, verschonte nichts. Zu Pompei hin- 
gegen empfängt uns die Vergangenheit, nicht versteint 
und verbeint, sondern lachenden Antlitzes im frischen 
Dufte der Jugend, nicht in der Nachweltstoilette, der 
purpurverbrämten Toga, sondern im bescheidenen AU- 
tagsgewande, hie und da sogar im tiefsten Neglige. 
Sie verschmäht es durch die steife Miene vornehmer 



*) Corpus inscriptionum latinarum. Vol. IV. Inscriptiones 
parietariae Pompeianae Herculanenses Stdbianae, edidit Carolus 
Zangemeister. Berolini 1871. Auf dieses Werk beziehen sich 
die im Folgenden citirten Nummern. 

Schuchardt, Komanisches u. Keltisches. 1 



__ 

Würde oder gar altvaterischer Ehrbarkeit uns in ge- 
messener Entfernung zu halten; gleich einer liebens- 
würdigen Hausfrau bewirkt sie dass wir uns sofort 
vertraut und behaglich fühlen. Mit Recht singt der 
Dichter : 

Aber ein lockenumkräuselter Knab' wie der lachende Amor, 
Thanatos, scheinst du mir hier in dem flimmernden Schutte 

Pompejis. 

An Bedeutendes reiht sich hier Geringes und Ge- 
ringstes, und unsere Einbildungskraft braucht nicht, 
wie zu Rom, zwischen Tempeln und Mausoleen und 
Triumphbogen ihre Gespinnste zu ziehen, um die Stel- 
len auszufüllen wo „das Volk" wohnte. Gerade in 
dem Geringen und Geringsten birgt sich das eigent- 
liche Pompei. Wäre in tausend Jahren unsere neue 
Kaiserstadt mit Sand zugeweht, und auswärts jede 
Kunde von ihr erloschen, würden wir dann nicht eher 
aus einer einzigen unversehrten Litfasssäule — ea: 
ungue. leonem — „Berlin wie's weint und lacht," zu- 
rückkonstruieren als aus den Erzbildern vaterländischer 
Helden und den Gerippen von Kirchen und Theatern? 
Mehr als auf allem Einzelnen was uns geboten wird, 
beruht Pompeis jugendlicher Reiz auf dem Zusammen- 
hang in welchem es uns geboten wird, wenn auch 
so Vieles um der eigenen Erhaltung willen aus die- 
sem Zusammenhang herausgerissen worden ist. Durch- 
mustern wir die im napoletanischen Museum aufge- 
speicherten Schätze, wie bald ermüden wir! Hier 
werden wir zu einem vergleichenden Studium von 
Venusstatuen gedrängt, dort machen wir an einer 
Reihe von Büsten einen Zwangskurs römischer Kaiser- 
geschichte durch; von Mosaiken übersättigt, stürzen 



— 3 — 

wir uns in das mare magnum der Vasen ; geschnittene 
Steine und thönerne Lampen umringen uns in flim- 
merndem Eeigen. Leb- und leibhafte Fülle ist ab- 
getödtet und zergliedert, eingetheilt und verzeichnet, 
zu Nutz und Frommen dem Künstler und dem Ge- 
lehrten, aber dem nur Geniessenden nicht zur Erbauung. 
Den zieht es nach Pompe! , das ihm des Lebens 
glänzende Mischung kredenzt, und von diesem Trank 
zu schlürfen wird er so leicht nicht müde. Haben 
wir unsere Augen angestrengt, um auf dem rothen 
Stuck die Krikelkrakel eines pompejanischen Schul- 
jungen zu entziflFern, so lassen wir sie auf der 
anmuthsvollen Gestalt der Tänzerin nebenan ausruhen; 
über den greifengetragenen Marmortisch blicken wir 
hinweg zu dem Silen in der mosaik- und muschel- 
verzierten Brunnennische; von den Wagenrillen des 
Lavapflasters, die uns mit wunderlichen Gedanken über 
pompejanische Fahrten erfüllen, empor zu einem sinn- 
reichen Gewerbszeichen oder einem eindringlichen 
Wahlaufruf. Hüben ragt der dampfende Vesuv; der 
uns diese Kostbarkeiten so sorgfaltig verpackt hat; 
drüben, jenseits der üppigen und belebten Sarnoebene, 
dehnt sich im bläulichen Scheine die Kette des Monte 
Sant' Angelo ; dort gar schimmert das herrliche Meer, 
dessen Götter und Göttinnen auf diese Wände ver- 
zaubert sind, und droben wölbt sich der leuchtende 
Himmel, der einst nur zwischen Dächern, Säulen und 
Laubwerk herniederschaute und diesen Bildern das 
rechte Licht, den rechten Schatten zutheilte. Natur 
und Menschenwerk klingen schön zusammen, und wir 
die wir mitten darinnen stehen, wir erwäimen uns 
mehr und mehr, wir fühlen mit, wir pompejanisieren 



— 4 — 

uns. Von döm Gemälde um uns belebt, beleben wir 
es wiederum, indem wir die Lücken ergänzen und das 
Verblasste auflFrischen. Dabei tauchen wir getrost 
unsern Pinsel in den Farbentopf der Gegenwart ; denn 
die Zeit ist in diesem Paradiese nur zögernden Schrittes 
gewandelt. Lassen wir uns durch all das Pusten, 
Stampfen und Hämmern nicht beirren ; das Alte fristet 
sich mit Zähigkeit nicht nur da wo ein cikadenhaft 
eintöniger Gesang das Mais- oder Baumwollenaushülsen 
begleitet, nein, auch in dem städtischen Getriebe von 
Castellamare und Neapel. 

Freilich die Kunst des Alterthums ist erloschen. 
Die Hellenen Castellamares haben sich heutzutage 
mit Besserem zu beschäftigen als mit Karniessen und 
Säulenordnungen. Aus den weissen, oben kissen- oder 
walzenförmig geschwellten Häuserwürfeln wie sie rings- 
umher ausgestreut liegen, ist es schlechterdings un- 
möglich, ein pompejanisches Urbild herauszudifteln. 
Nur Eines , die ausserordentliche Lichterspamiss, 
scheint ihnen aufgeerbt, und die viereckige, meist 
gegitterte Oeffnung über der Thüre, durch welche der 
Sonne immer der Eingang verstattet bleibt, erinnert 
an das Taubenschlagfenster im Hause des Labyrinths. 
Und wie in der pompejanischen Hauskapelle Lampen- 
licht das natürliche ersetzte, so muss es dem nordi- 
schen Fremdling dienlich und erfreulich sein dass an 
gewissen Tagen das Madonnenbild seiner Stube durch 
eine Oelflamme geehrt wird, wenn auch den heiligen 
Strahlen gegen die Nereiden und Mänaden welche 
seinen Schlaf beunruhigen, keine Macht innewohnt. 
In den Strassenwinkeln ist die erleuchtete Madonna 
oft die Nachfolgerin der zwölf Götter, um nachdrück- 



— 5 — 

lieber statt des einfachen Kreuzes und der beiden 
geringelten Schlangen den Vorübergebenden das extra 
meite einzuschärfen. Diese Reinlicbkeitsvorkebrung 
von zweifelhaftem Erfolge reicht ziemlich weit nach 
Norden hinauf, ebenso wie die uns befremdlichere 
Nachbarschaft, oft völlige Verschmelzung von Abort 
und Küche, von welcher uns schon Pompe! zahlreiche 
Beispiele bietet. 

Vielfach hat sich an Geräthen, wie Lampen, 
Kohlenbecken , Glasflaschen , alterthümliche Bildung 
erhalten; auch das so auflFallende Pferdegeschirr 
stammt gewiss nicht von heute und gestern, und jene 
gefährlichen Gefährte Neapels auf denen kunstgerecht 
je ein Dutzend Menschen balancieren, sind vielleicht in 
dem seiltänzerberühmten Pompe'i ersonnen worden. 
Von Anderem zu schweigen. Kein Wunder daher dass 
manche jungen Misses welche die von den Führern 
und Arbeitern weggeworfenen Thonpfeifchen zu sich 
stecken, ihr Gewissen mit der Schuld eines antiqua- 
rischen Diebstahls belastet fühlen. 

Mehr noch dauert in Hantierung, Gebrauch, Aber- 
glauben das Alterthum fort. An seine dunkelste Seite 
gemahnt uns diese armselige Gestalt welche die Oel- 
mühle dreht, an seinen heitersten Glanz jene blumen- 
geschmückte, glühende Tänzerin, Dass die Zeichen- 
sprache, welche der Napoletaner in einer Weise pflegt 
als ob seine Lunge nicht die kräftigste der Welt 
wäre, seit uralter Zeit aus einer Hand in die andere 
übergegangen ist, könnten wir aus eines napoletanischen 
Gelehrten Abhandlung mit viel Gründlichkeit erweisen, 
und gegen die von Alexandre Dumas und Theophile 
Gautier umdichtete Jettatura diente schon zu Pompei 



— 6 — 

der Phallus als Abwehr, welcher nun sich sittsam 
zum Hörn oder Geweih umgewandelt hat. Und wer 
eine ganz heidnische Scene will, der betrachte L. Ro- 
berts bekanntes Bild, ob ihm auf demselben nicht eher 
geschwungene Thyrsusstäbe und bacchische Freude 
entgegenleuchten als andachtsvolle Miene und Haltung, 
wie sie die Gottesmutter von ihren Verehrern ver- 
langt. 

Die Wurzel aller dieser Kundgebungen ist natür- 
lich der Volkscharakter. Er zeigt uns die Landschafts- 
stimmung in das Menschliche übertragen : nichts fehlt 
ihm, weder der Sonnenschein, noch der frische See- 
wind, noch das Rollen der Wellen, noch das Toben 
des Vesuvs. Daher hat er, wie die Landschaft selbst, 
unverändert so mannigfache Fremdherrschaft über- 
standen, daher haben sich vielmehr an ihm die Härten 
und Schärfen ausländischen Wesens erweicht und ab- 
geschliffen. War auch Pompeis Strassenleben , bei 
der verschiedenen Bauart der Häuser, nicht einmal 
verhältnissmässig so rege wie heute das Neapels, sei es 
auf dem Toledo oder zu Santa Lucia oder in den engen 
Hafenstrassen oder vor Porta Capuana — es trug 
ohne Zweifel denselben Stempel. Dieser Menschen- 
schlag wird — heute wie einst — von der Luft und 
der Witterung und allem Druck von oben so wenig 
darniedergedrückt, so wenig eingeengt durch der Stras- 
sen und Wohnungen Enge und alle Enge der Ver- 
hältnisse dass er immer zwanglos und gefallig sich 
bewegt und seinen Gefühlen in Rede und Gebärde 
vollen Ausdruck gestattet. Wie auf den Strassen, so 
in den kleinen Theatern und in den Kneipen, be- 
sonders im Jesuitenkeller; so selbst in den Tribunali. 



— 7 — 

Der Fremde welcher die Tribunali besucht, findet 
eine unruhige, plaudernde Menschenmenge in Sälen 
und Gängen sich umherschieben; da werden Cigarren 
verkauft, da knusperiges Backwerk, da Federn und 
Papier, und er kann sich an den nächsten Tisch setzen, 
um nach Hause zu berichten dass hier nichts von 
jener beklemmenden Luft nordischer Gerichtshöfe zu 
spüren ist, nichts von jener unheimlichen Stille, deren 
Eindruck durch das Knirschen der Feder, das Bau- 
schen des Streusands und irgend ein langgezogenes 
Räuspern wahrlich nicht gemildert wird. Noch besser 
mag es in den pompejanischen Tribunali — wir 
meinen nicht die sogenannten Tribunali, sondern die 
Basilika — zugegangen sein ; hundert Spuren von der 
heitern, ja ausgelassenen Stimmung der hier Weilen- 
den sind uns übrig geblieben, und man möchte fast 
glauben, Venus, die jenseits der Strasse thronte, hätte 
bis herüber in den Bereich der Gerechtigkeit ihr 
Scepter geschwungen. Nur ist zu bedenken dass, 
wenn das Leben im Castel Capuano dem einer Börse 
gleicht , die alte Basilika in der That die Bestimmungen 
einer Börse und einer Gerichtsstätte in sich vereinigte. 
Bestimmte volksthümliche Gestalten des heutigen 
Neapels in Pompe! zu entdecken oder vorauszusetzen 
hält schwer; aber ohne Zweifel wuchs hier das Holz 
aus welchem jene geschnitzt sind. Eine Art Lazzaroni 
hat die alte Stadt entschieden besessen, d. h. Leute 
die an den Wänden lehnten und sich die Sonne in 
den Magen scheinen Hessen, sich übrigens dadurch 
vor ihren Nachkommen auszeichneten dass sie nicht 
bloss in figürlichem Sinne so gerieben und mit allen 
Wassern gewaschen waren. So war, gegenüber jenem 



- 8 - 

Kaufmannshause welches das Haus des Siricus heisst, 
ein beliebtes Plätzchen für süsses Nichtsthun und 
gaffende Neugier; vielleicht gab es auch dann und 
wann einen kleinen Dienst zu leisten und einen Sesterz 
zu erhaschen. Der Apotheker aber vor dessen Haus 
diese Siesten stattfanden, ärgerlich darüber und wohl 
besonders für den frischen Glanz seiner Wand be- 
sorgt, malte an diese zwei riesige Schlangen an, die 
jedem Schrecken, geschweige Ehrfurcht, einflössen 
mussten, und schrieb, weiss auf roth, einen nicht ganz 
tadelfreien Hexameter darunter, welcher besagt: „Für 
Müssiggänger ist dies kein Ort; fort, du Herum- 
lungerer!" Auch camorristische Bestrebungen regten 
sich schon in Pompe!; wenigstens, erfreute sich ein 
gewisser M. Cerrinius Vatia der Ehre seine Wahl zum 
Aedilen nicht nur von den sehr ehrbaren Zünften der 
Obsthändler, der Sackträger und der Salzarbeiter und 
den minder ehrbaren der Spätkneiper und der Schläfer, 
sondern auch von den ganz und gar nicht ehrbaren 
der Spitzbuben und der Dolchbrüder befürwortet zu 
sehen. 

Nur ein Wesen kennen wir das schon Pompe'is 
bessere Tage erblickt hat und heute noch in kräftiger 
Gesundheit lebt : es ist unser Freund von San Carlino, 
Pulcinella. Wir wollen nicht erörtern inwiefern die 
Commedia deir arte aus der alten Atellana erwachsen 
ist, wir wollen nicht untersuchen ob das Urbild von 
Pulcinellas reizendem Antlitz sich wirklich auf einem 
pompejanischen Säulenknauf vorfindet; wir lassen uns 
am unmittelbaren Eindruck genügen: mit seiner 
Papageiennase, seinem weissen Anzug, seinem spitzen 
Hut, besonders aber mit seinen Lazzi und seiner ver- 



— 9 — 

gnüglichen Redeweise, seiner ganzen Art, die ohne 
Verständniss für eilfertige Neuheit ist, gibt sich uns 
Pulcinella als den Bürger einer untergegangenen Welt. 
Man hat Pompei auf verschiedene Weise verherrlicht, 
in der erzählenden Dichtung, im Roman, in der Oper, 
doch immer unter dem Schatten des Todes. Wäre 
uns Dichterkraft verliehen, wir würden nur das lustige 
und glückliche Pompei in einem atellanischen Spiele 
feiern. Unser Held wäre dann Pulcinella, freilich ein 
niedriggeborner, etwa der Sklave eines reichen Pom- 
pejaners, wie er von diesem am frühen Morgen zu 
allerlei Besorgungen ausgeschickt würde, wie er vor 
dem „Elephanten" des Sittius die Bekanntschaft eines 
daselbst logierenden Fremden machte und sich ihm als 
Führer durch die Stadt anböte, wie er ihn dann zu 
allem Sehens-, Essens- und Trinkenswerthen geleitete 
und über manches Gläschen „Warmes", über manchen 
Blickwechsel mit schwarzäugigen Schönen seine ganze 
Sklavenschaft vergässe, wie er eine Kette von Ver- 
wicklungen und Verlegenheiten anzettelte und schliess- 
lich, zu seinem Herrn zurückgebracht, von diesem — 
ganz im Geiste der echten Pulcinellkomödie — mit 
einer weidlichen Tracht Prügel empfangen würde. 

Gab es je ein Schlaraffenland, so war es das 
welches den gefrässigen, dummschlauen Burschen, den 
Pulcinella, geboren hat. Ja, zu den Füssen des Feuer- 
berges lag und liegt, ohne dass damit dem campani- 
schen Gewerbfleiss zu nahe getreten werde, die wahre 
Cuccagna; die Römer sagten Campania felix. Da 
hauste ein Menschengeschlecht, kunstsinnig und ge- 
bildet, aber zugleich verweichlicht und in üppige Laster 
versunken. Statt auswärtiger Politik beschäftigten sie 



— 10 — 

Reibereien und Späne untereinander, die sich gelegent- 
lich in einer blutigen Prügelei, wie der zu Pompe! 
im Jahre 59 n. Chr., gipfelten. Besonders standen 
die Pompejaner mit den Nucerinern auf gespanntem 
Fusse; mit jenen hielten es die Pithecusaner , mit 
diesen die Puteolaner und die Campanier überhaupt, 
was nicht sehr zu Pompeis Gunsten spricht. Viel- 
leicht sangen die Nachbarn damals auf Pompe'i einen 
ähnlichen Spottvers wie man heute auf Scafati singt: 

Scafati, schifeta, 

MaV acqua, mala gente, 

Sino alV erha e malamente, 

indem so ein Ueberfahrtsplatz (von scafa) zu einem 
schmutzigen Ort (von schifo) entstellt wird. Wenige 
Jahre nach gedachter Prügelei thaten sich die ersten 
Anzeichen eines göttlichen Strafgerichtes über Pompe! 
und die Nachbarstädte kund. Aber die Leichtsinnigen 
achteten dieser Warnung nicht gross. Wie jene kleine 
Pariserin hatten sie auf die Frage: ,,was ist ein 
Vulkan?" die Antwort: „ein Ding auf welchem man 
tanzt." Sie tanzten und schwelgten weiter. „Da liess 
der HErr Schwefel und Feuer regnen vor dem HErrn 
vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra." Wie 
viele Gerechte diesem Feuerregen entrannen, ob Christen 
darunter waren, wer weiss es! Wohl keimte neben 
andern morgenländischen Glaubenslehren auch die er- 
habenste schon zu Pompe!. Der Eindruck der grauen- 
haften Verödung musste unter den Geretteten und 
unter den umwohnenden das rasche Wachsthum dieses 
Keimes fördern, und so mag pompejanischem Samen 
das heilige Blut das auf der Höhe von Pozzuoli ver- 
spritzt wurde, entstammt sein, und das heidnische 



- 11 - 

Pompei sich in dem christlichen Pompe! bei San 
Gennaro de' Poveri verjüngt haben. 

Was nun vor Allem ist es was uns Pompeis 
Peccadillen aufdeckt? was uns sein tägliches Trachten 
und Treiben veranschaulicht? den Charakter dieses 
Völkchens in das Sonnenlicht rückt? was die rasch 
verhallenden Rufe und Reden der Strasse im Fluge 
festhält und uns überliefert? und so die Reihe vieler 
Jahrhunderte uns zu einer kurzen Spanne Zeit zu- 
sammenschiebt? Es ist das Zufälligste, Vergänglichste^ 
Unschönste. Es sind die Wandinschriften, besonders 
die Kritzeleien, die tot scriptomm taedia^ wie sie^ 
solchen scriptores selbst zufolge, zu Pompei bezeichnet 
zu werden pflegten. Erwerben sich „die Narrenhände 
welche Tisch und Wände beschmieren," wenig Dank 
bei der Mitwelt, so möchten die Nachlebenden sie 
herzlich schütteln um dessentwillen was sie gethan 
haben; ihr Werk wird durch die Zeit geadelt. „Unter 
deren plastischer Hand werden," wie Washington Ir- 
ving sagt, „ Kleinigkeiten zu Gegenständen von Wich- 
tigkeit ; der Unsinn eines Zeitalters wird die Weisheit 
des andern, die Seichtheit des Witzlings erhebt sich 
zur Gelehrsamkeit des Pedanten." 



Alles Niedergeschriebene erscheint wesentlich von 
doppelter Art. Entweder ist es durch keine ihm an- 
haftende Bedingung in seinem Umlauf unter den Men- 
schen gehindert — wir nennen es Brief oder Buch, 
je nachdem es auf die Theilnahme Einzelner oder die 
allgemeine berechnet ist — oder es gehört einem be- 
stimmten Orte fest an, und meistens auch durch eine 



- 12 — 

innere Beziehung zu ihm ; dann nennen wir es Inschrift. 
Eine Abzweigung der Inschrift ist die Aufschrift auf 
beweglichen Gegenständen. Diese erniedrigt sich einer- 
seits zum Stempelzeichen, andrerseits, indem ihr Trä- 
ger mehr zu ihrem Schmuck als sie zu seiner Erläu- 
terung dient, nähert sie sich der erstgenannten Klasse 
an. Mit diesen äusserlichen umständen hängt nicht 
nur die Wahl des Stoffes auf welchem, und desjenigen 
mit welchem geschrieben wird, sondern auch die Form 
und der Gehalt des Niedergeschriebenen zusammen, 
aber keineswegs vermittelst zwingender Npth wendigkeit. 
Unter den Inschriften heben sich die eigentlichen 
Inschriften hervor, die Denkmäler, welche das Anden- 
ken an eine Sache oder eine Person, an ein Ereigniss 
oder eine Verordnung erhalten sollen. Unter allen 
Völkern haben sich die Eömer die Meisterschaft in 
der inschriftlichen Darstellung erworben. Nicht nur 
dass sie den Theil der Welt der ihrer Herrschaft 
unterworfen war, mit Inschriften besäeten, dass sie, 
soweit nur die Standarten ihrer Legionen vorwärts 
drangen, steinerne Zeugnisse ihrer Gegenwart aufrich- 
teten; sie erhoben auch die Kunst Inschriften abzu- 
fassen zur höchsten Vollkommenheit — das Redne- 
rische und Ruhmredige vereinigte sich mit der scharfen 
Kürze welche auch der römischen Rechtsformel eigen 
ist, zum Lapidarstil; dieser ist eine römische Schöp- 
fung. Die Freude am eingegrabenen Buchstaben ist 
in Italien, besonders in Rom, bis heute lebendig ge- 
blieben; die Abfassung von Inschriften bildet ein 
eigenes Gebiet schriftstellerischer Thätigkeit, und wer 
hier an Geschmack und Gewandtheit Andere zu über- 
ragen meint, beglückt wohl, unsern Hochzeits- und 



— 13 — 

Geburtstagsdichtern nicht unähnlich, Freunde und 
Menschheit mit den im Druck gesammelten Früchten 
seiner epigraphischen Muse, unser Norden zeigt sich 
wenig inschriftenlustig; nur der Grabschriften kann 
die fromme Anhänglichkeit an die Todten nicht ent- 
rathen, wiewohl sie meist darauf verzichtet ihnen den 
Charakter öffentlicher und unvergänglicher Denkmäler 
zu verleihen. Wo aber unter Deutschen der Katho- 
licismus herrscht, da begegnen wir einem weit regeren 
Inschriftensinn, den mit manchem andern Stücke Bö- 
merthums die Kirche herüber verpflanzte. 

um diesen Kern von disciplinierten und unifor- 
mierten Inschriften herum lagert sich unübersehbar ein 
zuchtloser und buntscheckiger Tross. Jene paradieren 
vor dem Leser; sie schreiben ihm vor was er sich 
denken soll. Diese genügen schon ihrem Verfasser; 
sie verkörpern unmittelbar das was er selbst denkt, 
und er bedarf keines Stilisten und keines Steinmetzen 
zur Vermittlung. Doch welch ungeheurer Abstand 
wiederum zwischen den Buchstaben die der Schulknabe 
in die Tafel schnitzt, während die Erzählung von 
Alexanders des Grossen Thaten wie ein dumpfer Lärm 
an sein Ohr schlägt, und dem „lieber allen Gipfeln 
ist Ruh'" welches der Dichter wie eine Beschwörung 
innerlicher. Stürme auf die Bretterwand der Waldhütte 
aufzeichnet. Dort der unterste und einfachste Ge- 
danke, der des Ichs, oder kaum dieser; denn die 
Wurzel des Triebes ruht im Reiche des ünbewussten. 
Auf einem angebornen Bedürfniss ist die stetige Ge- 
wohnheit begründet die Gedanken zur sinnlichen Dar- 
stellung zu bringen, und daraus entspringt dann und 
wann das neue Bedürfniss die Mittel dieser Darstellung 



- 14 — 

ohne jeden Zweck in Wirksamkeit zu setzen, sich der 
Sprache und der Schrift ganz mechanisch zu bedienen. 
Die unsichtbare Luft, der zerthauende Schnee, der ver- 
wehende Sand verschlingen unzählige solcher gedanken- 
losen Schreibübungen, die sich auf festerem Stoflf in 
bewusste zu verwandeln pflegen. Am häufigsten wird 
-der eigene Name niedergeschrieben; zunächst keines- 
wegs für die Augen Anderer, vor denen er sich oft 
geradezu versteckt, für die er oft, bloss durch die 
Anfangsbuchstaben angedeutet, ein Bäthsel bleibt. 
Wir lieben es uns in den Zeichen welche unsere 
Person bedeuten, träumerisch zu bespiegeln und wir 
glauben durch sie eine besondere Beziehung zwischen 
uns und den Dingen oder Orten herzustellen. Diesen 
Verewigungen widmet R. ToepflFer in seinen Nouveaux 
voyages en zigzag einige angenehmen und treffenden 
Betrachtungen. Besonders deutlich nehmen wir dieses 
Selbstgenügen wahr wo der Gedanke des Ichs in dem 
Gedanken an das andere Ich aufgeht, wie wenn etwa 
der einsame Spaziergänger die Buchstaben seines Sehn- 
^uchtslautes mit kräftigen Messerschnitten dem ver- 
schwiegenen Busen einer Buche oder einer Tanne an- 
vertraut, unbekümmert darum wie bald diese schlanken, 
tiefen Züge, in welche sich statt des seinigen das 
Herzblut des Baumes ergiesst, verknorren und ver- 
wachsen werden. „Ich schnitt es gern in alle Rinden 
ein, ich grub' es gern in jeden Kieselstein", singt der 
Liebende, nicht um Andere sein Glück wissen zu 
lassen, sondern weil er es irgendwie ausströmen muss. 
Aber dieser naive Standpunkt wird überwunden. Das 
Gefühl gelesen zu werden steigert sich zum Wunsche ; 
4er Wunsch wird der einzige Antrieb. An Orten 



— 15 — 

z. B. die der Ruhm geweiht hat,, oder deren Besuch mit 
besonderer Anstrengung oder gar mit Gefahr verknüpft 
ist, verkündet der geschriebene Name : „auch ich war 
hier." Die Krone dieser Inschriften sind die an irgend 
einem schwer zugänglichen, aber weithin sichtbaren 
Felsblock angepinselten, die „Kieselacks" ; nichts kann 
weiter von jenen gemüthvoUen Bauminschriften ent- 
fernt sein als sie, dafür sehen sie den monumentalen 
Inschriften zum Verwechseln ähnlich. Diesen Gegen- 
stand, der zwar mit vollstem Recht ein trivialer zu 
heissen verdient, aber weder des Reizes noch der Be- 
deutung ermangelt, müssen wir hier abbrechen, denn 
er ist unbegrenzt. Die Inschriften aus freier Hand 
können alles Mögliche enthalten, sich in jedes mögliche 
Gewand kleiden, von jeder möglichen Willensrichtung 
eingegeben sein. Zuweilen werden solche Gewächse, 
die wild nur auf lebendigem und todtem Holz, auf 
Kalk und Stein vorkommen, auf einem eigentlich fremd- 
artigen Boden und in einer gewissen Ordnung ange- 
pflanzt ; daselbst schiessen sie höher empor, ohne ihre 
Natur wesentlich zu veredeln ; man nennt diese Blumen- 
gärten Fremdenbücher. 

Die eben besprochene Gattung von Inschriften 
dürfen wir aller Orten und zu allen Zeiten erwarten, 
wo und wann immer das Schreiben den Windeln einer 
mühsam geübten Kunst entwachsen ist. Ihr Vor- 
kommen bei Griechen und Römern lässt sich aus 
zahlreichen Schriftstellerzeugnissen ermessen; überdies 
sind uns nicht unbeträchtliche Proben aus dem Alter- 
thum übrig geblieben. Unter diesen sei, als einer be- 
sonderen Abtheilung, der nQoaxvvrjfiara^ der Andachts- 
inschriften, im Vorbeigehen Erwähnung gethan. Wir 



— 16 - 

begegnen solchen in dem Neptunstempel auf dem Vor- 
gebirge von Santorin und anderswo in Griechenland, 
in den Bergen Aegyptens und Nubiens, auch auf 
„Sinas gluthgeborstnen Höh'n" ; doch rühren die hier 
befindlichen zum grössten Theil von christlichen Pil- 
gern her. Z. B. lautet ein griechisches TtQooÄVvrjfia 
von der Insel Philai in Aegypten : „Ich, Sarapion, der 
Sohn des Aristomachos, komme zur grossen Göttin 
Isis auf Philai, meiner Eltern zu ihrem Heile geden- 
kend." Etwas weniger andächtig mochten jene In- 
schriften gewesen sein welche, Plinius dem Jüngeren 
zufolge, die Quelle und den Gott Clitumnus auf allen 
Säulen und Wänden feierten. Indessen dürfen wir 
keineswegs glauben dass die epigraphischen Leistungen 
von Liebhabern sich auf gewisse Gelegenheiten oder 
Orte beschränkt hätten; vielmehr waren sie weit 
durchgängiger und gleichmässiger verbreitet als bei 
uns, wir finden sie nämlich fast überall da wo wir 
Tünche finden. Für heute bedeutet dies jedoch : nicht 
allzu häufig ; denn wie wenig Wände sind uns in ihrer 
Bekleidung erhalten! Selbst Rom liefert uns keine 
grosse Anzahl von Wandkritzeleien oder, wie die Ita- 
liener sagen, Graffiti. Manche von ganz geringem Be- 
lang, oder nur Spuren von solchen, hat man in den 
Titusthermen, auf dem Campo di Maccao u. s. w. 
entdeckt. Die meiste Beachtung verdienen die drei 
beschmierten Wände auf der Westseite des Palatins, 
die im Jahre 1855 dem Tageslicht wiedergegeben 
wurden: das einzige Andenken an die Pagenstreiche 
welche gegen Ende des zweiten Jahrhunderts diesen 
Theil des Cäsarenpalastes, das paedagogium, belebten. 
Hier liest man neben einem Esel an der Mühle das: 



— 17 - 

„Arbeite, Eselchen, wie ich gearbeitet habe, und es wird 
dir wohl bekommen." Von hier stammt jenes jetzt 
im Museo Kircheriano aufbewahrte Spottbild auf 
Christus (ein gekreuzigter Esel), das laut beigefügter 
Inschrift auf den Christen Alexamenos berechnet war, 
wie vielleicht auch das Libanus episcopus ebendaselbst 
christliche Bedeutung hat. Die Kunst überhaupt ist 
stark vertreten ; hauptsächlich die Begeisterung für die 
Kampfspiele verlangte nach bildlichem Ausdruck: 
Siegespalmen, Cirkusrosse, Gladiatoren mit ungeheuren 
Nasen und Armen wie Topfhenkeln (wofern nur ein- 
zelne Gliedmassen zu unterscheiden sind) erregen hier, 
wie zu Pompei, das Vergnügen des Betrachters. Die 
Zeichner hingegen, weit entfernt sich ihrer Werke zu 
schämen, nennen sich nicht selten, z. B. pingit For- 
tunatus Afer. Als Siegespreise werden uns einmal 
aufgeführt eine Dalmatika und andere Gewandungen, 
und es fallt uns dabei das correre il imlio der heu- 
tigen Italiener ein. Einer etwas spätem Zeit gehören 
ein paar Dutzend von Wandinschriften an (die älteste 
ist von 215 nach Chr.) welche unter der siebenten 
Kohorte der Vigules (wie sie sich selbst mit Vorliebe, 
statt Vigiles^ nennen) ihre Urheber zu suchen haben. 
Wir verdanken sie den zu Ende 1866 eröffneten Aus- 
grabungen von Monte di Piore in Trastevere. Be- 
sonders ist darin von Talglärapchenerleuchtungen 
(sebaciaria) die Kode, die zu irgendwelchen Festen 
öffentlichen oder privaten Charakters veranstaltet wur- 
den. In die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts (wie 
man aus den vorwiegend noch griechischen Sklaven- 
namen entnehmen kann) fallen auch die Kritzeleien 
eines kleinen Gemachs auf dem Aventin, welches an 

Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 2 



— 18 — 

die alte servianische ümwallung stösst. Hier gelobt 
z. B. Einer (doch wohl dem Bacchus), käme er heil 
heraus (si rede eariero), so viel Sester Wein als darin 
sein würden; vermuthlich hatte ihm Theonas diese 
unfreiwillige Nachbarschaft neben dem Weingewölbe 
zugezogen, denn scheinbar dieselbe Hand hat hinzu- 
gefügt: „Die Pest über den Theonas!" Doch sind 
dergleichen Kritzeleien nicht etwa ausschliesslich in 
der Tünche befindlich ; sie zeigen sich z. B. auch auf 
den Marmorplatten der alten Basilika von S. Lorenzo 
im Ager Veranus, und die Spitze der Trajanssäule 
trägt ein griechisches Gebet byzantinischen Stils für 
einen Constantin, wahrscheinlich den guten Kaiser 
Constans der im 7. Jahrhundert Roms Denkmälern 
einen Besuch abstattete, um sie nach Möglichkeit zu 
plündern. Wollen wir aber überhaupt in eine so späte 
Zeit herab-, aus dem heidnischen in das christliche 
Rom herübergehen, so brauchen wir nur unter die 
Erde zu steigen, und Inschriften wie wir sie suchen, 
bieten sich unsern Augen in reicher Menge dar. Wir 
vertrauen uns in dem Labyrinthe dieses unterirdischen 
Roms der Führung De Rossis an, der alle Winkel 
desselben mit der hellen Fackel seiner Gelehrsamkeit 
und seines Scharfsinnes erleuchtet. Ihm zufolge haben 
wir in den Katakomben drei Klassen von Graffiti zu 
unterscheiden: erstens diejenigen durch welche die 
Gräber (fossores) auf frischem Kalk ihr Tagewerk be- 
zeugten, z. B. „Iconius brachte es (nämlich die Aus- 
höhlung der Kammer) in zehn Tagen fertig" ; zweitens 
diejenigen welche die bei der Bestattung anwesenden 
Freunde auf dem trockenen Kalk eingruben — in 
kurzen Zurufen wird den Todten der ewige Friede 



— 19 — 

nachgewünscht, z. B. Leo in pace; drittens die 
nQoa/,vvrif^iai;a, welche von den frommen Besuchern 
der Gräber stammen. Sobald der Gebrauch der Hei- 
ligenbilder aufkommt, ziehen diese vorzugsweise (so 
das noch anmuthige und nicht allzu byzantinische der 
heiligen Cäcilia) die TiQooyiwijtiiata auf sich. Dieselben 
erscheinen wiederum von dreierlei Art. Es sind ent- 
weder nur die Namen der Schreibenden, und zwar zu- 
nächst römische (Maximus, Felix, Rufina), später bar- 
barische (Etelred, Ildebrand, Prando), denen dann 
meistens ein Zusatz, wie „Sünder", „Priester" (abge- 
kürzt PÄ oder PUB), „unwürdiger Priester", „Bischofs 
folgt. Oder es sind Zurufe an Verwandte und Freunde, 
wie wir sie schon erwähnt haben, und welche grössten- 
theils eher für Todte als für Lebende zu passen 
scheinen: „Donatus, Sofronia u. s. w., mögest du in 
Ewigkeit — im ewigen Leben — im Frieden — in 
Gott leben!" Endlich sind es Gebete welche an die 
Märtyrer insgesammt oder an einzelne derselben, auch 
unmittelbar an Gott gerichtet sind, z. B. : „Heilige 
Blutzeugen, gedenket der Maria!" — „Bittet, ihr hei- 
ligen Seelen, dass Verecundus mit den Seinigen glück- 
lich fahren möge (bene naviget)\"- — „Sustus, gedenke 
in den Gebeten des Aurelius Repentinus !" — „Allmäch- 
tiger Gott, behüte den Sapricius!" — „Der Priester Eu- 
stathius, demüthiger Sünder, Diener des heiligen Blut- 
zeugen Marcellinus; doch du. Bester, bitte für mich, 
und der Herr sei dein Schutz!" Daran schli^sst sich 
manch eigenthümlicher Erguss, wie der leider abge- 
brochene : „Du, Jerusalem, Stadt und Zierde der 
Zeugen Gottes, dessen ..." Dieses Anschreiben war 

in der That eine fromme üebung; nicht überall wo 

2* 



— 20 - 

die Pilger hinabstiegen, Hessen sie in gleichem Mas» 
ihre Namen und Gebete zurück, sondern vor Allem 
nur in den geschichtlichen Gräften (ho nennt sie De 
Rossi, cripte storiche), d. h. in den Grüften welche, 
als die Grabstätten von berühmten Märtyrern oder von 
Päpsten, im Zeitalter des Friedens der Kirche die 
Heiligthümer der einzelnen Kirchhöfe wurden. Wie 
wir hier aus spätem Jahrhunderten hauptsächlich 
Priesternamen lesen, so enthalten auch die Graffiti der 
Basilika von S. demente (auf den Gemälden des 
9. Jahrhunderts) wenig andere Namen ; solche Priester- 
graffiti weist ferner die Gruft von S. Vittorino zu 
Amiternum, weisen in Prankreich alte und hochver- 
ehrte Altäre auf, besonders jener berühmte der Kirche 
von Minerve (bei Narbonne), der mit unzähligen Na- 
men aus dem karolingischen Zeitalter bedeckt ist. 
Wohl mit Recht vermuthet De Rossi dass nicht blosa 
deshalb die Schreiber meist Priester waren weil e» 
damals unter den Laien wenige Schreibkundige gab, 
sondern dass (insoweit die beschriebenen Stellen Altar- 
tafeln oder Nischen und Gemälde sind vor denen der 
Altar steht) wir die Graffiti als Erinnerungen an da- 
selbst gehaltene Messen zu betrachten haben. Für 
das spätere Mittelalter, bis zum 15. Jahrhundert, dürfen 
wir auf Graffiti nicht in den Katakomben fahnden; 
erst dann erinnerte man sich dieser heiligen Stätten 
wieder, und ihre ersten neuen Besucher waren darin 
den alten verwandt dass sie, wenn nicht geradezu von 
Andacht, doch von frommer Neugier dahin gefühi't 
wurden. Einer der ältesten dieser Jüngern Namen 
mag der des „Joannes Lonck 1432" im Kirchhofe des 
Kallistus sein; ebendaselbst stehen aus der nächstfol- 



— 21 — 

genden Zeit herrührende, besonders von Minoritenbrü- 
dem. Aber bald sahen die Katakomben Gäste we- 
sentlich verschiedenen Geistes, solche die rein welt- 
lichem Wissensdrang folgten, nämlich Mitglieder der 
berühmten Akademie des Pomponius Laetus. Be- 
kanntlich waren dieselben des Heidenthums etwas an- 
rüchig, wurden indessen bei einer unter Paul II. des- 
halb gegen sie eingeleiteten Untersuchung freigespro- 
<5hen. Hätte man die Erinnerungszeichen welche sie 
dort zurückliessen, gekannt, so würde das ürtheil 
wahrscheinlich anders ausgefallen sein , die Betitelung 
des Pomponius Laetus als pontifex maximus (sowie 
-eines Andern als sacerdos academiae rojnanae), war sie 
auch mehr ein pedantischer Scherz als eine wirkliche 
Verhöhnung des Papstthums, würde man doch an be- 
treflfender Stelle übel vermerkt haben. Es unterliegt 
keinem Zweifel dass die Rechtgläubigkeit dieser Ge- 
sellschaft durch den Klassicismus stark angefressen 
war, und die Schatten jener Eäume hatten gegrün- 
deten Anlass über deren Entweihung zu klagen, die 
nun heidnischem Wesen vor dem Christenthum, wie 
■einst christlichem Wesen vor dem Heidenthum, ein 
Zufluchtsort zu sein schienen. Obwohl übrigens alle 
die Parthenius, Calpurnius, Papirius u. s. w. (unter 
ihnen auch als Campanus antistes Precutinus der be- 
kannte Dichter Giovanni Antonio Campano) sich als 
^,einmüthige Liebhaber des Alterthums" bezeichnen, 
so haben doch ihre Spaziergänge in die Unterwelt der 
Wissenschaft nicht den geringsten Nutzen gebracht. 
Zu Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts 
begaben sich noch Andere in die Katakomben hinab 
und schrieben ihre Namen mit Kohle an; aber alle 



— 22 — 

diese Besuche hörten bald auf. Die luschriften neuerer 
und neuesfcer Zeit durch welche Romfahrer auf ewigen 
Denkmälern sich verewigen, bedürfen keiner Bespre- 
chung; wie sie (z. B. in den Thermen des Caracalla 
und zu S. Constanza vor der Stadt) aller Herren Län- 
der vertreten, versinnbildlichen sie die fortdauernde 
Beziehung zwischen orhi et urbi. Ausserhalb Roms 
treffen wir, von einem einzigen Ort abgesehen, nur 
sehr spärliche Graffiti aus dem Alterthum. Von die- 
sen sei eines hier angeführt welches sich in einem 
Grabe vor Pozzuoli auf der campanischen Strasse be- 
findet. Es lautet verdeutscht: „Labeo an Thyrsus: 
ich bitte dich, schaffe mir eine Herberge; denn aus 
der welche du mir hier auf der Oberwelt gegeben hast, 
bin ich vertrieben worden" ; (darunter, wohl von an- 
derer Hand:) „Thyrsus an Labeo: komm'. Alles ist 
bei mir bereit." Die Erklärungen die man dazu ge- 
geben hat, befriedigen nicht völlig; wir meinen in 
diesen Worten einen Hauch des Christenthums, wel- 
ches ja hierlands früh Wurzel schlug, zu spüren. 
Heisst es nicht auch im Evangelium: „Kommt, denn 
es ist Alles bereit" (Luk. XIV, 17)? 

Mehr Graffiti nun als sämmtliche übrigen zusam- 
mengenommen hat schon die bisherige Ausbaggerung 
des Vesuvschlammes uns auf den Mauern Pompeis 
enthüllt. Aber die mit dem Schreibgriflfel oder einem 
andern spitzen Werkzeug eingeritzten (die Römer sag- 
ten scariphare) sind hier, wie überhaupt, nicht die 
einzigen Wandinschriften. Neben ihnen stehen in 
etwas geringerer Zahl die angemalten, die Dipinti, 
welche entweder mit rother, schwarzer oder weisser 
Farbe wirklich angepinselt oder mit Röthel, Kohle 



- 23 - 

oder Kreide angeschrieben wurden. Ihrem Charakter 
nach gehören die letztern durchaus zu den Graffiti; 
jene aber, die eigentlichen Dipinti, bilden, wenigstens 
in ihrer Hauptmasse, den Mittelstand zwischen dem 
Proletariat der Graffiti und der Aristokratie der in- 
schriftlichen Denkmäler. Da sie nicht, wie letztere, 
einem dauernden, sondern nur einem vorübergehenden 
Zwecke zu dienen pflegen, so stehen sie etwa mit un- 
sern Strassenanschlägen auf einer Stufe. Der öffent- 
liche Zweck unterscheidet sie von den Graffiti; das 
Dipinto: „Den C. Julius Polybius empfiehlt Vatia 
zum Duumvir" (N. 132) ist ein regelrechtes Wahl- 
programm; das andere: „Des Aedilen A. Suettius 
Certus Gladiatorenbande wird am letzten Mai zu 
Pompei .fechten; dabei Thierhetze und Zeltdach" 
(N. 1189) eine regelrechte Schauspielanzeige; aber 
den Graffiti: „Den C. Julius Polybius empfiehlt In- 
fantio zum Duumvir" (N. 1226) und „Hier wird am 
27. August die Thierhetzerbande fechten, und Felix 
im Bärenkarapf auftreten" (N. 1989) wohnt durchaus 
nicht die Absicht einer Beziehung auf das Publikum 
inne. Wir deuteten schon an dass solche aus Laune 
erzeugte Inschriften jede beliebige Fassung annehmen; 
wie in den eben angeführten Fällen die von Dipinti, 
so anderswo die von Briefen (N. 1684. 1852. 1991) 
oder die von monumentalen Inschriften (N. 2459 : 
Ex scito ordinis u. s. w. in dem ümriss einer gehen- 
kelten Tafel). 

Dipinti wie Graffiti erscheinen auch als Auf- 
schriften auf Gefassen in denen meistens Wein, aber 
auch andere Dinge (wie Fischsaücen, Enthaarungs- 
und Waschmittel, Oliven u. s. w.) aufbewahrt wurden. 



— 24 — 

Wie schade doch dass der „Faustianer (beste Sorte 
des Falerners), Jahrgang 47," und der „alte Lunenser 
von M. Valerius Abennericus" versiegt sind! Dass 
diese Amphoren nicht die erhaltende Kraft gewisser 
heiligen Krüge und Fläschchen besitzen! Doch wird 
uns, sollten wir auch an der unverminderten Güte des 
Falerners und der andern einst gepriesenen Weine 
zweifeln, die Anziehungskraft und die Wirkung des 
süssen Nasses das unter den Pompejanern kreiste, 
manch noch bezeugter Umstand vergegenwärtigen: 
der gewaltige Durst der Suavis, des Glyco und Mar- 
tialis, des Epaphra und Elea, das ungestüm geäusserte 
Verlangen nach „noch einem Kelch Setiner", die Wein- 
preise der Schenke in welcher die schon genannten 
„Spätkneiper" die Kellnerin Hedone nicht zur Euhe 
kommen Hessen, die schalkhafte Abänderung zu ä- 
berius die der Name des gewiss rothnäsigen Liberius 
Venustus, gleich dem des Kaisers Tiberius, erfuhr; 
der treffliche Spruch endlich den die unsichere Hand 
der lallenden Zunge nachzuschreiben versuchte : „Alles 
was im — Alles was im Wein geboren wird — Alles 
was — Alles was im Wein geboren ist — " 



Es verlockt sehr in diesem pompejanischen Garten 
gemächlich spazieren zu wandeln und dabei einen Strauss 
epigraphischer Blumen zu pflücken, durch den sich 
dann alle mögliche klassische Gelehrsamkeit ausduften 
Hesse ; wenigstens würde diese kaum auf anmuthigere 
Weise an den Mann zu bringen sein. Daher gibt 
Pompe! nebst seinen Inschriften einen beliebten Gegen- 
stand öffentlicher Vorträge und gemeinverständlicher 



- 25 - 

Aufsätze ab. Wir brauchen aber darum nicht zu fürch- 
ten dass uns nichts zu thun übrig bliebe; denn statt 
nicht weniger Blumen von denen es sich nun erst 
herausgestellt hat dass sie keine wirklichen parietariae, 
dass sie nicht sowohl auf den Mauern Pompe'is als in 
irgendeinem modernen Treibhaus, d. h. einem allzu 
hitzigen gelehrten Kopf aufgeblüht sind, vermöchten 
wir neue und echte einzubinden. Ganz im Gegentheil 
fürchten wir dass wir dessen schwer ein Ende fanden. 
Wir widerstehen also der Versuchung jenen Inschriften 
Auskunft über alle Besonderheiten des alten Lebens 
abzudringen. Wir schreiten vorüber an Abcschützen- 
übungen, Haushaltsnotizen, Andenken verliebter Stell- 
dichein u. s. w., als wären sie von heut und gestern, 
vorüber an den rothen und schwarzen Buchstaben, als 
ob sie uns einen Parlamentskandidaten empföhlen oder 
uns zu einer Kunstreitervorstellung einlüden; die in- 
felicia^ uncum, tabescas, sitspendere, in cruce figaris 
sind uns nur die versteinerten accidenti, mannaggia^ 

sV ammazzato u. s. w., die noch heute die italienische 

• 

Luft durchschwirren ; darüber dass Venus, die Beherr- 
scherin und Behüterin von Pompei, bald ehrfurchtsvoll 
angerufen, bald Seelenverkäuferin gescholten und mit 
Prügeln bedroht wird, wundern wir uns so wenig als 
über das ebenso wechselnde Benehmen der heutigen 
Napoletaner gegen ihre Schutzheiligen; wir sehen die 
Arme des Y in dem Worte PS YCE (Herz !) sich zu 
jenem ümriss fortsetzen der heute wie damals den Sitz 
der menschlichen Gefühle vorstellt, und in dem Verse : 

Scribenti mi dictat Amor mostratque Cupido 

erklingt uns Dantes 



— 26 — 

qiiando 
Amor mi spiray notOy ed a quel modo 
Che detta dentro, vo significando, 

welches bei andern Poeten sich zu dem Ausspruch ver- 
allgemeinert dass Liebe alles Dichtens Ursprung sei. 

Nein, wir wollen den sachlichen Werth der pom- 
pejanischen Wandinschriften, den wir schon genügend 
hervorgehoben haben, nicht im Einzelnen auseinander- 
setzen; wir wollen nur noch von ihrem Werth als des 
Gegenstandes geistiger Arbeit, von ihrem eigentlich 
wissenschaftlichen Werthe reden. Denn der Kern der 
Wissenschaft — dies unterscheidet sie von der Ge- 
lehrsamkeit — besteht nicht in dem was wir wissen, 
sondern darin wie wir lernen (dies ist besser im Fremd- 
wort „Disciplin'' ausgedrückt). Sollte etwa das breit 
in den Weg gelegte Geschenk des Zufalls, wenn es 
uns auch auf unserer Weiterwanderung noch so sehr 
fördert, uns höher gelten als das mit unserer besten 
Kraft Erworbene? Ist nicht mit dem grösseren Ver- 
dienst auch der grössere Genuss? Wenn darum der 
Herausgeber der pompejanischen Dipinti und Graffiti, 
K. Zangemeister, am Schluss der Vorrede meint: das 
Werk welches er in Angriff genommen habe, sei oft 
so beschaffen ut inde lahoris plus haurire mali sit 
quam ex re decerpere fructus^ so halten wir ihm zu 
seinem eigenen Trost entgegen dass die Forschung 
Selbstzweck ist, und dass wir, mehr als aus irgend- 
einer Thatsache an sich, aus den Mitteln und Wegen 
zur Feststellung dieser Thatsache Gewinn ziehen. 

Ohne Zweifel machen die Wandinschriften und 
besonders die Graffiti den schwierigsten Theil der 
römischen Inschriftenkunde aus. Die Schwierigkeit 



— 27 — 

der Lesung und Erklärung ist in der Gesetzlosigkeit 
dieser Gattung begründet, welche sich vor Allem in 
der Schrift äussert. Die Graffiti (und ebenso die 
Kohle-, Röthel- und Kreideinschriften) sind meistens 
in einer Schriftart abgefasst welche im Alterthum noch 
auf Wachstafeln, kaum auf Stein oder in Büchern vor- 
kommt, aus welcher sich aber dann zu allgemeinerem 
Gebrauche die laufende Schrift des Mittelalters ent- 
wickelt hat. Die Züge der älteren Pinselinschriften 
sind die steifen der Denkmälerinschriften, die der jün- 
geren aber nähern sich schon den runden der Graffiti. 
Zangemeister bietet uns (auf Tafel I) eine sorgfältige 
üebersicht der verschiedenen in den pompejanischen 
Wandinschriften erscheinenden Buchstabenformen (mit 
ausführlichem Quellennachweis zu den seltneren) und 
veranschaulicht uns so zum ersten Mal auf urkundliche 
Weise den üebergang der lateinischen Geviertschrift 
in die laufende. Aus dem individuellen Charakter der 
Graffiti folgt dass die Mannigfaltigkeit der Schrift 
hier eine ganz ausserordentliche (sogar innerhalb eines 
und desselben Graffito oft sehr ansehnliche) ist. Nicht 
nur in den einzelnen Buchstaben, deren manche sich 
so abändern dass sie sich selbst ganz unähnlich, andern 
aber dafür zum Verwechseln ähnlich . werden, sondern 
auch in der Aneinanderfügung derselben. Bald stehen 
sie keck auf festen Füssen da, und gehen gar vor Be- 
häbigkeit fast aus den Fugen ; bald stolpern sie ängst- 
lich und hinfällig einher, hocken aufeinander, verwickeln 
sich ineinander; oder kühn geschweift kreuzen sie, 
gleich Kometen, fremde Schriftbahnen. Grösse, Ab- 
stand, Richtung, Zeilenlänge u. s. w.. Alles wechselt 
aufs willkürlichste. Die ünvoUkommenheit des Schreib- 



- 28 - 

Werkzeugs oder besondere Hindernisse im Stuck machen 
sich ebenfalls geltend ; zuweilen erscheinen die Bänder 
tiefer Einritzungen stark gesplittert. Dazu kommen 
noch alle die störenden Linien die von der Hand des 
Schreibers selbst herrühren, entweder ganz unbeab- 
sichtigte oder wenigstens gedankenlose, oder falsche 
Ansätze, nicht selten wirkliche Verbesserungen des 
einen Buchstaben in den andern. Welchen Pährlich- 
keiten ist aber nicht erst die fertige Inschrift aus- 
gesetzt ! Mit welchen Versehrungen bedrohen sie nicht 
die Missgunst der Leser und die Gleichgültigkeit anderer 
Wandschriftsteller, die Einflüsse der Witterung und 
alle möglichen Stösse feindseligen Geschickes. Sie 
kann durchstrichen, ausgekratzt, entstellt, überschrieben 
werden; die Tünche kann sich abwetzen, Sprünge er- 
halten, in ganzen Stücken abfallen. Dieser letztere 
Fall erzeugt Lücken. Wie viel in denselben fehlt, 
lässt sich besonders dann wenn sie die erhaltene In- 
schrift an irgendeiner Seite begrenzen, kaum ermessen, 
während in einer guten monumentalen Inschrift man 
die Masse des Ausgefallenen ziemlich genau zu be- 
rechnen vermag, und so eine sichere Grundlage für 
die wahrscheinliche Ergänzung des Textes gewinnt. 
Den Dipinti, obwohl sie durch die regelmässigere Schrift 
viel vor den Graffiti voraus haben, ist doch wiederum 
mancher Nachtheil eigenthümlich, wie der dass die 
Buchstaben ohne irgendeine wahrnehmbare Beschädi- 
gung der Wand (also Spur einer Lücke) schwinden, 
oder der dass zwei sich deckende Inschriften sich zu 
einer scheinbar einzigen vermischen, indem von der 
üeberweissung der älteren, auf welche die jüngere 
gemalt ist, sich einzelne Theile abbröckeln. Kurz, die 



— 29 — 

Wandinschriften beider Klassen machen Mühe genug. 
Zuerst müssen die Augen scharf sein, um Alles zu 
erkennen was vorhanden ist, dann aber eigens geübt, 
um sofort das Wesentliche aus allem Beiwerk heraus- 
zuheben. Diese üebung wird durch eine gewisse Be- 
gabung gestützt und gefördert; denn auch bei ganz 
gleichen Anstrengungen eine Inschrift zu lesen, ist der 
Eine nicht immer so glücklich wie der Andere. Die 
bei der Wissenschaft so verrufene Einbildungskraft, 
welche allerdings gerade unter diesen Inschriften, ohne 
Beschränkung und Aufsicht, übel genug gewirthschaftet 
hat, mag doch auch Gutes schaffen. Manche der ein- 
zelnen uns hier gestellten Aufgaben haben auch in- 
sofern wenig Aehnlichkeit mit einem Rechenexempel 
als sie nur in Unterbrechungen gelöst werden können, 
als nämlich eine wiederholte Besichtigung erforderlich 
ist, sei es wegen der verschiedenen Beleuchtung des 
Gegenstandes, sei es wegen der verschiedenen Stim- 
mung des Untersuchers. Gibt es demnach einen be- 
vorzugten Blick der nicht nur schärfer, sondern schliess- 
lich auch richtiger sieht, ebensowohl für die Räthsel 
einer Inschrift ßjs für die Eigenthümlichkeit und die 
Bedeutung eines Menschenantlitzes oder eines Kunst- 
werkes oder einer Landschaft, so stehen wir nicht an 
bei Zangemeister einen solchen epigraphischen Blick 
in hohem Grade vorauszusetzen. • Wie viel er zu 
leisten hatte und geleistet hat, davon erhält schon 
einen Begriff wer nur die 47 dem Werke beigegebenen 
Tafeln durchblättert auf denen die merkwürdigsten 
(etwa ein Drittel) der pompejanischen Wandinschriften , 
zumeist wahre- Krikelkrakel, durch den Steindruck 
wiedergegeben sind, der grösste Theil nach Abzeich- 



— 30 — 

nungen, andere nach Durchzeichnungen , Abdrücken 
oder Photographien. 

Hat man eine Inschrift herausbuchstabiert, so gilt 
^8 sie wirklich zu lesen; auf das Verötändniss der 
Schrift folgt, oft nach einem ziemlichen Zwischenraum, 
das Verständniss der Sprache. Dieses wird durch 
manche Laune und manchen Irrthum der Schreibenden 
verdunkelt, z. B. durch ungewöhnliche Abkürzungen, 
oder durch mangelnde oder falsche Worttrennung. Oder 
ein gewisser Suimilea, welcher an einer Form iatromea 
nur schwachen Anhalt findet, gibt viel zu denken, bis 
-wir den Herrn zufälligerweise im Eücken sehen und 
ihn als Aemilius erkennen. Oder es werden Buch- 
staben verwechselt, versetzt, ausgelassen u. s. w. Eine 
tiefer eingreifende Störung aber verursacht der Gegen- 
satz der Volks- zur Schriftsprache. Eigenthümlichkeiten 
jener drängen sich massenhaft in die Schrift ein; in- 
dessen durchaus unbewusst. Denn man schrieb zwar 
wie man sprach ama^ onore, presta, für amat^ honorem, 
jpraesta — es sind dies die Anfänge italienischer 
Schreibung — aber man schrieb umgekehrt wie man 
sprach, Helpis, pariens^ opscultat, für Elpis, partes j 
auscultat (vgl. Oscus = Opseus), Ganz in dem gleichen 
<iunkeln Drange wie ihn die letzteren Formen ver- 
rathen, bessert der allbekannte Neupompejaner Raflfaele 
Sonntags, gesteigertem Fremdenbesuche zu Ehren, sein 
Italienisch auf. In seiner heimischen Mundart enden 
^le Wörter (wenn nicht die letzte Silbe den Ton hat) 
in einem flüchtigen e; nun bemerkt er dass das Tos- 
kanische im Auslaut auch die schöneren Vokale a, i, o 
liebt; folglich heisst es am Sonntag z. B. ü solo tra^ 
monta molta rossi oder quelP Americani e partita. Ver- 



-- 31 - 

geblich würde übrigens jemand versuchen aus jenen 
Schreibweisen die Grundzüge pompejanischer Sprech- 
weise zu entwickeln. Denselben Versündigungen gegen 
die Kechtschreibung begegnen wir an den verschie- 
densten Punkten des römischen Bodens. Es soll damit 
keineswegs pompejanische oder campanische Sprach - 
besonderheit geläugnet werden; gewiss klang schon 
damals die Sprache der Zwölftafeln anders in dem 
Munde der Romanen (d. h. verrömerten Nichtlateiner) 
von Pompei und Mailand, Marseille und Sevilla. Bildete 
man sich denn wohl heutzutag aus den von Schnitzern 
wimmelnden Briefen eines sächsischen und eines hes- 
sischen Ackerknechtes nur eine entfernte Vorstellung 
von dem Unterschiede zwischen der Rede beider Schrei- 
benden? Immerhin sind wir überzeugt dass, wenn 
etwa im Norden Italiens eine untergegangene römische 
Stadt mit gleich vielen Wandinschriften wie Pompei 
wieder erstünde, ein gewisser sprachlicher Gegensatz 
hervortreten würde. Alle die bezeichneten üebelstände 
sind bei einem längeren fortlaufenden Texte, wie der 
Handschrift eines alten Dichters, weniger hinderlich, 
fallen aber, wo es sich um so viele Bruchstücke und 
so viel Lückenhaftes, im besten Fall um vereinzelte 
kurze Sätze handelt, schwer ins Gewicht. Und zwar 
besonders nach einer Seite hin. Die beiden nämlich 
auf die Lesung einer Inschrift gerichteten Thätigkeiten, 
diejenige welche sich auf die Schrift, und diejenige 
welche sich auf die Sprache bezieht, verschmelzen oft 
völlig miteinander; ja diese arbeitet geradezu jener 
vor, so dass entweder die zahlreichen Zusammen- 
stellungen für eine Reihe von Buchstabenresten, deren 
jedem verschiedene mögliche Werthe entsprechen. 



— 32 — 

durch die Schranken der Sprache auf wenige oder gar 
nur auf eine zurückgeführt werden, oder dass eine 
angestrengte Besichtigung dasjenige dessen Vorhanden- 
sein zuerst nur durch eine sprachliche Erwägung wahr- 
scheinlich gemacht wird, als wirklich vorhanden be- 
stätigt. Jedem aber wird es einleuchten dass die 
Sprache mit um so geringerem Erfolge zur Feststellung 
der Schrift herangezogen werden kann je weiter ihre 
eigenen Schranken hinausgerückt sind. Z. B. an der 
Stelle einer Inschrift an welcher sich Spuren von fünf 
Buchstaben erhalten haben, könnte dem Zusammen- 
hange nach entweder habeas oder parias gestanden 
haben. Nun lässt sich bei genauerer Besichtigung 
der vierte Buchstabe als i noch deutlich ermitteln ; die 
eine Möglichkeit ist dadurch in einer klassisch ge- 
schriebenen Inschrift sofort beseitigt, und es bleibt 
nur die andere. In einem pompejanischen Graffito 
indessen würde habias für habeas durchaus nicht auf- 
fallen, und hier also würden beide Möglichkeiten fort- 
bestehen. Haben wir aber auch die Klippen der ein- 
zelnen Wortformen glücklich umschifft, so passiert es 
uns leicht dass wir in dem Sumpfe der Wortfügung 
und Redewendung stecken bleiben, wovon N. 1410 
ein gutes Beispiel liefert. Und wiederum kann der 
sprachliche Siun ganz unzweifelhaft sein, und wir 
dringen nur mit Mühe zum Verständniss des Sach- 
lichen durch. Dabei sind uns die Inschriften selbst, 
indem wir sie untereinander vergleichen, von weit 
grösserem Nutzen als die alten Schriftsteller; um- 
gekehrt dient gelegentlich eine Inschrift zur Ver- 
besserung eines Schriftstellertextes, wie aus N. 538 
der Gladiatorenname Tetraites, statt des handschrift- 



— 33 — 

liehen Petraites, in den Petronius gesetzt worden 
ist. In einzelnen Fällen kann die Sache ganz so die 
Sprache aufklären wie die Sprache die Schrift. Ob 
z. B. in N. 1136 nongentum (tabemae) Nominativ oder 
Genitiv, ist mehr eine archäologische als eine gram- 
matische Frage. 

Auch beim Sammeln der Inschriften ist manche 
Vorsicht und Rücksicht nothwendig. Scharfes ümher- 
spähen, damit nichts verborgen bleibe, versteht sich 
von selbst. Da jedoch oft Inschriften von ganz gleichem 
oder sehr ähnlichem Inhalt nahe nebeneinander er- 
scheinen, so kann ein Unachtsamer leicht eine von 
diesen Inschriften entweder gar nicht oder doppelt ab- 
schreiben. Ferner hüte man sich möglichst — denn 
Zweifelhaftes bleibt immer — verschiedene Inschriften 
zu einer einzigen zu verbinden oder andrerseits eine 
Inschrift in zwei oder mehrere aufzulösen. Endlich 
sei einer Gefahr gedacht welche man hier nicht ver- 
muthen sollte, nämlich der : Inschriften als pompejanisch 
anzusehen welche es nicht sind, d. h. welche nicht 
einen alten Pompejaner, sondern einen neuen Besucher 
der Trümmerstadt zum Urheber haben. Dass der An- 
blick so zahlreicher Kritzeleien auf schon dazu dis- 
ponierte Fremde und Einheimische ansteckend wirkt, 
darf nicht Wunder nehmen; ist uns doch im kleinen 
Theater selbst der Name des Herausgebers der „Pom- 
pejana" zu Gesicht gekommen. Wohl aber dürfte die 
Verwechslung solcher modernen Graffiti (besonders in 
den zuerst ausgegrabenen Häusern) mit den Graffiti 
des Alterthums befremden. Allein der Unterschied 
st)ringt keineswegs immer scharf in die Augen, und 
sogar Zangemeisters wachsamem Blick ist ein gewisser 

Schachardt, Bomanisches u. Keltisches. 3 



- 34 - 

Vincenzo Mojovino oder ähnlich (N. . 1592 a) in der 
ehrwürdigen Gesellschaft der Holconier und Popidier 
hindurchgeschlüpft. Weniger verzeihlich ist es dass 
folgendes Dipinto, welches im vorigen Jahrhundert ein 
Engländer auf einer Wand von Herculaneum angebracht 
hatte : 

WS ev oo<pov ßovkevfia ras TioXlae xsl^s vixd, 

trotz der nicht einmal fehlerlosen Äccentsetzung u. A. 
von Villoison für" alt gehalten wurde. Es soll dieses 
Citat aus dem Euripides schon 1743 gefunden worden 
sein; stammte es aus späterer Zeit, so könnte ndaa 
darin einen ähnlichen Vorwurf erblicken gegen „die 
vielen Hände" welche die Wände des ausgegrabenen 
Theaters von Herculaneum beschmiert hatten, wie er 
in dem bekannten Oraffito des Pälatins enthalten ist: 

TtöXXot TioXX^ BTtP.ygaxpav Byo? ftovoe ovx eneyQaxpa, 

Also Arbeit die Hülle und Fülle liegt einem 
Sammler und Herausgeber der pompejanischen Wand- 
inschriften ob. Aber, wird man fragen, ist nicht ein 
grosser Theil der Arbeit schon von Andern gethan?. 
Allerdings würde ein erster Versuch nicht von solchem 
Erfolge gekrönt sein; ein allmählicher Fortschritt hat 
darauf vorbereitet. Seit geraumer Zeit haben sich 
Manche mit diesem Gegenstand beschäftigt, obwohl 
Keiner daran dachte ihn vollständig zu erschöpfen. 
Allein der Werth des darüber Veröffentlichten steht 
in keinem Verhältniss zur Masse desselben, und mögen 
selbst die Fehler und Fehlgriffe der Vorgänger in 
gewisser Beziehung der Genauigkeit und Sorgfalt des 
abschliessenden Werkes zugute gekommen sein, so 
ist doch diese Arbeit dadurch nicht vereinfacht und 
verkürzt worden, sondern hat im Gegentheil einen 



— 35 — 

höchst mühseligen und oft verdriesslichen Zuwachs er- 
halten. Mühselig ist es sich durch eine weit verstreute 
Litteratur hindurchschlagen, und verdriesslich sich mit 
Schwierigkeiten abquälen zu müssen die nicht in 
der Sache selbst, sondern in der Beschaffenheit der 
Brillen liegen durch welche sie betrachtet worden ist. 
Denn hätten die früheren Abschriften bloss eine formelle 
Bedeutung, so würde man sie, wo sie sich dazu geeignet 
zeigen, als Trittstufen benutzen und nach gethanem 
Dienste beiseite legen. Aber sie haben vielfach auch 
eine stoffliche Bedeutung, indem entweder die Inschriften 
selbst gänzlich untergegangen oder stark beschädigt 
und « verblichen sind, sodass Andere mehr und besser 
lesen konnten als wir; ja es empfiehlt sich im All- 
gemeinen da wo bis heute keine zweifellose Lesung 
erreicht worden ist, die Anmerkung der verschiedenen 
Lesarten, um nun wiederum ein ürtheil über die Zu- 
verlässigkeit oder vielmehr über die Transkriptions weise 
Anderer überhaupt far solche Fälle in denen wir sie 
nicht unmittelbar kontrollieren können, zu gewinnen, 
müssen wir sie an noch vorhandenen Inschriften prüfen. 
Dabei ist oft das Schwierigste eine Inschriftkopie mit 
einer andern oder mit der Inschrift selbst zu identi- 
fizieren, nicht nur wegen der ausserordentlichen Ab- 
weichungen der Lesarten voneinander (sodass zuweilen 
so gut wie keine Aehnlichkeit besteht), sondern auch 
wegen des veränderten ümfangs (durch Verschmelzung 
nicht zusammengehöriger Inschriften), hauptsächlich 
aber wegen Unterlassung der Pundortsangabe, 

Die Dipinti haben von allem Anfang an Beachtung 
gefunden, und sehr viele jetzt zerstörte sind uns in 
den verschiedenen Ausgrabungsberichten erhalten, und 

3* 



— 36 — 

insofern auch wirklich erhalten als in diesen von ün- 
gelehrten mechanisch, aber gewissenhaft genommenen 
Abschriften das Wahre weit deutlicher durchblickt als 
in denen Anderer welche mehr verstehen wollten als 
sie konnten. Hingegen wurden die Graffiti lange Zeit 
hindurch vernachlässigt, und eine grosse Anzahl ist 
uns spurlos verloren gegangen. Schon 1792 und 1793 
hatte Chr. Th. v. Murr, freilich mit wenig Glück, eine 
Beihe von Graffiti herausgegeben; aber erst fast ein 
halbes Jahrhundert später (1837) veranlasste ein Eng- 
länder, Chr. Wordsworth, durch eine kleine aber ge- 
schickte Auswahl solcher, und wohl nicht am wenigsten 
durch die hübsch geschriebene Erläuterung dazu> iäass 
man von nun an diesen Inschriften eine regere Auf- 
merksamkeit zuwandte. Leider war der Einzige der 
in der Folgezeit mit einer umfassenden Sammlung der- 
selben hervortrat, R. Garrucci (1854, 1856), diesem 
Unternehmen so wenig gewachsen dass er mehr Schaden 
und Verwirrung als Nutzen stiftete. Im Jahr 1865 
erhielt Zangemeister, der gerade in Rom die palatini- 
schen Graffiti studiert hatte, den Auftrag für das 
Corpus inscriptionum IcUinarum der Berliner Akademie 
die pompejanischen Graffiti und Dipinti, welche wegen 
ihrer Eigenart in einem besonderen Band erscheinen 
sollten, zu bearbeiten. Er brachte vier Monate des- 
selben Jahres mit dem Abschreiben der Inschriften zu 
Pompe! zu und kehrte, als die Sammlung im Druck 
schon geschlossen war, 1868 auf kurze Zeit dahin 
zurück, um nicht nur das neu ans Tageslicht Getretene 
mit aufzunehmen, sondern auch das Alte nochmals zu 
vergleichen und Uebersehenes nachzutragen. Die Zahl 
der von Zangemeister verö£fentlichten Inschriften beträgt 



— 37 — 

nahe an 3000 ; dazu kommen noch in einer besonderen 
Abtheilung über 300 auf Thongefässen befindliche, von 
B. Schöne herausgegeben (mit 7 Tafeln). 

üeber die Einrichtung und Ausstattung dieses 
Werkes verlieren wir kein Wort. Bekanntlich hat 
Th. Mommsen, Meister wie er ist, den VeröiaFent- 
lichungen aus welchen sich das C. L L. zusammen- 
setzt, den Grundriss vorgezeichnet, und in ihnen ent- 
faltet sich etwas wie der Komfort jener grossartigen 
Gasthöfe in denen jedes nur denkbare Bedürfniss vor- 
gesehen ist. In vorliegendem Band ist aus besonderer 
Rücksicht noch ein Besonderes geschehen. Freilich 
schien es auch fast als ob über dem Auf- und Ausbau 
dieses Inschriftengebäudes Zangemeister dazu kommen 
sollte die Vorschrift seines Liebliugsdichters zu er- 
füllen: nonum prematur in annum. 

Wer den trefflichen Plan des jetzt sichtbaren 
Pompe! welcher dem Werk angehängt ist, betrachtet 
und darauf das Forum, die verschiedenen grossen 
Tempel, die Basilika, die beiden Theater u. s. w. 
wahrnimmt, möchte glauben dass das Wesentliche 
gethan sei. Der kleine Seitenplan aber wird ihn über- 
zeugen dass der noch zu hebende Schatz den schon 
gehobenen an Masse weit übertrifft. Ob auch an 
Werth, lässt sich nicht voraussagen. Wir müssen in 
Geduld Spatenstich um Spatenstich abwarten; denn 
besässen wir auch eine Wünschelruthe die nur auf das 
Köstlichste hinwiese, der verständige Mann der jetzt 
die Auferstehung Pompeis überwacht, würde schwer- 
lich ihren Winken Folge leisten. So bleiben uns nur 
Wünsche, und um nicht mit vergeblichen zu enden, 
wünschen wir: es möchte wiederum, neben solchen 



- 38 — 

Inschrifiien die dem YergDügungsplänkler ein offenes 
und verständliches Willkommen bieten, und neben 
solchen die nur dem schweren und kunstreichen An- 
griff der Wissenschaft sich erschliessen, auch eine und 
die andere ans Licht gefördert werden an welcher der 
Scharfsinn sich alle Zähne ausbeisst, damit doch etwas 
Bäthselhaftes an diesen zweitausendjährigen Mauern 
haften bleibe, und unser übermüthiges Jahrhundert 
nicht (mit dem Syrus im Heautontimorumenos) wähne : 

Nil tarn difficile est quin quaerendo investigari possiet. 



n. 

Virgil im Mittelalter. 

Wie ein rosiger Morgen schimmert das alte Hei- 
denthum in tausend lieblichen Farbenübergängen; das 
Christenthum verschmilzt alle Farben zum blendenden 
Weiss und legt zwischen das vollkommene Licht und 
die vollkommene Finsterniss das Schwert der Gerech- 
tigkeit. Nicht Alles jedoch was aus dem einen Zeit- 
alter in das andere fortdauert, wird in die hoffnungs- 
lose Nacht gestossen; Manches darf dem neu errich- 
teten Throne nahestehen, dank tiefer Einsicht oder 
schlauer Berechnung oder neckischem Zufall. Dieser 
Tempel wird ein Tummelplatz nächtlicher Unholde und 
jener eine geweihte Stätte der Andacht; dieser heid- 
nische Brauch ein verdammenswerther Unfug und' jener 
eine fromme Uebung ; dieser Gott ein böser Geist und 
jener ein Heiliger des Herrn. Den Menschen der 
Vorzeit ist es ähnlich ergangen ; wo die Kirche irgend 
einen Anklang an das geheimnissvolle Lied der Weih- 
nacht vernimmt, da sendet sie einen Strahl ihrer 
Gnade rückwärts in das Dunkel der Zeiteti. 

Der Zweit' — aus Gnade, die so tiefem Bronnen 
Entquollen ist dass nie die Kreatur 
Die Quell' erspähen kann wo er begonnen — 
Weiht' all sein Leben einst dem Rechte nur; 



- 40 — 

Drum hob ihn Gott empor zu Gnad' um Gnaden 
Und zeigt ihm künftiger Erlösung Spur — 

sagt Dante vom Trojaner Ripheus. 

Zu diesen vorchristlichen Christen gehört auch 
Virgil (oder Vergil, wie die gelehrten Pedanten schrei- 
ben). Aber wunderbar ! an ihm hat sich das doppelte 
Schicksal alles Heidnischen überhaupt erfüllt. Virgil 
ist durch die verschiedenen Dunstkreise des Mittelalters 
gewandelt; hier leuchten seine Züge in edelster Ver- 
klärung auf, dort erscheinen sie zur Fratze verzerrt. 
Die mittelalterlichen Irrfahrten des mantuanischen 
Dichterschattens haben Manchen zu eingehender Unter- 
suchung angeregt; ihren wahren Geschichtsschreiber 
haben sie aber erst jetzt in dem bekannten Pisaner 
Professor Comparetti gefunden, von dessen Kenntnissen, 
Fleiss und ürtheil uns zwei schön ausgestattete Bände 
als rühmlichstes Zeugniss vorliegen.*) 

Der erste Theil behandelt „Virgil in der littera- 
rischen üeberlieferung". Virgil war durch seinen Stoff 
der römischste, durch seine Form der vorzüglichste 
Schriftsteller. Bei Petronius heisst er Romanus Ver- 
gilim^ und ihm stand, dem Martial zufolge, frei auch 
auf dem lyrischen und dem dramatischen Gebiete sich 
den Siegespreis zu gewinnen. Deshalb wurde er nicht 
bloss gelesen, er wurde auch studiert. Die Schulknaben 
erlernten an ihm den Prunk lateinischer Rede, an ihm 
schärften weissbärtige Grammatiker und Rhetoriker 
ihren Witz; die Sorgen der Einen sind in ein paar 
pompejanischen Kritzeleien verewigt, die der Andern 
in einer dickleibigen und langweiligen Litteratur. Die 

•) Virgüio nd medio evo per Domenico Comparetti, 
Livomo, 1872. 



— 41 — 

VerehruDg für den Dichter wuchs ins Unglaubliche; 
sie musste das Verständniss des Dichters überleben. 
Schon früh fing man an seine Schriften als Orakel 
zu Sathe zu ziehen, ganz so wie die sibyllinischen 
Bücher und später die Bibel. 

Nachdem in den geistigen Fähigkeiten und Nei- 
gungen sich ein gänzlicher Umschwung vollzogen hatte, 
erschien es dichterischer Kraft als ein bedeutendes 
Ziel Virgilverse zu Flickgedichten zusammenzusteppen. 
Auf die sortes Vergilianae folgten die cerUones Vergib 
liani. Und da der Geschmack der Zeit auf das Sinn- 
bildliche und GeheimnissYoUe gerichtet war, so konnten 
die Gelehrten nichts Besseres thun als im Virgil nach 
verborgenen Dingen suchen. Zu ihrer Ehre sei es 
gesagt, sie fanden Viel, ja sie fanden Alles darin. 
Dem Neuplatoniker Macrobius ist Virgil kaum etwas 
Anderes als der Hüter jedes menschlichen und über- 
menschlichen Wissens. Doch den Macrobius übertrifft 
an Scharfsinn der christliche Philosoph Fulgentius; 
der entdeckte in den zwölf Büchern der Aeneide ein 
Gleichniss des menschlichen Lebens: die Worte des 
ersten Verses arma^ virurn, primus bedeuten die drei 
Stufen des Lebens, der Schiffbruch des Aeneas die 
Geburt des Menschen u. s. w. Und das Alles erfährt 
Fulgentius aus dem Munde Virgils selbst, der sich bei 
ihm ganz ähnlicherweise in einen mürrischen und hoch- 
fahrenden Pedanten verwandelt hat wie bei den bil- 
denden Künstlern von damals der schöne, milde Hirt 
der ersten Katakomben in einen finstern, herben 
Bichter. Uebrigens blieb die allegorische Deutung des 
Virgil das ganze Mittelalter über beliebt, bis in die 
Zeiten des auflebenden Alterthums hinein. 



— 42 — 

Wie jedoch verhielt sich die Kirche gegen Virgil ? 
Mancher Heisssporn würde gewünscht haben sie mit 
der Vergangenheit vollständig brechen zu sehen, hätte 
sie, die darnach strebte sich die Welt zu unterjochen, 
nicht dieser herrschenden und herrscherischen Sprache 
bedurft, des Lateins. Das Latein aber musste an der 
reinen Quelle der Litteratur geschöpft werden; als 
Volkssprache drängte es schon damals in unzählbare 
Mundarten auseinander. So kam es dass die alten 
Autoren, Virgil voran, auf den Schulbänken sich durch 
die gefahrliche Brandung retteten. Zu Leuten mit 
denen man einmal unter einem Dache leben muss, 
sucht man sich leidlich zu stellen. Die Diener der 
Kirche sahen sich jene alten Heiden von allen Seiten 
an, um Vortheilhaftes an ihnen zu entdecken, und bei 
Manchem fiel diese Prüfung günstig genug aus. Cicero 
gibt sich in seinem Buche über die Natur der Götter 
als einen so schlechten Heiden dass er gewiss ein 
guter Christ geworden wäre; also nachträglich ein 
wenig Taufwasser über seine würdige Glatze! Causa 
causarum, miserere meil habe er sterbend gerufen — 
so hörte Comparetti in einer römischen Schule erzäh- 
len. Auf nachdrücklichere Weise wusste sich Virgil 
die Gunst der kommenden Zeit zu sichern. In seiner 
vierten Ekloge spricht er von einer Weltverjüngung, 
der Rückkehr einer Jungfrau, der Geburt eines Kna- 
ben, der Vertilgung einer Schlange — wie unbefangen 
musste das Jahrhundert sein das hierin nicht einemessi- 
anische Weissagung erblickte! So wurde aus dem 
bukolischen Dichter ein Prophet Christi. Sein Bild 
schmückt chiistliche Kirchen; der Apostel Paulus soll 
Thränen auf seinem Grabe vergossen haben, dw 



— 43 — 

Dichter Statius durch jene Ekloge zum Christenthum 
bekehrt worden sein. 

Der mittelalterliche Virgil ragt als Dichter über 
Alle weit hinaus; die Allwissenheit theilt er nur mit 
dem Aristoteles; er verkörpert den höchsten Kuhm 
Italiens und zugleich die Ahnung des welterlösenden 
Heils. Musste ein Dichter der mit gewaltiger Ein- 
bildungskraft das Jenseits umspannte, von der Liebe 
zum Vaterland nicht minder durchglüht als von der 
Liebe zur ewigen Wahrheit, diesen Virgil nicht als 
sein Ideal betrachten? Konnte Dante sich einen an- 
dern Führer durch Hölle und Fegefeuer wählen als 
ihn? Die göttliche Komödie bezeichnet den Zenith 
im Nachleben Virgils. Wir wollen den beiden Sän- 
gern auf ihrer gemeinschaftlichen Wanderung nicht 
folgen ; wenn es eine Unterlassungssünde ist bei dar- 
gebotener Gelegenheit über Dante zu schweigen, so 
mag sie um ihrer Seltenheit willen verziehen werden. 

Das Gegenstück zum Dante'schen Virgil bildet der 
Virgil in Herbers' Dolopathos. Wer kennt nicht die 
Geschichte von den sieben weisen Meistern? Der 
Astrolog der seinen Zögling, den Prinzen, vor unge- 
rechtem Tode errettet, ist Virgil, mit mönchischem 
Pinsel gemalt. Das romantische Element das sich 
hier schon einmischt, leitet uns hinüber zum „Virgil 
in der Volksüberlieferung", dem Gegenstand des zweiten 
Theiles. 

Man begreift leicht wie Virgil nicht als Dichter 
und nicht überall sich im Andenken des Volkes lebendig 
erhielt, sondern nur an einem bestimmten Orte zu dem 
er in gewissen äusseren Beziehungen gestanden hatte. 
Diesei* Ort ist Neapel. Virgil liebte Neapel sehr und 



- 44 ~ 

war bei den Napoletanern sehr beliebt; seinem Willen 
gemäss wurde er dort bestattet. Man wallfahrtete 
zu seinem Grabe wie zu einem Tempel, sein Name 
verknüpfte sich aufs innigste mit dem der Stadt; er 
wurde schliesslich ihr Schutzpatron. Zu diesem Um- 
stand tritt ein anderer, und die Virgilsage ist fertig. 
Das Volk war der reichen Hinterlassenschaft einer 
künstlerischen Vorzeit entfremdet worden; es begriff 
•vielleicht noch die Schönheit, aber nicht mehr das 
Streben nach Schönheit. Wie der Gelehrte in jedem 
Gedichte einen geheimen Sinn, so sah der gemeine 
Mann in jedem Bildwerk einen geheimen Zweck. 
Wem nun sollten die Napoletaner solche Talismane 
die ihrer Stadt zum Heile dienten, zuschreiben wenn 
nicht dem Virgil? Der Kuf seiner wunderbaren 
Weisheit stattete ihn mit der Macht aus die Wünsche 
die er als Gönner der Stadt hegen musste, in Wirk- 
lichkeit umzusetzen. Von Virgil war der Bronzemann 
der, mit gespanntem Bogen und drohendem Pfeile, 
den benachbarten Feuerberg in Gehorsam erhielt; von 
Virgil das Bronzepferd das alle Pferde davor behütete 
sich das Kreuz zu brechen; von Virgil die Bronze- 
fliege die alle Fliegen aus der. Stadt entfernte. Er 
baute ein Schlachthaus in dem das Fleisch sechs Wo- 
chen lang frisch blieb, und er bannte alle Schlangen 
unter das „eiserne" Thor. Wer lebend Wunder ver- 
richtet hat, der verrichtet nach dem Tode grössere — 
das glauben jetzt noch Viele, glaubten einst Alle. Vir- 
gils Gebeine ruhten in einem meerumfiossenen Kastell; 
wurden sie der Luft ausgesetzt, dann verdunkelte sich 
der Himmel und erbebte das Meer in seinen Tiefen. 
Gläubigen Sinnes vernahmen die Fremden welche 



— 45 — 

die Stadt besuchten, diese glaubwürdigen Geschichten 
und trugen Sorge sie schriftlich und mündlich zu ver- 
breiten. Im Auslande wurde die napoletanische Sage 
weiter gesponnen, veränderte sich aber dabei wesent- 
lich. Man entführte den Virgil aus Neapel nach Rom, 
nach dem goldenen Rom, dem Haupt der Welt, das 
er in dauerndem Liede verherrlicht hatte. Hier fertigt 
er jenes erstaunliche Werk, das ^Heil Roms". In 
einem Palaste sind sämmtliche Provinzen des Reichs 
durch Statuen dargestellt von denen jede eine Glocke 
in der Hand hält; die Gefahr einer Empörung und 
zugleich ihr Ort verräth sich durch das Läuten einer 
dieser Glocken. Dann wendet sich, auf der Kuppe 
des Palastes, ein bronzener Krieger mit geschwungener 
Lanze nach der betreffenden Gegend ; Rom ist benach- 
richtigt, das heisst gerettet. Wohl möglich dass von 
jenen Statuen eine Darwin'sche Entwicklungsreihe zu 
den Gänsen des Kapitels hinaufführt. 

Indessen je mehr sich Virgil von seinem geliebten 
Neapel entfernt, desto mehr erbleicht der lichte 
Schimmer um sein Haupt, endlich ist er aus einem 
Weisskünstler ein Schwarzkünstler geworden. Den 
Nordischen galt er als Einer der in Toledo beim 
Teufel gehört hatte, der Hölle Kind, der Urahn Klin- 
sors. Dachten die Napoletaner im Genuss der von 
ihm empfangenen Wohlthaten zu mild über deren Ur- 
sprung oder jene aus Missgunst zu streng? Wer 
weiss es! 

Virgil hat Liebesfreud und Liebesleid besungen, 
sollte die Sage nicht ihn selbst Beides oder Eines von 
Beiden kosten lassen ? Es gibt eine grosse Sippe von 
Erzählungen welche auf die mannigfachste Weise die 



L- 



— 46 — 

Thatsache veranschaulichen dass Männerweisheit an 
Weiberschlauheit zu Schanden wird. In einige dieser 
Erzählungen nun hat man, zur Vermehrung des 
Effektes, die Namen der berühmtesten Weisen einge- 
schoben. Aristoteles lässt sich von seiner Schönen 
als Reitpferd benutzen; Virgil wird eines Morgens 
von Roms Pöbel entdeckt wie er in einem Korbe, 
zwischen Erde und Himmel, d. h. dem Fenster seiner 
Geliebten, schwebt. Es ist wahr, Virgil wusste diese 
Schmach zu rächen und zwar, kraft seiner geheimen 
Künste, in einer Weise die kein anständiger Mann 
billigen wird. Aber der schöne Vortheil ein Zauberer 
zu sein, um sich einen solchen Korb zu holen ! Nein, 
wenn ich der grosse Schwarzkünstler Virgil wäre, ich 
würde ■ — halt! das sagt sich besser in den Worten 
eines Liedchens von Lecce: 

Diu! ci tanissi Varte da Vargiliu! 
Gott! war' die Zauberkunst Virgils doch mein! 
Ich brächte dir das Meer bis vor das Haus, 
Ich machte mich zum Fische, zart und klein, 
Du zögst mich dann in deinem Netz heraus; 
Ich machte mich zum schmucksten Vögelein, 
In deinem Busen baut' ich dann mein Haus, 
Und ruhte mich am Mittag, Liebchen mein, 
Im Schatten deiner dunklen Haare aus. 

In solchen Tönen verhaucht die unteritalische 
Virgilsage. Sie hatte früh Eingang in die Litteratur 
gefunden und sich vielfach mit derjenigen Auffassung 
Virgils vermischt deren Ursprung im Kreise der Schule 
lag. Um Virgils Statue ist eine üppige, bunte Blu- 
mensaat emporgeschossen; wir haben nur versucht 
einigen Blüthenstaub abzustreifen. Comparetti prüft 



— 47 — 

genau den Boden und alle Bedingungen dieses Pflanzen- 
wucbses, doch scheint er uns zuweilen etwas ins 
Breite zu gehen. Gerade je weiter und allgemeiner 
ein geistiges Gesichtsfeld ist, desto 9)ehr wünschen 
wir seine Darstellung zusammengedrängt, um es zu 
beherrschen; nach kurzen und schlagenden Worten 
sehnen wir uns dann nicht minder als der Schiffer 
auf hoher See nach Baken und Leuchtthürmen. 

Hier und da bricht bei Comparetti als geborenem 
Kömer der er ist, ein gewisses römisches Gefühl gegen 
die deutschen Barbaren des Mittelalters hervor. Wir 
geben ihm gern die „Klassiker" Wolfram von Eschen- 
bach, Gottfried von Strassburg u. s. w. preis, wir 
selbst haben uns. schon über diese Anwendung des 
allerdings so dehnbaren Ausdruckes verwundert. Wir 
verargen ihm auch nicht seine Abneigung gegen Karl 
den Grossen. Dieser Fürst, dessen geschichtliche Be- 
deutung wir keinen Augenblick verkennen, hat in der 
That einen „widerlichen Sakristeigeruch" an sich; 
von ihm stammt das römische Kaiserthum deutscher 
Nation, das für uns und die Italiener gleich unheilvoll 
gewesen ist. In unserem neuen Kaiserthum, welches 
jenen Sakristeigeruch mit so scharfen Mitteln vertreibt, 
können wir die Schwärmerei für den blutigen Sachsen- 
überwinder wie einen Theaterhermelin ablegen; denn 
lange war es uns Bedürfniss unsere vaterländischen 
Hoffnungen in das Gewand von Vergangenheitsphanta- 
sien zu kleiden. Allein — hasst Comparetti Karl den 
Grossen deshalb weil er die weltliche Macht der 
Päpste so gestärkt hat, warum freut er sich darüber 
wenn der „rohe germanische König" im Kampfe mit 
dem Papstthum unterliegt, wenn er „den Nacken unter 



— 48 - 

dieses Joch beugt und sich zuweilen tiefer in den 
Staub erniedrigt als wen je ein römischer Imperator 
unterworfen hatte?" Warum nennt er dies die „ein- 
zige, arme Ganugthuung welche uns Lateinern die 
langen Seiten jener trostlosen Geschichte darbieten?" 



m. 

Boccaccio. 

Auf demselben Vehikel wie schon seit längerer 
Zeit die Götter und Helden der griechischen Sage, 
dringen neuestens auch die Schriftsteller der italieni- 
schen Renaissance in den Vorstellungskreis des minder 
gebildeten Publikums ein, nämlich auf den Fittichen 
luftiger, lieblicher Operettenmelodien. Das Textbuch 
zu Supp^s „Boccaccio" ist ein Kapitel Litteratur- 
geschichte; wir erfahren sofort dass die drei bedeu- 
tendsten italienischen Novellisten des vierzehnten Jahr- 
hunderts Sacchetti, Herr Fiorentino und Giovanni 
Boccaccio heissen ; von des Letzteren Novellen werden 
einige der pikantesten dramatisiert und die x^nfänge 
des italienischen Dramas selbst uns in einer Commedia 
deir arte kurz und bündig vor Augen geführt. Auch 
ein Theil OUendorflF steckt darin, und am Vorabende 
einer italienischen Beise wird wer keine Zeit zu gründ- 
licher Vorbereitung im Sprachlichen gehabt hat, grossen 
Nutzen aus diesem Schauspiele ziehen; er wird die 
Begrüssungsformeln lernen, die wesentlichsten Flüche 
und Ausrufe, und dutzendfache Wiederholung wird ihm 
einige der so unentbehrlichen Zahlwörter — „immer 
zu undici, docUci, tredici^ — aufs angenehmste ein- 
prägen; für Vorgeschrittene sind einige leichteren 
poetischen Stücke eingelegt. Derlei erbaulichen Be- 

Schnchardt, Romanisches u. Keltisches. 4 



— 50 — 

trachtungen gab ich mich hin, als ich zum ersten Male 
den „Boccaccio" sah; dass mein Denken jählings eine 
andere Richtung einschlug, daran war die Aeusserung 
meines Nachbars schuld: „Wie schade dass diese 
hübsche Musik an ein solches Sujet gewendet worden 
ist!" Meine philologische Ader schwoll an — „ein 
solches Sujet!" Wenn hier einmal von Herabwürdigung 
geredet werden soll, so darf sich gerade das Sujet 
beklagen, nicht der Musik, wohl aber dem Libretto 
gegenüber. Allerdings zeigt dieses Spuren von ernstem 
Studium; ich sah in mein Buch, und gleich aus der 
ersten Bühnenanweisung wehte mich der Geist der 
Meininger an. „Was man von der Kirche Santa Maria 
Novella sieht, ist im freundlichsten Stile gehalten ; die 
Wände würfelförmig, mit weissem und schwarzem 
Marmor bekleidet"; die Worte klingen wie ein Citat 
aus Gsell-Fels, und die Mahnung, „statt des kirch- 
lichen Ernstes müsse das naiv-fröhliche Behagen der 
Italiener an derlei Festlichkeiten vorherrschen", be- 
kundet liebevolles Eingehen auf fremde Volkseigen- 
thümlichkeit. Allein zwischen etwelcheha soliden Ge- 
mäuer baut sich ein lockeres phantastisches Fachwerk 
auf, und es werden Zeiten, Orte und Sitten bunt durch- 
einandergeworfen, und doch, wem würde es im Ernste 
beikommen den Textdichtern die Freiheit die sie sich 
mit der Geschichte nehmen, zu verargen ? Nun möge 
Thalia der Klio einen Gegendienst leisten, es möge 
die Operette einigem Thatsächlichen über den alten 
ausländischen Autor den sich ihre übermüthige Laune 
auserkor, den Eintritt in diesen Raum vermitteln, wo 
man nur von gegenwärtigen oder lebhaft nachwirkenden 
Dingen zu lesen gewohnt ist. 



— 51 — 

Hoffentlich werden die Gelehrten diese Art der 
Einfahrung nicht als eine zu frivole ansehen. So aristo- 
kratisch sie sind, eitleren sie doch oft die grosse Menge, 
indem sie von „allbekannten^, „weltberühmten^ Persön- 
lichkeiten reden. Was aber ist der Ruhm auch des 
Berühmtesten ? Das schwache Licht eines Sternes über 
den nur die Astronomen Näheres zu melden wissen, 
und meistens ein getrübtes dazu. Wie entscheidend 
vermag ein Schlagwort, ein Gemälde, ein Bühnenstück 
auf unsere ganze Vorstellung von irgend etwas Ge- 
wesenem einzuwirken. Wird sich nicht denjenigen 
— wie gross ich mir ihre Zahl denke, will ich nicht 
sagen — welche von Boccaccio weiter nichts wissen 
als dass er schlüpfrige Geschichten recht hübsch zu 
erzählen wusste, wird sich ihnen nicht, unter dem von 
der Operette empfangenen Eindrucke, das rohe Bild 
beleben und ergänzen ? Die Nichtexistenz eines Herzogs 
von Toskana zu Boccaccios Zeit bedarf so wenig aus- 
drücklichen Nachweises wie dass niemals, auch zu 
Herzog Leontes' Zeit nicht, Böhmen bis an das Meer 
reichte; aber darzuthun dass Boccaccios Novellen mit 
seinem Leben nicht in einem solchen Zusammenhange 
standen, sein Verhältniss zu den Frauen nicht ein solches 
war wie wir es in dem Stücke dargestellt sehen, das 
ist vielleicht keine ganz undankbare Arbeit. 

„Novelle" bedeutet im Italienischen zunächst die 
Neuigkeit; es wird das Wort auf Alles angewendet 
was man Einem auf die Frage „was gibt es Neues?'' 
zu erzählen weiss, Gaunerstreiche, Witzworte, Ehe- 
skandale, kurz jede Art des Stadtklatsches. Daher 
erklären sich manche italienische Bedensarten, z. B. 

mettere in novella, „zum Gespött machen". Diesen 

4* 



— 52 — 

ursprünglichen Charakter der Novelle als einer der 
unmittelbaren Wirklichkeit entnommenen Anekdote hat 
noch am treuesten die Sacchetti'sche Sammlung ge- 
wahrt. Sacchetti selbst sagt uns : „Ich habe mir vor- 
genommen alle die Novellen zu sammeln welche vor 
Alters oder neuerdings sich zugetragen haben, und 
einige insbesondere welche ich mit ansah und erlebte, 
und gewisse von denen die mir selbst passiert sind." 
Und denjenigen welche meinen würden, das seien 
Fabeln, erwidert er im Voraus dass sich vielleicht ein 
paar darunter befanden, aber dass er sich bemüht habe 
die Novellen der Wahrheit gemäss niederzuschreiben. 
Es könne wohl sein, wie das häufig vorkomme, dass 
eine Novelle sich auf den Giovanni beziehe, und Einer 
sage, „sie hat sich mit dem Pietro zugetragen'*; das 
sei ein geringer Irrthum, deshalb dürfe man nicht 
behaupten, sie habe sich gar nicht ereignet. Durch 
einen sehr grossen Theil der Novellen wird uns das 
was Sacchetti in der Vorrede sagt, auf ausdrückliche 
und eigenthümliche Weise bestätigt; sie sind nämlich 
so geschmack- und pointelos dass die einzige Ent- 
schuldigung dafür dass sie aufgezeichnet wurden, in 
ihrer Wirklichkeit liegt, eine Entschuldigung von der 
wir freilich schwer begreifen wie sie sich die Mitwelt 
gefallen Hess, während ja die Nachwelt für den Mangel 
ästhetischen Interesses sich an dem kulturhistorischen 
entschädigt. Der biedere Sacchetti selbst glaubt alle 
Anforderungen befriedigt, wenn das Wirkliche was er 
uns auftischt, zugleich etwas Neues, etwas noch nie 
Dagewesenes ist. Er kündigt zwar hie und da „tref- 
fende" Worte und „ergötzliche" Streiche an ; aber sein 
Lieblingsausdruck bleibt „neu" : „ein Spassmacher foppt 



— 53 — 

einen Geizhals mit einer neuen Antwort — Donnellino 
verkauft einer Frau zwei Gänse um einen neuen Preis 
— Bonamico lässt seinem Freunde mit einem neuen 
Kunstgriff vom Hufschmied einen Zahn ausziehen — 
Carmignano entscheidet durch einen neuen Einfall einen 
Streit beim Spiele" u. s. w. Nun, die Sacchetti'sche 
Neuheit gemahnt uns meistens an das wunderliche 
Kleinleben niederländischer Bilder; wir verspüren nichts 
von dem frischen Hauch der „Neuzeit", nichts von 
dem feinen Duft der italienischen Renaissance. Sollte 
die Novelle zu einer kunstgemässen Entfaltung ge- 
langen, so musste ein anderer Weg betreten, es musste 
jene Grundbedingung der Wirklichkeit etwas weniger 
streng genonmien werden. Wer des angedeuteten Ur- 
sprungs der Novelle eingedenk ist, mag sich das leicht 
zur Anschauung bringen. Unter denen welche Neues 
zu erzählen, wie unter denen welche Neues zu hören 
lieben, wird man zwei verschiedene Richtungen wahr- 
nehmen: den Einen kommt es mehr darauf an dass 
die Geschichte hier oder dort, heute oder gestern, mit 
diesem oder mit jenem passiert ist ; den Andern, dass 
sie spanne, überrasche und ergötze. Ein Erzähler der 
letzteren Art sieht sich oft genöthigt, um seine Waare 
an einen Hörer der ersteren Art zu bringen, sie mit 
einer modernen Etikette zu schmücken. „Wissen Sie 
was dem So und So am vorigen Sonntag begegnet ist?" 
fragt er uns, und dann folgt eine Geschichte die wir 
uns dunkel erinnern vor vielen Jahren in einem alten 
Pergamentband gelesen zu haben. Aehnlich verfuhren 
die Novellatoren des Mittelalters, wenn sie an langen 
AVinterabenden der Aufgabe walteten ihre hohen Gönner 
zu zerstreuen und in schenklustige Stimmung zu ver- 



— 54 — 

setzen. War der Born zeitgenössischer Anekdoten 
versiegt, dann speiste man ihn aus jenen immer rin- 
nenden Bächen ferner und geheimnissvoller Herkunft. 
Je mehr, was den Charakter der Novelle anlangt, die 
blosse Neuheit hinter gewichtigere Eigenschaften zu- 
rücktrat, um so mehr sah man auch davon ab ob sie 
der Zeit nach neu war oder nicht. 

Auf dieser Entwicklungsbahn ist die älteste ita- 
lienische Novellensammlung die wir besitzen, der um 
ein Jahrhundert jüngeren von Sacchetti bedeutend 
voraus, obschon in der Form roher und anekdotenhafter. 
Das Buch soll, wie der Titel sagt, das Andenken 
an einige „schöne Redeblumen, schöne Höflichkeiten, 
schöne Antworten, schöne Ritterthaten, schöne Schen- 
kungen und schöne Liebschaften" fortpflanzen, und die- 
selben werden allen Ländern und Zeiten, ohne absicht- 
liche Veränderung des Kolorits, entlehnt. Also man 
ging über das was man erlebt hatte, was Einem durch 
Augenzeugen mitgetheilt worden war, weiter und weiter 
hinaus, bis in das Sagenhafte meinetwegen, aber nie 
bis ins Märchenhafte, nie bis zu dem was sich als 
Erfindung offenbarte, und noch weniger erfand man 
selbst; dadurch dass sie als wirkliche gegeben und als 
wirkliche genommen wurde, unterscheidet sich die alt- 
italienische Novelle von der heutigen und ist höchstens 
mit unserer „wahren Geschichte" zu vergleichen. Es 
verbreitete sich nun der Geschmack an der Novelle 
nicht nur, er verfeinerte sich auch; zudem mehrten 
sich die Erzähler und traten in lebhaften Wettstreit; 
es galt den reichen, gut gewählten Stoff in anmuthigster 
Form vorzutragen. Die Stimmen sind längst verhallt, 
und das Lob der Zeitgenossen hat keinen Sinn mehr 



— 55 — . 

für uns; mit der Feder aber errang sich Boccaccio 
die Palme auf Jahrhunderte hinaus. Er hat zuerst 
verstanden in Prosa zu schreiben, und mehr noch in 
Prosa zu dichten, und als Dichter ist er den alten 
poetischen Grundsätzen, denen die er selbst predigte, 
untreu geworden: Scholasticismus und Mysticismus, 
Formel und Allegorie wurden über Bord geworfen, 
das Wolkenschiff senkte sich zur Erde herab, und lange 
vor der Erneuerung der eigentlichen dramatischen 
Kunst wurde der „Griff ins volle Menschenleben^^ 
gethan; der Dekameron ist das erste moderne Buch. 
Dieser Vorzug aber macht es den Heutigen gerade so 
schwer den richtigen Standpunkt für die Betrachtung 
und Würdigung Boccaccios zu finden, sodass er Vielen 
vom Patriarchen der Sonettisten überragt zu werden 
scheint. Allen aber vor dem fast zu verschwinden der 
die nie wiederholte Beise durch die jenseitigen Reiche 
unternahm« Der Glaube an Dantes Weltordnung, die 
heisse Inbrunst mit der er über die Schranken unserer 
Erkenntniss hinausdringt, die Wunderkraft Visionen 
in Fleisch und Bein zu verwandeln, ist der Nachwelt 
abhanden gekommen; sie bewundert die göttliche 
Komödie um so mehr, je grösser die trennende Kluft 
ist. Boccaccios Anfänge hingegen sind sämmtlich mit 
Fleiss und Glück fortgesponnen worden : die ungebun- 
dene Bede hat im Vergleich zur gebundenen erstaun- 
liche Fortschritte gemacht ; die Technik der Darstellung 
ist bis zur Raffiniertheit ausgebildet worden; man ist 
bis in die innersten Tiefen des Sitzes menschlichen 
Handelns und Leidens eingedrungen. Daher kann auf 
den der unter den Schriftstellern seiner Zeit lebt, die 
Kunst Boccaccios jenen Reiz nicht mehr ausüben der 



— 56 — 

einst unzertrennlich von ihr war. Allein erbaut euch, 
ehe ihr den Dekameron aufschlagt, am Besten was das 
Mittelalter bis dahin auf dem Gebiete der erzählenden 
Gattung, sei es in Prosa, sei es in Versen, hervor- 
gebracht hatte, und von einem Marionettentheater, wo 
die verschiedenen Persönlichkeiten sich hauptsächlich 
durch die Tracht unterscheiden, wo die Stimme des 
Leiters nur eine beschränkte Nüancierung zulässt und 
sein Talent nicht ausreicht die Eintönigkeit, die be- 
ständige Wiederholung zu vermeiden, wendet ihr euch 
um zu dem bunten Gewühle eines südlichen Festtages 
mit seinen tausend Stimmen und tausend Gesichtern. 
Boccaccios Kealismus muss sein Publikum, wenn 
es nur halb so empfänglich war wie heutzutage das 
;^mile Zolas, aufs äusserste überrascht und erregt 
haben. Sacchetti, der durch sein Beispiel wenige Jahr- 
zehnte später zur Herausgabe von Novellen aufge- 
muntert wurde, ist nur ein sammelnder Antiquar; jener 
ein wiederschaflFender Künstler, der uns ein unerreichtes 
Denkmal von den Sitten seiner Zeit und seines Volkes 
hinterlassen hat. Mag ihm die Wirklichkeit des Stoffes 
dessen er sich bemächtigt, etwas weniger am Herzen 
liegen, Wirklichkeit durchdringt wie der feinste Aether 
jedes Atom seines Werkes, sie ist in jedem Antrieb 
und in jeder Aeusserung, in den Kämpfen des Herzens 
wie in den Gebärden und Mienen, von dem Vorder- 
grund bis in die dämmernde Perspektive hinein, sie 
ist überall. Erfunden hat meines Erachtens auch 
Boccaccio nichts. Marcus Landau, der sich um das 
Studium unseres Dichters verdienstlich bemüht hat, 
sagt, es sei uns von einigen Novellen des Dekameron 
keine Quelle bekannt, und so lange wir keine Spur 



- 57 — 

einer solchen entdeckt, sei es doch gar zu hart wenn 
wir ihm nicht die Erfindung derselben zutrauten. 
Die verhältnissmässig geringe Anzahl dieser Novellen 
scheint gegen eine derartige Annahme zu sprechen; 
es ist in Anschlag zu bringen dass so viele Schachte 
in denen ihrem Ursprünge nachzuspüren wäre, seither 
verschüttet worden sind. Wollte Boccaccio frei schaflFen 
— die Fähigkeit dazu ist das was wir alle ihm zu- 
trauen — so hätte er das wohl häufiger gethan, nicht 
in so wenigen und wenig glänzenden Fällen. Denn 
für die von Landau hieher gerechnete Novelle vom 
Eitter und Falken, die allerdings von keiner ihrer 
neunundneunzig Genossinnen verdunkelt wird und an 
deren Dramatisierung noch jüngst des englischen Poeta 
laureatus Talent gescheitert ist, führt Boccaccio als 
Gewährsmann einen Zeitgenossen, den Coppo di Borghese 
Domenichi an, der in späteren Jahren Gefallen daran 
gefunden habe „sowohl seinen Nachbarn als auch Frem- 
den von vergangenen Ereignissen oftmals zu erzählen, 
wie er denn Solches geordneter, mit grösserem Kede- 
schmucke und treuerem Gedächtnisse als irgend ein 
Anderer zu thun verstand"; unter anderen schönen 
Geschichten habe er namentlich diese — das spricht 
für seinen guten Geschmack — zu erzählen geliebt. 
Auf dieselbe Persönlichkeit beruft er sich unter ähn- 
lichen Bemerkungen in einem gelehrten Werke, dem 
Kommentar zum Dante. Andrerseits scheint Boccaccio 
nirgends im Dekameron ein persönliches Erlebniss 
dargestellt zu haben. Zwar hat man früher geglaubt, 
die Novelle von der Witwe und dem Studenten ent- 
halte ein solches, aber dieselbe ähnelt allzusehr einer 
alten indischen Erzählung, und Boccaccio wird wohl 



— 58 — 

nur einige subjektive Züge hineingewoben haben. 
Manches fällt wenigstens in seine Zeit, und von jenen 
lustigen Geschichten deren Mittelpunkt Calandrino 
bildet, mag er unmittelbare Kenntniss gehabt haben. 
Anderes gehörte der jüngsten Vergangenheit an und 
lebte noch in sicherem Andenken. 

Die Mehrzahl der Novellen aber hat, um zu 
Boccaccio zu gelangen, eine mehr oder minder grosse 
Beise gemacht, und kaum merkt man es der oder 
jener an. Wie tagesfrisch erscheint der Schwank von 
der Weintonne, der auch in die Operette eingelegt 
ist, und 1200 Jahre vorher hatte ihn der Römer 
Apulejua fast mit denselben Ausdrücken erzählt! Und 
wer kann sagen ob eine solche alte Novelle — diese 
Wortverbindung bedeutet nun keinen Widerspruch 
mehr — nicht schliesslich doch in der Phantasie eines 
Dichters oder Denkers wurzelt? Gegründeten Ver- 
dacht hegen wir besonders gegen die buddhistischen 
Mönche dass sie ihre Nirwanabetrachtungen mit 
tendenziös erfundenen Geschichten verschnörkelten. 
Im Morgenlande hält der Despotismus die freie Eede 
danieder; jede Lehre der Klugheit oder der Moral 
welche an hochstehende Personen gerichtet wird, muss 
sich in irgend ein Gewand vermummen; wo keines 
fertig ist, wird es aus buntem Stoffe neu zugeschnitten ; 
daher Menschen- und Thierfabel. Mit den Pürsten- 
spiegeln der Buddhisten und der Mohamedaner zeigt 
sich der Dekameron nicht nur in manchen Stoffen 
verwandt, sondern auch durch die Eahmenerzählung, 
welche freilich dort ein steifer goldener Leisten, hier 
ein grünes und blühendes Gezweig ist. Landau meint 
dass Boccaccio sich von den Banden solcher mora- 



— 59 — 

lischer oder politischer Nebenzwecke freigemacht habe 
wie sie in den älteren Sammlungen mehr oder weniger 
offen zu Tage treten. Das ist nicht ganz richtig. 
Die lehrhaften Betrachtungen welche den Novellen 
vorausgehen und folgen, mögen nicht viel besagen, 
aber kann man die Vorrede gänzlich übersehen ? Seiner 
bestimmten Erklärung zufolge schreibt Boccaccio sein 
Werk den verliebten Frauen zur Unterstützung und 
Zuflucht, Trost und Erheiterung; aus den darin ent- 
haltenen ergötzlichen Dingen sollen sie nicht nur Ver- 
gnügen, sondern auch guten Bath schöpfen, indem sie er- 
kennen was sie zu vermeiden, was sie zu erstreben haben. 
Deshalb ist es auch nicht ganz unmöglich dass die 
Worte: „zugenamt Fürst Galeotto" nicht ein späterer 
Zusatz sind, sondern von ihm selbst herrühren; sie 
bezeichnen eben den Dekameron als Liebesvermittler. 
Insoferne hatte auch jener fromme Kartäusermönch 
der ein Dutzend Jahre darauf dem Boccaccio ins 
Gewissen redete, nicht durchaus Unrecht wenn er 
dessen Schriften Werkzeuge des Teufels nannte, die 
Seelen zur Sinnenlust zu verführen und abzurichten. 
Der Autor selbst sah dies ein und warnte später 
einen Freund das Buch seiner jungen Frau in die 
Hand zu geben, indem er die schlimmen Folgen 
einer solchen Lektüre mit grellen Farben ausmalte. 
Das süsse Gift aber hat durch Jahrhunderte fortge- 
wirkt. Bonifazio Vanozzi sagt: „Wer zählen könnte 
wie viel Frauen durch . den Dekameron ihre Ehre ver- 
loren haben, würde starr vor Erstaunen sein." Es 
werden sogar bestimmte Thatsachen vorgebracht. Ein 
angesehener Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts, 
Ortensio Landi, welcher dann später das Werk als 



— 60 — 

einen Lehrmeister fürs Leben empfohlen hat, weil 
man unter Anderem daraus lerne sich vor den Listen 
der Weiber zu hüten, erzählt, ein junges Mädchen zu 
Mailand, das er persönlich kannte, habe, nachdem sie 
die fünfte Novelle des siebenten Tages gelesen, ein Loch 
in die Wand des Vorzimmers gemacht, um mit einem 
jungen Manne in Unterhaltung zu treten und sich von 
ihm verführen zu lassen. Aehnliches hat sich in jüng- 
ster Zeit auch unter uns zugetragen; doch weiss ich 
nicht ob Boccaccio dafür verantwortlich gemacht werden 
kann. Sicherlich sind zu vielen Ränken und Schwän- 
ken die Recepte aus den Büchern entnommen worden ; 
ein merkwürdiges Zurückfliessen der Novelle in das 
grosse ürmeer der Wirklichkeit! 

In den Dekameron hat, so viel wir gesehen haben, 
Boccaccio nichts von seinen eigenen Liebesangelegen- 
heiten eingeflochten, um so mehr in seine andern 
Werke, indessen in so verhüllter und ausgeschmückter 
Weise dass seine Biographen wenig davon erbaut 
sind. Wie Dante und Petrarca hat auch er seine 
Muse besessen. Es ist ein wunderlicher Zufall dass 
der Einfluss den die drei Frauen auf die drei Dichter 
ausgeübt haben, durch die Namen der Ersteren charakte- 
risiert wird. Beatrice, „die Seligmacherin", verklärt 
sich in Engelsgestalt, ja löst sich in ein Symbol auf 
und hebt ihren mystischen Alighieri zu den ewigen 
Wohnsitzen der Seligen empor; Laura schlingt den 
lauro^ den Lorbeer, um die Stirn ihres sinnlich-plato- 
nischen Verehrers, sodass er mit seinen Huldigungen 
den Preis davon trägt an welchem ihm, wie die unab- 
lässigen Wortspiele verrathen, schliesslich am meisten 
gelegen war ; Fi a m m e 1 1 a , „die kleine Flamme" — 



— 61 — 

ihr eigentlicher Name war allerdings Maria — entzündete 
in der Brust Boccaccios eine Leidenschaft die trotz 
rascher Erhörung sich nur langsam abkühlte. Ihr zu 
Gefallen ward er Schriftsteller. Es wird zwar erzählt 
dass er als napoletanischer Student bei einem Besuche 
von Virgils Grab zu Piedigrotta, in dessen Nähe er 
wohnte, den Entschluss gefasst habe die Rechtswissen- 
schaft aufzugeben und sich ganz der Dichtkunst zu 
widmen. Das dürfte eine bleiche Reminiscenz an Dante 
sein, auf dessen Spuren Boccaccio zu wandeln liebte. 
Weit wahrscheinlicher klingt schon eine andere — 
ebenso unverbürgte — Nachricht : es sei ihm einstens, 
als er spazieren gegangen, bei jenem Gräbmale plötz- 
lich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ein holdes 
Weib erschienen, dessen Anblick ihn gänzlich umge- 
wandelt habe. In Wirklichkeit wird es sich wohl noch 
einfacher verhalten haben, etwa so wie das napoletani- 
sche Volkslied sagt: 

lo la vidi a Piedigrotta 
Tutta gioja, tutta feata, 
Dcdla mamma era condotta, 
Ferle e gioje aveva in testa^ 
u. s. w. 

Wenn uns Boccaccio erzählt, er habe seine Ge- 
liebte zum ersten Male in einer Kirche erblickt, so 
entrichtet er wahrscheinlich den Anforderungen der 
damaligen Konvenieuz seinen Zoll; nur in geweihten 
Hallen, an einem hohen Pesttage durfte eine solche 
Liehe ihren Anfang nehmen die ein Jahrzehnt hin- 
durch dauerte, die sich in Bänden voll Prosa und 
Versen verewigte. Fiammetta bittet ihren Liebhaber, 
er möge die Sage von Flor und Biancaflor, die sie ge- 



— 62 — 

« 

hört hatte, in italienischer Sprache darstellen, und er 
schreibt den Filocolo; er fällt in Ungnade bei ihr 
und dichtet, um ihr Herz wiederzugewinnen, die The- 
seide, indem er sich erinnert welch Gefallen sie in 
glücklicheren Tagen an Geschichten, besonders Liebes- 
geschichten, gefunden habe ; sie begibt sich aufs Land, 
wohin er ihr nicht folgen kann, er sucht einen alten 
Stoff der seinem geheimen Liebesschmerze als Ein- 
kleidung diene, und es entsteht der Filostrato ; endlich 
löst er selbst die Bande die ihn solange gefesselt 
haben, und schildert dann in der Fiammetta das Seelen- 
leiden einer von ihrem Geliebten Verlassenen. Der 
Dekameron ist nicht mehr der einen Frau gewidmet, 
sondern allen verliebten Frauen; der Name der Fiam- 
metta ist darin nur wie eine Erinnerungstafel ange- 
bracht. Wir wissen dass Boccaccio vor wie nach 
der einzigen entschiedenen und entscheidenden Neigung 
seines Lebens manche Verhältnisse gehabt hat. Doch 
düifen wir ihn uns keinesfalls als einen renommistischen, 
ausgelassenen Don Juan vorstellen ; es liegt dies weder 
in seinem Charakter noch in den Sitten seines Landes 
und seiner Zeit. Er ist kein Freund von allzu leichten 
Eroberungen; er sagt einmal dass eine Frau welche 
nicht aus Liebe, sondern um schnöden Gewinnes willen 
sich preisgebe, des Feuers werth sei. Und dann sind 
die Italiener, wenn ich nicht irre, von jeher in allen 
Liebeshändeln nicht nur dringlicher ui^d erfinderischer, 
sondern auch beständiger und diskreter gewesen als 
die Nordländer, wozu beitragen mag dass dort bei der 
Art der Eheschliessungen das unerlaubte Bündniss 
nicht so tief unter dem rechtmässigen steht wie hier. 
Vorsicht und Verschwiegenheit werden in den altitalie- 



— 63 - 

nischen Novellen als die ersten Tugenden eines Lieb- 
habers gepriesen. Von neueren Zeugnissen fällt mir 
gerade kein besseres ein als das jenes italienischen 
Kellners der uns einst zu früher Morgenstunde — auf 
einem Balle im Oberengadin war's — einen Vortrag 
über die Kriegführung gegen das schöne Geschlecht 
hielt und, frei nach Montecuccoli, damit schloss, es 
gehörten drei Dinge dazu um Glück in der Liebe zu 
haben: erstens silenzio, zweitens secreto, drittens mistero. 
Die Anweisung scheint doch nicht ganz ausreichend 
zu sein, wenigstens hat Boccaccio, der sie streng zu 
beobachten pflegte, nicht immer Glück in der Liebe 
gehabt. Von einer Witwe wurden seine Bewerbungen 
schnöde abgewiesen, und als Rache verfasste er eine 
bittere Schmähschrift gegen sie und das gesammte 
weibliche Geschlecht; auf die Ars amandi folgen die 
Remedia amoris, auf den Dekameron der Corbaccio. 
Später, als er sich bekehrt und der Sinnenlust Valet 
gesagt hatte, schrieb er sein lateinisches Werk „über 
die berühmten Frauen^ ; da tritt er uns als ein stren- 
ger Moralist entgegen, in welchem wir kaum den 
Schöpfer des Dekameron wiedererkennen würden, wäre 
ihm nicht ein Geschichtchen wie das von Anubis und 
der Paulina zwischen den Fingern hindurchgeschlüpft. 
Den in süssen Nachtwachen erworbenen Schatz von 
Kenntnissen hatten Motten und Bost gefressen, die 
liebenswürdigen oder komischen Schwächen der Frauen, 
einst mit unerschöpflicher Maimigfaltigkeit geschildert, 
wurden nun in Einem weg als Todsünden gegeisselt, ein 
frommer Kirchenvater hätte mit nicht geringerer Weis- 
heit und mit nicht grösserem Eifer über diesen Gegen- 
stand gepredigt — nur vielleicht in milderem Tone. 



- 64 - 

Mit so wenigen Worten lässt sich aber nicht er- 
ledigen was Boccaccio von den Frauen gedacht hat, 
wie er zu verschiedenen Zeiten gegen sie gestimmt 
gewesen ist. Hierüber und über sein weibliches Schön- 
heitsideal, sowie über die Toilettenkünste der damaligen 
Florentinerinnen handelt ausführlicher ein Kapitel in 
einem prächtig ausgestatteten tausendseitigen Quart- 
bande der die lateinischen Schriften Boccaccios zum 
Gegenstande und den gelehrtesten Triestiner, Attilio 
Hortis, zum Verfasser hat. Mit dem Buche und 
mit der Operette wurde ich ziemlich zu derselben Zeit 
bekannt, und ich gestehe dass der Kontrast zwischen 
beiden stofiFverwandten Werken mich wunderlich be- 
rührte und den Wunsch in mir erregte etwas, wenn 
auch von geringstem Umfange, hervorzubringen was 
denselben Titel trüge und zwischen jenen schweren, 
monumentalen Massen und diesen emporschiessenden 
und zerplatzenden Feuerkugeln an Dichtigkeit und 
Bewegungsfahigkeit die Mitte hielte. Dem launen- 
haften Triebe gesellte sich ein berechtigterer zu: die 
Aufmerksamkeit auch weiterer Kreise auf die ernsten 
und gediegenen Studien hinzulenken welche am Gestade 
der Adria blühen. Wir bekümmern uns um das Geistes- 
leben unserer Nachbarn wenig, weniger denn sonst, 
und das mag wohl zum Theile daran liegen dass sich 
Faktoren trennend und trübend einmischen die mit 
dem Höchsten und Besten, mit der Kultur, nichts zu 
schaffen haben. Allein es ist unmöglich dass wir uns 
nicht verständigen und herzlichst begrüssen sollten, 
wenn wir uns in die Atmosphäre jener Zeit erheben 
zu deren Kenntniss gerade Hortis mit unermüdlichem 
JPleisse Beitrag um Beitrag liefert, jener ruhmvollsten 



— 65 — 

Periode italischen Blutes da es, uneins und ohnmächtig, 
Europa unterwarf, da die „arme Magd^ Lehrmeisterin 
und Erzieherin der Völker wurde. Man möchte glauben, 
der Karst wäre ein unüberst-eigliches, mit ewigem Eis 
bedecktes Gebirge. Aber führt nicht die Bora den 
frischen Duft unserer Fichtenwälder zum blauen Meere ? 
Gibt uns nicht der würzige Scirocco einen Vorgeschmack 
des dort schon herrschenden Lenzes? 



Schachardt, Bomanisches u. KeltischeB. 



IV. 
Die Geschichte von den drei Ringen. 

Dass die nachfolgenden Worte über die berühm- 
teste aller Parabeln durch irgend etwas wie Trau- 
verweigerung oder Grabredenverbot, infallibilistische 
Anathemata oder oberkirchenräthliche Erlasse angeregt 
worden seien, dagegen verwahren wir uns mit Ent- 
schiedenheit. Die Veranlassung ist vielmehr eine ganz 
harmlose. In diesem Sommer hat A. Tobler aus 
einer Pariser Handschrift ein altfranzösisches Gedicht 
von ein paar hundert Versen, Li dis dou vrai aniel, 
herausgegeben und es mit litterarischen Nachrichten 
und sprachlichen Erläuterungen verziert. Wir ver- 
missen in der sorgßlltigen und gefälligen Arbeit nur 
eine Geschichte des Stoffes; doch vertröstet uns der 
Herausgeber derentwegen auf einen ungenannten Freund. 
Bis nun von dieser Seite den Sachverständigen durch 
Erfüllung eines schon lange gegebenen Versprechens 
Genüge geleistet wird, mögen hier die Fernerstehenden 
in kurzen Andeutungen an die verschiedenartigen Ge- 
staltungen der Geschichte von den drei Bingen und 
an einiges ihr ideell Verwandte erinnert werden. 

Je schwerer das Verhältniss der einzelnen Glaubens- 
bekenntnisse zueinander durch eine Formel auszudrücken 
ist, desto eher und öfter hat man es in einem Bilde 



— 67 — 

zu yeranschaulichen gesucht. Wir haben dabei drei 
Hauptfälle des Urtheils zu unterscheiden: 

1. Die Beligionen sind in Wirklichkeit 
von gleichem Werthe. und zwar: entweder 
taugt eine so wenig wie die andere. Dahin zielt jener 
Ausspruch von den drei Betrügern der Menschheit, 
Moses, Jesus und Mohamed, welchen man als An- 
klagepunkt gegen die Freidenker aller Jahrhunderte, 
von Kaiser Friedrich II. abwärts, willkommen geheissen 
hat. Oder eine taugt so viel wie die andere; Jeder 
kann, um mit dem alten Fritze zu reden, auf seine 
Fa^on selig werden. Diese Auffassung spiegelt sich 
in einem Oleichniss ab welches wir dem neueren 
Persien verdanken. Den Dichter Kemal Ibn Oajass 
lässt der Sultan Mirsa zu sich rufen und fragt ihn 
(wir bedienen uns der Worte Rückerts): 

In vier verschiedne Sekten theilt 
Sich alles Volk der Muselmanen; 
So sage nun mir unverweilt: 
Wer geht davon auf rechten Bahnen? 

Worauf jener erwidert : 

Du thronest hier in einem Saal 
Zu dem geöffnet sind vier Thüren, 
Und deinen Thron sieht allzumal 
Wen du durch eine lassest führen. 

Dass ich des Weges nicht geirrt, 
Des musste mir dein Bote frommen, 
Und nun weiss ich, vom Glanz verwirrt. 
Nicht welches Weges ich gekommen. 

Diese Antwort, welche vom Sultan reich belohnt 
wird, ist eine sofiistische (nicht eine sophistische); 

denn die Sofi beten Gott nur in der Liebe an und 

5* 



- 68 - 

verhalten sich gegen alle äusseren Formen gleichgültig, 
kennen daher keine Rechtgläubigen und keine Un- 
gläubigen. 

2. Die Religionen sind nur scheinbar 
von gleichem Werthe, in der That ist eine 
einzige die wahre, aberweiche, weiss Gott 
allein. Auf dem menschlichen Standpunkt vollkom- 
mener üngewissheit befindet sich Saladin kurz vor 
seinem Tode. Von all seinem Reichthum ist nur ein 
kostbai*er Tisch übrig; er lässt ihn mit einem Beil in 
drei gleiche Theile zerhauen und widmet dem Mohamed, 
dem Judeijgott und dem Christengott je einen Theil; 
wer der stärkste sei, der möge ihm helfen. Der biedere 
Jansen Enenkel (ein Wiener Dichter des 13. Jahr- 
hunderts) erzählt es in seinem Weltbuche. Dem Juden- 
thum als der unterdrückten und doch so ausserordent- 
lich zähen Religion war es vorbehalten für diesen 
hienieden unlösbaren Zweifel ein sinnreiches Bild zu 
entdecken, um sich nach aussen, wenn nicht das Vor- 
recht, so wenigstens die Möglichkeit des allein gött- 
lichen Ursprungs zu wahren. Die Darstellung der 
verschiedenen Bekenntnisse als vererbter Kleinode liegt 
ganz innerhalb der jüdischen Gedankenreihe. Die Ein- 
kleidung in Frage und Antwort ist auch dem persischen 
Gleichniss eigen (obwohl es hier entlehnt sein mag); 
aber dass sich die Frage als Fallstrick, die Antwort 
als listige Auskunft erweist, das verräth jüdischen 
Ursprung. Indessen ist uns die in Rede stehende 
Parabel als jüdische erst aus später Zeit bekannt. 
Salomo Ben Verga (Ende des 15. Jahrhunderts) theilt 
uns nämlich an der Stelle seines Schöbet Jehuda welche 
von den Judenverfolgungen in Spanien handelt, eine 



— 69 — 

Unterhaltung zwischen König Pedro dem Aelteren von 
Aragonien (1094 — 1104) und dem Juden Ephraim 
Sanchus mit. Letzterer erzählt dem König auf dessen 
Frage welche Religion die wahre sei, die christliche 
oder die jüdische: sein Nachbar habe vor einer Heise 
jedem seiner beiden Söhne einen Edelstein zurück- 
gelassen, und er, Ephraim, sei über die Eigenschaften 
und den Unterschied dieser Edelsteine befragt worden. 
Er habe gerathen die Entscheidung bis zur Bückkehr 
des Vaters, der ja Juwelier sei, aufzuschieben, und da 
habe man ihn geschmäht und geschlagen. Diese rabbi- 
nische Ueberlieferung hat ohne Zweifel ein hohes Alter; 
sie ist ein erster Versuch oder nicht weit davon ent- 
fernt. In wesentlich anderer und besserer Gestalt, die 
sie aber gewiss noch innerhalb des Judenthums em- 
pfangen hat, begegnen wir ihr als der altitalienischen 
Novelle von den drei Bingen: zunächst unter den 
hundert alten Novellen, dann im Awenturoso Ciciliano 
des Busone da Gubbio (eines Freundes von Dante), 
endlich im Dekameron Boccaccios. Es lässt sich nicht 
läugnen dass diesem Edelstein, welcher unter den Bari- 
täten des Novellenbuchs wegen seiner Unansehnlichkeit 
noch leicht zu übersehen ist, erst von Boccaccios 
KünsÜerhand Glanz und Glätte zu Theil ward; aber 
seine symbolische Kraft bewährt sich am reinsten und 
stärksten bei Busone. Hier liebt der Vater den einen 
Sohn am meisten und hat ihm von Anfang an den 
Bing zugedacht (dem ältesten — eine Anspielung auf 
die Erstgeburt des Judenthums); die Werthlosigkeit 
der beiden nachgeahmten Binge wird nachdrücklich 
hervorgehoben. Bei Boccaccio liebt der Vater seine 
Söhne ganz in gleicher Weise, und in gleicher Weise 



— 70 — 

sucht er sie zufrieden zu stellen ; von dem verschiedenen 
Werth der Ringe wird nicht gesprochen. In der That 
ist ja der Werth, d. h. der äusserliche, ziemlich gleich- 
gültig. Die eigentliche Bedeutung des alten Binges 
beruht auf der Verordnung des Ahnherrn; durch den 
letzten Willen des Vaters der drei Söhne aber, nicht 
nur den ausgesprochenen, sondern auch den wirklich 
gehegten, erhalten die nachgefertigten Ringe dieselbe 
Bedeutung wie jener: es sind far das worauf es an- 
kommt, für die Erbfolge, alle drei Ringe von gleichem 
Werthe, und Monsignor Bottari hat sicher nicht viel 
Ursache einen Beleg für den katholischen Sinn Boc- 
caccios in dieser Novelle zu erblicken. Versuchen wir 
andrerseits sie jenem Grundgedanken von welchem wir 
zuerst sprachen, anzupassen, so bleibt wiederum das 
Zweideutige und Störende des echten und rechten Ringes. 
Kurz, das Bild schwebt auf der Spitze einer gewölbten 
Fläche; der leiseste Druck daran, der einen oder der 
andern Un Vollkommenheit abzuhelfen, bringt es zum 
Rollen nach vorn oder hinten. Boccaccio will besser 
begründen warum das Benehmen des Vaters gegen alle 
Söhne das gleiche ist, und das Bild rollt rückwärts; 
wollte Jemand besser begründen warum der eine Ring 
so hohe Ehren geniesst und seines Oleichen nicht findet, 
so würde es vorwärts rollen. 

3. Die Religionen sind von ungleichem 
Werthe, nur eine ist die wahre, und sie gibt 
sich auch als solche den Menschen zu er- 
kennen. So sagt das Christenthum. Wozu sonst 
seine Blutzeugen und seine Wunderzeugnisse? Petri 
Fischerring ist der echte Ring. Wir deuteten schon 
an wie leicht die Abänderung des Gleichnisses vor sich 



— 71 — 

geht: die Wunderkraft des Christenthums wird durch 
die Wunderkraft des einen Ringes versinnbildlicht. 
Von Alters her laufen viel Geschichten um von Bingen 
mit übernatürlichen Kräften; so die eine von dem 
Binge Fastradas, welcher Liebe zu erwerben vermochte. 
Ein derartiger Zauberring ist in unserer Parabel an- 
gebracht wie die Gesta Bomanorum sie erzählen. Der 
jüngste Sohn schlägt die Zweifel der Brüder an der 
Echtheit seines Binges durch die Thatsache nieder: 
er heilt mit ihm alle Krankheiten, während die beiden 
andern Binge keine Wirkung ausüben. Nicht nur 
dieser jüngeren Fassung, sondern der Geschichte von 
den drei Bingen überhaupt älteste bekannte Auf- 
zeichnung ist (aus dem 13. Jahrhundert) Toblers Li 
dis dou vrai aniel. Daselbst ist die eigentliche Parabel 
durch einen nicht sehr geschickten Zusatz erweitert, 
zu welchem die zeitgenössische Geschichte die Veran- 
lassung gegeben hat; der echte Bing bedeutet zuerst 
die christliche Lehre, dann das den Christen geraubte 
heilige Land oder vielmehr Beides zugleich. Es heisst 
von ihm dass er 

— iert qaasses et debrisies 
Et estoit mis en nonccUoir, 
Dont on se devoit bien doloir, 

bis Gott drei Fürsten (Philipp III. oder IV. von Frank- 
reich, Bobert 11. von Artois, Guido von Flandern) dazu 
beruft dem Binge zu seinem rechtmässigen Besitzer 
und zu seinen alten Ehren zu verhelfen. — Jahrhun- 
derte später zersprang der echte Bing in viele Stücke ; 
bei welchem Stücke ist die Wunderkraft verblieben? 
Und wie äussert sie sich ? Die Wunderquelle der alten 
Zeit ist versiecht, und pochen wir auf die augenfällige 



- 72 - 

besondere Wirkung gerade unserer Lehre, so räumt 
man uns dies nicht ein, entgegnet uns vielmehr: wir 
Wilden sind doch bessere Menschen. 

Lessing, an der berühmten Stelle seines Nathans 
des Weisen, begnügt sich nicht mit Einem; in einer 
Musik von schönen üebergängen reiht er Verschiedenes 
aneinander und schliesst mit einem vollen, ergreifenden 
Accord aus seinem innersten Herzen. Mir ist unbekannt 
was die so reiche Nathanlitteratur darüber berichtet; 
auf die Gefahr der Wiederholung hin sei dieses Wenige 
gesagt. Zuerst wird die Geschichte von den drei Bingen 
nach Boccaccios Lesart vorgetragen ; dann aber ausfuhr- 
lich die Verhandlung vor dem Schiedsrichter geschildert. 
Dieser spricht, nachdem er den Fall angehört hat: 

Wenn ihr mir nun den Vater 
Nicht hald zur Stelle schafft, so weis' ich euch 
Von meinem Stuhle. 

Ganz wie bei Salomo Ben Verga. Der Richter 
fahrt fort: 

Doch halt! Ich höre ja, der rechte King 
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen, 
Vor Gott und Menschen angenehm. 

Der Bing ist wunderthätig (die Erwähnung dieser 
Eigenschaft findet sich allerdings schon gleich im An- 
fang eingeschaltet), aber nicht wie in dem Dit dou 
vrai aniel und den Gesta Romanorum, indem er Krank- 
heiten heilt, sondern indem er, wie Pastradas Ring, 
Liebe erwirbt. Als aber keiner der Ringe diese Probe 
besteht, ruft der Richter aus: 

80 seid ihr alle drei 
Betrogene Betrüger! Eure Ringe 
Sind alle drei nicht echt. 



— 73 — 

Siehe das Buch de tribus impostoribus. Und end- 
lich jene versöhnende Mahnung welche so nah an die 
„vier Thüren" des Mewlana anklingt: 

Wohlan ! 
Es eifre Jeder seiner unbestochnen 
Von Vorurtheilen freien Liebe nach! 
u. s. w. 

Aus der Geschichte von den drei Bingen schöpfte 
Swift die Idee zu seiner Geschichte von den drei Röcken, 
dem Tale of a tub; aber wie weitschweifig und wie 
engherzig ist diese Satire ! sie dient, wie er selbst ein- 
gesteht, der Verherrlichung der englischen Hochkirche. 
Lessing blickte höher und weiter, vielleicht zu weit. 
Bald (1879) sind es hundert Jahre dass sein Nathan 
erschien; wie werden wir die Jubelfeier begehen? 
Natürlich durch Aufführungen auf unseren Schau- 
bühnen. Aber werden dann auch auf der grossen 
Bühne des neuen Seichs die Spieler die in der Helden- 
tragödie so reiche Lorbeeren pflückten, im bürgerlichen 
Schauspiel der drei Binge die ,,Sanftmuth" und „herz- 
liehe Verträglichkeit" zu zeigen wissen welche in ihren 
Bollen vorgeschrieben ist? alle Spieler, auch die der 
Hauptpartien? oder werden — doch 

Flu8 n^en dirai a eheste fois. 



V. 
Ariost. 

Da Ariost am 8. September 1474 geboren ist, so 
hätte man sein vierhundertjähriges Geburtsfest im 
September 1874 begehen müssen. Man hat aber diese 
Feier aufgeschoben. Warum, kann ich mit Bestimmt- 
heit nicht sagen ; vielleicht dass das gewaltige Bauch- 
opfer welches man im Juli 1874 auf dem Altar 
Petrarcas angezündet hatte, erst verdampfen sollte ehe 
man ein anderes — weit kleineres, wie es scheint — 
auf dem Altar Ariosts darbrächte. Wie dem auch sein 
mag, man hat das Ariostfest von Ferrara in den 
Mai 1875 verlegt, und zwar mit der Einweihung des 
Concor so agrario regionale verbunden. Es ist wahr, 
Ariost schwärmte für den Landsitz Mauriziano und 
entwirft von dessen Seizen eine begeisterte Schil- 
derung; es ist wahr, Ariost spricht hie imd da von 
Ochsen, Furchen und Ackerwerkzeugen mit mehr 
oder weniger Anerkennung ; es ist endlich wahr, Ariost 
hat eine Ekloge gediehet. Aber musste deshalb seine 
Jubelfeier ein landwirthschaftliches Gepräge erhalten, 
musste die Woche in welche sie fallt, mit der Eröff- 
nung des besagten Concorao agrario beginnen und mit 
der Preisvertheilung an die Aussteller schliessen ? Zu 
wessen Ehren die dreifache Aufführung der „Aida" 



- 75 - 

stattfindet, das Feuerwerk auf der Piazza d'armi, der 
Wohlthätigkeitsball, die Wettfahrten, zu Ehren der Ceres 
oder der Musen, das Programm sagt es uns nicht. 
Laut diesem wird übrigens am 23. Mai das Standbild 
des Ferraresen Savonarola enthüllt, der nur darum 
mit Boccaccios und Petrarcas Schriften nicht auch die 
Ariosts verbrannte weil sie noch nicht geschrieben 
waren. Ein buntfarbiges Fest, nicht wahr? und die 
Einladungen dazu erst drei Wochen vorher in die Welt 
zu senden ! Das heisst doch geradezu sich alle Ariosti- 
schen Festschriften verbitten. Nun, da bleibt nichts 
übrig als wir stammeln in Eile aus unfertigen Be- 
trachtungen, rasch aufgegriffenen Bildern und ein paar 
Citaten einen Gruss zum Geburtstag des Dichters zu- 
sammen, zu dem welchen ihm die gute Stadt Ferrara 
aufgenöthigt hat. 

Doch nein; an die Stelle des scheinbar so be- 
scheidenen „wir^^ trete das wirklich bescheidenere 
„ich"; der Gruss soll ein rein persönlicher sein. Wie 
könnte ich auch z. B. im Namen derjenigen reden 
welche mit dem Donnerkeil des „sittlichen Ernstes" 
die Welt regieren? Ach, nicht einmal sittliche 
Heiterkeit darf ich f^ Ariost in Anspruch nehmen, 
nein, Heiterkeit und nichts weiter, aber diese in voll- 
stem Mass, und deswegen ist Ariost so gross. Wie 
viel leichter ist es dem Dichter, dem Wort- wie dem 
Tondichter, unser Blut in Sturm zu peitschen und 
unser Herz mit ungelösten Bäthseln zu ängstigen als die 
Wellen in uns zu beschwichtigen und uns mit dem 
Gefühle vollkommenen Einklangs, hellen Jubels zu er- 
fallen? Wie viel dankbarer müssen wir nicht den- 
jenigen sein denen das Letztere gelungen ist? Die 



- 76 - 

Verse Ariosts wirken wie die Melodien Mozarta. unter 
unsern Dichtern, ist nur einer der in olympischer 
Heiterkeit mit Ariost wetteifert: Goethe. 

Goethe und Ariost weisen überhaupt manche sehr 
verwandte Züge neben den allerverschiedensten auf. 
Der träumerische, zerstreute Ariost, der nur auf der 
Landkarte zu reisen liebte, und Goethe mit seiner 
starken Theilnahme an der Aussenwelt, seiner scharfen 
Beobachtungsgabe, seinem lebhaften Beisedrang, Beide 
sind aristokratische Naturen, Hofleute, der grossen 
Menge wenig geneigt; bei Beiden tritt die Liebe zum 
Vaterland kaum, um so stärker die zum andern Ge- 
schlechte hervor. „Lieben und lieben lassen" war 
Ariosts Wahlspruch: 

Ch^ io per we voglio dl capd nero e al bianco 
Ämare ed esortar che sempre s^ami, 

(Elegie XV, 40 f.) 

„Der Urquell alles Dichtens ist die Liebe,*' das 
haben die Dichter selbst von jeher unzählige Male be- 
hauptet. Kein Dichter kann das 

Scribenti mi dictat Amor moatratque Cupido 

mit grösserem Rechte von sich sagen als Ariost. Zwar 
hält der kleine Amor der auf seinem Schreibzeug an- 
gebracht ist, den Zeigefinger auf den Mund, als ob er 
zum Schweigen mahne. Aber es handelt sich hier offen- 
bar nur um die Verschwiegenheit in Prosa gegenüber 
dem rohen Ausplaudern von Thatsachen; mit Liebesduft 
(und nicht mit künstlich gewonnenem, wie dem von 
Vater Wieland) sind Ariosts Verse stark genug ge- 
schwängert, üeber seine früheren Geliebten wissen 
wir nichts Bestimmtes; ihre Zahl scheint eine be- 
trächtliche gewesen zu sein. Wenigstens rühmt sich 



- 77 - 

Ariost selber seiner Unbeständigkeit. Wollen Sie wissen 
wie Goethes 

Heut lieb' ich die Johanne 
Und morgen die Susanne, 
Die Lieb' ist immer neu 

in Äriostischem Latein lautet? 

Est mea nunc Glycere, mea nunc est cura Lycoris, 
Lyda modo meus est, est modo Fhyllis amor, 

(De diversis amoribus, Anf.) 

Später indessen liess sich Ariost in dauernde Bande 
schlagen. Am Johannisfest zu Florenz 1513 hatte er 
die schöne Alessandra Strozzi zum ersten Mal als 
Witwe gesehen; das schon glimmende Feuer loderte 
hoch empor und erlosch nie wieder. Von ihrem prächtigen 
goldenen Haare, das so schön gegen die schwarze Klei- 
dung abstach, singt Ariost öfters ; er bricht in schmerz- 
liche Klagen, in Vorwürfe gegen den Arzt aus, als es 
ihr bei einer schlimmen Krankheit abgeschnitten wurde. 
Berenikes Haar wurde unter die Sterne versetzt; 
Alessandras Haar wallt in üppigen Locken um den 
Nacken der Ariostischen Heldinnen. 

Es ist unbegreiflich wie Ruth hat behaupten 
können, in Ariost sei der Mensch vom Dichter ver- 
schieden. Als ob dies überhaupt möglich wäre, als 
ob dieser Widerspruch nicht immer ein nur schein- 
barer sein müsste! Sind etwa Ariosta Elegien, Can- 
zonen, Sonette, Madrigale nicht in demselben Sinne 
Gelegenheitsgedichte zu nennen wie die Lieder Goethes? 
Welch ein Feuer rinnt in diesen marmornen Elegien! 
Wie verschmilzt der Nachklang genossener Freuden 
in Catullische Erinnerungen! Eine Liebesnacht die so 
beschrieben wird wie es in der sechsten Elegie ge- 



— 78 — 

schieht, muss erlebt sein; eines so ungesuchten, un- 
mittelbaren Ausdrucks ist keine ersonnene Seligkeit 
fähig. Die Elegie schliesst, gleich den „Morgenliedern" 
der alten Provenzalen und Franzosen, mit einer Klage 
über, den anbrechenden Morgen — aber in antiker 
Formel : 

Warum verliessest, neidische Aurora, 

Du deinen alten Tithon, ach, so früh 

Und brachtest mir so früh die Trennuogsstunde ? 

Wenn du des greisen Gatten müde bist. 

Was suchst du dir nicht einen jungem Freund, 

Und lebst in Freuden, lässt in Freuden leben? 

Was die Satiren anbelangt, eine Gattung in 
welcher Ariost sich nicht minder auszeichnete als in 
der der Elegien, so sind sie geradezu die wichtigsten 
Quellen für seine Lebensbeschreibung. 

So bedeutend Ariost auch als Elegiker und Sati- 
riker sein mag, als Gestirn ersten Banges leuchtet er 
nur auf zwei Entwicklungsbahnen der italienischen 
Dichtung, am Anfang der einen, am Ende der andern. 
Mit ihm beginnt das Lustspiel, schliesst das romantische 
Epos; auf beide fallen die Strahlen des wiedererwachten 
Alterthums, dort als Morgenröthe, hier als Abendröthe. 
Ich will nichts über Ariosts Lustspiele sagen, da die 
Ansichten über sie nicht sehr auseinandergehen, und 
über seinen „Rasenden Roland" nur wenige Worte. 

Nie ist ein Werk so verschieden gewürdigt worden 
wie dieses. Ich möchte es einem schillernden Stein 
vergleichen der von der einen Seite roth, von der 
andern grün, von der dritten blau erscheint, und dessen 
Färbung nur als schillernde richtig bezeichnet wird. 
Aus den verschiedenartigen ürtheilen geht die Wahr- 



— 79 — 

heit von selbst hervor. „Au Ariost bewundem 
wir^S heisst es an einer Stelle, „nicht das Ganze, 
sondern das Einzelne; nicht den Stoff, sondern den 
Stil." An der andern heisst es: „Ariost hat nichts 
erfunden; er hat dem Bojardo und wem sonst noch 
die Erzählung, die Personen, die äussere Form des 
Gedichtes gestohlen, seine eigene Zuthat ist gering." 
Aus Beidem schliessen wir: was Ariost von Andern 
hat, ist das unwesentliche; das Wesentliche gehört 
ihm zu. Aeusserlich genommen ist allerdings Ariosts 
Zuthat gering, unwägbar fast, wie Duft und Farbe 
der Blumen; aber je schwieriger seine Kunst zu be- 
greifen und auseinanderzusetzen ist, um so höher 
steht sie. Oder denken wir uns eine byzantinische 
Maria von der Hand eines Bafaels in eine bezaubernd 
anmuthige und milde Maria verwandelt; werden die 
Kenner nicht um so lauteren Beifall spenden je wenigere, 
je leichtere Striche es den Maler gekostet hat? Werden 
die Gläubigen nicht um so inbrünstiger zu dem neuen 
Bilde beten je grössere Aehnlichkeit, trotz der Ver- 
schiedenheit des Ausdrucks, ihm mit dem alten ver- 
blieben ist? 

Die Einen sagen, Ariost habe das Bitterthum ver- 
spotten, die Andern, er habe es im Ernst verherrlichen 
wollen. Diese, die befremdlichere Ansicht wird z. B. 
von dem bekannten Dichter B. Zendrini vertreten 
(Commemorazione di i. Ariosto, Ferrara 1866), Ihr 
zufolge „fahlt und denkt Ariost wie seine Helden" 
(S. 11), erzählt er jene durch die volksthümliche Ueber- 
lieferung geheiligten Ereignisse mit der Einfachheit 
eines Chronisten der. sie aus zuverlässigen Urkunden 
schöpft (S. 9); in Bezug auf die scherzhafte Färbung 



— so- 
mit welcher zuweilen die ernstesten Dinge gegeben 
werden, vergleicht Zendrini den Ariost mit Homer 
(S. 8), obwohl doch schon A. W. von Schlegel einen 
solchen Vergleich als irrig und irreführend zurück- 
gewiesen hatte. Nein, Ariost beabsichtigt, auch da 
wo er den Wahnsinn Rolands darstellt, keineswegs 
Schrecken und Mitleiden zu erregen ; aber ebensowenig 
soll sein Gedicht eine Satire auf das Ritterthum ent- 
halten. Die Alternative ist oft eine sehr gefahrliche 
Scylla und Charybdis für die litterarische Kritik. Ariost 
hatte überhaupt nach dieser Richtung gar keine be- 
stimmte Absicht. Bei ihm haftet der Erzählung keine 
selbständige Bedeutung an; sie ist ihm das Gewand, 
mag es von Sammet, Seide oder Tuch sein, auf dem 
er seine bunte Stickerei anbringt. Deshalb eben wählte 
er einen im Wesentlichen schon bekannten Stoff da- 
mit auf ihn nicht allzusehr das Interesse abgelenkt 
würde von den neuen Schönheitslinien in welche 
er ihn einschloss, von den Arabesken seiner heitern 
Laune mit welchen er ihn umschlang. Deshalb auch 
wirrte er die zahlreichen Fäden der Handlung so 
übermüthig durcheinander. Ariost trachtet nicht dar- 
nach in dem Leser die Ueberzeugung hervorzurufen 
dass wirklich geschehene Dinge besungen werden; 
„ob's wahr, ob's falsch," scheint er ihm in seiner 
beliebten Formel zu sagen, „was kümmert's dich?" 

Eine wunderbare Kette von Wandlungen führt 
vom Rolandslied auf den „Rasenden Roland". Wie oft 
ist der Wein aus einem Gefass in das andere umge- 
gossen, wie viel neue Ingredienzen sind ihm beigemischt 
worden, wie sehr hat er Geschmack und Wirkung 
geändert! Das ist nicht mehr der reine, kräftige Trank 



— 81 — 

den wir aus schwerem Hörn schlürfen, um uns zum 
Kampfe gegen die Feinde Gottes und des Vaterlandes 
zu begeistern ; das ist ein süsser, berauschender Trank 
aus kostbarer Schale, der uns, den auf dürrer Steppe 
Wandernden , eine . herrliche Fata Morgana vor die 
Augen zaubert. Rolands und seiner Genossen WaflFen 
liegen rostig am Boden, da schlüpfen schalkhafte Liebes- 
götter herbei und legen sie an, um miteinander zu 
kämpfen. Alles prangt wieder in frischem Glänze; 
Durindana, Balisarda, Fusberta blitzen nieder auf Schild 
und Rüstung; die Streitrosse sinken in die Kniee, es 
rinnt das Blut aus den Wunden der Ritter — aber 
wir lächeln dazu! „Wo habt ihr all den Firlefanz 
her, Herr Lodovico?-* fragte der Kardinal Hippolyt 
den Dichter, als dieser ihm sein Werk überreichte. 
Die Frage war nicht ernsthaft gemeint ; doch hat uns 
Pio Rajna versprochen die Antwort darauf zu geben, 
die der Dichter schuldig geblieben war. 

„Keinem Andern," sagt V. Gioberti, „steht Ariost 
nach als dem Dante, und ihm steht er nahe genug." 
Nicht umsonst, darf ich hinzufügen, hat die Nachwelt 
nur diesen Zweien das Beiwort „göttlich" zuerkannt. 
Petrarca als italienischer Dichter kann sich schwerlich 
mit Ariost messen; vor Allem fehlt ihm die Mannig- 
faltigkeit im Schaffen: bei ihm scheint ein einziger, 
unendlicher Liebesseufzer in Hunderte von Sonetten zer- 
schnitten zu sein. Ein grösserer Gegensatz als der zwi- 
schen Dante und Ariost lässt sich übrigens nicht vor- 
stellen: Meister im Reiche der Gedanken der eine, Meister 
im Reiche der Formen der andere. Dante ist Weltdichter ; 
er erhebt sich auf nationaler Grundlage, aber so unge- 
mein hoch über sie dass ihm fast jeder Zusammenhang 

Schachardt, Romanisches u. Keltisches. 6 



- 82 - 

mit seiner Umgebung verloren geht. Er gleicht einer 
hohen, eisbedeckten Bergkuppe, die mit Mühe zu er- 
klimmen ist; von hier geniesstman die allerweiteste Aus- 
sicht, aber das Fernerliegende verliert sich in Dunst und 
erregt Zweifel. Es lässt sich kaum behaupten dass Dante 
in seiner Stimmung und Anschauung dem Italiener 
verständlicher sei als dem Deutschen; wie zu einem 
der Alpenhäupter führt von jener Seite kaum ein 
kürzerer und bequemerer Weg zu ihm als von dieser. 
Welch anderes Bild bietet die Ariostische Dichtung 
dar ! Inmitten Italiens liegt ein mühelos zu ersteigen- 
der Berg; er ist von üppigem Walde bedeckt; man 
hört das liebliche Murmeln der Quellen und das tausend- 
stimmige Gezwitscher der Vögel; die Pfade kreuzen 
und verschlingen sich; überall eröffnen sich Durch- 
sichten auf die lachende Ebene, in der die Zinnen von 
Palästen erschimmern. Man athmet hier eine frische 
und würzige Luft ein, man erfreut sich am köstlichen 
Schatten; immer aber fühlt man die enge Zugehörigkeit 
dieser Höhe zu der umgebenden Landschaft. Ich be- 
trachte Ariost als den vorzugsweis italienischen Dich- 
ter. Nur in Italien war Ariost möglich, in dem Stamm- 
sitze der Schönheit, wo sogar unermesslicher Schmerz 
nicht, wie bei uns Nordischen, in heiseren, schrillen 
Schreien hervorbricht, sondern in Wellen des Wohl- 
lauts ausströmt. Auch Leopardi war nur in Italien 
möglich, der, wie ein alter Gladiator, vor den Augen 
Aller seinem Todeskampf Würde und Anmuth lieh — 
dem endlosen. 

Uns Deutschen wird es nicht leicht dem Ariost 
den richtigen Platz anzuweisen. Die grämlichen, schwer- 
fälligen Beurtheilungen die er in diesem Jahrhundert 



- 83 - 

von den Deutschen erfahren hat, beweisen es; die 
gerühmte Objektivität und ein paar ästhetische Kate- 
gorien thun es freilich nicht allein, es ist auch etwas 
Geistesverwandtschaft noth wendig. Diese besass Goethe, 
und seine schönen Verse über Ariost wiegen alle jene 
ürtheile auf. Nun würde gerade uns die Beschäftigung 
mit dem Dichter frommen bei dem das Was hinter 
das Wie zurücktritt wie bei keinem zweiten. Denn 
das Wie ist unsere schwache Seite. Galilei hat, der 
eigenen Aussage zufolge, sich seinen schönen Stil 
durch fleissiges Lesen Ariosts erworben; Hessen sich 
doch auch die neunundneunzig Hundertel unserer 
Schriftsteller eine Dosis Ariost verordnen! Die Ver- 
schiedenheit der Sprache würde kein Hinderniss sein; 
es gälte ja dabei nur jene innere Musik zu wecken 
und zu bilden aus der jede schöne Kundgebung hervor- 
quillt, und deren Mangel allein die zahllosen Geschmack- 
losigkeiten erklärt die täglich um uns her auftauchen. 
Indessen, der „Rasende Roland" ist ein Gedicht in 
welchem das Mittel den Zweck gänzlich verdunkelt; 
wie kann ein solches Gedicht bei uns Anklang finden 
die wir zwar die Jesuiten verbannt haben, aber — 
in Dichtung und Kunst, im Politischen und Gesell- 
schaftlichen — eine kleine Vorliebe für den berühmten 
Grundsatz des Ordens an den Tag legen? 

Doch wer auch immer glaubt dass kein Werk 
unsterblich lebt welches nicht in der Form vollendet 
ist, der wird nicht müde werden dich zu preisen und 
zu bewundern, unsterblicher Ariost! 



VI. 
Camoens. 

Dem Dulder dessen Ruhm auf jon'scher Leier 
So laut erklang, der, von Poseidons Hand 
Mit Tod bedräut, sich den gefeiten Schleier 
Der Meeresgöttin um die Hüften band 
Und aus der salz'gen Fluth mit solchem Steuer 
Den Eingang zum Phäakenstrome fand, 
Dem glichst, Camoens, du, nachdem dein Schiff 
Gescheitert an Kambodschas Felsenriff. 

Dein göttlich Lied trägst du auf deiner Brust, 
Drum siehst du Tethys rettend zu dir schweben; 
Du sangst ja ihr zum Preise und zur Lust 
Und wirst sie noch mit hell'rem Glanz umgeben. 
Bist du dir froh der Rettung nun bewusst? 
Nein! denn ein Schiffbruch ist dein ganzes Leben, 
Und stets hebst du die sehnsuchtsvolle Hand 
Vergeblich nach des Glückes grünem Strand. 

Du leidest was die Erde Schlimmes kennt, 

Verbannung, Liebespein, Gefängniss, Wunden; 

Doch hat des Sturms misstönend Element 

Das dich umtobt, durchwühlt zu allen Stunden, 

In dir, gebenedeites Instrument, 

Nur wundersüssen Wiederhall gefunden: 

Du bist Odysseus und Homer zugleich. 

Und so im Leben arm, im Tod erst reich. 

Die ungemeine Befähigung der Portugiesen zur 
Lyrik hat durch Keinen einen vollendeteren Ausdruck 



— 85 - 

gefunden als durch Camoens; in jene schwärmerische 
Sehnsucht, jene saudades, die den Portugiesen sind 
was der dor den Bumänen, hat Keiner die Fittiche 
seiner Seele so tief gesenkt als er, Keiner ausser ihm 
hat der weichen, melodischen Sprache ihre letzten 
Geheimnisse abgelauscht, um petrarkische Rhythmen 
oder volksthümliche Weisen damit zu schmücken. Auf 
den Boden dreier Welttheilc, in die Furche des Tausende 
von Meilen durchmessenden Schiffes streut er mit voller 
Hand seine Lieder aus: die Erlen- und Orangenhaine 
die des Mondego klare Fluthen beschatten, die alten 
Cypressen welche an der „Liebesquelle" das Geschick 
der Ignez betrauern, vernehmen die zärtlichen Ergüsse 
des Studenten ; laut ertönt in den Hallen des Palastes 
von Cintra, der alten Maurenresidenz, galante Hul- 
digung und witziges Geplänkel, und die Wände geben 
das Por bem Johanns I. als Echo zurück, aber leise 
steigt beim Mondenschein aus dem Herzen des Dichters 
ein feuriges Opfer zum Fenster der schönen Katharina 
empor ; von Ceuta, jenem Dorn im Nacken des Mauren, 
wo so verlockend Spaniens Berge in dunklerem und 
hellerem Blau herüberschimmern, sendet er Sehnsuchts- 
seufzer nach Lissabon und stolze Herausforderungen 
an die goldbespornten , weissbekappten Feinde; das 
Funkeln des südlichen Kreuzes fällt wie ein Strahl in 
seine Brust, um alle seine Erinnerungen zu lebendiger 
Gluth zu entfachen, und er klagt seinen Kummer den 
Nereiden die sich auf dem Silberschaum der Wellen- 
kämme schaukeln ; am Kap der guten Hoffnung, einst 
„Kap der Stürme", gähnt ihm der Tod entgegen, und 
er fleht Amor um seine niedrigste Gunst an, es möge 
die Geliebte eine Stunde seiner gedenken ; auf Afrikas 



— 86 — 

östlichstem Vorsprung, nahe an einem Berge der der 
„glückliche" heisst, „wo kein Vogel fliegt, kein Raub- 
thier schläft, kein Wasser rinnt und kein Zweig rauscht", 
durchschneidet die glühende Luft ein glühenderer Wehe- 
laut; Indiens tropische Pracht flösst keinen Balsam in 
seine Wunden, er geisselt aufs Bitterste die Thorheiten 
und Unsitten seiner Landsleute, schildert das Leben 
dort als traurig und unerträglich, mehr und mehr peinigt 
ihn das Verlangen nach der Heimath und der Geliebten, 
sein schmerzlichster Klaggesang strebt von den Was- 
sern Babels nach Zion, das heisst nach Lissabon als 
irdischem Zion, hinter dem aber dem fast Verzweifeln- 
den die leuchtenden, unvergänglichen Zinnen des himm- 
lischen Zions emportauchen. So webt sich uns aus all 
den Sonetten und Canzonen, Eklogen und Elegien, Oden 
und Kedondilhen ein treues Bild des Ritters zusammen 
der durch seinen Preimuth, Uuabhängigkeitssinn und 
Mangel an Vorsicht das ihm schon abgeneigte Glück 
sich völlig entfremdete. Das sah er selbst ein; denn 
er sagt: 

Mein Irren, meine Liebe und mein Unstern 
Verschworen sich zu meinem Untergang. 

Aber wenn Dichter anderer Zeiten ganz in ihrem eigenen 
Jammer zerfliessen, wenn nur in ihren Thränen sich 
die Welt trüb und zitternd spiegelt, so gehörte Camoens 
nicht umsonst zu dem Geschlechte jener Helden welche 
die iberische Halbinsel im sechzehnten Jahrhundert 
erzeugte, und welche „in der einen Hand das Schwert, 
in der andern die Peder" führten. Er flüchtete sich 
aus der Empfindung des persönlichen Ungemachs in 
das stolze, sichere Gefühl einer so ruhmreichen, wenn 
auch nur so kleinen Nation anzugehören ; in der Liebe 



— 87 — 

zu seinem Vaterland, in dem Bestreben es durch seinen 
Sang zu verherrlichen, flammten alle Thätigkeiten seiner 
Seele wie in einem Brennpunkte auf. Von jener Grotte 
zu Macao schaut er auf die junge, von regem Treiben 
erfüllte Ansiedlung hinab und fernhin über das insel- 
besäete Meer, den Schauplatz portugiesischer Helden- 
kraft, die, ein unaufhaltsamer Pfeil, durch die weitesten 
Säume hindurch, in Asiens riesige, unbeholfene Massen 
gedrungen war ; zugleich vergegenwärtigt er sich dass 
die untergehende Sonne, welche die Binsensegel der 
fremdartigen Dschunken mit rosiger Färbung über- 
giesst, als Morgensonne den traulichen Stätten leuchtet 
an denen er seine frohe Jugend verbracht hat und die 
er mit leiblichen Augen nie wieder zu begrüssen ver- 
meint, und in seiner Brust wird der Chor aller Stimmen 
lebendig die ihm von der glorreichen Vergangenheit 
Lusitaniens erzählen. So kommt er auf den Gedanken 
vom äussersten Westen bis zum äussersten Osten 
unserer Hemisphäre seinem Volke einen Triumphbogen 
zu errichten dessen Scheitel an die Füsse des Aller- 
höchsten rühre ; in jener Grotte vollendet er die ersten 
Gesänge der Lusiaden. Der Einäugige von Genta 
schrieb das portugiesische Epos, wie später der Ein- 
händige von Lepanto den spanischen Roman; Beide, 
wahrhafte Krieger, kämpften den Innern Schmerz nieder, 
um sich der Nachwelt mit heiterer Stirn und in kühner 
Haltung vorzustellen. Nur mit dem feinsten Gehör, 
ich möchte sagen, mit Hülfe von Resonatoren, ver- 
nehmen wir den leisen Seufzer des Dichters, wenn 
Don Quijotes kühn erhobene Lanze an den gemeinsten 
Wirklichkeiten zersplittert; gegen Ende der Lusiaden 
gedenkt zwar ihr Verfasser seiner selbst in rührender 



— 88 — 

Weise, eine und die andere Sentenz ergibt sich als 
eigene bittere Lebenserfahrung, und des grossen Re- 
canatesen wären die Verse würdig: 

So wird's im heitern Himmel zuerkannt. 
Wir werden zu solch trauriger Bestimmung 
Geboren. Dauer hat das Leiden nur, 
Doch Gutes wandelt schleunig die Natur, 

endlich scheint die glähende Apostrophe des „würdigen" 
Greises der die Unternehmung Vasco da Gamas ver- 
flucht, in unendlicher Verstärkung aus einer tief ver- 
borgenen Herzensfalte von Camoens hervorzuhallen — 
aber alles das wird übertönt vom Klange der „har- 
monischen, kriegerischen Tuba". 

Nie hat ein epischer Dichtei sich einen grössern 
Stoflf erwählt als Camoens, nie die ganze Geschichte 
seines Volkes in leuchtenden Zügen unvergänglichem 
Marmor eingegraben. Die äussere Schwierigkeit welche 
in einer solchen Aufgabe liegt, hat Camoens meister- 
haft und zwar in eigenthümlicher Weise überwunden. 
Hätte er wie in einer Laterna magica die Ereignisse 
ihrer zeitlichen Reihenfolge nach vorgeführt, hätte er 
sich also zur Form einer mittelalterlichen Reimchronik 
bequemt, so wäre jede Gesammtwirkung verloren ge- 
gangen; er musste dem Werke durch perspektivische 
Vertheilung des Stoffes einen einheitlichen Charakter 
verleihen. Nun zerfällt die portugiesische Geschichte 
bis zu Camoens' Tod in zwei grosse Perioden, die etwa 
durch die Herrschaft der legitimen und die der illegi- 
timen Burgunder ausgefüllt werden. In den drei ersten 
Jahrhunderten sehen wir die portugiesische Nation wie 
ihre Mutter, die römische, aus einer kleinen kühnen 
Abenteurerschaar hervorgehen und durch eine lange 



— 89 — 

ßeibe von Kämpfen 'bald mit den Mauren, bald mit den 
Kastilianern ihr junges Reich erweitern und kräftigen ; 
aus freien Stücken schenken wir diesem staatlichen 
Emporringen unsere aufmerksame Theilnahme, dem 
Heldenmuth der Einzelnen, der Egas Moniz, der Fuas 
ßoupinho, der Nuno Alvares unsere wärmste Bewun- 
derung. Doch das thatendurstige Volk setzt den 
Mauren über die Meerenge nach und wird durch den 
geheimnissvollen Zauber Afrikas angezogen, bespiegelt 
sich im Ocean und wird hinausgelockt auf die Fluthen 
welche ferne mit feenhaftem Reichthum gesegnete 
Küsten bespülen. Zuerst dringen sie langsam, fast 
zaghaft nach Süden vor ; ein meilenweit vorspringendes 
Riff bildet viele Jahre hindurch ein Hinderniss welches 
unüberwindlich erscheint ; dann aber wird Kap um Kap 
genommen, immer rascher fliegen die Caravelen dahin, 
bald verlässt man das Land auf Hunderte von Meilen 
und sieht viele Wochen nichts als Himmel und Wasser, 
und endlich werden die Pforten Indiens erreicht. Nach- 
dem die Portugiesen allen Widerstand der Natur be- 
siegt haben, verrichten sie Thaten unerhörter Tapfer- 
keit gegen hundertfach ihnen überlegene Feinde und 
begründen die Herrschaft über das indische Meer. Die 
junge Siebenhügelstadt neidet der alten ihre Lorbeern ; 
es scheint 

der ganze Himmelsrath entschlossen 
Aus Lissabon ein neues Rom zu machen; 

Spanien ist das „Haupt Europas", Portugal der „Scheitel 
dieses Hauptes", und jede Regung im Scheitel durch- 
bebt den ganzen Körper. Den Vordergrund eines Ge- 
dichtes das sich den stolz-einfachen Titel „Die Lusiaden", 
d. h. „die Lusitanier" beilegt, muss das weite Meer, mit 



— 90 — 

portugiesischen Segeln bevölkert, ausfüllen. Camoens 
schildert uns was allen Seefahrten der Portugiesen im 
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert gemeinsam 
war, erzählt aber im Zusammenhang nur das was 
sich auf der zweiten Hälfte von Vasco da Gamas Fahrt 
zutrug; das Spätere lässt er durch eine prophetische 
Nymphe verkünden, alles Frühere aber, die mittelalter- 
liche Geschichte Portugals, sowie die Vorbereitungen 
zur ümsegelung des Südkaps, insbesondere den wunder- 
baren Traum Dom Manoels, auch den Anfang der 
eigenen Fahrt legt er dem Vasco da Gama und einen 
Nachtrag dazu dem Bruder desselben in den Mund. 
Diese Theile des Epos sind der Form nach allerdings 
Episoden, aber, wie Jeder deutlich aus den Eingangs- 
strophen ersehen kann, nicht ihrem Wesen nach; 
ist doch auf sie die höchste Kunst verwendet, erglänzt 
doch hier der kostbarste Edelstein, die Liebestragödie 
der Ignez de Castro. Man hat die Art und Weise 
getadelt wie sie in das Ganze eingefügt sind; aber 
wenn uns in einem alten Familiensaal Gemälde denk- 
würdigsten Stoffes und herrlichster Ausführung ge- 
zeigt werden, müssen sie nicht unsere Aufmerksamkeit 
so in Anspruch nehmen dass wir übersehen ob sie 
fester oder loser an der Wand befestigt sind? 

Camoens wendet sich zu Anfang seines Gedichtes, 
ohne sie zu nennen, an seine drei Lehrer Homer, 
Virgil und Ariost und ruft ihnen zu dass nicht nur 
die Fahrten des klugen Griechen und des Trojaners, 
sondern auch die erfabelten Wunder Rolands und 
Ruggieros durch das was die Portugiesen zu Wasser 
und zu Land vollbracht haben, in den Schatten gestellt 
werden. Er darf auf seine Wahrhaftigkeit stolz sein ; 



— 91 — 

wir können uns von ihr überzeugen, wenn wir seine 
Verse mit der Prosa des Geschichtsschreibers Barros 
vergleichen. Er übergeht auch die dunkeln Stellen 
der portugiesischen Geschichte nicht, und mit edler, 
männlicher OflFenheit rügt er die Fehler welche den 
einen und den andern seiner Helden, oder welche die 
ganze Nation entstellen. Bei alledem ist er dem 
Meister Ariost, dessen Schalkhaftigkeit er zum Glücke 
nur ausnahmsweise nachgeahmt hat, ins Fabelreich 
gefolgt, und Fr. von Schlegel meint sogar, in Farbe 
und Fülle der Phantasie habe er ihm den Kranz ab- 
gewonnen, ein Lob welches besonders schwer neben 
dem wiegt das A. von Humboldt der lebendigen Treue 
seiner Naturschilderungen spendet. Camoens hüllt die 
Begebenheiten seiner leibhaftigen christlichen Helden 
in eine duftige mythologische Wolke ein ; er schwingt 
seinen Zauberstab, und der Himmel belebt sich mit 
den alten Göttern. Auf kr}^stallenem Sternenthron sitzt 
Jupiter, und mit bebendem Busen, auf welchem unge- 
sehen Amor scherzt, mit flammensprühendem Gürtel 
naht sich ihm Venus, um seinen Schutz für ihre 
geliebten Lusitanier zu erflehen , wobei ihre Stimme 
von hervorstürzenden Thränen unterbrochen wird — 
auf dem Boden des Meeres erstehen glashelle Paläste 
mit goldenen, perlengeschmückten Pforten, und Bacchus 
reizt hier die Meergötter auf, seinen Feinden, den 
Portugiesen, Verderben zu bereiten — aus dem Meere 
erhebt sich ein Eiland welches an entzückender An- 
muth das der Alcina übertrifft und von den Gärten 
der Armida nicht erreicht wird, und im Arme schöner 
Nymphen werden den heimkehrenden Seefahrern ihre 
Mühen auf das Süsseste vergolten. Aber wiederum 



— 92 - 

schwingt der Dichter seinen Stab, die Wolke zerreisst, 
und wir erkennen das was uns so greifbar vor Augen 
getreten war, als eine Allegorie. Diese Einmischung 
antiken Heidenthums ist ebenfalls dem Tadel nicht 
entgangen. Man kann Camoens unwiderleglich mit 
Gründen vertheidigen die seinem Zeitalter entnommen 
sind, die aber auch heute noch einigermassen stich- 
haltig sein dürften. Die unendliche Fülle von Schön- 
heit welche der klassischen Mythologie innewohnt, 
hat sich als belebender Strom in die Kunst und 
Litteratur des neuen Europas ergossen ; er ist manch- 
mal übergeschäumt, aber ist er nun ganz versiegt ? Hat 
nicht Schiller noch seine Zauberkraft verherrlicht? 
Haben Gegenstände für uns keinen Sinn und Reiz 
mehr wie eine Aurora die vor dem Wagen des 
Sonnengottes Blumen ausstreut, ein Amor der seine 
Pfeile auf die schlummernde Ariadne abschiesst, eine 
Galatea die, von Tritonen, Nymphen und Liebesgöttern 
umgeben, in einer Muschel über das Meer getragen 
wird? Nicht neuerfundene Allegorien, nicht die über- 
irdischen Wesen des Christenthums können und dürfen 
die alte Götterwelt als episches Beiwerk ersetzen; 
darin stimme ich ohne Bedenken mit Boileau überein, 
aber auch darin möchte ich ihm fast Recht geben 
dass ein Epos eines solchen Beiwerkes überhaupt nicht 
entrathen kann, und es sind die Lusiaden die mich 
dazu drängen, vor Allem eine Stelle. Die Portugiesen 
stehen im BegriflFe das Kap der guten Hoffnung zu 
umsegeln; die Himmelsdecke scheint sich in düsteres 
Metall zu verwandeln, das Meer in ungewohntem 
Rythmus zu wogen, eine Menge von unbekannten 
Schrecknissen zu drohen; es erfasst beim Anblick der 



— 93 — 

starren Pelsmassen die Herzen ein geheimes Grauen, 
als ob es durch die Thore der Unterwelt einginge. 
Camoens schildert den Eindruck nicht, er ruft ihn in un- 
serem Gemüthe neu hervor, indem er das Kap in einem 
sonst ziemlich unbekannten Giganten personifiziert, dem 
Adamastor, dem „Unbändigen", und ihn als riesige, 
grauenhafte Gestalt in der Luft erscheinen und mit 
grässlicher Stimme den Portugiesen Unheil künden lässt. 
Mit welchem andern Mittel wäre eine nur annähernde 
Wirkung zu erzielen? 

Zweierlei kennzeichnet, wie man allgemein an- 
nimmt, den Eintritt der Neuzeit: es wurde, durch die 
Italiener, die alte Welt wiedergefunden, und es wurde, 
durch die Spanier und Portugiesen, die neue entdeckt. 
Niemandem ist unbekannt welchen Umschwung jene 
Thatsache in dem geistigen Leben Europas hervor- 
gerufen hat; aber haben wir dieser einen entsprechenden 
zu verdanken? Wenn über dem dunkelblauen Meere 
wie helle Edelsteine die lang ersehnten Küsten vor 
den Seefahrern aufblitzten, wenn ihnen der Landwind 
würzige Wohlgerüche entgegentrug, wenn Pflanzen von 
ungeheurer Grösse und wunderlichen Formen in gegen- 
seitig sich beengender und erdrückender Fülle ihre Augen 
überraschten, wenn sie in dem gegen die Sonne abge- 
schlossenen Urwalde, wie in einer gothischen Kathedrale, 
unter Deckengewölben von Blumen, durch Kreuzgänge 
von Riesenfarrenkräutern dahinwandelten, und tausend- 
faches Geräusch, tausendfache Bewegung, eine unend- 
liche Verschwendung von Farben sie umgab, kurz, wenn 
ein ungeahntes Leben durch alle Pforten ihrer Sinne ein- 
strömte, musste nicht jene süsse Verwirrung und Unruhe 
entstehen in welcher die Keime aller grossen geistigen 



— 94 — 

Schöpfungen liegen ? Musste nicht der Verkehr mit leib- 
lich und geistig so buntgearteten Völkern, von den aller- 
rohesten an bis zu hochgebildeten, das Verständniss ihrer 
Sitten, Anschauungen und üeberlieferungen, die Wahr- 
nehmung dass sie bald in den einfachsten Dingen durch- 
aus umgekehrt verfahren wie wir, bald in höheren 
Sphären merkwürdig mit uns harmonieren, musste nicht 
das alles die Vorstellung der Europäer von der Mensch- 
heit, deren kleinsten Theil sie bildeten, umformen, 
sie von Vorurtheilen aller Art bekehren, sie zu den 
mannigfachsten vergleichenden Studien anregen , ja 
ihnen selbst dichterische Eingebungen darbieten? Aber 
erst im achtzehnten Jahrhundert begann die europäische 
Civilisation von dem Hauch der Tropenwelt berührt 
zu werden; im sechzehnten nimmt man kaum der- 
gleichen wahr. Damals wurde nur der äussere, nicht 
der innere Horizont erweitert, und das gilt ebenso für 
die Wissenschaft wie für die schönen Künste. Wie 
nahe lag es z. B. dass die gerade auf der Pyrenäen- 
halbinsel so üppig blühende Schäferdichtung Elemente 
aus der ost- und westindischen Natur in sich aufnahm 
oder sich geradezu in sie hineinversetzte ; konnte nicht 
schon damals ein Bernardin de Saint-Pierre erstehen? 
Die Gründe welche einen solchen befruchtenden Einfluss 
der andern Welttheile auf Europa hinderten, sind meines 
Erachtens folgende. Die Leute welche, wie Emilio 
Castelar so schön sagt, Asien in seinem Grabe auf- 
weckten und Amerika in seiner duftigen Wiege über- 
raschten, waren nicht sowohl Entdecker als Eroberer. 
„Eeich und Glauben auszubreiten", das war ein- 
gestandenermassen ihre Absicht; insofern sind sie 
durchaus Kinder des Mittelalters, grossartige Epigonen 



— 95 — 

der Kreuzfahrer, und darin liegt auch das Geheimniss 
ihres Heldenmuthes, der ans Unbegreifliche streift und 
nicht vorher, nicht nachher seines Gleichen gefunden 
hat. Schlecht vorbereitet gingen sie unbekannten, aber 
jedenfalls schrecklichen Gefahren, neuen Tücken der 
Natur und der Menschheit entgegen; kein Hinderniss 
zu Wasser und zu Lande pflegte sie aufzuhalten; 
Magalhaens, 

ein Portugiese 
Durch seine Thaten, nicht durch seine Treue, 

sagte, als in der nach ihm benannten Strasse wegen 
Mangel an Lebensmitteln Umkehr rathsam erschien, 
„er würde dem Kaiser sein Versprechen halten die 
Fahrt auszuführen, und wenn er das Lederzeug vom 
Tauwerke kauen müsste/^ Es waren Männer von Eisen. 
Den überwältigenden Eindruck neuer Klimate empfan- 
den auch sie, allein sie hatten keine Zeit sich ihm 
hinzugeben; sobald sie landeten, begann der harte 
Kampf mit der Natur und den Menschen , und auch 
den Besten träumte nur von Gold und Gewürz. Wo 
später sich ein friedlicheres Verhältniss einstellte, war 
man theils gegen die fremdartigen Keize schon abge- 
stumpft, theils dauerte der wilde, habsüchtige Aben- 
teurersinn in den jungen Kolonien fort, theils sahen 
die Europäer als alte Christen mit grösster Ueber- 
hebung auf die ungläubigen oder neubekehrten Bar- 
baren herab. Jedenfalls bestand in allen Sachen des Ge- 
schmackes eine vollständige Abhängigkeit vom Mutter- 
land. Die am Golf von Mejico den Jungbrunnen suchten, 
denen fiel es nicht ein dass ganz Amerika ein Jung- 
brunnen wäre in welchem sich Europa geistig verjüngen 
könnte. Nun befanden sich zwar auch zahlreiche 



— 96 — 

Dichter unter denjenigen die damals in den beiden 
Indien dienten, allein sie haben sich den eben auf- 
gezählten hemmenden Einflüssen nicht zu entziehen 
vermocht ; sie haben entweder keinen andern Ton ange- 
schlagen als den in der Heimath üblichen, oder sie 
haben nur die heroische Seite des dortigen Lebens 
hervorgehoben, wie der biedere Ercilla in seiner 
Äraucana, welcher unsere Phantasie auch nicht im 
mindesten in jene reizende Zone zu versetzen weiss. 
Andere Leute aber welche den Entdeckungen ein mehr 
modernes Interesse, eine innigere Empfindung entgegen- 
brachten, wie Pomponius Laetus oder Petrus Martyr, 
waren an die alte Welt gebunden; sie fühlten selige 
Schauer, ja vergossen Thränen, wenn sie aus jenen 
Wunderfernen Nachrichten empfingen oder Zurück- 
gekehrte begrüssten oder gar mit leibhaftigen Augen 
einen Elephanten sahen. 

Ich habe das Gesetz darlegen müssen — und man 
möge entschuldigen dass es in einiger Breite geschehen 
ist — um von der Ausnahme reden zu können. Diese 
Ausnahme ist meiner Meinung nach Camoens; ich 
möchte ihn als Vorläufer jener beredten Bewunderer 
der Tropenwelt ansehen welche in den neueren Zeiten 
erstanden sind. Natürlich dürfen wir von ihm nichts 
in der Art der enthusiastischen Beschreibungen er- 
warten welche uns so alltäglich geworden sind; ich 
will nur behaupten dass er mit treuer Beobachtung 
auch ein tiefes Gefühl für die Schönheiten und Eigen- 
thümlichkeiten der südlichen Himmelsstriche verbunden 
hat. Man wird A. von Humboldt nicht widersprechen 
können, wenn er im Einklang mit Sismondi sagt dass 
das Gedicht keine Spur von etwas Anschaulichem über 



— 97 - 

die tropische Vegetation und ihre physiognomische Ge* 
staltung enthält und dass nur die Arome und nützlichen 
Handelsprodukte vorkommen. Der Urwald wird nur 
durch seine Jungfräulichkeit und Unwegsarakeit gekenn- 
zeichnet. Aber wenn Camoens die Bandainseln erwähnt, 
„die in Farbenreich thum erglänzen, die von der rothen 
Frucht geziert werden und wo bunte Vögel sich von 
der grünen Nuss den Zoll nehmen", oder Ternate 
„mit dem glühenden Gipfel, der wellenförmige Flammen 
speit und wo es jene goldenen Vögel gibt die nie zur 
Erde sich senken und nur todt gesehen werden", oder 
Sumatra, „das ebenfalls zitternde Flammen entsendet 
und wo sich die Quelle der Oel entströmt, und die 
wunderbare wohlriechende Flüssigkeit befinden welche 
der Baumstamm weint", so werden wir nicht in Abrede 
stellen dass auf den Lusiaden ein tropischer Duft 
schwebt, wenn er auch unsere verwöhnten Sinne nicht 
besonders stark berührt. Man muss dabei im Gedächtniss 
behalten dass zur Schilderung des indischen Bodens 
weniger Gelegenheit gegeben war, da die Haupthand- 
lung in einer Seefahrt besteht, bei welcher ja nur die 
Küsten berührt werden, und da wiederum die Bezwingung 
des Meeres gegen die der Menschen in den Vorder- 
grund tritt. Das südliche Meer aber, das Meer überhaupt 
hat Camoens ungemein wahr und poetisch zugleich dar- 
gestellt; man erinnere sich vornehmlich jener unnach- 
ahmlichen Beschreibung der Wasserhose. Humboldt hat 
durchaus Recht ihn als einen grossen Seemaler zu be- 
zeichnen. Im Vaterland des Camoens hat, was meines 
Wissens wiederum ganz vereinzelt dasteht, ein tropischer 
Luftstrom selbst in den festen Massen der Kirchenbauten 
gewirkt. Nicht etwa als ob aus der indischen oder 

Schnchardt, Romanisches u. Keltisches. 7 



— 98 — 

gar siamesischeii Architektur Motive entlehnt worden 
wären; doch der manneÜDische Stil, den die Spanier 
nnter ihrem plateresken mit einbegreifen, zeigt in der 
Dekoration eine so eigenthnmliche Ueppigkeit als ob 
er nnter der heissesten Sonne emporgewuchert wäre. 
Affen, Papageien, fremdartige Blumen die herüber ge- 
kommen und hier versteinert sind, reden noch deut- 
licher zu uns, und das symbolische Ornament der Him- 
melskugel lässt uns keinen Zweifel darüber was im 
Gemüthe des Baumeisters vorging. So sehen wir be- 
sonders im Kloster von Belem, welches Dom Manoel 
nach Vasco da Gamas Bückkehr an dem Orte seiner 
Einschiffung errichtete, den tiefen durch das einzige 
Ereigniss hervorgerufenen Eindruck aufs schönste ver- 
ewigt. 

Was in jenem üebergangsstil der Gothik zur Be- 
naissance mit seinen maurischen Beminiscenzen und 
tropischen Anklängen nur versucht war, hat Camoens 
im vollsten Masse erreicht: die harmonische Ver- 
schmelzung der verschiedenartigsten Elemente. Den 
drei Zeitaltern hat er nicht nur den Stoff zu seinem 
Epos entlehnt, sondern auch die Quintessenz ihrer 
Kraft: dem Alterthume das künstlerische Betrachten 
und Gestalten, dem Mittelalter die inbrünstige, un- 
widerstehliche Begeisterung, der Gegenwart den freien, 
klaren Umblick. Auf dem lieblichen Strome seiner 
Bede dahin gleitend, fühlen wir uns warme Freunde 
Portugals und Söhne einer grossen, schönen Erde. 

Wie Meleagers Leben an das glimmende Holz- 
scheit gebunden war das bei seiner Geburt auf dem 
Herde flammte, so das von Camoens an den Glanz und 
die Freiheit seines Landes. Er, der im Todesjahre 



— 99 — 

Yasco da Gamas das Licht der Welt erblickte und 
zugleich Portugals Sonne im Zenith, verschied, als 
die Truppen des spanischen Philipps siegreich über die 
Grenzen drangen; er sagte auf seinem Todtenbette: 
,,Ich liebe mein Vaterland so sehr dass ich mich nicht 
damit begnüge in ihm zu sterben, sondern dass ich 
mit ihm sterbe." Die Lusiaden waren der Schwanen- 
gesang Lusitaniens. Alle denkbaren ünglücksboten 
waren vorhergegangen, Pest, Dürre, Hungersnoth, 
Kriegsunglück, Todesfälle in der königlichen Familie, 
Stürme, Erdbeben, Kometen, und es lag eine tiefe 
Beängstigung auf dem Volke. Noch einmal flackerte 
das Lebenslicht Portugals unheimlich empor. Der 
König Sebastian unternahm mit der Blüthe seines 
Beiches jenen Zug gegen die Mauren zu dem auch 
Camoens in begeisterten Strophen ihn angefeuert hatte, 
den er sogar in noch erhabeneren Versen zu besingen 
anhob ; aber auf dem Felde von Alkassar wurde jede 
Hoffnung niedergemäht. So unermesslich schien das 
Unglück dass man an den Tod des jungen Fürsten nicht 
glauben wollte, dass man sich einbildete, es hielten 
ihn mauiische Zauberer gefangen, dass noch in unsern 
Zeiten die Sebastianisten nicht ausgestorben sind, welche 
auf Lissabons Höhen sich versammeln und über das 
Meer hin nach einem alterthümlichen Schiffe spähen 
das den Helden aus der geheimnissvollen Knechtschaft 
zurückbringe. 

Sollte Portugal wirklich saudades nach seiner Ver- 
gangenheit fühlen? Das Schöne, Treffliche was sie 
hervorgebracht, vor Allem die Dichtung des Camoens, 
dauert ja fort, und die Jahrhunderte mindern nicht 
seinen Werth, sie erhöhen ihn. Aber jene Macht und 

7* 



- 100 - 

jener Reichthum deren Quellen in weiten Fernen lagen, 
bargen keinen wahren Segen, sondern den Keim zum 
Innern Verfall in sich ; was konnten sie dem Vaterlande 
nützen, wenn dessen bestem Sohne der Antheil daran 
versagt blieb ? Jene Heldenart welche so Ausserordent- 
liches leistete, gleicht der schöngearbeiteten, schweren 
Rüstung die wir in einem Museum bewundern, die wir 
aber nicht zu tragen wünschen ; sie taugt nicht mehr für 
unsere Zeit, in welcher die rohe und kindische Meinung 
allmählich schwindet dass ein Volk um so höher stehe 
je tiefer es andere Völker erniedrige, während seine 
wahre Grösse doch nur in seinem Glücke und seiner 
Gerechtigkeit ruht. An dem Kampf um friedliche Lor- 
beern kann mit günstiger Aussicht jedes Volk theil- 
nehmen; jedes besitzt in sich und in seinen Wohn- 
sitzen eigenthümliche Vorzüge die es ungestört aus- 
bilden und ausbeuten mag. Nur selten freilich werden 
diese zu einem Glänze gesteigert der die ganze Welt 
durchleuchtet ; es ist thöricht eine stete Dauer solches 
Glanzes zu erhoffen oder anzustreben, es könnte höch- 
stens ein derartiger sein der nach aussen blendete und 
nach innen versengte. Die Natur hat mir dies einmal 
recht vor die Sinne geführt. Als ich Cintra besuchte, 
versetzte mich die üppige Pracht des Pflanzenwuchses 
in Erstaunen und Entzücken; ein Paradies erschien 
mir in der Mittagssonne das steile Gebirge, dessen 
Abhänge mit einem so lieblichen Teppich überkleidet 
waren und das auf seiner höchsten Spitze ein reiches, 
phantastisches Schloss trug mit Zinnen über Zinnen 
und Thurm über Thurm. Noch zauberhafter, geradezu 
wie das Bild zu einem Feenmärchen, stellte sich letz- 
teres dar, wenn es sich langsam aus dem Morgen- 



- 101 — 

nebel loslöste oder vom Abendnebel erfasst wurde. 
Durch den andalusischen Himmel verwöhnt, missfiel 
mir diese, wie ich hörte, regelmässige Trübung der 
Atmosphäre. Während nun am andern Tage Dom 
Fernando, der Schöpfer des Castello da Pena, der die 
Natur und die Kunst mit gleicher inniger und glück- 
licher Liebe umfasst, mich huldvollst durch seine 
Biesengärten geleitete und mir die Kamelienhaine, die 
Alpenrosen, die Palmen, die Dutzende von Eukalyptus- 
arten welche Australien sendet, die wunderlichen, 
zierlichbelaubten Bäume der Tropen, das nordische 
Nadelholz, kurz die Auslese aus allen Welttheilen und 
Zonen zeigte, begannen, zu einer noch frühen Stunde, 
vom nahen Ocean her niedrige Wolken als Vorläufer 
der grossen Massen dahinzujagen. Ich konnte eine 
Bemerkung des Missvergnügens nicht unterdrücken; 
aber mein königlicher Führer sagte mir: „Glauben Sie 
denn dass diese Mannigfaltigkeit und Frische der Pflan- 
zen möglich wäre, wenn nicht Morgens und Abends 
die Wolken des Meeres ihren Thau auf Blatt und 
Blüthe senkten?" 

Nachdem Portugal noch in diesem Jahrhundert 
schwere Stürme durchgemacht hat, geniesst es nun einen 
beneidenswerthen Frieden und sammelt sich in stiller Ar- 
beit. Küsten und Inseln sind verloren gegangen, aber 
wissbegierige Eeisende suchen sie wiederum und wirklich 
zu erobern ; man führt keine Kriege mehr mit schwarzen, 
braunen und gelben Völkern, aber die Anthropologen 
versammeln sich und rathschlagen über deren Leibes- 
beschaflfenheit , Werkzeuge und Sitten; es lebt heute 
kein Camoens, aber die Schriftsteller verbinden sich 
untereinander, um seinem traurigen Ende zu entgehen. 



— 102 — 

Von Dom Luiz , welcher an der Spitze derer steht die 
dem grossen Todten ihre Huldigung zollen, und welcher 
als früherer Seemann für die Kunst des Seedichters 
gewiss das feinste Verständniss besitzen wird, von dem 
Herrscher welcher nicht nur der Entwicklung der 
gleichzeitigen Litteratur die lebhafteste Theilnahme 
entgegenbiingt , sondern auch selbst zu den Schrift- 
stellern zählt, indem er sein Volk mit glücklichen 
üebersetzungen Shakspeare'scher Dramen beschenkt 
hat, von ihm dürfen die Musen jede Aufmunterung 
und Förderung erwarten. Möge mit dem festlichen 
Todestag eine neue Lebensperiode für Portugal be- 
ginnen ! möge aus Camoens' Asche ein Phönix erstehen ! 
Töne denn, liebliches Glockenspiel Lissabons, zur 
Ehre deines grössten Bürgers, und töne fort, nie unter- 
brochen vom Donner der Geschütze. Leuchtet, ihr 
kriegerischen Jahrhunderte, in poetischer Verklärung, 
aber jetzt und immer daure das Zeitalter des guten 
Königs Diniz: 

Es blühet glücklich nun sein Reich empor, 
Nachdem der gold'ne Friede neu errungen; 
Als helle Sterne glänzen weit und breit 
Verfassung, Sitte und Gerechtigkeit. 

Er lässt, der Erste, in Coimbras Hallen 

Den ehrenvollen Dienst Minervas pflegen; 

Es zieh'n, auf des Mondego Flur zu wallen, 

Vom Helikon die Musen ihm entgegen; 

Hier gibt Apoll von jenen Dingen allen 

Die nach Athen sonst heissen Wunsch erregen; 

Hier theilt von Lorbeer, Bacchuskraut und Grold 

Er Kränze aus als des Verdienstes Sold. 



VII. 

Zu Calderons Jubelfeier. 

Am 25. Mai bringen in Madrid alle Aemter, An- 
stalten und Genossenschaften, alle Künste, Wissen- 
schaften und Gewerbe, Alles was in Spanien denkt 
und schafft, dem grossen Dramatiker Pedro Calderon 
die feierlichste Huldigung dar. Welch ein Leben wird 
an diesem Tage in der stets überlebendigen Stadt 
herrschen! Grossartige Umzüge werden unter den 
Klängen von Triumphmärschen sich durch die Strassen 
bewegen, Deputationen mit bunten Bannern, historische 
Cavalcaden, allegorische Wagen, an jenem Standbilde 
auf der Plaza de Santa Ana vorbei, und von den Bai- 
konen werden Tausende von „Sonnen'' herableuchten, 
die Enkelinnen jener Schönen die Calderon in so be- 
geisterten Versen verherrlicht hat. üeber die Lippen 
der Redner und Dichter werden sich Feuerströme er- 
giessen, die Alles entzünden und fortreissen; Preise 
werden gespendet, Denkmünzen vertheilt, es wird der 
Grundstein zu einem Mausoleum gelegt werden. Und 
wie im alten Schauspiele der Gracioso keck seinem 
Herrn zur Seite schreitet, so werden auch die Clarins, 
Chichons und Chocolates von heute mit ihren lebhaften 
materiellen Bedürfnissen nicht zu kurz kommen. Wenn 
dann das glänzende Blau des Madrider Maienhimmels 



— 104 - 

sich in ein dunkleres gewandelt hat, werden Baketen, 
Leuchtkugehi und Feuerräder sich bemühen dem gaf- 
fenden Publikum die Calderon'sche Rhetorik zu ver- 
sinnbildlichen, und schliesslich wird das feurige Bildniss 
Don Pedros, von Genien umringt, sich von dem nächt- 
lichen Hintergrunde abheben, wie in der That von 
einem solchen sich seine Dichtung abhob, von der ver- 
blichenen Grösse, dem gesunkenen Wohlstande, dem 
düstern Fanatismus seiner Nation. Ich wüsste keinen 
Schriftsteller der ein grösseres Anrecht auf eine prunk- 
volle Gedenkfeier hätte. Wie liebte Calderon festliche 
Pracht und wie wusste er sie zu schildern ! Man lese 
z. B. in dem Stücke „Hüte dich vor stillem Wasser" 
die Verse in denen Don Juan die Einholung der öst- 
reichischen Prinzessin und spanischen Königin Maria 
Anna beschreibt; bei ihrem Einzüge in Madrid waren 
die Triumphbogen nach Calderons Angaben hergestellt 
worden. 

Der laute Jubel der nun bald Madrid erfüllt, 
wird sich durch das ganze Königreich fortpflanzen und 
wird auch nicht an seinen Grenzen verklingen. Ganz 
aus spanischer Erde hat jener Wunderbaum seine Kraft 
gesogen, kein fernher rinnendes Wasser hat seine Wur- 
zeln bespült, aber seine Wipfel ragen so hoch dass 
man sie von jedem Winkel der Erde aus erblickt, und 
wir alle haben uns von seinen Zweigen köstliche Früchte 
gebrochen. Das Ausland wird es sich angelegen sein 
lassen die Erinnerungsfeier Calderons würdig zu be- 
gehen und damit zugleich jener Nation einen Beweis 
von Sympathie darzubringen welche in allen Wechsel- 
fällen des Glückes eine wunderbare Ausdauer bewiesen 
hat, in welcher nie die vulkanische Kraft erloschen ist 



- 105 - 

die ein Saragossa in einen Haufen von Trümmern und 
Leichen und einen nackten Steinhügel in einen blühen- 
den Pamass umzuwandeln vermag. Die Deutschen 
werden bei dieser Gelegenheit am wenigsten zurück* 
bleiben, indem von allen romanischen Völkern die 
Spanier, trotz des fremdartigen Kostüms, ihnen inner- 
lich am verwandtesten sind. Kein Volk hat dem Stu- 
dium der spanischen Litteratur sich mit solcher Liebe, 
ja Schwärmerei gewidmet wie das unsere, und gerade 
das altspanische Drama hat unter uns, besonders 
wiederum unter den Oestreichern, lebhaften Nachruhm 
und Anklang geerntet. Grillparzer ging so weit zu 
sagen: „Ich wollte, Lessing hätte Calderon und Lope 
de Vega gekannt, er hätte vielleicht gefunden dass 
ein Mittelweg zwischen Beiden dem deutschen Geiste 
näher stehe als der gar zu riesenhafte Shakspeare." 
Auch der äusserliche Umstand dass die Kronen Oest- 
reichs und Spaniens im Laufe der Zeiten durch so 
manche Erz- und Blumenketten miteinander verknüpft 
worden sind, mag einigermassen die hiesige Theil- 
nahme an spanischen Dingen erhöhen. Zwar waren 
die Spanier des siebzehnten Jahrhunderts über die 
Trunksucht deutscher Gardisten und die Herrschsucht 
deutscher Beichtväter nicht sonderlich erbaut, zwar 
schauderte es unsere Landsleute vor spanischen Stiefeln 
und spanischen Praktiken, und ich gestehe mit Be- 
dauern dass der boshafteste Bericht über die Madrider 
Zustände von damals einen Wiener zum Verfasser hat 
— allein in der Erinnerung pflegt ja das unliebsame 
zu verblassen, und in der Wirklichkeit ist von all 
jener spanisch-östreichischen Gemeinschaft kaum etwas 
übrig geblieben, als das „Küss' die Hand", welches 



- 106 - 

das Beso la mano des Südländers übersetzend erwidert. 
Was Calderon und Wien anlangt, so hat er es zum 
Schauplatze eines Stückes gemacht welches den Titel 
führt: „Es steht besser als es stand" (beiläufig gesagt, 
wüsste ich für die Stadt selbst keinen trostvolleren 
Wahlspruch). Freilich erscheint hier Wien ohne jedes 
besondere Kennzeichen, es ist ein verallgemeinertes 
Madrid ; aber doch bewährt Calderon den dichterischen, 
alle Zeit- und Raumfernen durchdringenden Seherblick 
wenn er Don Carlos ausrufen lässt: 

jVälgate Dios por Vienüy 
Y cudles 8on tus mujeres! 
(Wien, was hast du für Frauen!) 

So wird denn auch Wien als würdiges Vorbild 
der Provinz thätige Theilnahme an dem Jubiläum 
zßigen. Schon hat eine Reihe von Dichtem, in Oest- 
reich und anderswo, zum Preise Calderons in die Saiten 
gegriffen, mehr durch die Aussicht auf eine goldene 
Medaille verlockt als berauscht von dem „rectifizierten 
Weingeist" (um mich eines Goethe'schen Bildes zu be- 
dienen) welchen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts 
die A. W. Schlegel, Tieck, von der Malsburg, Bauern- 
feld, Seidl u. s. w. in gierigen Zügen getrunken hatten, 
als sie die Schauspiele des Spaniers mit einem Sonetten- 
kranz umflochten. Es mag Einer die besten Verse von 
der Welt machen und sehr wenig über Calderon wissen ; 
hat seine Huldigung nicht einen höchst zweifelhaften 
Werth? Auch Victor Hugo, der am 25. Mai nach 
Madrid kommen soll, wird dort sicherlich manch schöne 
und wunderbare Dinge sagen, die aber wahrscheinlich 
nicht viel mit Calderon zu thun haben werden. Den- 
jenigen ferner welche in Prosa, und zwar far das weitere 



— 107 — 

Publikum, das Andenken des grossen Mannes aufzu- 
frischen unternehmen, droht die Gefahr in ihrem 
ürtheile irrezugehen, sobald sie die Hand eines so 
sicheren Führers wie Adolph v. Schack ist, loslassen. 
Calderon hat, von seinen Fronleichnamsspielen ab- 
gesehen, über hundert Stücke hinterlassen, und selbst 
von denen welche ausführlicher über Calderon ge- 
schrieben haben, hat kaum Einer und der Andere alle 
diese Stücke gelesen. Die Meisten kennen nur eine 
geringe Auswahl davon, und sie ist möglicherweise 
nicht einmal eine glückliche. Denn über die Bang- 
ordnung der Calderon'schen Dramen gehen die An- 
sichten unter den Spaniern wie unter den Ausländern 
einigermassen auseinander, und zwar ebensowohl mit 
Rücksicht auf das gegenseitige Verhältniss der ein- 
zelnen Klassen in die sie zerfallen, als auch innerhalb 
dieser Klassen selbst. Wer des Spanischen unkundig 
ist, der wird gar nicht über eine theilweise noch über 
eine äusserliche Bekanntschaft mit Calderon hinaus- 
kommen. Etwa die Hälfte seiner Stücke, und darunter 
einige ersten Banges, sind nicht verdeutscht ; die Ceber- 
tragungen aber die wir besitzen, sogar die besten, 
geben nur eine unvollkommene Vorstellung von den 
Originalen, üeberhaupt erweist sich unsere Sprache zur 
Wiedergabe südromanischer Dichtungen weit weniger 
befähigt als man gemeiniglich annimmt. Es mag sein 
dass sie an Prokrustesgrausamkeiten schwerer stirbt 
als andere Sprachen; doch die Verstümmlungen und 
Verrenkungen sind fühlbar genug, die poetische An- 
regung wird abgeschwächt oder aufgehoben, und das 
Verständniss muss sehr oft durch einen Blick in den 
Urtext erschlossen werden. Es wäre die grösste ün- 



— 108 — 

gerechtigkeit den deutschen Calderon mit dem deutschen 
Shakspeare zu vergleichen. 

Für die allgemeine Schätzung Calderons sei es 
mir gestattet Einiges in Erinnerung zu bringen was 
häufig übersehen wird. Unter den spanischen Drama- 
tikern welche vom Ende des sechzehnten bis Ende des 
siebzehnten Jahrhunderts blühten, ist Calderon uns am 
frühesten bekannt geworden und am meisten bekannt 
geblieben; vor Allem hat A. W. Schlegels berühmte 
fünfunddreissigste Vorlesung ihn in ein so glänzendes 
Licht gesetzt dass neben ihm seine älteren und jüngeren 
Zeitgenossen sich kaum in ihrem vollen Werthe geltend 
zu machen im Stande sind. In Wirklichkeit gleicht 
die Glanzperiode des spanischen Theaters einem Gebirge 
das allseitig durch sanfte Anstiege zusammenhängt, 
nirgends durch gähnende Klüfte zerrissen ist ; zwischen 
dem Halbdutzend Gipfeln aber die sich am Himmels- 
blau abzeichnen, sind die Abstände nicht gross genug 
dass es einen unter ihnen gäbe der von jedem Stand- 
punkte aus als der allerhöchste erschiene. Wenn wir 
dann aber das Gebirge in seinem ganzen Umfange 
bedachtsam umschreiten, dann werden wir wohl zu der 
Annahme kommen dass jene Spitze welche den Namen 
Calderon trägt, die anderen überragt und zugleich die 
charakteristische Gestaltung welche durch die Gesteins- 
masse begünstigt wird, am schärfsten ausprägt. Ja, 
ich halte Calderon für den spanischsten, den wenigst 
modernen Dramatiker, also den welcher eigentlich für 
uns am schwierigsten zu verstehen ist. Dadurch scheine 
ich zunächst einen Tadel zu bestätigen welcher oft 
gegen ihn ausgesprochen worden ist, dass ihn nämlich 
in politischer, religiöser und theilweise auch moralischer 



- 109 - 

Beziehung die ärgsten Vorurtheile befangen hätten. 
So bezeichnet ihn Sismondi kurzweg als den Dichter 
der Inquisition — ein zu rundes und schweres Wort 
um nicht gern und oft wiederholt zu werden. Leicht 
würde derjenige der sich in Calderon vertieft hat, Stellen 
anführen können welche für seine milde Gesinnung 
sprechen. Allein darum handelt es sich ja gar nicht; 
es musste Calderon auf der Bühne den üeberzeugungen 
und Anschauungen seines Volkes gerecht werden. Stören 
uns die Götterverehrung, die niedrigere Stellung des 
weiblichen Geschlechtes, die grausame Praxis gegen 
die Feinde und Anderes bei der Würdigung der alt- 
klassischen Dichterwerke nicht, warum sollen uns Dinge 
die wir jetzt verwerfen oder verabscheuen, in den 
Dramen Calderons Anstoss erregen? Weshalb findet 
man das Verhalten des spanischen Othellos, wie man 
nicht ganz passend den „Arzt seiner Ehre" genannt 
hat, auch in poetischem Sinne unannehmbar? Dürften 
nicht mit gleichem Rechte die Duelle welche auf un- 
serer Bühne so häufig und als etwas durchaus Selbst- 
verständliches vorkommen, von weniger barbarischen 
Jahrhunderten auf das Sündenregister der Dichter 
gesetzt werden? Calderon hat wahrscheinlich über 
die zu seiner Zeit herrschenden übertriebenen Ehren- 
gesetze so gedacht wie er in „Heimliche Rache für 
heimliche Beleidigung" den Don Juan denken lässt, der 
es als „tyrannischen Irrthum der Männer" bezeichnet 

Dass den Diamant der Ehre 
Ein geringer Windeshauch 
Schmelzen und zerstören kann. 

Aber Don Juan handelt wie es das „schmähliche Gesetz 
der Welt" gebeut, und Calderon lässt alle seine Helden 



— 110 - 

so handeln. Nicht allein der Gattin erwiesene untreue, 
sondern schon der Verdacht, der Anschein einer solchen 
entschuldigte, die äusserste Massregel des Gatten, und 
Don Gutierres Thun und Denken war für das Publikum 
von damals keineswegs befremdlich. Ticknor begeht 
einen grossen Irrthum wenn er meint die Ehrbegriffe 
die bei Calderon herrschen, und die daraus hervor- 
gehenden Handlungen die er darstellt, entsprächen 
seiner Zeit nicht; geschichtliche Urkunden hätten ihn 
eines Besseren belehren können. üebertreibungen 
machen sich allerdings bemerkbar, aber solche wie sie 
zu poetischen Zwecken zulässig und sogar geboten sind. 
Wenn wir von der Ehre zu etwas übergehen was sich 
immer in innigster Verbindung mit ihr zeigt, zur Liebe 
nämlich, so nehmen wir auch hier die Wirklichkeit 
als sichere und feste Grundlage der Dichtung wahr. 
Wie entstand denn und wie äusserte sich die Liebe 
in jenem Madrid? Ein Kavalier sieht zwischen lose 
geschlossenen Fensterläden zwei dunkle Augen hervor- 
bützen oder die feine weisse Hand einer Dichtverhüllten 
sich in das Weihbecken tauchen ; ein elektrischer Funke 
springt zu ihm über ; es beginnt ein unablässiges, aber 
vorsichtigstes Spähen und Forschen; Diener und Die- 
nerinnen und auch hülfreiche alte Weiber werden in 
Bewegung gesetzt; verstohlene Zeichen werden ge- 
wechselt, Briefe abgesendet; endlich steht der Glück- 
liche Nachts vor dem Gitter hinter dem ihm die An- 
gebetete Gehör ertheilt, aber argwöhnische Verwandte, 
beunruhigte Nebenbuhler, neugierige Nachbarn ge- 
statten keine bequeme und lässige Unterhaltung; er 
hat nicht Zeit sich nach dem Befinden der lieben Eltern, 
wie sich's gebührte, zu erkundigen oder sich von dem 



- 111 - 

angenehmen Wetter auf Buschwegen zur Andeutung 
süssen Herzklopfens durchzuschlagen, nein, er wirft 
gleich mit Sonnen, Sternen, Gold, Diamanten, Rosen 
und Jasmin um sich und lässt als gelehriger Schüler 
des Luis Göngora und des Baltasar Gracian seine 
Geistesgaben im schönsten Feuerwerk leuchten. So 
geht es in ziemlich gleichem Tempo, da die Eifersucht 
als Sporn der Liebe mit ihr zugleich geboren wird, 
bis zu glücklichem oder unglücklichem Ausgange fort. 
Jene langsam erwachende, träumerisch befangene Liebe 
des Nordens kann bei so heissem Temperament und 
so strenger Konvenienz kaum bestehen; und wenn sie 
auch vielleicht mit dem Auf und Ab, dem Hin und 
Her der inneren Triebe einer mannigfaltigeren und 
feineren poetischen Behandlung fähig ist als die süd- 
liche Liebe mit dem Abenteuerlichen der äusseren 
Hindernisse, so ist doch im Grunde genommen diese 
die vollkommenere, und es lässt sich schwer denken 
wie ein spanischer Dramatiker, auch wenn er sich in- 
mitten anderer Zeiten und Völker versetzt, aus der 
hellen Peuersphäre in eine dunstigere und kühlere 
hinabsteigen sollte. Das Spanien des siebzehnten Jahr- 
hunderts war von dem übrigen Europa durch die Py- 
renäen wie durch eine chinesische Mauer abgeschlossen. 
Die Engländer, Franzosen, Deutschen, Italiener die es 
bereisten, kamen aus der Verwunderung über die Eigen- 
thümlichkeiten des dortigen Lebens nicht heraus. Man 
muss dieses Spanien genau kennen um die dramatischen 
Werke die es hervorbrachte, richtig zu beurtheilen. 
In einem vor einigen Jahrzehnten erschienenen kleinen 
Buche über das spanische Drama (und zwar Lope de 
Vega und Calderon insbesondere) hat der Goethe- 



~ 112 - 

biograph Lewes auf dies Erforderniss ausdrücklich und 
wiederholt hingewiesen und doch thatsächlich es so 
ausser Acht gesetzt dass er Calderon nicht als wahren 
Dramatiker, wie Shakspeare und Racine, sondern nur 
als „ Bauchredner^' gelten lässt, und dass er überhaupt 
den Spaniern den dramatischen Genius abspricht und 
sie darüber mit Cervantes und Murillo tröstet. Wie 
nicht bloss der Gehalt, sondern auch die Kunstform 
ganz aus dem nationalen Bedürfnisse herauswächst, 
bleibt hier übersehen, und es wird unbewusst überall 
der ästhetische Massstab der eigenen Nation angelegt. 
Nun bitte ich das Wie neben dem Was besonders 
auch für die obige Bemerkung dass Calderon der 
spanischste Dramatiker sei, in Anschlag zu bringen. 
Dass er überall das spanische Leben darstellt, das hat 
er mit den Anderen gemein ; ja, er steht ihnen hierin 
sogar nach, indem er manche Seiten desselben nicht 
berücksichtigt und sich stets vom derberen Realismus 
zurückhält ; aber, eben in der Art der Darstellung, eben 
durch den Idealismus welcher uns das Wirkliche in 
prächtigster Luftspiegelung vorführt, zeigt er sich mehr 
Spanier denn die Uebrigen. Hier entspringen seine 
grössten Vorzüge, hier jedoch auch die unleugbaren 
Fehler welche ihm anhaften. 

Allein ich habe schon zu viel gesagt wenn ich 
nur irrthümlichen AulFassungen vorbeugen, und noch 
viel zu wenig, wenn ich eine deutliche Vorstellung 
von dem Wesen der Calderon'schen Poesie erwecken 
wollte. Eine solche Ausführlichkeit wie sie durch den 
Umfang und die Vielseitigkeit des Gegenstandes unbe- 
dingt erheischt wird, würde den grossen Leserkreis 
ermüden, dem andrerseits auch mit einer Lebensskizze 



— 113 — 

und einer Uebersicht von Dramentiteln schwerlich ge- 
dient wäre. Einen Punkt gibt es immerhin der all- 
gemeineres Interesse beanspruchen, für den es in Wien 
weder an sachverständigen und gewandten Rednern, 
noch an aufinerksamen Zuhörern fehlen würde; ich 
meine den Einfluss Calderons auf die östreichischen 
Dramatiker oder die deutschen überhaupt. Zu beherzigen 
wären dabei besonders einige Seiten in der Vorrede 
zum dritten Bande von Schacks ,, Geschichte der dramati- 
schen Literatur und Kunst in Spanien", damit die 
unbefriedigenden Ergebnisse weniger auf Rechnung der 
Spanier als die der ünserigen gesetzt würden. Inwie- 
weit neben der Rüge die Ermunterung noch zeitgemäss 
ist, mögen Andere entscheiden. Es sei hier beiläufig 
auch an das erinnert was Grillparzer gelegentlich 
Lope de Vegas sagt: „Freilich, unsere Deutschen 
würden ihn nachahmen wie die Kinder mit Allem zum 
Maule fahren; und nachzuahmen ist an ihm nichts. 
Aber sich mit ihm erfüllen, die Phantasie, das Vor- 
handene und die Beschauung wieder in ihre Rechte 
einsetzen, es aber der äusseren Form, ja dem Inhalte 
nach ganz anders machen als Lope de Vega, das wäre 
die Aufgabe." Ich für meinen Theil glaube dass unsere 
Schauspieldichter wenigstens in der Technik ungemein 
viel von den Spaniern und hauptsächlich von Calderon 
lernen könnten; schwitzen sie doch Blut und Wasser 
bei der Arbeit das dramatische Gerüst so aufzuzimmern 
dass es nur einigermassen die Verhältnisse bewahrt 
und nicht überall aus den Fugen geht. Wie ungemein 
praktisch in dieser Hinsicht die Spanier waren, das 
ergibt sich schon daraus dass sie ausnahmslos das 
Dreiaktsystem an Stelle des Fünfaktsystems setzten; 

Schuchardt, BomaniBches u. Keltisches. 8 



— 114 — 

mögen es alle die bestätigen welche je an einem 
fünften Akte gescheitert sind. 

Die beste Gedächtnissrede hält sich ein Bühnen- 
dichter selbst. Calderon'sche Stücke sind ziemlich oft 
in Deutschland aufgeführt worden. Es wäre sehr zu 
wünschen dass ein Theaterfreund uns eine diesbezüg- 
liche Zusammenstellung lieferte. Ich theile das Wenige 
mit was ich weiss. In den 70er und 80er Jahren des 
vorigen Jahrhunderts wurden auf deutschen Bühnen 
verschiedene Dramen von Calderon mit Beifall gegeben, 
so „Der Alcalde von Zalamea", der freilieh auch ein- 
mal in Freiburg ausgezischt wurde, und „Der Versteckte 
und die Verhüllte" (unter dem Titel „Der Verschlag"). 
Aber auf welchem Umwege gelangten sie aus dem 
Spanischen ins Deutsche ! Zu Grunde lag das TMdtre 
espagnol von Linguet (1770); hier erscheint der „Al- 
calde" als Le viol puni und wurde 1771 zu Braun- 
schweig ins Deutsche übersetzt als „Die bestrafte Ent- 
führung". Den Viol puni bearbeitete Collot d'Herbois 
für die französische Bühne unter dem Titel Le paysan 
magistrat, und hierauf gehen zurück „Der Oberamtmann 
und die Soldaten" von Stephanie d. Jung. (Wien 1781) 
und „Amtmann Graumann, oder: Die Begebenheiten 
auf dem Marsche" (Mannheim 1781) von Schröder, 
der den Crespo öfters und glücklich spielte. Gegen 
Ende des Jahrhunderts hatte die Vorliebe für Calderon 
wieder abgenommen. Die SchlegePschen Uebersetzungen 
(1803 bis 1809) wurden von wenig Theaterdirektionen 
berücksichtigt, so von der Holbein'schen in Bamberg ; 
am häufigsten kam die „Andacht zum Kreuze" zur 
Aufführung, ohne jedoch einem grossen Verständnisse 
zu begegnen. Das Werk welches zunächst den meisten 



— 115 — 

Anklang fand, war „Das Leben ein Traum". Schon 
vor der Gries'schen üebersetzung gab es verschiedene 
Bearbeitungen davon, so eine von v. Einsiedel, welche 
in Weimar, und eine von einem Schauspieler Keller, 
welche in Nürnberg, aber mit Misserfolg gegeben wurde. 
Unmittelbar auf Gries folgte die West*sche Bearbeitung 
(1816), welche sich allgemein behauptet hat, die 
Mämminger'sche (unter dem Titel „Das Horoskop"), 
welche 1816 zum ersten Male in Regensburg aufgeführt 
wurde, und die v. Zahlhas'sche (1818), welche andere 
Bühnen annahmen. Schon 1811 hatte Goethe mit 
ausserordentlichem Erfolg den „Standhaften Prinzen" 
in Weimar auf die Bretter gebracht, welchen 1816 
auch Berlin kennen lernte. In Weimar wurde später, 
wenn ich nicht irre, noch die „Grosse Zenobia" gegeben. 
Das Düsseldorfer Theater sah von 1835 bis 1837 unter 
Immermanns Leitung: „Der Arzt seiner Ehre", „Der 
Richter von Zalamea" (Pest Vorstellung für den Kron- 
prinzen von Preussen, auf den das Stück keinen grossen 
Eindruck gemacht zu haben scheint), „Das Leben ein 
Traum", „Die Tochter der Luft", „Der wunderthätige 
Magus", Von diesem letzten Stücke meint Immermann 
dass es ein Gluck gemacht habe wie nie ein anderes ; 
ein stürmisches Entzücken hätte das Haus erschüttert, 
die geringsten Leute hätten auf der Strasse davon 
gesprochen und gesagt, sie würden so oft hingehen 
als es wieder gegeben würde ; aber der hinkende Bote 
kommt nach : „nicht die Poesie hatte die grosse 
Wirkung hervorgebracht, sondern der Schiffbruch, der 
wandernde Berg, der fliegende Teufel, die Engel und 
die Erzengel im bengalischen Lichte, kurz, alle die 
Hors d'oeuvre die ich anzubringen gewusst." Die 

8* 



— 116 — 

Erwähnung Wiens habe ich auf zuletzt verspart. Man 
darf bei den nahen Beziehungen zu Madrid erwarten 
dass in Wien schon im siebzehnten Jahrhundert 
Calderon'sche Stücke dargestellt worden sind ; indessen 
habe ich keinen bestimmten Nachweis dessen ausfindig 
machen können. Ich will erwähnen, um dadurch 
vielleicht auf eine Spur zu lenken, dass ich auf der 
k. Hofbibliothek eine handschriftliche Prosaübersetzung 
von „Alles geben und doch nichts geben" sah, welche 
dem Katalog zufolge aus dem siebzehnten Jahrhundert, 
meines Erachtens aus einer etwas jüngeren Zeit stammt. 
1752 verordnete Maria Theresia dass keine andern 
Stücke gegeben werden sollten als welche entweder der 
französischen, italienischen oder spanischen Bühne ent- 
stammten oder in deutscher Sprache wohl ausgearbeitet 
befunden würden. Wenige Jahre später, 1760, trat 
die aus Lessings Leben bekannte Christiane Friederike 
Huber in dem Stücke „Das menschliche Leben ist 
ein Traum" (in deutsche Verse gebracht von Julius 
Friedrich Scharfenstein, aber nach dem Italienischen) 
auf dem k. k. Stadttheater auf; sie scheint die Hosen- 
rollen geliebt zu haben und dadurch auf die Partie 
der ßosaura geführt worden zu sein. Ferner enthält 
der zwölfte und letzte Band (1775) der „Neuen Schau- 
spiele, aufgeführt in den k. k. Theatern zu Wien": 
„Verwirrung über Verwin'ung" (d. i. „Der Versteckte 
und die Verhüllte"). Weiter wurden im Burgtheater — 
nach gütiger Mittheilung des Herrn Regierungsrathes 
Dr. Wlassak — gegeben: 

1780 — 1798 „Der Oberamtmann und die Soldaten" (von 
Stephanie d. J.), 23mal; 

1818 — 1854 «Don Gutierre, oder: Der Arzt seiner Ehre* 
(von West), 33mal; 



— 117 — 

1822 — ? (1866 nach einer langen Pause wieder) «Das 
Leben ein Tranm* (von West), 38mal; am 17. Juni 1816 
zum ersten Male im Theater an der Wien; 

1841 „Dame Kobold* (von Gries), 3mal; 

1847 „Schleife und Blume* (von Braunau), 3mal; 

1854 „Die Liebe im Eckhause* (von Cosmar nach dem 
Französischen, d. i. „Ein Haus mit zwei Thüren ist schlecht 
zu hüten*), 3mal. 

Auch sind, weil auf Galderon*schen Stücken 
beruhend, noch zu nennen: 

1781 — 1808 „Das öffentliche Geheimniss* von Gozzi (von 
Gotter), 29mal; 

1826—1827 „Die Tochter der Luft* (von Raupach), 8mal. 

Sollten, wie es doch sicher zu erwarten steht, 
sich Wiener Bühnen an der Calderonfeier betheiligen, so 
brauchte man durchaus nicht bei dem eben angeführten 
Kepertoire stehen zu bleiben. Wir haben ausserdem 
eine grosse Anzahl Calderon'scher Dramen in getreuer 
üebersetzung und einige in etwas freierer Bearbeitung, 
wobei fanffüssige Jamben gewählt worden sind. Im 
Allgemeinen ist diesen Versen, an welche nun einmal 
unser Ohr gewöhnt ist, der Vorzug zu geben. Indessen 
würden doch die spanischen Masse und ihre Abwechs- 
lung im ernsten Drama recht wohl ansprechen, im 
heitern allerdings befremdlicher vorkommen. Jedenfalls 
müssen allzu lange Erzählungen und allzu schwülstige 
Stellen gestrichen werden. Auch kleine sachliche 
Aenderungen darf man vornehmen ; nur tiefergehende 
Operationen, wie West eine mit dem „Arzt seiner 
Ehre" vorgenommen hat, sind verpönt. Mag der Aus- 
gang dieses Schauspieles uns und ebenso die heutigen 
Spanier verletzen, von dergleichen Stücken muss das 
Wort gelten: sint %it sunt aut non sint. Die Inscenierung 



— 118 — 

eines Calderon'schen Lustspiels wird mit einigen 
Schwierigkeiten verbunden sein. Die eigenthümlichen 
spanischen Sitten drängen sich doch gar sehr hervor. 
Den Meiningern darf es überlassen bleiben dass die 
Damen, die in jenen Zeiten noch nicht auf Stühlen 
zu sitzen gelernt hatten, mit türkisch untergeschlagenen 
Beinen auf den Kissen einer Estrade hocken, dass sie 
auf der Strasse die hohen Stelzpantoffel, die Chapines 
tragen, die sie wegen des Schmutzes über ihre Schuhe 
zogen und in denen sie jeden Augenblick Gefahr liefen 
zu fallen, dass die Galane Nachts mit dem Broquel, 
einem kleinen Schild, am Arme sich vor dem Hause 
der Geliebten einstellen u. s. w. ; allein von der 
damaligen Sitte der Frauen in Verhüllung auszugehen, 
kann nirgend Abstand genommen werden, denn sie ist 
für die Intrigue der meisten dieser Stücke von wesent- 
lichster Bedeutung. Nun sind aber hierüber die Zu- 
schauer grösstentheils nicht unterrichtet und werden 
glauben, es handle sich um einen besonderen Masken- 
scherz, und die Schauspielerinnen würden daher ihr 
Bestes zu thun haben das Verhüllen (wobei ein Auge 
sichtbar bleibt) und das Enthüllen natürlich und graziös 
vorzunehmen. Auch müssen sie nicht vergessen eine 
ganz gewöhnliche dunkle Kleidung zu tragen, nicht 
etwa eine bunte oder kostbare, an welcher sie ja leicht 
zu erkennen wären. Und derart ist noch manches 
Andere zu beachten. 

Könnte nicht etwa das Burgtheater ein Drama 
höheren Stils bringen, das Stadttheater eines welches 
das gesellschaftliche Leben Altmadrids abspiegelt, und 
zwar an verschiedenen Tagen ? Von der ersten Kategorie 
ist „Das Leben ein Traum^ als allzu bekannt beiseite 



— 119 — 

zu setzen; „Der standhafte Prinz" und „Der wunder- 
thätige Magus" haben heutzutage wenig Aussicht auf 
Erfolg; vom „Arzt seiner Ehre" muss aus schon 
angedeuteten Gründen abgesehen werden; auch die 
sonst trefflichen Stücke „Der Maler seiner Schande" 
und „Drei Vergeltungen in einer" sind für uns 
Heutige etwas zu herb; am meisten zu empfehlen 
wäre „Der Alcalde von Zalamea" und „Das Lieb- 
chen des Gomez Arias"; letzteres Stück ist ausser 
von Gries noch übersetzt worden von der Ver- 
fasserin der „Rolands Abenteuer" (Gotha 1825), 
welche zum Theil fünffüssige Jamben anwendet, und 
neuerdings von Moriz Rapp, welcher sie ausschliesslich 
anwendet oder vielmehr anzuwenden glaubt; denn 
seine Verse sind Bastarde von Prosa und Jamben. 
Vorzügliche Konversationsstücke sind unter Anderem: 
„Der Versteckte und die Verhüllte" (auf dem Madrider 
Standbild Calderons vertritt es die ganze Klasse), 
„Dame Kobold" (auch von Baumstark, Wien 1869, 
und zwar in Jamben übersetzt) und „Hüte dich vor 
stillem Wasser" (auch von Kapp, in den bekannten 
Jamben). 

Etwas möge geschehen damit wir uns dessen er- 
innern von dem doch ein Tropfen Blutes in unseren 
Adern rinnt. Dem guten Willen wird auf keinen Fall 
der Erfolg fehlen; entweder steigt das Alte in neuer 
Frische vor uns empor, um uns zu erbauen und 
anzuregen, oder es stellt sich uns als historische Merk- 
würdigkeit dar, um uns mit dem tröstlichen Bewusst- 
sein zu erfüllen wie herrlich weit wir es seitdem 
gebracht haben. 



VIII. 
Goethe und Calderon.*) 

„Goethe und Calderon!" welch gewich- 
tigere, ehrenvollere Gabe hätten wir nach Madrid 
senden können als eine mit dieser Aufschrift gezierte ? 
Unser grösster Dichter mit liebevoller Anerkennung den 
Lorbeer auf das Haupt des Spaniers drückend, dieser 
in dem gewaltigen, klaren Blick des Olympiers sich uns 
wiederspiegelnd! Schon Frh. von Biedermann hat in 
der Abhandlung über das „Trauerspiel in der Christen- 
heit" den Antheil welchen Goethe dreissig Jahre hin- 
durch an Calderon nahm, an der Hand urkundlicher 
Belege einleitüngsweise verfolgt und sich sodann be- 
müht darzuthun wie in einem Fall wenigstens Calderon 
aus Goethes geniessend betrachtender Peripherie in 
sein schöpferisches Centrum eindrang. Zu jener Aeusse- 
rung Goethes dass er Calderon schon vor 1802 „dem 
Namen nach" gekannt habe (die hervorgehobenen Worte 
durfte Biedermann nicht weglassen), sei mir gestattet 
Folgendes anzumerken. Ihm war die deutsche Bear- 
beitung wenigstens eines Calderon'schen Stückes nicht 
fremd, doch scheint er nicht gewusst zu haben wer der 
ursprüngliche Verfasser desselben war. Am 4. Oktober 



*) Goethe und Calderon. Gedenkblätter zur Calderonfeier. 
Herausgegeben von Edmund Dorer. Leipzig 1881, 



— 121 — 

1786 sieht er in Venedig eine Commedia dell'arte, 
deren „tolles Sujet" ihn an dasjenige erinnert „das 
bei uns unter dem Titel ,der Verschlag* behandelt ist". 
„Der Verschlag" ist Calderons El escondido y la tapada, 
und unter jenem Namen fahrt es sogar Gries'noch an, 
als er Tieck (29. Mai 1829), der seine üebersetzung 
schon handschriftlich kannte, deren baldiges Erscheinen 
im Druck verhiess (hier ist sie betitelt „Der Verborgene 
und die Verkappte"). Vielleicht fliesst jenes italienische 
Stück — in Italien war ja Calderon länger und mehr 
heimisch als in Deutschland — aus derselben Urquelle. 
Mit andern Dramen Calderons mochte es sich ebenso 
verhalten wie mit diesem; sie staken in plumpem 
deutschem Kostüm, und der Name des fremden Autors 
wurde bei Druck und Aufführung vielfach verschwiegen. 
Wissen doch auch heutzutage, um ein Beispiel statt 
vieler anzuführen, nur Wenige dass manche Lustspiele 
welche unsere Lachmuskeln in lebhafteste Bewegung 
setzen, Bearbeitungen nach dem Französischen Labiches 
sind. Wie hätte sonst Wilhelm von Humboldt am 
26. August 1799 an Goethe, damit er und Schiller 
darüber einen Augenblick lachen möchten, eine Scene 
aus dem Calderon'schen Stücke „Der wohlverdiente 
Strick oder der Alcalde von Zalamea" (ursprünglich 
nämlich führte es im Spanischen den Doppeltitel El 
alcalde de Zalarnea y el garrote mas hien dadö) ge- 
schickt, da es ja als „Die bestrafte Entführung" oder 
„Der Amtmann Graumann" oder „Der Oberamtmann 
und die Soldaten" mehrfach über deutsche Bühnen 
gegangen war. Noch in dem gleichen Jahre, am 
28. November, schrieb W. von Humboldt aus Madrid 
einen langen Brief an Goethe worin er Betrachtungen 



— 122 — 

über die spanische Litteratur und Bühne niederlegte. 
Goethe wurde durch die spanische Heise seines Freundes 
höchlichst angeregt, und in der Antwort die er etwa 
einen Monat darauf an Humboldt richtete, findet sich 
folgende sehr beachtenswerthe und, wie mir scheint, 
gar nicht beachtete Stelle : „Sogar habe ich mich den 
spanischen Schriftstellern wieder genähert und neulich 
das Trauerspiel Numancia von Cervantes mit vielem 
Vergnügen gelesen." Hieran ist nun unmittelbar das 
erste der Biedermann'schen Citate anzuschliessen, wel- 
ches einem Briefe Goethes an A. W. Schlegel vom 
2. April 1800 entstammt; wenn Goethe die Ver- 
sicherung, er hätte von Schlegel gern noch mehr von 
der spanischen Litteratur vernommen, mit den Worten 
gleichsam begründet: „ein Land das man selbst nicht 
mehr besuchen wird, hört man so gerne von scharf- 
sinnigen Reisenden beschreiben", so war das nicht 
bloss im übertragenen, sondern auch im eigentlichen 
Sinne gemeint, indem ja zwischen den Beiden sicher 
auch die Humboldt'schen Reiseeindrücke zur Sprache 
gekommen waren. In die Reihe der zahlreichen Belege 
welche Biedermann für Goethes Beschäftigung mit 
Calderon bietet, lässt sich noch mancher, wenn auch 
nicht von hervorragender Wichtigkeit, eintragen und 
ebendaselbst Einiges berichtigen. 

Wo eine derartige üebersicht über die vorhandenen 
Bausteine gewährt ist, da ist es leicht zu bauen. 
Derer indessen gibt uns nichts Eigenes, nichts Neues, 
nichts Abgerundetes. Was er gibt, vertheilt er in die 
beiden Abschnitte „Goethes ürtheile" (wiederum drei 
Gesichtspunkten untergeordnet : „über Calderon im 
Allgemeinen", „über einzelne Dramen", „über Calderons 



— 123 — 

Einfluss") und „Calderon und die Bühne in Weimar". 
Ich will von dem letzteren, welcher mancher Ergänzung 
fähig wäre, absehen ; in dem ersteren ist Alles gefehlt 
was bei der Einfachheit der Arbeit gefehlt werden 
konnte. Zunächst werden die Quellen verschwiegen; 
das mag bei' einzelnen irgendwo eingeflochtenen 
Urtheilen hingehen, aber nicht bei einer Sammlung 
solcher. Es liegen aus drei Jahrzehnten, mit nicht 
allzu langen Unterbrechungen , Aussprüche Goethes 
über Calderon vor, und obwohl sie immer eine lebhafte 
Bewunderung und eine im Wesentlichen gleiche Auf- 
fassung bekunden, so ermangeln sie doch begreiflicher- 
weise der vollständigen Einheitlichkeit. Goethe pflegte 
nicht auf eine Sache zurückzukommen ohne ihr neue 
Seiten für die Betrachtung abzugewinnen ; nach Stim- 
mung und Anlass trat bald dieses, bald jenes ins Licht ; 
auch war es nicht gleichgültig gegen wen er sich 
äusserte. Endlich ist zu berücksichtigen dass Goethes 
Kenntniss von Calderon durch die üebersetzungen all- 
mählich wuchs und zwar in den späteren Jahren rascher 
als in den früheren, dass aber andrerseits der erste Ein- 
druck den die fremdartige Grösse ausübte, der stärkste 
und wohl auch, trotz der Versicherungen immer er- 
neuerten Staunens, der günstigste blieb. Ich meine 
nicht den allerersten, sondern den im Jahre 1804 durch 
den „Standhaften Prinzen" empfangenen. Als er dieses 
Stück einst (im März 1807) bei der Johanna Schopen- 
hauer vorlas, ergrifi" ihn die Scene in welcher der Prinz 
als Geist dem herannahenden Heere mit der Fackel 
voranleuchtet, in so gewaltigem Grade dass er das 
Buch auf den Tisch warf, sodass es zu Boden fiel. 
Bei der Aufführung im Jahre 1811 weinte Goethe. 



— 124 — 

Und doch ist der „Standhafte Prinz" nur eine mit 
manchen Mängeln behaftete Jugendarbeit Calderons 
und überdies ein Werk von streng katholischem Cha- 
rakter, wodurch hauptsächlich wohl der ünmuth 
Wielands über die Rührung zu erklären ist welche 
Charlotte von Schiller während der Vorstellung empfand. 
Es scheint mir mehr der Drang nach eigener Recht- 
fertigung als nach Belehrung Anderer welcher Goethe 
in einem Gespräch vom 31. Jänner 1815 zu der Be- 
hauptung verleitete, der standhafte Prinz dulde nicht 
sowohl für den Glauben als für Portugals Ehre. Es 
war ihm wohl erst durch die Schrift von Joh. Schulze 
(1811) zu seinem Missbehagen klar geworden was 
man alles aus dem „Standhaften Prinzen" herausfühlen 
kann. So trugen auch die Erfahrungen welche 
Goethe an Andern machte, zur Abdämpfung seines 
Urtheils bei, weniger über den Dichter selbst, mehr 
über dessen Gedeihlichkeit auf deutschem Boden. Wie 
ich glaube, nahm anfangs Goethe als möglich und 
wünschenswerth an dass, wie seiner Zeit Shakspeare 
in der dramatischen Litteratur Deutschlands eine 
heilsame Einwirkung ausgeübt habe (später dachte er 
auch in dieser Beziehung anders), nun eben eine 
solche von Calderon ausgehe, den er ja, einem 
Briefe Schellings an A. W. Schlegel (13. Okt. 1802) 
zufolge, nicht nur dem Britten gleich, sondern fast 
noch über ihn stellte. Gries entsinnt sich „eine sehr 
geistreiche Vergleichung des spanischen Dichters mit 
dem Sophokles von ihm gehört zu haben, infolge 
welcher er offenherzig gestand, wenn er und Schiller 
den Calderon früher gekannt hätten, so würden sie in 
ihren Stücken manche Fehler vermieden haben." Schiller 



— 125 — 

war schon von Chr. 6. Körner (26. Juni 1800) auf 
das spanische Theater hingewiesen worden, in welchem 
er manchen Stoff zu tragischen Situationen finden 
würde. Er verhält sich ablehnend zu dem Vorschlag 
(3. Juli 1800): „Für unsere deutsche Poesie glaube 
ich nicht so viele Ausbeute daran [an der spanischen 
Litteratur] finden zu können als du hoffst; weil wir 
einmal mehr philosophische Tiefe und mehr Wahrheit 
des Gefühls als Phantasiespiele lieben." Und er setzt 
hinzu: „Auch die Schlegels geben sich jetzt viel mit 
der spanischen Litteratur ab, nach ihrer Art; aber 
durch ihre Einseitigkeit und Anmassung verderben sie 
Einem gleich die Lust." Als der erste Band von A. W. 
Schlegels „Spanischem Theater" herausgekommen war, 
äusserte sich Körner gegen Schiller (9. Okt. 1803) 
wenig günstig über Calderon. Er sagt z. B. : „Eine 
üppige und rege Phantasie ist in Calderon nicht zu 
verkennen, aber was man Gemüth nennt, scheint ihm 
zu fehlen" (vgl. Goethe an Gries 1821 : „obgleich im 
Ganzen nicht aufs Gemüth angesehen"). Er setzt 
Calderon weit unter Shakespeare; so sei dieser kühn, 
jener aber frech, „und in dieser Frechheit, für die es 
nichts Heiliges gibt, glaube Mancher das Genialische 
zu finden".' Nun ist es Schiller (16. Okt. 1803) welcher 
dem spanischen Dichter grosse Wärme entgegenbringt, 
die allerdings für den enttäuschten Freund weniger zum 
Vorschein kommt. Er gibt ihm sogar Recht, um mit 
einem „Uebrigens" eine Brücke zu seiner eigenen 
Meinung herzustellen: „Es ist übrigens recht inter- 
essant den südlichen Geist mit einem mehr nördlichen 
hier zu vergleichen. Sinnlichkeit und Leidenschaft 
bezeichnet jenen, diesen eine moralische Tiefe des 



- 126 - . 

Gemüths. Indessen ist in Calderon doch eine hohe 
Kunst und die ganze Besonnenheit des Meisters zu 
sehen ; selbst was als regellos ins Auge fallt, wird von 
einer grossen Einheit zusammengehalten." Rückhalt- 
loser durfte er sich gegen Gries dahin aussprechen, 
„ihm sei durch die Bekanntschaft mit dem Calderon 
eine neue herrliche Welt aufgegangen". In dieses 
entglimmende Feuer giesst Goethe Oel, indem er 
(28. Jänner 1804) Schiller die erste Mittheilung von 
dem „Standhaften Prinzen" macht, mit den Worten 
schliessend: „Ja, ich möchte sagen, wenn die Poesie 
ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man sie 
aus diesem Stücke wiederherstellen." Schiller zeigt 
sich begierig auf die Neuigkeit; darüber wie er sie 
aufgenommen hat, finde ich nichts. Um mich wieder 
zu Goethe zu wenden, so trug er sich im Jahre 1807 
mit dem Plane zu einem „Trauerspiel in der Christen- 
heit", von dem Biedermann mit etwas zu starkem Aus- 
druck sagt dass er ein Stück in der Weise Calderons 
zu schreiben versuchte, das aber allerdings Spuren von 
der Beschäftigung mit dem spanischen Dramatiker an 
sich trägt. Die unzweifelhaftesten in den Parallel- 
versen : 

« 

Ja, ich bin's zu Deinen Füssen! 

Ja, ich bin's in Deinen Armen! 

Bin der Redliche, der Treue, 

Der, und wenn Du staunend zauderst, 

Der, und wenn Du fürchtend zweifelst. . . . 

In einem Brief an Chr. G. Körner (23. Apiil 1812) 
empfahl Goethe dem Sohne desselben, Theodor, sich 
des Calderon'schen Silbenmasses für dramatische Dich- 
tungen zu bedienen. Man vergleiche auch die Stelle 



- 127 - 

in dem Abschnitt „Uebersetzungen" zum „West- 
östlichen Divan" wo Goethe darauf hinweist „welche 
Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche 
rhetorische, rhythmische, metrische Vortheile dem geist- 
reich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun 
Ariost und Tasso, Shakspeare und Calderon als ein- 
gedeutschte Fremde uns doppelt und dreifach vor- 
geführt werden". Als aber die deutschen Dramatiker 
wirklich begonnen hatten sich den Calderon anzueignen, 
allerdings nicht mit der richtigen Diätetik, da gesteht 
Goethe zu dass Shakspeare und Calderon für uns zu 
Irrlichtern geworden, dass viele treffliche Deutsche an 
ihnen zu Grunde gegangen seien, da sieht er nach- 
träglich- ein dass Calderon Schiller gefährlich gewesen 
wäre, dass er zum Glück erst nach dessen Tod in 
allgemeine Aufnahme gekommen sei, da betont er 
dass Calderon auf ihn selbst gar keinen Einfluss gehabt 
habe, weder im Guten noch im Schlimmen. Des 
„Trauerspiels in der Christenheit" als eines Conatus 
brauchte er sich dabei nicht zu erinnern. Ich weiss 
nicht ob dergleichen Aeusserungen sich schon vor 
1825 nachweisen lassen. Am 30. Mai 1824 sprach 
Goethe mit Eckermann über einige neuere Schauspiele 
von Platen. „Man sieht", sagte er, „an diesen Stücken 
die Einwirkung Calderons. Sie sind durchaus geist- 
reich und in gewisser Hinsicht vollendet, allein es 
fehlt ihnen ein specifisches Gewicht, eine gewisse 
Schwere des Gehaltes. Sie sind nicht derart um im 
Gemüth des Lesers ein tiefes und nachwirkendes Inter- 
esse zu erregen, vielmehr berühren sie die Saiten 
unseres Innern nur leicht und vorübereilend. Sie 
gleichen dem Kork der, auf dem Wasser schwimmend. 



- 128 - 

keinen Eindruck macht, sondern von der Oberfläche 
sehr leicht getragen wird." Soll man hier die Ein- 
wirkung als eine günstige oder ungünstige betrachten, 
d. h. nur das zuerst genannte oder alle Merkmale 
aus ihr ableiten ? — Auch in Bezug auf die Bühnen- 
wirksamkeit Calderons im Allgemeinen bewährten sich 
Goethes Erwartungen nicht. Zum Jahre 1811 be- 
richten die Annalen: „Der standhafte Prinz* ward mit 
allgemeinem Beifall aufgeführt, und so der Bühne eine 
ganz neue Provinz erobert" ; zum Jahre 1814 heisst es 
von der „Grossen Zenobia": „Nach diesem letzten 
Versuch verklang gewissermassen der Beifall der den 
ersten Stücken so reichlich geworden war." 

So wenig ist sich Dorer bewusst wie viel darauf 
ankommt Zeit und Gelegenheit eines Goethe'schen 
Ausspruchs über Calderon zu kennen, dass er sogar 
verschiedene in einen einzigen zusammenschweisst, 
nämlich S. 7: Eckermann I, 174 f. und eine Stelle 
von der ich mich nicht entsinne wo sie sich findet; 
S. 8 : an Schiller 28. Jänner 1804 und an Zelter 28. Fe- 
bruar 1811, wo der Ausdruck „genanntes Stück" sich 
sehr gut als Bindeglied benutzen liess; S. 12: Ecker- 
mann I, 224 f. (31. Jänner 1827) und ein Aphorismus 
vom Jänner 1808 (Biemer S. 320 f.), welcher über- 
haupt von keiner Bedeutung ist, da Calderon! nur neben 
Andern als grosser Dichter der Vorwelt angeführt wird 
und welcher keinesfalls sich auf den Einfluss Calderons 
bezieht. Von den Sprüchen in Prosa 768, 769, 770 
sind auf S. 13 nur die beiden ersten zusammen ge- 
druckt, der dritte aber gesondert, ohne dass für dieses 
Verfahren irgendeine Berechtigung vorläge. 768 han- 
delt nicht ausdrücklich von Calderon, schliesst sich aber 



— 129 — 

eng an 767 („Shakspeare und Calderon haben solchen 
Vorlesungen einen glänzenden Eingang gewährt ....") 
an, welcher von Dorer deshalb nicht reproduziert wor- 
den ist weil er nicht weiss wie er die Beziehung auf 
den allerdings gar nicht hieher gehörigen 766 besei- 
tigen soll. Auch sonst lässt es sich der Herausgeber 
angelegen sein von den ürtheilen alles was ihnen aus 
ihrem Zusammenhang anhaftet, wie von einer Pflanze 
die Erdkrume welche den Standort verrathen könnte, 
abzulösen, und so werden wir um manches bedeutsame 
Wort verkürzt. Von dem was noch Aufnahme ver- 
dient hätte, rede ich nicht. 

Wer in abgerundeter Weise Goethes Betrachten 
und Wirken hinsichtlich Calderons darstellen wollte, 
der müsste den Nachklang in engeren und weiteren 
Kreisen verfolgen. Obwohl schon 1811 die Holbein'sche 
Gesellschaft in Bamberg den „Standhaften Prinzen" 
auf die Bühne gebracht hatte (bald darauf geschah 
dies auch mit der „Andacht zum Kreuz" und der 
„Brücke von Mantible"), so fanden doch diese Anfange 
keine Fortsetzung ; von Weimar aus wurde der Samen 
weiter und zunächst nach Berlin geweht. Zelter schreibt 
Anfang März 1811 an Goethe: „Von Ihrer AuflFührung 
des ,Standhaften Prinzen' tönt hier jeder Mund wieder" ; 
am 14. April 1812: „Ob wir das Calderon'sche Stück 
hier gleichfalls sehen werden, möchte ich gern wissen." 
Erst am 15. Oktober 1816 wurde der „Standhafte Prinz" 
in Berlin gegeben, nachdem WolflF, der in Weimar das 
Stück insceniert hatte, am 1. April dorthin gekommen 
war. Es folgten in Berlin andere Stücke von oder 
nach Calderon, so „Die schwere Wahl", „Die Tochter 
der Luft", „Der Arzt seiner Ehre", „Das öflFentliche 

Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 9 



— 130 — 

Geheimniss", „Das Leben ein Traum". Auch wäre 
zu fragen ob nicht West durch Goethe mittelbar zu 
seinen beiden Bühnenbearbeitungen angeregt worden 
ist, wie unmittelbar, ja mit leisem Druck, Gries zu 
der stattlichen Keihe seiner üebersetzungen, die dann 
wiederum Andere zum Nachahmen anspornten. Wer 
von dem Publikum der Hörenden und Lesenden Lauheit 
oder Widerstreben verrieth, den brachte die Stimme 
des Jupiter altisonus zum Schweigen oder vielmehr 
zum Loben, wie ja nach Goethes eigenem Ausspruch 
die damalige Zeit eine „enkomiastische" war. Der 
biedere Knebel liess sich auf seinen Lukrez zunächst 
den Calderon etwas sauer werden „wegen der Verse; 
sie kommen mir vor wie Filigranarbeit" (13. Oktober 
1809 an Goethe). Bei Zelter bricht auch späterhin 
noch etwas rebellischer Sinn hervor; so hatte sich 
Goethe über die „Locken Absalons", die in der Gries- 
schen üebersetzung 1829 herausgekommen waren, sehr 
lobend geäussert; aber das Lob Zelters (28. Mai 1829 
an Goethe) klingt wie Ironie: „Die Sicherheit, die 
Verwegenheit, die religiöse Politik eines frommen 
Dichters, im siebenzehnten Jahrhundert, im Lande wo 
man die Bibel nicht lesen soll — die ekelste Kata- 
strophe der heiligen Geschichte figuraliter vor aller 
Welt aufzustellen — das nenn' ich Courage, das ist 
Genie!" u. s. w. Und am 6. April 1831 schreibt er 
an Goethe: „Ich hatte eben vorher vier Stücke des 
Calderon gelesen und fühlte mich heute glücklich dass 
ich ein Deutscher aus meiner Zeit bin"; es ist das 
eine Parenthese in einem Bericht über eine Aufführung 
von Goethes „Tasso". Calderon kam ordentlich in die 
Mode. Wunderbarerweise verglich man z. B. den 



— 131 — 

deutschen Eomponisteu J. S. Bach mit Calderon, C. 6. 
Graun mit Tasso (Zelter an Goethe 12. April 1830). 
Calderon muss dem Staatsrath Schultz sogar einen Bei- 
trag zur Farbenlehre, Abschnitt „pathologische Farben" 
liefern. „In der »Grossen Zenobia' von Calderon ist 
sehr wahrhaft geschildert wie die Königin, da sie in 
starker Gemüthsbewegung die Tagesgeschichte nieder- 
schreibt, die Schriftzüge des verdächtigen Namens 
Livius blutig erblickt" (an Goethe 23. September 1820). 
Inwieweit die Schilderung Calderons wahrhaft genannt 
zu werden verdient, stehe dahin. Er war selbst für 
seine Zeit in aUem Naturwissenschaftlichen wenig be- 
wandert, worüber uns vielleicht noch nähere Auskunft 
wird, wenn eine zum Calderonfest gestellte Preisauf- 
gabe gelöst sein soUte. So glaubt er dass der Blitz 
entstehe indem der feuchte Dunst der Erde sich an 
der Sonne entzünde, dass der Donner dem Blitz voraus- 
gehe wie das Wort der That (dieses Gleichniss wird 
bei ihm sehr oft verwandt), dass die Perlen aus dem 
Thau der Morgendämmerung erzeugt werden u. s. w. 
Allerdings zeigt er sich gerade, was optische Er- 
scheinungen anbelangt, merkwürdig aufgeklärt, und ins- 
besondere liesse er sich zu Farbenlehre Did. Th. §. 155 
citieren. In „Morgen ist auch ein Tag" (III, 3) deutet 
Beatriz darauf hin dass das klare Wasser uns täusche, 
indem ein gerades Suder darin gekrümmt erscheine, 
dass uns das Licht des Tages täusche, welches als 
Morgenröthe die verschiedenartigsten Beflexe ausstrahle, 
und dass endlich — doch diese Stelle will ich wörtlich 
übersetzen : 

Nichts fällt heller in die Augen 
Als der blaue Himmel droben, 

9* 



— 132 — 

Und er ist doch Himmel nicht, 
Sondern nur ein Gegenstand 
üns'res Schauens, an welchem keine 
Forschung Farbe je entdeckte; 
Nun wenn diesem klaren, blauen 
Schleier jede Wahrheit mangelt, 
Was gibt's noch was uns nicht täusche. 
Da uns selbst der Himmel täuscht? 

und ähnlich noch anderswo. Z. B. wird der Him- 
mel und sein Blau geleugnet von Don Alvaro in „Wohl 
und Wehe" III, 6; in „Schlimmer steht es als es stand" 
n, 9 nennt Don Juan den Himmel „blauen Trug der 
Menschen", und in „Schärpe und Blume" I, 10 sagt 
Lisida, der Himmel kenne keine Farbe, die Schönheit 
seiner Sphäre bestehe aus einem „erlogenen Blau". 
Ich bin hier abgeschweift. Aber da Calderon und 
Farbenlehre sich begegnet hatten, war es mir nicht 
möglich diese Gewohnheit Calderons zu verschweigen, 
über die ich immer noch erstaune. Ein color phantasticus 
war für Calderon die Himmelsbläue jedenfalls, wie er 
sie sich aber erklärte, ob als physiologische oder mit 
Goethe als physische Farbe, weiss ich nicht ; vielleicht 
theilte er die naive Ansicht von Athanasius Kircher. 
Irre ich nicht, so sieht man heutzutage die Luft oder 
das Ozon in ihr als den Träger der blauen Farbe an ; 
ein blaues Himmelsgewölbe würde immerhin eine 
Fiktion sein. Aber welcher Fiktion würde man sich, 
und gerade als Spanier, weniger gern bewusst wer- 
den, welche verbände sich lieber mit den religiösen 
Vorstellungen? So viel steht fest, in diesem Falle 
spielt Calderon um poetischer Zwecke wiUen den Ra- 
tionalisten. 

Goethe selbst liebt es gelegentlich sich auf Cal- 



— 133 — 

deron zu beziehen, und nichts beweist besser als solche 
flüchtige Anspielungen wie sehr ihm der Spanier im 
Kopf und am Herzen lag. In einem undatierten Brief- 
chen an Frau von Stein (wohl von 1803) sagt er : „Wie 
sehr ich als ein starrer Deutscher von der spanischen 
Anmuth entfernt bin, fühP ich diesmal, da ich unserem 
Missverständniss gern auf Calderonische Art nach- 
geholfen hätte. Es will aber nicht gehen, und ich 
muss also nur geradezu, insofern ich Recht habe, um 
Nachsicht, insofern ich Unrecht habe, um Verzeihung 
bitten." Unter den Stücken Calderons welche Goethe 
1803 kannte, befindet sich nur ein Konversationsstück, 
nämlich „Die Schärpe und die Blume", aus dem ihm 
eine Scene oder eine Rede vorschweben konnte. Zu 
Anfang des zweiten Aktes z. B. gibt Lisida dem Enrico 
aus verschiedenen Ursachen ihre Eifersucht zu erkennen ; 
Enrico vertheidigt sich in beredter Weise. Bezog sich 
Goethe darauf? Oder kam es mehr auf das Galante 
als das Rhetorische an? Da wäre an das w^as Enrico 
in demselben Akte zur Lisida sagt, zu erinnern: 

Ich weiss nicht welch einen Zauber 
Deine Worte für mich haben 
Dass ich wider Wissen glaube. 

Dass die Calderon'sche Galanterie auf Goethe 
Eindruck machte, sieht man aus Eckermann I, 87 f. 
(26. Februar 1824). Es wird ein Bild beschrieben 
auf dem mehrere Damen dargestellt sind. „In diesem 
Augenblick ist ein junger Herr hereingetreten, auf den 
die Blicke der Frauen sich richten; er scheint die 
musikalische Unterhaltung unterbrochen zu haben, und, 
indem er mit einer leichten Verbeugung vor ihnen 
steht, macht er den Eindruck als sagte er entschul- 



— 134 — 

digende Worte, die von den Frauen mit Wohlgefallen 
gehört werden." „Das, dächte ich", sagte Goethe, 
„wäre . so galant wie irgendein Stück von Calderon." 
Des Graciosos gedenkt Goethe öfter; nach Art kräftig 
ausgeprägter Volks- und Einzelnaturen überträgt er 
den fremden Namen auf Erscheinungen innerhalb der 
eigenen Sehweite. So sagt er von einer Person in 
Johanna Schopenhauers Eoman „Gabriele" : „Dem wun- 
derlichen Vetter verzeiht man Alles, seiner eigenthüm- 
lichen Seltsamkeit und Beschränktheit wegen ; er spielt 
den Gracioso in dieser Tragödie und steht den thätigsten 
des Calderon nicht nach." In den Annalen zu 1820 
heisst es : „Auch hätte das Unvereinbare von Vossens 
und Stolbergs Natur sich früher ausgesprochen und 
entschieden, hätte nicht Agnes als Engel das irdische 
Unwesen besänftigt und als Gracioso eine furchtbar 
drohende Tragödie mit anmuthiger Ironie durch die 
ersten Akte zu mildern gesucht." Dazu findet sich 
in den „Biographischen Einzelnheiten" mit einer merk- 
würdigen Zusammenziehung der Vergleiche folgende 
Variante : „In allen Relationen als Vermittlerin zwischen 
Gemahl und Freund erkenn' ich sie vollkommen. Durch- 
aus spielt sie die Rolle des Engels Gracioso in solchem 
Grade lieblich, sicher und wirksam dass mir die Frage 
blieb ob es nicht einen Calderon, den Meister dieses 
Faches, in Verwunderung gesetzt hätte." Wenn Bieder- 
mann hiezu anmerkt dass Gracioso als „Vermittler" zu 
fassen sei, so kann ich ihm ebensowenig beipflichten 
als wenn er in dem „Treuen" des „Trauerspiels in der 
Christenheit" einen Abglanz des Gracioso vermuthet. 
Nach Kenntnissnahme von so vielen Einzelheiten 
fühlt man sich zu einer allgemeinen Anschauung ge- 



— 135 — 

drängt; man wünscht das oder, richtiger gesagt, die 
Urtheile Goethes über Calderon zu beurtheilen. Wenn 
gesagt worden ist: 

Nul n^est jtige des arte que Vartiste lui-meme, 

SO passt das auf die Dichtkunst nicht vollkommen. Je 
stärker die Eigenthümlichkeit des Schaffenden, desto 
schwerer wird er sich in die eines Andern hinein- 
empfinden, und so haben wir merkwürdige Beispiele 
davon in wie hohem Grad auch grosse Dichter ein- 
ander verkannt haben. Als Goethe sich über Calderon 
zu äussern begann, lag aUerdings die beste Zeit seiner 
poetischen Thätigkeit schon hinter ihm, und seitdem 
lebte er sich mehr und mehr in eine ruhige Be- 
schaulichkeit ein. Um ihn, wie um einen Eigi, brei- 
tete sich die Weltlitteratur aus, er mass die Höhe 
und die Entfernung der sonnigen Gipfel, er fasste das 
Besondere in der Bildung der ihm zugewandten Seiten 
auf, während auf den Tiefen wo die Berge wurzeln 
und miteinander zusammenhängen, grossentheils Schat- 
ten oder Nebel lagerten. Indessen gerade bei Calderon 
war sich Goethe der Beschränktheit seines Erkennens 
durchaus bewusst, und dies bewahrte ihn davor un- 
gerecht gegen ihn zu werden. Das streng Konven- 
tionelle, wie es ihm hier sofort in die Augen sprang, 
war ihm an sich gewiss nicht zuwider, nur bereitete 
es dem Verständniss und dem Genuss Hindernisse, in- 
sofern es sich auf eine ganz fremdartige Kultur grün- 
dete, die Goethe und den meisten seiner Zeitgenossen 
wirklich ganz fremd blieb. Denn wenn auch Goethe 
in den Annalen (1816) schreibt: „Gries machte uns 
in dem Spanien des siebenzehnten Jahrhunderts immer 
einheimischer", so konnten einige Werke eines einzigen 



— 136 — 

Dramatikers von jener Kultur um so weniger einen 
genügenden Begriff geben als ja nach Goethes eigenen 
Worten sich bei demselben „menschliche Zustände^ 
Gefühle, Ereignisse schon verarbeitet, zubereitet, sub- 
limiert" finden. Und wenn er andrerseits vom Orient 
aus über das Meer sich dem Calderon, „der seine 
arabische Bildung nicht verleugne", genähert zu haben 
glaubt, so befängt ihn ein sehr verbreiteter Irrthum 
über die Beeinflussung des spanischen durch arabisches 
Wesen. Wie dem auch sein mag, die Hauptsache ist 
dass Goethe bei der Betrachtung von Dichtern und 
vornehmlich von Dramatikern auf die Verschiedenartig- 
keit der Lebensbedingungen volles Gewicht legt. Man 
erinnere sich im allgemeinen an das was er (3. Mai 
1827) gelegentlich B6rangers in seinen Unterhaltungen 
mit Eckermann aussprach. Indem er Shakspeare und 
Calderon zusammenhielt, erkannte er es für einen 
grossen Vortheil des Ersteren als Prptestant geboren 
zu sein („lieber Kunst und Alterthum" III, 1822), 
und wies darauf hin dass, wenn Shakspeare für den 
Hof zu Madrid geschrieben hätte, er sich auch wahr- 
scheinlich einer strengeren Theaterform gefügt haben 
würde (gegen Eck. 26. Juli 1826). Die Lobsprüche 
welche Goethe dem Spanier ertheilt, werden wir noch 
heute ohne wesentliche Abänderung unterschreiben ; an 
ihnen hat übrigens ein warmes Gefühl eben so viel 
Antheil als ein durchdringender Verstand. Es ist schon 
erwähnt wie tief Goethe von Einzelnem bei Calderon 
ergriffen wurde. Indem er Calderon'sche Dramen auf 
die Weimar'sche Bühne brachte, kam er gewiss auch 
einem inneren Bedürfniss nach, und nicht bloss dem 
Bedürfniss das er allerdings im Auge hatte, Publikum 



— 137 — 

und Schauspieler an der lehrreichen Materie zu schulen. 
Eine Nachwirkung Calderons haben wir in einem 
Goetheschen Bruchstück wahrgenommen, und Goethe 
selbst sagt ja dass man nur von denen lerne die man 
liebe. Auch nicht vorübergehend war sein Interesse 
an Calderon. Freilich stellt er (gegen Eck. 31. Jänner 

1827) das Chinesische, Serbische, Calderon, die Nibe- 
lungen nebeneinander, indem er verlangt, man solle 
bei der Schätzung des Ausländischen nicht an etwas 
Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft 
ansehen wollen. Allein wenn er (gegen Eck. 3. Okt. 

1828) sagt : „Es ist in der altdeutschen düsteren Zeit 
eben so wenig für uns zu holen als wir aus den 
serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volks- 
poesien gewonnen haben. Man liest es und interessiert 
sich wohl eine Zeit lang dafür, aber bloss um es ab- 
zuthun und sodann hinter sich liegen zu lassen" — 
so ist uns doch aufs sicherste bezeugt dass er in 
gleicher Weise über die Bedeutung Calderons nicht 
dachte. Kurz, wir haben eine lebhafte und dauerhafte 
Sympathie Goethes für Calderon zu erkennen, und 
wir fragen nun wie sie zu erklären sei. Sie kann 
durch den Reiz des Gegensatzes verstärkt worden sein, 
aber wurzeln kann sie nur in irgend einer Ueberein- 
stimmung. Eine solche Calderons mit Schiller ist 
leichter zu entdecken als mit Goethe, wie Letzterer 
selbst hervorgehoben hat. Die Richtung auf das 
Theatralische war jenen Beiden gemein, wenn auch, 
nach Goethe, der Spanier dem Deutschen hier weit 
voran war. Insbesondere könnte man folgende Worte 
Goethes über Schiller (gegen Eck. 18. Jänner 1825) 
auch für Calderon gelten lassen: „Er griff in einen 



— 138 — 

grossen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und 
wendete ihn hin und her, und sah' ihn so an und so, 
und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegen- 
stand gleichsam nur von aussen an, eine stille Ent- 
wicklung aus dem Innern war nicht seine Sache." 
Vor Allem sind Schiller und Calderon Vertreter des 
Idealismus. Die bestimmteste Parallele zwischen Beiden 
hat Grillparzer (IX, 229) gezogen: „Calderon: der 
Schiller der spanischen Litteratur, Lope de Vega: ihr 
Goethe. Calderon : grossartiger Manierist, Lope : Natur- 
maler. SchiUer und Calderon scheinen philosophische 
Schriftsteller, Goethe und Lope de Vega sind es. Jene 
scheinen es vorzugsweise zu sein weil sie die philo- 
sophische Diskussion geben, diese haben nur die Re- 
sultate." Worin aber sind sich Goethe und Calderon 
verwandt ? Edmund Dorer hat einen Versuch gemacht 
darauf zu antworten. Aber nicht in seinem Schriftchen 
„Goethe und Calderon"; um den dritten Bogen des- 
selben zu füllen, hat er üebersetzungen Calderon'scher 
Stellen von Grillparzer und von sich gegeben, sodass 
wir, was der Titel nicht erwarten liess, hier eine ganze 
Dichtertrias mit Calderon beschäftigt finden. Die Aus- 
lassungen die ich meine, sind in einem Aufsatz Dorers 
über Calderon („Gegenwart" N. 21) enthalten. Sie 
treffen meines Erachtens den Kern nicht, sind auch 
mehr flüchtig dahingeworfen. Dass Goethe und Cal- 
deron ähnliche Stoffe, wie den Cyprian-Paust und den 
Prometheus wählten, ist äusserlich und zufällig, und 
ebenso, dass beide ein gewisses Interesse für den 
Islam an den Tag legten. Inwiefern die hohe Be- 
deutung der Frauen zur Veredlung und Bildung des 
Mannes und der versöhnende Geist welcher den 



— 139 — 

tragischen Abschluss mildert, als eine verbindende 
Eigenthümlichkeit Beider gefasst werden könne, weiss 
ich nicht. Ich nehme bei Goethe weder eine Justina, 
noch eine ßosaura wahr, auf die hier ausdrücklich 
hingewiesen wird, noch glaube ich dass Goethe sich 
je zu einem dramatischen Ausgang entschlossen hätte 
wie wir ihn im „Arzt seiner Ehre", oder in „Eifersucht 
das grösste Scheusal", oder „Drei Vergeltungen in 
einer", oder „Geheime Bache für geheimen Schimpf" 
finden. Endlich sagt Dorer (S. 328): „Bei Goethe 
wie bei Calderon nahm mit dem Alter die Lust an 
allegorischer Darstellung einer Idee zu; bei Calderon 
ging diese Neigung so weit dass er selbst seine früheren, 
aus dem vollen Leben geschöpften Schauspiele ins Alle- 
gorische übersetzte." Die Sache liegt bei Calderon 
nicht so tief; er trat, älter geworden, in den geist- 
lichen Stand, schrieb daher von da ab sehr viele Pron- 
leichnamsspiele, und diese Gattung ist eben eine alle- 
gorische. Wenn hierin aber auch eine Verwandtschaft 
mit Goethe läge, so doch keine derartige dass sie auf 
ihn eine Anziehungskraft ausüben konnte, da er ja jene 
eigenthümlichen Dramen, die noch nicht übersetzt 
waren, schwerlich kannte, höchstens eine ganz allge- 
meine Vorstellung von ihnen besass. Um in dieser 
Angelegenheit auf das Richtige zu stossen, müssen wir 
etwas weiter ausholen. Goethe erkannte in der Natur 
und in der Geschichte, im Einzelnen und in der Ge- 
sammtheit ein „Dämonisches", was durch Verstand und 
Vernunft nicht aufzulösen sei ; er nennt es wo er von 
der wissenschaftlichen Forschung spricht, das „unzu- 
gängliche", „Problematische", dessen Schranken man 
nicht zu durchbrechen versuche. Das Dämonische 



— 140 — 

unseres Innern drückt er in jenen schönen Wor- 
ten aus: 

Was von Menschen nicht gewusst 
Oder nicht bedacht 
Durch das Labyrinth der Brust 
Wandelt in der Nacht. 

Sie erinnern mich an die alte bei Calderon oft wieder- 
holte Letra: 

Zeuge meiner Herzensklage 
Soll allein das Schweigen sein, 
Kaum fasst meine ganze Pein 
Alles das was ich nicht sage, 

welche Val. Schmidt (S. 311) dahin erläutert „dass 
das Höchste über alle Worte und über allen Ausdruck 
erhaben sei, ja dass selbst die nicht in Worte gefassten 
noch zu fassenden Gedanken eine Region des Gefühls 
über sich haben in welcher sie nur wie Species im 
Genus sich befinden." „In der Poesie", sagte Goethe 
zu Eckermann (8. März 1831), „ist durchaus etwas 
Dämonisches und zwar vorzüglich in der unbewussten, 
bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz 
kommt, und die daher auch so über alle Begriffe 
wirkt." Und einige Jahre früher (gegen Eck. 6. Mai 
1827) hatte er seiner Meinung einen noch bestimmteren 
Ausdruck gegeben : „je incommensurabler und für den 
Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto 
besser." Wie kann nun der Schaffende das Dämonische 
was auf ihn wirkt, auf Andere wirken lassen? Wie 
kann er das unsagbare doch sagen? Goethe deutet 
es im zwanzigsten Buche seiner Selbstbiographie an, 
da wo er seine Dämonologie vorträgt: „Ich suchte 
mich vor diesem fürchterlichen Wesen zu retten, 



— 141 — 

indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild 
flüchtete." Wir werden das allgemeiner ausdrücken: 
nur auf symbolischem Wege lässt sich das Erforderniss 
befriedigen. Die echte Lyrik ist vom Symbolischen 
innigst durchwachsen; auf ihm beruht ihr Hauptreiz. 
Im Drama ist es entbehrlicher. Es kann hier zunächst, 
wie in der Lyrik, dazu dienen Stimmungsreflexe darzu- 
stellen — davon ist Calderon weit entfernt, der viel- 
mehr die inneren Zustande mit schärfster Dialektik 
auseinanderlegt. Wohl aber hat er oft das Dämonische 
der Begebenheiten zur Anschauung gebracht, von 
einzelnen flüchtigen Strahlen an bis zur ständigen 
Beleuchtung. Ich erinnere z. B. an jene zufälligen, 
vorbedeutenden Antworten welche er so oft anbringt; 
allgemein bekannt ist die Rolle welche bei ihm so- 
wohl die antike Schicksalsidee als das Jenseits des 
katholischen Glaubens spielen. Das Symbolische, wel- 
ches demzufolge vereinzelter oder zusammenhängen- 
der, schwächer oder stärker auftritt, durchdringt ein 
Stück in ganz einziger Weise: im „Leben ein Traum" 
wird das Verhältniss einer begreiflichen und einer über- 
natürlichen Sphäre zueinander, welches die Voraus- 
setzung aller symbolischen Darstellung bildet, selbst 
einer solchen unterworfen. Goethe hat von jeher die 
hohe Bedeutung des Symbolischen für das Drama 
gefühlt, und dieses ist die Seite von welcher Calderon 
eine besondere Anziehung auf ihn ausgeübt haben 
wird. Wenn er betont dass was theatralisch sein 
wolle, symbolisch sein müsse, d. h. jede Handlung an 
sich bedeutend sein und auf eine noch wichtigere hin- 
zielen müsse, und wenn er dafür als Beispiel aus 
Shakspeare jenen Augenblick anführt „wo dem todt- 



— 142 — 

kranken schlummernden König der Sohn und Nach- 
folger die Krone von seiner Seite wegnimmt, sie auf- 
setzt und damit fortstolziert" (Heinrich IV., zweiter Th.), 
so hat er Recht von Calderons theatralischer Voll- 
kommenheit zu sprechen. Sogar an jenem Orakel- 
haften bei Calderon worauf ich eben hingewiesen habe, 
zeigt Goethe Wohlgefallen; er schreibt an Einsiedel 
(7. Dec. 1807) gelegentlich der „Grossen Zenobia" : 
„Nur noch Eins zu sagen, so ist es ein ganz stupender 
Einfall dass die in die Höhle gestürzte Halbprophetin 
und Trägerin zur wahren Prophetin dadurch wird dass 
man sie missversteht." Es ist befremdlich dass wo 
Goethe die allgemeinen Merkmale der Calderon'schen 
Dichtung aufzählt, er nie ausdrücklich des Symbolischen 
Erwähnung thut; aber wie er doch gerade an dieser 
Stelle die innigste Fühlung mit dem spanischen 
Dramatiker hat, das verräth er unwillkürlich. Die- 
jenigen von den ihm zugänglichen Stücken welche 
sich durchaus innerhalb der Grenzen des Wirklichen 
und Begreiflichen halten, haben ihn in geringerem Grade 
beschäftigt, obwohl sich Meisterwerke unter ihnen 
finden ; alle die Stücke die er, und zwar mit lobenden 
Worten, kurz nennt oder etwas näher beleuchtet oder 
gar aufführen lässt, ragen in das Gebiet des Wunder- 
baren, Dämonischen, üeberirdischen hinein, und doch 
sind unter ihnen Werke welche aus einer frühen Zeit 
stammen und daher mit manchen UnvoUkommenheiten 
behaftet sind, ja sogar eines welches. Alles in Allem 
genommen, auf keiner sehr hohen Stufe steht, nämlich 
die „Grosse Zenobia". Goethe selbst hat vielfach das 
Symbolische in seine dramatischen Dichtungen ein- 
geführt; glänzend und auffallig tritt es uns schon 



— 143 — 

in einem Jugendwerk, im „Egmont" entgegen. Man 
darf nicht sagen, die Erscheinung am Schlüsse stelle 
nur das dar was in dem schlafenden Gemüthe des 
Helden vor sich gehe. Die Hoffnung dass aus Egmonts 
Blut eine fruchtbare Saat emporwachse, erscheint, was 
bei Goethes strengem Motivieren wohl zu beachten ist, 
äusserlich durch nichts gerechtfertigt; als Symptom 
von Egmonts sanguinischem Temperament wäre sie 
übel angebracht gewesen; sie konnte nur eine über- 
irdische Erleuchtung der letzten Stunde sein, und eine 
solche heischte eine symbolische Veräusserlichung. 
Wenn man sich der verklärten Gestalt von Egmonts 
Geliebten erinnert, die ihm ruhmvolles Angedenken 
und seinem Volke die Freiheit verheisst, dann erst 
begreift man recht warum die verklärte Gestalt des 
standhaften Prinzen, welche die Portugiesen noch im 
Stücke selbst zum Siege führt, auf Goethe einen so 
wunderbaren Eindruck machte, und doch war hier 
nur ein katholisches Wunder dessen Vorkommen oft 
bezeugt wird, in Scene gesetzt Scheint hier nicht 
Goethes Geschmack mit sich selbst in Widerspruch 
zu gerathen ? Wiederholt preist er Shakspeare glück- 
lich in einem protestantischen Lande geboren zu sein 
und bedauert den „hoch- und freisinnigen" Calderon 
dass er genöthigt sei „düsterem Wahne zu fröhnen 
und dem Unverstand eine Kunstvernunft zu verleihen, 
weshalb wir denn mit dem Dichter selbst in wider- 
wärtigen Zwiespalt gerathen, da der Stoff beleidigt, 
indes die Behandlung entzückt; wie dies der Fall 
mit der , Andacht zum Kreuze', , Aurora von Copa- 
cavana' gar wohl sein möchte." Im „Standhaften 
Prinzen" findet er den Gegenstand wie die Behandlung 



— 144 — 

„liebenswürdig"; aber er stellt (wenigstens später) in 
Abrede dass dieser Gegenstand ein religiöser ist. 
Durfte Goethe die Abneigung die er gegen den 
Katholicismus hegte, vom Leben auf die Kunst über- 
tragen? Musste er nicht das Katholische hinsichtlich 
seiner poetischen Verwendbarkeit seinem Dämonischen 
anreihen? Grillparzer ging von einer durchaus richti- 
gen Betrachtung aus, wenn er 1819 bemerkte (IX,' 
180 f.): „dass es zwar allerdings zulässig, ja — da es 
sich nicht um Portraitierung, sondern um Idealisierung 
der Natur handelt — unerlässlich sei in das Sinnliche 
das üebersinnliche hineinspielen zu lassen, dass es 
aber immer auf eine mit der allgemeinen Menschen- 
natur, mit dem allgemeinen Menschengefühl überein- 
stimmende Art geschehen müsse, die subjektiv wahr 
bleibt, wenn auch die geträumte objektive Wahrheit 
längst verloren gegangen wäre, sodass also die Mei- 
nungen die immer da waren, die vermöge eines nicht 
zu deducierenden Grundzuges der menschlichen Natur 
auch immer da sein werden, ungeachtet ihres Schwan- 
kenden, für die Poesie brauchbarer sind als sogenannte 
Wahrheiten, unangreifbar gelagert unter den Kanonen 
eines philosophischen oder Religionssystems. — Be- 
trachtet den Calderon. Hundertmal hat er den katho- 
lischen Aberglauben gebraucht (der nichts ist als ein 
maskierter heidnischer oder, kurzweg, menschlicher), 
kaum einmal den Glauben. Und doch erschüttert dieser 
Aberglaube im Gedicht Menschen die ihn verachten 
in der Religion. Erklärt mir das, ihr alten Neu- 
deutschen." Aber ich denke weder dass bei Calderon 
Glaube und Aberglaube, die ja überhaupt einen will- 
kürlichen und ewig wechselnden Gegensatz bilden, in 



— 145 — 

der Weise wie es Grillparzer thut, auseinanderzuhalten 
sind, noch, dass aller katholische Aberglaube jene 
allgemeine Färbung trägt und jene allgemeine Wirkung 
ausübt. Bleiben wir bei den obigen Goethe'schen Bei- 
spielen. Die „Andacht zum Kreuze" durchwaltet ein 
Gedanke der mit gänzlicher Absehung vom Christen- 
thum in einer Schicksalstragödie hätte entwickelt wer- 
den können ; erscheint er aber hier nicht eingefugt in 
die Lehre von der göttlichen Gnade, deren ünermess- 
lichkeit mit fast gleichen Worten wie im „Wunder- 
thätigen Magus" gepriesen wird, und die sich durch 
ein Wunder, die Wiederbelebung des Eusebio, offenbart, 
oder vielmehr in die Lehre von der göttlichen Gnaden- 
wahl, welche gerade in protestantischen Sekten die 
strengste Ausbildung erfahren hat? Erschüttert uns 
in der „Morgenröthe von Copacavana" der katholische 
Aberglaube, wie der rettende Kreuzesstamm, die Er- 
scheinung der Muttergottes, die malenden Engel ? Oder 
nicht vielmehr die Anschauung einer zur christlichen 
sich verklärenden heidnischen Sonne ? Auf welche be- 
sondern religiösen Elemente in Calderons Poesie Goethe 
hinzielt, indem er von düsterem Wahn und Unverstand, 
von absurden und beleidigenden Stoffen redet, darüber 
sind wir im unklaren. Sollten sich Gefühl, Ansicht, 
Wort nicht vollständig bei ihm decken? hie und da 
die Antipathie des Menschen auf das Gebiet des Kunst- 
beurtheilers hinübergreifen ? Auf der Bühne stiess ihn 
wohl nicht das Dogma an sich ab, sondern nur so weit 
es einen unberechtigten Druck auf das Moralische aus- 
übt, nicht das Wunder an sich, sondern nur so weit 
es der künstlerischen Zweckmässigkeit widerspricht, der 
Dens ex machina war ihm in der Gestalt einer heid- 

Sohuchardt, liomauisches u. Keltisclies. 10 



— 146 — 

nischen Gottheit nicht annehmbarer als mit den Zügen 
der heiligen Jungfrau. Goethe war nicht gegen das 
Katholische als solches; nein, er schätzte vielmehr 
dessen poetischen Werth sehr hoch, wie u. A. seine 
Bemerkung gegen Eckermann. (21. Juli 1827) zeigt, 
es sei dem Romandichter Manzoni „die katholische 
Religion vortheilhaft, aus der viele Verhältnisse poeti- 
scher Art hervorgehen die er als Protestant nicht 
gehabt haben würde" (wogegen man die früher an- 
geführte Aeusserung über Shakspeare halte). So 
dürfen wir schliesslich wohl dahin übereinkommen 
dass er, wenn er es auch nicht geradezu aussprach, 
doch die Gewalt des Religiösen bei Calderon empfand 
und nur gewisse Auswüchse dieses Elementes miss- 
billigte; wie wenig er im Grund an dem Charakter 
des „Standhaften Prinzen" als einer comedla divina 
zweifelte, das würde das „Trauerspiel in der Christen- 
heit" (in dem auch das Märtyrerthum angedeutet wird) 
darthun, wenn wir mit Biedermann hier eine direkte 
Beeinflussung durch das Calderon'sche Stück annehmen. 
Goethe konnte ja auch auf eigene Hand christlich, ja 
katholisch sein, und wir müssen dabei vor Allem des 
Schlusses gedenken welchen er dem grössten seiner 
eigenen Werke gab. Im „Paust" hat Goethe einen 
denen ähnlichen Stoff ergriffen wie sie Calderon in 
einer ganzen Reihe von Stücken bearbeitet hatte, be- 
sonders im „ Wunderthätigen Magus". Aber was hier 
katholisch, ist dort dämonisch; hier dunkler Drang 
nach dem Christenthum zu, dort von ihm hinweg. 
Das Grübeln über die Eingangsworte des Evangeliums 
Johannis ist bei Faust die Abenddämmerung des alten, 
bei Chrysanthus die Morgendämmerung des neuen 



— 147 — 

Glaubens. Der erste Theil des „Faust" zeigt uns 
demnach Goethe recht als Widerpart Calderons, und 
der junge Westindier der denselben, noch bei Goethes 
Lebzeiten, voU Begeisterung ins Spanische übertrug, 
wird das sicherlich gefühlt, und vielleicht das besonders 
ihn gereizt haben. Das Ende des zweiten Theils ist 
ganz katholisch, und nirgends streift die Bahn Goethes 
so nahe an die Calderons an wie hier. Der Erlösungsakt 
(welcher trotz seiner Nothwendigkeit uns überraschend 
berührt, nachdem sich Fausts Selbst seinem Wunsche 
gemäss zum Selbst der Menschheit erweitert hat) schloss 
sich im ersten Entwurf enger an den Prolog an und 
kennzeichnete sich durch die Gestalt des „Beichsver- 
wesers" als im protestantischen Geschmacke gehalten. 
Aber mit vollem Becht wurde er katholisiert, es wurde 
dadurch eine grosse poetische Mannigfaltigkeit und 
Energie gewonnen, die auch in ein günstiges Verhältniss 
zum Vorhergehenden tritt; Christus wurde ersetzt durch 
die Himmelskönigin, „das Ewig -Weibliche, das uns 
hinanzieht", die Verkörperung der errettenden Liebe. 
Goethe sagte zu Eckermann (6. Juni 1831): „Bei so 
übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen hätte ich 
mich sehr leicht im Vagen verlieren können, wenn ich 
nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf 
umrissenen christlich -kirchlichen Figuren und Vor- 
stellungen eine wohltbätig beschränkende Form und 
Festigkeit gegeben hätte." Welche Conceptionen an- 
derer Dichter mit einwirkten, liesse sich ebenso leicht 
angeben wie aus welchen Blumen eine Biene ihren 
Honig sammelt. Man hat Dante citiert ; mit demselben 
Eechte könnte ich Calderon eitleren, an den schon das 
erste Auftreten des Thurmwächters Lynceus anklingt : 

10» 



— 148 — 

r 

Lass mich knieen, lass micli schauen, 
Lass mich sterben, lass mich leben .... 

In „Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde", wo 
Tannen und Löwen nebeneinander vorkommen, hat man 
bald den Athos, bald den Montserrat, bald eine Nil- 
landschaft wieder zu erblicken geglaubt. Mich erinnert 
Schauplatz wie Situation einigermassen an den Schluss 
von Calderons „Fegefeuer des h. Patricius" (dessen 
Uebersetzung von Jeitteles 1824 Goethe wohl in die 
Hände gekommen sein mochte) : aus wilder Felsgegend 
setzt Ludwig über den See nach der Insel wo das 
Kloster, mit dem Eingang zum Fegefeuer des h. Pa- 
tricius im Hintergrunde, sich befindet. Vergl. z. B.: 

Woge nach Woge spritzt .... 

Wie tausend Bäche strahlend fliessen 

Zum grausen Sturz des Schaums der Fluth .... 

Das sind Bäume; das sind Felsen, 
Wasserstrom, der abestürzt .... 



mit: 



Wie auch jetzt die Winde schweigen, 
Regen sich die Wellen doch .... 



Dorten stürzen rasch die Bäche 
Yon dem Felsen grauenvoll .... 

Das kann aber sehr leicht nur zufällige üeberein- 

stimmung sein. Ohne Zweifel drücken die Verse des 

Chorus mt/sticus: 

Alles Vergängliche 
Ist nur ein Gleichniss 

dasselbe aus wie Calderons: 

Nur ein Traum ist alles Leben. 

Diese Vision emporschwebender Geister drängt 
sich an die Stelle eines Gedankens der meine Be- 



— 149 — 

trachtung über Calderon und Goethe abschliesse. Goethe 
schrieb an Knebel (13. Juni 1821) in Bezug auf Gries : 
„Ich bin dem Uebersetzer sehr verpflichtet, der Alles 
so treu und rein wiedergegeben, ich werde nicht er- 
mangeln es bei Calderon zu rühmen, wenn ich ihm 
drüben begegne." Wir versuchen nun unwillkürlich 
uns die in den letzten Worten enthaltene Vorstellung 
auszumalen. Wie möchten sich die Beiden verstän- 
digen, die durch tausenderlei entfremdet waren? Es 
ist das eine kindliche Frage, aber eben nur deshalb 
weil sie von der höchsten Weisheit den Schleier zu 
lüpfen wünscht. Wir können uns bloss mit dem mittel- 
alterlichen Bilde helfen. Die Genien steigen aufwärts 
durch die neun Himmel, Stück für Stück löst sich das 
Irdische von ihnen ab. Jeder Planet nimmt seine Gabe 
zurück : noch unter dem Himmel des Mondes schwindet 
die schwere Küstung der menschlichen Sprache dahin, 
die alles dichterische Streben einzwängt und nieder- 
zieht; Venus lässt die bunten Farben der Liebes- 
flammen verbleichen; Mars ertödtet den kriegerischen 
Sinn der das eine Volk gegen das andere erbittert; 
Jupiter wischt die Gesetze aus die engen imd flüch- 
tigen Bedürfnissen entspringen ; im Fixsternhimmel 
zerfliessen alle Verschiedenheiten des Glaubens, und 
endlich begegnen sich im Empyreum die reinen En- 
telechien, unverlöschliche Kräfte auf unverrückbare 
Ziele gerichtet. Wir aber vermögen solche Feuer- 
ströme nicht wahrhaft miteinander zu messen, deren 
Gluth und Glanz wir ja durch die dichte Hüllen hin- 
durch mehr ahnen als erkennen. 



IX. • 

G. O. Belli und die römische Satire. 

Roms Denkmäler aus heidnischer und christlicher 
Zeit werfen einen dichten Schatten über die Menschen 
welche zwischen ihnen hausen, und deren Denken und 
Dichten. Nicht als ob das Augenfällige nicht vielfach, 
sei es durch Pinsel oder Stichel, sei es durch die Feder, 
festgehalten worden wäre; der Bettler an der Engels- 
brücke, der Freitagsprediger im Colosseum, der Schreiber 
auf dem Campo de' Fiori, der Charlatan auf der Piazza 
della Eo'tonda, Campagnolen, Pifferari, Morraspieler, 
Karnevalsaufzüge, Kirchenfeste — dies sind alles wohl^ 
bekannte Bilder. Aber es sind eben nur Bilder; sie 
bleiben in gewissem Sinne todt, mögen sie auch noch 
so lebendig gezeichnet sein, wie auf jene Art von Pinelli 
oder auf diese von Gregorovius; auch sprechend ähn- 
lich, schweigen sie doch immer. Aus Tracht, Haltung, 
Blick eines Menschen können wir Manches über ihn 
errathen; aber um ihn wirklich kennen zu lernen, 
müssen wir ihn reden hören. In diesem Sinn könnten 
in- und ausländische Romane oder Erzählungen uns 
weiter führen; indessen spinnen sich solche theils 
zwischen Personen der höheren und gebildeteren Klas- 
sen ab, theils sind sie mit nordischen Anschauungen 
und Gefühlen durchsetzt, theils arbeiten sie mehr oder 



— 151 — 

minder offenkundig auf einen bestimmten Zweck hin. 
So schrieb der talentvolle Jesuit A. Bresciani, übrigens 
ein Nichtrömer, dessen Name eng mit der Civütä 
Cattolica verknüpft ist, unter dem Titel „Edmondo 
oder die Sitten des römischen Volks'^ (zuerst in der 
genannten Zeitschrift gedruckt; dann besonders, Mai* 
land 1864) im wesentlichen eine Bekehrungsgeschichte ; 
es steht darin viel Wahres und Lehrreiches zu lesen, 
er verschweigt keineswegs die Gebrechen seiner Tras- 
teveriner, und doch kommt es uns schliesslich vor als 
ob sie alle Heiligenscheine trägen, und ihr Thun und 
Treiben eitel Weihrauch wäre, üeber dies alles ver- 
langen wir von jedem Menschen seine eigene Sprache 
und seinen eigenen Stil ; der Römer rede nicht deutsch, 
noch englisch, noch französisch, nicht einmal italienisch, 
sondern römisch, seine eigene Mundart, mit ihren ein* 
dringlichen Anreden, ihren leidenschaftlichen Ausrufen, 
ihren kühnen und derben Bildern, ihren treffenden sprich- 
wörtlichen Redensarten und endlich ihren zahllosen 
spropositi, d. h. Vergewaltigungen fremder und fremd- 
artiger Wörter oder Namen. Und darum glaube ich 
dass wir uns nirgendwie innigere Bekanntschaft mit 
den Römern, und zwar denen niederen Schlags, er- 
werben können als durch Vermittlung ihres Lands- 
mannes G. G. Belli ; er verfasste gegen 2300 Sonette 
in römischem Dialekt, von denen allerdings bei weitem 
noch nicht die Hälfte gedruckt existiert.*) 



*) Etwa 800 Sonette, sämmtlich datiert, finden sich in den 
vier Bänden der Poesie inedite di Giuseppe Oioachino Belli 
Romano. Roma, Tipografia Salviucci 1865. 1866, von denen 
sie die zweiten Abtheilungen bilden. Diese elegante und sorg- 
föltige Ausgabe hat der Sohn des Dichters, Giro Belli besorgt. 



— 152 — 

Jedes dieser Sonette führt uns mitten in eine 
Volksscene hinein; jedes enthält entweder ein voll- 
ständig ausgeführtes Zwiegespräch oder die ungleich - 
massige Skizze eines solchen, indem zwischen der Bede 
einer Person die Gegenreden einer (selten mehrerer) 
andern zu ergänzen sind, oder endlich nur das Bruch- 
stück eines solchen. Dies ist das Gewöhnliche ; oft ist 
der Ansatz an das Vorhergegangene, am liebsten in 
einer lebhaften Frage, deutlich erkennbar (z. B. „Diese 
Stiefeletten zu weit? Nun, ich arbeite für so Viele. . ."), 
immer aber, auch bei ganz objektiven und abgeschlos- 
senen Mittheilungen, ist die Beziehung auf den (oder 
die) Zuhörer entweder offen ausgesprochen oder schim- 
mert in den Worten durch, sei es auch nur in einem 
dem Anfang eingeflochtenen dunque. Welche ausser- 
ordentliche Mannigfaltigkeit allein in den vorliegenden 
Sonetten ! Wir werden durch ganz Rom geführt, kreuz 
und quer. Trepp' auf und Trepp' ab; doch wie ver- 
schieden ist unsere Wanderung von der des Don Cleofas : 
wir brauchen keine Magie um in das Innere der Häuser 
und der Herzen einzudringen, ja umgekehrt, wollten 
wir ganz diskret sein, so müssten wir uns oft geradezu 
die Ohren zuhalten. In erster Linie wird das besprochen 
was im Kreise der Familie, der Nachbarn, der Be- 
kannten, was im täglichen Handel und Wandel vor- 
geht: Kindererziehung, Heirathen, Eechtsgänge, Krank- 
heiten, Todesfälle; wir werden in die verschieden- 
artigsten Verhältnisse eingeweiht und mehr mit den 
Fehlem als mit den Vorzügen der Mitmenschen ver- 
traut gemacht; Essen und Trinken, die Wetterfrage, 
Vergnügungspartien, Theater, Spiele,, besonders das 
liOtto, welches die Römer in einer beständigen Zahlen- 



— 15a — 

jagd erhält , erfahren gebührende Berücksichtigung ; 
abergläubische Vorstellungen drängen sich in Rath, 
Warnung, Deutung vor : der Schrei des Käuzchens auf 
dem Dach, verschüttetes Salz, Heirath am Freitag, die 
einer geliebten Person gereichte Stecknadel bringen 
Unglück, Schlangen verzaubern die Kugeln in den auf 
sie gerichteten Flinten, Hexen reiten zum Nussbaum 
von Benevent, Werwölfe treiben sich in regnerischen 
Nächten ausser dem Hause herum. Etwas spärlich 
gesäet, neben diesen vielen persönlichen Interessen, ist 
die Theilnahme an alter und neuer Geschichte, an den 
Denkmälern der Stadt und an modernen Erfindungen, 
so den- Gänsen des Kapitels und der Einnahme von 
Algier, dem Standbilde des Mark Aurel und der Elek- 
trisiermaschine, wobei zu den erwähnten spropositi des 
Ausdrucks sich die spropositi der Anschauung gesellen. 
Zu einer freieren und höheren Betrachtung findet 
natürlich kein Aufschwung statt ; e i n Fuss wenigstens 
steht immer in dieser römischen Kleinwelt. 

Dieses Geplauder, Geklatsch, Gezänk, diese In- 
sinuationen, Jeremiaden, Zornausbrüche, kurz alle die 
Ausdrücke der verschiedensten Stimmungen hat Belli 
im eigentlichsten Sinn auf der Strasse aufgelesen; er 
hat das Volk auf den Plätzen, in den Kneipen, in den 
Theatern, in den Omnibus belauscht und kopiert. Diese 
volksthümliche , derbe Prosa aber fügt sich in den 
Eahmen der künstlichsten Dichtungsform ganz zwang- 
los ein ; kein Wort scheint überflüssig, keines zu fehlen, 
die Wortstellung ist vollständig natürlich. Belli war 
sich dessen was er geleistet hat, wohl bewusst; er 
selbst sagt, Versmass und Keim müssten nur wie 
zufällig aus der freien Redeverbindung hervorgehen, 



- 154 - 

dergestalt dass die Verse nicht sowohl Eindrücke zu 
erregen als Erinnerungen zu wecken schienen. Diese 
Arbeit wird übrigens unserem Dichter mit ausser- 
ordentlicher Leichtigkeit von der Hand gegangen sein ; 
finden wir doch unter den gedruckten Sonetten fünf, 
sechs, sieben von einem Tage. Wie schwerfallig 
nehmen sich dagegen die Sonette und Ottaverime aus 
die vor ihm in römischer Mundart verfasst wurden, 
von G. Berneri an, dem Dichter des Meo Pätacca, der, 
beiläufig gesagt, auch Scenen des römischen Volks- 
lebens in lateinischen Distichen behandelte. 

Der kulturhistorische Werth der Belli'schen Sonette 
ist ein absoluter. Ist darum Bellis dichterisches Ver- 
dienst geringer? Sicher nicht. Man wird sagen, er 
sei nicht original. Aber seine Erzeugnisse erinnern an 
nichts vor ihm Geschriebenes, sie erinnern nur, und 
zwar täuschend, an das Leben, und gibt es denn einen 
besseren Poetenspruch als den: „Greift nur hinein ins 
volle Menschenleben" ? Hat er denn etwa stenographiert? 
Es würden schwerlich Sonette herausgesprungen sein. 
Diese sind aber auch keine Mosaik, nein, aus einem 
Gusse. Gerade die Treue der Darstellung setzt eine 
nicht zu unterschätzende Geistesthätigkeit, ein bedingtes 
Schaffen voraus. Das was Belli wirklich hörte, eröffnete 
ihm die Perspektive auf das was im Munde des Römers 
überhaupt möglich war, er erweiterte das Gegebene mit 
strengster Konsequenz und entwickelte seine eigenen 
Kräfte, ohne je den Kreis echtrömischer Denk- und 
Ausdrucksweise zu überschreiten. Eine solche rudis 
indigestaque moles wie das Stimmengeschwirr einer 
grossen Stadt, zu Kunstgebilden umzugestalten, das 
erfordert einen Dichter. Ein Dichter ist Belli, und 



— 155 — 

vielleicht ein bedeutenderer als mancher hochgefeierten 
Namens; ich kenne keinen der seiner wunderbaren 
Natürlichkeit nur nahe käme; freilich sind seinem 
Ruhm enge Grenzen gesetzt durch die Art desselben. 

Von den Sonetten ist allerdings das Tragische, 
das Tiefergreifende ausgeschlossen ; eine Ausnahme bil- 
den die drei zusammengehörigen „Die arme Mutter" 
(30. Nov. 1832), die auch eigentliche Monologe sind. 
411ein auch so, bei dem reichen bunten Stoflf, erwartet 
der Deutsche eine stärkere Abwechslung des Vortrags, 
wenigstens zwischen Erquicklichem und Unerquick- 
lichem; in wie viel Tonarten, der behaglichen, der 
jauchzenden, der elegischen u. s. w., würde sich nicht 
eine solche Inscenierung eines Volkstypus auf deutschem 
Boden abspielen? Diese, wenn wir so sagen dürfen, 
Eintönigkeit — eine grössere vielleicht noch befremdet 
den Nordländer im Volksgesang — kommt nicht auf 
Bellis Eechnung, sondern auf die des römischen Cha- 
rakters, oder vielmehr sie wurzelt in südlicher Lebens- 
weise. Arbeit und Vergnügen, Ernst und Scherz stechen 
dort nicht so voneinander ab wie bei uns; die dicken 
Striche die wir zwischen unsern Tagesstunden ziehen, 
die innere ümstülpung die wir zugleich mit dem 
Wechsel der Kleider vornehmen, ist dem Römer unbe- 
kannt. Eben diese Janusköpfigkeit, sowie — womit sie 
eng zusammenhängt — unser hastiger Eifer machen 
uns dem Römer unbegreiflich und wunderlich; er nennt 
uns stravagantL 

Noch ein anderer Gegensatz romanischer zu ger- 
manischer Natur bietet sich uns dar, wenn wir die 
Fassung der Belli'schen Gedichte erwägen. Welcher 
Deutsche hätte für einen ähnlichen Zweck durch so 



— 156 — 

viel hundert Gedichte hindurch den Dialog gewählt? 
Wir sind reflexiv, die Romanen impulsiv; wir lieben 
es einsam, jene in Gesellschaft zu denken ; wir wollen 
unsere Kreise nicht stören lassen, jene wollen beständig 
gestossen sein, als ob -schon die blosse Berührung den 
elektrischen Funken erzeuge; daher Schweigsamkeit 
bei uns fast, bei jenen durchaus nicht eine Empfehlung 
ist. Kurz, die Bedeutung des Gesprächs oder, wenn 
wir den romanischen Ausdruck vorziehen, der Konver- 
sation ist eine verschiedene ; während bei uns im Ge- 
spräch (und nicht am wenigsten in den Calembourgs) 
die Früchte des Nachdenkens an den Tag zu treten 
pflegen, pflegt den Romanen vielmehr als Frucht des 
Gesprächs das Nachdenken zu erwachsen. Sie be- 
günstigen entschieden die mäeutische Methode; ein- 
gestandenermassen führen unzählige Werke ihrer Lit- 
teraturen auf mündliche Unterhaltung ihren bestimmten 
Ursprung zurück, und die dialogische Darstellung philo- 
sophischer und überhaupt wissenschaftlicher Unter- 
suchungen ist recht eigentlich romanisch. Ja die 
Litteratur im Grossen und Ganzen spiegelt dieses Ver- 
hältniss ab: wie die diesseitige Bodenbeschaffenheit 
dem Anbau des Romans und des Lustspiels sich nicht 
besonders günstig erwiesen hat, so ist jenseits die 
Lyrik nicht gediehen, oder ist doch aus ihrer eigent- 
lichen Art geschlagen. Zur Rede überhaupt sind jene 
anders befähigt als wir, man vergleiche nur z. B. die 
frische Innigkeit und altkluge Eindringlichkeit der 
kleinen Weihnachtsprediger welche in Araceli oder 
S. Francesco ä Ripa ein keineswegs ruhiges Publikum 
um sich versammeln, mit dem verschämten und wei- 
nerlichen Herstammeln oder ausdruckslosen Herleiern 



— 157 — 

unserer gleichaltrigen Geburtstagsgratulanten. Der 
rhetorische Charakter des Lateins, pompa sermonis 
Romani, hat sich bis auf den heutigen Tag unge- 
schwächt erhalten ; freilich erscheint er in Spanien, in 
Italien, in Frankreich verschieden gefärbt, und beson- 
ders gross ist der Abstand zwischen dem ernsten Pathos 
des Kastilianers und dem gallischen Hahnenschrei. 

Doch kehren wir von dieser Abirrung auf unseren 
Pfad zurück. Der Römer (oder allgemeiner der Romane) 
theilt unsere Freude an Wald- und Feldidylle nicht, 
er klebt an den Mauern und liebt menschliche Stim- 
men um sich; er setzt sich beständig zu Andern in 
Beziehung, und wenn nicht mit Seinesgleichen, so redet 
er mit der Madonna oder seinem Schutzheiligen, oder 
lässt sich zu seinem Saumthier herab, wobei die aus- 
getheilten Prügel als argumenta ad helluam gelten, 
oder endlich er fingiert Zuhörer. Daher musste Belli, 
wollte er uns den Römer vorführen wie er leibt und 
lebt, die Form der Darstellung wählen die er in der 
That gewählt hat. Sie trägt allerdings dazu bei die 
üebertragung der Sonette zu erschweren; viele der 
römischsten sind geradezu unübersetzbar. Dennoch 
versuchen wir es, indem wir hinter der Energie des 
römischen Ausdnicks zurückbleiben, im Folgenden 
einige Proben seiner Manier zu geben; wir wieder- 
holen, er erhebt zunächst nur den Anspruch uns treue 
Bilder des Lebens zu zeigen. 

Die Begegnung mit dem Todtengräber 

(21. Jänn. 1843). Meister Santi! seh' ich recht? 

— Herr Pasquale! — Guten Abend. — Danke 
schön, guten Abend. — Wie steht's mit deinem Bru- 
der? — Er ist auf der Galeere. — Der arme Teufel! 



— 158 - 

Und deine Frau ? — Im Spital. -^ Gehen die. Geschäfte 
gut? — Ach, schlecht gehen sie. — Und seit wann? 

— Seit der Zeit der Cholera. — Ich höre, sie soll 
wieder kommen. — Man hoflft's. — Ein Doktor hat 
mir's gesagt. — Und mir ein Apotheker. — Wie viele 
diese Woche? — Ach, kaum zwei. — und die vorige? 

— Ist gar nichts gemacht worden. — Dnd die vorher- 
gehende ? — Ein Einziger ; dass seine Seele verdammt 
sei! — Nun, so wechsele doch mit dem Kirchspiel. 

— 'S ist verlorene Zeit. — Was sagt denn aber der 
Pfan-er dazu, Meister Santi? — Der sagt wie ich: es 
geht nicht wie's gehen sollte. 

Der beherzte Bürgergardist (25. Apr. 
1837). Ich sage dir, wir befinden uns mitten in einem 
Wald, Caterina, und nicht in einer Stadt hinter den 
Mauern. Glaubst du wohl dass sie mich gestern 
Morgen bei San Bonaventura angefallen haben? Ich 
und Furcht? Wo denkst du hin? Donnerwetter! 
Ein einziger Kerl sollte mir Furcht machen? Ohne 
Montur hätte er mich treffen sollen, und dann hätte 
ich's mit einem ganzen Dutzend aufgenommen. Als 
er so auf mich loskam, da wurde ich ganz roth vor 
Wuth; aber was willst du? ich konnte mich nicht 
vertheidigen. Büchse und Säbel und Bajonett, mit 
der ganzen Batterie von Hindernissen auf dem Leib, 
was konnte ich da anfangen, ich bitte dich ums Him- 
mels willen? 



Durch die Sonette weht ein mehr oder minder 
satirischer Hauch, und manche, wie das letzt über- 
setzte, das sogar in Falstaffs Munde sich nicht übel 



— 159 — 

ausnähme, können geradezu als Satiren gelten. Unter 
den Sonetten aber die Belli überhaupt gedichtet hat, 
befinden sich eine nicht geringe Anzahl Satiren höherer 
Ordnung, denen, dank der römischen Censur, die Auf- 
nahme in die Salviacci'sche Ausgabe versagt war. Sie 
liefen lange Zeit mündlich und handschriftlich um, was 
eine Menge von Varianten, d. h. meist Entstellungen, 
nur ausnahmsweise glückliche Abänderungen erzeugte, 
und wobei viele Sonette anderer Verfasser die Belli 
nachgeahmt hatten, unter dessen Namen eingeschmug- 
gelt wurden. Ein paar in jeder Beziehung mangel- 
hafte Sammlungen solcher Sonette erschienen ausser- 
halb Roms, ich denke zu Livorno und Neapel. Neuer- 
dings hat Prof. Luigi Morandi in Spoleto, Dichter und 
Herausgeber der Rivista TJUmhria e le Marche^ sich 
dieser misshandelten Kinder angenommen. Er ver- 
öffentlichte zuerst 29 dem Belli zugeschriebene Sonetti 
satiriei 1869 zu Sanseverino (Marche), indem er ihnen 
einen discorso intorno alla satira a JRoma, ai sonetti 
e alla vita del Belli vorausschickte (dieser ist auch 
abgedruckt in der Rivista contemporanea nazimiale ita- 
liana Jahrg. XVII, 1869, Bd. LVI). Dazu wurden im 
2. Jahrg. (1869) der Umhria e le Marche andere Sonette 
nachgetragen. Im folgenden Jahr kamen zu Florenz 
bei Barbera heraus 200 Sonette Bellis, mit jener ver- 
besserten und erweiterten Abhandlung. Diese elegante 
und mit dem Bildniss Bellis geschmückte Ausgabe, die 
wir allen Theilnehmenden empfehlen, enthält zwei Ab- 
theilungen: die erste „Sonette die sich in der Volks- 
überlieferung erhalten haben", die zweite „Sonette die 
aus der römischen Ausgabe ausgewählt sind". In Betreff 
jener sagt Morandi (S. 59) : „Ich habe sie fast alle aus 



- 160 - 

dem Munde von Personen gesammelt welche sie mehr- 
mals vom Verfasser selbst gehört hatten. Doch habe 
ich deshalb nicht verabsäumt auch viele der kleinen 
handschriftlichen Sammlungen die durch ganz Italien 
cirkulieren, und die mehr oder weniger Sinnlosigkeiten 
enthalten, zu Rathe zu ziehen." Unter den 70 Sonetten 
von Morandis erster Abtheilung begegne ich 19 der 
römischen Ausgabe mit meist nur unbedeutenden Ab- 
weichungen. Die übrigen, deren Kern die 29 der Aus- 
gabe von Sanseveriuo bilden (nur eines davon tritt 
hier, XXX, in ganz verschiedener Gestalt auf), haben 
einige unter sich welche nicht erweislich oder erweis- 
lich nicht von Belli sind. Allerdings ist es Morandis 
Absicht gewesen auch die besten der pseudo-Belli'schen 
Sonette mitzutheilen. Doch finde ich die Aufnahme 
der drei letzten, oder wenigstens der beiden letzten, 
die nach Bellis Tod (1865) und keineswegs in seinem 
Geiste von F. F. gedichtet sind, durchaus ungerecht- 
fertigt, wenn auch wegen der politischen Tendenz, 
besonders wegen des rothen Garibaldihemds, begreif- 
lich. Morandi hat sich, von einigen Accenten und 
Apostrophen abgesehen, in der Orthographie streng an 
Bellis eigenes, in der römischen Ausgabe befolgtes 
System gehalten. Es ist das Beste was er thun konnte, 
solange nicht eine gleichmässige Schreibung aller ita- 
lienischen Mundarten auf wissenschaftlicher Grundlage 
eingeführt ist. Er hat auch in gleicher Weise wie 
Belli den Sonetten sachliche und sprachliche Bemer- 
kungen beigefügt die das Verständniss erleichtern; 
ausserdem auch Varianten. 

Die in Eom nicht zum Drucke gekommenen Sonette 
waren dort vei*pönt aus politischen, aus religiösen oder 



— 161 — 

aus moralischen Gründen. Von denen der letzten Kate- 
gorie, die über hundert zählen, gibt Morandi (einige 
sind freilich überhaupt nicht druckbar) nur wenige. 
Wir wollen uns hier nur mit denjenigen Sonetten be- 
schäftigen welche gegen Regierung und Glauben ge- 
richtet sind, also, da in Rom Thron und Altar für 
untrennbar angesehen werden, unter dem einen Namen 
politischer Satiren zusammengefasst werden können. 

In einigen wird ein bestimmter Papst lächerlich 
gemacht. So wird die klägliche Rolle geschildert die 
Pius VII. bei der Krönung Napoleons I. spielte (LVIII). 
Morandi erwähnt in einer der Anmerkungen dass, als 
der Papst bei seiner Rückkehr die Getreuen Napoleons 
verfolgte, diese beiden Verse entstanden: 

Müy Santo Padre, in cosa dbbiam peccato ? 
Voi Vavete unto, e noi Vabbiam leccato, 

Oefter dient Gregor XVI. zur Zielscheibe; so wird in 
IV seine Furchtsamkeit verhöhnt (1831 schwebte er 
in beständiger Angst vor Revolution) ; über seine Hin- 
terlassenschaft berichtet XXVII und schliesst mit der 
Angabe dass der Kredenzmeister Seiner Heiligkeit (die 
gern becherte) allein an leeren Flaschen 26,000 Scudi 
gewonnen habe ; XXVIII führt, als Gegenbeweis gegen 
die Behauptung dass der Tod Gregors die Römer gleich- 
gültig lasse, alle offiziellen Trauerbezeigungen an, tröstet 
aber damit dass für den zu erwählenden Papst so viele 
Gregore in der Pflanzschule sich befänden, d. h. dass 
jedenfalls der neue Papst seinem Vorgänger vollkommen 
gleichen werde. Andere Sonette geissein das Papstthum 
im allgemeinen, hauptsächlich in seinen Funktionen; 
bemerkenswerth ist XXXVIII: „Die Beschäftigung des 
Papstes". 

Schuchardt, BomanischeB u. Keltisches. 11 



— 162 — 

Nicht besser kommt die übrige Geistlichkeit weg. 
Die Kardinäle erscheinen als rothbekleidete Nullen 
(XXXII u. s. w.). Vom Conclave wird in XXXV mit 
Hülfe des Bocciaspiels ein klares Bild entworfen. Den 
Hochmuth der päpstlichen Palastgeistlichen trifft XLII. 
Sieche iture addastra, d. i. sie itur ad astra, ist das Sonett 
XXX betitelt, welches den hierarchischen Ehrgeiz schil- 
dert; jeder denke daran höher zu streben, der Papst 
aber sich's wohl sein zu lassen. Man vergleiche damit 
das folgende, welches schliesst: „Jeder Abate, kaum 
ist er Abate, ist jetzt ipso facto Abate und Monsignore." 

Ein Punkt der nicht unberührt bleiben konnte, 
ist der Geldpunkt. Vom Ablass war schon die Rede. 
Heirathen ist auch nicht immer billig. Tobia Schiatti, 
der seine Cousine Annamaria heirathen will, bekommt 
einen sehr begreiflichen Schrecken, als er erfahrt dass 
der Dispens G98 Scudi 46 Bajocchi und 3 Quattrini 
kostet (XLIV). Ein Sonett „Der heilige Kramladen", 
welches sich nicht bei Morandi findet, und wohl 
auch schwerlich von Belli stammt, obwohl es seinen 
Namen trägt, fuhrt aus dass der Priester bei jeder 
Gelegenheit seinen Verdienst haben wolle : man müsse 
zahlen wenn man getauft werde, wenn man heirathe,. 
wenn man sterbe, ja noch im Jenseits um aus dem 
Fegefeuer ins Paradies zu kommen. 

Den Sprung zur päpstlichen Finanzwirthschaft wird 
man nicht übermässig finden. Während der Regierung 
Gregors XVI. wuchs die Staatsschuld um 27 Millionen 
Scudi, und besonders war davon die Unfähigkeit des. 
Schatzmeisters Tosti die Ursache. Er schloss mit Roth- 
schild eine Anleihe von einer Million zu 65 Procent 
ab. Darauf beziehen sich die Sonette VIII und IX. 



— 163 — 

Nur das erstere ist sicher von Belli ; seine beiden Ter- 
zinen lauten auf deutsch: „Es ist wahrlich ein grosses 
Wunder Gottes dass, um die Kirche zur Rettung zu 
fuhren, er das Herz eines Juden gerührt hat. Der 
Papst hat das Sakrament ausstellen lassen, um dem 
gütigen, gnadenreichen Jesus zu danken dass er uns 
zu 61 Proc. gerettet hat." 

Drohende Unzufriedenheit mit der Regierung im 
allgemeinen athmet das Sonett XL VII, dessen üeber- 
schriffc daher mit Recht lautet : 'N odore de rivuluzzione. 
Aber in LVI: „Die Verleumdungen gegen die Regie- 
rung" kann ich nur eine nach unten gerichtete Satire 
erblicken. Man messe der Regierung die Schuld bei 
wenn das Brot theuer sei, wenn man im Winter nichts 
habe um sich zu wärmen, wenn mit einer Zahl in 
einer Terne ein Versehen vorkomme, wenn man von 
einem Hunde gebissen werde, wenn die Musik im 
Theater schlecht sei, wenn zu Epiphanias zu grosser 
Lärm gemacht werde, wenn die Leute sich prügeln; 
schliesslich werde es ein Verbrechen der Regierung sein 
wenn die Wirthe nichts taugen, oder wenn der Pfannen- 
bäcker das Fritto verbrannt habe. 

Ganz allgemein gehalten, etwas im Giusti'schen 
Geschmack, ist XL: „Der Despotismus"; ein König 
schickt den Henker mit einem Edikt in welchem das 
Car tel est notre plaisir auf die roheste Weise um- 
schrieben wird, aus, um das Volk um seine Meinung 
darüber zu befragen, und Alle antworten : „Es ist wahr ! 
es ist wahr!" Daran klingt in seinem Schlüsse das 
Sonett X (aus dem Jahre 1833, vom Grafen G. Giraud, 
bekanntem Lustspieldichter) an ; dem Dom Miguel wird 
der Rath ertheilt: „Drucke ihm (dem Volk) einen 

11* 



— 164 — 

schönen Amnestieerlass und Tags darauf hänge sie Alle 
zusammen." 

Einige Sonette betreffen den Missbrauch religiöser 
Handlungen seitens des Volkes, den absichtlichen wie 
den naiven. Einem der sich beschwert kein Gluck 
zu haben, wird angerathen fleissig zur Kommunion zu 
gehen, sodass es der Pfarrer und der Präsident (des 
Stadtviertels) erfahre, jeden Morgen die Messe zu hören, 
im Caravita (Oratorium der Jesuiten) Bosenkränze ab- 
zubeten und sich ein wenig auf einen gewissen Theil 
zu geissein; dann werde er sehen wie er vorwärts 
komme (XLVI). Ein Diener sendet ein rührendes 
Gebet zur hl. Jungfrau empor, sie möge seinen Herrn, 
der ihm in jeder Krankheit versprochen habe einen 
Gnadensold zu hinterlassen, baldigst zu sich nehmen 
(XLIX). Noch stärker als hier tritt die Aeusserlich- 
keit des Christenthums in LX hervor. Ein Tras- 
teveriner gibt seinem Sohne folgende Lehren: sich 
nicht gegen seinen Vater aufzulehnen, sich nicht unter- 
kriegen zu lassen, einen Schlag sofort mit zweien zu 
erwidern, wenn jemand ihn hofmeistern wolle, ihm 
mit derben Worten den Weg zu weisen, wenn er einen 
Mezzo in Morra oder Boccia ausspiele, ordentlich zu 
trinken und den xindern keinen Tropfen drin zu lassen 
und endlich, da es auch ein gutes Ding sei Christ 
zu sein, in der Tasche immer das Agnusdei, das Messer 
und den Bosenkranz zu tragen. Allerdings eine hübsch 
gemischte Gesellschaft! Schliesslich fällt die Schuld 
dieser Auffassung indes auf die Geistlichen und auf 
das System zurück; es wird zu wenig auf den Kern 
und zu viel auf die Schale gegeben. „Im ganzen 
haltet euch an Worte!" und wenn es nm* immer 



— 165 — 

italienische wären, aber dazwischen werden so viele 
lateinische ausgestreut dass Missverständnisse geradezu 
nothwendig werden. In einem solchen an sich freilich 
unschuldigen gipfelt LV: „Gott hat ihn nicht erschaffen 
um das Evangelium zu erklären, diesen Herrn Pfarrer 
Don Petronio! Ein bisschen länger, und ich schlief 
ein, Herr Antonio, trotzdem dass es in der Kirche 
war, es fehlte nur ein Haar daran. Was weiss ich 
was er Alles durcheinander gerührt hat! Die Welt, 
den Himmel, die Hölle, das Fegefeuer, die Ehe, die 
Pharisäer, die Schafe, den Teufel, das Wasser, den 
Wind, den Nebel, die Hitze, den Frost .... Und dann, 
um diesen Salat zu würzen, nach jedem zweiten Worte 
gehustet, geräuspert, gespuckt und geschrieen: Serva 
mandata! Aber wer ist diese Magd? wer schickt sie 
her? wohin geht sie? was will sie? wann ist sie ge- 
kommen? wie heisst sie: Lia, Stella, Susanna? ..." 

Ziemlich unverfänglich ist endlich XLVIIL Fürst 
Torlonia hat eine Anzahl Kamele kommen lassen, um 
sie als Lastthiere zu gebrauchen. Der Papst fragt 
ihn ob es denn dazu nicht Pferde, Maulthiere, Esel 
gebe? „Ja, heirger Vater, gewiss gibt's die (soll er 
ihm geantwortet haben); aber Gott hat die Kamele 
für die Wüste erschafifen" {wo U camU pe' hbazzicä 
er deserto). Ich weiss nicht ob die Verödung der Cam- 
pagna und auch Roms auf die hier hingezielt wird, 
der verwundbare Fleck ist, oder ob man daran Anstoss 
nimmt den Papst in einem solch scherzhaften Gedichte 
redend, und noch dazu in römischer Mundart, eingeführt 
zu sehen. 

Wir sind weit davon entfernt alle diese Sonette 
ihrem Inhalt nach zu billigen ; einige davon sind offen- 



- 166 — 

bare Blasphemien. Belli bereute es auch später sie 
geschrieben zu haben. Er suchte der verschiedenen 
Abschriften in welchen ein grosser Theil derselben 
in Eom verbreitet war, habhaft zu werden; viele 
verbrannte er; viele andere aber, mit Anmerkungen 
versehen, hat er, unter dem ausdrücklichen Verbot sie 
zu veröffentlichen, aber ebensowohl sie zu verbrennen, 
versiegelt hinterlassen. Hat hier eine jener römischen 
Bekehrungen deren Zahl Legion ist, ein plötzlicher 
Umschlag wie bei Boccaccio stattgefunden? Wir 
werden davon noch reden. Jedenfalls stand er schon 
in den engsten, Beziehungen zu den Jesuiten, als er 
1846 beim Tode Gregors die alte Stinmiung an den 
Tag legte. Von den wenige Jahre darauf eingetretenen 
revolutionären Bewegungen hielt er sich ganz fern 
und begrüsste mit Freuden die Kückkehr des Papstes. 
Er wurde Mitglied der Gesellschaft des hl. Vincenz 
von Paul, übersetzte die Hymnen des römischen Breviers 
(1856 gedruckt und dem Papste gewidmet) und dich- 
tete gegen die modernen Ideen. 

Von Bellis italienischen Poesien waren zuerst zwei 
Bände (1839, Rom, Salviucci; 1843, Lucca, Giusti) 
erschienen. Wir kennen nur diejenigen welche in den 
ersten Abtheilungen der vier nach seinem Tode ge- 
druckten Bände enthalten sind, und die meistens aus 
den 50er Jahren stammen (die römischen Sonette eben- 
daselbst gehören meist den 30er Jahren an). Aber 
schon sie beweisen uns dass Belli auch frei aus sich 
heraus zu schaffen wusste; sie sind voll Mark und 
Feuer, in reicher und eigenthümlicber Sprache abge- 
fasst. Neben der heiteren Satire, die sogar zum harm- 
losen Scherz herabsinkt, tritt uns hier, und zwar gerade 



- 167 — 

da wo es gilt den Geist politischer und religiöser 
Neuerung zu bekämpfen (man lese besonders seine Briefe 
in Terzinen: „Die Wissenschaft", „Die Erziehung", „Die 
moderne Civilisation" u. s. w.), die bittere Satire ent- 
gegen, d. h. zunächst die in Bitterkeit erzeugte ; denn 
nicht immer verwundet ihr gezwungenes Lachen mehr 
als das offene Lachen jener. Ich verweise übrigens 
auf Bellis eigenes Gedicht über den Sarkasmus (I, 
47—54). 

Es gibt Leute die den Belli in zwei Persönlich- 
keiten spalten, eine liberale und eine reaktionäre, 
welche jene vergöttern und von dieser nichts wissen 
wollen; doch auch zugegeben dass sie thatsächlich 
Kecht haben — wird denn ein Mensch nicht gerade 
durch seine Gegensätze und Wandlungen zunächst 
merkwürdig, dann aber auch erst erklärlich? 



Belli also ist Satiriker. Ist er es aber ganz ebenso 
in seinen römischen wie in seinen italienischen Ge- 
dichten? Ich denke, nein. Der Italiener, in seiner 
ganzen Litteratur kann man es spüren, besitzt einen 
starken Hang zur Satire: den stärksten der Bömer, 
und seine Sprache ist von spöttischen und beissenden 
Ausdrücken und Wendungen gesättigt. Als Darsteller 
des Bömers, in seiner schneidigen Mundart redend, 
musste Belli satirisch sein ; in seinen italienischen Ge- 
dichten ist er satirisch auf eigene Hand, mit bestimmter 
Tendenz, ist er im eigentlichen Sinne Satiriker. Man 
darf die römischen Sonette nicht auseinander reissen, 
die politischen (obwohl einige von ihnen nicht auf 
einem Dialog beruhen) nicht von den andern hinweg 



- 168 - 

in ein besonderes Licht rücken; sie sind alle eines 
Geistes Kinder. Diese Satiren sind nicht aus Belli, 
sondern ans dem römischen Volk entsprungen. Hätte 
dieses, oder hätten Einzelne ans ihm, nicht so ge- 
dacht, so gesprochen, Belli würde nie so geschrieben 
haben. Manches freilich war im Munde des niedem 
Kömers ernst, wurde aber fast unwillkürlich — durch 
ein wenig stärkeres Auftragen oder überhaupt nur 
durch die litterarische Fassung — zur Satire. Allein 
den Eindruck machen entschieden sämmtliche Sonette 
Bellis: sein erster Zweck war das römische Volk zu 
schildern. Wo die verbotene Frucht politischer Satire 
dicht über seinem Haupte hing, da pflückte er sie, 
aber er kletterte ihr nicht nach. Wenn wir oben die 
politischen Sonette Bellis (und einiger Andern) nach 
den Angriffspunkten übersichtlich zu ordnen versuch- 
ten, so waren wir uns bewusst nichts weniger als in 
seinem Sinne zu handeln. Hier werden keineswegs die 
Gedanken eines italienischen Liberalen einem römischen 
Volksmann in die Feder diktiert. Ein Mann dem vor 
allem daran liegt zu rügen und zu geissein, spitzt sich 
selbst seine Feder zu ; siehe G. Giusti. Belli war nun 
in seinem späteren Leben äusserst bigott und reak- 
tionär; damals als er die Sonette schrieb, war er es 
natürlich nicht. Aber, ich glaube, ebensowenig ein 
glühender Feind des Papstthums und des Eatholicismus. 
Ich vermuthe bei ihm eine politische Indolenz wie sie 
in Rom von jeher so gewöhnlich gewesen ist. Die 
zwanzig Jahre die der Restauration vorausgegangen 
waren, und die ziemlich mit Bellis erster Jugendzeit 
zusammenfallen, hatten Rom zu stark mitgenommen 
um eine grosse Begeisterung für den Liberalismus zu 



— 169 — 

hinterlassen, andrerseits aber doch den Sinn für die 
Schwächen des Papstthums geschärft. Konnte sich 
von jenem Triebe des niedern Eömers Alles zu satiri- 
sieren nicht auch eine Dosis bei dem gebildeten Römer 
vorfinden ? Glich nicht etwa Belli ein wenig seinen 
Trasteverinern welche Hostie und Messer zusammen 
in der Tasche tragen, jetzt mannaggia la Madonna! 
rufen, und eine halbe Stunde später andachtsvoll zur 
hl. Jungfrau beten, vor dem Papste sich demüthig in 
den Staub werfen und im Aufstehen ein Witzwort 
über ihn auf den Lippen haben? Wir brauchen dem- 
nach keinen politischen und religiösen Glaubefnswechsel 
Bellis vorauszusetzen; mit seinen Gedichten in der 
Hand dürfte sich nachweisen lassen dass er ganz all- 
mählich — allgemein menschlichem Gesetze zufolge — 
ernster und peinlicher und schliesslich wohl auch ver- 
bittert wurde. Nach dem Auseinandergesetzten kann 
ich Morandi nicht Recht geben wenn er behauptet 
(S. 46 f.): „Aber in seiner Jugend hatte Belli noch 
ein höheres Ziel im Auge als das : das Leben und den 
Charakter des römischen Volkes zu zeichnen. Er war 
ein tiefer Kenner des verwickelten Organismus welcher 
sich päpstliche Regierung nennt, und in einer Reihe 
von satirischen Sonetten deckte er dessen Schändlich- 
keiten und Niederträchtigkeiten auf und geisselte sie 
erbarmungslos." Morandi hat seine ganze Aufmerk- 
samkeit auf die Zielscheibe concentriert der jene Pfeile 
zufliegen; daher sieht er nicht von welcher Kerbe sie 
abspringen. Widmet er doch sein Buch „den Römern 
welche die erneute Schmach der alten Knechtschaft 
rächen werden" (seitdem ist seinem heissen Wunsch 
Erfüllung zutheil geworden). Aber darin stimme ich 



— 170 — 

ihm bei dass, neben andern Umständen, wie der Er- 
innerung an die alte Grösse Roms oder vielmehr dem 
trügerischen Gefühl ihrer Fortdauer, das Papstthum 
ausserordentlich zur Blüthe der Satire in Rom bei- 
getragen hat. Die Satire gleicht einer Pflanze die 
um so besser gedeiht je mehr sie mit Füssen getreten 
wird, oder, um auch ihre gefahrliche Natur zu berück- 
sichtigen, sie gleicht der lernäischen Schlange mit den 
nachwachsenden Häuptern. 

Die römische Satire hat eine lange Geschichte, 
in der das Auftreten Pasquinos epochemachend ist. 
Pasquino ist der klägliche üeberrest eines antiken 
Meisterwerks, einer Statuengruppe, deren Zerstörung 
von den Archäologen aufs tiefste beklagt wird; nicht 
von uns, weil wir ja sonst Pasquino nicht hätten. 
Dieser Pasquino nun musste, zuerst im eigentlichen, 
dann im figürlichen Sinn, alles auf sich nehmen was 
Rom an Bissigkeiten hervorbrachte. Aber, wie ich 
oben sagte, der Romane liebt den Dialog für jede Art 
von Kundgebung ; es erschien daher angemessener und 
ergötzlicher dass der Stein nicht motu proprio spräche, 
sondern dass Feuer aus ihm geschlagen würde. Zu 
diesem Dienst erlas man den Marforio, einen unge- 
schlachten, gutkonservierten Gesellen gleichfalls aus 
Stein, den man in neuerer Zeit auf das Eapitol unter 
Schloss und Riegel gebracht hat, wahrscheinlich wegen 
der vielen indiskreten Fragen die er dem Gevatter 
Pasquino vorlegte. Zuweilen hat er selbst AniUlle von 
Witz bekommen, wie das mit manchem dummen Kerl 
der Fall ist der beständig mit einem geistreichen 
Freunde verkehrt. Hier Einiges aus den Unterhaltungen 
der beiden Kumpane, denen nichts Schlimmeres zu- 



— 171 — 

stossen kann als nicht belauscht zu werden. Als 
Sixtus V. seine Schwester, welche Wäscherin gewesen 
war, zur Herzogin erhoben hatte, fragte Marforio 
warum Pasquinos Hemd so schmutzig sei, und dieser 
antwortete: „Was kann ich thun? Meine Wäscherin 
ist Fürstin geworden." — Clemens VI. schickte grosse 
Summen Geldes nach seiner Vaterstadt ürbino. „Was 
machst du, Pasquino?" fragte Marforio. „Ei, ich hüte 
Rom, dass es nicht nach ürbino gehe!" — Zur Zeit 
der ersten französischen Revolution stellte Marforio die 
berechtigte Frage an Pasquino : „Ist es wahr dass die 
Franzosen alle Diebe sind?" „Alle nicht, aber ein 
guter Theil {buona parte).'^ — 1862, am Tage des 
hl. Petrus, hiess es dass man einige Wände in der ihm 
geweihten Basilika aus Mangel an Teppichen bloss 
mit buntem Papier bedeckt habe. Da man damals 
viel von der wahrscheinlichen Abreise des Papstes, 
wenn Rom italienisch würde, gesprochen hatte, so fragte 
Marforio: „Ist es wahr dass der Papst einpackt?" 
„Sicher; siehst du nicht dass er St. Peter schon in 
Papier geschlagen hat?" — Ich reihe daran noch 
einige nicht dialogisierte Proben römischer Satire, eben- 
falls aus Morandi. Als von einem Papst der Tabak 
besteuert oder die Steuer darauf erhöht worden war, 
fand man eines Morgens am päpstlichen Palast die 
Inschrift: Contra folium quod vento rapitur, ostendis 
potestatem tuam et stipulam siccam jyersequeris ? (Hiob 
XIII, 25) Der Papst befahl diese Worte stehen zu 
lassen und äusserte zugleich, es würde ihn freuen 
den Verfasser, der ein witziger Kopf sein müsse, 
kennen zu lernen. Sein Wunsch wurde befriedigt; 
denn Tags darauf war der Vers unterzeichnet: Job, 



— 172 — 

Hierauf Hess der Papst aussprengen, er würde den 
Satiriker, wenn er sich enthüllte, ansehnlich belohnen. 
Jener aber, dem die Sache nicht ganz geheuer schien, 
fügte dem Namen Joh nur das Wörtchen gratis hinzu. 
— Hier gleich noch ein Beleg für Citatengegenwart. 
Unter Gregor XVI. liess die Eegierung eine riesige 
Fabrik am Hafen der Ripetta erbauen. Der Plan 
gefiel nicht, und man sagte, der Baumeister hätte eine 
hübsche Summe dabei unterschlagen. Es erschien ein 
Stich welcher den Tiber mit dem neuen Gebäude auf 
dem Rücken darstellte; darunter standen die Worte: 
Supra dorsum meum fabricaverunt peccatores (Psalm 
CXXIX, 3). Als dann dem ursprünglichen Grundriss 
ein Flügel angesetzt wurde, da kam wiederum Vater 
Tiber mit der Fortsetzung des Verses zum Vorschein : 
et prolongaverunt iniquitatem suam. — Am Feste 
des hl. Ignaz von Loyola hatten die Jesuiten in ihrer 
Kirche einen prächtigen Altar errichtet; über der sil- 
bernen Statue des Heiligen erblickte man Gott Vater, 
wie gewöhnlich von Stuck. Ein feines Herrchen sagte 
beim Herausgehen zu einer Dame: „Treten Sie ja in 
Gesü ein; da ist die Statue des hl. Ignaz von Silber 
und ein so schöner Altar dass selbst der himmlische 
Vater ganz versteinert darüber ist" (^ rimasto di stucco ; 
wörtlich : „von Stuck geblieben ist"). — Auf den Papst 
Leo XII. wurde folgendes Epigramm gefertigt: 

Tre dispetti ci hai fatto, o Pddre santo, 
Äccettare il papato, viver tanto, 
Morir di carneval per esser pianto. 

Auch das Privatleben blieb nicht immer von 
der Satire verschont. Ein Advokat Namens Cesare 
heirathete ein etwas leichtsinniges Mädchen Namens 



— 173 — 

Roma. Am Tage der Hochzeit fand er einen Zettel 
an der Thüre mit der Warnung : Cave, Caesar, ne Roma 
tua res publica fiat Er ersetzte denselben durch einen 
andern mit der Antwort : Stidte I Caesar irnperat. Der 
Satiriker schrieb darunter: Irnperat? ergo coronatus est 
Von den fremden Nationalitäten welche Rom heim- 
suchen, fordert zunächst die englische, als die fremd- 
artigste, die römische Satire heraus; dann aber auch, 
und vielleicht in noch höherem Grade, die nächstver- 
wandte, die französische. Denn ganz Unverständliches 
verletzt nicht; wo aber Berührungen stattfinden, da 
werden die Gegensätze um so stärker empfunden. Der 
Franzose ist den Mittel- und Süditalienern antipathisch, 
besonders den Römern, wegen seines unstäten lärmenden 
Wesens und seiner Unzufriedenheit mit Einheimischem 
und Landesüblichem. Dazu ist die französische Sprache 
in ihrem Accent vom Römischen so verschieden wie 
nur irgend etwas sein kann, und andrerseits gibt ihre 
Verwandtschaft mit dem Italienischen Anlass zu vielen 
lächerlichen Missverständnissen. Unter den weniger 
leichtfertigen Uebertragungen nenne ich folgende : assai 
(sehr) = assez; brocca (Krug) = broche; disciplina 
(ohne Zusatz: geistliche Disciplin, Busse, Kasteiung, 
Geisselung) = discipUne ; loggia (Balkon) = löge (vgl. 
BeUi I, 332. 334. 384. II, 166. III, 287. IV, 348 
der römischen Ausgabe). Trotzdem wohnt dem Römer 
eine wahre Wuth inne französisch zu sprechen und 
französische Wörter zu gebrauchen, und zwar bis zum 
Stiefelwichser herunter, der sein Mosjii, vulh sirh ? ruft. 
So hört man in italienischer Rede bonton (die Gesell- 
schaft in welcher der bon ton herrscht), burrb (bureau), 
cadb, deshr, digiunh (dSjeüner), tremb (trumeau) u. s. w. 



- 174 - 

Manche Ausdrücke, wie alb (allons), sind schon sehr 
alt. Oft, auch auf dem Lande, hörte ich toucher für 
„anstossen", „zechen", wofür aber der Franzose selbst 
trinquer gebraucht; eine Frau sagt z. B. von ihrem 
Manne der seinen Rausch ausschläft: „Er hat toucher 
gemacht." Glücklicherweise ist unser deutscher Trinker- 
ruf in dem trinksvain (früher auch trinche lanze, ebenso 
wie zu Neapel; für „trink, Landsknecht") gewahrt. 
An Spitznamen für den Franzosen hat es nie gefehlt. 
So hiess er im 17. Jahrhundert Froscio, welches auf 
ähnliche Weise aus Francioso entstellt ist wie Tosto 
aus Todesco. In letzterem Fall ist zugleich auf die 
Hartnäckigkeit und Zähigkeit der Deutschen angespielt 
(römisch bedeutet tosto „hart", und todesco „hart- 
näckig"). Merkwürdigerweise ist neuerdings die Be- 
zeichnung Froscio auf den Deutschen übergegangen. 
Dann nannte man den Franzosen Monsu oder Mosju 
(monsieur; jetzt für jeden Fremden), Gianfutre (nach 
dem beliebten Fluch), Diton (dites donc) und Sor 
Tullera. Das Letzte gehört zu den zahlreichen Namen 
von unmöglicher Etymologie mit denen der Römer 
den auffalligen Eindruck den ihm eine Persönlichkeit 
macht, wiederzugeben versucht. Tullero 1 wird zuweilen 
als verächtlicher Ausruf gebraucht. Die üebertragung 
auf die Franzosen wurde vielleicht durch den Namen 
des Gesandten Saint-Aulaire (vergL Belli I, 366) an- 
geregt. Zu alledem ist die politische Stellung der 
Franzosen zu Rom nicht geeignet sie daselbst beliebt 
zu machen. Dies gilt wenigstens seit der Zeit der 
ersten Republik; einem schon angeführten Wortspiel 
von damals füge ich noch ein anderes hinzu: liheri 
legati alla francese (Freie, französischem Gebrauche 



— 175 — 

zufolge gefesselt) für lilri legati alla francese (Bücher 
mit französischem Einband). Dies rührt von dem 
Marionettenspieler Gaetanaccio her, der auch die ewigen 
Siegesbulletins Napoleons I. persiflierte, indem er Pul- 
cinella, dessen Frau Vittoria heisst, vor seinem Hause 
durchgeprügelt werden und Vittoria ! Vittoria ! um Hülfe 
rufen lässt. Seitdem, vor zwanzig Jahren, die franzö- 
sische Republik der römischen Schwesterrepublik ein 
Ende gemacht hatte, betrachtete man die stehenden 
Okkupationstruppen auch nicht mit günstigen Augen und 
hing den Franzosen etwas an wo es ging. Als einst 
während des orientalischen Kriegs ein französischer 
Soldat auf Piazza Navona um Aepfel (mele) feilschte, 
bemerkte ihm die Obstfrau: „Freilich, vor Sebastopol 
habt ihr sie bUliger" {mele heisst zu Rom auch 

„Prügel"). 

Morandi spricht den Wunsch nach einer möglichst 

reichen Sammlung römischer politischer Satiren aus; 
sie würden ein kostbares geschichtliches Denkmal sein. 
Ich theile vollständig diesen Wunsch und glaube dass 
man besonders die poetische Litteratur die bei Gelegen- 
heit von Conclaven emporschoss, berücksichtigen müsste; 
es ist mir zufallig in den Bibliotheken Manches davon 
zu Gesicht gekommen, aber trotz meiner Bemühungen 
nicht eine sehr gepriesene Satire auf das Conclave 
von 1823 in römischer Mundart. 

Einst gab es auch zwei satirische Zeitungen zu 
Rom, den Don Pirlone und den Cassandrino. Jene, 
obwohl ihr Titel ein Spitzname des Papstes ist, soll 
schon vor der Revolution entstanden sein, dann aber 
jede erlaubte Grenze überschritten haben, sodass die 
päpstliche Regierung auf den Besitz von Nummern 



— 176 — 

derselben strenge Strafe zu setzen für gut befand. 
Die andere hatte ihren Namen von dem Cassandro ent- 
lehnt,, einer stehenden Figur des Marionettentheaters, 
welche in den zwanziger Jahren von einem gewissen 
Teoli so unnachahmlich dargestellt wurde dass sie als 
seine Schöpfung, die auch mit ihm unterging, be- 
trachtet werden kann. Dieses Blatt war dem Papst- 
thum günstig, und infolge dessen wurde sein Re- 
dacteur während der Republik getödtet, woran sich 
— relata refero — sogar seine Brüder betheiligten, 
üebrigens dürften nicht die Witze und Wortspiele der 
Päpste selbst (auch Pius IX. ist den Calembourgs 
keineswegs abhold) vergessen werden; ich entsinne 
mich z. B. eines nicht Übeln von Benedikt XIV. (wenn 
ich nicht irre), der einen Streit der Advokaten und 
Aerzte wegen des Vorrangs mit den Worten schlichtete : 
Praecedant latrones, sequantur carnißces. 

Wenn aber Morandi (S. 34) meint, die politische 
Satire werde so lange in Rom gedeihen bis dasselbe 
vom Papstthum befreit sein werde, so erlauben wir 
uns dieses „so lange" als eine Minimalbestimmung zu 
betrachten. Der Römer ist nie um Stoff für seine Satire 
verlegen. Dass überdies nicht die ganze römische 
Bevölkerung bisher italienisch gesinnt war, weiss Jeder, 
dies deuten auch Ritornelle an wie: 

Fiore di fratta! 

Cavour, per cucir troppo in fretta, 

D^uno stivcüe ha fatto una ciahatta; 



oder: 



Fiore di margherita! 

Una rapa, una zucca, una carota, 

Fa la coccarda delV Italia unita. 



— 177 — 

Und wird nicht manche Neuerung ebensowohl, ja 
vielleicht noch mehr der römischen Satire zur Ziel- 
scheibe dienen als der alte Zopf? Es gibt seltsamer- 
weise genug Leute welche die Büchercensur dem Steuer- 
druck vorziehen. Freilich, der Geldbeutel ist ungemein 
empfindlich und stosst gleich Schmerzensschreie aus, 
als ob er von Fleisch und Blut wäre. Daher die vielen 
poetischen Stossseufzer Neapels, wie: 

Napole miOj vi comme si arreddutto 



Dimme, dimme chi h stato sto frabhutto 
Che fä menato nfacda tanta prete? 
Ah! . . . si, cKaggio caputo mo lo tutto: 
Causa w'^ stata ca tenie monete! 
E mo che Vhomno tutto scm-tecato, 
Che nne vonno da te cchiü chesta gente, 
Pe farete moH cchiü disperato ? 

Mein Neapel, wie bist du zugerichtet . . . 

Sag' mir, sag' mir, wer ist der Schurke gewesen 

Der dir so viel Steine ins Gesicht geworfen hat? 

Ah! ... ja, jetzt begreife ich Alles: 

Es war deshalb weil du Geld hattest! 

Und nun da sie dich ganz geschunden haben. 

Was wollen sie noch von dir, diese Leute, 

Um dich in grösserer Verzweiflung sterben zu lassen? 

In der Luft der Campagna werden diese Seufzer 
einen salzigen Beigeschmack annehmen, sie werden sich 
in Satiren verwandeln. Pasquino, den einst Torquato 
Tasso vom Ertränktwerden rettete, wird auch jetzt 
nicht sterben; wir rufen: Evrnva Pasquino! Es wird 
so viel Neues und Wunderbares über Kom herein- 
brechen dass seine Säulen und Thürme wie Frage- 
und Ausrufungszeichen erscheinen werden. AUe die 

Schuchardt, RomanischeB u. Keltiscbes. 12 



- 178 — 

Tausende und Abertausende von Barbaren die von 
jenseits der Alpen mit Schild und Schwert oder mit 
Sonnenschirm und Murray nach Born gekommen sind, 
haben wenig an seiner Physiognomie verändert; sie 
haben den Schatten der Vergangenheit ihre Ehrfurcht 
bezeigt. Bom ist so eigenthümlich , so altitalienisch 
geblieben wie keine andere grössere Stadt Italiens. 
Anders aber wird es werden wenn Italien seine Be- 
völkerungen über Bom ausgiesst, wie dies eine Ka- 
rikatur mit der Unterschrift : Tutti a Roma I darstellt. 
Roma capomunni ist nun Roma capo cVItalia, Aber 
während es einst Alle belehrte, wird es seine neue 
Würde damit beginnen von Allen in die Schule ge- 
nommen zu werden. Das Charakteristische wird sich 
völlig verwischen. Und doch wird das moderne Bom 
neben der Buine Bom und neben der Zwingveste Bom 
unendlich klein sein. Dem Bom das war — ich meine 
nicht bloss die Denkmäler {sc. imperatorischer und 
päpstlicher Tyrannei!), die ja bleiben werden, sondern 
vorzugsweise auch sein träumerisches Vergangenheits- 
leben — verdankt unser Norden so unendlich viele 
und grosse Anregungen dass es uns fast wie eine 
Wunderstadt vorkommt welche den politischen An- 
forderungen die an gewöhnliche Städte gestellt werden, 
nicht unterliegen dürfe. Aber Schwärmerei beiseite! 
Die Italiener mögen Becht haben Bom zu nehmen, 
wie Bom einst Italien genommen hat, und wir wün- 
schen ihnen aufrichtig Glück zu diesem Besitz; nur 
mit schonender Hand, mit schonenderer als bei Neapel, 
vollziehe sich die ümkleidung dieser Nonne in das 
welÜiche Gewand. Man erneuere gründlich und all- 
mählich zugleich. Es nützt nichts bloss das Oberholz 



- 179 - 

abzutreiben; man muss sich Zeit nehmen nnd die 
Wurzeln ausroden, nur dann kann auf dem urbar ge- 
machten Boden die neue Saat gedeihen. 

Zum Schlüsse sei nochmals Bellis gedacht. Mo- 
randi preist ihn vor allem als politischen Satiriker. 
Nun sagt er: „Die Satire ist eine Waffe die bei der 
Verwundung in Stücke ' springt ; die Satiriker sind vom 
Volke vergessen wenn der von ihnen bekämpfte Feind 
unterlegen ist." Demnach ist Bellis Zeit jetzt um. 
Ich jedoch meine dass seine Zeit jetzt erst recht be- 
ginnt. Die römische Mundart, die seit Ablegung der 
volksthümlichen Tracht sich mehr und mehr verfärbt 
hat (besonders unter Einfluss des Schulunterrichts), 
wird nun ganz aussterben. Ebenso die römischen Sit- 
ten, der römische Charakter. Belli selbst sagt: „Ich 
habe beschlossen ein Denkmal von dem was heutzutage 
daö römische Volk ist, zu hinterlassen." Dieses Denkmal 
wird jetzt zu Ehren kommen, man wird es studieren 
und Kommentare dazu schreiben. 



J2* 



X. 

Eine portugiesische Dorfgeschichte.'^) 

In verdriesslicher Stimmung durchsuchte ich ein- 
mal, etwa vor zwei Jahren, meine Bibliothek nach 
etwas Zerstreuendem; es gerieth mir ein portugiesi- 
scher Böman „Die Mündel des Pfarrers" von Julio 
Diniz in die Hände ; ich legte ihn beiseite, ich blickte 
hinein, ich legte ihn wiederum beiseite, und endlich, 
da ich durchaus nichts fand was mir schmackhafter 
erschienen wäre, entschloss ich mich ihn zu lesen. 
Ich las ihn mit wachsender Spannung bis zu Ende; 
die Vorrede, welche ihn als eine Perle der portu- 
giesischen Litteratur bezeichnet, sagte mir dann nichts 
Neues mehr. Dass ein erbärmlicher Zufall mich mit 
dieser Perle bekannt gemacht hatte, das regte mich 
an die Aufmerksamkeit Anderer auf sie hinzulenken, 
besonders nachdem ich vergewissert worden war dass 
noch keine deutsche üebersetzung davon bestand. Der 
Vorsatz hatte das Schicksal der meisten Vorsätze. 
Jetzt da ich das Büchlein dem Buchbinder übergeben 
will, durchblättere ich es von neuem, und von neuem 
bin ich gefesselt und erfreut. Der zweiten Mahnung 
leiste ich Folge, nicht ohne die Besorgniss vergeblicher 

*) As pupülaa do snr. reitor. Chronica da aldeia. Por 
Julio Diniz. Porto 1866, (Leipzig, Brockhaus 1875.) 



— 181 — 

Mühe. Werde ich dem herrschenden litterarischen 
Geschmacke etwas anbieten was ihm zusagt? Derselbe 
hat eine entschiedene Sichtung auf die pathologische 
Anatomie ; bei der Lektüre manches modernen Bomanes 
wird es uns zu Muthe als ob wir einer Sektion bei- 
wohnten. Der Meister tritt heran; mit raschen, sicheren 
Schnitten öffnet er die menschliche Brust, klappt Hülle 
um Hülle zurück und zeigt uns die feinsten Fasern, 
Adern, Nerven, wie sie sich dehnen, sich pressen, sich 
aufblähen, wie sie zusammenkrampfen, zerreissen, ver- 
knöchern. Dann wirft er das blutige Skalpell weg 
und lässt uns allein vor der zerfetzten, zuckenden 
Masse; wir fahlen ein Zusammenschnüren unter den 
linken Bippen und besinnen uns dass wir da ein ebenso 
krankes, jämmerliches Ding tragen, dem wir zurufen 
möchten : 

Ässai 
Pcdpitasti. Non val cosa nessuna 
I moti tuoi! 

Arzt war Julio Diniz, und deshalb vielleicht dachte 
er nicht bloss ans Secieren, sondern auch ans Heilen ; 
krank war er (eine Lungenschwindsucht raffte ihn früh- 
zeitig dahin), und deshalb vielleicht träumte er Ge- 
sundheit. Der Himmel den so viele Bomandichter 
über ihre Personen ausspannen, ist der eines trüben, 
nordischen Tages; von einem grauen, unbeweglichen 
Hintergrunde hängen dunkle und dunklere Wolken 
herab, deren letzte wehende Fetzen unsere Häupter 
zu streifen drohen; hinter diesem Himmel ahnt man 
die Sonne nicht. Auch bei Julio Diniz finden sich 
Wolken ; unter der Mittagsschwüle ballen sie sich zu- 
sammen, aber immer bleiben sie von goldenem Scheine 



— 182 — 

umsäumt, und schliesslich zerth eilen sie sich, lösen 
sich auf in die unendliche Bläue des Aethers. ),Daran 
erkennt man den Lungensüchtigen" -- werden unsere 
„Gesunden" sagen — „dieses Hoffen auf eine unmög- 
liche Genesung, diese Visionen von Glück und Frieden 
sind die sichersten Krankheitssymptorae." 

Julio Diniz lässt den Vorhang über einer Kinder- 
liebe aufgehen. Der kleine Daniel leistet der kleinen 
Margarida Gesellschaft, so oft er es unbemerkt kann; 
er unterrichtet sie im Lesen und singt mit ihr das 
Lied von der Ziegenhirtin; er verspricht sie zu hei- 
raten. Die Beiden werden getrennt; ihre fernere 
Geschichte hat wenig Aehnlichkeit mehr mit der von 
Flor und Biancaflor. Margarida zwar hört nicht auf 
an den Gespielen zu denken; er jedoch vergisst sie 
in der Fremde, und nachdem er sich als Arzt in seinem 
Heimatsorte niedergelassen hat, bekümmert er sich 
nicht um sie. Sein Herz ist empfanglich, seine Sinne 
sind stürmisch, der Jüngling hat die Keime zur Reife 
gebracht welche den Knaben zum geistlichen Beruf 
untauglich erscheinen Hessen; gerade das aber erklärt 
warum ihn nicht die sanfte, ernste Margarida anzieht, 
sondern ihre jüngere Schwester, die heitere, unbedachte 
Clara, die Verlobte seines Bruders Pedro. Infolge 
der leichten Annäherung sind Daniel und Clara mehr 
und mehr voneinander und zugleich von der Aussen- 
welt bedroht ; in dieser Steigerung der Gefahr verräth 
sich besondere Kunst. Nachdem das eine Mal auf 
unerwartete, halb lustige Weise der vollkommen be- 
gründete Verdacht eines Fernerstehenden zerstreut wor- 
den ist , sehen wir ein anderes Mal das . Schreck- 
lichste fast unvermeidlich vor uns. Daniel hat ein 



— 183 — 

letztes geheimes Gespräch mit Clara; er will seiner 
Liebe zu ihr entsagen um den Preis sie ihr gestehen 
zu dürfen. Pedro geht, ein Liebesliedchen trällernd, 
zufällig an dem Hause der Schwestern vorüber; er 
hört die Stimmen; er erkennt seinen Bruder wie er 
heraustritt; sein Pinger zuckt nach dem Hahn des 
Gewehres das er in der Hand trägt — einen Engel 
des Himmels braucht's um ihn zu entwaffnen. Mar- 
garida tritt auf und sagt : „Ich habe mit Daniel ge- 
sprochen." Sie opfert ihren guten Ruf; den Kindern 
denen sie Unterricht zu geben pflegte, wird von ihren 
Müttern verboten sie ferner zu besuchen. Der Pfarrer, 
in Alles eingeweiht, zeigt sich mit ihr auf offener 
Strasse und küsst ihr da die Hand, um die gemeinen 
Seelen zu beschämen und zu bekehren. Mit Daniel 
geht eine gänzliche Umwandlung vor sich; in ihm 
erwacht zum ersten Male eine wahre und tiefe Neigung. 
Diese nicht minder wie das Gebot der Pflicht veran- 
lassen ihn um Margaridas Hand anzuhalten ; sie aber, 
nur den zweiten Beweggrund voraussetzend, weist ihn 
zurück, und von ihm mit der Frage bedrängt: „Wollen 
Sie damit sagen dass Sie mich nicht lieben können?" 
erwidert sie: „Ja, ich denke, ja. Ich vermuthe dass 
ich kein Herz habe. Ich weiss es ! Wenigstens fühle 
ich es nicht schlagen." Der Schwester jedoch, welche 
sie verwundert fragt weshalb sie den Bewerber ver- 
schmäht habe, gesteht sie offen: „Weil ich ihn liebe." 
Nun drängt Alles darauf hin den Entschluss Margaridas 
zum Wanken zu bringen: das Zureden des Pfarrers, 
welcher sie wegen ihres Stolzes tadelt, die lebhaftesten 
Betheuerungen Daniels am Bette eines noch warmen 
Leichnams, die Drohung der Schwester das Geheimniss 



- 184 — 

ihres Herzens zu verrathen, der feierliche Antrag des 
alten Jos^ das Dornas und sein angekündigtes Vor- 
haben den Sohn im ungünstigen Falle nach Brasilien 
zu schicken — so gibt sie denn endlich der Stimme 
des eigenen Herzens nach. Und in das frohe Ende 
welches an den frohen Anfang anknüpft, klingt wie ein 
Refrain das Lied von der kleinen Ziegenhirtin hinein : 

Nie erfreuten in den Bergen 
Spiel und Scherz des Mädchens Sinn; 
In der Quälerei der Arbeit 
Flossen ihre Tage hin! 



Welcher Jubel im Palaste! 
Feste ohne Ende jetzt! 
Da die lang verlor'ne Tochter 
Auf der Väter Thron sich setzt. 

Diesen zweiten Theil des Romans durchwaltet ein 
so dramatisches Leben dass die Bitte am Platze sein 
dürfte — ihn nicht zu dramatisieren. Das Glück einer 
Schwester durch Stellvertretung retten und den Ge- 
liebten aus Liebe zurückstossen, dieses und manches 
Andere ist vielleicht nicht ganz neu; nirgends aber 
wird es frischer erglänzen, wirksamer miteinander 
zusammenhängen. Dieselben Personen welche wir hier 
auf erhöhter Bühne und unter scharfer Beleuchtung 
betrachten, hat uns ein breites, behagliches Vorspiel 
innerhalb des alltäglichen Treibens gezeigt und uns 
aufs innigste mit ihnen vertraut gemacht. Wenn uns 
im Leben gutgelaunte Menschen willkommen sind, 
warum sollten sie es nicht im Romane sein? Wie 
herzlich lacht der brave Jos^, als sein Danielsinho sich 
die Deklination des lateinischen qui laut einlernt ! Wie 
köstlich necken sich die beiden alten Freunde, der 



— 185 — 

würdige, geistig kerngesunde, aller Frömmelei abholde 
Pfarrer und der achtzigjährige, unverwüstliche Arzt! 
Wie fliessen dem Letzteren die Anekdoten, vornehmlich 
Mönchsanekdoten, vom Munde, die nie ihre Wirkung 
verfehlen, wenn sie auch hie und da mit dem Salze 
Boccaccios oder Lafontaines gewürzt sind , wie ernst 
faltet sich sein Gesicht, sobald die Wirklichkeit sich 
nur von weitem dieser Gattung nähert! In die beste 
Stimmung aber wird der Leser durch eine Familie 
versetzt die meistens selbst einer etwas verdriesslichen 
Stimmung unterworfen ist, die Familie des Krämers. 
Sie bildet den Mittelpunkt einer Episode deren Um- 
risse hier mit ein paar dicken Strichen wiedergegeben 
seien, während der Hauptreiz in der zarten Schattierung 
liegt. Der alte Jose hat dem Krämer von den Doktor- 
thesen Daniels erzählt: es gebe keine Schmerzen, ein 
Mensch sei nichts Anderes als ein Affe, die Leute 
müssten eigentlich mit den Händen auf der Erde gehen, 
die Nahrungsmittel seien Gift. Infolge dessen hat 
der Krämer eine Abneigung gegen Daniel gefasst, die 
sich bei dessen erstem Besuche deutlich genug zu 
erkennen gibt. Doch beruhigt er sich, als Daniel die 
Existenz der Schmerzen einräumt und die Auseinander- 
setzung der eigenen geduldig anhört ; wie ihm derselbe 
aber Arsenikpräparate verordnet, steigt sein Unwillen 
wieder aufs höchste. Seine rundliche Gattin kommt 
hinzu und sagt ihm mit flötender Stimme: „Nimm 
Arsenik, Schatz, nimm Arsenik. Warum willst du nur 
keinen Arsenik nehmen?" und mit diesem Worte wird 
der unglückliche Mann von nun an bei jeder Gelegen- 
heit geängstigt. Krankheitsgeschichte der Frau Thereza; 
darauf Vorstellung bei dem Hauptpatienten, bei Fräulein 



— 186 - 

Francisca. Diese leidet an nervösen Anföllen, sodann 
empfindet sie den zehrendsten Kummer über ihre allzu 
dunkle Gesichtsfarbe; Alles in Allem genommen aber 
fehlt ihr nichts — als ein Mann. Das beste Mittel 
gegen sothane Krankheit scheint der Arzt selbst zu 
sein, wie zunächst von der scharfsinnigen Mutter fest- 
gestellt wird. Allein ausnahmsweise ist es nicht die 
Kranke welche das Mittel nicht nehmen will, sondern 
es ist das Mittel welches nicht genommen sein will, 
obwohl es sich ohne jede Schwierigkeit bis an die Lippen 
bringen lässt. Endlich scheint es den Eltern dass man 
den Courmacher fangen könne, und zwar in einem von 
ihm selbst nicht übel gesponnenen Netze, nämlich einem 
sechsstrophigen Liebesgedicht. Die Sünden der Kinder 
werden an den Vätern heimgesucht. Der Krämer 
zwingt Daniels Vater, dem das Lesen überhaupt sehr 
sauer wird, die ach tund vier zig blühenden und glühen- 
den Verse des Sohnes herunterzuskandieren, ohne ihm 
einen einzigen zu schenken. Allein er erzielt damit 
nicht den gehofften Erfolg ; diese zarte Huldigung kann 
nicht schwerer ins Gewicht fallen als verschiedene 
plumpere welche die schwarzbraune Francisca früher 
von andern Seiten entgegengenommen hat. 

Von der Beschaffenheit des Ernsten und des Hei- 
teren in unserem Romane vermögen wohl auch solche 
kurze Winke ein annäherndes Bild zu erzeugen, weniger 
von der trefflichen Art wie beide ins Gleichgewicht 
gesetzt und stellenweise miteinander gemischt sind. 
Ein ähnliches Wohlverhältniss nimmt man zwischen 
den Personen wahr, welche auf einem eng begrenzten 
Baum, dem sie alle durch natürliche Bande angehören, 
sich weder drängen noch verdecken, sondern bei mancher 



— 187 — 

Äebnlichkeit sich künstlerisch wahr voneinander ab- 
heben. Aus der Verschiedenheit dieser Charaktere 
und nicht aus äusserlichen Quellen fliesst ganz natur- 
gemäss die gesammte Handlung mit immer beschleu- 
nigterem Falle und wird, damit nach alterthümlicher 
Sitte das Drama auch des Chores nicht ermangle, von 
dem schmutzigen Dorfklatsch umplätschert. 

Die „Mündel des Pfarrers" nennen sich eine Dorf- 
geschichte. Es ist dabei zu erinnern dass es in den 
südlichen Ländern keinen Ausdruck gibt welcher so 
als Münze im umlaufe wäre wie das deutsche „Dorf- 
geschichte". Und das hat seinen guten Grund. Wenn 
mich meine etwas beschränkte Kenntniss deutscher 
Dorfgeschichten nicht irrefuhrt, so pflegt hier auf dem 
schmalen Plan örtlicher Eigenthümlichkeit sich eine 
Welt aufzubauen welche schon den städtischen Nach- 
bar, wie viel mehr nicht den Ausländer gar fremdartig 
berührt und welche allzu oft mit dumpfer Stubenluft 
statt mit frischer Wald- und Wiesenluft angefüllt ist. 
Den Pfaden der Naturmenschen bequemen wir uns wohl 
zu folgen, mögen sie durch Vorurtheile noch so eng 
und krumm gezogen sein; wo aber Trotz und Härte 
wie unbegreifliche und unbezwingliche Naturgewalten 
uns vorgeführt werden, da treten wir gern beiseite. 
Manche Erzähler lieben es die dämonisch-elementaren 
Züge des Volkes in einer Weise hervorzuheben und 
zu übertreiben dass wir uns unter jene übermensch- 
lichen Nebelgestalten der germanischen Sage entrückt 
wähnen welche heutzutage mit besonderer Zudringlich- 
keit sich um unsere Gunst bewerben. Die südlichen 
chronicus das aldeias, cuentos campesinos , racconti 
viUarecci und welche Namen sie immer führen mögen, 



- 188 — 

lassen die einfachsten und gleichförmigsten Verhält- 
nisse, wie sie eben das Landleben bietet, den Menschen 
bedingen und entwickeln. Das örtlich Besondere dient 
nur als Staffage, die allerdings oft mit solcher Sorg- 
falt erweitert und ausgemalt wird dass die Erzählung 
sich in eine Kulturschilderung verwandelt und das 
eigentlich dichterische Interesse verloren geht. Treibt 
und durchdringt jenes Besondere je einmal die Hand- 
lung, dann liegt es sicherlich in einer so hohen Sphäre 
dass es jedem Verständniss erreichbar bleibt. Ich ver- 
weise auf das oft benützte Motiv der korsischen Blut- 
rache. Dem Gemälde nun welches Julio Diniz entrollt, 
fehlt es an jeder ausgesprochenen Lokalfarbe, dafar 
sättigen es die Farben des Lebens ; es ist uns Fremden 
dicht vor Augen gestellt, ohne deshalb den Augen der 
Portugiesen nur um einen Zoll ferner gerückt zu sein. 
Nicht ganz darf man das dem Darsteller zum Ver- 
dienste anrechnen ; das Dargestellte ist ihm entgegen- 
gekommen. In jenen Strichen wo der Oelbaum sich 
zur Rebe gesellt, nimmt die Natürlichkeit des Menschen 
zu, das heisst jene welche nicht sowohl einen Mangel 
der Gesittung als eine letzte Wirkung derselben be- 
deutet; daher sich der Nordländer weit leichter in 
dem Wesen des Südländers zurechtfindet als umgekehrt. 
Unter andern Gegensätzen ist dort auch der zwischen 
Stadt und Dorf, zwischen Bürger und Bauer gemildert. 
Hieraus geht hervor dass eine südliche Dorfgeschichte 
nie den ausschliesslichen Charakter besitzen wird wel- 
chen die nordischen besitzen. 

Es handelt also diese Dorfgeschichte von den all- 
gemeinsten Menschlichkeiten, von Dingen wie sie immer 
und überall geschehen sind. Wir vermissen in ihr jede 



— 189 - 

moderne Tendenz. Ehe Daniel zurückkehrt, hofft man, 
er werde von der Universität etwas Zeitgeist und Welt- 
verbesserungspläne mitbringen, um sein Dorf aufzu- 
frischen; aber was thut er dann in Wirklichkeit? Er 
verdreht den Schönen des Dorfes die Köpfe. Nicht 
einmal Bücher scheint er mitgebracht zu haben, sonst 
Hesse sich seine fürchterliche Langeweile welche so 
ergötzlich geschildert wird, schwer erklären. Nun, 
alle jene alten, alltäglichen Dinge vernehmen wir doch 
nicht ungern. Es erfüllt uns wohl mit Stolz auf ein- 
samen, steilen Pfaden zu wandeln; aber zuweilen ist 
es uns recht angenehm mitten in dem dichten Haufen 
zu stecken, uns mit Millionen einfacher Menschen, 
auch der fernsten Zeiten und Länder, in üeberein- 
stimmung zu wissen. Wir sind durchaus damit ein- 
verstanden dass die Welt fortschreitet, aber zuweilen 
wirkt die Einbildung, sie stehe fest, ungemein be- 
ruhigend auf uns. Wenn in einer lauen Sommernacht 
zahllose Sterne niederfunkeln, und ein frommer Aber- 
glaube uns in ihnen theilnehmende Freunde erblicken 
lässt, wenn die Erde uns von der Sohle aufwärts mit 
zauberischer Kraft durchströmt, und wir Galilei ent- 
gegenrufen: „Nein, sie bewegt sich nicht!", wenn 
Grillengezirp, Saitenklang, freundliches Flüstern sich 
mischen. Alles um uns her in silbernem Dufte schwimmt, 
und uns die Gerüche der Orangen und des Jasmins 
berauschen, dann stehen wir im Mittelpunkte der Welt, 
dann hegen wir ein sicheres Vollgefühl des Lebens, 
das wir von dem lauten Geräusche des öffentlichen 
Platzes ebenso wie von der Einsamkeit der Studierstube 
umsonst erwarten. Und der Freude einer solchen 
Sommernacht kommt die Erquickung zunächst die wir 



— 190 — 

ans einem Boche wie daa Ton Jolio Diniz ist, schöpfen. 
Wer jedoch jenem meiner Freunde gleicht dem der 
Prolog zom „Fanst^ deshalb Terleidet ist weil da der 
Sonne ein ganz unkopernikanisches Benehmen znge- 
mnthet wird, der lasse das Bach nngelesen. 



XL 
Lorenzo Stecchetti. 

Dem Bierwirth Otto Hoflfmeister 
Zu Bologna, Via Farini 1046, 

Damit, wenn ich Tresette spiele, 
Er, minder idealistisch, 

Mir Bier, nicht Schaum einschenke. 

Diese Worte haben mich in ein Labyrinth gelockt 
das ich nicht ungern durchirre. Gedruckt finden sie 
sich auf der ersten Seite eines italienischen, Folemica*) 
betitelten Heftchens; es folgen ihnen ein Dutzend 
Gedichte welche die poetischen Grundsätze Lorenzo 
Stecchettis bekennen, erläutern und verfechten und 
welche in einer Schlussbemerkung als ,,telum imbeUe 
zwischen dem Idealen und der Wahrheit" bezeichnet 
werden. Die Polemica stammt aus dem verführerischen 
Geschlechte der Elzevire. Aeltere , achtungswerthe 
Personen behaupten dass die Elzevire seit den Zeiten 
da Thomas von Kempen zu den ihren zählte, sehr 
sittenlos geworden seien ; besorgte Mütter ahnen unter 
der gelben, rothausgeschmückten Toilette die freiesten 
Manieren und die gefährlichsten Neigungen; philo- 
logisch gebildete Kritiker erinnern dabei an die glück- 
licherweise verloren gegangenen Bücher der Elephantis. 
Aber diese Elzevire sehen so sauber und pikant aus 



^) Polemica. Versi di Lorenzo Stecchetti. Bologna IS 78, 



— 192 — 

dass Jeder der nicht durch andere Verpflichtungen 
gebunden ist, sich schon von weitem in sie verliebt 
und ihre nähere Bekanntschaft anstrebt. Nun hat die 
schmächtige Polemica eine weit stattlichere Schwester, 
Namens Postuma*), und da Beide, was zu allgemeiner 
Nachahmung empfohlen werden muss, ihre genauen 
Taufzeugnisse auf dem Rücken tragen, so wissen vrir 
dass Postuma in der That die Aeltere ist. Allein dass 
sie das ist, wird durch einen anderen umstand räthsel- 
haft. Es erfreut sich allem Anschein nach der Vater 
der Polemica einer blühenden Gesundheit, der Vater 
der Postuma aber, der doch dieselbe Person ist, lag 
im Grabe, als seine Tochter das Licht der Welt er- 
blickte. Schon ihr Name besagt das deutlich genug; 
deutlicher noch der Nekrolog mit welchem sie durch 
den Doktor Olindo Guerrini, den Vetter des Dichters, 
ausgestattet ist. In schlichten und ergreifenden Wor- 
ten wird Stecchettis Lebenslauf, die lange Krankheit 
seines Körpers und seiner Seele, seine herzzerreissende 
Agonie geschildert. Dieses Leben spiegeln die Lieder 
ab welche auf fliegenden Blättern zerstreut waren, und 
welche der Freund mit treuer Sorgfalt gesammelt hat. 
Wir sehen den Dichter zuerst in der Vollkraft der 
Jugend, umstrahlt von der beglückenden Glorie der 
ersten Liebe; es folgt epikuräisch-heiterer Lebens- 
genuss , welcher allmählich in bacchantisch- wilden 
Taumel ausartet; üeberdruss und Weltschmerz stellen 
sich ein; immer bitterer und verzweifelter wird die 
Stimmung, endlich weht uns der eisige Hauch des 
Grabes an. Tief rührt der Anblick des jungen Baumes 

*) Postuma. Canzoniere di Lorenzo Stecchetti (Mef'cmtio), 
edito a cura degli amici, Qiuirta edizione. Bologna 1878, 



- 193 - 

dessen Wurzeln in fruchtbarem Erdreiche ruhen, aber 
dessen Mark verfault, dessen Kinde von Flechten und 
Würmern zerfressen ist, und der doch wiederum neben 
manchen gelblichen, verkommenen Blättern so wunder- 
bar frische hervorgetrieben hat dass wir ausrufen: 
„0 welche Blätter- und Blütbenpracht hätte er bei 
ungestörtem Wachsthum entfaltet!" So schöne und 
so grausam getäuschte Hoffnungen dürften auch dies- 
seits der Alpen einige liebevolle Worte verdienen, 
und dabei wären die Aufgaben der künftigen Stecchetti- 
„philologie" anzudeuten: wer jene blonde Herzogin 
war die ihm „die beiden Schlüssel" ihres Herzens ein- 
händigte, wie Emma und Karoline mit ihren Familien- 
namen hiessen, wie viel er seinem Freunde Hoffmeister 
täglich zu verdienen gab — das viele Biertrinken hat 
das Ende des armen jungen Mannes gewiss beschleu- 
nigt — und ob er sein Tresette mit Aufmerksamkeit 
spielte oder zuweilen vergass eine Napoletana anzu- 
sagen und Spada statt Bastoni zugab. An alles das 
dachte ich, als ich Stecchettis Gedichte gelesen hatte ; 
doch habe ich zum Glück nicht die Gewohnheit rasch 
die Hand an die Feder zu legen. 

Stecchetti lebt noch. Die erste Nachricht davon 
verdanke ich einem deutschen Buche welches „aus 
neueren Litteraturen" manches Interessante zu erzählen 
weiss; nur kommt es mir unbegreiflich vor wie sein 
Verfasser den Nekrolog in der Postuma einen scherz- 
haften nennen kann. Wahrlich, ebenso gut lässt sich 
die derbste Ohrfeige durch die Absicht dessen der sie 
austheilt, zu etwas Scherzhaftem machen. Der Dichter 
erfreut sich allzusehr unserer Theilnahme als dass 
wir einen Scherz der uns veranlassen soll seinen Tod 

Schuchardt, Bomanisches u Keltisches. 13 



— 194 — 

zu beklagen, geschmackvoll fanden; ja er dürfte es 
uns nicht einmal verargen wenn wir ihm den Titel 
eines Idealisten, mit dem er so spöttisch um sich wirft, 
eines Erzidealisten beilegten, gilt ihm doch das Ideale 
als das gerade Gegentheil der Wahrheit. An und für 
sich ist der Einfall sich todt zu stellen noch erträglich ; 
zahlreiche Autoritäten verleihen ihm eine Art von 
Rechtfertigung. Verschwender haben sich todt gestellt, 
um ihren Gläubigern zu entgehen; Ehemänner, um 
sich an der Trauer und der Treue ihrer Frauen zu 
erbauen; Fürsten, um die Gesinnungen ihrer ünter- 
thanen zu prüfen, und auch schon Dichter, um zu er- 
fahren wie ihr Nachruhm ausfallen würde. Es wäre 
nun sehr hübsch gewesen wenn Stecchetti, der sich 
ein Gleiches erlaubte, in seinen Nekrolog irgend einen 
Widerspruch versteckt hätte, einen sehr aufinerksamen 
Leser stutzig zu machen, oder irgend eine Anspielung, 
uns nach Erkenntniss des wahren Verhaltes ein Lächeln 
zu entlocken. Wollte er das nicht thun, so hätte er 
wenigstens ein Anderes unterlassen sollen. Es gibt, 
wie gesagt, erdichtete Todesfälle, aber gegenüber den 
wirklichen befinden sie sich in einer so verschwindenden 
Minderheit dass es keines Aufwandes von Chronologie 
und Pathologie bedarf um sie glaublich zu machen. 

üeber diese Stecchetti'sche Angelegenheit gerieth 
ich in ein rechtes Unbehagen, welches durch die ita- 
lienischen Zeitungen, die Stecchetti und seine Schule 
als etwas Allbekanntes voraussetzten, stets frisch er- 
halten wurde. Endlich kommen mir Aufklärungen, 
theils durch den Brief eines Freundes, theils durch ein 
neues Buch Stecchettis *) — Aufklärungen aber die 

*) Nova Polemica. Versi di Lorenzo Stecchetti. Bologna 1878, 






— 195 — 

mir die üoklarlieit noch vermehren. Die 14 Seiten der 
Polemica sind zu den 14 X 14 Seiten der Nova Po- 
lemica angeschwollen ; die Hälfte davon besteht freilich 
aus Prosa, selbst die Lapidarwidmung an Otto Hoflf- 
meister ist zu drei Seiten zierlicher Minuskeln aus- 
einandergezogen worden. Das Verfahren welches Viele 
bei jeder Lektüre einhalten, von hinten zu beginnen, 
erachte ich als sehr zweckmässig für den langen pro- 
saischen Prolog. Die Schlussarabeske desselben stellt 
nämlich einen Kobold dar welcher die ausgespreizte 
Hand an die Nase hält und die Zunge herausstreckt 
— ein liebenswürdiger Gruss welcher an den „bos- 
haften Leser" gerichtet ist, wie der Verfasser Sorge 
trägt ausdrücklich zu bemerken. In der That hält er den 
Leser zum Narren, dem daran liegen muss das mög- 
lichst bald zu wissen. Stecchetti gleicht einem Knaben 
der mit groben Zügen Figuren auf eine Tafel zeichnet 
und durch seinen Eifer, sein Wohlgefallen, seine Aus- 
rufe unsere Neugierde anstachelt; treten wir dann heran 
und blicken ihm über die Schulter, so fahrt sein Stift 
mit trotziger Hast hin und her, um alle Umrisse zu 
verwirren und zu verwischen. Nachdem Stecchetti 
hier zuerst wie in seinen Gedichten sein Müthchen an 
den Idealisten gekühlt hat, theilt er uns plötzlich mit 
dass er gegen den Idealismus als solchen nichts ein- 
zuwenden habe, sondern nur gegen seine Tyrannei; 
derselbe möge sich mit dem Eealismus in die Ober- 
herrlichkeit tbeilen. Zwanzig Seiten weiter gesteht 
er ein, Eealismus und Idealismus seien nur Worte; 
der Streit welcher in der Litteratur herrsche, verdiene 
den Titel: „Viel Lärm um nichts". Die Ai:gumente 

die er selbst für die „neue" Schule vorgebracht habe, 

13* 



— 196 — 

seien ein Kartenhaus das ein Hauch umwerfe ; in voller 
üeberzeugung von der Nichtigkeit der beiden Heer- 
lager habe er gegen die vermeintlichen Idealisten ein 
Buch geschrieben, wie Don Quijote gegen die Wind- 
mühlen gerannt sei (von deren Nichtigkeit er nicht 
überzeugt war). Indessen gelingt es ihm nicht das 
Ideale mit einem Mal abzuthun; so oft er es ver- 
nichtet zu haben glaubt, ebenso oft taucht es wie ein 
Gewissensbiss wieder vor ihm auf. Er meint endlich, 
Niemand habe das Ideale gesehen, Niemand es gefühlt. 
Niemand wisse wo es sei, das heisst mit anderen Wor- 
ten, das Ideale sei nicht real, ein Satz welchen meines 
Erinnerns noch Niemand bestritten hat. Die Einfach- 
heit und Sicherheit mit welcher Stecchetti hier das 
Ideale aus der ästhetischen Betrachtung eliminiert, gibt 
derjenigen nichts nach mit welcher jenes Bauern- 
mädchen der Operette die Existenzberechtigung der 
Dinge von denen man ihr spricht, durch die Frage 
prüft: „Kann man es essen?" Stecchettis letzte Worte 
vor dem erwähnten Abschiedsgruss an den Leser sind 
folgende: „Es mag die Kevolution das Mass über- 
schreiten, aber das thut auch die Reaktion, und Reak- 
tion und Revolution sind nur die Thesis und die Anti- 
thesis aus denen glorreich und triumphierend die Syn- 
thesis hervorgehen wird." Also die beiden feindseligen 
Richtungen deren thatsächliches Bestehen erst geleugnet 
wurde, sie bestehen doch? Und die Aufhebung des 
Gegensatzes soll durch seine Verschärfung angebahnt 
werden? Kurz, so viel Glückliches und Geistreiches 
der Prolog auch im Einzelnen enthalten mag, im 
Ganzen ist er nichts als Unklarheit, Widerspruch und 
Wiederholung. Da nun aber der Dichter Stecchetti zu 



— 197 - 

nachdiücklich auf den Theoretiker Stecchetti hinweist 
als dass wir ganz über den Letzteren hinwegblicken 
könnten, so bleibt mir nichts Anderes übrig als dessen 
Faden da zu durchschneiden wo er in heilloser Weise 
sich yerfilzt, und meinen eigenen Faden da anzuknüpfen. 
Zuvörderst bemerke ich dass ich als den Gegensatz 
zum Idealen nur das Wirkliche oder Beale bezeichne; 
Stecchetti setzt, nach dem Vorgang anderer Italiener, 
„wahr" und „wirklich" als gleichbedeutend und sagt 
sogar weit häufiger verismo als realismo, vermuthlich 
weil jenes Wort um einen Buchstaben kurzer ist und 
weil es viel selbstbewusster und siegreicher ausschaut 
als das andere. Erleichtert habe ich mir die Sache 
hiemit nicht; denn die Frage: „Was ist Wirklichkeit?" 
bereitet mir keine geringere Verlegenheit als dem 
Pilatus die Frage: „Was ist Wahrheit?" Es ist 
natürlich dass ich mich vor Allem an Stecchetti um 
Auskunft wende. Stecchetti vergleicht in den Wid- 
mungsworten an Hoffmeister das Reale mit dem tropf- 
bar flüssigen Bier, das Ideale mit dem darauf lagernden 
Schaum den man wegbläst. Obwohl es nun für uns 
Oestreicher sehr schmeichelhaft ist dass unser gold- 
gelbes Nass — Hoffmeister schenkt Wiener Bier — 
hitziges Bomagnolenblut kühlt und besänftigt und so 
eine gewisse Blutsverwandtschaft zwischen Nord- und 
Südalpinern herstellt, und dass es zu einem Gleichniss 
von solcher Bedeutung verwendet worden ist, so sähe 
ich es doch lieber wenn Stecchettis bevorzugtes Getränke 
schäumender Asti wäre, bloss um ihn zu fragen ob 
der Schaum dessen Dünste berauschend in der Nase 
prickeln, weniger wirklich ist als die hinabgeschlürfte 
Flüssigkeit? Oder ist der Duft den die Rose aus- 



— 198 — 

haucht, weniger wirklich als die Kose selbst? das 
erste Lächeln das ein Mädchen dem Geliebten spendet, 
weniger wirklich als ihre letzte Gunst? In unserer 
Genussfähigkeit liegt aller Unterschied : unsere Organe 
sind bald feiner, bald gröber. Je weiter wir über den 
engen Kreis der Freuden hinausdringen die Allen 
gemein sind, und auf deren Darstellung die meisten 
der sogenannten realistischen Dichter mit besonderem 
Behagen verweilen, je mannigfachere Wirklichkeiten 
wir in Quellen unseres Ergötzens umzuwandeln ver- 
stehen, um so grösseres Anrecht erwerben wir uns 
auf den Namen von Realisten. Einer der in diesem 
Sinne mehr Eealist war als irgendwer, hat gesagt: 
„Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben." Aber 
erst wenn wir die Begriffe des Realen und des Idealen 
aus der Sphäre des Empfindens in die des Schaffens, 
aus dem Leben in die Kunst übertragen, erst dann 
beginnt die eigentliche Schwierigkeit. Selbst dem 
kampfgeübtesten Aesthetiker gelingt es kaum den 
Realismus mit festem Griffe zu packen; bald wächst 
er ihm über den Kopf, bald söhlüpft er ihm zwischen 
den Armen hindurch. Es rührt dies daher dass es 
sich hier nicht um Absolutes, sondern um Relatives 
handelt. Innerhalb der Kunst kommt das Reale und 
das Ideale nur in unlöslicher Mischung vor, aber diese 
Mischung stuft sich in unendlichen Graden ab. Streng 
genommen dürfen wir nur sagen: „Der eine Künstler, 
der eine Dichter ist realistischer, idealistischer als der 
andere"; der Gebrauch des Positivs ist unberechtigt. 
Die Dinge, in ihrer Gesammtheit betrachtet, weisen 
keine Gegensätze auf; die Welt ist eine volle, runde 
Einheit ; da diese aber zu gross ist um ganz in unser 



- 199 - 

Gehirn zu gehen, so schlagen wir kleine Stückchen 
davon ab, deren unvermitteltes Zusammenstossen das 
bildet was wir Gegensätze nennen. Als Mittel des 
Erkennens und des Lehrens haben wir die Gegensätze 
nöthig ; wir müssen aber immer ihrer eigentlichen Be- 
deutung uns bewusst bleiben und uns ihrer mit Vor- 
sicht und Einschränkung bedienen. Besonders gilt dies 
von den ästhetischen Kategorien, von dem Subjektiven 
und Objektiven, die sich mit verwünschter Zudring- 
lichkeit in jede gebildete Unterhaltung mischen, von 
dem Klassischen und Bomantischen, von dem Idealisti- 
schen und Bealistischen. Dass die Neigung derartige 
Gegensätze aufs schärfste zu fassen und ihnen die 
allgemeinste Anwendung zu geben, heutzutage gerade 
bei den Italienern hervortritt, könnte bei deren mehr 
künstlerisch als philosophisch angelegten Natur be- 
fremden; indessen haben wir hier kleine Nachwehen 
jenes kriegerischen Geistes zu erblicken der von Alters 
her nicht nur in ihrer Politik, sondern auch in ihrer 
Litteratur gelodert hat. Wer nicht Guelfe, ist Ghibel- 
line; wer nicht Klassiker, ist Bomantiker; wer nicht 
Idealist, ist Eealist. Die ganze Weltlitteratur wird 
von ü. Canello in seinen gedankenreichen „Versuchen 
litterarischer Kritik" zwischen Klassikern und Boman- 
tikern getheilt; von B. Banieri in einem Aufsatz der 
diesjährigen Rivista Europea zwischen Bealisten und 
Idealisten. Da Banieri den Dante zu den Bealisten 
zählt, so brauche ich nicht zu sagen durch welches 
Gebiet ihm die sonnige Hochstrasse der Dichtung läuft ; 
den Idealisten Leopardi betrachtet er als eine Aus- 
nahme. Wollen wir durchaus ohne Weiteres von 
Bealismus und Idealismus reden, so werden wir lieber 



- 200 ~ 

mit Schiller die Abirrungen von der rechten Mitte der 
Kunst darunter verstehen. Stecchetti mit den Seinigen 
würde dann nicht in das Centrum, sondern auf die 
äasserste Linke des Parnasses kommen, wenigstens 
wenn wir uns an sein eigenes Bekenntniss halten. 
Aber der Teufel ist nicht so hässlich wie man ihn 
malt, und die Realisten sind nicht so realistisch wie 
sie sich selbst malen. Ohne dass sie es ahnen, wohnt 
der Feind den sie herausfordern und verspotten, unter 
ihnen, und zwar in einer doppelten Gestalt. Ihnen 
zufolge soll alles Keale dargestellt werden, also auch 
das was die Anderen verpönen, das AUerrealste , um 
es mit einem Worte zu sagen; in der Praxis aber 
wird Letzteres vorzugsweise oder' ausschliesslich dar- 
gestellt, und für diese Beschränkung entschädigen sie 
sich durch seine Vergötterung, seine Idealisierung. 
Das Sinnliche wird zum Unwirklichen; Wollust und 
Elend erheben sich himmelhoch über die ruhigen und 
heiteren Gefilde des Daseins; die festen Säulen der 
Welt beginnen zu tanzen und in unendliche Perspek- 
tiven zurückzuweichen ; das ganze Leben zerfliesst in 
einen wonnig-beängstigenden Haschischtraum. Man 
hat mit Recht von einem umgekehrten, einem nega- 
tiven Idealismus gesprochen der sich bei den meisten 
Realisten in höherem oder niedrigerem Grade findet. 
Noch unverkennbarer liegt ein Zweites am Tage ; auch 
die eingefieischtesten Realisten lassen sich ganz ideali- 
stische Gedichte zu Schulden kommen. Je lebhafter 
sie jetzt das AUerrealste anzieht, um so lebhafter stösst 
es sie jetzt ab; üebersättigung und ünbefriedigtheit 
— Kunst und Leben decken sich ja bei den Realisten — 
treiben sie zeitweilig dem Idealismus zu. Sie haben 



— 201 — 

die beiden Seelen Fausts, wie sehr sie sich auch be- 
mühen die eine zu verleugnen; der Widerspruch ist 
geradezu der Stempel ihrer Dichtung, und er stammt 
nicht, wie sie behaupten, von draussen, er stammt aus 
ihrer eigenen Brust. In keinem Dichter ist diese zwie- 
spältige Natur stärker ausgeprägt als in Heinrich Heine; 
Idealismus und Bealismus, Sentimentalität und Ironie 
haben bei ihm nicht immer ihre getrennten Ergüsse, 
sie strömen auch unmittelbar nebeneinander, ohne sich 
zu vermischen, wie die eiskalten, braunen Fluthen der 
Arve und die laueren, azurnen der Rhone im Anfang 
ihrer Vereinigung. Der Name Heines ist hier recht 
um Platze. Stecchetti sagt, seine Dreieinigkeit seien 
Byron, Musset, Heine ; den Einfluss des Ersten verspürt 
man in Stecchettis Liedern am wenigsten, den des 
Dritten am meisten, üeberhaupt zählt Heine in Italien 
mehr Bewunderer, üebersetzer und Nachahmer als 
irgend ein anderer deutscher Dichter ; uns aber, wenn 
ich recht bin, spricht mehr das idealistische Element 
in ihm an. Jene mehr das realistische. Es wird Man- 
chen vielleicht Wunder nehmen dass Ranieri ihn als 
Muster eines „gesunden" Realismus hinstellt; Heine 
ist eben beim üeberschreiten der Alpen grösser und 
grossartiger geworden. Was nun den Realisten Stec- 
chetti anlangt, so ist der Widerspruch das was zuerst 
an ihm auflällt. Er findet sich sogar in seinen Devisen 
und Proklamationen. Bier, nicht Schaum, verlangt er ; 
seinen Kritikern welche in seinen Sonetten die un- 
schuldigen, girrenden Turteltauben zu finden wünschen, 
antwortet er dass ihm dieselben nur gebraten behagen 
— wobei wir des anekdotenhaft ausgenützten ümstandes 
gedenken dass die Italiener die Singvögel lieber essen 



— 202 - 

als hören. Aber in einem an die Krämer gerichteten 
Sonett fragt er: „Warum sollen wir den Pfeffer und 
die Kartoffeln den Rosen vorziehen?" Ganz so hatte 
Theophile Gautier ausgemfen : „Besser keine Kartoffeln 
als keine Bösen!" Und so kommen auch in den nicht 
polemischen Liedern die vollständig entgegengesetzten 
Stimmungen und Ansichten zum Ausdrucke. Bald ist 
der Dichter lebenslustig und hoffnungsvoll, und bald 
lebensüberdrüssig und hoffnungslos; bald leugnet oder 
lästert er Gott, und bald richtet er ein rührendes 
Abendgebet an ihn; bald scheint er nichts Höheres 
zu kennen als die Sinnenlust, und bald verachtet und 
verdammt er sie ; jetzt zeigt er sich ganz gleichgültig 

Ob eines Engels oder Teufels Herz 

Im weissen Busen du, mein Mädchen, trägst, 

und jetzt gesteht er. 

Ein Herz verlangte ich 
In deinem weissen Busen; 

jetzt „neidet er dem derben Ba,uer den Eücken und 
die Unschuld nicht", und jetzt wiederum „neidet sein 
rebellisch Herz dem Bauer die derben Muskeln, das 
gesunde Blut und die Unwissenheit". Und so weiter. 
Die Hauptsache aber ist dass Stecchetti, wie andere 
Realisten, Gedichte gemacht hat die jedem echten und 
rechten Idealisten auf Rechnung gesetzt werden könn- 
ten. Und unter diesen gerade scheint mir das Beste 
sich zu finden was ihm gelungen ist. Dürfte vielleicht 
der Leser dir, scrittor maligno, den freundlichen Gruss 
zurückschicken den du ihm am Schlüsse deines Prologes 
spendest? 

Allein die ganze Bosheit dieses boshaften Schrift- 
stellers habe ich noch nicht enthüllt. Nachdem ich 



— 203 — 

in Erfahrung gebracht hatte dass Stecchetti nicht todt 
ist, ward mir erst der wahre Grund davon bekannt. 
Stecchetti hatte gar nicht gelebt. Mein Freund den 
ich um Auskunft angegangen war, schreibt mir: „Dr. 
Olindo Guemni, Vicebibliothekar zu Bologna, der ver- 
meintliche Vetter Stecchettis, ist der Dichter selbst. 
Durch einen Irrthum hatte sich das Gerücht seines 
Todes verbreitet, und dasselbe benützte er scherzhafter- 
weise um seine Postuma zu veröffentlichen. (Ich bitte 
Herrn Guerrini um Entschuldigung wenn ich gegen 
Herrn Stecchetti etwas zu heftig gewesen bin, und 
erlaube mir die Frage ob er Joseph Delorme, die In- 
karnation Sainte-Beuves, zum Vorbild genommen hat.) 
Das Leben Guerrinis ist eben so keusch wie seine 
Verse das Gegen theil (meine tiefste Verbeugung, Bot- 
torel). Er ist Familienvater und hat zwei Kleine, die 
er anbetet; sein grösstes Vergnügen besteht darin sie 
zur Platzmusik zu führen." Damit stimmen denn nun 
verschiedene Stellen in dem Prolog der Nova Folemica 
durchaus überein. Sein Frauenideal, sagt Stecchetti, 
trage ein Kleid das 4,50 ä Meter koste ; sein Kinder- 
ideal seien zwei Kinder die ihn an den Haaren zupfen, 
wenn er sie auf die Arme nehme. Und nun verstehe 
ich auch das Anfangssonett der Folemica^ in welchem 
er sein glückliches Familienleben andeutet, und welches 
mir in der Gesellschaft der anderen Gedichte wie verirrt 
erschien. Mit Kecht also bezieht er die Verse CatuUs 
auf sich: 

Nam castum esse decet pium poetam 
Ipsunif versiculos nihil necesse est 

Den Moralisten erfüllt es mit der höchsten Be- 
friedigung dass im vorliegenden Falle das Leben die 



- 204 - 

Dichtung Lügen straft; aber der Aesthetiker ist ver- 
blüfft darüber dass die Dichtung das Leben Lügen 
straft. Stecchetti oder vielmehr Guerrini vertheidigt 
sich deshalb. Man habe Unrecht überall da Auto- 
biographie zu sehen wo ein Dichter in seiner eigenen 
Person spreche, wie Petron im „Satirikon", Apulej in 
den „Metamorphosen", Goethe im „Werther". In- 
dessen statt Dichtungen anzuführen die in ihrem Cha- 
rakter von den seinigen so verschieden sind, hätte 
er Beispiele aus der Lyrik wählen sollen. Von den 
Aesthetikern ganz zu schweigen, die Dichter selbst 
wollen ihre Lieder als Gelegenheitsgedichte betrachtet 
wissen ; sie behaupten, sie mit ihrem eigenen Herzblut 
geschrieben zu haben. Und der Kealist Stecchetti möge 
sich daran erinnern in welchem Sinne die Lyrik Goethes 
als streng realistische gilt. Allerdings kann sich das 
Lyrische dem Dramatischen nähern, und der Dichter 
— auch Goethe hat das gethau — sich ganz in eine 
andere Persönlichkeit hineinempfinden, nur liegt ihm 
dann ob dies ausdrücklich kundzuthun. Eine Annahme 
stellt sich nun ganz von selbst ein. Der Dichter hat 
zwischen sich und die Lieder der Postuma die Person 
des Lorenzo Stecchetti (Mercutio mit seinem nom de 
plume) schieben wollen, dessen Lebensabriss somit 
einem bestimmten Zwecke dienen würde. Wenn das 
in der That die Absicht Guerrinis gewesen ist — und 
er gibt dergleichen im Prologe zu verstehen, aber nicht 
deutlich genug — so widerrufe ich einen Theil der 
oben gethanen Aeusserungen ; immerhin durfte dann der 
falsche Name nicht für die Polemica beibehalten wer- 
den, in der uns der Dichter auch sein wahres Gesicht 
zeigt. Doch dieser Punkt braucht nicht betont zu 



- 205 - 

werden, da Guerrini bestreitet dass zwischen dem 
Leben eines Dichters und seinen Schöpfungen ein er- 
kennbarer Zusammenhang nothwendig sei, und da so 
viele nachweisbare Täuschungen die von Dichtem mit 
oder ohne Wissen begangen sind, ihm Eecht zu geben 
scheinen. Nicht bloss dass wir zärtliche Gefühle von 
den bärbeissigsten und unliebenswürdigsten Gesellen 
mit Meisterschaft dargestellt sehen und heldenmüthige 
Gesinnungen von Solchen die wenig persönlichen Muth 
besessen haben, auch Thatsachen, Namen, Zeiten die 
wir nach der Art ihrer Mittheilung als wirkliche zu 
betrachten Grund hätten, wurzeln oft nur in der Phan- 
tasie, der Zerstreutheit, der Reimnoth der Dichter. 
Besonders wenn dieselben von ihren Geliebten reden, 
verlieren sie, was ganz in der Ordnung ist, meistens 
den Kopf so sehr dass wir von ihnen keine zuver- 
lässigen biographischen Notizen erwarten können. In 
ihrem Eifer besondere Ergebnisse zu gewinnen, unter- 
lässt es die Wissenschaft allzu oft den allgemeinen 
Charakter des Operationsfeldes ins Auge zu fassen, 
und so wimmelt die Geschichte der älteren Dichter 
von Irrthümern welche ungemein viel Scharfsinn und 
Gelehrsamkeit gekostet haben. Um so mehr, wird man 
vielleicht sagen, müssen wir danach trachten das Leben 
der Dichter aus untrüglichen Quellen kennen zu lernen, 
und das ist ja nirgends leichter als bei den lebenden 
Dichtern. Allein soll hier nicht der Wissenschafts- 
drang, der historische Sinn eine kleine Einschränkung 
durch menschliche Rücksichten erfahren? Lassen wir 
die Lebenden ruhen, unter dem Vorbehalt die Ruhe 
der Todten zu stören ; ist es jetzt ein Verbrechen fest- 
verschlossene Schubladen aufzusprengen, dereinst wird 



— 206 — 

€8 zur Pflicht. So würde ich sehr gern der Muse 
Stecchettis — bleiben wir bei dem einmal vertrauten 
Namen — dieselben Worte zugerufen haben die er 
an seine Geliebte richtet: 

Was dieses Haar bedeckt das meinen Küssen 
Du darbeutst, das verlang' ich nicht zu wissen, 
Noch ob der Busen der an meinem schlägt. 
Den Himmel, ob die Hölle in sich trägt. 

Was liegt mir dran, entschlüpfte deinem Munde- 
Etwa ein Meineid mitten zwischen Schwüren? 
Was liegt mir dran die Freuden jener Stunde 
Die du mir schenktest, kritisch zu secieren? 

Nicht will ich untersuchen ob im Weine 
Den du kredenztest, Droguen sich befunden; 
Dein Wein war gut; er konnte mir nur munden. 

So ungefähr würde ich Stecchettis Muse begrüsst 
haben, hätte nicht er selbst die Aufmerksamkeit auf 
sein Leben und seine Theorie gezogen. Ist es meine 
Schuld wenn ich mir die Hand an dem dichten Dorn- 
gestrüpp blutig gerissen habe hinter welchem die gol- 
denen, saftigen Früchte versteckt liegen? Doch nein, 
dies botanische Gleichniss ist zu zahm für Stecchettis 
Verse; sagen wir lieber, seine Prosa gleicht einer 
aufgewirbelten Staubwolke hinter welcher seine Verse, 
jugendliches Feuer in Waflfenglanz , heransprengen. 
Mögen sie auch vorgeben einen Kreuzzug gegen die 
Gläubigen und Züchtigen zu führen, mögen sie sich 
als eine Söldnerscbaar im Dienste grauer Theorien 
darstellen, sie kämpfen doch nur für ihren eigenen 
Ruhm, und nur ihnen selbst erkennen wir den Sieg 

zu Sie nehmen uns im Sturme gefangen; die 

ruhige Nachprüfung lässt hie und da kleine Makel 



— 207 — 

entdecken, in den Gedanken ünfolgerichtigkeiten, im 
Ausdrucke Unklarheiten und Wiederholungen, yobei 
ich von denjenigen Wiederholungen natürlich absehe 
die als künstlerisches Mittel beabsichtigt und will- 
kommen sind. Stecchettis Eigenartigkeit lässt sich 
nicht in Frage stellen und wird schon äusserlich durch 
die zahlreichen Schüler bestätigt die sich um ihn ge- 
sammelt haben; das schliesst jedoch nicht aus dass 
sich manche Anklänge an fremde wie an einheimische 
Dichter bei ihm finden, und unter den Letzteren ist 
es besonders sein Mitbürger Carducci mit dem er nahe 
Verwandtschaft zeigt. Er selbst erkennt Carducci als 
seinen Feldherrn an, erweckt ihn mit glühendem 
Schlachtgesang aus dem Schlafe: „Dein Banner weht 
im Wind, um dasselbe sind die jungen Krieger ge- 
schaart; du aber, unser Führer, unsere Stärke, schläfst." 
Noch mehr Zornesmuth bricht in dem Gedichte Justitia 
hervor, welches der Wjera Sassulitsch gewidmet ist; 
die letzten Worte: „Ihr Memmen, an die Laterne!" 
genügen eine heftige Bekrudescenz des internationalen 
Angstfiebers das uns alle ergriffen hat, zu bewirken. 
Stecchetti seinerseits gehört zu jenen naiven Ee- 
publikanern, den direkten Nachkommen des älteren 
Brutus, welche in Konvulsionen gerathen, wenn sie das 
Wort „König" hören. „Als Gattin und Tochter von 
Königen hasse ich dich, als Weib beklage ich dich," 
so schliesst eines seiner Gedichte. Nicht immer ge- 
bärdet er sich in seinen polemischen Ergüssen so 
grimmig ; meist sind es bunte, bebänderte Pfeile deren 
Spitze das Gift enthält. Und selbst dieses Gift fehlt 
in den reizenden Versen mit denen er sich gegen 
Cavallottis ziemlich heftigen Angriff vertheidigt; es 



— 208 — 

musste ja der Vorkämpfer der politischen Freiheit von 
dem Vorkämpfer der künstlerischen glimpflich behan- 
delt werden. Aus den heiteren Satiren Stecchettis 
greife ich als Musterbeispiel — auch für die Vers- 
gewandtheit — den Todtengesang „An die Austern" 
heraus, in welchem sich gastronomisches Wohlbehagen, 
liebevolles Studium des Austernlebens und Anzüglich- 
keiten gegen diejenigen welche Ihresgleichen essen, 
aufs angenehmste mischen. Allerdings schwebt uns 
dabei Giustis „Schnecke" vor, und auch unserem Dichter 
wird sie vorgeschwebt haben, besonders stimmen die 
Schlussverse des Einen: bestie costumate, bestie 
vereconde, bestie religiöse zu denen des Andern: Bestia 
astinente, Bestia di pace, Bestia esemplare. Dennoch 
bat diesem Liede Stecchetti sein Siegel so tief und 
deutlich aufgeprägt wie irgend einem. In einer ihm 
eher fremden Manier, nämlich in der des Römers Belli, 
ist das folgende Sonett abgefasst: 

Nun seh'n Sie — sagte mir der Sakristan — 
Seh'n Sie einmal sich die Planeta an, 
Seide mit sammt'nen Bäuschchen eingefasst, 
Ob das für einen simplen Pfarrer passt! 

Was meinen Sie? Ein Geistlicher, ein Christ, 
Putzt sich heraus zu Mette und Komplet, 
Als war' es ein verweichlichter Poet, 
Derweil der Papst in Rom Gefangener ist? 

Vor'm Jahre kam hierher ein Monsignore, 
Ein sehr berühmtes, hochgelehrtes Haus 
(Er schreibt sogar in den Osservatore) : 

Der ging wie sich's gehört! Der hatte Takt! 
Der arme Herr! wie sah er schmierig aus, 
Von Kopf bis zu den Füssen betabakt! 



— 209 - 

So harmlos pflegt Stecchetti nicht zu sein wenn 
es sich um Priester und Religion handelt, uns Nordi- 
schen erscheint es kaum glaublich dass in dem Lande 
wo das Weltgericht in seinem furchtbaren Ernste die 
erhabenste Darstellung gefunden hat, es zum Vorwurf 
scherzhafter oder spottender Dichtung hat werden 
können. Vielleicht ist den Lesern das Sonett welches 
Belli diesem Gegenstand gewidmet hat, in der Heyse- 
schen Uebersetzung erinnerlich; wie sticht gegen den 
dortigen Humor derjenige ab welcher Stecchettis sieben 
Liedern Dies irae innewohnt! Das Reich des Satans 
— die neueste italienische Litteratur bekundet für den 
Satan eine ganz besondere Vorliebe — das Reich des 
Satans, von den schönsten Frauen die je gelebt haben, 
bevölkert, wird als das eigentliche Reich der Herr- 
lichkeit gepriesen; auf die Frage der Kirche: Ah^ 
renuntias Satanae et omnibus operibus ejus et omnibus 
pompis ejus? gibt Stecchetti die Antwort: 

Ma le pompe di Satana 

Sono piü belle delle pompe vostre. 

Stecchetti führt gegen die Religion nicht sowohl 
die Vernunft als die Sinne ins Feld ; gegen die Fleisches- 
ertödtung die Fleischeslust, gegen das üebersinnliche 
das Leibhaftige, sodass seine antireligiösen Gedichte 
meistens zugleich erotische sind. Ein Hochzeitssonett 
endigt mit den Worten des Bräutigams an die Braut : 
„Sie haben der kalten, unterwürfigen Jungfräulichkeit, 
dem bezwungenen Fleisch, den ertödteten Sinnen ein 
ganzes Paradies verheissen; doch du, Geliebte, nähere 
dich dem Brautbett, gib dich ganz in einem Lächeln 
hin, und ich werde die schlimme Verheissung Lügen 
strafen." Anderswo drückt die Geliebte dem Dichter, 

Schuchardt, Bomauisches u. Keltisches. 14 



— 210 — 

ähnlich wie dies in Heines Bergidylle geschieht, ihre 
Besorgniss um seinen Glauben aus, und er erwidert 
ihr: „Du bist mein Engel, du bist meine Hoffnung, 
mein Glaube, sprechen wir von Liebe und nicht von 
Gott." Wir dürfen uns nicht wundern dass ein 
materialistisch-nihilistischer Dichter so singt, da selbst 
das italienische Volkslied die Geliebte an die Stelle 
Gottes setzt und vom Paradies nichts wissen will, 
wenn sie nicht darinnen sei. In einem dritten Sonette 
sagt der Dichter, er werde auf seinem Todtenbette den 
Namen „Maria" ausrufen, und man werde glauben, er 
sei bussfertig geworden; der süsse Name gelte nur 
dem Andenken an die Liebe deren er sich einst erfreut 
habe. Wiederum führt uns Stecchetti die hier ver- 
schmähte himmlische Maria in dem Gedichte „Die 
Verkündigung" vor wie sie noch unter den Irdischen 
gewandelt ist in Jugend und Schönheit; berauschende 
Wohlgerüche , verklingende Gesänge , geheimnissvolle 
Lichter giesst er um sie aus und in sie allen Liebreiz 
und auch alles Liebesverlangen. Bruna, ma hella 
nennt er sie , wie einst Tasso an eine Zofe der Her- 
zogin Leonore schrieb: 

Briina sei tu, ma hella 
Qual vergine viola. 

Die sinnliche Kraft welche sich überhaupt in 
Stecchettis Gedichten kundgibt, ist eine ganz ausser- 
ordentliche ; wir erinnern uns dabei unwillkürlich bald 
dieses, bald jenes Gemäldes. Es ist begreiflich dass 
die italienischen Kritiker von dem tizianischen Kolorit 
Stecchettis sprechen. Indessen wird im Grunde wenig 
gewonnen wenn man, wie dies so oft geschieht, das 
Dichterische in das Malerische zu übersetzen versucht ; 



— ' 211 — 

wir können dadurch höchstens die ähnliche Wirkung 
andeuten, aber nicht, was doch das Wesentlichste ist, 
die Mittel erläutern durch welche sie erzielt wird. 
Bildlich lässt sich die Beschaffenheit des sprachlichen 
Ausdrucks bei Stecchetti nicht darstellen, aber auch 
kaum nachahmend ; denn unsere Sprache erlahmt hinter 
dem kühnen und raschen Fluge der italienischen. Haupt- 
sächlich erfreut sich die letztere des, wie es scheint, 
aus dem Alterthume überkommenen Vorrechts vor den 
nordischen Sprachen rücksichtslos ohne zugleich gemein 
und niedrig zu sein; die naive Nacktheit kennt nur 
der Süden. Im Ganzen bleibt es befremdlich dass die 
Kritik, wenn sie die Dichtkunst in einer andern Kunst 
bespiegeln will, weit seltener als an die Malerei sich 
an die nah verwandte und oft zugesellte Musik wendet ; 
Stimmung und Komposition eines Gedichtes, dünkt 
mich, sind am ersten noch in einem Musikstück wieder- 
zufinden, vom Ehythmus ganz zu schweigen. Bis zu 
welchem Grade Verse musikalisch zu sein vermögen, 
hat Stecchetti in einem Gedichte gezeigt von dem die 
Wiener schon deshalb verpflichtet sind Kenntniss zu 
nehmen weil es den Titel führt : Wiener Blut. Walzer 
di Johann Strauss. Wer nie einen Walzer gehört hat 
und liest diese Verse, der wird den Walzer entdecken ; 
wer ihn kennt, dem werden die bacchischen, amphi- 
brachyschen und sonstigen Püsse in die eigenen Püsse 
fahren, Lichter und Töne werden um ihn fiittern und 
schwirren, der Kopf wird ihm schwindeln, das Herz 
pochen. Und bei solchem süssen Missbrauch der 
alkäischen Strophe wird man es auch entschuldigen 
wenn die Schritte des Dichters nicht immer ganz gleich 

sind (er misst z. B. hraccia und ciglia als Daktylen), 

14* 



- 212 - 

er nimmt sich eben Freiheiten dergleichen sie sich der 
Tänzer auch nimmt; möglich dass das Sei mi-a, 
mi-a wiedergeben soll wie der Tänzer, von einem 
Fuss auf den andern sich wiegend, auf dem Platze 
bleibt, um seiner Dame Worte ähnlichen Inhalts ins 
Ohr zu flüstern. 

Senti le note di Strauss che vihrano 
Chiare, giulive, nelV aria tepida, 
L'olezzo d£ fiori e la molle 
Voluttä che ne' volti traluce! 

So beginnt das Gedicht. Ich setze den grössten 
Theil desselben in einer üebertragung her welche 
die musikalische Ohnmacht unserer Sprache nur zu 
deutlich darthut, durch welche aber hoffentlich doch 
etwas vom Glänze des Urbildes durchschimmern wird : 

Reiche das Händchen, das weiche Händchen mir, 
Auf meine Schulter lehne dein blondes Haupt, 
Und stürzen, o Maid, wir vereint uns 
In den fröhlichen Strudel des Tanzes. 

Wie du doch schön bist! Wie glänzt dein Blick hervor 
Unter den Lidern, die halb geschlossen sind! 
Wie strahlt dir das Lächeln der Freude 
Auf dem lieblichen Mund und den Wangen! 

Im Wirbel fliegen, fliegen wir leicht dahin, 
Indem wir kosten des Schwindels Trunkenheit; 
So fliegen die Tauben zum Himmel 
Ruhig auf ausgebreiteten Flügeln. 

wie beseligt diese Kamelie, 
Welche dahinstirbt zwischen dem Busenflor, 
Der weiss ist wie sie und bewegt wird 
Von dem Wogen der schwellenden Formen! 

wie beseligt! Macht ihr den Tod doch leicht 
Der Schönheit Pulsschlag. Ach, eine Stunde dir. 



- 213 - 

Nur eine gefallen und sterben, 

Wie die Blume am Busen dir sterben! 

Wir fliegen, fliegen! Ich halt' umschlossen dich, 
In meinen Armen halt' Leib und Seele ich, 
Ja, mein bist du, mein — wie im Traume, 
Weisst du? an meine Brust ich dich drückte! 

Wir fliegen, fliegen beide in die Lüfte auf 
Bis dort wo Liebe nur zwischen Engeln herrscht. 
Bis dort wo die Liebe uns aufnimmt 
In die endlosen Bläuen des Himmels. 

Müsste nicht der Komponist dem Dichter mit einem 
Stecchettiwalzer antworten ? 

Vielleicht sind die Freuden stiller Nächte leb- 
hafter geschildert als die Freuden der Ballnacht ; aber 

um mit Stecchetti zu reden: „Es gibt junge 

Mädchen, diese schmerzliche Wahrheit muss ich aner- 
kennen", und der Kath Ferdinando Martinis : „So ver- 
heirathet doch endlich einmal diese lieben Mädchen, 
damit wir die Dinge sagen können wie sie sind", der 
Kath ist leichter gegeben als befolgt, wie die Be- 
treffenden selbst am wenigsten leugnen werden. Ich 
gehe also an den Gedichten vorüber welche im Banne 
des Hetärenthums entstanden sind. Eines und das 
andere von ihnen missfällt mir übrigens in ästhetischer 
Beziehung. Wenn der Dichter singt: 

Ich schaue bleich; sei ruhig, mein Kind, 
Das hat nichts weiter zu sagen. 
Deine Küsse und die Klösse des Wirths 
Verdarben mir den Magen, 

SO vernehmen wir Klänge wieder die vor Jahrzehnten 
uns beständig in den Ohren summten, deren wir ganz 
überdrüssig geworden sind, die uns jetzt fast alter- 
thümlich vorkommen. Sodann halte ich das Gretchen 



— 214 — 

betitelte Sonett für eine Versündigung an der Poesie 
selbst; manche holde Verführte mag einst eine alte, 
abatossende Hexe werden welche an den Kirchenthüren 
Heiligenbilder feil hält, um sich Schnaps kaufen zu 
können — aber Fausts Gretchen ist ewig jung und 
schön. Wie viel zarter ist der gleiche Grundgedanke 
in jenem Gedichte des „Neuen Tannhäuser" behandelt 
welches mit den Worten schliesst: 

Sie seufzt; ihr rothes Aug' wird trüber, 
Es zittern ihre alten Knie — 
Clara, geh'n wir rasch vorüber, 
Sonst denk' ich, du wirst einst wie sie. 

Auch eine moralische Bemerkung möchte ich, trotz 
Stecchettis strengem Verbot von Moral zu reden, mir 
erlauben, das heisst, um Missverständnissen vorzu- 
beugen, eine Bemerkung die in das Gebiet der Moral, 
nicht in das der Aesthetik gehört. Die sogenannten 
Kealisten, wie sie sich geben oder wie sie wirklich 
sind, können für die allerwunderlichsten Käuze von der 
Welt gelten. Sie lieben alle schönen Weiber; miss- 
lingt ihnen ein Anschlag, so raufen sie sich die Haare 
aus — verlässt sie die Geliebte eine halbe Stunde 
früher als sie ihr das Gleiche zu thun gedenken, so 
werfen sie sich wimmernd zu Boden — geht ihnen 
Alles nach Wunsch, so benehmen sie sich auf das 
roheste : statt den Becher ruhig beiseite zu setzen den 
sie durstig bis zur Neige geleert haben, schleudern sie 
ihn an die Wand und zertreten die Scherben. Ver- 
führt, verrathet, so viel ihr könnt, ihr Don Juans, 
aber da ihr nun doch einmal Don Juans seid, verfallt 
nicht in das ünritterliche , Knabenhafte und Lächer- 
liche! In der unwürdigsten Bolle zeigt unsern Stec- 



- 215 - 

chetti ein Gedicht welches ein Meisterstück ist. Eine 
Frau die er auf den Knien um einen freundlichen 
Blick anflehte, hat ihn zurückgestossen, aber sie 
hat jedem Andern ohne Eückhalt sich preisgegeben. 
Durch die GluthhüUe von Hass, Verachtung, Eachsucht 
erblickt man den Gluthkern der einstigen Begierde. 
Wohl mag die Einbildungskraft die höchsten Liebes- 
freuden auch dem vergegenwärtigen der sie nicht 
durchgekostet hat; allein kann man so den Hass 
schildern, wenn man nicht so gehasst hat ? unmittel- 
bar neben diesen „Gesang des Hasses'^ stelle ich das 
Idyll „Die Furt", welches keinen geringeren Werth 
besitzt, aber angenehmer wirkt, denn der Dichter er- 
zählt uns hier seine erste Liebe. Er beginnt damit 
den krystallenen, ruhig murmelnden Fluss anzurufen 
der ihn zum Dichter gemacht, der ihn die Liebe kennen 
gelehrt habe. In lieblicher, geheimnissvoller Feier- 
tagsstille breitet sich das Ufer des Flusses vor uns 
aus, mit seinem Schilficht und seinen ungeheuren 
Eichen: Jüngling und Mädchen wandeln im seligen 
Bangen unausgesprochener Liebe dahin und bleiben 
endlich verlegen vor der Furt stehen — es ist ein 
Watteau mit Paul und Virginie im Vordergrunde. 
Aber ihr Wunsch an das andere Ufer zu gelangen 
wird verhängnissvoll. 

Ich fasse Muth. „Komm'", sag' ich, „komm', ich bringe 

Auf meinem Arm dich hin.** Sie lacht, gewährt 

Es mir, als sei's das nichtigste der Dinge, 

Und hält die Augen kühn mir zugekehrt. 

Da fühl' ich dass wie eine eis'ge Klinge 

Die Wollust mir durch alle Wirbel fährt. 

Die Zunge kündigt den Gehorsam auf. 

Und in die Kehle springt das Herz hinauf. 



— 216 — 

Ich thu' die Schuhe ab, aufs Gras gebückt; 
Sie senkt die Augen und weiss doch zu schauen; 
Ich nehme in die Arme sie entzückt, 
Ich sie, die liebste mir von allen Frauen, 
Fest ihren Busen an mich angedrückt — 
Zum ersten Male dürft' ich mir's getrauen — 
Und dieser Busen zuckt und pocht und drängt. 
Dem Täubchen gleich das rauhe Hand umfängt. 

schöne Füsschen ihr, so schön beschuht, 
Ihr Auge meidend, blick' auf euch ich nieder, 
Ihr scheues Aug', in welchem zager Muth 
Und Lächeln streiten. Und die zarten Glieder 
In der erregten Finger fester Hut, 
Sie geben nach; es knattert ihr das Mieder; 
Voll Zärtlichkeit, ein warmer Hauch, umfächelt 
Mein Angesicht ihr Athem, wenn sie lächelt. 

Ein Kichern stösst, ein banges, sie hervor 
Bei jedem Schritt, fest an mich angeschmiegt, 
Und eine Locke hängt ihr von dem Ohr 
Herab, die kosend um mein Kinn sich wiegt; 
Vom Wasser blitzt ein Wiederschein empor, 
Ich seh' wie er ihr Antlitz überfliegt — 
Jetzt ward ich stark, und meine Blicke ruhten 
Nicht auf euch Füsschen mehr, ihr schön beschuhten. 

Und ich begann nun ohne Scheu und Zagen 

Ins Antlitz, in die Augen ihr zu sehn. 

Ihr süsser Leib, von meinem Arm getragen. 

Erbebte. Als wir drüben, blieb ich stehn, 

Und blendende Mysterien Hess mich tagen 

Das schlechtgeschlossene Kleid. Da musst's geschehn 

Dass Liebe mich bezwang — ich kniete nieder, 

Ich küsste ihren Mund und schloss die Lider. 

Was weiter geschehen sei, möge der Fluss er- 
zählen ; seine klaren Fluthen wissen es, sein Schilfichfc, 



— 217 — 

seine schattigen Ufer — diese Schlussstrophe bildet 
eine Variante der ersten Strophe: 

Es weiss es deine üpp'ge grüne Flur, 
Wo ich zuerst der Liebe Glück erfuhr. 

Dieses Gedicht ist reizend. Es lässt sich Manches 
daran aussetzen; zu Anfang ist Zeit- oder Ortsfolge 
etwas verwirrt, indem die Liebenden schon gleich an 
der Furt zu stehen scheinen, dann spazieren gehen und 
endlich erst an die Furt kommen — er nimmt sich 
natürlich möglichst viel Zeit sie hinüberzutragen, aber 
dessen was unterwegs geschieht, ist so viel dass in 
unserer Vorstellung das „Flüsschen" unendlich breit 
wird — ferner das verschiedenartige Lächeln und 
Lachen, die Wirkung von dem Wiederschein des Was- 
sers den er auf ihrem Gesichte sieht, während seine 
Augen auf ihren Füssen haften u. s. w. ; dennoch 
bleibt das Gedicht reizend. Auf jene Nachtstücke wo 
hinter geschlossenen Thüren sich alle Dämonen der 
Leidenschaft entfesseln, folgt hier ein Tagstück wo 
alle hellen Mächte der Natur huldvoll der jungen Liebe 
zulächeln, wo das kühlste Element es übernimmt den 
inneren Brand zu schüren, dass er zum Ausbruch 
kommt ; aber über das gerade worüber sonst der Dichter 
den Vorhang aufzieht, lässt er ihn hier fallen. 

In weiteren Gedichten Stecchettis sehen wir das 
Sinnliche noch mehr gedämpft, und es ist die an- 
muthige Wendung des Gedankens welche uns bezaubert. 
Zu dieser Klasse gehört das Gedicht welches mir von 
allen am meisten gefällt: 

Die Rose sprach: „Gib mir, o Sonnenschein, 
Die wärmsten, brünstigsten von deinen Küssen, 



— 218 — 

Senk' allen Maienduft in mich hinein, 

Und was ich bin, will ich dir danken müssen! 

Ja, mach' zur schönsten mich von diesen Rosen! 
Nicht für der Schmetterlinge üpp'ges Kosen, 
Nicht für die Sättigung gefräss'ger Bienen 
Schuf mich der Lenz; ich soll der Liebe dienen. 

Ein holdes Mädchen trägt nach mir Verlangen, 
Ihr Hochzeitstag erblickt mein letztes Prangen, 
Denn ich bin's welche ihren Busen schmückt. 

Dann sink' ich von dem jungfräulichen Mieder, 
Auch ich ein Opfer, auf das Brautbett nieder 
Und sterb' mit ihrer Unschuld, vollbeglückt.*' 

Wenn ich bei der üebersetzung dieses und anderer 
Sonette von der überlieferten Eeimfolge abgegangen 
bin, so meine ich sicherlich etwas Erlaubtes, vielleicht 
sogar etwas Gerechtfertigtes gethan zu haben. Die 
Beschaffenheit und die Wirkung der deutschen Beime 
sind von denen der italienischen verschieden; daher 
kommt es dass die deutsche Sonettform der italienischen 
zwar gleichsteht, aber hart und steif ist, statt weich 
und nachgiebig, wie diese, sodass sie insbesondere jeden 
ungezwungenen, tändelnden, schalkhaften Ton beein- 
trächtigt. Ich rede nicht von der Schwierigkeit des 
Dichters hineinzulegen, sondern von der Schwierigkeit 
des Hörers herauszufinden. 

Endlich verwandelt sich unter der kalten Hand 
des dräuenden Todes dem Dichter alle Sinnenlust in 
Sehnsuchtsschmerz; ihm der nur an den Augenblick 
glaubte, nur an das was er berührte, zeigt sich nun 
doch jenseits der furchtbaren Schranke ein bleicher 
Wiederschein des rosigen Lebens, ein tröstliches Schat- 
tenbild. Er bittet die Geliebte im Frühjahr den Kirch- 



— 219 — 

hof zu besuchen ; auf seinem Grabe werde, von seinem 
Herzen genährt, ihre Lieblingspflanze blähen, der 
Majoran : 

Gewähr' ihr einen Kuss, und wie im Leben 
Bei deinen Küssen mein Gebein erbehte, 
So wird es auch im Grab vor Liebe beben. 

Oder er sagt, die Geliebte werde, wenn die Blätter 
fallen, seinen Grabstein mit Blumen umgeben finden; 
mit diesen Blumen, die aus seinem Herzen entsprossen 
seien, möge sie ihr blondes Haar schmücken: 

sie sind 
Was ich an Liedern dachte, doch nicht schrieb, 
Was ungesagt an Liebesworten blieb. 

Aber dann wiederum zweifelt er an der Treue der 
Geliebten. Im Lenze werde die Liebe von einem Dinge 
zum anderen ihren Flug nehmen und auch zu seinem 
Grabe gelangen, durch ihre Kraft werde aus seinem 
Herzen eine Rose erwachsen, wie daraus bei Lebzeiten 
seine Dichtung erwachsen sei: 

Die Lieder meines Herzens pflücktest du, 

Doch furcht' ich, wirst du nicht die Blume pflücken; 

Wer pflückt die Blumen in des Kirchhofs Ruh'? 

Es wird dich morgen neue Lieb' beglücken, 

Und Andern wirst du deine Küsse schenken, 

Dein Sinnen all — und mein nicht mehr gedenken. 

Sogar die Stimmen der Abgeschiedenen lassen 
sich, nach echt romantischer Art, bei Stecchetti ver- 
nehmen. Jetzt schildert er uns wie er in einer stür- 
mischen Nacht, auf sein Kopfkissen gestützt, in der 
Ferne ein Weinen, eine unversöhnliche Klage vernimmt: 

Du rufst mich, du verlangst mich, arme Todte; 



— 220 — 

jetzt versetzt er sich in eine späte Zukunft: die Ge- 
liebte ist alt geworden und liest am Kaminfeuer, sie 
glaubt im Rauschen des Windes seine Stimme zu 
hören, welche sie an ihre junge Schönheit erinnert und 
sie in sein Grab zur gemeinsamen Euhe einladet. Am 
besten scheint mir folgendes Sonett dieses geheimniss- 
volle Eufen und Mahnen auszudrücken: 

Dient bei dem bleichen Schimmer schwanker Sterne 
Dir dein Balkon zu trautem Aufenthalt, 
Dann mag dereinst aus weiter, weiter Ferne 
Dich eine Stimme grüssen, die verhallt. 

"Wo ich zuerst dich sah, auf jener Au 
Magst eines Tags du eine Thräne finden; 
Zwar wirst du glauben, es sei nichts als Thau, 
Und die bethaute Blum' ins Haar dir binden. 

Was, flüss'gem Silber gleich, im Zitterlicht 
Der Sonne dir erblinkt, nein, Thau ist's nicht; 
Es ist die Spur von meinen herben Klagen. 

Der Wind sei jene Stimme, wirst du sagen; 
Nein, ich bin's! ich, der, wann sein Leben endet. 
Den letzten Seufzer, letzten Kuss dir sendet. 

Es müssen diese Proben genügen in einem Falle 
wo es sich nur um Proben handeln kann. Das Farben- 
spiel des chamäleonartigen Wesens Guerrini-Stecchetti- 
Mercutio bis in seine feinsten Nuancen zu verfolgen, 
bleibt dem Kritiker versagt, weil dem Leser vorbe- 
halten, üeberhaupt kann die Kritik eine Kunst- 
schöpfung nicht völlig aufsaugen; es bleibt ein Rest 
von Unbegreiflichem und Unbeschreiblichem, welcher 
vielleicht ebenso bei der Entstehung des Werkes die 
Hauptrolle spielt wie bei dem Eindruck den es hinter- 
lässt. Um diese Unzulänglichkeit etwas auszugleichen, 
sollte die Kritik die Stärke des empfangenen Eindrucks 



— 221 — 

möglichst ungeschwächt fortpflanzen, was sie auch da 
wo sie mit feinstem Verständniss erfüllt ist, nicht immer 
thut. In der geistigen Welt finden wir die grossen 
Gesetze der Natur wieder ; nicht nur einen Stoffwechsel, 
auch eine Erhaltung der Energie gibt es da. Wie sich 
die eine Bewegungsart in die andere umsetzt, Elek- 
tricität in Wärme, Wärme in Stoss, so die eine Art 
der schaffenden Kraft in die andere, die dichterische 
in die musikalische, die musikalische in die malerische, 
und wie die Bewegungsenergie zur ruhenden oder 
potentiellen Energie wird, so ruft die schaffende Kraft 
die bloss geniessende hervor. Die Menschen welche 
gemessen ohne den Hintergedanken eigenen Schaffens, 
pflegen besser und tiefer zu geniessen und füllen daher 
im geistigen Haushalt zwar unscheinbare, aber wich- 
tige Posten aus. Denn ihr Genuss wirkt doch auf die 
eine oder andere Weise weiter; die ruhende Energie 
setzt sich gelegentlich wieder in Bewegungsenergie 
um. Ein Freund welcher Feinschmecker in allen Dingen 
ist, hat mich zuerst mit Stecchetti bekannt gemacht, 
indem er mir einige von seinen besten Gedichten vor- 
las; dabei funkelte sein Auge als ob er das zarteste 
Polio vor sich hätte, seine Zunge tanzte als ob feuriger 
Dalmatiner darüber glitte, und es ward mir recht an- 
schaulich wie das Wort „Geschmack" zu seiner über- 
tragenen Bedeutung gelangt ist. Widmung und Wunsch 
stehen an der Spitze dieses meines Artikels ; Widmung 
und Wunsch mögen an seinem Schlüsse stehen. Ich 
widme ihn dem Freunde welcher ohne Wissen und 
Willen ihn veranlasst hat, damit, wenn ihm ein anderer 
Trunk von gleicher Güte vorkommt — mit oder ohne 
Schaum — , er ihn mir wiederum kredenze. 



XII. 

Reim und Rhythmus im Deutschen 
und Romanischen. 

Vor einiger Zeit erschien ein geistvoller Aufsatz 
B. Delbrücks über den deutschen Keim.*) Einige 
und gerade die wesentlichsten Stellen in demselben 
regen mich zum Widerspruch an, nicht weil eine neue, 
sondern weil die herrschende Ansicht in ihnen nieder- 
gelegt ist. 

Es wird als eine Forderung ausgesprochen „dass 
in die Reimstelle möglichst diejenigen Wörter gesetzt 
werden welche die wichtigsten, von dem Verstand oder 
der Empfindung am hellsten beleuchteten Wörter ent- 
halten". Worauf gründet sich diese Forderung, welcher 
vor Allen der deutsche Dichter nachkommt und nach- 
zukommen vermag? Ist sie eine allgemein gültige? 
oder leitet sie sich nicht erst selbst aus der thatsäch- 
lichen Beschaffenheit des deutschen Reims her? unser 
Gehör ist nicht das der Italiener, nicht mehr das 
unserer Vorfahren, weder an Erfassungs-, noch an 
ümfassungskraft ; es unterscheidet nicht so fein, es 
hält Eindrücke nicht so lange fest. Um uns den Reim 
einzuprägen, heben wir ihn möglichst stark hervor, und 
diese Sitte reicht bis in den eigentlich künstlerischen 



*) „Im neuen Reich« 1872, I. 



— 223 — 

Vortrag hinauf. Kommt dabei dem äusserlichen Be- 
dürfniss der innere Gehalt des Eeimworts entgegen, 
so wird die Aufgabe der Zunge und des Ohres er- 
leichtert. Daher besitzt der Deutsche in der That 
eine grosse Vorliebe für bedeutungsvollen Reim. Aber 
auf diese Vorliebe darf man nicht, wie Delbrück es 
thut, mit einem Gesetze antworten, und am aller- 
wenigsten darf man ein solches Gesetz in die Form 
von Superlativen kleiden. Andere mögen anders fühlen, 
mir däucht eine lange Reihe von Versen die alle ihren 
Schwerpunkt am Ende tragen, unerträglich eintönig, 
wie die Musik eines Schmiedehammers. Glücklicher- 
weise ist der Fall auch selten; üoethe, auf den man 
sich allzugern beruft, liebt es allerdings nicht ganz 
werthlose Wörter in den Reim zu bringen, aber auf 
das mannigfachste lässt er die Stellung der gewich- 
tigsten Silbe im Verse wechseln. Von Gedichten 
welche zum Gesang bestimmt sind, sehe ich ab; da 
greift eine fremde Kunst mit fremdartigen Ansprüchen 
herüber. 

Doch es gibt, den Reim einzuprägen, ein noch 
wirksameres Mittel als den Accent auf ihm; das ist 
die Pause nach ihm. Man lese die beiden Goethe- 
schen Zeilen: 

Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle 
Am Mittag wird, so wirf ihn in die Luft! 

Schwüle und Luft sind hier die beiden stärkstbetonten 
Wörter; aber jenes, welches eng mit dem Folgenden 
zusammenzusprechen ist, wird nicht nur weniger fest 
im Ohre haften als dieses, welches doppelt hervortritt 
(als letztes, wie als vornehmstes Wort seines Satzes), 
sondern weniger sogar als ein anderes und unbedeu- 



— 224 — 

tenderes Wort nach welchem die Stimme ausruhen 
darf. Man hat gemeint, dem Ende eines Verses müsse 
ein Haltepunkt der Stimme entsprechen. Es ist dies 
ein Irrthum. Ebensowenig wie der Versfuss mit dem 
Worte, braucht der Vers mit dem Satze oder Satz- 
gliede abzuschliessen. Alle möglichen Gattungen un- 
gereimter Verse bezeugen es auch für das Deutsche; 
Lessing in seinem „Nathan" hat das Zusammenfallen 
metrischer und syntaktischer Abschnitte geradezu ver- 
mieden. Zwischen gereimten Versen jedoch, wenn sie 
nicht ganz kurz sind, kommt das üebergreifen untrenn- 
baren Wortgefüges unserer Zunge und unserem Ohre 
beschwerlicher und bedenklicher vor. Wir müssen 
durch eine stärkere oder langsamere Aussprache des 
Reimwortes die fehlende Pause nach ihm ersetzen, 
eine um so schwierigere Aufgabe je leichter dieses 
Wort wiegt. 

Franzosen und Deutsche gehen in allem was die 
Dichtkunst betrifft, sonst weit auseinander; ihre Be- 
handlung des Reims, welchen Frau von Stael das Echo 
des Gedankens nennt, hat ein wunderlicher Zufall nahe 
zusammengerückt. Bei den Franzosen ist es das Vorn- 
überstürzen der Wörter und Sätze welchem der Reim 
seine wichtige Rolle im Vers verdankt. Das enjam- 
hement — so heisst hier die Verklammerung zweier 
Verse durch den Sinn — kam nach dem Muster der 
Alten zu Ende des Mittelalters auf und wurde noch 
von Ronsard häufig angewandt; aber dank Malherbe 

Les stances avec gräce apprirent ä tomber, 
Et le vers sur le vers n'osa plus enjamher. 

Die Romantiker versuchten, wie alles Verpönte, es 
wieder zu Ehren zu bringen. Es liegt auf der Hand 



- 225 ,- 

dass — besonders im Französischen — mit dem 
enjambement auch eine ganze Reihe allzudürftiger 
Beimwörter ausgeschlossen werden, und dass also das 
eine Mittel zur Hervorhebung des Eeimes dem anderen 
Vorschub leistet. 

Anders denken die sudlichen Bomanen über den 
Beim. Bei ihnen zeigt sich der Beim nie in so ver- 
nachlässigter Kleidung wie oft bei uns; trotzdem er- 
weisen sie ihm nicht die fürstlichen Ehren wie wir 
und die Franzosen. Liest ein Deutscher italienische 
Verse vor, so kann er kaum der Versuchung wider- 
stehen auch vor nichtssagenden Beimwörtern Front zu 
machen. Der Italiener, das heisst der gebildete, gleitet 
ohne jeden Anstoss über sie hinweg, ja dämpft sogar 
die Aussprache der gewichtigeren etwas herab, sodass 
sich ein deutscher Zuhörer oft nur mit Mühe den Beim 
herausfischt, um sich ki*ampfhaft an ihm festzuhalten. 
So sinnfälliger, fast sage ich grober Mittel bedarf es 
uns eine bestimmte poetische Form oder die poetische 
Form überhaupt zum Bewusstsein zu bringen. Durch 
Verklammerungen wird uns die unbefangene Freude 
an Vers und Beim fast gestört ; dem Südländer dienen 
sie zu ganz besonderer Verschönerung seiner Oktaven, 
und er versagt sich auch die kühnsten nicht. Bei dem 
ernsten Tasso sind sie noch zahlreicher als bei dem 
heiteren Ariost. In der Gerusalemme Uherata mögen 
wir tadeln dass der Vers mit dem Artikel abbricht: 

E quinci il petto e le mammelle, e de la 
Sua forma insin dove vergogna cela ; 

im Brief und in der Satire erachte ich jede Freiheit 
der Art für gestattet. Solche leichte Dichtung erheischt 
auch bei uns ein häufiges Hinüberspielen des Gedankens 

Schachardt, Bomaniiches n. Keltisches. 1^ 



— 226 — 

aus einem Vers in den anderen, oder sie ist nicht das 
was sie sein soll. Gar wohl weiss dies einer unserer 
neuesten Dichter der manche hesperische Kunst so 
erlernt hat dass sie ihm angeboren scheint: wie eine 
Lacerte raschelt sein „Salamander" dahin, in an- 
muthigen, doch unberechenbaren Windungen. 

um Alles in Einem zu sagen, es lässt sich im 
Wesen der Schönheit nicht begründen dass „Form 
und Gedanke an derselben Stelle gipfeln müssen", 
dass nothwendigerweise ein gereimtes Gedicht „wie 
eine Perlenschnur sei, zusammengefügt aus lauter 
selbständigen Bildern". Das inhaltsschwerste Wort 
mag bald im Beim, bald ausserhalb desselben stehen, 
der Gedanke bald mit dem Vers enden, bald über ihn 
hinausreichen; kreuzen sich hier Sinn und Form, so 
fhut ihr Zusammengehen dort um so grössere Wirkung, 
und es wird das verhütet was von allen Dingen das 
Lästigste, die Eintönigkeit. 

Wenn daran liegt dass das Reim wort das bedeut- 
samste des Verses, so muss nicht minder daran liegen 
dass die betonte Eeimsilbe die bedeutsamste des Wortes 
sei. Als bedeutsamste Silbe haben wir aber die Stamm- 
silbe zu betrachten, und da im Deutschen fast aus- 
nahmslos auf dieser der Ton ruht, so erscheint es hier 
unmöglich die zweite Forderung nicht zu erfüllen. Nach 
Delbrück sind die italienischen und spanischen Reime 
geistloser als die deutschen, weil unter ihnen die Reime 
auf den Endungen überwiegen. Diese Beobachtung 
muss ich für eine iiTige erklären. Im Italienischen 
verhält sich der Endungsreim zum Stammreim durch- 
schnittlich wie 3 : 10. Im Spanischen ist in dieser 
Beziehung die Verschiedenheit zunächst zwischen den 



— 227 — 

einzelDen Dichtungsarten, dann zwischen den einzelnen 
Dichtern eine auflfallende; für Brief und Satire z. B. 
ergibt sich das Verhältniss von 7 : 10, für die epische 
Stanze ist der Bruch im Ganzen weit beträchtlicher, 
die Schwankungen jedoch ausserordentlich stark. Bei 
Manchen finden wir ihn 8:10, bei Andern, z. B. 
bei Ercilla 20 : 10. Im Reim kommen von den Par- 
tizipien der J-konjugation auf 100 bei Ercilla etwa 
ein Dutzend bei Ariost, obwohl ihre Häufigkeit in den 
beiden Sprachen selbst keine sehr starke Differenz auf- 
weist. Das Französische stellt sich ungeföhr in die 
Mitte zwischen das Italienische und das Spanische. 

Doch wir wollen uns nicht weiter mit der Statistik 
befassen, deren Zahlen uns wie Bleigewichte abwärts 
ziehen. Nur sei noch bemerkt dass wir, um jedem 
Einwand vorzubeugen, den Ausdruck „Endung" in 
möglichst weitem Sinne genommen, dass wir nämlich 
bis in das Lateinische zurückgegriffen haben. Für 
den vorliegenden Zweck hätte eigentlich nur das als 
Endung zu gelten was noch wirklich als Endung an 
einem ebenso deutlichen Stamm gefühlt wird. Wir 
können dies nicht näher auseinandersetzen, wenn wir 
nicht aus der Scylla in die Charybdis, d. h. aus der 
Statistik in die Linguistik gerathen wollen. Auf 
keinen Fall sind die französischen prestige und prodige 
endungsbetonte Wörter, wie Delbrück behauptet. Dass 
den romanischen Sprachen die Abwechslung zwischen 
Stamm- und Endungsreim gegönnt ist, das gerade 
rechne ich ihnen als Vorzug gegenüber dem Deutschen 
an, das an den Stammreim gebunden ist. Wie kann 
man das Englische den übrigen Sprachen voranstellen, 

da „es von seinen Wörtern fast nichts übrig gelassen 

15* 



— 228 — 

als die Stammsilben'^ ! Besitzt, nach Allem, das sinn- 
liche Element des Keims im Vergleich zum geistigen 
so geringe Bedeutung dass der erste beste Gleichklang 
auch der beste ist, dass der weibliche Reim trotz 
seiner Anmuth nichts vor dem männlichen voraus hat, 
und wiederum der volle und mannigfache Vokalauslaut 
der italienischen Endungen nichts vor dem matten und 
gleichartigen der deutschen? 

Ich hatte mich mit diesen Bemerkungen über 
den Reim begnügen wollen, aber während ich sie 
niederschrieb, ward mir ein Anlass ihnen auch einige 
über den Rhythmus hinzjazufügen. Als Beleg dafür dass 
die Aesthetik noch in dem jugendlichen Alter einer 
nationalen Wissenschaft steht, fielen mir folgende 
Zeilen Vischers in die Augen: „Die romanischen 
Völker zeigen in dem ganz unorganischen Verhältnisse 
worein sie das Sprachmaterial zu der Versform setzen, 
dass mit der Verstümmelung, Mischung und Auflösung 
des Lateinischen woraus jenes hervorgegangen, auch 
die Innigkeit des rhythmischen Gefühles verloren ge- 
gangen ist. Sie zählen nur die Silben und spannen, 
unbekümmert um den Wortaccent, grossentheils selbst 
um die Quantität [ — ?], den Vers darüber." In alle- 
dem ist nicht ein Wort richtig. Die alte Mähr von 
dem lateinischen Scherbenberge, dem Untergründe alles 
romanischen Unkrauts verdient es nicht angefochten 
zu werden, wohl aber die in der Wissenschaft ge- 
bräuchliche Bezeichnung der romanischen Metrik als 
einer silbenzählenden. Dieser Ausdruck kann nicht 
bedeuten dass ein bestimmter Vers eine bestimmte 
Silbenzahl hat (das gilt auch von den meisten deutschen 
Versen), sondern dass diese Silbenzahl sein einziges 



— 229 — 

Gesetz bildet, wie ja auch Vischer deutlich genug 
ausspricht. Wer aber das glaubt, der kennt keine 
romanischen Verse; denn er weiss nichts von Vers- 
accenten und Caesuren. Man vergröbert den Irrthum 
noch dadurch dass man den Ton auf das Wort „zählen" 
legt und dem rohen Silbenzählen das feinere Silben- 
wägen gegenüberstellt. Wenn jedoch die Romanen 
Silben zählen, so zählen andere Völker Füsse oder 
Hebungen. Und ein deutscher Sonettenschmied ge- 
braucht immerhin eher die Finger zu seinen fünf 
Hebungen als ein italienischer zu seinen elf Silben. 
Schon manche der Besseren unter uns haben unwissent- 
lich Lieder mit einem Fusse zu wenig oder zu viel in 
die Welt gesetzt und sie durch den Druck geechtigt; 
in den Kneipen Trasteveres wohnte ich öfters gemüth- 
lichem Wettgesange bei, wehe dem der in der dich- 
terischen Hitze sich nur um eine Silbe irrte! Aha, 
wird man sagen, auch hier jene mechanische Fertigkeit 
der Romanen ! aber sie verbirgt den Mangel an Innigkeit 
des rhythmischen Gefühles. Wie steht es nun damit? 
Ueber die Grundsätze der romanischen Metrik wäre 
ein langes Kapitel zu schreiben; hier sind mir nur 
wenige Worte gegönnt. Entschiede, wie so Viele 
meinen, im Romanischen allein die Silbenzahl, woher 
käme es dann dass 

Tomate screni, 
Begli astri d'amore 

ganz andere Verse sind als 

Oh Dio! cht sa se mal 
Ti sowerrai di me! — ? 

In Versen derselben Gattung erscheint immer der- 
selbe Rhythmus angedeutet. Der beliebteste italienische 



- 230 - 

Vers, der endecasUlaho piano, ist jambisch gefärbt ; er 
kann völlig zu einem jambischen, nie zu einem tro- 
chäischen Verse werden. Seine zwei Hauptaccente sind 
die eines jambischen Verses; der eine ruht fest auf 
der zehnten Silbe, der andere schwankt zwischen der 
vierten, die aber begünstigt wird, und der sechsten. 
An allen übrigen Stellen braucht die Wortbetonung 
nicht mit dem Rhythmus des jambischen Verses über- 
einzustimmen. An einer derselben, vor oder nach dem 
ersten jener Hauptaccente, unterscheidet man noch 
einen (jambischen oder trochäischen) Nebenaccent. 
Welche Mannigfaltigkeit wird durch die Verschränkung 
rhythmischer Geschlechter erzeugt ! welches Werkzeug 
dem Dichter in die Hand gegeben die wechselnden 
Stimmungen und Gedanken oder nur diesen Wechsel 
überhaupt in der metrischen Form zu versinnbildlichen ! 
Petrarca schildert zu Beginn eines Sonetts wie er, in 
Gedanken versunken, die einsamsten Gefilde durchmisst, 
und er bedient sich dazu fast reiner Jamben: 

Solo e pensoso i piü deserti cennpi (4, 8, 10) 
Vo misurando a passi tArdi e lenti (4, 8, 10) 
E gli occhi porto per fuggir intenti, (4, 8, 10) 
Dave vestigio umsin Varena stMnpi. (4, 6, 10) 

Man vergleiche damit die erste Strophe von Ariosts 
dreizehntem Gesänge: 

Ben furo awenturosi i cavalieri (6, 10) 
Ch' erano a quella etk, chl nei vaUoni, (4, 6, 10) 
Neue scure spdonche e hoschi fieri, (3, 6, 10) 
Tane di aerpi, d'orsi e di leoni, (4, 6, 10) 
Trovavan quel che nd palazzi altieri (4, 8, 10) 
A pena or trovar puon giudici buoni: (6, 7, 10) 
Donne che ndla lor piü fresca efadc (6, 8, 10) 
Sien degne d'aver titol di heli9i.de. (2, Ü, 10) 



— 231 — 

Besonders lebendige Wirkung, gleich der Brandung 
zwischen entgegengesetzten Wellenströmen, übt die 
unmittelbare Nachbarschaft der beiden ersten Accente 
aus, wie hier im sechsten Verse und im Anfangsverse 
des Furioso: 

Le donne, i cavalier, Tarme, gli amori. 

Auch die Verschmelzung zweier Vokale zu einer 
Silbe fördert nicht wenig den anmuthigen Fall ita- 
lienischer Verse. Wie hölzern würde der schöne Vers 
Dantes : 

Amor che a'nullo amato amar perdona 

klingen, wollten wir, nach Art der Lateinschüler, die 
Endvokale von che, nullo, amato wirklich elidieren. 

In deutschen Versen bleibt sich der Ehythmus 
immer gleich. Aus Platens trochäischem Tetrameter: 

Weh den Persern ! Römer kommen, Römer zieh'n im Flug heran 

schallt uns der militärische Geschwindschritt der an- 
rückenden Eömer entgegen ; wie aber, wenn ganz nach 
demselben Takte „die stolze Frau" 

— im stillen Tibur ihre Schmach in Träume wiegt? 

Ja wahrhaftig, unsere Verse gleichen gut ge- 
drillten Soldaten die stramm einhermarschieren, einer 
wie der andere; daneben erscheinen die italienischen 
Verse wie gewandte Tänzerinnen von denen jede nach 
eigenem Gutdünken dahinzugaukeln scheint, in der 
That aber nur Variationen einer und derselben Grund- 
figur ausführt. Was wir uns auch sonst auf deutsche 
Schulung gegenüber romanischer üngebundenheit zu- 
gute thun dürfen, hier doch gewiss nichts! Während 
im Italienischen der Grundrhythmus des Verses über 



— 232 — 

dem Sprachmaterial auf und niederschwebt, ist im 
Deutschen Beides fest aneinander geschmiedet; kann 
man dies Verhältniss als organisches, diesen Zwang 
als Innigkeit bezeichnen ? Wenn nun ein Italiener von 
deutschen Leierversen spräche, nachdem wir so oft von 
italienischen Leiermelodien gesprochen haben ? Unsere 
Uebersetzer bleiben daher weit hinter dem leichten 
Fluge der italienischen Stanzen zm-ück. Hier und da 
hat zwar Einer die ausländische Freiheit nachgeahmt, 
und es mag überhaupt besser sein dem Wortton wo 
er sich einmal gegen den Verston spreizt, sein Kecht 
zu lassen als die Sprache mit eisernem Drucke in 
das metrische Schema zu pressen. Der zweite der 
beiden Eückert'schen Verse: 

Ich hätte Herzzerreissendes zu singen, 
Wollt' ich enthüllen was tief in mir lodert 

wird erträglicher, wenn wir ihn in der (angedeuteten) 
italienischen Weise lesen als wenn wir „wollt' ich" 
und „tief in" zu jambischen Spondäen vergewaltigen. 
Doch wird Solches die Meisten fremdartig anmuthen, 
und allerdings ist unserer Sprache von Haus aus ein 
anderer Weg gewiesen Leben und Buntheit in einen 
Khythmus zu bringen. Ganz ähnlich wie Griechen 
und Römer durchaus an der Zahl der Füsse festhielten, 
der Darstellung des Fusses aber mehr als eine Mög- 
lichkeit verstatteten, so kam es auch unseren Vor- 
fahren nur auf die Zahl der Hebungen an, die Senkungen 
behandelten sie in freier Weise, ja unterdrückten sie 
gänzlich. Unsere heutigen volksthümlichen Masse haben 
nur einen kleinen Theil der alten Gelenkigkeit gewahrt, 
und doch zeigt schon die metrische Gleichheit etwa 
zwischen „Du hast Diamanten und Perlen" und „Du 



— 233 — 

hast die schönsten Augen", wie viel unserer Kunst- 
dichtung entgeht. 

Vielleicht sagt Jemand, es seien die deutsche und 
die romanische Metrik überhaupt nicht dazu geeignet 
miteinander verglichen zu werden ; jede entspreche am 
Besten einem eigenartigen und ursprünglichen Bedürf- 
nisse. Er könnte Kecht haben. Eher würden der 
Himmel und die Erde zwischen denen wir geboren, 
ihre Macht über uns verlieren als die Weise die an 
unserer Wiege ertönte, und das Lied das wir zuerst 
lallten. Wollen wir aber einmal vergleichen, so müssen 
wir uns nicht bloss so weit über den heimischen Boden 
erheben dass wir gerade auf das fremde Gebiet hin- 
lugen können, sondern wir müssen dem einen so fern 
sein wie dem anderen. Von solcher Höhe aus werden 
wir der äusseren dichterischen Form wenigstens der 
Italiener und Spanier den Vorzug vor der der Deut- 
schen zuerkennen; denn anziehender und anregender 
als die feste und starre, wirkt auf uns die freie und 
feine Beziehung jener Form zum sprachlichen Stoffe, 
das Lösen und Binden, der Widerstreit und die Ver- 
söhnung zwischen beiden Theilen. Man hat das sonst 
kaum bestritten. Der alte Wieland drückte es in so 
derber Weise aus dass es Gervinus eine Schande nennt. 
Heutzutage dürfte man eher geneigt sein der eben 
gemachten Behauptung entgegenzutreten, und der 
Grund hiervon soll noch auf wenige Augenblicke unsere 
Aufmerksamkeit fesseln, die er eigentlich in höherem 
Masse verdient als die Sache selbst. 

Wir lieben es uns von Chauvinismus ganz frei- 
zusprechen und sind im Irrthum. Der Chauvinismus 
äussert sich, wie ja durchaus natürlich ist, bei uns 



— 234 — 

anders als bei unsern Nachbarn; dort prägt er sich 
im aufgeregten Gebärdenspiel aus, hier verbirgt er sich 
in ein überlegenes Lächeln das um die Mundwinkel 
zuckt. Er treibt die Franzosen zur Unvernunft, uns 
zur üebervernunft, d. h. zur Spitzfindigkeit. Er ist 
bald heisses, bald kaltes Fieber. Wer gewohnt ist, 
einen grösseren Theil unserer Tages- und Wochen- 
presse zu durchblättern, wird mir beipflichten. Ein 
Gegensatz besonders zwischen Romanismus und Ger- 
manismus wird fast zu Tode gehetzt, der von Form 
und Gehalt, oder Schein und Wesen. Manche Kunst- 
richter scheinen selbst erst vom Aeusseren auf das 
Innere zu urth eilen; wenn man sie hört, sollte man 
glauben dass in jeder plumpen Ente, wie in der des 
deutschen Volksmärchens, eine wunderschöne Königs- 
braut verzaubert stäke, und in jedem blendenden Weib, 
wie in der Alcina des italienischen Sängers, eine ver- 
ruchte, hässliche Hexe. Wunderbar übrigens dass 
Keiner noch bei dem so abgebrauchten Gleichniss von 
Schale und Kern an die Steinfrüchte gedacht hat. Ist 
es doch oft — wenn wir überhaupt jenen starren 
Gegensatz gelten lassen — gerade die Form an welcher 
sich die schöpferische Kraft erprobt. Wie mancher 
Schriftsteller leiht seinem Helden die schönsten, die 
geistreichsten und rührendsten Reden, aber keinen 
Tropfen Blutes an dem sich unser Blut zu erwärmen 
vermöchte; wie mancher Maler macht sein Gretchen 
zu einem Ausbund von Innigkeit und aller weiblichen 
Tugend und lässt es ihr an dem Wesentlichsten fehlen 
um einen Faust zu entflammen. Gewiss wir Deutschen 
sind gründlich; doch wenn wir fünfmal auf den Grün i 
gehen um uiib köstliche Perlen heraufzuholen, so thun 



— 235 — 

wir es das sechste Mal einfach deshalb weil wir nicht 
schwimmen können. Nun, wenn unsere Neigung und 
unser Vermögen so beschaffen sind, warum sollten wir 
den Eomanen in Dingen die zur Form gehören, den 
Kuhm zu schmälern trachten? Sie sind in solchen 
unsere Lehrmeister gewesen und können es zum Theil 
noch sein. Oder hätten wir ganz vergessen wie viel 
starres Eis uns Süd- und Westwind hinweggethaut, 
wie viel herrliche Knospen sie uns geöffnet haben? 



XIII. 
Liebesmetaphern. 

Monsieur Jourdain verwundert sich sehr, als man 
ihn belehrt, er rede Prosa, wenn er sagt: Nicolette, 
donnez-rnoi mon bonnet de nuit, und das Publikum 
ergötzt sich weidlich an seiner Verwunderung. Würde 
aber nicht wiederum der grösste Theil des Publikums 
sich sehr verwundern, wenn man ihm mittheilte dass 
nicht nur Monsieur Jourdains Prosa, sondern alle Prosa 
eigentlich nichts Anderes ist als Poesie? Eines der 
Hauptmittel durch die der Dichter wirkt, sind die 
abgekürzten Gleichnisse, die Metaphern. Auch sie un- 
terliegen jenem allgemeinen Gesetze welches die An- 
gewöhnung und die Vererbung auf die Anpassung 
folgen lässt. Sie werden Gemeingut der Sprache, 
und so lange sie noch auf deren Oberfläche liegen, 
bleiben sie ohne Weiteres jedem Auge in ihrem wahren 
Wesen erkennbar; aber nur das sorgsam prüfende, ja 
künstlich geschärfte Auge entdeckt dass unser Ge- 
sammtschatz von Wörtern und Wendungen in ähnlicher 
Weise und fast in gleichem Grade aus dichterischen 
Bildern, den Schöpfungen vieler Jahrtausende zusam- 
mengesetzt ist wie aus Organismen der Vorwelt das 
Kreide- oder das Steinkohlengebirge. Die Wissenschaft 
hatte bis jetzt mit dem leiblichen Leben der Sprache 



— 237 - 

allzu viel zu thun um tiefer in deren Seelenleben ein- 
zudringen, insbesondere die Bildung der Metaphern 
zu untersuchen, was doch um so verlockender erscheint 
als hier mehr als bei andern Untersuchungen die 
Phantasie als Mitarbeiterin herangezogen wird, und 
wir uns veranlasst sehen unsere Kraft im Nachfühlen 
und Nachschaffen zu erproben. Nun hat diese Aufgabe 
in der That einen Gelehrten, den Dr. Fr. Brink- 
mann in Altena verlockt. Er macht die Metaphern 
zum Gegenstande eines grössern Werkes, dessen erster 
Band, über „die Thierbilder der Sprache", vor einem 
Jahre an den Tag getreten ist. Wir finden zwar in 
diesem Buche eine etwas schulmeisterliche Breite und 
eine nicht ganz schulmeisterliche üngleichmässigkeit 
im eitleren, einige Irrthümer und einige Vergesslich- 
keiten (wie bei dem spanischen Ha habido alli la 
de San Quintin die Schlacht von St. Quentin, und 
bei dem italienischen dvetta für „Kokette" die Rolle 
des Käuzchens als Lockvogels übersehen wird); im 
Ganzen jedoch hat es Anrecht auf ein lobendes Zeug- 
niss. Statt von etwas zu sprechen was darin steht, 
will ich von etwas sprechen was nicht darin steht, 
aber darin hätte stehen können. Der Mensch ist 
nicht immer in gleicher Weise aufgelegt Metaphern 
zu erfinden und zu gebrauchen; unter welchen Um- 
ständen werden die Metaphern am frühesten und am 
reichsten zur Entfaltung kommen? 

Man hat behauptet, es gäbe im Grunde nicht 
mehr als zwei Triebfedern menschlichen Thuns: die 
Liebe und den Hunger. Zum mindesten sind es die 
einzigen welche allen Menschen nicht bloss, sondern 
allen Wesen angeboren sind, welche bis in die Anfange 



— 238 — 

des organischen Lebens, bis in den HäckePschen Ur- 
schleim hinaufreichen. Beide sind selbst wiederum nur 
zwei Formen des Erhaltungstriebes, von denen die 
eine für die Species, die andere für das Individuum 
sorgt. Auf die Metapherbildung hat der Hunger gar 
keinen Einfluss. Dem geistreichsten Schusterbuben 
der in einem Schaufenster eine TrüflFelwurst und eine 
Rebhühnerpastete bewundert, wird keine, auch noch 
so unbedeutende Metapher einfallen ; seine ganze Ein- 
bildungskraft wird sich im Gaumen concentrieren. Aber 
die Liebe ! .... wo sie mit ihrem Zauberstab hinrührt, 
da spriessen Metaphern auf, die wunderbarsten in 
üppigster Menge aus fruchtbarem Boden, und selbst 
der dürrste bedeckt sich mit einem Anfluge von Grün. 
Ja, die Liebe hat geradezu die Metaphern erschaffen, 
und das ist kein Wunder, hat sie doch die Sprache 
selbst erschaffen. 

Um den Ursprung menschlicher Dinge zu ergrün- 
den, richten wir heutigentags den Blick nicht mehr auf- 
wärts, sondern abwärts ; in der thierischen Sprache neh- 
men wir, dem Fingerzeige Darwins folgend, die Keime 
der menschlichen wahr. Der Stimme bedienen sich die 
Thiere entweder monologisch oder dialogisch; sie 
stossen entweder unter dem Drucke innerer Erregungen 
unwillkürliche Laute aus, Interjektionen, die sich zu 
keiner wirklichen Sprache fortbilden können, oder sie 
theilen sich einander gewisse Dinge mit. Diese Mit- 
theilungen sind im Wesentlichen wiederum doppelter 
Art: einerseits kurze, geschäftsmässige, wie Warnung 
vor Gefahr, Aufforderung zur Hülfeleistung, Einladung 
zur Mahlzeit, andrerseits — und darauf kommt 
es uns allein an — Gefühlsergüsse. Die Männchen 



— 239 — 

bewerben sich um die Weibchen auf mancherlei Weise. 
Unter den Vögeln gibt es verschiedene welche vor 
den Augen ihrer Schönen die merkwürdigsten Tänze, 
Märsche und Flugübungen veranstalten; die meisten 
aber suchen durch ihren Gesang einen günstigen Ein- 
druck hervorzubringen. Die alten Liebesdichter, welche 
bemerkten dass die Lust zum Singen sie zu derselben 
Jahreszeit wie die Vögel anwandelte, nämlich im Lenz, 
wo die Liebessehnsucht mit neuer Stärke erwacht, 
sie waren geneigt, die süssflötende Nachtigall, die 
girrende Turteltaube als ihre Lehrmeisterinnen zu be- 
trachten. Zwischen der Gebärdensprache und dem 
Gesänge steht eine Art Instrumentalmusik, wie sie 
von Pfauen, Spechten, Paradiesvögeln u. s. w. ausge- 
führt wird. Auch bei Thieren niedrigerer Klassen 
begegnen wir entsprechenden Erscheinungen. Wenn 
die Männchen der Heuschrecken und Grillen mit den 
Flügeldecken ein verliebtes Geräusch erzeugen, so thun 
es die Cikaden mit den Athmungsorganen. Die Weib- 
chen bei diesen verschiedenen Insekten sind stumm; 
daher ruft der Dichter Xenarchos aus: „Glücklich 
sind die Cikaden, denn sie haben stumme Weiber!" 
Zu den eifrigsten, freilich nicht den lieblichsten Sängern 
gehören die Frösche, von denen man sagen könnte, 
sie besässen sehr heisses Blut, wenn es nicht zufällig 
kalt wäre. Nun nimml^ es Wunder dass gerade die 
am höchsten stehenden Thiere, die Säugethiere, im 
Allgemeinen eine so viel geringere musikalische Be- 
gabung an den Tag legen ; doch wird z. B. von einem 
der nächsten Verwandten des Menschen, einem Gibbon- 
affen berichtet dass er einen sehr melodiösen Gesang 
ertönen lasse. Und so dürfen wir wohl auch dem ür- 



- 240 - 

menschen einen Liebesgesang zutrauen, welcher im 
Laufe der Zeiten zu einer menschenwürdigen Sprache 
fortgeschritten ist. Noch heute haftet das musikalische 
Element manchem Idiom als integrierendes an, zum 
Beispiel dem annamitischen, welches den Missionären 
wie ein Vogelgezwitscher vorkam. Aber wodurch und 
auf welche Weise hat sich aus einem Gesang ohne 
Worte ein Gesang mit Worten entwickelt? Dadurch 
dass sich die Empfindungen allmählich zu Vorstellungen 
klärten, und auf ähnliche Weise wie in weit späterer 
Zeit aus dem Bild die Wort-, die Silben-, die Buch- 
stabenschrift hervorging. Nicht, wie wir annehmen, 
mit Worten hat der Mensch begonnen zu sprechen, 
die er dann zu Sätzen zusammenfügte, sondern mit 
Sätzen, aus denen sich dann reliefartig die Worte mehr 
und mehr herausarbeiteten. Doch auch die Wortsprache 
würde nur ein dürftiges Stammeln geblieben sein, 
wäre sie nicht von der Metapher befruchtet worden. 
Aus der Aehnlichkeit zwischen den Dingen ein 
Mittel für die Sprachbildung zu gewinnen, das war 
eine kühne Neuerung, und sie möchte wohl zuerst ge- 
wagt worden sein in jener freudigen Anspannung welche 
alles Entfernte nahe zusammenrückt und jede Schaffens- 
lust befeuert. Zu der Gefährtin sprach ja der Mann 
zuerst, und von ihr vor Allem ; ein Abbild der leuch- 
tenden und wärmenden Scheilje welche vom Himmels- 
gewölbe auf die ganze Erde herabblickte, erschien 
ihm das Auge aus welchem Sorge und Liebe ihm 
allein entgegenstrahlten; in der weichen Stimme die 
ihn koste, glaubte er die sehnsüchtigen Triller der 
Nachtigall wiederzuerkennen. Wenn die ältesten „radi- 
kalen** Metaphern sich fast sogar den Anstrengungen 



— 241 — 

unserer EinbilduDgski-aft entziehen, so sind die Anfänge 
der, wie Max Müller sie nicht ganz treffend nennt, 
„poetischen" Metapher schon in grössere Helle gerückt, 
indem sie einen ziemlich ausgedehnten Wortschatz 
voraussetzen. Welches war wohl die erste Liebes- 
metapher dieser zweiten Klasse? Tauchen wir mit 
anthropologischer Zuversicht unsere Blicke in die Tiefe 
von vielen Jahrtausenden. Unter einer riesigen Pla- 
tane an der ein munterer Bach vorbeirauscht, sitzen 
ein Mann und ein Weib — oder soll ich noch sagen : 
ein Männchen und ein Weibchen? Seine Familie ist 
von Alters her auf dem Baume ansässig gewesen; 
sein ürgrossvater, auf den er sich noch besinnen kann, 
hat fast bis zu seinem Tode den fünften Stock bewohnt, 
und der pflegte von seinen Sprösslingen, welche ins 
Parterre hinabgezogen waren und nur gewisse weihe- 
volle Stunden oben zubrachten, zu sagen, es wären 
„herabgekommene" Gesellen, das heisst, er grunzte 
das mehr so heraus. Besagtes Parterre nun, ihnen 
einstens von einem Ursus spelaeus infolge Hinschei- 
dens gutwillig überlassen, befindet sich an dem Abhänge 
eines Berges der sich steil hinter dem Baum erhebt; 
vorn am Eingang, von welchem ein aus starken Aesten 
zusammengefügtes Thor beiseite geschoben ist, liegt 
eine Menge sehr sauber abgenagter Hirschknochen, 
die Reste der letzten Mahlzeiten, und weiter hinten, 
von rohem Geräthe umgeben, der einzige Rock des 
fniheren Hausbesitzers, der dem jetzigen zum Ruhe- 
polster dient. Die rothen Strahlen der untergehenden 
Sonne, welche einen solchen tieferen Einblick in die 
Häuslichkeit unseres Paares ermöglichen, spielen um 
das Antlitz des Weibes, und in dieser Beleuchtung 

Schuohardt, Romanisches u. Keltisches. 16 



— 242 — 

erregt sie das besondere Wohlgefallen des Mannes; 
es däucht ihm, ihre Wangen seien weniger behaart 
als die seinigen, der Prognathismus bei ihr geringer 
als bei ihm,, und zum ersten Male empfindet er dies 
Minus als einen höheren Grad von Schönheit, wie 
ihm das Plus bei seinem seligen ürgrossvater immer 
einen ziemlichen Abscheu einflösste. Er fühlt sich 
so glücklich wie sich überhaupt der Mensch damals, 
nachdem er erst so kurze Zeit den AiFen hinter sich 
hatte, nur fühlen konnte ; er hat vortrefflichen Appetit 
gehabt, besonders hat ihm die Hirschleber gemundet, 
und nun verschmilzt ihm der Nachgeschmack kulina- 
rischer Freuden so gänzlich mit dem Vorgeschmack 
besserer dass er, um der Genossin seine Zärtlichkeit 
einmal auf ganz auserlesene Weise kundzuthun, nichts 
Anderes findet als: „Du, du . . . Hirschleber!" Ihr 
wird das sehr komisch vorgekommen sein, und vielleicht 
meint auch noch heute Einer oder der Andere, selbst 
von einem Urmenschen hätte sich ein etwas passen- 
derer Ausdruck erwarten lassen. Allein hat nicht 
jederzeit die Liebe gern von dem metapherlosen Hunger 
ihre Metaphern entlehnt? Wenn ein Liebhaber gar 
nichts mehr zu sagen weiss, was sagt er dann? „Ich 
möchte dich vor Liebe auffressen", oder: „Ich habe 
dich zum Fressen lieb." Welche sinnliche Empfindung 
ruft nach der allgemein gültigen Terminologie der 
Kuss hervor? „Er schmeckt." Welches Beiwort wird 
vor Allem auf die Liebe und die Geliebte angewendet? 
„Süss." Von den „süssen" Benennungen selbst, wie 
„Honig" (so wenigstens bei den alten Römern), 
„Zuckerstange", „Chokoladenplätzchen" u. s. w. will 
ich schweigen ; doch kann ich hier nicht den Verdacht 



— 243 . — 

zurückhalten dass sehr Vielen, wenn sie sagen „mein 
Hühnchen!", nicht das pickende, gackernde Ding vor- 
schwebt welches auf dem Hofe herumläuft, sondern 
das resch gebratene mit dem weissen, zarten Fleische 
— eine Annahme die allerdings für Norddeutschland 
unzulässig ist. Nicht immer, auch nicht während der 
Morgeuröthe der Menschheit, war der Ehemann gegen 
die Frau galant; als er einst auf ihr dringendes 
Zureden einen bräunlich-grünen Apfel ass und danach 
das heftigste Leibweh verspürte, erinnerte er sich 
daran wie einst ein hübsches, glattes Thier sich ihm 
in graziösen Windungen genähert und durch einen 
Stich in die Ferse ihm Krämpfe und fast den Tod 
gebracht hatte, und so entfuhr ihm das zornige Wort : 
„Du Schlange!" Aus dieser Metapher ist der jüdische 
Mythus von der Schlange und dem Apfel erwachsen. 
Max Müller kennt viele von derlei mythologischen 
Metaphern. Aber der Mann entdeckte im Weibe nicht 
nur den Wiederschein sinnlicher Dinge, sondern auch 
den übersinnlicher. Noch ehe er ihre innere Güte 
schätzen lernte, sah er dass sie an körperlicher Anmuth 
über ihm stand und durch die Macht seine Bewerbung 
anzunehmen oder abzulehnen, vorübergehend die Herrin 
seines Geschickes war. Das Gefühl der Verehrung 
empfand er zuerst dem Weibe gegenüber, das Weib 
führte ihn auf die Vorstellung von höheren Wesen. 

Justina, ihr in deren 
Reiz die menschliche Natur 
Uns mit Stolz gebeut die Spur 
Einer göttlichen zu ehren, 

heisst es in Calderons „Wunderthätigem Magus." Die 
ganze Stufenleiter der höheren Wesen in der Phantasie 

16* 



— 244 - 

des Liebhabers zu durcheilen, das verblieb für alle 
Zeiten der Geliebten als ein Vorrecht; sie ist ein 
Engel, ein Abgott, eine Göttin, sie ist Gott selbst; 

Herrin, ich glaube Gott zu sehen, 
Betracht' ich euren süssen Leib, 

singt der alte Troubadour Peire Vidal. Also sprechen 
und beten lernte der Mann um des Weibes willen; 
er hat es dann wiederum ihr gelehrt, und ich denke, 
schliesslich hat sie es in beiden Künsten weiter gebracht 
als er. Die Liebe — nicht den Krieg, wie Manche 
thun, haben wir überhaupt als den Urquell der Civili- 
sation anzusehen; jener Oimon der Boccaccio'schen 
Novelle welchen die Liebe aus einem blöden, thieri- 
schen Wesen zu einem gefühlvollen, denkenden, unter- 
nehmenden umwandelt, Cimon ist die Menschheit selbst. 



Wie ich schon gesagt habe, ist alle Sprache an- 
fänglich Poesie und muss es sein ; Poesie bedeutet nichts 
Anderes als Schaffen und zwar Schaffen der Einbildungs- 
kraft auf dem Gebiete der Sprache. Aus dem ewig beweg- 
ten schäumenden Elemente lagert sich allmählich die 
Prosa ab. Die älteste Poesie ist nicht die religiöse. Ver- 
schiedene nämlich haben diese Ansicht gehegt, z. B. 
Boccaccio, der in seinem „Leben Dantes" die innige 
Verwandtschaft der Theologie und der Poesie nach- 
weist: die Theologie sei eine „Gottespoesie", d. h. 
eine welche Gott zum Gegenstand habe, und die Poesie 
sei entsprungen aus den „weihevollen Lobpreisungen 
welche der Gottheit dargebracht wurden". Auch er- 
kennt er den Einfluss den die strengen, feierlichen 
Kultusformen auf die Ausbildung fester Dichtungsmasse 



— 245 — 

haben mussten. Aber wenn in der That die ältesten 
unter den uns überlieferten Denkmälern so vieler 
Sprachen in religiösen Dichtungen bestehen, so kann 
doch die Erstgeburt der Liebespoesie nicht in Frage 
gestellt werden. Die Liebe hat nicht nur jene erste 
Poesie ins Leben gerufen welche die Sprache selbst 
war, sondern auch die eigentliche Poesie die sich 
wieder von der Prosa abhob, und das thut sie im 
einzelnen Menschen immer von neuem. Für diesen 
allgemeinen und individuellen Ursprung der Poesie 
aus der Liebe könnte ich mich auf Hunderte von 
Dichtern berufen, auf die glänzendsten Autoritäten, 
wie Dante, Tasso, Shakspeare; ich lasse es mir an 
einer einzigen und sehr bescheidenen Anführung genug 
sein. Ein italienisches Volkslied sagt (in der üeber- 
setzung von Paul Heyse): 

Und wollen mich die klugen Leute fragen, 
Von wem ich es gelernt in Versen sprechen, 
Im Herzen muss ich jene Gluthen tragen 
Die klingend, singend dann zu Tage brechen; 
Am Tag da Nanna mir zuerst begegnet, 
Da ward mit Versen mir der Geist gesegnet. 

Geister die trotz aller Liebesgluthen doch nicht mit 
Versen gesegnet werden, bringen immerhin Metaphern 
fertig, die ja der ürkern, der wesentliche Bestandtheil 
der Dichtung sind. 

Unter den Liebesmetaphern, mögen sie nun in 
gebundener oder ungebundener Rede auftreten, nehmen 
jedenfalls den ersten Rang diejenigen ein welche die 
Schöne anrufen und begrüssen. Sie werden überall 
sehr häufig gebraucht; aber wenn die Nordländer nur 
freigebig sind, so sind die Südländer verschwenderisch. 



- 246 - 

Wir brennen ein paar Raketen und Schwärmer ab, 
und damit ist's gut; sie giessen einen fortwährenden, 
in allen Farben sprühenden Feuerregen aus. Wir 
pflücken ziemlich bescheiden, dafür auch zuweilen mit 
Sinnigkeit und Auswahl einige frische Triebe vom 
Baum der Sprache ; sie rütteln in heftiger Leidenschaft 
an demselben, als ob kein Blatt, keine Blüthe oben 
bleiben sollte. Um die Schönheit der Geliebten zu 
verherrlichen, ist ihnen nichts zu theuer und nichts 
zu billig, nichts zu fern und nichts zu nah, nichts 
undenkbar. Mit den Himmelskörpern gehen auch wir 
sehr leichtsinnig um: 

So ein verliebter Thor verpufft 

Euch Sonne, Mond und alle Sterne 

Zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft. 

Sonst verwenden wir leblose Gegenstände, von einigen 
Edelsteinen und Edelmetallen abgesehen, nur selten, 
Erzeugnisse der Kunst kaum. Die Südländer hin- 
gegen sprechen von der Geliebten als einer Quelle 
von Orangenwasser, als dem glänzenden Meer, als 
einem Schiffe, als dem Segel, der Flagge eines Schiffes, 
als einem prächtigen Palast, als einer Domfajade, als 
einer kostbaren Reliquie, als einer Krystallflasche, als 
einem goldenen Spinnrocken, als einer silbernen Tasse, 
als einem weissen Blatt Papier. Von Blumen ver- 
schmähen sie keine deren Aussehen oder Geruch irgend- 
wie angenehm ist; um von Rose und Lilie zu schweigen, 
die auch uns ganz geläufig sind, jene, wenn mehr das 
Liebliche, diese, wenn mehr das unschuldige hervor- 
gehoben werden soll, so streuen sie Jasmin, Nelke, 
Veilchen, Tulpe, Quendel, Orangenblüthe, Leinblüthe 
u. s. w. mit vollen Händen aus und ergötzen sich 



- 247 - 

an gewissen „blumigen" Formen der Liebesdichtung. 
Doch nicht bloss als Blume erscheint die Geliebte, 
auch als Strauss, als Blatt, als Pnfcht, als Aehre, 
als Zweig, als Baum, wobei die Phantasie gern ins 
Märchenhafte schweift und silberne Palmen oder dia- 
mantenbeladene Bäume hervorzaubert. Innerhalb des 
Thierreichs eignen sich natürlich die gefiederten Bewoh- 
ner der Luft am besten zu Sinnbildern weiblicher Anmuth 
und Sanftheit, vor Allem die Taube; nur dem Süden 
gehört „Falke" und „Adler" an, das königliche Wesen 
der Geliebten zu veranschaulichen. Indessen kommen 
unsere zoologischen Kenntnisse zur rechten Entfaltung 
erst wenn wir aus dem verehrungsvollen in den kosen- 
den Ton übergehen, denn dann lassen wir die Botanik 
beiseite; die Rose und die Lilie, welche wir knicken 
und pflücken können, gewähren uns kein Zeichen ihrer 
Zuneigung — der Käfer, der wegschwirrt, die Taube, 
die wegfliegt, die Maus, die weghuscht, sie sind fähig 
unsere Liebe zu erwidern. Nun werden wir aber 
wahrnehmen dass unsere Zärtlichkeit alle erdenklichen 
Namen ausströmt, und darunter auch solche die nichts 
weniger als schmeichelhaft sind, wenn überhaupt die 
Vergleichung der Geliebten, die auf der höchsten 
Stufe der Schöpfung steht, mit ihr so tief untergeord- 
neten Wesen schmeichelhaft zu sein vermag. Um 
uns das klar zu machen, müssen wir bedenken dass 
der Liebhaber, indem er sich unfähig fühlt die Qualität 
gebührend auszudrücken, zur Kategorie der Quantität 
seine Zuflucht nimmt; statt zu sagen: „Du bist das 
Schönste, Liebste", sagt er: „Du bist die Summe 
von allem Schönen und Lieben" und endlich: „Du 
bist mir Alles". Dieses Alles löst er, sonst würde 



- 248 - 

das ja zu eintönig werden, auf halb gedankenlose 
Weise in seine einzelnen Posten, eine unendliche Reihe 
von Posten auf.* So stürzt der aus tausend Kinnsalen 
angewachsene Gebirgsbach als breites Silberband über 
den Felsen, um in unzählige Tröpfchen zu zerstieben, 
die, alle werthlos und einander gleich, doch im Sonnen- 
schein als bunte, köstliche Edelsteine funkeln. Ein ähn- 
licher Trieb wie in der Häufung von Koseworten offen- 
bart sich in dem unablässigen tändelnden Umformen 
des theuern Namens, sodass es scheint als wolle die 
Sprache in das süsse Lallen, in den Liebesgesang 
zurückfliessen aus dem sie hervorgequollen ist. 

Endlich begnügt sich der Liebende nicht damit 
so ganz im Allgemeinen die Schönheit der Geliebten 
durch einen begeisterten Ausruf anzudeuten; er em- 
pfindet das Bedürfniss diese Schönheit zu analysieren. 
Erst ist ihm die Geliebte selbst die Sonne, die Böse, 
die Lilie, bei näherem Hinschauen ist ihr Auge die 
Sonne, ihr Mund die Rose, ihr Hals die Lilie. Wenn 
Lessing im Laokoon die beschreibende Aufzählung 
weiblicher Reize als undichterisch bezeichnet, so hat 
er insofern Recht als sie keine dichterische Wirkung 
hervorbringt, Ihr dichterischer Ursprung jedoch darf 
nicht schlechthin bestritten werden, mögen auch die 
von Lessing angeführten Beispiele, welche der Kunst- 
dichtung und zwar der epischen entnommen sind, als 
Früchte kühler Ueberlegung, sorgfältigen Studiums 
erscheinen. Gerade die naive, die volksthümliche 
Dichtung, vorzugsweise die lyrische, aber auch die 
epische, liebt ausführliche Gemälde der Schönheit ganz 
ausserordentlich ; Gemälde die freilich von dem welches 
Ariost im siebenten Gesänge entworfen hat, oft weit 



— 249 — 

genug abstehen um als grelle Parbenklecksereien zu 
gelten. Die Natur selbst drückt dem Dichter den Pinsel 
in die Hand, den er anfangs mehr sich zur Freude 
als Andern zum Verständniss gebraucht. „Die Heerden 
mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kom- 
men", „die Kehzwillinge die unter Rosen weiden", 
„der Thurm Davids mit Brustwehr gebaut", „der 
Lustgarten mit Granatäpfeln" und die anderen Bilder 
des Hohen Liedes sind vollständig unfähig uns eine 
Vorstellung von der bezaubernden Sulamith zu schaffen, 
und ich fürchte, den Zeitgenossen dürfte es ebenso 
ergangen sein ; nur die Gluth des liebenden Jünglings 
erkennen wir. In den meisten Fällen beschäftigt sich 
der unbefangene Dichter fast ausschliesslich mit der 
Farbe ; für Anderes hat er kaum Augen. Ja er beginnt 
damit nur eine Farbe zu sehen, selbstverständlich die 
hellste. Weiss. Die Geliebte ist weisser als Schnee, 
Meeresschaum, Baumwolle, Mehl, Käse, Branntwein 
(wie leicht geräth doch immer der Liebhaber, der gar 
nicht ans Essen denken sollte, auf das Appetitliche!). 
Schreitet er dann zur dichromischen Manier fort, so 
gesellt sich Roth dem Weiss zu: „Weiss wie der Schnee 
der Berge, roth wie die Sonne des Sommers." Er 
prüft ferner was denn eigentlich weiss an der Geliebten 
sei, und bemerkt dass es besonders die Hand ist: 

.... als Sklave 
Huldigt ihr des Schneees Glanz, 
Ein beschmutzter Afrikaner; 

dann auch der Hals, die Stirne, die Nase, und er nennt 
das alles Jasmin, Lilie, Schnee, Krystall, Elfenbein; 
insbesondere noch die Stirn einen Spiegel, die Nase 
eine Kerze. Was die Wangen anlangt, so streiten 



- 2:ß) — 

Lilien und Basen nm ihren Besitz. Als Bösen, Porpor, 
Korallen, Zinnober stellen sieh die Lippen dar, zwischen 
denen eine Perlenschnor erglänzt. Die dritte Farbe 
welche hinzukommt, ist Schwarz. Das Haar, wenn es 
schwarz ist, wird zum Ebenholz, wenn licht, zom Gold, 
znm Achat, zu Strahlen; gleitet die Hand durch das 
aufgelöste blonde Haar, so ^^^^l^ ^üi Bucentoro Ton 
Krvstall durch einen Ocean Ton Strahlen-. Ueber die 
Farbe der Augen pflegt der Dichter zu schweigen; 
schon sind jene Verse wo bei Gelegenheit schwarzer 
Augen die Verwunderung ausgesprochen wird dass 
„die Mohren auf den Alpen (der schneeigen Stime) 
herrschen". Die Beschaffenheit der Augen lässt sich 
deshalb so schwer feststellen weil ihr Glanz zu sehr 
blendet — ein Glanz welcher nur dem der Sonne ver- 
gleichbar ist. Das setzt übrigens die Dichter in Ver- 
legenheit. Entweder müssen sie wie eine Sonne, so bloss 
ein Auge annehmen: ,.Dpin Auge gleicht der Sonne'' 
(wie z. B. Don Juan singt und wegen des Reimes 
singen muss), das geht noch an ; aber „Du trägst auf 
deiner Stime eine Sonne ^, das scheint mehr an Poly- 
phem als an ein holdes Mädchen gerichtet zu sein. 
Oder sie müssen wie zwei Augen, so zwei Sonnen an- 
nehmen; doch nicht AUe haben den Muth wie Ariost 
zu sagen: 

Zwei schwarze Augen, nein, zwei helle Sonnen. 

Daher greifen sie denn oft nach den minder ansehn- 
lichen Gestirnen. Die Geliebte hat dem Himmel zwei 
Sterne geraubt ; der Mond, welcher seine Sterne zählt, 
yermisst die beiden und klagt deshalb vor dem Gott 
der Liebe. Neben dem Farbigen und Leuchtenden ge- 
langen dann auch die Umrisse zur Beachtung, selten 



- 251 - 

sie allein : die Haare Goldfäden, der Hals eine Krystall- 
flasche, die Nase ein Bollwerk von Krystall, die Wangen 
zwei rothe Aepfel, die Augenbrauen Triumphbogen, 
der Mund eine halbgeöifnete Lilie. Zu eingehender 
Wiedergabe des Plastischen nimmt sich die Leiden- 
schaft keine Zeit; dazu gehört Studium. 

Auf zwei Wegen vermag zufolge Lessing der 
Dichter uns die Schönheit wirklich nahe zu rücken, so- 
dass sie uns erwärmt : indem er sie in der Bewegung, 
und indem er ihre Wirkung darstellt. Das Eine fliesst 
aber leicht in das Andere über. Durch eine Metapher 
wird in einem italienischen Volksliede der Gang der 
Geliebten ausgedrückt: 

Du weisse Taube senkest deine Flügel, 

Es rauschen deine Federn, wenn du fliegst; 

reden wir von dem Wogen des Busens, so ist das eine 
verdunkelte Metapher, die uns bei Ariost noch als aus- 
geführtes Gleichniss anspricht ; aber Blick und Lächeln, 
wie sollen die veranschaulicht werden? Wenn Amor 
die Augen umflattert und seinen ganzen Köcher aus 
ihnen abschiesst, wenn aus dem Munde die holdseligen 
Worte kommen die jedes rauhe Herz erweichen, und 
hier jenes liebliche Lächeln thront das schon auf Erden 
ein Paradies eröffnet, haben wir es dann noch mit 
dem Keiz, d. h. der Schönheit in Bewegung, an sich 
zu thun, wie Lessing meint, und nicht vielmehr mit 
der Wirkung des Eeizes? 

Treten wir an die Metaphern heran welche sich 
auf die Wirkung der Schönheit beziehen, so stehen 
wir an einem Ocean. Natur und Menschen, Alles ist 
von der Geliebten abhängig. Alles verspürt ihren Ein- 



- 252 - 

fluss, dient ihr und betet sie an. Schon bei ihrer 
Geburt geschahen Wunder, und war die Welt mit Jubel 
und Glanz erfüllt. Die Nacht wurde zum Tag, der 
Himmel bedeckte sich mit Lilien und Veilchen, der 
Schnee und die Eose gaben ihr ihre Farben, Maria 
Magdalena ihre blonden Flechten, Feen überhäuften 
sie mit übernatürlichen Geschenken, Cupido lehrte ihr 
seine Kunst, der Papst hielt sie über das Taufbecken, 
Sonne und Mond standen Gevatter, die Sterne knieten 
vor ihr nieder. Sie verwandelt das Haus in dem sie 
wohnt, in einen Palast von Kry stall und Gold und 
Marmelstein; zeigt sie sich am Fenster, so geht die 
Sonne auf (nach anderer Lesart verdunkelt sie sich, 
werden die Sonnenstrahlen von ihren Blicken aufge- 
halten), es verschwinden die Wolken am Himmel, und 
der Schnee wird zur grünenden Flur; ihr beim An- 
ziehen zu helfen, steigt ein Engel herab ; geht sie aus, 
dann erbeben vor Lust Meer und Erde, der Fluss hält 
in seinem Laufe inne, sie zu betrachten, die Winde 
schweigen, unter ihren Füssen keimen Blumen auf; 
sie steigt ohne Leiter zum Paradies empor, spricht mit 
den Heiligen und steigt wieder herab; in der Kirche 
zündet sie mit ihren Blicken die Lampen an, das Weih- 
wasser in welches sie die Hand taucht, wird zu Kosen- 
wasser oder zu Perlen und Diamanten. Es hat der 
Liebende also Recht sie anzuflehen, wenn sie un- 
lustig ist: 

Lass' (Jenn der Sonne Funkeln 

Durch einen Zufall nicht so leicht verdunkeln, 

Und deine Heiterkeit gewähr' aufs neue 

Dem Tage Glanz, dem Himmel Aetherbläue, 

Den Blumen süsses Düften, 

Anmuth'gen Hauch den Lüften, 



— 253 - 

Buntfarbigen Schmelz der Flora, 
Lichtperlen der Aurora, 
Den Vögeln ihre Lieder, 
Mein Leben mir. 

Ihre Gewalt über die Männer ist unbegrenzt, meistens 
von verderblicher Art; die verschiedenen Theile ihrer 
Schönheit werden zu ebenso vielen Marterwerkzeugen. 
Ihre Locken sind Angeln oder Netze; ihre Wimpern 
Spiesse, wenn sie nicht gerade als Besen dienen die 
Sterne vom Himmel zu fegen; ihre Augen durch- 
bohrende Messer oder Magnete die Herzen aus der 
Brust zu ziehen. Aber neben solcher Grausamkeit übt 
sie doch auch Milde und Huld. Ihr Busen schliesst 
die Hostie, ja das Paradies ein; von ihrem Munde, 
der nach Veilchen und Jasmin duftet, geht eine Me- 
dizin aus die jede Krankheit heilt ; wer diesen Zucker- 
mund küsst, der spuckt nie wieder aus, um die Süsse 
nicht zu verlieren; ihre Blicke erwecken die Todten. 
Und wenn es heisst: „sie ist eine Quelle, wer daraus 
trinkt, der lässt seinen Verstand darin", so wird das 
wohl auch als ein Gnadenbeweiß zu fassen sein. Sie 
ist die Ursache von allem „Freudvoll und leidvoll" : 

Es traget euer Antlitz eine Schrift, 

Darinnen steht geschrieben Krieg und Frieden. 

Bald ward sie geboren um den Liebhaber zu tödten, 
bald feit sie ihn gegen alle Schmerzen, lässt ihn das 
Paradies kosten, macht ihn unsterblich. Und unter 
welchen Bildern stellt sich der Liebende in seinem 
Verhältniss zu ihr dar? Er ist der Schmetterling der 
dem Lichte zufliegt, die Sonnenblume die sich nach 
der Sonne wendet, das Ziel für die Pfeile, der Schnee 
an der Sonne, das Wachs am Feuer, der Nebel im Wind. 



— 254 - 

So such' ich als flücht'ger Bach 
Stets den Meergrund meiner Plagen; 
Als geworf ner Stein die Erde, 
Heimath meiner schweren Lasten; 
Als bewegt Atom die Lüfte, 
Wohnsitz meines Hoffnungswahnes; 
Und als Blitz such' ich das Feuer, 
Sphäre meiner heissen Qualen; 
Dass ich so entbrannt, bewegt, 
Irrend, fallend, immer trachte, 
Als Bach, Stein, Atom und Blitz, 
Nach Meer, Erde, Luft und Flamme. 

Und so schliesst sich immer eine Klasse von 
Liebesmetaphern an die andere, insoweit diese wilden 
Phantasieblumen eben klassificierbar sind. Dem Lieben- 
den zeigen sich ja alle Dinge, auch die entferntesten, 
von dem rosigen Lichte Übergossen welches dem Gegen- 
stand seiner Huldigung entströmt. Wird sie ihm untreu 
oder beweist sie sich gegen einen Andern weniger 
grausam als gegen ihn, dann verfinstert sich ihm nicht 
bloss die Welt, nicht bloss die herrlichen Zauberpaläste 
sinken in den Boden, auf dem Nesseln und Dornen 
emporwuchern, nein, auch das Bild der Geliebten ver- 
finstert und verzerrt sich, aber das möge nur ange- 
deutet bleiben; hat doch Ariost, der sechs Strophen 
braucht um die Schönheit der Alcina zu schildern, 
kaum ein paar Verse für die Hässlichkeit der Ent- 
zauberten. 

Ein Zeitalter und ein Land haben die Metapher 
über die Massen begünstigt : das siebzehnte Jahrhundert 
— Spanien. Also in dem Spanien des siebzehnten 
Jahrhunderts werden wir den grössten Metapherreich- 
thum finden, lieber der Lektüre Calderons wächst vor 
unseren Augen ein tropischer Urwald empor: Riesen- 



— 255 — 

fächer schiessen aus dem Boden auf, schlanke Stengel, 
knorrige Stämme, stachlige Kakteen drängen sich 
zwischen ihnen durch, Blume um Blume öffnet ihren 
Kelch, in allen Farben und Formen, mit betäubenden 
Gei-üchen die Luft durchwürzend, saftige Trauben 
quellen von dem grünen Baldachin herab an dessen 
Säulen, sie zu erdrücken, ungestüme Schlingpflanzen 
hinanklettern. Ich kann mir die Bemerkung nicht 
versagen dass wir demselben Erdreich das eine so 
üppige Flora trägt, das reizendste aller anspruchslosen 
Gewächse verdanken, nämlich das schönste und zugleich 
kürzeste Lied welches von Liebeserapfindung eingegeben 
und ohne Metapher ausgeführt ist: 

Gestern liebt' ich, 
Heute leid' ich, 
Morgen sterb' ich, 
Dennoch denk' ich; 
Heut und morgen 
Gern an gestern. 

Wenn bei allen andern Völkern die Metapher- 
bildung eine weit zahmere gewesen ist als bei den 
Spaniern, so tritt das am auffälligsten bei ihren Nach- 
barn, den Franzosen hervor. Zwar kommt uns Heutigen 
das Französische wie es zu Anfang des siebzehnten 
Jahrhunderts im Munde der Dichter und der honnetes 
gens lebte, sehr spanisch vor, was folgendes, keines- 
wegs seltenartiges Beispiel erläutern möge. In Cor- 
neilles Melüe sagt Philandre zu Chloris, sie sehe in 
seinen Augen nur sein Herz: 

Tu n^y vo%8 que mon coeur, qui n'a plus un seul trait 
Que cefvi/x quHl a regus de ton charmant portrait 
Et qui tout aussitöt que tu Ves faxt paraitre, 
Afin de te mieux voir s^est mis ä la fenetre. 



— 256 — 

Das ist vollkommen Calderons würdig, bei dem es 
irgendwo heisst: 

Unser Herz eilt an die Augen, 
Welche Fenster sind der Brust. 

Wo es sich um solche Spitzfindigkeiten und geist- 
reiche Wendungen handelt, da versuchten die Franzosen 
mit. den Spaniern zu wetteifern, und sie konnten es, 
indem sie ihnen an reflexiver Kraft nicht nachstanden, 
an Kritik sie übertrafen. Aber fremd blieb ihnen 
immer jene Phantasie welche mit Blitzesschnelle das 
Weltall nach allen Seiten hin durchschweift. Den 
Urwald ersetzten sie durch einen Lustgarten, in wel- 
chem der gute Geschmack immer mehr aufräumte — 
die Sprache der Leidenschaft durch die Sprache der 
Galanterie. Von diesem galanten Französisch des sieb- 
zehnten Jahrhunderts steckt der deutschen Sprache 
noch weit mehr im Geblüt als sie meint und wünscht. 
Wer findet etwas Auffälliges darin wenn ein junger 
Mann „einen AngriiF" auf das Herz einer Schönen 
unternimmt, und dieses schliesslich „kapituliert" ? Die 
Vorstellung der Liebe als eines Krieges zwischen Mann 
und Weib ist eine uralte und ganz allgemeine, aber 
nur insoferne als das Weib den Mann bekämpft, ihn 
überwindet, ihn zu ihrem Gefangenen macht und ihn 
als Sklaven in Ketten legt. Jene Wendungen hingegen 
welche den Mann als Krieger und Sieger zeigen, wurden 
vor zweihundert Jahren und länger von den Schlacht- 
feldern und Laufgräben in die Pariser Salons, ich will 
sagen die ruelles der Preciösen verpflanzt. Wie in 
unseren Tagen der Stallduft, so schwebte damals gern 
der Pulverdampf über dem eleganten Geplauder der 
beiden Geschlechter. Die Tapferen und noch mehr 



— 257 — 

die Nichttapferen erinnerten sich daran wie lieb die 
Venus den Mars hatte, und wurden nicht müde ihre 
eigenen Heldenthaten zu erzählen, wobei sie jene mili- 
tärische Terminologie verschwendeten 

que les femmes n'entendent pas, 
Et dont pourtant les mots sont doux ä leurs oreilles. 

Die Abenteuer der Liebe besassen aber eine zu ver- 
führerische Aehnlichkeit mit den Abenteuern des Krieges 
als dass nicht Ausdrücke wie attaquer la place dans 
les formes, faire les approches, ruiner les defenses, 
prendre par capitulation, empörter d^assaut eine rasche 
Aufnahme in das Wörterbuch der Liebe gefunden hätten. 
Ich breche hier ab; mitten darin, weil in einer 
solchen Materie nirgends ein Abschluss gegeben ist. 
Die Liebesmetaphern führen uns ohne Unterbrechung 
von einer Zeit zur andern, von einem Volk zum andern, 
und die Betrachtungen die durch sie hervorgerufen 
werden, erstrecken sich über die ganze Kulturgeschichte. 
Ich hatte erst geglaubt, es Hesse sich daraus ein hübsches 
Buch machen, das auch zum Handgebrauch geeignet 
wäre; wie man im Büchmann nachschlägt, um ein 
geflügeltes Wort im vorausgesehenen rechten Augen- 
blicke an die Luft zu setzen, so schlüge man dort 
nach, um mit wirkungsvollen Metaphern ein Demant- 
herz zu überschütten. Es würde dadurch einem der 
hunderttausend „dringenden" Bedürfnisse abgeholfen. 
Wenn ich bedenke dass das armseligste Abruzzennest 
mit einem Dutzend brauner Schönen einen weit grös- 
seren Schatz von Liebesmetaphern besitzt als das grosse 
Wien mit so buntgemischten prächtigen Anlässen! 
Allein jenes Buch ist unmöglich. Wenn in ihm sich 
nicht jene fabelhaffce Dissertation de omnibus rebus et 

Schnchardt, Eomanisches u. Keltisches. 17 



— 258 — 

quibusdam aliis endlich verwirklichen sollte, so müsste 
es doch das Schönste enthalten, und zu diesem Zwecke 
müsste man sich einen von jenen grossartigen Zettel- 
kästen anlegen wie sie bei deutschen Gelehrten beliebt 
sind, und auf deren manchem, nur mit Aenderung des 
Namens, die bekannte spanische Inschrift stehen dürfte : 
„Hier liegt die Seele des Licentiaten Pedro Garcias." 
Und hätte man sich dann einer gewissen Vollständig- 
keit genähert, so würde man steinalt geworden sein 
und sich gar nicht mehr erinnern worum es sich eigent- 
lich handelt ; man würde die Liebesmetaphern anschauen 
wie Einer die Cotillonsorden die er in der Jugend ge- 
sammelt hat ; Silber und Gold, Schleifen und Flor sind 
noch da, aber vergangen und vergessen alles was ihnen 
Glanz und Werth verlieh, die holde Röthe der Wangen, 
der beseligende Blick, das traute Flüstern. Dann wäre 
es auch nothwendig sich in das Wesen der Liebe, mit 
Bücksicht auf Chronologie und Ethnographie, zu ver- 
senken, und welcher Sterbliche besässe die erforderliche 
Kongenialität? „Ohne die Liebe wäre die Welt nicht 
die Welt", das thut sich leicht dar; „wäre denn Eom 
auch nicht Rom", das weit schwieriger. Wie die Liebe 
das Allgemeinste ist, so ist sie auch das Individuellste ; 
man befrage nur einmal Zwei die sich so recht mit 
Leib und Seele lieben, und sie werden es nie Wort 
haben dass es eine wahre Liebe gegeben hat, gibt oder 
geben wird ausser der ihrigen. Kurz, das Buch über 
die Liebesmetaphern gehört unter die Träume ; es geht 
eben immer so: gerade die interessantesten Bücher 
bleiben ungeschrieben. 



XIV. 

Das Französische im neuen Deutschen 

Reich. 

Man hat den Krieg an dessen Ende wir jetzt 
stehen, mit dem verschärfenden Ausdruck eines Bassen- 
kriegs bezeichnet. In der That ist in ihm das Be- 
wusstsein eines tiefen nationalen Gegensatzes und die 
Erinnerung an vielfach erlittene Unbill unwiderstehlich 
heiTorgebrochen, und er darum ein so erbitterter und 
blutiger gewesen; kann man ihn aber etwa trauriger 
nennen als einen Krieg in welchem der Anlass zu 
allgemeinem Hass oder gar dieser Hass selbst fehlen 
würde? Der Einsatz war ein grosser; das innerste 
Leben der Völker nahm theil an diesem Kampf, aus 
welchem der besiegte Angreifer freilich nur schmerz- 
liche Selbsterkenntniss und Mahnung zur Ein- und 
Umkehr davonträgt, wir aber Ermunterung auf unserer 
geistigen Bahn fortzuschreiten. Die Feder macht das 
Schwert schneidiger, und das Schwert theilt der Feder 
von seinem Gewicht mit. Unsere vorzüglichsten Geister 
beschäftigen sich mit der Erörterung jenes Gegensatzes 
in Staats- und Kulturgeschichte ; demnächst wird aber 
auch das Eine in Betracht gezogen was diesen Gegen- 
satz zwar am äusserlichsten, doch zugleich am schärfsten 
und einzig und allein auf entscheidende Weise darstellt: 

die Sprache. Die romanische nicht weniger als die germa- 

17* 



- 260 - 

nische Sprachwissenschaft, die ja selbst erst auf dem 
Boden unseres ersten grossen Vaterlandskrieges er- 
wachsen ist, empfangen zu derselben Zeit besondere An- 
regungen da sie den Verlust so mancher persönlichen 
Kraft zu beklagen haben. Denn den Einen zog friedliche 
Lust an wälschen Pastourellen und Chansons nach Paris, 
und nun föUt er im feindlichen Anlauf auf diese Stadt; 
den Andern erbauten die Heldenlieder der germanischen 
Vorzeit, und nun fällt er, selbst ein deutscher Held, 
in einem Waffenspiel gegen welches alles Schwerter- 
geklirr das jene besingen, nur ein Kinderspiel ist. 

Das Vaterlandsgefuhl steigert die Liebe zur eigenen 
Sprache, unsere Väter waren vollberechtigt in ihrem 
Abscheu gegen alles Französische, besonders gegen 
die französische Sprache. Es hat auch in unsern Tagen 
nicht an Solchen gefehlt welche diesen Abscheu gern 
wieder belebt, welche die Ausweisung von auch ganz 
eingebürgerten Deutschen aus Prankreich durch die 
Ausweisung auch ganz eingebürgerter französischer 
Wörter aus der deutschen Sprache gern erwidert 
hätten. So soll z. B. das Wort „Dame" verbannt 
werden, unter Berufung auf Schiller, von dem es nur 
einmal, und zwar auf eine nicht deutsche Persönlich- 
keit angewendet worden sei (was übrigens ein starker 
Irrthum ist). Indessen dergleichen sind Ceberhebungen 
über das Niveau der allgemeinen Stimmung; mit 
dem kostbaren Bernstein bringt die Fluth auch werth- 
losen Seetang. Gerade das Gelegentliche worauf solche 
Forderungen sich stützen, entzieht ihnen jeden Werth, 
und das Entsprechende findet auch auf einem andern, 
dem sittlichen Gebiete statt; oder ist etwa viel 
Eühmens davon zu machen wenn der Chignon erst 



- 261 — 

durch das Kriegsschwert abgehauen wird, wenn die 
Klänge Offenbach'scher Muse erst durch den Donner 
der Kanonen zum Schweigen gebracht werden? Frank- 
reich kann uns noch geföhrden, das Franzosenthum 
nicht mehr. Wir bedürfen nicht mehr jener Reaktion 
gegen das Studium der französischen Sprache wie sie 
vor mehr als einem halben Jahrhundert eintrat. Durch- 
aus das entgegengesetzte Bedürfniss macht sich geltend : 
wie erwünscht ist nicht dem deutschen Soldaten in 
Frankreich die Kenntniss des Französischen, und wie 
viele der Zurückgebliebenen würden nicht die auf 
unserem Boden verweilenden Franzosen zu Lehrmeistern 
erkiesen, wenn sie nicht eine höhere Rücksicht davon 
abhielte ? Dem Forschenden dürfte eines der grössern 
Gefangenenlager ein reiches Feld der Beobachtung 
darbieten; er vermöchte hier ohne Mühe auf einem 
Punkte die Verschiedenheit der französischen Mund- 
arten oder doch der provinziellen Accente zu studieren 
und an den mehr oder weniger oder gar nicht des 
Französischen kundigen Bretonen und Afrikanern den 
Romanisierungsprozess zu verfolgen. Auf jeden Fall 
würde ihm das Bild des alten römischen Lagers 
möglichst nahe gerückt in welchem die militärische 
Zucht und das enge Zusammenleben zwischen den 
verschiedenartigsten Elementen eine gewisse Sprach- 
einheit, eine lingua castrensis herstellten. Das Lager 
überhaupt oder die Kaserne ist in der Geschichte der 
Sprache von nicht minderer Bedeutung als Kirche 
und Schule; der Kriegsmann, wenn seltener Träger 
der Civilisation, ist oft, natürlich fast unbewusst, als 
sprachliches Vehikel in Thätigkeit getreten, im grossen 
sowohl als im kleinen. Im kleinen z. B. besonders 



— 262 — 

zur Zeit der Landsknechte, die in wälschen Landen 
manch deutsches Geldstück zurückliessen und dafür 
fremde Scheidemünze heimbrachten. Der Deutsche 
lehrte den Romanen das trinquer und das hrindisi (in 
Lothringen heisst hringue „zutrinken"); der gewaltige 
Zug durch welchen die deutsche Kehle sich letzte, 
rief draussen einen so tiefen Eindruck hervor dass 
das „trink, Landsknecht" (schon bei Rabelais lans 
trinque und in Italien trinks vain lanze) eine allge- 
meine Begrüssungsformel dem Deutschen gegenüber 
wurde, in welcher die ganze Erkenntniss und Aner- 
kennung seines Wesens zusammengefasst schien. Für 
solche Lehre handelte er wieder andern Lebensgenuss 
und Lebensgewohnheit und damit fremde Ausdrücke 
ein; wer denkt jetzt daran, wenn er seinen urdeutschen, 
überdies erst 50 Jahre alten Skat spielt dass das 
Wort „Skat" durchaus dasselbe ist wie das italienische 
scarto und fast dasselbe wie das französische harte? 
So dürfte nun auch bei der jetzigen grossen Völker- 
reibung beiderseits manches Sprachmaterial hängen 
bleiben. Dass dies bei den Franzosen nicht ohne 
wunderliche Entstellungen abgehen wird, dafür bürgen 
uns u. a. die Proben welche angeblich Deutschkundige, 
wie jene Journalisten auf ihrer berühmten Zwangstour, 
von dieser ihrer Kenntniss ablegen; freilich wird der 
deutsche Soldat in seinem Siegerübermuth kaum glimpf- 
licher verfahren, wie denn die frische Rücksichts- 
losigkeit mit welcher er z. ß. den Moni VaUrien 
nicht nur — was ja schon einen Präcedenzfall hat 
— in „Baldrian", sondern sogar in „Bullerjahn" um- 
tauft, uns an die Zeiten gemahnt in denen Verona 
und Milano in dem Mund unserer romfahrenden Alt- 



— 263 — 

vordem sich zu „Bern" und „Mailand" verschoben. 
xlUe diese Betrachtungen, mag ihr Beisatz von feind- 
seliger Gesinnung ein grösserer oder ein geringerer 
sein, führen uns zu dem Wunsche dass bald eine 
Aufgabe gelöst werden möchte die bisher nur in ein- 
zelnen Theilen berücksichtigt worden ist, die Aufgabe 
nämlich die kulturgeschichtlichen Beziehungen zwischen 
der romanischen und der germanischen Welt an dem 
Austausche der Wörter und Kedensarten wie er seit 
den ältesten Zeiten bis heute stattgefunden hat, zur 
Anschauung zu bringen. 

Wenn der Krieg selbst uns veranlasst die Art 
des sprachlichen Gegensatzes und die einzelnen rein 
äusserlichen Vermittlungen desselben zu erwägen, so 
lenkt der ersehnte Friede unsere Aufmerksamkeit auf 
die räumliche Darstellung dieses Gegensatzes, auf 
die Sprachgrenze. Was über sie vorläufig gesagt 
werden kann, findet man in R. Böckhs trefflichem 
Buche. Von französischer Seite mangeln genauere 
statistische Angaben. Den Franzosen sind Unter- 
suchungen über die Sprachverhältnisse ihres Landes 
nicht erfreulich ; gehorsam ihrer grossen Lehrmeisfcerin 
Rom, der imperatrice di molte favelle, erblicken sie 
die Nationaleinheit in der Staatseinheit und suchen 
jede andere Sprache als das Akademiefranzösisch, welche 
innerhalb der Staatsgrenzen von ünterthanen gesprochen 
wird, zum Patois herabzudrücken. Die Thatsache auf 
welche es uns hier ankommt, ist die dass die Mark 
des neuen deutschen Reiches verschiedene kleine Theile 
vom rein französischen Sprachgebiet ablösen wird, 
nämlich das Metzer Land und vier Thalschaften dies- 
seits der Wasgen (Steinthal, Weilerthal, Leberthal, 



— 264 — 

Weissthal). Der Südwesten des Elsasses soll bei 
Frankreich verbleiben. Wir wollen den hier herrschen- 
den Patx)is kein Prognostikon stellen; die Bedenklich- 
keiten der Einen und die Befürchtungen der Andern 
können durch den Hinweis auf den wallonischen Landes- 
theil von Malmedy, welcher zu Preussen gehört, be- 
schwichtigt werden. Aber diese Patois bilden nun 
einen Theil unserer wissenschaftlichen Domäne, und 
einige allgemeine Andeutungen über sie werden nicht 
verfrüht sein. 

Die französischen Mundarten stellen sich dem 
ersten Blick zu zwei Hauptgruppen zusammen: der 
nordfranzösischen oder eigentlich französischen, und 
der südfranzösischen, deren Litteratursprache, das Pro- 
venzalische erloschen ist. Beide Massen fallen aber 
keineswegs vollständig auseinander, sondern sind durch 
Uebergänge miteinander vermittelt, welche im Osten 
allmählicher zu sein scheinen als im Westen ; ja Manche 
nehmen geradezu eine breite neutrale Zone an. üeber 
den genaueren Zusammenhang der Mundarten sind 
wir nur ungenügend unterrichtet. Schon vor 30 Jahren 
gab ein gewisser Schnakenburg, wohl Elsässer, eine 
vergleichende Schrift über dieselben heraus, welche 
zwar, besonders durch die mitgetheilten Sprachproben, 
für eine erste Orientierung recht dienlich, aber weder 
im Einzelnen genau und zuverlässig ist, noch zu be- 
merkenswerthen Gesammtergebnissen gelangt. Wenn 
ferner fast allen litterarischen Hülfsmitteln für die 
Kenntniss der einzelnen französischen Dialekte eine 
wissenschaftliche und unzweideutige Lautbezeichnung 
abgeht, so ruft hier dieser üebelstand in seiner Verviel- 
fachung den weiteren Mangel der Einheitlichkeit hervor. 



— 265 — 

Die mehr oder weniger bewusste Abhängigkeit von 
der Schriftsprache welche überhaupt bei mundartlichen 
Aufzeichnungen einzutreten pflegt, ist in Frankreich 
folgenschwerer als etwa in Italien oder Spanien, so- 
dass demjenigen der nicht das Korrektiv eigenen 
Hörens anwenden kann, gerade über das bei den be- 
züglichen Untersuchungen Wesentlichste nicht selten 
ein ziemlicher Rest von Unklarheit bleibt. 

Im Mittelalter theilte sich Nordfrankreich in drei 
mundartliche Kreise, oder vielmehr es bestanden hier 
drei litterarisch gepflegte Hauptmundarten: das Nor- 
mannische, das Pikardische, das Burgundische. Diese 
Dreitheilung hat sich in der Neuzeit sehr verschoben. 
Das Normannische ist eigentlich abgestorben, die 
heutige Mundart der Normandie kann nicht als sein 
echtes Kind betrachtet werden, da ihr seine wesent- 
lichsten Züge fehlen. In England schien dem Norman- 
nischen ein grosses und reiches Terrain gewonnen zu 
sein; aber die Vorsehung hatte beschlossen dass Glad- 
stone in germanischer und nicht in romanischer Zunge 
reden sollte, was freilich viele studierte Leute nicht 
wissen, oder nicht wissen wollen. Aus dem Burgun- 
dischen hob sich die Mundart von Ile-de-France ab 
und bildete sich zur allgemeinen Schriftsprache aus. 
Stellen wir uns in dieses Centrum und halten wir 
wie von einem Leuchtthurm eine Kundschau über das 
Land, so nehmen wir wahr dass in der südwestlichen 
Hälfte (etwa links von Tonne und Seine) die Dialekte 
weder untereinander noch vom Centrum bedeutend 
abweichen, dass aber in der nordöstlichen Hälfte gerade 
das Gegentheil stattfindet, dass hier die Sprache stark 
in Saft geschossen ist und viel üppige Sprossen ge- 



— 266 — 

trieben hat. Nach Deutschland und der deutschen 
Schweiz zu bemerken wir einen doppelten Ring von 
Mundarten, einen innern : Pikardisch, Burgundisch^ 
und einen äussern: Wallonisch, Lothringisch, Franc- 
comtois. Vom Pikardischen, das in der Gegend von 
Valenciennes die Sonderbezeichnung RoucU empfangt, 
scheidet sich das Wallonische scharf genug; in ihm 
hat die Centrifugalkraft einen so hohen Grad erreicht 
dass es vielfach nicht als französische Mundart, sondern 
als besonderes romanisches Idiom angesprochen wird. 
Man könnte in der That seine Stellung zu den fran- 
zösischen Mundarten mit der des Friaulischen zu den 
italienischen vergleichen; nur ist hier der Gegensatz 
noch weit bestimmter ausgeprägt, und die Loslösung 
des Friaulischen aus dem italienischen Verbände durch 
den neuen Anschluss an das Ladinische Tirols und 
das Churwälsche gleichsam sanktioniert. Wie übrigens 
Berghaus in einem Aufsatze von 1852 (nach Böckh) 
das Wallonische als die rechte Mutter der französischen 
Schrift- und Büchersprache hat bezeichnen können, 
ist mir vollständig unklar. Das Lothringische und 
das Franc-comtois sind aus dem Schosse des Burgun- 
dischen hervorgegangen, haben sich ihm aber durch 
verschiedene Unarten beträchtlich entfremdet. Ab- 
zweigungen des Franc-comtois und seines üebergangs 
zum Südfranzösischen, des Jurassien sind die Patois 
der Schweiz und Savoyens, welche zwar auch manche 
alpenhafte Besonderheiten zur Schau tragen, aber doch 
wohl nicht als ein eigener dritter Ring aufzufassen 
sind. Bei dieser Gelegenheit kann ich übrigens die 
Befürchtung nicht unterdrücken dass die Notizen des 
Gothaischen Hofkalenders von 1871 über die Sprach- 



J 



— 267 — 

Verhältnisse Prankreichs in dem Kopf eines Laien 
leicht einige Verwirrung anrichten möchten. Dass 
das Wallonische neben Flämisch, Deutsch und Bretonisch 
als besondere Sprache aufgeführt wird, mag nach dem 
Obengesagten gelten. Aber daneben durften nicht 
Baskisch, Gaskognisch, Katalanisch, Italienisch, Proven- 
zalisch und Burgundisch als südliche Dialekte zusammen- 
gestellt werden. Auch gehört das Burgundische nicht 
zum Süden, und wenn dasselbe in einem Gebiete von 
mehr als 6^'2 Millionen Einwohnern, nämlich in einem 
Theile des Dauphine, in Savoyen, Lyonnais, Burgund, 
Franche-Comte, Bourbonnais, Berry, Nivernais und 
einem Theile der Champagne (Lothringen wird nicht 
genannt) herrschen soll, so vermögen wir eine solche 
Umgrenzung nicht als in sprachlichen Thatsachen be- 
gründet zu erkennen. 

Von den genannten französischen Mundarten werden 
innerhalb der neuen deutschen Reich sgrenze zwei ge- 
sprochen: das Wallonische in Malmedy und das 
Lothringische in Metz und den Wasgenthälern. Das 
Wallonische als einen alten Erwerb lassen wir hier 
unberücksichtigt. Von allen lothringischen üntermund- 
arten ist das Metzische {U messin) am meisten litte- 
rarisch begünstigt worden. Metz ist durchaus eine 
altromanische, keine romanisierte Stadt, und wenn sie 
auch seit alter Zeit eine kleine deutsche Bevölkerung 
enthält, so darf doch nicht die Sprachgrenze hindurch 
gezogen werden, wie Karl Braun in seinen „Elsasser 
Unterhaltungen" (Nat.-Zeit. 20. Dec. 1870) zu thun 
geneigt ist, ebenso wenig wie der Name „Metz" mit 
dem von Deutsch- und Wälschmetz, Meta theodisca 
und Meta langobardica, oder wiederum das lateinische 



— 268 — 

meta mit dem italienischen mezza (3^2 Stunden nach 
Eintritt der Nacht) irgend etwas zu schaffen hat. 
Wir besitzen eine Reihe von Denkmälern zwar nicht 
des eigentlichen, volksthümlichen, sondern des gebil- 
deteren, geschliffeneren Metzisch, oder vielmehr eines 
metzisch gefärbten älteren und alten Französisch: 
Chroniken, Urkunden, Gesetze, Atours, aus denen Dom 
Jean-Franfois ein Vocabulaire austrasien zusammen- 
getragen hat (Metz 1773). Wir vermögen also die 
historische Entwicklung der Mundart einigermassen 
zu verfolgen. Wenn Schnakenburg behauptet dass 
Rabelais, obwohl in der Touraine geboren, sich mit 
Vorliebe und Gluck des Metzischen bediene, so haben 
ihn vermuthlich die Anmerkungen von Le Duchat 
irregeführt, welcher als Metzer oft auf Metzer Sitte 
und Redeweise zu sprechen kommt. Rein lothringisch 
sind nur die Worte (Pantagr. IV, 6): Deu! Colas 
m' faillon, „Gott! Klaus, mein Sohn." Neuerdings 
hat unter Andern ein gewisser Jaclot, von Saulny, 
verschiedene kleine Schriften im Metzer Patois (dessen 
eigentlicher Sitz natürlich nicht sowohl Metz als das 
Land um Metz ist) erscheinen lassen. Die bekannteste 
ist wohl Les Passe-temps lorrains (Metz 1854). Der 
Anfang des ersten Gedichtes, La France 1848—1852 
(das zweite besingt den Staatsstreich), möge als Probe 
der Mundart und der damaligen politischen Gesinnung 
dienen : 

La France estoure o mou ogroiisse 
D^ete govemaye pl Napoleon. 
Les autes puhances an sont jalousses, 
Come don tamp de se grand nonom. 

Wörtlich ins Französische übersetzt: 



— 269 — 

La France ä present (istam horam) est trhs 

{multum) heureuse 
D'etre gouvernee par Napoleon. 
Les autres puissances en sont jalouses, 
Comme du temps de son grand oncle (nonnus). 

La France ogroussel Auguriosa — ogrousse — 
heureuse, Dass romanische Leichtlebigkeifc und Leicht- 
gläubigkeit, wie im vergangenen Krieg, keine andern 
Vorbedeutungen als gute kennt, hat hier seine sprach- 
liche Bestätigung; ja, Völkerpsychologie und Sprach- 
wissenschaft decken sich. Beiläufig sei bemerkt dass 
der Grossaugur unter welchem Frankreich so auguriosa 
war, keineswegs den Erbfehler seiner Rasse theile, er 
verstand sich genau auf Vögelflug und Vögelgeschrei, 
und sehr verstimmte es ihn wenn die Hühner die 
Bissen nicht frassen die er ihnen vorwarf (tripucUum 
infaustlssimum). War es diese germanische Kühlheit 
die ihm in so hohem Grade die Sympathien gerade 
der deutschen (ci-devant) Provinzen Frankreichs er- 
worben hat? 

Unter den am östlichen Wasgenabhang gespro- 
chenen französischen Mundarten haben wir nur über 
eine, die des Steinthals, franz. Ban de la Roche aus- 
führliche, freilich nun fast ein Jahrhundert alte Mit- 
theilung. Sie rührt von dem bekannten Elsässer Ge- 
lehrten Jeremias Jakob Oberlin (1735 — 1806) her, 
dessen wohl noch bekannterer Bruder Johann Friedrich 
im Steinthal Pfarrer war und sich um die Civilisation 
desselben sehr verdient machte. Der E^sai sur le patois 
lorrain des environs du comte du Ban de la Boche 
(Strassburg 1775) ist dem Göttinger Schlözer gewid- 
met, auf dessen Veranlassung er veröffentlicht wurde: 



— 270 — 

Votis jugiez qu'il seroit avantageux que Von fit des 
recher ches ulterieiires sur le patois en giner ah ^t sur 
celui de ces contrees en particulier, et que pour cet effet 
on imprimdt en attendant ce petit essai. Mit derselben 
Genugthuung mit welcher wir diese deutsche Anregung 
französischer Dialektstudien konstatieren, lesen wir die 
Verse am Schlüsse der Widmung, die uns freilich aus 
dem Mund eines zu annektierenden Elsässers oder 
Lothringers noch willkommener klingen wurden: 

Vo8 a trop bi-n e vote aise; 

On 7i'a mi dcht nos, 
Biai Sire, ne vos depiaise, 

Asi bi-n qu'on a dchi vos. 

Das heisst wörtlich: 

Vous etes trop bien ä votre aise; 
On n'est pas {mica) chez nous, 
Beau (Mon)8ieur, ne vous deplaise, 
Aussi bien qu'on est chez vous. 

Von demselben Oberlin erschien 1791 zu Strass- 
burg: Observations concemant le patois et les mceurs 
des gens de la campagne. 

Die Mundart von Lapoutroie (Weissthal) soll sehr 
sowohl vom Lothringischen überhaupt als auch gerade 
vom Steinthalischen abweichen; nach französischem 
Urtheil erinnert sie am meisten an das alte Keltisch. 

Wir gedenken im Vorbeigehen der lexikographi- 
schen Arbeiten die sich auf andere Lothringer Mund- 
arten beziehen, nämlich der von Cordier für das De- 
partement der Meuse und der von Kichard für das 
Departement der Vosges, und auch speciell für den 
Ort Dommartin bei Eemiremont. 

Das Franc-comtois nähert sich, indem es die 
Grenzen des Elsasses überschreitet, dem Lothringischen 



— 271 — 

sehr an, ja eine uns vorliegende Sprachprobe aus der 
Altkircher Gegend zeigt sogar mehr charakteristische 
Merkmale des Letzteren. Es fehlt uns, um ein sicheres 
ürtheil zu fällen, an Stoff; Fallots Untersuchungen über 
die Patois der Franche-Comtö, Lothringens und des 
Elsasses (Montbeliard 1828) würden wohl Aufklärung 
geben. 

Es ist also das Lothringische welches über Mosel 
und Wasgen herüber seine Zweige in das neue Deutsche 
Beich streckt. Die Bepräsentanten desselben, das 
Metzische und das Steinthalische locken den Linguisten 
durch manche besondere Beize an, und zwar dieses 
noch weit mehr als jenes, da es den Endpunkt eines 
längeren Badius bezeichnet. Denn dass es im Gebirge 
versteckt und gegen den Westwind geschützt liegt, 
das getraue ich mir nicht in Anschlag zu bringen. 
Würde doch ein Franzose der auf einer Beise von 
Metz nach dem Steinthal den zunehmenden Barbaris- 
mus studierte, in Luneville aus den Klängen des Patois 
so ziemlich richtig die Halbwegsentfernung vom Stein- 
thal heraushören. Wir können uns hier auf eine Cha- 
rakteristik beider Mundarten weder in ihrem Verhält- 
niss zueinander noch zur Schriftsprache einlassen ; eine 
solche Charakteristik ist ein schwieriges Ding, sie ist, 
dem Namen zum Trotz, nicht in wenige Worte zu- 
sammenzufassen, und, was das Schlimmste ist, sie ist, 
da sie sich fast ausschliesslich innerhalb der Lautlehre 
zu halten hat, für den nicht völlig Eingeweihten trocken 
und langweilig. Doch wollen wir wenigstens dem deut- 
schen Chauvin zu seiner Freude mittheilen dass, welche 
Einwendungen auch immer die französischen Beichs- 
brüder gegen das neue Begiment erheben mögen, eine 



-- 272 — 

ihneu abgeschnitten bleibt, nämlich die: es sei ihnen 
unmöglich deutsches h und ch auszusprechen. Wer 
rahon für raison^ dom^halle (Magd) für demolselle, 
chpäle für Spaule, laichi für laisser sagt, der ist des 
Rechtes ledig die Eauhheit der anderen Sprache unter 
die Gründe nationaler Antipathie einzureihen. Solche 
antiromanische Aspirationen kennzeichnen den grössten 
Theil der Westgrenze des Französischen, und es scheint 
fast als ob nicht nur in den Gemüthern, sondern auch 
in der Sprache die „Hoch", „Hussah", „Hailoh", „Hai- 
diridoh" (s. Scheffel) unserer Vorfahren, die also fast 
Sprachpioniere gewesen wären, einigen Eindruck hinter- 
lassen hätten. 

In der Konjugation haben die kommunistischen 
Ideen der Franzosen eine merkwürdige, ich weiss nicht, 
soll ich sagen Verwirrung oder Vereinfachung bewirkt. 
Zunächst werden die Personen verwechselt, zwar nicht 
das Mein und Dein — aber was eigentlich gerade so 
schlimm ist — das Mein und Unser : durch ganz Frank- 
reich sagt das Volk favons für nous avons (selten kommt 
favons für fai vor). Dann, und dies ist wenigstens 
im Norden allgemein gäng und gäbe, wird der Besitz- 
stand der Personen verwechselt oder vielmehr Gemein- 
gut : durch alle drei Personen des Plurals heisst es z. B. 
dje, vos, il — aimine (nous aimions, vous aimiez, iU 
aimaient). Das stolze Gebäude der lateinischen Kon- 
jugation, welches mehr und mehr verfallen ist — daher 
Stützen und Klammern als da sind Personalpronomina 
und Hülfszeitwörter — bietet hier nicht einmal den An- 
blick einer malerischen Ruine dar ; der praktische Geist 
ist wie mit einem Hobel darüber hingefahren, und nur 
selten wird das Auge für den Verlust antiker Säulen- 



— 273 - 

kapitale und Giebelschmucks durch einen mittelalter- 
lichen Kragstein oder Dachrinnenausguss wie que 
dje ßnisseusse (Jinisse) oder que f euiecince (eussions), 
einigermassen entschädigt. Aber da wir hier Linguistik 
noch ein wenig im Sinne des preussischen Landwehr- 
manns Eutschke treiben, so haben wir vor allen 
Dingen nach heimischen Wörtern umherzuhorchen. 
In bedeutender Anzahl begegnen uns solche im Stein- 
thal. So tritt uns verschiedenes Geflügel und Gewürm 
unter deutschen Namen entgegen: chtork, Storch, 
(Apatz^ Spatz, chnidre, chnadrelle, Eidechse (heisst 
diese in irgendeiner Mundart „Schneider", „Schneider- 
lein"?), chnoque^ Schnake, hohrnat^ Horniss, roupe^ 
Raupe, vov£indel, Wanze (im älteren Hochdeutsch 
auch „Wentel", aus ursprünglichem wantlüs, Wandlaus, 
woher die Romanen von Enneberg und Abtei in Tirol 
ihr antbis haben). Dann eine ganze Reihe von andern 
Substantiven, meist konkreter Bedeutung: bouocha^ 
Buche, buobe, Bube, chlitte, Schlitten, chnitses, Schnitze, 
ehtande de beurre, Butterstand, chuebe, Schwefel, 
hauoue, Haue, hofe, Hof, keubli^ Kühler, quoetckes^ 
Zwetschen (mundartl. „Quetschen"), voudle^ Wahl. Viele 
Zeitwörter: ekelte, schelten, s' chutd^, sich schütteln, 
erfär^, erfahren, fcerbk, färben, grodk, gerathen, kiUk, 
kühlen. Wenig Adjektive: kiatte, glatt, vouonderli, 
wunderlich. Sogar eine untrennbare Präposition in 
frconü, sich ver-zählen, welches ein merkwürdiger 
Fall internationaler Wortehe ist. In Luneville neben 
ale auch iö, ja. Manche Wörter die Deutschen und 
Franzosen gemeinsam sind, tragen deutsche Uniform; 
so crappe, Krippe (crec/ie), Chtrosebourgue, Strassburg 
(Strasbourg), Chuitze, Schweizer (Sidsse), oryelles, Orgel 

Schuchardt, Romanisches n. Keltisches. 18 



— 274 — 

(orgues). Und wie heimeln uns nicht an Bcerbele, 
Bärbel, Hairie, Heiri, Ouali, Uli, YSri/, Joerg ! Setzte 
sich diese thalaufwärts gerichtete Wanderung deutscher 
Wörter unablässig fort, so würden die Steinthaler 
schliesslich in die gleiche Lage kommen wie ein ge- 
wisser Völkerstamm Südamerikas im vorigen Jahr- 
hundert. Derselbe entdeckte nämlich eines Tages dass 
alle Wörter deren er sich bediente, spanisch waren, und 
ihm von der alten Sprache weiter nichts als die Gram- 
matik geblieben war, dass er also rufen konnte : Alles 
verloren, nur die Ehre nicht. Aber deshalb darf man 
nicht zu voreilig diese fremden Elemente im Patois 
als die siegreichen Spitzen des feindlichen Heeres be- 
trachten; könnten sie nicht auch abgeschnittene und 
gefangene Heeresmassen, nicht auch Deserteure be- 
deuten? Annektieren sie oder werden sie annektiert? 
Die Frage ist gerade ebenso schwierig zu beantworten 
als die : ob die Deutschen in Paris den Parisern, oder 
diese jenen mehr zu verdanken haben. Immerhin steht 
das Eine fest: wo zwei Sprachen bei sonst gleichen 
Bedingungen um ein Terrain ringen, wird diejenige 
den Sieg davon tragen welche am meisten aus dem 
Wortschatze der andern annimmt, die sprödere, heiklere 
unterliegen. Jene hat den Nachtheil übel zugerichtet 
zu sein, den Vortheil den Platz zu behaupten. Es 
kommt also auch hier, wie beim Maccaroniwettessen, 
auf den guten Magen an. — Spärlicher und weniger 
leicht erkennbar ist der deutsche Beisatz im Metzischen, 
z. B. : chZon^, schlagen, chp^keur, Spieker (Schiffsnagel), 
couesse^ Zwetsche, handU^ kehren, houre, rocha, Bock 
(vgl. franz. röchet, Chorrock). Die Wörter germanischen 
Ursprungs gehören nämlich hier schon meist derselben 



— 275 — 

Kategorie an wie die in den Mundarten des innern 
Frankreichs, d. h. ihre Matrikel ist eine sehr alte. 
Die Mundarten stehen hierin noch auf der Stufe des 
Altfranzösischen, das an solchen Wörtern viel reicher 
ist als die neufranzösische Schriftsprache, obwohl auch 
so der Akademie der Schmerz nicht erspart geblieben 
ist fast auf jedem Blatt ihres Wörterbuchs Spuren 
barbarischer Invasionen verzeichnen zu müssen. Hr. 
fidelestand du M6nl scheut, damit er nichts mit den 
Deutschen zu thun habe, die weite Fahrt nach Island 
nicht um von dort allen barbarischen Wortvorrath der 
romanischen Sprachen herzuholen ; doch dünkt es uns, 
er habe zu viel mitgebracht, denn sollte erst der 
Isländer den Italiener das andare (andra) und den 
Franzosen die courtoisie (kurteisi) gelehrt haben ? Frei- 
lich erschien seine Ilistoire de la pohie scandinave zu 
einer Zeit in welcher man schon stark nach dem deut- 
schen Ehein schielte, und ein gelinder Wahnsinn alle 
guten Franzosen befing, womit indessen keineswegs 
gesagt sein soll dass dieser Wahnsinn bei ihm ein 
vorübergehender gewesen sei. üebrigens dürfte auch 
neuerdings, während der Feldzüge von 1814 und 1815 
und nachher, manches deutsche Wort tiefer nach Frank- 
reich hineinverschlagen worden sein. — Im Steinthal 
merkt man noch an manchem Anderen die deutsche 
Nachbarschaft. So sind z. B. den deutschen Wörtern 
„Katze", „Arbeit", „Predigt", „Luft" zuliebe chat^ 
travail, preche, air zum weiblichen Geschlecht über- 
getreten. Bekannt ist die romanische Unbeständigkeit 
des Adjektivs, das seinem Substantiv bald voraneilt, 
bald hinter ihm herhinkt. Der Deutsche sieht auf Zucht 

und Ordnung ; er stellt es immer vor. Die Steinthaler 

18* 



— 276 — 

haben manche Neuerung in deutschem Sinne gemacht ; 
sie sagen z. B. d^aigres-dchottes für des chorix aigres^ 
sdvaidge djas für coq sauvage. Die Malmedyer, nun 
schon geraume Zeit Preusseu, haben es noch weiter 
gebracht: Veras vai für le veau gras ist ihnen mund- 
gerecht worden ; doch möchten wir warnen einen direk- 
ten landräthlichen Einfluss vorauszusetzen. 

Die Geschichte der französischen Sprachgemeinden 
am östlichen Abhänge der Wasgen ist noch nicht auf- 
gehellt. Man berufe sich nicht auf deutsche Orts- 
namen, mit denen es sich verhalten kann wie mit 
manchen in Graubünden, Tirol und Friaul. Zu Botbau 
und Waldersbach im Steinthal erscheint das Bomaniscbe 
als altansässig; und wenn die Bothauer die Walders- 
bacher grobiches nennen (was von diesen durch hablas, 
d. i. hableurs erwidert wird), so deutet dies nicht 
etwa auf die grob-germanische Abkunft der Letzteren, 
sondern bezieht sich darauf dass bei ihnen der Ge- 
brauch des Lautes ich in höchster Blüthe steht, der zu 
Bothau unbekannt ist; grobiches wird gesagt für gro- 
büches, Dickschnäbler. Auch lasse man sich, wenn 
man die sonst treffliche Kiepert'sche Karte der Grenz- 
länder vor sich hat, nicht durch die gelbe Farbe 
beirren, welche früher deutsches, seither grösstentheils 
französisch gewordenes Sprachgebiet bezeichnet. Viel 
wahrscheinlicher ist es uns dass hier das Germanische 
das Bomaniscbe zurückgedrängt habe als dass es von 
ihm zurückgedrängt worden sei. Aber es ist noch ein 
anderer Fall denkbar: es ist weder germanisiert noch 
romanisiert worden; jede Gemeinde ist bei ihrer ur- 
sprünglichen Sprache verblieben, und die Gemischtheit 
des Sprachgebiets ist nicht so zu erklären dass Grenz- 



— 277 — 

festungen darch Eroberung aus der einen Hand in die 
andere übergegangen sind, als vielmehr so dass die 
Demarkationslinie von der einen oder von beiden Seiten 
durch Kolonisation überschritten worden ist. So besteht 
Markirch (Leberthal) aus zwei Kirchspielen, einem früher 
lothringischen und einem elsässischen, die eine Brücke 
über den kleinen Pluss verbindet. Jenes ist katholisch 
und französisch, dieses protestantisch und deutsch, und 
sogar in Sitte und Kleidung verräth sich die ver- 
schiedene Abstammung. Wenigstens bestand dieser 
Gegensatz vor nicht zu langer Zeit noch in seiner 
ganzen Schroffheit; seitdem mag er sich vielfach ver- 
wischt haben. Da in diesem Orte sogar manche Häuser 
zu einem Theil dieser und zum andern jener Provinz 
angehörten, so sagte man scherzend : „man macht das 
Brod im Elsass, und man bäckt es in Lothringen", 
oder „die Frau schläft im Elsass und der Mann in 
Lothringen". 



Neben dem besprochenen Französisch haben wir 
in den neuerworbenen Provinzen noch ein anderes 
Französisch, das allerdings vom rein linguistischen 
Standpunkt weniger beachtenswerth erscheint, um so 
mehr aber von jedem andern; neben diesen trotzigen, 
ungeschliffenen Patois, welche, um hier an der Grenze 
jede unliebsame Erörterung von vornherein abzuschnei- 
den, mit kühner Umgehung des Römerthums auf ihre 
keltische Herkunft pochen, haben wir ein Französisch 
von feinen Formen und einschmeichelndem Auftreten, 
welches per Achse aus dem „Mittelpunkte der Civilisa- 
tion" hieher verpflanzt worden ist. Noch lagert über 



— 278 — 

dem Deutschen dieses Französisch gleichsam wie eine 
Nebelschicht ; aber es würde sich allmählich verdichtet 
und jenes erstickt haben. Ja, es sind im Elsass, 
weniger in Deutschlothringen, sehr wesentliche Ansätze 
zu einer Komanisierung vorhanden, die in nächster 
Zukunft wahrscheinlich rasche Fortschritte gemacht 
hätte, die aber nun Marte nostro auf immer unmöglich 
geworden ist. Der Plan war vorgezeichnet: at enhn 
Opera data est ut imperiosa civitas non solum jugum, 
verum etiam linguam suam domitis gentibus per pacem 
societatis imponeret, wie der hl. Augustin sagt. Es 
wirft sich nun eine doppelte Frage auf, die nach dem 
jetzigen Thatbestand, dem statistischen Verhältuiss des 
Französischen zum Deutschen, und die nach dem ge- 
schichtlichen Verlauf, den Mitteln der Französierung 
und ihren Hindernissen. Bis unter der deutschen Ver- 
waltung genauere Erhebungen veranstaltet werden, sind 
wir auf französische Quellen angewiesen, und besonders 
auf die sehr interessante: La langue frangaise dans 
les d^partements de VEst, ou des moyens et des mStJiodes 
ä employer pour propager la langue nationale dans les 
parties de VAlsace et de la Lorraine oii Vidiome alle- 
mand est encore en usage, Par J, Wirth, Paris 1867, 
Hier wird die Frage dahin beantwortet dass von 
mehr als einer Million Franzosen deren Muttersprache 
Deutsch ist, die Hälfte kein Wort Französisch ver- 
stehe, und kaum ein Viertel in dieser Sprache sich 
ausdrücken könne (S. 16). Es wird beispielsweise 
angeführt dass 1866 im Arrondissement Weissenburg 
von 1026 Konskribierten 472 kein Wort Französisch 
verstanden, und hinzugefügt dass im ganzen Departe- 
ment das Verhältniss das gleiche sei, und in Deutsch- 



— 279 — 

lothringen mit 129,508 Einwohnern auf 90 : 100 steige. 
Dass die Zweisprachigkeit zum grössten Theil in der 
städtischen Bevölkerung und nur zu einem sehr geringen 
in der ländlichen vertreten ist, bedarf kaum der Er- 
wähnung. Was ein ebenso wesentliches Moment, aber 
im einzelnen schwer festzustellen ist, sind die ver- 
schiedenen Abstufungen der Zweisprachigkeit. Beson- 
ders ist dabei im Auge zu behalten dass Verstehen 

• 

und Sprechen keineswegs in gleichem Verhältniss zu- 
nehmen, und dass wiederum in Bezug auf dieses ver- 
änderliche Verhältniss die Individuen sehr voneinander 
abweichen. Daran reiht sich die weitere Wahrnehmung 
dass in den meisten Fällen in denen die höchste Fertig- 
keit im Sprechen erreicht worden, die Qualität des 
Französischen hinter derselben ein gutes Stück zurück- 
geblieben ist. Das in reiner Form nach dem Elsass 
eingebürgerte Französische unterliegt einer bedenk- 
lichen Inficierung von Seiten des Deutschen, für welche 
es nur geringe Vergeltung auszuüben vermag. Am 
schwierigsten weist einen solchen Einfluss die Aus- 
sprache ab, vorzüglich deren musikalische Seite, der 
Rhythmus und der Accent. Die Franzosen beklagen 
sich darüber dass die Elsässer die deutsche Prosodie 
ins Französische übertragen, und dass sie beim 
Sprechen den Mund nicht genug öffnen, sodass jene 
dumpfe Aussprache tmlesque entstehe. Erkennen doch 
sogar wir Deutschen die Elsässer unter den Kriegs- 
gefangenen sofort an ihrem Accent und noch mehr 
allerdings an den eigentlichen Fehlern der Aus- 
sprache, besonders jener behaglichen Gleichgültigkeit 
in Betreff des Schwingens oder des Nichtschwingens 
der Stimmbänder bei Erzeugung der Konsonanten, 



- 280 — 

welche uns so sympathisch berührt dass wir ausrufen 
möchten: „Kommt an unsere Brust, Elsässer, wohin 
ihr gehört! Euer Herz sei wo euer Mund ist! Ihr 
lernt doch nimmer Französisch, nicht jenes Französisch 
das im Glänze der Urbanität strahlt; drei Worte aus 
eurem Mund, und man weiss dass ihr Keller oder 
Schneider oder Köchly heisst. Die Franzosen haben 
den gaskognischen Accent, sie haben den provenzali- 
scfien, den pikardischen, den elsässischen. Warum ist 
ihnen der elsässische am fürchterlichsten? Weil er 
von germanischem Hauch angekränkelt ist, und sie 
die Germanen hassen. Man verlacht euch um eures 
Accentes wie um eurer Tournüre willen; ihr seid die 
beliebten Figuren der Bühne und des Komans. Ihr 
gleicht dem Skythen des Aristophanes, dem Pränestiner 
des Plautus, dem Dalmatiner des Andrea Calmo, dem 
Walliser Shakspeares. Und wenn man euch euren 
Accent überhaupt vergibt, so ist es weil er einen so 
pikanten Zusatz zu den Beizen der hübschen Alsaciennes 
bildet . . . ." Es gibt aber nicht bloss einen Elsässer 
Accent („Accent" als feinste Blüthe der Aussprache 
wird oft im Sinne von Aussprache überhaupt gebraucht), 
sondern auch ein Elsässer Französisch, ein mit Ger- 
manismen durchsetztes Französisch. Hier einige Proben 
davon: Est-ce que cela vous goüte? II a frappi dix 
heures, II brule chez M. Meyer, Ce qui est Uger, vous 
Vappendrez fadlement, Cher ami, ne prends pas pour 
mauvais, Pas si beaucoup, Attendez, fapporterai une 
citadine. Der Franzose ist versteinert wenn er Solches 
hört; mais c'est du haragouin^ c'est inintelligible ! ruft 
er aus. Man beachte wie rasch der Franzose mit 
diesem Wort inintelligible bei der Hand ist, ohne zu 



— 281 — 

bedecken dass ein allzu häufiger Gebrauch desselben 
wenig schmeichelhafte Vorstellungen von seinen geisti- 
gen Kapacitäten erwecken dürfte. Es mag sein Ohr 
und sein Sprachgefühl sehr fein und empfindlich sein, 
und er mag daher von schlechter Aussprache und 
inkorrekter Rede besonders unangenehm berührt wer- 
den; ist es aber deshalb noth wendig gleich den ver- 
zweifelten Standpunkt des Nichtverstehens einzuneh- 
men? Das Ohr des Italieners ist noch viel empfind- 
licher, und wie wunderbar gelingt es gerade ihm den 
geheimnissvollen Artikulationen hinter dem Zahngeheg 
eines Britten den rechten Sinn beizulegen ! Sicherlich 
reden sich die Franzosen um der Eleganz willen diese 
inintelligibllite meistens selbst ein — wenigstens be- 
greifen sie die dumpfen Kundgebungen unserer Krieger 
ziemlich leicht. Wenn die Elsässer nicht selten 
schlechter Französisch sprechen als manche Deutsche, 
so kommt dies daher dass sie aus schon getrübter 
Quelle schöpfen. Das Französische wird nicht in dem 
Grade wie das Wasser eines Aquariums, sondern nur 
durch einen verhältnissmässig geringen Zuzug aus dem 
Innern Frankreichs erneuert. Und jene Fehler der 
Aussprache und der Rede, gerade weil sie so früh, in 
der Schule oder in der Familie, angelernt sind, werden 
später, auch in Pariser Luft, schwer wieder abgelegt. 
Werfen wir noch einen flüchtigen Blick auf die 
Geschichte der französischen Propaganda, namentlich 
im Elsass (Wirth Kap. IV und V). Man muss gestehen 
dass hier vor der Revolution die französische Sprache 
so gut wie keinen festen Boden gewonnen hatte. Zwar 
nahm das Provincialparlament gleich anfangs das Fran- 
zösische als Geschäftssprache an, und die drei Räthe 



- 282 - 

deutscher Zunge wurden bald beseitigt. Dagegen be- 
stimmte erst ein Erlass vom 30. Jänn. 1785 dass die 
Sprache alles öffentlichen Verfahrens die französische 
sein müsste. In Strassburg aber herrschte bis zur 
grossen Umwälzung ausschliesslich das Deutsche. Die 
Jakobiner erklärten dem Deutschthum einen erbitterten 
Krieg ; unter anderm wurden am 27. und 30. Jänn. 
1794 die ecoles de langue gegründet. Unter dem ersten 
Kaiserreich und der Eestauration machte dann das 
Französische wieder geringere Fortschritte; eine neue 
Aera begann für dasselbe erst mit dem Gesetz über 
den Volksunterricht vom 28. Juni 1833, besonders sind 
die Kleinkinderschulen ein wesentliches Werkzeug seiner 
Verbreitung geworden. Und unter der letzten napo- 
leonischen Regierung scheint die Französierung an 
Nachdruck bedeutend zugenommen zu haben. Wenig- 
stens sagt Wirth S. 92 : En Alsace, c'est surtout depiiis 
1850 que Vimpulsion en faveur de la langue frangaise 
%fut donnee d'en haut, et qu*elle trouva un concoitrs dans 
les couches niemes de la population ou eile rencontrait 
jadis de la rhistance. In diesen Worten liegt auch 
das Verhalten des Volks zu der aufgedrungenen Sprache 
angedeutet. Der Samen des Französischen konnte auf 
keinen weniger empfönglichen Boden fallen als auf 
diesen. Französischen Esprit in den harten Alemanncn- 
schädel, französisches j in die Kehle die sich am ch 
so vergnügte, zu verpflanzen, das musste eines der 
schwierigsten Unternehmen sein. Der Widerstand dieses 
zähen, konservativen Stammes gegen Sprachneuerung, 
bekanntermassen vom Klerus nach Kräften unterstützt, 
hat daher den politischen Gegensatz bis heut überdauert. 
Um nur Eines hervorzuheben, so beweisen die Berichte 



— 283 — 

über die Gemeindebibliotheken dass in den Dörfern und 
selbst in einigen Städten weit mehr deutschen als 
französischen Büchern nachgefragt wird ; ja der Präfekt 
des Bas-Khin beklagte sich darüber dass die Behörden 
einer Gemeinde ihm vorgeschlagen hätten die Gemeinde- 
bibliothek ausschliesslich aus deutschen Büchern zu- 
sammenzusetzen (Wirth S. 128). Allein all dieser 
Widerstand hätte schliesslich nur um der Nützlichkeit 
willen aufgegeben werden müssen. In einem so cen- 
tralisierten Lande wie das napoleonische Frankreich 
war Kenntniss der Ländessprache für jeden der auf 
irgend einer Bahn vorwärts kommen wollte, eine un- 
bedingte Nothwendigkeit. Dazu ist nun allerdings in 
den höheren Klassen noch ein gesteigertes, ja über- 
steigertes Nationalgefühl getreten, und vornehmlich 
unter der heutigen Jugend zählt das Franzosenthum 
seine eifrigsten Anhänger, die freilich auch wie Schmet- 
terlinge vom Brennpunkt Paris angezogen werden. Es 
sind nicht bloss Franzosen, es sind Fransquillons, die 
sich bemühen das von der Mutter erlernte Deutsch zu 
vergessen oder die es zum mindesten verleugnen. Wirth 
hat vollkommen Kecht wenn er S. 20 sagt: On refuse 
ä la France le genie de la colonisation ; c'est peut-etre 
vrai, inais on ne peut certes pas lui contester le genie 
de V assimilation. Auch das Landvolk, das noch heute 
die gross te Abneigung gegen das „Wälsche" an den 
Tag legt, würde allmählich durch die Rücksicht auf 
den Vortheil dazu bestimmt worden sein die Erlernung 
der fremden Sprache geradezu zu wünschen. Mit so 
lebhaften Farben schildert Wirth die Hülflosigkeit 
und gelegentliche Vereinsamung der Bauern die nicht 
Französisch verstehen, sowie den daraus erwachsenden 



— 284 — 

moralischen Schaden dass wir sagen müssen, dieser 
mittelbare Sprachzwang ist härter und grausamer als 
der unmittelbare. Wir stimmen ihm bei: jene Ge- 
genden in denen das Französische unbekannt ist, sind 
unglückliche Gegenden, aber deshalb weil Leute die, 
auch wenn sie es wollten, keine Gelegenheit und keine 
Mittel hätten Französisch zu lernen, mit vollständiger 
Nichtberücksichtigung dieser Thatsache französisch 
regiert werden. Darf man wohl sagen: Ignorantia 
linguae non excusat^ Wirth erzählt im zweiten Kapitel 
eine Keihe tragikomischer VorföUe {Trihulations d*une 
famille alsacienne qui ne savait pas le frangais) welche 
beredter als jede Auseinandersetzung die Annexion des 
Elsasses an Deutschland befürworten. Hier ein Auszug 
davon. 

Der Held dieser Geschichte heisst der Schulzen- 
peter und ist Maire eines Dorfes das 15 Kilometer 
von Strassburg entfernt liegt. Die Kenntniss der 
französischen Sprache beschränkt sich im Dorf auf 
wenige junge Leute die im Militär gedient haben, und 
auf den Pfarrer und den Schullehrer. Sogar bei dem 
Letztern ist sie eine sehr ungenügende. Der Maire 
empfängt einst von der Präfektur eine Krankheiten- 
tabelle zum Ausfüllen, und der Lehrer, zugleich Ge- 
meindeschreiber setzt in die Kolumne die für die crkim 
bestimmt ist, in Folge der kühnen Gleichung cräins 
= chritiens die Worte: Cretins? nous le sommes tous. 
Ein anderes Mal erhält die Präfektur auf die Frage 
nach den Antecedentien eines Bittstellers die erbau- 
liche Antwort: Tous les antecMents du postulant sont 
decMh, In diesem von zwei Jahrhunderten franzö- 
sischer Herrschaft so wenig berührten Dorfe trifft nun 



— 285 — 

eines Tages plötzlich der Präfekt ein, der natürlich in 
das grösste Erstaunen geräth .als er niemanden findet 
der ihn versteht. Der Maire, dessen Haus er nicht 
ohne Mühe ermittelt, antwortet auf seine Fragen: 
„Nichts wälsch!" Aber Toni, der Knecht des Maire, 
gewesener Kürassier wird der rettende Engel des Prä- 
fekten, d. h. sein Dolmetscher. Die Schulbesichtigung 
liefert ein wenig befriedigendes Ergebniss, kein gün- 
stigeres die Verhandlung mit dem versammelten 6e- 
meinderath. Letzterer beschwert sich über den Steuer- 
einnehmer, der seine (französisch geschriebenen) Eech- 
nungen ihnen nicht habe erklären wollen und ihnen 
gesagt habe: „Geht in die Schule und lernt lesen." 
Nach der Abreise des Präfekten lässt der Maire seinem 
Unmuth freien Lauf: „Sollte man nicht meinen dass 
auch der Präfekt uns in die Schule schicken wollte? 
Als ob er nicht mehr Zeit hätte Deutsch zu lernen. 
Ich habe Hrn. Lezay-Marnösia und Hrn. Sers gekannt ; 
das waren tüchtige Präfekten, sie sprachen Deutsch 
wie ihr und ich, und waren doch keine Elsässer." 
Der Pfarrer stimmt, wie wohl jeder Vernünftige 
thun muss, dieser Auffassung bei und motiviert sie 
näher. Infolge der hohen Orts gemachten Ent- 
deckungen wird der alte Lehrer durch einen jungen 
ersetzt; der Maire macht aber nicht diesen, sondern 
einen früheren Gerichtsboten zum Gemeindeschreiber. 
— Ein Strassburger Professor, leidenschaftlicher Bota- 
niker lässt sich durch die deutsche Warnungsinschrift 
„Verbotener Weg" nicht aufhalten, indem er sich sagt: 
„In Frankreich kann nur das Französische Gesetzeskraft 
haben." Dieser Anschauung halber verurtheilt ihn der 
Maire zu 10 Franken Busse. Einige Tage darauf 



— 286 — 

kommt dem Adjunkten des Maire eine Ausfertigung 
der Präfektur zu, des Inhalts dass der Maire est suspendu 
de ses fonctions. Der Adjunkt bittet den Briefträger 
sie ihm zu übersetzen; dieser aber dringt auch nicht 
tiefer in das Verständniss des französischen Textes 
ein als um zu erkennen dass mit dem Maire irgend 
etwas vorgenommen werden müsse. Aber was? ein 
Taschenwörterbuch wird zu Rath gezogen: suspendu 
bedeutet „aufgehängt". Der Maire soll gehängt wer- 
den! Gehängt! gehängt! Furchtbarer Schrecken, bis 
die Aufklärung durch den Pfarrer erfolgt. An die 
Stelle des Schulzenpeter kommt ein junger Mann, und 
dieser betraut den jungen Lehrer mit dem Gemeinde- 
schreiberposten. — Der alte Maire und der von ihm 
ernannte Gemeindeschreiber (der in der That ein 
Schurke ist) werden der Erpressung angeklagt und 
nach Strassburg abgeführt. Nach drei Monaten Haft 
erscheint der Schulzenpeter, um zehn Jahre gealtert, 
vor dem Gerichtshofe. Keine Worte können die Innern 
Qualen ausdrücken welche ein Angeklagter empfinden 
muss wenn er die Anklageakte, den Antrag der Staats- 
anwaltschaft, die Rede seines Vertheidigers , die Er- 
widerung, kurz alle Verhandlungen anhört ohne etwas 
Anderes zu verstehen als dass sein Name jeden Augen- 
blick genannt wird. Der Unglückliche wirft flehende 
Blicke bald auf den Gerichtshof, bald auf die Ge- 
schwornen, als ob er in den Augen eines Jeden das 
Loos welches ihn erwartet, zu lesen hofl'e. Bei der Ver- 
kündigung des ürtheils sieht er seinen Mitangeklagten 
erblassen und glaubt auch sich verurtheilt, während 
er in der That freigesprochen ist. Ohnmächtig sinkt 
er zusammen ; als er den Sachverhalt erfahrt, weint er 



- 287 - 

wie ein Kind. Da erst wird ihm der Ausruf abgepresst : 
„Ich gäbe die fünf Finger meiner Hand darum Französisch 
sprechen zu können!" — Peter will eine Reise machen 
und zwar mit der Eisenbahn. Aber weil er Ribeauvill^ 
und Saint-Hippolyte nicht mit Rappschwihr (dem Ziel 
seiner Reise) und Sankt-Pilt zu identificieren weiss, ver- 
säumt er den einen Zug und fahrt mit dem andern eine 
Stunde über sein Ziel hinaus. — Seinen ersten Sohn 
hat er vom Militär losgekauft ; aber sein zweiter, Toni 
besteht darauf zu dienen, um Französisch zu lernen. 
Er macht in Versailles alle möglichen Leidensproben 
durch und erkrankt schliesslich ; ohne im entferntesten 
seine Absicht erreicht zu haben, in unentweihter 
Deutschheit, kehrt der venire de choucroute zum väter- 
lichen Herd zurück. 

Die Mehrzahl der Elsässer und Deutschlothringer 
befindet sich ganz in derselben Lage wie der Schulzen- 
peter. Ist diese Mehrzahl als Franzosen zu betrachten ? 
Nein ! Sie haben nicht die geringste innere Berührung 
mit den „Wälschen", die wälsche Phrase gleitet wir- 
kungslos an ihren Ohren ab , der wälsche Text von 
Kellers Rede die ihren Patriotismus vor ganz Frank- 
reich verherrlicht, enthält für sie keinen Sinn. Napoleon 
ist ihnen ein hieroglyphisches Symbol, Gambetta eine 
verworrene Mythe. Sie können keine politische Meinung 
haben über Dinge von denen ihnen jede eigene An- 
schauung fehlt. Man hat uns hundertmal gesagt, wir 
sollten die Pariser Presse nicht für den Meinungsaus- 
druck von Paris halten. Und mit welchem Recht sollten 
wir den französischen Kundgebungen französierter El- 
sässer Glauben schenken wenn sie im Namen der deut- 
schen Elsässer sprechen ? Diese sind keine Franzosen ! 



— 288 — 

Mögen sie die Deutschen noch so sehr verabscheuen, 
mögen sie sie für den Antichrist oder für Kinderfresaer 
halten, mögen sie aus Häusern und Hecken auf sie 
schiessen, wie die Chouans auf die Republikaner, sie 
sind keine Franzosen, sie sind Deutsche ! Waren denn 
nicht auch diesseit des Rheins Deutsche gegen Deutsche 
erbittert? und wie rasch hat das Blut und der Seh weiss 
des Krieges als Oel des Friedens die stürmisch erregten 
Fluthen geglättet! Manche Dirne zahlt den ersten 
Kuss mit einer Ohrfeige heim und liebt nachher treu 
und innig. 

Obwohl Wirth von der durchgängigen üeberlegen- 
heit Frankreichs über Deutschland (den Volksunterricht 
etwa ausgenommen) durchdrungen ist, so athmen seine 
Vorschläge doch weise Mässigung; er will nicht, wie 
mancher Andere, die deutsche Sprache in Elsass und 
Lothringen ausrotten — seinerseits wäre dies freilich 
auch Mutteimord — , er will sie neben dem Französi- 
schen fortbestehen lassen, damit das Elsass die geistige 
Veimittlung zwischen Frankreich und Deutschland 
übernehme. Wir glauben nicht an den Segen der 
Zweisprachigkeit; wenn man mit Recht gesagt hat 
qu'une population qui parle deux langues, a deux cordes 
ä 8on arc, so hat man vergessen hinzuzufügen dass 
keine dieser Sehnen sehr straff ist. Was wir aber 
sicher wissen, ist dass das Elsass in französischen 
Händen nie jene Aufgabe erfüllt haben würde. Wie 
ausserordentlich wenig hat es, trotz der günstigen Vor- 
bedingungen, bis jetzt dazu beigetragen beide Kulturen 
zu verbinden ! Gerade hier entwickelte sich mehr und 
mehr eine lebhafte Feindschaft gegen Deutschland und 
alles Deutsche. Nichts von einem sanften Vermischen 



— 289 — 

beider Meere! Die ostwärts rollenden Fluthen des 
einen stauten sich zu wilder Brandung auf. Und wo 
in der That das Deutsche in den französischen Gesichts- 
kreis tritt, da erscheint es meist verzerrt wie auf einem 
Eugelspiegel. Wir bekennen offen nicht einmal für 
die deutschen Dorfgeschichten in französischem Ge- 
wände zu schwärmen; sie machen uns einen zwitter- 
haften, unbehaglichen, unwahrscheinlichen Bindruck, 
mit dem alten deutschen Vaterland als nebelhaftem 
Hintergrund. Was weiss der Franzmann von Deutsch- 
land! Das Deutschland wie es sich zur Zeit der Re- 
volution und des ersten Kaiserreichs auf die glänzende 
Wandfläche des französischen Euhms abspiegelte, das 
hat sich als Bild fixiert. Das Land einerseits Goethes 
(welcher lui-mSme, vers la fin de ses jours, regrettait 
de n^avoir pas Scrit en frangaia Wirth S. 21) und 
seines blonden sentimentalen Gretchens, andrerseits 
hirschehetzender Pfalz- und Landgrafen und lächerlich- 
devoter Hofmarschälle ! „Die Grossherzogin von Gerol- 
stein" war den Franzosen ein deutsches Sittenbild; 
war es ihnen, denn jetzt werden sie sich überzeugt 
haben dass die ürtypen jener Karikaturen eher im 
heutigen Frankreich als im heutigen Deutschland zu 
entdecken sind. Vielleicht regen nun Rachegedanken 
die Franzosen zu einem eifrigen Studium der deutschen 
Verhältnisse und der deutschen Sprache an; aber wir 
hoffen, das Mittel wird den Zweck zerstören : wenn sie 
uns wirklich kennen, werden sie uns nicht mehr hassen. 
Dann mag das Elsass in deutschen Händen das werden 
was es in französischen nie geworden wäre, eine Brücke 
zwischen germanischer und romanischer Intelligenz. 
Damit es dies werde, aber auch damit es seiner nächsten 

Schuchardt, Romanisches u. Keltisches. 19 



— 290 — 

Aufgabe genüge fest in das neue Vaterland einzu 
wachsen, dazu ist von Seite der deutschen Verwaltung 
ein genaues Studium der Sprachverhältnisse und dann 
eine sorgfältige Einrichtung des Volksunterrichtes er- 
forderlich. 

Doch nun da auf den Thürmen die weisse Fahne 
weht, gereut uns fast manch bitteres Wort. Denn 
wenn es gilt nicht nur die Geister, sondern auch die 
Herzen der Völker einander anzunähern, so ziemt vor 
allem den Siegern dieses Bestreben. Wir Deutschen 
aber, oder vielmehr wir Norddeutschen leiden an einem 
Fehler der uns bei diesem Bestreben durchaus hinder- 
lich ist. Wir sind unduldsam in Gefühlssachen. Viel- 
leicht weil wir dieses Gebiet gar nicht als ein selbstän- 
diges anerkennen, weil bei uns die Unduldsamkeit des 
Denkens, die Logik sich in Alles mischt, weil wir zu 
viel beweisen. Jedenfalls erhält dadurch unser ürtheil 
über andere Nationen vielfach eine abfällige Schroff- 
heit; wir wundern uns nicht nur dass sie nicht so sind 
wie wir, wir tadeln sie deshalb. Doch Eines schickt 
sich nicht für Alle, jede Nationalität hat das Kecht 
ihres eigenen Charakters. Dieser ist bis zu einem 
gewissen Grade der Modifikation fähig, aber der Grund- 
zug ist unzerstörbar: naturam expellas furca, tarnen 
usque recurret Und es ist dies zum grössten Theil 
in den äusseren Bedingungen des betreffenden Landes 
begründet. Es gibt ungemein wenig Kosmopoliten, 
obwohl ungemein Viele sich so nennen; die Meisten 
sind nur in einem ganz bestinmiten Element sie selbst. 
Man verpflanze den Franzosen — natürlich ist die 
Wahrnehmung nur an grösseren Massen, besonders an 
den Truppen zu machen — nach Italien, und binnen 



— 291 — 

einer gewissen Zeit wird er sein Wesen verändern, 
wird ausarten. Italien ist ihm zu heiss; Deutschland 
zu kalt. Die Kriegsgefangenen in Spandau lassen von 
Zeit zu Zeit Causerien, unter dem Titel PrometMej 
erscheinen, um inmitten der alten gaieti gavloise 
wieder aufzuleben. Aber hier zuckt der französische 
Esprit matt wie ein Fisch auf dem Sande. Jedes 
Volk muss seine eigene Bahn gehen, muss den meistern- 
den Einfluss jedes andern abweisen, aber darf und muss 
auch von jedem andern in Freiheit lernen. Feindselige 
Gegensätze müssen versöhnt werden. Römer und Ger- 
manen haben in Europa je zweimal oben gestanden: 
jene zur Zeit von Augustus und von Ludwig XIV., 
diese zur Zeit von Karl dem Grossen und heute. Wie 
unsere Vorfahren von den besiegten Eömern lernten, 
so haben auch wir von den besiegten Romanen zu 
lernen. Wir sind ein so grosses Volk geworden dass 
man es uns jetzt nicht mehr falsch deuten wird wenn 
wir ein ganz klein wenig Liebenswürdigkeit, Grazie, 
GeföUigkeit zu unseren übrigen Tugenden hinzufügen. 
Die Phrase hassen wir. Aber ein grosser Gedanke 
kann eine schöne Form ertragen. Arbeiten wir so von 
innen nach aussen, so werden wir mit andern Völkern 
die von aussen nach innen arbeiten, Berührung finden, 
ihnen verständlich werden. Man lasse uns nicht das 
Wort hören: „Wir brauchen die Andern nicht; wir 
sind uns selbst genug." Die moralischen Eroberungen 
die wir abbrechen mussten, sollten wir nun wieder auf- 
nehmen und diesen Ausdruck zu den höchsten Ehren 
bringen; dann wird das Deutsche Reich den Namen 
verdienen welchen die Römer dem ihrigen gaben : Pax 
nosira. 

19* 



XV, 
Eine Diezstiftung. 

Unter allen äusseren Zwecken welchen die Wissen- 
schaft dienen kann, gibt es gewiss keinen edleren als 
den: die Völker zu versöhnen und zu befreunden. 
Die wahre Wissenschaft ist international, und sie be- 
trachtet dies, trotz „schwarzer" und „rother" Inter- 
nationale, als einen Ehrentitel. Dass der grosse Krieg 
welcher so viele Verhältnisse in Verwirrung brachte, 
auch auf dem Gebiete der Wissenschaft seine Nach- 
spiele fand, erscheint begreiflich; weniger dass hier 
die Herausforderung nicht immer von den Franzosen 
ausging. Nach solcher Niederlage war alle Leiden- 
schaftlichkeit entschuldigt, nach solchem Sieg alle 
Grossmuth geboten. Es hat aber unter den französischen 
Gelehrten nicht an solchen gefehlt welche sich in 
ihrem unparteiischen Urtheil durch ihren patriotischen 
Schmerz nie beirren Hessen, und wiederum unter den 
deutschen Gelehrten nicht an solchen die rein wissen- 
schaftliche Gelegenheiten zu politischen Ausfallen 
missbrauchten. Wer nicht meint, der Friede sei nur 
eine Pause um für den Krieg zu rüsten, der muss 
wünschen dass die zerrissenen Bande wieder zusammen- 
geknüpft werden, ja fester als sie es waren, und fär 
diese Aufgabe haben sich gerade die Männer der 
Wissenschaft zu begeistern. Sie würden ein Unrecht 



— 293 — 

begehen, wollten sie nicht jeden Anlass ergreifen den 
Missstimmungen und Missverstandnissen zwischen den 
Völkern entgegenzuwirken. Kein günstigerer aber 
kann gedacht werden als der welchem die folgenden 
Zeilen gewidmet sind. 

Die gemeinsame Abstammung der romanischen 
Sprachen hat zwar immer in dem Bewusstsein derer 
gelebt welche sie redeten, aber erst spät ist sie zum 
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden. 
Auch dann wurde das Verhältniss dieser Sprachen 
zueinander und zum Latein nicht sofort richtig erfasst; 
einem Deutschen, Friedrich Diez in Bonn blieb es 
vorbehalten uns von der Entwicklung des Eomanischen 
in Zeit und Baum ein genaues, klares, schönes Bild 
zu liefern. Er ist der Begründer der romanischen 
Sprachwissenschaft, ja wir dürfen wohl allgemeiner 
sagen: der romanischen Philologie, wenn wir bedenken 
dass nur auf dem Boden der vergleichenden Sprach- 
forschung die Kritik der alten Texte und die Prüfung 
der litterarischen Anfange gedeihen kann. Der von 
ihm ausgestreute Samen hat lange gebraucht um auf- 
zugehen, aber in dem letztverflossenen Jahrzehnt scheint 
das Versäumte reichlich nachgeholt worden zu sein, 
und zwar besonders durch die lebhafte Betheiligung 
der Komanen. Seit dem Jahr 1870 haben dieselben 
in den romanischen Studien bei weitem Bedeutenderes 
geleistet als wir Deutschen; hiebei lasse ich einen 
Mann dessen Wirksamkeit sich über das Gebiet aller 
romanischen Sprachen undLitteraturen mit dem grössten 
Erfolg verbreitet hat, ganz aus dem Spiele, weil er 
sowohl in deutscher als in romanischer Sprache lehrt 
und schreibt. Hauptsächlich kommen unter den roma- 



— 294 ~ 

nischen Ländern Prankreich und Italien in Betracht, 
obwohl wir auch Portugal und Rumänien schätzens- 
werthe Beiträge verdanken; nur das Land welches 
uns vor drei Jahrhunderten den Didlogo de la lengua 
geschenkt hat, zeigt uns jetzt leere Hände. Durch 
die Pflege welcher sich seit längerer Zeit die romanischen 
Sprachen an unseren Hochschulen erfreuen, besitzen 
wir vor den Romanen einen gewissen Vortheil, der 
übrigens neuerdings von ihrer Seite her vermindert 
wird; was will das aber gegen jenen ungeheuren 
Vortheil sagen den die Romanen vor uns besitzen? 
Von früh auf sind ihnen die Werkzeuge die wir uns 
mit schwerer Mühe erst anfertigen müssen, in die 
Hand gegeben. Werden sie sich ihrer nicht schliesslich 
mit einer ganz anderen Leichtigkeit und Sicherheit 
bedienen als wir? Werden sie nicht immer kleinere 
oder grössere Mängel an unsern Werkzeugen zu ent- 
decken vermögen? 

Jener Steigerung welche die Theilnahme Frank- 
reichs und Italiens an unsern Studien erfahren hat, 
ist die Politik nicht ganz fremd. Solange Italiens 
staatliche Einheit noch nicht vollzogen war, schien 
seine sprachliche Einheit far die Italiener den Mittel- 
punkt aller Philologie zu bilden; nachdem sie aber 
zu dem ersehnten Ziele gelangt sind und infolge dessen 
auch zu grösserer Ruhe und Unbefangenheit, haben 
sie mit ruhmvollem Eifer die Betrachtung des sprach- 
lichen Partikularismus eröffnet, der sich in keinem 
romanischen Lande so schön und so mannigfach ent- 
wickelt hat wie in diesem. Vom Kriegsglück verrathen, 
begann Frankreich die Künste des Friedens doppelt 
zu schätzen und wandte gern den Blick von der 



- 295 - 

trüben Gegenwart zur Vergangenheit, und als zwei 
Pariser Bomanisten, von denen der eine dem Bonner 
Meister besonders nahe stand, 1872 eine Zeitschrift 
für ihre Wissenschaft gründeten, setzten sie diese 
Verse eines altfranzösischen Dichters als Wahlspruch 
auf den Titel: 

Damit nicht unsrer Ahnen Reden, Thaten 
Und Sitten in Vergessenheit gerathen. 

Aus dem Pariser Kreise hat sich der Geschmack 
an der romanischen Philologie nach dem Süden Frank- 
reichs verpflanzt und ist hier auf eine litterarische 
Bewegung gestossen welche ihn in jeder Weise be- 
günstigt. Die Katalanen in Spanien und die Proven- 
zalen in Frankreich sind schon seit geraumer Zeit 
dem Gedanken der Decentralisation zugethan, der sich 
zwar auch auf das Staatliche bezieht, aber nur in 
der Litteratur sich verwirklicht hat, glänzend ver- 
wirklicht hat. Der Verfasser der Dichtung Mireio zählt 
zu den ersten Dichtern der Neuzeit; sein Name ist 
Mistral. Auf die litterarischen Verbrüderungsfeste der 
durch die Sprache engverbundenen Katalanen und 
Provenzalen folgte 1875 zu Montpellier ein Fest von 
allgemeinerem Charakter, an welchem die Wissenschaft 
und die Litteratur ihre Preise austheilten, und neben 
den besonderen Interessen der Lengua d'oc die innige 
Zusammengehörigkeit aller Bomanen betont wurde. 
Mag auch die Erinnerung an die deutschen Siege hierzu 
mit angeregt haben, so hat sie doch bei dieser warmen 
und freudigen Feier, so viel sich aus den Berichten 
ersehen lässt, keinen irgendwie gehässigen Ausdruck 
gefunden, und es steht zu hoffen dass der „Gesang 
des Lateiners" um welchen in diesem Jahr eine Preis- 



— 296 — 

bewerbuDg stattfinden soll, nicht ein Streitlied, sondern 
eine Friedenshymne sein wird. Kein Bertran de Born 
feure zum Kampfe gegen das Vaterland desjenigen 
an welcher soviel dazu beigetragen hat den Pulsschlag 
des jungen Romaniens zu beleben, und welcher gerade 
die Werke der alten provenzalischen * Sänger, der 
Troubadours durch treflfliche üebersetzungen und klare 
üeberblicke den Deutschen zuerst nahe gerückt hat. 
Unter seine Führerschaft haben sich ja die Romanen 
mit den Deutschen zu genieinsamer Arbeit gestellt; 
ein gemeinsames Denkmal sollten wir nun dem Ge- 
schiedenen errichten. Sein Leben ist so still und so 
einfach verronnen, seinen Verdiensten hat nicht der 
Glanz äusserer Ehrenbezeigungen entsprochen; suchen 
wir das gut zu machen. Denn vor allem in jetzigen 
Zeitläuften müssen wir Sorge dafür tragen dass der 
Ruhm des Friedens nicht allzu sehr vor dem des 
Krieges erbleiche. 

In Rom ist zuerst der Gedanke eines Denkmals 
für Friedrich Diez ausgesprochen worden ; die Redaktion 
der leider eingegangenen Rivista di filologia romanza 
hat zu diesem Zweck 100 Lire bestimmt. Aber 
welcher Art soll das Denkmal sein ? Worin oder womit 
ein Jeder gearbeitet hat, daraus sei ihm sein Denkmal 
gefertigt: den Feldherren der Kriege aus todtem Erz 
und Stein, den Feldherren der Wissenschaft aus leben- 
digem und feinerem Stoff. Dies ist auch die Ansicht 
derjenigen welche unterm 1. Febr. d. J. von Berlin 
aus den „Aufruf zur Gründung einer Diezstiftung" 
haben ergehen lassen, „welche den Zweck habe die 
Arbeit auf dem Gebiete der von ihm begründeten 
Wissenschaft von den romanischen Sprachen zu fördern." 



— 297 — 

Es besteht das Comitä aus zwölf Personen, von denen 
elf dem preussischen Staat und wiederum neun der 
preussiscben Hauptstadt angehören. Es ist ,,in Aus- 
sicht genommen die Zinsen des durch Sammlung zu- 
sammenzubringenden Kapitals in Perioden von später 
zu bestimmender Dauer als Ehrensold für hervorragende 
schriftstellerische Leistungen auf dem angegebenen 
Gebiete zu verwenden, und zwar jedenfalls ohne Eück- 
sicht auf die Nationalität der Verfasser, und, wofern 
es sich ausführbar erweist, jedesmal nach Anhörung 
auch auswärtiger Sachverständiger ..." „Es ist Aus- 
sicht vorhanden dass nach vorläufigem Abschluss der 
Sammlung, für welchen der 30. Dec. 1877 angesetzt 
ist, mit einem der grossen wissenschaftlichen Institute 
Deutschlands (offenbar ist damit die preussische Aka- 
demie der Wissenschaften gemeint) Statuten sich 
werden vereinbaren lassen, und dass dasselbe die Ver- 
waltung der Stiftung von da ab übernehmen wird." 
Um mich ohne Bückhalt auszusprechen, der Gedanke 
einer Diezstiftung ist jedes Beifalls würdig, aber das 
Kleid das man ihm angezogen hat, viel zu eng. 
Handelt es sich um irgend ein rein wissenschaftliches 
Unternehmen, so bietet gewiss Berlin die besten Bürg- 
schaften dass es einen stetigen sicheren Fortgang habe 
und zu guten Erfolgen führe. Aber handelt es sich 
bei der „Diezstiftung" hierum? Derjenige welcher 
sie wohl hauptsächlich angeregt hat, schreibt mir dass 
ihre Bedeutung für ihn besonders in etwas liege wovon 
der Aufruf nicht sprechen konnte (warum nicht?), 
nämlich darin „dass Deutsche und Bomanen sich 
wieder einmal zu einträchtigem Thun verbinden in 
einer Sache die Beiden am Herzen liegt." Und so 



— 298 - 

werden die meisten Bomanisten denken. Soll nua 
aber das Unternehmen eine solch höhere und weitere 
Bedeutung erhalten, soll ein warmer, verklärender, 
versöhnender Hauch über dasselbe ausgegossen, sollen 
nicht bloss Köpfe, sondern auch Herzen gewonnen 
werden, so kann ich die Wahl Berlins als xVusgangs- 
und Mittelpunktes keine sehr glückliche nennen. Nicht 
am wenigsten bedenklich erscheint es mir dass später 
auf die Festsetzung der Statuten und auf die Verwal- 
tung der Stiftung Leute Einfluss ausüben können 
welche den romanischen Studien fern stehen und für 
die Bomanen wenig Sympathie besitzen. Ein Denkmal 
welches dem wissenschaftlichen und dem persönlichen 
Charakter des Meisters in würdiger Weise entsprechen 
soll, hat gleichmässig auf den Schultern Deutschlands, 
Frankreichs und Italiens zu ruhen; die Bomanen müssen 
nicht zugelassen oder gelegentlich herangezogen werden, 
sondern von allem Anfang dabei betheiligt sein. Möge 
der Plan der Diezstiftung in diesem Sinn umgestaltet 
werden. Man kann nicht sagen dass es zu spät hierzu 
sei; es wäre unrecht eine Sache die durchaus auf die 
Theilnahme weiterer Kreise angewiesen ist, unab- 
änderlich geordnet zu haben bevor sie öffentlich be- 
sprochen werden konnte. Man kann auch nicht sagen 
dass Jenes überhaupt unthunlich sei ; erschwert würde 
das Unternehmen allerdings, aber nur in dem Verhältniss 
als es an Werth gewinnen würde. Die Frage ist 
weniger die ob es die Kräfte, als die ob es den guten 
Willen übersteigen wird. Man sei nicht allzu klein- 
müthig und engherzig; man mische der kühlen Be- 
rechnung etwas Begeisterung bei, man werbe die 
Bomanen in herzlicher und nachgiebiger Weise an, 



— 299 — 

und sie werden sich gewiss nicht weigern gemeinsam 
mit den Deutschen eine Diezstiftung ins Leben zu 
rufen. Ich wüsste nicht an welchen Ort sich eine 
solche besser knüpfen Hesse als an Eom ; hier würden 
sich auch leicht internationale Bomanistenzusammen- 
künfte anschliessen können. Italien bildet ein ver- 
mittelndes, ein neutrales Gebiet zwischen Deutschen 
und Franzosen und zugleich ein beliebtes Reiseziel 
für Beide; in Italien blühen die romanischen Studien 
rasch empor, und hier wirkt derjenige dem nach Diez, 
wie wir Andern neidlos anerkennen, die romanische 
Sprachwissenschaft am meisten zu danken hat. Born 
aber, als die Wiege der romanischen Sprachen und 
aller abendländischen Gesittung, birgt für den roma- 
nischen Philologen tausend Anregungen in sich. In 
den Büchereien der Päpste, der Chigi, der Barberini 
mag er den Anfangen der romanischen Litteraturen, 
auf der Appischen Strasse und in den Katakomben 
den Anfangen der romanischen Sprachen nachgehen^ 
zu Sant* Onofrio einer glänzenden Zierde jener gedenken 
und auf römischen Lippen bewundern, wessen diese 
an Kraft und Anmuth fähig sind. Und endlich gehört 
Eom nicht bloss den Eomanen, sondern auch den 
Deutschen. Nicht etwa wegen „des römischen Reiches 
deutscher Nation", nein, erst nachdem wir Rom 
äusserlich verloren haben, haben wir es geistig ge- 
wonnen: für unsere Dichter, Künstler und Gelehrten 
ist es eine zweite Heimath geworden, und auf dem 
Kapitel hat unser archäologisches Institut seinen Sitz. 
Im Angesicht aller der Trümmer welche so viele 
Völker, Reiche und Einrichtungen begraben haben, 
werden nationale Disharmonien leichter verstummen; 



— 300 — 

und wenn zur Zeit der Mandelblüthe über dieses grosse 
Grab die lauen Lüfte des Westens uns anwehen, dann 
meinen wir den „allgemeinen Frühling" zu verspüren 
„der die Gestalt der Welt verjüngt." Vielleicht sind 
dies Träume; aber müssen wir aus allen Träumen 
zur allernüchternsten Wirklichkeit erwachen? Wenn 
nicht ßona der Mittelpunkt einer Stiftung ist welche 
die Erinnerung an einen hervorragenden Mann in 
jedem guten Sinn auszubeuten sucht, welche nicht 
bloss an die Wissenschaft, sondern auch an die Freund- 
schaft der Völker denkt, wenn es nicht Rom ist, muss 
es dann durchaus Berlin sein? 



XVI. 
Französisch und Englisch. 

Ich habe es mit angesehen wie man zwei junge 
Leute verschiedenen Geschlechts lange Zeit hindurch 
in allen Gesellschaften nebeneinander setzte, weil man 
glaubte, sie liebten sich ; indessen war ganz das Gegen- 
theil der Fall, und schliesslich mussten dies auch die 
Kurzsichtigsten bemerken. Ganz ähnlich ist es dem 
Französischen und Englischen in unserem ünterrichts- 
system ergangen. Die Schulen welche überhaupt das 
Englische aufgenommen haben, pflegen es in dieselbe 
Hand wie das Französische zu legen ; auf den Univer- 
sitäten hat es sich gleich anfangs an das Französische 
angeklammert und auf den Lehrstuhl der romanischen 
Philologie eingeschmuggelt. Es gibt jemanden dem 
diese in Prüfungsvorschriften und Professorenbestallun- 
gen niedergelegten Thatsachen so zu Kopfe gestiegen 
sind dass er „ein eigenes wissenschaftliches Fach, die 
französisch-englische oder die neuere Philologie pro- 
klamiert" und die kühne That durch Errichtung eines 
grossartigen Scherbenberges gefeiert hat. In selbiger 
„Encyklopädie" heisst es: „Wer zwischen Griechisch 
und Römisch einen innigeren, mehr objektiven Zusam- 
menhang als zwischen Französisch und Englisch be- 
haupten wollte, der würde dadurch sogleich seine 
Laienhaftigkeit hinsichtlich der letzteren bekunden." 



- 302 - 

Meiner Erfahrung zufolge sind es nur Laien welche 
der entgegengesetzten Ansieht huldigen. Wollen sich 
diese Laien ein ' paar Worte der Aufklärung gefallen 
lassen? Das Griechenthum hat in Stoff und Form 
einen solchen Einfluss auf das Römerthum ausgeübt 
dass wir das Letztere nicht wirklich verstehen ohne 
das Erstere genau zu kennen, und wiederum sind wir 
genöthigt unsere Kenntniss des Griechenthums zum 
grossen Theil aus römischen Quellen zu schöpfen. Dem 
festen Zusammenhalten der griechischen und der lateini- 
schen Sprache stehen, wie man auch immer über das 
Gräkoitalische denken mag, keine Ansprüche von an- 
derer Seite im Wege. Hingegen bildet zweifellos die 
englische Philologie einen Ausschnitt aus der germa- 
nischen Philologie, und die französische einen solchen 
aus der romanischen. Nicht einmal berühren sich die 
beiden Hauptgebiete hier besonders eng ; denn zwischen 
Französisch und Deutsch besteht seit mehr als tausend 
Jahren eine Wechselwirkung die das Deutsche voll- 
kommen berechtigen würde als Drittes in die neu- 
gegründete „neuere Philologie" einzutreten. 

Bei den Männern der Wissenschaft herrscht hier- 
über nur eine Stimme ; doch halten auch sie zum Theil 
noch, was den akademischen Unterricht betrifft, an 
der Vereinigung von Französisch und Englisch als 
„einer zwar unorganischen, doch bequemen" fest. Be- 
quem, ja, für den Kultusminister, allein schwerlich 
für den Professor, der kaum auf beiden Gebieten in 
gleicher Weise zu Hause sein kann und, wenn er 
Drang zu wissenschaftlicher Thätigkeit spürt, sicherlich 
das eine um das andere vernachlässigen wird. Nicht 
Jeder trägt zwei Seelen in seiner Brust. Hie und da 



— 303 — 

hat man das Englische von seiner romanischen Pflege- 
mutter getrennt; allein statt es nun seiner richtigen 
Mutter, der germanischen zuzuführen, welche sich 
allerdings immer sehr rabenmütterlich ihm gegenüber 
benommen hat, spricht man es mündig. Und während 
es an vielen Universitäten gar nicht vertreten ist, 
findet es sich an mancher in einer besonders günstigen 
Stellung. Denn wie viele Lehrstühle für die Sprache 
und Litteratur eines einzigen Volkes gibt es über- 
haupt? Indessen, weit entfernt irgendeine Beschränkung 
nach dieser Seite hin zu wünschen, halte ich es für 
durchaus erforderlich dass an jeder Universität ein 
Lehrstuhl für das Englische errichtet werde. Nur möge 
dieser als ein zweiter (oder dritter) germanistischer 
Lehrstuhl betrachtet und bezeichnet werden, dessen 
Inhaber seinem Kollegen nöthigenfalls oder vielmehr 
jedenfalls einen Theil seiner Last abnimmt. Dies würde 
noch manche praktische Folge haben, vor Allem aber 
die Vorstellung über den Zusammenhang der Studien 
klären. Man würde dann auch nicht, wie dies jetzt 
zuweilen geschieht, die englische Philologie der roma- 
nischen, deren Umfang doch ein so viel grösserer ist, 
entgegenstellen und über ihre ungerechte Zurücksetzung 
gegen diese sich beschweren. Auf gleicher Stufe stehen 
die romanische und die germanische Philologie. Wenn 
auch in Deutschland die eine weit mehr Berücksich- 
tigung erfahrt und erfahren muss als die andere, so 
soll man doch die Bechte der Praxis nicht allzu stark 
betonen. Immer erhält die Praxis ihren Grundriss von 
der Theorie vorgezeichnet; sie mag ihn vergrössem 
oder verkleinern, aber sie darf ihn nicht entstellen. 
Auf die Universitäten haben die Schulen bestim- 



— 304 — 

mend eingewirkt. Ist es etwa hier praktisch Fran- 
zösisch und Englisch demselben Lehrer zu übertragen ? 
Gewiss nicht. Es gibt keine zwei Sprachen und keine 
zwei Litteraturen die einen so schroffen Gegensatz 
bilden wie die französische und die englische. Gern 
berufe ich mich hiefür auf einen trefflichen Kenner 
des Englischen, der auch zugleich pädagogische Auto- 
rität ist, auf Elze: „Die englische Sprache und Lit- 
teratur in Deutschland, Dresden 1864." S. 79 ff. Die 
Erfahrung beweist hinlänglich dass dieser Gegensatz 
kein Himgespinnst ist. Verhältnissmässig wenige 
Menschen sprechen beide Sprachen gleich gut, und 
noch weit wenigere nehmen ein gleiches Interesse an 
beiden; hat ein Lehrer in beiden zu unterrichten, so 
wird dieser Unterricht meistens ein sehr ungleicher 
sein. Auch innerhalb der Schule also muss Trennung 
des Englischen und Französischen empfohlen werden; 
jenes findet ganz von selbst seinen Anschluss an das 
Deutsche, dieses würde sich z. B. mit dem Latein gar 
nicht schlecht vertragen. Vielleicht wäre es sogar 
besser zwei weit auseinander liegende ünterrichts- 
gegenstände miteinander zu paaren, wie Französisch 
und Physik, als zwei die unter dem Anschein der 
Gleichartigkeit sich innerlich so widerstreben wie 
Französisch und Englisch. 

Die Nebenbuhlerschaft zwischen beiden Sprachen 
tritt auch ausserhalb der Personalunion zu Tage, und 
so fügt sich denn hier ganz naturgemäss die Unter- 
suchung an welche Sprache auf dem Boden des deut- 
schen Unterrichts den grösseren Vortheil, welche das 
grössere Recht besitze. Man hat vielfach verlangt das 
Englische möge dem Französischen völlig gleichgestellt 



— 305 — 

werden. Eine ehrlich gemeinte Gleichstellung kann 
nur eine solche sein die durchschnittlich 4ie gleichen 
Ergebnisse erzielt. Dies aber wird nur dann geschehen 
wenn auf das Französische bedeutend mehr Zeit ver- 
wendet wird als auf das Englische. Ich entsinne mich 
dass alle meine Schulkameraden — wenn sie überhaupt 
etwas lernten — in dem spät begonnene^ Englisch es 
weiter brachten als in dem früh begonnenen Franzö- 
sisch, und entsprechende Erfahrungen durften sich aller 
Orten herausstellen. Auch Elze sagt (S. 79): „Die 
englische Sprache verlangt auf unseren Gymnasien 
nichts als was die Engländer /aiV play nennen, d. h. 
gleichen Wind und gleiche Sonne mit der französischen. 
Man gewähre ihr dies, und der Sieg ist ihr sicher." 
Der Sieg über das Französische doch? Aber warum 
soll dieses schlechterdings unterliegen? Der raschere 
und leichtere Erfolg in einem Fache bietet doch nicht 
die geringste Bürgschaft für dessen höheren pädagogi- 
schen Werth. Man unterrichte die Schüler im Platt- 
deutschen, und man wird sehen mit welcher Lust und 
Liebe und wie rasch sie lernen werden. Aber — so 
fragt mancher klassische Philologe dem von seinem 
fernen Standpunkt die eine neuere Sprache fast ebenso 
aussieht wie die andere — aber muss denn sowohl 
Englisch als Französisch gelehrt werden? Genügt 
nicht Eines von Beiden ? Die Liebhaber des Englischen 
sind geneigt beizupflichten, unter der Bedingung dass 
das Französische dem Englischen Platz mache. Und 
ihnen pflichtet . wieder eine grosse Menge bei, weil 
sie wahrnimmt dass das Englische geringere Schwie- 
rigkeiten bereitet als das Französische. Dass die eine 
Sprache die andere ersetze, davon kann bei ihrem so 

Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 20 



— 306 — 

verschiedenen Wesen gar keine Eede sein; aber wohl 
lässt sich annehmen dass die eine viel nothwendiger 
ist als die andere, und viel nothwendiger ist, wie 
mir scheint, die französische. 

Sie ist es aus demselben Grund aus welchem sie 
die schwierigere Sprache ist. Die Stammverschieden- 
heit gewährt viel grössere Unterweisung als die Stamm- 
verwandtschaft ; mit unsern Brüdern und Vettern 
werden wir uns besser verstehen, aber von fremden 
Menschen, anders gearteten und anders gezogenen, 
werden wir mehr lernen. Gerade weil zwischen Fran- 
zosen und Deutschen in allen Dingen des äusseren und 
inneren Lebens das stärkste Widerspiel stattfindet, 
empfangen beide Völker voneinander die beste Auf- 
klärung über die eigenen Lücken und Fehler, die beste 
Anleitung sie auszufüllen und abzustellen. Schon die 
französische Sprache an sich ist für den Deutschen 
lehrreicher als die englische; sie hält ihn zu gründ- 
licherem Nachdenken an als diese, die man sich zum 
grossen Theil in derselben Weise aneignet wie eine 
Mundart der eigenen Sprache. Die ängstliche Sorgfalt 
welche die Franzosen auf die richtige und geschickte 
Handhabung ihrer Sprache, besonders auf den klaren 
Ausdruck legen, können wir uns nicht genug zum Bei- 
spiel nehmen, um der diesseitigen Sprachverwilderung 
zu steuern. In einem Punkt scheinen die Franzosen 
schon auf uns eingewirkt zu haben : wir sind beträcht- 
lich von unserer Weitschweifigkeit abgekommen und 
neigen uns der Kürze zu. Aber welche Kürze oft! 
Fast täglich fallt mir hier in Halle die Inschrift des 
Siegesdenkmals in die Augen : „Dem König die Treue, 
Deutschland ihre Hoffnung", und jedesmal verwandeln 



— 307 — 

sich mir die beiden Löwen rechts und links davon in 
Sphinxe. 

lieber die französische Litteratur getraue ich mir 
kaum ein Wort zu sagen. Sehr viele Deutsche haben 
sich ein doppeltes Bild von ihr eingeprägt: das einer 
gepuderten, gereifrockten Dame zwischen Buchsbaum- 
hecken — das war sie, das eines Däbardeurs im 
Jardin Mabille — das ist sie. Eine grössere Mannig- 
faltigkeit geben si« nicht zu ; Boileau und Paul de Kock 
sind die Schriftsteller welche von ihnen mit besonderer 
Vorliebe angeführt werden. Wer sich wirklich mit 
der französischen Litteratur vertraut macht, der wird 
gewahr dass hier die reichste Abwechslung besteht, 
und sich mancher Zweig mit üppigem Schmuck bedeckt 
hat welcher bei uns fast ohne Blatt und Frucht ge- 
blieben ist, und dem erweist sich auch was man so oft 
über ihre Armuth an innerem Gehalt wiederholt, als 
starke üebertreibung ; für Kopf und Herz findet er da 
mehr als genug. 

Ohne aus den Lorbeerkränzen der englischen 
Schriftsteller das geringste Blättchen reissen zu wollen, 
halte ich es doch für durchaus ungerecht die englische 
Litteratur — wie so Viele unter uns thun — auf 
Kosten der französischen zu erheben. Was unserem 
Geschmack und unserem Verständniss näher liegt, 
pflegen wir als das Bessere zu betrachten, als ob wir 
im wahren Mittelpunkte der Welt ständen. Aber wäre 
es auch wirklich das Bessere an sich, so wäre es gewiss 
nicht im gleichen Grade das Nützlichere. Shakspeare 
gehört jetzt uns eben so gut wie den Engländern an. 
Kein Sekundaner wartet die Anregung und die An- 
weisung, ja nicht einmal die Erlaubniss ab um Shak- 

20* 



— 308 — 

speare in deutscher üebersetzung zu lesen. Die Wir- 
kungen sind nicht immer günstig, insofern sie nämlich 
allzu heftig sind; dem jugendlichen Magen wird es 
heilsam sein wenn die Zunge sich bequemt ausser der 
starkgewürzten englischen Speise auch etwas nüchterne 
französische zu nehmen. Die Neigung für Shakspeare 
ist bei so jungen Jahren eher zu dämpfen als zu 
schüren; man muss sich überhaupt hüten Alles an 
ihm zu messen, ihn als unfehlbar und makellos hin- 
zustellen. Er ebenfalls hat seine Flecken, wenn es 
auch Sonnenflecken sind, und nicht allen Gestirnen ist 
es vorgeschrieben um diese Sonne zu kreisen. Einer 
weit ausgedehnteren Beachtung als die ganze englische 
Litteratur der Vergangenheit erfreuen sich übrigens 
von unserer Seite die neuesten englischen Eomane. 
Besonders in der norddeutschen Damenwelt herrscht 
ein wahrer Heisshunger auf diese wie die Pilze her- 
vorschiessenden Erzeugnisse. Ohne Zweifel sind die 
englischen Eomane von gewissen Gefahren frei welche 
die französischen in sich zu bergen pflegen; aber in 
grosser Menge genossen können auch sie gefährlich 
wirken. Sie zeigen die Menschen durch die eigen- 
thümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse Englands 
aufs äusserste bestimmt und bestimmbar, in ihrer 
Freiheit und Natürlichkeit beschränkt ; es werden hier, 
ganz unterderhand, Lehren des Hochmuths, der Eng- 
herzigkeit und der falschen Prüderie ausgestreut, die 
bei einem Theil unserer Leserinnen auf nur allzu 
empfanglichen Boden fallen. Ich kann das Vordringen 
englischer Sitte und Lebensauschauung in Norddeutsch- 
land nicht als etwas Erfreuliches betrachten; warum 
Herbes zu Herbem mischen? 



- 309 - 

Auch im Hinblick nicht auf die allgemeine Bil- 
dung, sondern auf die verschiedenen besonderen Be- 
dürfnisse wird man dem Französischen als deutschem 
Unterrichtsfach den Vorzug vor dem Englischen zuer- 
kennen müssen. Ob im Ganzen mehr Belehrung über 
die einzelnen Künste und Wissenschaften aus franzö- 
sischen Büchern zu schöpfen ist oder aus englischen, 
dies mag dahingestellt bleiben. Sicherlich aber gilt 
das Französische als allgemeines Verständigungsmittel 
der gebildeten Gesellschaft Europas, nicht das Eng- 
lische. „Noch nicht", fallen mir diejenigen ins 
Wort welche dem Englischen prophezeien, es werde 
einstens die allgemeine Sprache der Erde sein. Mög- 
lich; doch sollte man mindestens nicht von uns ver- 
langen dass wir schon jetzt auf diese grosse Zeit Bück- 
sicht nehmen, welche hoffentlich eben so fern vor uns 
wie die der Ichthyosauren und Plesiosauren hinter uns 
liegt. Nur die Phantasie welche uns die eine so treff- 
lich ausgemalt hat, könnte uns auch die andere aus- 
malen — die Zeit da alle Sprachen, mit Ausnahme 
der misstönendsten und unliebenswürdigsten, im „Qual- 
men und Zischen der Fluth verhallen". 

Es ist unnöthig auf diejenige Bedeutung hinzu- 
weisen welche das Französische aus Gründen des Staats- 
interesses für uns besitzt. Wenn aber diese auch von 
den ärgsten Feinden Frankreichs zugestanden wird, so 
stellen sie dafür jeden anderen Nutzen des Französi- 
schen in Abrede. Sie betrachten es als gemeingefähr- 
lich. Ein deutscher Professor hat neuerdings geradezu 
behauptet, der frühe Unterricht im Französischen be- 
flecke die Seele des deutschen Kindes. Wie würden 
wir wohl den Franzosen nennen der einen ähnlichen 



- 310 - 

Ausspruch in Bezug auf das Deutsche thäte? Immer 
und immer wieder müssen wir von dem hemmenden 

» 

oder entsittlichenden Einfluss der französischen Litte- 
ratur auf die unsrige, von der Verunreinigung unserer 
Sprache durch die französische hören. Alle diese ab- 
geschnellten Pfeile prallen mit verdoppelter Stärke auf 
uns selbst zurück. Denn die Franzosen haben uns 
nichts aufgezwungen; wir haben aus freien Stücken 
von ihnen gelernt und geborgt, und wenn wirklich 
nur Schlechtes, wo doch auch Gutes genug zu finden 
war, dann trägt unser Ungeschick oder unsere Ge- 
schmacklosigkeit die Schuld. Nicht deshalb war unsere 
Litteratur unfrei weil sie bevormundet wurde, sondern 
weil sie in sich unfrei war, weil sie sich unmündig 
fühlte, deshalb Hess sie sich bevormunden ; nicht darum 
handelte es sich dass die Fesseln nur überhaupt ent- 
fernt wurden, sondern dass die Kraft hinlänglich gereift 
war selbst sie zu sprengen. Eines in das Andere ge- 
rechnet, bleibt von dem Antheil welchen Frankreich 
an unserer Erziehung hat, immer noch ein üeberschuss 
von Gutem, für den wir ihm Dank schuldig sind. Und 
wenn wir ihm einst zu viel Gewalt in unserem Haus 
eingeräumt haben, sollten wir ihm deshalb nun unsere 
Thüre gänzlich verschliessen ? Nichts kann beredter 
für die ünerlässlichkeit eines gründlichen Schulunter- 
richts im Französischen sprechen als alle jene chau- 
vinistischen Eedensarten w^elche uns umschwirren ; auf 
die Unterdrückung von Vorurtheilen hat doch die 
Schule zuallervörderst ihre Aufmerksamkeit und ihre 
Kraft zu wenden, und dass Vorurtheile der Art wie 
sie hierbei ins Spiel kommen, weitaus die gefährlichsten 
sind, darüber hat uns das Beispiel unserer Nachbarn 



— 311 — 

in unvergesslicher Weise belehrt. Es wird uns die 
Kenntniss des Französischen ein treffliches Werkzeug 
der Versöhnung sein welche wir wünschen, und eine 
eben so treffliche Waffe im Kampfe, wenn er unver- 
meidlich. 

Genügt der französische Unterricht überall in 
Deutschland d«n Anforderungen die an ihn gestellt 
werden müssen? Nein. In manchen Anstalten steht 
er sogar auf einer sehr niederen Stufe. Es fehlt 
allerdings an tüchtigen Lehrern des Französischen; 
aber solche werden doch zunächst auf den Schulen 
selbst vorbereitet, und was die Schule verabsäumt hat, 
kann die Universität schwer nachholen. Die Aussprache 
des Französischen besitzt nicht, wie Viele meinen, eine 
nur äusserliche Bedeutung, sondern übt auf das ganze 
Studium der Sprache den allerwesentlichsten Einfluss 
aus. Wie kann aber eine jahrelang vernachlässigte 
Aussprache, in welcher das Französische fast den Klang 
einer deutschen Mundart besitzt, binnen Kurzem ge- 
bessert und berichtigt werden? Und darf der Pro- 
fessor welcher das Französische nicht allein, sondern 
die romanischen Sprachen überhaupt zu lehren hat, 
einen unverhältnissmässigen Theil seiner Zeit auf das 
Bemühen verwenden solche Sünden der Schule wieder 
gut zu machen? Ein einziges Mittel scheint einen 
durchgreifenden Erfolg zu versprechen: die Anstellungen 
von Universitätslektoren für das Französische. 

Für wünschenswerth also erachte ich, um es in 
wenigen Worten zu wiederholen, dass das Französische 
im Unterricht durchgängig vom Englischen getrennt, 
dass es weder geradezu hinter dieses zurückgesetzt, 
noch auch durch besondere Begünstigung desselben 



- 312 — 

beeinträchtigt werde, dass es vielmehr selbst eine 
grössere Begünstigung erfahre. Ich habe mich auf 
Einzelheiten nicht eingelassen, ich habe keine That- 
sacben und Zahlen erhoben, sondern diejenigen Punkte 
angedeutet welche mir von Belang erschienen; es lag 
mir nicht an einer rein pädagogischen, sondern an einer 
allgemeineren Betrachtung, die ich nun mit dem wei- 
testen Umblick abschliessen möchte. 

Das Englische braucht uns die germanische Welt 
nicht zu vertreten, da wir selbst zu dieser gehören. 
Wohl aber ist uns das Französische nicht nur an sich, 
sondern auch als Vertreter der romanischen Welt 
unentbehrlich. Hinter Prankreich liegen Italien uod 
Spanien. An Italien knüpfen uns tausend feine Fäden, 
von denen man freilich jenen amerikanisch angehauch- 
ten Deutschen nicht sprechen darf welche erst eia 
Schiffstau leidlich erkennen. Wir haben von jeher zu 
diesem Land eine starke geheimnissvolle Liebe gefühlt, 
aber ihr lange Zeit hindurch einen unangemessenen 
Ausdruck geliehen. Jetzt träumen wir uns dahin wie 
nach einem Paradies, welches unsere Einbildungski'aft 
in den buntesten Farben malt; und haben wir es 
kennen gelernt, so bringen wir daraus nicht nur Ab- 
schriften von alten Pergamenten und Skizzen von jungen 
Albanerinnen heim, nein — wie aus einer Sommer- 
frische Kräftigung und frohe Laune, wie von einer 
Hochschule reinere und freiere Anschauungen, wie aus 
dem Lande der Schönheit die Schönheit selbst. In 
Italien ist der Strom alterthümlichen Lebens am 
spätesten versiegt; von seinen Wassern gespeist, ent- 
sprangen hier die verschiedenen Quellen unserer neueren 
Gesittung. Wenn wir also in Gedanken und in Wirk- 



j 



— 313 — 

lichkeit kein fremdes Land häufiger und lieber durch- 
wandern als Italien, wenn jetzt auch unsere äusseren 
Beziehungen zu ihm sich mehr und mehr befestigen, 
als starke Taue neben jenen zarten Fäden, so haben 
wir vielleicht grössere Veranlassung zum Studium des 
Italienischen als zu dem des Englischen. Nur das 
Italienische, nicht das Englische vermöchte in unserem 
Schulunterricht einen Ersatz für das Französische zu 
bilden, obwohl es neben diesem keinen Platz finden 
wird. Versänke Britannien im Ocean, so verlören wir 
viel; aber empfönden wir nicht Herberes wenn wir 
eines Tages vom Südabhange der Alpen aus nichts 
erblickten als eine öde, trostlose Wasserfläche? Was 
Spanien anbelangt, so besitzt es eine Litteratur die 
unsere Aufmerksamkeit lebhaft beschäftigt hat und 
werth ist sie fortdauernd zu beschäftigen. Welch un- 
glaubliche Fruchtbarkeit, innere und äussere ! Bühnen- 
dichter deren Werke die dramatische Litteratur eines 
ganzen Volks aufwiegen! Dazu rieselt unter den 
Smaragden und Bubinen eines fast morgenländischen 
Bedeprunks eine schwärmerische Innigkeit welche uns 
Deutsche anheimelt und an den alten Spruch Somos 
hermanos erinnert. 

Das Studium des Französischen führt uns in das 
des Italienischen und des Spanischen ein, und zwar 
thut es dies in einem weiteren Sinn als man anzu- 
nehmen geneigt ist. Die romanischen Völker haben 
von den Eömern nicht nur die Sprache, sondern auch 
die ganze Gesittung ererbt, und wie verschieden sie 
auch mit diesem Erbgut umgegangen sind, ein gemein- 
sames Gepräge ist ihnen immer geblieben. Wir, denen 
kein Zweifel an der germanischen Einheit beikommt, 



— 314 — 

dürfen die romanische um so weniger leugnen als sie, 
die anerzogene, sich inniger und feiner erweist denn 
unsere angeborne. Zwischen diesen beiden Einheiten 
hat nun immer Eifersucht bestanden, jede beansprucht 
den höheren Rang, jede ist von dem Bewusstsein ihres 
höheren Berufes durchdrungen. Wir Deutschen sind 
dabei mit einer fast wissenschaftlichen Gründlichkeit 
verfahren. Uns und unsern Stammesgenossen haben 
wir die besten der Tugenden, den Romanen die 
schlimmsten der Laster beizulegen gewusst. Die 
„wälsche Tücke" ist heuer, im Jahre der Mailänder 
Zusammenkunft auf unendlich taktvolle Weise in Erz 
und Stein verewigt, die „germanische Sittenstrenge", 
eine etwas abgenutzte Reminiscenz aus Tacitus jüngst 
in einem Sendschreiben nach England wirksam auf- 
gefrischt worden. Und unser Gemüth! das wir — 
wenigstens Norddeutsche und Engländer — um so 
höher schätzen je tiefer unter je rauherer Hülle es 
sich verbirgt! Was sind die raschen Thränen beim 
Anblick fremden Leidens, der Zartsinn mit welchem 
sich die Theilnahme äussert, jene edlen grossmfithigen 
Wallungen welche sich über jede äussere Rücksicht, 
sogar über die gesellschaftliche Foi-m des Vorstellens 
hinwegsetzen, was ist all das Aufflammen eines roma- 
nischen Herzens gegen das Aufthauen eines germani- 
schen? Ebenso fühlen wir uns seit lange auf der 
geistigen Höhe und erblicken die Romanen unter uns. 
Als endlich auch die wunderbarsten Kriegslorbeeren 
sich auf die Stirn des deutschen Denkers niedersenkten, 
da tönte wie ein fröhliches Halali durch unsere Tages- 
presse die Kunde von dem Niedergang nicht nur des 
verkommenen französischen Volks, nein, gleich der 



— 315 — 

ganzen lateinischen Basse. Glücklicherweise entscheidet 
kein Jena und kein Sedan über das wahre Verhältniss 
zwischen Komanen und Germanen; wir haben über- 
haupt nicht die einzelnen Erscheinungen auf beiden 
Seiten ihrer Zahl und ihrem Werthe nach gegeneinander 
abzuwägen, sondern die beiden Lebenskräfte aus denen 
ihre wechselnde Fülle entspringt, miteinander zu ver- 
gleichen. Wenn wir das thun, wenn wir durch die 
äussere Hülle auf den Kern blicken, so werden wir 
erkennen dass es sich um einen Vorrang nicht handeln 
kann. Beide Welten, die romanische und die germa- 
nische stehen gleichberechtigt nebeneinander; sie sind 
einander nothwendig wie zwei Hälften die sich er- 
gänzen. Sich zu vermählen, nicht sich zu befehden 
ist ihre Aufgabe. Es wäre gut schon in den Schulen 
das Verständniss dieser Beziehung anzubahnen statt 
ihm entgegenzuarbeiten. Manche sehr aufgeklärte 
Lehrer lassen sich zu Ungunsten der Bomanen gewisse 
Verschweigungen, Bemäntelungen, üebertreibungen zu 
Schulden kommen, weil sie die Vaterlandsliebe für eine 
höhere Tugend halten als die Wahrheitsliebe; aber 
hätte jene solche Förderungsmittel nöthig, so wäre es 
schlecht um das Vaterland bestellt. Hüten wir uns 
davor die Germanen als die auserwählte, gottbegnadete 
Basse zu betrachten; weder sie allein, noch die Bomanen 
allein sind die Träger der heutigen Gesittung, sondern 
Beide zusammen. Seitwärts lagert das Slawenthum wie 
eine riesige dunkle Wolke; wir wissen nicht ob diese 
über die Gefilde von deren Dünsten sie sich genährt 
hat, verheerenden Hagel oder fruchtbaren Bogen ent- 
laden wird. 

Ich sehe eben dass Emilio Castelar auf den Seiten 



— 316 — 

welche er der deutschen Ausgabe seiner „Erinnerun- 
gen an Italien '^ vorgesetzt hat, den noth wendigen 
Ausgleich zwischen der romanischen und der germa- 
nischen Basse mit glühender Beredsamkeit erörtert. 
Auf seine Worte darf ich verweisen und von ihnen 
Wirkung erhoffen ; es macht nichts aus wenn über sie 
als utopistische Träumereien und dichterische üeber- 
schwänglichkeiten diejenigen unter uns die Achseln 
zucken welche verbrannt haben was sie verehrten, und 
verehren was sie verbrannten. 



XVII. 
Keltische Briefe. 

Caernarfon, 21. Aug. 1S75. Ich bin hier ver- 
schiedene Male gefragt worden wie ich nach Wales 
gekommen sei. Meine Geschichte ähnelt derjenigen 
von dem Manne welcher ein Hufeisen fand und sich 
ein Pferd dazu kaufte. Es ist der Gesundheit sehr 
dienlich regelmässig spazieren zu gehen, aber sehr lang- 
weilig es allein zu thun, und an dem einen Orte lang- 
weiliger als an dem andern; ich hatte das Glück einen 
Gefährten far diese tägliche Arbeit zu gewinnen, und 
es traf sich dass es ein Kymre war; ich lernte daher 
von ihm mit der Zeit auf Kymrisch sagen: „Wenn 
es beliebt" und „Es ist sehr schönes Wetter" und 
dergleichen mehr. Was konnte ich mit dieser sauer 
erworbenen kleinen Münze in Deutschland anfangen? 
um sie an den Mann zu bringen, beschloss ich nach 
Wales zu reisen. 

Eines Abends fuhr ich aus der grossen Kleinstadt 
welche am Gendarmenmarkt liegt, ab und war am 
andern Morgen in Eotterdam. Hier rastete ich einen 
Tag und berichtigte meine Vorstellung von den Hol- 
ländern wie sie sich aus Theaterstücken und älteren 
Jahrgängen der „Fliegenden Blätter" bei mir festgesetzt 
hatte. Mein Besuch fiel gerade in die Zeit der Kirmess, 
des Hauptfestes von Botterdam, das etwa ein Dutzend 



— 318 — 

Tage zu dauern scheint. Alles machte vergnügte 
Gesichter, nur der Himmel nicht, zu dem doch die 
Orgeln in allen Tonarten emporschrieen. Bäuerinnen 
in Menge stolzierten umher; Hauben von Goldblech 
verdeckten das Haar, und von den Schläfen stachen 
grosse goldene Korkzieher spitz in die Luft. Das 
kühne Bild der morgenländischen Dichter, denen zufolge 
die Schönen an ihren Locken die Herzen der Männer 
aufspiessen, drohte hier sich zu verwirklichen. Abends 
ging ich nach Vauxhall Doele, dem Vergnügungsort 
der feinen Welt, wo alle möglichen Vorstellungen 
stattfanden. Besonderes Entzücken erregte ein schwarzer 
Violinist, der schliesslich die Kerze vom Notenpult 
riss und damit seinem Instrument wunderbare Töne 
entlockte. Die deutschen Sänger erfreuten sich, ob- 
gleich ihre Leistungen sehr mittelmässig und zum 
Theil auch anstössig waren, eines lebhafteren Beifalls, 
wohl auch grösseren Verständnisses als die französischen 
Sänger. Ich verliess diesen Ort gegen Mitternacht, 
um in einem andern Stadttheil dem Treiben des nie- 
deren Volkes einen Blick zu schenken. Mädchen und 
Burschen zogen in regelmässig bunter Reihe durch 
die Strassen; alle sangen dieselbe Weise, die vom 
„Kleinen Postillon", die einzige die überhaupt Rotterdam 
zu kennen schien. Buden und WaflFelbäckereien waren 
schon entvölkert; nur um die Karussells ging es noch 
ziemlich lebendig her. Ich bemerkte mit grosser Ver- 
wunderung dass das weibliche Geschlecht in allen 
Dingen, auch in der Zärtlichkeit die Initiative zu 
ergreifen pflegte. Am darauf folgenden Nachmittag 
verliess ich Rotterdam zu Schiff und kam, nach an- 
genehmer Seefahrt, bei anbrechendem Morgen in Har- 



— 319 — 

wich an, wenige Stunden später in London. Hier 
hielt ich mich gerade so lange auf als es brauchte 
um die Unverschämtheit der Droschkenkutscher kennen 
zu lernen. Gegen 9 Chr ging es von London ab; 
der Zug sauste bis ehester mit einer Geschwindigkeit 
wie wir sie in Deutschland nicht kennen. Es ist dies 
aber auch durchaus noth wendig wenn der Fremde 
nicht vor Langerweile umkonmien soll. Von Chester 
an wurde es angenehmer; von beiden Seiten rückten 
Meer und Berge näher und näher heran, und die 
englische Steifheit schien in der frischeren Luft ge- 
schmeidig zu werden. In einem Coupe mit mir sass 
ein junges Paar das ich anfangs für Schwester und 
Bruder gehalten hatte, dessen Vertraulichkeit aber bis 
Bangor, wo die Trennung stattfand, beständig wuchs. 
Er, mit tiefliegenden Augen und langem Backenbart, 
schaute ziemlich trüb darein — er kam mir wie ein 
Geistlicher vor — , während sie, eine angenehme 
Brünette, öfters ihn schalkhaft anblickte und ihren 
kleinen Mund zum Lächeln verzog. Der Nutzen der 
Tunnels ist mir erst da vollständig klar geworden. 
Abends gegen 7 Uhr traf ich in Caernarfon, dem 
Ziele meiner Reise ein. 

Ich beabsichtige keineswegs mich auf Ortsbe- 
schreibung einzulassen; ich brauchte dazu nur eines 
der vielen englischen Bücher über Nordwales auszu- 
schreiben. Unter diesen glaube ich am meisten em- 
pfehlen zu dürfen: Black' s Picturesque Guide to North 
Wales, öth ed. Edinburgh 1874 (mit Karten und Bil- 
dern). Von Deutschen die Nordwales ausführlicher be- 
handelt haben, ist mir nur Julius Eodenberg bekannt: 
„Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen 



— 320 — 

und Lieder. Hannover 1858." Ich gestehe dass man 
ein solches Buch sich nicht hübscher denken kann, 
und der Verfasser klagt sich mit Unrecht an, er trage 
selbst die Schuld „wenn diesem Werkchen der luftige 
Schwung und die ungetrübte Helle fehlen welche der 
Himmel von Wales selbst ihm zugedacht zu haben 
schien." Dafür möge er aber so liebenswürdig sein 
mir zu verzeihen dass ich ihm einen andern Vorwurf 
mache, den: Dichtung und Wahrheit nicht nur, sondern 
auch Altes und Neues vermischt zu haben. Er will 
der Hochzeit Sarahs als Augenzeuge beigewohnt haben ; 
aber die Hochzeitsgebräuche die er schildert, sind längst 
abgekommen, und ebenso verschiedene von den Todten- 
gebräuchen über die er doch „theils aus eigener An- 
schauung, theils nach mündlicher Mittheilung" berichtet. 
In der That glaube ich ßodenbergs Quelle entdeckt 
zu haben, nämlich Roberts^ The Cambrian jiopular 
aidiquitiesy London 1815^ anders könnte ich mir die 
vielfache wörtliche üebereinstimmung beider Schrift- 
steller nicht wohl erklären, üeberhaupt wird man 
sich nach Rodenberg schwerlich ein richtiges Bild von 
dem heutigen Wales entwerfen. Obwohl er von seinen 
Studien in der kymrischen Grammatik spricht, so 
deutet doch Manches darauf hin dass bei ihm die 
Kenntniss dieser so schwierigen Sprache nicht allzu 
weit gediehen ist, und dass Mutter Moll und der 
Schulmeister von Llanfairfechan mit ihm in englischer 
Sprache verkehrten. Die Bekanntschaft des Letzteren 
hätte ich recht gern gemacht ; doch ist er ganz kürzlich 
gestorben, als Schulmeister von Harlech (sein Barden- 
name war Meurig Idris). Ich wiederhole, Rodenberg 
schreibt sehr anziehend; freilich hat ihm auch immer 



— 321 — 

ein grosses Vorbild vorgeschwebt. Man wird es leicht 
z. B. aus folgender Stelle erkennen : „An dieses Haus 
fesselte mich mehr und mehr ein seltsames Interesse. 
Ein junger Mann der nach manchen kleinen Erfah- 
rungen wie sie in gutem und bösem Sinne der Jugend 
nie vorenthalten werden, sich für ein gewisses Tändeln 
immer noch den Sinn bewahrt hat, sieht sich weit 
in eine ganz neue Umgebung versetzt. Nun kommt 
ihm, mit allem Duft und Schimmer der Romantik, 
der sogar ein nationaler Hintergrund nicht fehlt, ein 
liebenswürdiges Wesen entgegen das die Mystik jenes 
Hauses in einen dem Herzen angenehmen Ton hinüber- 
spielt u. s. w." 

Als Dr. Johnson aufgefordert wurde die Geschichte 
seines Besuchs in Wales zu Papier zu bringen, ent- 
schuldigte er sich: Wales sei England so ähnlich 
dass er nichts Besonderes davon zu erzählen wisse. 
Es gehört dies ohne Zweifel zu den Irrthümern in 
die der berühmte Doktor verfallen ist; indessen das 
steht fest dass beide Länder viel Gemeinsames haben. 
Da ich nun von England nichts weiter kenne als einen 
verschwindend kleinen Theil der Droschkenkutscher 

— England auf Reisen kommt hier nicht in Betracht 

— so schwebe ich einigermassen in Sorgen, es möchten 
mir Dinge als Eigenthümlichkeiten von Wales er- 
scheinen die eben so gut in England zu finden sind. 
Ich bitte auf jeden Fall um Nachsicht. 

Was dem Fremden gleich auf den ersten Blick 
und am meisten in Wales auffallen muss, ist die 
ausserordentliche Religiosität. Auf der ganzen Erde 
gibt es kein frömmeres Land, und selbst Kardinal 
Manning sprach sich neulich in Aberystwyth hierüber 

Schachafdt, Bomanisches u. Keltisches. 21 



— 322 — 

besonders lobend aus, obwohl er als Katholik wenig 
Freude an Wales haben kann. Die Herrschaft der 
Hochkirche ist durch die verschiedenen Sekten (die 
Nonkonformisten) sehr eingeschränkt. Den ersten 
Bang unter diesen, der Zahl und dem Einfluss nach, 
nehmen die Methodisten ein, genauer die kalvinischen 
Methodisten (es gibt auch wesleyanische). In verflos- 
sener Woche, vom 16. — 19., hatten diese Methodisten 
von Nordwales ihre Jahresversammlung (gewöhnlich 
sassiwn genannt — Verderbniss des engl, association) 
zu Caernarfon. Nachdem ich so eben einen Sonntag 
in seiner strengen Heiligung durchgemacht hatte, hörte 
ich vier Tage hintereinander predigen. Der Haupttag 
war der letzte; an diesem wurden in einem riesigen 
Amphitheater das auf freiem Felde gegen Llanbeblig 
zu aufgerichtet war, sechs Predigten gehalten, immer 
je zwei unmittelbar hintereinander. Das Publikum 
war sehr stark, man behauptet an 15 000 Menschen 
(bei ähnlichen Gelegenheiten hat man schon 20000 
Menschen gezählt), und ganz Caernarfon besitzt noch 
nicht 10 000 Einwohner. Von nah und fern waren 
Methodisten herbeigeströmt, die bei ihren Glaubens- 
genossen Unterkunft fanden. An demselben Tage 
wurde noch an drei anderen Orten gepredigt. Dem 
Kymren ist es möglich einen ganzen Tag lang dem 
Worte Gottes zu lauschen, welches allerdings auch 
durchschnittlich weit besser vorgetragen wird als bei 
uns, mit grosser Sicherheit, Lebendigkeit, Eindring- 
lichkeit und vollkommen frei. Hauptsächlich durch 
die üeberlegenheit ihrer Prediger über die der Staats- 
kirche haben die Methodisten sich in so starker Weise 
vermehrt. Denn der Kelte überhaupt bewundert die 



— 323 — 

Beredsamkeit und pflegt sie nach Kräften; die Rede- 
gabe der Engländer bat man wobl nicbt mit Un- 
recbt als ein Erbstück von keltischer Seite angesehen, 
da die Skandinavier und die Deutschen in dieser Be- 
ziehung hinter den westlichen Völkern beträchtlich 
zurückstehen. Was mir an den Methodistenpredigten 
missfällt, das ist die allzu berechnete Manier der 
Steigerung und die Masslosigkeit dieser Steigerung 
selbst. Zuerst wird langsam und leise gesprochen — 
oft versteht man kaum die Worte des Bibeltextes; 
allmählich erwärmt sich die Rede; schliesslich glaubt 
man eine ganz andere Person zu sehen und zu hören. 
Der Redner beginnt mit den Händen in der Luft 
umherzuf echten, besonders liebt er es den gekrümmten 
Arm zurückzuziehen und vorwärts zu stossen, als ob 
er dem unbussfertigen Sünder den Bauch aufschlitzen 
wollte; das Gesicht röthet sich, die Stimme wird rauh 
und heiser, das ch gurgelt aus der Tiefe empor, als 
ob es die Angst des jüngsten Tages darstellen sollte; 
die Worte werden in einem eigenthümlichen Rhythmus 
— mit unnatürlicher Dehnung der stark betonten 
oder auch anderer Silben — herausgeheult. Ich 
wurde an das eintönige Pathos erinnert mit dem ich 
im vorigen Jahr den Darsteller des Cid im Theätre 
Fran9ais die wirksamsten Stellen seiner Rolle hatte 
vortragen hören. Jener Tonfall ist durchaus keine 
Erfindung der Prediger — die Engländer haben ihn 
nicht — , sondern er ist echt kymrisch ; ich habe ihn, 
allerdings in weit geringerem Grad, auch sonst ver- 
nommen, sogar bei alltäglicher Unterhaltung. Dieses 
und andere äussere Mittel üben auf das Volk regel- 
mässig eine grosse Wirkung aus, Viele, besonders alte 

21* 



— 324 — 

Leute beginnen vor Zerknirschung zu ächzen und zu 
stöhnen. So viel Gottesfurcht flösste mir Furcht ein, 
und ich räumte schon am Morgen des letzten Tages 
das Feld. Es zeigte sich mir hier der Ansatz zu 
jenem protestantischen Fanatismus der in Britannien 
und Amerika unter so mannigfachen Formen aufge- 
treten ist; doch darf ich nicht verschweigen dass die 
absonderlichsten Sekten nicht keltischen, sondern eng- 
lischen Ursprungs sind. Will ein Maler Scenen aus 
der Geschichte Cromwells darstellen, so komme er 
hieher und betrachte diese schwarzgekleideten Männer, 
denen ein langer spitzer Bart, meist auf der Oberlippe 
rasiert, das Gesicht umrahmt, und unter buschigen 
Augenbrauen ein ernster, schwärmerischer Blick her- 
vordringt. Indessen sind sie in der That keineswegs so 
kriegerisch und finster wie die Puritaner des 17. Jahr- 
hunderts. Die Kymren zeigen sich duldsam, und wiegt 
auch der Ernst in ihrer ganzen Lebensrichtung vor, 
so sind sie gleichwohl keine Feinde der Heiterkeit; 
sie lächeln oft und lachen recht gern. Tanz, Spiel, 
Theater sind freilich verpönt; ein grosser Theil der 
Bevölkerung enthält sich auch vollkommen der geistigen 
Getränke. Immerhin sind die Kneipen leidlich bevöl- 
kert, und besonders lieben es die Barden ihrem Genius 
durch einen Schluck Bier oder Whisky nachzuhelfen. 
Hie und da stösst man auf einen Mann der sich des 
rechten Wegs nicht bewusst ist. Im Ganzen macht 
sich in Wales der Einfluss der Religion auf die Sitt- 
lichkeit in einem Masse geltend wie wohl kaum an- 
derswo, am wenigsten in katholischen Ländern. Auf- 
fällig scheint dass die nächsten Verwandten dieser 
strengen Protestanten, die Bretonen ebenso strenge 



- 325 - 

Katholiken sind, und dass ganz dasselbe Verhältniss 
innerhalb des andern Zweiges der keltischen Familie, 
zwischen Iren und Schotten, besteht. Im Grund aber 
überwiegt die Aehnlichkeit die Verschiedenheit; es 
treten uns hier nur verschiedene Aeusserungen eines 
und desselben Gefühls, eines starken Zuges nach der 
andern Welt entgegen, welcher aus alter Zeit ein 
Gemeingut aller keltischen Stämme ist. Hat etwa 
der Ocean dazu beigetragen in seinen Anwohnern das 
Gefühl der Unsterblichkeit und den Gedanken an das 
Jenseits zu nähren und zu steigern? 

Eine hervorragende Tugend der Kymren ist die 
Gastfreundschaft; ich habe sie aus eigener Erfahrung 
kennen gelernt. Nachdem ich die erste Nacht zu 
Caernarfon in einem Hotel zugebracht hatte, veranlasste 
mich der Eigenthümer der beiden hiesigen Zeitungen 
auf zwei Nächte in sein hübsches Haus umzusiedeln. 
Dann wurde die Privatwohnung frei die man für mich 
ausgesucht hatte; ein Parlour und ein Schlafzimmer, 
geräumig, elegant und sauber (für 10 Shill. die Woche). 
Dazu ist Mrs. Prichard — Namen sind in Wales kein 
Erkennungszeichen, alle Welt heisst entweder Jones 
oder Evans oder Davies oder Prichard — Mrs. Prichard, 
sage ich, ist die Liebenswürdigkeit selbst, sie brät 
mir die saftigsten Braten und Koteletten, bäckt mir 
die süssesten Puddings und Fruchttorten. Sitze ich 
Abends im Schaukelstuhl vor dem stark beladenen 
Theetisch, und summt mir das Gas in die Ohr^n, so 
ist es mir mehr englisch als keltisch zu Muthe; fast 
möchte ich dann, es knisterte ein munteres Feuer im 
Kamin, aus dessen OeflFnung jetzt nach Landessitte 
bunter Papierzierrath hervorquillt. Während der Mahl- 



- 326 — 

Zeiten stelle ich vergleichende Betrachtungen an; ich 
wünschte, Deutschland entlehnte den gerösteten Schinken 
von hier und lehrte dafür dem Kymren den Gebrauch 
der Serviette. Um das Häusliche ein- für allemal 
abzuthun, erwähne ich noch dass die Reihenfolge: 
Wohnzimmer, Küche, Adyton, meine Gedanken nach 
Bom und Neapel geführt hat; die Betrachtungen die 
ich einst an die italienische Einrichtung knüpfte, er- 
scheinen mir nun als hinfallig. 

üeberall ist man mir auf das freundlichste 
entgegengekommen, bei jeder Vorstellung auf der 
Strasse schütteln mir Männlein und Weiblein derb 
die Hand und fragen: „Wie geht es Ihnen?" Aus- 
gesuchte Manieren sind nicht des Kymren Sache. Zum 
Theil habe ich diese Freundlichkeit meiner Bekannt- 
schaft mit dem Kymrischen oder vielmehr meiner 
Vorliebe für dasselbe zuzuschreiben» Gleich nach 
meiner Ankunft legte ich in die Hände Llew Llwyfos, 
Barden und Eedacteurs des Herald Cymraeg den 
Schwur ab nur Kymrisch zu reden; und bis jetzt ist 
die Versuchung diesen Schwur zu brechen noch in 
keiner verlockenden Gestalt an mich herangetreten. 
So werde ich denn überall als Deutscher der Kymrisch 
versteht, aber nicht Englisch, herumgeführt und gezeigt; 
und das Letztere, das dim Seisneg 1 wird mir fast zum 
grösseren Verdienst angerechnet als das Erstere. Auch 
Leute die sonst Englisch zu reden pflegen, bedienen 
sich mir gegenüber des Kymrischen, und zwar eines 
möglichst grammatikalischen. Meine Wirthin, der 
eingeschärft ist im Gespräch mit mir die Wörter ein 
wenig auseinander zu halten, geht dem zufolge bei 
ihren Mittheilungen mit grosser Feierlichkeit zu Werke. 



— 327 — 

Sie nähert sich mir langsam, legt mir die Hand auf 
die Schulter, sieht mich aus ihren alten treuen Augen 
eine halbe Minute verheissungsvoll an, bringt ihren 
Mund an mein Ohr und zerhackt dann, mit möglichst 
lauter Stimme, ihre Sätze in einzelne Silben. Der 
kürzeste Weg zum Gehirn . ist das freilich ; ob auch 
der beste, muss ich bezweifeln. 

Das Wetter war in den ersten Tagen meines 
hiesigen Aufenthaltes nicht sehr günstig. Schwere 
Wolken, Eegenschauer, kein Licht als das von der 
Kanzel herab — ich war nahe daran mit Homer oder 
vielmehr näit Pope auszurufen: 

There in a londy land and gloomy ceUs 

The dusky nation of Cimmerian dwells; 

The sun we'er viewa W uncomfortable seatSj 

When radiant he advances or retreats, 

Unhappy race! tohom endless night invades, 

Clouds the dull air and wraps them round in shades. 

Dann aber hellte sich der Himmel auf. Eine 
prachtvolle Aussicht geniesst man vom Twthill aus, 
einem Felskegel der sich nicht sehr hoch über die 
höchstliegenden Häuser erhebt und der fast immer 
besucht ist. Von da erblickt man was sich nur 
wünschen lässt: eine nette Stadt mit rothbraunen 
Schieferdächern, die schönste, grösste und besterhaltene 
Buine eines mittelalterlichen Schlosses, das offene Meer, 
einen Meeresarm, einen Fluss mit zahlreichen Schiffen, 
den Vordergrund einer grossen Insel, eine blühende 
Landschaft mit Viehweiden, Feldern, Baumgruppen, 
Wohnsitzen, durch Hecken und Mauerwerk eingetheilt, 
und endlich die schöne zackige Gebirgskette, die am 
Meere jäh abschneidet. Den höchsten Gipfel derselben. 



- 328 - 

die Gwyddfa (Snowdon) kann man von Caernarfon aus 
nicht sehen, wohl aber von Stellen in der nächsten 
Umgebung aus. Er hüllt sich gern in Wolken ein. 

Morgen beginnt die grosse Eisteddfod von Pwllheli, 
über die ich Näheres zu berichten gedenke. 



Ehyl, 17. Sept. 1875. Die zweite Woche meines 
Aufenthalts in Wales, die der Eisteddfod sah der 
ersten, der der Methodistenversammlung so ähnlich 
wie ein Ei dem andern, das der Lerche dem des Raben. 
Meine Sorge dass die Sehnsucht nach dem Himmel 
alle irdischen Gedanken in den Kymren abgetödtet 
hätte, erwies sich als unbegründet ; ich fand dass auch 
hier, trotz aller Frömmigkeit, der Spruch des heid- 
nischen Dichters galt: Humani nihil a me alienum 
puto, und ich athmete auf. Selbst der Himmel nahm 
diese Weltlichkeit gar nicht so übel; denn während 
des Festes entwölkte er sich und spendete sein heiterstes 
Lächeln. Einen Gegensatz zwar, doch keinen Wider- 
spruch schienen mir schliesslich die beiden Wochen 
zu enthalten; vielleicht war auch das Publikum bei 
der einen und der anderen Gelegenheit etwas ver- 
schieden zusammengesetzt. Viele von denen die bei 
den „Sinaipredigten", unter den Donnerworten vom 
höllischen Pech und Schwefel gebebt und gestöhnt 
hatten, mögen absichtlich weggeblieben sein, während 
alle lebenslustige Jugend, wenn irgend thunlich, zu 
den Freuden der Eisteddfod herbeigeeilt war. 

üeber die Geschichte der Eisteddfode habe ich 
gegen dreissig Spalten in dem kymrischen Pierer, dem 
Gwyddoniadur Cymreig gelesen, und mir wirbelt der 



- 329 - 

Kopf davon; ich wünsche diesen Eindruck nicht fort- 
zupflanzen. Ein grosser Theil der Nachrichten welche 
sich auf diese feierlichen Zusammenkünfte der Barden 
sowie auf das Bardenthum überhaupt beziehen, ist 
gefälscht oder höchst unzuverlässig. Doch beginnen 
die übertriebenen Vorstellungen welche hierüber herrsch- 
ten, zu schwinden, dazu hat u. a. Gweirydd ap Ehys 
in einer Reihe von Artikeln welche neuerdings die 
amerikanisch-kymrische Zeitschrift Y Wasg brachte, 
beigetragen. Ich werde daher nichts über die Eistedd- 
fode von 517 und 540 und über so viele andere sagen, 
sondern mich auf zwei Bemerkungen beschränken. Die 
älteste Erwähnung einer Eisteddfod welche glaub- 
würdig zu sein scheint, findet sich im Brut y Tywy- 
sogion (Fürstenchronik): Rhys ap Gruffydd hielt 1176 
im Schloss von Aberteifi ein grosses Fest, an welchem 
eine doppelte Art von Bewerbung stattfand, die eine 
zwischen den Dichtern, die andere zwischen den Mu- 
sikern ; es waren zwei Stühle für die Sieger in diesen 
beiden Kämpfen bestimmt und mit reichen Preisen 
ausgestattet. Nach einem Schlummer von anderthalb 
Jahrhunderten erwachten die Eisteddfode 1819 zu 
Caerfyrddin wieder zum Leben, und seit sechzehn 
Jahren hat jährlich eine „nationale, königliche, pri- 
vilegierte" Eisteddfod statt, und neben diesen allge- 
meinen zahlreiche örtliche von weit geringerer Be- 
deutung. 

Die Kymren vergleichen gern ihre Eisteddfode 
den olympischen Spielen der Griechen. Jene sind aller- 
dings Wettspiele wie diese; aber nicht auf den Ge- 
bieten körperlicher Kraftentfaltung, sondern nur auf 
denen der Dicht- und Tonkunst, auch der Prosaschrift- 



- 330 - 

stellerei und der Gewerbthätigkeit. Das Schöne steht 
in erster, das Nützliche in zweiter Reihe. Geld und 
goldene oder silberne Medaillen, und zwar Beides zu- 
gleich, werden als Preise verliehen, seltener andere 
Ehrengaben. Der Werth der Preise auf der Eisteddfod 
von PwUheli betrug gegen 800 Pf. St. Zu einem 
geringen Theil werden sie von einzelnen Personen aus- 
gesetzt, zum grossen Theil von dem Ausschuss, der 
überhaupt das ganze Fest veranstaltet und dessen Kosten 
bestreitet. Decken die Einnahmen welche durch den 
Verkauf der Eintrittskarten gewonnen werden, die Aus- 
gaben nicht, so macht sich das in der Tasche der 
Ausschu^smitglieder fühlbar; stellt sich dagegen ein 
üeberschuss heraus, so pflegt er zu nationalen Zwecken 
verwendet zu werden. Man hat es dem Ausschuss 
der Eisteddfod von Bangor im vorigen Jahre sehr 
verdacht dass er den Beingewinn sich selbst zugute 
kommen liess. lieber die Preiswürdigkeit jeder Leistung 
wird von einer, zwei oder drei Personen entschieden. 
Zuweilen wird der Preis ganz zurückbehalten — mich 
dünkt, es geschieht nicht oft genug — häufig wird er 
auch zwischen zwei oder drei Bewerbern getheilt. Ganz 
unlogisch ist es jedenfalls eine ungleiche Theilung vor- 
zunehmen ; sobald man dem einen 1 Pf. 5 Sh. und dem 
andern 1 Pf. 1 5 Sh. zuerkennt, erklärt man den zweiten 
für den Besten und müsste ihm also den ganzen Preis 
zuerkennen, denn eben nur der Beste soll ihn erhalten. 
Ich habe von diesen Festen eine ganz vorzügliche 
Meinung, wie viel sich auch im Einzelnen ihre Aus- 
führung bessern lässt. Die verschiedenartigsten Kräfte 
werden zur Thätigkeit angespornt, der Erfolg erhält 
eine verhältnissmässige Belohnung, und zwar unter 



- 331 - 

allgemeinster Theilnahme ; Reich und Arm, Hoch und 
Niedrig, Staatskirchler und Nonkonformist, Tory und 
Whig finden sich hier zusammen und werden durch 
ein gemeinsames Interesse in nahe und freundliche 
Beziehung gebracht, durch das Interesse an allem was 
kymrisch ist, seinem Wesen oder seiner zufalligen Ent- 
stehung nach. Die Eisteddfod ist der Brennpunkt im 
Nationalleben der Kymren. Dicht- und Tonkunst sind 
zwar von Haus aus gleichberechtigt; da aber die 
Nationalität sich in der Sprache am deutlichsten äussert, 
so erklärt es sich dass jetzt wenigstens die Pflege der 
Dichtkunst den wesentlichsten Zweck der Eisteddfode 
bildet. Es lässt sich nicht leugnen dass verschiedene 
der besten dichterischen Erzeugnisse aus der Bewerbung 
um Eisteddfodpreise hervorgegangen sind. Man könnte 
freilich denken, wer einen vorgeschriebenen Gegen- 
stand gut behandelt, würde einen selbsterkorenen noch 
besser behandeln. Indessen ist die Auswahl immer so 
gross dass jeder Dichter etwas finden wird was seiner 
Neigung und Befähigung vollkommen entspricht. Wem 
„Boadicea" und „Cassivellaunus" zu alterthümlich, der 
wählt die „Heiligen von Bardsey" oder „Katharina 
von Berain"; wem die Elegie und die Grabschrift zu 
traurig, der wählt das Liebeslied; wem das epische 
Gedicht zu lang , der wählt das Epigramm. Die 
prosaischen Aufgaben, für die gewöhnlich auch die 
englische Sprache zulässig ist, beziehen sich natürlich 
nicht auf Fachwissenschaftliches, sondern auf Dinge 
von allgemeinem Interesse, z. B. auf den „Verstand" 
und auf die „Enthaltung von geistigen Getränken", 
sowie auf Kymrisches. Für PwUheli waren zwei Auf- 
gaben der letzteren Klasse gestellt: „Ueber das Leben 



- 332 — 

und den Genius des Dichters David Owen (Dewi Wyn 
Eifion)" — der für den bedeutendsten kymrischen 
Dichter dieses Jahrhunderts gehalten wird (f 1841; 
sein Geburtshaus hatten wir auf unserer Fahrt nach 
PwUheli erblickt) — und „Ueber die besten Samm- 
lungen von kymrischen Büchern und Handschriften und 
von Büchern die sich auf Wales und kymrische Litte- 
ratur beziehen." Nur die erste Aufgabe wurde wirk- 
lich gelöst; der einzige Bewerber um die zweite empfing 
die zehn Guineen (ohne die Silbermedaille) als Er- 
munterung. 

Es ist wahr dass kein anderes Volk heutzutag ein 
derartiges Fest kennt; bei einem grossen Volke wie 
den Engländern, den Franzosen, den Deutschen wäre 
es überhaupt nicht möglich. Man denke sich, es 
gingen bei den Preisrichtern statt 20 Pfund on the 
mind^ wie dies zu PwUheli der Fall war, 5 Centner 
ein ! Jeder Schriftsteller würde ja über diesen Gegen- 
stand schreiben, um zu zeigen dass er etwas davon 
besitze. Oder es sängen statt zweier Chöre, wie zu 
Pwllheli, 40 Chöre nacheinander : The people shall Jiear 
and be afraid (aus Handels „Israel in Aegypten"). In 
der That, the people would hear and he afraid 1 

Die Eisted dfod wurde abgehalten in einer riesigen 
Bretterhalle. Der Raum für das Publikum bestand aus 
vier Abtheilungen; die Bühne, auf welcher der Prä- 
sident und die Beamten der Eisteddfod ihren ständigen 
Aufenthalt hatten, schloss nach hinten mit einem kleinen 
Amphitheater für die Chöre ab. Der Pavillon war u. a. 
mit Sinnsprüchen reich geschmückt. Ueber der Bühne 
las man die drei Eisteddfodsprüche : „Unter Gottes 
Schutz und Frieden!", „Jesus, dulde kein Unrecht!", 



— 333 — 

„Die Wahrheit gegen die Welt!'*. Gegenüber: „Gott 
erhalte die Königin!" und „Es lebe der Prinz von 
Wales!" Zu beiden Seiten : „Ohne Gott nichts!", „Im 
Angesicht der Sonne und der Augen des Lichtes!", 
„Die Dauer der Welt der kymrischen Sprache!" u. s. w. 
Auch die Namen einer Keihe von Barden die nicht 
mehr unter den Lebenden weilten, waren angebracht, 
zunächst an der Bühne die der beiden jüngst verstor- 
benen Meurig Idris und Cynddelw. Der Letztere war 
Prediger der Baptisten zu Caernarfon, und seinen Ver- 
lust beklagt Wales tief. An jedem Tag wurde eine 
Morgen- und eine Abendsitzung gehalten; die einen, 
in der Dauer von mindestens 4 Stunden, machten die 
eigentliche Eisteddfod aus, die anderen bestanden aus 
Konzerten von 26 — 28 Nummern (zum grössern Theil 
Sologesängen). Mit jeder Sitzung wechselte der Prä- 
sident. Zu diesem Posten, der keine andere Mühe- 
waltung als die einer kurzen Ansprache einschloss, 
waren natürlich die angesehensten Personen auserlesen. 
Am ersten Morgen sollte der Baronet Watkin Williams 
Wynn präsidieren ; allein er war durch Krankheit ver- 
hindert. Sein Stellvertreter sprach von ihm als dem 
prince in Wales ; er stammt nämlich, allerdings durch 
Vermittlung zweier Erbtöchter, von Eoderich dem 
Grossen ab, der im neunten Jahrhundert König von 
ganz Wales war. Seine Geschlechtstafel ist mir seit- 
dem zufölligerweise zu Gesicht gekommen, und ich 
habe da unter seinen Ahnen einen Robert ap Meredith 
entdeckt der erst mit dem 80. Jahre heirathete. Ein 
Tintenklecks auf diese Stelle des Stammbaumes wäre 
nicht übel! Präsident am zweiten Morgen war der 
greise Lord Mostyn, von dem ein Vorfahr, zur Zeit 



— 334 — 

der Königin Elisabeth, in der Geschichte der Eistedd- 
fode genannt wird. 

Von diesem viertägigen Fest kann ich sagen was 
von keinem andern gleichen Umfangs das ich je mit- 
gemacht habe: dass es mich nicht im geringsten er- 
müdet hat. Es lag dies, abgesehen von der vollstän- 
digen Zwanglosigkeit welche dabei herrschte, an der 
Mannigfaltigkeit des zu Sehenden und zu Hörenden. 
Zwischen den musikalischen Wettkämpfen, den einzigen 
an denen das Publikum kritischen Antheil nehmen 
konnte, trugen die Eichter ihre Entscheidungen vor 
und riefen den Sieger oder die Siegerin mit Namen 
auf. Handelte es sich um die besten Hufeisen oder 
die besten Strümpfe oder den besten Flanell, so er- 
freute sich das Publikum wenigstens an einem flüch- 
tigen Anblick der Leistung. Der Glückliche betrat 
die Bühne ; zu gleicher Zeit wurde eine Dame hinauf- 
geführt die dem sich Beugenden oder Mederknieenden 
an buntem seidenen Band den Preis um den Hals 
hängte. Ein herzlicher Händedruck und laute Beifalls- 
bezeigungen der Zuschauer schlössen die kurze Cere- 
monie. War es eine Glückliche, so vollzog ein Herr 
die Krönung. Ausserdem fanden auch in den Morgen- 
sitzungen einzelne Stimm- und Instrumentalvorträge 
statt, und wurden verschiedene Reden gehalten. Unter 
diesen machte besoüders eine von Hwfa Mon, Prediger 
in London und Dichter auf mich Eindruck. Er brüllte 
nämlich wie ein verwundeter Löwe; seit ich Ira Ald- 
ridge als Othello hörte, ist mir etwas Aehnliches nicht 
wieder vorgekommen, und Othello hat doch eine kleine 
Ursache zu brüllen, ebenso die Methodistenprediger, 
soweit sie von dem Weltgericht und der ewigen Ver- 



— 335 — 

dammniss reden — aber Hwfa Mona Gegenstand waren 
die Eisteddfode und die kymrische Sprache. Wie er 
so dastand, über die Brüstung gebeugt, mit erhobenem 
Arm, mit flammendem Antlitz, das auch für gewöhn- 
lich einen begeisterten, seherhaften Ausdruck trägt, 
glaubte ich einen alten Druiden zu erblicken der, an 
einsamer nordischer Küste, vor blutendem Opfer sein 
besiegtes und verfolgtes Volk zum Widerstand und zur 
Rache anfeuert und dabei das Tosen der Wellen und 
des Windes übertönt. Dieses ins Unschöne, Unheim- 
liche gesteigerte Redefeuer ist, ich erkenne es mehr 
und mehr, echt kymrisch. Trotzdem haben mir sehr 
viele Kymren, als ich mich neulich missfällig über 
diese Art des Vortrags im Herald Cymraeg ausge- 
sprochen hatte, lebhaft zugestimmt, so ein Ungenannter 
in dieser Zeitung selbst. Beiläufig gesagt, berührt 
derselbe auch einen andern Punkt den ich aufs Tapet 
gebracht hatte. „Ist etwa die Sitte dass zwei, drei 
Predigten unmittelbar hintereinander gehalten werden, 
aus der Neigung der Kymren zum Wettkampf, zur 
Mitbewerbung herzuleiten?" So hatte ich gefragt, 
und der Ungenannte erwiderte: „Wer von uns, wenn 
er an die Bemerkungen denkt die nach den Predigten 
gemacht werden, möchte bezweifeln dass diese Worte 
ein gutes Theil Wahrheit enthalten? ,Der und der 
hat es heute recht gut gemacht*, heisst es, oder ,A hat 
keine Chance nach B*, oder ,C wusste dass er heute 
nach D sein Bestes thun müsste* u. s. w." In der 
(staatskirchlichen) Zeitung Y Dywysogaeth las ich 
einen Artikel über die bei den Nonkonformisten herr- 
schende Art zu predigen in welchem meine Bemer- 
kungen wiederholt und neue hinzugefügt waren. Unter 



— 336 — 

den letzteren scheint mir folgender Vergleich sehr 
treffend: „Die Menge stellt sich eine ,grosse Predigt' 
wie einen Feuerbrand vor der anfangs ruhig, düster 
und rauchig ist, dann mehr und mehr, unter Geprassel 
und Gluth, aufflammt.^ 

Glücklich hob sich von dem düstern Pathos Hwfa 
Mons und mancher etwas langweiligen Partie der 
Eisteddfod der Humor ab den der Dichter Mynyddog, 
einer von den Leitern (nicht Präsidenten) der Sitzungen 
entfaltete. Keine zwei Sätze brachte er in seiner be- 
haglichen, sichern Weise hervor ohne dass ihm Jubel 
und Gelächter antworteten, besonders aus dem Hinter- 
grunde, wo das unverfälschte Kymrenthum sass. Z. B. 
Ein paar kleine Mädchen haben auf dem Klavier be- 
liebige Stücke vorgetragen; der Preisrichter lobt das 
Spiel der Einen sehr, nur sei leider das Stück so kurz. 
Mynyddog stellt die Siegerin dem Publikum vor; 
Mr. *** habe nur Eines auszusetzen, nämlich — und 
dabei weist er auf die kleine Gestalt hin — dass das 
Stück so kurz sei. Auch sang Mynyddog ein paar 
seiner eigenen komischen Lieder, die den lautesten 
Beifall hervorriefen. 

Das Kymrische ist, wie es sich gehört, bei weitem 
die vorherrschende Sprache ; daneben wird auch Englisch 
gesprochen, und zwar als die vornehmere Sprache. Ver- 
schiedene der Präsidenten hielten ihre Ansprache erst 
auf Englisch und wiederholten sie dann auf Kymrisch. 

Dienstag, den 22. August bei grauendem Morgen 
verliess ich Caernarfon mit der Eisenbahn. Es strömte 
vom Himmel; wir waren alle recht verschlafen und 
verdriesslich. Nachdem wir noch ein paar Stunden in 
PwUhelis Wirthshäusern umhergezogen waren, begann 



— 337 — 

das Fest trüb und matt. Es hatte durch das Dach 
des Pavillons durchgeregnet, und die feuchten Sitze 
füllten sich langsam. Ich kehrte Nachmittags nach 
Caernarfon zurück, um mich auf einen mehrtägigen 
Aufenthalt in PwUheli zu rüsten. Auch der folgende 
Morgen zählte zu jenen brittischen Regenmorgen welche 
die Stimmung in so hohem Grade beeinflussen ; unter- 
wegs aber klärten sich Wetter und Laune auf. Neben 
mir sass ein Engländer der vor wenigen Wochen in 
Halle gewesen war und recht gut Deutsch sprach ; mir 
gegenüber ein Barde Caernarfons. Es entwickelte sich 
zwischen uns Dreien eine deutsch-englisch-kymrische 
Unterhaltung, die mich um so mehr ergötzte als ich 
mein Inkognito oder vielmehr mein Ignoro in Bezug 
aufs Englische wahrte. Der Pavillon war an diesem 
Tage weit mehr gefüllt als am vorhergehenden. Ich 
machte zahlreiche Bekanntschaften, u. a. die des Dich- 
ters Ceiriog, von dessen Gedichten ich schon in Deutsch- 
land verschiedene mit lebhafter Theilnahme gelesen 
hatte, und die des Eev. Silvan Evans, Herausgebers 
der Archaeologia Cambrensis und Verfassers eines 
grossen englisch-kymrischen Wörterbuches, welcher, 
wie ich mit Freuden höre, an der jungen Universität 
von Aberystwyth das Fach der kymrischen Philologie 
in Zukunft vertreten soll. Nachdem ich in der Rektorei 
mit Speise und Trank gelabt worden war, besuchte ich 
die Ausstellung in der Volksschule, die nichts besonders 
Keltisches aufwies, sodann das Konzert. Donnerstag 
war der Haupttag, der sogenannte Stuhltag. Das 
Wetter Hess nichts zu wünschen übrig. Wir stiegen 
auf einen benachbarten Hügel, den Pen-yr-allt-fawr, 
um uns die Gorsedd, die feierliche Bardenzusammen- 

Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 22 



— 338 — 

konft, die übrigens an jedem Morgen stattfand, anzu- 
sehen. Wie herrlicli von hier die Aussicht über das 
hellleuchtende Meer, den malerischen Felsen Careg- 
yr-imbill, der in die Bai vorspringt, die Eryrikette, 
die Berge von Merionethshire ! Sie fesselte mich mehr 
als die Feierlichkeiten der Gorsedd, die mich indes- 
sen schliesslich unerwarteterweise zur Aufmerksamkeit 
zwangen. Der alte Eisteddfodmann Clwydfardd, der 
auf dem Stein inmitten des Kreises stand, hatte die 
Eisteddfod proklamiert, das Gebet gesprochen und eine 
kurze Bede gehalten; die Barden, um ihn herum, 
hatten die Gorsedd mit eigenen Versen angesungen; 
es waren verschiedene Personen in einen der drei 
bardischen Grade, unter die Druiden (Geistliche), die 
Barden i. e. S. (Dichter), die Ofyddion (Männer der 
Wissenschaft — die Engländer haben daraus ovates 
gemacht) aufgenommen worden, auch eine Dame die 
sich als Dichterin ausgezeichnet hatte. Da horte ich 
auf einmal aus Clwydfardds Mund meinen Namen und 
die Aufforderung an mich in den Kreis zu treten. Ich 
leistete Folge, Hess eine Beleuchtung meiner Verdienste 
über mich ergehen und empfing den Grad eines Ofydd. 
Man band mir eine grüne Schleife um den Arm (weiss 
ist die Farbe der Druiden, blau die der Barden), ich 
stellte mich auf den Stein, sagte: „Ich danke viel- 
mals", und wurde vom Volke begrüsst. Das Pseudonym 
welches man mir gab, war Celtydd oV Almaen (Keltist 
aus Deutschland). Jeder der irgendwie auf Oeffent- 
lichkeit Anspruch erhebt, muss ein solches Pseudonym 
haben und wird dann auch fast immer mit demselben 
genannt. Wenn man sich einmal die Schilder in einer 
kymrischen Strasse genau angesehen und etwa eine 



- 339 — 

Reihenfolge wie John Jones, Robert Edwards, Edward 
Roberts, Robert Jones, John Jones, Robert Rqberts, 
Edward Jones u. s. w. festgestellt hat, ist man von 
der Nützlichkeit jener Einrichtung vollkommen durch- 
drungen. Familiennamen sind jung in Wales und noch 
nicht vollständig befestigt. Die alte Sitte war — wie 
ja auch anderswo — dem eigenen Namen den des 
Vaters hinzuzufügen, und da sehr häufig der eigene 
Name vom Grossvater entlehnt wurde, so konnte ein 
Stammbaum sehr einfach ausschauen (z. B. Owen Rhys, 
Rhys Owen, Owen Rhys, Rhys Owen u. s. w.). Doch 
zurück zur Gorsedd! Der Schluss war der Eröffnung 
gleich. Wir hielten unsere Hände an die Scheide 
aus der das heilige Schwert halb herausgezogen war. 
„Ist Friede?" rief Clwydfardd, „Friede!" antworteten 
die Barden, und so dreimal. Beim dritten Mal wurde 
das Schwert in die Scheide gestossen ; es konnte kein 
Zweifel mehr darüber herrschen dass Friede war. So 
fühle ich mich denn im Zusammenhang mit jenen alten 
Druidön welche in Mondnächten die heilige Mispel 
von den Bäumen abnahmen und im Besitze so wunder- 
barer Geheimnisse waren. Von diesen druidischen 
Geheimnissen gelobe ich feierlich nie etwas verlauten 
zu lassen. 

Mit Musik zogen wir, Barden und Volk, zum 
Pavillon hinab, der diesmal aufs vollständigste besetzt 
war ; nahe an 5000 Menschen mochten darin sein. Es 
präsidierte Mr. Edwards, ein gemüthlicher Herr, welcher 
es trotz seiner Beleibtheit nicht lange Zeit hinterein- 
ander auf seinem Präsidentenstuhl aushielt. In einer 
bescheidenen Ecke der Bühne bemerkte ich ein altes 
Mütterchen, dem durch die Gunst eines Mächtigen hier 

09* 



. — 340 — 

ein Platz angewiesen war. Auf seinem wackelnden 
Kopfe trug es den schwarzen Cj^linderhut den man 
jetzt — wenigstens in hiesiger Gegend — nur noch 
selten als weibliche Kopfbedeckung findet. Dieser Hut 
ist gewiss nichts Anderes als eine alte Fafon des 
Damenreithutes ; haben sich doch so viele Moden aus 
der feinen Welt in ländliche Einsamkeit zurückgezogen. 
Vom auf der Bühne konnte man die alte Tracht der 
kymrischen Frauen an einem jüngeren und hübscheren 
Modell studieren; ein Fräulein mit rosigen Farben 
hatte, um das Volk an seinem Hauptfeste zu ehren, 
einen hohen Hut — der in Neuheit funkelte — 
und einen rothen Mantel angethan. Diese ürkymrin 
sprach etwas Deutsch und machte später bei Hwfa 
Mons Kode Miene sich die Ohren zuzuhalten. Wie 
an jedem Tage, wurde an diesem ebenfalls gesungen, 
gespielt und geredet; auch ich sprach, auf besondere 
Veranlassung, einige Worte zum Volke, dem ich die 
Versicherung gab dass, solange das Land des „Schla- 
fenden Barden" (sehr bekanntes Werk von Elis Wynn 
1703) so viele wache Barden hervorbringe, der Spruch 
an der Wand dort seine Geltung behalten werde: „Die 
Dauer der Welt der kymrischen Sprache!" Es wurde 
dies sehr freundlich aufgenommen. Die Morgensitzung 
schloss mit dem Bedeutendsten der ganzen Eistedd- 
fod ab, der Ertheilung des Stuhlpreises. Ein schön- 
geschnitzter Eichensessel und 30 Pfund waren dem 
Verfasser der besten Awdl auf die Schönheit bestimmt. 
Der alte Gwalchmai, dessen Brust mit goldenen und 
silbernen Siegeszeichen überdeckt war, verlas das ür- 
theil der drei Kichter; unter vierzehn eingegangenen 
Gedichten wurde das Tudnos für das beste erklärt. 



— 341 — 

und ihm ausserordentliches Lob gespendet. Der Sieger, 
ein junger Mann trat vor; Gwalchmai, das Scepter, 
und Hwfa Mon, das Schwert in der Hand, gingen ihm 
entgegen und geleiteten ihn, unter Trompetenstössen, 
zu dem „Stuhl von Gwynedd (Nordwales) Mon und 
Manaw (Man)", hinter welchem die Barden einen Halb- 
kreis gebildet hatten. Er empfing den Preis aus den 
Händen einer Dame, liess sich auf seinem Thron nieder 
und vernahm etwa ein Dutzend poetischer Huldigungen 
von den Umstehenden. Dann wurde das Schwert der 
Gerechtigkeit entblösst, und die Frage nach dem Frie- 
den erledigt; endlich der Sieger mit der Würde eines 
„Stuhlbarden von Gwynedd, Mon und Manaw, und zwar 
nach der alten Satzung der Barden von der Insel Bri- 
tannien" belehnt. 

Das Städtchen selbst bot in diesen Tagen einen 
jahrmärktlichen Anblick dar. Kleine Buden und Fässer 
mit Obst stehen hier und da; vier Krüppel durch- 
ziehen früh und spät die Strassen, indem sie einen 
mitleiderregenden Gesang hören lassen; die Kneipen 
sind stark besetzt. Alle Augenblicke stosse ich auf 
jemanden der es für unbedingt nothwendig hält dass 
ich von ihm ein Glas Bier oder Sherry oder Whisky 
annehme. Dabei heisst es einem Dritten gegenüber: 
„Kennen Sie meinen Freund, den Doktor aus Deutsch- 
land? Er versteht kein Englisch, nur Kymrisch, und 
spricht Kymrisch viel besser und reiner als wir." So- 
dann Staunen, Händeschütteln, die drei Fragen: „Wie 
geht es Ihnen? Wie gefallt Ihnen die Eisteddfod? 
Wie gefallt Ihnen dieses Land ?" — die drei Antworten : 
„Gut, vorzüglich, ausgezeichnet." Und ich habe einen 
Freund mehr. So oft sich die Sache wiederholt, immer 



— 342 — 

genau in denselben Formeln, als ob diese in der Satzung 
der Barden von Grossbritannien ständen. „Reinheit 
der Sprache" ist übrigens ein etwas zweifelhaftes Kom- 
pliment; es kann geradezu das Gegentheil von „Ver- 
ständlichkeit" bedeuten. Auch mit dem einen und 
anderen der hübschen jungen Mädchen findet sich Ge- 
legenheit einen Händedruck zu wechseln. Wenn man 
so viel von dem „alten Land unserer Väter", „den 
alten Bergen", „der alten Sprache", „den alten 
Satzungen" hört wie auf der Eisteddfod, fühlt man 
um so mehr das Bedürfniss sich zu vergewissern dass 
nicht Alles hierzuland alt ist, und schliesst sich um 
so lieber an die Jugend an. 

Am Donnerstag Nachmittag war das Gewühl am 
stärksten. Ich schlenderte neben der blonden Schenkin 
von Afonwen einher und versuchte ihr den Hof zu 
machen, als ich Rev. S. Evans mit Gattin begegnete. 
„Wollen Sie mit uns speisen, bei einem Bekannten in 
der Nachbarschaft?" fragte mich das Paar voll liebens- 
würdiger Sorge um mein Wohlergehen. „Ich nehme 
es dankbar an." „Nun, so kommen Sie auf den Bahn- 
hof; der Zug geht um 6 Uhr." Eine Stunde später 
sassen wir im Wagen, und ich wunderte mich dass 
man mir für Portmadoc, unseren Bestimmungsort trotz 
meines Verlangens kein Hin- und Zurückbillet gegeben 
hatte. „Ja, heute Abend können Sie nicht nach Pwllheli 
zurück. Wo wir speisen, werden wir auch übernachten." 
Ein gelinder Schreck überfiel mich, weil ich ohne Reise- 
tasche war; aber ich sah dass auch meine Gefährten 
federleicht in der Welt herumflogen, und dies tröstete 
mich. Dicht bei Portmadoc liegt ein reizender Park, 
und inmitten dieses Parks ein Landhaus dessen Herr 



— 343 — 

und Herrin uns aufs zuvorkommendste empfingen. Das 
Mahl wies neben anderem Luxus, wie dem des Rhein- 
weins und des Champagners, auch den Luxus von Ser- 
vietten auf, dessen ich nach meiner Ankunft in Wales 
ganz entwöhnt worden war. Hier musste ich vom 
Kymrischen Abschied nehmen; es wurde noch ver- 
standen, aber nicht mehr gesprochen; das Englische 
beherrschte die Unterhaltung. Das ganze Kymrenthum 
erschien hier bis auf einen feinen und kostbaren Boden- 
satz verflüchtigt, bis auf die Liebhaberei des Hausherrn 
für alte kymrische Bücher. Noch gegen Mitternacht 
Sassen wir in der Bücherei, um in den werthvollen 
Bänden zu blättern und darauf bezügliche Gespräche 
zu führen. Das herrlichste Wetter am anderen Morgen 
lockte mich früh aus Bett und Haus; ich stieg durch 
die schattigen Gänge des Parks empor bis zu der freien 
Höhe, weil ich glaubte, ich würde dicht unter meinen 
Füssen das Meer erblicken. Aber es erglänzte in 
ziemlicher Ferne. Ich sagte dann meinen Wirthen 
und meinen Führern Lebewohl und fuhr in einem 
starkbesetzten Zuge nach PwUheli zurück. In der 
weiblichen Umgebung welche ich unterwegs hatte, 
erkannte ich einen Theil des Chors von Portmadoc, 
der schon zweimal gesiegt hatte; siegesgewiss auch 
schauten die jungen Damen aus, und in der That 
eilten sie einem neuen Triumph entgegen. Der letzte 
Festtag verrann angenehm und heiter wie die vorher- 
gehenden. Gegen Ende des Konzerts, am Abend, 
wollte ein Sir auf Englisch dem Publikum auseinander- 
setzen was Wahrheit sei ; aber mochten die Leute das 
nun wissen, oder uneingedenk des Eisteddfodspruchs 
„Die Wahrheit gegen die Welt!" nicht wissen wollen. 



— 344 — 

oder die Erklärung verspätet finden, kurz, sie wurden 
sehr ungeduldig und begannen eine Musik mit den 
Füssen welche der Rede ein vorzeitiges Ende bereitete. 
Nachdem Alles, Reden, Singen und Klimpern vorüber 
war, begann das Kneipen, und nachdem auch dies 
vorüber, funkelte noch lange ein heller Sternenhimmel 
auf zahlreiche Schaaren behaglich ümherwandelnder 
herab. Ich musste an den Schluss eines römischen 
Karnevalstags denken. 

Samstag früh sah das Städtchen sehr leer und 
nüchtern aus, und wir Nachzügler beeilten uns es zu 
verlassen. An der Kreuzstation Afonwen mussten wir, 
wie gewöhnlich, warten. „Ist Zeit?" erscholl es in 
Nachahmung der oft gehörten Gorseddformel. „Zeit!** 
„Ist Bier?" „Bier!" IT. s. w. Die schönste der 
Schwestern war nicht gegenwärtig; sie ruhte offenbar 
noch von dem Feste zu Pwllheli aus. Von Afonwen 
bis Caernarfon ging es mit ausgesuchter Langsamkeit; 
die ganze Reise, glaub' ich, dauerte drei Stunden. An 
Unterhaltung fehlte es nicht; eine Engländerin hatte 
über die Eisteddfod und über Wales im allgemeinen 
ihre eigenen Ansichten und ersparte sie uns nicht. In 
diesem Lande sollten die Schafe nicht so fett, der 
Rasen nicht so grün sein, die Vögel nicht so munter 
singen wie in England. Mein Llew Llwyfo wehrte 
sich mannhaft und bewies ihr unwiderleglich dass die 
„Sachsen" — so heissen die Engländer auf Kymrisch — 
noch nicht buchstabieren konnten als die Kymren schon 
eine reiche treffliche Litteratur besassen. Seine Wider- 
sacherin war ein recht gescheites Frauenzimmer, aber 
eines der schrecklichsten die ich je gesehen habe, so 
schrecklich wie nur ein englischer Blaustrumpf sein 



— 345 — 

kann. Neben ihr sassen zwei bescheidene und liebens- 
würdige Damen, welche ebenfalls nur Englisch ver- 
standen und auf deren Mienen sich ein leises Missfallen 
über die Nörgeleien ihrer Nachbarin zeigte. Ich wun- 
derte mich erst über diesen Gegensatz zwischen Eng- 
länderinnen; doch erfuhr ich dann zu meiner Genug- 
thuung dass diese Beiden Walliserinnen waren, nämlich 
aus einem Theil von Montgomeryshire wo das Eng- 
lische das Kymrische vollständig verdrängt hat. Darf 
ich hier ein Wort über die „gute Erziehung" der 
Engländer einschalten? Sie scheint sich mehr auf 
kleine als auf grosse Dinge zu beziehen. Jemand der 
es shocking nennt die Gabel mit der rechten Hand 
zu halten, betrachtet es keineswegs als shocking sich 
einem Andern gegenüber möglichst unliebenswürdig 
und taktlos zu benehmen. Jene Engländerin richtete 
die Frage an mich in welchem Theile von Deutsch- 
land ich wohnte. Als ich erwiderte: „In Preussen", 
sagte sie: „Ich liebe die Oestreicher viel mehr als 
die Preussen" • — ein Ausspruch den ich zwar sehr 
erklärlich, aber nicht angenehm zu hören fand. 

Kein ürtheil kann ungerechter und unverständiger 
sein als das der Engländer über alles was kymrisch ist. 
Bei den wenigen die hierin eine Ausnahme machen, 
pflegt ein gelehrtes Interesse zu Gründe zu liegen. 
Hauptsächlich die Zeitungsschreiber sind dem armen 
Tafify sehr aufsässig. Wenn sie nur nicht in so komische 
Irrthümer verfielen! Man kann z. B. in der Times 
lesen dass in Wales gaelisch gesprochen wird. Auf 
die Anwendung der Worte : dim Sasnach ! welche auf 
kymrisch „kein Englisch!" bedeuten sollen, thun sich 
die Engländer etwas zugute, sie bringen sie überall an ; 



— 346 — 

aber die Verbindung ist ein Unding, nur dim gehört 
der kymrischen Sprache, Sasnach der gaelischen an 
(kymr. Seimeg). üebrigens kommt es den Engländern 
ungemein spasshaft vor Kymrisch reden zu hören ; denn 
sie sind überzeugt dass eine wirkliche Verständigung in 
einer so wunderlichen Sprache unmöglich ist. Wie 
kann man überhaupt sich in einer andern Sprache 
verständlich machen als in der englischen! 

Die Eisteddfod ist in den Augen der Engländer 
ein barbarisches, thörichtes Fest. Als ich Pwllheli 
verliess, kam mir ein Artikel im Standard zu Gesicht 
der über das verflossene Fest in sehr unterhaltender 
Weise spöttelte; aber die Befugniss des Korrespon- 
denten irgend einen BegriflF von der Sache zu haben, 
wurde mir durch die beiden Wörtchen dim Sasnach 
sehr in Zweifel gestellt. Etwas später las ich im 
Liverpool Mercury folgende Auslassung bezüglich der 
Eisteddfod von Pwllheli: „Auch Preise in Menge far 
Abhandlungen über Etikette, Oden an lang abgeschie- 
dene Heilige und sagenhafte Krieger, dichterische (?) 
Ergüsse über verschiedene Gegenstände, aber all dies 
wie sehr viel Sekt im Vergleich zu wenig Brod. 
Warum könnten die Preise nicht ausgesetzt werden 
z. B. für den schwersten Bienenstock, für die beste 
Art und Weise den Honig auszunehmen ohne die Bienen 
zu tödten, und für verschiedene Verbesserungen im 
Garten- und Ackerbau, die den kommenden Geschlech- 
tern von Nutzen sein würden?" Niemand möchte 
leugnen dass die Bemerkungen des Bienenvaters höchst 
weise sind ; doch scheinen sie einer Ergänzung zu be- 
dürfen. Nicht die Dichtkunst allein, auch die Ton- 
kunst ist eine brodlose; was soll an die Stelle der 



— 347 — 

musikalischeu Wettkämpfe treten ? Ich dächte, Hahnen- 
und Hundegefecbte und anderes dergleichen was der 
Thierzucht Vorschub leistet. Nein, im Ernste zu reden, 
man vergleiche doch einmal ein englisches Volksfest 
mit einem kymrischen ! Auf welcher Seite mehr An- 
stand, Bildung und Geschmack? Man suche doch in 
England die Partisane zu diesen Handwerkern welche, 
voll geistiger Strebsamkeit, ihre Sprache rein und richtig 
schreiben und sich, fast ohne Anleitung, zu Dichtern 
und Sängern ausgebildet haben ? Wird man wohl etwas 
Anderes finden als savages with a tum for piety and 
mechanics, wie einst ein Fremder die Engländer ins- 
gesammt bezeichnet hat? 



Bala, 21. Sept. 1875. Dünne Bäumchen ohne 
schattige Kronen, dünnes Bier ohne schäumende Blume, 
rauchende Herren, strickende Damen, Mandolinata und 
vaterländische Potpourris — die Vereinigung aller 
dieser Dinge gewährt ohne Zweifel einen bescheidenen 
Genuss. Und sagen zu müssen dass ich mich danach 
mehr als einmal während meines vierwöchentlichen 
Aufenthalts zu Caernarfon gesehnt habe ! Den Mangel 
öffentlicher Alltagsvergnügungen, an die wir Deutschen 
nun einmal gewöhnt sind, konnte ich trotz aller Liebens- 
würdigkeit der Eingebornen nicht ganz verschmerzen. 
Ich brachte die meisten Abende zu Hause zu. Nach 
dem Abendessen pflegte ich einen Angriff auf die 
vierundzwanzig kymrischen Dichtungsmasse zu machen, 
der immer siegreich abgeschlagen wurde, und dann 
mich durch die Anekdoten des Golud yr Oes in den 
Schlaf zu lullen. Nachmittags wurde ich, wie das 



- 348 — 

auch hier geschieht, öfters zum Thee eingeladen. Cnter 
„Thee" schlechthin wird immer der Nachmittagsthee 
verstanden; es wohnt demselben ein ähnlicher Zweck 
bei wie unserem deutschen DamenkaflFee, nämlich der: 
etwa zwei Stunden nach dem Mittagsessen den Magen 
einer förmlichen üeberschwemmung preiszugeben, die 
durch Butterscheiben, Korinthenbrod, Pfannkuchen und 
dergleichen verdickt wird. Nur bildet der kymrische 
Thee eine regelmässige Mahlzeit und erfreut sich von 
Seiten des männlichen Geschlechtes nicht minderen 
Zuspruchs als von Seiten des weiblichen. Da der ge- 
waltige Verbrauch von Thee mit den Bestrebungen 
der „guten Templer" oder Mässigkeitsvereinler zu- 
sammenhängt, also gewissermassen eine moralische 
Färbung trägt, so suche ich mich vor der dritten 
Tasse immer durch die Behauptung zu retten dass 
drei Tassen starken Thees einen Deutschen eher zu 
einer sündhaften Handlung aufzuregen vermöchten als 
die gleiche Menge von irgend einem der sogenannten 
geistigen Getränke. Jede festliche Kundgebung kleidet 
sich in einen Thee. Um z. B. einen wesleyanischen 
Geistlichen bei seinem Weggang von Caernarfon zu 
ehren, veranstaltete man einen Thee am Nachmittag 
und ein Konzert am Abend; das Billet zu Beidem 
kostete Vj^ Sh. An den Theetischen wogte es auf 
und ab; unablässig rann das heisse Nass aus den 
Theekannen und schien den Schmerz um den Schei- 
denden lebendiger auszudrücken als eine Fluth heisser 
Thränen. 

Wenn mein Eifer Predigten zu hören — aus 
einem früher angegebenen Grunde — bald etwas er- 
kaltete, so bin ich zu Caernarfon regelmässig und 



— 349 — 

gern in die Sonntagsschule gegangen. Diese Einrich- 
tung ist eine sehr merkwürdige. In der Kapelle sitzt 
die ganze Gemeinde zusammen, in eine Menge von ein- 
zelnen Gruppen abgetheilt die je ein halbes Dutzend 
oder etwas mehr Personen fassen und denen würdige 
und erfahrene Leute- vorstehen. Die Geschlechter sind 
getrennt, doch kann der Vorstand einer weiblichen 
Klasse dem einen sowohl wie dem andern angehören. 
Früher soll es hie und da Sitte gewesen sein dass 
Männer und Frauen durcheinander sassen. In jeder 
Abtheilung wird irgend ein Abschnitt der Bibel gelesen 
und besprochen; nur die Kinder haben andere Bücher 
um darin zu lesen oder vielmehr lesen zu lernen. 
Denn die Wochenschule kennt das Kymrische als ün- 
terrichtsgegenstand nicht; die einzige Anweisung zum 
Kymrischlesen findet eben in der Sonntagsschule statt, 
und Kymrisch schreiben lernt, wie es scheint, Jeder 
von selbst. Dass eine Sprache welche Jahr aus Jahr 
ein eine solch stattliche Keihe von Büchern hervor- 
bringt, in dem Kopfe des Einzelnen wie eine Hecken- 
rose aufblüht, befremdet mich immer wieder von neuem, 
besonders wenn ich bedenke wie die verschiedenen 
Mundarten des romanischen Graubündens, deren litte- 
rarische Bedeutung doch unvergleichlich geringer ist, 
in der Schule Pflege und Zucht erfahren, wie sogar 
das Oberhalbsteinische sein eigenes Abcbuch besitzt, 
während sein ganzes sonstiges Schriftenthum durch 
einen Katechismus dargestellt wird. Da ich selbst 
im Kymrischen noch Anfanger war, hätte ich streng- 
genommen unter die Kleinen vor den Altar gehört ; 
aber man führte mich unter die Schriftgelehrten auf 
die Emporkirche, an einen Platz wo vor Kurzem auch 



— 35Ö — 

der holländische Professor Oosterzee gesessen hatte. 
Wahrlich, schriftgelehrt sind die Kymren, und vor 
ihrer Bibelfestigkeit fühlte sich das „gelehrte Deutsch- 
land" in meiner Person sehr beschämt. Es stellte sich 
heraus dass ich über den Bauplan des salomonischen 
Tempels und einiges Andere sehr schlecht oder gar 
nicht unterrichtet war, und nur einmal tröstete mich 
dafür die Anerkennung welche ich wegen der feinen 
Unterscheidung zwischen hudo (verführen) und temj^tio 
(versuchen) erntete. 

Um Caernarfon gibt es zwar nicht allzuviele, 
doch recht angenehme Spaziergänge. Am liebsten 
setzte ich beim alten Schloss über den Seiont über 
und ging dann, von frischem Winde angeblasen, am 
Menai entlang, bis ich in der Feme die weissen 
Wellenkämme der offenen See erblickte. Einst an 
einem trüben regnerischen Tag besuchte ich in der 
Nähe von Llanwnda einen alten Pächter der mich 
eingeladen hatte. Von hoher und breiter Gestalt, in 
derber Kleidung, mit dröhnender Stimme, durch und 
durch Biedermann und zäher, altvaterischer Kymre, 
musste er Jedem als ein wirkliches Original erscheinen. 
Wegen dieser ürwüchsigkeit hiess er seit seiner Jugend 
Hu Gadarn; dies war nämlich der Name des Mannes 
unter dessen Anführung, der Sage zufolge, die Kymren 
aus dem Sommerland nach Britannien kamen. Das 
Haus des Pächters lag auf einer Anhöhe, von hohen 
Bäumen umschattet, welche trotz der geringen Ent- 
fernung des stürmesendenden Meeres ihre Wipfel stolz 
und unversehrt in die Luft hoben, ein Sinnbild des 
Mannes selbst. Gleich nach meiner Ankunft setzte 
sich Hu Gadarn auf sein Steckenpferd, „die alte 



— 351 — 

kymrische Sprache", yr hen iaith Gymraeg — welche 
Worte er möglichst betonte und dehnte — die aller- 
älteste Sprache, die Ursprache der Menschheit. Kann 
man daran zweifeln dass sie im Paradies gesprochen 
wurde? sind nicht die Namen der ältesten biblischen 
Personen kymrisch? Abel ist ab aü, zweiter Sohn 
(müsste heissen aü fab), Cain ist cain, schön u. s. w. 
Noch das Buch Hiob war ursprünglich in kymrischer 
Sprache abgefasst ; aber dieser Text ist dann verloren 
gegangen. Nichts wie Lesefrüchte aus alten Scharteken; 
denn in Bezug auf ihre Sprache haben die Kymren 
von jeher die unglaublichsten Vorstellungen zu Tag 
gefördert. Der Kev. Joseph Harris von Swansea, 
Herausgeber des Seren Gomer sprach im Jahre 1814 
sogar die Meinung aus dass das Kymrische nicht nur 
die Sprache des irdischen Paradieses gewesen ist, 
sondern auch die des himmlischen sein wird. Ich 
fragte meinen Wirth ob er mir etwas von den ellyüon 
(Elfen) erzählen könnte; aber er verstand gar nicht 
was ich mit dem Worte meinte, bis ich es in Verbin- 
dung mit dem tylwyth teg (Feen, eig. „schöne Familie") 
brachte. Er wusste nichts davon; er meinte, durch 
den Einfluss der Sonntagsschulen seien all die Märchen 
und der Volksaberglauben verschwunden. Zwischen 
dem Mittagsessen und dem Thee wandelten wir am 
kiesigen Meeresstrande, wo einst Hu Gadarn einem 
amerikanischen Schiffskäpitän das Leben gerettet hatte, 
auf und ab, ziemlich ernst und schweigsam, während 
ein alter fetter Hund sich hinter uns herschleppte. 
Die Aussicht war unerquicklich: 

Hu Gadarn spähet hin nach Gwerddons Eiland 
üeber Caernarfons Bai, die dunkel aufbraust; 



— 352 — 

Doch nichts erspäht er. Trübe Wolken hängen 

Vom Himmel nieder, nur als Nebelschatten 

Erscheinet selbst der Eifl Vorgebirge. 

Auf seinem Speer gelehnet, stand 6r finster; 

So hoch und still glich einer Eiche er: 

Sie beugt sich über den gewalt'gen Strom, 

Und in dem Winde rauscht ihr graues Moos. 

Wie sollte man inmitten einer solchen getascbten 
Landschaft nicht zum Ossian werden! Wie sollten da 
nicht alle Erinnerungen an den nebelhaften Dichter 
der nun selbst zu Nebel zerronnen ist, erwachen! 
Ossian zählt — beiläufig sei es für die Leser der 
Times gesagt — zwar zu den Kelten, doch nicht zu 
den Kymren. Ich verabschiedete mich von Ty Mawr 
mit einem Strauss von Fuchsia und Bösen und liess 
dafür meinen Namen in einem Album zurück, zwischen 
Gedichten von Ebenezer und Zeitungsausschnitten über 
die Seeschlange und die Bevölkerungszahl der Erde. 
Mehr von der Umgegend Caernarfons als meine 
zwei Beine lehrten mich die vier von John Evans* 
brauner Stute kennen, um meinen Drang nach dem 
offenen Meere zu befriedigen, kutschierte der genannte 
Herr bald nach meiner Ankunft einige Damen und 
mich nach der Küste. W^ir tranken in einem einsamen 
Hause Thee und besahen uns dann ein merkwürdiges 
kleines Port das Lord Newborough in der Franzosen- 
zeit angelegt hatte. Ich lief auf die Dünen und be- 
grüsste das Meer mit Jubel. Es war ein sonnenheller 
Tag, und auf der Landschaft zwischen Strand und 
Gebirgskamm lag etwas von italienischem Schimmer. 
Ein anderes Mal begleitete ich John Evans, als er 
auf die Insel Mon in die Nähe von Beaumaris fuhr, 
um der Bestattung Sir Richard Bulkeleys beizuwohnen. 



— 353 - 

Der reizende schattige Weg von der Menaibrücke bis 
nach Beaumaris, von welchem herab man durch das 
Laab der Bämne auf die Fluthen des Menai sah, rief 
mir manche Partieen des Genfer Sees ins Gedächtniss 
zurück. Auf Baron Hill, dem Landsitze des verstor- 
benen Baronets war es sehr still; nur einige Trauer- 
wagen verriethen was vor sich gehen sollte. An dem 
prunklosen Leichenzug, welcher sich nach dem ein 
halb Stündchen entfernten Llanfaes bewegte, nahm 
ich begreiflicherweise nicht theil, sondern spazierte 
im Park umher und erlabte mich an dem Anblick 
des mannigfachen üppigen Pflanzenwuchses und am 
Geruch der feuchten Erde. Hat man auch drei Viertel 
seines Vermögens verspielt und verwettet, mit einem 
solchen Park ist man noch reich genug. Ich setzte 
mich, von goldigen Fliegen umsummt, auf eine Bank. 
Vor mir dehnten sich die wundervoll grünen Matten 
in langsamer Senkung zum Gestade hin; drunten 
weidete behaglich prächtiges Vieh, Binder des Helios, 
Widder des Polyphemos; von jenseit der Bai grüsste 
des Penmaenmawr stolzes Felsenhaupt herüber, und 
in weiter Ferne war die Halbinsel sichtbar auf welcher 
das vornehme Bad Llandudno liegt. Eine entzückende 
Ruhe, welcher das Todtenglöckchen von Llanfaes klang- 
vollen Ausdruck lieh! Aber über den blauen Himmel 
flogen weisse Wolken, und über die blaue See weisse 
Segel, und ich dachte an die Odyssee unseres Lebens. 
Noch einen zweiten Besuch statteten wir der Insel 
Mon ab ; er galt im besonderen den beiden Cromlechs 
zu Pias Newydd. Wir betrachteten diese Denkmäler, 
welche aus einer geheinanissvoUen Vorzeit wie erra- 
tische Blöcke zurückgeblieben sind, mit grösster Sorg- 

Scbncbardt, Bomanisches a. Keltisches. 23 



- 354 — 

fält, wir kletterten hinauf und krochen hinein, aber 
es kam uns kein gescheiter Einfall. Als wir dann, 
langsam durch den lichten Hain alter Bäume zurück- 
schreitend, uns über den Anfang aller Dinge zu unter- 
halten begonnen hatten, sprang John Evans mit kühnem 
Sprunge auf das Ende aller Dinge über und nahm 
mich in ein scharfes Verhör. Es Hess sich schliesslich 
nicht verhehlen dass ich nicht an die ewige Verdamm- 
niss glaubte. „Dann sind Sie ja ünitarier !" rief er aus. 
Es war das erste Mal dass ich von den ünitariern 
hörte. Zum Glück beendete die Ankunft des Segel- 
bootes unsere allzu eifrigen Erörterungen über den 
Ursprung des Bösen und über die Allgüte Gottes. 
„Und wäre dieser Fährmann Charon", sagte ich beim 
Einsteigen, „ich könnte nicht denken wie Sie." John 
Evans versicherte mich aber später dass unsere „wie 
Ost und West auseinandergehenden" Auffassungen des 
Jenseits keinen Schatten auf unsere diesseitige Freund- 
schaft werfen sollten. 

Seiner Güte gegen mich setzte John Evans die 
Krone auf, indem er eine Partie um den Snowdon 
veranstaltete, zu welcher er ausser mir verschiedene 
Herren und Damen einlud. Etwa ein Dutzend Personen 
fuhren wir eines Montags früh in zwei Wagen ab. Die 
Sonne blieb nach einigen matten Versuchen den Wolken- 
panzer des Himmels zu durchdringen, den ganzen Tag 
über unsichtbar; nach kymrischen Begriffen war es 
sehr schönes Wetter. Jedenfalls ersetzte den Mangel 
des Sonnenscheins eine allseitige gute Laune voll- 
kommen. Kaum lagen Caernarfons Häuser hinter uns, 
so machten wir aus dass jedes englische Wort welches 
in die kymrische Unterhaltung einflösse, eine Geldbusse 



- 355 - 

nach sich ziehen sollte, was iur uns eine Quelle grossen 
Ergötzens ward. Die Bleistifte der beiden Merker 
waren ohne Rast beschäftigt, und den Meisten in der 
Gesellschaft fiel es wohl zum ersten Mal auf mit wie 
vielen englischen Flickläppchen sie das Prachtg6wand 
der eigenen Sprache zu entstellen pflegten, und mit 
wie unnöthigen; denn fast immer fanden wir ohne 
Mühe einen passenden kymrischen Ersatz. In Llanberis, 
dem berühmten Schieferorte, dem Chamouni des Snow- 
dons wurde gehalten; man fragte sich ob man den 
nahen Wasserfall von Ceunant Mawr besichtigen sollte, 
aber die allgemeine Stimmung entschied sich für das 
freundlichere Element des Bieres. Nachdem wir uns 
erfrischt hatten, wurde Jedem unter uns — ohne An- 
sehen des Geschlechts — welcher noch kein Pseudonym 
besass, ein solches auf feierliche Weise beigelegt, nur 
dass ein Begenschirm die Stelle des heiligen Gorsedd- 
schwertes vertrat. Aus dieser bardischen Taufe ging 
derjenige welcher nachher unsere merkwürdige Ver- 
gnügungsfahrt in zwei Nummern des Herald Cymraeg 
dem Andenken der Nachwelt überlieferte, als Ym- 
fflamychwr hervor — welches Wort schwierig zu über- 
setzen ist — und eine sehr stattliche und lustige Dame, 
die Frau eines Arztes als PlUen Caergyhi^ die Pille 
von Caergybi. Die Steinbrüche von Llanberis hinter 
uns, drangen wir in das rauhe, schroflfe Gebirg ein, 
die Festung von Wales, die letzte Zuflucht des rothen 
Drachen vor den Fängen des römischen Adlers und 
den Klauen des englischen Leoparden. Ungastlich, 
trotzig starrten mir die Felsen entgegen wie die stei- 
nernen Särge altkymrischer Königsherrlichkeit, auf 
düstern Tafeln glaubte ich die Namen Gwrtheyrns, 



- 356 — 

Llywelyns, Owen Glyndwrs zu lesen. In-t nicht viel- 
leicht der unruhige Owen Glyndwr noch jetzt Nachts 
hier umher, er der bei Shakspeare sich gegen Heinrich 
Heisssporn rühmt dass er Geister, sogar den Teufel aus 
der Tiefe heraufbeschwören könne ? Und dann mag 
auch die alte Hetty aus ihrer Hütte, dem Cromlec/i 
heraustreten; einen besseren Ort für Nachtspuk gibt 
es nicht als diesen wilden, alpenhaften Llanberispass. 
Meine Gefährten schienen die Eindrücke der Umgebung 
lebhaft zu empfinden. Joan Arfon berichtete von alten 
Dingen und sagte alte Verse her; Llew Llwyfo warf 
von einem grossen Felsblock den er erklommen hatte, 
den Bergwänden ein warmes kymrisches Lied entgegen, 
und freudig hallten sie es wieder. Drei Engländer 
welche des Weges zogen, gafften uns an. „Welche 
prächtige Stimme", sagten sie, „was singt er denn, 
Deutsch oder Kymrisch?" „Kymrisch", lautete die 
Antwort, „Kymrisch und aus Herzensgrund ; was wäre 
wohl hier am Platze als Kymrisch ?" Nur Arthur, der 
überhaupt von einer Neigung zum Dickjohndavidismus 
(englisiertem Kymrenthum) angekränkelt ist , erhob 
sich kaum über seine gewohnte scherzhafte Stimmung; 
es gefiel ihm mit den Leuten aus dem Volke denen 
wir begegneten, drollige Unterhaltungen zu führen. 
Nur bei zwei Wesen welche aus einer nahen Hütte 
an die Strasse getreten waren, blieb seine Mühe ver- 
geblich, bei zwei reizenden kleinen Mädchen von so 
wunderbarer Aehnlichkeit wie ich sie bis dahin noch 
nie wahrgenommen hatte. Die armen Kinder waren 
taubstumm. So zwischen Berg und Wildbach, zwischen 
Ernst und Kurzweil schlugen wir uns über die Pass- 
höhe nach dem einsamen Wirthshaus Pen-y-gwryd, 



— 357 — 

wo der Weg sich nach Capel Curig und nach Beddgelert 
theilt. Hier wurde ausgespannt. Da wir den ge- 
reimten und ungereimten Inhalt des Fremdenbuches 
bald durchgekostet hatten, so stiegen wir, in Erwartung 
des Mittagsmahles, auf eine steile Anhöhe welche 
einen weiten ümblick über die grossartige Haide- 
und Felsenromantik darbot. Der Snowdon, der nur 
etwa die Höhe unseres Brockens hat, dräute so riesig 
und finster vor uns empor dass ich mich fast darüber 
freute seine Besteigung nie ernstlich beabsichtigt zu 
haben. Ein kymrisches Sprichwort lautet: 

Da ist der Snowdon! sagen thut's sich leicht, 
Doch wird sein Gipfel langsam nur erreicht. 

Ich begnügte mich also damit so recht behaglich vor 
mich hinzusagen: Dacw WWyddfal So oft ich hinblickte, 
war ich immer von neuem überrascht keinen Schnee auf 
dem Gipfel zu sehen. Auch der englische Name lässt 
solchen voraussetzen. In der That aber ist Snowdon 
nur eine falsche üebersetzung des kymrischen Eryri^ 
welches nicht von eira^ eiry^ Schnee herkommt, sondern 
mit eryr. Adler, eryri^ Gürtelkrankheit zusammenhängt. 
Auch Gwyddfa — so heisst, wie schon gesagt, der 
höchste Gipfel der Eryri — bezeichnet nicht sowohl, 
wie Manche annehmen, das Ding von wo aus man 
sieht, den Aussichtspunkt, sondern das Ding welches 
man sieht, welches in die Augen fällt (besonders 
„künstlichen Hügel", „Grabmal"). Die Leute der Urzeit 
schwärmten nicht allzu sehr für Weitsichten und 
tauften sicherlich die Berge vom Thal aus. Daher 
kann auch, abgesehen von sprachlichen Gründen, der 
Name des Piz Languard im Engadin nicht auf den 
von droben zu geniessenden Fernblick (ital. lungo 



— 358 — 

guardo) anspielen; mir scheint es glaublich dass 
diese gen Himmel züngelnde Spitze von Ungua^ engad. 
laungia (vgl. engad. languarda, Zungenwurst) benannt 
worden ist. Wegen vorstehender Abschweifung, welche, 
aller weltmännischen Sitte zuwider, das Handwerk 
des 'Verfassers vordringlich zur Schau trägt, muss ich 
um so mehr Nachsicht erbitten als wir oben auf 
unserem Hügel auch nicht entfernt dergleichen ver- 
handelten. Vielmehr berieth ich mich mit Arthur 
über das beste Mittel der Gwyddfa zu einer weissen 
Kappe zu verhelfen, welche uns für die Würde des 
höchsten Berges von Wales unerlässlich vorkam. Ich 
stellte ihm vor wie das Zeltdach der Eisteddfodhalle 
von PwUheli, welches ihm dazu verwendbar erschien, 
doch zu leicht schmutzen würde, und wie die Ausfüh- 
rung eines andern Plans, nämlich den Gipfel weissen 
zu lassen, mit mancherlei Fährlichkeiten verbunden 
wäre — eine Erörterung welche von P. Caergybi unter- 
brochen wurde, indem sie das Lied zu singen begann: 
„Schönes Wales, Land des Gesanges." Sodann musste 
ich eine Stelle aus Faust hersagen, und Joan Arfon, 
indem er sich bedächtig eine Prise in die Nase schob, 
entschied dass Deutsch sehr ähnlich klänge wie Kym- 
risch. Woraus ein fahrender Gelehrter des 16. Jahr- 
hunderts gewiss „dero Cimbern und Kymren gemein- 
sames Herkommen" geschlossen haben würde. Der 
Hunger trieb uns bergab; Llew (Löwe) und Twrch 
(Maulwurf) veranstalteten sogar einen Wettlauf, der 
ebenso unerwartet endete wie der zwischen dem Hasen 
und dem Swinegel, nämlich damit dass Llew bis an 
die Kniee in einen trügerisch bewachsenen Sumpf ver- 
sank. „Wunderbar!" rief der Ymfflamychwr, „der 



— 359 - 

Maulwurf springt, und der Löwe gräbt sich ein" (Twrch 
yn llamu a Llew yn tyrcliu). 

Beim Essen, das uns trefflich mundete, brachte 
Arthur als Vorsitzender einen Trinkspruch auf mich 
aus der mich sehr beschämte, und den ich mit einem 
höchst einfach gedachten Englyn erwiderte. Ich kann 
der Versuchung nicht widerstehen dieses einzige Schmer- 
zenskind meiner kymrischen Muse für die Liebhaber 
und Kenner hieherzusetzen, indem ich die Laien 
wegen einiger metrischen Aufklärungen auf einen 
spätem Brief vertröste: 

Gorddwfn ydyw V cefnfor cu — aruchel 
Ydyw V Eryri ddu; 
Dyfnach yw fy niolwch i 
Na V morj uwch na V Eryri. 

(Sehr tief ist das liebe Meer, sehr hoch ist die schwarze 
Eryri; tiefer ist mein Dank als das Meer, höher als 
die Eryri.) Ein zweiter Trinkspruch Arthurs bezog 
sich auf die Dichter und Gelehrten von Wales und 
namentlich auf Joan Arfon, den er wegen seines Er- 
folgs auf der letzten Eisteddfod beglückwünschte — 
derselbe hatte nämlich den Preis für die beste Awdl- 
bryddest auf den verstorbenen Barden Emrys, bestehend 
in einer Goldmedaille und 20 Pfund, gewonnen. Joan 
Arfon, der seines Zeichens ein kleiner Viktualienhändler 
ist, schloss an seinen Dank Bemerkungen über die 
ungünstige Lage der kymrischen Barden an: es fehle 
ihnen meistens an Zeit und Mitteln sich gründlich 
der Dichtkunst zu widmen. „Warum aber", hatte ich 
Lust einzuwenden, „denken denn gerade die Wohl- 
habenden und Reichen in Wales so wenig daran in 
kymrischer Sprache zu dichten?" doch es würde uns 



- 360 — 

dies auf gewisse sehr allgemeine Betrachtungen gefahrt 
haben. Unmittelbar nach Tisch fuhren wir nach Bedd- 
gelert ab. Die lieblichen Schönheiten des Weges er- 
quickten mich wahrhaft nach den rauhen die wir 
vorher durchmessen hatten. Wir eilten an frischen 
Matten, klaren Seen, weissen Häusern, grünem Gehölz 
vorbei, immer den Nant Gwynant entlang, der sich 
bei Beddgelert mit dem Nant Colwyn vereint. Nant 
heisst „Bergwasser" (und „Thalschlucht'*), wie zufälliger- 
weise auch diejenigen wissen welche von Genf nach 
dem Montblanc gereist sind; A^n Nant noir welchen 
sie hinter Sallenches überschritten haben, können sie 
hier in Wales als Nant du wiederfinden. 

Beddgelert liegt — und zwar recht malerisch — 
auf der Grenze zwischen Arfon und Meirionydd. Der 
Name bedeutet „Gelerts Grab", und Gelert war ein 
treuer Hund der Vorzeit, welcher von seinem Herrn, 
Llywelyn dem Grossen mit rascher Hand erstochen 
wurde, verdächtig dessen Sohn getödtet zu haben, 
während er ihn im Gegentheile vom Tod errettet hatte. 
Mitten auf einer schönen grossen Wiese bei Beddgelert 
ragen drei unregelmässig gestellte Steine aus der Erde 
empor, von einer Trauerweide beschattet ; da liegt der 
Hund begraben. Gelert ist nicht so glücklich wie 
sein berühmter Speciesgenosse Stutzel zu Winterstein 
in Thüringen (f 1640), dessen weit geringere Ver- 
dienste in einer versificierten Inschrift verkündet werden. 
Ich weiss nicht ob in Wales überhaupt Hundegrab- 
schriften bestehen; wies doch vor einer Keihe von 
Jahren der Steinmetz das Ansinnen welches der all- 
bekannte Dick Nancy, der Todtengräber an ihn stellte, 
auf den Grabstein des hochbetagt verstorbenen Hundes 



— 361 - 

Eover einige Worte zu meisseln, wie eine Beleidigung 
zurück. Nun, ist das Andenken Gelerts auch nicht 
in Stein gegraben, so doch um so tiefer in das Herz 
des Volkes. Meine Begleiter waren nahe daran das 
Grab mit einigen Thränen zu netzen, und Gwenithen 
Arfon, deren Mädchenherz die Treue auch in einem 
Hunde zu schätzen weiss, wünschte sogar ihren Namen 
in die Binde des Baumes zu schneiden; allein ich 
ernüchterte die gerührte Stimmung einigermassen, in- 
dem ich erwähnte dass die Geschichte von Llywelyn 
und Gelert unter anderen Namen an allen Ecken der 
Welt erzählt würde und also wohl in das Gebiet un- 
glaubwürdiger Sage gehörte. Ganz zu überzeugen 
vermochte ich nicht; wem; man mir auch zugab dass 
die Erzählung nicht gut von Britannien nach dem 
Morgenlande gewandert sein könnte, warum sollte nicht 
ein und dasselbe sich zweimal zugetragen haben? In 
Arthurs Brust bohrte sich der Stachel meiner kritischen 
Bemerkungen am tiefsten ein. Als uns der Heimweg 
an einem Stein mit der weisslichen Fussspur eines 
Riesen vorbeiführte, stieg Arthur aus, sprang über 
das Wasser, in das er beinahe hineinfiel, und kletterte 
an dem Stein empor; nachdem er eine Zeit lang mit 
dem Taschenmesser an der Stelle herumgeschabt hatte, 
theilte er uns als wissenschaftliches Ergebniss mit 
dass überhaupt an keinen Fussstapfen, geschweige an 
den eines Riesen zu denken sei. Wir wanden uns 
allmählich auf wellenförmiger Strasse aus den Bergen 
heraus, welche den kaum gelüfteten geheimni ssvollen 
Schleier wieder dicht um sich zogen. Ich sass auf dem 
nach aussen gerichteten Hintersitz des zweirädrigen 
Wagens und wäre bei jeder Steigung des Weges in Gefahr 



- 362 — 

gewesen herabzugleiten, hätte nicht dann immer P. 
Caergybi mit rückwärts gedrehter Faust mich am 
Arme festgehalten. Fröhlich, wie wir ausgefahren 
waren, kamen wir nach Sonnenuntergang wieder in 
Caernarfon an, und der einzige Unfall der ganzen 
Fahrt, der am Schlüsse derselben eintrat, dass mein 
hellgrauer Sonnenschirm, der Stolz seines Besitzers und 
die Bewunderung Caernarfons entzweiknickte, dieser 
Unfall erhöhte die Heiterkeit nur noch, indem er zu- 
gleich auf eine zweckmässige Verwendung der am 
Morgen eingegangenen Geldbussen hinwies. 

Mein letzter Abend in Caernarfon gewährte mir 
Freuden für die ich ebenfalls John Evans, genannt 
Arthur zu Danke verpflichtet bin. Die Harfentone 
welche Rodenbergs Buch durchziehen, hatten in mir 
eine unendliche Sehnsucht wach gerufen; denn ich 
hatte das volksthümliche Instrument der Kymren, 
dessen Pflege sehr in Abnahme zu kommen scheint, 
nur einmal gehört, auf der Eisteddfod von PwUheli; 
aber was ist der elegante Mr. Thomas, Harfner Ihrer 
Majestät gegen die braunäugige Gwenni und gegen 
den Harfner der zu Sarahs Hochzeit die Pennillion 
begleitete? Meine Sehnsucht zu stillen, gab John 
Evans eine musikalische Abendunterhaltung. Verstände 
ich das Geringste von Musik, so würde ich es kaum 
unterlassen mich hier über die der Kymren zu ver- 
breiten ; in der traurigen Lage in der ich mich befinde, 
kann ich nur sagen dass die kymrischen Weisen welche 
ich überhaupt, zu hören Gelegenheit gehabt habe, durch- 
aus keine Verwandtschaft mit den ohr- und herzzer- 
reissenden Lautgebungen der Prediger verrathen, son- 
dern dass ihre Heiterkeit wie ihre Schwermuth eine 



— 363 — 

gedämpfte, friedliche ist, wie wenn sie alle an thauigen 
Morgen auf duftenden Bergwiesen geboren wären. Be- 
sonders angenehm klingt mir der „Marsch der Männer 
von Harlech" noch in den Ohren. Was mir an jenem 
Abend am meisten gefiel, war der Wechselgesang 
zwischen Llew Llwyfo und lolo Trefaldwyn, zu welchem 
ein junges Mädchen die Harfe schlug: in raschem, 
munterm Tonfall folgte Pennill auf Pennill. Die 
Pennillion, meist vierzeilige Strophen, lassen sich mit 
den süddeutschen Schnaderhüpfeln und besser noch 
mit den Bitornellen und Rispetten der Italiener und 
den Coplas der Spanier vergleichen. Wenn auch die 
keltische und die südromanische Dichtung sonst durch 
die ganze Weite des Himmels getrennt sind, so kann 
es doch nicht Wunder nehmen dass sie hier, im un- 
befangensten Ausdruck der allgemeinsten menschlichen 
Begnügen, besonders der Liebe, sich einander annähern, 
dass der Eymre singt: 

Dort geht das Schiff mit weissen Segeln 
Auf dem Meer nach Irland hin, 
Gib, Gott des Himmels, gute Fahrt ihm, 
Denn der holde Kymre ist drin, 

und kaum anders der Toskaner: 

Von dannen aus dem Hafen fuhr ein Schiff, 
Von dannen fuhr, für den ich glüh' und bange; 
Mutter Maria, gib ihm deinen Schutz, 
Dass heil das Schiff zu seinem Ziel gelange. 

Beachtung aber verdient dass dort wie hier eben 
eine Form besteht in welche jede Eingebung des Augen- 
blicks, sei sie mehr gefühlvoll, sei sie mehr sinnreich, 
sich mühelos ergiesst, und die dann auch gern in Bede 
und Gegenrede verwendet wird. Dazu zeigen diese 



— 364 — 

Liedchen, die der Kymren ebenso wie die der Süd- 
länder auch in ihrem inneren Gewebe vielfach wieder- 
kehrende Muster ; sie kUngen aneinander an, sie ändern 
sich zueinander ab, sie sind Eigenthum Keines und 
Jedes. Norddeutschland und Nordfrankreich kennen 
nichts dergleichen. Einen deutlicheren Begriff als aus 
diesen Winken wird man aus den zahlreichen üeber- 
setzungen und Nachdichtungen bei Rodenberg gewin- 
nen. Llew Llwyfo trug mit ausserordentlicher drama- 
tischer Leidenschaft ein längeres englisches Gedicht 
vor. Mich drängte man wiederum hartnäckig wegen 
eines Stückes aus Faust, und so brüllte ich denn endlich 
— um nicht den kymrischen Predigern den Euhm zu 
lassen dass sie allein brüllen könnten — mit aller 
Kraft meiner Lungen die Stelle her: „Wenn aus dem 

schrecklichen Ge wühle " „Sehr schön, aber zu kurz !" 

rief man. Ich erwiderte: „Für das was es besagt, 
lang genug." — ?— „Das Ganze ist ein Fluch." Man 
lachte. Zuletzt hielt John Evans, welcher übrigens 
der Gesellschaft zu Ehren einen Frack trug, eine Lob- 
rede auf meine Wenigkeit ; ich bat den Ymfflamychwr 
in meinem Namen dafür zu danken, statt dessen schloss 
er sich sachlich dem Vorredner an, und der Twrch 
betrachtete diesen Gegenstand noch nicht für hinläng- 
lich erschöpft um nicht auch seinerseits sich rednerisch 
darüber zu ergehen. Pilsen Caergybi überreichte mir 
eine Puppe in Volkstracht und ersuchte mich wenig- 
stens diese Kymrin nach meiner Heimath mitzunehmen, 
wobei die Bemerkung einfloss dass zur Erhaltung reiner 
kymrischer Sprechweise eine Frau aus dem Lande selbst 
das beste Mittel sein würde. Von so vielen Liebens- 
würdigkeiten erdrückt, von so viel Liebenswürdigkeit 



— 365 — 

gerührt, trennte ich mich von den Freunden, und dies 
war das Ende meiner Tage. von Caernarfon. 

Hier muss ich mich gegen einen Vorwurf ver- 
theidigen der mir gemacht werden könnte. Ich spreche 
in diesen Briefen sehr viel von mir selbst, man wird 
sagen, zu viel. Die meisten meiner Landsleute beten 
die Objektivität in einem Grade an dass sie einen 
Verstoss gegen dieselbe kaum verzeihen. Sogar im 
Briefe als litterarischer Gattung verdammen sie das 
starke Hervortreten der Persönlichkeit, und allerdings 
sind sie durch die vielfachen balneologischen, patho- 
logischen, landwirthschaftlichen u. s. w. Briefe sehr 
verwöhnt. Dieser vaterländischen Ansicht mag ich 
hier etwas entfremdet worden sein, wo die Tagespresse 
in weit grösserem Mass als bei uns mit persönlichem 
Stoff angefüllt und mit persönlicher Auffassung ge- 
tränkt ist. Vielleicht auch sind mir die schönen Dinge 
welche man mir gesagt hat, etwas zu Kopf gestiegen. 
Im Ganzen aber lasse ich mein eigenes Ich wo es 
glänzt, nur im Wiederschein, gleichsam als unwürdigen 
Brennspiegel kymrischer Gastfreundschaft und Herz- 
lichkeit erglänzen ; höchstens noch dass ich diejenigen 
daheim welche über meine „unfruchtbaren^ keltischen 
Studien die Achseln zuckten, eines Besseren zu belehren, 
und diejenigen für welche die noch so wenig betriebene 
keltische Philologie einige Anziehungskraft besitzt, zu 
ermuntern beabsichtige. 

Von Caernarfon begab ich mich nach Ehyl (kurzes 
y!), einem Badeort an der Nordküste, wo ich acht 
Tage bei meinem Freunde John Ehys, Schulinspektor 
Ihrer Majestät zu Gaste war. Auf John Rhys gehen 
alle meine kymrischen Bemühungen zurück. In Leipzig 



— 366 — 

theilte mir vor verschiedenen Jahren Georg Curtius 
mit dass sich unter seinen Zuhörern ein Kymre befände 
und dass ihm derselbe den eigenthümlichen Laut des 
kymrischen II beschrieben hätte, welcher an der rechten 
Seite der Zunge vorbei gepfaucht würde. Dieses // 
packte mich mit gewaltigem Zauber. Gleich den mit 
Früchten und Blumen lieblich geschmückten Kapitel- 
initialen in französischen Bilderwerken, stand es mir 
zu Anfang aller kymrischen Wissenschaft gross und 
stolz da, ein verlockendes Sinnbild. Mein Gefühl leitete 
mich auch richtig; wie ich später erfuhr, hat in der 
That mit dem II das Kymrische seinen Anfang ge- 
nommen. Beim Thurmbau von Babel fiel einem Ar- 
beiter der nach oben gaflfte, etwas zerbröckelter Mörtel 
in den ofiFenen Mund; der Mann fing an zu pusten 
und zu sprudeln, es kam zunächst das II heraus, und 
dann das ganze Kymrische hinterher, da es gerade die 
Zeit der Sprachtrennung war. Um dieses II mir an- 
zueignen, suchte ich die Bekanntschaft jenes Kymren, 
der eben kein anderer als John Rhys war ; von dem II 
aus unternahm ich dann meinen ersten Streifzug in 
die kymrische Grammatik, den eine fast vollständige 
Vergessenheit von dem zweiten erfolgreicheren trennte. 
John Rhys, welcher damals vergleichende Sprach- 
wissenschaft studierte, hat sich in der Folgezeit mit 
besonderem Eifer der keltischen Philologie beflissen 
und manche Probe seiner Tüchtigkeit auf diesem Ge- 
biete abgelegt. Es wäre zu wünschen dass ihm die 
keltische Professur welche, wie ich höre, zu Oxford 
gegrandet werden soll, übertragen würde. Jetzt unter- 
hält er gerade eine anstrengende Jagd auf uralte kel- 
tische Namen, d. h. zunächst auf Grabsteine welche 



— 367 — 

solche aufweisen, und manches seltsame, unbegreifliche 
Wild wird da aufgestöbert. Natürlich wurde während 
der ganzen Zeit meines Aufenthalts von nichts Anderem 
gesprochen als von Lautschwund und Lautwandel, Ein- 
fluss des Accents, Bedeutungswechsel, Wortverwandt- 
schaft und Aehnlichem, nicht nur da wo der Liber 
Landavensis und Llwyds Archaeologia, Zeuss' Gram- 
matik und Curtius' Etymologie uns durch ihre Gegen- 
wart anfeuerten, sondern auch in dem Speisezimmer. 
Denn Mrs. Rhys, eine geborene Kymrin, die in Berlin, 
Paris und Rom gelebt hatte, war eine sehr sprachen- 
kundige Dame und zeigte auch, der Neigung ihres 
Geschlechts zuwider, lebhaften Antheil an der wissen- 
schaftlichen Betrachtung der Sprachen. Das dritte 
Familienmitglied war noch zu weit in der Praxis 
zurück um sich für die Theorie erwärmen zu können ; 
die kleine reizende Myfanwy verstand zwar, wie ihre 
Eltern behaupteten, alles was man ihr sagte, beschränkte 
sich aber im eigenen Hervorbringen auf ein melodisches 
Didldidldidldidl^ zu welchem sie der Anblick runder 
Gegenstände, besonders wenn sie zugleich essbar waren, 
veranlasste. Ohne Zweifel strebte auch sie in diesem 
Ausdruck des Entzückens dem mehrgenannten II nach, 
das ihr von allen Lauten der Muttersprache als der 
süsseste und begehrenswertheste erscheinen mochte. 
In Rhys' Haus machte ich auch die Bekanntschaft von 
W. J. Hughes, einem lebhaften Mann, der ein gutes 
Stück von der Welt gesehen hatte, und mit Aristophanes 
und Rabelais innig befreundet war. Sein Kymrisch hatte 
er einigermassen Vergessen, und es belustigte mich 
wenn er mich, den Fremden um Verdolmetschung 
englischer Wörter anging. Zum Andenken schenkte 



- 368 — 

er mir die neue im vorigen Jahr zu Liverpool er- 
schienene Ausgabe von Twm o'r Nant, dem „kymrischen 
Shakspeare", der wie er ein Dinbychmann und im Ge- 
brauch englischer Wörter so wenig wählerisch war 
wie er. 

Bhyl ist im eigentlichsten Sinn ein funkelnagel- 
neuer Ort, welcher seine Entstehung und Blüthe der 
für das Baden sehr günstigen Beschaffenheit des Strandes 
verdankt, und welcher ausser John Bhys' Bücherei 
wenig Keltisches aufzuweisen hat. Eine lange Reibe 
stattlicher Häuser wendet dem Meer ihre Vorderseite 
zu, und die hier entfaltete Lichtverschwendung gestattet 
den Blicken der Vorübergehenden tief ins Innere, wenig- 
stens der Erdgeschosse zu dringen und die Badegäste 
bei ihren verschiedenen Beschäftigungen fast wie in 
Glaskästen zu beobachten. Ein Viertelstündchen in 
das Meer hinaus, etwa bis zum Stande der tiefsten 
Ebbe führt ein Molo in Gestalt einer grossen hölzernen 
Brücke welche einen Erfrischungs- und einen Tanzsaal 
trägt. Am Abend kann man — was mir so unkymrisch 
wie möglich vorkommt — am Strande Musik hören und 
sich dabei unter einen südlicheren Himmel träumen; 
freilich giesst der Mond nur ein mattes Licht aus, 
doch erleichtert uns das andrerseits süsse Täuschungen 
über die auf- und abwandelnden Gestalten mit welchen 
Manchester und Birmingham diese Gestade bevölkert 
haben. 

Fast die ganze Zeit über welche ich in ßhyl ver- 
brachte, war der Himmel wolkenlos; durch die auf- 
steigenden Dünste aber erschien der Glanz der Sonne 
in eigenthümlicher Weise gedämpft. Liebt es etwa 
die schamhafte Königin des Tages ihr Antlitz vor den 



— 369 — 

Nacktheiten zu verschleiern die sich hier breit 
machen? In Caernarfon war mir das Buch von Luke 
Owen Pike: The English and their origin (London 
1866) zu Gesicht gekommen, und ich hatte darin ge- 
lesen dass wir Deutschen doch ein recht unanständiges 
Volk wären, wenn auch nicht sowohl aus Verderbtheit 
als aus Unwissenheit, wozu Belege aus Goethe bei- 
gebracht waren. Die Engländer hingegen hätten mit 
den alten Griechen eine bewusste Sittsamkeit, wie so 
ziemlich alle Vorzüge des Leibes und der Seele gemein. 
Die Ueberzeugung welche man mir von früh auf ein- 
geprägt hatte, dass die Deutschen alle Völker des 
Erdballs an Züchtigkeit überträfen, war dadurch er- 
schüttert worden, und ich fühlte mich verstimmt. Der 
Strand von Ehyl tröstete mich. Er bot mir Gelegen- 
heit die Leistungsfähigkeit der Engländerinnen im 
Sehen wie im Sehenlassen zu bewundern ; zu Ersterem 
eignete sich der Molo vorzüglich. Wie zweckmässig 
ist auch die in England so beliebte Verlängerung der 
Kindheit I Hochaufgeschossene Mädchen welche an- 
derswo beinah auf Bälle gehen würden, legen in den 
Dünen die wesentlichere Hälfte ihrer Kleidung ab und 
sind mit ihren jüngeren Brüdern bei kühnen Wasser- 
bauten thätig. Es ist wohl möglich, Mr. Pike, dass 
das Anstandsgefühl Ihrer Griechen den Anblick von 
alledem ruhig ertragen haben würde ; aber auch deren 
Schönheitsgefühl ? 

Das Wetter schlug um, als ich von Ehyl in das 
Innere des Landes nach Bala reiste. Von dem kym- 
rischen Eden, dem Clwydthale sah ich vor Kegen nichts. 
In Corwen musßte ich einige Stunden verweilen, da der 
AnscHluss den ich auf dieser Station erwartet hatte, 

Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 24 



- 370 - 

nicht stattfand. Ich suchte den Gasthof Oioen Glyndwr 
auf, wo ich dem grimmen Sachsenfeinde dessen Namen 
er führte, zum Trotze nur englische Wirthsleute, eine 
englische Kellnerin und ein paar gelangweilt aussehende 
Engländer als Gäste traf. Meine kymrische Anrede 
wurde hier ebenso wenig verstanden wie dies mitten 
in Deutschland der Fall gewesen wäre; und weil ich 
behauptete, ich spräche besser und lieber Kymrisch als 
Englisch, so wurde ein kleines Mädchen aus dem Hof 
gerufen um mit mir eine Prüfung abzuhalten, deren 
Ausgang befriedigte. Nachdem ich recht gut zu Mittag 
gespeist hatte, begab ich mich auf einem angenehmen 
Wege nach einer nahen Anhöhe welche, wenn ich nicht 
irre, „Glyndwrs Sitz" heisst, und welche mit einem künst- 
lichen Steinhaufen geziert ist. Dieser oder wenigstens 
die Flaggenstange die er trägt, wurde, wie eine In- 
schrift andeutet, zum Andenken an die Hochzeit des 
Prinzen von Wales aufgerichtet. Die Aussicht von 
hier muss zeitweise recht schön sein; ich hatte keine 
andere als auf Nebel. Als ich abwärts wieder am 
Kirchhof vorbei kam, trat ich ein und besichtigte 
„Glyndwrs Schwert", einen steinernen Pfeiler von eigen- 
thümlicher Gestalt. Im Hintergrund des Kirchhofs 
liegt ein niederes Haus zur Aufnahme von sechs Pfar- 
rerswitwen bestimmt; der Platz ist gut gewählt um 
sündige Wiederverheirathungsgedanken fernzuhalten. 
Von da begab ich mich nach der Station und harrte 
der Abfahrt. Ich war im Begriflf mich in einen falschen 
Zug zu setzen, als mich ein Herr den ich nicht kannte, 
in kymrischer Sprache auf meinen Irrthum aufinerksam 
machte. Dann wandte er sich zu einem Dritten um 
und sagte auf Englisch : „Jener Herr ist ein Fremder, 



- 371 - 

er versteht kein Englisch, man mass Kymrisch mit 
ihm reden", erzielte aber durch diese Bemerkung, ob- 
gleich er sie wiederholte, nicht den geringsten Eindruck. 
Von Corwen gelangte ich in kurzer Fahrt hierher 
nach Bala, wo ich einige Zeit zu bleiben gedenke. 
Mein nächster Brief soll von Bala handeln. 

* 
* * 

Meine Gewohnheit ist es mich über Orte an 
welchen ich zu verweilen gedenke, möglichst wenig zu 
unterrichten, damit ich immer den vollen Eeiz der 
Neuheit koste. In Rom z. B. war es sehr angenehm 
dass Colosseum, Pantheon, Peterskirche ihre Schatten 
auf eine vollkommen weisse Tafel warfen. Da nun 
aber die Einbildungskraft es sich nicht verwehren lässt 
ihre luftigen Gebilde aufzuführen, so wird man bei 
diesem Verfahren zuweilen recht enttäuscht. Und ent- 
täuscht wurde ich als ich nach Bala kam. Ich hatte 
so oft den Namen Bala aussprechen hören dass ich 
mir unwillkürlich eine Stadt von dem Umfang und dem 
Verkehr Caernarfons vorgestellt hatte. Statt dessen 
fand ich ein mehr als siebenmal kleineres Städtchen, 
eine breite, stille, keine zehn Minuten lange Strasse 
— bog man rechts oder links ein, war man bald im 
Freien. Balas Bedeutung ist eine geistige oder viel- 
mehr geistliche — zwischen Beidem habe ich in Wales 
keinen Unterschied entdecken können. Es ist der eigent- 
liche Mittelpunkt des kymrischen Nonkonformisten- 
thums; wie wirkliche Burgen, zu Schutz und Trutz 
gegen die bischöfliche Kirche, schauen die Colleges 
der Methodisten und der Independenten von einer An- 
höhe hernieder. Nie wird mein Fuss eine frömmere 

Stadt betreten als Bala. 

24* 



— 372 — 

Ich stieg im „Epheuhaus" ab, einem mit Epheu 
überkleideten Haus am Südwestende der Stadt. Die 
für mich bestimmten Zimmer waren niedriger, we- 
niger schmuck und theurer als die welche ich in 
Caernarfon inne gehabt hatte ; aber ihr alterthümlicher 
Anstrich sagte mir eher zu als dass er mir missfiel. 
Auch blickte ich durch die engen Fensterchen nicht 
auf die langweilige Thomasstreet, wo ein Dutzend voll- 
kommen gleicher Häuser nur durch ihre Nummern vor 
dem Verwechseltwerden geschützt sind, sondern auf 
einen kleinen wilden Garten, in welchem sich die 
Bohnen — sie sollten einen Hauptbestandtheil meiner 
Mahlzeiten bilden — sehr breit machten. -Auch Lit- 
terarisches fand sich vor; in den Wandschränken war 
eine Menge von Büchern aufgestapelt, offenbar die 
hinterlassenen Pfander Oxforder Studenten die sich 
hier mit Jagen, Fischen und Kudern vergnügt hatten. 
Die Virgilian hours des Eev. Valpy, wie so viele 
englische Bücher glücklicherweise ohne Jahreszahl, 
zeigten mir bis zu welchen Ungeheuerlichkeiten sich 
die englische Philologie versteigen kann. Auf dem 
Tische lagen religiöse Schriften, darunter auch die 
Predigten von Moody. Ueber diesen Moody schalte 
ich ein Wort ein, da man seinen und Sankeys Namen 
in Wales auf Schritt und Tritt zu hören bekommt. 
Ich glaube, er wird immer nur jenseit des Kanals und 
jenseit des Oceans geniessbar bleiben; denn so fromm 
seine Absichten sein mögen, mit seiner Thätigkeit ist 
allzu viel Schaustellung, Reklame, ja Humbug verbun- 
den. Ich blätterte in den Predigten, und manche Stelle 
erinnerte mich an Abraham a Sancta Clara; vor allem 
bemerkte ich jene auch bei so vielen unserer Prediger 



— 373 — 

herrschende Manier welche erst das Göttliche uns mit 
Händen greifen lässt, dann aber, sobald wir es fester 
anzufühlen, das Gleichniss auszuspinnen, Schlussfolge- 
iTingen zu ziehen wünschen, es aus unserem Bereich 
in unerkennbare Femen entrückt. Die Herrin von 
Moodys Predigten und Valpys Virgilian Iwura, von 
den üppigen Bohnen und den wackeligen Stühlen, die 
Hemn auch über mein leibliches Wohlbefinden auf die 
nächsten vierzehn Tage war eine siebzigjährige, würdig 
aussehende Jungfrau, Miss Owen, lieber ihre Fröm- 
migkeit wurde mir rasch jeder Zweifel benommen, 
indem sie sich augenblicklich erkundigte welchen Got- 
tesdienst ich am andern Tage zu besuchen gedächte 
— es war Samstag Abend — und erst eine Viertel- 
stunde später ob ich noch an demselben Tag leibliche 
Nahrung zu geniessen wünschte. Es schien mir im An- 
fang als ob sie mich sammt meinem Kymrisch nicht 
in vollem Ernst nähme; indessen gewöhnte ich mich 
bald an ihre wunderliche Art. Sie erwies mir grosses 
Wohlwollen, aber desto weniger Ehrerbietung; im 
Ganzen behandelte sie mich etwa so als ob ich ein 
hoJffnungsvoUer Knabe und sie meine Gouvernante wäre. 
Bei jedem Bissen den ich in den Mund schob, fragte 
sie mich ob es mir schmeckte, und, wenn ich ausging, 
ob ich auch nicht mein Taschentuch vergessen hätte. 
Bald sah sie mich theilnehmend an und erklärte dass 
ich eine Erbin mit 10,000 Pfund jährlich bekommen 
müsste, bald stiess sie ein mattes, mitleidiges Lächeln 
hervor, bald schlug sie mich verweisend auf die Schul- 
ter, bald seufzte sie tief über meine Gottlosigkeit, 
üebersetzte ich z. B. die heimische Redensart: „Heute 
regnet's aber Gassenjungen" zur Sprachübung ins Kym- 



— 374 — 

rische, so richtete sie erst die Augen gen Himmel, 
wie um sich zu überzeugen ob nicht wirklich der- 
gleichen sichtbar wäre, und bemerkte mir dann in be- 
kümmertem Ton: „0, sagen Sie doch nicht so etwas!" 
und ich war noch so galant gewesen mich nicht auf 
gut Kymrisch auszudrücken: „Heute regnet's alte 
Weiber mit Stöcken" Qien wragedd d ffyn). Etwas 
an mir was die gute alte Dame nie verwinden konnte, 
war mein breitkrämpiger Filzhut, der in seiner ünehr- 
barkeit allerdings mehr für Sonnino oder Subiaco als 
für Bala gepasst hätte. Aber was war zu machen? 
Meinen Cylinder hatte ich auf der Ueberfahrt als Kopf- 
kissen benutzt. Dachte ich an meine Caernarfoner 
Sprachstudien bei Mrs. Prichard zurück, so kam es 
mir vor als ob ich jetzt in eine höhere Klasse versetzt 
wäre, als ob ich statt des Caesars den Tacitus läse. 
Meine Wirthin hörte nicht ganz gut und sprach daher 
etwas undeutlich ; überdies vermischte sie in unberechen- 
barer Weise das Kymrische mit dem Englischen. Eines 
Morgens th eilte sie mir mit: Ffair yn y dref. 
„Feuer {ßre) in der Stadt!" dachte ich, „das ist ja 
eine unerwartete Abwechselung", und eilte rasch hin- 
aus. Es war aber nur Viehmarkt (ffair = lat. feria), 
welcher die Eintönigkeit des Balaer Lebens kaum unter- 
brach ; Miss Owen hatte gegen ihre Gewohnheit einmal 
drei echt kymrische Wörter hintereinander gesagt. 
Neben der bejahrten Norne welcher ich mein Schicksal 
anvertraut hatte, waltete eine sechzehnjährige Dienerin 
im Hause, flink, höflich, mit hellen Augen und heller 
Stimme. Die kleine Ellen zog die Mundwinkel eben 
so oft aufwärts als Miss Owen sie abwärts zog. Am 
ersten Morgen, als ich ihren munteren Gesang ver- 



— 375 — 

nahm, glaubte ich auf der Fährte romantischer Volks- 
lieder zu sein; allein es ergab sich dass was sie zu 
singen pflegte, geistliche Lieder waren, von Sankey, 
dem Gefährten Moodys in Musik gesetzt. Ich habe 
die Sankey'schen Weisen öfters in Wales gehört, und 
sie gefallen mir wegen ihrer Lebhaftigkeit sehr gut; 
denn ich habe nie begreifen können warum Kirchen- 
musik durchaus in Trübsinn oder in Schlaf versetzen 
muss, ja meine Geschmacksverirrung geht so weit dass 
mir in den sogenannten Opernmelodien des katholischen 
Gottesdienstes das Tröstliche und Triumphierende der 
Religion besser wiedergegeben zu sein scheint als in 
den protestantischen Chorälen. 

Miss Owen hatte nur die eine Abtheilung des 
Epheuhauses inne; die andere bewohnte mit seiner 
liebenswürdigen Gattin der Bev. John Peter, Lehrer 
am IndependentencoUege und Prediger. Dieses Ehe- 
paar nahm sich meiner aufs angelegentlichste an, und 
ich brachte viele Stunden dort zu. Er besass ein 
reges Interesse für einheimische Sprache und Litteratur, 
das er auch schriftstellerisch bethätigte. Vor längerer 
Zeit hatte er Frankreich und Deutschland besucht. 
Auch die übrigen geistigen Spitzen Balas lernte ich 
zum grössten Theil kennen. Nicht zwar den Nestor 
der Independenten, den Rev. Robert Thomas (genannt 
Ap Vychan — er ist auch Dichter), obschon ich einen 
eigenen Empfehlungsbrief an ihn überbrachte, wohl 
aber den Nestor der Methodisten, den ersten Mann 
von Bala überhaupt, den Dr. Edwards, dessen Sohn 
der jungen Universität von Aberystwyth vorsteht. Die 
gesammelten Abhandlungen des Dr. Edwards füllen 
einen starken Band, und da sie in einem sehr klaren 



— 376 — 

und ungekünstelten Kymrisch geschrieben sind und 
einen deutlichen Einblick in das heutige GeisteslebeD 
der Kymren thun lassen, so möchte ich sie allen den- 
jenigen zur Anfangslektüre empfehlen welche sich durch 
das Dornengebüsch der Grammatik hindurchgearbeitet 
haben. Sogar über Goethes Faust findet sich hier 
eine Studie mit üebersetzung zahlreicher Stellen, und 
auch anderswo zeigt der Verfasser dass er das „un- 
gläubige" Deutschland ziemlich gut kennt. Ich sage 
„ziemlich gut", nicht „gut genug"; denn wahrlich, 
beim Rev. Valpy ! er hätte sonst schwerlich die deutsche 
Philologie gegenüber der englischen so herabgesetzt, 
schwerlich gemeint dass wir gegen einen Bentley nichts 
in die Wagschale zu werfen hätten. Ein anderer 
Bewohner des Methodistencolleges, Professor Ellis 
Edwards, ein nicht mehr ganz junger Junggeselle 
brachte mir viel Freundschaft entgegen ; auch er kannte 
Deutschland aus eigener Anschauung, wenigstens jenen 
lieblichen Fleck welcher sich Heidelberg nennt. Im 
benachbarten IndependentencoUege besuchte ich den 
Professor Lewis und den Rev. Michael Jones, „den 
König von Patagonien", welcher besonders die Aus- 
wanderung der Kymren nach Patagonien angeregt und 
gefördert hatte. Man dachte dort eine Art eigenen 
Staats zu gründen in welchem die Nonkonformisten 
der bischöflichen Kirche keinen Zehnten zu zahlen, 
und die kymrische Sprache ihr stolzes Haupt nicht 
vor der englischen zu beugen brauchte; aber die An- 
siedler sind in Bedrängniss und Elend gerathen. Es 
Hesse sich darüber ein langes, nicht uninteressantes 
Kapitel schreiben. Ferner gedenke ich des humoris- 
tischen Arztes Mr. Hughes, mit dem ich einmal über 



- 377 - 

Land gefahren bin. Unter den Studenten von Bala 
machte ich auch ein paar Bekanntschaften; eine alte 
von der Eisteddfod von PwUheli traf ich unter ihnen 
wieder an, nämlich Caeronwy. Er stand vor Beendigung 
seiner Studien und fing schon an zu predigen; das 
war das Eine, zweitens dichtete er, und drittens war 
er ein Bewunderer weiblicher Schönheit. Ohne Ver- 
mittelung des Zweiten würde sich vielleicht das Erste 
und Dritte nicht ganz zusammenschicken; aber wenn 
man von „schwarzgeringelten Haaren", von „Lilien-", 
„Rosen-" und „Kirschenwangen^, von „Augen [so!] wie 
Perlen" und „Augen wie Sternen", von „Küssen wie 
Honig" und anderen süssen Dingen zu singen hat, so 
thut man von Zeit zu Zeit gut sich davon zu über- 
zeugen dass Alles in Wirklichkeit sich so verhält. 
Ich legte meinem Freund den homerischen Titel 
TtaQ&evoTtijrr^^ bei, den er gar nicht übelnahm. Eben 
so wenig wird er mir es übelnehmen wenn ich sage 
dass er ein recht hübscher junger Mann war (hoffentlich 
auch noch ist), und wenn ich von ihm, ohne einen 
Absatz zu machen, auf das weibliche Geschlecht von 
Bala übergehe. Das heisst, nur ein Wörtchen will 
ich demselben widmen. Zufolge älteren Autoritäten, 
wie Pennant, Nicholson, Lord Littleton, Roscoe, zeichnet 
sich Bala durch hübsche Mädchen aus ; zufolge meiner 
eigenen Autorität ist an der Sache etwas Wahres. 
Da waren z. B. ein paar schwarze ausdrucksvolle Augen. 
Eines Sonntags haben mich diese Augen — es ist 
eigentlich eine Sünde — in die Kirche gelockt; ja 
es ist eine doppelte Sünde, denn ich hatte das feierliche 
Gelübde gethan nie wieder einem kymrischen Gottes- 
dienst beizuwohnen. Das endlose Gebet welches ein 



— 378 - 

Student hersagte, hielt ich noch aus, indem ich mich 
von Zeit zu Zeit durch einen Blick nach rechts tröstete. 
Auf den Prediger hatte ich grosse Hoflfhung gesetzt; 
es war die dritte Predigt die er an jenem Tage hielt, 
und er ein alter Mann. Sollte er nicht vielleicht 
sanft und mild reden, so wie wir uns denken dass 
Christus zum Volke geredet hat? Allein wiederum 
begann jenes Geschrei welches für mich etwas Thie- 
risches oder Teuflisches hat, und mein Ohr überredete, 
wenn auch mit einiger Mühe, mein Auge zur Flucht. 
Die Sonntagsschule jedoch besuchte ich aus freien 
Stücken, einmal die der Independenten und einmal die 
der Methodisten ; bei der letzteren kam mir der Schluss 
sogar ungelegen, da er die Besprechung eines Bibel- 
verses unterbrach der mir Anlass geben sollte zu er- 
fragen wie die Methodisten gewisse unvereinbare Dinge 
miteinander vereinbaren. 

Genug von den Menschen Balas! Es ist Zeit 
von der dortigen Natur zu reden. Zuerst muss ich 
des Begens gedenken. Vielleicht nehmen mir das 
die Balaer übel, indem sie meinen, der Regen sei nur 
ein Accidens ihres Städtchens. Dagegen berufe ich 
mich auf sämmtliche übrigen Nordkymren, bei welchen 
„Eegenloch" {twll y gwlaw) ein Euphemismus für Bala 
ist, und nicht minder auf meine eigene vierzehntägige 
Erfahrung. Ich will nicht behaupten dass es in dieser 
ganzen Zeit Gassenjungen oder alte Weiber geregnet 
hätte, es regnete öfters auch nur Stricke oder Bind- 
fäden, ja es kam ein paar Mal vor dass ein koketter 
Sonnenstrahl mich auf einen hübschen freien Platz 
lockte, wo ich bis auf die Haut durchnässt wurde. 
Im Ganzen war also der Spruch recht zeitgemäss: 



- 379 - 

Mae 'w hwrw gwlaw ällan, Draussen regnet's, 

Mae V hindda yn y ty. Im Haus ist schön Wetter, 

Mae Siani Caerfyrddin Jenny von Caerfyrddin 

Yn nyddu gwlan du. Spinnt schwarze Wolle. 

Vergleichenden Mythologen gebe ich auf herauszu- 
bekommen wer diese Jenny von Carmarthen ist; um 
ihnen das zu erleichtern, setze ich hinzu dass anderswo 
an ihre Stelle die Weiber von Tregaron {merclied 
Tregaron) treten. Mein Sonnenschirm veränderte in 
Bala völlig seine Bestimmung, und da sein bläulicher 
Glanz mit der trüben Lokalfarbe im Widerstreit er- 
schien, hielt ich es für nöthig den Kymren den BegriflF 
en-tout-cas zu verdolmetschen, was in meinem zweiten 
Englyn geschah: „Sonnenschirm bist du an sonnigem 
Tag, Regenschirm, wenn das Wetter feucht ist — 
wie dieselbe Wange heiteres Lachen und schwere 
Thränen trägt." Abgesehen von dem Wasser welches 
der Himmel in seiner unerschöpflichen Huld Tag für 
Tag auf Bala herabgiesst, befindet sich neben dem 
Ort ein grosser langgestreckter Wasserbehälter, Llt/n 
Tegid^ der See der Schönheit, oder vielmehr der Ort 
befindet sich neben dem See, und sein Name y Bala 
bedeutet „der Ausfluss". Von diesem See, dessen Name 
mich einer näheren Beschreibung überhebt, gehen merk- 
würdige Erzählungen um. So soll die Sündfluth da- 
durch entstanden sein dass ein fabelhaftes Thier, das 
Afanc — eine Art Krokodil — welches den See be- 
wohnte, dessen üfer durchbrochen habe. Die Triaden 
erzählen es, und es kommt mir schwer bei ihre Zu- 
verlässigkeit in Zweifel zu ziehen. Daran wenigstens 
müssen wir festhalten dass die Sündfluth in der Gegend 
von Bala ihren Anfang genommen hat. Denn in der 



- 380 - 

Bibel steht dass Gott es vor der Sündfluth vierzig Tage 
und vierzig Nächte regnen liess, und wo in aller Welt 
hätte das geschehen können als hier? Auch würde 
ebenfalls hier die Sündfluth aufgehört haben wenn sich 
eine andere Nachricht bewährte dass Tomen y Bala 
(der Hügel von Bala) ein und dasselbe mit dem Berge 
Ararat sei. Allein diese Tomen am Nordostende der 
Stadt scheint eine künstliche Anlage zu sein (das zeigt 
schon der Ausdruck tomen), und ihre Höhe beträgt 
nur dreissig Puss ; wenn nun das Wasser der Sündfluth 
vom 17. Tage des 7. Monats 600 nach Noahs Geburt 
bis zum 27. Tag des 2. Monats 601 beständig und 
sichtbarlich fiel, so muss es weit mehr als dreissig 
Fuss gefallen sein. Ich hoffe diejenigen überzeugt zu 
haben welche auf die Bibel nicht minder als auf 
die vaterländischen Alterthümer halten. Andere Ge- 
schichten, wie die vom Kessel der Ceridwen, sind zu 
unglaubwürdig; ich behalte sie für mich. Nur eine 
wahrhaftige sei noch mitgetheilt. Ein Fremder geht 
einst über den zugefrorenen See. In Bala angekommen, 
fragt er was denn das für eine grosse Fläche sei die 
er durchmessen habe ; als man ihm antwortet, das sei 
der See, so fällt er vor Schreck ob der überstandenen 
Gefahr todt zur Erde. Den Namen des Mannes habe 
ich vergessen; wenn ich nicht irre, war es ein Held 
von Arthurs Tafelrunde. An diesem wunderbaren See, 
der zu alledem noch eine untergegangene Stadt in 
seinem Schosse birgt, habe ich oft gestanden und habe 
den kleinen Wellenbergen zugeschaut wie sie, ganz den 
grossen Meereswogen ähnlich, heranrollten und sich 
zu meinen Füssen brachen. Nahe bei ihm, ein Viertel- 
stündchen von Bala, liegt die Kirche von Llanycil, 



- 381 — 

wohin Bala eingepfarrt ist; auf dem Kirchhof, der 
schmucklos ist wie alle Kirchhöfe die ich iu Wales 
gesehen habe, befindet sich das Grab des berühmten 
Charles von Bala, der auch ein steinernes Denkbild 
zu Bala hat. Er war einer der ersten und kräftigsten 
Förderer des Metbodistenthums, gab ein biblisches 
Wörterbuch in kymrischer Sprache heraus (Miss Owen 
schenkte mir ihr Exemplar vor meiner Abreise), rief 
die englische Bibelgesellschaft mit ins Leben und that 
vieles andere Lobenswerthe. Geht man von Bala aus 
in entgegengesetzter Richtung an der Tomen und an 
der Grammarschool vorbei und über den trüben Tryweryn, 
so gelangt man in ziemlich derselben Zeit zur Kirche 
von Llanfor, die damals gerade sehr schön restauriert 
wurde. Im Vorhof nimmt man eine Inschrift aus den 
ersten Jahrhunderten des Mittelalters wahr, welche 
schon manchen Leuten und auch mir vergebliches 
Kopfzerbrechen verursacht hat. Die Annahme dass 
sie die Grabschrift des alten Barden Llywarch Hen 
sei, lässt sich durch nichts begründen. Dilettanten 
bitte ich zu bemerken dass sie unter einer Inschrift 
eingemauert ist welche trotz ihrem recht alterthüm- 
lichen Eindruck aus dem Jahre 1500 stammt. Die 
sonstige Umgebung Balas ist anrauthig — wenn es 
nicht gerade regnet: Hügel und Ebene, mit üppigem 
Basen und stattlichen Bäumen bedeckt. Im Süden 
jenseit des Sees zeigen sich stolze Bergkämme. Ein 
einziger unter den vierzehn Tagen war schön, und 
ich benutzte ihn zu einem Ausflug in Gesellschaft von 
Caeronwy und einem andern jungen Manne, der sich 
durch ein werthvoUes Geschenk, die Myvyrian Ar- 
chaiology bei mir in ein dauerndes Andenken setzte. 



— 382 — 

Wir wanderten zunächst nach der Heimath des Letzteren, 
nach Llanuwchllyn, einem Orte der, wie sein Name 
besagt, am oberen Ende des Sees liegt. Die schöne 
Strasse fahrte uns an einem Landhause Sir Watkin 
Wynns vorbei, das wir besichtigten. Viel zu besich- 
tigen war eigentlich nicht da; wir blickten in ein 
Dutzend Schlafzimmer mit weissen, einladenden Betten 
hinein, an den Thüren staken noch die Visitenkarten 
der bedeutenden Persönlichkeiten welche hier im Som- 
mer zum Besuch gewesen waren. Einen starken Ge- 
gensatz zu dem frischen, heiteren Glan-y-llyn bildete 
das eine Strecke davon entfernte Caergai, wo noch 
die Spuren alter Befestigungen sichtbar sind und wo 
einst Arthur bei seinem Pflegevater Cai Hir aufwuchs. 
Das ziemlich finstere Gebäude das jetzt an diesem 
Orte steht, stammt aus Cromwells Zeit ; in der Mauer 
der Vorderseite entdeckten wir, zum Theil nicht ohne 
Mühe, viele Steine mit kymrischen Inschriften. In 
Llanuwchllyn machten wir Halt und wurden mit 
Speise und Trank erquickt; mir verehrte man ein 
paar warme Knieestrümpfe — auch Llanuwchllyn wird 
meinem Herzen ewig theuer sein. Hierauf rückten wir 
zum Marsche nach einem rauhen, düsteren Felsen aus 
auf welchem einst das Schloss Carn Dochan gestanden 
hatte. Wir begannen mit einem kleinen Steeplechase 
zu Puss, kletterten über Einfriedigungen, sprangen 
über Bäche, patschten durch feuchte VP'iesen ; Caeronwy 
beständig mit dem Taschenbuch in der Hand, um 
Verse zur Begrüssung zweier jungen Schönen nieder- 
zuschreiben die wir unterwegs sehen sollten. Als 
wir dann in einer kleinen Farm rasteten und Milch 
tranken, las uns Caeronwy seine Verse vor, die sehr 



- 383 - 

begeistert waren, mir aber etwas von der holperigen 
Gangart angenommen zu haben schienen in welcher 
sich ihr Verfasser befunden hatte. Den Adressatinnen, 
deren Haus wir eine halbe Stunde später erreichten, 
konnten sie zunächst nicht vorgetragen werden; die 
eine liess sich nur widerwillig sehen, die andere gar 
nicht. Die Abwesenheit des Vaters, den wir unten 
am See getroffen hatten, mochte weniger daran schuld 
sein als die UnvoUständigkeit ihrer Empfangstoilette 
oder Aehnliches. Wir klommen also den nackten Berg 
hinan, wobei ich wiederum die Fähigkeit der kymrischen 
Natur bewunderte auch an den abschüssigsten Stellen 
kleine Moräste anzubringen. Oben keine Erinnerungen 
einer romantischen Vergangenheit; aber ein schöner 
Ausblick in die gebirgige Landschaft. Beim Hinab- 
steigen gaben wir uns die grösste Mühe die Hälse 
zu brechen; wäre uns dies gelungen, so würden die 
Misses H. ihren ansehnlichen Vorrath von Pfannkuchen 
umsonst gebacken haben, und würden ihnen die Verse 
Caeronwys erspart worden sein, die er allerdings durch 
reichliche Prosa wieder gut zu machen suchte. Wir 
kehrten auf einem andern Wege nach Llanuwchllyn 
zurück, wo wir, ehe wir den Eisenbahnzug nach Bala 
benutzten, verschiedenen Honoratioren unsere Aufwar- 
tung machten, darunter auch, in der Kirche, einem 
alten Bitter aus dem 15. Jahrhundert, der uns aber 
ein sehr brummiges Gesicht schnitt als wir ihm ein 
angezündetes Schwefelhölzchen unter die Nase hielten. 
Dieser Tag war ein kleiner sonniger Punkt in einer 
breiten Einfassung von Eegen. Sonst wurde es für 
jemanden der noch einige weltliche Neigungen besass, 
schwer die Zeit todtzuschlagen. Bala war zu fromm 



- 384 — 

um selbst diesen Todtschlag zu gestatten. Die kym- 
rische Litteratur mutbete micb allzu ernst und eintönig 
an, festzustellen ob auf der Seite nach Llanfor oder 
auf der nach Llanycil hin der Feuchtigkeitsniederscblag 
grösser wäre, das ermüdete auf die Dauer, und nicht 
jeden Tag konnte ich den weissen Kater meiner Wirthin 
seines halben Schnurrbarts berauben, um die Zuneigung 
seiner schönen Freundin auf die Probe zu stellen. 
Abends sass ich auf einem bequemen Lehnstuhl am 
Herdfeuer, sah zu wie Ellen Brodschnitte röstete, trank 
meinen Thee und las vor Zubettegehen ein Kapitel 
aus der Bibel vor. Miss Owen rühmte meinen Vortrag 
— ein Zeichen dass die Prediger noch nicht gänzlich 
den guten Geschmack zum Lande hinausgebrüllt hatten. 
An zwei Abenden liess ich mir Elfengeschichten er- . 
zählen, das eine Mal von einer Frau, das andere Mal 
von einem Manne. Die Frau verstand sich besser 
darauf gruselig zu machen, wobei ihr freilich der so 
ausdrucksvolle Stiickstrumpf eine ganz besondere Hülfe 
gewährte; andrerseits besass der Mann den unleug- 
baren Vortheil mit eigenen Augen einen leibhaftigen 
Geist gesehen zu haben. Miss Owen sass im Hinter- 
grund und lächelte, seufzte, schüttelte den Kopf über 
all die gottlose Thorheit. 

Ein Fest wartete ich noch ab von dem ich oft 
hatte sprechen hören und bei dem ich auch alles sah 
was in und einige Meilen um Bala gehen und stehen 
konnte. Es war ein grosser Thee der den Kindern 
in der Schule gegeben wurde. Zuletzt sangen die 
Kinder, und zwar recht hübsch, und verschiedene 
Herren hielten Eeden — eine Gelegenheit bei der in 
Wales keine Beden gehalten würden, ist undenkbar. 



1 



— 385 — 

Nachdem ich, aus guten Gründen, meine Mitwirkung 
zu diesem Theil des Programms verweigert hatte, 
goss John Peter in seiner Eede so ganz nebenher 
einen vollen Eimer duftenden Lobes auf mein ahnungs- 
loses Haupt aus, sodass ich mich gezwungen sah meiner 
Freude über so viele wohlerzogene Kinder Ausdruck 
zu leihen, wollte ich nicht in den Augen dieser und 
besonders einer niedlichen kleinen Blondine welche 
sich sehr über mich zu amüsieren schien, als Urbild 
überseeischer ünbeholfenheit dastehen. Bald nachher 
verliess ich Bala , der Regen blieb. Im letzten Augen- 
blick empfing ich als Andenken von meinen gesammten 
kymrischen Freunden das grosse englisch -kymrische 
Wörterbuch von Silvan Evans in prächtigem Einband ; 
auf dem Vorderblatt des ersten Bandes steht — zum 
Glück wiederum in kymrischer Sprache — ein Ver- 
zeichniss aller meiner Tugenden, vom Bürgermeister 
von Caernarfon eigenhändig beglaubigt. Ich hatte 
die Absicht gehabt mich noch an anderen Orten von 
Nordwales und auch in Südwales umzusehen, haupt- 
sächlich nach Büchern und Handschriften ; allein meine 
Zeit war um. Ohne Unterbrechung fuhr ich von Bala 
nach Frankfurt a. M. Besonderes nahm ich unterwegs 
kaum wahr. Zwischen Oxford und London sass ich 
neben einer Dame welche einen mit verschiedenen 
Schnäpsen gefällten Korb öfters zu Rathe zog, bis 
ich ihr — die Kammerzofe bat mich darum, sie selbst 
konnte es nicht — Platz machen musste. Jedoch ist 
dies, wie ich höre, in England nichts Besonderes. 

Sieben Wochen war ich in Wales gewesen. Was 
hatte ich da gethan, was da gelernt? Die ganze 
Zeit hatte ich verschlendert und verdehnt, bei den 

Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 25 



— 386 — 

Predigten hatte ich es nicht ausgehalten, zwanzig 
Bücher hatte ich angefangen und keines ausgelesen, 
ich hatte keine Ausflüge zu wissenschaftlichen Zwecken 
gemacht, ja, was mich am meisten peinigte, ich hatte 
keine einzige Handschrift abgeschrieben. So viele 
meiner Kollegen brachten von ihren Herbstreisen sauber 
bekritzelte Papierstosse mit, die gleich hätten in die 
Druckerei wandern können; was ich? eine welke 
Blume auf dem Hute der Miss Owens ganzer Ab- 
scheu war. 

* * 

[1878.] Früher pflegte ein Philologe, wenn er 
sich einen vergnügten Sonntag machen wollte, eine 
gewisse dunkle und geräumige Höhle aufzusuchen, 
darin ein Feuer anzuzünden und sich an mitgebrachtem 
Getränk und den Ausdünstungen der Erde so zu be- 
rauschen dass er die wunderbarsten Gebilde vor sich 
erblickte. Man möge mich nicht missverstehen, ich 
spreche nicht im eigentlichen Sinne, sondern im über- 
tragenen : ich meine mit der Höhle die keltische Sprach- 
wissenschaft. An den wissenschaftlichen Orgien welche 
man auf keltischem Grund und Boden gefeiert hat, 
haben sich die ehrenwerthesten Männer betheiligt, die 
vielleicht dem was man gewöhnlich Orgien nennt, 
mit Abscheu aus dem Wege gegangen sind. Es lag 
die Keltomanie ebenso in der Luft wie ihrer Zeit die 
Potichomanie oder die Cricrimanie oder irgend eine 
andere Manie; nur hat sie viel länger gedauert und 
viel mehr Schweiss und Tinte gekostet. Mein Gross- 
onkel Bridel, der Dechant von Montreux entschul- 
digte die allzu starke Vorliebe welche er in seinen 



— 387 — 

früheren Jahren für Herleitungen aus dem Keltischen 
gehegt hatte, später damit, zu seiner Zeit sei der Glaube 
allgemein gewesen, Adam habe Keltisch gesprochen. 
Was Wunders dass Jeder aus der linguistischen Erb- 
schaft des Urvaters wenigstens die Fähigkeit des in- 
stinktmässigen Errathens gerettet zu haben sich ein- 
bildete! Jenem Unfug zu steuern, wurde vor einem 
Vierteljahrhundert die oberwähnte Höhle mit einem 
schönen und dauerhaften Thore — Zeuss' Grammatica 
Celtica — verschlossen, das sich nur mühsam in sei- 
nen Angeln bewegen lässt, und daher nur Wenigen 
den Eingang verstattet ; neuerdings hat man noch einige 
starke Bohlen aufgenagelt und den Metallschmuck 
etwas poliert. Wollte Jemand eine Schlup^forte darin 
anbringen, so wäre das vielleicht nicht so übel. 

Wenn auch eines von den hervorstechendsten 
Merkmalen der Kelten von jeher das gewesen ist dass 
sie Keltisch reden, so blicken doch viele welche sich 
mit den Kelten beschäftigen, über die sprachliche Vor- 
aussetzung ganz hinweg. Die Einen rechnen zu den 
Kelten alles was je ein alter Schriftsteller in einem 
unbedachten Augenblick mit diesem Namen belegt hat; 
die Andern wissen von keltischen Schädeln zu er- 
zählen, ohne sich im geringsten darum zu bekümmern 
was einst in diesen Schädeln gesteckt hat ; die Dritten 
rufen jedem Steinblock der sich eine etwas absonder- 
liche Stellung herausgenommen hat, jedem Bronze- 
stückchen das der Schoss der Erde ans Tageslicht 
bringt, einen keltischen Gruss zu. In Deutschland be- 
sonders ist die Neigung noch sehr lebendig alles was 
man sonst nicht unterbringen kann, unter das Keltische, 
wie in eine Eumpelkammer, zu werfen; und wo man 

25* 



— 388 — 

auch seinen Wohnsitz aufschlagen mag, es ist schwer 
den Kelten ganz aus dem Wege zu gehen. Dass hier 
in der grünen Steiermark einst Kelten hausten, unter- 
liegt keinem Zweifel, und hier von ihnen zu hören 
freut mich; in Halle aber hatte ich geglaubt vor 
ihnen sicher zu sein. Da lese ich einst im Halle- 
schen Tageblatt den gereimten Neujahrswunsch der 
Halloren an den Kaiser Wilhelm und finde darin fol- 
gende Verse: 

„Deiner Jugend gleich Dein Alter!" Also wünscht zum neuen 

Jahr 
Dir auch, vielbesungner Kaiser, Halles treue Keltenschaar. 

Ich stutzte erst; dann wurde mir jedoch Eines 
klar. Oft hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen 
ob die Halloren deshalb so traurig aussähen weil sie 
täglich Leichen zum Kirchhof zu geleiten hätten, oder 
ob sie deshalb zu Leichenträgern verwendet würden 
weil sie so traurig aussähen. Nun musste ich mich 
für die letztere Annahme entscheiden ; dieses Häuflein, 
dmch die Sturmfluth der Völker von der grossen Menge 
seiner Stammesgenossen losgerissen, leidet an Heim- 
weh, magert ab in Sehnsucht nach den fernen Gestaden 
des Oceans wo noch keltische Laute ertönen. Aber 
Scherz beiseite ! Ich will nicht gerade die Möglichkeit 
bestreiten dass die Kelten, welche einen gewissen Sinn 
für landschaftliche Reize besessen zu haben scheinen, die 
Gegend hinlänglich angenehm fanden um sich daselbst 
niederzulassen, nur sollte man sich wegen des Namens 
Halle nicht auf das kymrische hol berufen. Zu jener Zeit 
in welcher ein Hallesches Keltenthum überhaupt sich 
denken lässt, sprachen die Kymren noch sal\ derUeber- 
gang des s in ä ist bei ihnen verhältnissmässig jung. 



- 389 - 

Beiläufig gesagt, zeigt jene hallorische Dichtung deut- 
lich wie leicht gelehrte Vermuthungen in Saft und 
Blut der Ungelehrten übergehen und nach einiger Zeit 
den Anschein wirklicher Volksüberlieferungen annehmen 
können, durch welche vielleicht endlich die Gelehrten 
selbst wieder getäuscht werden. 

Nicht nur hängen diese verschiedenen Arten von 
keltischen Studien, die linguistischen, die geschicht- 
lichen, die archäologischen, die kraniologischen unter- 
einander noch allzu lose zusammen, sondern jede ein- 
zelne zieht zu wenig das was noch heute vom Kelten- 
thum leibt und lebt, in ihren Gesichtskreis. Wie viel 
unzweifelhafte Keltenschädel hat man denn bisher 
untersucht? Und jene dicke Grammatik welche uns 
lehrt wie schwierig das Keltische (und auch wie 
schwierig das Lateinische) ist, beschäftigt sich vorzugs- 
weise mit den alten Sprachen und nur nebenbei mit 
den heutigen. An sich zwar besitzen jene grössere 
Wichtigkeit als diese ; aber der unendliche Vorzug die- 
ser besteht darin dass sie der unmittelbaren Beobachtung 
zugänglich und daher bis in ihre feinsten Fasern erkennbar 
sind, während die schriftliche Ueberlieferung, abgesehen 
von ihrer Un Vollständigkeit, die Züge der Sprache 
kaum anders wiedergibt als die Maske die des Gesichtes. 
Zur Peststellung und Erklärung von sprachlichen That- 
sachen welche der Vergangenheit angehören, bedürfen 
wir beständig des Lichtes welches uns die Gegenwart 
gewährt; daher zeigt auch die Sprachwissenschaft ganz 
neuerdings das Bestreben ihren Schwerpunkt in die 
lebenden Mundarten zu verlegen. Und ein entsprechen- 
des Bestreben geht durch alle Wissenschaften. Der 
Satz : „Es ist Alles schon da gewesen unter der Sonne", 



- 390 — 

bisher nur eine Ausrede für wenig erfindungsreiche 
Eomanschreiber und Bühnendichter, ist nun zum 
Motto aller Forschung erhoben worden. Wie steht es 
mit jener Vergangenheit, von uns durch eine Fluth 
getrennt die wir nicht passieren können, beleuchtet von 
einer göttlichen Huld die wir verscherzt haben, durch- 
waltet von Kräften die erloschen sind, bevölkert von 
Wesen die wir nicht begreifen? Sie war ein Märchen 
und ist wie ein Traumbild zerronnen; wir haben er- 
kannt wie feste Bande uns auch mit den entferntesten 
Zeiten verbinden, und dass wir die zerstreuten und 
erstarrten Zeugnisse der Voi*welt ergänzen und beleben 
können aus der ununterbrochenen, unerschöpflichen 
Fülle der Erscheinungen welche uns umgibt. Dünen, 
Gletscher, Vulkane helfen uns Vorstellungen von den 
ungeheuren Veränderungen gewinnen welche unserer 
Erdoberfläche ihre jetzige Gestalt verliehen haben ; wir 
bestimmen den Grad unserer Verwandtschaft mit jenen 
Kiesengeschöpfen deren versteinerte Gerippe uns mit 
Staunen erfüllen ; im klassischen Alterthum, das unsem 
Vätern als etwas so Eigenartiges vorkam, finden wir 
unsere Junker und Ultramontanen und Socialdemokraten, 
und wenn wir recht suchen, vielleicht auch unsere 
Nationalliberalen wieder. Aus alledem ziehe ich für 
unsern Fall die Lehre dass wer sich irgendwie mit 
den alten Kelten abgibt, auch den heutigen Kelten 
fest ins Auge sehen muss. 

Es wäre hauptsächlich zu wünschen dass jene 
keltischen Gegenden, denen mehr der Charakter der 
Abgelegenheit aufgeprägt ist als dass sie wirklich 
sehr abgelegen wären, häufiger von auswärtigen Ge- 
lehrten besucht würden. Dieselben würden dort zahl- 



— 391 - 

reiche und unerwartete Anregungen empfangen und 
könnten wiederum die Bewohner zu lebhafterem Stu- 
dium des eigenen Volksthums anregen. Auf welche 
Weise man am besten reist um Land und Leute kennen 
zu lernen, darüber gehen die Ansichten sehr ausein- 
ander. Es gibt Schriftsteller welche, nachdem sie in 
einem Lande vierundzwanzig Stunden auf der Eisen- 
bahn hin- und hergerollt sind, in zwei oder drei 
Bestaurationen gut gespeist und aus einer einfluss- 
reichen Persönlichkeit deren ganze politische und 
nationalökonomische Weisheit herausgelockt haben, in 
festen Zügen und mit frischen Farben uns ein Bild 
dieses Landes entwerfen. Sie thun, ich will nicht 
sagen, sehr weise, jedenfalls sehr schlau daran die 
Erstlinge ihres Geistes auch die Erstlinge ihrer Hand 
sein zu lassen; sie ersparen sich unendliche Zweifel 
und Schwierigkeiten. Manchmal kann man sich bei 
ihnen des Verdachtes nicht erwehren dass sie ein schon 
fertiges Manuskript auf die Beise mitgenommen haben, 
um einige an Ort und Stelle gepflückte Blumen — 
kleine Alibibeweise — hineiuzustreuen. Die Gegen- 
füssler dieser Klasse von Reisenden sind diejenigen 
welche am Wanderstab ein Land kreuz und quer durch- 
streifen, kein Wetter scheuen, sich an jeden Tisch 
setzen und, der Landessprache wohl kundig, mit Jedem 
reden. Als Muster eines solchen Reisenden — und 
zwar hat er gerade auch Wales bereist — betrachte 
ich George Borrow ; aber durchaus nicht als das Muster 
eines Reiseschriftstellers. Sein Wild Wales (3. Auf- 
lage, London 1872) ist etwas wilder als der Gegen- 
stand es nothwendig macht. In keinem ähnlichen Buch 
über Wales wird sich reicherer und interessanterer 



- 392 — 

Stoff finden als in diesem ; aber man bedauert dass er 
nicht in die Hände eines französischen Schriftstellers 
gefallen ist. Ich hörte in Wales dass Borrow von 
Zigeunern abstammte (er hat auch ein Buch über die 
spanischen Zigeuner geschrieben), und in der That be- 
sitzt er etwas Zigeunerisches ; er ist allzu schrullenhaft 
und romantisch und entbehrt des geläuterten Ge- 
schmacks welchen man in der guten Gesellschaft findet. 
Das Buch ist um die Hälfte zu dick ; besonders ermüdet 
die wörtliche Mittheilung aller Gespräche die der Ver- 
fasser mit Einheimischen gepflogen hat, und die sich 
zum grossen Theil ausserordentlich gleichen. Es ist 
nicht unmöglich dass Nichtphilologen Wild Wales 
überhaupt wenig geniessbar erscheint ; Borrows Haupt- 
augenmerk ist auf die Sprache und Litteratur von Wales 
gerichtet, und in Beiden erweist er sich als tüchtiger 
Kenner. Wie mir aber aus Erfahrung bewusst ist, 
zwingt das Kymrische vermittelst geheimnissvoller 
Wirkung Jeden der es nur einigermassen radebrechen 
kann, sich dieser Kunst bei jeder passenden und un- 
passenden Gelegenheit zu rühmen, und Borrow thut 
hierin wirklich etwas zu viel. „Welch ein Segen ist 
es Kymrisch reden zu können!" ruft er zu wiederholten 
Malen aus. Zuweilen hält er den Leuten, statt sie 
auszufragen, gelehrte Vorträge; um z. B. einer Frau 
zu zeigen dass er besser Kymrisch verstehe als sie, 
unterrichtet er sie, eawg bezeichne den Lachs im all- 
gemeinen, cemyw den männlichen, kwyfell den weib- 
lichen. Für die kymrischen Dichter hegt er eine über- 
schwängliche Begeisterung; er verehrt ihre Reliquien 
wie ein frommer Katholik die Reliquien der Heiligen. 
So kniet er vor einem Baum nieder unter welchem 



— 393 — 

„möglicherweise" sich das Grab Dafydd ab Gwilyms 
befindet, und küsst die Wurzeln. Seinen eigenen Lands- 
leuten ist er nicht besonders hold ; auf dem Gipfel des 
Snowdon bemerkt er einem Kymren der ihn für einen 
Bretonen hält: „Ich schäme mich zu sagen dass ich 
ein Engländer bin", und wo es geht, stellt er die 
simple-minded, genuine Welsh den coarse-hearted, sen- 
sual, sei fish Saxons gegenüber. Dabei bekennt er sich 
aber als einen eifrigen Anhänger der englischen Staats- 
kirche ; seine Zuversicht betreffs der allmählichen Aus- 
breitung derselben in Wales scheint mir, nach dem 
was ich wahrgenommen habe, wenig begründet. Um 
es kurz zu sagen, es lässt sich aus Borrows Buch sehr 
viel lernen; ich möchte es aber nur denen empfehlen 
welche mit Wales und seinen Bewohnern schon einiger- 
massen vertraut sind. 

Ich meinerseits wollte und konnte nicht reisen 
wie Borrow; während sieben Wochen habe ich mich 
nur an drei Orten in Wales aufgehalten. Hiezu nehme 
man mein starkes Bedürfniss und meine leidliche Fähig- 
keit mich überall rasch einzuleben, wobei ja alles 
Fremdartige an AufiSUigkeit verlieren muss, und man 
wird gestehen dass von keinem Besucher des Landes 
sich Nachrichten darüber weniger erwarten lassen als 
von mir. Da ich nun aber doch fühle dass an den 
Schluss dieser keltischen Briefe einige allgemeine 
Bemerkungen ebenso gehören wie die Moral an den 
Schluss einer Fabel, so werde ich versuchen diesem 
Erforderniss Genüge zu leisten ; freilich laufe ich Gefahr 
Steine statt des Brots darzubieten. 

lieber die Leibesbeschaffenheit der Kymren getraue 
ich mir um so weniger mich zu äussern als ich über 



— 394 — 

die SchäJelform und die Hautfarbe der Kelten Dinge 
gelesen welche mich etwas in Verwirrung gesetzt haben. 
Im ganzen wird man sich den Unterschied zwischen 
Engländern und Kymren nicht allzu gross vorstellen 
dürfen ; ich selbst habe in Wales viele jener Gesichter 
gesehen in welchen auf dem Festland Jeder sofort den 
englischen Typus erkennt. Aber diese festländischen 
Vorstellungen langen zu einer näheren Vergleichung 
nicht zu; das ergibt sich schon daraus dass ihnen 
zufolge die Mehrzahl der Engländer blond ist, während 
statistischen Zählungen zufolge in London unter 6000 
Personen jedes Alters und Geschlechtes 4500 mit 
schwarzem und braunem Haare sich befinden, und an- 
nähernd dasselbe Verhältniss auch im Norden Englands 
besteht. Bei den Kymren, die ich früher, ich weiss 
nicht warum, für vorwiegend hell gehalten hatte, scheint 
mir das dunkle Element noch stärker vertreten zu sein. 
Die Frauen haben im allgemeinen feine, angenehme 
und seelenvolle Gesichter; nur verwunderte ich mich 
mit Bedauern wie viele von den jüngeren durch starke 
Zahnlücken entstellt sind. Eine doppelte Frage drängte 
sich mir dabei auf. Sind hier die Zähne besonders 
schädlichen Einflüssen — ich dachte an das Trinken 
heissen Thees — ausgesetzt? Und sollte es etwa mit 
gewissen religiösen Grundsätzen zusammenhängen dass 
auch hübsche junge Mädchen sich keine falschen Zähne 
einsetzen lassen? Die grossen Füsse sind ein Gemein- 
gut aller Brittinnen; dass es in Wales auch kleine 
gibt, bezweifle ich nicht, denn Ceiriog sagt in seiner 
reizenden Dichtung „Myfanwy Vychan" : 

Der Eine liebt 'nen kleinen Fuss, 



- 395 - 

und Gleiches ist für England durch eine Ballade be- 
zeugt in der es heisst: 

Her feet beneath her petticoat 
Little, little mice stole in and out, 
As if tkey feared the light 

Ich entsinne mich gelesen zu haben dass die Irlän- 
derinnen ebenso wie die Spanierinnen, denen sie ja 
auch im Temperament gleichen sollen, kleine Füsse 
zu besitzen pflegen. Ist das wahr? Die Sache ver- 
diente untersucht zu werden; denn wenn man sagt: 
ex ungue leonem, warum sollte man nicht sagen: ex 
pede feminam? 

Um den Charakter eines Volkes beurth eilen zu 
können, muss man viele Jahre unter diesem gelebt 
haben. Den der Kymren zu beurtheilen, ist gerade 
deshalb so schwer weil es auf den ersten Blick so 
leicht scheint. Indem die strenge religiöse Zucht die 
Verschiedenheit der Individuen weit weniger hervor- 
treten lässt als dies anderswo der Fall ist, hält sie 
zugleich gewisse gemeinsame, also altnationale Anlagen 
und Neigungen darnieder, ohne sie ganz zu ersticken, 
sodass sie gelegentlich wieder hervorbrechen. Ich 
denke, es käme vor allem darauf an die schwachen 
Seiten der respektablen Leute zu studieren und die 
guten Seiten der verirrten Schafe. Es bleibt mir 
nichts übrig als auf eine Abhandlung von William 
Jones über den kymrischen Nationalcharakter zu ver- 
weisen welche 1840 auf der Eisteddfod von Liverpool 
den Preis erhielt und dann sowohl in kymrischer als 
in englischer Sprache gedruckt wurde. Auch in Wales 
besteht übrigens ein Gegensatz zwischen Norden und 
Süden, und auch hier, obwohl die Verschiedenheit des 



— 396 - 

Klimas kaum in Betracht kommen kann, sind die Süd- 
länder wärmer, lebhafter, im Guten wie im Bösen 
erregbarer. Dieser Gegensatz scheint sich sogar stellen- 
weise zu wirklicher Feindseligkeit zuzuspitzen ; wenig- 
stens erzählt Borrow wie er hinter der Tstwythbrücke 
von einem Haufen junger Männer und Frauen für einen 
Nordkymren gehalten und deshalb aufs äusserste ver- 
höhnt wurde. 

Wales besitzt noch viele alte üeberlieferungen in 
Wort, Glaube und Brauch ; aber da die meisten einen 
etwas heidnischen Beigeschmack haben, so kommt man 
mehr und mehr dahin sie als dem Weizen des Himmel- 
reichs gefährlich und schädlich anzusehen. Darf ich den 
frommen Schnittern mit den Worten der Schrift zu- 
rufen: „Sammlet zuvor das Unkraut und bindet es in 
Bündlein" ? — „dass man es verbrenne", ist nicht 
nöthig, wir Fremden werden es euch schon abnehmen. 
Manches ist allerdings schon geschehen, so mache ich 
besonders auf die Sammlung : Cymru fu, Wrexham 1862, 
aufmerksam. Eine einzige Probe kymrischer Volkssitte 
möchte ich hier vorlegen. In dem eben angeführten 
Buche wird der pioyddion (besser pwyilwn) gedacht, 
einer eigenthümlichen Art von Hochzeitsgaben, welche 
von Darlehen in Geld sich nicht sehr unterscheiden; 
den nur noch in einzelnen Gegenden lebenden Gebrauch 
der Pwython wird folgende gedruckte Einladung welche 
mir ganz zufallig in die Hände kam, erläutern. 

„King's Head Inn, Llanbedr. 2. Dec. 1875. 
Liebe Freunde! 

Da wir beabsichtigen uns in den Ehestand zu 
begeben , so beabsichtigen wir ferner bei dieser Ge- 
legenheit eine neithior [Fest nach der Hochzeit, bei 



— 397 — 

dem die Geschenke dargebracht werden] zu halten, 
Mittwoch den 22. Dec. 1875, im Haus der Brautmutter, 
welches Eing*s Head Inn, Llanbedr, heisst, zu welcher 
Zeit und an welchem Orte Euch zu sehen wir uns 
sehr freuen werden, und welche Gaben es Euch immer 
belieben wird darzubringen, sie werden dankbar ange- 
nommen und bereitwillig zurückerstattet werden, wann 
immer bei einer gleichen Veranlassung darum ersucht 
werden wird. 

Euere gehorsamen Diener 

John Jones, 
Mary Davies. 

Der Bräutigam ersucht, man möge alle ihm ge- 
schuldeten Pwython ihm an dem bezeichneten Tage 
zurückerstatten, und er wird mit seinem Vater David 
Jones, Bryn, Lianfair, seinen Brüdern und seinen 
Schwestern, seinem Oheim und seiner Tante Stephen 
und Margaret Davies, Tanyfforest, für alle ander- 
weitigen Gaben dankbar sein. 

Es ersucht auch die Braut, mit ihrer Mutter 
Eleanor Davies, die ihnen geschuldeten Pwython, zu- 
sammen mit den Pwython ihres seligen Vaters David 
Davies, ihnen an dem bezeichneten Tage zurückzuer- 
statten, und sie werden zusammen mit ihrem Bruder 

für alle anderweitigen Gaben dankbar 

sein." 

Nur eines von allen volksthümlichen Dingen liegt 
den Nonkonformisten sehr am Herzen, und sie thun 
Alles um es zu erhalten und zu kräftigen, nämlich die 
Muttersprache. Vfarme Anhänglichkeit an dieselbe 
findet sich natürlich auch bei den Staatskirchlem, aber 
bei den Anderen wird sie durch das religiöse Interesse 



— 398 — 

zum Prinzip erhoben, sodass von den beiden grossen 
Einrichtungen die ich in meinen beiden ersten Briefen 
besprochen habe, die geistliche, die Sassiwns, in Bezug 
auf die Sprache noch kymrischer ist als die weltliche, 
die Eisteddfode. üeber das Verhältniss des Kymrischen 
zum Englischen, sowohl wie es heutzutage besteht, als 
wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat, vermag 
ich durchaus keine Angaben zu macheu. So viel ich 
weiss, verschiebt sich die geographische Grenze schon 
seit lange in westlicher Richtung. In Wales selbst 
verbreitet sich die Kenntniss des Englischen mehr und 
mehr, und doch ist auch das Eymrische, mindestens 
seit einem halben Jahrhundert, fortwährend erstarkt. 
Diese beiden Thatsachen widersprechen sich nicht. Die 
erstere bedeutet nicht dass die Zahl der nur Englisch 
Bedenden, sondern dass die Zahl der Zweisprachigen 
zunimmt und die der nur Eymrisch Bedenden abnimmt 
(im Jahre 1840 waren die ganz ungefähren Zahlen for 
diese drei Klassen: 100,000 — 400,000 — 400,000; 
welche Zahlen gelten heute ?). Das Kymrische kommt 
freilich bei der Zunahme der Zweisprachigen nicht in Be- 
tracht ; selten versucht ein Engländer es zu lernen, und 
noch seltener bringt es einer so weit wie der gelehrte 
Bischof Thirlwall. Während es aber im philosophi- 
schen, weltbürgerlichen Jahrhundert mit raschen Schrit- 
ten dem Untergang zuzueilen schien, begann es in 
diesem Jahrhundert seine Stellung zu befestigen, und 
der Anlass dazu ist wohl hauptsächlich in der religiösen 
Bewegung zu suchen. Bald belebte sich auch die Theil- 
nahme an litterarischen Bestrebungen und befindet sich 
noch immer im Wachsen; am besten, gleichwie an 
einer Wassermarke, lässt sich dieses an der Zahl der 



— 399 — 

Eisteddfode messen. Zu der gesteigerten Lust in kym- 
rischer Sprache zu dichten, trug auch die gesteigerte 
Aufmerksamkeit bei welche man den alten Dichtern 
und überhaupt den Alterthümern des Landes zollte; 
wir sehen hier wie anderswo Litteratur und Philologie 
in lebendiger Wechselbeziehung. 1801 erschien die 
Myvyrian Archaiology\ 1803 Owen Pughes kymrisch- 
englisches Wörterbuch (zweite, empfehlenswertheste 
Ausgabe von 1832; dritte von 1870). Seit ersterem 
Werke hat die kritische Herausgabe der Texte unter 
den Kymren keine allzu grossen Fortschritte gemacht ; 
die neue Ausgabe desselben (von 1870), sowie die 
Dafydd ab Gwilyms (von 1873; erste von 1789) stehen 
sogar wegen Mangels einer ganz äusserlichen Sorgfalt 
hinter den ursprünglichen zurück. In noch schlimmerer 
Lage aber befinden sich die linguistischen Studien. 
Die grosse Liebe welche die Kymren zu ihrer Sprache 
hegen, hat deren wissenschaftlicher Erforschung mehr 
geschadet als genützt. Man hat das Alter und den 
Werth der eigenen Sprache um so mehr überschätzt 
je weniger man, vom Englischen abgesehen, mit an- 
deren lebenden Sprachen vertraut war, und die unbe- 
schränkte Bibelgläubigkeit hat ihrerseits nicht wenig 
die Entfaltung jener wunderlichen Ansichten gefördert 
von denen ich schon in meinem dritten Brief eine 
Probe geliefert habe. Es ist höchst erbaulich zu sehen 
wie Owen Pughe alle Wörter, als wären es Holzblöcke, 
rücksichtslos bis zu den „ürwörtern" auseinanderspaltet. 
So ist ihm zufolge prophwyd (= propheta) zunächst 
aus pro (that is counter) und pwyd (the act of putting by) 
zusammengesetzt ; pro wiederum aus py (that is inward) 
und rho (tJiat is extended frorn)^ pwyd aus pwy (in a 



— 400 — 

past State) und d, pwy endlich aus pw (tJiat tends to 
ptish) und y. In neuerer Zeit hat sich zwar dieser 
Nebel mehr und mehr gelichtet, und es gibt eine Reihe 
kymrischer Gelehrten denen man gewiss nicht nach- 
sagen kann dass sie in irgend einem Zusammenhange 
mit jener alten träumerischen Schule stehen; allein 
Positives ist auf sprachlichem Gebiet immer noch sehr 
wenig geleistet worden. Die Vergleichung der kel- 
tischen Idiome untereinander, welche von E. Llwyd vor 
170 Jahren in so glücklicher Weise angebahnt worden 
war, wird noch keineswegs in weiteren Kreisen als die 
unerlässliche Vorbedingung für das wirklich gründliche 
Studium des Kymrischen erachtet, und jene Ch^am- 
matica Celtica auf welche wir Deutschen so stolz sind, 
ist in Wales wenig bekannt und wird noch weniger 
gelesen. , Es scheint dass bei einem so abgeschlossenen 
Lande wie Wales erst der persönliche Verkehr den litte- 
rarischen hebt und fördert, dass hier die Wissenschaft 
ebenso der Sendboten bedarf wie sonst der Glaube. Als 
einen solchen Sendboten möchte ich meinen Freund 
von ßhyl, John Rhys bezeichnen, welcher kürzlich 
zum Professor der keltischen Sprachen und Litteraturen 
an der Oxforder Universität ernannt wurde. Durch 
Wort und Schrift (im vorigen Jahr erschienen von 
ihm Lectures on Welsh Phüology) wird er ohne Zweifel 
das Verständniss für die Sprachwissenschaft unter 
seinen Landsleuten verbreiten helfen, und mit der Zeit 
wird man wohl von solchen Eisteddfodpreisaufgaben 
zurückkommen wie der „über den Ursprung und das 
Wachsthum der kymrischen Sprache" welche man für 
die Eisteddfod von Wrexham 1876 ausgeschrieben 
hatte. Vornehmlich wäre die Aufmerksamkeit auf das 



— 401 — 

Studium der kymrischen Mundarten hinzulenken, über 
die wir bis jetzt nur ein paar ungenügende, zerstreute 
Mittheilungen besitzen. Und doch ist die Verschieden- 
heit dieser Mundarten eine beträchtlichere als man 
gewöhnlich meint; zwei ungebildete Männer, der eine 
von der Insel Mon, der andere aus der Grafschaft 
Glamorganshire, verstehen sich nur mit Mühe. 

Von der Stellung welche das Kymrische gegen- 
wärtig einnimmt, gewinnt der Fremde in dem Um- 
fange der periodischen Litteratur ein leidliches Spiegel- 
bild. An kymrischen Zeitungen erscheiaen (oder er- 
schienen doch im Herbst 1875) vierzehn, aber alle, 
mit einer Ausnahme, wöchentlich nur einmal. Davon 
kommen auf Amerika drei (früher gab es, wenn ich 
nicht irre, auch in Australien eine): 

Bauer America (das Banner von Amerika), 
Scrauton, PA. 

Y Drych (der Spiegel), Utica, N.Y. 

Y Wasg (die Presse), Pittsburgh. 
Die übrigen auf Wales: 

Bauer ac Amserau Cymru (das Banner und die 
Zeiten von Wales), Dinbych (wöch. zweimal). 

Yr Herald Cymraeg (der kymrische Bote), Caer- 
narfon. 

Y Dywysogaeth (das Fürstenthum), ßhyl (staats- 

kirchlich). 

Y Gwladgarwr (der Patriot), Aberdar. 

Y Felüeu (der BUtz), Merthyr Tydfil. 

Llais y Wlad (die Stimme des Landes), Bangor 

(staatskirchlich). 
Sereu Cymru (der Stern von Wales), Caerfyrddin. 

Schnchardt, Romanisches a. Keltisches. 26 



— 402 — 

Tartan y Gwdthiwr (der Schild des Arbeiterä), 
Aberdar. 

Y Dydd (der Tag), Dolgellau. 

Y Goleuad (das Licht), Dolgellau. 

Y Tyst aV Dydd (der Zeuge und der Tag), 

Merthyr Tydfil. 
Die meisten von allen diesen Zeitungen haben 
grosses Format, und die Auflage einiger ist eine sehr 
starke. Blättern wir ein wenig in ihnen herum! Das 
rein Politische, auch wo es in Form von Leitartikek 
aufgetischt wird, übt schwerlich eine grosse Anziehungs- 
kraft auf uns aus; wir wundern uns höchstens dass 
manchmal gegen die einfachsten Regeln des Byzan- 
tinismus Verstössen wird, ohne dass dies etwa ein 
achtmonatliches einsames Nachdenken, wie in civilisier- 
teren Ländern, zur Folge hätte. Der meiste Raum 
ist den lokalen Interessen gewidmet. Wir werden 
hier die bunte Mannigfaltigkeit von Nachrichten an 
welche uns unsere Zeitungen gewöhnt haben, vermissen; 
Militärisches, Ordensverleihungen, Theaterangelegen- 
heiten, pikante Geschichten," alles das fallt ganz weg. 
Neue Toiletten scheinen nicht nach Wales zu dringen 
und ebenso wenig neuer Sport, er müsste denn un- 
endlich harmloser Natur sein. So sind allerdings vor 
kurzem die spelling-bees über den Severn geflogen. 
Ich habe einen recht interessanten Bericht über einen 
solchen orthographischen Wettkampf gelesen, bei dem 
auch das Kymrische an die Reihe kam. Es wurden 
da zwei Bewerber erst von der Bühne herabgewiesen, 
weil sie einion statt eingion und huddugl statt huddygl 
buchstabierten, und dann, nachdem sie das Vorhanden- 
sein auch ihrer Schreibweisen aus Cynddelws Wörter- 



~ 403 — 

buch nachgewiesen hatten, unter grossem Jubel wieder 
zugelassen. Unter verschiedenen Wörtern welche im 
Munde des Volkes eine verderbte Aussprache haben, 
wie ewyrth für ewythr, chwiaden für hwyaden^ wurde 
dalan poethion (für danadl poethion^ Nesseln) von 
Keinem richtig geschrieben. Der erste Preis betrug 
2 Pf. 10 Sh. ; ein Buchhalter gewann ihn. Bei einem 
solchen besonderen Fall haben wir nichts gegen Aus- 
führlichkeit einzuwenden ; anderswo aber wirkt sie er- 
müdend, besonders wenn sie fast nur in der Mittheilung 
von Namen und ganz äusserlichen Umständen besteht. 
Geradezu Unglaubliches wird in dieser Beziehung ge- 
leistet. Irgend jemand der ein ausgezeichnetes Mitglied 
der menschlichen Gesellschaft ist oder zu werden ver- 
spricht, tritt in die Volljährigkeit oder in den Stand 
der heiligen Ehe ein, oder begeht sonst ein freudiges 
Ereigniss; der Berichterstatter entschuldigt sich dass 
er darüber wegen Mangels an Raum nicht so ausführlich 
sprechen könne wie er wünschte ; er müsse sich damit 
begnügen die Namen der Personen aufzuzählen welche 
ihre Theilnahme durch das Plaggen ihrer Wohnungen 
ausgedrückt haben, und nun folgen nach Strassen ge- 
ordnet 100 oder 200 Jones, Edwards und Richards, 
Richards, Edwards und Jones. Man befindet sich 
hierzuland wie in einem jener Rhyler Glaskästen; Alles 
wird der Oeflfentlichkeit preisgegeben. Dass das mit 
allem Schlimmen geschieht, das mag der allgemeinen 
Sittlichkeit förderlich sein; dass es aber auch mit 
allem Guten und so vielem Gleichgültigen geschieht, 
das scheint mir das Laster der tugendhaften Menschen, 
die Selbstgeßlligkeit sehr zu fördern. Eine Rubrik zu 
der sich niemand drängt, und die doch ziemlich bevölkert 

26* 



— 404 - 

ist, betitelt sich „Trunkenheit". Die Tninkenheit wird 
bestraft; allein das Schwierige ist sie festzustellen. 
Die über einen Fall verhörten Zeugen widersprechen 
sich oft ; auch kann der Angeklagte leicht eine Ausrede 
finden. So sagte z. B. ein Steinbrecher dass Seines- 
gleichen, sobald sie die Wächter des Gesetzes erblickten, 
sich betrunken zu stellen liebten, und wem verschlägt 
das etwas wenn ich zu meinem Vergnügen auf der 
Strasse etwas hin- und herwanke? Wird jemand in 
Mitleidenschaft gezogen, dann ist es etwas Anderes. 
So mag das Gesetz den Raub von Küssen bestrafen; 
es ist doppelt schlecht etwas zu rauben was man sich 
auf ehrliche Weise verdienen kann. Inmierhin dünkt 
es mich etwas hart wegen fünf bis sechs der Tochter 
eines Eisenhändlers geraubter Küsse zu zwei Monaten 
Gefangniss mit schwerer Arbeit und zu den Kosten 
verurtheilt zu werden. Ich glaube, selbst der liebes- 
kränkeste Troubadour hätte für dergleichen Kleinigkeiten 
keinen viel höheren Preis geboten. Ein von dem ge- 
nannten weit abliegendes Verbrechen meldet folgender 
Artikel: „Towyn Meirionydd. Der Tag des Herrn 
wird in diesem lieblichen Badeort in mancher Art und 
Weise entheiligt, und zuweilen bedient sich der ,Fürst 
dieser Welt' eines und des anderen seiner treuesten 
Diener als Mittels um eine neue Form der Sabbath- 
schändung aufzubringen. Einer der Frauen welche 
einst Ihm angehörten, verdankt der Herrscher der 
Finsterniss die allerneueste Form dieser Sünde, welche 
darin besteht am Sabbath durch die einzelnen Strassen 
unseres Ortes zu gehen und den Bewohnern Portionen 
Milch zu verkaufen ganz so wie an einem Werkeltage. 
Die fromme (?) Frau welche weltlich genug ist sich 



— 405 — 

eine solche Kühnheit am Sabbath zu erlauben, lasse 
sich warnen; wo nicht, so werden wir wegen dieses 
Vergehens gegen Moral und Religion weitere Schritte 
thun." Anderswo jammert Einer darüber, er habe an 
einem öffentlichen Ort ein solches Fluchen vernommen 
dass binnen kurzem die Stadt von dem Schicksal 
Sodoms und Gomorrhas ereilt werden müsse. Jede 
Zeitungsnummer ist von derartigen Klagen, Warnungen 
und Befürchtungen durchstreut, welche in dem Satze 
gipfeln, die Sittlichkeit der Kymren sei in rascher 
Abnahme begriffen. Ist das wahr? Nach allem was 
ich über frühere Verhältnisse gehört habe, muss gerade 
das Gegentheil wahr sein; verschiedene Unsitten haben 
erwiesenermassen aufgehört oder sind ihrem Ende nahe, 
so das unserem oberdeutschen Hengert- oder Fenstern- 
gehen verwandte caru ar y gwely (auf dem Bette lieben), 
welches aber noch auf dem kymrischen Muttereiland, 
auf Mon ziemlich im Schwang sein soll. Ob auch 
die Zahl der unehelichen Geburten in Wales zurück- 
geht, weiss ich nicht; nur so viel dass sie noch 
neuerdings eine weit beträchtlichere ist als diejenigen 
erwarten werden welche in diesem Zweige der Statistik 
einen Massstab für die allgemeine Sittlichkeit zu finden 
glauben. Trotz alledem erklärt sich jene pessimistische 
Behauptung recht wohl. Der puritanische Geist welcher 
besonders im Methodistenthum lebendig ist, zieht die 
Grenzen des Erlaubten immer enger, und indem nicht 
Alle dieser Bewegung folgen oder nicht mit entspre- 
chender Easchheit folgen, muss es den Anschein ge- 
winnen als ob die Zahl der unerlaubten Handlungen 
sich vermehre. Und wenn man gleichgültige Dinge 
zu verdamraenswerthen stempelt und respektable Leute 



— 406 — 

in schlechte Gesellschaft verstösst, wird man es schliess- 
lich in der That dahin bringen dass die Einen wie die An- 
deren ihren Charakter ins Schlimme verändern. War 
denn Wales ein so gottloses Land als man daselbst noch 
tanzte und spielte, als bei jeder festlichen Gelegenheit 
der Becher fröhlich die Runde machte, und auch der 
Sonntag den weltlichen Freuden noch nicht ganz ver- 
schlossen war? Ich will nicht sagen dass es sehr 
rathsam wäre jenen Spruch, ich weiss nicht welches 
alten Barden : Ni fu ddoeth a yfo ddwr (nicht war 
klug wer Wasser trank) an allen Strassenecken anzu- 
schlagen. Die Gefahren des Trinkens sind heutzutage, 
vornehmlicli in England, wegen des riesig angewach- 
senen Proletariats ganz andere als früher, und der 
Anblick einer ganzen Strasse mit betrunkenen Männern, 
Frauen und Kindern würde Jedem begreiflich machen 
warum man mit allen Mitteln der Trunksucht zu 
Leibe geht. Aber wird das tägliclie Glas Wein welches 
sich der Arzt oder der Prediger versagt, selbst wenn 
es seinem Körper dienlich sein sollte, auch nur einen 
Tropfen Branntwein dem Munde des Arbeiters abkaufen? 
Das Nichttrinken soll ansteckend wirken; allein man 
bedenkt nicht wie schwierig gerade die plötzliche Be- 
kehrung eines Trunkenboldes zu einem Temperänzler 
ist, wie wenig Aussicht auf Nachhaltigkeit sie bietet, 
und wie sehr, wenn die Aerzte Recht haben, die Ge- 
sundheit dadurch gefährdet wird. Weit weniger lässt 
es sich entschuldigen wenn man in anderen Fällen, 
wo kein solches Schreckgespenst sich zeigt, bis zum 
Aeussersten geht. Die Sonntagsheiligung wie sie bis 
jetzt geübt worden ist, scheint mir schon einigermassen 
mit Matthäus XIL im Widerspruch zu stehen ; nichts- 



— 407 — 

destoweniger glauben die Vorkämpfer, es sei noch 
nicht genug. Während meiner Anwesenheit in Wales 
wurden die Gemüther dadurch beunruhigt dass gewisse 
Prediger das Spazierengehen am Sonntag als Sünde 
bezeichneten; wahrlich, da läuft's Gefahr dass das 
Sprichwort sich bewähre : „Allzu scharfmacht schartig." 
Ni dda rhy o ddim, ihr Kymren ! Doch indem ich auf 
den alten Blättern die ich durchfliege, die eifernden Stim- 
men meiner kymrischen Freunde zu vernehmen glaube, 
gerathe ich selbst ins Eifern und vergesse ganz wovon ich 
reden soll. Wenn die Zeitungen mit Rügen und An- 
klagen angefüllt sind, so fehlt es auch nicht an Er- 
widerungen. Die Polemiken machen sich sehr breit 
und schleppen sich bei der schwerfalligen Kampfes- 
weise oft unendlich lange hin. Indessen darf man 
nicht denken dass Alles und Jedes mit dem feierlichsten 
Ernste behandelt wird; der Humor der schon in 
einem und dem anderen Bericht anklingt, entfaltet 
sich sogar in eigenen Artikeln. Mir fallen da beson- 
ders die von Mynyddog ein welche überschrieben sind 
„Irgendwo" und unterzeichnet „Irgendwer". Das im 
vorigen Jahr erfolgte Ableben dieses Schriftstellers 
beklage ich um so mehr als das Land wenige gleich- 
artige Talente besitzt ; ich hatte mich auf der Eistedd- 
fod von PwUheli davon überzeugen können wie er 
auf das kymrische Zwerchfell zu wirken verstand. 
Von allem was sich sonst noch in den Zeitungen findet, 
verdienen nur zwei stehende Eubriken Erwähnung: 
die eine welche „Dichtung" betitelt ist, als solche — 
es werden uns hier Gerichte aller Art vorgesetzt — , 
die andere welche das Civilstandsregister bietet, des- 
halb weil dies so umständlich gehalten ist, insbesondere 



- 408 — 

die Todesanzeigen mit kirchlichen Wohlverhalfcenszeug- 
nissen und dichterischen Nachrufen geschmückt zu sein 
pflegen. Der Inseratentheil ist sehr reichhaltig; aber 
die duftigen und aufregenden Korrespondenzen unserer 
Blätter fehlen. Im ganzen lässt sich aus den kym- 
rischen Zeitungen eine so deutliche Vorstellung von 
dem Charakter und dem Leben des Volkes gewinnen 
wie kaum aus den Zeitungen irgendeines anderen 
Landes; aeshalb habe ich mich etwas länger bei ihnen 
aufgehalten. 

üeber die monatlichen und vierteljährlichen Zeit- 
schriften möge eine um so kürzere Nachricht folgen. 
Es gibt deren eine grosse Menge, so Y Traethodydd 
(der Essayist), Y Beimiad (der Richter), Y Dysgedydd 
(der Lehrer), Y Diwygiwr (der Reformator), Yr 
Ymofynydd (der Forscher), Yr Eghoysydd (der Staats- 
kirchler), Y Cymrodor (der Genosse, zu London ; wenn 
ich nicht irre, mit besonderer Berücksichtigung kym- 
rischer Alterthumskunde), Y Cylchgrawn Cymraeg (das 
kymrische Magazin), Y Winllan (der Weingarten), Yr 
Haul (die Sonne), Y Cronicl (die Chronik), Y Drysorfa 
(die Schatzkammer), Y Greal (der Graal), Dysgedydd 
y Plant (der Lehrer der Kinder), Trysorfa y Plant 
(die Schatzkammer der Kinder), Y Tendydd Cymraeg 
(der kymrische Templer) u. a. Die bedeutendste und 
eine der ältesten ist der Traethodydd, der aber neuer- 
dings etwas herabgegangen ist. Viele sind seit mehr 
oder wenig langer Zeit entschlummert, z. B. Yr Eur- 
grawn (der Goldschatz), Y Bedyddiwr (der Baptist), 
Seren Gomer (der Stern Gomers), Y Brython (der Britte), 
Golud yr Oes (der Reichthum des Lebens). Dieses 
letzte war ein illustriertes Blatt. Neuerdings hat Freund 



- 409 - 

John Evans ein solches : Y Darlunydd (der Zeichner) 
herauszugeben angefangen, das sich eines guten Er- 
folges erfreut. Dass in den Zeitschriften Religion 
und Moral stark in den Vordergrund treten, brauche 
ich wohl kaum zu erwähnen. 

Es wäre nun über die kymrische Litteratur, der 
Form und dem Inhalt nach. Näheres zu sagen, oder doch 
tlber den Zweig derselben welcher allein ein allgemeines 
Interesse beansprucht, nämlich über die Dichtung. In 
keinem Lande wird verhältnissmässig so viel gedichtet, 
oder, ich will sicherer gehen, werden so viel Gedichte 
gedruckt wie in Wales, das gilt mir für ausgemacht. 
Man darf sogar von einer Ueberproduktion in dieser 
Waare reden, um so mehr als viel Mittelgut, sehr 
viel, darunter ist. Indessen ragen doch einige Dichter 
aus der Menge hervor, und es fragt sich ob bei Völ- 
kern die zwanzig oder dreissigmal stärker sind, das 
durchschnittliche und das höchste Längenmass ent- 
sprechend wachsen. Man verwundere sich nicht dass ich 
hier von Längenmass rede ; gibt es doch eine Bardenelle 
— Andere freilich nennen es eine Bardenwage. Zu den 
Zahlen nämlich welche bei einem Dichter den Grad 
der verschiedenen Fähigkeiten ausdrücken, lässt sich 
ebensowohl „Pfund" als „Fuss" ergänzen. So wird z. B. 
der Dichter Dafydd lonawr von der einen Autorität 
so gemessen oder gewogen (20 ist die höchste Zahl): 
Genius Wissen Gelehrsamkeit Verskunst Geschmack 

14 20 17 15 14, 

von einer anderen so: 

Genius Wissen Gelehrsamkeit Verskunst 
15 20 18 12, 

von der dritten so: 



- 410 - 

Gedanken Sprache Verskunst ürtheilskraft 
15 18 17 16. 

Obwohl nun diese Bardenelle etwas veraltet ist, 
so nimmt man es mit der Beurtheilung dichterischer 
Talente doch immer noch heikel genug um einen 
Fremden vom Mitreden abzuschrecken, besonders wenn 
er eben nur die Nase in den oder jenen Band voll 
Verse gesteckt hat. Es war meine Absicht gewesen 
mich und Andere mit dem Parnass der Kymren ver- 
trauter zu machen, indem ich eine Auswahl guter 
Gedichte in deutscher Uebersetzung gäbe und kurze 
Nachrichten über die Dichter hinzufügte; ich wurde 
durch verschiedene umstände an der Ausführung ver- 
hindert. Ich hätte mich auf solche Gedichte beschränkt 
oder beschränken müssen die in „freien Massen" ab- 
gefasst, d. h. in denen Ehythmus und Reim ganz wie 
im Englischen beschaffen sind. Diesen freien Massen 
stehen gegenüber die „gebundenen", deren man 24 
zu zählen .pflegt, und deren Haupteigenthümlichkeit in 
der cynghanedd, der geregelten Wiederholung von ein- 
zelnen Konsonanten wie von ganzen Silben im Innern 
der Verse beruht. Statt mich auf eine nähere Erör- 
terung der Cynghanedd und ihrer verschiedenen Un- 
terarten einzulassen, will ich lieber Beispiele davon 
geben, und zwar damit die Sache nicht zu unver- 
ständlich sei, in englischer Sprache. Es handelt 
sich natürlich nur um eine scherzhafte Nachahmung 
kymrischer Verse {Ned Puw's vlsit to the London 
Exhibition): 

When Ned first landec? in Londow — saw he 

A sight $wite uncommonx 
A nice mule from Ynys Moriy 
A m&rmaid and a Moimow. 



\ 



- 411 - 

A niggcr and a nugged — a lawyer 

Jjying on a pallet 
And on view in a new net 
A miWion of gray mulle^. 

A ti7ild hoy and an old hard — a fiddler 

Fuddltn^ with a dmnkard, 
A tinker ivith his i&nkard, 
Ranking high front drinking hard. 

Man sieht hier dass neben dem gewöhnlichen 
Keim auch derjenige angewandt wird welcher ein end- 
betontes (fast immer einsilbiges) Wort mit einem auf 
der vorletzten Silbe betonten verbindet. Dieser Reim, 
welcher in der cywydd genannten Dichtungsform regel- 
mässig ist, hat — für mein Ohr wenigstens — einen 
besonderen Reiz. Die Form der die obigen Beispiele 
angehören, heisst englyn; sie ist die beliebteste der 
Kunstdichtung, gewöhnlich vierzeilig, wie das pennill 
der Volksdichtung, von dem ich früher gesprochen 
habe. Gäbe man einem Dichter auf, einem und dem- 
selben Gegenstand ein Englyn und ein Pennill zu 
widmen, so würde die Behandlung sehr verschieden 
ausfallen; es würde sich auf keine bessere Art der 
ungemeine Einfluss veranschaulichen lassen den die 
äussere Form auf den Kern ausübt. Wir Deutschen 
können an dem jüngst wieder zu künstlichem Leben 
gebrachten Stabreim Ahnliches beobachten, am besten 
in einer Vorlesung von W. Jordan. Da hier der 
Stabreim, mit vollem Recht, möglichst wenig hervor- 
gehoben wird, so wäre es möglich dass ihn vielleicht 
jemand für kurze Zeit gänzlich überhörte; gewiss aber 
würde etwas was daraus folgt, eine eigenthüraliche 
Prägung der Sprache ihm nicht entgehen. Die kym- 



— 412 - 

Tische Cynghanedd ist nun eine weit stärkere Fessel 
als der germanische Stabreim; sie hat die Sprache 
der Kunstdichtnng weit ab von der gewöhnlichen 
Sprache gerückt. Da wuchern alterthumliche, viel- 
deutige Hauptwörter, schmückende, synonyme Bei- 
wörter, wunderlich zusammenwachsend und sich ver- 
schlingend, so üppig empor dass die Zeitwörter ganz 
erdrückt zu werden scheinen. Wo man unter dem 
Zwang eines überkünstlichen Versbaues so sehr sich 
um die Wörter sorgen muss, wird man sich desto 
weniger um die Gedanken sorgen; man wird sie ent- 
weder rücksichtslos in die harte Form hineinpressen, 
oder man wird solche wählen die sich leicht hinein- 
fagen, man wird dunkel oder flach sein, oder auch 
Beides zugleich. Wer daher die Schwierigkeiten des 
Verständnisses zu überwinden sucht welche besonders 
so viele alte Dichtungen darbieten, wird keineswegs 
allzu häufig für seine Mühe belohnt. Jedoch lässt 
sich nicht verkennen dass dem alten metrischen System 
gewisse Vorzüge eigenthümlich sind. Wie voll und 
gewaltig schlagen oft diese Verse ans Ohr, und wie 
vortrefflich eignen sie sich zu jener nachahmenden 
Musik welche man gewöhnlich mit dem unglücklichen 
Ausdruck „rhythmische Malerei" bezeichnet. So hat 
z. B. Dewi Wyn, der Meister der Cynghanedd den 
Wasserfall in einem berühmten Englyn {Uchelgadr 
rhaiadr u. s. w.) unübertrefflich besungen. Die Fessehi 
welche die kymrische Muse Jahrhunderte lang getragen 
hat, sind vor sechzig Jahren auf der Eisteddfod von 
Caerfyrddin gefallen; d. h. es steht ihr frei sie sich 
anzulegen oder nicht. Die 24 Masse erfreuen sich 
noch eines sehr rüstigen Greisenalters. Wenn nun 



— 413 ~ 

auch in den Dichtungen neuen Stils ein weit frischeres 
und gesünderes Blut rinnt, so zeigt sich doch die 
eigenthümlich keltische Färbung in ihnen nur matt. 
Nicht bloss dass sie bei der Nachahmung englischer 
Vorbilder sich verwischt hat, sie hat gleich anfangs 
nicht so stark hervortreten können. Jenes alte System 
war ja keineswegs gewaltsam aufgedrängt worden, 
sondern hatte sich organisch entwickelt wie die Schale 
welche das Weichthier in einer bestimmten Stellung, 
in einem bestimmten ümriss festhält, selbst erst aus 
diesem lebenden Wesen allmählich herausgewachsen 
ist. Was das Alterthum von den Kelten berichtet, 
dass sie dunkle und prunkende Bedeweise liebten, 
stimmt vollkommen zu dem Charakter aller echt kel- 
tischen Dichtung, wie er uns schon in den frühesten 
Denkmälern entgegentritt. Im Rausche, sagt man, 
seien die Kelten in den Kampf gegangen, und im 
Bausche scheinen sie ihre Lieder gedichtet zu haben, 
die ja wirklich zum grössten und besten Theil sich 
auf den Kampf bezogen. In diesen leidenschaftlichen^ 
wortreichen, stossweise hervorbrechenden Ergüssen 
haben wir die Anfange jener difteligen Verskunst zu 
suchen; die ganz natürliche Wiederkehr gleicher Laute 
und Lautgruppen wurde zum Gesetz erhoben, das sich 
immer mehr in Begeln und Distinktionen verästelte. 
Man hat sehr richtig den „Pindarismus" als den 
hervorstechenden Zug der keltischen und besonders 
der kymrischen Dichtung bezeichnet. Von der Urzeit 
bis zum heutigen Tag ist die Ode die vornehmste, 
die herrschende Gattung bei den Kymren geblieben; 
ihr berauschter Stil leistet dem Teatotalismus kräftigen 
Widerstand, und die gesammte Lyrik ist mehr oder 



— 414 — 

weniger davon angesteckt. Die anderen grossen Ge- 
biete haben die 'Kymren fast ganz brach liegen lassen. 
Schon die alten Dichter, wenn sie episch zu sein ver- 
suchen, fallen immer ins Lyrische zurück; alle die 
verschiedenen aufeinander folgenden oder nebeneinander 
liegenden Momente drängen sich bei ihnen ungestüm 
in eins zusammen ; sie verstehen eigentlich weder zu 
erzählen noch zu beschreiben. Das Letztere zeigt sich 
besonders in ihrer Auflassung der Natur, welche keine 
malerische oder plastische ist ; das Ohr ist dabei weit 
mehr beschäftigt als das Auge, und überdies laufen 
Zauberfäden zwischen Mensch und Natur hin 'und her 
welche die ruhige Betrachtung stören. Dass in Wales 
die epische Dichtung so gar nicht zur Entfaltung 
gekommen ist, befremdet um so mehr als dort jener 
epische Stoff aufgewachsen war aus dem sich andere 
Völker so vieles Schöne zurecht zu schnitzen wussten. 
Was in neuerer Zeit irgendwie zum Epischen gerechnet 
werden könnte, behandelt biblische Stoffe, wie die 
Schöpfung und die Auferstehung. Miltons Beispiel 
wirkte anregend, zweimal auch wurde sein „Verlornes 
Paradies" ins Kymrische übertragen. Die üebersetzung 
von Owen Pughe (1819) wird von denjenigen welche 
seine knorrige, alterthümelnde Sprache verstehen, sehr 
gerühmt ; lesbarer ist auf jeden Fall die neuere von 
John Evans (Wrexham, ohne Jahr). Shakspeare hat 
nicht die gleiche Gunst genossen ; ich habe eine üeber- 
setzung seines „Hamlet" von D. Griffiths (1864) gelesen, 
welche recht tüchtig ist, aber einige lächerliche Miss- 
verständnisse enthält; ob sonst noch etwas von ihm 
in kymrischer Sprache gedruckt worden ist, weiss ich 
nicht. Sicherlich hat Milton bei den Kymren den 



— 415 — 

Vorrang vor Shakspeare, nicht sowohl weil er ein 
grösseres Genie wäre, als weil er göttliche, dieser 
aber menschliche Dinge besang, und kann Shakspeare 
Nachahmer in einem Land erwarten wo das Theater 
keinen Platz neben der Kirche hat? Wer sollte 
Schauspiele verfassen ohne die Hoffnung sie aufgeführt 
zu sehen? Nur das mittelalterliche Drama hat sich 
unter dem Namen interlude bis in eine Zeit gefristet 
welche der unsrigen nicht allzu fern liegt; seine 
kümmerlichen Reste wurden zu Anfang des Jahr- 
hunderts vom Methodistenthum hinweggefegt. Das 
älteste uns erhaltene Interlude (in einer Londoner 
Handschrift) gehört dem 16. oder 17. Jahrhundert 
an (Kornwallis und die Bretagne besitzen weit ältere 
dramatische Denkmäler); es ist ein Charfreitagsspiel. 
Die späteren Interludes, soweit mündliche oder hand- 
schriftliche Ueberlieferung von ihnen weiss, behandeln 
keine religiösen Gegenstände, sondern vorzugsweise 
allegorische ; sie sind ungemein geschmack- und talent- 
los. Nur die von Twm o'r Nant (f 1810), wie „Die 
drei Mächte der Welt", „Keichthum und Armuth" 
u. s. w., nehmen eine höhere Stufe ein; es sind die 
einzigen welche im Druck veröffentlicht wurden. Ein 
letzter Blick den wir aus der Kavalierperspektive auf 
den Dichtergarten von Wales werfen, zeigt uns dass 
die Ströme welche denselben abgrenzen und die welche 
ihn bewässern, aus Eden fliessen. 

Mit der Dichtkunst erfreut sich ihre Schwester, 
die Tonkunst der höchsten Ehren seitens der Kymren ; 
weit unter den beiden stehen die bildenden Künste, am 
höchsten noch die Baukunst, welche auch aus Kirchen 
und Landhäusern trotzige, düstere Burgen schafft, am 



— 416 - 

tiefsten die Malerei. Es liegt dies an Mancherlei: 
an dem nordisch trüben Himmel; an der Beschaffen- 
heit des keltischen Geistes, def wenig zu behaglichem 
Anschauen und unbefangenem Wiederspiegeln angethan 
ist; an der strengen Religion, welche den Sinnenreiz in 
der Kunst wie im Leben verpönt, und welche wohl 
den Dichter, aber nicht den Maler in ihrem Dienste 
zu verwenden weiss. Und eben diese Religion ist es 
auch welche der Wissenschaft auf deren schwierigem 
Pfade die Hand anbietet, damit sie nicht stolpere. 
In irgend einem kymrischen Buche habe ich gelesen 
dass alles Wissen zur Religion in Beziehung stehe; 
was aber hat wohl das Einmaleins mit der Lehre von 
der Dreieinigkeit zu thun? Die Kymren haben leb- 
haften Drang zu lernen; der Durchschnitt ihrer Bil- 
dung ist kein niederer, und sie zählen viele hoch- 
unterrichtete Männer unter sich — allein zu freier, 
kühner Forschung vermögen sie sich nicht zu erheben ; 
der Buchstabe der Bibel bindet sie fest. Ich glaube 
z. B. nicht dass in Wales der Darwinismus eine wirk- 
lich ernste Prüfung erfahren hat, d, h. eine vom rein 
wissenschaftlichen Standpunkte unternommene, mit Bei- 
seitelassung aller Bibelcitate. An ein selbständiges 
Wachsthum der Philosophie ist am allerwenigsten zu 
denken, und das ist um so bedauerlicher wegen der 
bedeutenden philosophischen Anlagen der Kymren und 
wegen des bekannten philosophischen Charakters ihrer 
Sprache, der sich in zahlreichen Ausdrücken für ab- 
gezogene Begriffe, in der grossen Freiheit bezüglich 
der Zusammensetzung und Ableitung, in der strengen 
Wortstellung u. s. w. kundgibt. Hiebei .kommt aber 
vielleicht noch ein Anderes mit in Rechnung. Abge- 



- 417 - 

sehen von dem Phantasiespiel in bardischen Dingen 
sind die Kymren ein sehr nüchternes und praktisches 
Volk;^ sie halten auf nützliche Kenntnisse und werden 
sich nicht leicht mit unfruchtbaren Grübeleien und mit 
todter Gelehrsamkeit befreunden — es müsste denn 
die Sache einen biblischen oder nationalen Beigeschmack 
haben. Sie unterscheiden sich in dieser Beziehung 
gänzlich von den Bretonen und ebenso von den Irlän- 
dern, welche ja, auch wenn noch so unwissend, vor 
Homer und Cicero einen gewaltigen Eespekt besitzen, 
und im Grunde das grammatikalische Volk geblieben 
sind welches sie zu Anfang des Mittelalters waren; 
Beide sind .unpraktisch, bei Beiden wird man das 
wahrnehmen was als eine wesentliche Eigenthümlich- 
keit der keltischen Kasse bezeichnet worden ist: die 
Sentimentalität, die allzeitige Neigung sich gegen die 
Tyrannei des Thatsächlichen aufzulehnen — auch noch 
bei den Eymren des Mittelalters, aber kaum mehr bei 
den heutigen Kymren, welche eben etwas aus der kel- 
tischen Art geschlagen sind. Das Wort des alten Chrö- 
tiens von Troyes passt nicht mehr: 

Gallois sont tous par nature 
Flu8 fou8 que betes en päture. 

Um den Preis der einen Hälfte haben die Kymren 
die andere Hälfte ihres Erbgutes gerettet; sie haben 
ihr Keltenthum modernisiert und ihm dadurch dauernde 
Lebensfähigkeit verliehen, das der anderen Stämme 
ist eine Ruine die nur von den Geistern der Vergan- 
genheit bewohnt wird, und geht daher unaufhaltsam 
dem Untergang entgegen. Unter allen Europäern glei- 
chen die Kymren am meisten den Amerikanern, d. h. 
den Yankees, welche ja für das praktischste Volk der 

Schttchardt, Bomanisches u. Keltisches. 27 



- 418 - 

Erde gelten; auch die äusseren Beziehungen zwischen 
Wales und den Vereinigten Staaten, wo so viele Kym- 
ren leben, sind die denkbar innigsten, und würden alt 
genug sein wenn es wahr wäre dass Madoc ap Owain 
im 12. Jahrhundert Amerika entdeckte, und dass in 
den Nadowessiern oder den Mandans oder den Mow- 
quas sich die Nachkommen jener alten kymrischen 
Seefahrer erhalten haben. Jedenfalls — trennte sich 
heute Wales von England los, schwämme über den 
Ocean hinüber und triebe zwischen Newyork und 
Washington an, so würden sich die drüben wohl über 
einige mittelalterliche Schlösser wundern, aber sonst 
über nicht viel : der 39. Staat wäre da. ^ 

Im ganzen sittlichen, gesellschaftlichen, geistigen 
Leben der Eymren, allüberall bin ich den Einwirkungen 
der Beligion begegnet (ich denke dabei nur an das 
Nonkonformisten- und vorzugsweise an das Methodisten- 
thum). Ein Eymre wird diese Aeusserung sicherlich 
als höchstes Lob betrachten; ich aber meine dass 
diese Einwirkungen sich theils auf Gebiete erstrecken 
welche der Gerichtsbarkeit der Eeligion überhaupt 
nicht untergeben sind, theils sich in einer Weise gel- 
tend machen wie es nicht sein sollte, wie es sich je- 
doch aus der Natur eben dieser Eeligion erklärt. Sie 
belegt so vieles was das Leben erheitert und verschönt, 
mit Acht und Bann, weil sie in Gott vor allem den- 
jenigen verehrt welcher züchtigt wen er liebt. Es ist 
der Gott des Alten Testaments, dessen Namen seine 
Anhänger auszusprechen gern vermeiden; sie nennen 
ihn oft den „grossen König", und, wahrhaftig, ein 
König ist er, ein morgenländischer Tyrann, dessen 
Throne man sich mit Angst und Beben naht Als 



— 419 — 

ai€h Henri Gaidoz in das Album John Peters zu 
Bala eintrug, hatte er wohl Recht gegen diesen 
Gott zu protestieren und in Gott lieber ein un- 
endliches Mutterherz zu erblicken. Ein schöneres 
Symbol lässt sich für den allgütigen Gott nicht denken ; 
denn dass die Allgüte das erste der göttlichen Attri- 
bute ist, sollten das die Kymren im Ernste leugnen? 
Freilich die ewige Verdammniss! Ich habe im Trae- 
thodydd von 1875 eine Abhandlung gelesen deren Ver- 
fasser es versucht die ewige Verdammniss mit der 
Allgüte Gottes in Einklang zu bringen; es kam mir 
vor als ob ein Zwerg einen unendlichen Abgrund mit 
Spinneweben überbrücken wollte. Es musste doch 
schliesslich eingestanden werden: Omnia exeunt in 
mysterium. Ein Wunder mehr, das würde nichts scha- 
den; aber wohlgemerkt, hier handelt es sich um ein 
Wunder nicht nur für den Verstand, sondern auch 
für das Herz, um ein Wunder das so Vielen den Ver- 
stand geraubt, aber auch so Vielen das Herz verhärtet 
hat; denn warum sollte der Mensch mitleidig sein 
wenn es Gott nicht ist? Für diese in jeder Hinsicht 
dunkle Lehre hegen nun die Kymren eine besondere 
Vorliebe; kommen die Prediger hierauf zu reden, so 
verfallen sie in jenes heisere Geschrei welches die 
Stimme des Höllenfürsten und seiner Trabanten treff- 
lich nachahmt. Das muss freilich den armen Lämmern 
einen Schrecken in die Glieder jagen welcher sie för 
einige Zeit lähmt, zur Sünde geradezu unfähig macht. 
Uns Anderen ist glücklicherweise gelehrt worden dass 
das nicht schwer wiegt was man aus Hoffnung auf 
Lohn thut oder aus Furcht vor Strafe lässt, dass man 

das Gute um des Guten willen thun, das Böse um des 

27* 



- 420 — 

Bösen willen lassen soll. Ich weiss wohl, bei den 
Strenggläubigen aller Länder gelten dieselben Lehren 
wie bei den Kymren, und doch haben die Dopiinikaner 
in der Minerva welche ich einst so fleissig besuchte, 
nie den peinlichen Eindruck auf mich gemacht wie die 
kyrarischen Prediger. Sie gingen wahrlich mit den 
Flammen der Hölle und des Fegfeuers auch nicht 
sparsam um, aber sie wussten wiederum die Glorie des 
Paradieses so schön zu schildern^ und draussen lachte 
üppigeß, buntes, sonniges Leben, das durch seine Ge- 
fahren jene schrecklichen Bilder rechtfertigte und ihre 
Grellheit durch seine Neigung sie zu verwischen. Hin- 
gegen in Wales: trüber Himmel, ernste Gesichter^ 
dunkle Kleider — und im Vordergrunde des Jenseits 
die Hölle. Es muss den Kelten im Blute stecken; 
ihre Litteratur ist der beste Beweis dafür. Zwei der 
bedeutendsten Werke deren sich die Kymren rühmen, 
beide aus dem vorigen Jahrhundert, sind das Gedicht 
vom jüngsten Tag von Gronwy Owen (in dieselbe 
Zeit gehört ein nicht minder berühmtes Gedicht über 
denselben Gegenstand in gaelischer Sprache von Bu- 
chanan) und Elis Wynns „Visionen des schlafenden 
Barden". Wie alt bei den Kelten die Visionen von der 
jenseitigen Welt sind, weiss jeder wer von St. Patrick^ 
von St. Brandan und von Tundalus gehört hat ; wäh- 
rend aber das Mittelalter auch in der Darstellung der 
himmlischen Freuden sich ergeht, gibt uns Elis Wynn 
nur eine Vision von der Welt, eine vom Tod, eine 
von der Hölle, keine vom Himmel oder Paradies. Ich 
will die prosaische Hölle Elis Wynns nicht mit der 
poetischen Dantes vergleichen — es wird sich eine 
andere Gelegenheit finden von jener ausführlicher zu 



— 421 — 

reden — ich will nur bemerken dass dort sich keine 
Francesca von Eimini findet, welche mir überhaupt 
in der Hölle eines keltischen Dichters ganz undenk- 
bar ist. Mit den rohesten Strichen, den grellsten Far- 
ben die Holle zu malen, daä behagt auch heutzutage 
den Dichtern nicht minder als den Predigern. Neulich 
las ich im Herald Cymraeg ein Englyn dessen ganz 
wörtliche üebersetzung so aussieht: y,Der Gottlose in 
der Hölle. Die Hitze des höllischen Ofens und seine 
Qualen, in endloser Busse; er brät in ewigem Feuer, 
unter dem Wehe entsetzlichen Todes und dessen be- 
engender Wunde." Eecht poetisch, nicht wahr? Meine 
Landsleute werden wohl merken dass die vorstehenden 
wie die folgenden Auslassungen sich nicht sowohl an 
sie wenden als an die Kymren, von denen ja einige 
Deutsch verstehen. Ich verfahre nach kymrischer Sitte ; 
dort stehen Gespräche über geistliche Dinge auf der 
Tagesordnung, und sind es die Menschen welche ein- 
ander Herzen und Nieren prüfen. Billigung aber er- 
langt bei uns Festländern jene Oeffentlichkeit und Laut- 
heit in allem was sich auf Religion bezieht, nicht; 
wir sehen wie viel Heuchelei durch sie in dem be- 
nachbarten England verschuldet wird. In Wales findet 
sich dieses Laster weit seltener und gewiss kaum bei 
den Predigern ; soviel ich deren gesehen habe, sind es 
schlichte, wahrhafte und würdige Leute; sie führen 
ein einfaches Leben und sammeln keine Schätze, und 
unter ihnen fehlt es an jenem augenverdrehenden, süss- 
lichen Gemisch von Orthodoxie, Wohlgefallen an guten 
Diners und Verehrung gegen einen hohen Adel wie es 
in Norddeutschland vorkommt. Sehen wir aber auch 
von der Gefahr der Heuchelei ganz ab, so thäten die 



- 422 — 

Kymren doch gut daran das alte Sprichwort nicht 
ganz in Vergessenheit gerathen zu lassen welches 
lautet : Offeren pawb yn ei galon (wörtlich : die Messe 
Jedes in seinem Herzen, d. h. im Herzen hat Jeder seine 
Religion). Denn ist das Richten über Andere gerecht? 
Und wie viel äussere Duldsamkeit auch die Kymren 
besitzen, sogar über andere Völker richten sie, die 
ihnen oft ganz unbekannt sind. So ist unter ihnen 
beständig von dem Aberglauben der katholischen Länder 
und dem Unglauben Deutschlands die Rede. Möchten 
sie doch beherzigen dass diese drei Worte Aberglaube, 
Glaube, Unglaube von Standpunkt zu Standpunkt ihre 
Bedeutung wechseln und wechseln müssen. Wenn Gott 
den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, so 
darf der Mensch aus sich selbst das Urbild heraus- 
ahnen, und wer will es dem Neger verargen dass er 
sich Gott schwarz vorstellt? Aber die Bewohner der 
gi'ossen Insel haben die Verschiedenheit der religiösen 
Bedürfnisse nie begriffen, wie sie überhaupt in den 
innersten Geist fremder Völker nur schwer eindringen. 
Das rührt zum grossen Theil von der geringen Ver- 
trautheit mit fremden Sprachen her. Trotz der grossen 
Nähe Prankreichs — was weiss man in Wales davon? 
wie viel Kymren verstehen Französisch? Und die 
Franzosen sind doch ziemlich nahe Verwandte der 
Kymren, wenigstens der allgemeinen Auffassung nach, 
die sich darin gefallt die Besonderheiten der alten 
Kelten in den Franzosen wieder zu entdecken. Es wäre 
mir sehr merkwürdig gewesen irgendeine Aehnlich- 
keit zwischen Franzosen und Kymren festzustellen, 
deshalb bat ich einen jungen kymrischen Freund bei 
einer Reise durch Frankreich diesen Punkt scharf ins 



— 423 - 

Auge zu fassen. In der französischen Schweiz, wo ja 
eine ähnliche religiöse Bichtung ähnlich auf das 6e- 
sammtleben gewirkt hat wie in Wales, fühlte er sich 
recht heimisch, und auch mit den katholischen Bre- 
tonen und sogar deren Geistlichen kam er — Dank 
der Einfachheit der Sitten und der ähnlichen Sprache 
— trefflich aus. Allein was zwischen der Suisse ro- 
mande und der Bretagne bretonnante liegt, behagte 
ihm gar nicht, und Paris am wenigsten. Es konnte 
kaum anders sein; die glänzende, frivole Aussenseite 
des französischen Lebens verletzte die Augen des 
Eymren. Indessen ist mir hinterher eingefallen dass, 
auch wenn er tiefer geblickt hätte, er schwerlich viel 
wärmer geworden wäre. Die Schuld hätte dann an 
den Kymren, nicht an den Franzosen gelegen; wenn 
in der That die Sentimentalität eine der schlagendsten 
Eigenthümlichkeiten des keltischen Geistes bildet, 
dann sind, wie schon gesagt, die Eymren keine Kel- 
ten mehr, wohl aber die Franzosen noch, und die Sym- 
pathien zwischen Franzosen und Irländern erhalten 
eine völlig natürliche Erklärung. Die Franzosen haben 
eine Sentimentalität welche den Spaniern und den Ita- 
lienern fremd ist; sie sind wohl das sentimentalste 
Volk Europas. Dabei nehme ich das Wort in dem 
vollen Umfang seines Gebrauches, also auch in seinem 
ursprünglichen und besten Sinne. Man rühmt die 
Franzosen wegen ihrer Eleganz; neben der Eleganz 
der Kleidung, des Benehmens, des Geistes gibt es aber 
auch eine Eleganz des Herzens. Die Kasuistik der 
zarten Regungen welche dem Herzen entspringen, ist 
nirgends besser studiert worden als unter den Fran- 
zosen, nirgends besser in die Praxis übertragen. Ich 



— 424 — 

gestehe geru dass, was mich im Leben ausserhalb des 
Kreises persönlicher BeziehuQgen am tiefsten gerührt 
hat, aus französischer Quelle geflossen ist, Wirkliches 
wie Erdichtetes, Dinge wie Darstellung. Wenn die 
Kymren von anderer Eleganz nichts wissen, so wohl 
auch nichts von der des Herzens ; ihre Vorbilder sind 
die Erzväter, sie denken darauf schlecht und recht nach 
dem Gesetze zu leben, und halten sich in Zweifels- 
fällen mehr an den Buchstaben als an den Geist des- 
selben. Für sie ist die Strasse zum Himmel die 
sprichwörtlich enge Strasse; es gibt da nur ein Vor- 
wärts und ein Kückwärts, und Einer muss in die Puss- 
stapfen des Anderen treten. In den kymrischen Er- 
zählungen nehmen wir einen einzigen Charakterunter- 
schied wahr, den zwischen guten und schlechten 
Leuten, oder nein, zwischen solchen die in die Kirche 
gehen, und solchen die nicht in die Kirche gehen ; und 
daraus ergibt sich wie es eigentlich ein Glück ist 
dass die Kymren sich nicht auf das Drama verlegt 
haben. Eine Welt wo auch ohne Berufung auf gött- 
liche oder menschliche Gesetzesparagraphen, ja selbst 
ohne den Gedanken daran Gutes geschieht aus innerster 
Eingebung, fast unbewusst, und wo das Gute zu seinem 
eigenen Werthe den Zauber der Schönheit fugt, wo 
die ungeheuerste Entsagung sich unter einem irdischen 
Lächeln birgt, die Tugend sich nicht scheut, gelegentlich 
die Maske des Lasters anzulegen, die Selbstlosigkeit 
sogar vor den Drohungen des Jenseits nicht erbebt 
— eine derartige Welt ahnen, kennen die Kymren 
vielleicht, nie aber werden sie sie anerkennen. 

Meine ersten Bemerkungen über Wales galten 
der Religion — meine letzten thun es nicht minder; 



— 425 - 

wer das Land gesehen hat, wird dies selbstverständlich 
finden. Ich habe mein ganzes Herz ausgeschüttet, 
auf die Gefahr hin undankbar zu erscheinen. Wales 
hat mir das Beste entgegengebracht was ein Land dem 
Fremden entgegenbringen kann; ich bin dort den 
treuesten, offensten, herzlichsten, gastfreundlichsten 
Menschen begegnet, mit einem Worte, den trefflichsten; 
aber die Weltanschauung der sie huldigen, hat wie 
ein kalter Schatten auf mir gelegen. Ist dies das 
Land von dem einst ein frischer, erquickender Strom 
sich über die Dichtung der Romanen und Germanen 
ergoss? War hier Arthurs Hof, dem, wie Bojardo 
singt, an Buhm der Hof Karls des Grossen nachstand, 
„weil der der Liebe jedes Thor verschloss", und „weil 
Liebe nur verleiht des Euhmes Krone?" Von dir, 
Land der Gesänge, ziemt es sich mit bardischem 
Grusse zu scheiden; was läge mir für einen solchen 
nun näher als an die Erinnerung jenes heUen Glanzes 
der dich umgab, einen Wunsch zu knüpfen der dir 
zwar nicht sehr fromm erscheinen, aber um so eher 
ein „frommer« bleiben wird? 

Aus deinen Bergen flog ein Zaubersamen 
Einst übers Meer; des Königs Arthur Rosen, 
Die wilden, schlangen wie ein duft'ger Rahmen 
Sich um die Lorbeerstämme Karls des Grossen, 
Und blühten schöner unter schöner Damen 
Huldvollem Lächeln und verliebtem Kosen, 
Bis endlich in Ariostos üpp'gen Hainen, 
Uns zu entzücken, sie verewigt scheinen. 

Erhöh' sich ein Südost von jenen Stätten 
Nach deinem Strand, mit Blüthenstaub beladen, 
Der Stirne düst're Falten dir zu glätten. 
In Frühlingsfluthen deine Brust zu baden. 



- 426 — 

Auf weicherm Pfühl die Glieder dir zu betten, 
Mit Anmuth deine Lippen zu begnaden, 
Und deinen Blick mit süssem Liebesfeuer — 
Dann wärst du, theures Wales, mir doppelt theuer! 



Anmerkimgen. 



(Die nrsprüngliolien habe ich niur theilweise wiedergegehen und ihnen einige 
neue hinzngef&gi;, die durch ein Sternchen kenntlich gemacht sind.) 



S. 10 0. In den Stabianer Thermen merkt ein Pom- 
pejaner an dass er za Nuceria im Würfelspiele die nette 
Summe von 955^2 I^^naren bona fide gewonnen habe; wir 
halten es jedoch für nicht unwahrscheinlich dass es mit der 
bona fide auf keiner Seite weit her gewesen ist, weder der 
des schuldenden Nuceriners noch der des glücklichen Pom- 
pejaners, der vielleicht demselben System wie Bulwers Clodius 
huldigte. 

S. 10 u. Um von dem Kreuze im sog. Hause des Pansa 
und von dem Zeichen >^, welches nicht sowohl das christliche 
Monogramm als eine Abkürzung wohl für Chresimus ist, zu 
schweigen, so scheint die einzige sichere Urkunde für das 
Bestehen des Christenthums zu Pompei' die Eohleninschrift 
N. 679 zu sein; aber sie ist so verstümmelt und verblasst 
dass wir durchaus nichts Zusammenhängendes verstehen können. 

S. 13 u. *Ueber Bauminschriften, besonders verliebte, 
liesse sich ein Langes und Breites sagen ; bei alten und neuen 
Dichtem ist sehr oft von ihnen die Kede. Vgl. z. B. Calpum. 
Ecl. I, 31 ff. m, 43 f. Yin, 28 f. Virg. Ecl. V, 13 f. X, 53. 
Ovid Her. V, 2 1 ff. Properz I, 18, 22. Florus De quäl. vit. IV. 
Grimm u. Schmeller Lat. Ged. des X. u. XI. Jhrhs. S. L 
Ariost Orl. für. XXHI, 102. 103. 

S. 17 0. Man warf den Juden und Christen vor dass 
sie den Kopf eines wilden Esels anbeteten. 

S. 18 0. Diese Heiligenbekritzler, welche übrigens keines- 
wegs das Licht der Sonne scheuten (wie man z. B. in der Vor- 
halle von S. Lorenzo fuori le mura ersieht), waren also recht 
eigentliche graffiasanti, d. h. Scheinheilige. 



— 428 — 

S. 26 0. Vgl. z. B.: 
Fra Guittone : Che trovare non sa, ne valer punto 

Uomo d^amor non punto, 
Bemi : Amor primo trovd le rime e i versL 

S. 41, 23 f. Dies erinnert mich daran dass man auf 
SyU bei der Greburt eines Kindes sagt: ^da ist ein Schifi 
gestrandet" . 

S. 66 u. *Der ^ungenannte Freund** ist Gaston Paris, 
welcher, vorbehaltlich ausfdhrlicherer Darstellung, 1885 zuerst 
für ein weiteres Publikum La Farahole des trois anneaux 
besprach {Bevue des Üudes juiveis XI), 

S. 77 m. Merkwürdig ist es dass der Dichter Molza, 
Ariosts Zeitgenosse eine lateinische Elegie ebenfalls auf das 
Goldhaar seiner Geliebten schrieb das diese bei einem gleichen 
Anlass verloren hatte. 
S. 80 u. Vgl: 

8ia vero o foLso che Oinevra tolto Orl. für. IV, 64. 

Vera o falsa cJie fosse la cosa ebend. VIII, 58. 

vero falso cJie la fama suone Eleg. XII (= X), 1. 
Vera o falsa che sia la nova Brief an den Herzog Al- 
phons vom 22. Juni 1522 (Capp. 1866 S. 20). 
Fulchro ore et ptdchris aequantem morihus aut qitas 
Veraxfama refert aut quas sibi fabula finxit Epithal. 85 t 

S. 101 u. *Es bezieht sich das auf den Anthropologen- 
und den Schriftstellerkongress die damals in Lissabon statt- 
fanden. 

S. 116 0. *« Alles geben und doch nichts geben* wurde 
1668 in Wien aufgeführt. 

S. 116 f. *Etwas eingehender über die Aufführung Cal- 
deron'scher und anderer altspanischen Dramen an den Wiener 
Theatern spricht A. J. Weltner in der „N. 111. Zeit." vom 
5. Juni 1881. 

S. 120 ff. *Dieser Aufsatz, dessen Beginn ich weggelassen 
habe, bildet den mittleren von dreien welche über die ^Neueste 
deutsche Calderonlitteratur" handeln. 

S. 120, 8 ff. «Goethe-Forschungen", Frankfurt a. M. 
1879 S. 154—190. 

S. 122 0. Las Goethe spanisch? Auch nach seiner Aens- 
serung gegen Kiemer (August 1807) dass sich Schlegels üeber- 
Setzung zum Original verhalte wie «ein ausgestopfter Fasan, aber 
ein gut ausgestopfter, zu einem lebendigen", muss man es glauben. 



— 429 — 

S. 122, 10 ff. Darauf hiü durfte Biedermann S. 168 
nicht behaupten, dass «Paläophron und Neoterpe" im Okt. 1808, 
^also kurz nach der ersten Bekanntschaft Goethes mit Cal- 
deron'' entstand. 

S. 122, 21 ff. So:, an Eichstädt (9. Jänn. 1804): 
„Offerieren Sie ihm (dem Prof. der Philos. Schaumann) auch 
Schlegels Spanisches Theater" ; an Frau v. Humboldt (7. Apr. 
1812): ^üm ein Calderon'sches Stück, ,Das Leben ein Traum' 
haben sich Einsiedel und Riemer verdient gemacht ; auch diese 
Vorstellung ist sehr gelungen"; an Zelter (23. Jänn. 1815): 
„ZvL der Herzogin Geburtstag, am 30. Januar, geben wir 
Zenobia nach Calderon, von Gries. Wahrscheinlich bleibt 
auch dies Stück ein ausschliessliches Eigenthum unserer Bühne." 
Verschiedenes hätte besonders aus Eckermanns Gesprächen 
noch ausgehoben werden können. Gegen Knebel (17. Okt. 1812) 
spricht Goethe nicht von dem „wunderthätigen", sondern von 
dem „wundervollen" Magus, den Einsiedel übersetzt habe. Er 
schreibt an Zelter (6. Febr. 1827) nicht dass man bei der 
Aufführung der „Tochter der Luft" in Berlin den blauen Duft 
von der Pflaume abgewischt haben würde, wenn man etwa 
Ninus und Semiramis von einer Schauspielerin habe dar- 
stellen lassen, sondern das Gegentheil: „Im Original ist die 
Absicht dass Semiramis und Ninus von einer Schauspielerin 
gespielt werden. Hat man das verändert, so u. s. w." Goethe 
hat übrigens hier Ninyas, den Sohn der Semiramis mit deren 
Gatten Ninus, der im ersten Theil des Stückes auftritt, ver- 
wechselt. Den Ninyas und Semiramis Hess auch Immermann 
von einer Person geben ; aber er stellt dies als seinen eigenen, 
plötzlich durch einen äusseren Umstand hervorgerufenen Einfall 
dar. lieber einen Punkt finde ich auch bei Biedermann keine 
Aufklärung; die „Grosse Zenobia" wurde in der Gries'schen 
Uebersetzung gegeben, und hier hat sie natürlich drei Akte ; in 
den Annalen (1815) spricht aber Goethe von fünf Akten. 
Schon Zelter (an Goethe 14. März 1831) konnte sich das 
nicht zusammenreimen. 

S. 123, 25 ff. Es befremdet mich in einem Briefe Wil- 
helms an Jakob Grimm (24. Nov. 1809) zu lesen: „Goethe, 
Arnim und Du ziehen die , Andacht am Kreuz* vor, Savigny, 
Brentano und ich den ,Standhaften Prinzen^" Hatte doch 
Goethe schon am 28. Jänner 1804 an Schiller geschrieben, 
das Stück verdiene „gewiss neben der , Andacht zum Kreuze' 
zu stehen, ja man ordnet es höher" u. s. w. 



— 430 — 

S. 123, 26 ff. „Weimars Album zur vi^rtea SScnlar* 
feier der Buchdruckerkunst am 24. Juni 1840.'' S. 193. 

S. 124, 8 ff. Es w&re interessant den genauen Wort- 
laut zu kennen, falls sich derselbe in der mir jetzt nicht zu- 
gänglichen Quelle, dem »Weimarer Sonntagsblatt '^, III. Jahrg. 
1857 findet. 

S. 124, 10 f. Vgl. dagegen in der SchlegePschen Ueber- 
setzung besonders S. 75 f. 

Denn wie wftr^s, wie w&r's zu denken Eine Stadt die dott den Schöpfer 

Dass ein echt katholVcher König Auf katholische Weis* erkennt, 

üeberg&b' an einen Mohren Die durch Kirchen wird verschönert. 

Eine Stadt nm die verströmet Welche Lieb' nnd Ehrerbietung 

Ward sein Blut, da er der erste Seinem Dienste hat geöffhet: 

War der ihrer Zinnen Höhe, War es ein katholisch Thun, 

Bloss bewehrt mit Tartsch' und Degen, W&r es Eifer ffir das Frömmste, 

Selbst mit den fünf Schildlein krönte? War es christliches Erbarmen 

Und dies ist noch das Geringste: ? 

S. 124 u. (EJise Campe) «Aus dem Leben von J. D. 
Gries" S. 112. 

S. 125, 15 ff. Später, als Körner den Calderon im 
Urtexte las — besonders interessierte ihn „Das Leben ein 
Traum ** — , milderte sich sein Urtheil; er schrieb an Tieck 
(9. Okt. 1807): „üeberhaupt finde ich in den Comedias oft 
eine gewisse Flüchtigkeit der Behandlung, aber die Kühnheit 
der Ideen hat einen grossen Reiz. Shakspeare scheint mehr 
mit Liebe gedichtet zu haben, und bei Calderon mehr die Kraft 
zu prävalieren. Er trotzt allen Forderungen von Wahrschein- 
scheinlichkeit und schaltet unumschränkt in seiner Welt.** 

S. 126, 4 ff . «Aus dem Leben von Gries*' a. a. 0. 

S. 127, 21 f. Biedermann Goethe-Forschungen S. 185 
sagt zwar: «Goethe warnte ja auch selbst z. B. in ,Deutsches 
Theater — Einzelnes' und im Brief an Zelter vom 28. Februar 
1811 nachdrücklich vor allzu treuer Nachahmung Calderons, 
weil er dem guten Geschmack gefährlich werden könnte*'; 
allein in dem Brief an Zelter finde ich nichts dergleichen. 

S. 129, 10 f. Warum fehlen z. B. S. 5 (Stelle aus einem 
Brief an Gries vom Mai 1816) die Worte: «Hier wirkt be- 
sonders der ,Magus' kräftig, und es Hesse sich aus ihm der 
Zustand der Schule und Kirche, sowie der des Gemeinlebens 
jener Zeit gar wohl entwickeln**, warum S. 11 die ganze Aus- 
lassung über den Protestanten Shakspeare, welcher Calderon 
gegenübergestellt wird? 



- 431 — 

S. 130, 4. ^Calderon ist nicht leicht. Indessen habe 
ich doch schon zwei Stücke ganz übersetzt, nämlich La gran 
Cenobia und das herrliche La vida es atieno. Eigentlich ist 
Goethe die Veranlassung dazu. Er wollte die ,Zenobia^ in 
Weimar aufführen lassen und regte mich auf sie zu über- 
setzen. Ich wollte erst nicht recht daran; auch ward es mir 
im Anfang ziemlich schwer." Gries an Rist, März 1814. 

S. 131, 10 f. Erzähler lieben es lebhafte Erregungen 
die leicht zu blutiger That führen, durch Eothsehen zu 
kennzeichnen. So las ich kürzlich in Le mensonge de Sabine 
von der Prinzessin Cantacuz^ne-Altieri {Rev. d, d. m, August 

1880, S. 491): H lui sembla qu^un voüe de sang 

Vempechait d'apercevoir le disque tremblant de la lune, und 
in G. Vergas Vita dei campi, Nuove Novelle. Milano 1880, 
S. 204: ÄUora egli si rizzö come se Vavesse marso un cane 
arrdbbiato, e si diede a correre verso ü paese senza vederd 
piiJb degli occhi, che fin Verba e i sassi gli sembravano rossi 
al pari dd sangue. Ich bin mir nicht klar darüber ob dies 
jedesmal aus wirklicher, eigener oder fremder, Erfahrung ge- 
schöpft ist , oder ob wir es hier mit einer Art von poetischer 
Tradition zu thun haben. *Voir rouge ist wenigstens im 
Französischen eine stehende Phrase geworden. 

S. 132. Im letzten Augenblick entdecke ich dass uns 
hier keineswegs eine Eigenthümlichkeit Calderons entgegen- 
tritt, sondern dass die gleiche Anschauung schon von dem 
35 Jahre älteren Lupercio de Argensola ausgesprochen worden 
ist. Die Beschämung die ich darob empfinde, wird durch die 
Genugthuung gelindert dass ich so Gelegenheit habe ein 
klassisches Sonett jenes berühmten Dichters in einer nahezu 
wortgetreuen üebersetzung (welche Otto Braun vor einem 
Vierteljahrhundert im Prutz'schen „Museum** veröffentlicht hat) 
vorzulegen : 

Gestehen w&rd* ich's, wenn mich Einer früge, 
Dass Laura jenes Bosenlicht der Wangen, 
Genau besehen, nicht hat von Gott empfangen, 
Nein, dass ihr's Geld gekostet snr Genbge. 

Doch ist so gross die Schönheit ihrer L&ge — 
Dies Eingeständniss darf ich dreist verlangen — 
Dass einer -wahren Schönheit wirklich Prangen 
Nicht mit der ihren den Vergleich ertrftge. 

Was Wunder d''rum dass ihr mich liebend schwärmen 
Für solche Schönheit seht! Weiss doch ein Jeder: 
Nicht anders täuscht Natur uns Erdensöhne. 

Der blaue Himmel droben ist ja weder 

Der Himmel, weder blau! Wer wird sich härmen 

Dass keine Wahrheit sei des Himmels Schöne 1 



— 432 — 

S. 138, 23 f. Es finden sich hier auch thatsächliche 
Unrichtigkeiten, so S. 326:' ^Nachdem A. Wilhelm v. Schlegel 
und bald darauf D. Gries wortgetreue und gelungene üeber- 
setzungen einiger Werke Calderons geliefert hatten, wurde 
Goethe auf den spanischen Dichter und seine Dramen auf- 
merksam." 

S. 141 ü. ^Shakspeare als Theaterdichter'' (1826). — 
Gespr, mit Eckermann 26. Juli 1826. 

S. 142, 7 f. Biedermann Goethe-F. S. 161. 

S. 142, 12 ff. Wenn man von der Gleichung: theatra- 
lisch = symbolisch absieht; auch erwäge man die «Ver- 
wandlungen des Geschichtlichen in ein Fabelhaftes*' die unter 
den Verdiensten Calderons im Brief an Gries (1821) genannt 
werden. Wir dürfen andrerseits nicht tibersehen dass Goethe 
an der «Tochter der Luft" den vorzüglichen Gregenstand lobt, 
«indem die Fabel sich ganz rein menschlich erweist, und ihr 
nicht mehr Dämonisches zugetheilt ist als nöthig war, damit 
das Ausserordentliche, Ueberschwängliche des Menschlichen 
sich desto leichter entfalte und bewege"; in dieser Beziehung 
werden ihr die «Andacht zum Kreuze" und die «Morgenröthe 
von Copacavana" gegenübergestellt. 

S. 142, 22 f. Gegen Schelling (an A. W. Schlegel 
22. April 1803) zeigte sich Goethe auch von dem zweiten 
Stück des «Spanischen Theaters" — es ist «üeber allen 
Zauber Liebe" — entzückt und von dem ersten aufs neue 
durchdrungen; er erkennt die Einheit desselben Geistes in 
beiden und hätte nicht übel Lust beide aufführen zu lassen. 
Von dem dritten Stück, «Die Schärpe und die Blume" scheint 
er ganz geschwiegen zu haben; er las dasselbe 1808 bei Hof 
vor — es ist auch ein rechtes Hpfstück. 

ö. 145, 20 ff. Während Goethe im Okt. 1802, als er 
die «Andacht zum Kreuze" eben kennen gelernt hatte, eine 
Aufführung dieses Stückes wegen des den Protestanten an- 
stössigen Stoffes für unmöglich erklärte, war er doch bald 
darauf (s. den eben angeführten Brief Schellings an Schlegel) 
einer solchen nicht abgeneigt und fasste die Veränderungen 
die nothwendig wären, ins Auge. Welche mochten das wohl sein? 

S. 146, 12 f. Aus der Stelle welche Riemer Mitth. ü, 
S. 649 einem Brief an Knebel (17. Okt. 1812) entnimmt: 
«Leider werden wir Deutsche eben seine zarte Seite mit 
unserer schwachen in Rapport setzen. Von seiner wahren 



— 433 — 

Stärke ist noch wenig Begriff unter uns (vid. des Herrn N. N. 
christliche Salbaderei über den ,Standhaften Prinzen')*' vermag 
ich nicht mit Biedermann Goethe-Forsch. S. 176 herauszulesen 
dass ^Goethe Calderons Stärke im Christlichen seiner Stoffe 
erkannte." 

S. 146, 30 ff. Die entsprechende Bedeutung hat für 
den „Weiblichen Joseph*' eine Stelle im ersten Brief an die 
Korinther, für den „Wunderthätigen Magus** eine im Plinius, 
für den „GroBsfürsten von Fez*' eine im Koran. 

S. 150 ff. *Nachdem in Italien neue Beiträge zur Kennt- 
niss G. G. Bellis (1791 — 1863), besonders von D. Gnoli 
{NiMva Äntologia 1878), geliefert worden sind, und ihn den 
Deutschen kein Geringerer als Paul Heyse vorgeführt hat, er- 
heischt der Wiederabdruck dieses Aufsatzes besondere Nach- 
sicht, als des einzigen Niederschlages aus einem eifrigen und 
andauernden Stadium das ich in den sechziger Jahren dem 
römischen Volksleben und der römischen Mundart widmete; 
denn was ich im „Globus*' (1868) über „das Ballspiel in 
Kom** berichtete, hält sich durchaus auf der Oberfläche. 

S. 154, 9 ff. Poesie jocosa seu morum ac ludicrorum 
quorundam, quae clim Romae, modo vero tum apud nostrates 
vig&nt, poeticae descriptiones. Opus posthumum Josephi Ber- 
nerii Bomani, Patavii 1715, *Der Meo Fatacca ist von 
1695, nur 7 Jahre jünger als der Maggio romanesco Peresios, 
was ich deshalb bemerke weil Gnoli diesen ins 17., jenen 
aber ins 18. Jhrh. setzt. 

S. 156, 8 ff. J. Burckhardt Die Cultur der Renaissance 
in Italien. Zweite Aufl., Leipzig 1869, S. 302 fg.: „Wenn 
wir die Verfasser von Dialogen beim Wort nehmen dürften, 
so hätten auch die höchsten Probleme des Daseins das Ge- 
spräch zwischen auserwählten Geistern ausgefüllt; die Hervor- 
bringung der erhabensten Gedanken wäre nicht, wie bei den 
Nordländern in der Regel, eine einsame, sondern eine Mehreren 
gemeinsame gewesen.*' 

S. 158, 7. Die gänzliche Erfolglosigkeit hat der Römer 
mit einem Ausdruck des Bocciaspieles bezeichnet; wir können 
doch in diesem Zusammenhang kaum einen analogen (wie aus 
dem Kegelspiel: „ein Pudel!*') gebrauchen. 

S. 165, 13. Die Römer essen oft einen Salat der aus 
vielen ganz verschiedenen Kräutern zusammengesetzt ist, und 

Schuchardt, Bomanisohes n. Keltisches. 28 



— 434 — 

den sie daher mesticanza (Mischsalat) nennen ; an diesen denkt 
die Predigtkritikerin. 

S. 169 f. Dies alles ist vorbehaltlich gesagt. Jetzt da 
za Eom die Bocca ddla Yerita nicht mehr in einer dtlstem 
Ecke versteckt bleiben wird, muss durch Bellis Freunde, 
sowie mit Hülfe von gewiss neu auftauchenden Sonetten der 
richtige Thatbestand leicht zu ermitteln sein. 

S. 169, 17 ff. Meiner Ansicht nach geht Morandi ebenso 
nach der einen Seite zu weit wie P. Tarnassi (Elogio storico 
di G, G. Belli. Borna 1864) nach der andern. Aber er sieht 
sich doch S. 53 zu der Aeussening genöthigt: „Und wir 
können den letzten Willen des Dichters berücksichtigen und 
diese Satiren als eine unmittelbare Schöpfung des römischen 
Volkes betrachten, aus welchem er am Ende ja doch An- 
regung und Gedanken geschöpft hatte.'' 

S. 170 u. Auch Abate Luigi und Madama Lucrezia 
werden dann und wann in Scene gesetzt. Nur der arme 
Babbuino scheint kein Freundschafts- noch Liebesverhältniss 
zu besitzen, dass er sich gelegentlich aussprechen könnte. 
Beiläufig sei bemerkt dass die Sitte ehrwürdige Statuen des 
Alterthums mit trivialen, ja respektwidrigen Namen zu be- 
legen, den Römern von ihren Altvordern überkommen ist, die, 
wie wir wissen, auch von einer matrona flens, einer meretrix 
gaudenSf einem venator redeten. 

S. 184, 17 ff. *Als ich dies schrieb, wusste ich nicht 
dass die PupiUaa do senhor reitor schon 1868, und zwar von 
Emesto Biester dramatisiert worden waren. Sie wurden in 
Lissabon und Porto aufgeführt; das Jomal do Porto bemerkte: 
^Wenn das Drama nicht vollkommener ist, so beruht das auf 
der Trefflichkeit des Romans den wir vor einigen Monaten 
lasen. Die einzige Schuld Emesto Biesters ist Julio Diniz." 
S. Julio Diniz (Joaguim GuÜherme Gomes Codho)» Eabogo 
biographico por Alberto Pimente L Porto 1872, 

S. 246 f. *üeber das Blumige in der Volksdichtung der 
Italiener handelt, mit Seitenblicken auf die der Spanier, Por- 
tugiesen, Südfranzosen, Rumänen und Neugriechen, ein Ab- 
schnitt meines Buches „Ritomell und Terzine* (Halle 1875), 
das ich um so lieber selbst citiere als es, trotz seiner von 
der Kritik anerkannten Neuartigkeit, seitens derer die sich 
seitdem mit ähnlichen, nämlich auf die Geschichte poetischer 



— 435 — 

Formen bezüglichen Untersuchungen beschäftigt haben, fast 
gänzlich unbeachtet geblieben ist. 

S. 262, 24. Der eine fand an einem Hause eine Inschrift: 
«Ehret die Eltern.*' Er verlas sich: „Ehre den Eltern*', 
übersetzte als ob da stände: «Ehre den Alten*', respect aux 
vieiUards, und schloss daraus dass das Haus entweder eine 
Schule oder ein Hospiz sein müsse (s. den Figaro). Manche 
römische Inschrift ist nicht schlimmer mitgenommen worden. 

S. 292 ff. *Der Wunsch den ich hier ausgesprochen und 
in einem andern Aufsatz («Die Gegenwart** 7. Apr. 1877) 
wiederholt hatte, fand zwar im Ausland und auch auf deutschem 
Boden warmen Beifall (s. TimpiU von Bukarest 2. und 3. März, 
«Neue Freie Presse*' 7. März, The Academy 17. März und 
19. Mai, L^Opinione 18. März, Curierul de lassi 25. März, 
La Gazzetta d'Italia 25. März, «Tagespost*' von Graz 7. April, 
«Allgemeine Zeitung*' 3. April, «Magazin für die Literatur 
des Auslandes* 7. April, La Perseveranza 9. Mai, La Na- 
zione 31. Juli, The Nation von New York 13. Sept., Bevue 
politique et littiraire 8. Dec. 1877 u. s. w.), aber keine Ver- 
wirklichung. 

S. 294, 3 ff. *Man hat mir in der Bomania (VI, 311) 
gelegentlich der Koproduktion meines Artikels den Vorwuif 
gemacht die Arbeiten von Mild y Fontanals vergessen zu haben. 
Es war dies nicht der Fall; nur rechnete ich sie in meinen 
Gedanken dem katalanischen, nicht dem kastilischen Gebiete 
zu. Auf letzterem haben neuerdings wenigstens die folk- 
loristischen Studien einen unerwartet lebendigen Aufschwung 
genommen, und wir dürfen prophezeien, es werden — wie 
überall anderswo — sich die linguistischen ihnen zugesellen. 

S. 330 u. Die Eisteddfod von Pwllheli hat in den kym- 
rischen Blättern eine Menge von Ausstellungen erfahren, die 
natürlich die Bedeutung des Festes im grossen Ganzen nicht 
schmälern. Die besten, kürzesten und witzigsten brachte der 
Herald Cymraeg von einem «Häring von Nefyn" (nämlich 
Mynyddog), z. B. dass Mr. Evans Broom Hall (ein vornehmer 
Herr) über Butterfässer urtheilt, während Hu Gadam (ein 
Pächter) da sitzt und nichts thut; dass die Preisrichter über 
die Chöre von allem Möglichen sprechen, ausser von den 
Fehlern und Vorzügen der Sänger ; dass die Richter über die 
Hauptpreise sich um die kleinen Preise bewerben. 

28* 



— 436 — 

S. 338, 10. Das Gebet lautete: 

Gib, Gott, Schutz, 

Und im Schatze Kraft, 

Und in der Kraft Yerständniss, 

und im Yerständniss Wissen, 

Und im Wissen Wissen des Sechten, 

Und im Wissen des Hechten Liebe zn ihm. 

Und in der Liebe zu ihm Liebe zu jedem Wesen, 

Und in der Liebe zn jedem Wesen Liebe zu Gott. 

S. 345 u. Taffy ist der englische Spottname für die 
Kymren (David), wie Savmy (Alexander) für die ScKottländer, 
Taddy (Patrick) für die Irländer. 

S. 363 f. Das kymrische Liedchen ist aus Cymru fu 
(Wrexham 1862) S. 362, 6; das toskanische aus Tigri^ I, 604. 
In meiner Schrift „Ritornell und Terzine*' S. 114 f. habe 
ich verschiedene Beispiele parodierender Ritomelle gegeben. 
Vgl. Cymru fu S. 491, 2 u. 3: 

Sieh dort meine Liebe anf dem Hfigel, Sieh dort meine Liebe im Thale, 

Eine rothe Rose und eine weisse Rose; Sanaagen und Schweinszähne, 

Die rothe Böse entblättert sich. Zwei Ffisse wie ein Pflughaupt, 

Die weisse Rose ist meine Liebe. Sie spricht wie eine Eule. 

*In einem Aufsatz Aimlogia entre los cantares alpinos y 
los andaluces {El Foik-Lore Andaluz, Set. de 1882) habe ich 
die metrische Gleichheit der kymrischen, friaulischen und 
spanischen Vierzeilen und die inhaltliche Verwandtschaft der 
letztem mit unsern Schnaderhüpfeln hervorgehoben, indem ich 
zur Veranschaulichung für die Spanier Einiges aus der Hör- 
mann'schen Sammlung in spanische Verse übersetzte. Inwiefern 
das Inhaltliche mit Rücksicht auf die Verwandtschaft ver- 
schiedener Dichtungsmasse untereinander nicht nur, sondern 
auch auf die Ausbreitung derselben Dichtungsmasse zu ver- 
werthen ist, habe ich, von der eben citierten Schrift abgesehen, 
in meiner Untersuchung über die Cantes flamencos (Zeitschr. 
für rom. Phil. 1881) darzulegen mich bemüht. Schon mit 
Hülfe dieses Mittels allein dürfte sich die Verpflanzung der 
Schnaderhüpfeln von den Alpendeutschen zu den Mitteldeutschen 
und zu den Alpenslawen nachweisen lassen. Gustav Meyer, 
welcher sich in neuester Zeit über die Schnaderhüpfeln und 
Aehnliches in anregender Weise verbreitet hat, zweifelt („Essays 
und Studien" S. 368) an dem von A. Grün angenommenen 
deutschen Ursprung der slowenischen vize ; aber aus J. Schei- 
niggs eingehender Abhandlung „über die Volkslieder der 
Kärntner Slowenen*' in der slowenischen Zeitschrift Kres (1885) 
wird derselbe klar genug. 



— 437 — 

S. 375. John Peter starb am 17. Jänn. 1877, von ganz 
Wales tief betrauert. Er war noch nicht 44 Jahre alt. 

S. 409 u. Auf den höchst spitzfindigen Unterschied 
zwischen „Wissen" und „Gelehrsamkeit" oder wie wir gwy- 
bodaeth und dysg sonst übersetzen mögen, brauche ich wohl 
nicht einzugehen. 

S. 423 0. Kymren und Bretonen lernen sich leicht ver- 
stehen; aber von Haus aus verstehen sie sich, von Einzelnem 
abgesehen, nicht. Darin hat gewiss Thomas Price (Carn- 
huanawc) Recht, welcher bei einer 1829 nach der Bretagne 
unternommenen Reise sehr darauf achtete; s. seine Literary 
Bemains (Llandovery 1854. 1855). Verschiedener Ansicht 
war allerdings der Graf de la Villemarque, aber seine Lieblings- 
idee einer Verbrüderung zwischen Kymren und Bretonen er- 
füllte ihn so sehr dass er Manches in etwas anderem Lichte 
sah als es wirklich war. Er und noch vier Edelleute aus 
der Bretagne erschienen 18.38 als Deputation, und zwar mit 
Billigung Ludwig Philipps, auf dem fünften Jahresfeste der 
kymrischen litterarischen Gesellschaft von Abergefni. Eine 
Rede Villemarqu^s erinnerte an die Schlacht von St. Just, 
in welcher die Kymren auf engUscher Seite und die Bretonen 
auf französischer sich einander an der Sprache erkannten und 
sich weigerten miteinander zu kämpfen, ja nach der Schlacht 
gemeinsam Kriegslieder zur Ehre ihrer Vorfahren sangen. Bei 
dieser Gelegenheit trug Villemarque auch ein bretonisches 
Festlied vor das er selbst gedichtet hatte. Diesem Feste ver- 
dankt einer der ersten französischen Dichter dieses Jahrhunderts 
eine Anregung; in Lamartines Recueillements poetiques (1839) 
lesen wir einen Toast auf Kymren und Bretonen, dessen erste 
Strophe so lautet: 

Quand Ü8 se rencontraient sur la vague ou la gr^ve, 
En Souvenir vivant d'un antique dipart, 
. No8 peres se montraient les deux moities d^un glaive 
Dont chacun d'eux gardait la symboUque pari. 
„Fr^rel" se disaient-ils, „reconnais-tu la lame? 
Est-ce bien lä Viclair, Veau, la trempe et le fil? 
Et Vacier qu^a fondu le mime jet de flamme, 
Fibre ä fibre se rejoint-il?" 

♦Meine „Keltischen Briefe" fanden im Lande des Humors 
eine Kritik deren letzte Worte ich wegen der darin den deutschen 
Gelehrten gegebenen Direktive mittheilen muss : How romantic 
a German professor can be if he is inspired like Prof, Seh. ! 
However^ instead of describing continually the unendurable 



— 438 — 

sennons, or the Sunday achools, where he was surprised to 
find ihat the Welsh know the Bible better than the Gennan 
Professors, or even the pair of dark eyes of a girl at Baia, 
which the professor found it worth whüe to foüow into the 
church (where, again, the sermon and the prayers were in- 
supportable), Prof, Seh, would have done better to read bociks 
and copy manuscripts, as a learned German should. 
{The Äthenaeum, 6. Juli 1878). Der Schreiber, der übrigens 
den Schluss meiner „K. Br.* (22. — 24. Juni) nicht berück- 
sichtigt oder nicht abgewartet hat, ist ohne Zweifel mit dem 
S. 346 erwähnten Bienenvater identisch. 



Inhaltsyerzeichniss. 



(A =: Allgemeine Zeitunff; J = Im neuen Beieh; 
N = Neue Freie Preise.) 

Seite 

I. Pompel" und seine Wandinschriften (J. 1872) . 1 

II. Virgil im Mittelalter (I 1873) 39 

HI. Boccaccio (N 1880) 49 

IV. Die Geschichte von den drei Ringen (J 1871) . 66 

V. Ariost (A 1875) 74 

-VI. Camoens (Festschrift, Graz 1880) 84 

Vn. Zu Calderons Jubelfeier (iV 1881) 103 

Vm. Goethe und Calderon (A 1881) 120 

IX. G. G. Belli und die römische Satire {A 1871) . 150 

X. Eine portugiesische Dorfgeschichte (JV 1878) . 180 

XI. Lorenzo Stecchetti {N 1879) 191 

Xn. Reim und Rhythmus im Deutschen und Romani- 
schen (I 1873) 222 

Xni. Liebesmetaphem (iV 1879) 236 

XrV. Das Französische im neuen Deutschen Reich 

(A 1871) 259 

XV. Eine Diezstiftung {A 1877) 292 

XVI. Französisch und Englisch (A 1875) .... 301 

XVn. Keltische Briefe (A 1876. 1878) 317 

Anmerkungen 427 



Drnck Ton C. H. Schulze & Co. in GräfenliAiniclieii. 



SSerlag t)Ott ftoBeti ^ppenieim in SBerlin. 

jBtan)ie9(, d^eotQ (^openl^agen), (jlnbwig <$of0erg uttb feine 

5ettöeit0flrett. TOt bem Silbe ^olbergS. 8«. VI u. 254 ©. 

gcl^. 4,50. — geb. m. 5,50. 
Btu^homil, fl., Dr. phil. (2ßicn\ ^erc^ SS^flTfe j^Q^ltei^. 8^ 

XII u. 387 @. ge§. m 6,oo. 
— ?irrt fttgfifi^e $i(Qietinneti. Sol^anna SBaiUie — eiifabctl) 

»arrett örotoniiig — @corge @Iiot. 8®. 244 @. ajj. 4,oo. 
€lje, Äatl, $rof. (^aHe); ^f otb SS^toit. 2. öeim. 5lii§g. 8». 

499 @. m. 6,00. 
(Baiipatt), ^bolft $rof. (Breslau), ^ef^i^U hex ^taücnif^tn 

Jiitetainx. S3b. I (bis einfd&I. Petrarca), gr. 8». VIII 

u. 550 @. m. 9,00. 
d^eiget, finitniio, $rof. (^Berlin) ^nfimini ititb anbere ^utlofa. 

12» VI u. 167 @. aw. 4,00. 
i§ilteliranlk, üatl, ^(Heit, #drßet iinb penft^eit. 6 Sänbe. 

8». ^rci§ b. S3b3. gcl^. 3». 6,00, geb. 3«. 7,00. 
^otteQQet, 3. 3v (3üri4), ^tiüf^e ^ef^i^te bet frattsafifd^en 

ilttfftttrtttfrttflTe. gr. 8». XII u. 400 @. SO^. 7,50. 
;aarptU$i, (ßttfiati (Q3erlin), ^efil^^te bei: Siöbtfi^ett <^tteraiut. 

@r. 8. 74 SBogen. 2R. 18,50. 
ÜitiHeU O^Dttft.t $rof., SRofniß }tit itntt^geff^^ie. gr. 8o. XII 

u. 467 @. a». 9,00. 
Cutttt, JlHolf, ^rof., S^af^inatoit S^twitta. Qin SebenS^ unb 

e^araftcrbilb. 8». 2 53be. XIV u. 246 ©. u. IV u. 291 ©. 

ayj. 7,00. 
«eww, ©♦ fl., (33erf. oon @oet]^c*8 2eben), ^ef^i^ie hex Sf^Wo- 

fo)i9ie 90n 'SQafes 6{5 ^omle« 3n'8 SDeutfd^e übertragen Don 

Slrnolb S'iugc. 
S3b. I. »Ite iriilloropWe. gr. 8». VIII u. 533 @. 3». 8,oo. 
„ II. »euere iHilofopliie. gr. 8«. 811 @. m 13,oo. 
Mtt^tt. ®tt(lati, $rof . (©ras), §ffa^s tt. ^lubien jur ©prad^gejd^id^te 

unb SBolfSfunbc. 8o. VlUu. 412 ©. gcl^. aji. 7,00, geb. m 8,00. 
Il<tl)tiiir4l, (K^. (Berlin), Per ^iaaUminißex ^rei^ett von ^ebfift 

ttnb ^ettgens 9d9ere$ ^f^ufniefen im ^eitafter ^riebti^ 

bes ^rogen. 2. ©erm. STufl. Vni u. 234 ©. gr. 8«. 2^1. 3,oo. 
^d^ipptXf %^ $rof. (^ieu), gSilTiititt PitnOar. <Sein Zehen unb 

feine ©cbid^te in Slnalpfcn unb auSgeroäl^Iten Ueberfefeungen 

nebfl e. 5lbri6 ber mtfd&ottifd^cn ^oefte. 8«. XVHI u. 410 @. 

gel^. a». 7,00, geb. Tt. 8,00. 
Schnchardt, H., Prof. (Graz), Ueber die Lautgesetze. Gegen 

die Junggrammatiker, gr. 8**. VI u. 39 S. M. 0,80. 

)$tt9enl)eim, )9«, iinffä^e unb bio^xapf^if^t j»ß{$)en sutfran- 

loUfd^en ^e(4me. ö^ Vin u. 338 ©. ajj. 4,50. 
itn Bünk, f^ttn^axhf $rof. (©tragburg i. @.)/ ^efc^ic^le be( 

fn^tif^m jaUexatnx. @rfler $anb : $Bi3 au SBiclif B auftreten. 

gr. 80. Vni u. 470 @. ÜJl. 8,00. 
ti:»tt, d^eorot $tof. (pregben), §oKm wix unfext ^iatntn 

bmateni gr. 8<>. IV u. 40 ©. ayj. l,oo. 
9iua(f S^tiefe eiitei^ äßieUfd^at jie^ets (dou ^. ^iUebranb). 

80. IV u. 118 e. ge^. 2». 2,00, geb. Tl. 3,00. 



aSerlag Dort ^edirg. %eimet in 95etlin. 



herausgegeben DOn 

^. tioti Srcttfd^he unb i^* DelbrüÄ 

(^cilfd^vift für ^oUtif, J^imjl nub SSiffeiifd^aft.} 

Btt iBüti^i Qon 6 ül^itat^^eften M. 9,00. 

^eftellungeu TPerben von aHen iBud^l^aublimgen imb ^offanflaften 

entgegengenommen. 

^ie .g^efte be§ 56. nnb 57. 93anbeS entgolten n. a. folgenbc 
gröf^eve 2lii(fäBe: f)Oudl, Cß.: 5)i€ ©renken jroiid^en ^3)?alerdi unb 
^;^a[lif unb bie @e(e^e beS D^ieUefS. — Joetting, (5.: ^ic a?er= 
roaltung ber <5tabt SSerliui — 5^ö*^^«"=5^<^öcn. — flelbriiib, %: 
Tnliij giiebric^ ÄavI. -- jtogge^ D.: D. @mtl ^ermann, weil. 
^;5vä[ibent be§ eo. Dberfirdöenratl^eS. — ^omljak, ®.: SDic ent= 
roicflung ber jäd^fifd^en 5lmt§ocrfaffuufl im QSergleid^ ^i^ bcr Branben* 
burgii'd^en ^veiSüerfaffung. — ©er ^of ton ?)ilbij ^ ÄioSF. — 
SiVfri), fr.: SDie ©d^Iugroortc . be§ ®oetBe*[d^en Jaufl. — ^amp* 
rfdjt, %: ©a§ ©d^icffat beS beutfd^en ©aucrnjianbeS bis 3U ben 
agrariid^eii Unvul^en be§ 15. unb 16. Sal^rl^unbcrtS. — prner, Jf,: 
^ie ijiifunft ber tüiffeiifd^aftlic^en |)9gienc in S^eutfd^Ianb. — 
Seetk, (0.: ©er erf!e 33arbar auf bem tömifd^cn Äaifertl^roiic — 
:5ttn, 0. lt.: Oiouffeau al§ 'DOhififer. — Jaiig, m*: Ä. gr. «»ciu^arb 
im anSraävtigen TOniflerium gu ?Pari§. — Jfdieti, IFn : SDic neuere 
Sovfd)nng über 9Jiaria (©tiiart. — ®rettfrf)ke, %: ti. 33ricfc von 
(S. 9}L 5Uubt au gvaug |)ege«)itfd&. — putelflfibt, ®.: ©trafiuflis 
unb öffeutlid^e 9}^einung. — SDaS l^eutige Jlt^en unb feine 33e= 
n)oI)uer. — ©ufjmann, % : Jol^ann ^ieronpmug ?)elin. ^in 33ilb 
aug ben .£)o'^enlo]^e'fd)en JKeligionSmirren beS üorigen S^'^^'^^^^ 
bevts. — ppeiberer, ®.: 21. (§;. ©iebermann. — Zvtitnkt, S-: b. 
^ebe gur geier ber fünfunb^^roansigjä^rigen iRegieruug (Seiner 
5Diajeftät be§ ^aiferS unb ÄöuigS 'SBiJl^elm I. — ©ic gftcform 
nnferer ©timuafien nad^ jefuitifd^er ^Infd^auung. — flruns, Ä.: 
2BanbIungeu innerl^alb ber flaffifd^en 2(rd;äoIogic. — ^tieda, JD.: 
(5^en)erblid)e ^»fiänbe in ber ü^egenwart. — Btegemaitn^ 11.; 5)ie 
()fonomi[d)e ©runbaiifd^auung von Äarl 3Karr. — ^a^on, %.: 
i^eitgeMüjfijd)e OtdigiouSp^ilofopl^ie. — Qm(^t\^\^te be§ rufflf(|en 
t^iufUiffeä in Elften. — Delbrüdi, 'S. : Ueber bie Söebeutung ber 
(JrtiubuHgeu in ber @efd)id)te. — ©ie gef(§id)tlici^e ©tettung beS 
mofaifdjcu ©efe^^eS nad) ben neuereu altteflamentlid^eu gorfd^ungen. — 
S3erliu uiib fein 9Serfel;r. — Jaöftler, ©.: granjöfifd^e 3Ka§fen. — 
JlalTf, Cf.: (Jutroidlung unb ^rifiä be§ lolrtl^jt^afuid^en 3nbioibuaU§= 
nuig in ^nglenib. — Jlllali, ®rof: ©ii Dotation unferet £anb^ 
fd;ulen. — ©er @ang be§ ^ulturfampfeS. 



* : — ' 

sDritcf von 6. {\ (Bd^ulje & (So. in (Srfifeitl^oinid^en. 



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