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UNIVERSITY OF
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University of Toronto
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Hermann Heffe
Gefammelte Werke
Roßhalde
Roman
von
Hermann Heſſe
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S. Fiſcher / Verlag / Berlin
48. bis 52. Auflage
Alle Rechte vorbehalten, befonders das der Überſetzung
Copyright 1914 by S. Fiſcher Verlag A-G., Berlin
Petntad Cermany
QT
2
E880
Roßhalde
Erſtes Kapitel
Als vor zehn Jahren Johann Veraguth Roßhalde
gekauft und bezogen hatte, war ſie ein verwahrloſter
alter Herrenſitz mit zugewachſenen Gartenwegen, ver—
mooſten Bänken, brüchigen Treppenſtufen und undurch—
dringlich verwildertem Park geweſen, und es ſtanden
damals auf dem wohl acht Morgen großen Grundſtück
keine anderen Gebäude als das ſchöne, etwas verkom—
mene Herrenhaus mit dem Stall und ein kleines tempel⸗
artiges Luſthäuschen im Park, deſſen Portal ſchief in
verbogenen Angeln hing und an deſſen einſt mit blauer
Seide tapezierten Wänden Moos und Schimmel wuchs.
Sofort nach dem Kauf des Gutes hatte der neue Be—
ſitzer das baufällige Tempelchen niedergeriſſen und nur
die zehn alten Steinſtufen ſtehen laſſen, die von der
Schwelle dieſes Liebeswinkels an den Rand des Weihers
hinabführten. An Stelle des Parkhäuschens wurde da—
mals Veraguths Atelier erbaut, und ſieben Jahre lang
hatte er hier gemalt und den größeren Teil ſeiner Tage
zugebracht, ſeine Wohnung aber drüben im Herrenhaus
gehabt, bis die zunehmenden Zerwürfniſſe in ſeiner Fa—
milie ihn dazu gebracht hatten, ſeinen älteren Sohn zu
entfernen und auf auswärtige Schulen zu ſchicken, das
— 10 ——
Herrenhaus der Frau und Dienerſchaft zu überlaſſen
und für ſeinen eigenen Bedarf zwei Zimmer an das
Atelier anzubauen, wo er nun ſeither wie ein Jung—
geſelle wohnte. Es war ſchade um das ſchöne herr—
ſchaftliche Haus; Frau Veraguth brauchte mit dem
ſiebenjährigen Pierre nur das obere Geſchoß, ſie emp—
fing wohl Beſuche und Gäſte, aber niemals größere
Geſellſchaft, und ſo ſtand eine Reihe von Räumen
jahraus, jahrein leer.
Der kleine Pierre war nicht nur der Liebling beider El—
tern und das einzige Band zwiſchen Vater und Mutter,
das eine Art von Verkehr zwiſchen Herrenhaus und Ate—
lierhaus aufrechterhielt; er war eigentlich auch der ein—
zige Herr und Beſitzer der Roßhalde. Herr Veraguth be—
wohnte ausſchließlich ſein Atelier und die Gegend um
den Waldſee ſowie den ehemaligen Wildpark, ſeine Frau
herrſchte drüben im Haus, ihr gehörte der Raſenplan,
der Lindengarten und der Kaſtaniengarten, und jedes
ſprach im Gebiete des anderen nur ſelten und gaſtweiſe
vor, von den Mahlzeiten abgeſehen, die der Maler mei—
ſtens im Herrenhauſe einnahm. Der kleine Pierre war
der einzige, der dieſe Trennung des Lebens und Teilung
der Gebiete nicht anerkannte und kaum von ihr wußte.
Er lief im alten wie im neuen Hauſe gleich ſorglos aus
und ein, er war im Atelier und in des Vaters Bibliothek
ebenſo heimiſch wie im Korridor und Bilderſaal drüben
oder in den Zimmern der Mutter, ihm gehörten die
Erdbeeren im Kaſtaniengarten, die Blumen im Linden—
garten, die Fiſche im Waldſee, die Badehütte, die Gondel.
Er fühlte ſich als Herr und als Schützling bei den Mäd—
chen der Mutter wie bei Papas Diener Robert, er war
der Sohn der Hausfrau für die Beſuche und Gäſte der
Mutter und war der Sohn des Malers für die Herren,
die zuweilen in Papas Atelier kamen und franzöſiſch
ſprachen, und Bildniſſe des Knaben, Gemälde und Pho-
tographien, hingen im Schlafzimmer des Vaters wie im
alten Hauſe in den hellfarbig tapezierten Stuben der
Mutter. Pierre hatte es ſehr gut, es ging ihm ſogar beſ—
ſer als ſolchen Kindern, deren Eltern in gutem Einver—
nehmen leben; es herrſchte kein Programm über ſeine
Erziehung, und wenn ihm je einmal auf mütterlichem
Gebiete der Boden heiß wurde, ſo bot die Gegend um
den Waldſee ihm eine ſichere Zuflucht.
Er war längſt zu Bette, und ſeit elf Uhr war im Her—
renhaus das letzte helle Fenſter erloſchen. Da kam, ſpät
nach Mitternacht, Johann Veraguth allein zu Fuße aus
der Stadt zurück, wo er mit Bekannten den Abend im
Wirtshaus zugebracht hatte. Beim Gang durch die laue,
wolkige Frühſommernacht war die Atmoſphäre von
Wein und Rauch, von erhitztem Gelächter und verwege—
nen Witzen von ihm abgefallen, er atmete bewußt die
leicht geſpannte, feuchtwarme Nachtluft und ſchritt auf-
merkſam auf der Straße zwiſchen ſchon hochſtehenden,
dunkeln Getreidefeldern der Roßhalde entgegen, deren
hohe Wipfelmaſſen groß und ſtill im bleichen nächtlichen
Himmel ſtanden.
Er ging am Eingang des Gutes vorbei, ohne einzutre—
ten, ſah einen Augenblick nach dem Herrenhaus hinüber,
deſſen lichte Faſſade edel und lockend vor der ſchwarzen
Baumfinſternis ſchimmerte, und betrachtete das ſchöne
Bild minutenlang mit dem Genuß und mit der Fremd—
heit eines vorüberkommenden Wanderers; dann ging er
noch ein paar hundert Schritte die hohe Hecke entlang
bis zu der Stelle, wo er ſich einen Durchſchlupf und heim—
lichen Waldweg zum Atelier bereitet hatte. Mit wachen
Sinnen ſchritt der kräftige, kleine Mann durch den fin—
ſteren, waldig verwilderten Park ſeiner Wohnſtätte zu,
die plötzlich vor ihm lag, da, wo die Wipfelfinſternis über
dem See auseinandergezogen erſchien und im weiten
Rund der matte graue Himmel ſichtbar wurde.
Der kleine See ſtand faſt ſchwarz in vollkommener
Stille, nur wie eine unendlich dünne Haut oder ein fei—
ner Staub lag das ſchwache Licht über dem Waſſer. Ve—
raguth ſah auf die Uhr, es war bald eins. Er ſchloß eine
Seitentür des kleinen Gebäudes auf, die in ſeinen Wohn—
raum führte. Hier zündete er eine Kerze an und legte raſch
die Kleider ab, trat nackt ins Freie hinaus und ſtieg lang—
ſam die breiten flachen Steinſtufen hinab in das Waſſer,
das vor ſeinen Knien in kleinen, weichen Ringen flüchtig
aufblinkte. Er tauchte unter, ſchwamm eine kleine Strecke
weit in den See, fühlte plötzlich die Müdigkeit nach einem
* 8
ungewohnt verbrachten Abend, kehrte um und trat trie—
fend ins Haus. Er warf einen zottigen Bademantel um,
ſtrich das Waſſer aus ſeinen kurz geſchorenen Haaren
und ging barfuß über einige Stufen zum Atelier hinauf,
einem ungeheuren, faſt leeren Raum, wo er alsbald mit
einigen ungeduldigen Bewegungen alle elektriſchen Lich—
ter andrehte.
Haſtig lief er zu einer Staffelei, wo eine kleine Lein—
wand ſtand, ſeine Arbeit der letzten Tage. Mit auf die
Knie geſtützten Händen ſtellte er ſich gebückt vor dem
Bilde auf und ſtarrte mit weitaufgeriſſenen Augen auf
die Fläche, deren friſche Farben das grelle Licht ſpiegel—
ten. So verharrte er zwei, drei Minuten, ſchweigend und
ſtarrend, daß die Arbeit bis zum letzten Pinſelſtrich ihm
wieder lebendig in den Augen ſtand; es war ſeit Jahren
ſeine Gewohnheit, vor Arbeitstagen keine andere Vor—
ſtellung mit ins Bett und in den Schlaf zu nehmen als
die des Bildes, an dem er malte. Er löſchte die Lichter,
griff nach der Kerze und ging zum Schlafzimmer, an de}:
ſen Türe eine kleine Schreibtafel und Kreide angehängt
war. „Sieben Uhr wecken, Kaffee neun Uhr“ ſchrieb er
mit ſtarken römiſchen Buchſtaben darauf, ſchloß die
Türe hinter ſich und legte ſich ins Bett. Mit offenen
Augen lag er noch eine kurze Weile bewegungslos und
zwang mit Anſtrengung das Bild ſeiner Arbeit vor ſeine
Sinne. Damit geſättigt, ſchloß er die klaren grauen
Augen, ſeufzte leiſe auf und fiel raſch in den Schlaf.
— 14 —
Am Morgen weckte ihn Robert zur beſtimmten Zeit,
er erhob ſich ſofort, wuſch ſich in einem kleinen Neben—
raum im fließenden kalten Waſſer, ſchlüpfte in einen
groben, ſtark verwaſchenen Anzug von grauem Leinen
und ging ins Atelier hinüber, deſſen mächtige Rolladen
der Diener ſchon aufgezogen hatte. Auf einem kleinen
Tiſchchen ſtand ein Teller voll Obſt, eine Waſſerkaraffe
und ein Stück Roggenbrot, das er nachdenklich in die
Hand nahm und anbiß, während er ſich vor die Staffe—
lei ſtellte und fein Bild betrachtete. Er aß im Auf- und
Abſchreiten ein paar Biſſen Brot, fiſchte ein paar Kir—
ſchen aus dem Glasteller, ſah einige Briefe und Zeitun—
gen daliegen, die er nicht beachtete, und ſaß gleich darauf
gebannt im Feldſtuhl vor der Arbeit.
Das kleine Bild in Breitformat ſtellte eine Morgen—
frühe dar, wie ſie der Maler vor einigen Wochen auf
einer Reiſe geſehen und in mehreren Skizzen notiert hatte.
Er war in einem kleinen Landwirtshauſe am Oberrhein
abgeſtiegen, hatte den Kollegen, den er am Ort beſuchen
wollte, nicht angetroffen, einen unerfreulichen Regen—
abend in der qualmigen Wirtsſtube und eine ſchlechte
Nacht in einem kalkig-modrig riechenden feuchten Gaſt—
zimmerchen' verbracht. Noch vor Sonnenaufgang aus
ſeichtem Schlummer heiß und übellaunig erwacht, hatte
er die Haustüre noch verſchloſſen gefunden, war durch
ein Fenſter der Wirtsſtube ins Freie geſtiegen, hatte ne—
benan am Rheinufer einen Kahn losgemacht und war
in den ſchwach ſtrömenden, noch dämmerigen Fluß hin—
ausgerudert. Eben als er umkehren wollte, ſah er vom
jenſeitigen Ufer her einen Ruderer ſich entgegenkommen,
das ſchwach zuckende kalte Licht des milchig regneriſchen
Tagesanbruchs umfloß den dunkeln Umriß und ließ das
Fiſcherboot übermäßig groß erſcheinen. Von dem An:
blick und dem eigentümlichen Licht plötzlich getroffen und
innerlichſt gefeſſelt, hatte er haltgemacht und den Mann
näherkommen laſſen, der bei einem ſchwimmenden Netz—
zeichen anhielt und eine Reuſe aus dem kühlen Waſſer
emporzog. Zwei breite mattſilbrige Fiſche kamen zum
Vorſchein, naßglänzend ſchimmerten ſie einen Augen—
blick über dem grauen Strome und fielen mit einem
ſchnalzenden Klang in des Fiſchers Boot. Veraguth
hatte alsbald den Mann warten heißen, das notdürf—
tigſte Malzeug geholt und eine Skizze in Waſſerfarben
gemacht, war einen Tag am Ort geblieben, zeichnend
und leſend, und hatte andern Tages in der Frühe noch—
mals draußen gemalt, war weiter gereiſt und hatte ſich
ſeither immer wieder in Gedanken von dem Bilde be—
ſchäftigt und gequält geſehen, bis es Form gewann, und
nun ſaß er ſeit Tagen daran und war nahezu fertig ge:
worden.
Ihm, der am liebſten bei voller Sonne oder auch im
warmen, gebrochenen Wald- und Parklicht malte, hatte
die flutende Silberkühle des Bildes viel zu ſchaffen ge—
macht, aber ſie hatte ihm einen neuen Klang gegeben,
ied a he
geftern war die Löſung vollends geglückt, und nun fühlte
er, daß er vor einer guten, ungewöhnlichen Arbeit ſaß,
bei der es nicht im Feſthalten und löblichen Abſchildern
fein Bewenden hatte, ſondern wo ein Augenblick aus
dem gleichgültigen rätſelhaften Sein und Geſchehen der
Natur die gläſerne Oberfläche durchbrach und den wil—
den, großen Atem der Wirklichkeit ſpüren ließ.
Mit aufmerkſamen Augen hing der Maler an dem
Bilde und wog die Töne auf der Palette, die ſeiner ge—
wohnten kaum mehr glich und faſt alle roten und gelben
Farben verloren hatte. Das Waſſer und die Luft war
fertig, es rann ein fröſtelnd kaltes, unwilliges Licht über
die Fläche, ſchattenhaft ſchwammen Gebüſche und
Pfähle des Ufers in der feuchten, fahlen Dämmerung,
unwirklich und aufgelöſt ſtand der grobe Kahn im Waſ—
ſer, auch das Geſicht des Fiſchers war ohne Weſen und
Sprache, nur ſeine ruhig nach den Fiſchen greifende
Hand war voll unerbittlicher Wirklichkeit. Das eine von
den Tieren ſprang glitzernd über den Rand des Bootes,
das andere lag flach und ſtill, und ſein geöffnetes rundes
Maul und erſchrocken ſtarres Auge war voll vom Weh
der Kreatur. Das Ganze war kalt und beinahe bis zur
Grauſamkeit traurig, aber ſtill und unangreifbar und
ohne eine andere Symbolik als jene einfache, ohne die
kein Kunſtwerk ſein kann und die uns die bedrückende
Unbegreiflichkeit der ganzen Natur nicht nur fühlen, ſon—
dern mit einem gewiſſen ſüßen Erſtaunen lieben läßt.
Als der Maler wohl zwei Stunden an der Arbeit ge-
ſeſſen hatte, klopfte der Diener und trat auf den zerſtreu—
ten Anruf ſeines Herrn mit dem Frühſtück herein. Er trug
leife die Kannen, Taſſe und Teller auf, rückte einen Stuhl
zurecht, wartete eine Weile ſchweigend und mahnte dann
vorſichtig: „Es iſt eingeſchenkt, Herr Veraguth.“
„Ich komme,“ rief der Maler und rieb einen Pinfel-
ſtrich, den er ſoeben am Schwanz des ſpringenden Fi—
ſches gemacht hatte, mit dem Daumen wieder weg. „Iſt
warmes Waſſer da?“
Er wuſch ſeine Hände und ſetzte ſich zum Kaffee.
„Sie könnten mir eine Pfeife ſtopfen, Robert,“ ſagte
er munter. „Die kleine ohne Deckel, ſie muß im Schlaf—
zimmer liegen.“
Der Diener lief. Veraguth trank mit Inbrunſt den ſtar⸗
ken Kaffee und fühlte die leiſe Ahnung von Schwindel und
Zuſammenbruch, die ihn neuerdings nach angeſtrengter
Arbeit zuweilen anflog, zergehen wie Morgennebel.
Er nahm dem Diener die Pfeife ab, ließ ſich Feuer
geben und ſog mit Gier den aromatiſchen Rauch ein, der
die Wirkung des Kaffees verſtärkte und verfeinerte. Er
deutete auf ſein Bild und ſagte: „Sie haben als Junge
geangelt, Robert, nicht wahr?“
„Wohl, Herr Veraguth.“
„Sehen Sie ſich einmal den Fiſch dort an, nicht den
in der Luft, den andern unten mit dem offenen Maul.
Iſt das Maul richtig?“
2 Heſſe, Roßhalde
3
„Es iſt ſchon richtig,“ ſagte Robert mißtrauiſch.
„Aber das wiſſen Sie beſſer als ich,“ fügte er mit einem
Ton von Vorwurf hinzu, als fühle er einen Spott in der
Frage.
„Nein, Verehrter, das ſtimmt nicht. Der Menſch er—
lebt das, was ihm zukommt, nur in der erſten Jugend in
der ganzen Schärfe und Friſche, ſo bis zum dreizehnten,
vierzehnten Jahr, und von dem zehrt er ſein Leben lang.
Ich habe als Junge nie mit Fiſchen zu tun gehabt,
darum frage ich. Alſo, iſt die Schnauze recht ſo?“
„Sie iſt gut, da fehlt nichts,“ urteilte Robert geſchmei⸗
chelt.
Veraguth war ſchon wieder aufgeſtanden und prüfte
ſeine Palette. Robert fab ihn an. Er kannte dieſe begin⸗
nende Konzentriertheit des Blickes, die ihn beinahe glaſig
erſcheinen ließ, und wußte, daß jetzt er und der Kaffee,
die kleine Unterhaltung von vorhin und alles das in dem
Manne unterſinke, und wenn er in einigen Minuten ihn
anriefe, würde er wie aus einem tiefen Schlaf erwachen.
Aber das war gefährlich. Robert räumte ab, da ſah er
die Poſt unberührt liegen.
„Herr Veraguth!“ rief er halblaut.
Der Maler war noch erreichbar. Feindſelig fragend
blickte er über die Schulter zurück, genau wie ein Ermü—
deter, der dem Einſchlummern nahe war und nochmals
angerufen wird.
„Es ſind Briefe da.“
Damit ging Robert hinaus. Veraguth drückte nervös
ein Häufchen Kobaltblau auf die Palette, warf die Tube
auf den kleinen blechbeſchlagenen Maltiſch, begann zu
miſchen, fühlte ſich aber durch die Mahnung des Die—
ners geftort, fo daß er ärgerlich die Palette weglegte und
die Briefe an ſich nahm.
Es waren die üblichen Geſchäftsſachen, die Auffor—
derung, ſich an einer Ausſtellung zu beteiligen, die Bitte
einer Zeitungsredaktion um Mitteilung von Daten aus
ſeinem Leben, eine Rechnung — aber da fuhr der Anblick
einer wohlbekannten Handſchrift ihm wie ein ſüßer
Schauder in die Seele, er nahm den Brief an ſich und las
mit Genuß ſeinen eigenen Namen und jedes Wort der
Adreſſe, wohlig in die Beobachtung der freien, eigenwil—
lig charaktervollen Schriftzüge vertieft. Dann bemühte
er ſich, den Poſtſtempel zu leſen. Die Briefmarke war
italieniſch, es konnte nur Neapel oder Genua ſein, und
dann war alſo der Freund ſchon in Europa, ſchon ganz
nahe, und konnte in wenigen Tagen hier ſein.
Mit Rührung öffnete er den Brief und ſah mit Be—
friedigung die kleinen ſchnurgeraden Zeilen in ihrer ſtren⸗
gen Ordnung ſtehen. Wenn er ſich recht beſann, ſo wa⸗
ren ſeit fünf, ſechs Jahren dieſe ſeltenen Briefe des aus:
ländiſchen Freundes die einzigen reinen Freuden geweſen,
die er gehabt hatte, die einzigen außer der Arbeit und
außer den Stunden des Umgangs mit dem kleinen Pierre.
Und wie jedesmal, ſo befiel ihn auch jetzt mitten in der
2 *
frohen Erwartung ein unklares, peinliches Gefühl von
Beſchämung, indem die Verarmung und Liebloſigkeit
ſeines Lebens ihm ins Bewußtſein trat. Langſam las er:
Neapel, 2. Juni nachts.
Lieber Johann!
Wie gewöhnlich ſind ein Mundvoll Chianti mit fetten
Makkaroni und das Gebrüll einiger Hauſierer vor der
Schenke die erſten Zeichen der europäiſchen Kultur, der ich
wieder mich nähere. Hier in Neapel iſt ſeit fünf Jahren
nichts verändert, weit weniger als in Singapore oder
Shanghai, und ich nehme es als ein gutes Zeichen dafür,
daß ich auch daheim alles in Ordnung finden ſoll. Über⸗
morgen kommen wir nach Genua, da holt mein Neffe mich
ab, und ich fahre mit ihm zu den Verwandten, wo mich
diesmal keine überwallenden Sympathien erwarten,
denn ich habe in den letzten vier Jahren, ehrlich gerech⸗
net, keine zehn Taler verdient. Ich rechne für die erſten
Anſprüche der Familie vier, fünf Tage, dann Geſchäft—
liches in Holland, ſagen wir wieder fünf, ſechs Tage, ſo
daß ich etwa am 16. oder ſo zu Dir kommen könnte. Das
wirſt Du telegraphiſch erfahren. Ich möchte mindeſtens
zehn oder vierzehn Tage bei Dir bleiben, weißt Du, und
Dich in der Arbeit ſtören. Du biſt ſchauderhaft berühmt
geworden, und wenn das, was Du vor etwa zwanzig
Jahren über Erfolg und Berühmtheiten zu ſagen pfleg—
teſt, nur halbwegs richtig war, mußt Du inzwiſchen
bedeutend verkalkt und vertrottelt fein. Ich will Dir
auch Bilder abkaufen, und meine obige Klage über die
ſchlechten Gefchafte iſt ein Verſuch, auf Deine Preife zu
drücken.
Man wird alfer, Johann. Es war meine zwölfte Fahrt
durchs Rote Meer, und zum erſtenmal habe ich unter der
Hitze gelitten. Wir hatten 46 Grad.
Herrgott, Alter, noch vierzehn Tage! Es wird Dich
einige Dutzend Flaſchen Moſel koſten. Es ſind mehr als
vier Jahre ſeit dem letztenmal.
Brieflich bin ich zwiſchen dem g. und 14. in Antwerpen,
Hotel de l'Europe, zu erreichen. Falls Du irgendwo, wo
ich durchreiſe, Bilder ausgeſtellt haſt, laß mich's wiſſen!
Dein Otto
Vergnügt überlas er den kurzen Brief mit den gefun-
den, ſtrammen Buchſtaben und temperamentvollen
Satzzeichen noch einmal, ſuchte aus der Lade des kleinen
Schreibtiſches in der Ecke einen Kalender heraus und
nickte, darin leſend, mit Befriedigung vor ſich hin. Es
würden noch bis zur Mitte des Monats über zwanzig
Bilder von ihm in Brüſſel ausgeſtellt ſein, das traf ſich
glücklich. So würde der Freund, deſſen ſcharfen Blick er
ein wenig fürchtete und dem die Zerrüttung ſeines Le—
bens in den letzten Jahren nicht verborgen bleiben konnte,
wenigſtens einen erſten Eindruck von ihm haben, auf den
er ſtolz ſein konnte. Das erleichterte alles. Er ſtellte ſich
Otto vor, wie er in feiner ein wenig maſſiven Lberfeers
eleganz durch den Brüſſeler Saal ging und ſeine Bilder
betrachtete, ſeine beſten Bilder, und für einen Augenblick
freute er ſich herzlich, daß er fie zu jener Ausſtellung her⸗
gegeben hatte, obwohl nur wenige davon noch verkäuf—
lich waren. Und er ſchrieb ſofort ein Billett nach Ant—
werpen.
„Er weiß noch alles,“ dachte er dankbar, „es ſtimmt,
wir haben das letztemal faſt nur Moſel getrunken, und
einen Abend haben wir ſogar richtig gezecht.“
Er dachte nach und fand, es ſei gewiß kein Moſelwein
mehr im Keller, den er ſelbſt ſehr ſelten beſuchte, und er
beſchloß, noch heute eine Sendung zu beſtellen.
Nun ſetzte er ſich aufs neue vor die Arbeit, fand ſich
aber zerſtreut und innerlich unruhig und kam nicht wie—
der zur reinen Konzentration, bei welcher die guten Ein—
fälle ungerufen daſtehen. So ſtellte er die Pinſel in einen
Becher, ſteckte den Brief ſeines Freundes zu ſich und
ſchlenderte mit unentſchloſſenen Schritten ins Freie hin⸗
aus. Der See blitzte ihm mit heftiger Spiegelung entge—
gen, es war ein wolkenloſer Sommertag aufgegangen,
und der durchſonnte Park hallte von vielen Vogelſtim—
men wider.
Er ſah auf die Uhr. Pierres Morgenlektionen mußten
vorüber ſein. Und er ſtrich ziellos durch den Park, blickte
zerſtreut die braunen, mit Sonnenflecken bedeckten Wege
entlang, horchte nach dem Hauſe hinüber, ging an Pierres
Spielplatz mit der Schaukel und dem Sandhaufen
vorbei. Schließlich kam er in die Nähe des Küchengar—
tens und ſchaute mit flüchtigem Intereſſe in die hohen
Kronen der Roßkaſtanien hinauf, auf deren ſchattentie—
fen Blãttermaſſen die letzten freudighellen Blütenkerzen
ſtanden. Bienen ſchwärmten mit wellig leiſem Geläute
um die vielen halboffenen Roſenknoſpen der Garten—
hecke, durch das dunkle Laub der Bäume her tat die frohe
kleine Turmuhr des Herrſchaftshauſes ein paar Schläge.
Sie ſchlug falſch, und Veraguth dachte wieder an Pierre,
deſſen höchſter Wunſch und Ehrgeiz es war, ſpäter ein-
mal, wenn er größer wäre, das alte Schlagwerk wieder
in Ordnung zu bringen.
Da hörte er jenſeits der Hecke Stimmen und Schritte,
die in der ſonnigen Gartenluft mit Bienenſummen und
Vogelrufen, mit dem träge hinziehenden Duftder Buſch—
nelkenrabatte und der Bohnenblüten gedämpft und zart
zuſammenklangen. Es war ſeine Frau mit Pierre, und
er blieb ſtehen und lauſchte aufmerkſam hinüber.
„Sie ſind noch nicht reif, du mußt noch ein paar Tage
warten,“ hörte er die Mutter ſagen.
Ein lachendes Gezwitſcher der Knabenſtimme gab
Antwort, und die friedevolle grüne Gartenwelt und das
ſanft tönende verwehte Kindergeſpräch in der erwar—
tungsvollen Sommerſtille klang dem Manne einen
flüchtig zarten Augenblick lang wie aus dem fernen Gar-
ten der eigenen Kindheit herüber. Er trat an die Hecke
— 24 —
und ſpähte zwiſchen den Ranken hindurch in den Garten,
wo ſeine Frau im Morgenkleid auf dem ſonnigen Wege
ſtand, eine Blumenſchere in der Hand und einen braunen
leichten Korb am Arm. Sie war kaum zwanzig Schritte
von der Hecke entfernt.
Der Maler betrachtete ſie einen Augenblick. Die große
Geſtalt mit dem ernſthaften und enttäuſchten Frauen—
geſicht bückte ſich über die Blumen, der große ſchlaffe
Strohhut beſchattete das ganze Geſicht.
„Wie heißen die Blumen da?“ fragte Pierre. In ſei—
nen braunen Haaren ſpielte das Licht, die nackten Beine
ſtanden mager und ſonnenbraun in der Helle, und wenn
er ſich bückte, ſah man im weiten Ausſchnitt ſeiner Bluſe
unter dem braungebrannten Nacken die weiße Haut des
Rückens hervorſchimmern.
„Buſchnelken,“ ſagte die Mutter.
„Ja, das weiß ich,“ fuhr Pierre fort, „aber ich muß
wiſſen, wie die Bienen zu ihnen ſagen. In der Bienen⸗
ſprache müſſen ſie doch auch einen Namen haben.“
„Gewiß, aber den kann man nicht wiſſen, den wiſſen
nur die Bienen ſelber. Vielleicht heißen ſie ſie Honig—
blumen.“
Pierre dachte nach.
„Das iſt nichts,“ entſchied er dann. „Im Klee finden
fie gerade foviel Honig, und in den Kapuzinern auch,
und ſie können doch nicht für alle Blumen den gleichen
Namen haben.“
Aufmerkſam ſah der Knabe einer Biene zu, die einen
Nelkenkelch umflog, mit ſurrenden Flügeln davor in der
Luft ſtillhielt und dann begierig in die roſige Höhlung
eindrang.
„Honigblumen!“ dachte er geringſchätzig und ſchwieg.
Er hatte es längſt erfahren, daß man gerade die hüb—
ſcheſten und intereſſanteſten Dinge nicht wiſſen und er—
klären kann.
Veraguth ſtand hinter der Hecke und hörte zu, er be-
trachtete das ruhige, ernſthafte Geſicht ſeiner Frau und
das ſchöne, frühreif zarte ſeines Lieblings, und ſein Herz
verſteinerte ſich bei dem Gedanken an die Sommer, in
denen ſein erſter Sohn noch ſolch ein Kind geweſen war.
Den hatte er verloren, und die Mutter auch. Aber dieſen
Kleinen wollte er nicht verlieren, ihn nicht. Er wollte ihn
als Dieb hinterm Zaun belauſchen, er wollte ihn locken
und an ſich ziehen, und wenn auch dieſer Knabe ſich von
ihm abwenden würde, dann wollte er nicht mehr leben.
Leiſe zog er ſich über den graſigen Weg zurück und
ging unter den Bäumen davon.
„Das Bummeln iſt nichts für mich,“ dachte er ärger—
lich und machte ſich hart. Er ging an ſeine Arbeit zurück
und fand denn auch, die Unluſt überwindend und einer
jahrelang gepflegten Übung gehorchend, die geſpannte
Arbeitsſtimmung wieder, die ſich keine Nebenwege er—
laubt und alle Kräfte nur auf das augenblicklich Ge—
wollte richtet.
. Me eee
Er war drüben zu Tiſche erwartet und kleidete ſich
gegen Mittag ſorgfältig um. Raſiert, gebürſtet und im
blauen Sommeranzug ſah er zwar nicht jünger, doch
friſcher und elaſtiſcher aus als im verwahrloſten Atelier⸗
kleid. Er griff nach dem Strohhut und wollte eben die
Türe öffnen, als ſie ihm entgegen ſich auftat und Pierre
hereinkam.
Veraguth bückte ſich zu dem Knabenkopf hinab und
küßte ihn auf die Stirn.
„Wie geht's, Pierre? War der Lehrer brav?“
„Oja, er iſt nur fo langweilig. Wenn er eine Geſchichte
erzählt, iſt es gar nicht zum Luſtigſein, ſondern auch bloß
eine Lektion, und am Schluß kommt immer, daß gute
Kinder ſich ſoundſo benehmen miiffen. — Haftdu gemalt,
Papa?“
„Ja, an den Fiſchen, weißt du. Das iſt bald fertig,
und morgen darfſt du es ſehen.“
Er nahm des Knaben Hand und ging mit ihm hinaus.
Nichts in der Welt tat ihm fo wohl und rührte alle ver—
ſunkene Güte und hilfloſe Zartheit ſo in ihm auf wie das
Gefühl, neben dem Jungen zu gehen, den Schritt ſeinen
kleinen Schritten anzupaſſen und die leichte, zutrauliche
Kinderhand in ſeiner zu fühlen.
Als ſie den Park verließen und unter den dünnen
Hängebirken hin über die Wieſe gingen, blickte der Kleine
ſich um und fragte: „Papa, haben denn die Schmetter—
linge vor dir Angſt?“
„Warum? Ich glaube nicht. Neulich ift einer ganz
lange auf meinem Finger geſeſſen.“
„Ja, aber jetzt ſind keine da. Wenn ich manchmalganz
allein zu dir hinübergehe und ich komme dann hier vor—
bei, dann ſind immer viele, viele Schmetterlinge auf dem
Weg, und fie heißen Blaulinge, das weiß ich, und fie fen-
nen mich und haben mich lieb, ſie fliegen immer ganz nah
um mich herum. Kann man denn Schmetterlinge nicht
füttern?“
„Doch, das kann man, wir wollen es nächſtens einmal
verſuchen. Man tut einen Tropfen Honig auf die Hand
und ſtreckt ſie ganz ruhig aus, bis die Falter kommen
und davon trinken.“
„Fein, Papa, das probieren wir. Nicht wahr, du
ſagſt es der Mama, daß ſie mir ein bißchen Honig geben
muß? Dann weiß ſie, daß ich ihn wirklich brauche und
daß es keine Dummheit iſt.“
Pierre lief voran durch das offene Haustor und den
breiten Korridor, in deſſen kühler Dämmerung der von
draußen geblendete Vater noch den Hutſtänder ſuchte
und nach der Speiſezimmertüre taſtete, als der Knabe
längſt drinnen war und die Mutter mit ſeinem Anliegen
beſtürmte.
Der Maler kam herein und gab ſeiner Frau die Hand.
Sie war etwas größer als er, eine kräftige Geſtalt, ge-
ſund, aber ohne Jugend, und ſie hatte zwar aufgehört,
ihren Mann zu lieben, ſah aber noch heute den Verluſt
— 98 —
ſeiner Zärtlichkeit als ein traurig unbegreifliches, unver⸗
ſchuldetes Unglück an.
„Wir können gleich eſſen,“ ſagte ſie mit ihrer ruhigen
Stimme, „Pierre, geh und waſch dir die Hände!“
„Hier iſt eine Neuigkeit,“ fing der Maler an und gab
ihr den Brief ſeines Freundes. „Otto kommt ſchon bald,
und ich hoffe, er bleibt eine gute Weile da. Es iſt dir doch
recht?“
„Herr Burkhardt kann die beiden Zimmer unten
haben, da iſt er ungeſtört und kann nach Belieben ein
und aus gehen.“
„Ja, das iſt gut.“
Zögernd ſagte ſie: „Ich hatte gedacht, er käme viel
ſpäter.“
„Er iſt früher gereiſt, auch ich wußte bis heute nichts
davon. Na, deſto beſſer.“
„Nun trifft er eben mit Albert zuſammen.“
Veraguths Geſicht verlor den leiſen Schimmer von
Vergnügtheit und ſeine Stimme wurde kalt, als er den
Namen ſeines Sohnes hörte.
„Was iſt mit Albert?“ rief er nervös. „Er ſollte doch
mit ſeinem Freund ins Tirol gehen.“
„Ich wollte es dir nicht früher als nötig ſagen. Der
Freund iſt von Verwandten eingeladen worden und hat
auf die Fußreiſe verzichtet. Albert kommt mit Beginn
ſeiner Ferien.“
„Und bleibt die ganze Zeit hier?“
„Ich denke, ja. Ich könnte auch ein paar Wochen
mit ihm verreiſen, aber das würde unbequem für dich
werden.“
„Warum? Ich nähme pierre zu mir herüber.“
Frau Veraguth zuckte die Achſeln.
„Bitte, fange doch damit nicht wieder an! Du weißt,
ich kann Pierre nicht allein hier laſſen.“
Der Maler wurde zornig.
„Allein!“ rief er ſcharf. „Er iſt nicht allein, wenn er
bei mir iſt.“
„Ich kann ihn nicht hier laſſen, und ich will es nicht.
Es iſt unnütz, nochmals darüber zu ſtreiten.“
„Natürlich, du willſt nicht!“
Er ſchwieg, da Pierre zurückkam, und man ging zu
Tiſche. Zwiſchen den beiden entfremdeten Menſchen
ſaß der Knabe und wurde von beiden bedient und
unterhalten, wie er es gewohnt war, und ſein Vater
ſuchte die Mahlzeit recht lange hinzuhalten, denn nach⸗
her blieb der Kleine bei Mama, und es war zweifelhaft,
ob er heute nochmals ins Atelier kommen würde.
Zweites Kapitel
Robert war in dem kleinen Nebenraum beim Atelier
damit beſchäftigt, eine Palette und ein Bündel Pinſel
auszuwaſchen. Da erſchien in der offenen Türe der
kleine Pierre. Er blieb ſtehen und ſah zu.
„Das iſt eine dreckige Arbeit,“ urteilte er nach einer
kleinen Weile. „Überhaupt, malen iſt ja ganz ſchön,
aber ich möchte doch nie ein Maler werden.“
„Na, überleg' dir das noch einmal,“ meinte Robert.
„Wo doch dein Vater ſo ein berühmter Maler iſt.“
„Nein,“ entſchied der Knabe, „es wäre nichts für
mich. Man iſt immerzu ſchmierig, und die Farben riechen
auch ſo furchtbar ſtark. Ein bißchen davon rieche ich
ſehr gern, zum Beiſpiel an einem friſchen Bild, wenn
es in einem Zimmer hängt und nur ſo ganz fein nach
Farbe riecht; aber im Atelier, das wäre mir zuviel, da
bekäme ich Kopfweh.“
Der Diener ſah ihn prüfend an. Eigentlich hätte er
dem verwöhnten Kinde ſchon längſt einmal ſeine Mei—
nung ſagen mögen, er hatte viel an ihm zu tadeln. Aber
wenn Pierre da war und man ihm ins Geſicht ſah, dann
ging es doch nicht an. Der Kleine war ſo friſch und
hübſch und ernſthaft, als wäre an ihm und in ihm
2080
abſolut alles in Ordnung, und gerade der kleine Zug
von herriſcher Blaſiertheit oder Altklugheit ſtand ihm
merkwürdig gut an.
„Was möchteſt du denn eigentlich werden, Junge?“
fragte Robert ein wenig ſtreng.
Pierre blickte zu Boden und beſann ſich.
„Ach, ich möchte eigentlich gar nichts Beſonderes
werden, weißt du. Ich möchte nur, daß ich mit der
Schule fertig wäre. Im Sommer möche ich bloß ganz
weiße Kleider tragen, auch weiße Schuhe, und es dürfte
gar nie der kleinſte Fleck daran ſein.“
„So, ſo,“ tadelte Robert. „So ſagſt du jetzt. Aber
neulich, als wir dich mit hatten, war auf einmal dein
weißes Zeug voller Kirſchenflecken und Grasflecken, und
den Hut hatteſt du überhaupt verloren. Weißt du noch?“
Pierre wurde kühl. Er ſchloß die Augen bis auf einen
kleinen Schlitz und ſtarrte durch ſeine langhaarigen
Wimpern.
„Für das hat mich meine Mama damals fo geſchol⸗
ten,“ ſagte er langſam, „und ich glaube nicht, daß ſie
dir Auftrag gegeben hat, es mir wieder vorzuhalten und
mich damit zu quälen.“
Robert lenkte ſchon ein.
„Alſo du möchteſt immer weiße Kleider anhaben und
ſie gar nie ſchmutzig machen?“
„Doch, manchmal ſchon. Du verſtehſt mich gar nicht!
Natürlich möchte ich manchmal im Gras herumliegen,
oder im Heu, oder über die Pfützen wegſpringen oder
auf einen Aſt klettern. Das iſt doch klar. Aber wenn ich
einmal wild geweſen bin und ein bißchen getobt habe,
dann möchte ich nicht geſcholten werden. Ich möchte
dann bloß ganz ſtill in mein Zimmer gehen und reine,
friſche Kleider anlegen, und dann wäre es wieder gut. —
Weißt du, Robert, ich glaube wirklich, das Schelten hat
gar keinen Wert.“
„Das könnte dir paſſen, gelt? Warum denn?“
„Ja, ſieh: wenn man etwas getan hat, was nicht
recht iſt, dann weiß man es gleich nachher doch ſelber
und ſchämt ſich. Wenn ich geſcholten werde, ſchäme ich
mich viel weniger. Und manchmal wird man doch auch
geſcholten, wenn man gar nichts Schlimmes getan hat,
bloß weil man nicht gleich da war, wenn jemand rief,
oder weil Mama gerade ärgerlich iſt.“
„Du mußt es ineinander rechnen, mein Junge,“ lachte
Robert, „dafür tuſt du gewiß nicht wenig Schlimmes,
was niemand ſieht und wofür niemand dich ſchilt.“
Pierre gab keine Antwort. Es war immer dasſelbe.
Wenn man ſich einmal hinreißen ließ, mit einem Er—
wachſenen über etwas zu reden, was einem wirklich
wichtig war, dann endete es immer mit einer Ent—
täuſchung oder gar mit einer Demütigung.
„Ich möchte das Bild noch einmal ſehen,“ ſagte er in
einem Ton, der ihn plötzlich von dem Diener weit ent—
fernte und den Robert ebenſowohl für herriſch wie für
or
bittend halten konnte. „Gelt, laß mich noch einen Augen—
blick hinein.“
Robert gehorchte. Er ſchloß die Ateliertür auf, ließ
Pierre eintreten und kam ſelber mit, denn es war ihm
ſtreng verboten, irgend jemand allein hier drinnen zu
laſſen.
Auf der Staffelei in der Mitte des großen Raumes
ſtand ins Licht gerückt und in einen proviſoriſchen Gold⸗
rahmen gepaßt das neue Bild Veraguths. Pierre ſtellte
ſich davor auf. Robert blieb hinter ihm ſtehen.
„Gefällt es dir, Robert?“
„Natürlich gefällt's mir. Da müßte ich ja ein Narr
fein!“
Pierre blinzelte das Bild an.
„Ich glaube,“ ſagte er nachdenklich, „man könnte
mir viele Bilder zeigen und ich würde es gleich heraus⸗
kennen, wenn eins vom Papa dabei wäre. Darum habe
ich die Bilder gern, ich fpiire, daß Papa fie gemacht hat.
Aber eigentlich gefallen ſie mir nur halb.“
„Red' keine dummen Sachen!“ mahnte Robert ganz
erſchrocken und ſah den Knaben vorwurfsvoll an, der
jedoch unbewegt mit zwinkernden Augen vor dem Bilde
ſteben blieb.
„Schau,“ ſagte er, „im Hauſe drüben ſind ein paar
alte Bilder, die gefallen mir viel beſſer. Solche Bilder
will ich ſpäter einmal haben. Zum Beiſpiel Berge,
wenn die Sonne untergeht, und alles iſt ganz rot und
3 Heſſe, Roßhalde
goldig, und hübſche Kinder und Frauen und Blumen.
Das iſt doch eigentlich viel netter als ſo ein alter Fiſcher,
der nicht einmal ein rechtes Geſicht hat, und ſo ein
ſchwarzes, langweiliges Boot, nicht?“
Robert war in ſeinem Innern durchaus derſelben
Meinung und wunderte ſich über den Freimut des Kna—
ben, der ihn eigentlich freute. Er gab das aber nicht zu.
„Das verſtehſt du noch nicht recht,“ ſagte er kurz.
„Komm jetzt, ich muß wieder abſchließen.“
In dieſem Augenblick drang ein plötzliches puſtendes
und knirſchendes Geräuſch vom Hauſe herüber.
„Oh, ein Automobil!“ rief Pierre freudig und lief hin:
aus, unter den Kaſtanien durch in lauter verbotenen
Abkürzungen quer über die Raſenplätze und mit Sprün⸗
gen über die Blumenrabatten hinweg. Atemlos kam er
auf dem Kiesplatz vor dem Hauſe an und eben noch
recht, um aus dem Wagen ſeinen Vater und einen frem—
den Herrn ſteigen zu ſehen.
„Hallo, Pierre,“ rief Papa und fing ihn in den Armen
auf. „Da iſt ein Onkel angekommen, den du nimmer
kennſt. Gib ihm die Hand und frag' ihn, wo er bers
kommt.“
Der Knabe faßte den Fremden feſt ins Auge. Er gab
dem Manne die Hand und ſah in ein rotbraunes Geſicht
und in helle, vergnügte, graue Augen.
„Wo kommſt du her, Onkel?“ fragte er gehorſam.
Der Fremde nahm ihn auf die Arme.
2
„Junge, du biſt mir zu ſchwer geworden,“ rief er
munter ſeufzend und ließ ihn wieder los. „Wo ich her—
komme? Von Genua, und vorher von Suez, und vor—
her von Aden, und vorher von — — —“
„Oh, von Indien, ich weiß, ich weiß! Und du biſt der
Onkel Otto Burkhardt. Haſt du mir einen Tiger mit—
gebracht, oder Kokosnüſſe?“
„Der Tiger iſt mir wieder davongelaufen, aber Ko—
kosnüſſe kannſt du haben, und auch Muſcheln und
chineſiſche Bilderbogen.“
Sie gingen durch die Haustüre, und Veraguth führte
ſeinen Freund die Treppe hinauf. Er legte ihm, der
ein gutes Stück größer war als er, zärtlich eine Hand
auf die Schulter. Oben im Korridor kam ihnen die
Hausfrau entgegen. Auch fie begrüßte den Gaſt, deſſen
frohes, geſundes Geſicht ſie an unwiederbringliche freu—
dige Zeiten in vergangenen Jahren erinnerte, mit einer
gemeſſenen, doch aufrichtigen Herzlichkeit. Er behielt
ihre Hand einen Augenblick in der ſeinen und ſah ihr
ins Geſicht.
„Sie ſind nicht älter geworden, Frau Veraguth,“
rief er lobend, „Sie haben ſich beſſer gehalten als
Johann.“
„Und Sie ſind ganz unverändert,“ ſagte ſie freundlich.
Er lachte.
„O ja, die Faſſade iſt immer noch blühend, aber das
Tanzen habe ich ſo allmählich doch aufgegeben. Es hat
3 *
— 36 —
ohnehin zu nichts geführt, id) bin immer noch Sung:
geſelle.“
„Ich hoffe, Sie find diesmal zur Brautſchau herüber—
gekommen.“
„Nein, gnädige Frau, das iſt nun einmal verpaßt.
Ich mag mir das hübſche Europa auch nicht verderben.
Sie wiſſen, ich habe Verwandte und entwickle mich all:
mählich zum Erbonkel. Mit einer Frau dürfte ich mich
in der Heimat gar nimmer ſehen laſſen.“
In Frau Veraguths Zimmer war Kaffee ſerviert.
Man trank Kaffee und Likör und plauderte eine Stunde,
von der Seereiſe, von Gummipflanzungen, über chine-
ſiſches Porzellan. Der Maler war anfangs ſtill und
etwas bedrückt, er hatte dies Zimmer ſeit Monaten
nicht mehr betreten. Aber es ging alles gut, und mit
Ottos Gegenwart ſchien eine leichte, frohere, kindlichere
Atmoſphäre in das Haus gekommen zu ſein.
„Ich glaube, jetzt möchte meine Frau gerne ein biß—
chen ruhen,“ ſagte der Maler ſchließlich. „Ich will dir
deine Zimmer zeigen, Otto.“
Sie verabſchiedeten ſich und gingen nach den Gaſt—
zimmern. Veraguth hatte zwei Stuben für ſeinen
Freund hergerichtet und ihre ganze Einrichtung ſelber
beſorgt, die Möbel geſtellt und an alles gedacht, von
den Bildern an der Wand bis zur Auswahl der Bücher
im Schaft. Uberm Bett hing eine alte, bleichgewordene
Photographie, ein drollig rührendes Inſtitutsbild aus
— 97
den ſiebziger Jahren. Das fiel dem Gaſt ins Auge, und
er trat naher, um es zu betrachten.
„Herrgott,“ rief er überraſcht, „das ſind ja wir, alle
ſechzehn von damals! Junge, du biſt ruͤhrend. Ich habe
das Ding ſeit zwanzig Jahren nimmer geſehen.“
Veraguth lächelte.
„Ja, ich dachte, es würde dir Spaß machen. Hoffent-
lich findeſt du alles, was du brauchſt. Willſt du gleich
auspacken?“
Burkhardt ſetzte ſich breit auf einen mächtigen, mit
Kupferecken beſchlagenen Schiffskoffer und blickte zu:
frieden um ſich.
„Fein iſt's hier. Und wo biſt du zu Haus? Nebenan?
Ober oben?“
Der Maler ſpielte mit dem Griff einer Ledertaſche.
„Nein,“ ſagte er leichthin. „Ich wohne jetzt drüben,
beim Atelier. Ich habe angebaut.“
„Das mußt du mir nachher zeigen. Aber — — ſchläfſt
du auch drüben?“
Veraguth ließ die Taſche ſtehen und drehte fic) um.
„Ja, ich ſchlafe auch drüben.“
Sein Freund ſchwieg und beſann ſich. Dann griff er
in die Taſche und zog einen dicken Schlüſſelbund hervor,
mit dem er zu raſſeln anfing.
„Du, wir wollen mal ein bißchen auspacken, nicht?
Du könnteſt gehen und den Jungen holen, es wird ihm
Spaß machen.“
Veraguth lief alsbald hinaus und kam bald mit Pierre
wieder.
„Du haſt ſchöne Koffer, Onkel Otto, ich habe ſie ſchon
angeſehen. Und ſoviel Zettel drauf. Ich habe ein paar
davon geleſen. Auf einem ſteht Penang. Was heißt
das: Penang?“
„Das iſt eine Stadt in Hinterindien, wo ich manch—
mal hinkomme. Paß mal auf, jetzt darfſt du hier auf—
machen.“
Er gab dem Kinde einen flachen, vielzackigen Schlüſſel
und ließ ihn die Schlöſſer eines Koffers öffnen. Dann
ward der Deckel aufgeklappt, und gleich das erſte, was
obenauf lag und in die Augen ſtach, war ein umgekehr—
ter, flacher Korb von bunter, malaiiſcher Flechtarbeit,
der wurde umgedreht und von Papieren befreit, und
innen lagen zwiſchen Papieren und Lappen die ſchönſten
phantaſtiſchen Muſcheln, wie man ſie in exotiſchen Ha-
fenſtädten zu kaufen bekommt.
Pierre bekam die Muſcheln geſchenkt und wurde ganz
ſtill vor Glück, und den Muſcheln folgte ein großer
ebenhölzerner Elefant und ein chineſiſches Spielzeug mit
beweglichen grotesken Holzfiguren und ſchließlich eine
Rolle greller leuchtender chineſiſcher Bilderbogen, voll
von Göttern, Teufeln, Königen, Kriegern und Drachen.
Während der Maler dem Knaben dieſe Dinge be—
ſtaunen half, packte Burkhardt die Ledertaſche aus und
verteilte Nachtſchuhe, Wäſche, Bürſten und dergleichen
Se
Dinge im Schlafzimmer. Dann kehrte er zu den beiden
zurück.
„So,“ ſagte er ermunternd, „genug gearbeitet für
heute. Nun das Vergnügen. Können wir jetzt einmal
ins Atelier gehen?“
Pierre blickte empor, und wieder, wie bei der An—
kunft des Wagens, betrachtete er mit Verwunderung
das bewegte und freudig verjüngte Geſicht ſeines
Vaters.
„Du biſt ſo luſtig, Papa,“ ſagte er anerkennend.
„Jawohl,“ nickte Veraguth.
Aber ſein Freund fragte: „Iſt er denn ſonſt nicht ſo
luſtig?“
Pierre blickte verlegen von einem zum anderen.
„Ich weiß nicht,“ meinte er zögernd. Dann aber
lachte er wieder und ſagte beſtimmt: „Nein, ſo vergnügt
biſt du noch gar nie geweſen.“
Er lief mit dem Muſchelkorb davon. Otto Burkhardt
nahm ſeines Freundes Arm und ging mit ihm ins Freie.
Er ließ ſich durch den Park und ſchließlich zum Atelier—
haus führen.
„Ja, da iſt angebaut worden,“ ſtellte er alsbald feſt,
„ſieht übrigens recht hübſch aus. Wann haſt du das
machen laſſen?“
„Vor drei Jahren etwa, glaube ich. Das Atelier ſelbſt
iſt auch größer geworden.“
Burkhardt ſah ſich um.
— 40 —
„Der See iſt unbezahlbar! Da wollen wir am Abend
ein wenig ſchwimmen. Du haſt es ſchoͤn hier, Johann.
Aber jetzt muß ich das Atelier ſehen. Haſt du neue Bilder
da?“
„Nicht viele. Aber eines, ich bin vorgeſtern erſt damit
fertig geworden, das mußt du anſehen. Ich glaube, das
iſt gut.“
Veraguth ſchloß die Türen auf. Der hohe Arbeits⸗
raum war feſtlich ſauber, der Boden friſch geſcheuert
und alles aufgeräumt. In der Mitte ſtand einſam das
neue Bild. Sie blieben ſchweigend davor ſtehen. Die
feuchtkalte, zähe Atmoſphäre der trüben, regneriſchen
Morgenfrühe ſtand im Widerſpruch mit dem klaren
Licht und der heißen durchſonnten Luft, die durch die
Türen hereinfloß.
Lange betrachteten ſie das Werk.
„Das iſt das letzte, was du gemacht haſt?“
„Ja. Es muß ein anderer Rahmen darum, ſonſt iſt
nichts mehr dran zu tun. Gefällt es dir?“
Die Freunde ſahen einander prüfend in die Augen.
Der größere und ſtärkere Burkhardt mit dem geſunden
Geſicht und den warmen, lebens frohen Augen ſtand wie
ein großes Kind vor dem Maler, deſſen Blick und Ge—
ſicht ſcharf und ſtreng aus den vorzeitig ergrauenden
Haaren ſah.
„Das ift vielleicht dein beſtes Bild,“ ſagte der Gaſt
langſam. Ich habe auch die in Bruͤſſel geſehen und die
— 41 —
zwei in Paris. Ich hatte es nicht gedacht, aber du biſt in
den paar Jahren noch vorwärts gekommen.“
„Das freut mich. Ich glaube es auch. Ich bin ziem—
lich fleißig geweſen, und manchmal meine ich, ich ſei
früher eigentlich nur ein Dilettant geweſen. Ich habe
erſt {pat richtig arbeiten gelernt, aber jetzt bin ich drüber
Herr geworden. Weiter geht es nun wohl auch nicht.
Beſſeres als das hier kann ich nicht machen.“
„Ich verſtehe. Na, du biſt ja auch reichlich berühmt
geworden, ſogar auf unſeren alten Oſtaſiendampfern
habe ich von dir ſprechen hören und bin ganz ſtolz
geworden. Wie ſchmeckt es denn nun, das Berühmt—
ſein? Freut es dich?“
„Freuen, das will ich nicht ſagen. Ich finde es in
Ordnung. Es leben zwei, drei, vier Maler, die vielleicht
mehr ſind und mehr geben können als ich. Zu den ganz
Großen habe ich mich nie gerechnet, und was die Litera⸗
ten darüber ſagen, iſt natürlich Blech. Ich kann ver-
langen, daß man mich ernſt nimmt, und da man das
tut, bin ich zufrieden. Alles andere iſt Zeitungsruhm
oder Geldfrage.“
„Na ja. Aber wie meinſt du das mit den ganz
Großen?“
„Ja, damit meine ich die Könige und Fürſten. Unſer—
einer bringt es zum General oder Miniſter, dann iſt er
an der Grenze. Siehſt du, wir können nichts tun als
fleißig ſein und die Natur ſo ernſt nehmen, als irgend
— 42 ——
möglich iſt. Die Könige aber, die ſind Brüder und Ka—
meraden der Natur, ſie ſpielen mit ihr und können ſelber
erſchaffen, wo wir nur nachbilden. Aber freilich, die
Könige ſind rar, es kommt nicht alle hundert Jahre
einer.“
Sie gingen im Atelier auf und ab. Der Maler, nach
den Worten ſuchend, blickte angeſtrengt zu Boden, der
Freund ging nebenher und ſuchte in dem bräunlich
mageren ſtarkknochigen Geſicht Johanns zu leſen.
Bei der Tür zum Nebenraum blieb Otto ſtehen.
„Mach' doch hier einmal auf“, bat er, „und laß mich
die Zimmer ſehen. Und gib mir eine Zigarre, gelt?“
Veraguth öffnete die Tür. Sie gingen durch das
Zimmer und blickten in die Nebenräume. Burkhardt
zündete ſich eine Zigarre an. Er trat in das kleine Schlaf
zimmer des Freundes, er ſah ſein Bett und betrachtete
aufmerkſam die paar beſcheidenen Räume, in welchen
überall Malergeräte und Rauchzeug umherlag. Das
Ganze war faſt dürftig anzuſehen und ſprach von Arbeit
und Askeſe wie etwa die kleine Wohnung eines armen,
fleißigen Junggeſellen.
„Alſo da haſt du dich eingerichtet!“ ſagte er trocken.
Aber er ſah und fühlte alles, was hier in Jahren vor ſich
gegangen war. Er bemerkte mit Genugtuung die Ge—
genſtände, die auf Sport, Turnen, Reiten hinwieſen,
und er vermißte bekümmert alle Zeichen von Behagen,
kleinem Komfort und genießeriſcher Mußezeit.
— 4 —
Dann kehrten fie zu dem Bilde zurück. Alſo fo ent:
ſtanden dieſe Bilder, die überall an den Ehrenplãtzen der
Ausſtellungen und Galerien hingen und die man mit
ſchwerem Gold bezahlte; hier entſtanden ſie in Räu—
men, die nur Arbeit und Entſagung kannten, wo nichts
Feſtliches, nichts Unnützes, kein lieber Tand und Klein—
kram, kein Duft von Wein und Blumen, keine Erinne—
rung an Frauen zu finden war.
Über dem ſchmalen Bett hingen ungerahmt zwei
Photographien angenagelt, ein Bild des kleinen Pierre
und eines von Otto Burkhardt. Er hatte es wohl be—
merkt, es war eine ſchlechte Liebhaberaufnahme, ſie zeigte
ihn im Tropenhelm mit der Veranda ſeines indiſchen
Hauſes hinter ſich, und unterhalb der Bruſt floß das
Bild ganz in myſtiſche weiße Streifen auseinander, weil
Licht auf die Platte gekommen war.
„Das Atelier iſt ſchön geworden. Überhaupt, wie du
fleißig geworden biſt! Gib deine Hand her, Junge, es
iſt fein, dich wiederzuſehen! Aber jetzt bin ich mud und
verſchwinde für eine Stunde. Willſt du mich ſpäter ab—
holen, zum Baden oder Spazierengehen? Gut, danke.
Nein, ich brauche gar nichts, in einer Stunde bin ich
wieder all right. Auf Wiederſehen!“
Er ſchlenderte bequem unter den Bäumen hinweg,
und Veraguth ſah ihm nach, wie ſeine Geſtalt und ſein
Gang und jede Falte ſeiner Kleidung Sicherheit und
ruhige Lebensfreude verkündete.
—— 44 ——
Indeſſen ging Burkhardt zwar ins Haus hinüber,
ſchritt aber an ſeinen Zimmern vorbei zur Treppe, ſtieg
hinauf und klopfte bei Frau Veraguth an.
„Störe ich, oder darf ich ein bißchen Geſellſchaft
leiſten?“
Sie ließ ihn ein und lächelte, und er fand das kurze,
ungeübte Lächeln auf dem kräftigen, ſchweren Geſicht
ſonderbar hilflos.
„Es iſt herrlich hier auf Roßhalde. Ich war ſchon im
Park und am See drüben. Und wie Pierre gediehen iſt!
Der hübſche Kerl könnte mir beinah mein Junggeſellen—
tum verleiden.“
„Nicht wahr, er ſieht gut aus? Finden Sie, er gleiche
meinem Mann?“
„Ein wenig, ja. Oder eigentlich mehr als nur ein we—
nig. Ich habe Johann in dieſem Alter noch nicht ge—
kannt, aber ich weiß noch ziemlich gut, wie er mit elf,
zwölf Jahren ausgeſehen hat. — Er ſcheint übrigens
ein wenig überanſtrengt. Wie? Nein, ich ſpreche von
Johann. Hat er in der letzten Zeit ſehr viel gearbeitet?“
Frau Adele ſah ihm ins Geſicht; ſie fühlte, daß er ſie
aus forſchen wolle.
„Ich glaube wohl,“ ſagte ſie ruhig. „Er ſpricht ſehr
ſelten von ſeiner Arbeit.“
„Was malt er denn jetzt? Landſchaften?“
„Er arbeitet oft im Park, meiſtens mit Modellen.
Haben Sie Bilder von ihm geſehen?
„Ja, die in Brüſſel.“
„Hat er in Brüſſel ausgeſtellt?“
„Gewiß, eine ganze Menge Bilder. Ich habe den
Katalog mitgebracht. Ich möchte nämlich eines davon
kaufen und hätte gerne von Ihnen gehört, was Sie da—
von halten.“
Er bot ihr ein Heft hin und deutete auf die kleine Re-
produktion eines Bildes. Sie betrachtete das Bildchen,
blãtterte in dem Büchlein und gab es ihm zurück.
„Sie müſſen ſich ſelber helfen, Herr Burkhardt, ich
kenne das Bild nicht. Ich glaube, er hat es im vergange⸗
nen Herbſt in den Pyrenäen gemalt und gar nie hier
gehabt.“
Sie machte eine Pauſe und fuhr ablenkend fort:
„Sie haben Pierre beſchenkt, das war lieb. Ich danke
Ihnen.“
„Oh, es find Kleinigkeiten. Aber Sie müſſen mir er-
lauben, auch Ihnen etwas Aſiatiſches als Andenken zu
geben. Wollen Sie das? Ich habe ein paar Stoffe mif-
gebracht, die ich Ihnen zeigen möchte, und Sie müſſen
ſich davon ausſuchen, was Ihnen gefällt.“
Es gelang ihm, aus ihrem höflichen Sperren einen
kleinen ſcherzhaft galanten Wortkrieg zu entfachen und
die verſchloſſene Frau in gute Stimmung zu bringen.
Er brachte einen Arm voll indiſcher Gewebe aus ſeiner
Schatzkammer herauf, er breitete malaiiſche Batik—
ſtoffe und handgewobene Stücke aus, legte Spitzen und
— 46 —
Seide über die Stuhllehnen, plauderte und erzählte, wo
er dies und jenes geſehen und erfeilſcht habe, faſt für
nichts, und entfaltete einen luſtigen, bunten kleinen Ba⸗
ſar. Er bat um ihr Urteil, hing ihr Spitzen über die
Hände, erklärte ihre Machart und nötigte ſie, die ſchön—
ſten Stücke auszubreiten, zu betrachten, zu betaſten, zu
loben und ſchließlich zu behalten.
„Nein,“ rief ſie am Ende lachend, „ich mache Sie ja
zum Bettler. Das kann ich unmöglich alles behalten.“
„Keine Sorge,“ lachte er dagegen. „Ich habe vor
kurzem wieder ſechstauſend Gummibäume gepflanzt
und bin im Begriff, ein rechter Nabob zu werden.“
Als Veraguth ihn abzuholen kam, fand er beide plau-
dernd in voller Fröhlichkeit. Verwundert ſah er, wie ſeine
Frau geſprächig geworden war, ſuchte vergebens mit
ins Geplauder zu kommen und ging etwas ſchwerfällig
daran, nun auch die Geſchenke zu bewundern.
„Laß nur, das ſind Damenſachen,“ rief der Freund
ihm zu, „wir wollen jetzt baden gehen!“
Er zog ihn hinaus und ins Freie.
„Deine Frau iſt wirklich kaum älter geworden, ſeit ich
ſie zum letztenmal ſah,“ fing Otto unterwegs an. „Eben
war ſie mächtig vergnügt. Soweit iſt ja alſo bei euch
alles in Ordnung. Fehlt noch der große Sohn. Was
macht denn der?“
Der Maler zuckte die Achſeln und zog die Brauen zu—
ſammen.
„Du wirſt ihn ſehen, er kommt diefer Tage. Ich ſchrieb
dir ja einmal darüber.“
Und plötzlich blieb er ſtehen, beugte ſich gegen den
Freund vor, ſah ihm ſcharf in die Augen und ſagte leiſe:
„Du wirſt alles ſehen, Otto. Ich habe nicht das Be—
duͤrfnis, darüber zu reden. Du wirſt ſehen. — Wir wol⸗
len vergnügt ſein, ſolang du da biſt, Alter! Und jetzt ge—
hen wir an den Weiher; ich will wieder einmal mit dir
wettſchwimmen wie in der Knabenzeit.“
„Das wollen wir,“ nickte Burkhardt, der Johanns
Nervoſität nicht zu bemerken ſchien. „Und du wirſt ge-
winnen, mein Lieber, was dir früher nicht immer gelang.
Es iſt ein Jammer, aber ich habe tatſächlich einen Bauch
angeſetzt.“
Es war Abend geworden. Der See lag ganz im Schat—
ten, oben in den Baumkronen ſpielte ein ſchwacher Wind,
und über die ſchmale blaue Himmelsinſel, die der Park
überm Waſſer frei ließ, flogen leichte lilafarbene Wol-
ken, alle von derſelben Art und Form, in geſchwiſterlicher
Reihe, dünn und langgeſtreckt wie Weidenblätter. Die
beiden Männer ſtanden vor der im Gebüſch verborge—
nen Badehütte, deren Schloß nicht aufgehen wollte.
„Laſſen wir's!“ rief Veraguth. „Das Zeug iſt verro—
ſtet, wir brauchen die Hütte nie.“
Er begann ſich zu entkleiden, Burkhardt folgte dem
Beiſpiel. Als fie ſchwimmbereit am Ufer ſtanden und die
Zehen prüfend in das ſtille, ſchattige Waſſer ſteckten, kam
— 48 —
im ſelben Augenblick über beide Männer ein verwehter
ſüßer Glückshauch aus den fernen Knabenzeiten her, fie
blieben minutenlang im Vorgefühl des leichten, holden
Badeſchauders ſtehen, und in ihren Seelen tat ſich ſachte
das grüne helle Tal der Jugendſommerzeiten auf, daß
ſie ſchwiegen und, der ſanften Regung ungewohnt, mit
halber Verlegenheit die Füße ins Waſſer tauchten und
der raſch aufblinkenden Flucht von Halbkreiſen auf dem
braungrünen Spiegel zuſahen.
Nun tat Burkhardt einen raſchen Schritt ins Waſſer.
„Ah, das iſt gut,“ ſeufzte er wohlig auf. „Übrigens
können wirbeide uns immer noch ſehen laſſen, und wenn
ich meinen Bauch abrechne, ſind wir noch zwei recht
ſtramme Burſchen.“ :
Er ruderte mit flachen Händen, ſchüttelte ſich und
tauchte unter.
„Du weißt nicht, wie gut du es haſt!“ rief er neidiſch.
„Durch meine Pflanzung draußen läuft der ſchönſte
Fluß, und ſtreckſt du das Bein hinein, ſo ſiehſt du es nicht
wieder. Er iſt voll von den verfluchten Krokodilen. Vor⸗
wärts jetzt, um den großen Becher von Roßhalde! Wir
ſchwimmen bis zur Treppe da unten und wieder zurück.
Biſt du ſoweit? Alſo: eins — zwei - drei!“
Rauſchend ſtießen fie ab, beide mit lachenden Geſichtern
und in mäßigem Tempo, aber der Hauch vom Jugend—
garten war noch über ihnen, fie begannen alsbald ernſtlich
zu wetteifern, die Geſichter ſpannten ſich, die Augen blitz—
fen, und die geſchwungenen Arme glänzten mit weiten
Wurfbewegungen aus dem Waſſer. Sie waren gleichzei—
tig bei der Treppe, ſtießen gleichzeitig wieder ab und ſtreb⸗
ten denſelben Weg zurück, und nun warf ſich der Maler
in heftigen Schwüngen vorwärts, gewann Vorſprung
und war eine kleine Weile vor dem anderen am Ziel.
Stark atmend hielten ſie ſtehend im Waſſer, rieben ſich
die Augen aus und lachten einer den anderen in ſchwei—
gendem Vergnügen an, und es ſchien beiden, erſt jetzt
feien fie wieder die alten Kameraden und erſt jetzt be-
ginne die kleine, fatale Kluft von Ungewohntheit und
Fremdheit zwiſchen ihnen zu verſchwinden.
Wieder angekleidet, ſaßen ſie mit friſchen Geſichtern
und erleichtertem Gefühl nebeneinander auf den flachen
Steinſtufen der Seetreppe. Sie blickten über den dunkeln
Waſſerſpiegel, der ſich jenſeits in der buſchüberhangenen
ovalen Bucht ſchon in ſchwärzlich braune Dämmerung
verlor, ſie naſchten feiſte hellrote Kirſchen, die ſie dem
Diener noch in der braunen Papierhülle abgenommen
hatten, und ſie ſahen mit befreiten Herzen dem heran—
kommenden Abend zu, bis die tiefſtehende Sonne wag—
recht zwiſchen den Stämmen hindurch hereinſchien und
auf den gläſernen Flügeln der Libellen goldene Feuer
entzündete. Und ſie plauderten ohne Pauſe und ohne
Beſinnen eine gute Stunde lang von der Inſtitutszeit,
von den Lehrern und den damaligen Mitſchülern und
was aus dem und jenem geworden ſei.
4 Heſſe, Roßhalde
„Mein Gott,“ ſagte Otto Burkhardt mit feiner fried:
lich friſchen Stimme, „es iſt lange her. Weiß man denn
nicht, was aus der Meta Heilemann geworden iſt?“
„Ja, die Meta Heilemann!“ fiel Veraguth begierig
ein. „Sie war wirklich ein ſchönes Mädel. Alle meine
Schreibunterlagen waren voll von ihren Porträts, die
ich während der Schulſtunden heimlich auf die Fließblät⸗
ter zeichnete. Das Haar iſt mir nie recht geglückt. Weißt
du noch, ſie trug es in zwei dicken Schnecken über den
Ohren.“
„Weißt du nichts von ihr?“
„Nichts. Als ich das erſtemal von Paris zurückkam,
war ſie mit einem Rechtsanwalt verlobt. Ich traf ſie mit
ihrem Bruder auf der Straße, und ich weiß noch, wie ich
über mich ſelber wütend war, weil ich ſofort rot wurde
und mir trotz dem Schnurrbart und der Pariſer Abge—
brühtheit wieder wie ein dummer kleiner Schulbub vor⸗
kam. Nur daß fie Meta hieß! Ich konnte den Namen
nicht ausſtehen!“
Burkhardt wiegte träumeriſch den runden Kopf.
„Du warſt nicht verliebt genug, Johann. Für mich
war Meta herrlich, meinetwegen hätte ſie Eulalia hei—
ßen können, ich wäre doch für einen Blick von ihr durchs
Feuer gegangen.“
„Oh, auch ich war verliebt genug. Einmal, als ich von
unſerem Fünfuhrausgang heimkam- ich hatte mich ab—
ſichtlich verſpätet, ich war allein und dachte an nichts in
der Welt als an Meta, und es war mir vollkommen
gleichgültig, daß ich beim Zurückkommen beſtraft wer:
den würde =, da kam fie mir entgegen, dort bei der run:
den Mauer. Sie hatte eine Freundin am Arm, und da
ich fo plötzlich mir vorſtellen mußte, wie es ware, wenn
ſtatt dem blöden Ding ich ihren Arm in meinem und ſie
ſo nahe an mir hätte, da wurde ich ſo ſchwindlig und
verwirrt, daß ich eine Weile ſtehen blieb und mich an die
Mauer lehnte, und als ich ſchließlich heimkam, war rich:
tig das Tor ſchon geſchloſſen, ich mußte läuten und be⸗
kam eine Stunde Arreſt.“
Burkhardt lächelte und dachte daran, wie ſie beide
ſchon mehrmals bei ihren ſeltenen Zuſammenkünften
ſich jener Meta erinnert hatten. Damals in der Jüng⸗
lingszeit hatte einer dem andern ſeine Liebe mit Liſt und
Sorgfalt verſchwiegen, und erſt nach Jahren, als Män⸗
ner, hatten ſie gelegentlich den Schleier gelüftet und ihre
kleinen Erlebniſſe ausgetauſcht. Und doch gab es heute
noch in dieſer Sache Geheimniſſe. Otto Burkhardt mußte
eben jetzt daran denken, daß er damals monatelang
einen Handſchuh von Meta beſeſſen und verehrt, den er
gefunden oder eigentlich geſtohlen hatte und von dem
ſein Freund bis heute nicht wußte. Er überlegte, ob er
nun auch dieſe Geſchichte preisgeben ſolle, und ſchließ—
lich lächelte er liſtig und ſchwieg und fand es hübſch,
dieſe kleine letzte Erinnerung auch weiterhin in ſich ver—
ſchloſſen zu halten.
4*
Drittes Kapitel
Burkhardt ſaß in einem gelben Korbſeſſel bequem zu—
rückgelehnt, den großen Panamahut auf dem Hinter—
kopf, eine Zeitſchrift in den Händen, rauchend und leſend
in der hell von der Sonne durchſchienenen Laube an der
Weſtſeite des Atelierhauſes, und nahe dabei hockte Ve⸗
raguth auf einem niedrigen Klappſtühlchen und hatte
die Staffelei vor ſich. Die Figur des Leſenden war auf:
gezeichnet, die großen Farbflecken ſtanden feſt, nun malte
er am Geſicht, und das ganze Bild frohlockte in hellen,
leichten, durchſonnten, doch maßvollen Tönen. Es roch
würzig nach Ölfarbe und Havannarauch, Vögel taten
verborgen im Laub ihre dünnen, mittäglich gedämpften
Schreie und ſangen ſchläfrig⸗träumeriſche Plaudertöne.
Am Boden kauerte Pierre mit einer großen Landkarte,
auf der ſein dünner Zeigefinger nachdenkliche Reiſen
betrieb.
„Nicht einſchlafen!“ ſchrie der Maler mahnend.
Burkhardt blinzelte ihn lächelnd an und ſchüttelte den
Kopf.
„Wo biſt du jetzt, Pierre?“ fragte er den Knaben.
„Warte, ich muß erſt leſen,“ gab Pierre eifrig Ant—
wort und buchſtabierte auf ſeiner Karte einen Namen
28
heraus. „In Lu — in Luz — Lug in Luzern. Da iſt ein
See oder ein Meer. Iſt der größer als unſer See, Onkel?“
„Viel größer! zwanzigmal größer! Du mußt einmal
hingehen.“
„O ja. Wenn ich ein Automobil habe, dann fahre ich
nach Wien und nach Luzern und an die Nordſee und
nach Indien, da wo dein Haus iſt. Biſt du dann auch zu
Hauſe?“
„Gewiß, Pierre. Ich bin immer zu Hauſe, wenn Gäſte
zu mir kommen. Dann gehen wir zu meinem Affen, der
heißt Pendek und hat keinen Schwanz, aber einen ſchnee—
weißen Backenbart, und dann nehmen wir Flinten und
fahren im Boot auf dem Fluß und ſchießen ein Krokodil.“
Pierre wiegte voll Vergnügen ſeinen ſchlanken Ober—
körper hin und her. Der Onkel aber erzählte weiter von
ſeiner Rodung im malaiiſchen Urwald, und er ſprach fo
hübſch und ſo lange, daß der Kleine ſchließlich müde
wurde und nimmer folgen konnte. Er ſtudierte zerſtreut
an ſeiner Karte weiter, fein Vater aber hörte deſto auf
merkſamer auf den eifrig plaudernden Freund, der in läſ—⸗
ſigem Behagen von Arbeit und Jagd, von Ausflügen
auf Pferden und in Booten, von hübſchen leichten Kuli—
dorfern aus Bambusrohr und von Affen, Reihern, Ad—
lern, Schmetterlingen berichtete und fein ftilles, welt—
fremdes, tropiſches Waldleben fo verführeriſch und heim-
lich auftat, daß es dem Maler ſchien, er ſähe durch einen
Spalt in ein reiches, farbenſchönes, feliges Paradiesland
hinein. Er hörte von ſtillen, großen Strömen im Urwald,
von baumhohen Farnwildniſſen und weiten wehenden
Ebenen voll von mannshohem Lalanggras, er hörte von
farbigen Abenden am Meeresufer, den Koralleninſeln
und blauen Vulkanen gegenüber, von wilden, raſenden
Regenſtürzen und flammenden Gewittern, von träume⸗
riſch beſchaulichem Hindämmern heißer Tage auf den
breiten, ſchattigen Veranden der weißen Pflanzerhäu⸗
ſer, vom Gewühl chineſiſcher Stadtſtraßen und von
abendlichen Ruheſtunden der Malaien am flachen, ſtei⸗
nernen Teich vor der Moſchee.
Wieder, wie früher ſchon manchesmal, erging fic) Ve⸗
raguths Phantaſie in der fernen Heimat ſeines Freun—
des, und er wußte nicht, wie ſehr die Verlockung und
ſtille Lüſternheit ſeiner Seele den verborgenen Abſichten
Burkhardts entgegenkam. Es war nicht allein der Schim⸗
mer tropiſcher Meere und Inſelküſten, der Reichtum der
Walder und Ströme, die Farbigkeit halbnackter Natur⸗
völker, die ihm Sehnſucht ſchuf und ihn mit Bildern be⸗
rückte. Es war noch mehr die Ferne und Stille einer
Welt, in der ſeine Leiden, Sorgen, Kämpfe und Entbeh—
rungen fremd und fern und blaß werden mußten, wo
hundert kleine tägliche Laſten von der Seele fallen und
eine neue, noch reine, ſchuldloſe, leidloſe Atmoſphäre ihn
aufnehmen würde.
Der Nachmittag verging, die Schatten wanderten.
Pierre war längſt weggelaufen, Burkhardt allmählich
a
ftill geworden und endlich eingenickt, das Bild aber war
nahezu fertig, und der Maler ſchloß eine Weile die ermü—
deten Augen, ließ die Hände ſinken und atmete minuten—
lang mit beinahe ſchmerzlicher Inbrunſt die tiefe ſonnige
Stille der Stunde, die Nähe des Freundes, die beruhigte
Ermüdung nach einer geglückten Arbeit und die Hinge—
nommenheit der erſchlafften Nerven. Das war, neben
dem Rauſch des Zugreifens und ſchonungsloſen Arbei—
tens, ſeit langem wohl ſein tiefſter und tröſtlichſter Ge—
nuß, dieſe milden Augenblicke müder Entſpannung, ähn⸗
lich den ruhevoll vegetativen Dämmerzuſtänden zwi—
ſchen Schlaf und Erwachen.
Er ſtand leiſe auf, um Burkhardt nicht zu wecken, und
trug die Leinwand vorſichtig in das Atelier. Dort legte
er den leinenen Malrock ab, wuſch die Hände und badete
die leicht überanſtrengten Augen in kaltem Waſſer. Eine
Viertelſtunde ſpäter ſtand er wieder draußen, blickte dem
ſchlummernden Gaſt einen Moment prüfend ins Geſicht
und weckte ihn dann durch den alten Pfiff, den ſie ſchon vor
fünfundzwanzig Jahren untereinander als Geheimſig—
nal und Erkennungszeichen eingeführt hatten.
„Falls du ausgeſchlafen haſt, Junge,“ bat er ermun:
ternd, „könnteſt du mir jetzt noch ein bißchen von drüben
erzählen, ich konnte während der Arbeit nur halb zuhö—
ren. Du ſagteſt auch etwas von Photographien; haſt du
die bei dir, und können wir ſie anſehen?“
„Gewiß können wir das, komm nur mit!“
258 —
Auf dieſe Stunde hatte Otto Burkhardt ſeit mehreren
Tagen gewartet. Es war ſeit vielen Jahren ſein Wunſch,
Veraguth einmal mit ſich nach Oſtaſien zu locken und
ihn eine Weile drüben bei ſich zu haben. Diesmal, da es
ihm die letzte Gelegenheit zu ſein ſchien, hatte er ſich mit
der durchdachteſten Planmäßigkeit darauf vorbereitet.
Als die beiden Männer in Burkhardts Zimmer beiſam—
men ſaßen und im abendlichen Licht über Indien plau—
derten, zog er immer neue Albums und Mappen mit
Photographien aus ſeinem Koffer. Der Maler war über
die Fülle entzückt und erſtaunt, Burkhardt blieb ruhig
und ſchien allen den Blättern keinen beſonderen Wert
beizulegen, und doch wartete er heimlich auf ihre Wir—
kung mit der heftigſten Spannung.
„Was für ſchöne Aufnahmen das ſind!“ rief Veraguth
in hellem Vergnügen. „Haſt du die alle ſelber gemacht?“
„Zum Teil, ja,“ ſagte Burkhardt trocken, „manche
ſind auch von meinen Bekannten draußen. Ich wollte
dir nur einmal eine Ahnung davon geben, wie es bei uns
etwa ausſieht.“
Er ſagte es obenhin und legte die Blätter gleichmütig
zu Stößen, und Veraguth konnte nicht ahnen, wie ſorg—
lich und mühſam er dieſe Sammlung zuſtande gebracht
hatte. Er hatte viele Wochen lang einen jungen engliſchen
Photographen aus Singapore und ſpäter einen Japa—
ner aus Bangkok bei ſich gehabt, und ſie hatten vom
Meer bis in die tiefſten Wälder hinein auf vielen Aus—
eo
flügen und kleinen Reiſen alles aufgeſucht und photo—
graphiert, was irgend ſchön und bemerkenswert ſchien,
ſchließlich waren die Bilder mit der äußerſten Sorgfalt
entwickelt und kopiert worden. Sie waren Burkhardts
Köder, und er ſah mit tiefer Erregung zu, wie fein Freund
anbiß und ſich feſtſog. Er zeigte Bilder von Häuſern,
Straßen, Dörfern, Tempeln, Bilder von fabelhaften
Batuhöhlen bei Kuala Lumpur und der wildſchönen,
brüchigen Kalk- und Marmorberge in der Gegend von
Ipoh, und als Veraguth zwiſchenein fragte, ob nicht
auch Aufnahmen von Eingeborenen dabei ſeien, kramte
er Bilder von Malaien, Chineſen, Tamilen, Arabern,
Javanern hervor, nackte athletiſche Hafenkuli, dürre alte
Fiſcher, Jäger, Bauern, Weber, Händler, ſchöne gold—
geſchmückte Weiber, dunkle nackte Kindergruppen, Fi—
ſcher mit Netzen, Sakeys mit Ohrringen, welche die Na—
ſenflöte ſpielten, und javaniſche Tänzerinnen in ſtar—
rendem Silberſchmuck. Er hatte Aufnahmen von allen
Palmenarten, von großblättrigen ſaftigen Piſangbäu—
men, von Urwaldwinkeln mit tauſendfältigem Schling—
gewächſe, von heiligen Tempelhainen und Schildkröten—
teichen, von Waſſerbüffeln in naſſen Reis feldern, von
zahmen Elefanten bei der Arbeit und von wilden, die im
Waſſer ſpielten und trompetende Rüſſel gen Himmel
ſtreckten.
Der Maler nahm Bild für Bild in die Hand. Viele
ſchob er nach einem kurzen Blick beiſeite, manche legte er
— 8 —
vergleichend nebeneinander, einzelne Figuren und Köpfe
betrachtete er ſcharf durch die hohle Hand. Er fragte bei
vielen Aufnahmen, um welche Tageszeit ſie gemacht
ſeien, er maß Schatten aus und verſank immer tiefer in
ein grübleriſches Anſchauen.
„Man könnte das alles malen,“ murmelte er einmal
abweſend vor ſich hin.
„Genug!“ rief er ſchließlich aufatmend. „Du mußt
mir noch eine Menge erzählen. Es iſt herrlich, dich hier
zu haben! Ich ſehe alles wieder ganz anders. Komm,
wir gehen noch eine Stunde ſpazieren, ich will dir etwas
Hübſches zeigen.“
Angeregt und von aller Müdigkeit befreit zog er Burks
hardt mit ſich und ſpazierte mit ihm eine Strecke auf der
Landſtraße feldeinwärts, heimkehrenden Heuwagen ent⸗
gegen. Er atmete den warmen ſatten Heugeruch mit
Wonne ein, dabei flog eine Erinnerung ihn an.
„Erinnerſt du dich“, fragte er lachend, „an den Som-
mer nach meinem erſten Akademieſemeſter, wie wir mit—
einander auf dem Lande waren? Da malte ich Heu,
nichts als lauter Heu, weißt du noch? Ich hatte mich
zwei Wochen lang abgemüht, ein paar Heuhaufen auf
einer Bergwieſe zu malen, und es ging und ging nicht,
ich brachte die Farbe nicht heraus, das ſtumpfe matte
Heugrau! Und als ich es ſchließlich doch hatte — es war
noch nicht übermäßig delikat, aber ich wußte nun, daß es
aus Rot und Grün gemiſcht fein mußte —, da war ich
—
fo froh, daß ich nichts mehr fab als lauter Heu. Ach, das
ift ſchön, fo ein erſtes Probieren und Suchen und Fin—
den!“
„Ich denke, man lernt nie aus,“ meinte Otto.
„Natürlich nicht. Aber die Sachen, die mich jetzt pla—
gen, die haben nichts mit der Technik zu tun. Weißt du,
feit ein paar Jahren paſſiert es mir immer häufiger, daß
ich bei irgendeinem Anblick plötzlich an meine Knaben⸗
zeit denken muß. Damals ſah alles anders aus, und et⸗
was davon möchte ich einmal malen können. Für ein
paar Minuten habe ich es manchmal wiedergefunden,
daß plötzlich alles den ſonderbaren Schimmer wieder
hat aber das reicht noch nicht. Wir haben ſo viele gute
Maler, feine, delikate Leute, die die Welt ſo malen, wie
ein kluger, feiner, beſcheidener alter Herr ſie ſieht. Aber
wir haben keinen, der fie malt, wie ein friſcher, herrſch—⸗
ſüchtiger, raſſiger Bub fie ſieht, oder die, die es fo verſu⸗
chen, ſind meiſtens ſchlechte Handwerker.“
Er riß in Gedanken verloren eine rötlich blaue Gta:
bioſe am Feldrande ab und ſtarrte ſie an.
„Langweilt es dich?“ fragte er plötzlich wie erwachend
und blickte mißtrauiſch herüber.
Otto lächelte ihm ſchweigend zu.
„Sieh,“ fuhr der Maler fort, „eins von den Bildern,
die ich noch malen möchte, iſt ein Strauß von Wieſen—
blumen. Du mußt wiſſen, meine Mutter konnte ſolche
Sträuße machen, wie ich keine mehr ſah, ſie war ein
1
Genie darin. Sie war wie ein Kind und ſang faſt immer,
ſie ging ganz leicht und hatte einen großen bräunlichen
Strohhut auf, ich ſehe ſie im Traum nie anders als ſo.
Einen ſolchen Feldblumenſtrauß möchte ich einmal ma—
len, wie ſie ſie gern hatte: Skabioſen und Schafgarbe
und kleine roſa Winden, dazwiſchen ein paar feine Grä—
ſer und eine grüne Haferähre geſteckt. Ich habe hundert
ſolche Sträuße heimgebracht, aber es iſt noch nicht der
rechte, es muß der ganze Duft drin ſein, und er muß ſein,
wie wenn fie ihn ſelber gemacht hätte. Die weißen Schaf—
garben gefielen ihr zum Beiſpiel nicht, ſie nahm nur die
feinen, ſeltenen, mit einem Anflug von Lila, und ſie
wählte einen halben Nachmittag zwiſchen tauſend Grä—
fern, ehe fie ſich für eins entſchied — — Ach, ich kann es
nicht ſagen, du verſtehſt das ja nicht.“
„Ich verſtehe ſchon,“ nickte Burkhardt.
„Ja, an dieſen Feldblumenſtrauß denke ich manch—
mal halbe Tage lang. Ich weiß genau, wie das Bild
werden müßte. Nicht dieſes wohlbekannte Stückchen
Natur, geſehen von einem guten Beobachter und ver—
ein facht von einem guten, ſchneidigen Maler, aber auch
nicht ſentimental und holdſelig wie von einem fogenann-
ten Heimatkünſtler. Es muß ganz naib fein, fo wie be—
gabte Kinder ſehen, unſtiliſiert und voller Einfachheit.
Das Nebelbild mit den Fiſchen, das im Atelier ſteht, iſt
gerade das Gegenteil davon — aber man muß beides
können . . . Ach, ich will noch viel malen, noch viel!“
1
Er bog in einen ſchmalen Wieſenweg ein, der leicht
bergan auf einen runden, ſanften Hügel führte.
„Jetzt paß auf!“ mahnte er eifrig und ſpähte wie ein
Sager vor ſich in die Luft. „Sobald wir oben find! Das
werde ich in dieſem Herbſt malen.“
Sie erreichten die Anhöhe. Jenſeits hielt ein laubiges
Gehölz, abendlich ſchräg durchlichtet, den Blick auf, der,
von der klaren Wieſen freiheit verwöhnt, nur langſam
ſich durch die Bäume fand. Ein Weg mündete unter
hohen Buchen, eine ſteinerne, bemooſte Bank darunter,
und, dem Wege folgend, fand das Auge einen Durchblick
offen, über die Bank hinweg durch eine dunkle Bahn von
Baumkronen tat ſich friſch und leuchtend eine tiefe Ferne
auf, ein Tal voll Gebüſch und Weidenwuchs, der ge—
krümmte Fluß blaugrün funkelnd, und ganz ferne ver:
lorene Hiigelziige weit bis in die Unendlichkeit.
Veraguth deutete hinab.
„Das werde ich malen, ſobald die Buchen anfangen,
farbig zu werden. Und auf die Bank ſetze ich Pierre in
den Schatten, ſo daß man an ſeinem Kopf vorbei in das
Tal dort hinunterſieht.“
Burkhardt ſchwieg und hörte ſeinem Freunde zu, im
Herzen voll Mitleid. Wie er mich anlügen will! dachte
er mit heimlichem Lächeln. Wie er von Plänen und Acbei-
ten ſpricht! Früher tat er das nie. Es ſah aus, als wolle
er ſorgfältig alles herzablen, woran er etwa noch Freude
hatte und was ihn noch mit dem Leben verſöhnte. Der
en MORE coe
Freund kannte ihn und kam ihm nicht entgegen. Er wußte,
es konnte nicht lange mehr dauern, bis Johann das in
Jahren Gehãufte von fic) werfen und ſich von einem un⸗
erträglich gewordenen Schweigen löſen würde. So ging
er abwartend mit ſcheinbarer Gelaſſenheit nebenher, im⸗
merhin traurig verwundert, daß auch ein ſo überlegener
Menſch im Unglück kindlich werde und mit verbunde⸗
nen Augen und Händen durch die Dornen wandle.
Als ſie nach Roßhalde zurückkamen und nach Pierre
fragten, hörten ſie, er ſei mit Frau Veraguth nach der
Stadt gefahren, um Herrn Albert abzuholen.
Viertes Kapitel
Albert Veraguth ging heftig im Klavierzimmer ſeiner
Mutter auf und ab. Er ſchien auf den erſten Blick dem
Vater ähnlich, weil er deſſen Augen hatte, glich aber
weit mehr der Mutter, die an den Flügel gelehnt ſtand
und ihm mit zärtlich aufmerkſamen Augen folgte. Als er
wieder an ihr vorüberkam, hielt fie ihn an den Schultern
feſt und wandte fein Geſicht zu ſich her. Uber ſeine breite,
bleiche Stirn hing ein Büſchel blonden Haares herein,
die Augen glühten in knabenhafter Erregung und der
hübſche volle Mund war zornig verzogen.
„Nein, Mama,“ rief er heftig und machte ſich aus
ihren Händen los, „du weißt, ich kann nicht zu ihm bins
über gehen. Das wäre eine ganz ſinnloſe Komödie. Er
weiß, daß ich ihn haſſe, und er ſelber haßt mich auch, du
magſt ſagen, was du willſt.“
„Haſſen!“ rief ſie mit leiſer Strenge. „Laß doch ſolche
Worte, die alles verzerren! Er iſt dein Vater, und es gab
eine Zeit, wo er dich ſehr lieb gehabt hat. Ich muß es dir
verbieten, ſo zu reden.“
Albert blieb ſtehen und ſah ſie funkelnd an.
„Du kannſt mir die Worte verbieten, gewiß, aber was
wird dadurch anders? Soll ich ihm denn etwa dankbar
ae
fein? Er hat dir dein Leben verdorben und mir meine
Heimat, er hat aus unſerer ſchönen, frohen, prächtigen
Roßhalde einen Ort voll Unbehagen und Widerwärtig—
keit gemacht. Ich bin hier aufgewachſen, Mutter, und es
gibt Zeiten, da träume ich jede Nacht von den alten Stu—
ben und Gängen hier, vom Garten und Stall und Tau—
benſchlag. Ich habe keine andere Heimat, die ich lieben
und von der ich träumen und nach der ich Heimweh haben
kann. Und nun muß ich an fremden Orten leben und
kann nicht einmal in den Ferien einen Freund hierher mit:
bringen, damit er nicht ſieht, was für ein Leben wir hier
führen! Und jeder, der mich kennenlernt und meinen Na⸗
men hört, ſtimmt ſogleich ein Loblied auf meinen be—
rühmten Vater an. Ach Mutter, ich wollte, wir hätten
lieber gar keinen Vater und keine Roßhalde und wären
arme Leute und du müßteſt nähen oder Stunden geben
und ich dir Geld verdienen helfen.“
Die Mutter ging ihm nach und nötigte ihn in einen
Seſſel, ſetzte ſich auf ſeine Knie und ſtrich ihm die ver—
ſchobenen Haare zurecht.
„So,“ ſagte ſie mit ihrer ruhigen tiefen Stimme, deren
Ton ihm Heimat und Hort bedeutete, „ſo, nun haſt du
mir ja alles geſagt. Es iſt manchmal ganz gut, ſich aus-
zuſprechen. Man muß die Dinge kennen, die man zu er⸗
tragen hat. Aber man muß das, was weh tut, nicht auf—
wühlen, mein Kind. Du biſt jetzt ſchon ſo groß wie ich
und biſt bald ein Mann, und darauf freue ich mich. Du
— 63 —
biſt mein Kind und ſollſt es bleiben, aber ſieh, ich bin viel
allein und habe allerlei Sorgen, da brauche ich auch einen
richtigen männlichen Freund, und der ſollſt du ſein. Du
ſollſt mit mir vierhändig ſpielen und mit mir im Garten
gehen und nach Pierre ſehen, wir wollen ſchöne Ferien
miteinander haben. Aber du ſollſt nicht Lärm machen
und es mir noch ſchwerer machen, ſonſt muß ich denken,
du ſeieſt eben doch noch ein halber Knabe und es werde
noch lange dauern, bis ich endlich einen klugen Freund
bekomme, den ich doch ſo gerne hätte.“
„Ja, Mutter, ja. Aber muß man denn immerzu über
alles ſchweigen, was einen unglücklich macht?“
„Es iſt das beſte, Albert. Es iſt nicht leicht, und von
Kindern darf man es nicht verlangen. Aber es iſt das
befte. Wollen wir jetzt etwas ſpielen?“
„Ja, gerne. Beethoven, die zweite Symphonie —
magſt du?“
Sie hatten kaum zu ſpielen begonnen, ſo ging ſachte
die Türe auf und Pierre glitt herein, ſetzte ſich auf einen
Schemel und hörte zu. Nachdenklich ſah er dabei ſeinen
Bruder an, ſeinen Nacken mit dem ſeidenen Sport—
kragen, ſeinen im Rhythmus der Muſik bewegten Haar—
ſchopf und ſeine Hände. Jetzt, da er ſeine Augen nicht ſah,
fiel ihm Alberts große Ahnlichkeit mit der Mutter auf.
„Gefällt es dir?“ fragte Albert während einer Pauſe.
Pierre nickte nur, ging aber gleich darauf wieder ſtill aus
dem Zimmer. In Alberts Frage hatte er etwas von dem
5 Heſſe, Roßhalde
e
Ton geſpürt, in welchem nach ſeiner Erfahrung die mei—
ſten Erwachſenen zu Kindern redeten und deſſen verlo-
gene Freundlichkeit und unbeholfene Überheblichkeit er
nicht leiden mochte. Der große Bruder war ihm willkom⸗
men, er hatte ihn ſogar mit Spannung erwartet und ihn
drunten am Bahnhof mit großer Freude begrüßt. Auf
dieſen Ton aber gedachte er nicht einzugehen.
Mittlerweile warteten Veraguth und Burkhardt im
Atelier auf Albert, Burkhardt mit unverhehlter Neu—
gierde, der Maler in nervöſer Verlegenheit. Die flüchtige
Fröhlichkeit und Plauderluſt war plötzlich von ihm ab-
gefallen, als er Alberts Ankunft erfuhr.
„Kommt er denn unerwartet?“ fragte Otto.
„Nein, ich glaube nicht. Ich wußte, daß er dieſer Tage
kommen ſollte.“
Veraguth kramte aus einer Plunderſchachtel ältere
Photographien heraus. Er ſuchte ein Knabenbildnis
hervor und hielt es vergleichend neben eine Photographie
von Pierre.
„Das war Albert, genau im gleichen Alter wie jetzt der
Kleine iſt. Erinnerſt du dich an ihn?“
„Oh, ganz gut. Das Bild iſt ſehr ähnlich. Er hat viel
von deiner Frau.“
„Mehr als Pierre?“
„Ja, viel mehr. Pierre hat weder deinen Typ noch den
ſeiner Mutter. Da kommt er übrigens. Oder ſollte es
Albert ſein? Nein, unmöglich.“
—
Man hörte leichte kleine Tritte vor der Türe über die
Flieſen und über das Scharreiſen gehen, die Türklinke
ward berührt und nach einem kleinen Zögern nieder—
gedruckt, und Pierre trat herein, mit ſeinem fragend—
freundlichen Blick ſchnell fpabend, ob er willkommen fei.
„Wo iſt denn Albert?“ fragte der Vater.
„Bei der Mama. Sie ſpielen miteinander Klavier.“
„Ach ſo, er ſpielt Klavier.“
„Biſt du ärgerlich, Papa?“
„Nein, Pierre, es iſt hübſch, daß du gekommen biſt.
Erzähl' uns etwas!“
Der Knabe ſah die Photographien daliegen und griff
danach.
„Oh, das bin ich! Und das da? Soll das Albert ſein?“
„Ja, das iſt Albert. So hat er ausgeſehen, als er ge-
rade ſo alt war wie du jetzt biſt.“
„Da war ich noch nicht auf der Welt. Und jetzt iſt er
groß geworden, und Robert ſagt ſchon Herr Albert zu
ihm.“
„Willſt du auch einmal groß werden?“
„Ja, ich will ſchon. Wenn man groß iſt, darf man
Pferde haben und Reiſen machen, das möchte ich auch.
Und dann darf mich niemand mehr „kleiner Junge bei-
ßen und in die Backen kneifen. Aber eigentlich will ich
doch nicht groß werden. Die alten Leute find oft fo un-
angenehm. Albert iſt auch ſchon ganz anders geworden.
Und wenn die alten Leute immer älter werden, dann
5*
a eee
fterben fie zuletzt. Ich möchte lieber fo bleiben wie ich
bin, und manchmal möchte ich fliegen können und mit
den Vögeln hoch droben um die Bäume herfliegen und
zwiſchen die Wolken hinein. Da würde ich alle Leute
auslachen.“
„Mich auch, Pierre?“
„Manchmal, Papa. Die alten Leute ſind alle manch—
mal ſo komiſch. Mama nicht ſo ſehr. Mama liegt hie
und da in einem langen Stuhl im Garten und tut gar
nichts als in das Gras hineinſehen, und dann hängen ihre
Hände herunter und ſie iſt ganz ruhig und ein wenig
traurig. Es iſt hübſch, wenn man nicht immerzu etwas
tun muß.“
„Möchteſt du denn gar nichts werden? Baumeiſter,
oder Gärtner, oder vielleicht Maler?“
„Nein, ich mag nicht. Ein Gärtner iſt ſchon da, und
ein Haus habe ich ja auch ſchon. Ich möchte ganz andere
Sachen tun können. Ich möchte das verſtehen, was die
Rotkehlchen zueinander ſagen. Und ich möchte auch ein—
mal ſehen, wie es die Bäume machen, daß ſie mit ihren
Wurzeln Waſſer trinken und ſo groß werden können.
Ich glaube, das weiß gar niemand richtig. Der Lehrer
weiß eine Menge, aber lauter langweilige Sachen.“
Er hatte ſich auf Otto Burkhardts Knie geſetzt und
ſpielte mit ſeiner Gürtelſchnalle.
„Viele Dinge kann man nicht wiſſen,“ ſagte Burk—
hardt freundlich. „Vieles kann man nur ſehen und muß
— 69 —
damit zufrieden fein, daß es fo hübſch iſt. Wenn du
einmal zu mir nach Indien kommſt, da fährſt du viele
Tage lang immer auf einem großen Schiff, und vor
dem Schiffe her tauchen lauter kleine Fiſche auf, die
haben kleine gläſerne Flügel und können fliegen. Und
manchmal kommen auch Vögel, die ſind furchtbar
weit von fremden Inſeln hergeflogen und ſind ganz
müde und ſetzen ſich auf das Schiff und ſind verwun—
dert, daß da ſo viele fremde Leute auf dem Meer her—
umfahren. Die möchten uns auch gerne verſtehen und
uns fragen, wo wir herkommen und wie wir heißen,
aber es geht nicht, und da ſieht man ſich eben in die
Augen und nickt mit dem Kopf, und wenn der Vogel
ausgeruht hat, dann ſchüttelt er ſich und fliegt wieder
weg übers Meer.“
„Weiß man denn gar nicht, wie dieſe Vögel heißen?“
„O doch, das weiß man ſchon. Aber es ſind Namen,
die ihnen die Menſchen gegeben haben, und wie ſie ſelber
zueinander ſagen, das kann man nicht wiſſen.“
„Onkel Burkhardt kann fein erzählen, Papa. Ich
möchte auch einen Freund haben. Albert iſt ſchon zu
groß. Die meiſten Menſchen verſtehen ja gar nicht recht,
was man ſagt und will, aber Onkel Burkhardt verſteht
mich gleich.“
Ein Hausmädchen kam, den Kleinen abzuholen. Bald
darauf war es Abendeſſenszeit, und die Herren gingen
ins Haus. Veraguth war ſchweigſam und verſtimmt.
Im Speiſezimmer trat ihm fein Sohn entgegen und gab
ihm die Hand.
„Guten Tag, Papa.“
„Guten Tag, Albert. Biſt du gut gereiſt?“
„Danke, ja. Guten Abend, Herr Burkhardt.“
Der junge Mann war ſehr kühl und korrekt. Er führte
ſeine Mutter zu Tiſch. Man aß, und das Geſpräch ging
faſt nur zwiſchen Burkhardt und der Haus frau. Es kam
die Rede auf Muſik.
„Darf ich fragen,“ wandte ſich Burkhardt an Albert,
„welche Art von Muſik Sie beſonders lieben? Allerdings
bin ich da längſt nicht mehr auf der Höhe und kenne die
modernen Muſiker wohl kaum dem Namen nach.“
Der Jüngling blickte höflich auf und gab Auskunft.
„Das Allermodernſte kenne ich auch nur vom Hören—
ſagen. Ich gehöre keiner Richtung an und liebe alle
Muſik, wenn ſie gut iſt. Am meiſten Bach, Gluck und
Beethoven.“
„Dh, die Klaſſiker. Von denen haben wir zu unſerer
Zeit eigentlich nur Beethoven näher gekannt. Von Gluck
wußten wir überhaupt nichts. Wir hielten alle ſtramm
zu Wagner, müſſen Sie wiſſen. Weißt du noch, Johann,
wie wir zum erſtenmal den Triſtan hörten? Das war ein
Rauſch!“
Veraguth lächelte unfroh.
„Alte Schule!“ rief er etwas hart. „Wagner iſt abge—
tan. Oder nicht, Albert?“
—
„Oh, im Gegenteil, er wird ja auf allen Theatern ge—
ſpielt. Aber ich habe daruber kein Urteil.“
„Mögen Sie Wagner nicht?“
„Ich kenne ihn zu wenig, Herr Burkhardt. Ich komme
ſehr ſelten ins Theater. Mich intereſſiert nur die reine
Muſik, nicht die Oper.“
„Na, aber das Meiſterſingervorſpiel! Das kennen Sie
gewiß. Taugt das auch nichts?“
Albert biß ſich auf die Lippen und beſann ſich einen
Augenblick, ehe er antwortete.
„Ich kann wirklich nicht darüber urteilen. Es iſt — wie
ſoll ich ſagen? romantiſche Muſik, und für die fehlt es
mir an Intereſſe.“
Veraguth ſchnitt eine Grimaſſe.
„Nimmſt du Landwein?“ fragte er ablenkend.
„Danke, ja.“
„Und du, Albert? Ein Glas Roten?“
„Danke, Papa, lieber nicht.“
„Biſt du Abſtinent geworden?“
„Nein, durchaus nicht. Aber Wein bekommt mir nicht,
ich möchte lieber darauf verzichten.“
„Na, gut. Aber wir wollen anſtoßen, Otto. Proſit!“
Er trank das Glas mit einem raſchen Schluck halb aus.
Albert ſpielte die Rolle des wohlerzogenen Jungen
weiter, der zwar ganz beſtimmte Anſichten hat, ſie aber
beſcheiden für ſich behält, und der älteren Leuten das
Wort läßt, nicht um zu lernen, ſondern um ſeine Ruhe zu
haben. Die Rolle paßte ſchlecht zu ihm, fo daß auch er
ſich bald äußerſt unbehaglich fühlte. Er wollte ſeinem Va⸗
ter, den er nach Möglichkeit zu ignorieren gewohnt war,
durchaus keinen Anlaß zu Auseinanderſetzungen geben.
Burkhardt ſchwieg beobachtend, und ſo war niemand
übrig, der das froſtig verſiegte Tiſchgeſpräch mit gutem
Willen wieder aufgenommen hätte. Man beeilte ſich mit
dem Eſſen, bediente einander mit höflicher Umſtändlich—
keit, ſpielte befangen mit den Deſſertlöffeln und wartete
in kläglicher Nüchternheit auf den Augenblick des Auf—
ſtehens und Auseinandergehens. Erſt in dieſer Stunde
fühlte Otto Burkhardt bis ins Innerſte die Verein—
ſamung und hoffnungsloſe Kälte, in der ſeines Freundes
Ehe und Leben erſtarrt und verkümmert war. Er blickte
flüchtig zu ihm hinüber, ſah ihn verdroſſen mit ſchlaffem
Geſicht auf die kaum berührten Speiſen ſtarren und
erkannte in ſeinem Blick, dem er eine Sekunde begegnete,
eine flehende Scham über die Enthüllung ſeines Zu—
ſtandes.
Es war ein betrübter Anblick, und plötzlich ſchien das
liebloſe Schweigen, die verlegene Kälte und humorloſe
Gezwungenheit dieſer Tafelſtunde laut Veraguths
Schande zu verkündigen. In dieſem Augenblick fühlte
Otto, daß jeder weitere Tag ſeines Hierbleibens nur eine
widerwärtige Verlängerung dieſer beſchämenden Zu—
ſchauerſchaft und zur Qual für den Freund werden
würde, der nur noch mit Ekel den Schein aufrechterhielt
9
und nicht die Kraft und Laune mehr aufbrachte, ſein
Elend vor dem Zuſchauer zu beſchönigen. Hier galt es,
ein Ende zu machen.
Kaum hatte ſich Frau Veraguth erhoben, ſo ſchob ihr
Mann ſeinen Seſſel zurück.
„Ich bin ſo müde, daß ich mich zu entſchuldigen bitte.
Laßt euch nicht ſtören!“
Er ging hinaus und vergaß die Tür hinter ſich zuzu—
ziehen, und Otto hörte ihn langſam mit ſchweren Schrit—
ten durch den Gang und die knarrende Treppe hinab
davongehen.
Burkhardt ſchloß die Tür und begleitete die Hausfrau
in den Salon, wo der Flügel noch offen ſtand und der
abendliche Wind in den aufgelegten Noten blätterte.
„Ich hatte Sie bitten wollen, etwas zu ſpielen,“ ſagte
er befangen. „Aber mir ſcheint, Ihr Mann iſt nicht recht
wohl, er hat den ganzen Mittag in der Sonne gearbeitet.
Wenn Sie erlauben, leiſte ich ihm noch ein Stündchen
Geſellſchaft.“
Frau Veraguth nickte ernſthaft und ſuchte ihn nicht zu
halten. Er empfahl ſich und ging, von Albert bis zur
Treppe begleitet.
Fünftes Kapitel
Die Dämmerung hatte begonnen, als Otto Burkhardt
aus dem ſchon vom großen Leuchter erhellten Hausflur
trat und ſich von Albert verabſchiedete. Unter den Kaſta⸗
nien blieb er ſtehen, ſog durſtig die zart gekühlte, laub⸗
duftende Abendluft ein und wiſchte ſich große Schweiß—
tropfen von der Stirne. Wenn er ſeinem Freunde ein we-
nig helfen konnte, mußte es in dieſer Stunde geſchehen.
Im Atelierhaus war kein Licht, und er fand den Maler
weder in der Werkſtatt noch in den Nebenräumen. Er
öffnete die Türe gegen den Weiher und ging ſuchend mit
leiſen Schritten rund um das Haus. Da ſah er ihn ſitzen,
in dem Rohrſtuhl, in dem er ihn heute gemalt hatte, die
Ellbogen aufgeſtützt und das Geſicht in den Händen, ſo
ruhig, als ſchliefe er.
„Johann!“ rief er leiſe, trat zu ihm und legte ihm die
Hand auf den gebeugten Kopf.
Es kam keine Antwort. Er blieb ſtehen, ſchwieg und
wartete und ſtreichelte dem in Müdigkeit und Leid Ver⸗
ſunkenen das kurze grobe Haar. In den Bäumen ging
der Wind, ſonſt war es ſtill und abendfriedlich. Minuten
vergingen. Da kam plötzlich vom Herrenhauſe her durch
die Dämmerung eine breite Klangwoge geſchwollen, ein
8
voller, lang ausgehaltener Akkord, und wieder einer. Es
war der erſte Takt einer Klavierſonate.
Da hob der Maler den Kopf, ſchüttelte die Hand ſei—
nes Freundes ſanft von ſich und ſtand auf. Er ſah Burk-
hardt ſtill aus müden, trockenen Augen an, verſuchte ein
Lächeln aufzubringen und ließ davon wieder ab, indem
ſeine ſtarren Züge erſchlafften.
„Wir wollen hineingehen,“ ſagte er mit einer Gebärde,
als ſuche er die von drüben heranflutende Muſik von ſich
abzuwehren.
Er ging voran. Bei der Türe zum Atelier blieb er
ſtehen.
„Ich denke, wir werden dich wohl nimmer lange hier
haben?“
Wie er alles fühlt! dachte Burkhardt. Mit beherrſch⸗
ter Stimme ſagte er: „Es kommt ja auf einen Tag nicht
an. Ich denke, ich reiſe übermorgen.“
Veraguth taſtete nach den Drückern. Mit einem feinen
Metallton ſtrahlten alle Lichter der Werkſtatt blendend
auf.
„Dann wollen wir noch eine ſchöne Flaſche Wein mit—
einander trinken.“
Er ſchellte nach Robert und gab ihm Aufträge. Mitten
im Atelier ſtand Burkhardts neues Porträt, nahezu fer⸗
tig. Sie ſtanden davor und ſahen es an, während Robert
Tiſch und Stühle rückte, Wein und Eis herbeitrug,
Zigarren und Aſchenſchalen aufſetzte.
„Es ift gut, Robert, Sie können ausgehen. Morgen
nicht wecken! Laſſen Sie uns jetzt allein!“
Sie ſetzten ſich und ſtießen miteinander an. Unruhig
rückte der Maler im Seſſel, ſtand wieder auf und drehte
die Hälfte der Lichter wieder aus. Dann ließ er ſich ſchwer
in den Stuhl fallen.
„Das Bild iſt nicht ganz fertig geworden,“ fing er
an. „Nimm dir eine Zigarre! Es wäre nicht ſchlecht ge—
worden, aber ſchließlich liegt nicht ſoviel daran. Und
man ſieht ſich ja wieder.“
Er ſuchte ſich eine Zigarre aus, ſchnitt ſie bedächtig an,
drehte fie zwiſchen nervöſen Fingern und legte fie wieder
weg.
„Du haſt es diesmal hier nicht gerade glänzend ge—
troffen, Otto. Es tut mir leid.“
Seine Stimme brach plötzlich, er ſank vornüber, griff
nach Burkhardts Händen und nahm ſie feſt in ſeine.
„Du weißt ja jetzt alles,“ ſtöhnte er müde, und ein
paar Tränen fielen auf Ottos Hand. Allein er wollte ſich
nicht gehen laſſen. Er richtete ſich wieder auf, zwang ſeine
Stimme zur Ruhe und ſagte verlegen: „Entſchuldige!
Wir wollen einen Schluck trinken! Rauchſt du nicht?“
Burkhardt nahm eine Zigarre.
„Armer Kerl!“
Sie tranken und rauchten in friedlichem Schweigen,
ſie ſahen das Licht in den geſchliffenen Glaskelchen
blitzen und in dem goldenen Weine wärmer leuchten,
*
ſahen den blauen Rauch unentſchloſſen durch den weiten
Raum ſchwanken und ſich in launiſche Fäden verſchnör—
keln und ſahen zuweilen einander an, mit gelöſten offe—
nen Blicken, die kaum der Sprache mehr bedurften. Es
war, als ſei ſchon alles geſagt.
Ein Nachtfalter ſtrich ſurrend durch die Werkſtatt und
ſtieß drei⸗, viermal heftig mit einem dumpfen Schlag
wider die Wände. Dann ſaß er ſtill und betäubt, ein fam-
metgraues Dreieck, am Plafond.
„Kommſt du im Herbſt mit mir nach Indien?“ fragte
Burkhardt endlich zögernd.
Wieder war es lange ſtill. Der Schmetterling begann
langſam zu wandern. Grau und klein kroch er vorwärts,
als habe er das Fliegen vergeſſen.
„Vielleicht,“ ſagte Veraguth. „Vielleicht. Wir müſ—
ſen ja noch miteinander reden.“
„Ja, Johann. Ich will dich nicht quälen. Aber ein
wenig mußt du mir noch erzählen. Ich hatte nie erwar—
tet, daß es zwiſchen dir und deiner Frau wieder gut wer⸗
den würde, aber —“
„Es war ja von Anfang an nicht gut!“
„Nein. Aber es hat mich doch erſchreckt, daß es ſoweit
gekommen ift. So kann es ja nicht bleiben. Du gehſt zu-
grunde.“
Veraguth lachte rauh.
„Ich gehe nicht zugrunde, mein Junge. Im Septem—
ber ſtelle ich in Frankfurt etwa zwölf neue Bilder aus.“
— 7 —
„Das ift ſchon gut. Aber wie lang foll das fo gehen?
Es iſt ja ſinnlos ... Sag', Johann, warum haſt du dich
nicht von deiner Frau getrennt?“
„Das ift nicht fo einfach ... Ich will dir erzählen. Es
iſt beffer, wenn du das Ganze einmal in der rechten Ord⸗
nung erfährſt.“
Er nahm einen Schluck Wein und blieb vorgebeugt
im Stuhle ſitzen, während Otto ſich weiter vom Tiſche
zurückzog.
„Daß ich mit meiner Frau von Anfang an Schwie—
rigkeiten hatte, weißt du ja. Es ging ein paar Jahre lang,
nicht gut und nicht ſchlecht, und vielleicht wäre damals
noch allerlei zu retten geweſen. Aber ich konnte meine
Enttäuſchung zu wenig verbergen, und ich verlangte von
Adele immer wieder gerade das, was ſie nicht zu geben
hatte. Schwung hat ſie nie gehabt; ſie war ernſthaft
und ſchwerlebig, ich hätte das vorher wiſſen können. Sie
konnte niemals fünf gerade fein laſſen und ſich mit Hu-
mor oder Leichtſinn über etwas Schweres weghelfen.
Sie hatte meinen Anſprüchen und Launen, meiner un-
geſtümen Sehnſucht und meiner ſchließlichen Enttäu—
ſchung nichts entgegenzuſetzen als Schweigen und Ge—
duld, eine rührende, ſtille, heldenhafte Geduld, die mich
oft bewegte und mit der mir und ihr doch nicht geholfen
war. War ich ärgerlich und unzufrieden, ſo ſchwieg ſie
und litt, und kam ich bald darauf mit dem Willen zu
einem beſſeren Verſtändnis, bat ich ſie um Verzeihung
a ieee
oder ſuchte ich fie in einer Stunde froher Laune mitzu—
reißen, ſo ging es nicht, ſie ſchwieg auch da und beharrte
immer verſchloſſener in ihrem treuen, ſchwerfälligen We-
ſen. War ich bei ihr, ſo ſchwieg ſie nachgiebig und ängſt—
lich, ſie nahm Zornausbrüche und luſtige Stimmungen
mit gleicher Gelaſſenheit hin, und war ich fort, ſo ſpielte
fie für ſich allein Klavier und dachte an ihre Mädchen—
zeit. So kam ich immer tiefer ins Unrecht und hatte
ſchließlich eben auch nichts mehr zu geben und mifzutei-
len. Ich fing an fleißig zu werden und habe ſo allmäh—
lich gelernt, mich in die Arbeit wie in eine Burg zu ver⸗
ſchanzen.“
Offenbar gab er ſich Mühe, ruhig zu bleiben. Er wollte
erzählen, nicht anklagen, aber hinter den Worten ſtand
fühlbar eben doch die Anklage, mindeſtens die Klage über
die Zerſtörung ſeines Lebens, über die Enttäuſchung ſei—
ner Jugenderwartung und über die lebenslange Verur⸗
teilung zu einem halben, freudloſen, dem Innerſten ſei—
ner Natur beſtändig widerſprechenden Daſein.
„Schon damals dachte ich zuweilen daran, die Ehe
wieder aufzulöſen. Aber das war nicht fo einfach. Ich
war an Stillſitzen und Arbeit gewöhnt und ſchreckte im:
mer wieder vor dem Gedanken an Gerichte und Anwälte,
vor dem Abreißen aller kleinen täglichen Lebensgewohn—
heiten zurück. Wenn mir damals eine neue Liebe in den
Weg gekommen wäre, hãtte ich den Entſchluß leicht ge⸗
funden. Aber es zeigte ſich, daß auch meine eigene Natur
ag eee
ſchwerfälliger war als ich dachte. Ich verliebte mich mit
einem gewiſſen wehmütigen Neid in hübſchejunge Mäd—
chen, aber es ging nie tief genug, und ich ſah mehr und
mehr, daß ich an keine Liebe mehr mich ſo weggeben
könne wie an meine Malerei. Alles Verlangen nach
Austoben und Selbſtvergeſſen, jeder Wunſch und jedes
Bedürfnis richtete ſich dahin, und wirklich habe ich in die-
ſen vielen Jahren keinen einzigen neuen Menſchen in
mein Leben aufgenommen, keine Frau und keinen
Freund. Du begreifſt, ich hätte ja jede Freund ſchaft mit
dem Bekenntnis meiner Schande beginnen müſſen.“
„Schande?!“ ſagte Burkhardt leiſe mit einem Ton
des Tadels.
„Gewiß, Schande! So empfand ich es damals ſchon,
und das iſt ſeither nicht anders geworden. Es iſt eine
Schande, unglücklich zu ſein. Es iſt eine Schande, ſein
Leben niemandem zeigen zu dürfen, etwas verbergen
und bemänteln zu müſſen. Genug davon! Ich will dir
erzählen.“
Er ſtarrte finſter in ſein Weinglas, warf die erloſchene
Zigarre weg und fuhr fort.
„Inzwiſchen war Albert ein paar Jahre alt geworden.
Wir hatten ihn beide ſehr lieb, die Geſpräche über ihn und
die Sorgen um ihn hielten uns beiſammen. Erſt als er ſie—
ben oder acht Jahre alt war, begann ich eiferſüchtig zu
werden und um ihn zu kämpfen — genau fo, wie ich jetzt
mit ihr um Pierre kämpfe! Ich fab plötzlich, daß der kleine
— 81 —
Junge mir unentbehrlich lieb geworden war, und ich
habe mehrere Jahre lang mit beſtändiger Angſt zuge—
ſehen, wie er ganz langſam kühler gegen mich wurde und
mehr und mehr zur Mutter hielt.
Da wurde er bedenklich krank, und in jener Zeit der
Sorge um das Kind ſank alles andere für eine Weile un—
ter, und wir lebten eine Zeitlang ſo einmütig wie nie zu—
vor. Aus dieſer Zeit ſtammt Pierre.
Seit der kleine Pierre auf der Welt iſt, hat er alles be⸗
ſeſſen, was ich an Liebe irgend geben konnte. Ich ließ
mir Adele wieder entgleiten, ich ließ es geſchehen, daß
Albert nach ſeiner Geneſung ſich immer enger an meine
Frau ſchloß, daß er ihr Vertrauter gegen mich und all—
mählich mein Feind wurde, bis ich ihn aus dem Hauſe
entfernen mußte. Ich hatte auf alles verzichtet, ich war
ganz arm und anſpruchslos geworden, ich hatte mir auch
das Schelten und Herrſchen im Hauſe abgewöhnt und
hatte nichts dagegen, im eigenen Haus nur ein gedulde—
ter Gaſt zu ſein. Ich wollte nichts für mich retten als
meinen kleinen Pierre, und als das Zuſammenleben mit
Albert und der ganze Zuſtand im Hauſe unerträglich
geworden war, da habe ich Adele die Scheidung ange—
boten.
Ich wollte Pierre bei mir behalten. Alles andere konnte
ſie haben: ſie konnte mit Albert zuſammen bleiben, ſie
konnte die Roßhalde behalten und die Hälfte von meinen
Einnahmen, meinetwegen auch mehr. Aber ſie wollte
6 Heſſe, Roßhalde
dian (MR als
nicht. Sie wollte gerne in die Scheidung willigen und
nur das Notwendigſte von mir annehmen, ſich aber nicht
von Pierre trennen. Das war unſer letzter Streit. Noch
einmal verſuchte ich alles, um mir meinen Reſt von Glück
zu retten; ich bat und verſprach, ich habe mich gebückt
und gedemütigt, ich habe gedrohtund geweintund ſchließ—
lich getobt, aber alles vergebens. Sie willigte ſogar dar⸗
ein, daß Albert weggegeben werde. Es zeigte ſich plötzlich,
daß dieſe ſtille, geduldige Frau keinen Finger breit nad)-
zugeben geſonnen war; fie fühlte ihre Macht ſehr deut—
lich und war mir überlegen. Damals haßte ich fie ge—
radezu, und etwas davon iſt immer hängen geblieben.
Da ließ ich den Maurer kommen und habe mir die
kleine Wohnung hier angebaut, und hier wohne ich ſeit—
her, und alles iſt ſo, wie du es geſehen haſt.“
Burkhardt hatte nachdenklich zugehört und ihn nie
unterbrochen, auch nicht in Augenblicken, wo Veraguth
es zu erwarten, ja zu wünſchen ſchien.
„Ich freue mich,“ ſagte er vorſichtig, „daß du ſelber
alles ſo klar ſiehſt. Es iſt alles ungefähr ſo, wie ich mir's
gedacht hatte. Laß uns noch ein Wort darüber reden, es
geht jetzt in einem hin! Seit ich hier bin, habe ich ja ebenſo
auf dieſe Stunde gewartet wie du. Nimm an, du hätteſt
ein unangenehmes Geſchwür, das dich quält und deſſen
du dich ein wenig ſchämſt. Ich kenne es jetzt, und dir iſt
ſchon wohler, daß du es nimmerzu verheimlichen brauchſt.
Aber wir müſſen damit nicht zufrieden ſein, wir müſſen
— 83 —
zuſehen, ob wir das Ding nicht aufſchneiden und heilen
können.“
Der Maler ſah ihn an, ſchüttelte ſchwerfällig den
Kopf und lächelte: „Heilen? So etwas heilt nimmer.
Aber ſchneide ruhig zu!“
Burkhardt nickte. Er wollte zuſchneiden, gewiß, er
wollte dieſe Stunde nicht leer vorüber laſſen.
„In deiner Erzählung iſt eines mir unklar geblieben,“
ſagte er nachdenklich. „Du ſagſt, du habeſt dich Pierres
wegen nicht von deiner Frau ſcheiden laſſen. Es iſt die
Frage, ob du ſie nicht dazu hätteſt zwingen können, dir
Pierre zu laſſen. Wart ihr vom Gericht geſchieden wor:
den, ſo hätte man dir doch wohl eines der Kinder zuſpre—
chen müſſen. Haſt du denn daran nie gedacht?“
„Nein, Otto, daran habe ich nie gedacht. Ich habe nie
daran gedacht, daß ein Richter mit ſeiner Weisheit das
wieder gutmachen könne, was ich verfehlt und verſäumt
habe. Es iſt mir damit nicht gedient. Da meine perſön—
liche Macht nicht ausreichte, meine Frau zum Verzicht
auf den Jungen zu bewegen, blieb mir nichts übrig als
zu warten, für wen Pierre ſelbſt ſich ſpäter einmal ent-
ſcheiden werde.“
„Es handelt ſich ja einzig um Pierre. Wenn der nicht
da wäre, wäreſt du ohne Zweifel längſt von deiner
Frau geſchieden und hätteſt doch noch ein Glück in der
Welt gefunden oder wenigſtens ein klares, vernünftiges,
freies Leben. Statt deſſen biſt du in einem Wirrwarr von
6 *
Kompromiſſen, Opfern und kleinen Notbehelfen einge—
klemmt, in denen ein Menſch wie du erſticken muß.“
Veraguth blickte unruhig und ſtürzte haſtig ein Glas
Wein hinunter.
„Du redeſt immer von Erſticken und Zugrundegehen!
Du ſiehſt doch, ich lebe und arbeite, und der Teufel ſoll
mich holen, wenn ich mich unterkriegen laſſe.“
Otto achtete nicht auf ſeine Gereiztheit. Mit leiſer
Eindringlichkeit fuhr er fort: „Verzeih, das ſtimmt nicht
ganz. Du biſt ein Menſch mit ungewöhnlichen Kräften,
ſonſt hätteſt du dieſe Zuſtände überhaupt nicht ſolange
ausgehalten. Wieviel ſie dir geſchadet und dich gealtert
haben, ſpürſt du ſelber, und es iſt eine unnütze Eitelkeit,
wenn du das vor mir nicht wahrhaben willſt. Ich glaube
meinen eigenen Augen mehr als dir, und ich ſehe, daß es
dir miſerabel geht. Deine Arbeit hält dich aufrecht, aber
ſie iſt dir mehr Betäubung als Freude. Die Hälfte von
deiner ſchönen Kraft verbrauchſt du in Entbehrung und
in kleinen täglichen Widerſtänden. Was beſtenfalls da⸗
bei herauskommt, iſt nicht Glück, ſondern höchſtens Re-
ſignation. Und dazu, mein Junge, biſt du mir zu gut.“
„Reſignation? Das mag ſein. Es geht auch andern
ſo. Wer iſt glücklich?“
„Glücklich iſt, wer hofft!“ rief Burkhardt nachdrück⸗
lich. „Was haſt du zu hoffen? Nicht einmal äußere Er—
folge, Ehren und Geld; von dem allem haſt du mehr als
genug. Menſch, du weißt ja gar nimmer, was Leben
und Freude ift! Du bift zufrieden, weil du nimmer hoffſt!
Ich begreife das, meinetwegen, aber es iſt ein ſcheußlicher
Zuſtand, Johann, es iſt ein übles Geſchwür, und wer ſo
eines hat und es nicht aufſchneiden mag, der iſt ein Feig⸗
ling.“
Er war warm geworden und ging in heftiger Bewe—
gung auf und ab, und während er mit geſpannten Kräf—
ten ſeinen Plan verfolgte, ſah ihn aus der Tiefe der
Erinnerung Veraguths Knabengeſicht an, und es
ſchwebte ihm das Bild einer Szene vor, da er einſt ähn—
lich wie heut mit ihm geſtritten hatte. Aufblickend ſah er
des Freundes Geſicht, er ſaß zuſammengeſunken und
blickte vor ſich nieder. Nichts von den Zügen des Knaben—
kopfes war mehr vorhanden. Da ſaß er, den er mit Ab⸗
ſicht einen Feigling geheißen, an deſſen einſt ſo peinliche
Empfindlichkeit er gerührt hatte, und wehrte ſich nicht.
Er rief nur in bitterer Schwäche: „Nurzu! Dubrauchſt
mich nicht zu ſchonen. Du haſt geſehen, in was für einem
Käfig ich lebe, nun kannſt du ja ohne Sorge mit dem
Stock hereindeuten und mir meine Schande vorhalten.
Bitte, fahr' fort! Ich wehre mich nicht, ich werde nicht
einmal böſe.“
Otto blieb vor ihm ſtehen. Er tat ihm ſo leid, aber er
bezwang ſich und ſagte ſcharf: „Du ſollſt aber bofe wer—
den! Du ſollſt mich hinauswerfen und mir die Freund—
ſchaft aufſagen, oder du ſollſt zugeben, daß ich recht
habe.“
3
Auch der Maler ſtand nun auf, aber ſchlaff und ohne
Friſche.
„Alſo du haſt recht, wenn dir daran liegt,“ ſagte er
müde. „Du haſt mich überſchätzt, ich bin nimmer ſo jung
und nimmer ſo leicht zu beleidigen. Ich habe auch nicht
ſo viel Freunde, daß ich damit Verſchwendung treiben
könnte. Ich habe nur dich. Setz' dich her und trinke noch
ein Glas Wein, er iſt gut. Du kriegſt in Indien keinen
ſolchen, und vielleicht findeſt du dort auch nicht viele
Freunde, die ſich ſo viel Dickköpfigkeit von dir gefallen
laſſen.“
Burkhardt ſchlug ihm leicht auf die Schulter und ſagte
beinahe ärgerlich: „Junge, wir wollen doch jetzt nicht
ſentimental fein - gerade jetzt nicht! Sag' mir, was du
an mir zu tadeln haſt, und dann wollen wir fortfahren.“
„Oh, ich habe nichts an dir zu tadeln! Du biſt ein tadel—
loſer Kerl, Otto, ohne Zweifel. Du ſiehſt mir ſeit bald
zwanzig Jahren zu, wie ich unterſinke, du ſiehſt mit
Freundſchaft und vielleicht mit Bedauern zu, wie ich all—
mählich im Sumpf verſchwinde, und du haſt nie etwas
geſagt und mich nie dadurch gedemütigt, daß du mir etwa
Hilfe anboteſt. Du haſt zugeſehen, wie ich jahrelang
jeden Tag Zyankali mit mir herumtrug, und du haſt mit
edler Befriedigung bemerkt, daß ich es nie geſchluckt und
es ſchließlich weggeworfen habe. Und jetzt, wo ich ſo
tief im Dreck ſitze, daß ich nimmer heraus kann, jetzt ſtehſt
du da und haſt zu tadeln und zu mahnen ...“
Er ftarrfe mit geröͤteten heißen Augen troſtlos vor ſich
hin, und Otto, da er ſich ein neues Glas Wein einſchen—
ken wollte und nichts mehr in der Flaſche fand, bemerkte
erſt jetzt, daß Veraguth die Flaſche in der kurzen Zeit
allein geleert hatte.
Der Maler folgte ſeinem Blick und lachte grell.
„O entſchuldige!“ rief er heftig. „Ja, ich bin ein we—
nig betrunken, du darfſt nicht vergeſſen, mir auch das
anzurechnen. Es paſſiert mir alle paar Monate einmal,
daß ich aus Verſehen einen kleinen Rauſch trinke — zur
Anregung, weißt du...”
Er legte dem Freunde beide Hände ſchwer auf die
Schultern und ſagte mit plötzlich erſchlaffter, hoher
Stimme klagend: „Sieh, mein Junge, das Zyankali
und der Wein und das alles wäre entbehrlich geweſen,
wenn jemand mir ein bißchen hätte helfen wollen! Du,
warum haſt du mich ſoweit kommen laſſen, daß ich jetzt
um ein bißchen Nachſicht und Liebe bitten muß wie ein
Bettler? Adele hat mich nicht ertragen, Albert iſt von
mir abgefallen, Pierre wird mich auch einmal verlaſſen
— und du biſt daneben geſtanden und haſt zugeſehen.
Haſt du denn nichts tun können? Haſt du mir gar nicht
helfen können?“
Des Malers Stimme brach, und er ſank in den Stuhl
zurück. Burkhardt war totenblaß geworden. Es ſtand
ja viel ſchlimmer, als er gedacht hatte! Daß dieſer
ſtolze, harte Menſch durch ein paar Gläſer Wein zum
aa es
wehrloſen Geſtändnis feines heimlichen Makels und
Elends verführt werden konnte!
Er ſtand neben Veraguth und ſprach ihm leiſe ins
Ohr wie einem Kinde, das man froften muß.
„Ich helfe dir, Johann, du kannſt mir glauben, ich
helfe dir. Ich war ja ein Eſel, ich war ja ſo blind und
dumm ! Sieh, es wird noch alles gut, verlaß dich drauf!“
Er erinnerte ſich ſeltener Anläſſe aus der Jugendzeit,
bei welchen fein Freund in Zuſtänden großer Nervoſität
feine Herrſchaft über fic) verloren hatte. Mit wunder⸗
licher Deutlichkeit ſtand ein ſolches Erlebnis, das tief in
ſeinem Gedächtnis geſchlummert hatte, jetzt wieder vor
ihm auf. Johann verkehrte damals mit einer hübſchen
Malſchülerin, Otto hatte ſich wegwerfend über ſie aus⸗
geſprochen, und Veraguth hatte ihm in der heftigſten
Weiſe die Freundſchaft aufgeſagt. Auch damals hatte
der Maler ſich an einer geringen Menge Weines un—
verhältnismäßig erhitzt, auch damals hatte er die roten
Augen bekommen und die Gewalt über ſeine Stimme
verloren. Es ergriff den Freund ſonderbar, vergeſſene
Züge einer ſcheinbar wolkenloſen Vergangenheit ſo
ſeltſam wiederkehren zu ſehen, und wieder wie damals
erſchreckte ihn der plötzlich enthüllte Abgrund von inne:
rer Vereinſamung und ſeeliſcher Selbſtpeinigung in
Veraguths Leben. Das war ohne Zweifel jenes Ge—
heimnis, von dem Johann je und je in Andeutungen ge—
ſprochen und das er in jedes großen Künſtlers Seele
verborgen vermutet hatte. Daher alfo kam diefem
Manne der unheimlich unerſättliche Drang, zu ſchaffen
und die Welt zu jeder Stunde neu mit ſeinen Sinnen zu
erfaſſen und zu überwältigen. Daher kam ſchließlich
auch die ſonderbare Traurigkeit, mit welcher häufig
große Kunſtwerke den ſtillen Beſchauer erfüllen konnten.
Es war, als habe Otto ſeinen Freund bis zur Stunde
nie ganz verſtanden. Nun ſah er tief in den dunklen
Brunnen, aus dem Johanns Seele ſich mit Kräften und
mit Leiden ſättigte. Und zugleich empfand er einen
tiefen, freudigen Troſt darüber, daß er es war, der alte
Freund, dem ſich der Leidende eröffnet, den er angeklagt,
den er um Hilfe gebeten hatte.
Veraguth ſchien nicht mehr zu wiſſen, was er gejagt
hatte. Er ruhte beſänftigt wie ein Kind, das ſich ausge-
tobt hat, und ſchließlich ſagte er mit klarer Stimme:
„Du haſt diesmal kein Glück mit mir. Es kommt alles
nur davon her, daß ich in der letzten Zeit nicht meine tag:
liche Arbeit gehabt habe. Es ijt eine Nervenverſtim—
mung. Ich vertrage die guten Tage nicht.“
Und als Burkhardt ihn daran hindern wollte, die zweite
Flaſche zu öffnen, meinte er: „Ich könnte jetzt doch nicht
ſchlafen. Weiß Gott, woher ich ſo nervös bin! Na, laß
uns noch ein bißchen zechen, du warſt doch früher darin
nicht fo ſpröde. — 2b, du meinſt, wegen meiner Nerven!
Ich werde ſie ſchon wieder in Ordnung bringen, darin
habe ich Erfahrung. Ich werde in der nächſten Zeit
jeden Morgen um ſechs an die Arbeit gehen und jeden
Abend eine Stunde reiten.“
So blieben die Freunde bis gegen Mitternacht bei—
einander. Johann wühlte plaudernd in Erinnerungen
der alten Zeit, Otto hörte zu und ſah mit beinahe wider⸗
willigem Vergnügen eine blanke, fröhlich ſpiegelnde
Oberfläche ſich beruhigt ſchließen, wo er eben noch in
aufgeriſſene dunkle Gründe geblickt hatte.
Sechſtes Kapitel
Andern Tages begegnete Burkhardt dem Maler mit
Befangenheit. Er war darauf gefaßt, den Freund ver—
wandelt und ſtatt der geſtrigen Erregtheit ſpöttiſche
Kühle und abwehrende Scham zu finden. Statt deſſen
kam ihm Johann mit ſtillem Ernſt entgegen.
„Alſo morgen reiſeſt du,“ ſagte er freundlich. „Es iſt
gut, und ich danke dir für alles. Übrigens habe ich das
von geſtern abend nicht vergeſſen; wir haben noch mit—
einander zu reden.“
Zweifelnd ging Otto darauf ein.
„Meinetwegenz aber ich will dich nicht wieder unnütz
erregen. Wir haben vielleicht geſtern allzu vieles um—
gerührt. Warum mußten wir auch bis zur letzten Stunde
warten!“
Sie frühſtückten im Atelier.
„Nein, es iſt ganz gut ſo,“ ſagte Johann beſtimmt.
„Es iſt ſehr gut ſo. Ich habe eine ſchlafloſe Nacht ge—
habt und alles noch einmal wiedergekäut, mußt du
wiſſen. Du haſt vieles umgerührt und beinah mehr als
ich ertragen konnte. Du mußt bedenken, ich habe in
Jahren niemand gehabt, mit dem ich reden konnte. Aber
es ſoll jetzt aufgeräumt und ausgefreſſen werden, ſonſt
bin ich wirklich der Feigling, den du mich geftern ges
heißen haſt.“
„Oh, hat dir das wehgetan? Laß gut ſein!“
„Nein, du hatteſt beinahe recht, glaube ich. Ich
möchte heut noch einen ſchönen frohen Tag mit dir
haben, wir fahren den Nachmittag zuſammen aus, und
ich zeige dir ein ſchönes Stück Land. Aber vorher muß
da noch ein wenig aufgeräumt werden. Geſtern fiel das
alles ſo plötzlich über mich her, daß ich die Beſinnung
verlor. Aber jetzt habe ich alles bedacht. Ich glaube, ich
verſtehe jetzt, was du mir geſtern ſagen wollteſt.“
Er ſprach ſo ruhig und freundlich, daß Burkhardt
ſeine Bedenken fallen ließ.
„Wenn du mich verſtanden haſt, iſt ja alles gut, und
wir brauchen nicht wieder von vorn anzufangen. Du haſt
mir erzählt, wie alles zuſtande kam und wie es jetzt ſteht.
Du hältſt alfo deine Ehe und deinen Haushalt und deinen
ganzen bisherigen Zuſtand nur darum aufrecht, weil du
dich nicht von Pierre trennen willſt. So iſt es doch?“
„Ja, genau ſo iſt es.“
„Nun, und wie denkſt du dir das weitere? Mir
ſcheint, du habeſt geſtern angedeutet, daß du mit der
Zeit auch Pierre zu verlieren fürchteſt. Oder nicht?“
Veraguth ſeufzte ſchmerzlich und legte die Stirn in
die Hand; aber er fuhr im gleichen Tone fort:
„Vielleicht iſt es ſo. Das iſt der böſe Punkt. Deine
Meinung iſt, ich ſolle auf den Knaben verzichten?“
0 =~
„Ja, aber ja! Er koſtet dich Jahre und Jahre des
Kampfes mit deiner Frau, die ihn dir ſchwerlich laſſen
wird.“
„Das iſt möglich. Aber ſieh, Otto, er iſt das letzte,
was ich habe! Ich ſitze zwiſchen lauter Trümmern, und
wenn ich heute ſtürbe, ſo würden ſich, außer dir, höch—
ſtens ein paar Zeitungsſchreiber darüber aufregen.
Ich bin ein armer Mann, aber ich habe dieſes Kind, ich
habe doch immer noch dieſen kleinen lieben Kerl, für den
ich leben und den ich liebhaben darf, für den ich leide und
bei dem ich in guten Stunden mich vergeſſe. Du mußt
dir das richtig vorſtellen! Und das foll ich weggeben!“
„Es iſt nicht leicht, Johann. Es iſt eine verfluchte
Sache! Aber ich weiß keinen anderen Weg. Schau', du
weißt gar nicht mehr, wie es draußen in der Welt aus⸗
ſieht, du ſitzeſt verbohrt und vergraben in deine Arbeit
und in deine verunglückte Ehe. Tu den Schritt und wirf
einmal alles weg, ſo wirſt du plötzlich die Welt wieder
mit hundert ſchönen Dingen auf dich warten ſehen. Du
hauſeſt ſeit langem mit Toten zuſammen und haſt den
Anſchluß ans Leben verloren. Du hängſt an Pierre, und
er iſt ja ein reizender Kerl, gewiß; aber das iſt doch nicht
entſcheidend. Sei einmal ein wenig grauſam und beſinne
dich, ob der Junge dich wirklich braucht!“
„Db er mich braucht ... 2“
„Ja. Was du ihm geben kannſt, iſt Liebe, Zärtlichkeit,
Gefühl — das ſind Dinge, von denen ein Kind meiſt
weniger braucht, als wir Alten meinen. Und dafür wächſt
der Kleine in einem Hauſe auf, wo Vater und Mutter
einander kaum mehr kennen, wo ſie ſogar ſeinetwegen
eiferſüchtig ſind! Er wird nicht durch das gute Beiſpiel
eines glücklichen, geſunden Hauſes erzogen, er iſt früh—
reif und wird ein Sonderling werden. — Und ſchließlich,
verzeih, wird er eines Tages ja doch zwiſchen dir und der
Mutter wählen müſſen. Kannſt du das nicht einſehen.“
„Vielleicht haſt du recht. Du haſt ſogar beſtimmt
recht. Aber hier hört bei mir das Denken auf. Ich hänge
an dem Kind, und ich klammere mich an dieſe Liebe, weil
ich ſeit langem keine andere Wärme und kein anderes
Licht mehr kenne. Vielleicht wird er mich in ein paar
Jahren im Stich laſſen, vielleicht mich enttäuſchen, viel-
leicht mich einmal haſſen — wie Albert mich haßt, der als
Vierzehnjähriger einmal mit einem Tiſchmeſſer nach mir
geworfen hat. Aber es bleibt mir doch das, daß ich noch
dieſe paar Jahre bei ihm ſein und ihn lieben darf, daß
ich ſeine kleinen Hände in meine nehmen und ſeine kleine
helle Vogelſtimme hören kann. Sage: muß ich das
weggeben? Muß ich?“
Burkhardt zuckte ſchmerzlich die Achſeln und runzelte
die Stirn.
„Du mußt, Johann,“ ſagte er dann ſehr leiſe. „Ich
glaube, du mußt. Es muß nicht heute ſein, aber bald.
Du mußt alles, was du haſt, wegwerfen und mußt dich
von allem Vergangenen reinbaden, ſonſt wirſt du nie
a
mehr ganz hell und frei in die Welt blicken können. Tu,
was du magſt, und wenn du den Schritt nicht tun kannſt,
fo bleib hier und lebe dies Leben weiter — ich gehöre zu
dir, auch dann, und bin fiir dich da, das weißt du. Aber
es täte mir leid.“
„Rate mir! Ich ſehe lauter Dunkel vor mir.“
„Ich will dir raten. Es iſt jetzt Juli; im Herbſt fahre
ich nach Indien zurück. Vorher komme ich noch einmal
zu dir, und ich hoffe, du wirſt dann ſchon die Koffer bereit
haben und mit mir reiſen. Haft du dann deinen Ent—
ſchluß gefaßt und ja geſagt, dann deſto beſſer! Findeſt
du aber den Entſchluß nicht, ſo komm für ein Jahr oder
meinetwegen für ein halbes Jahr mit mir aus dieſer
Luft heraus. Du kannſt bei mir malen und reiten, du
kannſt auch Tiger ſchießen oder dich in Malaiinnen ver—
lieben — es gibt hübſche , auf alle Fälle biſt du eine
Weile weit von hier weg und kannſt verſuchen, ob es ſich
nicht ſo beſſer leben läßt. Was meinſt du?“
Mit geſchloſſenen Augen wiegte der Maler ſeinen
großen, ſtruppigen Kopf mit dem bleichen Geſicht und
dem eingezogenen Munde hin und her.
„Danke!“ rief er halb lächelnd. „Danke, es iſt lieb
von dir. Im Herbſt werde ich dir ſagen, ob ich mit—
komme. Bitte, laß mir die Photographien da.“
„Die kannſt du haben... Aber — kannſt du nicht
heut oder morgen ſchon dich wegen der Reiſe entſchlie—
ßen? Es wäre beſſer für dich.“
— 6 —
Veraguth erhob ſich und ging zur Türe.
„Nein, du, das kann ich nicht. Wer weiß, was in-
zwiſchen geſchieht! Ich bin ſeit Jahren niemals länger
als für drei, vier Wochen ohne Pierre geweſen. Ich
glaube, ich werde mit dir reiſen, aber ich will jetzt nichts
fagen, was mich reuen könnte.“
„Nun, laſſen wir es gut ſein! Ich werde dir immer
mitteilen, wo ich zu finden bin. Und wenn du eines Ta⸗
ges drei Worte telegraphierſt, daß du mitkommſt, ſo
brauchſt du der Reiſe wegen keinen Finger zu rühren.
Das iſt dann meine Sache. Von hier nimmſt du nur
Wafdhe und Malzeug mit, aber reichlich, alles andere
beſorge ich nach Genua.“
Veraguth umarmte ihn ſchweigend.
„Du haſt mir geholfen, Otto, ich vergeſſe das nimmer.
Jetzt laſſe ich den Wagen kommen, wir werden heute
zu den Mahlzeiten nicht drüben erwartet. Und nun
wollen wir gar nichts mehr tun, als einen ſchönen Tag
miteinander feiern, wie vor Zeiten in den Sommerferien!
Wir werden über Land fahren, ein paar ſchöne Dörfer
anſehen und im Wald liegen, wir werden Forellen eſſen
und guten Landwein aus dicken Gläſern trinken. Was
für ein Glanzwetter wir heute haben!“
„Es iſt ſeit zehn Tagen nicht anders,“ lachte Burk⸗
hardt. Und auch Veraguth lachte.
„Ach, mir iſt, die Sonne hätte ſchon lang nimmer fo
geſchienen!“
Siebentes Kapitel
Nach Burkhardts Abreiſe überfiel den Maler ein
wunderliches Gefühl des Alleinſeins. Dieſelbe Einſam—
keit, in welcher er Jahre und Jahre gelebt und gegen die
er ſich in ſo langer Gewöhnung hart und beinahe un—
empfindlich gemacht hatte, überfiel ihn nun wie ein un⸗
bekannter, ganz neuer Feind und ſank von allen Seiten
erſtickend über ihm zuſammen. Zugleich fühlte er ſich
von ſeiner Familie, ſogar von Pierre, mehr als jemals
abgeſchnitten. Er wußte es nicht, aber es kam davon
her, daß er zum erſtenmal über dieſe Verhältniſſe ſich
ausgeſprochen hatte.
In manchen Stunden lernte er ſogar das unſelige,
demütigende Gefühl der Langeweile kennen. Bisher
hatte Veraguth das unnatürliche, aber konſequente Le-
ben eines freiwillig Eingemauerten geführt, den das Le—
ben nicht mehr intereſſiert und deſſen Daſein mehr ein
Ertragen als ein Erleben war. Der Freundesbeſuch hatte
Löcher in dieſe Klauſe geſchlagen, durch hundert Ritzen
blitzte und klang, duftete und taſtete das Leben zu dem
Vereinſamten herein, ein alter Zauber war gebrochen,
und der Erwachende empfand jeden Ruf von draußen
überſtark mit halbem Schmerz.
7 Heſſe, Roßhalde
*
Wůtend ſtürzte er ſich in die Arbeit, er fing faſt gleich—
zeitig zwei große Kompoſitionen an, er begann den
Tag früh bei Sonnenaufgang mit einem kalten Bade,
arbeitete ohne Pauſe bis zum Mittag, hielt ſich dann
nach kurzer Raſt mit Kaffee und Zigarre munter und
erwachte zuweilen in der Nacht an Herzklopfen oder
Kopfſchmerz. Aber wie ſehr er ſich zwang und ge—
waltſam einſpann, es blieb in ſeinem Bewußtſein
unter dünnem Schleier immerzu die Kunde lebendig
und gegenwärtig, daß eine Türe offen ſtehe und daß zu
jeder Zeit ein raſcher Schritt ihn in die Freiheit bringen
könne.
Er dachte nicht darüber nach, er betäubte alle Gedan⸗
ken in fortwährender Anſtrengung. Das Gefühl, in dem
er lebte, war das: Du kannſt zu jeder Stunde gehen, die
Tür ſteht offen, die Feſſeln find zu brechen — aber es
koſtet einen harten Entſchluß und ein ſchweres, ſchweres
Opfer — darum nicht daran denken, nur nicht daran
denken! Jener Entſchluß, den Burkhardt von ihm er—
wartete und zu dem vielleicht ſeine eigene Natur ſich
heimlich ſchon bekannt hatte, ſaß in ſeiner Seele wie die
Kugel im Fleiſch eines Verwundeten; es war nur die
Frage, würde fie ſich eiternd herausarbeiten oder würde
ſie eingekapſelt drinnen feſtwachſen. Es ſchwärte und
tat weh, aber noch nicht weh genug; noch war der
Schmerz zu groß, den er von dem geforderten Opfer be—
fürchtete. So tat er nichts, ließ die heimliche Wunde
2
brennen und fühlte im ftillen eine verzweifelte Neu—
gierde, wie das alles ausgehen werde.
Mitten in dieſer Bedrängnis malte er ein großes Fi—
gurenbild, mit deſſen Plan er lang gegangen war und
das ihn plötzlich heftig reizte. Der Gedanke dazu war
manche Jahre alt, er hatte einſt Freude an ihm gehabt,
bis er ihm immer leerer und allegoriſcher erſchienen und
ganz zuwider geworden war. Nun aber war das Bild
ihm ganz und gar ſichtbar geworden, und er begann die
Arbeit rein aus der Friſche der Viſion, ohne die Allegorie
mehr zu empfinden.
Es waren drei lebensgroße Figuren: ein Mann und
ein Weib, jedes für ſich verſunken und dem andern
fremd, und zwiſchen ihnen ſpielend ein Kind, ſtillfroh
und ohne Ahnung der über ihm laſtenden Wolke. Die
perſönliche Bedeutung war klar, doch glich weder die
Männerfigur dem Maler, noch das Weib ſeiner Frau,
nur das Kind war Pierre, doch um einige Jahre
jünger dargeſtellt. Dieſes Kind malte er mit allem
Reiz und aller Nobleſſe feiner beſten Bildniſſe, die
Figuren zu beiden Seiten ſaßen in ſtarrer Symmetrie,
ſtrenge, leidvolle Bilder der Einſamkeit, der Mann
mit in die Hand geſtütztem Haupt einem ſchweren Grü—
beln hingegeben, die Frau in Leid und leere Dumpf—
heit verloren.
Der Diener Robert hatte keine angenehmen Tage.
Herr Veraguth war ſonderbar nervös geworden. Er
7*
ä
konnte es nicht vertragen, daß im Nebenzimmer das
kleinſte Geräuſch war, wenn er arbeitete.
Die heimliche Hoffnung, die ſeit Burkhardts Beſuch
in Veraguth lebendig geworden war, ſaß wie ein Feuer
in ſeiner Bruſt, brannte aller Unterdrückung zum Trotz
weiter und färbte nachts ſeine Träume mit lockendem
und erregendem Licht. Er wollte nicht auf ſie hören, er
wollte nichts von ihr wiſſen, er wollte nichts als arbeiten
und Ruhe im Herzen haben. Und er fand die Ruhe
nicht, er fühlte das Eis ſeines freudloſen Daſeins ſchmel—
zen und alle Grundfeſten ſeiner Exiſtenz ins Wanken ge—
raten, er ſah in Träumen ſein Atelier verſchloſſen und
ausgeräumt, er ſah ſeine Frau von ihm fortreiſen, aber
ſie hatte Pierre mit ſich genommen, und der Knabe
ſtreckte die dünnen Arme nach ihm aus. Am Abend ſaß
er manchmal in ſeinem unbehaglichen Wohnzimmerchen
Stunde um Stunde allein, in den Anblick der indiſchen
Photographien vertieft, bis er ſie von ſich ſchob und die
ermüdeten Augen ſchloß.
Zwei Mächte kämpften in ihm einen harten Kampf,
aber die Hoffnung war ſtärker. Immer wieder mußte er
ſich ſeine Geſpräche mit Otto wiederholen, immer wär—
mer ftiegen alle unterdrückten Wünſche und Bediirfniffe
ſeiner kräftigen Natur aus der Tiefe hervor, wo ſie ſo
lange gefangen und erfroren gelegen waren, und dieſem
Empordrängen und frühlinghaften Erwarmen hielt der
alte Wahn nicht ſtand, der kranke Wahn, er fei ein alter
— 16%. =~
Mann und habe nichts mehr zu tun als das Leben zu
ertragen. Die tiefe, mächtige Hypnoſe der Reſignation
war unterbrochen worden, und durch die Lücke drangen
die unbewußten triebhaften Kräfte eines lang gebändig—
ten und betrogenen Lebens ſchwärmend ein.
Je klarer dieſe Stimmen erklangen, deſto ängſtlicher
zuckte des Malers Bewußtſein in der ſchmerzlichen
Furcht vor dem letzten Erwachen. Immer wieder tat er
krampfhaft die geblendeten Augen zu und ſträubte ſich,
in allen Faſern fiebernd, gegen das notwendige Opfer.
Johann Veraguth zeigte ſich ſelten im Hauſe drüben,
er ließ ſich faſt alle Mahlzeiten ins Atelier bringen und
brachte die Abende häufig in der Stadt zu. Traf er aber
mit ſeiner Frau oder mit Albert zuſammen, ſo war er
ſtill und milde und ſchien alle Feindſeligkeit vergeſſen zu
haben. 8
Um Pierre ſchien er fic) wenig zu kümmern. Sonſt
hatte er den Kleinen mindeſtens einmal am Tage zu ſich
gelockt und bei ſich gehabt oder war mit ihm im Garten
geweſen. Jetzt konnten Tage vergehen, ohne daß er das
Kind ſah oder nach ihm verlangte. Lief ihm der Knabe
in den Weg, ſo küßte er ihn nachdenklich auf die Stirn,
ſah ihm mit trauriger Zerſtreutheit in die Augen und
ging ſeines Weges.
Einmal kam Veraguth am Nachmittag in den Ka—
ſtaniengarten herüber, es war lau und windig, und ein
warmer Regen ſprühte in winzigen Tropfen ſchräg
S
herab. Vom Hauſe klang aus offenen Fenſtern Muſik.
Der Maler blieb ſtehen und hörte zu. Er kannte das
Stück nicht. Es klang rein und ernſthaft in einer ſehr
ſtrengen, wohlgebauten und abgewogenen Schönheit,
und Veraguth lauſchte mit nachdenklicher Freude. Son⸗
derbar, eigentlich war das eine Muſik für alte Leute, ſie
klang fo ſchonend und männlich und hatte fo gar nichts
von dem bacchiſchen Taumel jener Muſik, die er ſelber
einſt in Jugendzeiten über alles geliebt hatte.
Still trat er ins Haus, ſtieg die Treppe empor und
erſchien ungemeldet lautlos im Muſikzimmer, wo nur
Frau Adele ſein Kommen bemerkte. Albert ſpielte, und
ſeine Mutter ſtand zuhörend beim Flügel; Veraguth
ſetzte ſich auf den nächſten Seſſel, ſenkte den Kopf und
verharrte lauſchend. Zwiſchenein blickte er auf und ließ
den Blick auf ſeiner Frau ruhen. Sie war hier zu Hauſe,
fie hatte in dieſen Zimmern ſtille, enttäuſchte Jahre ge:
lebt wie er in der Werkſtatt drüben am See, aber ſie
hatte Albert gehabt, ſie war mit ihm gegangen und ge—
wachſen, und nun war der Sohn ihr Gaſt und Freund
und bei ihr zu Hauſe. Frau Adele war etwas gealtert,
ſie hatte gelernt, ſtill zu ſein und ſich zu begnügen, ihr
Blick war feſt und ihr Mund etwas trocken geworden;
aber ſie war nicht entwurzelt, ſie ſtand ſicher in ihrer
eigenen Atmoſphäre, und ihre Luft war es, in der die
Söhne aufwuchſen. Sie hatte wenig Uberfchrang
und nicht allzuviel impulſive Zärtlichkeit zu geben, es
fehlte ihr faft alles, was ihr Mann einſt an ihr geſucht
und von ihr erhofft hatte, aber es war Heimat um
ſie her, es war Art und Charakter in ihrem Geſicht,
in ihrem Weſen, in ihren Räumen, es war hier ein
Boden, in welchem Kinder aufwachſen und dankbar
gedeihen konnten.
Veraguth nickte wie befriedigt. Hier war niemand,
der etwas verlieren konnte, wenn er für immer ver—
ſchwand. Er war in dieſem Hauſe entbehrlich. Er würde
immer wieder und überall in der Welt ein Atelier bauen
können und ſich mit Tätigkeit und Arbeitsglut umgeben,
nur würde es nie eine Heimat werden. Er hatte das
eigentlich lange gewußt, und es war gut ſo.
Nun hörte Albert auf zu ſpielen. Er fühlte, oder er
ſah es am Blick der Mutter, daß jemand ins Zimmer
gekommen ſei. Er wandte ſich um und ſah den Vater
erſtaunt und mißtrauiſch an.
„Guten Tag“, ſagte Veraguth.
„Guten Tag“, antwortete der Sohn verlegen und
begann fic) am Notenſchrank zu beſchäftigen.
„Ihr habt muſtziert?“ fragte der Vater freundlich.
Albert zuckte die Achſeln, als wolle er fragen: Haſt
du es denn nicht gehört? Er wurde rot im Geſicht und
verbarg es in die tiefen Fächer des Schranks.
„Es war ſchön“, fuhr der Vater fort und lächelte.
Er fühlte tief, wie ſehr ſein Beſuch hier ſtöre, und er
ſagte nicht ohne einen leiſen Anklang von Schaden—
— 104 —
freude: „Bitte, fpiel’ noch etwas! Was du willſt! Du
haſt gute Fortſchritte gemacht.“
„Ach, ich mag nimmer“, wehrte ſich Albert ärgerlich.
„Es wird ſchon gehen. Ich bitte darum.“
Frau Veraguth ſah ihren Mann prüfend an.
„Alſo, Albert, ſetz' dich her!“ ſagte ſie und legte ein
Notenheft auf. Sie ſtreifte dabei mit dem Armel einen
kleinen ſilbernen Blumenkorb voll Roſen, der auf dem
Flügel ſtand, und es fiel eine Reihe blaſſer Blütenblätter
auf das ſpiegelnde ſchwarze Holz.
Der Jüngling ſetzte ſich auf den Klavierſtuhl und be—
gann zu ſpielen. Er war verwirrt und voll Arger und
ſpielte die Muſik herunter wie ein läſtiges Penſum, raſch
und lieblos. Der Vater hörte eine Weile aufmerkſam
zu, dann verſank er in Nachſinnen, ſtand endlich plötz—
lich auf und ging geräuſchlos aus dem Zimmer, noch
ehe Albert fertig war. Im Weggehen hörte er den Jun—
gen wütend auf die Taſten loshämmern und ſein Spiel
abbrechen.
„Ihnen wird nichts fehlen, wenn ich weg bin“, dachte
der Maler, indem er die Treppe hinabſtieg. „Herrgott,
wie weit ſind wir auseinander, und ſind doch einmal eine
Art von Familie geweſen!“
Im Korridor lief ihm Pierre entgegen, ſtrahlend und
in großer Aufregung.
„O Papi,“ rief er atemlos, „gut, daß du da biſt!
Denk' dir, ich habe eine Maus, eine kleine lebendige
Maus! Schau', da in meiner Hand - ſiehſt du die Aus
gen? Die gelbe Katze hat ſie gefangen, und ſie hat mit
ihr geſpielt und hat ſie ſo ſehr gequält und ſie immer
wieder ein Stückchen laufen laſſen und wieder gefangen.
Da habe ich ganz, ganz ſchnell zugegriffen und habe ihr
die Maus vor der Naſe weggefangen! Was tun wir
jetzt mit ihr?“
Er blickte heiß vor Freude empor und ſchauderte doch,
als die Maus in ſeiner kleinen, feſtgeſchloſſenen Hand
wühlte und kurze bange Pfiffe ausſtieß.
„Wir laſſen ſie im Garten draußen laufen,“ ſagte der
Vater, „komm mit!“
Es ließ ſich einen Regenſchirm geben und nahm den
Knaben mit ſich. Es tröpfelte ſchwach aus dem heller
gewordenen Himmel, die naſſen, glatten Stämme der
Buchen glänzten ſchwarz wie Gußeiſen.
Zwiſchen dem üppigen, zäh ineinander verknoteten
Wurzelwerk einiger Bäume machten ſie halt. Pierre
kauerte hockend nieder und machte ganz langſam ſeine
Hand auf. Sein Geſicht war gerötet, und die hellen,
grauen Augen ſtrahlten vor heftiger Spannung. Und
plötzlich, als werde die Erwartung ihm unerträglich,
öffnete er das Händchen weit. Die Maus, ein winzig
kleines, junges Tierchen, ſchoß blindlings aus der
Haft hervor, hielt eine Elle weiter vor einem ſtarken
Wurzelſtrange an und blieb ſtill da ſitzen. Man
ſah ihre Flanken von heftigen Atemzügen bewegt
— 106 —
und ihre kleinen ſchwarzglänzenden Auglein angſtvoll
umſchauen. ;
Pierre jauchzte laut auf und klatſchte in die Hände. Die
Maus erſchrak und verſchwand wie verzaubert im Bo-
den. Sachte ſtrich der Vater dem Knaben das dichte
Haar zurück.
„Kommſt du mit mir, Pierre?“
Der Kleine legte ſeine rechte Hand in des Vaters Linke
und ging mit ihm.
„Jetzt iſt die kleine Maus ſchon daheim bei ihrer
Mama und bei ihrem Papi und erzählt ihnen alles.“
Er plauderte ſprudelnd weiter, und der Maler um—
ſchloß ſeine kleine warme Hand mit feſten Fingern, und
mit jedem Wort und Jauchzen des Kindes zuckte ſein
Herz auf und ſank in Abhängigkeit und ſchweren Liebes⸗
bann zurück.
Ach, nie mehr im Leben würde er eine ſolche Liebe
fühlen können wie zu dieſem Knaben. Nie mehr würde
er Augenblicke ſo voll warmer, ſtrahlender Zärtlichkeit,
fo voll ſpielenden Selbſtvergeſſens, fo voll ſtarker, weh⸗
mütiger Süßigkeit erleben können wie mit Pierre, mit
dieſem letzten, ſchönen Bilde ſeiner eigenen Jugend.
Seine Anmut, ſein Lachen, die Friſche ſeines kleinen,
ſelbſtbewußten Weſens waren der letzte frohe, reine
Klang in Veraguths Leben, ſo ſchien es ihm; ſie waren
für ihn, was der letzte vollblühende Roſenbaum in einem
ſpätherbſtlichen Garten iſt. An ihm hängt Wärme und
Sonne, Sommer und Gartenfröhlichkeit, und wenn ihn
der Sturm oder Reif entblättert, iſt es mit allem Reiz
und mit jeder Ahnung von Glanz und Freude vorüber.
„Warum magſt du eigentlich den Albert nicht lei—
den?“ fragte Pierre plötzlich.
Veraguth drückte die Kinderhand feſter.
„Ich mag ihn ſchon leiden. Er hat eben die Mutter
lieber als mich. Dafür kann man nichts.“
„Ich glaube, er kann dich gar nicht leiden, Papa. Und
weißt du, er hat auch mich nimmer ſo gern wie früher.
Er ſpielt nur immerfort Klavier oder ſitzt allein in ſeinem
Zimmer. Am erſten Tag, als er kam, habe ich ihm von
meinem eigenen Garten erzählt, den ich ſelber gepflanzt
habe, und da hat er gleich fo ein großartiges Geſicht ge-
macht, und dann ſagte er: Morgen wollen wir dann
deinen Garten anſehen. Aber nun hat er die ganze Zeit
nicht mehr danach gefragt. Er iſt kein guter Kamerad,
und er kriegt auch ſchon einen kleinen Schnurrbart. Und
immer iſt er bei der Mutter, ich kann ſie faſt nie allein
haben.“
„Er iſt auch nur für ein paar Wochen da, mein Junge,
du mußt das nicht vergeſſen. Und wenn du die Mama
nicht allein findeſt, kannſt du ja immer zu mir kommen.
Magſtt du nicht?“
„Das iſt nicht das gleiche, Papi. Manchmal mag ich
gern zu dir kommen und manchmal lieber zur Mama.
Und du mußt ja auch immer ſo furchtbar viel arbeiten.“
— 108 —
„Daran brauchſt du dich gar nicht zu kehren, Pierre.
Wenn du gern zu mir kommen magſt, fo darfſt du im—
mer kommen - hörſt du, immer, auch wenn ich im Ate—
lier bin und arbeite.“
Der Knabe gab keine Antwort. Er ſah den Vater an,
ſeufzte ein wenig und ſah unbefriedigt aus.
„Iſt dir das nicht recht?“ fragte Veraguth, beklom—
men vor dem Ausdruck in dem Kindergeſicht, das vor
Augenblicken noch von lärmender Knabenluſt geleuchtet
hatte und nun abgewandt und viel zu alt ausſah.
Er wiederholte ſeine Frage.
„Sag' mir's nur, Pierre! Biſt du nicht mit mir zu—
frieden?“ ,
„Doch, Papa. Aber ich mag nicht fo gern zu dir kom—
men, wenn du malſt. Früher bin ich manchmal ge:
kommen — — —“
„Nun, und was hat dir da nicht gefallen?“
„Weißt du, Papa, wenn ich dich im Atelier beſuche,
dann ſtreichelſt du mir immer übers Haar und ſagſt nichts
und haſt ganz andere Augen, und manchmal haſt du
böſe Augen gemacht, ja. Und wenn man dir dann etwas
ſagt, dann ſieht man an deinen Augen, daß du gar nicht
zuhörſt, du ſagſt nur jaja und paſſeſt gar nicht auf.
Und wenn ich zu dir komme und dir etwas ſagen will,
dann will ich doch, daß du zuhörſt!“
„Du mußt trotzdem wieder kommen, Liebling. Denk'
einmal: wenn ich mit meinen Gedanken ganz, ganz feſt
bei dem bin, was ich gerade arbeite, und wenn ich recht
ſtark nachdenken muß, wie ich es am beſten machen kann,
dann kann ich manchmal nicht gleich davon wegkommen
und auf dich hören. Aber ich will es verſuchen, wenn du
wiederkommſt.“
„Ja, ich verſtehe ſchon. Ich muß auch oft an irgend
etwas denken, und dann ruft mir jemand, und ich ſoll
ihm folgen = das iſt widerwärtig. Manchmal mag ich
den ganzen Tag ſtill ſein und nachdenken, und gerade
dann ſoll ich immer ſpielen und lernen oder irgend etwas
tun, und dann werde ich ganz böſe.“
Pierre blickte vor ſich hin, angeſtrengt in dem Be—
mühen, das auszudrücken, was er meinte. Es war
ſchwierig, und man wurde doch meiſtens nicht ganz ver⸗
ſtanden.
Sie waren in Veraguths Wohnzimmer eingetreten.
Er ſetzte ſich und nahm den Kleinen zwiſchen ſeine Knie.
„Ich weiß, was du meinſt, Pierre“, ſagte er begüti—
gend. „Willſt du jetzt Bilder anſehen, oder magſt du
zeichnen?“ Ich meine, du könnteſt vielleicht die Maus—
geſchichte zeichnen?“
„O ja, das will ich tun. Dazu muß ich aber ein ſchönes
großes Papier haben.“
Aus einer Tiſchlade ſuchte der Vater ein Stück Zei—
chenpapier hervor, ſpitzte den Bleiſtift und ſchob dem
Knaben einen Stuhl heran. Pierre fing alsbald, auf
dem Seſſel kniend, die Maus und die Katze zu zeichnen
=) BAO) F=
an. Veraguth, um ihn nicht zu ſtören, ſetzte ſich hinter
ihn und betrachtete den dünnen gebräunten Hals, den
geſchmeidigen Rücken und den noblen, eigenwilligen
Kopf des Kindes, das ganz in ſein Tun verſunken
war und mit ungeduldigem Lippenſpiel ſeiner Arbeit
folgte. Jeder Strich, jeder kleine Fortſchritt und jedes
Mißglücken war in dem beweglichen Munde, in der
Bewegung der Brauen und Stirnfalten deutlich ge—
ſpiegelt.
„Ach, es iſt nichts!“ rief Pierre nach einer Weile, rich—
tete ſich, auf die flachen Hände geſtützt, empor und
ſchaute ſeine Zeichnung kritiſch mit eingekniffenen Au—
gen an.
„Es wird nichts!“ klagte er zürnend. „Papa, wie
macht man denn eine Katze? Meine ſieht wie ein Hund
aus.“
Der Vater nahm das Papier in die Hände und ging
ernſthaft darauf ein.
„Wir müſſen ein wenig radieren,“ ſagte er gelaſſen.
„Der Kopf iſt zu groß und nicht rund genug, und die
Beine ſind zu lang. Warte nur, wir kriegen das ſchon
heraus.“
Vorſichtig fuhr er mit dem Gummi über Pierres
Blatt, holte ein neues Papier und zeichnete darauf eine
Katze.
„Schau', ſo muß ſie werden. Sieh dir's ein wenig an
und zeichne dann eine neue Katze.“
te.
Allein Pierres Geduld war erſchöpft, er gab den Blei-
ſtift zurück, und nun mußte der Papa weiterzeichnen, zur
Katze noch eine kleine junge Katze, und dann eine Maus,
und dann, wie Pierre kommt und ſie befreit, und ſchließ—
lich verlangte er noch einen Wagen mit Pferden und
einem Kutſcher darauf.
Und plötzlich war auch das langweilig. Singend lief
der Knabe ein paarmal durch die Stube, ſchaute durchs
Fenſter, ob es noch regne, und tanzte zur Türe und hin—
aus. Unter den Fenſtern hin klang ſein feiner, hoher,
kindlicher Geſang, dann ward es ſtill, und Veraguth ſaß
allein, das Blatt mit den Katzen in der Hand.
Achtes Kapitel
4
Veraguth ſtand vor feinem großen Bilde mit den drei
Figuren und malte am Gewand der Frau, am dünnen,
blaugrünen Kleide, an deſſen Halsausſchnitt ein kleiner
Goldſchmuck verloren und traurig glänzte und allein
das liebe Licht auffing, das auf dem beſchatteten Geſicht
keine Stätte fand und an dem kühlen, blauen Gewande
fremd und freudlos niederglitt ... dasſelbe Licht, das
nebenan im hellen, offenen Haar des ſchönen Kindes
froh und innig ſpielte.
Es klopfte an der Türe, und der Maler trat unwillig
und gereizt zurück. Als es nach einer kleinen Wartezeit
nochmals pochte, ging er mit heftigen Schritten zur Tür
und öffnete einen ſchmalen Spalt.
Da ſtand Albert, der in der ganzen Ferienzeit das Ate—
lierhaus nie betreten hatte. Er hielt den Strohhut in der
Hand und blickte etwas unſicher in das nervöſe Geſicht
des Vaters.
Dieſer ließ ihn eintreten.
„Guten Tag, Albert. Du kommſt wohl, um dir meine
Bilder anzuſehen? Es iſt wenig da.“
„Oh, ich will gar nicht ſtören. Ich wollte nur ſchnell
fragen ...“
Aber Veraguth hatte die Türe geſchloſſen und war
an der Staffelei vorüber zu einem graugeſtrichenen Lat—
tengerüſte gegangen, wo auf ſchmalen, mit Rollen ver—
ſehenen Böden ſeine Bilder ſtanden. Er zog das Bild
mit den Fiſchen hervor.
Albert trat verlegen neben ſeinen Vater, und beide
blickten auf die ſilbrig ſchimmernde Leinwand.
„Machſt du dir eigentlich etwas aus der Malerei?“
fragte Veraguth leichthin. „Oder freut dich nur die
Muſik?“
„Oh, ich habe Bilder ſehr gern, und das hier iſt wun—
derſchön.“
„Gefällt es dir? Das freut mich. Ich laſſe dir eine
Photographie davon machen. Und wie fühlſt du dich
denn wieder auf Roßhalde?“
„Danke, Papa, ſehr gut. Aber ich wollte dich wirklich
nicht ftoren, ich kam nur wegen einer Kleinigkeit — —“
Der Maler hörte nicht. Er ſah ſeinem Sohn zerſtreut
ins Geſicht, mit dem langſam zugreifenden, etwas über—
anſtrengten Blick, den er ſtets bei der Arbeit hatte.
„Wie denkt ihr jungen Leute heutzutage eigentlich
über die Kunſt? Ich meine, gilt da Nietzſche, oder lieſt
man noch Laine — er war geſcheit, aber langweilig, die-
fer Taine — oder habt ihr neue Ideen?“
„Taine kenne ich noch nicht. Über das haſt du ja ge—
wiß viel mehr nachgedacht als ich.“
„Früher, ja, da war die Kunſt und die Kultur und das
8 Heſſe, Roßhalde
;
sane 114 —
Apolliniſche und Dionyſiſche und all das Zeug mir
furchtbar wichtig. Aber heut bin ich froh, wenn ich ein
gutes Bild zuſammenbringe, es ſind keine Probleme
mehr dabei, jedenfalls keine philoſophiſchen. Und wenn
ich ſagen müßte, warum ich eigentlich ein Künſtler bin
und alle die Leinwand vollmale, ſo würde ich ſagen: ich
male, weil ich keinen Schweif zum Wedeln habe.“
Erſtaunt ſah Albert ſeinen Vater an, der ſeit langem
kein ſolches Geſpräch mehr mit ihm geführt hatte.
„Keinen Schweif? Wie meinſt du das?“
„Sehr einfach. Hunde und Katzen und andere be—
gabte Tiere haben einen Schwanz, und nicht nur für das,
was ſie denken und fühlen und leiden, ſondern für jede
Laune und Schwingung ihres Weſens und für jede feine
Wallung ihres Lebensgefühls hat ihr Schwanz mit fau-
fend Schnörkeln eine wunderbar vollkommene Arabes—
kenſprache. Die haben wir nicht, und da die Lebhafteren
unter uns doch eben auch ſo etwas brauchen, ſo machen
fie ſich eben Pinſel und Klaviere und Geigen ...“
Er brach ab, als intereſſiere ihn die Unterhaltung
plötzlich nimmer oder als nehme er erſt jetzt wahr, daß
er allein rede und bei Albert kein rechtes Echo finde.
„Alſo ich danke für den Beſuch,“ ſagte er unver—
mittelt.
Er war wieder vor ſeine Arbeit getreten, hatte die
Palette an ſich genommen und ſtarrte ſuchend auf den
Fleck, wo der letzte Pinſelſtrich ſaß.
„Verzeih, Papa, ich möchte dich etwas fragen —“
Veraguth wandte ſich um, mit ſchon entfremdeten
Blicken und außer Zuſammenhang mit den Dingen, die
außerhalb ſeiner Arbeit lagen.
„Jas“
„Ich möchte Pierre auf einen Ausflug im Wagen
mitnehmen. Mama hat es erlaubt, aber ſie ſagte, ich
ſolle auch bei dir noch fragen.“
„Wohin wollt ihr denn fahren?“
„Ein paar Stunden weit über Land, vielleicht nach
Pegolzheim.“
„So. .. Wer kutſchiert denn?“
„Ich natürlich, Papa.“
„Meinetwegen, nimm Pierre mit! Aber im Einſpän—
ner, mit dem Braunen. Und daß er nicht zuviel Haber
kriegt!“
„Ach, ich ware viel lieber zweiſpännig gefahren!“
„Tut mir leid. Allein magſt du fahren, wie du willſt;
aber wenn der Kleine dabei iſt, nur mit dem Braunen.“
Etwas enttäuſcht zog Albert ſich zurück. Zu andern
Zeiten hãtte er getrotzt oder weiter gebeten, aber er ſah,
der Maler war ſchon wieder ganz bei ſeiner Arbeit, und
hier im Atelier und in der Atmoſphäre ſeiner Bilder im—
ponierte ihm trotz aller inneren Gegenwehr der Vater
doch jedesmal ſo ſehr, daß er ihm gegenüber, deſſen Au—
toritãt er ſonſt nicht anerkannte, ſich erbärmlich fnaben:
haft und ſchwach fühlte.
8 *
— 116 —
Der Maler war alsbald wieder mitten in ſeiner Ar—
beit, die Unterbrechung war vergeſſen und die Außen—
welt verweht. Mit ſtreng konzentriertem Blick verglich
er die Fläche der Leinwand mit dem lebendigen Bilde in
ſeinem Innern. Er fühlte die Muſik des Lichtes, wie ſein
tönender Strom ſich verteilte und wiederfand, wie es an
Widerſtänden ermüdete, wie es aufgetrunken ward und
unbeſiegbar auf jeder empfänglichen Fläche neu trium⸗
phierte, wie es in den Farben mit wähleriſcher, doch un:
fehlbarer Laune in peinlichſter Empfindlichkeit ſpielte, in
tauſend Brechungen unzerſtört und in tauſend ſpieleri—
ſchen Irrgängen untrüglich ſeinem eingeborenen Ge—
ſetze treu. Und er koſtete in tiefen Zügen die herbe Luft
der Kunſt, die ſtrenge Freude des Schöpfers, der ſich fel-
ber bis zur Grenze der Vernichtung hergeben muß, der
das heilige Glück der Freiheit nur im eiſernen Bändigen
jeder Willkür finden und die Augenblicke der Erfüllung
nur im aſzetiſchen Gehorſam gegen das Wahrhaftig—
keitsgefühl erleben kann.
Es war ſeltſam und betrübend, doch nicht ſeltſamer
und trauriger als alles Menſchengeſchick: dieſer be—
herrſchte Künſtler, dem nur aus tiefſter Wahrhaftigkeit
und aus unerbittlich klarer Konzentration zu arbeiten
möglich ſchien, dieſer ſelbe Mann, in deſſen Werkſtatt
keine Laune und keine Unſicherheit Raum gewann, er
war in ſeinem Leben ein Dilettant und geſcheiterter
Glückſucher geweſen, und er, der keine mißglückte Tafel
oder Leinwand aus den Händen gab, litt tief unter der
dunkeln Laſt ungezählter mißglückter Tage und Jahre,
mißglückter Liebes- und Lebensverſuche.
Ihm kam es nicht zum Bewußtſein. Er hatte ſeit
langem das Bedürfnis verloren, ſein Leben klar vor
ſich auszubreiten. Er hatte gelitten und ſich gegen
das Leid gewehrt, in Empörung und in Reſignation,
und er hatte damit geendet, die Dinge ihren Weg
gehen zu laſſen und ſich nur ſeine Arbeit zu erhalten.
Und es war ſeiner zähen Natur gelungen, ſeine
Künſtlerſchaft beinahe um das reicher und tiefer und
glühender zu machen, was ſein Leben an Reichtum,
Tiefe und Wärme verlor. Einſam und geharniſcht
ſaß er nun wie ein Verzauberter, eingeſponnen in
ſeinen Künſtlerwillen und rückſichtsloſen Fleiß, und
ſein Weſen war geſund und eigenwillig genug, die
Armut dieſes Daſeins nicht zu ſehen und nicht an—
erkennen zu wollen.
So war es bis vor kurzem geweſen, bis der Freundes—
beſuch ihn aufgerüttelt hatte. Seither umgab den Ein—
ſamen eine beängſtigende Ahnung von Gefahr und
Schickſalsnähe, er fühlte Kämpfe und Prüfungen auf
ſich warten, in denen nicht ſeine Kunſt und nicht ſein
Fleiß ihn retten konnten. Sein beſchädigtes Menſchen—
tum witterte Sturm und fand keine Wurzeln und Kräfte
in ſich, ihn auszuhalten. Und nur langſam wollte ſeine
vereinſamte Seele ſich an den Gedanken gewöhnen, es
— 118 —
müſſe nun nächſtens der Kelch verſchuldeten Leides bis
zur Hefe ausgetrunken werden.
Im Kampf wider dieſe drohenden Ahnungen und in
der Scheu vor klaren Gedanken oder gar Entſchlüſſen
zog ſich des Malers ganze Natur, als ſei es vielleicht
zum letzten Male, nochmals in einer ungeheuren An⸗
ſtrengung zuſammen wie ein verfolgtes Tier zum retten⸗
den Sprunge, und ſo ſchuf Johann Veraguth in dieſen
Tagen der inneren Beängſtigung mit einem verzweifel—
ten Zuſammenraffen eines ſeiner größten und ſchönſten
Werke, das ſpielende Kind zwiſchen den gebeugten leid—
vollen Geſtalten der Eltern. Vom ſelben Boden getra—
gen, von derſelben Luft umfloſſen und vom ſelben Licht
beſchienen hauchten die Figuren des Mannes und Wei⸗
bes Tod und bitterſte Kühle aus, indeſſen goldig und
frohlockend in ihrer Mitte das Kind ſelig wie im eigenen
Lichte leuchtete. Und wenn ſpäter, ſeinem eigenen be—
ſcheidenen Urteil entgegen, einige Bewunderer den Ma⸗
ler dennoch zu; den wirklich Großen rechneten, fo taten
ſie es vor allem dieſes Bildes wegen, das ſo ſchmerzlich
voll von Seele war, obwohl es nichts zu ſein begehrte
als ein vollkommenes Stück Handwerk.
In dieſen Stunden wußte Veraguth nichts von
Schwäche und Angſt, nichts von Leid und Schuld und
verfehltem Leben. Er war nicht froh noch traurig, von
ſeinem Werk gebannt und aufgeſogen atmete er die kalte
Luft ſchöpferiſcher Einſamkeit und begehrte nichts von
der Welt, die ihm verſunken und vergeſſen war. Raſch
und ſicher, mit vor Anſtrengung vorquellenden Augen,
ſetzte er in kleinen, ſchneidigen Drückern die Farbe hin,
trieb einen Schatten tiefer zurück, lofte ein ſchwebendes
Blatt, eine ſpielende Locke freier und weicher im Lichte
auf. Dabei dachte er nicht im mindeſten an das, was
ſein Bild ausdrückte. Das war erledigt, das war eine
Idee, ein Einfall geweſen; jetzt ging es nicht um Be—
deutungen, Gefühle und Gedanken, ſondern um reine
Wirklichkeit. Er hatte ſogar den Ausdruck der Geſichter
wieder abgeſchwächt und nahezu ausgelöſcht, es lag ihm
nichts am Dichten und Erzählen, und die um ein Knie
gebauſchte Mantelfalte war ihm ſo wichtig und heilig
wie die geſenkte Stirn und der geſchloſſene Mund. Auf
dem Bilde ſollte nichts zu ſehen ſein als drei Menſchen in
vollkommenſter Gegenſtändlichkeit, jeder durch Raum
und Luft den andern verbunden, jeder dennoch umfloſſen
von der Einzigkeit, die jedes tiefgeſchaute Gebilde aus
der nebenſächlichen Welt der Beziehungen losreißt und
den Beſchauer mit ſchauerndem Erſtaunen über die
ſchickſalhafte Notwendigkeit jeder Erſcheinung erfüllt.
So blicken uns aus Bildern toter Meiſter fremde Men—
ſchengeſtalten, deren Namen wir nicht wiſſen und nicht
zu wiſſen begehren, überlebendig und rätſelhaft wie
Sinnbilder alles Seins entgegen.
Das Bild war weit gefördert und nahezu fertig. Das
Vollenden der ſüßen Kindergeſtalt hatte er ſich zum
= 108. >=
Schluſſe aufbehalten, daran dachte er morgen oder uber:
morgen zu gehen.
Die Mittagszeit war überſchritten, als der Maler
Hunger verſpürte und auf die Uhr ſah. Er wuſch ſich
eilig, kleidete ſich um und ging ins Herrſchaftshaus bins
über, wo er ſeine Frau ganz allein am Tiſche wartend
fand.
„Wo ſind die Buben?“ fragte er verwundert.
„Sie ſind ausgefahren. War Albert denn nicht bei
dir?“
Nun erſt fiel ihm Alberts Beſuch wieder ein. Zerſtreut
und etwas befangen begann er zu eſſen. Frau Adele be-
obachtete ihn, wie er unachtſam und müde die Speiſen
zerſchnitt. Sie hatte ihn eigentlich nicht mehr zu Tiſche
erwartet, und es überraſchte ſie ſeinem überanſtrengten
Geſichte gegenüber eine Art von Mitleid. Sie ſchwieg
und legte ihm vor, ſchenkte ihm Wein ins Glas, und er,
eine unbeſtimmte Freundlichkeit erfühlend, nahm ſich zu⸗
ſammen, ihr etwas Angenehmes zu ſagen.
„Will Albert eigentlich Muſiker werden?“ fragte er.
„Ich glaube, er hat viel Talent.“
„Ja, er iſt begabt. Aber ich weiß nicht, ob er zum
Künſtler paſſen würde. Zu wünſchen ſcheint er es nicht.
Er hat bis jetzt noch zu keinem Beruf beſondere Luſt, und
ſein Ideal wäre eine Art von Gentleman, der gleichzeitig
Sport und Studien, Geſelligkeit und Kunſt betriebe.
Leben wird er davon ſchwerlich können, das werde ich
—- ies —
ihm mit der Zeit klarmachen müſſen. Einſtweilen iſt er
ja fleißig und hat gute Manieren, da mag ich ihn nicht
unnütz ſtören und unruhig machen. Wenn er ſeine Ma—
turität gemacht hat, will er ohnehin zuerſt Soldat wer—
den. Später ſieht man weiter.“
Der Maler ſchwieg. Er ſchälte eine Banane und roch
befriedigt an der reifen, nahrhaft und mehlig duftenden
Frucht.
„Wenn es dich nicht ſtört, möchte ich noch den Kaffee
hier nehmen“, ſagte er ſchließlich.
Sein Ton war von ſchonender Freundlichkeit und
etwas müde, als behage es ihm, hier auszuruhen und es
ein wenig gut zu haben.
„Ich laſſe ihn ſofort bringen. — Du haſt viel ge—
arbeitet?“
Das war ihr entſchlüpft, beinahe ohne daß ſie es
wußte. Sie wollte eigentlich nichts damit ſagen; ſie
wollte nur, da es eben eine ſelten gute Stunde war, ein
wenig Aufmerkſamkeit zeigen, und das fiel nicht leicht,
da die Gewohnheit fehlte.
„Ja, ich habe ein paar Stunden gemalt“, ſagte ihr
Mann trocken.
Es ſtörte ihn, daß ſie das fragte. Es war zwiſchen
ihnen Sitte geworden, daß von ſeiner Arbeit nie geredet
werde, und viele von ſeinen neueren Bildern hatte ſie
überhaupt nie geſehen.
Sie fühlte, daß der helle Augenblick verrinne, und ſie
„
tat nichts, ihn zu halten. Und er, der ſchon die Hand nach
ſeinem Etui ausgeſtreckt hatte, um ſich die Erlaubnis zu
einer Zigarette zu erbitten, ließ die Hand wieder ſinken
und hatte die Luſt dazu verloren.
Doch trank er ohne Eile ſeinen Kaffee, tat noch eine
Frage nach Pierre, dankte mit Höflichkeit und blieb noch
einige Minuten im Zimmer, ein kleines Bild betrachtend,
das er ſeiner Frau vor manchen Jahren geſchenkt hatte.
„Es hält ſich gut“, ſagte er, halb zu ſich ſelbſt, „und
ſieht noch ganz hübſch aus. Nur die gelben Blumen find
eigentlich entbehrlich, fie ziehen zuviel Helligkeit da her⸗
über.“
Frau Veraguth ſagte nichts; es waren zufällig gerade
die äußerſt duftig und fein gemalten gelben Blumen,
die ſie an dem Bilde vor allem gern hatte.
Er wandte ſich um und lächelte leicht.
„Auf Wiederſehen! Und langweile dich nicht zu ſehr,
bis die Jungen zurückkommen.“
Damit ging er hinaus und die Treppe hinab. Unten
ſprang der Hund an ihm in die Höhe. Er nahm ſeine
Tatzen in die linke Hand zuſammen, ſtreichelte ihn mit
der rechten und ſah ihm in die eifrigen Augen. Dann
rief er durchs Küchenfenſter nach einem Stück Zucker,
gab es dem Hunde, warf einen Blick auf den ſonnigen
Raſenplatz und ging langſam ins Atelier hinüber. Es
war heute hübſch hier draußen und eine herrliche Luft;
aber er hatte keine Zeit, er mußte arbeiten.
Im ftillen, aufgelöſten Licht der hohen Werkſtatt
ſtand ſein Bild. Auf einer grünen Fläche mit wenigen
kleinen Wieſenblumen ſaßen die drei Figuren: der Mann
gebückt und in ein hoffnungsloſes Grübeln vergraben,
die Frau ergeben wartend in enttäuſchter Freudloſigkeit,
das Kind hell und arglos in den Blumen ſpielend, und
über ihnen allen ein intenſives, wogendes Licht, das
triumphierend im Raume flutete und in jedem Blumen—
kelch mit derſelben unbekümmerten Innigkeit aufſtrahlte
wie im lichten Haar des Knaben und in dem kleinen
Goldſchmuck am Halfe der betrübten Frau.
Neuntes Kapitel
Der Maler hatte bis gegen den Abend weitergearbei—
tet. Nun ſaß er, die Hände im Schoß und ſtumpf vor
Ermüdung, eine Weilezuſammengeſunken im Armſtuhl,
vollkommen leer und ausgepreßt, mit erſchlafften Wan—
gen und etwas entzündeten Augenlidern, alt und faſt
leblos wie ein Bauer oder Holzhauer nach der ſchwerſten
körperlichen Arbeit.
Am liebſten wäre er fo ſitzengeblieben und hätte ſich
ganz der Müdigkeit und der Schlafſehnſucht überlaſſen.
Seine herriſche Zucht und Gewohnheit verlangte es aber
anders, und er raffte ſich nach einer Viertelſtunde mit
einem Ruck zuſammen. Er ſtand auf, ohne mehr einen
Blick nach dem großen Bilde hin zu tun, ging zur Bade—
ſtelle am Weiher, zog ſich aus und ſchwamm langſam
um den See.
Es war ein milchig bleicher Abend, vom nächſten Feld-
wege her kam, durch den Park gedämpft, das Geräuſch
knarrender Heuwagen und das ſchwerfällige Rufen und
Lachen müdgearbeiteter Knechte und Mägde herüber—
geklungen. Fröſtelnd ſtieg Veraguth ans Land, rieb ſich
ſorgfältig warm und trocken, ging in fein kleines Wohn⸗
zimmer und zündete eine Zigarre an.
Er hatte diefen Abend Briefe ſchreiben wollen, nun
rückte er unſchlüſſig an der Tiſchlade, ſchob ſie aber
ärgerlich wieder zu und ſchellte nach Robert.
Der Diener kam gelaufen.
„Sagen Sie, wann ſind die jungen Leute mit dem
Wagen zurückgekommen?“
„Noch nicht, Herr Veraguth.“
„Was, ſie ſind noch gar nicht zurück?“
„Nein, Herr Veraguth. Wenn Herr Albert nur den
Braunen nicht zu ſehr ſtrapaziert hat, er fährt gern ein
wenig ſtreng.“
Sein Herr gab keine Antwort. Er hatte ſich ge—
wünſcht, noch ein halbes Stündlein Pierre bei ſich zu
haben, den er längſt heimgekehrt glaubte. Nun war er
über die Nachricht ärgerlich und etwas erſchrocken.
Er lief ins Herrenhaus hinuͤber und klopfte am Zim⸗
mer ſeiner Frau. Sie begrüßte ihn erſtaunt, es war ſeit
langem nicht geſchehen, daß er ſie hier und um dieſe Zeit
aufſuchte.
„Entſchuldige,“ ſagte er in unterdruͤckter Erregtheit,
„aber wo iſt Pierre?“
Frau Adele ſah ihren Mann verwundert an.
„Die Jungen ſind mit dem Wagen fort, du weißt ja.“
Da ſie ſeine Gereiztheit fuͤhlte, fügte ſie bei: „Du wirſt
doch nicht ängſtlich fein?”
Er zuckte ärgerlich die Achſeln.
„Ach nein. Aber ich finde es ruͤckſichtslos von Albert.
— 126 —
Er fprach von ein paar Stunden. Wenigſtens hätte er
uns telephonieren können.“
„Es iſt ja noch früh. Sie werden gewiß zum Abend—
eſſen da ſein.“
„Immer iſt der Kleine weg, wenn ich ihn einmal ein
bißchen haben möchte!“
„Es hat keinen Sinn, daß du dich ſo ärgerſt. Es
iſt doch der reine Zufall. Pierre iſt oft genug bei dir
drüben.“
Er biß ſich auf die Lippen und ging ſchweigend hinaus.
Sie hatte recht, es hatte keinen Sinn, ſich aufzuregen,
es hatte keinen Sinn, lebhaft zu ſein und etwas vom
Augenblick zu verlangen! Es war beſſer, in geduldiger
Gelaſſenheit zu ſitzen, wie ſie es tat!
Zornig ging er zum Hof hinaus und auf die Land—
ſtraße. Nein, er wollte das nicht lernen, er wollte ſeine
Freude und wollte ſeinen Zorn haben! Wie hatte dieſe
Frau ihn ſchon gedämpft und ſtill gemacht, wie war er
ſchon beherrſcht und alt geworden, er, der früher ge⸗
wohnt geweſen war, frohe Tage lärmend in die tiefe
Nacht hineinzuziehen und im Arger die Stühle zu zer—
ſchmettern! Aller Groll und alle Bitterkeit kam wieder
in ihm auf, und zugleich ein ſehnliches Verlangen nach
ſeinem Knaben, deſſen Blick und Stimme allein ihn froh
machen konnten.
Mit großen Schritten lief er auf der abendlichen
Straße dahin. Wagenrollen wurde hörbar, und er eilte
ä rr hl le ee
— U q ] ũin.“ „EU—¶“ꝙͤÜͥnnn K
geſpannt entgegen. Es war nichts. Ein Bauerngaul
mit einem Karren voll Gemüſe. Veraguth rief ihn an.
„Haben Sie nicht einen Einſpänner überholt, mit zwei
jungen Leuten auf dem Bock?“
Der Bauer ſchüttelte den Kopf ohne anzuhalten, und
fein ſchweres Roß trabte gleichmütig weiter in den ſanf—
ten Abend hinein.
Im Weitergehen fühlte der Maler ſeinen Zorn erkal—
ten und hinſchwinden. Seine Schritte wurden ruhiger,
die Müdigkeit kam wohlig über ihn, und während er
bequem ausſchritt, ruhten ſeine Augen dankbar in der
ſtillen, reichen Landſchaft aus, die bleich und fein im
dunſtigen Spätlichte lag.
Er dachte kaum mehr an ſeine Söhne, als nach einer
halben Stunde Gehens ihm ihr Wagen entgegenkam.
Er achtete erſt darauf, als er ſchon nahe war. Bei einem
großen Birnbaum blieb Veraguth ſtehen, und als er
Alberts Geſicht erkennen konnte, trat er noch mehr zu-
rück, um nicht geſehen und angerufen zu werden.
Albert war allein auf dem Bock. Pierre ſaß halb
liegend in einer Wagenecke, hatte den unbedeckten Kopf
geſenkt und ſchien eingeſchlafen. Der Wagen rollte vor:
über, und der Maler ſah ihm nach, er blieb am Rande
der ſtaubigen Straße ſtehen, ſolange der Wagen noch
zu ſehen war. Dann kehrte er um und ging den Weg
zurück. Er hätte Pierre gerne noch geſehen, doch war
es für den Knaben bald Schlafenszeit, auch hatte
— 128 —
Veraguth keine Luft, ſich heute nochmals bei feiner
Frau zu zeigen.
So ging er am Park, am Hauſe und Hoftor vorbei
und in die Stadt hinunter, wo er in einem volkstümlichen
Weinkeller ſein Abendeſſen nahm und in den Zeitungen
blätterte.
Indeſſen waren ſeine Söhne längſt zu Hauſe. Albert
ſaß bei der Mutter und erzählte. Pierre war ſehr müde
geweſen, hatte gar nichts mehr eſſen mögen und lag nun
ſchlafend in ſeinem hübſchen kleinen Schlafzimmer. Und
als der Vater in der Nacht zurückkam und am Hauſe
vorüberging, war nirgends mehr ein Licht zu ſehen. Die
laue, ſternloſe Nacht umfing Park, Haus und See mit
ſchwarzer Stille, und aus der regungsloſen Luft fielen
feine, leiſe Regentropfen.
Veraguth machte in ſeiner Wohnſtube Licht und ſetzte
ſich an den Schreibtiſch. Sein Verlangen nach Schlaf
hatte ſich wieder ganz verloren. Er nahm ein Briefblatt
und ſchrieb an Otto Burkhardt. Durch die offenen
Fenſter kamen kleine Nachtfalter und Motten geflogen.
Er ſchrieb:
Mein Lieber!
Vermutlich erwarteſt Du jetzt gar keinen Brief von
mir. Aber wenn ich ſchon ſchreibe, erwarteſt Du wieder
mehr, als ich geben kann. Du erwartteſt, es fei jetzt Klar—
heit in mich gekommen und ich ſähe die ſchadhafte Ma⸗
ſchinerie meines Lebens ſo ſauber im Querſchnitt, wie
Du fie zu ſehen meinſt. Damit ift es leider nichts. Ein
Wetterleuchten iſt ja wohl in mir aufgegangen, ſeit wir
darüber geſprochen haben, und es ſtarren mir in mans
chen Augenblicken recht peinliche Enthüllungen entge—
gen; aber Tag iſt es doch noch nicht geworden.
Was ich alſo ſpäter tun oder laſſen werde, kann ich
nicht ſagen. Aber wir reiſen! Ich fahre mit Dir nach
Indien, bitte, beſorge mir einen Schiffsplatz, ſobald Du
den Termin weißt. Vor dem Ende des Sommers geht
es nicht, aber im Herbſt je eher je lieber.
Das Bild mit den Fiſchen, das Du hier ſaheſt, möchte
ich Dir ſchenken, aber es wäre mir lieb, wenn es in
Europa bliebe. Wohin ſoll ich es ſchicken?
Hier iſt alles wie immer. Albert ſpielt den Weltmann,
und wir behandeln einander mit ungeheurer Achtung
wie zwei Geſandte feindlicher Mächte.
Ehe wir reiſen, erwarte ich Dich noch einmal auf Roß—
halde. Ich muß Dir ein Bild zeigen, das dieſer Tage
fertig wird. Das Ding iſt gut und wäre ein hübſcher
Schlußpunkt, falls mich draußen Eure Krokodile fräßen,
was mir übrigens unerwünſcht wäre, trotz allem.
Ich muß zu Bett, obwohl ich keinen Schlaf habe. Ich
war heute neun Stunden vor der Staffelei.
Dein Johann
Der Brief wurde adreſſiert und in den Vorraum ge⸗
legt, damit ihn Robert morgens zur Poſt bringe.
9 Heſſe, Roßhalde
Als der Maler vor dem Schlafengehen den Kopf aus
dem Fenſter ſteckte, nahm er erſt das Rauſchen des Re—
gens wahr, auf das er am Schreibtiſch nicht geachtet
hatte. Es ſank in weichen Strähnen aus der Finſternis
herab, und er hörte noch lang vom Bett aus zu, wie es
fiel und ſtrömte und von dem beſchwerten Laub in kleinen
klingenden Güſſen zur dürſtenden Erde lief.
Zehntes Kapitel
„Pierre iſt ſo langweilig,“ ſagte Albert zu ſeiner
Mutter, als fie miteinander in den vom Regen erfriſch—
ten Garten gingen, um Roſen zu ſchneiden. „Er hat ſich
ja die ganze Zeit nicht eben viel aus mir gemacht, aber
geſtern war rein gar nichts mit ihm anzufangen! Neu-
lich, als ich davon ſprach, wir wollten einmal eine Wa—
gen fahrt zuſammen machen, da war er ganz begeiſtert.
Und geſtern mochte er kaum mitgehen, ich mußte ihn faſt
darum bitten. Es war ja kein ſehr großes Vergnügen
für mich, da ich nicht beide Pferde nehmen durfte, ich
ging eigentlich überhaupt nur ſeinetwegen.“
„War er denn unterwegs nicht artig?“ fragte Frau
Veraguth.
„Ach, artig war er ſchon, nur ſo langweilig! Er hat
manchmal direkt etwas Blaſiertes, der Junge. Was ich
auch vorſchlug und was ich ihm zeigte oder anbot, war
ihm kaum ein Jaja oder ein Lächeln wert, er wollte nicht
auf dem Bock ſitzen, er wollte nicht kutſchieren lernen,
nicht einmal Aprikoſen eſſen wollte er. Richtig wie ein
verwöhnter Prinz. Es war ärgerlich, und ich ſage es dir,
weil ich ihn wirklich ein andermal nicht wieder mitnehmen
möchte.“
9 *
Die Mutter blieb ſtehen und fab ihn prüfend an; fie
mußte über ſeine Erregung lächeln und ſah mit Be—
friedigung in ſeine funkelnden Augen.
„Großer Junge,“ ſagte ſie begütigend, „du mußt
Geduld mit ihm haben. Vielleicht war er nicht ganz
wohl, er hat auch heut früh faſt nichts gegeſſen. Das
kommt bei allen Kindern zuweilen vor, bei dir war's
auch einmal ſo. Ein bißchen Magenkatarrh oder eine
Nacht mit ſchlechten Träumen iſt meiſtens ſchuld
daran, und Pierre iſt freilich etwas zart und empfind-
lich. Und dann, verſteh, iſt er vielleicht auch ein wenig
eiferſüchtig. Du mußt bedenken, er hat mich ſonſt im—
mer ganz für ſich, und jetzt biſt du da, und er muß mit
dir teilen.“
„Wenn ich doch Ferien habe! Das muß er doch wahr—
haftig begreifen, er iſt ja nicht dumm!“
„Er iſt ein kleines Kind, Albert, und du mußt ſchon
der Geſcheitere ſein.“
Es tropfte noch von den friſch metallen glitzernden
Blättern. Sie gingen den gelben Roſen nach, die Albert
beſonders liebte. Er bog die Kronen der Bäumchen
auseinander, und die Mutter ſchnitt mit der Garten—
ſchere die Blumen ab, die noch etwas nüchtern und vers
regnet herabhingen.
„War ich eigentlich Pierre ähnlich, als ich in ſeinem
Alter war?“ fragte Albert nachdenklich.
Frau Adele beſann ſich. Sie ließ die Hand mit der
3
Schere ſinken, ſah dem Sohn in die Augen und ſchloß
dann die ihren, um ſein Knabenbildnis in ſich wachzu—
rufen.
„Du warſt ihm äußerlich ziemlich ähnlich, bis auf die
Augen, und du warſt weniger dünn und ſchlank, das
Wachſen kam bei dir etwas ſpäter.“
„Und ſonſt? Ich meine innerlich?“
„Nun, Launen haſt du auch gehabt, mein Junge.
Aber ich glaube, du warſt doch beſtändiger, du haſt deine
Spiele und Arbeiten nicht ſo raſch gewechſelt wie Pierre.
Er iſt auch überſchwenglicher, als du warſt, er iſt weniger
im Gleichgewicht.“
Albert nahm der Mutter die Schere aus der Hand
und beugte ſich ſuchend über einen Roſenſtrauch.
„Pierre hat mehr von Papa,“ ſagte er leiſe. „Du,
Mutter, das iſt ſo merkwürdig, wie in den Kindern ſich
die Eigenſchaften ihrer Eltern und Vorfahren wieder—
holen und vermiſchen! Meine Freunde ſagen, jeder
Menſch habe ſchon als kleines Kind alles in ſich, was
fein ganzes Leben beſtimmt, und man könne gar nichts
dagegen tun, einfach gar nichts. Wenn zum Beiſpiel
einer die Anlage zum Dieb oder Mörder in ſich hat, ſo
hilft alles nichts, er muß und muß ein Verbrecher werden.
Es iſt eigentlich furchtbar. Du glaubſt doch auch daran?
Es iſt vollkommen wiſſenſchaftlich.“
„Das iſt mir einerlei,“ lächelte Frau Adele. „Wenn
jemand ein Verbrecher geworden iſt und Menſchen
— 134 —
umgebracht hat, fo kann die Wiſſenſchaft vielleicht nach—
weiſen, daß das ſchon immer in ihm geſteckt hat. Aber
ich zweifle gar nicht daran, daß es ſehr viele rechtſchaffene
Leute gibt, die von Eltern und Voreltern her Böſes ge—
nug geerbt haben und doch gut bleiben, und das kann
die Wiſſenſchaft nicht gut unterſuchen. Eine gute Er—
ziehung und ein guter Wille iſt mir ſicherer als alle Ver⸗
erbungen. Was recht und anſtändig iſt, das wiſſen wir
und können es lernen, und daran muß man ſich halten.
Was man aber etwa von vorväterlichen Geheimniſſen
in ſich hat, das weiß niemand genau, und es iſt beſſer,
damit nicht viel zu rechnen.“
Albert wußte, daß ſeine Mama ſich auf dialektiſche
Dispute niemals einlaſſe, und ſein Weſen gab ihrer ein—
fachen Denkart eigentlich inſtinktmäßig recht. Doch
ſpürte er wohl, daß damit das gefährliche Thema keines⸗
wegs erledigt fei, und er hätte nun gerne etwas Grinds
liches über jene Lehre von der Kauſalität geſagt, die ihm
aus den Reden einiger Freunde immer ſo ſehreingeleuch—
tet hatte. Doch beſann er ſich vergebens auf feſte, klare,
ſtichhaltige Sätze, auch fühlte er - im Gegenſatz zu jenen
Freunden, die er doch bewunderte — ſich eigentlich viel
mehr für eine moraliſche oder auch äſthetiſche Betrach—
tung der Dinge begabt als für die wiſſenſchaftlich vor—
urteilsloſe, zu der er ſich unter ſeinen Studiengenoſſen
bekannte. So ließ er denn dieſe Dinge auf ſich beruhen
und ging den Roſen nach.
1
Unterdeſſen war Pierre, der ſich wirklich nicht wohl
fühlte und am Morgen weit ſpäter als ſonſt und ohne
Lebensfreude erwacht war, ſolange im Kinderzimmer
bei ſeinen Spielſachen geblieben, bis es ihm langweilig
wurde. Es war ihm ziemlich elend zumute und ihm
ſchien, es müſſe heute ſchon etwas Beſonderes geſchehen
und ſich einfinden, damit dieſer geſchmackloſe Tag er—
träglich und ein bißchen hübſch werde.
Unruhig zwiſchen Erwartung und Mißtrauen ging
er aus dem Hauſe und in den Lindengarten, auf der
Suche nach irgend etwas Neuem, nach irgendeinem
Fund oder Abenteuer. Sein Magen war öde, das kannte
er aus früheren Erfahrungen, und ſein Kopf war müde
und ſchwer, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, und am
liebſten hätte er ſich an der Mutter Knie geflüchtet und
geheult. Allein das ging nicht, ſolange der ſtolze, große
Bruder da war, der ihn ohnehin immer fühlen ließ, daß
er noch ein kleiner Bub ſei.
Wenn es nur der Mutter eingefallen wäre, von ſich
aus etwas zu tun, ihn zu rufen und ihm ein Spiel por-
zuſchlagen und nett mit ihm zu ſein. Aber die war jetzt
natürlich wieder mit Albert gegangen. Pierre fühlte,
es war heute ein Unglückstag und wenig zu hoffen.
Er ſchlenderte unentſchloſſen und mißmutig die Kies—
wege entlang, den welken Stiel einer Lindenblüte zwi—
ſchen den Zähnen und die Hände in den Taſchen. Es
war friſch und feucht im morgendlichen Garten, und der
— 136 —
Stiel ſchmeckte bitter. Er ſpie ihn aus und blieb ver—
drießlich ſtehen. Nichts wollte ihm einfallen, er mochte
heute nicht Prinz noch Räuber, nicht Fuhrmann noch
Baumeiſter ſein.
Mit gerunzelter Stirne ſchaute er am Boden umher,
ſtocherte mit den Schuhſpitzen im Kies und ſchleuderte
eine graue ſchleimige Wegſchnecke mit dem Fuß weit
fort ins naſſe Gras. Es wollte nichts zu ihm ſprechen,
kein Vogel noch Schmetterling, nichts wollte ihn an—
lachen und ihn zur Fröhlichkeit verführen. Alles ſchwieg,
alles ſah alltäglich, hoffnungslos und ſchäbig aus. Er
verſuchte am nächſten Strauch eine kleine hellrote Jo—
hannisbeertraube; ſie ſchmeckte kalt und ſauer. Man
ſollte ſich hinlegen und ſchlafen, dachte er, fo lange ſchla—
fen, bis alles wieder neu und ſchön und luſtig ausſähe.
Es hatte ja keinen Sinn, da herumzugehen und ſich zu
plagen und auf Dinge zu warten, die doch nicht kommen
wollten. Wie ſchön könnte es ſein, wenn zum Beiſpiel
etwa ein Krieg ausgebrochen wäre und eine Menge
Soldaten zu Pferde auf der Straße herankämen oder
wenn irgendwo ein Haus in Flammen ſtände oder eine
große Überſchwemmung wäre. Ach, dieſe Sachen ſtan—
den alle nur in den Bilderbüchern, in Wirklichkeit bekam
man ſie nie vor Augen, und vielleicht gab es ſie gar nicht.
Seufzend ſchlenderte der Knabe weiter, das hübſche,
zarte Geſicht erloſchen und voll Kummer. Als er jenſeits
der hohen Spalierwand die Stimmen Alberts und der
a
Mutter hörte, überfiel ihn Eiferſucht und Widerwillen
ſo ſtark, daß er Tränen in die Augen bekam. Er kehrte
um und ging ganz leiſe, um nicht gehört und angerufen
zu werden. Er wollte jetzt niemand Rede ſtehen, er wollte
von niemand zum Reden und Aufmerken und Artigſein
genötigt werden. Es ging ihm ſchlecht, jämmerlich
ſchlecht, und niemand kümmerte ſich um ihn, ſo wollte
er wenigſtens die Vereinſamung und Trauer auskoſten
und ſich richtig elend fühlen.
Er dachte auch an den lieben Gott, den er zuzeiten
ſehr ſchätzte, und einen Augenblick brachte der Gedanke
einen fernen Schimmer von Troſt und Wärme, aber
das ſank ſchnell wieder unter. Wahrſcheinlich war es
mit dem lieben Gott auch nichts. Und doch hätte er ge-
rade jetzt ſo ſehr jemand gebraucht, auf den ein Verlaß
war und von dem man ſich etwas Hübſches und Tröſt—
liches verſprechen durfte.
Da fiel ihm der Vater ein. Es war ein ahnungsvolles
Gefühl, daß der ihn vielleicht verſtehen könnte, da er
ſelber meiſtens ſtill und geſpannt und unfroh ausſah.
Der Vater ſtand ohne Zweifel, ſo wie immer, in ſeinem
großen, ſtillen Atelier drüben und malte an ſeinen Bil—
dern. Da war es eigentlich nicht gut, ihn zu ſtören. Aber er
hatte ja erſt ganz kürzlich geſagt, Pierre ſolle nur immer zu
ihm kommen, wenn es ihn gelüſte. Vielleicht hatte er es
wieder vergeſſen, alle Erwachſenen vergaßen ja ihre
Verſprechungen immer ſo bald wieder. Aber verſuchen
— 138 —
konnte man es einmal. Lieber Gott, wenn man doch
durchaus keinen anderen Troſt wußte und es ſo nötig
hatte!
Langſam erſt, dann in aufglimmender Hoffnung
raſcher und ſtraffer ging er den ſchattigen Weg zum
Atelier. Da nahm er die Türklinke in die Hand und blieb
ſtehen, um zu lauſchen. Ja, der Papa war drinnen, er
hörte ihn ſchnauben und räuſpern, und er hörte das
hölzerne Geräuſch der fein klappernden Pinſelſtiele, die
er in der Linken hielt.
Vorſichtig drückte er die Klinke herab, öffnete die Türe
geräuſchlos und ſteckte den Kopf hinein. Der heftige
Geruch von Terpentin und Lack war ihm zuwider, aber
des Vaters breite, ſtarke Geſtalt erweckte Hoffnung.
Pierre trat ein und ſchloß die Türe hinter ſich.
Beim Ein ſchnappen der Klinke zuckte der Maler, von
Pierre aufmerkſam beobachtet, mit den breiten Schul—
tern und wendete den Kopf zurück. Die ſcharfen Augen
blickten beleidigt und fragend herüber, und der Mund
ſtand unangenehm offen.
Pierre rührte ſich nicht. Er ſah dem Vater in die
Augen und wartete. Alsbald wurden deſſen Augen
freundlicher, und ſein böſes Geſicht kam in Ordnung.
„Sieh da, Pierre! Wir haben uns einen ganzen Tag
nicht geſehen. Hat Mama dich hergeſchickt?“
Der Kleine ſchüttelte den Kopf und ließ ſich küſſen.
„Willſt du ein wenig bei mir ſein und zuſehen?“ fragte
der Vater freundlich. Zugleich wandte er ſich wieder fei-
nem Bilde zu und zielte ſcharf mit einem ſpitzen Pinſel—
chen auf einen Fleck. Pierre ſah zu. Er ſah den Maler
auf ſeine Leinwand blicken, ſah ſeine Augen geſpannt
und wie zornig ſtarren und ſeine ſtarke, nervöſe Hand
mit dem dünnen Pinſel zielen, er ſah ihn die Stirnfalten
ſpannen und die Unterlippe mit den Zähnen faſſen.
Dazu roch er die ſtarke Werkſtattluft, die er nie gern ge:
habt hatte und die ihm heut beſonders widerlich war.
Seine Augen erloſchen, und er blieb wie gelähmt bei
der Türe ſtehen. Er kannte das alles, dieſen Geruch und
dieſe Augen und dieſe Grimaſſen der Aufmerkſamkeit,
und er wußte, es war töricht geweſen, zu erwarten, daß
es heute anders ſei als immer. Der Vater arbeitete, er
wühlte in ſeinen ſtarkriechenden Farben und dachte an
nichts in der Welt als an ſeine dummen Bilder. Es war
töricht geweſen, hier hereinzukommen.
Die Enttäuſchung ließ des Knaben Geſicht erſchlaffen.
Er hatte es ja gewußt! Es gab heute keine Zuflucht für
ihn, bei der Mutter nicht und hier erſt recht nicht.
Eine Minute lang ſtand er gedankenlos und traurig
und blickte, ohne etwas zu ſehen, auf das große Bild mit
den ſpiegelnd naſſen Farben. Dafür hatte Papa Zeit,
für ihn nicht. Er nahm die Klinke wieder in die Hand
und drückte ſie nieder, um ſtill davonzugehen.
Veraguth hörte aber das ſchüchterne Geräuſch. Er
blickte ſich um, brummte und kam heran.
— 140 —
„Was iſt, Pierrot? Nicht davonlaufen! Willſt du
nicht ein wenig beim Papa bleiben?“
Pierre zog ſeine Hand zurück und nickte ſchwach.
„Haſt du mir etwas ſagen wollen?“ fragte der
Maler freundlich. „Komm, wir ſetzen uns zuſammen,
dann erzählſt du mir. Wie war denn die Ausfahrt
geſtern?“
„Oh, es war nett,“ ſagte der Kleine artig.
Veraguth fuhr ihm mit der Hand übers Haar.
„Hat es dir nicht gut getan? Du ſiehſt ein bißchen
verſchlafen aus, mein Junge! Du haſt doch nicht etwa
Wein bekommen, geſtern? Nein? Alſo, was tun wir
jetzt? Wollen wir zeichnen?“
„Ich mag nicht, Papa. Es iſt heut ſo langweilig.“
„So? Du haſt gewiß ſchlecht geſchlafen? Wollen
wir ein wenig miteinander turnen?“
Pierre ſchüttelte den Kopf.
„Ich mag nicht. Ich mag nur gerne bei dir ſein, weißt
du. Aber es riecht hier ſo ſchlecht.“
Veraguth ſtreichelte ihn und lachte.
Ja, das iſt ein Unglück, wenn du keine Farben riechen
magſt und ein Malerskind biſt. Da wirſt du wohl nie
ein Maler werden?“
„Nein, ich will auch nicht.“
„Was willſt du denn werden?“
„Gar nichts. Am liebſten wär' ich ein Vogel oder ſo
etwas.“
— 141 —
„Das wäre nicht ſchlecht. Aber fag’ mir jetzt, Schatzi,
was du gern von mir haben möͤchteſt. Schau', ich muß
an dem großen Bild weiter arbeiten. Wenn du willſt,
kannſt du dableiben und etwas ſpielen. Oder ſoll ich dir
ein Bilderbuch zum Anſchauen geben?“
Nein, das war nicht, was er wollte. Er ſagte, nur um
wieder loszukommen, er werde jetzt die Tauben füttern
gehen, und er merkte genau, daß der Vater aufatmete
und froh war, ihn gehen zu ſehen. Er wurde mit einem
Kuß entlaſſen und ging hinaus. Der Vater zog die Ture
zu, und Pierre ſtand wieder allein, noch leerer als zuvor.
Er irrte quer ũber den Raſen, wo er eigentlich nicht gehen
ſollte, er riß zerſtreut und bekümmert ein paar Blumen
ab und fab gleichgůltig zu, wie ſeine hellen, gelben Schuhe
im naſſen Graſe Flecken bekamen und dunkel wurden.
Schließlich warf er ſich, von Verzweiflung überwältigt,
mitten in den Raſen, wũhlte ſchluchzend den Kopf ins
Gras und fühlte die Armel ſeiner hellblauen Bluſe naß
werden und an den Armen kleben.
Erſt als er zu frieren begann, ſtand er ernuͤchtert wieder
auf und ſchlich ſich ſcheu ins Haus.
Bald würde man ihn rufen, und dann würde man
ſehen, daß er geweint hatte, und dann würde man die
naſſe, ſchmutzige Bluſe und die feuchten Schuhe bemer-
ken und ihn dafür ſchelten. Feindſelig ging er an der
Küchentuͤre vorüber, er mochte jetzt mit niemand zu⸗
ſammentreffen. Er wäre am liebſten irgendwo weit
— 148 —
fortgeweſen, wo gar niemand von ihm wußte und nach
ihm fragte.
Da ſah er an einem der ſelten bewohnten Gaſtzimmer
den Schlüſſel ſtecken. Er ging hinein, zog die Türe zu,
ſchloß auch die offenſtehenden Fenſter und verkroch ſich
wild und müde und ohne die Schuhe auszuziehen auf
ein großes unüberzogenes Bett. Da blieb er zwiſchen
Weinen und Schlummern in ſeinem Jammer liegen.
Und als er, nach einer langen Zeit, ſeine Mutter im Hof
und auf der Treppe nach ihm rufen hörte, gab er keine
Antwort und grub ſich trotzig tiefer in die Decke. Die
Stimme der Mutter kam und ging und verklang end—
lich, ohne daß er ſich überwinden konnte, ihr zu folgen.
Zuletzt ſchlief er mit naſſen Wangen ein.
Mittags, als Veraguth zu Tiſche kam, fragte ihn
ſeine Frau ſogleich: „Haſt du denn Pierre nicht mit—
gebracht?“
Ihr etwas erregter Ton fiel ihm auf.
„Pierre? Ich weiß nichts von ihm. War er denn nicht
bei euch?“
Frau Adele erſchrak und redete lauter.
„Nein, ich habe ihn ſeit dem Frühſtück nimmer ge—
ſehen! Als ich ihn ſuchte, ſagten mir die Mädchen, ſie
hätten ihn ins Atelier gehen ſehen. War er denn nicht
dort?“
„Ja, er war da, aber nur einen Augenblick, er lief
gleich wieder weg.“
— 143 —
Und ärgerlich fügte er hinzu: „Sieht denn kein
Menſch im Haus nach dem Jungen?“
„Wir glaubten, er ſei bei dir,“ ſagte Frau Adele kurz
und gekränkt. „Ich gehe ihn ſuchen.“
„Schicke jemand nach ihm! Wir wollen nun doch
eſſen.“
„Ihr könnt ja inzwiſchen beginnen. Ich gehe ſelbſt
ſuchen.“
Sie ging haſtig aus dem Zimmer. Albert ſtand auf
und wollte ihr folgen.
„Bleib hier, Albert,“ rief Veraguth. „Wir ſind bei
Lifche!”
Der Jüngling fab ihn zornig an.
„Ich werde mit Mama eſſen,“ ſagte er trotzig.
Ironiſch lächelte ihm der Vater ins erregte Geſicht.
„Meinetwegen, du biſt ja Herr im Hauſe, nicht wahr?
Falls du übrigens Luſt haſt, wieder einmal mit Meſſern
nach mir zu werfen, fo laß dich, bitte, nicht durch irgend—
welche Vorurteile davon abhalten!“
Der Sohn wurde bleich und ſtieß ſeinen Stuhl zurück.
Es war das erſtemal, daß der Vater ihn an jene zornige
Tat ſeiner Knabenzeit erinnerte.
„So darfſt du nicht mit mir reden!“ rief er ausbre—
chend. „Ich dulde es nicht!“
Veraguth nahm ſich ein Stück Brot und aß einen
Biſſen davon, ohne zu antworten. Er ſchenkte ſich Waf-
ſer ins Glas, trank es langſam aus und beſchloß, ruhig
— 144 —
zu bleiben. Er tat, als fei er allein, und Albert trat un-
ſchlüſſig gegen das Fenſter.
„Ich dulde es nicht!“ rief er endlich nochmals, un—
fähig, ſeinen Zorn bei ſich zu behalten.
Der Vater ſtreute Salz auf ſein Brot. Er ſah ſich in
Gedanken ein Schiff beſteigen und auf endloſen frem—
den Meeren fahren, weit weg von dieſen unheilbaren
Verwirrungen.
„Es iſt gut,“ ſagte er beinahe friedlich. „Ich ſehe, daß
es dir unſympathiſch iſt, wenn ich mit dir rede. Laſſen
wir's doch!“
In dieſem Augenblick hörte man draußen einen er—
ſtaunten Ausruf und eine Flut erregter Worte. Frau
Adele hatte den Knaben in ſeinem Schlupfwinkel ent—
deckt. Der Maler horchte auf und ging raſch hinaus.
Heute ſchien alles durcheinander zu gehen.
Er fand Pierre mit ſchmutzigen Stiefeln in dem zer—
wühlten Gaſtbett liegen, das Geſicht verſchlafen und
verweint, die Haare wirr, und davor ſeine Frau in bilfs
loſem Erſtaunen.
„Aber Kind,“ rief ſie endlich zwiſchen Sorge und
Arger, „was machſt du denn? Warum gibſt du keine
Antwort? Und warum liegſt du hier?“
Veraguth richtete den Kleinen auf und ſah ihm er—
ſchrocken in die ausdrucksloſen Augen.
„Biſt du krank, Pierre?“ fragte er zärtlich.
Der Knabe ſchüttelte verwirrt den Kopf.
— 143 —
„Haſt du denn hier geſchlafen? Biſt du ſchon lange
hier?“
Mit einer dünnen, mutloſen Stimme ſagte Pierre:
„Ich kann nichts dafür .. . Ich habe nichts getan...
Ich habe nur Kopfweh gehabt.“
Veraguth trug ihn auf ſeinen Armen ins Speiſe—
zimmer hinüber.
„Gib ihm einen Teller Suppe,“ ſagte er zu ſeiner Frau.
„Du mußt ein wenig Warmes eſſen, Kind, das tut gut,
du wirſt ſehen. Du biſt gewiß krank, armer Kerl.“
Er ſetzte ihn in ſeinen Seſſel, ſchob ihm ein Kiſſen in
den Rücken und gab ihm ſelber mit dem Löffel ſeine
Suppe ein.
Albert ſaß ſchweigend und verſchloſſen.
„Er ſcheint wirklich krank zu ſein,“ ſagte Frau Vera⸗
guth beinahe beruhigt, mit dem Gefühl der Mutter, die
zu Hilfe und Pflege freudiger bereit iſt als zur Unter—
ſuchung und Behandlung ungewöhnlicher Unarten.
„Wir bringen dich nachher zu Bett, iß jetzt nur, mein
Herz,“ troftete fie zutraulich.
Pierre ſaß, grau im Geſicht, mit halbwachen Augen
und ſchluckte widerſtandslos, was ihm eingelöffelt wurde.
Wahrend der Vater ihn mit Suppe fütterte, fühlte ihm
die Mutter den Puls und war froh, kein Fieber zu finden.
„Soll ich den Doktor holen?“ fragte Albert, um doch
auch etwas zu tun, mit unfeſter Stimme.
„Nein, laß nur,“ ſagte die Mutter. „Pierre kommt
10 Heſſe, Roßbalde
1
ins Bett und wird fein warm gewickelt, dann ſchläft er
tüchtig aus und wird morgen wieder geſund. Nicht
wahr, Schatzi?“
Der Kleine hörte nicht zu, und er ſchüttelte abwehrend
den Kopf, als ihm der Vater noch mehr zu eſſen geben
wollte.
„Nein, zwingen ſoll er ſich nicht dazu,“ ſagte die Mut—
ter. „Komm nur mit, Pierre, wir gehen zu Bett, da wird
alles wieder gut.“
Sie nahm ſeine Hand, und er ſtand ſchwerfällig auf.
Schläfrig folgte er der Mutter, die ihn mit ſich zog.
Aber in der Türe blieb er ſtehen, verzog das Geſicht und
krümmte ſich zuſammen, und in einem Anfall von Ubel—
keit gab er alles wieder von ſich, was er eben gegeſſen
hatte.
Veraguth trug ihn ins Schlafzimmer und überließ
ihn der Mutter. Glockenzüge klangen und Dienſtboten
liefen treppauf und ab. Der Maler aß einige Biſſen,
zwiſchenein lief er zweimal wieder zu Pierre hinüber, der
nun ausgekleidet und gewaſchen in ſeiner meſſingenen
Bettſtatt lag. Dann kam Frau Adele zurück und berich—
tete, das Kind ſei ruhig und ohne Schmerzen und ſcheine
einſchlafen zu wollen.
Der Vater wandte ſich an Albert: „Was hat Pierre
geſtern zu eſſen bekommen?“
Albert beſann ſich, wandte aber ſeine Antwort an die
Mutter.
— sew
„Es war nichts Befonderes. In Brückenſchwand ließ
ich Pierre Brot und Milch geben, und zum Mittageſſen
in Pegolzheim bekamen wir Makkaroni und Koteletten.“
Der Vater fragte inquiſitoriſch weiter: „Und ſpäter?“
„Er wollte nichts mehr nehmen. Am Nachmittag
kaufte ich bei einem Gärtner Aprikoſen. Von denen hat
er nur eine oder zwei gegeſſen.“
„Waren ſie reif?“
„Ja, natürlich. Du ſcheinſt zu glauben, ich habe ihm
abſichtlich den Magen verdorben.“
Die Mutter bemerkte ſeine Gereiztheit und fragte:
„Was habt ihr denn?“
„Nichts,“ ſagte Albert.
Veraguth fuhr fort: „Ich glaube gar nichts, ich frage
nur. Iſt geſtern gar nichts paſſiert? Hat er nie erbro-
chen? Oder iſt er gefallen? Hat er nie über Schmerzen
geklagt?“
Albert gab mit Ja und Nein knappe Auskunft und
wünſchte ſehnlich, dieſe Mahlzeit möchte vorüber ſein.
Als der Vater nochmals auf Zehenſpitzen in Pierres
Schlafzimmer ging, fand er ihn eingeſchlafen. Das
blaſſe Kindergeſicht war voll von tiefer Ernſthaftigkeit
und ſehnlich inbrünſtiger Hingabe an den tröſtenden
Schlaf.
Elftes Kapitel
An dieſem unruhigen Tage malte Johann Veraguth
fein großes Bild fertig. Erſchreckt und im Herzen beun-
ruhigt war er von dem kranken Pierre gekommen, und
es war ihm ſchwerer als je geworden, die in ihm arbei—
tenden Gedanken zu bändigen und jene vollkommene
Ruhe zu finden, die das Geheimnis ſeiner Kraft war
und die er ſo teuer bezahlen mußte. Aber ſein Wille
war ſtark, es gelang ihm, und das Bild bekam in den
Stunden des Nachmittags, bei einem ſchönen, weichen
Lichte, die letzten kleinen Korrekturen und Zuſammen—
ziehungen.
Als er die Palette weglegte und ſich vor die Leinwand
ſetzte, war ihm ſonderbar öde zumut. Er wußte wohl,
daß dies Bild etwas Beſonderes ſei und daß er damit
viel gegeben habe. Sich ſelbſt aber fühlte er leer und
ausgebrannt. Und er hatte keinen Menſchen, dem er
ſein Werk hätte zeigen können.
Der Freund war weit weg, und Pierre war krank,
und ſonſt hatte er niemanden. Wirkung und Widerhall
feiner Arbeit würde er nur aus gleichgültiger Ferne zu
ſpüren bekommen, aus Zeitungen und Briefen. Ach, das
— 149 —
war nichts, das war weniger als nichts, der Blick eines
Freundes oder der Kuß einer Geliebten hätte allein ihn
jetzt freuen, belohnen und ſtärken können.
Eine Viertelſtunde ſtand er ſtill vor ſeinem Bilde, das
die Kraft und die guten Stunden einiger Wochen in ſich
getrunken hatte und ihm leuchtend in die Augen ſah, in—
deſſen er ſelbſt erſchöpft und fremd vor ſeinem Werke
ſtand.
„Ach was, ich werde es verkaufen und meine indiſche
Reiſe davon bezahlen,“ ſagte er in wehrloſem Zynis—
mus. Er ſchloß die Türen der Werkſtatt zu und ging ins
Haus, um nach Pierre zu ſehen, den er ſchlafend fand.
Der Knabe ſah beſſer aus als am Mittag, der Schlaf
hatte fein Geſicht gerötet, der Mund ſtand halb offen,
der Ausdruck von Qual und Troſtloſigkeit war ver⸗
ſchwunden.
„Wie raſch das bei Kindern geht!“ ſagte er in der
Türe flufternd zu ſeiner Frau. Sie lächelte ſchwach, und
er ſah, daß auch ſie aufatme und daß auch ihre Sorge
größer geweſen ſei, als ſie gezeigt hatte.
Allein mit ſeiner Frau und Albert zu ſpeiſen, ſchien
ihm nicht verlockend.
„Ich gehe zur Stadt“, ſagte er, „und bin den Abend
nicht hier.“
Der kranke Pierre lag ſchlummernd in ſeinem Kinder⸗
bett, die Mutter verdunkelte das Zimmer und ließ ihn
allein.
Ihm träumte, er gehe langfam durch den Blumen—
garten. Es war alles ein wenig verändert und viel
größer und weiter als ſonſt, er ging und ging und kam
an kein Ende. Die Beete waren ſchöner, als er ſie je ge—
ſehen hatte, aber die Blumen ſahen alle ſonderbar glä—
ſern, groß und fremdartig aus, und das Ganze glänzte
in einer traurig toten Schönheit.
Etwas beklommen umging er ein Rondell mit groß—
blumigen Sträuchern, ein blauer Schmetterling hing
ruhig ſaugend an einer weißen Blüte. Es war unnatür⸗
lich ſtill, und auf den Wegen lag kein Kies, ſondern
etwas Weiches, worauf man wie auf Teppichen ging.
Jenſeits kam ihm ſeine Mama entgegen. Aber ſie
ſah ihn nicht und nickte ihm nicht zu, ſie ſchaute ſtreng
und traurig in die Luft und ging lautlos vorüber wie
ein Geiſt.
Und bald darauf, auf einem anderen Wege, ſah er
ebenſo den Vater gehen, und ſpäter Albert, und jeder
ging ſtill und ſtreng geradeaus, und keiner wollte ihn
ſehen. Verzaubert liefen ſie einſam und ſteif umher, und
es ſchien, als müſſe es allezeit ſo bleiben, als werde nie
ein Blick in ihre ſtarren Augen und nie ein Lachen in ihre
Geſichter kommen, als werde niemals ein Ton in dieſe
undurchdringliche Stille wehen und nie der leiſeſte Wind
die regungsloſen Zweige und Blätter rühren.
Das Schlimmſte war, daß er ſelber nicht zu rufen ver⸗
mochte. Er war durch nichts daran gehindert, es tat ihm
nichts weh, aber er hatte keinen Mut und keinen rechten
Willen dazuz er ſah ein, daß alles fo fein müſſe und daß
es nur noch ſchrecklicher würde, wenn man ſich dagegen
auflehnte.
Pierre ſpazierte langſam weiter durch die ſeelenloſe
Gartenpracht, glänzend ſtanden tauſend herrliche Blu—
men in der hellen, toten Luft, als wären ſie nicht wirklich
und lebendig, und von Zeit zu Zeit traf er Albert oder die
Mutter oder den Vater wieder an, und ſie wandelten an
ihm und aneinander ſtets in derſelben ſtarren Fremdheit
vorüber.
Ihm ſchien, als ſei es ſo ſchon lange Zeit, vielleicht
Jahre, und jene anderen Zeiten, da die Welt und der
Garten lebendig und die Menſchen froh und geſprächig
geweſen waren und er ſelber voll Luſt und Wildheit, jene
Zeiten lägen undenkbar weit in einer tiefen, blinden Ver⸗
gangenheit. Vielleicht war es immer ſo geweſen wie
jetzt, und das Frühere war nur ein hübſcher, närriſcher
Traum.
Schließlich kam er an ein kleines ſteinernes Waſſer—
becken, wo der Gärtner früher die Gießkannen gefüllt
und worin er ſelber einmal ein paar winzige Kaulquap—
pen gehalten hatte. Das Waſſer ſtand regungslos in
grüner Helle, es ſpiegelte den Steinrand und die über—
hängenden Blätter einer Staude mit gelben Sternblu—
men und ſah hübſch, verlaſſen und irgendwie unglücklich
aus, wie alles andere.
„Wenn man da hineinfällt, dann ertrinkt man und iſt
tot,“ hatte der Gärtner früher einmal geſagt. Es war
aber gar nicht tief.
Pierre trat an den Rand des ovalen Beckens und
beugte ſich vor.
Da ſah er ſein eigenes Geſicht im Waſſer geſpiegelt.
Es ſah aus wie die Geſichter der anderen: alt und bleich
und tief in gleichgültiger Strenge erſtarrt.
Er ſah es erſchreckt und verwundert, und plötzlich ſtieg
die heimliche Furchtbarkeit und ſinnloſe Traurigkeit
ſeines Zuſtandes übermächtig in ihm auf. Er verſuchte
zu ſchreien, aber es gab keinen Ton. Er wollte laut auf—
weinen, aber er konnte nur das Geſicht verziehen und
hilflos grinſen.
Da kam fein Vater wieder gegangen, und Pierre wen⸗
dete ſich zu ihm in einer ungeheuren Anſtrengung aller
gebannten Seelenkräfte. Alle Todesangſt und alles un-
erträgliche Leid ſeines verzweifelten Herzens flüchtete ſich
in ſtummem Schluchzen hilfebegehrend zum Vater, der
in ſeiner geſpenſtiſchen Ruhe herankam und ihn wieder
nicht zu ſehen ſchien.
„Vater!“ wollte der Knabe rufen, und obwohl kein
Ton zu hören war, drang doch die Gewalt ſeiner furcht—
baren Not zu dem ſtillen Einſamen hinüber. Der Vater
wendete das Geſicht und ſah ihn an.
Er fal ihm aufmerkſam mit ſeinem ſuchenden Maler—
blick in die flehenden Augen, er lächelte ſchwach, und er
oe tile
nickte ihm leiſe zu, gütig und bedauernd, aber ohne Troſt,
als ſei hier durchaus nicht zu helfen. Einen kleinen Augen—
blick lief ein Schatten von Liebe und von verwandtem
Leid über ſein ſtrenges Geſicht, und in dieſem kleinen
Augenblick war er nicht der mächtige Vater mehr, ſon—
dern eher ein armer, hilfloſer Bruder.
Dann richtete er den Blick wieder geradeaus und ging
langſam in demſelben gleichmäßigen Schritt davon, den
er nicht unterbrochen hatte.
Pierre ſah ihn gehen und verſchwinden, der kleine
Weiher und der Weg und der Blumengarten wurden
dunkel vor ſeinen entſetzten Augen und ſanken dahin wie
Nebelgewölk. Er erwachte mit ſchmerzenden Schläfen
und brennend trockener Kehle, fab ſich allein im dämme⸗
rigen Stübchen zu Bette liegen, verſuchte verwundert
zurückzudenken, fand aber keine Erinnerungen und legte
fic) erſchöpft und mutlos auf die andere Seite.
Nur langſam kam ihm das volle Bewußtſein wieder
und ließ ihn aufatmen. Es war häßlich, krank zu fein und
Kopfſchmerzen zu haben, aber es war zu ertragen, und
es war leicht und ſüß im Vergleich mit dem tödlichen
Gefühl des Angſttraumes.
Wozu ſoll all die Quälerei gut ſein? dachte Pierre
und kroch unter der Decke eng zuſammen. Wozu wurde
man krank? Wenn es eine Strafe war — für was ſollte
er denn geſtraft werden? Er hatte nicht einmal etwas
Verbotenes gegeſſen, wie früher einmal, wo er ſich an
— 154 —
halbreifen Pflaumen verdorben hatte. Die waren ihm
verboten geweſen, und da er ſie trotzdem gegeſſen hatte,
geſchah es ihm recht und er mußte die Folgen tragen.
Das war klar. Aber jetzt? Warum lag er jetzt im Bett,
warum hatte er erbrechen müſſen und warum ſtach es
ſo jammervoll in ſeinem Kopf?
Er war lange wach gelegen, als ſeine Mutter wie—
der ins Zimmer kam. Sie zog den Vorhang am Fenſter
zurück, weiches Abendlicht floß voll und mild herein.
„Wie geht's, Liebling? Haſt du ſchön geſchlafen?“
Er gab keine Antwort. Auf der Seite liegend, wen—
dete er die Augen empor und blickte ſie an. Verwundert
hielt ſie dem Blick ſtand, er war merkwürdig prüfend
und ernſthaft.
„Kein Fieber“, dachte ſie getröſtet.
„Willſt du jetzt etwas zu eſſen haben?“
Pierre ſchüttelte ſchwach den Kopf.
„Kann ich dir nichts bringen?“
„Waſſer“, ſagte er leiſe.
Sie gab ihm zu trinken, doch nahm er nureinen Vogel—
ſchluck, dann ſchloß er die Augen wieder.
Plötzlich klang von Mutters Zimmer her rauſchend
das Klavier. In breiter Woge ſchwollen die Töne heran.
„Hörſt du?“ fragte Frau Adele.
Pierre hatte die Augen weit geöffnet und ſein Geſicht
verzog ſich wie in Qualen.
„Nicht!“ rief er, „nicht! Laßt mich doch!“
i ht
Und er hielt ſich mit beiden Händen die Ohren zu und
wühlte den Kopf ins Kiſſen ein.
Seufzend ging Frau Veraguth hinüber und bat Al—
bert, er möge nicht weiterſpielen. Sie kam zurück und
blieb an Pierres Bettchen ſitzen, bis er wieder einge—
ſchlummert war.
Dieſen Abend war es ganz ſtill im Hauſe. Veraguth
war fort, Albert war verſtimmt und litt darunter, daß
er nicht Klavier ſpielen durfte. Man ging früh zu Bett,
und die Mutter ließ ihre Türe offen ſtehen, um Pierre zu
hören, falls er in der Nacht etwas brauche.
Zwölftes Kapitel
Der Maler hatte am Abend bei ſeiner Rückkehr aus
der Stadt ſein Haus aufmerkſam umſchlichen und mit
Sorge geſpäht und gelauſcht, ob nicht ein erleuchtetes
Fenſter, ein Türengehen, eine Stimme ihm verkünde,
daß ſein Liebling noch krank ſei und leide. Als er alles
ſtill, beruhigt und ſchlafend fand, fiel die Angſt von ihm
ab wie ein ſchweres, naſſes Kleid, und dankbar lag er
noch lange wach. Und noch kurz vor dem ſpäten Gin-
ſchlummern mußte er lächeln und ſich wundern, wie
wenig dazu gehöre, um ein verzagtes Herz froh zu
machen. Alles, was ihn plagte und beſchwerte, die ganze
dumpfe, trübe Laſt ſeines Lebens ward zu nichts, ward
leicht und unbedeutend neben der Liebesſorge um ſein
Kind, und kaum ſah er dieſen ſchlimmen Schatten wei—
chen, da ſchien ihm alles heller und alles erträglich zu ſein.
In guter Stimmung kam er am Morgen zu unge—
wohnt früher Stunde ins Haus, fand voll Dankbarkeit
den Kleinen noch prächtig ſchlafend und nahm das Früh—
ſtück mit ſeiner Frau allein, denn auch Albert war noch
nicht aufgeſtanden. Es war ſeit Jahren das erſtemal,
daß Veraguth zu dieſer Stunde hier im Hauſe und an
Frau Adeles Tiſche war, und ſie beobachtete ihn mit faſt
— 0
mißtrauiſchem Erſtaunen, wie er freundlich und wohl—
gelaunt, als fei es die alltäglichſte Sache, um eine Taſſe
Kaffee bat und wie in alten Zeiten ihr Frühſtück teilte.
Schließlich fiel ihm ſelber ihre abwartende Spannung
und das Ungewohnte der Stunde auf.
„Ich bin ſo froh“, ſagte er mit einer Stimme, die ſeine
Frau an ſchönere Jahre erinnerte. „Ich bin fo froh, daß
unſer Kleiner wieder in Ordnung zu kommen ſcheint.
Ich merke erſt jetzt, daß ich ernſtlich um ihn in Sorge
war.“
„Ja, er gefiel mir geſtern gar nicht“, ſtimmte ſie bei.
Er ſpielte mit dem ſilbernen Kaffeelöffel und ſah ihr
beinahe ſchelmiſch in die Augen, mit einem ſchwachen
Abglanz der plötzlich ausbrechenden und nie lange wäh⸗
renden, knabenhaften Heiterkeit, die ſie ehemals an ihm
beſonders geliebt und deren zartes Strahlen nur Pierre
von ihm geerbt hatte.
„Ja,“ begann er munter, „es iſt wirklich ein Glück.
Und jetzt komme ich auch endlich dazu, über meine neue-
ſten Pläne mit dir zu ſprechen. Ich meine, du ſollteſt
im Winter mit den beiden Jungen nach Sankt Moritz
gehen und recht lange dort bleiben.“
Unſicher blickte ſie nieder.
„Und du?“ fragte ſie. „Willſt du dort oben malen?“
„Nein, ich werde nicht mitkommen. Ich werde euch
alle eine Weile euch felber überlaſſen und verreiſen. Ich
will im Herbſt wegfahren und das Atelier abſchließen.
— 148 —
Robert bekommt Urlaub. Es ſteht dann ganz bei dir, ob
du den Winter hier auf Roßhalde bleiben willſt. Ich
würde nicht dazu raten, geh lieber nach Genf oder Paris,
und vergiß Sankt Moritz nicht, das wird Pierre gut
tun!“
Ratlos ſchlug ſie die Augen zu ihm auf.
„Du machſt Spaß“, ſagte fie ungläubig.
„Ach nein,“ lächelte er halb wehmütig, „das habe ich
ganz verlernt. Es iſt mein Ernſt, und du mußt es ſchon
glauben. Ich will eine Seereiſe machen und längere Zeit
wegbleiben.“
„Eine Seereiſe?“
Sie beſann ſich mit Anſtrengung. Seine Vorſchläge,
ſeine Andeutungen, ſein fröhlicher Ton, alles war ihr
ungewohnt und machte ſie mißtrauiſch. Aber plötzlich
tat das Wort „Seereiſe“ eine Vorſtellung in ihr auf: ſie
fab ihn ein Schiff beſteigen, Träger mit Koffern hinter-
her, ſie erinnerte ſich an die Bilder auf Plakaten der
Schiffsgeſellſchaften und an ihre eigenen Reiſen im
Mittelmeer, und in einem Augenblick ward ihr alles
durchſichtig.
„Du gehſt mit Burkhardt!“ rief ſie lebhaft.
Er nickte. „Ja, ich reiſe mit Otto.“
Beide ſchwiegen eine Weile. Frau Adele war betroffen
und fühlte ahnungsvoll die Bedeutung der Nachricht.
Vielleicht wollte er fie verlaſſen und freigeben? Jeden—
falls war es ein erſter ernſthafter Verſuch nach dieſer
- ep
Seite, und fie erſchrak im Herzen darüber, wie wenig
Aufruhr, Sorge und Hoffnung ſie dabei empfinde und
wie gar keine Freude. Mochte für ihn noch ein neues
Leben möglich ſein, für ſie war es nicht ſo. Sie würde
es mit Albert leichter haben, und ſie würde Pierre ge—
winnen, ja, aber ſie würde eine verlaſſene Frau ſein und
bleiben. Hundertmal hatte ſie ſich das vorgeſtellt, und
es hatte wie Freiheit und Erlöſung ausgeſehen; und
heute, da es ſchien, als könne Wirklichkeit daraus wer—
den, war ſo viel Bangigkeit und Scham und Schuld—
gefühl dabei, daß ſie verzagte und keines Wunſches
mehr fähig war. Das hätte früher kommen müſſen,
fühlte ſie, in den Zeiten der Nöte und Stürme, noch ehe
fie Reſignation gelernt hatte. Nun kam es zu {pat und
unnütz, nun war es nichts mehr als ein Strich unter
erledigte Dinge, es war nur noch Abſchluß und bittere
Beſtätigung alles Verborgenen, Halbeingeſtandenen,
und es glommen keine Funken neuer Lebenslockung mehr
darin.
Veraguth las aufmerkſam im beherrſchten Geſicht
ſeiner Frau, und ſie tat ihm leid.
„Es ſoll ein Verſuch fein”, ſagte er ſchonend. „Ihr
ſollt einmal ungeſtört miteinander leben, du und Albert
— und auch Pierre, fagen wir etwa für ein Jahr. Ich
dachte mir, es würde dir bequem ſein, und für die Kinder
wäre es gewiß ganz gut. Sie leiden doch beide etwas
darunter, daß — — daß wir nicht fo recht mit dem Leben
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fertig geworden find. Auch uns ſelber wird bei einer lange-
ren Trennung alles klarer werden, meinſt du nicht?“
„Es mag fein”, ſagte ſie leiſe. „Dein Entſchluß ſcheint
ja feſtzuſtehen.“
„Ich habe Otto ſchon geſchrieben. Es wird mir ja
nicht leicht, von euch allen ſo lange fortzugehen.“
„Von Pierre, meinſt du.“
„Beſonders von Pierre, ja. Ich weiß, du wirſt gut
für ihn ſorgen. Ich kann nicht erwarten, daß du ihm viel
von mir ſprechen wirſt; aber laß es mit ihm nicht gehen
wie mit Albert!“
Sie ſchüttelte abwehrend den Kopf.
„Das war nicht meine Schuld, du weißt es.“
Vorſichtig legte er ihr die Hand auf die Schulter, mit
unbeholfener, lange nicht geübter Zartheit.
„Ach, Adele, laß uns nicht von Schuld reden. Es ſoll
alle Schuld bei mir fein. Ich will ja gutzumachen ver-
ſuchen, nichts anderes. Ich bitte nur, laß mich Pierre
nicht verlieren, wenn es ſein kann! Durch ihn ſind wir
noch verbunden. Sieh zu, daß ſeine Liebe zu mir ihm
nicht ſchwer gemacht wird.“
Sie ſchloß die Augen, als wolle fie ſich gegen eine Ver:
führung ſchützen.
„Wenn du ſo lange fort biſt — -“ ſagte fie zögernd.
„Er iſt ein Kind —“
„Gewiß. Laß ihn ein Kind bleiben! Laß ihn mich ver:
geſſen, wenn es nicht anders geht! Aber denke, er iſt ein
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Pfand, das ich dir laſſe, und denke, ich muß viel Ver—
trauen haben, um es dir laſſen zu können.“
„Ich höre Albert kommen,“ flüſterte ſie raſch, „er
wird gleich da ſein. Wir reden noch darüber. Es iſt
nicht ſo einfach, wie du denkſt. Du gibſt mir Frei—
heit, mehr als ich je gehabt und je gewünſcht, und
du legſt mir zugleich eine Verantwortung auf, die
mir alle Unbefangenheit nimmt! Laß mich noch dar—
über denken. Auch du haſt wohl deinen Entſchluß nicht
in einer Stunde gefaßt, ſo laß auch mich ein wenig Zeit
haben.“
Man hörte Schritte vor der Türe, und Albert kam
herein.
Verwundert ſah er den Vater daſitzen. Er grüßte un⸗
frei, gab Frau Adele einen Kuß und ſetzte ſich an den
Frühſtückstiſch.
„Ich habe eine Überraſchung für dich,“ fing Vera—
guth behaglich an. „Die Herbſtferien kannſt du mit
Mama und Pierre verbringen, wo ihr wollt, und
auch die Weihnachtszeit. Ich werde mehrere Monate
auf Reiſen ſein.“
Der Jüngling konnte ſeine Freude nicht verbergen,
doch gab er ſich Mühe und ſagte eifrig: „Wohin willſt
du denn reiſen?“
„Ich weiß noch nicht genau. Zunächſt fahre ich mit
Burkhardt nach Indien.“
„Oh, ſo weit fort! Ein Schulfreund von mir iſt dort
11 Heſſe, Roßhalde
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geboren, ich glaube in Singapore. Da gibt es noch
Tigerjagden.“
„Ich hoffe, ja. Wenn ich einen ſchieße, bringe ich
das Fell natürlich mit. Aber hauptſächlich will ich dort
malen.“
„Das kann ich mir denken. Ich las von einem fran:
zöſiſchen Maler, der irgendwo in den Tropen war, auf
fo einer Inſel in der Südſee, glaube ich — es muß bert:
lich ſein.“
„Nicht wahr? Und ihr werdet inzwiſchen vergnügt
ſein und viel muſizieren und Ski laufen. Aber nun will
ich ſehen, was der Kleine macht. Laßt euch nicht ſtören!“
Er war hinaus, noch ehe jemand geantwortet hatte.
„Manchmal iſt Papa doch großartig,“ ſagte Albert
in ſeiner Freude. „Dieſe Reiſe nach Indien, das gefällt
mir, das hat Stil.“
Seine Mutter lächelte mühſam. Ihr Gleichgewicht
war geſtört, und fie hatte das Gefühl, auf einem Aſt zu
ſitzen, der eben angefdgt wird. Aber fie ſchwieg und
brachte eine freundliche Miene zuſammen, darin hatte
fie bung.
Der Maler war bei Pierre eingetreten und hatte ſich
an ſein Bett geſetzt. Leiſe holte er ein ſchmales Skizzen⸗
buch hervor und begann den Kopf und Arm des kleinen
Schläfers zu zeichnen. Er wollte, ohne Pierre mit Sitzun⸗
gen zu quälen, ihn in dieſer Zeit noch ſo oft und ſo gut
als immer möglich feſthalten und ſich einprägen. Mit
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zärtlicher Aufmerkſamkeit bemühte er ſich um die lieben
Formen, um den Fall und Strich des zarten Haares, um
die hübſchen, nervöſen Naſenflügel, um die dünne,
willenlos ruhende Hand und um die eigenwillig raſſige
Linie des feſtgeſchloſſenen Mundes.
Er ſah den Knaben ſelten im Bett, und es war das
erſtemal, daß er ihn nicht mit kindlich geöffneten Lippen
ſchlafen ſah, und indem er den frühreifen, ausdrucks—
vollen Mund beobachtete, fiel ihm die Ahnlichkeit mit
dem Munde ſeines Vaters, Pierres Großvaters, auf,
der ein kühner und phantaſievoller, aber leidenſchaftlich
raſtloſer Menſch geweſen war, und während er ſchaute
und arbeitete, beſchäftigte ihn dies ſinnvolle Spiel der
Natur mit den Zügen und Schickſalen der Väter, Söhne
und Enkel, und es ſtreifte ihm, der kein Denker war, das
ſorgenvoll köſtliche Rätſel der Folge und Notwendigkeit
die Seele.
Und plötzlich ſchlug der Schlafende die Augen auf
und blickte in die des Vaters, und wieder fiel es dem Va⸗
ter auf, wie unkindlich ernſthaft dieſer Blick und dies Er⸗
wachen ſei. Er hatte den Bleiſtift ſofort weggelegt und
das Büchlein zugeklappt, nun beugte er fic) über den Er⸗
wachten, küßte ihm die Stirn und ſagte fröhlich: „Guten
Morgen, Pierre. Geht es beſſer?“
Der Kleine lachelte beglückt und begann ſich zu ſtrecken.
O ja, es ging beſſer, es ging viel beſſer. Er beſann ſich
langſam. Ja, geſtern war er krank geweſen, er fühlte noch
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den Schatten des häßlichen Tages herüberdrohen. Aber
nun war es viel beſſer, er wollte nur noch ein klein
wenig liegen bleiben und die Wärme und ruhige
Dankbarkeit dieſes Zuſtandes koſten, dann würde er
aufſtehen und frühſtücken und mit Mama in den Gar-
ten gehen.
Der Vater ging, um Mama zu holen. Blinzelnd ſah
Pierre nach dem Fenſter, wo der helle, frohe Tag durch
die gelblichen Vorhänge ſchien. Das war nun ein Tag,
der etwas verſprach, der nach allen möglichen Freuden
duftete. Wie war das geſtern ſchal und kalt und dumpf
geweſen! Er ſchloß die Augen, um das zu vergeſſen, und
fühlte in den ſchlafträgen Gliedern das liebe Leben ſich
dehnen.
Und jetzt kam die Mutter, ſie brachte ihm ein Ei und
eine Taſſe Milch ans Bett, und Papa verſprach ihm
neue Farbſtifte, und alle waren lieb und zärtlich und
hatten eine Freude daran, ihn wieder geſund zu ſehen.
Es war beinahe wie ein Geburtstag, und daß der Kuchen
fehlte, ſchadete gar nichts, denn richtigen Hunger hatte er
noch immer nicht.
Gleich nachdem er angekleidet war, in einen friſchen,
blauen Sommeranzug, ging er zu Papa in das Atelier.
Er hatte den häßlichen Traum von geſtern vergeſſen,
aber in ſeinem Herzen zitterte noch ein Widerhall von
Schrecken und Leid, und er mußte nun fehen und genießen,
daß wirklich Sonne und Liebe um ihn war.
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Der Vater maß den Rahmen für fein neues Bild aus
und empfing ihn voller Freude. Pierre wollte jedoch nicht
lange dableiben, er wollte nur guten Tag ſagen und ſich
ein wenig liebhaben laſſen. Dann mußte er weiter, zum
Hunde und zu den Tauben, zu Robert und in die Küche,
und mußte alles wieder begrüßen und in Beſitz nehmen.
Darauf ging er mit Mama und Albert in den Garten,
und es ſchien ihm ein Jahr vergangen, ſeit er hier im
Gras gelegen und geweint hatte. Schaukeln mochte er
nicht, aber er legte ſeine Hand auf das Schaukelbrett, er
ging zu den Sträuchern und Blumenbeeten, und eine
dunkle Erinnerung wie aus einem vorigen Leben wehte
ihn an, als ſei er einmal hier zwiſchen den Beeten allein,
verlaſſen und troſtlos irrgelaufen. Nun war alles wieder
licht und lebendig, die Bienen ſangen, und die Luft war
leicht und froh zu atmen.
Er durfte Mutters Blumenkorb tragen, ſie taten Nel⸗
ken und große Dahlienblumen hinein, daneben aber
machte er noch einen beſonderen Strauß, den wollte er
fpater dem Vater bringen.
Als man ins Haus zurückkam, war er müde geworden.
Albert erbot ſich, mit ihm zu ſpielen, aber erſt wollte
Pierre ein wenig ausruhen. Er ſetzte ſich tief in Mutters
großen Korbſtuhl auf der Veranda, den Strauß für
Papa hatte er noch in der Hand.
Er fühlte ſich angenehm ermattet, er ſchloß die Augen,
wandte ſich gegen die Sonne und freute ſich, wie das
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Licht ihm rot und warm durch die Lider ſchien. Dann
blickte er befriedigt an ſeinem hübſchen, reinen Anzug
hinab und ſtreckte ſeine blanken gelben Schuhe ins Gon-
nenlicht, abwechſelnd den rechten und den linken. Er fand
es ſchön, ſo ſtill und etwas matt in Behaglichkeit und
Reinlichkeit zu ſitzen, nur die Nelken dufteten allzu ſtark.
Er legte ſie weg und ſchob ſie auf dem Tiſch von ſich fort,
ſo weit ſein Arm reichte. Er mußte ſie bald ins Waſſer
tun, damit ſie nicht welk würden, ehe der Vater ſie ſähe.
Mit ungewohnter Zärtlichkeit dachte er an ihn. Wie
war das doch geſtern geweſen? Er hatte ihn im Atelier
aufgeſucht, und Papa hatte gearbeitet und keine Zeit
gehabt, und er war ſo allein und fleißig und etwas trau⸗
tig vor ſeinem Bilde geſtanden. Soweit erinnerte er ſich
genau an alles. Aber ſpäter? War ihm ſpãter nicht der
Vater im Garten begegnet? Er verſuchte mit Anſtren—
gung ſich zu erinnern. Ja, Vater war im Garten hin und
her gegangen, allein und mit einem fremden, ſchmerz—
lichen Geſicht, und er hatte ihn rufen wollen ... Wie war
das geweſen? Es war irgend etwas Schreckliches oder
Grauſiges, was geſtern geſchehen war oder wovon er
geſtern gehört hatte, und er konnte es nicht wiederfinden.
Im tiefen Seſſelzurückgelehnt ging er ſeinen Gedanken
nach. Die Sonne ſchien gelb und warm auf ſeine Knie,
aber die Fröhlichkeit wich ganz allmählich von ihm. Er
fühlte, daß ſeine Gedanken ſich jenem Grauſigen mehr
und mehr näherten, und er fühlte: ſobald er es gefunden
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— =
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habe, werde es wieder Macht über ihn haben; es ſtand
hinter ihm und wartete. So oft ſeine Erinnerung nahe
an jene Grenze kam, ſtieg ein beklemmendes Gefühl wie
Übelkeit und Schwindel in ihm auf, und ſein Kopf be—
gann leiſe zu ſchmerzen.
Die Nelken ſtörten ihn mit ihrem überſtarken Geruch.
Sie lagen auf dem ſonnigen Korbtiſch und wurden welk,
und wenn er ſie dem Vater noch geben wollte, ſo war es
jetzt Zeit. Aber er mochte nicht mehr, vielmehr er mochte
ſchon, aber er war fo müde, und das Licht tat ihm in den
Augen weh. Und vor allem mußte er nachdenken, was
da geſtern geſchehen war. Er ſpürte, er ſei ganz nahe
daran und brauche nur mit den Gedanken danach zu
greifen, aber immer ſchwand es wieder dahin und war
weg.
Der Kopfſchmerz nahm zu. Ach, warum mußte das
ſein? Er war doch heut ſo vergnügt geweſen!
Frau Adele rief vor der Türe ſeinen Namen und kam
gleich darauf herein. Sie ſah die Blumen an der Sonne
liegen und wollte Pierre nach Waſſer ſchicken, da ſah ſie
ihn an und ſah ihn ſchlaff und eingeſunken im Seſſel
hängen und große Tränen auf ſeinen Wangen.
„Pierre, Kind, was iſt? Biſt du nicht wohl?“
Er ſah ſie an, ohne ſich zu bewegen, und ſchloß die
Augen wieder.
„Rede doch, Herz, was fehlt dir? Willſt du ins Bett?
Wollen wir ein Spiel machen? Haſt du Schmerzen?“
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Er ſchüttelte den Kopf und machte ein abwehrendes
Geſicht, als belaftige fie ihn.
„Laß mich,“ ſagte er flüſternd.
Und da ſie ihn aufrichtete und an ſich nahm, ſchrie er,
einen Augenblick wie in Wut aufflackernd, mit entſtellter
hoher Stimme: „So laß mich doch!“
Gleich darauf ließ ſein Sträuben nach, er ſank in ihren
Armen zuſammen, und da ſie ihn aufhob, ſtõöhnte er
ſchwach, ſenkte gequält das erbleichte Geſicht vornüber
und ſchůttelte ſich in einem Anfall von Erbrechen.
Dreizehntes Kapitel
Seit Veraguth allein in ſeinem kleinen Neubau
wohnte, war ſeine Frau kaum jemals bei ihm drüben ge—
weſen. Als ſie nun, ohne anzuklopfen, ſchnell und erregt
in ſeine Werkſtatt trat, war er alsbald auf eine ſchlimme
Nachricht gefaßt, und ſo ſicher warnte ihn der Inſtinkt,
daß er, noch ehe ſie ein Wort hatte ſagen können, heraus⸗
fuhr: „Iſt etwas mit Pierre?“
Sie nickte haſtig.
„Er muß ernſtlich krank ſein. Er war vorher ganz ſon—
derbar, und eben hat er wieder erbrochen. Du mußt den
Doktor holen.“
Während ſie ſprach, flog ihr Blick durch den leeren,
großen Raum und blieb an dem neuen Bilde hängen.
Sie ſah die Figuren nicht, ſie erkannte nicht einmal die
Geſtalt des kleinen Pierre, ſie ſtarrte nur auf die Lein—
wand und atmete die Luft des Raumes, in dem ihr Mann
ſeit Jahren lebte, und mit dumpfer Ahnung fühlte ſie
hier eine ähnliche Atmoſphãre von Einſamkeit und trotzi⸗
gem Selbſtgenügen wie die, in welcher fie felber ſchon fo
lange lebte. Es war nur ein Augenblick, dann wandte ſie
den Blick von dem Bilde ab und ſuchte dem Maler Ant-
wort zu geben, der heftig durcheinander fragte.
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„Bitte, telephoniere ſofort nach einem Automobil,“
ſagte er ſchließlich, „das geht raſcher als mit dem Wagen.
Ich fahre ſelber in die Stadt, ich muß mir nur eben die
Hände waſchen. Ich komme ſofort hinüber. Du haſt ihn
doch zu Bett gebracht?“
Eine Viertelſtunde ſpäter ſaß er im Automobil und
ſuchte den einzigen Arzt, den er kannte und der früher
manchmal ins Haus gekommen war. In der alten Wob-
nung fand er ihn nicht mehr, er war umgezogen. Auf der
Suche nach der neuen Wohnung begegnete er ſeinem
Wagen, der Sanitätsrat grüßte ihn, er dankte und war
ſchon vorüber, als ihm klar wurde, daß er es ſei, den er
ſuche. Er kehrte um und fand den Arztwagen vor dem
Hauſe eines Patienten halten, wo er eine peinliche Weile
warten mußte. Dann fing er den Sanitätsrat in der
Haustüre ab und nötigte ihn in ſein Automobil. Der
Arzt ſträubte und wehrte ſich, er mußte beinahe Gewalt
brauchen, um ihn mitzubekommen.
Im Wagen, der ſofort mit der größten Eile gegen
Roßhalde hinausfuhr, legte der Arzt ihm die Hand aufs
Knie und ſagte: „Gut denn, ich bin Ihr Gefangener.
Ich muß andere warten laſſen, die mich brauchen, das
wiſſen Sie. Alſo, wo fehlt es? Iſt Ihre Frau krank? —
Nicht? — Alſo der Kleine. Wie heißt er doch? Pierre,
richtig. Ich habe ihn lang nimmer geſehen. Was iſt es
denn? Iſt er verunglückt?“
„Er iſt krank, ſeit geſtern. Heut früh ſchien er wieder
in Ordnung zu fein, er war auf und hat auch ein wenig
gegeſſen. Jetzt erbricht er plötzlich wieder und ſcheint
Schmerzen zu haben.“
Der Arzt fuhr ſich mit der mageren Hand über das
klughäßliche Geſicht.
„Alſo wohl der Magen. Wir werden ja ſehen. Sonſt
iſt alles wohl bei Ihnen? Letzten Winter habe ich Ihre
Ausſtellung in München geſehen. Wir ſind ſtolz auf Sie,
Verehrter.“
Er ſah auf die Uhr. Sie ſchwiegen beide, als der Wagen
die Uberfesung wechſelte und mit lauterem Keuchen
bergan fuhr. Bald waren ſie draußen und mußten am
Hoftor abſteigen, das nicht geöffnet war.
„Warten Sie auf mich,“ rief der Sanitätsrat dem
Chauffeur zu. Dann ſchritten ſie raſch über den Hof und
ins Haus. Die Mutter ſaß bei Pierres Bett.
Nun hatte der Arzt plötzlich Zeit. Ohne Eile ging er an
die Unterſuchung, verſuchte den Knaben zum Plaudern
zu bringen, hatte gütig beruhigende Worte für die Mut—
ter und ſchuf in aller Gelaſſenheit eine Atmoſphäre von
Vertrauen und Sachlichkeit, die auch Veraguth wohltat.
Pierre zeigte kein Entgegenkommen, er verhielt ſich
ſtill, unwillig und mißtrauiſch. Als man ihm den Bauch
abtaſtete und drückte, verzog er höhniſch den Mund, als
finde er dieſe Bemühungen töricht und unnütz.
„Eine Vergiftung ſcheint ausgeſchloſſen,“ ſagte der
Sanitätsrat behutſam, „und am Blinddarm iſt gar
nichts zu finden. Es iff wohl einfach ein verdorbener
Magen, und für den iſt Abwarten und Faſten das beſte.
Geben Sie dem Jungen heute nichts als ein wenig
ſchwarzen Tee, falls er Durſt hat, abends kann er auch
einen kleinen Schluck Bordeaux haben. Falls alles gut
bleibt, bekommt er morgen zum Frühſtück Tee und Zwie—
back. Sollte er Schmerzen bekommen, ſo können Sie mir
ja telephonieren.“
Erſt an der Türe draußen fing Frau Veraguth zu fra-
gen an. Sie bekam aber keine weitere Auskunft.
„Der Magen ſcheint tüchtig verſtimmt, und das
Kind iſt offenbar ſenſibel und nervös. Von Fieber
keine Spur. Sie können ihn ja abends meſſen. Der
Puls iſt etwas matt. Sollte es nicht beſſer werden, ſo
komme ich morgen wieder her. Mir ſcheint, es iſt nichts
Ernſtliches.“
Er empfahl ſich raſch und war nun wieder ſehr eilig.
Veraguth begleitete ihn bis zum Wagen.
„Kann das lange dauern?“ fragte er im letzten
Augenblick.
Der Arzt lachte hart.
„Ich hätte Sie nicht für ſo ängſtlich gehalten, Herr
Profeſſor. Der Junge iſt etwas zart, und verdorbene
Mägen haben wir als Kinder alle oft genug gehabt.
Guten Morgen!“
Veraguth wußte ſich im Hauſe entbehrlich und ſchlen⸗
derte nachdenklich feldeinwärts. Die knappe, ſtraffe Art
2
des Sanitätsrates hatte ihn beruhigt, und er wunderte
ſich jetzt ſelbſt, daß er ſo erregt und überängſtlich ge—
weſen war.
Mit erleichtertem Gefühl ſchritt er aus und ſog die
heiße Luft des tiefblauen Spätvormittags ein. Ihm
ſchien, er mache heute ſchon ſeinen Abſchiedsgang durch
dieſe Wieſen und Obſtbaumreihen, und es war ihm leid—
lich wohl und frei zumute. Als er ſich beſann, woher dies
neue Gefühl einer Entſcheidung und Lofung ihm kommen
mõge, wurde ihm klar, daß das alles eine Folge des Wor:
gengeſpräches mit Frau Adele fei. Daß er ihr feine Reiſe—
plane mitgeteilt hatte, daß fie ibn zunächſt fo ruhig an-
gehört und keine Verſuche zu irgendeiner Gegenwehr ge-
macht hatte, daß zwiſchen ſeinem Entſchluß und der Aus—
führung nun alle Seitenwege und Ausflüchte abgeſchnit—
ten waren und die nächſte Zukunft ſo klar und eindeutig
vor ihm lag, das tat ihm wohl, daher kam ihm Beruhi—
gung und neues Selbſtgefühl.
Ohne zu wiſſen, wo er gehe, hatte er jenen Weg ein—
geſchlagen, den er vor einigen Wochen mit ſeinem
Freunde Burkhardt gegangen war. Erſt als der Feldweg
zu ſteigen begann, ſah er, wo er ſei, und erinnerte ſich
jenes Spazierganges mit Otto. Das Wäldchen da oben,
mit der Bank und mit dem geheimnisvoll helldunkeln
Durchblick in die klare, bildhaft ferngerückte Landſchaft
des bläulichen Flußtales, hatte er im Herbſt malen wollen,
und es war ſeine Abſicht geweſen, Pierre auf die Bank
— 174 —
zu ſetzen und den hellen Knabenkopf weich in das braune,
dunkle Waldlicht zu ſtellen.
Aufmerkſam ſtieg er empor, die Hitze des nahenden
Mittags nicht mehr fühlend, und während er ſpähend
den Augenblick erwartete, wo ihm über den Hügelkamm
der Waldrand entgegenträte, fiel jener Tag mit Burk—
hardt ihm wieder ein, er erinnerte ſich an ihre Geſpräche,
ja an einzelne Worte und Fragen des Freundes, an den
noch frühſommerlichen Ton der Landſchaft, deren Grün
ſeither längſt viel tiefer und milder geworden war. Und
dabei überraſchte ihn ein Gefühl, das er ſeit langem nicht
mehr kannte und deſſen unerwartete Wiederkehr ihn
heftig an die Jugendzeit erinnerte. Es ſchien ihm nämlich,
ſeit jenem Waldgange mit Otto ſei eine lange, lange
Zeit vergangen und er ſelbſt ſei ſeither gewachſen, anders
geworden und vorwärts gekommen, ſo daß er auf ſein
damaliges Ich mit einem gewiſſen ironiſchen Mitleid
zurückblickte.
Überraſcht von dieſer fo ganz jugendlichen Empfin—⸗
dung, die ihm in der Zeit vor zwanzig Jahren alltäglich
geweſen war und ihn jetzt wie ein ſeltener Zauber be—
rührte, überſah er die kurze Zeit dieſes Sommers und
fand, was er ſoeben und geſtern noch nicht gewußt hatte.
Er fand ſich, da er ſich der Zeit vor zwei, drei Monaten
erinnerte, verwandelt und weitergekommen, er fand heute
Helligkeit und ſichere Ahnung des Weges, wo noch vor
kurzem nur Dunkelheit und ratloſe Unſicherheit geweſen
W ive
= He
war. Es war, als fei fein Leben nun wieder ein klarer, ent—
ſchieden nach der ihm beſtimmten Richtung hindrängen—
der Fluß oder Strom, während es vorher ſo lange Zeit
in einem fumpfig-ftillen See gezögert und unſchlüſſig
ſich um ſich ſelber gedreht hatte. Und es wurde ihm klar,
daß ſeine Reiſe unmöglich hierher zurückführen könne,
daß er hier nichts mehr zu tun habe als Abſchied zu neh—
men, einerlei, ob ſein Herz dabei brenne und blute. Sein
Leben war wieder in Fluß geraten, und ſein Strom ging
mit Entſchiedenheit nach der Freiheit und Zukunft hin.
Er hatte von der Stadt und Gegend, er hatte von Nof-
halde und von ſeiner Frau, ohne darüber klar zu ſein, im
Innerſten ſich ſchon getrennt und losgeſagt.
Er blieb tief aufatmend ſtehen, von der Woge hellſich—
tiger Ahnung gehoben und durchſtrömt. Er dachte an
Pierre, und ein ſchneidend heller, wilder Schmerz ging
feindlich durch ſein ganzes Weſen, als ihm gewiß wurde,
daß er dieſen Weg zu Ende gehen und ſich auch von
Pierre trennen müſſe.
So ſtand er lange mit zuckendem Geſicht, und wenn
es glühender Schmerz war, was er in ſich fühlte, ſo war es
doch Leben und Licht, war es doch Klarheit und Zukunft.
Das war es, was Otto Burkhardt von ihm gewollt
hatte. Das war die Stunde, auf die der Freund gewartet
hatte. Das war der Schnitt in alte, lang geſchonte Ge—
ſchwüre, von dem er geſprochen hatte. Der Schnitt tat
weh, er tat bitter weh, aber mit den preisgegebenen
Lieblingswünſchen ſtarb auch Unraſt und Uneinigkeit,
Zwieſpalt und Lähmung der Seele dahin. Es war Tag
um ihn geworden, grauſam heller, ſchöner, lichter Tag.
Ergriffen tat er die letzten Schritte zur Hügelhöhe hinan
und ſetzte ſich auf die beſchattete Steinbank. Ein tiefes
Lebensgefühl durchquoll ihn wie Wiederkehr der Jugend,
und in erlöſter Dankbarkeit wandte er ſeine Gedanken zu
dem fernen Freunde, ohne den er niemals dieſen Weg
gefunden hãtte, ohne den er für immer in dumpfer kranker
Gefangenſchaft geblieben und verkommen wäre.
Indeſſen war es ſeiner Natur nicht gemäß, lange
nachzudenken oder lange in extremen Stimmungen zu
verharren. Zugleich mit dem Gefühl der Geneſung und
des wiedergewonnenen Willens rann ihm ein neues Be-
wußtſein tätiger Kraft und herrſchſüchtiger perfonlicher
Macht durch alle Sinne.
Er erhob ſich, ſchlug die Augen auf und griff mit be:
lebten Blicken herriſch nach ſeinem neuen Bilde. Er
ſchaute lang durch den Waldſchatten in das ferne lichte
Flußtal hinab. Dies wollte er malen, und er wollte nicht
mehr den Herbſt dazu abwarten. Es war eine heikle Auf—
gabe, es war eine kapitale Schwierigkeit, es war ein köſt—
liches Rätſel hier zu löſen: dieſer wunderſame Durchblick
mußte mit Liebe gemalt werden, er mußte mit ſo viel
Liebe und Studium gemalt werden, wie ihn ein zarter
alter Meiſter gemacht hätte, ein Altdorfer oder Dürer.
Hier konnte die Beherrſchung des Lichtes und deſſen
— 1977 —
myſtiſcher Rhythmus nicht das einzige fein, hier mußte
jede kleinſte Form ihr volles Recht bekommen und ſo
fein überlegt und abgewogen werden wie die Grafer in
jenen wunderbaren Feldſträußen ſeiner Mutter. Die
kühlhelle Ferne des Tales mußte, durch die warme
Lichtflut des Vorgrundes und den Waldſchatten dop—
pelt zurückgetrieben, wie ein Edelſtein aus dem Grunde
des Bildes hervorleuchten, ſo kühl wie ſüß, ſo fremd
wie lockend.
Er ſah auf die Uhr, es war Zeit, nach Hauſe zu gehen.
Er wollte feine Frau heute nicht warten laſſen. Aber vor-
her zog er doch noch das kleine Skizzenbuch hervor und
notierte, in der Mittagsſonne am Rand des Hügels {te
hend, mit kräftigen Strichen das Skelett ſeines Bildes:
die Maße der Perſpektive, den Ausſchnitt des Ganzen
und das vielverſprechende Oval der kleinen köſtlichen
Fernſicht.
Darüber verſpätete er ſich nun doch ein wenig und
lief, der Hitze nicht achtend, in Eile den ſteilen ſonnigen
Weg bergab zurück. Er überlegte, was er zum Malen
brauchen werde, er beſchloß, morgen ſehr früh aufzu—
ſtehen, um die Landſchaft auch im erſten Morgenlichte
zu ſehen, und im Herzen wurde ihm wohl und heiter, da
er wieder eine ſchöne, lockende Aufgabe auf ſich warten
wußte.
„Was macht Pierre?“ war ſeine erſte Frage, als er
eilig eintrat. f
12 Heſſe, Roßhalde
Seat ae ee
Der Kleine fei ruhig und müde, gab Frau Adele Be—
richt, er ſcheine keine Schmerzen zu haben und liege ge—
duldig ſtill. Es ſei am beſten, ihn nicht zu ſtören, er ſei
merkwürdig empfindlich und fahre auf, ſobald die Türe
gehe oder ſonſt ein plötzliches Geräuſch zu hören fei.
„Nun ja,“ nickte er dankend, „ich werde ihn ſpäter
beſuchen, vielleicht gegen Abend. Entſchuldige, daß ich
etwas verſpätet kam, ich war draußen und werde die
nächſten Tage im Freien arbeiten.“
Man aß in Frieden und Stille, durch die herabgelaſ—
ſenen Jalouſien floß ein grünes Licht durch das kühle
Zimmer, die Fenſter ſtanden alle offen, und man hörte
in der Mittagsſtille vom Hofe her den kleinen Brunnen
plätſchern.
„Du wirſt für Indien eine beſondere Ausrüſtung
brauchen,“ fragte Albert, „nimmſt du auch Jagdzeug
mit?“
„Ich denke nicht, Burkhardt ift mit allem verſehen.
Er wird mir ſchon Rat geben. Ich glaube, man muß das
Malzeug in verloteten Blechkiſten mitnehmen.“
„Wirſt du auch einen Tropenhelm tragen?“
„Jedenfalls. Den kann man ja unterwegs kaufen.“
Als Albert nach Tiſche weggegangen war, bat Frau
Veraguth ihren Mann noch zu bleiben. Sie ſetzte ſich in
ihren Korbſtuhl am Fenſter, und er trug ſeinen Seſſel zu
ihr hinüber.
„Wann wirſt du denn reiſen?“ fragte ſie einleitend.
20
„Oh, das kommt ganz auf Otto an, ich richte mich na—
türlich nach ihm. Ich denke, etwa Ende September.“
„So bald ſchon? Ich habe noch wenig darüber nach—
denken können. Pierre nimmt mich jetzt eben in Anſpruch.
Aber ich glaube, du ſollteſt ſeinetwegen nicht zuviel von
mir verlangen.“
„Das will ich auch nicht, ich habe mir das heute noch—
mals überlegt. Du ſollſt in allem volle Freiheit haben. Ich
ſehe ein, es geht nicht an, daß ich in der Welt herumreiſe
und dabei verlange, zugleich hier in deinen Angelegen—
heiten mitzuſprechen. Du mußt in allem tun, was dir gut
ſcheint. Du ſollſt nicht weniger Freiheit haben, als ich für
mich beanſpruche.“
„Aber was ſoll mit dem Hauſe hier geſchehen? Allein
hierbleiben möchte ich nicht, es iſt zu abgelegen und zu
weitläufig, und es ſind hier auch zu viele Erinnerungen,
die mich ſtören.“
„Ich ſagte dir ſchon, ziehe wohin du willſt. Roßhalde
gehört dir, das weißt du, und ich werde das vor meiner
Abreiſe noch ſicherſtellen, für alle Fälle.“
Frau Adele war blaß geworden. Sie beobachtete
ihres Mannes Geſicht mit faſt feindſeliger Aufmerk—
ſamkeit.
„Du ſprichſt beinahe ſo,“ warf ſie mit bedrängter
Stimme hin, „als ob du nicht mehr zurückzukommen
dächteſt.“
Er blinzelte nachdenklich und ſah zu Boden.
12 *
— 180 —
„Mankannnicht wiſſen. Ich habe noch keine Ahnung,
wie lange ich wegbleiben werde, und daß Indien für
Leute meines Alters ſehr geſund iſt, glaube ich kaum.“
Sie ſchüttelte ſtreng den Kopf.
„Ich meine nicht das. Sterben können wir alle. Ich
meine, ob du überhaupt die Abſicht haſt, wiederzukom—
men.“
Er ſchwieg und blinzelte, ſchließlich lächelte er ſchwach
und erhob ſich.
„Ich denke, darüber reden wir ein andermal. Es war
unſer letzter Streit, weißt du, als wir vor einigen Jahren
dieſe Frage beſprachen. Ich möchte nun hier auf Roß—
halde keinen Streit mehr haben, mit dir am wenigſten.
Ich nehme an, du denkſt darüber noch gleich wie da—
mals. Oder würdeſt du mir heute den Kleinen über—
laſſen?“
Frau Veraguth ſchüttelte ſchweigend den Kopf.
„Ich dachte es mir,“ ſagte ihr Mann mit Ruhe, „wir
wollen dieſe Dinge nun ruhen laſſen. Du kannſt, wie ge—
ſagt, über das Haus verfügen. Es liegt mir nichts daran,
Roßhalde zu behalten, und wenn du eine Gelegenheit
findeſt, das Ganze gut zu verkaufen, ſo gib es weg!“
„Das iſt nun das Ende von Roßhalde,“ ſagte ſie mit
einem Ton tiefer Bitterkeit, und ſie dachte dabei an die
Zeit ihrer Anfänge, an Alberts Babyjahre, an alle ihre
damaligen Hoffnungen und Erwartungen. Das war
alſo das Ende davon.
— 181 —
Veraguth, der ſich ſchon zur Türe gewandt hatte,
kehrte noch einmal um und rief ſanft: „Nimm es nicht
fo ſchwer, Kind! Wenn du magſt, kannſt du ja alles be-
halten.“
Er ging hinaus, nahm dem Hunde die Kette ab und
ſchritt zum Atelierhaus, von dem jauchzenden Tier um—
bellt und umſprungen. Was lag ihm an Roßhalde! Das
gehörte zu den Dingen, mit denen er nichts mehr zu tun
hatte. Er fühlte ſich jetzt zum erſtenmal ſeiner Frau über⸗
legen. Er hatte abgeſchloſſen. Er hatte im Herzen das
Opfer gebracht, er hatte auf Pierre verzichtet. Seit ſich
das von ihm geloft hatte, war fein ganzes Weſen nur
noch nach vorwärts gerichtet. Für ihn war Roßhalde
erledigt, erledigt wie die vielen anderen fehlgeſchlagenen
Hoffnungen von ehemals, erledigt wie die Jugendzeit.
Unnütz, darum zu klagen!
Er ſchellte, und Robert kam gelaufen.
„Ich werde einige Tage im Freien malen. Sie müſſen
nach dem kleineren Malkaſten ſehen, auch nach dem
Schirm, bis morgen muß alles in Ordnung ſein. Um
halb ſechs Uhr wecken Sie mich.“
„Sehr wohl, Herr Veraguth.“
„Sonſt nichts. Das Wetter wird doch halten? Was
meinen Sie?“
„Ich glaube, es wird wohl halten ... Entſchuldigen
Sie aber, Herr Veraguth, ich möchte Sie noch etwas
fragen.“
— 182 —
„Ja?“
„Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe gehört, der
Herr wollten nach Indien reiſen.“
Veraguth lachte verwundert auf.
„Das iſt verflucht raſch gegangen. Da hat alſo Al—
bert geplaudert. Nun ja, ich werde nach Indien reiſen,
und da können Sie nicht gut mitkommen, Robert, es iſt
ſchade. Man hat da draußen keine europäiſchen Diener.
Aber wenn Sie ſpäter wieder zu mir kommen mögen, fo
kommen Sie! Ich beſorge Ihnen gerne inzwiſchen eine
andre gute Anſtellung, Ihren Lohn kriegen Sie ja ohne—
hin bis Neujahr bezahlt.“
„Danke, Herr Veraguth, danke vielmal. Vielleicht
darf ich dann um Ihre Adreſſe bitten. Ich werde Ihnen
einmal ſchreiben. Es iſt nämlich — — es iſt nicht fo einfach
— ich habe nämlich eine Braut, Herr Veraguth.“
„So, Sie haben eine Braut?“
„Ja, Herr Veraguth, und wenn Sie mich entlaſſen,
fo muß geheiratet werden. Nämlich ich habe ihr verſpro—
chen, daß ich keinen neuen Dienſt annehme, wenn ich ein:
mal hier weggehen ſollte.“
„Na, da werden Sie fic) ja freuen, daß Sie jetzt los:
kommen. Es tut mir aber leid, Robert. Was wollen Sie
denn anfangen, wenn Sie verheiratet ſind?“
„Ja, ſie will mit mir ein Zigarrengeſchäft auftun.“
„Einen Zigarrenladen? Robert, das iſt nichts für
Sie.“
„Entſchuldigen, Herr Veraguth, man muß es einmal
probieren. Aber wenn Sie erlauben — — ginge es nicht
am Ende, daß ich doch in Ihrem Dienſt bliebe? Ich
möchte höflichſt anfragen, Herr Veraguth.“
Der Maler gab ihm einen Klaps auf die Schulter.
„Menſch, was ſoll das heißen? Sie wollen heiraten,
Sie wollen ſo einen ſtumpfſinnigen Laden aufmachen,
und Sie wollen aber auch bei mir bleiben? Mir ſcheint,
da iſt etwas nicht in Ordnung ... Es liegt Ihnen wohl
nicht ſo ſehr viel an dieſer Heirat, Robert?“
„Mit Verlaub, Herr Veraguth, nein. Sie wäre ſchon
tüchtig, meine Braut, da will ich nichts ſagen. Aber ich
würde ſchon lieber hierbleiben. Sie hat einen ſcharfen
Charakter, und — —“
„Ja, Kerl, warum wollen Sie ſie denn dann heiraten?
Sie haben ja Angſt vor ihr! Ihr habt doch kein Kind?
Oder?“
„Nein, dieſes nicht. Aber ſie läßt mir keine Ruhe
mehr ...“
„Dann ſchenken Sie ihr eine hübſche Broſche, Robert,
ich gebe Ihnen einen Taler dafür. Die geben Sie Ihrer
Braut und ſagen ihr, ſie möchte ſich nun einen andern
ſuchen für ihren Zigarrenladen. Sagen Sie ihr, ich hätte
das geſagt. Und ſchämen Sie ſich ein bißchen! Ich laſſe
Ihnen acht Tage Zeit. Dann möchte ich wiſſen, ob Sie
ein Mann ſind, der ſich von einem Mädel Angſt machen
läßt, oder nicht.“
— 184 —
„Es iſt gut, es iſt gut. Ich werde ihr ſchon ſagen ...“
Veraguth hörte auf zu lächeln. Er blitzte den Betrof—
fenen aus zornigen Augen an und rief: „Sie werden ſcharf
das Mädel fortſchicken, Robert, ſonſt ſind wir miteinan—
der fertig. Pfui Teufel - ſich heiraten laſſen! Gehen Sie
und bringen Sie das bald in Ordnung!“
Er ſtopfte ſich eine Pfeife, nahm ein größeres Skizzen⸗
buch und eine Hülſe voll Zeichenkohle an ſich und ging
nach dem Waldhügel hinaus.
Vierzehntes Kapitel
Das Faſten ſchien nicht viel zu helfen. Pierre Vera—
guth lag zuſammengekrümmt in ſeinem Bette, die Tee—
taſſe ſtand unberührt daneben. Man ließ ihn möͤglichſt
in Ruhe, da er auf keine Anrede Antwort gab und jedes—
mal unwillig zuſammenfuhr, wenn jemand in fein Zim—
mer trat. Die Mutter ſaß manche Stunde an ſeinem
Bett, ſie murmelte halbgeſungene Zärtlichkeiten und
Beruhigungsworte. Es war ihr ſorgenvoll und unheim—
lich zumute es ſchien, als fei der kleine Kranke hartnäckig
in einen geheimen Schmerz verbohrt. Er gab auf keine
Frage, auf keine Bitte, auf kein Anerbieten irgendeine
Antwort, mit böſen Augen ſtarrte er vor ſich hin und
wollte nicht ſchlafen, nicht ſpielen, nicht trinken, nicht
vorgeleſen haben. Der Arzt war zwei Tage nacheinan—
der gekommen er hatte wenig geſagt und laue Leibwickel
befohlen. Pierre lag viel in einem leichten Halbſchlum—
mer, wie Fiebernde ihn haben, er murmelte dann unver—
ſtändliche Worte und träumte halbbewußt in einem lei—
ſen dumpfen Delirium vor ſich hin.
Veraguth war ſeit mehreren Tagen draußen am
Malen. Als er mit der Dämmerung nach Hauſe kam,
fragte er ſogleich nach dem Knaben. Seine Frau bat ihn,
— 186 —
nicht mehr ins Krankenzimmer zu gehen, da pierre fo
ſehr empfindlich gegen alle Störungen fei und jetzt ein-
geſchlummert ſcheine. Da Frau Adele wenig Worte
machte und ſeit dem neulichen Morgengeſprãäch ſich ihm
gegenüber mißgeſtimmt und befangen fühlte, fragte er
nicht weiter, ſondern ging unbekümmert ins Bad und
brachte den Abend in der angenehmen Unruhe und war⸗
men Erregtheit hin, die er ſtets beim Vorbereiten einer
neuen Arbeit empfand. Nun hatte er mehrere Studien
draußen gemalt und wollte morgen das Bild ſelber in
Angriff nehmen. Er wählte mit Befriedigung Kartons
und Leinwände aus, flickte an locker gewordenen Reil:
rahmen herum, ſuchte Pinſel und Malzeug aller Art zu—
ſammen und rüſtete ſich wie für eine kleine Reiſe, er legte
ſogar den gefüllten Tabaksbeutel, Pfeife und Feuerzeug
bereit wie ein Touriſt, der in der Frühe zu einer Bergbe—
ſteigung aufbrechen will und ſich für die erwartungs—
vollen Stunden vor dem Schlafengehen nichts Beſſeres
weiß als liebevoll an morgen zu denken und jede Kleinig-
keit dafür bereitzulegen.
Behaglich ſah er dann bei einem Glaſe Wein die
Abendpoſt an. Da war ein freudiger, liebevoller Brief
von Burkhardt, und beigefügt war eine mit hausfrau—
licher Sorgſamkeit zuſammengeſtellte Liſte alles deffen,
was Veraguth für die Reiſe mitzunehmen habe. Be—
luſtigt las dieſer die ganze Liſte durch, auf welcher weder
wollene Leibbinden noch Strandſchuhe, weder Nacht—
kleidung noch Gamaſchen vergeſſen waren. Unten auf
dem Zettel ſtand mit Bleiſtift geſchrieben: „Alles andere
beſorge ich für uns beide, auch die Kabinen. Laß dir we—
der Chemikalien gegen Seekrankheit noch indiſche Lite—
ratur aufſchwatzen, alles das iſt meine Sache.“
Lächelnd wandte er ſich einer großen Rolle zu, in der
ihm ein junger Düſſeldorfer Maler eine Anzahl Radie—
rungen mit ehrfurchtsvoller Widmung überſandte. Auch
dafür fand er heute Zeit und Laune, er ſah die Blätter
aufmerkſam durch und wählte das beſte davon für ſeine
Mappen aus, die anderen mochte Albert haben. Dem
Maler ſchrieb er ein freundliches Billett.
Zuletzt ſchlug er das Skizzenbuch auf und betrachtete
lange die vielen Zeichnungen, die er draußen gemacht
hatte. Sie befriedigten ihn alle nicht recht, er wollte es
morgen mit einem anderen, weiteren Ausſchnitt ver—
ſuchen, und wenn das Bild auch dann noch nicht ſäße,
wollte er eben ſolange Studien malen, bis er es heraus
hätte. Auf alle Fälle würde er morgen tüchtig fleißig fein,
das Weitere würde ſich ſchon ergeben. Und dieſe Arbeit
würde dann fein Abſchied von Roßhalde fein; es war
ohne Zweifel das eindringlichſte und lockendſte Stück
Landſchaft in der ganzen Gegend, und es ſollte nicht ver⸗
gebens geweſen ſein, hoffte er, daß er ſich das bis jetzt
immer wieder aufgeſpart hatte. Das durfte nicht mit
einer ſchneidigen Studie abgetan werden, es mußte ein
gutes, delikates, abgewogenes Bild werden. Das raſche,
— 188 —
kämpfende Malen in der Natur, mit Schwierigkeiten,
Niederlagen und Siegen, das würde er dann draußen in
den Tropen wieder auskoſten können.
Er legte ſich zeitig nieder und ſchlief vortrefflich, bis
Robert ihn weckte. Da ſtand er, in der ſtraffen Morgen⸗
kühle fröſtelnd, in fröhlicher Eile auf, trank ſtehend eine
Schale Kaffee und trieb den Diener an, der ihm Lein—
wand, Feldſtuhl und Farbenkaſten nachtragen ſollte.
Bald darauf verließ er das Haus und verſchwand, Ro:
bert hinterdrein, in den noch morgenblaſſen Wieſen.
Vorher hatte er noch in der Küche nachfragen wollen,
ob Pierre eine ruhige Nacht gehabt habe. Aber er
hatte das Haus noch verſchloſſen und niemand wach
gefunden.
Frau Adele war bis in die Nacht bei dem Kleinen ge—
ſeſſen, da er ein wenig zu fiebern ſchien. Sie hatte ſeinem
lallenden Gemurmel zugehört, ſeinen Puls gefühlt und
ſein Bett in Ordnung gebracht. Als ſie ihm gute Nacht
ſagte und ihn küßte, ſchlug er die Augen auf und ſah ihr
ins Geſicht, ohne aber zu antworten. Die Nacht blieb
ruhig.
Pierre war wach, als ſie am Morgen zu ihm kam. Er
wollte kein Frühſtück haben, verlangte aber nach einem
Bilderbuch. Die Mutter ging ſelbſt, um eines zu holen.
Sie ſtopfte ihm ein zweites Kiſſen unter den Kopf, zog
den Fenſtervorhang auseinander und gab Pierre das
Buch in die Hände; es war ein Bild mit einer großen,
ſtrahlend goldgelben Frau Sonne aufgeſchlagen, das er
beſonders gern hatte.
Er hob das Buch gegen ſein Geſicht, das helle frohe
Morgenlicht fiel auf das Blatt. Aber ſogleich flog ein
dunkler Schatten von Schmerz, Enttäuſchung und Un-
behagen über ſein zartes Geſicht.
„Pfui, das tut ja weh!“ rief er gequält und ließ das
Bilderbuch ſinken.
Sie fing es auf und hielt es ihm nochmals vor die
Augen.
„Es iſt ja deine liebe Frau Sonne,“ ſagte ſie zuredend.
Er hielt ſich die Hände vor die Augen.
„Nein, tu es weg. Das iſt ſo ſcheußlich gelb!“
Seufzend nahm ſie das Buch wieder an ſich. Weiß
Gott, was das mit dem Kinde war! Sie kannte mancher—
lei Empfindlichkeiten und Launen an ihm, aber ſo war er
noch nie geweſen.
„Paß auf,“ ſagte ſie ſanft beſchwörend, „jetzt bring'
ich dir einen feinen, warmen Tee, und du darfſt dir Zucker
hineintun und ein ſchönes Zwieback dazu haben.“
„Ich will nicht!“
„Probier's einmal! Es tut dir gut, du wirſt ſehen.“
Gepeinigt und wütend fab er fie an.
„Wenn ich aber nicht will!“
Sie ging hinaus und blieb eine lange Weile fort. Er
blinzelte ins Licht, es ſchien ihm übermäßig grell und tat
ihm weh. Er wandte ſich ab. Gab es denn keinen Troſt,
kein bißchen Vergnügen, keine kleine Freude mehr für
ihn? Trotzig und weinerlich drückte er das Geſicht ins
Kiſſen und biß unwillig in das weiche, fad ſchmeckende
Linnen. Das war ein auftauchender Widerſchein aus ſei—
ner allerfrüheſten Kindheit. Als ganz kleiner Junge hatte
er, wenn er zu Bett gebracht war und nicht gleich ein-
ſchlafen konnte, die Gewohnheit gehabt, in ſein Kiſſen
zu beißen und mit einer gewiſſen Taktmäßigkeit darauf
zu kauen, bis er müde wurde und einſchlief. Das tat er
nun wieder und arbeitete fic) langſam in eine ſtille Be-
täubung hinein, die ihm wohl tat und in welcher er ruhig
liegen blieb.
Die Mutter kam nach einer Stunde wieder herein.
Sie beugte ſich über ihn und ſagte: „So, will Pierre jetzt
wieder artig ſein? Du warſt vorher ſehr unartig, und
Mama iſt traurig geweſen.“
Das war zu anderen Zeiten ein ſtarkes Mittel, dem er
ſelten widerſtand, und als ſie nun die Worte ſagte, war
fie nicht ohne Beſorgnis, er möchte es ſich zu ſehr zu Her—
zen nehmen und weinen. Er ſchien aber gar nicht auf
ihre Worte zu achten, und als ſie nun etwas ſtrenge
fragte: „Du weißt doch, daß du vorher ungezogen
warſt?“, verzog er den Mund beinahe ſpöttiſch und
blickte vollkommen gleichgültig.
Gleich darauf kam der Sanitätsrat.
„Hat er wieder erbrochen? Nicht? Schön. Und die
Nacht war gut? Was hat er denn gefrühſtückt?“
— — 191 ——
Als er den Knaben aufrichtete und ſein Geſicht gegen
das Fenſter drehte, zuckte Pierre wieder wie in Schmer—
zen zuſammen und drückte die Augen zu. Aufmerkſam
betrachtete der Arzt den ſeltſam ſtarken Ausdruck von
Abwehr und Pein in dem Kindergeſicht.
„Iſt er auch gegen Geräuſche fo empfindlich?“ fragte
er Frau Adele flifternd.
„Ja,“ ſagte ſie leiſe, „wir dürfen gar nimmer Klavier
ſpielen, ſonſt tut er ganz verzweifelt.“
Der Sanitãtsrat nickte und zog den Vorhang halb zu.
Dann hob er den Kleinen aus dem Bett, horchte an ſei—
nem Herzen und ſchlug ihm mit einem kleinen Hämmer—
lein probierend auf die Sehnen unterhalb der Knie—
ſcheiben.
„Schon gut,“ ſagte er freundlich, „nun laſſen wir dich
in Ruhe, mein Junge.“
Er legte ihn behutſam ins Bett zurück, nahm ſeine
Hand und nickte ihm lächelnd zu.
„Darf ich noch einen Augenblick bei Ihnen eintreten?“
ſagte er im Kavalierston zu Frau Veraguth und ließ ſich
in ihr Zimmer führen.
„Nun erzählen Sie mir noch mehr von Ihrem Klei—
nen,“ ſagte er ermunternd. „Mir ſcheint, er iſt doch ſehr
nervös, und wir müſſen ihn nun eine Weile gut pflegen,
Sie und ich. Die Magengeſchichte iſt nicht der Rede
wert. Er muß unbedingt wieder eſſen. Feine, ſtärkende
Sachen: Eier, Bouillon, friſche Sahne. Verſuchen Sie
es einmal mit Eigelb. Wenn er es lieber ſüß nimmt,
ſchlagen Sie es mit Zucker in eine Taſſe. Und nun, iſt
Ihnen ſonſt etwas an ihm aufgefallen?“
Beſorgt und doch von ſeinem freundlich ſicheren Ton
beruhigt fing ſie zu berichten an. Am meiſten habe ſie
Pierres Teilnahmloſigkeit erſchreckt, es ſei, als habe er
ſie gar nimmer lieb. Es ſei ihm einerlei, ob man ihn bitte
oder ſchelte, er fei gegen alles gleichgültig. Sie erzählte
von dem Bilderbuch, und er nickte.
„Laſſen Sie ihn gewähren!“ ſagte er im Aufſtehen.
„Er iſt krank und kann augenblicklich nichts für ſeine Un-
arten. Laſſen Sie ihn möglichſt in Ruhe! Wenn er Kopf—
ſchmerzen hat, kann er Eisumſchläge bekommen. Und
abends ſtecken Sie ihn moglichft lang in ein laues Bad,
das macht Schlaf.“
Er verabſchiedete ſich und duldete nicht, daß ſie ihn die
Treppe hinab begleite.
„Sehen Sie zu, daß er heute etwas ißt!“ ſagte er noch
im Weggehen.
Unten trat er in die offenſtehende Küchentür und
fragte nach Veraguths Diener.
„Rufen Sie Roberther!“ befahl die Köchin der Magd.
„Er muß im Atelier ſein.“
„Es iſt nicht nötig,“ rief der Sanitätsrat. „Ich gehe
ſelber hinüber. Nein, laſſen Sie nur, ich weiß den
Weg.“
Er verließ die Küche mit einem Scherzwort und ſchritt,
ee
plötzlich voll Ernſt und Nachdenklichkeit, langſam unter
den Kaſtanien hinweg.
Frau Veraguth überdachte nochmals jedes Wort, das
der Arzt geſagt hatte, und kam nicht ins reine damit.
Offenbar nahm er Pierres Unwohlſein ernſter als bis—
her, doch hatte er eigentlich nichts Schlimmes geſagt und
war ſo ſachlich und ruhig geweſen, daß doch wohl keine
ernſtliche Gefahr beſtand. Es ſchien ein Zuſtand von
Schwäche und Nervoſität zu fein, den man mit Geduld
und guter Pflege abwarten mußte.
Sie ging ins Muſikzimmer und ſchloß den Flügel ab,
damit Albert ſich nicht doch etwa einmal vergeſſe und
unvermutet zu ſpielen beginne. Und ſie beſann ſich, in
welchen Raum man etwa das Inſtrument ſchaffen laf:
ſen könne, falls das länger dauern ſollte.
Hin und wieder ging ſie, nach Pierre zu ſehen, öffnete
vorſichtig ſeine Türe und horchte, ob er ſchlafe oder
ſtöhne. Er lag jedesmal wach und blickte apathiſch ge⸗
radeaus, und traurig ging ſie wieder fort. Sie hätte ihn
lieber in Gefahr und Schmerzen gepflegt, ſtatt ihn ſo ver⸗
ſchloſſen, verdroſſen und gleichgültig liegen zu ſehen; es
ſchien ihr, eine ſeltſame, traumhafte Kluft trenne ihn von
ihr, ein widerwärtig zäher Bann, den ihre Liebe und
Sorge nicht zu brechen vermöge. Es war da ein gemei—
ner, haſſenswerter Feind im Hinterhalt, deſſen Art und
deſſen böſe Abſichten man nicht kannte und gegen den
man keine Waffen beſaß. Vielleicht bereitete ſich da
18 Heſſe, Roßhalde
—— 194 5 —
irgendein Fieber, ein Scharlach oder ſonſt eine Kinder—
krankheit vor.
Bekümmert raſtete ſie eine Weile in ihrem Zimmer.
Ein Strauß Spiräen fiel ihr ins Auge, fie bog ſich über
den runden Mahagonitiſch, deſſen rotbraunes Holz un-
ter der weißen durchbrochenen Decke tief und warm
leuchtete, und ſenkte das Geſicht mit geſchloſſenen Augen
in die vieläſtigen, weichen, ſommerlichen Blüten, deren
ſtarkſüßer Duft, wie ſie ihn voll einſog, auf ſeinem
Grunde geheimnisvoll bitter ſchmeckte.
Indem ſie ſich, leicht betäubt, wieder aufrichtete und
mit unbeſchäftigten Augen auf die Blumen, auf den
Tiſch und durch das Zimmer blickte, ſtieg eine Woge von
bitterer Traurigkeit in ihr auf. Sie ſchaute in einer plötz⸗
lichen Wachheit der Seele durch den Raum und an den
Wänden hin, ſie ſah Teppich und Blumentiſch, Uhr und
Bilder auf einmal fremd und ohne Beziehungen, ſie ſah
den Teppich aufgerollt, die Bilder verpackt und alles
auf einen Wagen geladen, welcher alle dieſe Dinge, die
nun keine Heimat und keine Seele mehr hatten, fort an
einen neuen, unbekannten, gleichgültigen Ort bringen
ſollte. Sie ſah Roßhalde leer mit geſchloſſenen Türen
und Fenſtern ſtehen und fühlte Verlaſſenheit und Ab—
ſchiedsweh aus allen Beeten des Gartens ſtarren.
Es waren nur Augenblicke. Es kam und ging wie ein
leiſer, doch dringender Ruf aus dem Dunkeln, wie ein
flüchtig hereinfallendes, fragmentariſches Spiegelbild
ere tlk gen
aus der Zukunft. Und deutlich ſtieg es ihr aus dem blin—
den Leben der Gefühle ins Bewußtſein: ſie würde bald
mit ihrem Albert und dem kranken Pierre ohne Heimat
ſein, ihr Mann würde ſie verlaſſen und ihr bliebe für
alle Zeit die verlorene Dumpfheit und Kälte ſo vieler
liebloſer Jahre in der Seele liegen. Sie würde für die
Kinder leben, aber ſie würde nie das eigene, ſchöne
Leben mehr finden, das ſie einſt von Veraguth erhofft
und auf das ſie einen heimlichen Anſpruch noch bis
geſtern und heute in ſich bewahrt und gehegt hatte.
Dazu war es zu ſpät. Und ſie fror vor Erkenntnis und
Nüchternheit.
Aber alsbald ſetzte ihr geſundes Weſen ſich zur Wehr.
Es ſtand ihr eine unruhige und ungewiſſe Zeit bevor,
Pierre war krank, und Alberts Ferien waren bald zu
Ende. Es ging nicht, es ging ſchlechterdings nicht an, daß
jetzt auch ſie ſchlaff wurde und unterirdiſchen Stimmen
folgte. Erſt mußte Pierre wieder geſund und Albert ab-
gereiſt und Veraguth in Indien ſein, dann würde man
weiter ſehen, dann war es immer noch Zeit, das Schick—
ſal anzuklagen und ſich die Augen auszuweinen. Jetzt
hatte das keinen Sinn, ſie durfte nicht, es kam gar nicht
in Betracht.
Sie ſtellte die Vaſe mit den Spiräen vors Fenſter hin:
aus. Sie ging in ihr Schlafzimmer, goß Kölniſches Waſ—
ſer auf ihr Taſchentuch und wuſch ſich die Stirne damit,
prüfte im Spiegel ihre ſtrenge, ſtraffe Friſur und ging
13 *
— 196 —
mit ruhigen Schritten nach der Küche, um ſelbſt einen
Imbiß für Pierre zu rüſten.
Damit erſchien fie ſpäter an des Kleinen Bett, ſetzte ihn
aufrecht, ſchenkte ſeinen abwehrenden Gebärden keine
Beachtung und löffelte ihm ſtreng und aufmerkſam das
Eigelb ein. Sie wiſchte ihm den Mund ab und küßte ihn
auf die Stirn, ſchüttelte fein Bett zurecht und redete ihm
zu, lieb zu ſein und zu ſchlafen.
Als nun Albert von einem Spaziergange heimkam,
zog fie ihn mit ſich auf die Veranda, wo der leichte Som—
merwind in den ſtraff geſpannten, braun und weiß ge—
ſtreiften Markiſen knatterte.
„Der Arzt iſt wieder dageweſen,“ erzählte ſie. „Pierre
ſei mit den Nerven nicht in Ordnung, und nun muß er
möglichſt Ruhe haben. Es tut mir leid für dich, aber es
darf zunächſt im Hauſe gar nimmer Klavier geſpielt
werden. Ich weiß, es ift ein Opfer für dich, mein Junge.
Vielleicht wäre es ganz klug, wenn du bei dem ſchönen
Wetter für ein paar Tage verreiſen würdeſt, in die
Berge oder nach München? Papa hätte gewiß nichts
dagegen.“
„Danke, Mama, das iſt lieb von dir. Ich gehe viel—
leicht einmal einen Tag weg, aber nicht länger. Sonſt
haſt du ja gar niemand, der bei dir iſt, ſolang Pierre lie-
gen muß. Und dann ſollte ich ja jetzt auch mit der Schul—
arbeit beginnen, ich habe die ganze Zeit bis jetzt gebum—
melt. ~ Wenn nur Pierre bald geſund wird!“
— 1097
„Gut, Albert, das iſt brav. Es iſt jetzt wirklich keine
leichte Zeit für mich, ich bin froh, dich da zu haben. Mit
Papa kommſt du ja nun auch wieder beſſer aus, nicht?“
„Ach ja, ſeit er ſich zu der Reiſe entſchloſſen hat. Ub:
rigens ſehe ich ihn fo wenig, er malt den ganzen Tag.
Weißt du, manchmal tut es mir leid, daß ich oft häßlich
gegen ihn war — er hat mich ja auch gequält, aber er hat
etwas, was mir doch allemal wieder imponiert. Er iſt ja
furchtbar einſeitig, und von Muſtk verſteht er nicht viel,
aber er iſt doch ein großer Küͤnſtler und hat eine Lebens—
aufgabe. Das iſt es, was mir ſo imponiert. Er hat ja
nichts von ſeiner Berühmtheit, und von ſeinem Geld
eigentlich auch recht wenig; es iſt nicht das, wofür er ar:
beitet.“
Er zog die Stirn in Falten, nach Worten ſuchend.
Aber er konnte ſich nicht ſo, wie er wollte, ausdrücken,
obwohl es ein genau beſtimmtes Gefühl war. Die Mut—
ter lächelte und ſtrich ihm das Haar zurück.
„Wollen wir abends wieder miteinander franzöſiſch
leſen?“ fragte ſie ſchmeichelnd.
Er nickte und lächelte nun auch, und im Augenblick
ſchien es ihr töricht und unbegreiflich, daß ſie noch vor
kurzem nach einem anderen Schickſal hatte verlangen
können als danach, für ihre Söhne zu leben.
Fünfzehntes Kapitel
Kurz vor Mittag erſchien Robert draußen am Wald-
rande bei ſeinem Herrn, um ihm das Malzeug heimtragen
zu helfen. Veraguth hatte eine neue Studie fertig, die er
ſelbſt tragen wollte. Er wußte jetzt genau, wie das Bild
werden mußte, und dachte es nun in wenigen Tagen zu
zwingen.
„Morgen früh ziehen wir wieder aus,“ rief er ver—
gnügt und zwinkerte mit ermüdeten Augen in die blen—
dende Mittagswelt.
Robert knöpfte umſtändlich ſeinen Rock auf und zog
ein Papier aus der Bruſttaſche. Es war ein etwas zer⸗
knittertes Kuvert ohne Aufſchrift.
„Das ſoll ich abgeben.“
„Von wem?“
„Vom Herrn Sanitätsrat. Er hat um zehn Uhr nach
Ihnen gefragt aber er ſagte, ich dürfe Sie nicht von der
Arbeit wegholen.“
„Es iſt gut. Vorwärts!“
Der Diener lief mit Ruckſack, Feldſtuhl und Staffelei
voraus, Veraguth blieb ſtehen und öffnete mit einer
Ahnung unangenehmer Nachrichten das Briefchen. Es
lag nur des Sanitätsrats Karte darin mit der flüchtig und
20 —
undeutlich gekritzelten Bleiſtiftnotiz: „Bitte kommen Sie
nachmittags zu mir, ich möchte wegen Pierre mit Ihnen
ſprechen. Sein Unwohlſein iſt weniger unbedenklich, als
ich Ihrer Frau ſagen wollte. Schrecken Sie ſie nicht mit
unnützen Beſorgniſſen, ehe wir uns geſprochen haben.“
Er zwang gewaltſam den Schrecken nieder, der ihm
den Atem nehmen wollte, er blieb in gezwungener Ruhe
ſtehen und las den Zettel noch zweimal mit Aufmerk—
ſamkeit durch. „Weniger unbedenklich, als ich Ihrer
Frau ſagen wollte!“ Da ſaß der Feind. Seine Frau war
keineswegs ſo gebrechlich oder ſo nervös, daß man einer
Kleinigkeit wegen ſolche Rückſicht auf ſie nehmen mußte.
Es war alſo ſchlimm, es war gefährlich, Pierre konnte
ſterben! Aber da ſtand wieder „Unwohlſein“, das klang
ſo harmlos. Und dann „unnütze Beſorgniſſe“! Nein,
ganz ſchlimm war es jedenfalls nicht. Vielleicht etwas
Anſteckendes, eine Kinderkrankheit. Vielleicht wünſchte
der Arzt, ihn zu iſolieren, ihn in eine Klinik zu tun?
Er ſann und wurde ruhiger. Langſam ging er den
Hügel hinab und den heißen Feldweg heimwärts. Jeden⸗
falls wollte er tun, was der Arzt verlangte, und ſeine
Frau nichts merken laſſen.
Zu Hauſe übernahm ihn dann doch die Ungeduld.
Noch ehe er ſein Bild verwahrt und ſich gewaſchen hatte,
lief er ins Haus - das naſſe Bild lehnte er im Treppen—
haus an die Wand - und trat leiſe in Pierres Stübchen.
Seine Frau war drinnen.
== 2208 oo
Er bückte fic) zu dem Knaben hinab und küßte ibn
aufs Haar.
„Guten Tag, Pierre. Wie geht's?“
Pierre lächelte ſchwach. Gleich darauf begann er mit
zitternden Nüſtern zu ſchnüffeln und rief: „Nein, nein,
geh weg! Du riechſt fo ſchlecht!“
Veraguth trat gehorſam beiſeite.
„Es iſt nur Terpentin, mein Junge. Papa hat ſich
noch gar nicht gewaſchen, weil er gleich nach dir ſehen
wollte. Nun geh ich gleich und kleide mich um, dann
komme ich wieder zu dir. Iſt's ſo recht?“
Er ging und nahm unterwegs das Bild mit ſich, und
die klagende Stimme des Kleinen klang in ihm nach.
Bei Tiſch ließ er ſich berichten, was der Arzt geſagt
habe, und hörte mit Freude, daß Pierre gegeſſen und
nicht wieder erbrochen habe. Doch blieb er erregt und
unſicher und quälte ſich ab, um ein Geſpräch mit Albert
in Gang zu halten.
Danach ſaß er eine halbe Stunde an Pierres Bett, der
ruhig lag und nur zuweilen wie in Schmerzen nach der
Stirn griff. Er betrachtete mit angſtvoller Liebe den
ſchmalen Mund, der krank und ſchlaff ausſah, und die
hübſche helle Stirn, die jetzt zwiſchen den Augen eine
kleine ſenkrechte Falte trug, eine krankhafte, aber kindlich
weiche und bewegliche Falte, die wieder ganz verſchwin—
den würde, wenn Pierre wieder geſund wäre. Und geſund
ſollte er wieder werden auch wenn es dann doppelt
et
weh fun würde, fortzugehen und ihn zu verlaſſen. Er
ſollte in ſeiner Feinheit und hellen Knabenſchönheit wei—
ter wachſen und wie eine Blume in der Sonne atmen,
auch wenn er ihn nimmer ſähe und ihm Lebewohl ge—
ſagt hätte. Er ſollte geſund und ein ſchöner, ſonniger
Menſch werden, in dem von ſeines Vaters Weſen das
Zarteſte und Reinſte weiterlebte.
Während er am Bett des Kindes ſaß, begann er zu
ahnen, wieviel Bitteres ihm noch auszukoſten bleibe,
bis dies alles hinter ihm läge. Seine Lippen zuckten
und ſein Herz wehrte ſich gegen den Stachel, aber er
fühlte tief unter allem Leid und aller Furcht ſeinen
Entſchluß hart und unzerſtörbar ſtehen. Das war
in Ordnung, daran rührte kein Schmerz und keine
Liebe mehr. Aber es lag ihm noch ob, dieſe letzte Zeit
zu erleben und ſich keinem Leide zu entziehen, und er
war bereit, den Becher ganz auszutrinken, denn er
fühlte ſeit dieſen paar Tagen untrüglich, daß nur
durch dieſes dunkle Tor für ihn ein Weg zum Leben
führte. Wenn er jetzt feig war, wenn er jetzt entfloh
und ſich Weh erſparte, ſo nahm er Schlamm und Gift
mit ſich hinüber und kam nie in die reine, heilige Frei—
heit, nach der ihn verlangte und für die er jede Qual zu
leiden willig war.
Nun, vor allem mußte er mit dem Doktor reden. Er
ſtand auf, nickte Pierre zärtlich zu und ging hinaus. Es
kam ihm der Einfall, ſich von Albert fahren zu laſſen,
rt a
und et ſuchte deſſen Zimmer auf, zum erſtenmal in diefem
Sommer. Kräftig pochte er an die Türe.
„Herein!“
Albert ſaß leſend beim Fenſter. Er ſtand eilig auf und
kam dem Vater überraſcht entgegen.
„Ich habe eine kleine Bitte an dich, Albert. Könnteſt
du mich raſch mit dem Wagen in die Stadt bringen? —
Ja? Das iſt hübſch. Alſo fei fo gut und hilf gleich ein-
ſpannen, ich bin ein wenig eilig. Nimmſt du eine Ziga—
rette?“
„Ja, danke. Nun will ich gleich nach den Pferden
ſehen.“
Bald ſaßen ſie im Wagen, Albert kutſchierend auf dem
Bock, und als Veraguth an einer Straßenecke in der
Stadt ihn halten ließ und ſich verabſchiedete, ſagte er
noch ein anerkennendes Wort zu ihm.
„Danke ſchön. Du haſt Fortſchritte gemacht und haſt
die Gäule jetzt ſehr gut in der Hand. Nun adieu, ich gehe
ſpäter zu Fuß zurück.“
Er ging raſch auf der heißen Stadtſtraße hinweg.
Der Sanitätsrat wohnte in einer ſtillen, vornehmen
Gegend, es war um dieſe Tageszeit kaum ein Menſch
dort unterwegs. Ein Sprengwagen fuhr ſchläfrig da
hin, und zwei kleine Knaben liefen hinterher, hielten
die Hände in den dünnen Tropfenregen und ſpritzten
einander lachend in die erhitzten Geſichter. Aus einem
offenen Parterrefenſter klang das gelangweilte Klavier—
fpiel eines übenden Schülers. Veraguth hatte ſtets
eine tiefe Abneigung gegen unbelebte Stadtſtraßen
gehabt, zumal im Sommer, ſie erinnerten ihn an junge
Jahre, wo er in ſolchen Straßen in wohlfeilen lang—
weiligen Zimmern gewohnt hatte, mit Kaffee- und
Küchengeruch auf den Treppen und mit dem Blick auf
Dachfenſter, Teppichklopfſtänder und reizloſe, lächerlich
kleine Gärten.
Es empfing ihn im Korridor zwiſchen großen gold—
gerahmten Bildern und großen Teppichen ein diskreter
Arztgeruch, und ein junges Mädchen in der langen
ſchneeweißen Krankenpflegerinnenſchürze nahm ihm
ſeine Karte ab. Sie führte ihn erſt ins Wartezimmer, wo
mehrere Frauen und ein junger Mann ſtill und gedrückt
auf Plüſchſeſſeln ſaßen und in Zeitſchriften ſtarrten,
dann brachte ſie ihn auf ſeine Bitte in einen anderen
Raum, wo in großen verſchnürten Bündeln viele Jahr⸗
gänge eines mediziniſchen Fachblattes geſtapelt ſtanden
und wo er ſich kaum ein wenig umgeſehen hatte, als das
Madden fchon wieder eintrat und ihn zum Sanitätsrat
führte.
Da ſaß er nun in einem großen Lederſtuhl inmitten
blitzender Sauberkeit und Zweckmäßigkeit, und gegen:
über am Schreibtiſch ſaß klein und ſtramm der Arzt; es
war ſtill in dem hohen Zimmer, nur eine kleine blanke
Stehuhr aus Glas und Meſſing ſchritt hellklingend ihren
taktfeſten ſpitzen Gang.
— 204 —
„Ja, Ihr Junge gefällt mir nicht recht, lieber Meiſter.
Haben Sie nicht ſchon längere Zeit Störungen an ihm
bemerkt, ich meine zum Beiſpiel Kopfweh, Müdigkeit,
Unluſt zum Spielen und dergleichen? — Erſt in der aller-
letzten Zeit? Und war er ſchon länger ſo empfindlich?
Gegen Lärm und helles Licht? Gegen Gerüche? — Go?
Er mochte den Farbengeruch im Atelier nicht leiden! Ja,
das ſtimmt zum andern.“
Er fragte viel, und Veraguth gab in einer leichten
Betäubung Antwort, mit einem Gefühl ängſtlicher Auf—
merkſamkeit und heimlicher Bewunderung für dieſe
ſchonend höfliche, tadellos präziſe Sprechweiſe.
Dann kamen die Fragen nur noch langſam und ver—
einzelt, und ſchließlich gab es eine lange Pauſe, die Stille
hing wie eine Wolke im Zimmer, nur vom gellend ſpitzen
Gang der kleinen koketten Uhr unterbrochen.
Veraguth wiſchte ſich den Schweiß von der Stirne.
Er fühlte, daß es nun Zeit war, die Wahrheit zu erfahren,
und da der Arzt wie ſteinern daſaß und ſchwieg, überfiel
ihn mit ſchmerzhafter Lähmung der Schrecken. Er rollte
den Kopf, als erſticke er im Hemdkragen, und ſchließlich
ſtieß er heraus: „Iſt es denn ſo ſchlimm?“
Der Sanitätsrat blickte auf. Er ſah aus dem gelben,
verarbeiteten Geſicht mit einem bleichen Blick zu ihm
herüber und nickte mit dem Kopf.
„Ja, leider. Es iſt ſchlimm, Herr Veraguth.“
Er ließ den Blick nicht mehr von ihm. Wartend und
aufmerkſam fab er zu, wie der Maler erbleichte und die
Hände ſinken ließ. Er ſah das feſte, knochige Geſicht
ſchwach und hilflos werden, ſah den Mund ſeine ſcharfe
Spannung verlieren und die Augen blicklos irren. Er ſah
den Mund ſich krümmen und leiſe zittern und ſah die
Lider über die Augen ſinken wie bei einem Ohnmächtigen.
Er beobachtete und wartete. Und dann ſah er den Mund
des Malers ſich zuſammenraffen, die Augen von neuem
Willen belebt, nur die tiefe Bläſſe war geblieben. Er ſah,
der Maler war bereit, ihn zu hören.
„Was iſt es, Doktor? Sie brauchen mich nicht zu
ſchonen, reden Sie nur. — Sie glauben doch nicht, daß
Pierre ſterben muß?“
Nun rückte der Sanitätsrat mit ſeinem Stuhl etwas
näher. Er ſprach ganz leiſe, aber ſcharf und deutlich.
„Das kann niemand ſagen. Aber wenn ich mich nicht
ganz täuſche, iſt der Kleine ſehr gefährlich krank.“
Veraguth ſah ihm in die Augen.
„Muß er ſterben? Ich möchte wiſſen, ob Sie glauben,
daß er ſterben muß. Verſtehen Sie — ich möchte es
wiſſen.“
Der Maler war, ohne es zu wiſſen, aufgeſtanden und
wie drohend vorgetreten. Der Arzt legte ihm die Hand
auf den Arm, er zuckte zuſammen und ſank alsbald wie
beſchämt wieder in den Seſſel zurück.
„Es hat keinen Sinn, ſo zu reden,“ fing der Sanitäts—
rat wieder an. „Über Tod und Leben entſcheiden wir
— 206 —
nicht, da werden wir Arzte ſelber täglich überraſcht. Für
uns muß jeder Kranke, ſolange er überhaupt noch atmet,
eine Hoffnung ſein, wiſſen Sie. Wo kämen wir ſonſt
hin!“
Geduldig nickte Veraguth und fragte nur: „Alſo, was
iſt es?“
Der Arzt huſtete kurz.
„Wenn ich mich nicht täuſche, iſt es Gehirnhautent—
zündung.“
Veraguth ſaß ſtill und ſprach das Wort leiſe nach.
Dann erhob er ſich und ſtreckte dem Arzt die Hand hin.
„Alſo Gehirnhautentzündung,“ ſagte er und ſprach
ganz langſam und vorſichtig, weil ihm der Mund wie
bei großer Kälte zitterte. „Iſt das denn überhaupt beil-
bar?“
„Es iſt alles heilbar, Herr Veraguth. Mancher legt
ſich mit Zahnſchmerzen hin und iſt in ein paar Tagen tot,
ein anderer hat alle Symptome der ſchwerſten Krankheit
und kommt davon.“
„Ja, ja. Und kommt davon! Ich will nun gehen, Herr
Doktor. Sie haben ſich viel Mühe mit mir gegeben. Aber
Gehirnhautentzündung iſt alſo nicht heilbar?“
„Lieber Herr ...“
„Verzeihen Sie. Sie haben vielleicht ſchon andere
Kinder mit dieſer Ge — — mit dieſer Krankheit behandelt?
Ja? Sehen Sie! — Leben dieſe Kinder noch?“
Der Sanitätsrat ſchwieg.
— 207 ——
„Leben vielleicht zwei davon noch, oder eins?“
Es kam keine Antwort.
Der Arzt hatte ſich, wie unwillig, zum Schreibtiſch
gewendet und ein Fach geöffnet.
„Werfen Sie die Flinte nicht ſo ins Korn!“ ſagte er
mit verändertem Ton. „Ob Ihr Kind davonkommt,
wiſſen wir nicht. Es iſt in Gefahr, und wir müſſen ihm
helfen, ſoviel wir können. Wir alle müſſen ihm helfen,
verſtehen Sie, und Sie auch. Ich brauche Sie. — — Ich
komme abends noch einmal hinaus. Für alle Fälle gebe
ich Ihnen hier ein Schlafpulver mit, vielleicht können
Sie ſelbſt es brauchen. Und nun hören Sie: der Kleine
muß volle Ruhe haben und ſoll möglichſt kräftige Nah—
rung bekommen. Das iſt die Hauptſache. Wollen Sie
daran denken.“
„Gewiß. Ich werde nichts vergeſſen.“
„Wenn er Schmerzen hat oder ſehr unruhig wird,
helfen laue Bäder oder Wickel. Haben Sie einen Eis—
beutel? Ich werde einen mitbringen. Sie haben doch Eis
draußen? Alſo gut. — Wir wollen hoffen, Herr Vera:
guth! Es geht jetzt nicht an, daß einer von uns den Mut
verliert, wir müſſen alle auf dem Poſten ſein. Nicht
wahr?“
Er ſchöpfte aus Veraguths Gebärde Vertrauen und
begleitete ihn hinaus.
„Wollen Sie meinen Wagen haben? Ich brauche ihn
erſt um fünf Uhr wieder.“
— 208 —
„Danke, ich gehe zu Fuß.“
Er ging die Straße hinab, die leer war wie vorher. Aus
jenem offenen Fenſter klang immer noch die unfrohe
Schülermuſik. Er ſah auf die Uhr, es war nur eine halbe
Stunde vergangen. Langſam ging er weiter, Straße um
Straße, rundum durch die halbe Stadt. Er ſcheute ſich
ſie zu verlaſſen. Hier drinnen, in dieſem blöden armer
Häuſerhaufen, da war Medizingeruch und Krankheit
da war Not und Angſt und Tod zu Hauſe, da trugen
hundert freudelos ſchmachtende Gaſſen alles Schwert
mit, und man war nicht allein. Aber draußen, ſchien ihm
unter Bäumen und klarem Himmel, zwiſchen Senſen
geläute und Grillenzirpen, mußte der Gedanke an das
alles viel ſchrecklicher, viel ſinnloſer, viel verzweifelter ſein
Es war Abend, als er ſtaubig und todmüde nach Haufe
kam. Der Arzt war ſchon dageweſen, aber Frau Adel
war ruhig und ſchien noch nichts zu wiſſen.
Während der Abendmahlzeit unterhielt ſich Veragutl
mit Albert über die Pferde. Er fand immer wieder etwa
zu ſagen, und Albert ging darauf ein. Sie ſahen, daf
Papa ſehr müde fei, ſonſt nichts. Er aber dachte mit faſ
höhniſchem Ingrimm immer wieder: Ich könnte der
Tod in den Augen haben, und ſie würden nichts merken
Das iſt meine Frau, und das iſt mein Sohn! Und Pierr
ſtirbt! So dachte er in traurigem Kreislauf, währen
er mit hölzerner Zunge Worte formte, die niemanden
intereſſierten. Und dann kam noch ein Gedanke dazu
Go ift es recht! So will ich allein mein Leid austrinken,
bis der letzte bittere Tropfen erſchöpft iſt. So will ich
ſitzen und heucheln und meinen armen Kleinen ſterben
ſehen. Und wenn ich dann noch lebe, dann iſt nichts
mehr, das mich bindet, und nichts, das mir weh tun kann,
dann will ich gehen und will nie in meinem Leben mehr
lügen, nie mehr einer Liebe glauben, nie mehr abwarten
und feig fein... Dann will ich nur noch Leben und Tat
und Vorwärtsgehen kennen, keinen Frieden mehr, keine
Trägheit mehr.
In dunkler Wolluſt fühlte er das Weh in ſeinem Her—
zen brennen, wild und unerträglich, aber rein und groß,
wie er noch nichts und noch nie gefühlt hatte, und vor der
göttlichen Flamme fab er fein kleines, unfrohes, unauf-
richtiges und mißgeſtaltetes Leben wertlos dahinſinken,
keines Gedankens und nicht einmal eines Tadels mehr
wert.
So ſaß er noch eine Abendſtunde lang im halbdunkeln
Krankenzimmer bei dem Knaben, und ſo lag er eine
brennend ſchlafloſe Nacht, mit Inbrunſt ſeinem freſſen—
den Leid hingegeben, nichts hoffend und nichts begehrend,
als von dieſem Feuer verzehrt und reingebrannt zu wer⸗
den bis in die letzte zuckende Faſer. Er verſtand, daß es
fo fein můſſe, das er gerade das Liebſte und Beſte und
Reinſte, was er beſeſſen, weggeben und ſterben ſehen
müſſe.
14 Heſſe, Roßhalde
Sechzehntes Kapitel
Es ging Pierre ſchlecht, und fein Vater ſaß beinahe
den ganzen Tag bei ihm. Der Knabe hatte immerzu
Kopfſchmerzen, er atmete raſch, und jeder Atemzug war
ein kleines, banges Stöhnen. Zuweilen wurde fein Flei:
ner, magerer Körper von kurzen Zuckungen geſchüttel.
oder bäumte ſich in ſteilem Bogen auf. Dann lag er
wieder lange vollkommen regungslos, und ſchließlich
überfiel ihn ein krampfhaftes Gähnen. Dann ſchlief e
eine Stunde und begann nach dem Erwachen wieder
dieſes regelmäßige, klagende Seufzen mit jedem Atem
zug.
Er hörte nicht, was man zu ihm ſagte, und wenn mar
ihn, faſt mit Gewalt, emporrichtete und ihm zu eſſen ein
gab, nahm er es in mechaniſcher Gleichgültigkeit. Bein
ſchwachen Licht, denn die Vorhänge waren dicht ge
ſchloſſen, ſaß Veraguth lange Zeit mit tiefer Aufmerk
ſamkeit über den kleinen Knaben gebeugt und ſchaut
mit frierendem Herzen zu, wie aus dem hübſchen ver
trauten Knabengeſicht ein lieber zarter Zug um der
andern abhanden kam und dahinſchwand. Was übrig
blieb, war ein bleiches frühaltes Geſicht, eine unheimlich
Maske des Leidens, mit vereinfachten Zügen, in welcher
— a...
nichts als Schmerz und Ekel und tiefes Grauen zu leſen
war.
Zuweilen ſah der Vater dieſes entſtellte Geſicht in
Augenblicken des Schlummers weich werden und einen
Schimmer vom verlorenen Liebreiz ſeiner geſunden Tage
wiedergewinnen, dann ſchaute er unverwandt mit dür—
ſtender Liebesgier, ſich die hinſterbende Lieblichkeit noch
einmal und noch einmal einzuprägen. Dann ſchien ihm,
in ſeinem ganzen Leben habe er nie gewußt, was Liebe
fei, nie bis zu dieſen Augenblicken des Wachens und
Schauens.
Frau Adele war tagelang ahnungslos geblieben, erſt
allmählich hatte ſie Veraguths geſpanntes und ſon—
derbar entrücktes Weſen bemerkt und ſchließlich bearg—
wöhnt, und wieder erſt nach Tagen begann fie den Zu—
ſammenhang zu ahnen. Da nahm ſie ihn an einem Abend,
als er Pierres Zimmer verließ, beiſeite und ſagte kurz mit
einem Ton von Kränkung und Bitterkeit: „Was iſt nun
mit Pierre? Was iſt es? Ich ſehe, daß du etwas weißt.“
Er ſah ſie wie aus tiefer Zerſtreutheit an und ſagte mit
trockenen Lippen: „Ich weiß nicht, Kind. Er iſt ſehr
krank. Siehſt du das nicht?“
„Ich ſehe es. Ich will nun wiſſen, was es iſt! Ihr be:
handelt ihn ja faſt wie einen Todkranken, du und der
Doktor. Was hat er dir geſagt?“
„Er hat mir geſagt, es ſtehe ſchlimm und wir müßten
ſehr für ihn Sorge tragen. Es iſt eine Art Entzündung
14 *
wee Se
in ſeinem armen Kopf. Wir wollen morgen den Doktor
bitten, daß er uns mehr ſagt.“
Sie lehnte ſich an einen Bücherſchrank und griff mit
der Hand über ſich in die Falten des grünen Vorhanges.
Da ſie ſchwieg, blieb er geduldig ſtehen, ſein Geſicht war
grau, und ſeine Augen ſahen entzündet aus. Er zitterte
ſchwach mit den Händen, doch ſtand er beherrſcht und
hatte eine Art von Lächeln, einen ſeltſamen Schimmer
von Ergebung, Geduld und Höflichkeit im Geſicht.
Langſam kam ſie zu ihm herüber. Sie legte ihm die
Hand auf den Arm und ſchien in den Knien ſchwach zu
werden. Ganz leiſe flüſterte ſie: „Du glaubſt, daß er
ſterben muß?“
Veraguth hatte noch immer das ſchwache, törichte
Lächeln um den Mund, aber es liefen ihm kleine, haſtige
Tränen übers Geſicht. Er nickte nur ſchwach mit dem
Kopf, und da ſie an ihm niederglitt und den Halt verlor,
hob er ſie auf und half ihr auf einen Stuhl.
„Man kann es ja nicht ſicher wiſſen,“ ſagte er lang—
fam und ſchwerfällig, als wiederhole er mit Ekel eine alte
Lektion, die ihm längſt überdrüſſig geworden wäre.
„Man darf den Mut nicht verlieren.“
„Man darf den Mut nicht verlieren,“ wiederholte er
nach einer Weile mechaniſch, da ſie wieder Kraft gewann
und ſich aufrecht ſetzte.
„Ja,“ ſagte ſie, „ja, du haſt recht.“ Und wieder nach
einer Pauſe: „Es kann nicht ſein. Es kann nicht ſein.“
Und plötzlich ftand fie wieder aufrecht, hatte Leben
in den Augen und alle Züge voll Verſtändnis und
Trauer.
„Nicht wahr,“ ſagte ſie laut, „du wirſt nicht zurück—
kommen? Ich weiß es. Du willſt uns verlaſſen?“
Er ſah wohl, daß es ein Augenblick war, der keine
Unaufrichtigkeit erlaube. Darum ſagte er kurz und ohne
Ton: „Ja “.
Sie wiegte den Kopf hin und her, als müſſe ſie ſtark
nachſinnen und könne nicht damit fertig werden. Was
ſie aber nun ſagte, kam aus keinem Nachdenken und
Überlegen, ſondern floß ganz unbewußt aus der trüben,
troſtloſen Bedrängtheit der Stunde, aus einer mutloſen
Müdigkeit und vor allem aus einem dunkeln Bedürfnis,
irgend etwas gutzumachen und irgend jemandem, der
dafür noch erreichbar wäre, Gutes zu erweiſen.
„Ja,“ ſagte ſie, „ich habe es mir ſo gedacht. Aber höre,
Johann, Pierre darf nicht ſterben! Es darf nicht alles
und alles jetzt auf einmal zuſammenbrechen! Und weißt
du - ich möchte dir das noch fagen: wenn er wieder ge—
ſund wird, ſollſt du ihn haben. Hörſt du? Er ſoll bei dir
bleiben.“
Veraguth verſtand nicht ſofort. Nur langſam wurde
ihm klar, was ſie geſagt habe und daß nun das, worum
er mit ihr geſtritten und um deſſentwillen er Jahre und
Jahre gezögert und gelitten hatte - daß das ihm nun,
wo es zu ſpät war, zugeſprochen werde.
— 214 —
Es kam ihm unſäglich ſinnlos vor, nicht nur daß er
jetzt plötzlich haben ſollte, was ſie ihm ſo lange verſagt
hatte, ſondern noch mehr, daß Pierre juſt in dem Augen—
blicke ihm gehören ſolle, wo er dem Tod verfallen war.
Nun würde er ihm alſo doppelt ſterben! Es war verrückt,
es war um zu lachen! Es war ſo grotesk und widerſinnig,
daß er wirklich nahe daran war, in ein bitteres Gelächter
auszubrechen.
Aber ſie meinte es ohne Zweifel ernſt. Sie glaubte
offenbar noch nicht ganz daran, daß Pierre ſterben müſſe.
Es war gütig, es war ein ungeheures Opfer von ihr,
das ſie in der ſchmerzvollen Verwirrung des Augenblicks
aus irgendeiner dunkeln guten Regung bringen wollte.
Er ſah, wie ſie litt, wie ſie bleich war und ſich mit Mühe
aufrecht hielt. Er durfte nicht zeigen, daß er ihr Opfer,
ihre ſeltſame verſpätete Großmut wie eine tödliche Ver:
höhnung empfand.
Sie begann ſchon mit Befremdung auf ein Wort von
ihm zu warten. Warum ſagte er nichts? Glaubte er ihr
nicht? Oder war er ihr ſo fremd geworden, daß er nichts
von ihr annehmen wollte, auch nicht dieſes größte Opfer,
das ſie ihm bringen konnte?
Schon begann ihr Geſicht vor Enttäuſchungzuzucken,
da fand er die Herrſchaft über ſich wieder. Er nahm ihre
Hand, bückte ſich und berührte ſie leicht mit den kühlen
Lippen und ſagte: „Ich danke dir.“
Da kam ihm ein Gedanke, und mit wärmerem Ton
fügte er hinzu: „Nun will ich aber auch fiir Pierre ſorgen
dürfen. Laß mich die Nacht bei ihm wachen!“
„Wir werden abwechſeln,“ ſagte ſie mit Entſchieden—
heit.
Pierre war an dieſem Abend ſehr ruhig. Es brannte
ein kleines Nachtlicht auf dem Tiſche, deſſen ſchwacher
Schein den kleinen Raum nicht füllte und ſich gegen die
Türe hin in braune Dämmerung verlor. Veraguth hörte
noch lange dem Atmen des Knaben zu, dann legte er ſich
auf den ſchmalen Diwan, den er ſich hatte hereinbringen
laſſen.
In der Nacht, gegen zwei Uhr, erwachte Frau Adele,
machte Licht und ſtand auf. Die Kerze in der Hand, kam
ſie in einen Schlafrock gehüllt herüber. Sie fand alles
ſtill. Pierre zitterte leicht mit den Wimpern, als das Licht
ſein Geſicht berührte, wachte aber nicht auf. Und auf
dem Diwan lag, in den Kleidern und leicht zuſammen—
gekrümmt, ihr Mann im Schlafe.
Sie leuchtete auch ihm ins Geſicht und blieb eine kleine
Weile bei ihm ſtehen. Und ſie ſah ſein Geſicht aufrichtig
und unverſtellt, mit allen Falten und ergrauten Haaren,
die Wangen erſchlafft und die Augen unterhöhlt.
„Auch er iſt alt geworden,“ dachte fie mit einer Emp-
findung, die halb Mitleid und halb Genugtuung war,
und fühlte ſich verſucht, ihm das ſtruppige Haar zu ſtrei—
cheln. Doch tat ſie es nicht. Sie ging unhörbar wieder
hinaus, und als ſie nach Stunden morgens wiederkam,
— 216 —
ſaß er längſt wach und aufmerkſam wieder an Pierres
Bett, und ſein Mund und der Blick, mit dem er grüßte,
war wieder ſtraff von der geheimnisvollen Kraft und
Entſchloſſenheit, in die er ſeit Tagen wie in einen Panzer
gehüllt ging.
Für Pierre kam heute ein ſchlechter Tag. Er ſchlief
lange und lag dann mit offenen Augen und erſtarrtem
Blick, bis eine neue Welle von Schmerzen ihn erweckte.
Er warf ſich tobend im Bett umher, ballte die kleinen
Fäuſte und drückte ſie auf die Augen, ſein Geſicht war
bald totenhaft weiß, bald glühend rot. Und dann be⸗
gann er zu ſchreien, in ohnmächtiger Empörung gegen
unerträgliche Qualen, und ſchrie ſo lange und ſo jam—
mervoll, daß ſein Vater ſchließlich blaß und vernichtet
hinweggehen mußte, weil er es nimmer mit anhören
konnte.
Er ließ den Arzt kommen, der an dieſem Tage noch
zweimal wiederkehrte und am Abend eine Pflegerin mit—
brachte. Gegen Abend verlor Pierre das Bewußtſein,
man ſchickte die Pflegerin zu Bett, und Vater und Mutter
blieben die ganze Nacht wach im Gefühl, das Ende
könne nimmer fern ſein. Der Kleine rührte ſich nicht, und
ſein Atem ging unregelmäßig, aber kräftig.
Veraguth und ſeine Frau aber dachten beide an die
Zeit, da Albert einſt ſehr krank geweſen war und ſie ihn
gemeinſam gepflegt hatten. Und ſie empfanden beide,
daß wichtige Erlebniſſe ſich nicht wiederholen können.
Mild und etwas müde ſprachen fie mit flüſternden
Stimmen über das Krankenbett hinweg miteinander,
aber kein Wort von der Vergangenheit, kein Wort von
damals. Geſpenſtiſch berührte ſie die Ahnlichkeit der
Situation und des Geſchehens, ſie ſelbſt waren andere
geworden, ſie waren nicht mehr dieſelben Menſchen,
die damals genau ſo wie jetzt über ein todkrankes Kind
gebeugt miteinander gewacht und gelitten hatten.
Albert hatte indeſſen, von der ſtillen Unruhe und
ſchleichenden Sorge im Hauſe bedrückt, nicht einſchlafen
können. Mitten in der Nacht erſchien er auf Zehenſpitzen
halbangekleidet in der Türe, kam mit erregtem Flüſtern
herein und fragte, ob er nichts tun, nicht etwas helfen
könne.
„Danke,“ ſagte Veraguth, „aber es iſt nichts zu tun.
Geh du ſchlafen und bleibe geſund!“
Aber als jener gegangen war, bat er ſeine Frau: „Geh
du ein wenig zu ihm hinüber und tröſte ihn.“
Das tat ſie gerne, und ſie empfand es als eine Freund—
lichkeit von ihm, daß er daran gedacht hatte.
Erſt gegen Morgen folgte ſie dem Zureden ihres
Mannes und ging zu Bett. Bei Tagesanbruch erſchien
die Pflegerin und löſte ihn ab. Bei Pierre hatte ſich nichts
verändert.
Unſchlüſſig ging Veraguth durch den Park, er hatte
keine Luſt, noch zu ſchlafen. Doch mahnten ihn die bren—
nenden Augen und ein erſticktes, ſchlaffes Gefühl der
— 218 —
Haut. Er badete im See und hieß Robert Kaffee bringen.
Dann betrachtete er im Atelier ſeine Waldſtudie. Sie
war friſch und flott gemalt, aber es war doch nicht eigent—
lich das, was er geſucht hatte, und nun war es mit dem
geplanten Bilde und mit dem Malen auf Roßhalde
vorbei.
Siebzehntes Kapitel
Seit einigen Tagen war es Pierre immer gleich ge—
gangen. Gin: oder zweimal am Tage bekam er Krämpfe
und Schmerzanfälle, ſonſt lag er mit dämmernden Sin—
nen halbſchlummernd. Das warme Wetter hatte ſich in-
zwiſchen in einer ganzen Reihe von Gewittern erſchöpft,
es war kühl geworden, und im ſchwach ſtrömenden Re—
gen verlor der Garten und die Welt den fatten Sommer—
glanz.
Veraguth hatte die Nacht endlich einmal wieder im
eigenen Bett zugebracht und viele Stunden tief geſchla—
fen. Jetzt, da er ſich bei offenen Fenſtern ankleidete, nahm
er erſt die trübe Kühle wahr; in den letzten Tagen war er
wie in Fiebermüdigkeit einhergegangen. Er beugte ſich
aus dem Fenſter und atmete, vor Kühle leiſe ſchauernd,
die Regenluft des lichtloſen Morgens ein. Es roch nach
naſſer Erde und nach Herbſtnähe, und er, der die Merk—
male der Jahreszeiten mit über feinen Sinnen zu erfühlen
gewohnt war, bemerkte mit Verwunderung, wie ihm
dieſer Sommer faſt ohne Spur wie ungefühlt ent—
ſchwunden war. Ihm ſchien es, als habe er in Pierres
Krankenzimmer nicht Tage und Nächte, ſondern Mo—
nate hingebracht.
7 ae oe
Er warf den Gummimantel über und ging ins Haus.
Er erfuhr, der Kleine ſei früh erwacht, ſchlafe aber ſeit
einer Stunde wieder, und fo leiſtete er Albert beim Früh—
ſtück Geſellſchaft. Der große Junge nahm ſich Pierres
Krankheit ſehr zu Herzen und litt, ohne es merken laſſen
zu wollen, unter der gedämpften Krankenatmoſphäre
und ſorgenſchweren Bedrücktheit des Hauſes.
Als Albert weggegangen war, um ſich in ſeinem Zim—
mer an die Schularbeiten zu machen, ging Veraguth zu
Pierre, der noch ſchlief, und nahm ſeinen Platz am Bette
ein. Er hatte in dieſen Tagen manchmal gewünſcht, es
möge doch lieber raſch zu Ende gehen, ſchon um des Kin—
des willen, das längſt kein Wort mehr ſprach und ſo er⸗
ſchöpft und gealtert ausſah, als wiſſe es ſelber, daß ihm
nicht mehr zu helfen ſei. Dennoch wollte er keine Stunde
verſäumen und hielt ſeinen Poſten am Krankenbett mit
einer eiferſüchtigen Leidenſchaft inne. Ach, wie oft war
der kleine Pierre einſt zu ihm gekommen und hatte ihn
müde oder gleichgültig gefunden, in die Arbeit vertieft
oder an Sorgen verloren, wie oft hatte er zerſtreut und
ohne Teilnahme dieſe kleine magere Hand in der ſeinen
gehalten und kaum auf die Worte des Kindes gehört,
deren jedes nun eine unſchätzbare Koſtbarkeit geworden
war! Davon war nichts gutzumachen. Aber jetzt, da der
arme Kerl in Qualen lag und allein mit ſeinem unbe—
wehrten, verwöhnten Kinderherzen dem Tod gegenüber—
ſtand, jetzt, da er in wenigen Tagen alle Lähmung, allen
— gor —
Schmerz und alle angſtvolle Verzweiflung durchkoſten
mußte, mit denen Krankheit, Schwäche, Altern und To—
desnähe ein Menſchenherz ſchrecken und erdrücken, jetzt
wollte er immer und immer bei ihm ſein. Er wollte es,
um ja nicht zu fehlen und vermißt zu werden, wenn je
ein Augenblick käme, wo der Kleine nach ihm begehren
würde und wo er ihm einen kleinen Dienſt, ein wenig
Liebe erweiſen könnte.
Und ſiehe, an dieſem Morgen wurde er belohnt. An
dieſem Morgen ſchlug Pierre die Augen auf, lächelte ihn
an und ſagte mit einer ſchwachen, zärtlichen Stimme:
„Papa!“
Dem Maler ſchlug das Herz ſtürmiſch, als er endlich
die lang vermißte Stimme wieder hörte, die ihn rief und
ſich zu ihm bekannte und die ſo dünn und ſchwach ge—
worden war. So lange hatte er dieſe Stimme nur noch
ſtöhnen und in dumpfen Leiden elend lallen hören, daß
er vor Freude tief erſchrak.
„Pierre, mein Lieber!“
Er bückte ſich zärtlich herab und küßte den lächelnden
Mund. Pierre ſah friſcher und glücklicher aus, als er ihn
je wieder zu ſehen gehofft hatte, die Augen waren klar
und bewußt, die tiefe Falte zwiſchen den Brauen war
beinahe verſchwunden.
„Mein Herz, geht dir's beſſer?“
Der Knabe lächelte und ſah ihn wie verwundert an.
Der Vater bot ihm die Hand, und er legte ſein Händchen
— 222 —
hinein, das niemals febr ſtark geweſen und nun fo klein
und weiß und müde war.
„Nun ſollſt du gleich Frühſtück bekommen, und nach—
her erzähle ich dir Geſchichten.“
„DO ja, vom Herrn Ritterſporn und von den Sommer—
vögeln,“ ſagte Pierre, und wieder war es ſeinem Vater
wie ein Wunder, daß er ſprach und lächelte und wieder
ihm gehörte.
Er brachte ihm ſein Frühſtück, Pierre aß willig und
ließ ſich noch zu einem zweiten Ei überreden. Dann
verlangte er nach ſeinem Lieblingsbilderbuch. Der
Vater ſchob vorſichtig einen der Vorhänge beiſeite,
das bleiche Licht des Regentages kam herein, und Pierre
verſuchte aufzuſitzen und Bilder anzuſehen. Es ſchien
ihm keine Schmerzen zu machen, aufmerkſam betrach—
tete er mehrere Blätter und begrüßte die lieben Bilder
mit kleinen Ausrufen der Freude. Dann ermüdete ihn
das Sitzen, und die Augen begannen wieder ein wenig
zu ſchmerzen. Er ließ ſich zurücklegen und bat den
Papa, ihm ein paar von den Verſen vorzuleſen, vor
allem von dem kriechenden Günſel, der zum Apotheker
Gundermann kommt:
O Apotheker Gundermann,
O helft mir doch mit Salben!
Ihr ſeht, wie ſchlecht ich gehen kann,
Es reißt mich allenthalben!
— 223 ——
Veraguth gab ſich Mühe, er las fo friſch und ſchelmiſch,
als er irgend konnte, und Pierre lächelte dankbar. Doch
ſchienen die Verſe nicht mehr ihre alte Kraft zu haben,
als ſei Pierre, ſeit er ſie nimmer gehört, um Jahre älter
geworden. Mit den Bildern und Verſen kam wohl die
Erinnerung an viele helle, lachend frohe Tage wieder,
die alte Freude und übermütige Luſt aber konnte nicht
wiederkommen, und ohne es zu begreifen, blickte der
Kleine in die eigene Kindheit, die vor Tagen, vor Wochen
noch Wirklichkeit geweſen war, ſchon mit der Sehnſucht
und Trauer eines Erwachſenen hinüber. Er war kein
Kind mehr. Er war ein Kranker, dem die Welt der Wirk—
lichkeit ſchon entglitten war und deſſen hellſichtig gewor⸗
dene Seele ſchon überall und ringsum mit ängſtlicher
Witterung den wartenden Tod erfühlte.
Dennoch war dieſer Morgen voll Licht und Glück,
nach all den furchtbaren Tagen. Pierre war ſtill und
dankbar, und Veraguth fand ſich wider ſeinen Willen
immer wieder von ahnender Hoffnung berührt. Es war
am Ende doch möglich, daß der Knabe ihm erhalten
blieb! Und dann gehörte er ihm; ihm allein!
Der Sanitãtsrat kam und blieb lange an Pierres Bett,
ohne ihn mit Fragen und Unterſuchungen zu quälen.
Erſt jetzt kam auch Frau Adele dazu, die ſich mit der
Pflegerin in die letzte Nachtwache geteilt hatte. Sie war
von der merkwürdigen Beſſerung wie benommen, ſie
hielt Pierres Hände ſo feſt, daß es ihm weh tat, und gab
— 224 —
ſich keine Mühe, die erlöſenden Tränen zu verbergen, die
ihr aus den Augen liefen. Auch Albert durfte eine kleine
Weile hereinkommen.
„Es iſt wie ein Wunder,“ ſagte Veraguth zum Dok—
tor. „Sind Sie nicht auch überraſcht?“ ?
Der Sanitätsrat nickte und lächelte freundlich. Er
widerſprach nicht, aber er zeigte offenbar keine über—
mäßige Freude. Sogleich wurde der Maler wieder von
Mißtrauen überfallen. Er beobachtete jede Gebärde des
Arztes, und er ſah in deſſen Augen, während ſein Geſicht
lächelte, die kalte Aufmerkſamkeit und beherrſchte Sorge
ungelöſt. Nachher belauſchte er lauernd durch den Tür—
ſpalt das Geſpräch des Doktors mit der Pflegerin, und
obwohl er kaum ein Wort verſtehen konnte, meinte er
doch an dem ſtrengen, gemeſſen ernſten Flüſterton nichts
als Gefahr herauszuhören.
Schließlich begleitete er ihn zum Wagen und fragte
in der letzten Minute: „Sie halten nicht viel von dieſer
Beſſerung?“
Das häßliche, beherrſchte Geſicht wandte ſich zu ihm
zurück. „Seien Sie froh, daß er ein paar gute Stunden
hat, der arme Burſche! Wir wollen hoffen, daß es recht
lange anhält.“
Es ſtand nichts von Hoffnung in ſeinen klugen Augen
zu leſen.
Eilig, um keinen Augenblick zu verlieren, kehrte er ins
Krankenzimmer zurück. Die Mutter erzählte gerade die
Geſchichte vom Dornröschen, er ſetzte ſich daneben und
ſah zu, wie Pierres Züge dem Märchen folgten.
„Soll ich noch etwas erzählen?“ fragte Frau Adele.
„Nein,“ ſagte er etwas müde. „Später.“
Sie ging, nach der Küche zu ſehen, und der Vater
nahm Pierres Hand. Sie ſchwiegen beide, aber von Zeit
zu Zeit ſah Pierre mit einem ſchwachen Lächeln auf, als
freue er ſich, daß Papa bei ihm ſei.
„Nun geht es dir viel beſſer,“ ſagte Veraguth
ſchmeichelnd.
Pierre errötete leicht, ſeine Finger bewegten ſich ſpie—
lend in des Vaters Hand.
„Nicht wahr, du haſt mich lieb, Papa?“
„Gewiß, Schatz. Du biſt mein lieber Junge, und wenn
du wieder geſund biſt, wollen wir immer beieinander
bleiben.“
„Ja, Papa... Ich bin einmal im Garten geweſen,
und da war ich ganz allein, und ihr habt mich alle nimmer
liebgehabt. Ihr müßt mich aber liebhaben, und ihr
müßt mir helfen, wenn es wieder weh tut. Oh, es hat mir
ſo weh getan!“
Er hatte die Augen halb geſchloſſen und ſprach ſo
leiſe, daß Veraguth ſich dicht zu ſeinem Munde hinab—
beugen mußte, um ihn zu verſtehen.
„Ihr müßt mir helfen. Ich will artig ſein, immer, ihr
dürft mich nicht ſchelten! Nicht wahr, ihr ſcheltet mich
nie? Du mußt es auch Albert ſagen.“
18 Heſſe, Roßhalde
— 226 —
Seine Lider zitterten und öffneten ſich wieder, aber der
Blick war dunkel und die Pupillen übergroß.
„Schlafe, Kind, ſchlaf nur! Du biſt müde. Schlafe,
ſchlafe, ſchlafe.“
Veraguth ſchloß ihm vorſichtig die Lider und ſummte
ihn ein, wie er es früher in Pierres Babngeiten
manchmal getan hatte. Und der Kleine ſchien ein—
zuſchlafen.
Nach einer Stunde kam die Pflegerin, um Veraguth
zu Tiſche zu bitten und inzwiſchen bei Pierre zu bleiben.
Er ging ins Speiſezimmer, nahm ſtill und zerſtreut einen
Teller Suppe und hörte kaum, was neben ihm geſpro—
chen wurde. Das angſtvoll zärtliche Liebesgeflüſter des
Kindes klang ſüß und traurig in ihm fort. Ach wie viel
hundertmal hätte er ſo mit Pierre reden und das naive
Vertrauen ſeiner ſorgloſen Liebe ſpüren können, und
hatte es nicht getan!
Mechaniſch griff er nach der Flaſche, um ſich Waſſer
einzuſchenken. Da klang von Pierres Zimmer ſchneidend
ein lauter, gellender Schrei herüber, der riß Veraguths
wehmütigen Traum mitten durch. Alle ſprangen mit
erbleichten Geſichtern empor, die Flaſche fiel um, rollte
über den Tiſch und klirrte zu Boden.
Mit einem Sprung war Veraguth aus der Türe und
drüben.
„Den Eisbeutel!“ rief die Pflegerin.
Er hörte nichts. Nichts als den furchtbaren, verzwei⸗
elnden Schrei, der ihm im Bewußtſein ſtak wie ein
Meſſer in der Wunde. Er ſtürzte ans Bett.
Da lag Pierre ſchneeweiß mit gräßlich verzogenem
Munde, ſeine abgemagerten Glieder krümmten fic) in
vütenden Krämpfen, die Augen ſtierten in vernunft—
oſem Entſetzen. Und plötzlich tat er nochmals einen
Ichrei, noch wilder und heulender, und bäumte ſich hoch
m Bogen auf, daß die Bettſtatt zitterte, ließ ſich fallen
ind bog ſich wieder empor, vom Schmerz geſpannt und
uſammengebogen wie eine Gerte von zornigen Knaben—
jänden.
Alle ſtanden entſetzt und hilflos, bis die Befehle der
Dflegerin Ordnung ſchafften. Veraguth lag auf den
tnien vor dem Bett und ſuchte zu verhindern, daß Pierre
1 feinen Zuckungen ſich verletze. Trotzdem hieb ſich der
kleine die rechte Hand an dem metallenen Bettrande
lutig. Dann ſank er zuſammen, drehte fic) um, daß er
uf den Bauch zu liegen kam, verbiß ſich ſchweigend ins
diſſen und fing an, mit dem linken Bein taktmäßig aus⸗
uſchlagen. Er hob das Bein, ließ es mit einer ſtampfen—
en Bewegung wieder fallen, ruhte einen Augenblick
ind begann dann dieſelbe Bewegung von neuem, zehn—
nal, zwanzigmal und immer weiter.
Die Frauen waren an der Arbeit, Umſchläge vorzu—
ereiten, Albert hatte man weggeſchickt. Veraguth kniete
loch immer und fab zu, wie mit unheimlicher Regel—
näßigkeit unter der Decke das Bein ſich hob, ſich ſtreckte
5 *
— 228 —
und niederfiel. Da lag ſein Kind, deſſen Lächeln noch
vor Stunden wie ein Sonnenſchein geweſen war und
deſſen flehendes Liebesgeſtammel noch eben ſein Herz
bis in die letzte Tiefe gerührt und bezaubert hatte. Da
lag es und war nichts als ein mechaniſch zuckender
Körper, ein armes hilfloſes Bündel von Schmerz und
Jammer.
„Wir ſind bei dir,“ rief er verzweifelt. „Pierre, Kind,
wir ſind da und wollen dir helfen!“
Aber es gab keinen Weg mehr von ſeinen Lippen zur
Seele des Knaben, und alles beſchwörende Tröſten und
ſinnloſe Zärtlichkeitsgeflüſter drang nicht mehr an die
furchtbare Einſamkeit des Sterbenden. Der war weit
weg in einer anderen Welt, er wanderte dürſtend durch
ein Höllental voll Pein und Todesnot, und vielleicht
ſchrie er dort jetzt eben nach dem, der neben ihm auf
ſeinen Knien lag und der gerne jede Qual gelitten hätte,
um ſeinem Kinde zu helfen.
Jedermann wußte, daß dies das Ende war. Seit
jenem erſten Schrei, der ſie aufgeſchreckt hatte und der
ſo bitter voll von tiefem, tieriſchem Leid geweſen war,
ſtand auf jeder Schwelle und in jedem Fenſter des Hau—
ſes der Tod. Niemand ſprach von ihm, aber alle hatten
ihn erkannt, auch Albert und auch die Mägde unten
und ſelbſt der Hund, der auf dem Kiesplatz unruhig im
Regen hin und wieder lief und zuweilen ängſtlich winſelte.
Und ob man ſich auch Mühe gab und Waſſer kochte,
Eis auflegte und emſig zu tun hatte, es war kein Ramp:
fen mehr, es war keine Hoffnung mehr dabei.
Pierre war nicht mehr bei Bewußtſein. Er zitterte am
ganzen Leibe, als frove er, zuweilen ſchrie er ſchwach und
irr, und immer wieder, nach jeder erſchöpften Pauſe,
begann aufs neue das Bein zu ſchlagen und zu ſtamp—
fen, taktmäßig wie von einem Uhrwerk getrieben.
So ging der Nachmittag hin und der Abend und
ſchließlich die Nacht, und als in der erſten Frühe der
kleine Kämpfer ſeine Kraft verbraucht hatte und ſich
dem Feind ergab, da blickten über ſein Bett hinweg die
Eltern ſich aus übernächtigen Geſichtern wortlos an.
Johann Veraguth legte ſeine Hand auf Pierres Herz
und konnte keinen Schlag mehr fühlen, und er ließ die
Hand auf der hageren Bruſt des Kindes liegen, bis ſie
kühl und bis ſie kalt wurde.
Dann ſtrich er ſachte mit der Hand über Frau Adeles
gefaltete Hände und ſagte flüſternd: „Es iſt zu Ende.“
Und wãhrend er ſeine Frau aus dem Zimmer führte und
ſie ſtützte und ihrem heiſeren Schluchzen zuhörte, wäh—
rend er ſie der Pflegerin überließ und an Alberts Tür
horchte, ob er wach ſei, während er zu Pierre zurück—
kehrte und den Toten beſſer bettete und zurechtlegte,
fühlte er die Hälfte ſeines Lebens in ſich abgeſtorben und
zur Ruhe gekommen.
Gefaßt tat er das Notwendige, und ſchließlich über—
ließ er den Toten der Pflegerin und legte ſich zu einem
kurzen, tiefen Schlafe nieder. Als das volle Tageslicht
durch die Fenſter ſeiner Rammer ſchien, wurde er wach,
erhob ſich ſofort und ging an die letzte Arbeit, die er auf
Roßhalde noch zu tun geſonnen war. Er ging in Pierres
Schlafzimmer, zog alle Vorhänge weg und ließ den
kühlen, herbſtlichen Tag auf das kleine weiße Geſicht
und die ſtarren Händchen ſeines Lieblings ſcheinen.
Dann ſetzte er ſich zur Bettſtatt, breitete einen Karton
aus und zeichnete zum letztenmal die Züge, die er ſo oft
ſtudiert, die er ſeit ihrer zarten Werdezeit gekannt und
geliebt hatte und die jetzt vom Tode gereift und verein⸗
facht, aber noch immer voll von unbegriffenem Leide
waren.
rn /“
Achtzehntes Kapitel
Die Sonne ſchien feurig durch die Ränder der ſchlaf—
fen, müdgeregneten Wolken, als die kleine Familie von
Pierres Begräbnis nach Hauſe fuhr. Frau Adele ſaß
aufrecht im Wagen, ihr ausgeweintes Geſicht ſah ſelt—
ſam hell und ſtarr aus dem ſchwarzen Hut und dem
hochgeſchloſſenen ſchwarzen Trauerkleide. Albert hatte
geſchwollene Lidränder und hielt beſtändig ſeiner Mutter
Hand in der ſeinen.
„Alſo ihr reiſt beide morgen,“ ſagte Veraguth er—
munternd. „Macht euch keine Sorgen, ich werde alles
tun, was hier noch notwendig iſt. Mut, mein Junge,
es kommen wieder beſſere Zeiten!“
Sie ſtiegen vor Roßhalde aus. Die tropfenden Zweige
der Kaſtanien funkelten brennend im Licht. Geblendet
traten ſie in das ſtille Haus, wo die Mädchen flüſternd
in Trauerkleidern warteten. Pierres Zimmer hatte der
Vater abgeſchloſſen.
Es war Kaffee bereit, und die drei ſetzten ſich um den
Tiſch.
„Ich habe in Montreux Zimmer für euch beſtellt,“
fing Veraguth wieder an. „Seht zu, daß ihr euch gut
erholt! Auch ich will reiſen, ſobald ich hier fertig bin.
Robert wird hierbleiben und das Haus in Ordnung hal—
ten. Er wird meine Adreſſe haben.“
Niemand hörte auf ihn, eine tiefe, beſchämende
Nüchternheit drückte wie ein Froſt auf alle. Frau Adele
ſah ſtarr vor ſich nieder und las Broſamen vom Tiſch—
tuch. Sie ſchloß ſich in ihre Trauer ein und wollte ſich
durch nichts daraus wecken laſſen, und Albert ahmte ihr
nach. Seit der kleine Pierre tot lag, war der Anſchein
von Zuſammengehörigkeit in der Familie wieder dahin—
geſchwunden, wie die Höflichkeit aus dem Geſicht eines
mühſam Beherrſchten, wenn ein gefürchteter mächtiger
Gaſt wieder abgereiſt iſt. Es war einzig Veraguth, der
über alle Tatſachen hinweg bis zum letzten Augenblick
ſeine Rolle weiterſpielte und die Maske feſthielt. Er
fürchtete, irgendeine weibliche Szene möchte ihm den
Abſchied von Roßhalde noch verderben, und im Herzen
wartete er ſehnlichſt auf die Stunde, wo die beiden ab—
gereiſt ſein würden.
So allein war er nie geweſen wie am Abend dieſes
Tages, als er in ſeinem Stübchen ſaß. Drüben packte
ſeine Frau ihre Koffer. Er hatte Briefe geſchrieben und
Geſchäfte beſorgt, er hatte ſich bei Burkhardt ange—
meldet, der noch nichts von Pierres Tod wußte, hatte
dem Anwalt und der Bank die letzten Anweiſungen und
Vollmachten gegeben. Nun war der Schreibtiſch ab—
geräumt, und er hatte das Bild des toten Pierre vor ſich
aufgeſtellt. Der lag nun im Boden, und es war die
— 28 —
Frage, ob Veraguth jemals wieder ſo ſein Herz an einen
Menſchen weggeben, eines andern Leiden ſo würde mit—
leiden können. Er war jetzt allein.
Lange betrachtete er ſeine Zeichnung, die erſchlafften
Wangen, die über eingeſunkenen Augen geſchloſſenen
Lider, den ſchmalen gepreßten Mund, die grauſam ge—
magerten Kinderhände. Dann verſchloß er das Bild
im Atelier, nahm den Mantel um und ging ins Freie.
Der Park war ſchon nächtlich und alles ſtill. Drüben
im Hauſe leuchteten ein paar erhellte Fenſter, die gingen
ihn nichts an. Aber unter den ſchwarzen Kaſtanien—
bäumen, in der kleinen verregneten Laube, auf dem Kies—
platz und im Blumengarten wehte noch etwas wie Le—
ben und Erinnerung. Hier hatte Pierre ihm einſt — war
es nicht Jahre her? — eine kleine gefangene Maus ge—
zeigt, und dort beim Phlox hatte er mit den Schwärmen
der blauen Falter geſprochen, und für die Blumen hatte
er phantaſtiſch⸗ zärtliche Namen erfunden. Hier überall,
im Hof beim Geflügel und Hundehaus, auf dem Raſen—
platz und in der Lindenallee, hatte er ſein kleines Leben
geführt, ſeine Spiele geſpielt, hier war ſein leichtes,
freies Knabenlachen und der ganze Liebreiz ſeiner eigen—
willig ſelbſtändigen Perſon heimiſch geweſen. Hier
hatte er hundertmal, von niemand beachtet, ſeine Kinder—
freuden genoſſen und ſeine Märchen erlebt, hier hatte
er vielleicht zuweilen gezürnt oder geweint, wenn er ſich
vernachläſſigt oder unverſtanden gefühlt hatte.
— 234 —
In der Dunkelheit irrte Veraguth umher und beſuchte
jeden Ort, der ihm eine Erinnerung an ſeinen Knaben
bewahrte. Zuletzt kniete er bei Pierres Sandberg nieder
und kühlte ſeine Hände im feuchten Sande, und als er
dabei ein hölzernes Ding zu faſſen bekam und aufhob
und Pierres kleine Sandſchaufel erkannte, ſank er willen
los nieder und konnte endlich, zum erſtenmal in dieſen
drei furchtbaren Tagen, frei und feſſellos weinen.
Am Morgen hatte er noch eine Unterredung mit Frau
Adele.
„Tröſte dich“, ſagte er zu ihr, „und vergiß nicht, daß
Pierre ja mir gehört hat. Du hatteſt ihn mir abgetreten
— ich danke dir nochmals dafür. Ich wußte ſchon da-
mals, daß er ſterben müſſe — aber es war lieb von dir.
Und nun lebe ganz, wie es dir gefällt, und übereile nichts!
Behalte Roßhalde einſtweilen, es könnte dich reuen,
wenn du es zu bald weggäbeſt. Darüber wird dich der
Notar noch belehren, er meint, der Bodenwert müſſe
hier bald ſteigen. Viel Glück dazu! Mir gehört hier
nichts mehr als die Sachen im Atelier, ich werde fie ſpä—⸗
ter abholen laſſen.“
„Danke.. . Und du? Du willſt nie mehr hierher
kommen?“
„Nie mehr. Es hätte keinen Zweck. Und ich wollte
dir noch ſagen: es iſt bei mir gar keine Bitterkeit mehr
vorhanden. Ich weiß, ich bin an allem ſelbſt ſchuldig
geweſen.“
ome teal
„Sage das nicht! Du meinſt es gut, aber es quält
mich nur. Da bleibſt du nun ganz allein zurück! Ja,
wenn du Pierre hätteſt behalten können. Aber fo — nein,
ſo hätte es nicht kommen dürfen! Ich habe auch ſchuld
gehabt, ich weiß ...“
„Das haben wir abgebüßt, Kind, in dieſen Tagen.
Du mußt ruhig ſein, es iſt alles gut, es iſt wirklich nichts
mehr zu klagen. Sieh, jetzt haſt du Albert ganz für dich.
Und ich, ich habe meine Arbeit. Damit läßt ſich alles
ertragen. Auch du wirſt glücklicher ſein, als du es ſeit
Jahren warſt.“
Er war fo ruhig, daß auch fie ſich überwand. Ach, es
gab vieles, unendlich vieles, was ſie noch gerne geſagt
hätte, wofür ſie ihm noch hätte danken, worum ſie ihn
hätte anklagen mögen. Aber ſie ſah, er hatte recht. Für
ihn war dies alles offenbar ſchon weſenloſe Vergangen—
heit geworden, was fie noch als Leben und bittere Ge:
genwart empfand. Es hieß nun ſtille ſein und das Alte
vergangen ſein laſſen. Und ſo hörte ſie mit geduldiger
Aufmerkſamkeit an, was er anzuordnen hatte, und
wunderte ſich, wie wohl er alles überlegt und an alles
gedacht hatte.
Über die Scheidung wurde kein Wort geſprochen. Das
konnte irgendeinmal ſpäter geſchehen, wenn er von In⸗
dien zurück war.
Nach Mittag fuhren ſie zur Bahn. Da ſtand Robert
mit den vielen Koffern, und im Lärm und Ruß der großen
Glashalle brachte Veraguth die beiden in ihren Wagen,
kaufte Zeitſchriften für Albert und übergab ihm den Ge—
päckſchein, wartete vor dem Fenſter bis zur Abfahrt, zog
grüßend den Hut und ſah dem Zuge nach, bis Albert
vom Fenſter verſchwand.
Auf dem Heimwege ließ er ſich von Robert die Auf—
löſung ſeines übereilten Verlöbniſſes erzählen. Zu Hauſe
fand er ſchon den Tiſchler warten, der die Kiſten zu ſeinen
letzten Bildern zimmern ſollte. Wenn dieſe verpackt und
weggeſchickt waren, wollte auch er gehen. Ihn verlangte
ſehnlich nach der Abreiſe.
Und nun war auch der Tiſchler abgefertigt. Robert
arbeitete im Herrſchaftshauſe mit der einen Magd, die
noch da war, ſie deckten die Möbel zu und ſchloſſen
Fenſter und Läden.
Veraguth ging mit langſamen Schritten durch ſeine
Werkſtatt, durch den Wohn- und Schlafraum, dann ins
Freie, um den Weiher und durch den Park. So war er
hundertmal hier umhergegangen, aber heute ſchien ihm
alles, Haus und Garten, See und Park vor Einſamkeit
widerzuhallen. Der Wind blies kalt im ſchon vergilben—
den Laube und führte in niedrig hängenden Zügen neue
wollige Regenwolken heran. Der Maler ſchauerte frö—
ſtelnd zuſammen. Nun war niemand mehr da, für den
er zu ſorgen, auf den er Rückſicht zu nehmen, vor dem er
Haltung zu bewahren hatte, und nun erſt fühlte er in
frierender Einſamkeit die Sorgen und Nachtwachen, das
— Gat
zitternde Fieber und die ganze zerrüttende Ermüdung
dieſer letzten Zeit. Er fühlte ſie nicht nur in Kopf und
Gliedern, er empfand ſie noch tiefer im Gemüt. Da
waren die letzten ſpielenden Lichter von Jugend und Er—
wartung ausgelöſcht; aber er fühlte die kühle Iſoliert⸗ v
heit und grauſame Nüchternheit nicht wie ein Schrecknis.
Unbeirrt ſuchte er, durch die naſſen Wege weiterſchlen—
dernd, die Fäden ſeines Lebens zurückzuverfolgen, deren
einfaches Gewebe er nie ſo klar und befriedigt überſchaut
hatte. Und er ſtellte ohne Erbitterung feſt, daß er alle
dieſe Wege in Blindheit gegangen ſei. Er war, das ſah
er genau, trotz allen Verſuchen und trotz aller nie ganz
erloſchenen Sehnſucht am Garten des Lebens vorüber⸗
gegangen. Er hatte niemals in ſeinem Leben eine Liebe
bis zum letzten Grunde erlebt und gekoſtet, nie bis in dieſe
letzten Tage. Da hatte er am Bett ſeines ſterbenden
Knaben, allzu ſpät, ſeine einzige wahre Liebe erlebt, da
hatte er zum erſtenmal ſich ſelbſt vergeſſen, ſich ſelbſt
überwunden. Das würde nun für immer ſein Erlebnis
und ſein armer kleiner Schatz bleiben.
Was ihm blieb, das war ſeine Kunſt, der er ſich nie ſo
ſicher gefühlt hatte wie eben jetzt. Ihm blieb der Troſt
der Draußenſtehenden, denen es nicht gegeben iſt, das f
Leben ſelber an ſich zu reißen und auszutrinken; ihm
blieb die ſeltſame, kühle, dennoch unbändige Leidenſchaft
des Sehens, des Beobachtens und heimlich ⸗-ſtolzen
Mitſchaffens. Das war der Reſt und der Wert ſeines
mißglückten Lebens, dieſe unbeirrbare Einſamkeit und
kalte Luſt des Darſtellens, und dieſem Stern ohne Ab—
wege zu folgen, war nun ſein Schickſal.
Er atmete tief die feuchte, bitter duftende Parkluft,
und bei jedem Schritt meinte er die Vergangenheit von
ſich zu ſtoßen wie einen unnütz gewordenen Kahn vom
erreichten Ufer. In ſeiner Prüfung und Erkenntnis war
nichts von Reſignation; voll Trotz und unternehmender
Leidenſchaft ſah er dem neuen Leben entgegen, das kein
Taſten und dämmerndes Irren mehr ſein durfte, ſon—
dern ein ſteiler, kühner Weg bergan. Spãter und bitterer
vielleicht, als Männer ſonſt es tun, hatte er von der ſüßen
Dämmerung der Jugend Abſchied genommen. Jetzt
ſtand er arm und verſpätet im hellen Tag, und von dem
gedachte er keine köſtliche Stunde mehr zu verlieren.
Ende
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in Leipzig
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MZIASNMOd IV 110