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ROMANISCHES
UND
KELTISCHES.
GESAMMELTE AUFSÄTZE
VON
HUGO SCIIUCIIARDT.
BERLIN.
VEKLAG VON ROBERT OPPENHEIM.
1886.
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HARVARD COLLEGE LIBRARY
FROM THE LIBRARY OF
FERNANDO PALMA
DECEMBEI^ 3, 1928
4869.
TJebersetznngsreoht yorbelislten.
MEINER
LIEBEN MUTTER
ZUM
GEBURTSTAG.
Äis ich im Schatten der heimischen An-
lageny vor Ungeduld brennend den Libellen
nachzujagen oder den Zirbelnüssen nachzu-
steigen^ mit Dir Les Petits Bearnais
lesen musste, als jede Bemühung mir die rich-
tige Aussprache von aimable beizubringen,
sich als vergeblich erwies, damals war nicht
daran zu denken dass ich jemals in den
romanischen Studien irgend welche Erfolge
erzielen würde. Auf solche die mich wahrhaft
befriedigten, kann ich auch jetzt nicht hin-
blicken; das Meiste und Beste blieb nur ge-
wollt, und zudem hege ich über alle Produktion
unseres wissenschaftlichen Kleingewerbes ziem-
lich pessimistische Ansichten. Nur das ist uns
ja wirklich und dauernd werth bei dessen
Schaffen unsere Pulse höher geschlagen haben ;
es verknüpft sich mit unsern theuersten Erin-
nerungeny ja seine Wurzelfasern verzweigen sich
bis in jene Zeit zurück da unser geographischer
Horizont nicht weiter reichte als die Stimme
der sorgenden Mutter, und kaum in nebelhaften
Umrissen ein einziges wunderbares Sonnenland
auftauchte , das uns die süssen Apfelsinen und
die duftenden Vanillenschoten sandte. Wenn
bei dergleichen Aufsätzen wie die hier gesam-
melten sindy das persönlich Empfundene und
Aufgefasste in der Seele Anderer keine mit-
tönenden Schwingungen hervorzurufen vermag,
dann besitzen sie kein Anrecht auf die Öffent-
lichkeit; die Absicht populärer Belehrung
würde mit Unrecht und wohl auch vergeblich
angeführt werden. Daher habe ich, von ein
paar Strichen und Wortverbesserungen ab-
gesehen, in diesen Aufsätzen, die ein Jahr-
zehnt ausfüllen^ Alles belassen wie ich es zuerst
niedergeschrieben hatte. Am wenigsten habe
ich an gewissen Äusserungen rühren wollen
welche seiner Zeit bei manchen meiner Lands-
leute ernsten Anstoss erregten. Denn sie sind
aus dem Bemühen entsprungen in nationalen
Dingen gerecht zu urtheilen und unduldsam
nur gegen die Unduldsamkeit zu sein; und
stets wird von dem Traumbild eines auch noch
so fernen allgemeinen Völker friedens durch all
das Wirrsal hindurch das uns bedrängt oder
bedräut y ein Schimmer leitend und erleuchtend
zu mir dringen.
Graz, den 27. Mai 1886.
I.
Pompei und seine Wandinschriften.*)
Von den Gestaden des klassischen Alterthums,
die wir sonst nur aus weiter Ferne sehnsüchtig be-
trachten, streckt sich uns eine freundliche Landzunge
so nahe entgegen dass wir vermeinen sie mit den
Händen zu greifen. Es ist Pompei. Zwar Vieles und
Schönes haben wir von Griechen und Kömern über-
kommen. Aber fast alles dieses war gleich anfangs
mehr auf die Nach- als auf die Mitwelt berechnet,
ja nicht weniges auf jene allein: ruhmredige Zeugnisse
von Haupt- und Staatsaktionen, riesige Auswüchse
kindischer Eitelkeit, Denkmäler des Todes und nicht
des Lebens. Die Zeit, vom menschlichen üebermuth
herausgefordert, verschonte nichts. Zu Pompei hin-
gegen empfängt uns die Vergangenheit, nicht versteint
und verbeint, sondern lachenden Antlitzes im frischen
Dufte der Jugend, nicht in der Nachweltstoilette, der
purpurverbrämten Toga, sondern im bescheidenen AU-
tagsgewande, hie und da sogar im tiefsten Neglige.
Sie verschmäht es durch die steife Miene vornehmer
*) Corpus inscriptionum latinarum. Vol. IV. Inscriptiones
parietariae Pompeianae Herculanenses Stdbianae, edidit Carolus
Zangemeister. Berolini 1871. Auf dieses Werk beziehen sich
die im Folgenden citirten Nummern.
Schuchardt, Komanisches u. Keltisches. 1
__
Würde oder gar altvaterischer Ehrbarkeit uns in ge-
messener Entfernung zu halten; gleich einer liebens-
würdigen Hausfrau bewirkt sie dass wir uns sofort
vertraut und behaglich fühlen. Mit Recht singt der
Dichter :
Aber ein lockenumkräuselter Knab' wie der lachende Amor,
Thanatos, scheinst du mir hier in dem flimmernden Schutte
Pompejis.
An Bedeutendes reiht sich hier Geringes und Ge-
ringstes, und unsere Einbildungskraft braucht nicht,
wie zu Rom, zwischen Tempeln und Mausoleen und
Triumphbogen ihre Gespinnste zu ziehen, um die Stel-
len auszufüllen wo „das Volk" wohnte. Gerade in
dem Geringen und Geringsten birgt sich das eigent-
liche Pompei. Wäre in tausend Jahren unsere neue
Kaiserstadt mit Sand zugeweht, und auswärts jede
Kunde von ihr erloschen, würden wir dann nicht eher
aus einer einzigen unversehrten Litfasssäule — ea:
ungue. leonem — „Berlin wie's weint und lacht," zu-
rückkonstruieren als aus den Erzbildern vaterländischer
Helden und den Gerippen von Kirchen und Theatern?
Mehr als auf allem Einzelnen was uns geboten wird,
beruht Pompeis jugendlicher Reiz auf dem Zusammen-
hang in welchem es uns geboten wird, wenn auch
so Vieles um der eigenen Erhaltung willen aus die-
sem Zusammenhang herausgerissen worden ist. Durch-
mustern wir die im napoletanischen Museum aufge-
speicherten Schätze, wie bald ermüden wir! Hier
werden wir zu einem vergleichenden Studium von
Venusstatuen gedrängt, dort machen wir an einer
Reihe von Büsten einen Zwangskurs römischer Kaiser-
geschichte durch; von Mosaiken übersättigt, stürzen
— 3 —
wir uns in das mare magnum der Vasen ; geschnittene
Steine und thönerne Lampen umringen uns in flim-
merndem Eeigen. Leb- und leibhafte Fülle ist ab-
getödtet und zergliedert, eingetheilt und verzeichnet,
zu Nutz und Frommen dem Künstler und dem Ge-
lehrten, aber dem nur Geniessenden nicht zur Erbauung.
Den zieht es nach Pompe! , das ihm des Lebens
glänzende Mischung kredenzt, und von diesem Trank
zu schlürfen wird er so leicht nicht müde. Haben
wir unsere Augen angestrengt, um auf dem rothen
Stuck die Krikelkrakel eines pompejanischen Schul-
jungen zu entziflFern, so lassen wir sie auf der
anmuthsvollen Gestalt der Tänzerin nebenan ausruhen;
über den greifengetragenen Marmortisch blicken wir
hinweg zu dem Silen in der mosaik- und muschel-
verzierten Brunnennische; von den Wagenrillen des
Lavapflasters, die uns mit wunderlichen Gedanken über
pompejanische Fahrten erfüllen, empor zu einem sinn-
reichen Gewerbszeichen oder einem eindringlichen
Wahlaufruf. Hüben ragt der dampfende Vesuv; der
uns diese Kostbarkeiten so sorgfaltig verpackt hat;
drüben, jenseits der üppigen und belebten Sarnoebene,
dehnt sich im bläulichen Scheine die Kette des Monte
Sant' Angelo ; dort gar schimmert das herrliche Meer,
dessen Götter und Göttinnen auf diese Wände ver-
zaubert sind, und droben wölbt sich der leuchtende
Himmel, der einst nur zwischen Dächern, Säulen und
Laubwerk herniederschaute und diesen Bildern das
rechte Licht, den rechten Schatten zutheilte. Natur
und Menschenwerk klingen schön zusammen, und wir
die wir mitten darinnen stehen, wir erwäimen uns
mehr und mehr, wir fühlen mit, wir pompejanisieren
— 4 —
uns. Von döm Gemälde um uns belebt, beleben wir
es wiederum, indem wir die Lücken ergänzen und das
Verblasste auflFrischen. Dabei tauchen wir getrost
unsern Pinsel in den Farbentopf der Gegenwart ; denn
die Zeit ist in diesem Paradiese nur zögernden Schrittes
gewandelt. Lassen wir uns durch all das Pusten,
Stampfen und Hämmern nicht beirren ; das Alte fristet
sich mit Zähigkeit nicht nur da wo ein cikadenhaft
eintöniger Gesang das Mais- oder Baumwollenaushülsen
begleitet, nein, auch in dem städtischen Getriebe von
Castellamare und Neapel.
Freilich die Kunst des Alterthums ist erloschen.
Die Hellenen Castellamares haben sich heutzutage
mit Besserem zu beschäftigen als mit Karniessen und
Säulenordnungen. Aus den weissen, oben kissen- oder
walzenförmig geschwellten Häuserwürfeln wie sie rings-
umher ausgestreut liegen, ist es schlechterdings un-
möglich, ein pompejanisches Urbild herauszudifteln.
Nur Eines , die ausserordentliche Lichterspamiss,
scheint ihnen aufgeerbt, und die viereckige, meist
gegitterte Oeffnung über der Thüre, durch welche der
Sonne immer der Eingang verstattet bleibt, erinnert
an das Taubenschlagfenster im Hause des Labyrinths.
Und wie in der pompejanischen Hauskapelle Lampen-
licht das natürliche ersetzte, so muss es dem nordi-
schen Fremdling dienlich und erfreulich sein dass an
gewissen Tagen das Madonnenbild seiner Stube durch
eine Oelflamme geehrt wird, wenn auch den heiligen
Strahlen gegen die Nereiden und Mänaden welche
seinen Schlaf beunruhigen, keine Macht innewohnt.
In den Strassenwinkeln ist die erleuchtete Madonna
oft die Nachfolgerin der zwölf Götter, um nachdrück-
— 5 —
lieber statt des einfachen Kreuzes und der beiden
geringelten Schlangen den Vorübergebenden das extra
meite einzuschärfen. Diese Reinlicbkeitsvorkebrung
von zweifelhaftem Erfolge reicht ziemlich weit nach
Norden hinauf, ebenso wie die uns befremdlichere
Nachbarschaft, oft völlige Verschmelzung von Abort
und Küche, von welcher uns schon Pompe! zahlreiche
Beispiele bietet.
Vielfach hat sich an Geräthen, wie Lampen,
Kohlenbecken , Glasflaschen , alterthümliche Bildung
erhalten; auch das so auflFallende Pferdegeschirr
stammt gewiss nicht von heute und gestern, und jene
gefährlichen Gefährte Neapels auf denen kunstgerecht
je ein Dutzend Menschen balancieren, sind vielleicht in
dem seiltänzerberühmten Pompe'i ersonnen worden.
Von Anderem zu schweigen. Kein Wunder daher dass
manche jungen Misses welche die von den Führern
und Arbeitern weggeworfenen Thonpfeifchen zu sich
stecken, ihr Gewissen mit der Schuld eines antiqua-
rischen Diebstahls belastet fühlen.
Mehr noch dauert in Hantierung, Gebrauch, Aber-
glauben das Alterthum fort. An seine dunkelste Seite
gemahnt uns diese armselige Gestalt welche die Oel-
mühle dreht, an seinen heitersten Glanz jene blumen-
geschmückte, glühende Tänzerin, Dass die Zeichen-
sprache, welche der Napoletaner in einer Weise pflegt
als ob seine Lunge nicht die kräftigste der Welt
wäre, seit uralter Zeit aus einer Hand in die andere
übergegangen ist, könnten wir aus eines napoletanischen
Gelehrten Abhandlung mit viel Gründlichkeit erweisen,
und gegen die von Alexandre Dumas und Theophile
Gautier umdichtete Jettatura diente schon zu Pompei
— 6 —
der Phallus als Abwehr, welcher nun sich sittsam
zum Hörn oder Geweih umgewandelt hat. Und wer
eine ganz heidnische Scene will, der betrachte L. Ro-
berts bekanntes Bild, ob ihm auf demselben nicht eher
geschwungene Thyrsusstäbe und bacchische Freude
entgegenleuchten als andachtsvolle Miene und Haltung,
wie sie die Gottesmutter von ihren Verehrern ver-
langt.
Die Wurzel aller dieser Kundgebungen ist natür-
lich der Volkscharakter. Er zeigt uns die Landschafts-
stimmung in das Menschliche übertragen : nichts fehlt
ihm, weder der Sonnenschein, noch der frische See-
wind, noch das Rollen der Wellen, noch das Toben
des Vesuvs. Daher hat er, wie die Landschaft selbst,
unverändert so mannigfache Fremdherrschaft über-
standen, daher haben sich vielmehr an ihm die Härten
und Schärfen ausländischen Wesens erweicht und ab-
geschliffen. War auch Pompeis Strassenleben , bei
der verschiedenen Bauart der Häuser, nicht einmal
verhältnissmässig so rege wie heute das Neapels, sei es
auf dem Toledo oder zu Santa Lucia oder in den engen
Hafenstrassen oder vor Porta Capuana — es trug
ohne Zweifel denselben Stempel. Dieser Menschen-
schlag wird — heute wie einst — von der Luft und
der Witterung und allem Druck von oben so wenig
darniedergedrückt, so wenig eingeengt durch der Stras-
sen und Wohnungen Enge und alle Enge der Ver-
hältnisse dass er immer zwanglos und gefallig sich
bewegt und seinen Gefühlen in Rede und Gebärde
vollen Ausdruck gestattet. Wie auf den Strassen, so
in den kleinen Theatern und in den Kneipen, be-
sonders im Jesuitenkeller; so selbst in den Tribunali.
— 7 —
Der Fremde welcher die Tribunali besucht, findet
eine unruhige, plaudernde Menschenmenge in Sälen
und Gängen sich umherschieben; da werden Cigarren
verkauft, da knusperiges Backwerk, da Federn und
Papier, und er kann sich an den nächsten Tisch setzen,
um nach Hause zu berichten dass hier nichts von
jener beklemmenden Luft nordischer Gerichtshöfe zu
spüren ist, nichts von jener unheimlichen Stille, deren
Eindruck durch das Knirschen der Feder, das Bau-
schen des Streusands und irgend ein langgezogenes
Räuspern wahrlich nicht gemildert wird. Noch besser
mag es in den pompejanischen Tribunali — wir
meinen nicht die sogenannten Tribunali, sondern die
Basilika — zugegangen sein ; hundert Spuren von der
heitern, ja ausgelassenen Stimmung der hier Weilen-
den sind uns übrig geblieben, und man möchte fast
glauben, Venus, die jenseits der Strasse thronte, hätte
bis herüber in den Bereich der Gerechtigkeit ihr
Scepter geschwungen. Nur ist zu bedenken dass,
wenn das Leben im Castel Capuano dem einer Börse
gleicht , die alte Basilika in der That die Bestimmungen
einer Börse und einer Gerichtsstätte in sich vereinigte.
Bestimmte volksthümliche Gestalten des heutigen
Neapels in Pompe! zu entdecken oder vorauszusetzen
hält schwer; aber ohne Zweifel wuchs hier das Holz
aus welchem jene geschnitzt sind. Eine Art Lazzaroni
hat die alte Stadt entschieden besessen, d. h. Leute
die an den Wänden lehnten und sich die Sonne in
den Magen scheinen Hessen, sich übrigens dadurch
vor ihren Nachkommen auszeichneten dass sie nicht
bloss in figürlichem Sinne so gerieben und mit allen
Wassern gewaschen waren. So war, gegenüber jenem
- 8 -
Kaufmannshause welches das Haus des Siricus heisst,
ein beliebtes Plätzchen für süsses Nichtsthun und
gaffende Neugier; vielleicht gab es auch dann und
wann einen kleinen Dienst zu leisten und einen Sesterz
zu erhaschen. Der Apotheker aber vor dessen Haus
diese Siesten stattfanden, ärgerlich darüber und wohl
besonders für den frischen Glanz seiner Wand be-
sorgt, malte an diese zwei riesige Schlangen an, die
jedem Schrecken, geschweige Ehrfurcht, einflössen
mussten, und schrieb, weiss auf roth, einen nicht ganz
tadelfreien Hexameter darunter, welcher besagt: „Für
Müssiggänger ist dies kein Ort; fort, du Herum-
lungerer!" Auch camorristische Bestrebungen regten
sich schon in Pompe!; wenigstens, erfreute sich ein
gewisser M. Cerrinius Vatia der Ehre seine Wahl zum
Aedilen nicht nur von den sehr ehrbaren Zünften der
Obsthändler, der Sackträger und der Salzarbeiter und
den minder ehrbaren der Spätkneiper und der Schläfer,
sondern auch von den ganz und gar nicht ehrbaren
der Spitzbuben und der Dolchbrüder befürwortet zu
sehen.
Nur ein Wesen kennen wir das schon Pompe'is
bessere Tage erblickt hat und heute noch in kräftiger
Gesundheit lebt : es ist unser Freund von San Carlino,
Pulcinella. Wir wollen nicht erörtern inwiefern die
Commedia deir arte aus der alten Atellana erwachsen
ist, wir wollen nicht untersuchen ob das Urbild von
Pulcinellas reizendem Antlitz sich wirklich auf einem
pompejanischen Säulenknauf vorfindet; wir lassen uns
am unmittelbaren Eindruck genügen: mit seiner
Papageiennase, seinem weissen Anzug, seinem spitzen
Hut, besonders aber mit seinen Lazzi und seiner ver-
— 9 —
gnüglichen Redeweise, seiner ganzen Art, die ohne
Verständniss für eilfertige Neuheit ist, gibt sich uns
Pulcinella als den Bürger einer untergegangenen Welt.
Man hat Pompei auf verschiedene Weise verherrlicht,
in der erzählenden Dichtung, im Roman, in der Oper,
doch immer unter dem Schatten des Todes. Wäre
uns Dichterkraft verliehen, wir würden nur das lustige
und glückliche Pompei in einem atellanischen Spiele
feiern. Unser Held wäre dann Pulcinella, freilich ein
niedriggeborner, etwa der Sklave eines reichen Pom-
pejaners, wie er von diesem am frühen Morgen zu
allerlei Besorgungen ausgeschickt würde, wie er vor
dem „Elephanten" des Sittius die Bekanntschaft eines
daselbst logierenden Fremden machte und sich ihm als
Führer durch die Stadt anböte, wie er ihn dann zu
allem Sehens-, Essens- und Trinkenswerthen geleitete
und über manches Gläschen „Warmes", über manchen
Blickwechsel mit schwarzäugigen Schönen seine ganze
Sklavenschaft vergässe, wie er eine Kette von Ver-
wicklungen und Verlegenheiten anzettelte und schliess-
lich, zu seinem Herrn zurückgebracht, von diesem —
ganz im Geiste der echten Pulcinellkomödie — mit
einer weidlichen Tracht Prügel empfangen würde.
Gab es je ein Schlaraffenland, so war es das
welches den gefrässigen, dummschlauen Burschen, den
Pulcinella, geboren hat. Ja, zu den Füssen des Feuer-
berges lag und liegt, ohne dass damit dem campani-
schen Gewerbfleiss zu nahe getreten werde, die wahre
Cuccagna; die Römer sagten Campania felix. Da
hauste ein Menschengeschlecht, kunstsinnig und ge-
bildet, aber zugleich verweichlicht und in üppige Laster
versunken. Statt auswärtiger Politik beschäftigten sie
— 10 —
Reibereien und Späne untereinander, die sich gelegent-
lich in einer blutigen Prügelei, wie der zu Pompe!
im Jahre 59 n. Chr., gipfelten. Besonders standen
die Pompejaner mit den Nucerinern auf gespanntem
Fusse; mit jenen hielten es die Pithecusaner , mit
diesen die Puteolaner und die Campanier überhaupt,
was nicht sehr zu Pompeis Gunsten spricht. Viel-
leicht sangen die Nachbarn damals auf Pompe'i einen
ähnlichen Spottvers wie man heute auf Scafati singt:
Scafati, schifeta,
MaV acqua, mala gente,
Sino alV erha e malamente,
indem so ein Ueberfahrtsplatz (von scafa) zu einem
schmutzigen Ort (von schifo) entstellt wird. Wenige
Jahre nach gedachter Prügelei thaten sich die ersten
Anzeichen eines göttlichen Strafgerichtes über Pompe!
und die Nachbarstädte kund. Aber die Leichtsinnigen
achteten dieser Warnung nicht gross. Wie jene kleine
Pariserin hatten sie auf die Frage: ,,was ist ein
Vulkan?" die Antwort: „ein Ding auf welchem man
tanzt." Sie tanzten und schwelgten weiter. „Da liess
der HErr Schwefel und Feuer regnen vor dem HErrn
vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra." Wie
viele Gerechte diesem Feuerregen entrannen, ob Christen
darunter waren, wer weiss es! Wohl keimte neben
andern morgenländischen Glaubenslehren auch die er-
habenste schon zu Pompe!. Der Eindruck der grauen-
haften Verödung musste unter den Geretteten und
unter den umwohnenden das rasche Wachsthum dieses
Keimes fördern, und so mag pompejanischem Samen
das heilige Blut das auf der Höhe von Pozzuoli ver-
spritzt wurde, entstammt sein, und das heidnische
- 11 -
Pompei sich in dem christlichen Pompe! bei San
Gennaro de' Poveri verjüngt haben.
Was nun vor Allem ist es was uns Pompeis
Peccadillen aufdeckt? was uns sein tägliches Trachten
und Treiben veranschaulicht? den Charakter dieses
Völkchens in das Sonnenlicht rückt? was die rasch
verhallenden Rufe und Reden der Strasse im Fluge
festhält und uns überliefert? und so die Reihe vieler
Jahrhunderte uns zu einer kurzen Spanne Zeit zu-
sammenschiebt? Es ist das Zufälligste, Vergänglichste^
Unschönste. Es sind die Wandinschriften, besonders
die Kritzeleien, die tot scriptomm taedia^ wie sie^
solchen scriptores selbst zufolge, zu Pompei bezeichnet
zu werden pflegten. Erwerben sich „die Narrenhände
welche Tisch und Wände beschmieren," wenig Dank
bei der Mitwelt, so möchten die Nachlebenden sie
herzlich schütteln um dessentwillen was sie gethan
haben; ihr Werk wird durch die Zeit geadelt. „Unter
deren plastischer Hand werden," wie Washington Ir-
ving sagt, „ Kleinigkeiten zu Gegenständen von Wich-
tigkeit ; der Unsinn eines Zeitalters wird die Weisheit
des andern, die Seichtheit des Witzlings erhebt sich
zur Gelehrsamkeit des Pedanten."
Alles Niedergeschriebene erscheint wesentlich von
doppelter Art. Entweder ist es durch keine ihm an-
haftende Bedingung in seinem Umlauf unter den Men-
schen gehindert — wir nennen es Brief oder Buch,
je nachdem es auf die Theilnahme Einzelner oder die
allgemeine berechnet ist — oder es gehört einem be-
stimmten Orte fest an, und meistens auch durch eine
- 12 —
innere Beziehung zu ihm ; dann nennen wir es Inschrift.
Eine Abzweigung der Inschrift ist die Aufschrift auf
beweglichen Gegenständen. Diese erniedrigt sich einer-
seits zum Stempelzeichen, andrerseits, indem ihr Trä-
ger mehr zu ihrem Schmuck als sie zu seiner Erläu-
terung dient, nähert sie sich der erstgenannten Klasse
an. Mit diesen äusserlichen umständen hängt nicht
nur die Wahl des Stoffes auf welchem, und desjenigen
mit welchem geschrieben wird, sondern auch die Form
und der Gehalt des Niedergeschriebenen zusammen,
aber keineswegs vermittelst zwingender Npth wendigkeit.
Unter den Inschriften heben sich die eigentlichen
Inschriften hervor, die Denkmäler, welche das Anden-
ken an eine Sache oder eine Person, an ein Ereigniss
oder eine Verordnung erhalten sollen. Unter allen
Völkern haben sich die Eömer die Meisterschaft in
der inschriftlichen Darstellung erworben. Nicht nur
dass sie den Theil der Welt der ihrer Herrschaft
unterworfen war, mit Inschriften besäeten, dass sie,
soweit nur die Standarten ihrer Legionen vorwärts
drangen, steinerne Zeugnisse ihrer Gegenwart aufrich-
teten; sie erhoben auch die Kunst Inschriften abzu-
fassen zur höchsten Vollkommenheit — das Redne-
rische und Ruhmredige vereinigte sich mit der scharfen
Kürze welche auch der römischen Rechtsformel eigen
ist, zum Lapidarstil; dieser ist eine römische Schöp-
fung. Die Freude am eingegrabenen Buchstaben ist
in Italien, besonders in Rom, bis heute lebendig ge-
blieben; die Abfassung von Inschriften bildet ein
eigenes Gebiet schriftstellerischer Thätigkeit, und wer
hier an Geschmack und Gewandtheit Andere zu über-
ragen meint, beglückt wohl, unsern Hochzeits- und
— 13 —
Geburtstagsdichtern nicht unähnlich, Freunde und
Menschheit mit den im Druck gesammelten Früchten
seiner epigraphischen Muse, unser Norden zeigt sich
wenig inschriftenlustig; nur der Grabschriften kann
die fromme Anhänglichkeit an die Todten nicht ent-
rathen, wiewohl sie meist darauf verzichtet ihnen den
Charakter öffentlicher und unvergänglicher Denkmäler
zu verleihen. Wo aber unter Deutschen der Katho-
licismus herrscht, da begegnen wir einem weit regeren
Inschriftensinn, den mit manchem andern Stücke Bö-
merthums die Kirche herüber verpflanzte.
um diesen Kern von disciplinierten und unifor-
mierten Inschriften herum lagert sich unübersehbar ein
zuchtloser und buntscheckiger Tross. Jene paradieren
vor dem Leser; sie schreiben ihm vor was er sich
denken soll. Diese genügen schon ihrem Verfasser;
sie verkörpern unmittelbar das was er selbst denkt,
und er bedarf keines Stilisten und keines Steinmetzen
zur Vermittlung. Doch welch ungeheurer Abstand
wiederum zwischen den Buchstaben die der Schulknabe
in die Tafel schnitzt, während die Erzählung von
Alexanders des Grossen Thaten wie ein dumpfer Lärm
an sein Ohr schlägt, und dem „lieber allen Gipfeln
ist Ruh'" welches der Dichter wie eine Beschwörung
innerlicher. Stürme auf die Bretterwand der Waldhütte
aufzeichnet. Dort der unterste und einfachste Ge-
danke, der des Ichs, oder kaum dieser; denn die
Wurzel des Triebes ruht im Reiche des ünbewussten.
Auf einem angebornen Bedürfniss ist die stetige Ge-
wohnheit begründet die Gedanken zur sinnlichen Dar-
stellung zu bringen, und daraus entspringt dann und
wann das neue Bedürfniss die Mittel dieser Darstellung
- 14 —
ohne jeden Zweck in Wirksamkeit zu setzen, sich der
Sprache und der Schrift ganz mechanisch zu bedienen.
Die unsichtbare Luft, der zerthauende Schnee, der ver-
wehende Sand verschlingen unzählige solcher gedanken-
losen Schreibübungen, die sich auf festerem Stoflf in
bewusste zu verwandeln pflegen. Am häufigsten wird
-der eigene Name niedergeschrieben; zunächst keines-
wegs für die Augen Anderer, vor denen er sich oft
geradezu versteckt, für die er oft, bloss durch die
Anfangsbuchstaben angedeutet, ein Bäthsel bleibt.
Wir lieben es uns in den Zeichen welche unsere
Person bedeuten, träumerisch zu bespiegeln und wir
glauben durch sie eine besondere Beziehung zwischen
uns und den Dingen oder Orten herzustellen. Diesen
Verewigungen widmet R. ToepflFer in seinen Nouveaux
voyages en zigzag einige angenehmen und treffenden
Betrachtungen. Besonders deutlich nehmen wir dieses
Selbstgenügen wahr wo der Gedanke des Ichs in dem
Gedanken an das andere Ich aufgeht, wie wenn etwa
der einsame Spaziergänger die Buchstaben seines Sehn-
^uchtslautes mit kräftigen Messerschnitten dem ver-
schwiegenen Busen einer Buche oder einer Tanne an-
vertraut, unbekümmert darum wie bald diese schlanken,
tiefen Züge, in welche sich statt des seinigen das
Herzblut des Baumes ergiesst, verknorren und ver-
wachsen werden. „Ich schnitt es gern in alle Rinden
ein, ich grub' es gern in jeden Kieselstein", singt der
Liebende, nicht um Andere sein Glück wissen zu
lassen, sondern weil er es irgendwie ausströmen muss.
Aber dieser naive Standpunkt wird überwunden. Das
Gefühl gelesen zu werden steigert sich zum Wunsche ;
4er Wunsch wird der einzige Antrieb. An Orten
— 15 —
z. B. die der Ruhm geweiht hat,, oder deren Besuch mit
besonderer Anstrengung oder gar mit Gefahr verknüpft
ist, verkündet der geschriebene Name : „auch ich war
hier." Die Krone dieser Inschriften sind die an irgend
einem schwer zugänglichen, aber weithin sichtbaren
Felsblock angepinselten, die „Kieselacks" ; nichts kann
weiter von jenen gemüthvoUen Bauminschriften ent-
fernt sein als sie, dafür sehen sie den monumentalen
Inschriften zum Verwechseln ähnlich. Diesen Gegen-
stand, der zwar mit vollstem Recht ein trivialer zu
heissen verdient, aber weder des Reizes noch der Be-
deutung ermangelt, müssen wir hier abbrechen, denn
er ist unbegrenzt. Die Inschriften aus freier Hand
können alles Mögliche enthalten, sich in jedes mögliche
Gewand kleiden, von jeder möglichen Willensrichtung
eingegeben sein. Zuweilen werden solche Gewächse,
die wild nur auf lebendigem und todtem Holz, auf
Kalk und Stein vorkommen, auf einem eigentlich fremd-
artigen Boden und in einer gewissen Ordnung ange-
pflanzt ; daselbst schiessen sie höher empor, ohne ihre
Natur wesentlich zu veredeln ; man nennt diese Blumen-
gärten Fremdenbücher.
Die eben besprochene Gattung von Inschriften
dürfen wir aller Orten und zu allen Zeiten erwarten,
wo und wann immer das Schreiben den Windeln einer
mühsam geübten Kunst entwachsen ist. Ihr Vor-
kommen bei Griechen und Römern lässt sich aus
zahlreichen Schriftstellerzeugnissen ermessen; überdies
sind uns nicht unbeträchtliche Proben aus dem Alter-
thum übrig geblieben. Unter diesen sei, als einer be-
sonderen Abtheilung, der nQoaxvvrjfiara^ der Andachts-
inschriften, im Vorbeigehen Erwähnung gethan. Wir
— 16 -
begegnen solchen in dem Neptunstempel auf dem Vor-
gebirge von Santorin und anderswo in Griechenland,
in den Bergen Aegyptens und Nubiens, auch auf
„Sinas gluthgeborstnen Höh'n" ; doch rühren die hier
befindlichen zum grössten Theil von christlichen Pil-
gern her. Z. B. lautet ein griechisches TtQooÄVvrjfia
von der Insel Philai in Aegypten : „Ich, Sarapion, der
Sohn des Aristomachos, komme zur grossen Göttin
Isis auf Philai, meiner Eltern zu ihrem Heile geden-
kend." Etwas weniger andächtig mochten jene In-
schriften gewesen sein welche, Plinius dem Jüngeren
zufolge, die Quelle und den Gott Clitumnus auf allen
Säulen und Wänden feierten. Indessen dürfen wir
keineswegs glauben dass die epigraphischen Leistungen
von Liebhabern sich auf gewisse Gelegenheiten oder
Orte beschränkt hätten; vielmehr waren sie weit
durchgängiger und gleichmässiger verbreitet als bei
uns, wir finden sie nämlich fast überall da wo wir
Tünche finden. Für heute bedeutet dies jedoch : nicht
allzu häufig ; denn wie wenig Wände sind uns in ihrer
Bekleidung erhalten! Selbst Rom liefert uns keine
grosse Anzahl von Wandkritzeleien oder, wie die Ita-
liener sagen, Graffiti. Manche von ganz geringem Be-
lang, oder nur Spuren von solchen, hat man in den
Titusthermen, auf dem Campo di Maccao u. s. w.
entdeckt. Die meiste Beachtung verdienen die drei
beschmierten Wände auf der Westseite des Palatins,
die im Jahre 1855 dem Tageslicht wiedergegeben
wurden: das einzige Andenken an die Pagenstreiche
welche gegen Ende des zweiten Jahrhunderts diesen
Theil des Cäsarenpalastes, das paedagogium, belebten.
Hier liest man neben einem Esel an der Mühle das:
— 17 -
„Arbeite, Eselchen, wie ich gearbeitet habe, und es wird
dir wohl bekommen." Von hier stammt jenes jetzt
im Museo Kircheriano aufbewahrte Spottbild auf
Christus (ein gekreuzigter Esel), das laut beigefügter
Inschrift auf den Christen Alexamenos berechnet war,
wie vielleicht auch das Libanus episcopus ebendaselbst
christliche Bedeutung hat. Die Kunst überhaupt ist
stark vertreten ; hauptsächlich die Begeisterung für die
Kampfspiele verlangte nach bildlichem Ausdruck:
Siegespalmen, Cirkusrosse, Gladiatoren mit ungeheuren
Nasen und Armen wie Topfhenkeln (wofern nur ein-
zelne Gliedmassen zu unterscheiden sind) erregen hier,
wie zu Pompei, das Vergnügen des Betrachters. Die
Zeichner hingegen, weit entfernt sich ihrer Werke zu
schämen, nennen sich nicht selten, z. B. pingit For-
tunatus Afer. Als Siegespreise werden uns einmal
aufgeführt eine Dalmatika und andere Gewandungen,
und es fallt uns dabei das correre il imlio der heu-
tigen Italiener ein. Einer etwas spätem Zeit gehören
ein paar Dutzend von Wandinschriften an (die älteste
ist von 215 nach Chr.) welche unter der siebenten
Kohorte der Vigules (wie sie sich selbst mit Vorliebe,
statt Vigiles^ nennen) ihre Urheber zu suchen haben.
Wir verdanken sie den zu Ende 1866 eröffneten Aus-
grabungen von Monte di Piore in Trastevere. Be-
sonders ist darin von Talglärapchenerleuchtungen
(sebaciaria) die Kode, die zu irgendwelchen Festen
öffentlichen oder privaten Charakters veranstaltet wur-
den. In die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts (wie
man aus den vorwiegend noch griechischen Sklaven-
namen entnehmen kann) fallen auch die Kritzeleien
eines kleinen Gemachs auf dem Aventin, welches an
Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 2
— 18 —
die alte servianische ümwallung stösst. Hier gelobt
z. B. Einer (doch wohl dem Bacchus), käme er heil
heraus (si rede eariero), so viel Sester Wein als darin
sein würden; vermuthlich hatte ihm Theonas diese
unfreiwillige Nachbarschaft neben dem Weingewölbe
zugezogen, denn scheinbar dieselbe Hand hat hinzu-
gefügt: „Die Pest über den Theonas!" Doch sind
dergleichen Kritzeleien nicht etwa ausschliesslich in
der Tünche befindlich ; sie zeigen sich z. B. auch auf
den Marmorplatten der alten Basilika von S. Lorenzo
im Ager Veranus, und die Spitze der Trajanssäule
trägt ein griechisches Gebet byzantinischen Stils für
einen Constantin, wahrscheinlich den guten Kaiser
Constans der im 7. Jahrhundert Roms Denkmälern
einen Besuch abstattete, um sie nach Möglichkeit zu
plündern. Wollen wir aber überhaupt in eine so späte
Zeit herab-, aus dem heidnischen in das christliche
Rom herübergehen, so brauchen wir nur unter die
Erde zu steigen, und Inschriften wie wir sie suchen,
bieten sich unsern Augen in reicher Menge dar. Wir
vertrauen uns in dem Labyrinthe dieses unterirdischen
Roms der Führung De Rossis an, der alle Winkel
desselben mit der hellen Fackel seiner Gelehrsamkeit
und seines Scharfsinnes erleuchtet. Ihm zufolge haben
wir in den Katakomben drei Klassen von Graffiti zu
unterscheiden: erstens diejenigen durch welche die
Gräber (fossores) auf frischem Kalk ihr Tagewerk be-
zeugten, z. B. „Iconius brachte es (nämlich die Aus-
höhlung der Kammer) in zehn Tagen fertig" ; zweitens
diejenigen welche die bei der Bestattung anwesenden
Freunde auf dem trockenen Kalk eingruben — in
kurzen Zurufen wird den Todten der ewige Friede
— 19 —
nachgewünscht, z. B. Leo in pace; drittens die
nQoa/,vvrif^iai;a, welche von den frommen Besuchern
der Gräber stammen. Sobald der Gebrauch der Hei-
ligenbilder aufkommt, ziehen diese vorzugsweise (so
das noch anmuthige und nicht allzu byzantinische der
heiligen Cäcilia) die TiQooyiwijtiiata auf sich. Dieselben
erscheinen wiederum von dreierlei Art. Es sind ent-
weder nur die Namen der Schreibenden, und zwar zu-
nächst römische (Maximus, Felix, Rufina), später bar-
barische (Etelred, Ildebrand, Prando), denen dann
meistens ein Zusatz, wie „Sünder", „Priester" (abge-
kürzt PÄ oder PUB), „unwürdiger Priester", „Bischofs
folgt. Oder es sind Zurufe an Verwandte und Freunde,
wie wir sie schon erwähnt haben, und welche grössten-
theils eher für Todte als für Lebende zu passen
scheinen: „Donatus, Sofronia u. s. w., mögest du in
Ewigkeit — im ewigen Leben — im Frieden — in
Gott leben!" Endlich sind es Gebete welche an die
Märtyrer insgesammt oder an einzelne derselben, auch
unmittelbar an Gott gerichtet sind, z. B. : „Heilige
Blutzeugen, gedenket der Maria!" — „Bittet, ihr hei-
ligen Seelen, dass Verecundus mit den Seinigen glück-
lich fahren möge (bene naviget)\"- — „Sustus, gedenke
in den Gebeten des Aurelius Repentinus !" — „Allmäch-
tiger Gott, behüte den Sapricius!" — „Der Priester Eu-
stathius, demüthiger Sünder, Diener des heiligen Blut-
zeugen Marcellinus; doch du. Bester, bitte für mich,
und der Herr sei dein Schutz!" Daran schli^sst sich
manch eigenthümlicher Erguss, wie der leider abge-
brochene : „Du, Jerusalem, Stadt und Zierde der
Zeugen Gottes, dessen ..." Dieses Anschreiben war
in der That eine fromme üebung; nicht überall wo
2*
— 20 -
die Pilger hinabstiegen, Hessen sie in gleichem Mas»
ihre Namen und Gebete zurück, sondern vor Allem
nur in den geschichtlichen Gräften (ho nennt sie De
Rossi, cripte storiche), d. h. in den Grüften welche,
als die Grabstätten von berühmten Märtyrern oder von
Päpsten, im Zeitalter des Friedens der Kirche die
Heiligthümer der einzelnen Kirchhöfe wurden. Wie
wir hier aus spätem Jahrhunderten hauptsächlich
Priesternamen lesen, so enthalten auch die Graffiti der
Basilika von S. demente (auf den Gemälden des
9. Jahrhunderts) wenig andere Namen ; solche Priester-
graffiti weist ferner die Gruft von S. Vittorino zu
Amiternum, weisen in Prankreich alte und hochver-
ehrte Altäre auf, besonders jener berühmte der Kirche
von Minerve (bei Narbonne), der mit unzähligen Na-
men aus dem karolingischen Zeitalter bedeckt ist.
Wohl mit Recht vermuthet De Rossi dass nicht blosa
deshalb die Schreiber meist Priester waren weil e»
damals unter den Laien wenige Schreibkundige gab,
sondern dass (insoweit die beschriebenen Stellen Altar-
tafeln oder Nischen und Gemälde sind vor denen der
Altar steht) wir die Graffiti als Erinnerungen an da-
selbst gehaltene Messen zu betrachten haben. Für
das spätere Mittelalter, bis zum 15. Jahrhundert, dürfen
wir auf Graffiti nicht in den Katakomben fahnden;
erst dann erinnerte man sich dieser heiligen Stätten
wieder, und ihre ersten neuen Besucher waren darin
den alten verwandt dass sie, wenn nicht geradezu von
Andacht, doch von frommer Neugier dahin gefühi't
wurden. Einer der ältesten dieser Jüngern Namen
mag der des „Joannes Lonck 1432" im Kirchhofe des
Kallistus sein; ebendaselbst stehen aus der nächstfol-
— 21 —
genden Zeit herrührende, besonders von Minoritenbrü-
dem. Aber bald sahen die Katakomben Gäste we-
sentlich verschiedenen Geistes, solche die rein welt-
lichem Wissensdrang folgten, nämlich Mitglieder der
berühmten Akademie des Pomponius Laetus. Be-
kanntlich waren dieselben des Heidenthums etwas an-
rüchig, wurden indessen bei einer unter Paul II. des-
halb gegen sie eingeleiteten Untersuchung freigespro-
<5hen. Hätte man die Erinnerungszeichen welche sie
dort zurückliessen, gekannt, so würde das ürtheil
wahrscheinlich anders ausgefallen sein , die Betitelung
des Pomponius Laetus als pontifex maximus (sowie
-eines Andern als sacerdos academiae rojnanae), war sie
auch mehr ein pedantischer Scherz als eine wirkliche
Verhöhnung des Papstthums, würde man doch an be-
treflfender Stelle übel vermerkt haben. Es unterliegt
keinem Zweifel dass die Rechtgläubigkeit dieser Ge-
sellschaft durch den Klassicismus stark angefressen
war, und die Schatten jener Eäume hatten gegrün-
deten Anlass über deren Entweihung zu klagen, die
nun heidnischem Wesen vor dem Christenthum, wie
■einst christlichem Wesen vor dem Heidenthum, ein
Zufluchtsort zu sein schienen. Obwohl übrigens alle
die Parthenius, Calpurnius, Papirius u. s. w. (unter
ihnen auch als Campanus antistes Precutinus der be-
kannte Dichter Giovanni Antonio Campano) sich als
^,einmüthige Liebhaber des Alterthums" bezeichnen,
so haben doch ihre Spaziergänge in die Unterwelt der
Wissenschaft nicht den geringsten Nutzen gebracht.
Zu Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts
begaben sich noch Andere in die Katakomben hinab
und schrieben ihre Namen mit Kohle an; aber alle
— 22 —
diese Besuche hörten bald auf. Die luschriften neuerer
und neuesfcer Zeit durch welche Romfahrer auf ewigen
Denkmälern sich verewigen, bedürfen keiner Bespre-
chung; wie sie (z. B. in den Thermen des Caracalla
und zu S. Constanza vor der Stadt) aller Herren Län-
der vertreten, versinnbildlichen sie die fortdauernde
Beziehung zwischen orhi et urbi. Ausserhalb Roms
treffen wir, von einem einzigen Ort abgesehen, nur
sehr spärliche Graffiti aus dem Alterthum. Von die-
sen sei eines hier angeführt welches sich in einem
Grabe vor Pozzuoli auf der campanischen Strasse be-
findet. Es lautet verdeutscht: „Labeo an Thyrsus:
ich bitte dich, schaffe mir eine Herberge; denn aus
der welche du mir hier auf der Oberwelt gegeben hast,
bin ich vertrieben worden" ; (darunter, wohl von an-
derer Hand:) „Thyrsus an Labeo: komm'. Alles ist
bei mir bereit." Die Erklärungen die man dazu ge-
geben hat, befriedigen nicht völlig; wir meinen in
diesen Worten einen Hauch des Christenthums, wel-
ches ja hierlands früh Wurzel schlug, zu spüren.
Heisst es nicht auch im Evangelium: „Kommt, denn
es ist Alles bereit" (Luk. XIV, 17)?
Mehr Graffiti nun als sämmtliche übrigen zusam-
mengenommen hat schon die bisherige Ausbaggerung
des Vesuvschlammes uns auf den Mauern Pompeis
enthüllt. Aber die mit dem Schreibgriflfel oder einem
andern spitzen Werkzeug eingeritzten (die Römer sag-
ten scariphare) sind hier, wie überhaupt, nicht die
einzigen Wandinschriften. Neben ihnen stehen in
etwas geringerer Zahl die angemalten, die Dipinti,
welche entweder mit rother, schwarzer oder weisser
Farbe wirklich angepinselt oder mit Röthel, Kohle
- 23 -
oder Kreide angeschrieben wurden. Ihrem Charakter
nach gehören die letztern durchaus zu den Graffiti;
jene aber, die eigentlichen Dipinti, bilden, wenigstens
in ihrer Hauptmasse, den Mittelstand zwischen dem
Proletariat der Graffiti und der Aristokratie der in-
schriftlichen Denkmäler. Da sie nicht, wie letztere,
einem dauernden, sondern nur einem vorübergehenden
Zwecke zu dienen pflegen, so stehen sie etwa mit un-
sern Strassenanschlägen auf einer Stufe. Der öffent-
liche Zweck unterscheidet sie von den Graffiti; das
Dipinto: „Den C. Julius Polybius empfiehlt Vatia
zum Duumvir" (N. 132) ist ein regelrechtes Wahl-
programm; das andere: „Des Aedilen A. Suettius
Certus Gladiatorenbande wird am letzten Mai zu
Pompei .fechten; dabei Thierhetze und Zeltdach"
(N. 1189) eine regelrechte Schauspielanzeige; aber
den Graffiti: „Den C. Julius Polybius empfiehlt In-
fantio zum Duumvir" (N. 1226) und „Hier wird am
27. August die Thierhetzerbande fechten, und Felix
im Bärenkarapf auftreten" (N. 1989) wohnt durchaus
nicht die Absicht einer Beziehung auf das Publikum
inne. Wir deuteten schon an dass solche aus Laune
erzeugte Inschriften jede beliebige Fassung annehmen;
wie in den eben angeführten Fällen die von Dipinti,
so anderswo die von Briefen (N. 1684. 1852. 1991)
oder die von monumentalen Inschriften (N. 2459 :
Ex scito ordinis u. s. w. in dem ümriss einer gehen-
kelten Tafel).
Dipinti wie Graffiti erscheinen auch als Auf-
schriften auf Gefassen in denen meistens Wein, aber
auch andere Dinge (wie Fischsaücen, Enthaarungs-
und Waschmittel, Oliven u. s. w.) aufbewahrt wurden.
— 24 —
Wie schade doch dass der „Faustianer (beste Sorte
des Falerners), Jahrgang 47," und der „alte Lunenser
von M. Valerius Abennericus" versiegt sind! Dass
diese Amphoren nicht die erhaltende Kraft gewisser
heiligen Krüge und Fläschchen besitzen! Doch wird
uns, sollten wir auch an der unverminderten Güte des
Falerners und der andern einst gepriesenen Weine
zweifeln, die Anziehungskraft und die Wirkung des
süssen Nasses das unter den Pompejanern kreiste,
manch noch bezeugter Umstand vergegenwärtigen:
der gewaltige Durst der Suavis, des Glyco und Mar-
tialis, des Epaphra und Elea, das ungestüm geäusserte
Verlangen nach „noch einem Kelch Setiner", die Wein-
preise der Schenke in welcher die schon genannten
„Spätkneiper" die Kellnerin Hedone nicht zur Euhe
kommen Hessen, die schalkhafte Abänderung zu ä-
berius die der Name des gewiss rothnäsigen Liberius
Venustus, gleich dem des Kaisers Tiberius, erfuhr;
der treffliche Spruch endlich den die unsichere Hand
der lallenden Zunge nachzuschreiben versuchte : „Alles
was im — Alles was im Wein geboren wird — Alles
was — Alles was im Wein geboren ist — "
Es verlockt sehr in diesem pompejanischen Garten
gemächlich spazieren zu wandeln und dabei einen Strauss
epigraphischer Blumen zu pflücken, durch den sich
dann alle mögliche klassische Gelehrsamkeit ausduften
Hesse ; wenigstens würde diese kaum auf anmuthigere
Weise an den Mann zu bringen sein. Daher gibt
Pompe! nebst seinen Inschriften einen beliebten Gegen-
stand öffentlicher Vorträge und gemeinverständlicher
- 25 -
Aufsätze ab. Wir brauchen aber darum nicht zu fürch-
ten dass uns nichts zu thun übrig bliebe; denn statt
nicht weniger Blumen von denen es sich nun erst
herausgestellt hat dass sie keine wirklichen parietariae,
dass sie nicht sowohl auf den Mauern Pompe'is als in
irgendeinem modernen Treibhaus, d. h. einem allzu
hitzigen gelehrten Kopf aufgeblüht sind, vermöchten
wir neue und echte einzubinden. Ganz im Gegentheil
fürchten wir dass wir dessen schwer ein Ende fanden.
Wir widerstehen also der Versuchung jenen Inschriften
Auskunft über alle Besonderheiten des alten Lebens
abzudringen. Wir schreiten vorüber an Abcschützen-
übungen, Haushaltsnotizen, Andenken verliebter Stell-
dichein u. s. w., als wären sie von heut und gestern,
vorüber an den rothen und schwarzen Buchstaben, als
ob sie uns einen Parlamentskandidaten empföhlen oder
uns zu einer Kunstreitervorstellung einlüden; die in-
felicia^ uncum, tabescas, sitspendere, in cruce figaris
sind uns nur die versteinerten accidenti, mannaggia^
sV ammazzato u. s. w., die noch heute die italienische
•
Luft durchschwirren ; darüber dass Venus, die Beherr-
scherin und Behüterin von Pompei, bald ehrfurchtsvoll
angerufen, bald Seelenverkäuferin gescholten und mit
Prügeln bedroht wird, wundern wir uns so wenig als
über das ebenso wechselnde Benehmen der heutigen
Napoletaner gegen ihre Schutzheiligen; wir sehen die
Arme des Y in dem Worte PS YCE (Herz !) sich zu
jenem ümriss fortsetzen der heute wie damals den Sitz
der menschlichen Gefühle vorstellt, und in dem Verse :
Scribenti mi dictat Amor mostratque Cupido
erklingt uns Dantes
— 26 —
qiiando
Amor mi spiray notOy ed a quel modo
Che detta dentro, vo significando,
welches bei andern Poeten sich zu dem Ausspruch ver-
allgemeinert dass Liebe alles Dichtens Ursprung sei.
Nein, wir wollen den sachlichen Werth der pom-
pejanischen Wandinschriften, den wir schon genügend
hervorgehoben haben, nicht im Einzelnen auseinander-
setzen; wir wollen nur noch von ihrem Werth als des
Gegenstandes geistiger Arbeit, von ihrem eigentlich
wissenschaftlichen Werthe reden. Denn der Kern der
Wissenschaft — dies unterscheidet sie von der Ge-
lehrsamkeit — besteht nicht in dem was wir wissen,
sondern darin wie wir lernen (dies ist besser im Fremd-
wort „Disciplin'' ausgedrückt). Sollte etwa das breit
in den Weg gelegte Geschenk des Zufalls, wenn es
uns auch auf unserer Weiterwanderung noch so sehr
fördert, uns höher gelten als das mit unserer besten
Kraft Erworbene? Ist nicht mit dem grösseren Ver-
dienst auch der grössere Genuss? Wenn darum der
Herausgeber der pompejanischen Dipinti und Graffiti,
K. Zangemeister, am Schluss der Vorrede meint: das
Werk welches er in Angriff genommen habe, sei oft
so beschaffen ut inde lahoris plus haurire mali sit
quam ex re decerpere fructus^ so halten wir ihm zu
seinem eigenen Trost entgegen dass die Forschung
Selbstzweck ist, und dass wir, mehr als aus irgend-
einer Thatsache an sich, aus den Mitteln und Wegen
zur Feststellung dieser Thatsache Gewinn ziehen.
Ohne Zweifel machen die Wandinschriften und
besonders die Graffiti den schwierigsten Theil der
römischen Inschriftenkunde aus. Die Schwierigkeit
— 27 —
der Lesung und Erklärung ist in der Gesetzlosigkeit
dieser Gattung begründet, welche sich vor Allem in
der Schrift äussert. Die Graffiti (und ebenso die
Kohle-, Röthel- und Kreideinschriften) sind meistens
in einer Schriftart abgefasst welche im Alterthum noch
auf Wachstafeln, kaum auf Stein oder in Büchern vor-
kommt, aus welcher sich aber dann zu allgemeinerem
Gebrauche die laufende Schrift des Mittelalters ent-
wickelt hat. Die Züge der älteren Pinselinschriften
sind die steifen der Denkmälerinschriften, die der jün-
geren aber nähern sich schon den runden der Graffiti.
Zangemeister bietet uns (auf Tafel I) eine sorgfältige
üebersicht der verschiedenen in den pompejanischen
Wandinschriften erscheinenden Buchstabenformen (mit
ausführlichem Quellennachweis zu den seltneren) und
veranschaulicht uns so zum ersten Mal auf urkundliche
Weise den üebergang der lateinischen Geviertschrift
in die laufende. Aus dem individuellen Charakter der
Graffiti folgt dass die Mannigfaltigkeit der Schrift
hier eine ganz ausserordentliche (sogar innerhalb eines
und desselben Graffito oft sehr ansehnliche) ist. Nicht
nur in den einzelnen Buchstaben, deren manche sich
so abändern dass sie sich selbst ganz unähnlich, andern
aber dafür zum Verwechseln ähnlich . werden, sondern
auch in der Aneinanderfügung derselben. Bald stehen
sie keck auf festen Füssen da, und gehen gar vor Be-
häbigkeit fast aus den Fugen ; bald stolpern sie ängst-
lich und hinfällig einher, hocken aufeinander, verwickeln
sich ineinander; oder kühn geschweift kreuzen sie,
gleich Kometen, fremde Schriftbahnen. Grösse, Ab-
stand, Richtung, Zeilenlänge u. s. w.. Alles wechselt
aufs willkürlichste. Die ünvoUkommenheit des Schreib-
- 28 -
Werkzeugs oder besondere Hindernisse im Stuck machen
sich ebenfalls geltend ; zuweilen erscheinen die Bänder
tiefer Einritzungen stark gesplittert. Dazu kommen
noch alle die störenden Linien die von der Hand des
Schreibers selbst herrühren, entweder ganz unbeab-
sichtigte oder wenigstens gedankenlose, oder falsche
Ansätze, nicht selten wirkliche Verbesserungen des
einen Buchstaben in den andern. Welchen Pährlich-
keiten ist aber nicht erst die fertige Inschrift aus-
gesetzt ! Mit welchen Versehrungen bedrohen sie nicht
die Missgunst der Leser und die Gleichgültigkeit anderer
Wandschriftsteller, die Einflüsse der Witterung und
alle möglichen Stösse feindseligen Geschickes. Sie
kann durchstrichen, ausgekratzt, entstellt, überschrieben
werden; die Tünche kann sich abwetzen, Sprünge er-
halten, in ganzen Stücken abfallen. Dieser letztere
Fall erzeugt Lücken. Wie viel in denselben fehlt,
lässt sich besonders dann wenn sie die erhaltene In-
schrift an irgendeiner Seite begrenzen, kaum ermessen,
während in einer guten monumentalen Inschrift man
die Masse des Ausgefallenen ziemlich genau zu be-
rechnen vermag, und so eine sichere Grundlage für
die wahrscheinliche Ergänzung des Textes gewinnt.
Den Dipinti, obwohl sie durch die regelmässigere Schrift
viel vor den Graffiti voraus haben, ist doch wiederum
mancher Nachtheil eigenthümlich, wie der dass die
Buchstaben ohne irgendeine wahrnehmbare Beschädi-
gung der Wand (also Spur einer Lücke) schwinden,
oder der dass zwei sich deckende Inschriften sich zu
einer scheinbar einzigen vermischen, indem von der
üeberweissung der älteren, auf welche die jüngere
gemalt ist, sich einzelne Theile abbröckeln. Kurz, die
— 29 —
Wandinschriften beider Klassen machen Mühe genug.
Zuerst müssen die Augen scharf sein, um Alles zu
erkennen was vorhanden ist, dann aber eigens geübt,
um sofort das Wesentliche aus allem Beiwerk heraus-
zuheben. Diese üebung wird durch eine gewisse Be-
gabung gestützt und gefördert; denn auch bei ganz
gleichen Anstrengungen eine Inschrift zu lesen, ist der
Eine nicht immer so glücklich wie der Andere. Die
bei der Wissenschaft so verrufene Einbildungskraft,
welche allerdings gerade unter diesen Inschriften, ohne
Beschränkung und Aufsicht, übel genug gewirthschaftet
hat, mag doch auch Gutes schaffen. Manche der ein-
zelnen uns hier gestellten Aufgaben haben auch in-
sofern wenig Aehnlichkeit mit einem Rechenexempel
als sie nur in Unterbrechungen gelöst werden können,
als nämlich eine wiederholte Besichtigung erforderlich
ist, sei es wegen der verschiedenen Beleuchtung des
Gegenstandes, sei es wegen der verschiedenen Stim-
mung des Untersuchers. Gibt es demnach einen be-
vorzugten Blick der nicht nur schärfer, sondern schliess-
lich auch richtiger sieht, ebensowohl für die Räthsel
einer Inschrift ßjs für die Eigenthümlichkeit und die
Bedeutung eines Menschenantlitzes oder eines Kunst-
werkes oder einer Landschaft, so stehen wir nicht an
bei Zangemeister einen solchen epigraphischen Blick
in hohem Grade vorauszusetzen. • Wie viel er zu
leisten hatte und geleistet hat, davon erhält schon
einen Begriff wer nur die 47 dem Werke beigegebenen
Tafeln durchblättert auf denen die merkwürdigsten
(etwa ein Drittel) der pompejanischen Wandinschriften ,
zumeist wahre- Krikelkrakel, durch den Steindruck
wiedergegeben sind, der grösste Theil nach Abzeich-
— 30 —
nungen, andere nach Durchzeichnungen , Abdrücken
oder Photographien.
Hat man eine Inschrift herausbuchstabiert, so gilt
^8 sie wirklich zu lesen; auf das Verötändniss der
Schrift folgt, oft nach einem ziemlichen Zwischenraum,
das Verständniss der Sprache. Dieses wird durch
manche Laune und manchen Irrthum der Schreibenden
verdunkelt, z. B. durch ungewöhnliche Abkürzungen,
oder durch mangelnde oder falsche Worttrennung. Oder
ein gewisser Suimilea, welcher an einer Form iatromea
nur schwachen Anhalt findet, gibt viel zu denken, bis
-wir den Herrn zufälligerweise im Eücken sehen und
ihn als Aemilius erkennen. Oder es werden Buch-
staben verwechselt, versetzt, ausgelassen u. s. w. Eine
tiefer eingreifende Störung aber verursacht der Gegen-
satz der Volks- zur Schriftsprache. Eigenthümlichkeiten
jener drängen sich massenhaft in die Schrift ein; in-
dessen durchaus unbewusst. Denn man schrieb zwar
wie man sprach ama^ onore, presta, für amat^ honorem,
jpraesta — es sind dies die Anfänge italienischer
Schreibung — aber man schrieb umgekehrt wie man
sprach, Helpis, pariens^ opscultat, für Elpis, partes j
auscultat (vgl. Oscus = Opseus), Ganz in dem gleichen
<iunkeln Drange wie ihn die letzteren Formen ver-
rathen, bessert der allbekannte Neupompejaner Raflfaele
Sonntags, gesteigertem Fremdenbesuche zu Ehren, sein
Italienisch auf. In seiner heimischen Mundart enden
^le Wörter (wenn nicht die letzte Silbe den Ton hat)
in einem flüchtigen e; nun bemerkt er dass das Tos-
kanische im Auslaut auch die schöneren Vokale a, i, o
liebt; folglich heisst es am Sonntag z. B. ü solo tra^
monta molta rossi oder quelP Americani e partita. Ver-
-- 31 -
geblich würde übrigens jemand versuchen aus jenen
Schreibweisen die Grundzüge pompejanischer Sprech-
weise zu entwickeln. Denselben Versündigungen gegen
die Kechtschreibung begegnen wir an den verschie-
densten Punkten des römischen Bodens. Es soll damit
keineswegs pompejanische oder campanische Sprach -
besonderheit geläugnet werden; gewiss klang schon
damals die Sprache der Zwölftafeln anders in dem
Munde der Romanen (d. h. verrömerten Nichtlateiner)
von Pompei und Mailand, Marseille und Sevilla. Bildete
man sich denn wohl heutzutag aus den von Schnitzern
wimmelnden Briefen eines sächsischen und eines hes-
sischen Ackerknechtes nur eine entfernte Vorstellung
von dem Unterschiede zwischen der Rede beider Schrei-
benden? Immerhin sind wir überzeugt dass, wenn
etwa im Norden Italiens eine untergegangene römische
Stadt mit gleich vielen Wandinschriften wie Pompei
wieder erstünde, ein gewisser sprachlicher Gegensatz
hervortreten würde. Alle die bezeichneten üebelstände
sind bei einem längeren fortlaufenden Texte, wie der
Handschrift eines alten Dichters, weniger hinderlich,
fallen aber, wo es sich um so viele Bruchstücke und
so viel Lückenhaftes, im besten Fall um vereinzelte
kurze Sätze handelt, schwer ins Gewicht. Und zwar
besonders nach einer Seite hin. Die beiden nämlich
auf die Lesung einer Inschrift gerichteten Thätigkeiten,
diejenige welche sich auf die Schrift, und diejenige
welche sich auf die Sprache bezieht, verschmelzen oft
völlig miteinander; ja diese arbeitet geradezu jener
vor, so dass entweder die zahlreichen Zusammen-
stellungen für eine Reihe von Buchstabenresten, deren
jedem verschiedene mögliche Werthe entsprechen.
— 32 —
durch die Schranken der Sprache auf wenige oder gar
nur auf eine zurückgeführt werden, oder dass eine
angestrengte Besichtigung dasjenige dessen Vorhanden-
sein zuerst nur durch eine sprachliche Erwägung wahr-
scheinlich gemacht wird, als wirklich vorhanden be-
stätigt. Jedem aber wird es einleuchten dass die
Sprache mit um so geringerem Erfolge zur Feststellung
der Schrift herangezogen werden kann je weiter ihre
eigenen Schranken hinausgerückt sind. Z. B. an der
Stelle einer Inschrift an welcher sich Spuren von fünf
Buchstaben erhalten haben, könnte dem Zusammen-
hange nach entweder habeas oder parias gestanden
haben. Nun lässt sich bei genauerer Besichtigung
der vierte Buchstabe als i noch deutlich ermitteln ; die
eine Möglichkeit ist dadurch in einer klassisch ge-
schriebenen Inschrift sofort beseitigt, und es bleibt
nur die andere. In einem pompejanischen Graffito
indessen würde habias für habeas durchaus nicht auf-
fallen, und hier also würden beide Möglichkeiten fort-
bestehen. Haben wir aber auch die Klippen der ein-
zelnen Wortformen glücklich umschifft, so passiert es
uns leicht dass wir in dem Sumpfe der Wortfügung
und Redewendung stecken bleiben, wovon N. 1410
ein gutes Beispiel liefert. Und wiederum kann der
sprachliche Siun ganz unzweifelhaft sein, und wir
dringen nur mit Mühe zum Verständniss des Sach-
lichen durch. Dabei sind uns die Inschriften selbst,
indem wir sie untereinander vergleichen, von weit
grösserem Nutzen als die alten Schriftsteller; um-
gekehrt dient gelegentlich eine Inschrift zur Ver-
besserung eines Schriftstellertextes, wie aus N. 538
der Gladiatorenname Tetraites, statt des handschrift-
— 33 —
liehen Petraites, in den Petronius gesetzt worden
ist. In einzelnen Fällen kann die Sache ganz so die
Sprache aufklären wie die Sprache die Schrift. Ob
z. B. in N. 1136 nongentum (tabemae) Nominativ oder
Genitiv, ist mehr eine archäologische als eine gram-
matische Frage.
Auch beim Sammeln der Inschriften ist manche
Vorsicht und Rücksicht nothwendig. Scharfes ümher-
spähen, damit nichts verborgen bleibe, versteht sich
von selbst. Da jedoch oft Inschriften von ganz gleichem
oder sehr ähnlichem Inhalt nahe nebeneinander er-
scheinen, so kann ein Unachtsamer leicht eine von
diesen Inschriften entweder gar nicht oder doppelt ab-
schreiben. Ferner hüte man sich möglichst — denn
Zweifelhaftes bleibt immer — verschiedene Inschriften
zu einer einzigen zu verbinden oder andrerseits eine
Inschrift in zwei oder mehrere aufzulösen. Endlich
sei einer Gefahr gedacht welche man hier nicht ver-
muthen sollte, nämlich der : Inschriften als pompejanisch
anzusehen welche es nicht sind, d. h. welche nicht
einen alten Pompejaner, sondern einen neuen Besucher
der Trümmerstadt zum Urheber haben. Dass der An-
blick so zahlreicher Kritzeleien auf schon dazu dis-
ponierte Fremde und Einheimische ansteckend wirkt,
darf nicht Wunder nehmen; ist uns doch im kleinen
Theater selbst der Name des Herausgebers der „Pom-
pejana" zu Gesicht gekommen. Wohl aber dürfte die
Verwechslung solcher modernen Graffiti (besonders in
den zuerst ausgegrabenen Häusern) mit den Graffiti
des Alterthums befremden. Allein der Unterschied
st)ringt keineswegs immer scharf in die Augen, und
sogar Zangemeisters wachsamem Blick ist ein gewisser
Schachardt, Bomanisches u. Keltisches. 3
- 34 -
Vincenzo Mojovino oder ähnlich (N. . 1592 a) in der
ehrwürdigen Gesellschaft der Holconier und Popidier
hindurchgeschlüpft. Weniger verzeihlich ist es dass
folgendes Dipinto, welches im vorigen Jahrhundert ein
Engländer auf einer Wand von Herculaneum angebracht
hatte :
WS ev oo<pov ßovkevfia ras TioXlae xsl^s vixd,
trotz der nicht einmal fehlerlosen Äccentsetzung u. A.
von Villoison für" alt gehalten wurde. Es soll dieses
Citat aus dem Euripides schon 1743 gefunden worden
sein; stammte es aus späterer Zeit, so könnte ndaa
darin einen ähnlichen Vorwurf erblicken gegen „die
vielen Hände" welche die Wände des ausgegrabenen
Theaters von Herculaneum beschmiert hatten, wie er
in dem bekannten Oraffito des Pälatins enthalten ist:
TtöXXot TioXX^ BTtP.ygaxpav Byo? ftovoe ovx eneyQaxpa,
Also Arbeit die Hülle und Fülle liegt einem
Sammler und Herausgeber der pompejanischen Wand-
inschriften ob. Aber, wird man fragen, ist nicht ein
grosser Theil der Arbeit schon von Andern gethan?.
Allerdings würde ein erster Versuch nicht von solchem
Erfolge gekrönt sein; ein allmählicher Fortschritt hat
darauf vorbereitet. Seit geraumer Zeit haben sich
Manche mit diesem Gegenstand beschäftigt, obwohl
Keiner daran dachte ihn vollständig zu erschöpfen.
Allein der Werth des darüber Veröffentlichten steht
in keinem Verhältniss zur Masse desselben, und mögen
selbst die Fehler und Fehlgriffe der Vorgänger in
gewisser Beziehung der Genauigkeit und Sorgfalt des
abschliessenden Werkes zugute gekommen sein, so
ist doch diese Arbeit dadurch nicht vereinfacht und
verkürzt worden, sondern hat im Gegentheil einen
— 35 —
höchst mühseligen und oft verdriesslichen Zuwachs er-
halten. Mühselig ist es sich durch eine weit verstreute
Litteratur hindurchschlagen, und verdriesslich sich mit
Schwierigkeiten abquälen zu müssen die nicht in
der Sache selbst, sondern in der Beschaffenheit der
Brillen liegen durch welche sie betrachtet worden ist.
Denn hätten die früheren Abschriften bloss eine formelle
Bedeutung, so würde man sie, wo sie sich dazu geeignet
zeigen, als Trittstufen benutzen und nach gethanem
Dienste beiseite legen. Aber sie haben vielfach auch
eine stoffliche Bedeutung, indem entweder die Inschriften
selbst gänzlich untergegangen oder stark beschädigt
und « verblichen sind, sodass Andere mehr und besser
lesen konnten als wir; ja es empfiehlt sich im All-
gemeinen da wo bis heute keine zweifellose Lesung
erreicht worden ist, die Anmerkung der verschiedenen
Lesarten, um nun wiederum ein ürtheil über die Zu-
verlässigkeit oder vielmehr über die Transkriptions weise
Anderer überhaupt far solche Fälle in denen wir sie
nicht unmittelbar kontrollieren können, zu gewinnen,
müssen wir sie an noch vorhandenen Inschriften prüfen.
Dabei ist oft das Schwierigste eine Inschriftkopie mit
einer andern oder mit der Inschrift selbst zu identi-
fizieren, nicht nur wegen der ausserordentlichen Ab-
weichungen der Lesarten voneinander (sodass zuweilen
so gut wie keine Aehnlichkeit besteht), sondern auch
wegen des veränderten ümfangs (durch Verschmelzung
nicht zusammengehöriger Inschriften), hauptsächlich
aber wegen Unterlassung der Pundortsangabe,
Die Dipinti haben von allem Anfang an Beachtung
gefunden, und sehr viele jetzt zerstörte sind uns in
den verschiedenen Ausgrabungsberichten erhalten, und
3*
— 36 —
insofern auch wirklich erhalten als in diesen von ün-
gelehrten mechanisch, aber gewissenhaft genommenen
Abschriften das Wahre weit deutlicher durchblickt als
in denen Anderer welche mehr verstehen wollten als
sie konnten. Hingegen wurden die Graffiti lange Zeit
hindurch vernachlässigt, und eine grosse Anzahl ist
uns spurlos verloren gegangen. Schon 1792 und 1793
hatte Chr. Th. v. Murr, freilich mit wenig Glück, eine
Beihe von Graffiti herausgegeben; aber erst fast ein
halbes Jahrhundert später (1837) veranlasste ein Eng-
länder, Chr. Wordsworth, durch eine kleine aber ge-
schickte Auswahl solcher, und wohl nicht am wenigsten
durch die hübsch geschriebene Erläuterung dazu> iäass
man von nun an diesen Inschriften eine regere Auf-
merksamkeit zuwandte. Leider war der Einzige der
in der Folgezeit mit einer umfassenden Sammlung der-
selben hervortrat, R. Garrucci (1854, 1856), diesem
Unternehmen so wenig gewachsen dass er mehr Schaden
und Verwirrung als Nutzen stiftete. Im Jahr 1865
erhielt Zangemeister, der gerade in Rom die palatini-
schen Graffiti studiert hatte, den Auftrag für das
Corpus inscriptionum IcUinarum der Berliner Akademie
die pompejanischen Graffiti und Dipinti, welche wegen
ihrer Eigenart in einem besonderen Band erscheinen
sollten, zu bearbeiten. Er brachte vier Monate des-
selben Jahres mit dem Abschreiben der Inschriften zu
Pompe! zu und kehrte, als die Sammlung im Druck
schon geschlossen war, 1868 auf kurze Zeit dahin
zurück, um nicht nur das neu ans Tageslicht Getretene
mit aufzunehmen, sondern auch das Alte nochmals zu
vergleichen und Uebersehenes nachzutragen. Die Zahl
der von Zangemeister verö£fentlichten Inschriften beträgt
— 37 —
nahe an 3000 ; dazu kommen noch in einer besonderen
Abtheilung über 300 auf Thongefässen befindliche, von
B. Schöne herausgegeben (mit 7 Tafeln).
üeber die Einrichtung und Ausstattung dieses
Werkes verlieren wir kein Wort. Bekanntlich hat
Th. Mommsen, Meister wie er ist, den VeröiaFent-
lichungen aus welchen sich das C. L L. zusammen-
setzt, den Grundriss vorgezeichnet, und in ihnen ent-
faltet sich etwas wie der Komfort jener grossartigen
Gasthöfe in denen jedes nur denkbare Bedürfniss vor-
gesehen ist. In vorliegendem Band ist aus besonderer
Rücksicht noch ein Besonderes geschehen. Freilich
schien es auch fast als ob über dem Auf- und Ausbau
dieses Inschriftengebäudes Zangemeister dazu kommen
sollte die Vorschrift seines Liebliugsdichters zu er-
füllen: nonum prematur in annum.
Wer den trefflichen Plan des jetzt sichtbaren
Pompe! welcher dem Werk angehängt ist, betrachtet
und darauf das Forum, die verschiedenen grossen
Tempel, die Basilika, die beiden Theater u. s. w.
wahrnimmt, möchte glauben dass das Wesentliche
gethan sei. Der kleine Seitenplan aber wird ihn über-
zeugen dass der noch zu hebende Schatz den schon
gehobenen an Masse weit übertrifft. Ob auch an
Werth, lässt sich nicht voraussagen. Wir müssen in
Geduld Spatenstich um Spatenstich abwarten; denn
besässen wir auch eine Wünschelruthe die nur auf das
Köstlichste hinwiese, der verständige Mann der jetzt
die Auferstehung Pompeis überwacht, würde schwer-
lich ihren Winken Folge leisten. So bleiben uns nur
Wünsche, und um nicht mit vergeblichen zu enden,
wünschen wir: es möchte wiederum, neben solchen
- 38 —
Inschrifiien die dem YergDügungsplänkler ein offenes
und verständliches Willkommen bieten, und neben
solchen die nur dem schweren und kunstreichen An-
griff der Wissenschaft sich erschliessen, auch eine und
die andere ans Licht gefördert werden an welcher der
Scharfsinn sich alle Zähne ausbeisst, damit doch etwas
Bäthselhaftes an diesen zweitausendjährigen Mauern
haften bleibe, und unser übermüthiges Jahrhundert
nicht (mit dem Syrus im Heautontimorumenos) wähne :
Nil tarn difficile est quin quaerendo investigari possiet.
n.
Virgil im Mittelalter.
Wie ein rosiger Morgen schimmert das alte Hei-
denthum in tausend lieblichen Farbenübergängen; das
Christenthum verschmilzt alle Farben zum blendenden
Weiss und legt zwischen das vollkommene Licht und
die vollkommene Finsterniss das Schwert der Gerech-
tigkeit. Nicht Alles jedoch was aus dem einen Zeit-
alter in das andere fortdauert, wird in die hoffnungs-
lose Nacht gestossen; Manches darf dem neu errich-
teten Throne nahestehen, dank tiefer Einsicht oder
schlauer Berechnung oder neckischem Zufall. Dieser
Tempel wird ein Tummelplatz nächtlicher Unholde und
jener eine geweihte Stätte der Andacht; dieser heid-
nische Brauch ein verdammenswerther Unfug und' jener
eine fromme Uebung ; dieser Gott ein böser Geist und
jener ein Heiliger des Herrn. Den Menschen der
Vorzeit ist es ähnlich ergangen ; wo die Kirche irgend
einen Anklang an das geheimnissvolle Lied der Weih-
nacht vernimmt, da sendet sie einen Strahl ihrer
Gnade rückwärts in das Dunkel der Zeiteti.
Der Zweit' — aus Gnade, die so tiefem Bronnen
Entquollen ist dass nie die Kreatur
Die Quell' erspähen kann wo er begonnen —
Weiht' all sein Leben einst dem Rechte nur;
- 40 —
Drum hob ihn Gott empor zu Gnad' um Gnaden
Und zeigt ihm künftiger Erlösung Spur —
sagt Dante vom Trojaner Ripheus.
Zu diesen vorchristlichen Christen gehört auch
Virgil (oder Vergil, wie die gelehrten Pedanten schrei-
ben). Aber wunderbar ! an ihm hat sich das doppelte
Schicksal alles Heidnischen überhaupt erfüllt. Virgil
ist durch die verschiedenen Dunstkreise des Mittelalters
gewandelt; hier leuchten seine Züge in edelster Ver-
klärung auf, dort erscheinen sie zur Fratze verzerrt.
Die mittelalterlichen Irrfahrten des mantuanischen
Dichterschattens haben Manchen zu eingehender Unter-
suchung angeregt; ihren wahren Geschichtsschreiber
haben sie aber erst jetzt in dem bekannten Pisaner
Professor Comparetti gefunden, von dessen Kenntnissen,
Fleiss und ürtheil uns zwei schön ausgestattete Bände
als rühmlichstes Zeugniss vorliegen.*)
Der erste Theil behandelt „Virgil in der littera-
rischen üeberlieferung". Virgil war durch seinen Stoff
der römischste, durch seine Form der vorzüglichste
Schriftsteller. Bei Petronius heisst er Romanus Ver-
gilim^ und ihm stand, dem Martial zufolge, frei auch
auf dem lyrischen und dem dramatischen Gebiete sich
den Siegespreis zu gewinnen. Deshalb wurde er nicht
bloss gelesen, er wurde auch studiert. Die Schulknaben
erlernten an ihm den Prunk lateinischer Rede, an ihm
schärften weissbärtige Grammatiker und Rhetoriker
ihren Witz; die Sorgen der Einen sind in ein paar
pompejanischen Kritzeleien verewigt, die der Andern
in einer dickleibigen und langweiligen Litteratur. Die
•) Virgüio nd medio evo per Domenico Comparetti,
Livomo, 1872.
— 41 —
VerehruDg für den Dichter wuchs ins Unglaubliche;
sie musste das Verständniss des Dichters überleben.
Schon früh fing man an seine Schriften als Orakel
zu Sathe zu ziehen, ganz so wie die sibyllinischen
Bücher und später die Bibel.
Nachdem in den geistigen Fähigkeiten und Nei-
gungen sich ein gänzlicher Umschwung vollzogen hatte,
erschien es dichterischer Kraft als ein bedeutendes
Ziel Virgilverse zu Flickgedichten zusammenzusteppen.
Auf die sortes Vergilianae folgten die cerUones Vergib
liani. Und da der Geschmack der Zeit auf das Sinn-
bildliche und GeheimnissYoUe gerichtet war, so konnten
die Gelehrten nichts Besseres thun als im Virgil nach
verborgenen Dingen suchen. Zu ihrer Ehre sei es
gesagt, sie fanden Viel, ja sie fanden Alles darin.
Dem Neuplatoniker Macrobius ist Virgil kaum etwas
Anderes als der Hüter jedes menschlichen und über-
menschlichen Wissens. Doch den Macrobius übertrifft
an Scharfsinn der christliche Philosoph Fulgentius;
der entdeckte in den zwölf Büchern der Aeneide ein
Gleichniss des menschlichen Lebens: die Worte des
ersten Verses arma^ virurn, primus bedeuten die drei
Stufen des Lebens, der Schiffbruch des Aeneas die
Geburt des Menschen u. s. w. Und das Alles erfährt
Fulgentius aus dem Munde Virgils selbst, der sich bei
ihm ganz ähnlicherweise in einen mürrischen und hoch-
fahrenden Pedanten verwandelt hat wie bei den bil-
denden Künstlern von damals der schöne, milde Hirt
der ersten Katakomben in einen finstern, herben
Bichter. Uebrigens blieb die allegorische Deutung des
Virgil das ganze Mittelalter über beliebt, bis in die
Zeiten des auflebenden Alterthums hinein.
— 42 —
Wie jedoch verhielt sich die Kirche gegen Virgil ?
Mancher Heisssporn würde gewünscht haben sie mit
der Vergangenheit vollständig brechen zu sehen, hätte
sie, die darnach strebte sich die Welt zu unterjochen,
nicht dieser herrschenden und herrscherischen Sprache
bedurft, des Lateins. Das Latein aber musste an der
reinen Quelle der Litteratur geschöpft werden; als
Volkssprache drängte es schon damals in unzählbare
Mundarten auseinander. So kam es dass die alten
Autoren, Virgil voran, auf den Schulbänken sich durch
die gefahrliche Brandung retteten. Zu Leuten mit
denen man einmal unter einem Dache leben muss,
sucht man sich leidlich zu stellen. Die Diener der
Kirche sahen sich jene alten Heiden von allen Seiten
an, um Vortheilhaftes an ihnen zu entdecken, und bei
Manchem fiel diese Prüfung günstig genug aus. Cicero
gibt sich in seinem Buche über die Natur der Götter
als einen so schlechten Heiden dass er gewiss ein
guter Christ geworden wäre; also nachträglich ein
wenig Taufwasser über seine würdige Glatze! Causa
causarum, miserere meil habe er sterbend gerufen —
so hörte Comparetti in einer römischen Schule erzäh-
len. Auf nachdrücklichere Weise wusste sich Virgil
die Gunst der kommenden Zeit zu sichern. In seiner
vierten Ekloge spricht er von einer Weltverjüngung,
der Rückkehr einer Jungfrau, der Geburt eines Kna-
ben, der Vertilgung einer Schlange — wie unbefangen
musste das Jahrhundert sein das hierin nicht einemessi-
anische Weissagung erblickte! So wurde aus dem
bukolischen Dichter ein Prophet Christi. Sein Bild
schmückt chiistliche Kirchen; der Apostel Paulus soll
Thränen auf seinem Grabe vergossen haben, dw
— 43 —
Dichter Statius durch jene Ekloge zum Christenthum
bekehrt worden sein.
Der mittelalterliche Virgil ragt als Dichter über
Alle weit hinaus; die Allwissenheit theilt er nur mit
dem Aristoteles; er verkörpert den höchsten Kuhm
Italiens und zugleich die Ahnung des welterlösenden
Heils. Musste ein Dichter der mit gewaltiger Ein-
bildungskraft das Jenseits umspannte, von der Liebe
zum Vaterland nicht minder durchglüht als von der
Liebe zur ewigen Wahrheit, diesen Virgil nicht als
sein Ideal betrachten? Konnte Dante sich einen an-
dern Führer durch Hölle und Fegefeuer wählen als
ihn? Die göttliche Komödie bezeichnet den Zenith
im Nachleben Virgils. Wir wollen den beiden Sän-
gern auf ihrer gemeinschaftlichen Wanderung nicht
folgen ; wenn es eine Unterlassungssünde ist bei dar-
gebotener Gelegenheit über Dante zu schweigen, so
mag sie um ihrer Seltenheit willen verziehen werden.
Das Gegenstück zum Dante'schen Virgil bildet der
Virgil in Herbers' Dolopathos. Wer kennt nicht die
Geschichte von den sieben weisen Meistern? Der
Astrolog der seinen Zögling, den Prinzen, vor unge-
rechtem Tode errettet, ist Virgil, mit mönchischem
Pinsel gemalt. Das romantische Element das sich
hier schon einmischt, leitet uns hinüber zum „Virgil
in der Volksüberlieferung", dem Gegenstand des zweiten
Theiles.
Man begreift leicht wie Virgil nicht als Dichter
und nicht überall sich im Andenken des Volkes lebendig
erhielt, sondern nur an einem bestimmten Orte zu dem
er in gewissen äusseren Beziehungen gestanden hatte.
Diesei* Ort ist Neapel. Virgil liebte Neapel sehr und
- 44 ~
war bei den Napoletanern sehr beliebt; seinem Willen
gemäss wurde er dort bestattet. Man wallfahrtete
zu seinem Grabe wie zu einem Tempel, sein Name
verknüpfte sich aufs innigste mit dem der Stadt; er
wurde schliesslich ihr Schutzpatron. Zu diesem Um-
stand tritt ein anderer, und die Virgilsage ist fertig.
Das Volk war der reichen Hinterlassenschaft einer
künstlerischen Vorzeit entfremdet worden; es begriff
•vielleicht noch die Schönheit, aber nicht mehr das
Streben nach Schönheit. Wie der Gelehrte in jedem
Gedichte einen geheimen Sinn, so sah der gemeine
Mann in jedem Bildwerk einen geheimen Zweck.
Wem nun sollten die Napoletaner solche Talismane
die ihrer Stadt zum Heile dienten, zuschreiben wenn
nicht dem Virgil? Der Kuf seiner wunderbaren
Weisheit stattete ihn mit der Macht aus die Wünsche
die er als Gönner der Stadt hegen musste, in Wirk-
lichkeit umzusetzen. Von Virgil war der Bronzemann
der, mit gespanntem Bogen und drohendem Pfeile,
den benachbarten Feuerberg in Gehorsam erhielt; von
Virgil das Bronzepferd das alle Pferde davor behütete
sich das Kreuz zu brechen; von Virgil die Bronze-
fliege die alle Fliegen aus der. Stadt entfernte. Er
baute ein Schlachthaus in dem das Fleisch sechs Wo-
chen lang frisch blieb, und er bannte alle Schlangen
unter das „eiserne" Thor. Wer lebend Wunder ver-
richtet hat, der verrichtet nach dem Tode grössere —
das glauben jetzt noch Viele, glaubten einst Alle. Vir-
gils Gebeine ruhten in einem meerumfiossenen Kastell;
wurden sie der Luft ausgesetzt, dann verdunkelte sich
der Himmel und erbebte das Meer in seinen Tiefen.
Gläubigen Sinnes vernahmen die Fremden welche
— 45 —
die Stadt besuchten, diese glaubwürdigen Geschichten
und trugen Sorge sie schriftlich und mündlich zu ver-
breiten. Im Auslande wurde die napoletanische Sage
weiter gesponnen, veränderte sich aber dabei wesent-
lich. Man entführte den Virgil aus Neapel nach Rom,
nach dem goldenen Rom, dem Haupt der Welt, das
er in dauerndem Liede verherrlicht hatte. Hier fertigt
er jenes erstaunliche Werk, das ^Heil Roms". In
einem Palaste sind sämmtliche Provinzen des Reichs
durch Statuen dargestellt von denen jede eine Glocke
in der Hand hält; die Gefahr einer Empörung und
zugleich ihr Ort verräth sich durch das Läuten einer
dieser Glocken. Dann wendet sich, auf der Kuppe
des Palastes, ein bronzener Krieger mit geschwungener
Lanze nach der betreffenden Gegend ; Rom ist benach-
richtigt, das heisst gerettet. Wohl möglich dass von
jenen Statuen eine Darwin'sche Entwicklungsreihe zu
den Gänsen des Kapitels hinaufführt.
Indessen je mehr sich Virgil von seinem geliebten
Neapel entfernt, desto mehr erbleicht der lichte
Schimmer um sein Haupt, endlich ist er aus einem
Weisskünstler ein Schwarzkünstler geworden. Den
Nordischen galt er als Einer der in Toledo beim
Teufel gehört hatte, der Hölle Kind, der Urahn Klin-
sors. Dachten die Napoletaner im Genuss der von
ihm empfangenen Wohlthaten zu mild über deren Ur-
sprung oder jene aus Missgunst zu streng? Wer
weiss es!
Virgil hat Liebesfreud und Liebesleid besungen,
sollte die Sage nicht ihn selbst Beides oder Eines von
Beiden kosten lassen ? Es gibt eine grosse Sippe von
Erzählungen welche auf die mannigfachste Weise die
L-
— 46 —
Thatsache veranschaulichen dass Männerweisheit an
Weiberschlauheit zu Schanden wird. In einige dieser
Erzählungen nun hat man, zur Vermehrung des
Effektes, die Namen der berühmtesten Weisen einge-
schoben. Aristoteles lässt sich von seiner Schönen
als Reitpferd benutzen; Virgil wird eines Morgens
von Roms Pöbel entdeckt wie er in einem Korbe,
zwischen Erde und Himmel, d. h. dem Fenster seiner
Geliebten, schwebt. Es ist wahr, Virgil wusste diese
Schmach zu rächen und zwar, kraft seiner geheimen
Künste, in einer Weise die kein anständiger Mann
billigen wird. Aber der schöne Vortheil ein Zauberer
zu sein, um sich einen solchen Korb zu holen ! Nein,
wenn ich der grosse Schwarzkünstler Virgil wäre, ich
würde ■ — halt! das sagt sich besser in den Worten
eines Liedchens von Lecce:
Diu! ci tanissi Varte da Vargiliu!
Gott! war' die Zauberkunst Virgils doch mein!
Ich brächte dir das Meer bis vor das Haus,
Ich machte mich zum Fische, zart und klein,
Du zögst mich dann in deinem Netz heraus;
Ich machte mich zum schmucksten Vögelein,
In deinem Busen baut' ich dann mein Haus,
Und ruhte mich am Mittag, Liebchen mein,
Im Schatten deiner dunklen Haare aus.
In solchen Tönen verhaucht die unteritalische
Virgilsage. Sie hatte früh Eingang in die Litteratur
gefunden und sich vielfach mit derjenigen Auffassung
Virgils vermischt deren Ursprung im Kreise der Schule
lag. Um Virgils Statue ist eine üppige, bunte Blu-
mensaat emporgeschossen; wir haben nur versucht
einigen Blüthenstaub abzustreifen. Comparetti prüft
— 47 —
genau den Boden und alle Bedingungen dieses Pflanzen-
wucbses, doch scheint er uns zuweilen etwas ins
Breite zu gehen. Gerade je weiter und allgemeiner
ein geistiges Gesichtsfeld ist, desto 9)ehr wünschen
wir seine Darstellung zusammengedrängt, um es zu
beherrschen; nach kurzen und schlagenden Worten
sehnen wir uns dann nicht minder als der Schiffer
auf hoher See nach Baken und Leuchtthürmen.
Hier und da bricht bei Comparetti als geborenem
Kömer der er ist, ein gewisses römisches Gefühl gegen
die deutschen Barbaren des Mittelalters hervor. Wir
geben ihm gern die „Klassiker" Wolfram von Eschen-
bach, Gottfried von Strassburg u. s. w. preis, wir
selbst haben uns. schon über diese Anwendung des
allerdings so dehnbaren Ausdruckes verwundert. Wir
verargen ihm auch nicht seine Abneigung gegen Karl
den Grossen. Dieser Fürst, dessen geschichtliche Be-
deutung wir keinen Augenblick verkennen, hat in der
That einen „widerlichen Sakristeigeruch" an sich;
von ihm stammt das römische Kaiserthum deutscher
Nation, das für uns und die Italiener gleich unheilvoll
gewesen ist. In unserem neuen Kaiserthum, welches
jenen Sakristeigeruch mit so scharfen Mitteln vertreibt,
können wir die Schwärmerei für den blutigen Sachsen-
überwinder wie einen Theaterhermelin ablegen; denn
lange war es uns Bedürfniss unsere vaterländischen
Hoffnungen in das Gewand von Vergangenheitsphanta-
sien zu kleiden. Allein — hasst Comparetti Karl den
Grossen deshalb weil er die weltliche Macht der
Päpste so gestärkt hat, warum freut er sich darüber
wenn der „rohe germanische König" im Kampfe mit
dem Papstthum unterliegt, wenn er „den Nacken unter
— 48 -
dieses Joch beugt und sich zuweilen tiefer in den
Staub erniedrigt als wen je ein römischer Imperator
unterworfen hatte?" Warum nennt er dies die „ein-
zige, arme Ganugthuung welche uns Lateinern die
langen Seiten jener trostlosen Geschichte darbieten?"
m.
Boccaccio.
Auf demselben Vehikel wie schon seit längerer
Zeit die Götter und Helden der griechischen Sage,
dringen neuestens auch die Schriftsteller der italieni-
schen Renaissance in den Vorstellungskreis des minder
gebildeten Publikums ein, nämlich auf den Fittichen
luftiger, lieblicher Operettenmelodien. Das Textbuch
zu Supp^s „Boccaccio" ist ein Kapitel Litteratur-
geschichte; wir erfahren sofort dass die drei bedeu-
tendsten italienischen Novellisten des vierzehnten Jahr-
hunderts Sacchetti, Herr Fiorentino und Giovanni
Boccaccio heissen ; von des Letzteren Novellen werden
einige der pikantesten dramatisiert und die x^nfänge
des italienischen Dramas selbst uns in einer Commedia
deir arte kurz und bündig vor Augen geführt. Auch
ein Theil OUendorflF steckt darin, und am Vorabende
einer italienischen Beise wird wer keine Zeit zu gründ-
licher Vorbereitung im Sprachlichen gehabt hat, grossen
Nutzen aus diesem Schauspiele ziehen; er wird die
Begrüssungsformeln lernen, die wesentlichsten Flüche
und Ausrufe, und dutzendfache Wiederholung wird ihm
einige der so unentbehrlichen Zahlwörter — „immer
zu undici, docUci, tredici^ — aufs angenehmste ein-
prägen; für Vorgeschrittene sind einige leichteren
poetischen Stücke eingelegt. Derlei erbaulichen Be-
Schnchardt, Romanisches u. Keltisches. 4
— 50 —
trachtungen gab ich mich hin, als ich zum ersten Male
den „Boccaccio" sah; dass mein Denken jählings eine
andere Richtung einschlug, daran war die Aeusserung
meines Nachbars schuld: „Wie schade dass diese
hübsche Musik an ein solches Sujet gewendet worden
ist!" Meine philologische Ader schwoll an — „ein
solches Sujet!" Wenn hier einmal von Herabwürdigung
geredet werden soll, so darf sich gerade das Sujet
beklagen, nicht der Musik, wohl aber dem Libretto
gegenüber. Allerdings zeigt dieses Spuren von ernstem
Studium; ich sah in mein Buch, und gleich aus der
ersten Bühnenanweisung wehte mich der Geist der
Meininger an. „Was man von der Kirche Santa Maria
Novella sieht, ist im freundlichsten Stile gehalten ; die
Wände würfelförmig, mit weissem und schwarzem
Marmor bekleidet"; die Worte klingen wie ein Citat
aus Gsell-Fels, und die Mahnung, „statt des kirch-
lichen Ernstes müsse das naiv-fröhliche Behagen der
Italiener an derlei Festlichkeiten vorherrschen", be-
kundet liebevolles Eingehen auf fremde Volkseigen-
thümlichkeit. Allein zwischen etwelcheha soliden Ge-
mäuer baut sich ein lockeres phantastisches Fachwerk
auf, und es werden Zeiten, Orte und Sitten bunt durch-
einandergeworfen, und doch, wem würde es im Ernste
beikommen den Textdichtern die Freiheit die sie sich
mit der Geschichte nehmen, zu verargen ? Nun möge
Thalia der Klio einen Gegendienst leisten, es möge
die Operette einigem Thatsächlichen über den alten
ausländischen Autor den sich ihre übermüthige Laune
auserkor, den Eintritt in diesen Raum vermitteln, wo
man nur von gegenwärtigen oder lebhaft nachwirkenden
Dingen zu lesen gewohnt ist.
— 51 —
Hoffentlich werden die Gelehrten diese Art der
Einfahrung nicht als eine zu frivole ansehen. So aristo-
kratisch sie sind, eitleren sie doch oft die grosse Menge,
indem sie von „allbekannten^, „weltberühmten^ Persön-
lichkeiten reden. Was aber ist der Ruhm auch des
Berühmtesten ? Das schwache Licht eines Sternes über
den nur die Astronomen Näheres zu melden wissen,
und meistens ein getrübtes dazu. Wie entscheidend
vermag ein Schlagwort, ein Gemälde, ein Bühnenstück
auf unsere ganze Vorstellung von irgend etwas Ge-
wesenem einzuwirken. Wird sich nicht denjenigen
— wie gross ich mir ihre Zahl denke, will ich nicht
sagen — welche von Boccaccio weiter nichts wissen
als dass er schlüpfrige Geschichten recht hübsch zu
erzählen wusste, wird sich ihnen nicht, unter dem von
der Operette empfangenen Eindrucke, das rohe Bild
beleben und ergänzen ? Die Nichtexistenz eines Herzogs
von Toskana zu Boccaccios Zeit bedarf so wenig aus-
drücklichen Nachweises wie dass niemals, auch zu
Herzog Leontes' Zeit nicht, Böhmen bis an das Meer
reichte; aber darzuthun dass Boccaccios Novellen mit
seinem Leben nicht in einem solchen Zusammenhange
standen, sein Verhältniss zu den Frauen nicht ein solches
war wie wir es in dem Stücke dargestellt sehen, das
ist vielleicht keine ganz undankbare Arbeit.
„Novelle" bedeutet im Italienischen zunächst die
Neuigkeit; es wird das Wort auf Alles angewendet
was man Einem auf die Frage „was gibt es Neues?''
zu erzählen weiss, Gaunerstreiche, Witzworte, Ehe-
skandale, kurz jede Art des Stadtklatsches. Daher
erklären sich manche italienische Bedensarten, z. B.
mettere in novella, „zum Gespött machen". Diesen
4*
— 52 —
ursprünglichen Charakter der Novelle als einer der
unmittelbaren Wirklichkeit entnommenen Anekdote hat
noch am treuesten die Sacchetti'sche Sammlung ge-
wahrt. Sacchetti selbst sagt uns : „Ich habe mir vor-
genommen alle die Novellen zu sammeln welche vor
Alters oder neuerdings sich zugetragen haben, und
einige insbesondere welche ich mit ansah und erlebte,
und gewisse von denen die mir selbst passiert sind."
Und denjenigen welche meinen würden, das seien
Fabeln, erwidert er im Voraus dass sich vielleicht ein
paar darunter befanden, aber dass er sich bemüht habe
die Novellen der Wahrheit gemäss niederzuschreiben.
Es könne wohl sein, wie das häufig vorkomme, dass
eine Novelle sich auf den Giovanni beziehe, und Einer
sage, „sie hat sich mit dem Pietro zugetragen'*; das
sei ein geringer Irrthum, deshalb dürfe man nicht
behaupten, sie habe sich gar nicht ereignet. Durch
einen sehr grossen Theil der Novellen wird uns das
was Sacchetti in der Vorrede sagt, auf ausdrückliche
und eigenthümliche Weise bestätigt; sie sind nämlich
so geschmack- und pointelos dass die einzige Ent-
schuldigung dafür dass sie aufgezeichnet wurden, in
ihrer Wirklichkeit liegt, eine Entschuldigung von der
wir freilich schwer begreifen wie sie sich die Mitwelt
gefallen Hess, während ja die Nachwelt für den Mangel
ästhetischen Interesses sich an dem kulturhistorischen
entschädigt. Der biedere Sacchetti selbst glaubt alle
Anforderungen befriedigt, wenn das Wirkliche was er
uns auftischt, zugleich etwas Neues, etwas noch nie
Dagewesenes ist. Er kündigt zwar hie und da „tref-
fende" Worte und „ergötzliche" Streiche an ; aber sein
Lieblingsausdruck bleibt „neu" : „ein Spassmacher foppt
— 53 —
einen Geizhals mit einer neuen Antwort — Donnellino
verkauft einer Frau zwei Gänse um einen neuen Preis
— Bonamico lässt seinem Freunde mit einem neuen
Kunstgriff vom Hufschmied einen Zahn ausziehen —
Carmignano entscheidet durch einen neuen Einfall einen
Streit beim Spiele" u. s. w. Nun, die Sacchetti'sche
Neuheit gemahnt uns meistens an das wunderliche
Kleinleben niederländischer Bilder; wir verspüren nichts
von dem frischen Hauch der „Neuzeit", nichts von
dem feinen Duft der italienischen Renaissance. Sollte
die Novelle zu einer kunstgemässen Entfaltung ge-
langen, so musste ein anderer Weg betreten, es musste
jene Grundbedingung der Wirklichkeit etwas weniger
streng genonmien werden. Wer des angedeuteten Ur-
sprungs der Novelle eingedenk ist, mag sich das leicht
zur Anschauung bringen. Unter denen welche Neues
zu erzählen, wie unter denen welche Neues zu hören
lieben, wird man zwei verschiedene Richtungen wahr-
nehmen: den Einen kommt es mehr darauf an dass
die Geschichte hier oder dort, heute oder gestern, mit
diesem oder mit jenem passiert ist ; den Andern, dass
sie spanne, überrasche und ergötze. Ein Erzähler der
letzteren Art sieht sich oft genöthigt, um seine Waare
an einen Hörer der ersteren Art zu bringen, sie mit
einer modernen Etikette zu schmücken. „Wissen Sie
was dem So und So am vorigen Sonntag begegnet ist?"
fragt er uns, und dann folgt eine Geschichte die wir
uns dunkel erinnern vor vielen Jahren in einem alten
Pergamentband gelesen zu haben. Aehnlich verfuhren
die Novellatoren des Mittelalters, wenn sie an langen
AVinterabenden der Aufgabe walteten ihre hohen Gönner
zu zerstreuen und in schenklustige Stimmung zu ver-
— 54 —
setzen. War der Born zeitgenössischer Anekdoten
versiegt, dann speiste man ihn aus jenen immer rin-
nenden Bächen ferner und geheimnissvoller Herkunft.
Je mehr, was den Charakter der Novelle anlangt, die
blosse Neuheit hinter gewichtigere Eigenschaften zu-
rücktrat, um so mehr sah man auch davon ab ob sie
der Zeit nach neu war oder nicht.
Auf dieser Entwicklungsbahn ist die älteste ita-
lienische Novellensammlung die wir besitzen, der um
ein Jahrhundert jüngeren von Sacchetti bedeutend
voraus, obschon in der Form roher und anekdotenhafter.
Das Buch soll, wie der Titel sagt, das Andenken
an einige „schöne Redeblumen, schöne Höflichkeiten,
schöne Antworten, schöne Ritterthaten, schöne Schen-
kungen und schöne Liebschaften" fortpflanzen, und die-
selben werden allen Ländern und Zeiten, ohne absicht-
liche Veränderung des Kolorits, entlehnt. Also man
ging über das was man erlebt hatte, was Einem durch
Augenzeugen mitgetheilt worden war, weiter und weiter
hinaus, bis in das Sagenhafte meinetwegen, aber nie
bis ins Märchenhafte, nie bis zu dem was sich als
Erfindung offenbarte, und noch weniger erfand man
selbst; dadurch dass sie als wirkliche gegeben und als
wirkliche genommen wurde, unterscheidet sich die alt-
italienische Novelle von der heutigen und ist höchstens
mit unserer „wahren Geschichte" zu vergleichen. Es
verbreitete sich nun der Geschmack an der Novelle
nicht nur, er verfeinerte sich auch; zudem mehrten
sich die Erzähler und traten in lebhaften Wettstreit;
es galt den reichen, gut gewählten Stoff in anmuthigster
Form vorzutragen. Die Stimmen sind längst verhallt,
und das Lob der Zeitgenossen hat keinen Sinn mehr
— 55 — .
für uns; mit der Feder aber errang sich Boccaccio
die Palme auf Jahrhunderte hinaus. Er hat zuerst
verstanden in Prosa zu schreiben, und mehr noch in
Prosa zu dichten, und als Dichter ist er den alten
poetischen Grundsätzen, denen die er selbst predigte,
untreu geworden: Scholasticismus und Mysticismus,
Formel und Allegorie wurden über Bord geworfen,
das Wolkenschiff senkte sich zur Erde herab, und lange
vor der Erneuerung der eigentlichen dramatischen
Kunst wurde der „Griff ins volle Menschenleben^^
gethan; der Dekameron ist das erste moderne Buch.
Dieser Vorzug aber macht es den Heutigen gerade so
schwer den richtigen Standpunkt für die Betrachtung
und Würdigung Boccaccios zu finden, sodass er Vielen
vom Patriarchen der Sonettisten überragt zu werden
scheint. Allen aber vor dem fast zu verschwinden der
die nie wiederholte Beise durch die jenseitigen Reiche
unternahm« Der Glaube an Dantes Weltordnung, die
heisse Inbrunst mit der er über die Schranken unserer
Erkenntniss hinausdringt, die Wunderkraft Visionen
in Fleisch und Bein zu verwandeln, ist der Nachwelt
abhanden gekommen; sie bewundert die göttliche
Komödie um so mehr, je grösser die trennende Kluft
ist. Boccaccios Anfänge hingegen sind sämmtlich mit
Fleiss und Glück fortgesponnen worden : die ungebun-
dene Bede hat im Vergleich zur gebundenen erstaun-
liche Fortschritte gemacht ; die Technik der Darstellung
ist bis zur Raffiniertheit ausgebildet worden; man ist
bis in die innersten Tiefen des Sitzes menschlichen
Handelns und Leidens eingedrungen. Daher kann auf
den der unter den Schriftstellern seiner Zeit lebt, die
Kunst Boccaccios jenen Reiz nicht mehr ausüben der
— 56 —
einst unzertrennlich von ihr war. Allein erbaut euch,
ehe ihr den Dekameron aufschlagt, am Besten was das
Mittelalter bis dahin auf dem Gebiete der erzählenden
Gattung, sei es in Prosa, sei es in Versen, hervor-
gebracht hatte, und von einem Marionettentheater, wo
die verschiedenen Persönlichkeiten sich hauptsächlich
durch die Tracht unterscheiden, wo die Stimme des
Leiters nur eine beschränkte Nüancierung zulässt und
sein Talent nicht ausreicht die Eintönigkeit, die be-
ständige Wiederholung zu vermeiden, wendet ihr euch
um zu dem bunten Gewühle eines südlichen Festtages
mit seinen tausend Stimmen und tausend Gesichtern.
Boccaccios Kealismus muss sein Publikum, wenn
es nur halb so empfänglich war wie heutzutage das
;^mile Zolas, aufs äusserste überrascht und erregt
haben. Sacchetti, der durch sein Beispiel wenige Jahr-
zehnte später zur Herausgabe von Novellen aufge-
muntert wurde, ist nur ein sammelnder Antiquar; jener
ein wiederschaflFender Künstler, der uns ein unerreichtes
Denkmal von den Sitten seiner Zeit und seines Volkes
hinterlassen hat. Mag ihm die Wirklichkeit des Stoffes
dessen er sich bemächtigt, etwas weniger am Herzen
liegen, Wirklichkeit durchdringt wie der feinste Aether
jedes Atom seines Werkes, sie ist in jedem Antrieb
und in jeder Aeusserung, in den Kämpfen des Herzens
wie in den Gebärden und Mienen, von dem Vorder-
grund bis in die dämmernde Perspektive hinein, sie
ist überall. Erfunden hat meines Erachtens auch
Boccaccio nichts. Marcus Landau, der sich um das
Studium unseres Dichters verdienstlich bemüht hat,
sagt, es sei uns von einigen Novellen des Dekameron
keine Quelle bekannt, und so lange wir keine Spur
- 57 —
einer solchen entdeckt, sei es doch gar zu hart wenn
wir ihm nicht die Erfindung derselben zutrauten.
Die verhältnissmässig geringe Anzahl dieser Novellen
scheint gegen eine derartige Annahme zu sprechen;
es ist in Anschlag zu bringen dass so viele Schachte
in denen ihrem Ursprünge nachzuspüren wäre, seither
verschüttet worden sind. Wollte Boccaccio frei schaflFen
— die Fähigkeit dazu ist das was wir alle ihm zu-
trauen — so hätte er das wohl häufiger gethan, nicht
in so wenigen und wenig glänzenden Fällen. Denn
für die von Landau hieher gerechnete Novelle vom
Eitter und Falken, die allerdings von keiner ihrer
neunundneunzig Genossinnen verdunkelt wird und an
deren Dramatisierung noch jüngst des englischen Poeta
laureatus Talent gescheitert ist, führt Boccaccio als
Gewährsmann einen Zeitgenossen, den Coppo di Borghese
Domenichi an, der in späteren Jahren Gefallen daran
gefunden habe „sowohl seinen Nachbarn als auch Frem-
den von vergangenen Ereignissen oftmals zu erzählen,
wie er denn Solches geordneter, mit grösserem Kede-
schmucke und treuerem Gedächtnisse als irgend ein
Anderer zu thun verstand"; unter anderen schönen
Geschichten habe er namentlich diese — das spricht
für seinen guten Geschmack — zu erzählen geliebt.
Auf dieselbe Persönlichkeit beruft er sich unter ähn-
lichen Bemerkungen in einem gelehrten Werke, dem
Kommentar zum Dante. Andrerseits scheint Boccaccio
nirgends im Dekameron ein persönliches Erlebniss
dargestellt zu haben. Zwar hat man früher geglaubt,
die Novelle von der Witwe und dem Studenten ent-
halte ein solches, aber dieselbe ähnelt allzusehr einer
alten indischen Erzählung, und Boccaccio wird wohl
— 58 —
nur einige subjektive Züge hineingewoben haben.
Manches fällt wenigstens in seine Zeit, und von jenen
lustigen Geschichten deren Mittelpunkt Calandrino
bildet, mag er unmittelbare Kenntniss gehabt haben.
Anderes gehörte der jüngsten Vergangenheit an und
lebte noch in sicherem Andenken.
Die Mehrzahl der Novellen aber hat, um zu
Boccaccio zu gelangen, eine mehr oder minder grosse
Beise gemacht, und kaum merkt man es der oder
jener an. Wie tagesfrisch erscheint der Schwank von
der Weintonne, der auch in die Operette eingelegt
ist, und 1200 Jahre vorher hatte ihn der Römer
Apulejua fast mit denselben Ausdrücken erzählt! Und
wer kann sagen ob eine solche alte Novelle — diese
Wortverbindung bedeutet nun keinen Widerspruch
mehr — nicht schliesslich doch in der Phantasie eines
Dichters oder Denkers wurzelt? Gegründeten Ver-
dacht hegen wir besonders gegen die buddhistischen
Mönche dass sie ihre Nirwanabetrachtungen mit
tendenziös erfundenen Geschichten verschnörkelten.
Im Morgenlande hält der Despotismus die freie Eede
danieder; jede Lehre der Klugheit oder der Moral
welche an hochstehende Personen gerichtet wird, muss
sich in irgend ein Gewand vermummen; wo keines
fertig ist, wird es aus buntem Stoffe neu zugeschnitten ;
daher Menschen- und Thierfabel. Mit den Pürsten-
spiegeln der Buddhisten und der Mohamedaner zeigt
sich der Dekameron nicht nur in manchen Stoffen
verwandt, sondern auch durch die Eahmenerzählung,
welche freilich dort ein steifer goldener Leisten, hier
ein grünes und blühendes Gezweig ist. Landau meint
dass Boccaccio sich von den Banden solcher mora-
— 59 —
lischer oder politischer Nebenzwecke freigemacht habe
wie sie in den älteren Sammlungen mehr oder weniger
offen zu Tage treten. Das ist nicht ganz richtig.
Die lehrhaften Betrachtungen welche den Novellen
vorausgehen und folgen, mögen nicht viel besagen,
aber kann man die Vorrede gänzlich übersehen ? Seiner
bestimmten Erklärung zufolge schreibt Boccaccio sein
Werk den verliebten Frauen zur Unterstützung und
Zuflucht, Trost und Erheiterung; aus den darin ent-
haltenen ergötzlichen Dingen sollen sie nicht nur Ver-
gnügen, sondern auch guten Bath schöpfen, indem sie er-
kennen was sie zu vermeiden, was sie zu erstreben haben.
Deshalb ist es auch nicht ganz unmöglich dass die
Worte: „zugenamt Fürst Galeotto" nicht ein späterer
Zusatz sind, sondern von ihm selbst herrühren; sie
bezeichnen eben den Dekameron als Liebesvermittler.
Insoferne hatte auch jener fromme Kartäusermönch
der ein Dutzend Jahre darauf dem Boccaccio ins
Gewissen redete, nicht durchaus Unrecht wenn er
dessen Schriften Werkzeuge des Teufels nannte, die
Seelen zur Sinnenlust zu verführen und abzurichten.
Der Autor selbst sah dies ein und warnte später
einen Freund das Buch seiner jungen Frau in die
Hand zu geben, indem er die schlimmen Folgen
einer solchen Lektüre mit grellen Farben ausmalte.
Das süsse Gift aber hat durch Jahrhunderte fortge-
wirkt. Bonifazio Vanozzi sagt: „Wer zählen könnte
wie viel Frauen durch . den Dekameron ihre Ehre ver-
loren haben, würde starr vor Erstaunen sein." Es
werden sogar bestimmte Thatsachen vorgebracht. Ein
angesehener Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts,
Ortensio Landi, welcher dann später das Werk als
— 60 —
einen Lehrmeister fürs Leben empfohlen hat, weil
man unter Anderem daraus lerne sich vor den Listen
der Weiber zu hüten, erzählt, ein junges Mädchen zu
Mailand, das er persönlich kannte, habe, nachdem sie
die fünfte Novelle des siebenten Tages gelesen, ein Loch
in die Wand des Vorzimmers gemacht, um mit einem
jungen Manne in Unterhaltung zu treten und sich von
ihm verführen zu lassen. Aehnliches hat sich in jüng-
ster Zeit auch unter uns zugetragen; doch weiss ich
nicht ob Boccaccio dafür verantwortlich gemacht werden
kann. Sicherlich sind zu vielen Ränken und Schwän-
ken die Recepte aus den Büchern entnommen worden ;
ein merkwürdiges Zurückfliessen der Novelle in das
grosse ürmeer der Wirklichkeit!
In den Dekameron hat, so viel wir gesehen haben,
Boccaccio nichts von seinen eigenen Liebesangelegen-
heiten eingeflochten, um so mehr in seine andern
Werke, indessen in so verhüllter und ausgeschmückter
Weise dass seine Biographen wenig davon erbaut
sind. Wie Dante und Petrarca hat auch er seine
Muse besessen. Es ist ein wunderlicher Zufall dass
der Einfluss den die drei Frauen auf die drei Dichter
ausgeübt haben, durch die Namen der Ersteren charakte-
risiert wird. Beatrice, „die Seligmacherin", verklärt
sich in Engelsgestalt, ja löst sich in ein Symbol auf
und hebt ihren mystischen Alighieri zu den ewigen
Wohnsitzen der Seligen empor; Laura schlingt den
lauro^ den Lorbeer, um die Stirn ihres sinnlich-plato-
nischen Verehrers, sodass er mit seinen Huldigungen
den Preis davon trägt an welchem ihm, wie die unab-
lässigen Wortspiele verrathen, schliesslich am meisten
gelegen war ; Fi a m m e 1 1 a , „die kleine Flamme" —
— 61 —
ihr eigentlicher Name war allerdings Maria — entzündete
in der Brust Boccaccios eine Leidenschaft die trotz
rascher Erhörung sich nur langsam abkühlte. Ihr zu
Gefallen ward er Schriftsteller. Es wird zwar erzählt
dass er als napoletanischer Student bei einem Besuche
von Virgils Grab zu Piedigrotta, in dessen Nähe er
wohnte, den Entschluss gefasst habe die Rechtswissen-
schaft aufzugeben und sich ganz der Dichtkunst zu
widmen. Das dürfte eine bleiche Reminiscenz an Dante
sein, auf dessen Spuren Boccaccio zu wandeln liebte.
Weit wahrscheinlicher klingt schon eine andere —
ebenso unverbürgte — Nachricht : es sei ihm einstens,
als er spazieren gegangen, bei jenem Gräbmale plötz-
lich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ein holdes
Weib erschienen, dessen Anblick ihn gänzlich umge-
wandelt habe. In Wirklichkeit wird es sich wohl noch
einfacher verhalten haben, etwa so wie das napoletani-
sche Volkslied sagt:
lo la vidi a Piedigrotta
Tutta gioja, tutta feata,
Dcdla mamma era condotta,
Ferle e gioje aveva in testa^
u. s. w.
Wenn uns Boccaccio erzählt, er habe seine Ge-
liebte zum ersten Male in einer Kirche erblickt, so
entrichtet er wahrscheinlich den Anforderungen der
damaligen Konvenieuz seinen Zoll; nur in geweihten
Hallen, an einem hohen Pesttage durfte eine solche
Liehe ihren Anfang nehmen die ein Jahrzehnt hin-
durch dauerte, die sich in Bänden voll Prosa und
Versen verewigte. Fiammetta bittet ihren Liebhaber,
er möge die Sage von Flor und Biancaflor, die sie ge-
— 62 —
«
hört hatte, in italienischer Sprache darstellen, und er
schreibt den Filocolo; er fällt in Ungnade bei ihr
und dichtet, um ihr Herz wiederzugewinnen, die The-
seide, indem er sich erinnert welch Gefallen sie in
glücklicheren Tagen an Geschichten, besonders Liebes-
geschichten, gefunden habe ; sie begibt sich aufs Land,
wohin er ihr nicht folgen kann, er sucht einen alten
Stoff der seinem geheimen Liebesschmerze als Ein-
kleidung diene, und es entsteht der Filostrato ; endlich
löst er selbst die Bande die ihn solange gefesselt
haben, und schildert dann in der Fiammetta das Seelen-
leiden einer von ihrem Geliebten Verlassenen. Der
Dekameron ist nicht mehr der einen Frau gewidmet,
sondern allen verliebten Frauen; der Name der Fiam-
metta ist darin nur wie eine Erinnerungstafel ange-
bracht. Wir wissen dass Boccaccio vor wie nach
der einzigen entschiedenen und entscheidenden Neigung
seines Lebens manche Verhältnisse gehabt hat. Doch
düifen wir ihn uns keinesfalls als einen renommistischen,
ausgelassenen Don Juan vorstellen ; es liegt dies weder
in seinem Charakter noch in den Sitten seines Landes
und seiner Zeit. Er ist kein Freund von allzu leichten
Eroberungen; er sagt einmal dass eine Frau welche
nicht aus Liebe, sondern um schnöden Gewinnes willen
sich preisgebe, des Feuers werth sei. Und dann sind
die Italiener, wenn ich nicht irre, von jeher in allen
Liebeshändeln nicht nur dringlicher ui^d erfinderischer,
sondern auch beständiger und diskreter gewesen als
die Nordländer, wozu beitragen mag dass dort bei der
Art der Eheschliessungen das unerlaubte Bündniss
nicht so tief unter dem rechtmässigen steht wie hier.
Vorsicht und Verschwiegenheit werden in den altitalie-
— 63 -
nischen Novellen als die ersten Tugenden eines Lieb-
habers gepriesen. Von neueren Zeugnissen fällt mir
gerade kein besseres ein als das jenes italienischen
Kellners der uns einst zu früher Morgenstunde — auf
einem Balle im Oberengadin war's — einen Vortrag
über die Kriegführung gegen das schöne Geschlecht
hielt und, frei nach Montecuccoli, damit schloss, es
gehörten drei Dinge dazu um Glück in der Liebe zu
haben: erstens silenzio, zweitens secreto, drittens mistero.
Die Anweisung scheint doch nicht ganz ausreichend
zu sein, wenigstens hat Boccaccio, der sie streng zu
beobachten pflegte, nicht immer Glück in der Liebe
gehabt. Von einer Witwe wurden seine Bewerbungen
schnöde abgewiesen, und als Rache verfasste er eine
bittere Schmähschrift gegen sie und das gesammte
weibliche Geschlecht; auf die Ars amandi folgen die
Remedia amoris, auf den Dekameron der Corbaccio.
Später, als er sich bekehrt und der Sinnenlust Valet
gesagt hatte, schrieb er sein lateinisches Werk „über
die berühmten Frauen^ ; da tritt er uns als ein stren-
ger Moralist entgegen, in welchem wir kaum den
Schöpfer des Dekameron wiedererkennen würden, wäre
ihm nicht ein Geschichtchen wie das von Anubis und
der Paulina zwischen den Fingern hindurchgeschlüpft.
Den in süssen Nachtwachen erworbenen Schatz von
Kenntnissen hatten Motten und Bost gefressen, die
liebenswürdigen oder komischen Schwächen der Frauen,
einst mit unerschöpflicher Maimigfaltigkeit geschildert,
wurden nun in Einem weg als Todsünden gegeisselt, ein
frommer Kirchenvater hätte mit nicht geringerer Weis-
heit und mit nicht grösserem Eifer über diesen Gegen-
stand gepredigt — nur vielleicht in milderem Tone.
- 64 -
Mit so wenigen Worten lässt sich aber nicht er-
ledigen was Boccaccio von den Frauen gedacht hat,
wie er zu verschiedenen Zeiten gegen sie gestimmt
gewesen ist. Hierüber und über sein weibliches Schön-
heitsideal, sowie über die Toilettenkünste der damaligen
Florentinerinnen handelt ausführlicher ein Kapitel in
einem prächtig ausgestatteten tausendseitigen Quart-
bande der die lateinischen Schriften Boccaccios zum
Gegenstande und den gelehrtesten Triestiner, Attilio
Hortis, zum Verfasser hat. Mit dem Buche und
mit der Operette wurde ich ziemlich zu derselben Zeit
bekannt, und ich gestehe dass der Kontrast zwischen
beiden stofiFverwandten Werken mich wunderlich be-
rührte und den Wunsch in mir erregte etwas, wenn
auch von geringstem Umfange, hervorzubringen was
denselben Titel trüge und zwischen jenen schweren,
monumentalen Massen und diesen emporschiessenden
und zerplatzenden Feuerkugeln an Dichtigkeit und
Bewegungsfahigkeit die Mitte hielte. Dem launen-
haften Triebe gesellte sich ein berechtigterer zu: die
Aufmerksamkeit auch weiterer Kreise auf die ernsten
und gediegenen Studien hinzulenken welche am Gestade
der Adria blühen. Wir bekümmern uns um das Geistes-
leben unserer Nachbarn wenig, weniger denn sonst,
und das mag wohl zum Theile daran liegen dass sich
Faktoren trennend und trübend einmischen die mit
dem Höchsten und Besten, mit der Kultur, nichts zu
schaffen haben. Allein es ist unmöglich dass wir uns
nicht verständigen und herzlichst begrüssen sollten,
wenn wir uns in die Atmosphäre jener Zeit erheben
zu deren Kenntniss gerade Hortis mit unermüdlichem
JPleisse Beitrag um Beitrag liefert, jener ruhmvollsten
— 65 —
Periode italischen Blutes da es, uneins und ohnmächtig,
Europa unterwarf, da die „arme Magd^ Lehrmeisterin
und Erzieherin der Völker wurde. Man möchte glauben,
der Karst wäre ein unüberst-eigliches, mit ewigem Eis
bedecktes Gebirge. Aber führt nicht die Bora den
frischen Duft unserer Fichtenwälder zum blauen Meere ?
Gibt uns nicht der würzige Scirocco einen Vorgeschmack
des dort schon herrschenden Lenzes?
Schachardt, Bomanisches u. KeltischeB.
IV.
Die Geschichte von den drei Ringen.
Dass die nachfolgenden Worte über die berühm-
teste aller Parabeln durch irgend etwas wie Trau-
verweigerung oder Grabredenverbot, infallibilistische
Anathemata oder oberkirchenräthliche Erlasse angeregt
worden seien, dagegen verwahren wir uns mit Ent-
schiedenheit. Die Veranlassung ist vielmehr eine ganz
harmlose. In diesem Sommer hat A. Tobler aus
einer Pariser Handschrift ein altfranzösisches Gedicht
von ein paar hundert Versen, Li dis dou vrai aniel,
herausgegeben und es mit litterarischen Nachrichten
und sprachlichen Erläuterungen verziert. Wir ver-
missen in der sorgßlltigen und gefälligen Arbeit nur
eine Geschichte des Stoffes; doch vertröstet uns der
Herausgeber derentwegen auf einen ungenannten Freund.
Bis nun von dieser Seite den Sachverständigen durch
Erfüllung eines schon lange gegebenen Versprechens
Genüge geleistet wird, mögen hier die Fernerstehenden
in kurzen Andeutungen an die verschiedenartigen Ge-
staltungen der Geschichte von den drei Bingen und
an einiges ihr ideell Verwandte erinnert werden.
Je schwerer das Verhältniss der einzelnen Glaubens-
bekenntnisse zueinander durch eine Formel auszudrücken
ist, desto eher und öfter hat man es in einem Bilde
— 67 —
zu yeranschaulichen gesucht. Wir haben dabei drei
Hauptfälle des Urtheils zu unterscheiden:
1. Die Beligionen sind in Wirklichkeit
von gleichem Werthe. und zwar: entweder
taugt eine so wenig wie die andere. Dahin zielt jener
Ausspruch von den drei Betrügern der Menschheit,
Moses, Jesus und Mohamed, welchen man als An-
klagepunkt gegen die Freidenker aller Jahrhunderte,
von Kaiser Friedrich II. abwärts, willkommen geheissen
hat. Oder eine taugt so viel wie die andere; Jeder
kann, um mit dem alten Fritze zu reden, auf seine
Fa^on selig werden. Diese Auffassung spiegelt sich
in einem Oleichniss ab welches wir dem neueren
Persien verdanken. Den Dichter Kemal Ibn Oajass
lässt der Sultan Mirsa zu sich rufen und fragt ihn
(wir bedienen uns der Worte Rückerts):
In vier verschiedne Sekten theilt
Sich alles Volk der Muselmanen;
So sage nun mir unverweilt:
Wer geht davon auf rechten Bahnen?
Worauf jener erwidert :
Du thronest hier in einem Saal
Zu dem geöffnet sind vier Thüren,
Und deinen Thron sieht allzumal
Wen du durch eine lassest führen.
Dass ich des Weges nicht geirrt,
Des musste mir dein Bote frommen,
Und nun weiss ich, vom Glanz verwirrt.
Nicht welches Weges ich gekommen.
Diese Antwort, welche vom Sultan reich belohnt
wird, ist eine sofiistische (nicht eine sophistische);
denn die Sofi beten Gott nur in der Liebe an und
5*
- 68 -
verhalten sich gegen alle äusseren Formen gleichgültig,
kennen daher keine Rechtgläubigen und keine Un-
gläubigen.
2. Die Religionen sind nur scheinbar
von gleichem Werthe, in der That ist eine
einzige die wahre, aberweiche, weiss Gott
allein. Auf dem menschlichen Standpunkt vollkom-
mener üngewissheit befindet sich Saladin kurz vor
seinem Tode. Von all seinem Reichthum ist nur ein
kostbai*er Tisch übrig; er lässt ihn mit einem Beil in
drei gleiche Theile zerhauen und widmet dem Mohamed,
dem Judeijgott und dem Christengott je einen Theil;
wer der stärkste sei, der möge ihm helfen. Der biedere
Jansen Enenkel (ein Wiener Dichter des 13. Jahr-
hunderts) erzählt es in seinem Weltbuche. Dem Juden-
thum als der unterdrückten und doch so ausserordent-
lich zähen Religion war es vorbehalten für diesen
hienieden unlösbaren Zweifel ein sinnreiches Bild zu
entdecken, um sich nach aussen, wenn nicht das Vor-
recht, so wenigstens die Möglichkeit des allein gött-
lichen Ursprungs zu wahren. Die Darstellung der
verschiedenen Bekenntnisse als vererbter Kleinode liegt
ganz innerhalb der jüdischen Gedankenreihe. Die Ein-
kleidung in Frage und Antwort ist auch dem persischen
Gleichniss eigen (obwohl es hier entlehnt sein mag);
aber dass sich die Frage als Fallstrick, die Antwort
als listige Auskunft erweist, das verräth jüdischen
Ursprung. Indessen ist uns die in Rede stehende
Parabel als jüdische erst aus später Zeit bekannt.
Salomo Ben Verga (Ende des 15. Jahrhunderts) theilt
uns nämlich an der Stelle seines Schöbet Jehuda welche
von den Judenverfolgungen in Spanien handelt, eine
— 69 —
Unterhaltung zwischen König Pedro dem Aelteren von
Aragonien (1094 — 1104) und dem Juden Ephraim
Sanchus mit. Letzterer erzählt dem König auf dessen
Frage welche Religion die wahre sei, die christliche
oder die jüdische: sein Nachbar habe vor einer Heise
jedem seiner beiden Söhne einen Edelstein zurück-
gelassen, und er, Ephraim, sei über die Eigenschaften
und den Unterschied dieser Edelsteine befragt worden.
Er habe gerathen die Entscheidung bis zur Bückkehr
des Vaters, der ja Juwelier sei, aufzuschieben, und da
habe man ihn geschmäht und geschlagen. Diese rabbi-
nische Ueberlieferung hat ohne Zweifel ein hohes Alter;
sie ist ein erster Versuch oder nicht weit davon ent-
fernt. In wesentlich anderer und besserer Gestalt, die
sie aber gewiss noch innerhalb des Judenthums em-
pfangen hat, begegnen wir ihr als der altitalienischen
Novelle von den drei Bingen: zunächst unter den
hundert alten Novellen, dann im Awenturoso Ciciliano
des Busone da Gubbio (eines Freundes von Dante),
endlich im Dekameron Boccaccios. Es lässt sich nicht
läugnen dass diesem Edelstein, welcher unter den Bari-
täten des Novellenbuchs wegen seiner Unansehnlichkeit
noch leicht zu übersehen ist, erst von Boccaccios
KünsÜerhand Glanz und Glätte zu Theil ward; aber
seine symbolische Kraft bewährt sich am reinsten und
stärksten bei Busone. Hier liebt der Vater den einen
Sohn am meisten und hat ihm von Anfang an den
Bing zugedacht (dem ältesten — eine Anspielung auf
die Erstgeburt des Judenthums); die Werthlosigkeit
der beiden nachgeahmten Binge wird nachdrücklich
hervorgehoben. Bei Boccaccio liebt der Vater seine
Söhne ganz in gleicher Weise, und in gleicher Weise
— 70 —
sucht er sie zufrieden zu stellen ; von dem verschiedenen
Werth der Ringe wird nicht gesprochen. In der That
ist ja der Werth, d. h. der äusserliche, ziemlich gleich-
gültig. Die eigentliche Bedeutung des alten Binges
beruht auf der Verordnung des Ahnherrn; durch den
letzten Willen des Vaters der drei Söhne aber, nicht
nur den ausgesprochenen, sondern auch den wirklich
gehegten, erhalten die nachgefertigten Ringe dieselbe
Bedeutung wie jener: es sind far das worauf es an-
kommt, für die Erbfolge, alle drei Ringe von gleichem
Werthe, und Monsignor Bottari hat sicher nicht viel
Ursache einen Beleg für den katholischen Sinn Boc-
caccios in dieser Novelle zu erblicken. Versuchen wir
andrerseits sie jenem Grundgedanken von welchem wir
zuerst sprachen, anzupassen, so bleibt wiederum das
Zweideutige und Störende des echten und rechten Ringes.
Kurz, das Bild schwebt auf der Spitze einer gewölbten
Fläche; der leiseste Druck daran, der einen oder der
andern Un Vollkommenheit abzuhelfen, bringt es zum
Rollen nach vorn oder hinten. Boccaccio will besser
begründen warum das Benehmen des Vaters gegen alle
Söhne das gleiche ist, und das Bild rollt rückwärts;
wollte Jemand besser begründen warum der eine Ring
so hohe Ehren geniesst und seines Oleichen nicht findet,
so würde es vorwärts rollen.
3. Die Religionen sind von ungleichem
Werthe, nur eine ist die wahre, und sie gibt
sich auch als solche den Menschen zu er-
kennen. So sagt das Christenthum. Wozu sonst
seine Blutzeugen und seine Wunderzeugnisse? Petri
Fischerring ist der echte Ring. Wir deuteten schon
an wie leicht die Abänderung des Gleichnisses vor sich
— 71 —
geht: die Wunderkraft des Christenthums wird durch
die Wunderkraft des einen Ringes versinnbildlicht.
Von Alters her laufen viel Geschichten um von Bingen
mit übernatürlichen Kräften; so die eine von dem
Binge Fastradas, welcher Liebe zu erwerben vermochte.
Ein derartiger Zauberring ist in unserer Parabel an-
gebracht wie die Gesta Bomanorum sie erzählen. Der
jüngste Sohn schlägt die Zweifel der Brüder an der
Echtheit seines Binges durch die Thatsache nieder:
er heilt mit ihm alle Krankheiten, während die beiden
andern Binge keine Wirkung ausüben. Nicht nur
dieser jüngeren Fassung, sondern der Geschichte von
den drei Bingen überhaupt älteste bekannte Auf-
zeichnung ist (aus dem 13. Jahrhundert) Toblers Li
dis dou vrai aniel. Daselbst ist die eigentliche Parabel
durch einen nicht sehr geschickten Zusatz erweitert,
zu welchem die zeitgenössische Geschichte die Veran-
lassung gegeben hat; der echte Bing bedeutet zuerst
die christliche Lehre, dann das den Christen geraubte
heilige Land oder vielmehr Beides zugleich. Es heisst
von ihm dass er
— iert qaasses et debrisies
Et estoit mis en nonccUoir,
Dont on se devoit bien doloir,
bis Gott drei Fürsten (Philipp III. oder IV. von Frank-
reich, Bobert 11. von Artois, Guido von Flandern) dazu
beruft dem Binge zu seinem rechtmässigen Besitzer
und zu seinen alten Ehren zu verhelfen. — Jahrhun-
derte später zersprang der echte Bing in viele Stücke ;
bei welchem Stücke ist die Wunderkraft verblieben?
Und wie äussert sie sich ? Die Wunderquelle der alten
Zeit ist versiecht, und pochen wir auf die augenfällige
- 72 -
besondere Wirkung gerade unserer Lehre, so räumt
man uns dies nicht ein, entgegnet uns vielmehr: wir
Wilden sind doch bessere Menschen.
Lessing, an der berühmten Stelle seines Nathans
des Weisen, begnügt sich nicht mit Einem; in einer
Musik von schönen üebergängen reiht er Verschiedenes
aneinander und schliesst mit einem vollen, ergreifenden
Accord aus seinem innersten Herzen. Mir ist unbekannt
was die so reiche Nathanlitteratur darüber berichtet;
auf die Gefahr der Wiederholung hin sei dieses Wenige
gesagt. Zuerst wird die Geschichte von den drei Bingen
nach Boccaccios Lesart vorgetragen ; dann aber ausfuhr-
lich die Verhandlung vor dem Schiedsrichter geschildert.
Dieser spricht, nachdem er den Fall angehört hat:
Wenn ihr mir nun den Vater
Nicht hald zur Stelle schafft, so weis' ich euch
Von meinem Stuhle.
Ganz wie bei Salomo Ben Verga. Der Richter
fahrt fort:
Doch halt! Ich höre ja, der rechte King
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen,
Vor Gott und Menschen angenehm.
Der Bing ist wunderthätig (die Erwähnung dieser
Eigenschaft findet sich allerdings schon gleich im An-
fang eingeschaltet), aber nicht wie in dem Dit dou
vrai aniel und den Gesta Romanorum, indem er Krank-
heiten heilt, sondern indem er, wie Pastradas Ring,
Liebe erwirbt. Als aber keiner der Ringe diese Probe
besteht, ruft der Richter aus:
80 seid ihr alle drei
Betrogene Betrüger! Eure Ringe
Sind alle drei nicht echt.
— 73 —
Siehe das Buch de tribus impostoribus. Und end-
lich jene versöhnende Mahnung welche so nah an die
„vier Thüren" des Mewlana anklingt:
Wohlan !
Es eifre Jeder seiner unbestochnen
Von Vorurtheilen freien Liebe nach!
u. s. w.
Aus der Geschichte von den drei Bingen schöpfte
Swift die Idee zu seiner Geschichte von den drei Röcken,
dem Tale of a tub; aber wie weitschweifig und wie
engherzig ist diese Satire ! sie dient, wie er selbst ein-
gesteht, der Verherrlichung der englischen Hochkirche.
Lessing blickte höher und weiter, vielleicht zu weit.
Bald (1879) sind es hundert Jahre dass sein Nathan
erschien; wie werden wir die Jubelfeier begehen?
Natürlich durch Aufführungen auf unseren Schau-
bühnen. Aber werden dann auch auf der grossen
Bühne des neuen Seichs die Spieler die in der Helden-
tragödie so reiche Lorbeeren pflückten, im bürgerlichen
Schauspiel der drei Binge die ,,Sanftmuth" und „herz-
liehe Verträglichkeit" zu zeigen wissen welche in ihren
Bollen vorgeschrieben ist? alle Spieler, auch die der
Hauptpartien? oder werden — doch
Flu8 n^en dirai a eheste fois.
V.
Ariost.
Da Ariost am 8. September 1474 geboren ist, so
hätte man sein vierhundertjähriges Geburtsfest im
September 1874 begehen müssen. Man hat aber diese
Feier aufgeschoben. Warum, kann ich mit Bestimmt-
heit nicht sagen ; vielleicht dass das gewaltige Bauch-
opfer welches man im Juli 1874 auf dem Altar
Petrarcas angezündet hatte, erst verdampfen sollte ehe
man ein anderes — weit kleineres, wie es scheint —
auf dem Altar Ariosts darbrächte. Wie dem auch sein
mag, man hat das Ariostfest von Ferrara in den
Mai 1875 verlegt, und zwar mit der Einweihung des
Concor so agrario regionale verbunden. Es ist wahr,
Ariost schwärmte für den Landsitz Mauriziano und
entwirft von dessen Seizen eine begeisterte Schil-
derung; es ist wahr, Ariost spricht hie imd da von
Ochsen, Furchen und Ackerwerkzeugen mit mehr
oder weniger Anerkennung ; es ist endlich wahr, Ariost
hat eine Ekloge gediehet. Aber musste deshalb seine
Jubelfeier ein landwirthschaftliches Gepräge erhalten,
musste die Woche in welche sie fallt, mit der Eröff-
nung des besagten Concorao agrario beginnen und mit
der Preisvertheilung an die Aussteller schliessen ? Zu
wessen Ehren die dreifache Aufführung der „Aida"
- 75 -
stattfindet, das Feuerwerk auf der Piazza d'armi, der
Wohlthätigkeitsball, die Wettfahrten, zu Ehren der Ceres
oder der Musen, das Programm sagt es uns nicht.
Laut diesem wird übrigens am 23. Mai das Standbild
des Ferraresen Savonarola enthüllt, der nur darum
mit Boccaccios und Petrarcas Schriften nicht auch die
Ariosts verbrannte weil sie noch nicht geschrieben
waren. Ein buntfarbiges Fest, nicht wahr? und die
Einladungen dazu erst drei Wochen vorher in die Welt
zu senden ! Das heisst doch geradezu sich alle Ariosti-
schen Festschriften verbitten. Nun, da bleibt nichts
übrig als wir stammeln in Eile aus unfertigen Be-
trachtungen, rasch aufgegriffenen Bildern und ein paar
Citaten einen Gruss zum Geburtstag des Dichters zu-
sammen, zu dem welchen ihm die gute Stadt Ferrara
aufgenöthigt hat.
Doch nein; an die Stelle des scheinbar so be-
scheidenen „wir^^ trete das wirklich bescheidenere
„ich"; der Gruss soll ein rein persönlicher sein. Wie
könnte ich auch z. B. im Namen derjenigen reden
welche mit dem Donnerkeil des „sittlichen Ernstes"
die Welt regieren? Ach, nicht einmal sittliche
Heiterkeit darf ich f^ Ariost in Anspruch nehmen,
nein, Heiterkeit und nichts weiter, aber diese in voll-
stem Mass, und deswegen ist Ariost so gross. Wie
viel leichter ist es dem Dichter, dem Wort- wie dem
Tondichter, unser Blut in Sturm zu peitschen und
unser Herz mit ungelösten Bäthseln zu ängstigen als die
Wellen in uns zu beschwichtigen und uns mit dem
Gefühle vollkommenen Einklangs, hellen Jubels zu er-
fallen? Wie viel dankbarer müssen wir nicht den-
jenigen sein denen das Letztere gelungen ist? Die
- 76 -
Verse Ariosts wirken wie die Melodien Mozarta. unter
unsern Dichtern, ist nur einer der in olympischer
Heiterkeit mit Ariost wetteifert: Goethe.
Goethe und Ariost weisen überhaupt manche sehr
verwandte Züge neben den allerverschiedensten auf.
Der träumerische, zerstreute Ariost, der nur auf der
Landkarte zu reisen liebte, und Goethe mit seiner
starken Theilnahme an der Aussenwelt, seiner scharfen
Beobachtungsgabe, seinem lebhaften Beisedrang, Beide
sind aristokratische Naturen, Hofleute, der grossen
Menge wenig geneigt; bei Beiden tritt die Liebe zum
Vaterland kaum, um so stärker die zum andern Ge-
schlechte hervor. „Lieben und lieben lassen" war
Ariosts Wahlspruch:
Ch^ io per we voglio dl capd nero e al bianco
Ämare ed esortar che sempre s^ami,
(Elegie XV, 40 f.)
„Der Urquell alles Dichtens ist die Liebe,*' das
haben die Dichter selbst von jeher unzählige Male be-
hauptet. Kein Dichter kann das
Scribenti mi dictat Amor moatratque Cupido
mit grösserem Rechte von sich sagen als Ariost. Zwar
hält der kleine Amor der auf seinem Schreibzeug an-
gebracht ist, den Zeigefinger auf den Mund, als ob er
zum Schweigen mahne. Aber es handelt sich hier offen-
bar nur um die Verschwiegenheit in Prosa gegenüber
dem rohen Ausplaudern von Thatsachen; mit Liebesduft
(und nicht mit künstlich gewonnenem, wie dem von
Vater Wieland) sind Ariosts Verse stark genug ge-
schwängert, üeber seine früheren Geliebten wissen
wir nichts Bestimmtes; ihre Zahl scheint eine be-
trächtliche gewesen zu sein. Wenigstens rühmt sich
- 77 -
Ariost selber seiner Unbeständigkeit. Wollen Sie wissen
wie Goethes
Heut lieb' ich die Johanne
Und morgen die Susanne,
Die Lieb' ist immer neu
in Äriostischem Latein lautet?
Est mea nunc Glycere, mea nunc est cura Lycoris,
Lyda modo meus est, est modo Fhyllis amor,
(De diversis amoribus, Anf.)
Später indessen liess sich Ariost in dauernde Bande
schlagen. Am Johannisfest zu Florenz 1513 hatte er
die schöne Alessandra Strozzi zum ersten Mal als
Witwe gesehen; das schon glimmende Feuer loderte
hoch empor und erlosch nie wieder. Von ihrem prächtigen
goldenen Haare, das so schön gegen die schwarze Klei-
dung abstach, singt Ariost öfters ; er bricht in schmerz-
liche Klagen, in Vorwürfe gegen den Arzt aus, als es
ihr bei einer schlimmen Krankheit abgeschnitten wurde.
Berenikes Haar wurde unter die Sterne versetzt;
Alessandras Haar wallt in üppigen Locken um den
Nacken der Ariostischen Heldinnen.
Es ist unbegreiflich wie Ruth hat behaupten
können, in Ariost sei der Mensch vom Dichter ver-
schieden. Als ob dies überhaupt möglich wäre, als
ob dieser Widerspruch nicht immer ein nur schein-
barer sein müsste! Sind etwa Ariosta Elegien, Can-
zonen, Sonette, Madrigale nicht in demselben Sinne
Gelegenheitsgedichte zu nennen wie die Lieder Goethes?
Welch ein Feuer rinnt in diesen marmornen Elegien!
Wie verschmilzt der Nachklang genossener Freuden
in Catullische Erinnerungen! Eine Liebesnacht die so
beschrieben wird wie es in der sechsten Elegie ge-
— 78 —
schieht, muss erlebt sein; eines so ungesuchten, un-
mittelbaren Ausdrucks ist keine ersonnene Seligkeit
fähig. Die Elegie schliesst, gleich den „Morgenliedern"
der alten Provenzalen und Franzosen, mit einer Klage
über, den anbrechenden Morgen — aber in antiker
Formel :
Warum verliessest, neidische Aurora,
Du deinen alten Tithon, ach, so früh
Und brachtest mir so früh die Trennuogsstunde ?
Wenn du des greisen Gatten müde bist.
Was suchst du dir nicht einen jungem Freund,
Und lebst in Freuden, lässt in Freuden leben?
Was die Satiren anbelangt, eine Gattung in
welcher Ariost sich nicht minder auszeichnete als in
der der Elegien, so sind sie geradezu die wichtigsten
Quellen für seine Lebensbeschreibung.
So bedeutend Ariost auch als Elegiker und Sati-
riker sein mag, als Gestirn ersten Banges leuchtet er
nur auf zwei Entwicklungsbahnen der italienischen
Dichtung, am Anfang der einen, am Ende der andern.
Mit ihm beginnt das Lustspiel, schliesst das romantische
Epos; auf beide fallen die Strahlen des wiedererwachten
Alterthums, dort als Morgenröthe, hier als Abendröthe.
Ich will nichts über Ariosts Lustspiele sagen, da die
Ansichten über sie nicht sehr auseinandergehen, und
über seinen „Rasenden Roland" nur wenige Worte.
Nie ist ein Werk so verschieden gewürdigt worden
wie dieses. Ich möchte es einem schillernden Stein
vergleichen der von der einen Seite roth, von der
andern grün, von der dritten blau erscheint, und dessen
Färbung nur als schillernde richtig bezeichnet wird.
Aus den verschiedenartigen ürtheilen geht die Wahr-
— 79 —
heit von selbst hervor. „Au Ariost bewundem
wir^S heisst es an einer Stelle, „nicht das Ganze,
sondern das Einzelne; nicht den Stoff, sondern den
Stil." An der andern heisst es: „Ariost hat nichts
erfunden; er hat dem Bojardo und wem sonst noch
die Erzählung, die Personen, die äussere Form des
Gedichtes gestohlen, seine eigene Zuthat ist gering."
Aus Beidem schliessen wir: was Ariost von Andern
hat, ist das unwesentliche; das Wesentliche gehört
ihm zu. Aeusserlich genommen ist allerdings Ariosts
Zuthat gering, unwägbar fast, wie Duft und Farbe
der Blumen; aber je schwieriger seine Kunst zu be-
greifen und auseinanderzusetzen ist, um so höher
steht sie. Oder denken wir uns eine byzantinische
Maria von der Hand eines Bafaels in eine bezaubernd
anmuthige und milde Maria verwandelt; werden die
Kenner nicht um so lauteren Beifall spenden je wenigere,
je leichtere Striche es den Maler gekostet hat? Werden
die Gläubigen nicht um so inbrünstiger zu dem neuen
Bilde beten je grössere Aehnlichkeit, trotz der Ver-
schiedenheit des Ausdrucks, ihm mit dem alten ver-
blieben ist?
Die Einen sagen, Ariost habe das Bitterthum ver-
spotten, die Andern, er habe es im Ernst verherrlichen
wollen. Diese, die befremdlichere Ansicht wird z. B.
von dem bekannten Dichter B. Zendrini vertreten
(Commemorazione di i. Ariosto, Ferrara 1866), Ihr
zufolge „fahlt und denkt Ariost wie seine Helden"
(S. 11), erzählt er jene durch die volksthümliche Ueber-
lieferung geheiligten Ereignisse mit der Einfachheit
eines Chronisten der. sie aus zuverlässigen Urkunden
schöpft (S. 9); in Bezug auf die scherzhafte Färbung
— so-
mit welcher zuweilen die ernstesten Dinge gegeben
werden, vergleicht Zendrini den Ariost mit Homer
(S. 8), obwohl doch schon A. W. von Schlegel einen
solchen Vergleich als irrig und irreführend zurück-
gewiesen hatte. Nein, Ariost beabsichtigt, auch da
wo er den Wahnsinn Rolands darstellt, keineswegs
Schrecken und Mitleiden zu erregen ; aber ebensowenig
soll sein Gedicht eine Satire auf das Ritterthum ent-
halten. Die Alternative ist oft eine sehr gefahrliche
Scylla und Charybdis für die litterarische Kritik. Ariost
hatte überhaupt nach dieser Richtung gar keine be-
stimmte Absicht. Bei ihm haftet der Erzählung keine
selbständige Bedeutung an; sie ist ihm das Gewand,
mag es von Sammet, Seide oder Tuch sein, auf dem
er seine bunte Stickerei anbringt. Deshalb eben wählte
er einen im Wesentlichen schon bekannten Stoff da-
mit auf ihn nicht allzusehr das Interesse abgelenkt
würde von den neuen Schönheitslinien in welche
er ihn einschloss, von den Arabesken seiner heitern
Laune mit welchen er ihn umschlang. Deshalb auch
wirrte er die zahlreichen Fäden der Handlung so
übermüthig durcheinander. Ariost trachtet nicht dar-
nach in dem Leser die Ueberzeugung hervorzurufen
dass wirklich geschehene Dinge besungen werden;
„ob's wahr, ob's falsch," scheint er ihm in seiner
beliebten Formel zu sagen, „was kümmert's dich?"
Eine wunderbare Kette von Wandlungen führt
vom Rolandslied auf den „Rasenden Roland". Wie oft
ist der Wein aus einem Gefass in das andere umge-
gossen, wie viel neue Ingredienzen sind ihm beigemischt
worden, wie sehr hat er Geschmack und Wirkung
geändert! Das ist nicht mehr der reine, kräftige Trank
— 81 —
den wir aus schwerem Hörn schlürfen, um uns zum
Kampfe gegen die Feinde Gottes und des Vaterlandes
zu begeistern ; das ist ein süsser, berauschender Trank
aus kostbarer Schale, der uns, den auf dürrer Steppe
Wandernden , eine . herrliche Fata Morgana vor die
Augen zaubert. Rolands und seiner Genossen WaflFen
liegen rostig am Boden, da schlüpfen schalkhafte Liebes-
götter herbei und legen sie an, um miteinander zu
kämpfen. Alles prangt wieder in frischem Glänze;
Durindana, Balisarda, Fusberta blitzen nieder auf Schild
und Rüstung; die Streitrosse sinken in die Kniee, es
rinnt das Blut aus den Wunden der Ritter — aber
wir lächeln dazu! „Wo habt ihr all den Firlefanz
her, Herr Lodovico?-* fragte der Kardinal Hippolyt
den Dichter, als dieser ihm sein Werk überreichte.
Die Frage war nicht ernsthaft gemeint ; doch hat uns
Pio Rajna versprochen die Antwort darauf zu geben,
die der Dichter schuldig geblieben war.
„Keinem Andern," sagt V. Gioberti, „steht Ariost
nach als dem Dante, und ihm steht er nahe genug."
Nicht umsonst, darf ich hinzufügen, hat die Nachwelt
nur diesen Zweien das Beiwort „göttlich" zuerkannt.
Petrarca als italienischer Dichter kann sich schwerlich
mit Ariost messen; vor Allem fehlt ihm die Mannig-
faltigkeit im Schaffen: bei ihm scheint ein einziger,
unendlicher Liebesseufzer in Hunderte von Sonetten zer-
schnitten zu sein. Ein grösserer Gegensatz als der zwi-
schen Dante und Ariost lässt sich übrigens nicht vor-
stellen: Meister im Reiche der Gedanken der eine, Meister
im Reiche der Formen der andere. Dante ist Weltdichter ;
er erhebt sich auf nationaler Grundlage, aber so unge-
mein hoch über sie dass ihm fast jeder Zusammenhang
Schachardt, Romanisches u. Keltisches. 6
- 82 -
mit seiner Umgebung verloren geht. Er gleicht einer
hohen, eisbedeckten Bergkuppe, die mit Mühe zu er-
klimmen ist; von hier geniesstman die allerweiteste Aus-
sicht, aber das Fernerliegende verliert sich in Dunst und
erregt Zweifel. Es lässt sich kaum behaupten dass Dante
in seiner Stimmung und Anschauung dem Italiener
verständlicher sei als dem Deutschen; wie zu einem
der Alpenhäupter führt von jener Seite kaum ein
kürzerer und bequemerer Weg zu ihm als von dieser.
Welch anderes Bild bietet die Ariostische Dichtung
dar ! Inmitten Italiens liegt ein mühelos zu ersteigen-
der Berg; er ist von üppigem Walde bedeckt; man
hört das liebliche Murmeln der Quellen und das tausend-
stimmige Gezwitscher der Vögel; die Pfade kreuzen
und verschlingen sich; überall eröffnen sich Durch-
sichten auf die lachende Ebene, in der die Zinnen von
Palästen erschimmern. Man athmet hier eine frische
und würzige Luft ein, man erfreut sich am köstlichen
Schatten; immer aber fühlt man die enge Zugehörigkeit
dieser Höhe zu der umgebenden Landschaft. Ich be-
trachte Ariost als den vorzugsweis italienischen Dich-
ter. Nur in Italien war Ariost möglich, in dem Stamm-
sitze der Schönheit, wo sogar unermesslicher Schmerz
nicht, wie bei uns Nordischen, in heiseren, schrillen
Schreien hervorbricht, sondern in Wellen des Wohl-
lauts ausströmt. Auch Leopardi war nur in Italien
möglich, der, wie ein alter Gladiator, vor den Augen
Aller seinem Todeskampf Würde und Anmuth lieh —
dem endlosen.
Uns Deutschen wird es nicht leicht dem Ariost
den richtigen Platz anzuweisen. Die grämlichen, schwer-
fälligen Beurtheilungen die er in diesem Jahrhundert
- 83 -
von den Deutschen erfahren hat, beweisen es; die
gerühmte Objektivität und ein paar ästhetische Kate-
gorien thun es freilich nicht allein, es ist auch etwas
Geistesverwandtschaft noth wendig. Diese besass Goethe,
und seine schönen Verse über Ariost wiegen alle jene
ürtheile auf. Nun würde gerade uns die Beschäftigung
mit dem Dichter frommen bei dem das Was hinter
das Wie zurücktritt wie bei keinem zweiten. Denn
das Wie ist unsere schwache Seite. Galilei hat, der
eigenen Aussage zufolge, sich seinen schönen Stil
durch fleissiges Lesen Ariosts erworben; Hessen sich
doch auch die neunundneunzig Hundertel unserer
Schriftsteller eine Dosis Ariost verordnen! Die Ver-
schiedenheit der Sprache würde kein Hinderniss sein;
es gälte ja dabei nur jene innere Musik zu wecken
und zu bilden aus der jede schöne Kundgebung hervor-
quillt, und deren Mangel allein die zahllosen Geschmack-
losigkeiten erklärt die täglich um uns her auftauchen.
Indessen, der „Rasende Roland" ist ein Gedicht in
welchem das Mittel den Zweck gänzlich verdunkelt;
wie kann ein solches Gedicht bei uns Anklang finden
die wir zwar die Jesuiten verbannt haben, aber —
in Dichtung und Kunst, im Politischen und Gesell-
schaftlichen — eine kleine Vorliebe für den berühmten
Grundsatz des Ordens an den Tag legen?
Doch wer auch immer glaubt dass kein Werk
unsterblich lebt welches nicht in der Form vollendet
ist, der wird nicht müde werden dich zu preisen und
zu bewundern, unsterblicher Ariost!
VI.
Camoens.
Dem Dulder dessen Ruhm auf jon'scher Leier
So laut erklang, der, von Poseidons Hand
Mit Tod bedräut, sich den gefeiten Schleier
Der Meeresgöttin um die Hüften band
Und aus der salz'gen Fluth mit solchem Steuer
Den Eingang zum Phäakenstrome fand,
Dem glichst, Camoens, du, nachdem dein Schiff
Gescheitert an Kambodschas Felsenriff.
Dein göttlich Lied trägst du auf deiner Brust,
Drum siehst du Tethys rettend zu dir schweben;
Du sangst ja ihr zum Preise und zur Lust
Und wirst sie noch mit hell'rem Glanz umgeben.
Bist du dir froh der Rettung nun bewusst?
Nein! denn ein Schiffbruch ist dein ganzes Leben,
Und stets hebst du die sehnsuchtsvolle Hand
Vergeblich nach des Glückes grünem Strand.
Du leidest was die Erde Schlimmes kennt,
Verbannung, Liebespein, Gefängniss, Wunden;
Doch hat des Sturms misstönend Element
Das dich umtobt, durchwühlt zu allen Stunden,
In dir, gebenedeites Instrument,
Nur wundersüssen Wiederhall gefunden:
Du bist Odysseus und Homer zugleich.
Und so im Leben arm, im Tod erst reich.
Die ungemeine Befähigung der Portugiesen zur
Lyrik hat durch Keinen einen vollendeteren Ausdruck
— 85 -
gefunden als durch Camoens; in jene schwärmerische
Sehnsucht, jene saudades, die den Portugiesen sind
was der dor den Bumänen, hat Keiner die Fittiche
seiner Seele so tief gesenkt als er, Keiner ausser ihm
hat der weichen, melodischen Sprache ihre letzten
Geheimnisse abgelauscht, um petrarkische Rhythmen
oder volksthümliche Weisen damit zu schmücken. Auf
den Boden dreier Welttheilc, in die Furche des Tausende
von Meilen durchmessenden Schiffes streut er mit voller
Hand seine Lieder aus: die Erlen- und Orangenhaine
die des Mondego klare Fluthen beschatten, die alten
Cypressen welche an der „Liebesquelle" das Geschick
der Ignez betrauern, vernehmen die zärtlichen Ergüsse
des Studenten ; laut ertönt in den Hallen des Palastes
von Cintra, der alten Maurenresidenz, galante Hul-
digung und witziges Geplänkel, und die Wände geben
das Por bem Johanns I. als Echo zurück, aber leise
steigt beim Mondenschein aus dem Herzen des Dichters
ein feuriges Opfer zum Fenster der schönen Katharina
empor ; von Ceuta, jenem Dorn im Nacken des Mauren,
wo so verlockend Spaniens Berge in dunklerem und
hellerem Blau herüberschimmern, sendet er Sehnsuchts-
seufzer nach Lissabon und stolze Herausforderungen
an die goldbespornten , weissbekappten Feinde; das
Funkeln des südlichen Kreuzes fällt wie ein Strahl in
seine Brust, um alle seine Erinnerungen zu lebendiger
Gluth zu entfachen, und er klagt seinen Kummer den
Nereiden die sich auf dem Silberschaum der Wellen-
kämme schaukeln ; am Kap der guten Hoffnung, einst
„Kap der Stürme", gähnt ihm der Tod entgegen, und
er fleht Amor um seine niedrigste Gunst an, es möge
die Geliebte eine Stunde seiner gedenken ; auf Afrikas
— 86 —
östlichstem Vorsprung, nahe an einem Berge der der
„glückliche" heisst, „wo kein Vogel fliegt, kein Raub-
thier schläft, kein Wasser rinnt und kein Zweig rauscht",
durchschneidet die glühende Luft ein glühenderer Wehe-
laut; Indiens tropische Pracht flösst keinen Balsam in
seine Wunden, er geisselt aufs Bitterste die Thorheiten
und Unsitten seiner Landsleute, schildert das Leben
dort als traurig und unerträglich, mehr und mehr peinigt
ihn das Verlangen nach der Heimath und der Geliebten,
sein schmerzlichster Klaggesang strebt von den Was-
sern Babels nach Zion, das heisst nach Lissabon als
irdischem Zion, hinter dem aber dem fast Verzweifeln-
den die leuchtenden, unvergänglichen Zinnen des himm-
lischen Zions emportauchen. So webt sich uns aus all
den Sonetten und Canzonen, Eklogen und Elegien, Oden
und Kedondilhen ein treues Bild des Ritters zusammen
der durch seinen Preimuth, Uuabhängigkeitssinn und
Mangel an Vorsicht das ihm schon abgeneigte Glück
sich völlig entfremdete. Das sah er selbst ein; denn
er sagt:
Mein Irren, meine Liebe und mein Unstern
Verschworen sich zu meinem Untergang.
Aber wenn Dichter anderer Zeiten ganz in ihrem eigenen
Jammer zerfliessen, wenn nur in ihren Thränen sich
die Welt trüb und zitternd spiegelt, so gehörte Camoens
nicht umsonst zu dem Geschlechte jener Helden welche
die iberische Halbinsel im sechzehnten Jahrhundert
erzeugte, und welche „in der einen Hand das Schwert,
in der andern die Peder" führten. Er flüchtete sich
aus der Empfindung des persönlichen Ungemachs in
das stolze, sichere Gefühl einer so ruhmreichen, wenn
auch nur so kleinen Nation anzugehören ; in der Liebe
— 87 —
zu seinem Vaterland, in dem Bestreben es durch seinen
Sang zu verherrlichen, flammten alle Thätigkeiten seiner
Seele wie in einem Brennpunkte auf. Von jener Grotte
zu Macao schaut er auf die junge, von regem Treiben
erfüllte Ansiedlung hinab und fernhin über das insel-
besäete Meer, den Schauplatz portugiesischer Helden-
kraft, die, ein unaufhaltsamer Pfeil, durch die weitesten
Säume hindurch, in Asiens riesige, unbeholfene Massen
gedrungen war ; zugleich vergegenwärtigt er sich dass
die untergehende Sonne, welche die Binsensegel der
fremdartigen Dschunken mit rosiger Färbung über-
giesst, als Morgensonne den traulichen Stätten leuchtet
an denen er seine frohe Jugend verbracht hat und die
er mit leiblichen Augen nie wieder zu begrüssen ver-
meint, und in seiner Brust wird der Chor aller Stimmen
lebendig die ihm von der glorreichen Vergangenheit
Lusitaniens erzählen. So kommt er auf den Gedanken
vom äussersten Westen bis zum äussersten Osten
unserer Hemisphäre seinem Volke einen Triumphbogen
zu errichten dessen Scheitel an die Füsse des Aller-
höchsten rühre ; in jener Grotte vollendet er die ersten
Gesänge der Lusiaden. Der Einäugige von Genta
schrieb das portugiesische Epos, wie später der Ein-
händige von Lepanto den spanischen Roman; Beide,
wahrhafte Krieger, kämpften den Innern Schmerz nieder,
um sich der Nachwelt mit heiterer Stirn und in kühner
Haltung vorzustellen. Nur mit dem feinsten Gehör,
ich möchte sagen, mit Hülfe von Resonatoren, ver-
nehmen wir den leisen Seufzer des Dichters, wenn
Don Quijotes kühn erhobene Lanze an den gemeinsten
Wirklichkeiten zersplittert; gegen Ende der Lusiaden
gedenkt zwar ihr Verfasser seiner selbst in rührender
— 88 —
Weise, eine und die andere Sentenz ergibt sich als
eigene bittere Lebenserfahrung, und des grossen Re-
canatesen wären die Verse würdig:
So wird's im heitern Himmel zuerkannt.
Wir werden zu solch trauriger Bestimmung
Geboren. Dauer hat das Leiden nur,
Doch Gutes wandelt schleunig die Natur,
endlich scheint die glähende Apostrophe des „würdigen"
Greises der die Unternehmung Vasco da Gamas ver-
flucht, in unendlicher Verstärkung aus einer tief ver-
borgenen Herzensfalte von Camoens hervorzuhallen —
aber alles das wird übertönt vom Klange der „har-
monischen, kriegerischen Tuba".
Nie hat ein epischer Dichtei sich einen grössern
Stoflf erwählt als Camoens, nie die ganze Geschichte
seines Volkes in leuchtenden Zügen unvergänglichem
Marmor eingegraben. Die äussere Schwierigkeit welche
in einer solchen Aufgabe liegt, hat Camoens meister-
haft und zwar in eigenthümlicher Weise überwunden.
Hätte er wie in einer Laterna magica die Ereignisse
ihrer zeitlichen Reihenfolge nach vorgeführt, hätte er
sich also zur Form einer mittelalterlichen Reimchronik
bequemt, so wäre jede Gesammtwirkung verloren ge-
gangen; er musste dem Werke durch perspektivische
Vertheilung des Stoffes einen einheitlichen Charakter
verleihen. Nun zerfällt die portugiesische Geschichte
bis zu Camoens' Tod in zwei grosse Perioden, die etwa
durch die Herrschaft der legitimen und die der illegi-
timen Burgunder ausgefüllt werden. In den drei ersten
Jahrhunderten sehen wir die portugiesische Nation wie
ihre Mutter, die römische, aus einer kleinen kühnen
Abenteurerschaar hervorgehen und durch eine lange
— 89 —
ßeibe von Kämpfen 'bald mit den Mauren, bald mit den
Kastilianern ihr junges Reich erweitern und kräftigen ;
aus freien Stücken schenken wir diesem staatlichen
Emporringen unsere aufmerksame Theilnahme, dem
Heldenmuth der Einzelnen, der Egas Moniz, der Fuas
ßoupinho, der Nuno Alvares unsere wärmste Bewun-
derung. Doch das thatendurstige Volk setzt den
Mauren über die Meerenge nach und wird durch den
geheimnissvollen Zauber Afrikas angezogen, bespiegelt
sich im Ocean und wird hinausgelockt auf die Fluthen
welche ferne mit feenhaftem Reichthum gesegnete
Küsten bespülen. Zuerst dringen sie langsam, fast
zaghaft nach Süden vor ; ein meilenweit vorspringendes
Riff bildet viele Jahre hindurch ein Hinderniss welches
unüberwindlich erscheint ; dann aber wird Kap um Kap
genommen, immer rascher fliegen die Caravelen dahin,
bald verlässt man das Land auf Hunderte von Meilen
und sieht viele Wochen nichts als Himmel und Wasser,
und endlich werden die Pforten Indiens erreicht. Nach-
dem die Portugiesen allen Widerstand der Natur be-
siegt haben, verrichten sie Thaten unerhörter Tapfer-
keit gegen hundertfach ihnen überlegene Feinde und
begründen die Herrschaft über das indische Meer. Die
junge Siebenhügelstadt neidet der alten ihre Lorbeern ;
es scheint
der ganze Himmelsrath entschlossen
Aus Lissabon ein neues Rom zu machen;
Spanien ist das „Haupt Europas", Portugal der „Scheitel
dieses Hauptes", und jede Regung im Scheitel durch-
bebt den ganzen Körper. Den Vordergrund eines Ge-
dichtes das sich den stolz-einfachen Titel „Die Lusiaden",
d. h. „die Lusitanier" beilegt, muss das weite Meer, mit
— 90 —
portugiesischen Segeln bevölkert, ausfüllen. Camoens
schildert uns was allen Seefahrten der Portugiesen im
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert gemeinsam
war, erzählt aber im Zusammenhang nur das was
sich auf der zweiten Hälfte von Vasco da Gamas Fahrt
zutrug; das Spätere lässt er durch eine prophetische
Nymphe verkünden, alles Frühere aber, die mittelalter-
liche Geschichte Portugals, sowie die Vorbereitungen
zur ümsegelung des Südkaps, insbesondere den wunder-
baren Traum Dom Manoels, auch den Anfang der
eigenen Fahrt legt er dem Vasco da Gama und einen
Nachtrag dazu dem Bruder desselben in den Mund.
Diese Theile des Epos sind der Form nach allerdings
Episoden, aber, wie Jeder deutlich aus den Eingangs-
strophen ersehen kann, nicht ihrem Wesen nach;
ist doch auf sie die höchste Kunst verwendet, erglänzt
doch hier der kostbarste Edelstein, die Liebestragödie
der Ignez de Castro. Man hat die Art und Weise
getadelt wie sie in das Ganze eingefügt sind; aber
wenn uns in einem alten Familiensaal Gemälde denk-
würdigsten Stoffes und herrlichster Ausführung ge-
zeigt werden, müssen sie nicht unsere Aufmerksamkeit
so in Anspruch nehmen dass wir übersehen ob sie
fester oder loser an der Wand befestigt sind?
Camoens wendet sich zu Anfang seines Gedichtes,
ohne sie zu nennen, an seine drei Lehrer Homer,
Virgil und Ariost und ruft ihnen zu dass nicht nur
die Fahrten des klugen Griechen und des Trojaners,
sondern auch die erfabelten Wunder Rolands und
Ruggieros durch das was die Portugiesen zu Wasser
und zu Land vollbracht haben, in den Schatten gestellt
werden. Er darf auf seine Wahrhaftigkeit stolz sein ;
— 91 —
wir können uns von ihr überzeugen, wenn wir seine
Verse mit der Prosa des Geschichtsschreibers Barros
vergleichen. Er übergeht auch die dunkeln Stellen
der portugiesischen Geschichte nicht, und mit edler,
männlicher OflFenheit rügt er die Fehler welche den
einen und den andern seiner Helden, oder welche die
ganze Nation entstellen. Bei alledem ist er dem
Meister Ariost, dessen Schalkhaftigkeit er zum Glücke
nur ausnahmsweise nachgeahmt hat, ins Fabelreich
gefolgt, und Fr. von Schlegel meint sogar, in Farbe
und Fülle der Phantasie habe er ihm den Kranz ab-
gewonnen, ein Lob welches besonders schwer neben
dem wiegt das A. von Humboldt der lebendigen Treue
seiner Naturschilderungen spendet. Camoens hüllt die
Begebenheiten seiner leibhaftigen christlichen Helden
in eine duftige mythologische Wolke ein ; er schwingt
seinen Zauberstab, und der Himmel belebt sich mit
den alten Göttern. Auf kr}^stallenem Sternenthron sitzt
Jupiter, und mit bebendem Busen, auf welchem unge-
sehen Amor scherzt, mit flammensprühendem Gürtel
naht sich ihm Venus, um seinen Schutz für ihre
geliebten Lusitanier zu erflehen , wobei ihre Stimme
von hervorstürzenden Thränen unterbrochen wird —
auf dem Boden des Meeres erstehen glashelle Paläste
mit goldenen, perlengeschmückten Pforten, und Bacchus
reizt hier die Meergötter auf, seinen Feinden, den
Portugiesen, Verderben zu bereiten — aus dem Meere
erhebt sich ein Eiland welches an entzückender An-
muth das der Alcina übertrifft und von den Gärten
der Armida nicht erreicht wird, und im Arme schöner
Nymphen werden den heimkehrenden Seefahrern ihre
Mühen auf das Süsseste vergolten. Aber wiederum
— 92 -
schwingt der Dichter seinen Stab, die Wolke zerreisst,
und wir erkennen das was uns so greifbar vor Augen
getreten war, als eine Allegorie. Diese Einmischung
antiken Heidenthums ist ebenfalls dem Tadel nicht
entgangen. Man kann Camoens unwiderleglich mit
Gründen vertheidigen die seinem Zeitalter entnommen
sind, die aber auch heute noch einigermassen stich-
haltig sein dürften. Die unendliche Fülle von Schön-
heit welche der klassischen Mythologie innewohnt,
hat sich als belebender Strom in die Kunst und
Litteratur des neuen Europas ergossen ; er ist manch-
mal übergeschäumt, aber ist er nun ganz versiegt ? Hat
nicht Schiller noch seine Zauberkraft verherrlicht?
Haben Gegenstände für uns keinen Sinn und Reiz
mehr wie eine Aurora die vor dem Wagen des
Sonnengottes Blumen ausstreut, ein Amor der seine
Pfeile auf die schlummernde Ariadne abschiesst, eine
Galatea die, von Tritonen, Nymphen und Liebesgöttern
umgeben, in einer Muschel über das Meer getragen
wird? Nicht neuerfundene Allegorien, nicht die über-
irdischen Wesen des Christenthums können und dürfen
die alte Götterwelt als episches Beiwerk ersetzen;
darin stimme ich ohne Bedenken mit Boileau überein,
aber auch darin möchte ich ihm fast Recht geben
dass ein Epos eines solchen Beiwerkes überhaupt nicht
entrathen kann, und es sind die Lusiaden die mich
dazu drängen, vor Allem eine Stelle. Die Portugiesen
stehen im BegriflFe das Kap der guten Hoffnung zu
umsegeln; die Himmelsdecke scheint sich in düsteres
Metall zu verwandeln, das Meer in ungewohntem
Rythmus zu wogen, eine Menge von unbekannten
Schrecknissen zu drohen; es erfasst beim Anblick der
— 93 —
starren Pelsmassen die Herzen ein geheimes Grauen,
als ob es durch die Thore der Unterwelt einginge.
Camoens schildert den Eindruck nicht, er ruft ihn in un-
serem Gemüthe neu hervor, indem er das Kap in einem
sonst ziemlich unbekannten Giganten personifiziert, dem
Adamastor, dem „Unbändigen", und ihn als riesige,
grauenhafte Gestalt in der Luft erscheinen und mit
grässlicher Stimme den Portugiesen Unheil künden lässt.
Mit welchem andern Mittel wäre eine nur annähernde
Wirkung zu erzielen?
Zweierlei kennzeichnet, wie man allgemein an-
nimmt, den Eintritt der Neuzeit: es wurde, durch die
Italiener, die alte Welt wiedergefunden, und es wurde,
durch die Spanier und Portugiesen, die neue entdeckt.
Niemandem ist unbekannt welchen Umschwung jene
Thatsache in dem geistigen Leben Europas hervor-
gerufen hat; aber haben wir dieser einen entsprechenden
zu verdanken? Wenn über dem dunkelblauen Meere
wie helle Edelsteine die lang ersehnten Küsten vor
den Seefahrern aufblitzten, wenn ihnen der Landwind
würzige Wohlgerüche entgegentrug, wenn Pflanzen von
ungeheurer Grösse und wunderlichen Formen in gegen-
seitig sich beengender und erdrückender Fülle ihre Augen
überraschten, wenn sie in dem gegen die Sonne abge-
schlossenen Urwalde, wie in einer gothischen Kathedrale,
unter Deckengewölben von Blumen, durch Kreuzgänge
von Riesenfarrenkräutern dahinwandelten, und tausend-
faches Geräusch, tausendfache Bewegung, eine unend-
liche Verschwendung von Farben sie umgab, kurz, wenn
ein ungeahntes Leben durch alle Pforten ihrer Sinne ein-
strömte, musste nicht jene süsse Verwirrung und Unruhe
entstehen in welcher die Keime aller grossen geistigen
— 94 —
Schöpfungen liegen ? Musste nicht der Verkehr mit leib-
lich und geistig so buntgearteten Völkern, von den aller-
rohesten an bis zu hochgebildeten, das Verständniss ihrer
Sitten, Anschauungen und üeberlieferungen, die Wahr-
nehmung dass sie bald in den einfachsten Dingen durch-
aus umgekehrt verfahren wie wir, bald in höheren
Sphären merkwürdig mit uns harmonieren, musste nicht
das alles die Vorstellung der Europäer von der Mensch-
heit, deren kleinsten Theil sie bildeten, umformen,
sie von Vorurtheilen aller Art bekehren, sie zu den
mannigfachsten vergleichenden Studien anregen , ja
ihnen selbst dichterische Eingebungen darbieten? Aber
erst im achtzehnten Jahrhundert begann die europäische
Civilisation von dem Hauch der Tropenwelt berührt
zu werden; im sechzehnten nimmt man kaum der-
gleichen wahr. Damals wurde nur der äussere, nicht
der innere Horizont erweitert, und das gilt ebenso für
die Wissenschaft wie für die schönen Künste. Wie
nahe lag es z. B. dass die gerade auf der Pyrenäen-
halbinsel so üppig blühende Schäferdichtung Elemente
aus der ost- und westindischen Natur in sich aufnahm
oder sich geradezu in sie hineinversetzte ; konnte nicht
schon damals ein Bernardin de Saint-Pierre erstehen?
Die Gründe welche einen solchen befruchtenden Einfluss
der andern Welttheile auf Europa hinderten, sind meines
Erachtens folgende. Die Leute welche, wie Emilio
Castelar so schön sagt, Asien in seinem Grabe auf-
weckten und Amerika in seiner duftigen Wiege über-
raschten, waren nicht sowohl Entdecker als Eroberer.
„Eeich und Glauben auszubreiten", das war ein-
gestandenermassen ihre Absicht; insofern sind sie
durchaus Kinder des Mittelalters, grossartige Epigonen
— 95 —
der Kreuzfahrer, und darin liegt auch das Geheimniss
ihres Heldenmuthes, der ans Unbegreifliche streift und
nicht vorher, nicht nachher seines Gleichen gefunden
hat. Schlecht vorbereitet gingen sie unbekannten, aber
jedenfalls schrecklichen Gefahren, neuen Tücken der
Natur und der Menschheit entgegen; kein Hinderniss
zu Wasser und zu Lande pflegte sie aufzuhalten;
Magalhaens,
ein Portugiese
Durch seine Thaten, nicht durch seine Treue,
sagte, als in der nach ihm benannten Strasse wegen
Mangel an Lebensmitteln Umkehr rathsam erschien,
„er würde dem Kaiser sein Versprechen halten die
Fahrt auszuführen, und wenn er das Lederzeug vom
Tauwerke kauen müsste/^ Es waren Männer von Eisen.
Den überwältigenden Eindruck neuer Klimate empfan-
den auch sie, allein sie hatten keine Zeit sich ihm
hinzugeben; sobald sie landeten, begann der harte
Kampf mit der Natur und den Menschen , und auch
den Besten träumte nur von Gold und Gewürz. Wo
später sich ein friedlicheres Verhältniss einstellte, war
man theils gegen die fremdartigen Keize schon abge-
stumpft, theils dauerte der wilde, habsüchtige Aben-
teurersinn in den jungen Kolonien fort, theils sahen
die Europäer als alte Christen mit grösster Ueber-
hebung auf die ungläubigen oder neubekehrten Bar-
baren herab. Jedenfalls bestand in allen Sachen des Ge-
schmackes eine vollständige Abhängigkeit vom Mutter-
land. Die am Golf von Mejico den Jungbrunnen suchten,
denen fiel es nicht ein dass ganz Amerika ein Jung-
brunnen wäre in welchem sich Europa geistig verjüngen
könnte. Nun befanden sich zwar auch zahlreiche
— 96 —
Dichter unter denjenigen die damals in den beiden
Indien dienten, allein sie haben sich den eben auf-
gezählten hemmenden Einflüssen nicht zu entziehen
vermocht ; sie haben entweder keinen andern Ton ange-
schlagen als den in der Heimath üblichen, oder sie
haben nur die heroische Seite des dortigen Lebens
hervorgehoben, wie der biedere Ercilla in seiner
Äraucana, welcher unsere Phantasie auch nicht im
mindesten in jene reizende Zone zu versetzen weiss.
Andere Leute aber welche den Entdeckungen ein mehr
modernes Interesse, eine innigere Empfindung entgegen-
brachten, wie Pomponius Laetus oder Petrus Martyr,
waren an die alte Welt gebunden; sie fühlten selige
Schauer, ja vergossen Thränen, wenn sie aus jenen
Wunderfernen Nachrichten empfingen oder Zurück-
gekehrte begrüssten oder gar mit leibhaftigen Augen
einen Elephanten sahen.
Ich habe das Gesetz darlegen müssen — und man
möge entschuldigen dass es in einiger Breite geschehen
ist — um von der Ausnahme reden zu können. Diese
Ausnahme ist meiner Meinung nach Camoens; ich
möchte ihn als Vorläufer jener beredten Bewunderer
der Tropenwelt ansehen welche in den neueren Zeiten
erstanden sind. Natürlich dürfen wir von ihm nichts
in der Art der enthusiastischen Beschreibungen er-
warten welche uns so alltäglich geworden sind; ich
will nur behaupten dass er mit treuer Beobachtung
auch ein tiefes Gefühl für die Schönheiten und Eigen-
thümlichkeiten der südlichen Himmelsstriche verbunden
hat. Man wird A. von Humboldt nicht widersprechen
können, wenn er im Einklang mit Sismondi sagt dass
das Gedicht keine Spur von etwas Anschaulichem über
— 97 -
die tropische Vegetation und ihre physiognomische Ge*
staltung enthält und dass nur die Arome und nützlichen
Handelsprodukte vorkommen. Der Urwald wird nur
durch seine Jungfräulichkeit und Unwegsarakeit gekenn-
zeichnet. Aber wenn Camoens die Bandainseln erwähnt,
„die in Farbenreich thum erglänzen, die von der rothen
Frucht geziert werden und wo bunte Vögel sich von
der grünen Nuss den Zoll nehmen", oder Ternate
„mit dem glühenden Gipfel, der wellenförmige Flammen
speit und wo es jene goldenen Vögel gibt die nie zur
Erde sich senken und nur todt gesehen werden", oder
Sumatra, „das ebenfalls zitternde Flammen entsendet
und wo sich die Quelle der Oel entströmt, und die
wunderbare wohlriechende Flüssigkeit befinden welche
der Baumstamm weint", so werden wir nicht in Abrede
stellen dass auf den Lusiaden ein tropischer Duft
schwebt, wenn er auch unsere verwöhnten Sinne nicht
besonders stark berührt. Man muss dabei im Gedächtniss
behalten dass zur Schilderung des indischen Bodens
weniger Gelegenheit gegeben war, da die Haupthand-
lung in einer Seefahrt besteht, bei welcher ja nur die
Küsten berührt werden, und da wiederum die Bezwingung
des Meeres gegen die der Menschen in den Vorder-
grund tritt. Das südliche Meer aber, das Meer überhaupt
hat Camoens ungemein wahr und poetisch zugleich dar-
gestellt; man erinnere sich vornehmlich jener unnach-
ahmlichen Beschreibung der Wasserhose. Humboldt hat
durchaus Recht ihn als einen grossen Seemaler zu be-
zeichnen. Im Vaterland des Camoens hat, was meines
Wissens wiederum ganz vereinzelt dasteht, ein tropischer
Luftstrom selbst in den festen Massen der Kirchenbauten
gewirkt. Nicht etwa als ob aus der indischen oder
Schnchardt, Romanisches u. Keltisches. 7
— 98 —
gar siamesischeii Architektur Motive entlehnt worden
wären; doch der manneÜDische Stil, den die Spanier
nnter ihrem plateresken mit einbegreifen, zeigt in der
Dekoration eine so eigenthnmliche Ueppigkeit als ob
er nnter der heissesten Sonne emporgewuchert wäre.
Affen, Papageien, fremdartige Blumen die herüber ge-
kommen und hier versteinert sind, reden noch deut-
licher zu uns, und das symbolische Ornament der Him-
melskugel lässt uns keinen Zweifel darüber was im
Gemüthe des Baumeisters vorging. So sehen wir be-
sonders im Kloster von Belem, welches Dom Manoel
nach Vasco da Gamas Bückkehr an dem Orte seiner
Einschiffung errichtete, den tiefen durch das einzige
Ereigniss hervorgerufenen Eindruck aufs schönste ver-
ewigt.
Was in jenem üebergangsstil der Gothik zur Be-
naissance mit seinen maurischen Beminiscenzen und
tropischen Anklängen nur versucht war, hat Camoens
im vollsten Masse erreicht: die harmonische Ver-
schmelzung der verschiedenartigsten Elemente. Den
drei Zeitaltern hat er nicht nur den Stoff zu seinem
Epos entlehnt, sondern auch die Quintessenz ihrer
Kraft: dem Alterthume das künstlerische Betrachten
und Gestalten, dem Mittelalter die inbrünstige, un-
widerstehliche Begeisterung, der Gegenwart den freien,
klaren Umblick. Auf dem lieblichen Strome seiner
Bede dahin gleitend, fühlen wir uns warme Freunde
Portugals und Söhne einer grossen, schönen Erde.
Wie Meleagers Leben an das glimmende Holz-
scheit gebunden war das bei seiner Geburt auf dem
Herde flammte, so das von Camoens an den Glanz und
die Freiheit seines Landes. Er, der im Todesjahre
— 99 —
Yasco da Gamas das Licht der Welt erblickte und
zugleich Portugals Sonne im Zenith, verschied, als
die Truppen des spanischen Philipps siegreich über die
Grenzen drangen; er sagte auf seinem Todtenbette:
,,Ich liebe mein Vaterland so sehr dass ich mich nicht
damit begnüge in ihm zu sterben, sondern dass ich
mit ihm sterbe." Die Lusiaden waren der Schwanen-
gesang Lusitaniens. Alle denkbaren ünglücksboten
waren vorhergegangen, Pest, Dürre, Hungersnoth,
Kriegsunglück, Todesfälle in der königlichen Familie,
Stürme, Erdbeben, Kometen, und es lag eine tiefe
Beängstigung auf dem Volke. Noch einmal flackerte
das Lebenslicht Portugals unheimlich empor. Der
König Sebastian unternahm mit der Blüthe seines
Beiches jenen Zug gegen die Mauren zu dem auch
Camoens in begeisterten Strophen ihn angefeuert hatte,
den er sogar in noch erhabeneren Versen zu besingen
anhob ; aber auf dem Felde von Alkassar wurde jede
Hoffnung niedergemäht. So unermesslich schien das
Unglück dass man an den Tod des jungen Fürsten nicht
glauben wollte, dass man sich einbildete, es hielten
ihn mauiische Zauberer gefangen, dass noch in unsern
Zeiten die Sebastianisten nicht ausgestorben sind, welche
auf Lissabons Höhen sich versammeln und über das
Meer hin nach einem alterthümlichen Schiffe spähen
das den Helden aus der geheimnissvollen Knechtschaft
zurückbringe.
Sollte Portugal wirklich saudades nach seiner Ver-
gangenheit fühlen? Das Schöne, Treffliche was sie
hervorgebracht, vor Allem die Dichtung des Camoens,
dauert ja fort, und die Jahrhunderte mindern nicht
seinen Werth, sie erhöhen ihn. Aber jene Macht und
7*
- 100 -
jener Reichthum deren Quellen in weiten Fernen lagen,
bargen keinen wahren Segen, sondern den Keim zum
Innern Verfall in sich ; was konnten sie dem Vaterlande
nützen, wenn dessen bestem Sohne der Antheil daran
versagt blieb ? Jene Heldenart welche so Ausserordent-
liches leistete, gleicht der schöngearbeiteten, schweren
Rüstung die wir in einem Museum bewundern, die wir
aber nicht zu tragen wünschen ; sie taugt nicht mehr für
unsere Zeit, in welcher die rohe und kindische Meinung
allmählich schwindet dass ein Volk um so höher stehe
je tiefer es andere Völker erniedrige, während seine
wahre Grösse doch nur in seinem Glücke und seiner
Gerechtigkeit ruht. An dem Kampf um friedliche Lor-
beern kann mit günstiger Aussicht jedes Volk theil-
nehmen; jedes besitzt in sich und in seinen Wohn-
sitzen eigenthümliche Vorzüge die es ungestört aus-
bilden und ausbeuten mag. Nur selten freilich werden
diese zu einem Glänze gesteigert der die ganze Welt
durchleuchtet ; es ist thöricht eine stete Dauer solches
Glanzes zu erhoffen oder anzustreben, es könnte höch-
stens ein derartiger sein der nach aussen blendete und
nach innen versengte. Die Natur hat mir dies einmal
recht vor die Sinne geführt. Als ich Cintra besuchte,
versetzte mich die üppige Pracht des Pflanzenwuchses
in Erstaunen und Entzücken; ein Paradies erschien
mir in der Mittagssonne das steile Gebirge, dessen
Abhänge mit einem so lieblichen Teppich überkleidet
waren und das auf seiner höchsten Spitze ein reiches,
phantastisches Schloss trug mit Zinnen über Zinnen
und Thurm über Thurm. Noch zauberhafter, geradezu
wie das Bild zu einem Feenmärchen, stellte sich letz-
teres dar, wenn es sich langsam aus dem Morgen-
- 101 —
nebel loslöste oder vom Abendnebel erfasst wurde.
Durch den andalusischen Himmel verwöhnt, missfiel
mir diese, wie ich hörte, regelmässige Trübung der
Atmosphäre. Während nun am andern Tage Dom
Fernando, der Schöpfer des Castello da Pena, der die
Natur und die Kunst mit gleicher inniger und glück-
licher Liebe umfasst, mich huldvollst durch seine
Biesengärten geleitete und mir die Kamelienhaine, die
Alpenrosen, die Palmen, die Dutzende von Eukalyptus-
arten welche Australien sendet, die wunderlichen,
zierlichbelaubten Bäume der Tropen, das nordische
Nadelholz, kurz die Auslese aus allen Welttheilen und
Zonen zeigte, begannen, zu einer noch frühen Stunde,
vom nahen Ocean her niedrige Wolken als Vorläufer
der grossen Massen dahinzujagen. Ich konnte eine
Bemerkung des Missvergnügens nicht unterdrücken;
aber mein königlicher Führer sagte mir: „Glauben Sie
denn dass diese Mannigfaltigkeit und Frische der Pflan-
zen möglich wäre, wenn nicht Morgens und Abends
die Wolken des Meeres ihren Thau auf Blatt und
Blüthe senkten?"
Nachdem Portugal noch in diesem Jahrhundert
schwere Stürme durchgemacht hat, geniesst es nun einen
beneidenswerthen Frieden und sammelt sich in stiller Ar-
beit. Küsten und Inseln sind verloren gegangen, aber
wissbegierige Eeisende suchen sie wiederum und wirklich
zu erobern ; man führt keine Kriege mehr mit schwarzen,
braunen und gelben Völkern, aber die Anthropologen
versammeln sich und rathschlagen über deren Leibes-
beschaflfenheit , Werkzeuge und Sitten; es lebt heute
kein Camoens, aber die Schriftsteller verbinden sich
untereinander, um seinem traurigen Ende zu entgehen.
— 102 —
Von Dom Luiz , welcher an der Spitze derer steht die
dem grossen Todten ihre Huldigung zollen, und welcher
als früherer Seemann für die Kunst des Seedichters
gewiss das feinste Verständniss besitzen wird, von dem
Herrscher welcher nicht nur der Entwicklung der
gleichzeitigen Litteratur die lebhafteste Theilnahme
entgegenbiingt , sondern auch selbst zu den Schrift-
stellern zählt, indem er sein Volk mit glücklichen
üebersetzungen Shakspeare'scher Dramen beschenkt
hat, von ihm dürfen die Musen jede Aufmunterung
und Förderung erwarten. Möge mit dem festlichen
Todestag eine neue Lebensperiode für Portugal be-
ginnen ! möge aus Camoens' Asche ein Phönix erstehen !
Töne denn, liebliches Glockenspiel Lissabons, zur
Ehre deines grössten Bürgers, und töne fort, nie unter-
brochen vom Donner der Geschütze. Leuchtet, ihr
kriegerischen Jahrhunderte, in poetischer Verklärung,
aber jetzt und immer daure das Zeitalter des guten
Königs Diniz:
Es blühet glücklich nun sein Reich empor,
Nachdem der gold'ne Friede neu errungen;
Als helle Sterne glänzen weit und breit
Verfassung, Sitte und Gerechtigkeit.
Er lässt, der Erste, in Coimbras Hallen
Den ehrenvollen Dienst Minervas pflegen;
Es zieh'n, auf des Mondego Flur zu wallen,
Vom Helikon die Musen ihm entgegen;
Hier gibt Apoll von jenen Dingen allen
Die nach Athen sonst heissen Wunsch erregen;
Hier theilt von Lorbeer, Bacchuskraut und Grold
Er Kränze aus als des Verdienstes Sold.
VII.
Zu Calderons Jubelfeier.
Am 25. Mai bringen in Madrid alle Aemter, An-
stalten und Genossenschaften, alle Künste, Wissen-
schaften und Gewerbe, Alles was in Spanien denkt
und schafft, dem grossen Dramatiker Pedro Calderon
die feierlichste Huldigung dar. Welch ein Leben wird
an diesem Tage in der stets überlebendigen Stadt
herrschen! Grossartige Umzüge werden unter den
Klängen von Triumphmärschen sich durch die Strassen
bewegen, Deputationen mit bunten Bannern, historische
Cavalcaden, allegorische Wagen, an jenem Standbilde
auf der Plaza de Santa Ana vorbei, und von den Bai-
konen werden Tausende von „Sonnen'' herableuchten,
die Enkelinnen jener Schönen die Calderon in so be-
geisterten Versen verherrlicht hat. üeber die Lippen
der Redner und Dichter werden sich Feuerströme er-
giessen, die Alles entzünden und fortreissen; Preise
werden gespendet, Denkmünzen vertheilt, es wird der
Grundstein zu einem Mausoleum gelegt werden. Und
wie im alten Schauspiele der Gracioso keck seinem
Herrn zur Seite schreitet, so werden auch die Clarins,
Chichons und Chocolates von heute mit ihren lebhaften
materiellen Bedürfnissen nicht zu kurz kommen. Wenn
dann das glänzende Blau des Madrider Maienhimmels
— 104 -
sich in ein dunkleres gewandelt hat, werden Baketen,
Leuchtkugehi und Feuerräder sich bemühen dem gaf-
fenden Publikum die Calderon'sche Rhetorik zu ver-
sinnbildlichen, und schliesslich wird das feurige Bildniss
Don Pedros, von Genien umringt, sich von dem nächt-
lichen Hintergrunde abheben, wie in der That von
einem solchen sich seine Dichtung abhob, von der ver-
blichenen Grösse, dem gesunkenen Wohlstande, dem
düstern Fanatismus seiner Nation. Ich wüsste keinen
Schriftsteller der ein grösseres Anrecht auf eine prunk-
volle Gedenkfeier hätte. Wie liebte Calderon festliche
Pracht und wie wusste er sie zu schildern ! Man lese
z. B. in dem Stücke „Hüte dich vor stillem Wasser"
die Verse in denen Don Juan die Einholung der öst-
reichischen Prinzessin und spanischen Königin Maria
Anna beschreibt; bei ihrem Einzüge in Madrid waren
die Triumphbogen nach Calderons Angaben hergestellt
worden.
Der laute Jubel der nun bald Madrid erfüllt,
wird sich durch das ganze Königreich fortpflanzen und
wird auch nicht an seinen Grenzen verklingen. Ganz
aus spanischer Erde hat jener Wunderbaum seine Kraft
gesogen, kein fernher rinnendes Wasser hat seine Wur-
zeln bespült, aber seine Wipfel ragen so hoch dass
man sie von jedem Winkel der Erde aus erblickt, und
wir alle haben uns von seinen Zweigen köstliche Früchte
gebrochen. Das Ausland wird es sich angelegen sein
lassen die Erinnerungsfeier Calderons würdig zu be-
gehen und damit zugleich jener Nation einen Beweis
von Sympathie darzubringen welche in allen Wechsel-
fällen des Glückes eine wunderbare Ausdauer bewiesen
hat, in welcher nie die vulkanische Kraft erloschen ist
- 105 -
die ein Saragossa in einen Haufen von Trümmern und
Leichen und einen nackten Steinhügel in einen blühen-
den Pamass umzuwandeln vermag. Die Deutschen
werden bei dieser Gelegenheit am wenigsten zurück*
bleiben, indem von allen romanischen Völkern die
Spanier, trotz des fremdartigen Kostüms, ihnen inner-
lich am verwandtesten sind. Kein Volk hat dem Stu-
dium der spanischen Litteratur sich mit solcher Liebe,
ja Schwärmerei gewidmet wie das unsere, und gerade
das altspanische Drama hat unter uns, besonders
wiederum unter den Oestreichern, lebhaften Nachruhm
und Anklang geerntet. Grillparzer ging so weit zu
sagen: „Ich wollte, Lessing hätte Calderon und Lope
de Vega gekannt, er hätte vielleicht gefunden dass
ein Mittelweg zwischen Beiden dem deutschen Geiste
näher stehe als der gar zu riesenhafte Shakspeare."
Auch der äusserliche Umstand dass die Kronen Oest-
reichs und Spaniens im Laufe der Zeiten durch so
manche Erz- und Blumenketten miteinander verknüpft
worden sind, mag einigermassen die hiesige Theil-
nahme an spanischen Dingen erhöhen. Zwar waren
die Spanier des siebzehnten Jahrhunderts über die
Trunksucht deutscher Gardisten und die Herrschsucht
deutscher Beichtväter nicht sonderlich erbaut, zwar
schauderte es unsere Landsleute vor spanischen Stiefeln
und spanischen Praktiken, und ich gestehe mit Be-
dauern dass der boshafteste Bericht über die Madrider
Zustände von damals einen Wiener zum Verfasser hat
— allein in der Erinnerung pflegt ja das unliebsame
zu verblassen, und in der Wirklichkeit ist von all
jener spanisch-östreichischen Gemeinschaft kaum etwas
übrig geblieben, als das „Küss' die Hand", welches
- 106 -
das Beso la mano des Südländers übersetzend erwidert.
Was Calderon und Wien anlangt, so hat er es zum
Schauplatze eines Stückes gemacht welches den Titel
führt: „Es steht besser als es stand" (beiläufig gesagt,
wüsste ich für die Stadt selbst keinen trostvolleren
Wahlspruch). Freilich erscheint hier Wien ohne jedes
besondere Kennzeichen, es ist ein verallgemeinertes
Madrid ; aber doch bewährt Calderon den dichterischen,
alle Zeit- und Raumfernen durchdringenden Seherblick
wenn er Don Carlos ausrufen lässt:
jVälgate Dios por Vienüy
Y cudles 8on tus mujeres!
(Wien, was hast du für Frauen!)
So wird denn auch Wien als würdiges Vorbild
der Provinz thätige Theilnahme an dem Jubiläum
zßigen. Schon hat eine Reihe von Dichtem, in Oest-
reich und anderswo, zum Preise Calderons in die Saiten
gegriffen, mehr durch die Aussicht auf eine goldene
Medaille verlockt als berauscht von dem „rectifizierten
Weingeist" (um mich eines Goethe'schen Bildes zu be-
dienen) welchen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts
die A. W. Schlegel, Tieck, von der Malsburg, Bauern-
feld, Seidl u. s. w. in gierigen Zügen getrunken hatten,
als sie die Schauspiele des Spaniers mit einem Sonetten-
kranz umflochten. Es mag Einer die besten Verse von
der Welt machen und sehr wenig über Calderon wissen ;
hat seine Huldigung nicht einen höchst zweifelhaften
Werth? Auch Victor Hugo, der am 25. Mai nach
Madrid kommen soll, wird dort sicherlich manch schöne
und wunderbare Dinge sagen, die aber wahrscheinlich
nicht viel mit Calderon zu thun haben werden. Den-
jenigen ferner welche in Prosa, und zwar far das weitere
— 107 —
Publikum, das Andenken des grossen Mannes aufzu-
frischen unternehmen, droht die Gefahr in ihrem
ürtheile irrezugehen, sobald sie die Hand eines so
sicheren Führers wie Adolph v. Schack ist, loslassen.
Calderon hat, von seinen Fronleichnamsspielen ab-
gesehen, über hundert Stücke hinterlassen, und selbst
von denen welche ausführlicher über Calderon ge-
schrieben haben, hat kaum Einer und der Andere alle
diese Stücke gelesen. Die Meisten kennen nur eine
geringe Auswahl davon, und sie ist möglicherweise
nicht einmal eine glückliche. Denn über die Bang-
ordnung der Calderon'schen Dramen gehen die An-
sichten unter den Spaniern wie unter den Ausländern
einigermassen auseinander, und zwar ebensowohl mit
Rücksicht auf das gegenseitige Verhältniss der ein-
zelnen Klassen in die sie zerfallen, als auch innerhalb
dieser Klassen selbst. Wer des Spanischen unkundig
ist, der wird gar nicht über eine theilweise noch über
eine äusserliche Bekanntschaft mit Calderon hinaus-
kommen. Etwa die Hälfte seiner Stücke, und darunter
einige ersten Banges, sind nicht verdeutscht ; die Ceber-
tragungen aber die wir besitzen, sogar die besten,
geben nur eine unvollkommene Vorstellung von den
Originalen, üeberhaupt erweist sich unsere Sprache zur
Wiedergabe südromanischer Dichtungen weit weniger
befähigt als man gemeiniglich annimmt. Es mag sein
dass sie an Prokrustesgrausamkeiten schwerer stirbt
als andere Sprachen; doch die Verstümmlungen und
Verrenkungen sind fühlbar genug, die poetische An-
regung wird abgeschwächt oder aufgehoben, und das
Verständniss muss sehr oft durch einen Blick in den
Urtext erschlossen werden. Es wäre die grösste ün-
— 108 —
gerechtigkeit den deutschen Calderon mit dem deutschen
Shakspeare zu vergleichen.
Für die allgemeine Schätzung Calderons sei es
mir gestattet Einiges in Erinnerung zu bringen was
häufig übersehen wird. Unter den spanischen Drama-
tikern welche vom Ende des sechzehnten bis Ende des
siebzehnten Jahrhunderts blühten, ist Calderon uns am
frühesten bekannt geworden und am meisten bekannt
geblieben; vor Allem hat A. W. Schlegels berühmte
fünfunddreissigste Vorlesung ihn in ein so glänzendes
Licht gesetzt dass neben ihm seine älteren und jüngeren
Zeitgenossen sich kaum in ihrem vollen Werthe geltend
zu machen im Stande sind. In Wirklichkeit gleicht
die Glanzperiode des spanischen Theaters einem Gebirge
das allseitig durch sanfte Anstiege zusammenhängt,
nirgends durch gähnende Klüfte zerrissen ist ; zwischen
dem Halbdutzend Gipfeln aber die sich am Himmels-
blau abzeichnen, sind die Abstände nicht gross genug
dass es einen unter ihnen gäbe der von jedem Stand-
punkte aus als der allerhöchste erschiene. Wenn wir
dann aber das Gebirge in seinem ganzen Umfange
bedachtsam umschreiten, dann werden wir wohl zu der
Annahme kommen dass jene Spitze welche den Namen
Calderon trägt, die anderen überragt und zugleich die
charakteristische Gestaltung welche durch die Gesteins-
masse begünstigt wird, am schärfsten ausprägt. Ja,
ich halte Calderon für den spanischsten, den wenigst
modernen Dramatiker, also den welcher eigentlich für
uns am schwierigsten zu verstehen ist. Dadurch scheine
ich zunächst einen Tadel zu bestätigen welcher oft
gegen ihn ausgesprochen worden ist, dass ihn nämlich
in politischer, religiöser und theilweise auch moralischer
- 109 -
Beziehung die ärgsten Vorurtheile befangen hätten.
So bezeichnet ihn Sismondi kurzweg als den Dichter
der Inquisition — ein zu rundes und schweres Wort
um nicht gern und oft wiederholt zu werden. Leicht
würde derjenige der sich in Calderon vertieft hat, Stellen
anführen können welche für seine milde Gesinnung
sprechen. Allein darum handelt es sich ja gar nicht;
es musste Calderon auf der Bühne den üeberzeugungen
und Anschauungen seines Volkes gerecht werden. Stören
uns die Götterverehrung, die niedrigere Stellung des
weiblichen Geschlechtes, die grausame Praxis gegen
die Feinde und Anderes bei der Würdigung der alt-
klassischen Dichterwerke nicht, warum sollen uns Dinge
die wir jetzt verwerfen oder verabscheuen, in den
Dramen Calderons Anstoss erregen? Weshalb findet
man das Verhalten des spanischen Othellos, wie man
nicht ganz passend den „Arzt seiner Ehre" genannt
hat, auch in poetischem Sinne unannehmbar? Dürften
nicht mit gleichem Rechte die Duelle welche auf un-
serer Bühne so häufig und als etwas durchaus Selbst-
verständliches vorkommen, von weniger barbarischen
Jahrhunderten auf das Sündenregister der Dichter
gesetzt werden? Calderon hat wahrscheinlich über
die zu seiner Zeit herrschenden übertriebenen Ehren-
gesetze so gedacht wie er in „Heimliche Rache für
heimliche Beleidigung" den Don Juan denken lässt, der
es als „tyrannischen Irrthum der Männer" bezeichnet
Dass den Diamant der Ehre
Ein geringer Windeshauch
Schmelzen und zerstören kann.
Aber Don Juan handelt wie es das „schmähliche Gesetz
der Welt" gebeut, und Calderon lässt alle seine Helden
— 110 -
so handeln. Nicht allein der Gattin erwiesene untreue,
sondern schon der Verdacht, der Anschein einer solchen
entschuldigte, die äusserste Massregel des Gatten, und
Don Gutierres Thun und Denken war für das Publikum
von damals keineswegs befremdlich. Ticknor begeht
einen grossen Irrthum wenn er meint die Ehrbegriffe
die bei Calderon herrschen, und die daraus hervor-
gehenden Handlungen die er darstellt, entsprächen
seiner Zeit nicht; geschichtliche Urkunden hätten ihn
eines Besseren belehren können. üebertreibungen
machen sich allerdings bemerkbar, aber solche wie sie
zu poetischen Zwecken zulässig und sogar geboten sind.
Wenn wir von der Ehre zu etwas übergehen was sich
immer in innigster Verbindung mit ihr zeigt, zur Liebe
nämlich, so nehmen wir auch hier die Wirklichkeit
als sichere und feste Grundlage der Dichtung wahr.
Wie entstand denn und wie äusserte sich die Liebe
in jenem Madrid? Ein Kavalier sieht zwischen lose
geschlossenen Fensterläden zwei dunkle Augen hervor-
bützen oder die feine weisse Hand einer Dichtverhüllten
sich in das Weihbecken tauchen ; ein elektrischer Funke
springt zu ihm über ; es beginnt ein unablässiges, aber
vorsichtigstes Spähen und Forschen; Diener und Die-
nerinnen und auch hülfreiche alte Weiber werden in
Bewegung gesetzt; verstohlene Zeichen werden ge-
wechselt, Briefe abgesendet; endlich steht der Glück-
liche Nachts vor dem Gitter hinter dem ihm die An-
gebetete Gehör ertheilt, aber argwöhnische Verwandte,
beunruhigte Nebenbuhler, neugierige Nachbarn ge-
statten keine bequeme und lässige Unterhaltung; er
hat nicht Zeit sich nach dem Befinden der lieben Eltern,
wie sich's gebührte, zu erkundigen oder sich von dem
- 111 -
angenehmen Wetter auf Buschwegen zur Andeutung
süssen Herzklopfens durchzuschlagen, nein, er wirft
gleich mit Sonnen, Sternen, Gold, Diamanten, Rosen
und Jasmin um sich und lässt als gelehriger Schüler
des Luis Göngora und des Baltasar Gracian seine
Geistesgaben im schönsten Feuerwerk leuchten. So
geht es in ziemlich gleichem Tempo, da die Eifersucht
als Sporn der Liebe mit ihr zugleich geboren wird,
bis zu glücklichem oder unglücklichem Ausgange fort.
Jene langsam erwachende, träumerisch befangene Liebe
des Nordens kann bei so heissem Temperament und
so strenger Konvenienz kaum bestehen; und wenn sie
auch vielleicht mit dem Auf und Ab, dem Hin und
Her der inneren Triebe einer mannigfaltigeren und
feineren poetischen Behandlung fähig ist als die süd-
liche Liebe mit dem Abenteuerlichen der äusseren
Hindernisse, so ist doch im Grunde genommen diese
die vollkommenere, und es lässt sich schwer denken
wie ein spanischer Dramatiker, auch wenn er sich in-
mitten anderer Zeiten und Völker versetzt, aus der
hellen Peuersphäre in eine dunstigere und kühlere
hinabsteigen sollte. Das Spanien des siebzehnten Jahr-
hunderts war von dem übrigen Europa durch die Py-
renäen wie durch eine chinesische Mauer abgeschlossen.
Die Engländer, Franzosen, Deutschen, Italiener die es
bereisten, kamen aus der Verwunderung über die Eigen-
thümlichkeiten des dortigen Lebens nicht heraus. Man
muss dieses Spanien genau kennen um die dramatischen
Werke die es hervorbrachte, richtig zu beurtheilen.
In einem vor einigen Jahrzehnten erschienenen kleinen
Buche über das spanische Drama (und zwar Lope de
Vega und Calderon insbesondere) hat der Goethe-
~ 112 -
biograph Lewes auf dies Erforderniss ausdrücklich und
wiederholt hingewiesen und doch thatsächlich es so
ausser Acht gesetzt dass er Calderon nicht als wahren
Dramatiker, wie Shakspeare und Racine, sondern nur
als „ Bauchredner^' gelten lässt, und dass er überhaupt
den Spaniern den dramatischen Genius abspricht und
sie darüber mit Cervantes und Murillo tröstet. Wie
nicht bloss der Gehalt, sondern auch die Kunstform
ganz aus dem nationalen Bedürfnisse herauswächst,
bleibt hier übersehen, und es wird unbewusst überall
der ästhetische Massstab der eigenen Nation angelegt.
Nun bitte ich das Wie neben dem Was besonders
auch für die obige Bemerkung dass Calderon der
spanischste Dramatiker sei, in Anschlag zu bringen.
Dass er überall das spanische Leben darstellt, das hat
er mit den Anderen gemein ; ja, er steht ihnen hierin
sogar nach, indem er manche Seiten desselben nicht
berücksichtigt und sich stets vom derberen Realismus
zurückhält ; aber, eben in der Art der Darstellung, eben
durch den Idealismus welcher uns das Wirkliche in
prächtigster Luftspiegelung vorführt, zeigt er sich mehr
Spanier denn die Uebrigen. Hier entspringen seine
grössten Vorzüge, hier jedoch auch die unleugbaren
Fehler welche ihm anhaften.
Allein ich habe schon zu viel gesagt wenn ich
nur irrthümlichen AulFassungen vorbeugen, und noch
viel zu wenig, wenn ich eine deutliche Vorstellung
von dem Wesen der Calderon'schen Poesie erwecken
wollte. Eine solche Ausführlichkeit wie sie durch den
Umfang und die Vielseitigkeit des Gegenstandes unbe-
dingt erheischt wird, würde den grossen Leserkreis
ermüden, dem andrerseits auch mit einer Lebensskizze
— 113 —
und einer Uebersicht von Dramentiteln schwerlich ge-
dient wäre. Einen Punkt gibt es immerhin der all-
gemeineres Interesse beanspruchen, für den es in Wien
weder an sachverständigen und gewandten Rednern,
noch an aufinerksamen Zuhörern fehlen würde; ich
meine den Einfluss Calderons auf die östreichischen
Dramatiker oder die deutschen überhaupt. Zu beherzigen
wären dabei besonders einige Seiten in der Vorrede
zum dritten Bande von Schacks ,, Geschichte der dramati-
schen Literatur und Kunst in Spanien", damit die
unbefriedigenden Ergebnisse weniger auf Rechnung der
Spanier als die der ünserigen gesetzt würden. Inwie-
weit neben der Rüge die Ermunterung noch zeitgemäss
ist, mögen Andere entscheiden. Es sei hier beiläufig
auch an das erinnert was Grillparzer gelegentlich
Lope de Vegas sagt: „Freilich, unsere Deutschen
würden ihn nachahmen wie die Kinder mit Allem zum
Maule fahren; und nachzuahmen ist an ihm nichts.
Aber sich mit ihm erfüllen, die Phantasie, das Vor-
handene und die Beschauung wieder in ihre Rechte
einsetzen, es aber der äusseren Form, ja dem Inhalte
nach ganz anders machen als Lope de Vega, das wäre
die Aufgabe." Ich für meinen Theil glaube dass unsere
Schauspieldichter wenigstens in der Technik ungemein
viel von den Spaniern und hauptsächlich von Calderon
lernen könnten; schwitzen sie doch Blut und Wasser
bei der Arbeit das dramatische Gerüst so aufzuzimmern
dass es nur einigermassen die Verhältnisse bewahrt
und nicht überall aus den Fugen geht. Wie ungemein
praktisch in dieser Hinsicht die Spanier waren, das
ergibt sich schon daraus dass sie ausnahmslos das
Dreiaktsystem an Stelle des Fünfaktsystems setzten;
Schuchardt, BomaniBches u. Keltisches. 8
— 114 —
mögen es alle die bestätigen welche je an einem
fünften Akte gescheitert sind.
Die beste Gedächtnissrede hält sich ein Bühnen-
dichter selbst. Calderon'sche Stücke sind ziemlich oft
in Deutschland aufgeführt worden. Es wäre sehr zu
wünschen dass ein Theaterfreund uns eine diesbezüg-
liche Zusammenstellung lieferte. Ich theile das Wenige
mit was ich weiss. In den 70er und 80er Jahren des
vorigen Jahrhunderts wurden auf deutschen Bühnen
verschiedene Dramen von Calderon mit Beifall gegeben,
so „Der Alcalde von Zalamea", der freilieh auch ein-
mal in Freiburg ausgezischt wurde, und „Der Versteckte
und die Verhüllte" (unter dem Titel „Der Verschlag").
Aber auf welchem Umwege gelangten sie aus dem
Spanischen ins Deutsche ! Zu Grunde lag das TMdtre
espagnol von Linguet (1770); hier erscheint der „Al-
calde" als Le viol puni und wurde 1771 zu Braun-
schweig ins Deutsche übersetzt als „Die bestrafte Ent-
führung". Den Viol puni bearbeitete Collot d'Herbois
für die französische Bühne unter dem Titel Le paysan
magistrat, und hierauf gehen zurück „Der Oberamtmann
und die Soldaten" von Stephanie d. Jung. (Wien 1781)
und „Amtmann Graumann, oder: Die Begebenheiten
auf dem Marsche" (Mannheim 1781) von Schröder,
der den Crespo öfters und glücklich spielte. Gegen
Ende des Jahrhunderts hatte die Vorliebe für Calderon
wieder abgenommen. Die SchlegePschen Uebersetzungen
(1803 bis 1809) wurden von wenig Theaterdirektionen
berücksichtigt, so von der Holbein'schen in Bamberg ;
am häufigsten kam die „Andacht zum Kreuze" zur
Aufführung, ohne jedoch einem grossen Verständnisse
zu begegnen. Das Werk welches zunächst den meisten
— 115 —
Anklang fand, war „Das Leben ein Traum". Schon
vor der Gries'schen üebersetzung gab es verschiedene
Bearbeitungen davon, so eine von v. Einsiedel, welche
in Weimar, und eine von einem Schauspieler Keller,
welche in Nürnberg, aber mit Misserfolg gegeben wurde.
Unmittelbar auf Gries folgte die West*sche Bearbeitung
(1816), welche sich allgemein behauptet hat, die
Mämminger'sche (unter dem Titel „Das Horoskop"),
welche 1816 zum ersten Male in Regensburg aufgeführt
wurde, und die v. Zahlhas'sche (1818), welche andere
Bühnen annahmen. Schon 1811 hatte Goethe mit
ausserordentlichem Erfolg den „Standhaften Prinzen"
in Weimar auf die Bretter gebracht, welchen 1816
auch Berlin kennen lernte. In Weimar wurde später,
wenn ich nicht irre, noch die „Grosse Zenobia" gegeben.
Das Düsseldorfer Theater sah von 1835 bis 1837 unter
Immermanns Leitung: „Der Arzt seiner Ehre", „Der
Richter von Zalamea" (Pest Vorstellung für den Kron-
prinzen von Preussen, auf den das Stück keinen grossen
Eindruck gemacht zu haben scheint), „Das Leben ein
Traum", „Die Tochter der Luft", „Der wunderthätige
Magus", Von diesem letzten Stücke meint Immermann
dass es ein Gluck gemacht habe wie nie ein anderes ;
ein stürmisches Entzücken hätte das Haus erschüttert,
die geringsten Leute hätten auf der Strasse davon
gesprochen und gesagt, sie würden so oft hingehen
als es wieder gegeben würde ; aber der hinkende Bote
kommt nach : „nicht die Poesie hatte die grosse
Wirkung hervorgebracht, sondern der Schiffbruch, der
wandernde Berg, der fliegende Teufel, die Engel und
die Erzengel im bengalischen Lichte, kurz, alle die
Hors d'oeuvre die ich anzubringen gewusst." Die
8*
— 116 —
Erwähnung Wiens habe ich auf zuletzt verspart. Man
darf bei den nahen Beziehungen zu Madrid erwarten
dass in Wien schon im siebzehnten Jahrhundert
Calderon'sche Stücke dargestellt worden sind ; indessen
habe ich keinen bestimmten Nachweis dessen ausfindig
machen können. Ich will erwähnen, um dadurch
vielleicht auf eine Spur zu lenken, dass ich auf der
k. Hofbibliothek eine handschriftliche Prosaübersetzung
von „Alles geben und doch nichts geben" sah, welche
dem Katalog zufolge aus dem siebzehnten Jahrhundert,
meines Erachtens aus einer etwas jüngeren Zeit stammt.
1752 verordnete Maria Theresia dass keine andern
Stücke gegeben werden sollten als welche entweder der
französischen, italienischen oder spanischen Bühne ent-
stammten oder in deutscher Sprache wohl ausgearbeitet
befunden würden. Wenige Jahre später, 1760, trat
die aus Lessings Leben bekannte Christiane Friederike
Huber in dem Stücke „Das menschliche Leben ist
ein Traum" (in deutsche Verse gebracht von Julius
Friedrich Scharfenstein, aber nach dem Italienischen)
auf dem k. k. Stadttheater auf; sie scheint die Hosen-
rollen geliebt zu haben und dadurch auf die Partie
der ßosaura geführt worden zu sein. Ferner enthält
der zwölfte und letzte Band (1775) der „Neuen Schau-
spiele, aufgeführt in den k. k. Theatern zu Wien":
„Verwirrung über Verwin'ung" (d. i. „Der Versteckte
und die Verhüllte"). Weiter wurden im Burgtheater —
nach gütiger Mittheilung des Herrn Regierungsrathes
Dr. Wlassak — gegeben:
1780 — 1798 „Der Oberamtmann und die Soldaten" (von
Stephanie d. J.), 23mal;
1818 — 1854 «Don Gutierre, oder: Der Arzt seiner Ehre*
(von West), 33mal;
— 117 —
1822 — ? (1866 nach einer langen Pause wieder) «Das
Leben ein Tranm* (von West), 38mal; am 17. Juni 1816
zum ersten Male im Theater an der Wien;
1841 „Dame Kobold* (von Gries), 3mal;
1847 „Schleife und Blume* (von Braunau), 3mal;
1854 „Die Liebe im Eckhause* (von Cosmar nach dem
Französischen, d. i. „Ein Haus mit zwei Thüren ist schlecht
zu hüten*), 3mal.
Auch sind, weil auf Galderon*schen Stücken
beruhend, noch zu nennen:
1781 — 1808 „Das öffentliche Geheimniss* von Gozzi (von
Gotter), 29mal;
1826—1827 „Die Tochter der Luft* (von Raupach), 8mal.
Sollten, wie es doch sicher zu erwarten steht,
sich Wiener Bühnen an der Calderonfeier betheiligen, so
brauchte man durchaus nicht bei dem eben angeführten
Kepertoire stehen zu bleiben. Wir haben ausserdem
eine grosse Anzahl Calderon'scher Dramen in getreuer
üebersetzung und einige in etwas freierer Bearbeitung,
wobei fanffüssige Jamben gewählt worden sind. Im
Allgemeinen ist diesen Versen, an welche nun einmal
unser Ohr gewöhnt ist, der Vorzug zu geben. Indessen
würden doch die spanischen Masse und ihre Abwechs-
lung im ernsten Drama recht wohl ansprechen, im
heitern allerdings befremdlicher vorkommen. Jedenfalls
müssen allzu lange Erzählungen und allzu schwülstige
Stellen gestrichen werden. Auch kleine sachliche
Aenderungen darf man vornehmen ; nur tiefergehende
Operationen, wie West eine mit dem „Arzt seiner
Ehre" vorgenommen hat, sind verpönt. Mag der Aus-
gang dieses Schauspieles uns und ebenso die heutigen
Spanier verletzen, von dergleichen Stücken muss das
Wort gelten: sint %it sunt aut non sint. Die Inscenierung
— 118 —
eines Calderon'schen Lustspiels wird mit einigen
Schwierigkeiten verbunden sein. Die eigenthümlichen
spanischen Sitten drängen sich doch gar sehr hervor.
Den Meiningern darf es überlassen bleiben dass die
Damen, die in jenen Zeiten noch nicht auf Stühlen
zu sitzen gelernt hatten, mit türkisch untergeschlagenen
Beinen auf den Kissen einer Estrade hocken, dass sie
auf der Strasse die hohen Stelzpantoffel, die Chapines
tragen, die sie wegen des Schmutzes über ihre Schuhe
zogen und in denen sie jeden Augenblick Gefahr liefen
zu fallen, dass die Galane Nachts mit dem Broquel,
einem kleinen Schild, am Arme sich vor dem Hause
der Geliebten einstellen u. s. w. ; allein von der
damaligen Sitte der Frauen in Verhüllung auszugehen,
kann nirgend Abstand genommen werden, denn sie ist
für die Intrigue der meisten dieser Stücke von wesent-
lichster Bedeutung. Nun sind aber hierüber die Zu-
schauer grösstentheils nicht unterrichtet und werden
glauben, es handle sich um einen besonderen Masken-
scherz, und die Schauspielerinnen würden daher ihr
Bestes zu thun haben das Verhüllen (wobei ein Auge
sichtbar bleibt) und das Enthüllen natürlich und graziös
vorzunehmen. Auch müssen sie nicht vergessen eine
ganz gewöhnliche dunkle Kleidung zu tragen, nicht
etwa eine bunte oder kostbare, an welcher sie ja leicht
zu erkennen wären. Und derart ist noch manches
Andere zu beachten.
Könnte nicht etwa das Burgtheater ein Drama
höheren Stils bringen, das Stadttheater eines welches
das gesellschaftliche Leben Altmadrids abspiegelt, und
zwar an verschiedenen Tagen ? Von der ersten Kategorie
ist „Das Leben ein Traum^ als allzu bekannt beiseite
— 119 —
zu setzen; „Der standhafte Prinz" und „Der wunder-
thätige Magus" haben heutzutage wenig Aussicht auf
Erfolg; vom „Arzt seiner Ehre" muss aus schon
angedeuteten Gründen abgesehen werden; auch die
sonst trefflichen Stücke „Der Maler seiner Schande"
und „Drei Vergeltungen in einer" sind für uns
Heutige etwas zu herb; am meisten zu empfehlen
wäre „Der Alcalde von Zalamea" und „Das Lieb-
chen des Gomez Arias"; letzteres Stück ist ausser
von Gries noch übersetzt worden von der Ver-
fasserin der „Rolands Abenteuer" (Gotha 1825),
welche zum Theil fünffüssige Jamben anwendet, und
neuerdings von Moriz Rapp, welcher sie ausschliesslich
anwendet oder vielmehr anzuwenden glaubt; denn
seine Verse sind Bastarde von Prosa und Jamben.
Vorzügliche Konversationsstücke sind unter Anderem:
„Der Versteckte und die Verhüllte" (auf dem Madrider
Standbild Calderons vertritt es die ganze Klasse),
„Dame Kobold" (auch von Baumstark, Wien 1869,
und zwar in Jamben übersetzt) und „Hüte dich vor
stillem Wasser" (auch von Kapp, in den bekannten
Jamben).
Etwas möge geschehen damit wir uns dessen er-
innern von dem doch ein Tropfen Blutes in unseren
Adern rinnt. Dem guten Willen wird auf keinen Fall
der Erfolg fehlen; entweder steigt das Alte in neuer
Frische vor uns empor, um uns zu erbauen und
anzuregen, oder es stellt sich uns als historische Merk-
würdigkeit dar, um uns mit dem tröstlichen Bewusst-
sein zu erfüllen wie herrlich weit wir es seitdem
gebracht haben.
VIII.
Goethe und Calderon.*)
„Goethe und Calderon!" welch gewich-
tigere, ehrenvollere Gabe hätten wir nach Madrid
senden können als eine mit dieser Aufschrift gezierte ?
Unser grösster Dichter mit liebevoller Anerkennung den
Lorbeer auf das Haupt des Spaniers drückend, dieser
in dem gewaltigen, klaren Blick des Olympiers sich uns
wiederspiegelnd! Schon Frh. von Biedermann hat in
der Abhandlung über das „Trauerspiel in der Christen-
heit" den Antheil welchen Goethe dreissig Jahre hin-
durch an Calderon nahm, an der Hand urkundlicher
Belege einleitüngsweise verfolgt und sich sodann be-
müht darzuthun wie in einem Fall wenigstens Calderon
aus Goethes geniessend betrachtender Peripherie in
sein schöpferisches Centrum eindrang. Zu jener Aeusse-
rung Goethes dass er Calderon schon vor 1802 „dem
Namen nach" gekannt habe (die hervorgehobenen Worte
durfte Biedermann nicht weglassen), sei mir gestattet
Folgendes anzumerken. Ihm war die deutsche Bear-
beitung wenigstens eines Calderon'schen Stückes nicht
fremd, doch scheint er nicht gewusst zu haben wer der
ursprüngliche Verfasser desselben war. Am 4. Oktober
*) Goethe und Calderon. Gedenkblätter zur Calderonfeier.
Herausgegeben von Edmund Dorer. Leipzig 1881,
— 121 —
1786 sieht er in Venedig eine Commedia dell'arte,
deren „tolles Sujet" ihn an dasjenige erinnert „das
bei uns unter dem Titel ,der Verschlag* behandelt ist".
„Der Verschlag" ist Calderons El escondido y la tapada,
und unter jenem Namen fahrt es sogar Gries'noch an,
als er Tieck (29. Mai 1829), der seine üebersetzung
schon handschriftlich kannte, deren baldiges Erscheinen
im Druck verhiess (hier ist sie betitelt „Der Verborgene
und die Verkappte"). Vielleicht fliesst jenes italienische
Stück — in Italien war ja Calderon länger und mehr
heimisch als in Deutschland — aus derselben Urquelle.
Mit andern Dramen Calderons mochte es sich ebenso
verhalten wie mit diesem; sie staken in plumpem
deutschem Kostüm, und der Name des fremden Autors
wurde bei Druck und Aufführung vielfach verschwiegen.
Wissen doch auch heutzutage, um ein Beispiel statt
vieler anzuführen, nur Wenige dass manche Lustspiele
welche unsere Lachmuskeln in lebhafteste Bewegung
setzen, Bearbeitungen nach dem Französischen Labiches
sind. Wie hätte sonst Wilhelm von Humboldt am
26. August 1799 an Goethe, damit er und Schiller
darüber einen Augenblick lachen möchten, eine Scene
aus dem Calderon'schen Stücke „Der wohlverdiente
Strick oder der Alcalde von Zalamea" (ursprünglich
nämlich führte es im Spanischen den Doppeltitel El
alcalde de Zalarnea y el garrote mas hien dadö) ge-
schickt, da es ja als „Die bestrafte Entführung" oder
„Der Amtmann Graumann" oder „Der Oberamtmann
und die Soldaten" mehrfach über deutsche Bühnen
gegangen war. Noch in dem gleichen Jahre, am
28. November, schrieb W. von Humboldt aus Madrid
einen langen Brief an Goethe worin er Betrachtungen
— 122 —
über die spanische Litteratur und Bühne niederlegte.
Goethe wurde durch die spanische Heise seines Freundes
höchlichst angeregt, und in der Antwort die er etwa
einen Monat darauf an Humboldt richtete, findet sich
folgende sehr beachtenswerthe und, wie mir scheint,
gar nicht beachtete Stelle : „Sogar habe ich mich den
spanischen Schriftstellern wieder genähert und neulich
das Trauerspiel Numancia von Cervantes mit vielem
Vergnügen gelesen." Hieran ist nun unmittelbar das
erste der Biedermann'schen Citate anzuschliessen, wel-
ches einem Briefe Goethes an A. W. Schlegel vom
2. April 1800 entstammt; wenn Goethe die Ver-
sicherung, er hätte von Schlegel gern noch mehr von
der spanischen Litteratur vernommen, mit den Worten
gleichsam begründet: „ein Land das man selbst nicht
mehr besuchen wird, hört man so gerne von scharf-
sinnigen Reisenden beschreiben", so war das nicht
bloss im übertragenen, sondern auch im eigentlichen
Sinne gemeint, indem ja zwischen den Beiden sicher
auch die Humboldt'schen Reiseeindrücke zur Sprache
gekommen waren. In die Reihe der zahlreichen Belege
welche Biedermann für Goethes Beschäftigung mit
Calderon bietet, lässt sich noch mancher, wenn auch
nicht von hervorragender Wichtigkeit, eintragen und
ebendaselbst Einiges berichtigen.
Wo eine derartige üebersicht über die vorhandenen
Bausteine gewährt ist, da ist es leicht zu bauen.
Derer indessen gibt uns nichts Eigenes, nichts Neues,
nichts Abgerundetes. Was er gibt, vertheilt er in die
beiden Abschnitte „Goethes ürtheile" (wiederum drei
Gesichtspunkten untergeordnet : „über Calderon im
Allgemeinen", „über einzelne Dramen", „über Calderons
— 123 —
Einfluss") und „Calderon und die Bühne in Weimar".
Ich will von dem letzteren, welcher mancher Ergänzung
fähig wäre, absehen ; in dem ersteren ist Alles gefehlt
was bei der Einfachheit der Arbeit gefehlt werden
konnte. Zunächst werden die Quellen verschwiegen;
das mag bei' einzelnen irgendwo eingeflochtenen
Urtheilen hingehen, aber nicht bei einer Sammlung
solcher. Es liegen aus drei Jahrzehnten, mit nicht
allzu langen Unterbrechungen , Aussprüche Goethes
über Calderon vor, und obwohl sie immer eine lebhafte
Bewunderung und eine im Wesentlichen gleiche Auf-
fassung bekunden, so ermangeln sie doch begreiflicher-
weise der vollständigen Einheitlichkeit. Goethe pflegte
nicht auf eine Sache zurückzukommen ohne ihr neue
Seiten für die Betrachtung abzugewinnen ; nach Stim-
mung und Anlass trat bald dieses, bald jenes ins Licht ;
auch war es nicht gleichgültig gegen wen er sich
äusserte. Endlich ist zu berücksichtigen dass Goethes
Kenntniss von Calderon durch die üebersetzungen all-
mählich wuchs und zwar in den späteren Jahren rascher
als in den früheren, dass aber andrerseits der erste Ein-
druck den die fremdartige Grösse ausübte, der stärkste
und wohl auch, trotz der Versicherungen immer er-
neuerten Staunens, der günstigste blieb. Ich meine
nicht den allerersten, sondern den im Jahre 1804 durch
den „Standhaften Prinzen" empfangenen. Als er dieses
Stück einst (im März 1807) bei der Johanna Schopen-
hauer vorlas, ergrifi" ihn die Scene in welcher der Prinz
als Geist dem herannahenden Heere mit der Fackel
voranleuchtet, in so gewaltigem Grade dass er das
Buch auf den Tisch warf, sodass es zu Boden fiel.
Bei der Aufführung im Jahre 1811 weinte Goethe.
— 124 —
Und doch ist der „Standhafte Prinz" nur eine mit
manchen Mängeln behaftete Jugendarbeit Calderons
und überdies ein Werk von streng katholischem Cha-
rakter, wodurch hauptsächlich wohl der ünmuth
Wielands über die Rührung zu erklären ist welche
Charlotte von Schiller während der Vorstellung empfand.
Es scheint mir mehr der Drang nach eigener Recht-
fertigung als nach Belehrung Anderer welcher Goethe
in einem Gespräch vom 31. Jänner 1815 zu der Be-
hauptung verleitete, der standhafte Prinz dulde nicht
sowohl für den Glauben als für Portugals Ehre. Es
war ihm wohl erst durch die Schrift von Joh. Schulze
(1811) zu seinem Missbehagen klar geworden was
man alles aus dem „Standhaften Prinzen" herausfühlen
kann. So trugen auch die Erfahrungen welche
Goethe an Andern machte, zur Abdämpfung seines
Urtheils bei, weniger über den Dichter selbst, mehr
über dessen Gedeihlichkeit auf deutschem Boden. Wie
ich glaube, nahm anfangs Goethe als möglich und
wünschenswerth an dass, wie seiner Zeit Shakspeare
in der dramatischen Litteratur Deutschlands eine
heilsame Einwirkung ausgeübt habe (später dachte er
auch in dieser Beziehung anders), nun eben eine
solche von Calderon ausgehe, den er ja, einem
Briefe Schellings an A. W. Schlegel (13. Okt. 1802)
zufolge, nicht nur dem Britten gleich, sondern fast
noch über ihn stellte. Gries entsinnt sich „eine sehr
geistreiche Vergleichung des spanischen Dichters mit
dem Sophokles von ihm gehört zu haben, infolge
welcher er offenherzig gestand, wenn er und Schiller
den Calderon früher gekannt hätten, so würden sie in
ihren Stücken manche Fehler vermieden haben." Schiller
— 125 —
war schon von Chr. 6. Körner (26. Juni 1800) auf
das spanische Theater hingewiesen worden, in welchem
er manchen Stoff zu tragischen Situationen finden
würde. Er verhält sich ablehnend zu dem Vorschlag
(3. Juli 1800): „Für unsere deutsche Poesie glaube
ich nicht so viele Ausbeute daran [an der spanischen
Litteratur] finden zu können als du hoffst; weil wir
einmal mehr philosophische Tiefe und mehr Wahrheit
des Gefühls als Phantasiespiele lieben." Und er setzt
hinzu: „Auch die Schlegels geben sich jetzt viel mit
der spanischen Litteratur ab, nach ihrer Art; aber
durch ihre Einseitigkeit und Anmassung verderben sie
Einem gleich die Lust." Als der erste Band von A. W.
Schlegels „Spanischem Theater" herausgekommen war,
äusserte sich Körner gegen Schiller (9. Okt. 1803)
wenig günstig über Calderon. Er sagt z. B. : „Eine
üppige und rege Phantasie ist in Calderon nicht zu
verkennen, aber was man Gemüth nennt, scheint ihm
zu fehlen" (vgl. Goethe an Gries 1821 : „obgleich im
Ganzen nicht aufs Gemüth angesehen"). Er setzt
Calderon weit unter Shakespeare; so sei dieser kühn,
jener aber frech, „und in dieser Frechheit, für die es
nichts Heiliges gibt, glaube Mancher das Genialische
zu finden".' Nun ist es Schiller (16. Okt. 1803) welcher
dem spanischen Dichter grosse Wärme entgegenbringt,
die allerdings für den enttäuschten Freund weniger zum
Vorschein kommt. Er gibt ihm sogar Recht, um mit
einem „Uebrigens" eine Brücke zu seiner eigenen
Meinung herzustellen: „Es ist übrigens recht inter-
essant den südlichen Geist mit einem mehr nördlichen
hier zu vergleichen. Sinnlichkeit und Leidenschaft
bezeichnet jenen, diesen eine moralische Tiefe des
- 126 - .
Gemüths. Indessen ist in Calderon doch eine hohe
Kunst und die ganze Besonnenheit des Meisters zu
sehen ; selbst was als regellos ins Auge fallt, wird von
einer grossen Einheit zusammengehalten." Rückhalt-
loser durfte er sich gegen Gries dahin aussprechen,
„ihm sei durch die Bekanntschaft mit dem Calderon
eine neue herrliche Welt aufgegangen". In dieses
entglimmende Feuer giesst Goethe Oel, indem er
(28. Jänner 1804) Schiller die erste Mittheilung von
dem „Standhaften Prinzen" macht, mit den Worten
schliessend: „Ja, ich möchte sagen, wenn die Poesie
ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man sie
aus diesem Stücke wiederherstellen." Schiller zeigt
sich begierig auf die Neuigkeit; darüber wie er sie
aufgenommen hat, finde ich nichts. Um mich wieder
zu Goethe zu wenden, so trug er sich im Jahre 1807
mit dem Plane zu einem „Trauerspiel in der Christen-
heit", von dem Biedermann mit etwas zu starkem Aus-
druck sagt dass er ein Stück in der Weise Calderons
zu schreiben versuchte, das aber allerdings Spuren von
der Beschäftigung mit dem spanischen Dramatiker an
sich trägt. Die unzweifelhaftesten in den Parallel-
versen :
«
Ja, ich bin's zu Deinen Füssen!
Ja, ich bin's in Deinen Armen!
Bin der Redliche, der Treue,
Der, und wenn Du staunend zauderst,
Der, und wenn Du fürchtend zweifelst. . . .
In einem Brief an Chr. G. Körner (23. Apiil 1812)
empfahl Goethe dem Sohne desselben, Theodor, sich
des Calderon'schen Silbenmasses für dramatische Dich-
tungen zu bedienen. Man vergleiche auch die Stelle
- 127 -
in dem Abschnitt „Uebersetzungen" zum „West-
östlichen Divan" wo Goethe darauf hinweist „welche
Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche
rhetorische, rhythmische, metrische Vortheile dem geist-
reich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun
Ariost und Tasso, Shakspeare und Calderon als ein-
gedeutschte Fremde uns doppelt und dreifach vor-
geführt werden". Als aber die deutschen Dramatiker
wirklich begonnen hatten sich den Calderon anzueignen,
allerdings nicht mit der richtigen Diätetik, da gesteht
Goethe zu dass Shakspeare und Calderon für uns zu
Irrlichtern geworden, dass viele treffliche Deutsche an
ihnen zu Grunde gegangen seien, da sieht er nach-
träglich- ein dass Calderon Schiller gefährlich gewesen
wäre, dass er zum Glück erst nach dessen Tod in
allgemeine Aufnahme gekommen sei, da betont er
dass Calderon auf ihn selbst gar keinen Einfluss gehabt
habe, weder im Guten noch im Schlimmen. Des
„Trauerspiels in der Christenheit" als eines Conatus
brauchte er sich dabei nicht zu erinnern. Ich weiss
nicht ob dergleichen Aeusserungen sich schon vor
1825 nachweisen lassen. Am 30. Mai 1824 sprach
Goethe mit Eckermann über einige neuere Schauspiele
von Platen. „Man sieht", sagte er, „an diesen Stücken
die Einwirkung Calderons. Sie sind durchaus geist-
reich und in gewisser Hinsicht vollendet, allein es
fehlt ihnen ein specifisches Gewicht, eine gewisse
Schwere des Gehaltes. Sie sind nicht derart um im
Gemüth des Lesers ein tiefes und nachwirkendes Inter-
esse zu erregen, vielmehr berühren sie die Saiten
unseres Innern nur leicht und vorübereilend. Sie
gleichen dem Kork der, auf dem Wasser schwimmend.
- 128 -
keinen Eindruck macht, sondern von der Oberfläche
sehr leicht getragen wird." Soll man hier die Ein-
wirkung als eine günstige oder ungünstige betrachten,
d. h. nur das zuerst genannte oder alle Merkmale
aus ihr ableiten ? — Auch in Bezug auf die Bühnen-
wirksamkeit Calderons im Allgemeinen bewährten sich
Goethes Erwartungen nicht. Zum Jahre 1811 be-
richten die Annalen: „Der standhafte Prinz* ward mit
allgemeinem Beifall aufgeführt, und so der Bühne eine
ganz neue Provinz erobert" ; zum Jahre 1814 heisst es
von der „Grossen Zenobia": „Nach diesem letzten
Versuch verklang gewissermassen der Beifall der den
ersten Stücken so reichlich geworden war."
So wenig ist sich Dorer bewusst wie viel darauf
ankommt Zeit und Gelegenheit eines Goethe'schen
Ausspruchs über Calderon zu kennen, dass er sogar
verschiedene in einen einzigen zusammenschweisst,
nämlich S. 7: Eckermann I, 174 f. und eine Stelle
von der ich mich nicht entsinne wo sie sich findet;
S. 8 : an Schiller 28. Jänner 1804 und an Zelter 28. Fe-
bruar 1811, wo der Ausdruck „genanntes Stück" sich
sehr gut als Bindeglied benutzen liess; S. 12: Ecker-
mann I, 224 f. (31. Jänner 1827) und ein Aphorismus
vom Jänner 1808 (Biemer S. 320 f.), welcher über-
haupt von keiner Bedeutung ist, da Calderon! nur neben
Andern als grosser Dichter der Vorwelt angeführt wird
und welcher keinesfalls sich auf den Einfluss Calderons
bezieht. Von den Sprüchen in Prosa 768, 769, 770
sind auf S. 13 nur die beiden ersten zusammen ge-
druckt, der dritte aber gesondert, ohne dass für dieses
Verfahren irgendeine Berechtigung vorläge. 768 han-
delt nicht ausdrücklich von Calderon, schliesst sich aber
— 129 —
eng an 767 („Shakspeare und Calderon haben solchen
Vorlesungen einen glänzenden Eingang gewährt ....")
an, welcher von Dorer deshalb nicht reproduziert wor-
den ist weil er nicht weiss wie er die Beziehung auf
den allerdings gar nicht hieher gehörigen 766 besei-
tigen soll. Auch sonst lässt es sich der Herausgeber
angelegen sein von den ürtheilen alles was ihnen aus
ihrem Zusammenhang anhaftet, wie von einer Pflanze
die Erdkrume welche den Standort verrathen könnte,
abzulösen, und so werden wir um manches bedeutsame
Wort verkürzt. Von dem was noch Aufnahme ver-
dient hätte, rede ich nicht.
Wer in abgerundeter Weise Goethes Betrachten
und Wirken hinsichtlich Calderons darstellen wollte,
der müsste den Nachklang in engeren und weiteren
Kreisen verfolgen. Obwohl schon 1811 die Holbein'sche
Gesellschaft in Bamberg den „Standhaften Prinzen"
auf die Bühne gebracht hatte (bald darauf geschah
dies auch mit der „Andacht zum Kreuz" und der
„Brücke von Mantible"), so fanden doch diese Anfange
keine Fortsetzung ; von Weimar aus wurde der Samen
weiter und zunächst nach Berlin geweht. Zelter schreibt
Anfang März 1811 an Goethe: „Von Ihrer AuflFührung
des ,Standhaften Prinzen' tönt hier jeder Mund wieder" ;
am 14. April 1812: „Ob wir das Calderon'sche Stück
hier gleichfalls sehen werden, möchte ich gern wissen."
Erst am 15. Oktober 1816 wurde der „Standhafte Prinz"
in Berlin gegeben, nachdem WolflF, der in Weimar das
Stück insceniert hatte, am 1. April dorthin gekommen
war. Es folgten in Berlin andere Stücke von oder
nach Calderon, so „Die schwere Wahl", „Die Tochter
der Luft", „Der Arzt seiner Ehre", „Das öflFentliche
Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 9
— 130 —
Geheimniss", „Das Leben ein Traum". Auch wäre
zu fragen ob nicht West durch Goethe mittelbar zu
seinen beiden Bühnenbearbeitungen angeregt worden
ist, wie unmittelbar, ja mit leisem Druck, Gries zu
der stattlichen Keihe seiner üebersetzungen, die dann
wiederum Andere zum Nachahmen anspornten. Wer
von dem Publikum der Hörenden und Lesenden Lauheit
oder Widerstreben verrieth, den brachte die Stimme
des Jupiter altisonus zum Schweigen oder vielmehr
zum Loben, wie ja nach Goethes eigenem Ausspruch
die damalige Zeit eine „enkomiastische" war. Der
biedere Knebel liess sich auf seinen Lukrez zunächst
den Calderon etwas sauer werden „wegen der Verse;
sie kommen mir vor wie Filigranarbeit" (13. Oktober
1809 an Goethe). Bei Zelter bricht auch späterhin
noch etwas rebellischer Sinn hervor; so hatte sich
Goethe über die „Locken Absalons", die in der Gries-
schen üebersetzung 1829 herausgekommen waren, sehr
lobend geäussert; aber das Lob Zelters (28. Mai 1829
an Goethe) klingt wie Ironie: „Die Sicherheit, die
Verwegenheit, die religiöse Politik eines frommen
Dichters, im siebenzehnten Jahrhundert, im Lande wo
man die Bibel nicht lesen soll — die ekelste Kata-
strophe der heiligen Geschichte figuraliter vor aller
Welt aufzustellen — das nenn' ich Courage, das ist
Genie!" u. s. w. Und am 6. April 1831 schreibt er
an Goethe: „Ich hatte eben vorher vier Stücke des
Calderon gelesen und fühlte mich heute glücklich dass
ich ein Deutscher aus meiner Zeit bin"; es ist das
eine Parenthese in einem Bericht über eine Aufführung
von Goethes „Tasso". Calderon kam ordentlich in die
Mode. Wunderbarerweise verglich man z. B. den
— 131 —
deutschen Eomponisteu J. S. Bach mit Calderon, C. 6.
Graun mit Tasso (Zelter an Goethe 12. April 1830).
Calderon muss dem Staatsrath Schultz sogar einen Bei-
trag zur Farbenlehre, Abschnitt „pathologische Farben"
liefern. „In der »Grossen Zenobia' von Calderon ist
sehr wahrhaft geschildert wie die Königin, da sie in
starker Gemüthsbewegung die Tagesgeschichte nieder-
schreibt, die Schriftzüge des verdächtigen Namens
Livius blutig erblickt" (an Goethe 23. September 1820).
Inwieweit die Schilderung Calderons wahrhaft genannt
zu werden verdient, stehe dahin. Er war selbst für
seine Zeit in aUem Naturwissenschaftlichen wenig be-
wandert, worüber uns vielleicht noch nähere Auskunft
wird, wenn eine zum Calderonfest gestellte Preisauf-
gabe gelöst sein soUte. So glaubt er dass der Blitz
entstehe indem der feuchte Dunst der Erde sich an
der Sonne entzünde, dass der Donner dem Blitz voraus-
gehe wie das Wort der That (dieses Gleichniss wird
bei ihm sehr oft verwandt), dass die Perlen aus dem
Thau der Morgendämmerung erzeugt werden u. s. w.
Allerdings zeigt er sich gerade, was optische Er-
scheinungen anbelangt, merkwürdig aufgeklärt, und ins-
besondere liesse er sich zu Farbenlehre Did. Th. §. 155
citieren. In „Morgen ist auch ein Tag" (III, 3) deutet
Beatriz darauf hin dass das klare Wasser uns täusche,
indem ein gerades Suder darin gekrümmt erscheine,
dass uns das Licht des Tages täusche, welches als
Morgenröthe die verschiedenartigsten Beflexe ausstrahle,
und dass endlich — doch diese Stelle will ich wörtlich
übersetzen :
Nichts fällt heller in die Augen
Als der blaue Himmel droben,
9*
— 132 —
Und er ist doch Himmel nicht,
Sondern nur ein Gegenstand
üns'res Schauens, an welchem keine
Forschung Farbe je entdeckte;
Nun wenn diesem klaren, blauen
Schleier jede Wahrheit mangelt,
Was gibt's noch was uns nicht täusche.
Da uns selbst der Himmel täuscht?
und ähnlich noch anderswo. Z. B. wird der Him-
mel und sein Blau geleugnet von Don Alvaro in „Wohl
und Wehe" III, 6; in „Schlimmer steht es als es stand"
n, 9 nennt Don Juan den Himmel „blauen Trug der
Menschen", und in „Schärpe und Blume" I, 10 sagt
Lisida, der Himmel kenne keine Farbe, die Schönheit
seiner Sphäre bestehe aus einem „erlogenen Blau".
Ich bin hier abgeschweift. Aber da Calderon und
Farbenlehre sich begegnet hatten, war es mir nicht
möglich diese Gewohnheit Calderons zu verschweigen,
über die ich immer noch erstaune. Ein color phantasticus
war für Calderon die Himmelsbläue jedenfalls, wie er
sie sich aber erklärte, ob als physiologische oder mit
Goethe als physische Farbe, weiss ich nicht ; vielleicht
theilte er die naive Ansicht von Athanasius Kircher.
Irre ich nicht, so sieht man heutzutage die Luft oder
das Ozon in ihr als den Träger der blauen Farbe an ;
ein blaues Himmelsgewölbe würde immerhin eine
Fiktion sein. Aber welcher Fiktion würde man sich,
und gerade als Spanier, weniger gern bewusst wer-
den, welche verbände sich lieber mit den religiösen
Vorstellungen? So viel steht fest, in diesem Falle
spielt Calderon um poetischer Zwecke wiUen den Ra-
tionalisten.
Goethe selbst liebt es gelegentlich sich auf Cal-
— 133 —
deron zu beziehen, und nichts beweist besser als solche
flüchtige Anspielungen wie sehr ihm der Spanier im
Kopf und am Herzen lag. In einem undatierten Brief-
chen an Frau von Stein (wohl von 1803) sagt er : „Wie
sehr ich als ein starrer Deutscher von der spanischen
Anmuth entfernt bin, fühP ich diesmal, da ich unserem
Missverständniss gern auf Calderonische Art nach-
geholfen hätte. Es will aber nicht gehen, und ich
muss also nur geradezu, insofern ich Recht habe, um
Nachsicht, insofern ich Unrecht habe, um Verzeihung
bitten." Unter den Stücken Calderons welche Goethe
1803 kannte, befindet sich nur ein Konversationsstück,
nämlich „Die Schärpe und die Blume", aus dem ihm
eine Scene oder eine Rede vorschweben konnte. Zu
Anfang des zweiten Aktes z. B. gibt Lisida dem Enrico
aus verschiedenen Ursachen ihre Eifersucht zu erkennen ;
Enrico vertheidigt sich in beredter Weise. Bezog sich
Goethe darauf? Oder kam es mehr auf das Galante
als das Rhetorische an? Da wäre an das w^as Enrico
in demselben Akte zur Lisida sagt, zu erinnern:
Ich weiss nicht welch einen Zauber
Deine Worte für mich haben
Dass ich wider Wissen glaube.
Dass die Calderon'sche Galanterie auf Goethe
Eindruck machte, sieht man aus Eckermann I, 87 f.
(26. Februar 1824). Es wird ein Bild beschrieben
auf dem mehrere Damen dargestellt sind. „In diesem
Augenblick ist ein junger Herr hereingetreten, auf den
die Blicke der Frauen sich richten; er scheint die
musikalische Unterhaltung unterbrochen zu haben, und,
indem er mit einer leichten Verbeugung vor ihnen
steht, macht er den Eindruck als sagte er entschul-
— 134 —
digende Worte, die von den Frauen mit Wohlgefallen
gehört werden." „Das, dächte ich", sagte Goethe,
„wäre . so galant wie irgendein Stück von Calderon."
Des Graciosos gedenkt Goethe öfter; nach Art kräftig
ausgeprägter Volks- und Einzelnaturen überträgt er
den fremden Namen auf Erscheinungen innerhalb der
eigenen Sehweite. So sagt er von einer Person in
Johanna Schopenhauers Eoman „Gabriele" : „Dem wun-
derlichen Vetter verzeiht man Alles, seiner eigenthüm-
lichen Seltsamkeit und Beschränktheit wegen ; er spielt
den Gracioso in dieser Tragödie und steht den thätigsten
des Calderon nicht nach." In den Annalen zu 1820
heisst es : „Auch hätte das Unvereinbare von Vossens
und Stolbergs Natur sich früher ausgesprochen und
entschieden, hätte nicht Agnes als Engel das irdische
Unwesen besänftigt und als Gracioso eine furchtbar
drohende Tragödie mit anmuthiger Ironie durch die
ersten Akte zu mildern gesucht." Dazu findet sich
in den „Biographischen Einzelnheiten" mit einer merk-
würdigen Zusammenziehung der Vergleiche folgende
Variante : „In allen Relationen als Vermittlerin zwischen
Gemahl und Freund erkenn' ich sie vollkommen. Durch-
aus spielt sie die Rolle des Engels Gracioso in solchem
Grade lieblich, sicher und wirksam dass mir die Frage
blieb ob es nicht einen Calderon, den Meister dieses
Faches, in Verwunderung gesetzt hätte." Wenn Bieder-
mann hiezu anmerkt dass Gracioso als „Vermittler" zu
fassen sei, so kann ich ihm ebensowenig beipflichten
als wenn er in dem „Treuen" des „Trauerspiels in der
Christenheit" einen Abglanz des Gracioso vermuthet.
Nach Kenntnissnahme von so vielen Einzelheiten
fühlt man sich zu einer allgemeinen Anschauung ge-
— 135 —
drängt; man wünscht das oder, richtiger gesagt, die
Urtheile Goethes über Calderon zu beurtheilen. Wenn
gesagt worden ist:
Nul n^est jtige des arte que Vartiste lui-meme,
SO passt das auf die Dichtkunst nicht vollkommen. Je
stärker die Eigenthümlichkeit des Schaffenden, desto
schwerer wird er sich in die eines Andern hinein-
empfinden, und so haben wir merkwürdige Beispiele
davon in wie hohem Grad auch grosse Dichter ein-
ander verkannt haben. Als Goethe sich über Calderon
zu äussern begann, lag aUerdings die beste Zeit seiner
poetischen Thätigkeit schon hinter ihm, und seitdem
lebte er sich mehr und mehr in eine ruhige Be-
schaulichkeit ein. Um ihn, wie um einen Eigi, brei-
tete sich die Weltlitteratur aus, er mass die Höhe
und die Entfernung der sonnigen Gipfel, er fasste das
Besondere in der Bildung der ihm zugewandten Seiten
auf, während auf den Tiefen wo die Berge wurzeln
und miteinander zusammenhängen, grossentheils Schat-
ten oder Nebel lagerten. Indessen gerade bei Calderon
war sich Goethe der Beschränktheit seines Erkennens
durchaus bewusst, und dies bewahrte ihn davor un-
gerecht gegen ihn zu werden. Das streng Konven-
tionelle, wie es ihm hier sofort in die Augen sprang,
war ihm an sich gewiss nicht zuwider, nur bereitete
es dem Verständniss und dem Genuss Hindernisse, in-
sofern es sich auf eine ganz fremdartige Kultur grün-
dete, die Goethe und den meisten seiner Zeitgenossen
wirklich ganz fremd blieb. Denn wenn auch Goethe
in den Annalen (1816) schreibt: „Gries machte uns
in dem Spanien des siebenzehnten Jahrhunderts immer
einheimischer", so konnten einige Werke eines einzigen
— 136 —
Dramatikers von jener Kultur um so weniger einen
genügenden Begriff geben als ja nach Goethes eigenen
Worten sich bei demselben „menschliche Zustände^
Gefühle, Ereignisse schon verarbeitet, zubereitet, sub-
limiert" finden. Und wenn er andrerseits vom Orient
aus über das Meer sich dem Calderon, „der seine
arabische Bildung nicht verleugne", genähert zu haben
glaubt, so befängt ihn ein sehr verbreiteter Irrthum
über die Beeinflussung des spanischen durch arabisches
Wesen. Wie dem auch sein mag, die Hauptsache ist
dass Goethe bei der Betrachtung von Dichtern und
vornehmlich von Dramatikern auf die Verschiedenartig-
keit der Lebensbedingungen volles Gewicht legt. Man
erinnere sich im allgemeinen an das was er (3. Mai
1827) gelegentlich B6rangers in seinen Unterhaltungen
mit Eckermann aussprach. Indem er Shakspeare und
Calderon zusammenhielt, erkannte er es für einen
grossen Vortheil des Ersteren als Prptestant geboren
zu sein („lieber Kunst und Alterthum" III, 1822),
und wies darauf hin dass, wenn Shakspeare für den
Hof zu Madrid geschrieben hätte, er sich auch wahr-
scheinlich einer strengeren Theaterform gefügt haben
würde (gegen Eck. 26. Juli 1826). Die Lobsprüche
welche Goethe dem Spanier ertheilt, werden wir noch
heute ohne wesentliche Abänderung unterschreiben ; an
ihnen hat übrigens ein warmes Gefühl eben so viel
Antheil als ein durchdringender Verstand. Es ist schon
erwähnt wie tief Goethe von Einzelnem bei Calderon
ergriffen wurde. Indem er Calderon'sche Dramen auf
die Weimar'sche Bühne brachte, kam er gewiss auch
einem inneren Bedürfniss nach, und nicht bloss dem
Bedürfniss das er allerdings im Auge hatte, Publikum
— 137 —
und Schauspieler an der lehrreichen Materie zu schulen.
Eine Nachwirkung Calderons haben wir in einem
Goetheschen Bruchstück wahrgenommen, und Goethe
selbst sagt ja dass man nur von denen lerne die man
liebe. Auch nicht vorübergehend war sein Interesse
an Calderon. Freilich stellt er (gegen Eck. 31. Jänner
1827) das Chinesische, Serbische, Calderon, die Nibe-
lungen nebeneinander, indem er verlangt, man solle
bei der Schätzung des Ausländischen nicht an etwas
Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft
ansehen wollen. Allein wenn er (gegen Eck. 3. Okt.
1828) sagt : „Es ist in der altdeutschen düsteren Zeit
eben so wenig für uns zu holen als wir aus den
serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volks-
poesien gewonnen haben. Man liest es und interessiert
sich wohl eine Zeit lang dafür, aber bloss um es ab-
zuthun und sodann hinter sich liegen zu lassen" —
so ist uns doch aufs sicherste bezeugt dass er in
gleicher Weise über die Bedeutung Calderons nicht
dachte. Kurz, wir haben eine lebhafte und dauerhafte
Sympathie Goethes für Calderon zu erkennen, und
wir fragen nun wie sie zu erklären sei. Sie kann
durch den Reiz des Gegensatzes verstärkt worden sein,
aber wurzeln kann sie nur in irgend einer Ueberein-
stimmung. Eine solche Calderons mit Schiller ist
leichter zu entdecken als mit Goethe, wie Letzterer
selbst hervorgehoben hat. Die Richtung auf das
Theatralische war jenen Beiden gemein, wenn auch,
nach Goethe, der Spanier dem Deutschen hier weit
voran war. Insbesondere könnte man folgende Worte
Goethes über Schiller (gegen Eck. 18. Jänner 1825)
auch für Calderon gelten lassen: „Er griff in einen
— 138 —
grossen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und
wendete ihn hin und her, und sah' ihn so an und so,
und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegen-
stand gleichsam nur von aussen an, eine stille Ent-
wicklung aus dem Innern war nicht seine Sache."
Vor Allem sind Schiller und Calderon Vertreter des
Idealismus. Die bestimmteste Parallele zwischen Beiden
hat Grillparzer (IX, 229) gezogen: „Calderon: der
Schiller der spanischen Litteratur, Lope de Vega: ihr
Goethe. Calderon : grossartiger Manierist, Lope : Natur-
maler. SchiUer und Calderon scheinen philosophische
Schriftsteller, Goethe und Lope de Vega sind es. Jene
scheinen es vorzugsweise zu sein weil sie die philo-
sophische Diskussion geben, diese haben nur die Re-
sultate." Worin aber sind sich Goethe und Calderon
verwandt ? Edmund Dorer hat einen Versuch gemacht
darauf zu antworten. Aber nicht in seinem Schriftchen
„Goethe und Calderon"; um den dritten Bogen des-
selben zu füllen, hat er üebersetzungen Calderon'scher
Stellen von Grillparzer und von sich gegeben, sodass
wir, was der Titel nicht erwarten liess, hier eine ganze
Dichtertrias mit Calderon beschäftigt finden. Die Aus-
lassungen die ich meine, sind in einem Aufsatz Dorers
über Calderon („Gegenwart" N. 21) enthalten. Sie
treffen meines Erachtens den Kern nicht, sind auch
mehr flüchtig dahingeworfen. Dass Goethe und Cal-
deron ähnliche Stoffe, wie den Cyprian-Paust und den
Prometheus wählten, ist äusserlich und zufällig, und
ebenso, dass beide ein gewisses Interesse für den
Islam an den Tag legten. Inwiefern die hohe Be-
deutung der Frauen zur Veredlung und Bildung des
Mannes und der versöhnende Geist welcher den
— 139 —
tragischen Abschluss mildert, als eine verbindende
Eigenthümlichkeit Beider gefasst werden könne, weiss
ich nicht. Ich nehme bei Goethe weder eine Justina,
noch eine ßosaura wahr, auf die hier ausdrücklich
hingewiesen wird, noch glaube ich dass Goethe sich
je zu einem dramatischen Ausgang entschlossen hätte
wie wir ihn im „Arzt seiner Ehre", oder in „Eifersucht
das grösste Scheusal", oder „Drei Vergeltungen in
einer", oder „Geheime Bache für geheimen Schimpf"
finden. Endlich sagt Dorer (S. 328): „Bei Goethe
wie bei Calderon nahm mit dem Alter die Lust an
allegorischer Darstellung einer Idee zu; bei Calderon
ging diese Neigung so weit dass er selbst seine früheren,
aus dem vollen Leben geschöpften Schauspiele ins Alle-
gorische übersetzte." Die Sache liegt bei Calderon
nicht so tief; er trat, älter geworden, in den geist-
lichen Stand, schrieb daher von da ab sehr viele Pron-
leichnamsspiele, und diese Gattung ist eben eine alle-
gorische. Wenn hierin aber auch eine Verwandtschaft
mit Goethe läge, so doch keine derartige dass sie auf
ihn eine Anziehungskraft ausüben konnte, da er ja jene
eigenthümlichen Dramen, die noch nicht übersetzt
waren, schwerlich kannte, höchstens eine ganz allge-
meine Vorstellung von ihnen besass. Um in dieser
Angelegenheit auf das Richtige zu stossen, müssen wir
etwas weiter ausholen. Goethe erkannte in der Natur
und in der Geschichte, im Einzelnen und in der Ge-
sammtheit ein „Dämonisches", was durch Verstand und
Vernunft nicht aufzulösen sei ; er nennt es wo er von
der wissenschaftlichen Forschung spricht, das „unzu-
gängliche", „Problematische", dessen Schranken man
nicht zu durchbrechen versuche. Das Dämonische
— 140 —
unseres Innern drückt er in jenen schönen Wor-
ten aus:
Was von Menschen nicht gewusst
Oder nicht bedacht
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
Sie erinnern mich an die alte bei Calderon oft wieder-
holte Letra:
Zeuge meiner Herzensklage
Soll allein das Schweigen sein,
Kaum fasst meine ganze Pein
Alles das was ich nicht sage,
welche Val. Schmidt (S. 311) dahin erläutert „dass
das Höchste über alle Worte und über allen Ausdruck
erhaben sei, ja dass selbst die nicht in Worte gefassten
noch zu fassenden Gedanken eine Region des Gefühls
über sich haben in welcher sie nur wie Species im
Genus sich befinden." „In der Poesie", sagte Goethe
zu Eckermann (8. März 1831), „ist durchaus etwas
Dämonisches und zwar vorzüglich in der unbewussten,
bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz
kommt, und die daher auch so über alle Begriffe
wirkt." Und einige Jahre früher (gegen Eck. 6. Mai
1827) hatte er seiner Meinung einen noch bestimmteren
Ausdruck gegeben : „je incommensurabler und für den
Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto
besser." Wie kann nun der Schaffende das Dämonische
was auf ihn wirkt, auf Andere wirken lassen? Wie
kann er das unsagbare doch sagen? Goethe deutet
es im zwanzigsten Buche seiner Selbstbiographie an,
da wo er seine Dämonologie vorträgt: „Ich suchte
mich vor diesem fürchterlichen Wesen zu retten,
— 141 —
indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild
flüchtete." Wir werden das allgemeiner ausdrücken:
nur auf symbolischem Wege lässt sich das Erforderniss
befriedigen. Die echte Lyrik ist vom Symbolischen
innigst durchwachsen; auf ihm beruht ihr Hauptreiz.
Im Drama ist es entbehrlicher. Es kann hier zunächst,
wie in der Lyrik, dazu dienen Stimmungsreflexe darzu-
stellen — davon ist Calderon weit entfernt, der viel-
mehr die inneren Zustande mit schärfster Dialektik
auseinanderlegt. Wohl aber hat er oft das Dämonische
der Begebenheiten zur Anschauung gebracht, von
einzelnen flüchtigen Strahlen an bis zur ständigen
Beleuchtung. Ich erinnere z. B. an jene zufälligen,
vorbedeutenden Antworten welche er so oft anbringt;
allgemein bekannt ist die Rolle welche bei ihm so-
wohl die antike Schicksalsidee als das Jenseits des
katholischen Glaubens spielen. Das Symbolische, wel-
ches demzufolge vereinzelter oder zusammenhängen-
der, schwächer oder stärker auftritt, durchdringt ein
Stück in ganz einziger Weise: im „Leben ein Traum"
wird das Verhältniss einer begreiflichen und einer über-
natürlichen Sphäre zueinander, welches die Voraus-
setzung aller symbolischen Darstellung bildet, selbst
einer solchen unterworfen. Goethe hat von jeher die
hohe Bedeutung des Symbolischen für das Drama
gefühlt, und dieses ist die Seite von welcher Calderon
eine besondere Anziehung auf ihn ausgeübt haben
wird. Wenn er betont dass was theatralisch sein
wolle, symbolisch sein müsse, d. h. jede Handlung an
sich bedeutend sein und auf eine noch wichtigere hin-
zielen müsse, und wenn er dafür als Beispiel aus
Shakspeare jenen Augenblick anführt „wo dem todt-
— 142 —
kranken schlummernden König der Sohn und Nach-
folger die Krone von seiner Seite wegnimmt, sie auf-
setzt und damit fortstolziert" (Heinrich IV., zweiter Th.),
so hat er Recht von Calderons theatralischer Voll-
kommenheit zu sprechen. Sogar an jenem Orakel-
haften bei Calderon worauf ich eben hingewiesen habe,
zeigt Goethe Wohlgefallen; er schreibt an Einsiedel
(7. Dec. 1807) gelegentlich der „Grossen Zenobia" :
„Nur noch Eins zu sagen, so ist es ein ganz stupender
Einfall dass die in die Höhle gestürzte Halbprophetin
und Trägerin zur wahren Prophetin dadurch wird dass
man sie missversteht." Es ist befremdlich dass wo
Goethe die allgemeinen Merkmale der Calderon'schen
Dichtung aufzählt, er nie ausdrücklich des Symbolischen
Erwähnung thut; aber wie er doch gerade an dieser
Stelle die innigste Fühlung mit dem spanischen
Dramatiker hat, das verräth er unwillkürlich. Die-
jenigen von den ihm zugänglichen Stücken welche
sich durchaus innerhalb der Grenzen des Wirklichen
und Begreiflichen halten, haben ihn in geringerem Grade
beschäftigt, obwohl sich Meisterwerke unter ihnen
finden ; alle die Stücke die er, und zwar mit lobenden
Worten, kurz nennt oder etwas näher beleuchtet oder
gar aufführen lässt, ragen in das Gebiet des Wunder-
baren, Dämonischen, üeberirdischen hinein, und doch
sind unter ihnen Werke welche aus einer frühen Zeit
stammen und daher mit manchen UnvoUkommenheiten
behaftet sind, ja sogar eines welches. Alles in Allem
genommen, auf keiner sehr hohen Stufe steht, nämlich
die „Grosse Zenobia". Goethe selbst hat vielfach das
Symbolische in seine dramatischen Dichtungen ein-
geführt; glänzend und auffallig tritt es uns schon
— 143 —
in einem Jugendwerk, im „Egmont" entgegen. Man
darf nicht sagen, die Erscheinung am Schlüsse stelle
nur das dar was in dem schlafenden Gemüthe des
Helden vor sich gehe. Die Hoffnung dass aus Egmonts
Blut eine fruchtbare Saat emporwachse, erscheint, was
bei Goethes strengem Motivieren wohl zu beachten ist,
äusserlich durch nichts gerechtfertigt; als Symptom
von Egmonts sanguinischem Temperament wäre sie
übel angebracht gewesen; sie konnte nur eine über-
irdische Erleuchtung der letzten Stunde sein, und eine
solche heischte eine symbolische Veräusserlichung.
Wenn man sich der verklärten Gestalt von Egmonts
Geliebten erinnert, die ihm ruhmvolles Angedenken
und seinem Volke die Freiheit verheisst, dann erst
begreift man recht warum die verklärte Gestalt des
standhaften Prinzen, welche die Portugiesen noch im
Stücke selbst zum Siege führt, auf Goethe einen so
wunderbaren Eindruck machte, und doch war hier
nur ein katholisches Wunder dessen Vorkommen oft
bezeugt wird, in Scene gesetzt Scheint hier nicht
Goethes Geschmack mit sich selbst in Widerspruch
zu gerathen ? Wiederholt preist er Shakspeare glück-
lich in einem protestantischen Lande geboren zu sein
und bedauert den „hoch- und freisinnigen" Calderon
dass er genöthigt sei „düsterem Wahne zu fröhnen
und dem Unverstand eine Kunstvernunft zu verleihen,
weshalb wir denn mit dem Dichter selbst in wider-
wärtigen Zwiespalt gerathen, da der Stoff beleidigt,
indes die Behandlung entzückt; wie dies der Fall
mit der , Andacht zum Kreuze', , Aurora von Copa-
cavana' gar wohl sein möchte." Im „Standhaften
Prinzen" findet er den Gegenstand wie die Behandlung
— 144 —
„liebenswürdig"; aber er stellt (wenigstens später) in
Abrede dass dieser Gegenstand ein religiöser ist.
Durfte Goethe die Abneigung die er gegen den
Katholicismus hegte, vom Leben auf die Kunst über-
tragen? Musste er nicht das Katholische hinsichtlich
seiner poetischen Verwendbarkeit seinem Dämonischen
anreihen? Grillparzer ging von einer durchaus richti-
gen Betrachtung aus, wenn er 1819 bemerkte (IX,'
180 f.): „dass es zwar allerdings zulässig, ja — da es
sich nicht um Portraitierung, sondern um Idealisierung
der Natur handelt — unerlässlich sei in das Sinnliche
das üebersinnliche hineinspielen zu lassen, dass es
aber immer auf eine mit der allgemeinen Menschen-
natur, mit dem allgemeinen Menschengefühl überein-
stimmende Art geschehen müsse, die subjektiv wahr
bleibt, wenn auch die geträumte objektive Wahrheit
längst verloren gegangen wäre, sodass also die Mei-
nungen die immer da waren, die vermöge eines nicht
zu deducierenden Grundzuges der menschlichen Natur
auch immer da sein werden, ungeachtet ihres Schwan-
kenden, für die Poesie brauchbarer sind als sogenannte
Wahrheiten, unangreifbar gelagert unter den Kanonen
eines philosophischen oder Religionssystems. — Be-
trachtet den Calderon. Hundertmal hat er den katho-
lischen Aberglauben gebraucht (der nichts ist als ein
maskierter heidnischer oder, kurzweg, menschlicher),
kaum einmal den Glauben. Und doch erschüttert dieser
Aberglaube im Gedicht Menschen die ihn verachten
in der Religion. Erklärt mir das, ihr alten Neu-
deutschen." Aber ich denke weder dass bei Calderon
Glaube und Aberglaube, die ja überhaupt einen will-
kürlichen und ewig wechselnden Gegensatz bilden, in
— 145 —
der Weise wie es Grillparzer thut, auseinanderzuhalten
sind, noch, dass aller katholische Aberglaube jene
allgemeine Färbung trägt und jene allgemeine Wirkung
ausübt. Bleiben wir bei den obigen Goethe'schen Bei-
spielen. Die „Andacht zum Kreuze" durchwaltet ein
Gedanke der mit gänzlicher Absehung vom Christen-
thum in einer Schicksalstragödie hätte entwickelt wer-
den können ; erscheint er aber hier nicht eingefugt in
die Lehre von der göttlichen Gnade, deren ünermess-
lichkeit mit fast gleichen Worten wie im „Wunder-
thätigen Magus" gepriesen wird, und die sich durch
ein Wunder, die Wiederbelebung des Eusebio, offenbart,
oder vielmehr in die Lehre von der göttlichen Gnaden-
wahl, welche gerade in protestantischen Sekten die
strengste Ausbildung erfahren hat? Erschüttert uns
in der „Morgenröthe von Copacavana" der katholische
Aberglaube, wie der rettende Kreuzesstamm, die Er-
scheinung der Muttergottes, die malenden Engel ? Oder
nicht vielmehr die Anschauung einer zur christlichen
sich verklärenden heidnischen Sonne ? Auf welche be-
sondern religiösen Elemente in Calderons Poesie Goethe
hinzielt, indem er von düsterem Wahn und Unverstand,
von absurden und beleidigenden Stoffen redet, darüber
sind wir im unklaren. Sollten sich Gefühl, Ansicht,
Wort nicht vollständig bei ihm decken? hie und da
die Antipathie des Menschen auf das Gebiet des Kunst-
beurtheilers hinübergreifen ? Auf der Bühne stiess ihn
wohl nicht das Dogma an sich ab, sondern nur so weit
es einen unberechtigten Druck auf das Moralische aus-
übt, nicht das Wunder an sich, sondern nur so weit
es der künstlerischen Zweckmässigkeit widerspricht, der
Dens ex machina war ihm in der Gestalt einer heid-
Sohuchardt, liomauisches u. Keltisclies. 10
— 146 —
nischen Gottheit nicht annehmbarer als mit den Zügen
der heiligen Jungfrau. Goethe war nicht gegen das
Katholische als solches; nein, er schätzte vielmehr
dessen poetischen Werth sehr hoch, wie u. A. seine
Bemerkung gegen Eckermann. (21. Juli 1827) zeigt,
es sei dem Romandichter Manzoni „die katholische
Religion vortheilhaft, aus der viele Verhältnisse poeti-
scher Art hervorgehen die er als Protestant nicht
gehabt haben würde" (wogegen man die früher an-
geführte Aeusserung über Shakspeare halte). So
dürfen wir schliesslich wohl dahin übereinkommen
dass er, wenn er es auch nicht geradezu aussprach,
doch die Gewalt des Religiösen bei Calderon empfand
und nur gewisse Auswüchse dieses Elementes miss-
billigte; wie wenig er im Grund an dem Charakter
des „Standhaften Prinzen" als einer comedla divina
zweifelte, das würde das „Trauerspiel in der Christen-
heit" (in dem auch das Märtyrerthum angedeutet wird)
darthun, wenn wir mit Biedermann hier eine direkte
Beeinflussung durch das Calderon'sche Stück annehmen.
Goethe konnte ja auch auf eigene Hand christlich, ja
katholisch sein, und wir müssen dabei vor Allem des
Schlusses gedenken welchen er dem grössten seiner
eigenen Werke gab. Im „Paust" hat Goethe einen
denen ähnlichen Stoff ergriffen wie sie Calderon in
einer ganzen Reihe von Stücken bearbeitet hatte, be-
sonders im „ Wunderthätigen Magus". Aber was hier
katholisch, ist dort dämonisch; hier dunkler Drang
nach dem Christenthum zu, dort von ihm hinweg.
Das Grübeln über die Eingangsworte des Evangeliums
Johannis ist bei Faust die Abenddämmerung des alten,
bei Chrysanthus die Morgendämmerung des neuen
— 147 —
Glaubens. Der erste Theil des „Faust" zeigt uns
demnach Goethe recht als Widerpart Calderons, und
der junge Westindier der denselben, noch bei Goethes
Lebzeiten, voU Begeisterung ins Spanische übertrug,
wird das sicherlich gefühlt, und vielleicht das besonders
ihn gereizt haben. Das Ende des zweiten Theils ist
ganz katholisch, und nirgends streift die Bahn Goethes
so nahe an die Calderons an wie hier. Der Erlösungsakt
(welcher trotz seiner Nothwendigkeit uns überraschend
berührt, nachdem sich Fausts Selbst seinem Wunsche
gemäss zum Selbst der Menschheit erweitert hat) schloss
sich im ersten Entwurf enger an den Prolog an und
kennzeichnete sich durch die Gestalt des „Beichsver-
wesers" als im protestantischen Geschmacke gehalten.
Aber mit vollem Becht wurde er katholisiert, es wurde
dadurch eine grosse poetische Mannigfaltigkeit und
Energie gewonnen, die auch in ein günstiges Verhältniss
zum Vorhergehenden tritt; Christus wurde ersetzt durch
die Himmelskönigin, „das Ewig -Weibliche, das uns
hinanzieht", die Verkörperung der errettenden Liebe.
Goethe sagte zu Eckermann (6. Juni 1831): „Bei so
übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen hätte ich
mich sehr leicht im Vagen verlieren können, wenn ich
nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf
umrissenen christlich -kirchlichen Figuren und Vor-
stellungen eine wohltbätig beschränkende Form und
Festigkeit gegeben hätte." Welche Conceptionen an-
derer Dichter mit einwirkten, liesse sich ebenso leicht
angeben wie aus welchen Blumen eine Biene ihren
Honig sammelt. Man hat Dante citiert ; mit demselben
Eechte könnte ich Calderon eitleren, an den schon das
erste Auftreten des Thurmwächters Lynceus anklingt :
10»
— 148 —
r
Lass mich knieen, lass micli schauen,
Lass mich sterben, lass mich leben ....
In „Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde", wo
Tannen und Löwen nebeneinander vorkommen, hat man
bald den Athos, bald den Montserrat, bald eine Nil-
landschaft wieder zu erblicken geglaubt. Mich erinnert
Schauplatz wie Situation einigermassen an den Schluss
von Calderons „Fegefeuer des h. Patricius" (dessen
Uebersetzung von Jeitteles 1824 Goethe wohl in die
Hände gekommen sein mochte) : aus wilder Felsgegend
setzt Ludwig über den See nach der Insel wo das
Kloster, mit dem Eingang zum Fegefeuer des h. Pa-
tricius im Hintergrunde, sich befindet. Vergl. z. B.:
Woge nach Woge spritzt ....
Wie tausend Bäche strahlend fliessen
Zum grausen Sturz des Schaums der Fluth ....
Das sind Bäume; das sind Felsen,
Wasserstrom, der abestürzt ....
mit:
Wie auch jetzt die Winde schweigen,
Regen sich die Wellen doch ....
Dorten stürzen rasch die Bäche
Yon dem Felsen grauenvoll ....
Das kann aber sehr leicht nur zufällige üeberein-
stimmung sein. Ohne Zweifel drücken die Verse des
Chorus mt/sticus:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichniss
dasselbe aus wie Calderons:
Nur ein Traum ist alles Leben.
Diese Vision emporschwebender Geister drängt
sich an die Stelle eines Gedankens der meine Be-
— 149 —
trachtung über Calderon und Goethe abschliesse. Goethe
schrieb an Knebel (13. Juni 1821) in Bezug auf Gries :
„Ich bin dem Uebersetzer sehr verpflichtet, der Alles
so treu und rein wiedergegeben, ich werde nicht er-
mangeln es bei Calderon zu rühmen, wenn ich ihm
drüben begegne." Wir versuchen nun unwillkürlich
uns die in den letzten Worten enthaltene Vorstellung
auszumalen. Wie möchten sich die Beiden verstän-
digen, die durch tausenderlei entfremdet waren? Es
ist das eine kindliche Frage, aber eben nur deshalb
weil sie von der höchsten Weisheit den Schleier zu
lüpfen wünscht. Wir können uns bloss mit dem mittel-
alterlichen Bilde helfen. Die Genien steigen aufwärts
durch die neun Himmel, Stück für Stück löst sich das
Irdische von ihnen ab. Jeder Planet nimmt seine Gabe
zurück : noch unter dem Himmel des Mondes schwindet
die schwere Küstung der menschlichen Sprache dahin,
die alles dichterische Streben einzwängt und nieder-
zieht; Venus lässt die bunten Farben der Liebes-
flammen verbleichen; Mars ertödtet den kriegerischen
Sinn der das eine Volk gegen das andere erbittert;
Jupiter wischt die Gesetze aus die engen imd flüch-
tigen Bedürfnissen entspringen ; im Fixsternhimmel
zerfliessen alle Verschiedenheiten des Glaubens, und
endlich begegnen sich im Empyreum die reinen En-
telechien, unverlöschliche Kräfte auf unverrückbare
Ziele gerichtet. Wir aber vermögen solche Feuer-
ströme nicht wahrhaft miteinander zu messen, deren
Gluth und Glanz wir ja durch die dichte Hüllen hin-
durch mehr ahnen als erkennen.
IX. •
G. O. Belli und die römische Satire.
Roms Denkmäler aus heidnischer und christlicher
Zeit werfen einen dichten Schatten über die Menschen
welche zwischen ihnen hausen, und deren Denken und
Dichten. Nicht als ob das Augenfällige nicht vielfach,
sei es durch Pinsel oder Stichel, sei es durch die Feder,
festgehalten worden wäre; der Bettler an der Engels-
brücke, der Freitagsprediger im Colosseum, der Schreiber
auf dem Campo de' Fiori, der Charlatan auf der Piazza
della Eo'tonda, Campagnolen, Pifferari, Morraspieler,
Karnevalsaufzüge, Kirchenfeste — dies sind alles wohl^
bekannte Bilder. Aber es sind eben nur Bilder; sie
bleiben in gewissem Sinne todt, mögen sie auch noch
so lebendig gezeichnet sein, wie auf jene Art von Pinelli
oder auf diese von Gregorovius; auch sprechend ähn-
lich, schweigen sie doch immer. Aus Tracht, Haltung,
Blick eines Menschen können wir Manches über ihn
errathen; aber um ihn wirklich kennen zu lernen,
müssen wir ihn reden hören. In diesem Sinn könnten
in- und ausländische Romane oder Erzählungen uns
weiter führen; indessen spinnen sich solche theils
zwischen Personen der höheren und gebildeteren Klas-
sen ab, theils sind sie mit nordischen Anschauungen
und Gefühlen durchsetzt, theils arbeiten sie mehr oder
— 151 —
minder offenkundig auf einen bestimmten Zweck hin.
So schrieb der talentvolle Jesuit A. Bresciani, übrigens
ein Nichtrömer, dessen Name eng mit der Civütä
Cattolica verknüpft ist, unter dem Titel „Edmondo
oder die Sitten des römischen Volks'^ (zuerst in der
genannten Zeitschrift gedruckt; dann besonders, Mai*
land 1864) im wesentlichen eine Bekehrungsgeschichte ;
es steht darin viel Wahres und Lehrreiches zu lesen,
er verschweigt keineswegs die Gebrechen seiner Tras-
teveriner, und doch kommt es uns schliesslich vor als
ob sie alle Heiligenscheine trägen, und ihr Thun und
Treiben eitel Weihrauch wäre, üeber dies alles ver-
langen wir von jedem Menschen seine eigene Sprache
und seinen eigenen Stil ; der Römer rede nicht deutsch,
noch englisch, noch französisch, nicht einmal italienisch,
sondern römisch, seine eigene Mundart, mit ihren ein*
dringlichen Anreden, ihren leidenschaftlichen Ausrufen,
ihren kühnen und derben Bildern, ihren treffenden sprich-
wörtlichen Redensarten und endlich ihren zahllosen
spropositi, d. h. Vergewaltigungen fremder und fremd-
artiger Wörter oder Namen. Und darum glaube ich
dass wir uns nirgendwie innigere Bekanntschaft mit
den Römern, und zwar denen niederen Schlags, er-
werben können als durch Vermittlung ihres Lands-
mannes G. G. Belli ; er verfasste gegen 2300 Sonette
in römischem Dialekt, von denen allerdings bei weitem
noch nicht die Hälfte gedruckt existiert.*)
*) Etwa 800 Sonette, sämmtlich datiert, finden sich in den
vier Bänden der Poesie inedite di Giuseppe Oioachino Belli
Romano. Roma, Tipografia Salviucci 1865. 1866, von denen
sie die zweiten Abtheilungen bilden. Diese elegante und sorg-
föltige Ausgabe hat der Sohn des Dichters, Giro Belli besorgt.
— 152 —
Jedes dieser Sonette führt uns mitten in eine
Volksscene hinein; jedes enthält entweder ein voll-
ständig ausgeführtes Zwiegespräch oder die ungleich -
massige Skizze eines solchen, indem zwischen der Bede
einer Person die Gegenreden einer (selten mehrerer)
andern zu ergänzen sind, oder endlich nur das Bruch-
stück eines solchen. Dies ist das Gewöhnliche ; oft ist
der Ansatz an das Vorhergegangene, am liebsten in
einer lebhaften Frage, deutlich erkennbar (z. B. „Diese
Stiefeletten zu weit? Nun, ich arbeite für so Viele. . ."),
immer aber, auch bei ganz objektiven und abgeschlos-
senen Mittheilungen, ist die Beziehung auf den (oder
die) Zuhörer entweder offen ausgesprochen oder schim-
mert in den Worten durch, sei es auch nur in einem
dem Anfang eingeflochtenen dunque. Welche ausser-
ordentliche Mannigfaltigkeit allein in den vorliegenden
Sonetten ! Wir werden durch ganz Rom geführt, kreuz
und quer. Trepp' auf und Trepp' ab; doch wie ver-
schieden ist unsere Wanderung von der des Don Cleofas :
wir brauchen keine Magie um in das Innere der Häuser
und der Herzen einzudringen, ja umgekehrt, wollten
wir ganz diskret sein, so müssten wir uns oft geradezu
die Ohren zuhalten. In erster Linie wird das besprochen
was im Kreise der Familie, der Nachbarn, der Be-
kannten, was im täglichen Handel und Wandel vor-
geht: Kindererziehung, Heirathen, Eechtsgänge, Krank-
heiten, Todesfälle; wir werden in die verschieden-
artigsten Verhältnisse eingeweiht und mehr mit den
Fehlem als mit den Vorzügen der Mitmenschen ver-
traut gemacht; Essen und Trinken, die Wetterfrage,
Vergnügungspartien, Theater, Spiele,, besonders das
liOtto, welches die Römer in einer beständigen Zahlen-
— 15a —
jagd erhält , erfahren gebührende Berücksichtigung ;
abergläubische Vorstellungen drängen sich in Rath,
Warnung, Deutung vor : der Schrei des Käuzchens auf
dem Dach, verschüttetes Salz, Heirath am Freitag, die
einer geliebten Person gereichte Stecknadel bringen
Unglück, Schlangen verzaubern die Kugeln in den auf
sie gerichteten Flinten, Hexen reiten zum Nussbaum
von Benevent, Werwölfe treiben sich in regnerischen
Nächten ausser dem Hause herum. Etwas spärlich
gesäet, neben diesen vielen persönlichen Interessen, ist
die Theilnahme an alter und neuer Geschichte, an den
Denkmälern der Stadt und an modernen Erfindungen,
so den- Gänsen des Kapitels und der Einnahme von
Algier, dem Standbilde des Mark Aurel und der Elek-
trisiermaschine, wobei zu den erwähnten spropositi des
Ausdrucks sich die spropositi der Anschauung gesellen.
Zu einer freieren und höheren Betrachtung findet
natürlich kein Aufschwung statt ; e i n Fuss wenigstens
steht immer in dieser römischen Kleinwelt.
Dieses Geplauder, Geklatsch, Gezänk, diese In-
sinuationen, Jeremiaden, Zornausbrüche, kurz alle die
Ausdrücke der verschiedensten Stimmungen hat Belli
im eigentlichsten Sinn auf der Strasse aufgelesen; er
hat das Volk auf den Plätzen, in den Kneipen, in den
Theatern, in den Omnibus belauscht und kopiert. Diese
volksthümliche , derbe Prosa aber fügt sich in den
Eahmen der künstlichsten Dichtungsform ganz zwang-
los ein ; kein Wort scheint überflüssig, keines zu fehlen,
die Wortstellung ist vollständig natürlich. Belli war
sich dessen was er geleistet hat, wohl bewusst; er
selbst sagt, Versmass und Keim müssten nur wie
zufällig aus der freien Redeverbindung hervorgehen,
- 154 -
dergestalt dass die Verse nicht sowohl Eindrücke zu
erregen als Erinnerungen zu wecken schienen. Diese
Arbeit wird übrigens unserem Dichter mit ausser-
ordentlicher Leichtigkeit von der Hand gegangen sein ;
finden wir doch unter den gedruckten Sonetten fünf,
sechs, sieben von einem Tage. Wie schwerfallig
nehmen sich dagegen die Sonette und Ottaverime aus
die vor ihm in römischer Mundart verfasst wurden,
von G. Berneri an, dem Dichter des Meo Pätacca, der,
beiläufig gesagt, auch Scenen des römischen Volks-
lebens in lateinischen Distichen behandelte.
Der kulturhistorische Werth der Belli'schen Sonette
ist ein absoluter. Ist darum Bellis dichterisches Ver-
dienst geringer? Sicher nicht. Man wird sagen, er
sei nicht original. Aber seine Erzeugnisse erinnern an
nichts vor ihm Geschriebenes, sie erinnern nur, und
zwar täuschend, an das Leben, und gibt es denn einen
besseren Poetenspruch als den: „Greift nur hinein ins
volle Menschenleben" ? Hat er denn etwa stenographiert?
Es würden schwerlich Sonette herausgesprungen sein.
Diese sind aber auch keine Mosaik, nein, aus einem
Gusse. Gerade die Treue der Darstellung setzt eine
nicht zu unterschätzende Geistesthätigkeit, ein bedingtes
Schaffen voraus. Das was Belli wirklich hörte, eröffnete
ihm die Perspektive auf das was im Munde des Römers
überhaupt möglich war, er erweiterte das Gegebene mit
strengster Konsequenz und entwickelte seine eigenen
Kräfte, ohne je den Kreis echtrömischer Denk- und
Ausdrucksweise zu überschreiten. Eine solche rudis
indigestaque moles wie das Stimmengeschwirr einer
grossen Stadt, zu Kunstgebilden umzugestalten, das
erfordert einen Dichter. Ein Dichter ist Belli, und
— 155 —
vielleicht ein bedeutenderer als mancher hochgefeierten
Namens; ich kenne keinen der seiner wunderbaren
Natürlichkeit nur nahe käme; freilich sind seinem
Ruhm enge Grenzen gesetzt durch die Art desselben.
Von den Sonetten ist allerdings das Tragische,
das Tiefergreifende ausgeschlossen ; eine Ausnahme bil-
den die drei zusammengehörigen „Die arme Mutter"
(30. Nov. 1832), die auch eigentliche Monologe sind.
411ein auch so, bei dem reichen bunten Stoflf, erwartet
der Deutsche eine stärkere Abwechslung des Vortrags,
wenigstens zwischen Erquicklichem und Unerquick-
lichem; in wie viel Tonarten, der behaglichen, der
jauchzenden, der elegischen u. s. w., würde sich nicht
eine solche Inscenierung eines Volkstypus auf deutschem
Boden abspielen? Diese, wenn wir so sagen dürfen,
Eintönigkeit — eine grössere vielleicht noch befremdet
den Nordländer im Volksgesang — kommt nicht auf
Bellis Eechnung, sondern auf die des römischen Cha-
rakters, oder vielmehr sie wurzelt in südlicher Lebens-
weise. Arbeit und Vergnügen, Ernst und Scherz stechen
dort nicht so voneinander ab wie bei uns; die dicken
Striche die wir zwischen unsern Tagesstunden ziehen,
die innere ümstülpung die wir zugleich mit dem
Wechsel der Kleider vornehmen, ist dem Römer unbe-
kannt. Eben diese Janusköpfigkeit, sowie — womit sie
eng zusammenhängt — unser hastiger Eifer machen
uns dem Römer unbegreiflich und wunderlich; er nennt
uns stravagantL
Noch ein anderer Gegensatz romanischer zu ger-
manischer Natur bietet sich uns dar, wenn wir die
Fassung der Belli'schen Gedichte erwägen. Welcher
Deutsche hätte für einen ähnlichen Zweck durch so
— 156 —
viel hundert Gedichte hindurch den Dialog gewählt?
Wir sind reflexiv, die Romanen impulsiv; wir lieben
es einsam, jene in Gesellschaft zu denken ; wir wollen
unsere Kreise nicht stören lassen, jene wollen beständig
gestossen sein, als ob -schon die blosse Berührung den
elektrischen Funken erzeuge; daher Schweigsamkeit
bei uns fast, bei jenen durchaus nicht eine Empfehlung
ist. Kurz, die Bedeutung des Gesprächs oder, wenn
wir den romanischen Ausdruck vorziehen, der Konver-
sation ist eine verschiedene ; während bei uns im Ge-
spräch (und nicht am wenigsten in den Calembourgs)
die Früchte des Nachdenkens an den Tag zu treten
pflegen, pflegt den Romanen vielmehr als Frucht des
Gesprächs das Nachdenken zu erwachsen. Sie be-
günstigen entschieden die mäeutische Methode; ein-
gestandenermassen führen unzählige Werke ihrer Lit-
teraturen auf mündliche Unterhaltung ihren bestimmten
Ursprung zurück, und die dialogische Darstellung philo-
sophischer und überhaupt wissenschaftlicher Unter-
suchungen ist recht eigentlich romanisch. Ja die
Litteratur im Grossen und Ganzen spiegelt dieses Ver-
hältniss ab: wie die diesseitige Bodenbeschaffenheit
dem Anbau des Romans und des Lustspiels sich nicht
besonders günstig erwiesen hat, so ist jenseits die
Lyrik nicht gediehen, oder ist doch aus ihrer eigent-
lichen Art geschlagen. Zur Rede überhaupt sind jene
anders befähigt als wir, man vergleiche nur z. B. die
frische Innigkeit und altkluge Eindringlichkeit der
kleinen Weihnachtsprediger welche in Araceli oder
S. Francesco ä Ripa ein keineswegs ruhiges Publikum
um sich versammeln, mit dem verschämten und wei-
nerlichen Herstammeln oder ausdruckslosen Herleiern
— 157 —
unserer gleichaltrigen Geburtstagsgratulanten. Der
rhetorische Charakter des Lateins, pompa sermonis
Romani, hat sich bis auf den heutigen Tag unge-
schwächt erhalten ; freilich erscheint er in Spanien, in
Italien, in Frankreich verschieden gefärbt, und beson-
ders gross ist der Abstand zwischen dem ernsten Pathos
des Kastilianers und dem gallischen Hahnenschrei.
Doch kehren wir von dieser Abirrung auf unseren
Pfad zurück. Der Römer (oder allgemeiner der Romane)
theilt unsere Freude an Wald- und Feldidylle nicht,
er klebt an den Mauern und liebt menschliche Stim-
men um sich; er setzt sich beständig zu Andern in
Beziehung, und wenn nicht mit Seinesgleichen, so redet
er mit der Madonna oder seinem Schutzheiligen, oder
lässt sich zu seinem Saumthier herab, wobei die aus-
getheilten Prügel als argumenta ad helluam gelten,
oder endlich er fingiert Zuhörer. Daher musste Belli,
wollte er uns den Römer vorführen wie er leibt und
lebt, die Form der Darstellung wählen die er in der
That gewählt hat. Sie trägt allerdings dazu bei die
üebertragung der Sonette zu erschweren; viele der
römischsten sind geradezu unübersetzbar. Dennoch
versuchen wir es, indem wir hinter der Energie des
römischen Ausdnicks zurückbleiben, im Folgenden
einige Proben seiner Manier zu geben; wir wieder-
holen, er erhebt zunächst nur den Anspruch uns treue
Bilder des Lebens zu zeigen.
Die Begegnung mit dem Todtengräber
(21. Jänn. 1843). Meister Santi! seh' ich recht?
— Herr Pasquale! — Guten Abend. — Danke
schön, guten Abend. — Wie steht's mit deinem Bru-
der? — Er ist auf der Galeere. — Der arme Teufel!
— 158 -
Und deine Frau ? — Im Spital. -^ Gehen die. Geschäfte
gut? — Ach, schlecht gehen sie. — Und seit wann?
— Seit der Zeit der Cholera. — Ich höre, sie soll
wieder kommen. — Man hoflft's. — Ein Doktor hat
mir's gesagt. — Und mir ein Apotheker. — Wie viele
diese Woche? — Ach, kaum zwei. — und die vorige?
— Ist gar nichts gemacht worden. — Dnd die vorher-
gehende ? — Ein Einziger ; dass seine Seele verdammt
sei! — Nun, so wechsele doch mit dem Kirchspiel.
— 'S ist verlorene Zeit. — Was sagt denn aber der
Pfan-er dazu, Meister Santi? — Der sagt wie ich: es
geht nicht wie's gehen sollte.
Der beherzte Bürgergardist (25. Apr.
1837). Ich sage dir, wir befinden uns mitten in einem
Wald, Caterina, und nicht in einer Stadt hinter den
Mauern. Glaubst du wohl dass sie mich gestern
Morgen bei San Bonaventura angefallen haben? Ich
und Furcht? Wo denkst du hin? Donnerwetter!
Ein einziger Kerl sollte mir Furcht machen? Ohne
Montur hätte er mich treffen sollen, und dann hätte
ich's mit einem ganzen Dutzend aufgenommen. Als
er so auf mich loskam, da wurde ich ganz roth vor
Wuth; aber was willst du? ich konnte mich nicht
vertheidigen. Büchse und Säbel und Bajonett, mit
der ganzen Batterie von Hindernissen auf dem Leib,
was konnte ich da anfangen, ich bitte dich ums Him-
mels willen?
Durch die Sonette weht ein mehr oder minder
satirischer Hauch, und manche, wie das letzt über-
setzte, das sogar in Falstaffs Munde sich nicht übel
— 159 —
ausnähme, können geradezu als Satiren gelten. Unter
den Sonetten aber die Belli überhaupt gedichtet hat,
befinden sich eine nicht geringe Anzahl Satiren höherer
Ordnung, denen, dank der römischen Censur, die Auf-
nahme in die Salviacci'sche Ausgabe versagt war. Sie
liefen lange Zeit mündlich und handschriftlich um, was
eine Menge von Varianten, d. h. meist Entstellungen,
nur ausnahmsweise glückliche Abänderungen erzeugte,
und wobei viele Sonette anderer Verfasser die Belli
nachgeahmt hatten, unter dessen Namen eingeschmug-
gelt wurden. Ein paar in jeder Beziehung mangel-
hafte Sammlungen solcher Sonette erschienen ausser-
halb Roms, ich denke zu Livorno und Neapel. Neuer-
dings hat Prof. Luigi Morandi in Spoleto, Dichter und
Herausgeber der Rivista TJUmhria e le Marche^ sich
dieser misshandelten Kinder angenommen. Er ver-
öffentlichte zuerst 29 dem Belli zugeschriebene Sonetti
satiriei 1869 zu Sanseverino (Marche), indem er ihnen
einen discorso intorno alla satira a JRoma, ai sonetti
e alla vita del Belli vorausschickte (dieser ist auch
abgedruckt in der Rivista contemporanea nazimiale ita-
liana Jahrg. XVII, 1869, Bd. LVI). Dazu wurden im
2. Jahrg. (1869) der Umhria e le Marche andere Sonette
nachgetragen. Im folgenden Jahr kamen zu Florenz
bei Barbera heraus 200 Sonette Bellis, mit jener ver-
besserten und erweiterten Abhandlung. Diese elegante
und mit dem Bildniss Bellis geschmückte Ausgabe, die
wir allen Theilnehmenden empfehlen, enthält zwei Ab-
theilungen: die erste „Sonette die sich in der Volks-
überlieferung erhalten haben", die zweite „Sonette die
aus der römischen Ausgabe ausgewählt sind". In Betreff
jener sagt Morandi (S. 59) : „Ich habe sie fast alle aus
- 160 -
dem Munde von Personen gesammelt welche sie mehr-
mals vom Verfasser selbst gehört hatten. Doch habe
ich deshalb nicht verabsäumt auch viele der kleinen
handschriftlichen Sammlungen die durch ganz Italien
cirkulieren, und die mehr oder weniger Sinnlosigkeiten
enthalten, zu Rathe zu ziehen." Unter den 70 Sonetten
von Morandis erster Abtheilung begegne ich 19 der
römischen Ausgabe mit meist nur unbedeutenden Ab-
weichungen. Die übrigen, deren Kern die 29 der Aus-
gabe von Sanseveriuo bilden (nur eines davon tritt
hier, XXX, in ganz verschiedener Gestalt auf), haben
einige unter sich welche nicht erweislich oder erweis-
lich nicht von Belli sind. Allerdings ist es Morandis
Absicht gewesen auch die besten der pseudo-Belli'schen
Sonette mitzutheilen. Doch finde ich die Aufnahme
der drei letzten, oder wenigstens der beiden letzten,
die nach Bellis Tod (1865) und keineswegs in seinem
Geiste von F. F. gedichtet sind, durchaus ungerecht-
fertigt, wenn auch wegen der politischen Tendenz,
besonders wegen des rothen Garibaldihemds, begreif-
lich. Morandi hat sich, von einigen Accenten und
Apostrophen abgesehen, in der Orthographie streng an
Bellis eigenes, in der römischen Ausgabe befolgtes
System gehalten. Es ist das Beste was er thun konnte,
solange nicht eine gleichmässige Schreibung aller ita-
lienischen Mundarten auf wissenschaftlicher Grundlage
eingeführt ist. Er hat auch in gleicher Weise wie
Belli den Sonetten sachliche und sprachliche Bemer-
kungen beigefügt die das Verständniss erleichtern;
ausserdem auch Varianten.
Die in Eom nicht zum Drucke gekommenen Sonette
waren dort vei*pönt aus politischen, aus religiösen oder
— 161 —
aus moralischen Gründen. Von denen der letzten Kate-
gorie, die über hundert zählen, gibt Morandi (einige
sind freilich überhaupt nicht druckbar) nur wenige.
Wir wollen uns hier nur mit denjenigen Sonetten be-
schäftigen welche gegen Regierung und Glauben ge-
richtet sind, also, da in Rom Thron und Altar für
untrennbar angesehen werden, unter dem einen Namen
politischer Satiren zusammengefasst werden können.
In einigen wird ein bestimmter Papst lächerlich
gemacht. So wird die klägliche Rolle geschildert die
Pius VII. bei der Krönung Napoleons I. spielte (LVIII).
Morandi erwähnt in einer der Anmerkungen dass, als
der Papst bei seiner Rückkehr die Getreuen Napoleons
verfolgte, diese beiden Verse entstanden:
Müy Santo Padre, in cosa dbbiam peccato ?
Voi Vavete unto, e noi Vabbiam leccato,
Oefter dient Gregor XVI. zur Zielscheibe; so wird in
IV seine Furchtsamkeit verhöhnt (1831 schwebte er
in beständiger Angst vor Revolution) ; über seine Hin-
terlassenschaft berichtet XXVII und schliesst mit der
Angabe dass der Kredenzmeister Seiner Heiligkeit (die
gern becherte) allein an leeren Flaschen 26,000 Scudi
gewonnen habe ; XXVIII führt, als Gegenbeweis gegen
die Behauptung dass der Tod Gregors die Römer gleich-
gültig lasse, alle offiziellen Trauerbezeigungen an, tröstet
aber damit dass für den zu erwählenden Papst so viele
Gregore in der Pflanzschule sich befänden, d. h. dass
jedenfalls der neue Papst seinem Vorgänger vollkommen
gleichen werde. Andere Sonette geissein das Papstthum
im allgemeinen, hauptsächlich in seinen Funktionen;
bemerkenswerth ist XXXVIII: „Die Beschäftigung des
Papstes".
Schuchardt, BomanischeB u. Keltisches. 11
— 162 —
Nicht besser kommt die übrige Geistlichkeit weg.
Die Kardinäle erscheinen als rothbekleidete Nullen
(XXXII u. s. w.). Vom Conclave wird in XXXV mit
Hülfe des Bocciaspiels ein klares Bild entworfen. Den
Hochmuth der päpstlichen Palastgeistlichen trifft XLII.
Sieche iture addastra, d. i. sie itur ad astra, ist das Sonett
XXX betitelt, welches den hierarchischen Ehrgeiz schil-
dert; jeder denke daran höher zu streben, der Papst
aber sich's wohl sein zu lassen. Man vergleiche damit
das folgende, welches schliesst: „Jeder Abate, kaum
ist er Abate, ist jetzt ipso facto Abate und Monsignore."
Ein Punkt der nicht unberührt bleiben konnte,
ist der Geldpunkt. Vom Ablass war schon die Rede.
Heirathen ist auch nicht immer billig. Tobia Schiatti,
der seine Cousine Annamaria heirathen will, bekommt
einen sehr begreiflichen Schrecken, als er erfahrt dass
der Dispens G98 Scudi 46 Bajocchi und 3 Quattrini
kostet (XLIV). Ein Sonett „Der heilige Kramladen",
welches sich nicht bei Morandi findet, und wohl
auch schwerlich von Belli stammt, obwohl es seinen
Namen trägt, fuhrt aus dass der Priester bei jeder
Gelegenheit seinen Verdienst haben wolle : man müsse
zahlen wenn man getauft werde, wenn man heirathe,.
wenn man sterbe, ja noch im Jenseits um aus dem
Fegefeuer ins Paradies zu kommen.
Den Sprung zur päpstlichen Finanzwirthschaft wird
man nicht übermässig finden. Während der Regierung
Gregors XVI. wuchs die Staatsschuld um 27 Millionen
Scudi, und besonders war davon die Unfähigkeit des.
Schatzmeisters Tosti die Ursache. Er schloss mit Roth-
schild eine Anleihe von einer Million zu 65 Procent
ab. Darauf beziehen sich die Sonette VIII und IX.
— 163 —
Nur das erstere ist sicher von Belli ; seine beiden Ter-
zinen lauten auf deutsch: „Es ist wahrlich ein grosses
Wunder Gottes dass, um die Kirche zur Rettung zu
fuhren, er das Herz eines Juden gerührt hat. Der
Papst hat das Sakrament ausstellen lassen, um dem
gütigen, gnadenreichen Jesus zu danken dass er uns
zu 61 Proc. gerettet hat."
Drohende Unzufriedenheit mit der Regierung im
allgemeinen athmet das Sonett XL VII, dessen üeber-
schriffc daher mit Recht lautet : 'N odore de rivuluzzione.
Aber in LVI: „Die Verleumdungen gegen die Regie-
rung" kann ich nur eine nach unten gerichtete Satire
erblicken. Man messe der Regierung die Schuld bei
wenn das Brot theuer sei, wenn man im Winter nichts
habe um sich zu wärmen, wenn mit einer Zahl in
einer Terne ein Versehen vorkomme, wenn man von
einem Hunde gebissen werde, wenn die Musik im
Theater schlecht sei, wenn zu Epiphanias zu grosser
Lärm gemacht werde, wenn die Leute sich prügeln;
schliesslich werde es ein Verbrechen der Regierung sein
wenn die Wirthe nichts taugen, oder wenn der Pfannen-
bäcker das Fritto verbrannt habe.
Ganz allgemein gehalten, etwas im Giusti'schen
Geschmack, ist XL: „Der Despotismus"; ein König
schickt den Henker mit einem Edikt in welchem das
Car tel est notre plaisir auf die roheste Weise um-
schrieben wird, aus, um das Volk um seine Meinung
darüber zu befragen, und Alle antworten : „Es ist wahr !
es ist wahr!" Daran klingt in seinem Schlüsse das
Sonett X (aus dem Jahre 1833, vom Grafen G. Giraud,
bekanntem Lustspieldichter) an ; dem Dom Miguel wird
der Rath ertheilt: „Drucke ihm (dem Volk) einen
11*
— 164 —
schönen Amnestieerlass und Tags darauf hänge sie Alle
zusammen."
Einige Sonette betreffen den Missbrauch religiöser
Handlungen seitens des Volkes, den absichtlichen wie
den naiven. Einem der sich beschwert kein Gluck
zu haben, wird angerathen fleissig zur Kommunion zu
gehen, sodass es der Pfarrer und der Präsident (des
Stadtviertels) erfahre, jeden Morgen die Messe zu hören,
im Caravita (Oratorium der Jesuiten) Bosenkränze ab-
zubeten und sich ein wenig auf einen gewissen Theil
zu geissein; dann werde er sehen wie er vorwärts
komme (XLVI). Ein Diener sendet ein rührendes
Gebet zur hl. Jungfrau empor, sie möge seinen Herrn,
der ihm in jeder Krankheit versprochen habe einen
Gnadensold zu hinterlassen, baldigst zu sich nehmen
(XLIX). Noch stärker als hier tritt die Aeusserlich-
keit des Christenthums in LX hervor. Ein Tras-
teveriner gibt seinem Sohne folgende Lehren: sich
nicht gegen seinen Vater aufzulehnen, sich nicht unter-
kriegen zu lassen, einen Schlag sofort mit zweien zu
erwidern, wenn jemand ihn hofmeistern wolle, ihm
mit derben Worten den Weg zu weisen, wenn er einen
Mezzo in Morra oder Boccia ausspiele, ordentlich zu
trinken und den xindern keinen Tropfen drin zu lassen
und endlich, da es auch ein gutes Ding sei Christ
zu sein, in der Tasche immer das Agnusdei, das Messer
und den Bosenkranz zu tragen. Allerdings eine hübsch
gemischte Gesellschaft! Schliesslich fällt die Schuld
dieser Auffassung indes auf die Geistlichen und auf
das System zurück; es wird zu wenig auf den Kern
und zu viel auf die Schale gegeben. „Im ganzen
haltet euch an Worte!" und wenn es nm* immer
— 165 —
italienische wären, aber dazwischen werden so viele
lateinische ausgestreut dass Missverständnisse geradezu
nothwendig werden. In einem solchen an sich freilich
unschuldigen gipfelt LV: „Gott hat ihn nicht erschaffen
um das Evangelium zu erklären, diesen Herrn Pfarrer
Don Petronio! Ein bisschen länger, und ich schlief
ein, Herr Antonio, trotzdem dass es in der Kirche
war, es fehlte nur ein Haar daran. Was weiss ich
was er Alles durcheinander gerührt hat! Die Welt,
den Himmel, die Hölle, das Fegefeuer, die Ehe, die
Pharisäer, die Schafe, den Teufel, das Wasser, den
Wind, den Nebel, die Hitze, den Frost .... Und dann,
um diesen Salat zu würzen, nach jedem zweiten Worte
gehustet, geräuspert, gespuckt und geschrieen: Serva
mandata! Aber wer ist diese Magd? wer schickt sie
her? wohin geht sie? was will sie? wann ist sie ge-
kommen? wie heisst sie: Lia, Stella, Susanna? ..."
Ziemlich unverfänglich ist endlich XLVIIL Fürst
Torlonia hat eine Anzahl Kamele kommen lassen, um
sie als Lastthiere zu gebrauchen. Der Papst fragt
ihn ob es denn dazu nicht Pferde, Maulthiere, Esel
gebe? „Ja, heirger Vater, gewiss gibt's die (soll er
ihm geantwortet haben); aber Gott hat die Kamele
für die Wüste erschafifen" {wo U camU pe' hbazzicä
er deserto). Ich weiss nicht ob die Verödung der Cam-
pagna und auch Roms auf die hier hingezielt wird,
der verwundbare Fleck ist, oder ob man daran Anstoss
nimmt den Papst in einem solch scherzhaften Gedichte
redend, und noch dazu in römischer Mundart, eingeführt
zu sehen.
Wir sind weit davon entfernt alle diese Sonette
ihrem Inhalt nach zu billigen ; einige davon sind offen-
- 166 —
bare Blasphemien. Belli bereute es auch später sie
geschrieben zu haben. Er suchte der verschiedenen
Abschriften in welchen ein grosser Theil derselben
in Eom verbreitet war, habhaft zu werden; viele
verbrannte er; viele andere aber, mit Anmerkungen
versehen, hat er, unter dem ausdrücklichen Verbot sie
zu veröffentlichen, aber ebensowohl sie zu verbrennen,
versiegelt hinterlassen. Hat hier eine jener römischen
Bekehrungen deren Zahl Legion ist, ein plötzlicher
Umschlag wie bei Boccaccio stattgefunden? Wir
werden davon noch reden. Jedenfalls stand er schon
in den engsten, Beziehungen zu den Jesuiten, als er
1846 beim Tode Gregors die alte Stinmiung an den
Tag legte. Von den wenige Jahre darauf eingetretenen
revolutionären Bewegungen hielt er sich ganz fern
und begrüsste mit Freuden die Kückkehr des Papstes.
Er wurde Mitglied der Gesellschaft des hl. Vincenz
von Paul, übersetzte die Hymnen des römischen Breviers
(1856 gedruckt und dem Papste gewidmet) und dich-
tete gegen die modernen Ideen.
Von Bellis italienischen Poesien waren zuerst zwei
Bände (1839, Rom, Salviucci; 1843, Lucca, Giusti)
erschienen. Wir kennen nur diejenigen welche in den
ersten Abtheilungen der vier nach seinem Tode ge-
druckten Bände enthalten sind, und die meistens aus
den 50er Jahren stammen (die römischen Sonette eben-
daselbst gehören meist den 30er Jahren an). Aber
schon sie beweisen uns dass Belli auch frei aus sich
heraus zu schaffen wusste; sie sind voll Mark und
Feuer, in reicher und eigenthümlicber Sprache abge-
fasst. Neben der heiteren Satire, die sogar zum harm-
losen Scherz herabsinkt, tritt uns hier, und zwar gerade
- 167 —
da wo es gilt den Geist politischer und religiöser
Neuerung zu bekämpfen (man lese besonders seine Briefe
in Terzinen: „Die Wissenschaft", „Die Erziehung", „Die
moderne Civilisation" u. s. w.), die bittere Satire ent-
gegen, d. h. zunächst die in Bitterkeit erzeugte ; denn
nicht immer verwundet ihr gezwungenes Lachen mehr
als das offene Lachen jener. Ich verweise übrigens
auf Bellis eigenes Gedicht über den Sarkasmus (I,
47—54).
Es gibt Leute die den Belli in zwei Persönlich-
keiten spalten, eine liberale und eine reaktionäre,
welche jene vergöttern und von dieser nichts wissen
wollen; doch auch zugegeben dass sie thatsächlich
Kecht haben — wird denn ein Mensch nicht gerade
durch seine Gegensätze und Wandlungen zunächst
merkwürdig, dann aber auch erst erklärlich?
Belli also ist Satiriker. Ist er es aber ganz ebenso
in seinen römischen wie in seinen italienischen Ge-
dichten? Ich denke, nein. Der Italiener, in seiner
ganzen Litteratur kann man es spüren, besitzt einen
starken Hang zur Satire: den stärksten der Bömer,
und seine Sprache ist von spöttischen und beissenden
Ausdrücken und Wendungen gesättigt. Als Darsteller
des Bömers, in seiner schneidigen Mundart redend,
musste Belli satirisch sein ; in seinen italienischen Ge-
dichten ist er satirisch auf eigene Hand, mit bestimmter
Tendenz, ist er im eigentlichen Sinne Satiriker. Man
darf die römischen Sonette nicht auseinander reissen,
die politischen (obwohl einige von ihnen nicht auf
einem Dialog beruhen) nicht von den andern hinweg
- 168 -
in ein besonderes Licht rücken; sie sind alle eines
Geistes Kinder. Diese Satiren sind nicht aus Belli,
sondern ans dem römischen Volk entsprungen. Hätte
dieses, oder hätten Einzelne ans ihm, nicht so ge-
dacht, so gesprochen, Belli würde nie so geschrieben
haben. Manches freilich war im Munde des niedem
Kömers ernst, wurde aber fast unwillkürlich — durch
ein wenig stärkeres Auftragen oder überhaupt nur
durch die litterarische Fassung — zur Satire. Allein
den Eindruck machen entschieden sämmtliche Sonette
Bellis: sein erster Zweck war das römische Volk zu
schildern. Wo die verbotene Frucht politischer Satire
dicht über seinem Haupte hing, da pflückte er sie,
aber er kletterte ihr nicht nach. Wenn wir oben die
politischen Sonette Bellis (und einiger Andern) nach
den Angriffspunkten übersichtlich zu ordnen versuch-
ten, so waren wir uns bewusst nichts weniger als in
seinem Sinne zu handeln. Hier werden keineswegs die
Gedanken eines italienischen Liberalen einem römischen
Volksmann in die Feder diktiert. Ein Mann dem vor
allem daran liegt zu rügen und zu geissein, spitzt sich
selbst seine Feder zu ; siehe G. Giusti. Belli war nun
in seinem späteren Leben äusserst bigott und reak-
tionär; damals als er die Sonette schrieb, war er es
natürlich nicht. Aber, ich glaube, ebensowenig ein
glühender Feind des Papstthums und des Eatholicismus.
Ich vermuthe bei ihm eine politische Indolenz wie sie
in Rom von jeher so gewöhnlich gewesen ist. Die
zwanzig Jahre die der Restauration vorausgegangen
waren, und die ziemlich mit Bellis erster Jugendzeit
zusammenfallen, hatten Rom zu stark mitgenommen
um eine grosse Begeisterung für den Liberalismus zu
— 169 —
hinterlassen, andrerseits aber doch den Sinn für die
Schwächen des Papstthums geschärft. Konnte sich
von jenem Triebe des niedern Eömers Alles zu satiri-
sieren nicht auch eine Dosis bei dem gebildeten Römer
vorfinden ? Glich nicht etwa Belli ein wenig seinen
Trasteverinern welche Hostie und Messer zusammen
in der Tasche tragen, jetzt mannaggia la Madonna!
rufen, und eine halbe Stunde später andachtsvoll zur
hl. Jungfrau beten, vor dem Papste sich demüthig in
den Staub werfen und im Aufstehen ein Witzwort
über ihn auf den Lippen haben? Wir brauchen dem-
nach keinen politischen und religiösen Glaubefnswechsel
Bellis vorauszusetzen; mit seinen Gedichten in der
Hand dürfte sich nachweisen lassen dass er ganz all-
mählich — allgemein menschlichem Gesetze zufolge —
ernster und peinlicher und schliesslich wohl auch ver-
bittert wurde. Nach dem Auseinandergesetzten kann
ich Morandi nicht Recht geben wenn er behauptet
(S. 46 f.): „Aber in seiner Jugend hatte Belli noch
ein höheres Ziel im Auge als das : das Leben und den
Charakter des römischen Volkes zu zeichnen. Er war
ein tiefer Kenner des verwickelten Organismus welcher
sich päpstliche Regierung nennt, und in einer Reihe
von satirischen Sonetten deckte er dessen Schändlich-
keiten und Niederträchtigkeiten auf und geisselte sie
erbarmungslos." Morandi hat seine ganze Aufmerk-
samkeit auf die Zielscheibe concentriert der jene Pfeile
zufliegen; daher sieht er nicht von welcher Kerbe sie
abspringen. Widmet er doch sein Buch „den Römern
welche die erneute Schmach der alten Knechtschaft
rächen werden" (seitdem ist seinem heissen Wunsch
Erfüllung zutheil geworden). Aber darin stimme ich
— 170 —
ihm bei dass, neben andern Umständen, wie der Er-
innerung an die alte Grösse Roms oder vielmehr dem
trügerischen Gefühl ihrer Fortdauer, das Papstthum
ausserordentlich zur Blüthe der Satire in Rom bei-
getragen hat. Die Satire gleicht einer Pflanze die
um so besser gedeiht je mehr sie mit Füssen getreten
wird, oder, um auch ihre gefahrliche Natur zu berück-
sichtigen, sie gleicht der lernäischen Schlange mit den
nachwachsenden Häuptern.
Die römische Satire hat eine lange Geschichte,
in der das Auftreten Pasquinos epochemachend ist.
Pasquino ist der klägliche üeberrest eines antiken
Meisterwerks, einer Statuengruppe, deren Zerstörung
von den Archäologen aufs tiefste beklagt wird; nicht
von uns, weil wir ja sonst Pasquino nicht hätten.
Dieser Pasquino nun musste, zuerst im eigentlichen,
dann im figürlichen Sinn, alles auf sich nehmen was
Rom an Bissigkeiten hervorbrachte. Aber, wie ich
oben sagte, der Romane liebt den Dialog für jede Art
von Kundgebung ; es erschien daher angemessener und
ergötzlicher dass der Stein nicht motu proprio spräche,
sondern dass Feuer aus ihm geschlagen würde. Zu
diesem Dienst erlas man den Marforio, einen unge-
schlachten, gutkonservierten Gesellen gleichfalls aus
Stein, den man in neuerer Zeit auf das Eapitol unter
Schloss und Riegel gebracht hat, wahrscheinlich wegen
der vielen indiskreten Fragen die er dem Gevatter
Pasquino vorlegte. Zuweilen hat er selbst AniUlle von
Witz bekommen, wie das mit manchem dummen Kerl
der Fall ist der beständig mit einem geistreichen
Freunde verkehrt. Hier Einiges aus den Unterhaltungen
der beiden Kumpane, denen nichts Schlimmeres zu-
— 171 —
stossen kann als nicht belauscht zu werden. Als
Sixtus V. seine Schwester, welche Wäscherin gewesen
war, zur Herzogin erhoben hatte, fragte Marforio
warum Pasquinos Hemd so schmutzig sei, und dieser
antwortete: „Was kann ich thun? Meine Wäscherin
ist Fürstin geworden." — Clemens VI. schickte grosse
Summen Geldes nach seiner Vaterstadt ürbino. „Was
machst du, Pasquino?" fragte Marforio. „Ei, ich hüte
Rom, dass es nicht nach ürbino gehe!" — Zur Zeit
der ersten französischen Revolution stellte Marforio die
berechtigte Frage an Pasquino : „Ist es wahr dass die
Franzosen alle Diebe sind?" „Alle nicht, aber ein
guter Theil {buona parte).'^ — 1862, am Tage des
hl. Petrus, hiess es dass man einige Wände in der ihm
geweihten Basilika aus Mangel an Teppichen bloss
mit buntem Papier bedeckt habe. Da man damals
viel von der wahrscheinlichen Abreise des Papstes,
wenn Rom italienisch würde, gesprochen hatte, so fragte
Marforio: „Ist es wahr dass der Papst einpackt?"
„Sicher; siehst du nicht dass er St. Peter schon in
Papier geschlagen hat?" — Ich reihe daran noch
einige nicht dialogisierte Proben römischer Satire, eben-
falls aus Morandi. Als von einem Papst der Tabak
besteuert oder die Steuer darauf erhöht worden war,
fand man eines Morgens am päpstlichen Palast die
Inschrift: Contra folium quod vento rapitur, ostendis
potestatem tuam et stipulam siccam jyersequeris ? (Hiob
XIII, 25) Der Papst befahl diese Worte stehen zu
lassen und äusserte zugleich, es würde ihn freuen
den Verfasser, der ein witziger Kopf sein müsse,
kennen zu lernen. Sein Wunsch wurde befriedigt;
denn Tags darauf war der Vers unterzeichnet: Job,
— 172 —
Hierauf Hess der Papst aussprengen, er würde den
Satiriker, wenn er sich enthüllte, ansehnlich belohnen.
Jener aber, dem die Sache nicht ganz geheuer schien,
fügte dem Namen Joh nur das Wörtchen gratis hinzu.
— Hier gleich noch ein Beleg für Citatengegenwart.
Unter Gregor XVI. liess die Eegierung eine riesige
Fabrik am Hafen der Ripetta erbauen. Der Plan
gefiel nicht, und man sagte, der Baumeister hätte eine
hübsche Summe dabei unterschlagen. Es erschien ein
Stich welcher den Tiber mit dem neuen Gebäude auf
dem Rücken darstellte; darunter standen die Worte:
Supra dorsum meum fabricaverunt peccatores (Psalm
CXXIX, 3). Als dann dem ursprünglichen Grundriss
ein Flügel angesetzt wurde, da kam wiederum Vater
Tiber mit der Fortsetzung des Verses zum Vorschein :
et prolongaverunt iniquitatem suam. — Am Feste
des hl. Ignaz von Loyola hatten die Jesuiten in ihrer
Kirche einen prächtigen Altar errichtet; über der sil-
bernen Statue des Heiligen erblickte man Gott Vater,
wie gewöhnlich von Stuck. Ein feines Herrchen sagte
beim Herausgehen zu einer Dame: „Treten Sie ja in
Gesü ein; da ist die Statue des hl. Ignaz von Silber
und ein so schöner Altar dass selbst der himmlische
Vater ganz versteinert darüber ist" (^ rimasto di stucco ;
wörtlich : „von Stuck geblieben ist"). — Auf den Papst
Leo XII. wurde folgendes Epigramm gefertigt:
Tre dispetti ci hai fatto, o Pddre santo,
Äccettare il papato, viver tanto,
Morir di carneval per esser pianto.
Auch das Privatleben blieb nicht immer von
der Satire verschont. Ein Advokat Namens Cesare
heirathete ein etwas leichtsinniges Mädchen Namens
— 173 —
Roma. Am Tage der Hochzeit fand er einen Zettel
an der Thüre mit der Warnung : Cave, Caesar, ne Roma
tua res publica fiat Er ersetzte denselben durch einen
andern mit der Antwort : Stidte I Caesar irnperat. Der
Satiriker schrieb darunter: Irnperat? ergo coronatus est
Von den fremden Nationalitäten welche Rom heim-
suchen, fordert zunächst die englische, als die fremd-
artigste, die römische Satire heraus; dann aber auch,
und vielleicht in noch höherem Grade, die nächstver-
wandte, die französische. Denn ganz Unverständliches
verletzt nicht; wo aber Berührungen stattfinden, da
werden die Gegensätze um so stärker empfunden. Der
Franzose ist den Mittel- und Süditalienern antipathisch,
besonders den Römern, wegen seines unstäten lärmenden
Wesens und seiner Unzufriedenheit mit Einheimischem
und Landesüblichem. Dazu ist die französische Sprache
in ihrem Accent vom Römischen so verschieden wie
nur irgend etwas sein kann, und andrerseits gibt ihre
Verwandtschaft mit dem Italienischen Anlass zu vielen
lächerlichen Missverständnissen. Unter den weniger
leichtfertigen Uebertragungen nenne ich folgende : assai
(sehr) = assez; brocca (Krug) = broche; disciplina
(ohne Zusatz: geistliche Disciplin, Busse, Kasteiung,
Geisselung) = discipUne ; loggia (Balkon) = löge (vgl.
BeUi I, 332. 334. 384. II, 166. III, 287. IV, 348
der römischen Ausgabe). Trotzdem wohnt dem Römer
eine wahre Wuth inne französisch zu sprechen und
französische Wörter zu gebrauchen, und zwar bis zum
Stiefelwichser herunter, der sein Mosjii, vulh sirh ? ruft.
So hört man in italienischer Rede bonton (die Gesell-
schaft in welcher der bon ton herrscht), burrb (bureau),
cadb, deshr, digiunh (dSjeüner), tremb (trumeau) u. s. w.
- 174 -
Manche Ausdrücke, wie alb (allons), sind schon sehr
alt. Oft, auch auf dem Lande, hörte ich toucher für
„anstossen", „zechen", wofür aber der Franzose selbst
trinquer gebraucht; eine Frau sagt z. B. von ihrem
Manne der seinen Rausch ausschläft: „Er hat toucher
gemacht." Glücklicherweise ist unser deutscher Trinker-
ruf in dem trinksvain (früher auch trinche lanze, ebenso
wie zu Neapel; für „trink, Landsknecht") gewahrt.
An Spitznamen für den Franzosen hat es nie gefehlt.
So hiess er im 17. Jahrhundert Froscio, welches auf
ähnliche Weise aus Francioso entstellt ist wie Tosto
aus Todesco. In letzterem Fall ist zugleich auf die
Hartnäckigkeit und Zähigkeit der Deutschen angespielt
(römisch bedeutet tosto „hart", und todesco „hart-
näckig"). Merkwürdigerweise ist neuerdings die Be-
zeichnung Froscio auf den Deutschen übergegangen.
Dann nannte man den Franzosen Monsu oder Mosju
(monsieur; jetzt für jeden Fremden), Gianfutre (nach
dem beliebten Fluch), Diton (dites donc) und Sor
Tullera. Das Letzte gehört zu den zahlreichen Namen
von unmöglicher Etymologie mit denen der Römer
den auffalligen Eindruck den ihm eine Persönlichkeit
macht, wiederzugeben versucht. Tullero 1 wird zuweilen
als verächtlicher Ausruf gebraucht. Die üebertragung
auf die Franzosen wurde vielleicht durch den Namen
des Gesandten Saint-Aulaire (vergL Belli I, 366) an-
geregt. Zu alledem ist die politische Stellung der
Franzosen zu Rom nicht geeignet sie daselbst beliebt
zu machen. Dies gilt wenigstens seit der Zeit der
ersten Republik; einem schon angeführten Wortspiel
von damals füge ich noch ein anderes hinzu: liheri
legati alla francese (Freie, französischem Gebrauche
— 175 —
zufolge gefesselt) für lilri legati alla francese (Bücher
mit französischem Einband). Dies rührt von dem
Marionettenspieler Gaetanaccio her, der auch die ewigen
Siegesbulletins Napoleons I. persiflierte, indem er Pul-
cinella, dessen Frau Vittoria heisst, vor seinem Hause
durchgeprügelt werden und Vittoria ! Vittoria ! um Hülfe
rufen lässt. Seitdem, vor zwanzig Jahren, die franzö-
sische Republik der römischen Schwesterrepublik ein
Ende gemacht hatte, betrachtete man die stehenden
Okkupationstruppen auch nicht mit günstigen Augen und
hing den Franzosen etwas an wo es ging. Als einst
während des orientalischen Kriegs ein französischer
Soldat auf Piazza Navona um Aepfel (mele) feilschte,
bemerkte ihm die Obstfrau: „Freilich, vor Sebastopol
habt ihr sie bUliger" {mele heisst zu Rom auch
„Prügel").
Morandi spricht den Wunsch nach einer möglichst
reichen Sammlung römischer politischer Satiren aus;
sie würden ein kostbares geschichtliches Denkmal sein.
Ich theile vollständig diesen Wunsch und glaube dass
man besonders die poetische Litteratur die bei Gelegen-
heit von Conclaven emporschoss, berücksichtigen müsste;
es ist mir zufallig in den Bibliotheken Manches davon
zu Gesicht gekommen, aber trotz meiner Bemühungen
nicht eine sehr gepriesene Satire auf das Conclave
von 1823 in römischer Mundart.
Einst gab es auch zwei satirische Zeitungen zu
Rom, den Don Pirlone und den Cassandrino. Jene,
obwohl ihr Titel ein Spitzname des Papstes ist, soll
schon vor der Revolution entstanden sein, dann aber
jede erlaubte Grenze überschritten haben, sodass die
päpstliche Regierung auf den Besitz von Nummern
— 176 —
derselben strenge Strafe zu setzen für gut befand.
Die andere hatte ihren Namen von dem Cassandro ent-
lehnt,, einer stehenden Figur des Marionettentheaters,
welche in den zwanziger Jahren von einem gewissen
Teoli so unnachahmlich dargestellt wurde dass sie als
seine Schöpfung, die auch mit ihm unterging, be-
trachtet werden kann. Dieses Blatt war dem Papst-
thum günstig, und infolge dessen wurde sein Re-
dacteur während der Republik getödtet, woran sich
— relata refero — sogar seine Brüder betheiligten,
üebrigens dürften nicht die Witze und Wortspiele der
Päpste selbst (auch Pius IX. ist den Calembourgs
keineswegs abhold) vergessen werden; ich entsinne
mich z. B. eines nicht Übeln von Benedikt XIV. (wenn
ich nicht irre), der einen Streit der Advokaten und
Aerzte wegen des Vorrangs mit den Worten schlichtete :
Praecedant latrones, sequantur carnißces.
Wenn aber Morandi (S. 34) meint, die politische
Satire werde so lange in Rom gedeihen bis dasselbe
vom Papstthum befreit sein werde, so erlauben wir
uns dieses „so lange" als eine Minimalbestimmung zu
betrachten. Der Römer ist nie um Stoff für seine Satire
verlegen. Dass überdies nicht die ganze römische
Bevölkerung bisher italienisch gesinnt war, weiss Jeder,
dies deuten auch Ritornelle an wie:
Fiore di fratta!
Cavour, per cucir troppo in fretta,
D^uno stivcüe ha fatto una ciahatta;
oder:
Fiore di margherita!
Una rapa, una zucca, una carota,
Fa la coccarda delV Italia unita.
— 177 —
Und wird nicht manche Neuerung ebensowohl, ja
vielleicht noch mehr der römischen Satire zur Ziel-
scheibe dienen als der alte Zopf? Es gibt seltsamer-
weise genug Leute welche die Büchercensur dem Steuer-
druck vorziehen. Freilich, der Geldbeutel ist ungemein
empfindlich und stosst gleich Schmerzensschreie aus,
als ob er von Fleisch und Blut wäre. Daher die vielen
poetischen Stossseufzer Neapels, wie:
Napole miOj vi comme si arreddutto
Dimme, dimme chi h stato sto frabhutto
Che fä menato nfacda tanta prete?
Ah! . . . si, cKaggio caputo mo lo tutto:
Causa w'^ stata ca tenie monete!
E mo che Vhomno tutto scm-tecato,
Che nne vonno da te cchiü chesta gente,
Pe farete moH cchiü disperato ?
Mein Neapel, wie bist du zugerichtet . . .
Sag' mir, sag' mir, wer ist der Schurke gewesen
Der dir so viel Steine ins Gesicht geworfen hat?
Ah! ... ja, jetzt begreife ich Alles:
Es war deshalb weil du Geld hattest!
Und nun da sie dich ganz geschunden haben.
Was wollen sie noch von dir, diese Leute,
Um dich in grösserer Verzweiflung sterben zu lassen?
In der Luft der Campagna werden diese Seufzer
einen salzigen Beigeschmack annehmen, sie werden sich
in Satiren verwandeln. Pasquino, den einst Torquato
Tasso vom Ertränktwerden rettete, wird auch jetzt
nicht sterben; wir rufen: Evrnva Pasquino! Es wird
so viel Neues und Wunderbares über Kom herein-
brechen dass seine Säulen und Thürme wie Frage-
und Ausrufungszeichen erscheinen werden. AUe die
Schuchardt, RomanischeB u. Keltiscbes. 12
- 178 —
Tausende und Abertausende von Barbaren die von
jenseits der Alpen mit Schild und Schwert oder mit
Sonnenschirm und Murray nach Born gekommen sind,
haben wenig an seiner Physiognomie verändert; sie
haben den Schatten der Vergangenheit ihre Ehrfurcht
bezeigt. Bom ist so eigenthümlich , so altitalienisch
geblieben wie keine andere grössere Stadt Italiens.
Anders aber wird es werden wenn Italien seine Be-
völkerungen über Bom ausgiesst, wie dies eine Ka-
rikatur mit der Unterschrift : Tutti a Roma I darstellt.
Roma capomunni ist nun Roma capo cVItalia, Aber
während es einst Alle belehrte, wird es seine neue
Würde damit beginnen von Allen in die Schule ge-
nommen zu werden. Das Charakteristische wird sich
völlig verwischen. Und doch wird das moderne Bom
neben der Buine Bom und neben der Zwingveste Bom
unendlich klein sein. Dem Bom das war — ich meine
nicht bloss die Denkmäler {sc. imperatorischer und
päpstlicher Tyrannei!), die ja bleiben werden, sondern
vorzugsweise auch sein träumerisches Vergangenheits-
leben — verdankt unser Norden so unendlich viele
und grosse Anregungen dass es uns fast wie eine
Wunderstadt vorkommt welche den politischen An-
forderungen die an gewöhnliche Städte gestellt werden,
nicht unterliegen dürfe. Aber Schwärmerei beiseite!
Die Italiener mögen Becht haben Bom zu nehmen,
wie Bom einst Italien genommen hat, und wir wün-
schen ihnen aufrichtig Glück zu diesem Besitz; nur
mit schonender Hand, mit schonenderer als bei Neapel,
vollziehe sich die ümkleidung dieser Nonne in das
welÜiche Gewand. Man erneuere gründlich und all-
mählich zugleich. Es nützt nichts bloss das Oberholz
- 179 -
abzutreiben; man muss sich Zeit nehmen nnd die
Wurzeln ausroden, nur dann kann auf dem urbar ge-
machten Boden die neue Saat gedeihen.
Zum Schlüsse sei nochmals Bellis gedacht. Mo-
randi preist ihn vor allem als politischen Satiriker.
Nun sagt er: „Die Satire ist eine Waffe die bei der
Verwundung in Stücke ' springt ; die Satiriker sind vom
Volke vergessen wenn der von ihnen bekämpfte Feind
unterlegen ist." Demnach ist Bellis Zeit jetzt um.
Ich jedoch meine dass seine Zeit jetzt erst recht be-
ginnt. Die römische Mundart, die seit Ablegung der
volksthümlichen Tracht sich mehr und mehr verfärbt
hat (besonders unter Einfluss des Schulunterrichts),
wird nun ganz aussterben. Ebenso die römischen Sit-
ten, der römische Charakter. Belli selbst sagt: „Ich
habe beschlossen ein Denkmal von dem was heutzutage
daö römische Volk ist, zu hinterlassen." Dieses Denkmal
wird jetzt zu Ehren kommen, man wird es studieren
und Kommentare dazu schreiben.
J2*
X.
Eine portugiesische Dorfgeschichte.'^)
In verdriesslicher Stimmung durchsuchte ich ein-
mal, etwa vor zwei Jahren, meine Bibliothek nach
etwas Zerstreuendem; es gerieth mir ein portugiesi-
scher Böman „Die Mündel des Pfarrers" von Julio
Diniz in die Hände ; ich legte ihn beiseite, ich blickte
hinein, ich legte ihn wiederum beiseite, und endlich,
da ich durchaus nichts fand was mir schmackhafter
erschienen wäre, entschloss ich mich ihn zu lesen.
Ich las ihn mit wachsender Spannung bis zu Ende;
die Vorrede, welche ihn als eine Perle der portu-
giesischen Litteratur bezeichnet, sagte mir dann nichts
Neues mehr. Dass ein erbärmlicher Zufall mich mit
dieser Perle bekannt gemacht hatte, das regte mich
an die Aufmerksamkeit Anderer auf sie hinzulenken,
besonders nachdem ich vergewissert worden war dass
noch keine deutsche üebersetzung davon bestand. Der
Vorsatz hatte das Schicksal der meisten Vorsätze.
Jetzt da ich das Büchlein dem Buchbinder übergeben
will, durchblättere ich es von neuem, und von neuem
bin ich gefesselt und erfreut. Der zweiten Mahnung
leiste ich Folge, nicht ohne die Besorgniss vergeblicher
*) As pupülaa do snr. reitor. Chronica da aldeia. Por
Julio Diniz. Porto 1866, (Leipzig, Brockhaus 1875.)
— 181 —
Mühe. Werde ich dem herrschenden litterarischen
Geschmacke etwas anbieten was ihm zusagt? Derselbe
hat eine entschiedene Sichtung auf die pathologische
Anatomie ; bei der Lektüre manches modernen Bomanes
wird es uns zu Muthe als ob wir einer Sektion bei-
wohnten. Der Meister tritt heran; mit raschen, sicheren
Schnitten öffnet er die menschliche Brust, klappt Hülle
um Hülle zurück und zeigt uns die feinsten Fasern,
Adern, Nerven, wie sie sich dehnen, sich pressen, sich
aufblähen, wie sie zusammenkrampfen, zerreissen, ver-
knöchern. Dann wirft er das blutige Skalpell weg
und lässt uns allein vor der zerfetzten, zuckenden
Masse; wir fahlen ein Zusammenschnüren unter den
linken Bippen und besinnen uns dass wir da ein ebenso
krankes, jämmerliches Ding tragen, dem wir zurufen
möchten :
Ässai
Pcdpitasti. Non val cosa nessuna
I moti tuoi!
Arzt war Julio Diniz, und deshalb vielleicht dachte
er nicht bloss ans Secieren, sondern auch ans Heilen ;
krank war er (eine Lungenschwindsucht raffte ihn früh-
zeitig dahin), und deshalb vielleicht träumte er Ge-
sundheit. Der Himmel den so viele Bomandichter
über ihre Personen ausspannen, ist der eines trüben,
nordischen Tages; von einem grauen, unbeweglichen
Hintergrunde hängen dunkle und dunklere Wolken
herab, deren letzte wehende Fetzen unsere Häupter
zu streifen drohen; hinter diesem Himmel ahnt man
die Sonne nicht. Auch bei Julio Diniz finden sich
Wolken ; unter der Mittagsschwüle ballen sie sich zu-
sammen, aber immer bleiben sie von goldenem Scheine
— 182 —
umsäumt, und schliesslich zerth eilen sie sich, lösen
sich auf in die unendliche Bläue des Aethers. ),Daran
erkennt man den Lungensüchtigen" -- werden unsere
„Gesunden" sagen — „dieses Hoffen auf eine unmög-
liche Genesung, diese Visionen von Glück und Frieden
sind die sichersten Krankheitssymptorae."
Julio Diniz lässt den Vorhang über einer Kinder-
liebe aufgehen. Der kleine Daniel leistet der kleinen
Margarida Gesellschaft, so oft er es unbemerkt kann;
er unterrichtet sie im Lesen und singt mit ihr das
Lied von der Ziegenhirtin; er verspricht sie zu hei-
raten. Die Beiden werden getrennt; ihre fernere
Geschichte hat wenig Aehnlichkeit mehr mit der von
Flor und Biancaflor. Margarida zwar hört nicht auf
an den Gespielen zu denken; er jedoch vergisst sie
in der Fremde, und nachdem er sich als Arzt in seinem
Heimatsorte niedergelassen hat, bekümmert er sich
nicht um sie. Sein Herz ist empfanglich, seine Sinne
sind stürmisch, der Jüngling hat die Keime zur Reife
gebracht welche den Knaben zum geistlichen Beruf
untauglich erscheinen Hessen; gerade das aber erklärt
warum ihn nicht die sanfte, ernste Margarida anzieht,
sondern ihre jüngere Schwester, die heitere, unbedachte
Clara, die Verlobte seines Bruders Pedro. Infolge
der leichten Annäherung sind Daniel und Clara mehr
und mehr voneinander und zugleich von der Aussen-
welt bedroht ; in dieser Steigerung der Gefahr verräth
sich besondere Kunst. Nachdem das eine Mal auf
unerwartete, halb lustige Weise der vollkommen be-
gründete Verdacht eines Fernerstehenden zerstreut wor-
den ist , sehen wir ein anderes Mal das . Schreck-
lichste fast unvermeidlich vor uns. Daniel hat ein
— 183 —
letztes geheimes Gespräch mit Clara; er will seiner
Liebe zu ihr entsagen um den Preis sie ihr gestehen
zu dürfen. Pedro geht, ein Liebesliedchen trällernd,
zufällig an dem Hause der Schwestern vorüber; er
hört die Stimmen; er erkennt seinen Bruder wie er
heraustritt; sein Pinger zuckt nach dem Hahn des
Gewehres das er in der Hand trägt — einen Engel
des Himmels braucht's um ihn zu entwaffnen. Mar-
garida tritt auf und sagt : „Ich habe mit Daniel ge-
sprochen." Sie opfert ihren guten Ruf; den Kindern
denen sie Unterricht zu geben pflegte, wird von ihren
Müttern verboten sie ferner zu besuchen. Der Pfarrer,
in Alles eingeweiht, zeigt sich mit ihr auf offener
Strasse und küsst ihr da die Hand, um die gemeinen
Seelen zu beschämen und zu bekehren. Mit Daniel
geht eine gänzliche Umwandlung vor sich; in ihm
erwacht zum ersten Male eine wahre und tiefe Neigung.
Diese nicht minder wie das Gebot der Pflicht veran-
lassen ihn um Margaridas Hand anzuhalten ; sie aber,
nur den zweiten Beweggrund voraussetzend, weist ihn
zurück, und von ihm mit der Frage bedrängt: „Wollen
Sie damit sagen dass Sie mich nicht lieben können?"
erwidert sie: „Ja, ich denke, ja. Ich vermuthe dass
ich kein Herz habe. Ich weiss es ! Wenigstens fühle
ich es nicht schlagen." Der Schwester jedoch, welche
sie verwundert fragt weshalb sie den Bewerber ver-
schmäht habe, gesteht sie offen: „Weil ich ihn liebe."
Nun drängt Alles darauf hin den Entschluss Margaridas
zum Wanken zu bringen: das Zureden des Pfarrers,
welcher sie wegen ihres Stolzes tadelt, die lebhaftesten
Betheuerungen Daniels am Bette eines noch warmen
Leichnams, die Drohung der Schwester das Geheimniss
- 184 —
ihres Herzens zu verrathen, der feierliche Antrag des
alten Jos^ das Dornas und sein angekündigtes Vor-
haben den Sohn im ungünstigen Falle nach Brasilien
zu schicken — so gibt sie denn endlich der Stimme
des eigenen Herzens nach. Und in das frohe Ende
welches an den frohen Anfang anknüpft, klingt wie ein
Refrain das Lied von der kleinen Ziegenhirtin hinein :
Nie erfreuten in den Bergen
Spiel und Scherz des Mädchens Sinn;
In der Quälerei der Arbeit
Flossen ihre Tage hin!
Welcher Jubel im Palaste!
Feste ohne Ende jetzt!
Da die lang verlor'ne Tochter
Auf der Väter Thron sich setzt.
Diesen zweiten Theil des Romans durchwaltet ein
so dramatisches Leben dass die Bitte am Platze sein
dürfte — ihn nicht zu dramatisieren. Das Glück einer
Schwester durch Stellvertretung retten und den Ge-
liebten aus Liebe zurückstossen, dieses und manches
Andere ist vielleicht nicht ganz neu; nirgends aber
wird es frischer erglänzen, wirksamer miteinander
zusammenhängen. Dieselben Personen welche wir hier
auf erhöhter Bühne und unter scharfer Beleuchtung
betrachten, hat uns ein breites, behagliches Vorspiel
innerhalb des alltäglichen Treibens gezeigt und uns
aufs innigste mit ihnen vertraut gemacht. Wenn uns
im Leben gutgelaunte Menschen willkommen sind,
warum sollten sie es nicht im Romane sein? Wie
herzlich lacht der brave Jos^, als sein Danielsinho sich
die Deklination des lateinischen qui laut einlernt ! Wie
köstlich necken sich die beiden alten Freunde, der
— 185 —
würdige, geistig kerngesunde, aller Frömmelei abholde
Pfarrer und der achtzigjährige, unverwüstliche Arzt!
Wie fliessen dem Letzteren die Anekdoten, vornehmlich
Mönchsanekdoten, vom Munde, die nie ihre Wirkung
verfehlen, wenn sie auch hie und da mit dem Salze
Boccaccios oder Lafontaines gewürzt sind , wie ernst
faltet sich sein Gesicht, sobald die Wirklichkeit sich
nur von weitem dieser Gattung nähert! In die beste
Stimmung aber wird der Leser durch eine Familie
versetzt die meistens selbst einer etwas verdriesslichen
Stimmung unterworfen ist, die Familie des Krämers.
Sie bildet den Mittelpunkt einer Episode deren Um-
risse hier mit ein paar dicken Strichen wiedergegeben
seien, während der Hauptreiz in der zarten Schattierung
liegt. Der alte Jose hat dem Krämer von den Doktor-
thesen Daniels erzählt: es gebe keine Schmerzen, ein
Mensch sei nichts Anderes als ein Affe, die Leute
müssten eigentlich mit den Händen auf der Erde gehen,
die Nahrungsmittel seien Gift. Infolge dessen hat
der Krämer eine Abneigung gegen Daniel gefasst, die
sich bei dessen erstem Besuche deutlich genug zu
erkennen gibt. Doch beruhigt er sich, als Daniel die
Existenz der Schmerzen einräumt und die Auseinander-
setzung der eigenen geduldig anhört ; wie ihm derselbe
aber Arsenikpräparate verordnet, steigt sein Unwillen
wieder aufs höchste. Seine rundliche Gattin kommt
hinzu und sagt ihm mit flötender Stimme: „Nimm
Arsenik, Schatz, nimm Arsenik. Warum willst du nur
keinen Arsenik nehmen?" und mit diesem Worte wird
der unglückliche Mann von nun an bei jeder Gelegen-
heit geängstigt. Krankheitsgeschichte der Frau Thereza;
darauf Vorstellung bei dem Hauptpatienten, bei Fräulein
— 186 -
Francisca. Diese leidet an nervösen Anföllen, sodann
empfindet sie den zehrendsten Kummer über ihre allzu
dunkle Gesichtsfarbe; Alles in Allem genommen aber
fehlt ihr nichts — als ein Mann. Das beste Mittel
gegen sothane Krankheit scheint der Arzt selbst zu
sein, wie zunächst von der scharfsinnigen Mutter fest-
gestellt wird. Allein ausnahmsweise ist es nicht die
Kranke welche das Mittel nicht nehmen will, sondern
es ist das Mittel welches nicht genommen sein will,
obwohl es sich ohne jede Schwierigkeit bis an die Lippen
bringen lässt. Endlich scheint es den Eltern dass man
den Courmacher fangen könne, und zwar in einem von
ihm selbst nicht übel gesponnenen Netze, nämlich einem
sechsstrophigen Liebesgedicht. Die Sünden der Kinder
werden an den Vätern heimgesucht. Der Krämer
zwingt Daniels Vater, dem das Lesen überhaupt sehr
sauer wird, die ach tund vier zig blühenden und glühen-
den Verse des Sohnes herunterzuskandieren, ohne ihm
einen einzigen zu schenken. Allein er erzielt damit
nicht den gehofften Erfolg ; diese zarte Huldigung kann
nicht schwerer ins Gewicht fallen als verschiedene
plumpere welche die schwarzbraune Francisca früher
von andern Seiten entgegengenommen hat.
Von der Beschaffenheit des Ernsten und des Hei-
teren in unserem Romane vermögen wohl auch solche
kurze Winke ein annäherndes Bild zu erzeugen, weniger
von der trefflichen Art wie beide ins Gleichgewicht
gesetzt und stellenweise miteinander gemischt sind.
Ein ähnliches Wohlverhältniss nimmt man zwischen
den Personen wahr, welche auf einem eng begrenzten
Baum, dem sie alle durch natürliche Bande angehören,
sich weder drängen noch verdecken, sondern bei mancher
— 187 —
Äebnlichkeit sich künstlerisch wahr voneinander ab-
heben. Aus der Verschiedenheit dieser Charaktere
und nicht aus äusserlichen Quellen fliesst ganz natur-
gemäss die gesammte Handlung mit immer beschleu-
nigterem Falle und wird, damit nach alterthümlicher
Sitte das Drama auch des Chores nicht ermangle, von
dem schmutzigen Dorfklatsch umplätschert.
Die „Mündel des Pfarrers" nennen sich eine Dorf-
geschichte. Es ist dabei zu erinnern dass es in den
südlichen Ländern keinen Ausdruck gibt welcher so
als Münze im umlaufe wäre wie das deutsche „Dorf-
geschichte". Und das hat seinen guten Grund. Wenn
mich meine etwas beschränkte Kenntniss deutscher
Dorfgeschichten nicht irrefuhrt, so pflegt hier auf dem
schmalen Plan örtlicher Eigenthümlichkeit sich eine
Welt aufzubauen welche schon den städtischen Nach-
bar, wie viel mehr nicht den Ausländer gar fremdartig
berührt und welche allzu oft mit dumpfer Stubenluft
statt mit frischer Wald- und Wiesenluft angefüllt ist.
Den Pfaden der Naturmenschen bequemen wir uns wohl
zu folgen, mögen sie durch Vorurtheile noch so eng
und krumm gezogen sein; wo aber Trotz und Härte
wie unbegreifliche und unbezwingliche Naturgewalten
uns vorgeführt werden, da treten wir gern beiseite.
Manche Erzähler lieben es die dämonisch-elementaren
Züge des Volkes in einer Weise hervorzuheben und
zu übertreiben dass wir uns unter jene übermensch-
lichen Nebelgestalten der germanischen Sage entrückt
wähnen welche heutzutage mit besonderer Zudringlich-
keit sich um unsere Gunst bewerben. Die südlichen
chronicus das aldeias, cuentos campesinos , racconti
viUarecci und welche Namen sie immer führen mögen,
- 188 —
lassen die einfachsten und gleichförmigsten Verhält-
nisse, wie sie eben das Landleben bietet, den Menschen
bedingen und entwickeln. Das örtlich Besondere dient
nur als Staffage, die allerdings oft mit solcher Sorg-
falt erweitert und ausgemalt wird dass die Erzählung
sich in eine Kulturschilderung verwandelt und das
eigentlich dichterische Interesse verloren geht. Treibt
und durchdringt jenes Besondere je einmal die Hand-
lung, dann liegt es sicherlich in einer so hohen Sphäre
dass es jedem Verständniss erreichbar bleibt. Ich ver-
weise auf das oft benützte Motiv der korsischen Blut-
rache. Dem Gemälde nun welches Julio Diniz entrollt,
fehlt es an jeder ausgesprochenen Lokalfarbe, dafar
sättigen es die Farben des Lebens ; es ist uns Fremden
dicht vor Augen gestellt, ohne deshalb den Augen der
Portugiesen nur um einen Zoll ferner gerückt zu sein.
Nicht ganz darf man das dem Darsteller zum Ver-
dienste anrechnen ; das Dargestellte ist ihm entgegen-
gekommen. In jenen Strichen wo der Oelbaum sich
zur Rebe gesellt, nimmt die Natürlichkeit des Menschen
zu, das heisst jene welche nicht sowohl einen Mangel
der Gesittung als eine letzte Wirkung derselben be-
deutet; daher sich der Nordländer weit leichter in
dem Wesen des Südländers zurechtfindet als umgekehrt.
Unter andern Gegensätzen ist dort auch der zwischen
Stadt und Dorf, zwischen Bürger und Bauer gemildert.
Hieraus geht hervor dass eine südliche Dorfgeschichte
nie den ausschliesslichen Charakter besitzen wird wel-
chen die nordischen besitzen.
Es handelt also diese Dorfgeschichte von den all-
gemeinsten Menschlichkeiten, von Dingen wie sie immer
und überall geschehen sind. Wir vermissen in ihr jede
— 189 -
moderne Tendenz. Ehe Daniel zurückkehrt, hofft man,
er werde von der Universität etwas Zeitgeist und Welt-
verbesserungspläne mitbringen, um sein Dorf aufzu-
frischen; aber was thut er dann in Wirklichkeit? Er
verdreht den Schönen des Dorfes die Köpfe. Nicht
einmal Bücher scheint er mitgebracht zu haben, sonst
Hesse sich seine fürchterliche Langeweile welche so
ergötzlich geschildert wird, schwer erklären. Nun,
alle jene alten, alltäglichen Dinge vernehmen wir doch
nicht ungern. Es erfüllt uns wohl mit Stolz auf ein-
samen, steilen Pfaden zu wandeln; aber zuweilen ist
es uns recht angenehm mitten in dem dichten Haufen
zu stecken, uns mit Millionen einfacher Menschen,
auch der fernsten Zeiten und Länder, in üeberein-
stimmung zu wissen. Wir sind durchaus damit ein-
verstanden dass die Welt fortschreitet, aber zuweilen
wirkt die Einbildung, sie stehe fest, ungemein be-
ruhigend auf uns. Wenn in einer lauen Sommernacht
zahllose Sterne niederfunkeln, und ein frommer Aber-
glaube uns in ihnen theilnehmende Freunde erblicken
lässt, wenn die Erde uns von der Sohle aufwärts mit
zauberischer Kraft durchströmt, und wir Galilei ent-
gegenrufen: „Nein, sie bewegt sich nicht!", wenn
Grillengezirp, Saitenklang, freundliches Flüstern sich
mischen. Alles um uns her in silbernem Dufte schwimmt,
und uns die Gerüche der Orangen und des Jasmins
berauschen, dann stehen wir im Mittelpunkte der Welt,
dann hegen wir ein sicheres Vollgefühl des Lebens,
das wir von dem lauten Geräusche des öffentlichen
Platzes ebenso wie von der Einsamkeit der Studierstube
umsonst erwarten. Und der Freude einer solchen
Sommernacht kommt die Erquickung zunächst die wir
— 190 —
ans einem Boche wie daa Ton Jolio Diniz ist, schöpfen.
Wer jedoch jenem meiner Freunde gleicht dem der
Prolog zom „Fanst^ deshalb Terleidet ist weil da der
Sonne ein ganz unkopernikanisches Benehmen znge-
mnthet wird, der lasse das Bach nngelesen.
XL
Lorenzo Stecchetti.
Dem Bierwirth Otto Hoflfmeister
Zu Bologna, Via Farini 1046,
Damit, wenn ich Tresette spiele,
Er, minder idealistisch,
Mir Bier, nicht Schaum einschenke.
Diese Worte haben mich in ein Labyrinth gelockt
das ich nicht ungern durchirre. Gedruckt finden sie
sich auf der ersten Seite eines italienischen, Folemica*)
betitelten Heftchens; es folgen ihnen ein Dutzend
Gedichte welche die poetischen Grundsätze Lorenzo
Stecchettis bekennen, erläutern und verfechten und
welche in einer Schlussbemerkung als ,,telum imbeUe
zwischen dem Idealen und der Wahrheit" bezeichnet
werden. Die Polemica stammt aus dem verführerischen
Geschlechte der Elzevire. Aeltere , achtungswerthe
Personen behaupten dass die Elzevire seit den Zeiten
da Thomas von Kempen zu den ihren zählte, sehr
sittenlos geworden seien ; besorgte Mütter ahnen unter
der gelben, rothausgeschmückten Toilette die freiesten
Manieren und die gefährlichsten Neigungen; philo-
logisch gebildete Kritiker erinnern dabei an die glück-
licherweise verloren gegangenen Bücher der Elephantis.
Aber diese Elzevire sehen so sauber und pikant aus
^) Polemica. Versi di Lorenzo Stecchetti. Bologna IS 78,
— 192 —
dass Jeder der nicht durch andere Verpflichtungen
gebunden ist, sich schon von weitem in sie verliebt
und ihre nähere Bekanntschaft anstrebt. Nun hat die
schmächtige Polemica eine weit stattlichere Schwester,
Namens Postuma*), und da Beide, was zu allgemeiner
Nachahmung empfohlen werden muss, ihre genauen
Taufzeugnisse auf dem Rücken tragen, so wissen vrir
dass Postuma in der That die Aeltere ist. Allein dass
sie das ist, wird durch einen anderen umstand räthsel-
haft. Es erfreut sich allem Anschein nach der Vater
der Polemica einer blühenden Gesundheit, der Vater
der Postuma aber, der doch dieselbe Person ist, lag
im Grabe, als seine Tochter das Licht der Welt er-
blickte. Schon ihr Name besagt das deutlich genug;
deutlicher noch der Nekrolog mit welchem sie durch
den Doktor Olindo Guerrini, den Vetter des Dichters,
ausgestattet ist. In schlichten und ergreifenden Wor-
ten wird Stecchettis Lebenslauf, die lange Krankheit
seines Körpers und seiner Seele, seine herzzerreissende
Agonie geschildert. Dieses Leben spiegeln die Lieder
ab welche auf fliegenden Blättern zerstreut waren, und
welche der Freund mit treuer Sorgfalt gesammelt hat.
Wir sehen den Dichter zuerst in der Vollkraft der
Jugend, umstrahlt von der beglückenden Glorie der
ersten Liebe; es folgt epikuräisch-heiterer Lebens-
genuss , welcher allmählich in bacchantisch- wilden
Taumel ausartet; üeberdruss und Weltschmerz stellen
sich ein; immer bitterer und verzweifelter wird die
Stimmung, endlich weht uns der eisige Hauch des
Grabes an. Tief rührt der Anblick des jungen Baumes
*) Postuma. Canzoniere di Lorenzo Stecchetti (Mef'cmtio),
edito a cura degli amici, Qiuirta edizione. Bologna 1878,
- 193 -
dessen Wurzeln in fruchtbarem Erdreiche ruhen, aber
dessen Mark verfault, dessen Kinde von Flechten und
Würmern zerfressen ist, und der doch wiederum neben
manchen gelblichen, verkommenen Blättern so wunder-
bar frische hervorgetrieben hat dass wir ausrufen:
„0 welche Blätter- und Blütbenpracht hätte er bei
ungestörtem Wachsthum entfaltet!" So schöne und
so grausam getäuschte Hoffnungen dürften auch dies-
seits der Alpen einige liebevolle Worte verdienen,
und dabei wären die Aufgaben der künftigen Stecchetti-
„philologie" anzudeuten: wer jene blonde Herzogin
war die ihm „die beiden Schlüssel" ihres Herzens ein-
händigte, wie Emma und Karoline mit ihren Familien-
namen hiessen, wie viel er seinem Freunde Hoffmeister
täglich zu verdienen gab — das viele Biertrinken hat
das Ende des armen jungen Mannes gewiss beschleu-
nigt — und ob er sein Tresette mit Aufmerksamkeit
spielte oder zuweilen vergass eine Napoletana anzu-
sagen und Spada statt Bastoni zugab. An alles das
dachte ich, als ich Stecchettis Gedichte gelesen hatte ;
doch habe ich zum Glück nicht die Gewohnheit rasch
die Hand an die Feder zu legen.
Stecchetti lebt noch. Die erste Nachricht davon
verdanke ich einem deutschen Buche welches „aus
neueren Litteraturen" manches Interessante zu erzählen
weiss; nur kommt es mir unbegreiflich vor wie sein
Verfasser den Nekrolog in der Postuma einen scherz-
haften nennen kann. Wahrlich, ebenso gut lässt sich
die derbste Ohrfeige durch die Absicht dessen der sie
austheilt, zu etwas Scherzhaftem machen. Der Dichter
erfreut sich allzusehr unserer Theilnahme als dass
wir einen Scherz der uns veranlassen soll seinen Tod
Schuchardt, Bomanisches u Keltisches. 13
— 194 —
zu beklagen, geschmackvoll fanden; ja er dürfte es
uns nicht einmal verargen wenn wir ihm den Titel
eines Idealisten, mit dem er so spöttisch um sich wirft,
eines Erzidealisten beilegten, gilt ihm doch das Ideale
als das gerade Gegentheil der Wahrheit. An und für
sich ist der Einfall sich todt zu stellen noch erträglich ;
zahlreiche Autoritäten verleihen ihm eine Art von
Rechtfertigung. Verschwender haben sich todt gestellt,
um ihren Gläubigern zu entgehen; Ehemänner, um
sich an der Trauer und der Treue ihrer Frauen zu
erbauen; Fürsten, um die Gesinnungen ihrer ünter-
thanen zu prüfen, und auch schon Dichter, um zu er-
fahren wie ihr Nachruhm ausfallen würde. Es wäre
nun sehr hübsch gewesen wenn Stecchetti, der sich
ein Gleiches erlaubte, in seinen Nekrolog irgend einen
Widerspruch versteckt hätte, einen sehr aufinerksamen
Leser stutzig zu machen, oder irgend eine Anspielung,
uns nach Erkenntniss des wahren Verhaltes ein Lächeln
zu entlocken. Wollte er das nicht thun, so hätte er
wenigstens ein Anderes unterlassen sollen. Es gibt,
wie gesagt, erdichtete Todesfälle, aber gegenüber den
wirklichen befinden sie sich in einer so verschwindenden
Minderheit dass es keines Aufwandes von Chronologie
und Pathologie bedarf um sie glaublich zu machen.
üeber diese Stecchetti'sche Angelegenheit gerieth
ich in ein rechtes Unbehagen, welches durch die ita-
lienischen Zeitungen, die Stecchetti und seine Schule
als etwas Allbekanntes voraussetzten, stets frisch er-
halten wurde. Endlich kommen mir Aufklärungen,
theils durch den Brief eines Freundes, theils durch ein
neues Buch Stecchettis *) — Aufklärungen aber die
*) Nova Polemica. Versi di Lorenzo Stecchetti. Bologna 1878,
— 195 —
mir die üoklarlieit noch vermehren. Die 14 Seiten der
Polemica sind zu den 14 X 14 Seiten der Nova Po-
lemica angeschwollen ; die Hälfte davon besteht freilich
aus Prosa, selbst die Lapidarwidmung an Otto Hoflf-
meister ist zu drei Seiten zierlicher Minuskeln aus-
einandergezogen worden. Das Verfahren welches Viele
bei jeder Lektüre einhalten, von hinten zu beginnen,
erachte ich als sehr zweckmässig für den langen pro-
saischen Prolog. Die Schlussarabeske desselben stellt
nämlich einen Kobold dar welcher die ausgespreizte
Hand an die Nase hält und die Zunge herausstreckt
— ein liebenswürdiger Gruss welcher an den „bos-
haften Leser" gerichtet ist, wie der Verfasser Sorge
trägt ausdrücklich zu bemerken. In der That hält er den
Leser zum Narren, dem daran liegen muss das mög-
lichst bald zu wissen. Stecchetti gleicht einem Knaben
der mit groben Zügen Figuren auf eine Tafel zeichnet
und durch seinen Eifer, sein Wohlgefallen, seine Aus-
rufe unsere Neugierde anstachelt; treten wir dann heran
und blicken ihm über die Schulter, so fahrt sein Stift
mit trotziger Hast hin und her, um alle Umrisse zu
verwirren und zu verwischen. Nachdem Stecchetti
hier zuerst wie in seinen Gedichten sein Müthchen an
den Idealisten gekühlt hat, theilt er uns plötzlich mit
dass er gegen den Idealismus als solchen nichts ein-
zuwenden habe, sondern nur gegen seine Tyrannei;
derselbe möge sich mit dem Eealismus in die Ober-
herrlichkeit tbeilen. Zwanzig Seiten weiter gesteht
er ein, Eealismus und Idealismus seien nur Worte;
der Streit welcher in der Litteratur herrsche, verdiene
den Titel: „Viel Lärm um nichts". Die Ai:gumente
die er selbst für die „neue" Schule vorgebracht habe,
13*
— 196 —
seien ein Kartenhaus das ein Hauch umwerfe ; in voller
üeberzeugung von der Nichtigkeit der beiden Heer-
lager habe er gegen die vermeintlichen Idealisten ein
Buch geschrieben, wie Don Quijote gegen die Wind-
mühlen gerannt sei (von deren Nichtigkeit er nicht
überzeugt war). Indessen gelingt es ihm nicht das
Ideale mit einem Mal abzuthun; so oft er es ver-
nichtet zu haben glaubt, ebenso oft taucht es wie ein
Gewissensbiss wieder vor ihm auf. Er meint endlich,
Niemand habe das Ideale gesehen, Niemand es gefühlt.
Niemand wisse wo es sei, das heisst mit anderen Wor-
ten, das Ideale sei nicht real, ein Satz welchen meines
Erinnerns noch Niemand bestritten hat. Die Einfach-
heit und Sicherheit mit welcher Stecchetti hier das
Ideale aus der ästhetischen Betrachtung eliminiert, gibt
derjenigen nichts nach mit welcher jenes Bauern-
mädchen der Operette die Existenzberechtigung der
Dinge von denen man ihr spricht, durch die Frage
prüft: „Kann man es essen?" Stecchettis letzte Worte
vor dem erwähnten Abschiedsgruss an den Leser sind
folgende: „Es mag die Kevolution das Mass über-
schreiten, aber das thut auch die Reaktion, und Reak-
tion und Revolution sind nur die Thesis und die Anti-
thesis aus denen glorreich und triumphierend die Syn-
thesis hervorgehen wird." Also die beiden feindseligen
Richtungen deren thatsächliches Bestehen erst geleugnet
wurde, sie bestehen doch? Und die Aufhebung des
Gegensatzes soll durch seine Verschärfung angebahnt
werden? Kurz, so viel Glückliches und Geistreiches
der Prolog auch im Einzelnen enthalten mag, im
Ganzen ist er nichts als Unklarheit, Widerspruch und
Wiederholung. Da nun aber der Dichter Stecchetti zu
— 197 -
nachdiücklich auf den Theoretiker Stecchetti hinweist
als dass wir ganz über den Letzteren hinwegblicken
könnten, so bleibt mir nichts Anderes übrig als dessen
Faden da zu durchschneiden wo er in heilloser Weise
sich yerfilzt, und meinen eigenen Faden da anzuknüpfen.
Zuvörderst bemerke ich dass ich als den Gegensatz
zum Idealen nur das Wirkliche oder Beale bezeichne;
Stecchetti setzt, nach dem Vorgang anderer Italiener,
„wahr" und „wirklich" als gleichbedeutend und sagt
sogar weit häufiger verismo als realismo, vermuthlich
weil jenes Wort um einen Buchstaben kurzer ist und
weil es viel selbstbewusster und siegreicher ausschaut
als das andere. Erleichtert habe ich mir die Sache
hiemit nicht; denn die Frage: „Was ist Wirklichkeit?"
bereitet mir keine geringere Verlegenheit als dem
Pilatus die Frage: „Was ist Wahrheit?" Es ist
natürlich dass ich mich vor Allem an Stecchetti um
Auskunft wende. Stecchetti vergleicht in den Wid-
mungsworten an Hoffmeister das Reale mit dem tropf-
bar flüssigen Bier, das Ideale mit dem darauf lagernden
Schaum den man wegbläst. Obwohl es nun für uns
Oestreicher sehr schmeichelhaft ist dass unser gold-
gelbes Nass — Hoffmeister schenkt Wiener Bier —
hitziges Bomagnolenblut kühlt und besänftigt und so
eine gewisse Blutsverwandtschaft zwischen Nord- und
Südalpinern herstellt, und dass es zu einem Gleichniss
von solcher Bedeutung verwendet worden ist, so sähe
ich es doch lieber wenn Stecchettis bevorzugtes Getränke
schäumender Asti wäre, bloss um ihn zu fragen ob
der Schaum dessen Dünste berauschend in der Nase
prickeln, weniger wirklich ist als die hinabgeschlürfte
Flüssigkeit? Oder ist der Duft den die Rose aus-
— 198 —
haucht, weniger wirklich als die Kose selbst? das
erste Lächeln das ein Mädchen dem Geliebten spendet,
weniger wirklich als ihre letzte Gunst? In unserer
Genussfähigkeit liegt aller Unterschied : unsere Organe
sind bald feiner, bald gröber. Je weiter wir über den
engen Kreis der Freuden hinausdringen die Allen
gemein sind, und auf deren Darstellung die meisten
der sogenannten realistischen Dichter mit besonderem
Behagen verweilen, je mannigfachere Wirklichkeiten
wir in Quellen unseres Ergötzens umzuwandeln ver-
stehen, um so grösseres Anrecht erwerben wir uns
auf den Namen von Realisten. Einer der in diesem
Sinne mehr Eealist war als irgendwer, hat gesagt:
„Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben." Aber
erst wenn wir die Begriffe des Realen und des Idealen
aus der Sphäre des Empfindens in die des Schaffens,
aus dem Leben in die Kunst übertragen, erst dann
beginnt die eigentliche Schwierigkeit. Selbst dem
kampfgeübtesten Aesthetiker gelingt es kaum den
Realismus mit festem Griffe zu packen; bald wächst
er ihm über den Kopf, bald söhlüpft er ihm zwischen
den Armen hindurch. Es rührt dies daher dass es
sich hier nicht um Absolutes, sondern um Relatives
handelt. Innerhalb der Kunst kommt das Reale und
das Ideale nur in unlöslicher Mischung vor, aber diese
Mischung stuft sich in unendlichen Graden ab. Streng
genommen dürfen wir nur sagen: „Der eine Künstler,
der eine Dichter ist realistischer, idealistischer als der
andere"; der Gebrauch des Positivs ist unberechtigt.
Die Dinge, in ihrer Gesammtheit betrachtet, weisen
keine Gegensätze auf; die Welt ist eine volle, runde
Einheit ; da diese aber zu gross ist um ganz in unser
- 199 -
Gehirn zu gehen, so schlagen wir kleine Stückchen
davon ab, deren unvermitteltes Zusammenstossen das
bildet was wir Gegensätze nennen. Als Mittel des
Erkennens und des Lehrens haben wir die Gegensätze
nöthig ; wir müssen aber immer ihrer eigentlichen Be-
deutung uns bewusst bleiben und uns ihrer mit Vor-
sicht und Einschränkung bedienen. Besonders gilt dies
von den ästhetischen Kategorien, von dem Subjektiven
und Objektiven, die sich mit verwünschter Zudring-
lichkeit in jede gebildete Unterhaltung mischen, von
dem Klassischen und Bomantischen, von dem Idealisti-
schen und Bealistischen. Dass die Neigung derartige
Gegensätze aufs schärfste zu fassen und ihnen die
allgemeinste Anwendung zu geben, heutzutage gerade
bei den Italienern hervortritt, könnte bei deren mehr
künstlerisch als philosophisch angelegten Natur be-
fremden; indessen haben wir hier kleine Nachwehen
jenes kriegerischen Geistes zu erblicken der von Alters
her nicht nur in ihrer Politik, sondern auch in ihrer
Litteratur gelodert hat. Wer nicht Guelfe, ist Ghibel-
line; wer nicht Klassiker, ist Bomantiker; wer nicht
Idealist, ist Eealist. Die ganze Weltlitteratur wird
von ü. Canello in seinen gedankenreichen „Versuchen
litterarischer Kritik" zwischen Klassikern und Boman-
tikern getheilt; von B. Banieri in einem Aufsatz der
diesjährigen Rivista Europea zwischen Bealisten und
Idealisten. Da Banieri den Dante zu den Bealisten
zählt, so brauche ich nicht zu sagen durch welches
Gebiet ihm die sonnige Hochstrasse der Dichtung läuft ;
den Idealisten Leopardi betrachtet er als eine Aus-
nahme. Wollen wir durchaus ohne Weiteres von
Bealismus und Idealismus reden, so werden wir lieber
- 200 ~
mit Schiller die Abirrungen von der rechten Mitte der
Kunst darunter verstehen. Stecchetti mit den Seinigen
würde dann nicht in das Centrum, sondern auf die
äasserste Linke des Parnasses kommen, wenigstens
wenn wir uns an sein eigenes Bekenntniss halten.
Aber der Teufel ist nicht so hässlich wie man ihn
malt, und die Realisten sind nicht so realistisch wie
sie sich selbst malen. Ohne dass sie es ahnen, wohnt
der Feind den sie herausfordern und verspotten, unter
ihnen, und zwar in einer doppelten Gestalt. Ihnen
zufolge soll alles Keale dargestellt werden, also auch
das was die Anderen verpönen, das AUerrealste , um
es mit einem Worte zu sagen; in der Praxis aber
wird Letzteres vorzugsweise oder' ausschliesslich dar-
gestellt, und für diese Beschränkung entschädigen sie
sich durch seine Vergötterung, seine Idealisierung.
Das Sinnliche wird zum Unwirklichen; Wollust und
Elend erheben sich himmelhoch über die ruhigen und
heiteren Gefilde des Daseins; die festen Säulen der
Welt beginnen zu tanzen und in unendliche Perspek-
tiven zurückzuweichen ; das ganze Leben zerfliesst in
einen wonnig-beängstigenden Haschischtraum. Man
hat mit Recht von einem umgekehrten, einem nega-
tiven Idealismus gesprochen der sich bei den meisten
Realisten in höherem oder niedrigerem Grade findet.
Noch unverkennbarer liegt ein Zweites am Tage ; auch
die eingefieischtesten Realisten lassen sich ganz ideali-
stische Gedichte zu Schulden kommen. Je lebhafter
sie jetzt das AUerrealste anzieht, um so lebhafter stösst
es sie jetzt ab; üebersättigung und ünbefriedigtheit
— Kunst und Leben decken sich ja bei den Realisten —
treiben sie zeitweilig dem Idealismus zu. Sie haben
— 201 —
die beiden Seelen Fausts, wie sehr sie sich auch be-
mühen die eine zu verleugnen; der Widerspruch ist
geradezu der Stempel ihrer Dichtung, und er stammt
nicht, wie sie behaupten, von draussen, er stammt aus
ihrer eigenen Brust. In keinem Dichter ist diese zwie-
spältige Natur stärker ausgeprägt als in Heinrich Heine;
Idealismus und Bealismus, Sentimentalität und Ironie
haben bei ihm nicht immer ihre getrennten Ergüsse,
sie strömen auch unmittelbar nebeneinander, ohne sich
zu vermischen, wie die eiskalten, braunen Fluthen der
Arve und die laueren, azurnen der Rhone im Anfang
ihrer Vereinigung. Der Name Heines ist hier recht
um Platze. Stecchetti sagt, seine Dreieinigkeit seien
Byron, Musset, Heine ; den Einfluss des Ersten verspürt
man in Stecchettis Liedern am wenigsten, den des
Dritten am meisten, üeberhaupt zählt Heine in Italien
mehr Bewunderer, üebersetzer und Nachahmer als
irgend ein anderer deutscher Dichter ; uns aber, wenn
ich recht bin, spricht mehr das idealistische Element
in ihm an. Jene mehr das realistische. Es wird Man-
chen vielleicht Wunder nehmen dass Ranieri ihn als
Muster eines „gesunden" Realismus hinstellt; Heine
ist eben beim üeberschreiten der Alpen grösser und
grossartiger geworden. Was nun den Realisten Stec-
chetti anlangt, so ist der Widerspruch das was zuerst
an ihm auflällt. Er findet sich sogar in seinen Devisen
und Proklamationen. Bier, nicht Schaum, verlangt er ;
seinen Kritikern welche in seinen Sonetten die un-
schuldigen, girrenden Turteltauben zu finden wünschen,
antwortet er dass ihm dieselben nur gebraten behagen
— wobei wir des anekdotenhaft ausgenützten ümstandes
gedenken dass die Italiener die Singvögel lieber essen
— 202 -
als hören. Aber in einem an die Krämer gerichteten
Sonett fragt er: „Warum sollen wir den Pfeffer und
die Kartoffeln den Rosen vorziehen?" Ganz so hatte
Theophile Gautier ausgemfen : „Besser keine Kartoffeln
als keine Bösen!" Und so kommen auch in den nicht
polemischen Liedern die vollständig entgegengesetzten
Stimmungen und Ansichten zum Ausdrucke. Bald ist
der Dichter lebenslustig und hoffnungsvoll, und bald
lebensüberdrüssig und hoffnungslos; bald leugnet oder
lästert er Gott, und bald richtet er ein rührendes
Abendgebet an ihn; bald scheint er nichts Höheres
zu kennen als die Sinnenlust, und bald verachtet und
verdammt er sie ; jetzt zeigt er sich ganz gleichgültig
Ob eines Engels oder Teufels Herz
Im weissen Busen du, mein Mädchen, trägst,
und jetzt gesteht er.
Ein Herz verlangte ich
In deinem weissen Busen;
jetzt „neidet er dem derben Ba,uer den Eücken und
die Unschuld nicht", und jetzt wiederum „neidet sein
rebellisch Herz dem Bauer die derben Muskeln, das
gesunde Blut und die Unwissenheit". Und so weiter.
Die Hauptsache aber ist dass Stecchetti, wie andere
Realisten, Gedichte gemacht hat die jedem echten und
rechten Idealisten auf Rechnung gesetzt werden könn-
ten. Und unter diesen gerade scheint mir das Beste
sich zu finden was ihm gelungen ist. Dürfte vielleicht
der Leser dir, scrittor maligno, den freundlichen Gruss
zurückschicken den du ihm am Schlüsse deines Prologes
spendest?
Allein die ganze Bosheit dieses boshaften Schrift-
stellers habe ich noch nicht enthüllt. Nachdem ich
— 203 —
in Erfahrung gebracht hatte dass Stecchetti nicht todt
ist, ward mir erst der wahre Grund davon bekannt.
Stecchetti hatte gar nicht gelebt. Mein Freund den
ich um Auskunft angegangen war, schreibt mir: „Dr.
Olindo Guemni, Vicebibliothekar zu Bologna, der ver-
meintliche Vetter Stecchettis, ist der Dichter selbst.
Durch einen Irrthum hatte sich das Gerücht seines
Todes verbreitet, und dasselbe benützte er scherzhafter-
weise um seine Postuma zu veröffentlichen. (Ich bitte
Herrn Guerrini um Entschuldigung wenn ich gegen
Herrn Stecchetti etwas zu heftig gewesen bin, und
erlaube mir die Frage ob er Joseph Delorme, die In-
karnation Sainte-Beuves, zum Vorbild genommen hat.)
Das Leben Guerrinis ist eben so keusch wie seine
Verse das Gegen theil (meine tiefste Verbeugung, Bot-
torel). Er ist Familienvater und hat zwei Kleine, die
er anbetet; sein grösstes Vergnügen besteht darin sie
zur Platzmusik zu führen." Damit stimmen denn nun
verschiedene Stellen in dem Prolog der Nova Folemica
durchaus überein. Sein Frauenideal, sagt Stecchetti,
trage ein Kleid das 4,50 ä Meter koste ; sein Kinder-
ideal seien zwei Kinder die ihn an den Haaren zupfen,
wenn er sie auf die Arme nehme. Und nun verstehe
ich auch das Anfangssonett der Folemica^ in welchem
er sein glückliches Familienleben andeutet, und welches
mir in der Gesellschaft der anderen Gedichte wie verirrt
erschien. Mit Kecht also bezieht er die Verse CatuUs
auf sich:
Nam castum esse decet pium poetam
Ipsunif versiculos nihil necesse est
Den Moralisten erfüllt es mit der höchsten Be-
friedigung dass im vorliegenden Falle das Leben die
- 204 -
Dichtung Lügen straft; aber der Aesthetiker ist ver-
blüfft darüber dass die Dichtung das Leben Lügen
straft. Stecchetti oder vielmehr Guerrini vertheidigt
sich deshalb. Man habe Unrecht überall da Auto-
biographie zu sehen wo ein Dichter in seiner eigenen
Person spreche, wie Petron im „Satirikon", Apulej in
den „Metamorphosen", Goethe im „Werther". In-
dessen statt Dichtungen anzuführen die in ihrem Cha-
rakter von den seinigen so verschieden sind, hätte
er Beispiele aus der Lyrik wählen sollen. Von den
Aesthetikern ganz zu schweigen, die Dichter selbst
wollen ihre Lieder als Gelegenheitsgedichte betrachtet
wissen ; sie behaupten, sie mit ihrem eigenen Herzblut
geschrieben zu haben. Und der Kealist Stecchetti möge
sich daran erinnern in welchem Sinne die Lyrik Goethes
als streng realistische gilt. Allerdings kann sich das
Lyrische dem Dramatischen nähern, und der Dichter
— auch Goethe hat das gethau — sich ganz in eine
andere Persönlichkeit hineinempfinden, nur liegt ihm
dann ob dies ausdrücklich kundzuthun. Eine Annahme
stellt sich nun ganz von selbst ein. Der Dichter hat
zwischen sich und die Lieder der Postuma die Person
des Lorenzo Stecchetti (Mercutio mit seinem nom de
plume) schieben wollen, dessen Lebensabriss somit
einem bestimmten Zwecke dienen würde. Wenn das
in der That die Absicht Guerrinis gewesen ist — und
er gibt dergleichen im Prologe zu verstehen, aber nicht
deutlich genug — so widerrufe ich einen Theil der
oben gethanen Aeusserungen ; immerhin durfte dann der
falsche Name nicht für die Polemica beibehalten wer-
den, in der uns der Dichter auch sein wahres Gesicht
zeigt. Doch dieser Punkt braucht nicht betont zu
- 205 -
werden, da Guerrini bestreitet dass zwischen dem
Leben eines Dichters und seinen Schöpfungen ein er-
kennbarer Zusammenhang nothwendig sei, und da so
viele nachweisbare Täuschungen die von Dichtem mit
oder ohne Wissen begangen sind, ihm Eecht zu geben
scheinen. Nicht bloss dass wir zärtliche Gefühle von
den bärbeissigsten und unliebenswürdigsten Gesellen
mit Meisterschaft dargestellt sehen und heldenmüthige
Gesinnungen von Solchen die wenig persönlichen Muth
besessen haben, auch Thatsachen, Namen, Zeiten die
wir nach der Art ihrer Mittheilung als wirkliche zu
betrachten Grund hätten, wurzeln oft nur in der Phan-
tasie, der Zerstreutheit, der Reimnoth der Dichter.
Besonders wenn dieselben von ihren Geliebten reden,
verlieren sie, was ganz in der Ordnung ist, meistens
den Kopf so sehr dass wir von ihnen keine zuver-
lässigen biographischen Notizen erwarten können. In
ihrem Eifer besondere Ergebnisse zu gewinnen, unter-
lässt es die Wissenschaft allzu oft den allgemeinen
Charakter des Operationsfeldes ins Auge zu fassen,
und so wimmelt die Geschichte der älteren Dichter
von Irrthümern welche ungemein viel Scharfsinn und
Gelehrsamkeit gekostet haben. Um so mehr, wird man
vielleicht sagen, müssen wir danach trachten das Leben
der Dichter aus untrüglichen Quellen kennen zu lernen,
und das ist ja nirgends leichter als bei den lebenden
Dichtern. Allein soll hier nicht der Wissenschafts-
drang, der historische Sinn eine kleine Einschränkung
durch menschliche Rücksichten erfahren? Lassen wir
die Lebenden ruhen, unter dem Vorbehalt die Ruhe
der Todten zu stören ; ist es jetzt ein Verbrechen fest-
verschlossene Schubladen aufzusprengen, dereinst wird
— 206 —
€8 zur Pflicht. So würde ich sehr gern der Muse
Stecchettis — bleiben wir bei dem einmal vertrauten
Namen — dieselben Worte zugerufen haben die er
an seine Geliebte richtet:
Was dieses Haar bedeckt das meinen Küssen
Du darbeutst, das verlang' ich nicht zu wissen,
Noch ob der Busen der an meinem schlägt.
Den Himmel, ob die Hölle in sich trägt.
Was liegt mir dran, entschlüpfte deinem Munde-
Etwa ein Meineid mitten zwischen Schwüren?
Was liegt mir dran die Freuden jener Stunde
Die du mir schenktest, kritisch zu secieren?
Nicht will ich untersuchen ob im Weine
Den du kredenztest, Droguen sich befunden;
Dein Wein war gut; er konnte mir nur munden.
So ungefähr würde ich Stecchettis Muse begrüsst
haben, hätte nicht er selbst die Aufmerksamkeit auf
sein Leben und seine Theorie gezogen. Ist es meine
Schuld wenn ich mir die Hand an dem dichten Dorn-
gestrüpp blutig gerissen habe hinter welchem die gol-
denen, saftigen Früchte versteckt liegen? Doch nein,
dies botanische Gleichniss ist zu zahm für Stecchettis
Verse; sagen wir lieber, seine Prosa gleicht einer
aufgewirbelten Staubwolke hinter welcher seine Verse,
jugendliches Feuer in Waflfenglanz , heransprengen.
Mögen sie auch vorgeben einen Kreuzzug gegen die
Gläubigen und Züchtigen zu führen, mögen sie sich
als eine Söldnerscbaar im Dienste grauer Theorien
darstellen, sie kämpfen doch nur für ihren eigenen
Ruhm, und nur ihnen selbst erkennen wir den Sieg
zu Sie nehmen uns im Sturme gefangen; die
ruhige Nachprüfung lässt hie und da kleine Makel
— 207 —
entdecken, in den Gedanken ünfolgerichtigkeiten, im
Ausdrucke Unklarheiten und Wiederholungen, yobei
ich von denjenigen Wiederholungen natürlich absehe
die als künstlerisches Mittel beabsichtigt und will-
kommen sind. Stecchettis Eigenartigkeit lässt sich
nicht in Frage stellen und wird schon äusserlich durch
die zahlreichen Schüler bestätigt die sich um ihn ge-
sammelt haben; das schliesst jedoch nicht aus dass
sich manche Anklänge an fremde wie an einheimische
Dichter bei ihm finden, und unter den Letzteren ist
es besonders sein Mitbürger Carducci mit dem er nahe
Verwandtschaft zeigt. Er selbst erkennt Carducci als
seinen Feldherrn an, erweckt ihn mit glühendem
Schlachtgesang aus dem Schlafe: „Dein Banner weht
im Wind, um dasselbe sind die jungen Krieger ge-
schaart; du aber, unser Führer, unsere Stärke, schläfst."
Noch mehr Zornesmuth bricht in dem Gedichte Justitia
hervor, welches der Wjera Sassulitsch gewidmet ist;
die letzten Worte: „Ihr Memmen, an die Laterne!"
genügen eine heftige Bekrudescenz des internationalen
Angstfiebers das uns alle ergriffen hat, zu bewirken.
Stecchetti seinerseits gehört zu jenen naiven Ee-
publikanern, den direkten Nachkommen des älteren
Brutus, welche in Konvulsionen gerathen, wenn sie das
Wort „König" hören. „Als Gattin und Tochter von
Königen hasse ich dich, als Weib beklage ich dich,"
so schliesst eines seiner Gedichte. Nicht immer ge-
bärdet er sich in seinen polemischen Ergüssen so
grimmig ; meist sind es bunte, bebänderte Pfeile deren
Spitze das Gift enthält. Und selbst dieses Gift fehlt
in den reizenden Versen mit denen er sich gegen
Cavallottis ziemlich heftigen Angriff vertheidigt; es
— 208 —
musste ja der Vorkämpfer der politischen Freiheit von
dem Vorkämpfer der künstlerischen glimpflich behan-
delt werden. Aus den heiteren Satiren Stecchettis
greife ich als Musterbeispiel — auch für die Vers-
gewandtheit — den Todtengesang „An die Austern"
heraus, in welchem sich gastronomisches Wohlbehagen,
liebevolles Studium des Austernlebens und Anzüglich-
keiten gegen diejenigen welche Ihresgleichen essen,
aufs angenehmste mischen. Allerdings schwebt uns
dabei Giustis „Schnecke" vor, und auch unserem Dichter
wird sie vorgeschwebt haben, besonders stimmen die
Schlussverse des Einen: bestie costumate, bestie
vereconde, bestie religiöse zu denen des Andern: Bestia
astinente, Bestia di pace, Bestia esemplare. Dennoch
bat diesem Liede Stecchetti sein Siegel so tief und
deutlich aufgeprägt wie irgend einem. In einer ihm
eher fremden Manier, nämlich in der des Römers Belli,
ist das folgende Sonett abgefasst:
Nun seh'n Sie — sagte mir der Sakristan —
Seh'n Sie einmal sich die Planeta an,
Seide mit sammt'nen Bäuschchen eingefasst,
Ob das für einen simplen Pfarrer passt!
Was meinen Sie? Ein Geistlicher, ein Christ,
Putzt sich heraus zu Mette und Komplet,
Als war' es ein verweichlichter Poet,
Derweil der Papst in Rom Gefangener ist?
Vor'm Jahre kam hierher ein Monsignore,
Ein sehr berühmtes, hochgelehrtes Haus
(Er schreibt sogar in den Osservatore) :
Der ging wie sich's gehört! Der hatte Takt!
Der arme Herr! wie sah er schmierig aus,
Von Kopf bis zu den Füssen betabakt!
— 209 -
So harmlos pflegt Stecchetti nicht zu sein wenn
es sich um Priester und Religion handelt, uns Nordi-
schen erscheint es kaum glaublich dass in dem Lande
wo das Weltgericht in seinem furchtbaren Ernste die
erhabenste Darstellung gefunden hat, es zum Vorwurf
scherzhafter oder spottender Dichtung hat werden
können. Vielleicht ist den Lesern das Sonett welches
Belli diesem Gegenstand gewidmet hat, in der Heyse-
schen Uebersetzung erinnerlich; wie sticht gegen den
dortigen Humor derjenige ab welcher Stecchettis sieben
Liedern Dies irae innewohnt! Das Reich des Satans
— die neueste italienische Litteratur bekundet für den
Satan eine ganz besondere Vorliebe — das Reich des
Satans, von den schönsten Frauen die je gelebt haben,
bevölkert, wird als das eigentliche Reich der Herr-
lichkeit gepriesen; auf die Frage der Kirche: Ah^
renuntias Satanae et omnibus operibus ejus et omnibus
pompis ejus? gibt Stecchetti die Antwort:
Ma le pompe di Satana
Sono piü belle delle pompe vostre.
Stecchetti führt gegen die Religion nicht sowohl
die Vernunft als die Sinne ins Feld ; gegen die Fleisches-
ertödtung die Fleischeslust, gegen das üebersinnliche
das Leibhaftige, sodass seine antireligiösen Gedichte
meistens zugleich erotische sind. Ein Hochzeitssonett
endigt mit den Worten des Bräutigams an die Braut :
„Sie haben der kalten, unterwürfigen Jungfräulichkeit,
dem bezwungenen Fleisch, den ertödteten Sinnen ein
ganzes Paradies verheissen; doch du, Geliebte, nähere
dich dem Brautbett, gib dich ganz in einem Lächeln
hin, und ich werde die schlimme Verheissung Lügen
strafen." Anderswo drückt die Geliebte dem Dichter,
Schuchardt, Bomauisches u. Keltisches. 14
— 210 —
ähnlich wie dies in Heines Bergidylle geschieht, ihre
Besorgniss um seinen Glauben aus, und er erwidert
ihr: „Du bist mein Engel, du bist meine Hoffnung,
mein Glaube, sprechen wir von Liebe und nicht von
Gott." Wir dürfen uns nicht wundern dass ein
materialistisch-nihilistischer Dichter so singt, da selbst
das italienische Volkslied die Geliebte an die Stelle
Gottes setzt und vom Paradies nichts wissen will,
wenn sie nicht darinnen sei. In einem dritten Sonette
sagt der Dichter, er werde auf seinem Todtenbette den
Namen „Maria" ausrufen, und man werde glauben, er
sei bussfertig geworden; der süsse Name gelte nur
dem Andenken an die Liebe deren er sich einst erfreut
habe. Wiederum führt uns Stecchetti die hier ver-
schmähte himmlische Maria in dem Gedichte „Die
Verkündigung" vor wie sie noch unter den Irdischen
gewandelt ist in Jugend und Schönheit; berauschende
Wohlgerüche , verklingende Gesänge , geheimnissvolle
Lichter giesst er um sie aus und in sie allen Liebreiz
und auch alles Liebesverlangen. Bruna, ma hella
nennt er sie , wie einst Tasso an eine Zofe der Her-
zogin Leonore schrieb:
Briina sei tu, ma hella
Qual vergine viola.
Die sinnliche Kraft welche sich überhaupt in
Stecchettis Gedichten kundgibt, ist eine ganz ausser-
ordentliche ; wir erinnern uns dabei unwillkürlich bald
dieses, bald jenes Gemäldes. Es ist begreiflich dass
die italienischen Kritiker von dem tizianischen Kolorit
Stecchettis sprechen. Indessen wird im Grunde wenig
gewonnen wenn man, wie dies so oft geschieht, das
Dichterische in das Malerische zu übersetzen versucht ;
— ' 211 —
wir können dadurch höchstens die ähnliche Wirkung
andeuten, aber nicht, was doch das Wesentlichste ist,
die Mittel erläutern durch welche sie erzielt wird.
Bildlich lässt sich die Beschaffenheit des sprachlichen
Ausdrucks bei Stecchetti nicht darstellen, aber auch
kaum nachahmend ; denn unsere Sprache erlahmt hinter
dem kühnen und raschen Fluge der italienischen. Haupt-
sächlich erfreut sich die letztere des, wie es scheint,
aus dem Alterthume überkommenen Vorrechts vor den
nordischen Sprachen rücksichtslos ohne zugleich gemein
und niedrig zu sein; die naive Nacktheit kennt nur
der Süden. Im Ganzen bleibt es befremdlich dass die
Kritik, wenn sie die Dichtkunst in einer andern Kunst
bespiegeln will, weit seltener als an die Malerei sich
an die nah verwandte und oft zugesellte Musik wendet ;
Stimmung und Komposition eines Gedichtes, dünkt
mich, sind am ersten noch in einem Musikstück wieder-
zufinden, vom Ehythmus ganz zu schweigen. Bis zu
welchem Grade Verse musikalisch zu sein vermögen,
hat Stecchetti in einem Gedichte gezeigt von dem die
Wiener schon deshalb verpflichtet sind Kenntniss zu
nehmen weil es den Titel führt : Wiener Blut. Walzer
di Johann Strauss. Wer nie einen Walzer gehört hat
und liest diese Verse, der wird den Walzer entdecken ;
wer ihn kennt, dem werden die bacchischen, amphi-
brachyschen und sonstigen Püsse in die eigenen Püsse
fahren, Lichter und Töne werden um ihn fiittern und
schwirren, der Kopf wird ihm schwindeln, das Herz
pochen. Und bei solchem süssen Missbrauch der
alkäischen Strophe wird man es auch entschuldigen
wenn die Schritte des Dichters nicht immer ganz gleich
sind (er misst z. B. hraccia und ciglia als Daktylen),
14*
- 212 -
er nimmt sich eben Freiheiten dergleichen sie sich der
Tänzer auch nimmt; möglich dass das Sei mi-a,
mi-a wiedergeben soll wie der Tänzer, von einem
Fuss auf den andern sich wiegend, auf dem Platze
bleibt, um seiner Dame Worte ähnlichen Inhalts ins
Ohr zu flüstern.
Senti le note di Strauss che vihrano
Chiare, giulive, nelV aria tepida,
L'olezzo d£ fiori e la molle
Voluttä che ne' volti traluce!
So beginnt das Gedicht. Ich setze den grössten
Theil desselben in einer üebertragung her welche
die musikalische Ohnmacht unserer Sprache nur zu
deutlich darthut, durch welche aber hoffentlich doch
etwas vom Glänze des Urbildes durchschimmern wird :
Reiche das Händchen, das weiche Händchen mir,
Auf meine Schulter lehne dein blondes Haupt,
Und stürzen, o Maid, wir vereint uns
In den fröhlichen Strudel des Tanzes.
Wie du doch schön bist! Wie glänzt dein Blick hervor
Unter den Lidern, die halb geschlossen sind!
Wie strahlt dir das Lächeln der Freude
Auf dem lieblichen Mund und den Wangen!
Im Wirbel fliegen, fliegen wir leicht dahin,
Indem wir kosten des Schwindels Trunkenheit;
So fliegen die Tauben zum Himmel
Ruhig auf ausgebreiteten Flügeln.
wie beseligt diese Kamelie,
Welche dahinstirbt zwischen dem Busenflor,
Der weiss ist wie sie und bewegt wird
Von dem Wogen der schwellenden Formen!
wie beseligt! Macht ihr den Tod doch leicht
Der Schönheit Pulsschlag. Ach, eine Stunde dir.
- 213 -
Nur eine gefallen und sterben,
Wie die Blume am Busen dir sterben!
Wir fliegen, fliegen! Ich halt' umschlossen dich,
In meinen Armen halt' Leib und Seele ich,
Ja, mein bist du, mein — wie im Traume,
Weisst du? an meine Brust ich dich drückte!
Wir fliegen, fliegen beide in die Lüfte auf
Bis dort wo Liebe nur zwischen Engeln herrscht.
Bis dort wo die Liebe uns aufnimmt
In die endlosen Bläuen des Himmels.
Müsste nicht der Komponist dem Dichter mit einem
Stecchettiwalzer antworten ?
Vielleicht sind die Freuden stiller Nächte leb-
hafter geschildert als die Freuden der Ballnacht ; aber
um mit Stecchetti zu reden: „Es gibt junge
Mädchen, diese schmerzliche Wahrheit muss ich aner-
kennen", und der Kath Ferdinando Martinis : „So ver-
heirathet doch endlich einmal diese lieben Mädchen,
damit wir die Dinge sagen können wie sie sind", der
Kath ist leichter gegeben als befolgt, wie die Be-
treffenden selbst am wenigsten leugnen werden. Ich
gehe also an den Gedichten vorüber welche im Banne
des Hetärenthums entstanden sind. Eines und das
andere von ihnen missfällt mir übrigens in ästhetischer
Beziehung. Wenn der Dichter singt:
Ich schaue bleich; sei ruhig, mein Kind,
Das hat nichts weiter zu sagen.
Deine Küsse und die Klösse des Wirths
Verdarben mir den Magen,
SO vernehmen wir Klänge wieder die vor Jahrzehnten
uns beständig in den Ohren summten, deren wir ganz
überdrüssig geworden sind, die uns jetzt fast alter-
thümlich vorkommen. Sodann halte ich das Gretchen
— 214 —
betitelte Sonett für eine Versündigung an der Poesie
selbst; manche holde Verführte mag einst eine alte,
abatossende Hexe werden welche an den Kirchenthüren
Heiligenbilder feil hält, um sich Schnaps kaufen zu
können — aber Fausts Gretchen ist ewig jung und
schön. Wie viel zarter ist der gleiche Grundgedanke
in jenem Gedichte des „Neuen Tannhäuser" behandelt
welches mit den Worten schliesst:
Sie seufzt; ihr rothes Aug' wird trüber,
Es zittern ihre alten Knie —
Clara, geh'n wir rasch vorüber,
Sonst denk' ich, du wirst einst wie sie.
Auch eine moralische Bemerkung möchte ich, trotz
Stecchettis strengem Verbot von Moral zu reden, mir
erlauben, das heisst, um Missverständnissen vorzu-
beugen, eine Bemerkung die in das Gebiet der Moral,
nicht in das der Aesthetik gehört. Die sogenannten
Kealisten, wie sie sich geben oder wie sie wirklich
sind, können für die allerwunderlichsten Käuze von der
Welt gelten. Sie lieben alle schönen Weiber; miss-
lingt ihnen ein Anschlag, so raufen sie sich die Haare
aus — verlässt sie die Geliebte eine halbe Stunde
früher als sie ihr das Gleiche zu thun gedenken, so
werfen sie sich wimmernd zu Boden — geht ihnen
Alles nach Wunsch, so benehmen sie sich auf das
roheste : statt den Becher ruhig beiseite zu setzen den
sie durstig bis zur Neige geleert haben, schleudern sie
ihn an die Wand und zertreten die Scherben. Ver-
führt, verrathet, so viel ihr könnt, ihr Don Juans,
aber da ihr nun doch einmal Don Juans seid, verfallt
nicht in das ünritterliche , Knabenhafte und Lächer-
liche! In der unwürdigsten Bolle zeigt unsern Stec-
- 215 -
chetti ein Gedicht welches ein Meisterstück ist. Eine
Frau die er auf den Knien um einen freundlichen
Blick anflehte, hat ihn zurückgestossen, aber sie
hat jedem Andern ohne Eückhalt sich preisgegeben.
Durch die GluthhüUe von Hass, Verachtung, Eachsucht
erblickt man den Gluthkern der einstigen Begierde.
Wohl mag die Einbildungskraft die höchsten Liebes-
freuden auch dem vergegenwärtigen der sie nicht
durchgekostet hat; allein kann man so den Hass
schildern, wenn man nicht so gehasst hat ? unmittel-
bar neben diesen „Gesang des Hasses'^ stelle ich das
Idyll „Die Furt", welches keinen geringeren Werth
besitzt, aber angenehmer wirkt, denn der Dichter er-
zählt uns hier seine erste Liebe. Er beginnt damit
den krystallenen, ruhig murmelnden Fluss anzurufen
der ihn zum Dichter gemacht, der ihn die Liebe kennen
gelehrt habe. In lieblicher, geheimnissvoller Feier-
tagsstille breitet sich das Ufer des Flusses vor uns
aus, mit seinem Schilficht und seinen ungeheuren
Eichen: Jüngling und Mädchen wandeln im seligen
Bangen unausgesprochener Liebe dahin und bleiben
endlich verlegen vor der Furt stehen — es ist ein
Watteau mit Paul und Virginie im Vordergrunde.
Aber ihr Wunsch an das andere Ufer zu gelangen
wird verhängnissvoll.
Ich fasse Muth. „Komm'", sag' ich, „komm', ich bringe
Auf meinem Arm dich hin.** Sie lacht, gewährt
Es mir, als sei's das nichtigste der Dinge,
Und hält die Augen kühn mir zugekehrt.
Da fühl' ich dass wie eine eis'ge Klinge
Die Wollust mir durch alle Wirbel fährt.
Die Zunge kündigt den Gehorsam auf.
Und in die Kehle springt das Herz hinauf.
— 216 —
Ich thu' die Schuhe ab, aufs Gras gebückt;
Sie senkt die Augen und weiss doch zu schauen;
Ich nehme in die Arme sie entzückt,
Ich sie, die liebste mir von allen Frauen,
Fest ihren Busen an mich angedrückt —
Zum ersten Male dürft' ich mir's getrauen —
Und dieser Busen zuckt und pocht und drängt.
Dem Täubchen gleich das rauhe Hand umfängt.
schöne Füsschen ihr, so schön beschuht,
Ihr Auge meidend, blick' auf euch ich nieder,
Ihr scheues Aug', in welchem zager Muth
Und Lächeln streiten. Und die zarten Glieder
In der erregten Finger fester Hut,
Sie geben nach; es knattert ihr das Mieder;
Voll Zärtlichkeit, ein warmer Hauch, umfächelt
Mein Angesicht ihr Athem, wenn sie lächelt.
Ein Kichern stösst, ein banges, sie hervor
Bei jedem Schritt, fest an mich angeschmiegt,
Und eine Locke hängt ihr von dem Ohr
Herab, die kosend um mein Kinn sich wiegt;
Vom Wasser blitzt ein Wiederschein empor,
Ich seh' wie er ihr Antlitz überfliegt —
Jetzt ward ich stark, und meine Blicke ruhten
Nicht auf euch Füsschen mehr, ihr schön beschuhten.
Und ich begann nun ohne Scheu und Zagen
Ins Antlitz, in die Augen ihr zu sehn.
Ihr süsser Leib, von meinem Arm getragen.
Erbebte. Als wir drüben, blieb ich stehn,
Und blendende Mysterien Hess mich tagen
Das schlechtgeschlossene Kleid. Da musst's geschehn
Dass Liebe mich bezwang — ich kniete nieder,
Ich küsste ihren Mund und schloss die Lider.
Was weiter geschehen sei, möge der Fluss er-
zählen ; seine klaren Fluthen wissen es, sein Schilfichfc,
— 217 —
seine schattigen Ufer — diese Schlussstrophe bildet
eine Variante der ersten Strophe:
Es weiss es deine üpp'ge grüne Flur,
Wo ich zuerst der Liebe Glück erfuhr.
Dieses Gedicht ist reizend. Es lässt sich Manches
daran aussetzen; zu Anfang ist Zeit- oder Ortsfolge
etwas verwirrt, indem die Liebenden schon gleich an
der Furt zu stehen scheinen, dann spazieren gehen und
endlich erst an die Furt kommen — er nimmt sich
natürlich möglichst viel Zeit sie hinüberzutragen, aber
dessen was unterwegs geschieht, ist so viel dass in
unserer Vorstellung das „Flüsschen" unendlich breit
wird — ferner das verschiedenartige Lächeln und
Lachen, die Wirkung von dem Wiederschein des Was-
sers den er auf ihrem Gesichte sieht, während seine
Augen auf ihren Füssen haften u. s. w. ; dennoch
bleibt das Gedicht reizend. Auf jene Nachtstücke wo
hinter geschlossenen Thüren sich alle Dämonen der
Leidenschaft entfesseln, folgt hier ein Tagstück wo
alle hellen Mächte der Natur huldvoll der jungen Liebe
zulächeln, wo das kühlste Element es übernimmt den
inneren Brand zu schüren, dass er zum Ausbruch
kommt ; aber über das gerade worüber sonst der Dichter
den Vorhang aufzieht, lässt er ihn hier fallen.
In weiteren Gedichten Stecchettis sehen wir das
Sinnliche noch mehr gedämpft, und es ist die an-
muthige Wendung des Gedankens welche uns bezaubert.
Zu dieser Klasse gehört das Gedicht welches mir von
allen am meisten gefällt:
Die Rose sprach: „Gib mir, o Sonnenschein,
Die wärmsten, brünstigsten von deinen Küssen,
— 218 —
Senk' allen Maienduft in mich hinein,
Und was ich bin, will ich dir danken müssen!
Ja, mach' zur schönsten mich von diesen Rosen!
Nicht für der Schmetterlinge üpp'ges Kosen,
Nicht für die Sättigung gefräss'ger Bienen
Schuf mich der Lenz; ich soll der Liebe dienen.
Ein holdes Mädchen trägt nach mir Verlangen,
Ihr Hochzeitstag erblickt mein letztes Prangen,
Denn ich bin's welche ihren Busen schmückt.
Dann sink' ich von dem jungfräulichen Mieder,
Auch ich ein Opfer, auf das Brautbett nieder
Und sterb' mit ihrer Unschuld, vollbeglückt.*'
Wenn ich bei der üebersetzung dieses und anderer
Sonette von der überlieferten Eeimfolge abgegangen
bin, so meine ich sicherlich etwas Erlaubtes, vielleicht
sogar etwas Gerechtfertigtes gethan zu haben. Die
Beschaffenheit und die Wirkung der deutschen Beime
sind von denen der italienischen verschieden; daher
kommt es dass die deutsche Sonettform der italienischen
zwar gleichsteht, aber hart und steif ist, statt weich
und nachgiebig, wie diese, sodass sie insbesondere jeden
ungezwungenen, tändelnden, schalkhaften Ton beein-
trächtigt. Ich rede nicht von der Schwierigkeit des
Dichters hineinzulegen, sondern von der Schwierigkeit
des Hörers herauszufinden.
Endlich verwandelt sich unter der kalten Hand
des dräuenden Todes dem Dichter alle Sinnenlust in
Sehnsuchtsschmerz; ihm der nur an den Augenblick
glaubte, nur an das was er berührte, zeigt sich nun
doch jenseits der furchtbaren Schranke ein bleicher
Wiederschein des rosigen Lebens, ein tröstliches Schat-
tenbild. Er bittet die Geliebte im Frühjahr den Kirch-
— 219 —
hof zu besuchen ; auf seinem Grabe werde, von seinem
Herzen genährt, ihre Lieblingspflanze blähen, der
Majoran :
Gewähr' ihr einen Kuss, und wie im Leben
Bei deinen Küssen mein Gebein erbehte,
So wird es auch im Grab vor Liebe beben.
Oder er sagt, die Geliebte werde, wenn die Blätter
fallen, seinen Grabstein mit Blumen umgeben finden;
mit diesen Blumen, die aus seinem Herzen entsprossen
seien, möge sie ihr blondes Haar schmücken:
sie sind
Was ich an Liedern dachte, doch nicht schrieb,
Was ungesagt an Liebesworten blieb.
Aber dann wiederum zweifelt er an der Treue der
Geliebten. Im Lenze werde die Liebe von einem Dinge
zum anderen ihren Flug nehmen und auch zu seinem
Grabe gelangen, durch ihre Kraft werde aus seinem
Herzen eine Rose erwachsen, wie daraus bei Lebzeiten
seine Dichtung erwachsen sei:
Die Lieder meines Herzens pflücktest du,
Doch furcht' ich, wirst du nicht die Blume pflücken;
Wer pflückt die Blumen in des Kirchhofs Ruh'?
Es wird dich morgen neue Lieb' beglücken,
Und Andern wirst du deine Küsse schenken,
Dein Sinnen all — und mein nicht mehr gedenken.
Sogar die Stimmen der Abgeschiedenen lassen
sich, nach echt romantischer Art, bei Stecchetti ver-
nehmen. Jetzt schildert er uns wie er in einer stür-
mischen Nacht, auf sein Kopfkissen gestützt, in der
Ferne ein Weinen, eine unversöhnliche Klage vernimmt:
Du rufst mich, du verlangst mich, arme Todte;
— 220 —
jetzt versetzt er sich in eine späte Zukunft: die Ge-
liebte ist alt geworden und liest am Kaminfeuer, sie
glaubt im Rauschen des Windes seine Stimme zu
hören, welche sie an ihre junge Schönheit erinnert und
sie in sein Grab zur gemeinsamen Euhe einladet. Am
besten scheint mir folgendes Sonett dieses geheimniss-
volle Eufen und Mahnen auszudrücken:
Dient bei dem bleichen Schimmer schwanker Sterne
Dir dein Balkon zu trautem Aufenthalt,
Dann mag dereinst aus weiter, weiter Ferne
Dich eine Stimme grüssen, die verhallt.
"Wo ich zuerst dich sah, auf jener Au
Magst eines Tags du eine Thräne finden;
Zwar wirst du glauben, es sei nichts als Thau,
Und die bethaute Blum' ins Haar dir binden.
Was, flüss'gem Silber gleich, im Zitterlicht
Der Sonne dir erblinkt, nein, Thau ist's nicht;
Es ist die Spur von meinen herben Klagen.
Der Wind sei jene Stimme, wirst du sagen;
Nein, ich bin's! ich, der, wann sein Leben endet.
Den letzten Seufzer, letzten Kuss dir sendet.
Es müssen diese Proben genügen in einem Falle
wo es sich nur um Proben handeln kann. Das Farben-
spiel des chamäleonartigen Wesens Guerrini-Stecchetti-
Mercutio bis in seine feinsten Nuancen zu verfolgen,
bleibt dem Kritiker versagt, weil dem Leser vorbe-
halten, üeberhaupt kann die Kritik eine Kunst-
schöpfung nicht völlig aufsaugen; es bleibt ein Rest
von Unbegreiflichem und Unbeschreiblichem, welcher
vielleicht ebenso bei der Entstehung des Werkes die
Hauptrolle spielt wie bei dem Eindruck den es hinter-
lässt. Um diese Unzulänglichkeit etwas auszugleichen,
sollte die Kritik die Stärke des empfangenen Eindrucks
— 221 —
möglichst ungeschwächt fortpflanzen, was sie auch da
wo sie mit feinstem Verständniss erfüllt ist, nicht immer
thut. In der geistigen Welt finden wir die grossen
Gesetze der Natur wieder ; nicht nur einen Stoffwechsel,
auch eine Erhaltung der Energie gibt es da. Wie sich
die eine Bewegungsart in die andere umsetzt, Elek-
tricität in Wärme, Wärme in Stoss, so die eine Art
der schaffenden Kraft in die andere, die dichterische
in die musikalische, die musikalische in die malerische,
und wie die Bewegungsenergie zur ruhenden oder
potentiellen Energie wird, so ruft die schaffende Kraft
die bloss geniessende hervor. Die Menschen welche
gemessen ohne den Hintergedanken eigenen Schaffens,
pflegen besser und tiefer zu geniessen und füllen daher
im geistigen Haushalt zwar unscheinbare, aber wich-
tige Posten aus. Denn ihr Genuss wirkt doch auf die
eine oder andere Weise weiter; die ruhende Energie
setzt sich gelegentlich wieder in Bewegungsenergie
um. Ein Freund welcher Feinschmecker in allen Dingen
ist, hat mich zuerst mit Stecchetti bekannt gemacht,
indem er mir einige von seinen besten Gedichten vor-
las; dabei funkelte sein Auge als ob er das zarteste
Polio vor sich hätte, seine Zunge tanzte als ob feuriger
Dalmatiner darüber glitte, und es ward mir recht an-
schaulich wie das Wort „Geschmack" zu seiner über-
tragenen Bedeutung gelangt ist. Widmung und Wunsch
stehen an der Spitze dieses meines Artikels ; Widmung
und Wunsch mögen an seinem Schlüsse stehen. Ich
widme ihn dem Freunde welcher ohne Wissen und
Willen ihn veranlasst hat, damit, wenn ihm ein anderer
Trunk von gleicher Güte vorkommt — mit oder ohne
Schaum — , er ihn mir wiederum kredenze.
XII.
Reim und Rhythmus im Deutschen
und Romanischen.
Vor einiger Zeit erschien ein geistvoller Aufsatz
B. Delbrücks über den deutschen Keim.*) Einige
und gerade die wesentlichsten Stellen in demselben
regen mich zum Widerspruch an, nicht weil eine neue,
sondern weil die herrschende Ansicht in ihnen nieder-
gelegt ist.
Es wird als eine Forderung ausgesprochen „dass
in die Reimstelle möglichst diejenigen Wörter gesetzt
werden welche die wichtigsten, von dem Verstand oder
der Empfindung am hellsten beleuchteten Wörter ent-
halten". Worauf gründet sich diese Forderung, welcher
vor Allen der deutsche Dichter nachkommt und nach-
zukommen vermag? Ist sie eine allgemein gültige?
oder leitet sie sich nicht erst selbst aus der thatsäch-
lichen Beschaffenheit des deutschen Reims her? unser
Gehör ist nicht das der Italiener, nicht mehr das
unserer Vorfahren, weder an Erfassungs-, noch an
ümfassungskraft ; es unterscheidet nicht so fein, es
hält Eindrücke nicht so lange fest. Um uns den Reim
einzuprägen, heben wir ihn möglichst stark hervor, und
diese Sitte reicht bis in den eigentlich künstlerischen
*) „Im neuen Reich« 1872, I.
— 223 —
Vortrag hinauf. Kommt dabei dem äusserlichen Be-
dürfniss der innere Gehalt des Eeimworts entgegen,
so wird die Aufgabe der Zunge und des Ohres er-
leichtert. Daher besitzt der Deutsche in der That
eine grosse Vorliebe für bedeutungsvollen Reim. Aber
auf diese Vorliebe darf man nicht, wie Delbrück es
thut, mit einem Gesetze antworten, und am aller-
wenigsten darf man ein solches Gesetz in die Form
von Superlativen kleiden. Andere mögen anders fühlen,
mir däucht eine lange Reihe von Versen die alle ihren
Schwerpunkt am Ende tragen, unerträglich eintönig,
wie die Musik eines Schmiedehammers. Glücklicher-
weise ist der Fall auch selten; üoethe, auf den man
sich allzugern beruft, liebt es allerdings nicht ganz
werthlose Wörter in den Reim zu bringen, aber auf
das mannigfachste lässt er die Stellung der gewich-
tigsten Silbe im Verse wechseln. Von Gedichten
welche zum Gesang bestimmt sind, sehe ich ab; da
greift eine fremde Kunst mit fremdartigen Ansprüchen
herüber.
Doch es gibt, den Reim einzuprägen, ein noch
wirksameres Mittel als den Accent auf ihm; das ist
die Pause nach ihm. Man lese die beiden Goethe-
schen Zeilen:
Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle
Am Mittag wird, so wirf ihn in die Luft!
Schwüle und Luft sind hier die beiden stärkstbetonten
Wörter; aber jenes, welches eng mit dem Folgenden
zusammenzusprechen ist, wird nicht nur weniger fest
im Ohre haften als dieses, welches doppelt hervortritt
(als letztes, wie als vornehmstes Wort seines Satzes),
sondern weniger sogar als ein anderes und unbedeu-
— 224 —
tenderes Wort nach welchem die Stimme ausruhen
darf. Man hat gemeint, dem Ende eines Verses müsse
ein Haltepunkt der Stimme entsprechen. Es ist dies
ein Irrthum. Ebensowenig wie der Versfuss mit dem
Worte, braucht der Vers mit dem Satze oder Satz-
gliede abzuschliessen. Alle möglichen Gattungen un-
gereimter Verse bezeugen es auch für das Deutsche;
Lessing in seinem „Nathan" hat das Zusammenfallen
metrischer und syntaktischer Abschnitte geradezu ver-
mieden. Zwischen gereimten Versen jedoch, wenn sie
nicht ganz kurz sind, kommt das üebergreifen untrenn-
baren Wortgefüges unserer Zunge und unserem Ohre
beschwerlicher und bedenklicher vor. Wir müssen
durch eine stärkere oder langsamere Aussprache des
Reimwortes die fehlende Pause nach ihm ersetzen,
eine um so schwierigere Aufgabe je leichter dieses
Wort wiegt.
Franzosen und Deutsche gehen in allem was die
Dichtkunst betrifft, sonst weit auseinander; ihre Be-
handlung des Reims, welchen Frau von Stael das Echo
des Gedankens nennt, hat ein wunderlicher Zufall nahe
zusammengerückt. Bei den Franzosen ist es das Vorn-
überstürzen der Wörter und Sätze welchem der Reim
seine wichtige Rolle im Vers verdankt. Das enjam-
hement — so heisst hier die Verklammerung zweier
Verse durch den Sinn — kam nach dem Muster der
Alten zu Ende des Mittelalters auf und wurde noch
von Ronsard häufig angewandt; aber dank Malherbe
Les stances avec gräce apprirent ä tomber,
Et le vers sur le vers n'osa plus enjamher.
Die Romantiker versuchten, wie alles Verpönte, es
wieder zu Ehren zu bringen. Es liegt auf der Hand
- 225 ,-
dass — besonders im Französischen — mit dem
enjambement auch eine ganze Reihe allzudürftiger
Beimwörter ausgeschlossen werden, und dass also das
eine Mittel zur Hervorhebung des Eeimes dem anderen
Vorschub leistet.
Anders denken die sudlichen Bomanen über den
Beim. Bei ihnen zeigt sich der Beim nie in so ver-
nachlässigter Kleidung wie oft bei uns; trotzdem er-
weisen sie ihm nicht die fürstlichen Ehren wie wir
und die Franzosen. Liest ein Deutscher italienische
Verse vor, so kann er kaum der Versuchung wider-
stehen auch vor nichtssagenden Beimwörtern Front zu
machen. Der Italiener, das heisst der gebildete, gleitet
ohne jeden Anstoss über sie hinweg, ja dämpft sogar
die Aussprache der gewichtigeren etwas herab, sodass
sich ein deutscher Zuhörer oft nur mit Mühe den Beim
herausfischt, um sich ki*ampfhaft an ihm festzuhalten.
So sinnfälliger, fast sage ich grober Mittel bedarf es
uns eine bestimmte poetische Form oder die poetische
Form überhaupt zum Bewusstsein zu bringen. Durch
Verklammerungen wird uns die unbefangene Freude
an Vers und Beim fast gestört ; dem Südländer dienen
sie zu ganz besonderer Verschönerung seiner Oktaven,
und er versagt sich auch die kühnsten nicht. Bei dem
ernsten Tasso sind sie noch zahlreicher als bei dem
heiteren Ariost. In der Gerusalemme Uherata mögen
wir tadeln dass der Vers mit dem Artikel abbricht:
E quinci il petto e le mammelle, e de la
Sua forma insin dove vergogna cela ;
im Brief und in der Satire erachte ich jede Freiheit
der Art für gestattet. Solche leichte Dichtung erheischt
auch bei uns ein häufiges Hinüberspielen des Gedankens
Schachardt, Bomaniiches n. Keltisches. 1^
— 226 —
aus einem Vers in den anderen, oder sie ist nicht das
was sie sein soll. Gar wohl weiss dies einer unserer
neuesten Dichter der manche hesperische Kunst so
erlernt hat dass sie ihm angeboren scheint: wie eine
Lacerte raschelt sein „Salamander" dahin, in an-
muthigen, doch unberechenbaren Windungen.
um Alles in Einem zu sagen, es lässt sich im
Wesen der Schönheit nicht begründen dass „Form
und Gedanke an derselben Stelle gipfeln müssen",
dass nothwendigerweise ein gereimtes Gedicht „wie
eine Perlenschnur sei, zusammengefügt aus lauter
selbständigen Bildern". Das inhaltsschwerste Wort
mag bald im Beim, bald ausserhalb desselben stehen,
der Gedanke bald mit dem Vers enden, bald über ihn
hinausreichen; kreuzen sich hier Sinn und Form, so
fhut ihr Zusammengehen dort um so grössere Wirkung,
und es wird das verhütet was von allen Dingen das
Lästigste, die Eintönigkeit.
Wenn daran liegt dass das Reim wort das bedeut-
samste des Verses, so muss nicht minder daran liegen
dass die betonte Eeimsilbe die bedeutsamste des Wortes
sei. Als bedeutsamste Silbe haben wir aber die Stamm-
silbe zu betrachten, und da im Deutschen fast aus-
nahmslos auf dieser der Ton ruht, so erscheint es hier
unmöglich die zweite Forderung nicht zu erfüllen. Nach
Delbrück sind die italienischen und spanischen Reime
geistloser als die deutschen, weil unter ihnen die Reime
auf den Endungen überwiegen. Diese Beobachtung
muss ich für eine iiTige erklären. Im Italienischen
verhält sich der Endungsreim zum Stammreim durch-
schnittlich wie 3 : 10. Im Spanischen ist in dieser
Beziehung die Verschiedenheit zunächst zwischen den
— 227 —
einzelDen Dichtungsarten, dann zwischen den einzelnen
Dichtern eine auflfallende; für Brief und Satire z. B.
ergibt sich das Verhältniss von 7 : 10, für die epische
Stanze ist der Bruch im Ganzen weit beträchtlicher,
die Schwankungen jedoch ausserordentlich stark. Bei
Manchen finden wir ihn 8:10, bei Andern, z. B.
bei Ercilla 20 : 10. Im Reim kommen von den Par-
tizipien der J-konjugation auf 100 bei Ercilla etwa
ein Dutzend bei Ariost, obwohl ihre Häufigkeit in den
beiden Sprachen selbst keine sehr starke Differenz auf-
weist. Das Französische stellt sich ungeföhr in die
Mitte zwischen das Italienische und das Spanische.
Doch wir wollen uns nicht weiter mit der Statistik
befassen, deren Zahlen uns wie Bleigewichte abwärts
ziehen. Nur sei noch bemerkt dass wir, um jedem
Einwand vorzubeugen, den Ausdruck „Endung" in
möglichst weitem Sinne genommen, dass wir nämlich
bis in das Lateinische zurückgegriffen haben. Für
den vorliegenden Zweck hätte eigentlich nur das als
Endung zu gelten was noch wirklich als Endung an
einem ebenso deutlichen Stamm gefühlt wird. Wir
können dies nicht näher auseinandersetzen, wenn wir
nicht aus der Scylla in die Charybdis, d. h. aus der
Statistik in die Linguistik gerathen wollen. Auf
keinen Fall sind die französischen prestige und prodige
endungsbetonte Wörter, wie Delbrück behauptet. Dass
den romanischen Sprachen die Abwechslung zwischen
Stamm- und Endungsreim gegönnt ist, das gerade
rechne ich ihnen als Vorzug gegenüber dem Deutschen
an, das an den Stammreim gebunden ist. Wie kann
man das Englische den übrigen Sprachen voranstellen,
da „es von seinen Wörtern fast nichts übrig gelassen
15*
— 228 —
als die Stammsilben'^ ! Besitzt, nach Allem, das sinn-
liche Element des Keims im Vergleich zum geistigen
so geringe Bedeutung dass der erste beste Gleichklang
auch der beste ist, dass der weibliche Reim trotz
seiner Anmuth nichts vor dem männlichen voraus hat,
und wiederum der volle und mannigfache Vokalauslaut
der italienischen Endungen nichts vor dem matten und
gleichartigen der deutschen?
Ich hatte mich mit diesen Bemerkungen über
den Reim begnügen wollen, aber während ich sie
niederschrieb, ward mir ein Anlass ihnen auch einige
über den Rhythmus hinzjazufügen. Als Beleg dafür dass
die Aesthetik noch in dem jugendlichen Alter einer
nationalen Wissenschaft steht, fielen mir folgende
Zeilen Vischers in die Augen: „Die romanischen
Völker zeigen in dem ganz unorganischen Verhältnisse
worein sie das Sprachmaterial zu der Versform setzen,
dass mit der Verstümmelung, Mischung und Auflösung
des Lateinischen woraus jenes hervorgegangen, auch
die Innigkeit des rhythmischen Gefühles verloren ge-
gangen ist. Sie zählen nur die Silben und spannen,
unbekümmert um den Wortaccent, grossentheils selbst
um die Quantität [ — ?], den Vers darüber." In alle-
dem ist nicht ein Wort richtig. Die alte Mähr von
dem lateinischen Scherbenberge, dem Untergründe alles
romanischen Unkrauts verdient es nicht angefochten
zu werden, wohl aber die in der Wissenschaft ge-
bräuchliche Bezeichnung der romanischen Metrik als
einer silbenzählenden. Dieser Ausdruck kann nicht
bedeuten dass ein bestimmter Vers eine bestimmte
Silbenzahl hat (das gilt auch von den meisten deutschen
Versen), sondern dass diese Silbenzahl sein einziges
— 229 —
Gesetz bildet, wie ja auch Vischer deutlich genug
ausspricht. Wer aber das glaubt, der kennt keine
romanischen Verse; denn er weiss nichts von Vers-
accenten und Caesuren. Man vergröbert den Irrthum
noch dadurch dass man den Ton auf das Wort „zählen"
legt und dem rohen Silbenzählen das feinere Silben-
wägen gegenüberstellt. Wenn jedoch die Romanen
Silben zählen, so zählen andere Völker Füsse oder
Hebungen. Und ein deutscher Sonettenschmied ge-
braucht immerhin eher die Finger zu seinen fünf
Hebungen als ein italienischer zu seinen elf Silben.
Schon manche der Besseren unter uns haben unwissent-
lich Lieder mit einem Fusse zu wenig oder zu viel in
die Welt gesetzt und sie durch den Druck geechtigt;
in den Kneipen Trasteveres wohnte ich öfters gemüth-
lichem Wettgesange bei, wehe dem der in der dich-
terischen Hitze sich nur um eine Silbe irrte! Aha,
wird man sagen, auch hier jene mechanische Fertigkeit
der Romanen ! aber sie verbirgt den Mangel an Innigkeit
des rhythmischen Gefühles. Wie steht es nun damit?
Ueber die Grundsätze der romanischen Metrik wäre
ein langes Kapitel zu schreiben; hier sind mir nur
wenige Worte gegönnt. Entschiede, wie so Viele
meinen, im Romanischen allein die Silbenzahl, woher
käme es dann dass
Tomate screni,
Begli astri d'amore
ganz andere Verse sind als
Oh Dio! cht sa se mal
Ti sowerrai di me! — ?
In Versen derselben Gattung erscheint immer der-
selbe Rhythmus angedeutet. Der beliebteste italienische
- 230 -
Vers, der endecasUlaho piano, ist jambisch gefärbt ; er
kann völlig zu einem jambischen, nie zu einem tro-
chäischen Verse werden. Seine zwei Hauptaccente sind
die eines jambischen Verses; der eine ruht fest auf
der zehnten Silbe, der andere schwankt zwischen der
vierten, die aber begünstigt wird, und der sechsten.
An allen übrigen Stellen braucht die Wortbetonung
nicht mit dem Rhythmus des jambischen Verses über-
einzustimmen. An einer derselben, vor oder nach dem
ersten jener Hauptaccente, unterscheidet man noch
einen (jambischen oder trochäischen) Nebenaccent.
Welche Mannigfaltigkeit wird durch die Verschränkung
rhythmischer Geschlechter erzeugt ! welches Werkzeug
dem Dichter in die Hand gegeben die wechselnden
Stimmungen und Gedanken oder nur diesen Wechsel
überhaupt in der metrischen Form zu versinnbildlichen !
Petrarca schildert zu Beginn eines Sonetts wie er, in
Gedanken versunken, die einsamsten Gefilde durchmisst,
und er bedient sich dazu fast reiner Jamben:
Solo e pensoso i piü deserti cennpi (4, 8, 10)
Vo misurando a passi tArdi e lenti (4, 8, 10)
E gli occhi porto per fuggir intenti, (4, 8, 10)
Dave vestigio umsin Varena stMnpi. (4, 6, 10)
Man vergleiche damit die erste Strophe von Ariosts
dreizehntem Gesänge:
Ben furo awenturosi i cavalieri (6, 10)
Ch' erano a quella etk, chl nei vaUoni, (4, 6, 10)
Neue scure spdonche e hoschi fieri, (3, 6, 10)
Tane di aerpi, d'orsi e di leoni, (4, 6, 10)
Trovavan quel che nd palazzi altieri (4, 8, 10)
A pena or trovar puon giudici buoni: (6, 7, 10)
Donne che ndla lor piü fresca efadc (6, 8, 10)
Sien degne d'aver titol di heli9i.de. (2, Ü, 10)
— 231 —
Besonders lebendige Wirkung, gleich der Brandung
zwischen entgegengesetzten Wellenströmen, übt die
unmittelbare Nachbarschaft der beiden ersten Accente
aus, wie hier im sechsten Verse und im Anfangsverse
des Furioso:
Le donne, i cavalier, Tarme, gli amori.
Auch die Verschmelzung zweier Vokale zu einer
Silbe fördert nicht wenig den anmuthigen Fall ita-
lienischer Verse. Wie hölzern würde der schöne Vers
Dantes :
Amor che a'nullo amato amar perdona
klingen, wollten wir, nach Art der Lateinschüler, die
Endvokale von che, nullo, amato wirklich elidieren.
In deutschen Versen bleibt sich der Ehythmus
immer gleich. Aus Platens trochäischem Tetrameter:
Weh den Persern ! Römer kommen, Römer zieh'n im Flug heran
schallt uns der militärische Geschwindschritt der an-
rückenden Eömer entgegen ; wie aber, wenn ganz nach
demselben Takte „die stolze Frau"
— im stillen Tibur ihre Schmach in Träume wiegt?
Ja wahrhaftig, unsere Verse gleichen gut ge-
drillten Soldaten die stramm einhermarschieren, einer
wie der andere; daneben erscheinen die italienischen
Verse wie gewandte Tänzerinnen von denen jede nach
eigenem Gutdünken dahinzugaukeln scheint, in der
That aber nur Variationen einer und derselben Grund-
figur ausführt. Was wir uns auch sonst auf deutsche
Schulung gegenüber romanischer üngebundenheit zu-
gute thun dürfen, hier doch gewiss nichts! Während
im Italienischen der Grundrhythmus des Verses über
— 232 —
dem Sprachmaterial auf und niederschwebt, ist im
Deutschen Beides fest aneinander geschmiedet; kann
man dies Verhältniss als organisches, diesen Zwang
als Innigkeit bezeichnen ? Wenn nun ein Italiener von
deutschen Leierversen spräche, nachdem wir so oft von
italienischen Leiermelodien gesprochen haben ? Unsere
Uebersetzer bleiben daher weit hinter dem leichten
Fluge der italienischen Stanzen zm-ück. Hier und da
hat zwar Einer die ausländische Freiheit nachgeahmt,
und es mag überhaupt besser sein dem Wortton wo
er sich einmal gegen den Verston spreizt, sein Kecht
zu lassen als die Sprache mit eisernem Drucke in
das metrische Schema zu pressen. Der zweite der
beiden Eückert'schen Verse:
Ich hätte Herzzerreissendes zu singen,
Wollt' ich enthüllen was tief in mir lodert
wird erträglicher, wenn wir ihn in der (angedeuteten)
italienischen Weise lesen als wenn wir „wollt' ich"
und „tief in" zu jambischen Spondäen vergewaltigen.
Doch wird Solches die Meisten fremdartig anmuthen,
und allerdings ist unserer Sprache von Haus aus ein
anderer Weg gewiesen Leben und Buntheit in einen
Khythmus zu bringen. Ganz ähnlich wie Griechen
und Römer durchaus an der Zahl der Füsse festhielten,
der Darstellung des Fusses aber mehr als eine Mög-
lichkeit verstatteten, so kam es auch unseren Vor-
fahren nur auf die Zahl der Hebungen an, die Senkungen
behandelten sie in freier Weise, ja unterdrückten sie
gänzlich. Unsere heutigen volksthümlichen Masse haben
nur einen kleinen Theil der alten Gelenkigkeit gewahrt,
und doch zeigt schon die metrische Gleichheit etwa
zwischen „Du hast Diamanten und Perlen" und „Du
— 233 —
hast die schönsten Augen", wie viel unserer Kunst-
dichtung entgeht.
Vielleicht sagt Jemand, es seien die deutsche und
die romanische Metrik überhaupt nicht dazu geeignet
miteinander verglichen zu werden ; jede entspreche am
Besten einem eigenartigen und ursprünglichen Bedürf-
nisse. Er könnte Kecht haben. Eher würden der
Himmel und die Erde zwischen denen wir geboren,
ihre Macht über uns verlieren als die Weise die an
unserer Wiege ertönte, und das Lied das wir zuerst
lallten. Wollen wir aber einmal vergleichen, so müssen
wir uns nicht bloss so weit über den heimischen Boden
erheben dass wir gerade auf das fremde Gebiet hin-
lugen können, sondern wir müssen dem einen so fern
sein wie dem anderen. Von solcher Höhe aus werden
wir der äusseren dichterischen Form wenigstens der
Italiener und Spanier den Vorzug vor der der Deut-
schen zuerkennen; denn anziehender und anregender
als die feste und starre, wirkt auf uns die freie und
feine Beziehung jener Form zum sprachlichen Stoffe,
das Lösen und Binden, der Widerstreit und die Ver-
söhnung zwischen beiden Theilen. Man hat das sonst
kaum bestritten. Der alte Wieland drückte es in so
derber Weise aus dass es Gervinus eine Schande nennt.
Heutzutage dürfte man eher geneigt sein der eben
gemachten Behauptung entgegenzutreten, und der
Grund hiervon soll noch auf wenige Augenblicke unsere
Aufmerksamkeit fesseln, die er eigentlich in höherem
Masse verdient als die Sache selbst.
Wir lieben es uns von Chauvinismus ganz frei-
zusprechen und sind im Irrthum. Der Chauvinismus
äussert sich, wie ja durchaus natürlich ist, bei uns
— 234 —
anders als bei unsern Nachbarn; dort prägt er sich
im aufgeregten Gebärdenspiel aus, hier verbirgt er sich
in ein überlegenes Lächeln das um die Mundwinkel
zuckt. Er treibt die Franzosen zur Unvernunft, uns
zur üebervernunft, d. h. zur Spitzfindigkeit. Er ist
bald heisses, bald kaltes Fieber. Wer gewohnt ist,
einen grösseren Theil unserer Tages- und Wochen-
presse zu durchblättern, wird mir beipflichten. Ein
Gegensatz besonders zwischen Romanismus und Ger-
manismus wird fast zu Tode gehetzt, der von Form
und Gehalt, oder Schein und Wesen. Manche Kunst-
richter scheinen selbst erst vom Aeusseren auf das
Innere zu urth eilen; wenn man sie hört, sollte man
glauben dass in jeder plumpen Ente, wie in der des
deutschen Volksmärchens, eine wunderschöne Königs-
braut verzaubert stäke, und in jedem blendenden Weib,
wie in der Alcina des italienischen Sängers, eine ver-
ruchte, hässliche Hexe. Wunderbar übrigens dass
Keiner noch bei dem so abgebrauchten Gleichniss von
Schale und Kern an die Steinfrüchte gedacht hat. Ist
es doch oft — wenn wir überhaupt jenen starren
Gegensatz gelten lassen — gerade die Form an welcher
sich die schöpferische Kraft erprobt. Wie mancher
Schriftsteller leiht seinem Helden die schönsten, die
geistreichsten und rührendsten Reden, aber keinen
Tropfen Blutes an dem sich unser Blut zu erwärmen
vermöchte; wie mancher Maler macht sein Gretchen
zu einem Ausbund von Innigkeit und aller weiblichen
Tugend und lässt es ihr an dem Wesentlichsten fehlen
um einen Faust zu entflammen. Gewiss wir Deutschen
sind gründlich; doch wenn wir fünfmal auf den Grün i
gehen um uiib köstliche Perlen heraufzuholen, so thun
— 235 —
wir es das sechste Mal einfach deshalb weil wir nicht
schwimmen können. Nun, wenn unsere Neigung und
unser Vermögen so beschaffen sind, warum sollten wir
den Eomanen in Dingen die zur Form gehören, den
Kuhm zu schmälern trachten? Sie sind in solchen
unsere Lehrmeister gewesen und können es zum Theil
noch sein. Oder hätten wir ganz vergessen wie viel
starres Eis uns Süd- und Westwind hinweggethaut,
wie viel herrliche Knospen sie uns geöffnet haben?
XIII.
Liebesmetaphern.
Monsieur Jourdain verwundert sich sehr, als man
ihn belehrt, er rede Prosa, wenn er sagt: Nicolette,
donnez-rnoi mon bonnet de nuit, und das Publikum
ergötzt sich weidlich an seiner Verwunderung. Würde
aber nicht wiederum der grösste Theil des Publikums
sich sehr verwundern, wenn man ihm mittheilte dass
nicht nur Monsieur Jourdains Prosa, sondern alle Prosa
eigentlich nichts Anderes ist als Poesie? Eines der
Hauptmittel durch die der Dichter wirkt, sind die
abgekürzten Gleichnisse, die Metaphern. Auch sie un-
terliegen jenem allgemeinen Gesetze welches die An-
gewöhnung und die Vererbung auf die Anpassung
folgen lässt. Sie werden Gemeingut der Sprache,
und so lange sie noch auf deren Oberfläche liegen,
bleiben sie ohne Weiteres jedem Auge in ihrem wahren
Wesen erkennbar; aber nur das sorgsam prüfende, ja
künstlich geschärfte Auge entdeckt dass unser Ge-
sammtschatz von Wörtern und Wendungen in ähnlicher
Weise und fast in gleichem Grade aus dichterischen
Bildern, den Schöpfungen vieler Jahrtausende zusam-
mengesetzt ist wie aus Organismen der Vorwelt das
Kreide- oder das Steinkohlengebirge. Die Wissenschaft
hatte bis jetzt mit dem leiblichen Leben der Sprache
— 237 -
allzu viel zu thun um tiefer in deren Seelenleben ein-
zudringen, insbesondere die Bildung der Metaphern
zu untersuchen, was doch um so verlockender erscheint
als hier mehr als bei andern Untersuchungen die
Phantasie als Mitarbeiterin herangezogen wird, und
wir uns veranlasst sehen unsere Kraft im Nachfühlen
und Nachschaffen zu erproben. Nun hat diese Aufgabe
in der That einen Gelehrten, den Dr. Fr. Brink-
mann in Altena verlockt. Er macht die Metaphern
zum Gegenstande eines grössern Werkes, dessen erster
Band, über „die Thierbilder der Sprache", vor einem
Jahre an den Tag getreten ist. Wir finden zwar in
diesem Buche eine etwas schulmeisterliche Breite und
eine nicht ganz schulmeisterliche üngleichmässigkeit
im eitleren, einige Irrthümer und einige Vergesslich-
keiten (wie bei dem spanischen Ha habido alli la
de San Quintin die Schlacht von St. Quentin, und
bei dem italienischen dvetta für „Kokette" die Rolle
des Käuzchens als Lockvogels übersehen wird); im
Ganzen jedoch hat es Anrecht auf ein lobendes Zeug-
niss. Statt von etwas zu sprechen was darin steht,
will ich von etwas sprechen was nicht darin steht,
aber darin hätte stehen können. Der Mensch ist
nicht immer in gleicher Weise aufgelegt Metaphern
zu erfinden und zu gebrauchen; unter welchen Um-
ständen werden die Metaphern am frühesten und am
reichsten zur Entfaltung kommen?
Man hat behauptet, es gäbe im Grunde nicht
mehr als zwei Triebfedern menschlichen Thuns: die
Liebe und den Hunger. Zum mindesten sind es die
einzigen welche allen Menschen nicht bloss, sondern
allen Wesen angeboren sind, welche bis in die Anfange
— 238 —
des organischen Lebens, bis in den HäckePschen Ur-
schleim hinaufreichen. Beide sind selbst wiederum nur
zwei Formen des Erhaltungstriebes, von denen die
eine für die Species, die andere für das Individuum
sorgt. Auf die Metapherbildung hat der Hunger gar
keinen Einfluss. Dem geistreichsten Schusterbuben
der in einem Schaufenster eine TrüflFelwurst und eine
Rebhühnerpastete bewundert, wird keine, auch noch
so unbedeutende Metapher einfallen ; seine ganze Ein-
bildungskraft wird sich im Gaumen concentrieren. Aber
die Liebe ! .... wo sie mit ihrem Zauberstab hinrührt,
da spriessen Metaphern auf, die wunderbarsten in
üppigster Menge aus fruchtbarem Boden, und selbst
der dürrste bedeckt sich mit einem Anfluge von Grün.
Ja, die Liebe hat geradezu die Metaphern erschaffen,
und das ist kein Wunder, hat sie doch die Sprache
selbst erschaffen.
Um den Ursprung menschlicher Dinge zu ergrün-
den, richten wir heutigentags den Blick nicht mehr auf-
wärts, sondern abwärts ; in der thierischen Sprache neh-
men wir, dem Fingerzeige Darwins folgend, die Keime
der menschlichen wahr. Der Stimme bedienen sich die
Thiere entweder monologisch oder dialogisch; sie
stossen entweder unter dem Drucke innerer Erregungen
unwillkürliche Laute aus, Interjektionen, die sich zu
keiner wirklichen Sprache fortbilden können, oder sie
theilen sich einander gewisse Dinge mit. Diese Mit-
theilungen sind im Wesentlichen wiederum doppelter
Art: einerseits kurze, geschäftsmässige, wie Warnung
vor Gefahr, Aufforderung zur Hülfeleistung, Einladung
zur Mahlzeit, andrerseits — und darauf kommt
es uns allein an — Gefühlsergüsse. Die Männchen
— 239 —
bewerben sich um die Weibchen auf mancherlei Weise.
Unter den Vögeln gibt es verschiedene welche vor
den Augen ihrer Schönen die merkwürdigsten Tänze,
Märsche und Flugübungen veranstalten; die meisten
aber suchen durch ihren Gesang einen günstigen Ein-
druck hervorzubringen. Die alten Liebesdichter, welche
bemerkten dass die Lust zum Singen sie zu derselben
Jahreszeit wie die Vögel anwandelte, nämlich im Lenz,
wo die Liebessehnsucht mit neuer Stärke erwacht,
sie waren geneigt, die süssflötende Nachtigall, die
girrende Turteltaube als ihre Lehrmeisterinnen zu be-
trachten. Zwischen der Gebärdensprache und dem
Gesänge steht eine Art Instrumentalmusik, wie sie
von Pfauen, Spechten, Paradiesvögeln u. s. w. ausge-
führt wird. Auch bei Thieren niedrigerer Klassen
begegnen wir entsprechenden Erscheinungen. Wenn
die Männchen der Heuschrecken und Grillen mit den
Flügeldecken ein verliebtes Geräusch erzeugen, so thun
es die Cikaden mit den Athmungsorganen. Die Weib-
chen bei diesen verschiedenen Insekten sind stumm;
daher ruft der Dichter Xenarchos aus: „Glücklich
sind die Cikaden, denn sie haben stumme Weiber!"
Zu den eifrigsten, freilich nicht den lieblichsten Sängern
gehören die Frösche, von denen man sagen könnte,
sie besässen sehr heisses Blut, wenn es nicht zufällig
kalt wäre. Nun nimml^ es Wunder dass gerade die
am höchsten stehenden Thiere, die Säugethiere, im
Allgemeinen eine so viel geringere musikalische Be-
gabung an den Tag legen ; doch wird z. B. von einem
der nächsten Verwandten des Menschen, einem Gibbon-
affen berichtet dass er einen sehr melodiösen Gesang
ertönen lasse. Und so dürfen wir wohl auch dem ür-
- 240 -
menschen einen Liebesgesang zutrauen, welcher im
Laufe der Zeiten zu einer menschenwürdigen Sprache
fortgeschritten ist. Noch heute haftet das musikalische
Element manchem Idiom als integrierendes an, zum
Beispiel dem annamitischen, welches den Missionären
wie ein Vogelgezwitscher vorkam. Aber wodurch und
auf welche Weise hat sich aus einem Gesang ohne
Worte ein Gesang mit Worten entwickelt? Dadurch
dass sich die Empfindungen allmählich zu Vorstellungen
klärten, und auf ähnliche Weise wie in weit späterer
Zeit aus dem Bild die Wort-, die Silben-, die Buch-
stabenschrift hervorging. Nicht, wie wir annehmen,
mit Worten hat der Mensch begonnen zu sprechen,
die er dann zu Sätzen zusammenfügte, sondern mit
Sätzen, aus denen sich dann reliefartig die Worte mehr
und mehr herausarbeiteten. Doch auch die Wortsprache
würde nur ein dürftiges Stammeln geblieben sein,
wäre sie nicht von der Metapher befruchtet worden.
Aus der Aehnlichkeit zwischen den Dingen ein
Mittel für die Sprachbildung zu gewinnen, das war
eine kühne Neuerung, und sie möchte wohl zuerst ge-
wagt worden sein in jener freudigen Anspannung welche
alles Entfernte nahe zusammenrückt und jede Schaffens-
lust befeuert. Zu der Gefährtin sprach ja der Mann
zuerst, und von ihr vor Allem ; ein Abbild der leuch-
tenden und wärmenden Scheilje welche vom Himmels-
gewölbe auf die ganze Erde herabblickte, erschien
ihm das Auge aus welchem Sorge und Liebe ihm
allein entgegenstrahlten; in der weichen Stimme die
ihn koste, glaubte er die sehnsüchtigen Triller der
Nachtigall wiederzuerkennen. Wenn die ältesten „radi-
kalen** Metaphern sich fast sogar den Anstrengungen
— 241 —
unserer EinbilduDgski-aft entziehen, so sind die Anfänge
der, wie Max Müller sie nicht ganz treffend nennt,
„poetischen" Metapher schon in grössere Helle gerückt,
indem sie einen ziemlich ausgedehnten Wortschatz
voraussetzen. Welches war wohl die erste Liebes-
metapher dieser zweiten Klasse? Tauchen wir mit
anthropologischer Zuversicht unsere Blicke in die Tiefe
von vielen Jahrtausenden. Unter einer riesigen Pla-
tane an der ein munterer Bach vorbeirauscht, sitzen
ein Mann und ein Weib — oder soll ich noch sagen :
ein Männchen und ein Weibchen? Seine Familie ist
von Alters her auf dem Baume ansässig gewesen;
sein ürgrossvater, auf den er sich noch besinnen kann,
hat fast bis zu seinem Tode den fünften Stock bewohnt,
und der pflegte von seinen Sprösslingen, welche ins
Parterre hinabgezogen waren und nur gewisse weihe-
volle Stunden oben zubrachten, zu sagen, es wären
„herabgekommene" Gesellen, das heisst, er grunzte
das mehr so heraus. Besagtes Parterre nun, ihnen
einstens von einem Ursus spelaeus infolge Hinschei-
dens gutwillig überlassen, befindet sich an dem Abhänge
eines Berges der sich steil hinter dem Baum erhebt;
vorn am Eingang, von welchem ein aus starken Aesten
zusammengefügtes Thor beiseite geschoben ist, liegt
eine Menge sehr sauber abgenagter Hirschknochen,
die Reste der letzten Mahlzeiten, und weiter hinten,
von rohem Geräthe umgeben, der einzige Rock des
fniheren Hausbesitzers, der dem jetzigen zum Ruhe-
polster dient. Die rothen Strahlen der untergehenden
Sonne, welche einen solchen tieferen Einblick in die
Häuslichkeit unseres Paares ermöglichen, spielen um
das Antlitz des Weibes, und in dieser Beleuchtung
Schuohardt, Romanisches u. Keltisches. 16
— 242 —
erregt sie das besondere Wohlgefallen des Mannes;
es däucht ihm, ihre Wangen seien weniger behaart
als die seinigen, der Prognathismus bei ihr geringer
als bei ihm,, und zum ersten Male empfindet er dies
Minus als einen höheren Grad von Schönheit, wie
ihm das Plus bei seinem seligen ürgrossvater immer
einen ziemlichen Abscheu einflösste. Er fühlt sich
so glücklich wie sich überhaupt der Mensch damals,
nachdem er erst so kurze Zeit den AiFen hinter sich
hatte, nur fühlen konnte ; er hat vortrefflichen Appetit
gehabt, besonders hat ihm die Hirschleber gemundet,
und nun verschmilzt ihm der Nachgeschmack kulina-
rischer Freuden so gänzlich mit dem Vorgeschmack
besserer dass er, um der Genossin seine Zärtlichkeit
einmal auf ganz auserlesene Weise kundzuthun, nichts
Anderes findet als: „Du, du . . . Hirschleber!" Ihr
wird das sehr komisch vorgekommen sein, und vielleicht
meint auch noch heute Einer oder der Andere, selbst
von einem Urmenschen hätte sich ein etwas passen-
derer Ausdruck erwarten lassen. Allein hat nicht
jederzeit die Liebe gern von dem metapherlosen Hunger
ihre Metaphern entlehnt? Wenn ein Liebhaber gar
nichts mehr zu sagen weiss, was sagt er dann? „Ich
möchte dich vor Liebe auffressen", oder: „Ich habe
dich zum Fressen lieb." Welche sinnliche Empfindung
ruft nach der allgemein gültigen Terminologie der
Kuss hervor? „Er schmeckt." Welches Beiwort wird
vor Allem auf die Liebe und die Geliebte angewendet?
„Süss." Von den „süssen" Benennungen selbst, wie
„Honig" (so wenigstens bei den alten Römern),
„Zuckerstange", „Chokoladenplätzchen" u. s. w. will
ich schweigen ; doch kann ich hier nicht den Verdacht
— 243 . —
zurückhalten dass sehr Vielen, wenn sie sagen „mein
Hühnchen!", nicht das pickende, gackernde Ding vor-
schwebt welches auf dem Hofe herumläuft, sondern
das resch gebratene mit dem weissen, zarten Fleische
— eine Annahme die allerdings für Norddeutschland
unzulässig ist. Nicht immer, auch nicht während der
Morgeuröthe der Menschheit, war der Ehemann gegen
die Frau galant; als er einst auf ihr dringendes
Zureden einen bräunlich-grünen Apfel ass und danach
das heftigste Leibweh verspürte, erinnerte er sich
daran wie einst ein hübsches, glattes Thier sich ihm
in graziösen Windungen genähert und durch einen
Stich in die Ferse ihm Krämpfe und fast den Tod
gebracht hatte, und so entfuhr ihm das zornige Wort :
„Du Schlange!" Aus dieser Metapher ist der jüdische
Mythus von der Schlange und dem Apfel erwachsen.
Max Müller kennt viele von derlei mythologischen
Metaphern. Aber der Mann entdeckte im Weibe nicht
nur den Wiederschein sinnlicher Dinge, sondern auch
den übersinnlicher. Noch ehe er ihre innere Güte
schätzen lernte, sah er dass sie an körperlicher Anmuth
über ihm stand und durch die Macht seine Bewerbung
anzunehmen oder abzulehnen, vorübergehend die Herrin
seines Geschickes war. Das Gefühl der Verehrung
empfand er zuerst dem Weibe gegenüber, das Weib
führte ihn auf die Vorstellung von höheren Wesen.
Justina, ihr in deren
Reiz die menschliche Natur
Uns mit Stolz gebeut die Spur
Einer göttlichen zu ehren,
heisst es in Calderons „Wunderthätigem Magus." Die
ganze Stufenleiter der höheren Wesen in der Phantasie
16*
— 244 -
des Liebhabers zu durcheilen, das verblieb für alle
Zeiten der Geliebten als ein Vorrecht; sie ist ein
Engel, ein Abgott, eine Göttin, sie ist Gott selbst;
Herrin, ich glaube Gott zu sehen,
Betracht' ich euren süssen Leib,
singt der alte Troubadour Peire Vidal. Also sprechen
und beten lernte der Mann um des Weibes willen;
er hat es dann wiederum ihr gelehrt, und ich denke,
schliesslich hat sie es in beiden Künsten weiter gebracht
als er. Die Liebe — nicht den Krieg, wie Manche
thun, haben wir überhaupt als den Urquell der Civili-
sation anzusehen; jener Oimon der Boccaccio'schen
Novelle welchen die Liebe aus einem blöden, thieri-
schen Wesen zu einem gefühlvollen, denkenden, unter-
nehmenden umwandelt, Cimon ist die Menschheit selbst.
Wie ich schon gesagt habe, ist alle Sprache an-
fänglich Poesie und muss es sein ; Poesie bedeutet nichts
Anderes als Schaffen und zwar Schaffen der Einbildungs-
kraft auf dem Gebiete der Sprache. Aus dem ewig beweg-
ten schäumenden Elemente lagert sich allmählich die
Prosa ab. Die älteste Poesie ist nicht die religiöse. Ver-
schiedene nämlich haben diese Ansicht gehegt, z. B.
Boccaccio, der in seinem „Leben Dantes" die innige
Verwandtschaft der Theologie und der Poesie nach-
weist: die Theologie sei eine „Gottespoesie", d. h.
eine welche Gott zum Gegenstand habe, und die Poesie
sei entsprungen aus den „weihevollen Lobpreisungen
welche der Gottheit dargebracht wurden". Auch er-
kennt er den Einfluss den die strengen, feierlichen
Kultusformen auf die Ausbildung fester Dichtungsmasse
— 245 —
haben mussten. Aber wenn in der That die ältesten
unter den uns überlieferten Denkmälern so vieler
Sprachen in religiösen Dichtungen bestehen, so kann
doch die Erstgeburt der Liebespoesie nicht in Frage
gestellt werden. Die Liebe hat nicht nur jene erste
Poesie ins Leben gerufen welche die Sprache selbst
war, sondern auch die eigentliche Poesie die sich
wieder von der Prosa abhob, und das thut sie im
einzelnen Menschen immer von neuem. Für diesen
allgemeinen und individuellen Ursprung der Poesie
aus der Liebe könnte ich mich auf Hunderte von
Dichtern berufen, auf die glänzendsten Autoritäten,
wie Dante, Tasso, Shakspeare; ich lasse es mir an
einer einzigen und sehr bescheidenen Anführung genug
sein. Ein italienisches Volkslied sagt (in der üeber-
setzung von Paul Heyse):
Und wollen mich die klugen Leute fragen,
Von wem ich es gelernt in Versen sprechen,
Im Herzen muss ich jene Gluthen tragen
Die klingend, singend dann zu Tage brechen;
Am Tag da Nanna mir zuerst begegnet,
Da ward mit Versen mir der Geist gesegnet.
Geister die trotz aller Liebesgluthen doch nicht mit
Versen gesegnet werden, bringen immerhin Metaphern
fertig, die ja der ürkern, der wesentliche Bestandtheil
der Dichtung sind.
Unter den Liebesmetaphern, mögen sie nun in
gebundener oder ungebundener Rede auftreten, nehmen
jedenfalls den ersten Rang diejenigen ein welche die
Schöne anrufen und begrüssen. Sie werden überall
sehr häufig gebraucht; aber wenn die Nordländer nur
freigebig sind, so sind die Südländer verschwenderisch.
- 246 -
Wir brennen ein paar Raketen und Schwärmer ab,
und damit ist's gut; sie giessen einen fortwährenden,
in allen Farben sprühenden Feuerregen aus. Wir
pflücken ziemlich bescheiden, dafür auch zuweilen mit
Sinnigkeit und Auswahl einige frische Triebe vom
Baum der Sprache ; sie rütteln in heftiger Leidenschaft
an demselben, als ob kein Blatt, keine Blüthe oben
bleiben sollte. Um die Schönheit der Geliebten zu
verherrlichen, ist ihnen nichts zu theuer und nichts
zu billig, nichts zu fern und nichts zu nah, nichts
undenkbar. Mit den Himmelskörpern gehen auch wir
sehr leichtsinnig um:
So ein verliebter Thor verpufft
Euch Sonne, Mond und alle Sterne
Zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft.
Sonst verwenden wir leblose Gegenstände, von einigen
Edelsteinen und Edelmetallen abgesehen, nur selten,
Erzeugnisse der Kunst kaum. Die Südländer hin-
gegen sprechen von der Geliebten als einer Quelle
von Orangenwasser, als dem glänzenden Meer, als
einem Schiffe, als dem Segel, der Flagge eines Schiffes,
als einem prächtigen Palast, als einer Domfajade, als
einer kostbaren Reliquie, als einer Krystallflasche, als
einem goldenen Spinnrocken, als einer silbernen Tasse,
als einem weissen Blatt Papier. Von Blumen ver-
schmähen sie keine deren Aussehen oder Geruch irgend-
wie angenehm ist; um von Rose und Lilie zu schweigen,
die auch uns ganz geläufig sind, jene, wenn mehr das
Liebliche, diese, wenn mehr das unschuldige hervor-
gehoben werden soll, so streuen sie Jasmin, Nelke,
Veilchen, Tulpe, Quendel, Orangenblüthe, Leinblüthe
u. s. w. mit vollen Händen aus und ergötzen sich
- 247 -
an gewissen „blumigen" Formen der Liebesdichtung.
Doch nicht bloss als Blume erscheint die Geliebte,
auch als Strauss, als Blatt, als Pnfcht, als Aehre,
als Zweig, als Baum, wobei die Phantasie gern ins
Märchenhafte schweift und silberne Palmen oder dia-
mantenbeladene Bäume hervorzaubert. Innerhalb des
Thierreichs eignen sich natürlich die gefiederten Bewoh-
ner der Luft am besten zu Sinnbildern weiblicher Anmuth
und Sanftheit, vor Allem die Taube; nur dem Süden
gehört „Falke" und „Adler" an, das königliche Wesen
der Geliebten zu veranschaulichen. Indessen kommen
unsere zoologischen Kenntnisse zur rechten Entfaltung
erst wenn wir aus dem verehrungsvollen in den kosen-
den Ton übergehen, denn dann lassen wir die Botanik
beiseite; die Rose und die Lilie, welche wir knicken
und pflücken können, gewähren uns kein Zeichen ihrer
Zuneigung — der Käfer, der wegschwirrt, die Taube,
die wegfliegt, die Maus, die weghuscht, sie sind fähig
unsere Liebe zu erwidern. Nun werden wir aber
wahrnehmen dass unsere Zärtlichkeit alle erdenklichen
Namen ausströmt, und darunter auch solche die nichts
weniger als schmeichelhaft sind, wenn überhaupt die
Vergleichung der Geliebten, die auf der höchsten
Stufe der Schöpfung steht, mit ihr so tief untergeord-
neten Wesen schmeichelhaft zu sein vermag. Um
uns das klar zu machen, müssen wir bedenken dass
der Liebhaber, indem er sich unfähig fühlt die Qualität
gebührend auszudrücken, zur Kategorie der Quantität
seine Zuflucht nimmt; statt zu sagen: „Du bist das
Schönste, Liebste", sagt er: „Du bist die Summe
von allem Schönen und Lieben" und endlich: „Du
bist mir Alles". Dieses Alles löst er, sonst würde
- 248 -
das ja zu eintönig werden, auf halb gedankenlose
Weise in seine einzelnen Posten, eine unendliche Reihe
von Posten auf.* So stürzt der aus tausend Kinnsalen
angewachsene Gebirgsbach als breites Silberband über
den Felsen, um in unzählige Tröpfchen zu zerstieben,
die, alle werthlos und einander gleich, doch im Sonnen-
schein als bunte, köstliche Edelsteine funkeln. Ein ähn-
licher Trieb wie in der Häufung von Koseworten offen-
bart sich in dem unablässigen tändelnden Umformen
des theuern Namens, sodass es scheint als wolle die
Sprache in das süsse Lallen, in den Liebesgesang
zurückfliessen aus dem sie hervorgequollen ist.
Endlich begnügt sich der Liebende nicht damit
so ganz im Allgemeinen die Schönheit der Geliebten
durch einen begeisterten Ausruf anzudeuten; er em-
pfindet das Bedürfniss diese Schönheit zu analysieren.
Erst ist ihm die Geliebte selbst die Sonne, die Böse,
die Lilie, bei näherem Hinschauen ist ihr Auge die
Sonne, ihr Mund die Rose, ihr Hals die Lilie. Wenn
Lessing im Laokoon die beschreibende Aufzählung
weiblicher Reize als undichterisch bezeichnet, so hat
er insofern Recht als sie keine dichterische Wirkung
hervorbringt, Ihr dichterischer Ursprung jedoch darf
nicht schlechthin bestritten werden, mögen auch die
von Lessing angeführten Beispiele, welche der Kunst-
dichtung und zwar der epischen entnommen sind, als
Früchte kühler Ueberlegung, sorgfältigen Studiums
erscheinen. Gerade die naive, die volksthümliche
Dichtung, vorzugsweise die lyrische, aber auch die
epische, liebt ausführliche Gemälde der Schönheit ganz
ausserordentlich ; Gemälde die freilich von dem welches
Ariost im siebenten Gesänge entworfen hat, oft weit
— 249 —
genug abstehen um als grelle Parbenklecksereien zu
gelten. Die Natur selbst drückt dem Dichter den Pinsel
in die Hand, den er anfangs mehr sich zur Freude
als Andern zum Verständniss gebraucht. „Die Heerden
mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kom-
men", „die Kehzwillinge die unter Rosen weiden",
„der Thurm Davids mit Brustwehr gebaut", „der
Lustgarten mit Granatäpfeln" und die anderen Bilder
des Hohen Liedes sind vollständig unfähig uns eine
Vorstellung von der bezaubernden Sulamith zu schaffen,
und ich fürchte, den Zeitgenossen dürfte es ebenso
ergangen sein ; nur die Gluth des liebenden Jünglings
erkennen wir. In den meisten Fällen beschäftigt sich
der unbefangene Dichter fast ausschliesslich mit der
Farbe ; für Anderes hat er kaum Augen. Ja er beginnt
damit nur eine Farbe zu sehen, selbstverständlich die
hellste. Weiss. Die Geliebte ist weisser als Schnee,
Meeresschaum, Baumwolle, Mehl, Käse, Branntwein
(wie leicht geräth doch immer der Liebhaber, der gar
nicht ans Essen denken sollte, auf das Appetitliche!).
Schreitet er dann zur dichromischen Manier fort, so
gesellt sich Roth dem Weiss zu: „Weiss wie der Schnee
der Berge, roth wie die Sonne des Sommers." Er
prüft ferner was denn eigentlich weiss an der Geliebten
sei, und bemerkt dass es besonders die Hand ist:
.... als Sklave
Huldigt ihr des Schneees Glanz,
Ein beschmutzter Afrikaner;
dann auch der Hals, die Stirne, die Nase, und er nennt
das alles Jasmin, Lilie, Schnee, Krystall, Elfenbein;
insbesondere noch die Stirn einen Spiegel, die Nase
eine Kerze. Was die Wangen anlangt, so streiten
- 2:ß) —
Lilien und Basen nm ihren Besitz. Als Bösen, Porpor,
Korallen, Zinnober stellen sieh die Lippen dar, zwischen
denen eine Perlenschnor erglänzt. Die dritte Farbe
welche hinzukommt, ist Schwarz. Das Haar, wenn es
schwarz ist, wird zum Ebenholz, wenn licht, zom Gold,
znm Achat, zu Strahlen; gleitet die Hand durch das
aufgelöste blonde Haar, so ^^^^l^ ^üi Bucentoro Ton
Krvstall durch einen Ocean Ton Strahlen-. Ueber die
Farbe der Augen pflegt der Dichter zu schweigen;
schon sind jene Verse wo bei Gelegenheit schwarzer
Augen die Verwunderung ausgesprochen wird dass
„die Mohren auf den Alpen (der schneeigen Stime)
herrschen". Die Beschaffenheit der Augen lässt sich
deshalb so schwer feststellen weil ihr Glanz zu sehr
blendet — ein Glanz welcher nur dem der Sonne ver-
gleichbar ist. Das setzt übrigens die Dichter in Ver-
legenheit. Entweder müssen sie wie eine Sonne, so bloss
ein Auge annehmen: ,.Dpin Auge gleicht der Sonne''
(wie z. B. Don Juan singt und wegen des Reimes
singen muss), das geht noch an ; aber „Du trägst auf
deiner Stime eine Sonne ^, das scheint mehr an Poly-
phem als an ein holdes Mädchen gerichtet zu sein.
Oder sie müssen wie zwei Augen, so zwei Sonnen an-
nehmen; doch nicht AUe haben den Muth wie Ariost
zu sagen:
Zwei schwarze Augen, nein, zwei helle Sonnen.
Daher greifen sie denn oft nach den minder ansehn-
lichen Gestirnen. Die Geliebte hat dem Himmel zwei
Sterne geraubt ; der Mond, welcher seine Sterne zählt,
yermisst die beiden und klagt deshalb vor dem Gott
der Liebe. Neben dem Farbigen und Leuchtenden ge-
langen dann auch die Umrisse zur Beachtung, selten
- 251 -
sie allein : die Haare Goldfäden, der Hals eine Krystall-
flasche, die Nase ein Bollwerk von Krystall, die Wangen
zwei rothe Aepfel, die Augenbrauen Triumphbogen,
der Mund eine halbgeöifnete Lilie. Zu eingehender
Wiedergabe des Plastischen nimmt sich die Leiden-
schaft keine Zeit; dazu gehört Studium.
Auf zwei Wegen vermag zufolge Lessing der
Dichter uns die Schönheit wirklich nahe zu rücken, so-
dass sie uns erwärmt : indem er sie in der Bewegung,
und indem er ihre Wirkung darstellt. Das Eine fliesst
aber leicht in das Andere über. Durch eine Metapher
wird in einem italienischen Volksliede der Gang der
Geliebten ausgedrückt:
Du weisse Taube senkest deine Flügel,
Es rauschen deine Federn, wenn du fliegst;
reden wir von dem Wogen des Busens, so ist das eine
verdunkelte Metapher, die uns bei Ariost noch als aus-
geführtes Gleichniss anspricht ; aber Blick und Lächeln,
wie sollen die veranschaulicht werden? Wenn Amor
die Augen umflattert und seinen ganzen Köcher aus
ihnen abschiesst, wenn aus dem Munde die holdseligen
Worte kommen die jedes rauhe Herz erweichen, und
hier jenes liebliche Lächeln thront das schon auf Erden
ein Paradies eröffnet, haben wir es dann noch mit
dem Keiz, d. h. der Schönheit in Bewegung, an sich
zu thun, wie Lessing meint, und nicht vielmehr mit
der Wirkung des Eeizes?
Treten wir an die Metaphern heran welche sich
auf die Wirkung der Schönheit beziehen, so stehen
wir an einem Ocean. Natur und Menschen, Alles ist
von der Geliebten abhängig. Alles verspürt ihren Ein-
- 252 -
fluss, dient ihr und betet sie an. Schon bei ihrer
Geburt geschahen Wunder, und war die Welt mit Jubel
und Glanz erfüllt. Die Nacht wurde zum Tag, der
Himmel bedeckte sich mit Lilien und Veilchen, der
Schnee und die Eose gaben ihr ihre Farben, Maria
Magdalena ihre blonden Flechten, Feen überhäuften
sie mit übernatürlichen Geschenken, Cupido lehrte ihr
seine Kunst, der Papst hielt sie über das Taufbecken,
Sonne und Mond standen Gevatter, die Sterne knieten
vor ihr nieder. Sie verwandelt das Haus in dem sie
wohnt, in einen Palast von Kry stall und Gold und
Marmelstein; zeigt sie sich am Fenster, so geht die
Sonne auf (nach anderer Lesart verdunkelt sie sich,
werden die Sonnenstrahlen von ihren Blicken aufge-
halten), es verschwinden die Wolken am Himmel, und
der Schnee wird zur grünenden Flur; ihr beim An-
ziehen zu helfen, steigt ein Engel herab ; geht sie aus,
dann erbeben vor Lust Meer und Erde, der Fluss hält
in seinem Laufe inne, sie zu betrachten, die Winde
schweigen, unter ihren Füssen keimen Blumen auf;
sie steigt ohne Leiter zum Paradies empor, spricht mit
den Heiligen und steigt wieder herab; in der Kirche
zündet sie mit ihren Blicken die Lampen an, das Weih-
wasser in welches sie die Hand taucht, wird zu Kosen-
wasser oder zu Perlen und Diamanten. Es hat der
Liebende also Recht sie anzuflehen, wenn sie un-
lustig ist:
Lass' (Jenn der Sonne Funkeln
Durch einen Zufall nicht so leicht verdunkeln,
Und deine Heiterkeit gewähr' aufs neue
Dem Tage Glanz, dem Himmel Aetherbläue,
Den Blumen süsses Düften,
Anmuth'gen Hauch den Lüften,
— 253 -
Buntfarbigen Schmelz der Flora,
Lichtperlen der Aurora,
Den Vögeln ihre Lieder,
Mein Leben mir.
Ihre Gewalt über die Männer ist unbegrenzt, meistens
von verderblicher Art; die verschiedenen Theile ihrer
Schönheit werden zu ebenso vielen Marterwerkzeugen.
Ihre Locken sind Angeln oder Netze; ihre Wimpern
Spiesse, wenn sie nicht gerade als Besen dienen die
Sterne vom Himmel zu fegen; ihre Augen durch-
bohrende Messer oder Magnete die Herzen aus der
Brust zu ziehen. Aber neben solcher Grausamkeit übt
sie doch auch Milde und Huld. Ihr Busen schliesst
die Hostie, ja das Paradies ein; von ihrem Munde,
der nach Veilchen und Jasmin duftet, geht eine Me-
dizin aus die jede Krankheit heilt ; wer diesen Zucker-
mund küsst, der spuckt nie wieder aus, um die Süsse
nicht zu verlieren; ihre Blicke erwecken die Todten.
Und wenn es heisst: „sie ist eine Quelle, wer daraus
trinkt, der lässt seinen Verstand darin", so wird das
wohl auch als ein Gnadenbeweiß zu fassen sein. Sie
ist die Ursache von allem „Freudvoll und leidvoll" :
Es traget euer Antlitz eine Schrift,
Darinnen steht geschrieben Krieg und Frieden.
Bald ward sie geboren um den Liebhaber zu tödten,
bald feit sie ihn gegen alle Schmerzen, lässt ihn das
Paradies kosten, macht ihn unsterblich. Und unter
welchen Bildern stellt sich der Liebende in seinem
Verhältniss zu ihr dar? Er ist der Schmetterling der
dem Lichte zufliegt, die Sonnenblume die sich nach
der Sonne wendet, das Ziel für die Pfeile, der Schnee
an der Sonne, das Wachs am Feuer, der Nebel im Wind.
— 254 -
So such' ich als flücht'ger Bach
Stets den Meergrund meiner Plagen;
Als geworf ner Stein die Erde,
Heimath meiner schweren Lasten;
Als bewegt Atom die Lüfte,
Wohnsitz meines Hoffnungswahnes;
Und als Blitz such' ich das Feuer,
Sphäre meiner heissen Qualen;
Dass ich so entbrannt, bewegt,
Irrend, fallend, immer trachte,
Als Bach, Stein, Atom und Blitz,
Nach Meer, Erde, Luft und Flamme.
Und so schliesst sich immer eine Klasse von
Liebesmetaphern an die andere, insoweit diese wilden
Phantasieblumen eben klassificierbar sind. Dem Lieben-
den zeigen sich ja alle Dinge, auch die entferntesten,
von dem rosigen Lichte Übergossen welches dem Gegen-
stand seiner Huldigung entströmt. Wird sie ihm untreu
oder beweist sie sich gegen einen Andern weniger
grausam als gegen ihn, dann verfinstert sich ihm nicht
bloss die Welt, nicht bloss die herrlichen Zauberpaläste
sinken in den Boden, auf dem Nesseln und Dornen
emporwuchern, nein, auch das Bild der Geliebten ver-
finstert und verzerrt sich, aber das möge nur ange-
deutet bleiben; hat doch Ariost, der sechs Strophen
braucht um die Schönheit der Alcina zu schildern,
kaum ein paar Verse für die Hässlichkeit der Ent-
zauberten.
Ein Zeitalter und ein Land haben die Metapher
über die Massen begünstigt : das siebzehnte Jahrhundert
— Spanien. Also in dem Spanien des siebzehnten
Jahrhunderts werden wir den grössten Metapherreich-
thum finden, lieber der Lektüre Calderons wächst vor
unseren Augen ein tropischer Urwald empor: Riesen-
— 255 —
fächer schiessen aus dem Boden auf, schlanke Stengel,
knorrige Stämme, stachlige Kakteen drängen sich
zwischen ihnen durch, Blume um Blume öffnet ihren
Kelch, in allen Farben und Formen, mit betäubenden
Gei-üchen die Luft durchwürzend, saftige Trauben
quellen von dem grünen Baldachin herab an dessen
Säulen, sie zu erdrücken, ungestüme Schlingpflanzen
hinanklettern. Ich kann mir die Bemerkung nicht
versagen dass wir demselben Erdreich das eine so
üppige Flora trägt, das reizendste aller anspruchslosen
Gewächse verdanken, nämlich das schönste und zugleich
kürzeste Lied welches von Liebeserapfindung eingegeben
und ohne Metapher ausgeführt ist:
Gestern liebt' ich,
Heute leid' ich,
Morgen sterb' ich,
Dennoch denk' ich;
Heut und morgen
Gern an gestern.
Wenn bei allen andern Völkern die Metapher-
bildung eine weit zahmere gewesen ist als bei den
Spaniern, so tritt das am auffälligsten bei ihren Nach-
barn, den Franzosen hervor. Zwar kommt uns Heutigen
das Französische wie es zu Anfang des siebzehnten
Jahrhunderts im Munde der Dichter und der honnetes
gens lebte, sehr spanisch vor, was folgendes, keines-
wegs seltenartiges Beispiel erläutern möge. In Cor-
neilles Melüe sagt Philandre zu Chloris, sie sehe in
seinen Augen nur sein Herz:
Tu n^y vo%8 que mon coeur, qui n'a plus un seul trait
Que cefvi/x quHl a regus de ton charmant portrait
Et qui tout aussitöt que tu Ves faxt paraitre,
Afin de te mieux voir s^est mis ä la fenetre.
— 256 —
Das ist vollkommen Calderons würdig, bei dem es
irgendwo heisst:
Unser Herz eilt an die Augen,
Welche Fenster sind der Brust.
Wo es sich um solche Spitzfindigkeiten und geist-
reiche Wendungen handelt, da versuchten die Franzosen
mit. den Spaniern zu wetteifern, und sie konnten es,
indem sie ihnen an reflexiver Kraft nicht nachstanden,
an Kritik sie übertrafen. Aber fremd blieb ihnen
immer jene Phantasie welche mit Blitzesschnelle das
Weltall nach allen Seiten hin durchschweift. Den
Urwald ersetzten sie durch einen Lustgarten, in wel-
chem der gute Geschmack immer mehr aufräumte —
die Sprache der Leidenschaft durch die Sprache der
Galanterie. Von diesem galanten Französisch des sieb-
zehnten Jahrhunderts steckt der deutschen Sprache
noch weit mehr im Geblüt als sie meint und wünscht.
Wer findet etwas Auffälliges darin wenn ein junger
Mann „einen AngriiF" auf das Herz einer Schönen
unternimmt, und dieses schliesslich „kapituliert" ? Die
Vorstellung der Liebe als eines Krieges zwischen Mann
und Weib ist eine uralte und ganz allgemeine, aber
nur insoferne als das Weib den Mann bekämpft, ihn
überwindet, ihn zu ihrem Gefangenen macht und ihn
als Sklaven in Ketten legt. Jene Wendungen hingegen
welche den Mann als Krieger und Sieger zeigen, wurden
vor zweihundert Jahren und länger von den Schlacht-
feldern und Laufgräben in die Pariser Salons, ich will
sagen die ruelles der Preciösen verpflanzt. Wie in
unseren Tagen der Stallduft, so schwebte damals gern
der Pulverdampf über dem eleganten Geplauder der
beiden Geschlechter. Die Tapferen und noch mehr
— 257 —
die Nichttapferen erinnerten sich daran wie lieb die
Venus den Mars hatte, und wurden nicht müde ihre
eigenen Heldenthaten zu erzählen, wobei sie jene mili-
tärische Terminologie verschwendeten
que les femmes n'entendent pas,
Et dont pourtant les mots sont doux ä leurs oreilles.
Die Abenteuer der Liebe besassen aber eine zu ver-
führerische Aehnlichkeit mit den Abenteuern des Krieges
als dass nicht Ausdrücke wie attaquer la place dans
les formes, faire les approches, ruiner les defenses,
prendre par capitulation, empörter d^assaut eine rasche
Aufnahme in das Wörterbuch der Liebe gefunden hätten.
Ich breche hier ab; mitten darin, weil in einer
solchen Materie nirgends ein Abschluss gegeben ist.
Die Liebesmetaphern führen uns ohne Unterbrechung
von einer Zeit zur andern, von einem Volk zum andern,
und die Betrachtungen die durch sie hervorgerufen
werden, erstrecken sich über die ganze Kulturgeschichte.
Ich hatte erst geglaubt, es Hesse sich daraus ein hübsches
Buch machen, das auch zum Handgebrauch geeignet
wäre; wie man im Büchmann nachschlägt, um ein
geflügeltes Wort im vorausgesehenen rechten Augen-
blicke an die Luft zu setzen, so schlüge man dort
nach, um mit wirkungsvollen Metaphern ein Demant-
herz zu überschütten. Es würde dadurch einem der
hunderttausend „dringenden" Bedürfnisse abgeholfen.
Wenn ich bedenke dass das armseligste Abruzzennest
mit einem Dutzend brauner Schönen einen weit grös-
seren Schatz von Liebesmetaphern besitzt als das grosse
Wien mit so buntgemischten prächtigen Anlässen!
Allein jenes Buch ist unmöglich. Wenn in ihm sich
nicht jene fabelhaffce Dissertation de omnibus rebus et
Schnchardt, Eomanisches u. Keltisches. 17
— 258 —
quibusdam aliis endlich verwirklichen sollte, so müsste
es doch das Schönste enthalten, und zu diesem Zwecke
müsste man sich einen von jenen grossartigen Zettel-
kästen anlegen wie sie bei deutschen Gelehrten beliebt
sind, und auf deren manchem, nur mit Aenderung des
Namens, die bekannte spanische Inschrift stehen dürfte :
„Hier liegt die Seele des Licentiaten Pedro Garcias."
Und hätte man sich dann einer gewissen Vollständig-
keit genähert, so würde man steinalt geworden sein
und sich gar nicht mehr erinnern worum es sich eigent-
lich handelt ; man würde die Liebesmetaphern anschauen
wie Einer die Cotillonsorden die er in der Jugend ge-
sammelt hat ; Silber und Gold, Schleifen und Flor sind
noch da, aber vergangen und vergessen alles was ihnen
Glanz und Werth verlieh, die holde Röthe der Wangen,
der beseligende Blick, das traute Flüstern. Dann wäre
es auch nothwendig sich in das Wesen der Liebe, mit
Bücksicht auf Chronologie und Ethnographie, zu ver-
senken, und welcher Sterbliche besässe die erforderliche
Kongenialität? „Ohne die Liebe wäre die Welt nicht
die Welt", das thut sich leicht dar; „wäre denn Eom
auch nicht Rom", das weit schwieriger. Wie die Liebe
das Allgemeinste ist, so ist sie auch das Individuellste ;
man befrage nur einmal Zwei die sich so recht mit
Leib und Seele lieben, und sie werden es nie Wort
haben dass es eine wahre Liebe gegeben hat, gibt oder
geben wird ausser der ihrigen. Kurz, das Buch über
die Liebesmetaphern gehört unter die Träume ; es geht
eben immer so: gerade die interessantesten Bücher
bleiben ungeschrieben.
XIV.
Das Französische im neuen Deutschen
Reich.
Man hat den Krieg an dessen Ende wir jetzt
stehen, mit dem verschärfenden Ausdruck eines Bassen-
kriegs bezeichnet. In der That ist in ihm das Be-
wusstsein eines tiefen nationalen Gegensatzes und die
Erinnerung an vielfach erlittene Unbill unwiderstehlich
heiTorgebrochen, und er darum ein so erbitterter und
blutiger gewesen; kann man ihn aber etwa trauriger
nennen als einen Krieg in welchem der Anlass zu
allgemeinem Hass oder gar dieser Hass selbst fehlen
würde? Der Einsatz war ein grosser; das innerste
Leben der Völker nahm theil an diesem Kampf, aus
welchem der besiegte Angreifer freilich nur schmerz-
liche Selbsterkenntniss und Mahnung zur Ein- und
Umkehr davonträgt, wir aber Ermunterung auf unserer
geistigen Bahn fortzuschreiten. Die Feder macht das
Schwert schneidiger, und das Schwert theilt der Feder
von seinem Gewicht mit. Unsere vorzüglichsten Geister
beschäftigen sich mit der Erörterung jenes Gegensatzes
in Staats- und Kulturgeschichte ; demnächst wird aber
auch das Eine in Betracht gezogen was diesen Gegen-
satz zwar am äusserlichsten, doch zugleich am schärfsten
und einzig und allein auf entscheidende Weise darstellt:
die Sprache. Die romanische nicht weniger als die germa-
17*
- 260 -
nische Sprachwissenschaft, die ja selbst erst auf dem
Boden unseres ersten grossen Vaterlandskrieges er-
wachsen ist, empfangen zu derselben Zeit besondere An-
regungen da sie den Verlust so mancher persönlichen
Kraft zu beklagen haben. Denn den Einen zog friedliche
Lust an wälschen Pastourellen und Chansons nach Paris,
und nun föUt er im feindlichen Anlauf auf diese Stadt;
den Andern erbauten die Heldenlieder der germanischen
Vorzeit, und nun fällt er, selbst ein deutscher Held,
in einem Waffenspiel gegen welches alles Schwerter-
geklirr das jene besingen, nur ein Kinderspiel ist.
Das Vaterlandsgefuhl steigert die Liebe zur eigenen
Sprache, unsere Väter waren vollberechtigt in ihrem
Abscheu gegen alles Französische, besonders gegen
die französische Sprache. Es hat auch in unsern Tagen
nicht an Solchen gefehlt welche diesen Abscheu gern
wieder belebt, welche die Ausweisung von auch ganz
eingebürgerten Deutschen aus Prankreich durch die
Ausweisung auch ganz eingebürgerter französischer
Wörter aus der deutschen Sprache gern erwidert
hätten. So soll z. B. das Wort „Dame" verbannt
werden, unter Berufung auf Schiller, von dem es nur
einmal, und zwar auf eine nicht deutsche Persönlich-
keit angewendet worden sei (was übrigens ein starker
Irrthum ist). Indessen dergleichen sind Ceberhebungen
über das Niveau der allgemeinen Stimmung; mit
dem kostbaren Bernstein bringt die Fluth auch werth-
losen Seetang. Gerade das Gelegentliche worauf solche
Forderungen sich stützen, entzieht ihnen jeden Werth,
und das Entsprechende findet auch auf einem andern,
dem sittlichen Gebiete statt; oder ist etwa viel
Eühmens davon zu machen wenn der Chignon erst
- 261 —
durch das Kriegsschwert abgehauen wird, wenn die
Klänge Offenbach'scher Muse erst durch den Donner
der Kanonen zum Schweigen gebracht werden? Frank-
reich kann uns noch geföhrden, das Franzosenthum
nicht mehr. Wir bedürfen nicht mehr jener Reaktion
gegen das Studium der französischen Sprache wie sie
vor mehr als einem halben Jahrhundert eintrat. Durch-
aus das entgegengesetzte Bedürfniss macht sich geltend :
wie erwünscht ist nicht dem deutschen Soldaten in
Frankreich die Kenntniss des Französischen, und wie
viele der Zurückgebliebenen würden nicht die auf
unserem Boden verweilenden Franzosen zu Lehrmeistern
erkiesen, wenn sie nicht eine höhere Rücksicht davon
abhielte ? Dem Forschenden dürfte eines der grössern
Gefangenenlager ein reiches Feld der Beobachtung
darbieten; er vermöchte hier ohne Mühe auf einem
Punkte die Verschiedenheit der französischen Mund-
arten oder doch der provinziellen Accente zu studieren
und an den mehr oder weniger oder gar nicht des
Französischen kundigen Bretonen und Afrikanern den
Romanisierungsprozess zu verfolgen. Auf jeden Fall
würde ihm das Bild des alten römischen Lagers
möglichst nahe gerückt in welchem die militärische
Zucht und das enge Zusammenleben zwischen den
verschiedenartigsten Elementen eine gewisse Sprach-
einheit, eine lingua castrensis herstellten. Das Lager
überhaupt oder die Kaserne ist in der Geschichte der
Sprache von nicht minderer Bedeutung als Kirche
und Schule; der Kriegsmann, wenn seltener Träger
der Civilisation, ist oft, natürlich fast unbewusst, als
sprachliches Vehikel in Thätigkeit getreten, im grossen
sowohl als im kleinen. Im kleinen z. B. besonders
— 262 —
zur Zeit der Landsknechte, die in wälschen Landen
manch deutsches Geldstück zurückliessen und dafür
fremde Scheidemünze heimbrachten. Der Deutsche
lehrte den Romanen das trinquer und das hrindisi (in
Lothringen heisst hringue „zutrinken"); der gewaltige
Zug durch welchen die deutsche Kehle sich letzte,
rief draussen einen so tiefen Eindruck hervor dass
das „trink, Landsknecht" (schon bei Rabelais lans
trinque und in Italien trinks vain lanze) eine allge-
meine Begrüssungsformel dem Deutschen gegenüber
wurde, in welcher die ganze Erkenntniss und Aner-
kennung seines Wesens zusammengefasst schien. Für
solche Lehre handelte er wieder andern Lebensgenuss
und Lebensgewohnheit und damit fremde Ausdrücke
ein; wer denkt jetzt daran, wenn er seinen urdeutschen,
überdies erst 50 Jahre alten Skat spielt dass das
Wort „Skat" durchaus dasselbe ist wie das italienische
scarto und fast dasselbe wie das französische harte?
So dürfte nun auch bei der jetzigen grossen Völker-
reibung beiderseits manches Sprachmaterial hängen
bleiben. Dass dies bei den Franzosen nicht ohne
wunderliche Entstellungen abgehen wird, dafür bürgen
uns u. a. die Proben welche angeblich Deutschkundige,
wie jene Journalisten auf ihrer berühmten Zwangstour,
von dieser ihrer Kenntniss ablegen; freilich wird der
deutsche Soldat in seinem Siegerübermuth kaum glimpf-
licher verfahren, wie denn die frische Rücksichts-
losigkeit mit welcher er z. ß. den Moni VaUrien
nicht nur — was ja schon einen Präcedenzfall hat
— in „Baldrian", sondern sogar in „Bullerjahn" um-
tauft, uns an die Zeiten gemahnt in denen Verona
und Milano in dem Mund unserer romfahrenden Alt-
— 263 —
vordem sich zu „Bern" und „Mailand" verschoben.
xlUe diese Betrachtungen, mag ihr Beisatz von feind-
seliger Gesinnung ein grösserer oder ein geringerer
sein, führen uns zu dem Wunsche dass bald eine
Aufgabe gelöst werden möchte die bisher nur in ein-
zelnen Theilen berücksichtigt worden ist, die Aufgabe
nämlich die kulturgeschichtlichen Beziehungen zwischen
der romanischen und der germanischen Welt an dem
Austausche der Wörter und Kedensarten wie er seit
den ältesten Zeiten bis heute stattgefunden hat, zur
Anschauung zu bringen.
Wenn der Krieg selbst uns veranlasst die Art
des sprachlichen Gegensatzes und die einzelnen rein
äusserlichen Vermittlungen desselben zu erwägen, so
lenkt der ersehnte Friede unsere Aufmerksamkeit auf
die räumliche Darstellung dieses Gegensatzes, auf
die Sprachgrenze. Was über sie vorläufig gesagt
werden kann, findet man in R. Böckhs trefflichem
Buche. Von französischer Seite mangeln genauere
statistische Angaben. Den Franzosen sind Unter-
suchungen über die Sprachverhältnisse ihres Landes
nicht erfreulich ; gehorsam ihrer grossen Lehrmeisfcerin
Rom, der imperatrice di molte favelle, erblicken sie
die Nationaleinheit in der Staatseinheit und suchen
jede andere Sprache als das Akademiefranzösisch, welche
innerhalb der Staatsgrenzen von ünterthanen gesprochen
wird, zum Patois herabzudrücken. Die Thatsache auf
welche es uns hier ankommt, ist die dass die Mark
des neuen deutschen Reiches verschiedene kleine Theile
vom rein französischen Sprachgebiet ablösen wird,
nämlich das Metzer Land und vier Thalschaften dies-
seits der Wasgen (Steinthal, Weilerthal, Leberthal,
— 264 —
Weissthal). Der Südwesten des Elsasses soll bei
Frankreich verbleiben. Wir wollen den hier herrschen-
den Patx)is kein Prognostikon stellen; die Bedenklich-
keiten der Einen und die Befürchtungen der Andern
können durch den Hinweis auf den wallonischen Landes-
theil von Malmedy, welcher zu Preussen gehört, be-
schwichtigt werden. Aber diese Patois bilden nun
einen Theil unserer wissenschaftlichen Domäne, und
einige allgemeine Andeutungen über sie werden nicht
verfrüht sein.
Die französischen Mundarten stellen sich dem
ersten Blick zu zwei Hauptgruppen zusammen: der
nordfranzösischen oder eigentlich französischen, und
der südfranzösischen, deren Litteratursprache, das Pro-
venzalische erloschen ist. Beide Massen fallen aber
keineswegs vollständig auseinander, sondern sind durch
Uebergänge miteinander vermittelt, welche im Osten
allmählicher zu sein scheinen als im Westen ; ja Manche
nehmen geradezu eine breite neutrale Zone an. üeber
den genaueren Zusammenhang der Mundarten sind
wir nur ungenügend unterrichtet. Schon vor 30 Jahren
gab ein gewisser Schnakenburg, wohl Elsässer, eine
vergleichende Schrift über dieselben heraus, welche
zwar, besonders durch die mitgetheilten Sprachproben,
für eine erste Orientierung recht dienlich, aber weder
im Einzelnen genau und zuverlässig ist, noch zu be-
merkenswerthen Gesammtergebnissen gelangt. Wenn
ferner fast allen litterarischen Hülfsmitteln für die
Kenntniss der einzelnen französischen Dialekte eine
wissenschaftliche und unzweideutige Lautbezeichnung
abgeht, so ruft hier dieser üebelstand in seiner Verviel-
fachung den weiteren Mangel der Einheitlichkeit hervor.
— 265 —
Die mehr oder weniger bewusste Abhängigkeit von
der Schriftsprache welche überhaupt bei mundartlichen
Aufzeichnungen einzutreten pflegt, ist in Frankreich
folgenschwerer als etwa in Italien oder Spanien, so-
dass demjenigen der nicht das Korrektiv eigenen
Hörens anwenden kann, gerade über das bei den be-
züglichen Untersuchungen Wesentlichste nicht selten
ein ziemlicher Rest von Unklarheit bleibt.
Im Mittelalter theilte sich Nordfrankreich in drei
mundartliche Kreise, oder vielmehr es bestanden hier
drei litterarisch gepflegte Hauptmundarten: das Nor-
mannische, das Pikardische, das Burgundische. Diese
Dreitheilung hat sich in der Neuzeit sehr verschoben.
Das Normannische ist eigentlich abgestorben, die
heutige Mundart der Normandie kann nicht als sein
echtes Kind betrachtet werden, da ihr seine wesent-
lichsten Züge fehlen. In England schien dem Norman-
nischen ein grosses und reiches Terrain gewonnen zu
sein; aber die Vorsehung hatte beschlossen dass Glad-
stone in germanischer und nicht in romanischer Zunge
reden sollte, was freilich viele studierte Leute nicht
wissen, oder nicht wissen wollen. Aus dem Burgun-
dischen hob sich die Mundart von Ile-de-France ab
und bildete sich zur allgemeinen Schriftsprache aus.
Stellen wir uns in dieses Centrum und halten wir
wie von einem Leuchtthurm eine Kundschau über das
Land, so nehmen wir wahr dass in der südwestlichen
Hälfte (etwa links von Tonne und Seine) die Dialekte
weder untereinander noch vom Centrum bedeutend
abweichen, dass aber in der nordöstlichen Hälfte gerade
das Gegentheil stattfindet, dass hier die Sprache stark
in Saft geschossen ist und viel üppige Sprossen ge-
— 266 —
trieben hat. Nach Deutschland und der deutschen
Schweiz zu bemerken wir einen doppelten Ring von
Mundarten, einen innern : Pikardisch, Burgundisch^
und einen äussern: Wallonisch, Lothringisch, Franc-
comtois. Vom Pikardischen, das in der Gegend von
Valenciennes die Sonderbezeichnung RoucU empfangt,
scheidet sich das Wallonische scharf genug; in ihm
hat die Centrifugalkraft einen so hohen Grad erreicht
dass es vielfach nicht als französische Mundart, sondern
als besonderes romanisches Idiom angesprochen wird.
Man könnte in der That seine Stellung zu den fran-
zösischen Mundarten mit der des Friaulischen zu den
italienischen vergleichen; nur ist hier der Gegensatz
noch weit bestimmter ausgeprägt, und die Loslösung
des Friaulischen aus dem italienischen Verbände durch
den neuen Anschluss an das Ladinische Tirols und
das Churwälsche gleichsam sanktioniert. Wie übrigens
Berghaus in einem Aufsatze von 1852 (nach Böckh)
das Wallonische als die rechte Mutter der französischen
Schrift- und Büchersprache hat bezeichnen können,
ist mir vollständig unklar. Das Lothringische und
das Franc-comtois sind aus dem Schosse des Burgun-
dischen hervorgegangen, haben sich ihm aber durch
verschiedene Unarten beträchtlich entfremdet. Ab-
zweigungen des Franc-comtois und seines üebergangs
zum Südfranzösischen, des Jurassien sind die Patois
der Schweiz und Savoyens, welche zwar auch manche
alpenhafte Besonderheiten zur Schau tragen, aber doch
wohl nicht als ein eigener dritter Ring aufzufassen
sind. Bei dieser Gelegenheit kann ich übrigens die
Befürchtung nicht unterdrücken dass die Notizen des
Gothaischen Hofkalenders von 1871 über die Sprach-
J
— 267 —
Verhältnisse Prankreichs in dem Kopf eines Laien
leicht einige Verwirrung anrichten möchten. Dass
das Wallonische neben Flämisch, Deutsch und Bretonisch
als besondere Sprache aufgeführt wird, mag nach dem
Obengesagten gelten. Aber daneben durften nicht
Baskisch, Gaskognisch, Katalanisch, Italienisch, Proven-
zalisch und Burgundisch als südliche Dialekte zusammen-
gestellt werden. Auch gehört das Burgundische nicht
zum Süden, und wenn dasselbe in einem Gebiete von
mehr als 6^'2 Millionen Einwohnern, nämlich in einem
Theile des Dauphine, in Savoyen, Lyonnais, Burgund,
Franche-Comte, Bourbonnais, Berry, Nivernais und
einem Theile der Champagne (Lothringen wird nicht
genannt) herrschen soll, so vermögen wir eine solche
Umgrenzung nicht als in sprachlichen Thatsachen be-
gründet zu erkennen.
Von den genannten französischen Mundarten werden
innerhalb der neuen deutschen Reich sgrenze zwei ge-
sprochen: das Wallonische in Malmedy und das
Lothringische in Metz und den Wasgenthälern. Das
Wallonische als einen alten Erwerb lassen wir hier
unberücksichtigt. Von allen lothringischen üntermund-
arten ist das Metzische {U messin) am meisten litte-
rarisch begünstigt worden. Metz ist durchaus eine
altromanische, keine romanisierte Stadt, und wenn sie
auch seit alter Zeit eine kleine deutsche Bevölkerung
enthält, so darf doch nicht die Sprachgrenze hindurch
gezogen werden, wie Karl Braun in seinen „Elsasser
Unterhaltungen" (Nat.-Zeit. 20. Dec. 1870) zu thun
geneigt ist, ebenso wenig wie der Name „Metz" mit
dem von Deutsch- und Wälschmetz, Meta theodisca
und Meta langobardica, oder wiederum das lateinische
— 268 —
meta mit dem italienischen mezza (3^2 Stunden nach
Eintritt der Nacht) irgend etwas zu schaffen hat.
Wir besitzen eine Reihe von Denkmälern zwar nicht
des eigentlichen, volksthümlichen, sondern des gebil-
deteren, geschliffeneren Metzisch, oder vielmehr eines
metzisch gefärbten älteren und alten Französisch:
Chroniken, Urkunden, Gesetze, Atours, aus denen Dom
Jean-Franfois ein Vocabulaire austrasien zusammen-
getragen hat (Metz 1773). Wir vermögen also die
historische Entwicklung der Mundart einigermassen
zu verfolgen. Wenn Schnakenburg behauptet dass
Rabelais, obwohl in der Touraine geboren, sich mit
Vorliebe und Gluck des Metzischen bediene, so haben
ihn vermuthlich die Anmerkungen von Le Duchat
irregeführt, welcher als Metzer oft auf Metzer Sitte
und Redeweise zu sprechen kommt. Rein lothringisch
sind nur die Worte (Pantagr. IV, 6): Deu! Colas
m' faillon, „Gott! Klaus, mein Sohn." Neuerdings
hat unter Andern ein gewisser Jaclot, von Saulny,
verschiedene kleine Schriften im Metzer Patois (dessen
eigentlicher Sitz natürlich nicht sowohl Metz als das
Land um Metz ist) erscheinen lassen. Die bekannteste
ist wohl Les Passe-temps lorrains (Metz 1854). Der
Anfang des ersten Gedichtes, La France 1848—1852
(das zweite besingt den Staatsstreich), möge als Probe
der Mundart und der damaligen politischen Gesinnung
dienen :
La France estoure o mou ogroiisse
D^ete govemaye pl Napoleon.
Les autes puhances an sont jalousses,
Come don tamp de se grand nonom.
Wörtlich ins Französische übersetzt:
— 269 —
La France ä present (istam horam) est trhs
{multum) heureuse
D'etre gouvernee par Napoleon.
Les autres puissances en sont jalouses,
Comme du temps de son grand oncle (nonnus).
La France ogroussel Auguriosa — ogrousse —
heureuse, Dass romanische Leichtlebigkeifc und Leicht-
gläubigkeit, wie im vergangenen Krieg, keine andern
Vorbedeutungen als gute kennt, hat hier seine sprach-
liche Bestätigung; ja, Völkerpsychologie und Sprach-
wissenschaft decken sich. Beiläufig sei bemerkt dass
der Grossaugur unter welchem Frankreich so auguriosa
war, keineswegs den Erbfehler seiner Rasse theile, er
verstand sich genau auf Vögelflug und Vögelgeschrei,
und sehr verstimmte es ihn wenn die Hühner die
Bissen nicht frassen die er ihnen vorwarf (tripucUum
infaustlssimum). War es diese germanische Kühlheit
die ihm in so hohem Grade die Sympathien gerade
der deutschen (ci-devant) Provinzen Frankreichs er-
worben hat?
Unter den am östlichen Wasgenabhang gespro-
chenen französischen Mundarten haben wir nur über
eine, die des Steinthals, franz. Ban de la Roche aus-
führliche, freilich nun fast ein Jahrhundert alte Mit-
theilung. Sie rührt von dem bekannten Elsässer Ge-
lehrten Jeremias Jakob Oberlin (1735 — 1806) her,
dessen wohl noch bekannterer Bruder Johann Friedrich
im Steinthal Pfarrer war und sich um die Civilisation
desselben sehr verdient machte. Der E^sai sur le patois
lorrain des environs du comte du Ban de la Boche
(Strassburg 1775) ist dem Göttinger Schlözer gewid-
met, auf dessen Veranlassung er veröffentlicht wurde:
— 270 —
Votis jugiez qu'il seroit avantageux que Von fit des
recher ches ulterieiires sur le patois en giner ah ^t sur
celui de ces contrees en particulier, et que pour cet effet
on imprimdt en attendant ce petit essai. Mit derselben
Genugthuung mit welcher wir diese deutsche Anregung
französischer Dialektstudien konstatieren, lesen wir die
Verse am Schlüsse der Widmung, die uns freilich aus
dem Mund eines zu annektierenden Elsässers oder
Lothringers noch willkommener klingen wurden:
Vo8 a trop bi-n e vote aise;
On 7i'a mi dcht nos,
Biai Sire, ne vos depiaise,
Asi bi-n qu'on a dchi vos.
Das heisst wörtlich:
Vous etes trop bien ä votre aise;
On n'est pas {mica) chez nous,
Beau (Mon)8ieur, ne vous deplaise,
Aussi bien qu'on est chez vous.
Von demselben Oberlin erschien 1791 zu Strass-
burg: Observations concemant le patois et les mceurs
des gens de la campagne.
Die Mundart von Lapoutroie (Weissthal) soll sehr
sowohl vom Lothringischen überhaupt als auch gerade
vom Steinthalischen abweichen; nach französischem
Urtheil erinnert sie am meisten an das alte Keltisch.
Wir gedenken im Vorbeigehen der lexikographi-
schen Arbeiten die sich auf andere Lothringer Mund-
arten beziehen, nämlich der von Cordier für das De-
partement der Meuse und der von Kichard für das
Departement der Vosges, und auch speciell für den
Ort Dommartin bei Eemiremont.
Das Franc-comtois nähert sich, indem es die
Grenzen des Elsasses überschreitet, dem Lothringischen
— 271 —
sehr an, ja eine uns vorliegende Sprachprobe aus der
Altkircher Gegend zeigt sogar mehr charakteristische
Merkmale des Letzteren. Es fehlt uns, um ein sicheres
ürtheil zu fällen, an Stoff; Fallots Untersuchungen über
die Patois der Franche-Comtö, Lothringens und des
Elsasses (Montbeliard 1828) würden wohl Aufklärung
geben.
Es ist also das Lothringische welches über Mosel
und Wasgen herüber seine Zweige in das neue Deutsche
Beich streckt. Die Bepräsentanten desselben, das
Metzische und das Steinthalische locken den Linguisten
durch manche besondere Beize an, und zwar dieses
noch weit mehr als jenes, da es den Endpunkt eines
längeren Badius bezeichnet. Denn dass es im Gebirge
versteckt und gegen den Westwind geschützt liegt,
das getraue ich mir nicht in Anschlag zu bringen.
Würde doch ein Franzose der auf einer Beise von
Metz nach dem Steinthal den zunehmenden Barbaris-
mus studierte, in Luneville aus den Klängen des Patois
so ziemlich richtig die Halbwegsentfernung vom Stein-
thal heraushören. Wir können uns hier auf eine Cha-
rakteristik beider Mundarten weder in ihrem Verhält-
niss zueinander noch zur Schriftsprache einlassen ; eine
solche Charakteristik ist ein schwieriges Ding, sie ist,
dem Namen zum Trotz, nicht in wenige Worte zu-
sammenzufassen, und, was das Schlimmste ist, sie ist,
da sie sich fast ausschliesslich innerhalb der Lautlehre
zu halten hat, für den nicht völlig Eingeweihten trocken
und langweilig. Doch wollen wir wenigstens dem deut-
schen Chauvin zu seiner Freude mittheilen dass, welche
Einwendungen auch immer die französischen Beichs-
brüder gegen das neue Begiment erheben mögen, eine
-- 272 —
ihneu abgeschnitten bleibt, nämlich die: es sei ihnen
unmöglich deutsches h und ch auszusprechen. Wer
rahon für raison^ dom^halle (Magd) für demolselle,
chpäle für Spaule, laichi für laisser sagt, der ist des
Rechtes ledig die Eauhheit der anderen Sprache unter
die Gründe nationaler Antipathie einzureihen. Solche
antiromanische Aspirationen kennzeichnen den grössten
Theil der Westgrenze des Französischen, und es scheint
fast als ob nicht nur in den Gemüthern, sondern auch
in der Sprache die „Hoch", „Hussah", „Hailoh", „Hai-
diridoh" (s. Scheffel) unserer Vorfahren, die also fast
Sprachpioniere gewesen wären, einigen Eindruck hinter-
lassen hätten.
In der Konjugation haben die kommunistischen
Ideen der Franzosen eine merkwürdige, ich weiss nicht,
soll ich sagen Verwirrung oder Vereinfachung bewirkt.
Zunächst werden die Personen verwechselt, zwar nicht
das Mein und Dein — aber was eigentlich gerade so
schlimm ist — das Mein und Unser : durch ganz Frank-
reich sagt das Volk favons für nous avons (selten kommt
favons für fai vor). Dann, und dies ist wenigstens
im Norden allgemein gäng und gäbe, wird der Besitz-
stand der Personen verwechselt oder vielmehr Gemein-
gut : durch alle drei Personen des Plurals heisst es z. B.
dje, vos, il — aimine (nous aimions, vous aimiez, iU
aimaient). Das stolze Gebäude der lateinischen Kon-
jugation, welches mehr und mehr verfallen ist — daher
Stützen und Klammern als da sind Personalpronomina
und Hülfszeitwörter — bietet hier nicht einmal den An-
blick einer malerischen Ruine dar ; der praktische Geist
ist wie mit einem Hobel darüber hingefahren, und nur
selten wird das Auge für den Verlust antiker Säulen-
— 273 -
kapitale und Giebelschmucks durch einen mittelalter-
lichen Kragstein oder Dachrinnenausguss wie que
dje ßnisseusse (Jinisse) oder que f euiecince (eussions),
einigermassen entschädigt. Aber da wir hier Linguistik
noch ein wenig im Sinne des preussischen Landwehr-
manns Eutschke treiben, so haben wir vor allen
Dingen nach heimischen Wörtern umherzuhorchen.
In bedeutender Anzahl begegnen uns solche im Stein-
thal. So tritt uns verschiedenes Geflügel und Gewürm
unter deutschen Namen entgegen: chtork, Storch,
(Apatz^ Spatz, chnidre, chnadrelle, Eidechse (heisst
diese in irgendeiner Mundart „Schneider", „Schneider-
lein"?), chnoque^ Schnake, hohrnat^ Horniss, roupe^
Raupe, vov£indel, Wanze (im älteren Hochdeutsch
auch „Wentel", aus ursprünglichem wantlüs, Wandlaus,
woher die Romanen von Enneberg und Abtei in Tirol
ihr antbis haben). Dann eine ganze Reihe von andern
Substantiven, meist konkreter Bedeutung: bouocha^
Buche, buobe, Bube, chlitte, Schlitten, chnitses, Schnitze,
ehtande de beurre, Butterstand, chuebe, Schwefel,
hauoue, Haue, hofe, Hof, keubli^ Kühler, quoetckes^
Zwetschen (mundartl. „Quetschen"), voudle^ Wahl. Viele
Zeitwörter: ekelte, schelten, s' chutd^, sich schütteln,
erfär^, erfahren, fcerbk, färben, grodk, gerathen, kiUk,
kühlen. Wenig Adjektive: kiatte, glatt, vouonderli,
wunderlich. Sogar eine untrennbare Präposition in
frconü, sich ver-zählen, welches ein merkwürdiger
Fall internationaler Wortehe ist. In Luneville neben
ale auch iö, ja. Manche Wörter die Deutschen und
Franzosen gemeinsam sind, tragen deutsche Uniform;
so crappe, Krippe (crec/ie), Chtrosebourgue, Strassburg
(Strasbourg), Chuitze, Schweizer (Sidsse), oryelles, Orgel
Schuchardt, Romanisches n. Keltisches. 18
— 274 —
(orgues). Und wie heimeln uns nicht an Bcerbele,
Bärbel, Hairie, Heiri, Ouali, Uli, YSri/, Joerg ! Setzte
sich diese thalaufwärts gerichtete Wanderung deutscher
Wörter unablässig fort, so würden die Steinthaler
schliesslich in die gleiche Lage kommen wie ein ge-
wisser Völkerstamm Südamerikas im vorigen Jahr-
hundert. Derselbe entdeckte nämlich eines Tages dass
alle Wörter deren er sich bediente, spanisch waren, und
ihm von der alten Sprache weiter nichts als die Gram-
matik geblieben war, dass er also rufen konnte : Alles
verloren, nur die Ehre nicht. Aber deshalb darf man
nicht zu voreilig diese fremden Elemente im Patois
als die siegreichen Spitzen des feindlichen Heeres be-
trachten; könnten sie nicht auch abgeschnittene und
gefangene Heeresmassen, nicht auch Deserteure be-
deuten? Annektieren sie oder werden sie annektiert?
Die Frage ist gerade ebenso schwierig zu beantworten
als die : ob die Deutschen in Paris den Parisern, oder
diese jenen mehr zu verdanken haben. Immerhin steht
das Eine fest: wo zwei Sprachen bei sonst gleichen
Bedingungen um ein Terrain ringen, wird diejenige
den Sieg davon tragen welche am meisten aus dem
Wortschatze der andern annimmt, die sprödere, heiklere
unterliegen. Jene hat den Nachtheil übel zugerichtet
zu sein, den Vortheil den Platz zu behaupten. Es
kommt also auch hier, wie beim Maccaroniwettessen,
auf den guten Magen an. — Spärlicher und weniger
leicht erkennbar ist der deutsche Beisatz im Metzischen,
z. B. : chZon^, schlagen, chp^keur, Spieker (Schiffsnagel),
couesse^ Zwetsche, handU^ kehren, houre, rocha, Bock
(vgl. franz. röchet, Chorrock). Die Wörter germanischen
Ursprungs gehören nämlich hier schon meist derselben
— 275 —
Kategorie an wie die in den Mundarten des innern
Frankreichs, d. h. ihre Matrikel ist eine sehr alte.
Die Mundarten stehen hierin noch auf der Stufe des
Altfranzösischen, das an solchen Wörtern viel reicher
ist als die neufranzösische Schriftsprache, obwohl auch
so der Akademie der Schmerz nicht erspart geblieben
ist fast auf jedem Blatt ihres Wörterbuchs Spuren
barbarischer Invasionen verzeichnen zu müssen. Hr.
fidelestand du M6nl scheut, damit er nichts mit den
Deutschen zu thun habe, die weite Fahrt nach Island
nicht um von dort allen barbarischen Wortvorrath der
romanischen Sprachen herzuholen ; doch dünkt es uns,
er habe zu viel mitgebracht, denn sollte erst der
Isländer den Italiener das andare (andra) und den
Franzosen die courtoisie (kurteisi) gelehrt haben ? Frei-
lich erschien seine Ilistoire de la pohie scandinave zu
einer Zeit in welcher man schon stark nach dem deut-
schen Ehein schielte, und ein gelinder Wahnsinn alle
guten Franzosen befing, womit indessen keineswegs
gesagt sein soll dass dieser Wahnsinn bei ihm ein
vorübergehender gewesen sei. üebrigens dürfte auch
neuerdings, während der Feldzüge von 1814 und 1815
und nachher, manches deutsche Wort tiefer nach Frank-
reich hineinverschlagen worden sein. — Im Steinthal
merkt man noch an manchem Anderen die deutsche
Nachbarschaft. So sind z. B. den deutschen Wörtern
„Katze", „Arbeit", „Predigt", „Luft" zuliebe chat^
travail, preche, air zum weiblichen Geschlecht über-
getreten. Bekannt ist die romanische Unbeständigkeit
des Adjektivs, das seinem Substantiv bald voraneilt,
bald hinter ihm herhinkt. Der Deutsche sieht auf Zucht
und Ordnung ; er stellt es immer vor. Die Steinthaler
18*
— 276 —
haben manche Neuerung in deutschem Sinne gemacht ;
sie sagen z. B. d^aigres-dchottes für des chorix aigres^
sdvaidge djas für coq sauvage. Die Malmedyer, nun
schon geraume Zeit Preusseu, haben es noch weiter
gebracht: Veras vai für le veau gras ist ihnen mund-
gerecht worden ; doch möchten wir warnen einen direk-
ten landräthlichen Einfluss vorauszusetzen.
Die Geschichte der französischen Sprachgemeinden
am östlichen Abhänge der Wasgen ist noch nicht auf-
gehellt. Man berufe sich nicht auf deutsche Orts-
namen, mit denen es sich verhalten kann wie mit
manchen in Graubünden, Tirol und Friaul. Zu Botbau
und Waldersbach im Steinthal erscheint das Bomaniscbe
als altansässig; und wenn die Bothauer die Walders-
bacher grobiches nennen (was von diesen durch hablas,
d. i. hableurs erwidert wird), so deutet dies nicht
etwa auf die grob-germanische Abkunft der Letzteren,
sondern bezieht sich darauf dass bei ihnen der Ge-
brauch des Lautes ich in höchster Blüthe steht, der zu
Bothau unbekannt ist; grobiches wird gesagt für gro-
büches, Dickschnäbler. Auch lasse man sich, wenn
man die sonst treffliche Kiepert'sche Karte der Grenz-
länder vor sich hat, nicht durch die gelbe Farbe
beirren, welche früher deutsches, seither grösstentheils
französisch gewordenes Sprachgebiet bezeichnet. Viel
wahrscheinlicher ist es uns dass hier das Germanische
das Bomaniscbe zurückgedrängt habe als dass es von
ihm zurückgedrängt worden sei. Aber es ist noch ein
anderer Fall denkbar: es ist weder germanisiert noch
romanisiert worden; jede Gemeinde ist bei ihrer ur-
sprünglichen Sprache verblieben, und die Gemischtheit
des Sprachgebiets ist nicht so zu erklären dass Grenz-
— 277 —
festungen darch Eroberung aus der einen Hand in die
andere übergegangen sind, als vielmehr so dass die
Demarkationslinie von der einen oder von beiden Seiten
durch Kolonisation überschritten worden ist. So besteht
Markirch (Leberthal) aus zwei Kirchspielen, einem früher
lothringischen und einem elsässischen, die eine Brücke
über den kleinen Pluss verbindet. Jenes ist katholisch
und französisch, dieses protestantisch und deutsch, und
sogar in Sitte und Kleidung verräth sich die ver-
schiedene Abstammung. Wenigstens bestand dieser
Gegensatz vor nicht zu langer Zeit noch in seiner
ganzen Schroffheit; seitdem mag er sich vielfach ver-
wischt haben. Da in diesem Orte sogar manche Häuser
zu einem Theil dieser und zum andern jener Provinz
angehörten, so sagte man scherzend : „man macht das
Brod im Elsass, und man bäckt es in Lothringen",
oder „die Frau schläft im Elsass und der Mann in
Lothringen".
Neben dem besprochenen Französisch haben wir
in den neuerworbenen Provinzen noch ein anderes
Französisch, das allerdings vom rein linguistischen
Standpunkt weniger beachtenswerth erscheint, um so
mehr aber von jedem andern; neben diesen trotzigen,
ungeschliffenen Patois, welche, um hier an der Grenze
jede unliebsame Erörterung von vornherein abzuschnei-
den, mit kühner Umgehung des Römerthums auf ihre
keltische Herkunft pochen, haben wir ein Französisch
von feinen Formen und einschmeichelndem Auftreten,
welches per Achse aus dem „Mittelpunkte der Civilisa-
tion" hieher verpflanzt worden ist. Noch lagert über
— 278 —
dem Deutschen dieses Französisch gleichsam wie eine
Nebelschicht ; aber es würde sich allmählich verdichtet
und jenes erstickt haben. Ja, es sind im Elsass,
weniger in Deutschlothringen, sehr wesentliche Ansätze
zu einer Komanisierung vorhanden, die in nächster
Zukunft wahrscheinlich rasche Fortschritte gemacht
hätte, die aber nun Marte nostro auf immer unmöglich
geworden ist. Der Plan war vorgezeichnet: at enhn
Opera data est ut imperiosa civitas non solum jugum,
verum etiam linguam suam domitis gentibus per pacem
societatis imponeret, wie der hl. Augustin sagt. Es
wirft sich nun eine doppelte Frage auf, die nach dem
jetzigen Thatbestand, dem statistischen Verhältuiss des
Französischen zum Deutschen, und die nach dem ge-
schichtlichen Verlauf, den Mitteln der Französierung
und ihren Hindernissen. Bis unter der deutschen Ver-
waltung genauere Erhebungen veranstaltet werden, sind
wir auf französische Quellen angewiesen, und besonders
auf die sehr interessante: La langue frangaise dans
les d^partements de VEst, ou des moyens et des mStJiodes
ä employer pour propager la langue nationale dans les
parties de VAlsace et de la Lorraine oii Vidiome alle-
mand est encore en usage, Par J, Wirth, Paris 1867,
Hier wird die Frage dahin beantwortet dass von
mehr als einer Million Franzosen deren Muttersprache
Deutsch ist, die Hälfte kein Wort Französisch ver-
stehe, und kaum ein Viertel in dieser Sprache sich
ausdrücken könne (S. 16). Es wird beispielsweise
angeführt dass 1866 im Arrondissement Weissenburg
von 1026 Konskribierten 472 kein Wort Französisch
verstanden, und hinzugefügt dass im ganzen Departe-
ment das Verhältniss das gleiche sei, und in Deutsch-
— 279 —
lothringen mit 129,508 Einwohnern auf 90 : 100 steige.
Dass die Zweisprachigkeit zum grössten Theil in der
städtischen Bevölkerung und nur zu einem sehr geringen
in der ländlichen vertreten ist, bedarf kaum der Er-
wähnung. Was ein ebenso wesentliches Moment, aber
im einzelnen schwer festzustellen ist, sind die ver-
schiedenen Abstufungen der Zweisprachigkeit. Beson-
ders ist dabei im Auge zu behalten dass Verstehen
•
und Sprechen keineswegs in gleichem Verhältniss zu-
nehmen, und dass wiederum in Bezug auf dieses ver-
änderliche Verhältniss die Individuen sehr voneinander
abweichen. Daran reiht sich die weitere Wahrnehmung
dass in den meisten Fällen in denen die höchste Fertig-
keit im Sprechen erreicht worden, die Qualität des
Französischen hinter derselben ein gutes Stück zurück-
geblieben ist. Das in reiner Form nach dem Elsass
eingebürgerte Französische unterliegt einer bedenk-
lichen Inficierung von Seiten des Deutschen, für welche
es nur geringe Vergeltung auszuüben vermag. Am
schwierigsten weist einen solchen Einfluss die Aus-
sprache ab, vorzüglich deren musikalische Seite, der
Rhythmus und der Accent. Die Franzosen beklagen
sich darüber dass die Elsässer die deutsche Prosodie
ins Französische übertragen, und dass sie beim
Sprechen den Mund nicht genug öffnen, sodass jene
dumpfe Aussprache tmlesque entstehe. Erkennen doch
sogar wir Deutschen die Elsässer unter den Kriegs-
gefangenen sofort an ihrem Accent und noch mehr
allerdings an den eigentlichen Fehlern der Aus-
sprache, besonders jener behaglichen Gleichgültigkeit
in Betreff des Schwingens oder des Nichtschwingens
der Stimmbänder bei Erzeugung der Konsonanten,
- 280 —
welche uns so sympathisch berührt dass wir ausrufen
möchten: „Kommt an unsere Brust, Elsässer, wohin
ihr gehört! Euer Herz sei wo euer Mund ist! Ihr
lernt doch nimmer Französisch, nicht jenes Französisch
das im Glänze der Urbanität strahlt; drei Worte aus
eurem Mund, und man weiss dass ihr Keller oder
Schneider oder Köchly heisst. Die Franzosen haben
den gaskognischen Accent, sie haben den provenzali-
scfien, den pikardischen, den elsässischen. Warum ist
ihnen der elsässische am fürchterlichsten? Weil er
von germanischem Hauch angekränkelt ist, und sie
die Germanen hassen. Man verlacht euch um eures
Accentes wie um eurer Tournüre willen; ihr seid die
beliebten Figuren der Bühne und des Komans. Ihr
gleicht dem Skythen des Aristophanes, dem Pränestiner
des Plautus, dem Dalmatiner des Andrea Calmo, dem
Walliser Shakspeares. Und wenn man euch euren
Accent überhaupt vergibt, so ist es weil er einen so
pikanten Zusatz zu den Beizen der hübschen Alsaciennes
bildet . . . ." Es gibt aber nicht bloss einen Elsässer
Accent („Accent" als feinste Blüthe der Aussprache
wird oft im Sinne von Aussprache überhaupt gebraucht),
sondern auch ein Elsässer Französisch, ein mit Ger-
manismen durchsetztes Französisch. Hier einige Proben
davon: Est-ce que cela vous goüte? II a frappi dix
heures, II brule chez M. Meyer, Ce qui est Uger, vous
Vappendrez fadlement, Cher ami, ne prends pas pour
mauvais, Pas si beaucoup, Attendez, fapporterai une
citadine. Der Franzose ist versteinert wenn er Solches
hört; mais c'est du haragouin^ c'est inintelligible ! ruft
er aus. Man beachte wie rasch der Franzose mit
diesem Wort inintelligible bei der Hand ist, ohne zu
— 281 —
bedecken dass ein allzu häufiger Gebrauch desselben
wenig schmeichelhafte Vorstellungen von seinen geisti-
gen Kapacitäten erwecken dürfte. Es mag sein Ohr
und sein Sprachgefühl sehr fein und empfindlich sein,
und er mag daher von schlechter Aussprache und
inkorrekter Rede besonders unangenehm berührt wer-
den; ist es aber deshalb noth wendig gleich den ver-
zweifelten Standpunkt des Nichtverstehens einzuneh-
men? Das Ohr des Italieners ist noch viel empfind-
licher, und wie wunderbar gelingt es gerade ihm den
geheimnissvollen Artikulationen hinter dem Zahngeheg
eines Britten den rechten Sinn beizulegen ! Sicherlich
reden sich die Franzosen um der Eleganz willen diese
inintelligibllite meistens selbst ein — wenigstens be-
greifen sie die dumpfen Kundgebungen unserer Krieger
ziemlich leicht. Wenn die Elsässer nicht selten
schlechter Französisch sprechen als manche Deutsche,
so kommt dies daher dass sie aus schon getrübter
Quelle schöpfen. Das Französische wird nicht in dem
Grade wie das Wasser eines Aquariums, sondern nur
durch einen verhältnissmässig geringen Zuzug aus dem
Innern Frankreichs erneuert. Und jene Fehler der
Aussprache und der Rede, gerade weil sie so früh, in
der Schule oder in der Familie, angelernt sind, werden
später, auch in Pariser Luft, schwer wieder abgelegt.
Werfen wir noch einen flüchtigen Blick auf die
Geschichte der französischen Propaganda, namentlich
im Elsass (Wirth Kap. IV und V). Man muss gestehen
dass hier vor der Revolution die französische Sprache
so gut wie keinen festen Boden gewonnen hatte. Zwar
nahm das Provincialparlament gleich anfangs das Fran-
zösische als Geschäftssprache an, und die drei Räthe
- 282 -
deutscher Zunge wurden bald beseitigt. Dagegen be-
stimmte erst ein Erlass vom 30. Jänn. 1785 dass die
Sprache alles öffentlichen Verfahrens die französische
sein müsste. In Strassburg aber herrschte bis zur
grossen Umwälzung ausschliesslich das Deutsche. Die
Jakobiner erklärten dem Deutschthum einen erbitterten
Krieg ; unter anderm wurden am 27. und 30. Jänn.
1794 die ecoles de langue gegründet. Unter dem ersten
Kaiserreich und der Eestauration machte dann das
Französische wieder geringere Fortschritte; eine neue
Aera begann für dasselbe erst mit dem Gesetz über
den Volksunterricht vom 28. Juni 1833, besonders sind
die Kleinkinderschulen ein wesentliches Werkzeug seiner
Verbreitung geworden. Und unter der letzten napo-
leonischen Regierung scheint die Französierung an
Nachdruck bedeutend zugenommen zu haben. Wenig-
stens sagt Wirth S. 92 : En Alsace, c'est surtout depiiis
1850 que Vimpulsion en faveur de la langue frangaise
%fut donnee d'en haut, et qu*elle trouva un concoitrs dans
les couches niemes de la population ou eile rencontrait
jadis de la rhistance. In diesen Worten liegt auch
das Verhalten des Volks zu der aufgedrungenen Sprache
angedeutet. Der Samen des Französischen konnte auf
keinen weniger empfönglichen Boden fallen als auf
diesen. Französischen Esprit in den harten Alemanncn-
schädel, französisches j in die Kehle die sich am ch
so vergnügte, zu verpflanzen, das musste eines der
schwierigsten Unternehmen sein. Der Widerstand dieses
zähen, konservativen Stammes gegen Sprachneuerung,
bekanntermassen vom Klerus nach Kräften unterstützt,
hat daher den politischen Gegensatz bis heut überdauert.
Um nur Eines hervorzuheben, so beweisen die Berichte
— 283 —
über die Gemeindebibliotheken dass in den Dörfern und
selbst in einigen Städten weit mehr deutschen als
französischen Büchern nachgefragt wird ; ja der Präfekt
des Bas-Khin beklagte sich darüber dass die Behörden
einer Gemeinde ihm vorgeschlagen hätten die Gemeinde-
bibliothek ausschliesslich aus deutschen Büchern zu-
sammenzusetzen (Wirth S. 128). Allein all dieser
Widerstand hätte schliesslich nur um der Nützlichkeit
willen aufgegeben werden müssen. In einem so cen-
tralisierten Lande wie das napoleonische Frankreich
war Kenntniss der Ländessprache für jeden der auf
irgend einer Bahn vorwärts kommen wollte, eine un-
bedingte Nothwendigkeit. Dazu ist nun allerdings in
den höheren Klassen noch ein gesteigertes, ja über-
steigertes Nationalgefühl getreten, und vornehmlich
unter der heutigen Jugend zählt das Franzosenthum
seine eifrigsten Anhänger, die freilich auch wie Schmet-
terlinge vom Brennpunkt Paris angezogen werden. Es
sind nicht bloss Franzosen, es sind Fransquillons, die
sich bemühen das von der Mutter erlernte Deutsch zu
vergessen oder die es zum mindesten verleugnen. Wirth
hat vollkommen Kecht wenn er S. 20 sagt: On refuse
ä la France le genie de la colonisation ; c'est peut-etre
vrai, inais on ne peut certes pas lui contester le genie
de V assimilation. Auch das Landvolk, das noch heute
die gross te Abneigung gegen das „Wälsche" an den
Tag legt, würde allmählich durch die Rücksicht auf
den Vortheil dazu bestimmt worden sein die Erlernung
der fremden Sprache geradezu zu wünschen. Mit so
lebhaften Farben schildert Wirth die Hülflosigkeit
und gelegentliche Vereinsamung der Bauern die nicht
Französisch verstehen, sowie den daraus erwachsenden
— 284 —
moralischen Schaden dass wir sagen müssen, dieser
mittelbare Sprachzwang ist härter und grausamer als
der unmittelbare. Wir stimmen ihm bei: jene Ge-
genden in denen das Französische unbekannt ist, sind
unglückliche Gegenden, aber deshalb weil Leute die,
auch wenn sie es wollten, keine Gelegenheit und keine
Mittel hätten Französisch zu lernen, mit vollständiger
Nichtberücksichtigung dieser Thatsache französisch
regiert werden. Darf man wohl sagen: Ignorantia
linguae non excusat^ Wirth erzählt im zweiten Kapitel
eine Keihe tragikomischer VorföUe {Trihulations d*une
famille alsacienne qui ne savait pas le frangais) welche
beredter als jede Auseinandersetzung die Annexion des
Elsasses an Deutschland befürworten. Hier ein Auszug
davon.
Der Held dieser Geschichte heisst der Schulzen-
peter und ist Maire eines Dorfes das 15 Kilometer
von Strassburg entfernt liegt. Die Kenntniss der
französischen Sprache beschränkt sich im Dorf auf
wenige junge Leute die im Militär gedient haben, und
auf den Pfarrer und den Schullehrer. Sogar bei dem
Letztern ist sie eine sehr ungenügende. Der Maire
empfängt einst von der Präfektur eine Krankheiten-
tabelle zum Ausfüllen, und der Lehrer, zugleich Ge-
meindeschreiber setzt in die Kolumne die für die crkim
bestimmt ist, in Folge der kühnen Gleichung cräins
= chritiens die Worte: Cretins? nous le sommes tous.
Ein anderes Mal erhält die Präfektur auf die Frage
nach den Antecedentien eines Bittstellers die erbau-
liche Antwort: Tous les antecMents du postulant sont
decMh, In diesem von zwei Jahrhunderten franzö-
sischer Herrschaft so wenig berührten Dorfe trifft nun
— 285 —
eines Tages plötzlich der Präfekt ein, der natürlich in
das grösste Erstaunen geräth .als er niemanden findet
der ihn versteht. Der Maire, dessen Haus er nicht
ohne Mühe ermittelt, antwortet auf seine Fragen:
„Nichts wälsch!" Aber Toni, der Knecht des Maire,
gewesener Kürassier wird der rettende Engel des Prä-
fekten, d. h. sein Dolmetscher. Die Schulbesichtigung
liefert ein wenig befriedigendes Ergebniss, kein gün-
stigeres die Verhandlung mit dem versammelten 6e-
meinderath. Letzterer beschwert sich über den Steuer-
einnehmer, der seine (französisch geschriebenen) Eech-
nungen ihnen nicht habe erklären wollen und ihnen
gesagt habe: „Geht in die Schule und lernt lesen."
Nach der Abreise des Präfekten lässt der Maire seinem
Unmuth freien Lauf: „Sollte man nicht meinen dass
auch der Präfekt uns in die Schule schicken wollte?
Als ob er nicht mehr Zeit hätte Deutsch zu lernen.
Ich habe Hrn. Lezay-Marnösia und Hrn. Sers gekannt ;
das waren tüchtige Präfekten, sie sprachen Deutsch
wie ihr und ich, und waren doch keine Elsässer."
Der Pfarrer stimmt, wie wohl jeder Vernünftige
thun muss, dieser Auffassung bei und motiviert sie
näher. Infolge der hohen Orts gemachten Ent-
deckungen wird der alte Lehrer durch einen jungen
ersetzt; der Maire macht aber nicht diesen, sondern
einen früheren Gerichtsboten zum Gemeindeschreiber.
— Ein Strassburger Professor, leidenschaftlicher Bota-
niker lässt sich durch die deutsche Warnungsinschrift
„Verbotener Weg" nicht aufhalten, indem er sich sagt:
„In Frankreich kann nur das Französische Gesetzeskraft
haben." Dieser Anschauung halber verurtheilt ihn der
Maire zu 10 Franken Busse. Einige Tage darauf
— 286 —
kommt dem Adjunkten des Maire eine Ausfertigung
der Präfektur zu, des Inhalts dass der Maire est suspendu
de ses fonctions. Der Adjunkt bittet den Briefträger
sie ihm zu übersetzen; dieser aber dringt auch nicht
tiefer in das Verständniss des französischen Textes
ein als um zu erkennen dass mit dem Maire irgend
etwas vorgenommen werden müsse. Aber was? ein
Taschenwörterbuch wird zu Rath gezogen: suspendu
bedeutet „aufgehängt". Der Maire soll gehängt wer-
den! Gehängt! gehängt! Furchtbarer Schrecken, bis
die Aufklärung durch den Pfarrer erfolgt. An die
Stelle des Schulzenpeter kommt ein junger Mann, und
dieser betraut den jungen Lehrer mit dem Gemeinde-
schreiberposten. — Der alte Maire und der von ihm
ernannte Gemeindeschreiber (der in der That ein
Schurke ist) werden der Erpressung angeklagt und
nach Strassburg abgeführt. Nach drei Monaten Haft
erscheint der Schulzenpeter, um zehn Jahre gealtert,
vor dem Gerichtshofe. Keine Worte können die Innern
Qualen ausdrücken welche ein Angeklagter empfinden
muss wenn er die Anklageakte, den Antrag der Staats-
anwaltschaft, die Rede seines Vertheidigers , die Er-
widerung, kurz alle Verhandlungen anhört ohne etwas
Anderes zu verstehen als dass sein Name jeden Augen-
blick genannt wird. Der Unglückliche wirft flehende
Blicke bald auf den Gerichtshof, bald auf die Ge-
schwornen, als ob er in den Augen eines Jeden das
Loos welches ihn erwartet, zu lesen hofl'e. Bei der Ver-
kündigung des ürtheils sieht er seinen Mitangeklagten
erblassen und glaubt auch sich verurtheilt, während
er in der That freigesprochen ist. Ohnmächtig sinkt
er zusammen ; als er den Sachverhalt erfahrt, weint er
- 287 -
wie ein Kind. Da erst wird ihm der Ausruf abgepresst :
„Ich gäbe die fünf Finger meiner Hand darum Französisch
sprechen zu können!" — Peter will eine Reise machen
und zwar mit der Eisenbahn. Aber weil er Ribeauvill^
und Saint-Hippolyte nicht mit Rappschwihr (dem Ziel
seiner Reise) und Sankt-Pilt zu identificieren weiss, ver-
säumt er den einen Zug und fahrt mit dem andern eine
Stunde über sein Ziel hinaus. — Seinen ersten Sohn
hat er vom Militär losgekauft ; aber sein zweiter, Toni
besteht darauf zu dienen, um Französisch zu lernen.
Er macht in Versailles alle möglichen Leidensproben
durch und erkrankt schliesslich ; ohne im entferntesten
seine Absicht erreicht zu haben, in unentweihter
Deutschheit, kehrt der venire de choucroute zum väter-
lichen Herd zurück.
Die Mehrzahl der Elsässer und Deutschlothringer
befindet sich ganz in derselben Lage wie der Schulzen-
peter. Ist diese Mehrzahl als Franzosen zu betrachten ?
Nein ! Sie haben nicht die geringste innere Berührung
mit den „Wälschen", die wälsche Phrase gleitet wir-
kungslos an ihren Ohren ab , der wälsche Text von
Kellers Rede die ihren Patriotismus vor ganz Frank-
reich verherrlicht, enthält für sie keinen Sinn. Napoleon
ist ihnen ein hieroglyphisches Symbol, Gambetta eine
verworrene Mythe. Sie können keine politische Meinung
haben über Dinge von denen ihnen jede eigene An-
schauung fehlt. Man hat uns hundertmal gesagt, wir
sollten die Pariser Presse nicht für den Meinungsaus-
druck von Paris halten. Und mit welchem Recht sollten
wir den französischen Kundgebungen französierter El-
sässer Glauben schenken wenn sie im Namen der deut-
schen Elsässer sprechen ? Diese sind keine Franzosen !
— 288 —
Mögen sie die Deutschen noch so sehr verabscheuen,
mögen sie sie für den Antichrist oder für Kinderfresaer
halten, mögen sie aus Häusern und Hecken auf sie
schiessen, wie die Chouans auf die Republikaner, sie
sind keine Franzosen, sie sind Deutsche ! Waren denn
nicht auch diesseit des Rheins Deutsche gegen Deutsche
erbittert? und wie rasch hat das Blut und der Seh weiss
des Krieges als Oel des Friedens die stürmisch erregten
Fluthen geglättet! Manche Dirne zahlt den ersten
Kuss mit einer Ohrfeige heim und liebt nachher treu
und innig.
Obwohl Wirth von der durchgängigen üeberlegen-
heit Frankreichs über Deutschland (den Volksunterricht
etwa ausgenommen) durchdrungen ist, so athmen seine
Vorschläge doch weise Mässigung; er will nicht, wie
mancher Andere, die deutsche Sprache in Elsass und
Lothringen ausrotten — seinerseits wäre dies freilich
auch Mutteimord — , er will sie neben dem Französi-
schen fortbestehen lassen, damit das Elsass die geistige
Veimittlung zwischen Frankreich und Deutschland
übernehme. Wir glauben nicht an den Segen der
Zweisprachigkeit; wenn man mit Recht gesagt hat
qu'une population qui parle deux langues, a deux cordes
ä 8on arc, so hat man vergessen hinzuzufügen dass
keine dieser Sehnen sehr straff ist. Was wir aber
sicher wissen, ist dass das Elsass in französischen
Händen nie jene Aufgabe erfüllt haben würde. Wie
ausserordentlich wenig hat es, trotz der günstigen Vor-
bedingungen, bis jetzt dazu beigetragen beide Kulturen
zu verbinden ! Gerade hier entwickelte sich mehr und
mehr eine lebhafte Feindschaft gegen Deutschland und
alles Deutsche. Nichts von einem sanften Vermischen
— 289 —
beider Meere! Die ostwärts rollenden Fluthen des
einen stauten sich zu wilder Brandung auf. Und wo
in der That das Deutsche in den französischen Gesichts-
kreis tritt, da erscheint es meist verzerrt wie auf einem
Eugelspiegel. Wir bekennen offen nicht einmal für
die deutschen Dorfgeschichten in französischem Ge-
wände zu schwärmen; sie machen uns einen zwitter-
haften, unbehaglichen, unwahrscheinlichen Bindruck,
mit dem alten deutschen Vaterland als nebelhaftem
Hintergrund. Was weiss der Franzmann von Deutsch-
land! Das Deutschland wie es sich zur Zeit der Re-
volution und des ersten Kaiserreichs auf die glänzende
Wandfläche des französischen Euhms abspiegelte, das
hat sich als Bild fixiert. Das Land einerseits Goethes
(welcher lui-mSme, vers la fin de ses jours, regrettait
de n^avoir pas Scrit en frangaia Wirth S. 21) und
seines blonden sentimentalen Gretchens, andrerseits
hirschehetzender Pfalz- und Landgrafen und lächerlich-
devoter Hofmarschälle ! „Die Grossherzogin von Gerol-
stein" war den Franzosen ein deutsches Sittenbild;
war es ihnen, denn jetzt werden sie sich überzeugt
haben dass die ürtypen jener Karikaturen eher im
heutigen Frankreich als im heutigen Deutschland zu
entdecken sind. Vielleicht regen nun Rachegedanken
die Franzosen zu einem eifrigen Studium der deutschen
Verhältnisse und der deutschen Sprache an; aber wir
hoffen, das Mittel wird den Zweck zerstören : wenn sie
uns wirklich kennen, werden sie uns nicht mehr hassen.
Dann mag das Elsass in deutschen Händen das werden
was es in französischen nie geworden wäre, eine Brücke
zwischen germanischer und romanischer Intelligenz.
Damit es dies werde, aber auch damit es seiner nächsten
Schuchardt, Romanisches u. Keltisches. 19
— 290 —
Aufgabe genüge fest in das neue Vaterland einzu
wachsen, dazu ist von Seite der deutschen Verwaltung
ein genaues Studium der Sprachverhältnisse und dann
eine sorgfältige Einrichtung des Volksunterrichtes er-
forderlich.
Doch nun da auf den Thürmen die weisse Fahne
weht, gereut uns fast manch bitteres Wort. Denn
wenn es gilt nicht nur die Geister, sondern auch die
Herzen der Völker einander anzunähern, so ziemt vor
allem den Siegern dieses Bestreben. Wir Deutschen
aber, oder vielmehr wir Norddeutschen leiden an einem
Fehler der uns bei diesem Bestreben durchaus hinder-
lich ist. Wir sind unduldsam in Gefühlssachen. Viel-
leicht weil wir dieses Gebiet gar nicht als ein selbstän-
diges anerkennen, weil bei uns die Unduldsamkeit des
Denkens, die Logik sich in Alles mischt, weil wir zu
viel beweisen. Jedenfalls erhält dadurch unser ürtheil
über andere Nationen vielfach eine abfällige Schroff-
heit; wir wundern uns nicht nur dass sie nicht so sind
wie wir, wir tadeln sie deshalb. Doch Eines schickt
sich nicht für Alle, jede Nationalität hat das Kecht
ihres eigenen Charakters. Dieser ist bis zu einem
gewissen Grade der Modifikation fähig, aber der Grund-
zug ist unzerstörbar: naturam expellas furca, tarnen
usque recurret Und es ist dies zum grössten Theil
in den äusseren Bedingungen des betreffenden Landes
begründet. Es gibt ungemein wenig Kosmopoliten,
obwohl ungemein Viele sich so nennen; die Meisten
sind nur in einem ganz bestinmiten Element sie selbst.
Man verpflanze den Franzosen — natürlich ist die
Wahrnehmung nur an grösseren Massen, besonders an
den Truppen zu machen — nach Italien, und binnen
— 291 —
einer gewissen Zeit wird er sein Wesen verändern,
wird ausarten. Italien ist ihm zu heiss; Deutschland
zu kalt. Die Kriegsgefangenen in Spandau lassen von
Zeit zu Zeit Causerien, unter dem Titel PrometMej
erscheinen, um inmitten der alten gaieti gavloise
wieder aufzuleben. Aber hier zuckt der französische
Esprit matt wie ein Fisch auf dem Sande. Jedes
Volk muss seine eigene Bahn gehen, muss den meistern-
den Einfluss jedes andern abweisen, aber darf und muss
auch von jedem andern in Freiheit lernen. Feindselige
Gegensätze müssen versöhnt werden. Römer und Ger-
manen haben in Europa je zweimal oben gestanden:
jene zur Zeit von Augustus und von Ludwig XIV.,
diese zur Zeit von Karl dem Grossen und heute. Wie
unsere Vorfahren von den besiegten Eömern lernten,
so haben auch wir von den besiegten Romanen zu
lernen. Wir sind ein so grosses Volk geworden dass
man es uns jetzt nicht mehr falsch deuten wird wenn
wir ein ganz klein wenig Liebenswürdigkeit, Grazie,
GeföUigkeit zu unseren übrigen Tugenden hinzufügen.
Die Phrase hassen wir. Aber ein grosser Gedanke
kann eine schöne Form ertragen. Arbeiten wir so von
innen nach aussen, so werden wir mit andern Völkern
die von aussen nach innen arbeiten, Berührung finden,
ihnen verständlich werden. Man lasse uns nicht das
Wort hören: „Wir brauchen die Andern nicht; wir
sind uns selbst genug." Die moralischen Eroberungen
die wir abbrechen mussten, sollten wir nun wieder auf-
nehmen und diesen Ausdruck zu den höchsten Ehren
bringen; dann wird das Deutsche Reich den Namen
verdienen welchen die Römer dem ihrigen gaben : Pax
nosira.
19*
XV,
Eine Diezstiftung.
Unter allen äusseren Zwecken welchen die Wissen-
schaft dienen kann, gibt es gewiss keinen edleren als
den: die Völker zu versöhnen und zu befreunden.
Die wahre Wissenschaft ist international, und sie be-
trachtet dies, trotz „schwarzer" und „rother" Inter-
nationale, als einen Ehrentitel. Dass der grosse Krieg
welcher so viele Verhältnisse in Verwirrung brachte,
auch auf dem Gebiete der Wissenschaft seine Nach-
spiele fand, erscheint begreiflich; weniger dass hier
die Herausforderung nicht immer von den Franzosen
ausging. Nach solcher Niederlage war alle Leiden-
schaftlichkeit entschuldigt, nach solchem Sieg alle
Grossmuth geboten. Es hat aber unter den französischen
Gelehrten nicht an solchen gefehlt welche sich in
ihrem unparteiischen Urtheil durch ihren patriotischen
Schmerz nie beirren Hessen, und wiederum unter den
deutschen Gelehrten nicht an solchen die rein wissen-
schaftliche Gelegenheiten zu politischen Ausfallen
missbrauchten. Wer nicht meint, der Friede sei nur
eine Pause um für den Krieg zu rüsten, der muss
wünschen dass die zerrissenen Bande wieder zusammen-
geknüpft werden, ja fester als sie es waren, und fär
diese Aufgabe haben sich gerade die Männer der
Wissenschaft zu begeistern. Sie würden ein Unrecht
— 293 —
begehen, wollten sie nicht jeden Anlass ergreifen den
Missstimmungen und Missverstandnissen zwischen den
Völkern entgegenzuwirken. Kein günstigerer aber
kann gedacht werden als der welchem die folgenden
Zeilen gewidmet sind.
Die gemeinsame Abstammung der romanischen
Sprachen hat zwar immer in dem Bewusstsein derer
gelebt welche sie redeten, aber erst spät ist sie zum
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden.
Auch dann wurde das Verhältniss dieser Sprachen
zueinander und zum Latein nicht sofort richtig erfasst;
einem Deutschen, Friedrich Diez in Bonn blieb es
vorbehalten uns von der Entwicklung des Eomanischen
in Zeit und Baum ein genaues, klares, schönes Bild
zu liefern. Er ist der Begründer der romanischen
Sprachwissenschaft, ja wir dürfen wohl allgemeiner
sagen: der romanischen Philologie, wenn wir bedenken
dass nur auf dem Boden der vergleichenden Sprach-
forschung die Kritik der alten Texte und die Prüfung
der litterarischen Anfange gedeihen kann. Der von
ihm ausgestreute Samen hat lange gebraucht um auf-
zugehen, aber in dem letztverflossenen Jahrzehnt scheint
das Versäumte reichlich nachgeholt worden zu sein,
und zwar besonders durch die lebhafte Betheiligung
der Komanen. Seit dem Jahr 1870 haben dieselben
in den romanischen Studien bei weitem Bedeutenderes
geleistet als wir Deutschen; hiebei lasse ich einen
Mann dessen Wirksamkeit sich über das Gebiet aller
romanischen Sprachen undLitteraturen mit dem grössten
Erfolg verbreitet hat, ganz aus dem Spiele, weil er
sowohl in deutscher als in romanischer Sprache lehrt
und schreibt. Hauptsächlich kommen unter den roma-
— 294 ~
nischen Ländern Prankreich und Italien in Betracht,
obwohl wir auch Portugal und Rumänien schätzens-
werthe Beiträge verdanken; nur das Land welches
uns vor drei Jahrhunderten den Didlogo de la lengua
geschenkt hat, zeigt uns jetzt leere Hände. Durch
die Pflege welcher sich seit längerer Zeit die romanischen
Sprachen an unseren Hochschulen erfreuen, besitzen
wir vor den Romanen einen gewissen Vortheil, der
übrigens neuerdings von ihrer Seite her vermindert
wird; was will das aber gegen jenen ungeheuren
Vortheil sagen den die Romanen vor uns besitzen?
Von früh auf sind ihnen die Werkzeuge die wir uns
mit schwerer Mühe erst anfertigen müssen, in die
Hand gegeben. Werden sie sich ihrer nicht schliesslich
mit einer ganz anderen Leichtigkeit und Sicherheit
bedienen als wir? Werden sie nicht immer kleinere
oder grössere Mängel an unsern Werkzeugen zu ent-
decken vermögen?
Jener Steigerung welche die Theilnahme Frank-
reichs und Italiens an unsern Studien erfahren hat,
ist die Politik nicht ganz fremd. Solange Italiens
staatliche Einheit noch nicht vollzogen war, schien
seine sprachliche Einheit far die Italiener den Mittel-
punkt aller Philologie zu bilden; nachdem sie aber
zu dem ersehnten Ziele gelangt sind und infolge dessen
auch zu grösserer Ruhe und Unbefangenheit, haben
sie mit ruhmvollem Eifer die Betrachtung des sprach-
lichen Partikularismus eröffnet, der sich in keinem
romanischen Lande so schön und so mannigfach ent-
wickelt hat wie in diesem. Vom Kriegsglück verrathen,
begann Frankreich die Künste des Friedens doppelt
zu schätzen und wandte gern den Blick von der
- 295 -
trüben Gegenwart zur Vergangenheit, und als zwei
Pariser Bomanisten, von denen der eine dem Bonner
Meister besonders nahe stand, 1872 eine Zeitschrift
für ihre Wissenschaft gründeten, setzten sie diese
Verse eines altfranzösischen Dichters als Wahlspruch
auf den Titel:
Damit nicht unsrer Ahnen Reden, Thaten
Und Sitten in Vergessenheit gerathen.
Aus dem Pariser Kreise hat sich der Geschmack
an der romanischen Philologie nach dem Süden Frank-
reichs verpflanzt und ist hier auf eine litterarische
Bewegung gestossen welche ihn in jeder Weise be-
günstigt. Die Katalanen in Spanien und die Proven-
zalen in Frankreich sind schon seit geraumer Zeit
dem Gedanken der Decentralisation zugethan, der sich
zwar auch auf das Staatliche bezieht, aber nur in
der Litteratur sich verwirklicht hat, glänzend ver-
wirklicht hat. Der Verfasser der Dichtung Mireio zählt
zu den ersten Dichtern der Neuzeit; sein Name ist
Mistral. Auf die litterarischen Verbrüderungsfeste der
durch die Sprache engverbundenen Katalanen und
Provenzalen folgte 1875 zu Montpellier ein Fest von
allgemeinerem Charakter, an welchem die Wissenschaft
und die Litteratur ihre Preise austheilten, und neben
den besonderen Interessen der Lengua d'oc die innige
Zusammengehörigkeit aller Bomanen betont wurde.
Mag auch die Erinnerung an die deutschen Siege hierzu
mit angeregt haben, so hat sie doch bei dieser warmen
und freudigen Feier, so viel sich aus den Berichten
ersehen lässt, keinen irgendwie gehässigen Ausdruck
gefunden, und es steht zu hoffen dass der „Gesang
des Lateiners" um welchen in diesem Jahr eine Preis-
— 296 —
bewerbuDg stattfinden soll, nicht ein Streitlied, sondern
eine Friedenshymne sein wird. Kein Bertran de Born
feure zum Kampfe gegen das Vaterland desjenigen
an welcher soviel dazu beigetragen hat den Pulsschlag
des jungen Romaniens zu beleben, und welcher gerade
die Werke der alten provenzalischen * Sänger, der
Troubadours durch treflfliche üebersetzungen und klare
üeberblicke den Deutschen zuerst nahe gerückt hat.
Unter seine Führerschaft haben sich ja die Romanen
mit den Deutschen zu genieinsamer Arbeit gestellt;
ein gemeinsames Denkmal sollten wir nun dem Ge-
schiedenen errichten. Sein Leben ist so still und so
einfach verronnen, seinen Verdiensten hat nicht der
Glanz äusserer Ehrenbezeigungen entsprochen; suchen
wir das gut zu machen. Denn vor allem in jetzigen
Zeitläuften müssen wir Sorge dafür tragen dass der
Ruhm des Friedens nicht allzu sehr vor dem des
Krieges erbleiche.
In Rom ist zuerst der Gedanke eines Denkmals
für Friedrich Diez ausgesprochen worden ; die Redaktion
der leider eingegangenen Rivista di filologia romanza
hat zu diesem Zweck 100 Lire bestimmt. Aber
welcher Art soll das Denkmal sein ? Worin oder womit
ein Jeder gearbeitet hat, daraus sei ihm sein Denkmal
gefertigt: den Feldherren der Kriege aus todtem Erz
und Stein, den Feldherren der Wissenschaft aus leben-
digem und feinerem Stoff. Dies ist auch die Ansicht
derjenigen welche unterm 1. Febr. d. J. von Berlin
aus den „Aufruf zur Gründung einer Diezstiftung"
haben ergehen lassen, „welche den Zweck habe die
Arbeit auf dem Gebiete der von ihm begründeten
Wissenschaft von den romanischen Sprachen zu fördern."
— 297 —
Es besteht das Comitä aus zwölf Personen, von denen
elf dem preussischen Staat und wiederum neun der
preussiscben Hauptstadt angehören. Es ist ,,in Aus-
sicht genommen die Zinsen des durch Sammlung zu-
sammenzubringenden Kapitals in Perioden von später
zu bestimmender Dauer als Ehrensold für hervorragende
schriftstellerische Leistungen auf dem angegebenen
Gebiete zu verwenden, und zwar jedenfalls ohne Eück-
sicht auf die Nationalität der Verfasser, und, wofern
es sich ausführbar erweist, jedesmal nach Anhörung
auch auswärtiger Sachverständiger ..." „Es ist Aus-
sicht vorhanden dass nach vorläufigem Abschluss der
Sammlung, für welchen der 30. Dec. 1877 angesetzt
ist, mit einem der grossen wissenschaftlichen Institute
Deutschlands (offenbar ist damit die preussische Aka-
demie der Wissenschaften gemeint) Statuten sich
werden vereinbaren lassen, und dass dasselbe die Ver-
waltung der Stiftung von da ab übernehmen wird."
Um mich ohne Bückhalt auszusprechen, der Gedanke
einer Diezstiftung ist jedes Beifalls würdig, aber das
Kleid das man ihm angezogen hat, viel zu eng.
Handelt es sich um irgend ein rein wissenschaftliches
Unternehmen, so bietet gewiss Berlin die besten Bürg-
schaften dass es einen stetigen sicheren Fortgang habe
und zu guten Erfolgen führe. Aber handelt es sich
bei der „Diezstiftung" hierum? Derjenige welcher
sie wohl hauptsächlich angeregt hat, schreibt mir dass
ihre Bedeutung für ihn besonders in etwas liege wovon
der Aufruf nicht sprechen konnte (warum nicht?),
nämlich darin „dass Deutsche und Bomanen sich
wieder einmal zu einträchtigem Thun verbinden in
einer Sache die Beiden am Herzen liegt." Und so
— 298 -
werden die meisten Bomanisten denken. Soll nua
aber das Unternehmen eine solch höhere und weitere
Bedeutung erhalten, soll ein warmer, verklärender,
versöhnender Hauch über dasselbe ausgegossen, sollen
nicht bloss Köpfe, sondern auch Herzen gewonnen
werden, so kann ich die Wahl Berlins als xVusgangs-
und Mittelpunktes keine sehr glückliche nennen. Nicht
am wenigsten bedenklich erscheint es mir dass später
auf die Festsetzung der Statuten und auf die Verwal-
tung der Stiftung Leute Einfluss ausüben können
welche den romanischen Studien fern stehen und für
die Bomanen wenig Sympathie besitzen. Ein Denkmal
welches dem wissenschaftlichen und dem persönlichen
Charakter des Meisters in würdiger Weise entsprechen
soll, hat gleichmässig auf den Schultern Deutschlands,
Frankreichs und Italiens zu ruhen; die Bomanen müssen
nicht zugelassen oder gelegentlich herangezogen werden,
sondern von allem Anfang dabei betheiligt sein. Möge
der Plan der Diezstiftung in diesem Sinn umgestaltet
werden. Man kann nicht sagen dass es zu spät hierzu
sei; es wäre unrecht eine Sache die durchaus auf die
Theilnahme weiterer Kreise angewiesen ist, unab-
änderlich geordnet zu haben bevor sie öffentlich be-
sprochen werden konnte. Man kann auch nicht sagen
dass Jenes überhaupt unthunlich sei ; erschwert würde
das Unternehmen allerdings, aber nur in dem Verhältniss
als es an Werth gewinnen würde. Die Frage ist
weniger die ob es die Kräfte, als die ob es den guten
Willen übersteigen wird. Man sei nicht allzu klein-
müthig und engherzig; man mische der kühlen Be-
rechnung etwas Begeisterung bei, man werbe die
Bomanen in herzlicher und nachgiebiger Weise an,
— 299 —
und sie werden sich gewiss nicht weigern gemeinsam
mit den Deutschen eine Diezstiftung ins Leben zu
rufen. Ich wüsste nicht an welchen Ort sich eine
solche besser knüpfen Hesse als an Eom ; hier würden
sich auch leicht internationale Bomanistenzusammen-
künfte anschliessen können. Italien bildet ein ver-
mittelndes, ein neutrales Gebiet zwischen Deutschen
und Franzosen und zugleich ein beliebtes Reiseziel
für Beide; in Italien blühen die romanischen Studien
rasch empor, und hier wirkt derjenige dem nach Diez,
wie wir Andern neidlos anerkennen, die romanische
Sprachwissenschaft am meisten zu danken hat. Born
aber, als die Wiege der romanischen Sprachen und
aller abendländischen Gesittung, birgt für den roma-
nischen Philologen tausend Anregungen in sich. In
den Büchereien der Päpste, der Chigi, der Barberini
mag er den Anfangen der romanischen Litteraturen,
auf der Appischen Strasse und in den Katakomben
den Anfangen der romanischen Sprachen nachgehen^
zu Sant* Onofrio einer glänzenden Zierde jener gedenken
und auf römischen Lippen bewundern, wessen diese
an Kraft und Anmuth fähig sind. Und endlich gehört
Eom nicht bloss den Eomanen, sondern auch den
Deutschen. Nicht etwa wegen „des römischen Reiches
deutscher Nation", nein, erst nachdem wir Rom
äusserlich verloren haben, haben wir es geistig ge-
wonnen: für unsere Dichter, Künstler und Gelehrten
ist es eine zweite Heimath geworden, und auf dem
Kapitel hat unser archäologisches Institut seinen Sitz.
Im Angesicht aller der Trümmer welche so viele
Völker, Reiche und Einrichtungen begraben haben,
werden nationale Disharmonien leichter verstummen;
— 300 —
und wenn zur Zeit der Mandelblüthe über dieses grosse
Grab die lauen Lüfte des Westens uns anwehen, dann
meinen wir den „allgemeinen Frühling" zu verspüren
„der die Gestalt der Welt verjüngt." Vielleicht sind
dies Träume; aber müssen wir aus allen Träumen
zur allernüchternsten Wirklichkeit erwachen? Wenn
nicht ßona der Mittelpunkt einer Stiftung ist welche
die Erinnerung an einen hervorragenden Mann in
jedem guten Sinn auszubeuten sucht, welche nicht
bloss an die Wissenschaft, sondern auch an die Freund-
schaft der Völker denkt, wenn es nicht Rom ist, muss
es dann durchaus Berlin sein?
XVI.
Französisch und Englisch.
Ich habe es mit angesehen wie man zwei junge
Leute verschiedenen Geschlechts lange Zeit hindurch
in allen Gesellschaften nebeneinander setzte, weil man
glaubte, sie liebten sich ; indessen war ganz das Gegen-
theil der Fall, und schliesslich mussten dies auch die
Kurzsichtigsten bemerken. Ganz ähnlich ist es dem
Französischen und Englischen in unserem ünterrichts-
system ergangen. Die Schulen welche überhaupt das
Englische aufgenommen haben, pflegen es in dieselbe
Hand wie das Französische zu legen ; auf den Univer-
sitäten hat es sich gleich anfangs an das Französische
angeklammert und auf den Lehrstuhl der romanischen
Philologie eingeschmuggelt. Es gibt jemanden dem
diese in Prüfungsvorschriften und Professorenbestallun-
gen niedergelegten Thatsachen so zu Kopfe gestiegen
sind dass er „ein eigenes wissenschaftliches Fach, die
französisch-englische oder die neuere Philologie pro-
klamiert" und die kühne That durch Errichtung eines
grossartigen Scherbenberges gefeiert hat. In selbiger
„Encyklopädie" heisst es: „Wer zwischen Griechisch
und Römisch einen innigeren, mehr objektiven Zusam-
menhang als zwischen Französisch und Englisch be-
haupten wollte, der würde dadurch sogleich seine
Laienhaftigkeit hinsichtlich der letzteren bekunden."
- 302 -
Meiner Erfahrung zufolge sind es nur Laien welche
der entgegengesetzten Ansieht huldigen. Wollen sich
diese Laien ein ' paar Worte der Aufklärung gefallen
lassen? Das Griechenthum hat in Stoff und Form
einen solchen Einfluss auf das Römerthum ausgeübt
dass wir das Letztere nicht wirklich verstehen ohne
das Erstere genau zu kennen, und wiederum sind wir
genöthigt unsere Kenntniss des Griechenthums zum
grossen Theil aus römischen Quellen zu schöpfen. Dem
festen Zusammenhalten der griechischen und der lateini-
schen Sprache stehen, wie man auch immer über das
Gräkoitalische denken mag, keine Ansprüche von an-
derer Seite im Wege. Hingegen bildet zweifellos die
englische Philologie einen Ausschnitt aus der germa-
nischen Philologie, und die französische einen solchen
aus der romanischen. Nicht einmal berühren sich die
beiden Hauptgebiete hier besonders eng ; denn zwischen
Französisch und Deutsch besteht seit mehr als tausend
Jahren eine Wechselwirkung die das Deutsche voll-
kommen berechtigen würde als Drittes in die neu-
gegründete „neuere Philologie" einzutreten.
Bei den Männern der Wissenschaft herrscht hier-
über nur eine Stimme ; doch halten auch sie zum Theil
noch, was den akademischen Unterricht betrifft, an
der Vereinigung von Französisch und Englisch als
„einer zwar unorganischen, doch bequemen" fest. Be-
quem, ja, für den Kultusminister, allein schwerlich
für den Professor, der kaum auf beiden Gebieten in
gleicher Weise zu Hause sein kann und, wenn er
Drang zu wissenschaftlicher Thätigkeit spürt, sicherlich
das eine um das andere vernachlässigen wird. Nicht
Jeder trägt zwei Seelen in seiner Brust. Hie und da
— 303 —
hat man das Englische von seiner romanischen Pflege-
mutter getrennt; allein statt es nun seiner richtigen
Mutter, der germanischen zuzuführen, welche sich
allerdings immer sehr rabenmütterlich ihm gegenüber
benommen hat, spricht man es mündig. Und während
es an vielen Universitäten gar nicht vertreten ist,
findet es sich an mancher in einer besonders günstigen
Stellung. Denn wie viele Lehrstühle für die Sprache
und Litteratur eines einzigen Volkes gibt es über-
haupt? Indessen, weit entfernt irgendeine Beschränkung
nach dieser Seite hin zu wünschen, halte ich es für
durchaus erforderlich dass an jeder Universität ein
Lehrstuhl für das Englische errichtet werde. Nur möge
dieser als ein zweiter (oder dritter) germanistischer
Lehrstuhl betrachtet und bezeichnet werden, dessen
Inhaber seinem Kollegen nöthigenfalls oder vielmehr
jedenfalls einen Theil seiner Last abnimmt. Dies würde
noch manche praktische Folge haben, vor Allem aber
die Vorstellung über den Zusammenhang der Studien
klären. Man würde dann auch nicht, wie dies jetzt
zuweilen geschieht, die englische Philologie der roma-
nischen, deren Umfang doch ein so viel grösserer ist,
entgegenstellen und über ihre ungerechte Zurücksetzung
gegen diese sich beschweren. Auf gleicher Stufe stehen
die romanische und die germanische Philologie. Wenn
auch in Deutschland die eine weit mehr Berücksich-
tigung erfahrt und erfahren muss als die andere, so
soll man doch die Bechte der Praxis nicht allzu stark
betonen. Immer erhält die Praxis ihren Grundriss von
der Theorie vorgezeichnet; sie mag ihn vergrössem
oder verkleinern, aber sie darf ihn nicht entstellen.
Auf die Universitäten haben die Schulen bestim-
— 304 —
mend eingewirkt. Ist es etwa hier praktisch Fran-
zösisch und Englisch demselben Lehrer zu übertragen ?
Gewiss nicht. Es gibt keine zwei Sprachen und keine
zwei Litteraturen die einen so schroffen Gegensatz
bilden wie die französische und die englische. Gern
berufe ich mich hiefür auf einen trefflichen Kenner
des Englischen, der auch zugleich pädagogische Auto-
rität ist, auf Elze: „Die englische Sprache und Lit-
teratur in Deutschland, Dresden 1864." S. 79 ff. Die
Erfahrung beweist hinlänglich dass dieser Gegensatz
kein Himgespinnst ist. Verhältnissmässig wenige
Menschen sprechen beide Sprachen gleich gut, und
noch weit wenigere nehmen ein gleiches Interesse an
beiden; hat ein Lehrer in beiden zu unterrichten, so
wird dieser Unterricht meistens ein sehr ungleicher
sein. Auch innerhalb der Schule also muss Trennung
des Englischen und Französischen empfohlen werden;
jenes findet ganz von selbst seinen Anschluss an das
Deutsche, dieses würde sich z. B. mit dem Latein gar
nicht schlecht vertragen. Vielleicht wäre es sogar
besser zwei weit auseinander liegende ünterrichts-
gegenstände miteinander zu paaren, wie Französisch
und Physik, als zwei die unter dem Anschein der
Gleichartigkeit sich innerlich so widerstreben wie
Französisch und Englisch.
Die Nebenbuhlerschaft zwischen beiden Sprachen
tritt auch ausserhalb der Personalunion zu Tage, und
so fügt sich denn hier ganz naturgemäss die Unter-
suchung an welche Sprache auf dem Boden des deut-
schen Unterrichts den grösseren Vortheil, welche das
grössere Recht besitze. Man hat vielfach verlangt das
Englische möge dem Französischen völlig gleichgestellt
— 305 —
werden. Eine ehrlich gemeinte Gleichstellung kann
nur eine solche sein die durchschnittlich 4ie gleichen
Ergebnisse erzielt. Dies aber wird nur dann geschehen
wenn auf das Französische bedeutend mehr Zeit ver-
wendet wird als auf das Englische. Ich entsinne mich
dass alle meine Schulkameraden — wenn sie überhaupt
etwas lernten — in dem spät begonnene^ Englisch es
weiter brachten als in dem früh begonnenen Franzö-
sisch, und entsprechende Erfahrungen durften sich aller
Orten herausstellen. Auch Elze sagt (S. 79): „Die
englische Sprache verlangt auf unseren Gymnasien
nichts als was die Engländer /aiV play nennen, d. h.
gleichen Wind und gleiche Sonne mit der französischen.
Man gewähre ihr dies, und der Sieg ist ihr sicher."
Der Sieg über das Französische doch? Aber warum
soll dieses schlechterdings unterliegen? Der raschere
und leichtere Erfolg in einem Fache bietet doch nicht
die geringste Bürgschaft für dessen höheren pädagogi-
schen Werth. Man unterrichte die Schüler im Platt-
deutschen, und man wird sehen mit welcher Lust und
Liebe und wie rasch sie lernen werden. Aber — so
fragt mancher klassische Philologe dem von seinem
fernen Standpunkt die eine neuere Sprache fast ebenso
aussieht wie die andere — aber muss denn sowohl
Englisch als Französisch gelehrt werden? Genügt
nicht Eines von Beiden ? Die Liebhaber des Englischen
sind geneigt beizupflichten, unter der Bedingung dass
das Französische dem Englischen Platz mache. Und
ihnen pflichtet . wieder eine grosse Menge bei, weil
sie wahrnimmt dass das Englische geringere Schwie-
rigkeiten bereitet als das Französische. Dass die eine
Sprache die andere ersetze, davon kann bei ihrem so
Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 20
— 306 —
verschiedenen Wesen gar keine Eede sein; aber wohl
lässt sich annehmen dass die eine viel nothwendiger
ist als die andere, und viel nothwendiger ist, wie
mir scheint, die französische.
Sie ist es aus demselben Grund aus welchem sie
die schwierigere Sprache ist. Die Stammverschieden-
heit gewährt viel grössere Unterweisung als die Stamm-
verwandtschaft ; mit unsern Brüdern und Vettern
werden wir uns besser verstehen, aber von fremden
Menschen, anders gearteten und anders gezogenen,
werden wir mehr lernen. Gerade weil zwischen Fran-
zosen und Deutschen in allen Dingen des äusseren und
inneren Lebens das stärkste Widerspiel stattfindet,
empfangen beide Völker voneinander die beste Auf-
klärung über die eigenen Lücken und Fehler, die beste
Anleitung sie auszufüllen und abzustellen. Schon die
französische Sprache an sich ist für den Deutschen
lehrreicher als die englische; sie hält ihn zu gründ-
licherem Nachdenken an als diese, die man sich zum
grossen Theil in derselben Weise aneignet wie eine
Mundart der eigenen Sprache. Die ängstliche Sorgfalt
welche die Franzosen auf die richtige und geschickte
Handhabung ihrer Sprache, besonders auf den klaren
Ausdruck legen, können wir uns nicht genug zum Bei-
spiel nehmen, um der diesseitigen Sprachverwilderung
zu steuern. In einem Punkt scheinen die Franzosen
schon auf uns eingewirkt zu haben : wir sind beträcht-
lich von unserer Weitschweifigkeit abgekommen und
neigen uns der Kürze zu. Aber welche Kürze oft!
Fast täglich fallt mir hier in Halle die Inschrift des
Siegesdenkmals in die Augen : „Dem König die Treue,
Deutschland ihre Hoffnung", und jedesmal verwandeln
— 307 —
sich mir die beiden Löwen rechts und links davon in
Sphinxe.
lieber die französische Litteratur getraue ich mir
kaum ein Wort zu sagen. Sehr viele Deutsche haben
sich ein doppeltes Bild von ihr eingeprägt: das einer
gepuderten, gereifrockten Dame zwischen Buchsbaum-
hecken — das war sie, das eines Däbardeurs im
Jardin Mabille — das ist sie. Eine grössere Mannig-
faltigkeit geben si« nicht zu ; Boileau und Paul de Kock
sind die Schriftsteller welche von ihnen mit besonderer
Vorliebe angeführt werden. Wer sich wirklich mit
der französischen Litteratur vertraut macht, der wird
gewahr dass hier die reichste Abwechslung besteht,
und sich mancher Zweig mit üppigem Schmuck bedeckt
hat welcher bei uns fast ohne Blatt und Frucht ge-
blieben ist, und dem erweist sich auch was man so oft
über ihre Armuth an innerem Gehalt wiederholt, als
starke üebertreibung ; für Kopf und Herz findet er da
mehr als genug.
Ohne aus den Lorbeerkränzen der englischen
Schriftsteller das geringste Blättchen reissen zu wollen,
halte ich es doch für durchaus ungerecht die englische
Litteratur — wie so Viele unter uns thun — auf
Kosten der französischen zu erheben. Was unserem
Geschmack und unserem Verständniss näher liegt,
pflegen wir als das Bessere zu betrachten, als ob wir
im wahren Mittelpunkte der Welt ständen. Aber wäre
es auch wirklich das Bessere an sich, so wäre es gewiss
nicht im gleichen Grade das Nützlichere. Shakspeare
gehört jetzt uns eben so gut wie den Engländern an.
Kein Sekundaner wartet die Anregung und die An-
weisung, ja nicht einmal die Erlaubniss ab um Shak-
20*
— 308 —
speare in deutscher üebersetzung zu lesen. Die Wir-
kungen sind nicht immer günstig, insofern sie nämlich
allzu heftig sind; dem jugendlichen Magen wird es
heilsam sein wenn die Zunge sich bequemt ausser der
starkgewürzten englischen Speise auch etwas nüchterne
französische zu nehmen. Die Neigung für Shakspeare
ist bei so jungen Jahren eher zu dämpfen als zu
schüren; man muss sich überhaupt hüten Alles an
ihm zu messen, ihn als unfehlbar und makellos hin-
zustellen. Er ebenfalls hat seine Flecken, wenn es
auch Sonnenflecken sind, und nicht allen Gestirnen ist
es vorgeschrieben um diese Sonne zu kreisen. Einer
weit ausgedehnteren Beachtung als die ganze englische
Litteratur der Vergangenheit erfreuen sich übrigens
von unserer Seite die neuesten englischen Eomane.
Besonders in der norddeutschen Damenwelt herrscht
ein wahrer Heisshunger auf diese wie die Pilze her-
vorschiessenden Erzeugnisse. Ohne Zweifel sind die
englischen Eomane von gewissen Gefahren frei welche
die französischen in sich zu bergen pflegen; aber in
grosser Menge genossen können auch sie gefährlich
wirken. Sie zeigen die Menschen durch die eigen-
thümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse Englands
aufs äusserste bestimmt und bestimmbar, in ihrer
Freiheit und Natürlichkeit beschränkt ; es werden hier,
ganz unterderhand, Lehren des Hochmuths, der Eng-
herzigkeit und der falschen Prüderie ausgestreut, die
bei einem Theil unserer Leserinnen auf nur allzu
empfanglichen Boden fallen. Ich kann das Vordringen
englischer Sitte und Lebensauschauung in Norddeutsch-
land nicht als etwas Erfreuliches betrachten; warum
Herbes zu Herbem mischen?
- 309 -
Auch im Hinblick nicht auf die allgemeine Bil-
dung, sondern auf die verschiedenen besonderen Be-
dürfnisse wird man dem Französischen als deutschem
Unterrichtsfach den Vorzug vor dem Englischen zuer-
kennen müssen. Ob im Ganzen mehr Belehrung über
die einzelnen Künste und Wissenschaften aus franzö-
sischen Büchern zu schöpfen ist oder aus englischen,
dies mag dahingestellt bleiben. Sicherlich aber gilt
das Französische als allgemeines Verständigungsmittel
der gebildeten Gesellschaft Europas, nicht das Eng-
lische. „Noch nicht", fallen mir diejenigen ins
Wort welche dem Englischen prophezeien, es werde
einstens die allgemeine Sprache der Erde sein. Mög-
lich; doch sollte man mindestens nicht von uns ver-
langen dass wir schon jetzt auf diese grosse Zeit Bück-
sicht nehmen, welche hoffentlich eben so fern vor uns
wie die der Ichthyosauren und Plesiosauren hinter uns
liegt. Nur die Phantasie welche uns die eine so treff-
lich ausgemalt hat, könnte uns auch die andere aus-
malen — die Zeit da alle Sprachen, mit Ausnahme
der misstönendsten und unliebenswürdigsten, im „Qual-
men und Zischen der Fluth verhallen".
Es ist unnöthig auf diejenige Bedeutung hinzu-
weisen welche das Französische aus Gründen des Staats-
interesses für uns besitzt. Wenn aber diese auch von
den ärgsten Feinden Frankreichs zugestanden wird, so
stellen sie dafür jeden anderen Nutzen des Französi-
schen in Abrede. Sie betrachten es als gemeingefähr-
lich. Ein deutscher Professor hat neuerdings geradezu
behauptet, der frühe Unterricht im Französischen be-
flecke die Seele des deutschen Kindes. Wie würden
wir wohl den Franzosen nennen der einen ähnlichen
- 310 -
Ausspruch in Bezug auf das Deutsche thäte? Immer
und immer wieder müssen wir von dem hemmenden
»
oder entsittlichenden Einfluss der französischen Litte-
ratur auf die unsrige, von der Verunreinigung unserer
Sprache durch die französische hören. Alle diese ab-
geschnellten Pfeile prallen mit verdoppelter Stärke auf
uns selbst zurück. Denn die Franzosen haben uns
nichts aufgezwungen; wir haben aus freien Stücken
von ihnen gelernt und geborgt, und wenn wirklich
nur Schlechtes, wo doch auch Gutes genug zu finden
war, dann trägt unser Ungeschick oder unsere Ge-
schmacklosigkeit die Schuld. Nicht deshalb war unsere
Litteratur unfrei weil sie bevormundet wurde, sondern
weil sie in sich unfrei war, weil sie sich unmündig
fühlte, deshalb Hess sie sich bevormunden ; nicht darum
handelte es sich dass die Fesseln nur überhaupt ent-
fernt wurden, sondern dass die Kraft hinlänglich gereift
war selbst sie zu sprengen. Eines in das Andere ge-
rechnet, bleibt von dem Antheil welchen Frankreich
an unserer Erziehung hat, immer noch ein üeberschuss
von Gutem, für den wir ihm Dank schuldig sind. Und
wenn wir ihm einst zu viel Gewalt in unserem Haus
eingeräumt haben, sollten wir ihm deshalb nun unsere
Thüre gänzlich verschliessen ? Nichts kann beredter
für die ünerlässlichkeit eines gründlichen Schulunter-
richts im Französischen sprechen als alle jene chau-
vinistischen Eedensarten w^elche uns umschwirren ; auf
die Unterdrückung von Vorurtheilen hat doch die
Schule zuallervörderst ihre Aufmerksamkeit und ihre
Kraft zu wenden, und dass Vorurtheile der Art wie
sie hierbei ins Spiel kommen, weitaus die gefährlichsten
sind, darüber hat uns das Beispiel unserer Nachbarn
— 311 —
in unvergesslicher Weise belehrt. Es wird uns die
Kenntniss des Französischen ein treffliches Werkzeug
der Versöhnung sein welche wir wünschen, und eine
eben so treffliche Waffe im Kampfe, wenn er unver-
meidlich.
Genügt der französische Unterricht überall in
Deutschland d«n Anforderungen die an ihn gestellt
werden müssen? Nein. In manchen Anstalten steht
er sogar auf einer sehr niederen Stufe. Es fehlt
allerdings an tüchtigen Lehrern des Französischen;
aber solche werden doch zunächst auf den Schulen
selbst vorbereitet, und was die Schule verabsäumt hat,
kann die Universität schwer nachholen. Die Aussprache
des Französischen besitzt nicht, wie Viele meinen, eine
nur äusserliche Bedeutung, sondern übt auf das ganze
Studium der Sprache den allerwesentlichsten Einfluss
aus. Wie kann aber eine jahrelang vernachlässigte
Aussprache, in welcher das Französische fast den Klang
einer deutschen Mundart besitzt, binnen Kurzem ge-
bessert und berichtigt werden? Und darf der Pro-
fessor welcher das Französische nicht allein, sondern
die romanischen Sprachen überhaupt zu lehren hat,
einen unverhältnissmässigen Theil seiner Zeit auf das
Bemühen verwenden solche Sünden der Schule wieder
gut zu machen? Ein einziges Mittel scheint einen
durchgreifenden Erfolg zu versprechen: die Anstellungen
von Universitätslektoren für das Französische.
Für wünschenswerth also erachte ich, um es in
wenigen Worten zu wiederholen, dass das Französische
im Unterricht durchgängig vom Englischen getrennt,
dass es weder geradezu hinter dieses zurückgesetzt,
noch auch durch besondere Begünstigung desselben
- 312 —
beeinträchtigt werde, dass es vielmehr selbst eine
grössere Begünstigung erfahre. Ich habe mich auf
Einzelheiten nicht eingelassen, ich habe keine That-
sacben und Zahlen erhoben, sondern diejenigen Punkte
angedeutet welche mir von Belang erschienen; es lag
mir nicht an einer rein pädagogischen, sondern an einer
allgemeineren Betrachtung, die ich nun mit dem wei-
testen Umblick abschliessen möchte.
Das Englische braucht uns die germanische Welt
nicht zu vertreten, da wir selbst zu dieser gehören.
Wohl aber ist uns das Französische nicht nur an sich,
sondern auch als Vertreter der romanischen Welt
unentbehrlich. Hinter Prankreich liegen Italien uod
Spanien. An Italien knüpfen uns tausend feine Fäden,
von denen man freilich jenen amerikanisch angehauch-
ten Deutschen nicht sprechen darf welche erst eia
Schiffstau leidlich erkennen. Wir haben von jeher zu
diesem Land eine starke geheimnissvolle Liebe gefühlt,
aber ihr lange Zeit hindurch einen unangemessenen
Ausdruck geliehen. Jetzt träumen wir uns dahin wie
nach einem Paradies, welches unsere Einbildungski'aft
in den buntesten Farben malt; und haben wir es
kennen gelernt, so bringen wir daraus nicht nur Ab-
schriften von alten Pergamenten und Skizzen von jungen
Albanerinnen heim, nein — wie aus einer Sommer-
frische Kräftigung und frohe Laune, wie von einer
Hochschule reinere und freiere Anschauungen, wie aus
dem Lande der Schönheit die Schönheit selbst. In
Italien ist der Strom alterthümlichen Lebens am
spätesten versiegt; von seinen Wassern gespeist, ent-
sprangen hier die verschiedenen Quellen unserer neueren
Gesittung. Wenn wir also in Gedanken und in Wirk-
j
— 313 —
lichkeit kein fremdes Land häufiger und lieber durch-
wandern als Italien, wenn jetzt auch unsere äusseren
Beziehungen zu ihm sich mehr und mehr befestigen,
als starke Taue neben jenen zarten Fäden, so haben
wir vielleicht grössere Veranlassung zum Studium des
Italienischen als zu dem des Englischen. Nur das
Italienische, nicht das Englische vermöchte in unserem
Schulunterricht einen Ersatz für das Französische zu
bilden, obwohl es neben diesem keinen Platz finden
wird. Versänke Britannien im Ocean, so verlören wir
viel; aber empfönden wir nicht Herberes wenn wir
eines Tages vom Südabhange der Alpen aus nichts
erblickten als eine öde, trostlose Wasserfläche? Was
Spanien anbelangt, so besitzt es eine Litteratur die
unsere Aufmerksamkeit lebhaft beschäftigt hat und
werth ist sie fortdauernd zu beschäftigen. Welch un-
glaubliche Fruchtbarkeit, innere und äussere ! Bühnen-
dichter deren Werke die dramatische Litteratur eines
ganzen Volks aufwiegen! Dazu rieselt unter den
Smaragden und Bubinen eines fast morgenländischen
Bedeprunks eine schwärmerische Innigkeit welche uns
Deutsche anheimelt und an den alten Spruch Somos
hermanos erinnert.
Das Studium des Französischen führt uns in das
des Italienischen und des Spanischen ein, und zwar
thut es dies in einem weiteren Sinn als man anzu-
nehmen geneigt ist. Die romanischen Völker haben
von den Eömern nicht nur die Sprache, sondern auch
die ganze Gesittung ererbt, und wie verschieden sie
auch mit diesem Erbgut umgegangen sind, ein gemein-
sames Gepräge ist ihnen immer geblieben. Wir, denen
kein Zweifel an der germanischen Einheit beikommt,
— 314 —
dürfen die romanische um so weniger leugnen als sie,
die anerzogene, sich inniger und feiner erweist denn
unsere angeborne. Zwischen diesen beiden Einheiten
hat nun immer Eifersucht bestanden, jede beansprucht
den höheren Rang, jede ist von dem Bewusstsein ihres
höheren Berufes durchdrungen. Wir Deutschen sind
dabei mit einer fast wissenschaftlichen Gründlichkeit
verfahren. Uns und unsern Stammesgenossen haben
wir die besten der Tugenden, den Romanen die
schlimmsten der Laster beizulegen gewusst. Die
„wälsche Tücke" ist heuer, im Jahre der Mailänder
Zusammenkunft auf unendlich taktvolle Weise in Erz
und Stein verewigt, die „germanische Sittenstrenge",
eine etwas abgenutzte Reminiscenz aus Tacitus jüngst
in einem Sendschreiben nach England wirksam auf-
gefrischt worden. Und unser Gemüth! das wir —
wenigstens Norddeutsche und Engländer — um so
höher schätzen je tiefer unter je rauherer Hülle es
sich verbirgt! Was sind die raschen Thränen beim
Anblick fremden Leidens, der Zartsinn mit welchem
sich die Theilnahme äussert, jene edlen grossmfithigen
Wallungen welche sich über jede äussere Rücksicht,
sogar über die gesellschaftliche Foi-m des Vorstellens
hinwegsetzen, was ist all das Aufflammen eines roma-
nischen Herzens gegen das Aufthauen eines germani-
schen? Ebenso fühlen wir uns seit lange auf der
geistigen Höhe und erblicken die Romanen unter uns.
Als endlich auch die wunderbarsten Kriegslorbeeren
sich auf die Stirn des deutschen Denkers niedersenkten,
da tönte wie ein fröhliches Halali durch unsere Tages-
presse die Kunde von dem Niedergang nicht nur des
verkommenen französischen Volks, nein, gleich der
— 315 —
ganzen lateinischen Basse. Glücklicherweise entscheidet
kein Jena und kein Sedan über das wahre Verhältniss
zwischen Komanen und Germanen; wir haben über-
haupt nicht die einzelnen Erscheinungen auf beiden
Seiten ihrer Zahl und ihrem Werthe nach gegeneinander
abzuwägen, sondern die beiden Lebenskräfte aus denen
ihre wechselnde Fülle entspringt, miteinander zu ver-
gleichen. Wenn wir das thun, wenn wir durch die
äussere Hülle auf den Kern blicken, so werden wir
erkennen dass es sich um einen Vorrang nicht handeln
kann. Beide Welten, die romanische und die germa-
nische stehen gleichberechtigt nebeneinander; sie sind
einander nothwendig wie zwei Hälften die sich er-
gänzen. Sich zu vermählen, nicht sich zu befehden
ist ihre Aufgabe. Es wäre gut schon in den Schulen
das Verständniss dieser Beziehung anzubahnen statt
ihm entgegenzuarbeiten. Manche sehr aufgeklärte
Lehrer lassen sich zu Ungunsten der Bomanen gewisse
Verschweigungen, Bemäntelungen, üebertreibungen zu
Schulden kommen, weil sie die Vaterlandsliebe für eine
höhere Tugend halten als die Wahrheitsliebe; aber
hätte jene solche Förderungsmittel nöthig, so wäre es
schlecht um das Vaterland bestellt. Hüten wir uns
davor die Germanen als die auserwählte, gottbegnadete
Basse zu betrachten; weder sie allein, noch die Bomanen
allein sind die Träger der heutigen Gesittung, sondern
Beide zusammen. Seitwärts lagert das Slawenthum wie
eine riesige dunkle Wolke; wir wissen nicht ob diese
über die Gefilde von deren Dünsten sie sich genährt
hat, verheerenden Hagel oder fruchtbaren Bogen ent-
laden wird.
Ich sehe eben dass Emilio Castelar auf den Seiten
— 316 —
welche er der deutschen Ausgabe seiner „Erinnerun-
gen an Italien '^ vorgesetzt hat, den noth wendigen
Ausgleich zwischen der romanischen und der germa-
nischen Basse mit glühender Beredsamkeit erörtert.
Auf seine Worte darf ich verweisen und von ihnen
Wirkung erhoffen ; es macht nichts aus wenn über sie
als utopistische Träumereien und dichterische üeber-
schwänglichkeiten diejenigen unter uns die Achseln
zucken welche verbrannt haben was sie verehrten, und
verehren was sie verbrannten.
XVII.
Keltische Briefe.
Caernarfon, 21. Aug. 1S75. Ich bin hier ver-
schiedene Male gefragt worden wie ich nach Wales
gekommen sei. Meine Geschichte ähnelt derjenigen
von dem Manne welcher ein Hufeisen fand und sich
ein Pferd dazu kaufte. Es ist der Gesundheit sehr
dienlich regelmässig spazieren zu gehen, aber sehr lang-
weilig es allein zu thun, und an dem einen Orte lang-
weiliger als an dem andern; ich hatte das Glück einen
Gefährten far diese tägliche Arbeit zu gewinnen, und
es traf sich dass es ein Kymre war; ich lernte daher
von ihm mit der Zeit auf Kymrisch sagen: „Wenn
es beliebt" und „Es ist sehr schönes Wetter" und
dergleichen mehr. Was konnte ich mit dieser sauer
erworbenen kleinen Münze in Deutschland anfangen?
um sie an den Mann zu bringen, beschloss ich nach
Wales zu reisen.
Eines Abends fuhr ich aus der grossen Kleinstadt
welche am Gendarmenmarkt liegt, ab und war am
andern Morgen in Eotterdam. Hier rastete ich einen
Tag und berichtigte meine Vorstellung von den Hol-
ländern wie sie sich aus Theaterstücken und älteren
Jahrgängen der „Fliegenden Blätter" bei mir festgesetzt
hatte. Mein Besuch fiel gerade in die Zeit der Kirmess,
des Hauptfestes von Botterdam, das etwa ein Dutzend
— 318 —
Tage zu dauern scheint. Alles machte vergnügte
Gesichter, nur der Himmel nicht, zu dem doch die
Orgeln in allen Tonarten emporschrieen. Bäuerinnen
in Menge stolzierten umher; Hauben von Goldblech
verdeckten das Haar, und von den Schläfen stachen
grosse goldene Korkzieher spitz in die Luft. Das
kühne Bild der morgenländischen Dichter, denen zufolge
die Schönen an ihren Locken die Herzen der Männer
aufspiessen, drohte hier sich zu verwirklichen. Abends
ging ich nach Vauxhall Doele, dem Vergnügungsort
der feinen Welt, wo alle möglichen Vorstellungen
stattfanden. Besonderes Entzücken erregte ein schwarzer
Violinist, der schliesslich die Kerze vom Notenpult
riss und damit seinem Instrument wunderbare Töne
entlockte. Die deutschen Sänger erfreuten sich, ob-
gleich ihre Leistungen sehr mittelmässig und zum
Theil auch anstössig waren, eines lebhafteren Beifalls,
wohl auch grösseren Verständnisses als die französischen
Sänger. Ich verliess diesen Ort gegen Mitternacht,
um in einem andern Stadttheil dem Treiben des nie-
deren Volkes einen Blick zu schenken. Mädchen und
Burschen zogen in regelmässig bunter Reihe durch
die Strassen; alle sangen dieselbe Weise, die vom
„Kleinen Postillon", die einzige die überhaupt Rotterdam
zu kennen schien. Buden und WaflFelbäckereien waren
schon entvölkert; nur um die Karussells ging es noch
ziemlich lebendig her. Ich bemerkte mit grosser Ver-
wunderung dass das weibliche Geschlecht in allen
Dingen, auch in der Zärtlichkeit die Initiative zu
ergreifen pflegte. Am darauf folgenden Nachmittag
verliess ich Rotterdam zu Schiff und kam, nach an-
genehmer Seefahrt, bei anbrechendem Morgen in Har-
— 319 —
wich an, wenige Stunden später in London. Hier
hielt ich mich gerade so lange auf als es brauchte
um die Unverschämtheit der Droschkenkutscher kennen
zu lernen. Gegen 9 Chr ging es von London ab;
der Zug sauste bis ehester mit einer Geschwindigkeit
wie wir sie in Deutschland nicht kennen. Es ist dies
aber auch durchaus noth wendig wenn der Fremde
nicht vor Langerweile umkonmien soll. Von Chester
an wurde es angenehmer; von beiden Seiten rückten
Meer und Berge näher und näher heran, und die
englische Steifheit schien in der frischeren Luft ge-
schmeidig zu werden. In einem Coupe mit mir sass
ein junges Paar das ich anfangs für Schwester und
Bruder gehalten hatte, dessen Vertraulichkeit aber bis
Bangor, wo die Trennung stattfand, beständig wuchs.
Er, mit tiefliegenden Augen und langem Backenbart,
schaute ziemlich trüb darein — er kam mir wie ein
Geistlicher vor — , während sie, eine angenehme
Brünette, öfters ihn schalkhaft anblickte und ihren
kleinen Mund zum Lächeln verzog. Der Nutzen der
Tunnels ist mir erst da vollständig klar geworden.
Abends gegen 7 Uhr traf ich in Caernarfon, dem
Ziele meiner Reise ein.
Ich beabsichtige keineswegs mich auf Ortsbe-
schreibung einzulassen; ich brauchte dazu nur eines
der vielen englischen Bücher über Nordwales auszu-
schreiben. Unter diesen glaube ich am meisten em-
pfehlen zu dürfen: Black' s Picturesque Guide to North
Wales, öth ed. Edinburgh 1874 (mit Karten und Bil-
dern). Von Deutschen die Nordwales ausführlicher be-
handelt haben, ist mir nur Julius Eodenberg bekannt:
„Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen
— 320 —
und Lieder. Hannover 1858." Ich gestehe dass man
ein solches Buch sich nicht hübscher denken kann,
und der Verfasser klagt sich mit Unrecht an, er trage
selbst die Schuld „wenn diesem Werkchen der luftige
Schwung und die ungetrübte Helle fehlen welche der
Himmel von Wales selbst ihm zugedacht zu haben
schien." Dafür möge er aber so liebenswürdig sein
mir zu verzeihen dass ich ihm einen andern Vorwurf
mache, den: Dichtung und Wahrheit nicht nur, sondern
auch Altes und Neues vermischt zu haben. Er will
der Hochzeit Sarahs als Augenzeuge beigewohnt haben ;
aber die Hochzeitsgebräuche die er schildert, sind längst
abgekommen, und ebenso verschiedene von den Todten-
gebräuchen über die er doch „theils aus eigener An-
schauung, theils nach mündlicher Mittheilung" berichtet.
In der That glaube ich ßodenbergs Quelle entdeckt
zu haben, nämlich Roberts^ The Cambrian jiopular
aidiquitiesy London 1815^ anders könnte ich mir die
vielfache wörtliche üebereinstimmung beider Schrift-
steller nicht wohl erklären, üeberhaupt wird man
sich nach Rodenberg schwerlich ein richtiges Bild von
dem heutigen Wales entwerfen. Obwohl er von seinen
Studien in der kymrischen Grammatik spricht, so
deutet doch Manches darauf hin dass bei ihm die
Kenntniss dieser so schwierigen Sprache nicht allzu
weit gediehen ist, und dass Mutter Moll und der
Schulmeister von Llanfairfechan mit ihm in englischer
Sprache verkehrten. Die Bekanntschaft des Letzteren
hätte ich recht gern gemacht ; doch ist er ganz kürzlich
gestorben, als Schulmeister von Harlech (sein Barden-
name war Meurig Idris). Ich wiederhole, Rodenberg
schreibt sehr anziehend; freilich hat ihm auch immer
— 321 —
ein grosses Vorbild vorgeschwebt. Man wird es leicht
z. B. aus folgender Stelle erkennen : „An dieses Haus
fesselte mich mehr und mehr ein seltsames Interesse.
Ein junger Mann der nach manchen kleinen Erfah-
rungen wie sie in gutem und bösem Sinne der Jugend
nie vorenthalten werden, sich für ein gewisses Tändeln
immer noch den Sinn bewahrt hat, sieht sich weit
in eine ganz neue Umgebung versetzt. Nun kommt
ihm, mit allem Duft und Schimmer der Romantik,
der sogar ein nationaler Hintergrund nicht fehlt, ein
liebenswürdiges Wesen entgegen das die Mystik jenes
Hauses in einen dem Herzen angenehmen Ton hinüber-
spielt u. s. w."
Als Dr. Johnson aufgefordert wurde die Geschichte
seines Besuchs in Wales zu Papier zu bringen, ent-
schuldigte er sich: Wales sei England so ähnlich
dass er nichts Besonderes davon zu erzählen wisse.
Es gehört dies ohne Zweifel zu den Irrthümern in
die der berühmte Doktor verfallen ist; indessen das
steht fest dass beide Länder viel Gemeinsames haben.
Da ich nun von England nichts weiter kenne als einen
verschwindend kleinen Theil der Droschkenkutscher
— England auf Reisen kommt hier nicht in Betracht
— so schwebe ich einigermassen in Sorgen, es möchten
mir Dinge als Eigenthümlichkeiten von Wales er-
scheinen die eben so gut in England zu finden sind.
Ich bitte auf jeden Fall um Nachsicht.
Was dem Fremden gleich auf den ersten Blick
und am meisten in Wales auffallen muss, ist die
ausserordentliche Religiosität. Auf der ganzen Erde
gibt es kein frömmeres Land, und selbst Kardinal
Manning sprach sich neulich in Aberystwyth hierüber
Schachafdt, Bomanisches u. Keltisches. 21
— 322 —
besonders lobend aus, obwohl er als Katholik wenig
Freude an Wales haben kann. Die Herrschaft der
Hochkirche ist durch die verschiedenen Sekten (die
Nonkonformisten) sehr eingeschränkt. Den ersten
Bang unter diesen, der Zahl und dem Einfluss nach,
nehmen die Methodisten ein, genauer die kalvinischen
Methodisten (es gibt auch wesleyanische). In verflos-
sener Woche, vom 16. — 19., hatten diese Methodisten
von Nordwales ihre Jahresversammlung (gewöhnlich
sassiwn genannt — Verderbniss des engl, association)
zu Caernarfon. Nachdem ich so eben einen Sonntag
in seiner strengen Heiligung durchgemacht hatte, hörte
ich vier Tage hintereinander predigen. Der Haupttag
war der letzte; an diesem wurden in einem riesigen
Amphitheater das auf freiem Felde gegen Llanbeblig
zu aufgerichtet war, sechs Predigten gehalten, immer
je zwei unmittelbar hintereinander. Das Publikum
war sehr stark, man behauptet an 15 000 Menschen
(bei ähnlichen Gelegenheiten hat man schon 20000
Menschen gezählt), und ganz Caernarfon besitzt noch
nicht 10 000 Einwohner. Von nah und fern waren
Methodisten herbeigeströmt, die bei ihren Glaubens-
genossen Unterkunft fanden. An demselben Tage
wurde noch an drei anderen Orten gepredigt. Dem
Kymren ist es möglich einen ganzen Tag lang dem
Worte Gottes zu lauschen, welches allerdings auch
durchschnittlich weit besser vorgetragen wird als bei
uns, mit grosser Sicherheit, Lebendigkeit, Eindring-
lichkeit und vollkommen frei. Hauptsächlich durch
die üeberlegenheit ihrer Prediger über die der Staats-
kirche haben die Methodisten sich in so starker Weise
vermehrt. Denn der Kelte überhaupt bewundert die
— 323 —
Beredsamkeit und pflegt sie nach Kräften; die Rede-
gabe der Engländer bat man wobl nicbt mit Un-
recbt als ein Erbstück von keltischer Seite angesehen,
da die Skandinavier und die Deutschen in dieser Be-
ziehung hinter den westlichen Völkern beträchtlich
zurückstehen. Was mir an den Methodistenpredigten
missfällt, das ist die allzu berechnete Manier der
Steigerung und die Masslosigkeit dieser Steigerung
selbst. Zuerst wird langsam und leise gesprochen —
oft versteht man kaum die Worte des Bibeltextes;
allmählich erwärmt sich die Rede; schliesslich glaubt
man eine ganz andere Person zu sehen und zu hören.
Der Redner beginnt mit den Händen in der Luft
umherzuf echten, besonders liebt er es den gekrümmten
Arm zurückzuziehen und vorwärts zu stossen, als ob
er dem unbussfertigen Sünder den Bauch aufschlitzen
wollte; das Gesicht röthet sich, die Stimme wird rauh
und heiser, das ch gurgelt aus der Tiefe empor, als
ob es die Angst des jüngsten Tages darstellen sollte;
die Worte werden in einem eigenthümlichen Rhythmus
— mit unnatürlicher Dehnung der stark betonten
oder auch anderer Silben — herausgeheult. Ich
wurde an das eintönige Pathos erinnert mit dem ich
im vorigen Jahr den Darsteller des Cid im Theätre
Fran9ais die wirksamsten Stellen seiner Rolle hatte
vortragen hören. Jener Tonfall ist durchaus keine
Erfindung der Prediger — die Engländer haben ihn
nicht — , sondern er ist echt kymrisch ; ich habe ihn,
allerdings in weit geringerem Grad, auch sonst ver-
nommen, sogar bei alltäglicher Unterhaltung. Dieses
und andere äussere Mittel üben auf das Volk regel-
mässig eine grosse Wirkung aus, Viele, besonders alte
21*
— 324 —
Leute beginnen vor Zerknirschung zu ächzen und zu
stöhnen. So viel Gottesfurcht flösste mir Furcht ein,
und ich räumte schon am Morgen des letzten Tages
das Feld. Es zeigte sich mir hier der Ansatz zu
jenem protestantischen Fanatismus der in Britannien
und Amerika unter so mannigfachen Formen aufge-
treten ist; doch darf ich nicht verschweigen dass die
absonderlichsten Sekten nicht keltischen, sondern eng-
lischen Ursprungs sind. Will ein Maler Scenen aus
der Geschichte Cromwells darstellen, so komme er
hieher und betrachte diese schwarzgekleideten Männer,
denen ein langer spitzer Bart, meist auf der Oberlippe
rasiert, das Gesicht umrahmt, und unter buschigen
Augenbrauen ein ernster, schwärmerischer Blick her-
vordringt. Indessen sind sie in der That keineswegs so
kriegerisch und finster wie die Puritaner des 17. Jahr-
hunderts. Die Kymren zeigen sich duldsam, und wiegt
auch der Ernst in ihrer ganzen Lebensrichtung vor,
so sind sie gleichwohl keine Feinde der Heiterkeit;
sie lächeln oft und lachen recht gern. Tanz, Spiel,
Theater sind freilich verpönt; ein grosser Theil der
Bevölkerung enthält sich auch vollkommen der geistigen
Getränke. Immerhin sind die Kneipen leidlich bevöl-
kert, und besonders lieben es die Barden ihrem Genius
durch einen Schluck Bier oder Whisky nachzuhelfen.
Hie und da stösst man auf einen Mann der sich des
rechten Wegs nicht bewusst ist. Im Ganzen macht
sich in Wales der Einfluss der Religion auf die Sitt-
lichkeit in einem Masse geltend wie wohl kaum an-
derswo, am wenigsten in katholischen Ländern. Auf-
fällig scheint dass die nächsten Verwandten dieser
strengen Protestanten, die Bretonen ebenso strenge
- 325 -
Katholiken sind, und dass ganz dasselbe Verhältniss
innerhalb des andern Zweiges der keltischen Familie,
zwischen Iren und Schotten, besteht. Im Grund aber
überwiegt die Aehnlichkeit die Verschiedenheit; es
treten uns hier nur verschiedene Aeusserungen eines
und desselben Gefühls, eines starken Zuges nach der
andern Welt entgegen, welcher aus alter Zeit ein
Gemeingut aller keltischen Stämme ist. Hat etwa
der Ocean dazu beigetragen in seinen Anwohnern das
Gefühl der Unsterblichkeit und den Gedanken an das
Jenseits zu nähren und zu steigern?
Eine hervorragende Tugend der Kymren ist die
Gastfreundschaft; ich habe sie aus eigener Erfahrung
kennen gelernt. Nachdem ich die erste Nacht zu
Caernarfon in einem Hotel zugebracht hatte, veranlasste
mich der Eigenthümer der beiden hiesigen Zeitungen
auf zwei Nächte in sein hübsches Haus umzusiedeln.
Dann wurde die Privatwohnung frei die man für mich
ausgesucht hatte; ein Parlour und ein Schlafzimmer,
geräumig, elegant und sauber (für 10 Shill. die Woche).
Dazu ist Mrs. Prichard — Namen sind in Wales kein
Erkennungszeichen, alle Welt heisst entweder Jones
oder Evans oder Davies oder Prichard — Mrs. Prichard,
sage ich, ist die Liebenswürdigkeit selbst, sie brät
mir die saftigsten Braten und Koteletten, bäckt mir
die süssesten Puddings und Fruchttorten. Sitze ich
Abends im Schaukelstuhl vor dem stark beladenen
Theetisch, und summt mir das Gas in die Ohr^n, so
ist es mir mehr englisch als keltisch zu Muthe; fast
möchte ich dann, es knisterte ein munteres Feuer im
Kamin, aus dessen OeflFnung jetzt nach Landessitte
bunter Papierzierrath hervorquillt. Während der Mahl-
- 326 —
Zeiten stelle ich vergleichende Betrachtungen an; ich
wünschte, Deutschland entlehnte den gerösteten Schinken
von hier und lehrte dafür dem Kymren den Gebrauch
der Serviette. Um das Häusliche ein- für allemal
abzuthun, erwähne ich noch dass die Reihenfolge:
Wohnzimmer, Küche, Adyton, meine Gedanken nach
Bom und Neapel geführt hat; die Betrachtungen die
ich einst an die italienische Einrichtung knüpfte, er-
scheinen mir nun als hinfallig.
üeberall ist man mir auf das freundlichste
entgegengekommen, bei jeder Vorstellung auf der
Strasse schütteln mir Männlein und Weiblein derb
die Hand und fragen: „Wie geht es Ihnen?" Aus-
gesuchte Manieren sind nicht des Kymren Sache. Zum
Theil habe ich diese Freundlichkeit meiner Bekannt-
schaft mit dem Kymrischen oder vielmehr meiner
Vorliebe für dasselbe zuzuschreiben» Gleich nach
meiner Ankunft legte ich in die Hände Llew Llwyfos,
Barden und Eedacteurs des Herald Cymraeg den
Schwur ab nur Kymrisch zu reden; und bis jetzt ist
die Versuchung diesen Schwur zu brechen noch in
keiner verlockenden Gestalt an mich herangetreten.
So werde ich denn überall als Deutscher der Kymrisch
versteht, aber nicht Englisch, herumgeführt und gezeigt;
und das Letztere, das dim Seisneg 1 wird mir fast zum
grösseren Verdienst angerechnet als das Erstere. Auch
Leute die sonst Englisch zu reden pflegen, bedienen
sich mir gegenüber des Kymrischen, und zwar eines
möglichst grammatikalischen. Meine Wirthin, der
eingeschärft ist im Gespräch mit mir die Wörter ein
wenig auseinander zu halten, geht dem zufolge bei
ihren Mittheilungen mit grosser Feierlichkeit zu Werke.
— 327 —
Sie nähert sich mir langsam, legt mir die Hand auf
die Schulter, sieht mich aus ihren alten treuen Augen
eine halbe Minute verheissungsvoll an, bringt ihren
Mund an mein Ohr und zerhackt dann, mit möglichst
lauter Stimme, ihre Sätze in einzelne Silben. Der
kürzeste Weg zum Gehirn . ist das freilich ; ob auch
der beste, muss ich bezweifeln.
Das Wetter war in den ersten Tagen meines
hiesigen Aufenthaltes nicht sehr günstig. Schwere
Wolken, Eegenschauer, kein Licht als das von der
Kanzel herab — ich war nahe daran mit Homer oder
vielmehr näit Pope auszurufen:
There in a londy land and gloomy ceUs
The dusky nation of Cimmerian dwells;
The sun we'er viewa W uncomfortable seatSj
When radiant he advances or retreats,
Unhappy race! tohom endless night invades,
Clouds the dull air and wraps them round in shades.
Dann aber hellte sich der Himmel auf. Eine
prachtvolle Aussicht geniesst man vom Twthill aus,
einem Felskegel der sich nicht sehr hoch über die
höchstliegenden Häuser erhebt und der fast immer
besucht ist. Von da erblickt man was sich nur
wünschen lässt: eine nette Stadt mit rothbraunen
Schieferdächern, die schönste, grösste und besterhaltene
Buine eines mittelalterlichen Schlosses, das offene Meer,
einen Meeresarm, einen Fluss mit zahlreichen Schiffen,
den Vordergrund einer grossen Insel, eine blühende
Landschaft mit Viehweiden, Feldern, Baumgruppen,
Wohnsitzen, durch Hecken und Mauerwerk eingetheilt,
und endlich die schöne zackige Gebirgskette, die am
Meere jäh abschneidet. Den höchsten Gipfel derselben.
- 328 -
die Gwyddfa (Snowdon) kann man von Caernarfon aus
nicht sehen, wohl aber von Stellen in der nächsten
Umgebung aus. Er hüllt sich gern in Wolken ein.
Morgen beginnt die grosse Eisteddfod von Pwllheli,
über die ich Näheres zu berichten gedenke.
Ehyl, 17. Sept. 1875. Die zweite Woche meines
Aufenthalts in Wales, die der Eisteddfod sah der
ersten, der der Methodistenversammlung so ähnlich
wie ein Ei dem andern, das der Lerche dem des Raben.
Meine Sorge dass die Sehnsucht nach dem Himmel
alle irdischen Gedanken in den Kymren abgetödtet
hätte, erwies sich als unbegründet ; ich fand dass auch
hier, trotz aller Frömmigkeit, der Spruch des heid-
nischen Dichters galt: Humani nihil a me alienum
puto, und ich athmete auf. Selbst der Himmel nahm
diese Weltlichkeit gar nicht so übel; denn während
des Festes entwölkte er sich und spendete sein heiterstes
Lächeln. Einen Gegensatz zwar, doch keinen Wider-
spruch schienen mir schliesslich die beiden Wochen
zu enthalten; vielleicht war auch das Publikum bei
der einen und der anderen Gelegenheit etwas ver-
schieden zusammengesetzt. Viele von denen die bei
den „Sinaipredigten", unter den Donnerworten vom
höllischen Pech und Schwefel gebebt und gestöhnt
hatten, mögen absichtlich weggeblieben sein, während
alle lebenslustige Jugend, wenn irgend thunlich, zu
den Freuden der Eisteddfod herbeigeeilt war.
üeber die Geschichte der Eisteddfode habe ich
gegen dreissig Spalten in dem kymrischen Pierer, dem
Gwyddoniadur Cymreig gelesen, und mir wirbelt der
- 329 -
Kopf davon; ich wünsche diesen Eindruck nicht fort-
zupflanzen. Ein grosser Theil der Nachrichten welche
sich auf diese feierlichen Zusammenkünfte der Barden
sowie auf das Bardenthum überhaupt beziehen, ist
gefälscht oder höchst unzuverlässig. Doch beginnen
die übertriebenen Vorstellungen welche hierüber herrsch-
ten, zu schwinden, dazu hat u. a. Gweirydd ap Ehys
in einer Reihe von Artikeln welche neuerdings die
amerikanisch-kymrische Zeitschrift Y Wasg brachte,
beigetragen. Ich werde daher nichts über die Eistedd-
fode von 517 und 540 und über so viele andere sagen,
sondern mich auf zwei Bemerkungen beschränken. Die
älteste Erwähnung einer Eisteddfod welche glaub-
würdig zu sein scheint, findet sich im Brut y Tywy-
sogion (Fürstenchronik): Rhys ap Gruffydd hielt 1176
im Schloss von Aberteifi ein grosses Fest, an welchem
eine doppelte Art von Bewerbung stattfand, die eine
zwischen den Dichtern, die andere zwischen den Mu-
sikern ; es waren zwei Stühle für die Sieger in diesen
beiden Kämpfen bestimmt und mit reichen Preisen
ausgestattet. Nach einem Schlummer von anderthalb
Jahrhunderten erwachten die Eisteddfode 1819 zu
Caerfyrddin wieder zum Leben, und seit sechzehn
Jahren hat jährlich eine „nationale, königliche, pri-
vilegierte" Eisteddfod statt, und neben diesen allge-
meinen zahlreiche örtliche von weit geringerer Be-
deutung.
Die Kymren vergleichen gern ihre Eisteddfode
den olympischen Spielen der Griechen. Jene sind aller-
dings Wettspiele wie diese; aber nicht auf den Ge-
bieten körperlicher Kraftentfaltung, sondern nur auf
denen der Dicht- und Tonkunst, auch der Prosaschrift-
- 330 -
stellerei und der Gewerbthätigkeit. Das Schöne steht
in erster, das Nützliche in zweiter Reihe. Geld und
goldene oder silberne Medaillen, und zwar Beides zu-
gleich, werden als Preise verliehen, seltener andere
Ehrengaben. Der Werth der Preise auf der Eisteddfod
von PwUheli betrug gegen 800 Pf. St. Zu einem
geringen Theil werden sie von einzelnen Personen aus-
gesetzt, zum grossen Theil von dem Ausschuss, der
überhaupt das ganze Fest veranstaltet und dessen Kosten
bestreitet. Decken die Einnahmen welche durch den
Verkauf der Eintrittskarten gewonnen werden, die Aus-
gaben nicht, so macht sich das in der Tasche der
Ausschu^smitglieder fühlbar; stellt sich dagegen ein
üeberschuss heraus, so pflegt er zu nationalen Zwecken
verwendet zu werden. Man hat es dem Ausschuss
der Eisteddfod von Bangor im vorigen Jahre sehr
verdacht dass er den Beingewinn sich selbst zugute
kommen liess. lieber die Preiswürdigkeit jeder Leistung
wird von einer, zwei oder drei Personen entschieden.
Zuweilen wird der Preis ganz zurückbehalten — mich
dünkt, es geschieht nicht oft genug — häufig wird er
auch zwischen zwei oder drei Bewerbern getheilt. Ganz
unlogisch ist es jedenfalls eine ungleiche Theilung vor-
zunehmen ; sobald man dem einen 1 Pf. 5 Sh. und dem
andern 1 Pf. 1 5 Sh. zuerkennt, erklärt man den zweiten
für den Besten und müsste ihm also den ganzen Preis
zuerkennen, denn eben nur der Beste soll ihn erhalten.
Ich habe von diesen Festen eine ganz vorzügliche
Meinung, wie viel sich auch im Einzelnen ihre Aus-
führung bessern lässt. Die verschiedenartigsten Kräfte
werden zur Thätigkeit angespornt, der Erfolg erhält
eine verhältnissmässige Belohnung, und zwar unter
- 331 -
allgemeinster Theilnahme ; Reich und Arm, Hoch und
Niedrig, Staatskirchler und Nonkonformist, Tory und
Whig finden sich hier zusammen und werden durch
ein gemeinsames Interesse in nahe und freundliche
Beziehung gebracht, durch das Interesse an allem was
kymrisch ist, seinem Wesen oder seiner zufalligen Ent-
stehung nach. Die Eisteddfod ist der Brennpunkt im
Nationalleben der Kymren. Dicht- und Tonkunst sind
zwar von Haus aus gleichberechtigt; da aber die
Nationalität sich in der Sprache am deutlichsten äussert,
so erklärt es sich dass jetzt wenigstens die Pflege der
Dichtkunst den wesentlichsten Zweck der Eisteddfode
bildet. Es lässt sich nicht leugnen dass verschiedene
der besten dichterischen Erzeugnisse aus der Bewerbung
um Eisteddfodpreise hervorgegangen sind. Man könnte
freilich denken, wer einen vorgeschriebenen Gegen-
stand gut behandelt, würde einen selbsterkorenen noch
besser behandeln. Indessen ist die Auswahl immer so
gross dass jeder Dichter etwas finden wird was seiner
Neigung und Befähigung vollkommen entspricht. Wem
„Boadicea" und „Cassivellaunus" zu alterthümlich, der
wählt die „Heiligen von Bardsey" oder „Katharina
von Berain"; wem die Elegie und die Grabschrift zu
traurig, der wählt das Liebeslied; wem das epische
Gedicht zu lang , der wählt das Epigramm. Die
prosaischen Aufgaben, für die gewöhnlich auch die
englische Sprache zulässig ist, beziehen sich natürlich
nicht auf Fachwissenschaftliches, sondern auf Dinge
von allgemeinem Interesse, z. B. auf den „Verstand"
und auf die „Enthaltung von geistigen Getränken",
sowie auf Kymrisches. Für PwUheli waren zwei Auf-
gaben der letzteren Klasse gestellt: „Ueber das Leben
- 332 —
und den Genius des Dichters David Owen (Dewi Wyn
Eifion)" — der für den bedeutendsten kymrischen
Dichter dieses Jahrhunderts gehalten wird (f 1841;
sein Geburtshaus hatten wir auf unserer Fahrt nach
PwUheli erblickt) — und „Ueber die besten Samm-
lungen von kymrischen Büchern und Handschriften und
von Büchern die sich auf Wales und kymrische Litte-
ratur beziehen." Nur die erste Aufgabe wurde wirk-
lich gelöst; der einzige Bewerber um die zweite empfing
die zehn Guineen (ohne die Silbermedaille) als Er-
munterung.
Es ist wahr dass kein anderes Volk heutzutag ein
derartiges Fest kennt; bei einem grossen Volke wie
den Engländern, den Franzosen, den Deutschen wäre
es überhaupt nicht möglich. Man denke sich, es
gingen bei den Preisrichtern statt 20 Pfund on the
mind^ wie dies zu PwUheli der Fall war, 5 Centner
ein ! Jeder Schriftsteller würde ja über diesen Gegen-
stand schreiben, um zu zeigen dass er etwas davon
besitze. Oder es sängen statt zweier Chöre, wie zu
Pwllheli, 40 Chöre nacheinander : The people shall Jiear
and be afraid (aus Handels „Israel in Aegypten"). In
der That, the people would hear and he afraid 1
Die Eisted dfod wurde abgehalten in einer riesigen
Bretterhalle. Der Raum für das Publikum bestand aus
vier Abtheilungen; die Bühne, auf welcher der Prä-
sident und die Beamten der Eisteddfod ihren ständigen
Aufenthalt hatten, schloss nach hinten mit einem kleinen
Amphitheater für die Chöre ab. Der Pavillon war u. a.
mit Sinnsprüchen reich geschmückt. Ueber der Bühne
las man die drei Eisteddfodsprüche : „Unter Gottes
Schutz und Frieden!", „Jesus, dulde kein Unrecht!",
— 333 —
„Die Wahrheit gegen die Welt!'*. Gegenüber: „Gott
erhalte die Königin!" und „Es lebe der Prinz von
Wales!" Zu beiden Seiten : „Ohne Gott nichts!", „Im
Angesicht der Sonne und der Augen des Lichtes!",
„Die Dauer der Welt der kymrischen Sprache!" u. s. w.
Auch die Namen einer Keihe von Barden die nicht
mehr unter den Lebenden weilten, waren angebracht,
zunächst an der Bühne die der beiden jüngst verstor-
benen Meurig Idris und Cynddelw. Der Letztere war
Prediger der Baptisten zu Caernarfon, und seinen Ver-
lust beklagt Wales tief. An jedem Tag wurde eine
Morgen- und eine Abendsitzung gehalten; die einen,
in der Dauer von mindestens 4 Stunden, machten die
eigentliche Eisteddfod aus, die anderen bestanden aus
Konzerten von 26 — 28 Nummern (zum grössern Theil
Sologesängen). Mit jeder Sitzung wechselte der Prä-
sident. Zu diesem Posten, der keine andere Mühe-
waltung als die einer kurzen Ansprache einschloss,
waren natürlich die angesehensten Personen auserlesen.
Am ersten Morgen sollte der Baronet Watkin Williams
Wynn präsidieren ; allein er war durch Krankheit ver-
hindert. Sein Stellvertreter sprach von ihm als dem
prince in Wales ; er stammt nämlich, allerdings durch
Vermittlung zweier Erbtöchter, von Eoderich dem
Grossen ab, der im neunten Jahrhundert König von
ganz Wales war. Seine Geschlechtstafel ist mir seit-
dem zufölligerweise zu Gesicht gekommen, und ich
habe da unter seinen Ahnen einen Robert ap Meredith
entdeckt der erst mit dem 80. Jahre heirathete. Ein
Tintenklecks auf diese Stelle des Stammbaumes wäre
nicht übel! Präsident am zweiten Morgen war der
greise Lord Mostyn, von dem ein Vorfahr, zur Zeit
— 334 —
der Königin Elisabeth, in der Geschichte der Eistedd-
fode genannt wird.
Von diesem viertägigen Fest kann ich sagen was
von keinem andern gleichen Umfangs das ich je mit-
gemacht habe: dass es mich nicht im geringsten er-
müdet hat. Es lag dies, abgesehen von der vollstän-
digen Zwanglosigkeit welche dabei herrschte, an der
Mannigfaltigkeit des zu Sehenden und zu Hörenden.
Zwischen den musikalischen Wettkämpfen, den einzigen
an denen das Publikum kritischen Antheil nehmen
konnte, trugen die Eichter ihre Entscheidungen vor
und riefen den Sieger oder die Siegerin mit Namen
auf. Handelte es sich um die besten Hufeisen oder
die besten Strümpfe oder den besten Flanell, so er-
freute sich das Publikum wenigstens an einem flüch-
tigen Anblick der Leistung. Der Glückliche betrat
die Bühne ; zu gleicher Zeit wurde eine Dame hinauf-
geführt die dem sich Beugenden oder Mederknieenden
an buntem seidenen Band den Preis um den Hals
hängte. Ein herzlicher Händedruck und laute Beifalls-
bezeigungen der Zuschauer schlössen die kurze Cere-
monie. War es eine Glückliche, so vollzog ein Herr
die Krönung. Ausserdem fanden auch in den Morgen-
sitzungen einzelne Stimm- und Instrumentalvorträge
statt, und wurden verschiedene Reden gehalten. Unter
diesen machte besoüders eine von Hwfa Mon, Prediger
in London und Dichter auf mich Eindruck. Er brüllte
nämlich wie ein verwundeter Löwe; seit ich Ira Ald-
ridge als Othello hörte, ist mir etwas Aehnliches nicht
wieder vorgekommen, und Othello hat doch eine kleine
Ursache zu brüllen, ebenso die Methodistenprediger,
soweit sie von dem Weltgericht und der ewigen Ver-
— 335 —
dammniss reden — aber Hwfa Mona Gegenstand waren
die Eisteddfode und die kymrische Sprache. Wie er
so dastand, über die Brüstung gebeugt, mit erhobenem
Arm, mit flammendem Antlitz, das auch für gewöhn-
lich einen begeisterten, seherhaften Ausdruck trägt,
glaubte ich einen alten Druiden zu erblicken der, an
einsamer nordischer Küste, vor blutendem Opfer sein
besiegtes und verfolgtes Volk zum Widerstand und zur
Rache anfeuert und dabei das Tosen der Wellen und
des Windes übertönt. Dieses ins Unschöne, Unheim-
liche gesteigerte Redefeuer ist, ich erkenne es mehr
und mehr, echt kymrisch. Trotzdem haben mir sehr
viele Kymren, als ich mich neulich missfällig über
diese Art des Vortrags im Herald Cymraeg ausge-
sprochen hatte, lebhaft zugestimmt, so ein Ungenannter
in dieser Zeitung selbst. Beiläufig gesagt, berührt
derselbe auch einen andern Punkt den ich aufs Tapet
gebracht hatte. „Ist etwa die Sitte dass zwei, drei
Predigten unmittelbar hintereinander gehalten werden,
aus der Neigung der Kymren zum Wettkampf, zur
Mitbewerbung herzuleiten?" So hatte ich gefragt,
und der Ungenannte erwiderte: „Wer von uns, wenn
er an die Bemerkungen denkt die nach den Predigten
gemacht werden, möchte bezweifeln dass diese Worte
ein gutes Theil Wahrheit enthalten? ,Der und der
hat es heute recht gut gemacht*, heisst es, oder ,A hat
keine Chance nach B*, oder ,C wusste dass er heute
nach D sein Bestes thun müsste* u. s. w." In der
(staatskirchlichen) Zeitung Y Dywysogaeth las ich
einen Artikel über die bei den Nonkonformisten herr-
schende Art zu predigen in welchem meine Bemer-
kungen wiederholt und neue hinzugefügt waren. Unter
— 336 —
den letzteren scheint mir folgender Vergleich sehr
treffend: „Die Menge stellt sich eine ,grosse Predigt'
wie einen Feuerbrand vor der anfangs ruhig, düster
und rauchig ist, dann mehr und mehr, unter Geprassel
und Gluth, aufflammt.^
Glücklich hob sich von dem düstern Pathos Hwfa
Mons und mancher etwas langweiligen Partie der
Eisteddfod der Humor ab den der Dichter Mynyddog,
einer von den Leitern (nicht Präsidenten) der Sitzungen
entfaltete. Keine zwei Sätze brachte er in seiner be-
haglichen, sichern Weise hervor ohne dass ihm Jubel
und Gelächter antworteten, besonders aus dem Hinter-
grunde, wo das unverfälschte Kymrenthum sass. Z. B.
Ein paar kleine Mädchen haben auf dem Klavier be-
liebige Stücke vorgetragen; der Preisrichter lobt das
Spiel der Einen sehr, nur sei leider das Stück so kurz.
Mynyddog stellt die Siegerin dem Publikum vor;
Mr. *** habe nur Eines auszusetzen, nämlich — und
dabei weist er auf die kleine Gestalt hin — dass das
Stück so kurz sei. Auch sang Mynyddog ein paar
seiner eigenen komischen Lieder, die den lautesten
Beifall hervorriefen.
Das Kymrische ist, wie es sich gehört, bei weitem
die vorherrschende Sprache ; daneben wird auch Englisch
gesprochen, und zwar als die vornehmere Sprache. Ver-
schiedene der Präsidenten hielten ihre Ansprache erst
auf Englisch und wiederholten sie dann auf Kymrisch.
Dienstag, den 22. August bei grauendem Morgen
verliess ich Caernarfon mit der Eisenbahn. Es strömte
vom Himmel; wir waren alle recht verschlafen und
verdriesslich. Nachdem wir noch ein paar Stunden in
PwUhelis Wirthshäusern umhergezogen waren, begann
— 337 —
das Fest trüb und matt. Es hatte durch das Dach
des Pavillons durchgeregnet, und die feuchten Sitze
füllten sich langsam. Ich kehrte Nachmittags nach
Caernarfon zurück, um mich auf einen mehrtägigen
Aufenthalt in PwUheli zu rüsten. Auch der folgende
Morgen zählte zu jenen brittischen Regenmorgen welche
die Stimmung in so hohem Grade beeinflussen ; unter-
wegs aber klärten sich Wetter und Laune auf. Neben
mir sass ein Engländer der vor wenigen Wochen in
Halle gewesen war und recht gut Deutsch sprach ; mir
gegenüber ein Barde Caernarfons. Es entwickelte sich
zwischen uns Dreien eine deutsch-englisch-kymrische
Unterhaltung, die mich um so mehr ergötzte als ich
mein Inkognito oder vielmehr mein Ignoro in Bezug
aufs Englische wahrte. Der Pavillon war an diesem
Tage weit mehr gefüllt als am vorhergehenden. Ich
machte zahlreiche Bekanntschaften, u. a. die des Dich-
ters Ceiriog, von dessen Gedichten ich schon in Deutsch-
land verschiedene mit lebhafter Theilnahme gelesen
hatte, und die des Eev. Silvan Evans, Herausgebers
der Archaeologia Cambrensis und Verfassers eines
grossen englisch-kymrischen Wörterbuches, welcher,
wie ich mit Freuden höre, an der jungen Universität
von Aberystwyth das Fach der kymrischen Philologie
in Zukunft vertreten soll. Nachdem ich in der Rektorei
mit Speise und Trank gelabt worden war, besuchte ich
die Ausstellung in der Volksschule, die nichts besonders
Keltisches aufwies, sodann das Konzert. Donnerstag
war der Haupttag, der sogenannte Stuhltag. Das
Wetter Hess nichts zu wünschen übrig. Wir stiegen
auf einen benachbarten Hügel, den Pen-yr-allt-fawr,
um uns die Gorsedd, die feierliche Bardenzusammen-
Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 22
— 338 —
konft, die übrigens an jedem Morgen stattfand, anzu-
sehen. Wie herrlicli von hier die Aussicht über das
hellleuchtende Meer, den malerischen Felsen Careg-
yr-imbill, der in die Bai vorspringt, die Eryrikette,
die Berge von Merionethshire ! Sie fesselte mich mehr
als die Feierlichkeiten der Gorsedd, die mich indes-
sen schliesslich unerwarteterweise zur Aufmerksamkeit
zwangen. Der alte Eisteddfodmann Clwydfardd, der
auf dem Stein inmitten des Kreises stand, hatte die
Eisteddfod proklamiert, das Gebet gesprochen und eine
kurze Bede gehalten; die Barden, um ihn herum,
hatten die Gorsedd mit eigenen Versen angesungen;
es waren verschiedene Personen in einen der drei
bardischen Grade, unter die Druiden (Geistliche), die
Barden i. e. S. (Dichter), die Ofyddion (Männer der
Wissenschaft — die Engländer haben daraus ovates
gemacht) aufgenommen worden, auch eine Dame die
sich als Dichterin ausgezeichnet hatte. Da horte ich
auf einmal aus Clwydfardds Mund meinen Namen und
die Aufforderung an mich in den Kreis zu treten. Ich
leistete Folge, Hess eine Beleuchtung meiner Verdienste
über mich ergehen und empfing den Grad eines Ofydd.
Man band mir eine grüne Schleife um den Arm (weiss
ist die Farbe der Druiden, blau die der Barden), ich
stellte mich auf den Stein, sagte: „Ich danke viel-
mals", und wurde vom Volke begrüsst. Das Pseudonym
welches man mir gab, war Celtydd oV Almaen (Keltist
aus Deutschland). Jeder der irgendwie auf Oeffent-
lichkeit Anspruch erhebt, muss ein solches Pseudonym
haben und wird dann auch fast immer mit demselben
genannt. Wenn man sich einmal die Schilder in einer
kymrischen Strasse genau angesehen und etwa eine
- 339 —
Reihenfolge wie John Jones, Robert Edwards, Edward
Roberts, Robert Jones, John Jones, Robert Rqberts,
Edward Jones u. s. w. festgestellt hat, ist man von
der Nützlichkeit jener Einrichtung vollkommen durch-
drungen. Familiennamen sind jung in Wales und noch
nicht vollständig befestigt. Die alte Sitte war — wie
ja auch anderswo — dem eigenen Namen den des
Vaters hinzuzufügen, und da sehr häufig der eigene
Name vom Grossvater entlehnt wurde, so konnte ein
Stammbaum sehr einfach ausschauen (z. B. Owen Rhys,
Rhys Owen, Owen Rhys, Rhys Owen u. s. w.). Doch
zurück zur Gorsedd! Der Schluss war der Eröffnung
gleich. Wir hielten unsere Hände an die Scheide
aus der das heilige Schwert halb herausgezogen war.
„Ist Friede?" rief Clwydfardd, „Friede!" antworteten
die Barden, und so dreimal. Beim dritten Mal wurde
das Schwert in die Scheide gestossen ; es konnte kein
Zweifel mehr darüber herrschen dass Friede war. So
fühle ich mich denn im Zusammenhang mit jenen alten
Druidön welche in Mondnächten die heilige Mispel
von den Bäumen abnahmen und im Besitze so wunder-
barer Geheimnisse waren. Von diesen druidischen
Geheimnissen gelobe ich feierlich nie etwas verlauten
zu lassen.
Mit Musik zogen wir, Barden und Volk, zum
Pavillon hinab, der diesmal aufs vollständigste besetzt
war ; nahe an 5000 Menschen mochten darin sein. Es
präsidierte Mr. Edwards, ein gemüthlicher Herr, welcher
es trotz seiner Beleibtheit nicht lange Zeit hinterein-
ander auf seinem Präsidentenstuhl aushielt. In einer
bescheidenen Ecke der Bühne bemerkte ich ein altes
Mütterchen, dem durch die Gunst eines Mächtigen hier
09*
. — 340 —
ein Platz angewiesen war. Auf seinem wackelnden
Kopfe trug es den schwarzen Cj^linderhut den man
jetzt — wenigstens in hiesiger Gegend — nur noch
selten als weibliche Kopfbedeckung findet. Dieser Hut
ist gewiss nichts Anderes als eine alte Fafon des
Damenreithutes ; haben sich doch so viele Moden aus
der feinen Welt in ländliche Einsamkeit zurückgezogen.
Vom auf der Bühne konnte man die alte Tracht der
kymrischen Frauen an einem jüngeren und hübscheren
Modell studieren; ein Fräulein mit rosigen Farben
hatte, um das Volk an seinem Hauptfeste zu ehren,
einen hohen Hut — der in Neuheit funkelte —
und einen rothen Mantel angethan. Diese ürkymrin
sprach etwas Deutsch und machte später bei Hwfa
Mons Kode Miene sich die Ohren zuzuhalten. Wie
an jedem Tage, wurde an diesem ebenfalls gesungen,
gespielt und geredet; auch ich sprach, auf besondere
Veranlassung, einige Worte zum Volke, dem ich die
Versicherung gab dass, solange das Land des „Schla-
fenden Barden" (sehr bekanntes Werk von Elis Wynn
1703) so viele wache Barden hervorbringe, der Spruch
an der Wand dort seine Geltung behalten werde: „Die
Dauer der Welt der kymrischen Sprache!" Es wurde
dies sehr freundlich aufgenommen. Die Morgensitzung
schloss mit dem Bedeutendsten der ganzen Eistedd-
fod ab, der Ertheilung des Stuhlpreises. Ein schön-
geschnitzter Eichensessel und 30 Pfund waren dem
Verfasser der besten Awdl auf die Schönheit bestimmt.
Der alte Gwalchmai, dessen Brust mit goldenen und
silbernen Siegeszeichen überdeckt war, verlas das ür-
theil der drei Kichter; unter vierzehn eingegangenen
Gedichten wurde das Tudnos für das beste erklärt.
— 341 —
und ihm ausserordentliches Lob gespendet. Der Sieger,
ein junger Mann trat vor; Gwalchmai, das Scepter,
und Hwfa Mon, das Schwert in der Hand, gingen ihm
entgegen und geleiteten ihn, unter Trompetenstössen,
zu dem „Stuhl von Gwynedd (Nordwales) Mon und
Manaw (Man)", hinter welchem die Barden einen Halb-
kreis gebildet hatten. Er empfing den Preis aus den
Händen einer Dame, liess sich auf seinem Thron nieder
und vernahm etwa ein Dutzend poetischer Huldigungen
von den Umstehenden. Dann wurde das Schwert der
Gerechtigkeit entblösst, und die Frage nach dem Frie-
den erledigt; endlich der Sieger mit der Würde eines
„Stuhlbarden von Gwynedd, Mon und Manaw, und zwar
nach der alten Satzung der Barden von der Insel Bri-
tannien" belehnt.
Das Städtchen selbst bot in diesen Tagen einen
jahrmärktlichen Anblick dar. Kleine Buden und Fässer
mit Obst stehen hier und da; vier Krüppel durch-
ziehen früh und spät die Strassen, indem sie einen
mitleiderregenden Gesang hören lassen; die Kneipen
sind stark besetzt. Alle Augenblicke stosse ich auf
jemanden der es für unbedingt nothwendig hält dass
ich von ihm ein Glas Bier oder Sherry oder Whisky
annehme. Dabei heisst es einem Dritten gegenüber:
„Kennen Sie meinen Freund, den Doktor aus Deutsch-
land? Er versteht kein Englisch, nur Kymrisch, und
spricht Kymrisch viel besser und reiner als wir." So-
dann Staunen, Händeschütteln, die drei Fragen: „Wie
geht es Ihnen? Wie gefallt Ihnen die Eisteddfod?
Wie gefallt Ihnen dieses Land ?" — die drei Antworten :
„Gut, vorzüglich, ausgezeichnet." Und ich habe einen
Freund mehr. So oft sich die Sache wiederholt, immer
— 342 —
genau in denselben Formeln, als ob diese in der Satzung
der Barden von Grossbritannien ständen. „Reinheit
der Sprache" ist übrigens ein etwas zweifelhaftes Kom-
pliment; es kann geradezu das Gegentheil von „Ver-
ständlichkeit" bedeuten. Auch mit dem einen und
anderen der hübschen jungen Mädchen findet sich Ge-
legenheit einen Händedruck zu wechseln. Wenn man
so viel von dem „alten Land unserer Väter", „den
alten Bergen", „der alten Sprache", „den alten
Satzungen" hört wie auf der Eisteddfod, fühlt man
um so mehr das Bedürfniss sich zu vergewissern dass
nicht Alles hierzuland alt ist, und schliesst sich um
so lieber an die Jugend an.
Am Donnerstag Nachmittag war das Gewühl am
stärksten. Ich schlenderte neben der blonden Schenkin
von Afonwen einher und versuchte ihr den Hof zu
machen, als ich Rev. S. Evans mit Gattin begegnete.
„Wollen Sie mit uns speisen, bei einem Bekannten in
der Nachbarschaft?" fragte mich das Paar voll liebens-
würdiger Sorge um mein Wohlergehen. „Ich nehme
es dankbar an." „Nun, so kommen Sie auf den Bahn-
hof; der Zug geht um 6 Uhr." Eine Stunde später
sassen wir im Wagen, und ich wunderte mich dass
man mir für Portmadoc, unseren Bestimmungsort trotz
meines Verlangens kein Hin- und Zurückbillet gegeben
hatte. „Ja, heute Abend können Sie nicht nach Pwllheli
zurück. Wo wir speisen, werden wir auch übernachten."
Ein gelinder Schreck überfiel mich, weil ich ohne Reise-
tasche war; aber ich sah dass auch meine Gefährten
federleicht in der Welt herumflogen, und dies tröstete
mich. Dicht bei Portmadoc liegt ein reizender Park,
und inmitten dieses Parks ein Landhaus dessen Herr
— 343 —
und Herrin uns aufs zuvorkommendste empfingen. Das
Mahl wies neben anderem Luxus, wie dem des Rhein-
weins und des Champagners, auch den Luxus von Ser-
vietten auf, dessen ich nach meiner Ankunft in Wales
ganz entwöhnt worden war. Hier musste ich vom
Kymrischen Abschied nehmen; es wurde noch ver-
standen, aber nicht mehr gesprochen; das Englische
beherrschte die Unterhaltung. Das ganze Kymrenthum
erschien hier bis auf einen feinen und kostbaren Boden-
satz verflüchtigt, bis auf die Liebhaberei des Hausherrn
für alte kymrische Bücher. Noch gegen Mitternacht
Sassen wir in der Bücherei, um in den werthvollen
Bänden zu blättern und darauf bezügliche Gespräche
zu führen. Das herrlichste Wetter am anderen Morgen
lockte mich früh aus Bett und Haus; ich stieg durch
die schattigen Gänge des Parks empor bis zu der freien
Höhe, weil ich glaubte, ich würde dicht unter meinen
Füssen das Meer erblicken. Aber es erglänzte in
ziemlicher Ferne. Ich sagte dann meinen Wirthen
und meinen Führern Lebewohl und fuhr in einem
starkbesetzten Zuge nach PwUheli zurück. In der
weiblichen Umgebung welche ich unterwegs hatte,
erkannte ich einen Theil des Chors von Portmadoc,
der schon zweimal gesiegt hatte; siegesgewiss auch
schauten die jungen Damen aus, und in der That
eilten sie einem neuen Triumph entgegen. Der letzte
Festtag verrann angenehm und heiter wie die vorher-
gehenden. Gegen Ende des Konzerts, am Abend,
wollte ein Sir auf Englisch dem Publikum auseinander-
setzen was Wahrheit sei ; aber mochten die Leute das
nun wissen, oder uneingedenk des Eisteddfodspruchs
„Die Wahrheit gegen die Welt!" nicht wissen wollen.
— 344 —
oder die Erklärung verspätet finden, kurz, sie wurden
sehr ungeduldig und begannen eine Musik mit den
Füssen welche der Rede ein vorzeitiges Ende bereitete.
Nachdem Alles, Reden, Singen und Klimpern vorüber
war, begann das Kneipen, und nachdem auch dies
vorüber, funkelte noch lange ein heller Sternenhimmel
auf zahlreiche Schaaren behaglich ümherwandelnder
herab. Ich musste an den Schluss eines römischen
Karnevalstags denken.
Samstag früh sah das Städtchen sehr leer und
nüchtern aus, und wir Nachzügler beeilten uns es zu
verlassen. An der Kreuzstation Afonwen mussten wir,
wie gewöhnlich, warten. „Ist Zeit?" erscholl es in
Nachahmung der oft gehörten Gorseddformel. „Zeit!**
„Ist Bier?" „Bier!" IT. s. w. Die schönste der
Schwestern war nicht gegenwärtig; sie ruhte offenbar
noch von dem Feste zu Pwllheli aus. Von Afonwen
bis Caernarfon ging es mit ausgesuchter Langsamkeit;
die ganze Reise, glaub' ich, dauerte drei Stunden. An
Unterhaltung fehlte es nicht; eine Engländerin hatte
über die Eisteddfod und über Wales im allgemeinen
ihre eigenen Ansichten und ersparte sie uns nicht. In
diesem Lande sollten die Schafe nicht so fett, der
Rasen nicht so grün sein, die Vögel nicht so munter
singen wie in England. Mein Llew Llwyfo wehrte
sich mannhaft und bewies ihr unwiderleglich dass die
„Sachsen" — so heissen die Engländer auf Kymrisch —
noch nicht buchstabieren konnten als die Kymren schon
eine reiche treffliche Litteratur besassen. Seine Wider-
sacherin war ein recht gescheites Frauenzimmer, aber
eines der schrecklichsten die ich je gesehen habe, so
schrecklich wie nur ein englischer Blaustrumpf sein
— 345 —
kann. Neben ihr sassen zwei bescheidene und liebens-
würdige Damen, welche ebenfalls nur Englisch ver-
standen und auf deren Mienen sich ein leises Missfallen
über die Nörgeleien ihrer Nachbarin zeigte. Ich wun-
derte mich erst über diesen Gegensatz zwischen Eng-
länderinnen; doch erfuhr ich dann zu meiner Genug-
thuung dass diese Beiden Walliserinnen waren, nämlich
aus einem Theil von Montgomeryshire wo das Eng-
lische das Kymrische vollständig verdrängt hat. Darf
ich hier ein Wort über die „gute Erziehung" der
Engländer einschalten? Sie scheint sich mehr auf
kleine als auf grosse Dinge zu beziehen. Jemand der
es shocking nennt die Gabel mit der rechten Hand
zu halten, betrachtet es keineswegs als shocking sich
einem Andern gegenüber möglichst unliebenswürdig
und taktlos zu benehmen. Jene Engländerin richtete
die Frage an mich in welchem Theile von Deutsch-
land ich wohnte. Als ich erwiderte: „In Preussen",
sagte sie: „Ich liebe die Oestreicher viel mehr als
die Preussen" • — ein Ausspruch den ich zwar sehr
erklärlich, aber nicht angenehm zu hören fand.
Kein ürtheil kann ungerechter und unverständiger
sein als das der Engländer über alles was kymrisch ist.
Bei den wenigen die hierin eine Ausnahme machen,
pflegt ein gelehrtes Interesse zu Gründe zu liegen.
Hauptsächlich die Zeitungsschreiber sind dem armen
Tafify sehr aufsässig. Wenn sie nur nicht in so komische
Irrthümer verfielen! Man kann z. B. in der Times
lesen dass in Wales gaelisch gesprochen wird. Auf
die Anwendung der Worte : dim Sasnach ! welche auf
kymrisch „kein Englisch!" bedeuten sollen, thun sich
die Engländer etwas zugute, sie bringen sie überall an ;
— 346 —
aber die Verbindung ist ein Unding, nur dim gehört
der kymrischen Sprache, Sasnach der gaelischen an
(kymr. Seimeg). üebrigens kommt es den Engländern
ungemein spasshaft vor Kymrisch reden zu hören ; denn
sie sind überzeugt dass eine wirkliche Verständigung in
einer so wunderlichen Sprache unmöglich ist. Wie
kann man überhaupt sich in einer andern Sprache
verständlich machen als in der englischen!
Die Eisteddfod ist in den Augen der Engländer
ein barbarisches, thörichtes Fest. Als ich Pwllheli
verliess, kam mir ein Artikel im Standard zu Gesicht
der über das verflossene Fest in sehr unterhaltender
Weise spöttelte; aber die Befugniss des Korrespon-
denten irgend einen BegriflF von der Sache zu haben,
wurde mir durch die beiden Wörtchen dim Sasnach
sehr in Zweifel gestellt. Etwas später las ich im
Liverpool Mercury folgende Auslassung bezüglich der
Eisteddfod von Pwllheli: „Auch Preise in Menge far
Abhandlungen über Etikette, Oden an lang abgeschie-
dene Heilige und sagenhafte Krieger, dichterische (?)
Ergüsse über verschiedene Gegenstände, aber all dies
wie sehr viel Sekt im Vergleich zu wenig Brod.
Warum könnten die Preise nicht ausgesetzt werden
z. B. für den schwersten Bienenstock, für die beste
Art und Weise den Honig auszunehmen ohne die Bienen
zu tödten, und für verschiedene Verbesserungen im
Garten- und Ackerbau, die den kommenden Geschlech-
tern von Nutzen sein würden?" Niemand möchte
leugnen dass die Bemerkungen des Bienenvaters höchst
weise sind ; doch scheinen sie einer Ergänzung zu be-
dürfen. Nicht die Dichtkunst allein, auch die Ton-
kunst ist eine brodlose; was soll an die Stelle der
— 347 —
musikalischeu Wettkämpfe treten ? Ich dächte, Hahnen-
und Hundegefecbte und anderes dergleichen was der
Thierzucht Vorschub leistet. Nein, im Ernste zu reden,
man vergleiche doch einmal ein englisches Volksfest
mit einem kymrischen ! Auf welcher Seite mehr An-
stand, Bildung und Geschmack? Man suche doch in
England die Partisane zu diesen Handwerkern welche,
voll geistiger Strebsamkeit, ihre Sprache rein und richtig
schreiben und sich, fast ohne Anleitung, zu Dichtern
und Sängern ausgebildet haben ? Wird man wohl etwas
Anderes finden als savages with a tum for piety and
mechanics, wie einst ein Fremder die Engländer ins-
gesammt bezeichnet hat?
Bala, 21. Sept. 1875. Dünne Bäumchen ohne
schattige Kronen, dünnes Bier ohne schäumende Blume,
rauchende Herren, strickende Damen, Mandolinata und
vaterländische Potpourris — die Vereinigung aller
dieser Dinge gewährt ohne Zweifel einen bescheidenen
Genuss. Und sagen zu müssen dass ich mich danach
mehr als einmal während meines vierwöchentlichen
Aufenthalts zu Caernarfon gesehnt habe ! Den Mangel
öffentlicher Alltagsvergnügungen, an die wir Deutschen
nun einmal gewöhnt sind, konnte ich trotz aller Liebens-
würdigkeit der Eingebornen nicht ganz verschmerzen.
Ich brachte die meisten Abende zu Hause zu. Nach
dem Abendessen pflegte ich einen Angriff auf die
vierundzwanzig kymrischen Dichtungsmasse zu machen,
der immer siegreich abgeschlagen wurde, und dann
mich durch die Anekdoten des Golud yr Oes in den
Schlaf zu lullen. Nachmittags wurde ich, wie das
- 348 —
auch hier geschieht, öfters zum Thee eingeladen. Cnter
„Thee" schlechthin wird immer der Nachmittagsthee
verstanden; es wohnt demselben ein ähnlicher Zweck
bei wie unserem deutschen DamenkaflFee, nämlich der:
etwa zwei Stunden nach dem Mittagsessen den Magen
einer förmlichen üeberschwemmung preiszugeben, die
durch Butterscheiben, Korinthenbrod, Pfannkuchen und
dergleichen verdickt wird. Nur bildet der kymrische
Thee eine regelmässige Mahlzeit und erfreut sich von
Seiten des männlichen Geschlechtes nicht minderen
Zuspruchs als von Seiten des weiblichen. Da der ge-
waltige Verbrauch von Thee mit den Bestrebungen
der „guten Templer" oder Mässigkeitsvereinler zu-
sammenhängt, also gewissermassen eine moralische
Färbung trägt, so suche ich mich vor der dritten
Tasse immer durch die Behauptung zu retten dass
drei Tassen starken Thees einen Deutschen eher zu
einer sündhaften Handlung aufzuregen vermöchten als
die gleiche Menge von irgend einem der sogenannten
geistigen Getränke. Jede festliche Kundgebung kleidet
sich in einen Thee. Um z. B. einen wesleyanischen
Geistlichen bei seinem Weggang von Caernarfon zu
ehren, veranstaltete man einen Thee am Nachmittag
und ein Konzert am Abend; das Billet zu Beidem
kostete Vj^ Sh. An den Theetischen wogte es auf
und ab; unablässig rann das heisse Nass aus den
Theekannen und schien den Schmerz um den Schei-
denden lebendiger auszudrücken als eine Fluth heisser
Thränen.
Wenn mein Eifer Predigten zu hören — aus
einem früher angegebenen Grunde — bald etwas er-
kaltete, so bin ich zu Caernarfon regelmässig und
— 349 —
gern in die Sonntagsschule gegangen. Diese Einrich-
tung ist eine sehr merkwürdige. In der Kapelle sitzt
die ganze Gemeinde zusammen, in eine Menge von ein-
zelnen Gruppen abgetheilt die je ein halbes Dutzend
oder etwas mehr Personen fassen und denen würdige
und erfahrene Leute- vorstehen. Die Geschlechter sind
getrennt, doch kann der Vorstand einer weiblichen
Klasse dem einen sowohl wie dem andern angehören.
Früher soll es hie und da Sitte gewesen sein dass
Männer und Frauen durcheinander sassen. In jeder
Abtheilung wird irgend ein Abschnitt der Bibel gelesen
und besprochen; nur die Kinder haben andere Bücher
um darin zu lesen oder vielmehr lesen zu lernen.
Denn die Wochenschule kennt das Kymrische als ün-
terrichtsgegenstand nicht; die einzige Anweisung zum
Kymrischlesen findet eben in der Sonntagsschule statt,
und Kymrisch schreiben lernt, wie es scheint, Jeder
von selbst. Dass eine Sprache welche Jahr aus Jahr
ein eine solch stattliche Keihe von Büchern hervor-
bringt, in dem Kopfe des Einzelnen wie eine Hecken-
rose aufblüht, befremdet mich immer wieder von neuem,
besonders wenn ich bedenke wie die verschiedenen
Mundarten des romanischen Graubündens, deren litte-
rarische Bedeutung doch unvergleichlich geringer ist,
in der Schule Pflege und Zucht erfahren, wie sogar
das Oberhalbsteinische sein eigenes Abcbuch besitzt,
während sein ganzes sonstiges Schriftenthum durch
einen Katechismus dargestellt wird. Da ich selbst
im Kymrischen noch Anfanger war, hätte ich streng-
genommen unter die Kleinen vor den Altar gehört ;
aber man führte mich unter die Schriftgelehrten auf
die Emporkirche, an einen Platz wo vor Kurzem auch
— 35Ö —
der holländische Professor Oosterzee gesessen hatte.
Wahrlich, schriftgelehrt sind die Kymren, und vor
ihrer Bibelfestigkeit fühlte sich das „gelehrte Deutsch-
land" in meiner Person sehr beschämt. Es stellte sich
heraus dass ich über den Bauplan des salomonischen
Tempels und einiges Andere sehr schlecht oder gar
nicht unterrichtet war, und nur einmal tröstete mich
dafür die Anerkennung welche ich wegen der feinen
Unterscheidung zwischen hudo (verführen) und temj^tio
(versuchen) erntete.
Um Caernarfon gibt es zwar nicht allzuviele,
doch recht angenehme Spaziergänge. Am liebsten
setzte ich beim alten Schloss über den Seiont über
und ging dann, von frischem Winde angeblasen, am
Menai entlang, bis ich in der Feme die weissen
Wellenkämme der offenen See erblickte. Einst an
einem trüben regnerischen Tag besuchte ich in der
Nähe von Llanwnda einen alten Pächter der mich
eingeladen hatte. Von hoher und breiter Gestalt, in
derber Kleidung, mit dröhnender Stimme, durch und
durch Biedermann und zäher, altvaterischer Kymre,
musste er Jedem als ein wirkliches Original erscheinen.
Wegen dieser ürwüchsigkeit hiess er seit seiner Jugend
Hu Gadarn; dies war nämlich der Name des Mannes
unter dessen Anführung, der Sage zufolge, die Kymren
aus dem Sommerland nach Britannien kamen. Das
Haus des Pächters lag auf einer Anhöhe, von hohen
Bäumen umschattet, welche trotz der geringen Ent-
fernung des stürmesendenden Meeres ihre Wipfel stolz
und unversehrt in die Luft hoben, ein Sinnbild des
Mannes selbst. Gleich nach meiner Ankunft setzte
sich Hu Gadarn auf sein Steckenpferd, „die alte
— 351 —
kymrische Sprache", yr hen iaith Gymraeg — welche
Worte er möglichst betonte und dehnte — die aller-
älteste Sprache, die Ursprache der Menschheit. Kann
man daran zweifeln dass sie im Paradies gesprochen
wurde? sind nicht die Namen der ältesten biblischen
Personen kymrisch? Abel ist ab aü, zweiter Sohn
(müsste heissen aü fab), Cain ist cain, schön u. s. w.
Noch das Buch Hiob war ursprünglich in kymrischer
Sprache abgefasst ; aber dieser Text ist dann verloren
gegangen. Nichts wie Lesefrüchte aus alten Scharteken;
denn in Bezug auf ihre Sprache haben die Kymren
von jeher die unglaublichsten Vorstellungen zu Tag
gefördert. Der Kev. Joseph Harris von Swansea,
Herausgeber des Seren Gomer sprach im Jahre 1814
sogar die Meinung aus dass das Kymrische nicht nur
die Sprache des irdischen Paradieses gewesen ist,
sondern auch die des himmlischen sein wird. Ich
fragte meinen Wirth ob er mir etwas von den ellyüon
(Elfen) erzählen könnte; aber er verstand gar nicht
was ich mit dem Worte meinte, bis ich es in Verbin-
dung mit dem tylwyth teg (Feen, eig. „schöne Familie")
brachte. Er wusste nichts davon; er meinte, durch
den Einfluss der Sonntagsschulen seien all die Märchen
und der Volksaberglauben verschwunden. Zwischen
dem Mittagsessen und dem Thee wandelten wir am
kiesigen Meeresstrande, wo einst Hu Gadarn einem
amerikanischen Schiffskäpitän das Leben gerettet hatte,
auf und ab, ziemlich ernst und schweigsam, während
ein alter fetter Hund sich hinter uns herschleppte.
Die Aussicht war unerquicklich:
Hu Gadarn spähet hin nach Gwerddons Eiland
üeber Caernarfons Bai, die dunkel aufbraust;
— 352 —
Doch nichts erspäht er. Trübe Wolken hängen
Vom Himmel nieder, nur als Nebelschatten
Erscheinet selbst der Eifl Vorgebirge.
Auf seinem Speer gelehnet, stand 6r finster;
So hoch und still glich einer Eiche er:
Sie beugt sich über den gewalt'gen Strom,
Und in dem Winde rauscht ihr graues Moos.
Wie sollte man inmitten einer solchen getascbten
Landschaft nicht zum Ossian werden! Wie sollten da
nicht alle Erinnerungen an den nebelhaften Dichter
der nun selbst zu Nebel zerronnen ist, erwachen!
Ossian zählt — beiläufig sei es für die Leser der
Times gesagt — zwar zu den Kelten, doch nicht zu
den Kymren. Ich verabschiedete mich von Ty Mawr
mit einem Strauss von Fuchsia und Bösen und liess
dafür meinen Namen in einem Album zurück, zwischen
Gedichten von Ebenezer und Zeitungsausschnitten über
die Seeschlange und die Bevölkerungszahl der Erde.
Mehr von der Umgegend Caernarfons als meine
zwei Beine lehrten mich die vier von John Evans*
brauner Stute kennen, um meinen Drang nach dem
offenen Meere zu befriedigen, kutschierte der genannte
Herr bald nach meiner Ankunft einige Damen und
mich nach der Küste. W^ir tranken in einem einsamen
Hause Thee und besahen uns dann ein merkwürdiges
kleines Port das Lord Newborough in der Franzosen-
zeit angelegt hatte. Ich lief auf die Dünen und be-
grüsste das Meer mit Jubel. Es war ein sonnenheller
Tag, und auf der Landschaft zwischen Strand und
Gebirgskamm lag etwas von italienischem Schimmer.
Ein anderes Mal begleitete ich John Evans, als er
auf die Insel Mon in die Nähe von Beaumaris fuhr,
um der Bestattung Sir Richard Bulkeleys beizuwohnen.
— 353 -
Der reizende schattige Weg von der Menaibrücke bis
nach Beaumaris, von welchem herab man durch das
Laab der Bämne auf die Fluthen des Menai sah, rief
mir manche Partieen des Genfer Sees ins Gedächtniss
zurück. Auf Baron Hill, dem Landsitze des verstor-
benen Baronets war es sehr still; nur einige Trauer-
wagen verriethen was vor sich gehen sollte. An dem
prunklosen Leichenzug, welcher sich nach dem ein
halb Stündchen entfernten Llanfaes bewegte, nahm
ich begreiflicherweise nicht theil, sondern spazierte
im Park umher und erlabte mich an dem Anblick
des mannigfachen üppigen Pflanzenwuchses und am
Geruch der feuchten Erde. Hat man auch drei Viertel
seines Vermögens verspielt und verwettet, mit einem
solchen Park ist man noch reich genug. Ich setzte
mich, von goldigen Fliegen umsummt, auf eine Bank.
Vor mir dehnten sich die wundervoll grünen Matten
in langsamer Senkung zum Gestade hin; drunten
weidete behaglich prächtiges Vieh, Binder des Helios,
Widder des Polyphemos; von jenseit der Bai grüsste
des Penmaenmawr stolzes Felsenhaupt herüber, und
in weiter Ferne war die Halbinsel sichtbar auf welcher
das vornehme Bad Llandudno liegt. Eine entzückende
Ruhe, welcher das Todtenglöckchen von Llanfaes klang-
vollen Ausdruck lieh! Aber über den blauen Himmel
flogen weisse Wolken, und über die blaue See weisse
Segel, und ich dachte an die Odyssee unseres Lebens.
Noch einen zweiten Besuch statteten wir der Insel
Mon ab ; er galt im besonderen den beiden Cromlechs
zu Pias Newydd. Wir betrachteten diese Denkmäler,
welche aus einer geheinanissvoUen Vorzeit wie erra-
tische Blöcke zurückgeblieben sind, mit grösster Sorg-
Scbncbardt, Bomanisches a. Keltisches. 23
- 354 —
fält, wir kletterten hinauf und krochen hinein, aber
es kam uns kein gescheiter Einfall. Als wir dann,
langsam durch den lichten Hain alter Bäume zurück-
schreitend, uns über den Anfang aller Dinge zu unter-
halten begonnen hatten, sprang John Evans mit kühnem
Sprunge auf das Ende aller Dinge über und nahm
mich in ein scharfes Verhör. Es Hess sich schliesslich
nicht verhehlen dass ich nicht an die ewige Verdamm-
niss glaubte. „Dann sind Sie ja ünitarier !" rief er aus.
Es war das erste Mal dass ich von den ünitariern
hörte. Zum Glück beendete die Ankunft des Segel-
bootes unsere allzu eifrigen Erörterungen über den
Ursprung des Bösen und über die Allgüte Gottes.
„Und wäre dieser Fährmann Charon", sagte ich beim
Einsteigen, „ich könnte nicht denken wie Sie." John
Evans versicherte mich aber später dass unsere „wie
Ost und West auseinandergehenden" Auffassungen des
Jenseits keinen Schatten auf unsere diesseitige Freund-
schaft werfen sollten.
Seiner Güte gegen mich setzte John Evans die
Krone auf, indem er eine Partie um den Snowdon
veranstaltete, zu welcher er ausser mir verschiedene
Herren und Damen einlud. Etwa ein Dutzend Personen
fuhren wir eines Montags früh in zwei Wagen ab. Die
Sonne blieb nach einigen matten Versuchen den Wolken-
panzer des Himmels zu durchdringen, den ganzen Tag
über unsichtbar; nach kymrischen Begriffen war es
sehr schönes Wetter. Jedenfalls ersetzte den Mangel
des Sonnenscheins eine allseitige gute Laune voll-
kommen. Kaum lagen Caernarfons Häuser hinter uns,
so machten wir aus dass jedes englische Wort welches
in die kymrische Unterhaltung einflösse, eine Geldbusse
- 355 -
nach sich ziehen sollte, was iur uns eine Quelle grossen
Ergötzens ward. Die Bleistifte der beiden Merker
waren ohne Rast beschäftigt, und den Meisten in der
Gesellschaft fiel es wohl zum ersten Mal auf mit wie
vielen englischen Flickläppchen sie das Prachtg6wand
der eigenen Sprache zu entstellen pflegten, und mit
wie unnöthigen; denn fast immer fanden wir ohne
Mühe einen passenden kymrischen Ersatz. In Llanberis,
dem berühmten Schieferorte, dem Chamouni des Snow-
dons wurde gehalten; man fragte sich ob man den
nahen Wasserfall von Ceunant Mawr besichtigen sollte,
aber die allgemeine Stimmung entschied sich für das
freundlichere Element des Bieres. Nachdem wir uns
erfrischt hatten, wurde Jedem unter uns — ohne An-
sehen des Geschlechts — welcher noch kein Pseudonym
besass, ein solches auf feierliche Weise beigelegt, nur
dass ein Begenschirm die Stelle des heiligen Gorsedd-
schwertes vertrat. Aus dieser bardischen Taufe ging
derjenige welcher nachher unsere merkwürdige Ver-
gnügungsfahrt in zwei Nummern des Herald Cymraeg
dem Andenken der Nachwelt überlieferte, als Ym-
fflamychwr hervor — welches Wort schwierig zu über-
setzen ist — und eine sehr stattliche und lustige Dame,
die Frau eines Arztes als PlUen Caergyhi^ die Pille
von Caergybi. Die Steinbrüche von Llanberis hinter
uns, drangen wir in das rauhe, schroflfe Gebirg ein,
die Festung von Wales, die letzte Zuflucht des rothen
Drachen vor den Fängen des römischen Adlers und
den Klauen des englischen Leoparden. Ungastlich,
trotzig starrten mir die Felsen entgegen wie die stei-
nernen Särge altkymrischer Königsherrlichkeit, auf
düstern Tafeln glaubte ich die Namen Gwrtheyrns,
- 356 —
Llywelyns, Owen Glyndwrs zu lesen. In-t nicht viel-
leicht der unruhige Owen Glyndwr noch jetzt Nachts
hier umher, er der bei Shakspeare sich gegen Heinrich
Heisssporn rühmt dass er Geister, sogar den Teufel aus
der Tiefe heraufbeschwören könne ? Und dann mag
auch die alte Hetty aus ihrer Hütte, dem Cromlec/i
heraustreten; einen besseren Ort für Nachtspuk gibt
es nicht als diesen wilden, alpenhaften Llanberispass.
Meine Gefährten schienen die Eindrücke der Umgebung
lebhaft zu empfinden. Joan Arfon berichtete von alten
Dingen und sagte alte Verse her; Llew Llwyfo warf
von einem grossen Felsblock den er erklommen hatte,
den Bergwänden ein warmes kymrisches Lied entgegen,
und freudig hallten sie es wieder. Drei Engländer
welche des Weges zogen, gafften uns an. „Welche
prächtige Stimme", sagten sie, „was singt er denn,
Deutsch oder Kymrisch?" „Kymrisch", lautete die
Antwort, „Kymrisch und aus Herzensgrund ; was wäre
wohl hier am Platze als Kymrisch ?" Nur Arthur, der
überhaupt von einer Neigung zum Dickjohndavidismus
(englisiertem Kymrenthum) angekränkelt ist , erhob
sich kaum über seine gewohnte scherzhafte Stimmung;
es gefiel ihm mit den Leuten aus dem Volke denen
wir begegneten, drollige Unterhaltungen zu führen.
Nur bei zwei Wesen welche aus einer nahen Hütte
an die Strasse getreten waren, blieb seine Mühe ver-
geblich, bei zwei reizenden kleinen Mädchen von so
wunderbarer Aehnlichkeit wie ich sie bis dahin noch
nie wahrgenommen hatte. Die armen Kinder waren
taubstumm. So zwischen Berg und Wildbach, zwischen
Ernst und Kurzweil schlugen wir uns über die Pass-
höhe nach dem einsamen Wirthshaus Pen-y-gwryd,
— 357 —
wo der Weg sich nach Capel Curig und nach Beddgelert
theilt. Hier wurde ausgespannt. Da wir den ge-
reimten und ungereimten Inhalt des Fremdenbuches
bald durchgekostet hatten, so stiegen wir, in Erwartung
des Mittagsmahles, auf eine steile Anhöhe welche
einen weiten ümblick über die grossartige Haide-
und Felsenromantik darbot. Der Snowdon, der nur
etwa die Höhe unseres Brockens hat, dräute so riesig
und finster vor uns empor dass ich mich fast darüber
freute seine Besteigung nie ernstlich beabsichtigt zu
haben. Ein kymrisches Sprichwort lautet:
Da ist der Snowdon! sagen thut's sich leicht,
Doch wird sein Gipfel langsam nur erreicht.
Ich begnügte mich also damit so recht behaglich vor
mich hinzusagen: Dacw WWyddfal So oft ich hinblickte,
war ich immer von neuem überrascht keinen Schnee auf
dem Gipfel zu sehen. Auch der englische Name lässt
solchen voraussetzen. In der That aber ist Snowdon
nur eine falsche üebersetzung des kymrischen Eryri^
welches nicht von eira^ eiry^ Schnee herkommt, sondern
mit eryr. Adler, eryri^ Gürtelkrankheit zusammenhängt.
Auch Gwyddfa — so heisst, wie schon gesagt, der
höchste Gipfel der Eryri — bezeichnet nicht sowohl,
wie Manche annehmen, das Ding von wo aus man
sieht, den Aussichtspunkt, sondern das Ding welches
man sieht, welches in die Augen fällt (besonders
„künstlichen Hügel", „Grabmal"). Die Leute der Urzeit
schwärmten nicht allzu sehr für Weitsichten und
tauften sicherlich die Berge vom Thal aus. Daher
kann auch, abgesehen von sprachlichen Gründen, der
Name des Piz Languard im Engadin nicht auf den
von droben zu geniessenden Fernblick (ital. lungo
— 358 —
guardo) anspielen; mir scheint es glaublich dass
diese gen Himmel züngelnde Spitze von Ungua^ engad.
laungia (vgl. engad. languarda, Zungenwurst) benannt
worden ist. Wegen vorstehender Abschweifung, welche,
aller weltmännischen Sitte zuwider, das Handwerk
des 'Verfassers vordringlich zur Schau trägt, muss ich
um so mehr Nachsicht erbitten als wir oben auf
unserem Hügel auch nicht entfernt dergleichen ver-
handelten. Vielmehr berieth ich mich mit Arthur
über das beste Mittel der Gwyddfa zu einer weissen
Kappe zu verhelfen, welche uns für die Würde des
höchsten Berges von Wales unerlässlich vorkam. Ich
stellte ihm vor wie das Zeltdach der Eisteddfodhalle
von PwUheli, welches ihm dazu verwendbar erschien,
doch zu leicht schmutzen würde, und wie die Ausfüh-
rung eines andern Plans, nämlich den Gipfel weissen
zu lassen, mit mancherlei Fährlichkeiten verbunden
wäre — eine Erörterung welche von P. Caergybi unter-
brochen wurde, indem sie das Lied zu singen begann:
„Schönes Wales, Land des Gesanges." Sodann musste
ich eine Stelle aus Faust hersagen, und Joan Arfon,
indem er sich bedächtig eine Prise in die Nase schob,
entschied dass Deutsch sehr ähnlich klänge wie Kym-
risch. Woraus ein fahrender Gelehrter des 16. Jahr-
hunderts gewiss „dero Cimbern und Kymren gemein-
sames Herkommen" geschlossen haben würde. Der
Hunger trieb uns bergab; Llew (Löwe) und Twrch
(Maulwurf) veranstalteten sogar einen Wettlauf, der
ebenso unerwartet endete wie der zwischen dem Hasen
und dem Swinegel, nämlich damit dass Llew bis an
die Kniee in einen trügerisch bewachsenen Sumpf ver-
sank. „Wunderbar!" rief der Ymfflamychwr, „der
— 359 -
Maulwurf springt, und der Löwe gräbt sich ein" (Twrch
yn llamu a Llew yn tyrcliu).
Beim Essen, das uns trefflich mundete, brachte
Arthur als Vorsitzender einen Trinkspruch auf mich
aus der mich sehr beschämte, und den ich mit einem
höchst einfach gedachten Englyn erwiderte. Ich kann
der Versuchung nicht widerstehen dieses einzige Schmer-
zenskind meiner kymrischen Muse für die Liebhaber
und Kenner hieherzusetzen, indem ich die Laien
wegen einiger metrischen Aufklärungen auf einen
spätem Brief vertröste:
Gorddwfn ydyw V cefnfor cu — aruchel
Ydyw V Eryri ddu;
Dyfnach yw fy niolwch i
Na V morj uwch na V Eryri.
(Sehr tief ist das liebe Meer, sehr hoch ist die schwarze
Eryri; tiefer ist mein Dank als das Meer, höher als
die Eryri.) Ein zweiter Trinkspruch Arthurs bezog
sich auf die Dichter und Gelehrten von Wales und
namentlich auf Joan Arfon, den er wegen seines Er-
folgs auf der letzten Eisteddfod beglückwünschte —
derselbe hatte nämlich den Preis für die beste Awdl-
bryddest auf den verstorbenen Barden Emrys, bestehend
in einer Goldmedaille und 20 Pfund, gewonnen. Joan
Arfon, der seines Zeichens ein kleiner Viktualienhändler
ist, schloss an seinen Dank Bemerkungen über die
ungünstige Lage der kymrischen Barden an: es fehle
ihnen meistens an Zeit und Mitteln sich gründlich
der Dichtkunst zu widmen. „Warum aber", hatte ich
Lust einzuwenden, „denken denn gerade die Wohl-
habenden und Reichen in Wales so wenig daran in
kymrischer Sprache zu dichten?" doch es würde uns
- 360 —
dies auf gewisse sehr allgemeine Betrachtungen gefahrt
haben. Unmittelbar nach Tisch fuhren wir nach Bedd-
gelert ab. Die lieblichen Schönheiten des Weges er-
quickten mich wahrhaft nach den rauhen die wir
vorher durchmessen hatten. Wir eilten an frischen
Matten, klaren Seen, weissen Häusern, grünem Gehölz
vorbei, immer den Nant Gwynant entlang, der sich
bei Beddgelert mit dem Nant Colwyn vereint. Nant
heisst „Bergwasser" (und „Thalschlucht'*), wie zufälliger-
weise auch diejenigen wissen welche von Genf nach
dem Montblanc gereist sind; A^n Nant noir welchen
sie hinter Sallenches überschritten haben, können sie
hier in Wales als Nant du wiederfinden.
Beddgelert liegt — und zwar recht malerisch —
auf der Grenze zwischen Arfon und Meirionydd. Der
Name bedeutet „Gelerts Grab", und Gelert war ein
treuer Hund der Vorzeit, welcher von seinem Herrn,
Llywelyn dem Grossen mit rascher Hand erstochen
wurde, verdächtig dessen Sohn getödtet zu haben,
während er ihn im Gegentheile vom Tod errettet hatte.
Mitten auf einer schönen grossen Wiese bei Beddgelert
ragen drei unregelmässig gestellte Steine aus der Erde
empor, von einer Trauerweide beschattet ; da liegt der
Hund begraben. Gelert ist nicht so glücklich wie
sein berühmter Speciesgenosse Stutzel zu Winterstein
in Thüringen (f 1640), dessen weit geringere Ver-
dienste in einer versificierten Inschrift verkündet werden.
Ich weiss nicht ob in Wales überhaupt Hundegrab-
schriften bestehen; wies doch vor einer Keihe von
Jahren der Steinmetz das Ansinnen welches der all-
bekannte Dick Nancy, der Todtengräber an ihn stellte,
auf den Grabstein des hochbetagt verstorbenen Hundes
— 361 -
Eover einige Worte zu meisseln, wie eine Beleidigung
zurück. Nun, ist das Andenken Gelerts auch nicht
in Stein gegraben, so doch um so tiefer in das Herz
des Volkes. Meine Begleiter waren nahe daran das
Grab mit einigen Thränen zu netzen, und Gwenithen
Arfon, deren Mädchenherz die Treue auch in einem
Hunde zu schätzen weiss, wünschte sogar ihren Namen
in die Binde des Baumes zu schneiden; allein ich
ernüchterte die gerührte Stimmung einigermassen, in-
dem ich erwähnte dass die Geschichte von Llywelyn
und Gelert unter anderen Namen an allen Ecken der
Welt erzählt würde und also wohl in das Gebiet un-
glaubwürdiger Sage gehörte. Ganz zu überzeugen
vermochte ich nicht; wem; man mir auch zugab dass
die Erzählung nicht gut von Britannien nach dem
Morgenlande gewandert sein könnte, warum sollte nicht
ein und dasselbe sich zweimal zugetragen haben? In
Arthurs Brust bohrte sich der Stachel meiner kritischen
Bemerkungen am tiefsten ein. Als uns der Heimweg
an einem Stein mit der weisslichen Fussspur eines
Riesen vorbeiführte, stieg Arthur aus, sprang über
das Wasser, in das er beinahe hineinfiel, und kletterte
an dem Stein empor; nachdem er eine Zeit lang mit
dem Taschenmesser an der Stelle herumgeschabt hatte,
theilte er uns als wissenschaftliches Ergebniss mit
dass überhaupt an keinen Fussstapfen, geschweige an
den eines Riesen zu denken sei. Wir wanden uns
allmählich auf wellenförmiger Strasse aus den Bergen
heraus, welche den kaum gelüfteten geheimni ssvollen
Schleier wieder dicht um sich zogen. Ich sass auf dem
nach aussen gerichteten Hintersitz des zweirädrigen
Wagens und wäre bei jeder Steigung des Weges in Gefahr
- 362 —
gewesen herabzugleiten, hätte nicht dann immer P.
Caergybi mit rückwärts gedrehter Faust mich am
Arme festgehalten. Fröhlich, wie wir ausgefahren
waren, kamen wir nach Sonnenuntergang wieder in
Caernarfon an, und der einzige Unfall der ganzen
Fahrt, der am Schlüsse derselben eintrat, dass mein
hellgrauer Sonnenschirm, der Stolz seines Besitzers und
die Bewunderung Caernarfons entzweiknickte, dieser
Unfall erhöhte die Heiterkeit nur noch, indem er zu-
gleich auf eine zweckmässige Verwendung der am
Morgen eingegangenen Geldbussen hinwies.
Mein letzter Abend in Caernarfon gewährte mir
Freuden für die ich ebenfalls John Evans, genannt
Arthur zu Danke verpflichtet bin. Die Harfentone
welche Rodenbergs Buch durchziehen, hatten in mir
eine unendliche Sehnsucht wach gerufen; denn ich
hatte das volksthümliche Instrument der Kymren,
dessen Pflege sehr in Abnahme zu kommen scheint,
nur einmal gehört, auf der Eisteddfod von PwUheli;
aber was ist der elegante Mr. Thomas, Harfner Ihrer
Majestät gegen die braunäugige Gwenni und gegen
den Harfner der zu Sarahs Hochzeit die Pennillion
begleitete? Meine Sehnsucht zu stillen, gab John
Evans eine musikalische Abendunterhaltung. Verstände
ich das Geringste von Musik, so würde ich es kaum
unterlassen mich hier über die der Kymren zu ver-
breiten ; in der traurigen Lage in der ich mich befinde,
kann ich nur sagen dass die kymrischen Weisen welche
ich überhaupt, zu hören Gelegenheit gehabt habe, durch-
aus keine Verwandtschaft mit den ohr- und herzzer-
reissenden Lautgebungen der Prediger verrathen, son-
dern dass ihre Heiterkeit wie ihre Schwermuth eine
— 363 —
gedämpfte, friedliche ist, wie wenn sie alle an thauigen
Morgen auf duftenden Bergwiesen geboren wären. Be-
sonders angenehm klingt mir der „Marsch der Männer
von Harlech" noch in den Ohren. Was mir an jenem
Abend am meisten gefiel, war der Wechselgesang
zwischen Llew Llwyfo und lolo Trefaldwyn, zu welchem
ein junges Mädchen die Harfe schlug: in raschem,
munterm Tonfall folgte Pennill auf Pennill. Die
Pennillion, meist vierzeilige Strophen, lassen sich mit
den süddeutschen Schnaderhüpfeln und besser noch
mit den Bitornellen und Rispetten der Italiener und
den Coplas der Spanier vergleichen. Wenn auch die
keltische und die südromanische Dichtung sonst durch
die ganze Weite des Himmels getrennt sind, so kann
es doch nicht Wunder nehmen dass sie hier, im un-
befangensten Ausdruck der allgemeinsten menschlichen
Begnügen, besonders der Liebe, sich einander annähern,
dass der Eymre singt:
Dort geht das Schiff mit weissen Segeln
Auf dem Meer nach Irland hin,
Gib, Gott des Himmels, gute Fahrt ihm,
Denn der holde Kymre ist drin,
und kaum anders der Toskaner:
Von dannen aus dem Hafen fuhr ein Schiff,
Von dannen fuhr, für den ich glüh' und bange;
Mutter Maria, gib ihm deinen Schutz,
Dass heil das Schiff zu seinem Ziel gelange.
Beachtung aber verdient dass dort wie hier eben
eine Form besteht in welche jede Eingebung des Augen-
blicks, sei sie mehr gefühlvoll, sei sie mehr sinnreich,
sich mühelos ergiesst, und die dann auch gern in Bede
und Gegenrede verwendet wird. Dazu zeigen diese
— 364 —
Liedchen, die der Kymren ebenso wie die der Süd-
länder auch in ihrem inneren Gewebe vielfach wieder-
kehrende Muster ; sie kUngen aneinander an, sie ändern
sich zueinander ab, sie sind Eigenthum Keines und
Jedes. Norddeutschland und Nordfrankreich kennen
nichts dergleichen. Einen deutlicheren Begriff als aus
diesen Winken wird man aus den zahlreichen üeber-
setzungen und Nachdichtungen bei Rodenberg gewin-
nen. Llew Llwyfo trug mit ausserordentlicher drama-
tischer Leidenschaft ein längeres englisches Gedicht
vor. Mich drängte man wiederum hartnäckig wegen
eines Stückes aus Faust, und so brüllte ich denn endlich
— um nicht den kymrischen Predigern den Euhm zu
lassen dass sie allein brüllen könnten — mit aller
Kraft meiner Lungen die Stelle her: „Wenn aus dem
schrecklichen Ge wühle " „Sehr schön, aber zu kurz !"
rief man. Ich erwiderte: „Für das was es besagt,
lang genug." — ?— „Das Ganze ist ein Fluch." Man
lachte. Zuletzt hielt John Evans, welcher übrigens
der Gesellschaft zu Ehren einen Frack trug, eine Lob-
rede auf meine Wenigkeit ; ich bat den Ymfflamychwr
in meinem Namen dafür zu danken, statt dessen schloss
er sich sachlich dem Vorredner an, und der Twrch
betrachtete diesen Gegenstand noch nicht für hinläng-
lich erschöpft um nicht auch seinerseits sich rednerisch
darüber zu ergehen. Pilsen Caergybi überreichte mir
eine Puppe in Volkstracht und ersuchte mich wenig-
stens diese Kymrin nach meiner Heimath mitzunehmen,
wobei die Bemerkung einfloss dass zur Erhaltung reiner
kymrischer Sprechweise eine Frau aus dem Lande selbst
das beste Mittel sein würde. Von so vielen Liebens-
würdigkeiten erdrückt, von so viel Liebenswürdigkeit
— 365 —
gerührt, trennte ich mich von den Freunden, und dies
war das Ende meiner Tage. von Caernarfon.
Hier muss ich mich gegen einen Vorwurf ver-
theidigen der mir gemacht werden könnte. Ich spreche
in diesen Briefen sehr viel von mir selbst, man wird
sagen, zu viel. Die meisten meiner Landsleute beten
die Objektivität in einem Grade an dass sie einen
Verstoss gegen dieselbe kaum verzeihen. Sogar im
Briefe als litterarischer Gattung verdammen sie das
starke Hervortreten der Persönlichkeit, und allerdings
sind sie durch die vielfachen balneologischen, patho-
logischen, landwirthschaftlichen u. s. w. Briefe sehr
verwöhnt. Dieser vaterländischen Ansicht mag ich
hier etwas entfremdet worden sein, wo die Tagespresse
in weit grösserem Mass als bei uns mit persönlichem
Stoff angefüllt und mit persönlicher Auffassung ge-
tränkt ist. Vielleicht auch sind mir die schönen Dinge
welche man mir gesagt hat, etwas zu Kopf gestiegen.
Im Ganzen aber lasse ich mein eigenes Ich wo es
glänzt, nur im Wiederschein, gleichsam als unwürdigen
Brennspiegel kymrischer Gastfreundschaft und Herz-
lichkeit erglänzen ; höchstens noch dass ich diejenigen
daheim welche über meine „unfruchtbaren^ keltischen
Studien die Achseln zuckten, eines Besseren zu belehren,
und diejenigen für welche die noch so wenig betriebene
keltische Philologie einige Anziehungskraft besitzt, zu
ermuntern beabsichtige.
Von Caernarfon begab ich mich nach Ehyl (kurzes
y!), einem Badeort an der Nordküste, wo ich acht
Tage bei meinem Freunde John Ehys, Schulinspektor
Ihrer Majestät zu Gaste war. Auf John Rhys gehen
alle meine kymrischen Bemühungen zurück. In Leipzig
— 366 —
theilte mir vor verschiedenen Jahren Georg Curtius
mit dass sich unter seinen Zuhörern ein Kymre befände
und dass ihm derselbe den eigenthümlichen Laut des
kymrischen II beschrieben hätte, welcher an der rechten
Seite der Zunge vorbei gepfaucht würde. Dieses //
packte mich mit gewaltigem Zauber. Gleich den mit
Früchten und Blumen lieblich geschmückten Kapitel-
initialen in französischen Bilderwerken, stand es mir
zu Anfang aller kymrischen Wissenschaft gross und
stolz da, ein verlockendes Sinnbild. Mein Gefühl leitete
mich auch richtig; wie ich später erfuhr, hat in der
That mit dem II das Kymrische seinen Anfang ge-
nommen. Beim Thurmbau von Babel fiel einem Ar-
beiter der nach oben gaflfte, etwas zerbröckelter Mörtel
in den ofiFenen Mund; der Mann fing an zu pusten
und zu sprudeln, es kam zunächst das II heraus, und
dann das ganze Kymrische hinterher, da es gerade die
Zeit der Sprachtrennung war. Um dieses II mir an-
zueignen, suchte ich die Bekanntschaft jenes Kymren,
der eben kein anderer als John Rhys war ; von dem II
aus unternahm ich dann meinen ersten Streifzug in
die kymrische Grammatik, den eine fast vollständige
Vergessenheit von dem zweiten erfolgreicheren trennte.
John Rhys, welcher damals vergleichende Sprach-
wissenschaft studierte, hat sich in der Folgezeit mit
besonderem Eifer der keltischen Philologie beflissen
und manche Probe seiner Tüchtigkeit auf diesem Ge-
biete abgelegt. Es wäre zu wünschen dass ihm die
keltische Professur welche, wie ich höre, zu Oxford
gegrandet werden soll, übertragen würde. Jetzt unter-
hält er gerade eine anstrengende Jagd auf uralte kel-
tische Namen, d. h. zunächst auf Grabsteine welche
— 367 —
solche aufweisen, und manches seltsame, unbegreifliche
Wild wird da aufgestöbert. Natürlich wurde während
der ganzen Zeit meines Aufenthalts von nichts Anderem
gesprochen als von Lautschwund und Lautwandel, Ein-
fluss des Accents, Bedeutungswechsel, Wortverwandt-
schaft und Aehnlichem, nicht nur da wo der Liber
Landavensis und Llwyds Archaeologia, Zeuss' Gram-
matik und Curtius' Etymologie uns durch ihre Gegen-
wart anfeuerten, sondern auch in dem Speisezimmer.
Denn Mrs. Rhys, eine geborene Kymrin, die in Berlin,
Paris und Rom gelebt hatte, war eine sehr sprachen-
kundige Dame und zeigte auch, der Neigung ihres
Geschlechts zuwider, lebhaften Antheil an der wissen-
schaftlichen Betrachtung der Sprachen. Das dritte
Familienmitglied war noch zu weit in der Praxis
zurück um sich für die Theorie erwärmen zu können ;
die kleine reizende Myfanwy verstand zwar, wie ihre
Eltern behaupteten, alles was man ihr sagte, beschränkte
sich aber im eigenen Hervorbringen auf ein melodisches
Didldidldidldidl^ zu welchem sie der Anblick runder
Gegenstände, besonders wenn sie zugleich essbar waren,
veranlasste. Ohne Zweifel strebte auch sie in diesem
Ausdruck des Entzückens dem mehrgenannten II nach,
das ihr von allen Lauten der Muttersprache als der
süsseste und begehrenswertheste erscheinen mochte.
In Rhys' Haus machte ich auch die Bekanntschaft von
W. J. Hughes, einem lebhaften Mann, der ein gutes
Stück von der Welt gesehen hatte, und mit Aristophanes
und Rabelais innig befreundet war. Sein Kymrisch hatte
er einigermassen Vergessen, und es belustigte mich
wenn er mich, den Fremden um Verdolmetschung
englischer Wörter anging. Zum Andenken schenkte
- 368 —
er mir die neue im vorigen Jahr zu Liverpool er-
schienene Ausgabe von Twm o'r Nant, dem „kymrischen
Shakspeare", der wie er ein Dinbychmann und im Ge-
brauch englischer Wörter so wenig wählerisch war
wie er.
Bhyl ist im eigentlichsten Sinn ein funkelnagel-
neuer Ort, welcher seine Entstehung und Blüthe der
für das Baden sehr günstigen Beschaffenheit des Strandes
verdankt, und welcher ausser John Bhys' Bücherei
wenig Keltisches aufzuweisen hat. Eine lange Reibe
stattlicher Häuser wendet dem Meer ihre Vorderseite
zu, und die hier entfaltete Lichtverschwendung gestattet
den Blicken der Vorübergehenden tief ins Innere, wenig-
stens der Erdgeschosse zu dringen und die Badegäste
bei ihren verschiedenen Beschäftigungen fast wie in
Glaskästen zu beobachten. Ein Viertelstündchen in
das Meer hinaus, etwa bis zum Stande der tiefsten
Ebbe führt ein Molo in Gestalt einer grossen hölzernen
Brücke welche einen Erfrischungs- und einen Tanzsaal
trägt. Am Abend kann man — was mir so unkymrisch
wie möglich vorkommt — am Strande Musik hören und
sich dabei unter einen südlicheren Himmel träumen;
freilich giesst der Mond nur ein mattes Licht aus,
doch erleichtert uns das andrerseits süsse Täuschungen
über die auf- und abwandelnden Gestalten mit welchen
Manchester und Birmingham diese Gestade bevölkert
haben.
Fast die ganze Zeit über welche ich in ßhyl ver-
brachte, war der Himmel wolkenlos; durch die auf-
steigenden Dünste aber erschien der Glanz der Sonne
in eigenthümlicher Weise gedämpft. Liebt es etwa
die schamhafte Königin des Tages ihr Antlitz vor den
— 369 —
Nacktheiten zu verschleiern die sich hier breit
machen? In Caernarfon war mir das Buch von Luke
Owen Pike: The English and their origin (London
1866) zu Gesicht gekommen, und ich hatte darin ge-
lesen dass wir Deutschen doch ein recht unanständiges
Volk wären, wenn auch nicht sowohl aus Verderbtheit
als aus Unwissenheit, wozu Belege aus Goethe bei-
gebracht waren. Die Engländer hingegen hätten mit
den alten Griechen eine bewusste Sittsamkeit, wie so
ziemlich alle Vorzüge des Leibes und der Seele gemein.
Die Ueberzeugung welche man mir von früh auf ein-
geprägt hatte, dass die Deutschen alle Völker des
Erdballs an Züchtigkeit überträfen, war dadurch er-
schüttert worden, und ich fühlte mich verstimmt. Der
Strand von Ehyl tröstete mich. Er bot mir Gelegen-
heit die Leistungsfähigkeit der Engländerinnen im
Sehen wie im Sehenlassen zu bewundern ; zu Ersterem
eignete sich der Molo vorzüglich. Wie zweckmässig
ist auch die in England so beliebte Verlängerung der
Kindheit I Hochaufgeschossene Mädchen welche an-
derswo beinah auf Bälle gehen würden, legen in den
Dünen die wesentlichere Hälfte ihrer Kleidung ab und
sind mit ihren jüngeren Brüdern bei kühnen Wasser-
bauten thätig. Es ist wohl möglich, Mr. Pike, dass
das Anstandsgefühl Ihrer Griechen den Anblick von
alledem ruhig ertragen haben würde ; aber auch deren
Schönheitsgefühl ?
Das Wetter schlug um, als ich von Ehyl in das
Innere des Landes nach Bala reiste. Von dem kym-
rischen Eden, dem Clwydthale sah ich vor Kegen nichts.
In Corwen musßte ich einige Stunden verweilen, da der
AnscHluss den ich auf dieser Station erwartet hatte,
Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 24
- 370 -
nicht stattfand. Ich suchte den Gasthof Oioen Glyndwr
auf, wo ich dem grimmen Sachsenfeinde dessen Namen
er führte, zum Trotze nur englische Wirthsleute, eine
englische Kellnerin und ein paar gelangweilt aussehende
Engländer als Gäste traf. Meine kymrische Anrede
wurde hier ebenso wenig verstanden wie dies mitten
in Deutschland der Fall gewesen wäre; und weil ich
behauptete, ich spräche besser und lieber Kymrisch als
Englisch, so wurde ein kleines Mädchen aus dem Hof
gerufen um mit mir eine Prüfung abzuhalten, deren
Ausgang befriedigte. Nachdem ich recht gut zu Mittag
gespeist hatte, begab ich mich auf einem angenehmen
Wege nach einer nahen Anhöhe welche, wenn ich nicht
irre, „Glyndwrs Sitz" heisst, und welche mit einem künst-
lichen Steinhaufen geziert ist. Dieser oder wenigstens
die Flaggenstange die er trägt, wurde, wie eine In-
schrift andeutet, zum Andenken an die Hochzeit des
Prinzen von Wales aufgerichtet. Die Aussicht von
hier muss zeitweise recht schön sein; ich hatte keine
andere als auf Nebel. Als ich abwärts wieder am
Kirchhof vorbei kam, trat ich ein und besichtigte
„Glyndwrs Schwert", einen steinernen Pfeiler von eigen-
thümlicher Gestalt. Im Hintergrund des Kirchhofs
liegt ein niederes Haus zur Aufnahme von sechs Pfar-
rerswitwen bestimmt; der Platz ist gut gewählt um
sündige Wiederverheirathungsgedanken fernzuhalten.
Von da begab ich mich nach der Station und harrte
der Abfahrt. Ich war im Begriflf mich in einen falschen
Zug zu setzen, als mich ein Herr den ich nicht kannte,
in kymrischer Sprache auf meinen Irrthum aufinerksam
machte. Dann wandte er sich zu einem Dritten um
und sagte auf Englisch : „Jener Herr ist ein Fremder,
- 371 -
er versteht kein Englisch, man mass Kymrisch mit
ihm reden", erzielte aber durch diese Bemerkung, ob-
gleich er sie wiederholte, nicht den geringsten Eindruck.
Von Corwen gelangte ich in kurzer Fahrt hierher
nach Bala, wo ich einige Zeit zu bleiben gedenke.
Mein nächster Brief soll von Bala handeln.
*
* *
Meine Gewohnheit ist es mich über Orte an
welchen ich zu verweilen gedenke, möglichst wenig zu
unterrichten, damit ich immer den vollen Eeiz der
Neuheit koste. In Rom z. B. war es sehr angenehm
dass Colosseum, Pantheon, Peterskirche ihre Schatten
auf eine vollkommen weisse Tafel warfen. Da nun
aber die Einbildungskraft es sich nicht verwehren lässt
ihre luftigen Gebilde aufzuführen, so wird man bei
diesem Verfahren zuweilen recht enttäuscht. Und ent-
täuscht wurde ich als ich nach Bala kam. Ich hatte
so oft den Namen Bala aussprechen hören dass ich
mir unwillkürlich eine Stadt von dem Umfang und dem
Verkehr Caernarfons vorgestellt hatte. Statt dessen
fand ich ein mehr als siebenmal kleineres Städtchen,
eine breite, stille, keine zehn Minuten lange Strasse
— bog man rechts oder links ein, war man bald im
Freien. Balas Bedeutung ist eine geistige oder viel-
mehr geistliche — zwischen Beidem habe ich in Wales
keinen Unterschied entdecken können. Es ist der eigent-
liche Mittelpunkt des kymrischen Nonkonformisten-
thums; wie wirkliche Burgen, zu Schutz und Trutz
gegen die bischöfliche Kirche, schauen die Colleges
der Methodisten und der Independenten von einer An-
höhe hernieder. Nie wird mein Fuss eine frömmere
Stadt betreten als Bala.
24*
— 372 —
Ich stieg im „Epheuhaus" ab, einem mit Epheu
überkleideten Haus am Südwestende der Stadt. Die
für mich bestimmten Zimmer waren niedriger, we-
niger schmuck und theurer als die welche ich in
Caernarfon inne gehabt hatte ; aber ihr alterthümlicher
Anstrich sagte mir eher zu als dass er mir missfiel.
Auch blickte ich durch die engen Fensterchen nicht
auf die langweilige Thomasstreet, wo ein Dutzend voll-
kommen gleicher Häuser nur durch ihre Nummern vor
dem Verwechseltwerden geschützt sind, sondern auf
einen kleinen wilden Garten, in welchem sich die
Bohnen — sie sollten einen Hauptbestandtheil meiner
Mahlzeiten bilden — sehr breit machten. -Auch Lit-
terarisches fand sich vor; in den Wandschränken war
eine Menge von Büchern aufgestapelt, offenbar die
hinterlassenen Pfander Oxforder Studenten die sich
hier mit Jagen, Fischen und Kudern vergnügt hatten.
Die Virgilian hours des Eev. Valpy, wie so viele
englische Bücher glücklicherweise ohne Jahreszahl,
zeigten mir bis zu welchen Ungeheuerlichkeiten sich
die englische Philologie versteigen kann. Auf dem
Tische lagen religiöse Schriften, darunter auch die
Predigten von Moody. Ueber diesen Moody schalte
ich ein Wort ein, da man seinen und Sankeys Namen
in Wales auf Schritt und Tritt zu hören bekommt.
Ich glaube, er wird immer nur jenseit des Kanals und
jenseit des Oceans geniessbar bleiben; denn so fromm
seine Absichten sein mögen, mit seiner Thätigkeit ist
allzu viel Schaustellung, Reklame, ja Humbug verbun-
den. Ich blätterte in den Predigten, und manche Stelle
erinnerte mich an Abraham a Sancta Clara; vor allem
bemerkte ich jene auch bei so vielen unserer Prediger
— 373 —
herrschende Manier welche erst das Göttliche uns mit
Händen greifen lässt, dann aber, sobald wir es fester
anzufühlen, das Gleichniss auszuspinnen, Schlussfolge-
iTingen zu ziehen wünschen, es aus unserem Bereich
in unerkennbare Femen entrückt. Die Herrin von
Moodys Predigten und Valpys Virgilian Iwura, von
den üppigen Bohnen und den wackeligen Stühlen, die
Hemn auch über mein leibliches Wohlbefinden auf die
nächsten vierzehn Tage war eine siebzigjährige, würdig
aussehende Jungfrau, Miss Owen, lieber ihre Fröm-
migkeit wurde mir rasch jeder Zweifel benommen,
indem sie sich augenblicklich erkundigte welchen Got-
tesdienst ich am andern Tage zu besuchen gedächte
— es war Samstag Abend — und erst eine Viertel-
stunde später ob ich noch an demselben Tag leibliche
Nahrung zu geniessen wünschte. Es schien mir im An-
fang als ob sie mich sammt meinem Kymrisch nicht
in vollem Ernst nähme; indessen gewöhnte ich mich
bald an ihre wunderliche Art. Sie erwies mir grosses
Wohlwollen, aber desto weniger Ehrerbietung; im
Ganzen behandelte sie mich etwa so als ob ich ein
hoJffnungsvoUer Knabe und sie meine Gouvernante wäre.
Bei jedem Bissen den ich in den Mund schob, fragte
sie mich ob es mir schmeckte, und, wenn ich ausging,
ob ich auch nicht mein Taschentuch vergessen hätte.
Bald sah sie mich theilnehmend an und erklärte dass
ich eine Erbin mit 10,000 Pfund jährlich bekommen
müsste, bald stiess sie ein mattes, mitleidiges Lächeln
hervor, bald schlug sie mich verweisend auf die Schul-
ter, bald seufzte sie tief über meine Gottlosigkeit,
üebersetzte ich z. B. die heimische Redensart: „Heute
regnet's aber Gassenjungen" zur Sprachübung ins Kym-
— 374 —
rische, so richtete sie erst die Augen gen Himmel,
wie um sich zu überzeugen ob nicht wirklich der-
gleichen sichtbar wäre, und bemerkte mir dann in be-
kümmertem Ton: „0, sagen Sie doch nicht so etwas!"
und ich war noch so galant gewesen mich nicht auf
gut Kymrisch auszudrücken: „Heute regnet's alte
Weiber mit Stöcken" Qien wragedd d ffyn). Etwas
an mir was die gute alte Dame nie verwinden konnte,
war mein breitkrämpiger Filzhut, der in seiner ünehr-
barkeit allerdings mehr für Sonnino oder Subiaco als
für Bala gepasst hätte. Aber was war zu machen?
Meinen Cylinder hatte ich auf der Ueberfahrt als Kopf-
kissen benutzt. Dachte ich an meine Caernarfoner
Sprachstudien bei Mrs. Prichard zurück, so kam es
mir vor als ob ich jetzt in eine höhere Klasse versetzt
wäre, als ob ich statt des Caesars den Tacitus läse.
Meine Wirthin hörte nicht ganz gut und sprach daher
etwas undeutlich ; überdies vermischte sie in unberechen-
barer Weise das Kymrische mit dem Englischen. Eines
Morgens th eilte sie mir mit: Ffair yn y dref.
„Feuer {ßre) in der Stadt!" dachte ich, „das ist ja
eine unerwartete Abwechselung", und eilte rasch hin-
aus. Es war aber nur Viehmarkt (ffair = lat. feria),
welcher die Eintönigkeit des Balaer Lebens kaum unter-
brach ; Miss Owen hatte gegen ihre Gewohnheit einmal
drei echt kymrische Wörter hintereinander gesagt.
Neben der bejahrten Norne welcher ich mein Schicksal
anvertraut hatte, waltete eine sechzehnjährige Dienerin
im Hause, flink, höflich, mit hellen Augen und heller
Stimme. Die kleine Ellen zog die Mundwinkel eben
so oft aufwärts als Miss Owen sie abwärts zog. Am
ersten Morgen, als ich ihren munteren Gesang ver-
— 375 —
nahm, glaubte ich auf der Fährte romantischer Volks-
lieder zu sein; allein es ergab sich dass was sie zu
singen pflegte, geistliche Lieder waren, von Sankey,
dem Gefährten Moodys in Musik gesetzt. Ich habe
die Sankey'schen Weisen öfters in Wales gehört, und
sie gefallen mir wegen ihrer Lebhaftigkeit sehr gut;
denn ich habe nie begreifen können warum Kirchen-
musik durchaus in Trübsinn oder in Schlaf versetzen
muss, ja meine Geschmacksverirrung geht so weit dass
mir in den sogenannten Opernmelodien des katholischen
Gottesdienstes das Tröstliche und Triumphierende der
Religion besser wiedergegeben zu sein scheint als in
den protestantischen Chorälen.
Miss Owen hatte nur die eine Abtheilung des
Epheuhauses inne; die andere bewohnte mit seiner
liebenswürdigen Gattin der Bev. John Peter, Lehrer
am IndependentencoUege und Prediger. Dieses Ehe-
paar nahm sich meiner aufs angelegentlichste an, und
ich brachte viele Stunden dort zu. Er besass ein
reges Interesse für einheimische Sprache und Litteratur,
das er auch schriftstellerisch bethätigte. Vor längerer
Zeit hatte er Frankreich und Deutschland besucht.
Auch die übrigen geistigen Spitzen Balas lernte ich
zum grössten Theil kennen. Nicht zwar den Nestor
der Independenten, den Rev. Robert Thomas (genannt
Ap Vychan — er ist auch Dichter), obschon ich einen
eigenen Empfehlungsbrief an ihn überbrachte, wohl
aber den Nestor der Methodisten, den ersten Mann
von Bala überhaupt, den Dr. Edwards, dessen Sohn
der jungen Universität von Aberystwyth vorsteht. Die
gesammelten Abhandlungen des Dr. Edwards füllen
einen starken Band, und da sie in einem sehr klaren
— 376 —
und ungekünstelten Kymrisch geschrieben sind und
einen deutlichen Einblick in das heutige GeisteslebeD
der Kymren thun lassen, so möchte ich sie allen den-
jenigen zur Anfangslektüre empfehlen welche sich durch
das Dornengebüsch der Grammatik hindurchgearbeitet
haben. Sogar über Goethes Faust findet sich hier
eine Studie mit üebersetzung zahlreicher Stellen, und
auch anderswo zeigt der Verfasser dass er das „un-
gläubige" Deutschland ziemlich gut kennt. Ich sage
„ziemlich gut", nicht „gut genug"; denn wahrlich,
beim Rev. Valpy ! er hätte sonst schwerlich die deutsche
Philologie gegenüber der englischen so herabgesetzt,
schwerlich gemeint dass wir gegen einen Bentley nichts
in die Wagschale zu werfen hätten. Ein anderer
Bewohner des Methodistencolleges, Professor Ellis
Edwards, ein nicht mehr ganz junger Junggeselle
brachte mir viel Freundschaft entgegen ; auch er kannte
Deutschland aus eigener Anschauung, wenigstens jenen
lieblichen Fleck welcher sich Heidelberg nennt. Im
benachbarten IndependentencoUege besuchte ich den
Professor Lewis und den Rev. Michael Jones, „den
König von Patagonien", welcher besonders die Aus-
wanderung der Kymren nach Patagonien angeregt und
gefördert hatte. Man dachte dort eine Art eigenen
Staats zu gründen in welchem die Nonkonformisten
der bischöflichen Kirche keinen Zehnten zu zahlen,
und die kymrische Sprache ihr stolzes Haupt nicht
vor der englischen zu beugen brauchte; aber die An-
siedler sind in Bedrängniss und Elend gerathen. Es
Hesse sich darüber ein langes, nicht uninteressantes
Kapitel schreiben. Ferner gedenke ich des humoris-
tischen Arztes Mr. Hughes, mit dem ich einmal über
- 377 -
Land gefahren bin. Unter den Studenten von Bala
machte ich auch ein paar Bekanntschaften; eine alte
von der Eisteddfod von PwUheli traf ich unter ihnen
wieder an, nämlich Caeronwy. Er stand vor Beendigung
seiner Studien und fing schon an zu predigen; das
war das Eine, zweitens dichtete er, und drittens war
er ein Bewunderer weiblicher Schönheit. Ohne Ver-
mittelung des Zweiten würde sich vielleicht das Erste
und Dritte nicht ganz zusammenschicken; aber wenn
man von „schwarzgeringelten Haaren", von „Lilien-",
„Rosen-" und „Kirschenwangen^, von „Augen [so!] wie
Perlen" und „Augen wie Sternen", von „Küssen wie
Honig" und anderen süssen Dingen zu singen hat, so
thut man von Zeit zu Zeit gut sich davon zu über-
zeugen dass Alles in Wirklichkeit sich so verhält.
Ich legte meinem Freund den homerischen Titel
TtaQ&evoTtijrr^^ bei, den er gar nicht übelnahm. Eben
so wenig wird er mir es übelnehmen wenn ich sage
dass er ein recht hübscher junger Mann war (hoffentlich
auch noch ist), und wenn ich von ihm, ohne einen
Absatz zu machen, auf das weibliche Geschlecht von
Bala übergehe. Das heisst, nur ein Wörtchen will
ich demselben widmen. Zufolge älteren Autoritäten,
wie Pennant, Nicholson, Lord Littleton, Roscoe, zeichnet
sich Bala durch hübsche Mädchen aus ; zufolge meiner
eigenen Autorität ist an der Sache etwas Wahres.
Da waren z. B. ein paar schwarze ausdrucksvolle Augen.
Eines Sonntags haben mich diese Augen — es ist
eigentlich eine Sünde — in die Kirche gelockt; ja
es ist eine doppelte Sünde, denn ich hatte das feierliche
Gelübde gethan nie wieder einem kymrischen Gottes-
dienst beizuwohnen. Das endlose Gebet welches ein
— 378 -
Student hersagte, hielt ich noch aus, indem ich mich
von Zeit zu Zeit durch einen Blick nach rechts tröstete.
Auf den Prediger hatte ich grosse Hoflfhung gesetzt;
es war die dritte Predigt die er an jenem Tage hielt,
und er ein alter Mann. Sollte er nicht vielleicht
sanft und mild reden, so wie wir uns denken dass
Christus zum Volke geredet hat? Allein wiederum
begann jenes Geschrei welches für mich etwas Thie-
risches oder Teuflisches hat, und mein Ohr überredete,
wenn auch mit einiger Mühe, mein Auge zur Flucht.
Die Sonntagsschule jedoch besuchte ich aus freien
Stücken, einmal die der Independenten und einmal die
der Methodisten ; bei der letzteren kam mir der Schluss
sogar ungelegen, da er die Besprechung eines Bibel-
verses unterbrach der mir Anlass geben sollte zu er-
fragen wie die Methodisten gewisse unvereinbare Dinge
miteinander vereinbaren.
Genug von den Menschen Balas! Es ist Zeit
von der dortigen Natur zu reden. Zuerst muss ich
des Begens gedenken. Vielleicht nehmen mir das
die Balaer übel, indem sie meinen, der Regen sei nur
ein Accidens ihres Städtchens. Dagegen berufe ich
mich auf sämmtliche übrigen Nordkymren, bei welchen
„Eegenloch" {twll y gwlaw) ein Euphemismus für Bala
ist, und nicht minder auf meine eigene vierzehntägige
Erfahrung. Ich will nicht behaupten dass es in dieser
ganzen Zeit Gassenjungen oder alte Weiber geregnet
hätte, es regnete öfters auch nur Stricke oder Bind-
fäden, ja es kam ein paar Mal vor dass ein koketter
Sonnenstrahl mich auf einen hübschen freien Platz
lockte, wo ich bis auf die Haut durchnässt wurde.
Im Ganzen war also der Spruch recht zeitgemäss:
- 379 -
Mae 'w hwrw gwlaw ällan, Draussen regnet's,
Mae V hindda yn y ty. Im Haus ist schön Wetter,
Mae Siani Caerfyrddin Jenny von Caerfyrddin
Yn nyddu gwlan du. Spinnt schwarze Wolle.
Vergleichenden Mythologen gebe ich auf herauszu-
bekommen wer diese Jenny von Carmarthen ist; um
ihnen das zu erleichtern, setze ich hinzu dass anderswo
an ihre Stelle die Weiber von Tregaron {merclied
Tregaron) treten. Mein Sonnenschirm veränderte in
Bala völlig seine Bestimmung, und da sein bläulicher
Glanz mit der trüben Lokalfarbe im Widerstreit er-
schien, hielt ich es für nöthig den Kymren den BegriflF
en-tout-cas zu verdolmetschen, was in meinem zweiten
Englyn geschah: „Sonnenschirm bist du an sonnigem
Tag, Regenschirm, wenn das Wetter feucht ist —
wie dieselbe Wange heiteres Lachen und schwere
Thränen trägt." Abgesehen von dem Wasser welches
der Himmel in seiner unerschöpflichen Huld Tag für
Tag auf Bala herabgiesst, befindet sich neben dem
Ort ein grosser langgestreckter Wasserbehälter, Llt/n
Tegid^ der See der Schönheit, oder vielmehr der Ort
befindet sich neben dem See, und sein Name y Bala
bedeutet „der Ausfluss". Von diesem See, dessen Name
mich einer näheren Beschreibung überhebt, gehen merk-
würdige Erzählungen um. So soll die Sündfluth da-
durch entstanden sein dass ein fabelhaftes Thier, das
Afanc — eine Art Krokodil — welches den See be-
wohnte, dessen üfer durchbrochen habe. Die Triaden
erzählen es, und es kommt mir schwer bei ihre Zu-
verlässigkeit in Zweifel zu ziehen. Daran wenigstens
müssen wir festhalten dass die Sündfluth in der Gegend
von Bala ihren Anfang genommen hat. Denn in der
- 380 -
Bibel steht dass Gott es vor der Sündfluth vierzig Tage
und vierzig Nächte regnen liess, und wo in aller Welt
hätte das geschehen können als hier? Auch würde
ebenfalls hier die Sündfluth aufgehört haben wenn sich
eine andere Nachricht bewährte dass Tomen y Bala
(der Hügel von Bala) ein und dasselbe mit dem Berge
Ararat sei. Allein diese Tomen am Nordostende der
Stadt scheint eine künstliche Anlage zu sein (das zeigt
schon der Ausdruck tomen), und ihre Höhe beträgt
nur dreissig Puss ; wenn nun das Wasser der Sündfluth
vom 17. Tage des 7. Monats 600 nach Noahs Geburt
bis zum 27. Tag des 2. Monats 601 beständig und
sichtbarlich fiel, so muss es weit mehr als dreissig
Fuss gefallen sein. Ich hoffe diejenigen überzeugt zu
haben welche auf die Bibel nicht minder als auf
die vaterländischen Alterthümer halten. Andere Ge-
schichten, wie die vom Kessel der Ceridwen, sind zu
unglaubwürdig; ich behalte sie für mich. Nur eine
wahrhaftige sei noch mitgetheilt. Ein Fremder geht
einst über den zugefrorenen See. In Bala angekommen,
fragt er was denn das für eine grosse Fläche sei die
er durchmessen habe ; als man ihm antwortet, das sei
der See, so fällt er vor Schreck ob der überstandenen
Gefahr todt zur Erde. Den Namen des Mannes habe
ich vergessen; wenn ich nicht irre, war es ein Held
von Arthurs Tafelrunde. An diesem wunderbaren See,
der zu alledem noch eine untergegangene Stadt in
seinem Schosse birgt, habe ich oft gestanden und habe
den kleinen Wellenbergen zugeschaut wie sie, ganz den
grossen Meereswogen ähnlich, heranrollten und sich
zu meinen Füssen brachen. Nahe bei ihm, ein Viertel-
stündchen von Bala, liegt die Kirche von Llanycil,
- 381 —
wohin Bala eingepfarrt ist; auf dem Kirchhof, der
schmucklos ist wie alle Kirchhöfe die ich iu Wales
gesehen habe, befindet sich das Grab des berühmten
Charles von Bala, der auch ein steinernes Denkbild
zu Bala hat. Er war einer der ersten und kräftigsten
Förderer des Metbodistenthums, gab ein biblisches
Wörterbuch in kymrischer Sprache heraus (Miss Owen
schenkte mir ihr Exemplar vor meiner Abreise), rief
die englische Bibelgesellschaft mit ins Leben und that
vieles andere Lobenswerthe. Geht man von Bala aus
in entgegengesetzter Richtung an der Tomen und an
der Grammarschool vorbei und über den trüben Tryweryn,
so gelangt man in ziemlich derselben Zeit zur Kirche
von Llanfor, die damals gerade sehr schön restauriert
wurde. Im Vorhof nimmt man eine Inschrift aus den
ersten Jahrhunderten des Mittelalters wahr, welche
schon manchen Leuten und auch mir vergebliches
Kopfzerbrechen verursacht hat. Die Annahme dass
sie die Grabschrift des alten Barden Llywarch Hen
sei, lässt sich durch nichts begründen. Dilettanten
bitte ich zu bemerken dass sie unter einer Inschrift
eingemauert ist welche trotz ihrem recht alterthüm-
lichen Eindruck aus dem Jahre 1500 stammt. Die
sonstige Umgebung Balas ist anrauthig — wenn es
nicht gerade regnet: Hügel und Ebene, mit üppigem
Basen und stattlichen Bäumen bedeckt. Im Süden
jenseit des Sees zeigen sich stolze Bergkämme. Ein
einziger unter den vierzehn Tagen war schön, und
ich benutzte ihn zu einem Ausflug in Gesellschaft von
Caeronwy und einem andern jungen Manne, der sich
durch ein werthvoUes Geschenk, die Myvyrian Ar-
chaiology bei mir in ein dauerndes Andenken setzte.
— 382 —
Wir wanderten zunächst nach der Heimath des Letzteren,
nach Llanuwchllyn, einem Orte der, wie sein Name
besagt, am oberen Ende des Sees liegt. Die schöne
Strasse fahrte uns an einem Landhause Sir Watkin
Wynns vorbei, das wir besichtigten. Viel zu besich-
tigen war eigentlich nicht da; wir blickten in ein
Dutzend Schlafzimmer mit weissen, einladenden Betten
hinein, an den Thüren staken noch die Visitenkarten
der bedeutenden Persönlichkeiten welche hier im Som-
mer zum Besuch gewesen waren. Einen starken Ge-
gensatz zu dem frischen, heiteren Glan-y-llyn bildete
das eine Strecke davon entfernte Caergai, wo noch
die Spuren alter Befestigungen sichtbar sind und wo
einst Arthur bei seinem Pflegevater Cai Hir aufwuchs.
Das ziemlich finstere Gebäude das jetzt an diesem
Orte steht, stammt aus Cromwells Zeit ; in der Mauer
der Vorderseite entdeckten wir, zum Theil nicht ohne
Mühe, viele Steine mit kymrischen Inschriften. In
Llanuwchllyn machten wir Halt und wurden mit
Speise und Trank erquickt; mir verehrte man ein
paar warme Knieestrümpfe — auch Llanuwchllyn wird
meinem Herzen ewig theuer sein. Hierauf rückten wir
zum Marsche nach einem rauhen, düsteren Felsen aus
auf welchem einst das Schloss Carn Dochan gestanden
hatte. Wir begannen mit einem kleinen Steeplechase
zu Puss, kletterten über Einfriedigungen, sprangen
über Bäche, patschten durch feuchte VP'iesen ; Caeronwy
beständig mit dem Taschenbuch in der Hand, um
Verse zur Begrüssung zweier jungen Schönen nieder-
zuschreiben die wir unterwegs sehen sollten. Als
wir dann in einer kleinen Farm rasteten und Milch
tranken, las uns Caeronwy seine Verse vor, die sehr
- 383 -
begeistert waren, mir aber etwas von der holperigen
Gangart angenommen zu haben schienen in welcher
sich ihr Verfasser befunden hatte. Den Adressatinnen,
deren Haus wir eine halbe Stunde später erreichten,
konnten sie zunächst nicht vorgetragen werden; die
eine liess sich nur widerwillig sehen, die andere gar
nicht. Die Abwesenheit des Vaters, den wir unten
am See getroffen hatten, mochte weniger daran schuld
sein als die UnvoUständigkeit ihrer Empfangstoilette
oder Aehnliches. Wir klommen also den nackten Berg
hinan, wobei ich wiederum die Fähigkeit der kymrischen
Natur bewunderte auch an den abschüssigsten Stellen
kleine Moräste anzubringen. Oben keine Erinnerungen
einer romantischen Vergangenheit; aber ein schöner
Ausblick in die gebirgige Landschaft. Beim Hinab-
steigen gaben wir uns die grösste Mühe die Hälse
zu brechen; wäre uns dies gelungen, so würden die
Misses H. ihren ansehnlichen Vorrath von Pfannkuchen
umsonst gebacken haben, und würden ihnen die Verse
Caeronwys erspart worden sein, die er allerdings durch
reichliche Prosa wieder gut zu machen suchte. Wir
kehrten auf einem andern Wege nach Llanuwchllyn
zurück, wo wir, ehe wir den Eisenbahnzug nach Bala
benutzten, verschiedenen Honoratioren unsere Aufwar-
tung machten, darunter auch, in der Kirche, einem
alten Bitter aus dem 15. Jahrhundert, der uns aber
ein sehr brummiges Gesicht schnitt als wir ihm ein
angezündetes Schwefelhölzchen unter die Nase hielten.
Dieser Tag war ein kleiner sonniger Punkt in einer
breiten Einfassung von Eegen. Sonst wurde es für
jemanden der noch einige weltliche Neigungen besass,
schwer die Zeit todtzuschlagen. Bala war zu fromm
- 384 —
um selbst diesen Todtschlag zu gestatten. Die kym-
rische Litteratur mutbete micb allzu ernst und eintönig
an, festzustellen ob auf der Seite nach Llanfor oder
auf der nach Llanycil hin der Feuchtigkeitsniederscblag
grösser wäre, das ermüdete auf die Dauer, und nicht
jeden Tag konnte ich den weissen Kater meiner Wirthin
seines halben Schnurrbarts berauben, um die Zuneigung
seiner schönen Freundin auf die Probe zu stellen.
Abends sass ich auf einem bequemen Lehnstuhl am
Herdfeuer, sah zu wie Ellen Brodschnitte röstete, trank
meinen Thee und las vor Zubettegehen ein Kapitel
aus der Bibel vor. Miss Owen rühmte meinen Vortrag
— ein Zeichen dass die Prediger noch nicht gänzlich
den guten Geschmack zum Lande hinausgebrüllt hatten.
An zwei Abenden liess ich mir Elfengeschichten er- .
zählen, das eine Mal von einer Frau, das andere Mal
von einem Manne. Die Frau verstand sich besser
darauf gruselig zu machen, wobei ihr freilich der so
ausdrucksvolle Stiickstrumpf eine ganz besondere Hülfe
gewährte; andrerseits besass der Mann den unleug-
baren Vortheil mit eigenen Augen einen leibhaftigen
Geist gesehen zu haben. Miss Owen sass im Hinter-
grund und lächelte, seufzte, schüttelte den Kopf über
all die gottlose Thorheit.
Ein Fest wartete ich noch ab von dem ich oft
hatte sprechen hören und bei dem ich auch alles sah
was in und einige Meilen um Bala gehen und stehen
konnte. Es war ein grosser Thee der den Kindern
in der Schule gegeben wurde. Zuletzt sangen die
Kinder, und zwar recht hübsch, und verschiedene
Herren hielten Eeden — eine Gelegenheit bei der in
Wales keine Beden gehalten würden, ist undenkbar.
1
— 385 —
Nachdem ich, aus guten Gründen, meine Mitwirkung
zu diesem Theil des Programms verweigert hatte,
goss John Peter in seiner Eede so ganz nebenher
einen vollen Eimer duftenden Lobes auf mein ahnungs-
loses Haupt aus, sodass ich mich gezwungen sah meiner
Freude über so viele wohlerzogene Kinder Ausdruck
zu leihen, wollte ich nicht in den Augen dieser und
besonders einer niedlichen kleinen Blondine welche
sich sehr über mich zu amüsieren schien, als Urbild
überseeischer ünbeholfenheit dastehen. Bald nachher
verliess ich Bala , der Regen blieb. Im letzten Augen-
blick empfing ich als Andenken von meinen gesammten
kymrischen Freunden das grosse englisch -kymrische
Wörterbuch von Silvan Evans in prächtigem Einband ;
auf dem Vorderblatt des ersten Bandes steht — zum
Glück wiederum in kymrischer Sprache — ein Ver-
zeichniss aller meiner Tugenden, vom Bürgermeister
von Caernarfon eigenhändig beglaubigt. Ich hatte
die Absicht gehabt mich noch an anderen Orten von
Nordwales und auch in Südwales umzusehen, haupt-
sächlich nach Büchern und Handschriften ; allein meine
Zeit war um. Ohne Unterbrechung fuhr ich von Bala
nach Frankfurt a. M. Besonderes nahm ich unterwegs
kaum wahr. Zwischen Oxford und London sass ich
neben einer Dame welche einen mit verschiedenen
Schnäpsen gefällten Korb öfters zu Rathe zog, bis
ich ihr — die Kammerzofe bat mich darum, sie selbst
konnte es nicht — Platz machen musste. Jedoch ist
dies, wie ich höre, in England nichts Besonderes.
Sieben Wochen war ich in Wales gewesen. Was
hatte ich da gethan, was da gelernt? Die ganze
Zeit hatte ich verschlendert und verdehnt, bei den
Schuchardt, Bomanisches u. Keltisches. 25
— 386 —
Predigten hatte ich es nicht ausgehalten, zwanzig
Bücher hatte ich angefangen und keines ausgelesen,
ich hatte keine Ausflüge zu wissenschaftlichen Zwecken
gemacht, ja, was mich am meisten peinigte, ich hatte
keine einzige Handschrift abgeschrieben. So viele
meiner Kollegen brachten von ihren Herbstreisen sauber
bekritzelte Papierstosse mit, die gleich hätten in die
Druckerei wandern können; was ich? eine welke
Blume auf dem Hute der Miss Owens ganzer Ab-
scheu war.
* *
[1878.] Früher pflegte ein Philologe, wenn er
sich einen vergnügten Sonntag machen wollte, eine
gewisse dunkle und geräumige Höhle aufzusuchen,
darin ein Feuer anzuzünden und sich an mitgebrachtem
Getränk und den Ausdünstungen der Erde so zu be-
rauschen dass er die wunderbarsten Gebilde vor sich
erblickte. Man möge mich nicht missverstehen, ich
spreche nicht im eigentlichen Sinne, sondern im über-
tragenen : ich meine mit der Höhle die keltische Sprach-
wissenschaft. An den wissenschaftlichen Orgien welche
man auf keltischem Grund und Boden gefeiert hat,
haben sich die ehrenwerthesten Männer betheiligt, die
vielleicht dem was man gewöhnlich Orgien nennt,
mit Abscheu aus dem Wege gegangen sind. Es lag
die Keltomanie ebenso in der Luft wie ihrer Zeit die
Potichomanie oder die Cricrimanie oder irgend eine
andere Manie; nur hat sie viel länger gedauert und
viel mehr Schweiss und Tinte gekostet. Mein Gross-
onkel Bridel, der Dechant von Montreux entschul-
digte die allzu starke Vorliebe welche er in seinen
— 387 —
früheren Jahren für Herleitungen aus dem Keltischen
gehegt hatte, später damit, zu seiner Zeit sei der Glaube
allgemein gewesen, Adam habe Keltisch gesprochen.
Was Wunders dass Jeder aus der linguistischen Erb-
schaft des Urvaters wenigstens die Fähigkeit des in-
stinktmässigen Errathens gerettet zu haben sich ein-
bildete! Jenem Unfug zu steuern, wurde vor einem
Vierteljahrhundert die oberwähnte Höhle mit einem
schönen und dauerhaften Thore — Zeuss' Grammatica
Celtica — verschlossen, das sich nur mühsam in sei-
nen Angeln bewegen lässt, und daher nur Wenigen
den Eingang verstattet ; neuerdings hat man noch einige
starke Bohlen aufgenagelt und den Metallschmuck
etwas poliert. Wollte Jemand eine Schlup^forte darin
anbringen, so wäre das vielleicht nicht so übel.
Wenn auch eines von den hervorstechendsten
Merkmalen der Kelten von jeher das gewesen ist dass
sie Keltisch reden, so blicken doch viele welche sich
mit den Kelten beschäftigen, über die sprachliche Vor-
aussetzung ganz hinweg. Die Einen rechnen zu den
Kelten alles was je ein alter Schriftsteller in einem
unbedachten Augenblick mit diesem Namen belegt hat;
die Andern wissen von keltischen Schädeln zu er-
zählen, ohne sich im geringsten darum zu bekümmern
was einst in diesen Schädeln gesteckt hat ; die Dritten
rufen jedem Steinblock der sich eine etwas absonder-
liche Stellung herausgenommen hat, jedem Bronze-
stückchen das der Schoss der Erde ans Tageslicht
bringt, einen keltischen Gruss zu. In Deutschland be-
sonders ist die Neigung noch sehr lebendig alles was
man sonst nicht unterbringen kann, unter das Keltische,
wie in eine Eumpelkammer, zu werfen; und wo man
25*
— 388 —
auch seinen Wohnsitz aufschlagen mag, es ist schwer
den Kelten ganz aus dem Wege zu gehen. Dass hier
in der grünen Steiermark einst Kelten hausten, unter-
liegt keinem Zweifel, und hier von ihnen zu hören
freut mich; in Halle aber hatte ich geglaubt vor
ihnen sicher zu sein. Da lese ich einst im Halle-
schen Tageblatt den gereimten Neujahrswunsch der
Halloren an den Kaiser Wilhelm und finde darin fol-
gende Verse:
„Deiner Jugend gleich Dein Alter!" Also wünscht zum neuen
Jahr
Dir auch, vielbesungner Kaiser, Halles treue Keltenschaar.
Ich stutzte erst; dann wurde mir jedoch Eines
klar. Oft hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen
ob die Halloren deshalb so traurig aussähen weil sie
täglich Leichen zum Kirchhof zu geleiten hätten, oder
ob sie deshalb zu Leichenträgern verwendet würden
weil sie so traurig aussähen. Nun musste ich mich
für die letztere Annahme entscheiden ; dieses Häuflein,
dmch die Sturmfluth der Völker von der grossen Menge
seiner Stammesgenossen losgerissen, leidet an Heim-
weh, magert ab in Sehnsucht nach den fernen Gestaden
des Oceans wo noch keltische Laute ertönen. Aber
Scherz beiseite ! Ich will nicht gerade die Möglichkeit
bestreiten dass die Kelten, welche einen gewissen Sinn
für landschaftliche Reize besessen zu haben scheinen, die
Gegend hinlänglich angenehm fanden um sich daselbst
niederzulassen, nur sollte man sich wegen des Namens
Halle nicht auf das kymrische hol berufen. Zu jener Zeit
in welcher ein Hallesches Keltenthum überhaupt sich
denken lässt, sprachen die Kymren noch sal\ derUeber-
gang des s in ä ist bei ihnen verhältnissmässig jung.
- 389 -
Beiläufig gesagt, zeigt jene hallorische Dichtung deut-
lich wie leicht gelehrte Vermuthungen in Saft und
Blut der Ungelehrten übergehen und nach einiger Zeit
den Anschein wirklicher Volksüberlieferungen annehmen
können, durch welche vielleicht endlich die Gelehrten
selbst wieder getäuscht werden.
Nicht nur hängen diese verschiedenen Arten von
keltischen Studien, die linguistischen, die geschicht-
lichen, die archäologischen, die kraniologischen unter-
einander noch allzu lose zusammen, sondern jede ein-
zelne zieht zu wenig das was noch heute vom Kelten-
thum leibt und lebt, in ihren Gesichtskreis. Wie viel
unzweifelhafte Keltenschädel hat man denn bisher
untersucht? Und jene dicke Grammatik welche uns
lehrt wie schwierig das Keltische (und auch wie
schwierig das Lateinische) ist, beschäftigt sich vorzugs-
weise mit den alten Sprachen und nur nebenbei mit
den heutigen. An sich zwar besitzen jene grössere
Wichtigkeit als diese ; aber der unendliche Vorzug die-
ser besteht darin dass sie der unmittelbaren Beobachtung
zugänglich und daher bis in ihre feinsten Fasern erkennbar
sind, während die schriftliche Ueberlieferung, abgesehen
von ihrer Un Vollständigkeit, die Züge der Sprache
kaum anders wiedergibt als die Maske die des Gesichtes.
Zur Peststellung und Erklärung von sprachlichen That-
sachen welche der Vergangenheit angehören, bedürfen
wir beständig des Lichtes welches uns die Gegenwart
gewährt; daher zeigt auch die Sprachwissenschaft ganz
neuerdings das Bestreben ihren Schwerpunkt in die
lebenden Mundarten zu verlegen. Und ein entsprechen-
des Bestreben geht durch alle Wissenschaften. Der
Satz : „Es ist Alles schon da gewesen unter der Sonne",
- 390 —
bisher nur eine Ausrede für wenig erfindungsreiche
Eomanschreiber und Bühnendichter, ist nun zum
Motto aller Forschung erhoben worden. Wie steht es
mit jener Vergangenheit, von uns durch eine Fluth
getrennt die wir nicht passieren können, beleuchtet von
einer göttlichen Huld die wir verscherzt haben, durch-
waltet von Kräften die erloschen sind, bevölkert von
Wesen die wir nicht begreifen? Sie war ein Märchen
und ist wie ein Traumbild zerronnen; wir haben er-
kannt wie feste Bande uns auch mit den entferntesten
Zeiten verbinden, und dass wir die zerstreuten und
erstarrten Zeugnisse der Voi*welt ergänzen und beleben
können aus der ununterbrochenen, unerschöpflichen
Fülle der Erscheinungen welche uns umgibt. Dünen,
Gletscher, Vulkane helfen uns Vorstellungen von den
ungeheuren Veränderungen gewinnen welche unserer
Erdoberfläche ihre jetzige Gestalt verliehen haben ; wir
bestimmen den Grad unserer Verwandtschaft mit jenen
Kiesengeschöpfen deren versteinerte Gerippe uns mit
Staunen erfüllen ; im klassischen Alterthum, das unsem
Vätern als etwas so Eigenartiges vorkam, finden wir
unsere Junker und Ultramontanen und Socialdemokraten,
und wenn wir recht suchen, vielleicht auch unsere
Nationalliberalen wieder. Aus alledem ziehe ich für
unsern Fall die Lehre dass wer sich irgendwie mit
den alten Kelten abgibt, auch den heutigen Kelten
fest ins Auge sehen muss.
Es wäre hauptsächlich zu wünschen dass jene
keltischen Gegenden, denen mehr der Charakter der
Abgelegenheit aufgeprägt ist als dass sie wirklich
sehr abgelegen wären, häufiger von auswärtigen Ge-
lehrten besucht würden. Dieselben würden dort zahl-
— 391 -
reiche und unerwartete Anregungen empfangen und
könnten wiederum die Bewohner zu lebhafterem Stu-
dium des eigenen Volksthums anregen. Auf welche
Weise man am besten reist um Land und Leute kennen
zu lernen, darüber gehen die Ansichten sehr ausein-
ander. Es gibt Schriftsteller welche, nachdem sie in
einem Lande vierundzwanzig Stunden auf der Eisen-
bahn hin- und hergerollt sind, in zwei oder drei
Bestaurationen gut gespeist und aus einer einfluss-
reichen Persönlichkeit deren ganze politische und
nationalökonomische Weisheit herausgelockt haben, in
festen Zügen und mit frischen Farben uns ein Bild
dieses Landes entwerfen. Sie thun, ich will nicht
sagen, sehr weise, jedenfalls sehr schlau daran die
Erstlinge ihres Geistes auch die Erstlinge ihrer Hand
sein zu lassen; sie ersparen sich unendliche Zweifel
und Schwierigkeiten. Manchmal kann man sich bei
ihnen des Verdachtes nicht erwehren dass sie ein schon
fertiges Manuskript auf die Beise mitgenommen haben,
um einige an Ort und Stelle gepflückte Blumen —
kleine Alibibeweise — hineiuzustreuen. Die Gegen-
füssler dieser Klasse von Reisenden sind diejenigen
welche am Wanderstab ein Land kreuz und quer durch-
streifen, kein Wetter scheuen, sich an jeden Tisch
setzen und, der Landessprache wohl kundig, mit Jedem
reden. Als Muster eines solchen Reisenden — und
zwar hat er gerade auch Wales bereist — betrachte
ich George Borrow ; aber durchaus nicht als das Muster
eines Reiseschriftstellers. Sein Wild Wales (3. Auf-
lage, London 1872) ist etwas wilder als der Gegen-
stand es nothwendig macht. In keinem ähnlichen Buch
über Wales wird sich reicherer und interessanterer
- 392 —
Stoff finden als in diesem ; aber man bedauert dass er
nicht in die Hände eines französischen Schriftstellers
gefallen ist. Ich hörte in Wales dass Borrow von
Zigeunern abstammte (er hat auch ein Buch über die
spanischen Zigeuner geschrieben), und in der That be-
sitzt er etwas Zigeunerisches ; er ist allzu schrullenhaft
und romantisch und entbehrt des geläuterten Ge-
schmacks welchen man in der guten Gesellschaft findet.
Das Buch ist um die Hälfte zu dick ; besonders ermüdet
die wörtliche Mittheilung aller Gespräche die der Ver-
fasser mit Einheimischen gepflogen hat, und die sich
zum grossen Theil ausserordentlich gleichen. Es ist
nicht unmöglich dass Nichtphilologen Wild Wales
überhaupt wenig geniessbar erscheint ; Borrows Haupt-
augenmerk ist auf die Sprache und Litteratur von Wales
gerichtet, und in Beiden erweist er sich als tüchtiger
Kenner. Wie mir aber aus Erfahrung bewusst ist,
zwingt das Kymrische vermittelst geheimnissvoller
Wirkung Jeden der es nur einigermassen radebrechen
kann, sich dieser Kunst bei jeder passenden und un-
passenden Gelegenheit zu rühmen, und Borrow thut
hierin wirklich etwas zu viel. „Welch ein Segen ist
es Kymrisch reden zu können!" ruft er zu wiederholten
Malen aus. Zuweilen hält er den Leuten, statt sie
auszufragen, gelehrte Vorträge; um z. B. einer Frau
zu zeigen dass er besser Kymrisch verstehe als sie,
unterrichtet er sie, eawg bezeichne den Lachs im all-
gemeinen, cemyw den männlichen, kwyfell den weib-
lichen. Für die kymrischen Dichter hegt er eine über-
schwängliche Begeisterung; er verehrt ihre Reliquien
wie ein frommer Katholik die Reliquien der Heiligen.
So kniet er vor einem Baum nieder unter welchem
— 393 —
„möglicherweise" sich das Grab Dafydd ab Gwilyms
befindet, und küsst die Wurzeln. Seinen eigenen Lands-
leuten ist er nicht besonders hold ; auf dem Gipfel des
Snowdon bemerkt er einem Kymren der ihn für einen
Bretonen hält: „Ich schäme mich zu sagen dass ich
ein Engländer bin", und wo es geht, stellt er die
simple-minded, genuine Welsh den coarse-hearted, sen-
sual, sei fish Saxons gegenüber. Dabei bekennt er sich
aber als einen eifrigen Anhänger der englischen Staats-
kirche ; seine Zuversicht betreffs der allmählichen Aus-
breitung derselben in Wales scheint mir, nach dem
was ich wahrgenommen habe, wenig begründet. Um
es kurz zu sagen, es lässt sich aus Borrows Buch sehr
viel lernen; ich möchte es aber nur denen empfehlen
welche mit Wales und seinen Bewohnern schon einiger-
massen vertraut sind.
Ich meinerseits wollte und konnte nicht reisen
wie Borrow; während sieben Wochen habe ich mich
nur an drei Orten in Wales aufgehalten. Hiezu nehme
man mein starkes Bedürfniss und meine leidliche Fähig-
keit mich überall rasch einzuleben, wobei ja alles
Fremdartige an AufiSUigkeit verlieren muss, und man
wird gestehen dass von keinem Besucher des Landes
sich Nachrichten darüber weniger erwarten lassen als
von mir. Da ich nun aber doch fühle dass an den
Schluss dieser keltischen Briefe einige allgemeine
Bemerkungen ebenso gehören wie die Moral an den
Schluss einer Fabel, so werde ich versuchen diesem
Erforderniss Genüge zu leisten ; freilich laufe ich Gefahr
Steine statt des Brots darzubieten.
lieber die Leibesbeschaffenheit der Kymren getraue
ich mir um so weniger mich zu äussern als ich über
— 394 —
die SchäJelform und die Hautfarbe der Kelten Dinge
gelesen welche mich etwas in Verwirrung gesetzt haben.
Im ganzen wird man sich den Unterschied zwischen
Engländern und Kymren nicht allzu gross vorstellen
dürfen ; ich selbst habe in Wales viele jener Gesichter
gesehen in welchen auf dem Festland Jeder sofort den
englischen Typus erkennt. Aber diese festländischen
Vorstellungen langen zu einer näheren Vergleichung
nicht zu; das ergibt sich schon daraus dass ihnen
zufolge die Mehrzahl der Engländer blond ist, während
statistischen Zählungen zufolge in London unter 6000
Personen jedes Alters und Geschlechtes 4500 mit
schwarzem und braunem Haare sich befinden, und an-
nähernd dasselbe Verhältniss auch im Norden Englands
besteht. Bei den Kymren, die ich früher, ich weiss
nicht warum, für vorwiegend hell gehalten hatte, scheint
mir das dunkle Element noch stärker vertreten zu sein.
Die Frauen haben im allgemeinen feine, angenehme
und seelenvolle Gesichter; nur verwunderte ich mich
mit Bedauern wie viele von den jüngeren durch starke
Zahnlücken entstellt sind. Eine doppelte Frage drängte
sich mir dabei auf. Sind hier die Zähne besonders
schädlichen Einflüssen — ich dachte an das Trinken
heissen Thees — ausgesetzt? Und sollte es etwa mit
gewissen religiösen Grundsätzen zusammenhängen dass
auch hübsche junge Mädchen sich keine falschen Zähne
einsetzen lassen? Die grossen Füsse sind ein Gemein-
gut aller Brittinnen; dass es in Wales auch kleine
gibt, bezweifle ich nicht, denn Ceiriog sagt in seiner
reizenden Dichtung „Myfanwy Vychan" :
Der Eine liebt 'nen kleinen Fuss,
- 395 -
und Gleiches ist für England durch eine Ballade be-
zeugt in der es heisst:
Her feet beneath her petticoat
Little, little mice stole in and out,
As if tkey feared the light
Ich entsinne mich gelesen zu haben dass die Irlän-
derinnen ebenso wie die Spanierinnen, denen sie ja
auch im Temperament gleichen sollen, kleine Füsse
zu besitzen pflegen. Ist das wahr? Die Sache ver-
diente untersucht zu werden; denn wenn man sagt:
ex ungue leonem, warum sollte man nicht sagen: ex
pede feminam?
Um den Charakter eines Volkes beurth eilen zu
können, muss man viele Jahre unter diesem gelebt
haben. Den der Kymren zu beurtheilen, ist gerade
deshalb so schwer weil es auf den ersten Blick so
leicht scheint. Indem die strenge religiöse Zucht die
Verschiedenheit der Individuen weit weniger hervor-
treten lässt als dies anderswo der Fall ist, hält sie
zugleich gewisse gemeinsame, also altnationale Anlagen
und Neigungen darnieder, ohne sie ganz zu ersticken,
sodass sie gelegentlich wieder hervorbrechen. Ich
denke, es käme vor allem darauf an die schwachen
Seiten der respektablen Leute zu studieren und die
guten Seiten der verirrten Schafe. Es bleibt mir
nichts übrig als auf eine Abhandlung von William
Jones über den kymrischen Nationalcharakter zu ver-
weisen welche 1840 auf der Eisteddfod von Liverpool
den Preis erhielt und dann sowohl in kymrischer als
in englischer Sprache gedruckt wurde. Auch in Wales
besteht übrigens ein Gegensatz zwischen Norden und
Süden, und auch hier, obwohl die Verschiedenheit des
— 396 -
Klimas kaum in Betracht kommen kann, sind die Süd-
länder wärmer, lebhafter, im Guten wie im Bösen
erregbarer. Dieser Gegensatz scheint sich sogar stellen-
weise zu wirklicher Feindseligkeit zuzuspitzen ; wenig-
stens erzählt Borrow wie er hinter der Tstwythbrücke
von einem Haufen junger Männer und Frauen für einen
Nordkymren gehalten und deshalb aufs äusserste ver-
höhnt wurde.
Wales besitzt noch viele alte üeberlieferungen in
Wort, Glaube und Brauch ; aber da die meisten einen
etwas heidnischen Beigeschmack haben, so kommt man
mehr und mehr dahin sie als dem Weizen des Himmel-
reichs gefährlich und schädlich anzusehen. Darf ich den
frommen Schnittern mit den Worten der Schrift zu-
rufen: „Sammlet zuvor das Unkraut und bindet es in
Bündlein" ? — „dass man es verbrenne", ist nicht
nöthig, wir Fremden werden es euch schon abnehmen.
Manches ist allerdings schon geschehen, so mache ich
besonders auf die Sammlung : Cymru fu, Wrexham 1862,
aufmerksam. Eine einzige Probe kymrischer Volkssitte
möchte ich hier vorlegen. In dem eben angeführten
Buche wird der pioyddion (besser pwyilwn) gedacht,
einer eigenthümlichen Art von Hochzeitsgaben, welche
von Darlehen in Geld sich nicht sehr unterscheiden;
den nur noch in einzelnen Gegenden lebenden Gebrauch
der Pwython wird folgende gedruckte Einladung welche
mir ganz zufallig in die Hände kam, erläutern.
„King's Head Inn, Llanbedr. 2. Dec. 1875.
Liebe Freunde!
Da wir beabsichtigen uns in den Ehestand zu
begeben , so beabsichtigen wir ferner bei dieser Ge-
legenheit eine neithior [Fest nach der Hochzeit, bei
— 397 —
dem die Geschenke dargebracht werden] zu halten,
Mittwoch den 22. Dec. 1875, im Haus der Brautmutter,
welches Eing*s Head Inn, Llanbedr, heisst, zu welcher
Zeit und an welchem Orte Euch zu sehen wir uns
sehr freuen werden, und welche Gaben es Euch immer
belieben wird darzubringen, sie werden dankbar ange-
nommen und bereitwillig zurückerstattet werden, wann
immer bei einer gleichen Veranlassung darum ersucht
werden wird.
Euere gehorsamen Diener
John Jones,
Mary Davies.
Der Bräutigam ersucht, man möge alle ihm ge-
schuldeten Pwython ihm an dem bezeichneten Tage
zurückerstatten, und er wird mit seinem Vater David
Jones, Bryn, Lianfair, seinen Brüdern und seinen
Schwestern, seinem Oheim und seiner Tante Stephen
und Margaret Davies, Tanyfforest, für alle ander-
weitigen Gaben dankbar sein.
Es ersucht auch die Braut, mit ihrer Mutter
Eleanor Davies, die ihnen geschuldeten Pwython, zu-
sammen mit den Pwython ihres seligen Vaters David
Davies, ihnen an dem bezeichneten Tage zurückzuer-
statten, und sie werden zusammen mit ihrem Bruder
für alle anderweitigen Gaben dankbar
sein."
Nur eines von allen volksthümlichen Dingen liegt
den Nonkonformisten sehr am Herzen, und sie thun
Alles um es zu erhalten und zu kräftigen, nämlich die
Muttersprache. Vfarme Anhänglichkeit an dieselbe
findet sich natürlich auch bei den Staatskirchlem, aber
bei den Anderen wird sie durch das religiöse Interesse
— 398 —
zum Prinzip erhoben, sodass von den beiden grossen
Einrichtungen die ich in meinen beiden ersten Briefen
besprochen habe, die geistliche, die Sassiwns, in Bezug
auf die Sprache noch kymrischer ist als die weltliche,
die Eisteddfode. üeber das Verhältniss des Kymrischen
zum Englischen, sowohl wie es heutzutage besteht, als
wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat, vermag
ich durchaus keine Angaben zu macheu. So viel ich
weiss, verschiebt sich die geographische Grenze schon
seit lange in westlicher Richtung. In Wales selbst
verbreitet sich die Kenntniss des Englischen mehr und
mehr, und doch ist auch das Eymrische, mindestens
seit einem halben Jahrhundert, fortwährend erstarkt.
Diese beiden Thatsachen widersprechen sich nicht. Die
erstere bedeutet nicht dass die Zahl der nur Englisch
Bedenden, sondern dass die Zahl der Zweisprachigen
zunimmt und die der nur Eymrisch Bedenden abnimmt
(im Jahre 1840 waren die ganz ungefähren Zahlen for
diese drei Klassen: 100,000 — 400,000 — 400,000;
welche Zahlen gelten heute ?). Das Kymrische kommt
freilich bei der Zunahme der Zweisprachigen nicht in Be-
tracht ; selten versucht ein Engländer es zu lernen, und
noch seltener bringt es einer so weit wie der gelehrte
Bischof Thirlwall. Während es aber im philosophi-
schen, weltbürgerlichen Jahrhundert mit raschen Schrit-
ten dem Untergang zuzueilen schien, begann es in
diesem Jahrhundert seine Stellung zu befestigen, und
der Anlass dazu ist wohl hauptsächlich in der religiösen
Bewegung zu suchen. Bald belebte sich auch die Theil-
nahme an litterarischen Bestrebungen und befindet sich
noch immer im Wachsen; am besten, gleichwie an
einer Wassermarke, lässt sich dieses an der Zahl der
— 399 —
Eisteddfode messen. Zu der gesteigerten Lust in kym-
rischer Sprache zu dichten, trug auch die gesteigerte
Aufmerksamkeit bei welche man den alten Dichtern
und überhaupt den Alterthümern des Landes zollte;
wir sehen hier wie anderswo Litteratur und Philologie
in lebendiger Wechselbeziehung. 1801 erschien die
Myvyrian Archaiology\ 1803 Owen Pughes kymrisch-
englisches Wörterbuch (zweite, empfehlenswertheste
Ausgabe von 1832; dritte von 1870). Seit ersterem
Werke hat die kritische Herausgabe der Texte unter
den Kymren keine allzu grossen Fortschritte gemacht ;
die neue Ausgabe desselben (von 1870), sowie die
Dafydd ab Gwilyms (von 1873; erste von 1789) stehen
sogar wegen Mangels einer ganz äusserlichen Sorgfalt
hinter den ursprünglichen zurück. In noch schlimmerer
Lage aber befinden sich die linguistischen Studien.
Die grosse Liebe welche die Kymren zu ihrer Sprache
hegen, hat deren wissenschaftlicher Erforschung mehr
geschadet als genützt. Man hat das Alter und den
Werth der eigenen Sprache um so mehr überschätzt
je weniger man, vom Englischen abgesehen, mit an-
deren lebenden Sprachen vertraut war, und die unbe-
schränkte Bibelgläubigkeit hat ihrerseits nicht wenig
die Entfaltung jener wunderlichen Ansichten gefördert
von denen ich schon in meinem dritten Brief eine
Probe geliefert habe. Es ist höchst erbaulich zu sehen
wie Owen Pughe alle Wörter, als wären es Holzblöcke,
rücksichtslos bis zu den „ürwörtern" auseinanderspaltet.
So ist ihm zufolge prophwyd (= propheta) zunächst
aus pro (that is counter) und pwyd (the act of putting by)
zusammengesetzt ; pro wiederum aus py (that is inward)
und rho (tJiat is extended frorn)^ pwyd aus pwy (in a
— 400 —
past State) und d, pwy endlich aus pw (tJiat tends to
ptish) und y. In neuerer Zeit hat sich zwar dieser
Nebel mehr und mehr gelichtet, und es gibt eine Reihe
kymrischer Gelehrten denen man gewiss nicht nach-
sagen kann dass sie in irgend einem Zusammenhange
mit jener alten träumerischen Schule stehen; allein
Positives ist auf sprachlichem Gebiet immer noch sehr
wenig geleistet worden. Die Vergleichung der kel-
tischen Idiome untereinander, welche von E. Llwyd vor
170 Jahren in so glücklicher Weise angebahnt worden
war, wird noch keineswegs in weiteren Kreisen als die
unerlässliche Vorbedingung für das wirklich gründliche
Studium des Kymrischen erachtet, und jene Ch^am-
matica Celtica auf welche wir Deutschen so stolz sind,
ist in Wales wenig bekannt und wird noch weniger
gelesen. , Es scheint dass bei einem so abgeschlossenen
Lande wie Wales erst der persönliche Verkehr den litte-
rarischen hebt und fördert, dass hier die Wissenschaft
ebenso der Sendboten bedarf wie sonst der Glaube. Als
einen solchen Sendboten möchte ich meinen Freund
von ßhyl, John Rhys bezeichnen, welcher kürzlich
zum Professor der keltischen Sprachen und Litteraturen
an der Oxforder Universität ernannt wurde. Durch
Wort und Schrift (im vorigen Jahr erschienen von
ihm Lectures on Welsh Phüology) wird er ohne Zweifel
das Verständniss für die Sprachwissenschaft unter
seinen Landsleuten verbreiten helfen, und mit der Zeit
wird man wohl von solchen Eisteddfodpreisaufgaben
zurückkommen wie der „über den Ursprung und das
Wachsthum der kymrischen Sprache" welche man für
die Eisteddfod von Wrexham 1876 ausgeschrieben
hatte. Vornehmlich wäre die Aufmerksamkeit auf das
— 401 —
Studium der kymrischen Mundarten hinzulenken, über
die wir bis jetzt nur ein paar ungenügende, zerstreute
Mittheilungen besitzen. Und doch ist die Verschieden-
heit dieser Mundarten eine beträchtlichere als man
gewöhnlich meint; zwei ungebildete Männer, der eine
von der Insel Mon, der andere aus der Grafschaft
Glamorganshire, verstehen sich nur mit Mühe.
Von der Stellung welche das Kymrische gegen-
wärtig einnimmt, gewinnt der Fremde in dem Um-
fange der periodischen Litteratur ein leidliches Spiegel-
bild. An kymrischen Zeitungen erscheiaen (oder er-
schienen doch im Herbst 1875) vierzehn, aber alle,
mit einer Ausnahme, wöchentlich nur einmal. Davon
kommen auf Amerika drei (früher gab es, wenn ich
nicht irre, auch in Australien eine):
Bauer America (das Banner von Amerika),
Scrauton, PA.
Y Drych (der Spiegel), Utica, N.Y.
Y Wasg (die Presse), Pittsburgh.
Die übrigen auf Wales:
Bauer ac Amserau Cymru (das Banner und die
Zeiten von Wales), Dinbych (wöch. zweimal).
Yr Herald Cymraeg (der kymrische Bote), Caer-
narfon.
Y Dywysogaeth (das Fürstenthum), ßhyl (staats-
kirchlich).
Y Gwladgarwr (der Patriot), Aberdar.
Y Felüeu (der BUtz), Merthyr Tydfil.
Llais y Wlad (die Stimme des Landes), Bangor
(staatskirchlich).
Sereu Cymru (der Stern von Wales), Caerfyrddin.
Schnchardt, Romanisches a. Keltisches. 26
— 402 —
Tartan y Gwdthiwr (der Schild des Arbeiterä),
Aberdar.
Y Dydd (der Tag), Dolgellau.
Y Goleuad (das Licht), Dolgellau.
Y Tyst aV Dydd (der Zeuge und der Tag),
Merthyr Tydfil.
Die meisten von allen diesen Zeitungen haben
grosses Format, und die Auflage einiger ist eine sehr
starke. Blättern wir ein wenig in ihnen herum! Das
rein Politische, auch wo es in Form von Leitartikek
aufgetischt wird, übt schwerlich eine grosse Anziehungs-
kraft auf uns aus; wir wundern uns höchstens dass
manchmal gegen die einfachsten Regeln des Byzan-
tinismus Verstössen wird, ohne dass dies etwa ein
achtmonatliches einsames Nachdenken, wie in civilisier-
teren Ländern, zur Folge hätte. Der meiste Raum
ist den lokalen Interessen gewidmet. Wir werden
hier die bunte Mannigfaltigkeit von Nachrichten an
welche uns unsere Zeitungen gewöhnt haben, vermissen;
Militärisches, Ordensverleihungen, Theaterangelegen-
heiten, pikante Geschichten," alles das fallt ganz weg.
Neue Toiletten scheinen nicht nach Wales zu dringen
und ebenso wenig neuer Sport, er müsste denn un-
endlich harmloser Natur sein. So sind allerdings vor
kurzem die spelling-bees über den Severn geflogen.
Ich habe einen recht interessanten Bericht über einen
solchen orthographischen Wettkampf gelesen, bei dem
auch das Kymrische an die Reihe kam. Es wurden
da zwei Bewerber erst von der Bühne herabgewiesen,
weil sie einion statt eingion und huddugl statt huddygl
buchstabierten, und dann, nachdem sie das Vorhanden-
sein auch ihrer Schreibweisen aus Cynddelws Wörter-
~ 403 —
buch nachgewiesen hatten, unter grossem Jubel wieder
zugelassen. Unter verschiedenen Wörtern welche im
Munde des Volkes eine verderbte Aussprache haben,
wie ewyrth für ewythr, chwiaden für hwyaden^ wurde
dalan poethion (für danadl poethion^ Nesseln) von
Keinem richtig geschrieben. Der erste Preis betrug
2 Pf. 10 Sh. ; ein Buchhalter gewann ihn. Bei einem
solchen besonderen Fall haben wir nichts gegen Aus-
führlichkeit einzuwenden ; anderswo aber wirkt sie er-
müdend, besonders wenn sie fast nur in der Mittheilung
von Namen und ganz äusserlichen Umständen besteht.
Geradezu Unglaubliches wird in dieser Beziehung ge-
leistet. Irgend jemand der ein ausgezeichnetes Mitglied
der menschlichen Gesellschaft ist oder zu werden ver-
spricht, tritt in die Volljährigkeit oder in den Stand
der heiligen Ehe ein, oder begeht sonst ein freudiges
Ereigniss; der Berichterstatter entschuldigt sich dass
er darüber wegen Mangels an Raum nicht so ausführlich
sprechen könne wie er wünschte ; er müsse sich damit
begnügen die Namen der Personen aufzuzählen welche
ihre Theilnahme durch das Plaggen ihrer Wohnungen
ausgedrückt haben, und nun folgen nach Strassen ge-
ordnet 100 oder 200 Jones, Edwards und Richards,
Richards, Edwards und Jones. Man befindet sich
hierzuland wie in einem jener Rhyler Glaskästen; Alles
wird der Oeflfentlichkeit preisgegeben. Dass das mit
allem Schlimmen geschieht, das mag der allgemeinen
Sittlichkeit förderlich sein; dass es aber auch mit
allem Guten und so vielem Gleichgültigen geschieht,
das scheint mir das Laster der tugendhaften Menschen,
die Selbstgeßlligkeit sehr zu fördern. Eine Rubrik zu
der sich niemand drängt, und die doch ziemlich bevölkert
26*
— 404 -
ist, betitelt sich „Trunkenheit". Die Tninkenheit wird
bestraft; allein das Schwierige ist sie festzustellen.
Die über einen Fall verhörten Zeugen widersprechen
sich oft ; auch kann der Angeklagte leicht eine Ausrede
finden. So sagte z. B. ein Steinbrecher dass Seines-
gleichen, sobald sie die Wächter des Gesetzes erblickten,
sich betrunken zu stellen liebten, und wem verschlägt
das etwas wenn ich zu meinem Vergnügen auf der
Strasse etwas hin- und herwanke? Wird jemand in
Mitleidenschaft gezogen, dann ist es etwas Anderes.
So mag das Gesetz den Raub von Küssen bestrafen;
es ist doppelt schlecht etwas zu rauben was man sich
auf ehrliche Weise verdienen kann. Inmierhin dünkt
es mich etwas hart wegen fünf bis sechs der Tochter
eines Eisenhändlers geraubter Küsse zu zwei Monaten
Gefangniss mit schwerer Arbeit und zu den Kosten
verurtheilt zu werden. Ich glaube, selbst der liebes-
kränkeste Troubadour hätte für dergleichen Kleinigkeiten
keinen viel höheren Preis geboten. Ein von dem ge-
nannten weit abliegendes Verbrechen meldet folgender
Artikel: „Towyn Meirionydd. Der Tag des Herrn
wird in diesem lieblichen Badeort in mancher Art und
Weise entheiligt, und zuweilen bedient sich der ,Fürst
dieser Welt' eines und des anderen seiner treuesten
Diener als Mittels um eine neue Form der Sabbath-
schändung aufzubringen. Einer der Frauen welche
einst Ihm angehörten, verdankt der Herrscher der
Finsterniss die allerneueste Form dieser Sünde, welche
darin besteht am Sabbath durch die einzelnen Strassen
unseres Ortes zu gehen und den Bewohnern Portionen
Milch zu verkaufen ganz so wie an einem Werkeltage.
Die fromme (?) Frau welche weltlich genug ist sich
— 405 —
eine solche Kühnheit am Sabbath zu erlauben, lasse
sich warnen; wo nicht, so werden wir wegen dieses
Vergehens gegen Moral und Religion weitere Schritte
thun." Anderswo jammert Einer darüber, er habe an
einem öffentlichen Ort ein solches Fluchen vernommen
dass binnen kurzem die Stadt von dem Schicksal
Sodoms und Gomorrhas ereilt werden müsse. Jede
Zeitungsnummer ist von derartigen Klagen, Warnungen
und Befürchtungen durchstreut, welche in dem Satze
gipfeln, die Sittlichkeit der Kymren sei in rascher
Abnahme begriffen. Ist das wahr? Nach allem was
ich über frühere Verhältnisse gehört habe, muss gerade
das Gegentheil wahr sein; verschiedene Unsitten haben
erwiesenermassen aufgehört oder sind ihrem Ende nahe,
so das unserem oberdeutschen Hengert- oder Fenstern-
gehen verwandte caru ar y gwely (auf dem Bette lieben),
welches aber noch auf dem kymrischen Muttereiland,
auf Mon ziemlich im Schwang sein soll. Ob auch
die Zahl der unehelichen Geburten in Wales zurück-
geht, weiss ich nicht; nur so viel dass sie noch
neuerdings eine weit beträchtlichere ist als diejenigen
erwarten werden welche in diesem Zweige der Statistik
einen Massstab für die allgemeine Sittlichkeit zu finden
glauben. Trotz alledem erklärt sich jene pessimistische
Behauptung recht wohl. Der puritanische Geist welcher
besonders im Methodistenthum lebendig ist, zieht die
Grenzen des Erlaubten immer enger, und indem nicht
Alle dieser Bewegung folgen oder nicht mit entspre-
chender Easchheit folgen, muss es den Anschein ge-
winnen als ob die Zahl der unerlaubten Handlungen
sich vermehre. Und wenn man gleichgültige Dinge
zu verdamraenswerthen stempelt und respektable Leute
— 406 —
in schlechte Gesellschaft verstösst, wird man es schliess-
lich in der That dahin bringen dass die Einen wie die An-
deren ihren Charakter ins Schlimme verändern. War
denn Wales ein so gottloses Land als man daselbst noch
tanzte und spielte, als bei jeder festlichen Gelegenheit
der Becher fröhlich die Runde machte, und auch der
Sonntag den weltlichen Freuden noch nicht ganz ver-
schlossen war? Ich will nicht sagen dass es sehr
rathsam wäre jenen Spruch, ich weiss nicht welches
alten Barden : Ni fu ddoeth a yfo ddwr (nicht war
klug wer Wasser trank) an allen Strassenecken anzu-
schlagen. Die Gefahren des Trinkens sind heutzutage,
vornehmlicli in England, wegen des riesig angewach-
senen Proletariats ganz andere als früher, und der
Anblick einer ganzen Strasse mit betrunkenen Männern,
Frauen und Kindern würde Jedem begreiflich machen
warum man mit allen Mitteln der Trunksucht zu
Leibe geht. Aber wird das tägliclie Glas Wein welches
sich der Arzt oder der Prediger versagt, selbst wenn
es seinem Körper dienlich sein sollte, auch nur einen
Tropfen Branntwein dem Munde des Arbeiters abkaufen?
Das Nichttrinken soll ansteckend wirken; allein man
bedenkt nicht wie schwierig gerade die plötzliche Be-
kehrung eines Trunkenboldes zu einem Temperänzler
ist, wie wenig Aussicht auf Nachhaltigkeit sie bietet,
und wie sehr, wenn die Aerzte Recht haben, die Ge-
sundheit dadurch gefährdet wird. Weit weniger lässt
es sich entschuldigen wenn man in anderen Fällen,
wo kein solches Schreckgespenst sich zeigt, bis zum
Aeussersten geht. Die Sonntagsheiligung wie sie bis
jetzt geübt worden ist, scheint mir schon einigermassen
mit Matthäus XIL im Widerspruch zu stehen ; nichts-
— 407 —
destoweniger glauben die Vorkämpfer, es sei noch
nicht genug. Während meiner Anwesenheit in Wales
wurden die Gemüther dadurch beunruhigt dass gewisse
Prediger das Spazierengehen am Sonntag als Sünde
bezeichneten; wahrlich, da läuft's Gefahr dass das
Sprichwort sich bewähre : „Allzu scharfmacht schartig."
Ni dda rhy o ddim, ihr Kymren ! Doch indem ich auf
den alten Blättern die ich durchfliege, die eifernden Stim-
men meiner kymrischen Freunde zu vernehmen glaube,
gerathe ich selbst ins Eifern und vergesse ganz wovon ich
reden soll. Wenn die Zeitungen mit Rügen und An-
klagen angefüllt sind, so fehlt es auch nicht an Er-
widerungen. Die Polemiken machen sich sehr breit
und schleppen sich bei der schwerfalligen Kampfes-
weise oft unendlich lange hin. Indessen darf man
nicht denken dass Alles und Jedes mit dem feierlichsten
Ernste behandelt wird; der Humor der schon in
einem und dem anderen Bericht anklingt, entfaltet
sich sogar in eigenen Artikeln. Mir fallen da beson-
ders die von Mynyddog ein welche überschrieben sind
„Irgendwo" und unterzeichnet „Irgendwer". Das im
vorigen Jahr erfolgte Ableben dieses Schriftstellers
beklage ich um so mehr als das Land wenige gleich-
artige Talente besitzt ; ich hatte mich auf der Eistedd-
fod von PwUheli davon überzeugen können wie er
auf das kymrische Zwerchfell zu wirken verstand.
Von allem was sich sonst noch in den Zeitungen findet,
verdienen nur zwei stehende Eubriken Erwähnung:
die eine welche „Dichtung" betitelt ist, als solche —
es werden uns hier Gerichte aller Art vorgesetzt — ,
die andere welche das Civilstandsregister bietet, des-
halb weil dies so umständlich gehalten ist, insbesondere
- 408 —
die Todesanzeigen mit kirchlichen Wohlverhalfcenszeug-
nissen und dichterischen Nachrufen geschmückt zu sein
pflegen. Der Inseratentheil ist sehr reichhaltig; aber
die duftigen und aufregenden Korrespondenzen unserer
Blätter fehlen. Im ganzen lässt sich aus den kym-
rischen Zeitungen eine so deutliche Vorstellung von
dem Charakter und dem Leben des Volkes gewinnen
wie kaum aus den Zeitungen irgendeines anderen
Landes; aeshalb habe ich mich etwas länger bei ihnen
aufgehalten.
üeber die monatlichen und vierteljährlichen Zeit-
schriften möge eine um so kürzere Nachricht folgen.
Es gibt deren eine grosse Menge, so Y Traethodydd
(der Essayist), Y Beimiad (der Richter), Y Dysgedydd
(der Lehrer), Y Diwygiwr (der Reformator), Yr
Ymofynydd (der Forscher), Yr Eghoysydd (der Staats-
kirchler), Y Cymrodor (der Genosse, zu London ; wenn
ich nicht irre, mit besonderer Berücksichtigung kym-
rischer Alterthumskunde), Y Cylchgrawn Cymraeg (das
kymrische Magazin), Y Winllan (der Weingarten), Yr
Haul (die Sonne), Y Cronicl (die Chronik), Y Drysorfa
(die Schatzkammer), Y Greal (der Graal), Dysgedydd
y Plant (der Lehrer der Kinder), Trysorfa y Plant
(die Schatzkammer der Kinder), Y Tendydd Cymraeg
(der kymrische Templer) u. a. Die bedeutendste und
eine der ältesten ist der Traethodydd, der aber neuer-
dings etwas herabgegangen ist. Viele sind seit mehr
oder wenig langer Zeit entschlummert, z. B. Yr Eur-
grawn (der Goldschatz), Y Bedyddiwr (der Baptist),
Seren Gomer (der Stern Gomers), Y Brython (der Britte),
Golud yr Oes (der Reichthum des Lebens). Dieses
letzte war ein illustriertes Blatt. Neuerdings hat Freund
- 409 -
John Evans ein solches : Y Darlunydd (der Zeichner)
herauszugeben angefangen, das sich eines guten Er-
folges erfreut. Dass in den Zeitschriften Religion
und Moral stark in den Vordergrund treten, brauche
ich wohl kaum zu erwähnen.
Es wäre nun über die kymrische Litteratur, der
Form und dem Inhalt nach. Näheres zu sagen, oder doch
tlber den Zweig derselben welcher allein ein allgemeines
Interesse beansprucht, nämlich über die Dichtung. In
keinem Lande wird verhältnissmässig so viel gedichtet,
oder, ich will sicherer gehen, werden so viel Gedichte
gedruckt wie in Wales, das gilt mir für ausgemacht.
Man darf sogar von einer Ueberproduktion in dieser
Waare reden, um so mehr als viel Mittelgut, sehr
viel, darunter ist. Indessen ragen doch einige Dichter
aus der Menge hervor, und es fragt sich ob bei Völ-
kern die zwanzig oder dreissigmal stärker sind, das
durchschnittliche und das höchste Längenmass ent-
sprechend wachsen. Man verwundere sich nicht dass ich
hier von Längenmass rede ; gibt es doch eine Bardenelle
— Andere freilich nennen es eine Bardenwage. Zu den
Zahlen nämlich welche bei einem Dichter den Grad
der verschiedenen Fähigkeiten ausdrücken, lässt sich
ebensowohl „Pfund" als „Fuss" ergänzen. So wird z. B.
der Dichter Dafydd lonawr von der einen Autorität
so gemessen oder gewogen (20 ist die höchste Zahl):
Genius Wissen Gelehrsamkeit Verskunst Geschmack
14 20 17 15 14,
von einer anderen so:
Genius Wissen Gelehrsamkeit Verskunst
15 20 18 12,
von der dritten so:
- 410 -
Gedanken Sprache Verskunst ürtheilskraft
15 18 17 16.
Obwohl nun diese Bardenelle etwas veraltet ist,
so nimmt man es mit der Beurtheilung dichterischer
Talente doch immer noch heikel genug um einen
Fremden vom Mitreden abzuschrecken, besonders wenn
er eben nur die Nase in den oder jenen Band voll
Verse gesteckt hat. Es war meine Absicht gewesen
mich und Andere mit dem Parnass der Kymren ver-
trauter zu machen, indem ich eine Auswahl guter
Gedichte in deutscher Uebersetzung gäbe und kurze
Nachrichten über die Dichter hinzufügte; ich wurde
durch verschiedene umstände an der Ausführung ver-
hindert. Ich hätte mich auf solche Gedichte beschränkt
oder beschränken müssen die in „freien Massen" ab-
gefasst, d. h. in denen Ehythmus und Reim ganz wie
im Englischen beschaffen sind. Diesen freien Massen
stehen gegenüber die „gebundenen", deren man 24
zu zählen .pflegt, und deren Haupteigenthümlichkeit in
der cynghanedd, der geregelten Wiederholung von ein-
zelnen Konsonanten wie von ganzen Silben im Innern
der Verse beruht. Statt mich auf eine nähere Erör-
terung der Cynghanedd und ihrer verschiedenen Un-
terarten einzulassen, will ich lieber Beispiele davon
geben, und zwar damit die Sache nicht zu unver-
ständlich sei, in englischer Sprache. Es handelt
sich natürlich nur um eine scherzhafte Nachahmung
kymrischer Verse {Ned Puw's vlsit to the London
Exhibition):
When Ned first landec? in Londow — saw he
A sight $wite uncommonx
A nice mule from Ynys Moriy
A m&rmaid and a Moimow.
\
- 411 -
A niggcr and a nugged — a lawyer
Jjying on a pallet
And on view in a new net
A miWion of gray mulle^.
A ti7ild hoy and an old hard — a fiddler
Fuddltn^ with a dmnkard,
A tinker ivith his i&nkard,
Ranking high front drinking hard.
Man sieht hier dass neben dem gewöhnlichen
Keim auch derjenige angewandt wird welcher ein end-
betontes (fast immer einsilbiges) Wort mit einem auf
der vorletzten Silbe betonten verbindet. Dieser Reim,
welcher in der cywydd genannten Dichtungsform regel-
mässig ist, hat — für mein Ohr wenigstens — einen
besonderen Reiz. Die Form der die obigen Beispiele
angehören, heisst englyn; sie ist die beliebteste der
Kunstdichtung, gewöhnlich vierzeilig, wie das pennill
der Volksdichtung, von dem ich früher gesprochen
habe. Gäbe man einem Dichter auf, einem und dem-
selben Gegenstand ein Englyn und ein Pennill zu
widmen, so würde die Behandlung sehr verschieden
ausfallen; es würde sich auf keine bessere Art der
ungemeine Einfluss veranschaulichen lassen den die
äussere Form auf den Kern ausübt. Wir Deutschen
können an dem jüngst wieder zu künstlichem Leben
gebrachten Stabreim Ahnliches beobachten, am besten
in einer Vorlesung von W. Jordan. Da hier der
Stabreim, mit vollem Recht, möglichst wenig hervor-
gehoben wird, so wäre es möglich dass ihn vielleicht
jemand für kurze Zeit gänzlich überhörte; gewiss aber
würde etwas was daraus folgt, eine eigenthüraliche
Prägung der Sprache ihm nicht entgehen. Die kym-
— 412 -
Tische Cynghanedd ist nun eine weit stärkere Fessel
als der germanische Stabreim; sie hat die Sprache
der Kunstdichtnng weit ab von der gewöhnlichen
Sprache gerückt. Da wuchern alterthumliche, viel-
deutige Hauptwörter, schmückende, synonyme Bei-
wörter, wunderlich zusammenwachsend und sich ver-
schlingend, so üppig empor dass die Zeitwörter ganz
erdrückt zu werden scheinen. Wo man unter dem
Zwang eines überkünstlichen Versbaues so sehr sich
um die Wörter sorgen muss, wird man sich desto
weniger um die Gedanken sorgen; man wird sie ent-
weder rücksichtslos in die harte Form hineinpressen,
oder man wird solche wählen die sich leicht hinein-
fagen, man wird dunkel oder flach sein, oder auch
Beides zugleich. Wer daher die Schwierigkeiten des
Verständnisses zu überwinden sucht welche besonders
so viele alte Dichtungen darbieten, wird keineswegs
allzu häufig für seine Mühe belohnt. Jedoch lässt
sich nicht verkennen dass dem alten metrischen System
gewisse Vorzüge eigenthümlich sind. Wie voll und
gewaltig schlagen oft diese Verse ans Ohr, und wie
vortrefflich eignen sie sich zu jener nachahmenden
Musik welche man gewöhnlich mit dem unglücklichen
Ausdruck „rhythmische Malerei" bezeichnet. So hat
z. B. Dewi Wyn, der Meister der Cynghanedd den
Wasserfall in einem berühmten Englyn {Uchelgadr
rhaiadr u. s. w.) unübertrefflich besungen. Die Fessehi
welche die kymrische Muse Jahrhunderte lang getragen
hat, sind vor sechzig Jahren auf der Eisteddfod von
Caerfyrddin gefallen; d. h. es steht ihr frei sie sich
anzulegen oder nicht. Die 24 Masse erfreuen sich
noch eines sehr rüstigen Greisenalters. Wenn nun
— 413 ~
auch in den Dichtungen neuen Stils ein weit frischeres
und gesünderes Blut rinnt, so zeigt sich doch die
eigenthümlich keltische Färbung in ihnen nur matt.
Nicht bloss dass sie bei der Nachahmung englischer
Vorbilder sich verwischt hat, sie hat gleich anfangs
nicht so stark hervortreten können. Jenes alte System
war ja keineswegs gewaltsam aufgedrängt worden,
sondern hatte sich organisch entwickelt wie die Schale
welche das Weichthier in einer bestimmten Stellung,
in einem bestimmten ümriss festhält, selbst erst aus
diesem lebenden Wesen allmählich herausgewachsen
ist. Was das Alterthum von den Kelten berichtet,
dass sie dunkle und prunkende Bedeweise liebten,
stimmt vollkommen zu dem Charakter aller echt kel-
tischen Dichtung, wie er uns schon in den frühesten
Denkmälern entgegentritt. Im Rausche, sagt man,
seien die Kelten in den Kampf gegangen, und im
Bausche scheinen sie ihre Lieder gedichtet zu haben,
die ja wirklich zum grössten und besten Theil sich
auf den Kampf bezogen. In diesen leidenschaftlichen^
wortreichen, stossweise hervorbrechenden Ergüssen
haben wir die Anfange jener difteligen Verskunst zu
suchen; die ganz natürliche Wiederkehr gleicher Laute
und Lautgruppen wurde zum Gesetz erhoben, das sich
immer mehr in Begeln und Distinktionen verästelte.
Man hat sehr richtig den „Pindarismus" als den
hervorstechenden Zug der keltischen und besonders
der kymrischen Dichtung bezeichnet. Von der Urzeit
bis zum heutigen Tag ist die Ode die vornehmste,
die herrschende Gattung bei den Kymren geblieben;
ihr berauschter Stil leistet dem Teatotalismus kräftigen
Widerstand, und die gesammte Lyrik ist mehr oder
— 414 —
weniger davon angesteckt. Die anderen grossen Ge-
biete haben die 'Kymren fast ganz brach liegen lassen.
Schon die alten Dichter, wenn sie episch zu sein ver-
suchen, fallen immer ins Lyrische zurück; alle die
verschiedenen aufeinander folgenden oder nebeneinander
liegenden Momente drängen sich bei ihnen ungestüm
in eins zusammen ; sie verstehen eigentlich weder zu
erzählen noch zu beschreiben. Das Letztere zeigt sich
besonders in ihrer Auflassung der Natur, welche keine
malerische oder plastische ist ; das Ohr ist dabei weit
mehr beschäftigt als das Auge, und überdies laufen
Zauberfäden zwischen Mensch und Natur hin 'und her
welche die ruhige Betrachtung stören. Dass in Wales
die epische Dichtung so gar nicht zur Entfaltung
gekommen ist, befremdet um so mehr als dort jener
epische Stoff aufgewachsen war aus dem sich andere
Völker so vieles Schöne zurecht zu schnitzen wussten.
Was in neuerer Zeit irgendwie zum Epischen gerechnet
werden könnte, behandelt biblische Stoffe, wie die
Schöpfung und die Auferstehung. Miltons Beispiel
wirkte anregend, zweimal auch wurde sein „Verlornes
Paradies" ins Kymrische übertragen. Die üebersetzung
von Owen Pughe (1819) wird von denjenigen welche
seine knorrige, alterthümelnde Sprache verstehen, sehr
gerühmt ; lesbarer ist auf jeden Fall die neuere von
John Evans (Wrexham, ohne Jahr). Shakspeare hat
nicht die gleiche Gunst genossen ; ich habe eine üeber-
setzung seines „Hamlet" von D. Griffiths (1864) gelesen,
welche recht tüchtig ist, aber einige lächerliche Miss-
verständnisse enthält; ob sonst noch etwas von ihm
in kymrischer Sprache gedruckt worden ist, weiss ich
nicht. Sicherlich hat Milton bei den Kymren den
— 415 —
Vorrang vor Shakspeare, nicht sowohl weil er ein
grösseres Genie wäre, als weil er göttliche, dieser
aber menschliche Dinge besang, und kann Shakspeare
Nachahmer in einem Land erwarten wo das Theater
keinen Platz neben der Kirche hat? Wer sollte
Schauspiele verfassen ohne die Hoffnung sie aufgeführt
zu sehen? Nur das mittelalterliche Drama hat sich
unter dem Namen interlude bis in eine Zeit gefristet
welche der unsrigen nicht allzu fern liegt; seine
kümmerlichen Reste wurden zu Anfang des Jahr-
hunderts vom Methodistenthum hinweggefegt. Das
älteste uns erhaltene Interlude (in einer Londoner
Handschrift) gehört dem 16. oder 17. Jahrhundert
an (Kornwallis und die Bretagne besitzen weit ältere
dramatische Denkmäler); es ist ein Charfreitagsspiel.
Die späteren Interludes, soweit mündliche oder hand-
schriftliche Ueberlieferung von ihnen weiss, behandeln
keine religiösen Gegenstände, sondern vorzugsweise
allegorische ; sie sind ungemein geschmack- und talent-
los. Nur die von Twm o'r Nant (f 1810), wie „Die
drei Mächte der Welt", „Keichthum und Armuth"
u. s. w., nehmen eine höhere Stufe ein; es sind die
einzigen welche im Druck veröffentlicht wurden. Ein
letzter Blick den wir aus der Kavalierperspektive auf
den Dichtergarten von Wales werfen, zeigt uns dass
die Ströme welche denselben abgrenzen und die welche
ihn bewässern, aus Eden fliessen.
Mit der Dichtkunst erfreut sich ihre Schwester,
die Tonkunst der höchsten Ehren seitens der Kymren ;
weit unter den beiden stehen die bildenden Künste, am
höchsten noch die Baukunst, welche auch aus Kirchen
und Landhäusern trotzige, düstere Burgen schafft, am
— 416 -
tiefsten die Malerei. Es liegt dies an Mancherlei:
an dem nordisch trüben Himmel; an der Beschaffen-
heit des keltischen Geistes, def wenig zu behaglichem
Anschauen und unbefangenem Wiederspiegeln angethan
ist; an der strengen Religion, welche den Sinnenreiz in
der Kunst wie im Leben verpönt, und welche wohl
den Dichter, aber nicht den Maler in ihrem Dienste
zu verwenden weiss. Und eben diese Religion ist es
auch welche der Wissenschaft auf deren schwierigem
Pfade die Hand anbietet, damit sie nicht stolpere.
In irgend einem kymrischen Buche habe ich gelesen
dass alles Wissen zur Religion in Beziehung stehe;
was aber hat wohl das Einmaleins mit der Lehre von
der Dreieinigkeit zu thun? Die Kymren haben leb-
haften Drang zu lernen; der Durchschnitt ihrer Bil-
dung ist kein niederer, und sie zählen viele hoch-
unterrichtete Männer unter sich — allein zu freier,
kühner Forschung vermögen sie sich nicht zu erheben ;
der Buchstabe der Bibel bindet sie fest. Ich glaube
z. B. nicht dass in Wales der Darwinismus eine wirk-
lich ernste Prüfung erfahren hat, d, h. eine vom rein
wissenschaftlichen Standpunkte unternommene, mit Bei-
seitelassung aller Bibelcitate. An ein selbständiges
Wachsthum der Philosophie ist am allerwenigsten zu
denken, und das ist um so bedauerlicher wegen der
bedeutenden philosophischen Anlagen der Kymren und
wegen des bekannten philosophischen Charakters ihrer
Sprache, der sich in zahlreichen Ausdrücken für ab-
gezogene Begriffe, in der grossen Freiheit bezüglich
der Zusammensetzung und Ableitung, in der strengen
Wortstellung u. s. w. kundgibt. Hiebei .kommt aber
vielleicht noch ein Anderes mit in Rechnung. Abge-
- 417 -
sehen von dem Phantasiespiel in bardischen Dingen
sind die Kymren ein sehr nüchternes und praktisches
Volk;^ sie halten auf nützliche Kenntnisse und werden
sich nicht leicht mit unfruchtbaren Grübeleien und mit
todter Gelehrsamkeit befreunden — es müsste denn
die Sache einen biblischen oder nationalen Beigeschmack
haben. Sie unterscheiden sich in dieser Beziehung
gänzlich von den Bretonen und ebenso von den Irlän-
dern, welche ja, auch wenn noch so unwissend, vor
Homer und Cicero einen gewaltigen Eespekt besitzen,
und im Grunde das grammatikalische Volk geblieben
sind welches sie zu Anfang des Mittelalters waren;
Beide sind .unpraktisch, bei Beiden wird man das
wahrnehmen was als eine wesentliche Eigenthümlich-
keit der keltischen Kasse bezeichnet worden ist: die
Sentimentalität, die allzeitige Neigung sich gegen die
Tyrannei des Thatsächlichen aufzulehnen — auch noch
bei den Eymren des Mittelalters, aber kaum mehr bei
den heutigen Kymren, welche eben etwas aus der kel-
tischen Art geschlagen sind. Das Wort des alten Chrö-
tiens von Troyes passt nicht mehr:
Gallois sont tous par nature
Flu8 fou8 que betes en päture.
Um den Preis der einen Hälfte haben die Kymren
die andere Hälfte ihres Erbgutes gerettet; sie haben
ihr Keltenthum modernisiert und ihm dadurch dauernde
Lebensfähigkeit verliehen, das der anderen Stämme
ist eine Ruine die nur von den Geistern der Vergan-
genheit bewohnt wird, und geht daher unaufhaltsam
dem Untergang entgegen. Unter allen Europäern glei-
chen die Kymren am meisten den Amerikanern, d. h.
den Yankees, welche ja für das praktischste Volk der
Schttchardt, Bomanisches u. Keltisches. 27
- 418 -
Erde gelten; auch die äusseren Beziehungen zwischen
Wales und den Vereinigten Staaten, wo so viele Kym-
ren leben, sind die denkbar innigsten, und würden alt
genug sein wenn es wahr wäre dass Madoc ap Owain
im 12. Jahrhundert Amerika entdeckte, und dass in
den Nadowessiern oder den Mandans oder den Mow-
quas sich die Nachkommen jener alten kymrischen
Seefahrer erhalten haben. Jedenfalls — trennte sich
heute Wales von England los, schwämme über den
Ocean hinüber und triebe zwischen Newyork und
Washington an, so würden sich die drüben wohl über
einige mittelalterliche Schlösser wundern, aber sonst
über nicht viel : der 39. Staat wäre da. ^
Im ganzen sittlichen, gesellschaftlichen, geistigen
Leben der Eymren, allüberall bin ich den Einwirkungen
der Beligion begegnet (ich denke dabei nur an das
Nonkonformisten- und vorzugsweise an das Methodisten-
thum). Ein Eymre wird diese Aeusserung sicherlich
als höchstes Lob betrachten; ich aber meine dass
diese Einwirkungen sich theils auf Gebiete erstrecken
welche der Gerichtsbarkeit der Eeligion überhaupt
nicht untergeben sind, theils sich in einer Weise gel-
tend machen wie es nicht sein sollte, wie es sich je-
doch aus der Natur eben dieser Eeligion erklärt. Sie
belegt so vieles was das Leben erheitert und verschönt,
mit Acht und Bann, weil sie in Gott vor allem den-
jenigen verehrt welcher züchtigt wen er liebt. Es ist
der Gott des Alten Testaments, dessen Namen seine
Anhänger auszusprechen gern vermeiden; sie nennen
ihn oft den „grossen König", und, wahrhaftig, ein
König ist er, ein morgenländischer Tyrann, dessen
Throne man sich mit Angst und Beben naht Als
— 419 —
ai€h Henri Gaidoz in das Album John Peters zu
Bala eintrug, hatte er wohl Recht gegen diesen
Gott zu protestieren und in Gott lieber ein un-
endliches Mutterherz zu erblicken. Ein schöneres
Symbol lässt sich für den allgütigen Gott nicht denken ;
denn dass die Allgüte das erste der göttlichen Attri-
bute ist, sollten das die Kymren im Ernste leugnen?
Freilich die ewige Verdammniss! Ich habe im Trae-
thodydd von 1875 eine Abhandlung gelesen deren Ver-
fasser es versucht die ewige Verdammniss mit der
Allgüte Gottes in Einklang zu bringen; es kam mir
vor als ob ein Zwerg einen unendlichen Abgrund mit
Spinneweben überbrücken wollte. Es musste doch
schliesslich eingestanden werden: Omnia exeunt in
mysterium. Ein Wunder mehr, das würde nichts scha-
den; aber wohlgemerkt, hier handelt es sich um ein
Wunder nicht nur für den Verstand, sondern auch
für das Herz, um ein Wunder das so Vielen den Ver-
stand geraubt, aber auch so Vielen das Herz verhärtet
hat; denn warum sollte der Mensch mitleidig sein
wenn es Gott nicht ist? Für diese in jeder Hinsicht
dunkle Lehre hegen nun die Kymren eine besondere
Vorliebe; kommen die Prediger hierauf zu reden, so
verfallen sie in jenes heisere Geschrei welches die
Stimme des Höllenfürsten und seiner Trabanten treff-
lich nachahmt. Das muss freilich den armen Lämmern
einen Schrecken in die Glieder jagen welcher sie för
einige Zeit lähmt, zur Sünde geradezu unfähig macht.
Uns Anderen ist glücklicherweise gelehrt worden dass
das nicht schwer wiegt was man aus Hoffnung auf
Lohn thut oder aus Furcht vor Strafe lässt, dass man
das Gute um des Guten willen thun, das Böse um des
27*
- 420 —
Bösen willen lassen soll. Ich weiss wohl, bei den
Strenggläubigen aller Länder gelten dieselben Lehren
wie bei den Kymren, und doch haben die Dopiinikaner
in der Minerva welche ich einst so fleissig besuchte,
nie den peinlichen Eindruck auf mich gemacht wie die
kyrarischen Prediger. Sie gingen wahrlich mit den
Flammen der Hölle und des Fegfeuers auch nicht
sparsam um, aber sie wussten wiederum die Glorie des
Paradieses so schön zu schildern^ und draussen lachte
üppigeß, buntes, sonniges Leben, das durch seine Ge-
fahren jene schrecklichen Bilder rechtfertigte und ihre
Grellheit durch seine Neigung sie zu verwischen. Hin-
gegen in Wales: trüber Himmel, ernste Gesichter^
dunkle Kleider — und im Vordergrunde des Jenseits
die Hölle. Es muss den Kelten im Blute stecken;
ihre Litteratur ist der beste Beweis dafür. Zwei der
bedeutendsten Werke deren sich die Kymren rühmen,
beide aus dem vorigen Jahrhundert, sind das Gedicht
vom jüngsten Tag von Gronwy Owen (in dieselbe
Zeit gehört ein nicht minder berühmtes Gedicht über
denselben Gegenstand in gaelischer Sprache von Bu-
chanan) und Elis Wynns „Visionen des schlafenden
Barden". Wie alt bei den Kelten die Visionen von der
jenseitigen Welt sind, weiss jeder wer von St. Patrick^
von St. Brandan und von Tundalus gehört hat ; wäh-
rend aber das Mittelalter auch in der Darstellung der
himmlischen Freuden sich ergeht, gibt uns Elis Wynn
nur eine Vision von der Welt, eine vom Tod, eine
von der Hölle, keine vom Himmel oder Paradies. Ich
will die prosaische Hölle Elis Wynns nicht mit der
poetischen Dantes vergleichen — es wird sich eine
andere Gelegenheit finden von jener ausführlicher zu
— 421 —
reden — ich will nur bemerken dass dort sich keine
Francesca von Eimini findet, welche mir überhaupt
in der Hölle eines keltischen Dichters ganz undenk-
bar ist. Mit den rohesten Strichen, den grellsten Far-
ben die Holle zu malen, daä behagt auch heutzutage
den Dichtern nicht minder als den Predigern. Neulich
las ich im Herald Cymraeg ein Englyn dessen ganz
wörtliche üebersetzung so aussieht: y,Der Gottlose in
der Hölle. Die Hitze des höllischen Ofens und seine
Qualen, in endloser Busse; er brät in ewigem Feuer,
unter dem Wehe entsetzlichen Todes und dessen be-
engender Wunde." Eecht poetisch, nicht wahr? Meine
Landsleute werden wohl merken dass die vorstehenden
wie die folgenden Auslassungen sich nicht sowohl an
sie wenden als an die Kymren, von denen ja einige
Deutsch verstehen. Ich verfahre nach kymrischer Sitte ;
dort stehen Gespräche über geistliche Dinge auf der
Tagesordnung, und sind es die Menschen welche ein-
ander Herzen und Nieren prüfen. Billigung aber er-
langt bei uns Festländern jene Oeffentlichkeit und Laut-
heit in allem was sich auf Religion bezieht, nicht;
wir sehen wie viel Heuchelei durch sie in dem be-
nachbarten England verschuldet wird. In Wales findet
sich dieses Laster weit seltener und gewiss kaum bei
den Predigern ; soviel ich deren gesehen habe, sind es
schlichte, wahrhafte und würdige Leute; sie führen
ein einfaches Leben und sammeln keine Schätze, und
unter ihnen fehlt es an jenem augenverdrehenden, süss-
lichen Gemisch von Orthodoxie, Wohlgefallen an guten
Diners und Verehrung gegen einen hohen Adel wie es
in Norddeutschland vorkommt. Sehen wir aber auch
von der Gefahr der Heuchelei ganz ab, so thäten die
- 422 —
Kymren doch gut daran das alte Sprichwort nicht
ganz in Vergessenheit gerathen zu lassen welches
lautet : Offeren pawb yn ei galon (wörtlich : die Messe
Jedes in seinem Herzen, d. h. im Herzen hat Jeder seine
Religion). Denn ist das Richten über Andere gerecht?
Und wie viel äussere Duldsamkeit auch die Kymren
besitzen, sogar über andere Völker richten sie, die
ihnen oft ganz unbekannt sind. So ist unter ihnen
beständig von dem Aberglauben der katholischen Länder
und dem Unglauben Deutschlands die Rede. Möchten
sie doch beherzigen dass diese drei Worte Aberglaube,
Glaube, Unglaube von Standpunkt zu Standpunkt ihre
Bedeutung wechseln und wechseln müssen. Wenn Gott
den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, so
darf der Mensch aus sich selbst das Urbild heraus-
ahnen, und wer will es dem Neger verargen dass er
sich Gott schwarz vorstellt? Aber die Bewohner der
gi'ossen Insel haben die Verschiedenheit der religiösen
Bedürfnisse nie begriffen, wie sie überhaupt in den
innersten Geist fremder Völker nur schwer eindringen.
Das rührt zum grossen Theil von der geringen Ver-
trautheit mit fremden Sprachen her. Trotz der grossen
Nähe Prankreichs — was weiss man in Wales davon?
wie viel Kymren verstehen Französisch? Und die
Franzosen sind doch ziemlich nahe Verwandte der
Kymren, wenigstens der allgemeinen Auffassung nach,
die sich darin gefallt die Besonderheiten der alten
Kelten in den Franzosen wieder zu entdecken. Es wäre
mir sehr merkwürdig gewesen irgendeine Aehnlich-
keit zwischen Franzosen und Kymren festzustellen,
deshalb bat ich einen jungen kymrischen Freund bei
einer Reise durch Frankreich diesen Punkt scharf ins
— 423 -
Auge zu fassen. In der französischen Schweiz, wo ja
eine ähnliche religiöse Bichtung ähnlich auf das 6e-
sammtleben gewirkt hat wie in Wales, fühlte er sich
recht heimisch, und auch mit den katholischen Bre-
tonen und sogar deren Geistlichen kam er — Dank
der Einfachheit der Sitten und der ähnlichen Sprache
— trefflich aus. Allein was zwischen der Suisse ro-
mande und der Bretagne bretonnante liegt, behagte
ihm gar nicht, und Paris am wenigsten. Es konnte
kaum anders sein; die glänzende, frivole Aussenseite
des französischen Lebens verletzte die Augen des
Eymren. Indessen ist mir hinterher eingefallen dass,
auch wenn er tiefer geblickt hätte, er schwerlich viel
wärmer geworden wäre. Die Schuld hätte dann an
den Kymren, nicht an den Franzosen gelegen; wenn
in der That die Sentimentalität eine der schlagendsten
Eigenthümlichkeiten des keltischen Geistes bildet,
dann sind, wie schon gesagt, die Eymren keine Kel-
ten mehr, wohl aber die Franzosen noch, und die Sym-
pathien zwischen Franzosen und Irländern erhalten
eine völlig natürliche Erklärung. Die Franzosen haben
eine Sentimentalität welche den Spaniern und den Ita-
lienern fremd ist; sie sind wohl das sentimentalste
Volk Europas. Dabei nehme ich das Wort in dem
vollen Umfang seines Gebrauches, also auch in seinem
ursprünglichen und besten Sinne. Man rühmt die
Franzosen wegen ihrer Eleganz; neben der Eleganz
der Kleidung, des Benehmens, des Geistes gibt es aber
auch eine Eleganz des Herzens. Die Kasuistik der
zarten Regungen welche dem Herzen entspringen, ist
nirgends besser studiert worden als unter den Fran-
zosen, nirgends besser in die Praxis übertragen. Ich
— 424 —
gestehe geru dass, was mich im Leben ausserhalb des
Kreises persönlicher BeziehuQgen am tiefsten gerührt
hat, aus französischer Quelle geflossen ist, Wirkliches
wie Erdichtetes, Dinge wie Darstellung. Wenn die
Kymren von anderer Eleganz nichts wissen, so wohl
auch nichts von der des Herzens ; ihre Vorbilder sind
die Erzväter, sie denken darauf schlecht und recht nach
dem Gesetze zu leben, und halten sich in Zweifels-
fällen mehr an den Buchstaben als an den Geist des-
selben. Für sie ist die Strasse zum Himmel die
sprichwörtlich enge Strasse; es gibt da nur ein Vor-
wärts und ein Kückwärts, und Einer muss in die Puss-
stapfen des Anderen treten. In den kymrischen Er-
zählungen nehmen wir einen einzigen Charakterunter-
schied wahr, den zwischen guten und schlechten
Leuten, oder nein, zwischen solchen die in die Kirche
gehen, und solchen die nicht in die Kirche gehen ; und
daraus ergibt sich wie es eigentlich ein Glück ist
dass die Kymren sich nicht auf das Drama verlegt
haben. Eine Welt wo auch ohne Berufung auf gött-
liche oder menschliche Gesetzesparagraphen, ja selbst
ohne den Gedanken daran Gutes geschieht aus innerster
Eingebung, fast unbewusst, und wo das Gute zu seinem
eigenen Werthe den Zauber der Schönheit fugt, wo
die ungeheuerste Entsagung sich unter einem irdischen
Lächeln birgt, die Tugend sich nicht scheut, gelegentlich
die Maske des Lasters anzulegen, die Selbstlosigkeit
sogar vor den Drohungen des Jenseits nicht erbebt
— eine derartige Welt ahnen, kennen die Kymren
vielleicht, nie aber werden sie sie anerkennen.
Meine ersten Bemerkungen über Wales galten
der Religion — meine letzten thun es nicht minder;
— 425 -
wer das Land gesehen hat, wird dies selbstverständlich
finden. Ich habe mein ganzes Herz ausgeschüttet,
auf die Gefahr hin undankbar zu erscheinen. Wales
hat mir das Beste entgegengebracht was ein Land dem
Fremden entgegenbringen kann; ich bin dort den
treuesten, offensten, herzlichsten, gastfreundlichsten
Menschen begegnet, mit einem Worte, den trefflichsten;
aber die Weltanschauung der sie huldigen, hat wie
ein kalter Schatten auf mir gelegen. Ist dies das
Land von dem einst ein frischer, erquickender Strom
sich über die Dichtung der Romanen und Germanen
ergoss? War hier Arthurs Hof, dem, wie Bojardo
singt, an Buhm der Hof Karls des Grossen nachstand,
„weil der der Liebe jedes Thor verschloss", und „weil
Liebe nur verleiht des Euhmes Krone?" Von dir,
Land der Gesänge, ziemt es sich mit bardischem
Grusse zu scheiden; was läge mir für einen solchen
nun näher als an die Erinnerung jenes heUen Glanzes
der dich umgab, einen Wunsch zu knüpfen der dir
zwar nicht sehr fromm erscheinen, aber um so eher
ein „frommer« bleiben wird?
Aus deinen Bergen flog ein Zaubersamen
Einst übers Meer; des Königs Arthur Rosen,
Die wilden, schlangen wie ein duft'ger Rahmen
Sich um die Lorbeerstämme Karls des Grossen,
Und blühten schöner unter schöner Damen
Huldvollem Lächeln und verliebtem Kosen,
Bis endlich in Ariostos üpp'gen Hainen,
Uns zu entzücken, sie verewigt scheinen.
Erhöh' sich ein Südost von jenen Stätten
Nach deinem Strand, mit Blüthenstaub beladen,
Der Stirne düst're Falten dir zu glätten.
In Frühlingsfluthen deine Brust zu baden.
- 426 —
Auf weicherm Pfühl die Glieder dir zu betten,
Mit Anmuth deine Lippen zu begnaden,
Und deinen Blick mit süssem Liebesfeuer —
Dann wärst du, theures Wales, mir doppelt theuer!
Anmerkimgen.
(Die nrsprüngliolien habe ich niur theilweise wiedergegehen und ihnen einige
neue hinzngef&gi;, die durch ein Sternchen kenntlich gemacht sind.)
S. 10 0. In den Stabianer Thermen merkt ein Pom-
pejaner an dass er za Nuceria im Würfelspiele die nette
Summe von 955^2 I^^naren bona fide gewonnen habe; wir
halten es jedoch für nicht unwahrscheinlich dass es mit der
bona fide auf keiner Seite weit her gewesen ist, weder der
des schuldenden Nuceriners noch der des glücklichen Pom-
pejaners, der vielleicht demselben System wie Bulwers Clodius
huldigte.
S. 10 u. Um von dem Kreuze im sog. Hause des Pansa
und von dem Zeichen >^, welches nicht sowohl das christliche
Monogramm als eine Abkürzung wohl für Chresimus ist, zu
schweigen, so scheint die einzige sichere Urkunde für das
Bestehen des Christenthums zu Pompei' die Eohleninschrift
N. 679 zu sein; aber sie ist so verstümmelt und verblasst
dass wir durchaus nichts Zusammenhängendes verstehen können.
S. 13 u. *Ueber Bauminschriften, besonders verliebte,
liesse sich ein Langes und Breites sagen ; bei alten und neuen
Dichtem ist sehr oft von ihnen die Kede. Vgl. z. B. Calpum.
Ecl. I, 31 ff. m, 43 f. Yin, 28 f. Virg. Ecl. V, 13 f. X, 53.
Ovid Her. V, 2 1 ff. Properz I, 18, 22. Florus De quäl. vit. IV.
Grimm u. Schmeller Lat. Ged. des X. u. XI. Jhrhs. S. L
Ariost Orl. für. XXHI, 102. 103.
S. 17 0. Man warf den Juden und Christen vor dass
sie den Kopf eines wilden Esels anbeteten.
S. 18 0. Diese Heiligenbekritzler, welche übrigens keines-
wegs das Licht der Sonne scheuten (wie man z. B. in der Vor-
halle von S. Lorenzo fuori le mura ersieht), waren also recht
eigentliche graffiasanti, d. h. Scheinheilige.
— 428 —
S. 26 0. Vgl. z. B.:
Fra Guittone : Che trovare non sa, ne valer punto
Uomo d^amor non punto,
Bemi : Amor primo trovd le rime e i versL
S. 41, 23 f. Dies erinnert mich daran dass man auf
SyU bei der Greburt eines Kindes sagt: ^da ist ein Schifi
gestrandet" .
S. 66 u. *Der ^ungenannte Freund** ist Gaston Paris,
welcher, vorbehaltlich ausfdhrlicherer Darstellung, 1885 zuerst
für ein weiteres Publikum La Farahole des trois anneaux
besprach {Bevue des Üudes juiveis XI),
S. 77 m. Merkwürdig ist es dass der Dichter Molza,
Ariosts Zeitgenosse eine lateinische Elegie ebenfalls auf das
Goldhaar seiner Geliebten schrieb das diese bei einem gleichen
Anlass verloren hatte.
S. 80 u. Vgl:
8ia vero o foLso che Oinevra tolto Orl. für. IV, 64.
Vera o falsa cJie fosse la cosa ebend. VIII, 58.
vero falso cJie la fama suone Eleg. XII (= X), 1.
Vera o falsa che sia la nova Brief an den Herzog Al-
phons vom 22. Juni 1522 (Capp. 1866 S. 20).
Fulchro ore et ptdchris aequantem morihus aut qitas
Veraxfama refert aut quas sibi fabula finxit Epithal. 85 t
S. 101 u. *Es bezieht sich das auf den Anthropologen-
und den Schriftstellerkongress die damals in Lissabon statt-
fanden.
S. 116 0. *« Alles geben und doch nichts geben* wurde
1668 in Wien aufgeführt.
S. 116 f. *Etwas eingehender über die Aufführung Cal-
deron'scher und anderer altspanischen Dramen an den Wiener
Theatern spricht A. J. Weltner in der „N. 111. Zeit." vom
5. Juni 1881.
S. 120 ff. *Dieser Aufsatz, dessen Beginn ich weggelassen
habe, bildet den mittleren von dreien welche über die ^Neueste
deutsche Calderonlitteratur" handeln.
S. 120, 8 ff. «Goethe-Forschungen", Frankfurt a. M.
1879 S. 154—190.
S. 122 0. Las Goethe spanisch? Auch nach seiner Aens-
serung gegen Kiemer (August 1807) dass sich Schlegels üeber-
Setzung zum Original verhalte wie «ein ausgestopfter Fasan, aber
ein gut ausgestopfter, zu einem lebendigen", muss man es glauben.
— 429 —
S. 122, 10 ff. Darauf hiü durfte Biedermann S. 168
nicht behaupten, dass «Paläophron und Neoterpe" im Okt. 1808,
^also kurz nach der ersten Bekanntschaft Goethes mit Cal-
deron'' entstand.
S. 122, 21 ff. So:, an Eichstädt (9. Jänn. 1804):
„Offerieren Sie ihm (dem Prof. der Philos. Schaumann) auch
Schlegels Spanisches Theater" ; an Frau v. Humboldt (7. Apr.
1812): ^üm ein Calderon'sches Stück, ,Das Leben ein Traum'
haben sich Einsiedel und Riemer verdient gemacht ; auch diese
Vorstellung ist sehr gelungen"; an Zelter (23. Jänn. 1815):
„ZvL der Herzogin Geburtstag, am 30. Januar, geben wir
Zenobia nach Calderon, von Gries. Wahrscheinlich bleibt
auch dies Stück ein ausschliessliches Eigenthum unserer Bühne."
Verschiedenes hätte besonders aus Eckermanns Gesprächen
noch ausgehoben werden können. Gegen Knebel (17. Okt. 1812)
spricht Goethe nicht von dem „wunderthätigen", sondern von
dem „wundervollen" Magus, den Einsiedel übersetzt habe. Er
schreibt an Zelter (6. Febr. 1827) nicht dass man bei der
Aufführung der „Tochter der Luft" in Berlin den blauen Duft
von der Pflaume abgewischt haben würde, wenn man etwa
Ninus und Semiramis von einer Schauspielerin habe dar-
stellen lassen, sondern das Gegentheil: „Im Original ist die
Absicht dass Semiramis und Ninus von einer Schauspielerin
gespielt werden. Hat man das verändert, so u. s. w." Goethe
hat übrigens hier Ninyas, den Sohn der Semiramis mit deren
Gatten Ninus, der im ersten Theil des Stückes auftritt, ver-
wechselt. Den Ninyas und Semiramis Hess auch Immermann
von einer Person geben ; aber er stellt dies als seinen eigenen,
plötzlich durch einen äusseren Umstand hervorgerufenen Einfall
dar. lieber einen Punkt finde ich auch bei Biedermann keine
Aufklärung; die „Grosse Zenobia" wurde in der Gries'schen
Uebersetzung gegeben, und hier hat sie natürlich drei Akte ; in
den Annalen (1815) spricht aber Goethe von fünf Akten.
Schon Zelter (an Goethe 14. März 1831) konnte sich das
nicht zusammenreimen.
S. 123, 25 ff. Es befremdet mich in einem Briefe Wil-
helms an Jakob Grimm (24. Nov. 1809) zu lesen: „Goethe,
Arnim und Du ziehen die , Andacht am Kreuz* vor, Savigny,
Brentano und ich den ,Standhaften Prinzen^" Hatte doch
Goethe schon am 28. Jänner 1804 an Schiller geschrieben,
das Stück verdiene „gewiss neben der , Andacht zum Kreuze'
zu stehen, ja man ordnet es höher" u. s. w.
— 430 —
S. 123, 26 ff. „Weimars Album zur vi^rtea SScnlar*
feier der Buchdruckerkunst am 24. Juni 1840.'' S. 193.
S. 124, 8 ff. Es w&re interessant den genauen Wort-
laut zu kennen, falls sich derselbe in der mir jetzt nicht zu-
gänglichen Quelle, dem »Weimarer Sonntagsblatt '^, III. Jahrg.
1857 findet.
S. 124, 10 f. Vgl. dagegen in der SchlegePschen Ueber-
setzung besonders S. 75 f.
Denn wie wftr^s, wie w&r's zu denken Eine Stadt die dott den Schöpfer
Dass ein echt katholVcher König Auf katholische Weis* erkennt,
üeberg&b' an einen Mohren Die durch Kirchen wird verschönert.
Eine Stadt nm die verströmet Welche Lieb' nnd Ehrerbietung
Ward sein Blut, da er der erste Seinem Dienste hat geöffhet:
War der ihrer Zinnen Höhe, War es ein katholisch Thun,
Bloss bewehrt mit Tartsch' und Degen, W&r es Eifer ffir das Frömmste,
Selbst mit den fünf Schildlein krönte? War es christliches Erbarmen
Und dies ist noch das Geringste: ?
S. 124 u. (EJise Campe) «Aus dem Leben von J. D.
Gries" S. 112.
S. 125, 15 ff. Später, als Körner den Calderon im
Urtexte las — besonders interessierte ihn „Das Leben ein
Traum ** — , milderte sich sein Urtheil; er schrieb an Tieck
(9. Okt. 1807): „üeberhaupt finde ich in den Comedias oft
eine gewisse Flüchtigkeit der Behandlung, aber die Kühnheit
der Ideen hat einen grossen Reiz. Shakspeare scheint mehr
mit Liebe gedichtet zu haben, und bei Calderon mehr die Kraft
zu prävalieren. Er trotzt allen Forderungen von Wahrschein-
scheinlichkeit und schaltet unumschränkt in seiner Welt.**
S. 126, 4 ff . «Aus dem Leben von Gries*' a. a. 0.
S. 127, 21 f. Biedermann Goethe-Forschungen S. 185
sagt zwar: «Goethe warnte ja auch selbst z. B. in ,Deutsches
Theater — Einzelnes' und im Brief an Zelter vom 28. Februar
1811 nachdrücklich vor allzu treuer Nachahmung Calderons,
weil er dem guten Geschmack gefährlich werden könnte*';
allein in dem Brief an Zelter finde ich nichts dergleichen.
S. 129, 10 f. Warum fehlen z. B. S. 5 (Stelle aus einem
Brief an Gries vom Mai 1816) die Worte: «Hier wirkt be-
sonders der ,Magus' kräftig, und es Hesse sich aus ihm der
Zustand der Schule und Kirche, sowie der des Gemeinlebens
jener Zeit gar wohl entwickeln**, warum S. 11 die ganze Aus-
lassung über den Protestanten Shakspeare, welcher Calderon
gegenübergestellt wird?
- 431 —
S. 130, 4. ^Calderon ist nicht leicht. Indessen habe
ich doch schon zwei Stücke ganz übersetzt, nämlich La gran
Cenobia und das herrliche La vida es atieno. Eigentlich ist
Goethe die Veranlassung dazu. Er wollte die ,Zenobia^ in
Weimar aufführen lassen und regte mich auf sie zu über-
setzen. Ich wollte erst nicht recht daran; auch ward es mir
im Anfang ziemlich schwer." Gries an Rist, März 1814.
S. 131, 10 f. Erzähler lieben es lebhafte Erregungen
die leicht zu blutiger That führen, durch Eothsehen zu
kennzeichnen. So las ich kürzlich in Le mensonge de Sabine
von der Prinzessin Cantacuz^ne-Altieri {Rev. d, d. m, August
1880, S. 491): H lui sembla qu^un voüe de sang
Vempechait d'apercevoir le disque tremblant de la lune, und
in G. Vergas Vita dei campi, Nuove Novelle. Milano 1880,
S. 204: ÄUora egli si rizzö come se Vavesse marso un cane
arrdbbiato, e si diede a correre verso ü paese senza vederd
piiJb degli occhi, che fin Verba e i sassi gli sembravano rossi
al pari dd sangue. Ich bin mir nicht klar darüber ob dies
jedesmal aus wirklicher, eigener oder fremder, Erfahrung ge-
schöpft ist , oder ob wir es hier mit einer Art von poetischer
Tradition zu thun haben. *Voir rouge ist wenigstens im
Französischen eine stehende Phrase geworden.
S. 132. Im letzten Augenblick entdecke ich dass uns
hier keineswegs eine Eigenthümlichkeit Calderons entgegen-
tritt, sondern dass die gleiche Anschauung schon von dem
35 Jahre älteren Lupercio de Argensola ausgesprochen worden
ist. Die Beschämung die ich darob empfinde, wird durch die
Genugthuung gelindert dass ich so Gelegenheit habe ein
klassisches Sonett jenes berühmten Dichters in einer nahezu
wortgetreuen üebersetzung (welche Otto Braun vor einem
Vierteljahrhundert im Prutz'schen „Museum** veröffentlicht hat)
vorzulegen :
Gestehen w&rd* ich's, wenn mich Einer früge,
Dass Laura jenes Bosenlicht der Wangen,
Genau besehen, nicht hat von Gott empfangen,
Nein, dass ihr's Geld gekostet snr Genbge.
Doch ist so gross die Schönheit ihrer L&ge —
Dies Eingeständniss darf ich dreist verlangen —
Dass einer -wahren Schönheit wirklich Prangen
Nicht mit der ihren den Vergleich ertrftge.
Was Wunder d''rum dass ihr mich liebend schwärmen
Für solche Schönheit seht! Weiss doch ein Jeder:
Nicht anders täuscht Natur uns Erdensöhne.
Der blaue Himmel droben ist ja weder
Der Himmel, weder blau! Wer wird sich härmen
Dass keine Wahrheit sei des Himmels Schöne 1
— 432 —
S. 138, 23 f. Es finden sich hier auch thatsächliche
Unrichtigkeiten, so S. 326:' ^Nachdem A. Wilhelm v. Schlegel
und bald darauf D. Gries wortgetreue und gelungene üeber-
setzungen einiger Werke Calderons geliefert hatten, wurde
Goethe auf den spanischen Dichter und seine Dramen auf-
merksam."
S. 141 ü. ^Shakspeare als Theaterdichter'' (1826). —
Gespr, mit Eckermann 26. Juli 1826.
S. 142, 7 f. Biedermann Goethe-F. S. 161.
S. 142, 12 ff. Wenn man von der Gleichung: theatra-
lisch = symbolisch absieht; auch erwäge man die «Ver-
wandlungen des Geschichtlichen in ein Fabelhaftes*' die unter
den Verdiensten Calderons im Brief an Gries (1821) genannt
werden. Wir dürfen andrerseits nicht tibersehen dass Goethe
an der «Tochter der Luft" den vorzüglichen Gregenstand lobt,
«indem die Fabel sich ganz rein menschlich erweist, und ihr
nicht mehr Dämonisches zugetheilt ist als nöthig war, damit
das Ausserordentliche, Ueberschwängliche des Menschlichen
sich desto leichter entfalte und bewege"; in dieser Beziehung
werden ihr die «Andacht zum Kreuze" und die «Morgenröthe
von Copacavana" gegenübergestellt.
S. 142, 22 f. Gegen Schelling (an A. W. Schlegel
22. April 1803) zeigte sich Goethe auch von dem zweiten
Stück des «Spanischen Theaters" — es ist «üeber allen
Zauber Liebe" — entzückt und von dem ersten aufs neue
durchdrungen; er erkennt die Einheit desselben Geistes in
beiden und hätte nicht übel Lust beide aufführen zu lassen.
Von dem dritten Stück, «Die Schärpe und die Blume" scheint
er ganz geschwiegen zu haben; er las dasselbe 1808 bei Hof
vor — es ist auch ein rechtes Hpfstück.
ö. 145, 20 ff. Während Goethe im Okt. 1802, als er
die «Andacht zum Kreuze" eben kennen gelernt hatte, eine
Aufführung dieses Stückes wegen des den Protestanten an-
stössigen Stoffes für unmöglich erklärte, war er doch bald
darauf (s. den eben angeführten Brief Schellings an Schlegel)
einer solchen nicht abgeneigt und fasste die Veränderungen
die nothwendig wären, ins Auge. Welche mochten das wohl sein?
S. 146, 12 f. Aus der Stelle welche Riemer Mitth. ü,
S. 649 einem Brief an Knebel (17. Okt. 1812) entnimmt:
«Leider werden wir Deutsche eben seine zarte Seite mit
unserer schwachen in Rapport setzen. Von seiner wahren
— 433 —
Stärke ist noch wenig Begriff unter uns (vid. des Herrn N. N.
christliche Salbaderei über den ,Standhaften Prinzen')*' vermag
ich nicht mit Biedermann Goethe-Forsch. S. 176 herauszulesen
dass ^Goethe Calderons Stärke im Christlichen seiner Stoffe
erkannte."
S. 146, 30 ff. Die entsprechende Bedeutung hat für
den „Weiblichen Joseph*' eine Stelle im ersten Brief an die
Korinther, für den „Wunderthätigen Magus** eine im Plinius,
für den „GroBsfürsten von Fez*' eine im Koran.
S. 150 ff. *Nachdem in Italien neue Beiträge zur Kennt-
niss G. G. Bellis (1791 — 1863), besonders von D. Gnoli
{NiMva Äntologia 1878), geliefert worden sind, und ihn den
Deutschen kein Geringerer als Paul Heyse vorgeführt hat, er-
heischt der Wiederabdruck dieses Aufsatzes besondere Nach-
sicht, als des einzigen Niederschlages aus einem eifrigen und
andauernden Stadium das ich in den sechziger Jahren dem
römischen Volksleben und der römischen Mundart widmete;
denn was ich im „Globus*' (1868) über „das Ballspiel in
Kom** berichtete, hält sich durchaus auf der Oberfläche.
S. 154, 9 ff. Poesie jocosa seu morum ac ludicrorum
quorundam, quae clim Romae, modo vero tum apud nostrates
vig&nt, poeticae descriptiones. Opus posthumum Josephi Ber-
nerii Bomani, Patavii 1715, *Der Meo Fatacca ist von
1695, nur 7 Jahre jünger als der Maggio romanesco Peresios,
was ich deshalb bemerke weil Gnoli diesen ins 17., jenen
aber ins 18. Jhrh. setzt.
S. 156, 8 ff. J. Burckhardt Die Cultur der Renaissance
in Italien. Zweite Aufl., Leipzig 1869, S. 302 fg.: „Wenn
wir die Verfasser von Dialogen beim Wort nehmen dürften,
so hätten auch die höchsten Probleme des Daseins das Ge-
spräch zwischen auserwählten Geistern ausgefüllt; die Hervor-
bringung der erhabensten Gedanken wäre nicht, wie bei den
Nordländern in der Regel, eine einsame, sondern eine Mehreren
gemeinsame gewesen.*'
S. 158, 7. Die gänzliche Erfolglosigkeit hat der Römer
mit einem Ausdruck des Bocciaspieles bezeichnet; wir können
doch in diesem Zusammenhang kaum einen analogen (wie aus
dem Kegelspiel: „ein Pudel!*') gebrauchen.
S. 165, 13. Die Römer essen oft einen Salat der aus
vielen ganz verschiedenen Kräutern zusammengesetzt ist, und
Schuchardt, Bomanisohes n. Keltisches. 28
— 434 —
den sie daher mesticanza (Mischsalat) nennen ; an diesen denkt
die Predigtkritikerin.
S. 169 f. Dies alles ist vorbehaltlich gesagt. Jetzt da
za Eom die Bocca ddla Yerita nicht mehr in einer dtlstem
Ecke versteckt bleiben wird, muss durch Bellis Freunde,
sowie mit Hülfe von gewiss neu auftauchenden Sonetten der
richtige Thatbestand leicht zu ermitteln sein.
S. 169, 17 ff. Meiner Ansicht nach geht Morandi ebenso
nach der einen Seite zu weit wie P. Tarnassi (Elogio storico
di G, G. Belli. Borna 1864) nach der andern. Aber er sieht
sich doch S. 53 zu der Aeussening genöthigt: „Und wir
können den letzten Willen des Dichters berücksichtigen und
diese Satiren als eine unmittelbare Schöpfung des römischen
Volkes betrachten, aus welchem er am Ende ja doch An-
regung und Gedanken geschöpft hatte.''
S. 170 u. Auch Abate Luigi und Madama Lucrezia
werden dann und wann in Scene gesetzt. Nur der arme
Babbuino scheint kein Freundschafts- noch Liebesverhältniss
zu besitzen, dass er sich gelegentlich aussprechen könnte.
Beiläufig sei bemerkt dass die Sitte ehrwürdige Statuen des
Alterthums mit trivialen, ja respektwidrigen Namen zu be-
legen, den Römern von ihren Altvordern überkommen ist, die,
wie wir wissen, auch von einer matrona flens, einer meretrix
gaudenSf einem venator redeten.
S. 184, 17 ff. *Als ich dies schrieb, wusste ich nicht
dass die PupiUaa do senhor reitor schon 1868, und zwar von
Emesto Biester dramatisiert worden waren. Sie wurden in
Lissabon und Porto aufgeführt; das Jomal do Porto bemerkte:
^Wenn das Drama nicht vollkommener ist, so beruht das auf
der Trefflichkeit des Romans den wir vor einigen Monaten
lasen. Die einzige Schuld Emesto Biesters ist Julio Diniz."
S. Julio Diniz (Joaguim GuÜherme Gomes Codho)» Eabogo
biographico por Alberto Pimente L Porto 1872,
S. 246 f. *üeber das Blumige in der Volksdichtung der
Italiener handelt, mit Seitenblicken auf die der Spanier, Por-
tugiesen, Südfranzosen, Rumänen und Neugriechen, ein Ab-
schnitt meines Buches „Ritomell und Terzine* (Halle 1875),
das ich um so lieber selbst citiere als es, trotz seiner von
der Kritik anerkannten Neuartigkeit, seitens derer die sich
seitdem mit ähnlichen, nämlich auf die Geschichte poetischer
— 435 —
Formen bezüglichen Untersuchungen beschäftigt haben, fast
gänzlich unbeachtet geblieben ist.
S. 262, 24. Der eine fand an einem Hause eine Inschrift:
«Ehret die Eltern.*' Er verlas sich: „Ehre den Eltern*',
übersetzte als ob da stände: «Ehre den Alten*', respect aux
vieiUards, und schloss daraus dass das Haus entweder eine
Schule oder ein Hospiz sein müsse (s. den Figaro). Manche
römische Inschrift ist nicht schlimmer mitgenommen worden.
S. 292 ff. *Der Wunsch den ich hier ausgesprochen und
in einem andern Aufsatz («Die Gegenwart** 7. Apr. 1877)
wiederholt hatte, fand zwar im Ausland und auch auf deutschem
Boden warmen Beifall (s. TimpiU von Bukarest 2. und 3. März,
«Neue Freie Presse*' 7. März, The Academy 17. März und
19. Mai, L^Opinione 18. März, Curierul de lassi 25. März,
La Gazzetta d'Italia 25. März, «Tagespost*' von Graz 7. April,
«Allgemeine Zeitung*' 3. April, «Magazin für die Literatur
des Auslandes* 7. April, La Perseveranza 9. Mai, La Na-
zione 31. Juli, The Nation von New York 13. Sept., Bevue
politique et littiraire 8. Dec. 1877 u. s. w.), aber keine Ver-
wirklichung.
S. 294, 3 ff. *Man hat mir in der Bomania (VI, 311)
gelegentlich der Koproduktion meines Artikels den Vorwuif
gemacht die Arbeiten von Mild y Fontanals vergessen zu haben.
Es war dies nicht der Fall; nur rechnete ich sie in meinen
Gedanken dem katalanischen, nicht dem kastilischen Gebiete
zu. Auf letzterem haben neuerdings wenigstens die folk-
loristischen Studien einen unerwartet lebendigen Aufschwung
genommen, und wir dürfen prophezeien, es werden — wie
überall anderswo — sich die linguistischen ihnen zugesellen.
S. 330 u. Die Eisteddfod von Pwllheli hat in den kym-
rischen Blättern eine Menge von Ausstellungen erfahren, die
natürlich die Bedeutung des Festes im grossen Ganzen nicht
schmälern. Die besten, kürzesten und witzigsten brachte der
Herald Cymraeg von einem «Häring von Nefyn" (nämlich
Mynyddog), z. B. dass Mr. Evans Broom Hall (ein vornehmer
Herr) über Butterfässer urtheilt, während Hu Gadam (ein
Pächter) da sitzt und nichts thut; dass die Preisrichter über
die Chöre von allem Möglichen sprechen, ausser von den
Fehlern und Vorzügen der Sänger ; dass die Richter über die
Hauptpreise sich um die kleinen Preise bewerben.
28*
— 436 —
S. 338, 10. Das Gebet lautete:
Gib, Gott, Schutz,
Und im Schatze Kraft,
Und in der Kraft Yerständniss,
und im Yerständniss Wissen,
Und im Wissen Wissen des Sechten,
Und im Wissen des Hechten Liebe zn ihm.
Und in der Liebe zu ihm Liebe zu jedem Wesen,
Und in der Liebe zn jedem Wesen Liebe zu Gott.
S. 345 u. Taffy ist der englische Spottname für die
Kymren (David), wie Savmy (Alexander) für die ScKottländer,
Taddy (Patrick) für die Irländer.
S. 363 f. Das kymrische Liedchen ist aus Cymru fu
(Wrexham 1862) S. 362, 6; das toskanische aus Tigri^ I, 604.
In meiner Schrift „Ritornell und Terzine*' S. 114 f. habe
ich verschiedene Beispiele parodierender Ritomelle gegeben.
Vgl. Cymru fu S. 491, 2 u. 3:
Sieh dort meine Liebe anf dem Hfigel, Sieh dort meine Liebe im Thale,
Eine rothe Rose und eine weisse Rose; Sanaagen und Schweinszähne,
Die rothe Böse entblättert sich. Zwei Ffisse wie ein Pflughaupt,
Die weisse Rose ist meine Liebe. Sie spricht wie eine Eule.
*In einem Aufsatz Aimlogia entre los cantares alpinos y
los andaluces {El Foik-Lore Andaluz, Set. de 1882) habe ich
die metrische Gleichheit der kymrischen, friaulischen und
spanischen Vierzeilen und die inhaltliche Verwandtschaft der
letztem mit unsern Schnaderhüpfeln hervorgehoben, indem ich
zur Veranschaulichung für die Spanier Einiges aus der Hör-
mann'schen Sammlung in spanische Verse übersetzte. Inwiefern
das Inhaltliche mit Rücksicht auf die Verwandtschaft ver-
schiedener Dichtungsmasse untereinander nicht nur, sondern
auch auf die Ausbreitung derselben Dichtungsmasse zu ver-
werthen ist, habe ich, von der eben citierten Schrift abgesehen,
in meiner Untersuchung über die Cantes flamencos (Zeitschr.
für rom. Phil. 1881) darzulegen mich bemüht. Schon mit
Hülfe dieses Mittels allein dürfte sich die Verpflanzung der
Schnaderhüpfeln von den Alpendeutschen zu den Mitteldeutschen
und zu den Alpenslawen nachweisen lassen. Gustav Meyer,
welcher sich in neuester Zeit über die Schnaderhüpfeln und
Aehnliches in anregender Weise verbreitet hat, zweifelt („Essays
und Studien" S. 368) an dem von A. Grün angenommenen
deutschen Ursprung der slowenischen vize ; aber aus J. Schei-
niggs eingehender Abhandlung „über die Volkslieder der
Kärntner Slowenen*' in der slowenischen Zeitschrift Kres (1885)
wird derselbe klar genug.
— 437 —
S. 375. John Peter starb am 17. Jänn. 1877, von ganz
Wales tief betrauert. Er war noch nicht 44 Jahre alt.
S. 409 u. Auf den höchst spitzfindigen Unterschied
zwischen „Wissen" und „Gelehrsamkeit" oder wie wir gwy-
bodaeth und dysg sonst übersetzen mögen, brauche ich wohl
nicht einzugehen.
S. 423 0. Kymren und Bretonen lernen sich leicht ver-
stehen; aber von Haus aus verstehen sie sich, von Einzelnem
abgesehen, nicht. Darin hat gewiss Thomas Price (Carn-
huanawc) Recht, welcher bei einer 1829 nach der Bretagne
unternommenen Reise sehr darauf achtete; s. seine Literary
Bemains (Llandovery 1854. 1855). Verschiedener Ansicht
war allerdings der Graf de la Villemarque, aber seine Lieblings-
idee einer Verbrüderung zwischen Kymren und Bretonen er-
füllte ihn so sehr dass er Manches in etwas anderem Lichte
sah als es wirklich war. Er und noch vier Edelleute aus
der Bretagne erschienen 18.38 als Deputation, und zwar mit
Billigung Ludwig Philipps, auf dem fünften Jahresfeste der
kymrischen litterarischen Gesellschaft von Abergefni. Eine
Rede Villemarqu^s erinnerte an die Schlacht von St. Just,
in welcher die Kymren auf engUscher Seite und die Bretonen
auf französischer sich einander an der Sprache erkannten und
sich weigerten miteinander zu kämpfen, ja nach der Schlacht
gemeinsam Kriegslieder zur Ehre ihrer Vorfahren sangen. Bei
dieser Gelegenheit trug Villemarque auch ein bretonisches
Festlied vor das er selbst gedichtet hatte. Diesem Feste ver-
dankt einer der ersten französischen Dichter dieses Jahrhunderts
eine Anregung; in Lamartines Recueillements poetiques (1839)
lesen wir einen Toast auf Kymren und Bretonen, dessen erste
Strophe so lautet:
Quand Ü8 se rencontraient sur la vague ou la gr^ve,
En Souvenir vivant d'un antique dipart,
. No8 peres se montraient les deux moities d^un glaive
Dont chacun d'eux gardait la symboUque pari.
„Fr^rel" se disaient-ils, „reconnais-tu la lame?
Est-ce bien lä Viclair, Veau, la trempe et le fil?
Et Vacier qu^a fondu le mime jet de flamme,
Fibre ä fibre se rejoint-il?"
♦Meine „Keltischen Briefe" fanden im Lande des Humors
eine Kritik deren letzte Worte ich wegen der darin den deutschen
Gelehrten gegebenen Direktive mittheilen muss : How romantic
a German professor can be if he is inspired like Prof, Seh. !
However^ instead of describing continually the unendurable
— 438 —
sennons, or the Sunday achools, where he was surprised to
find ihat the Welsh know the Bible better than the Gennan
Professors, or even the pair of dark eyes of a girl at Baia,
which the professor found it worth whüe to foüow into the
church (where, again, the sermon and the prayers were in-
supportable), Prof, Seh, would have done better to read bociks
and copy manuscripts, as a learned German should.
{The Äthenaeum, 6. Juli 1878). Der Schreiber, der übrigens
den Schluss meiner „K. Br.* (22. — 24. Juni) nicht berück-
sichtigt oder nicht abgewartet hat, ist ohne Zweifel mit dem
S. 346 erwähnten Bienenvater identisch.
Inhaltsyerzeichniss.
(A =: Allgemeine Zeitunff; J = Im neuen Beieh;
N = Neue Freie Preise.)
Seite
I. Pompel" und seine Wandinschriften (J. 1872) . 1
II. Virgil im Mittelalter (I 1873) 39
HI. Boccaccio (N 1880) 49
IV. Die Geschichte von den drei Ringen (J 1871) . 66
V. Ariost (A 1875) 74
-VI. Camoens (Festschrift, Graz 1880) 84
Vn. Zu Calderons Jubelfeier (iV 1881) 103
Vm. Goethe und Calderon (A 1881) 120
IX. G. G. Belli und die römische Satire {A 1871) . 150
X. Eine portugiesische Dorfgeschichte (JV 1878) . 180
XI. Lorenzo Stecchetti {N 1879) 191
Xn. Reim und Rhythmus im Deutschen und Romani-
schen (I 1873) 222
Xni. Liebesmetaphem (iV 1879) 236
XrV. Das Französische im neuen Deutschen Reich
(A 1871) 259
XV. Eine Diezstiftung {A 1877) 292
XVI. Französisch und Englisch (A 1875) .... 301
XVn. Keltische Briefe (A 1876. 1878) 317
Anmerkungen 427
Drnck Ton C. H. Schulze & Co. in GräfenliAiniclieii.
SSerlag t)Ott ftoBeti ^ppenieim in SBerlin.
jBtan)ie9(, d^eotQ (^openl^agen), (jlnbwig <$of0erg uttb feine
5ettöeit0flrett. TOt bem Silbe ^olbergS. 8«. VI u. 254 ©.
gcl^. 4,50. — geb. m. 5,50.
Btu^homil, fl., Dr. phil. (2ßicn\ ^erc^ SS^flTfe j^Q^ltei^. 8^
XII u. 387 @. ge§. m 6,oo.
— ?irrt fttgfifi^e $i(Qietinneti. Sol^anna SBaiUie — eiifabctl)
»arrett örotoniiig — @corge @Iiot. 8®. 244 @. ajj. 4,oo.
€lje, Äatl, $rof. (^aHe); ^f otb SS^toit. 2. öeim. 5lii§g. 8».
499 @. m. 6,00.
(Baiipatt), ^bolft $rof. (Breslau), ^ef^i^U hex ^taücnif^tn
Jiitetainx. S3b. I (bis einfd&I. Petrarca), gr. 8». VIII
u. 550 @. m. 9,00.
d^eiget, finitniio, $rof. (^Berlin) ^nfimini ititb anbere ^utlofa.
12» VI u. 167 @. aw. 4,00.
i§ilteliranlk, üatl, ^(Heit, #drßet iinb penft^eit. 6 Sänbe.
8». ^rci§ b. S3b3. gcl^. 3». 6,00, geb. 3«. 7,00.
^otteQQet, 3. 3v (3üri4), ^tiüf^e ^ef^i^te bet frattsafifd^en
ilttfftttrtttfrttflTe. gr. 8». XII u. 400 @. SO^. 7,50.
;aarptU$i, (ßttfiati (Q3erlin), ^efil^^te bei: Siöbtfi^ett <^tteraiut.
@r. 8. 74 SBogen. 2R. 18,50.
ÜitiHeU O^Dttft.t $rof., SRofniß }tit itntt^geff^^ie. gr. 8o. XII
u. 467 @. a». 9,00.
Cutttt, JlHolf, ^rof., S^af^inatoit S^twitta. Qin SebenS^ unb
e^araftcrbilb. 8». 2 53be. XIV u. 246 ©. u. IV u. 291 ©.
ayj. 7,00.
«eww, ©♦ fl., (33erf. oon @oet]^c*8 2eben), ^ef^i^ie hex Sf^Wo-
fo)i9ie 90n 'SQafes 6{5 ^omle« 3n'8 SDeutfd^e übertragen Don
Slrnolb S'iugc.
S3b. I. »Ite iriilloropWe. gr. 8». VIII u. 533 @. 3». 8,oo.
„ II. »euere iHilofopliie. gr. 8«. 811 @. m 13,oo.
Mtt^tt. ®tt(lati, $rof . (©ras), §ffa^s tt. ^lubien jur ©prad^gejd^id^te
unb SBolfSfunbc. 8o. VlUu. 412 ©. gcl^. aji. 7,00, geb. m 8,00.
Il<tl)tiiir4l, (K^. (Berlin), Per ^iaaUminißex ^rei^ett von ^ebfift
ttnb ^ettgens 9d9ere$ ^f^ufniefen im ^eitafter ^riebti^
bes ^rogen. 2. ©erm. STufl. Vni u. 234 ©. gr. 8«. 2^1. 3,oo.
^d^ipptXf %^ $rof. (^ieu), gSilTiititt PitnOar. <Sein Zehen unb
feine ©cbid^te in Slnalpfcn unb auSgeroäl^Iten Ueberfefeungen
nebfl e. 5lbri6 ber mtfd&ottifd^cn ^oefte. 8«. XVHI u. 410 @.
gel^. a». 7,00, geb. Tt. 8,00.
Schnchardt, H., Prof. (Graz), Ueber die Lautgesetze. Gegen
die Junggrammatiker, gr. 8**. VI u. 39 S. M. 0,80.
)$tt9enl)eim, )9«, iinffä^e unb bio^xapf^if^t j»ß{$)en sutfran-
loUfd^en ^e(4me. ö^ Vin u. 338 ©. ajj. 4,50.
itn Bünk, f^ttn^axhf $rof. (©tragburg i. @.)/ ^efc^ic^le be(
fn^tif^m jaUexatnx. @rfler $anb : $Bi3 au SBiclif B auftreten.
gr. 80. Vni u. 470 @. ÜJl. 8,00.
ti:»tt, d^eorot $tof. (pregben), §oKm wix unfext ^iatntn
bmateni gr. 8<>. IV u. 40 ©. ayj. l,oo.
9iua(f S^tiefe eiitei^ äßieUfd^at jie^ets (dou ^. ^iUebranb).
80. IV u. 118 e. ge^. 2». 2,00, geb. Tl. 3,00.
aSerlag Dort ^edirg. %eimet in 95etlin.
herausgegeben DOn
^. tioti Srcttfd^he unb i^* DelbrüÄ
(^cilfd^vift für ^oUtif, J^imjl nub SSiffeiifd^aft.}
Btt iBüti^i Qon 6 ül^itat^^eften M. 9,00.
^eftellungeu TPerben von aHen iBud^l^aublimgen imb ^offanflaften
entgegengenommen.
^ie .g^efte be§ 56. nnb 57. 93anbeS entgolten n. a. folgenbc
gröf^eve 2lii(fäBe: f)Oudl, Cß.: 5)i€ ©renken jroiid^en ^3)?alerdi unb
^;^a[lif unb bie @e(e^e beS D^ieUefS. — Joetting, (5.: ^ic a?er=
roaltung ber <5tabt SSerliui — 5^ö*^^«"=5^<^öcn. — flelbriiib, %:
Tnliij giiebric^ ÄavI. -- jtogge^ D.: D. @mtl ^ermann, weil.
^;5vä[ibent be§ eo. Dberfirdöenratl^eS. — ^omljak, ®.: SDic ent=
roicflung ber jäd^fifd^en 5lmt§ocrfaffuufl im QSergleid^ ^i^ bcr Branben*
burgii'd^en ^veiSüerfaffung. — ©er ^of ton ?)ilbij ^ ÄioSF. —
SiVfri), fr.: SDie ©d^Iugroortc . be§ ®oetBe*[d^en Jaufl. — ^amp*
rfdjt, %: ©a§ ©d^icffat beS beutfd^en ©aucrnjianbeS bis 3U ben
agrariid^eii Unvul^en be§ 15. unb 16. Sal^rl^unbcrtS. — prner, Jf,:
^ie ijiifunft ber tüiffeiifd^aftlic^en |)9gienc in S^eutfd^Ianb. —
Seetk, (0.: ©er erf!e 33arbar auf bem tömifd^cn Äaifertl^roiic —
:5ttn, 0. lt.: Oiouffeau al§ 'DOhififer. — Jaiig, m*: Ä. gr. «»ciu^arb
im anSraävtigen TOniflerium gu ?Pari§. — Jfdieti, IFn : SDic neuere
Sovfd)nng über 9Jiaria (©tiiart. — ®rettfrf)ke, %: ti. 33ricfc von
(S. 9}L 5Uubt au gvaug |)ege«)itfd&. — putelflfibt, ®.: ©trafiuflis
unb öffeutlid^e 9}^einung. — SDaS l^eutige Jlt^en unb feine 33e=
n)oI)uer. — ©ufjmann, % : Jol^ann ^ieronpmug ?)elin. ^in 33ilb
aug ben .£)o'^enlo]^e'fd)en JKeligionSmirren beS üorigen S^'^^'^^^^
bevts. — ppeiberer, ®.: 21. (§;. ©iebermann. — Zvtitnkt, S-: b.
^ebe gur geier ber fünfunb^^roansigjä^rigen iRegieruug (Seiner
5Diajeftät be§ ^aiferS unb ÄöuigS 'SBiJl^elm I. — ©ic gftcform
nnferer ©timuafien nad^ jefuitifd^er ^Infd^auung. — flruns, Ä.:
2BanbIungeu innerl^alb ber flaffifd^en 2(rd;äoIogic. — ^tieda, JD.:
(5^en)erblid)e ^»fiänbe in ber ü^egenwart. — Btegemaitn^ 11.; 5)ie
()fonomi[d)e ©runbaiifd^auung von Äarl 3Karr. — ^a^on, %.:
i^eitgeMüjfijd)e OtdigiouSp^ilofopl^ie. — Qm(^t\^\^te be§ rufflf(|en
t^iufUiffeä in Elften. — Delbrüdi, 'S. : Ueber bie Söebeutung ber
(JrtiubuHgeu in ber @efd)id)te. — ©ie gef(§id)tlici^e ©tettung beS
mofaifdjcu ©efe^^eS nad) ben neuereu altteflamentlid^eu gorfd^ungen. —
S3erliu uiib fein 9Serfel;r. — Jaöftler, ©.: granjöfifd^e 3Ka§fen. —
JlalTf, Cf.: (Jutroidlung unb ^rifiä be§ lolrtl^jt^afuid^en 3nbioibuaU§=
nuig in ^nglenib. — Jlllali, ®rof: ©ii Dotation unferet £anb^
fd;ulen. — ©er @ang be§ ^ulturfampfeS.
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