Skip to main content

Full text of "Rosshalde, Roman"

See other formats


Fate 


HANDBOUND 


AT THE 
* 


S 


UNIVERSITY OF 


Digitized by the Internet Archive 
in 2010 with funding from 
University of Toronto 


http://www.archive.org/details/rosshalderomanOOhess 


i 


ew Ra ae Ours 


BMA Yl ed aes |e giv ee 
a | 


een 
aa yy ie) 1 iY 
FAs ee hu Se ei 


Hermann Heffe 
Gefammelte Werke 


Roßhalde 


Roman 


von 


Hermann Heſſe 


yp 
ae * 


* 


OD 


7 


S. Fiſcher / Verlag / Berlin 


48. bis 52. Auflage 
Alle Rechte vorbehalten, befonders das der Überſetzung 
Copyright 1914 by S. Fiſcher Verlag A-G., Berlin 


Petntad Cermany 
QT 
2 
E880 


Roßhalde 


Erſtes Kapitel 


Als vor zehn Jahren Johann Veraguth Roßhalde 
gekauft und bezogen hatte, war ſie ein verwahrloſter 
alter Herrenſitz mit zugewachſenen Gartenwegen, ver— 
mooſten Bänken, brüchigen Treppenſtufen und undurch— 
dringlich verwildertem Park geweſen, und es ſtanden 
damals auf dem wohl acht Morgen großen Grundſtück 
keine anderen Gebäude als das ſchöne, etwas verkom— 
mene Herrenhaus mit dem Stall und ein kleines tempel⸗ 
artiges Luſthäuschen im Park, deſſen Portal ſchief in 
verbogenen Angeln hing und an deſſen einſt mit blauer 
Seide tapezierten Wänden Moos und Schimmel wuchs. 

Sofort nach dem Kauf des Gutes hatte der neue Be— 
ſitzer das baufällige Tempelchen niedergeriſſen und nur 
die zehn alten Steinſtufen ſtehen laſſen, die von der 
Schwelle dieſes Liebeswinkels an den Rand des Weihers 
hinabführten. An Stelle des Parkhäuschens wurde da— 
mals Veraguths Atelier erbaut, und ſieben Jahre lang 
hatte er hier gemalt und den größeren Teil ſeiner Tage 
zugebracht, ſeine Wohnung aber drüben im Herrenhaus 
gehabt, bis die zunehmenden Zerwürfniſſe in ſeiner Fa— 
milie ihn dazu gebracht hatten, ſeinen älteren Sohn zu 
entfernen und auf auswärtige Schulen zu ſchicken, das 


— 10 —— 


Herrenhaus der Frau und Dienerſchaft zu überlaſſen 
und für ſeinen eigenen Bedarf zwei Zimmer an das 
Atelier anzubauen, wo er nun ſeither wie ein Jung— 
geſelle wohnte. Es war ſchade um das ſchöne herr— 
ſchaftliche Haus; Frau Veraguth brauchte mit dem 
ſiebenjährigen Pierre nur das obere Geſchoß, ſie emp— 
fing wohl Beſuche und Gäſte, aber niemals größere 
Geſellſchaft, und ſo ſtand eine Reihe von Räumen 
jahraus, jahrein leer. 

Der kleine Pierre war nicht nur der Liebling beider El— 
tern und das einzige Band zwiſchen Vater und Mutter, 
das eine Art von Verkehr zwiſchen Herrenhaus und Ate— 
lierhaus aufrechterhielt; er war eigentlich auch der ein— 
zige Herr und Beſitzer der Roßhalde. Herr Veraguth be— 
wohnte ausſchließlich ſein Atelier und die Gegend um 
den Waldſee ſowie den ehemaligen Wildpark, ſeine Frau 
herrſchte drüben im Haus, ihr gehörte der Raſenplan, 
der Lindengarten und der Kaſtaniengarten, und jedes 
ſprach im Gebiete des anderen nur ſelten und gaſtweiſe 
vor, von den Mahlzeiten abgeſehen, die der Maler mei— 
ſtens im Herrenhauſe einnahm. Der kleine Pierre war 
der einzige, der dieſe Trennung des Lebens und Teilung 
der Gebiete nicht anerkannte und kaum von ihr wußte. 
Er lief im alten wie im neuen Hauſe gleich ſorglos aus 
und ein, er war im Atelier und in des Vaters Bibliothek 
ebenſo heimiſch wie im Korridor und Bilderſaal drüben 


oder in den Zimmern der Mutter, ihm gehörten die 


Erdbeeren im Kaſtaniengarten, die Blumen im Linden— 
garten, die Fiſche im Waldſee, die Badehütte, die Gondel. 
Er fühlte ſich als Herr und als Schützling bei den Mäd— 
chen der Mutter wie bei Papas Diener Robert, er war 
der Sohn der Hausfrau für die Beſuche und Gäſte der 
Mutter und war der Sohn des Malers für die Herren, 
die zuweilen in Papas Atelier kamen und franzöſiſch 
ſprachen, und Bildniſſe des Knaben, Gemälde und Pho- 
tographien, hingen im Schlafzimmer des Vaters wie im 
alten Hauſe in den hellfarbig tapezierten Stuben der 
Mutter. Pierre hatte es ſehr gut, es ging ihm ſogar beſ— 
ſer als ſolchen Kindern, deren Eltern in gutem Einver— 
nehmen leben; es herrſchte kein Programm über ſeine 
Erziehung, und wenn ihm je einmal auf mütterlichem 
Gebiete der Boden heiß wurde, ſo bot die Gegend um 
den Waldſee ihm eine ſichere Zuflucht. 

Er war längſt zu Bette, und ſeit elf Uhr war im Her— 
renhaus das letzte helle Fenſter erloſchen. Da kam, ſpät 
nach Mitternacht, Johann Veraguth allein zu Fuße aus 
der Stadt zurück, wo er mit Bekannten den Abend im 
Wirtshaus zugebracht hatte. Beim Gang durch die laue, 
wolkige Frühſommernacht war die Atmoſphäre von 
Wein und Rauch, von erhitztem Gelächter und verwege— 
nen Witzen von ihm abgefallen, er atmete bewußt die 
leicht geſpannte, feuchtwarme Nachtluft und ſchritt auf- 
merkſam auf der Straße zwiſchen ſchon hochſtehenden, 
dunkeln Getreidefeldern der Roßhalde entgegen, deren 


hohe Wipfelmaſſen groß und ſtill im bleichen nächtlichen 
Himmel ſtanden. 

Er ging am Eingang des Gutes vorbei, ohne einzutre— 
ten, ſah einen Augenblick nach dem Herrenhaus hinüber, 
deſſen lichte Faſſade edel und lockend vor der ſchwarzen 
Baumfinſternis ſchimmerte, und betrachtete das ſchöne 
Bild minutenlang mit dem Genuß und mit der Fremd— 
heit eines vorüberkommenden Wanderers; dann ging er 
noch ein paar hundert Schritte die hohe Hecke entlang 
bis zu der Stelle, wo er ſich einen Durchſchlupf und heim— 
lichen Waldweg zum Atelier bereitet hatte. Mit wachen 
Sinnen ſchritt der kräftige, kleine Mann durch den fin— 
ſteren, waldig verwilderten Park ſeiner Wohnſtätte zu, 
die plötzlich vor ihm lag, da, wo die Wipfelfinſternis über 
dem See auseinandergezogen erſchien und im weiten 
Rund der matte graue Himmel ſichtbar wurde. 

Der kleine See ſtand faſt ſchwarz in vollkommener 
Stille, nur wie eine unendlich dünne Haut oder ein fei— 
ner Staub lag das ſchwache Licht über dem Waſſer. Ve— 
raguth ſah auf die Uhr, es war bald eins. Er ſchloß eine 
Seitentür des kleinen Gebäudes auf, die in ſeinen Wohn— 
raum führte. Hier zündete er eine Kerze an und legte raſch 
die Kleider ab, trat nackt ins Freie hinaus und ſtieg lang— 
ſam die breiten flachen Steinſtufen hinab in das Waſſer, 
das vor ſeinen Knien in kleinen, weichen Ringen flüchtig 
aufblinkte. Er tauchte unter, ſchwamm eine kleine Strecke 
weit in den See, fühlte plötzlich die Müdigkeit nach einem 


* 8 
ungewohnt verbrachten Abend, kehrte um und trat trie— 
fend ins Haus. Er warf einen zottigen Bademantel um, 
ſtrich das Waſſer aus ſeinen kurz geſchorenen Haaren 
und ging barfuß über einige Stufen zum Atelier hinauf, 
einem ungeheuren, faſt leeren Raum, wo er alsbald mit 
einigen ungeduldigen Bewegungen alle elektriſchen Lich— 
ter andrehte. 

Haſtig lief er zu einer Staffelei, wo eine kleine Lein— 
wand ſtand, ſeine Arbeit der letzten Tage. Mit auf die 
Knie geſtützten Händen ſtellte er ſich gebückt vor dem 
Bilde auf und ſtarrte mit weitaufgeriſſenen Augen auf 
die Fläche, deren friſche Farben das grelle Licht ſpiegel— 
ten. So verharrte er zwei, drei Minuten, ſchweigend und 
ſtarrend, daß die Arbeit bis zum letzten Pinſelſtrich ihm 
wieder lebendig in den Augen ſtand; es war ſeit Jahren 
ſeine Gewohnheit, vor Arbeitstagen keine andere Vor— 
ſtellung mit ins Bett und in den Schlaf zu nehmen als 
die des Bildes, an dem er malte. Er löſchte die Lichter, 
griff nach der Kerze und ging zum Schlafzimmer, an de}: 
ſen Türe eine kleine Schreibtafel und Kreide angehängt 
war. „Sieben Uhr wecken, Kaffee neun Uhr“ ſchrieb er 
mit ſtarken römiſchen Buchſtaben darauf, ſchloß die 
Türe hinter ſich und legte ſich ins Bett. Mit offenen 
Augen lag er noch eine kurze Weile bewegungslos und 
zwang mit Anſtrengung das Bild ſeiner Arbeit vor ſeine 
Sinne. Damit geſättigt, ſchloß er die klaren grauen 
Augen, ſeufzte leiſe auf und fiel raſch in den Schlaf. 


— 14 — 

Am Morgen weckte ihn Robert zur beſtimmten Zeit, 
er erhob ſich ſofort, wuſch ſich in einem kleinen Neben— 
raum im fließenden kalten Waſſer, ſchlüpfte in einen 
groben, ſtark verwaſchenen Anzug von grauem Leinen 
und ging ins Atelier hinüber, deſſen mächtige Rolladen 
der Diener ſchon aufgezogen hatte. Auf einem kleinen 
Tiſchchen ſtand ein Teller voll Obſt, eine Waſſerkaraffe 
und ein Stück Roggenbrot, das er nachdenklich in die 
Hand nahm und anbiß, während er ſich vor die Staffe— 
lei ſtellte und fein Bild betrachtete. Er aß im Auf- und 
Abſchreiten ein paar Biſſen Brot, fiſchte ein paar Kir— 
ſchen aus dem Glasteller, ſah einige Briefe und Zeitun— 
gen daliegen, die er nicht beachtete, und ſaß gleich darauf 
gebannt im Feldſtuhl vor der Arbeit. 

Das kleine Bild in Breitformat ſtellte eine Morgen— 
frühe dar, wie ſie der Maler vor einigen Wochen auf 
einer Reiſe geſehen und in mehreren Skizzen notiert hatte. 
Er war in einem kleinen Landwirtshauſe am Oberrhein 
abgeſtiegen, hatte den Kollegen, den er am Ort beſuchen 
wollte, nicht angetroffen, einen unerfreulichen Regen— 
abend in der qualmigen Wirtsſtube und eine ſchlechte 
Nacht in einem kalkig-modrig riechenden feuchten Gaſt— 
zimmerchen' verbracht. Noch vor Sonnenaufgang aus 
ſeichtem Schlummer heiß und übellaunig erwacht, hatte 
er die Haustüre noch verſchloſſen gefunden, war durch 
ein Fenſter der Wirtsſtube ins Freie geſtiegen, hatte ne— 
benan am Rheinufer einen Kahn losgemacht und war 


in den ſchwach ſtrömenden, noch dämmerigen Fluß hin— 
ausgerudert. Eben als er umkehren wollte, ſah er vom 
jenſeitigen Ufer her einen Ruderer ſich entgegenkommen, 
das ſchwach zuckende kalte Licht des milchig regneriſchen 
Tagesanbruchs umfloß den dunkeln Umriß und ließ das 
Fiſcherboot übermäßig groß erſcheinen. Von dem An: 
blick und dem eigentümlichen Licht plötzlich getroffen und 
innerlichſt gefeſſelt, hatte er haltgemacht und den Mann 
näherkommen laſſen, der bei einem ſchwimmenden Netz— 
zeichen anhielt und eine Reuſe aus dem kühlen Waſſer 
emporzog. Zwei breite mattſilbrige Fiſche kamen zum 
Vorſchein, naßglänzend ſchimmerten ſie einen Augen— 
blick über dem grauen Strome und fielen mit einem 
ſchnalzenden Klang in des Fiſchers Boot. Veraguth 
hatte alsbald den Mann warten heißen, das notdürf— 
tigſte Malzeug geholt und eine Skizze in Waſſerfarben 
gemacht, war einen Tag am Ort geblieben, zeichnend 
und leſend, und hatte andern Tages in der Frühe noch— 
mals draußen gemalt, war weiter gereiſt und hatte ſich 
ſeither immer wieder in Gedanken von dem Bilde be— 
ſchäftigt und gequält geſehen, bis es Form gewann, und 
nun ſaß er ſeit Tagen daran und war nahezu fertig ge: 
worden. 

Ihm, der am liebſten bei voller Sonne oder auch im 
warmen, gebrochenen Wald- und Parklicht malte, hatte 
die flutende Silberkühle des Bildes viel zu ſchaffen ge— 
macht, aber ſie hatte ihm einen neuen Klang gegeben, 


ied a he 


geftern war die Löſung vollends geglückt, und nun fühlte 
er, daß er vor einer guten, ungewöhnlichen Arbeit ſaß, 
bei der es nicht im Feſthalten und löblichen Abſchildern 
fein Bewenden hatte, ſondern wo ein Augenblick aus 
dem gleichgültigen rätſelhaften Sein und Geſchehen der 
Natur die gläſerne Oberfläche durchbrach und den wil— 
den, großen Atem der Wirklichkeit ſpüren ließ. 

Mit aufmerkſamen Augen hing der Maler an dem 
Bilde und wog die Töne auf der Palette, die ſeiner ge— 
wohnten kaum mehr glich und faſt alle roten und gelben 
Farben verloren hatte. Das Waſſer und die Luft war 
fertig, es rann ein fröſtelnd kaltes, unwilliges Licht über 
die Fläche, ſchattenhaft ſchwammen Gebüſche und 
Pfähle des Ufers in der feuchten, fahlen Dämmerung, 
unwirklich und aufgelöſt ſtand der grobe Kahn im Waſ— 
ſer, auch das Geſicht des Fiſchers war ohne Weſen und 
Sprache, nur ſeine ruhig nach den Fiſchen greifende 
Hand war voll unerbittlicher Wirklichkeit. Das eine von 
den Tieren ſprang glitzernd über den Rand des Bootes, 
das andere lag flach und ſtill, und ſein geöffnetes rundes 
Maul und erſchrocken ſtarres Auge war voll vom Weh 
der Kreatur. Das Ganze war kalt und beinahe bis zur 
Grauſamkeit traurig, aber ſtill und unangreifbar und 
ohne eine andere Symbolik als jene einfache, ohne die 
kein Kunſtwerk ſein kann und die uns die bedrückende 
Unbegreiflichkeit der ganzen Natur nicht nur fühlen, ſon— 


dern mit einem gewiſſen ſüßen Erſtaunen lieben läßt. 


Als der Maler wohl zwei Stunden an der Arbeit ge- 
ſeſſen hatte, klopfte der Diener und trat auf den zerſtreu— 
ten Anruf ſeines Herrn mit dem Frühſtück herein. Er trug 
leife die Kannen, Taſſe und Teller auf, rückte einen Stuhl 
zurecht, wartete eine Weile ſchweigend und mahnte dann 
vorſichtig: „Es iſt eingeſchenkt, Herr Veraguth.“ 

„Ich komme,“ rief der Maler und rieb einen Pinfel- 
ſtrich, den er ſoeben am Schwanz des ſpringenden Fi— 
ſches gemacht hatte, mit dem Daumen wieder weg. „Iſt 
warmes Waſſer da?“ 

Er wuſch ſeine Hände und ſetzte ſich zum Kaffee. 

„Sie könnten mir eine Pfeife ſtopfen, Robert,“ ſagte 
er munter. „Die kleine ohne Deckel, ſie muß im Schlaf— 
zimmer liegen.“ 

Der Diener lief. Veraguth trank mit Inbrunſt den ſtar⸗ 
ken Kaffee und fühlte die leiſe Ahnung von Schwindel und 
Zuſammenbruch, die ihn neuerdings nach angeſtrengter 
Arbeit zuweilen anflog, zergehen wie Morgennebel. 

Er nahm dem Diener die Pfeife ab, ließ ſich Feuer 
geben und ſog mit Gier den aromatiſchen Rauch ein, der 
die Wirkung des Kaffees verſtärkte und verfeinerte. Er 
deutete auf ſein Bild und ſagte: „Sie haben als Junge 
geangelt, Robert, nicht wahr?“ 

„Wohl, Herr Veraguth.“ 

„Sehen Sie ſich einmal den Fiſch dort an, nicht den 
in der Luft, den andern unten mit dem offenen Maul. 
Iſt das Maul richtig?“ 


2 Heſſe, Roßhalde 


3 


„Es iſt ſchon richtig,“ ſagte Robert mißtrauiſch. 
„Aber das wiſſen Sie beſſer als ich,“ fügte er mit einem 
Ton von Vorwurf hinzu, als fühle er einen Spott in der 
Frage. 

„Nein, Verehrter, das ſtimmt nicht. Der Menſch er— 
lebt das, was ihm zukommt, nur in der erſten Jugend in 
der ganzen Schärfe und Friſche, ſo bis zum dreizehnten, 
vierzehnten Jahr, und von dem zehrt er ſein Leben lang. 
Ich habe als Junge nie mit Fiſchen zu tun gehabt, 
darum frage ich. Alſo, iſt die Schnauze recht ſo?“ 

„Sie iſt gut, da fehlt nichts,“ urteilte Robert geſchmei⸗ 
chelt. 

Veraguth war ſchon wieder aufgeſtanden und prüfte 
ſeine Palette. Robert fab ihn an. Er kannte dieſe begin⸗ 
nende Konzentriertheit des Blickes, die ihn beinahe glaſig 
erſcheinen ließ, und wußte, daß jetzt er und der Kaffee, 
die kleine Unterhaltung von vorhin und alles das in dem 
Manne unterſinke, und wenn er in einigen Minuten ihn 
anriefe, würde er wie aus einem tiefen Schlaf erwachen. 
Aber das war gefährlich. Robert räumte ab, da ſah er 
die Poſt unberührt liegen. 

„Herr Veraguth!“ rief er halblaut. 

Der Maler war noch erreichbar. Feindſelig fragend 
blickte er über die Schulter zurück, genau wie ein Ermü— 
deter, der dem Einſchlummern nahe war und nochmals 
angerufen wird. 


„Es ſind Briefe da.“ 


Damit ging Robert hinaus. Veraguth drückte nervös 
ein Häufchen Kobaltblau auf die Palette, warf die Tube 
auf den kleinen blechbeſchlagenen Maltiſch, begann zu 
miſchen, fühlte ſich aber durch die Mahnung des Die— 
ners geftort, fo daß er ärgerlich die Palette weglegte und 
die Briefe an ſich nahm. 

Es waren die üblichen Geſchäftsſachen, die Auffor— 
derung, ſich an einer Ausſtellung zu beteiligen, die Bitte 
einer Zeitungsredaktion um Mitteilung von Daten aus 
ſeinem Leben, eine Rechnung — aber da fuhr der Anblick 
einer wohlbekannten Handſchrift ihm wie ein ſüßer 
Schauder in die Seele, er nahm den Brief an ſich und las 
mit Genuß ſeinen eigenen Namen und jedes Wort der 
Adreſſe, wohlig in die Beobachtung der freien, eigenwil— 
lig charaktervollen Schriftzüge vertieft. Dann bemühte 
er ſich, den Poſtſtempel zu leſen. Die Briefmarke war 
italieniſch, es konnte nur Neapel oder Genua ſein, und 
dann war alſo der Freund ſchon in Europa, ſchon ganz 
nahe, und konnte in wenigen Tagen hier ſein. 

Mit Rührung öffnete er den Brief und ſah mit Be— 
friedigung die kleinen ſchnurgeraden Zeilen in ihrer ſtren⸗ 
gen Ordnung ſtehen. Wenn er ſich recht beſann, ſo wa⸗ 
ren ſeit fünf, ſechs Jahren dieſe ſeltenen Briefe des aus: 
ländiſchen Freundes die einzigen reinen Freuden geweſen, 
die er gehabt hatte, die einzigen außer der Arbeit und 
außer den Stunden des Umgangs mit dem kleinen Pierre. 
Und wie jedesmal, ſo befiel ihn auch jetzt mitten in der 


2 * 


frohen Erwartung ein unklares, peinliches Gefühl von 
Beſchämung, indem die Verarmung und Liebloſigkeit 
ſeines Lebens ihm ins Bewußtſein trat. Langſam las er: 


Neapel, 2. Juni nachts. 
Lieber Johann! 

Wie gewöhnlich ſind ein Mundvoll Chianti mit fetten 
Makkaroni und das Gebrüll einiger Hauſierer vor der 
Schenke die erſten Zeichen der europäiſchen Kultur, der ich 
wieder mich nähere. Hier in Neapel iſt ſeit fünf Jahren 
nichts verändert, weit weniger als in Singapore oder 
Shanghai, und ich nehme es als ein gutes Zeichen dafür, 
daß ich auch daheim alles in Ordnung finden ſoll. Über⸗ 
morgen kommen wir nach Genua, da holt mein Neffe mich 
ab, und ich fahre mit ihm zu den Verwandten, wo mich 
diesmal keine überwallenden Sympathien erwarten, 
denn ich habe in den letzten vier Jahren, ehrlich gerech⸗ 
net, keine zehn Taler verdient. Ich rechne für die erſten 
Anſprüche der Familie vier, fünf Tage, dann Geſchäft— 
liches in Holland, ſagen wir wieder fünf, ſechs Tage, ſo 
daß ich etwa am 16. oder ſo zu Dir kommen könnte. Das 
wirſt Du telegraphiſch erfahren. Ich möchte mindeſtens 
zehn oder vierzehn Tage bei Dir bleiben, weißt Du, und 
Dich in der Arbeit ſtören. Du biſt ſchauderhaft berühmt 
geworden, und wenn das, was Du vor etwa zwanzig 
Jahren über Erfolg und Berühmtheiten zu ſagen pfleg— 
teſt, nur halbwegs richtig war, mußt Du inzwiſchen 


bedeutend verkalkt und vertrottelt fein. Ich will Dir 
auch Bilder abkaufen, und meine obige Klage über die 
ſchlechten Gefchafte iſt ein Verſuch, auf Deine Preife zu 
drücken. 

Man wird alfer, Johann. Es war meine zwölfte Fahrt 
durchs Rote Meer, und zum erſtenmal habe ich unter der 
Hitze gelitten. Wir hatten 46 Grad. 

Herrgott, Alter, noch vierzehn Tage! Es wird Dich 
einige Dutzend Flaſchen Moſel koſten. Es ſind mehr als 
vier Jahre ſeit dem letztenmal. 

Brieflich bin ich zwiſchen dem g. und 14. in Antwerpen, 
Hotel de l'Europe, zu erreichen. Falls Du irgendwo, wo 
ich durchreiſe, Bilder ausgeſtellt haſt, laß mich's wiſſen! 


Dein Otto 


Vergnügt überlas er den kurzen Brief mit den gefun- 
den, ſtrammen Buchſtaben und temperamentvollen 
Satzzeichen noch einmal, ſuchte aus der Lade des kleinen 
Schreibtiſches in der Ecke einen Kalender heraus und 
nickte, darin leſend, mit Befriedigung vor ſich hin. Es 
würden noch bis zur Mitte des Monats über zwanzig 
Bilder von ihm in Brüſſel ausgeſtellt ſein, das traf ſich 
glücklich. So würde der Freund, deſſen ſcharfen Blick er 
ein wenig fürchtete und dem die Zerrüttung ſeines Le— 
bens in den letzten Jahren nicht verborgen bleiben konnte, 
wenigſtens einen erſten Eindruck von ihm haben, auf den 
er ſtolz ſein konnte. Das erleichterte alles. Er ſtellte ſich 


Otto vor, wie er in feiner ein wenig maſſiven Lberfeers 
eleganz durch den Brüſſeler Saal ging und ſeine Bilder 
betrachtete, ſeine beſten Bilder, und für einen Augenblick 
freute er ſich herzlich, daß er fie zu jener Ausſtellung her⸗ 
gegeben hatte, obwohl nur wenige davon noch verkäuf— 
lich waren. Und er ſchrieb ſofort ein Billett nach Ant— 
werpen. 

„Er weiß noch alles,“ dachte er dankbar, „es ſtimmt, 
wir haben das letztemal faſt nur Moſel getrunken, und 
einen Abend haben wir ſogar richtig gezecht.“ 

Er dachte nach und fand, es ſei gewiß kein Moſelwein 
mehr im Keller, den er ſelbſt ſehr ſelten beſuchte, und er 
beſchloß, noch heute eine Sendung zu beſtellen. 

Nun ſetzte er ſich aufs neue vor die Arbeit, fand ſich 
aber zerſtreut und innerlich unruhig und kam nicht wie— 
der zur reinen Konzentration, bei welcher die guten Ein— 
fälle ungerufen daſtehen. So ſtellte er die Pinſel in einen 
Becher, ſteckte den Brief ſeines Freundes zu ſich und 
ſchlenderte mit unentſchloſſenen Schritten ins Freie hin⸗ 
aus. Der See blitzte ihm mit heftiger Spiegelung entge— 
gen, es war ein wolkenloſer Sommertag aufgegangen, 
und der durchſonnte Park hallte von vielen Vogelſtim— 
men wider. 

Er ſah auf die Uhr. Pierres Morgenlektionen mußten 
vorüber ſein. Und er ſtrich ziellos durch den Park, blickte 
zerſtreut die braunen, mit Sonnenflecken bedeckten Wege 
entlang, horchte nach dem Hauſe hinüber, ging an Pierres 


Spielplatz mit der Schaukel und dem Sandhaufen 
vorbei. Schließlich kam er in die Nähe des Küchengar— 
tens und ſchaute mit flüchtigem Intereſſe in die hohen 
Kronen der Roßkaſtanien hinauf, auf deren ſchattentie— 
fen Blãttermaſſen die letzten freudighellen Blütenkerzen 
ſtanden. Bienen ſchwärmten mit wellig leiſem Geläute 
um die vielen halboffenen Roſenknoſpen der Garten— 
hecke, durch das dunkle Laub der Bäume her tat die frohe 
kleine Turmuhr des Herrſchaftshauſes ein paar Schläge. 
Sie ſchlug falſch, und Veraguth dachte wieder an Pierre, 
deſſen höchſter Wunſch und Ehrgeiz es war, ſpäter ein- 
mal, wenn er größer wäre, das alte Schlagwerk wieder 
in Ordnung zu bringen. 

Da hörte er jenſeits der Hecke Stimmen und Schritte, 
die in der ſonnigen Gartenluft mit Bienenſummen und 
Vogelrufen, mit dem träge hinziehenden Duftder Buſch— 
nelkenrabatte und der Bohnenblüten gedämpft und zart 
zuſammenklangen. Es war ſeine Frau mit Pierre, und 
er blieb ſtehen und lauſchte aufmerkſam hinüber. 

„Sie ſind noch nicht reif, du mußt noch ein paar Tage 
warten,“ hörte er die Mutter ſagen. 

Ein lachendes Gezwitſcher der Knabenſtimme gab 
Antwort, und die friedevolle grüne Gartenwelt und das 
ſanft tönende verwehte Kindergeſpräch in der erwar— 
tungsvollen Sommerſtille klang dem Manne einen 
flüchtig zarten Augenblick lang wie aus dem fernen Gar- 
ten der eigenen Kindheit herüber. Er trat an die Hecke 


— 24 — 
und ſpähte zwiſchen den Ranken hindurch in den Garten, 
wo ſeine Frau im Morgenkleid auf dem ſonnigen Wege 
ſtand, eine Blumenſchere in der Hand und einen braunen 
leichten Korb am Arm. Sie war kaum zwanzig Schritte 
von der Hecke entfernt. 

Der Maler betrachtete ſie einen Augenblick. Die große 
Geſtalt mit dem ernſthaften und enttäuſchten Frauen— 
geſicht bückte ſich über die Blumen, der große ſchlaffe 
Strohhut beſchattete das ganze Geſicht. 

„Wie heißen die Blumen da?“ fragte Pierre. In ſei— 
nen braunen Haaren ſpielte das Licht, die nackten Beine 
ſtanden mager und ſonnenbraun in der Helle, und wenn 
er ſich bückte, ſah man im weiten Ausſchnitt ſeiner Bluſe 
unter dem braungebrannten Nacken die weiße Haut des 
Rückens hervorſchimmern. 

„Buſchnelken,“ ſagte die Mutter. 

„Ja, das weiß ich,“ fuhr Pierre fort, „aber ich muß 
wiſſen, wie die Bienen zu ihnen ſagen. In der Bienen⸗ 
ſprache müſſen ſie doch auch einen Namen haben.“ 

„Gewiß, aber den kann man nicht wiſſen, den wiſſen 
nur die Bienen ſelber. Vielleicht heißen ſie ſie Honig— 
blumen.“ 

Pierre dachte nach. 

„Das iſt nichts,“ entſchied er dann. „Im Klee finden 
fie gerade foviel Honig, und in den Kapuzinern auch, 
und ſie können doch nicht für alle Blumen den gleichen 


Namen haben.“ 


Aufmerkſam ſah der Knabe einer Biene zu, die einen 
Nelkenkelch umflog, mit ſurrenden Flügeln davor in der 
Luft ſtillhielt und dann begierig in die roſige Höhlung 
eindrang. 

„Honigblumen!“ dachte er geringſchätzig und ſchwieg. 
Er hatte es längſt erfahren, daß man gerade die hüb— 
ſcheſten und intereſſanteſten Dinge nicht wiſſen und er— 
klären kann. 

Veraguth ſtand hinter der Hecke und hörte zu, er be- 
trachtete das ruhige, ernſthafte Geſicht ſeiner Frau und 
das ſchöne, frühreif zarte ſeines Lieblings, und ſein Herz 
verſteinerte ſich bei dem Gedanken an die Sommer, in 
denen ſein erſter Sohn noch ſolch ein Kind geweſen war. 
Den hatte er verloren, und die Mutter auch. Aber dieſen 
Kleinen wollte er nicht verlieren, ihn nicht. Er wollte ihn 
als Dieb hinterm Zaun belauſchen, er wollte ihn locken 
und an ſich ziehen, und wenn auch dieſer Knabe ſich von 
ihm abwenden würde, dann wollte er nicht mehr leben. 

Leiſe zog er ſich über den graſigen Weg zurück und 
ging unter den Bäumen davon. 

„Das Bummeln iſt nichts für mich,“ dachte er ärger— 
lich und machte ſich hart. Er ging an ſeine Arbeit zurück 
und fand denn auch, die Unluſt überwindend und einer 
jahrelang gepflegten Übung gehorchend, die geſpannte 
Arbeitsſtimmung wieder, die ſich keine Nebenwege er— 
laubt und alle Kräfte nur auf das augenblicklich Ge— 
wollte richtet. 


. Me eee 


Er war drüben zu Tiſche erwartet und kleidete ſich 
gegen Mittag ſorgfältig um. Raſiert, gebürſtet und im 
blauen Sommeranzug ſah er zwar nicht jünger, doch 
friſcher und elaſtiſcher aus als im verwahrloſten Atelier⸗ 
kleid. Er griff nach dem Strohhut und wollte eben die 
Türe öffnen, als ſie ihm entgegen ſich auftat und Pierre 
hereinkam. 

Veraguth bückte ſich zu dem Knabenkopf hinab und 
küßte ihn auf die Stirn. 

„Wie geht's, Pierre? War der Lehrer brav?“ 

„Oja, er iſt nur fo langweilig. Wenn er eine Geſchichte 
erzählt, iſt es gar nicht zum Luſtigſein, ſondern auch bloß 
eine Lektion, und am Schluß kommt immer, daß gute 
Kinder ſich ſoundſo benehmen miiffen. — Haftdu gemalt, 
Papa?“ 

„Ja, an den Fiſchen, weißt du. Das iſt bald fertig, 
und morgen darfſt du es ſehen.“ 

Er nahm des Knaben Hand und ging mit ihm hinaus. 
Nichts in der Welt tat ihm fo wohl und rührte alle ver— 
ſunkene Güte und hilfloſe Zartheit ſo in ihm auf wie das 
Gefühl, neben dem Jungen zu gehen, den Schritt ſeinen 
kleinen Schritten anzupaſſen und die leichte, zutrauliche 
Kinderhand in ſeiner zu fühlen. 

Als ſie den Park verließen und unter den dünnen 
Hängebirken hin über die Wieſe gingen, blickte der Kleine 
ſich um und fragte: „Papa, haben denn die Schmetter— 
linge vor dir Angſt?“ 


„Warum? Ich glaube nicht. Neulich ift einer ganz 
lange auf meinem Finger geſeſſen.“ 

„Ja, aber jetzt ſind keine da. Wenn ich manchmalganz 
allein zu dir hinübergehe und ich komme dann hier vor— 
bei, dann ſind immer viele, viele Schmetterlinge auf dem 
Weg, und fie heißen Blaulinge, das weiß ich, und fie fen- 
nen mich und haben mich lieb, ſie fliegen immer ganz nah 
um mich herum. Kann man denn Schmetterlinge nicht 
füttern?“ 

„Doch, das kann man, wir wollen es nächſtens einmal 
verſuchen. Man tut einen Tropfen Honig auf die Hand 
und ſtreckt ſie ganz ruhig aus, bis die Falter kommen 
und davon trinken.“ 

„Fein, Papa, das probieren wir. Nicht wahr, du 
ſagſt es der Mama, daß ſie mir ein bißchen Honig geben 
muß? Dann weiß ſie, daß ich ihn wirklich brauche und 
daß es keine Dummheit iſt.“ 

Pierre lief voran durch das offene Haustor und den 
breiten Korridor, in deſſen kühler Dämmerung der von 
draußen geblendete Vater noch den Hutſtänder ſuchte 
und nach der Speiſezimmertüre taſtete, als der Knabe 
längſt drinnen war und die Mutter mit ſeinem Anliegen 
beſtürmte. 

Der Maler kam herein und gab ſeiner Frau die Hand. 
Sie war etwas größer als er, eine kräftige Geſtalt, ge- 
ſund, aber ohne Jugend, und ſie hatte zwar aufgehört, 
ihren Mann zu lieben, ſah aber noch heute den Verluſt 


— 98 — 


ſeiner Zärtlichkeit als ein traurig unbegreifliches, unver⸗ 
ſchuldetes Unglück an. 

„Wir können gleich eſſen,“ ſagte ſie mit ihrer ruhigen 
Stimme, „Pierre, geh und waſch dir die Hände!“ 

„Hier iſt eine Neuigkeit,“ fing der Maler an und gab 
ihr den Brief ſeines Freundes. „Otto kommt ſchon bald, 
und ich hoffe, er bleibt eine gute Weile da. Es iſt dir doch 
recht?“ 

„Herr Burkhardt kann die beiden Zimmer unten 
haben, da iſt er ungeſtört und kann nach Belieben ein 
und aus gehen.“ 

„Ja, das iſt gut.“ 

Zögernd ſagte ſie: „Ich hatte gedacht, er käme viel 
ſpäter.“ 

„Er iſt früher gereiſt, auch ich wußte bis heute nichts 
davon. Na, deſto beſſer.“ 

„Nun trifft er eben mit Albert zuſammen.“ 

Veraguths Geſicht verlor den leiſen Schimmer von 
Vergnügtheit und ſeine Stimme wurde kalt, als er den 
Namen ſeines Sohnes hörte. 

„Was iſt mit Albert?“ rief er nervös. „Er ſollte doch 
mit ſeinem Freund ins Tirol gehen.“ 

„Ich wollte es dir nicht früher als nötig ſagen. Der 
Freund iſt von Verwandten eingeladen worden und hat 
auf die Fußreiſe verzichtet. Albert kommt mit Beginn 
ſeiner Ferien.“ 

„Und bleibt die ganze Zeit hier?“ 


„Ich denke, ja. Ich könnte auch ein paar Wochen 
mit ihm verreiſen, aber das würde unbequem für dich 
werden.“ 

„Warum? Ich nähme pierre zu mir herüber.“ 

Frau Veraguth zuckte die Achſeln. 

„Bitte, fange doch damit nicht wieder an! Du weißt, 
ich kann Pierre nicht allein hier laſſen.“ 

Der Maler wurde zornig. 

„Allein!“ rief er ſcharf. „Er iſt nicht allein, wenn er 
bei mir iſt.“ 

„Ich kann ihn nicht hier laſſen, und ich will es nicht. 
Es iſt unnütz, nochmals darüber zu ſtreiten.“ 

„Natürlich, du willſt nicht!“ 

Er ſchwieg, da Pierre zurückkam, und man ging zu 
Tiſche. Zwiſchen den beiden entfremdeten Menſchen 
ſaß der Knabe und wurde von beiden bedient und 
unterhalten, wie er es gewohnt war, und ſein Vater 
ſuchte die Mahlzeit recht lange hinzuhalten, denn nach⸗ 
her blieb der Kleine bei Mama, und es war zweifelhaft, 
ob er heute nochmals ins Atelier kommen würde. 


Zweites Kapitel 


Robert war in dem kleinen Nebenraum beim Atelier 
damit beſchäftigt, eine Palette und ein Bündel Pinſel 
auszuwaſchen. Da erſchien in der offenen Türe der 
kleine Pierre. Er blieb ſtehen und ſah zu. 

„Das iſt eine dreckige Arbeit,“ urteilte er nach einer 
kleinen Weile. „Überhaupt, malen iſt ja ganz ſchön, 
aber ich möchte doch nie ein Maler werden.“ 

„Na, überleg' dir das noch einmal,“ meinte Robert. 
„Wo doch dein Vater ſo ein berühmter Maler iſt.“ 

„Nein,“ entſchied der Knabe, „es wäre nichts für 
mich. Man iſt immerzu ſchmierig, und die Farben riechen 
auch ſo furchtbar ſtark. Ein bißchen davon rieche ich 
ſehr gern, zum Beiſpiel an einem friſchen Bild, wenn 
es in einem Zimmer hängt und nur ſo ganz fein nach 
Farbe riecht; aber im Atelier, das wäre mir zuviel, da 
bekäme ich Kopfweh.“ 

Der Diener ſah ihn prüfend an. Eigentlich hätte er 
dem verwöhnten Kinde ſchon längſt einmal ſeine Mei— 
nung ſagen mögen, er hatte viel an ihm zu tadeln. Aber 
wenn Pierre da war und man ihm ins Geſicht ſah, dann 
ging es doch nicht an. Der Kleine war ſo friſch und 
hübſch und ernſthaft, als wäre an ihm und in ihm 


2080 
abſolut alles in Ordnung, und gerade der kleine Zug 
von herriſcher Blaſiertheit oder Altklugheit ſtand ihm 
merkwürdig gut an. 

„Was möchteſt du denn eigentlich werden, Junge?“ 
fragte Robert ein wenig ſtreng. 

Pierre blickte zu Boden und beſann ſich. 

„Ach, ich möchte eigentlich gar nichts Beſonderes 
werden, weißt du. Ich möchte nur, daß ich mit der 
Schule fertig wäre. Im Sommer möche ich bloß ganz 
weiße Kleider tragen, auch weiße Schuhe, und es dürfte 
gar nie der kleinſte Fleck daran ſein.“ 

„So, ſo,“ tadelte Robert. „So ſagſt du jetzt. Aber 
neulich, als wir dich mit hatten, war auf einmal dein 
weißes Zeug voller Kirſchenflecken und Grasflecken, und 
den Hut hatteſt du überhaupt verloren. Weißt du noch?“ 

Pierre wurde kühl. Er ſchloß die Augen bis auf einen 
kleinen Schlitz und ſtarrte durch ſeine langhaarigen 
Wimpern. 

„Für das hat mich meine Mama damals fo geſchol⸗ 
ten,“ ſagte er langſam, „und ich glaube nicht, daß ſie 
dir Auftrag gegeben hat, es mir wieder vorzuhalten und 
mich damit zu quälen.“ 

Robert lenkte ſchon ein. 

„Alſo du möchteſt immer weiße Kleider anhaben und 
ſie gar nie ſchmutzig machen?“ 

„Doch, manchmal ſchon. Du verſtehſt mich gar nicht! 
Natürlich möchte ich manchmal im Gras herumliegen, 


oder im Heu, oder über die Pfützen wegſpringen oder 
auf einen Aſt klettern. Das iſt doch klar. Aber wenn ich 
einmal wild geweſen bin und ein bißchen getobt habe, 
dann möchte ich nicht geſcholten werden. Ich möchte 
dann bloß ganz ſtill in mein Zimmer gehen und reine, 
friſche Kleider anlegen, und dann wäre es wieder gut. — 
Weißt du, Robert, ich glaube wirklich, das Schelten hat 
gar keinen Wert.“ 

„Das könnte dir paſſen, gelt? Warum denn?“ 

„Ja, ſieh: wenn man etwas getan hat, was nicht 
recht iſt, dann weiß man es gleich nachher doch ſelber 
und ſchämt ſich. Wenn ich geſcholten werde, ſchäme ich 
mich viel weniger. Und manchmal wird man doch auch 
geſcholten, wenn man gar nichts Schlimmes getan hat, 
bloß weil man nicht gleich da war, wenn jemand rief, 
oder weil Mama gerade ärgerlich iſt.“ 

„Du mußt es ineinander rechnen, mein Junge,“ lachte 
Robert, „dafür tuſt du gewiß nicht wenig Schlimmes, 
was niemand ſieht und wofür niemand dich ſchilt.“ 

Pierre gab keine Antwort. Es war immer dasſelbe. 
Wenn man ſich einmal hinreißen ließ, mit einem Er— 
wachſenen über etwas zu reden, was einem wirklich 
wichtig war, dann endete es immer mit einer Ent— 
täuſchung oder gar mit einer Demütigung. 

„Ich möchte das Bild noch einmal ſehen,“ ſagte er in 
einem Ton, der ihn plötzlich von dem Diener weit ent— 
fernte und den Robert ebenſowohl für herriſch wie für 


or 
bittend halten konnte. „Gelt, laß mich noch einen Augen— 
blick hinein.“ 

Robert gehorchte. Er ſchloß die Ateliertür auf, ließ 
Pierre eintreten und kam ſelber mit, denn es war ihm 
ſtreng verboten, irgend jemand allein hier drinnen zu 
laſſen. 

Auf der Staffelei in der Mitte des großen Raumes 
ſtand ins Licht gerückt und in einen proviſoriſchen Gold⸗ 
rahmen gepaßt das neue Bild Veraguths. Pierre ſtellte 
ſich davor auf. Robert blieb hinter ihm ſtehen. 

„Gefällt es dir, Robert?“ 

„Natürlich gefällt's mir. Da müßte ich ja ein Narr 
fein!“ 

Pierre blinzelte das Bild an. 

„Ich glaube,“ ſagte er nachdenklich, „man könnte 
mir viele Bilder zeigen und ich würde es gleich heraus⸗ 
kennen, wenn eins vom Papa dabei wäre. Darum habe 
ich die Bilder gern, ich fpiire, daß Papa fie gemacht hat. 
Aber eigentlich gefallen ſie mir nur halb.“ 

„Red' keine dummen Sachen!“ mahnte Robert ganz 
erſchrocken und ſah den Knaben vorwurfsvoll an, der 
jedoch unbewegt mit zwinkernden Augen vor dem Bilde 
ſteben blieb. 

„Schau,“ ſagte er, „im Hauſe drüben ſind ein paar 
alte Bilder, die gefallen mir viel beſſer. Solche Bilder 
will ich ſpäter einmal haben. Zum Beiſpiel Berge, 
wenn die Sonne untergeht, und alles iſt ganz rot und 


3 Heſſe, Roßhalde 


goldig, und hübſche Kinder und Frauen und Blumen. 
Das iſt doch eigentlich viel netter als ſo ein alter Fiſcher, 
der nicht einmal ein rechtes Geſicht hat, und ſo ein 
ſchwarzes, langweiliges Boot, nicht?“ 

Robert war in ſeinem Innern durchaus derſelben 
Meinung und wunderte ſich über den Freimut des Kna— 
ben, der ihn eigentlich freute. Er gab das aber nicht zu. 

„Das verſtehſt du noch nicht recht,“ ſagte er kurz. 
„Komm jetzt, ich muß wieder abſchließen.“ 

In dieſem Augenblick drang ein plötzliches puſtendes 
und knirſchendes Geräuſch vom Hauſe herüber. 

„Oh, ein Automobil!“ rief Pierre freudig und lief hin: 
aus, unter den Kaſtanien durch in lauter verbotenen 
Abkürzungen quer über die Raſenplätze und mit Sprün⸗ 
gen über die Blumenrabatten hinweg. Atemlos kam er 
auf dem Kiesplatz vor dem Hauſe an und eben noch 
recht, um aus dem Wagen ſeinen Vater und einen frem— 
den Herrn ſteigen zu ſehen. 

„Hallo, Pierre,“ rief Papa und fing ihn in den Armen 
auf. „Da iſt ein Onkel angekommen, den du nimmer 
kennſt. Gib ihm die Hand und frag' ihn, wo er bers 
kommt.“ 

Der Knabe faßte den Fremden feſt ins Auge. Er gab 
dem Manne die Hand und ſah in ein rotbraunes Geſicht 
und in helle, vergnügte, graue Augen. 

„Wo kommſt du her, Onkel?“ fragte er gehorſam. 

Der Fremde nahm ihn auf die Arme. 


2 

„Junge, du biſt mir zu ſchwer geworden,“ rief er 
munter ſeufzend und ließ ihn wieder los. „Wo ich her— 
komme? Von Genua, und vorher von Suez, und vor— 
her von Aden, und vorher von — — —“ 

„Oh, von Indien, ich weiß, ich weiß! Und du biſt der 
Onkel Otto Burkhardt. Haſt du mir einen Tiger mit— 
gebracht, oder Kokosnüſſe?“ 

„Der Tiger iſt mir wieder davongelaufen, aber Ko— 
kosnüſſe kannſt du haben, und auch Muſcheln und 
chineſiſche Bilderbogen.“ 

Sie gingen durch die Haustüre, und Veraguth führte 
ſeinen Freund die Treppe hinauf. Er legte ihm, der 
ein gutes Stück größer war als er, zärtlich eine Hand 
auf die Schulter. Oben im Korridor kam ihnen die 
Hausfrau entgegen. Auch fie begrüßte den Gaſt, deſſen 
frohes, geſundes Geſicht ſie an unwiederbringliche freu— 
dige Zeiten in vergangenen Jahren erinnerte, mit einer 
gemeſſenen, doch aufrichtigen Herzlichkeit. Er behielt 
ihre Hand einen Augenblick in der ſeinen und ſah ihr 
ins Geſicht. 

„Sie ſind nicht älter geworden, Frau Veraguth,“ 
rief er lobend, „Sie haben ſich beſſer gehalten als 
Johann.“ 

„Und Sie ſind ganz unverändert,“ ſagte ſie freundlich. 

Er lachte. 

„O ja, die Faſſade iſt immer noch blühend, aber das 
Tanzen habe ich ſo allmählich doch aufgegeben. Es hat 


3 * 


— 36 — 


ohnehin zu nichts geführt, id) bin immer noch Sung: 
geſelle.“ 

„Ich hoffe, Sie find diesmal zur Brautſchau herüber— 
gekommen.“ 

„Nein, gnädige Frau, das iſt nun einmal verpaßt. 
Ich mag mir das hübſche Europa auch nicht verderben. 
Sie wiſſen, ich habe Verwandte und entwickle mich all: 
mählich zum Erbonkel. Mit einer Frau dürfte ich mich 
in der Heimat gar nimmer ſehen laſſen.“ 

In Frau Veraguths Zimmer war Kaffee ſerviert. 
Man trank Kaffee und Likör und plauderte eine Stunde, 
von der Seereiſe, von Gummipflanzungen, über chine- 
ſiſches Porzellan. Der Maler war anfangs ſtill und 
etwas bedrückt, er hatte dies Zimmer ſeit Monaten 
nicht mehr betreten. Aber es ging alles gut, und mit 
Ottos Gegenwart ſchien eine leichte, frohere, kindlichere 
Atmoſphäre in das Haus gekommen zu ſein. 

„Ich glaube, jetzt möchte meine Frau gerne ein biß— 
chen ruhen,“ ſagte der Maler ſchließlich. „Ich will dir 
deine Zimmer zeigen, Otto.“ 

Sie verabſchiedeten ſich und gingen nach den Gaſt— 
zimmern. Veraguth hatte zwei Stuben für ſeinen 
Freund hergerichtet und ihre ganze Einrichtung ſelber 
beſorgt, die Möbel geſtellt und an alles gedacht, von 
den Bildern an der Wand bis zur Auswahl der Bücher 
im Schaft. Uberm Bett hing eine alte, bleichgewordene 
Photographie, ein drollig rührendes Inſtitutsbild aus 


— 97 
den ſiebziger Jahren. Das fiel dem Gaſt ins Auge, und 
er trat naher, um es zu betrachten. 

„Herrgott,“ rief er überraſcht, „das ſind ja wir, alle 
ſechzehn von damals! Junge, du biſt ruͤhrend. Ich habe 
das Ding ſeit zwanzig Jahren nimmer geſehen.“ 

Veraguth lächelte. 

„Ja, ich dachte, es würde dir Spaß machen. Hoffent- 
lich findeſt du alles, was du brauchſt. Willſt du gleich 
auspacken?“ 

Burkhardt ſetzte ſich breit auf einen mächtigen, mit 
Kupferecken beſchlagenen Schiffskoffer und blickte zu: 
frieden um ſich. 

„Fein iſt's hier. Und wo biſt du zu Haus? Nebenan? 
Ober oben?“ 

Der Maler ſpielte mit dem Griff einer Ledertaſche. 

„Nein,“ ſagte er leichthin. „Ich wohne jetzt drüben, 
beim Atelier. Ich habe angebaut.“ 

„Das mußt du mir nachher zeigen. Aber — — ſchläfſt 
du auch drüben?“ 

Veraguth ließ die Taſche ſtehen und drehte fic) um. 

„Ja, ich ſchlafe auch drüben.“ 

Sein Freund ſchwieg und beſann ſich. Dann griff er 
in die Taſche und zog einen dicken Schlüſſelbund hervor, 
mit dem er zu raſſeln anfing. 

„Du, wir wollen mal ein bißchen auspacken, nicht? 
Du könnteſt gehen und den Jungen holen, es wird ihm 
Spaß machen.“ 


Veraguth lief alsbald hinaus und kam bald mit Pierre 
wieder. 

„Du haſt ſchöne Koffer, Onkel Otto, ich habe ſie ſchon 
angeſehen. Und ſoviel Zettel drauf. Ich habe ein paar 
davon geleſen. Auf einem ſteht Penang. Was heißt 
das: Penang?“ 

„Das iſt eine Stadt in Hinterindien, wo ich manch— 
mal hinkomme. Paß mal auf, jetzt darfſt du hier auf— 
machen.“ 

Er gab dem Kinde einen flachen, vielzackigen Schlüſſel 
und ließ ihn die Schlöſſer eines Koffers öffnen. Dann 
ward der Deckel aufgeklappt, und gleich das erſte, was 
obenauf lag und in die Augen ſtach, war ein umgekehr— 
ter, flacher Korb von bunter, malaiiſcher Flechtarbeit, 
der wurde umgedreht und von Papieren befreit, und 
innen lagen zwiſchen Papieren und Lappen die ſchönſten 
phantaſtiſchen Muſcheln, wie man ſie in exotiſchen Ha- 
fenſtädten zu kaufen bekommt. 

Pierre bekam die Muſcheln geſchenkt und wurde ganz 
ſtill vor Glück, und den Muſcheln folgte ein großer 
ebenhölzerner Elefant und ein chineſiſches Spielzeug mit 
beweglichen grotesken Holzfiguren und ſchließlich eine 
Rolle greller leuchtender chineſiſcher Bilderbogen, voll 
von Göttern, Teufeln, Königen, Kriegern und Drachen. 

Während der Maler dem Knaben dieſe Dinge be— 
ſtaunen half, packte Burkhardt die Ledertaſche aus und 
verteilte Nachtſchuhe, Wäſche, Bürſten und dergleichen 


Se 
Dinge im Schlafzimmer. Dann kehrte er zu den beiden 
zurück. 

„So,“ ſagte er ermunternd, „genug gearbeitet für 
heute. Nun das Vergnügen. Können wir jetzt einmal 
ins Atelier gehen?“ 

Pierre blickte empor, und wieder, wie bei der An— 
kunft des Wagens, betrachtete er mit Verwunderung 
das bewegte und freudig verjüngte Geſicht ſeines 
Vaters. 

„Du biſt ſo luſtig, Papa,“ ſagte er anerkennend. 

„Jawohl,“ nickte Veraguth. 

Aber ſein Freund fragte: „Iſt er denn ſonſt nicht ſo 
luſtig?“ 

Pierre blickte verlegen von einem zum anderen. 

„Ich weiß nicht,“ meinte er zögernd. Dann aber 
lachte er wieder und ſagte beſtimmt: „Nein, ſo vergnügt 
biſt du noch gar nie geweſen.“ 

Er lief mit dem Muſchelkorb davon. Otto Burkhardt 
nahm ſeines Freundes Arm und ging mit ihm ins Freie. 
Er ließ ſich durch den Park und ſchließlich zum Atelier— 
haus führen. 

„Ja, da iſt angebaut worden,“ ſtellte er alsbald feſt, 
„ſieht übrigens recht hübſch aus. Wann haſt du das 
machen laſſen?“ 

„Vor drei Jahren etwa, glaube ich. Das Atelier ſelbſt 
iſt auch größer geworden.“ 

Burkhardt ſah ſich um. 


— 40 — 

„Der See iſt unbezahlbar! Da wollen wir am Abend 
ein wenig ſchwimmen. Du haſt es ſchoͤn hier, Johann. 
Aber jetzt muß ich das Atelier ſehen. Haſt du neue Bilder 
da?“ 

„Nicht viele. Aber eines, ich bin vorgeſtern erſt damit 
fertig geworden, das mußt du anſehen. Ich glaube, das 
iſt gut.“ 

Veraguth ſchloß die Türen auf. Der hohe Arbeits⸗ 
raum war feſtlich ſauber, der Boden friſch geſcheuert 
und alles aufgeräumt. In der Mitte ſtand einſam das 
neue Bild. Sie blieben ſchweigend davor ſtehen. Die 
feuchtkalte, zähe Atmoſphäre der trüben, regneriſchen 
Morgenfrühe ſtand im Widerſpruch mit dem klaren 
Licht und der heißen durchſonnten Luft, die durch die 
Türen hereinfloß. 

Lange betrachteten ſie das Werk. 

„Das iſt das letzte, was du gemacht haſt?“ 

„Ja. Es muß ein anderer Rahmen darum, ſonſt iſt 
nichts mehr dran zu tun. Gefällt es dir?“ 

Die Freunde ſahen einander prüfend in die Augen. 
Der größere und ſtärkere Burkhardt mit dem geſunden 
Geſicht und den warmen, lebens frohen Augen ſtand wie 
ein großes Kind vor dem Maler, deſſen Blick und Ge— 
ſicht ſcharf und ſtreng aus den vorzeitig ergrauenden 
Haaren ſah. 

„Das ift vielleicht dein beſtes Bild,“ ſagte der Gaſt 
langſam. Ich habe auch die in Bruͤſſel geſehen und die 


— 41 — 
zwei in Paris. Ich hatte es nicht gedacht, aber du biſt in 
den paar Jahren noch vorwärts gekommen.“ 

„Das freut mich. Ich glaube es auch. Ich bin ziem— 
lich fleißig geweſen, und manchmal meine ich, ich ſei 
früher eigentlich nur ein Dilettant geweſen. Ich habe 
erſt {pat richtig arbeiten gelernt, aber jetzt bin ich drüber 
Herr geworden. Weiter geht es nun wohl auch nicht. 
Beſſeres als das hier kann ich nicht machen.“ 

„Ich verſtehe. Na, du biſt ja auch reichlich berühmt 
geworden, ſogar auf unſeren alten Oſtaſiendampfern 
habe ich von dir ſprechen hören und bin ganz ſtolz 
geworden. Wie ſchmeckt es denn nun, das Berühmt— 
ſein? Freut es dich?“ 

„Freuen, das will ich nicht ſagen. Ich finde es in 
Ordnung. Es leben zwei, drei, vier Maler, die vielleicht 
mehr ſind und mehr geben können als ich. Zu den ganz 
Großen habe ich mich nie gerechnet, und was die Litera⸗ 
ten darüber ſagen, iſt natürlich Blech. Ich kann ver- 
langen, daß man mich ernſt nimmt, und da man das 
tut, bin ich zufrieden. Alles andere iſt Zeitungsruhm 
oder Geldfrage.“ 

„Na ja. Aber wie meinſt du das mit den ganz 
Großen?“ 

„Ja, damit meine ich die Könige und Fürſten. Unſer— 
einer bringt es zum General oder Miniſter, dann iſt er 
an der Grenze. Siehſt du, wir können nichts tun als 
fleißig ſein und die Natur ſo ernſt nehmen, als irgend 


— 42 —— 
möglich iſt. Die Könige aber, die ſind Brüder und Ka— 
meraden der Natur, ſie ſpielen mit ihr und können ſelber 
erſchaffen, wo wir nur nachbilden. Aber freilich, die 
Könige ſind rar, es kommt nicht alle hundert Jahre 
einer.“ 

Sie gingen im Atelier auf und ab. Der Maler, nach 
den Worten ſuchend, blickte angeſtrengt zu Boden, der 
Freund ging nebenher und ſuchte in dem bräunlich 
mageren ſtarkknochigen Geſicht Johanns zu leſen. 

Bei der Tür zum Nebenraum blieb Otto ſtehen. 

„Mach' doch hier einmal auf“, bat er, „und laß mich 
die Zimmer ſehen. Und gib mir eine Zigarre, gelt?“ 

Veraguth öffnete die Tür. Sie gingen durch das 
Zimmer und blickten in die Nebenräume. Burkhardt 
zündete ſich eine Zigarre an. Er trat in das kleine Schlaf 
zimmer des Freundes, er ſah ſein Bett und betrachtete 
aufmerkſam die paar beſcheidenen Räume, in welchen 
überall Malergeräte und Rauchzeug umherlag. Das 
Ganze war faſt dürftig anzuſehen und ſprach von Arbeit 
und Askeſe wie etwa die kleine Wohnung eines armen, 
fleißigen Junggeſellen. 

„Alſo da haſt du dich eingerichtet!“ ſagte er trocken. 
Aber er ſah und fühlte alles, was hier in Jahren vor ſich 
gegangen war. Er bemerkte mit Genugtuung die Ge— 
genſtände, die auf Sport, Turnen, Reiten hinwieſen, 
und er vermißte bekümmert alle Zeichen von Behagen, 
kleinem Komfort und genießeriſcher Mußezeit. 


— 4 — 

Dann kehrten fie zu dem Bilde zurück. Alſo fo ent: 
ſtanden dieſe Bilder, die überall an den Ehrenplãtzen der 
Ausſtellungen und Galerien hingen und die man mit 
ſchwerem Gold bezahlte; hier entſtanden ſie in Räu— 
men, die nur Arbeit und Entſagung kannten, wo nichts 
Feſtliches, nichts Unnützes, kein lieber Tand und Klein— 
kram, kein Duft von Wein und Blumen, keine Erinne— 
rung an Frauen zu finden war. 

Über dem ſchmalen Bett hingen ungerahmt zwei 
Photographien angenagelt, ein Bild des kleinen Pierre 
und eines von Otto Burkhardt. Er hatte es wohl be— 
merkt, es war eine ſchlechte Liebhaberaufnahme, ſie zeigte 
ihn im Tropenhelm mit der Veranda ſeines indiſchen 
Hauſes hinter ſich, und unterhalb der Bruſt floß das 
Bild ganz in myſtiſche weiße Streifen auseinander, weil 
Licht auf die Platte gekommen war. 

„Das Atelier iſt ſchön geworden. Überhaupt, wie du 
fleißig geworden biſt! Gib deine Hand her, Junge, es 
iſt fein, dich wiederzuſehen! Aber jetzt bin ich mud und 
verſchwinde für eine Stunde. Willſt du mich ſpäter ab— 
holen, zum Baden oder Spazierengehen? Gut, danke. 
Nein, ich brauche gar nichts, in einer Stunde bin ich 
wieder all right. Auf Wiederſehen!“ 

Er ſchlenderte bequem unter den Bäumen hinweg, 
und Veraguth ſah ihm nach, wie ſeine Geſtalt und ſein 
Gang und jede Falte ſeiner Kleidung Sicherheit und 
ruhige Lebensfreude verkündete. 


—— 44 —— 

Indeſſen ging Burkhardt zwar ins Haus hinüber, 
ſchritt aber an ſeinen Zimmern vorbei zur Treppe, ſtieg 
hinauf und klopfte bei Frau Veraguth an. 

„Störe ich, oder darf ich ein bißchen Geſellſchaft 
leiſten?“ 

Sie ließ ihn ein und lächelte, und er fand das kurze, 
ungeübte Lächeln auf dem kräftigen, ſchweren Geſicht 
ſonderbar hilflos. 

„Es iſt herrlich hier auf Roßhalde. Ich war ſchon im 
Park und am See drüben. Und wie Pierre gediehen iſt! 
Der hübſche Kerl könnte mir beinah mein Junggeſellen— 
tum verleiden.“ 

„Nicht wahr, er ſieht gut aus? Finden Sie, er gleiche 
meinem Mann?“ 

„Ein wenig, ja. Oder eigentlich mehr als nur ein we— 
nig. Ich habe Johann in dieſem Alter noch nicht ge— 
kannt, aber ich weiß noch ziemlich gut, wie er mit elf, 
zwölf Jahren ausgeſehen hat. — Er ſcheint übrigens 
ein wenig überanſtrengt. Wie? Nein, ich ſpreche von 
Johann. Hat er in der letzten Zeit ſehr viel gearbeitet?“ 

Frau Adele ſah ihm ins Geſicht; ſie fühlte, daß er ſie 
aus forſchen wolle. 

„Ich glaube wohl,“ ſagte ſie ruhig. „Er ſpricht ſehr 
ſelten von ſeiner Arbeit.“ 

„Was malt er denn jetzt? Landſchaften?“ 

„Er arbeitet oft im Park, meiſtens mit Modellen. 
Haben Sie Bilder von ihm geſehen? 


„Ja, die in Brüſſel.“ 

„Hat er in Brüſſel ausgeſtellt?“ 

„Gewiß, eine ganze Menge Bilder. Ich habe den 
Katalog mitgebracht. Ich möchte nämlich eines davon 
kaufen und hätte gerne von Ihnen gehört, was Sie da— 
von halten.“ 

Er bot ihr ein Heft hin und deutete auf die kleine Re- 
produktion eines Bildes. Sie betrachtete das Bildchen, 
blãtterte in dem Büchlein und gab es ihm zurück. 

„Sie müſſen ſich ſelber helfen, Herr Burkhardt, ich 
kenne das Bild nicht. Ich glaube, er hat es im vergange⸗ 
nen Herbſt in den Pyrenäen gemalt und gar nie hier 
gehabt.“ 

Sie machte eine Pauſe und fuhr ablenkend fort: 
„Sie haben Pierre beſchenkt, das war lieb. Ich danke 
Ihnen.“ 

„Oh, es find Kleinigkeiten. Aber Sie müſſen mir er- 
lauben, auch Ihnen etwas Aſiatiſches als Andenken zu 
geben. Wollen Sie das? Ich habe ein paar Stoffe mif- 
gebracht, die ich Ihnen zeigen möchte, und Sie müſſen 
ſich davon ausſuchen, was Ihnen gefällt.“ 

Es gelang ihm, aus ihrem höflichen Sperren einen 
kleinen ſcherzhaft galanten Wortkrieg zu entfachen und 
die verſchloſſene Frau in gute Stimmung zu bringen. 
Er brachte einen Arm voll indiſcher Gewebe aus ſeiner 
Schatzkammer herauf, er breitete malaiiſche Batik— 
ſtoffe und handgewobene Stücke aus, legte Spitzen und 


— 46 — 


Seide über die Stuhllehnen, plauderte und erzählte, wo 
er dies und jenes geſehen und erfeilſcht habe, faſt für 
nichts, und entfaltete einen luſtigen, bunten kleinen Ba⸗ 
ſar. Er bat um ihr Urteil, hing ihr Spitzen über die 
Hände, erklärte ihre Machart und nötigte ſie, die ſchön— 
ſten Stücke auszubreiten, zu betrachten, zu betaſten, zu 
loben und ſchließlich zu behalten. 

„Nein,“ rief ſie am Ende lachend, „ich mache Sie ja 
zum Bettler. Das kann ich unmöglich alles behalten.“ 

„Keine Sorge,“ lachte er dagegen. „Ich habe vor 
kurzem wieder ſechstauſend Gummibäume gepflanzt 
und bin im Begriff, ein rechter Nabob zu werden.“ 

Als Veraguth ihn abzuholen kam, fand er beide plau- 
dernd in voller Fröhlichkeit. Verwundert ſah er, wie ſeine 
Frau geſprächig geworden war, ſuchte vergebens mit 
ins Geplauder zu kommen und ging etwas ſchwerfällig 
daran, nun auch die Geſchenke zu bewundern. 

„Laß nur, das ſind Damenſachen,“ rief der Freund 
ihm zu, „wir wollen jetzt baden gehen!“ 

Er zog ihn hinaus und ins Freie. 

„Deine Frau iſt wirklich kaum älter geworden, ſeit ich 
ſie zum letztenmal ſah,“ fing Otto unterwegs an. „Eben 
war ſie mächtig vergnügt. Soweit iſt ja alſo bei euch 
alles in Ordnung. Fehlt noch der große Sohn. Was 
macht denn der?“ 

Der Maler zuckte die Achſeln und zog die Brauen zu— 
ſammen. 


„Du wirſt ihn ſehen, er kommt diefer Tage. Ich ſchrieb 
dir ja einmal darüber.“ 

Und plötzlich blieb er ſtehen, beugte ſich gegen den 
Freund vor, ſah ihm ſcharf in die Augen und ſagte leiſe: 

„Du wirſt alles ſehen, Otto. Ich habe nicht das Be— 
duͤrfnis, darüber zu reden. Du wirſt ſehen. — Wir wol⸗ 
len vergnügt ſein, ſolang du da biſt, Alter! Und jetzt ge— 
hen wir an den Weiher; ich will wieder einmal mit dir 
wettſchwimmen wie in der Knabenzeit.“ 

„Das wollen wir,“ nickte Burkhardt, der Johanns 
Nervoſität nicht zu bemerken ſchien. „Und du wirſt ge- 
winnen, mein Lieber, was dir früher nicht immer gelang. 
Es iſt ein Jammer, aber ich habe tatſächlich einen Bauch 
angeſetzt.“ 

Es war Abend geworden. Der See lag ganz im Schat— 
ten, oben in den Baumkronen ſpielte ein ſchwacher Wind, 
und über die ſchmale blaue Himmelsinſel, die der Park 
überm Waſſer frei ließ, flogen leichte lilafarbene Wol- 
ken, alle von derſelben Art und Form, in geſchwiſterlicher 
Reihe, dünn und langgeſtreckt wie Weidenblätter. Die 
beiden Männer ſtanden vor der im Gebüſch verborge— 
nen Badehütte, deren Schloß nicht aufgehen wollte. 

„Laſſen wir's!“ rief Veraguth. „Das Zeug iſt verro— 
ſtet, wir brauchen die Hütte nie.“ 

Er begann ſich zu entkleiden, Burkhardt folgte dem 
Beiſpiel. Als fie ſchwimmbereit am Ufer ſtanden und die 
Zehen prüfend in das ſtille, ſchattige Waſſer ſteckten, kam 


— 48 — 


im ſelben Augenblick über beide Männer ein verwehter 
ſüßer Glückshauch aus den fernen Knabenzeiten her, fie 
blieben minutenlang im Vorgefühl des leichten, holden 
Badeſchauders ſtehen, und in ihren Seelen tat ſich ſachte 
das grüne helle Tal der Jugendſommerzeiten auf, daß 
ſie ſchwiegen und, der ſanften Regung ungewohnt, mit 
halber Verlegenheit die Füße ins Waſſer tauchten und 
der raſch aufblinkenden Flucht von Halbkreiſen auf dem 
braungrünen Spiegel zuſahen. 

Nun tat Burkhardt einen raſchen Schritt ins Waſſer. 

„Ah, das iſt gut,“ ſeufzte er wohlig auf. „Übrigens 
können wirbeide uns immer noch ſehen laſſen, und wenn 
ich meinen Bauch abrechne, ſind wir noch zwei recht 
ſtramme Burſchen.“ : 

Er ruderte mit flachen Händen, ſchüttelte ſich und 
tauchte unter. 

„Du weißt nicht, wie gut du es haſt!“ rief er neidiſch. 
„Durch meine Pflanzung draußen läuft der ſchönſte 
Fluß, und ſtreckſt du das Bein hinein, ſo ſiehſt du es nicht 
wieder. Er iſt voll von den verfluchten Krokodilen. Vor⸗ 
wärts jetzt, um den großen Becher von Roßhalde! Wir 
ſchwimmen bis zur Treppe da unten und wieder zurück. 
Biſt du ſoweit? Alſo: eins — zwei - drei!“ 

Rauſchend ſtießen fie ab, beide mit lachenden Geſichtern 
und in mäßigem Tempo, aber der Hauch vom Jugend— 
garten war noch über ihnen, fie begannen alsbald ernſtlich 
zu wetteifern, die Geſichter ſpannten ſich, die Augen blitz— 


fen, und die geſchwungenen Arme glänzten mit weiten 
Wurfbewegungen aus dem Waſſer. Sie waren gleichzei— 
tig bei der Treppe, ſtießen gleichzeitig wieder ab und ſtreb⸗ 
ten denſelben Weg zurück, und nun warf ſich der Maler 
in heftigen Schwüngen vorwärts, gewann Vorſprung 
und war eine kleine Weile vor dem anderen am Ziel. 

Stark atmend hielten ſie ſtehend im Waſſer, rieben ſich 
die Augen aus und lachten einer den anderen in ſchwei— 
gendem Vergnügen an, und es ſchien beiden, erſt jetzt 
feien fie wieder die alten Kameraden und erſt jetzt be- 
ginne die kleine, fatale Kluft von Ungewohntheit und 
Fremdheit zwiſchen ihnen zu verſchwinden. 

Wieder angekleidet, ſaßen ſie mit friſchen Geſichtern 
und erleichtertem Gefühl nebeneinander auf den flachen 
Steinſtufen der Seetreppe. Sie blickten über den dunkeln 
Waſſerſpiegel, der ſich jenſeits in der buſchüberhangenen 
ovalen Bucht ſchon in ſchwärzlich braune Dämmerung 
verlor, ſie naſchten feiſte hellrote Kirſchen, die ſie dem 
Diener noch in der braunen Papierhülle abgenommen 
hatten, und ſie ſahen mit befreiten Herzen dem heran— 
kommenden Abend zu, bis die tiefſtehende Sonne wag— 
recht zwiſchen den Stämmen hindurch hereinſchien und 
auf den gläſernen Flügeln der Libellen goldene Feuer 
entzündete. Und ſie plauderten ohne Pauſe und ohne 
Beſinnen eine gute Stunde lang von der Inſtitutszeit, 
von den Lehrern und den damaligen Mitſchülern und 
was aus dem und jenem geworden ſei. 


4 Heſſe, Roßhalde 


„Mein Gott,“ ſagte Otto Burkhardt mit feiner fried: 
lich friſchen Stimme, „es iſt lange her. Weiß man denn 
nicht, was aus der Meta Heilemann geworden iſt?“ 

„Ja, die Meta Heilemann!“ fiel Veraguth begierig 
ein. „Sie war wirklich ein ſchönes Mädel. Alle meine 
Schreibunterlagen waren voll von ihren Porträts, die 
ich während der Schulſtunden heimlich auf die Fließblät⸗ 
ter zeichnete. Das Haar iſt mir nie recht geglückt. Weißt 
du noch, ſie trug es in zwei dicken Schnecken über den 
Ohren.“ 

„Weißt du nichts von ihr?“ 

„Nichts. Als ich das erſtemal von Paris zurückkam, 
war ſie mit einem Rechtsanwalt verlobt. Ich traf ſie mit 
ihrem Bruder auf der Straße, und ich weiß noch, wie ich 
über mich ſelber wütend war, weil ich ſofort rot wurde 
und mir trotz dem Schnurrbart und der Pariſer Abge— 
brühtheit wieder wie ein dummer kleiner Schulbub vor⸗ 
kam. Nur daß fie Meta hieß! Ich konnte den Namen 
nicht ausſtehen!“ 

Burkhardt wiegte träumeriſch den runden Kopf. 

„Du warſt nicht verliebt genug, Johann. Für mich 
war Meta herrlich, meinetwegen hätte ſie Eulalia hei— 
ßen können, ich wäre doch für einen Blick von ihr durchs 
Feuer gegangen.“ 

„Oh, auch ich war verliebt genug. Einmal, als ich von 
unſerem Fünfuhrausgang heimkam- ich hatte mich ab— 
ſichtlich verſpätet, ich war allein und dachte an nichts in 


der Welt als an Meta, und es war mir vollkommen 
gleichgültig, daß ich beim Zurückkommen beſtraft wer: 
den würde =, da kam fie mir entgegen, dort bei der run: 
den Mauer. Sie hatte eine Freundin am Arm, und da 
ich fo plötzlich mir vorſtellen mußte, wie es ware, wenn 
ſtatt dem blöden Ding ich ihren Arm in meinem und ſie 
ſo nahe an mir hätte, da wurde ich ſo ſchwindlig und 
verwirrt, daß ich eine Weile ſtehen blieb und mich an die 
Mauer lehnte, und als ich ſchließlich heimkam, war rich: 
tig das Tor ſchon geſchloſſen, ich mußte läuten und be⸗ 
kam eine Stunde Arreſt.“ 

Burkhardt lächelte und dachte daran, wie ſie beide 
ſchon mehrmals bei ihren ſeltenen Zuſammenkünften 
ſich jener Meta erinnert hatten. Damals in der Jüng⸗ 
lingszeit hatte einer dem andern ſeine Liebe mit Liſt und 
Sorgfalt verſchwiegen, und erſt nach Jahren, als Män⸗ 
ner, hatten ſie gelegentlich den Schleier gelüftet und ihre 
kleinen Erlebniſſe ausgetauſcht. Und doch gab es heute 
noch in dieſer Sache Geheimniſſe. Otto Burkhardt mußte 
eben jetzt daran denken, daß er damals monatelang 
einen Handſchuh von Meta beſeſſen und verehrt, den er 
gefunden oder eigentlich geſtohlen hatte und von dem 
ſein Freund bis heute nicht wußte. Er überlegte, ob er 
nun auch dieſe Geſchichte preisgeben ſolle, und ſchließ— 
lich lächelte er liſtig und ſchwieg und fand es hübſch, 
dieſe kleine letzte Erinnerung auch weiterhin in ſich ver— 


ſchloſſen zu halten. 


4* 


Drittes Kapitel 


Burkhardt ſaß in einem gelben Korbſeſſel bequem zu— 
rückgelehnt, den großen Panamahut auf dem Hinter— 
kopf, eine Zeitſchrift in den Händen, rauchend und leſend 
in der hell von der Sonne durchſchienenen Laube an der 
Weſtſeite des Atelierhauſes, und nahe dabei hockte Ve⸗ 
raguth auf einem niedrigen Klappſtühlchen und hatte 
die Staffelei vor ſich. Die Figur des Leſenden war auf: 
gezeichnet, die großen Farbflecken ſtanden feſt, nun malte 
er am Geſicht, und das ganze Bild frohlockte in hellen, 
leichten, durchſonnten, doch maßvollen Tönen. Es roch 
würzig nach Ölfarbe und Havannarauch, Vögel taten 
verborgen im Laub ihre dünnen, mittäglich gedämpften 
Schreie und ſangen ſchläfrig⸗träumeriſche Plaudertöne. 
Am Boden kauerte Pierre mit einer großen Landkarte, 
auf der ſein dünner Zeigefinger nachdenkliche Reiſen 
betrieb. 

„Nicht einſchlafen!“ ſchrie der Maler mahnend. 

Burkhardt blinzelte ihn lächelnd an und ſchüttelte den 
Kopf. 

„Wo biſt du jetzt, Pierre?“ fragte er den Knaben. 

„Warte, ich muß erſt leſen,“ gab Pierre eifrig Ant— 
wort und buchſtabierte auf ſeiner Karte einen Namen 


28 
heraus. „In Lu — in Luz — Lug in Luzern. Da iſt ein 
See oder ein Meer. Iſt der größer als unſer See, Onkel?“ 

„Viel größer! zwanzigmal größer! Du mußt einmal 
hingehen.“ 

„O ja. Wenn ich ein Automobil habe, dann fahre ich 
nach Wien und nach Luzern und an die Nordſee und 
nach Indien, da wo dein Haus iſt. Biſt du dann auch zu 
Hauſe?“ 

„Gewiß, Pierre. Ich bin immer zu Hauſe, wenn Gäſte 
zu mir kommen. Dann gehen wir zu meinem Affen, der 
heißt Pendek und hat keinen Schwanz, aber einen ſchnee— 
weißen Backenbart, und dann nehmen wir Flinten und 
fahren im Boot auf dem Fluß und ſchießen ein Krokodil.“ 

Pierre wiegte voll Vergnügen ſeinen ſchlanken Ober— 
körper hin und her. Der Onkel aber erzählte weiter von 
ſeiner Rodung im malaiiſchen Urwald, und er ſprach fo 
hübſch und ſo lange, daß der Kleine ſchließlich müde 
wurde und nimmer folgen konnte. Er ſtudierte zerſtreut 
an ſeiner Karte weiter, fein Vater aber hörte deſto auf 
merkſamer auf den eifrig plaudernden Freund, der in läſ—⸗ 
ſigem Behagen von Arbeit und Jagd, von Ausflügen 
auf Pferden und in Booten, von hübſchen leichten Kuli— 
dorfern aus Bambusrohr und von Affen, Reihern, Ad— 
lern, Schmetterlingen berichtete und fein ftilles, welt— 
fremdes, tropiſches Waldleben fo verführeriſch und heim- 
lich auftat, daß es dem Maler ſchien, er ſähe durch einen 
Spalt in ein reiches, farbenſchönes, feliges Paradiesland 


hinein. Er hörte von ſtillen, großen Strömen im Urwald, 
von baumhohen Farnwildniſſen und weiten wehenden 
Ebenen voll von mannshohem Lalanggras, er hörte von 
farbigen Abenden am Meeresufer, den Koralleninſeln 
und blauen Vulkanen gegenüber, von wilden, raſenden 
Regenſtürzen und flammenden Gewittern, von träume⸗ 
riſch beſchaulichem Hindämmern heißer Tage auf den 
breiten, ſchattigen Veranden der weißen Pflanzerhäu⸗ 
ſer, vom Gewühl chineſiſcher Stadtſtraßen und von 
abendlichen Ruheſtunden der Malaien am flachen, ſtei⸗ 
nernen Teich vor der Moſchee. 

Wieder, wie früher ſchon manchesmal, erging fic) Ve⸗ 
raguths Phantaſie in der fernen Heimat ſeines Freun— 
des, und er wußte nicht, wie ſehr die Verlockung und 
ſtille Lüſternheit ſeiner Seele den verborgenen Abſichten 
Burkhardts entgegenkam. Es war nicht allein der Schim⸗ 
mer tropiſcher Meere und Inſelküſten, der Reichtum der 
Walder und Ströme, die Farbigkeit halbnackter Natur⸗ 
völker, die ihm Sehnſucht ſchuf und ihn mit Bildern be⸗ 
rückte. Es war noch mehr die Ferne und Stille einer 
Welt, in der ſeine Leiden, Sorgen, Kämpfe und Entbeh— 
rungen fremd und fern und blaß werden mußten, wo 
hundert kleine tägliche Laſten von der Seele fallen und 
eine neue, noch reine, ſchuldloſe, leidloſe Atmoſphäre ihn 
aufnehmen würde. 

Der Nachmittag verging, die Schatten wanderten. 
Pierre war längſt weggelaufen, Burkhardt allmählich 


a 
ftill geworden und endlich eingenickt, das Bild aber war 
nahezu fertig, und der Maler ſchloß eine Weile die ermü— 
deten Augen, ließ die Hände ſinken und atmete minuten— 
lang mit beinahe ſchmerzlicher Inbrunſt die tiefe ſonnige 
Stille der Stunde, die Nähe des Freundes, die beruhigte 
Ermüdung nach einer geglückten Arbeit und die Hinge— 
nommenheit der erſchlafften Nerven. Das war, neben 
dem Rauſch des Zugreifens und ſchonungsloſen Arbei— 
tens, ſeit langem wohl ſein tiefſter und tröſtlichſter Ge— 
nuß, dieſe milden Augenblicke müder Entſpannung, ähn⸗ 
lich den ruhevoll vegetativen Dämmerzuſtänden zwi— 
ſchen Schlaf und Erwachen. 

Er ſtand leiſe auf, um Burkhardt nicht zu wecken, und 
trug die Leinwand vorſichtig in das Atelier. Dort legte 
er den leinenen Malrock ab, wuſch die Hände und badete 
die leicht überanſtrengten Augen in kaltem Waſſer. Eine 
Viertelſtunde ſpäter ſtand er wieder draußen, blickte dem 
ſchlummernden Gaſt einen Moment prüfend ins Geſicht 
und weckte ihn dann durch den alten Pfiff, den ſie ſchon vor 
fünfundzwanzig Jahren untereinander als Geheimſig— 
nal und Erkennungszeichen eingeführt hatten. 

„Falls du ausgeſchlafen haſt, Junge,“ bat er ermun: 
ternd, „könnteſt du mir jetzt noch ein bißchen von drüben 
erzählen, ich konnte während der Arbeit nur halb zuhö— 
ren. Du ſagteſt auch etwas von Photographien; haſt du 
die bei dir, und können wir ſie anſehen?“ 

„Gewiß können wir das, komm nur mit!“ 


258 — 


Auf dieſe Stunde hatte Otto Burkhardt ſeit mehreren 
Tagen gewartet. Es war ſeit vielen Jahren ſein Wunſch, 
Veraguth einmal mit ſich nach Oſtaſien zu locken und 
ihn eine Weile drüben bei ſich zu haben. Diesmal, da es 
ihm die letzte Gelegenheit zu ſein ſchien, hatte er ſich mit 
der durchdachteſten Planmäßigkeit darauf vorbereitet. 
Als die beiden Männer in Burkhardts Zimmer beiſam— 
men ſaßen und im abendlichen Licht über Indien plau— 
derten, zog er immer neue Albums und Mappen mit 
Photographien aus ſeinem Koffer. Der Maler war über 
die Fülle entzückt und erſtaunt, Burkhardt blieb ruhig 
und ſchien allen den Blättern keinen beſonderen Wert 
beizulegen, und doch wartete er heimlich auf ihre Wir— 
kung mit der heftigſten Spannung. 

„Was für ſchöne Aufnahmen das ſind!“ rief Veraguth 
in hellem Vergnügen. „Haſt du die alle ſelber gemacht?“ 

„Zum Teil, ja,“ ſagte Burkhardt trocken, „manche 
ſind auch von meinen Bekannten draußen. Ich wollte 
dir nur einmal eine Ahnung davon geben, wie es bei uns 
etwa ausſieht.“ 

Er ſagte es obenhin und legte die Blätter gleichmütig 
zu Stößen, und Veraguth konnte nicht ahnen, wie ſorg— 
lich und mühſam er dieſe Sammlung zuſtande gebracht 
hatte. Er hatte viele Wochen lang einen jungen engliſchen 
Photographen aus Singapore und ſpäter einen Japa— 
ner aus Bangkok bei ſich gehabt, und ſie hatten vom 
Meer bis in die tiefſten Wälder hinein auf vielen Aus— 


eo 
flügen und kleinen Reiſen alles aufgeſucht und photo— 
graphiert, was irgend ſchön und bemerkenswert ſchien, 
ſchließlich waren die Bilder mit der äußerſten Sorgfalt 
entwickelt und kopiert worden. Sie waren Burkhardts 
Köder, und er ſah mit tiefer Erregung zu, wie fein Freund 
anbiß und ſich feſtſog. Er zeigte Bilder von Häuſern, 
Straßen, Dörfern, Tempeln, Bilder von fabelhaften 
Batuhöhlen bei Kuala Lumpur und der wildſchönen, 
brüchigen Kalk- und Marmorberge in der Gegend von 
Ipoh, und als Veraguth zwiſchenein fragte, ob nicht 
auch Aufnahmen von Eingeborenen dabei ſeien, kramte 
er Bilder von Malaien, Chineſen, Tamilen, Arabern, 
Javanern hervor, nackte athletiſche Hafenkuli, dürre alte 
Fiſcher, Jäger, Bauern, Weber, Händler, ſchöne gold— 
geſchmückte Weiber, dunkle nackte Kindergruppen, Fi— 
ſcher mit Netzen, Sakeys mit Ohrringen, welche die Na— 
ſenflöte ſpielten, und javaniſche Tänzerinnen in ſtar— 
rendem Silberſchmuck. Er hatte Aufnahmen von allen 
Palmenarten, von großblättrigen ſaftigen Piſangbäu— 
men, von Urwaldwinkeln mit tauſendfältigem Schling— 
gewächſe, von heiligen Tempelhainen und Schildkröten— 
teichen, von Waſſerbüffeln in naſſen Reis feldern, von 
zahmen Elefanten bei der Arbeit und von wilden, die im 
Waſſer ſpielten und trompetende Rüſſel gen Himmel 
ſtreckten. 

Der Maler nahm Bild für Bild in die Hand. Viele 
ſchob er nach einem kurzen Blick beiſeite, manche legte er 


— 8 — 


vergleichend nebeneinander, einzelne Figuren und Köpfe 
betrachtete er ſcharf durch die hohle Hand. Er fragte bei 
vielen Aufnahmen, um welche Tageszeit ſie gemacht 
ſeien, er maß Schatten aus und verſank immer tiefer in 
ein grübleriſches Anſchauen. 

„Man könnte das alles malen,“ murmelte er einmal 
abweſend vor ſich hin. 

„Genug!“ rief er ſchließlich aufatmend. „Du mußt 
mir noch eine Menge erzählen. Es iſt herrlich, dich hier 
zu haben! Ich ſehe alles wieder ganz anders. Komm, 
wir gehen noch eine Stunde ſpazieren, ich will dir etwas 
Hübſches zeigen.“ 

Angeregt und von aller Müdigkeit befreit zog er Burks 
hardt mit ſich und ſpazierte mit ihm eine Strecke auf der 
Landſtraße feldeinwärts, heimkehrenden Heuwagen ent⸗ 
gegen. Er atmete den warmen ſatten Heugeruch mit 
Wonne ein, dabei flog eine Erinnerung ihn an. 

„Erinnerſt du dich“, fragte er lachend, „an den Som- 
mer nach meinem erſten Akademieſemeſter, wie wir mit— 
einander auf dem Lande waren? Da malte ich Heu, 
nichts als lauter Heu, weißt du noch? Ich hatte mich 
zwei Wochen lang abgemüht, ein paar Heuhaufen auf 
einer Bergwieſe zu malen, und es ging und ging nicht, 
ich brachte die Farbe nicht heraus, das ſtumpfe matte 
Heugrau! Und als ich es ſchließlich doch hatte — es war 
noch nicht übermäßig delikat, aber ich wußte nun, daß es 
aus Rot und Grün gemiſcht fein mußte —, da war ich 


— 
fo froh, daß ich nichts mehr fab als lauter Heu. Ach, das 
ift ſchön, fo ein erſtes Probieren und Suchen und Fin— 
den!“ 

„Ich denke, man lernt nie aus,“ meinte Otto. 

„Natürlich nicht. Aber die Sachen, die mich jetzt pla— 
gen, die haben nichts mit der Technik zu tun. Weißt du, 
feit ein paar Jahren paſſiert es mir immer häufiger, daß 
ich bei irgendeinem Anblick plötzlich an meine Knaben⸗ 
zeit denken muß. Damals ſah alles anders aus, und et⸗ 
was davon möchte ich einmal malen können. Für ein 
paar Minuten habe ich es manchmal wiedergefunden, 
daß plötzlich alles den ſonderbaren Schimmer wieder 
hat aber das reicht noch nicht. Wir haben ſo viele gute 
Maler, feine, delikate Leute, die die Welt ſo malen, wie 
ein kluger, feiner, beſcheidener alter Herr ſie ſieht. Aber 
wir haben keinen, der fie malt, wie ein friſcher, herrſch—⸗ 
ſüchtiger, raſſiger Bub fie ſieht, oder die, die es fo verſu⸗ 
chen, ſind meiſtens ſchlechte Handwerker.“ 

Er riß in Gedanken verloren eine rötlich blaue Gta: 
bioſe am Feldrande ab und ſtarrte ſie an. 

„Langweilt es dich?“ fragte er plötzlich wie erwachend 
und blickte mißtrauiſch herüber. 

Otto lächelte ihm ſchweigend zu. 

„Sieh,“ fuhr der Maler fort, „eins von den Bildern, 
die ich noch malen möchte, iſt ein Strauß von Wieſen— 
blumen. Du mußt wiſſen, meine Mutter konnte ſolche 
Sträuße machen, wie ich keine mehr ſah, ſie war ein 


1 


Genie darin. Sie war wie ein Kind und ſang faſt immer, 
ſie ging ganz leicht und hatte einen großen bräunlichen 
Strohhut auf, ich ſehe ſie im Traum nie anders als ſo. 
Einen ſolchen Feldblumenſtrauß möchte ich einmal ma— 
len, wie ſie ſie gern hatte: Skabioſen und Schafgarbe 
und kleine roſa Winden, dazwiſchen ein paar feine Grä— 
ſer und eine grüne Haferähre geſteckt. Ich habe hundert 
ſolche Sträuße heimgebracht, aber es iſt noch nicht der 
rechte, es muß der ganze Duft drin ſein, und er muß ſein, 
wie wenn fie ihn ſelber gemacht hätte. Die weißen Schaf— 
garben gefielen ihr zum Beiſpiel nicht, ſie nahm nur die 
feinen, ſeltenen, mit einem Anflug von Lila, und ſie 
wählte einen halben Nachmittag zwiſchen tauſend Grä— 
fern, ehe fie ſich für eins entſchied — — Ach, ich kann es 
nicht ſagen, du verſtehſt das ja nicht.“ 

„Ich verſtehe ſchon,“ nickte Burkhardt. 

„Ja, an dieſen Feldblumenſtrauß denke ich manch— 
mal halbe Tage lang. Ich weiß genau, wie das Bild 
werden müßte. Nicht dieſes wohlbekannte Stückchen 
Natur, geſehen von einem guten Beobachter und ver— 
ein facht von einem guten, ſchneidigen Maler, aber auch 
nicht ſentimental und holdſelig wie von einem fogenann- 
ten Heimatkünſtler. Es muß ganz naib fein, fo wie be— 
gabte Kinder ſehen, unſtiliſiert und voller Einfachheit. 
Das Nebelbild mit den Fiſchen, das im Atelier ſteht, iſt 
gerade das Gegenteil davon — aber man muß beides 
können . . . Ach, ich will noch viel malen, noch viel!“ 


1 


Er bog in einen ſchmalen Wieſenweg ein, der leicht 
bergan auf einen runden, ſanften Hügel führte. 

„Jetzt paß auf!“ mahnte er eifrig und ſpähte wie ein 
Sager vor ſich in die Luft. „Sobald wir oben find! Das 
werde ich in dieſem Herbſt malen.“ 

Sie erreichten die Anhöhe. Jenſeits hielt ein laubiges 
Gehölz, abendlich ſchräg durchlichtet, den Blick auf, der, 
von der klaren Wieſen freiheit verwöhnt, nur langſam 
ſich durch die Bäume fand. Ein Weg mündete unter 
hohen Buchen, eine ſteinerne, bemooſte Bank darunter, 
und, dem Wege folgend, fand das Auge einen Durchblick 
offen, über die Bank hinweg durch eine dunkle Bahn von 
Baumkronen tat ſich friſch und leuchtend eine tiefe Ferne 
auf, ein Tal voll Gebüſch und Weidenwuchs, der ge— 
krümmte Fluß blaugrün funkelnd, und ganz ferne ver: 
lorene Hiigelziige weit bis in die Unendlichkeit. 

Veraguth deutete hinab. 

„Das werde ich malen, ſobald die Buchen anfangen, 
farbig zu werden. Und auf die Bank ſetze ich Pierre in 
den Schatten, ſo daß man an ſeinem Kopf vorbei in das 
Tal dort hinunterſieht.“ 

Burkhardt ſchwieg und hörte ſeinem Freunde zu, im 
Herzen voll Mitleid. Wie er mich anlügen will! dachte 
er mit heimlichem Lächeln. Wie er von Plänen und Acbei- 
ten ſpricht! Früher tat er das nie. Es ſah aus, als wolle 
er ſorgfältig alles herzablen, woran er etwa noch Freude 
hatte und was ihn noch mit dem Leben verſöhnte. Der 


en MORE coe 


Freund kannte ihn und kam ihm nicht entgegen. Er wußte, 
es konnte nicht lange mehr dauern, bis Johann das in 
Jahren Gehãufte von fic) werfen und ſich von einem un⸗ 
erträglich gewordenen Schweigen löſen würde. So ging 
er abwartend mit ſcheinbarer Gelaſſenheit nebenher, im⸗ 
merhin traurig verwundert, daß auch ein ſo überlegener 
Menſch im Unglück kindlich werde und mit verbunde⸗ 
nen Augen und Händen durch die Dornen wandle. 

Als ſie nach Roßhalde zurückkamen und nach Pierre 
fragten, hörten ſie, er ſei mit Frau Veraguth nach der 
Stadt gefahren, um Herrn Albert abzuholen. 


Viertes Kapitel 


Albert Veraguth ging heftig im Klavierzimmer ſeiner 
Mutter auf und ab. Er ſchien auf den erſten Blick dem 
Vater ähnlich, weil er deſſen Augen hatte, glich aber 
weit mehr der Mutter, die an den Flügel gelehnt ſtand 
und ihm mit zärtlich aufmerkſamen Augen folgte. Als er 
wieder an ihr vorüberkam, hielt fie ihn an den Schultern 
feſt und wandte fein Geſicht zu ſich her. Uber ſeine breite, 
bleiche Stirn hing ein Büſchel blonden Haares herein, 
die Augen glühten in knabenhafter Erregung und der 
hübſche volle Mund war zornig verzogen. 

„Nein, Mama,“ rief er heftig und machte ſich aus 
ihren Händen los, „du weißt, ich kann nicht zu ihm bins 
über gehen. Das wäre eine ganz ſinnloſe Komödie. Er 
weiß, daß ich ihn haſſe, und er ſelber haßt mich auch, du 
magſt ſagen, was du willſt.“ 

„Haſſen!“ rief ſie mit leiſer Strenge. „Laß doch ſolche 
Worte, die alles verzerren! Er iſt dein Vater, und es gab 
eine Zeit, wo er dich ſehr lieb gehabt hat. Ich muß es dir 
verbieten, ſo zu reden.“ 

Albert blieb ſtehen und ſah ſie funkelnd an. 

„Du kannſt mir die Worte verbieten, gewiß, aber was 
wird dadurch anders? Soll ich ihm denn etwa dankbar 


ae 


fein? Er hat dir dein Leben verdorben und mir meine 
Heimat, er hat aus unſerer ſchönen, frohen, prächtigen 
Roßhalde einen Ort voll Unbehagen und Widerwärtig— 
keit gemacht. Ich bin hier aufgewachſen, Mutter, und es 
gibt Zeiten, da träume ich jede Nacht von den alten Stu— 
ben und Gängen hier, vom Garten und Stall und Tau— 
benſchlag. Ich habe keine andere Heimat, die ich lieben 
und von der ich träumen und nach der ich Heimweh haben 
kann. Und nun muß ich an fremden Orten leben und 
kann nicht einmal in den Ferien einen Freund hierher mit: 
bringen, damit er nicht ſieht, was für ein Leben wir hier 
führen! Und jeder, der mich kennenlernt und meinen Na⸗ 
men hört, ſtimmt ſogleich ein Loblied auf meinen be— 
rühmten Vater an. Ach Mutter, ich wollte, wir hätten 
lieber gar keinen Vater und keine Roßhalde und wären 
arme Leute und du müßteſt nähen oder Stunden geben 
und ich dir Geld verdienen helfen.“ 

Die Mutter ging ihm nach und nötigte ihn in einen 
Seſſel, ſetzte ſich auf ſeine Knie und ſtrich ihm die ver— 
ſchobenen Haare zurecht. 

„So,“ ſagte ſie mit ihrer ruhigen tiefen Stimme, deren 
Ton ihm Heimat und Hort bedeutete, „ſo, nun haſt du 
mir ja alles geſagt. Es iſt manchmal ganz gut, ſich aus- 
zuſprechen. Man muß die Dinge kennen, die man zu er⸗ 
tragen hat. Aber man muß das, was weh tut, nicht auf— 
wühlen, mein Kind. Du biſt jetzt ſchon ſo groß wie ich 
und biſt bald ein Mann, und darauf freue ich mich. Du 


— 63 — 


biſt mein Kind und ſollſt es bleiben, aber ſieh, ich bin viel 
allein und habe allerlei Sorgen, da brauche ich auch einen 
richtigen männlichen Freund, und der ſollſt du ſein. Du 
ſollſt mit mir vierhändig ſpielen und mit mir im Garten 
gehen und nach Pierre ſehen, wir wollen ſchöne Ferien 
miteinander haben. Aber du ſollſt nicht Lärm machen 
und es mir noch ſchwerer machen, ſonſt muß ich denken, 
du ſeieſt eben doch noch ein halber Knabe und es werde 
noch lange dauern, bis ich endlich einen klugen Freund 
bekomme, den ich doch ſo gerne hätte.“ 

„Ja, Mutter, ja. Aber muß man denn immerzu über 
alles ſchweigen, was einen unglücklich macht?“ 

„Es iſt das beſte, Albert. Es iſt nicht leicht, und von 
Kindern darf man es nicht verlangen. Aber es iſt das 
befte. Wollen wir jetzt etwas ſpielen?“ 

„Ja, gerne. Beethoven, die zweite Symphonie — 
magſt du?“ 

Sie hatten kaum zu ſpielen begonnen, ſo ging ſachte 
die Türe auf und Pierre glitt herein, ſetzte ſich auf einen 
Schemel und hörte zu. Nachdenklich ſah er dabei ſeinen 
Bruder an, ſeinen Nacken mit dem ſeidenen Sport— 
kragen, ſeinen im Rhythmus der Muſik bewegten Haar— 
ſchopf und ſeine Hände. Jetzt, da er ſeine Augen nicht ſah, 
fiel ihm Alberts große Ahnlichkeit mit der Mutter auf. 

„Gefällt es dir?“ fragte Albert während einer Pauſe. 
Pierre nickte nur, ging aber gleich darauf wieder ſtill aus 
dem Zimmer. In Alberts Frage hatte er etwas von dem 


5 Heſſe, Roßhalde 


e 


Ton geſpürt, in welchem nach ſeiner Erfahrung die mei— 
ſten Erwachſenen zu Kindern redeten und deſſen verlo- 
gene Freundlichkeit und unbeholfene Überheblichkeit er 
nicht leiden mochte. Der große Bruder war ihm willkom⸗ 
men, er hatte ihn ſogar mit Spannung erwartet und ihn 
drunten am Bahnhof mit großer Freude begrüßt. Auf 
dieſen Ton aber gedachte er nicht einzugehen. 

Mittlerweile warteten Veraguth und Burkhardt im 
Atelier auf Albert, Burkhardt mit unverhehlter Neu— 
gierde, der Maler in nervöſer Verlegenheit. Die flüchtige 
Fröhlichkeit und Plauderluſt war plötzlich von ihm ab- 
gefallen, als er Alberts Ankunft erfuhr. 

„Kommt er denn unerwartet?“ fragte Otto. 

„Nein, ich glaube nicht. Ich wußte, daß er dieſer Tage 
kommen ſollte.“ 

Veraguth kramte aus einer Plunderſchachtel ältere 
Photographien heraus. Er ſuchte ein Knabenbildnis 
hervor und hielt es vergleichend neben eine Photographie 
von Pierre. 

„Das war Albert, genau im gleichen Alter wie jetzt der 
Kleine iſt. Erinnerſt du dich an ihn?“ 

„Oh, ganz gut. Das Bild iſt ſehr ähnlich. Er hat viel 
von deiner Frau.“ 

„Mehr als Pierre?“ 

„Ja, viel mehr. Pierre hat weder deinen Typ noch den 
ſeiner Mutter. Da kommt er übrigens. Oder ſollte es 
Albert ſein? Nein, unmöglich.“ 


— 


Man hörte leichte kleine Tritte vor der Türe über die 
Flieſen und über das Scharreiſen gehen, die Türklinke 
ward berührt und nach einem kleinen Zögern nieder— 
gedruckt, und Pierre trat herein, mit ſeinem fragend— 
freundlichen Blick ſchnell fpabend, ob er willkommen fei. 

„Wo iſt denn Albert?“ fragte der Vater. 

„Bei der Mama. Sie ſpielen miteinander Klavier.“ 

„Ach ſo, er ſpielt Klavier.“ 

„Biſt du ärgerlich, Papa?“ 

„Nein, Pierre, es iſt hübſch, daß du gekommen biſt. 
Erzähl' uns etwas!“ 

Der Knabe ſah die Photographien daliegen und griff 
danach. 

„Oh, das bin ich! Und das da? Soll das Albert ſein?“ 

„Ja, das iſt Albert. So hat er ausgeſehen, als er ge- 
rade ſo alt war wie du jetzt biſt.“ 

„Da war ich noch nicht auf der Welt. Und jetzt iſt er 
groß geworden, und Robert ſagt ſchon Herr Albert zu 
ihm.“ 

„Willſt du auch einmal groß werden?“ 

„Ja, ich will ſchon. Wenn man groß iſt, darf man 
Pferde haben und Reiſen machen, das möchte ich auch. 
Und dann darf mich niemand mehr „kleiner Junge bei- 
ßen und in die Backen kneifen. Aber eigentlich will ich 
doch nicht groß werden. Die alten Leute find oft fo un- 
angenehm. Albert iſt auch ſchon ganz anders geworden. 
Und wenn die alten Leute immer älter werden, dann 


5* 


a eee 
fterben fie zuletzt. Ich möchte lieber fo bleiben wie ich 
bin, und manchmal möchte ich fliegen können und mit 
den Vögeln hoch droben um die Bäume herfliegen und 
zwiſchen die Wolken hinein. Da würde ich alle Leute 
auslachen.“ 

„Mich auch, Pierre?“ 

„Manchmal, Papa. Die alten Leute ſind alle manch— 
mal ſo komiſch. Mama nicht ſo ſehr. Mama liegt hie 
und da in einem langen Stuhl im Garten und tut gar 
nichts als in das Gras hineinſehen, und dann hängen ihre 
Hände herunter und ſie iſt ganz ruhig und ein wenig 
traurig. Es iſt hübſch, wenn man nicht immerzu etwas 
tun muß.“ 

„Möchteſt du denn gar nichts werden? Baumeiſter, 
oder Gärtner, oder vielleicht Maler?“ 

„Nein, ich mag nicht. Ein Gärtner iſt ſchon da, und 
ein Haus habe ich ja auch ſchon. Ich möchte ganz andere 
Sachen tun können. Ich möchte das verſtehen, was die 
Rotkehlchen zueinander ſagen. Und ich möchte auch ein— 
mal ſehen, wie es die Bäume machen, daß ſie mit ihren 
Wurzeln Waſſer trinken und ſo groß werden können. 
Ich glaube, das weiß gar niemand richtig. Der Lehrer 
weiß eine Menge, aber lauter langweilige Sachen.“ 

Er hatte ſich auf Otto Burkhardts Knie geſetzt und 
ſpielte mit ſeiner Gürtelſchnalle. 

„Viele Dinge kann man nicht wiſſen,“ ſagte Burk— 
hardt freundlich. „Vieles kann man nur ſehen und muß 


— 69 — 
damit zufrieden fein, daß es fo hübſch iſt. Wenn du 


einmal zu mir nach Indien kommſt, da fährſt du viele 
Tage lang immer auf einem großen Schiff, und vor 
dem Schiffe her tauchen lauter kleine Fiſche auf, die 
haben kleine gläſerne Flügel und können fliegen. Und 
manchmal kommen auch Vögel, die ſind furchtbar 
weit von fremden Inſeln hergeflogen und ſind ganz 
müde und ſetzen ſich auf das Schiff und ſind verwun— 
dert, daß da ſo viele fremde Leute auf dem Meer her— 
umfahren. Die möchten uns auch gerne verſtehen und 
uns fragen, wo wir herkommen und wie wir heißen, 
aber es geht nicht, und da ſieht man ſich eben in die 
Augen und nickt mit dem Kopf, und wenn der Vogel 
ausgeruht hat, dann ſchüttelt er ſich und fliegt wieder 
weg übers Meer.“ 

„Weiß man denn gar nicht, wie dieſe Vögel heißen?“ 

„O doch, das weiß man ſchon. Aber es ſind Namen, 
die ihnen die Menſchen gegeben haben, und wie ſie ſelber 
zueinander ſagen, das kann man nicht wiſſen.“ 

„Onkel Burkhardt kann fein erzählen, Papa. Ich 
möchte auch einen Freund haben. Albert iſt ſchon zu 
groß. Die meiſten Menſchen verſtehen ja gar nicht recht, 
was man ſagt und will, aber Onkel Burkhardt verſteht 
mich gleich.“ 

Ein Hausmädchen kam, den Kleinen abzuholen. Bald 
darauf war es Abendeſſenszeit, und die Herren gingen 
ins Haus. Veraguth war ſchweigſam und verſtimmt. 


Im Speiſezimmer trat ihm fein Sohn entgegen und gab 
ihm die Hand. 

„Guten Tag, Papa.“ 

„Guten Tag, Albert. Biſt du gut gereiſt?“ 

„Danke, ja. Guten Abend, Herr Burkhardt.“ 

Der junge Mann war ſehr kühl und korrekt. Er führte 
ſeine Mutter zu Tiſch. Man aß, und das Geſpräch ging 
faſt nur zwiſchen Burkhardt und der Haus frau. Es kam 
die Rede auf Muſik. 

„Darf ich fragen,“ wandte ſich Burkhardt an Albert, 
„welche Art von Muſik Sie beſonders lieben? Allerdings 
bin ich da längſt nicht mehr auf der Höhe und kenne die 
modernen Muſiker wohl kaum dem Namen nach.“ 

Der Jüngling blickte höflich auf und gab Auskunft. 

„Das Allermodernſte kenne ich auch nur vom Hören— 
ſagen. Ich gehöre keiner Richtung an und liebe alle 
Muſik, wenn ſie gut iſt. Am meiſten Bach, Gluck und 
Beethoven.“ 

„Dh, die Klaſſiker. Von denen haben wir zu unſerer 
Zeit eigentlich nur Beethoven näher gekannt. Von Gluck 
wußten wir überhaupt nichts. Wir hielten alle ſtramm 
zu Wagner, müſſen Sie wiſſen. Weißt du noch, Johann, 
wie wir zum erſtenmal den Triſtan hörten? Das war ein 
Rauſch!“ 

Veraguth lächelte unfroh. 

„Alte Schule!“ rief er etwas hart. „Wagner iſt abge— 
tan. Oder nicht, Albert?“ 


— 

„Oh, im Gegenteil, er wird ja auf allen Theatern ge— 
ſpielt. Aber ich habe daruber kein Urteil.“ 

„Mögen Sie Wagner nicht?“ 

„Ich kenne ihn zu wenig, Herr Burkhardt. Ich komme 
ſehr ſelten ins Theater. Mich intereſſiert nur die reine 
Muſik, nicht die Oper.“ 

„Na, aber das Meiſterſingervorſpiel! Das kennen Sie 
gewiß. Taugt das auch nichts?“ 

Albert biß ſich auf die Lippen und beſann ſich einen 
Augenblick, ehe er antwortete. 

„Ich kann wirklich nicht darüber urteilen. Es iſt — wie 
ſoll ich ſagen? romantiſche Muſik, und für die fehlt es 
mir an Intereſſe.“ 

Veraguth ſchnitt eine Grimaſſe. 

„Nimmſt du Landwein?“ fragte er ablenkend. 

„Danke, ja.“ 

„Und du, Albert? Ein Glas Roten?“ 

„Danke, Papa, lieber nicht.“ 

„Biſt du Abſtinent geworden?“ 

„Nein, durchaus nicht. Aber Wein bekommt mir nicht, 
ich möchte lieber darauf verzichten.“ 

„Na, gut. Aber wir wollen anſtoßen, Otto. Proſit!“ 

Er trank das Glas mit einem raſchen Schluck halb aus. 

Albert ſpielte die Rolle des wohlerzogenen Jungen 
weiter, der zwar ganz beſtimmte Anſichten hat, ſie aber 
beſcheiden für ſich behält, und der älteren Leuten das 
Wort läßt, nicht um zu lernen, ſondern um ſeine Ruhe zu 


haben. Die Rolle paßte ſchlecht zu ihm, fo daß auch er 
ſich bald äußerſt unbehaglich fühlte. Er wollte ſeinem Va⸗ 
ter, den er nach Möglichkeit zu ignorieren gewohnt war, 
durchaus keinen Anlaß zu Auseinanderſetzungen geben. 

Burkhardt ſchwieg beobachtend, und ſo war niemand 
übrig, der das froſtig verſiegte Tiſchgeſpräch mit gutem 
Willen wieder aufgenommen hätte. Man beeilte ſich mit 
dem Eſſen, bediente einander mit höflicher Umſtändlich— 
keit, ſpielte befangen mit den Deſſertlöffeln und wartete 
in kläglicher Nüchternheit auf den Augenblick des Auf— 
ſtehens und Auseinandergehens. Erſt in dieſer Stunde 
fühlte Otto Burkhardt bis ins Innerſte die Verein— 
ſamung und hoffnungsloſe Kälte, in der ſeines Freundes 
Ehe und Leben erſtarrt und verkümmert war. Er blickte 
flüchtig zu ihm hinüber, ſah ihn verdroſſen mit ſchlaffem 
Geſicht auf die kaum berührten Speiſen ſtarren und 
erkannte in ſeinem Blick, dem er eine Sekunde begegnete, 
eine flehende Scham über die Enthüllung ſeines Zu— 
ſtandes. 

Es war ein betrübter Anblick, und plötzlich ſchien das 
liebloſe Schweigen, die verlegene Kälte und humorloſe 
Gezwungenheit dieſer Tafelſtunde laut Veraguths 
Schande zu verkündigen. In dieſem Augenblick fühlte 
Otto, daß jeder weitere Tag ſeines Hierbleibens nur eine 
widerwärtige Verlängerung dieſer beſchämenden Zu— 
ſchauerſchaft und zur Qual für den Freund werden 
würde, der nur noch mit Ekel den Schein aufrechterhielt 


9 
und nicht die Kraft und Laune mehr aufbrachte, ſein 
Elend vor dem Zuſchauer zu beſchönigen. Hier galt es, 
ein Ende zu machen. 

Kaum hatte ſich Frau Veraguth erhoben, ſo ſchob ihr 
Mann ſeinen Seſſel zurück. 

„Ich bin ſo müde, daß ich mich zu entſchuldigen bitte. 
Laßt euch nicht ſtören!“ 

Er ging hinaus und vergaß die Tür hinter ſich zuzu— 
ziehen, und Otto hörte ihn langſam mit ſchweren Schrit— 
ten durch den Gang und die knarrende Treppe hinab 
davongehen. 

Burkhardt ſchloß die Tür und begleitete die Hausfrau 
in den Salon, wo der Flügel noch offen ſtand und der 
abendliche Wind in den aufgelegten Noten blätterte. 

„Ich hatte Sie bitten wollen, etwas zu ſpielen,“ ſagte 
er befangen. „Aber mir ſcheint, Ihr Mann iſt nicht recht 
wohl, er hat den ganzen Mittag in der Sonne gearbeitet. 
Wenn Sie erlauben, leiſte ich ihm noch ein Stündchen 
Geſellſchaft.“ 

Frau Veraguth nickte ernſthaft und ſuchte ihn nicht zu 
halten. Er empfahl ſich und ging, von Albert bis zur 
Treppe begleitet. 


Fünftes Kapitel 


Die Dämmerung hatte begonnen, als Otto Burkhardt 
aus dem ſchon vom großen Leuchter erhellten Hausflur 
trat und ſich von Albert verabſchiedete. Unter den Kaſta⸗ 
nien blieb er ſtehen, ſog durſtig die zart gekühlte, laub⸗ 
duftende Abendluft ein und wiſchte ſich große Schweiß— 
tropfen von der Stirne. Wenn er ſeinem Freunde ein we- 
nig helfen konnte, mußte es in dieſer Stunde geſchehen. 

Im Atelierhaus war kein Licht, und er fand den Maler 
weder in der Werkſtatt noch in den Nebenräumen. Er 
öffnete die Türe gegen den Weiher und ging ſuchend mit 
leiſen Schritten rund um das Haus. Da ſah er ihn ſitzen, 
in dem Rohrſtuhl, in dem er ihn heute gemalt hatte, die 
Ellbogen aufgeſtützt und das Geſicht in den Händen, ſo 
ruhig, als ſchliefe er. 

„Johann!“ rief er leiſe, trat zu ihm und legte ihm die 
Hand auf den gebeugten Kopf. 

Es kam keine Antwort. Er blieb ſtehen, ſchwieg und 
wartete und ſtreichelte dem in Müdigkeit und Leid Ver⸗ 
ſunkenen das kurze grobe Haar. In den Bäumen ging 
der Wind, ſonſt war es ſtill und abendfriedlich. Minuten 
vergingen. Da kam plötzlich vom Herrenhauſe her durch 
die Dämmerung eine breite Klangwoge geſchwollen, ein 


8 
voller, lang ausgehaltener Akkord, und wieder einer. Es 
war der erſte Takt einer Klavierſonate. 

Da hob der Maler den Kopf, ſchüttelte die Hand ſei— 
nes Freundes ſanft von ſich und ſtand auf. Er ſah Burk- 
hardt ſtill aus müden, trockenen Augen an, verſuchte ein 
Lächeln aufzubringen und ließ davon wieder ab, indem 
ſeine ſtarren Züge erſchlafften. 

„Wir wollen hineingehen,“ ſagte er mit einer Gebärde, 
als ſuche er die von drüben heranflutende Muſik von ſich 
abzuwehren. 

Er ging voran. Bei der Türe zum Atelier blieb er 
ſtehen. 

„Ich denke, wir werden dich wohl nimmer lange hier 
haben?“ 

Wie er alles fühlt! dachte Burkhardt. Mit beherrſch⸗ 
ter Stimme ſagte er: „Es kommt ja auf einen Tag nicht 
an. Ich denke, ich reiſe übermorgen.“ 

Veraguth taſtete nach den Drückern. Mit einem feinen 
Metallton ſtrahlten alle Lichter der Werkſtatt blendend 
auf. 

„Dann wollen wir noch eine ſchöne Flaſche Wein mit— 
einander trinken.“ 

Er ſchellte nach Robert und gab ihm Aufträge. Mitten 
im Atelier ſtand Burkhardts neues Porträt, nahezu fer⸗ 
tig. Sie ſtanden davor und ſahen es an, während Robert 
Tiſch und Stühle rückte, Wein und Eis herbeitrug, 
Zigarren und Aſchenſchalen aufſetzte. 


„Es ift gut, Robert, Sie können ausgehen. Morgen 
nicht wecken! Laſſen Sie uns jetzt allein!“ 

Sie ſetzten ſich und ſtießen miteinander an. Unruhig 
rückte der Maler im Seſſel, ſtand wieder auf und drehte 
die Hälfte der Lichter wieder aus. Dann ließ er ſich ſchwer 
in den Stuhl fallen. 

„Das Bild iſt nicht ganz fertig geworden,“ fing er 
an. „Nimm dir eine Zigarre! Es wäre nicht ſchlecht ge— 
worden, aber ſchließlich liegt nicht ſoviel daran. Und 
man ſieht ſich ja wieder.“ 

Er ſuchte ſich eine Zigarre aus, ſchnitt ſie bedächtig an, 
drehte fie zwiſchen nervöſen Fingern und legte fie wieder 
weg. 

„Du haſt es diesmal hier nicht gerade glänzend ge— 
troffen, Otto. Es tut mir leid.“ 

Seine Stimme brach plötzlich, er ſank vornüber, griff 
nach Burkhardts Händen und nahm ſie feſt in ſeine. 

„Du weißt ja jetzt alles,“ ſtöhnte er müde, und ein 
paar Tränen fielen auf Ottos Hand. Allein er wollte ſich 
nicht gehen laſſen. Er richtete ſich wieder auf, zwang ſeine 
Stimme zur Ruhe und ſagte verlegen: „Entſchuldige! 
Wir wollen einen Schluck trinken! Rauchſt du nicht?“ 

Burkhardt nahm eine Zigarre. 

„Armer Kerl!“ 

Sie tranken und rauchten in friedlichem Schweigen, 
ſie ſahen das Licht in den geſchliffenen Glaskelchen 
blitzen und in dem goldenen Weine wärmer leuchten, 


* 
ſahen den blauen Rauch unentſchloſſen durch den weiten 
Raum ſchwanken und ſich in launiſche Fäden verſchnör— 
keln und ſahen zuweilen einander an, mit gelöſten offe— 
nen Blicken, die kaum der Sprache mehr bedurften. Es 
war, als ſei ſchon alles geſagt. 

Ein Nachtfalter ſtrich ſurrend durch die Werkſtatt und 
ſtieß drei⸗, viermal heftig mit einem dumpfen Schlag 
wider die Wände. Dann ſaß er ſtill und betäubt, ein fam- 
metgraues Dreieck, am Plafond. 

„Kommſt du im Herbſt mit mir nach Indien?“ fragte 
Burkhardt endlich zögernd. 

Wieder war es lange ſtill. Der Schmetterling begann 
langſam zu wandern. Grau und klein kroch er vorwärts, 
als habe er das Fliegen vergeſſen. 

„Vielleicht,“ ſagte Veraguth. „Vielleicht. Wir müſ— 
ſen ja noch miteinander reden.“ 

„Ja, Johann. Ich will dich nicht quälen. Aber ein 
wenig mußt du mir noch erzählen. Ich hatte nie erwar— 
tet, daß es zwiſchen dir und deiner Frau wieder gut wer⸗ 
den würde, aber —“ 

„Es war ja von Anfang an nicht gut!“ 

„Nein. Aber es hat mich doch erſchreckt, daß es ſoweit 
gekommen ift. So kann es ja nicht bleiben. Du gehſt zu- 
grunde.“ 

Veraguth lachte rauh. 

„Ich gehe nicht zugrunde, mein Junge. Im Septem— 
ber ſtelle ich in Frankfurt etwa zwölf neue Bilder aus.“ 


— 7 — 


„Das ift ſchon gut. Aber wie lang foll das fo gehen? 
Es iſt ja ſinnlos ... Sag', Johann, warum haſt du dich 
nicht von deiner Frau getrennt?“ 

„Das ift nicht fo einfach ... Ich will dir erzählen. Es 
iſt beffer, wenn du das Ganze einmal in der rechten Ord⸗ 
nung erfährſt.“ 

Er nahm einen Schluck Wein und blieb vorgebeugt 
im Stuhle ſitzen, während Otto ſich weiter vom Tiſche 
zurückzog. 

„Daß ich mit meiner Frau von Anfang an Schwie— 
rigkeiten hatte, weißt du ja. Es ging ein paar Jahre lang, 
nicht gut und nicht ſchlecht, und vielleicht wäre damals 
noch allerlei zu retten geweſen. Aber ich konnte meine 
Enttäuſchung zu wenig verbergen, und ich verlangte von 
Adele immer wieder gerade das, was ſie nicht zu geben 
hatte. Schwung hat ſie nie gehabt; ſie war ernſthaft 
und ſchwerlebig, ich hätte das vorher wiſſen können. Sie 
konnte niemals fünf gerade fein laſſen und ſich mit Hu- 
mor oder Leichtſinn über etwas Schweres weghelfen. 
Sie hatte meinen Anſprüchen und Launen, meiner un- 
geſtümen Sehnſucht und meiner ſchließlichen Enttäu— 
ſchung nichts entgegenzuſetzen als Schweigen und Ge— 
duld, eine rührende, ſtille, heldenhafte Geduld, die mich 
oft bewegte und mit der mir und ihr doch nicht geholfen 
war. War ich ärgerlich und unzufrieden, ſo ſchwieg ſie 
und litt, und kam ich bald darauf mit dem Willen zu 
einem beſſeren Verſtändnis, bat ich ſie um Verzeihung 


a ieee 
oder ſuchte ich fie in einer Stunde froher Laune mitzu— 
reißen, ſo ging es nicht, ſie ſchwieg auch da und beharrte 
immer verſchloſſener in ihrem treuen, ſchwerfälligen We- 
ſen. War ich bei ihr, ſo ſchwieg ſie nachgiebig und ängſt— 
lich, ſie nahm Zornausbrüche und luſtige Stimmungen 
mit gleicher Gelaſſenheit hin, und war ich fort, ſo ſpielte 
fie für ſich allein Klavier und dachte an ihre Mädchen— 
zeit. So kam ich immer tiefer ins Unrecht und hatte 
ſchließlich eben auch nichts mehr zu geben und mifzutei- 
len. Ich fing an fleißig zu werden und habe ſo allmäh— 
lich gelernt, mich in die Arbeit wie in eine Burg zu ver⸗ 
ſchanzen.“ 

Offenbar gab er ſich Mühe, ruhig zu bleiben. Er wollte 
erzählen, nicht anklagen, aber hinter den Worten ſtand 
fühlbar eben doch die Anklage, mindeſtens die Klage über 
die Zerſtörung ſeines Lebens, über die Enttäuſchung ſei— 
ner Jugenderwartung und über die lebenslange Verur⸗ 
teilung zu einem halben, freudloſen, dem Innerſten ſei— 
ner Natur beſtändig widerſprechenden Daſein. 

„Schon damals dachte ich zuweilen daran, die Ehe 
wieder aufzulöſen. Aber das war nicht fo einfach. Ich 
war an Stillſitzen und Arbeit gewöhnt und ſchreckte im: 
mer wieder vor dem Gedanken an Gerichte und Anwälte, 
vor dem Abreißen aller kleinen täglichen Lebensgewohn— 
heiten zurück. Wenn mir damals eine neue Liebe in den 
Weg gekommen wäre, hãtte ich den Entſchluß leicht ge⸗ 
funden. Aber es zeigte ſich, daß auch meine eigene Natur 


ag eee 


ſchwerfälliger war als ich dachte. Ich verliebte mich mit 
einem gewiſſen wehmütigen Neid in hübſchejunge Mäd— 
chen, aber es ging nie tief genug, und ich ſah mehr und 
mehr, daß ich an keine Liebe mehr mich ſo weggeben 
könne wie an meine Malerei. Alles Verlangen nach 
Austoben und Selbſtvergeſſen, jeder Wunſch und jedes 
Bedürfnis richtete ſich dahin, und wirklich habe ich in die- 
ſen vielen Jahren keinen einzigen neuen Menſchen in 
mein Leben aufgenommen, keine Frau und keinen 
Freund. Du begreifſt, ich hätte ja jede Freund ſchaft mit 
dem Bekenntnis meiner Schande beginnen müſſen.“ 

„Schande?!“ ſagte Burkhardt leiſe mit einem Ton 
des Tadels. 

„Gewiß, Schande! So empfand ich es damals ſchon, 
und das iſt ſeither nicht anders geworden. Es iſt eine 
Schande, unglücklich zu ſein. Es iſt eine Schande, ſein 
Leben niemandem zeigen zu dürfen, etwas verbergen 
und bemänteln zu müſſen. Genug davon! Ich will dir 
erzählen.“ 

Er ſtarrte finſter in ſein Weinglas, warf die erloſchene 
Zigarre weg und fuhr fort. 

„Inzwiſchen war Albert ein paar Jahre alt geworden. 
Wir hatten ihn beide ſehr lieb, die Geſpräche über ihn und 
die Sorgen um ihn hielten uns beiſammen. Erſt als er ſie— 
ben oder acht Jahre alt war, begann ich eiferſüchtig zu 
werden und um ihn zu kämpfen — genau fo, wie ich jetzt 
mit ihr um Pierre kämpfe! Ich fab plötzlich, daß der kleine 


— 81 — 


Junge mir unentbehrlich lieb geworden war, und ich 
habe mehrere Jahre lang mit beſtändiger Angſt zuge— 
ſehen, wie er ganz langſam kühler gegen mich wurde und 
mehr und mehr zur Mutter hielt. 

Da wurde er bedenklich krank, und in jener Zeit der 
Sorge um das Kind ſank alles andere für eine Weile un— 
ter, und wir lebten eine Zeitlang ſo einmütig wie nie zu— 
vor. Aus dieſer Zeit ſtammt Pierre. 

Seit der kleine Pierre auf der Welt iſt, hat er alles be⸗ 
ſeſſen, was ich an Liebe irgend geben konnte. Ich ließ 
mir Adele wieder entgleiten, ich ließ es geſchehen, daß 
Albert nach ſeiner Geneſung ſich immer enger an meine 
Frau ſchloß, daß er ihr Vertrauter gegen mich und all— 
mählich mein Feind wurde, bis ich ihn aus dem Hauſe 
entfernen mußte. Ich hatte auf alles verzichtet, ich war 
ganz arm und anſpruchslos geworden, ich hatte mir auch 
das Schelten und Herrſchen im Hauſe abgewöhnt und 
hatte nichts dagegen, im eigenen Haus nur ein gedulde— 
ter Gaſt zu ſein. Ich wollte nichts für mich retten als 
meinen kleinen Pierre, und als das Zuſammenleben mit 
Albert und der ganze Zuſtand im Hauſe unerträglich 
geworden war, da habe ich Adele die Scheidung ange— 
boten. 

Ich wollte Pierre bei mir behalten. Alles andere konnte 
ſie haben: ſie konnte mit Albert zuſammen bleiben, ſie 
konnte die Roßhalde behalten und die Hälfte von meinen 
Einnahmen, meinetwegen auch mehr. Aber ſie wollte 


6 Heſſe, Roßhalde 


dian (MR als 


nicht. Sie wollte gerne in die Scheidung willigen und 
nur das Notwendigſte von mir annehmen, ſich aber nicht 
von Pierre trennen. Das war unſer letzter Streit. Noch 
einmal verſuchte ich alles, um mir meinen Reſt von Glück 
zu retten; ich bat und verſprach, ich habe mich gebückt 
und gedemütigt, ich habe gedrohtund geweintund ſchließ— 
lich getobt, aber alles vergebens. Sie willigte ſogar dar⸗ 
ein, daß Albert weggegeben werde. Es zeigte ſich plötzlich, 
daß dieſe ſtille, geduldige Frau keinen Finger breit nad)- 
zugeben geſonnen war; fie fühlte ihre Macht ſehr deut— 
lich und war mir überlegen. Damals haßte ich fie ge— 
radezu, und etwas davon iſt immer hängen geblieben. 

Da ließ ich den Maurer kommen und habe mir die 
kleine Wohnung hier angebaut, und hier wohne ich ſeit— 
her, und alles iſt ſo, wie du es geſehen haſt.“ 

Burkhardt hatte nachdenklich zugehört und ihn nie 
unterbrochen, auch nicht in Augenblicken, wo Veraguth 
es zu erwarten, ja zu wünſchen ſchien. 

„Ich freue mich,“ ſagte er vorſichtig, „daß du ſelber 
alles ſo klar ſiehſt. Es iſt alles ungefähr ſo, wie ich mir's 
gedacht hatte. Laß uns noch ein Wort darüber reden, es 
geht jetzt in einem hin! Seit ich hier bin, habe ich ja ebenſo 
auf dieſe Stunde gewartet wie du. Nimm an, du hätteſt 
ein unangenehmes Geſchwür, das dich quält und deſſen 
du dich ein wenig ſchämſt. Ich kenne es jetzt, und dir iſt 
ſchon wohler, daß du es nimmerzu verheimlichen brauchſt. 
Aber wir müſſen damit nicht zufrieden ſein, wir müſſen 


— 83 — 
zuſehen, ob wir das Ding nicht aufſchneiden und heilen 


können.“ 

Der Maler ſah ihn an, ſchüttelte ſchwerfällig den 
Kopf und lächelte: „Heilen? So etwas heilt nimmer. 
Aber ſchneide ruhig zu!“ 

Burkhardt nickte. Er wollte zuſchneiden, gewiß, er 
wollte dieſe Stunde nicht leer vorüber laſſen. 

„In deiner Erzählung iſt eines mir unklar geblieben,“ 
ſagte er nachdenklich. „Du ſagſt, du habeſt dich Pierres 
wegen nicht von deiner Frau ſcheiden laſſen. Es iſt die 
Frage, ob du ſie nicht dazu hätteſt zwingen können, dir 
Pierre zu laſſen. Wart ihr vom Gericht geſchieden wor: 
den, ſo hätte man dir doch wohl eines der Kinder zuſpre— 
chen müſſen. Haſt du denn daran nie gedacht?“ 

„Nein, Otto, daran habe ich nie gedacht. Ich habe nie 
daran gedacht, daß ein Richter mit ſeiner Weisheit das 
wieder gutmachen könne, was ich verfehlt und verſäumt 
habe. Es iſt mir damit nicht gedient. Da meine perſön— 
liche Macht nicht ausreichte, meine Frau zum Verzicht 
auf den Jungen zu bewegen, blieb mir nichts übrig als 
zu warten, für wen Pierre ſelbſt ſich ſpäter einmal ent- 
ſcheiden werde.“ 

„Es handelt ſich ja einzig um Pierre. Wenn der nicht 
da wäre, wäreſt du ohne Zweifel längſt von deiner 
Frau geſchieden und hätteſt doch noch ein Glück in der 
Welt gefunden oder wenigſtens ein klares, vernünftiges, 
freies Leben. Statt deſſen biſt du in einem Wirrwarr von 


6 * 


Kompromiſſen, Opfern und kleinen Notbehelfen einge— 
klemmt, in denen ein Menſch wie du erſticken muß.“ 

Veraguth blickte unruhig und ſtürzte haſtig ein Glas 
Wein hinunter. 

„Du redeſt immer von Erſticken und Zugrundegehen! 
Du ſiehſt doch, ich lebe und arbeite, und der Teufel ſoll 
mich holen, wenn ich mich unterkriegen laſſe.“ 

Otto achtete nicht auf ſeine Gereiztheit. Mit leiſer 
Eindringlichkeit fuhr er fort: „Verzeih, das ſtimmt nicht 
ganz. Du biſt ein Menſch mit ungewöhnlichen Kräften, 
ſonſt hätteſt du dieſe Zuſtände überhaupt nicht ſolange 
ausgehalten. Wieviel ſie dir geſchadet und dich gealtert 
haben, ſpürſt du ſelber, und es iſt eine unnütze Eitelkeit, 
wenn du das vor mir nicht wahrhaben willſt. Ich glaube 
meinen eigenen Augen mehr als dir, und ich ſehe, daß es 
dir miſerabel geht. Deine Arbeit hält dich aufrecht, aber 
ſie iſt dir mehr Betäubung als Freude. Die Hälfte von 
deiner ſchönen Kraft verbrauchſt du in Entbehrung und 
in kleinen täglichen Widerſtänden. Was beſtenfalls da⸗ 
bei herauskommt, iſt nicht Glück, ſondern höchſtens Re- 
ſignation. Und dazu, mein Junge, biſt du mir zu gut.“ 

„Reſignation? Das mag ſein. Es geht auch andern 
ſo. Wer iſt glücklich?“ 

„Glücklich iſt, wer hofft!“ rief Burkhardt nachdrück⸗ 
lich. „Was haſt du zu hoffen? Nicht einmal äußere Er— 
folge, Ehren und Geld; von dem allem haſt du mehr als 
genug. Menſch, du weißt ja gar nimmer, was Leben 


und Freude ift! Du bift zufrieden, weil du nimmer hoffſt! 
Ich begreife das, meinetwegen, aber es iſt ein ſcheußlicher 
Zuſtand, Johann, es iſt ein übles Geſchwür, und wer ſo 
eines hat und es nicht aufſchneiden mag, der iſt ein Feig⸗ 
ling.“ 

Er war warm geworden und ging in heftiger Bewe— 
gung auf und ab, und während er mit geſpannten Kräf— 
ten ſeinen Plan verfolgte, ſah ihn aus der Tiefe der 
Erinnerung Veraguths Knabengeſicht an, und es 
ſchwebte ihm das Bild einer Szene vor, da er einſt ähn— 
lich wie heut mit ihm geſtritten hatte. Aufblickend ſah er 
des Freundes Geſicht, er ſaß zuſammengeſunken und 
blickte vor ſich nieder. Nichts von den Zügen des Knaben— 
kopfes war mehr vorhanden. Da ſaß er, den er mit Ab⸗ 
ſicht einen Feigling geheißen, an deſſen einſt ſo peinliche 
Empfindlichkeit er gerührt hatte, und wehrte ſich nicht. 

Er rief nur in bitterer Schwäche: „Nurzu! Dubrauchſt 
mich nicht zu ſchonen. Du haſt geſehen, in was für einem 
Käfig ich lebe, nun kannſt du ja ohne Sorge mit dem 
Stock hereindeuten und mir meine Schande vorhalten. 
Bitte, fahr' fort! Ich wehre mich nicht, ich werde nicht 
einmal böſe.“ 

Otto blieb vor ihm ſtehen. Er tat ihm ſo leid, aber er 
bezwang ſich und ſagte ſcharf: „Du ſollſt aber bofe wer— 
den! Du ſollſt mich hinauswerfen und mir die Freund— 
ſchaft aufſagen, oder du ſollſt zugeben, daß ich recht 
habe.“ 


3 

Auch der Maler ſtand nun auf, aber ſchlaff und ohne 
Friſche. 

„Alſo du haſt recht, wenn dir daran liegt,“ ſagte er 
müde. „Du haſt mich überſchätzt, ich bin nimmer ſo jung 
und nimmer ſo leicht zu beleidigen. Ich habe auch nicht 
ſo viel Freunde, daß ich damit Verſchwendung treiben 
könnte. Ich habe nur dich. Setz' dich her und trinke noch 
ein Glas Wein, er iſt gut. Du kriegſt in Indien keinen 
ſolchen, und vielleicht findeſt du dort auch nicht viele 
Freunde, die ſich ſo viel Dickköpfigkeit von dir gefallen 
laſſen.“ 

Burkhardt ſchlug ihm leicht auf die Schulter und ſagte 
beinahe ärgerlich: „Junge, wir wollen doch jetzt nicht 
ſentimental fein - gerade jetzt nicht! Sag' mir, was du 
an mir zu tadeln haſt, und dann wollen wir fortfahren.“ 

„Oh, ich habe nichts an dir zu tadeln! Du biſt ein tadel— 
loſer Kerl, Otto, ohne Zweifel. Du ſiehſt mir ſeit bald 
zwanzig Jahren zu, wie ich unterſinke, du ſiehſt mit 
Freundſchaft und vielleicht mit Bedauern zu, wie ich all— 
mählich im Sumpf verſchwinde, und du haſt nie etwas 
geſagt und mich nie dadurch gedemütigt, daß du mir etwa 
Hilfe anboteſt. Du haſt zugeſehen, wie ich jahrelang 
jeden Tag Zyankali mit mir herumtrug, und du haſt mit 
edler Befriedigung bemerkt, daß ich es nie geſchluckt und 
es ſchließlich weggeworfen habe. Und jetzt, wo ich ſo 
tief im Dreck ſitze, daß ich nimmer heraus kann, jetzt ſtehſt 
du da und haſt zu tadeln und zu mahnen ...“ 


Er ftarrfe mit geröͤteten heißen Augen troſtlos vor ſich 
hin, und Otto, da er ſich ein neues Glas Wein einſchen— 
ken wollte und nichts mehr in der Flaſche fand, bemerkte 
erſt jetzt, daß Veraguth die Flaſche in der kurzen Zeit 
allein geleert hatte. 

Der Maler folgte ſeinem Blick und lachte grell. 

„O entſchuldige!“ rief er heftig. „Ja, ich bin ein we— 
nig betrunken, du darfſt nicht vergeſſen, mir auch das 
anzurechnen. Es paſſiert mir alle paar Monate einmal, 
daß ich aus Verſehen einen kleinen Rauſch trinke — zur 
Anregung, weißt du...” 

Er legte dem Freunde beide Hände ſchwer auf die 
Schultern und ſagte mit plötzlich erſchlaffter, hoher 
Stimme klagend: „Sieh, mein Junge, das Zyankali 
und der Wein und das alles wäre entbehrlich geweſen, 
wenn jemand mir ein bißchen hätte helfen wollen! Du, 
warum haſt du mich ſoweit kommen laſſen, daß ich jetzt 
um ein bißchen Nachſicht und Liebe bitten muß wie ein 
Bettler? Adele hat mich nicht ertragen, Albert iſt von 
mir abgefallen, Pierre wird mich auch einmal verlaſſen 
— und du biſt daneben geſtanden und haſt zugeſehen. 
Haſt du denn nichts tun können? Haſt du mir gar nicht 
helfen können?“ 

Des Malers Stimme brach, und er ſank in den Stuhl 
zurück. Burkhardt war totenblaß geworden. Es ſtand 
ja viel ſchlimmer, als er gedacht hatte! Daß dieſer 
ſtolze, harte Menſch durch ein paar Gläſer Wein zum 


aa es 


wehrloſen Geſtändnis feines heimlichen Makels und 
Elends verführt werden konnte! 

Er ſtand neben Veraguth und ſprach ihm leiſe ins 
Ohr wie einem Kinde, das man froften muß. 

„Ich helfe dir, Johann, du kannſt mir glauben, ich 
helfe dir. Ich war ja ein Eſel, ich war ja ſo blind und 
dumm ! Sieh, es wird noch alles gut, verlaß dich drauf!“ 

Er erinnerte ſich ſeltener Anläſſe aus der Jugendzeit, 
bei welchen fein Freund in Zuſtänden großer Nervoſität 
feine Herrſchaft über fic) verloren hatte. Mit wunder⸗ 
licher Deutlichkeit ſtand ein ſolches Erlebnis, das tief in 
ſeinem Gedächtnis geſchlummert hatte, jetzt wieder vor 
ihm auf. Johann verkehrte damals mit einer hübſchen 
Malſchülerin, Otto hatte ſich wegwerfend über ſie aus⸗ 
geſprochen, und Veraguth hatte ihm in der heftigſten 
Weiſe die Freundſchaft aufgeſagt. Auch damals hatte 
der Maler ſich an einer geringen Menge Weines un— 
verhältnismäßig erhitzt, auch damals hatte er die roten 
Augen bekommen und die Gewalt über ſeine Stimme 
verloren. Es ergriff den Freund ſonderbar, vergeſſene 
Züge einer ſcheinbar wolkenloſen Vergangenheit ſo 
ſeltſam wiederkehren zu ſehen, und wieder wie damals 
erſchreckte ihn der plötzlich enthüllte Abgrund von inne: 
rer Vereinſamung und ſeeliſcher Selbſtpeinigung in 
Veraguths Leben. Das war ohne Zweifel jenes Ge— 
heimnis, von dem Johann je und je in Andeutungen ge— 
ſprochen und das er in jedes großen Künſtlers Seele 


verborgen vermutet hatte. Daher alfo kam diefem 
Manne der unheimlich unerſättliche Drang, zu ſchaffen 
und die Welt zu jeder Stunde neu mit ſeinen Sinnen zu 
erfaſſen und zu überwältigen. Daher kam ſchließlich 
auch die ſonderbare Traurigkeit, mit welcher häufig 
große Kunſtwerke den ſtillen Beſchauer erfüllen konnten. 

Es war, als habe Otto ſeinen Freund bis zur Stunde 
nie ganz verſtanden. Nun ſah er tief in den dunklen 
Brunnen, aus dem Johanns Seele ſich mit Kräften und 
mit Leiden ſättigte. Und zugleich empfand er einen 
tiefen, freudigen Troſt darüber, daß er es war, der alte 
Freund, dem ſich der Leidende eröffnet, den er angeklagt, 
den er um Hilfe gebeten hatte. 

Veraguth ſchien nicht mehr zu wiſſen, was er gejagt 
hatte. Er ruhte beſänftigt wie ein Kind, das ſich ausge- 
tobt hat, und ſchließlich ſagte er mit klarer Stimme: 
„Du haſt diesmal kein Glück mit mir. Es kommt alles 
nur davon her, daß ich in der letzten Zeit nicht meine tag: 
liche Arbeit gehabt habe. Es ijt eine Nervenverſtim— 
mung. Ich vertrage die guten Tage nicht.“ 

Und als Burkhardt ihn daran hindern wollte, die zweite 
Flaſche zu öffnen, meinte er: „Ich könnte jetzt doch nicht 
ſchlafen. Weiß Gott, woher ich ſo nervös bin! Na, laß 
uns noch ein bißchen zechen, du warſt doch früher darin 
nicht fo ſpröde. — 2b, du meinſt, wegen meiner Nerven! 
Ich werde ſie ſchon wieder in Ordnung bringen, darin 
habe ich Erfahrung. Ich werde in der nächſten Zeit 


jeden Morgen um ſechs an die Arbeit gehen und jeden 
Abend eine Stunde reiten.“ 

So blieben die Freunde bis gegen Mitternacht bei— 
einander. Johann wühlte plaudernd in Erinnerungen 
der alten Zeit, Otto hörte zu und ſah mit beinahe wider⸗ 
willigem Vergnügen eine blanke, fröhlich ſpiegelnde 
Oberfläche ſich beruhigt ſchließen, wo er eben noch in 
aufgeriſſene dunkle Gründe geblickt hatte. 


Sechſtes Kapitel 


Andern Tages begegnete Burkhardt dem Maler mit 
Befangenheit. Er war darauf gefaßt, den Freund ver— 
wandelt und ſtatt der geſtrigen Erregtheit ſpöttiſche 
Kühle und abwehrende Scham zu finden. Statt deſſen 
kam ihm Johann mit ſtillem Ernſt entgegen. 

„Alſo morgen reiſeſt du,“ ſagte er freundlich. „Es iſt 
gut, und ich danke dir für alles. Übrigens habe ich das 
von geſtern abend nicht vergeſſen; wir haben noch mit— 
einander zu reden.“ 

Zweifelnd ging Otto darauf ein. 

„Meinetwegenz aber ich will dich nicht wieder unnütz 
erregen. Wir haben vielleicht geſtern allzu vieles um— 
gerührt. Warum mußten wir auch bis zur letzten Stunde 
warten!“ 

Sie frühſtückten im Atelier. 

„Nein, es iſt ganz gut ſo,“ ſagte Johann beſtimmt. 
„Es iſt ſehr gut ſo. Ich habe eine ſchlafloſe Nacht ge— 
habt und alles noch einmal wiedergekäut, mußt du 
wiſſen. Du haſt vieles umgerührt und beinah mehr als 
ich ertragen konnte. Du mußt bedenken, ich habe in 
Jahren niemand gehabt, mit dem ich reden konnte. Aber 
es ſoll jetzt aufgeräumt und ausgefreſſen werden, ſonſt 


bin ich wirklich der Feigling, den du mich geftern ges 
heißen haſt.“ 

„Oh, hat dir das wehgetan? Laß gut ſein!“ 

„Nein, du hatteſt beinahe recht, glaube ich. Ich 
möchte heut noch einen ſchönen frohen Tag mit dir 
haben, wir fahren den Nachmittag zuſammen aus, und 
ich zeige dir ein ſchönes Stück Land. Aber vorher muß 
da noch ein wenig aufgeräumt werden. Geſtern fiel das 
alles ſo plötzlich über mich her, daß ich die Beſinnung 
verlor. Aber jetzt habe ich alles bedacht. Ich glaube, ich 
verſtehe jetzt, was du mir geſtern ſagen wollteſt.“ 

Er ſprach ſo ruhig und freundlich, daß Burkhardt 
ſeine Bedenken fallen ließ. 

„Wenn du mich verſtanden haſt, iſt ja alles gut, und 
wir brauchen nicht wieder von vorn anzufangen. Du haſt 
mir erzählt, wie alles zuſtande kam und wie es jetzt ſteht. 
Du hältſt alfo deine Ehe und deinen Haushalt und deinen 
ganzen bisherigen Zuſtand nur darum aufrecht, weil du 
dich nicht von Pierre trennen willſt. So iſt es doch?“ 

„Ja, genau ſo iſt es.“ 

„Nun, und wie denkſt du dir das weitere? Mir 
ſcheint, du habeſt geſtern angedeutet, daß du mit der 
Zeit auch Pierre zu verlieren fürchteſt. Oder nicht?“ 

Veraguth ſeufzte ſchmerzlich und legte die Stirn in 
die Hand; aber er fuhr im gleichen Tone fort: 

„Vielleicht iſt es ſo. Das iſt der böſe Punkt. Deine 
Meinung iſt, ich ſolle auf den Knaben verzichten?“ 


0 =~ 

„Ja, aber ja! Er koſtet dich Jahre und Jahre des 
Kampfes mit deiner Frau, die ihn dir ſchwerlich laſſen 
wird.“ 

„Das iſt möglich. Aber ſieh, Otto, er iſt das letzte, 
was ich habe! Ich ſitze zwiſchen lauter Trümmern, und 
wenn ich heute ſtürbe, ſo würden ſich, außer dir, höch— 
ſtens ein paar Zeitungsſchreiber darüber aufregen. 
Ich bin ein armer Mann, aber ich habe dieſes Kind, ich 
habe doch immer noch dieſen kleinen lieben Kerl, für den 
ich leben und den ich liebhaben darf, für den ich leide und 
bei dem ich in guten Stunden mich vergeſſe. Du mußt 
dir das richtig vorſtellen! Und das foll ich weggeben!“ 

„Es iſt nicht leicht, Johann. Es iſt eine verfluchte 
Sache! Aber ich weiß keinen anderen Weg. Schau', du 
weißt gar nicht mehr, wie es draußen in der Welt aus⸗ 
ſieht, du ſitzeſt verbohrt und vergraben in deine Arbeit 
und in deine verunglückte Ehe. Tu den Schritt und wirf 
einmal alles weg, ſo wirſt du plötzlich die Welt wieder 
mit hundert ſchönen Dingen auf dich warten ſehen. Du 
hauſeſt ſeit langem mit Toten zuſammen und haſt den 
Anſchluß ans Leben verloren. Du hängſt an Pierre, und 
er iſt ja ein reizender Kerl, gewiß; aber das iſt doch nicht 
entſcheidend. Sei einmal ein wenig grauſam und beſinne 
dich, ob der Junge dich wirklich braucht!“ 

„Db er mich braucht ... 2“ 

„Ja. Was du ihm geben kannſt, iſt Liebe, Zärtlichkeit, 
Gefühl — das ſind Dinge, von denen ein Kind meiſt 


weniger braucht, als wir Alten meinen. Und dafür wächſt 
der Kleine in einem Hauſe auf, wo Vater und Mutter 
einander kaum mehr kennen, wo ſie ſogar ſeinetwegen 
eiferſüchtig ſind! Er wird nicht durch das gute Beiſpiel 
eines glücklichen, geſunden Hauſes erzogen, er iſt früh— 
reif und wird ein Sonderling werden. — Und ſchließlich, 
verzeih, wird er eines Tages ja doch zwiſchen dir und der 
Mutter wählen müſſen. Kannſt du das nicht einſehen.“ 

„Vielleicht haſt du recht. Du haſt ſogar beſtimmt 
recht. Aber hier hört bei mir das Denken auf. Ich hänge 
an dem Kind, und ich klammere mich an dieſe Liebe, weil 
ich ſeit langem keine andere Wärme und kein anderes 
Licht mehr kenne. Vielleicht wird er mich in ein paar 
Jahren im Stich laſſen, vielleicht mich enttäuſchen, viel- 
leicht mich einmal haſſen — wie Albert mich haßt, der als 
Vierzehnjähriger einmal mit einem Tiſchmeſſer nach mir 
geworfen hat. Aber es bleibt mir doch das, daß ich noch 
dieſe paar Jahre bei ihm ſein und ihn lieben darf, daß 
ich ſeine kleinen Hände in meine nehmen und ſeine kleine 
helle Vogelſtimme hören kann. Sage: muß ich das 
weggeben? Muß ich?“ 

Burkhardt zuckte ſchmerzlich die Achſeln und runzelte 
die Stirn. 

„Du mußt, Johann,“ ſagte er dann ſehr leiſe. „Ich 
glaube, du mußt. Es muß nicht heute ſein, aber bald. 
Du mußt alles, was du haſt, wegwerfen und mußt dich 
von allem Vergangenen reinbaden, ſonſt wirſt du nie 


a 
mehr ganz hell und frei in die Welt blicken können. Tu, 
was du magſt, und wenn du den Schritt nicht tun kannſt, 
fo bleib hier und lebe dies Leben weiter — ich gehöre zu 
dir, auch dann, und bin fiir dich da, das weißt du. Aber 
es täte mir leid.“ 

„Rate mir! Ich ſehe lauter Dunkel vor mir.“ 

„Ich will dir raten. Es iſt jetzt Juli; im Herbſt fahre 
ich nach Indien zurück. Vorher komme ich noch einmal 
zu dir, und ich hoffe, du wirſt dann ſchon die Koffer bereit 
haben und mit mir reiſen. Haft du dann deinen Ent— 
ſchluß gefaßt und ja geſagt, dann deſto beſſer! Findeſt 
du aber den Entſchluß nicht, ſo komm für ein Jahr oder 
meinetwegen für ein halbes Jahr mit mir aus dieſer 
Luft heraus. Du kannſt bei mir malen und reiten, du 
kannſt auch Tiger ſchießen oder dich in Malaiinnen ver— 
lieben — es gibt hübſche , auf alle Fälle biſt du eine 
Weile weit von hier weg und kannſt verſuchen, ob es ſich 
nicht ſo beſſer leben läßt. Was meinſt du?“ 

Mit geſchloſſenen Augen wiegte der Maler ſeinen 
großen, ſtruppigen Kopf mit dem bleichen Geſicht und 
dem eingezogenen Munde hin und her. 

„Danke!“ rief er halb lächelnd. „Danke, es iſt lieb 
von dir. Im Herbſt werde ich dir ſagen, ob ich mit— 
komme. Bitte, laß mir die Photographien da.“ 

„Die kannſt du haben... Aber — kannſt du nicht 
heut oder morgen ſchon dich wegen der Reiſe entſchlie— 
ßen? Es wäre beſſer für dich.“ 


— 6 — 


Veraguth erhob ſich und ging zur Türe. 

„Nein, du, das kann ich nicht. Wer weiß, was in- 
zwiſchen geſchieht! Ich bin ſeit Jahren niemals länger 
als für drei, vier Wochen ohne Pierre geweſen. Ich 
glaube, ich werde mit dir reiſen, aber ich will jetzt nichts 
fagen, was mich reuen könnte.“ 

„Nun, laſſen wir es gut ſein! Ich werde dir immer 
mitteilen, wo ich zu finden bin. Und wenn du eines Ta⸗ 
ges drei Worte telegraphierſt, daß du mitkommſt, ſo 
brauchſt du der Reiſe wegen keinen Finger zu rühren. 
Das iſt dann meine Sache. Von hier nimmſt du nur 
Wafdhe und Malzeug mit, aber reichlich, alles andere 
beſorge ich nach Genua.“ 

Veraguth umarmte ihn ſchweigend. 

„Du haſt mir geholfen, Otto, ich vergeſſe das nimmer. 
Jetzt laſſe ich den Wagen kommen, wir werden heute 
zu den Mahlzeiten nicht drüben erwartet. Und nun 
wollen wir gar nichts mehr tun, als einen ſchönen Tag 
miteinander feiern, wie vor Zeiten in den Sommerferien! 
Wir werden über Land fahren, ein paar ſchöne Dörfer 
anſehen und im Wald liegen, wir werden Forellen eſſen 
und guten Landwein aus dicken Gläſern trinken. Was 
für ein Glanzwetter wir heute haben!“ 

„Es iſt ſeit zehn Tagen nicht anders,“ lachte Burk⸗ 
hardt. Und auch Veraguth lachte. 

„Ach, mir iſt, die Sonne hätte ſchon lang nimmer fo 
geſchienen!“ 


Siebentes Kapitel 


Nach Burkhardts Abreiſe überfiel den Maler ein 
wunderliches Gefühl des Alleinſeins. Dieſelbe Einſam— 
keit, in welcher er Jahre und Jahre gelebt und gegen die 
er ſich in ſo langer Gewöhnung hart und beinahe un— 
empfindlich gemacht hatte, überfiel ihn nun wie ein un⸗ 
bekannter, ganz neuer Feind und ſank von allen Seiten 
erſtickend über ihm zuſammen. Zugleich fühlte er ſich 
von ſeiner Familie, ſogar von Pierre, mehr als jemals 
abgeſchnitten. Er wußte es nicht, aber es kam davon 
her, daß er zum erſtenmal über dieſe Verhältniſſe ſich 
ausgeſprochen hatte. 

In manchen Stunden lernte er ſogar das unſelige, 
demütigende Gefühl der Langeweile kennen. Bisher 
hatte Veraguth das unnatürliche, aber konſequente Le- 
ben eines freiwillig Eingemauerten geführt, den das Le— 
ben nicht mehr intereſſiert und deſſen Daſein mehr ein 
Ertragen als ein Erleben war. Der Freundesbeſuch hatte 
Löcher in dieſe Klauſe geſchlagen, durch hundert Ritzen 
blitzte und klang, duftete und taſtete das Leben zu dem 
Vereinſamten herein, ein alter Zauber war gebrochen, 
und der Erwachende empfand jeden Ruf von draußen 
überſtark mit halbem Schmerz. 


7 Heſſe, Roßhalde 


* 


Wůtend ſtürzte er ſich in die Arbeit, er fing faſt gleich— 
zeitig zwei große Kompoſitionen an, er begann den 
Tag früh bei Sonnenaufgang mit einem kalten Bade, 
arbeitete ohne Pauſe bis zum Mittag, hielt ſich dann 
nach kurzer Raſt mit Kaffee und Zigarre munter und 
erwachte zuweilen in der Nacht an Herzklopfen oder 
Kopfſchmerz. Aber wie ſehr er ſich zwang und ge— 
waltſam einſpann, es blieb in ſeinem Bewußtſein 
unter dünnem Schleier immerzu die Kunde lebendig 
und gegenwärtig, daß eine Türe offen ſtehe und daß zu 
jeder Zeit ein raſcher Schritt ihn in die Freiheit bringen 
könne. 

Er dachte nicht darüber nach, er betäubte alle Gedan⸗ 
ken in fortwährender Anſtrengung. Das Gefühl, in dem 
er lebte, war das: Du kannſt zu jeder Stunde gehen, die 
Tür ſteht offen, die Feſſeln find zu brechen — aber es 
koſtet einen harten Entſchluß und ein ſchweres, ſchweres 
Opfer — darum nicht daran denken, nur nicht daran 
denken! Jener Entſchluß, den Burkhardt von ihm er— 
wartete und zu dem vielleicht ſeine eigene Natur ſich 
heimlich ſchon bekannt hatte, ſaß in ſeiner Seele wie die 
Kugel im Fleiſch eines Verwundeten; es war nur die 
Frage, würde fie ſich eiternd herausarbeiten oder würde 
ſie eingekapſelt drinnen feſtwachſen. Es ſchwärte und 
tat weh, aber noch nicht weh genug; noch war der 
Schmerz zu groß, den er von dem geforderten Opfer be— 
fürchtete. So tat er nichts, ließ die heimliche Wunde 


2 
brennen und fühlte im ftillen eine verzweifelte Neu— 
gierde, wie das alles ausgehen werde. 

Mitten in dieſer Bedrängnis malte er ein großes Fi— 
gurenbild, mit deſſen Plan er lang gegangen war und 
das ihn plötzlich heftig reizte. Der Gedanke dazu war 
manche Jahre alt, er hatte einſt Freude an ihm gehabt, 
bis er ihm immer leerer und allegoriſcher erſchienen und 
ganz zuwider geworden war. Nun aber war das Bild 
ihm ganz und gar ſichtbar geworden, und er begann die 
Arbeit rein aus der Friſche der Viſion, ohne die Allegorie 
mehr zu empfinden. 

Es waren drei lebensgroße Figuren: ein Mann und 
ein Weib, jedes für ſich verſunken und dem andern 
fremd, und zwiſchen ihnen ſpielend ein Kind, ſtillfroh 
und ohne Ahnung der über ihm laſtenden Wolke. Die 
perſönliche Bedeutung war klar, doch glich weder die 
Männerfigur dem Maler, noch das Weib ſeiner Frau, 
nur das Kind war Pierre, doch um einige Jahre 
jünger dargeſtellt. Dieſes Kind malte er mit allem 
Reiz und aller Nobleſſe feiner beſten Bildniſſe, die 
Figuren zu beiden Seiten ſaßen in ſtarrer Symmetrie, 
ſtrenge, leidvolle Bilder der Einſamkeit, der Mann 
mit in die Hand geſtütztem Haupt einem ſchweren Grü— 
beln hingegeben, die Frau in Leid und leere Dumpf— 
heit verloren. 

Der Diener Robert hatte keine angenehmen Tage. 
Herr Veraguth war ſonderbar nervös geworden. Er 


7* 


ä 


konnte es nicht vertragen, daß im Nebenzimmer das 
kleinſte Geräuſch war, wenn er arbeitete. 

Die heimliche Hoffnung, die ſeit Burkhardts Beſuch 
in Veraguth lebendig geworden war, ſaß wie ein Feuer 
in ſeiner Bruſt, brannte aller Unterdrückung zum Trotz 
weiter und färbte nachts ſeine Träume mit lockendem 
und erregendem Licht. Er wollte nicht auf ſie hören, er 
wollte nichts von ihr wiſſen, er wollte nichts als arbeiten 
und Ruhe im Herzen haben. Und er fand die Ruhe 
nicht, er fühlte das Eis ſeines freudloſen Daſeins ſchmel— 
zen und alle Grundfeſten ſeiner Exiſtenz ins Wanken ge— 
raten, er ſah in Träumen ſein Atelier verſchloſſen und 
ausgeräumt, er ſah ſeine Frau von ihm fortreiſen, aber 
ſie hatte Pierre mit ſich genommen, und der Knabe 
ſtreckte die dünnen Arme nach ihm aus. Am Abend ſaß 
er manchmal in ſeinem unbehaglichen Wohnzimmerchen 
Stunde um Stunde allein, in den Anblick der indiſchen 
Photographien vertieft, bis er ſie von ſich ſchob und die 
ermüdeten Augen ſchloß. 

Zwei Mächte kämpften in ihm einen harten Kampf, 
aber die Hoffnung war ſtärker. Immer wieder mußte er 
ſich ſeine Geſpräche mit Otto wiederholen, immer wär— 
mer ftiegen alle unterdrückten Wünſche und Bediirfniffe 
ſeiner kräftigen Natur aus der Tiefe hervor, wo ſie ſo 
lange gefangen und erfroren gelegen waren, und dieſem 
Empordrängen und frühlinghaften Erwarmen hielt der 
alte Wahn nicht ſtand, der kranke Wahn, er fei ein alter 


— 16%. =~ 


Mann und habe nichts mehr zu tun als das Leben zu 
ertragen. Die tiefe, mächtige Hypnoſe der Reſignation 
war unterbrochen worden, und durch die Lücke drangen 
die unbewußten triebhaften Kräfte eines lang gebändig— 
ten und betrogenen Lebens ſchwärmend ein. 

Je klarer dieſe Stimmen erklangen, deſto ängſtlicher 
zuckte des Malers Bewußtſein in der ſchmerzlichen 
Furcht vor dem letzten Erwachen. Immer wieder tat er 
krampfhaft die geblendeten Augen zu und ſträubte ſich, 
in allen Faſern fiebernd, gegen das notwendige Opfer. 

Johann Veraguth zeigte ſich ſelten im Hauſe drüben, 
er ließ ſich faſt alle Mahlzeiten ins Atelier bringen und 
brachte die Abende häufig in der Stadt zu. Traf er aber 
mit ſeiner Frau oder mit Albert zuſammen, ſo war er 
ſtill und milde und ſchien alle Feindſeligkeit vergeſſen zu 
haben. 8 

Um Pierre ſchien er fic) wenig zu kümmern. Sonſt 
hatte er den Kleinen mindeſtens einmal am Tage zu ſich 
gelockt und bei ſich gehabt oder war mit ihm im Garten 
geweſen. Jetzt konnten Tage vergehen, ohne daß er das 
Kind ſah oder nach ihm verlangte. Lief ihm der Knabe 
in den Weg, ſo küßte er ihn nachdenklich auf die Stirn, 
ſah ihm mit trauriger Zerſtreutheit in die Augen und 
ging ſeines Weges. 

Einmal kam Veraguth am Nachmittag in den Ka— 
ſtaniengarten herüber, es war lau und windig, und ein 
warmer Regen ſprühte in winzigen Tropfen ſchräg 


S 


herab. Vom Hauſe klang aus offenen Fenſtern Muſik. 
Der Maler blieb ſtehen und hörte zu. Er kannte das 
Stück nicht. Es klang rein und ernſthaft in einer ſehr 
ſtrengen, wohlgebauten und abgewogenen Schönheit, 
und Veraguth lauſchte mit nachdenklicher Freude. Son⸗ 
derbar, eigentlich war das eine Muſik für alte Leute, ſie 
klang fo ſchonend und männlich und hatte fo gar nichts 
von dem bacchiſchen Taumel jener Muſik, die er ſelber 
einſt in Jugendzeiten über alles geliebt hatte. 

Still trat er ins Haus, ſtieg die Treppe empor und 
erſchien ungemeldet lautlos im Muſikzimmer, wo nur 
Frau Adele ſein Kommen bemerkte. Albert ſpielte, und 
ſeine Mutter ſtand zuhörend beim Flügel; Veraguth 
ſetzte ſich auf den nächſten Seſſel, ſenkte den Kopf und 
verharrte lauſchend. Zwiſchenein blickte er auf und ließ 
den Blick auf ſeiner Frau ruhen. Sie war hier zu Hauſe, 
fie hatte in dieſen Zimmern ſtille, enttäuſchte Jahre ge: 
lebt wie er in der Werkſtatt drüben am See, aber ſie 
hatte Albert gehabt, ſie war mit ihm gegangen und ge— 
wachſen, und nun war der Sohn ihr Gaſt und Freund 
und bei ihr zu Hauſe. Frau Adele war etwas gealtert, 
ſie hatte gelernt, ſtill zu ſein und ſich zu begnügen, ihr 
Blick war feſt und ihr Mund etwas trocken geworden; 
aber ſie war nicht entwurzelt, ſie ſtand ſicher in ihrer 
eigenen Atmoſphäre, und ihre Luft war es, in der die 
Söhne aufwuchſen. Sie hatte wenig Uberfchrang 
und nicht allzuviel impulſive Zärtlichkeit zu geben, es 


fehlte ihr faft alles, was ihr Mann einſt an ihr geſucht 
und von ihr erhofft hatte, aber es war Heimat um 
ſie her, es war Art und Charakter in ihrem Geſicht, 
in ihrem Weſen, in ihren Räumen, es war hier ein 
Boden, in welchem Kinder aufwachſen und dankbar 
gedeihen konnten. 

Veraguth nickte wie befriedigt. Hier war niemand, 
der etwas verlieren konnte, wenn er für immer ver— 
ſchwand. Er war in dieſem Hauſe entbehrlich. Er würde 
immer wieder und überall in der Welt ein Atelier bauen 
können und ſich mit Tätigkeit und Arbeitsglut umgeben, 
nur würde es nie eine Heimat werden. Er hatte das 
eigentlich lange gewußt, und es war gut ſo. 

Nun hörte Albert auf zu ſpielen. Er fühlte, oder er 
ſah es am Blick der Mutter, daß jemand ins Zimmer 
gekommen ſei. Er wandte ſich um und ſah den Vater 
erſtaunt und mißtrauiſch an. 

„Guten Tag“, ſagte Veraguth. 

„Guten Tag“, antwortete der Sohn verlegen und 
begann fic) am Notenſchrank zu beſchäftigen. 

„Ihr habt muſtziert?“ fragte der Vater freundlich. 

Albert zuckte die Achſeln, als wolle er fragen: Haſt 
du es denn nicht gehört? Er wurde rot im Geſicht und 
verbarg es in die tiefen Fächer des Schranks. 

„Es war ſchön“, fuhr der Vater fort und lächelte. 
Er fühlte tief, wie ſehr ſein Beſuch hier ſtöre, und er 
ſagte nicht ohne einen leiſen Anklang von Schaden— 


— 104 — 
freude: „Bitte, fpiel’ noch etwas! Was du willſt! Du 
haſt gute Fortſchritte gemacht.“ 

„Ach, ich mag nimmer“, wehrte ſich Albert ärgerlich. 

„Es wird ſchon gehen. Ich bitte darum.“ 

Frau Veraguth ſah ihren Mann prüfend an. 

„Alſo, Albert, ſetz' dich her!“ ſagte ſie und legte ein 
Notenheft auf. Sie ſtreifte dabei mit dem Armel einen 
kleinen ſilbernen Blumenkorb voll Roſen, der auf dem 
Flügel ſtand, und es fiel eine Reihe blaſſer Blütenblätter 
auf das ſpiegelnde ſchwarze Holz. 

Der Jüngling ſetzte ſich auf den Klavierſtuhl und be— 
gann zu ſpielen. Er war verwirrt und voll Arger und 
ſpielte die Muſik herunter wie ein läſtiges Penſum, raſch 
und lieblos. Der Vater hörte eine Weile aufmerkſam 
zu, dann verſank er in Nachſinnen, ſtand endlich plötz— 
lich auf und ging geräuſchlos aus dem Zimmer, noch 
ehe Albert fertig war. Im Weggehen hörte er den Jun— 
gen wütend auf die Taſten loshämmern und ſein Spiel 
abbrechen. 

„Ihnen wird nichts fehlen, wenn ich weg bin“, dachte 
der Maler, indem er die Treppe hinabſtieg. „Herrgott, 
wie weit ſind wir auseinander, und ſind doch einmal eine 
Art von Familie geweſen!“ 

Im Korridor lief ihm Pierre entgegen, ſtrahlend und 
in großer Aufregung. 

„O Papi,“ rief er atemlos, „gut, daß du da biſt! 
Denk' dir, ich habe eine Maus, eine kleine lebendige 


Maus! Schau', da in meiner Hand - ſiehſt du die Aus 
gen? Die gelbe Katze hat ſie gefangen, und ſie hat mit 
ihr geſpielt und hat ſie ſo ſehr gequält und ſie immer 
wieder ein Stückchen laufen laſſen und wieder gefangen. 
Da habe ich ganz, ganz ſchnell zugegriffen und habe ihr 
die Maus vor der Naſe weggefangen! Was tun wir 
jetzt mit ihr?“ 

Er blickte heiß vor Freude empor und ſchauderte doch, 
als die Maus in ſeiner kleinen, feſtgeſchloſſenen Hand 
wühlte und kurze bange Pfiffe ausſtieß. 

„Wir laſſen ſie im Garten draußen laufen,“ ſagte der 
Vater, „komm mit!“ 

Es ließ ſich einen Regenſchirm geben und nahm den 
Knaben mit ſich. Es tröpfelte ſchwach aus dem heller 
gewordenen Himmel, die naſſen, glatten Stämme der 
Buchen glänzten ſchwarz wie Gußeiſen. 

Zwiſchen dem üppigen, zäh ineinander verknoteten 
Wurzelwerk einiger Bäume machten ſie halt. Pierre 
kauerte hockend nieder und machte ganz langſam ſeine 
Hand auf. Sein Geſicht war gerötet, und die hellen, 
grauen Augen ſtrahlten vor heftiger Spannung. Und 
plötzlich, als werde die Erwartung ihm unerträglich, 
öffnete er das Händchen weit. Die Maus, ein winzig 
kleines, junges Tierchen, ſchoß blindlings aus der 
Haft hervor, hielt eine Elle weiter vor einem ſtarken 
Wurzelſtrange an und blieb ſtill da ſitzen. Man 
ſah ihre Flanken von heftigen Atemzügen bewegt 


— 106 — 


und ihre kleinen ſchwarzglänzenden Auglein angſtvoll 
umſchauen. ; 

Pierre jauchzte laut auf und klatſchte in die Hände. Die 
Maus erſchrak und verſchwand wie verzaubert im Bo- 
den. Sachte ſtrich der Vater dem Knaben das dichte 
Haar zurück. 

„Kommſt du mit mir, Pierre?“ 

Der Kleine legte ſeine rechte Hand in des Vaters Linke 
und ging mit ihm. 

„Jetzt iſt die kleine Maus ſchon daheim bei ihrer 
Mama und bei ihrem Papi und erzählt ihnen alles.“ 

Er plauderte ſprudelnd weiter, und der Maler um— 
ſchloß ſeine kleine warme Hand mit feſten Fingern, und 
mit jedem Wort und Jauchzen des Kindes zuckte ſein 
Herz auf und ſank in Abhängigkeit und ſchweren Liebes⸗ 
bann zurück. 

Ach, nie mehr im Leben würde er eine ſolche Liebe 
fühlen können wie zu dieſem Knaben. Nie mehr würde 
er Augenblicke ſo voll warmer, ſtrahlender Zärtlichkeit, 
fo voll ſpielenden Selbſtvergeſſens, fo voll ſtarker, weh⸗ 
mütiger Süßigkeit erleben können wie mit Pierre, mit 
dieſem letzten, ſchönen Bilde ſeiner eigenen Jugend. 
Seine Anmut, ſein Lachen, die Friſche ſeines kleinen, 
ſelbſtbewußten Weſens waren der letzte frohe, reine 
Klang in Veraguths Leben, ſo ſchien es ihm; ſie waren 
für ihn, was der letzte vollblühende Roſenbaum in einem 
ſpätherbſtlichen Garten iſt. An ihm hängt Wärme und 


Sonne, Sommer und Gartenfröhlichkeit, und wenn ihn 
der Sturm oder Reif entblättert, iſt es mit allem Reiz 
und mit jeder Ahnung von Glanz und Freude vorüber. 

„Warum magſt du eigentlich den Albert nicht lei— 
den?“ fragte Pierre plötzlich. 

Veraguth drückte die Kinderhand feſter. 

„Ich mag ihn ſchon leiden. Er hat eben die Mutter 
lieber als mich. Dafür kann man nichts.“ 

„Ich glaube, er kann dich gar nicht leiden, Papa. Und 
weißt du, er hat auch mich nimmer ſo gern wie früher. 
Er ſpielt nur immerfort Klavier oder ſitzt allein in ſeinem 
Zimmer. Am erſten Tag, als er kam, habe ich ihm von 
meinem eigenen Garten erzählt, den ich ſelber gepflanzt 
habe, und da hat er gleich fo ein großartiges Geſicht ge- 
macht, und dann ſagte er: Morgen wollen wir dann 
deinen Garten anſehen. Aber nun hat er die ganze Zeit 
nicht mehr danach gefragt. Er iſt kein guter Kamerad, 
und er kriegt auch ſchon einen kleinen Schnurrbart. Und 
immer iſt er bei der Mutter, ich kann ſie faſt nie allein 
haben.“ 

„Er iſt auch nur für ein paar Wochen da, mein Junge, 
du mußt das nicht vergeſſen. Und wenn du die Mama 
nicht allein findeſt, kannſt du ja immer zu mir kommen. 
Magſtt du nicht?“ 

„Das iſt nicht das gleiche, Papi. Manchmal mag ich 
gern zu dir kommen und manchmal lieber zur Mama. 
Und du mußt ja auch immer ſo furchtbar viel arbeiten.“ 


— 108 — 


„Daran brauchſt du dich gar nicht zu kehren, Pierre. 
Wenn du gern zu mir kommen magſt, fo darfſt du im— 
mer kommen - hörſt du, immer, auch wenn ich im Ate— 
lier bin und arbeite.“ 

Der Knabe gab keine Antwort. Er ſah den Vater an, 
ſeufzte ein wenig und ſah unbefriedigt aus. 

„Iſt dir das nicht recht?“ fragte Veraguth, beklom— 
men vor dem Ausdruck in dem Kindergeſicht, das vor 
Augenblicken noch von lärmender Knabenluſt geleuchtet 
hatte und nun abgewandt und viel zu alt ausſah. 

Er wiederholte ſeine Frage. 

„Sag' mir's nur, Pierre! Biſt du nicht mit mir zu— 
frieden?“ , 

„Doch, Papa. Aber ich mag nicht fo gern zu dir kom— 
men, wenn du malſt. Früher bin ich manchmal ge: 
kommen — — —“ 

„Nun, und was hat dir da nicht gefallen?“ 

„Weißt du, Papa, wenn ich dich im Atelier beſuche, 
dann ſtreichelſt du mir immer übers Haar und ſagſt nichts 
und haſt ganz andere Augen, und manchmal haſt du 
böſe Augen gemacht, ja. Und wenn man dir dann etwas 
ſagt, dann ſieht man an deinen Augen, daß du gar nicht 
zuhörſt, du ſagſt nur jaja und paſſeſt gar nicht auf. 
Und wenn ich zu dir komme und dir etwas ſagen will, 
dann will ich doch, daß du zuhörſt!“ 

„Du mußt trotzdem wieder kommen, Liebling. Denk' 
einmal: wenn ich mit meinen Gedanken ganz, ganz feſt 


bei dem bin, was ich gerade arbeite, und wenn ich recht 
ſtark nachdenken muß, wie ich es am beſten machen kann, 
dann kann ich manchmal nicht gleich davon wegkommen 
und auf dich hören. Aber ich will es verſuchen, wenn du 
wiederkommſt.“ 

„Ja, ich verſtehe ſchon. Ich muß auch oft an irgend 
etwas denken, und dann ruft mir jemand, und ich ſoll 
ihm folgen = das iſt widerwärtig. Manchmal mag ich 
den ganzen Tag ſtill ſein und nachdenken, und gerade 
dann ſoll ich immer ſpielen und lernen oder irgend etwas 
tun, und dann werde ich ganz böſe.“ 

Pierre blickte vor ſich hin, angeſtrengt in dem Be— 
mühen, das auszudrücken, was er meinte. Es war 
ſchwierig, und man wurde doch meiſtens nicht ganz ver⸗ 
ſtanden. 

Sie waren in Veraguths Wohnzimmer eingetreten. 
Er ſetzte ſich und nahm den Kleinen zwiſchen ſeine Knie. 

„Ich weiß, was du meinſt, Pierre“, ſagte er begüti— 
gend. „Willſt du jetzt Bilder anſehen, oder magſt du 
zeichnen?“ Ich meine, du könnteſt vielleicht die Maus— 
geſchichte zeichnen?“ 

„O ja, das will ich tun. Dazu muß ich aber ein ſchönes 
großes Papier haben.“ 

Aus einer Tiſchlade ſuchte der Vater ein Stück Zei— 
chenpapier hervor, ſpitzte den Bleiſtift und ſchob dem 
Knaben einen Stuhl heran. Pierre fing alsbald, auf 
dem Seſſel kniend, die Maus und die Katze zu zeichnen 


=) BAO) F= 


an. Veraguth, um ihn nicht zu ſtören, ſetzte ſich hinter 
ihn und betrachtete den dünnen gebräunten Hals, den 
geſchmeidigen Rücken und den noblen, eigenwilligen 
Kopf des Kindes, das ganz in ſein Tun verſunken 
war und mit ungeduldigem Lippenſpiel ſeiner Arbeit 
folgte. Jeder Strich, jeder kleine Fortſchritt und jedes 
Mißglücken war in dem beweglichen Munde, in der 
Bewegung der Brauen und Stirnfalten deutlich ge— 
ſpiegelt. 

„Ach, es iſt nichts!“ rief Pierre nach einer Weile, rich— 
tete ſich, auf die flachen Hände geſtützt, empor und 
ſchaute ſeine Zeichnung kritiſch mit eingekniffenen Au— 
gen an. 

„Es wird nichts!“ klagte er zürnend. „Papa, wie 
macht man denn eine Katze? Meine ſieht wie ein Hund 
aus.“ 

Der Vater nahm das Papier in die Hände und ging 
ernſthaft darauf ein. 

„Wir müſſen ein wenig radieren,“ ſagte er gelaſſen. 
„Der Kopf iſt zu groß und nicht rund genug, und die 
Beine ſind zu lang. Warte nur, wir kriegen das ſchon 
heraus.“ 

Vorſichtig fuhr er mit dem Gummi über Pierres 
Blatt, holte ein neues Papier und zeichnete darauf eine 
Katze. 

„Schau', ſo muß ſie werden. Sieh dir's ein wenig an 
und zeichne dann eine neue Katze.“ 


te. 


Allein Pierres Geduld war erſchöpft, er gab den Blei- 
ſtift zurück, und nun mußte der Papa weiterzeichnen, zur 
Katze noch eine kleine junge Katze, und dann eine Maus, 
und dann, wie Pierre kommt und ſie befreit, und ſchließ— 
lich verlangte er noch einen Wagen mit Pferden und 
einem Kutſcher darauf. 

Und plötzlich war auch das langweilig. Singend lief 
der Knabe ein paarmal durch die Stube, ſchaute durchs 
Fenſter, ob es noch regne, und tanzte zur Türe und hin— 
aus. Unter den Fenſtern hin klang ſein feiner, hoher, 
kindlicher Geſang, dann ward es ſtill, und Veraguth ſaß 
allein, das Blatt mit den Katzen in der Hand. 


Achtes Kapitel 


4 


Veraguth ſtand vor feinem großen Bilde mit den drei 
Figuren und malte am Gewand der Frau, am dünnen, 
blaugrünen Kleide, an deſſen Halsausſchnitt ein kleiner 
Goldſchmuck verloren und traurig glänzte und allein 
das liebe Licht auffing, das auf dem beſchatteten Geſicht 
keine Stätte fand und an dem kühlen, blauen Gewande 
fremd und freudlos niederglitt ... dasſelbe Licht, das 
nebenan im hellen, offenen Haar des ſchönen Kindes 
froh und innig ſpielte. 

Es klopfte an der Türe, und der Maler trat unwillig 
und gereizt zurück. Als es nach einer kleinen Wartezeit 
nochmals pochte, ging er mit heftigen Schritten zur Tür 
und öffnete einen ſchmalen Spalt. 

Da ſtand Albert, der in der ganzen Ferienzeit das Ate— 
lierhaus nie betreten hatte. Er hielt den Strohhut in der 
Hand und blickte etwas unſicher in das nervöſe Geſicht 
des Vaters. 

Dieſer ließ ihn eintreten. 

„Guten Tag, Albert. Du kommſt wohl, um dir meine 
Bilder anzuſehen? Es iſt wenig da.“ 

„Oh, ich will gar nicht ſtören. Ich wollte nur ſchnell 
fragen ...“ 


Aber Veraguth hatte die Türe geſchloſſen und war 
an der Staffelei vorüber zu einem graugeſtrichenen Lat— 
tengerüſte gegangen, wo auf ſchmalen, mit Rollen ver— 
ſehenen Böden ſeine Bilder ſtanden. Er zog das Bild 
mit den Fiſchen hervor. 

Albert trat verlegen neben ſeinen Vater, und beide 
blickten auf die ſilbrig ſchimmernde Leinwand. 

„Machſt du dir eigentlich etwas aus der Malerei?“ 
fragte Veraguth leichthin. „Oder freut dich nur die 
Muſik?“ 

„Oh, ich habe Bilder ſehr gern, und das hier iſt wun— 
derſchön.“ 

„Gefällt es dir? Das freut mich. Ich laſſe dir eine 
Photographie davon machen. Und wie fühlſt du dich 
denn wieder auf Roßhalde?“ 

„Danke, Papa, ſehr gut. Aber ich wollte dich wirklich 
nicht ftoren, ich kam nur wegen einer Kleinigkeit — —“ 

Der Maler hörte nicht. Er ſah ſeinem Sohn zerſtreut 
ins Geſicht, mit dem langſam zugreifenden, etwas über— 
anſtrengten Blick, den er ſtets bei der Arbeit hatte. 

„Wie denkt ihr jungen Leute heutzutage eigentlich 
über die Kunſt? Ich meine, gilt da Nietzſche, oder lieſt 
man noch Laine — er war geſcheit, aber langweilig, die- 
fer Taine — oder habt ihr neue Ideen?“ 

„Taine kenne ich noch nicht. Über das haſt du ja ge— 
wiß viel mehr nachgedacht als ich.“ 

„Früher, ja, da war die Kunſt und die Kultur und das 


8 Heſſe, Roßhalde 


; 


sane 114 — 


Apolliniſche und Dionyſiſche und all das Zeug mir 
furchtbar wichtig. Aber heut bin ich froh, wenn ich ein 
gutes Bild zuſammenbringe, es ſind keine Probleme 
mehr dabei, jedenfalls keine philoſophiſchen. Und wenn 
ich ſagen müßte, warum ich eigentlich ein Künſtler bin 
und alle die Leinwand vollmale, ſo würde ich ſagen: ich 
male, weil ich keinen Schweif zum Wedeln habe.“ 

Erſtaunt ſah Albert ſeinen Vater an, der ſeit langem 
kein ſolches Geſpräch mehr mit ihm geführt hatte. 

„Keinen Schweif? Wie meinſt du das?“ 

„Sehr einfach. Hunde und Katzen und andere be— 
gabte Tiere haben einen Schwanz, und nicht nur für das, 
was ſie denken und fühlen und leiden, ſondern für jede 
Laune und Schwingung ihres Weſens und für jede feine 
Wallung ihres Lebensgefühls hat ihr Schwanz mit fau- 
fend Schnörkeln eine wunderbar vollkommene Arabes— 
kenſprache. Die haben wir nicht, und da die Lebhafteren 
unter uns doch eben auch ſo etwas brauchen, ſo machen 
fie ſich eben Pinſel und Klaviere und Geigen ...“ 

Er brach ab, als intereſſiere ihn die Unterhaltung 
plötzlich nimmer oder als nehme er erſt jetzt wahr, daß 
er allein rede und bei Albert kein rechtes Echo finde. 

„Alſo ich danke für den Beſuch,“ ſagte er unver— 
mittelt. 

Er war wieder vor ſeine Arbeit getreten, hatte die 
Palette an ſich genommen und ſtarrte ſuchend auf den 


Fleck, wo der letzte Pinſelſtrich ſaß. 


„Verzeih, Papa, ich möchte dich etwas fragen —“ 

Veraguth wandte ſich um, mit ſchon entfremdeten 
Blicken und außer Zuſammenhang mit den Dingen, die 
außerhalb ſeiner Arbeit lagen. 

„Jas“ 

„Ich möchte Pierre auf einen Ausflug im Wagen 
mitnehmen. Mama hat es erlaubt, aber ſie ſagte, ich 
ſolle auch bei dir noch fragen.“ 

„Wohin wollt ihr denn fahren?“ 

„Ein paar Stunden weit über Land, vielleicht nach 
Pegolzheim.“ 

„So. .. Wer kutſchiert denn?“ 

„Ich natürlich, Papa.“ 

„Meinetwegen, nimm Pierre mit! Aber im Einſpän— 
ner, mit dem Braunen. Und daß er nicht zuviel Haber 
kriegt!“ 

„Ach, ich ware viel lieber zweiſpännig gefahren!“ 

„Tut mir leid. Allein magſt du fahren, wie du willſt; 
aber wenn der Kleine dabei iſt, nur mit dem Braunen.“ 

Etwas enttäuſcht zog Albert ſich zurück. Zu andern 
Zeiten hãtte er getrotzt oder weiter gebeten, aber er ſah, 
der Maler war ſchon wieder ganz bei ſeiner Arbeit, und 
hier im Atelier und in der Atmoſphäre ſeiner Bilder im— 
ponierte ihm trotz aller inneren Gegenwehr der Vater 
doch jedesmal ſo ſehr, daß er ihm gegenüber, deſſen Au— 
toritãt er ſonſt nicht anerkannte, ſich erbärmlich fnaben: 


haft und ſchwach fühlte. 


8 * 


— 116 — 


Der Maler war alsbald wieder mitten in ſeiner Ar— 
beit, die Unterbrechung war vergeſſen und die Außen— 
welt verweht. Mit ſtreng konzentriertem Blick verglich 
er die Fläche der Leinwand mit dem lebendigen Bilde in 
ſeinem Innern. Er fühlte die Muſik des Lichtes, wie ſein 
tönender Strom ſich verteilte und wiederfand, wie es an 
Widerſtänden ermüdete, wie es aufgetrunken ward und 
unbeſiegbar auf jeder empfänglichen Fläche neu trium⸗ 
phierte, wie es in den Farben mit wähleriſcher, doch un: 
fehlbarer Laune in peinlichſter Empfindlichkeit ſpielte, in 
tauſend Brechungen unzerſtört und in tauſend ſpieleri— 
ſchen Irrgängen untrüglich ſeinem eingeborenen Ge— 
ſetze treu. Und er koſtete in tiefen Zügen die herbe Luft 
der Kunſt, die ſtrenge Freude des Schöpfers, der ſich fel- 
ber bis zur Grenze der Vernichtung hergeben muß, der 
das heilige Glück der Freiheit nur im eiſernen Bändigen 
jeder Willkür finden und die Augenblicke der Erfüllung 
nur im aſzetiſchen Gehorſam gegen das Wahrhaftig— 
keitsgefühl erleben kann. 

Es war ſeltſam und betrübend, doch nicht ſeltſamer 
und trauriger als alles Menſchengeſchick: dieſer be— 
herrſchte Künſtler, dem nur aus tiefſter Wahrhaftigkeit 
und aus unerbittlich klarer Konzentration zu arbeiten 
möglich ſchien, dieſer ſelbe Mann, in deſſen Werkſtatt 
keine Laune und keine Unſicherheit Raum gewann, er 
war in ſeinem Leben ein Dilettant und geſcheiterter 
Glückſucher geweſen, und er, der keine mißglückte Tafel 


oder Leinwand aus den Händen gab, litt tief unter der 
dunkeln Laſt ungezählter mißglückter Tage und Jahre, 
mißglückter Liebes- und Lebensverſuche. 

Ihm kam es nicht zum Bewußtſein. Er hatte ſeit 
langem das Bedürfnis verloren, ſein Leben klar vor 
ſich auszubreiten. Er hatte gelitten und ſich gegen 
das Leid gewehrt, in Empörung und in Reſignation, 
und er hatte damit geendet, die Dinge ihren Weg 
gehen zu laſſen und ſich nur ſeine Arbeit zu erhalten. 
Und es war ſeiner zähen Natur gelungen, ſeine 
Künſtlerſchaft beinahe um das reicher und tiefer und 
glühender zu machen, was ſein Leben an Reichtum, 
Tiefe und Wärme verlor. Einſam und geharniſcht 
ſaß er nun wie ein Verzauberter, eingeſponnen in 
ſeinen Künſtlerwillen und rückſichtsloſen Fleiß, und 
ſein Weſen war geſund und eigenwillig genug, die 
Armut dieſes Daſeins nicht zu ſehen und nicht an— 
erkennen zu wollen. 

So war es bis vor kurzem geweſen, bis der Freundes— 
beſuch ihn aufgerüttelt hatte. Seither umgab den Ein— 
ſamen eine beängſtigende Ahnung von Gefahr und 
Schickſalsnähe, er fühlte Kämpfe und Prüfungen auf 
ſich warten, in denen nicht ſeine Kunſt und nicht ſein 
Fleiß ihn retten konnten. Sein beſchädigtes Menſchen— 
tum witterte Sturm und fand keine Wurzeln und Kräfte 
in ſich, ihn auszuhalten. Und nur langſam wollte ſeine 
vereinſamte Seele ſich an den Gedanken gewöhnen, es 


— 118 — 


müſſe nun nächſtens der Kelch verſchuldeten Leides bis 
zur Hefe ausgetrunken werden. 

Im Kampf wider dieſe drohenden Ahnungen und in 
der Scheu vor klaren Gedanken oder gar Entſchlüſſen 
zog ſich des Malers ganze Natur, als ſei es vielleicht 
zum letzten Male, nochmals in einer ungeheuren An⸗ 
ſtrengung zuſammen wie ein verfolgtes Tier zum retten⸗ 
den Sprunge, und ſo ſchuf Johann Veraguth in dieſen 
Tagen der inneren Beängſtigung mit einem verzweifel— 
ten Zuſammenraffen eines ſeiner größten und ſchönſten 
Werke, das ſpielende Kind zwiſchen den gebeugten leid— 
vollen Geſtalten der Eltern. Vom ſelben Boden getra— 
gen, von derſelben Luft umfloſſen und vom ſelben Licht 
beſchienen hauchten die Figuren des Mannes und Wei⸗ 
bes Tod und bitterſte Kühle aus, indeſſen goldig und 
frohlockend in ihrer Mitte das Kind ſelig wie im eigenen 
Lichte leuchtete. Und wenn ſpäter, ſeinem eigenen be— 
ſcheidenen Urteil entgegen, einige Bewunderer den Ma⸗ 
ler dennoch zu; den wirklich Großen rechneten, fo taten 
ſie es vor allem dieſes Bildes wegen, das ſo ſchmerzlich 
voll von Seele war, obwohl es nichts zu ſein begehrte 
als ein vollkommenes Stück Handwerk. 

In dieſen Stunden wußte Veraguth nichts von 
Schwäche und Angſt, nichts von Leid und Schuld und 
verfehltem Leben. Er war nicht froh noch traurig, von 
ſeinem Werk gebannt und aufgeſogen atmete er die kalte 
Luft ſchöpferiſcher Einſamkeit und begehrte nichts von 


der Welt, die ihm verſunken und vergeſſen war. Raſch 
und ſicher, mit vor Anſtrengung vorquellenden Augen, 
ſetzte er in kleinen, ſchneidigen Drückern die Farbe hin, 
trieb einen Schatten tiefer zurück, lofte ein ſchwebendes 
Blatt, eine ſpielende Locke freier und weicher im Lichte 
auf. Dabei dachte er nicht im mindeſten an das, was 
ſein Bild ausdrückte. Das war erledigt, das war eine 
Idee, ein Einfall geweſen; jetzt ging es nicht um Be— 
deutungen, Gefühle und Gedanken, ſondern um reine 
Wirklichkeit. Er hatte ſogar den Ausdruck der Geſichter 
wieder abgeſchwächt und nahezu ausgelöſcht, es lag ihm 
nichts am Dichten und Erzählen, und die um ein Knie 
gebauſchte Mantelfalte war ihm ſo wichtig und heilig 
wie die geſenkte Stirn und der geſchloſſene Mund. Auf 
dem Bilde ſollte nichts zu ſehen ſein als drei Menſchen in 
vollkommenſter Gegenſtändlichkeit, jeder durch Raum 
und Luft den andern verbunden, jeder dennoch umfloſſen 
von der Einzigkeit, die jedes tiefgeſchaute Gebilde aus 
der nebenſächlichen Welt der Beziehungen losreißt und 
den Beſchauer mit ſchauerndem Erſtaunen über die 
ſchickſalhafte Notwendigkeit jeder Erſcheinung erfüllt. 
So blicken uns aus Bildern toter Meiſter fremde Men— 
ſchengeſtalten, deren Namen wir nicht wiſſen und nicht 
zu wiſſen begehren, überlebendig und rätſelhaft wie 
Sinnbilder alles Seins entgegen. 

Das Bild war weit gefördert und nahezu fertig. Das 
Vollenden der ſüßen Kindergeſtalt hatte er ſich zum 


= 108. >= 


Schluſſe aufbehalten, daran dachte er morgen oder uber: 
morgen zu gehen. 

Die Mittagszeit war überſchritten, als der Maler 
Hunger verſpürte und auf die Uhr ſah. Er wuſch ſich 
eilig, kleidete ſich um und ging ins Herrſchaftshaus bins 
über, wo er ſeine Frau ganz allein am Tiſche wartend 
fand. 

„Wo ſind die Buben?“ fragte er verwundert. 

„Sie ſind ausgefahren. War Albert denn nicht bei 
dir?“ 

Nun erſt fiel ihm Alberts Beſuch wieder ein. Zerſtreut 
und etwas befangen begann er zu eſſen. Frau Adele be- 
obachtete ihn, wie er unachtſam und müde die Speiſen 
zerſchnitt. Sie hatte ihn eigentlich nicht mehr zu Tiſche 
erwartet, und es überraſchte ſie ſeinem überanſtrengten 
Geſichte gegenüber eine Art von Mitleid. Sie ſchwieg 
und legte ihm vor, ſchenkte ihm Wein ins Glas, und er, 
eine unbeſtimmte Freundlichkeit erfühlend, nahm ſich zu⸗ 
ſammen, ihr etwas Angenehmes zu ſagen. 

„Will Albert eigentlich Muſiker werden?“ fragte er. 
„Ich glaube, er hat viel Talent.“ 

„Ja, er iſt begabt. Aber ich weiß nicht, ob er zum 
Künſtler paſſen würde. Zu wünſchen ſcheint er es nicht. 
Er hat bis jetzt noch zu keinem Beruf beſondere Luſt, und 
ſein Ideal wäre eine Art von Gentleman, der gleichzeitig 
Sport und Studien, Geſelligkeit und Kunſt betriebe. 
Leben wird er davon ſchwerlich können, das werde ich 


—- ies — 


ihm mit der Zeit klarmachen müſſen. Einſtweilen iſt er 
ja fleißig und hat gute Manieren, da mag ich ihn nicht 
unnütz ſtören und unruhig machen. Wenn er ſeine Ma— 
turität gemacht hat, will er ohnehin zuerſt Soldat wer— 
den. Später ſieht man weiter.“ 

Der Maler ſchwieg. Er ſchälte eine Banane und roch 
befriedigt an der reifen, nahrhaft und mehlig duftenden 
Frucht. 

„Wenn es dich nicht ſtört, möchte ich noch den Kaffee 
hier nehmen“, ſagte er ſchließlich. 

Sein Ton war von ſchonender Freundlichkeit und 
etwas müde, als behage es ihm, hier auszuruhen und es 
ein wenig gut zu haben. 

„Ich laſſe ihn ſofort bringen. — Du haſt viel ge— 
arbeitet?“ 

Das war ihr entſchlüpft, beinahe ohne daß ſie es 
wußte. Sie wollte eigentlich nichts damit ſagen; ſie 
wollte nur, da es eben eine ſelten gute Stunde war, ein 
wenig Aufmerkſamkeit zeigen, und das fiel nicht leicht, 
da die Gewohnheit fehlte. 

„Ja, ich habe ein paar Stunden gemalt“, ſagte ihr 
Mann trocken. 

Es ſtörte ihn, daß ſie das fragte. Es war zwiſchen 
ihnen Sitte geworden, daß von ſeiner Arbeit nie geredet 
werde, und viele von ſeinen neueren Bildern hatte ſie 
überhaupt nie geſehen. 

Sie fühlte, daß der helle Augenblick verrinne, und ſie 


„ 


tat nichts, ihn zu halten. Und er, der ſchon die Hand nach 
ſeinem Etui ausgeſtreckt hatte, um ſich die Erlaubnis zu 
einer Zigarette zu erbitten, ließ die Hand wieder ſinken 
und hatte die Luſt dazu verloren. 

Doch trank er ohne Eile ſeinen Kaffee, tat noch eine 
Frage nach Pierre, dankte mit Höflichkeit und blieb noch 
einige Minuten im Zimmer, ein kleines Bild betrachtend, 
das er ſeiner Frau vor manchen Jahren geſchenkt hatte. 

„Es hält ſich gut“, ſagte er, halb zu ſich ſelbſt, „und 
ſieht noch ganz hübſch aus. Nur die gelben Blumen find 
eigentlich entbehrlich, fie ziehen zuviel Helligkeit da her⸗ 
über.“ 

Frau Veraguth ſagte nichts; es waren zufällig gerade 
die äußerſt duftig und fein gemalten gelben Blumen, 
die ſie an dem Bilde vor allem gern hatte. 

Er wandte ſich um und lächelte leicht. 

„Auf Wiederſehen! Und langweile dich nicht zu ſehr, 
bis die Jungen zurückkommen.“ 

Damit ging er hinaus und die Treppe hinab. Unten 
ſprang der Hund an ihm in die Höhe. Er nahm ſeine 
Tatzen in die linke Hand zuſammen, ſtreichelte ihn mit 
der rechten und ſah ihm in die eifrigen Augen. Dann 
rief er durchs Küchenfenſter nach einem Stück Zucker, 
gab es dem Hunde, warf einen Blick auf den ſonnigen 
Raſenplatz und ging langſam ins Atelier hinüber. Es 
war heute hübſch hier draußen und eine herrliche Luft; 
aber er hatte keine Zeit, er mußte arbeiten. 


Im ftillen, aufgelöſten Licht der hohen Werkſtatt 
ſtand ſein Bild. Auf einer grünen Fläche mit wenigen 
kleinen Wieſenblumen ſaßen die drei Figuren: der Mann 
gebückt und in ein hoffnungsloſes Grübeln vergraben, 
die Frau ergeben wartend in enttäuſchter Freudloſigkeit, 
das Kind hell und arglos in den Blumen ſpielend, und 
über ihnen allen ein intenſives, wogendes Licht, das 
triumphierend im Raume flutete und in jedem Blumen— 
kelch mit derſelben unbekümmerten Innigkeit aufſtrahlte 
wie im lichten Haar des Knaben und in dem kleinen 
Goldſchmuck am Halfe der betrübten Frau. 


Neuntes Kapitel 


Der Maler hatte bis gegen den Abend weitergearbei— 
tet. Nun ſaß er, die Hände im Schoß und ſtumpf vor 
Ermüdung, eine Weilezuſammengeſunken im Armſtuhl, 
vollkommen leer und ausgepreßt, mit erſchlafften Wan— 
gen und etwas entzündeten Augenlidern, alt und faſt 
leblos wie ein Bauer oder Holzhauer nach der ſchwerſten 
körperlichen Arbeit. 

Am liebſten wäre er fo ſitzengeblieben und hätte ſich 
ganz der Müdigkeit und der Schlafſehnſucht überlaſſen. 
Seine herriſche Zucht und Gewohnheit verlangte es aber 
anders, und er raffte ſich nach einer Viertelſtunde mit 
einem Ruck zuſammen. Er ſtand auf, ohne mehr einen 
Blick nach dem großen Bilde hin zu tun, ging zur Bade— 
ſtelle am Weiher, zog ſich aus und ſchwamm langſam 
um den See. 

Es war ein milchig bleicher Abend, vom nächſten Feld- 
wege her kam, durch den Park gedämpft, das Geräuſch 
knarrender Heuwagen und das ſchwerfällige Rufen und 
Lachen müdgearbeiteter Knechte und Mägde herüber— 
geklungen. Fröſtelnd ſtieg Veraguth ans Land, rieb ſich 
ſorgfältig warm und trocken, ging in fein kleines Wohn⸗ 
zimmer und zündete eine Zigarre an. 


Er hatte diefen Abend Briefe ſchreiben wollen, nun 
rückte er unſchlüſſig an der Tiſchlade, ſchob ſie aber 
ärgerlich wieder zu und ſchellte nach Robert. 

Der Diener kam gelaufen. 

„Sagen Sie, wann ſind die jungen Leute mit dem 
Wagen zurückgekommen?“ 

„Noch nicht, Herr Veraguth.“ 

„Was, ſie ſind noch gar nicht zurück?“ 

„Nein, Herr Veraguth. Wenn Herr Albert nur den 
Braunen nicht zu ſehr ſtrapaziert hat, er fährt gern ein 
wenig ſtreng.“ 

Sein Herr gab keine Antwort. Er hatte ſich ge— 
wünſcht, noch ein halbes Stündlein Pierre bei ſich zu 
haben, den er längſt heimgekehrt glaubte. Nun war er 
über die Nachricht ärgerlich und etwas erſchrocken. 

Er lief ins Herrenhaus hinuͤber und klopfte am Zim⸗ 
mer ſeiner Frau. Sie begrüßte ihn erſtaunt, es war ſeit 
langem nicht geſchehen, daß er ſie hier und um dieſe Zeit 
aufſuchte. 

„Entſchuldige,“ ſagte er in unterdruͤckter Erregtheit, 
„aber wo iſt Pierre?“ 

Frau Adele ſah ihren Mann verwundert an. 

„Die Jungen ſind mit dem Wagen fort, du weißt ja.“ 

Da ſie ſeine Gereiztheit fuͤhlte, fügte ſie bei: „Du wirſt 
doch nicht ängſtlich fein?” 

Er zuckte ärgerlich die Achſeln. 

„Ach nein. Aber ich finde es ruͤckſichtslos von Albert. 


— 126 — 


Er fprach von ein paar Stunden. Wenigſtens hätte er 
uns telephonieren können.“ 

„Es iſt ja noch früh. Sie werden gewiß zum Abend— 
eſſen da ſein.“ 

„Immer iſt der Kleine weg, wenn ich ihn einmal ein 
bißchen haben möchte!“ 

„Es hat keinen Sinn, daß du dich ſo ärgerſt. Es 
iſt doch der reine Zufall. Pierre iſt oft genug bei dir 
drüben.“ 

Er biß ſich auf die Lippen und ging ſchweigend hinaus. 
Sie hatte recht, es hatte keinen Sinn, ſich aufzuregen, 
es hatte keinen Sinn, lebhaft zu ſein und etwas vom 
Augenblick zu verlangen! Es war beſſer, in geduldiger 
Gelaſſenheit zu ſitzen, wie ſie es tat! 

Zornig ging er zum Hof hinaus und auf die Land— 
ſtraße. Nein, er wollte das nicht lernen, er wollte ſeine 
Freude und wollte ſeinen Zorn haben! Wie hatte dieſe 
Frau ihn ſchon gedämpft und ſtill gemacht, wie war er 
ſchon beherrſcht und alt geworden, er, der früher ge⸗ 
wohnt geweſen war, frohe Tage lärmend in die tiefe 
Nacht hineinzuziehen und im Arger die Stühle zu zer— 
ſchmettern! Aller Groll und alle Bitterkeit kam wieder 
in ihm auf, und zugleich ein ſehnliches Verlangen nach 
ſeinem Knaben, deſſen Blick und Stimme allein ihn froh 
machen konnten. 

Mit großen Schritten lief er auf der abendlichen 
Straße dahin. Wagenrollen wurde hörbar, und er eilte 


ä rr hl le ee 


— U q ] ũin.“ „EU—¶“ꝙͤÜͥnnn K 


geſpannt entgegen. Es war nichts. Ein Bauerngaul 
mit einem Karren voll Gemüſe. Veraguth rief ihn an. 

„Haben Sie nicht einen Einſpänner überholt, mit zwei 
jungen Leuten auf dem Bock?“ 

Der Bauer ſchüttelte den Kopf ohne anzuhalten, und 
fein ſchweres Roß trabte gleichmütig weiter in den ſanf— 
ten Abend hinein. 

Im Weitergehen fühlte der Maler ſeinen Zorn erkal— 
ten und hinſchwinden. Seine Schritte wurden ruhiger, 
die Müdigkeit kam wohlig über ihn, und während er 
bequem ausſchritt, ruhten ſeine Augen dankbar in der 
ſtillen, reichen Landſchaft aus, die bleich und fein im 
dunſtigen Spätlichte lag. 

Er dachte kaum mehr an ſeine Söhne, als nach einer 
halben Stunde Gehens ihm ihr Wagen entgegenkam. 
Er achtete erſt darauf, als er ſchon nahe war. Bei einem 
großen Birnbaum blieb Veraguth ſtehen, und als er 
Alberts Geſicht erkennen konnte, trat er noch mehr zu- 
rück, um nicht geſehen und angerufen zu werden. 

Albert war allein auf dem Bock. Pierre ſaß halb 
liegend in einer Wagenecke, hatte den unbedeckten Kopf 
geſenkt und ſchien eingeſchlafen. Der Wagen rollte vor: 
über, und der Maler ſah ihm nach, er blieb am Rande 
der ſtaubigen Straße ſtehen, ſolange der Wagen noch 
zu ſehen war. Dann kehrte er um und ging den Weg 
zurück. Er hätte Pierre gerne noch geſehen, doch war 
es für den Knaben bald Schlafenszeit, auch hatte 


— 128 — 


Veraguth keine Luft, ſich heute nochmals bei feiner 
Frau zu zeigen. 

So ging er am Park, am Hauſe und Hoftor vorbei 
und in die Stadt hinunter, wo er in einem volkstümlichen 
Weinkeller ſein Abendeſſen nahm und in den Zeitungen 
blätterte. 

Indeſſen waren ſeine Söhne längſt zu Hauſe. Albert 
ſaß bei der Mutter und erzählte. Pierre war ſehr müde 
geweſen, hatte gar nichts mehr eſſen mögen und lag nun 
ſchlafend in ſeinem hübſchen kleinen Schlafzimmer. Und 
als der Vater in der Nacht zurückkam und am Hauſe 
vorüberging, war nirgends mehr ein Licht zu ſehen. Die 
laue, ſternloſe Nacht umfing Park, Haus und See mit 
ſchwarzer Stille, und aus der regungsloſen Luft fielen 
feine, leiſe Regentropfen. 

Veraguth machte in ſeiner Wohnſtube Licht und ſetzte 
ſich an den Schreibtiſch. Sein Verlangen nach Schlaf 
hatte ſich wieder ganz verloren. Er nahm ein Briefblatt 
und ſchrieb an Otto Burkhardt. Durch die offenen 
Fenſter kamen kleine Nachtfalter und Motten geflogen. 
Er ſchrieb: 

Mein Lieber! 

Vermutlich erwarteſt Du jetzt gar keinen Brief von 
mir. Aber wenn ich ſchon ſchreibe, erwarteſt Du wieder 
mehr, als ich geben kann. Du erwartteſt, es fei jetzt Klar— 
heit in mich gekommen und ich ſähe die ſchadhafte Ma⸗ 
ſchinerie meines Lebens ſo ſauber im Querſchnitt, wie 


Du fie zu ſehen meinſt. Damit ift es leider nichts. Ein 
Wetterleuchten iſt ja wohl in mir aufgegangen, ſeit wir 
darüber geſprochen haben, und es ſtarren mir in mans 
chen Augenblicken recht peinliche Enthüllungen entge— 
gen; aber Tag iſt es doch noch nicht geworden. 

Was ich alſo ſpäter tun oder laſſen werde, kann ich 
nicht ſagen. Aber wir reiſen! Ich fahre mit Dir nach 
Indien, bitte, beſorge mir einen Schiffsplatz, ſobald Du 
den Termin weißt. Vor dem Ende des Sommers geht 
es nicht, aber im Herbſt je eher je lieber. 

Das Bild mit den Fiſchen, das Du hier ſaheſt, möchte 
ich Dir ſchenken, aber es wäre mir lieb, wenn es in 
Europa bliebe. Wohin ſoll ich es ſchicken? 

Hier iſt alles wie immer. Albert ſpielt den Weltmann, 
und wir behandeln einander mit ungeheurer Achtung 
wie zwei Geſandte feindlicher Mächte. 

Ehe wir reiſen, erwarte ich Dich noch einmal auf Roß— 
halde. Ich muß Dir ein Bild zeigen, das dieſer Tage 
fertig wird. Das Ding iſt gut und wäre ein hübſcher 
Schlußpunkt, falls mich draußen Eure Krokodile fräßen, 
was mir übrigens unerwünſcht wäre, trotz allem. 

Ich muß zu Bett, obwohl ich keinen Schlaf habe. Ich 
war heute neun Stunden vor der Staffelei. 


Dein Johann 


Der Brief wurde adreſſiert und in den Vorraum ge⸗ 
legt, damit ihn Robert morgens zur Poſt bringe. 


9 Heſſe, Roßhalde 


Als der Maler vor dem Schlafengehen den Kopf aus 
dem Fenſter ſteckte, nahm er erſt das Rauſchen des Re— 
gens wahr, auf das er am Schreibtiſch nicht geachtet 
hatte. Es ſank in weichen Strähnen aus der Finſternis 
herab, und er hörte noch lang vom Bett aus zu, wie es 
fiel und ſtrömte und von dem beſchwerten Laub in kleinen 
klingenden Güſſen zur dürſtenden Erde lief. 


Zehntes Kapitel 


„Pierre iſt ſo langweilig,“ ſagte Albert zu ſeiner 
Mutter, als fie miteinander in den vom Regen erfriſch— 
ten Garten gingen, um Roſen zu ſchneiden. „Er hat ſich 
ja die ganze Zeit nicht eben viel aus mir gemacht, aber 
geſtern war rein gar nichts mit ihm anzufangen! Neu- 
lich, als ich davon ſprach, wir wollten einmal eine Wa— 
gen fahrt zuſammen machen, da war er ganz begeiſtert. 
Und geſtern mochte er kaum mitgehen, ich mußte ihn faſt 
darum bitten. Es war ja kein ſehr großes Vergnügen 
für mich, da ich nicht beide Pferde nehmen durfte, ich 
ging eigentlich überhaupt nur ſeinetwegen.“ 

„War er denn unterwegs nicht artig?“ fragte Frau 
Veraguth. 

„Ach, artig war er ſchon, nur ſo langweilig! Er hat 
manchmal direkt etwas Blaſiertes, der Junge. Was ich 
auch vorſchlug und was ich ihm zeigte oder anbot, war 
ihm kaum ein Jaja oder ein Lächeln wert, er wollte nicht 
auf dem Bock ſitzen, er wollte nicht kutſchieren lernen, 
nicht einmal Aprikoſen eſſen wollte er. Richtig wie ein 
verwöhnter Prinz. Es war ärgerlich, und ich ſage es dir, 
weil ich ihn wirklich ein andermal nicht wieder mitnehmen 
möchte.“ 


9 * 


Die Mutter blieb ſtehen und fab ihn prüfend an; fie 
mußte über ſeine Erregung lächeln und ſah mit Be— 
friedigung in ſeine funkelnden Augen. 

„Großer Junge,“ ſagte ſie begütigend, „du mußt 
Geduld mit ihm haben. Vielleicht war er nicht ganz 
wohl, er hat auch heut früh faſt nichts gegeſſen. Das 
kommt bei allen Kindern zuweilen vor, bei dir war's 
auch einmal ſo. Ein bißchen Magenkatarrh oder eine 
Nacht mit ſchlechten Träumen iſt meiſtens ſchuld 
daran, und Pierre iſt freilich etwas zart und empfind- 
lich. Und dann, verſteh, iſt er vielleicht auch ein wenig 
eiferſüchtig. Du mußt bedenken, er hat mich ſonſt im— 
mer ganz für ſich, und jetzt biſt du da, und er muß mit 
dir teilen.“ 

„Wenn ich doch Ferien habe! Das muß er doch wahr— 
haftig begreifen, er iſt ja nicht dumm!“ 

„Er iſt ein kleines Kind, Albert, und du mußt ſchon 
der Geſcheitere ſein.“ 

Es tropfte noch von den friſch metallen glitzernden 
Blättern. Sie gingen den gelben Roſen nach, die Albert 
beſonders liebte. Er bog die Kronen der Bäumchen 
auseinander, und die Mutter ſchnitt mit der Garten— 
ſchere die Blumen ab, die noch etwas nüchtern und vers 
regnet herabhingen. 

„War ich eigentlich Pierre ähnlich, als ich in ſeinem 
Alter war?“ fragte Albert nachdenklich. 

Frau Adele beſann ſich. Sie ließ die Hand mit der 


3 
Schere ſinken, ſah dem Sohn in die Augen und ſchloß 
dann die ihren, um ſein Knabenbildnis in ſich wachzu— 
rufen. 

„Du warſt ihm äußerlich ziemlich ähnlich, bis auf die 
Augen, und du warſt weniger dünn und ſchlank, das 
Wachſen kam bei dir etwas ſpäter.“ 

„Und ſonſt? Ich meine innerlich?“ 

„Nun, Launen haſt du auch gehabt, mein Junge. 
Aber ich glaube, du warſt doch beſtändiger, du haſt deine 
Spiele und Arbeiten nicht ſo raſch gewechſelt wie Pierre. 
Er iſt auch überſchwenglicher, als du warſt, er iſt weniger 
im Gleichgewicht.“ 

Albert nahm der Mutter die Schere aus der Hand 
und beugte ſich ſuchend über einen Roſenſtrauch. 

„Pierre hat mehr von Papa,“ ſagte er leiſe. „Du, 
Mutter, das iſt ſo merkwürdig, wie in den Kindern ſich 
die Eigenſchaften ihrer Eltern und Vorfahren wieder— 
holen und vermiſchen! Meine Freunde ſagen, jeder 
Menſch habe ſchon als kleines Kind alles in ſich, was 
fein ganzes Leben beſtimmt, und man könne gar nichts 
dagegen tun, einfach gar nichts. Wenn zum Beiſpiel 
einer die Anlage zum Dieb oder Mörder in ſich hat, ſo 
hilft alles nichts, er muß und muß ein Verbrecher werden. 
Es iſt eigentlich furchtbar. Du glaubſt doch auch daran? 
Es iſt vollkommen wiſſenſchaftlich.“ 

„Das iſt mir einerlei,“ lächelte Frau Adele. „Wenn 
jemand ein Verbrecher geworden iſt und Menſchen 


— 134 — 

umgebracht hat, fo kann die Wiſſenſchaft vielleicht nach— 
weiſen, daß das ſchon immer in ihm geſteckt hat. Aber 
ich zweifle gar nicht daran, daß es ſehr viele rechtſchaffene 
Leute gibt, die von Eltern und Voreltern her Böſes ge— 
nug geerbt haben und doch gut bleiben, und das kann 
die Wiſſenſchaft nicht gut unterſuchen. Eine gute Er— 
ziehung und ein guter Wille iſt mir ſicherer als alle Ver⸗ 
erbungen. Was recht und anſtändig iſt, das wiſſen wir 
und können es lernen, und daran muß man ſich halten. 
Was man aber etwa von vorväterlichen Geheimniſſen 
in ſich hat, das weiß niemand genau, und es iſt beſſer, 
damit nicht viel zu rechnen.“ 

Albert wußte, daß ſeine Mama ſich auf dialektiſche 
Dispute niemals einlaſſe, und ſein Weſen gab ihrer ein— 
fachen Denkart eigentlich inſtinktmäßig recht. Doch 
ſpürte er wohl, daß damit das gefährliche Thema keines⸗ 
wegs erledigt fei, und er hätte nun gerne etwas Grinds 
liches über jene Lehre von der Kauſalität geſagt, die ihm 
aus den Reden einiger Freunde immer ſo ſehreingeleuch— 
tet hatte. Doch beſann er ſich vergebens auf feſte, klare, 
ſtichhaltige Sätze, auch fühlte er - im Gegenſatz zu jenen 
Freunden, die er doch bewunderte — ſich eigentlich viel 
mehr für eine moraliſche oder auch äſthetiſche Betrach— 
tung der Dinge begabt als für die wiſſenſchaftlich vor— 
urteilsloſe, zu der er ſich unter ſeinen Studiengenoſſen 
bekannte. So ließ er denn dieſe Dinge auf ſich beruhen 
und ging den Roſen nach. 


1 

Unterdeſſen war Pierre, der ſich wirklich nicht wohl 
fühlte und am Morgen weit ſpäter als ſonſt und ohne 
Lebensfreude erwacht war, ſolange im Kinderzimmer 
bei ſeinen Spielſachen geblieben, bis es ihm langweilig 
wurde. Es war ihm ziemlich elend zumute und ihm 
ſchien, es müſſe heute ſchon etwas Beſonderes geſchehen 
und ſich einfinden, damit dieſer geſchmackloſe Tag er— 
träglich und ein bißchen hübſch werde. 

Unruhig zwiſchen Erwartung und Mißtrauen ging 
er aus dem Hauſe und in den Lindengarten, auf der 
Suche nach irgend etwas Neuem, nach irgendeinem 
Fund oder Abenteuer. Sein Magen war öde, das kannte 
er aus früheren Erfahrungen, und ſein Kopf war müde 
und ſchwer, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, und am 
liebſten hätte er ſich an der Mutter Knie geflüchtet und 
geheult. Allein das ging nicht, ſolange der ſtolze, große 
Bruder da war, der ihn ohnehin immer fühlen ließ, daß 
er noch ein kleiner Bub ſei. 

Wenn es nur der Mutter eingefallen wäre, von ſich 
aus etwas zu tun, ihn zu rufen und ihm ein Spiel por- 
zuſchlagen und nett mit ihm zu ſein. Aber die war jetzt 
natürlich wieder mit Albert gegangen. Pierre fühlte, 
es war heute ein Unglückstag und wenig zu hoffen. 

Er ſchlenderte unentſchloſſen und mißmutig die Kies— 
wege entlang, den welken Stiel einer Lindenblüte zwi— 
ſchen den Zähnen und die Hände in den Taſchen. Es 
war friſch und feucht im morgendlichen Garten, und der 


— 136 — 


Stiel ſchmeckte bitter. Er ſpie ihn aus und blieb ver— 
drießlich ſtehen. Nichts wollte ihm einfallen, er mochte 
heute nicht Prinz noch Räuber, nicht Fuhrmann noch 
Baumeiſter ſein. 

Mit gerunzelter Stirne ſchaute er am Boden umher, 
ſtocherte mit den Schuhſpitzen im Kies und ſchleuderte 
eine graue ſchleimige Wegſchnecke mit dem Fuß weit 
fort ins naſſe Gras. Es wollte nichts zu ihm ſprechen, 
kein Vogel noch Schmetterling, nichts wollte ihn an— 
lachen und ihn zur Fröhlichkeit verführen. Alles ſchwieg, 
alles ſah alltäglich, hoffnungslos und ſchäbig aus. Er 
verſuchte am nächſten Strauch eine kleine hellrote Jo— 
hannisbeertraube; ſie ſchmeckte kalt und ſauer. Man 
ſollte ſich hinlegen und ſchlafen, dachte er, fo lange ſchla— 
fen, bis alles wieder neu und ſchön und luſtig ausſähe. 
Es hatte ja keinen Sinn, da herumzugehen und ſich zu 
plagen und auf Dinge zu warten, die doch nicht kommen 
wollten. Wie ſchön könnte es ſein, wenn zum Beiſpiel 
etwa ein Krieg ausgebrochen wäre und eine Menge 
Soldaten zu Pferde auf der Straße herankämen oder 
wenn irgendwo ein Haus in Flammen ſtände oder eine 
große Überſchwemmung wäre. Ach, dieſe Sachen ſtan— 
den alle nur in den Bilderbüchern, in Wirklichkeit bekam 
man ſie nie vor Augen, und vielleicht gab es ſie gar nicht. 

Seufzend ſchlenderte der Knabe weiter, das hübſche, 
zarte Geſicht erloſchen und voll Kummer. Als er jenſeits 
der hohen Spalierwand die Stimmen Alberts und der 


a 
Mutter hörte, überfiel ihn Eiferſucht und Widerwillen 
ſo ſtark, daß er Tränen in die Augen bekam. Er kehrte 
um und ging ganz leiſe, um nicht gehört und angerufen 
zu werden. Er wollte jetzt niemand Rede ſtehen, er wollte 
von niemand zum Reden und Aufmerken und Artigſein 
genötigt werden. Es ging ihm ſchlecht, jämmerlich 
ſchlecht, und niemand kümmerte ſich um ihn, ſo wollte 
er wenigſtens die Vereinſamung und Trauer auskoſten 
und ſich richtig elend fühlen. 

Er dachte auch an den lieben Gott, den er zuzeiten 
ſehr ſchätzte, und einen Augenblick brachte der Gedanke 
einen fernen Schimmer von Troſt und Wärme, aber 
das ſank ſchnell wieder unter. Wahrſcheinlich war es 
mit dem lieben Gott auch nichts. Und doch hätte er ge- 
rade jetzt ſo ſehr jemand gebraucht, auf den ein Verlaß 
war und von dem man ſich etwas Hübſches und Tröſt— 
liches verſprechen durfte. 

Da fiel ihm der Vater ein. Es war ein ahnungsvolles 
Gefühl, daß der ihn vielleicht verſtehen könnte, da er 
ſelber meiſtens ſtill und geſpannt und unfroh ausſah. 
Der Vater ſtand ohne Zweifel, ſo wie immer, in ſeinem 
großen, ſtillen Atelier drüben und malte an ſeinen Bil— 
dern. Da war es eigentlich nicht gut, ihn zu ſtören. Aber er 
hatte ja erſt ganz kürzlich geſagt, Pierre ſolle nur immer zu 
ihm kommen, wenn es ihn gelüſte. Vielleicht hatte er es 
wieder vergeſſen, alle Erwachſenen vergaßen ja ihre 
Verſprechungen immer ſo bald wieder. Aber verſuchen 


— 138 — 


konnte man es einmal. Lieber Gott, wenn man doch 
durchaus keinen anderen Troſt wußte und es ſo nötig 
hatte! 

Langſam erſt, dann in aufglimmender Hoffnung 
raſcher und ſtraffer ging er den ſchattigen Weg zum 
Atelier. Da nahm er die Türklinke in die Hand und blieb 
ſtehen, um zu lauſchen. Ja, der Papa war drinnen, er 
hörte ihn ſchnauben und räuſpern, und er hörte das 
hölzerne Geräuſch der fein klappernden Pinſelſtiele, die 
er in der Linken hielt. 

Vorſichtig drückte er die Klinke herab, öffnete die Türe 
geräuſchlos und ſteckte den Kopf hinein. Der heftige 
Geruch von Terpentin und Lack war ihm zuwider, aber 
des Vaters breite, ſtarke Geſtalt erweckte Hoffnung. 
Pierre trat ein und ſchloß die Türe hinter ſich. 

Beim Ein ſchnappen der Klinke zuckte der Maler, von 
Pierre aufmerkſam beobachtet, mit den breiten Schul— 
tern und wendete den Kopf zurück. Die ſcharfen Augen 
blickten beleidigt und fragend herüber, und der Mund 
ſtand unangenehm offen. 

Pierre rührte ſich nicht. Er ſah dem Vater in die 
Augen und wartete. Alsbald wurden deſſen Augen 
freundlicher, und ſein böſes Geſicht kam in Ordnung. 

„Sieh da, Pierre! Wir haben uns einen ganzen Tag 
nicht geſehen. Hat Mama dich hergeſchickt?“ 

Der Kleine ſchüttelte den Kopf und ließ ſich küſſen. 

„Willſt du ein wenig bei mir ſein und zuſehen?“ fragte 


der Vater freundlich. Zugleich wandte er ſich wieder fei- 
nem Bilde zu und zielte ſcharf mit einem ſpitzen Pinſel— 
chen auf einen Fleck. Pierre ſah zu. Er ſah den Maler 
auf ſeine Leinwand blicken, ſah ſeine Augen geſpannt 
und wie zornig ſtarren und ſeine ſtarke, nervöſe Hand 
mit dem dünnen Pinſel zielen, er ſah ihn die Stirnfalten 
ſpannen und die Unterlippe mit den Zähnen faſſen. 
Dazu roch er die ſtarke Werkſtattluft, die er nie gern ge: 
habt hatte und die ihm heut beſonders widerlich war. 

Seine Augen erloſchen, und er blieb wie gelähmt bei 
der Türe ſtehen. Er kannte das alles, dieſen Geruch und 
dieſe Augen und dieſe Grimaſſen der Aufmerkſamkeit, 
und er wußte, es war töricht geweſen, zu erwarten, daß 
es heute anders ſei als immer. Der Vater arbeitete, er 
wühlte in ſeinen ſtarkriechenden Farben und dachte an 
nichts in der Welt als an ſeine dummen Bilder. Es war 
töricht geweſen, hier hereinzukommen. 

Die Enttäuſchung ließ des Knaben Geſicht erſchlaffen. 
Er hatte es ja gewußt! Es gab heute keine Zuflucht für 
ihn, bei der Mutter nicht und hier erſt recht nicht. 

Eine Minute lang ſtand er gedankenlos und traurig 
und blickte, ohne etwas zu ſehen, auf das große Bild mit 
den ſpiegelnd naſſen Farben. Dafür hatte Papa Zeit, 
für ihn nicht. Er nahm die Klinke wieder in die Hand 
und drückte ſie nieder, um ſtill davonzugehen. 

Veraguth hörte aber das ſchüchterne Geräuſch. Er 
blickte ſich um, brummte und kam heran. 


— 140 — 


„Was iſt, Pierrot? Nicht davonlaufen! Willſt du 
nicht ein wenig beim Papa bleiben?“ 

Pierre zog ſeine Hand zurück und nickte ſchwach. 

„Haſt du mir etwas ſagen wollen?“ fragte der 
Maler freundlich. „Komm, wir ſetzen uns zuſammen, 
dann erzählſt du mir. Wie war denn die Ausfahrt 
geſtern?“ 

„Oh, es war nett,“ ſagte der Kleine artig. 

Veraguth fuhr ihm mit der Hand übers Haar. 

„Hat es dir nicht gut getan? Du ſiehſt ein bißchen 
verſchlafen aus, mein Junge! Du haſt doch nicht etwa 
Wein bekommen, geſtern? Nein? Alſo, was tun wir 
jetzt? Wollen wir zeichnen?“ 

„Ich mag nicht, Papa. Es iſt heut ſo langweilig.“ 

„So? Du haſt gewiß ſchlecht geſchlafen? Wollen 
wir ein wenig miteinander turnen?“ 

Pierre ſchüttelte den Kopf. 

„Ich mag nicht. Ich mag nur gerne bei dir ſein, weißt 
du. Aber es riecht hier ſo ſchlecht.“ 

Veraguth ſtreichelte ihn und lachte. 

Ja, das iſt ein Unglück, wenn du keine Farben riechen 
magſt und ein Malerskind biſt. Da wirſt du wohl nie 
ein Maler werden?“ 

„Nein, ich will auch nicht.“ 

„Was willſt du denn werden?“ 

„Gar nichts. Am liebſten wär' ich ein Vogel oder ſo 
etwas.“ 


— 141 — 


„Das wäre nicht ſchlecht. Aber fag’ mir jetzt, Schatzi, 
was du gern von mir haben möͤchteſt. Schau', ich muß 
an dem großen Bild weiter arbeiten. Wenn du willſt, 
kannſt du dableiben und etwas ſpielen. Oder ſoll ich dir 
ein Bilderbuch zum Anſchauen geben?“ 

Nein, das war nicht, was er wollte. Er ſagte, nur um 
wieder loszukommen, er werde jetzt die Tauben füttern 
gehen, und er merkte genau, daß der Vater aufatmete 
und froh war, ihn gehen zu ſehen. Er wurde mit einem 
Kuß entlaſſen und ging hinaus. Der Vater zog die Ture 
zu, und Pierre ſtand wieder allein, noch leerer als zuvor. 
Er irrte quer ũber den Raſen, wo er eigentlich nicht gehen 
ſollte, er riß zerſtreut und bekümmert ein paar Blumen 
ab und fab gleichgůltig zu, wie ſeine hellen, gelben Schuhe 
im naſſen Graſe Flecken bekamen und dunkel wurden. 
Schließlich warf er ſich, von Verzweiflung überwältigt, 
mitten in den Raſen, wũhlte ſchluchzend den Kopf ins 
Gras und fühlte die Armel ſeiner hellblauen Bluſe naß 
werden und an den Armen kleben. 

Erſt als er zu frieren begann, ſtand er ernuͤchtert wieder 
auf und ſchlich ſich ſcheu ins Haus. 

Bald würde man ihn rufen, und dann würde man 
ſehen, daß er geweint hatte, und dann würde man die 
naſſe, ſchmutzige Bluſe und die feuchten Schuhe bemer- 
ken und ihn dafür ſchelten. Feindſelig ging er an der 
Küchentuͤre vorüber, er mochte jetzt mit niemand zu⸗ 
ſammentreffen. Er wäre am liebſten irgendwo weit 


— 148 — 


fortgeweſen, wo gar niemand von ihm wußte und nach 
ihm fragte. 

Da ſah er an einem der ſelten bewohnten Gaſtzimmer 
den Schlüſſel ſtecken. Er ging hinein, zog die Türe zu, 
ſchloß auch die offenſtehenden Fenſter und verkroch ſich 
wild und müde und ohne die Schuhe auszuziehen auf 
ein großes unüberzogenes Bett. Da blieb er zwiſchen 
Weinen und Schlummern in ſeinem Jammer liegen. 
Und als er, nach einer langen Zeit, ſeine Mutter im Hof 
und auf der Treppe nach ihm rufen hörte, gab er keine 
Antwort und grub ſich trotzig tiefer in die Decke. Die 
Stimme der Mutter kam und ging und verklang end— 
lich, ohne daß er ſich überwinden konnte, ihr zu folgen. 
Zuletzt ſchlief er mit naſſen Wangen ein. 

Mittags, als Veraguth zu Tiſche kam, fragte ihn 
ſeine Frau ſogleich: „Haſt du denn Pierre nicht mit— 
gebracht?“ 

Ihr etwas erregter Ton fiel ihm auf. 

„Pierre? Ich weiß nichts von ihm. War er denn nicht 
bei euch?“ 

Frau Adele erſchrak und redete lauter. 

„Nein, ich habe ihn ſeit dem Frühſtück nimmer ge— 
ſehen! Als ich ihn ſuchte, ſagten mir die Mädchen, ſie 
hätten ihn ins Atelier gehen ſehen. War er denn nicht 
dort?“ 

„Ja, er war da, aber nur einen Augenblick, er lief 
gleich wieder weg.“ 


— 143 — 

Und ärgerlich fügte er hinzu: „Sieht denn kein 
Menſch im Haus nach dem Jungen?“ 

„Wir glaubten, er ſei bei dir,“ ſagte Frau Adele kurz 
und gekränkt. „Ich gehe ihn ſuchen.“ 

„Schicke jemand nach ihm! Wir wollen nun doch 
eſſen.“ 

„Ihr könnt ja inzwiſchen beginnen. Ich gehe ſelbſt 
ſuchen.“ 

Sie ging haſtig aus dem Zimmer. Albert ſtand auf 
und wollte ihr folgen. 

„Bleib hier, Albert,“ rief Veraguth. „Wir ſind bei 
Lifche!” 

Der Jüngling fab ihn zornig an. 

„Ich werde mit Mama eſſen,“ ſagte er trotzig. 

Ironiſch lächelte ihm der Vater ins erregte Geſicht. 

„Meinetwegen, du biſt ja Herr im Hauſe, nicht wahr? 
Falls du übrigens Luſt haſt, wieder einmal mit Meſſern 
nach mir zu werfen, fo laß dich, bitte, nicht durch irgend— 
welche Vorurteile davon abhalten!“ 

Der Sohn wurde bleich und ſtieß ſeinen Stuhl zurück. 
Es war das erſtemal, daß der Vater ihn an jene zornige 
Tat ſeiner Knabenzeit erinnerte. 

„So darfſt du nicht mit mir reden!“ rief er ausbre— 
chend. „Ich dulde es nicht!“ 

Veraguth nahm ſich ein Stück Brot und aß einen 
Biſſen davon, ohne zu antworten. Er ſchenkte ſich Waf- 
ſer ins Glas, trank es langſam aus und beſchloß, ruhig 


— 144 — 
zu bleiben. Er tat, als fei er allein, und Albert trat un- 
ſchlüſſig gegen das Fenſter. 

„Ich dulde es nicht!“ rief er endlich nochmals, un— 
fähig, ſeinen Zorn bei ſich zu behalten. 

Der Vater ſtreute Salz auf ſein Brot. Er ſah ſich in 
Gedanken ein Schiff beſteigen und auf endloſen frem— 
den Meeren fahren, weit weg von dieſen unheilbaren 
Verwirrungen. 

„Es iſt gut,“ ſagte er beinahe friedlich. „Ich ſehe, daß 
es dir unſympathiſch iſt, wenn ich mit dir rede. Laſſen 
wir's doch!“ 

In dieſem Augenblick hörte man draußen einen er— 
ſtaunten Ausruf und eine Flut erregter Worte. Frau 
Adele hatte den Knaben in ſeinem Schlupfwinkel ent— 
deckt. Der Maler horchte auf und ging raſch hinaus. 
Heute ſchien alles durcheinander zu gehen. 

Er fand Pierre mit ſchmutzigen Stiefeln in dem zer— 
wühlten Gaſtbett liegen, das Geſicht verſchlafen und 
verweint, die Haare wirr, und davor ſeine Frau in bilfs 
loſem Erſtaunen. 

„Aber Kind,“ rief ſie endlich zwiſchen Sorge und 
Arger, „was machſt du denn? Warum gibſt du keine 
Antwort? Und warum liegſt du hier?“ 

Veraguth richtete den Kleinen auf und ſah ihm er— 
ſchrocken in die ausdrucksloſen Augen. 

„Biſt du krank, Pierre?“ fragte er zärtlich. 

Der Knabe ſchüttelte verwirrt den Kopf. 


— 143 — 

„Haſt du denn hier geſchlafen? Biſt du ſchon lange 
hier?“ 

Mit einer dünnen, mutloſen Stimme ſagte Pierre: 
„Ich kann nichts dafür .. . Ich habe nichts getan... 
Ich habe nur Kopfweh gehabt.“ 

Veraguth trug ihn auf ſeinen Armen ins Speiſe— 
zimmer hinüber. 

„Gib ihm einen Teller Suppe,“ ſagte er zu ſeiner Frau. 
„Du mußt ein wenig Warmes eſſen, Kind, das tut gut, 
du wirſt ſehen. Du biſt gewiß krank, armer Kerl.“ 

Er ſetzte ihn in ſeinen Seſſel, ſchob ihm ein Kiſſen in 
den Rücken und gab ihm ſelber mit dem Löffel ſeine 
Suppe ein. 

Albert ſaß ſchweigend und verſchloſſen. 

„Er ſcheint wirklich krank zu ſein,“ ſagte Frau Vera⸗ 
guth beinahe beruhigt, mit dem Gefühl der Mutter, die 
zu Hilfe und Pflege freudiger bereit iſt als zur Unter— 
ſuchung und Behandlung ungewöhnlicher Unarten. 

„Wir bringen dich nachher zu Bett, iß jetzt nur, mein 
Herz,“ troftete fie zutraulich. 

Pierre ſaß, grau im Geſicht, mit halbwachen Augen 
und ſchluckte widerſtandslos, was ihm eingelöffelt wurde. 
Wahrend der Vater ihn mit Suppe fütterte, fühlte ihm 
die Mutter den Puls und war froh, kein Fieber zu finden. 

„Soll ich den Doktor holen?“ fragte Albert, um doch 
auch etwas zu tun, mit unfeſter Stimme. 


„Nein, laß nur,“ ſagte die Mutter. „Pierre kommt 


10 Heſſe, Roßbalde 


1 


ins Bett und wird fein warm gewickelt, dann ſchläft er 
tüchtig aus und wird morgen wieder geſund. Nicht 
wahr, Schatzi?“ 

Der Kleine hörte nicht zu, und er ſchüttelte abwehrend 
den Kopf, als ihm der Vater noch mehr zu eſſen geben 
wollte. 

„Nein, zwingen ſoll er ſich nicht dazu,“ ſagte die Mut— 
ter. „Komm nur mit, Pierre, wir gehen zu Bett, da wird 
alles wieder gut.“ 

Sie nahm ſeine Hand, und er ſtand ſchwerfällig auf. 
Schläfrig folgte er der Mutter, die ihn mit ſich zog. 
Aber in der Türe blieb er ſtehen, verzog das Geſicht und 
krümmte ſich zuſammen, und in einem Anfall von Ubel— 
keit gab er alles wieder von ſich, was er eben gegeſſen 
hatte. 

Veraguth trug ihn ins Schlafzimmer und überließ 
ihn der Mutter. Glockenzüge klangen und Dienſtboten 
liefen treppauf und ab. Der Maler aß einige Biſſen, 
zwiſchenein lief er zweimal wieder zu Pierre hinüber, der 
nun ausgekleidet und gewaſchen in ſeiner meſſingenen 
Bettſtatt lag. Dann kam Frau Adele zurück und berich— 
tete, das Kind ſei ruhig und ohne Schmerzen und ſcheine 
einſchlafen zu wollen. 

Der Vater wandte ſich an Albert: „Was hat Pierre 
geſtern zu eſſen bekommen?“ 

Albert beſann ſich, wandte aber ſeine Antwort an die 
Mutter. 


— sew 
„Es war nichts Befonderes. In Brückenſchwand ließ 
ich Pierre Brot und Milch geben, und zum Mittageſſen 
in Pegolzheim bekamen wir Makkaroni und Koteletten.“ 
Der Vater fragte inquiſitoriſch weiter: „Und ſpäter?“ 
„Er wollte nichts mehr nehmen. Am Nachmittag 
kaufte ich bei einem Gärtner Aprikoſen. Von denen hat 
er nur eine oder zwei gegeſſen.“ 

„Waren ſie reif?“ 

„Ja, natürlich. Du ſcheinſt zu glauben, ich habe ihm 
abſichtlich den Magen verdorben.“ 

Die Mutter bemerkte ſeine Gereiztheit und fragte: 
„Was habt ihr denn?“ 

„Nichts,“ ſagte Albert. 

Veraguth fuhr fort: „Ich glaube gar nichts, ich frage 
nur. Iſt geſtern gar nichts paſſiert? Hat er nie erbro- 
chen? Oder iſt er gefallen? Hat er nie über Schmerzen 
geklagt?“ 

Albert gab mit Ja und Nein knappe Auskunft und 
wünſchte ſehnlich, dieſe Mahlzeit möchte vorüber ſein. 

Als der Vater nochmals auf Zehenſpitzen in Pierres 
Schlafzimmer ging, fand er ihn eingeſchlafen. Das 
blaſſe Kindergeſicht war voll von tiefer Ernſthaftigkeit 
und ſehnlich inbrünſtiger Hingabe an den tröſtenden 
Schlaf. 


Elftes Kapitel 


An dieſem unruhigen Tage malte Johann Veraguth 
fein großes Bild fertig. Erſchreckt und im Herzen beun- 
ruhigt war er von dem kranken Pierre gekommen, und 
es war ihm ſchwerer als je geworden, die in ihm arbei— 
tenden Gedanken zu bändigen und jene vollkommene 
Ruhe zu finden, die das Geheimnis ſeiner Kraft war 
und die er ſo teuer bezahlen mußte. Aber ſein Wille 
war ſtark, es gelang ihm, und das Bild bekam in den 
Stunden des Nachmittags, bei einem ſchönen, weichen 
Lichte, die letzten kleinen Korrekturen und Zuſammen— 
ziehungen. 

Als er die Palette weglegte und ſich vor die Leinwand 
ſetzte, war ihm ſonderbar öde zumut. Er wußte wohl, 
daß dies Bild etwas Beſonderes ſei und daß er damit 
viel gegeben habe. Sich ſelbſt aber fühlte er leer und 
ausgebrannt. Und er hatte keinen Menſchen, dem er 
ſein Werk hätte zeigen können. 

Der Freund war weit weg, und Pierre war krank, 
und ſonſt hatte er niemanden. Wirkung und Widerhall 
feiner Arbeit würde er nur aus gleichgültiger Ferne zu 
ſpüren bekommen, aus Zeitungen und Briefen. Ach, das 


— 149 — 

war nichts, das war weniger als nichts, der Blick eines 
Freundes oder der Kuß einer Geliebten hätte allein ihn 
jetzt freuen, belohnen und ſtärken können. 

Eine Viertelſtunde ſtand er ſtill vor ſeinem Bilde, das 
die Kraft und die guten Stunden einiger Wochen in ſich 
getrunken hatte und ihm leuchtend in die Augen ſah, in— 
deſſen er ſelbſt erſchöpft und fremd vor ſeinem Werke 
ſtand. 

„Ach was, ich werde es verkaufen und meine indiſche 
Reiſe davon bezahlen,“ ſagte er in wehrloſem Zynis— 
mus. Er ſchloß die Türen der Werkſtatt zu und ging ins 
Haus, um nach Pierre zu ſehen, den er ſchlafend fand. 
Der Knabe ſah beſſer aus als am Mittag, der Schlaf 
hatte fein Geſicht gerötet, der Mund ſtand halb offen, 
der Ausdruck von Qual und Troſtloſigkeit war ver⸗ 
ſchwunden. 

„Wie raſch das bei Kindern geht!“ ſagte er in der 
Türe flufternd zu ſeiner Frau. Sie lächelte ſchwach, und 
er ſah, daß auch ſie aufatme und daß auch ihre Sorge 
größer geweſen ſei, als ſie gezeigt hatte. 

Allein mit ſeiner Frau und Albert zu ſpeiſen, ſchien 
ihm nicht verlockend. 

„Ich gehe zur Stadt“, ſagte er, „und bin den Abend 
nicht hier.“ 

Der kranke Pierre lag ſchlummernd in ſeinem Kinder⸗ 
bett, die Mutter verdunkelte das Zimmer und ließ ihn 
allein. 


Ihm träumte, er gehe langfam durch den Blumen— 
garten. Es war alles ein wenig verändert und viel 
größer und weiter als ſonſt, er ging und ging und kam 
an kein Ende. Die Beete waren ſchöner, als er ſie je ge— 
ſehen hatte, aber die Blumen ſahen alle ſonderbar glä— 
ſern, groß und fremdartig aus, und das Ganze glänzte 
in einer traurig toten Schönheit. 

Etwas beklommen umging er ein Rondell mit groß— 
blumigen Sträuchern, ein blauer Schmetterling hing 
ruhig ſaugend an einer weißen Blüte. Es war unnatür⸗ 
lich ſtill, und auf den Wegen lag kein Kies, ſondern 
etwas Weiches, worauf man wie auf Teppichen ging. 

Jenſeits kam ihm ſeine Mama entgegen. Aber ſie 
ſah ihn nicht und nickte ihm nicht zu, ſie ſchaute ſtreng 
und traurig in die Luft und ging lautlos vorüber wie 
ein Geiſt. 

Und bald darauf, auf einem anderen Wege, ſah er 
ebenſo den Vater gehen, und ſpäter Albert, und jeder 
ging ſtill und ſtreng geradeaus, und keiner wollte ihn 
ſehen. Verzaubert liefen ſie einſam und ſteif umher, und 
es ſchien, als müſſe es allezeit ſo bleiben, als werde nie 
ein Blick in ihre ſtarren Augen und nie ein Lachen in ihre 
Geſichter kommen, als werde niemals ein Ton in dieſe 
undurchdringliche Stille wehen und nie der leiſeſte Wind 
die regungsloſen Zweige und Blätter rühren. 

Das Schlimmſte war, daß er ſelber nicht zu rufen ver⸗ 
mochte. Er war durch nichts daran gehindert, es tat ihm 


nichts weh, aber er hatte keinen Mut und keinen rechten 
Willen dazuz er ſah ein, daß alles fo fein müſſe und daß 
es nur noch ſchrecklicher würde, wenn man ſich dagegen 
auflehnte. 

Pierre ſpazierte langſam weiter durch die ſeelenloſe 
Gartenpracht, glänzend ſtanden tauſend herrliche Blu— 
men in der hellen, toten Luft, als wären ſie nicht wirklich 
und lebendig, und von Zeit zu Zeit traf er Albert oder die 
Mutter oder den Vater wieder an, und ſie wandelten an 
ihm und aneinander ſtets in derſelben ſtarren Fremdheit 
vorüber. 

Ihm ſchien, als ſei es ſo ſchon lange Zeit, vielleicht 
Jahre, und jene anderen Zeiten, da die Welt und der 
Garten lebendig und die Menſchen froh und geſprächig 
geweſen waren und er ſelber voll Luſt und Wildheit, jene 
Zeiten lägen undenkbar weit in einer tiefen, blinden Ver⸗ 
gangenheit. Vielleicht war es immer ſo geweſen wie 
jetzt, und das Frühere war nur ein hübſcher, närriſcher 
Traum. 

Schließlich kam er an ein kleines ſteinernes Waſſer— 
becken, wo der Gärtner früher die Gießkannen gefüllt 
und worin er ſelber einmal ein paar winzige Kaulquap— 
pen gehalten hatte. Das Waſſer ſtand regungslos in 
grüner Helle, es ſpiegelte den Steinrand und die über— 
hängenden Blätter einer Staude mit gelben Sternblu— 
men und ſah hübſch, verlaſſen und irgendwie unglücklich 
aus, wie alles andere. 


„Wenn man da hineinfällt, dann ertrinkt man und iſt 
tot,“ hatte der Gärtner früher einmal geſagt. Es war 
aber gar nicht tief. 

Pierre trat an den Rand des ovalen Beckens und 
beugte ſich vor. 

Da ſah er ſein eigenes Geſicht im Waſſer geſpiegelt. 
Es ſah aus wie die Geſichter der anderen: alt und bleich 
und tief in gleichgültiger Strenge erſtarrt. 

Er ſah es erſchreckt und verwundert, und plötzlich ſtieg 
die heimliche Furchtbarkeit und ſinnloſe Traurigkeit 
ſeines Zuſtandes übermächtig in ihm auf. Er verſuchte 
zu ſchreien, aber es gab keinen Ton. Er wollte laut auf— 
weinen, aber er konnte nur das Geſicht verziehen und 
hilflos grinſen. 

Da kam fein Vater wieder gegangen, und Pierre wen⸗ 
dete ſich zu ihm in einer ungeheuren Anſtrengung aller 
gebannten Seelenkräfte. Alle Todesangſt und alles un- 
erträgliche Leid ſeines verzweifelten Herzens flüchtete ſich 
in ſtummem Schluchzen hilfebegehrend zum Vater, der 
in ſeiner geſpenſtiſchen Ruhe herankam und ihn wieder 
nicht zu ſehen ſchien. 

„Vater!“ wollte der Knabe rufen, und obwohl kein 
Ton zu hören war, drang doch die Gewalt ſeiner furcht— 
baren Not zu dem ſtillen Einſamen hinüber. Der Vater 
wendete das Geſicht und ſah ihn an. 

Er fal ihm aufmerkſam mit ſeinem ſuchenden Maler— 
blick in die flehenden Augen, er lächelte ſchwach, und er 


oe tile 
nickte ihm leiſe zu, gütig und bedauernd, aber ohne Troſt, 
als ſei hier durchaus nicht zu helfen. Einen kleinen Augen— 
blick lief ein Schatten von Liebe und von verwandtem 
Leid über ſein ſtrenges Geſicht, und in dieſem kleinen 
Augenblick war er nicht der mächtige Vater mehr, ſon— 
dern eher ein armer, hilfloſer Bruder. 

Dann richtete er den Blick wieder geradeaus und ging 
langſam in demſelben gleichmäßigen Schritt davon, den 
er nicht unterbrochen hatte. 

Pierre ſah ihn gehen und verſchwinden, der kleine 
Weiher und der Weg und der Blumengarten wurden 
dunkel vor ſeinen entſetzten Augen und ſanken dahin wie 
Nebelgewölk. Er erwachte mit ſchmerzenden Schläfen 
und brennend trockener Kehle, fab ſich allein im dämme⸗ 
rigen Stübchen zu Bette liegen, verſuchte verwundert 
zurückzudenken, fand aber keine Erinnerungen und legte 
fic) erſchöpft und mutlos auf die andere Seite. 

Nur langſam kam ihm das volle Bewußtſein wieder 
und ließ ihn aufatmen. Es war häßlich, krank zu fein und 
Kopfſchmerzen zu haben, aber es war zu ertragen, und 
es war leicht und ſüß im Vergleich mit dem tödlichen 
Gefühl des Angſttraumes. 

Wozu ſoll all die Quälerei gut ſein? dachte Pierre 
und kroch unter der Decke eng zuſammen. Wozu wurde 
man krank? Wenn es eine Strafe war — für was ſollte 
er denn geſtraft werden? Er hatte nicht einmal etwas 
Verbotenes gegeſſen, wie früher einmal, wo er ſich an 


— 154 — 
halbreifen Pflaumen verdorben hatte. Die waren ihm 
verboten geweſen, und da er ſie trotzdem gegeſſen hatte, 
geſchah es ihm recht und er mußte die Folgen tragen. 
Das war klar. Aber jetzt? Warum lag er jetzt im Bett, 
warum hatte er erbrechen müſſen und warum ſtach es 
ſo jammervoll in ſeinem Kopf? 

Er war lange wach gelegen, als ſeine Mutter wie— 
der ins Zimmer kam. Sie zog den Vorhang am Fenſter 
zurück, weiches Abendlicht floß voll und mild herein. 

„Wie geht's, Liebling? Haſt du ſchön geſchlafen?“ 

Er gab keine Antwort. Auf der Seite liegend, wen— 
dete er die Augen empor und blickte ſie an. Verwundert 
hielt ſie dem Blick ſtand, er war merkwürdig prüfend 
und ernſthaft. 

„Kein Fieber“, dachte ſie getröſtet. 

„Willſt du jetzt etwas zu eſſen haben?“ 

Pierre ſchüttelte ſchwach den Kopf. 

„Kann ich dir nichts bringen?“ 

„Waſſer“, ſagte er leiſe. 

Sie gab ihm zu trinken, doch nahm er nureinen Vogel— 
ſchluck, dann ſchloß er die Augen wieder. 

Plötzlich klang von Mutters Zimmer her rauſchend 
das Klavier. In breiter Woge ſchwollen die Töne heran. 

„Hörſt du?“ fragte Frau Adele. 

Pierre hatte die Augen weit geöffnet und ſein Geſicht 
verzog ſich wie in Qualen. 

„Nicht!“ rief er, „nicht! Laßt mich doch!“ 


i ht 

Und er hielt ſich mit beiden Händen die Ohren zu und 
wühlte den Kopf ins Kiſſen ein. 

Seufzend ging Frau Veraguth hinüber und bat Al— 
bert, er möge nicht weiterſpielen. Sie kam zurück und 
blieb an Pierres Bettchen ſitzen, bis er wieder einge— 
ſchlummert war. 

Dieſen Abend war es ganz ſtill im Hauſe. Veraguth 
war fort, Albert war verſtimmt und litt darunter, daß 
er nicht Klavier ſpielen durfte. Man ging früh zu Bett, 
und die Mutter ließ ihre Türe offen ſtehen, um Pierre zu 
hören, falls er in der Nacht etwas brauche. 


Zwölftes Kapitel 


Der Maler hatte am Abend bei ſeiner Rückkehr aus 
der Stadt ſein Haus aufmerkſam umſchlichen und mit 
Sorge geſpäht und gelauſcht, ob nicht ein erleuchtetes 
Fenſter, ein Türengehen, eine Stimme ihm verkünde, 
daß ſein Liebling noch krank ſei und leide. Als er alles 
ſtill, beruhigt und ſchlafend fand, fiel die Angſt von ihm 
ab wie ein ſchweres, naſſes Kleid, und dankbar lag er 
noch lange wach. Und noch kurz vor dem ſpäten Gin- 
ſchlummern mußte er lächeln und ſich wundern, wie 
wenig dazu gehöre, um ein verzagtes Herz froh zu 
machen. Alles, was ihn plagte und beſchwerte, die ganze 
dumpfe, trübe Laſt ſeines Lebens ward zu nichts, ward 
leicht und unbedeutend neben der Liebesſorge um ſein 
Kind, und kaum ſah er dieſen ſchlimmen Schatten wei— 
chen, da ſchien ihm alles heller und alles erträglich zu ſein. 

In guter Stimmung kam er am Morgen zu unge— 
wohnt früher Stunde ins Haus, fand voll Dankbarkeit 
den Kleinen noch prächtig ſchlafend und nahm das Früh— 
ſtück mit ſeiner Frau allein, denn auch Albert war noch 
nicht aufgeſtanden. Es war ſeit Jahren das erſtemal, 
daß Veraguth zu dieſer Stunde hier im Hauſe und an 
Frau Adeles Tiſche war, und ſie beobachtete ihn mit faſt 


— 0 
mißtrauiſchem Erſtaunen, wie er freundlich und wohl— 
gelaunt, als fei es die alltäglichſte Sache, um eine Taſſe 
Kaffee bat und wie in alten Zeiten ihr Frühſtück teilte. 

Schließlich fiel ihm ſelber ihre abwartende Spannung 
und das Ungewohnte der Stunde auf. 

„Ich bin ſo froh“, ſagte er mit einer Stimme, die ſeine 
Frau an ſchönere Jahre erinnerte. „Ich bin fo froh, daß 
unſer Kleiner wieder in Ordnung zu kommen ſcheint. 
Ich merke erſt jetzt, daß ich ernſtlich um ihn in Sorge 
war.“ 

„Ja, er gefiel mir geſtern gar nicht“, ſtimmte ſie bei. 

Er ſpielte mit dem ſilbernen Kaffeelöffel und ſah ihr 
beinahe ſchelmiſch in die Augen, mit einem ſchwachen 
Abglanz der plötzlich ausbrechenden und nie lange wäh⸗ 
renden, knabenhaften Heiterkeit, die ſie ehemals an ihm 
beſonders geliebt und deren zartes Strahlen nur Pierre 
von ihm geerbt hatte. 

„Ja,“ begann er munter, „es iſt wirklich ein Glück. 
Und jetzt komme ich auch endlich dazu, über meine neue- 
ſten Pläne mit dir zu ſprechen. Ich meine, du ſollteſt 
im Winter mit den beiden Jungen nach Sankt Moritz 
gehen und recht lange dort bleiben.“ 

Unſicher blickte ſie nieder. 

„Und du?“ fragte ſie. „Willſt du dort oben malen?“ 

„Nein, ich werde nicht mitkommen. Ich werde euch 
alle eine Weile euch felber überlaſſen und verreiſen. Ich 
will im Herbſt wegfahren und das Atelier abſchließen. 


— 148 — 


Robert bekommt Urlaub. Es ſteht dann ganz bei dir, ob 
du den Winter hier auf Roßhalde bleiben willſt. Ich 
würde nicht dazu raten, geh lieber nach Genf oder Paris, 
und vergiß Sankt Moritz nicht, das wird Pierre gut 
tun!“ 

Ratlos ſchlug ſie die Augen zu ihm auf. 

„Du machſt Spaß“, ſagte fie ungläubig. 

„Ach nein,“ lächelte er halb wehmütig, „das habe ich 
ganz verlernt. Es iſt mein Ernſt, und du mußt es ſchon 
glauben. Ich will eine Seereiſe machen und längere Zeit 
wegbleiben.“ 

„Eine Seereiſe?“ 

Sie beſann ſich mit Anſtrengung. Seine Vorſchläge, 
ſeine Andeutungen, ſein fröhlicher Ton, alles war ihr 
ungewohnt und machte ſie mißtrauiſch. Aber plötzlich 
tat das Wort „Seereiſe“ eine Vorſtellung in ihr auf: ſie 
fab ihn ein Schiff beſteigen, Träger mit Koffern hinter- 
her, ſie erinnerte ſich an die Bilder auf Plakaten der 
Schiffsgeſellſchaften und an ihre eigenen Reiſen im 
Mittelmeer, und in einem Augenblick ward ihr alles 
durchſichtig. 

„Du gehſt mit Burkhardt!“ rief ſie lebhaft. 

Er nickte. „Ja, ich reiſe mit Otto.“ 

Beide ſchwiegen eine Weile. Frau Adele war betroffen 
und fühlte ahnungsvoll die Bedeutung der Nachricht. 
Vielleicht wollte er fie verlaſſen und freigeben? Jeden— 
falls war es ein erſter ernſthafter Verſuch nach dieſer 


- ep 
Seite, und fie erſchrak im Herzen darüber, wie wenig 
Aufruhr, Sorge und Hoffnung ſie dabei empfinde und 
wie gar keine Freude. Mochte für ihn noch ein neues 
Leben möglich ſein, für ſie war es nicht ſo. Sie würde 
es mit Albert leichter haben, und ſie würde Pierre ge— 
winnen, ja, aber ſie würde eine verlaſſene Frau ſein und 
bleiben. Hundertmal hatte ſie ſich das vorgeſtellt, und 
es hatte wie Freiheit und Erlöſung ausgeſehen; und 
heute, da es ſchien, als könne Wirklichkeit daraus wer— 
den, war ſo viel Bangigkeit und Scham und Schuld— 
gefühl dabei, daß ſie verzagte und keines Wunſches 
mehr fähig war. Das hätte früher kommen müſſen, 
fühlte ſie, in den Zeiten der Nöte und Stürme, noch ehe 
fie Reſignation gelernt hatte. Nun kam es zu {pat und 
unnütz, nun war es nichts mehr als ein Strich unter 
erledigte Dinge, es war nur noch Abſchluß und bittere 
Beſtätigung alles Verborgenen, Halbeingeſtandenen, 
und es glommen keine Funken neuer Lebenslockung mehr 
darin. 

Veraguth las aufmerkſam im beherrſchten Geſicht 
ſeiner Frau, und ſie tat ihm leid. 

„Es ſoll ein Verſuch fein”, ſagte er ſchonend. „Ihr 
ſollt einmal ungeſtört miteinander leben, du und Albert 
— und auch Pierre, fagen wir etwa für ein Jahr. Ich 
dachte mir, es würde dir bequem ſein, und für die Kinder 
wäre es gewiß ganz gut. Sie leiden doch beide etwas 
darunter, daß — — daß wir nicht fo recht mit dem Leben 


— 160 — 


fertig geworden find. Auch uns ſelber wird bei einer lange- 
ren Trennung alles klarer werden, meinſt du nicht?“ 

„Es mag fein”, ſagte ſie leiſe. „Dein Entſchluß ſcheint 
ja feſtzuſtehen.“ 

„Ich habe Otto ſchon geſchrieben. Es wird mir ja 
nicht leicht, von euch allen ſo lange fortzugehen.“ 

„Von Pierre, meinſt du.“ 

„Beſonders von Pierre, ja. Ich weiß, du wirſt gut 
für ihn ſorgen. Ich kann nicht erwarten, daß du ihm viel 
von mir ſprechen wirſt; aber laß es mit ihm nicht gehen 
wie mit Albert!“ 

Sie ſchüttelte abwehrend den Kopf. 

„Das war nicht meine Schuld, du weißt es.“ 

Vorſichtig legte er ihr die Hand auf die Schulter, mit 
unbeholfener, lange nicht geübter Zartheit. 

„Ach, Adele, laß uns nicht von Schuld reden. Es ſoll 
alle Schuld bei mir fein. Ich will ja gutzumachen ver- 
ſuchen, nichts anderes. Ich bitte nur, laß mich Pierre 
nicht verlieren, wenn es ſein kann! Durch ihn ſind wir 
noch verbunden. Sieh zu, daß ſeine Liebe zu mir ihm 
nicht ſchwer gemacht wird.“ 

Sie ſchloß die Augen, als wolle fie ſich gegen eine Ver: 
führung ſchützen. 

„Wenn du ſo lange fort biſt — -“ ſagte fie zögernd. 
„Er iſt ein Kind —“ 

„Gewiß. Laß ihn ein Kind bleiben! Laß ihn mich ver: 
geſſen, wenn es nicht anders geht! Aber denke, er iſt ein 


— 161 — 


Pfand, das ich dir laſſe, und denke, ich muß viel Ver— 
trauen haben, um es dir laſſen zu können.“ 

„Ich höre Albert kommen,“ flüſterte ſie raſch, „er 
wird gleich da ſein. Wir reden noch darüber. Es iſt 
nicht ſo einfach, wie du denkſt. Du gibſt mir Frei— 
heit, mehr als ich je gehabt und je gewünſcht, und 
du legſt mir zugleich eine Verantwortung auf, die 
mir alle Unbefangenheit nimmt! Laß mich noch dar— 
über denken. Auch du haſt wohl deinen Entſchluß nicht 
in einer Stunde gefaßt, ſo laß auch mich ein wenig Zeit 
haben.“ 

Man hörte Schritte vor der Türe, und Albert kam 
herein. 

Verwundert ſah er den Vater daſitzen. Er grüßte un⸗ 
frei, gab Frau Adele einen Kuß und ſetzte ſich an den 
Frühſtückstiſch. 

„Ich habe eine Überraſchung für dich,“ fing Vera— 
guth behaglich an. „Die Herbſtferien kannſt du mit 
Mama und Pierre verbringen, wo ihr wollt, und 
auch die Weihnachtszeit. Ich werde mehrere Monate 
auf Reiſen ſein.“ 

Der Jüngling konnte ſeine Freude nicht verbergen, 
doch gab er ſich Mühe und ſagte eifrig: „Wohin willſt 
du denn reiſen?“ 

„Ich weiß noch nicht genau. Zunächſt fahre ich mit 
Burkhardt nach Indien.“ 

„Oh, ſo weit fort! Ein Schulfreund von mir iſt dort 


11 Heſſe, Roßhalde 


— 162 — 


geboren, ich glaube in Singapore. Da gibt es noch 
Tigerjagden.“ 

„Ich hoffe, ja. Wenn ich einen ſchieße, bringe ich 
das Fell natürlich mit. Aber hauptſächlich will ich dort 
malen.“ 

„Das kann ich mir denken. Ich las von einem fran: 
zöſiſchen Maler, der irgendwo in den Tropen war, auf 
fo einer Inſel in der Südſee, glaube ich — es muß bert: 
lich ſein.“ 

„Nicht wahr? Und ihr werdet inzwiſchen vergnügt 
ſein und viel muſizieren und Ski laufen. Aber nun will 
ich ſehen, was der Kleine macht. Laßt euch nicht ſtören!“ 

Er war hinaus, noch ehe jemand geantwortet hatte. 

„Manchmal iſt Papa doch großartig,“ ſagte Albert 
in ſeiner Freude. „Dieſe Reiſe nach Indien, das gefällt 
mir, das hat Stil.“ 

Seine Mutter lächelte mühſam. Ihr Gleichgewicht 
war geſtört, und fie hatte das Gefühl, auf einem Aſt zu 
ſitzen, der eben angefdgt wird. Aber fie ſchwieg und 
brachte eine freundliche Miene zuſammen, darin hatte 
fie bung. 

Der Maler war bei Pierre eingetreten und hatte ſich 
an ſein Bett geſetzt. Leiſe holte er ein ſchmales Skizzen⸗ 
buch hervor und begann den Kopf und Arm des kleinen 
Schläfers zu zeichnen. Er wollte, ohne Pierre mit Sitzun⸗ 
gen zu quälen, ihn in dieſer Zeit noch ſo oft und ſo gut 
als immer möglich feſthalten und ſich einprägen. Mit 


— 163 — 


zärtlicher Aufmerkſamkeit bemühte er ſich um die lieben 
Formen, um den Fall und Strich des zarten Haares, um 
die hübſchen, nervöſen Naſenflügel, um die dünne, 
willenlos ruhende Hand und um die eigenwillig raſſige 
Linie des feſtgeſchloſſenen Mundes. 

Er ſah den Knaben ſelten im Bett, und es war das 
erſtemal, daß er ihn nicht mit kindlich geöffneten Lippen 
ſchlafen ſah, und indem er den frühreifen, ausdrucks— 
vollen Mund beobachtete, fiel ihm die Ahnlichkeit mit 
dem Munde ſeines Vaters, Pierres Großvaters, auf, 
der ein kühner und phantaſievoller, aber leidenſchaftlich 
raſtloſer Menſch geweſen war, und während er ſchaute 
und arbeitete, beſchäftigte ihn dies ſinnvolle Spiel der 
Natur mit den Zügen und Schickſalen der Väter, Söhne 
und Enkel, und es ſtreifte ihm, der kein Denker war, das 
ſorgenvoll köſtliche Rätſel der Folge und Notwendigkeit 
die Seele. 

Und plötzlich ſchlug der Schlafende die Augen auf 
und blickte in die des Vaters, und wieder fiel es dem Va⸗ 
ter auf, wie unkindlich ernſthaft dieſer Blick und dies Er⸗ 
wachen ſei. Er hatte den Bleiſtift ſofort weggelegt und 
das Büchlein zugeklappt, nun beugte er fic) über den Er⸗ 
wachten, küßte ihm die Stirn und ſagte fröhlich: „Guten 
Morgen, Pierre. Geht es beſſer?“ 

Der Kleine lachelte beglückt und begann ſich zu ſtrecken. 
O ja, es ging beſſer, es ging viel beſſer. Er beſann ſich 
langſam. Ja, geſtern war er krank geweſen, er fühlte noch 


11 * 


— 164 — 


den Schatten des häßlichen Tages herüberdrohen. Aber 
nun war es viel beſſer, er wollte nur noch ein klein 
wenig liegen bleiben und die Wärme und ruhige 
Dankbarkeit dieſes Zuſtandes koſten, dann würde er 
aufſtehen und frühſtücken und mit Mama in den Gar- 
ten gehen. 

Der Vater ging, um Mama zu holen. Blinzelnd ſah 
Pierre nach dem Fenſter, wo der helle, frohe Tag durch 
die gelblichen Vorhänge ſchien. Das war nun ein Tag, 
der etwas verſprach, der nach allen möglichen Freuden 
duftete. Wie war das geſtern ſchal und kalt und dumpf 
geweſen! Er ſchloß die Augen, um das zu vergeſſen, und 
fühlte in den ſchlafträgen Gliedern das liebe Leben ſich 
dehnen. 

Und jetzt kam die Mutter, ſie brachte ihm ein Ei und 
eine Taſſe Milch ans Bett, und Papa verſprach ihm 
neue Farbſtifte, und alle waren lieb und zärtlich und 
hatten eine Freude daran, ihn wieder geſund zu ſehen. 
Es war beinahe wie ein Geburtstag, und daß der Kuchen 
fehlte, ſchadete gar nichts, denn richtigen Hunger hatte er 
noch immer nicht. 

Gleich nachdem er angekleidet war, in einen friſchen, 
blauen Sommeranzug, ging er zu Papa in das Atelier. 
Er hatte den häßlichen Traum von geſtern vergeſſen, 
aber in ſeinem Herzen zitterte noch ein Widerhall von 
Schrecken und Leid, und er mußte nun fehen und genießen, 
daß wirklich Sonne und Liebe um ihn war. 


— 164 — 


Der Vater maß den Rahmen für fein neues Bild aus 
und empfing ihn voller Freude. Pierre wollte jedoch nicht 
lange dableiben, er wollte nur guten Tag ſagen und ſich 
ein wenig liebhaben laſſen. Dann mußte er weiter, zum 
Hunde und zu den Tauben, zu Robert und in die Küche, 
und mußte alles wieder begrüßen und in Beſitz nehmen. 
Darauf ging er mit Mama und Albert in den Garten, 
und es ſchien ihm ein Jahr vergangen, ſeit er hier im 
Gras gelegen und geweint hatte. Schaukeln mochte er 
nicht, aber er legte ſeine Hand auf das Schaukelbrett, er 
ging zu den Sträuchern und Blumenbeeten, und eine 
dunkle Erinnerung wie aus einem vorigen Leben wehte 
ihn an, als ſei er einmal hier zwiſchen den Beeten allein, 
verlaſſen und troſtlos irrgelaufen. Nun war alles wieder 
licht und lebendig, die Bienen ſangen, und die Luft war 
leicht und froh zu atmen. 

Er durfte Mutters Blumenkorb tragen, ſie taten Nel⸗ 
ken und große Dahlienblumen hinein, daneben aber 
machte er noch einen beſonderen Strauß, den wollte er 
fpater dem Vater bringen. 

Als man ins Haus zurückkam, war er müde geworden. 
Albert erbot ſich, mit ihm zu ſpielen, aber erſt wollte 
Pierre ein wenig ausruhen. Er ſetzte ſich tief in Mutters 
großen Korbſtuhl auf der Veranda, den Strauß für 
Papa hatte er noch in der Hand. 

Er fühlte ſich angenehm ermattet, er ſchloß die Augen, 
wandte ſich gegen die Sonne und freute ſich, wie das 


— 166 — 


Licht ihm rot und warm durch die Lider ſchien. Dann 
blickte er befriedigt an ſeinem hübſchen, reinen Anzug 
hinab und ſtreckte ſeine blanken gelben Schuhe ins Gon- 
nenlicht, abwechſelnd den rechten und den linken. Er fand 
es ſchön, ſo ſtill und etwas matt in Behaglichkeit und 
Reinlichkeit zu ſitzen, nur die Nelken dufteten allzu ſtark. 
Er legte ſie weg und ſchob ſie auf dem Tiſch von ſich fort, 
ſo weit ſein Arm reichte. Er mußte ſie bald ins Waſſer 
tun, damit ſie nicht welk würden, ehe der Vater ſie ſähe. 

Mit ungewohnter Zärtlichkeit dachte er an ihn. Wie 
war das doch geſtern geweſen? Er hatte ihn im Atelier 
aufgeſucht, und Papa hatte gearbeitet und keine Zeit 
gehabt, und er war ſo allein und fleißig und etwas trau⸗ 
tig vor ſeinem Bilde geſtanden. Soweit erinnerte er ſich 
genau an alles. Aber ſpäter? War ihm ſpãter nicht der 
Vater im Garten begegnet? Er verſuchte mit Anſtren— 
gung ſich zu erinnern. Ja, Vater war im Garten hin und 
her gegangen, allein und mit einem fremden, ſchmerz— 
lichen Geſicht, und er hatte ihn rufen wollen ... Wie war 
das geweſen? Es war irgend etwas Schreckliches oder 
Grauſiges, was geſtern geſchehen war oder wovon er 
geſtern gehört hatte, und er konnte es nicht wiederfinden. 

Im tiefen Seſſelzurückgelehnt ging er ſeinen Gedanken 
nach. Die Sonne ſchien gelb und warm auf ſeine Knie, 
aber die Fröhlichkeit wich ganz allmählich von ihm. Er 
fühlte, daß ſeine Gedanken ſich jenem Grauſigen mehr 
und mehr näherten, und er fühlte: ſobald er es gefunden 


1 
— = 


— 167 — 


habe, werde es wieder Macht über ihn haben; es ſtand 
hinter ihm und wartete. So oft ſeine Erinnerung nahe 
an jene Grenze kam, ſtieg ein beklemmendes Gefühl wie 
Übelkeit und Schwindel in ihm auf, und ſein Kopf be— 
gann leiſe zu ſchmerzen. 

Die Nelken ſtörten ihn mit ihrem überſtarken Geruch. 
Sie lagen auf dem ſonnigen Korbtiſch und wurden welk, 
und wenn er ſie dem Vater noch geben wollte, ſo war es 
jetzt Zeit. Aber er mochte nicht mehr, vielmehr er mochte 
ſchon, aber er war fo müde, und das Licht tat ihm in den 
Augen weh. Und vor allem mußte er nachdenken, was 
da geſtern geſchehen war. Er ſpürte, er ſei ganz nahe 
daran und brauche nur mit den Gedanken danach zu 
greifen, aber immer ſchwand es wieder dahin und war 
weg. 

Der Kopfſchmerz nahm zu. Ach, warum mußte das 
ſein? Er war doch heut ſo vergnügt geweſen! 

Frau Adele rief vor der Türe ſeinen Namen und kam 
gleich darauf herein. Sie ſah die Blumen an der Sonne 
liegen und wollte Pierre nach Waſſer ſchicken, da ſah ſie 
ihn an und ſah ihn ſchlaff und eingeſunken im Seſſel 
hängen und große Tränen auf ſeinen Wangen. 

„Pierre, Kind, was iſt? Biſt du nicht wohl?“ 

Er ſah ſie an, ohne ſich zu bewegen, und ſchloß die 
Augen wieder. 

„Rede doch, Herz, was fehlt dir? Willſt du ins Bett? 
Wollen wir ein Spiel machen? Haſt du Schmerzen?“ 


— 168 — 


Er ſchüttelte den Kopf und machte ein abwehrendes 
Geſicht, als belaftige fie ihn. 

„Laß mich,“ ſagte er flüſternd. 

Und da ſie ihn aufrichtete und an ſich nahm, ſchrie er, 
einen Augenblick wie in Wut aufflackernd, mit entſtellter 
hoher Stimme: „So laß mich doch!“ 

Gleich darauf ließ ſein Sträuben nach, er ſank in ihren 
Armen zuſammen, und da ſie ihn aufhob, ſtõöhnte er 
ſchwach, ſenkte gequält das erbleichte Geſicht vornüber 
und ſchůttelte ſich in einem Anfall von Erbrechen. 


Dreizehntes Kapitel 


Seit Veraguth allein in ſeinem kleinen Neubau 
wohnte, war ſeine Frau kaum jemals bei ihm drüben ge— 
weſen. Als ſie nun, ohne anzuklopfen, ſchnell und erregt 
in ſeine Werkſtatt trat, war er alsbald auf eine ſchlimme 
Nachricht gefaßt, und ſo ſicher warnte ihn der Inſtinkt, 
daß er, noch ehe ſie ein Wort hatte ſagen können, heraus⸗ 
fuhr: „Iſt etwas mit Pierre?“ 

Sie nickte haſtig. 

„Er muß ernſtlich krank ſein. Er war vorher ganz ſon— 
derbar, und eben hat er wieder erbrochen. Du mußt den 
Doktor holen.“ 

Während ſie ſprach, flog ihr Blick durch den leeren, 
großen Raum und blieb an dem neuen Bilde hängen. 
Sie ſah die Figuren nicht, ſie erkannte nicht einmal die 
Geſtalt des kleinen Pierre, ſie ſtarrte nur auf die Lein— 
wand und atmete die Luft des Raumes, in dem ihr Mann 
ſeit Jahren lebte, und mit dumpfer Ahnung fühlte ſie 
hier eine ähnliche Atmoſphãre von Einſamkeit und trotzi⸗ 
gem Selbſtgenügen wie die, in welcher fie felber ſchon fo 
lange lebte. Es war nur ein Augenblick, dann wandte ſie 
den Blick von dem Bilde ab und ſuchte dem Maler Ant- 
wort zu geben, der heftig durcheinander fragte. 


— 170 — 


„Bitte, telephoniere ſofort nach einem Automobil,“ 
ſagte er ſchließlich, „das geht raſcher als mit dem Wagen. 
Ich fahre ſelber in die Stadt, ich muß mir nur eben die 
Hände waſchen. Ich komme ſofort hinüber. Du haſt ihn 
doch zu Bett gebracht?“ 

Eine Viertelſtunde ſpäter ſaß er im Automobil und 
ſuchte den einzigen Arzt, den er kannte und der früher 
manchmal ins Haus gekommen war. In der alten Wob- 
nung fand er ihn nicht mehr, er war umgezogen. Auf der 
Suche nach der neuen Wohnung begegnete er ſeinem 
Wagen, der Sanitätsrat grüßte ihn, er dankte und war 
ſchon vorüber, als ihm klar wurde, daß er es ſei, den er 
ſuche. Er kehrte um und fand den Arztwagen vor dem 
Hauſe eines Patienten halten, wo er eine peinliche Weile 
warten mußte. Dann fing er den Sanitätsrat in der 
Haustüre ab und nötigte ihn in ſein Automobil. Der 
Arzt ſträubte und wehrte ſich, er mußte beinahe Gewalt 
brauchen, um ihn mitzubekommen. 

Im Wagen, der ſofort mit der größten Eile gegen 
Roßhalde hinausfuhr, legte der Arzt ihm die Hand aufs 
Knie und ſagte: „Gut denn, ich bin Ihr Gefangener. 
Ich muß andere warten laſſen, die mich brauchen, das 
wiſſen Sie. Alſo, wo fehlt es? Iſt Ihre Frau krank? — 
Nicht? — Alſo der Kleine. Wie heißt er doch? Pierre, 
richtig. Ich habe ihn lang nimmer geſehen. Was iſt es 
denn? Iſt er verunglückt?“ 

„Er iſt krank, ſeit geſtern. Heut früh ſchien er wieder 


in Ordnung zu fein, er war auf und hat auch ein wenig 
gegeſſen. Jetzt erbricht er plötzlich wieder und ſcheint 
Schmerzen zu haben.“ 

Der Arzt fuhr ſich mit der mageren Hand über das 
klughäßliche Geſicht. 

„Alſo wohl der Magen. Wir werden ja ſehen. Sonſt 
iſt alles wohl bei Ihnen? Letzten Winter habe ich Ihre 
Ausſtellung in München geſehen. Wir ſind ſtolz auf Sie, 
Verehrter.“ 

Er ſah auf die Uhr. Sie ſchwiegen beide, als der Wagen 
die Uberfesung wechſelte und mit lauterem Keuchen 
bergan fuhr. Bald waren ſie draußen und mußten am 
Hoftor abſteigen, das nicht geöffnet war. 

„Warten Sie auf mich,“ rief der Sanitätsrat dem 
Chauffeur zu. Dann ſchritten ſie raſch über den Hof und 
ins Haus. Die Mutter ſaß bei Pierres Bett. 

Nun hatte der Arzt plötzlich Zeit. Ohne Eile ging er an 
die Unterſuchung, verſuchte den Knaben zum Plaudern 
zu bringen, hatte gütig beruhigende Worte für die Mut— 
ter und ſchuf in aller Gelaſſenheit eine Atmoſphäre von 
Vertrauen und Sachlichkeit, die auch Veraguth wohltat. 

Pierre zeigte kein Entgegenkommen, er verhielt ſich 
ſtill, unwillig und mißtrauiſch. Als man ihm den Bauch 
abtaſtete und drückte, verzog er höhniſch den Mund, als 
finde er dieſe Bemühungen töricht und unnütz. 

„Eine Vergiftung ſcheint ausgeſchloſſen,“ ſagte der 
Sanitätsrat behutſam, „und am Blinddarm iſt gar 


nichts zu finden. Es iff wohl einfach ein verdorbener 
Magen, und für den iſt Abwarten und Faſten das beſte. 
Geben Sie dem Jungen heute nichts als ein wenig 
ſchwarzen Tee, falls er Durſt hat, abends kann er auch 
einen kleinen Schluck Bordeaux haben. Falls alles gut 
bleibt, bekommt er morgen zum Frühſtück Tee und Zwie— 
back. Sollte er Schmerzen bekommen, ſo können Sie mir 
ja telephonieren.“ 

Erſt an der Türe draußen fing Frau Veraguth zu fra- 
gen an. Sie bekam aber keine weitere Auskunft. 

„Der Magen ſcheint tüchtig verſtimmt, und das 
Kind iſt offenbar ſenſibel und nervös. Von Fieber 
keine Spur. Sie können ihn ja abends meſſen. Der 
Puls iſt etwas matt. Sollte es nicht beſſer werden, ſo 
komme ich morgen wieder her. Mir ſcheint, es iſt nichts 
Ernſtliches.“ 

Er empfahl ſich raſch und war nun wieder ſehr eilig. 
Veraguth begleitete ihn bis zum Wagen. 

„Kann das lange dauern?“ fragte er im letzten 
Augenblick. 

Der Arzt lachte hart. 

„Ich hätte Sie nicht für ſo ängſtlich gehalten, Herr 
Profeſſor. Der Junge iſt etwas zart, und verdorbene 
Mägen haben wir als Kinder alle oft genug gehabt. 
Guten Morgen!“ 

Veraguth wußte ſich im Hauſe entbehrlich und ſchlen⸗ 
derte nachdenklich feldeinwärts. Die knappe, ſtraffe Art 


2 
des Sanitätsrates hatte ihn beruhigt, und er wunderte 
ſich jetzt ſelbſt, daß er ſo erregt und überängſtlich ge— 
weſen war. 

Mit erleichtertem Gefühl ſchritt er aus und ſog die 
heiße Luft des tiefblauen Spätvormittags ein. Ihm 
ſchien, er mache heute ſchon ſeinen Abſchiedsgang durch 
dieſe Wieſen und Obſtbaumreihen, und es war ihm leid— 
lich wohl und frei zumute. Als er ſich beſann, woher dies 
neue Gefühl einer Entſcheidung und Lofung ihm kommen 
mõge, wurde ihm klar, daß das alles eine Folge des Wor: 
gengeſpräches mit Frau Adele fei. Daß er ihr feine Reiſe— 
plane mitgeteilt hatte, daß fie ibn zunächſt fo ruhig an- 
gehört und keine Verſuche zu irgendeiner Gegenwehr ge- 
macht hatte, daß zwiſchen ſeinem Entſchluß und der Aus— 
führung nun alle Seitenwege und Ausflüchte abgeſchnit— 
ten waren und die nächſte Zukunft ſo klar und eindeutig 
vor ihm lag, das tat ihm wohl, daher kam ihm Beruhi— 
gung und neues Selbſtgefühl. 

Ohne zu wiſſen, wo er gehe, hatte er jenen Weg ein— 
geſchlagen, den er vor einigen Wochen mit ſeinem 
Freunde Burkhardt gegangen war. Erſt als der Feldweg 
zu ſteigen begann, ſah er, wo er ſei, und erinnerte ſich 
jenes Spazierganges mit Otto. Das Wäldchen da oben, 
mit der Bank und mit dem geheimnisvoll helldunkeln 
Durchblick in die klare, bildhaft ferngerückte Landſchaft 
des bläulichen Flußtales, hatte er im Herbſt malen wollen, 
und es war ſeine Abſicht geweſen, Pierre auf die Bank 


— 174 — 
zu ſetzen und den hellen Knabenkopf weich in das braune, 
dunkle Waldlicht zu ſtellen. 

Aufmerkſam ſtieg er empor, die Hitze des nahenden 
Mittags nicht mehr fühlend, und während er ſpähend 
den Augenblick erwartete, wo ihm über den Hügelkamm 
der Waldrand entgegenträte, fiel jener Tag mit Burk— 
hardt ihm wieder ein, er erinnerte ſich an ihre Geſpräche, 
ja an einzelne Worte und Fragen des Freundes, an den 
noch frühſommerlichen Ton der Landſchaft, deren Grün 
ſeither längſt viel tiefer und milder geworden war. Und 
dabei überraſchte ihn ein Gefühl, das er ſeit langem nicht 
mehr kannte und deſſen unerwartete Wiederkehr ihn 
heftig an die Jugendzeit erinnerte. Es ſchien ihm nämlich, 
ſeit jenem Waldgange mit Otto ſei eine lange, lange 
Zeit vergangen und er ſelbſt ſei ſeither gewachſen, anders 
geworden und vorwärts gekommen, ſo daß er auf ſein 
damaliges Ich mit einem gewiſſen ironiſchen Mitleid 
zurückblickte. 

Überraſcht von dieſer fo ganz jugendlichen Empfin—⸗ 
dung, die ihm in der Zeit vor zwanzig Jahren alltäglich 
geweſen war und ihn jetzt wie ein ſeltener Zauber be— 
rührte, überſah er die kurze Zeit dieſes Sommers und 
fand, was er ſoeben und geſtern noch nicht gewußt hatte. 
Er fand ſich, da er ſich der Zeit vor zwei, drei Monaten 
erinnerte, verwandelt und weitergekommen, er fand heute 
Helligkeit und ſichere Ahnung des Weges, wo noch vor 
kurzem nur Dunkelheit und ratloſe Unſicherheit geweſen 


W ive 


= He 
war. Es war, als fei fein Leben nun wieder ein klarer, ent— 
ſchieden nach der ihm beſtimmten Richtung hindrängen— 
der Fluß oder Strom, während es vorher ſo lange Zeit 
in einem fumpfig-ftillen See gezögert und unſchlüſſig 
ſich um ſich ſelber gedreht hatte. Und es wurde ihm klar, 
daß ſeine Reiſe unmöglich hierher zurückführen könne, 
daß er hier nichts mehr zu tun habe als Abſchied zu neh— 
men, einerlei, ob ſein Herz dabei brenne und blute. Sein 
Leben war wieder in Fluß geraten, und ſein Strom ging 
mit Entſchiedenheit nach der Freiheit und Zukunft hin. 
Er hatte von der Stadt und Gegend, er hatte von Nof- 
halde und von ſeiner Frau, ohne darüber klar zu ſein, im 
Innerſten ſich ſchon getrennt und losgeſagt. 

Er blieb tief aufatmend ſtehen, von der Woge hellſich— 
tiger Ahnung gehoben und durchſtrömt. Er dachte an 
Pierre, und ein ſchneidend heller, wilder Schmerz ging 
feindlich durch ſein ganzes Weſen, als ihm gewiß wurde, 
daß er dieſen Weg zu Ende gehen und ſich auch von 
Pierre trennen müſſe. 

So ſtand er lange mit zuckendem Geſicht, und wenn 
es glühender Schmerz war, was er in ſich fühlte, ſo war es 
doch Leben und Licht, war es doch Klarheit und Zukunft. 
Das war es, was Otto Burkhardt von ihm gewollt 
hatte. Das war die Stunde, auf die der Freund gewartet 
hatte. Das war der Schnitt in alte, lang geſchonte Ge— 
ſchwüre, von dem er geſprochen hatte. Der Schnitt tat 
weh, er tat bitter weh, aber mit den preisgegebenen 


Lieblingswünſchen ſtarb auch Unraſt und Uneinigkeit, 
Zwieſpalt und Lähmung der Seele dahin. Es war Tag 
um ihn geworden, grauſam heller, ſchöner, lichter Tag. 

Ergriffen tat er die letzten Schritte zur Hügelhöhe hinan 
und ſetzte ſich auf die beſchattete Steinbank. Ein tiefes 
Lebensgefühl durchquoll ihn wie Wiederkehr der Jugend, 
und in erlöſter Dankbarkeit wandte er ſeine Gedanken zu 
dem fernen Freunde, ohne den er niemals dieſen Weg 
gefunden hãtte, ohne den er für immer in dumpfer kranker 
Gefangenſchaft geblieben und verkommen wäre. 

Indeſſen war es ſeiner Natur nicht gemäß, lange 
nachzudenken oder lange in extremen Stimmungen zu 
verharren. Zugleich mit dem Gefühl der Geneſung und 
des wiedergewonnenen Willens rann ihm ein neues Be- 
wußtſein tätiger Kraft und herrſchſüchtiger perfonlicher 
Macht durch alle Sinne. 

Er erhob ſich, ſchlug die Augen auf und griff mit be: 
lebten Blicken herriſch nach ſeinem neuen Bilde. Er 
ſchaute lang durch den Waldſchatten in das ferne lichte 
Flußtal hinab. Dies wollte er malen, und er wollte nicht 
mehr den Herbſt dazu abwarten. Es war eine heikle Auf— 
gabe, es war eine kapitale Schwierigkeit, es war ein köſt— 
liches Rätſel hier zu löſen: dieſer wunderſame Durchblick 
mußte mit Liebe gemalt werden, er mußte mit ſo viel 
Liebe und Studium gemalt werden, wie ihn ein zarter 
alter Meiſter gemacht hätte, ein Altdorfer oder Dürer. 
Hier konnte die Beherrſchung des Lichtes und deſſen 


— 1977 — 
myſtiſcher Rhythmus nicht das einzige fein, hier mußte 
jede kleinſte Form ihr volles Recht bekommen und ſo 
fein überlegt und abgewogen werden wie die Grafer in 
jenen wunderbaren Feldſträußen ſeiner Mutter. Die 
kühlhelle Ferne des Tales mußte, durch die warme 
Lichtflut des Vorgrundes und den Waldſchatten dop— 
pelt zurückgetrieben, wie ein Edelſtein aus dem Grunde 
des Bildes hervorleuchten, ſo kühl wie ſüß, ſo fremd 
wie lockend. 

Er ſah auf die Uhr, es war Zeit, nach Hauſe zu gehen. 
Er wollte feine Frau heute nicht warten laſſen. Aber vor- 
her zog er doch noch das kleine Skizzenbuch hervor und 
notierte, in der Mittagsſonne am Rand des Hügels {te 
hend, mit kräftigen Strichen das Skelett ſeines Bildes: 
die Maße der Perſpektive, den Ausſchnitt des Ganzen 
und das vielverſprechende Oval der kleinen köſtlichen 
Fernſicht. 

Darüber verſpätete er ſich nun doch ein wenig und 
lief, der Hitze nicht achtend, in Eile den ſteilen ſonnigen 
Weg bergab zurück. Er überlegte, was er zum Malen 
brauchen werde, er beſchloß, morgen ſehr früh aufzu— 
ſtehen, um die Landſchaft auch im erſten Morgenlichte 
zu ſehen, und im Herzen wurde ihm wohl und heiter, da 
er wieder eine ſchöne, lockende Aufgabe auf ſich warten 
wußte. 

„Was macht Pierre?“ war ſeine erſte Frage, als er 
eilig eintrat. f 


12 Heſſe, Roßhalde 


Seat ae ee 


Der Kleine fei ruhig und müde, gab Frau Adele Be— 
richt, er ſcheine keine Schmerzen zu haben und liege ge— 
duldig ſtill. Es ſei am beſten, ihn nicht zu ſtören, er ſei 
merkwürdig empfindlich und fahre auf, ſobald die Türe 
gehe oder ſonſt ein plötzliches Geräuſch zu hören fei. 

„Nun ja,“ nickte er dankend, „ich werde ihn ſpäter 
beſuchen, vielleicht gegen Abend. Entſchuldige, daß ich 
etwas verſpätet kam, ich war draußen und werde die 
nächſten Tage im Freien arbeiten.“ 

Man aß in Frieden und Stille, durch die herabgelaſ— 
ſenen Jalouſien floß ein grünes Licht durch das kühle 
Zimmer, die Fenſter ſtanden alle offen, und man hörte 
in der Mittagsſtille vom Hofe her den kleinen Brunnen 
plätſchern. 

„Du wirſt für Indien eine beſondere Ausrüſtung 
brauchen,“ fragte Albert, „nimmſt du auch Jagdzeug 
mit?“ 

„Ich denke nicht, Burkhardt ift mit allem verſehen. 
Er wird mir ſchon Rat geben. Ich glaube, man muß das 
Malzeug in verloteten Blechkiſten mitnehmen.“ 

„Wirſt du auch einen Tropenhelm tragen?“ 

„Jedenfalls. Den kann man ja unterwegs kaufen.“ 

Als Albert nach Tiſche weggegangen war, bat Frau 
Veraguth ihren Mann noch zu bleiben. Sie ſetzte ſich in 
ihren Korbſtuhl am Fenſter, und er trug ſeinen Seſſel zu 
ihr hinüber. 

„Wann wirſt du denn reiſen?“ fragte ſie einleitend. 


20 

„Oh, das kommt ganz auf Otto an, ich richte mich na— 
türlich nach ihm. Ich denke, etwa Ende September.“ 

„So bald ſchon? Ich habe noch wenig darüber nach— 
denken können. Pierre nimmt mich jetzt eben in Anſpruch. 
Aber ich glaube, du ſollteſt ſeinetwegen nicht zuviel von 
mir verlangen.“ 

„Das will ich auch nicht, ich habe mir das heute noch— 
mals überlegt. Du ſollſt in allem volle Freiheit haben. Ich 
ſehe ein, es geht nicht an, daß ich in der Welt herumreiſe 
und dabei verlange, zugleich hier in deinen Angelegen— 
heiten mitzuſprechen. Du mußt in allem tun, was dir gut 
ſcheint. Du ſollſt nicht weniger Freiheit haben, als ich für 
mich beanſpruche.“ 

„Aber was ſoll mit dem Hauſe hier geſchehen? Allein 
hierbleiben möchte ich nicht, es iſt zu abgelegen und zu 
weitläufig, und es ſind hier auch zu viele Erinnerungen, 
die mich ſtören.“ 

„Ich ſagte dir ſchon, ziehe wohin du willſt. Roßhalde 
gehört dir, das weißt du, und ich werde das vor meiner 
Abreiſe noch ſicherſtellen, für alle Fälle.“ 

Frau Adele war blaß geworden. Sie beobachtete 
ihres Mannes Geſicht mit faſt feindſeliger Aufmerk— 
ſamkeit. 

„Du ſprichſt beinahe ſo,“ warf ſie mit bedrängter 
Stimme hin, „als ob du nicht mehr zurückzukommen 
dächteſt.“ 

Er blinzelte nachdenklich und ſah zu Boden. 


12 * 


— 180 — 


„Mankannnicht wiſſen. Ich habe noch keine Ahnung, 
wie lange ich wegbleiben werde, und daß Indien für 
Leute meines Alters ſehr geſund iſt, glaube ich kaum.“ 

Sie ſchüttelte ſtreng den Kopf. 

„Ich meine nicht das. Sterben können wir alle. Ich 
meine, ob du überhaupt die Abſicht haſt, wiederzukom— 
men.“ 

Er ſchwieg und blinzelte, ſchließlich lächelte er ſchwach 
und erhob ſich. 

„Ich denke, darüber reden wir ein andermal. Es war 
unſer letzter Streit, weißt du, als wir vor einigen Jahren 
dieſe Frage beſprachen. Ich möchte nun hier auf Roß— 
halde keinen Streit mehr haben, mit dir am wenigſten. 
Ich nehme an, du denkſt darüber noch gleich wie da— 
mals. Oder würdeſt du mir heute den Kleinen über— 
laſſen?“ 

Frau Veraguth ſchüttelte ſchweigend den Kopf. 

„Ich dachte es mir,“ ſagte ihr Mann mit Ruhe, „wir 
wollen dieſe Dinge nun ruhen laſſen. Du kannſt, wie ge— 
ſagt, über das Haus verfügen. Es liegt mir nichts daran, 
Roßhalde zu behalten, und wenn du eine Gelegenheit 
findeſt, das Ganze gut zu verkaufen, ſo gib es weg!“ 

„Das iſt nun das Ende von Roßhalde,“ ſagte ſie mit 
einem Ton tiefer Bitterkeit, und ſie dachte dabei an die 
Zeit ihrer Anfänge, an Alberts Babyjahre, an alle ihre 
damaligen Hoffnungen und Erwartungen. Das war 
alſo das Ende davon. 


— 181 — 


Veraguth, der ſich ſchon zur Türe gewandt hatte, 
kehrte noch einmal um und rief ſanft: „Nimm es nicht 
fo ſchwer, Kind! Wenn du magſt, kannſt du ja alles be- 
halten.“ 

Er ging hinaus, nahm dem Hunde die Kette ab und 
ſchritt zum Atelierhaus, von dem jauchzenden Tier um— 
bellt und umſprungen. Was lag ihm an Roßhalde! Das 
gehörte zu den Dingen, mit denen er nichts mehr zu tun 
hatte. Er fühlte ſich jetzt zum erſtenmal ſeiner Frau über⸗ 
legen. Er hatte abgeſchloſſen. Er hatte im Herzen das 
Opfer gebracht, er hatte auf Pierre verzichtet. Seit ſich 
das von ihm geloft hatte, war fein ganzes Weſen nur 
noch nach vorwärts gerichtet. Für ihn war Roßhalde 
erledigt, erledigt wie die vielen anderen fehlgeſchlagenen 
Hoffnungen von ehemals, erledigt wie die Jugendzeit. 
Unnütz, darum zu klagen! 

Er ſchellte, und Robert kam gelaufen. 

„Ich werde einige Tage im Freien malen. Sie müſſen 
nach dem kleineren Malkaſten ſehen, auch nach dem 
Schirm, bis morgen muß alles in Ordnung ſein. Um 
halb ſechs Uhr wecken Sie mich.“ 

„Sehr wohl, Herr Veraguth.“ 

„Sonſt nichts. Das Wetter wird doch halten? Was 
meinen Sie?“ 

„Ich glaube, es wird wohl halten ... Entſchuldigen 
Sie aber, Herr Veraguth, ich möchte Sie noch etwas 


fragen.“ 


— 182 — 


„Ja?“ 

„Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe gehört, der 
Herr wollten nach Indien reiſen.“ 

Veraguth lachte verwundert auf. 

„Das iſt verflucht raſch gegangen. Da hat alſo Al— 
bert geplaudert. Nun ja, ich werde nach Indien reiſen, 
und da können Sie nicht gut mitkommen, Robert, es iſt 
ſchade. Man hat da draußen keine europäiſchen Diener. 
Aber wenn Sie ſpäter wieder zu mir kommen mögen, fo 
kommen Sie! Ich beſorge Ihnen gerne inzwiſchen eine 
andre gute Anſtellung, Ihren Lohn kriegen Sie ja ohne— 
hin bis Neujahr bezahlt.“ 

„Danke, Herr Veraguth, danke vielmal. Vielleicht 
darf ich dann um Ihre Adreſſe bitten. Ich werde Ihnen 
einmal ſchreiben. Es iſt nämlich — — es iſt nicht fo einfach 
— ich habe nämlich eine Braut, Herr Veraguth.“ 

„So, Sie haben eine Braut?“ 

„Ja, Herr Veraguth, und wenn Sie mich entlaſſen, 
fo muß geheiratet werden. Nämlich ich habe ihr verſpro— 
chen, daß ich keinen neuen Dienſt annehme, wenn ich ein: 
mal hier weggehen ſollte.“ 

„Na, da werden Sie fic) ja freuen, daß Sie jetzt los: 
kommen. Es tut mir aber leid, Robert. Was wollen Sie 
denn anfangen, wenn Sie verheiratet ſind?“ 

„Ja, ſie will mit mir ein Zigarrengeſchäft auftun.“ 

„Einen Zigarrenladen? Robert, das iſt nichts für 
Sie.“ 


„Entſchuldigen, Herr Veraguth, man muß es einmal 
probieren. Aber wenn Sie erlauben — — ginge es nicht 
am Ende, daß ich doch in Ihrem Dienſt bliebe? Ich 
möchte höflichſt anfragen, Herr Veraguth.“ 

Der Maler gab ihm einen Klaps auf die Schulter. 

„Menſch, was ſoll das heißen? Sie wollen heiraten, 
Sie wollen ſo einen ſtumpfſinnigen Laden aufmachen, 
und Sie wollen aber auch bei mir bleiben? Mir ſcheint, 
da iſt etwas nicht in Ordnung ... Es liegt Ihnen wohl 
nicht ſo ſehr viel an dieſer Heirat, Robert?“ 

„Mit Verlaub, Herr Veraguth, nein. Sie wäre ſchon 
tüchtig, meine Braut, da will ich nichts ſagen. Aber ich 
würde ſchon lieber hierbleiben. Sie hat einen ſcharfen 
Charakter, und — —“ 

„Ja, Kerl, warum wollen Sie ſie denn dann heiraten? 
Sie haben ja Angſt vor ihr! Ihr habt doch kein Kind? 
Oder?“ 

„Nein, dieſes nicht. Aber ſie läßt mir keine Ruhe 
mehr ...“ 

„Dann ſchenken Sie ihr eine hübſche Broſche, Robert, 
ich gebe Ihnen einen Taler dafür. Die geben Sie Ihrer 
Braut und ſagen ihr, ſie möchte ſich nun einen andern 
ſuchen für ihren Zigarrenladen. Sagen Sie ihr, ich hätte 
das geſagt. Und ſchämen Sie ſich ein bißchen! Ich laſſe 
Ihnen acht Tage Zeit. Dann möchte ich wiſſen, ob Sie 
ein Mann ſind, der ſich von einem Mädel Angſt machen 
läßt, oder nicht.“ 


— 184 — 


„Es iſt gut, es iſt gut. Ich werde ihr ſchon ſagen ...“ 

Veraguth hörte auf zu lächeln. Er blitzte den Betrof— 
fenen aus zornigen Augen an und rief: „Sie werden ſcharf 
das Mädel fortſchicken, Robert, ſonſt ſind wir miteinan— 
der fertig. Pfui Teufel - ſich heiraten laſſen! Gehen Sie 
und bringen Sie das bald in Ordnung!“ 

Er ſtopfte ſich eine Pfeife, nahm ein größeres Skizzen⸗ 
buch und eine Hülſe voll Zeichenkohle an ſich und ging 
nach dem Waldhügel hinaus. 


Vierzehntes Kapitel 
Das Faſten ſchien nicht viel zu helfen. Pierre Vera— 


guth lag zuſammengekrümmt in ſeinem Bette, die Tee— 
taſſe ſtand unberührt daneben. Man ließ ihn möͤglichſt 
in Ruhe, da er auf keine Anrede Antwort gab und jedes— 
mal unwillig zuſammenfuhr, wenn jemand in fein Zim— 
mer trat. Die Mutter ſaß manche Stunde an ſeinem 
Bett, ſie murmelte halbgeſungene Zärtlichkeiten und 
Beruhigungsworte. Es war ihr ſorgenvoll und unheim— 
lich zumute es ſchien, als fei der kleine Kranke hartnäckig 
in einen geheimen Schmerz verbohrt. Er gab auf keine 
Frage, auf keine Bitte, auf kein Anerbieten irgendeine 
Antwort, mit böſen Augen ſtarrte er vor ſich hin und 
wollte nicht ſchlafen, nicht ſpielen, nicht trinken, nicht 
vorgeleſen haben. Der Arzt war zwei Tage nacheinan— 
der gekommen er hatte wenig geſagt und laue Leibwickel 
befohlen. Pierre lag viel in einem leichten Halbſchlum— 
mer, wie Fiebernde ihn haben, er murmelte dann unver— 
ſtändliche Worte und träumte halbbewußt in einem lei— 
ſen dumpfen Delirium vor ſich hin. 

Veraguth war ſeit mehreren Tagen draußen am 
Malen. Als er mit der Dämmerung nach Hauſe kam, 
fragte er ſogleich nach dem Knaben. Seine Frau bat ihn, 


— 186 — 


nicht mehr ins Krankenzimmer zu gehen, da pierre fo 
ſehr empfindlich gegen alle Störungen fei und jetzt ein- 
geſchlummert ſcheine. Da Frau Adele wenig Worte 
machte und ſeit dem neulichen Morgengeſprãäch ſich ihm 
gegenüber mißgeſtimmt und befangen fühlte, fragte er 
nicht weiter, ſondern ging unbekümmert ins Bad und 
brachte den Abend in der angenehmen Unruhe und war⸗ 
men Erregtheit hin, die er ſtets beim Vorbereiten einer 
neuen Arbeit empfand. Nun hatte er mehrere Studien 
draußen gemalt und wollte morgen das Bild ſelber in 
Angriff nehmen. Er wählte mit Befriedigung Kartons 
und Leinwände aus, flickte an locker gewordenen Reil: 
rahmen herum, ſuchte Pinſel und Malzeug aller Art zu— 
ſammen und rüſtete ſich wie für eine kleine Reiſe, er legte 
ſogar den gefüllten Tabaksbeutel, Pfeife und Feuerzeug 
bereit wie ein Touriſt, der in der Frühe zu einer Bergbe— 
ſteigung aufbrechen will und ſich für die erwartungs— 
vollen Stunden vor dem Schlafengehen nichts Beſſeres 
weiß als liebevoll an morgen zu denken und jede Kleinig- 
keit dafür bereitzulegen. 

Behaglich ſah er dann bei einem Glaſe Wein die 
Abendpoſt an. Da war ein freudiger, liebevoller Brief 
von Burkhardt, und beigefügt war eine mit hausfrau— 
licher Sorgſamkeit zuſammengeſtellte Liſte alles deffen, 
was Veraguth für die Reiſe mitzunehmen habe. Be— 
luſtigt las dieſer die ganze Liſte durch, auf welcher weder 
wollene Leibbinden noch Strandſchuhe, weder Nacht— 


kleidung noch Gamaſchen vergeſſen waren. Unten auf 
dem Zettel ſtand mit Bleiſtift geſchrieben: „Alles andere 
beſorge ich für uns beide, auch die Kabinen. Laß dir we— 
der Chemikalien gegen Seekrankheit noch indiſche Lite— 
ratur aufſchwatzen, alles das iſt meine Sache.“ 

Lächelnd wandte er ſich einer großen Rolle zu, in der 
ihm ein junger Düſſeldorfer Maler eine Anzahl Radie— 
rungen mit ehrfurchtsvoller Widmung überſandte. Auch 
dafür fand er heute Zeit und Laune, er ſah die Blätter 
aufmerkſam durch und wählte das beſte davon für ſeine 
Mappen aus, die anderen mochte Albert haben. Dem 
Maler ſchrieb er ein freundliches Billett. 

Zuletzt ſchlug er das Skizzenbuch auf und betrachtete 
lange die vielen Zeichnungen, die er draußen gemacht 
hatte. Sie befriedigten ihn alle nicht recht, er wollte es 
morgen mit einem anderen, weiteren Ausſchnitt ver— 
ſuchen, und wenn das Bild auch dann noch nicht ſäße, 
wollte er eben ſolange Studien malen, bis er es heraus 
hätte. Auf alle Fälle würde er morgen tüchtig fleißig fein, 
das Weitere würde ſich ſchon ergeben. Und dieſe Arbeit 
würde dann fein Abſchied von Roßhalde fein; es war 
ohne Zweifel das eindringlichſte und lockendſte Stück 
Landſchaft in der ganzen Gegend, und es ſollte nicht ver⸗ 
gebens geweſen ſein, hoffte er, daß er ſich das bis jetzt 
immer wieder aufgeſpart hatte. Das durfte nicht mit 
einer ſchneidigen Studie abgetan werden, es mußte ein 
gutes, delikates, abgewogenes Bild werden. Das raſche, 


— 188 — 


kämpfende Malen in der Natur, mit Schwierigkeiten, 
Niederlagen und Siegen, das würde er dann draußen in 
den Tropen wieder auskoſten können. 

Er legte ſich zeitig nieder und ſchlief vortrefflich, bis 
Robert ihn weckte. Da ſtand er, in der ſtraffen Morgen⸗ 
kühle fröſtelnd, in fröhlicher Eile auf, trank ſtehend eine 
Schale Kaffee und trieb den Diener an, der ihm Lein— 
wand, Feldſtuhl und Farbenkaſten nachtragen ſollte. 
Bald darauf verließ er das Haus und verſchwand, Ro: 
bert hinterdrein, in den noch morgenblaſſen Wieſen. 
Vorher hatte er noch in der Küche nachfragen wollen, 
ob Pierre eine ruhige Nacht gehabt habe. Aber er 
hatte das Haus noch verſchloſſen und niemand wach 
gefunden. 

Frau Adele war bis in die Nacht bei dem Kleinen ge— 
ſeſſen, da er ein wenig zu fiebern ſchien. Sie hatte ſeinem 
lallenden Gemurmel zugehört, ſeinen Puls gefühlt und 
ſein Bett in Ordnung gebracht. Als ſie ihm gute Nacht 
ſagte und ihn küßte, ſchlug er die Augen auf und ſah ihr 
ins Geſicht, ohne aber zu antworten. Die Nacht blieb 
ruhig. 

Pierre war wach, als ſie am Morgen zu ihm kam. Er 
wollte kein Frühſtück haben, verlangte aber nach einem 
Bilderbuch. Die Mutter ging ſelbſt, um eines zu holen. 
Sie ſtopfte ihm ein zweites Kiſſen unter den Kopf, zog 
den Fenſtervorhang auseinander und gab Pierre das 
Buch in die Hände; es war ein Bild mit einer großen, 


ſtrahlend goldgelben Frau Sonne aufgeſchlagen, das er 
beſonders gern hatte. 

Er hob das Buch gegen ſein Geſicht, das helle frohe 
Morgenlicht fiel auf das Blatt. Aber ſogleich flog ein 
dunkler Schatten von Schmerz, Enttäuſchung und Un- 
behagen über ſein zartes Geſicht. 

„Pfui, das tut ja weh!“ rief er gequält und ließ das 
Bilderbuch ſinken. 

Sie fing es auf und hielt es ihm nochmals vor die 
Augen. 

„Es iſt ja deine liebe Frau Sonne,“ ſagte ſie zuredend. 

Er hielt ſich die Hände vor die Augen. 

„Nein, tu es weg. Das iſt ſo ſcheußlich gelb!“ 

Seufzend nahm ſie das Buch wieder an ſich. Weiß 
Gott, was das mit dem Kinde war! Sie kannte mancher— 
lei Empfindlichkeiten und Launen an ihm, aber ſo war er 
noch nie geweſen. 

„Paß auf,“ ſagte ſie ſanft beſchwörend, „jetzt bring' 
ich dir einen feinen, warmen Tee, und du darfſt dir Zucker 
hineintun und ein ſchönes Zwieback dazu haben.“ 

„Ich will nicht!“ 

„Probier's einmal! Es tut dir gut, du wirſt ſehen.“ 

Gepeinigt und wütend fab er fie an. 

„Wenn ich aber nicht will!“ 

Sie ging hinaus und blieb eine lange Weile fort. Er 
blinzelte ins Licht, es ſchien ihm übermäßig grell und tat 
ihm weh. Er wandte ſich ab. Gab es denn keinen Troſt, 


kein bißchen Vergnügen, keine kleine Freude mehr für 
ihn? Trotzig und weinerlich drückte er das Geſicht ins 
Kiſſen und biß unwillig in das weiche, fad ſchmeckende 
Linnen. Das war ein auftauchender Widerſchein aus ſei— 
ner allerfrüheſten Kindheit. Als ganz kleiner Junge hatte 
er, wenn er zu Bett gebracht war und nicht gleich ein- 
ſchlafen konnte, die Gewohnheit gehabt, in ſein Kiſſen 
zu beißen und mit einer gewiſſen Taktmäßigkeit darauf 
zu kauen, bis er müde wurde und einſchlief. Das tat er 
nun wieder und arbeitete fic) langſam in eine ſtille Be- 
täubung hinein, die ihm wohl tat und in welcher er ruhig 
liegen blieb. 

Die Mutter kam nach einer Stunde wieder herein. 
Sie beugte ſich über ihn und ſagte: „So, will Pierre jetzt 
wieder artig ſein? Du warſt vorher ſehr unartig, und 
Mama iſt traurig geweſen.“ 

Das war zu anderen Zeiten ein ſtarkes Mittel, dem er 
ſelten widerſtand, und als ſie nun die Worte ſagte, war 
fie nicht ohne Beſorgnis, er möchte es ſich zu ſehr zu Her— 
zen nehmen und weinen. Er ſchien aber gar nicht auf 
ihre Worte zu achten, und als ſie nun etwas ſtrenge 
fragte: „Du weißt doch, daß du vorher ungezogen 
warſt?“, verzog er den Mund beinahe ſpöttiſch und 
blickte vollkommen gleichgültig. 

Gleich darauf kam der Sanitätsrat. 

„Hat er wieder erbrochen? Nicht? Schön. Und die 
Nacht war gut? Was hat er denn gefrühſtückt?“ 


— — 191 —— 


Als er den Knaben aufrichtete und ſein Geſicht gegen 
das Fenſter drehte, zuckte Pierre wieder wie in Schmer— 
zen zuſammen und drückte die Augen zu. Aufmerkſam 
betrachtete der Arzt den ſeltſam ſtarken Ausdruck von 
Abwehr und Pein in dem Kindergeſicht. 

„Iſt er auch gegen Geräuſche fo empfindlich?“ fragte 
er Frau Adele flifternd. 

„Ja,“ ſagte ſie leiſe, „wir dürfen gar nimmer Klavier 
ſpielen, ſonſt tut er ganz verzweifelt.“ 

Der Sanitãtsrat nickte und zog den Vorhang halb zu. 
Dann hob er den Kleinen aus dem Bett, horchte an ſei— 
nem Herzen und ſchlug ihm mit einem kleinen Hämmer— 
lein probierend auf die Sehnen unterhalb der Knie— 
ſcheiben. 

„Schon gut,“ ſagte er freundlich, „nun laſſen wir dich 
in Ruhe, mein Junge.“ 

Er legte ihn behutſam ins Bett zurück, nahm ſeine 
Hand und nickte ihm lächelnd zu. 

„Darf ich noch einen Augenblick bei Ihnen eintreten?“ 
ſagte er im Kavalierston zu Frau Veraguth und ließ ſich 
in ihr Zimmer führen. 

„Nun erzählen Sie mir noch mehr von Ihrem Klei— 
nen,“ ſagte er ermunternd. „Mir ſcheint, er iſt doch ſehr 
nervös, und wir müſſen ihn nun eine Weile gut pflegen, 
Sie und ich. Die Magengeſchichte iſt nicht der Rede 
wert. Er muß unbedingt wieder eſſen. Feine, ſtärkende 
Sachen: Eier, Bouillon, friſche Sahne. Verſuchen Sie 


es einmal mit Eigelb. Wenn er es lieber ſüß nimmt, 
ſchlagen Sie es mit Zucker in eine Taſſe. Und nun, iſt 
Ihnen ſonſt etwas an ihm aufgefallen?“ 

Beſorgt und doch von ſeinem freundlich ſicheren Ton 
beruhigt fing ſie zu berichten an. Am meiſten habe ſie 
Pierres Teilnahmloſigkeit erſchreckt, es ſei, als habe er 
ſie gar nimmer lieb. Es ſei ihm einerlei, ob man ihn bitte 
oder ſchelte, er fei gegen alles gleichgültig. Sie erzählte 
von dem Bilderbuch, und er nickte. 

„Laſſen Sie ihn gewähren!“ ſagte er im Aufſtehen. 
„Er iſt krank und kann augenblicklich nichts für ſeine Un- 
arten. Laſſen Sie ihn möglichſt in Ruhe! Wenn er Kopf— 
ſchmerzen hat, kann er Eisumſchläge bekommen. Und 
abends ſtecken Sie ihn moglichft lang in ein laues Bad, 
das macht Schlaf.“ 

Er verabſchiedete ſich und duldete nicht, daß ſie ihn die 
Treppe hinab begleite. 

„Sehen Sie zu, daß er heute etwas ißt!“ ſagte er noch 
im Weggehen. 

Unten trat er in die offenſtehende Küchentür und 
fragte nach Veraguths Diener. 

„Rufen Sie Roberther!“ befahl die Köchin der Magd. 
„Er muß im Atelier ſein.“ 

„Es iſt nicht nötig,“ rief der Sanitätsrat. „Ich gehe 
ſelber hinüber. Nein, laſſen Sie nur, ich weiß den 
Weg.“ 

Er verließ die Küche mit einem Scherzwort und ſchritt, 


ee 
plötzlich voll Ernſt und Nachdenklichkeit, langſam unter 
den Kaſtanien hinweg. 

Frau Veraguth überdachte nochmals jedes Wort, das 
der Arzt geſagt hatte, und kam nicht ins reine damit. 
Offenbar nahm er Pierres Unwohlſein ernſter als bis— 
her, doch hatte er eigentlich nichts Schlimmes geſagt und 
war ſo ſachlich und ruhig geweſen, daß doch wohl keine 
ernſtliche Gefahr beſtand. Es ſchien ein Zuſtand von 
Schwäche und Nervoſität zu fein, den man mit Geduld 
und guter Pflege abwarten mußte. 

Sie ging ins Muſikzimmer und ſchloß den Flügel ab, 
damit Albert ſich nicht doch etwa einmal vergeſſe und 
unvermutet zu ſpielen beginne. Und ſie beſann ſich, in 
welchen Raum man etwa das Inſtrument ſchaffen laf: 
ſen könne, falls das länger dauern ſollte. 

Hin und wieder ging ſie, nach Pierre zu ſehen, öffnete 
vorſichtig ſeine Türe und horchte, ob er ſchlafe oder 
ſtöhne. Er lag jedesmal wach und blickte apathiſch ge⸗ 
radeaus, und traurig ging ſie wieder fort. Sie hätte ihn 
lieber in Gefahr und Schmerzen gepflegt, ſtatt ihn ſo ver⸗ 
ſchloſſen, verdroſſen und gleichgültig liegen zu ſehen; es 
ſchien ihr, eine ſeltſame, traumhafte Kluft trenne ihn von 
ihr, ein widerwärtig zäher Bann, den ihre Liebe und 
Sorge nicht zu brechen vermöge. Es war da ein gemei— 
ner, haſſenswerter Feind im Hinterhalt, deſſen Art und 
deſſen böſe Abſichten man nicht kannte und gegen den 
man keine Waffen beſaß. Vielleicht bereitete ſich da 


18 Heſſe, Roßhalde 


—— 194 5 — 
irgendein Fieber, ein Scharlach oder ſonſt eine Kinder— 
krankheit vor. 

Bekümmert raſtete ſie eine Weile in ihrem Zimmer. 
Ein Strauß Spiräen fiel ihr ins Auge, fie bog ſich über 
den runden Mahagonitiſch, deſſen rotbraunes Holz un- 
ter der weißen durchbrochenen Decke tief und warm 
leuchtete, und ſenkte das Geſicht mit geſchloſſenen Augen 
in die vieläſtigen, weichen, ſommerlichen Blüten, deren 
ſtarkſüßer Duft, wie ſie ihn voll einſog, auf ſeinem 
Grunde geheimnisvoll bitter ſchmeckte. 

Indem ſie ſich, leicht betäubt, wieder aufrichtete und 
mit unbeſchäftigten Augen auf die Blumen, auf den 
Tiſch und durch das Zimmer blickte, ſtieg eine Woge von 
bitterer Traurigkeit in ihr auf. Sie ſchaute in einer plötz⸗ 
lichen Wachheit der Seele durch den Raum und an den 
Wänden hin, ſie ſah Teppich und Blumentiſch, Uhr und 
Bilder auf einmal fremd und ohne Beziehungen, ſie ſah 
den Teppich aufgerollt, die Bilder verpackt und alles 
auf einen Wagen geladen, welcher alle dieſe Dinge, die 
nun keine Heimat und keine Seele mehr hatten, fort an 
einen neuen, unbekannten, gleichgültigen Ort bringen 
ſollte. Sie ſah Roßhalde leer mit geſchloſſenen Türen 
und Fenſtern ſtehen und fühlte Verlaſſenheit und Ab— 
ſchiedsweh aus allen Beeten des Gartens ſtarren. 

Es waren nur Augenblicke. Es kam und ging wie ein 
leiſer, doch dringender Ruf aus dem Dunkeln, wie ein 
flüchtig hereinfallendes, fragmentariſches Spiegelbild 


ere tlk gen 
aus der Zukunft. Und deutlich ſtieg es ihr aus dem blin— 
den Leben der Gefühle ins Bewußtſein: ſie würde bald 
mit ihrem Albert und dem kranken Pierre ohne Heimat 
ſein, ihr Mann würde ſie verlaſſen und ihr bliebe für 
alle Zeit die verlorene Dumpfheit und Kälte ſo vieler 
liebloſer Jahre in der Seele liegen. Sie würde für die 
Kinder leben, aber ſie würde nie das eigene, ſchöne 
Leben mehr finden, das ſie einſt von Veraguth erhofft 
und auf das ſie einen heimlichen Anſpruch noch bis 
geſtern und heute in ſich bewahrt und gehegt hatte. 
Dazu war es zu ſpät. Und ſie fror vor Erkenntnis und 
Nüchternheit. 

Aber alsbald ſetzte ihr geſundes Weſen ſich zur Wehr. 
Es ſtand ihr eine unruhige und ungewiſſe Zeit bevor, 
Pierre war krank, und Alberts Ferien waren bald zu 
Ende. Es ging nicht, es ging ſchlechterdings nicht an, daß 
jetzt auch ſie ſchlaff wurde und unterirdiſchen Stimmen 
folgte. Erſt mußte Pierre wieder geſund und Albert ab- 
gereiſt und Veraguth in Indien ſein, dann würde man 
weiter ſehen, dann war es immer noch Zeit, das Schick— 
ſal anzuklagen und ſich die Augen auszuweinen. Jetzt 
hatte das keinen Sinn, ſie durfte nicht, es kam gar nicht 
in Betracht. 

Sie ſtellte die Vaſe mit den Spiräen vors Fenſter hin: 
aus. Sie ging in ihr Schlafzimmer, goß Kölniſches Waſ— 
ſer auf ihr Taſchentuch und wuſch ſich die Stirne damit, 
prüfte im Spiegel ihre ſtrenge, ſtraffe Friſur und ging 


13 * 


— 196 — 


mit ruhigen Schritten nach der Küche, um ſelbſt einen 
Imbiß für Pierre zu rüſten. 

Damit erſchien fie ſpäter an des Kleinen Bett, ſetzte ihn 
aufrecht, ſchenkte ſeinen abwehrenden Gebärden keine 
Beachtung und löffelte ihm ſtreng und aufmerkſam das 
Eigelb ein. Sie wiſchte ihm den Mund ab und küßte ihn 
auf die Stirn, ſchüttelte fein Bett zurecht und redete ihm 
zu, lieb zu ſein und zu ſchlafen. 

Als nun Albert von einem Spaziergange heimkam, 
zog fie ihn mit ſich auf die Veranda, wo der leichte Som— 
merwind in den ſtraff geſpannten, braun und weiß ge— 
ſtreiften Markiſen knatterte. 

„Der Arzt iſt wieder dageweſen,“ erzählte ſie. „Pierre 
ſei mit den Nerven nicht in Ordnung, und nun muß er 
möglichſt Ruhe haben. Es tut mir leid für dich, aber es 
darf zunächſt im Hauſe gar nimmer Klavier geſpielt 
werden. Ich weiß, es ift ein Opfer für dich, mein Junge. 
Vielleicht wäre es ganz klug, wenn du bei dem ſchönen 
Wetter für ein paar Tage verreiſen würdeſt, in die 
Berge oder nach München? Papa hätte gewiß nichts 
dagegen.“ 

„Danke, Mama, das iſt lieb von dir. Ich gehe viel— 
leicht einmal einen Tag weg, aber nicht länger. Sonſt 
haſt du ja gar niemand, der bei dir iſt, ſolang Pierre lie- 
gen muß. Und dann ſollte ich ja jetzt auch mit der Schul— 
arbeit beginnen, ich habe die ganze Zeit bis jetzt gebum— 
melt. ~ Wenn nur Pierre bald geſund wird!“ 


— 1097 

„Gut, Albert, das iſt brav. Es iſt jetzt wirklich keine 
leichte Zeit für mich, ich bin froh, dich da zu haben. Mit 
Papa kommſt du ja nun auch wieder beſſer aus, nicht?“ 

„Ach ja, ſeit er ſich zu der Reiſe entſchloſſen hat. Ub: 
rigens ſehe ich ihn fo wenig, er malt den ganzen Tag. 
Weißt du, manchmal tut es mir leid, daß ich oft häßlich 
gegen ihn war — er hat mich ja auch gequält, aber er hat 
etwas, was mir doch allemal wieder imponiert. Er iſt ja 
furchtbar einſeitig, und von Muſtk verſteht er nicht viel, 
aber er iſt doch ein großer Küͤnſtler und hat eine Lebens— 
aufgabe. Das iſt es, was mir ſo imponiert. Er hat ja 
nichts von ſeiner Berühmtheit, und von ſeinem Geld 
eigentlich auch recht wenig; es iſt nicht das, wofür er ar: 
beitet.“ 

Er zog die Stirn in Falten, nach Worten ſuchend. 
Aber er konnte ſich nicht ſo, wie er wollte, ausdrücken, 
obwohl es ein genau beſtimmtes Gefühl war. Die Mut— 
ter lächelte und ſtrich ihm das Haar zurück. 

„Wollen wir abends wieder miteinander franzöſiſch 
leſen?“ fragte ſie ſchmeichelnd. 

Er nickte und lächelte nun auch, und im Augenblick 
ſchien es ihr töricht und unbegreiflich, daß ſie noch vor 
kurzem nach einem anderen Schickſal hatte verlangen 
können als danach, für ihre Söhne zu leben. 


Fünfzehntes Kapitel 


Kurz vor Mittag erſchien Robert draußen am Wald- 
rande bei ſeinem Herrn, um ihm das Malzeug heimtragen 
zu helfen. Veraguth hatte eine neue Studie fertig, die er 
ſelbſt tragen wollte. Er wußte jetzt genau, wie das Bild 
werden mußte, und dachte es nun in wenigen Tagen zu 
zwingen. 

„Morgen früh ziehen wir wieder aus,“ rief er ver— 
gnügt und zwinkerte mit ermüdeten Augen in die blen— 
dende Mittagswelt. 

Robert knöpfte umſtändlich ſeinen Rock auf und zog 
ein Papier aus der Bruſttaſche. Es war ein etwas zer⸗ 
knittertes Kuvert ohne Aufſchrift. 

„Das ſoll ich abgeben.“ 

„Von wem?“ 

„Vom Herrn Sanitätsrat. Er hat um zehn Uhr nach 
Ihnen gefragt aber er ſagte, ich dürfe Sie nicht von der 
Arbeit wegholen.“ 

„Es iſt gut. Vorwärts!“ 

Der Diener lief mit Ruckſack, Feldſtuhl und Staffelei 
voraus, Veraguth blieb ſtehen und öffnete mit einer 
Ahnung unangenehmer Nachrichten das Briefchen. Es 
lag nur des Sanitätsrats Karte darin mit der flüchtig und 


20 — 
undeutlich gekritzelten Bleiſtiftnotiz: „Bitte kommen Sie 
nachmittags zu mir, ich möchte wegen Pierre mit Ihnen 
ſprechen. Sein Unwohlſein iſt weniger unbedenklich, als 
ich Ihrer Frau ſagen wollte. Schrecken Sie ſie nicht mit 
unnützen Beſorgniſſen, ehe wir uns geſprochen haben.“ 

Er zwang gewaltſam den Schrecken nieder, der ihm 
den Atem nehmen wollte, er blieb in gezwungener Ruhe 
ſtehen und las den Zettel noch zweimal mit Aufmerk— 
ſamkeit durch. „Weniger unbedenklich, als ich Ihrer 
Frau ſagen wollte!“ Da ſaß der Feind. Seine Frau war 
keineswegs ſo gebrechlich oder ſo nervös, daß man einer 
Kleinigkeit wegen ſolche Rückſicht auf ſie nehmen mußte. 
Es war alſo ſchlimm, es war gefährlich, Pierre konnte 
ſterben! Aber da ſtand wieder „Unwohlſein“, das klang 
ſo harmlos. Und dann „unnütze Beſorgniſſe“! Nein, 
ganz ſchlimm war es jedenfalls nicht. Vielleicht etwas 
Anſteckendes, eine Kinderkrankheit. Vielleicht wünſchte 
der Arzt, ihn zu iſolieren, ihn in eine Klinik zu tun? 

Er ſann und wurde ruhiger. Langſam ging er den 
Hügel hinab und den heißen Feldweg heimwärts. Jeden⸗ 
falls wollte er tun, was der Arzt verlangte, und ſeine 
Frau nichts merken laſſen. 

Zu Hauſe übernahm ihn dann doch die Ungeduld. 
Noch ehe er ſein Bild verwahrt und ſich gewaſchen hatte, 
lief er ins Haus - das naſſe Bild lehnte er im Treppen— 
haus an die Wand - und trat leiſe in Pierres Stübchen. 
Seine Frau war drinnen. 


== 2208 oo 


Er bückte fic) zu dem Knaben hinab und küßte ibn 
aufs Haar. 

„Guten Tag, Pierre. Wie geht's?“ 

Pierre lächelte ſchwach. Gleich darauf begann er mit 
zitternden Nüſtern zu ſchnüffeln und rief: „Nein, nein, 
geh weg! Du riechſt fo ſchlecht!“ 

Veraguth trat gehorſam beiſeite. 

„Es iſt nur Terpentin, mein Junge. Papa hat ſich 
noch gar nicht gewaſchen, weil er gleich nach dir ſehen 
wollte. Nun geh ich gleich und kleide mich um, dann 
komme ich wieder zu dir. Iſt's ſo recht?“ 

Er ging und nahm unterwegs das Bild mit ſich, und 
die klagende Stimme des Kleinen klang in ihm nach. 

Bei Tiſch ließ er ſich berichten, was der Arzt geſagt 
habe, und hörte mit Freude, daß Pierre gegeſſen und 
nicht wieder erbrochen habe. Doch blieb er erregt und 
unſicher und quälte ſich ab, um ein Geſpräch mit Albert 
in Gang zu halten. 

Danach ſaß er eine halbe Stunde an Pierres Bett, der 
ruhig lag und nur zuweilen wie in Schmerzen nach der 
Stirn griff. Er betrachtete mit angſtvoller Liebe den 
ſchmalen Mund, der krank und ſchlaff ausſah, und die 
hübſche helle Stirn, die jetzt zwiſchen den Augen eine 
kleine ſenkrechte Falte trug, eine krankhafte, aber kindlich 
weiche und bewegliche Falte, die wieder ganz verſchwin— 
den würde, wenn Pierre wieder geſund wäre. Und geſund 
ſollte er wieder werden auch wenn es dann doppelt 


et 


weh fun würde, fortzugehen und ihn zu verlaſſen. Er 
ſollte in ſeiner Feinheit und hellen Knabenſchönheit wei— 
ter wachſen und wie eine Blume in der Sonne atmen, 
auch wenn er ihn nimmer ſähe und ihm Lebewohl ge— 
ſagt hätte. Er ſollte geſund und ein ſchöner, ſonniger 
Menſch werden, in dem von ſeines Vaters Weſen das 
Zarteſte und Reinſte weiterlebte. 

Während er am Bett des Kindes ſaß, begann er zu 
ahnen, wieviel Bitteres ihm noch auszukoſten bleibe, 
bis dies alles hinter ihm läge. Seine Lippen zuckten 
und ſein Herz wehrte ſich gegen den Stachel, aber er 
fühlte tief unter allem Leid und aller Furcht ſeinen 
Entſchluß hart und unzerſtörbar ſtehen. Das war 
in Ordnung, daran rührte kein Schmerz und keine 
Liebe mehr. Aber es lag ihm noch ob, dieſe letzte Zeit 
zu erleben und ſich keinem Leide zu entziehen, und er 
war bereit, den Becher ganz auszutrinken, denn er 
fühlte ſeit dieſen paar Tagen untrüglich, daß nur 
durch dieſes dunkle Tor für ihn ein Weg zum Leben 
führte. Wenn er jetzt feig war, wenn er jetzt entfloh 
und ſich Weh erſparte, ſo nahm er Schlamm und Gift 
mit ſich hinüber und kam nie in die reine, heilige Frei— 
heit, nach der ihn verlangte und für die er jede Qual zu 
leiden willig war. 

Nun, vor allem mußte er mit dem Doktor reden. Er 
ſtand auf, nickte Pierre zärtlich zu und ging hinaus. Es 
kam ihm der Einfall, ſich von Albert fahren zu laſſen, 


rt a 


und et ſuchte deſſen Zimmer auf, zum erſtenmal in diefem 
Sommer. Kräftig pochte er an die Türe. 

„Herein!“ 

Albert ſaß leſend beim Fenſter. Er ſtand eilig auf und 
kam dem Vater überraſcht entgegen. 

„Ich habe eine kleine Bitte an dich, Albert. Könnteſt 
du mich raſch mit dem Wagen in die Stadt bringen? — 
Ja? Das iſt hübſch. Alſo fei fo gut und hilf gleich ein- 
ſpannen, ich bin ein wenig eilig. Nimmſt du eine Ziga— 
rette?“ 

„Ja, danke. Nun will ich gleich nach den Pferden 
ſehen.“ 

Bald ſaßen ſie im Wagen, Albert kutſchierend auf dem 
Bock, und als Veraguth an einer Straßenecke in der 
Stadt ihn halten ließ und ſich verabſchiedete, ſagte er 
noch ein anerkennendes Wort zu ihm. 

„Danke ſchön. Du haſt Fortſchritte gemacht und haſt 
die Gäule jetzt ſehr gut in der Hand. Nun adieu, ich gehe 
ſpäter zu Fuß zurück.“ 

Er ging raſch auf der heißen Stadtſtraße hinweg. 
Der Sanitätsrat wohnte in einer ſtillen, vornehmen 
Gegend, es war um dieſe Tageszeit kaum ein Menſch 
dort unterwegs. Ein Sprengwagen fuhr ſchläfrig da 
hin, und zwei kleine Knaben liefen hinterher, hielten 
die Hände in den dünnen Tropfenregen und ſpritzten 
einander lachend in die erhitzten Geſichter. Aus einem 
offenen Parterrefenſter klang das gelangweilte Klavier— 


fpiel eines übenden Schülers. Veraguth hatte ſtets 
eine tiefe Abneigung gegen unbelebte Stadtſtraßen 
gehabt, zumal im Sommer, ſie erinnerten ihn an junge 
Jahre, wo er in ſolchen Straßen in wohlfeilen lang— 
weiligen Zimmern gewohnt hatte, mit Kaffee- und 
Küchengeruch auf den Treppen und mit dem Blick auf 
Dachfenſter, Teppichklopfſtänder und reizloſe, lächerlich 
kleine Gärten. 

Es empfing ihn im Korridor zwiſchen großen gold— 
gerahmten Bildern und großen Teppichen ein diskreter 
Arztgeruch, und ein junges Mädchen in der langen 
ſchneeweißen Krankenpflegerinnenſchürze nahm ihm 
ſeine Karte ab. Sie führte ihn erſt ins Wartezimmer, wo 
mehrere Frauen und ein junger Mann ſtill und gedrückt 
auf Plüſchſeſſeln ſaßen und in Zeitſchriften ſtarrten, 
dann brachte ſie ihn auf ſeine Bitte in einen anderen 
Raum, wo in großen verſchnürten Bündeln viele Jahr⸗ 
gänge eines mediziniſchen Fachblattes geſtapelt ſtanden 
und wo er ſich kaum ein wenig umgeſehen hatte, als das 
Madden fchon wieder eintrat und ihn zum Sanitätsrat 
führte. 

Da ſaß er nun in einem großen Lederſtuhl inmitten 
blitzender Sauberkeit und Zweckmäßigkeit, und gegen: 
über am Schreibtiſch ſaß klein und ſtramm der Arzt; es 
war ſtill in dem hohen Zimmer, nur eine kleine blanke 
Stehuhr aus Glas und Meſſing ſchritt hellklingend ihren 
taktfeſten ſpitzen Gang. 


— 204 — 


„Ja, Ihr Junge gefällt mir nicht recht, lieber Meiſter. 
Haben Sie nicht ſchon längere Zeit Störungen an ihm 
bemerkt, ich meine zum Beiſpiel Kopfweh, Müdigkeit, 
Unluſt zum Spielen und dergleichen? — Erſt in der aller- 
letzten Zeit? Und war er ſchon länger ſo empfindlich? 
Gegen Lärm und helles Licht? Gegen Gerüche? — Go? 
Er mochte den Farbengeruch im Atelier nicht leiden! Ja, 
das ſtimmt zum andern.“ 

Er fragte viel, und Veraguth gab in einer leichten 
Betäubung Antwort, mit einem Gefühl ängſtlicher Auf— 
merkſamkeit und heimlicher Bewunderung für dieſe 
ſchonend höfliche, tadellos präziſe Sprechweiſe. 

Dann kamen die Fragen nur noch langſam und ver— 
einzelt, und ſchließlich gab es eine lange Pauſe, die Stille 
hing wie eine Wolke im Zimmer, nur vom gellend ſpitzen 
Gang der kleinen koketten Uhr unterbrochen. 

Veraguth wiſchte ſich den Schweiß von der Stirne. 
Er fühlte, daß es nun Zeit war, die Wahrheit zu erfahren, 
und da der Arzt wie ſteinern daſaß und ſchwieg, überfiel 
ihn mit ſchmerzhafter Lähmung der Schrecken. Er rollte 
den Kopf, als erſticke er im Hemdkragen, und ſchließlich 
ſtieß er heraus: „Iſt es denn ſo ſchlimm?“ 

Der Sanitätsrat blickte auf. Er ſah aus dem gelben, 
verarbeiteten Geſicht mit einem bleichen Blick zu ihm 
herüber und nickte mit dem Kopf. 

„Ja, leider. Es iſt ſchlimm, Herr Veraguth.“ 

Er ließ den Blick nicht mehr von ihm. Wartend und 


aufmerkſam fab er zu, wie der Maler erbleichte und die 
Hände ſinken ließ. Er ſah das feſte, knochige Geſicht 
ſchwach und hilflos werden, ſah den Mund ſeine ſcharfe 
Spannung verlieren und die Augen blicklos irren. Er ſah 
den Mund ſich krümmen und leiſe zittern und ſah die 
Lider über die Augen ſinken wie bei einem Ohnmächtigen. 
Er beobachtete und wartete. Und dann ſah er den Mund 
des Malers ſich zuſammenraffen, die Augen von neuem 
Willen belebt, nur die tiefe Bläſſe war geblieben. Er ſah, 
der Maler war bereit, ihn zu hören. 

„Was iſt es, Doktor? Sie brauchen mich nicht zu 
ſchonen, reden Sie nur. — Sie glauben doch nicht, daß 
Pierre ſterben muß?“ 

Nun rückte der Sanitätsrat mit ſeinem Stuhl etwas 
näher. Er ſprach ganz leiſe, aber ſcharf und deutlich. 

„Das kann niemand ſagen. Aber wenn ich mich nicht 
ganz täuſche, iſt der Kleine ſehr gefährlich krank.“ 

Veraguth ſah ihm in die Augen. 

„Muß er ſterben? Ich möchte wiſſen, ob Sie glauben, 
daß er ſterben muß. Verſtehen Sie — ich möchte es 
wiſſen.“ 

Der Maler war, ohne es zu wiſſen, aufgeſtanden und 
wie drohend vorgetreten. Der Arzt legte ihm die Hand 
auf den Arm, er zuckte zuſammen und ſank alsbald wie 
beſchämt wieder in den Seſſel zurück. 

„Es hat keinen Sinn, ſo zu reden,“ fing der Sanitäts— 
rat wieder an. „Über Tod und Leben entſcheiden wir 


— 206 — 


nicht, da werden wir Arzte ſelber täglich überraſcht. Für 
uns muß jeder Kranke, ſolange er überhaupt noch atmet, 
eine Hoffnung ſein, wiſſen Sie. Wo kämen wir ſonſt 
hin!“ 

Geduldig nickte Veraguth und fragte nur: „Alſo, was 
iſt es?“ 

Der Arzt huſtete kurz. 

„Wenn ich mich nicht täuſche, iſt es Gehirnhautent— 
zündung.“ 

Veraguth ſaß ſtill und ſprach das Wort leiſe nach. 
Dann erhob er ſich und ſtreckte dem Arzt die Hand hin. 

„Alſo Gehirnhautentzündung,“ ſagte er und ſprach 
ganz langſam und vorſichtig, weil ihm der Mund wie 
bei großer Kälte zitterte. „Iſt das denn überhaupt beil- 
bar?“ 

„Es iſt alles heilbar, Herr Veraguth. Mancher legt 
ſich mit Zahnſchmerzen hin und iſt in ein paar Tagen tot, 
ein anderer hat alle Symptome der ſchwerſten Krankheit 
und kommt davon.“ 

„Ja, ja. Und kommt davon! Ich will nun gehen, Herr 
Doktor. Sie haben ſich viel Mühe mit mir gegeben. Aber 
Gehirnhautentzündung iſt alſo nicht heilbar?“ 

„Lieber Herr ...“ 

„Verzeihen Sie. Sie haben vielleicht ſchon andere 
Kinder mit dieſer Ge — — mit dieſer Krankheit behandelt? 
Ja? Sehen Sie! — Leben dieſe Kinder noch?“ 

Der Sanitätsrat ſchwieg. 


— 207 —— 


„Leben vielleicht zwei davon noch, oder eins?“ 

Es kam keine Antwort. 

Der Arzt hatte ſich, wie unwillig, zum Schreibtiſch 
gewendet und ein Fach geöffnet. 

„Werfen Sie die Flinte nicht ſo ins Korn!“ ſagte er 
mit verändertem Ton. „Ob Ihr Kind davonkommt, 
wiſſen wir nicht. Es iſt in Gefahr, und wir müſſen ihm 
helfen, ſoviel wir können. Wir alle müſſen ihm helfen, 
verſtehen Sie, und Sie auch. Ich brauche Sie. — — Ich 
komme abends noch einmal hinaus. Für alle Fälle gebe 
ich Ihnen hier ein Schlafpulver mit, vielleicht können 
Sie ſelbſt es brauchen. Und nun hören Sie: der Kleine 
muß volle Ruhe haben und ſoll möglichſt kräftige Nah— 
rung bekommen. Das iſt die Hauptſache. Wollen Sie 
daran denken.“ 

„Gewiß. Ich werde nichts vergeſſen.“ 

„Wenn er Schmerzen hat oder ſehr unruhig wird, 
helfen laue Bäder oder Wickel. Haben Sie einen Eis— 
beutel? Ich werde einen mitbringen. Sie haben doch Eis 
draußen? Alſo gut. — Wir wollen hoffen, Herr Vera: 
guth! Es geht jetzt nicht an, daß einer von uns den Mut 
verliert, wir müſſen alle auf dem Poſten ſein. Nicht 
wahr?“ 

Er ſchöpfte aus Veraguths Gebärde Vertrauen und 
begleitete ihn hinaus. 

„Wollen Sie meinen Wagen haben? Ich brauche ihn 
erſt um fünf Uhr wieder.“ 


— 208 — 


„Danke, ich gehe zu Fuß.“ 

Er ging die Straße hinab, die leer war wie vorher. Aus 
jenem offenen Fenſter klang immer noch die unfrohe 
Schülermuſik. Er ſah auf die Uhr, es war nur eine halbe 
Stunde vergangen. Langſam ging er weiter, Straße um 
Straße, rundum durch die halbe Stadt. Er ſcheute ſich 
ſie zu verlaſſen. Hier drinnen, in dieſem blöden armer 
Häuſerhaufen, da war Medizingeruch und Krankheit 
da war Not und Angſt und Tod zu Hauſe, da trugen 
hundert freudelos ſchmachtende Gaſſen alles Schwert 
mit, und man war nicht allein. Aber draußen, ſchien ihm 
unter Bäumen und klarem Himmel, zwiſchen Senſen 
geläute und Grillenzirpen, mußte der Gedanke an das 
alles viel ſchrecklicher, viel ſinnloſer, viel verzweifelter ſein 

Es war Abend, als er ſtaubig und todmüde nach Haufe 
kam. Der Arzt war ſchon dageweſen, aber Frau Adel 
war ruhig und ſchien noch nichts zu wiſſen. 

Während der Abendmahlzeit unterhielt ſich Veragutl 
mit Albert über die Pferde. Er fand immer wieder etwa 
zu ſagen, und Albert ging darauf ein. Sie ſahen, daf 
Papa ſehr müde fei, ſonſt nichts. Er aber dachte mit faſ 
höhniſchem Ingrimm immer wieder: Ich könnte der 
Tod in den Augen haben, und ſie würden nichts merken 
Das iſt meine Frau, und das iſt mein Sohn! Und Pierr 
ſtirbt! So dachte er in traurigem Kreislauf, währen 
er mit hölzerner Zunge Worte formte, die niemanden 
intereſſierten. Und dann kam noch ein Gedanke dazu 


Go ift es recht! So will ich allein mein Leid austrinken, 
bis der letzte bittere Tropfen erſchöpft iſt. So will ich 
ſitzen und heucheln und meinen armen Kleinen ſterben 
ſehen. Und wenn ich dann noch lebe, dann iſt nichts 
mehr, das mich bindet, und nichts, das mir weh tun kann, 
dann will ich gehen und will nie in meinem Leben mehr 
lügen, nie mehr einer Liebe glauben, nie mehr abwarten 
und feig fein... Dann will ich nur noch Leben und Tat 
und Vorwärtsgehen kennen, keinen Frieden mehr, keine 
Trägheit mehr. 

In dunkler Wolluſt fühlte er das Weh in ſeinem Her— 
zen brennen, wild und unerträglich, aber rein und groß, 
wie er noch nichts und noch nie gefühlt hatte, und vor der 
göttlichen Flamme fab er fein kleines, unfrohes, unauf- 
richtiges und mißgeſtaltetes Leben wertlos dahinſinken, 
keines Gedankens und nicht einmal eines Tadels mehr 
wert. 

So ſaß er noch eine Abendſtunde lang im halbdunkeln 
Krankenzimmer bei dem Knaben, und ſo lag er eine 
brennend ſchlafloſe Nacht, mit Inbrunſt ſeinem freſſen— 
den Leid hingegeben, nichts hoffend und nichts begehrend, 
als von dieſem Feuer verzehrt und reingebrannt zu wer⸗ 
den bis in die letzte zuckende Faſer. Er verſtand, daß es 
fo fein můſſe, das er gerade das Liebſte und Beſte und 
Reinſte, was er beſeſſen, weggeben und ſterben ſehen 
müſſe. 


14 Heſſe, Roßhalde 


Sechzehntes Kapitel 


Es ging Pierre ſchlecht, und fein Vater ſaß beinahe 
den ganzen Tag bei ihm. Der Knabe hatte immerzu 
Kopfſchmerzen, er atmete raſch, und jeder Atemzug war 
ein kleines, banges Stöhnen. Zuweilen wurde fein Flei: 
ner, magerer Körper von kurzen Zuckungen geſchüttel. 
oder bäumte ſich in ſteilem Bogen auf. Dann lag er 
wieder lange vollkommen regungslos, und ſchließlich 
überfiel ihn ein krampfhaftes Gähnen. Dann ſchlief e 
eine Stunde und begann nach dem Erwachen wieder 
dieſes regelmäßige, klagende Seufzen mit jedem Atem 
zug. 

Er hörte nicht, was man zu ihm ſagte, und wenn mar 
ihn, faſt mit Gewalt, emporrichtete und ihm zu eſſen ein 
gab, nahm er es in mechaniſcher Gleichgültigkeit. Bein 
ſchwachen Licht, denn die Vorhänge waren dicht ge 
ſchloſſen, ſaß Veraguth lange Zeit mit tiefer Aufmerk 
ſamkeit über den kleinen Knaben gebeugt und ſchaut 
mit frierendem Herzen zu, wie aus dem hübſchen ver 
trauten Knabengeſicht ein lieber zarter Zug um der 
andern abhanden kam und dahinſchwand. Was übrig 
blieb, war ein bleiches frühaltes Geſicht, eine unheimlich 
Maske des Leidens, mit vereinfachten Zügen, in welcher 


— a... 


nichts als Schmerz und Ekel und tiefes Grauen zu leſen 
war. 

Zuweilen ſah der Vater dieſes entſtellte Geſicht in 
Augenblicken des Schlummers weich werden und einen 
Schimmer vom verlorenen Liebreiz ſeiner geſunden Tage 
wiedergewinnen, dann ſchaute er unverwandt mit dür— 
ſtender Liebesgier, ſich die hinſterbende Lieblichkeit noch 
einmal und noch einmal einzuprägen. Dann ſchien ihm, 
in ſeinem ganzen Leben habe er nie gewußt, was Liebe 
fei, nie bis zu dieſen Augenblicken des Wachens und 
Schauens. 

Frau Adele war tagelang ahnungslos geblieben, erſt 
allmählich hatte ſie Veraguths geſpanntes und ſon— 
derbar entrücktes Weſen bemerkt und ſchließlich bearg— 
wöhnt, und wieder erſt nach Tagen begann fie den Zu— 
ſammenhang zu ahnen. Da nahm ſie ihn an einem Abend, 
als er Pierres Zimmer verließ, beiſeite und ſagte kurz mit 
einem Ton von Kränkung und Bitterkeit: „Was iſt nun 
mit Pierre? Was iſt es? Ich ſehe, daß du etwas weißt.“ 

Er ſah ſie wie aus tiefer Zerſtreutheit an und ſagte mit 
trockenen Lippen: „Ich weiß nicht, Kind. Er iſt ſehr 
krank. Siehſt du das nicht?“ 

„Ich ſehe es. Ich will nun wiſſen, was es iſt! Ihr be: 
handelt ihn ja faſt wie einen Todkranken, du und der 
Doktor. Was hat er dir geſagt?“ 

„Er hat mir geſagt, es ſtehe ſchlimm und wir müßten 
ſehr für ihn Sorge tragen. Es iſt eine Art Entzündung 


14 * 


wee Se 


in ſeinem armen Kopf. Wir wollen morgen den Doktor 
bitten, daß er uns mehr ſagt.“ 

Sie lehnte ſich an einen Bücherſchrank und griff mit 
der Hand über ſich in die Falten des grünen Vorhanges. 
Da ſie ſchwieg, blieb er geduldig ſtehen, ſein Geſicht war 
grau, und ſeine Augen ſahen entzündet aus. Er zitterte 
ſchwach mit den Händen, doch ſtand er beherrſcht und 
hatte eine Art von Lächeln, einen ſeltſamen Schimmer 
von Ergebung, Geduld und Höflichkeit im Geſicht. 

Langſam kam ſie zu ihm herüber. Sie legte ihm die 
Hand auf den Arm und ſchien in den Knien ſchwach zu 
werden. Ganz leiſe flüſterte ſie: „Du glaubſt, daß er 
ſterben muß?“ 

Veraguth hatte noch immer das ſchwache, törichte 
Lächeln um den Mund, aber es liefen ihm kleine, haſtige 
Tränen übers Geſicht. Er nickte nur ſchwach mit dem 
Kopf, und da ſie an ihm niederglitt und den Halt verlor, 
hob er ſie auf und half ihr auf einen Stuhl. 

„Man kann es ja nicht ſicher wiſſen,“ ſagte er lang— 
fam und ſchwerfällig, als wiederhole er mit Ekel eine alte 
Lektion, die ihm längſt überdrüſſig geworden wäre. 
„Man darf den Mut nicht verlieren.“ 

„Man darf den Mut nicht verlieren,“ wiederholte er 
nach einer Weile mechaniſch, da ſie wieder Kraft gewann 
und ſich aufrecht ſetzte. 

„Ja,“ ſagte ſie, „ja, du haſt recht.“ Und wieder nach 
einer Pauſe: „Es kann nicht ſein. Es kann nicht ſein.“ 


Und plötzlich ftand fie wieder aufrecht, hatte Leben 
in den Augen und alle Züge voll Verſtändnis und 
Trauer. 

„Nicht wahr,“ ſagte ſie laut, „du wirſt nicht zurück— 
kommen? Ich weiß es. Du willſt uns verlaſſen?“ 

Er ſah wohl, daß es ein Augenblick war, der keine 
Unaufrichtigkeit erlaube. Darum ſagte er kurz und ohne 
Ton: „Ja “. 

Sie wiegte den Kopf hin und her, als müſſe ſie ſtark 
nachſinnen und könne nicht damit fertig werden. Was 
ſie aber nun ſagte, kam aus keinem Nachdenken und 
Überlegen, ſondern floß ganz unbewußt aus der trüben, 
troſtloſen Bedrängtheit der Stunde, aus einer mutloſen 
Müdigkeit und vor allem aus einem dunkeln Bedürfnis, 
irgend etwas gutzumachen und irgend jemandem, der 
dafür noch erreichbar wäre, Gutes zu erweiſen. 

„Ja,“ ſagte ſie, „ich habe es mir ſo gedacht. Aber höre, 
Johann, Pierre darf nicht ſterben! Es darf nicht alles 
und alles jetzt auf einmal zuſammenbrechen! Und weißt 
du - ich möchte dir das noch fagen: wenn er wieder ge— 
ſund wird, ſollſt du ihn haben. Hörſt du? Er ſoll bei dir 
bleiben.“ 

Veraguth verſtand nicht ſofort. Nur langſam wurde 
ihm klar, was ſie geſagt habe und daß nun das, worum 
er mit ihr geſtritten und um deſſentwillen er Jahre und 
Jahre gezögert und gelitten hatte - daß das ihm nun, 
wo es zu ſpät war, zugeſprochen werde. 


— 214 — 


Es kam ihm unſäglich ſinnlos vor, nicht nur daß er 
jetzt plötzlich haben ſollte, was ſie ihm ſo lange verſagt 
hatte, ſondern noch mehr, daß Pierre juſt in dem Augen— 
blicke ihm gehören ſolle, wo er dem Tod verfallen war. 
Nun würde er ihm alſo doppelt ſterben! Es war verrückt, 
es war um zu lachen! Es war ſo grotesk und widerſinnig, 
daß er wirklich nahe daran war, in ein bitteres Gelächter 
auszubrechen. 

Aber ſie meinte es ohne Zweifel ernſt. Sie glaubte 
offenbar noch nicht ganz daran, daß Pierre ſterben müſſe. 
Es war gütig, es war ein ungeheures Opfer von ihr, 
das ſie in der ſchmerzvollen Verwirrung des Augenblicks 
aus irgendeiner dunkeln guten Regung bringen wollte. 
Er ſah, wie ſie litt, wie ſie bleich war und ſich mit Mühe 
aufrecht hielt. Er durfte nicht zeigen, daß er ihr Opfer, 
ihre ſeltſame verſpätete Großmut wie eine tödliche Ver: 
höhnung empfand. 

Sie begann ſchon mit Befremdung auf ein Wort von 
ihm zu warten. Warum ſagte er nichts? Glaubte er ihr 
nicht? Oder war er ihr ſo fremd geworden, daß er nichts 
von ihr annehmen wollte, auch nicht dieſes größte Opfer, 
das ſie ihm bringen konnte? 

Schon begann ihr Geſicht vor Enttäuſchungzuzucken, 
da fand er die Herrſchaft über ſich wieder. Er nahm ihre 
Hand, bückte ſich und berührte ſie leicht mit den kühlen 
Lippen und ſagte: „Ich danke dir.“ 

Da kam ihm ein Gedanke, und mit wärmerem Ton 


fügte er hinzu: „Nun will ich aber auch fiir Pierre ſorgen 
dürfen. Laß mich die Nacht bei ihm wachen!“ 

„Wir werden abwechſeln,“ ſagte ſie mit Entſchieden— 
heit. 

Pierre war an dieſem Abend ſehr ruhig. Es brannte 
ein kleines Nachtlicht auf dem Tiſche, deſſen ſchwacher 
Schein den kleinen Raum nicht füllte und ſich gegen die 
Türe hin in braune Dämmerung verlor. Veraguth hörte 
noch lange dem Atmen des Knaben zu, dann legte er ſich 
auf den ſchmalen Diwan, den er ſich hatte hereinbringen 
laſſen. 

In der Nacht, gegen zwei Uhr, erwachte Frau Adele, 
machte Licht und ſtand auf. Die Kerze in der Hand, kam 
ſie in einen Schlafrock gehüllt herüber. Sie fand alles 
ſtill. Pierre zitterte leicht mit den Wimpern, als das Licht 
ſein Geſicht berührte, wachte aber nicht auf. Und auf 
dem Diwan lag, in den Kleidern und leicht zuſammen— 
gekrümmt, ihr Mann im Schlafe. 

Sie leuchtete auch ihm ins Geſicht und blieb eine kleine 
Weile bei ihm ſtehen. Und ſie ſah ſein Geſicht aufrichtig 
und unverſtellt, mit allen Falten und ergrauten Haaren, 
die Wangen erſchlafft und die Augen unterhöhlt. 

„Auch er iſt alt geworden,“ dachte fie mit einer Emp- 
findung, die halb Mitleid und halb Genugtuung war, 
und fühlte ſich verſucht, ihm das ſtruppige Haar zu ſtrei— 
cheln. Doch tat ſie es nicht. Sie ging unhörbar wieder 
hinaus, und als ſie nach Stunden morgens wiederkam, 


— 216 — 


ſaß er längſt wach und aufmerkſam wieder an Pierres 
Bett, und ſein Mund und der Blick, mit dem er grüßte, 
war wieder ſtraff von der geheimnisvollen Kraft und 
Entſchloſſenheit, in die er ſeit Tagen wie in einen Panzer 
gehüllt ging. 

Für Pierre kam heute ein ſchlechter Tag. Er ſchlief 
lange und lag dann mit offenen Augen und erſtarrtem 
Blick, bis eine neue Welle von Schmerzen ihn erweckte. 
Er warf ſich tobend im Bett umher, ballte die kleinen 
Fäuſte und drückte ſie auf die Augen, ſein Geſicht war 
bald totenhaft weiß, bald glühend rot. Und dann be⸗ 
gann er zu ſchreien, in ohnmächtiger Empörung gegen 
unerträgliche Qualen, und ſchrie ſo lange und ſo jam— 
mervoll, daß ſein Vater ſchließlich blaß und vernichtet 
hinweggehen mußte, weil er es nimmer mit anhören 
konnte. 

Er ließ den Arzt kommen, der an dieſem Tage noch 
zweimal wiederkehrte und am Abend eine Pflegerin mit— 
brachte. Gegen Abend verlor Pierre das Bewußtſein, 
man ſchickte die Pflegerin zu Bett, und Vater und Mutter 
blieben die ganze Nacht wach im Gefühl, das Ende 
könne nimmer fern ſein. Der Kleine rührte ſich nicht, und 
ſein Atem ging unregelmäßig, aber kräftig. 

Veraguth und ſeine Frau aber dachten beide an die 
Zeit, da Albert einſt ſehr krank geweſen war und ſie ihn 
gemeinſam gepflegt hatten. Und ſie empfanden beide, 
daß wichtige Erlebniſſe ſich nicht wiederholen können. 


Mild und etwas müde ſprachen fie mit flüſternden 
Stimmen über das Krankenbett hinweg miteinander, 
aber kein Wort von der Vergangenheit, kein Wort von 
damals. Geſpenſtiſch berührte ſie die Ahnlichkeit der 
Situation und des Geſchehens, ſie ſelbſt waren andere 
geworden, ſie waren nicht mehr dieſelben Menſchen, 
die damals genau ſo wie jetzt über ein todkrankes Kind 
gebeugt miteinander gewacht und gelitten hatten. 

Albert hatte indeſſen, von der ſtillen Unruhe und 
ſchleichenden Sorge im Hauſe bedrückt, nicht einſchlafen 
können. Mitten in der Nacht erſchien er auf Zehenſpitzen 
halbangekleidet in der Türe, kam mit erregtem Flüſtern 
herein und fragte, ob er nichts tun, nicht etwas helfen 
könne. 

„Danke,“ ſagte Veraguth, „aber es iſt nichts zu tun. 
Geh du ſchlafen und bleibe geſund!“ 

Aber als jener gegangen war, bat er ſeine Frau: „Geh 
du ein wenig zu ihm hinüber und tröſte ihn.“ 

Das tat ſie gerne, und ſie empfand es als eine Freund— 
lichkeit von ihm, daß er daran gedacht hatte. 

Erſt gegen Morgen folgte ſie dem Zureden ihres 
Mannes und ging zu Bett. Bei Tagesanbruch erſchien 
die Pflegerin und löſte ihn ab. Bei Pierre hatte ſich nichts 
verändert. 

Unſchlüſſig ging Veraguth durch den Park, er hatte 
keine Luſt, noch zu ſchlafen. Doch mahnten ihn die bren— 
nenden Augen und ein erſticktes, ſchlaffes Gefühl der 


— 218 — 


Haut. Er badete im See und hieß Robert Kaffee bringen. 
Dann betrachtete er im Atelier ſeine Waldſtudie. Sie 
war friſch und flott gemalt, aber es war doch nicht eigent— 
lich das, was er geſucht hatte, und nun war es mit dem 
geplanten Bilde und mit dem Malen auf Roßhalde 
vorbei. 


Siebzehntes Kapitel 


Seit einigen Tagen war es Pierre immer gleich ge— 
gangen. Gin: oder zweimal am Tage bekam er Krämpfe 
und Schmerzanfälle, ſonſt lag er mit dämmernden Sin— 
nen halbſchlummernd. Das warme Wetter hatte ſich in- 
zwiſchen in einer ganzen Reihe von Gewittern erſchöpft, 
es war kühl geworden, und im ſchwach ſtrömenden Re— 
gen verlor der Garten und die Welt den fatten Sommer— 
glanz. 

Veraguth hatte die Nacht endlich einmal wieder im 
eigenen Bett zugebracht und viele Stunden tief geſchla— 
fen. Jetzt, da er ſich bei offenen Fenſtern ankleidete, nahm 
er erſt die trübe Kühle wahr; in den letzten Tagen war er 
wie in Fiebermüdigkeit einhergegangen. Er beugte ſich 
aus dem Fenſter und atmete, vor Kühle leiſe ſchauernd, 
die Regenluft des lichtloſen Morgens ein. Es roch nach 
naſſer Erde und nach Herbſtnähe, und er, der die Merk— 
male der Jahreszeiten mit über feinen Sinnen zu erfühlen 
gewohnt war, bemerkte mit Verwunderung, wie ihm 
dieſer Sommer faſt ohne Spur wie ungefühlt ent— 
ſchwunden war. Ihm ſchien es, als habe er in Pierres 
Krankenzimmer nicht Tage und Nächte, ſondern Mo— 
nate hingebracht. 


7 ae oe 


Er warf den Gummimantel über und ging ins Haus. 
Er erfuhr, der Kleine ſei früh erwacht, ſchlafe aber ſeit 
einer Stunde wieder, und fo leiſtete er Albert beim Früh— 
ſtück Geſellſchaft. Der große Junge nahm ſich Pierres 
Krankheit ſehr zu Herzen und litt, ohne es merken laſſen 
zu wollen, unter der gedämpften Krankenatmoſphäre 
und ſorgenſchweren Bedrücktheit des Hauſes. 

Als Albert weggegangen war, um ſich in ſeinem Zim— 
mer an die Schularbeiten zu machen, ging Veraguth zu 
Pierre, der noch ſchlief, und nahm ſeinen Platz am Bette 
ein. Er hatte in dieſen Tagen manchmal gewünſcht, es 
möge doch lieber raſch zu Ende gehen, ſchon um des Kin— 
des willen, das längſt kein Wort mehr ſprach und ſo er⸗ 
ſchöpft und gealtert ausſah, als wiſſe es ſelber, daß ihm 
nicht mehr zu helfen ſei. Dennoch wollte er keine Stunde 
verſäumen und hielt ſeinen Poſten am Krankenbett mit 
einer eiferſüchtigen Leidenſchaft inne. Ach, wie oft war 
der kleine Pierre einſt zu ihm gekommen und hatte ihn 
müde oder gleichgültig gefunden, in die Arbeit vertieft 
oder an Sorgen verloren, wie oft hatte er zerſtreut und 
ohne Teilnahme dieſe kleine magere Hand in der ſeinen 
gehalten und kaum auf die Worte des Kindes gehört, 
deren jedes nun eine unſchätzbare Koſtbarkeit geworden 
war! Davon war nichts gutzumachen. Aber jetzt, da der 
arme Kerl in Qualen lag und allein mit ſeinem unbe— 
wehrten, verwöhnten Kinderherzen dem Tod gegenüber— 
ſtand, jetzt, da er in wenigen Tagen alle Lähmung, allen 


— gor — 


Schmerz und alle angſtvolle Verzweiflung durchkoſten 
mußte, mit denen Krankheit, Schwäche, Altern und To— 
desnähe ein Menſchenherz ſchrecken und erdrücken, jetzt 
wollte er immer und immer bei ihm ſein. Er wollte es, 
um ja nicht zu fehlen und vermißt zu werden, wenn je 
ein Augenblick käme, wo der Kleine nach ihm begehren 
würde und wo er ihm einen kleinen Dienſt, ein wenig 
Liebe erweiſen könnte. 

Und ſiehe, an dieſem Morgen wurde er belohnt. An 
dieſem Morgen ſchlug Pierre die Augen auf, lächelte ihn 
an und ſagte mit einer ſchwachen, zärtlichen Stimme: 
„Papa!“ 

Dem Maler ſchlug das Herz ſtürmiſch, als er endlich 
die lang vermißte Stimme wieder hörte, die ihn rief und 
ſich zu ihm bekannte und die ſo dünn und ſchwach ge— 
worden war. So lange hatte er dieſe Stimme nur noch 
ſtöhnen und in dumpfen Leiden elend lallen hören, daß 
er vor Freude tief erſchrak. 

„Pierre, mein Lieber!“ 

Er bückte ſich zärtlich herab und küßte den lächelnden 
Mund. Pierre ſah friſcher und glücklicher aus, als er ihn 
je wieder zu ſehen gehofft hatte, die Augen waren klar 
und bewußt, die tiefe Falte zwiſchen den Brauen war 
beinahe verſchwunden. 

„Mein Herz, geht dir's beſſer?“ 

Der Knabe lächelte und ſah ihn wie verwundert an. 
Der Vater bot ihm die Hand, und er legte ſein Händchen 


— 222 — 


hinein, das niemals febr ſtark geweſen und nun fo klein 
und weiß und müde war. 

„Nun ſollſt du gleich Frühſtück bekommen, und nach— 
her erzähle ich dir Geſchichten.“ 

„DO ja, vom Herrn Ritterſporn und von den Sommer— 
vögeln,“ ſagte Pierre, und wieder war es ſeinem Vater 
wie ein Wunder, daß er ſprach und lächelte und wieder 
ihm gehörte. 

Er brachte ihm ſein Frühſtück, Pierre aß willig und 
ließ ſich noch zu einem zweiten Ei überreden. Dann 
verlangte er nach ſeinem Lieblingsbilderbuch. Der 
Vater ſchob vorſichtig einen der Vorhänge beiſeite, 
das bleiche Licht des Regentages kam herein, und Pierre 
verſuchte aufzuſitzen und Bilder anzuſehen. Es ſchien 
ihm keine Schmerzen zu machen, aufmerkſam betrach— 
tete er mehrere Blätter und begrüßte die lieben Bilder 
mit kleinen Ausrufen der Freude. Dann ermüdete ihn 
das Sitzen, und die Augen begannen wieder ein wenig 
zu ſchmerzen. Er ließ ſich zurücklegen und bat den 
Papa, ihm ein paar von den Verſen vorzuleſen, vor 
allem von dem kriechenden Günſel, der zum Apotheker 


Gundermann kommt: 
O Apotheker Gundermann, 
O helft mir doch mit Salben! 


Ihr ſeht, wie ſchlecht ich gehen kann, 
Es reißt mich allenthalben! 


— 223 —— 


Veraguth gab ſich Mühe, er las fo friſch und ſchelmiſch, 
als er irgend konnte, und Pierre lächelte dankbar. Doch 
ſchienen die Verſe nicht mehr ihre alte Kraft zu haben, 
als ſei Pierre, ſeit er ſie nimmer gehört, um Jahre älter 
geworden. Mit den Bildern und Verſen kam wohl die 
Erinnerung an viele helle, lachend frohe Tage wieder, 
die alte Freude und übermütige Luſt aber konnte nicht 
wiederkommen, und ohne es zu begreifen, blickte der 
Kleine in die eigene Kindheit, die vor Tagen, vor Wochen 
noch Wirklichkeit geweſen war, ſchon mit der Sehnſucht 
und Trauer eines Erwachſenen hinüber. Er war kein 
Kind mehr. Er war ein Kranker, dem die Welt der Wirk— 
lichkeit ſchon entglitten war und deſſen hellſichtig gewor⸗ 
dene Seele ſchon überall und ringsum mit ängſtlicher 
Witterung den wartenden Tod erfühlte. 

Dennoch war dieſer Morgen voll Licht und Glück, 
nach all den furchtbaren Tagen. Pierre war ſtill und 
dankbar, und Veraguth fand ſich wider ſeinen Willen 
immer wieder von ahnender Hoffnung berührt. Es war 
am Ende doch möglich, daß der Knabe ihm erhalten 
blieb! Und dann gehörte er ihm; ihm allein! 

Der Sanitãtsrat kam und blieb lange an Pierres Bett, 
ohne ihn mit Fragen und Unterſuchungen zu quälen. 
Erſt jetzt kam auch Frau Adele dazu, die ſich mit der 
Pflegerin in die letzte Nachtwache geteilt hatte. Sie war 
von der merkwürdigen Beſſerung wie benommen, ſie 
hielt Pierres Hände ſo feſt, daß es ihm weh tat, und gab 


— 224 — 


ſich keine Mühe, die erlöſenden Tränen zu verbergen, die 
ihr aus den Augen liefen. Auch Albert durfte eine kleine 
Weile hereinkommen. 

„Es iſt wie ein Wunder,“ ſagte Veraguth zum Dok— 
tor. „Sind Sie nicht auch überraſcht?“ ? 

Der Sanitätsrat nickte und lächelte freundlich. Er 
widerſprach nicht, aber er zeigte offenbar keine über— 
mäßige Freude. Sogleich wurde der Maler wieder von 
Mißtrauen überfallen. Er beobachtete jede Gebärde des 
Arztes, und er ſah in deſſen Augen, während ſein Geſicht 
lächelte, die kalte Aufmerkſamkeit und beherrſchte Sorge 
ungelöſt. Nachher belauſchte er lauernd durch den Tür— 
ſpalt das Geſpräch des Doktors mit der Pflegerin, und 
obwohl er kaum ein Wort verſtehen konnte, meinte er 
doch an dem ſtrengen, gemeſſen ernſten Flüſterton nichts 
als Gefahr herauszuhören. 

Schließlich begleitete er ihn zum Wagen und fragte 
in der letzten Minute: „Sie halten nicht viel von dieſer 
Beſſerung?“ 

Das häßliche, beherrſchte Geſicht wandte ſich zu ihm 
zurück. „Seien Sie froh, daß er ein paar gute Stunden 
hat, der arme Burſche! Wir wollen hoffen, daß es recht 
lange anhält.“ 

Es ſtand nichts von Hoffnung in ſeinen klugen Augen 
zu leſen. 

Eilig, um keinen Augenblick zu verlieren, kehrte er ins 
Krankenzimmer zurück. Die Mutter erzählte gerade die 


Geſchichte vom Dornröschen, er ſetzte ſich daneben und 
ſah zu, wie Pierres Züge dem Märchen folgten. 

„Soll ich noch etwas erzählen?“ fragte Frau Adele. 

„Nein,“ ſagte er etwas müde. „Später.“ 

Sie ging, nach der Küche zu ſehen, und der Vater 
nahm Pierres Hand. Sie ſchwiegen beide, aber von Zeit 
zu Zeit ſah Pierre mit einem ſchwachen Lächeln auf, als 
freue er ſich, daß Papa bei ihm ſei. 

„Nun geht es dir viel beſſer,“ ſagte Veraguth 
ſchmeichelnd. 

Pierre errötete leicht, ſeine Finger bewegten ſich ſpie— 
lend in des Vaters Hand. 

„Nicht wahr, du haſt mich lieb, Papa?“ 

„Gewiß, Schatz. Du biſt mein lieber Junge, und wenn 
du wieder geſund biſt, wollen wir immer beieinander 
bleiben.“ 

„Ja, Papa... Ich bin einmal im Garten geweſen, 
und da war ich ganz allein, und ihr habt mich alle nimmer 
liebgehabt. Ihr müßt mich aber liebhaben, und ihr 
müßt mir helfen, wenn es wieder weh tut. Oh, es hat mir 
ſo weh getan!“ 

Er hatte die Augen halb geſchloſſen und ſprach ſo 
leiſe, daß Veraguth ſich dicht zu ſeinem Munde hinab— 
beugen mußte, um ihn zu verſtehen. 

„Ihr müßt mir helfen. Ich will artig ſein, immer, ihr 
dürft mich nicht ſchelten! Nicht wahr, ihr ſcheltet mich 
nie? Du mußt es auch Albert ſagen.“ 


18 Heſſe, Roßhalde 


— 226 — 


Seine Lider zitterten und öffneten ſich wieder, aber der 
Blick war dunkel und die Pupillen übergroß. 

„Schlafe, Kind, ſchlaf nur! Du biſt müde. Schlafe, 
ſchlafe, ſchlafe.“ 

Veraguth ſchloß ihm vorſichtig die Lider und ſummte 
ihn ein, wie er es früher in Pierres Babngeiten 
manchmal getan hatte. Und der Kleine ſchien ein— 
zuſchlafen. 

Nach einer Stunde kam die Pflegerin, um Veraguth 
zu Tiſche zu bitten und inzwiſchen bei Pierre zu bleiben. 
Er ging ins Speiſezimmer, nahm ſtill und zerſtreut einen 
Teller Suppe und hörte kaum, was neben ihm geſpro— 
chen wurde. Das angſtvoll zärtliche Liebesgeflüſter des 
Kindes klang ſüß und traurig in ihm fort. Ach wie viel 
hundertmal hätte er ſo mit Pierre reden und das naive 
Vertrauen ſeiner ſorgloſen Liebe ſpüren können, und 
hatte es nicht getan! 

Mechaniſch griff er nach der Flaſche, um ſich Waſſer 
einzuſchenken. Da klang von Pierres Zimmer ſchneidend 
ein lauter, gellender Schrei herüber, der riß Veraguths 
wehmütigen Traum mitten durch. Alle ſprangen mit 
erbleichten Geſichtern empor, die Flaſche fiel um, rollte 
über den Tiſch und klirrte zu Boden. 

Mit einem Sprung war Veraguth aus der Türe und 
drüben. 

„Den Eisbeutel!“ rief die Pflegerin. 

Er hörte nichts. Nichts als den furchtbaren, verzwei⸗ 


elnden Schrei, der ihm im Bewußtſein ſtak wie ein 
Meſſer in der Wunde. Er ſtürzte ans Bett. 

Da lag Pierre ſchneeweiß mit gräßlich verzogenem 
Munde, ſeine abgemagerten Glieder krümmten fic) in 
vütenden Krämpfen, die Augen ſtierten in vernunft— 
oſem Entſetzen. Und plötzlich tat er nochmals einen 
Ichrei, noch wilder und heulender, und bäumte ſich hoch 
m Bogen auf, daß die Bettſtatt zitterte, ließ ſich fallen 
ind bog ſich wieder empor, vom Schmerz geſpannt und 
uſammengebogen wie eine Gerte von zornigen Knaben— 
jänden. 

Alle ſtanden entſetzt und hilflos, bis die Befehle der 
Dflegerin Ordnung ſchafften. Veraguth lag auf den 
tnien vor dem Bett und ſuchte zu verhindern, daß Pierre 
1 feinen Zuckungen ſich verletze. Trotzdem hieb ſich der 
kleine die rechte Hand an dem metallenen Bettrande 
lutig. Dann ſank er zuſammen, drehte fic) um, daß er 
uf den Bauch zu liegen kam, verbiß ſich ſchweigend ins 
diſſen und fing an, mit dem linken Bein taktmäßig aus⸗ 
uſchlagen. Er hob das Bein, ließ es mit einer ſtampfen— 
en Bewegung wieder fallen, ruhte einen Augenblick 
ind begann dann dieſelbe Bewegung von neuem, zehn— 
nal, zwanzigmal und immer weiter. 

Die Frauen waren an der Arbeit, Umſchläge vorzu— 
ereiten, Albert hatte man weggeſchickt. Veraguth kniete 
loch immer und fab zu, wie mit unheimlicher Regel— 
näßigkeit unter der Decke das Bein ſich hob, ſich ſtreckte 


5 * 


— 228 — 


und niederfiel. Da lag ſein Kind, deſſen Lächeln noch 
vor Stunden wie ein Sonnenſchein geweſen war und 
deſſen flehendes Liebesgeſtammel noch eben ſein Herz 
bis in die letzte Tiefe gerührt und bezaubert hatte. Da 
lag es und war nichts als ein mechaniſch zuckender 
Körper, ein armes hilfloſes Bündel von Schmerz und 
Jammer. 

„Wir ſind bei dir,“ rief er verzweifelt. „Pierre, Kind, 
wir ſind da und wollen dir helfen!“ 

Aber es gab keinen Weg mehr von ſeinen Lippen zur 
Seele des Knaben, und alles beſchwörende Tröſten und 
ſinnloſe Zärtlichkeitsgeflüſter drang nicht mehr an die 
furchtbare Einſamkeit des Sterbenden. Der war weit 
weg in einer anderen Welt, er wanderte dürſtend durch 
ein Höllental voll Pein und Todesnot, und vielleicht 
ſchrie er dort jetzt eben nach dem, der neben ihm auf 
ſeinen Knien lag und der gerne jede Qual gelitten hätte, 
um ſeinem Kinde zu helfen. 

Jedermann wußte, daß dies das Ende war. Seit 
jenem erſten Schrei, der ſie aufgeſchreckt hatte und der 
ſo bitter voll von tiefem, tieriſchem Leid geweſen war, 
ſtand auf jeder Schwelle und in jedem Fenſter des Hau— 
ſes der Tod. Niemand ſprach von ihm, aber alle hatten 
ihn erkannt, auch Albert und auch die Mägde unten 
und ſelbſt der Hund, der auf dem Kiesplatz unruhig im 
Regen hin und wieder lief und zuweilen ängſtlich winſelte. 
Und ob man ſich auch Mühe gab und Waſſer kochte, 


Eis auflegte und emſig zu tun hatte, es war kein Ramp: 
fen mehr, es war keine Hoffnung mehr dabei. 

Pierre war nicht mehr bei Bewußtſein. Er zitterte am 
ganzen Leibe, als frove er, zuweilen ſchrie er ſchwach und 
irr, und immer wieder, nach jeder erſchöpften Pauſe, 
begann aufs neue das Bein zu ſchlagen und zu ſtamp— 
fen, taktmäßig wie von einem Uhrwerk getrieben. 

So ging der Nachmittag hin und der Abend und 
ſchließlich die Nacht, und als in der erſten Frühe der 
kleine Kämpfer ſeine Kraft verbraucht hatte und ſich 
dem Feind ergab, da blickten über ſein Bett hinweg die 
Eltern ſich aus übernächtigen Geſichtern wortlos an. 
Johann Veraguth legte ſeine Hand auf Pierres Herz 
und konnte keinen Schlag mehr fühlen, und er ließ die 
Hand auf der hageren Bruſt des Kindes liegen, bis ſie 
kühl und bis ſie kalt wurde. 

Dann ſtrich er ſachte mit der Hand über Frau Adeles 
gefaltete Hände und ſagte flüſternd: „Es iſt zu Ende.“ 
Und wãhrend er ſeine Frau aus dem Zimmer führte und 
ſie ſtützte und ihrem heiſeren Schluchzen zuhörte, wäh— 
rend er ſie der Pflegerin überließ und an Alberts Tür 
horchte, ob er wach ſei, während er zu Pierre zurück— 
kehrte und den Toten beſſer bettete und zurechtlegte, 
fühlte er die Hälfte ſeines Lebens in ſich abgeſtorben und 
zur Ruhe gekommen. 

Gefaßt tat er das Notwendige, und ſchließlich über— 
ließ er den Toten der Pflegerin und legte ſich zu einem 


kurzen, tiefen Schlafe nieder. Als das volle Tageslicht 
durch die Fenſter ſeiner Rammer ſchien, wurde er wach, 
erhob ſich ſofort und ging an die letzte Arbeit, die er auf 
Roßhalde noch zu tun geſonnen war. Er ging in Pierres 
Schlafzimmer, zog alle Vorhänge weg und ließ den 
kühlen, herbſtlichen Tag auf das kleine weiße Geſicht 
und die ſtarren Händchen ſeines Lieblings ſcheinen. 
Dann ſetzte er ſich zur Bettſtatt, breitete einen Karton 
aus und zeichnete zum letztenmal die Züge, die er ſo oft 
ſtudiert, die er ſeit ihrer zarten Werdezeit gekannt und 
geliebt hatte und die jetzt vom Tode gereift und verein⸗ 
facht, aber noch immer voll von unbegriffenem Leide 
waren. 


rn /“ 


Achtzehntes Kapitel 


Die Sonne ſchien feurig durch die Ränder der ſchlaf— 
fen, müdgeregneten Wolken, als die kleine Familie von 
Pierres Begräbnis nach Hauſe fuhr. Frau Adele ſaß 
aufrecht im Wagen, ihr ausgeweintes Geſicht ſah ſelt— 
ſam hell und ſtarr aus dem ſchwarzen Hut und dem 
hochgeſchloſſenen ſchwarzen Trauerkleide. Albert hatte 
geſchwollene Lidränder und hielt beſtändig ſeiner Mutter 
Hand in der ſeinen. 

„Alſo ihr reiſt beide morgen,“ ſagte Veraguth er— 
munternd. „Macht euch keine Sorgen, ich werde alles 
tun, was hier noch notwendig iſt. Mut, mein Junge, 
es kommen wieder beſſere Zeiten!“ 

Sie ſtiegen vor Roßhalde aus. Die tropfenden Zweige 
der Kaſtanien funkelten brennend im Licht. Geblendet 
traten ſie in das ſtille Haus, wo die Mädchen flüſternd 
in Trauerkleidern warteten. Pierres Zimmer hatte der 
Vater abgeſchloſſen. 

Es war Kaffee bereit, und die drei ſetzten ſich um den 
Tiſch. 

„Ich habe in Montreux Zimmer für euch beſtellt,“ 
fing Veraguth wieder an. „Seht zu, daß ihr euch gut 
erholt! Auch ich will reiſen, ſobald ich hier fertig bin. 


Robert wird hierbleiben und das Haus in Ordnung hal— 
ten. Er wird meine Adreſſe haben.“ 

Niemand hörte auf ihn, eine tiefe, beſchämende 
Nüchternheit drückte wie ein Froſt auf alle. Frau Adele 
ſah ſtarr vor ſich nieder und las Broſamen vom Tiſch— 
tuch. Sie ſchloß ſich in ihre Trauer ein und wollte ſich 
durch nichts daraus wecken laſſen, und Albert ahmte ihr 
nach. Seit der kleine Pierre tot lag, war der Anſchein 
von Zuſammengehörigkeit in der Familie wieder dahin— 
geſchwunden, wie die Höflichkeit aus dem Geſicht eines 
mühſam Beherrſchten, wenn ein gefürchteter mächtiger 
Gaſt wieder abgereiſt iſt. Es war einzig Veraguth, der 
über alle Tatſachen hinweg bis zum letzten Augenblick 
ſeine Rolle weiterſpielte und die Maske feſthielt. Er 
fürchtete, irgendeine weibliche Szene möchte ihm den 
Abſchied von Roßhalde noch verderben, und im Herzen 
wartete er ſehnlichſt auf die Stunde, wo die beiden ab— 
gereiſt ſein würden. 

So allein war er nie geweſen wie am Abend dieſes 
Tages, als er in ſeinem Stübchen ſaß. Drüben packte 
ſeine Frau ihre Koffer. Er hatte Briefe geſchrieben und 
Geſchäfte beſorgt, er hatte ſich bei Burkhardt ange— 
meldet, der noch nichts von Pierres Tod wußte, hatte 
dem Anwalt und der Bank die letzten Anweiſungen und 
Vollmachten gegeben. Nun war der Schreibtiſch ab— 
geräumt, und er hatte das Bild des toten Pierre vor ſich 
aufgeſtellt. Der lag nun im Boden, und es war die 


— 28 — 
Frage, ob Veraguth jemals wieder ſo ſein Herz an einen 
Menſchen weggeben, eines andern Leiden ſo würde mit— 
leiden können. Er war jetzt allein. 

Lange betrachtete er ſeine Zeichnung, die erſchlafften 
Wangen, die über eingeſunkenen Augen geſchloſſenen 
Lider, den ſchmalen gepreßten Mund, die grauſam ge— 
magerten Kinderhände. Dann verſchloß er das Bild 
im Atelier, nahm den Mantel um und ging ins Freie. 
Der Park war ſchon nächtlich und alles ſtill. Drüben 
im Hauſe leuchteten ein paar erhellte Fenſter, die gingen 
ihn nichts an. Aber unter den ſchwarzen Kaſtanien— 
bäumen, in der kleinen verregneten Laube, auf dem Kies— 
platz und im Blumengarten wehte noch etwas wie Le— 
ben und Erinnerung. Hier hatte Pierre ihm einſt — war 
es nicht Jahre her? — eine kleine gefangene Maus ge— 
zeigt, und dort beim Phlox hatte er mit den Schwärmen 
der blauen Falter geſprochen, und für die Blumen hatte 
er phantaſtiſch⸗ zärtliche Namen erfunden. Hier überall, 
im Hof beim Geflügel und Hundehaus, auf dem Raſen— 
platz und in der Lindenallee, hatte er ſein kleines Leben 
geführt, ſeine Spiele geſpielt, hier war ſein leichtes, 
freies Knabenlachen und der ganze Liebreiz ſeiner eigen— 
willig ſelbſtändigen Perſon heimiſch geweſen. Hier 
hatte er hundertmal, von niemand beachtet, ſeine Kinder— 
freuden genoſſen und ſeine Märchen erlebt, hier hatte 
er vielleicht zuweilen gezürnt oder geweint, wenn er ſich 
vernachläſſigt oder unverſtanden gefühlt hatte. 


— 234 — 

In der Dunkelheit irrte Veraguth umher und beſuchte 
jeden Ort, der ihm eine Erinnerung an ſeinen Knaben 
bewahrte. Zuletzt kniete er bei Pierres Sandberg nieder 
und kühlte ſeine Hände im feuchten Sande, und als er 
dabei ein hölzernes Ding zu faſſen bekam und aufhob 
und Pierres kleine Sandſchaufel erkannte, ſank er willen 
los nieder und konnte endlich, zum erſtenmal in dieſen 
drei furchtbaren Tagen, frei und feſſellos weinen. 

Am Morgen hatte er noch eine Unterredung mit Frau 
Adele. 

„Tröſte dich“, ſagte er zu ihr, „und vergiß nicht, daß 
Pierre ja mir gehört hat. Du hatteſt ihn mir abgetreten 
— ich danke dir nochmals dafür. Ich wußte ſchon da- 
mals, daß er ſterben müſſe — aber es war lieb von dir. 
Und nun lebe ganz, wie es dir gefällt, und übereile nichts! 
Behalte Roßhalde einſtweilen, es könnte dich reuen, 
wenn du es zu bald weggäbeſt. Darüber wird dich der 
Notar noch belehren, er meint, der Bodenwert müſſe 
hier bald ſteigen. Viel Glück dazu! Mir gehört hier 
nichts mehr als die Sachen im Atelier, ich werde fie ſpä—⸗ 
ter abholen laſſen.“ 

„Danke.. . Und du? Du willſt nie mehr hierher 
kommen?“ 

„Nie mehr. Es hätte keinen Zweck. Und ich wollte 
dir noch ſagen: es iſt bei mir gar keine Bitterkeit mehr 
vorhanden. Ich weiß, ich bin an allem ſelbſt ſchuldig 
geweſen.“ 


ome teal 

„Sage das nicht! Du meinſt es gut, aber es quält 
mich nur. Da bleibſt du nun ganz allein zurück! Ja, 
wenn du Pierre hätteſt behalten können. Aber fo — nein, 
ſo hätte es nicht kommen dürfen! Ich habe auch ſchuld 
gehabt, ich weiß ...“ 

„Das haben wir abgebüßt, Kind, in dieſen Tagen. 
Du mußt ruhig ſein, es iſt alles gut, es iſt wirklich nichts 
mehr zu klagen. Sieh, jetzt haſt du Albert ganz für dich. 
Und ich, ich habe meine Arbeit. Damit läßt ſich alles 
ertragen. Auch du wirſt glücklicher ſein, als du es ſeit 
Jahren warſt.“ 

Er war fo ruhig, daß auch fie ſich überwand. Ach, es 
gab vieles, unendlich vieles, was ſie noch gerne geſagt 
hätte, wofür ſie ihm noch hätte danken, worum ſie ihn 
hätte anklagen mögen. Aber ſie ſah, er hatte recht. Für 
ihn war dies alles offenbar ſchon weſenloſe Vergangen— 
heit geworden, was fie noch als Leben und bittere Ge: 
genwart empfand. Es hieß nun ſtille ſein und das Alte 
vergangen ſein laſſen. Und ſo hörte ſie mit geduldiger 
Aufmerkſamkeit an, was er anzuordnen hatte, und 
wunderte ſich, wie wohl er alles überlegt und an alles 
gedacht hatte. 

Über die Scheidung wurde kein Wort geſprochen. Das 
konnte irgendeinmal ſpäter geſchehen, wenn er von In⸗ 
dien zurück war. 

Nach Mittag fuhren ſie zur Bahn. Da ſtand Robert 
mit den vielen Koffern, und im Lärm und Ruß der großen 


Glashalle brachte Veraguth die beiden in ihren Wagen, 
kaufte Zeitſchriften für Albert und übergab ihm den Ge— 
päckſchein, wartete vor dem Fenſter bis zur Abfahrt, zog 
grüßend den Hut und ſah dem Zuge nach, bis Albert 
vom Fenſter verſchwand. 

Auf dem Heimwege ließ er ſich von Robert die Auf— 
löſung ſeines übereilten Verlöbniſſes erzählen. Zu Hauſe 
fand er ſchon den Tiſchler warten, der die Kiſten zu ſeinen 
letzten Bildern zimmern ſollte. Wenn dieſe verpackt und 
weggeſchickt waren, wollte auch er gehen. Ihn verlangte 
ſehnlich nach der Abreiſe. 

Und nun war auch der Tiſchler abgefertigt. Robert 
arbeitete im Herrſchaftshauſe mit der einen Magd, die 
noch da war, ſie deckten die Möbel zu und ſchloſſen 
Fenſter und Läden. 

Veraguth ging mit langſamen Schritten durch ſeine 
Werkſtatt, durch den Wohn- und Schlafraum, dann ins 
Freie, um den Weiher und durch den Park. So war er 
hundertmal hier umhergegangen, aber heute ſchien ihm 
alles, Haus und Garten, See und Park vor Einſamkeit 
widerzuhallen. Der Wind blies kalt im ſchon vergilben— 
den Laube und führte in niedrig hängenden Zügen neue 
wollige Regenwolken heran. Der Maler ſchauerte frö— 
ſtelnd zuſammen. Nun war niemand mehr da, für den 
er zu ſorgen, auf den er Rückſicht zu nehmen, vor dem er 
Haltung zu bewahren hatte, und nun erſt fühlte er in 
frierender Einſamkeit die Sorgen und Nachtwachen, das 


— Gat 
zitternde Fieber und die ganze zerrüttende Ermüdung 
dieſer letzten Zeit. Er fühlte ſie nicht nur in Kopf und 
Gliedern, er empfand ſie noch tiefer im Gemüt. Da 
waren die letzten ſpielenden Lichter von Jugend und Er— 
wartung ausgelöſcht; aber er fühlte die kühle Iſoliert⸗ v 
heit und grauſame Nüchternheit nicht wie ein Schrecknis. 

Unbeirrt ſuchte er, durch die naſſen Wege weiterſchlen— 
dernd, die Fäden ſeines Lebens zurückzuverfolgen, deren 
einfaches Gewebe er nie ſo klar und befriedigt überſchaut 
hatte. Und er ſtellte ohne Erbitterung feſt, daß er alle 
dieſe Wege in Blindheit gegangen ſei. Er war, das ſah 
er genau, trotz allen Verſuchen und trotz aller nie ganz 
erloſchenen Sehnſucht am Garten des Lebens vorüber⸗ 
gegangen. Er hatte niemals in ſeinem Leben eine Liebe 
bis zum letzten Grunde erlebt und gekoſtet, nie bis in dieſe 
letzten Tage. Da hatte er am Bett ſeines ſterbenden 
Knaben, allzu ſpät, ſeine einzige wahre Liebe erlebt, da 
hatte er zum erſtenmal ſich ſelbſt vergeſſen, ſich ſelbſt 
überwunden. Das würde nun für immer ſein Erlebnis 
und ſein armer kleiner Schatz bleiben. 

Was ihm blieb, das war ſeine Kunſt, der er ſich nie ſo 
ſicher gefühlt hatte wie eben jetzt. Ihm blieb der Troſt 
der Draußenſtehenden, denen es nicht gegeben iſt, das f 
Leben ſelber an ſich zu reißen und auszutrinken; ihm 
blieb die ſeltſame, kühle, dennoch unbändige Leidenſchaft 
des Sehens, des Beobachtens und heimlich ⸗-ſtolzen 
Mitſchaffens. Das war der Reſt und der Wert ſeines 


mißglückten Lebens, dieſe unbeirrbare Einſamkeit und 
kalte Luſt des Darſtellens, und dieſem Stern ohne Ab— 
wege zu folgen, war nun ſein Schickſal. 

Er atmete tief die feuchte, bitter duftende Parkluft, 
und bei jedem Schritt meinte er die Vergangenheit von 
ſich zu ſtoßen wie einen unnütz gewordenen Kahn vom 
erreichten Ufer. In ſeiner Prüfung und Erkenntnis war 
nichts von Reſignation; voll Trotz und unternehmender 
Leidenſchaft ſah er dem neuen Leben entgegen, das kein 
Taſten und dämmerndes Irren mehr ſein durfte, ſon— 
dern ein ſteiler, kühner Weg bergan. Spãter und bitterer 
vielleicht, als Männer ſonſt es tun, hatte er von der ſüßen 
Dämmerung der Jugend Abſchied genommen. Jetzt 
ſtand er arm und verſpätet im hellen Tag, und von dem 
gedachte er keine köſtliche Stunde mehr zu verlieren. 


Ende 


* 
Druck vom 
Bibliographiſchen Inſtitut 
in Leipzig 


* 


ae re 
N U 


1 M ‘i mo * 


et ee 
8 1 9 . : 
i p" teh 


Pi 
‘ 
bis * 

* en A ee 
een, OP. oy, 
n co 
1 . . 5 0 
1 AL 11 4 

et on 
Se bee 
jee N 


ia 5 
* 1 
* / 
4 f 4 * 9 
ey 0 
* * 
_ q 
* ray ’ 
1 “dy 
* 1 F ey 
* „ N 1 
Me Ir ) Li 
. 
8 
+. 
— r 
2 1 
0 
1 
‘ 
7 
* 
i 
‘ 
1 — 
1 
i 
1 
9 
dt YO 
, 
7 ) 


* * 1 


PLEASE DO NOT REMOVE 
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET 


UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY 


o to 40 £0 60 LL 68 
9 Wall SOd 4/8 AVE JONVY 


| 


MZIASNMOd IV 110