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Full text of "Litterarische Annalen der gesammten Heilkunde / in Verbindung mit mehreren Gelehrten herausgegeben von Justus Friedrich Carl Hecker. Volume 13, 1829."

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LITTERARISCHE  ANNALEN 

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der 


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gesammten  Heilkunde. 


ln  Verbindung 

mit  mehreren  Gelehrten 


heraus gegeben 


von 


/  1  •  >  •  4  --  - 

Dr.  Justus  Friedrich  Carl  Hecker, 

Professor  der  Heilkunde  an  der  Universität  Berlin ,  Mitgliede  der 
medicinischen  Ober-  Examinations  -  Commission,  der  medicinischen 
Gesellschaften  zu  Berlin,  Kopenhagen,  London,  Philadelphia  und 
Zürich,  der  Wetterauischen  Gesellschaft  für  die  gesafnmle  Natur- 
kund  e,  der  Gesellschaften  für  Natur-  und  Heilkunde  zu  Berlin, 
Bonn  und  Dresden,  so  wie  der  Accademia  Pontaniana  zu  Neapel 
Mitgliede  und  Correspondenten, 


— — 


Dreizehnter  Band . 

*  > 

Mit  einer  Stein  -  und  einer  KupfertafeL 


*  Berlin, 

im  Verlage 

von  Theod.  Christ.  F  r  i  e  d  r.  E  n  s  1  i  n. 

.  •  1829. 


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der  Herren  Mitarbeiter . 


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Dr.  v.  Amnion  in  Dresden. 

Medicinalrath  Dr.  Andrea  in  Magdeburg. 

Dr.  Behr  in  Bernburg. 

Dr.  B  riiggemann  in  Magdeburg. 

Professor  Dr.  Carus  in  Dresden. 

Ilofrath  Dr.  Clarus  in  Leipzig. 

Dr.  Dieffenbach  in  Berlin. 

Cojlegienrath  und  Professor  Dr.  Erdmann  in  Dorpat. 
Dr.  Haindorf  in  Münster. 

Professor  Dr.  He  in  rot  h  in  Leipzig. 

Dr.  Hey  fei  der  in  Trier. 

Dr.  Köhlcx  in  Dorpat. 

Hof-  und  Medicinalrath  Dr.  Kreysig  in  Dresden 
Professor  Dr.  Lichtenstädt  in  Breslau. 

Dr.  L  och  e  r  -  Ba Iber  in  Zürich. 

Professor  Dr.  Marx  in  Göttingen. 

Dr.  Monfalcon  in  Lyon. 

Dr.  Otto  in  Kopenhagen. 

Dr.  Plagge  in  Burg- Steinfurth. 

Dr.  G.  H.  Richter  in  Königsberg. 

Geh.  Medicinalrath  Dr.  Sachse  in  Ludwigslust. 

Dr.  Schilling  in  Dresden. 

Dr.  Schön  in  Hamburg. 

Dr.  v.  Schönberg  in  Neapel. 

Dr.  Serlo  in  Crossen. 

Dr.  E.  v.  Siehold  in  Berlin. 

Dr.  Siel  mann  in  Moskau. 

Prof.  Spitta  in  Rostock. 

Hofrath  Dr.  Stark  in  Jena. 

Medicinalrath  Dr.  Steffen  in  Stettin. 

Geh.  Medicinalrath  Dr.  Vogel  in  Rostock. 

Professor  Dr.  Wagner  in  Berlin. 

Professor  Dr.  Wendt  in  Kopenhagen. 

Regimentsarzt  Dr.  W  utzer  in  Münster. 


THTS  BOOK  W-WO  tONGER 

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S r.  W ohlgeboren 

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dem  Herrn 

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Dr.  Peter  Krukenberg, 

Professor  der  Heilkunde  und  Hirector  des  mediciniscl\en  Clini 
curns  an  der  Universität  Halle,  Mitgliede  gelehrter  Gesell¬ 
schaften  U.  s.  w. 


widmet 

den  dreizehnten  Band  dieser  Annalen 


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hochachtungsvoll 


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der  Herausgeher. 


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Inhalt  des  dreizehnten  Bandes. 


Seite 

I.  Originalabhandlungen. 

1.  TJeber  die  Stellung  der  Psychologie.  Von  Dr.  C.  F. 

Burdach . 1 

2.  Ueber  den  Gebrauch  der  kalten  Waschungen  in  den 

Masern.  Von  Dr.  Thaer . 19 

3.  Entwurf  zu  einer  endlichen  Theorie  der  Heilmittellehre 

in  ihrer  Begründung  auf  die  Basis  der  Humoralpatho¬ 
logie.  Von  Dr.  L.  S.  Steinheim . 129 

4.  Beobachtung  einer  seltenen  Form  von  syphilitischem 

Allgemeinleiden.  Von  einem  praktischen  Arzte.  .  .  178 

5.  Erfahrungen  und  Bemerkungen  über  Dupuytren’s 

Operationsmethode,  den  Mastdarmvorfall  zu  beseitigen. 

Von  Dr.  v.  Ammon.  (H  ierzu  Abbildungen. )  .  .  261 

6.  Zwei  Beobachtungen  über  die  Wirkung  des  Carbo  ani- 
itfalis  bei  angehender  Scirrhosität  der  linken  Brust  und 

bei  offenem  Nasenkrebs.  Von  Dr.  Wagner.  .  .  .  359 

7.  TJeber  den  angeborenen,  theilweisen  und  gänzlichen  * 

Mangel  der  Regenbogenhaut.  Von  Dr.  K.  Behr.  Mit 
einer  Kupfertafel . 373 

8.  Die  Rothein,  als  für  sich  bestehende  Krankheit.  Von 

Dr.  Wagner . 420 

9.  Beobachtungen  über  den  Wasserkrebs.  Von  einem 

praktischen  Arzte . 428 

II.  Kritische  Anzeigen. 

A.  Allgemeine  Pathologie. 

1.  L.  H.  F  ri  ed  1  aender,  Fundamenta  doctrinae  patho- 

logicae . 10 

B.  Praktische  Heilkunde. 

2.  G.  Barkhausen,  Beobachtungen  über  den  Säufer¬ 

wahnsinn . '...'S  1 

3.  H.  Hoffm  ann,  Ueber  die  Natur  und  Heilung  einiger 

chronischen  Krankheiten . 44 


VI 


Inhalt  des  dreizehnten  Bandes. 


#  •  Seite 

4.  E.  D.  Stahl,  Ideen  zur  \nfstellung  und  Begründung 

eines  einfachen,  allgcmcingültigcn  Naturgesetzes.  .  .  51 

O.  E.  D.  Stahl,  Entwurf  eines  naturgeniäfscn  Verfah¬ 
rens,  Krankheiten  zu  heilen.  ..........  51 

6.  V.  Collin,  Die  Untersuchungen  der  Ilrust  zur  Er- 
kenntnifs  der  Brustkrankheiten.  Aus  dem  Kranz,  von 

F.  J.  Bourel.  '. . .  ,  .•«  204 

7.  L.  Hünefeld,  Die  Radcsyge  oder  das  Scandinavische 

Syphiloid . . . 211 

8.  H.  3M.  J.  Desruelles,  Abhandlung  über  den  Keuch¬ 
husten.  A.  d.  Kranz,  von  G.  von  dem  Busch.  .  .  217 

9.  W.  Sachse,  Ueher  Angina . * . 445 

10.  Chr.  A.  B  eck  er,  Der  mincrslische  Magnetismus  und 

seine  Anwendung  in  der  Heilkunst . 454 

11.  c.  Grötzner,  Der  Krampf,  insbesondere  der  Wund¬ 
starrkrampf.  .  '......  463 

C.  C  h  i  r  u  r  g  i  c. 

12.  J.  F.  Dicffenbach,  Chirurgische  Erfahrungen,  be¬ 
sonders  über  die  Wicdeihcrstellung  zerstörter  T heile 

des  menschlichen  Körpers,  nach  neuen  Methoden.  .  .  56 

13.  A.  Sc.yrpa,  Neueste  chirurgische  Schriften.  Aus  dem 

Italienischen  von  E,  T  hi  eine.  Bd.  I . .  .  61 

14.  A.  Sc  arpa,  Ueher  die  Expansion  der  Knochen  und 


den  Gallus  nach  Kracturen.  Aus  dem  Lateinischen.  .  73 

15.  \.  v.  Kern,  Abhandlung  über  die  Verletzungen  am 

Kopfe  und  die  Durchbohrung  der  Hirnschale.  .  .  ;  232 

16.  K.  Lai  lern  and,  Krankheiten  der  Harn-  und  Ge¬ 
schlechtsorgane.  Aus  dem  Kranz,  von  A.  W.  Pestei.  244 

17.  W.  K  rim  er,  Ueher  die  radicale  Heilung  der  Harn» 

rührenverengarungto ,  und  deren  Folgen: . 251 

18.  K.  A.  W  eise,  Ueher  die  Zurückbildung  der  Scirrhen 

und  der  Polypen,  und  über  die  Heilung  der  Krcbs- 
gcschwüre . .  . 255 

10.  W.  Sprengel ’s  Chirurgie.  Bd.  1 . .  .  *287 

20.  A.  Tavernicr,  Kurze  Abhandlung  der  chirurgischen 

Klinik.  A.  d.  Franz . :  ....  208 

21.  A.  C.  Hutchison,  Praktische  Beobachtungen  in  der 

Chirurgie . I  . .  .  300 

22.  K.  Chr.  K.  K  r  ü  g  e  1  s  t  c  in  ,  Die  Kuh.it,  die  Geschwüre 

zu  keilen . .  • . 308 

23.  T.  W.  G.  Benedict,  Beiträge  zu  den  Erfahrungen 

über  die  Rhinoplastik  nach  der  deutschen  Methode.  .  465 

24.  A.  K.  Hessel  hach,  Die  Lehre  von  den  Etngewcide- 


b  röchen.  Erster  Thcil.  469 

1).  Augenheilkunde. 

25.  M.  J.  A.  Schön,  Handbuch  der  pathologischen  Ana¬ 
tomie  des  menschlichen  Auges . 79 

26  3.  N.  Socliger,  l  ebersicht  der  verschiedenen  Staar- 

auszichungsinethoden . 89 


Inhalt  des  dreizehnten  Bandes.  Vll 

.  Seite 

27.  J.  Radius,  Scriptores  ophthalmologici  minores,  Yol.II.  352 

28.  C.  Petitpierre,  D  er  Rathgeber  für  die  Erhaltung  der 

Augen . . . 354 

E.  II  eilmittellehre,  Toxicologie  und  Litte-- 
ratur  der  Heilquellen. 

29.  C.  G.  C  h.  Hartl  au  b  und  C.  F,  Trlnks,  Reine 


Arzneinjittellehre.  Bd.  I.' . .  94 

30.  G.  Horn,  De  Yeneno  in  botulis . 97 


31.  F.  A.  v.  Amnion,  Brunnendiätetik.  Zweite  Auflage.  99 

32.  F.  L.  Kr.eysig,  Leber  den  Gebrauch  der  natürlichen  (  . 

und  künstlichen  Mineralwässer  von  Karlsbad,  Ernbs, 
Marienbad,  Eger,  Pyrmont  und  Spaa.  Zweite  Auflage.  472 

F.  Physiologie. 

33.  C.  F.  Bur  dach,  De  Foetu  humano  AdnotationeS 

anatomicae.  . .  .  145 

34.  |F.  Tiedemann,  Zu  S.  Th.  v.  Sömmerring’s 

Jube  Ife  ier .  145- 

35.  J.  F.  Meckel,  S.  Tb.  So  emmerringio  etc.  gra- 

tulatur .  .  ....  145 

36.  E.  v.  Ba.fr,  Untersuchungen  über  die  Gefafsverbin- 

dungen  zwischen  Mutter  und  Frucht  in  den  Säuge- 
thieren.  .  .  .  *. . .  146 

37.  C.  G.  Carus,  Entdeckung  eines  einfachen,  vom  Her¬ 

zen  aus  beschleunigten  Blutkreislaufes  in  den  Larven 
netzflügelicher  Insecten.  m 

38.  G.  YVedemeyer,  Untersuchungen  über  dein  Kreis¬ 
lauf  des  Blutes . . 161 

39.  E.  a  B  aer,  De  ovi  mammalium  et  hominis  genesi.  .  173 

G.  Staatsarzneikunde. 

V  ( 

40.  Heyfelder,  D  er  Selbstmord  in  arzneigerichtlicher 

und  in  medicinisch  -  polizeilicher  Beziehung . 225 

41.  J.  Chr.  A.  Clarus,  Beiträge  zur  Erkenntnifs  und  Be- 

urtheilung  zweifelhafter  Seelenzustände . 409 

H.  VVeiberkr  ankheiten  und  Geburtshülfe. 

42.  S.  Lair,  N  eue  Behandlungsmethode  der  Geschwüre, 
Ulcerationen  und  Anschwellungen  des  Uterus.  A.  d. 

Franz . 1  .  314 

43.  R.  F.  II  us  si  an,  Dars  tellung  der  geburtshülflichen 

Operationen  und  ihrer  Anzeigen . 322 

44.  Mad.  B  oivin,  Neue  Nachforschungen  über  die  Ent¬ 

stehung,  das  Wesen  und  die  Behandlung  der  Blasen- 
xnola  oder  Hydatidenschwangerschaft.  A.  d.  Franz.  .  331 

45.  J.  Hatin,  laschenbuch  der  Geburtshülfe.  Aus  dem 

Franz,  von  C.  Fitzlcr . 336 

46.  U  ,  Das  AA  ochenbett  und  seine  Krankheiten.  .  .  338 


vni  Inhalt  des  dreizehnten  Bandes. 

.  Sehe 

I.  Medicinische  Statistik. 

47.  A.  Quctelct,  Rccherches  sur  la  population ,  les  nnis- 

sances-,  les  dcces,  les  prisons,  les  depöts  de  inendicite 
dans  1c  Uoyaumc  des  Pays-bas . .  497 

K.  MedieiniscKc  Biographie. 

48.  Biographische  Nachrichten  von  Chaussicr,  Gcorget, 

Gorcy  und  Berard.  .  .  .  . . 111 

49.  B  tographie  der  Aeritc.  Aus  dem  Frans,  von  A.  F. 

Brügge  mann.  .  502 

50.  Biographische  Nachrichten  über  J.  J.  Gail.  ,  .  .  .  504 

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•  L.  51  c  d  i  q  i  n  i  s  c  li  e  Sammlungen. 

51  .  Neue  Breslauer  Sammlungen  aus  dem  Gehietc  der 

Heilkunde.  .  .  .  ;. . 106 

,*  M.  Vermischte  Schriften. 

52.  R.  de  la  I^rade,  Discours  sur  l’union  des  Sciences 

roedicales  et  leur  indrpendanec  r^ciprociue . 506 

53.  H.  Sr outetten,  Des  preju’ges  sur  la  medecine  con- 

sider^e  comme  science . 508 

54.  J.  B.  Monfalcon,  Supplement  a  la  Bibliographie  de 

l’histoirc  mrdicale  des  marais . 509 

N.  Neue  Ausgaben.  , 

55.  J.  B.  M  orgagni  de  sedibus  et  causis  morborum. 

Ed.  J.  Radius.  T.  IV.  .  .  .  ' . .  120 

56.  B.  Hamaizini  Opera  rncdica.  Ed.  J.  Radius.  T.  II.  120 

O.  N  o  t  i  *  e  n. 

1.  Praktische.  191.437 

2.  Chirurgische  und  geburtshülfliche.  . .  .  339 

P.  Dissertationen. 

1.  Der  Universität  Berlin . .*  120.  367.  511 

2.  —  —  •  Leipzig . 364 

3.  r—  —  Breslau . ' . 510 


Medicinische  Bibliographie 


126.  257.  372 


I. 


Ueber  die  Stellung  der  Psychologie. 

Von 

Dr.  Carl  Friedrich  Burdach, 

Künigl.  Preufs.  Hof-  und  Medicinal-Rath ,  und  Professor  der  Anatomie 

zu  Königsberg. 

(Vorgelesen  in  der  Versammlung  der  deutschen  Naturforscher 
und  Aerzte  im  September  1828.) 


Dafs  die  Psychologie,  wie  sie  im  achtzehnten  Jahrhunderte 
meist  bearbeitet  wurde,  ihre  eigentliche  Aufgabe  nicht  löset, 
ist  in  unsern  Tagen  theils  von  mehrern  Seiten  her  ausge¬ 
sprochen,  theils  stillschweigend  anerkannt  worden.  Die 
geistreichsten  Discourse  über  die  Seele,  wie  sie  vorzüglich 
bei  den  Ausländern  gewöhnlich  waren ,  sagen  dem  Geiste 
der  Zeit  nicht  zu,  der  eine  festere  Haltung  und  bestimmte 
Principien  fordert;  und  in  den  streng  gegliederten  Syste¬ 
men,  wie  sie  namentlich  von  Deutschen  gegeben  wurden, 
erkennt  der  freiere  Sinn  mehr  ein  Gerippe,  welches  aus 
der  Seele  herauspräparirt  werden  kann,  als  die  Seele  selbst 
in  ihrem  eignen  Leben.  Wie  allgemein  aber  ^uch  die 
Ueberzeugung  ist,  dafs  diese  Wissenschaft  einer  neuen  Be¬ 
handlungsweise  bedarf,  so  wenig  ist  doch  eine  Ueberein- 
XIII.  Bd.  i.  St.  -  1 


2 


I.  Stellung  der  Psychologie. 

Stimmung  in  Betreff  ries  cinzuschlagenden  Weges  zu  be- 
merken.  Daher  sei  es  einem  Freunde  der  Wissenschaft 
gestattet,  mit  einigen  Worten  die  I\ichtung  anzudeuten, 
welche  seiner  Ueberzeugung  nach  die  angemessenste  ist. 

Die  empirische  Psychologie  ist  ein  Zweig  der  Natur¬ 
wissenschaft,  eben  weil  sie  empirisch  ist,  die  Gesammtheit 
der  empirischen  Gegenstände  aber  unter  einem  umfassenden 
Begriffe,  dem  der  Natur,  vereint  werden  mufs.  Oft  genug 
setzt  man  zwar  noch  jetzt  der  Natur  den  Geist  gegenüber, 
allein  indem  man  so  den  Begriff  der  Natur  auf  die  Körper- 
weit  beschränkt,  begeht  man  eine  W illkiihrlichkeit,  welche 
zur  unerschöpflichen  Quelle  beschränkter  Ansichten  wird, 
Dunkel  an  die  Stelle  erfreulicher  Klarheit  setzt,  und  um 
die  beseeligende  Erkenntnis  der  Einheit  alles  Seins  betrügt. 
Manche  geben  sich  solcher  Ansicht  nur  darum  hin,  weil 
sic,  mit  überwiegendem  Talente  Tür  Auffassung  der  Ein- 
zelnheitcn  ausgerüstet,  diese  Sphäre  für  ihr  eigentliches 
Element  anerkennen;  mit  eifrigem  Sinne  fassen  sic  die  Ver¬ 
schiedenheit  der  Erscheinungen  auf,  aber  versteinern  in 
deren  Anblicke  und  klagen  den,  der  nach  dem  gemeinsamen 
Grunde  forscht,  einer  Vermischung  des  Fremdartigen  an; 
sie  verharren  bei  der  Kunde  der  Formen,  und  verschmähen 
die  Erkenntnifs  der  Wesenheit;  die  Spaltung  der  Begriffe 
gilt  ihnen  Tür  die  höchste  Betrachtungsweise  der  Welt, 
lind  indem  sie  immerfort  nur  unterscheiden,  kommen  sie 
nie  zur  Anschauung  des  Umfassenden  lind  Allgemeinen. 
Während  sie  aber  unbefangen  ihrem  Genius  folgend,  mit 
für  die  Einzelheiten  geschärftem  Blicke  die  Thatsachen  in 
bestimmten  Zügen  erkennen  und  so  um  die  Wissenschaft 
in  ihrer  materiellen  Grundlage  hohes  \  erdienst  sich  erwer¬ 
ben,  verhält  es  sich  ganz  anders  mit  denen,  die  um  eines 
W7ahnes  willen,  in  dem  sie  befangen  sind,  eine  absolute 
Heterogeneität  von  Natur  und  Geist  behaupten.  Diese  wol¬ 
len,  dafs  die  Welt  in  Verworrenheit  und  Spaltung  erscheine, 
um  mit  ihrem  Wahne  helfen  zu  können;  sie  haben  ein 
Grubenlichtchen  bereitet,  und  damit  dieses  die  Gemüther 


J.  Stellung  der  Psychologie.  3 

erleuchten  könne,  mufs  zuvor  das  Gestirn  des  Tages  ver¬ 
finstert  werden;  einen  Wunderbalsam  haben  sie  gekocht, 
und  um  mit  ihm  heilen  zu  können,  müssen  sie  überreden, 
dafs  die  Welt  in  Zerrissenheit  und  Siechthum  darnieder 
liege.  Ihr  Treiben  kann  nur  verderblich  sein  für  Wissen¬ 
schaft  und  Leben. 

Von  verschiedenen  Seiten  her,  und  auch  vom  Gebiete 
der  speculativen  Philosophie  aus  hat  man  in  unserer  Zeit 
die  Psychologie  als  eine  Physik  der  Seele  zu  behandeln  an¬ 
gefangen,  und  damit  ihren  Standpunkt  in  der  Reihe  der 
Naturwissenschaften  anerkannt.  Wie  erfreulich  aber  diese 
Anerkennung  ist,  und  wie  verdienstlich  und  erfolgreich 
auch  diese  Bemühungen  gewesen  sind,  so  konnten  sie  doch 
nicht  zum  Ziele  führen,  so  lange  man  die  Gesetze  der  See- 
lenthätigkeiten  nur  auf  die  der  unorganischen  Natur  zurück¬ 
zuführen  suchte.  Denn  unorganisch  erscheinen  die  Dinge 
nur  in  sofern,  als  sie  nicht  in  ihrem  völligen  Zusammen-r 
hange  mit  dem  Naturganzen  sich  darstellen.  In  ihnen  zeigt 
sich  die  Natur  in  den  Elementen  ihrer  Thätigkeit,  und 
wird  die  Modalität  des  Vonstattengehens  der  Erscheinungen 
offenbar:  aber  der  Geist  der  Natur  offenbart  sich  nicht  in 
solcher  Einzelnheit,  sondern  in  der  Verknüpfung  des  Ele¬ 
mentaren  zu  einem  Ganzen,  und  mit  dem  Vonstattengehen 
der  Erscheinungen  ist  noch  nicht  die  Idee  gegeben,  welche 
ihnen  zum  Grunde  liegt.  So  w'enig  wir  die  Compositionen 
eines  Malers  aus  seinen  Farbentöpfen  erkennen,  eben  so 
wenig  läfst  sich  die  Wesenheit  der  Natur  in  chemischen 
und  mechanischen  Gesetzen  finden.  Nur  im  Organismus 
tritt  ein  abgeschlossenes  Ganzes  in  den  Kreis  unserer  Er¬ 
fahrung;  nur  hier  verkündet  sich  die  Idee  unmittelbar  als 
dasjenige,  was  die  Nalurkräfte  bestimmt,  verknüpft  und 
ihnen  Bedeutung  giebt;  und  nur  von  hier  aus  kann  auch 
das  Wesen  der  Seele  klar  werden. 

Die  Wissenschaft  des  Lebens  ist  es  also,  in  deren  Ge¬ 
biete  die  Psychologie  ihre  einzige  richtige  Stellung  findet, 
und  zwar  nicht  blofs  darum,  weil  die  Seele  Naturerschei- 


4 


!.  Stellung  der  Psychologie. 

nung  ist,  noch  auch,  weil  sic  blofs  an  Lebendigem  hervor¬ 
tritt,  sondern  vornehmlich  darum,  weil  sic  durchaus  Leben, 
ja  das  Leben  in  seiner  reinsten  Form  und  ganzen  Tiefe  ist. 

Herr  Prof.  Ileinroth  hat  jüngst  (in  Uitzig’s  Zeit¬ 
schrift  für  die  Criminalrechtspflege,  XV.  Stück ,  S.  101  bis 
104)  behauptet,  »<  die  Physiologie  dürfe  sich  nicht  in  das 
Gebiet  der  Psychologie  drangen;  nur  das  körperliche,  nach 
Naturgesetzen  für  den  Naturzweck  der  Erhaltung  thätige, 
bewufstlose  Leben  sei  ihr  Gegenstand,  und  das  psychische 
Leben  bleibe  ihr  fremd,  denn  dieses  habe  einen  moralischen 
Zweck  und  moralische  Bedeutung,  stehe  also  nicht  unter 
Naturgesetzen,  sondern  unter  dem  Gesetze  der  Freiheit, 
d.  i.  der  Unabhängigkeit.»  Wohl  möchte  es  sowohl  er¬ 
freulicher,  als  auch  erspriefslicher  sein,  durch  die  That  zu 
erweisen,  dafs  die  Physiologie  die  Aufgabe  der  Psychologie 
wirklich  zu  lösen  vermag,  als  über  das  Recht  zu  streiten, 
welches  sie  dazu  hat.  Indessen  ist  jene  Behauptung,  hin¬ 
sichtlich  der  Individualität,  von  welcher,  und  des  Zweckes, 
auf  welchen  sie  ausgeht,  von  der  Art,  dafs  sie  nicht  unbe¬ 
antwortet  bleiben  kann.  Denn  sie  hat  zunächst  eine  prak¬ 
tische  Beziehung,  nämlich  auf  die  Competenz  der  Aerztc 
im  Gebiete  der  gerichtlichen  Psychologie,  und  es  mufs  den 
Criminalistcn  in  hohem  Grade  befremden,  von  dem  geist¬ 
reichsten  Lehrer  der  psychischen  Mcdicin  selbst  zu  hören, 
dafs  die  Medicin  und  ihre  Grundwissenschaft  mit  der  Psy¬ 
chologie  nichts  gemein  habe.  Hier  genüge  es  aber,  das 
gute  Recht  der  Physiologie  nur  in  sofern  zu  vertheidigen, 
als  dasselbe  schon  aus  den  eignen  Behauptungen  dessen,  der 
ihr  Gebiet  auf  die  Materialität  beschränkt  wissen  will,  her- 
vorleuchtct. 

Herr  Ileinroth  sagt,  das  psychische  Leben  sei  von 
dem  bewußtlosen  Leben  ganz  verschieden.  In  dieser  Be¬ 
hauptung  ist  schon  die  Anerkennung  ausgesprochen ,  dafs 
das  körperlich  Organische  und  das  Psychische  bei  aller  ihrer 
spccifischen  Verschiedenheit,  welche  zu  leugnen,  niemandem 
in  den  Sinn  kommt,  in  einem  generellen  Begriffe  zusam- 


5 


I.  Stellung  der  Psychologie. 

men  treffen ,  nämlich  in  dem  des  Lebens.  Wird  aber  dies 
zugestanden ,  so  ergiebt  sich  von  selbst,  dafs  die  Lehre  vom 
psychischen  Leben  eben  sowohl  als  die  vom  körperlichen 
nur  ein  Bruchstück  der  Wissenschaft  des  Lebens  überhaupt 
ist.  Denn  haben  wir  zwei  Arten  des  Lebens,  so  müssen 
wir  auch  das  Gemeinsame  derselben,  was  jede  Art  zum 
Leben  macht,  zu  erkennen  streben;  und  wo  geschieht  dies 
anders,  als  in  der  Physiologie?  Sollte  diese  Wissenschaft 
noch  nicht  einen  solchen  umfassenden  Standpunkt  erreicht 
haben,  so  wäre  ihr  dieses  Ziel  anzuweisen,  aber  nicht  das 
Recht  dazu  abzusprechen.  Allein  sie  hat  in  der  Ihat  ihren 
Beruf,  das  gesammte  Leben  zur  Anschauung  zu  bringen, 
von  jeher  erkannt,  und  selbst  dann,  wenn  sie  sich  nur  als 
Lehre  von  den  Functionen  des  menschlichen  Körpers  an¬ 
kündigte,  sich  nie  ganz  auf  Betrachtung  des  rein  Körper¬ 
lichen  beschränkt,  sondern  immer  auch  die  psychischen  Er- 
scheinungen ,  wenn  auch  nur  fragmentarisch  und  anhangs¬ 
weise  behandelt;  und  sie  hatte  vollkommen  Recht,  dafs  sic 
sich  zuvörderst  im  Gebiete  der  äufsern  Thatsachen  festzu- 

i 

stellen  suchte,  um  in  deren  Ergebnissen  die  Grundlage  eines 
umfassenden  Baues  zu  gewinnen.  Auf  ihrem  gegenwärtigen 
Standpunkte  strebt  sie,  eine  reine  Anschauung  vom  Leben 
zu  erlangen,  seine  Wesenheit  und  seinen  Zusammenhang 
mit  dem  Sein  überhaupt  aufzufassen,  die  Bedeutung  und 
die  Gesetze  seiner  mannigfaltigen  Aeufserungen  zu  erfahren, 
und  so  die  unendliche  Naturkraft,  wie  sie  im  Endlichen 
offenbar  wifd,  zu  erkennen.  —  Bei  solcher  Bestrebung 
aber  wird  sie  durch  keinen  Machtspruch  gehindert  werden, 
die  Psychologie  in  ihr  Gebiet  aufzunehmen. 

Herr  Heinroth  erkennt  aber  nicht  blols  an,  dafs 
körperlich  Organisfches  und  Psychisches  Sphären  eines  und 
desselben  Lebens  sind,  sondern  er  stellt  auch  Merkmale 
auf,  durch  welche  beide  Sphären  im  Besondern  sich  von 
einander  unterscheiden,  unter  einem  allgemeinem  Gesichts¬ 
punkte  aber  mit  einander  übereinstimmen.  Denn  wenn  er 
sagt,  das  psychische  Leben  werde  durch  das  Gebot,  uns  Irci 


6 


l.  Stell  iing  der  Psychologie. 

zu  erhalten,  bestimmt,  das  körperliche  hingegen  durch  das 
.Naturgesetz,  sich  zu  erhalten,  so  erkennt  er  hiernut  in 

f  ♦ 

jeder  dieser  beiden  Sphären  ein  Herrschendes,  Bestimmen¬ 
des  (Gebot  uz  Gesetz)  an,  und  eine  dadurch  bestimmte 
Beharrlichkeit  des  Thatigen,  oder  ein  sich  selbst  Gleich- 
Lleiben  ini  Wirken  (sich  frei  erhalten  zzz  sich  lebend  er¬ 
halten).  Und  so  ist  es  auch  wirklich:  Selbstbestimmung 
ist  Eigenschaft  alles  Lebens  überhaupt.  Das  leibliche  Leben 
zeigt  als  die  niedere,  äufsere  Lebensform  diese  Selbstbestim¬ 
mung  nur  am  Aetifsern,  in  dem  Vermögen,  sich  von  frem¬ 
der  Materie  nicht  schlechthin  bestimmen  zu  lassen,  vielmehr 
sie  seinem  W  esen  zu  unterwerfen  und  daraus  selbstständig 
den  eigenen  Leib  zu  bilden.  Das  Ziel  dieses  Strebens  ist 
möglichste  Vollkommenheit,  welche  darin  sich  ausspricht, 
dafs  der  lypus  der  Gattung  im  Individuum  vollständig  ver¬ 
wirklicht  wird.  Dieses  Ziel  ist  aber  ein  ideales,  welchem 
das  Individuum  sich  nur  nähert,  ohne  es  völlig  zu  errei¬ 
chen,  denn  alle  Individualität  ist  schon  eine  Beschränktheit 
des  Allgemeinen,  ein  Abfall  vom  Begriffe,  und  erreicht 
diese  Besonderheit  des  Lebens  eine  solche  flöhe,  dafs  das 
Individuum  im  offenbaren  Widerspruche  mit  dem  Typus 
der  Gattung  steht,  so  ist  die  Krankheit  und  der  beginnende 
Untergang  gegeben.  —  ln  der  Seele  wird  das  Leben  ein 
innerliches,  sich  selbst  offenbares,  und  auf  seiner  höchsten 
Lntwickelungsstufe  wird  ihm  der  Typus  seiner  Gattung, 
der  unendliche  Grund  seines  Seins,  das  Ideal  seines  Wir¬ 
kens  in  der  V  ernunft  verkündet.  Wenn  nun  das  Ich  seine 
Linheit  behauptet,  d.  h.  in  seiner  zeitlichen  Erscheinung 
einig  ist  mit  seiner  ew'igen  'Wesenheit,  oder  in  seiner 
Individualität  dem  Begriffe  der  Menschheit  entspricht,  so 
erreicht  cs  die  grüfste  Höhe  der  Selbstbestimmung,  oder 
die  wahre  Freiheit,  die  im  niedern  Leben  auch  nur  in  nie- 
dern  Formen  angedeutet  ist;  läfst  es  sieb  dagegen  durch 
niedere  Momente,  welche  seiner  zeitlichen  und  individuellen 
Erscheinungsweise  angeboren,  bestimmen,  so  zerfällt  es 
mit  sieb  selbst,  tritt  in  Widerspruch  mit  seinem  innersten 


I 


i 


I.  Stellung  der  Psychologie.  7 

Wesen,  der  Vernunft,  giebt  also  die  wahre  Selbstbestim¬ 
mung  auf,  und  wird  unfrei.  —  Wenn  nun  Herr  Hein- 
roth  fortfährt:  «Das  leibliche  Leben  steht  unter  dem 
Gesetze,  das  psychische  hingegen  giebt  sich  sein  Gesetz 
selbst,  denn  das  Gesetz  kann  nur  aus  dem  Geiste  stam¬ 
men,”  so  können  wir  diese  Unterscheidung  nicht  gelten 
lassen ,  weil  in  dem  Satze ,  dafs  das  psychische  Leben  sich 
sein  Gesetz  selbst  gebe,  offenbar  auf  das  Individuelle  über¬ 
getragen  ist,  was  nur  vom  Universellen  gilt.  Denn  das 
Ich  ist  ein  Individuelles,  welches  in  seinem  innersten  We¬ 
sen,  der  Vernunft,  Gesetze  vorfindet,  die  den  Charakter 
unbedingter  Noth wendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  an  sich 
tragen;  das  psychische  Leben  als  Individuelles,  steht  also 
auch  unter  dem  Gesetze,  und  verfällt  in  Wahn,  wenn  es 
sich  vermifst,  selbst  Gesetzgeber  zu  sein.  Allerdings  stammt 
das  Gesetz  nur  aus  dem  Geiste,  aber  nicht  aus  dem  indi¬ 
viduellen,  sondern  aus  dem  universellen,  unbedingten  und 
unendlichen  Geiste  der  Welt.  Da  nun,  wie  Herr  Hein- 
roth  anerkennt,  das  leibliche  Leben  unter  dem  Gesetze 
steht,  ja  nichts  denn  eine  stetige  Gesetzeserfüllung  ist,  so 
wird  in  ihm  nicht  minder ,  als  im  psychischen  Leben ,  der 
Weltgeist  offenbar,  und  da  dieser  nur  ein  einiger  ist,  so 
müssen  auch  die  Gesetze,  in  welchen  er  sich  verkündet, 
im  leiblichen  wie  im  psychischen  Leben  sich  gleich  sein, 
folglich  mufs  die  Physiologie,  welche  di^se  Gesetze  zu  er¬ 
kennen  strebt,  auch  das  Psychische  umfassen,  ja  die  Psy¬ 
chologie  kann  nur  in  dieser  Verbindung  ihre  Aufgabe  voll¬ 
ständig  lösen. 

Ist  nun  das  psychische  Leben  ein  Gegenstand  der  Phy¬ 
siologie,  so  wird  es  nicht  blofs  als  ein  Bestehendes,  nach 
den  ihm  inwohnenden  Kräften  und  ihren  mannigfaltigen 
Verzweigungen  betrachtet,  sondern  auch  als  ein  ununter¬ 
brochen  Fortschreitendes  auf  den  verschiedenen  Stufen  sei¬ 
ner  Entwickelung  verfolgt  werden ;  man  wird  namentlich 
die  verschiedenen  Richtungen,  welche  nach  und  nach  vor¬ 
waltend  in  ihm  hervortreten,  und  die  wechselnden  Verhält- 


8 


I.  Stellung  der  Psychologie. 

nisse  seiner  Kräfte  gegen  einander,  durch  welche  es  auf  jeder 
Lehensstufe  eigentümlich  sich  gestaltet,  auffassen,  um  die 
Bedeutung  des  Einzelnen  im  Sinne  des  Ganzen  zu  erkennen. 

Wie  endlich  die  Physiologie  ihren  Zuwachs  an  wissen¬ 
schaftlichem  Gehalte  vornehmlich  der  Idee  verdankt,  dafs 
das  Leben  seinem  Ursprünge  und  Wesen  nach  überall  das¬ 
selbe  und  einige  ist;  dafs  die  verschiedenen  Richtungen 
desselben,  welche  am  menschlichen  Organismus  in  ihrer 
Gesammtheit,  aber  in  der  Zeitfolge  nacheinander  wirksam 
werden,  im  organischen  Reiche  gleichzeitig,  aber  vereinzelt 
auftreten;  dafs  also  die  ganze  organische  Schöpfung  in  ihrem 
Zugleichsein  sich  als  eine  zur  menschlichen  Natur  aufstre¬ 
bende  Evolution  zeigt,  und  die  verschiedenen  organischen 
Wiesen  als  Repräsentanten  einer  bestimmten  Stufe  des 
menschlichen  Lebens  erscheinen:  so  wird  auch  die  Psycho¬ 
logie  durch  Verfolgung  dieser  Idee  in  ihrer  wissenschaft¬ 
lichen  Ausbildung  fortschreiten.  \\  ir  besitzen  eine  com- 
parative  Anatomie:  jetzt  gilt  es,  auch  eine  comparative 
Psychologie  zu  gewinnen;  dies  ist  eine  der  Aufgaben  un¬ 
seres  Zeitalters,  und  mit  freudigen  Hoffnungen  blicke  ich 
auch  in  dieser  Hinsicht  auf  die  gegenwärtige  Versammlung, 
welche  unter  den  mannigfaltigen  Richtungen  des  Forschungs¬ 
geistes  auch  die  hier  angedeutete  in  sich  schliefst.  —  Man 
sage  nicht,  die  comparative  Psychologie  sei  unvermögend 
zu  leisten,  was  die  comparative  Anatomie  geleistet  hat,  weil 
das  Thierreich  alle  Organe,  aber  bei  weitem  nicht  alle  See¬ 
lenkräfte  des  Menschen  aufzuweisen  habe.  Der  Stamm  des 
psychischen  Lebens  ist  überall  derselbe,  und  die  qualitative 
Verschiedenheit  ist  nur  darin  enthalten,  dafs  die  Thätigkeit, 
welche  im  Thiere  blofs  auf  die  Objecte  bezogen  wird,  im 
Menschen  zur  Reflexion,  und  zur  Gegensetzung  des  Indi¬ 
viduellen  gegen  das  Universelle  kommt.  Diese  Entwicke¬ 
lung  aber,  welche  die  Psyche  durch  ein  scheinbares  Uneins¬ 
werden  mit  sich  selbst  im  Menschen  erreicht,  wird  nur 
dann  klar,  wenn  wir  den  Keim  derselben  in  der  Thicrscelc 
anschaucn;  wenn  wir  erkennen,  wie  allem  Dasein  ein  Gei- 


9 


I.  Stellang  der  Psychologie. 

stiges  zum  Grunde  liegt,  welches  die  unorganischen  Ein¬ 
zelheiten  zum  Ganzen  verknüpft,  im  pflanzlichen  Lehen 
durch  zweckmäfsiges  Bilden  sich  verkündigt,  im  Thiere  von 
der  Materie  sich  loswindet,  um  als  freie  Thätigkeit  zu  er¬ 
scheinen,  und  endlich  im  Menschen  zur  Persönlichkeit  wird, 
wie  mit  einem  Worte  das  Dasein  dadurch  sich  vergeistigt, 
dafs  sein  Grund  selbst  in  die  Reihe  det  Erscheinungen 
tritt,  dafs  es  von  der  Vereinzelung  der  Formen  zur  Ein¬ 
heit  und  Gediegenheit  des  Urwesens  zurückkehrt,  und  von 
dem  Charakter  des  Geschöpfes  zu  schöpferischer  Gewalt 
allmahlig  emporstrebt.  —  Findet  man  die  Zusammenstel¬ 
lung  des  Menschlichen  mit  dem  Thierischen  anstöfsig,  so 
bedenke  man,  dafs  nur  die  Vergleichung  ähnlicher  Erschei¬ 
nungen  durch  Darstellung  des  Gemeinsamen  und  des  Unter¬ 
scheidenden  uns  zur  Erkenntnifs  der  vollen  Wesenheit, 
d.  h.  des  Allgemeinen  und  des  Besondern  an  einem  Gegen¬ 
stände  führt.  Wie  vermöchten  wir  wohl  aueh  ein  Wesen 
zu  erkennen ,  wenn  wir  es  blofs  in  seinem  vollkommensten 
und  zusammengesetztestem  Zustande,  und  nicht  zugleich 
auch  in  seinen  einfachem,  niedrigem  Formen  betrachteten? 
Die  sorgfältigste  Zergliederung  des  menschlichen  Leibes  hat 
immer  nur  einzeln  stehende  Kenntnisse  gegeben:  zn  wahr¬ 
hafter  Einsicht  und  zu  wissenschaftlicher  Tiefe  hat  nur  die 
damit  verbundene  Erforschung  der  Organisation  in  der  ge- 
sammten  Thierreihe  geführt,  und  wie  unendlich  immer  der 
Polyp  in  seiner  Organisation  vom  Menschen  verschieden  ist, 
so  hat  doch  die  Ansicht  derselben  zur  Aufklärung  der 
Vollendeten  Menschengestalt  auch  das  ihrige  beigetragen. 
So  mögen  wir  uns  denn  nicht  zu  vornehm  dünken,  mit 
der  Selbstbeobachtung  auch  die  Beobachtung  der  Thierseele 
zu  verbinden;  denn  hier,  wie  überall,  schadet  die  Vornehm- 
thuerei  sich  selbst  am  meisten,  und  eine  chinesische  Mauer 
in  der  Wissenschaft  ist  das  sicherste  Mittel,  Beschränktheit 
und  Einseitigkeit  zu  nähren,  und  ein  starres,  todtes  Schein¬ 
wissen  an  die  Stelle  lebendiger  Erkenntnifs  zu  setzen- 


IO 


II.  Allgemeine  Pathologie. 

Hi  ‘ 

Lud.  Herrin.  Fried laenderi,  M.  I).  et  Prof. 
Halens.,  Fundamcnta  doctrinae  patholo- 
gicae,  sive  de  corporis  anmiiqne  morhi  rationc 
atque  natura  lihri  tres,  scholarnm  causa  conscripti. 
Lips.  sunipt.  L.  Vossii.  1828.  8.  XX  und  434  S. 
(2  Thlr.) 

Wenn  an  ein  zur  Grundlage  von  Vorlesungen  be¬ 
stimmtes  Handbuch  die  Forderung  gestellt  werden  mufs, 
dafs  die  Gesammtheit  der  darzustellenden  Lehre,-  so  weit 
sie  durch  altere  und  neuere  Forschungen  gefördert  wor¬ 
den,  in  ihm  hervortrete,  dafs  hingegen  alle  unerprobte 
Neuerungen  entweder  ganz  daraus  entfernt  bleiben  oder 
nur  angedeutet  werden,  so  hat  das  vorliegende  Handbuch 
der  generellen  Pathologie  iin  Wesentlichen  seinen  Zw'eck 
erreicht.  Denn  wenn  man  auch  behaupten  kann,  dafs  die 
Lehren  von  der  organischen  Polarität,  von  dem  Leben  des 
Flüssigen,  und  besonders  des  Blutes,  und  von  der  Natur 
der  Contagien  nicht  gehörig  hervorgehoben  sind,  so  ist 
doch  unleugbar,  dafs  die  Werke  von  Hart  mann,  Kie¬ 
ls  er,  Puchelt  und  G  mel  in,  hesouders  aber  G.  W.  Stark ’s 
pathologische  Fragmente,  ein  wegen  seiner  Tiefe  und  Scharfe 
nicht  genug  zu  lobendes  Werk,  vielfach,  jedoch  mit  Selbst¬ 
ständigkeit  und  Kigenthiimlic  hkeit  benutzt  sind.  Als  rühm¬ 
liche  Auszeichnung  dieses  Handbuchs  betrachten  wir  den 
steten  Hinblick  auf  die  Seelcnerscheinungen ,  welche  von 
vielen  pathologischen  Schriftstellern  zu  wenig  gewürdigt 
worden  sind,  die  häufige  Anführung  von  solchen  Steilen 
aus  Hippokrates  und  Galen,  welche  gleichsam  als  Ur¬ 
kunden  pathologischer  Begriffe  und  Bezeichnungen  anzuse¬ 
hen  sind,  und  endlich  den  schönen  lateinischen  Ausdruck, 
durch  weh  heu  viele  ärztliche  Schriftsteller  lernen  könnten, 
dafs  man  zur  Bezeichnung  ärztlicher  Begriffe  der  neuern 


11 


II.  Allgemeine  Pathologie. 

Zeit  keine  barbarische  Wortbiiduug  bedürfe.  Es  kann  hier¬ 
nach  keinem  Zweifel  unterliegen,  dais  dieses  Handbuch, 
durch  mündliche  Vorträge  erläutert  und  ergänzt,  Studie¬ 
renden  vielfachen  Nutzen  zu  bringen  vermöge. 

Die  Einleitung,  in  welcher  Celsus  als  Vorbild  durch 
einzelne  wörtlich  entlehnte  Sätze  und  durch  die  ganze  Dar¬ 
stellungsweise  erkannt  wird,  beginnt  mit  Voraussetzung 
einer  paradiesischen,  daher  krankheitslosen  Zeit,  nach  deren 
Schwinden  Krankheit,  und  später  wissenschaftliche  Bear¬ 
beitung  derselben  eingetreten  sei.  Für  die  allgemeine  Pa¬ 
thologie  ergeben  sich  drei  Theile,  nach  welchen  die  drei 
Bücher  dieses  Werkes  geordnet  sind.  Erfahrung  und  Phi¬ 
losophie,  letztere  nicht  als  Schulsystem,  werden  als  Quel¬ 
len  jener  Lehre,  Physiologie  und  Psychologie,  so  wie  die 
gesammte  specielle  Krankheits-  und  Heilungslehre,  als  Hiilfs- 
wissenschaften  genannt.  Geschichte  und  Litteratur  sind  sehr 
kurz  angegeben. 

Liber  I.  Nosologia  s.  de  morbi  natura  ejus« 
que  differentiis.  (Dem  Bef.  scheint  es  besser  und 
sprachgemäfser,  nach  dem  Beispiele  vieler  Schriftsteller,  das 
Wort  Nosologie  nur  auf  die  besondere  Krankheitslehre  an¬ 
zuwenden.)  Der  Begriff  des  Lebens,  als  die  Grundlage 
aller  pathologischen  Ansicht,  ist  weder  durch  die  Vernunft, 
noch  durch  die  Sinnlichkeit  allein  zu  erfassen.  Der  Urquell 
des  Lebens  ruht  in  Gott,  der  aber  nicht  mit  der  Natur  als 
identisch  anzusehen  ist.  Wir  erkennen  nicht  das  Leben  als 
solches,  sondern  nur  das  Lebendige;  es  ist  eine  von  innen 
bedingte  Thätigkeit,  Kraft  und  Materie  in  sich  vereinend, 
nach  polarischer  Richtung  sich  gestaltend.  Jedes  Leben¬ 
dige,  als  Vielheit  durch  innere  Einheit  gebunden,  ist  ein 
Organismus;  in  diesem  Sinne  ist  die  ganze  Natur  ein  sol¬ 
cher.  Der  Mensch  hat  durch  Leib  und  Seele  eine  Doppel¬ 
natur;  keine  dieser  Seiten  entspringt  aus  der  andern.  Der 
Leib  hat  eine  dreifache  Richtung:  Ernährung,  Bewegung 
und  Empfindung;  die  Seele  erscheint  ebenfalls  dreifach, 
näiplkh  als  Erkennen,  Fühleu  und  Wollen.  Aeufsere  Ein- 


12 


II.  Allgemeine  Pathologie. 

Wirkung  ist  zu  jedem  Lehen  unerläßlich ;  die  einwirkenden 
Dinge  sind  an  sich  verschieden  ahgestuft.  Dieselben  ver¬ 
anlassen  zwar  Vermehrung  oder  Verminderung  der  Lebens- 
th'itigkeit,  beschränken  sich  aber  nicht  bei  der  quantitativen 
Einwirkung;  die  Erfolge  ergehen  sich  aus  dem  Verhältnisse 
der  W  irkung  und  Gegenwirkung.  Das  Leben  ist  in  einem 
beständigen  Schwanken,  welches  als  Uebergewicht  des  einen 
oder  andern  Pols,  wie  auch  als  Ausgleichung  der  Gegen¬ 
sätze  angesehen  werden  kann.  Sympathie  und  Antagonis¬ 
mus  sind  für  das  Lehen  gleichmäßig  erforderlich.  Der 
innere  Grund  des  Lehens  bleibt  trotz  der  Erforschung  sei¬ 
ner  Formen  ein  unerkennbares  Geheimnifs.  Gesundheit  und 
Krankheit  sind  Lebensformen;  jene  erscheint  in  Leih  und 
Seele  als  das  \  ollkommnere  und  als  Norm,  nie  ist  sie  je¬ 
doch  durchaus  vollendet;  diese  gieht  sich,  wenn  sie  im 
Leihe  erscheint,  als  Freiheit  in  einem  Gebiete  zu  erkennen» 
wo  nur  ftothwendigkeit  herrschen  soll;  ist  sie  in  der  Seele, 
so  ist  sie  Unfreiheit  auf  dem  Gebiete  der  Freiheit.  Die 
Krankheit  ist  ein  eigenthümliches  Lehen,  dessen  Dasein 
jedoch  durch  ein  anderes  Lehen ,  mit  welchem  es  in  mehr 
oder  minder  lebhaftem  Widerspruche  und  Kampfe  steht, 
bedingt  ist;  sie  erscheint  gleichsam  als  Bildungshemmung 
auf  dem  Fortschritte  des  Lehens;  immer  ist  sie  ein  niederes 
Leben  im  Gegensätze  der  Lehensrichtung  des  Individuums; 
jedoch  kann  auch  iu  ihr,  in  sofern  sie  bei  dem  Menschen 
ist,  der  menschliche  Typus  nicht  verloren  gehen.  Die 
Krankheiten  sind  daher  nicht  widernatürlich;  sie  sind  der 
Zahl  nach,  wie  die  Thierwesen  überhaupt,  nicht  unbe¬ 
stimmt;  sie  unterscheiden  sich  endlich,  wie  diese,  durch 
Form  und  Lebensthätigkeit.  Immer  siod  sie  ein  innerer 
Zustand.  Die  Eintbeilung  derselben  in  organische  und  dy¬ 
namische,  in  Krankheiten  der  Säfte  und  der  festen  Theile, 
ist  unhaltbar.  Man  kann  sie  weder  unbedingt  als  ein  Uebel, 
noch  als  eine  Wohllhat  betrachten.  —  Wie  alles  Leben¬ 
dige,  sind  auch  sie  bestimmten  Gesetzen  xlcr  Zeitfolgc  un¬ 
terworfen.  Dies  gilt  zuerst  in  Beziehung  auf  den  Ursprung, 


13 


II.  Allgemeine  Pathologie. 

welcher  in  der  Zeugung,  während  der  Schwangerschaft, 
oder  nach  der  Geburt  erfolgt;  das  Versehen  als  Ursache 
angezeugter  Uebcl  wird  hier,  wie  auch  an  einer  spätem 
Stelle,  anerkannt;  sodann  wird  auch  der  Unterschied  von 
protopathisch  und  deuteropathisch  hierher  gezählt.  Der 
Verlauf  der  Krankheiten  beruht  immer  auf  einem  Gesetze, 
wenn  es  uns  auch  nicht  immer  klar  ist.  Einen  Hauptab¬ 
schnitt  bildet  immer  das  Aufsteigen  und  Absteigen  dersel¬ 
ben;  die  gewöhnliche  Zahl  der  Stadien  wird  auf  5  be¬ 
stimmt,  die  gleichsam  die  Lebensalter  der  Krankheiten  sind. 
Die  Krisenlehre  wird  beim  dritten  Stadium  abgehandelt, 
und  nicht  nur,  wie  häufig  mit  Unrecht  geschehfen  ist,  auf 
den  Leib  und  nur  auf  hitzige  Ucbel,  sondern  auch  auf  die 
Seele  und  auf  langwierige  Krankheiten  bezogen.  Die  kriti¬ 
schen  Tage,  deren  Dasein  der  Verf.  vertheidigt,  finden 
nach  der  Meinung  des  Ref.  in  der  Beobachtung  der  Brun- 
nencuren  und  des  typischen  Gebrauchs  mancher  Arzneien, 
z.  B.  des  Quecksilbers,  neue  Bestätigung.  Metaschematis¬ 
mus,  zuweilen  mit  den  durch  den  Ablauf  der  Stadien  her- 
beigeführien  verschiedenen  Formen  verwechselt,  ist  ganz 
identisch  mit  den  zuweilen  künstlich  geschiedenen  Ausdrücken 
ptTctßoXvj,  piTci7rTu<ri$,  hetfoxi  5  die  Metastase  hingegen  bil¬ 
det  allerdings  eine  besondere  Richtung.  Die  Morbi  secun- 
darii  werden  posthumi  genannt,  die  compositi  und  com- 
plicati  streng  geschieden.  Das  Zeitgesetz  ist  für  jede  ein¬ 
zelne  Krankheit  zu  beachten,  ohne  dafs  man  deswegen  .den 
Lauf  derselben,  wenn  er  verderblich  wird,  ungehemmt  las¬ 
sen  sollte.  Die  Eintheilung  in  hitzige  und  langwierige 
Uebel  wird  verworfen.  (So  wie  sich  für  die  Praxis  die 
Nothwendigkeit  dieser  Eintheilung  täglich  darstellt,  so  er- 
giebt  sie  sich  auch  bei  näherer  Betrachtung  als  in  der 
Natur  begründet;  nur  verlange  man  keine  scharfen  Grän¬ 
zen,  die  ja  nirgends  bei  verwandten  Naturgebieten  aufzu¬ 
finden  sind.  Ref.)  Der  Hauptgrund  des  Typus  liegt  in  dem 
noth wendigen  Wechsel  von  Ruhe  und  Bewegung;  was 
jedoch  bei  den  verschiedenen  Uebeln  die  verschiedenen 


14 


II.  Allgemeine  Pathologie. 

Arten  fies  Typus  bewirke,  ist  unklar,  obgleich  es  nicht  an 
Andeutungen  fehlt,  indem  z.  B.  Nervenleiden  gern  inler- 
mittiren,  und  Unterleibszustände  den  Abend  zur  Exacerba¬ 
tion  wählen.  Einige  Bedingungen  des  Krankheitstypus  lie¬ 
gen  in  dem  Typus  der  Erde.  Ein  räumliches  Verhältnifc 
der  Krankheiten  liegt  in  der  sporadischen,  epidemischen  und 
endemischen  Verbreitung  derselben,  wie  auch  in  dem  Cha¬ 
rakter  derselben  als  allgemeine  und  örtliche,  als  idiopathi¬ 
sche  und  sympathische.  Letztere  werden  mit  Hecht  keines- 
weges  blofs  auf  Nervenverbindungen  bezogen.  Auch  die 
Ideen  -  Association  ist  unter  dem  Begriffe  der  Sympathie  zu 
erfassen.  (Was  hier  über  die  verschiedenen  Gesundheit^* 
Constitutionen  nach  den  jetzt  herrschenden  Ansichten  ge¬ 
sagt  wird,  gehört  unserer  Meinung  nach  besser  in  den 
Theil  der  Aetiologie,  wo  von  den  cosinischen  und  telluri- 
schen  Einflüssen,  welche  jene  Constitutionen  bedingen,  ge¬ 
bandelt  wird.  Bef.)  Der  Gang  der  epidemischen  Uebel 
ist  nicht  allezeit  derselhe.  (Von  der  Wahrheit  dieser  Be¬ 
hauptung  überzeugt,  können  wir  dennoch  den  Satz:  Vetc- 
rum  pestilentiam  cessavisse  credibile  est,  nicht  für  richtig 
halten,  weil  das,  was  die  Alten  Pestücntia  nannten,  keine 
speciellc  Krankheit  war,  sondern  jedes  allgemein  verbrei¬ 
tete  gefährliche  Uebel  mit  diesem  Namen  bezeichnet  wurde, 
was  sich  besonders  aus  Livius  ergiebt.  Auch  der  hier 
vorkommende  Satz:  Variolae  a  fine  suo  haud  procul  abesse 
videntur,  ist  gar  vielen  Bedenklichkeiten  unterworfen.  RcC) 
Allgemeine  pathologische  Charaktere  oder  Ilauptrichtungcn 
der  Krankheiten,  sehr  passend  nach  den  Methodikern  Communia 
morborum  genannt,  sind  folgende:  llvpersthenie  des  Leibes 
und  der  Seele,  jede  (allzukünstlich)  nach  drei  Richtungen, 
Asthenie  (im  Verhältnifs  der  llvpersthenie  etwas  zu  dürf¬ 
tig  gefafst),  Erethismus  des  Leibes  und  der  Seele,  Torpor 
ebenfalls  nach  jener  doppelten  und  dann  wieder  dreifach 
gespaltenen  Richtung,  falsche  Schwäche,  qualitative  Abwei¬ 
chungen.  (Diese  letzte  Abtheilung  schliefst  die  frühem 
und  überdies  eine  aufscrordcutlich  groise  Menge  von  For- 


H.  Allgemeine  Pathologie.  15 

men  in  sieh,  da  eigentlich  alles  Erkranken  vorzugsweise  qua¬ 
litativ  zu  erfassen  ist.  Ref.) 

Liber  II.  Aetiologia  s.  de  morbi  orgine  ejus- 
que  causis.  Die  Vielgestaltigkeit  der  ’aufsern  Verhältnisse 
veranlafst  oft  ein  Ueberschreiten  des  Maafses,  und  die  Ei- 
genthümlichkeit  der  menschlichen  Natur  ergiebt  eine  weit 
eingreifende  Neigung  zum  Erkranken.  Selten  entsteht  Krank¬ 
heit  aus  einer  Veranlassung,  sondern  meistens  aus  mehre¬ 
ren;  die  entfernten  Ursachen  sind  daher  nicht  sowohl  Ur¬ 
sachen,  als  ursächliche  Momente.  (Eine  schon  von  Kie- 
ser  aufgestellte  Behauptung,  deren  Unhaltbarkeit  im  latei¬ 
nischen  Ausdrucke  besonders  stark  hervortritt.  Bef.)  Die 
Anlage  des  Menschen  zum  Erkranken  ist  so  mannigfaltig,  als 
die  Theile  lind  Thätigkeiten  des  Leibes  und  der  Seele;  je 
vielfältiger  die  Berührungspunkte ,  um  desto  gesteigerter  ist 
die  Möglichkeit  des  Erkrankens.  Dafs  auch  die  Seele  er¬ 
kranke  und  nicht  blofs  die  zu  ihr  gehörigen  leiblichen  Or¬ 
gane,  wird  erwiesen.  Besondere  Anlagen  ergeben  sich  aus 
Alter,  Geschlecht,  Temperament,  Constitution,  Gewohn¬ 
heit,  Idiosyncrasie,  Erblichkeit  und  Einflüssen  während  der 
Schwangerschaft,  epidemischer  und  endemischer  Constitu¬ 
tion,  und  früheren  Krankheiten  der  Seele  und  des  Leibes. 
Die  Alter  werden  unterschieden  in  Aetas  fetalis,  infantiae, 
pueritiae,  adolescentiae,  matura  (mindestens  in  zwei  Theile 
zerfallend)  senilis.  Die  Temperamente  sind  nach  Galen 
abgehandelt,  die  Constitution  nach  Puch  eit.  Die  Aetio¬ 
logia  psychica  ist  von  der  physica  getrennt,  was  zu  man¬ 
chen  Wiederholungen  Veranlassung  giebt.  Vernünftigkeit 
ist  der  Schutz  des  geistigen  Lebens.  Falsche  Pachtung  der 
Seelenkräfte,  Inconcinnitas  animi,  daher  zu  grofse  oder  zu 
geringe  und  überhaupt  falsche  Richtung  der  äufsern  Sinne, 
des  Verstandes,  der  Einfcyldungskraft,  der  Vernunft,  der 
Begierden,  Affecten  und  Leidenschaften,  so  wie  des  Wil¬ 
lens  überhaupt,  Krankheiten  der  Seele,  aber  auch  des  Lei¬ 
bes  verursachen.  Das  Geistesleben  wird  aber  auch  durch 
äufsere  nicht  geistige  Dinge  bald  zu  Gesundheit,  bald  zu 


16 


II.  Allgemeine  Pathologie. 

Krankheit  gestimmt;  dahin  gehören:  das  Giima,  besonders 
sehr  heifse  und  sehr  kalte,  überhaupt  mit  stark  hervorste¬ 
chender  physischer  Eigenthümlichkeit  versehene  Länder,  die 
Jahreszeiten,  die  Winde,  die  Nahrungsmittel,  die  Arzneien 
und  Gifte,  die  einzelnen  Leibcsthätigkeiten ,  Krankheiten, 
besonders  Nervenleiden,  beschleunigter  Blutumlauf,  krank¬ 
hafte  Zustände  der  mannigfaltigsten  Art,  endlich  der  thie- 
rische  Magnetismus,  dessen  Dasfcin  anerkannt,  aber  mit  den¬ 
selben  Farben  geschildert  wird,  deren  sich  Sachs  bedient 
hat.  —  Die  Aetiologia  physica  zerfällt  in  10  Abschnitte, 
denen  es  an  einem  genügenden  Eintheilungsgrunde  zu  feh¬ 
len  scheint.  Ein  Einflufs  der  Himmelskörper  wird  zugege¬ 
ben.  (Dem  Bef.  scheint  hierher  auch  der  Einflufs  der 
Jahres-  und  Tageszeiten  zu  gehören,  da  sie  ja  durch  das 
Verhältnifs  der  Erde  zur  Sonne  bedingt  sind.)  Die  Luft 
wird  nach  dem  Vorgänge  mancher  Schriftsteller  als  belebt 
angesehen,  eine  Behauptung,  die  mit  etwas  stärkeren  Grün¬ 
den  gegen  die  leicht  zu  machenden  Einwürfe  hätte  gedeckt 
werden  sollen.  Nach  Abhandlung  des  chemischen  und 
mechanischen  Einflusses  der  Atmosphäre  und  der  einzelnen 
Luftarten  werden  Wärme,  Licht  und  Elektricität  als  zur 
Luft  gehörig  erwogen.  (Die  letztgenannten  drei  Einflüsse 
gehören  gar  nicht  wesentlich  zur  Luft,  zumal  die  Wärme, 
welche  ja  auch,  in  sofern  sie  nicht  luftformigen  Stoffen 
mitgetheilt  ist,  nachtheilig  wirken  kann.)  Die  Wirkung 
der  Sonnenstrahlen,  in  sofern  sie  den  Sonnenstich  erzeu¬ 
gen,  möchten  wir  nicht  mit  dem  N  erf.  von  dem  Lichte, 
sondern  von  der  heftigen  Hitze  herleiten,  durch  welche 
eine  gewaltsame  Ausdehnung  der  in  dem  Kopfe  enthaltenen 
Flüssigkeiten,  besonders  des  Blutes,  entsteht.  Bei  dem  Ein¬ 
flüsse  der  Winde  und  des  Clima’s  vermifst  man  eine  An¬ 
gabe  dessen,  was  zunächst  in  unseren  Gegenden  hieraus 
hervorgeht.  Die  Nahrungsmittel,  als  nachtheilige  Einflüsse 
betrachtet,  werden  in  bekannter  Weise  gewürdigt.  Dem 
Biere  wird  grofses  Lob  ertbeilt:  Potuum,  qui  nutriunt 
corpus  simulque  incitant,  nulla  praestantior  habetur  cerevisia. 

Der 


II.  Allgemeine  Pathologie.  17 

Der  \Veiü  heifst:  admirabilis  sane  potio  omniumque  !au- 
dibus  eoncelebrata.  Ueber  den  Branntwein  wird  ein  zu 
unbedingt  ungünstiges  Urtheil  gefällt,  während  derselbe, 
mäfsig  genossen,  dem  alle  Arten  von  anregenden  Speisen 
und  Getränken  entbehrenden  gemeinen  Arbeiter  oft  eben 
so  unentbehrlich  als  nützlich  ist.  Bei  den  Wohnungen 
schnell  vorübergehend,  hält  sich  der  Yerf.  etwas  länger  bei 
den  Bekleidungen  auf.  Unter  dem  Titel:  De  quibusdam 
corporis  muneribus,  quae,  pravo  arbitrio  subjecta,  noxas 
afferunt,  werden  die  Geschlechtsthätigkeit ,  Buhe  und  Be¬ 
wegung,  Wachen  und  Schlafen  (  warum  nicht  auch  Beden, 
Schreien  und  Singen?)  abgehandelt.  Unter  den  Arzneien 
und  Giften,  welche  ihre  Stelle  wohl  am  besten  hinter  den 
Nahrungsmitteln  gefunden  hätten ,  findet  sich  ein  Paragraph, 
Delicta  medicorum  überschrieben.  —  Die  Contagien 
sind  als  Krankheiten  am  meisten  vollendet,  indem  sie  nicht 
nur  selbst  leben,  sondern  auch  ihr  Leben  fortpilanzen.  Der 
Vergleich  derselben  mit  Saamen  scheint  besonders  pas¬ 
send.  —  Die  mechanischen  Einflüsse  und  die  verschiedenen 
Lebensweisen  machen  den  Schlufs  dieses  Abschnittes. 

Liber  111.  Symptom  atologia  s.  de  morbi  in 
conspectum  prodeuntis  signis.  Bei  Erwähnung  der 
Aehnlichkeit  von  Krankheit  und  Symptom  vermilst  man 
eine  Angabe  oder  Widerlegung  der  Hah nema n n sehen 
Ansicht.  Die  passiven  Symptome  will  der  Yerf.  nicht  gel¬ 
ten  lassen;  nam  actione  quadam  effici  haec  etiam  perspieuum 
est;  dennoch  bleibt  jener  Ausdruck  zur  Bezeichnung  un¬ 
selbstständiger  Thätigkeit  sehr  geeignet.  Die  Symptomata 
animi  gehen  voran,  sind  jedoch  von  den  Zeichen  des  Ge¬ 
meingefühls  und  der  Sinne  getrennt.  Die  hier  und  schon 
oben  vorkommenden  Hypernoea,  Paranoea  und  Anoea,  wie 
auch  die  Hyperbulia,  Parabulia  und  Abulia,  nach  Hein- 
roth  gebildet,  entsprechen  nach  Ansicht  des  Bef.  nicht 
den  in  der  Natur  vorkommenden  Formen.  Bei  dem  bilden¬ 
den  Leben  wird  mit  dem  der  Anfang  gemacht,  was  eigent¬ 
lich  den  Schlufs  desselben  ausmacht,  nämlich  mit  den  Zeichen 
XIII.  Bd.  1.  St.  2 


JS  11.  Allgemeine  Pathologie. 

der  Hypertrophie,  Atrophie  und  Parntrophie.  Erst  dann 
folgen  die  Zeichen  der  Verdauung.  I »ei  dem  Geniefsen  der 
Speisen  wird  das  hier  oft  übersehene  Unvermögen  zu  sau¬ 
gen  aufgeführt,  (»egen  Magen  dies  Ansicht  vom  Erbre¬ 
chen  wird  mit  Recht  geeifert.  Dem  Iilute  möchte  als  Krank¬ 
heitszeichen  eine  grössere  Selbstständigkeit  zukommen,  als 
der  Verf.  in  den  Worten:  Sanguinem  nioderatur  vita  va- 
sorurn,  anzuerkennen  geneigt  ist.  Die  Regriffe  Dvscrasic, 
Caeochymie  und  Cachexie  werden  bei  Gelegenheit  der  Se- 
cretion  auseinandergesetzt.  (Sie  gehören  wohl  mehr  in  die 
Lehre  von  der  Reschaffenheit  der  Blutmasse.  lief. )  Die  Galle 
wird  nach  früherer  Ansicht  vorzugsweise  als  Refordcrungs- 
mittel  der  Verdauung  angesehen;  die  T  iedeman  nsche  An¬ 
sicht  hingegen ,  wonach  sie  mehr  als  auszustofsender  Stoff 
angesehen  wird,  ist  nicht  beachtet.  Den  Schlufs  der  dem 
bildenden  Leben  angehörigen  Erscheinungen  bilden  die  Ge- 
schlechlsverrichtungen.  Hierauf  folgt  die  organische  Rewe- 
gung.  Die  Zusammenziehung  wird  Tonus,  die  Ausdehnung 
Turgor  benannt.  Die  krankhafte  Rewegung  ist  llvperto- 
nia,  der  llypersthenie  entsprechend,  Atonia,  in  ihrem  höch¬ 
sten  Grade  zur  Lähmung  werdend,  oder  Paralonia,  d.  i. 
i Krampf  Auf  die  Lehre  von  der  vorzüglich  im  Muskei- 
systeme  vorkommenden  krankhaften  Rewegung,  folgt  die ^ 
Lehre  von  der  Rlutbewegung.  (So  gewöhnlich  diese  Stel¬ 
lung  des  Riutlaufs  ist,  indem  man  denselben  ganz  dem  Prin- 
zipe  der  Irritabilität  miterordnet,  so  mufs  es  doch  noth . 
wendig  dabin  kommen,  dafs  derselbe  unter  die  Glieder  des 
bildenden  Lebens,  denen  er  durchaus  angehört,  gestellt 
werde.  Ref)  Dafs  stagnatio  sanguinis  mit  congestio  ve- 
nosa  der  Neuern  identisch  sei,  wie  der  Verf  meint,  ist 
dem  Ref  nicht  einleuchtend.  Auf  den  Rlutlauf  folgen  die 
Zeichen  des  kranken  Athmcns,  mit  welchen,  wie  gewöhn- 
lieh,  die  der  Stimme  und  Sprache  verbunden  sind.  Den 
Schlufs  bilden  die  krankhaften  Nervenerscheinungen.  Der 
Schmerz  wird  geschieden  in  einen  solchen,  der  von  Rlut- 
aafregung  herrührt  oder  ohne  dieselbe  besteht,  das  krank- 


III.  Kalte  Waschungen  in  den  Masern.  1$ 

hafte  Gefühl  in  Hyperaesthesis,  Anaesthesis  und  Paraesthesis. 
Schlaf  und  Wachen  sind  ganz  zuletzt  als  Zeichen  erwähnt. 
Dafs  alle  diese  Nervenerscheinungen  vorzüglich  an  die  gei¬ 
stigen  Zeichen  hatten  angereiht  werden  sollen,  ist  schon 
oben  erwähnt  worden. 

Die  äufsere  Ausstattung  des  Buches  ist,  wie  man  es 
bei  dem  Herrn  V  erleger  gewohnt  ist,  sehr  gut. 

Licht  enstädt. 


in. 

*  '  \ 

lieber  den  Gebrauch  der  kalten  Waschun¬ 
gen  in  den  Masern; 

von  Dr.  Thaer, 


(Vorgelesen 


in 


praktischem  Arzte  in  Berlin. 

*  ,  t  x 

der  Gesellschaft  für  Natur-  und  Heilkunde 
Berlin  am  4.  November  1828.) 


r.u 


In  einer  Masernepidemie,  im  Herbst  des  Jahres  1823, 
in  Nauen  und  einigen  benachbarten  Dörfern,  in  welcher 
schon  mehrere  Kranke,  theils  unter  meiner  eigenen  Be¬ 
handlung,  theils  unter  der  meiner  dortigen  Collegen,  theils 
aber  auch  ganz  ohne  ärztlichen  Beistand  gehabt  zu  haben, 
gestorben  waren,  sah  ich  mich  veranlafst,  Gebrauch  von 
den  kalten  Waschungen  des  ganzen  Körpers,  mit  Essig 
und  Wasser,  zu  machen. 

Da  die  Resultate  meine  gehegten  Erwartungen  über¬ 
trafen,  ich  aber  hier  in  Berlin  das  Mittel  nicht  häufig  an¬ 
gewandt  glaube,  so  erlaube  ich  mir  eine  kurze  Mittheilung 
meiner  Erfahrungen. 

Die  Gesammtzahl  der  in  Nauen  und  den  Dörfern  Lie- 
tzow  und  Berge  von  der  Krankheit  befallenen  Individuen 
belief  sich,  so  weit  ich  es  in  Erfahrung  bringen  konnte, 

2  * 


20  111.  Kalle  Waschungen  in  <len  Masern. 

auf  121,  wovon  auf  die  Stadt  Nauen  48,  auf  Lietzow'  40, 
e  33  kamen. 

Hiervon  wurden  gewaschen:  i/l^auen  5,  in  Lietzow  37, 
w»  Berge  26,  also  in  Summa  68. 

Hie  Sterblichkeit  in  der  Epidemie  war,  bevor  ich  das 
Waschen  anwandte,  und  noch  während  desselben,  bei  der 
geringen  Zahl  von  Krawken  die  es  nicht  gebrauchten,  sehr 
bedeutend;  denn  es  starben  von  sämmtlichen  121  Indivi¬ 
duen  12,  und  zwar  in  folgendem  Verhältnis  nach  den  ver¬ 
schiedenen  Orten  und  Methoden: 

In  Nauen  von  43  nicht  gewaschenen  9,  von  5  gew.  0. 

—  Lietzow  —  3  —  — •  1  —37  —  1. 

—  Berge  —  6  —  —  1  — 26  —  ö. 

'  52  —  —  II  — 68  —  1. 

Hierzu  niufs  jedoch  bemerkt  werden,  dafs: 

1)  von  den  ohne  Waschung  gestorbener»  Kindern,  vier 
ohne  allen  ärztlichen  Beistand  gewesen  waren; 

2)  dafs  der  Gebrauch  der  Leute,  alle  Ausschlagsfieber 
im  höchsten  Grade  mit  äulserer  Wärme  zu  behan¬ 
deln,  sehr  viel  zu  der  grofsen  Sterblichkeit  beitra¬ 
gen  mochte;  denn  selbst  die  Lalle,  in  denen  nach¬ 
her  meine  oder  anderweitige  Hülfe  gesucht  war, 
batten  mehrere  Tage  diese  Behandlung  ertragen,  und 

,  i  * 

waren  dadurch  sehr  viel  schlimmer  geworden.  Ja 
es  ward  selbst  gegen  die  gegebenen  Vorschriften  in 
dieser  Rücksicht  sehr  oft  gesündigt,  was  zwar  bet 
den  gewaschenen  Kindern  nicht  viel  weniger  statt 
fand,  aber  mit  geringerem  Nachtheil; 

3)  dafs  von  den  gewaschenen  Kranken  zwar  einer  starb, 
bei  diesem  aber  das  Mittel  gegen  meine  Vorschrift 
angewandt  w'urde,  indem  das  Kind  nicht  mehr  an 
den  Masern,  sondern  an  einer  in  Folge  derselben 
entstandenen  Vereiterung  der  Lunge  litt; 

4)  dafs  bei  6  Kranken,  bei  denen  das  Waschen  ange¬ 
wandt  ward,  dies  Mittel  ohne  ärztliche  Verordnung 
glücklich  wirkte. 


und  auf  Berg 


/ 


/ 


IH.  Kalte  Waschungen  in  den  Masern.  !2l 

Die  Epidemie  hatte  in  Nauen  ange fangen ,  und  daselbst 
schon  mehrere  Wochen  bestanden,  ja  sie  näherte  sich  dort¬ 
schon  ihrem  Ende,  als  mich  ein  sehr  schlimmer  Fall  zuerst 
veranlafste,  das  Waschen  anzuwenden.  Von  Nauen  ging 
sie  nach  Lietzow,  von  da  nach  Berge,  blieb  sich  aber  in 
Rücksicht  ihrer  Intensität  an  allen  drei  Orlen  ziemlich 
gleich.  —  Mehr  oder  weniger  hatte  sie  in  allen  Fällen 
einen  entzündlichen  Charakter,  der  durch  die  erhitzende 
Methode,  z«  der  die  Eltern  und  Angehörigen  im  erste« 
Anfänge  des  Uebels  ohne  Ausnahme  griffen ,  bedeutend  ver¬ 
mehrt  ward.  Es  fand  sehr  oft  ein  inflammatorisches  Leide« 
der  Lungen  mid  Bronchien,  einigenfal  aber  auch  des  Ge¬ 
hirns  statt,  und  meine  Behandlung  war  vor  dem  W  aschen 
besonders  auf  Erhaltung  einer  kühlen  Atmosphäre  um  den 
Kranken,  so  weit  ich  dies  gegen  das  Yorurtheil  durchsetzen 
konnte,  und  auf  Anwendung  von  Blutegeln  und  hühlende« 
Arzneien  beschränkt  gewesen,  wobei  auch  mehrere  recht 
bedeutende  Fälle  glücklich  abgelaufen  waren.  Es  starben 
mir  jedoch  vier  Kinder  hei  dieser  Methode,  wovon  freilich 
drei  erst  nach  mehrtägigem  Kranksein  und  Verpackung  m 
heifse  Betten  u.  s.  w.  in  meine  Behandlung  kamen.  Bei 
zwei  derselben  trat  ein  lentescirende-r  Zustand  ein;  -  bei 
einem  alle  Erscheinungen  des  Hydrocephalus  acutus;  bei 
einem  war  die  Entzündung  in  den  Lungen  auf  -der  gröfs- 
ten  Höhe,  wobei  auch  die  Luftröhre  sehr  mitergriffen 
war.  —  Ich  mufs  es  dahingestellt  sein  lassen ,  ob  ich  das 
antiphlogistische  Verfahren  stark  genug  angewandt  hatte» 
Zwei  kleine  Kinder  sah  ich  noch,  fast  unter  meinen  Augen, 
an  Krämpfen  sterben,  während  ich  zum  erstenmal  gerufen 
war,  die  Kleinen  aber  schon  länger  krank  lagen,  und  schnel¬ 
ler  starben,  als  die  verordneten  Blutegel  u.  s.  w.  aus  der 
Apotheke  herbeigeschafft  werden  konnten. 

\  on  den  gewaschenen  Kindern  halte  nur  eins,  und 
zwar  ehe  zu  diesem  Mittel  gegriffen  ward,  Blutegel  be¬ 
kommen;  eben  so  wenig  gebrauchte  irgend  eins  derselben 
ei«  bedeutendes  Nebenmittel.  —  Ich  erlaube  mir  nur 


I 


22  UI.  Kalte  Waschungen  in  den  Masern. 

einige  der  wichtigsten  Fülle,  die  so  behandelt  wurden,  ganz 
kurz  anzuführen.  — 

1.  I)ic  vierjährige  Tochter  des  Zimmergesellen  Meiks- 
ner  in  Nauen.  Ich  ward  Morgens,  etwa  am  siebenten 
Tage  des  Krkrankens  gerufen.  Die  Kleine  war  über  den 
ganzen  Körper  dicht  nut  hochrothen  Maserflecken  besetzt; 
sie  hatte  heftigen  kurzen  Husten,  sehr  schnellen  Athem, 
115  Pulsschlüge  in  der  Minute,  der  Kopf  etwas  benommen; 
sie  hatte  schon  zwei  Nachte  phantasirt,  die  Hände  zuckten 
zu  Zeiten,  die  Zunge  ziemlich  feucht,  aber  mit  vielen 
weifsen  Flecken  bedeckt.  Die  Kranke  hatte  sich  mehrere- 
male  erbrochen,  afs  nichts,  trank  sehr  viel  und  hastig, 
hatte  grofse  Unruhe,  keine  Ocffnung  seit  zwei  Tagen,  und 
war  ohne  Hemde  in  einen  wollenen  Kock  eingeschlagen, 
stark  mit  Federn  bedeckt.  Aufser  vielem  Fliederthec,  hatte 
sie  noch  nichts  bekommen.  Das  Zimmer  war  sehr  heifs.  — 
Die  Fenster  wurden  geöffnet,  der  wollene  Kock  w'eggc- 
lcgt,  das  Kind  schwach  bedeckt,  vier  Blutegel  an  den  Kopf 
und  fünf  an  die  Brust  gesetzt,  und  ein  kühlend  abführen¬ 
der  Trank  verordnet.  Am  Tage  war  es  etwas  besser  ge¬ 
gangen,  am  Abend  aber  stand  es  viel  schlimmer,  und  mit 
der  Verschlimmerung  hatte  man  den  wollenen  Kock,  die 
heifsen  Betten  u.  s.  w.  wieder  hervorgesucht.  Der  Zustand 
war  nun  folgender:  Die  Kleine  war  ganz  ohne  Besinnung, 
die  Brust  sehr  voll,  und  ein  fortwährendes  Husten  vor¬ 
handen;  der  Athem  ungleich  und  sehr  schnell,  der  Puls 
unzählbar.  Fs  waren  drei  dünne  Stuhlgänge  erfolgt;  die 
Zunge  ganz  trocken,  die  Haut  brennend  -  heifs ,  so  dafs  das 
unter  die  Achsel  gebrachte  Thermometer  beinahe  33  Grad 
zeigte;  ilie  Maserflecke  lividc,  Urin  war  seit  6  Stunden 
nicht  gelassen.  —  Jetzt  ward  die  erste  Waschung  mit  Fs- 
sig  und  Wasser  von  10  Grad  gemacht,  und  es  stellte  sich 
augenblicklich  eine  höchst  auffallende  Erleichterung  aller 
Erscheinungen  ein,  so  dafs  die  Unruhe  verschwand  und  die 
Kleine,  nachdem  sie  die  Mutter  w'icder  erkannt  und  noch 
einmal  zu  trinken  verlangt  hatte,  einschlief,  und  fast  eine 


III.  Kalte  Waschungen  in  den  Masern.  23 


Stunde  so  zubrachte,  wobei  auch  die  Haut  etwas  feucht  zu 
werden  begann.  Dann  aber  stellte  sich  wieder  Unruhe  ein* 
und  alle  Erscheinungen  stiegen  fast  wieder  zu  der  alten 
Höhe.  Das  Kind  wurde  nun  wieder  eben  so  über  den 

ganzen  Körper  gewaschen  ,  was  dieselbe  Erleichterung 
brachte.  —  Die  Mutter  ward  dann  instruirt,  mit  dem 
Mittel  alle  zwei  Stunden  fortzufahren ,  wenn  n  and  ich  Un¬ 
ruhe  und  Hitze  gröfser  wären,  aber  länger  zu  warten, 
wenn  Schweifs  statt  fände.  Am  andern  Morgen  lag  das 
Kind  wie  neugeboren  im  Bette.  —  Die  Zunge  war  feucht, 
die  Haut  welch,  es  war  ein  Stuhlgang  von  fäculenter  Art 
erfolgt;  der  Puls  hatte  noch  110  Schläge,  der  Athem  war 
ruhig.  Mitunter  erfolgte  Husten  mit  starkem  Auswurf, 

ohne  grofse  Anstrengung.  Es  hatte  schon  etwas  Semmel 
und  Kaffee  genossen.  Die  Maserflecke  im  Gesicht  waren 
schon  sehr  im  Abnehmen.  Es  ward  nun  noch  alle  drei 
Stunden  mit  Wasser  und  Essig  von  13  Grad  Wärme  ge¬ 
waschen,  denn  die  Hitze  des  Körpers  war  nur  noch  30  Grad. 
Alle  Arznei  war  seit  dem  Abend  vorher  weggelassen,  und 
blieb  ausgesetzt.  —  Am  Abend  dieses  Tages  war  fast  keine 
Exacerbation  mehr  zu  bemerken,  und  das  Kind  batte  Mit¬ 
tags  schon  etwas  Suppe  gegessen.  In  der  nächsten  Nacht 
ward  es  noch  zweimal  zu  14  Grad  gewaschen ,  batte  aber 
im  Ganzen  sieben  Stunden  geschlafen  und  gegen  Morgen 
stark  zu  schwitzen  begonnen.  Jetzt  safs  sie  an  der  Erde 
und  spielte;  der  Husten  und  schnelle  Athem  war  ganz  weg, 
der  Puls  ohne  alles  Fieber,  die  Temperatur  der  Haut  na- 
tiiriich,  der  Appetit  sehr  grofs.  Am  Abend,  wo  ein  gelin¬ 
des  Fieber  wieder  eintrat,  ward  noch  einmal  zu  18  Grad 
gewaschen,  worauf  sie  die  ganze  Nacht  schlief  und  nach 
wenig  Tagen  ohne  allen  Nachtheil  auf  der  Strafse  umher- 
licf,  dabei  sehr  sichtbar  abhäutete,  und  in  kurzem  voll¬ 
kommen  genas. 

2.  Das  ‘'Kind  des  Tischlers  Vogler  in  Nauen,  zwei 
Jahr  alt,  seit  8  Tagen  krank,  seit  2  Tagen  in  der  Eruption, 
war  nicht  ganz  so  beifs  gehalten.  Der  Körper  bedeckt  mit 


I 


‘i4  III.  Kalte  W  aschungen  in  den  Masern. 

Maserlleckcn ;  1*10  Pulsschläge,  sehr  schneller  kurzer  Atliem 
und  trockener  Husten,  heftiger  Durst,  Beschwerden  beim 
Urinlassen,  seit  24  Stunden  keine  Oeffnung.  Temperatur 
der  Haut  32  £  Grad.  — 

Ks  ward  alle  zwei  Stunden  mit  Essig  und  Wasser  von 
10  Grad  gewaschen,  und  alles  besserte  sich,  ohne  irgend 
einen  Arzneigebrauch,  so  schnell,  dafs  der  Kleine  nach  drei 
Tagen  im  Zimmer  umherspielte  utid  den  besten  Appetit 
hatte.  Nach  8  Tagen  fand  sehr  schwaches  Abhäuten  statt, 
%  während  welcher  Periode  er  im  Freien  umherlief,  und  nach 
10  —  12  Tagen  ohne  alle  Spuren  der  überstandenen  Krank¬ 
heit  war. 

3.  Die  siebenjährige  Tochter  der  Hebamme  Ende- 
walten  in  Lietzow,  seit  zehn  Tagen  unwohl,  seit  zwei  Ta¬ 
gen  mit  Ausschlag  bedeckt,  fieberte  stark  (130  Schläge  in 
der  Minute),  hatte  Stiche  in  der  linken  Seite,  besonders 
beim  Husten,  der  ganz  trocken  war,  der  Athem  sehr  kurz, 
sie  trank  beständig  und  warf  sich  viel  im  Bette  umher, 
hatte  auch  seit  zwei  Nächten  phantasirt,  was  jedoch  am 
Tage  nicht  mehr  statt  fand.  Die  Wärme  des  Körpers 
32  \  Grad.  —  Es  sollten  10  Blutegel  an  die  linke  Seite 
gesetzt  werden,  und  eine  Arznei  aus  Nitrum  ward  ver¬ 
schrieben.  Da  beides  aber  erst  geholt  werden  mufste,  so 
kamen  die  Waschungen  früher  zu  Stande.  Als  sie  zweimal 
zu  10  Grad  gemacht  waren,  besserte  sich  alles  so,  dafs 
die  Mutter  wenigstens  die  Blutegel  wegliefs.  Die  Medicin 
wurde  ausgebraucht,  und  die  Waschungen  allmählig  wär¬ 
mer  und  seltener  drei  Tage  lang  fortgesetzt,  worauf  das 
Kind  in  acht  Tagen  fast  ohne  alle  Krankheitsspur  war,  und 
im  Freien  ohne  Nachtheil  umherging. 

4.  Die  dreijährige  Tochter  derselben  Frau,  ein  et¬ 
was  scrofulöses,  sonst  aber  ziemlich  kräftiges  Mädchen, 
war  das  zuerst  erkrankte  Kind  in  Lietzow.  Die  Krankheit 
scheint  nicht  bedeutend  aufgetreten  zu  sein,  denn  die  Mut¬ 
ter  suchte  keine  ärztliche  Hülfe,  was  sie  sonst  zu  thun 
gewohnt  war.  Erst  als  seine  Geschwister  auch  krank  wur- 


HI.  Kalte  W  aschungcn  in  den  Masern.  25 

den,  und  hier  stürmischere  Symptome  erschienen,  bekam 
ich  die  Kranke  zu  sehen,  und  fand,  dafs  sie  in  der  vierten 
Woche  krank  war,  an  lentescirendem  Fieber  litt-,  viel 
hustete,  einen  kurzen  Athem  hatte  u.  s.  w.  Die  Mutter, 
welche  bei  ihren  übrigen  vier  Kindern  den  sehr  guten  Er¬ 
folg  der  Waschungen  gesehen  hatte,  fragte,  ob  sie  diesel¬ 
ben  auch  nicht  hier  anwenden  könne,  was  ich  nicht  zweck- 
mäfsig  fand;  nichts  desiowetiiger  machte  sie  doch  Gebrauch 
davon,  und,  wie  sie  meinte,  mit  einigem  Erfolg,,  der  je¬ 
doch  nur  temporar  gewesen  sein  kann;  denn  das  Kind  starb 
in  der  siebenten  Woche  nach  dem  Erkranken,  ganz  ab¬ 
gezehrt. 

5.  Der  Knabe  des  Bauern  Rahn  in  Lietzow  von  5  Jahren, 
seit  .vierzehn  Tagen  fieberhaft  und  catarrhalisch  nach  An¬ 
gabe  der  Eltern,  hatte  jetzt  trockene  Haut,  sehr  grofse 
Hitze  (32 ^  Grad,  delirirte,  hustete  kurz  und  trocken,  ath- 

mete  schnell,  und  fieberte  mit  einem  Puls  von  130  Schlä- 

* 

gen,  wobei  aber  an  keinem  Theile  des  Körpers  Ausschlag 
war.  Er  ward  gewaschen  mit  Wasser  von  0  Grad,  und 
fast  noch  beim  ersten  Waschen  erschien  der  Ausschlag  über 
den  ganzen  Körper.  Athem  und  Puls  wurde  ruhiger,  es 
erfolgte  Schlaf,  der  Husten  wurde  hei  fortgesetztem  Wa¬ 
schen  immer  leichter  und  brachte  vielen  Schleim  hervor, 
der  Kleine  bekam  Appetit  und  war  in  drei  Tagen  nicht 
mehr  krank,  einige  Schwäche  ausgenommen.  Ehe  acht  Tage 
vergingen,  war  er  vor  der  Hausthür,  und  erlitt  dadurch 
nicht  den  geringsten  Nachtheil. 

6.  Der  Knabe  des  Schäfers  Schmidt  in  Lietzow,  7  Jahr 
alt,  schwächlich  und  scrofulös,  hatte  heftiges  Fieber  (130 
Schläge),  viel  kurzen  Husten,  starken  Durchfall,  delirirte 
schon  seit  fünf  Tagen  des  Nachts,  kam  jetzt  nicht  mehr 
zu  sich,  und  liefs  oft  den  Stuhlgang  in  das  Bett  Hiefsen; 
hatte  eine  vollkommen  trockene  Zunge,  und  seine  sonst 
fliefsenden  Ohren  waren  ganz  trocken  geworden.  Die  Tem¬ 
peratur  des  Körpers  war  zwischen  32  und  33  Grad.  Da 
gleich  die  ersten  drei  Waschungen  von  11  Grad  den  Klei- 


26  HI.  Kalte  W  aschungen  in  den  Masern. 

nen  sehr  zu  erleichtern  schienen,  ihn  namentlich  ruhiger 
machten,  und  die  Besinnung  wieder  zurückfuhrten,  auch 
den  Ausschlag  auf  der  Haut  viel  lebhafter  erscheinen  mach¬ 
ten,  so  ward  nichts  weiter  angewandt,  als  etwas  Klixir. 
aciduin  mit  Himbeersyrup  zum  Getränk;  der  Kranke  genas 
hierbei  und  bei  Fortsetzung  der  Waschungen  während  Ger 
Tagen  so  weit,  dafs  das  Uebrige  der  Natur  ii herlassen  wer¬ 
den  konnte,  welche  damit  in  vierzehn  Tagen  zu  Stande 
kam.  Nach  der  Krankheit  ward  der  Patient  immer  kräfti¬ 
ger,  die  Erscheinungen  der  Scrofeln  verloren  sich,  die 
wieder  flielsend  gewordenen  Ohren  trockneten  allmählig, 
und  nach  einem  halben  Jahre  war  der  vorherige  Schwäch¬ 
ling  ein  ziemlich  kräftiges  Kind. 

7.  Der  Knabe  des  Kutschers  Müller  in  Berge,  4^  Jahr 
alt,  war  seit  einiger  Zeit  catarrhalisch  gewesen,  hatte  rothe 
Augen  gehabt  und  gehustet,  bis  Tages  zuvor  unter  hefti¬ 
gen  Krämpfen  der  Masernausschlag  sich  zeigte.  Jetzt  hatte 
er  ängstlich  kurzen  Athem,  schielte  mit  dem  einen  Auge, 
hustete  fortwährend,  aber  trocken,  hatte  über  140  Puls¬ 
schläge,  und  «He  W  ärme  des  Körpers  war  33  Grad.  Der 
Leih  war  verstopft  seit  vorgestern.  —  Es  sollte  so  bald  als 
möglich  ein  Klystier  gegeben,  (i  Blutegel  am  Kopf  gesetzt 
und  die  Waschungen  mit  8  Grad  begonnen  werden.  Mit 
letzteren  ward  der  Anfang  gemacht,  und  erst  als  sie  zwei¬ 
mal  wiederholt  waren,  hatte  man  Blutegel  erhalten,  und 
die  Anstalten  zum  Klvstier  waren  da.  Die  beiden  Waschun¬ 
gen  batten  aber  schon  so  vortbeilhaft  gewirkt,  dafs  ich  von 
beiden  nicht  mehr  Gebrauch  machen  liefs.  Der  Ausschlag 
war  nämlich  noch  viel  lebhafter  herausgekommen,  und  be¬ 
deckte  den  ganzen  Körper;  das  Auge  war  nicht  mehr  schie¬ 
lend,  der  Athem  ruhiger,  die  ganze  Haltung  des  Kindes 
besser;  auch  hatte  es  schon  etwas  geschlafen,  die  Haut  war 
weich  geworden  und  eine  starke  Stuhlausleerung  erfolgt. 
Fortgesetztes  allmählig  wärmeres  Waschen  brachte  den  Klei¬ 
nen  in  vier  lagen  so  weit,  dafs  ihm  fast  keine  Krankheit 
mehr  anzusehen  war.  Lr  häutete  sehr  unmerklich,  und 


III.  Kalte  Wasohungen  in  den  Masern.  27 

spielte  dabei  ohne  Nachtheil  im  rauhen  Ilcrbstwetter  im 
Freien  herum.  —  » 

Ich  könnte  diesen  Fällen  noch  einige  hinzufügen,  glaube 
indefs,  sie  mögen  hinreichen  zu  zeigen,  dafs  in  jener  Epi- 
demie  die  kalten  Waschungen  sehr  vorteilhaft  wirkten.  — 
Die  ganze  Bevölkerung  der  beiden  Dörfer  hatte  sich  von 
ihrer  Nützlichkeit  so  sehr  überzeugt,  dals  sie  dieselben  oft 
schon  in  Anwendung  gezogen,  ehe  ich  die  Kranken  sah, 
wo  mir  dann  nur  die  genauere  Bestimmung  der  Tempera¬ 
tur  übrig  blieb.  Der  Königl.  Beamte  in  Berge,  der  Pre¬ 
diger  und  die  Schullehrer  in  beiden  Orten,  unterstützten 
mich  in  meinen  Anordnungen,  so  sehr  sie  selbst  anfangs 
gegen  das  Mittel  gestimmt  waren,  und  es  kamen  in  der 
That,  je  allgemeiner  es  gebraucht  ward,  desto  seltener  er¬ 
hebliche  Falle  vor.  In  beiden  Dörfern  waren  zusammen¬ 
genommen  6  Kinder  blofs  durch  die  Eltern  mit  kalten 
Waschungen  behandelt,  und  ich  bekam  diese  Kranken  erst 
in  der  Beconvalescenz  zu  sehen. 

9 

Meine  Begein  bei  Anwendung  des  Waschens  waren 
sehr  einfach,  nämlich: 

1)  Es  ward  gewaschen,  sobald  die  Temperatur  des  Kör¬ 
pers  über  29^  Grad  war,  wobei  der  Kranke  schon 
Unruhe  und  kurzen  Athem  zu  haben  pflegte. 

2)  Die  Temperatur  der  Waschungen  ward  um  so  käl¬ 
ter  gemacht,  je  heifser  die  des  Körpers  war,  wobei 
ich  mich  einer  Tabelle  bediente,  die  ich  aus  den 
Datis  der  im  Jahre  1823  in  dem  Supplementbande 
des  II  u  f  e  I  a  n  dschen  Journals  erschienenen  Preis¬ 
schrift  von  Frölich  genommen  hatte,  und  bestän¬ 
dig  nebst  einem  kleinen  Thermometer  bei  mir  führte. 

■  9 

3)  Nie  zu  waschen,  wenn  das  Kind  ruhig  war,  oder 
wenn  Transpiration  erfolgte. 

Im  Allgemeinen  bemerke  ich  nun  Folgendes: 

1)  Die  gewaschenen  Kinder  genasen  in  der  Kegel  in 
acht  Tagen  vollkommen. 


1 


28  111.  Kalte  \\  aschungcn  in  den  Masern. 

2)  Die  Abschuppung  schien  nach  dem  Waschen  schwä¬ 
cher  und  schneller  z,u  erfolgen. 

♦3)  Die  Rcconvalescenten  setzten  sich  (zwar  anfangs  ge¬ 
gen  meine  Vorschrift),  ohne  allen  Nachtheil,  dem 
schon  ziemlich  rauhen  YV  etter  während  der  Abschup¬ 
pung,  und  hei  noch  nicht  ganz  gewichenem  Hu¬ 
sten  aus. 

4)  Bei  schon  vorgerücktem  Leiden  der  Lunge  erfolgte 
nach  dem  Waschen  starke  Expectoration;  bei  frischem 
Leiden  derselben  verging  es  ohne  sie,  wenn  die 
Function  der  Haut  wieder  in  Ordnung  kam, 

5)  Bei  drei  Kranken  beobachtete  ich  das  augenblickliche 
Ilervorbrechen  des  Ausschlags  nach  dem  Waschen, 
wo  vor  demselben  dergleichen  noch  nicht  zu  sehen 
war,  und  allemal  mit  grofser  Erleichterung  aller 
übrigen  Erscheinungen. 

Bei  Erwachsenen  hatte  ich  nicht  Gelegenheit,  die  Wa¬ 
schungen  anzuwenden,  denn  ich  hatte  nur  drei  dergleichen 
an  den  Masern  zu  behandeln;  dieses  waren  aber  lauter 
leichte  Fälle.  Nur  zweimal  sah  ich  mich  veranlafst,  hei 
kleinen  Kindern,  die  nach  den  Waschungen  den  reichlich 
in  den  Bronchien  vorhandenen  Schleim  nicht  recht  auswar¬ 
fen,  ein  Brechmittel  zu  geben;  Blutegel  aber,  oder  andere 
bedeutende  Dinge,  wurden  bei  keinem  Kinde  nach  begon¬ 
nenen  Waschungen  mehr  angewandt. 

Aus  allem  gebt  wohl  deutlich  hervor,  dafs  das  Waschen 
vorteilhaft  auf  die  Krankheit  wirkte,  indem  cs  den  von 
dem  Contagium  verlangten  Vegetationsprozefs  in  der  Haut 
beförderte,  und  so  die,  wegen  der  Hinderung  dieses  Pro¬ 
zesses  vicariirend  mitleidcnden  Organe  des  Kopfes,  der  Brust, 
oder  des  Unterleibes  befreite.  Wie  es  dies  konnte,  wage 
ich  nicht  theoretisch  zu  demonstriren;  aus  der  Analogie 
der  Wirkung  äufsercr  Kälte  bei  oberflächlichen  Entzündun¬ 
gen  möchte  ich  aber  schliefst»,  dafs  eine  entzündliche  Span¬ 
nung  in  der  Haut  in  der  in  Frage  stehenden  Epidemie  der 
Grund  des  nicht  vollkommen  gelingenden  Yegetationspro- 


/ 


III.  Kalte  Waschungen  in  den  Masern.  29 

zesses  in  derselben  gewesen  sei.  Ob  dieser  Prozefs  näm¬ 
lich  ganz  normal  verlaufen,  darüber  giebt  das  bloise  äußer¬ 
liche  Ansehn  des  Ausschlags  wohl  keinen  vollständigen 
Beweis;  Hitze  und  Trockenheit  der  Haut  scheint  jedoch, 
wenn  sie  statt  findet,  anzudeuten,  dafs  jener  Prozeis  noch 
Widerstand  findet,  ln  mehreren  Fällen  treten  ja  die  sicht¬ 
baren  Erscheinungen  desselben  nach  dem  Waschen  augen¬ 
scheinlich  hervor.  —  Ob  in  allen  Epidemieen  etwas  Ent¬ 
zündliches  jenes  Hindernifs  bildet,  ob  allenthalben  die  Wa¬ 
schungen  vortheilhaft  wirken,  mufs  erst  die  Zukunft  erwei¬ 
se»;  jedoch  ist  es  mir  wahrscheinlich. 

Heifse  Zimmerluft  und  heifse  Bedeckung  des  Kranken 
mufs  das  entzündliche  Leiden  bei  den  hitzigen  Exanthemen 
vermehren,  weshalb  sich  die  kühlende  Methode  so  allgemei¬ 
nen  Beifall  erworben  hat;  ich  glaube  aber  doch,  dafs  das 
Waschen  einer  sehr  kalten  Atmosphäre  vorzuziehen  ist: 

1)  Weil  man  den  Grad  der  anzuwendenden  Kälte  hier 
vollkommen  in  seiner  Gewalt  hat;  sie  zu  jeder  Jah¬ 
reszeit,  und  für  jedes  Individuum  (wenn  mehrere 
in  einem  Zimmer  liegen),  und  für  jeden  Moment 
der  Krankheit  nach  Gefallen  modificiren  kann. 

2)  Weil  mit  dem  Waschen  eine  Reinigung  der  Haut 
statt  findet,  die  wohl  wirksam  sein  könnte. 

3)  Weil  das  Wasser  ein  viel  besserer  Wärmeleiter  ist, 
als  die  Luft. 

4)  Weil  es  für  den  Wärter  viel  leichter  ist,  mit  Was¬ 
ser  von  niedriger  Temperatur  alle  Stunden  oder 
zwei  Stunden  zu  waschen ,  als  in  einer  sehr  kalten 

i  „  *  *  \ 

Stube  anhaltend  zu  verweilen. 

Am  zweckmäfsigsten  möchte  es  demnach  wohl  sein, 
beides  miteinander  zu  verbinden,  jedoch  so,  dafs  die  Zim¬ 
merluft  nicht  unter  13  Grad  wäre,  und  die  Bedeckung  des 
Körpers  der  Gewohnheit  des  Kranken  angemessen;  ent¬ 
stände  dann  doch  grofse  Hitze  und  die  andern  Erscheinun¬ 
gen,  so  müfste  man  zu  den  Waschungen  schreiten.  Auf 
diese  Weise  würden  gewifs  sehr  viel  Kranke  ohne  Wa- 


30  111.  Kalte  Waschungen  in  den  Masern. 

schung  bestehen  können,  und  auch  ich  würde  sie  nicht  so 
oft  angewandt  haben,  wenn  ich  diese  Vorschrift  zur  Aus¬ 
führung  hätte  bringen  können.  In  der  Regel  aber  lagen 
meine  Kranken  in  den  sehr  hcilsen  Stuben  der  Landleute, 
und  diese  waren  nicht  zu  bewegen,  von  ihrer  Gewohnheit 
abzustehen;  dabei  wurden  denn  die  Kranken,  ich  mochte 
sagen  was  ich  wollte,  vor  und  nach  dem  Waschen  noch 
stark  mit  Federn  bedeckt,  wenn  nicht  gar  in  Wolle  ein¬ 
gewickelt,  was  denn  die  öftere  YV  iederholung  des  Mittels 
bei  denselben  Kranken,  und  die  Nothwendigkeit  desselben 
bei  fast  jedem  Individuum  veranlafste. 

liier  in  Berlin,  und  unter  gebildeten  Menschen,  fand 
ich  mich  zum  Gebrauche  der  kalten  Waschungen  noch  nicht 
bewogen,  weil  die  kühlere  Luft  der  Zimmer  und  die  zvveck- 
mäfsige  Haltung  der  Kranken  mich  nur  selten  so  stürmische 
Scenen  sehen  liefsen,  als  auf  dem  Lande  zur  Regel  ge¬ 
hörte;  schneller  möchten  aber  doch  auch  manche  der  hiesi¬ 
gen  Kranken  durch  ihre  Anwendung  geheilt  werden. 

ln  der  Gegend  von  Nauen  und  hier,  machte  ich  fünf¬ 
mal  auch  heim  Scharlach  Gebrauch  von  dem  mir  so  lieh 
gewordenen  Mittel;  hier  müssen  aber  unstreitig  die  Kälte¬ 
grade  viel  höher  sein,  und  oft  wird  dabei  das  Raden  oder 
das  Uehcrgiefsen ,  w  as  auch  hier  so  häufig  angewandt  wird, 
bessere  Dienste  leisten.  Von  ihnen  möchte  ich  auch,  w'enn 
sie  vorzugsweise  auf  die  Brust  gerichtet  wären,  im  Keuch¬ 
husten  etwas  erwarten,  wenigsten?  haben  sie  mir  io  einem 
Falle  dieser  Art  auf  überraschende  Weise  geholfen;  nur 
konnte  ich  bisher  niemand  wiederfinden,  der  sein  Kind  die¬ 
ser  Behandlung  unterwerfen  wollte. 

Meine  Kenntnifs  über  die  Wirkung  der  kalten  Wa¬ 
schungen,  Lebergiefstingcn  und  Räder,  habe  ich  übrigens 
besonders  bereichert  durch  die  oben  angeführte  kleine  Schrift 
von  F rölich,  nebst  denen  von  Pitschaft  und  Reufs, 
die  gleichfalls  im  Supplementbande  des  II  ufcland sehen 
Journals  von  1823  abgedruckt  sind. 


IV.  Säuferwahnsinn.  31 


Tabelle  zur  Bestimmung  der  Temperatur  des  Waschens  oder 
Badens  nach  der  Wärme  des  Kranken;  nach  Frö  1  i c li. 


Warme 
des  Körpers. 

Wärme  des  W'assers. 

Zeit 

des 

R. 

F. 

Reaumur. 

Fahrenheit. 

Waschens. 

Badens. 

Grad. 

Grad. 

Grad. 

Grad. 

Minuten. 

Minuten. 

294 

98 

26 

90 

4 

__ 

30 

99 

234 

85 

4 

— 

30| 

100 

19 

75 

4 

L  _  1 

304 

101 

144  —  17 

65  —  70 

6 

1  —  2 

3  H 

102 

124  —  17 

60  —  65 

4  —  6 

2  —  3 

31f 

103 

124  —  17 

60  —  65 

8 

6  —  8 

32 

104 

124 

60 

— — 

3  —  4 

32| 

105 

104 

,  55 

— 

2  —  3 

33 

106 

34 

40 

-  , 

1  —  3 

334 

107 

3  f 

40 

— 

1  —  3 

33  4 

108 

14 

35 

— 

1  —  3 

34 

109 

14 

35 

_ 

3  —  4 

34f 

110 

i 1 

-*■  2 

35 

— i 

3  —  4 

344 

111 

l! 

35 

— 

3  —  4 

35 

112 

35 

— 

3  —  4 

'IV. 

Beobachtungen  über  den  Säuferwahnsinn, 
oder  das  Delirium  tremens;  von  Dr.  Georg 
Barkhaus  en,  zweitem  Arzte  am  Kranken-  und 
Irrenhause  in  Bremen.  Bremen,  Druck  und  Ver¬ 
lag  von  Johann  Georg  Heyse.  1828.  8.  243  S. 

In  der  Anerkennung  der  vielen  Widersprüche,  welche 
noch  gegenwärtig  unter  den  Aerzten  über  das  Wesen 
und  die  Behandlung  des  Delirium  tremens  herrschen,  war 
es  dern  \  erfasser  dieser  Abhandlung  besonders  darum  zu 
thun,  seine  Beobachtungen  über  diese  Krankheit  mitzuthei* 


32 


IV.  Säuferwahnsinn. 


Ten,  und,  auf  sie  gestützt,  auf  den  von  vielen  Aerzten  ge¬ 
leugneten,  verschiedenartigen  Charakter  dieser  Krank¬ 
heit  mehr,  als  bisher  geschehen  ist,  aufmerksam  zu  machen. 
Sicherlich  hat  er  sich  durch  diese  Abhandlung  ein  sehr  be¬ 
deutendes  Verdienst  um  eine  richtigere  Behandlung  dieser 
Krankheit  erworben,  denn  wir  müssen  wohl  bckenucn,  dafs 
solche  bis  dahin  immer  eine  büchst  einseitige  gewesen,  xdafs 
man,  ohne  diese  Krankheit  ruhig  zw  beobachten  und  den 
^  orschriften  der  allgemeinen  Therapie  genülfs  zu  behandeln, 
gleich  von  vornherein  Paftbei  genommen  zu  haben  schien, 
u»d  je  nachdem  man  sie  entweder  für  ein  entzündliches 
Leiden  des  Gehirns,  oder  eine  Nervenkrankheit  hielt,  durch¬ 
weg  zu  Blutentleerungen  oder  zum  Opium  schritt.  War 
die  erskere  Ansicht  für  die  Praxis  noch  nachtheiliger,  als 
die  zweite,  indem  dann  doch  in  der  Mehrzahl  der  Falte 
Congestionen  nach  dem  Kopfe,  überhaupt  ein  abnormes 
Ilervortreten  des*  Blutgefäfssystems,  entweder  gar  nicht 
vorhanden  oder  wenigstens  nicht  von  solcher  Bedeutung 
sind,  dafs  sie  die  Anwendung  des  antiphlogistischen  Heil¬ 
verfahrens  rrüthig  machen  sollten.,  und  hat  sich  auch  Go¬ 
den  gewifs  ein  grofses  Verdienst  erworben,  dafs  er  zuerst 
au  f  die  U  nrichtigkeit  desselben  im  Allgemeinen  aufmerksam 
gemacht  bat,  so  ging  er  auf  der  andern  Seite  auch  wiederum 
zu  weit,  indem  er  aller  Erfahrung  zuwider,  wie  Ref.  schon 
bei  der  Anzeige  seiner  Schrift  (vergl.  Bd.  IX.  S.  185  d.  A.) 
bemerkt  hat,  ein  Ergriffenscio  des  Blutgefäfssystems  und 
eine  sonach  einzuleitendc,  antiphlogistische  Behandlung  un¬ 
ter  allen  Umständen  verwarf.  Man  schien  es  oft,  was  na¬ 
mentlich  von  Goden  gilt,  ganz  übersehen  zu  haben  ,  wohl 
aber,  durch  die  traurigen  Folgen ,  welche  jene  Methode 
in»  Allgemeinen  für  die  Praxis  gehabt  hatte,  dazu  veran¬ 
lagt,  wie  gleichwohl  Blutcntziehungen  oft,  um  einem  drin¬ 
genden  Symptome  zu  genügen,  nüthig  werden  können, 
ohne  dafs  eben  durch  diese  symptomatische  Behandlung 
die  Krankheit  selbst  gehoben  würde,  wie  solches  denn 
auch  B.  anerkennt. 


Der 


IV.  S  au  fo  f  wahns  Inn. 


33 


Der  Verf.  behandelt  das  Delirium  tremens  in  dieser 
Schrift  in  folgenden  Abschnitten: 

Name  und  Begriff  der  Krankheit.  Als  den 
Säuferwahnsinn  bestimmt  B.  diejenige  Krankheit,  welche 
ein  Individuum  nur  nach  dem  längere  Zeit  fortgesetzten 
Mißbrauche  spirituöser  Getränke  befällt,  sich  vorzugsweise 
durch  Störungen  der  Gehirn-  und  Nervenfunctionen,  na¬ 
mentlich  Schlaflosigkeit,  Delirien,  Sinnestäuschungen  eigen- 
thümlicher  Art,  häufig  auch  Zittern  der  Glieder  charakteri- 
sirt,  bald  mit,  bald  ohne  gleichzeitig  veränderte  Function 
des  Blutgefäfssystems,  bald  mit,  bald  ohne  Fieber  auffcritt, 
sich  durch  grofse  Neigung  zum  Collapsus  auszeichnet,  und 
nur  durch  einen  kritischen  Schlaf  gehoben  werden  kann. 
In  der  That  ist  diese  Begriffbestimmung  so  der  Natur  der 
Krankheit  entnommen,  dafs  sich  nichts  gegen  sie  einwenden 
läfst.  Der  Hauptpunkt,  in  welchem  B.  bei  dieser  Bestim¬ 
mung  von  Göden  abweicht,  ist  aber,  dafs  er  eine  krank¬ 
haft  veränderte  Thätigkeit  des  Blutgefäfssystems  mit  auf¬ 
nimmt,  wie  solche  denn  auch  durch  die  Krankheit  gegeben 
ist,  und  sich  oft  sattsam  genug  in  der  Erscheinung  darstellt. 

Unter  den  für  diese  Krankheit  vorgeschlagenen  Namen 
behält  B.  den  des  Delirium  tremens  bei,  wenngleich  er  auch 
die  Unrichtigkeit  desselben  anerkennt  und  lieber  den  einer 
Mania  potatorum  wählen  würde.  Ref.  hat  sich  schon  bei 
Beurtheilung  der  Göden  sehen  Schrift  über  den  Namen 
des  Del.  trem.  ausgesprochen;  den  einer  Mania  potatorum 
würde  er  aber  am  allerwenigsten  billigen.  Abgesehen  da¬ 
von,  wie  die  Krankheit  dadurch  in  eine  nähere  Verbindung 
mit  den  Geisteskrankheiten  gesetzt  wird,  als  ihrem  Wesen 
zu  entsprechen  scheint,  so  hat  man  wohl  schon  die  Manie, 
welcher  Branntweintrinker  erliegen  (die  doch  kein  Del. 
trem.  ist),  mit  der  besonderen  Benennung  einer  Oenoma- 
nia  oder  Mania  potatorum  bezeichnet.  B.  selbst  sagt,  dafs 
das  chronische  Del.  trem.  oft  in  Manie  (er  setzt  deshalb 
wohl:  wirkliche  hinzu)  übergehe.  Es  ist  wohl  ersicht¬ 
lich,  dafs  ein  jeder  für  diese  Krankheit  vorgeschlagene  Name 
XIII.  Bd.  1.  St.  3 


34 


IV.  Säuferwahnsinn. 


nicht  vollkommen  genüge;  es  wird  dies  so  lange  dauern, 
bis  wir  erst  das  Wesen  dieser  Krankheit  werden  erkannt 
und  einen  demselben  entsprechenden  Namen  gebildet  haben. 

Anamnese.  (I)a  B.  in  diesem  Abschnitte  die  ur¬ 
sächlichen  Momente  der  Krankheit  abhandelt,  so  hätte  er 
ihn  wohl  richtiger  Aetiologie  benennen  sollen;  denn  ob¬ 
schon  diese  freilich  immer  eine  Anamnese  der  Krankheit  in 
genere  ist,  so  bedienen  wir  uns  jenes  Ausdrucks  in  dieser 
Hinsicht  doch  nicht.)  Die  prüdisponirende  und  sehr  häufig 
auch  zugleich  die  erregende  Ursache  des  Del.  trem.  bedingt 
bekanntlich  der  oft  wiederholte  Milsbrauch  geistiger  Ge¬ 
tränke.  Sehr  zweckniäfsig  aber  macht  B.  darauf  aufmerk¬ 
sam,  dafs  es  denn  doch  besondere  Arten  geistiger  Getränke 
zu  sein  scheinen,  welche  vorzugsweise  diese  Krankheit  ver¬ 
anlassen.  Wein  scheint  nach  ihm  wenig  dazu  geeignet, 
das  Del.  trem.  zu  veranlassen;  dafs  sich  aber  auch  nach 
iibermäfsigem ,  lange  fortgesetztem  Genüsse  desselben  ein 
vollkommenes  Del.  trem.  ausbilden  könne,  hat  Kef.  sowohl 
in  einem  ihm  in  Oberitalien  vorgekommenen  Falle  beobach¬ 
tet,  als  er  auch  bei  einer  andern  Gelegenheit  darzuthun  sich 
bemühen  wird,  dafs  die  Alten  ein  durch  Wein  veranlafstes 
Delir,  tremens  wohl  gekannt  haben,  und  dies  keinesw'eges 
eine  so  neue  Krankheit  ist,  als  man  wohl  annimmt.  Dafs 
es  indefs  in  neuerer  Zeit  ungleich  häufiger  geworden,  lei¬ 
det  keinen  Zweifel.  Nach  jungem  Bum  und  schlechtem 
Branntwein  sah  B.  die  Krankheit  eher  ausbrechen,  als  nach 
altem  Bum  und  gutem,  reinen  Branntwein;  nach  über- 
mäfsigem  Genüsse  besonders  starken  Bieres  sah  er  häufig 
einen  gelinden  Anfall  von  Del.  trem.  sich  erzeugen,  aber 
nie  die  ganz  ausgebildetc  Krankheit.  W  ie  viel  spirituöses 
Getränk  täglich  der  Gesundheit  unbeschadet  genossen  wer¬ 
den  könne,  läfst  sich  im  Allgemeinen  wohl  nicht  bestim¬ 
men,  indem  dieses  jederzeit  von  der  Beizempfänglichkeit 
des  Individuums  abhängt.  Sonach  kann  das  Del.  trem.  aber 
auch  bei  Leuten  entstehen,  die  nie  betrunken  waren,  wenn 
sie  uur  fiir  ihre  (.onstitution  zu  viel  Spirituosa  genossen 


IV.  Säuferwahnsinn. 


35 


hatten.  Da  die  Krankheit  jeden  befallen  kann,  der  sich 
dem  Laster  der  Trunkenheit  hingiebt,  so  ist  es  sehr  wahr¬ 
scheinlich,  dafs  Alter,  Geschlecht  und  sonstige  Umstände 
an  sich  keinen  Einflufs  , auf  die  gröfsere  oder  geringere 
Disposition  zum  Del.  trern.  haben.  Im  Allgemeinen  ist  es 
also  besonders  die  grofse  Klasse  der  haudarbeiteuden  und 
grofsen  körperlichen  Anstrengungen  und  Strapatzen  unter¬ 
worfenen  Menschen,  z.  B.  Kuper,  Waarenauflader,  Zim¬ 
merleute,  Maurer,  überhaupt,  wie  B.  aus  Erfahrung  be¬ 
stätigt,  Menschen,  die  viel  in  freier  Luft  arbeiten,  die  sich 
dem  häufigen  Genüsse  spirituöser  Getränke  hingeben ,  unter 
denen  also  das  Del.  trem.  am  häufigsten  vorkommt.  Oft 
aber  wird  der  Ausbruch  der  Krankheit  auch  noch  durch 
anderweitige  occasionelle  Ursachen  bedingt,  wie  durch  Ge- 
müthsbewegungen ,  überhaupt  alle  Vorgänge,  welche  das 
Gleichgewicht  der  natürlichen  Functionen  stören,  so  auch 
durch  die  plötzliche  Untersagung  des  Branntweingenusses. 
Auch  einen  atmosphärischen  Einflufs  erkennt  B.  im  Gegen¬ 
sätze  zu  Göden  an,  indem  die  Krankheit  selten  isolirt  vor¬ 
kommt,  sondern  von  ihm  sowohl,  wie  von  andern  Aerzten, 
immer  mehrere  Fälle  gleichzeitig  beobachtet  worden,  eine 
Erfahrung,  die,  wenn  sie  sich  noch  anderwärts  bestätigen 
sollte,  allerdings  sehr  interessant  wäre,  indem  sie  den 
atmosphärischen  Einflufs  auf  eine  Krankheit  zeigte,  die  wir 
vermöge  ihrer  ursächlichen  Momente  beinahe  ganz  demsel¬ 
ben  entrückt  glauben  sollten.  Noch  interessanter  aber  ist 
es,  wenn  B.  bemerkt,  dafs  im  Allgemeinen  es  immer  die¬ 
selben  Extreme  in  den  Veränderungen  der  Atmosphäre  zu 
sein  schienen,  welche  bald  Apoplexieen  bei  dazu  Disponir- 
ten,  bald  aufserordentliche  Beängstigungen  bei  Hypochon- 
dristen  und  Hysterischen,  bald  die  periodische  Verschlim¬ 
merung  bei  Wahnsinnigen,  bald  den  Selbstmord  bei  Melan¬ 
cholischen  hervorbrächten,  also,  fügt  lief,  hinzu,  atmosphä¬ 
rische  Einflüsse,  wodurch  besonders  das  Kumpfnervensystem 
afficirt  wird.  Wäre  es  zu  gewagt,  diesen  Punkt  mit  be¬ 
nutzen  zu  wollen,  um  das  Del.  trem.  seinem  ersten  Ent- 

3  * 


36 


IV.  Säuferwahnsinn. 

stehen  nach  durch  diesen  Theil  des  Nervensystems  bedingt 
werden  zu  lassen,  da  ohnehin  die  vielfachsten  Gründe  diese 
Annahme  unterstützen? 

Lintheilung  der  Krankheit.  B.  unterscheidet  ein 
acutes  und  chronisches,  idiopathisches  und  symptomatisches, 
stbenisches  und  asthenisches  Delirium  tremens.  Zuerst  gicbl 
er  eine  genaue,  dem  Lehen  entnommene  Beschreibung  der 
idiopathischen  Krankheit,  und  gedenkt  dann  der  symptoma¬ 
tischen,  wie  sich  solche  oft  als  Symptom  zu  andern  krank¬ 
haften  Zuständen  hinzugcsellt.  Dals  in  folge  anderer  Krank¬ 
heiten  sich  ein  Del.  trem.  ausbilde,  hat  die  Erfahrung  ge¬ 
nugsam  gelehrt;  es  läfst  sich  indefs  doch  wohl  noch  in 
Zweifel  ziehen,  ob  der  von  B.  angegebene  Grund,  dafs  die 
Krankheit  dann  nämlich  in  Folge  der  durch  jene  Zustände 
herbeigeführten  Hirnreizung  entstände,  überall  der  richtige 
sei.  Bef.  scheint  es  vielmehr  glaublicher,  dafs  ein  Del. 
trem.  hei  der  Disposition  dazu  in  Folge  einer  andern  Krank¬ 
heit  sich  dann  ausbildcn  werde,  wenn  diese  mit  einem 
gröfseren  Blutverluste  verknüpft  war,  sei  es,  dafs  dieser 
durch  die  Krankheit  selbst  gesetzt  wird,  oder  dafs  er  Be¬ 
hufs  ihrer  Heilung  nüthig  ward.  Stegmann  (in  Horn ’s 
Archiv  1824.  Septemb.  Octoberst.  S.  196.)  hat  wohl  so 
gar  unrecht  nicht,  wenn  er  meint,  ein  Del.  trem.  factitium 
Lew ii kt  zu  haben,  nachdem  er  bei  einem  an  einer  Lungen¬ 
entzündung  darniederliegenden  Säufer  ein  Aderlafs  verord¬ 
net  hatte.  Aehnliche  fälle  sind  von  andern  mitgetheilt 
worden.  Mindestens  dürfte  von  dieser  Seite  her  eben  so 
oft  Anlafs  zur  Ausbildung  des  Del.  trem.  gegeben  werden, 
als  auf  dem  von  B.  angegebenen  Wege.  Den  Beweis  für 
seine  Aunahme  sucht  Bef.  in  seiner  Ansicht  über  das  We¬ 
sen  dieser  Krankheit,  worüber  er  sich  bei  einer  andern 
Gelegenheit  aussprechen  wird.  Mindestens  hat  B.  das  gegen 
sich,  da£j  eine  Ilirnreizung  durch  viele  Krankheitszustände, 
welch  e  n  ein  Del.  trem.  folgt,  gar  nicht  bedingt  ist. 

ISachdem  B.  somit  zuerst  im  Allgemeinen  die  Sympto¬ 
matologie  der  Krankheit  gegeben  hat,  schildert  er  ihren 


/ 


IV.  Säuferwahnsinn.  37 

Verlauf,  und  zwar  wie  dieser  nach  dem  sthenischen  oder 
asthenischen  Charakter  derselben  verschieden  ist.  Man  hat 
nämlich,  meint  er,  darin  besonders  gefehlt,  dafs,  je  nach¬ 
dem  einige  das  Del.  trem.  für  eine  Entzündung,  andere 
für  eine  Nervenkrankheit  hielten,  immer  einen  und  densel¬ 
ben  Charakter  dieser  Krankheit  zukommen  liefs,  ohne  doch 
zu  bedenken,  wie  oft  eine  und  dieselbe  Krankheit  einen 
verschiedenen  Charakter  haben  könne,  werde  dieser  nun 
durch  äufsere  oder  innere,  im  Individuum  liegende  Mo¬ 
mente  bestimmt.  B.  hat  sich  durch  diese  der  Erfahrung 
entnommene  Unterscheidung  unstreitig  ein  sehr  bedeutendes 
Verdienst  um  die  Behandlung  dieser  Krankheit  erworben. 
Die  von  ihm  entworfene  Schilderung  dieser  beiden  Formen 
auch  nur  im  Auszuge  mitzutheilen,  hält  Bef.  für  sehr  über- 
Ilüssig,  da  es  sich  leicht  von  selbst  abnehmen  läfst,  welche 
Modificationen  in  den  Erscheinungen  das  Del.  trem.  durch 
den  sthenischen  oder  asthenischen  Charakter  erleiden  müsse. 
Ob  die  Bezeichnung,  welche  B.  für  diese  beiden  Formen 
der  Krankheit  gewählt  hat,  die  passendste  sei,  will  R.ef. 
dahingestellt  sein  lassen;  gewünscht  aber  hätte  er  wohl, 
dafs  der  Verf.  nachgewiesen  hätte,  dafs  das  Del.  trem.  seiner 
Natur  nach  diesen  doppelten  Charakter  annehmen  könne. 
Es  hätte  nämlich  gezeigt  werden  müssen,  wie  und  durch 
welche  Umstände  der  ursprünglich  an  und  für  sich 
asthenische  Charakter  der  Krankheit  (damit  Bef.  bei  dem 
Ausdrucke  des  Verfassers  bleibe)  vermöge  einer  durch  die 
Natur  des  Uebels  zwar  gesetzten,  aber  nicht  nothwendig 
von  ihr  ausgehenden,  sondern  erst  durch  Mitwirkung  an¬ 
derer  Momente  entstehenden  Erregung  des  Blutgefäfssystems 
ein  sthenischer  werden,  oder  auch  gleich  von  Anfang  an 
als  solcher  hervortreten  könne.  Dafs  nämlich  auch  bei  der 
reinsthenischen ,  mit  einein  erregten  Zustande  des  Blutge¬ 
fäfssystems  auftretenden  Form  eine  gesunkene  Thätigkeit 
des  sensibeln  Systems  da  sei,  erkennt  B.  wohl  genügend 
an,  indem  er  iheils  die  Anwendung  der  eigentlichen  anti¬ 
phlogistischen  Heilmethode  sehr  beschränkt,  theils  auch  wohl 


38 


I\ .  Säuferwahnsinn. 


erkannt  hat,  dafs  durch  sie  allein  Heilung  nie  und  unter 
keinen  l  mständen  erfolge,  dafs  ihrer  unvorsichtigen  An¬ 
wendung  nur  ein  um  so  gefährlicherer  Collapsus  folge.  — 
Den  Beschlufs  dieses  Abschnitts  macht  B.  mit  der  Erwäh¬ 
nung  des  chronischen  Del.  trem.  Aufser  andern  Aerzten 
haL  auch  er  nämlich  beobachtet,  dafs  diese  Krankheit  eine 
chronische  Form  annehmen  könne.  In  einem  von  ihm  be¬ 
obachteten  Falle  währte  sie  drei  Monate.  Der  Ausgang  ist 
alsdann  ein  dreifacher,  in  Genesung,  Tod  oder  (wahre) 
Manie,  welche  letztere  B.  öfters  beobachtet  hat. 

Prognose.  Sie  ist  im  Ganzen  unsicher  und  schlecht; 
ein  Ausspruch,  in  welchem  dem  Yerf. ,  aufser  Göden, 
welcher  die  Krankheit  für  ohne  alle  Bedeutung  hält,  wohl 
die  meisten  Aerzte,  welche  sie  zu  behandeln  Gelegenheit 
hatten,  beistimmen  werden.  Den  ersten  Anfall  der  ganz 
ausgebildeten,  nicht  im  Stadium  prodromorum  oft  von  selbst 
umkehrenden  Krankheit  hält  B.  für  schlimmer,  als  die  fol¬ 
genden  Anfälle,  weil  er  oft  mit  entzündlichen  Zustän¬ 
den  des  Gehirns  verbunden  ist.  Günstiger  ist  die  Prognose 
für  die  sthemsche,  als  für  die  asthenische  Form.  Daher 
sind  aber  auch  die  späteren  Anfälle,  welche  immer  mehr 
und  mehr  die  letztere  Form  annehmen,  gefährlicher.  Un¬ 
ter  den  einzelnen  von  B.  aufgeführten  mifslichcn  Zeichen 
vernüfst  Kef.  das  Hinzutreten  von  Respirationsbeschwerden, 
wie  dieses  namentlich  öfters  bei  der  asthenischen  Form  der 
Fall  ist.  YVird  die  Stimme  heiser,  tritt  eine  unterbrochene, 
röchelnde  Respiration  ein,  so  sah  Ref.  die  Krankheit  immer 
tödtlich  endigen. 

Diag  nose.  B.  gedenkt  hier  besonders  der  Unter¬ 
scheidung  des  Del.  trem.  von  ciitcr  acuten  Hirnentzündung, 
und  führt  die  unterscheidenden  Merkmale  auf.  Späterhin 
erwähnt  er  nur,  wie  die  Krankheit  auch  wohl  mit  der 
Phrenitis  (T),  dem  Nervenficber  und  der  ächten  Manie  ver¬ 
wechselt  werden  könne,  glaubt  aber,  dafs  man  sie  nach 
ihrem  Totalbabitus  mit  leichter  Mühe  von  diesen  Krankhei¬ 
ten  unterscheiden  könne.  Ref.  schien  von  jeher  die  Unter- 


IV.  Säuferwahnsinn. 


39 


Scheidung  der  Krankheit  von  wahrer  Gehirnentzündung 
keiner  besondern  Schwierigkeit  unterworfen,  er  halt  aber 
eine  Verwechselung  mit  mehreren  Arten  des  Nervenfiebers 
fiir  um  so  leichter,  weshalb  er  wohl  gewünscht,  dals  B. 
das  Del.  trem.  von  dieser  Krankheit  genauer  unterschieden 
hätte.  Ihm  scheinen  einige  Arten  desselben  beinahe  auf 
gleichen  Verstimmungen  des  Organismus  zu  beruhen,  wie 
das  Del.  trem.,  und  dieses  von  jenen  nur  dadurch  unter¬ 
schieden  zu  sein,  dafs  immer  eine  und  dieselbe  Ursache, 
der  Mifsbrauch  spirituöser  Getränke,  jene  Verstimmungen 
begründet.  In  dieser  Ueberzcugung  nannte  Hufeland  die 
Krankheit  auch  wohl  Febris  potatorum  nervosa. 

In  der  nun  folgenden  Epicrise  theilt  B.  seine  Ansicht 
über  das  Wesen  des  Del.  trem.  mit.  Vorher  giebt  er  aber 
noch  in  vortrefflichen  Bemerkungen  die  Resultate  der  von 
ihm  angestellten  Leichenöffnungen,  da  er  zum  Theil  auf 
diese  seine  Ansicht  stützt.  Kr  bemerkt  zuerst  mit  vollem 
Rechte,  dafs  man  bis  dahin  immer  ganz  falsch  die  bei  der 
Section  gefundenen  pathologischen  Veränderungen  im  Ge¬ 
hirn  auf  den  letzten  Krankheitszustand  bezogen  habe,  da 
man  sie  doch  offenbar  hätte  unterscheiden  müssen  in  Pro¬ 
dukte  einer  frühem  Reizung  des  Gehirns,  bedingt  durch 
die  oft  wiederholte  Einwirkung  spirituöser  Getränke,  und 
in  solche,  welche  durch  die  letzte  Krankheit,  das  Del.  trem. 
selbst,  erst  gesetzt  wurden.  Die  Structurveränderungen, 
welche  B.  im  Gehirne  fand,  waren  zwar  nie  dieselben,  wa¬ 
ren  namentlich  verschieden,  je  nachdem  die  Krankheit  emen 
sthenischen  oder  asthenischen  Charakter  gehabt  hatte,  indefs 
zeigten  sich  doch  nie,  nur  mit  Ausnahme  eines  einzigen 
Falles,  Spuren  wahrer  Gehirnentzündung  (wie  denn  aller¬ 
dings  wohl  die  durch  das  Del.  trem.  gesetzte  Erregung  des 
Gehirns  bis  zur  Entzündung  dieses  Organs  gesteigert  wer¬ 
den  kann,  ohne  dafs  das  Del.  trem.  deshalb  eine  Gehirn¬ 
entzündung  ist);  es  waren  immer  mehr,  wie  solches 
auch  schon  Armstrong  bemerkt  hat,  Zeichen  venöser 
Congestion.  Dafs  auch  im  Rückenmarks  -  und  Rumpfnerven- 


40 


IV.  Säuferwahnsinn. 


\ 


Systeme  ähnliche  Veränderungen,  wie  im  Gehirne,  sich  vor¬ 
finden  werden,  glaubt  B.  zwar,  ohne  jedoch  deren  Existenz 
nachgewiesen  zu  haben.  Aus  den  Resultaten  der  Leichen¬ 
öffnungen  ulld  den  Erscheinungen  der  Krankheit  schliefst  1». 
nun,  dafs  das  Wesen  des  Del.  trem.  in  einem  ursprüng¬ 
lichen  Ergriffensein  des  ganzen  Nervensystems',  und  insbe¬ 
sondere  des  Gehirns  bestehe,  ohne  jedoch  näher  die  Art 
und  W  eise  desselben  angeben  zu  können.  Dafs  das  Gehirn 
in  dieser  Krankheit  leide,  ist  wohl  noch  von  niemandem 
bezweifelt  worden,  es  ist  auch  ferner  wohl  ausgemacht, 
und  durch  Göden  und  Ra rk  hausen  bis  zur  völligen 
Evidenz  Bachgewiesen,  dafs  dieses  Leiden  kein  entzündliches 
sei,  cs  entstände  also  jetzt  besonders  und  zunächst  die 
Frage  —  da  auch  B.  ein  Ergriffensein  des  ganzen  Nerven¬ 
systems  anerkennt,  wie  dieses  denn  auch  wohl  von  denen 
geschehen  ist,  welche  die  Krankheit  als  im  Plexus  solaris 
begründet  ansahen,  wie  von  Töpken,  Fahren  hörst, 
Göden  —  wie  das  Gehirn  im  Del.  trem.  erkrankt  sei, 
ob  idiopathisch  oder  secundär  erst  in  den  Krankheitsprozefs 
hineingezogen  durch  eine  frühere  Affection  des  Rumpfner¬ 
vensystems;’  Leichenöffnungen  werden  freilich  darüber  nie 
entscheiden  können,  sie  können  höchstens,  was  einerseits 
schon  geschehen  ist,  Structurveränderungcn  im  Gehirne  und 
Rumpfnervensysteme  nachweisen.  Es  bleiben  also  nach  Ref.’s 
Ansicht  nur  zwrei  Momente  übrig,  um  eine  Entscheidung 
des  streitigen  Punktes  zu  erhalten:  eine  Beachtung  der 
Krankheitszeichen,  wie  sie  sich  in  der  Zeitfolge  entwickeln, 
und  ganz  besonders  eine  Würdigung  des  Einflusses,  welchen 
ein  anhaltend  fortgesetzter  Gebrauch  spirituösef  Getränke 
auf  den  Körper  ausobt.  Einen  Nebengrund  für  die  Ent¬ 
scheidung  würde  auch  wohl  noch  eine  Prüfung  der  durch 
die  Erfahrung  bestätigten,  zw-eckmifsigen  Behandlung  die¬ 
ser  Krankheit  abgeben,  indem  diese  gewifs  verschieden  sein 
mufs,  je  nachdem  das  Gehirn  oder  das  Gangliensystem  der 
ursprüngliche  Heerd  der  Krankheit  ist.  Alle^diese  Momente 
dürften  aber  doch  wohl  für  eine  frühere  Affection  des 


IV.  Säuferwahnsinn. 


41 


Gangliensystems  sprechen,  mag  auch  das  Gehirn  immerhin, 
ist  es  erst  einmal  in  den  Krankheitsprozcls  mit  verwickelt, 
überwiegend  ergriffen  scheinen,  wie  denn  auch  natürlicher¬ 
weise  ein  Ergriffensein  des  Gehirns  sich  klarer  und  be¬ 
stimmter  in  der  Erscheinung  aussprechen  wird,  als  ein 
Leiden  des  Gangliensystems.  Wie  aber  jene  Momente  die 
vom  Ref.  ausgesprochene  Ansicht  zu  begründen  im  Stande 
sind,  kann  er  hier  nicht  auseinandersetzen,  sondern  erspart 
sich  dieses  auf  eine  andere  Gelegenheit.  Dafs  übrigens  die 
Gödensche  Ansicht  wenig  für  sich  habe,  dafs  sich  Gö¬ 
den,  um  solche  zu  schützen,  der  auffallendsen  Behauptun¬ 
gen  über  die  Wirkung  des  Opiums  und  anderer  Mittel  be¬ 
dienen  mufste,  hat  Ref.  schon  bei  der  Beurtheilung  seiner 
Schrift  bemerkt. 

Therapeutik.  Zuerst  bemerkt  B.  däfs  nicht  ganz 
selten,  besonders  wenn  die  Anfälle  der  Krankheit  gelinde 
sind,  die  Natur  nach  kürzerer  oder  längerer  Dauer  von 
seihst  Hülfe  schafft,  indem  sie  einen  wohlthätigen  Schlaf 
und  damit  Genesung  herbeiführt.  Einen  ganz  hierher  ge¬ 
hörigen  Fall  hat  Ref.  selbst  beobachtet,  und  dessen  schon 
in  diesen  Annalen  Bd.  IX.  S.  192  gedacht.  Was  nun  aber 
die  Behandlung  selbst  anbelangt,  so  bemerkt  B.  zuerst,  dafs 
diese  Krankheit  ganz  vorzüglich  einer  angemessenen  psychi¬ 
schen  und  moralischen  Behandlung  bedürfe.  Zwangsmittel 
aller  und  jeder  Art  bringen  im  Kranken  nur  eine  gröfsere 
Aufregung  hervor,  und  können  somit  selbst  Convulsionen 
und  Apoplexie  zur  Folge  haben;  dagegen  ist  ein  consequeri- 
tes,  ernsthaftes  und  zugleich  freundliches  Benehmen  gegen 
ihn  nothwendig,  um  ihn  einigermaafsen  zu  regieren.  Auch 
zwinge  man  die  Kranken  nicht,  sich  zu  Bette  zu  legen, 
sondern  lasse  sie  frei  im  Zimmer,  oder  auch,  wenn  sie 
mögen,  aufser  demselben  unter  Begleitung  herumgehen. 
So  weit  die  allgemeine  Behandlung.  In  Betreff  der  spe- 
ciellen  gedenkt  B.  zuerst  des  sthenischen  Del.  trem.  Nach 
einem  Excurs  über  die  Nachtheile,  welche  die  grofsen  Do¬ 
sen  Opium  in  dieser  Krankheit,  wenn  man  nicht  die  Form 


42 


IV.  Säuferwahnsinn. 


derselben  genau  berücksichtigte,  gebracht  haben,  stellt  B. 
für  die  Behandlung  dieser  Form  folgende  lndication  auf*- 
Beruhigung  des  höchst  aufgeregten  Nervensystems ,  jedoch 
auch  gleichzeitige  Besänftigung  der  Stürme  im  Blutgefäfs- 
systeme,  namentlich  Ableitung  der  Congestionen  vom  Ge¬ 
hirne.  Zu  dem  Ende  sind  angezeigt:  Antiphlogistica,  die 
indefs,  indem  sie  nur  einen  Theil  der  aufgestellten  Indica- 
tion  erfüllen,  selten  die  Heilung  allein  bewirken.  Allge¬ 
meine  Blutentlecrungen  können  in  einzelnen  Fällen  wohl 
angezeigt  sein,  doch  wende  man  sie  nie  an,  wo  man  den 
nach  ihnen  einlretenden  Uollapsus  zu  fürchten  hat.  Eben 
so  erfordern  auch  örtliche  Blutentlecrungen  Vorsicht.  Ab¬ 
führende  Mittel  zeigten  sich  besonders  in  den  Fällen  nütz¬ 
lich,  in  welchen  sich  die  Krankheit  lange  im  Stad,  prodro- 
morum  hielt,  und  mit  Neigung  zu  Obstruetionen  und  sehr 
belegter  Zunge  verbunden  war.  Ungleich  weniger  wirksam 
waren  blofs  kühlende  Salze,  wie  Salmiak  und  Salpeter. 
Hatte  sich  die  Krankheit  noch  nicht  völlig  ausgebildet,  und 
sprach  sie  sich  noch  mehr  als  erethischer  Zustand  des  Blut- 
gefäfssystems  aus,  so  fand  B.  Säuren,  und  namentlich  das 
Elix.  acid.  Haller,  sehr  passend.  Das  Hauptmittel  aber 
für  die  sthenische  Form  der  Krankheit  besteht  nach  ihm  in 
dem  Brecbwcinstein ,  den  er,  wenn  Zeichen  von  Unreinig¬ 
keiten  in  den  ersten  Wegen  vorhanden  sind,  zuerst  als 
wirkliches  Brechmittel,  späterhin  aber  von  5  bis  20  Gran 
in  fünf  Unzen  Wasser  aufgelöst  ein-  bis  zweistündlich  zu 
einem  Efslöffel  reichen  liefs.  War  der  auf  diese  Weise 
herbeigeführte  Schlaf  nicht  anhaltend  genug,  so  liefs  er 
gegen  Abend  noch  einige  Grane  Doverscheu  Pulvers  neh¬ 
men;  erregte  das  Mittel  gleichzeitig  übermäfsige  Stuhlgänge, 
so  setzte  er  einige  Tropfen  Tinct.  Thebaic.  zu.  Nach  dem 
Erwachen  liefs  er  den  Tart.  slibiat.  in  geringerer  Gabe  und 
längeren  Zwischenräumen  noch  eine  Zeitlang  forthrauchen. 
Indefs  empfiehlt  B.  doch  Vorsicht  bei  der  Anwendung  des 
Brechweinsteins  in  starken  Dosen,  indem  derselbe  in  eini¬ 
gen  Fällen  Entzündung  der  Kachcnschleimhaut  und  selbst 


1Y.  Säuferwahnsinn. 


43 


kleine  Pusteln  hervorbrachte,  und  er  wohl  mit  Recht  eine 
äh  ul  iche  Einwirkung  auf  die  Schleimhaut  des  Magens  und 
dadurch  entstehende  Exulceration  desselben  befürchtet.  Nie 
versäumte  B.  bei  irgend  bedeutenden  Congestionen  nach 
dem  Kopfe  kalte  Umschläge,  gewifs  das  Mittel,  welches 
ohne  sonst  ir/rendwie  zu  schaden,  die  bei  der  sthenischen 
Form  des  Del.  trem.  zu  befürchtenden  Congestionen  am 
besten  beseitigt  und  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  mit 
einer  schädlichen  Nebenwirkung  verbundenen  Blutauslee¬ 
rungen  entbehrlich  macht. 

Eine  andere  Indication  hingegen  ist  bei  der  asthenischen 
Form  des  Del.  trem.  zu  stellen:  sie  besteht  hier  in  Herab¬ 
stimmung  der  übermäfsigen  Aufregung  des  Nervensystems 
durch  Mittel,  welche  auf  den  übrigen  Organismus  nicht 
schwächend  einwirken,  sondern  ihm  vielmehr  ein  gewohn¬ 
tes  Reizmittel  einigermaafsen  ersetzen.  (Der  Widerspruch, 
welchen  diese  Indication  enthält,  ist  wohl  nur  ein  schein¬ 
barer,  also  sapienti  satl)  Dieser  Indication  entspricht  am 
besten  das  Opium ,  das  B.  jedoch  nicht  in  .gröfserer  Dose, 
als  zu  einem  halben  Grane  zweistündlich  angewandt  wissen 
will.  Aufser  dem  Opium  bewiesen  sich  ihm  noch  in  den 
geeigneten  Fällen  Campher  und  das  flüchtige  Ammonium 
nützlich.  Den  Moschus  hält  er  beim  einfachen  Del.  trem. 
vielleicht  mit  Unrecht  für  entbehrlich,  indem  es  allerdings 
Fälle  giebt,  wo  nur  noch  von  den  stärksten  Erregungsmit¬ 
teln  des  sensibeln  Systems  etwas  zu  erwarten  steht.  Ar- 
nica,  Valeriana  und  Serpentaria  wandte  er  nach  dem  Vor¬ 
gänge  Lind’s,  Göden’s,  Brandt’s  u.  a.  als  Adjuvantia 
an,  ohne  jedoch  einen  deutlichen  Nutzen  davon  zu  sehen. 
Vortheilhaft  schienen  sie  ihm  in  Verbindung  mit  Mineral¬ 
säuren  in  Fällen  zu  sein,  wo  die  Krankheit  mehr  den  Oha- 
racter  eines  nervösen  Fiebers  angenommen  hatte.  Eine 
kurze  Würdigung  der  aufserdem  noch  von  andern  Aerzten 
gegen  diese  Krankheit  empfohlenen,  gewifs  aber  sehr  ent¬ 
behrlichen  Mittel,  z.  B.  der  Digitalis,  macht  den  Beschlufs 
dieses  Kapitels.  Gewünscht  hätte  Ref.  wohl  noch,  dafs  ß. 


44 


V.  Chronische  Krankheiten. 


etwas  über  die  Nachbehandlung  der  Krankheit  gesagt  hätte, 
denn  es  genügt  wohl  nicht  immer  den  Tart.  stibiat.  oder 
das  Opium  je  nach  Verschiedenheit  der  Form  noch  eine 
Zeitlang  fortzugebrn.  Ref.  scheint  es,  dafs  man  erst  dann 
die  Behandlung  als  beendet  ansehen  könne  und  die  baldige 
Erneuerung  eines  Anfalles  nicht  fürchten  dürfe,  wenn  die 
Functionen  der  Digestion  und  Assimilation  wiederum  ge¬ 
ordnet  sind.  So  lange  dieses  noch  nicht  geschehen  ist,  wird 
die  Anwendung  von  Amaris  nöthig  sein,  unter  welchen 
besonders  die  stärkeren,  das  Blutgefäfssystein  mehr  erre¬ 
genden  vorzuziehen  sein  dürften. 

Den  zweiten  Theil  dieses  höchst  schätzbaren  Werkes 
macht  die  Mittheilung  von  25  Krankheitsgeschichten  aus, 
unter  denen  B.  absichtlich  mehr  unglücklich  abgelaufene 
Fälle  mittheilt.  Sie  sind  sämmtlich  sehr  gut  erzählt,  und 
ein  dankenswerter  Reitrag  zur  Casuistik  dieser  Krankheit. 
Ref.  schliefst  mit  dem  Wunsche,  dafs  der  geehrte  Verf. 
bald  Mufse  gewinnen  möge,  seine  schon  seit  längerer  Zeit 
versprochene  Monographie  über  Phlegmasia  alba  dolens  dem 
ärztlichen  Publikum  zu  übergeben.  Möge  es  ihm  gelingen 
auch  über  di^e  in  ihrer  Natur,  wie  in  ihrer  Behandlung 
noch  immer  sehr  dunkele  Krankheit  ein  helleres  Eicht  zu 
verbreiten. 

G.  II.  liieht er. 


v. 

Uebcr  die  Natur  und  Heilung  einiger  chro¬ 
nischen  Krankheiten.  Von  Dr.  Heinrich 
II offmann,  Stabsmedicus.  (Auch  unter  dem  Uin- 
schlagstitel:  Zur  Heilkunst.  Nr.  1.)  Darmstadt 
und  Leipzig,  Druck  und  Verlag  von  C.  W.  Leske. 

.1828.  8.  235  S.  (20  Gr.) 

Nachdem  es  dem  Ref.  erst  einmal  cinigermaafsen  ge¬ 
lungen  war,  sich  mit  der  ungefälligen,  zum  Theil  schwer 


V.  Chronische  Krankheiten. 


45 


verständlichen  Sprache,  in  welcher  dieses  Luch  geschrieben 
ist,  vertraut  zu  machen,  so  hat  er  es  mit  vielem  Interesse 
durchgelesen,  und  manche  Belehrung  darin  gefunden.  Altes 
und  Neues,  vorzüglich  die  neueren,  auf  pathologische  Ana¬ 
tomie  sich  beziehenden  Untersuchungen  benutzend,  stellt 
der  Verfasser  Betrachtungen  über  die  Natur  und  die  dem- 
gemäfs  einzuleitende  Behandlung  einiger  chronischen  Krank¬ 
heiten  auf,  welche  der  Berücksichtigung  sehr  werth  sind. 
Wie  sehr  es  auch  wohl  erkannt  ist,  dafs  dieses  gerade  der 
einzige  Weg  ist,  auf  welchem  die  Heilkunde  wissenschaft¬ 
lich  begründet  werden  kann,  so  müssen  wir  doch  beken¬ 
nen,  dafs  noch  immer  eine  grofse  Kluft  zwischen  der  Ana¬ 
tomie  und  Physiologie  einerseits  und  der  praktischen  Heil¬ 
kunde  andererseits  existirt,  und  dafs  die  Aerzte  nur  spät 
erst  eine  Anwendung  anatomischer  und  physiologischer  Ent¬ 
deckungen  auf  die  praktische  Medicin  machen.  Um  so  dank¬ 
barer  müssen  wir  aber  auch  jeden  Versuch ,  welcher  von 
diesem  Standpunkte  aus  unternommen  wird,  annehmen. 

In  einer  Einleitung  schickt  der  Verf.  Bemerkungen  über 
die  Krankheiten  der  Nieren  überhaupt  voraus,  und  beklagt, 
dafs  die  Krankheiten  dieser  Organe  nur  zu  wenig  von  den 
Aerzten  zum  Gegenstände  ihrer  Untersuchung  gemacht 
worden,  weshalb  sie  auch  noch  dunkler  denn  die  anderen 
Organe  seien.’  Wenn  der  erste  Theil  dieser  Behauptung 
auch  wohl  nicht  vollkommen  wahr  ist,  indem  gerade  diese 
Krankheiten  vielfältig  bearbeitet  worden,  schon  zu  Zeiten, 
welchen  den  Krankheiten  anderer  Organe,  z.  B.  des  Ge¬ 
hirns,  des  Herzens  eine  ungleich  geringere  Aufmerksamkeit 
geschenkt  ward,  so  gilt  es  allerdings,  dafs  die  Diagnostik 
der  Nierenkrankheiten  recht  sehr  schwierig  ist.  Dazu  dürf¬ 
ten  aber  wohl  vor  allem  besonders  die  Gründe  beitragen, 
welche  der<Verf.  denn  auch  anführt,  dafs  kein  Organ  unter 
so  mannigfaltigen  Abweichungen  seiner  Gestalt  hervortritt, 
dafs  selbst  bei  Krankheiten  dieser  Organe  ihre  Function 
gleichwohl  noch  regelmäfsig  von  statten  geht,  oder  dafs 
auch  wohl  andere  Organe  die  Function  derselben  über- 


V.  Chronische  Krankheiten. 


46 

nehmen.  Aus  diesen  Gründen  kam  es  besonders,  dafs  wie 
wir  auch  durch  die  pathologische  Anatomie  mit  den  krank¬ 
haften  V  eränderungen  dieser  Organe  bekannter  wurden,  die 
Behandlung  dieser  Zustände  gleichwohl  kaum  auf  irgend 
eine  AVeise  gefördert  wurde,  wie  solches  der  Verf.  nament¬ 
lich  von  der  Nierenvereiterung  zeigt.  ln  solcher  Erwägung 
glaubte  der  Verf.  um  so  mehr  seine  über  einige  Krankhei¬ 
ten  der  Nieren  gemachten  Erfahrungen  dem  ärztlichen 
Publikum  nicht  vorenthalten  zu  dürfen.  Er  beginnt  nach 
dieser  Einleitung  mit  der 

Blennorrhoea  renalis.  Was  zuerst  die  Erschei¬ 
nungen  dieser,  wenn  lief,  nicht  irrt,  bis  dahin  nur  höchst 
beiläufig  und  meistens  in  Verbindung  mit  dem  Blasencatarrh 
beschriebenen  Krankheit  anlangt,  so  hebt  der  Verf.  beson¬ 
ders  folgende  hervor:  Zu  den  ersten  und  beständigsten  ge¬ 
hört  ein  schleimiger  Urin,  der  ungeachtet  eines  Bodensatzes 
nicht  vollkommen  klar  wird.  Unter  Erscheinungen  eines 
rnitergriffenen  Venensystems  und  Neigung  zu  Schweiisen 
wird  die  Aussonderung  des  Urins  behindert  und  vermindert. 
Gleichzeitig  klagen  die  Kranken  über  Druck  und  Spannung 
in  der  Nieren-  und  der  Eumbargegend  überhaupt.  Die 
schmerzhaften  Empfindungen  verbreiten  sich  dem  Eaufe  der 
Ureteren  entlang  bis  zu  den  Schenkeln  hinab,  in  welchen 
sie  ein  Ziehen  mit  Gefühl  von  Kälte  veranlassen.  Noch 
deutlicher  äufsert  sich  der  Nierencatarrh,  wenn,  was  nicht 
selten  geschieht,  dieses  Beiden  mit  anderen  catarrhalischen 
Beschwerden  im  Organismus,  namentlich  mit  Husten  und 
Schnupfen  abwechselt.  Oft  aber  wird  auch  der  Magen 
cousensuell  afficirt,  wodurch  das  ursprüngliche  Nierenleiden 
in  den  Hintergrund  tritt  und  die  Diagnose  erschwert  wird. 
Dieses  sympathische  Beiden  des  Magens  spricht  sich  beim 
Nierencatarrh  durch  eine  belästigende  Unordnung  in  dem 
Verdauungsgeschäfte  aus,  die  sich  ganz  vorzüglich  dadurch 
äufsert,  dafs  der  Kranke  häufig  ein  Gefühl  von  Schwäche 
und  Beere  in  der  Magengegend  empfindet,  wodurch  sich 
dann  eine  Elatuientia  convulsiva  ausbildet.  Dieser  Nieren- 


V.  Chronische  Krankheiten. 


47 


catarrli  beruht  auf  einer  krankhaft  gesteigerten  Absonderung 
der  Schleimhaut,  die  aber  nicht,  wie  dieses  in  Folge  von 
Entzündung  derselben  geschieht,  aufgelockert  ist,  sondern 
ihr  natürliches  Verhalten  beobachtet,  wohingegen  in  dein 
Umfange  des  erkrankten  Organs  ein  Zustand  von  Congestion 
besteht,  so  dafs  sich  die  venösen  Gefäfse  aufgetrieben  und 
überfüllt  darstellen.  Als  das  eigentliche  Wesen  dieser,  so 
wie  analoger,  Krankheiten  erkennt  der  Verf.  eine  Störung 
der  Reproductionskraft  im  Venen-  und  Lymphgefäfssysteme 
an.  Es  ist  demnach  in  dieser  Krankheit  die  Aufgabe  ge¬ 
stellt,  die  Reproductionskraft  des  Schleimsystems  wiederum 
in  Thätigkeit  zu  versetzen,  und  das  venöse  System  gleich¬ 
falls  in  seiner  Function  wieder  zu  beleben.  Als  die  diesem 
Zwecke  entsprechenden  Mittel  nennt  der  Verf.  besonders 
die  Fol.  uvae  ursi,  die  er  anfangs  den  Kranken  in  Form 
eines  Thee’s,  nachher  als  Pulver  reicht,  demnächst  den  Lichen 
island.  mit  Säuren.  Aufserdem  mufs  die  Diät  des  Kranken 
genau  berücksichtigt  werden,  worüber  sich  der  Verf.  aus¬ 
führlich  ausläfst.  —  Ref.  hätte  wohl  gewünscht,  dafs  der 
Verf.  den  Nierencatarrh  von  dem  Blasencatarrh  durch  be¬ 
stimmtere  Zeichen  unterschieden  hätte.  Ob  eine  solche 
Sonderung,  mindestens  für  das  ärztliche  Heilverfahren ,  von 
Nutzen  sei,  mag  er  nicht  untersuchen,  nur  hätte  sie,  da  sie 
einmal  unternommen  worden,  auch  durchgeführt  werden 
sollen;  denn  die  vom  Verf.  aufgestellten  Zeichen  des  Nie- 
rencatarrhs  dürften  diesen  keinesweges  vom  Blasencatarrhe  in 
specie  unterscheiden,  worunter  man  aber  freilich  wohl  bis 
dahin  den  Nierencatarrh  mit  begriffen  hat. 

Haemorr hoea  renalis.  Der  Verf.  versteht  hier 
unter  Blutharnen  ein  rein  idiopathisches,  durch  innere  Ur¬ 
sachen  bedingtes  Leiden,  und  zwar  in  der  Art,  dafs  die 
Venen  aus  Mangel  an  organischer  Thätigkeit  das  von  den 
Arterien  ihnen  zugeführte  Blut  nicht  aufnehmen,  solches 
mithin  durch  die  Haargefäfse  in  die  Bellinischen  Gefälse 
übergeht  und  sich  so  dem  LTine  mittheilt.  Belebung  des 
Venensystems  durch  Mineralsäuren  oder  auch  in  dringenden 


48  V.  Chronische  Krankheiten. 

Fällen  durch  topische  Blutauslcerungen,  leitet  das  "N  erfah¬ 
ren  des  Arztes.  Immer  aber  hat  man  darauf  zu  sehen,  dafs 
sich  nicht  wegen  des  durch  diese  Krankheit  gegebenen  Con- 
gestionszustandes  in  den  Nieren  eine  Entzündung  derselben 
ausbilde.  Ein  anderes  Moment,  auf  welches  der  ^  erf.  auf¬ 
merksam  macht,  besteht  darin,  dafs  eben  vermöge  der  ln- 
gleichmäfsigkeit,  welche  durch  diese  Krankheit  sich  über 
den  ganzen  Kreislauf  verbreitet,  Congestionen  nach  anderen 
Theilen  sich  ausbilden,  unter  denen  besonders  die  nach  den 
Brustorganen  von  Bedeutung  sind. 

Phthisis  renalis.  Zuerst  bemerkt  der  Verf. ,  dafs 
cs  wohl  auch^in  den  Nieren  eine  doppelte  Art  von  Schwind¬ 
sucht  geben  möge,  eine  schleimige,  und  eine  eiterige.  Die 
erstere  würde  sich  aus  der  Blennorrhoe  der  Lungen  aus¬ 
bilden,  aber  wohl  wegen  des  Gefäfsrcichthums  der  Nieren 
früher  in  die  eiterige  übergehen,  als  heetisches  Fieber  hin- 
zutreten  und  sonach  eine  eigentliche  Schwindsucht  sich  aus¬ 
bilden  könne.  Demnächst  weist  der  Verf.  andere  krankhafte 
Zustände  in  den  Nieren  nach,  wodurch  Eiter  mit  dem  Urine 
entleert  wird,  ohne  dafs  gleichwohl  wahre  Nierenschwind¬ 
sucht  da  wäre,  indem  nämlich  die  innere  Schleimhaut  der 
Nieren  im  Zustande  von  venöser  Aufreizung  statt  Schlei¬ 
mes,  Eiter  zu  erzeugen  im  Stande  wäre,  wobei  jedoch  die 
Structur  des  Organs  seihst  unverletzt  bleibe.  Die  eigent¬ 
liche  Nierenschwindsucht  bildet  sich  nach  dem  Verf.  immer 
aus  einem  Nierenabscesse  aus,  so  dafs  also  zuerst  immer 
Zeichen  einer  Nephritis  vorausgehen.  Einer  durch  Tuber- 
kelmassc  sich  ausbildenden  Schwindsucht,  die  gewifs  auch 
in  den  Nieren  vorkommt,  gedenkt  der  Verf.  nicht.  Be¬ 
ginnt  eine  Eiterung  in  den  Nieren,  so  bemerkt  man  zuvör¬ 
derst  eine  zunehmende  Störung  in  den  Verdauungsorganen, 
die  Kranken  bekommen  eine  eigene  Gesichtsfarbe,  die  bei¬ 
nahe  denen,  welche  an  einer  Krankheit  der  Leber  leiden, 
ähnlich  ist..  Eine  früher  schon  vorhandene  Betäubung  in 
den  Schenkeln  verbreitet  sich  zuerst  über  die  untern  Extre¬ 
mitäten  ,  nach  dem  Gesäfse,  den  Iloden,  steigt  selbst  bis  zu 

den 


V.  Chronische  Krankheiten. 


49 


den  oberen  Extremitäten  hinauf,  so  dafs  die  Kranken  zu 
jeder  Bewegung  unfähig  werden.  Dahei  besteht  eine  aufser- 
ordentllche  Empfindlichkeit  in  den  leidenden  Theilen.  Höchst 
profuse  Schweifse  haben  einen  widrigen  Geruch,  der,  wie 
ein  Kranker  bemerkte,  dem  der  Mäuse  ähnlich  war.  Sei¬ 
tenlage  vermehrt  die  Schmerzen  in  der  Nierengegend.  Im 
Urine  schlägt  sich  ein ,  weifsen  Eiter  enthaltender  Boden¬ 
satz  nieder,  so  dafs  der  überstehende  Harn  durchaus  hell 
7  * 

ist,  und  in  seltenen  Fällen  nur  weifslicbe  Flecken,  die  so¬ 
genannten  Carunculae  renales  in  ihm  herumschwimmen. 
Was  die  Behandlung  der  Nierenschwindsucht  anlangt,  so 
stellte  sich  der  Verf.  zuerst  die  Aufgabe,  das  Venensystem 
in  eine  regere  Thätigkeit  zu  versetzen,  indeil!  nach  seiner 
Ansicht  die  Abscefsbildung  in  den  Nieren  besonders  durch 
eine  gehemmte  Thätigkeit  in  diesem  Systeme  erfolgt.  Mine¬ 
ralsäuren  in  einem  Aufgusse  der  Digitalis,  oder  Fol.  uvae 
ursi,  leisteten  ihm  in  dieser  Hinsicht  immer  die  trefflichsten 
Dienste.  Eine  zweite  Indication  bezweckt  die  Hemmung  des 
Eiterungsprozesses  in  den  Nieren,  welchem  Zwecke  der 
Verf.  besonders  durch  Anwendung  des  Bleies,  und  zwar 
des  Saturnus  phosphoricus  entgegenzukommen  sucht,  in¬ 
dem  er  glaubt,  dafs  dieses  Mittel  länger  als  der  Bleizucker 
gegeben  werden  könne,  bis  es  nachtheilige  Wirkungen 
äufsere.  Zwischendurch  läfst  er  den  Lichen  mit  Schwefel¬ 
säure  brauchen.  Gegen  die  bei  dieser  Krankheit  statt  fin¬ 
dende  Paresis  extremitatum  bewiesen  sich  ihm  besonders 
Bäder  aus  Calam.  aromat. ,  oder  auch  aus  Salz  -  und  Salpeter¬ 
säure  nützlich. 

Die  zweite  Hälfte  dieses  Buches  nimmt  die  letzte  Ab¬ 
handlung  über  P  h  t  h  is  is  pulmonalis  ein.  Zuerst  bemerkt 
der  Verf.,  dafs  trotz  aller  Untersuchungen  über  diese  Krank¬ 
heit  die  Natur  derselben  gleichwohl  noch  sehr  dunkel  sei, 
und  die  darüber  aufgestellten  Ansichten  keinesweges  genü¬ 
gen.  Dieses  gilt  namentlich  von  einer  der  neuesten,  der 
Lorinsers.  Die  Beobachtungen  von  Allan  und  andern, 
auf  welche  dieser  seine  Ansicht  baut,  scheinen  dem  Verf. 

4 


XIII.  Bd.  I.  St. 


50 


V.  Chronische  Krankheiten, 


unzureichend,  und  werden  von  ihm  zunächst  widerlegt. 
Aber  auch  die  Annahme  Laennec’s,  als  ontstäude  die 
Lungenschwindsucht  immer,  oder  doch  in  den  allermeisten 
Fällen  aus  Tuberkeln,  scheint  ihm  nicht  genügend,  indem 
er  nachzuweisen  bemüht  ist,  wie  theils  andere  Afterorgani- 
sationen,  namentlich  die  Melanose  und  das  Mcdullarsarcom, 
Lungenschwindsucht  zu  erzeugen  vermögen,  theils  aber  alle 
diese  Afterorganisationen  in  venöser  Unthätfgkeit  des  Or¬ 
ganismus  beruhen,  indem  sich  dadurch  excrementitielle  Stoffe 
aus  dem  Mute  in  das  Zellgewebe  absetzen,  und  diese 
nach  Verschiedenheit  des  Orts  und  anderer  cinwirkender 
Momente  bald  dieses,  bald  jenes  der  genannten  Gebilde 
erzeugen.  Demnächst  entwickelt  der  Verf.  die  Erscheinun¬ 
gen  der  Lungenschwindsucht,  wie  sie  nach  ihrer  verschiede¬ 
nen  Entstehung,  sei  es  durch  einen  hämoptysischen  oder 
chlorotischen  Charakter,  bedingt  werden,  und  entwirft  zu¬ 
letzt  die  demgemäfs  einzuleitende  Behandlung.  Mineralsau¬ 
ren  werden  auch  hier  ganz  besonders  empfohlen ,  als  Mittel, 
welche  die  venöse  Untätigkeit  zu  heben  im  Stande  seien. 
Jedoch  würden  sie  nur  für  den  Anfang  der  Krankheit  pas¬ 
sen.  Ist  erst  die  Reproduction  leidend,  so  unterstützen  sie 
nur  die  Wirkung  anderer,  alsdann  anzuw'cndender  Mittel, 
wohin  der  Verfasser  besonders  die  China  und  das  Blei 
rechnet.  Demnächst  wird  noch  der  Blutausleeruncen  und 
Bäder ,  in  sofern  sie  bei  der  Behandlung  dieser  Krankheit 
wichtig  sind,  gedacht,  und  das  Regimen  vitae  einer  sorg¬ 
fältigen  Prüfung  unterworfen. 

Hat  sich  Ref.  gleich  bemüht,  den  wesentlichen  Inhalt 
dieser  Schrift  anzugeben,  so  zweifelt  er  beinahe,  dafs  ihm 
dieses  vollkommen  gelungen  sein  möge.  Der  Gang  der 
Untersuchung  ist  nicht  immer  gleichmäfsrg  fortgeführt ,  neue 
und  dem  Verf.  eigentümliche  Ansichten  sind  mit  alten  und 
längstbekannten  so  innig  verknüpft,  dafs  sie  kaum  eine  Son¬ 
derung  gestatten,  an  Episoden  und  mannigfachen  Excursen 
fehlt  es  nicht  — —  durch  alles  wird  eine  genaue  Darlegung 
des  Inhalts  erschwert.  Noch  weniger  konnte  sich  Ref.  in 


5t 


VI.  Heilnng  der  Krankheiten. 

eine  Prüfung  der  vom  Verf.  aufgestellten,  allerdings  zu  be¬ 
rücksichtigenden  Ansichten  einlassen,  da  ihn  diese  bis  an 
die  äufsersten  Gränzen  der  Physiologie  geführt  haben  würde. 

G.  II.  Hicht er. 


VI. 

1.  Ideen  zur  Aufstellung  und  Begründung 
eines  einfachen  all  ge  mein  gültige  n  Na¬ 
tur  ge  setzes;  von  E.  D.  Stahl,  der  Heilkunde 
und  Weltweisheit  Doctor.  Hannover,  hei  Hahn. 
1824.  8.  X  und  110  S.  (8  Gr.) 

2.  Entwurf  eines  naturgemäfs en  Verfah¬ 
rens,  Krankheiten  zu  heilen;  von  E.  D. 
Stahl,  der  Heilk.  und  Weltw.  Doctor.  Erster 
Theil.  Hannover,  in  Commission  bei  Helwing. 
1828.  8.  XVI  und  428  S.  (2  Thlr.) 

Der  gegenwärtige  Riesenbau  der  Naturwissenschaften 
und  der  Heilkunde  ist  in  einer  langen  Reihe  von  Jahrhun¬ 
derten  und  mit  grofser  Mühe,  aus  einer  Menge  kleiner  und 
einer  verhältnifsmäfsig  geringen  Anzahl  grofser  Bausteine 
bis  zu  seiner  gegenwärtigen  Höhe  geführt  worden.  Wenn 
keiner  glauben  mag,  dals  einer  der  kleinen  Bausteine  für 
sich  allein  wesentlich  zum  Ganzen  beigetragen  habe,  so 
haben  doch  schon  manche  irrig  geglaubt,  dafs  einer  der 
grofsen  Bausteine  allein  den  Grund  und  die  Stütze  des 
Ganzen  ausmache.  Die  Geschichte,  genau  in  ihren  That- 
sachen  erkannt  und  nach  ihrem  Geiste  geprüft,  zeigt,  dafs 
auch  die  gröfsten  Männer  und  die  von  ihnen  ausgegangenen 
einflufsreichsten  Entdeckungen  und  Umgestaltungen  nur  als 
mehr  oder  minder  grofse  Momente  der  geschichtlichen  Ent¬ 
wickelung  betrachtet  werden  dürfen ,  und  selbst  durch  \  or- 

4  * 


5  2 


VI.  Heilung  der  Krankheiten. 

und  Mitwelt  bedingt  waren.  Gianbt  endlich  gar  jemand, 
dafs  irgend  eine  einzelne  Ansicht  die  gesamrrten  bisherigen 
Ergebnisse  vernichte  und  dadurch  ein  durchaus  neues,  nir¬ 
gends  mit  der  Vorwelt  zusammenhängendes  Ganze  erbaut 
werden  könne,  so  setzt  er  schon  eben  dadurch  seinen  Ver¬ 
stand  und  sein  Wissen  in  das  ungünstigste  Licht.  Dieser 
letztere  Satz  findet  nun  in  dem  vollestcn  Maafse  bei  dem 
Verf.  obiger  Schriften  seine  Anwendung,  lief,  kann  und 
wird  nie  in  die  gewissenlose  Weise  derjenigen  Ilecensenten 
eingehen,  die,  wo  sie  die  gewöhnliche  Lobhudelei  anzubrin¬ 
gen  scheuen,  doch  mindestens  ihren  ein  furchtsvollen  Bück¬ 
ling  gegen  die  Schriftsteller  zu  machen  nicht  unterlassen; 
ein  solches  leider  sehr  häufiges  Verfahren  bringt  jedes  kri¬ 
tische  Blatt  um  das  Vertrauen  des  Publikums  und  führt  viel 
üblere  Folgen  herbei,  als  ein  mit  Würde  und  Anstand  ge¬ 
führter  literarischer  Streit;  denn  ohne  Streit  und  Wider¬ 
rede  giebt  es  auf  dem  Gebiete  des  Wissens  selten  einen 
Fortschritt.  Mag  daher  immerhin  der  \erf.  den  lief,  den 
andern  von  ihm  getadelten  Kritikern,  die  über  ihn  ungün¬ 
stig  geurthcilt  haben,  anreihen.  Unser  Uriheil  geht  kürz¬ 
lich  dahin,  dafs  das  vorgebliche  neuentdeckte  Naturgesetz 
keinesweges  neu,  sondern  allgemein  bekannt  und  längst  auf 
■% iel  geistreichere  Weise  dargelegt  worden  sei,  dafs  dasselbe 
aber  keinesweges  zur  Gründung  einer  allgemeinen  Heilme¬ 
thode  hinreiche,  und  dafs  endlich  das  vorgeschlagene  Heil¬ 
verfahren  im  höchsten  Grade  unzureichend  sei  und  dem 
bisherigen  weit  nachstche.  Die  Begründung  dieses  Urtheils 
wird  sich  aus  einer  möglichst  gedrängten  Anzeige  Leider 
Werke  ergeben. 

Nro.  L,  als  Grundlage  von  Nro.  2.,  stellt  als  Haupt- 
lchren  der  Physik  und  Biologie  folgende  Sätze  auf:  Kraft 
und  Widerstand,  Wechsel  Wirkung  und  Wechselbestim¬ 
mung,  sind  der  Grund  aller  Thätigkcit.  Jedes  Ding  will 
das  andere  zerstören;  dieses  sucht  sich  zu  vertheidigen ;  sein 
Dasein  hört  auf,  sobald  es  keinen  Widerstand  zu  leisten 
vermag.  Alle  Gegenstände  der  Natur  und  die  einzelnen 


53 


YI.  Heilung  der  Krankheiten. 

Theile  jed  es  besonderen  Gegenstandes  sind  in  beständigem 
Kampfe  gegeneinander,  und  suchen  sich  wechselsweise  auf- 
zureiben.  Die  Bewegung  der  Weltkörper,  das  Verhaltuifs 
des  Festlandes  zur  See  und  der  Streit  der  Elemente  sind 
Folgen  jenes  Kampfes.  Die  Erde  ist  die  feste  Grundlage 
jedes  Wesens.  Das  Wasser  ungehemmt  wirkend  dient  nur 
der  Zerstörung;  erst  bei  der  Hemmung  wirkt  es  zur  Bil¬ 
dung.  Die  Luft  und  das  Feuer  wirken  ebenfalls  als  Ele¬ 
mente.  Aus  den  bekannten  vier  Elementen  entwickelt  sich 
im  Kampfe  alles,  was  ist,  zuerst  das  Anorganische,  dann 
die  Pflanzen,  zuletzt  die  Thiere;  unter  diesen  sind  die  pflan¬ 
zenfressenden  alter,  als  die  fleischfressenden.  Jedes  entstand 
wahrscheinlich  aus  einem  Stoffe,  der  dem  analog  ist,  wel¬ 
cher  ihm  nachher  zur  Nahrung  diente.  Der  Mensch,  durch 
Verstand  die  stärkste  Kraft  gewinnend,  beherrscht  die  ganze 
Erde  in  beständigem  Kriege,  den  die  Aufsenwelt  mit  ihm 
und  er  mit  ihr  führt.  Nahrung  und  Kleidung  sind  seine 
Schutzmittel  gegen  die  ihm  drohende  Zerstörung.  Diese 
droht  ihm  am  meisten  an  den  Punkten,  wo  er  mit  der 
Aufsenwelt  in  Berührung  ist.  Schlaf  ist  ein  augenblickli¬ 
ches  Zurückweichen  aus  dem  Kampfe.  Die  Fortpflanzung 
ist  ein  Kampf  der  Geschlechter.  «Krankheit  ist  der  Zu- 
staud,  wo  ein  Mifsverhältnifs  des  Wdderstands Vermögens  zu 
den  Umgebungen  eingetreten  ist.  »  Auf  diese  Ansicht  der 
Krankheit,  die  offenbar  nicht  viel  anders  lautet,  als  die 
von  Brown,  wird  nun  in  No.  2.  mit  Verachtung  aller 
bisherigen  Erfahrung  ein  neuer  Plan  zur  Heilung  der  Krank¬ 
heiten  des  Menschengeschlechts  gebaut.  Es  kann  selbst 
jedem  der  Heilkunde  unkundigen  Menschen  leicht  erwiesen 
werden,  und  ist  jedem  Arzte  so  klar,  als  nur  irgend  etwas 
sein  kann,  dafs  bei  sehr  vielen  leichten  und  schweren  Krank¬ 
heiten  das  ursächliche  Verhältnifs  noch  ganz  im  Dunkeln 
liegt,  dafs  bei  einem  grofsen  Theile  der  Krankheiten  die 
Ursachen,  wenn  sie  einmal  eingewirkt  haben,  gar  nicht 
weiter  in  Betracht  kommen  können,  weil  das  Uebel  nun 
ganz  selbstständig  besteht,  z.  B.  bei  Brüchen  und  Verren- 


54 


VI.  Heilung  der  Krankheiten. 

kungen,  so  wie  Lei  allen  ansteckenden  Krankheiten,  und 
dafs  endlich  seihst  Lei  fortwirkender  äufserer  Aeranlassung 
tur  Krankheit  hierin  immer  nur  die  eine  Seite  liegt,  die 
andere  aber  in  den  inneren  Verhältnissen  des  Kranken  be¬ 
gründet  ist,  wie  in  der  Lehre  von  der  Krankheitsanlagc 
erwiesen  wird.  Für  den  Verf.  giebt  es,  um  nach  den  bis¬ 
herigen  Kunstausdrücken  zu  sprechen,  nur  eine  einzige 
Anzeige,  die  Indicatio  causalis.  Diese  Anzeige  ist  auch 
bisher  von  jedem  verständigen  Arzte  beachtet  worden,  aber 
nie  für  sich  allein',  sondern  immer  in  Verbindung  mit  allen 
andern  Anzeigen,  die,  im  Allgemeinen  bekannt,  sich  für 
jeden  einzelnen  Fall  auf  besondere  Weise  ergeben.  Es  ist 
ganz  undenkbar,  dafs  der  Verf.  auf  die  von  ihm  angegebene 
Weise  viele  Krankheiten  behandelt  habe;  der  Nachtheil 
müfste  sich  ihm  auf  so  schneidende  Weise  dargestellt  ha¬ 
ben,  dafs  ihm  über  die  Unrichtigkeit  seiner  Ansicht  kein 
Zweifel  hätte  bleiben  können.  Zum  Glücke  ist  die  vorge¬ 
schlagene  Verfahrungsweise  fast  überall  so  unbedeutend, 
dafs  man  dieselbe  als  reine  Methodus  exspectativa  ansehen 
kann,  und  sie  also  vorzüglich  nur  in  den  Fällen  nachthei¬ 
lig  sein  wird,  wo  ein  positives  Eingreifen  nöthig  ist;  nur 
in  den  Fällen  schadet  der  Verf.  sehr  oft  auf  directem 
W  ege,  wo  er  die  Ursache  der  Krankheit  in  Erkältung 
sucht  und  daher  möglichst  erwärmend  ein  wirken  will,  was 
oft  nach  erfolgter  selbstständiger  Bildung  hitziger  Krank¬ 
heiten  sehr  nachtheilig  ist. 

Zum  näheren  Beweise  der  Unzweckmäfsigkeit  der  hier 
angegebenen  Ileilarten  wollen  wir  die  hier  vorgeschriebenc 
Behandlung  einiger  Krankheitsformen  in  Erwägung  ziehen, 
müssen  jedoch  bemerken,  dafs  dieselben  keinesweges  etwa 
von  geringerem  Werthe  sind,  als  die  nicht  angegebenen. 
Der  Typhus,  fälschlich  mit  Febr.  continua  continens  für 
identisch  gehalten,  erhält  eine  Diät,  wie  sie  in  dieser  Krank¬ 
heit  gewöhnlich  ist;  arzneilich  soll  selten  und  nur  zur  Ver¬ 
hütung  m  eines  fauligten  Gährungsprozesscs  ”  eingewirkt  wer¬ 
den.  Dazu  werden  vorgeschlagen:  kohlcnsaures  Ammonium, 


55 


VI.  Heilung-  der  Krankheiten. 

zw  eistundlich  zu  15  Lus  20  Tropfen  mit  Wasser  verdünnt, 
oder  IJssigäther  in  einem  aromatischen  Wasser;  späterhin 
Ca  Im  us  und  China.  Dafs  die  verschiedenen  Formen  des 
Typhus  auch  sehr  verschiedene  Behandlung  verlangen,  dafs 
man  zuweilen  deprimirend,  zuweilen  excitirend  dabei  ver¬ 
fahren  müsse,  dafs  die  Kälte  dabei  oft  wohler  thue,  als  die 
Wärme,  sheint  dem  Yerf.  unbekannt.  Bei  den  Masern 
soll  man  während  des  Ausbruchs  kühl  halten,  nach  erfolg¬ 
tem  Ausbruche  aber  die  gewöhnliche  Wärme  gewähren. 
Entsteht  dabei  Husten,  Augen-  oder  Lungenentzündung, 
so  wird  dies  immer  einer  besonderen  Erkältung  zugeschrie¬ 
ben,  und  daher  angerathen:  die  Wärme  zu  verstärken,  so 
wie  Liq.  ammon.  anis.  mit  Tinct.  opii,  warme  weinigte 
Getränke,  und  gutes  warmes  Weifsbier  zu  verordnen.  Ist 
Lungenentzündung  von  Erkältung  entstanden,  so  mufs  man 
allmäblig  erwärmen;  dies  geschieht  durch  Erhöhung  der 
Luftwärme  bis  zu  15  Grad  Reaum.,  warme  Bedeckung  und 
Darreichung  von  Ammon,  anis.  mit  Opiumtinctur.  Entstand 
das  Uebel  von  örtlicher  Einwirkung  kalter  Luft,  so  soll 
man  Dämpfe  von  Fliederthee  mit  Essigäther  (!)  einathmen, 
und  die  Atmosphäre  des  Kranken  mit  Sauerstoff  schwängern 
lassen.  Wird  über  Schmerz  an  einzelnen  Stellen  der  Brust 
geklagt,  so  soll  man  Blutegel,  oder  besser  noch,  trockene 
Schröpfköpfe,  auch  äufserlich  scharfe  Mittel  anwenden. 
Gesichtsschmerz  und  Hüftweh  werden  durch  vermehrte 
Wärme,  Reibungen,  allenfalls  mit  ätherischen  Oelen  oder 
scharfen  Mitteln,  und  innerlich  etwas  Opium,  geheilt. 

Doch  genug  des  Unsinns.  Der  Anzeige  eines  zweiten 
Iheils  werden  wir  hoffentlich  durch  den  Verf.  selbst  ent¬ 
hoben  werden,  da  der  erste  schwerlich  einen  die  Kosten 
,  / 

deckenden  Absatz  haben  dürfte. 


Lic  htenst  ädt. 


5G  VII.  Wiederherstellung  zerstörter  Thcilc. 


VII. 

Chirurgische  Erfa  h  r u  n  g  c n,  besonders  über 
d i e  W icderherstellung  zerstörter  T h e i  1  e 
des  menschlichen  Körpers,  nach  neuen 
Methoden;  von  Dr.  ,1.  F.  Dieffenbach,  prak¬ 
tischem  Arzte  in  Berlin.  Mit  zwei  lithographischen 
Abbildungen.  Berlin,  hei  Enslin.  J829.  8.  VIII 
und  102  S.  (16  Gr.) 

Die  hier  mitgetheilten  höchst  interessanten  Erfahrun¬ 
gen  zeigen  auf  das  Deutlichste,  wie  sehr  dieser  Zweig  der 
Chirurgie  noch  der  Vervollkommnung  bedurfte,  und  wie 
sehr  diejenigen  irrten,  die  da  glaubten,  dal's  derselbe  bereits 
durch  die  neueren  Angaben  eines  v.  Gräfe,  Dünger, 
Benedict  u.  a.  den  Gipfel  der  N  ollkommenheit  erreicht 
hätten.  Wie  überhaupt  jede  Erfindung  erst  atlmählig  durch 
vielfältige  Versuche  zur  Vollkommenheit  gelangt,  so  kön¬ 
nen  wir  uns  auch  nicht  wundern,  wenn  die  bisher  als  Norm 
angenommenen  Methoden  eines  v.  Gräfe,  den  man  mit 
Recht  den  Begründer  der  Rhinoplastik  nennt,  Modificatio- 
nen,  und  zwar  höchst  wichtige,  erleiden.  Die  Methoden 
des  talentvollen  Verf.  weichen  von  allen  bis  jetzt  angege¬ 
benen  wesentlich  ab,  sie  sind  für  den  Kranken  selbst  mit 
geringeren  Leiden  und  Besch  werden  verbunden,  und,  was 
die  Hauptsache  ist,  sie  liefern  ein  bei  weitem  schöneres 
Kunstproduct;  es  ist  daher  wohl  keinem  Zweifel  unterwor¬ 
fen  ,  dafs  sie  den  bisherigen  vorzuziehen  sind ,  leider  passen 
sie  nur  nicht  in  allen  Fällen. 

Der  Verf.  spricht  1.  über  den  Wiede rersa tz  der 
Nase.  In  das  Speciellc  der  einzelnen  Methoden  der 
Nasenbildung  lafst  er  sich  nicht  ein,  er  liefert  nur  einige 
Zusätze  zu  den  vorhandenen,  allgemein  bekannten  Erfah¬ 
rungen,  und  macht  besonders  darauf  aufmerksam,  dafs  bei 
allen  am  Gesicht  vorkommenden  Operationen,  vorzüglich 


VII.  Wiederherstellung  zerstörter  Theile.  57 

i 

aber  bei  der  Bildung  einzelner  Theile  desselben  durch  Trans¬ 
plantation,  die  Schonung  der  vorhandenen,  mit  dem  Wie¬ 
derersatz  der  verloren  gegangenen,  von  gleichem  Werthe 
und  von  gleicher  Wichtigkeit  sei ;  ferner  darauf,  dafs  der¬ 
jenige  Wundarzt  die  beste  Hautnase  machen  werde,  der 
auch  mit  der  Geschicklichkeit  eines  Bildhauers  dieselbe  aus 
unorganischer  Masse  zu  formen  im  Stande  sei;  endlich  dar¬ 
auf,  dafs  es  Individuen  mit  gänzlich  fehlenden  Nasen  gäbe, 
bei  denen  man  den  Versuch  machen  könnte,  die  beiden 
Seitentheile  der  Nase  aus  der  benachbarten  Wangenhaut, 
und  das  Septum  nebst  der  Spitze  der  Nase  aus  der  Ober- 
ii'pp  e  zu  bilden.  Dann  kommt  er  zu  seiner  Methode,  und 
hat  gewifs  sehr  recht,  wenn  er  behauptet,  dafs  durch  die¬ 
selbe  die  bekannten  Methoden  des  Nasenersatzes  aus  der 
Stirn  und  aus  dem  Arm  sehr  beschränkt  werden  möchten. 
Er  versuchte  es,  die  durch  syphilitische  oder  scrofulöse 
Krankheiten  tief  in  den  Kopf  gesunkene  Nase  (die  auf  diese 
Weise  verunstalteten  Individuen  machen  offenbar  die  Mehr¬ 
zahl  aus)  wieder  aufzubauen.  Seine  Operationsmethode  be¬ 
steht  blofs  darin,  dafs  die  Trümmer  der  alten  Nase,  die  zu 
einer  neuen  benutzt  werden  sollen,  in  mehrere  Theile  zer¬ 
legt,  aus  der  Tiefe  hervorgezogen,  und  durch  passendes 
Aneinanderheften  unter  sich  und  ihrem  Boden  aufrecht  ge¬ 
stellt,  und  durch  geringe  Unterstützungsmittel  während  des 
Heilungsprozesses  in  dieser  Lage  erhalten  werden.  Das 
Specielle  derselben  können  wir  hier  nicht  mittheilen,  wreil 
wir  sonst  zu  weitläuftig  werden  würden,  es  genüge  uns 
daher  zu  bemerken,  dafs  nicht  nur  alle  Operationsmomente 
höchst  instructiv  beschrieben  sind,  sondern  dafs.  auch  der 
Verf.  seine  Methode  mit  vielem  Erfolge  bei  mehreren  schau¬ 
derhaft  aussehenden  Kranken  anwandte.  Letzteres  beweisen 
die  hier  erzählten  Krankengeschichten  über  die  Ausbesse¬ 
rung  einer  durch  Krankheit  verstümmelten  Nase,  einer  durch 
Verwundung  verstümmelten  Nase  und  Oberlippe,  die  Ver¬ 
änderung  der  Gestalt  der  Nase  durch  die  Operation  eines 
Nasenkrebses,  die  Bildung  einer  ganzen  Nase  (s.  die  Abbii- 


58  \  II.  "W  ieclerherstellnng  zerstörter  Theile. 

(Jungen)  und  über  den  \  ersuch  zur  Nasenbildung  aus  dem 
Arm,  Ausbesserung  einer  verstümmelten  Oberlippe  und  Hei¬ 
lung  eines  Ectropiuras  an  demselben  Subjerte.  Alles  Falle, 
die  gewils  jeder  mit  dem  gröfsten  Vergnügen  und  mit  dem 
innigsten  Gefühl  von  Hochachtung  Tür  den  Hrn.  Ycrf.  le¬ 
sen  wird. 

II.  Geber  die  Bildung  der  Lippen  bei  V er- 
schliefst!  ng  des  Mundes  durch  Geber  pflanz  ung 
der  Schleimhaut.  S.  40.  Alles  was  die  Chirurgie  bis 
jetzt  zur  'S  erbesserung  dieses  Zustandes  angerathen  hat, 
sind  einige  wenige  und  höchst  unvollkommene  Operations- 
methoden.  Man  versuchte  die  Heilung  der  verengerten 
Mundöffnung  auf  dreierlei  Weise,  entweder  nämlich  man 
wollte  das  verengerte  Mundloch  unblutig  erweitern,  oder 
blutig  durch  den  Schnitt  und  das  Wiederverwachsen  durch 
dazwischen  gelegte  fremde  Körper  verhindern,  oder  end¬ 
lich  man  bildete  zuvor  mit  dem  Troacar  und  Bleidrath  einen 
Mundwinkel,  und  spaltete  dann  den  übrigen  Theil.  Dals 
alle  drei  Methoden  höchst  mangelhaft  sind,  bedarf  kaum 
einer  Frage,  und  wird  auch  vom  Verf.  deutlich  bewiesen. 

,  Des  Verf.  sehr  sinnreiches  und  nachahmenswertes  Ver¬ 
fahren  besteht  im  Wesentlichen  darin,  dafs  zu  beiden  Sei¬ 
ten  des  Mundlochs  ein  Streifen  aus  den  Weichgebilden, 
mit  Schonung  der  inneren  Schleimhaut,  mittelst  des  Ein- 
stofsens  einer  spitzen  Scheere  ausgeschnitten  wird,  worauf 
man  die  Schleimhaut  der  innern  Wange  spaltet,  mit  der¬ 
selben  die  Wundränder  gleichsam  umsäumt,  und  diese  so 
anhält.  J)en  erfreulichsten  Erfolg  dieser  Methode  sah  er 
in  den  zwei  hier  mitgetheiltcn  Fallen,  auf  deren  Nachle¬ 
sung  wir  verweisen  müssen. 

III.  Geber  den  organischen  Wieder ersatz  des 
zerstörten  (jaumensegels.  Leider  gelang  diese  Ope¬ 
ration  nicht,  woran  aber  gewifs  nicht  Gngcschicklichkcit 
von  Seiten  des  Operateurs  schuld  war,  denn  bei  dem  Hin¬ 
einblicken  in  die  Mundhöhle  nach  der  Operation  sah  man- 
eine  an  beiden  Seiten  anliegeudc  Scheidewand  mit  ihrer 


VII.  Wiederherstellung  zerstörter  Theile.  59 

künstlichen  Oeffnung  in  der  Mitte  zwischen  der  Mund-  und 
Rachenhöhle,  deren  unterer  Rand  sich  so  stark  gegen  die 
Zungenwurzei  senkte,  dafs,  im  Fall  des  Gelingens,  eine 
Verschliefsung  der  Mundhöhle  nach  hinten,  das  Bedingnils 
einer  reinen  menschlichen  Stimme,  möglich  zu  sein  schien. 

IV.  Ueber  die  künstliche  Bildung  der  Vor¬ 
haut.  In  Fällen,  wo  eine  völlige  Verwachsung  der  innern 
Lamelle  der  Vorhaut  mit  der  Oberfläche  der  Eichel  statt 
fand,  bemerkte  der  Verb,  dafs  die  Cutis  des  Gliedes,  trotz 
dem,  dafs  er  die  ganze  Vorhaut  rings  um  das  Glied  abge¬ 
tragen  hatte,  dem  allgemeinen  Gesetz  der  Hautverlängerung 
an  frei  liegenden  Wundrändern  folgte,  bald  über  den 
Rand  der  Eichel  hinüberragte  und  mit  dem  hinteren  Drit- 
theil  der  Oberfläche  der  Eichel  in  eine  entstellende  Nar¬ 
benmasse  zusammenschmolz.  Um  diesen  Uebelstand  zu  ver¬ 
hindern ,  kam  er  auf  den  Gedanken,  aus  der  äufseren  Haut¬ 
platte  eine  neue  Vorhaut  zu  bilden.  Er  zog  daher  die  Haut 
stark  nach  hinten  zurück,  trennte  sie  noch  einen  Drittel¬ 
zoll  weit  über  die  Eichelkrone  hinaus  ringförmig  um  das 
Glied  herum  los,  stülpte  sie  dann  nach  innen  um  und  schob 
ihren  Wundrand  durch  Manipulation  bis  über  die  Eichel¬ 
krone  hinauf,  wodurch  demselben  Gelegenheit  gegeben 
wurde,  sich  daselbst  anzusetzen.  In  dieser  Lage  wurden 
die  Theile  durch  ein  vielfaches  Umwickeln  mit  dicken, 
durch  Heftpflaster  gezogenen  baumwollenen  Fäden  erhal¬ 
ten.  In  beiden  hier  mitgetheilten  Fällen  gelang  die  Bildung 
einer  künstlichen  \orhaut  vollkommen,  ja  was  noch  mehr 
ist,  die  der  atmosphärischen  Luft  entzogene  Cutis  verwan¬ 
delte  sich  sogar  in  eine  absondernde  Membran. 

V.  Ueber  die  Z  erreifsu  n  g  des  Mittelfleisch  es. 
S.  64.  Der  Verf.  hatte  es  mit  einer  sehr  bedeutenden,  bis 
in  den  Mastdarm  gehenden  Zerreifsung  des  MittelfleisChes 
zu  thun.  Nachdem  er  die  Ränder  sorgfältig  abgeschnitten 
und  die  Blutung  gestillt  hatte,  brachte  er  zuerst  mit  einer 
starken  krummen  Nadel  eine  dicke  Ligatur  in  der  Mitte  der 
Spalte  an,  und  legte  dann  noch  aufser  dieser  Knopfnath 


60  VII.  Wiederherstellung  zerstörter  Thcile. 

mehrere  umschlungene  Nadeln  an.  Hierauf  schlug  er  ein 
Verfahren  ein,  welches  jede  Zerrung,  Dehnung  und  Span¬ 
nung  von  den  neu  vereinigten  Thetien  abhielt,  und  ihnen 
so  zu  sagen  Mufse  zum  Zusammenheilen  gewährte,  nämlich 
das  seitliche  Durchschneiden  sämmtlicher  Ilautgebilde  im 
Umkreise  der  angelegten  Nath.  (Die  erste  Idee  hierzu  hat¬ 
ten  ihm  seine  glücklichen  Versuche  mit  der  Durchschnei¬ 
dung  der  Seiten  des  Velums  nach  angelegter  Gaumennath 
gegeben.)  Unmittelbar  nach  diesen  Seitenschnitten  trat  ein 
starkes  Klaffen  ihrer  Ränder  ein,  wodurch  jede  Spannung 
gehoben  wurde,  und  der  ganz  isolirte  Mitteilheil,  also  die 
Nath  mit  den  Hautstreifen ,  senkte  sich  um  einen  halben 
Zoll  in  die  Tiefe,  so  dafs  die  liauträndet  der  Umgebung 
wie  feine  Abschnitte  oder  Stufen  mit  scharfen  Rändern  her¬ 
vorstanden.  Ein  N  erband  w  urde  weiter  nicht  angelegt. 
Nach  manchen  noch  zu  beseitigenden  Schwierigkeiten,  die 
hier  mitzutheilcn  zu  weitläuftig  sein  würde,  gelang  die 
Heilung  vollkommen;  wir  bemerken,  dafs  keine  der  ange¬ 
legten  Näthe  ausrifs.  —  Der  Verf.  fügt  noch  einige  Bemer¬ 
kungen  über  die  Zerreifsung  des  Dammes  im  Allgemeinen 
hinzu.  Er  räth,  nie  und  unter  keinen  Umständen  einen 
zerrissenen  Damm  während  des  Wochenbettes  und  der 
Eactationsperiode  zusammenzunähen,  aufser  wenn  man  das 
Mittelfleiscb  hätte  einschneiden  müssen;  ferner  sich  nicht 
der  Zapfennath,  sondern  der  umschlungenen  in  Verbindung 
mit  der  Knopfnath  zu  bedienen,  keinen  complicirlen  Ver¬ 
band,  nicht  einmal  eine  T binde  anzulegen,  sondern  blofs 
kalte  Umschläge  zu  machen;  auch  keinen  Schwamm,  kein 
Pessarium,  keine  Ubarpie  in  die  Scheide  einzubriugen.  Zum 
Sthluls  thcilt  er  noch  einige  von  andern  zum  Theil  ohne 
Erfolg  unternommene  Operationen  der  Art,  so  wie  die  Li¬ 
teratur  des  Dammrisses  mit. 

NI.  Ueher  den  Wiederersatz  der  theil  weise 
zerstörten  Harnröhre  durch  Ueber pflanzung  der 
Haut.  Obschon  die  Operation  nicht  gelang,  so  ist  doch 
der  Fall  an  sich  interessant  genug.  Vou  den  drei  mög- 


I 


VIII.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften.  61 

liehen  Operationsmethoden  zur  Schliefsung  der  abnormen 
Oeffnung,  nämlich  entweder  durch  einen  vom  Scrotum  los¬ 
getrennten  Lappen,  der  durch  blutige  Näthe  an  die  abge¬ 
tragenen  Ränder  der  Oeffnung  befestigt  wurde;  oder  durch 
Zusammenfügung  der  blutig  gemachten  Ränder  der  Urethra, 
indem  ihr  vorderer  Rand  mit  dem  hintern  in  Verbindung 
gebracht  wurde;  oder  endlich  durch  das  Zusammenheilen 
zweier  an  den  Seiten  des  Gliedes  gefafsten  Hautfalten  über 
der  Oeffnung,  wählte  der  Verfasser  aus  guten  Gründen 
die  letzte. 

Taf.  I.  Fig.  1.  zeigt  das  Bildnifs  eines  zwölfjährigen 
Mädchens  mit  eingesunkener  Nase  vor  der  Operation;  Taf.  II. 
Fig.  2.  das  Bildnifs  desselben  Mädchens  nach  der  Operation, 
auch  sind  hier  die  Narben  an  der  linken  Seite  des  Nasen¬ 
rückens,  so  wie  zwischen  der  Wangenhaut  und  der  Seiten¬ 
wand  der  Nase  sichtbar;  Fig.  2.  endlich  zeigt  die  Gestalt 
der  drei  hervorgezogenen  Nasenlappen. 

—  0  — 


VIII. 

Neueste  chirurgische  Schriften  von  Anton 
Scarpa,  Professor  emeritus  und  Director  der 
medic.  Facultät  der  K.  K.  Universität  zu  Pavia, 
Ritter  des  K.  Oesterreichischen  Leopoldordens, 
Mitglied  der  K.  Academie  der  Wissenschaften  zu 
Paris,  London,  Berlin,  Stockholm  u.  s.  w.  Aus 
dem  Italienischen  übersetzt  von  Lrdmann  Thie- 
me.  Erster  Theil.  Mit  acht  lithographischen  Ta¬ 
feln.  Leipzig,  Magazin  für  Industrie  und  Littera- 
tur.  1828.  8.  VI  u.  256  S.  (2  Thlr. ) 

Wühl  verdienten  es  diese  chirurgischen  Abhandlungen 
des  berühmten  Scarpa,  auf  vaterländischen  Boden  über- 


I 


62  \  III.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften. 

tragen  zu  werden;  denn  wir  können  durch  die  KenntniCs 
derselben  nur  gewinnen.  Ks  bedurfte  daher  der  Ueber- 
setzer  in  der  Vorrede  keiner  Entschuldigung ,  dafs  er  gerade 
dieses  Werk  übersetzte.  Seine  Wahl  hätte  wahrlich  auf 
kein  besseres  fallen  können.  Die  Angabe  des  Inhalts  wird 
unsere  Behauptung  rechtfertigen. 

In  der  ersten  Abhandlung  spricht  der  Verf.  über  den 
Scirrhus  und  den  Krebs.  Er  hält  es  für  ausgemacht, 
dafs  der  Scirrhus,  und  mit  ihm  der  Krebs,  niemals  ursprüng¬ 
lich  das  absorbirende  lymphatische  System,  und  folglich  auch 
nicht  die  Drüsen  dieses  Namens  ergreift;  dafs,  wenn  nicht 
alle,  doch  gewifs  einige  der  offenbarsten  Schleimdrüsen,  so 
wie  die  Sublingualdrüsen  und  die  Tonsillen,  von  der  scir- 
rhösen  V  erderbnifs  frei  sind;  dafs  der  Scirrhus  und  Krebs 
niemals  ursprünglich  die  eigentlich  sogenannten  Eingeweide, 
mit  Ausnahme  derjenigen  innern  Organe,  welche  von  der 
innern  l  mkleidung  der  um  die  innern  Theilc  zurückge¬ 
schlagenen  Haut  überzogen  sind,  als  der  Larynx,  der  Oeso¬ 
phagus,  der  Magen,  der  Mastdarm,  die  Scheide,  der  Mut¬ 
terhals,  ergreift;  dafs  diese  beiden  Krankheiten  nie  vor  der 
Pubertät,  und  sehr  selten  vor  dem  25sten  Jahre,  bei  dem 
einen,  wie  bei  dem  andern  Geschlechte  erscheinen;  und 
dafs  der  Krebs  sich  einzig  und  allein  in  Folge  eines  ächten 
Scirrhus,  der  sich  in  irgend  einer  der  äufseren  conglome- 
rirten  Drüsen  vprfindet,  oder  in  Folge  von  rigiden  har¬ 
ten  W  arten,  oder  von  bösartigen  Knötchen  in  der  äufsern 
und  umgeschlagenen  Haut,  w'enn  sie  der  zerstörenden  Na¬ 
tur  des  Scirrhus  theilhaftig  geworden  sind,  bildet.  Die  Er¬ 
fahrung  lehrte  ihm,  dafs  es  nur  zwei  organische  Gewebe 
giebt,  in  welchen  die  Bildung  und  Entwickelung  des  Scir¬ 
rhus  und  des  Krebses  statt  finden  kann,  die  äufseren  con- 
glomenrten  Drüsen  nämlich ,  und  die  Haut.  Unter  jenen 
Drüsen  ist  die  der  Brust  mehr,  als  jede  andere  dieser 
Krankheit  unterworfen;  ihr  folgen  die  Parotis,  die  maxilla- 
ris ,  die  lacrymalis  und  der  Körper  des  Hodens,  nicht  des 
Nebenhodens,  von  dem  cs  noch  zweifelhaft  ist,  ob  er  je 


VIII.  Scarpa's  chirurgische  Schriften.  63 

ursprünglich  scirrhös  wird.  Die  Natur  des  Scirrhus  ist  um 
so  zerstörender,  je  gefäfsreicher,  empfindlicher,  und  je  mehr 
zu  edlen  Functionen  die  Theile  bestimmt  sind,  welche  die 
vom  Scirrhus  ergriffene  Haut  bedeckt,  daher  ist  der  Krebs 
im  Gesicht  und  an  den  Lippen  weniger  fürchterlich,  als 
der  in  den  innern  Nasenhöhlen,  an  der  Zunge,  an  der 
Thränencarunkel ,  der  Eichel,  dem  Mastdarm,  der  Scheide 
und  dem  Mutterhalse.  In  Hinsicht  des  letztem  zweifelt  er 
nicht,  dafs  man  den  Anfang  des  Mutterkrebses  immer  in 
der  Vereiterung  eines  oder  mehrerer  der  kleinen  Scirrhen 
unter  der  Form  von  Warzen  oder  harten  Knötchen  erken¬ 
nen  müsse,  welche  sich  auf  der  umgeschlagenen  Haut  bil¬ 
den,  die  die  Oberfläche  der  Scheide  und  zugleich  den  Mut¬ 
termund  und  den  Mutterhals  auskleidet;  einer  oder  mehrere 
dieser  bösartigen  Tuberkeln  der  umgeschlagenen  Haut  neh¬ 
men  an  \  olumen  zu,  umgeben  den  Muttermund  wie  ein 
King,  und  bewirken  so,  dafs  diese  natürliche  Spalte  sich 
krankhaft  öffnet  und  erweitert,  und  dafs  sie  harte  unregel- 
mäfsige  Ränder  darbietet,  welche  nachher  exulceriren,  und 
durch  die  aus  freien  Stücken  entstehenden,  schnell  durch¬ 
fahrenden  Stiche  schmerzhaft  werden,  was  sie  vorher  nicht 
waren.  Sie  bieten  dem  untersuchenden  Finger  um  den 
Muttermund  herum,  also  in  der  Tiefe  der  Scheide,  Fur¬ 
chen  und  kammartige  Auswüchse  dar,  von  welchen  ein 
dünner  blutiger  Ichor,  von  häfslichem,  laugenartigen  Ge¬ 
rüche  träufelt.  Die  cancröse  Vereiterung  breitet  sich  an¬ 
fangs  oberflächlich  auf  dem  Mutterhalse  aus,  gerade  so  wie 
es  der  Krebs  auf  der  Gesichtshaut  zu  thun  pflegt;  alsdann 
geht  sie  tiefer,  und  nagt  die  Substanz  des  Mutterhalses  an, 
darauf  die  ihres  Körpers,  und  endlich  auch  die  ihres  Grun¬ 
des.  —  Den  Unterschied  zwischen  Scirrhus  und  zwischen 
Scrofel  und  Kropf,  welche  beide  Scarpa  für  eines  und 
desselben  Ursprungs  hält,  so  wie  zwischen  Scirrhus  und 
chronischen  Geschwülsten  der  conglomerirten  Drüsen,  und 
zwischen  Scirrhus  und  Fungus  medullaris  hebt  er  sehr  deut¬ 
lich  hervor;  wir  bitten,  diese  Punkte  nachzulesen.  —  Für 


64  VIII.  Scarpa  s  chirurgische  Schriften. 

einen  Irrthum  hält  er 'es,  zu  glauben,  eine  jede  chronische 
harte  schmerzlose  Geschwulst,  sie  möge  eine  Drüse  oder 
irgend  ein  anderes  organisches  Gewebe  ergriffen  haben, 
von  ursprünglich  nicht  bösartiger  Natur,  könne  mit  der 
Zeit  und  durch  das  Zusammentreffen  von  gewöhnlichen 
Umständen  sich  in  Krebs  verwandeln.  Dagegen  scheint  es 
ihm  der  Wahrheit  nahe  zu  kommen,  wenn  man  im  Scir- 
rhus  einen  niedergelegten  Saamen  von  einer  viel  schwere¬ 
ren  Krankheit,  als  der  Scirrhus  selbst  ist,  annimmt.  Dieser 
Saame  kann  aber  weder  ausgetrieben,  noch  zui  iickgewor- 
fen  werden,  sondern  er  bleibt  latent  und  unschädlich  so 
lange,  bis  er  durch  das  Zusammentreffen  von  irgend  eini¬ 
gen  innern  oder  äufsern  Gelegenheitsursachen  in  volle  Thä- 
tigkeit  an  der  Stelle,  wo  er  sich  befindet,  gesetzt  wird. 
Die  Frage,  ob  es  überhaupt  eine  scirrhöse  Diathcsis  gebe, 
verneint  er,  und  glaubt,  dafs  die  Erzeugung  des  Scirrhus- 
keimes  in  dem  ganzen  Körper  nur  einer  gewissen  Zeit  an¬ 
gehöre,  weil  der  Scirrhus  erstens  eine  isolirte,  nur  einmal 
vorkommende,  begränzte  Krankheit  ist  (und  doch  giebt  es 
unläugbar  gleichzeitig  Scirrhen  in  mehreren  Theilcn  des 
Körpers,  z.  B.  in  den  Brüsten  und  dem  Uterus),  und  weil 
zweitens  die  Krankheit  radical  geheilt  wird,  wenn  der  Scir- 
rbus  exstirpirt  wird,  ehe  er  anfängt  in  den  Krebs  auszu¬ 
arten.  —  Die  nächste,  hinreichend^  Ursache  dieses  Uebels 
entspringt  aus  keiner  andern  Quelle,  als  aus  einem  innern 
vitalen  Bildungsprozesse,  zu  welchem  ein  jedes  Individuum 
mehr  oder  weniger,  oder  gar  nicht  prädisponirt  ist,  auch 
wenn  es  ganz  denselben  Gelegenheitsursachen  ausgesetzt 
ist.  —  Die  Erscheinungen  des  Uebergangcs  des  Scirrhus 
in  den  Krebs  sind  sehr  schön  gezeichnet.  —  Da  Scarpa 
behauptet,  dafs  der  Scirrhus  ursprünglich  und  während  sei¬ 
ner  ersten  Periode  nichts  ist,  als  ein  deponirter  bösartiger 
Keim,  welcher  in  dem  gesammten  Körper  erzeugt,  aus  die¬ 
sem  aber  von  den  Lebenskräften  ausgetrieben  und  ganz  und 
gar  in  dem  Innersten  irgend  einer  der  äufsern  conglome- 
rirten  Drüsen,  oder  auf  einem  Stücke  der  äufsern  oder 


ein- 


VIII.  Scarpa's  chirurgische  Schriften.  65 

einwärts  geschlagenen  Haut  vereinigt  ist,  wo  er  verborgen 
und  unschädlich  verweilt,  und  dafs  der  Krebs  nichts  ist,  als 
die  Folge  eines  unvollkommenen  örtlichen  Eiterungspro¬ 
zesses,  in  der  innersten  Substanz  einer  scirrhösen  Drüse, 
wodurch  sich  das  bösartige  Depositum,  latent  und  unschäd¬ 
lich,  wie  es  war,  in  eine  cancröse  .Tauche  verwandelt,  so 
folgert  er  hieraus  natürlich,  dafs  die  Zerstörung  des  Scir- 
rhus  nur  dann  von  einem  glücklichen  Erfolge  begleitet  sein 
könne,  wenn  die  Operation  ausgeführt  wird,  ehe  der 
Krankheitssaamen ,  mag  er  sich  mitten  in  einer  scirrhösen 
Drüse,  oder  einer  bösartigen  Warze,  oder  einem  Haut¬ 
knötchen  befinden,  sich  entwickelt  hat,  d.  h.  ehe  die  Stiche 
erscheinen  und  die  Infection  der  mit  dem  Sitze  des  verbor¬ 
genen  Krebses  in  Verbindung  stehenden  lymphatischen  Drü¬ 
sen  erfolgt  ist.  Er  gesteht  frei,  fast  immer  unglücklich  ge¬ 
wesen  zu  sein,  wenn  erJScirrhen  operirt  habe,  die  schon  in 
ihr  zweites  Stadium  übergegangen  waren.  In  dem  ganzen 
Verlaufe  seiner  langen  Praxis  gelangen  ihm  nur  drei  Fälle 
der  Ausrottung  des  ächten  Scirrhus  in  der  Brustdrüse;  zahl¬ 
reicher  waren  die  Heilungen,  die  er  durch  die  Castration 
bewirkte.  Dagegen  exstirpirte  er  mit  Glück  Warzen  und 
barte  bösartige  Knötchen  der  Lippenhaut,  der  Seiten  der 
Nase  und  des  Gesichts,  in  denen  nicht  allein  flüchtige 
Stiche  rege  waren,  sondern  in  denen  sich  auch  schon  Risse, 
aus  welchen  Tropfen  eines  beifsenden  Serums  herausflossen, 
gebildet  hatten;  er  gebrauchte  aber  die  Vorsicht,  die  Wunde 
per  prirnam  intentionem  zu  heilen.  Einen  solchen  Fall,  zu 
welchem  die  erste  lithographische  Tafel  gehört,  beschreibt 
er  am  Ende  dieser  lehrreichen  Abhandlung,  deren  Inhalt 
wir,  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  wegen,  ausführlich 
mittbeilen  zu  müssen  glaubten. 

Die  nun  (S.  42)  folgende  Abhandlung  über  den 
Wasserbruch  des  Saamenstranges  ist  nicht  weniger 
interessant.  Zuerst  beschäftigt  sich  Scarpa  mit  dem  dif¬ 
fusen  Wass e rb r uc h e.  Die  Zellen  des  den  Saamenstrang 
umgebenden  Zellgewebes  sind  dabei  in  eine  Masse  von  Bläg- 
Xiir.  Bd.  i.  St.  5 


66  VIII.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften. 

eben  voll  Wassers  verwandelt,  von  denen  einige  weit  genug 
sind,  eine  Fingerspitze  aufzunehmen;  aber  am  Ende  ver¬ 
schwinden  auch  diese  Zellen,  und  man  findet  nur  eine  ein¬ 
zige  weite  Höhle  voll  Wasser,  daher  man  alsdann  auch  nur 
an  der  Basis  der  Geschwulst  Fluctation  fühlt.  Die  Basis 
ist  von  dem  darunter  gelegenen  Hoden  immer  durch  eine 
halbmondförmige  Furche  getrennt,  und  diese  stets  deutlich 
zu  fühlen.  Das  Wasser  ist  hell  und  dünnflüssig,  bisweilen 
gelblich,  grünlich,  eiweifsartig,  selten  gelatinös.  Hat  die¬ 
ser  Wasserbruch  den  Bauchring  inne  und  ihn  erweitert,  so 
hält  es  selbst  Scarpa  für  sehr  schwer,  ihn  bestimmt  von 
einem  Inguinalnetzbruch  zu  unterscheiden.  Durch  welche 
Zeichen  sich  die  CompHcation  mit  einem  Wasserbruch  der 
Scheidenhaut  des  Hodens  kund  thue,  setzt  er  sehr  klar  aus¬ 
einander,  wir  erwähnen  blofs,  dafs  er  gegen  Morgagni, 
Garengeo t  und  La  Fay  darthut,  dafs  das  im  Zellgewebe 
des  Saamenstrangs  angehäufte  Wasser  nie  die  Scheidewand, 
die  die  Basis  des  freien  Wasserbruchs  von  der  Höhle  der 
Scheidenhaut  trennt,  mittelst  seiner  Last  durchbohren  oder 
vermittelst  einer  angenommenen  Schärfe  durchfressen,  dafs 
sich  also  nie  aus  beiden  Wasserbrüchen  ein  einziger  bil¬ 
den  könne.  —  Nun  wendet  sich  Scarpa  zu  dem  Balg¬ 
wasserbruch.  Dafs  diese  Art  sich  auch  bei  Frauen  in 
der  zelligcn  Hülle,  die  das  runde  Mutterband  umgiebt  und 
es  aufserhalb  des  Bauchrings  in  die  Weiche  und  äufsere 
Schaam  begleitet,  bilde,  beweist  er  durch  die  Erzählung 
eines  solchen  Falles.  Die  Bedingungen  des  Entstehens  des 
Balgwasserbruchs  vergleicht  er  sehr  richtig  mit  denen  des 
Aneurysma  diffusum  und  circumscriptum.  Der  Balg  befin¬ 
det  sich  unmittelbar  über  dem  Hoden,  oder  in  einer  mehr 
oder  weniger  grofsen  Entfernung  oberhalb  desselben.  Er- 
sterer  ist  gewöhnlich  von  eiförmiger  Gestalt,  und  hier  die 
Diagnose  bisweilen  schwer.  Wenn  jedoch  von  der  ganzen 
Geschwulst  diejenige  Portion,  die  im  Grunde  und  ein  wenig 
seitwärts  des  Iiodensacks  hervorragt,  sich  eindrücken  läfst, 
weich,  glatt  und  vor  allem  andern  bei  dem  leisesten  Druck 


VIII.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften.  67 

empfindlich  ist,  während  der  ganze  übrige  Theil  der  Ge¬ 
schwulst  keine  anderen  Merkmale,  als  die  einer  Illase  voll 
Wasser  darbietet,  so  behauptet  Scarpa  bestimmt:  dafs  die 
erstere  kleinere  Portion  der  ganzen  Geschwulst  der  Ilode 
in  seinem  gesunden  Zustande  sei,  und  dafs  der  übrige  Theil 
der  Geschwulst  von  einem  Balgwasserbruch  des  Saalneu¬ 
strangs  gebildet  werde.  Der  Balg  besteht  übrigens  aus  zwei 
Lagen,  nämlich  aus  der  muskulös-sehnigen  Scheide  des 
Cremasters,  und  aus  dem  mehr  oder  weniger  verdickten, 
Zellgewebe.  Linnial  land  Scarpa  den  1  loden  gleichzeitig 
atrophisch,  und  in  dem  ganzen  Umfange  der  innern  Ober¬ 
fläche  der  Scheidenhaut  adhärent.  Bei  der  zweiten  Art 
warnt  er,  die  Geschwulst  nicht  für  einen  dritten  Hoden, 
an  dessen  Existenz  er  überhaupt  zweifelt,  zu  halten.  Die 
Geschwulst  ist  nach  allen  Richtungen  hin  beweglich,  als  ob 
sie  an  einem  Stiele  festsälse;  drückt  man  sie  hinauf,  so  zieht 
sie  den  Hoden  nach  sich  und  mit  in  die  Höhe.  Sie  ist  ela¬ 
stisch ,  läfst  sich  eindrücken,  und  ist  deutlich  fluctuirend. 
Der  Balg  sitzt  unmittelbar  unter  den  allgemeinen  Bedeckun¬ 
gen,  ist  weifslich,  glatt  und  mit  einem  helfen,  eiweifsarti¬ 
gen  Serum  angefüllt.  Angehängt  sind  dieser  Abhandlung 
fünf  lehrreiche  Krankengeschichten.  Die  Abbildungen  auf 
der  zweiten,  dritten  und  vierten  Tafel  dienen  nicht  wenig 
zur  Erläuterung  dieses  Gegenstandes. 

Io  der  Abhandlung  (S.  89)  über  das  Gorgeret, 
dessen  sich  Ilawkins  bei  der  Steinoperation  bediente,  zeigt 
Scarpa  deutlich,  dafs  Hawkins  sein  sich  vorgestecktes 
Ziel  mit  demselben  nicht  vollkommen  erreichte,  sowohl 
weil  die  schneidende  Seite  seines  Conductors  sich  nicht 
genug  über  die  Rinne  des  Calheters  erhebt,  um  nach  Er- 
fordernifs  in  gehöriger  Tiefe  in  die  Substanz  des  Körpers 
und  der  Basis  der  Prostata  eingesenkt  werden  zu  können, 
als  auch,  weil  eben  diese  schneidende  Seite  zu  weit  nach 
oben  gekehrt  ist  und  sie  daher  durch  diese  Richtung  den 
Körper  und  die  Basis  der  Prostata  nicht  seitlich,  sondern 
vielmehr  in  ihrem  oberen  Theile  einschneidet,  mit  welchem 

5  * 


I  # 

G8  VIII.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften. 

sie  narh  der  Spitze  des  Ramus  ossis  ischii  und  wach  dem 
Schaambcinbogen  sieht;  dies  ist  aber  für  den  Austritt  des 
Steins  aus  der  Rlase  der  beschränkteste  und  beschwerlichste 
Weg  von  allen  andern  im  MittelHeische.  I  ebrigens  ist  die 
Breite  der  Spitze  des  Konductors  so  wenig  dem  Durchmesser 
der  membranösen  Urethra  proportionii  l,  dafs  bei  dem  grofsen 
Widerstande,  den  man  hier  antrifft,  das  Instrument  sehr 
leicht  aus  der  Rinne  des  Catheters  herausgeht  und  sich 
zwischen  Blase  und  Mastdarm  eindrängt.  W  egen  aller  die¬ 
ser  Mängel  verbesserte  Scarpa  dieses  Instrument.  Sein 
verbesserter  Gonductor  (s.  Taf.  V.  Fig.  1.  '1.  3.)  ist  vier 
Linien  breit  und  zwei  Linien  tief,  die  Breite  wird  nach 
dem  Schnabel  zu  geringer;  die  scharfe  Seite  ist  in  der  Nähe 
der  Spitze  ein  gerades  Bistouri,  das  aber  allmäblig  sich 
erhebt  und  über  der  wagerechten  Linie  des  gefurchten  Ka¬ 
theters  convex  wird,  so  dafs  es  an  seiner  grofsten  Kon¬ 
vexität  sieben  Linien  breit  ist;  die  Neigung  der  Schneide 
zur  Längenaxe  des  Führers  macht  genau  einen  Winkel  von 
69  Graden,  dieser  Winkel  ist  also  gerade  so  grofs,  als 
jener,  unter  welchem  zur  Längenaxe  des  Halses  der  Urethra 
die  linke  Seite  der  Prostata  eingeschnitten  «werden  soll. 
Die  Art  und  Weise,  sich  dieses  Instruments  zu  bedienen, 
mufs  nachgelesen  werden.  Scarpa 's  Methode  stimmt  im 
Allgemeinen  mit  der  bekannten  von  diese  Iden  überein; 
auch  gesteht  er,  dafs  man  den  Seitensteinschnitt  eben  so 
gut,  wie  mit  seinem  Instrumente,  init  einem  blofsen  Messer 
machen  könne.  Das  Ko  me  sehe  Lithotom  hat  nach  ihm 
keine  besonderen  Vorzüge.  —  In  einer  Bemerkung  zu 
dieser  Abhandlung  tadelt  Scarpa,  und  gewifs  mit  vollem 
Rechte,  Samuel  Ko o per,  weil  dieser  behauptet,  dafs  die 
Vervollkommnung  des  Scitensteinschnitts  allein  darin  be¬ 
stehe,  einen  weiten  Einschnitt  in  die  Rlase  zu  machen,  und 
dafs  das  Gorgcrct  von  Ilawkins,  trotz  den  von  Scar|>a 
gemachten  Verbesserungen ,  von  allen  bis  jetzt  erfundenen 
Instrumenten  am  wenigsten  zu  einer  genauen  Ausführung 
des  Innern  Scitcnschnittcs  geschickt  sei. 


\ 

VIII.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften.  69 

% 

In  der  Abhandlung  über  den  Unterbauchgegend¬ 
schnitt,  um  den  Stein  aus  der  Urinblase  zu  ziehen  (Seite 
119),  prüft  der  "V  erf.  das  Uomesche  Verfahren,  und  giebt 
wesentliche  Verbesserungen  desselben  an.  Zuerst  macht  er 
mit  freier  Hand  und  dann  mit  Hülfe  der  Hohlsonde  einen, 
der  Gröfse  des  auszuziehenden  Steines  entsprechenden  Län¬ 
genschnitt  in  der  weifsen  Linie.  Dann  zerreifst  er  mit  der 
Fingerspitze,  so  viel  als  nüthig  ist,  das  weiche  fettige  Zell¬ 
gewebe,  das  die  vordere  Wand  der  Blase,  und  weiter  oben 
den  Sack  des  Bauchfells  mit  der  innern  Wand  des  Schaam- 
beins  locker  verbindet;  hierauf  spaltet  er  die  mittelst  des 
Pfeilträgers  in  die  Hohe  gehobene  vordere  Wand  der  Blase, 
aber  nicht  längs  der  Furche  des  Pfeilträgers,  sondern  er 
beginnt  mit  dem  Schnitte  etwa  anderthalb  Linien  unter  dem 
Heftstiche  des  Pfeiles.  Damit  dieser  Einschnitt  in  der  ge¬ 
hörigen  Lichtung  und  parallel  mit  der  Längenaxe  der  Blase 
gemacht  werde,  hat  er  an  der  Sonde  (s.  Taf.  VI.  Fig.  2.) 
einen  breiten  Führer  anbringen  lassen,  dessen  Ränder  über 
der  äufsern  Oberfläche  der  Sonde  selbst  hoch  genug  her¬ 
vorstehen,  so  dafs  man  sie  mit  dem  Finger  deutlich  durch 
die  vordere  Blasenwand  durchfühlen  kann,  ehe  man  in  diese 
einschneidet.  Zum  in  die  Hohe  halten  der  Blase,  während 
des  Ausziehens  des  Steines,  empfiehlt  Scarpa  einen  Auf¬ 
hängehaken  (s.  Fig.  5.).  Das  Einbringen  eines  ausgezupf¬ 
ten  Leinwandstreifchens  gleich  nach  der  Operation  bis  in 
die  Blase,  hält  er  nicht  blofs  für  unnütz,  sondern  auch  für, 
schädlich. 

S.  138  finden  wir  einen  Brief  an  den  Prof.  Maunoir 
über  den  M a  std  a  rm b  1  ase n  s ch  n itt;  S.  148  eine  Ab¬ 
handlung  über  denselben  Gegenstand;  S.  198  die  Prüfung 
der  dritten  Abhandlung  des  Prof.  Vacca  über  den  Mast¬ 
darmblasenschnitt,  und  S.  219.  als  Anhang  Beobachtungen 
aus  der  Erfahrung  über  die  Nachtheile  des  Mastdarmblasen¬ 
schnittes  in  Vergleich  mit  dem  Seitenschnitte.  Auf  die 
Ansichten  Scarpa’s  über  diesen  Gegenstand  glauben  wir 
uns  nicht  specicll  einlassen  zu  dürfen,  da  sie  bereits  wohl 


t 


70  A  III.  Scarpa  s  chirurgische  Schriften. 

den  meisten  Wundärzten  aus  einer  früheren  Schrift  dessel¬ 
ben  (Weimar,  1824.)  zum  J'heil  bekannt  sjnd;  wir  be¬ 
gnügen  uns  daher,  hier  nur  kurz  das  Resultat  seiner  Unter¬ 
suchungen  mitzutheilen.  Er  sagt  S.  194:  «Ich  ziehe  nun 
den  Schlufs,  dafs  schon  die  anatomische  Retrachtung  sowohl 
der  Theile,  an  welchen  der  Seitenschnitt  ausgeführt,  als 
jener,  an  welchen  der  Mastdarmblascnschnitt  vollzogen  wird, 
lim  wie  viel  mehr  die  Resultate  der  täglichen  Erfahrung, 
die  man  einerseits  in  Folge  des  Seitenschnittes,  im  engern 
Sinne  des  Wortes,  und  andererseits  in  Folge  des  Mastdarm- 
blasenschnittcs  aufgezeichnet  hat,  auf  eine  vollkommen  über¬ 
zeugende  W  eise  das  grofse  Uebergewicht  des  Seitenschnittes 
über  den  Mastdarmblascnschnilt  darthun.  Ferner  geht, 
rücksichtlich  der  Fälle,  in  welchen  der  Stein  einen  aufser- 
ordentlich  grofsen  Umfang  erreicht  hat,  aus  der  Retrach¬ 
tung  der  sowohl  hei  der  einen,  als  hei  der  andern  Opera¬ 
tion  intercssirten  Theile,  nicht  weniger  klar  und  gewifs 
hervor,  dafs  der  Mastdarmblasenschnitt  wegen  der  grofsen 
Ausdehnung  des  Schnittes,  welche  diese  Operationsweise 
auf  ihrem  W  ege  von  der  häutigen  Harnröhre  aus  durch 
den  Hals  der  Urethra,  durch  die  Mündung  der  Illase,  und 
von  da  L  is  in  den  tiefen  Grund  derselben  erfordert,  wegen 
der  unvermeidlichen  Verletzung  der  Saamenausspritzungs- 
kanäle,  und  des  einen  oder  des  andern  Saamenhläschens, 
oder  des  entsprechenden  Vas  deferens,  wegen  der  Gefahr 
die  hintere  Duplicatur  des  Rauchfellsackes  zu  verletzen,  und 
endlich  wegen  des  unvermeidlichen  traurigen  Folgeübels, 
nämlich  einer  unaufhörlichen  Kolhurinfistcl ,  eine  Art  der 
Steinoperation  sei,  welche  nicht  nur  dem  Seitenschnitte 
hintenanzusetzen  ist,  sondern  auch  dem  Unterbauchgegend- 
sclmiltc,  und  den  Mitteln,  welche  man  bisher  zur  Auszie¬ 
hung  von  Steinen  angewandt  hat,  die  in  dem  Halse  der 
Harnröhre  ihren  Sitz  haben.  Wrenn  man  ferner  den  Mast- 
darmblasenscbnitt  von  Seiten  seiner  allgemeinen  und  par¬ 
tiellen  Folgesymptome  betrachtet,  so  zeigen  die  Resultate 
der  chirurgischen  Kliniken  zu  Turin  und  Paris,  und  selbst 


/ 


VIII.  Scarpa  s  chirurgische  Schriften.  71 

auch  die  Krankengeschichten,  welche  die  klinische  Schule 
zu  Pisa  von  mittelst  dieser  Methode  Operirten  liefert,  sehr 
deutlich,  dafs  man  den  Grad  der  örtlichen  und  allgemeinen 
äufserst  häufigen  und  gefährlichen  Zufälle,  welche  in  Folge 
des  Mastdarmblasenschnittes  Vorkommen,  nach  dem  Seiten¬ 
schnitte  nur  sehr  selten  beobachtet.  u  In  der  Prüfung  der 
dritten  Abhandlung  des  Prof.  Vacca  beweist  Scarpa: 
1)  dafs  der  Mastdarmblasenschnitt,  nach  den  Vorschriften 
die  der  Prof.  Vacca  giebt,  mehr  oder  weniger  das  Eja- 
culationsorgan  zerstört.  2)  Dafs  in  allen  Fällen,  wo  der 
Stein  eine  mittelmäfsige  Gröfse  hat,  und  man  die  Opera¬ 
tionsmethode  Vacca’s  befolgt,  immer  eine  Portion  der 
dicken  und  harten  Basis  der  Prostata  undurchschnitten  bleibt, 
welche  Portion  einen  Ring  um  die  Mündung  der  Blase  bil¬ 
det  und  einen  kräftigen  Widerstand  gegen  die  Einführung 
des  Fingers  und  der  Instrumente,  und  gegen  den  Austritt 
des  Steines  leistet.  3)  Dafs  der  Weg  von  der  häutigen 
Harnröhre  bis  zur  Blasenmündung  von  unten  nach  oben 
durch  die  dicke  und  harte,  untere  oder  hintere  Portion  der 
Vorsteherdrüse,  wobei  deren  Basis  zum  Theil  unberührt 
bleibt,  länger  ist,  als  der,  welcher  von  der  häutigen  Harn¬ 
röhre  bis  zur  Blasenmündung  führt,  wenn  derselbe  durch 
den  obern  und  seitlichen  Theil  der  Vorsteherdrüse  geht; 
und  überdies,  dafs  der  erstere  längere  Weg  auch  von  un¬ 
ten  nach  oben  gebogen  ist.  4)  Dafs  die  untere  oder  hin¬ 
tere  Portion  der  Vorsteherdrüse,  die  auf  den  Mastdarm  hin¬ 
sieht  und  die  bei  dem  operativen  Verfahren  Vacca’s  in 
den  meisten  Fällen  nicht  weiter,  als  etwas  über  die  Hälfte 
ihrer  ganzen  Länge  durchschnitten  wird ,  durch  die  Dicke, 
Härte  und  Rigidität  ihrer  Substanz,  besonders  an  ihrer 
Basis,  vielmehr  geneigt  ist,  sich  durch  das  ganze  Stück, 
wo  sie  nicht  durchschnitten  ist,  zerreifsen  als  ausdehnen  zu 
lassen.  5)  Dafs  es,  um  einen  Stein  von  sehr  grofsem  Um¬ 
fange  auszuziehen,  man  mag  den  Schnitt  am  Halse  der  Blase 
oder  über  der  Basis  der  Vorsteherdrüse  anfangen,  nöthig 
ist,  mehr  oder  weniger  vom  tiefen  Grunde  der  Blase  zu 


72  A  III.  Scarpa’s  chirurgische  Schriften. 


spalten,  wobei  man  die  sehr  bedeutende  Gefahr  läuft,  die 
hintere  Duplicatur  des  Bauchfells  zu  verletzen,  und  wobei 
man  fast  mit  Gewifsheit  erwarten  kann,  eine  unaufhörliche 
Kothurinfistel  zurückzulassen.  (i)  Dafs  die  Erscheinungen, 
welche  auf  den  Mastdarmblasenschnitt  folgen,  man  mag  ihn 
in  einer  Manier  ausfiihrcn,  in  welcher  man  wolle,  fast  im¬ 
mer  höchst  gefährlich  sind,  und  mit  einer  tödtlichen  Bla¬ 
sen-  und  Bauchfellentzündung  drohen,  um  welche  zu  ver¬ 
meiden  man  fast  in  jedem  Falle  nötliig  hat,  gleich  nach 
vollbrachter  Operation  die  kräftigsten  Mittel  in  Gebrauch 
zu  ziehen,  welche  uns  die  Medicin  und  Chirurgie  gegen 
die  heftigen  Entzündungen  bieten.  —  Taf.  VII.  und  VIII. 
enthalten  Abbildungen,  die  Scarpa’s  Behauptungen  be¬ 
kräftigen.  " 

Den  Beschlufs  dieser  Abhandlungen  macht  eine  über. 
Schwangerschaft  mit  gleichzeitiger  Bauchwas¬ 
sersucht,  S.  225.  Scarpa  erzählt  hier  einen  Fall,  in 
w  eich  ern  er  mit  dem  glücklichsten  Erfolge  den  Bauchstich 
im  linken  Hvpochondrium ,  zwischen  der  Spitze  der  äufsern 
Seite  des  geraden  Bauchmuskels  und  zwischen  dem  Bande 
der  falschen  Hippen,  an  welcher  Stelle  die  Fluctuation  ain 
deutlichsten  war,  machte.  Darauf  theilt  er  drei  Beobach¬ 
tungen  des  Dr.  Cruch  mit,  die  dieser  Operationsmethode 
sehr  das  Wort  reden,  und  zuletzt  vergleicht  er  seine  Me¬ 
thode  mit  der  von  Längs  taff.  Letzterer  machte  erst 
zwei  Zoll  unter  dem  Nabel  einen  Einschnitt,  durch  welchen 
er  das  Bauchfell  blofs  legte,  durchbohrte  dieses  dann  mit 
einem  I  roakar,  und  führte  darauf,  weil  die  Böhrc  wegen 
des  V  orliegens  des  Uterus  zu  viel  Schmerzen  verursachte, 
eine  elastische  Sonde  ein.  Dafs  Scarpa’s  Methode  viel 
einfacher  und  zweckentsprechender  ist,  als  diese,  versteht 
sich  wohl  von  seihst. 

Die  Ucbersetzung  liest  sich  sehr  gut  Mit  VergnügeD 
sehen  wir  dem  zweiten  1  heile  dieses  Werkes  entgegen. 


IX.  Expans.  d.  Knochen  n.  Callus  nach  Fracturen.  73 


IX.  •  ' 

Uchcr  die  Expansion  der  Knochen  und 
den  Callus  nach  Fracturen.  \on  Antonio 
Sca.pa,  des  K.  Leopold -Ordens  Ritter,  Director 
der  medicinischen  Facultat  zu  Pavia,  Mitgliede  der 
König!.  Academie  der  Wissenschaften  zu  Paris, 
London,  Berlin,  Stockholm  u.  s.  w.  Aus  dem  La¬ 
teinischen  übersetzt.  Mit  drei  Kupfertafeln.  Wei¬ 
mar,  1828.  4.  70  S.  (1  Thlr.  8  Gr.) 

Yon  Scarpa’s  neuestem  Werke:  De  anatome  et  pa- 
ihologia  ossium  Commentarii,  Ticini  1828.  4.,  wird  hier 
blofs  die  Uebersetzung  des  zweiten  Commentarius,  de  ex- 
pansione  ossium  deque  eorundem  callo  post  fraetüram  ge¬ 
liefert,  da  der  erste:  De  penitiori  ossium  structura,  schon 
vor  mehreren  Jahren  durch  Roose  übersetzt  erschie¬ 
nen  ist. 

In  dem  ersten  Commentar  hat  Scarpa  gezeigt,  dafs 
das  ganze  Knochengewebe  nebst  der  harten  Rinde  durch 
und  durch  cellulös,  und  überall  netzartig  ist.  In  diesem 
sucht  er  zu  beweisen ,  dafs  sich  unter  gewissen  Redingun¬ 
gen  ,  auf  welche  wir  weiter  unten  zurückkommen  werden, 
das  ganze  Knochengewebe  erweicht  und  expandirt,  sich 
gleichsam  so  auseinander  giebt,  dafs  es  zu  seiner  ursprüng¬ 
lichen  netzförmigen  Textur  zurückkehrt.  Zu  diesen  Bedin¬ 
gungen  rechnet  er  Reize,  welche  von  einem  verborgenen 
giftigen  Stoffe  oder  von  einer  äufsern  Gewalttätigkeit  ab¬ 
hängig  sind.  Durch  künstliche  Zerstörung  des  Knochen¬ 
markes  bei  Thieren  erhielt  er  diese  Resultate,  deren  Wahr¬ 
heit  von  Meding  angefochten  wurde,  die  er  aber  hier, 
auf  wiederholte  Versuche  sich  stützend,  neuerdings  bestä¬ 
tigt.  Je  gröfser  bei  diesen  Versuchen  die  Zerstörung  des 
Knochenmarks  und  der  Reiz  gewesen  war,  den  er  in  der 
Meduilarröhre  hervorgebracht  hatte,  desto  weicher,  lockerer 


74  IX.  Expansion  der  Knochen 

und  expandirter  war  die  Knochentextur  der  Rinde.  Je 
jünger  das  Thier,  desto  bedeutender.  Darauf  macht  er  auf 
die  Fälle  aufmerksam,  wo  alle  oder  die  meisten  Knochen 
an  einem  und  demselben  Subjecte  von  einem  verborgenen 
giftigen  Stoffe  zur  Weichheit  und  Biegsamkeit  des  Knorpels 
gebracht,  locker  und  expandirt  worden  sind,  und  dann  auf 
die  Fälle,  wo  man  solche  Phänomene  einzeln  in  dem  einen 
oder  dem  andern  Knochen  ohne  Unterschied  des  Alters 
oder  des  Geschlechts  wahrnimmt.  Zu  letzteren  zählt  er 
die  Fälle,  wo  bei  Kindern,  welche  an  Ilydrocephalus  inter¬ 
nus  leiden ,  die  Schädelknochen  sehr  expandirt  und  dick 
sind;  ferner  die  widernatürliche  Protuberanz  der  Oberkie¬ 
ferhöhle  als  Folge  einer  anhaltenden  Reizung  durch  einen 
Po  l  y  pen  u.  dergl.  in  derselben;  das  Ausgefülltwerden  von 
Zahnhöhlen ,  nachdem  die  Zähne  herausgerissen  worden 
sind;  das  erste  Stadium  der  Uyphosis  paralytica;  Auftrei¬ 
bungen  der  sogenannten  schwammigen  Knochen,  so  wie 
auch  der  Riaphysen  und  Epiphysen  der  röhrenförmigen 
Knochen,  sogar  auch  des  Mittelstücks  der  röhrenförmigen 
Knochen  in  Folge  krankhafter  Anlage;  die  Exostosis  vera 
(Exostosis  spuria  nennt  er  diejenige,  welche  von  dem  auf 
der  äulscrn  Oberfläche  des  Knochens  ausgeschwitzten  und 
zu  Knochen  verhärteten  Knochensaft  gebildet  wird,  und 
die  eben  so  entsteht,  wie  der  Uallus),  von  welcher  er  zwei 
Arten  annimmt,  eine  gutartige  und  eine  bösartige;  erstere 
erlangt  nach  der  Y\  iederaufnahme  der  erdsalzigen  Rcstand- 
theile  die  Härte  und  die  Eigenschaften  des  gesunden  und 
vollkommenen  Knochens  wieder,  letztere  steht  in  ihrem 
Wacl  isthume  niemals  still,  wird  cariös,  es  bilden  sich  Höh¬ 
len  in  derselben  u.  s.  w. ;  O>teosarcoma ;  Spina  ventosa; 
Paedarthror ace.  (Das  Osteosarcoma  ist  Scarpa’s  Ansicht 
nach  nichts  anderes,  als  der  höchste  und  bösartigste  Grad 
der  Spina  ventosa  oder  Exostosis  maligna,  und  von  beiden 
Lösartigen  Knochenanschwcllungen  der  schlimmste  Ausgang. 
Paedarthrocace,  Spina  ventosa  und  Exostosis  vera  hält  er  für 
eine  und  dieselbe  Krankheit,  welche  je  nach  der  grölseren 


und  Callas  nach  Fracturen. 


75 


oder  geringeren  Kraft  der  Krankheitsursache  und'  des  Giftes, 
und  je  nach  der  verschiedenen  Idiosyncrasie  des  Kranken 
mehr  oder  weniger  schwere  Symptome  hervorbringt,  daher 
könne  sich  die  Paedarthrocace  und  die  bösartige  Spina  ven- 
tosa  eben  so  wie  die  Exostosis  maligna  in  Osteosarcom  ver¬ 
wandeln.  Noch  ftiehr  für  die  Richtigkeit  dieser  Ansicht 
spricht,  dafs  sowohl  die  Paedarthrocace,  als  die  Spina  ven- 
tosa  und  die  Exostosis  maligna  auf  keine  andere  Weise,  als 
dadurch  heilen,  dals  die  Caries  in  Necrose  verwandelt  wird, 
dals  dann  durch  die  Lebenskräfte  die  abgestorbene  Knochen¬ 
substanz  von  dem  übrigen  gesunden  Knochen  getrennt  wird, 
und  das  zurückbleibende  Geschwür  gutartigen  Eiter  abson¬ 
dert.).  Die  wunderbare  Arbeit  der  Natur,  wo  die  netzför¬ 
mige  Medullarröhre  eines  röhrenförmigen  Knochens  necro- 
tisch  geworden  ist,  sich  inwendig  von  der  gesunden  Rinde 
des  Knochens  trennt  und  in’s  Centrum  wendet,  beschreibt 
der  Yerf.  sehr  ausführlich.  Er  ist  auch  hier  nicht  der  bis¬ 
her  allgemein  angenommenen  Meinung,  dafs  die  Knochen¬ 
scheide  vom  Periosteum  secernirt  werde,  sondern  behaup¬ 
tet,  dafs  alles,  was  nach  der  Necrose  der  Medullarröhre 
die  Knochenscheide  bildet,  die  gesunde  und  lebende  Rinde 
dieses  Knochens  sei,  welche  erst  erweicht  und  unter  dem 
Finger  biegsam,  dann  aufgelockert  undvexpandirt  werde,  und 
so  die  schwammige,  bimsteinartige,  knöcherne  Hülle  bilde, 
in  deren  Mitte  die  necrotische  von  der  lebenden  und  ge¬ 
sunden  Rinde  losgetrennte  und  wankende  Medullarröhre 
(der  sogenannte  Sequester)  enthalten  sei.  Das  Periosteum 
adhärirte  beständig  fest  mit  der  Rinde,  und  niemals  fand 
er  zwischen  demselben  und  der  aufgelockerten  Pvinde  etwas 
von  glutinösem  Knochensaft.  Die  anfangs  biegsame  Rinde 
bekommt  allmählig  die  Consistenz  und  Harte  des  Knochens 
wieder,  und  die  die  innere  Oberfläche  der  Knochenscheide 
bedeckende,  aus  ihr  herauswachsende  rothe  fleischige  Masse 
füllt  den  leeren  Raum  aus,  wird  bleich,  nimmt  die  Con¬ 
sistenz  des  Knochens  an,  und  wird  zuletzt  in  schwammige 
Knochensubslanz  verwandelt.  Diese  rothe  fleischige  Masse 


7G 


IX.  Expansion  der  Knochen 

ist  dieselbe,  wie  diejenige,  welche  sich  aus  den  Enden 
gebrochener  Knochen  unter  der  Form  kleiner  Karunkelu 
erbebt;  dieselbe,  wie  diejenige,  welche  nach  der  Amputa¬ 
tion  eines  Gliedes  aus  der  ganzen  Oberfläche  des  amputir- 
ten  Knochens  hervorwächst,  und  wie  diejenige,  welche 
unter  einer  abgestorbenen  Schuppe  oben  auf  dem  Knochen 
wächst,  die  necrotische  Schuppe  in  die  Hohe  bebt  und 
abstöfst.  (Troja  s  Ansicht  daher,  dafs  jene  rothe  fleischige 
Substanz  nichts  anderes  sei,  als  eine  in  die  Medullarhöhle 
umgebeugte  Lamelle  des  Periostei,  ist  falsch.)  Zuletzt 
widerlegt  Scarpa  noch  Meding’s  Erklärungsweise  der 
Entstehung  der  Knochenscheide  nach  der  Necrose  der  Me- 
dullarröbre,  und  kommt  dann  S.  44  zur  (’allusbildung. 

In  den  ersten  Tagen  nach  einer  Fraetur  findet  man 
sehr  viel  glutinöse  plastische  Materie  zwischen  den  Bruch- 
enden;  diese  Materie  ist  anfangs  fadenartig,  ziehend,  weifs- 
lich,  und  bildet  den  gefäfsreichen  CaBus.  Die  Phänomene 
der  adhäsiven  Entzündung  nach  Wunden  der  Weichtheile, 
dafs  sich  nirgends  Blutgefäfse  entwickeln  und  verlängern, 
als  wo  sie  eine  weiche  Stütze  finden,  zeigen  sich  auch  nach 
Wunden  der  Knochen;  diese  Stütze  gewährt  hier  jene  pla¬ 
stische  glutinöse  und  bald  gcfäfsreich  werdende  Knochen- 
materie,  welche  sich  aus  dem  zerrissenen  Knochengewebe 
in  Menge  zwischen  die  Bruchenden  ergiefst,  dann  in  Knor¬ 
pel,  und  zuletzt  in  gefäfsreichen  und  lebenden  Knochen  ver¬ 
wandelt  wird.  Das  einzige  Organ  der  Verarbeitung  und 
Secretion  des  Knochensaftes  ist  der  Knochen  selbst,  und 
aus  nichts  anderem,  als  aus  der  ganzen  Knochentextur,  sie 
mag  locker  und  netzförmig,  oder  hart  und  compact  sein, 
quillt  die  glutinöse,  plastische,  fadenziehende  Feuchtigkeit 
hervor,  welche  theils  im  Mittelpunkte  der  Fraetur,  theils 
an  den  Bändern,  theils  auf  «ler  äufsern  Oberfläche  des  ge¬ 
brochenen  Knochens  selbst  sich  ergiefst,  und  sieb  erst  zu 
kleinen  rothen  Carunkeln,  und  dann  zu  gröfseren  fleisch¬ 
ähnlichen  Tuberkeln  formirt,  worauf  sic  in  Knorpel  und 
zuletzt  in  Knochen  verwandelt  wird,  und  den  Namen  Gallus 


und  Callas  nach  Fractnren. 


77 


erhält.  Dafs  die  Knochenrinde  kein  unthätiger  Körper  ist, 
geht  daraus  hervor,  dafs  bei  Kopfwunden  nicht  selten  die 
vom  Pericranium  entblöfste  Rinde  vermittelst  adhäsiver  Ent¬ 
zündung  mit  den  sie  bedeckenden  Weichtheilen  verwächst. 
Ferner  zeigt  die  tägliche  Erfahrung  nach  der  Amputation, 
dafs  die  Rinde  zugleich  mit  der  übrigen  netzförmigen 
Medullarknochentextur  das  Organ  der  Verarbeitung  und 
Secretion  des  Knochensaftes  ist.  Da,  wo  die  Fractur  wie 
eine  einfache  Wunde  coalescirt,  ist  nicht  Ursach  genug  vor¬ 
handen,  warum  die  Rinde  beider  Bruchstücke  an  der  Stelle, 
wo  sie  sich  genau  berühren,  bedeutende  Veränderungen  der 
innern  Structur  erleiden  soll,  und  es  ist  da  hinreichend, 
wenn  sie  mäfsig  aufgelockert,  erweicht  und  expaudirt  wird. 
Wo  die  Bruchenden  aber  von  der  geraden  Richtung  ab¬ 
weichen  und  auf  einander  rücken,  und  biofs  auf  der  Seite 
sich  berühren,  braucht  die  Natur  ihr  Recht,  und  das  Coa- 
lesciren  und  die  Heilung  findet  in  diesem  schwierigen  Falle 
auf  eine  doppelte  Weise  statt,  nämlich  dadurch,  dafs  die 
Rinde  beider  Bruchstücke,  da  wo  sie  sich  berühren,  er¬ 
weicht,  aufgelockert  und  expandirt  wird,  und  dadurch,  dals 
die  ganze  äufsere  Oberfläche  beider  Bruchstücke  an  der 
Stelle  der  Fractur  eine  grofse  Menge  Knochensaft  erzeugt, 
denn  nachdem  das  Periosteum  beider  Bruchstücke  anf  der 
Seite,  wo  sie  sich  berühren,  abgerieben  ist,  erweicht  die 
Natur  die  harte  Rinde  beider  Bruchstücke  auf  der  Seite, 
wo  sie  sich  berührten,  lockert  sie  auf  und  expandirt  sie  zu 
einem  Schwamme,  welcher  zu  einer  gemeinschaftlichen  Masse 
zusammenwächst,  dann  sich  verhärtet  und  die  Stelle  des 
innern  Callus  versieht,  während  von  der  ganzen  äufsern 
Oberfläche  der  Rinde  beider  Bruchstücke  ein  Knochensaft 
ausströmt,  welcher  sich  in  grofser  Menge  an  der  Stelle  der 
Fractur  ergiefst,  dann  sich  in  Knochen  verwandelt,  die 
divergirenden  Bruchenden  wie  ein  Wall  umgiebt,  und  die 
ganze  Vereinigung  in-  und  auswendig  fester  macht.  Die 
Fälle  von  Wiedererzeugung  eiuer  Seite  oder  eines  Astes 
des  Unterkiefers  bezweifelt  der  Verf.  Fehlt  an  einem  röh- 


78  IX.  Exparis,  d.  Knochen  u. Callas  nachFracturen. 

renformigen  Knochen  ein  bedeutendes  Stück,  so  bilden  zwar 

die  zwei  übrig  gebliebenen  Enden  Callus,  da  aber  diese 

/ 

neuerzeugte  Knochenmasse  beide  Knden  des  langen  Kno¬ 
chens  nicht  erreicht,  so  fei II t  eine  iigamentöse  Substanz  die¬ 
sen  Zwischenraum  aus.  Diese  lignmentöse  Substanz  wird 
übrigens  nach  einer  grofsen  Zerstörung  der  Diaphvsis  eines 
Humerus  oder  Femur  bei  jungen  und  starken  Subjecten 
selten  gefunden,  weil  die  Ketraction  der  Muskeln,  trotz 
der  besten  angewandten  chirurgischen  Mittel,  das  untere 
Ende  all  mahlig  nach  dem  oberen  hinzieht.  —  Auch  in  die¬ 
ser  Abhandlung  begegnet  Scarpa  öfters  den  Ansichten 
Meding’  s,  und  immer  tadelnd,  so  rügt  er  z.  B.  noch  zu¬ 
letzt  dessen  Behauptung,  dafs  die  Knochen  keine  lymphati¬ 
schen,  absorbirenden  Gefiifse  besäfsen,  und  dafs  in  den 
Knochen  die  Venen  die  Function  derselben  erfüllten. 

Die  drei  Kupfertafclo  dienen  zur  Esläuterung  und  Be- 
stütiguhg  des  Gesagten;  Besonders  interessant  sind  die 
zweite  und  dritte  Figur  der  ersten  Tafel,  die  einen  Seque¬ 
ster  mit  seinen  Umgebungen  darstellen,  und  die  erste  Figur 
der  dritten  Tafel,  die  eine  Exostose  der  meisten  Knochen 
der  rechten  Iland  abgebildet  enthält. 

Dies  sind  die  Ansichten  Scarpa’s  über  diesen  hoch¬ 
wichtigen,  und  leider  noch  sehr  bestrittenen  Gegenstand. 
Wir  hielten  es  für  h  inreichend,  sic  in  der  Kürze  mitzu- 
theilen,  und  hoffen,  jeder  Wundarzt,  den  diese  Materie 
interessirt,  werde  durch  unsere  Mittheilung  bewogen  wer¬ 
den,  das  Werk  selbst  zur  Hand  zu  nehmen  und  zu  studie¬ 
ren.  Er  wird,  wie  aus  diesem  Auszuge  erhellt,  sehr  viel 
Originelles  darin  finden;  ob  dasselbe  sich  als  wahr  bestäti¬ 
gen  werde,  müssen  wir  späteren  Erfahrungen  überlassen. 
Zu  wünschen  wäre  allerdings  gewesen,  dafs  Scarpa  ein¬ 
zelne  Punkte  der  Kallusbildung,  z.  B.  woher  es  komme, 
dals  die  f  ractur  der  Patella  und  des  Schenkelkopfes  inner¬ 
halb  der  Pfaone  nicht  durch  eigentliche  Knochenmasse  heilt, 
was  doch  von  vielen  und  angesehenen  Wundärzten  behaup¬ 
tet  wird,  noch  besonders  gewürdigt  hätte,  weil  sich  daraus 


X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges.  79 

noch  mehr  auf  die  Richtigkeit  seiner  Annahmen  hätte 
schhelsen  lassen.  So  aber,  wie  sie  für  die  erwähnten  Fälle 
dastehen,  bleibt  es  nur  ein  noch  gröfseres  Räthsel,  warum 
sich  hier  kein  eigentlicher  Callas  bildet,  denn  bisher  stütz¬ 
ten  wir  uns  hierbei  auf  den  Mangel  des  Periosteums,  und 
leiteten  aus  demselben  die  Ursache  des  Nichtentstehens  des 
Callus  ab.  Dafs  dieser  Grund  nicht  haltbar  sein  könne, 
wenn  anders  Scarpa’s  Ansichten  die  richtigen  sind,  ver¬ 
steht  sich  wohl  von  selbst. 


Handbuch  der  pathologischen  Anatomie 
des  menschlichen  Auges;  von  Dr.  Matth. 
Joh.  Albrecht  Sch  ön,  praktischem  Arzte  und 
Au  genarzte,  Gehülfsarzte  am  allgemeinen  Kranken¬ 
hause,  und  Arzte  des  Gast- Armen  -  und  Kranken¬ 
hauses  in  Hamburg.  Mit  einem  Vorworte  des 

H  errn  Geheimen  Medicinalrathes  Dr.  Meckel  in 

* 

Halle.  Hamburg,  hei  Hoffman»  und  Campe.  1828. 
8.  233  S. 

Ref.  zählte  an  einem  andern  O/te  vor  mehreren  Jah¬ 
ren  zu  den  Lücken  in  der  deutschen  ophthalmologischen 
Litteratur  eine  Geschichte  der  Ophthalmiatrik,  eine  patho¬ 
logische  Anatomie  des  menschlichen  Auges,  eine  Materia 
ophthalmiatrica,  und  endlich  ein  systematisches  Kupferwerk 
der  Krankheiten  des  menschlichen  Auges  auf  eine  neubear- 
beitete  Anatomie  dieses  Theiles  basirt.  Einem  dieser  drin¬ 
genden  Bedürfnisse  ist  durch  die  eben  angezeigte  Schrift 
abgeholfen,  die  schwerlich,  um  mit  dem  berühmten  Vor¬ 
redner  derselben  zu  sprechen,  genauer,  gründlicher,  scharf¬ 
sinniger,  mit  einem  Worte:  gelehrter,  als  es  durch  Herrn 


80  X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges. 

Dr.  Scho#  geschehen  ist,  hätte  verfafst  werden  können. 
Ks  paart  sich  in  dem  Werke  eine  umfassende  Belesenheit 
mit  einer  gesunden  Kritik,  und  der  \  erf.  versteht  es  treff¬ 
lich,  seinen  Leser  von  einem  interessanten  Gegenstände  zum 
andern  zu  geleiten,  ohne  ihn,  was  bei  Aufzählung  von 
Factis  so  schwer  zu  vermeiden  ist,  zu  übersättigen;  zugleich 
waltet  im  Buche  eine  grofse  Klarheit  ob;  und  ein  im  Gan¬ 
zen  sehr  reiner  Styl  macht  diese  Arbeit  jedenfalls  zu  einer 
Zierde  der  deutschen  ophthalmologischen  Litteratur. 

Die  Schrift  zerfällt  in  drei  Hauptabschnitte,  deren  er¬ 
ster  die  Bildungsfehler,  Formfehler  und  Mischungsfehler  des 
ganzen  menschlichen  Auges  behandelt,  der  zweite  die  pa¬ 
thologische  Anatomie  der  einzelnen  Yheile  des  Auges  ent¬ 
hält,  als:  die  Bildungsfehler,  Formfehler  und  Mischungs- 
fehlcr  der  äufsern  Theile  des  Auges  und  der  einzelnen  Thcile 
des  Bulbus,  und  der  dritte  Mittheilungen  über  die  Stein- 
und  Wurmbildung  im  menschlichen  Auge  giebt.  Bec.  geht, 
ohne  sich  weiter  bei  dem  gegebenen  Schema  aufzuhalten, 
zur  pathologischen  Anatomie  seihst  über,  und  wird  hier 
und  dort  Bemerkungen  einlliefsen  lassen.  Dr.  Schön 
vermeidet  durch  das  ganze  Buch  das  Wort  Bildungs¬ 
hemmung  (nicht  Ilemmungsbildung) ;  was  jedenfalls  in 
den  Kapiteln  von  den  Fehlern  der  Form  und  Lage  des 
Auges  und  der  einzelnen  Theile  desselben,  wie  seiner  Be¬ 
deckungen,  eine  sehr  gute  Unterabtheilung  gegeben  haben 
würde.  Bec.  beobachtete  in  einer  Familie  an  den  zwei 
ältesten  Söhnen  sehr  gesunder  Aeltern,  von  denen  erst  in 
ihrem  funzigsten  Jahre  die  Frau  cataraclös  ward,  eine  re¬ 
gelwidrige  Kleinheit  der  Augen  mit  angeborner  Cataracta; 
in  diesem  Falle  war  hauptsächlich  die  vordere  Augenkara- 
mer  sehr  klein,  die  Cornea  wie  die  Iris  hatten  eine  ob¬ 
longe  Gestalt;  der  Querdurchmesser  dieser  Theile  war  bei 
weitem  gröfser  als  der  Höhendurchmesser,  die  Iris  wrar 
braun.  Die  Augen  des  ältesten  Bruders,  der  an  einer  Fe- 
bris  typhosa  starb,  hatte  ich  za  untersuchen  Gelegenheit, 
wobei  sieb  das  Resultat,  dafs  hier  die  Kleinheit  der  Aug¬ 
äpfel 


I 


x.  Pathologische  Anatomie  des  Auges.  81 

apfel  melir  von  einer  Bildungshemmung  der  vordem  Augen¬ 
kammer  herrührte,  sehr  deutlich  ergab,  indem  die  hintere 
Wölbung  der  Sclerofcica  ganz  normal  erschien.  Von  der 
Linse  waren  in  der  verdickten  und  verdunkelten,  gleichsam 
verschrumpften  Linsenkapsel  nur  einige  Reste  vorhanden. 
Den  zweiten  Sohn  operirte  Rec.  auf  beiden  Augen  durch' 
die  Keratonyxis  glücklich,  die  Sehkraft  erholte  sich  sehr, 
obgleich  sie  anfangs  sehr  schwach  war.  Die  Resorption 
der  sehr  verkümmerten  Linse  war  erst  nach  achtzehn  Mo- 

*  ’  i 

naten  vollendet.  Die  Töchter  aus  dieser  Familie  sehen  sehr 
gut,  und  haben  sehr  gutgeformte  Augen*.  Fine  ähnliche 
Rildungshemmung  der  vorderen  Augenkammer  sah  Rec.  an 
einem  blinden  Epileptischen;  auch  hier  waren  Cornea  und  Iris 
mehr  oblong,  und  die  runde  Pupille  befand  sich  ganz  an 
dem  inneren  Rande  des  Bulbus,  so  dafs  die  braune  Iris 
nach  aufsen  noch  einmal  so  breit  war,  als  nach  innen. 
Dabei  war  eine  weifse  Trübung  in  der  Tiefe  des  Auges, 
und  complete  Blindheit  (Ossificatio  retinae?).  Zu  den  re- 

,  i 

gelwidrigen  Vergröfserungen  des  Bulbus  könnte  Ref.  eine 
Menge  von  Beschreibungen  solcher,  meistens  hydropischer 
Augen  liefern  ,  da  er  als  Arzt  an  dem  Blindeninstitute  zu 
Dresden  ,  dort  viele  in  Folge  dieser  Metamorphose  Erblin¬ 
dete  fortdauernd  beobachtet.  Die  Beschreibungen,  welche 
der  Verf.  von  dem  Carcinoma  und  Sarcoma  medulläre  bulbi 
macht,  sind  sehr  gut,  und  Rec.  stimmt  ihm  in  allem  bei, 
was  er  lobend  und  klagend  hier  sagt.  Vielleicht  wäre  hier 
der  Ort  gewesen,  von  Beer’s  amaurotischem  Katzenauge 
(s.  dessen  Lehre  von  den  Augenkrankheiten,  1827.  Th.  2. 
S.  495)  zu  sprechen,  das  doch  wahrscheinlich,  nach  Beer’s 
Beschreibung,  zum  Sarcoma  medulläre  bulbi  gehört,  denn 
die  Beschreibung  des  amaurotischen  Katzenauges  (träge  Be¬ 
wegung  der  Iris,  erweiterte  Pupille,  im  Hintergründe  des 
Auges,  sehr  weit  von  der  Pupille  entfernt,  entwickelt  sich 
eine  concave,  bleichgraue  oder  weifsgelblichte,  oder  in  das 
Pvöthliche  schillernde  Verdunkelung;  mit  zunehmender  Blind¬ 
heit  wird  der  Hintergrund  des  Auges  sichtbarer  u.  s.  w.) 

XIII.  Bd.  i.  St.  6 


82  X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges. 

% 

stimmt  ganz  genau  mit  dem  Beginnen  des  Medullarsarroms 
des  Auges  überein.  Füglich  steht  hiermit  das  in)  \\  ider- 
spruehe,  dafs  Beer  die  weitere  Entwickelung  dieses  furcht¬ 
baren  Augenühels  ganz  mit  Stillschweigen  übergeht,  was 
er,  falls  er  dasselbe  gesehen  hätte,  gewifs  nicht’ verschwie¬ 
gen  haben  würde,  und  so  stellen  die  meisten  Erfahrungen 
über  den  Ausgang  des  Mcdullarsarcoms  des  Auges  mit  dem 
Be  ersehen  Stillschweigen  hierüber  in  einem  gew  issen  Mifs- 
verhältnisse,  das  nur  dadurch  in  etwas  beseitigt  werden  kann, 
dafs  Fälle  bekannt  gemacht  werden,  die  darthun,  dafs  es 
krankhafte,  alle  Zeichen  des  entstehenden  Mcdullarsarcoms 
des  Auges  an  sich  tragende  Metamorphosen  des  Bulbus 
giebt,  die  nicht  den  bis  jetzt  so  häufig  beobachteten  furcht¬ 
baren  Ansgang  des  Medullarsarcoms  haben,  nämlich  furcht¬ 
bare  Degeneration  des  Auges  und  seiner  Häute,  Flüssigkei¬ 
ten,  ja  seihst  der  Umgehungen.  Ein  solcher  Fall  ist  jetzt 
in  Ref.  Beobachtungskreis  gefallen;  mit  ihm  haben  viele 
unterrichtete  Aerztc  (englische  und  deutsche)  das  Auge 
eines  Kranken  beobachtet;  in  dessen  Hintergründe  sich  (alle 
übrigen  charakteristischen  Zeichen  mit  Stillschweigen  zu 

O  O 

übergehen'}  jener  bekannte  gelbweilse  Körper  erhob  —  alle 
erklärten  mit  ihm,  der  von  acht  zu  acht  Tagen  Zeichnun¬ 
gen  des  Auges  fertigen  liefs,  um  die  Fortschritte  des  Uehels 
ganz  genau  zu  beobachten,  die  Krankheit  für  ein  Sarcoma 
medulläre  incipiens  bulbi  —  und  jetzt,  nachdem  drei  Vier¬ 
teljahre  verflossen  sind,  nachdem  der  aus  dem  Hintergründe 
des  Auges  bereits  durch  die  Pupille  getretene  weifse  schwam¬ 
mige  Körper  an  die  hintere  Wand  der  Cornea  anstiefs, 
diese  vor  sich  her  ausdehnte,  jetzt,  wo  Rec.  jeden  Tag 
das  Platzen  des  Bulbus  fürchtete,  läfst  auf  einmal  die  ent¬ 
zündliche  Spannung  der  Haute  des  Augapfels  nach,  und  es 
tritt  eine  Atrophie  des  Bulbus  ein,  die  *  Sclerotica  färbt 
sich  schmutzigweifs,  die  Cornea  erhält  ihre  natürliche  Grüfse, 
hat  aber  ein  mattes,  undurchsichtiges  Ansehen,  kurz,  es  ist 
eine  förmliche  Erweichung  des  Auges  (eine  Ophthalmo- 
malacia)  vorhanden.  Ls  entsteht  demnach  die  Frage:  Giebt 


X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges.  83 

es  Sarcoma  medulläre  bulbi  mit  Ausgang  in  Atrophie  oder 
Malacie?  Oder  ist  das  von  Beer  sogenannte  amaurotische 
Katzenauge  eine  eigene  Krankheitsform  ?  Die  Beantwor¬ 
tung  derselben ,  wie  die  nähere  Beschreibung  und  getreue 
Abbildung  dieses  wichtigen  Falles,  mufs  einem  anderen 
Platze  Vorbehalten  bleiben. 

Das  Anchyloblepharon  congenitum  kann  nur  durch  eine 
nähere  Beschreibung  des  Verhaltens  der  Augenlieder  am 
Fötus  während  seines  Lebens  in  der  Gebärmutter  genauer 
bestimmt  und  erklärt  werden.  Es  ist  nach  Ref.  Beobach¬ 
tungen  das  Verhalten  derselben  keinesweges  immer  gleich, 
denn  er  fand  dieselben,  hauptsächlich  in  den  ersten  fünf 
Monaten,  gar  häufig  offen,  dasselbe  sah  er  auch  an  einem 
sieben  Monate  alten  Fötus.  Wunderbar  bleibt  es  aber, 
dafs  alle  Beobachter  die  Hauptsache  übersehen  zu  haben 
scheinen,  nämlich  die  Art  und  Weise  der  Verwachsung  der 
Augenlieder  unter  sich;  ob  dieselbe  blofs  eine  starke  halb¬ 
organische  Verklebung,  oder  eine  wirkliche  durch  Ver¬ 
wachsung  ist;  wie  sich  ferner  dabei  die  Augenlieder  ver¬ 
hielten,  ob  der  Tarsus  gehörig  ausgebildet  war  u.  s.  w.  Auch 
Telangectasieen  (wohl  besser:  Angiotelectasieen )  sah  Rec.  an 
den  Augenliedern  angeboren,  aber  freilich  von  sehr  kleiner 
Art.  In  einem  Falle  befand  sich  eine  Geschwulst  der  Art 
von  der  Gröfse  einer  welschen  Nufs  zwischen  dem  rechten 
Auge  und  dem  Öhre,  mehrere  kleine  Angiotelectasieen  wa¬ 
ren  auf  Stirn  und  beiden  Augenliedern.  Jene,  in  die  sich 
fünf  ziemlich  erweiterte  Arterien  einmündeten,  ward  ex- 
stirpirt,  das  Kind  genas,  und  in  Zeit  von  sechs  Monaten 
waren  jene  kleinen  Angiotelectasieen  von  den  Augenliedern 
verschwunden,  ohne  dafs  etwas  gegen  dieselben  gebraucht 
worden  wäre.  Das  Coloboma  sah  R.ec.  angeboren,  ohne 
dafs  dabei  der  Bulbus  krank  gewesen  wäre.  Rec.  sah  fer¬ 
ner  seit  einigen  Jahren  ein  bis  jetzt,  so  viel  ihm  bekannt 
ist,  gar  nicht  beschriebenes  krankhaftes  Verhalten  der  Au¬ 
genlieder  bei  neugebornen  Kindern.  Bei  solchen,  die  ziem¬ 
lich  fett  zur  Weit  kommen,  stehen  nicht  selten  die  näheren 


84  X.  Pathologische  Anatomie  des  Anges. 

t  mgebungen  der  Augenlieder  sehr  hervor,  so  dafs  <lie  Au¬ 
genlieder  in  die  Orbita  zurücktreten;  liier  wird  cs  öfters 
schwer,  den  aufseren  Augenwinkel  zu  sehen;  es  ist  hier 
gleichsam  eine  Phimosis  congenita  palpebrarum  vorhanden, 
die  aber  nicht  in  der  sehr  kleinen  Spaltung  der  Augenlieder 
ihren  Grund  hat,  sondern  in  der  l  ebernährung  der  Umge¬ 
bungen  derselben.  J >ei  diesen  Kindern  stülpen  sich  die  un¬ 
teren  Augenlieder  sehr  leicht  etwas  nach  innen  um  (  Entro- 
pium),  so  dafs  die  Cilien  den  Bulbus  reizen.  Oft  schon 
nach  vierzehn  I  agen  bei  vermehrtem  Wachsthume  gleicht 
sich  diese  Eigentümlichkeit  aus.  Einmal  aber  hat  sie  Bef. 
in  böige  einer  Ophthalmia  neonatorum  gesehen;  hier  war 
durch  die  heftige  Augendn tziindung,  nachdem  die  Bulbi  col- 
labirt  waren,  eine  eigene  Verhärtung  in  den  weichen  Thei- 
len  um  die  Orbita  herum  eingetreten,  und  jene  waren  rings¬ 
um  mit  dem  Orbitalrande  verwachsen.  Da  die  Augenlieder 
in  böige  der  Atrophia  bulborum  auch  sehr  einsanken,  und 
die  Oi biculares  theds  hierdurch,  thcils  durch  "Verwachsung 
mit  den  äufseren  Bedeckungen  in  ihrer  Thätigkeit  gehemmt 
waren,  so  trat  auch  hier  gleichsam  eine  Phimosis  palpe¬ 
brarum  consecut.  ein.  Dnrch  einen  Irrthum  in  den  Fro¬ 
rt  ep  sehen  Notizen  hat  sich  S.  69  die  Angabe  eingeschli¬ 
chen,  als  habe  Bec.  der  Gesellschaft  deutscher  Naturfor¬ 
scher  und  Acrzte  in  München  (1827)  eine  Nachricht  über 
ein  angebornes  Staphylom  der  Cornea  vorlesen  wollen;  es 
ist  dieses  dahin  zu  berichtigen,  dafs  Bec.  dort  die  Beschrei¬ 
bung  eines  Staphyloma  pellucidum  corneae  als  Morbus  con- 
genitus  bei  drei  Geschwistern  geben  wollte.  Jedenfalls  ge¬ 
hört  dieser  Bildungsfehlerider  Hornhaut  auch  hierher,  und 
ist  um  so  interessanter,  da  er,  so  viel  ihm  bekannt  gewor¬ 
den,  der  erste  war,  der  bekannt  gemacht  worden  ist.  (S. 
hierüber  das  Nähere  in  «Oken’s  Isis”  Bd.  XXI.  lieft  5. 
und  6.  S.  518.)  Unterdessen  hat  Bec.  in  der  Blindener- 
zichungsanstait  zu  Berlin  diese  ihrer  Entstehung  nach  sehr 
dunkle  Krankheit  ebenfalls  als  Morbus  congenitus  gesehen ; 
dieser  Fall  war  dem  von  Bec.  a.  a.  O.  beschriebenen  wun- 


X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges.  85 

derbnr  ähnlich,  und  er  wünscht  nichts  mehr,  als  dafs  es 
doch  IJrn.  Prof.  Jüngken  oder  Ilrn.  Dr.  Baum  in  Ber¬ 
lin  gefallen  möchte,  eine  detaillirte  Geschichte  dieses  Falles 
zur  öffentlichen  Kenntnifs  zu  bringen.  Der  Gegenstand 
wäre  wohl  auch  sehr  passend  zu  einer  Inauguraldissertation; 
vielleicht  gefiele  es  dem  geehrten  Herausgeber  dieser  An¬ 
nalen,  einen  jungen  Arzt  auf  diesen  Fall  als  Gegenstand 
zu  seiner  Probeschrift  aufmerksam  zu  machen.  Eine  getreue 
farbige  Abbildung  dürfte  aber  freilich  nicht  fehlen. 

Noch  fehlen  uns  Sectionsberichte  von  Augen,  an  denen 
man  den  Mangel  der  Iris  bei  Lebzeiten  beobachtete,  und 
so  lange  hierdurch  die  Sache  nicht  aufser  allen  Zweifel  ge¬ 
setzt  worden  ist,  werden  diejenigen,  welche  den  gänzlichen 
Mangel  der  Iris  aus  der  Analogie  leugnen,  den  in  Bede 
stehenden  Gegenstand  zu  bezweifeln  fortfahren.  Irrt  sich 
Rec.  nicht  ganz,  so  hat  man  bei  der  Erklärung  der  Entste¬ 
hung  des  angebornen  Coloboma  Iridis  zu  wenige  auf  das 
anatomische  Yerhältnifs  der  Iris  beim  Fötus,  die  hier  an 
dem  unteren  Rande,  vorzüglich  bis  zum  siebenten  Monate, 
bei  weitem  schmäler  ist,  ais  an  ihren  übrigen  Theilen, 
Rücksicht  genommen.  Ref.  beobachtete  noch  vor  kurzem 
an  beiden  hellblauen  Augen  eines  fünfjährigen  Mädchens 
fast  dieselbe  Pupillenanomalie,  von  der  unser  Verf.  (S.  71) 
Hagström  sprechen  läfst,  nämlich  eine  ovale  Pupille,  die 
sich  nach  unten  spitzig  endete,  jedoch  so,  dafs  man  dort 
an  der  -blauen  Iris  noch  einen  schmalen  Streif  nach  unten 
wahrnehmen  konnte.  Das  Kind  sah  sehr  gnt;  weder  Ael- 
tern  noch  Geschwister  desselben  hatten  einen  Augenfehlcr. 
Jedenfalls  gehört  diese  Pupillenanomalie  mit  zu  der  Lehre 
vom  Coloboma  Iridis,  von  dem  Ref.  in  einem  Jahre  drei 
Fälle  an  blauen  Augen  beobachtete.  Otto  in  Breslau  beob¬ 
achtete  (s.  dessen  seltene  Beobachtungen,  Heft  2.)  an  dem 
Aug  e  eines  Mannes,  der  von  Jugend  auf  geschielt  hatte, 
nach  dem  Tode  desselben  eine  schiefe  Stellung  der  Linse 
im  Auge;  so  viel  Rec.  weifs,  die  einzige  Beobachtung  iq 
ihrer  Art.  Einen  sehr  interessanten  Fall  von  Symblepharon 


I 


86  X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges. 

sah  Ree.  in  Berlins  Blindenerziehungslinuse  an  einer  Kran¬ 
ken,  die  sich  durch  ungelöschten  Kalk  die  Augen  verbrannt 
hatte.  Auf  einem  Auge  war  das  Symblepharon  partiell, 
und  wurde  durch  membranöse  balkenartige  Streifen,  die 
von  der  Bulboconjunctiva  zur  Palpebralconjunctiva  sich  er¬ 
streckten,  unterhalten;  auf  den»  andern  Auge  war  der  Bul-  % 
bus  mit  dem  obern  Augenliede  dicht  verwachsen;  dieses 
konnte  durchaus  nicht,  ohne  der  Kranken  nicht  bedeutende 
Schmerzen  zu  bereiten,  aufgehoben  werden;  dabei  gewahrte 
man  durch  das  obere  Augenlied  die  Cornea  ganz  blau  hin¬ 
durch  scheinend,  so  dafs  es  fast  schien,  als  sei  das  obere 
Augenlied  an  dieser  Stelle  verdünnt;  die  Kranke  konnte  hier¬ 
durch  sehr  gut  Licht  und  Dunkelheit  unterscheiden.  ‘Lei 
Gelegenheit  des  Thränensackes  und  des  Nasenkanals  machen 
wir  Hrn.  Dr.  Schön  auf  die  Dissertation  Walther’s 
(De  polvpis  sacci  lacrymalis.  Bonnae  1824.  8.)  aufmerksam. 

Zu  den  Beobachtungen  über  die  Bildung  neuer  Pupillen 
durch  Abtrennung  der  Iris  vom  Ciliarligamente  u.  s.  w.  in 
'  Folge  von  Erschütterungen,  könnte  Bec.  ebenfalls  zwei 
Fälle  he  iz  ufi  igen ;  allein  die  Geschichten  derselben  sind  den 
bereits  sattsam  bekannten  zu  ähnlich,  um  sie  hier  weiter 
zu  erzählen.  Bei  Gelegenheit  der  Mischungsveränderung 
der  äufsern  Theile  des  Alices  macht  Bcc.  auf  eine  ei"en- 

*  *  *'  .  o 

th  iimliche  Verhärtung  der  Thränenkanäle  und  ihrer  Umge¬ 
bungen  von  den  Thränenpunkten  an  bis  zur  Einmündung 
jener  in  den  Thränensack,  in  Folge  localer  Entzündung  die¬ 
ser  Theile,  aufmerksam,  die  er  schon  oft,  hauptsächlich  am 
unteren  Augenliede,  beobachtet  hat.  Es  kann  nicht  den 
Verf.  treffen,  wenn  Bec.  hier  die  Bemerkung  macht,  dafs 
in  dem  Abschnitte  der  pathologischen  Anatomie  des  Auges, 
der  die  Mischungsverhältnisse  der  Theile  betrifft,  noch  gar 
vieles  zu  thun  ist.  So  sind  die  Vorgänge  hei  Entzündun¬ 
gen  in  den  Häuten  der  Augenlieder,  wie  des  Augapfels, 
noch  gar  nicht  anatomisch  untersucht,  und  an  mikroskopi¬ 
schen  Beobachtungen  hierüber  fehlt  es  noch  beinahe  ganz. 
Angiectasische  Metamorphosen  der  Conjunctiva  bilden  sich 


/ 


X.  Pathologische  Anatomie  des  Auges.  87 
•  —  ,  ,  4 
bekanntlich  bei  der  Ophthalmia  scrophulosa  Auf  den  Rän¬ 
dern  der  Cornea,  welche  die  Eigentümlichkeit  haben,  dafs 
sie  sehr  schnell  in  sehr  tiefe  Ulcera  übergehen  (v.  Wal¬ 
ther).  Eine  eigentümliche  Form  der  Pinguecula  auf  der 
Conjunctiva  bulbi  beobachtete  Ree.  vor  einiger  Zeit.  Diese 
ging  (umgekehrt,  wie  das  Pterygium)  mit  ihrer  Spitze  von 
den  Winkeln  der  Augenlider  aus,  und  erstreckte  sich  in 
Form  eines  Flügelfells  bis  zum  Rande  der  Cornea,  wo  sie 
mit  einer  ziemlich  breiten  Basis  aufhörte;  sie  war  sehr 
hoch,  besonders  an  ihrem  Ende  zur  Seite  der  Cornea, 
hatte  ganz  das  gelbe  Ansehen  der  genannten  adipösen  Ge¬ 
schwulst,  war  aber  mit  der  Sclerotica,  wie  Rec.  bei  einem 
Operationsvers, uche  wahrnahm,  sehr  fest  verbunden.  Der¬ 
selbe  hat  auch  die  Cornea  gelb  und  rotli  gefärbt  gesehen, 
das  erstcre  beim  Icterus,  das  zweite  partiell  bei  einer  rheu¬ 
matisch  -catarrhalischen  Ophthalmie,  in  deren  Folge  sich 
Exulceratio  corneae  etablirte,  der  Blutextravasat  am  untern 
Segment  der  Hornhaut  voranging.  Auch  beobachtete  Ref. 
zur  Zeit  eine  eigenthümliche  Steinbildung  auf  der  staphy- 
lomatös  metamorphosirten  Cornea  eines  an  Rhachitis  com- 
pleta  leidenden  Knaben,  der  seit  bereits  drei  Jahren  von 
einer  chronischen  Entzündung  der  innern  Gebilde  des  Au¬ 
ges  heimgesucht  ist.  Rec.  hat  bereits  eine  kleine  Quantität 
dieser  Körperchen  (  von  der  Gröfse  eines  halben  Stecknadel¬ 
kopfes)  gesammelt,  um  sie  einer  chemischen  Analyse  zu 
unterwerfen.  Sie  scheinen  ihm  von  der  Natur  der  Gicht- 
concremente  zu  sein. 

Hat  Ref.  auch  noch  keine  Verknöcherung  der  Sclero¬ 
tica  beobachtet,  so  fiel  ihm  doch  die  gänzliche  Verhärtung 
der  Sclerotica  an  einem  staphylomatös  -  metamorphosirten 
Auge  auf,  das  er  vor  kurzem  untersuchte;  auch  kann  Rec. 
aus  eigner  Erfahrung  Buzzi’s  Beobachtung  bestätigen,  dals 
die  Sclerotica  bisweilen  an  den  Augen  der  Ictcrischen  so¬ 
wohl  auf  der  äufsern,  wie  auf  der  innern  Seite  gelb  ge¬ 
färbt  ist.  Auch  beobachtet  zur  Zeit  Reh  ein  Staphyloma 
laterale  scleroticae,  zu  beiden  Seiten  des  Bulbus  gleich  grofs 


88  X.  Pathologische  Anatomie  des  Angcs. 

hervortretend.  Was  die  Entzündung  der  Netzhaut  betrifft, 
so  ersucht  Rcc.  seinen  Collegen  Schön,  das  nachzulesen, 
was  hierüber  der  scharfsinnige  Sachs  in  seinem  wahrhaft 
philosophischen  W  erke  (Handbuch  des  natürlichen  Systems 
der  praktischen  Medicin.  1.  Th.  I.  Abtheilung.  Leipzig  1S28* 
S.  148  —  188)  sagt.  Derselbe  meint  zwar,  die  patholo¬ 
gische  Anatomie  der  Netzhaut  könne  bei  der  sensibcln  Ent¬ 
zündung  des  Sehorganes  keinen  Aufscblufs  geben,  da  die¬ 
selbe  'keine  Krankheit  zum  Tode  sei.  Allein  das  kann  sie 
wohl  doch,  da  der  Zufall  die  Untersuchung  von  Augen 
verschafft,  die  im  ersten  Stadium  dieser  Krankheit  sich  be- 
finden  (s.  Ileu^inger’s  bericht  von  der  anthropotomi- 
schen  Anstalt  zu  Wiirzburg.  1826.  S.  41.).  Schliefslich 
macht  Rec.  hier  noch  die  Bemerkung,  dafs  während  man 
die  Erweichung  fast  in  allen  Organen  bereits  als  ein  eigen- 
tbümliches  Leiden  charakterisirt  hat,  man  ganz  zu  verges¬ 
sen  scheint,  dafs  diese  bis  jetzt  unerkannte  krankhafte  Me¬ 
tamorphose  auch  in  Krankheiten  des  Auges  eine  grolse  Rolle 
spielt.  Wunderbar,  dafs  noch  kein  Arzt  den  weichen  Staar 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet  bat  (Phacomala- 
cia).  Man  denke  ferner  an  die  Synchvsis,  an  die  Erwei¬ 
chung  der  Retina  u.  s.  w. 

i 

Rec.  scheidet  vom  Verf.  mit  der  Achtung,  welche  die 
gründliche,  umsichtige  und  unparteiische  Untersuchung  ein- 
flöfst,  und  wünscht  nichts  mehr,  als  dafs  dieses  für  die 
Augenheilkunde  wichtige  W  erk  tnöglichst  weit  verbreitet 
und  lleifsig  studirt  werden  möge.  Es  ist  durch  dasselbe 
das  wichtige  Studium  der  pathologischen  Anatomie  des 
Auges  sehr  erleichtert,  und  durch  diese  treffliche  Arbeit 
die  Bahn  zu  weiteren  Untersuchungen  auf  diesem  Felde  der 
Pathologie  gebrochen. 


v.  Ammon. 


XI.  Slaaraasziclningsmetlioden. 


89 


LJ  ebersicht  der  verschiedenen  Staaraus- 
ziehungsmethoclen,  nehst  praktischen  Belegen 
über  die  wesentlichen  Vorzüge  des  Hornhaut- 
schnittes  nach  oben;  von  Joh.  Nep.  Seeliger, 
Dr.  der  Med.  u.  Chir. ,  und  Assistenten  der  Augen- 
Klinik  an  der  hohen  Schule  zu  Wien.  Wien, 
\  erlag  von  J.  G.  Heubner.  1828.  8.  44  S. 

In  Ermangelung  einer  Geschichte  der  Augenheilkunde, 
mufs  jeder  Beitrag  zur  historischen  Erwägung  irgend  eines 
Theiles  dieses  wichtigen  Zweiges  der  Medicin  willkommen 
sein,  und  es  ist  in  der  That  sehr  erfreulich,  dafs  jüngere 
Aerzte  solche  Gegenstände  zur  Bearbeitung  ihrer  Probe¬ 
schriften  zu  wählen  seit  einem  Decenniüm  angefangen  ha¬ 
ben;  das  scheint  Ref.  wenigstens  bei  weitem  nützlicher  zu 
sein,  als  wenn  die  Candidaten  die  bekanntesten  Gegenstände 
der  Ophthalmiatrik ,  z.  B.  die  Ophthalmia  neonatorum,  auf 
bekannte  Weise  wiederum  behandeln,  und  so,  ohne  auch 
nur  einen  Punkt  kritisch  zu  beleuchten,  den  Wust  der 
Inaugurailitteratur  mit  einem  neuen  unkritisch  -  compilirten 
Büchlein  vermehren. 

Der  Verfasser,  durch  das  bestehende  akademische  Ge¬ 
setz  zur  Ausarbeitung  eines  literarischen  Versuches  ge¬ 
zwungen,  wählte,  da  er,  als  Assistent  in  der  kaiserlichen 
Augenklinik  des  Professor  Pvosas  zu  Wien  die  günstigsten 
Resultate  der  seit  einem  Jahre  auf  der  genannten  Klinik 
üblichen,  vom  Prof.  Jäger  zuerst  (wieder)  in  Vorschlag 
gebrachten  und  vom  Prof.  Rosas  (früher,  wenigstens  gleich¬ 
zeitig  mit  diesen,  vorn  Geh.  R.  v.  Gräfe)  vereinfachten 
Staarausziehungsmethode  durch  den  Ilornhautschnitt  nach 
oben,  beobachtet  hatte,  das  angegebene  Thema,  dem  er  als 
Einleitung  eine  gedrängte  Uebersicht  aller  bisher  üblichen 
Staarauszichungsmethoden  vorausschickt.  Ref.  hat  die  Schrift 


90 


XI.  Staarausziehungsmethoden. 


mit  Vergnügen  gelesen,  und  inuls  dem  Verf.  das  Zeugnifs 
des  Fleifses  und  der  Belesenheit  geben,  obgleich  er,  was 
sehr,  zu  wünschen  gewesen  wäre,  eine  Ilauptschrift  über 
diesem  Gegenstand  übersehen  hat,  welche  die  Anti-Daviel- 
sche  Epoche  der  Staarausziehung,  wie  die  nach  Da  viel, 
sehr  vollständig  behandelt,  deren  Kennlnifs  jedoch  den 
Verf.  mit  mancher  wichtigen  Notiz  bereichert  haben  würde. 
( S.  Henricus  Lach  mann  Instrumentorurn  ad  corneae 
seclionem  in  cataractae  extractione  perficiendain  descriptio 
historica.  c.  tab.  aen.  III.  Gocttingae  1821.  8.)  Sehr  vor¬ 
teilhaft  für  den  Uebcrblick  würde  sich  ferner  eine  tabel¬ 
larische  Gebersicht  (gleichsam  als  Resultat  dieser  histori¬ 
schen  Untersuchungen)  der  verschiedenen  Epochen  in  der 
Geschichte  der  Ausziehungsmethoden  des  Staares  gemacht 
haben.  Auch  kann  es  Ref.  nicht  gut  heifsen,  wenn  der 
Verf. ,  da  wo  er  als  Geschichtschreiber  spricht,  sich  einer 
Art  von  Witz*  bedient,  die  man  kaum  dem  mündlichen 
Vortrage  des  gebildeten  Lehrers,  geschweige  denn  diesem 
nachsehen  wird  ( S.  18  und  S.  22);  wenn  er  sich  ferner 
gegen  einen  verdienlen  Mann,  wie  Professor  Ritter  ich 
in  Leipzig,  Ausdrücke  wie  die  (S.  26)  gebrauchten  erlaubt; 
und  wenu  er  ferner  das  Repertorium  von  Reer,  sowohl 
in  kritischer  Hinsicht  als  in  Betracht  einer  geschichtlichen 
Quell  e,  oftej-s  citirt.  Be  er ’s  Verdienste  um  die  Ophthal- 
miatrik  hat  die  Geschichte  der  Arzneikunde  bereits  auf  ihre 
Tafeln  geschrieben,  allein  zum  Litterator  in  bibliographi¬ 
scher  Hinsicht,  wie  zum  geschichtlichen  Kritiker,  hatte 
Beer  keinesweges  die  erforderlichen  Eigenschaften,  denn 
dieser  wird  nur  dann  nach  Ref.  Ansicht  für  die  Geschichte 
mit  Nutzen  arbeiten,  wenn  er  die  Leistungen  des  Einzelnen 
nach  der  Zeit  beurtheilt,  in  welcher  jener  lebte,  nicht  aber 
nach  dem  Genius  der  Zeit,  die  ihn  gebar.  So  viel  über 
den  geschichtlichen  Theil  dieser  Abhandlung. 

Hierauf  folgt  eine  kritische  Beleuchtung  des  Hornhaut¬ 
schnittes  nach  oben,  nach  den  Resultaten  des  Prof.  Ro¬ 
sas,  der  diese  Operation  vermittelst  des  einfachen  Beer- 


91 


XL  Staarauszieiiiingsmethoden. 

sehen  Staarmessers  vorn  7.  Juli  1827  bis,  Ende  Juli  1828 

"  t  .  • 

bei  28  Individuen,  und  zwar  bei  15  an  beiden  Augen  und 
bei  13  nur  an  einem  Auge  gemacht  hat.  Von  den  15  an 
beiden  Augen  Operirten  wurden  11  auf  beiden  Augen  voll¬ 
kommen  sehend  entlassen,  2  hatten  ein  Auge  durch  die  Ent¬ 
zündung  verloren,  sahen  aber  mit  dem  andern  sehr  gut. 
Der  Verf.  ist  hier  ganz  an  seinem  Platze,  und  beschreibt 
mit  lobenswerther  Deutlichkeit  und  Fertigkeit  die  Vortheile, 
die  Encheirese  u.  s.  w.  dieser  Operationsmethode,  nur  Schade, 
dafs  er  den  Heilungsprozefs  der  Hornhautwunden  (wie  das 
aber  nicht  anders  sein  kann)  am  menschlichen  Auge  mit 
Stillschweigen  übergeht,  und  das  ist  gerade,  so  wie  über¬ 
haupt  die  Lehre  von  den  Verwundungen  der  Augenhäute 
und  der  Heilungen  derselben  ein  Gegenstand,  dessen  nähere 
Erforschung,  oder  doch  Beobachtung,  für  die  Ophthalmia- 
trik  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist.  Jedenfalls  wäre  es 
ein  schöner  Gegenstand  für  eine  augenärztliche  Schrift, 
durch  Operationen  an  Thieraugen  zu  beobachten,  auf 
welche  Weise  und  unter  welchen  Verhältnissen  die  Natur 
die  Wunden  der  Hornhaüt,  Sclerotica,  Choroidea,  Iris, 
Pvetina  u.  s.  w.  zu  heilen  pflegt. 

Pvef.  schliefst  seine  kurze  Anzeige  mit  dem  Wunsche, 
dafs  die  llrn.  Jäger  und  Rosas,  diese  würdigen  Nachfol¬ 
ger  eines  Beer  und  J.  A.  Schmidt,  da  sie  über  ihre 
Leistungen  an  den  berühmten  Augenkliniken  zu  Wien  gänz¬ 
lich  schweigen,  doch  dann  und  wann  die  fähigeren  ihrer 
Schüler  zu  ophthalmiairischen  Probeschriften  veranlassen 

..  '  i 

mögen. 

v.  Ammon. 

Ein  anderer  geehrter  Mitarbeiter  äufsert  sich  über 
diese  Schrift  folgendermaafsen : 

Das  Wrerk  ist  die  Inauguraldissertation  des  Verf.,  und 
zeichnet  sich  vor  den  gewöhnlichen  Dissertationen  keines- 
weges  so  vortheilhaft  aus,  dafs  seine  Verbreitung  durch  den 
Buchhandel  sich  dadurch  rechtfertigen  liefse.  Auch  trifft 


92 


XI.  Staarausziehiingsmethoden. 

ihn,  nach  seinem  eigenen  Geständnisse,  der  Vorwurf  einer 
Zwangsarbeit,  und  solche  gedeihen  selten,  ja  wohl  nie, 
besonders.  —  Ls  mangelt  demselben  durchweg  ein  gründ¬ 
liches  Studium  der  Geschichte  der  Extraction,  und  hinläng¬ 
liche  eigene  Erfahrung  über  den  liornhautschnitt  nach  oben, 
um  ihm  Eob  spenden  zu  können,  und  sehr  tadelnswertb  ist 
es,  dafs  dek  V  crf.  schon  in  seinem  ersten  litlerarischen 
^  ersuche  die  Ansichten,  Vorschläge  und  Erfindungen  an¬ 
erkannt  tüchtiger  und  bewährter  Männer,  ohne  Angabe 
triftiger  Gegengrtindc,  als  lächerlich  darzusteUen  sucht.  — 
Der  Verf.  giebt  zuvörderst  von  S.  1  —  28  eine  Ueber- 
sicht  der  verschiedenen  Staarausziehungsmethoden  von  der 
frühesten  bis  auf  die  jetzige  Zeit,  welche  übrigens  bis  zum 
Jahre  1803  (und  später  erschien  nur  wenig  Neues,  was 
dessenungeachtet  nicht  vollständig  von  unserm  Verf.  angege¬ 
ben  worden  ist)  bei  weitem  genauer  nrtd  umfassender 
Sicco  Ens  (Ilistoria  extractionis  Cataractae.  Eranecker. 
S.  Siebold’s  Chiron.  I»d.  I.  St.  3.  S.  721  —  44.)  niit- 
theilte.  So  erwähnt  unser  Verf.  z.  B.  nicht  der  Augen¬ 
schnepper  von  Ekhold,  Dumont  und  Becquet,  nicht 
des  Staarmessers  mit  auf  die  b  lache  gebogener  Spitze  von 
Gräfe,  nicht  des  Verfahrens  bei  der  Extraction  von 
Zeuschner  (Rust’s  Mag.  Bd.  19.  Ilft.  3.  S.  387  u.  f.), 
nicht  bei  der  Angabe  von  Adams  Verfahren  des  ganz 
ähnlichen  von  Reid  (Transact.  of  the  association  of  Fel¬ 
lows  and  licentiates  of  the  College  of  physicians  in  Ireland. 
Vol.  IN.),  nicht  der  Extractionsmethoden  durch  die  Sclc- 
rot  ica  \  on  butter  und  C  h  a  p  in a  n  u.  s.  w.  — —  Am  Schlüsse 
dieser  E ebersicht  (S.  2 6  u.  27,  in  der  in  der  That  man¬ 
ches  übersehen  ist)  folgt  eine  Schmähung  über  Ritte- 
^rich’s  Methode,  den  liornhautschnitt  mit  dem  Ilornhaut- 
stiche  zd  verbinden,  und  über  dessen  Vorschlag,  der  Ver¬ 
einigung  i!cs  Lederhauts liebes  mit  dem  Eederhautschnitte, 
für  welche  Methode  Ritterich  sichere  indicationen  auf¬ 
gestellt  hat,  welche  gründlich  zu  widerlegen  der  Verf.  nicht 
im  Stande  gewesen  zu  sein  scheint  Hätte  dfr  Verf.  schon 


93 


XI.  Staarausziehiingsmethoden. 

Gelegenheit  gehabt,  höchst  unruhige  kleine  Kinder  am 
Staare  zu  operiren,  so  würde  er,  anstatt  zu  schmähen, 
dem  Prof.  Ritterich  für  die  Erfindung  seiner  JNIaschine 
Dank  wissen.  Ref.  kann  übrigens  dem  Verf.  versichern, 
dafs  alle  gebildeten  Augenärzte,  die  er  kennen  lernte,  darin 
einverstanden  waren,  dafs  Ritterich’ s  Werk  mit  vollem 
Rechte  seinen  Titel  führe. 

Son  Seite  28  bis  44  folgt  erstlich  eine  Geschichte  des 
Hornhautschnittes  nach  oben,  dann  die  Vortheile  und  Schwie¬ 
rigkeiten  desselben,  die  Beschreibung  der  Operation  und 
einige  Operationsgeschichten ,  nebst  der  Angabe  der  Zahl 
der  in  der  Augenklinik  Operirten,  28.  —  liier  hätte  man 
doch  wenigstens  eine  vollständige  Geschichte  dieses  Ver¬ 
fahrens  erwarten  dürfen;  aber  es  fehlen  folgende  Notizen: 
])  Loudon’s  Short  fnquiry  into  the  principal  causes  of 
the  unsuccessful  termination  of  extraction  by  the  Cornea, 
with  the  view  of  shewing  the  superiority  of  Dr.  Jäger’s 
knife  over  the  single  cataract  knifes  of  Wenzel  and 
Beer.  Lond.  1826.  4.  mit  1  Kupfertafel.  2)  The  Lancet. 
Vol.  XII.  No.  210.  Sept.  1827.  S.  735  u.  35.  enthält  drei 
Operationsgeschichten  von  Wardrop.  3)  v.  Grafe  und 
v.  Walther  Journ.  Bd.  10.  Hft.  3.  1827.  S.  367.  —  Die 
beiden  folgenden  Citate  konnte  der  Verf.  damals  noch  nicht 
kennen,  nämlich:  Modification  des  Jägerschen  Doppeltmes¬ 
sers  von  Dr.  Ott,  v.  Gräfe  u.  v.  Waith.  Journ.  Bd.  11. 
Iift.  3.  S.  536.  Tab.  II.  Fig.  11  —  16.,  und  den  zweiten 
Bericht  von  v.  Gräfe  über  diese  Operationsweise  in  v. 
Gräfe  u.'  v.  Waith.  Journ.  Bd.  12.  Hft.  1.  S.  4  —  7.  — 
Aus  oben  angeführten  Gründen  läfst  sich  Ref.  hier  nicht 
auf  eine  Prüfung  der  angegebenen  Vortheile  des  Hornhaut- 
Schnittes  nach  oben  ein,  obgleich  hier  vieles  zu  erinnern 
wäre;  sondern  bemerkt  nur  noch  schliefslich ,  dafs  der  Verf. 
wohl  gethan  haben  würde,  wenn  er  die  Resultate  der  Ope¬ 
rationen  vollständiger  mitgetheilt  hätte. 

S  chön. 


94  XII.  Homiiopatliisclie  Arzneimittellehre. 


XII. 

Reine  Arzneimittellehre,  von  Dr.  C.  G.  Chr. 
Hartlanb,  ausiib.  Arzte  in  Leipzig,  und  I)r.  C. 
Fr.  Trinks,  ausiib.  Arzte  in  Dresden.  Erster 
Band.  Leipzig,  hei  Blockhaus.  1828.  8.  VIII  und 
368  S.  ('j  TU.-.) 

Indem  hier  fünf  noch  nicht  in  die  homöopathische  Arz¬ 
neimittellehre  aufgenommene  Stoffe,  nämlich  Blei,  Cantha- 
riden,  Kirschlorheer,  Phosphor  und  Sch  wcfelspiefsgianz, 
nach  den  Grundsätzen  llah  neman  n's  dargelegt,  und  zu 
mehreren  bereits  anerkannten  homöopathischen  Arzneien 
Nachträge  geliefert  werden,  inufs  Ref.  wiederum,  wie  hei 
früheren  Werken  über  Arzneimittellehre  aus  derselben 
Schule,  gestehen,  dals  ihm  eine  sachliche  Prüfung  der  mit— 
getheilten  Arzneisymptome  unmöglich  ist,  indem  er  seinen 
Grundsätzen  nach  nicht  unbedingt  alles,  was  ein-  oder 
selbst  einigemal  nach  dem  Gebrauche  irgend  einer  Arznei 
erfolgt  sein  soll,  eben  dieser  zuschreiben,  noch  weniger 
aber  hierauf  Schlüsse  über  Heilwirkung  bilden  kann.  Er 
mufs  daher  ganz  ungeprüft  lassen,  oh  die  1023  Beisym- 
ptome,  die  952  Cantharidensymptome  u.  s.  f.  ihre  Richtig¬ 
keit  haben;  ihm  scheinen  nur  wenige  unzweifelhaft,  viele 
noch  nicht  hinlänglich  geprüft,  die  meisten  ganz  unbegrün¬ 
det.  Ueberall  gilt  hei  der  schweren  Kunst  des  Versuches 
der  Grundsatz,  dafs  nur  häufige  und  gleichmäßige  Erfolge 
demselben  Sicherheit  gewähren.  Diesen  Anspruch  mufs  man 
billigerweise  auch  an  die  homöopathischen  Arzneiversuche 
machen.  Die  Freunde  derselben  bereiten  sich  selbst  den 
gröfsten  Schaden  und  erregen  das  Mißtrauen  aller  Denker 
gegen  sich,  wenn  sie,  wie  sie  so  oft  thun  und  gethan  ha¬ 
ben,  einzeln  stehende  Beobachtungen  als  sichere  Thatsachen 
betrachten  und  zur  Grundlage  von  Ileilplauen  benutzen.  — 
Bei  dem  vorliegenden  Werke  ist  grofser  Fleifs  nicht  zu 


» 

XII.  Homöopathische  Arzneimittellehre.  95 

verkennen,  indem  aus  sehr  vielen  und  zum  Theil  höchst 
seltenen  Werken  die  Beobachtungen  früherer  Aerzte  über 
die  Wirkungen  der  hier  versuchten  Mittel  zusammengetra¬ 
gen  sind.  Gegen  die  allopathischen  Aerzte  ist  wieder  auf 
die  gröbste  Weise  zu  Felde  gezogen.  Sollte  irgend  ein 
Begent  die  Aussagen  über  den  Nachtheil,  den  die  allopa¬ 
thische  Heilkunde  veranlafst,  für  richtig  halten,  so  müfste 
er  nothwendig  der  bisherigen  Medicin  die  Ausübung  aufs 
strengste  untersagen;  denn  Heerstrafsen ,  auf  welchen  Räu¬ 
ber  lagern,  dürften  nicht  so  gefährlich  sein,  als  das  täg¬ 
liche  Verfahren  der  Aerzte  am  Krankenbette.  Wir  Allo¬ 
pathen  sind  milder  gesinnt,  und  wünschen  nichts,  als  un¬ 
befangene,  Prüfung  der  Homöopathie  in  grofsen  Kranken¬ 
anstalten.  In  der  Privatpraxis  bleibt  eine  solche  Prüfung 
immer  unvollkommen.  Bis  jetzt  ist  dem  Ref.  noch  keine 
Bekanntmachung  über  die  Erfolge  von  Versuchen  in  grofsen 
Krankenanstalten  vorgekommen.  Möchte  doch  bald  eine 
solche,  von  tüchtigen  Männern  und  in  genügender  Weise 
unternommen,  ans  Licht  treten  und  dadurch  vielem  un¬ 
nützen  Gerede,  sowohl  apriorischer  Verdammung,  als  un¬ 
besonnener  Lobpreisung,  ein  Ende  machen. 

Dafs  die  hier  abgebandelten  Mittel  sämmtlich  in  sehr 
kleinen  Gaben,  und  nach  Hahne mann’s  Weise  bereitet, 
angewandt  werden  müssen,  versteht  sich  von  selbst;  das 
Nähere  ist  jedem  Mittel  vorangestellt.  Unverständlich  ist 
es  uns,  wenn  es  S.  5.  nach  Angabe  der  nachtheiligen  Fol¬ 
gen  des  gewöhnlichen  Bleigebrauchs  heifst:  der  rationelle 
(soll  heifsen:  homöopathische)  Arzt  werde  einen  sehr  heil¬ 
samen  Gebrauch  vom  Blei  zur  Heilung  natürlicher  Krank¬ 
heitszustände  zu  machen  wissen.  In  Klammern  ist  dem  Aus¬ 
drucke  natürlich  «  nicht  miasmatisch  »  beigesetzt.  Welche 
Krankheiten  sind  denn  nicht  natürlich?  Und  wie  kann  na¬ 
türlich  und  nicht- miasmatisch  für  gleichbedeutend  angese¬ 
hen  werden?  Warum  soll  ferner  eine  Krankheit  dadurch, 
dafs  sie  miasmatisch  oder  nicht  miasmatisch  ist,  womit  ja 
noch  nichts  über  ihren  Charakter  ausgesagt  wird,  zur  An- 


96  XII.  Homöopathische  Arzneimittellehre. 

Wendung  einer  Arznei  geeignet  oder  nicht  geeignet  sein?  — 
In  Beziehung  auf  die  Ilundswuth  werden  hier  ungeheure 
Versprechungen  gemacht,  von  denen  wir  zum  Heile  der 
Menschheit  wünschen,  dafs  sie  in  Erfüllung  gehen  möchten. 
Durch  homöopathische  (iahen  der  Ganthariden 
soll  ohne  alle  örtliche  Behandlung  der  Ausbruch 
der  Ilundswuth  immer  verhütet,  und  durch  eben 
dieses  Mittel  oder  durch  eines  von  drei  hier 
nicht  genannten,  ebenfalls  specifisch  wirkenden 
Arzneimitteln,  soll  sogar  die  schon  ausgehro- 
ehene  Krankheit,  gehoben  werden.  Hört!  Hört! 
Sollte  diese  A*ussage  sich  bestätigen,  so  wäre  das  Verdienst 
der  neuen  Lehre  unbeschreiblich.  Prophy lactisch  wird  man 
jedoch  vorläufig  diese  Methode  wohl  nicht  anwenden,  weil 
man  die  hier  geforderte  Nichtbeachtung  der  Wunde  nach 
allen  bisherigen  Erfahrungen  und  Grundsätzen  für  unver¬ 
antwortlich  häl^;  allein  beim  Ausbrechen  der  Krankheit 
selbst,  wo  nach  unserm  bisherigen  VN  issen  alles  vergeblich 
ist,  sollte  man  doch  auf  keinen  Fall  den  Versuch  unterlas¬ 
sen.  —  Der  Kirschlorbeer  soll  nach  S.  112  nur  in  sehr 
wenigen,  und  zwar  nur  in  acuten  Fällen  anwendbar  sein. 
Die  aus  ihn»  wie  aus  den  bittern  Mandeln  gewonnenen  Mit¬ 
tel  werden  als  nur  durch  die  Blausäure  wirkend  angesehen, 
daher  auch  die  Arzneisymptome  derselben  zusammengestellt 
werden;  allein  es  ist  jetzt  unzweifelhaft ,  dafs  die  vegetabi¬ 
lischen  Stoffe,  welche  Blausäure  enthalten,  nicht  durch 
diese  allein,  sondern  auch  durch  das  damit  verbundene  älbe- 

*  _  4f 

rische  Oel  wirken,  und  daher  in  ihrem  Einflüsse  auf  orga¬ 
nische  Wesen  sehr  bedeutend  von  der  reinen  Blausäure 
verschieden  sind.  Mohn  und  Kaffee  werden  als  die  besten 
Gegenmittel  der  blausäurehaltigen  Stoffe  angesehen.  —  Die 
Spiefsglanzmittcl  sollen  in  ihren  verschiedenen  Präparaten 
nicht  sehr  verschieden  sein,  was  schon  dadurch  widerlegt 
wird,  dafs  manche  Bereitungen  derselben  nur  in  grofsen 
Gaben,  andere  schon  in  kleinen  Brechen  erregen.  Ks  wer¬ 
den  mehrere,  in  sich  sehr  verschiedene  homöopathische 

Hei- 


97 


XIII.  Wurstgift. 

Heilungen  durch  Spiefsglanz  aufgeführt,  von  denen  uns  die 
äufserliche  Anwendung  von  gepulvertem  Spiefsglanze  bei 
Gliedschwämmen  am  Knie  auffiel.  So  wenig  nämlich  die 
herrschende  Medicin  bei  solchen  Uebeln  gegen  örtliche 
Mittel  einzuwenden  hat,  so  lauten  doch  Hahnemann’s 
Aeufserungen  so  absprechend  gegen  alles  örtliche  Verfah¬ 
ren,  dafs  man  sich  in  der  That  wundern  mufs,  ein  solches 
von  Homöopathen  einschlagen  zu  sehen. 

ln  den  einzelnen  Arzneisymptomen  sind  sehr  viele  An¬ 
gaben,  die  lächerlich  klingen  und  zum  Spotte  gegen  die 
Homöopathie  reizen.  Doch  wie  früher,  so  auch  diesmal, 
wollen  wir  diese  in  wissenschaftlichen  Gegenständen  leicht 
verderbliche  und  immer  schwer  verletzende  Waffe  nicht 
gebrauchen. 

Licht  enst  ädt. 


XIII. 

De  Veneno  in  botnlis,  scripsit  Guilelmus 
H  orn,  M.  D.  Commentatio  in  certamine  littera- 
rio  a  gratioso  medicorum  ordine  Berolinensi  prae- 
mio  ornata.  Berolini,  ap.  Duncker  et  Humblot. 
1828.8.  VIII  u.  94  S.  (14  Gr.) 

Die  Lehre  von  den  Giften  des  organischen  Reiches, 
welche  in  chemischer  und  therapeutischer  Beziehung  be¬ 
kanntlich  noch  sehr  viele  Mängel  darbietet,  hat  in  denjeni¬ 
gen  Stoffen,  welche  ursprünglich  dem  organischen  Leibe 
keines weges  fremdartig,  erst  durch  eine  specifische,  der 
Gährung  und  Fäulnifs  ähnliche  Umwandlung  giftig  werden, 
ein  neues  kaum  betretenes  Gebiet  erhalten,  dessen  Umfang 
mit  Bestimmtheit  anzugeben  für  jetzt  unmöglich  sein  dürfte. 
Dafs  die  giftigen  Würste  unter  diesen  Stoffen  bis  jetzt  die 
wichtigste  Stelle  einnehmen,  ist  eben  so  allgemein  bekannt, 
XIII.  Bd.  l.St.  7 


♦ 


\ 


98 


XIII.  Wurstgift- 

als  dafs  diese  Vergiftungen  fast  ausschliefslich  in  Wiirtem- 
berg  vorgekommen  sind.  Aus  diesem  letztem  l  mstamlc 
ergiebt  es  sich,  dafs  cs  dem  Verf.,  welcher  zur  Zeit  der 
Abfassung  seiner  Schrift  in  Belin  lebte,  unmöglich  gewesen 
ist,  das  Gift  selbst  zu  untersuchen,  zumal  da  alle  Versuche 
künstlicher  Erzeugung  vergifteter  W  ürste  mifslungen  sind. 
Was  sich  aber  ohne  unmittelbare  Prüfung  des  Giftes  selbst, 
welche  freilich  immer  der  wesentlichste  Gegenstand  weite¬ 
rer  Forschung  bleibt,  durch  kritische  Prüfung  der  vorhan¬ 
denen  Quellen  erforschen  Iäfst,  ist  von  dem  \  ecf.  gesche¬ 
hen.  Auch  an  eigenen  Versuchen  mit  verschiedenen  Stof¬ 
fen,  welche  für  die  Grundlage  des  Wurstgiftes  gehalten 
worden  sind,  hat  es  der  Verf.  nicht  fehlen  lassen. 

Die  Resultate  in  Reziehung  auf  die  Natur  jenes  Giftes 
sind,  wie  sich  erwarten  liefs,  meistens  negativ;  denn  weder 
die  Blausäure,  noch  die  branstige  Holzsäure,  noch  das 
Walther 'sehe  Bitter,  noch  das  Fettwachs  oder  die  Fett¬ 
säure  stimmen  in  ihren  W  irkungen  mit  dem  Wurstgifte 
überein.  Eine  giftige  Verderbnifs  im  lebendigen  Körper, 
als  Ursache  der  schädlichen  Stoffe,  hält  der  Verf.  für  un- 
zuläfslich.  Die  Schlufsworte:  Causa  veneni  in  facile  exo- 
riente  putredine  et  materia  quadam  per  eam  expedita  sita 
videtur,  quod  farciminibus  male  factis  effici  verisimillimum 
est,  geben  wenig  Aufschluß;  denn  die  Natur  des  giftigen 
Stoffes  bleibt  bei  dieser  Annahme  ganz  unbestimmt.  Auch 
kann  der  schlechten  Bereitung  der  Würste,  wie  der  Verf. 
selbst  früherhin  bemerkt,  die  Erzeugung  des  Fettgiftes 
nicht  beigemessen  werden,  da  einerseits  die  giftigen  W  ürste 
nicht  immer  schlecht  bereitet,  gewesen  sind,  und  anderer¬ 
seits  viele  sehr  schlecht  bereitete  Würste  nicht  giftig  be¬ 
funden  werden.  Ueberhaupt  Iäfst  sich  aus  der  ganz  allge¬ 
meinen  Bezeichnung,  «schlecht  bereitet, wohl  Unverdau¬ 
lichkeit,  aber  nicht  Giftigkeit  herleiten.  Kurz,  wir  wissen 
noch  nicht,  wodurch  die  giftigen  W  ürste  giftig  sind,  und 
müssen  ton  weiteren  Untersuchungen  an  Ort  und  Stelle 
das  Nähere  erwarten.  —  Sehr  zweckmäfsig  ist  die  tabclla- 


XIV.  Brunnendiätetik. 


99 


rische  Zusammenstellung  der  Zeichen  des  Wurstgiftes  an 
Lebenden  und  Todten  bei  Menschen,  so  wie  auch  der  Zei¬ 
chen  im  Leben  und  im  Tode  bei  verschiedenen  Thieren, 
denen  Fettsäure  oder  verdorbenes  Fett  gereicht  worden. 

Da  auch  negative  Resultate,  wenn  sie  Folge  wissen¬ 
schaftlicher  Forschungen  sind,  immer  unsern  Dank  verdie¬ 
nen  ,  so  sind  wir  denselben  auch  dem  thätigen  jungen  Verf. 
schuldig;  zu  geringe  Sorgfalt  im  lateinischen  Styl  scheint 
uns  der  einzige  Vorwurf  zu  sein,  der  dieser  Schrift  von 
billigen  Beurtheilern  gemacht  werden  kann. 

Lic  htenstädt. 


XIV. 

» 

Brunnendiätetik,  oder  Anweisung  zum  zweck- 
mäfsigen  Gebrauche  der  natürlichen  und  künstli¬ 
chen  Gesundbrunnen  und  Mineralbäder;  von  Dr. 
Friedrich  August  v.  Ammon,  praktischem 
Arzte  in  Dresden,  und  der  gelehrten  Gesellschaften 
zu  Berlin,  Bonn,  Dresden  und  Frankfurt  a.  M. 
Mitgliede.  Zweite,  verbesserte  Auflage.  Dres¬ 
den,  P.  G.  Hilschersche  Buchhandlung.  1828*  8* 
279  S.'  (20  Gr.) 

Mit  Vergnügen  zeigt  Ree.  diese  Schrift  an,  deren 
erste  mit  allgemeinem  Beifall  aufgenommene,  und  auch  ins 
Polnische  übersetzte  Ausgabe  ihm  seit  drei  Jahren,  da  sie 
erschien,  zu  Doberan  für  seine  dasigen  Bade-  und  Brun¬ 
nengäste  zum  nützlichsten  Gebrauche  gedient  hat. 

In  dem  Vorworte  wird  auch  der  wichtigen  Struve- 
schen  Entdeckung,  der  künstlichen  Mineralwässer,  mit  ver¬ 
dienter  Auszeichnung  gedacht.  « Bei  dem  Gebrauche  der¬ 
selben,»»  sagt  der  Hr.  Verf.,  «sind  die  unmittelbaren  Wir- 

7  * 


100 


XIV.  Brunnendiiitctik. 


kungen ,  sowohl  die  günstigen  als  die  ungünstigen,  ganz 
die  der  natürlichen,  und  die  Nach  Wirkungen  halten  dieselbe 
Probe  aus!»  Nach  achtjähriger  Erfahrung  beweisen  dies 
Hunderte  von  Beispielen.  Gar  sonderbar  nimmt  sich  gegen 
diese  Sprache  der  unparteiischen  Wahrheit,  welche  Ref. 
aus  mehrjähriger  Erfahrung  in  vollem  Maafse  bestätigen 
kann,  das  Urtheil  eines  neueren  Schriftstellers  über  Pyr¬ 
mont  aus,  der  es  für  Sünde  gegen  den  Menschenverstand 
und  Betrügerei  der  Chemie  hält,  solche  Nachahmungen 
zu  versuchen,  ^on  Herzen  stimmt  Bef.  der  schönen  Hymne 
bei,  wodurch  der  Hr.  Verf.  aus  Schlegel  s  Charakteristiken 
und  Kritiken  Bd.  2.  S.  233.  Neubcck’s  klassisches  Ge¬ 
dicht,  k  die  Gesundbrunnen , »  in  neue  Erinnerung  bringt. 

Aus  einer  nur  oberflächlichen  Vergleichung  dieser  neuen 
Ausgabe  mit  der  früheren,  ergiebt  sich  schon  die  bedeu¬ 
tende  Verbesserung  derselben  zur  Genüge. 

Bei  einem  kleineren  Drucke  ist  sie  123  Seiten  stärker, 
als  die  erste  Ausgabe,  und  der  Text  ist  durch  und  durch 
im  Gehalte  und  in  der  Darstellung  verändert  und  verbes¬ 
sert.  Statt  in  Kapitel,  ist  diese  Ausgabe  in  Abschnitte  ge- 
theilt,  die  folgende  Ueberschriften  haben:  Ucbcr  den  Nutzen 
der  Mineralwässer,  und  über  die  Absicht  beiin  Gebrauche 
derselben;  über  die  Nothwendigkeit  einer  Vorbereitungs- 
cur  zum  Gebrauche  der  Mineralwässer ;  allgemeine  diäteti¬ 
sche  Regeln  beim  Gebrauche  der  Mineralwässer,  nebst  einem 
allgemeinen  Verzeichnisse  der  den  Curgästen  nützlichen  und 
schädlichen  Speisen  und  Getränke,  welches  letztere  in  der 
ersten  Ausgabe  fehlt.  Das  Gleiche  gilt  von  den  folgenden 
Abschnitten:  Allgemeine  Betrachtungen  über  die  Wirkung 
der  Mineralwässer  als  Getränke  auf  den  menschlichen  Kör¬ 
per;  von  dem  Gebrauche  der  Bäder  für  sich  und  in  Ver¬ 
bindung  mit  der  inneren  Anwendung  von  Mineralwässern; 
Nachwirkungen  der  Mineralwässer,  Wiederholung  der  Brun- 
nencuren,  Nacbcur ;  von  dem  häufigen  Mifslingen  der 
Brunnen-  und  Badecuren.  Der  letzte  Abschnitt  giebt  ein 
Verzeichnis  der  bekanntesten  Gesundbrunnen  und  Heilbäder 


XI Y.  Brunnendiätetik* 


101 


Deutschlands,  nebst  einer  kurzen  Anleitung  zum  Gebrauche 
derselben.  Zu  den  vorzüglichsten  Soolbadern  verdient  auch 
das  bisher  noch  wenig  gekannte  zu  Siilz  im  Mecklenburgi¬ 
schen  gezählt  zu  werden.  Nicht  weniger  ist  das  Doberaner 
Stahlbad  einiger  Erwähnung  werth,  das  dem  Firn.  Hermb- 
städt  seine  Analyse,  und  bereits  vielen  günstigen  Erfah¬ 
rungen  seinen  Ruhm  zu  danken  hat.  Bei  jedem  Brunnen 
sind  zugleich  die  wichtigsten  Schriftsteller  angeführt,  welche 
in  der  ersten  Ausgabe  fehlen.  Sämmtliche  Artikel  sind 
gründlich,  kurz  und  falslich  durchgeführt.  Uebrigens  ent¬ 
hält  dies  wohlgeschriebene  Büchlein  mehr,  als  was  der  Ti¬ 
tel  bezeichnet,  und  wodurch  seine  Brauchbarkeit  und  sein 
Werth  bedeutend  erhöhet  werden.  Allen  Brunnen-  und 
Badegästen  kann  es  zum  fleifsigen  Gebrauche  nicht  genug 
empfohlen  werden,  und  selbst  Aezte  werden  es  mit  Nutzen 
und  Belehrung  lesen.  Um  seinen  Werth  kennen  und 
schätzen  zu  lernen,  will  Ref.  mehreres  daraus  auszeichnen, 
und  hin  und  wieder  mit  einigen  Bemerkungen  begleiten. 

Zu  den  erforderlichen  Iueibesbewegungen  bei  einer  Brun- 
nencur  empfiehlt  Ref.  auch  noch  das  Schaukeln,  wovon 
derselbe  seine  Beobachtungen  anderwärts  mittheilen  wird. 
Unter  manchen  Umständen  hat  diese  passive  Bewegung  ganz 
eigenthümliche ,  besänftigende,  die  Zahl  der  Pulsschläge  ver¬ 
mindernde  Wirkungen.  Bei  Gelegenheit  der  Bedingungen 
zum  Vorbereiten  und  Gedeihen  einer  Brunnencur  sagt  der 
Hr.  Verf.:  «  Kein  Mensch  in  der  Welt  könne  Ruhe  und 
Glück,  Freude  und  Gesundheit  in  der  Einsamkeit  finden.» 
Unstreitig  will  der  Hr.  Verf.  dies  nur  bedingungsweise  ver¬ 
standen  wissen;  denn  keine  Freuden  auf  Erden  giebt  es, 
welche  denen  gleichen,  die  der  von  dem  Geräusche  und 
dem  Drucke  der  Welt  ermüdete  und  betäubte  Geschäfts¬ 
mann  in  der  Einsamkeit  findet.  Auch  feiert  der  Geist  in 
der  Einsamkeit  seine  schönsten  und  frohesten  Freiheits-  und 
Wonnestunden  der  nahen  und  fernen  Freundschaft  und 
Liebe,  und  nur  in  der  gröfsten  Stille  und  Ruhe  gelingt 
ihm  die  schwierigste  Eotwickelung  der  fruchtbringendsten 


XIV.  Brunnendiätetik. 


102 

und  bclohnendsten  Produkte.  Aber  allerdings  eben  so  gift- 
schwanger  und  gefährlich  wird  sie  durch  I  ebermaals  und 
falsche  Anwendung. 

Zur  ärztlichen  Vorbereitung  einer  Brunncncur  wird 
erfordert:  die  sogenannten  ersten  Wege  zu  reinigen,  oder 
überhaupt  den  Körper  zur  Aufnahme  und  zur  Verdauung 
der  Mineralwässer  geschickt  zu  machen.  Alles  was  der 
1  Ir.  Verf.  zum  Behufe  dieser  Vorbereitung,  so  wie  von  den 
Nachtheilen  ihrer  Versäumung  vorträgt,  verdient  die  ge- 
naueste  Erwägung.  Diese  ^  orbereitung  besteht  aber  nicht 
blofs  in  ausleerenden  Mitteln,  sondern  auch  unter  Umstän¬ 
den  in  Verminderung  des  Blutes,  Dämpfung  einer  über- 
mäfsigen  Reizbarkeit  der  Eingeweide,  vorzüglich  des  Darm¬ 
kanals,  in  Minderung  grofser  Schwäche,  Stillung  eingewur¬ 
zelter  Diarrhöen,  Bekämpfung  entzündlicher,  leicht  aufbrau¬ 
sender  Beschaffenheit  des  Blutes  u.  s.  w.  Dies  führt  den 
Hrn.  Verf.  auf  die  sogenannten  Kräutercuren ,  und  hierzu 
empfiehlt  er  besonders  die  frisch  ausgeprefsten  Säfte  mit 
Selterwasser  nach  einer  eigenen  von  dem  verewigten  Prof. 
Grapengiefser  zu  Berlin  gepriesenen,  nicht  genug  be¬ 
kannt  gewordenen  oder  zu  schnell  vergessenen  Methode  und 
Ordnung,  die  der  Verf.  selbst  oft  erprobt  hat,  und  die  gewifs 
befolgt  zu  werden  verdient.  Der  Leser  findet  sie  S.  3(>  be¬ 
schrieben.  Dann  redet  derselbe  von  den  Molken,  von  den 
warmen  Bädern,  und  der  Mafsigkeit  zur  \  orbereitungscur.- 
Ueberall  sind  die  besten  Regeln  gegeben. 

Ueber  die  Nothwendigkeit,  dafs  der  Brunnengast  dem 
Brunnenarzte  eine  von  seinem  Hausärzte  ausgefertigte  ge¬ 
naue  Krankheitsgeschichte  mitbringe,  so  wie  über  die  Ent¬ 
fernung  aller  nachtheiligen  Einflüsse  während  der  Reise  auf 
den  Kranken,  über  das  voreilige  Beginnen  der  Bronnencur, 
die  Waht  der  zweck  mäfsigsten  Jahres-  und  Tageszeit  dazu, 
wobei  mit  Recht  auch  der  Wintercuren  gedacht  wird, 
über  die  Wiederholung  derselben  in  einem  Jahre,  über  die 
in  manchen  Fällen  angemessene  Erwärmung  der  Brunnen, 
und  das  Trinken  derselben  im  Bette,  ferner  über  Brunnen- 


XIV.  Brunnendiätetik. 


103 


kleidung,  Vermeidung  von  Erkältungen,  die  nöthige  Bewe¬ 
gung  dabei,  die  Art  des  Trinkens,  und  die  Jedesmalige 
Bortion,  die  mancherlei  Zumischungen  zum  Brunnen,  und 
die  Mittel  denselben  verträglich  zu  machen  u.  s.  w.,  finden 
sich  die  treffendsten  Bemerkungen.  Ueberall  sind  über  diese 
Punkte  mit  Bestimmtheit  und  Klarheit  die  nöthigen  Kegeln 
vorgeschrieben. 

Nach  Malfatti’s  sehr  häufiger  Erfahrung  soll  eine 
Menge  von  Beschwerden,  welche  die  Karlsbader  Quellen, 
wenn  sie  nicht  vertragen  werden,  machen,  als:  Verstopfung, 
Congestionen  u.  s.  w. ,  durch  ein  Glas  frischer  lauwarmer 
Milch,  eine  halbe  Stunde  vor  dem  Brunnen  genommen, 
entfernt  werden.  Unstreitig  wird  es  hier  Ausnahmen  ge¬ 
ben,  wobei  andere  Proceduren  erforderlich  sind.  Die  Ver¬ 
bindung  einer  Art  von  Hungercur  mit  einer  Brunnencur, 
verdiene  die  gröfste  Aufmerksamkeit,  und  es  werden  die 
Fälle  angegeben,  wo  sich  die  gröfsten  Vortheile  davon  er¬ 
warten  lassen.  Statt  davon  geschwächt  zu  werden,  sehen 
manche  Kranke,  die  durch  die  Krankheit  unterdrückte  Le¬ 
benskraft  während  der  Entziehungscur  frei  sich  erheben. 
Hierauf  ist  von  den  passendsten  Nahrungsmitteln  die  Rede. 
Der  zum  Kaffee  empfohlene  Zwieback  veranlasse  in  Ver¬ 
bindung  mit  dem  Milchkaffe  eine  beschwerliche  saure  Gäh- 
rung.  Unter  den  Getränken  zum  Frühstück  wird  der  T hee 
als  erhitzend  und  die  Nerven  reizend,  so  wie  das  Schlafen 
in  der  Zeit  zwischen  Frühstück  und  Mittagsmahl,  verboten. 
Der  Hr.  Verf.  läfst  gewifs  auch  hier  einzelne  Ausnahmen 
gelten.  So  verhält  es  sich  auch  mit  dem  Schlafen  nach 
Tische,  wobei  Felix  Plater  doch  #70  Jahr  alt  wurde, 
ohne  jemals  krank  gewesen  zu  sein.  Etwas  Aehnliches  er¬ 
widerte  \oltaire  seinen  Aerzten,  als  sie  ihm  im  späte¬ 
sten  Alter  den  Kaffee  verboten.  Die  kohlensauren  Eisen¬ 
wässer  sollen  eine  eigene,  fast  specifike  Einwirkung  auf  die 
weiblichen  Geschlechtstheile  haben,  daher  sie  während  der 
Menstruation  ausgesetzt  werden  müssen.  Schon  einige  läge 
vor  ihrem  Eintritte  mufs  die  Zahl  der  Becher  verringert 


104 


XIV.  Brunuendiätetik. 


werden.  Entweder  führen  die  Mineralbrunnen  ohne  beson¬ 
ders  in  die  Sinne  fallende  W  irkungen  das  gewünschte  Wohl¬ 
sein  herbei,  oder  erregen  ein  künstliches  Fieber,  das  sich 
mit  kritischen  Ausleerungen  endigt,  oder  die  heilsamen 
Wirkungen  der  Brunnencur  kommen  nach  Verlauf  mehrerer 
Monate  nach.  Diese  Nachwirkung  ist  keine  im  Reiche  der 
Phantasie  entstandene  Träumerei ,  sondern  eine  durch  viel¬ 
fache  Erfahrung  sattsam  bestätigte  Wahrheit.  Der  Vcrf. 
hat  einige  merkwürdige  Fälle  davon  erfahren.  Bevor  diese 
verschiedenen  Wirkungsarien  näher  entwickelt  werden, 
schickt  er  einige  Worte  über  die  verschiedenen  Klassen 
der  Mineralwässer  voraus.  Er  glaubt,  dafs  sie  sich  nach 
ihren  Wirkungen  am  Ende  wohl  alle  unter  die  Rubriken 
der  auflösenden  oder  auflüsend -stärkenden ,  oder  der  stär¬ 
kenden  bringen  lassen.  Er  will  aber  lieber  die  ältere  che¬ 
mische  Eintheilung  beibehalten,  in  Stahlquellen,  die  soge¬ 
nannten  Laugenwässer  (warme  und  kalte),  die  innerlichen 
Schwefelwässer  (warme  und  kalte),  und  endlich  die  mine¬ 
ralischen  Salzquellen.  Die  Wirkungen  jeder  Klasse  werden 
dann  in  kurzen  Zügen  charakterisirt.  Man  wird  diese  kurze 
Auseinandersetzung  gewifs  nicht  ohne  Genugthuung  lesen. 
Der  grofse  Nutzen  des  hier  genau  beschriebenen  fleißigen 
Gebrauches  der  Mineralwässer  in  Lavements  wird  mit  Recht 
sehr  erhoben.  Auch  ist  das,  was  der  Vcrf.  über  die  Ver¬ 
dauung  der  Mineralbrunnen  und  die  von  ihnen  bewirkten 
kritischen  Ausleerungen  sagt,  ganz  aus  der  Natur  gegriffen. 
Die  Wirkung  einzelner  Brunnen  auf  einzelne  Organe, 
z.  B.  der  Eisenbrunnen  auf  die  Brust-  und  Geschlechts¬ 
organe,  der  Stahlwässer  zu  Pyrmont  auf  die  Gebärmutter, 
der  Karlsbader  auf  alle  Concretionen  des  Körpers,  des  Salz- 
br  unnens  und  Selterwassers  auf  die  Brust. 

Es  wird  nicht  weniger  das  hohe  und  das  kindliche 
Alter,  die  Schwangerschaft,  das  Säugen,  in  Absicht  des 
Brunnentrinkens  in  Erwägung  gezogen.  Kranke,  die  wirk¬ 
lich  an  orgauischeu  Verbildungen  grofser  Gefäfsc,  des  Her- 


4 


4  4 

XIV.  BiLinucndiätetik.  105 

zens  und  anderer  Organe  leiden,  dürfen  keine  Bäder  be¬ 
suchen,  wo  jährlich  Kranke  dieser  Art  ihren  Tod  finden. 

Der  Abschnitt  von  dem  Gebrauche  der  Bäder  ohne 
und  mit  der  inneren  Anwendung  der  Mineralwässer  ist  nicht 
weniger  sehr  lesenswrerth.  Der  Verf.  redet  hier  kürzlich 
von  allen  Arten  der  Bäder,  und  ihrer  richtigen  Anwendung 
und  Nutzbarkeit,  von  den  mannigfaltigen  Douchen,  dem 
Tropfbade,  Regenbade,  Schauerbade,  Gasbade,  Moorbade 
(S.  173)  u.  s.  w.  Recht  wichtig  ist  die  Bemerkung  und 
Warnung  gegen  das  Ueberbaden,  d.  h.  über  die  Sättigung 
des  Körpers  hinaus,  nach  welcher  das  Baden,  so  wie  das 
Brunnentrinken,  nicht  mehr  vertragen  wird.  Auf  eine  be¬ 
stimmte  Zahl  von  Bädern  läfst  sich  diese  Sättigung  aber 
nicht  zurückbringen,  da  sie  unter  verschiedenen  Umständen 
gewifs  zu  verschiedenen  Zeiten  eintritt.  Oefter  als  einmal 
des  Tages  zu  baden,  läfst  der  Verf.  nur  für  wenige  Kranke 
gelten.  In  der  See,  kann  Ref.  versichern,  bekommt  das 
zweite  Bad  des  Abends  recht  vielen  Kranken  sehr  gut,  bei 
sonst  gleichen  Umständen  versteht  sich,  und  selbst  zuweilen 
besser  als  des  Vormittags. 

Alles,  was  der  Hr.  Verf.  über  die  körperliche  und 
geistige  Diät  und  das  ganze  Verhalten,  in  Betreff  des  Nach¬ 
mittagsschlafs,  der  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes,  wovor 
besonders  Milz-  und  Leberkranke  gewarnt  werden,  über 
das  Kartenspiel,  Schauspiel,  über  die  Dauer  der  Badecur 
u.  s.  w.  sagt,  verdient  von  jedem  Brunnen-  und  Badegaste 
genau  befolgt  zu  werden.  Zur  Bequemlichkeit  derselben 
hat  der  Hr.  Verf.  ein  alphabetisches  Verzeichnis  der  den 
Curgästen  nützlichen  und  schädlichen  Speisen  und  Getränke 
dem  dritten  Abschnitte  beigefügt;  wobei  es  sich  versteht, 
dafs  Gewohoheit,  Individualität,  die  Wirkungen  des  Brun¬ 
nens,  auch  die  Verschiedenheit  des  Brunnens,  einzelne  Ab¬ 
weichungen  von  der  gewöhnlichen  Regel  gestalten. 

Der  Abschnitt  über  die  Nachwirkungen  der  Mineral¬ 
wasser  u.  s.  w.  ist  vortrefflich  bearbeitet.  Sie  treten  schnell 


106 


XV.  Breslauer  Sammlungen. 

oder  langsam,  früh  oder  spät  ein,  lind  werden  jährlich 
durch  die  schönsten  Erfahrungen  vielfach  bestätigt.  Für 
viele  Brunnengäste,  wenn  ihre  Hoffnungen  vereitelt  zu  sein 
icheinen,  kann  und  mufs  diese  Darstellung  und  Auseinan¬ 
dersetzung  recht  tröstlich  sein.  Sehr  wichtig  ist,  dafs  diese 
kritischen  Nachwirkungen  nicht  falsch  beurtheilt  und  behan¬ 
delt  werden  dürfen,  eine  für  den  Arzt  oft  nicht  so  leichte 
Aufgabe.  Es  giebt  auch  schädliche  Nachwirkungen  der  Mi¬ 
neralwässer,  welche  der  Arzt  verhindern  oder  entfernen 
soll.  Worauf  der  Kranke  hierbei  besonders  sein  Augen¬ 
merk  zu  richten  hat,  wird  hier  deutlich  angegeben. 

Bei  der  Empfehlung  dieses  Buches  für  alle  Brunnen- 
und  Badegäste  ist  es  ein  erfreulicher  Gedanke,  dafs  einer 
Menge  von  ihnen  von  der  darin  erhaltenen  Aufklärung  die 
erspriefslichsten  Folgen  ihrer  Curen  werden  zu  Theil  wer¬ 
den.  Ein  würdiges  Seitenstück  dazu  ist  Kreysig’s  schätz¬ 
bares  Werk  über  den  Gebrauch  der  natürlichen  und  künst¬ 
lichen  Mineralwässer;  zweite,  vermehrte  Auflage.  Leipzig, 
1828.  Hier  ist  über  mehrere  wichtige  Punkte  dieser  An¬ 
gelegenheit  besonders  Licht  verbreitet,  und  durch  viele 
Erfahrungen  bestätigt,  was  einer  Ungewifsheit  unterworfen 
sein  könnte;  jedoch  ist  es  hauptsächlich  nur  für  Aerzte  ge¬ 
schrieben.  Wer  im  Besitze  beider  Werke  ist,  in  welchen 
übrigens  gleiche  Grundsätze  herrschen,  was  die  Wirkungs- 
art  und  den  Gebrauch  der  Mineralwässer  betrifft,  wird  in 
dieser  Sphäre  nicht  leicht  etwas  vermissen,  dessen  Kennt- 
nifs  ihm  wichtig  sein  könnte. 

S.  G.  V ogel. 


xv. 

Neue  Breslauer  Sammlungen  aus  dem  Ge¬ 
biete  der  Heilk  unde,  herausgegeben  von  der 
mediciniscben  Scction  der  schlesischen 


107 


XV.  Breslauer  Sammlungen. 

>  » • 

Gesellschaft  für  vaterländische  Cultur. 
Erster  Band.  Breslau,  hei  Gosohorsky.  1829.  8. 
XAIII  und  444  S.  (2  Thlr.  8  Gr.) 

»  4  4 

Da  der  Unterzeichnete  Ref.  keine  Art  von  literarischer 
Täuschung  liebt,  so  beginnt  er  hier  mit  dem  Geständnisse, 
dafs  von  ihm  keine  Recension,  sondern  nur  eine  sich  alles 
Urtheils  begebende  Anzeige  dieses  Werkes  ausgehen  kann, 
da  er  die  Entstehung  desselben  veranlafst,  den  gröfsten 
Theil  der  Redaction  besorgt  und  selbst  zwei  Abhandlungen 
dazu  geliefert  hat.  Schlesiens  Aerzten,  welche  einst  die 
klassische  Ilistoria  morborum  Vratislaviensium ,  und  kurz 
nachher  die  für  ihre  Zeit  sehr  nützlichen  Breslauer  Samm¬ 
lungen  geliefert  haben,  wird  in  diesen  neuen  Sammlungen, 
welche  keinesweges  in  die  Zahl  der  Zeitschriften  einrüdken, 
sondern  in  unbestimmten  Zeiträumen  Bandweise  erscheinen, 
ein  Organ  zur  Mittheilung  über  die  Medicin  als  Wissen¬ 
schaft  und  Kunst  eröffnet,  durch  welches  sie,  in  einem  schö¬ 
nen,  aber  für  litterarische  Verbindungen  ungünstig  gelege¬ 
nen  Lande  lebend,  mit  der  ärztlichen  Welt,  so  weit  sie 
der  deutschen  Zunge  mächtig  ist,  in  Verbindung  treten. 
Aufser  den  Petersburger  Sammlungen  haben  wir,  trotz  der 
Menge  unserer  ärztlichen  Zeitschriften,  kein  ähnliches  Un¬ 
ternehmen,  da  die  von  der  med.  chir.  Akademie  in  Dresden 
und  von  der  Universität  in  Wien  ausgehenden  W^erke  als 
Zeitschriften  auftreten,  und  zum  Theil  auch  andern  Zwecken, 
z.  B.  der  Naturkunde  überhaupt  und  der  Mittheilung  amt¬ 
licher  Nachrichten  dienen.  Unser  Unternehmen  tritt  kei¬ 
nem  andern  in  den  Weg;  der  grüfste  Theil  der  in  unseren 
Sammlungen  erscheinenden  Abhandlungen  würde  ohne  die¬ 
selben  ungedruckt  geblieben  sein.  Wenn  sie  daher,  wie 
wir  hoffen,  Gutes  verbreiten  oder  anregen,  so  wird  man 
uns  Dank  wissen,  dafs  wir  sie  an  den  Tag  gefördert  haben. 
Ob  und  wie  weit  sie  die  Wissenschaft  fördern,  mögen 
andere  kritische  Blätter,  und  mehr  noch  als  diese,  Deutsch¬ 
lands  öffentliche  Stimme  beurtheilen.  Ref.  kann  seiner  par- 


108  XV.  Breslauer  Sammlungen. 

tlieiischen  Stellung  nach  keine  Uecension,  sondern  nur  eine 
gedrängte  Inhaltsanzeige  aufstellen. 

1.  I  eher  die  in  Schlesien  endemischen  rheu¬ 
matischen  Fieber,  vom  Geh.  R.  u.  Prof.  Wendt.  Fs 
wird  zuvörderst  aus  Schlesiens  Fage  und  den  dieser  ent¬ 
sprechenden  \\  itterungsverhaltnissen  erörtert,  warum  da¬ 
selbst  rheumatische  Fieber  besonders  häufig  Vorkommen; 
sodann  wird  über  die  Natur  der  Fieber  überhaupt  und  der 
rheumatischen  Fieber  insbesondere  gehandelt,  und  die  geeig¬ 
nete,  durch  Frfahrung  erprobte  und  mit  Beispielen  belegte 
Behandlung  aufgestellt.  —  2.  Feber  die  gallertartige 
Frweichung  des  Magens,  von  ])r.  Carl  Nagel.  Schil¬ 
derung  des  schnellen  und  langsamen  Verlaufes  dieses  Uebels, 
Beweise  für  das  Dasein  desselben  im  Leben,  Prüfung  der 
aufgesteilten  Ansichten  und  Heilmethoden,  Kranken-  und 
Sectionsgeschichten.  —  3.  Der  Sy  noch  us  und  das 

intermittirende  Fieber,  die  beiden  Grün <1  for¬ 
men  der  gegenwärtig  herrschenden  allgemeinen 
K  rankheitsconstitution,  von  Dr.  W e n t z k e.  Der 
Krankheitscharakter,  welcher  seit  mehreren  Jahren  Deutsch¬ 
land  beherrscht,  und  im  Norden  desselben,  wie  in  dem  an- 
gränzenden  Holland  unter  Zutritt  ungünstiger  Verhältnisse, 
gelährliche  Fpidemieen  hervorgebracht  hat,  hat  sich  auch 
in  Schlesien  verbreitet  und  die  angegebenen  beiden  Krank¬ 
heitsformen  zu  den  herrschenden  gemacht.  Die  mit  grofsem 
Erfolge  angewandten  Heilmittel  sind  im  Wesentlichen  die¬ 
selben,  welche  die  bisherige  rationelle  Heilkunde  in  Anwen¬ 
dung  gezogen  hat.  —  4.  Geschichte  einer  Feber¬ 

krankheit,  welche  sich  durch  Oeffnung  eines  Ge¬ 
schwürs  nach  au  Isen  glücklich  endete,  von  Dr.  K. 
Hen  sc  hei.  Der  Fall  gehört  durch  seine  Langwierigkeit 
und  Heftigkeit,  so  wie  durch  die  grofse  Menge  der  nach 
aufsen  ausgeleerten  Galle  zu  den  merkwürdigsten  seiner 
Art.  —  5.  Feber  die  chronische  H  irn  höh  len  Was¬ 
sersucht  der  Kinder,  von  Dr.  Kraufs.  Fine  von  den 
Bearbeitern  der  Kinderkrankheiten  fast  ganz  vernachlässigte 


109 


XV.  Breslau  er  Sammlungen. 

Krankheitsform  wird  hier  nach  Anleitung  der  Erfahrung 
deutlich  beschrieben.  Auch  die  Heil  versuche,  welche  we¬ 
gen  später  Anwendung  meistens  keinen  Nutzen  gewähren, 
sind  angegeben. —  6.  Vergiftung  mit  Aethusa  Cyna- 
pium,  an  neun  Kindern  bobachtet,  vom  Kreisphysi- 
cus  I)r.  Meyer  in  Kreutzburg.  Die  zwei  jüngsten  Kin¬ 
der  waren  vor  Ankunft  des  Arztes  gestorben,  die  übrigen 
wurden  gerettet.  Es  wird  zugleich  versucht,  eigenthiim- 
liche  Zeichen  für  diese  Vergiftung  aufzustellen.  —  7.  Zur 
Lehre  von  der  Hundswut h,  von  D e ms e lb en.  Berner- 

i  _  ' 

kungen  über  das  Dasein  und  Fehlen  der  Marochettischen 
Bläschen,  und  über  die  Zeichen  der  Wulfe  bei  Hunden, 
letzteres  in  Uebereinstimmung  mit  den  Ilertwigschen  Er¬ 
fahrungen.  —  8.  Ueber  Variola  und  Varioliden, 

nach  eigenen  Beobachtungen,  vom  Hofrath  Dr. 
Ebers.  Die  ausführliche  Untersuchung  gründet  sich  auf 
die  Beobachtung  von  72  Fällen  der  gedachten  Krankheits¬ 
formen,  welche  in  den  Jahren  1827  und  28  im  Kranken¬ 
hospitale  zu  Allerheiligen  in  Breslau  vorkamen.  Der  Verf. 
entscheidet  sich  für  eine  wesentliche  Verschiedenheit  unter 
jenen  beiden  Krankheitsformen.  —  9.  Zur  Lehre  von 

den  Impfnarben,  vom  Kreisphysicus  Dr.  Meyer  in 
Kreutzburg.  Bemerkungen  über  die  Form  schützender  und 
nicht  schützender  Impfnarben,  und  über  die  Erfolge  der 
Impfung  bei  Personen,  die  vor  Jahren  mit  Erfolg  geimpft 
worden.  —  10.  Merkwürdiger  Fall  von  Metastase 

und  Metaschematismus,  vom  Ref.  —  11.  Ueber 

einige  Schwierigkeiten  in  der  Pathologie  der 
Hundswuth,  und  eine  Aussicht  zur  Lösung  der¬ 
selben,  vom  Prof.  Dr.  Henschel.  Nach  Darlegung  ver¬ 
schiedener  in  Beziehung  auf  jene  Krankheit  obwaltender 
Widersprüche  wird  versucht,  dieselbe  vom  psychologischen 
Standpunkte  aus  zu  deuten.  —  12.  Ueber  den  Begriff 
bösartiger  Fieber,  und  über  das  Wesen  der  Bös¬ 
artigkeit  in  Krankheiten  überhaupt,  von  Dr.  Bork¬ 
heim.  Da  die  zahlreichen  älteren  Untersuchungen  über 


110  X\.  Breslauer  Sammlungen. 

diesen  Gegenstand  denselben  nicht  erschöpft  haben,  und  die 
Praxis  den  Ausdruck  bösartig  nicht  ganz  entbehren  7,11 
können  scheint,  so  wird  versucht,  die  wahre  Gränzc  für 
denselben  zu  bestimmen.  —  13.  Ueber  die  irr  irren 

•  O 

Deutungen  der  Thätigkeit  des  Lymphsystems, 
vom  Ref.  Die  Bemerkung,  dafs  die  Pathologie  unserer 
Zeit  nicht  immer  die  Fortschritte  der  Physiologie  gehörig 
beachtet,  ist  in  Beziehung  auf  das  Lymphsystem  besonders 
auffallend,  und  hat  \  eranlassung  gegeben,  die  gewöhnlichen 
\  orstellungen  der  Aerztc  in  Beziehung  auf  den  Kinflufi 
dieses  Systems  einer  Revision  zu  unterwarfen.  —  11.  Ueber 
die  schwarze  Blatter,  vom  Medicinalrath  Dr.  Haneke. 
Der  Verf.  will  keine  andere  Ansteckung,  als  durch  die  Haut 
zugeben,  und  betrachtet  daher  nur  die  auf  dieselbe  wirken¬ 
den  Mittel  als  schützend  gegen  Ansteckung.  Zu  diesen 
Mitteln  rechnet  der  Verf.  das  Empyreuma  in  allen  seinen 
Formen.  Wäre  Unterzeichneter  hier  nicht  blofser  Refe¬ 
rent,  so  würde  er  gegen  die  Grundlage  der  Ansicht  und 
gegen  die  gezogenen  Folgerungen  lebhafte  Einwürfe  ma¬ 
chen.  Jedenfalls  verdienen  diese  Behauptungen  sorgfältige 
Prüfung  in  grofsen  Krankenanstalten  und  bei  Epizootieen.  — 
15.  Versuche  mit  giftigen  Sch  warn  men  und  L  o  - 
lium  temulentum  an  Thiren,  vom  Oberthierarzt  Dr. 
Hertwig,  Lehrer  an  der  Thierarzneischule  in  Berlin.  In¬ 
teressante  Versuche,  welche  zum  Theil  mit  den  gewöhn¬ 
lichen  Angaben  in  Widerspruch  stehen.  —  16.  Ueber 

die  wirksamen  Stoffe  in  den  vegetabilischen 
blausäurehaltigen  Mitteln,  von  Dr.  G  ö  p  p  e  r  t. 
Durch  Versuche  wird  erwiesen,  dafs  das  Bittermandelöl, 
dem  die  Blausäure  entzogen  ist,  nicht  mehr  giftig  wirkt; 
es  geht  zugleich  daraus  hervor,  dals  Erdmann’s  Ansicht 
über  die  hierher  gehörigen  Mittel  (s.  diese  Aunalen  Bd.  V  IF. 
S.  257  ff. )  völlig  gegründet  ist.  —  17.  Einige  Beiträge 
zur  physiologischen  Pharmacologie,  vom  Prof.  Dr. 
Purkinje.  Versuche  mit  Campbcr,  Opium,  Terpenthinöl 


111 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

und  Muscatnufs,  zur  Erforschung  der  organischen  Reactio- 
nen ,  jedoch  auch  wichtig  in  Beziehung  auf  Heilwirkung. 

Druck  und  Papier  werden  billigen  Ansprüchen  völlig 
genügen. 

Lichtenstädt . 


XVI. 


Biographische  Nachrichten. 


1.  Francois  Chaussier,  geboren  zu  Dijon  1746, 
studierte  auf  der  Universität  zu  Besan^on,  wo  er  im  Jahre 
1780  zum  Doctor  der  Medicin  und  der  Chirurgie  promo- 
virt  ward,  worauf  er  nach  Dijon  zurückkehrte  und  daselbst 
Vorlesungen  über  Anatomie,  Physiologie,  Chemie  und  Ma- 
teria  medica  mit  einem  ungeteilten  Beifall  hielt.  Im  Jahre 
1799  wurde  ihm  der  ehrenvolle  Ruf  nach  Paris  zu  Theil, 
um  dort  in  Gemeinschaft  mit  Fourcroy  einen  allgemeinen 
Lehrplan  für  die  Heilwissenschaften  zu  entwerfen.  Kaum 
sah  er  den  Zweck  seiner  Reise  erfüllt,  als  er  wieder  nach 
Dijon  zurückkehrte,  von  wo  ihn  der  Ruf  als  Professor  der 
Anatomie  und  Physiologie  an  der  neugegründeten  medici- 
nischen  Facultät  in  Paris  zum  zweitenmal  in  diese  Haupt¬ 
stadt  rief.  In  seinen  Vorlesungen  über  Physiologie,  mit 
welchen  er  auf  die  sinnigste  Weise  Experimente  an  Thie- 
ren  verband ,  richtete  er  seine  Untersuchungen  vorzugs¬ 
weise  auf  den  Galvanismus,  auf  die  verschiedenen  Arten  der 
Asphyxie,  in  sofern  diese  die  Wirkungen  schädlicher  Gas¬ 
arten  sind,  auf  den  Vorgang  bei  den  Verknöcherungen,  auf 
die  Bildung  neuer  Gelenkhöhlen,  auf  die  Bildung  der  Mark- 
hühlen  in  den  Knochen,  auf  die  Unterbindung,  die  Durch- 
schneidung  und  die  muthmaafsliche  Regeneration  der  IM  er- 


112 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

von,  auf  die  Functionen  mehrerer  Organe,  die  er  entweder 
gänzlich  entfernte  oder  nur  auf  längere  oder  kürzere  /eit 
in  Lntbätigkeit  versetzte. 

Im  Jahre  1804  wurde  C  haussier  dirigirender  Arzt 
der  Entbindungsanstalt  (la  Maternite),  Professor  der  Chc- 
mie  und  Arzt  an  der  polytechnischen  Schule,  welche  letz¬ 
tere  Stelle  ihm  im  Jahre  1815  nach  dem  Eintritt  der  Bour- 
bons  entzogen  ward.  Im  Jahre  1821  erwählte  ihn  das  In¬ 
stitut  de  Fiance  zu  ihrem  ordentlichen  Mitgliede,  und  das 
Collecre  de  France  zum  Stellvertreter  des  berühmten  Halle. 

o 

Am  Ende  des  folgenden  Jahres,  wo  die  Geistlichkeit  eine 
Reform  der  medicinischen  Facultät  für  nüthig  erachtete, 
erhielt  C haussier,  so  wie  Desgenettcs,  Dubois  und 
andere  nicht  minder  berühmte  und  thätige  Männer  seine 
Entlassung,  welche  Nachricht  einen  so  gewaltsamen  1. in¬ 
druck  auf  (.haussier  machte,  dafs  er  schon  am  folgenden 
Tage  von  einer  Apoplexie  heimgesucht  ward,  in  Folge 
deren  eine  Lähmung  der  rechten  Hand  und  eine  grolse 
Schwäche  auf  der  ganzen  rechten  Seite  zurückblieb.  Er 
starb  am  9.  Juni  d.  J.  im  zweiundachtzigsten  Lebensjahre. 

Chaussier  galt  für  einen  der  gelehrtesten  Professo¬ 
ren  an  der  medicinischen ‘Facultät,  dem  die  Leistungen  frem¬ 
der  Nationen  keine  Terra  incognita,  wie  so  vielen  seiner 
Collegen  geblieben  waren.  Seine  Vorlesungen  über  Physio¬ 
logie,  welche  uns  Richerand  in  seinem  Lehrbuche  über 
Physiologie  treu  wiedergegehen  haben  soll,  zeichneten  sich 
durch  grofsen  Scharfsinn  und  einen  oft  bittern  Witz  aus, 
seine  Bemerkungen  am  Krankenbette  bekundeten  einen  den- 
kenden  praktischen  Arzt,  und  besonders  einen  scharfsinni¬ 
gen  Prognostiker.  Seine  Schriften  sind  folgende: 

1)  Extrait  des  observations  de  Mr.  Chauss.  sur  plu- 
sieurs  traitemens  par  le  sei  sedatif  mercuricl,  in  den  Observa¬ 
tions  sur  la  physique,  l’hist.  natur.  cct.  tom.  IX.  Mai  1777. 

2)  Memoire  de  physique  experimentale,  sur  quelques 
proprietes  de  Tair  inflam  mahle,  in  derselben  Zeitschrift 
tom.  X.  1777. 


3)  Re- 


113 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

3)  Reflexions  sur  les  moyens  propres  ä  determiner  la 
respiration  dans  les  enfans,  qui  naissent  sans  donner  aucun 
signe  de  vie,  et  a  retablir  cette  fonction  chez  les  asphyxies, 
et  sur  les  effets  de  Fair  vital  ou  dephlogistique  employe 
pour  produire  ces  avantages.  Histoirc  et  memoires  de  la 
societe  roy.  de  med.  an  1780  et  1781.  p.  346. 

4)  Memoire  d’anatomie  sur  les  vaisseaux  omphalo- 
mesenteriques.  Nouveaux  mem.  de  l’acad.  de  Dijon  an  1782. 
p.  175. 

5)  Memoire  sur  un  acide  particulier  decouvert  dans 
le  ver  a  soie,  avec  des  observations  sur  l’origine,  le  siege 
de  cet  acide  cet.  Ebendas.  A.  1783  2eme  semestre  p.  70. 

6)  Observations  sur  les  procedes  employes  pour  faire 
perir  la  chrysalide  du  ver  a  soie.  Ebend.  1784.  2eme  se¬ 
mestre  p.  80. 

7)  Essai  d’anatomie  sur  la  structure  et  les  usages  des 
epiploons.  Ebend.  a.  1784.  2eme  sem.  p.  95. 

8)  Observations  sur  une  cataracte  compliquee  avec  la 
dissolution  du  corps  vitre.  Ebendas,  a.  1788.  2eme  sem. 

p.  202. 

9)  Description  de  Faerostate  de  Dijon  parMorveau, 

*  i 

Chaussier  et  Bertrand.  1784.  8. 

10)  Methode  de  traiter  les  morsures  des  animaux  en~ 
rages  et  de  la  vipere;  suivie  d’un  precis  sur  la  pustule 
maligne  1785.  Ins  Deutsche  übersetzt.  1766.  Berlin. 

11)  Consultation  medico- legale  sur  une  accusation 
dinfanticide.  1786.  4. 

12)  Observations  sur  la  maniere  de  transplanter  les 
müriers  blancs  cet. 

13)  Exposition  sommaire  des  muscles  cet.  1789. 

14)  Memoire  sur  quelques  abus  dans  la  Constitution 
des  corps  et  Colleges  de  Chirurgie  cet.  1789. 

15)  Observations  chirurgico- legales  sur  un  point  im¬ 
portant  de  la  jurisprudence  criminelle  1790. 

16)  Instruction  sur  l’usage  des  remedes,  que  le  depar- 
tement  de  la  Cöte-d’or  envoie  dans  les  campagnes  1792. 

XIII.  Bd.  i.  St.  8 


114 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

17)  Observations  sur  quelques  abus  Jans  le  scrvice 
des  officiers  de  sante  militaircs  etc.  Journal  de  med.  cct. 
tom.  XCV. 

IS)  Tables  synoptiques  über  Anatomie. 

19)  Memoire  sur  le  moyen  de  preserver  les  cadavres 
des  animaux  de  la  putrefaction,  en  conservant  leurs  formes 
essentielles.  Magazin  encyclop.  tom.  L.  p.  535. 

‘20)  Diseours  prononcees  aux  seances  publiques  de  la 
‘maternite  en  1805,  1806,  1S07,  1SDS,  1812  cet.  Im  An- 
nuaire  de  la  societe  de  med.  du  departement  de  l’Eure,  in 
welcbem  sich  noch  verschiedene  andere  Artikel  von  dem¬ 
selben  .Verfasser  befinden. 

21)  Observat.  sur  les  effets  du  gnz  carboneux  dans 
l’economie  animale,  im  Bullet,  de  la  societe  philomath.  an.  X. 
p.  94. 

22)  Obs.  sur  une  espbee  rare  de  hernie  abdominale. 

23)  Mem.  sur  un  nouveau  genre  de  sei  et  sur  son 
usage  dans  le  tiaitement  de  quelques  maladies.  Journal  de 
la  soc.  de  pharm,  tom.  I.  p.  466. 

24)  Precis  d’experiences  sur  l’amputation  des  extre- 

mites  articulaires  des  os  longs.  Mem.  de  la  soc.  med.  d’emu- 
lat.  Tom.  III.  p.  397.  1 

.  25)  Exposition  sommaire  de  la  structure  de  l’ence- 
phale.  Paris  1807. 

26)  Recueil  des  programmes  des  operations  chimiques 
ct  pharmaceutiques ,  qui  ont  ete  cxecutees  aux  Juris  med. 
de  1809  —  1810. 

27)  Consultations  medieo-l£gales  sur  une  accusation 
d  empoisonnement  par  le  sublim^  corrosif  cet.  Paris  1811. 

28)  Memoires  sur  les  fractures  et  les  Iuxations  sur- 

venues  ?t  des  foetus  cncore  contenus  dans  la  matriee.  Bull, 
de  la  faculte  de  med.  1813.  p.  302.  ' 

29)  Note  sur  une  hernie  cong^niale  du  coeur.  Eben¬ 
das.  1M4. 

30)  Obs.  sur  une  Perforation  de  Tcstomac  ct  du  dia- 
phragmo.  Ebend.  1815. 


115 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

31)  Sur  les  hernies  du  poumon.  Ebend.  1814. 

32)  Sur  l’obliteration  spontanee  de  plusieurs  arteres. 
Ebend.  1818. 

33)  Rapport  sur  un  enterrement  precipite.  Eben¬ 
das.  1817. 

34)  Obs.  sur  une  eruption  variolique  dans  la  trachee 
artere  1819. 

35)  Recueil  anatomique  a  l’usage  des  jeunes  gens, 
qui  se  destinent  a  l’etude  de  la  Chirurgie  cet.  Paris.  1820. 

36)  Recueil  de  memoires,  consultations  et  rapports 
sur  des  objects  de  med.  legale.  Paris  1824. 

Mehrere  Artikel  über  Gegenstände  aus  dem  Gebiete 
der  Physiologie  im  Dict.  des  Sciences  med.  sind  von  C haus¬ 
sier  und  Adelon,  so  wie  verschiedene,  vor  der  Pariser 
medicinischen  Facultät  verth eidigte  Dissertationen. 

(Nach  den  Archives  generales.  1828.  Juillet.) 

* 

2.  Johann  Etienne  Georget,  geboren  am  9.  April 
1795  zu  Verrou  bei  Tours,  besuchte  seit  1812  die  medici¬ 
nischen  Vorlesungen  an  der  Pariser  Universität,  wo  er  bald 
eine  grofse  Vorliebe  für  das  Studium  der  psychischen  Heil¬ 
kunde  blicken  liefs,  wozu  seine  Stellung  als  Eleve  interne 
in  der  Salpetrierc  wesentlich  beigetragen  haben  mag.  Im 
Jahre  1819  vertheidigte  er  seine  Dissertation  über  die 
Ursachen  des  Wahnsinns,  welche  an  innerem  Gehalte 
sich  wesentlich  unter  den  Inauguralabhandlungen  dieser 
Schule  auszeichnete.  Schon  im  folgenden  Jahre  erschien 
von  ihm  eine  Schrift  über  Geisteszerrüttung,  betitelt:  De 
la  folie,  considerations  sur  cette  maladie,  son  siege,  ses 
symptomes  etc.,  und  wenige  Monate  später  sein  Werk: 
De  la  physiologie  du  Systeme  nerveux  et  specialement  du 
cerveau  in  zwei  Bänden,  in  welchem  er  seine  von  Origi¬ 
nalität  zeugenden  Ansichten  über  die  Nervenkrankheiten  im 
Allgemeinen,  und  namentlich  über  den  Sitz,  die  Ursachen 
und  die  Behandlung  der  Hysterie,  Hypochondrie,  Epilepsie 
u.  s.  w.  entwickelte.  Diese  letztere  Schrift  ist  es  vorzugs- 

8* 


116 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

weise,  welche  dem  ^rf.  die  Palme  der  Unsterblichkeit  zu¬ 
sichert,  wiewohl  seine  Untersuchungen  im  UeLdete  der  ge¬ 
richtlichen  Arzneiwissenschaft,  und  insonderheit  über  die 
Zurechnungsfähigkeit  —  welche  Lehre  in  Frankreich  vor 
Georg  e  t  von  niemandem  bearbeitet  worden  ist  —  an  Gehalt 
nicht  nachstehen,  und  einen  eben  so  wissenschaftlich  gebildeten 
als  menschenfreundlich  gesinnten  Arzt  beurkunden.  In  die¬ 
sen  Abhandlungen  (welcher  in  dieser  Zeitschrift  wiederholt 
Erwähnung  geschehen)  sucht  G.  den  von  Juristen  und  von 
Aerzten  seines  Vaterlandes  aufgestellten  Satz:  «dafs  die 
Mania  homicida  ein  Phantom  sei,  das  nur  zur 
Entschuldigung  eines  jeden  \  crbrecliens  benutzt 
werde,”  durch  Thatsachen  zu  widerlegen,  welche  wohl 
geeignet  erscheinen,  seihst  dem  eigensinnigsten  und  einsei¬ 
tigsten  Richter  die  Rinde  von  den  Augen  zu  nehmen.  Lei¬ 
der  haben  indefs  eine  Reihe  von  späteren  Verhandlungen 
vor  den  französischen  Gerichtshöfen  und  mehrere  Verur¬ 
teilungen  und  Hinrichtungen  von  Personen,  die  man  in 
anderen  Ländern  als  gemütskrank  in  ein  Irrenhaus  geschickt 
hätte,  hinreichend  dargethan,  dafs  die  von  Georg  et  aus¬ 
gesprochenen  W  ahrheiten  noch  keinen  Eingang  in  Frank¬ 
reich  gefunden,  wo  man  furchtet,  dafs  die  Annahme  einer 
Mania  homicida  bald  als  Entschuldigungsgrund  für  Verbre¬ 
chen  aufgegriffen  werden  könnte. 

Georg  et  war  einer  der  thätigsten  Mitarbeiter  am 
Dictionnaire  de  medecine,  das  im  Jahre  1821  unter  Mit¬ 
wirkung  von  Reclard,  Orfila  u.  s.  w.  begann,  und  von 
welchem  gegenwärtig  21  Bande  erschienen  sind.  Die  von 
Georget  in  demselben  bearbeiteten  Artikel  sind  Ataxie, 
Catalepsie,  Cauchemar,  Cephalalgie,  Cretioisme,  Delire,  De¬ 
lirium  tremens,  Douleur,  Dyspepsie,  Enclphale,  Fnccpha- 
lite,  Fpijepsic,  Folie,  Gastralgic,  Hysterie,  Hypochondrie, 
Idiotisme,  Liberte  morale,  Ncvrose,  Onanismc  und  Suicide. 
Nicht  minder  thätig  zeigte  sich  Georget  als  Mitarbeiter 
an  den  Arcbives  generales  de  medecine,  welche  mehrere 


XVI.  Biographische  Nachrichten.  117 

gediegene  Abhandlungen  über  die  Geisteszerrüttung  und  die 
Zurechnungsfähigkeit  enthalten. 

Aufser  den  litterarischen  Arbeiten  beschäftigte  den  Ver¬ 
storbenen  die  Leitung  einer  Privatirrenanstalt,  welcher  er 

* 

und  Esquirol  —  sein  inniger  Freund  und  Lehrer  — 
vorstanden.  Georget  starb  an  der  Lungenschwindsucht, 
von  welcher  er  schon  seit  vier  Jahren  die  deutlichsten 
Spuren  wahrgenommen  hatte. 

Bei  Eröffnung  seines  Testamentes  fand  man  eine  vom 
Verstorbenen  ein  Jahr  vor  seinem  Tode  niedergeschriebene 
Erklärung,  der  zufolge  er  seine  früheren  in  der  Physio¬ 
logie  du  Systeme  nerveux  ausgesprochenen ,  einen  groben 
Materialismus  verrathenden  Ansichten  zurücknahm  und  ver¬ 
sicherte,  dafs  ein  fortgesetztes  Studium  der  Philosophie  und 
ein  ernsteres  Nachdenken  ihn  zur  wahren  Religiosität  zu¬ 
rückgeführt. 

Scripsit  pro  veritate,  sine  omni  respectu  humano,  non 
adulandi,  non  placendi  animo,  non  spe  lucri  aut  vanae  lau- 
dis  et  gloriae  aucupandae  Studio  —  pro  veritate  scripsit. 

(Nach  Raige-D elorm e  in  den  Archives.  Juin  1828.) 

3.  Pierre  Cbristophore  Gorcy,  Inspecteur  ho- 
noraire  du  Service  de  sante,  vormals  Medecin  en  clief  der 
vereinigten  Sambre-,  Maas-  und  Rheinarmee  und  vom  Mili— 
tärhospital  in  Metz,  Officier  der  Ehrenlegion,  Mitglied 
vieler  gelehrten  Gesellschaften  und  Gründer  der  Societe 
des  Sciences  medicales  in  Metz,  geboren  am  19.  März  1758 
in  Pont-ä-Mousson ,  trat  nach  Beendigung  seiner  Studien 
und  nachdem  er  mehrere  Jahre  in  Metz  als  praktischer  Arzt 
gelebt,  1791  in  die  vereinigte  Sambre-  und  Maasarmee, 
und  wohnte  den  verschiedenen  Feldzügen  in  Holland,  Ita¬ 
lien,  Deutschland  und  Spanien  bei.  Ein  von  ihm  während 
der  Feldzüge  erdachter  Kugelzieher  fand  bei  den  französi¬ 
schen  Militärärzten  grofsen  Beifall,  und  wurde  von  diesen 
dem  Per cy sehen  zur  Seite  gesetzt.  Wie  Larrey,  so 


l 


118 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 

gab  er  im  Jahre  8.  der  Republik  Memoiren  heraus,  in  wel¬ 
chen  er  die  von  ihm  beobachteten  Epidemieen  mit  lebhaften 
und  der  Natur  getreuen  Farben  schilderte.  Diese,  so  wie 
seine  historisch- klinischen  Untersuchungen  über  die  Hunds- 
wuth,  welche  vom  Cercle  medical  in  Paris  eine  besondere 
Auszeichnung  erhielten,  seine  mcdiciqische  Topographie  von 
Longwy  und  mehrere  interessante  Abhandlungen  im  Journal 
encyclopedique  (1780  und  17S7)  und  im  Journal  general 
de  medecinc  (1788,  89,  1790,  91,  1804,  1807),  sichern 
seinem  Namen  einen  Platz  in  den  Annalen  der  AN  issen- 
schaft.  Er  starb  im  69sten  Jahre  seines  thätigen  Lebens  — 
fortwährend  mit  dem  Studium  der  Alten  beschäftigt,  mit 
denen  er  innig  vertraut  war. 

(Nach  dem  Eloge  de  P.  C.  Gorcy  par  Chaumas,  lu 
a  la  seance  publique  de  la  societe  des  Sciences  medicales  du 
departement  de  la  Moselle.) 

4.  briedrich  Berard,  Professor  der  Ilvgieine  an 
der  I  niversität  in  Montpellier,  Mitglied  der  medicinischen 
Academie  in  Paris,  geboren  zu  Montpellier  im  Jahre  1789, 
starb  daselbst  am  16*.  April  1828.  Noch  sehr  jung  begann 
er  das  Studium  der  Medicin  in  Montpellier,  wo  er  schon 
in  seinem  zwanzigsten  Jahre  zum  Doctor  promovirt  ward, 
nachdem  er  zuvor  eine  Dissertation:  Plan  d’une  Medecine 
naturelle  ou  la  nature  considerec  comme  medecin  et  le 
medecin  considere  comme  imitateur  de  la  nature,  öffentlich 
vertheidigt  hatte,  welche  die  Principien  der  damals  in  Mont¬ 
pellier  herrschenden  Schule  enthielt.  Bald  darauf  kam  er 
nach  Paris,  und  wurde  Mitarbeiter  des  Dictionnaire  des 
Sciences  medicales,  in  welchem  folgende  Artikel  von  ihm 
verfafst  sind: 

1)  Cranioscopie,  eine  mit  Eleganz  geschriebene  tiefe 
Kritik  des  Ga  11  sehen  Systems. 

t 

2)  Element,  welches  eine  Schilderung  der  sogenann¬ 
ten  Doctrine  analytique  enthält,  als  deren  Gründer  Bar- 
thez  und  Dumas  gelten. 


119 


XVI.  Biographische  Nachrichten. 


3)  Extase.  4)  Force  musculaire. 

Jetzt  kehrte  er  nach  Montpellier  zurück,  wo  er  mit 
vielem  Beifalle  Vorlesungen  über  Pathologie  und  Thera¬ 
pie  hielt. 

Im  Jahre  ISIS  erschien  von  ihm  eine  Schrift,  betitelt: 
Sur  la  distinction  de  la  petite  veröle  et  la  variole  (1.  Vol.  8.), 
in  welcher  er  das  Resultat  seiner  in  einer  Pockenepidemie 
von  1816  gesammelten  Forschungen  bekannt  machte. 

Späterhin  machte  ein  anderes  Werk:  Sur  la  doctrine 
de  l’ecole  de  Montpellier  et  sur  la  comparaison  de  ses  prin- 
cipes  avec  ceux  des  autres  ecoles  de  l’Europe  (1.  Vol.  8.), 
wegen  der  grofsartigen  und  tief  gedachten  Ansichten,  so 
wie  wegen  des  eleganten  Styls  viel  Aufsehen. 

Seine  übrigen  Schriften  sind:  das  in  Gemeinschaft  mit 
Er.  Rouzet  herausgegebene  und  von  vielen  Bemerkungen 
begleitete  Traite  sur  les  maladies  chroniques  par  Dumas 
(2  Vol.). 

Doctrine  des  rapports  du  physique  et  du  moral,  in 
welcher  er  seine  philosophischen  Ansichten  ausspricht,  in¬ 
dem  er  zugleich  die  Gränzen  der  Physiologie  und  der  Me- 
taphysik  bestimmt. 

Lettre  inedite  de  Cabanis  sur  les  causes  premieres, 
welchem  Briefe  er  viele  Noten  beifügte,  die  hart  von  der 
Kritik  mitgenommen  wurden. 

Erst  jetzt  erhielt  er  die  Professur  der  Ilygieine  in 
Montpellier,  wo  er  wenige  Monate  nach  Publicirung  seines 
Antrittsprogramms:  L’amelioration  progressive  de  l’espece 
humaine  par  l  inßuence  de  la  civilisation  (s.  diese  Annalen 
Jahrgang  1827),  im  39sten  Jahre  seines  Alters  starb.  — 
Er  gehörte  zu  den  heftigsten  Gegnern  der  Ecole  physio- 
logique,  wie  mehrere  Aulsätze  in  der  Revue  medicale  be¬ 
weisen. 


(Nach  Amedee  Dupau 
dique.  Juin  1828.  Paris.) 


in  der  Revue  encyclope- 


lleyf eldcr. 


120 


XVII.  Neue  Ausgaben. 


XVII. 

Neue  Ausgaben. 


1.  Joann.  Bapt.  Morgagni,  De  Sedibus  et  Cau- 
sis  morborum  per  anatomen  indagatis  Libri 
quinque.  Editionem  reliquis  emendatiorem  et  vita  au¬ 
ctoris  auctam  curavit  Justus  Radius,  Prof.  Med.  P* 
b.  etc.  Lipsiae,  sumtibus  E.  Vossii.  Tomus  quartus, 
1828.  8.  pp.  466.  (Scriptorum  classicorum  de  Praxi 
medica  nonnullorum  Opera  collecta.  Vol.  VII.)  (1  Tblr. 
16  Gr.) 

2.  Bernard.  Ramazzini  Opera  medica.  Editionem 
reliquis  emendatiorem  et  vita  auctoris  auctam  curavit  Ju¬ 
stus  Radius,  Prof.  Med.  P.  E.  etc.  Tomus  secundus. 

-  pp.  VI.  et  412.  Lipsiae,  sumtibus  L.  Vossii,  1828.  8. 
( Scriptorum  classicorum  de  Praxi  medica  nonnullorum 
Opera  collecta.  Vol.  XII.)  (1  Tblr.  12  Gr.) 

Indem  wir  auf  die  Anzeigen  der  früheren  Bände  dieser 
trefflichen,  den  Aerzten  so  willkommenen  Sammlung  ver¬ 
weisen  (Vergl.  Bd.  XI.  H.  2.  S.  247  d.  A.),  können  wir 
unser  geäufsertes  Lrtheil  über  dieselbe  nur  wiederholen. 
I)ie  V\  erke  Ramazzini’s  sind  in  dem  vorliegenden  Bande 
beendigt,  und  es  ist  ihnen  ein  ausführlicher  Index,  der  die 
Brauchbarkeit  des  Ganzen  wesentlich  erhöht,  beigegeben. 


XVIII. 

Dissertationen  der  Universität  Berlin. 

t 


51.  I)e  Medicinae  militaris  incrementis,  praescr- 
tim  ex  rCmediis  quibusdam  novis,  tempore  re- 


XVIII.  Dissertationen. 


121 


cent  io  re  captis.  D.  i.  m.  auctor.  Adolph.  Nie¬ 
mann,  Halberstadiens.  Def.  d.  22.  Septembr.  1828.  8. 
pp.  49. 

Der  Verf.  spricht  zuvörderst  von  den  Verbesserungen 
der  neuern  Kriegsarzneikunde  überhaupt,  und  wendet  sich 
dann  zu  den  neueren  Heilmitteln,  deren  Gebrauch  in  Gar¬ 
nison-  und  Feldlazarethen  von  vorzüglicher  Wichtigkeit  ist, 
dem  Chininum  sulphuricum,  dem  Chlor-Kalk  und  Natrum, 
dem  Holzessig  und  der  Aqua  amygdalarum  amararum.  Auch 
die  Hungerkur  und  der  Gebrauch  des  Sublimats  werden  in 
Bezug  auf  die  Militärpraxis  erörtert. 

52.  De  Ratione,  quae  morbos  inter  et  aetates 
diversasintercedat.  D.  i.  m.  auctor.  Adolph.  Fer¬ 
dinand.  Müller,  Halberstadiens.  Def.  d.  3.  Octobr. 
1828.  8.  pp.  29. 

53.  Nonnulla  de  prima  Formatione  cobibita.  D. 
i.  anatomic.  patbologic.  auctor.  Joann.  Frideric.  de  • 
Wiebers,  Posnaniens.  Def.  d.  6.  Oct.  1828.  8.  pp. 28. 
Acc.  tab.  aen. 

Eine  interessante  Abhandlung  über  Bildungshemmungen 
der  Oberextremitäten,  mit  Abbildung  und  Beschreibung 
zweier  unvollständigeo  Fötusarme,  die  im  hiesigen  Museum 
aufbewahrt  werden. 

54.  De  Graviditate  oarica.  D.  i.  m.  auctor.  Ca¬ 
ro  1.  Ludovic.  Rahts,  Elbingens.  Def.  d.  10.  Octobr. 
1828.  8.  pp.  44.  Acc.  tab.  aen. 

Diese  mit  vielem  Fleifs  geschriebene  Dissertation  ent¬ 
hält,  aufser  dem  Bekannten  in  Hinsicht  der  Ursachen,  der 
Diagnose,  des  Ausgangs,  der  Prognose  und  der  Kurme¬ 
thode  dieser  regelwidrigen  Schwangerschaften,  eine  sehr 
genaue  Aufzählung  und  kurze  Beschreibung  der  meisten  der 
bisher  bekannt  gewordenen  Fälle  dieser  Art,  so  wie  eine 
sehr  gut  erzählte  Geschichte  einer  Eierstockschwanger¬ 
schaft,  welche  zu  beobachten  der  Verf.  selbst  Gelegenheit 


122 


XVIII.  Dissertationen. 


hatte.  Die  beigefiigte,  sehr  instructive  Abbildung  dient  zur 
näheren  Erläuterung  dieses  Falles.  Interessant  ist  die  bei¬ 
gefugte  Tabelle,  die  folgende  Rubriken  enthält:  Namen  der 
Beobachter;  Jahreszahl  der  Beobachtung;  Angabe  der  Zahl 
der  vorhergegangenen  Schwangerschaften;  wahrscheinliches 
Alter  des  Fötus;  Zeit,  wie  lange  die  Mutter  die  Frucht  bei 
unzerrissenem  Sacke  bei  sich  trug;  Ort  der  Schwangerschaft; 
Geschlecht  des  Fötus,  und  Ausgang  der  Schwangerschaft. 

55.  I)e  Pubertate  morbosa.  D.  i.  m.  auctor.  Joann. 
Jacob,  lleilgers,  Juliacens.  Def.  d.  14.  Octobr.  1828. 

8.  pp.  20. 

56.  De  Morph  io.  D.  i.  m.  auctor.  1  rideric.  Leo¬ 
pold.  Eduard.  Kindscher,  Siles.  Def.  d.  16.  Octobr. 

1828.' 8.  pp.  21. 

57.  De  Inflam  matione  et  praesertim  de  puris  ge¬ 
il  erat  ione.  1).  i.  physiologic.  pathologic.  auctor.  Ga- 
rol.  Ferdinand.  Kuepper,  Rhenan-Boruss.  Def.  d. 
18.  Octobr.  1828.  8.  pp.  61. 

Ueber  die  vom  Yerf.  kritisch  beleuchteten  und  geord¬ 
neten  Theorieen  der  Entzündung  und  Eiterbildung  gewährt 
dics&  recht  ausgezeichnete  Dissertation  einen  belehrenden 
Ueberßlick. 

58.  De  Methodo  diaph orctica.  D.  i.  in.  auctor.  Ca- 
rol.  Georg.  Schiegnitz,  Ilalberstadiens.  Def.  d. 
23.  Octobr.  1828.  8.  pp.  21. 

59.  Diss.  inaug.  med.  chir.  sistens  Observationes  circa 
permagnum  vulnus  articuli  genu,  auctor.  Carol. 
Jul.  Theodor.  Sydow,  Bcrolinens.  Def.  d.  25.  Octobr. 
1S28.  8.  pp.  21. 

Ein  interessanter  Beitrag  zur  Kenntnifs  der  Gelenk- 
wunden  in  der  Erzählung  eines  seltenen  Falles  von  Hei¬ 
lung  einer  sehr  bedeutenden  petetrirenden  Knieverletzung. 

CO.  Diss.  inaug.  physic.  med.  sistens  Rationem  gravita- 
tera  inter  et  vim  vitalem,  auctor.  Guilelm.  Jo- 


XVIII.  Dissertationen.  123 

seph.  Sinsteden,  Cliviens.  Def.  d.  27.  Octobr.  1828. 

8.  pp.  21. 

CI.  Observationes  de  Olei  citri  aetherei  recens 
expressi  usu  in  quibusdam  oculorum  m  orbis. 
D.  i.  med.  Ophthalmiatrie,  auctor.  Gustav.  Adolph. 
Werlitz,  Neo -Rupinens.  Def.  d.  29.  Octobr.  1828. 

8.  pp.  21.  / 

Seit  einiger  Zeit  ist  das  aus  den  Schalen  frischer  Ci- 
tronen  ausgedrückte,  und  aus  diesen  unmittelbar  in  die 
Augen  eingespritzte  ätherische  Oel  in  verschiedenen  Augen¬ 
krankheiten  versuchsweise  mit  gutem  Erfolge  angewandt 
worden.  Es  ergab  sich,  dafs  von  ihm  gute  Wirkungen  zu 
erwarten  sind,  bei  allen  Arten  asthenischer  oder  asthe¬ 
nisch  gewordener  Augenentzündungen,  namentlich  in  der 
rheumatischen,  der  catarrhalischen  und  der  scrofulöseö,  so 
wie  den  mancherlei  Verbindungen,  die  diese  untereinander 
eingehen;  ferner  beim  Pannus  und  Pterygium,  und  den 
Hornhautflecken,  besonders  wenn  diese  mit  Erschlaffung 
verbunden  sind,  dafs  dagegen,  wie  zu  erwarten,  der  Ge¬ 
brauch  dieses  Mittels  bei  frischen  sthenischen  Augenentzün¬ 
dungen,  und  wo  irgend  die  Sensibilität  des  Auges  zu  aoeh 
gesteigert  ist,  schadet.  Hierüber  enthält  diese  Dissertation 
ausgewählte  Krankheitsfälle. 

62.  Observatio  intestinorum  partis  intussusce- 
ptae,  et  salva  vita  per  alvum  deiectae.  D.  i.  pa- 
thologic.  med.  auctor.  Carol.  Frideric.  Henri c.  He- 
dinger,  Rawiczo-Posnaniens.  Def.  d.  30.  Octobr.  1828. 

8.  pp.  21. 

Eine  sehr  interessante  Beobachtung  von  Abgang  eines 
beträchtlichen  intussuscipirten  Stückes  vom  dünnen  Darm 
mit  einem  Theile  seines  Gekröses  bei  einer  siebenundfunf- 
zigjährigen  Frau.  Ileus,  bei  dem  keine  Lebensrettung  er¬ 
wartet  werden  konnte,  war  vorausgegangen,  und  die  Kranke 
gen^is.  Der  \erf.  hat  diese  Bobachtung  seines  'N  aters,  eines 
praktischen  Arztes  im  Grofsherzogthum  Posen,  gut  erzählt, 


t 


124 


XVIII.  D  isscrlationcn. 

das  abgegangenc,  vom  Brand  nicht  beträchtlich  zerstörte 
Darmstück  beschrieben,  und  die  Citate  über  die  bisher  mit- 
getheilten  ähnlichen  halle  hinzugefügt,  unter  denen  wir  je¬ 
doch  die  beiden  wichtigen,  von  Ilowship  erwähnten  ver¬ 
missen.  S.  Bd.  I.  II.  1.  S.  99  d.  A. 

63.  D  e  Vertebrarum  cervicalium  luxationc.  D.  i. 
med.  chirurg.  auclor.  Joann.  Frideric.  Ludovic. 
Bauch,  Berolincns.  Def.  d.  l.Novembr.  1828.  8.  pp. 21. 

Der  \  erf.  beweist  durch  die  Mittheilung  mehrerer  Fälle 
aus  den  Schriften  verschiedener  Wundärzte  die  Mügl  ic  hkeit 
einer  Luxation  des  Hinterhauptbeines  und  Atlas,  so  wie 
einer  Luxation  der  übrigen  Halswirbel;  auch  erzählt  er 
einen  von  ihm  selbst  in  der  Charite  zu  Berlin  beobachteten 
Fall  einer  Luxation  des  fünften  und  sechsten  Halswirbels, 
der  sich,  seine  Seltenheit  abgerechnet,  durch  nichts  Beson¬ 
deres  auszeichnet. 

64.  De  Contagio  phthisico.  D.  i.  m.  auctor.  Ludo¬ 
vic.  Benedict.  Jaffe,  Lesnens.  Def.  d.  3.  Novembr. 

1828.  8.  pp.  29. 

Eine  sehr  lesenswerthe  Untersuchung  über  die  Zuläs¬ 
sigkeit  und  die  Verwerflichkeit  der  Annahme  eines  Anstek- 
kungsstoffes  in  der  Schwindsucht,  bei  der  cs  dem  Verf.  zur 
Ehre  gereicht,  dafs  er  keine  entscheidenden  Besultate  auf¬ 
zustellen  versucht  hat.  Ls  fehlt  noch  überall  an  überzeu¬ 
genden  i  hatsachen,  und  der  Gegenstand  ist  mithin  noch 
nicht  reif  zur  Entscheidung.  Verdienstlich  war  es  aber, 
die  Gründe  für  und  wider  die  Ansteckungskraft  der  Schwind¬ 
sucht  lichtvoll  geordnet  gegen  einander  zu  stellen,  worauf 
der  \  erf.  vielen  Fleifs  in  der  Vergleichung  der  zahlreichen 
hierher  gehörigen  Schriften  verwandt  hat.  Die  Abhandlung 
zerfällt,  nächst  der  \orrede  und  Einleitung  in  folgende 
Kapitel:  1)  Leber  die  Contagien  überhaupt,  2)  über  die 
Natur ,  die  Ursachen  und  die  Symptome  der  Schwindsucht 
im  Allgemeinen,  und  3)  über  die  Ansteckungskraft  der¬ 
selben.  s 


X\  11 1.  Dissertationen. 


125 


65.  De  Ilydrope  ventriculorum  cerebri  acuto. 
D.  i.  m.  auctor.  Joseph  B re vis,  Guestphal.  Def. 
d.,  5.  Novembr.  1828.  8.  pp.  20. 

66.  De  Melanosi.  D.  i.  auctor.  Carol.  Zimmer¬ 
mann,  Siles.  Def.  d.  11.  Novembr.  1828.  8.  pp.  42. 
C.  tab.  aeri  inc. 

Eine  treffliche,  nicht  nur  wegen  der  lichtvollen  Ver¬ 
gleichung  des  Vorhandenen  interessante,  sondern  auch  in 
der  beigefügten  Beschreibung  eines  wichtigen  Falles  von 
Melanose  im  Auge  neue  Aufschlüsse  hierüber  gebende  Ar¬ 
beit.  War  bisher  die  Ansicht,  dafs  Markschwamm,  Blut¬ 
schwamm  und  Melanose  nur  Unterarten  eines  und  desselben 
Uebels  sind,  unleugbar  die  beste,  und  den  vorliegenden, 
freilich  in  Bezug  hierauf  noch  nicht  genug  entwickelten 
Thatsachen  am  meisten  entsprechende  Ansicht,  so  wird  diese 
durch  das  sauber  abgebildete  Präparat  (das  Auge  wurde  im 
hiesigen  chirurgisch- augenärztlichen  Clinicum  exstirpirt)  auf 
eine  .sehr  erfreuliche  Weise  zur  Gewifsheit  erhoben.  Mark¬ 
schwamm,  Blutschwamm  und  Melanose  begränzen  sich  nicht 
nur  gegenseitig,  sondern  gehen  auch  augenscheinlich  in  ein¬ 
ander  über.  Dies  Präparat  ist  gewifs  eins  der  schätzbarsten, 
die  pathologisch -anatomische  Sammlungen  in  Bezug  auf  die¬ 
sen  Gegenstand  aufzuweisen  haben. 

t 

67.  De  universi  vis  riervosae  praegnantium  cor¬ 
poris  mutationibus,  nec  non  de  illis  ad  animum 
spectantibus  seu  psychicis.  D.  i.  physiologic.  auctor. 
Anton.  Joseph.  Richter,  Confluentin.  Boruss.  Rhe- 
nan.  Def.  d.  12.  Novembr.  1828.  8.  pp.  34. 

68.  De  Phthisi  laryngea.  D.  i.  auctor.  Carol.  Ilen- 
ric.  Rudolph.  Gl  ede,  Boruss.  Def.  d.  20.  Novembr. 
1828.  8.  pp.  28.  Acc.  tab.  aen. 

Ein  schätzbarer  Beitrag  zur  Kenntnifs  der  Kehlkopfs¬ 
schwindsucht,  mit  sehr  sauberen  Abbildungen  von  drei 
in  dem  hiesigen  Museum  aufbewahrten  exulcerirten  Kehl¬ 
köpfen. 


\ 


126 


XIX.  Mcdicinischc  Bibliographie. 

69.  De  Vencno  in  botulis  nova  qua  cd  am.  D.  i. 
med.  chemic.  auctor.  August.  Guilelm.  Schumann, 
Berolinens.  Def.  d.  26.  Novembr.  1828.  8.  pp.  39. 

Der  Verf.  entscheidet  sich  in  dieser,  einen  lichtvollen 
Ueberblick  über  die  bisherigen  Leistungen  über  seinen  Ge¬ 
genstand  gewährenden  Abhandlung  für  die  Buchncrsche 
Annahme  eines  Wurstfettgiftes. 

70.  D.  i.  m.  sisten^s  casum  singulärem  carcinoma- 
tis  uteri  cum  gravi  di  täte  coniuncti,  auctor.  Ber¬ 
tram.  Zeppenfeld,  Guestphal.  Def.  d.  23.  Decembr. 
1828.  8.  pp.  29. 

Lin  sehr  wichtiger  Fall,  der  mit  dem  Tode  der  Mut¬ 
ter  bald  nach  ihrer  Entbindung  von  einem  todten  Sieben- 
monatskinde  endete. 

71.  De  Ilydrope.  D.  i.  m.  auctor.  August.  Gerharcli, 
Guestphal.  Def.  d.  27.  Decembr.  1828.  8.  pp.  22. 


XIX. 

Medicinische  Bibliographie. 


Abbildungen  aus  dem  Gesammtgebiete  der  theoretisch- 
praktischen  Geburtshülfe,  nebst  beschreibender  Erklärung 
derselben.  Nach  dem  Französischen  des  Maygricr  bear¬ 
beitet  und  mit  Anmerkungen  versehen  von  E.  C.  J. 
v.  Siebold.  Erste  Lieferung,  mit  10  Steintafeln  und  IV 
u.  32  Seiten  Text.  gr. 8.  Berlin.  Ilerbig.  20  Gr. 

Arnold,  F.,  über  den  ührknoten.  Eine  anatomisch -phy¬ 
siologische  Abhandlung.  Mit  Abbildungen.  4.  Heidelberg. 
Winter.  54  S.  1  Thlr. 

Bischoff,  J.  I\. ,  Darstellung  der  Ileilungsmethodc  in  der 
medicinischen  Klinik  an  der  K.  K.  raed.-chir.  Josephs-, 
Academie  in  den  Jahren  1826  und  27.  gr.  8.  Wien. 
Wallishaufser.  396  S.  2  Thlr.  12  Gr 


127 


XIX.  Medicinische  Bibliographie. 

Boivin,  Madame,  über  eine  sehr  gewöhnliche  und  noch 
wenig  gekannte  Ursache  des  Abortus,  nebst  einer  Denk¬ 
schrift  über  den  Intro -Pelvimeter,  oder  innern  Becken¬ 
messer;  gekrönt  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  medi- 
cinischen  Wissenschaften  zu  Bourdeaux.  Uehersetzt  und 
mit  Anmerkungen  versehen  von  F.  L.  Meifsner.  Mit 
einer  Abbildung,  gr.8.  Leipzig.  Zirges.  XII  und  183  Sei¬ 
ten.  18  Gr. 

Hesselbach,  A.  K.,  die  Lehre  von  den  Eingeweide- 
Brüchen.  2  Thle.  gr.8.  WVürzburg.  Strecker.  4  Thlr. 

Heyfelder,  der  Selbstmord  in  arzneigerichtlicher  und  in 
medicinisch -polizeilicher  Beziehung,  gr.8.  Berlin.  Enslin- 
sche  Buchh.  113  S.  br.  18  Gr. 

Hühnefeld,  L.,  die  Radesyge  oder  das  Scandinavische 
Syphiolid.  Aus  scandinavischen  Quellen  dargestellt,  gr.8. 

‘Leipzig.  Vofs.  XII  u.  136  S.  21  Gr. 

Krim  er,  W.,  über  die  radicale  Heilung  der  Harnröhren¬ 
verengerungen  und  deren  Folgen,  nebst  kritischen  Be¬ 
merkungen  über  Ducamp’s  Heilverfahren  gegen  dieselbe. 
Mit  zwei  Steindrucktafeln,  gr.8.  Aachen,  la  Ruelle.  VII 
und  88  S.  br.  16  Gr. 

Piorrv,  S.  A.,  die  mittelbare  Percussion  und  die  dadurch 
erhaltenen  Zeichen  in  den  Krankheiten  der  Brust  und  des 
Unterleibes.  Aus  dem  Franz,  übers,  von  F.  A.  Balling. 
Mit  2  Steindrucktafeln,  gr.8.  Würzburg.  Stahel.  332  S. 

1  Thlr.  8  Gr. 

Rüde,  G.  W.  sen.,  populäre  Anweisung  zur  analytischen 
Prüfung  der  vorzüglichsten  chemischen  Heilmittel,  oder 
chemisches  Probiercabinet  für  angehende  Aerzte  und  Apo¬ 
theker.  Dritte,  wohlfeilere  Ausgabe.  8.  Cassel.  Luckhardt. 
XXIV  u.  192  S.  br.  10  Gr. 

Saissy,  die  Krankheiten  des  Ohres.  Gekrönte  Preisschrift. 
Uehersetzt  von  Fitzlar.  gr.8.  Ilmenau.  'V  oigt.  XW  und 

208  S.  1  Th,r* 

Sammlung  auserlesener  Abhandlungen  zum  Gebrauch 
praktischer  Aerzte.  36 r  Bd.  1s  St.,  oder  neue  Samm- 


128  XIX.  Mcdicinische  Bibliographie. 

lung  u.  s.  w.  l‘2n  Bds  ls  St.  gr.  8.  Leipzig.  Dyk.  19-4  Sei¬ 
ten.  18  Gr. 

Scriptores  ophtlialmologici  minores,  cd.  J.  Badius.  Yol.II. 

Cum  tab.  aen.  II.  8maj.  Lips.  Vofs.  216  P.  1  Thlr.  8  Gr. 
Verhandlungen  der  vereinigten  ärztlichen  Gesellschaften 
der  Schweiz.  Jahrgang  1828.  Erste  Hälfte,  gr.8.  Zürch. 
Ulrich.  (Ziegler.)  VI  u.  140  S.  br.  16  Gr. 

Weise,  F.  A. ,  über  die  Zurückbildung  der  Scirrhen  und 
der  Polypen,  und  über  die  Heilung  der  Krebsgeschwüre. 
8.  Leipzig.  Lauffer.  76  S.  9  Gr. 

Werlhof's  Blutfleckenkrankheit.  Inauguralabhandlung  von 

F.  J.  Hergt.  8.  Hadamar.  Gelehrten  -  Buchhandlung. 
64  S.  6  Gr. 

Winkler,  J.  M.,  allgemeine  Therapie,  oder  allgemeine 
Krankheitsheilungslehre.  Zum  Gebrauch  für  angehende 
Aerzte.  Ir  Bd.  le  bis  3e  Abth.  gr.8.  Olmütz.  Skar- 
nitzl.  (Mösle.)  XXX  u.  774  S.  4  Thlr.  12  Gr. 

Zimmermann,  J.  C.  E. ,  Anatomische  Darstellungen  zum 
Privatstudium.  2s  Heft.  Tab.  V.  bis  VIII.  Syndesmolo- 
gie.  kl. Fol.  Leipzig.  Lauffer.  14  Gr. 

Bei  Boike  in  Berlin  ist  erschienen: 

Encyclopädisches  Wörterbuch 

der  medicinischen  Wissenschaften; 

herausgegeben 

von  den  Professoren  der  meJicinischen  Facultät 

zu  Berlin: 

C.  F.  y.  Grafe,  C.  W.  Hufeland,  II.  F.  Link, 
K.  A.  Rudolphi,  E.  v.  Siehold. 

Zweiter  Band: 

Ahnung  bis  Antimonium. 

Subscriptionspreis:  3  Thlr.  8  Gr. 


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I. 

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Forschungen  im  Gebiete  der  theoretischen 

und  praktischen  Arzneikunde. 

H  % 

Von 

Dr.  L.  S.  Steinheim, 

praktischem  Arzte  in  Aitona. 


i.  Entwurf  zu  einer  endlichen  Theorie  der  Heil- 
mittellehre  in  ihrer  Begründung  auf  die  Basis 
der  Humoralpathologie. 

Eocv  Ti  yu.(>  ei7TV'S)  xdev  sivac  rcc , (ßU(>fAUx.cc  [tovct  xct^r  ccvtx * 

»  «*  *^\  /  >  »  \  V  \  / 

W^0C*>JXflVT<y5  tTTiV)  £XV  [AV]  TO V  ZgMftSVOP 

ogB-ug  FZ?’  >(0‘'v  TS  ftocXiv  eio v  7rt(>  B-täv  Z^%A 5  r# 

(pctgftxx.a }  t£to  og$-eJs  sgs7g, 

Galen,  de  Compos.  medicam.  secundum  locos  L.  VI. 
edit.  Kühn  Vol.  XII.  p.  966. 

4  »  v 

Sagst  du  mir,  die  Arzneimittel  seien  an  und  für  sich  be¬ 
trachtet  so  gut  wie  Nichts,  so  hast  du  Recht;  denn  ihre 
richtige  Anwendung  macht  sie  erst  zu  Etwas.  Sagst  du 
mir  gegentheils,  die  Arzneimittel  seien  gleich  der  Hand 
Gottes,  so  sagst  du  auch  dies  mit  Recht.  —  Was  aber 
macht  denn  —  so  möchte  der  Verf.  in  Galen’s  Namen  fort¬ 
fahren  —  den  rechten  Gebrauch  möglich,  und  erhebt  das 
Medicament  aus  seinem  Nichts  zu  einer  Gottes -Hand? 

9 


XIII.  Bd.  2.  St. 


130 


I.  Theorie  der  Heilmittellehrc. 


Unser  Schatz  von  Arzneimitteln  ist  als  der  Gründ¬ 
end  S  c  h  1  u  fs stein  der  ganzen  Arzneikunst  zu  betrachten. 
Als  der  Grundstein  in  mehrfacher  Rücksicht,  als  Schlufs- 
stein  aber  nur  in  einer,  jedoch  der  würdigsten.  Ist  der 
zeitliche  Anfang  unserer  Kunst  dem  Bedürfnisse  zuzuschrei¬ 
ben,  so  war  dessen  erstes  Streben  nach  dem  Mittel.  Vor 
aller  I  heorie  war  eine  Art  Pharmakitis  vorhanden  (so 
wird  sie  in  den  ältesten  Urkunden  genannt;  die  Pharma¬ 
kopoe  möchte  ihrem  Wesen  und  Namen  nach  ziemlich 
späten  Ursprungs  sein)'.  Ist  die  Fortdauer  und  das  ewig 
unveränderte  Interesse  wiederum  dem  Bedürfnisse  gröfsten- 
theils  beizumessen:  dann  ist  überall  dies  M  i  t  te l  der  Grund¬ 
stein  und  das  Ziel  der  Kunst.  Was  kümmert  es  den  Kran¬ 
ken  ,  ob  und  was  für  I  heorieen  uns  einen  und  entzweien? 
Hat  e?  Zeit  und  Lust,  sich  um  unsere  Streitigkeiten  zu 
bekümmern?  Nimmt  er  Antheil,  so  geschieht  dies  oft  zu 
seinem  Nachtheil,  oft  aus  Neugier,  oft  aus  allgemeiner  Nei¬ 
gung  zu  helfen,  oft  zu  spötteln,  oder  selbst  zu  spotten. 
Antheil  nimmt  er,  sobald  er  weniger  krank,  und  so  lange 
er  es  weniger  ist;  wird  der  Schmerz  stärker,  was  fordert  er? 
Wie  der  Hungrige  Brot,  wie  der  Durstige  ^Vasser  —  ein 
Heilmittel,  unbekümmert,  wie  der  Digestionsprozefs  fort¬ 
schreite,  oder  ob  es  überall  so  etwas  in  der  Natur  gebe. 

Wie  aber  verstehen  wir  es,  dafs  unsere  I  leil  mittel  lehre 
der  Schlufsstein  der  ehrwürdigen  Kunst  werden,  oder 
sein  miifste?  Die  ganze  Lehre  von  der  Krankheit  ist  das 
Unternehmen,  auf  eine  grofse,  schmerzliche  Frage,  eine 
lindernde,  beschwichtigende  Antwort  zu  ertheilen.  Die 
Frage  ist:  Womit  wird  mir  geholfen?  Die  Antwort  ist 
das  Heilmittel,  und  zwischen  Frage  und  Antwort  liegt  der 
heilige  Pfad,  den  unsere  Vorfahren  geebnet  haben  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Da  liegt  die  Anatomie,  Physiologie, 
Pathologie,  Semiotik,  Prognostik;  Therapie  und  in  ihr, 
eben  in  dieser  letzten,  zugleich  die  Materia  medica. 

Darum  ist  vor  allem  die  1  rennung  der  Materia  medica 
von  der  Therapie  als  eine  ganz  unnatürliche,  bestandlose 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre. 


131 


Zerreifsung  zu  betrachten.  In  jedem  Mittel  ist  eine  Me¬ 
thode,  ein  Tbeil  der  allgemeinen  wie  der  speciellen  Thera¬ 
pie  enthalten.  Beklagenswert!)  und  Ursache  vielen  Unheils  ist 
diese  Zerreifsung  geworden,  weil,  durch  Heterogencität  der 
Antwort  und  der  Frage,  der  Therapie  und  des  Mittels,  eine 
mehr  als  chaotische  V  erwirrung  entstehen  mufs  —  mehr  als 
chaotische,  wiederhole  ich,  weil  das  Gemengsel  und  die 
Verwirrung  aus  der  Ordnung  und  nach  ihr  entsteht,  nicht 
aber  vor  derselben  vorhanden  ist;  und,  wie  es  schwerer  sein 
möchte,  aus  einem  zertrümmerten  Gebäu  das  alte  wieder 
neu  herzustellen,  als  ein  neues  aus  rohem  Materiale  auf¬ 
zuführen;  so  möchte  auch  aus  dieser  Stückelei  sich  nur 
mühselig  und  nothdürftig  ein  ordentliches  Ganze  erwirken 
lassen. 

-  / 

Nun  aber  versteht  es  sich  von  selbst,  dafs  erst  dann 
auf  die  Frage  eine  adäquate  Antwort  ertheilt  werden  kann, 
wenn  jene  erst  durch  alle  ihre  Instanzen  durchgeführt,  und 
die  Vorbereitungen,  Mittelglieder,  Annäherungen  so  weit  ge¬ 
diehen  sind,  bis  am  Ende  zur  völligen  Lösung  der  Aufgabe 
nichts  mehr  erforderlich  ist,  als  die  Erkenntnifs  der  eigen- 
thümlichen  Natur  des  Mittels  selbst,  damit  jedes  an  seinen 
eigenthürnlichen  und  natürlichen  Ort  gerückt  werde..  Die¬ 
sen  \  ersuch  zur  Lösung  beabsichtigen  die  folgenden  Blätter. 
Ihr  Verfasser  ist  der  Ueberzeugung,  dafs  nur  mittelst  der 
H  umoralpathologie  in  geläuterter  Form,  diese  Vollendung 
erreichbar  sei.  Ob  ihm?  —  Möge  er  wenigstens  so  glück¬ 
lich  sein,  dafs  sein  guter  Wille  und  die  Richtigkeit  seiner 
Grundidee  anerkannt  würden. 

I.  Epoche  des  blofsen  Bedürfnisses. 

In  der  ersten  Epoche,  da  noch  ein  blofses  Bedürfnifs, 
ein  Verlangen  nach  Linderung  der  Schmerzen,  ohne  deut¬ 
liche  Unterscheidung  der  Arten  dieses  Bedürfnisses,  ein  ein¬ 
faches  natürliches  Verlangen,  das  verlorene  Wohlbehagen 
wieder  zu  bewirken,  waren  wahrscheinlich  vier  Arten  der 
Befriedigung  dieses  Bedürfnisses  vorhanden.  Eia  Suchen 

9  * 


132 


I.  Theorie  der  HcilmiUcllehrc. 


ohne  Leitstern,  ein  Llofses  Tappen,  oder  Ahnungen,  Träume 
und  Aberglauben,  Entschuldigungen  des  blinden  Tappens 
durch  unerklärliche  Einwirkungen;  oder  Nachahmung  des 
Thierinstinktes;  oder  endlich  veredelter  menschlicher  Instinkt. 
Aus  diesen  vier  Quellen  Hofs  die  erste,  roheste  Heilmittel- 
lehre,  wenn  sie  also  genannt  zu  werden  verdient.  Dafs  die 
chirurgischen  Heilmittel  die  früheren  gewesen  seien,  läfst 
sich  aus  mehreren  Umständen  mit  Wahrscheinlichkeit  schlie- 
fsen.  Denn  theils  sind  Verletzungen  zur  Zeit  eines  gewalt¬ 
sameren  und  ungleicheren  Kampfes  mit  der  Natur  wohl  häu¬ 
figer,  als  eigentliche  Krankheiten  vorgefallen;  theils  war  die 
Forderung  nach  Hülfe  dringender,  und  ihr  Genüge  zu  lei¬ 
sten,  bei  der  Augenfälligkeit  des  Uebels,  ungleich  leichter 
und  näher. 

Nachahmungen  thierischen  Instinktes  und  die  Hinwei¬ 
sung  des  natürlichen  Gefühls  des  Erkrankten  haben,  im 
Lichte  betrachtet,  einerlei  Basis,  nämlich  den  Instinkt  über¬ 
haupt.  Gleichwohl  aber  ist  nicht  zu  übersehen,  dafs  die 
Leitungen  menschlichen  Instinkts  und  die  Leistungen  der 
antiken  1  heorie  ganz  nahe  an  einander  grunzen.  Was  ist 
dem  heifsen  Fieberkranken  wünschenswerter,  als  Kälte; 
dem  trockenen  Fieberkranken  lieblicher,  als  Getränk?  Das 
wird  kein  Mensch,  so  verkehrt  er  je  und  je  auch  werden 
möge,  und  so  lange  er  nicht  den  letzten  Rest  geraden  Sin¬ 
nes  an  seine  baroke  Neuerungswuth  vergeudet  hat,  je  leug¬ 
nen  können,  dafs  ein  Fieberkranker,  wegen  seiner  trock¬ 
nenden  Hitze,  kaltes  Wasser  begehrt.  Wir  werden  aber 
sogleich  sehen,  wie  die  alte  Theorie  der  Heilmittel  einer¬ 
seits  nur  diese  einfache  natürliche  Basis  habe,  wähnend  sie 
zugleich  andererseits  mit  den  Philosophemen  der  loniker 
zusammentrifft. 

II.  Epoche  der  Erklärungsversuche  —  Theoricen. 

I.  Alte  Theoriecn. 

Zwei  Principicn  erkannte  die  älteste  Heilkunde,  näm¬ 
lich  1)  den  Gegensatz  hebt  der  Gegensatz  (  ftUtTiet  lteC¥Ti»7(). 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre.  133 

Dies  war  die  Modalität  ihres  Verfahrens.  2)  Die  Mischung 
des  Körpers  ist  vierfältig,  und  entspricht  den  vier  Welt¬ 
elementen.  Das  erste  Princip  war  beziehungsreicher  und 
erstreckte  sich  über  alle  verschiedenartigen  Systeme  der 
antiken  Welt;  das  zweite  bezeichnet  nur  die  Parthei  der 
^oyiy.wv  im  Gegensatz  zu  den  andern  Secten.  In  wiefern 
aber  die  Elemente  je  zwei  Gegensätze  formiren,  in  sofern 

* 

erstreckt  sich  der  allgemeinere  Gegensatz  auch  über  sie 
und  nimmt  sie  in  sich  auf.  Hierauf  bezügliche  Stellen 
finden  sich  allgemein  in  den  Schriften  der  Hipp  okratiker 
und  Galen’s,  der  sie  ganz  besonders  in  den  Büchern 
«über  die  Grundsätze  Platon’s  und  Hipp  okrates,  »  und 
in  mehreren  andern  commcntirt  hat. 

Die  Lehre,  die  sich  dieser  gegenüber  gestellt  und  aus- 
gebildet  hat,  bekennt  im  Wesentlichen,  wie  gesagt,  sich  zu 
demselben  Principe,  mit  Ausschliefsung  eines  realen  Gegen¬ 
satzes  der  Elemente.  Sie  nimmt  nur  ein  Strictum  und 
Laxum  an,  und  heilt  beide  durch  ihren  respectiven  Gegen¬ 
satz.  Auch  ihr  Theorem  der  Becorporation  läfst  sich  unter 
diesen  Gesichtspunkt  bringen. 

III.  Epoche  vervielfachter  Versuche  — *■  des 

Schwankens. 

So  lange  man  noch  die  Arzneikunst  aus  Einem  Gusse 
werden  sah,  so  lange  war  die  Antwort  passend  auf  die 
Anfrage;  sobald  sie  zerrissen  und  zerstückelt  dargereicht 
wurde,  war  die  Antwort  der  Art,  dafs  sie  selten  oder  nur 
zufällig  auf  die  Frage  pafste.  Die  Trennung  der  Physio¬ 
logie  von  der  Pathologie,  der  Pathologie  von  der  Therapie, 
der  Therapie  von  der  Materia  medica,  stellt  das  alte  flora¬ 
zische  Bild 

Ilumano  capiti  cervicem  pictor  equinam  etc. 
treulich  dar.  In  allem  Suchen  und  Schwanken  aber  können 
wir  deutlich  jene  zwei  Urformen  bis  auf  den  heutigen  Pag 
herab  verfolgen:  nämlich  die  logische  und  die  metho¬ 
dische,  die  Lehre  des  doppelten,  und  die  des  einfachen 


134 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre. 


Gegensatzes.  Die  Iatromalhematiker  sehliefsen  sich  der 
letztem  Secte  an,  die  Iatrochcmiker  der  ersieren ;  Brownia- 
ner,  Incitabilisten ,  Contrastimulisten ,  Inflammatiker  mehr 
der  letzteren;  Electrocherniker,  Naturphilosophen,  Gastriker 
mehr  der  ersteren.  Allen  aber  mufs  der  Vorwurf  gemacht 
werden,  dafs  sie  Hypothesen  bringen,  wo  sie  sich  beque¬ 
mer  der  Natur  hätten  anscldiefscn  können,  wo  mithin  die 
Hypothesen  nicht  einmal  erforderlich ,  also  schädlich  waren; 
und  dieser  Fehler  liegt  hauptsächlich  iu  der  unstatthaften 
Trennung  der  einzelnen  Doctrinen  der  ganzen  Heilkunde. 

IV.  Rückkehr  zur  Natur  —  Begründung  der 

Heilmittellehre. 

Wenn  in  kranken  Lebensepochen  das  Medirament  an 
die  Stelle  des  Aliments  tritt,  und  der  Apotheker  den  Koch 
ablöst,  so  müssen  wir  uns  gewöhnen,  im  Allgemeinen  uns 
die  Verhältnisse  vorzustellen,  in  welchen  das  Heilmittel  zum 
Nahrungsmittel  steht.  Wir  müssen,  bestimmter  ausgedrückt, 
damit  anheben,  die  Apotheke  an  die  Küche  eben  so  sich  an- 
schliefsen  zu  lassen,  wie  wir  die  Pathologie  an  die  Physio¬ 
logie,  die  Therapie  an  die  Diätetik  angeschlossen  haben. 
Es  verhält  sich  die  Materia  medica  zur  Maleria  alimentaria, 
wie  sich  die  Pharmaceutik  zur  Kochkunst  verhält;  die  The¬ 
rapie  zur  Diätetik,  die  Pathologie  endlich  zur  Physiologie; 
sie  müssen  sich  harmonisch  zu  einer  organischen  Lehre  ver¬ 
binden,  die  eine  aus  der  andern  hervorgehen,  in  ihrem  Prin¬ 
cipe  durchweg  ähnlich -gleich  sein. 

Zuvörderst  müssen  nach  diesen  Prämissen,  als  erstem 
Grundsatz,  folgende  zwei  grofse  Abtheilungen  in  der 
Materia  mcdica  statt  haben,  wie  sie  sich  in  der  Materia 
alimentaria  vorfinden,  die  Esculenta  und  Potulenta  nämlich. 
Diese  beiden  Abtheilungen  näher  beleuchtet,  so  finden  wir 
eine  deutliche  Beziehung  zu  den  beiden  Grundelemcnten 
des  lebendigen  Leibes,  dem  Gombustiblen  und  dem  Combu« 
renten.  Einen  vollständigen  Gegensatz  also  haben  wir,  wie 
iin  physiologischen,  so  im  pathologischer^  Alimente  naebzu- 


I«  Theorie  der  Heilmittellehre. 


135 


* 

weisen.  Wir  setzen  das  Physiologische  von  der  Verdauung, 
und  dem  Trinken,  als  Aequivalent  des  Athmens,  und  dem 
lungenähnlichen  Organe  im  Unterleibe,  der  Milz,  der  was- 
serathmenden  Säugethierlunge,  als  bekannt  voraus;  ferner, 
das  in  höherer  Sphäre  und  Potenz  fortgehende  äquale  Ver- 
hältnifs  zwischen  Blutbildung  im  Pfortadersystem  und  der 
rechten  Herzhälfte,  mit  der  höheren,  der  Thierlunge  und 
ihrer  Function  im  Gegensätze.  Dies  formale  Princip  der 
Vegetationssphäre  festgestellt,  ziehen  wir  getrost  die  Paral¬ 
lele  und  theilen  die  Materia  medica  in;  1)  Medicamina 
esculenta.  2)  Medicamina  potulenta. 

Den  zweiten  Grundsatz  leiten  wir  also  ab:  Paral¬ 
lel  der  Breite  zwischen  der  Gesundheit  und  Krankheit  be¬ 
steht  eine  Breite  zwischen  /.  liment  und  Medicament,  zwi¬ 
schen  Küche  und  Apotheke.  Diese  Breite  näher  zu  bestim¬ 
men  verfahren  wir,  wie  folgt.  Wir  sondern  zuerst  von 
der  Küche  alles,  was  weder  unter  die  Rubrik  des  Esculen- 
ten,  noch  die  des  Potulenten  gebracht  werden  kann,  den¬ 
noch  aber  ein  Eigenthum  der  gesunden  Sphäre  bleibt,  z.  B. 
das  Kochsalz  (N.  B.  wir  haben  zu  bemerken,  dafs  das  Salz 
an  den  Speisen  mehr  bedeutet,  als  sein  Elementarbestand, 
Natrum  und  Salzsäure;  wie  man  sich  wohl  vorstellen  könnte, 
dafs  es  blofs  der  Supplent  dieser  Stoffe  zum  Bedarf  der 
thierischen  Oekonomie  sei).  Ferner  alle  Stoffe,  die  dazu 
dienen  die  Nahrungsmittel  aufzuheben,  Holzsäure,  Salpeter, 
oder  in  Gährung  zu  bringen,  wie  die  Pottasche;  sie  schön 
zu  färben,  z.  B.  das  Eisen,  den  Saffran  u.  s.  w.  —  So¬ 
dann  sondern  wir  von  der  Küche,  alles  was,  sowohl  escu- 
lent  als  auch  potulent,  dazu  bestimmt  ist  entweder  den 
Appetit  zu  steigern,  oder  seine  Impotenz  zu  peitschen,  wir 
rechnen  dahin  die  grofse  Reihe  einfacher  und  componirter 
Gewürze,  und  zumal  die  instinktartige  Chemie  der  Küche, 
vermöge  welcher  man  dem  Fette  zur  Dämpfung  wie  man 
sich  ausdrückt  (Neutralisirung  der  Pharmaceutik)  Säure  zu¬ 
setzt,  die  Gänse  mit  Apfelschnitten  stopft;  dem  Schmalze 
Apfelmus  zusetz*:  die  Gänse,  Aaale,  Karpfen,  Neunaugen 


136 


1.  Theorie  der  Hcilmittcllehre. 


u,  s.  vv.  in  Sauer  bereitet.  Zumal  aber  trennen  wir  alles 
für  sich  bestehende  Scharfe  und  Gewürzhafte,  das  unver- 
mischt  Appetit  zu  machen  gereicht  wird,  Pickels,  einge¬ 
machte  Gurken,  Ingwer  u.  s.  w. 

Einen  dritten  Grundsatz  entwickeln  wir  folgender- 
maafsen:  Mit  der  Einthejlung  der  Malcria  alimentaria  in 
esculentem  und  in  potulentem  ist  der  Gegensatz  nicht  völ- 
lig  abgemacht.  Es  ergiebt  sich  auf  jeder  der  beiden  Seiten, 
zumal  aber  auf  der  ersten,  eine  merkwürdige  Differenz  in 
der  Dignität  des  Aliments,  und  dies  zeigt  sich  recht  sinnen-  * 
jfältig  in  ihrer  chemischen  Natur,  und  noch  klarer  in  ihrer 
Einwirkung  auf  das  organische  Leben.  Es  giebt,  möchte 
ich  sagen,  ein  Aliraentum  corporeum  und  ein  Alimentum 
spirituale.  Beides  vereinigt  sich  wohl  in  jedem  lebendigen 
Nahrungsmittel,  zumal  im  frischen  Fleische  und  Brote;  wes¬ 
halb  Schlächter  und  Bäcker  so  wohlgenährt  zu  sein  pflegen. 
Getrennt  aber  findet  man  es,  wenn  man  irgend  ein  wahres 
Aliment,  ein  combustibles  Materiale,  mit  dem  combustiblen 
Spirituale,  dem  "Weine,  oder  sonstigen  Spirituosen  Dingen 
vergleicht.  Wenn  nun  dieser  Klimax  vom  combustiblen 
Aliment,  parallel  einem  Klimax  dessen,  das  ernährt  werden 
soll  in  der  Materia  alimentaria  statt  hat;  so  wird  sich 
dieser  in  einem  noch  höheren  Grade  in  der  Materia  rne- 
dica  vorfinden,  wo  bekanntlich  die  untere  Stufe  des  Ali¬ 
ments,  als  dem  physiologischen,  gesunden  Zustande  anheim¬ 
fallend  entweder  ganz  wegfällt,  oder  doch  sehr  beschränkt 
ist.  Es  giebt  mithin  eine  Materia  medica  elementaris,  cor- 
porea,  und  ein  Alimentum  spirituale,  incorporeurn. 

Als  Corollar  hierzu  ergeben  sich  mehrere  Parallelge¬ 
gensätze  in  der  Materia  medica,  indem  dem  jedesmaligen 
Combustiblen  ein  Comburens  sich  gegenüberstellt  und  die¬ 
selben  Stufen  durchgeht,  die  das  Aliment  durchgeht.  Wir 
bemerken  zur  Uebersicbt  drei  Parallelstufen  in  L'eberein- 
stimmung  mit  den  drei  Eebensstufen;  der  Vegetation;  der 
Muskelbewegung;  der  Sensibilität;  Chylus,  Blut,  und  Blut¬ 
halilus;  Wasser,  Atmosphäre,  oxydirtes  Stickgas;  Brot, 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre. 


137 


Fleisch,  Wein;  Unterleib,  Brust,  Hirn;  danach  ergiebt 
sich  eine  parallele  Eintheilung  für  die  Materia  medica,  wo¬ 
von  im  Verfolge  ein  mehreres. 

Mit  der  Aufstellung  eines  ganz  specifiken  Verhaltens 
der  Materia  alimentaria  einerseits,  und  der  Materia  medica 
andererseits  zum  organischen  Körper,  treten  wir  ins  eigent¬ 
liche  Gebiet  der  Doctrin  selbst  hinein.  Näher  erklärt  heilst 
es:  Bei  der  Materia  alimentaria  ist  die  erste  Beziehung  zum 
organischen  Leibe,  dafs  dieser  in  seinen  Bestandteilen  ge¬ 
nährt,  erhalten  und  perpetuirt  werde.  Bas  Aliment  geht 
eine  innige  wesentliche  Verbindung  mit  dem  sich  nährenden 
Thierleibe  ein,  wird  in  den  Thierleib  transsubstantiirt; 
diese  Transsubstantiation  ist  mithin  auf  der  Seite  des  Ali- 
ments  vorschlagend,  während  der  Thierleib  selbst  sich  gleich 
bleibt.  Der  umgekehrte  Fall  tritt  ein  mit  der  Materia  me¬ 
dica.  Von  einem  eigentlichen  Aliment  kann  hier  nicht  mehr 
die  Rede  sein,  das  in  den  Thierleib  metamorphosirt  werden 
müfste;  sondern  vielmehr  der  Thierleib  soll  verändert  werden, 
er  wird  das  passive,  und  das  pathologische  Aliment  das  active, 
das  verdauende  oder  verändernde.  Die  Sache  ist  klar.  Ent¬ 
weder  ist  der  Thierleib  nicht  fähig  das  Aliment  in  sich  zu 
verwandeln,  ihm  fehlt  der  Yerdauungssaft,  oder  die  Kraft 
des  Lebens  das  gebotene  Material  durch  Verwandlung  zu 
zerstören  und  zu  homogen isireTi ;  oder  das  Material  selbst 
ist  in  verschiedenen  Beziehungen  abnorm;  welche  Abnor¬ 
mität  erst  wieder  beseitigt  werden  mufs ,  bevor  an  Auf¬ 
nahme  neuen  Stoffes  gedacht  werden  kann;  oder  es  ist  ein 
fremdartiges  Wesen  ins  Material  eingedrungen,  ln  allen 
diesen  und  ähnlichen  Fällen  ist  das  Verwandeln  auf  die 
Seite  des  Aliments  (Medicamen)  getreten;  das  V er  wan¬ 
delt  v/ erden  auf  die  Seite  des  Thierleibes.  Wenn  man 
demnach  von  einem  eigentlichen  Medicament  fordert,  dafs 
es  verdaut  werden  könne,  so  verlangt  man,  falls  hiermit 
mehr  als  ein  blofses  Eingehen  in  die  thierische  Mischung 
gefordert  wird,  etwas,  das  geradezu  die  Natur  des  Medi- 
eaments  aufheben  mufs.  Gegentheils  ist  aber  das  Medica- 


J38 


I.  Theorie  der  Heilmittcllehre. 


ment  um  so  mehr  ein  solches,  je  weniger  es  verdaulich  ist, 
<h  h.  je.  mehr  es  die  Thicröconomie,  auf  die  es  heilend  ein¬ 
wirken  soll,  verwandelt  in  seine  eigene  Natur,  und  mithin 
der  Verwandlung  in  die  ihm  fremdartige  des  organischen 
Leibes  widerstrebt.  Lies  Gesetz  liegt  tbeils  in  den  I Je— 
griffbestimmungen,  in  der  Natur  der  Sache  selbst;  theils 
bestätigt  es  sich  durch  die  Ansicht  des  Arzneivorraths.  Ls 
liefse  sich  eine  ziemlich  genau  fortschreitende  Reihe  von 
M.edicamenten  bilden  ,  zu  deren  Eintheiiungsprincip  die  Di- 
gestibilität  dieser  Stoffe  genommen  werden  könnte.  Jedoch 
ist  wohl  zu  berücksichtigen,  dafs  hier  eine  Chemie  obwal¬ 
tet,  die  von  der  leblosen  mehr,  als  den  Namen  tragt;  die 
Digestibilität  ist  zum  Theil  nur  Gegenstand  der  Beobach¬ 
tung,  zum  Theil  mufs  zu  ihr,  wro  sie  strenger  gelten  soll, 
eine  Möglichkeit  in  den  Thierleib  einzugehn  durch  «las  was 
man  gewöhnlich  Aufsch  1  iefsen  nennt,  z.  B.  bei  den  Me¬ 
tallen  ,  gegeben  sein. 

Unter  der  notbwendigen  Voraussetzung  also,  dafs  die 
Ligestibilität  dieses  oder  jenes  Stoffes  durchaus  und  jedes¬ 
mal  nur  Ergebnifs  der  Beobachtung  und  des  Experiments 
sei,  kommen  wir  zum  vierten  Grundsätze:  Je  hete¬ 
rogener  sich  ein  Naturkörper  mit  naher  Verwandtschaft 
zum  Organismus  verhält,  um  so  wirksamer  als  Medicament 
ist  er. 

Gehen  wir  einige  Schritte  zurück,  und  heben  von  dem 
Momente  an,  das  wir  als  die  Breite  zwischen  Küche  und 
Apotheke  der  Breite  zwischen  Gesundheit  und  Krankheit 
parallel  aufgestellt  haben,  so  ergiebt  sieb:  die  Materia 
medica  fängt  mit  «1er  Form  an,  mit  der  die  Materia  ali- 
mentaria  schliefst.  Lie  Diät  in  Krankheiten  ist  —  man  möchte 
sagen  —  von  einer  negativen  Bedeutsamkeit.  Weil  näm¬ 
lich  die  verwandelnde  Kraft  des  Organismus  entweder  un¬ 
zulänglich,  oder  abgeleitet,  oder  überall  ihre  W  irksamkeit 
nicht  gefordert  ist,  so  soll  die  Krankendiät  die  Eigenschaf¬ 
ten  leichter  Digestibilität  bei  reichem,  oder  auch  dürftigem 
Materialgehalt  besitzen,  unter  Umständen,  und  zwar  am 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre. 


139 


häufigsten,  soll  sie  durchaus  nur  entziehend  sein,  wie  es 
denn  die  Stimme  der  Natur,  ja  selbst  ihr  Abscheu,  klar 
ausspricht.  In  so  weit  die  Diät  in  Krankheiten  zum  nähe¬ 
ren  Heilgeschäft  gehört,  ist  sie  nur  vermöge  mancherlei 
Richtungen,  die  diesem  Aliment  einen  Anstrich  vom  Medi- 
cament  geben,  oder  doch  ihre  Correspondenz  mit  dem 
Hauptmedicament  beurkunden,  zur  eigentlichen  Heilung  mit¬ 
wirksam,  und  in  dieser  Beschränkung  ist  sie  von  bekanntem 
Mrerthe.  Das  eigentliche  Medieament  dagegen  hat  eine  un- 
vermischtere  und  genau  zu  bestimmende  Richtung  in  seiner 
Bifurcation  als  Medicamentum  potulentum,  comburens;  und 
Medicamentum  esculentum,  combustibile. 

Hieraus  folgert  sich  nun  ferner  ein  fünfter  Grund-  * 
satz  der  steigenden  Linie,  wie  man  ihn  nennen  dürfte. 

Je  mehr  ein  Mittel  Medieament  ist,  desto  we¬ 
niger  ist  es  bestimmt  mit  dem  Thierleibe  eine 
dauernde  Verbindung  einzugehen.  Es  mufs  von  ' 
den  thierischen  Eliminationskräften  wieder  hinausgeworfen 
wrerden.  In  dieser  Action  aber  besteht  eine  der  Hauptwir¬ 
kungen  dieser  Reihe  von  Medicamenten.  Man  kann  diesen 
Heilprozefs  sich  am  füglichsten  als  eine  Art  von  Cupeiliren 
vorstellig  machen,  und  die  Umwandlung  des  organischen 
Materials  durch  die  sogenannten  Heroica  mag  wohl  grofsen- 
theils  in  dieser  Art  bewerkstelligt  werden.  Man  denke  sich 
die  Wirkung  des  Mercurius  in  der  Syphilis,  und  des  Schwefels 
nach  der  Mercurialcur,  wenn  diese  nicht  nach  der  gründ¬ 
lichen  Salivationsmethode  unter  den  angewiesenen  Krisen 
erfolgt  ist.  Man  denke  sich  die  Wirksamkeit  der  Gummi- 
ferulaceen,  der  Naphthen,  des  Spiefsglanzes  in  seinen  de- 
terminirenden  Verbindungen.  Doch  hier  kann  vorläufig  nur 
angedeutet  werden.  Anderntheils  formiren  sich  im  mensch¬ 
lichen  Leibe,  dem  Fleisch  und  Kraut  verbrauchenden,  Me- 
cHcamente  aus  Vegetabilien,  die  eigentlichen  Grasfressern 
nur  Aliment  sind:  ich  meine  namentlich  den  Bitterstoff. 
Stoffe  dieser  Art  können,  obwohl  Medicamentc,  schon  in¬ 
nigere  und  dauerndere  Verbindungen  mit  dem  Ihicrstoffe 


140 


1.  Theorie  der  Heilmittellchre. 


eingehen;  sie  sind  sogar  zu  dieser  Art  Verbindungen  be¬ 
stimmt,  damit  sie  das  zu  verwandelnde  kranke  Material, 
z.  B.  die  alonische  Faser,  dauernd  spannen. 

Diesem  Grundsätze  der  steigenden  Linie  zufolge 
kann  man  die  Materia  medica  mit  Nutzen  eintheilen  in  die 
Materia  medica  nid  ul  ans,  und  die  Materia  medica 
transmigrans.  Die  auffallendsten  und  penetrantesten  Wir¬ 
kungen  müssen  wir  natürlich  von  der  letzten  erwarten,  kei- 
nesweges  aber  energische  der  Dauer  nach.  Ja,  wir  siud 
im  Gegerilheil  genüthigt  ihre  Permeabilität  durch  den  Thier¬ 
leib,  unbeschadet  ihrer  Wirkung,  zu  befördern,  wie  beim 
Arsenik,  Mercur,  damit  die  verwandelnde  Ligenschaft  nicht, 
indem  sie  haftet,  die  Lebenskraft  in  ihrer  Wirksamkeit  be¬ 
einträchtige,  wo  nicht  lähme. 

Bevor  wir  zur  endlichen  Schematisirung  der  Materia 
medica  tibergehen  können,  haben  wir  noch  ein  llindernifs 
zu  beseitigen,  das  uns  späterhin  da  und  dort  Anstofs  geben 
könnte.  Ich  spreche  von  der  eigentlich  rein  dynamischen 
W  irkungsweise ,  wie  sie  alle  Schulen  der  Methodiker  bis 
auf  die  allerneueste  anglo-gallicanische  herab,  einzig  gefor¬ 
dert  und  anerkannt  haben.  Kein  dynamisch  in  wiefern 
nicht  von  jedem  Inhalt  der  fraglichen  Kraft,  sondern  ledig¬ 
lich  von  ihrer  Quantität  die  Rede  war,  von  ihrer  Intensität, 
Schwäche  und  Stärke  -j-  und  —  in  ihren  verschiedent- 
lichen  Ausdrucksweisen:  z.  B.  Momentum  of  blood,  Irrita¬ 
tion,  Stimulus  u.  s.  w.  Die  Kücksichtlosigkeit  gegen  den 
Inhalt  der  Kraft  hat  ganz  folgerecht  eine  gleiche  in  Bezie¬ 
hung  auf  ihr  Gegengewicht,  das  Medicament  erzeugt;  Reiz 
war  alles,  oder  Contrastimulus,  oder  Debilitansj  und  so 
geschah  cs  denn,  dafs  man,  weil  alle  Entzündung  gleich 
einem  reinen  Excesse  der  Lebensthätigkcit  erachtet  wurde, 
das  was  die  Entzündung  minderte,  das  A  n  t  i  p  h  1  og is ti- 
cum,  und  das  was  die  Kraft  schwächte,  das  Debilitans 
in  ähnlichgleiche  Begriffe  fafste.  Dies  geschah  aber  zum 
gröfsten  Nachtheile  der  ausübenden  Kunst,  wie  gleich  näher 
gezeigt  werden  soll;  zugleich  wird  hier  die  Kahlheit  und 


141 


\ 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre. 

Unzulänglichkeit  der  solidistischen  Theorieen  aller  Art  scharf 
hervorspringen,  und  der  Abgrund  ihrer  Consequenz  Er¬ 
schrecken  erregen.  Denke  man  sich  das  Fieber,  wie  es 
augenfällig  vorliegt,  als  einen  lebhafteren  Cornbustionspro- 
zefs,  mit  seinem  gröfseren  Bedürfnifs  nach  dem  löschenden 
Elemente,  der  Luft,  und  dem  Wasser  in  gesteigerter  Form; 
so  ergiebt  sich  zuvörderst  als  Medicament  der  Sauerstoff 
oder  das  ihm  analoge  Princip  in  seiner  eminenteren  Er¬ 
scheinung.  Nehme  man  ferner  die  verschiedene  Art  dieser 
eminentem  Verbindung,  die  als  Medicamentum  potulentum 
erscheint,  so  findet  man  zwei  grofse  Reihen;  die  erste  wirkt 
condensirend ,  die  andere  diluirend,  z.  B,  Schwefelsäure  und 
Essig  als  Repräsentanten  beider  Reihen.  Man  mufs  die 
erste  ein  Antiphlogisticum  roborans,  die  zweite  ein  Anti- 
pblog.  debilitans  nennen,  und  sie,  wiewohl  als  Antiphlogi- 
stica  auf  einer  Linie  stehend,  in  ihrer  zweiten  Wirkungs¬ 
weise  als  entgegengesetzt  betrachten  und  anwenden,  die 
Mineralsäure  bei  Entzündungen  mit  Auflösungen,  die  ve¬ 
getabilische  Säure  bei  Entzündungen  mit  Coagulation,  so¬ 
genannten  reinen  Entzündungen,  der  Synocba.  Nun  drückt 
aber  die  Phlogisticität  ein  vitalchemisches;  also  ein  in¬ 
nerliches,  qualitatives  Verhältnis  aus;  das  des  Tonus,  Sthe- 
nie  und  desgleichen  ein  äufserliches ,  nämlich  die  Quan¬ 
tität  und  Intensität  jener  Qualität.  Woraus  denn  offen¬ 
kundig  wird,  dafs  nur  die  genaue  Erwägung  beider  Rela¬ 
tionen,  vorzüglich  aber  die  innere,  die  richtige  sei;  die  so- 
lidistische  mithin  durchaus  verwerflich,  und  die  Humoral- 
pathologie  die  einzig  statthafte,  fruchtbringende. 

Nunmehr  glaubt  der  Verfasser  dieser  Blätter,  sein 
Thema  hinlänglich  verbreitet ,  den  Grund  gehörig  geebnet 
zu  haben ,  und  geht  wirklich  an  die  Schematisirung  der 
Materia  medica  nach  humoralpathologischen  Grundsätzen, 
wie  folgt: 

V.  Die  Heilmittellehre. 

Indem  der  Verfasser  Hand  ans  Werk  legt,  und  mit 
diesem  den  Schlufsstein  2um  Gewölbe,  dessen  Grund  in 


I 


142 


I.  Theorie  der  Ileiimittellehre. 


der  Humoralpathalogie  gelegt  wird,  darf  er  dem  Leser  nicht 
verhehlen,  dafs  er  bis  jetzt  nur  den  Kifs  zu  diesem  ^  erke 
im  Sinne  hat,  keinesweges  das  vollendete  seihst.  Im  Gegen- 
theil  ist  er  dem  Entschlufs  treu,  den  er  im  Eingänge  zu 
diesen  Abhandlungen  an  den  Tag  gelegt  hat,  keine  Arbeit 
grüfseren  Umfangs  und  geschlossenen  Gliederbaues  fürs  erste 
zu  übernehmen.  Zumal  fehlen  ihm  zur  Ausführung  des 
gegenwärtigen  lliilfsmittel  und  Studien.  Jedoch  zu  einer 
ausführlicheren  Skizzirung,  zum  Abstecken  und  \ertheilen 
der  einzelnen  Parlhiecn,  zum  Anordnen  der  innern  Üeco- 
nomie  fühlt  er  sich  aufgelegt,  und  berufen.  Derjenige,  der 
ein  solches  Werk  zum  Nutzen  der  W  issenschaft  und  zum 
Frommen  der  leidenden  Menschheit  auszuführen  sich  mit 
Ernst  und  Hingebung  entschlösse,  fafste  —  wie  man  zu 
sagen  pflegt  —  ein  heifses  Eisen  an.  Zuvörderst  mufs  er 
bedenken,  dafs  er  einen  weitlauftigen  Apparat  zu  beschrei¬ 
ben,  und  seine  Wirkungen  anzugeben  hätte,  den  er  nur 
zum  kleinsten  Thcile,  und,  bei  noch  so  reicher  Erfahrung 
immer  nur  unzulänglich  zu  kennen  sich  gestehen  mufs. 
Der  geringe  Theil  dieses  Apparates,  den  er  in  einem  Zeit¬ 
räume  von  etwa  20  Jahren  vielfacher  ärztlicher  Bemühung 
und  Bewegung  durchprobirt  hat,  und  den  er  mit  Geschick 
zu  handhaben  eine  Fertigkeit  erworben  hat,  reicht  zur  Lehre 
für  den  Schüler  nicht  hin  aus  dem  eindringenden  Grunde 
der  Beweglichkeit  des  Substrates.  Es  bewegt  sich  der  Ge¬ 
nius  der  Krankheiten,  der  Jahre  und  Oerter,  der  Indivi¬ 
duen;  der  Mcdicamente  selbst,  nach  dem  Ort  wo  sie  her¬ 
genommen  werden,  in  welcher  Keife,  welcher  Jahres-  und 
Tageszeit,  in  welchem  Jahre,  ob  trocknen  oder  feuchten, 
wie  ihre  Aufbewahrung  und  Bereitung  sei;  sodann,  wie 
und  wann  sie  vom  Kranken  genommen  werden,  nach  dem 
Geschlechte,  Alter,  Temperament,  zufälligen  Beziehungen 
des  Individuums,  z.  B.  der  Zeit  vor  oder  nach  der  Men¬ 
struation,  nach  oder  vor  einer  Gemiithsbewegung.  Die 
Erwähnung  aller  dieser  störenden  Momente  dient,  begreif¬ 
lich  zu  machen,  wie  am  Ende  eine  Sicherheit,  Mittel  zu 


I.  Theorie  der  Heilniiticllchre. 


143 


/  * 

handhaben,  mehr  —  wenigstens  in  vielen  Fällen  —  in  der 

Sicherheit  und  Geschicklichkeit  des  Arztes  beruhe,  in  einem 
allgemeinen  Tacte  für  Maafs,  Zeit,  Ort  u.  s.  w.,  als  in  ge¬ 
nauer  Kunde  der  bestimmten  Wirkungsweise  der  fraglichen 
Mittel  selbst.  Je  sorgfältiger  Experimente  und  Bestimmun¬ 
gen  von  der  W  irkungsweise  der  Medicamente  in  den  Phar- 
macopöeen  angegeben  werden,  desto  lächerlicher  werden 
die  Angaben  dem  erscheinen,  der  seine  ärztlichen  Geschäfte 
eine  hinlängliche  Zeit  mit  Ruhe  und  Gewissenhaftigkeit  ge¬ 
trieben  hat.  Es  ist  dies  die  stärkste  und  zugleich  närrischste 
Seite  der  Homöopathie,  und  des  Unternehmens,  durch  Ver¬ 
suche  an  Gesunden  ein  Licht  aufzustecken,  und  Klarheit  zu 
verbreiten.  Das  noch  so  sorgfältig  durchprobirte  Medica- 
ment  ist  am  Ende  in  der  Hand  dessen,  der  es,  damit  zu 
wirken,  entgegennimmt,  ein  ,  oder  ein  B-zSv  £s?£s$, 
je  nach  seiner  ganzen  künstlerischen  Geschicklichkeit  und 
Vollendung.  Aus  eben  dieser  Rücksicht  ist  es  aber  auch 
erforderlich ,  dafs  dem  Lernenden  ein  gröfserer  Apparat 
bekannt  werde,  als  der  eines  einzelnen  geübten  Arztes  sein 
kann,  damit  er  sich  selber  mit  der  Zeit  seine  Pharmacopoe 
schaffe,  einen  Apparat,  den  er  zu  gebrauchen,  und  Waffen, 
die  er  zu  führen  versteht.  Diesen  gröfsern  Apparat  aber 
mit  Wahl  und  richtiger  Schätzung  zu  geben,  das  ist  eine 
überaus  häckelige  Sache.  Die  Schwierigkeit  wird  dadurch 
noch  gröfser,  dafs  die  bedeutendsten  Heilkünstler  oft  nur 
wenig  Werth  auf  das  einzelne  Mittel  gelegt  haben,  sie 
möchten  dann  selbst  einst  eins  entdeckt,  oder  zusammenge¬ 
setzt  und  erprobt  haben.  W  ie  alle  grofsen  Künstler  haben 
auch  die  ausgezeichneten  Aerzte  mit  wenig  Mitteln  mehr 
ausgegeführt,  als  manches  Mittelgut  mit  vielen,  die  Pfuscher 
mit  allen  zugleich.  Es  ist  der  Galenische  Ausspruch: 
ISichts,  und  auch  Gottes  Hand! 

Die  eigentlichen  Lehrer  der  Materia  medfea  sind  häufig 
Aerzte,  die  zum  Heilungswerke  eines  grofsen  Apparates 
bedürfen.  Durch  den  Umfang  aber  gewinnt  schwerlich  der 
Gehalt;  ja,  es  scheint  hier  in  der  Regel,  wie  so  häufig 


144 


I.  Theorie  der  Heilmittellehre* 


anderwärts,  Breite  und  Tiefe  in  umgekehrtem  Verhältnisse 
zu  stehn.  Die  Angaben  sind  übertrieben  und  unzuverlässig. 
Das  Vertrauen  auf  die  Erfahrung  auderer  zu  grofs;  die 
eigene  zu  leichtfertig,  und  oft  zun»  Widerrufe  nicht  ge¬ 
neigt.  Nennen  wir  doch  jemand  einen  Entdecker,  der  seine 
Entdeckung  zurückgenommcn  hätte;  und  doch  sehen  wir  die 
neuen  Mittel  wie  Pilze  nach  den»  liegen  kommen  und 
schwinden.  Hat  wohl  der  Ruhmredner  des  Goldes  seine 
Yerheifsungen  gemäfsigt?  oder  der  der  Alkornoko,  der  Blau¬ 
säure  und  so  vieler  ?  Und  nun  sehe  man  die  markt- 
schrcienden  Nachpreiser,  die  das  Uebel  noch  übler  machen. 
Hilf  Gott!  was  können  die  alles  machen!  was  heilen  diel  — 
Endlich  nach  kaum  einem  Jahre  ist  Lobredner  und  Mittel 
vergessen.  Leichtsinn  und  Glaubensstärke  haben  es  beinahe 
dahin  gebracht,  dafs  man  zur  Ueberschrift  über  die  Materia 
medica  das  Quantum  in  rebus  inane  setzen  möchte. 

Sind  das  nicht  hinlängliche  Gründe,  hei  der  Bearbei¬ 
tung  einer  Materia  medica  vorsichtig  zu  machen,  wo  nicht 
ganz  davon  abzuschrecken  ?  Gegeutheils  aber  ist  mit  dem 
Allgemeinen  auch  nicht  viel  gewonnen.  Die  allgemeine 
Therapie  erfordert  ihre  allgemeine  Materia  medica,  und  diese 
hat  eine  jener  analoge  Wichtigkeit,  und  einen  ähnlichen 
Werth.  Es  kommt  aber  bei  den»  ärztlichen  Handeln  alles 
auf  das  Individuelle  an.  Es  ist  Einer,  der  leidet,  der  Hülfe 
fordert;  eine  bestimmte  Krankheit  ist  der  Gegenstand,  und 
die  erfordert,  genau  genommen,  eben  auch  nur  dieses  oder 
nur  jenes  Heilmittel.  W  ir  müssen  mit  den»  Dichter  reden: 

Et  quoniam  variant  morbi,  variabimus  artes; 

Mille  mali  specics  mille  salutis  erunt! 

Es.  wäre  daher  wohl  zu  E  iinschen,  dafs  sich  ein  gelehrter 
und  zugleich  erfahrner  Arzt  die  Mühe  gäbe,  eine  Materia 
medica  classica  zu  schreiben.  Man  miifste  sich  zuvörderst 
über  die  Vollgültigkcit  der  Beobachter  erklären,  und  so¬ 
dann  aus  ihren  Schriften,  aber  auch  nur  aus  diesen,  einen 
Apparat  Zusammentragen.  Ich  sollte  meinen,  dafs  auf  diese 
Art  etwas  Ersprießliches  gefördert  werden  könnte.  Vor¬ 
läufig 


II.  Schriften  zur  Jubelfeier  Sö  mm  er  rin  g's.  145 

läufig  aber  ist  es  Zeit,  das  versprochene  Schema  der  Materia 
medica  auszuführen,  und  mit  ihm  die  Lehre  der  Heilmittel 
an  die  des  Curplans,  Allgemeines  an  Allgemeines  anzu- 
schliefsen,  und  eben  so  die  einzelnen  Mittel  unter  Haupt¬ 
gesichtspunkte  zu  bringen,  so  dafs  Methoden  und  Mittel  in 
einen  möglichst  engen  und  naturgemäßen  Verband  zu  ste¬ 
hen  kommen. 


II. 

Schriften  zur  Jubelfeier  Sömmerring  s. 


1.  C.  F.  Burdach,  De  Foetu  humano  adnotatio- 
nes  anatomicae,  quibus  praemissis  Yiro  Perillustri 
Sam.  Th.  de  Soemmerring,  Pv.  Bav.  a  Consil. 
intim.  Acad.  sc.  Monach.  sod.  etc.  Doctoratus  in 
medicina  impetrati  semisaecularia  gratulatur  Univer¬ 
sitas  lit.  Regiomontana.  Acced.  tabula  aenea.  Lips. 
ap.  Lcop.  Yofs.  1828.  fol.  8  S.  (2  Thlr.) 

2.  Zu  Samuel  Thomas  v.  Sömmerring’s  Ju¬ 
belfeier,  von  Friedrich  Tiedemann.  Heidel¬ 
berg  und  Leipzig,  Akadem.  Buckh.  v.  K.  Groos. 
1828.  4.  32  s.  Mit  Sömmerring' s  Portrait  und 
1  Kupfertafel  über  die  Schildkröteneier.  ( 1  Thlr. 
8  Gr.) 

3.  Sam.  Th.  S  o  emmerringio,  Anatomico  et 
Physiologo  celeberrimo  d.  VII.  April,  decem  Instra 
post  gradum  Doctoris  Med.  et  Cb.  rite  caplum 
felecissime  et  in  summum  emolumentum  scienv  : 

10 


XIII.  ßd.  2.  St. 


I4ö  II.  Schriften  zur  Jubelfeier  S  um  m  erring  's. 

pcracta  *)  celebranti  pia  mente  gratulatur  J  crh. 
Fri>d.  Mcckelius.  Acccd.  tab.  aen.  VI.  llalac 
1828.  Lipsiae  prostat  apud  Loop.  Vofs.  fol.  max. 
11  S.  (12  Tblr.) 

4.  Untersuchungen  über  die  Gef  äfsverb  in¬ 
dun  gen  zwischen  Mutter  und  Frucht  in 
den  Sänget  liieren.  Ein  Glückwunsch  zur  Ju¬ 
belfeier  Samuel  Thomas  v.  Sümmerring’s, 
von  K.  Ernst  v.  Baer,  Mit  einer  Kupfertafel. 
Leipzig,  bei  Leop.  Vofs.  1828.  fol.  32 S.  (4  Tblr.) 

Wie  es  das  Zeichen  eines  ächten  und  lange  zu  rüh¬ 
menden  Weinjahres  ist,  dafs  es  nicht  nur  einen  Wein  von 
trefflicher  Qualität,  sondern  auch,  dafs  es  ihn  in  rei¬ 
chem  Maafse  liefere,  wie  es  Zeichen  des  ächten,  auf 
späte  Geschlechter  fortwirkenden  Genius  ist,  dafs  er  nicht 
nur  Ausgezeichnetes  spende,  sondern  dafs  wir  ihm  auch 
Vieles  zu  verdanken  haben,  so  ist  es  auch  Zeichen  eines 
wahrhaft  schönen  Lebens,  dafs  es  nicht  nur  ein  w  ohlge¬ 
führtes  und  wirksames,  sondern  dafs  es  auch  ein  lan¬ 
ges,  alle  verschiedenen  gesunden  Zustände  des  Menschen¬ 
lebens  hervor-  und  vorbeiführendes  sei.  Nicht  leicht  mag 
daher  ein  mehr  oberflächlicher  Satz  von  den  Griechen 
auf  uns  gekommen  sein,  als  der  von  so  vielen  kränklichen 
Seelen  seitdem  nachgesprochene:  «<  Wen  die  Götter  lieben, 
der  stirbt  jung!»  und  zum  guten  Glück  umstehen  uns  jetzt 
da  ich  dies  schreibe  noch  drei  Jubelgreise,  welche  uns 
jeder  in  seiner  Art  trefflich  beihelfen  zu  zeigen,  dafs  erst 
ein  langes  Leben  in  Wahrheit  ein  menschlich  -  vollkommenes 
zu  nennen  sei;  wir  meinen  Göthe,  Blumenbach  und 
Sommer  ring.  —  Mit  Freuden  haben  wir  bemerkt,  wie 


1  )  Auf  einem  so  luxuriös,  wie  der  vorligcnde,  gedruckten  Titel, 
f.illt  es  unangenehm  ins  Auge,  hier  durch  einen  Druckfehler 
statt  peracta,  peract  i  xu  lesen. 


II.  Schriften  zur  Jubelfeier  S  ömm  erring’s.  147 

für  den  jüngsten  dieser  Greise  von  allen  Seiten  die  Arbei¬ 
ten  der  Glückwiinschenden  am  7.  April  1828  sich  zusam¬ 
mengefunden  haben  und  was  wir  selbst,  damals  schon  auiser 
Deutschlands  Gränzen  und  dem  Süden  Europa’s  zueilend, 
zu  jener  Zeit  nicht  geben  konnten,  geben  wir  jetzt  noch 
öffentlich  bei  Gelegenheit  der  Anzeige  jener  Schriften  dem 
würdigen  Jubelgreise  nach,  nämlich  den  herzlich  gemeinten 
Wunsch,  dafs  ihm  unter  vielem  Guten  auch  das  Glück  des 
ältesten  dieser  drei  genannten  Greise  zu  Theil  werde,  über 
welches  sich  derselbe  schon  vor  zehn  Jahren  in  einem  an 
uns  gerichteten  Briefe  auf  folgende  schöne  Weise  verneh¬ 
men  liels:  «Das  Alter  kann  kein  grüfseres  Glück  empfin¬ 
den,  als  dafs '  es  sich  in  die  Jugend  hineingewachsen  fühlt, 
und  mit  ihr  nun  fortwächst.  Die  Jahre  meines  Lebens  die 
ich,  der  Naturwissenschaft  ergeben  einsam  zubringen  mulste, 
weil  ich  mit  dem  Augenblick  in  Widerwärtigkeit  stand, 
kommen  mir  nun  höchlich  zu  gute,  da  ich  riiich  jetzt  mit 
der  Gegenwart  in  Einstimmung  fühle,  auf  einer  Altersstufe, 
wo  man  sonst  nur  die  vergangene  Zeit  zu  loben  pflegt.  M 
Doch  es  sei  uns  vergönnt,  nach  diesem  kurzen  Vor¬ 
worte  zur  Betrachtung  der  oben  genannten  Gliickwün- 
schungsschriften  selbst  überzugehen.  — 

No.  1.  enthält  auf  wenigen  Seiten  doch  manche  inte¬ 
ressante  Bemerkung  zur  Entwickelungsgeschichte  des  Fötus, 
ein  Gegenstand  der,  wie  sehr  er  überhaupt  die  physiologi¬ 
sche  Aufgabe  der  gegenwärtigen  Zeit  sei,  sich  schon  da¬ 
durch  bewährt,  dafs  von  den  vier  hier  zur  Anzeige  kom¬ 
menden  Schriften  drei  sich  mit  Erläuterung  der  Entwicke¬ 
lungsgeschichte  befassen.  —  Die  Veranlassung  zu  vorlie¬ 
genden  Bemerkungen  gab  ein  fünf-  bis  sechswöchentlicher 
Embryo,  welchen  in  vergröfsertem  Maafsstabe  die  beiden 
ersten  Figuren  der  schöngestochenen  Kupfertafel  darstel¬ 
len.  —  Ohne  zur  näheren  Untersuchung  der  inneren  1  heile 
gelangen  zu  können,  halte  sich  der  Verf.  über  die  äulseren 
Verhältnisse  desselben  Aufzeichnungen  gemacht,  welche  hier 
mit  einigen  Scholien  begleitet  erscheinen  und  abermals  be- 

10  * 


i 


148  II.  Schriften  zur  Jnbclfeier  Summ  erring  s. 

weisen,  dafs  oft  aus  wenigen,  aber  geistreich  aufgenom¬ 
menen  und  erwogenen  Anschauungen  mehr  wahrhaft  wis¬ 
senschaftliche  Ergebnisse  hergeleitet  werden  können,  als 
aus  vielfachen,  von  der  Geistesarnnith  mühsam,  und  doch 
nicht  . im  rechten  Sinne  herbeigebrachten  Beobachtungen.  — 
Zu  der  zweiten  Aufzeichnung,  dafs  der  Kopf,  wenn  er  aus 
der  gekrümmten  Lage  gerade  geschoben  wurde,  etwas  län¬ 
ger  war  als  der  Rumpf,  hätten  wir,  statt  der  nicht  recht 
passenden  Analogie  zwischen  Nabel  und  Infundibulum  mit 
der  Hypophysis,  lieber  bemerklich  machen  mögen,  dafs  diese 
Periode  deshalb  besondere  Berücksichtigung  verdiene,  weil 
hier  anschaulich  wird,  wie  die  beiden  ursprünglichen  Lei- 
beshälften,  Kopf  und  Rumpf,  einander  anfänglich  wirklich 
auch  räumlich  gleich  sind,  obwohl  sich  späterhin  auf  die 
eine  Seite  das  ideale,  auf  die  andere  Seite  das  reale  Ueber- 
gewicht  neigt.  —  Bemerkenswerth  ist  die  St  holie  zur  drit¬ 
ten  Aufzeichnung,  dafs  das  Kopf-  und  Rückgraths-Ende 
sich  nur  links  berühren,  da  rechts  die  Nabelscheide  dazwi¬ 
schen  liege,  in  wiefern  aus  der  vergleichenden  Anatomie 
nachgewiesen  wird,  wie  am  Vogelembryo  der  Dottersack 
sich  stets  links,  die  Allantois  stets  rechts  befinde,  am  Säuge- 
thicrembryo  aber,  wegen  der  die  Nahelblase  weit  übertref¬ 
fenden  Allantois,  die  ganze  Nabelscheide  sich  nach  rechts 
wenden  müsse.  —  Es  hätte  noch  zugefiigt  werden  können, 
dafs  hier  in  der  Lagerung  der  Allantois  nach  rechts  und 
des  Vitellum  nach  links  abermals  das  entgegengesetzte  Ver- 
hältnifs  der  beiden  Seiten  des  Körpers  hervortrete,  nämlich 
des  Uebergevyichls  von  Athmung  und  Absonderung  auf  der 
rechten,  das  Vorherrschen  von  Aufnahme  und  Ernährung 
auf  der  linken  Seite.  —  In  der  siebenten  Aufzeichnung 
werden  vier  Querfurchen  des  Halses  bemerklich  gemacht, 
und  die  Scholie  hebt  die  hierher  gehörige  wichtige  Ent¬ 
deckung  von  Rathkc  hervor,  welcher  zuerst  auch  hei 
Vögeln  und  Säugethieren  die  Kicmenbildung  am  frühesten 
Embryo  nachgewiesen  bat.  —  Die  achte  und  neunte  Auf¬ 
zeichnung  beziehen  sich  auf  Rückenmark-  und  Hirnbildung, 


II.  Schriften  zur  Jubelfeier  Sömmerrin g's.  149 

und  die  Scholien  erklären  sich  für  die  von  Baer  und  frü- 

i 

her  schon  von  andern  ergriffene  nnd  gerechtfertigte  An¬ 
nahme  einer  cylindrisch  ringsgeschlossenen  Röhreuform,  als 
der  für  die  nervigen  Centralgebilde  ursprünglichen. 

Die  beiden  kleinen  Figuren  jenes  Embryo  hat  der  Idr. 
Verf.  nun  nach  dem  Stich  einer  schon  im  Jahre  1821  ge¬ 
machten  Zeichnung  über  das  Hirn  eines  fünfmonatlichen 
Fötus  beifügen  lassen,  und  auch  sie  mit  einigen  Bemerkun¬ 
gen  begleitet.  Zu  leugnen  ist  nicht,  dafs  dadurch  das  Ganze 
ein  gewisses  zusammengesuchtes  Ansehen  bekommt,  welches 
uns  mit  der  sehr  splendiden  äufseren  Form  des  höchst  sau¬ 
ber  gedruckten  Heftes  nicht  recht  im  Einklänge  vorkam. 
Jedenfalls  hätten  wir  die  zierliche  Ausführung  in  Kupfer 
lieber  an  eine  mehr  instructive  Zeichnung  gewendet  wissen 
wollen,  da  diese  Abbildung,  aufser  der  sattsam  anerkannten 
Faserausstrahlung  der  grofsen  Hemisphären,  nichts  beson¬ 
deres  darstellt,  und  auch  die  Erläuterungen  kaum  etwas 
hervorzuheben  gestatten,  aufser  dem,  dafs  man  die  Figur 
als  Supplement  zur  siebenten  Tafel  des  Bur  dach  sehen 
Werkes  vom  Bau  und  Leben  des  Gehirns  (2r  Bd.)  betrach¬ 
ten  möge. 

Ko.  2.  ist  ein  einfaches,  sehr  herzliches  Sendschreiben 
an  den  würdigen  Jubelgreis,  welchem  der  Bericht  über 
eine  höchst  interessante  Beobachtung  der  Entwickelung  des 
Embryo  im  Schildkrötencie  eingeflochten  ist.  Wie  sehr 
dankenswert!)  diese  Darlegung  sei,  ist  um  so  einleuchtender, 
wenn  man  weifs,  dafs  über  die  Verhältnisse  der  Ausbil- 
dungsorgane  dieser  merkwürdigen  Thiere  bis  dahin  noch 
ein  gänzliches  Dunkel  schwebte,  dafs  z.  B.  niemand  sagen 
konnte,  ob  der  Dotter  in  die  Bauchhöhle  gezogen  w'erde, 
wie  bei  Schlangen  und  Eidechsen,  oder  gleich  von  den 
Bauchwänden  umschlossen  bleibe,  wie  bei  Salamandern  und 
Fröschen;  kurz,  dafs  hier  eine  wahre  Lücke  in  der  verglei¬ 
chenden  Anatomie  und  Physiologie  bestand,  zu  deren  Aus¬ 
füllung  mit  dieser  Darstellung  ein  trefflicher  Anfang  ge¬ 
macht  worden  ist.  Auch  den  Rcf.  hatte  dieser  Gegenstand 


150  II.  Schriften  zur  Jubelfeier  S  u  min  c rri n  g‘s. 

längere  Zeit  beschäftigt,  mehrere  in  unscrm  Clima  veran¬ 
staltete  Ausbriitungsvcrsuche  an  Schildkrötcneiern  waren 
mifslongen,  und  einige  ähnliche  während  eines  mchrwö- 
chentlirheo  Aufenthalts  in  Florenz  unternommene  konnten 
nicht  lange  genug  fortgesetzt  werden,  obwohl  sie  uns  einige 
Data  geliefert  haben,  welche"  zur  Vervollständigung  dieses 
Gegenstandes  abermals  einen  kleinen  Beitrag  liefern  werden. 
Die  Eier,  welche  der  Gegenstand  der  Untersuchung  des 
Hrn.  Tiedemann  waren,  wurden  demselben  durch  den 
Prof.  Schubert  aus  der  Münchener  Sammlung,  und  zwar 
von  den  flurch  Spix  und  Martins  mitgebrachten  Natura¬ 
lien  mitgetheilt ,  und  stammen  von  Emys  amazonica.  — 
Der  Yerf.  beschreibt  zuerst  die  weiblichen  Geschlechtstheile, 
und,  jedoch  mehr  nach  fremden  Angaben,  das  unbebriitete 
Ei  der  Schildkröten.  Die  Yermuthung,  dafs  auch  diesen 
Eiern  die  Hagelschnuren,  Chalazae,  zukommen  möchten,  kann 
Kef.  als  unstatthaft  darthun,  da  bei  einer  genauen  Unter¬ 
suchung  einiger  europäischen  Srhihlkröteneier  sich  keine 
Spur  derselben  fand.  —  Sehr  willkommen  ist  die  Zusam¬ 
menstellung  dessen,  was  verschiedene  Heisende  und  Natur¬ 
forscher  über  Begattung  und  Ausbrütungszeit  der  Eier  hei 
Schildkröten  angegeben  haben,  doch  Et  zu  bedauern,  dafs 
sich  auch  hieraus  immer  noch  nichts  gewisses  über  die  zur 
Ausbreitung  erforderliche  Zeit  ergiebt.  Dafs  diese  Ent¬ 
wickelung  nicht  so  schnell  vor  sich  gehe,  wie  so  manche 
geglaubt  haben,  kann  auch  Bef.  bestätigen,  welcher  vom 
14.  J  uni  bis  1.  Juli  die  Entwickelung  des  Eies  nur  bis  zur 
Bildung  einer  Figura  venosa  von  y  Zoll  Durchmesser,  und 
mit  kleiner  Galba  vorgeschritten  fand.  —  Die  von  Ilrn, 
Tiedemann  geöffneten  Eier  waren  der  Keife  schon  ziem¬ 
lich  nahe,  und  aus  deren  ausführlicher  Beschreibung,  welche 
von  mehreren  sehr  gut  gezeichneten  und  gestochenen  Ab¬ 
bildungen  begleitet  wird,  heben  wir  hier  nur  so  viel  her¬ 
aus,  dafs  im  Bauchschilde  der  jungen  Schildkröte  eine  ge¬ 
räumige  Nabelölfnung  vorhanden  sei,  durch  welche  eine 
gefüfsrekbc  Atbembiase  (Allautou)  hervor-,  und  die  Yer- 


I 


II.  Schriften  zur  Jubelfeier  Summ  erring' s.  151 

bindungsstelle  des  noch  aufserhalb  liegenden  Dottersackes 
mit  dem  Darmkanale  hineinragt,  während  ein  Amnios  den 
Embryo,  und  eine  mit  Kalkmasse  überlagerte  Eischaalenhaut 
alle  Eigebilde  umschlofs.  Vom  Eiweifs  war  keine  Spur 
mehr  vorhanden.  Aus  einer  jungen,  aber  bereits  gebornen 
Testudo  coriacea  bildet  der  Verf.  noch  den  am  Darme  hän¬ 
genden,  aber  bereits  in  der  Bauchhöhle  liegenden  Dotter 
ab,  so  wie  als  eine  Zugabe  noch  die  Zeichnung  eines  aus 
dem  Ei  genommenen  Fötus  des  Jakarra- Krokodils  beige¬ 
fügt  ist. 

Ko.  3.  weihet  dem  verehrten  Jubelgreise  die  Reliquien 
eines  Mannes,  welchen  jener  selbst  noch  unter  seine  Leh¬ 
rer  zählen  kann,  nämlich  des  Grofsvaters  des  jetztlebenden 
Geh.  Medic.  Rath  Meckel,  des  J.  Fr.  Meckel,  dessen 
Diss.  epistolaris  de  vasis  lymphaticis  glandulisque  congloba- 
tis,  Berlin  1757,  so  wie  die  Nova  experirnenta  et  observa- 
tiones  de  finibus  venarum  ac  vasorum  lymphaticorum  etc. 
Berlin  1772,  über  den  Zusammenhang  des  Lymphsystems 
mit  dem  Venensystem,  manche  Aufschlüsse  verbreitet  hat¬ 
ten.  Wir  erfahren  nun  hier,  dafs  zu  noch  weiterer  Er¬ 
läuterung  des  Lymphsystems  von  jenem  trefflichen  Zerglie¬ 
derer  nicht  nur  wichtige  fernere  anatomische  Arbeiten  vor¬ 
genommen,  sondern  auch  Zeichnungen,  ja  sogar  bereits 
Kupfertafeln  besorgt  worden  sind,  deren  Herausgabe  jedoch 
unterblieb,  und  von  welchen  nun  sechs  Tafeln  bei  gegen¬ 
wärtiger  feierlicher  Gelegenheit  bekannt  gemacht  werden, 
indem  zugleich  auch  der  noch  vorräthigen  Zeichnungen 
Erwähnung  geschieht.  —  Die  erste  Tafel  enthält  die  Dar¬ 
stellung  der  Hauptstämme  des  Lymphsystems  längs  der  W  ir- 
belsäule,  uud  zeigt  insbesondere  die  Einsenkung  von  Lymph- 
stämmen  des  rechten  Arms  und  der  rechten  Halsseite  in 
den  Winkel,  wo  Vena  jugularis  interna  dextra  und  Vena 

axillaris  dextra  Zusammenkommen.  Die  Tafel  ist  sehr  in- 

_  » 

structiv,  von  Glafsbach  sauber  gestochen,  und  nur  in 
der  etwas  hölzernen,  dem  Zeichner  zur  Last  fallenden  Dar¬ 
stellung  der  greiseren  Gebilde,  wie  Wirbelsäule,  Rippen 


152  II.  Schuften  zur  Jubelfeier  S  ü  mm  erring  s. 

und  Schulterblätter,  weniger  lobenswerth.  —  Die  zweite 
Tafel  giebt  in  zwei  Figuren  die  Darstellung  einer  Partie 
Chylusgefafse,  von  ihren  Ursprüngen  an  bis  zu  ihrer  Ein¬ 
senkung  in  den  Ductus  thoracicus.  Die  dritte  Tafel  ist 
insbesondere  zur  Abbildung  der  von  J.  F.  Meckel  ent¬ 
deckten  Einsenkung  von  Lymphstämmen  in  die  Verbindung 
vom  rechten  Schlüsselbein  und  in  ihre  Drosselvene  be¬ 
stimmt.  Die  vierte  lalcl  soll  eine  schon  in  der  genannten 
Diss.  epistolaris  beschriebene  Beobachtung  der  Anastomosc 
eines  Lymphgcfäfses  mit  der  Vena  coronaria  ventricul» 
magna  darstellen.  Die  fünfte  und  sechste  Tafel  enthalten 
in  mehreren  Figuren  saubere  Abbildungen  soig faltig  inji- 
cirter  Lymphdrüsen  und  Geliechte. 

No.  4.  enthält  von  den  vier  hier  aufgeführten  Glück- 
wünschungsschriften  die  mühsamsten  und  ausführlichst  be¬ 
schriebenen  eigenen  Untersuchungen.  —  Nach  der  sehr 
rühmenden  Begrüfsung  Summ  erring’«,  legt  der  Verf.  seiu 
Aorhaben  dar,  durch  Injectionen  des  trächtigen  Fruchthal- 
ters  und  der  Frucht,  bei  Säugethieren  verschiedener  Ord¬ 
nung  vorgenommen,  zur  endlichen  Entscheidung  der  oft 
beleuchteten  Streitfrage,  vom  mittelbaren  oder  unmittelba¬ 
ren  Uebergange  des  Blutes  der  Mutter  in  die  Frucht  zu 
gelangen.  Es  stand  nun  zwar  allerdings  die  Sache  schon 
jetzt  so,  dafs  kein  nut  bisherigen  Arbeiten  vertrauter  Phy- 
siolog  so  leicht  gefunden  werden  wird,  welcher  die  Hal- 
1  ersehe  Annahme  vom  unmittelbaren  Blutiibergange  noch 
zu  der  seinigen  macht;  bei  alledem  erscheinen  nichts  desto- 
weniger  die  Untersuchungen  des  Verf.  als  schätzbare  Bestä¬ 
tigungen  höchst  dankenswert!» ,  und  wir  halten  uns  ver¬ 
pflichtet,  das  Wesentliche  derselben  mitzutheilen. 

Die  erste  untersuchte  Form  ist  das  Ei  der  Dick¬ 
häuter,  und  zwar  des  Schweines.  Worauf  wir  hier 
besonders  aufmerksam  machen,  ist  die  sorgfältig  detaillicle 
Nachweisung  darüber,  wie  die  Gefäfse  im  Ghoriou,  welche 


II.  Schriften  zur  Jubelfeier  S  omm  errin  g’s.  153' 

ursprünglich  nur  der  Allantois  oder  Athemblase  *)  ange¬ 
hören,  von  dieser  an  das  Chorion  übertragen  werden.  Eine 
Wahrheit,  welche  Rec.  bereits  seit  mehr  als  zehn  Jahren 
durch  seine  Untersuchungen  bestätigt  gefunden,  und  auch 
immer  so  ausgesprochen  hat.  2)  Die  Nach  Weisung  darüber, 
dafs  man  auch  dem  Ei  der  Säugethiere  das  Eiweifs 
zugestehen  müsse.  Diese  dem  Yerf.  eigenthümliche  Auffin¬ 
dung  möchten  wir  leicht  als  das  wichtigste  und  wahrhaft 
physiologisch -neue  dieser  Arbeit  betrachten,  und  hatten  ihr 
daher  eine  weitere  Ausführung  gewünscht.  Nähere  Unter¬ 
suchungen  dieser  auch  dem  Rec.  wohlbekannten  Substanz 
werden  wahrscheinlich  auf  grofse  Uebereinstimmung  dersel¬ 
ben  mit  dem  was  Brande  über  die  zwischen  Eiweifs  und 
Tragacanthgummi  in  der  Mitte  stehende  Natur  der  eiweifs¬ 
artigen  Substanz  in  den  Eierleitern  der  Lurche  und  Hayen 
gefunden  hat,  führen.  3)  Die  sorgfältigere  Darstellung  der 
sogenannten  Diverticula  Allantoidis  und  ihres  Durchbruchs 
durch  das  Chorion,  wobei  nur  immer  noch  die  physiologi¬ 
sche  Bedeutung  dieses  Durchbruchs  ein  Räthsel  bleibt.  Sind 
es  Kiemen,  welche  das  Ei  nach  aufsen  hervortreibt, 
warum  sterben  die  Gefäfse  ab?  —  4)  Die  saubere,  auch 
bildliche  Darstellung  der  völlig  kiemenartigen  ond  auf  keine 
Weise  mit  dem  mütterlichen  anastomosirenden  Gefäfsnetze 
auf  den  Falten  des  Chorion,  welches  die  Stelle  der  Pla- 
centa  vertritt.  —  5)  Die  Beschreibung  einer  besonderen 

Art  von  Gefäfsen  des  trächtigen  Uterus,  welche  paterno¬ 
sterförmig  eingeschnürt  und  von  geschlängeltem  Verlaufe 
auf  der  innern  Uterinfläche  mit  offenen  trichterför¬ 
migen  Mündungen  ausgehen.  Eine  genaue  Abbildung 
dieser  Gefäfse  wäre  sehr  willkommen  geweseu.  Der  Yerf. 
hält  sie  für  Lymphgefäfse.  —  Es  wäre  auch  wohl  möglich, 


1)  Den  widerwärtigen  und  unpassenden  Namen  «Harn¬ 
sack,»  welchen  der  Verf.  jenem  Organ  giebt,  möchtcu  wir 
allerdings  gern  mit  obigem  vertauschen. 


I 


154  II.  Schriften  zur  Jubelfeier  Summe rring  s. 

dafs  sich  hier  ein  bisher  im  Saagethier-t  terus  noch  fehlen- 
des  Analogon  der  im  menschlichen  Uterus  vorkonimenden 
weiten  offenen  \  enenmiindungen  auf  der  innern  Uterjn- 
iläche  (welche  jedoch  vom  Yerf.  noch  weniger  gekannt 
scheinen)  vorfände.  — 

Die  zweite  untersuchte  Form  ist  das  Ei  der  Wie¬ 
derkäuer,  und  namentlich  des  Schaafes  und  der  Kuh. 
Hier,  wo  wieder  sehr  saubere  Abbildungen  von  den  kiemen- 
gefäfsartigen  Gcfäfsverzweigungen  an  den  Zotten  der  bötal- 
placenten  beigefiigt  sind,  konunen  auch  Gefäfse  des  Uterus 
zur  Darstellung,  welche  allerdings  in  die  Zotten  der  Fötal- 
placenten  dringen,  jedoch  nur  oberlläcblich  sich  daran  ver¬ 
breiten.  Wenn  indels  der  Verf.  sagt:  «  ln  allen  solchen 
Uebergängen  sah  ich  diese  Arterien  (denn  nur  von  diesen 
Gefäfsen  habe  ich  es  bis  jetzt  bemerkt,  vielleicht  weil  ich 
viel  öfter  die  Arterien  des  Fruchthalters  angefüllt  habe, 
als  die  Venen  desselbeu)  nur  in  die  Überdache  der  Zotte 
eingehen,  und  <lort  aufhören,»  so  zeigen  doch  schon  die 
Abbildungen,  dafs  sie  sich  hier  in  Venen  um  biegen,  und 
wir  hätten  nur  zur  Vermeidung  des  Missverständnisses  noch 
ausdrücklich  bemerkt  gewünscht,  dafs  kein  freigeendigtes 
Aufbören  des  Gefäfses  verstanden  werden«  solle  (da  jedes 
feine  Blutströmcben  dieser  Art,  und  folglich  jedes  Gefäfs- 
chcn,  in  Schlingen  sich  umbiegen  mufs),  als  zu  welchem 
Missverständnisse  auch  die  Abbildung  der  die  Flocken  einer 
Fötalplaceota  des  Hundes  umspinnenden  IJteringefäfse  Ver¬ 
anlassung  geben  könnte,  welche  so  gezeichnet  sind,  wie 
man  früher  öfters  die  Blutgefäfse  des  menschlichen  Uhorion 
und  der  menschlichen  Placenta  darzustellen  pliegte,  näm¬ 
lich  wie  Zweige  eines  Baumes  mit  freien  Spitzen  in  der 
Luft  aufhörend.  —  Die  bei  der  vorigen  Form  erwähnte« 
trichterförmig  auNtnündenden  Saugadern,  so  wie  das  Analo¬ 
gon  vom  Liweifs,  findet  der  Verf.  auch  in  dieser  Form  vor. 

Als  dritte  Form  untersucht  der  Verf.  das  Ei  der  Kaub- 
thierc,  und  insbesondere  des  Iluiuies,  wobei  er  sich  auf 
seine  frühere  Arbeit  über  die  Eutwickeluog  des  Eies  der 


II.  Schriften  zur  Jubelfeier  Sömm erring's.  155 

Säugetiere  und  des  Menschen  bezieht.  Das  die  besondere 
in  Frage  stehende  Untersuchung  betreffende,  bezieht  sich 
wesentlich  auf  die 'genauere  Darstellung  der  Art  und  Weise, 
wie  die  Zotten  der  Fötalplacenta  hier  von  feinen  Endigun¬ 
gen  der  Gefälse  der  Uterinplacenta  umsponnen  werden, 
ohne  dafs  deshalb  auch  hier  von  Anastomosen  zwischen 
Gefäfsen  der  Mutter  und  Frucht  die  Rede  sein  kann. 

Als  vierte  Form  wird  das  menschliche  Ei  erwähnt, 
indefs  fehlen  hier  dem  Verf.  eigene  Untersuchungen,  na¬ 
mentlich  über  das  Verhalten  der  Uteriugefäfse,  und  wir 
bedauern  dies  um  so  mehr,  da  es  namentlich  an  genauen 
bildlichen  Darstellungen  dieser  Gefäfsverhältnisse  im  mensch¬ 
lichen  Körper  noch  fehlt,  obwohl  doch  gerade  die  edlere 
menschliche  Form  der  noch  so  minutiösen  Untersuchungen 
immer  in  höherem  Grade  würdig  ist,  als  die  der  Thiere, 
und  endlich  weil  in  Wahrheit  diese  Verhältnisse  selbst  so 
sehr  von  denen  der  thierischen  Formen  ab  weichen,  dafs 
man  kaum  irgendwo  mehr  fehl  greifen  würde  als  hier, 
wenn  man  unbedingt  aus  den  Ergebnissen  der  vergleichen¬ 
den  Anatomie  auf  gleiches  Verhalten  im  Menschen  schliefsen 
wollte.  Allerdings  finden  sich  nach  gutgelungenen  Injectio- 
ren,  deren  Rec.  mehrere  gemacht  und  untersucht  hat,  auch 
im  menschlichen  schwangeren  Uterus  feine  Gefälse,  welche 
ungefähr  gleich  dem  die  Fütalplacentenflocken  des  Hundes 
und  des  Schaafes  umspinnenden  Gefäfschen  durch  die  die 
Stelle  der  Uterinplacenta  vertretende  Tunica  decidua  bis 
zwischen  die  Flocken  der  Fötalplacenta  dringen;  allein  das 
häufigere  und  merkwertheste  sind  immer  die  die  Gegend  der 
Placenta  auszeichnenden  grofsen  offenen  Venenmündungen 
an  der  inneren  Uterinfläche,  welche  veranlassen,  dafs  jede 
Injection  des  schwangeren  Uterus  grolse  Extravasate  in  das 
Cavum  uteri  mit  sich  bringt,  und  welche  sowohl  für  das 
Eigentümliche  dieses  Fötuslebens  '  als  dieser  Geburt 
höchst  bedeutungsvoll  werden.  —  In  den  Schiffsbefrach¬ 
tungen  zieht  der  Verf.  die  Summe  vorausgegangener  Unter¬ 
suchungen,  und  stellt  die  Gründe,  welche  unmittelbaren 


156  III.  Blutkreislauf  bei  Insecten  arven. 


Uebergang  zwischen  Blutgefäfsen  Her  Mutter  und  Her  Frucht 

anzunehmen  verbieten,  noclimals  zusammen.  —  Die  Schön- 

% 

beit  des  Druckes  und  die  Zierlichkeit  und  Deutlichkeit  der 
Abbildungen  verdienen  noch  eine  besonders  rühmliche  Er¬ 
wähnung. 

Car  u$. 


in. 

Entdeckung  eines  ein  fachen,  vom  Herzen 
aus  beschleunigten  Blutkreislaufes  in 
den  Larven  netzfliiglichcr  Insecten.  Von 
Dr.  C.  G.  Carus,  Professor  an  der  chirargisch- 
inedicinischen  A  ca  denn  e  zu  Dresden  (jetzt  Leib¬ 
arzt  und  Mcdicinalrath)  und  IMitglicde  mehrerer 
gelehrten  Gesellschaften  u.  s.  w.  Mit  drei  Kupfer¬ 
tafeln.  Leipzig,  Verlag  von  Leopold  Yofs.  1 827. 
4.  40  S.  (1  Thlr.  16  Gr.) 

Der  \  erf.  bevorwortet  seine  höchst  wichtige  Ent- 

D 

deckung  auf  folgende  W eise :  «ln  gegenwärtigen  Blättern 
übergebe  ich  dem  naturwissenschaftlichen  Publikum  die  Ge¬ 
schichte  der  Beobachtungen,  durch  welche  ich  im  Herbste 
1826  zur  Ueberzeugung  von  einem  deutlichen  Blutlaufe  in 
den  Larven  netzfliiglichcr  Insecten  gelangt  bin.  Einen 
Uebcrblick  des  W  csentlichen  dieser  Beobachtungen  habe 
ich  bereits  der  im  September  desselben  Jahres  zu  Dresden 
versammelten  Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und  Acrzte 
mittheilen  können,  und  mehrere  der  damals  hier  anwesen¬ 
den  Gelehrten,  unter  welchen  ich  nur  die  Herren  Oken, 
Huschke,  Heyne,  Purkinje,  Otto,  Weher  und 
Müller  nennen  will,  haben  sich  zugleich  bei  mir  der  Wahr¬ 
nehmung  dieser  merkwürdigen  Erscheinung  erfreut.  — 


III.  Blutkreislauf  bei  Insectenlarven.  157 


Eben  so  haben  sich  späterhin  der  treffliche  Forscher  A, 
v.  Humboldt,  und  Yalenciennes  aus  Paris,  von  dem 
Eigenthümlichen  dieses  Blutlaufes  bei  mir  überzeugt.  Ins- 
besondere  aber  habe  ich  hiesigen  Freunden,  namentlich  den 
Herren  Reichen  hach  und  Thienemann,  Dank  zu  sa¬ 
gen,  welche  durch  lleifsiges  Milbeobachten  und  ein  offenes 
und  freisinniges  Besprechen  mich  so  in  dieser  Arbeit  geför¬ 
dert  haben,  wie  es  im  wissenschaftlichen  Verkehr  überall 
und  immer  der  Fall  sein  sollte.  ” 

An  der  Richtigkeit  der  Entdeckung  darf  also,  da  so 
viele,  und  unter  diesen  so  ausgezeichnete  Naturforscher  sich 
davon  überzeugten,  nicht  gezweifelt  werden.  Rec.  zweifelt 
aber  um  so  weniger  daran,  da  er  vor  mehreren  Jahren  der¬ 
selben  Entdeckung  auf  der  Spur  war,  aber  sie  wegen  über¬ 
häufter  Berufsgeschäfte  nicht  verfolgen  konnte.  —  Die 
Bearbeitung  des  Gegenstandes  ist  nun  folgende: 

Der  Verf.  führt  zuerst  die  bisherigen  Meinungen  über 
den  Blutlauf  der  Insecten  an;  sodann  giebt  er  die  Beobach¬ 
tung  selbst  an,  durch  welche  er  zur  Auffindung  eines  deut¬ 
lichen  Blutlaufes  gelangte;  und  endlich  fügt  er  Folgerungen 
hinzu,  welche  aus  diesen  Thatsachen  für  die  Erkenntnifs 
der  Bedeutung  gewisser  Organe  und  für  die  Physiologie 
der  Insecten  überhaupt  zu  ziehen  sein  dürften. 

Was  den  geschichtlichen  Theil  betrifft,  so  geht  daraus 
allerdings  hervor,  dafs  sowohl  von  älteren  und  neueren  Ana¬ 
tomen  und  Naturforschern,  z.  B.  von  Malpighi,  Swarn- 
merdam,  Comparetti,  Lesse r ,  Albertus  Magnus, 
in  einem  Briefe  eines  Ungenannten  an  Heinr.  Baker,  von 
Nitzsch,  und  endlich  von  Gruithuisen  eine  Saftbe¬ 
wegung  oder  ein  Blutlauf  mehr  oder  minder  bestimmt  bei 
den  in  Rede  stehenden  Thieren  angenommen,  nicht  aber 
wirklich  nachgewiesen  wurde. 

Was  die  Beobachtungen  selbst  betrifft,  so  stellte  der 
,Verf.  die  ersten  an  Larven  der  kleinen  blauen  Libelle, 
Agrion  puella,  an.  Gleich  bei  dem  ersten  auf  den  Glas¬ 
schieber  des  Mikroscops  gebrachten  Thiere  sah  er,  bei 


/ 


158  III.  Blutkreislauf  bei  lnsectcnlarven. 


einer  Vergröfserung  von  60 mal  im  Durchmesser,  an  den 
Schwanzblättchen  den  deutlichsten,  aber  ganz 
e  i  n  Pa  c  h  c  n  und  unverästelten  U  m  t  r  i  e  b  von  durch¬ 
sichtigen  Illutkörnern  innerhalb  einer  ganz 
durchsichtigen  Kahn,  welche  die  aus  Tracheenstnnimea 
gebildete  Mittelrippe  des  Klattes  umgab.  Auf  der  Bauch¬ 
seite  ist  das  Blut  ausströmend  oder  arteriell;  an  der  Kücken- 
# 

seite  rückströmend  oder  venös;  der  Strom  selbst  biegt  am 
Ende  der  Bahn  ganz  deutlich  um,  so  dafs  man  jedes  Blut¬ 
körnchen  bei  günstiger  Beleuchtung  bei  dieser  Umkehrung 
verfolgen  kann.  Die  Gränzen  der  Bahn  sind  übrigens  nicht 
scharf,  und  noch  weniger  durch  wirkliche  erkennbare  Ge- 
fäfswände  gegeben,  sondern  das  Blut  kreiset  zwischen  feste¬ 
rer  Thiersubstanz  unmittelbar,  gerade  so,  wie  man  es  bei 
allen  Embryonen  höherer  Thiere,  namentlich  bei  Fisch* 
embryonen  und  in  der  ersten  Figura  venosa  des  Hühnereies 
sehen  kann.  Die  Blutkörner  sind  fast  wie  Waizenkürner, 
und  schwimmen  in  einer  Flüssigkeit,  welche  nur  ihrer  Was¬ 
serhelle  wegen  unsichtbar  bleibt.  Die  Fortbewegung  ge¬ 
schieht  in  ununterbrochenem  Zuge,  jedoch  ( was  sehr  w  ich¬ 
tig  ist,  da  es  den  Finflufs  der  Pulsationen  des  Biickenge- 
fäfses  darthut)  deutlich  in  stofsw'eise  verstärkter  Geschwin¬ 
digkeit.  Wenn  sich  die  Flügel  der  Larven  entwickeln,  so 
wird  der  Kreislauf  in  den  Schwanzblättern  sichtlich  schwä¬ 
cher  und  erlischt  endlich  ganz,  wodurch  häufig  die  Blätt¬ 
chen  ganz  abfallen.  —  Die  Flügelbiättchen  selbst 
zeigen  einen  aufs  erst  zarten  und  regelmäfsigcn, 
einer  neuen  Form  des  Kreislaufes  Kaum  geben¬ 
den  Bau.  Sie  bestehen  nämlich  aus  einer  feinen  obern 
und  untern  Hautplatte,  zwischen  welchen  durch  regelmäfsigc 
Anhäufung  einer  zarten,  gekörnten  Substanz  ( urlliierische 
Punktmasse)  ein  Netzwerk  dargestellt  wird,  wo  jede  Masche 
eine  kleine  Insel  bildet,  deren  mehrere  dann  wasserbelle  sie 
durchschneidende  Canäle  einscbliefsen ,  so  jedoch,  dals  der 
breiteste  Canal  im  Umfange  des  Flügels  verläuft,  und  die 
ganze  Substanz  noch  von  äufserst  feinen  Tracheen  durch- 


III.  Blutkreislauf  Lei  Inscctenlarven. 


159 


zogen  wird,  ln  jenen  Canälen  tritt  nun  ganz  auf  dieselbe 
Weise  wie  in  den  Schwanzblättchen  das  schönste  Phäno¬ 
men  eines  deutlichen  Kreislaufes  hervor.  Allemal  von  dem 
inneren  Rande  des  Flügels  geht  die  ausströmende  (arte¬ 
rielle)  Bewegung  aus,  und  am  atifseren  Rande  erfolgt  die 
rückströmende  (venöse)  Bewegung.  Auch  hier  strömen  die 
länglichen  Blutkörner  ziemlich  einzeln,  und  der  Hauptstrom 
geht  in  den  breiten  Canal,  jedoch  sieht  man  häufig  einzelne 
Körner  durch  das  Netzwerk  selbst  von  innen  nach  aufsen 
hindurchströmen,  so  dafs  man  sich  des  Gedankens  nicht 
enthalten  kann,  es  sei  dieses  regelmäfsige  Netzwerk  selbst 
durch  das  Strömen  des  Blutes  erst  gleichsam  ausgefurcht 
worden.  —  Der  Anblick  dieses  Strömens  selbst  gleicht 
ganz  dem,  welchen  die  Beobachtung  des  Blutstroms  in  dpn 
Kiemen  von  Fischembryonen  oder  Frosch  -  und  Salamander¬ 
larven  gewährt.  Aber  auch  dieser  Strom  wird  schwächer 
und  hört  endlich  ganz  auf,  so  dafs  man  im  vollkommenen 
Insect  nichts  mehr  davon  gewahr  wird.  — 

Hierauf  setzte  der  Yerf.  seine  Beobachtungen  an  einer 
ganz  kleinen  Larve  von  einem  Netzflügler,  vielleicht  zu 
Semblis,  Sialis  oder  dergl.  gehörig  fort,  und  das  Resultat 
war ,  dafs  hier  zuerst  ein  mit  der  Rücken  ad  er  in 
Verbindung  stehender  sehr  einfacher  Kreislauf 
wirklich  nach  gewiesen  werden  kann. 

Eine  andere  Art  von  solchen  im  Wasser  lebenden 
Larven,  welche  das  Phänomen  des  Kreislaufes  deutlich  zeig¬ 
ten,  war  die  Ephemera  vulgata;  ja  sie  soll  die  passendste 
dazu  sein,  denn  an  dieser  Insectenlarve  gelang  es  dem  Verf. 
zuerst,  den  Blut  lauf  als  wahren,  vollkommenen, 
durch  den  ganzen  Thier  leib  gehenden  Kreislauf 
zu  entdecken.  —  Merkwürdig  ist  auch  noch,  dafs  wenn 
man  die  Schwanzspitzen  durchschneidet,  aus  den  verletzten 
Theilen  alsbald  eine  starke  Blutung  entsteht;  das  gekörnte 
Blut  wird  stofsweise  hervorgetrieben ;  es  bildet  eine  Anhäu¬ 
fung  um  das  verwundete  Organ,  welche,  sobald  sie  trock¬ 
net  und  somit  die  Einwirkung  der  atmosphärischen  Luft 


160  IIF.  Blutkreislauf  bei  Insectcnlarven. 


erfährt,  den  Beobachter  dadurch  nicht  wenig  überrascht, 
dafs  sic  aus  der  wasserhellcn  Beschaffenheit  in  eine  bestimmt 
apfelgrüne  Färbung  übergeht. 

Auch  an  entwickelten  Insecten  hat  der  Vcrf.  seine 
Beobachtungen  fortgesetzt;  allein  sic  befriedigen  ihn  noch 
nicht,  indem  die  Ilornringe  dem  Lichte  zu  viel  Widerstand 
leisten,  als  dafs  ein  klares  Bild  innerer  Bewegungen  erlangt 
werden  könnte.  Fr  wird  aber  seine  Untersuchungen  fort¬ 
setzen.  Die  Meinung  des  Verf.  geht  fiir  jetzt  dahin:  dafs 
den  vollkommenen  Kerfen  wirklich  ein  eigent¬ 
licher  Blutkreislauf  fehle,  und  ihnen  nur  noch 
das  pulsirende  Herz  als  Rudiment  des  in  der 
Larve  ursprünglich  vorhanden  gewesenen  allge- 
meinen  Kreislaufes  zu  komme. 

Was  nun  die  allgemeinen  Betrachtungen  und  Folge¬ 
rungen  betrifft,  so  müssen  wir  auf  die  Abhandlung  selbst 
hinweisen,  welche  ohnehin  keinem  Anatomen  und  Physio¬ 
logen  fehlen  darf,  und  deren  Studium  auch  dem  wissen¬ 
schaftlich  gebildeten  Arzte  höchst  anziehend  und  fruchtbrin¬ 
gend  sein  dürfte.  Sie  sind  keines  Auszuges  fähig,  und  Rcc. 
kann  nur  die  Ilauptmomente  angeben,  die  hier  zur  Sprache 
kommen.  Erstlich  nämlich  sucht  der  Verf.  die  Aufmerk¬ 
samkeit  der  Physiologen  auf  diejenigen  Erscheinungen  des 
organischen  Lebens  hinzuwenden,  welche  als  einfache  For¬ 
men  des  Kreislaufes  angesehen  werden  müssen;  zweitens 
giebt  er  die  Stufenfolge  an,  in  welcher  diese  einfachsten 
Formen  durch  immer  zunehmende  Vervielfältigung  zu  der 
verwickelten  Form  des  Kreislaufes  in  höheren  Organismen 
sich  umbilden;  und  drittens  läfst  er  die  Gründe  folgen, 
welche  namentlich  in  den  völlig  entwickelten  Insecten  ein 
'N  erschwinden  des  früher  vorhandenen  Kreislaufes  als  natur- 

*  i 

gemäfs  darstellen,  und  durch  parallele  Fälle  in  höheren  Or¬ 
ganisationen  ihre  Bestätigung  erhalten.  — 

Die  Abbildungen  siud  sehr  instructiv,  und  lassen  nichts 
zu  wünschen  übrig. 


IY.  Un- 


IV.  Kreislauf. 


161 


IY. 

'  %  f 

Untersuchungen  über  den  Kreislauf  des 

Blutes,  und  insbesondere  über  die  Be¬ 
wegung  desselben  in  den  Arterien  und 
Capillargefafs  en;  mit  erklärenden  Hindeutun¬ 
gen  auf  pathologische  Erscheinungen.  Vom  Dr. 
G.  Wedcmeyer,  Königl.  Hannoverschem  Leib¬ 
und  Ober-Staabschirurgus.  Hannover,  im  Verlage 
der  Hahn’schen  Hofbuchhandlung.  1828.  8.'  XII 
und  490  S.  (2  Thlr.  8  Gr.) 

Es  gewährt  uns  sin  besonderes  Vergnügen,  diese  mit 
so  vieler  Umsicht  und  so  grofser  Bescheidenheit  ausgearbei¬ 
tete  Schrift,  die  einen  der  wichtigsten  Gegenstände  in  der 
Physiologie  abhandelt,  in  diesen  Annalen  anzeigen  zu  dür¬ 
fen.  In  der  vier  Seiten  langen  Einleitung  stellt  der  Verf, 
die  verschiedenen  Meinungen  älterer  und  neuerer  Physiolo¬ 
gen  über  die  Kräfte,  vermöge  welcher  das  Blut  in  den 
Arterien  und  Haargefäfsen  sich  bewegt,  auf.  Sie  sind  vie¬ 
rerlei.  1)  Die  Kraft  der  ganzen  Blutcirculation  liegt  im 
Herzen.  2)  Die  arterielle  Circulation  hängt  nicht  alfein 
vom  Herzen  ab,  sondern  wird  zugleich  durch  vitale  Zu¬ 
sammenziehungen  der  Tunica  musculosa  s.  fibrosa  wesent¬ 
lich  unterstützt.  3)  Die  gröfseren  Arterien  besitzen  keine 
Muskelkraft,  noch  sichtbare  vitale  Contractionskraft,  und 
tragen  nichts  znm  Forttreiben  des  Blutes  bei;  dagegen  aber 
besitzen  die  kleineren  Arterien  und  Haargefäfse  eigene  vi¬ 
tale  Contractionskraft,  durch  welcjbe  sie  das  Blut  ansaugen 
und  forttreiben,  und  es  ist  in  ihnen  der  Blutumtrieb  grüfsten- 
theils  bereits  dem  Einflüsse  des  Herzens  entzogen.  4)  We¬ 
der  /ie  Arterien  noch  die  Haargefäfse  tragen  durch  eigene 
Contractilität  zur  Beförderung  des  Blutumlaufes  bei;  dieser 
geschieht  vorzüglich  durch  das  eigene  Leben  und  die  eigene 
Thätigkeit  des  Blutes,  und  wird  durch  das  Herz  allein  we¬ 
sentlich  unterstützt. 


XIII.  Bd.  2.  St. 


u 


162 


rV.  Kreislauf. 


Richtig  bemerkt  dabei  der  Verf,  dafs  eine  rein -phy¬ 
siologische  Untersuchung  im  engeren  Sinne  nicht  genüge, 
einen  einigermaafsen  hinreichenden  Aufsrhlufs  über  die  Blut- 
cireulation  uud  die  sie  bedingenden  Kräfte  zu  geben;  sie 
mufs  nothwendig  verbunden  sein  mit  vergleichenden  Unter¬ 
suchungen  der  Uirculation  und  ihrer  Organe  in  den  ver¬ 
schiedenen  Thierklassen,  in  Embryonen,  mit  microscopischen 
Forschungen,  mit  Versuchen  an  lebenden  Thieren,  mit  Un¬ 
tersuchungen  an  Mißgeburten  mit  Mangel  des  Herzens  u. 
s.  w. ,  mit  solchen  über  die  erste  Blut-  und  Gefäßbildung 
im  bebrüteten  Ei,  in  neu  sich  erzeugenden  Theilen,  in  Ent- 
ziindungsproducten ,  und  endlich  mit  Beobachtungen  ver¬ 
schiedener  pathologischer  Abweichungen  der  blul bewegen¬ 
den  Organe,  der  Circulation  des  Blytes  und  des  Blutes  selbst. 
Und  diese  Balm  hat  der  würdige  Verf.  eingeschlagen.  Ich 
will  versuchen,  sagt  er,  was  ich,  von  diesen  Iiülfsmitteln 
unterstützt,  zu  leisten  im  Stande  bin. 

Das  Werk  zerfällt  in  vier  Hauptabteilungen,  die  mit 
den  Ueberschriften  :  «erste,  zweite,  dritte  und  vierte  Unter¬ 
suchung»  versehen  sind.  Jede  dieser  Hauptabteilungen 
besteht  selbst  wieder  aus  Abschnitten  und  Kapiteln. 

Die  erste  Untersuchung  handelt  sogleich  von  dem 
Verhalten  der  grofsen  Arterien  in  Beziehung  auf  die  Rlut- 
circulation,  da  den  grofsen  und  mächtigen  Einflufs  des  Her¬ 
zens  auf  den  Forttrieb  des  Blutes  in  den  großen  Arterien 
seit  beinahe  zwei  Jahrhunderten  niemand  mehr  leugnet. 

Zuerst  stellt  der  Verf.  die  Erage  auf:  Kommen  den 
grofsen  Arterien  Muskelfasern  zu?  Von  Seite  9  bis  21  giebt 
der  Verf.  die  Gründe  an,  wodurch  er  zu  dem  Schlüsse  be¬ 
rechtigt  zu  sein  glaubt,  dafs  die  Annahme  von  Mus¬ 
kelfasern  in  der  mittleren  starren  Haut  der  Ar- 

r 

terien  im  Menschen  und  den  höheren  warmblü¬ 
tigen  Thieren  auf  einem  Irrthume  beruht,  und 
solche  in  der  T  h a t  nicht  vorhanden  sind.  —  R ec. 
glaubt  jedoch,  d^fs  der  \  erf.  hierin  zu  weit  geht.  Wenn 
sich  auch  die  Charaktere  der  eigentlichen  Muskelfaser  an 


I 


IV.  Kreislanf.  163 

# 

den  Fasern  der  mittleren  Haut  der  Arterien  (Tunica  muscu- 
losa)  nicht  gleich  bestimmt  und  deutlich  kund  geben,  so 
dürfen  wir  sie  doch  nicht  aus  der  Reihe  der  muskulösen 
Gewebe  verweisen.  —  Prof.  Weber  zerfällt  das  Muskel¬ 
gewebe  in  drei  Glieder,  die  nur  nach  dem  Grade  ihrer 
Ausbildung  verschieden  sind,  und  so  nur  als  Metamorpho¬ 
sen  eines  und  desselben  Gewebes  betrachtet  werden  können. 
(Dafs  die  drei  Glieder  des  Muskelgewebes  auch  verschiedene 
Lebensäufserungen  kund  geben ,  ist  eben  in  ihrer  abweichen¬ 
den  Bildung  begründet.  Doch  davon  nachher.)  Diese  Glie¬ 
der  des  Muskelgewebes  sind:  1)  das  Uterus-,  2 y  das  Gefäfs- 
und  3)  das  eigentliche  Muskelgewebe  des  Körpers  (Muskel¬ 
gewebe  des  organischen  und  des  thierischen  Lebens). 

Das  Uterus  -  Muskelgewebe  unterscheidet  sich  durch  ge¬ 
ringere  Röthe  und  Plattheit  der  Fasern,  die  mannigfaltig 
verflochten  und  durch  vieles  und  festes  Drüsen -Zellgewebe 
verbunden  sind;  durch  äufserst  starkes  organisches  Zusam¬ 
menziehungsvermögen  bei  der  Geburt;  durch  eine  grofse 
Anzahl  von  Gefäfsen,  dagegen  durch  weniger  Nerven.  Die 
Fasern  sind  im  ungeschwängerten  Zustande  noch  blasser, 
fester,  platter,  dichter  aneinander  gedrängt,  und  daher  we¬ 
niger  deutlich  sichtbar,  aber  durch  diese  Eigenschaften  dem 
Gefafs- Muskelgewebe  mehr  analog;  während  die  Gebär¬ 
mutterfasern  in»  geschwängerten  Zustande,  indem  sie  röther, 
weicher,  rundlicher,  mehr  getrennt  (in  kleinere  Bündel) 
sind,  den  sogenannten  unwillkührlichen  Muskeln  nahe  kom¬ 
men.  —  Das  Gefäfs- Muskelgewebe  zerfällt  in  das  Muskel¬ 
gewebe  der  Venen  und  in  das  der  Arterien.  Die  Venen¬ 
fasern  sind  äufserst  zart,  weich,  wenig  röthlich,  nur  in  die 
Länge  verlaufend,  mehr  getrennt,  und  sehr  sparsam  ver¬ 
breitet,  so  dafs  man  sie  nur  in  den  grofsen  Hohlvenen  des 
Körpers  deutlich  sieht.  Die  Arterienfasern  dagegen  sind 
derber,  härter,  platter,  weniger  elastisch,  gelbröthlich,  un¬ 
unterbrochen  an-  und  übereinander  gereiht,  oder  liegend 
und  in  querer  Richtung  verlaufend.  Sie  erhalten  verhält- 
nifsmäfsig  mehr  Nerven  als  Gefäfse.  —  Der  grölste  1  heil 

11  * 


164 


IV.  Kreislauf. 


des  eigentlichen  Muskelgewebes  zeichnet  sich  beim  ersten 
Anblick  schon'fdurch  höhere  oder  vollkommnere  Entwicke¬ 
lung  aus.  Die  Charaktere  sind  hinlänglich  bekannt,  wir  wol¬ 
len  sie  daher  hier  nicht  angeben,  und  nur  bemerken,  dafs  ein 
Theil  dieser  Abtheilung  des  Muskelgewebes,  der  nämlich, 
welcher  mit  ganz  weichen  Tbeilen,  häufigen  Ausbreitungen 
u.  s.  w.  in  Verbindung  steht,  unverkennbar  als  das  Verbin¬ 
dungsglied  zwischen  den  beiden  ersten  Abtheilungen  und 
der  Hauptmasse  dieser  dritten  anzusehen  sei.  Die  Faser- 
bündcl  sind  hier  weniger  stark  und  getrennt;  die  Fasern 
liegen  nicht  einmal  parallel  neben  einander,  sondern  verlau¬ 
fen  in  Lagen  von  entgegengesetzten  Lichtungen,  die  sich 
hier  und  da  sogar  kreuzen;  ihre  Farbe  ist  blässer,  bedeu¬ 
tende  Nervennetzc  umstricken  sie;  die  Gefäfsverbreitung 
bat  mit  der  im  geschwängerten  Uterus  grofse  Aehnlichkeit; 
und  sie  sind  daher  unverkennbar  dem  Uterus-  und  Gcfäfs- 
muskelgewebe  sehr  verwandt.  (Man  sehe  M.  J.  Weber’s 
Elemente  der  allgemeinen  Anatomie,  S.  63  u.  s.  w.)  Die. 
abweichenden  chemischen  Verhältnisse  dieser  drei  Glieder 
des  Muskelgewebes  begründen  eben  ihre  von  einander  ver¬ 
schiedenen  physischen  Eigenschaften.  Und  bei  den  niederen 
YVirbellhieren  finden  wir,  wie  der  Verf.  selbst  angiebt, 
am  Bulbus  der  Kiemenarterie  die  Gefäfsfaser  zur  eigen- 
thümlichen  oder  vollendeten  Muskelfaser  entfaltet.  Was  die 
krankhaften  Knochen-  und  Kalkablagerungen  zwischen  der 
Muskel-  und  innersten  Haut  betrifft,  so  gehören  sie  doch 
offenbar  entweder  keiner  von  beiden,  oder  nur  der  inner¬ 
sten  (als  serösen)  Haut  an.  Ich  habe  viele  Präparate  hier¬ 
von  untersucht,  und  die  Muskelhaut,  wenn  die  Verknöche¬ 
rung  noch  keinen  zu  hohen  Grad  erreicht  hatte,  stets  nor¬ 
mal  gefunden.  Verknöcherungen  in  den  kleineren  Arterien, 
namentlich  in  der  Art.  basilaris,  habe  ich  sehr  häufig  ge¬ 
funden,  und  das  anatomische  Museum  zu  Bona  selbst  besitzt 
das  kleine  Gehirn  einer  Frau,  woran  fast  alle  Arterien 
desselben  verknöchert  sind.  —  Was  die  leichte  Repro- 
duction  der  Arterien  betrifft,  so  darf  sie  theils  hier  gar 


IV.  Kreislauf. 


16  5 


nicht  in  Anschlag  gebracht  werden;  denn  das  Gefäfs  repro- 
ducirt  sich  wohl  nur,  nicht  aber  die  Tunica  musculosa;  und 
wenn  auch,  so  kann  sich  ja  und  mufs  sich  die  niedere  Bil¬ 
dung  eines  Gewebes  leichter  regeneriren,  als  die  höhere 
und  vollkommene.  Die  Reproduction  des  Uterus -Muskel¬ 
gewebes  in  der  Schwangerschaft  dürfte  auf  jeden  Fall  die¬ 
sen  Einwurf  gänzlich  ausgleichen7  und  zwar  um  so  mehr, 
da  wir  auch  hier,  wie  vorhin  bei  der  Kiemenarterie,  bei 
den  Thieren,  und  zwar  schon  bei  den  Säugethieren,  die 
unvollkommen  entwickelte  Uterus -Muskelfaser  des  Menscheu 
zur  wahren  Muskelfaser  entwickelt  finden.  Diese  durch¬ 
greifende  Harmonie  kann  nicht  zufällig,  nicht  bedeutungs¬ 
los  sein!  Rec. 

Die  zweite  Frage,  welche  der  Wrf.  aufstellt,  ist: 
Besitzen  die  grofsen  Arterien  Irritabilität  oder 
vitale  Contractionskraft,  und  dadurch  Einflufs 
auf  den  Blutumtiieb? 

Der  Ilr.  Verf.  handelt  diese  Frage  von  S.  21  —  93 
auf  eine  Weise  ab,  die  ihm  nur  Ehre  bringen  kann.  Er 
berücksichtigt  die  verschiedenen  Meinungen  über  diesen 
Gegenstand  ausführlich,  und  beleuchtet  ihren  Werth  oder 
Un werth.  Die  vielen  und  genauen  Versuche,  die  er,  um 
die  Frage  entschieden  zu  lösen,  angestellt  hat ,  erhöhen  und 
begründen  noch  mehr  sein  Urtheil. 

Die  Resultate  dieser  Untersuchungen  sind: 

1)  Die  Arterien  besitzen  keine  Irritabilität; 
denn  ihre  Fasern  reagiren  weder  auf  mechanische,  noch 
galvanische  Reize,  und  sie  sind  nie  gleich  nach  dem  Tode 
leer  vom  Blute,  und  in  keiner  Periode  völlig  contrahirt. 

2)  Die  geringe  Contractilität,  welche  Verschuir, 
Zimmermann,  Hastings  u.  a.  beobachtet  haben  wol¬ 
len,  trat  nie  im  ruhigen  Zustande,  sondern  immer  nur  auf 
heftige  abnorme,  mechanische  oder  gar  auf  nichts  bewei¬ 
sende  chemische  Reize  ein,  und  zwar  so  langsam  und 
schwach,  dafs  sie  auf  den  kräftigen  und  raschen  1  orttricb 
des  Blutes  in  den  Arterien  nicht  von  irgend  einem  wesent- 


166 


IV.  Kreislauf. 


liehen  Einflüsse  sein,  und  in  keiner  Hinsicht  mit  einer 
Muskelkraft  verglichen  werden  kann. 

3)  Dagegen  besitzen  die  Arterien  einen  hohen  Grad 
von  Elasticität  sowohl  in  den  Längen-  als  ,  Breiten -Dimen- 
sionen.  Daher  a)  erweitern  sie  sich  um  etwas  bei  jeder 
Systole  der  Herzkammer;  b)  verengern  sie  sich  bei  der 
Diastole  des  Herzens;  c)  ist  der  Blutlauf  aus  einer  geöffne¬ 
ten  grofsen  Arterie  nicht  interrnittirend ,  sondern  remitti- 
rend.  Die  Arterie  ersetzt  durch  ihre  Elasticität  den  Theil 
der  Kraft,  welchen  das  Herz  vorher  auf  Ausdehnung  der 
Arterie  verlor.  Sie  entleert  dadurch  nach  der  Systole  des 
Herzens  noch  einen  Theil  des  in  ihrem  Canale  enthaltenen 
Blutes,  bis  sie  durch  die  erneuerte  Systole  des  Herzens 
wieder  ausgedehnt  wird.  Nur  bei  sehr  kräftiger  Circulation 
wirkt  die  Systole  des  Herzens  und  die  Elasticität  der  Arte¬ 
rien  so  häufig  und  kräftig,  dafs  der  Blutflufs  fast  gleich- 
mäfsig  erfolgt.  Je  mehr  aber  Blut  verloren  geht,  je 
schwächer  das  Herz  wirkt,  desto  remittirender,  und  später 
sogar  intermittirender  wird  der  Blutflufs;  d)  daher  springt 
das  Blut  aus  dem  Zwischenraum  einer  vom  Blute  ausge¬ 
dehnten  Arterie  zwischen  zwei  Ligaturen,  wenn  sie  ange¬ 
stochen  wird,  per  saltum  heraus,  und  es  erfolgt  eine  Veren¬ 
gerung  ihres  Canals;  e)  daher  verengert  sich  eine  Arterie 
lim  etwas  unterhalb  einer  Ligatur,  nach  Verblutungen  im 
Tode,  und  treibt  noch  einen  Theil  des  in  ihr  enthaltenen 
Blutes  fort. 

4)  Die  Arterienhäute  befinden  sich  im  normalen  Zu¬ 
stande  der  Circulation  beständig  durch  das  in  ihnen  enthal¬ 
tene  Blut  in  einem  ausgedehnten  Zustande,  welcher  durch 
jede  Systole  der  Herzkammer  noch  vermehrt  wird. 

5)  Der  Pulsschlag  entsteht  a)  theils  durch  jedesma¬ 
lige  Erweiterung  der  Arterie,  b)  durch  Locomotion  der 
Arterie,  theils  indem  sie  sich  bei  dem  Stofs  des  Herzens 
auf  die  Blutsäule  an  den  Winkeln  und  Krümmungen  gerade 
zu  strecken  strebt,  theils  iudem  sie  bei  der  Erweiterung, 


IV.  Kreislauf. 


167 

welche  sie  durch  die  Systole  des  Herzens  erleidet,  nach  der 
am  wenigsten  Widerstand  leistenden  Seite  ausweicht. 

6)  Die  Summe  der  Arterienäste  besitzt  eine  gröfserc 
Capacität,  als  der  Stamm  der  Aorta;  mithin  mufs  caeteris 
paribus  das  Blut  nach  hydraulischen  Gesetzen  schneller  in  der 
Aorta  als  in  ihren  Aesten  sich  bewegen,  um  so  mehr,  da 
das  Blut  im  Fortströmen  durch  die  Arterien,  durch  die 
Reibung  der  Blutkügelchen,  die  Winkel  und  Krümmungen 
der  Arterien  mancherlei  Hemmung  erfährt. 

7)  Der  derbe  Bau  der  mittleren  Arterienhaut  hängt 
vorzüglich  von  dem  gröfseren  Stofse  ab,  den  dieselbe  durch 
das  vom  Herzen  fortgetriebene  Blut  erleidet.  Daher  a)  ist 
der  Bau  der  Aorta  derber,  als  der  der  Lungenarterie;  we¬ 
niger  jedoch  in  einigen  tauchenden  Thieren,  in  welchen  der 
rechte  Herzventrikel  fast  eben  so  kräftig  als  der  linke  ist; 
b)  ist  die  mittlere  Haut  in  den  Hirnarterien  hinter  ihren 
zahlreichen  Krümmungen  schwächer;  c)  ist  sie  um  so  schwä¬ 
cher,  je  mehr  die  Arterien  sich  zertheilen,  vom  Herzen 
entfernen  und  die  Pulsationen  verlieren;  d)  ist  sie  schwä¬ 
cher  oder  fehlt  ganz  in  allen  kaltblütigen  Thieren,  deren 
Herz  schwächer  ist,  deren  Arterien  keine  Pulsationen  erlei- 
den,  oder  deren  Gefäfssystem  überhaupt  mit  keinem  Her¬ 
zen  versehen  ist;  e)  ist  sie  arn  stärksten  an  den  Bifurcatio- 
nen  und  den  convexen  Wandungen  der  Arterien,  welche 
einen  stärkeren  Stofs  erleiden. 

P\ec.  erlaubt  sich  hier  nun,  an  die  oben  gemachten 
Bemerkungen  über  den  Bau  der  mittleren  Arterienhaut, 
einige  Bemerkungen  über  ihr  Leben  oder  ihre  Function 

anzureihen.  —  I)  Die  Fasern  der  mittleren  Arterieuhaut 

■ 

sind  nur  unvollkommen  entwickelte  Muskelfasern;  ihre  Le- 
bensäufserunge'n  müssen  daher  auch  von  diesen  verschieden 
oder  unvollkommen  sein.  Durch  die  so  bedeutende  und 
fast  ununterbrochene  Expansion  der  Gefäfsmuskelfasern ,  in¬ 
dem  ja  eine  Blutwelle  die  andere  verfolgt,  wird  zum  1  heil 
ihr  Contractionsvermügen  aufgehoben,  oder  kaum  wahr- 


163 


IV.  Kreislauf. 


nehmbar.  —  Es  ist  bekannt,  dafs,  wenn  die  eigentlichen 
Muskelfasern  längere  Zeit  hindurch  ausgedehnt  •werden, 
ihre  Function  zum  Theil  leidet,  oder  ganz  aufgehoben 
wird,  und  dafs  dann  gleichzeitig  eine  gröfsere  oder  gerin¬ 
gere  Veränderung  in  dem  I)au  der  Muskelfasern  eingetre¬ 
ten  ist;  namentlich  werden  sie  hhsser,  platter  und  derber, 
und  conlrahiren  sich  auf  angebrachte  Reize  wenig  oder 
gar  nicht;' und  überhaupt  glaubt  Rec.,  dafs  das  eigent¬ 
liche  Contractions vermögen  der  G  e  fä  fsmuskel- 
faser  darin  besteht,  dafs  sie  ihre  höchst  mögli¬ 
che  passive  Expansion  verhindert,  und  so  zu  glei¬ 
cher  Zeit  den  Theil  der  Kraft,  welchen  das  Iierz 
auf  die  jedesmalige  Ausdehnung  der  Arterien 
verwendet,  ersetzt.  Dadurch  leisten  die  Gefäfsmuskel- 
fasern  für  die  Circulation  des  Blutes  schon  einen  wesentli¬ 
chen  Dienst!  Mehr  Antheil  bin  ich  weit  entfernt  ihnen  zu- 
zfischreibcn  ,  und  ich  erlaube  mir  hier  nur  noch  zu  bemer¬ 
ken,  dafs,  wenn  die  Uterus- Muskelfasern  in  der  Schwan¬ 
gerschaft  die  höchste  Stufe  ihrer  Ausbildung  erreicht  haben, 
sie  gleichzeitig  ihr  vitales  Contractionsvermögen  an ‘den  Tag 
legen,  und  so  die  Frucht  zu  Tage  fördern.  Dieses  ist  mir 
die  wahre  und  einzige  Triebfeder  der  Geburt!  — 

Die  zweite  Untersuchung  handelt  (von  Seite  102 
bis  336 )  über  die  Bewegung  des  Blutes  in  den 
kleinsten  Arterien  und  II  a  a  rg  c  fä  fs  e  n ;  die  dritte 
Untersuchung  (von  Seite  336  —  418)  über  die 
von  mechanischen  Kräften  unabhängige  Bewe¬ 
gung  des  Blutes,  und  die  vierte  Untersuchung  (von 
Seite  418  —  485)  belehrt  uns  über  die  Erscheinun¬ 
gen  der  Haarröhrchenkraft  im  thierischen  Kör¬ 
per,  und  deren  Einflnfs  auf  den  Forttrieb  der 
Säfte  in  den  Ilaargefäfscn.  —  Wir  geben  zuerst  die 
allgemeine  Uebersicht. 

In  der  zweiten  Untersuchung  theil t  der  Verf.  zuerst 
wieder  die  verschiedenen  Meinungen,  Ansichten  und  Beob- 
achtungen  der  Schriftsteller  (von  S.  105  —  179),  und 


IV.  Kreislauf. 


169 


hierauf  seine  eigenen  Versuche  und  Beobachtungen  (von 
S.  1/9  —  245)  mit,  die  alle  Aufmerksamkeit  verdienen. 
Nun  folgen  (I.  Abschnitt.)  allgemeine  Bemerkungen  über 
das  Blut  und  über  den  Bau,  die  Vertheilung  und  die  Uebcr- 
gänge  der  kleinsten  Arterien  und  Haargefäfse,  von  S.  245 
bis  259.  —  Erstes  Kapitel  (S.  259  —  266).  Uebergang 
der  Arterien  in  die  Venen.  Zweites  Kapitel  (  S.  266  —  271 ). 
Uebergang  der  Arterien  in  'die  Lymphgefäfse.  Drittes  Ka¬ 
pitel  (  S.  271  —  273).  Uebergang  der  Arterien  in  abson¬ 
dernde  Gefäfse.  Viertes  Kapitel  (S.  273  —  292).  Ueber¬ 
gang  der  Arterien  in  Vasa  serosa,  exbalantia  und  aushau¬ 
chende  Poren.  —  Zweiter  Abschnitt.  Ueber  die  Kräfte, 
vermöge  welcher  das  Blut  in  den  kleinsten  Arterien  und 
Haargefäfsen  bewegt  wird.  Erstes  Kapitel  (S.  292  —  324). 
Einflufs  des  Herzens  auf  den  Haargefäfs- Kreislauf.  Zweites 
Kapitel  (S.  324  —  344).  Die  Contractilität  der  kleinsten 
Arterien  und  Haargefäfse,  und  deren  Einflufs  auf  den  Kreis¬ 
lauf  des  Blutes. 

Die  dritte  Untersuchung  zerfällt  gleichfalls  in  zwei 
Abschnitte,  wovon  der  eine  die  physiologischen  (S.  345 
bis  381),  der  andere  die  pathologischen  (S.  381  —  419) 
Erscheinungen,  welche  für  die  von  mechanischen  Kräften 
unabhängige  Bewegung  des  Blutes  sprechen,  enthält. 

Die  vierte  Untersuchung  zerfällt  in  vier  Abschnitte. 
I.  Abschn.  Einflufs  der  Haarröhrchenkraft  auf  die  Erschei¬ 
nungen  der  Absorption  (S.  445  — -  458).  II.  Abschn.  Ein¬ 
flufs  der  Haarröhrchenkraft  auf  die  Erscheinungen  der  Ex- 
halation  (S.  458  —  472).  III.  Abschn.  Einflufs  der  Haar¬ 
röhrchenkraft  auf  die  Erscheinungen  der  Ernährung  und 
Absonderung  (S.  472  —  482).  IV.  Abschn,  Einflufs  auf 
die  Bewegung  des  Blutes  (S.  482  —  486). 

Wir  geben  nun  die  Resultate,  welche  der  Verf.  durch 
diese  vier  umfassenden  Untersuchungen  gewonnen  hat,  und 
die  er  selbst  zusammenstellt: 

1)  Je  mehr  die  gröfseren  Arterien  sich  zerasteln  und 
verfeinern,  desto  mehr  verfeinern  sich  auch  deren  Häute-, 


\ 


170  . 


IV.  Kreislauf. 


insbesondere  ihre  mittlere  Membran,  so  dals  sie  sieb  zuletzt 
in  den  einfachen  Zellstoff  verlieren  und  die  Haargefäfse  nur 
noch  durch  Furchen  oder  Canälchen,  welche  in  diesen 
Schleim-  oder  Zellstoff  eingegraben  sind,  gebildet  werden. 
Im  Uebergange  der  Haargefäfse  zu  den  'S  enen  verdichten 
sich  allniählig  wiederum  die  Wände  der  Blutströmchcn  eben 
so  zu  wirklichen  Membranen,  wie  auf  der  andern  Seite  die 
Membranen  der  Arterien  sich  allmählig  zu  einfachem  Zell¬ 
stoff  verfeinerten. 

2)  Der  Uebergang  des  Blutes  von  den  Arterien  zu 
den  Venen  geschieht  durch  unmittelbare  Ilaargcfäfs- Anasto- 
mose.  Ob  die  Arterien  auch  direete  Uebergange  zu  den 
Lymphgefäfsen  und  den  Ausführungsgängen  der  absondern¬ 
den  Organe  besitzen,  ist  weder  erwiesen,  noch  wahrschein¬ 
lich.  Höchst  wahrscheinlich  ist  es  dagegen,  wo  nicht  er¬ 
wiesen,  dafs  es  so  feine,  aus  den  arteriellen  Ilaargefüfsen 
entspringende,  zu  den  Venen  übergebende,  oder  als  aus¬ 
hauchende  Gefäfse  sich  verlierende  (seröse)  Canälchen  giebt, 
dafs  sie  permanent  oder  nur  temporär  keine  Kügelchen  mehr 
aufzunehmen  und  nur  Blutwasser  zu  führen  im  Stande  sind. 

3)  Je  mehr  die  Arterienstämme  sich  zu  Aesten,  Zwei¬ 
gen  und  Beiserchcn  zertheilen  und  verfeinern,  desto  mehr 
nimmt  die  Capacität  der  Summe  der  letztem  zu  der  der 
erstem  zu;  je  mehr  dagegen  die  Haarcaoälcben  sich  wie¬ 
derum  zu  stärkeren  Venenzvveigen ,  Aesten  und  Stämmen 
vereinigen,  desto  mehr  nimmt  die  Capacität  der  Summe 
der  Gefäfse  ab,  so  dafs  die  Summe  der  Haargefäfse  eine 
gröfsere  Capacität  besitzt,  als  diejenige  der  Arterien-  und 
Venenzweige- Aeste  oder  Stämme  zusammengenominen  ist. 
Die  Capacität  der  Venen  ist  ebenfalls  größer,  als  diejenige 
der  Arterien  zusammengenommen. 

4)  Das  Herz  ist  bei  weitem  die  wichtigste  Triebfeder 
der  Blutbew'egung  in  den  Haargefälsen  und  Venen,  und 
zw'ar  vorzugsweise  durch  seine  Stofskraft;  in  einem  gerin¬ 
geren  Grade  wird  diese  noch  unterstützt  durch  die  Saug¬ 
kraft  der  Vorhöfe. 


I\ .  Kreislauf. 


171 


Die  Exspiration  wirkt  auf  den  Riickflufs  des  Blutes 
aus  den  Hohladern  zum  Herzen  hemmend  ein,  indem  das 
Zusammensinken  der  Lungen  den  Forttrieb  und  die  Entlee¬ 
rung  des  Blutes  aus  dem  rechten  Herzen,  und  daher  dessen 
Saugkraft  erschwert  und  schwächt.  Die  Inspiration  wirkt 
dagegen  befördernd  auf  diesen  Vorgang  ein. 

5)  An  den  kleinsten  Arterien  sieht  man  im  ruhigen 
Zustande  des  Kreislaufs  unter  dem  Mikroscop  keine  andern 
Bewegungen  (weder  Erweiterungen  noch  Verengerungen), 
als  gewisse  Locomotionen,  namentlich  an  ihren  Winkeln 
und  Krümmungen.  In  den  Haargefäfsen  fallen  auch  diese 
Locomotionen  aus  begreiflichen  Gründen  weg,  und  nur  bei 
verstärktem  Blutandrange  und  Stockung  des  Blutes  sieht 
man  eine  Erweiterung  ihrer  Kanäle,  so  wie  gegentheils  bei 
grofsein  Blutverluste  eine  Verengerung  derselben. 

6)  Bei  kraftvoller,  völlig  ungestörter  Circulation ,  geht 
die  in  den  gröfseren  Arterien  noch  bemerkbare,  stofsweise 
verstärkte,  remittirende  Bewegung  des  Blutes  in  den  klei¬ 
neren  Arterien  und  Haargefälsen  immer  mehr  in  eine  con- 
tinuirliche  über,  indem  sich  der  stofsweise  Einflufs  des  Her¬ 
zens  auf  die  Blutsäule  in  den  zahlreicheren  kleineren  Ge- 
fäfsen  immer  mehr  verliert,  theils  wegen  zunehmender 
Capacität  ihrer  Canäle  zusammengenommen,  theils  wegen 
der  vielfachen  Reibungen  und  Hindernisse,  welche  das  Blut 
in  seinem  weiteren  Fortgänge  durch  die  vielfach  gekrümm¬ 
ten  und  zerästelten  Gefäfse  erleidet.  Nur  bei  gröfserem 
Blutmangel,  Schwäche  der  Herzbewegung  und  anderweiti¬ 
gen  Störungen  im  Forttriebe  des  Blules,  beobachtet  man 
auch  noch  in  den  kleinsten  Arterien  und  Haargefäfsen,  und 
selbst  noch  in  den  Anfängen  der  Venen  der  Thiere  über 
den  Fischen,  den  stofsweisen  Impuls  des  Herzens  auf  die 
Blutsäule. 

7)  In  den  Ilaarcanälchen  bemerkt  man  übrigens  durch 
mancherlei  eintretende  Störungen  und  Hemmungen  im  Fort¬ 
gange  des  Blutes  sehr  häufig  eine  sehr  ungleiche  Schnellig¬ 
keit  der  Blutkügelchen,  sowohl  in  einem  und  demselben 


172 


IV.  Kreislauf. 


Ilaargefäfs,  als  wenn  man  verschiedene  gleichartige  Ilaar- 
canälchen  zu  gleicher  Zeit  in  dieser  Hinsicht  mit  einander 
vergleicht.  Hieran  sind  schuld:  temporärer  und  partieller 
Druck,  welchen  die  einzelnen  Haarcanälchen  oder  die  ihnen 
entsprechenden  Arterien  und  Venen  erleiden;  temporär  ge¬ 
schwächte  Kraft  des  Herzens,  eintretende  Muskelbewegun¬ 
gen,  Blutmangel  u.  s.  w. 

8)  Die  Schnelligkeit  der  Blutbewegungen  ist  bei  nor¬ 
maler  kräftiger  Circulation  in  den  Arterien  gröfser,  als  in 
den  an  Capacität  sie  überwiegenden  Venen.  Am  langsam¬ 
sten  aber  ist  sie  in  den  Haarcanälchen,  thcils  wegen  ihrer 
gröfseren  Capacität,  theils  wegen  der  vielfachen  Reibungen 
und  Hemmungen,  welche  die  Kügelchen  im  Durchgänge 
durch  sie  erleiden. 

9)  Im  Allgemeinen  aber  ist  die  Schnelligkeit  des  Blut¬ 
laufs  in  den  Haargefäfsen  um  so  geringer,  je  schwächer  der 
Herzschlag  ist,  je  gröfser  der  Blutmangel,  je  feiner  die 
Haarcanälchen  und  je  entfernter  sie  vom  Herzen  sind,  je 
mehr  'Winkel  und  Biegungen  die  Gefäfscanäle  machen  (we¬ 
gen  der  dadurch  vermehrten  Reibung  und  Hemmung,  welche 
die  Blutkügelchen  in  ihrem  Fortgänge  erleiden),  und  je 
mehr  der  Riickflufs  durch  die  Venen  erschwert  ist. 

10)  Die  Blutkügelchen  bestehen  aus  einem  wahrschein¬ 
lich  Faserstoff  enthaltenden  Kern,  und  einem  diesen  Kern 
umgebenden,  Blutfarbestoff  und  Wasser  enthaltenden  Bläs¬ 
chen,  und  schwimmen  im  Blutw'asser,  mit  welchem  sie  ein 
mechanisches  Gemenge  bilden.  Im  Blute  von  Fieberkran¬ 
ken,  in  solchem,  welches,  in  Kuchen  und  Serum  geschie¬ 
den,  mehrere  Tage  gestanden  hat,  und  in  solchem  endlich, 
dem  Wasser  zugemischt  ist,  zerfallen  eine  Menge  Blutkü- 
gelchen,  ihr  Färbestoff  löst  sich  im  Blutwasser  auf  und 
färbt  dasselbe  dunkelroth. 

11)  D  ie  kleinsten  Arterien  gewinnen  im  directen  Ver¬ 
hältnisse  zu  ihrer  Zerästelung  und  zu  dem  allmähligen  Ver¬ 
schwinden  ihrer  mittleren  Haut  an  Nervenreichthum  und  au 
eigener  vitaler  Contractilität.  Indessen  äufsert  sich  diese 


173 


V.  Bildung  des  Eies. 

nibht  im  ruhigen  Zustande  der  Circulation,  sondern  nur 
auf  besondere  abnorme  (mechanische,  galvanische,  vitale  u. 
s.  w.)  Reize,  und  hat  auch  da,  wo  sie  in  Wirksamkeit 
tritt,  keinen  den  Blutflufs  befördernden,  vielmehr  einen 
denselben  hemmenden  Einflufs.  In  den  gefäfslosen  feinsten 
Blutcanälchen  fällt  alle  Contractiiität  weg,  und  auch  in  den 
Venen  beobachtet  man  keine  auf  Reizungen  erfolgende, 
den  Forttrieb  des  Blutes  befördernde  Contractiiität  oder 
Bewegung. 

12)  Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  der  Kreislauf  des  Blutes, 
zumal  in  den  Haarkanälchen ,  in  einigen  Thieren  ohne  Herz, 
bei  einigen  pathologischen  Zuständen  und  so  durch  eine 
gewisse  vitale  Anziehung  des  Blutes  zu  den  verschiedenen 
Organen  unterstützt  wird.  Nur  in  wenigen  herzlosen  Wür¬ 
mern  und  Insecten  vertritt  die  Contractiiität  der  Gefäfse 
die  Stelle  des  fehlenden  Herzens. 

13)  In  den  niedrigsten  Thieren,  in  den  Zoophyten, 
scheint  die  ganze  Bewegung  der  Säfte  vorzüglich,  ja  viel¬ 
leicht  allein  durch  die  Haarröhrchenkraft  bedingt  zu  wer¬ 
den,  so  wie  dieselbe  auch  von  grofsem,  unverkennbaren  Ein¬ 
flufs  auf  die  Vorgänge  der  Absorption,  Exhalation,  Ernäh¬ 
rung  und  Absonderung  höherer  Thiere  ist. 

■  r  '  mmmm  mmmm 


De  O  vi  mammalium  et  hominis  genesi,  epi- 
stolam  ad  Academiam  imperialem  scientiarum  Pe- 
tropolitanam  dedit  Carol.  Ernestus  a  Baer, 
Zool.  P.  P.  O.  Regiom.  Cum  Tab.  aenea.  Lipsiae, 
sumpt.  Leop.  Vossii.  MDCCCXXVII.  IV  und 
40  S.  (1  Thlr.  16  Gr.) 

In  der  Anrede  an  die  Mitglieder  der  Petersburger  Aca- 
demie  der  Wissenschaften  sagt  der  Verf.  (S.  II.),  dafs.  es 


174 


V.  Bildung  des  Eies. 

ihm  geglückt  sei,  die  ersten  Anfänge  der  Eier  der  Säuge- 
thicre  und  des  Menschen  in  dem  Eierstocke  zu  entdecken, 
welche  Jahrhunderte  hindurch  vergebens  gesucht  seien;  allein 
bereits  Home  hat  bei  dem  Menschen  ein  wirkliche*  Ei 
(nicht  Graafsche  Bläschen)  in  dem  Eierstocke  gleich  nach 
einem  Beischlafe  gefunden  ,  und  ich  seihst  habe  etwas  spä¬ 
ter  ')  nachgewiesen,  dafs  sich  diese  Eier  bereits  vor 
der  Befruchtung  in  den  Graafschen  Bläschen  bil¬ 
den,  und  zwar  war  ich  im  Stande  die  alimählige  Entwicke¬ 
lung  derselben  an  der,  aus  dem  Eierstocke  hervorragenden 
Wand  der  Graafschen  Bläschen  zu  beschreiben,  wie  ich 
sie  mit  unbewaffneten  Augen  bei  Kühen  wahrgenommen 
hatte.  Zwar  sagt  der  Yerf.  (S.  111.):  »«De  ovulis  a  vesi- 
culis  diversis  in  ovariis  obviis  vix  mentio  fit  ab  auctoribus, 
inter  quos  unum  tantum  inveni,  qui  ovula  vera  fortasse 
(nein,  wirklich  habe  ich  sie  gesehen!)  vidit,  sed  tarn  male 
descripsit  (!!!),  ut  ohservata  ejus  omnino  neglecta  sint.  ** 
Allein  .an  meiner  schlechten  Beschreibung  lag  es  nicht,  dals 
meine  Abhandlung  nicht  beachtet  wurde,  höchstens  konnte 
es  daran  liegen,  dafs  ich  versäumt  hatte,  Abbildungen  bei¬ 
zufügen,  welche  ich  deshalb  in  kurzem  in  jener  Zeitschrift 
nachliefern  werde,  wo  man  dann  wird  entscheiden  können, 
ob  ich  die  Baer  schen  Eier  wirklich  gesehen,  und  ob  ich 
sie  so  schlecht  beschrieben  habe,  wie  von  Baer  bemerkt. 
Zwar  setze  ich  keinen  persönlichen  W  erlh  auf  irgend  eine 
physiologische  Entdeckung,  allein  die  Geschichte  der  Wis¬ 
senschaft  will  ihr  Recht  haben. 

INun  zum  eigentlichen  Inhalte  der  Schrift.  Bei  der 
Beschreibung  eines  IIundes-Fülus  bemerkt  der  Yerf.,  dafs 
die  Flocken  des  Chorions  (welches  er  Rin  den  haut 
nennt)  keinesweges,  wenigstens  im  Anfänge,  aus  Gefäfsen, 
sondern,  wie  er  sich  durch  das  Mikroscop  überzeugt  hat, 
aus  Zellgewebe,  ohne  irgend  eine  Spur  von  Gefäfsen, 


1)  S.  Me  ekel ’s  Archiv  f.  d.  Phyiiol.  vom  Jahre  1822. 
Band  VH. 


V.  Bildung  des  Eies. 


175 


bestehen.  Die  innere,  an  der  Innern  Wand  mit  Körnchen 
besetzte  Eihaut  (Membrana  erythroidea  oder  Veslcula  um¬ 
bilicalis),  nennt  der  Verf.  Darmsack  (Saccus  intestinalis). 
Der  Embryo  glich  in  allen  Stücken  vollkommen  dem  Vogel- 
Embryo.  Das  aus  dem  Herzen  entspringende  arterielle 
Hauptgefäfs  theilte  sich  erst  in  vier  Bogen,  und  verei¬ 
nigte  sich  dann,  wie  bei  den  Fischen,  wieder  am  Rück- 
grath.  Aus  dem  vordersten  Bogen  ging  ein  Ast  nach  dem 
vorderen  Theile  des  Kopfes,  der  zweite  Bogen  gab  einen 
Ast  vor  der  Stelle  des  nachherigen  Ohres,  der  dritte  Bo¬ 
gen  einen  Ast  hinter  dieser  Stelle  ab;  der  erste  und  zweite 
Bogen  auf  beiden  Seiten  nahm  aus  einer  Art  von  Bulbus 
seinen  Ursprung.  Dieselbe  Bildung  des  Gefäfssystems 
hatte  der  Verf.  beim  Hühnchen  im  Eie  oft  beobachtet,  und 
schon  im  Sommer  1826,  bevor  Huschke  seine  Ent¬ 
deckungen  bekannt  machte,  theilte  er  seine  Wahrnehmun¬ 
gen  dem  Hrn.  Dr.  Rathke  mit,  wobei  er  äufserte,  dafs 
er  glaube,  dafs  die  Löcher,  welche  Rathke  beobachtet, 
ihre  Entstehung  der  Bildung  des  Gefäfssystems  verdanken, 
wovon  sich  der  Verf.  dann  auch  nachher  völlig  überzeugt 
hat  (s.  Isis  1825.  S.  747  und  1100).  Während  Hr.  v.  B. 
diese  Abhandlung  schrieb,  beobachtete  er  dieselbe  Gefäfs- 
bildung  in  sehr  zarten  Embryonen  der  Natter  und  der  ge¬ 
meinen  Eidechse;  von  den  Fröschen  und  Salamandern  war 
dies  längst  bekannt,  so  wie  dafs  allen  Wirbelthieren  im 
Embryonenzustande  eine  solche  Bildung  des  arteriellen  Ge¬ 
fäfssystems  eigen  ist.  —  Nach  den  Beobachtungen  des  Verf. 
entsteht  der  Fundus  des  D  armkan  als  nicht,  wie  Wolff 
glaubt,  durch  das  Zusammen  wachsen  zweier  Falten.  Es 
wachsen  zwar  allerdings  die  Falten  des  Gefäfsstratums  der 
Bildungshaut  (Plastoderma)  zusammen,  wodurch  das  Me¬ 
senterium  gebildet  wird  ,  d  ie  S  c h  1  e  i  m  h a  u  t  des  Darm¬ 
kana  1  s  aber  wird  daraus  hervorgetrieben,  und 
bildet  den  Boden  und  die  W ä n d e  des  Oarmka- 
nals,  welches  der  Verf.  an  einem  anderen  Orte  weiter 
auszuführen  verspricht.  (Auch  ich  habe,  bereits  vor  meh- 


176 


V.  Bildung  des  Eies. 

reren  Jahren,  dasselbe  beim  Küchelchen  im  bebrüteten  Eie 
wahrgenommen ,  dafs  nämlich  die  W  o  1  ffschen  Falten  nicht 
den  eigentlichen  Darmkanal  bilden,  sondern  nur  das  Mesen¬ 
terium  und  die  äufscre  seröse  Membran  des  Darmkanals, 
dafs  aber  der  eigentliche  Darmkanal  als  ein  gleich  von  An¬ 
fang  an  geschlossener  Canal  seinen  Ursprung  aus  der  Fovea 
cardiaca  (dem  nachherigen  Magen)  auf  die  Art  nimmt,  dafs 
sich  aus  dem  Fundus  derselben  ein  dünner,  anfangs  gera¬ 
der,  nachher  mannigfaltig  gewundener  Canal  bildet,  der 
sich  erst  in  einer  viel  späteren  Periode  in  der  (irgend  des 
nachherigen  Anus  öffnet.  Ref. )  —  Wo  der  Vcrf.  weiter¬ 
hin  von  den  Eierchen  in  dem  Eierstocke  der  Hün¬ 
din  spricht,  sagt  er,  dafs  man,  ohne  allen  Einschnitt  in 
das  G  raafsche  Bläschen,  beinahe  in  einem  jeden  derselben, 
schon  mit  blofscn  Augen,  einen  gelblichwcifsen  Punkt  un¬ 
terscheide,  welcher  frei  in  dem  Graafschen  Plüschen 
schwimme  (dies  habe  ich  nicht  beobachtet,  sondern  bei 
den  Kühen  safs  das  Eichen,  wenigstens  vor  der  Befruch¬ 
tung,  an  der  inneren  Wand  des  Graafschen  Bläschens 
fest.  I\ef.),  und  welchen  er  für  das  eigentliche  Ei  hält. 
Unter  dem  Mikroscope  zeigte  dasselbe  ein  undurchsichtiges, 
körniges  Centrum,  mit  einem  durchsichtigen  Kreise  umge¬ 
ben.  Das  eigentliche  Ei  ist  mit  einem  breiten  Limbus, 
gleich  dem  Ringe  des  Saturns ,  umgeben,  der  bei  stärkerer 
Vergröfscrung  als  aus  halbdurcbsichtigen  Körnchen  zusam¬ 
mengesetzt  erscheint,  und  fest  mit  dem  Eichen  zusamrnen- 
bängt.  Die  gröfseren  dieser  Lierchen  hatten  T\j  bis  einer 
Pariser  Linie  irn  Durchmesser,  die  kleineren,  deren  Centrum 
weniger  undurchsichtig  war,  hatten  kaum  YT5  einer  Linie 
im  Durchmesser.  Die  Gröfse  der  Eierchen  variirt  bei  den 
verschiedenen  Thiergattungen  sehr;  ziemlich  grofs  sind  sie 

bei  den  Schweinen,  Kühen  und  Schafen;  kleiner  bei  den 

# 

Kaninchen,  noch  kleiner,  als  bei  diesen,  bei  den  Hunden, 
und  sehr  klein,  nach  Verhältnifs  des  Eierstocks  und  des 
ganzen  Körpers,  hei  dem  Weibe.  Beim  Igel  sah  der  Yerf. 
die  gröfsten  Eichen,  sowohl  im  Yerhältnils  zu  den  Graaf¬ 
schen 


177 


V.  Bildung  des  Eies. 

4 

sehen  Bläschen,  als  zu  der  Gröfse  des  Thicres,  Auch  be¬ 
merkt  er,  dafs  er  einmal  bei  einer  Hündin  sehr  deutlich 
zwei  Eichen  in  einem  Graafschen  Bläschen  gesehen  habe, 
und  dafs  er  ein  andermal  bei  einer  Sau  ebenfalls  zwei  Eichen 
in  einem  Bläschen  glaubt  gesehen  zu  haben,  woraus  denn 
zu  erklären  wäre,  dafs  die  Zahl  der  Corpora  lutea  nicht 
immer  mit  der  Zahl  der  Eichen  übereinstimmt.  —  Bei 
der  Beschreibung  der  allmähligen  Entwickelung  des  Eichens 
in  dem  Graafschen  Bläschen  stellt  der  \erf.  die  Meinung 
auf,  dafs  das  Eichen  wahrscheinlich  schon  vor  dem  Graaf-' 
sehen  Bläschen  da  sei,  und  vergleicht  das  Eichen  der  Säuge- 
thiere  mit  dem  von  Purkinje  *)  beschriebenen  Bläschen 
in  den  Eierchen  des  Eierstockes  der  Vögel,  welches  Bläs¬ 
chen,  nach  unsers  Verf.  Beobachtungen,  bei  den  Mollusken, 
namentlich  bei  den  Acephalen  und  bei  den  Regenwürmern, 
der  Bildung  der  Eier  bestimmt  vorhergehe.  (Dieser  An¬ 
sicht  kann  ich  nicht  meine  Beistimmung  geben,  sondern  ich 
glaube  mit  hinlänglicher  Sicherheit,  nach  meinen  Beobach¬ 
tungen  an  den  Eierstöcken  gröfserer  Säugethiere,  nament¬ 
lich  der  Kühe,  annehmen  zu  dürfen,  dafs  bei  den  Säuge- 
thieren  erst  zur  Zeit  der  Pubertät  an  der  inneren  Wand 
der  innersten,  schleimhautähnlichen  Membran  des  Graaf¬ 
schen  Bläschens  die  Bildung  der  Eichen  vor  sich  gehe,  Ref.)  — • 
Am  Schlüsse  der  Abhandlung  sagt  der  Verf.,  dafs  das  Graaf- 
sche  Bläschen  das  wahre  Ei  der  Säugethiere  sei. 
(Im  Allgemeinen  stimmt  Ref.  mit  dieser  Ansicht  überein, 
allein  ganz  so,  wie  der  Verfasser  es  mij:  den  Graafschen 
Bläschen  nimmt,  ist  es  nicht,  denn  eigentlich  entspricht 
das  Graafsche  Bläschen  der  Säugethiere  nur  der  Ei- 


1)  J.  Er.  BlumenbacKio  summorum  in  mcdicina  ho- 
norum  sernisaecularia  gratulatur  ordo  medicorum  Vratislavien- 
siura,  interprete  Joanne  Ev.  Purkinje  P.  JP.  O.  Subjectae 
sunt  Symbolae  ad  ovi  avium  historiam  ante  incubationcrn ;  cum 
2  lilhographis.  Vratisl.  typis  univ.  (anno  1825  mense  Sept.  cd. ) 
Ist  nicht  in  den  Buchhandel  gekommen.  S.  Bd.  V.  II.  2.  S.  154  d.  A, 

•XIII.  Bd.  2.  St.  12 


/ 


178 


VI.  Syphilis. 

sch  aale  mit  der  Eiliaut  und  dem  Eiweifse,  die  Sch  aa¬ 
le  nhaut  mit  der  kalkigen  Sch  aale  entspricht  näm¬ 
lich  ganz  dem  Corpus  luteum  der  Säuget  hie  re, 
und  das  Eiweifs  ist  durchaus  analog  der  eiweifsartigen  Feuch¬ 
tigkeit,  welche  das  Graafsche  Bläschen  erfüllt.  Der  Dot¬ 
ter  aber  nebst  der  Cicatricula  des  Vogeleies  entspricht 
dem  eigentlichen,  von  mir  entdeckten  Säugethier -Eichen. 
Es  findet  blofs  zwischen  dem  Säugethier-  und  Vogel  -  Eichen 
der  Unterschied  statt,  dafs  das  eigentliche  Vogel -Eichen 
der  sogenannte  Dotter  mit  der  Cicatricula,  in  seinem  Bil- 
dungsbläschen  (dem  sogenannten  Weifsen  des  Eies)  einge¬ 
schlossen  aus  dem  mütterlichen  Schoofse  ausge^tofsen  wird, 
während  bei  den  Säugethieren  das  Bildungsbläschen  wäh¬ 
rend  oder  bald  nach  der  Befruchtung  berstet,  in  dem  Eier¬ 
stocke  zuriickbleibt,  und  nachher  als  Corpus  luteum  er¬ 
scheint.  Die  Stelle  des  Bildungsbläschens  vertritt  nachher 
hei  den  Säugethieren  die  Membrana  decidua  II unter! 
und  die  Placenta  uterina.  Bef.) 

Plagge. 


Beobachtung  einer  seltenen  Form  von  syphi¬ 
litischem  Allgcmeinleiden ; 

von 

einem  praktischen  Arzte. 


Wenn  aus  dem  langen  Verzeicbnifs  der  über  syphiliti¬ 
sche  Krankheitsformen  berausgekommenen  Schriften  auf  das 
Fortschreiten  der  Erkenntnifs  und  Behandlung  derselben 
geschlossen  werden  dürfte,  so  liefse  sich  annehmen,  dafs 
nur  weuige  Theile  des  ärztlichen  Wissens  sich  solcher  Vor- 


179 


YI.  Syphilis. 

theile  zu  erfreuen  haben.  Schon  die  Zahl  der  bis  aufGir- 
tanner  erschienenen  Druckschriften  rechtfertigt  diese  Be¬ 
hauptung,  aber  auch  nach  jener  Epoche  wurde  dieser  Theil 
der  medicinischen  Litteratur  am  fleifsigsten  bearbeitet,  wenn 
auch  oft  mehr  aus  Nebenabsichten,  als  um  die  Wissenschaft 
mit  neuen,  besseren  Ansichten  zu  bereichern. 

So  unverkennbar  aber  auch  die  Leistungen  hierin 
waren,  so  kann  dennoch  nicht  geleugnet  werden,  dafs  so 
manche  Forderungen  an  die  Wissenschaft  noch  geltend  ge¬ 
macht  werden  können,  indem  das  Wesen  der  Syphilis,  ihre 
verschiedenen  Modificationen  und  ihr  Verhalten  zum  Leben 
überhaupt,  weder  gründlich  genug  erfafst  ist,  noch  ihre 
Behandlung  sich  viel  über  die  Empirie  erhoben  hat.  Es 
wäre  überflüssig,  dies  mit  Beweisen  zu  belegen,  da  schon 
die  noch  gänzlich  unbekannte  Wirkungsart  des  Quecksilbers 
eben  s’o  sehr,  als  die  selbst  von  angesehenen  Aerzten  ange¬ 
nommene  Wirksamkeit  einer  Anzahl  empirischer  Mittel  hin¬ 
reichende  Bestätigung  hierüber  gewähren. 

Die  völlig  von  einander  abweichenden  Meinungen  der 
erfahrensten  Aerzte  über  den  Vorzug  einzelner  Quecksilber¬ 
bereitungen,  oder  Methoden  ihi^er  Anwendungen,  vor  an¬ 
deren,  stimmen  ebenfalls  hiermit  überein. 

Wir  müssen  daher  fortfahren,  um  auf  dem  einzig 
sichern  Wege  der  Erfahrung  die  Heilmethode  der  Syphilis 
zu  berichtigen,  sowohl  den  Gang  dieser  Krankheit  genauer 
zu  erforschen,  als  die  Resultate  der  verschiedenen  Behand¬ 
lungsarten  gegen  einander  zu  vergleichen.  Es  mufs  uns 
daher  immer  noch  jeder  Beitrag,  der  niedergelegte  Erfah¬ 
rungen  bestätigen,  oder  widerlegen  könnte,  sehr  willkom¬ 
men  sein ,  durch  welchen  wir  uns  der  Vervollkommnung 
der  Behandlungsart  immer  mehr  nähern.  Folgende  interes¬ 
sante,  nach  der  strengsten  Wahrheit  erzählte  Krankenge¬ 
schichte  einer  syphilitischen  Ansteckung  auf  indirectem  Wege, 
dürfte  als  Warnung  dienen,  die  eintretende  Ansteckung  nicht 
zu  übersehen,  oder  es  zu  leicht  damit  zu  nehmen,  was  bei 
der  indirecten  eher  möglich  ist,  auch  im  Fortgange  der 

12  * 


I 


180  VI.  Syphilis. 

Krankheit,  wo  dringendere  Erscheinungen  jeden  Zweifel 
über  ihre  Natur  widerlegen,  nicht  erst  spät  das  vergeblich 
tu  thun,  was  früher  mit  Erfolg  hätte  unternommen  wer¬ 
den  können. 

Ein  sehr  geschätzter  Arzt  und  Geburtshelfer,  dem  in 
letzter  Eigenschaft  die  Vorsorge  der  öffentlichen  Anstalten 
einer  bedeutenden  Stadt  anvertrauet  war,  zog  sich  in  »len 
letzten  Tagen  des  Septembers  im  Jahre  1820,  beim  eiligen 
Eröffnen  einer  Thür,  eine  V  erletzung  des  vordersten  Ge¬ 
lenkes  des  vierten  Fingers  zu.  Die  Wunde  blutete  zwar 
ein  wenig,  war  aber  im  Ganzen  unbedeutend,  wurde  daher 
nicht  berücksichtigt,  endlich  völlig  aufser  Acht  gelassen. 

Viele  Krankenbesuche,  mehrere  schwere  Entbindungen, 
wozu  auch  die  Nächte  bei  rauher  Herbstwitterung  verwandt 
werden  mufsten,  hatten  ihn  abwechselnd  der  Erhitzung  und 
Erkältung  ebensowohl  ausgesetzt,  als  seine  Kräfte  herun¬ 
tergebracht,  so  dafs  er  unbedingt  diesen  Ursachen  es  zu¬ 
schrieb,  als  er  sich  in  der  Mitte  des  Octobcrs  unwohl  fühlte. 
Schwere  in  den  Gliedern,  schlaflose,  unruhige  Nächte, 
Mangel  an  Efslust,  fieberhafte  Erscheinungen  waren  »lie  vor¬ 
herrschenden  Zufälle,  wozu  ein  Spannen  in  der  rechten 
Achselhöhle  sich  gesellte,  das  sich  allmählig  vermehrte  und 
mit  dem  Anlaufen  der  Achseldrüsen  in  V  erbindung  stand. 

Am  18.  October  empfand  »1er  Kranke  zum  erstenmal 
gegen  Abend  eine  Steifheit  des  Rückens,  die  ihm  selbst  das 
Aufstehen  vom  Stuhle  erschwerte;  dessenungeachtet  konnte 
er  sich  nicht  entschliefsen ,  die  Krankenbesuche  zu  beschrän¬ 
ken  ,  es  wurden  sogar  bis  zum  21sten  dieses  Monats  noch 
drei  Entbindungen  verrichtet.  Alsdann  aber  mufste  er  sich 
zu  Bette  legen,  und  w*?il  man  das  Uebel  nur  für  rheuma¬ 
tisch  hielt,  wurden  ihm  lediglich  kühlende,  die  Ilautwege 
eröffnende  Mittel  entgegengesetzt.  x 

Man  sah  aber  bald  ein,  dafs  er  sich  hierin  irrte;  die 
Transpiration,  die  man  beabsichtigte,  trat  zwar  ein,  artete 
aber  in  den  Morgenstunden  in  profusen  Schweifs  aus;  das 
Uebelbefiuden  nahm  hierbei  nicht  nur  nicht  ab,  vielmehr 


181 


VI.  Syphilis. 

verstärkte  es  sich  dadurch,  dafs  Brustbeklemmung,  anhal¬ 
tender,  heftiger  Husten  und  Anschwellen  des  Halses  sich 
ein  fanden.  - 

Jetzt  erst  erwachte  der  Verdacht  hei  dem  Kranken, 
dafs  nicht  blofse  rheumatische  Ursache  zuin  Grunde  liegen 
möchte,  eine  andere  nicht  beachtete  es  sein  dürfte.  Die 
zunehmende  Geschwulst  der  Achseldrüsen ,  das  Anlaufen  der 
Halsdrüsen,  zwar  ohne  dafs  im  Halse  entzündliche  Rothe 
zu  bemerken  war,  die  ungewöhnliche  traurige  Stimmung 
des  Kranken,  sein  Wankelmuth  und  seine  Unentschlossen¬ 
heit,  betätigten  die  Vermut!)  ung  eines  tiefer  liegenden,  un¬ 
bekannten  Uebels. 

Das  Nachsinnen  über  Schädlichkeiten,  die  diesen  kläg¬ 
lichen  Zustand  herbeigeführt  haben  konnten,  brachte  dem 
Kranken  die  Untersuchung  einer  der  Schwangerschaft  ver¬ 
dächtigen  Weibsperson  in  Erinnerung,  die  er  ungefähr 
drei  Wochen  vorher  vornahm,  gerade  um  die  Zeit  wo  er 
sich  am  Finger  verwendete,  bei  welcher  sich  unzweideutige 
Spuren  syphilitischer  Ansteckung  vorfanden.  Die  Wunde 
war  schon  nicht  mehr  schmerzhaft,  als  er  die  Untersuchung 
verrichtete,  er  legte  also  kein  Gewicht  darauf,  jedoch  un- 
terliefs  er  nicht,  sich  nachher  zu  waschen,  blieb  übrigens 
um  die  Folgen  unbekümmert,  wie  das  in  einem  mit  vielen 
Zerstreuungen  verbundenen  praktischen  Leben  nicht  selten 
geschieht. 

Jetzt  dachte  er  ernsthaft  an  die  Möglichkeit  einer  er¬ 
folgten  Absteckung;  der  Finger  wurde  nun  erst  sorgfältig 
untersucht,  der  schon  längst  ohne  alle  schmerzhafte  Em¬ 
pfindung  war,  ein  gelbbrauner  Schorf  bedeckte  nur  noch 
die  schlecht  verheilte  sehr  geringe  Wunde,  die  mit  der 
Loupe  beobachtet  blofs  eine  röthere  Farbe,  aber  keine  Spur 
von  Substanzverlust  durch  \  ereiterung  merken  liefs.  Durch 
Pressen  des  Fingers  zeigte  sich  keine  Empfindlichkeit  dieses 
Theiles,  wie  es  ein  im  mindesten  gereizter  Zustand  dessel¬ 
ben  hätte  erwarten  lassen.  Der  Kranke  mufste  nun  seinen 
Irrthum  einsehen  und  bekennen,  dafs  die  Unbedeutenheit 


j  8*2  \  I.  Syphilis. 

der  Verletzung  ihn  Hie  *  Ansteckung  auf  indirectem  Wege 
übersehen  liefs.  Mehrere  Aerzte,  Hie  ihn  als  Freunde  be¬ 
suchten,  theilten  seine  Besorgnifs,  und  wenn  andere  es  nicht 
t baten,  so  konnte  sie  nur  die  Rücksicht  auf  die  Ruhe  des 
Kranken  dazu  bestimmen,  indem  alle  in  Ansehung  der  Be¬ 
handlung  die  Ansteckung  im  Auge  hatten. 

Unterdessen  ging  alles  täglich  schlimmer,  die  erwähn¬ 
ten  Erscheinungen  liefsen  nicht  nach,  dazu  traten  noch 
fieberhafte  Zufälle,  Frost  und  Hitze  wechselten,  im  Halse 
stellten  sich  heftige  Schmerzen  ein,  die  Achseldrüse  nahm 
an  Gröfe  sehr  zu,  erreichte  die  Gröfse  einer  Faust,  blieb 
sich  aber  lange  gleich,  so  sehr  auch  Versuche,  sie  in  Ent¬ 
zündung  und  Eiterung  zu  bringen,  wiederholt  wurden. 
Das  Uebel  liefs  nun  durch  mehrere  Erscheinungen  seine 
Zunahme  und  seine  Natur  aufs  Unzweideutigste  merken; 
der  unglückliche  Kranke,  so  wenig  sein  Gemüthszustand 
ihm  Geistesruhe  zur  Selbstbehandlung  übrig  liefs,  wählte 
ohne  andere  darum  zu  befragen,  zum  innerlichen  Gebrauche 
den  Calomel,  den  er  auch  äufserüch  in  einer  Salbe  auf  die 
drüsige  N  erbärtung  oft  eint  eiben  liefs.  Ueher  die  syphiliti¬ 
sche  Natur  des  Uebels  waren  auch  alle  ärztliche  Freunde, 
die  den  Kranken  besuchten,  einverstanden,  nur  war  man 
über  die  Anwendung  des  Quecksilbers,  wie  dies  oft  der 
Fall  ist,  nicht  von  gleicher  Ansicht.  Einer  derselben  rieth, 
den  Finger,  so  spurlos  von  Verletzung  er  auch  war,  einer 
chirurgischen  Behandlung  zu  unterwerfen.  Der  anhaltende 
Gebrauch  warmer,  erweichender  Umschläge  loste  die  Kruste, 
die  die  Wunde  des  Fingers  bedeckte,  los,  unter  welcher 
durchaus  nichts  Gescliwüriges  zu  sehen  war;  es  erschienen 
aber  am  kranken  Finger,  so  wie  auch  am  nächsten,  meh¬ 
rere  kleine  Pusteln  von  weniger  Bedeutung,  die  einige 
Wochen  stehen  blieben. 

Nach  achttägiger  Anwendung  des  Calomels  innerlich, 
und  als  Salbe,  verminderten  sich  die  Zufälle  einigermaafsen, 
die  Geschwulst  der  Achseldrüs«  wurde  kleiner,  die  traurige 


183 


VI.  Syphilis. 

Stimmung  fies  Gemüths  und  die  Zerschlagenheit  in  den 
Gliedern  blieben  sich  aber  gleich.  Auch  war  der  anhal¬ 
tende,  entkräftende  Schweifs  über  den  ganzen  Körper  sehr 
lästig,  der  das  Gesicht  am  stärksten  befiel,  mit  dem  ein 
kupferfarbener  Ausschlag,  der  bei  Syphilitischen  so  oft  vor- 
kommt,  zum  Vorschein  kam. 

Der  Kranke  schien  sich  seiner  Genesung  in  etwas  zu 
nähern,  der  Gebrauch  warmer  Bäder  schien  vortheilhaft  zu 
wirken,  indem  Efslust  und  Schlaf  sich  merklich  besserten, 
der  Ausschlag  sich  verlor.  Der  Kranke  überliels  sich  ganz 
der  Hoffnung  der  Reconvalescenz ,  nur  aus  Vorsicht  wurde 
noch  mit  dem  Calomel  innerlich  und  äufserlich  fortgeläh- 
ren.  Es  verdient  hier  bemerkt  zu  werden,  dafs  der  Kranke 
immer  eine  vollkommene  Gesundheit  genols,  weder  in  sei¬ 
ner  Jugend  an  Scropheln  oder  sonst  woran  gelitten  hatte, 
noch  später  an  Syphilis  oder  andern  krankhaften  Zufällen. 

Nachdem  fünf  bis  sechs  Wochen  in  der  angegebenen 
Kränklichkeit,  bei  sehr  magerer  Kost,  zugebracht  waren, 
fühlte  sich  der  Kranke  kräftig  genug,  um  sich  wieder  in 
die  Luft,  wonach  er  sehnliches  Verlangen  hatte,  zu  wagen, 
wozu  ihm  die  milde  Witterung  in  den  ersten  Tagen  des 
Decembers  aufforderte;  dabei  wurde  dennoch  der  Calomel 
fortgebraucht,  ohne  dafs  eine  Spur  von  Salivation  sich 
zeigte.  Er  fing  nun  sogar  wieder  an  Krankenbesuche  zu 
machen;  er  glaubte,  bei  zunehmenden  Kräften,  Eislust  und 
Schlaf  nichts  mehr  zu  befürchten  zu  haben. 

In  der  Mitte  des  Decembers,  bei  eingetretener  Kälte, 
stellte  sich  Schmerz  in  beiden  Schienbeinen  ein,  etwas  Buhe 
und  Wärme  waren  hinreichend,  das  Uebel  zu  stillen.  In 
den  letzten  Tagen  dieses  Monats  erneuerten  sich  diese 
Schmerzen  mit  vermehrter  Stärke,  wurden  unter  der  Wade 
besonders  lästig  empfunden,  wogegen  die  Anwendung  war¬ 
mer  Bäder  nichts  vermochte.  Auch  kamen  auf  den  Schul¬ 
tern,  am  Bücken,  an  den  Armen  wieder  Pusteln  zum  Vor¬ 
schein;  dieser  Ausschlag  dauerte  nur  kurze  Z.eit,  er  ver- 


V 


1S4  VI.  Syphilis. 

schwand  so  schnell  als  er  erschien.  Die  Schmerzen  hielten 
aber  an,  denen  das  Quecksilber  fortwährend  entgegenge¬ 
setzt  wurde. 

ln  der  ersten  Hälfte  des  Januars  1821  vermehrte  sich 
der  Schmerz  in  der  rechten  Wade,  an  welcher  Stelle  eine 
harte  Geschwulst  von  der  Grofse  einer  Kastanie  fühlbar 
wa r,  an  der  keine  Spur  vou  Entzündung  entdeckt  werden 
konnte.  Dabei  war  der  Kranke  sehr  leidend,  seine  Nerven 
waren  sehr  angegriffen  ,  von  den  Lenden  bis  an  die  Knö¬ 
chel  wütheten  Schmerzen,  die  alle  llnhe  raubten,  beinahe 
sechs  Wochen  lang  wurden  alle  Nächte  schlaflos  zuge- 
bravht,  wobei  der  Kranke  die  Remerküffg  machte,  dafs 
beim  Untergang  der  Sonne  und  um  Mitternacht  der  Schmerz 
am  meisten  tobte.  Um  diese  Zeit  wurde  von  Arzneien 
wenig  gebraucht,  nur  um  die  Heftigkeit  der  Schmerzen 
zu  mäfsigen,  wurde  bisweilen  die  Opium -Tinctur  ange¬ 
wandt.  Die  schmerzhafte  Stelle  an  der  Wade  wurde  mit 
Cataplasmen  bedeckt,  nach  deren  achttägigem  Gebrauche 
sich  in  der  Tiefe  eine  Fluctuation  etwas  undeutlich  wahr¬ 
nehmen  lief».  Auch  war  die  Stelle  wärmer  anzufühien,  • 
rüthete  sich  einigermaafsen  und  nahm  an  Umfang  zu,  es 
wollte  sich  aber  kein  Eiterpunkt  zeigen.  Der  langsame 
Gang  der  Entzündung  bestimmte  die  Aerzte,  den  Aetzstein 
zum  Oeffnen  des  Geschwürs  anzuwenden,  nach  dessen  Ge¬ 
brauch  von  zehn  Tagen  der  Schorf  sich  löste;  es  lief  eine 
dünne,  geruchlose,  blutige  Jauche  aus,  der  nach  wenigen 
Tagen  verdorbener  Zellstoff  in  der  Form  eines  Dochts  nach¬ 
folgte.  Die  Wunde,  die  ziemlich  rein  von  Ansehn  war, 
wurde  nun  einfach  behandelt,  sie  eiterte  etwas  stärker,  je¬ 
doch  war  der  Eiter  dünn,  oft  mifsfarbig.  Am  Rande  der 
Wunde  befand  sich  ein  kleiner  Anhang,  der  weniger  eiterte, 
sich  tiefer  in  die  Muskeln  senkte. 

Durch  das  Oeffnen  des  Furunkels  war  das  Befinden 
des  Kranken  in  nichts  gebessert,  die  W  unde  blieb  fortwäh¬ 
rend  schmerzhaft  und  entzündet;  Efslust,  Schlaf,  waren  ge¬ 
ring;  der  Kranke  klagte  über  Niedergeschlagenheit,  Schmer- 


I 


185 


VI.  Syphilis. 

zen  in  den  Gliedern;  er  magerte  hei  andauerndem  Fieber 
ab.  Man  nahm  nun  wieder  zu  den  Bädern  seine  Zuflucht, 
die  einige  Erleichterung  zu  bringen  schienen;  der  Calomel 
wurde  aber  nur  zu  einem  Gran  des  Tages  vier  Wochen 
lang  fortgebraucht,  ungeachtet  dieses  Mittel  schon  im  An¬ 
fänge  der  Krankheit  sechs  Wochen  lang  in  derselben  klei¬ 
nen  Gabe,  selbst  in  Verbindung  der  Einreibungen  dessel¬ 
ben,  ohne  gründliche  Heilung  fortgesetzt  worden  w^ar. 

Nach  dem  siebzehnten  Bade  entzündete  sich  die  Wunde 
rosenartig,  ihre  Ränder  erhoben  sich,  die  Schmerzen  wur¬ 
den  unerträglich.  Zu  diesen  traurigen  Erscheinungen  ge¬ 
sellte  sich  eine  andere  nicht  geringere,  ein  Stück  der  Achil¬ 
les-Sehne  zeigte  sich  entblöfst,  der  Schmerz  daran  war 
"  unaussprechlich,  besonders  beim  Auftreten,  durch  ruhige 
Lage  schien  sich  dieselbe  aber  wieder  zu  verheilen. 

Da  man  nun  erst  anfing  die  Unzulänglichkeit  des  Calo- 
mels  einzusehen,  so  wandte  man  sich  zum  Gebrauch  des 
Sublimats,  täglich  zu  einem  Gran  in  vier  Unzen  Wasser, 
womit  am  ersten  April  der  Anfang  gemacht  wurde.  Acht 
Tage  lang  ertrug  der  Kranke  die  Wirkung  dieses  Mittels, 
nachher  aber  schienen  seine  Nerven  dadurch  zu  leiden.  Er, 
der  vom  festesten  Charakter  war,  fing  nun  an  bei  der  ge¬ 
ringsten  Rührung  zu  weinen;  auch  stellten  sich  Leibschmer¬ 
zen  mit  Durchfall  ein,  die  Efslust  verminderte  sich,  man 
wurde  genöthigt  davon  abzustehen. 

Der  Zustand  des  Leidenden  wurde  nun  zusehends  be- 
dauernsw'erther ,  die  Schmerzen  in  der  Wunde  und  in  den 
Knochen  waren  des  Nachts  unbeschreiblich  grofs,  die  ab¬ 
gemagerten  Glieder  ertrugen  das  Sitzen  und  Liegen  nicht 
ohne  das  unangenehmste  Gefühl;  das  ununterbrochene  Fie¬ 
ber,  das  gegen  Abend  zunahm,  die  traurige  Gemiithsstim- 
mung  trugen  dazu  bei,  den  Kranken  bis  zur  äufsersten 
Verzweiflung  zu  bringen.  Ueberdies  stellte  sich  ein  hefti¬ 
ger  Husten  mit  beschwerlicher  Trockenheit  des  Halses  ein, 
wobei  nicht  selten  feste  Schleimpfröpfe  von  grauer  Farbe 
mit  einiger  Erleichterung  ausgeworfeu  wurdeu.  Der  nutz- 


180 


VI,  Syphilis. 

lose  Gehrauch  der  Mercurialien  in  kleinen  Gaben  wurde 
nunmehr  aus  Ungeduld  verlassen,  an  deren  Stelle,  um  dein 
Fieber  und  der  gänzlichen  Entkräftung  abzuhelfen,  die  Fic- 
berrinde  an  die  Reihe  kam.  Mit  einem  Absud  derselben 
wurde  vierzehn  Tage  fortgefahren.  Das  Uebcl  veränderte 
sich  nur  wenig;  das  Befinden  im  Allgemeinen  schien  sich 
etwas  zu  bessern.  Der  Monat  Mai,  auf  den  man  hoffte, 
brachte  keine  Besserung;  man  schlug  daher  neue  Mittel  vor. 
D  ie  Wahl  fiel  nun  auf  ein  rein  empirisches,  auf  das  De¬ 
coctum  Pollini,  das,  da  es  keinen  Mercur  enthält,  als  un¬ 
schuldig,  und  der  Erfahrung  nach  als  wirksam  angesehen 
wurde.  In  einer  Zeit  von  fünf  Wochen  verbrauchte  der 
Kranke  34  Flaschen  von  diesem  nur  von  Empirikern  em¬ 
pfohlenen  Mittel,  ohne  dafs  er  ihm  viel  zutraute,  und  ohne 
allen  Nutzen. 

Um  diese  Zeit  war  die  Wunde  von  der  Gröfse  eines 
grofsen  Thalers,  bildete  ein  höchst  unreines  Geschwür  mit 
aufgeworfenen,  höckerigen,  entzündeten  Rändern,  das  den 
Verdacht  seines  Ursprungs  vollkommen  bestätigte.  Die 
W  unde  wurde  indessen  fortwährend  mit  manchen  äufser- 
lichen  Mitteln  behandelt,  unter  andern  mit  Sublimatauflö¬ 
sung,  Sabina,  Borax  u.  dergl.,  alles  aber  ohne  Nutzen. 

Schon  waren  es  sechs  Monate,  die  elend  zugebracht 
wurden;  die  Kräfte  nahmen  immer  mehr  ab,  der  Körper, 
mehr  die  unteren  Extremitäten,  waren  äufserst  abgezehrt. 
Der  Kranke  sah  leider  nur  erst  spät  ein,  dafs  ohne  zweck- 
mäfsigeren  Gebrauch  von  Mercurialien  an  gründliche  Hei¬ 
lung  nicht  zu  denken  sei,  nur  war  er  über  die  Art  ihrer 
Anwendung  mit  sich  nicht  im  Reinen.  Die  Suhlimatsalbe 
nach  Cirillö  in  die  Fufssohlen  einzureiben,  in  Verbindung* 
stärkender  Mittel  und  einer  ihnen  entsprechenden  Diät, 
wurde  nun  zu  brauchen  beschlossen.  Diese  Salbe  erregte 
rothlaufartige  Entzündung  und  Geschwulst  der  Füfse,  sie 
wirkte  zu  sehr  auf  des  Kranken  sehr  reizbare  Haut,  sie 
wurde  daher  milder  bereitet,  die  Entzündung  verlor  sich, 
die  Geschwulst  aber  nicht.  So  wurden  zwei  Unzen  Salbe 


\I.  Syphilis.  J  87 

ohne  allen  Nutzen  verbraucht,  die  Wunde  blieb  sich  gleich 
und  verbreitete  einen  weit  stärkeren  Übeln  Geruch  als  frü¬ 
her.  Nachdem  alles  bisher  Geschehene  fruchtlos  sich  bewie¬ 
sen,  verfiel  man  auf  den  Gebrauch  der  Ilungercur,  oder 
der  ehemaligen  Schmiercur,  indem  der  Mangel  an  Efslust 
meist  dabei  das  Hungern  bedingte. 

Am  21.  Juli  wurde  nach  Rust’s  Vorschrift  mit  den 
Frictionen  der  Anfang  gemacht,  die  Diät  danach  einge¬ 
richtet;  man  stieg  mit  der  Salbe  von  einer  Drachme  bis  zu 
anderthalb  Drachmen,  und  dann  zu  zwei.  Schon  am  fünf¬ 
ten  Tage  verminderten  sich  die  Schmerzen  der  Wunde  und 
der  iibele  Geruch,  am  zwölften  stellte  sich  Salivation  ein, 
die  vierzig  Tage  dauerte,  und  dem  Kranken  höchst  lästig 
fiel.  D  ie  Heilung  des  Geschwürs  machte  nur  langsame  Fort¬ 
schritte,  es  trocknete  mehr  in  der  Mitte  und  trennte  sich 
in  drei  Theile,  die  eiterten,  sich  vom  inneren  Rande  der 
Wade  um  das  Bein  bis  zur  Fibula  erstreckten ,  wovon  die 
innerste,  gröfste,  am  meisten  verwahrlosete  demnach  sich 
am  ersten  schlofs,  hierauf  die  unterste  in  der  Nähe  des 
Wadenbeins,  beide  verheilten  so  gut,  dafs  sie  nichts  zu 
wünschen  übrig  liefsen.  Nur  die  dritte,  obere  wollte  sich 
nicht  fügen,  ein  Stückchen  Haut,  ungefähr  drei  Linien 
breit,  begränzte  den  Rand  nach  innen  und  oben.  Dieses 
war  zwar  nicht  abgestorben,  und  konnte  sich  noch  anlegen. 
Fs  wurden  daher  Bourdonnets  mit  Sublimatwasser  befeuch¬ 
tet  untergeschoben,  um  die  Stelle  zu  reizen;  dies  gelang, 
das  lose  Stück  heilte  an,  und  so  schlofs  sich  die  letzte 
Wunde.  Es  blieb  aber  noch  eine  Wulst  mit  Röthe  und 
Spannung  zurück,  von  denen  die  Hoffnung  gehegt  wurde, 
dafs  sie  sich  verlieren  würden. 

Durch  die  lange,  erschöpfende  Salivation  und  Enthal¬ 
tung  von  Nahrungsmitteln  im  höchsten  Grade  von  Kräften 
gebracht,  reiste  der  Kranke  in  die  Bäder  zu  Wiesbaden, 
und  zwar  weniger  in  der  Absicht  davon  Gebrauch  zu  ma¬ 
chen,  als  um  da  mehr  Ruhe  zu  geniefsen ,  dem  Andrang, 
vieler  Besuchenden  zu  entgehen.  An  diesem  Orte  wurden 


188 


\I.  Syphilis. 

zehn  Tage  ziemlich  gut  zugebracht,  es  wurden  kleine 
Spaziergänge  gemacht,  obschon  nicht  ohne  Spannen  und 
Schmerz  im  kranken  Fufse. 

Nach  einem  Aufenthalte  von  elf  Tagen  in  \\  iesbadcn, 
bemerkte  der  Kranke  ein  Knötchen,  von  der  Gröfse  einer 
Bohne,  an  der  zuletzt  geheilten  Stelle,  das  an  der  übrigens 
festen  Vernarbung  ansafs.  Der  Kranke  ängstigte  sich  des¬ 
halb,  die  Folge  rechtfertigte  seine  Furcht;  nach  wenigen 
Tagen  öffnete  sich  dasselbe,  die  Oeffnung  vergröfserte  sich 
bald,  bekam  einen  unreinen  Grund,  die  Bänder  entzünde¬ 
ten  sich,  der  Schmerz  daran  wurde  heftig.  Die  Kost  wurde 
nun  wieder  heruntergesetzt,  es  wurde  in  der  Nähe  der 
Wunde  eine  Fontanelle  gesetzt,  zum  innerlichen  Gebrauch 
wurde  Plenk’s  Mercurius  gummosus  gewählt,  den  man  bis 
zur  anfangenden  Salivation  fortzusetzen  beschlofs.  Der  her- 
anrückende  Spätherbst  bestimmte  den  Kranken  ,  den  Bade- 
ort  zu  verlassen.  Zu  Hause  angekommen,  verschlimmerte 
sich  die  Wunde,  man  griff  nun  wieder  zum  Calomel,  der 
bei  magerer  Diät  angewandt  wurde.  Die  Bänder  zeigten 
sich  eallös,  aufgeworfen,  der  Gestank  des  Geschwürs  wurde 
unerträglich. 

Die  offenbare  Verschlimmerung  unter  der  jetzigen  Be¬ 
handlung  liefs  den  Beschlufs  fassen ,  davon  abzustehen,  um 
einen  nochmaligen  Versuch  mit  der  Ilungercur  zu  machen, 
womit  am  13.  November  des  Jahres  1821  der  Anfang 
gemacht  wurde.  Dieselbe  wurde  unter  augenscheinlicher 
Abnahme  der  Kräfte  durchgeführt,  die  Wunde  behauptete 
fortwährend  ihren  bösartigen  Charakter,  nach  Verlauf  von 
vier  Wochen  aber,  während  welcher  sie  mit  Cataplasmen 
behandelt  wurde,  zeigte  sie  anfangende  Heilung. 

Der  Zustand  von  Entkräftung,  der  nun  eintrat,  über¬ 
traf  jede  Beschreibung,  der  Magen  nahm  keine  Nahrungs¬ 
mittel  mehr  an,  nur  wenige,  kräftige,  leichtverdauliche 
durften  genommen  werden.  Bei  dieser  Diät  schien  er  sieb 
wieder  zu  erholen,  die  Kräfte  nahmen  zu,  so  dafs  er  um 
Weihnachten  sich  im  Stande  fühlte  im  Bette  aufrecht  zu 


189 


VI.  Syphilis. 


sitzen,  was  ihm  bis  dahin  nicht  möglich  war.  Schlaf, 
Efslust  und  Munterkeit  traten'  wieder  ein.  Dessenun<re- 

*  o 

achtet  hörte  die  Wunde  nicht  auf  zu  schmerzen,  es  stell¬ 
ten  sich  Knochenauftreibungen  an  den  Extremitäten  ein, 
die  sich  zu  entzünden  und  schmerzhaft  zu  werden  anfingen, 
bei  einfacher  Behandlung  aber  ruhig  blieben. 

Im  Februar  des  Jahres  1822  schritt  man  zum  Gebrauch 
von  Schwefelbädern,  die  um  den  andern  Tag  genommen 
wurden,  ungeachtet  der  hohe  Grad  von  Schwäche  den 
Kranken  nöthigte,  sich  in  das  Bad  hinein-  und  herausheben 
zu  lassen.  Mehrere  solcher  Bäder,  verbunden  mit  einer 
stärkenden  Behandlung,  brachten  auffallende  Besserung  her¬ 
vor,  woran  die  eingetretene  warme  Jahreszeit  gewifs  nicht 
geringen  Antheil  hatte,  so  dafs  der  Kranke  anfangen  konnte 
sich  auf  seine  Füfse  zu  wagen  und  herumzugehen. 

Den  18.  Juli  bezog  er  einen  Landaufenthalt;  die  bes- 

°  *  'i 

sere  Luft  und  die  grofse  Wärme  dieses  Sommers  wirkten 
wohlthätig.  Es  blieb  aber  ein  Uebel  zurück,  das  ihm 
zusetzte,  dies  bestand  in  dem  Halsschmerz,  der  mit  den 
zunehmenden  Kräften  durch  gesteigerte  Entzündung  sich 
vermehrte.  Die  Empfindung  der  Trockenheit,  die  so  lästig 
bisher  war,  wurde  unerträglich;  der  Hals  war  inwendig 
rosenartig  entzündet,  es  wurden  häufig  verhärtete  Schleim¬ 
pfropfen  mit  vieler  Anstrengung  abgesondert  und  ausgewor- 
feij,  die  mit  Gurgeln  von  lauem  Wasser  oft  weggespült 
werden  mufsten. 

Nach  einem  Aufenthalte  von  zwei  Monaten  auf  dem 
Lande,  besuchte  der  Kranke  abermals  die  Heilquellen  zu 
Wiesbaden,  wozu  er  sich  durch  herumziehende  Schmerzen 
bestimmen  liefs;  sie  schienen  ihm  wohl  zu  bekommen.  Nach 
Hause  zurückgekehrt,  fühlte  er  sich  erträglich,  nur  machte 
ihm  das  fortdauernde  Halsweh  noch  viel  zu  schaffen. 

Den  folgenden  ganzen  Winter  verliefs  er  das  Kranken¬ 
zimmer  nicht,  und  mit  dem  Frühjahr  von  1823  befand  er 
sich,  den  Halsschmerz  und  Steifigkeit  der  Glieder  abgerech¬ 
net,  erträglich  wohl.  Er  nahm  sogar  wieder  einige  Kran- 


190 


VI.  Syphilis. 

kenhesurhe  vor.  So  verstrich  dieses  Jahr  hei  weniger  An¬ 
strengung,  man  fing  nun  an,  an  seine  Genesung  zu  glauben. 

Im  Januar  1824  steifte  sich  heftige  Halsentzündung  ein, 
mit  völliger  Heiserkeit  und  unauslöschlichem  I)ursf,  der 
durch  iibermäfsiges  Trinken,  wozu  er  genöthigt  war,  ihm 
Beschwerden  des  Magens  und  Darmkanals  zuzog.  Heftige 
Schmerzen  des  meteoristisch  aufgetriebenen  Leibes,  häufige 
Blähungen,  waren  die  Folgen  des  vielen  Trinkens.,  das  er 
dennoch,  des  unauslöschlichen  Durstes  halber,  nicht  unter¬ 
lassen  konnte;  er  leerte  selbst  des  Nachts  ganze  Krüge  von 
mineralischem  Wasser  aus. 

Im  Monat  Februar  wurde  der  entkräftete  Kranke  von 
einem  heftigen,  mehrere  Wochen  lang  dauernden  Durch¬ 
fall  angegriffen.  Dem  iibermäfsigen  Abgänge  blols  wässeri¬ 
ger  Stühle  konnte  durch  kein  Mittel  Einhalt  geschehen; 
zugleich  schwollen  die  Beine  über  alle  Begriffe  an,  die  Ge¬ 
schwulst  stieg  aufwärts  bis  zum  Bücken,  auch  der  Unter¬ 
leib  füllte  sich  an.  Die  wassersüchtigen  Erscheinungen  nah¬ 
men  im  Verlaufe  von  sechs  Monaten  bald  zu,  bald  wieder 
ab,  unter  denen  die  Kräfte  immer  mehr  und  mehr  abnah- 
men,  bis  zum  elften  August,  an  dem  der  Tod  dern  trauri¬ 
gen  Schicksal  des  armen  Leidenden  ein  Ende  machte. 

Unleugbar  war  der  zaghafte  Gebrauch  der  Mercuria- 
lien  in  so  geringen  Gaben  im  Anfänge  der  Krankheit,  wo 
der  sonst  roLuste  Kranke  noch  Kräfte  zuzusetzen  hatte,  gin 
Mif  sgriff,  der  den  schlimmen  Ausgang  vorbereitete.  Ihre 
unbedeutende  Wirkung  war  der  Macht  der  Krankheit  nicht 
angemessen,  sie  mufsten  durch  die  Dauer  ihrer  Anwendung, 
da  sie  zur  Beseitigung  des  Uebels  zu  schwach  waren,  nur 
Nachtheil  bringen. 

Noch  zweckwidriger  wurde  die  Zeit  mit  dem  Gebrauche 
des  Po  H  in  i  sehen  Decoctes,  dessen  NA  irksamkeit  kaum  von 
einigen  anerkannt  worden,  nur  verschwendet.  Ueber- 
haupt  war  die  Aengstlichkeit  und  Unentschlossenheit  in  der 
Zeit,  wo  man  kräftig  einwirken  konnte  eben  so  nachtheilig,  als 
die  allzugrolse  Dreistigkeit  gegen  das  Ende  der  Krankheit, 


VII.  Praktische  Notizen. 


191 


hei  der  auf  die  Kräfte  des  Kranken  wenig  Rücksicht  ge¬ 
nommen  wurde. 

Der  gröfste  Nachtheil  für  den  Kranken  war,  dafs  er 
selbst  die  Behandlung  leiten  wollte;  denn  so  einsichtsvoll 
und  tüchtig  in  seinem  Urtheil  er  auch  war,  so  mufste  das¬ 
selbe,  durch  den  gröfseren  Antheil  an  eigener  Gesundheit 
und  durch  die  damit  verbundene  Unruhe  des  Gemüths,  oft 
eine  falsche  Richtung  nehmen. 

Die  Beharrlichkeit  in  seiner  Meinung,  theils  Folge 
seines  festen  Charakters,  theils  seiner  Kränklichkeit,  nö- 
thigte  oft  seine  von  ihm  zu  Rathe  gezogenen  ärztlichen 
Freunde,  ihren  gefafsten  Heilplan  zu  verändern.  Ueberdies 
schadete  er  sich  offenbar  durch  Erkältung  im  ersten  Win¬ 
ter,  da  er  sich  nicht  abhalten  liefs  bei  hohen  Kältegraden 
auszugehen,  um  seinem  Berufe  nachzukommen. 


VII. 

Praktische  Notizen. 


1.  Seit  dem  Januar  1828  herrscht  nach  Moreau  de 
Jonnes  auf  der  Insei  Martinique  eine  Krankheit  epidemisch, 
wie  sie  dort  noch  nie  beobachtet  worden  ist.  Die  Kranken 
klagen  über  gewaltige  Schmerzen  in  allen  Gelenken,  welche 
heftig  anschwellen  und  zuweilen  mit  einer  Scharlachröthe 
überzogen  werden.  Der  Schmerz  ist  nicht  selten  so  hef¬ 
tig,  dafs  die  Kranken  laut  schreien.  Frauen,  Männer,  Greise, 
Kinder,  Reiche  und  Arme,  sind  diesem  Uebel  gleich  sehr 
unterworfen.  In  Havanna,  das  von  130,000  Seelen  be¬ 
wohnt  ist,  liegt  gegenwärtig  die  Hälfte  der  Bewohner  an 
dieser  Krankheit  darnieder.  Weder  hier  noch  auf  ganz  Cuba 
ist  ein  Individuum  an  dieser  Krankheit  gestorben,  wiewohl 
nicht  zu  leugnen  ist,  dafs  sie  häufig  Recidive  macht,  durch 


192 


VII.  Praktische  Notizen. 


welche  die  Kranken  sehr  geschwächt  werden.  Man  ist  auf 
den  Antillen  ziemlich  allgemein  der  Meinung,  dafs  die  Krank¬ 
heit  ihnen  durch  den  spanischen  Admiral  La  borde  vom 
südlichen  Amerika  aus  zugeführt  sei.  Auf  den  französischen 
Antillen  heifst  sie  la  Giraffe.  (Academie  des  Sciences,  dans 
la  Seauce  de  18.  Aoüt  1828.) 

I  '  ' 

2.  Wir  haben  im  Novemberhefte  vom  vorigen  Jahre 
(S.  361)  den  Lesern  von  einer  bösartigen  Blatternepidemie 
Kunde  gegeben.  Nach  amtlichen  Berichten  an  den  Minister 
des  Innern  gesellten  sich  sehr  häufig  zu  dem  Pockenaus- 
schlage  Petechien,  in  welchem  Falle  der  Ausgang  der  Krank¬ 
heit  stets  tödtlich  war.  Die  gänzlich  vernachlässigte  Vacci- 
nation  bei  dem  gröfseren  Theile  der  Bewohner  aus  den  nie¬ 
deren  Klassen,  und  der  bei  diesen  eingewurzelte  Gebrauch, 
ihre  Kranken  sehr  warm  zu  bedecken  und  Glühwein  trin¬ 
ken  zu  lassen,  endlich  die  feuchten,  dem  Zutritt  der  Luft 
entzogenen  Wohnungen,  werden  als  die  Ursachen  des  so 
bösartigen  Charakters  dieser  Blatiernepidemie  bezeichnet. 
Individuen,  welche  vaccinirt  waren,  und  solche,  welche  in 
früheren  Jahren  die  natürlichen  Blattern  überstanden  hat- 
ten,  wurden  ebenfalls  hin  und  wieder  ergriffen,  wiewohl 
hier  in  der  Regel  die  Krankheit  nur  die  Symptome  der 
Varioloiden  entwickelte.  Von  1500  Vaccinirten  erkrankten 
an  den  Varioloiden  100,  von  welchen  nur  ein  Individuum 
starb;  von  500,  welche  die  ächten  Blattern  überstanden, 
erkrankten  fünf,  von  welchen  ein  Kranker  starb;  von  acht 
nicht  vaccinirten  Individuen  erkrankten  vier,  und  unter  die¬ 
sen  starb  eins.  — 

Nach  Pariset’s  Bericht  starben  sogar  von  zehn  nicht 
vaccinirten  Kranken  acht,  und  von  zwanzig  Vaccinirten  ei¬ 
ner.  Das  Einimpfen  der  aus  den  Varioloidenpusteln  genom¬ 
menen  Lymphe  rief  entweder  vaccinenähnliche,  gegen  die 
Krankheit  schützende  Bläschen,  oder  die  Varioloidenkrank- 
heit  hervor.  Nach  einem  neueren  Berichte  desselben  Arz¬ 
tes  starben  vom  1  —  9.  August  114  Personen  an  der  Krank¬ 
heit, 


Vif.  Praktische  Notizen.  193 

.  *  9 

heit,  worunter  ein  seit  zwei  Monaten  vaccinirtes  Kind  sich 
befand;  am  10.  August  starben  15  Individuen;  im  Juli  star¬ 
ben  42.9,  im  Juni  438,  im  Mai  204.  Pariset  berichtet* 
dafs  bei  zwei  Kindern,  die  ganz  wohl  waren,  plötzlich 
Petechien  bemerkt  wurden,  und  dafs  schon  zwei  Stunden 
nachher  der  Tod  erfolgt  sei.  (Nouvelle  Bibliotheque.  1828. 
Aoüt.) 

'  / 

%  / 

3.  Bekanntlich  hat  Bretonneau  den  Namen  Dothin- 

cnterite  ou  Enterite  pustuieuse  für  eine  Affection  der 
Schleimhaut  des  Darmkanals  gewählt,  welche  in  einem  bla¬ 
senartigen  Ausschlage  besteht,  der  in  den  Pey ersehen  Drü¬ 
sen  seinen  Sitz  hat  und  sich  durch  die  Erscheinungen  einer 
Febris  nervosa  gastrica  ankündigt.  Nach  Br  et.  ist  der  bla¬ 
senartige  Ausschlag  die  Folge  einer  vorangegangenen  Ent¬ 
zündung,  in  Folge  welcher  die  Pey  ersehen  Drüsen  desor- 
ganisirt  (?)  werden.  Leuret  in  Nancy,  welcher  Gelegen¬ 
heit  hatte,  diese  Krankheit  wiederholt  zu  beobachten,  theilfc 
Bretonneau’s  Ansicht  über  die  Natur  derselben,  und 
stimmt  auch  darin  vollkommen  mit  B.  überein,  dafs  die 
Krankheit  weit  eher  günstig  verlaufe,  wenn  von  Seiten  des 
Arztes  nicht  durch  ein  reizendes  oder  ein  entzündungswi¬ 
driges  Yerfahren  eingegriffen  werde.  —  Leuret  hat  es 
sich  angelegen  sein  lassen,  den  Urin  aller  Kranken  einer 
chemischen  Analyse  zu  unterwerfen,  und  gefunden,  dafs 
wenn  derselbe  ein  kohlensaures  Salz  (un  carbonate)  enthielt 
und  getrübt  war,  ohne  dafs  die  Wolke  sich  auf  den  Boden 
des  Gefäfses  ablagerte,  die  Krankheit  ungünstig  verlief.  (Ar* 
chives.  1828.  10.)  "  '  , 

4.  Patin  rühmt  die  Wirkung  des  essigsauren  Ammo¬ 
niums,  zu  einer  halben  bis  ganzen  Drachme  viermal  inner¬ 
halb  24  Stunden  gegeben,  bei  Menstruatio  difficilis,  Menstr. 
nimia,  Metrorrhagien,  bei  Carcinoma  uteri  (?),  Furor  uie- 
rinus,  bei  Disposition  zürn  Abortus,  bei  Entzündungen  der 
Gebärmutter  und  der  Ovarien,  kurz  in  allen  Krankheiten, 

13 


XIII.  Ed.  2.  St. 


I 


194  VII.  Praktische  Notizen. 

denen  eine  erhöhte  Thätigkeit  im  Sexualsystem  rum  Grunde 
liegt,  und  führt  verschiedene  Falle  an,  die  für  seine  Be¬ 
hauptung  zu  sprechen  scheinen.  (Ebendaselbst.) 

5.  Am  Ende  des  Winters  18§g-,  der  sich  überhaupt 
weder  durch  eine  strenge  Kälte,  noch  durch  seine  lange 
Dauer,  noch  durch  einen  hohen  Grad  von  Nässe  auszeich¬ 
nete,  erkrankten  einzelne  Individuen  in  den  verschiedensten 
Stadtvierteln  von  Paris  an  Affectionen  des  Darmkanals, 
welche  um  so  weniger  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  in 
Anspruch  nahmen,  als  diese  ja  nicht  selten  als  Prodromi 
verschiedener  Krankheiten  bei  Erwachsenen,  wie  bei  Kin¬ 
dern  erscheinen.  Diese  Symptome  eines  gastrischen  Leidens 
wurden  vorzugsweise  in  einzelnen  Abtheilungen  des  Fau- 
bourg  St.  Germain,  namentlich  in  der  Caserne  de  l  Oursine 
und  den  nahegelegenen  Häusern  im  Faubourg  St.  Mar- 
ceau,  in  der  Caserne  des  Faubourg  du  Temple,  endlich  in 
den  Umgebungen  des  Stadthauses  und  im  Quartier  des  Lom¬ 
bards  wahrgenommen.  Diese  Erscheinungen  pflegten  zu 
verschwinden,  nachdem  sie  ungefähr  einen  Monat  gewährt 
hatten ,  worauf  eine  Reihe  anderer  Symptome  einzutre¬ 
ten  pflegte.  So  lange  die  Krankheit  noch  sporadisch  blieb, 
wurde  sie  von  den  Aerzten  nicht  besonders  gewürdigt,  und 
überhaupt  verkannt.  So  verflossen  ungefähr  fünf  Monate, 
innerhalb  welcher  Zeit  die  Krankheit  so  um  sich  griff,  dals 
alle  Hospitäler  mit  daran  Leidenden  angefüllt  wurden,  und  von 
einem  Bataillon  des  Listen  Linienregiments  allein  dreihundert 
Mann  fast  auf  einmal  erkrankten.  Aehnliches  bemerkte  man 
in  anderen  Casernen  und  Krankenanstalten.  Im  Hospice  de 
Marie- Therese ,  das  von  40  Individuen  bewohnt  ist,  lagen 
36  an  diesem  Uebel  krank.  In  der  Caserne  de  TOursine 
und  Ave-Maria  erkrankten  mit  jedem  Tage  mehr  Soldaten, 
und  in  den  Hospitälern  wurden  diejenigen  Kranken,  welche 
wegen  einer  anderen  Krankheit  hineingebracht  waren  und 
nicht  aufser  Berührung  mit  den  an  jener  leidenden  blie¬ 
ben,  ebenfalls  ergriffen.  In  der  Caserne  des  Faubourg  du 


VII.  Praktische  Notizen. 


195 


Temple  war  am  G.  September  kein  Soldat  mehr  verschont. 
Im  Hotel  -Dieu  enthalten  alle  Säle  Kranke  dieser  Art.  In 
vielen  Häusern  liegen  ganze  Familien  krank,  gleichviel  ob 
sie  den  reichen  oder  den  ärmeren  Klassen  angehören. 

Die  Krankheit  zeigt  sich  nach  dem  Berichte  an  die 
medicinische  Academie  in  Paris,  und  nach  Dr.  Genest,  un¬ 
ter  einer  doppelten  Form:  einmal  unter  einem  mehr  oder 
weniger  entzündlichen  Erythem  der  Füfse  und  der  Hände, 
dann  unter  einer  vollkommenen  Lähmung  der  Extremitäten. 
Gewöhnlich  gesellen  sich  hierzu:  Störungen  der  Verdauung, 
eine  Entzündung  der  Augenlieder ,  eine  Affection  der 
Luftwege,  Oedem  und  Anasarca,  Schlaflosigkeit,  heftiges 
Weh  [in  ;allen  Gliedern  während  der  Nacht.  Nimmt  die 
Krankheit  eine  mehr  chronische  Form  an,  so  entsteht  Atro¬ 
phie  und  Oedem  der  Extremitäten,  die  Haut  wird  schwarz. 
Die  arbeitende  Klasse,  und  zwar  vorzugsweise  erwachsene 
Männer,  werden  besonders  von  diesem  Uebel  heimgesucht. 
Die  Dauer,  die  Natur,  die  Ursachen,  der  Ursprung,  die 
Behandlung  dieser  Krankheit  sind  bis  jetzt  noch  unerforscht 
geblieben. 

So  weit  geht  der  Bericht  und  die  Mittheilung  des 
Dr.  Genest  über  diese  sonderbare  Krankheit  in  dem  Octo- 
ber-  und  Novemberhefte  der  Archives  generales. 

Nach  la  Clinique  vom  18.  December  hat  die  Zahl  die¬ 
ser  Kranken,  welche  im  vorigen  Monate  sich  auf  1200  be¬ 
lief,  sehr  abgenommen,  so  dafs  man  an  jenem  Tage  kaum 
200  noch  zählte. 

6.  Im  Höpital  Val  de  Grace  zu  Paris  verordnet  man 
gegen  die  dort  in  diesem  Augenblick  ziemlich  häufigen  vier¬ 
tägigen  Wechselfieber,  und,  wie  die  Aerzte  dieser  Anstalt 
versichern,  mit  dem  günstigsten  Erfolge,  eine  strenge  Diät, 
Emolientia,  Blutentziehungen  und  das  schwefelsaure  Chi- 
n in  in  Klystieren.  (La  Clinique.  Jeudi,  18.  Decein- 
bre  1828.) 


196 


V  II.  Praktische  Notizen. 


7.  Bekanntlich  gehört  der  Coitus  per  anum  zu  den 
nicht  gunz  seltenen  Verbrechen  in  Paris,  und  veranlagt  nur 
zu  häufig  Blasenmastdarm- ,  Blascnscheiden -  und  blolse 
Afterfisteln ,  wie  Dupuytren  wiederholt  in  seinen  klini¬ 
schen  Vorlesungen  behauptet. 

Am  17.  August  1828  wurde  Batier  von  einem  neun¬ 
zehnjährigen  Jünglinge  wegen  eines  tripperartigen  Aus¬ 
flusses  aus  der  Urethra,  und  wegen  eines  utiangenehmcn 
schmerzhaften  Brennens  im  After  zu  Ratbe  gezogen.  An 
diesem  Tage  entdeckte  R.  nichts,  trotz  der  sorgfältigsten 
Untersuchung,  an  dem  schmerzhaften  Theile.  Sechs  Tage 
später  klagte  ihm  der  junge  Mensch,  bei  jeder  Stuhlentlee¬ 
rung  die  furchtbarste  Quaal  empfunden  zu  haben;  jetzt 
fand  R.  den  Umkreis  des  Afters  gerütbet,  entzündet  und 
sehr  empfindlich,  und  auf  der  Schleimhaut  des  Mastdarms, 
sechs  Linien  vom  Orificium  ani,  zwei  oberflächliche,  un¬ 
gleiche,  vier  Linien  lange  und  zwei  Linien  breite,  mit 
speckigen  Rändern  versehene  Geschwüre.  Der  junge  Mensch 
gestand,  dafs  er  sich  vor  vierzehn  Tagen  einem  andern 
zu  dieser  unnatürlichen  Befriedigung  des  Geschlechtstriehes 
überlassen  habe.  Es  gelang  Ratier,  dieses  zweite  Indivi¬ 
duum  zur  Untersuchung  herbeizuziehen,  bei  welchem  er 
ein  syphilitisches  Geschwür  auf  der  Eichel,  sechs  Linien  von 
der  Harnröhrenöffnung  entfernt,  fand.  (La  Clinique  des 
Höpitaux  et  de  la  \ille,  Tome  III.  No.  53.  du  13.  De- 
cembre  1828.) 

8.  Ein  kräftiger,  ungefähr  25  Jahre  alter  Mann,  fiel 
während  des  Ringens  mit  seinem  Gegi.er  zu  Boden,  und 
zwar  so,  dafs  sein  Unterleib  das  Knie  des  andern  berührte. 
In  diesem  Augenblicke  empfand  er  einen  heftigen  Schmerz 
in  der  Tiefe  des  Unterleibes,  verlor  seine  Besinnung,  und 
klagte,  als  er  wieder  zu  sich  gekommen  war,  über  die 
fürchterlichsten  Schmerzen,  zu  welchen  sich  bald  Erbre¬ 
chen,  Kälte  der  Extremitäten,  ein  kleiner  Puls  und  Leibes¬ 
verstopfung  gesellten.  Ein  Aderlafs  und  lauwarme  Bäder 


VII.  Praktische  Notizen. 


1 97 


schienen  anfangs  Hoffnung  zur  Genesung  zu  geben.  Der 
Tod  erfolgte  24  Stunden  nach  dem  Unfall. 

Bei  der  Section  fand  man  in  der  Bauchhöhle  ein  Ex¬ 
travasat  von  Darmkoth,  das  durch  einen  Einrifs  im  Blind¬ 
darm  entstanden  war.  Dieser  Einrifs  hatte  zwei  Zoll  im 
Umtange,  seine  Ränder  waren  ungleich  und  entzündet,  die 
Bauchhaut  an  verschiedenen  Punkten  entzündet  und  mit 
Pseudomembranen  bedeckt.  (The  Dublin  Hospital  report 
etc.  T.  IV.  1827.) 

9.  Eine  Frau,  die  an  Prolapsus  Uteri  und  an  schmerz¬ 
hafter  Dysurie  litt,  starb  unter  den  Erscheinungen  einer 
Entzündung  der  Urinblase.  —  Bei  der  Section  fand  man, 
aufser  den  Zeichen  der  Entzündung,  eine  krebsartige,  höcke¬ 
rige  Geschwulst  von  der  Gröfse  eines  Puteneies,  mit  den 
Wänden  der  Blase  durch  einen  dünnen  Stiel  verbunden. 

r  ^  ' 

Dupuytren  bemerkte,  dafs,  wenn  es  ihm  gelungen  wäre, 
von  dem  Dasein  dieser  Geschwulst  sich  während  des  Lebens 
der  Frau  zu  überzeugen,  er  die  Cystotomie  gemacht  und 
die  Geschwulst  entfernt  haben  würde,  welche  in  diesem 
Falle  die  Veranlassung  des  Prolapsus  uteri  gewesen  sei. 
(Lancette  Frangaise.  T.  I.  No.  1.) 

10.  Nach  den  von  Barthez  mit  dem  Deuto-bromure 
de  mercure  angestellten  Versuchen,  wirkt  dasselbe  in  dem 
Grade  ätzend,  als  der  Sublimat,  indem  es  vorzugsweise  die 
Häute  des  Magens  afficirt  und  heftiges  Erbrechen  erregt. 
(Journal  de  Chimie  ined.  1828.  10.) 

11.  E  ine  40jährige,  sehr  reizbare  Frau,  knetete  einen 
Teig  aus  Pulvis  nucis  vomicae,  Käse  und  süfsen  Mandeln, 
um  mit  diesem  Platten  zu  vergiften.  Wiewohl  sie  nach 
Beendigung  dieses  Geschäftes  sich  sorgfältig  gewaschen 
batte,  so  empfand  sie  doch  nach  Verlauf  vou  einigen  Stun¬ 
den  im  Daumen  und  Ringfinger  eine  mit  jeder  Minute  zu¬ 
nehmende  Hitze,  einen  stechenden  Schmerz,  welcher  den 


198 


VII.  Praktische  Notizen. 


Schlaf  verhinderte.  Am  folgenden  Morgen  bemerkte  man 
mehrere  Blasen  an  der  Palmarseite  der  Finger.  Jene  Zu¬ 
fälle  verschwanden,  sobald  man  die  Blasen  geöffnet  und  die 
vorhandene  Flüssigkeit  entleert  hatte.  Achnlichc  Erschei¬ 
nungen  bemerkte  man  bei  einer  andern  Frau,  welcher  man, 
des  Versuchs  wegen,  eine  ähnliche  Composition  mit  den 
Fingern  hatte  bearbeiten  lassen.  (Ebendaselbst.) 

12.  Vier  junge  Mädchen,  das  eine  von  acht,  das  zweite 
von  sieben,  das  dritte  von  sechs,  das  vierte  von  drei  Jah¬ 
ren,  afsen  unmittelbar  nach  der  Mittagsmahlzeit  eine  grofse 
Menge  Beeren  von  Coriaria  myrtifolia.  Alle  empfanden 
ungefähr  eine  halbe  Stunde  nachher  ein  Stechen  auf  der 
Zunge,  Kopfweh,  Kolikschmerzen,  verfielen  in  einen  Zu¬ 
stand  von  Trunkenheit,  so  dafs  sie  sich  nicht  auf  den  Fiifsen 
erhalten  konnten;  ihr  Gesicht  wurde  blau,  die  Sprache 
stammelnd,  der  Mund  schäumte,  die  Augen  waren  ver¬ 
dreht,  die  Extremitäten  krampfhaft  bewegt,  die  Zähne  an- 
einandergeprefst.  Die  drei  ersten  verfielen  in  ein  heftiges 
Erbrechen,  wodurch  sie  gerettet  wurden.  Die  jüngste, 
welche  die  meisten  Beeren  verzehrt  hatte,  starb  nach  sieb¬ 
zehn  Stunden  unter  Meteorismus.  Bei  der  Section  (fand 

l 

man  weiter  nichts,  als  eine  gelinde  Röthe  im  Magen  und 
Darmkanal.  (Ebendas.  1828.  11.) 

13.  Hampe  hat  gefunden,  dafs  die  Blutegel  auf  fol¬ 
gende  Weise  sich  am  besten  erhalten:  Er  nimmt  kleine, 
an  einem  Ende  offene,  gehörig  ausgebrannte  Gefäfse,  thut 
auf  den  Grund  derselben  eine  Lage  ausgewaschenen  Sand, 
den  er  mit  Moos  bedeckt,  worauf  er  auf  diesen  einige  Koh¬ 
len  legt.  Dann  füllt  er  die  Gefäfse  mit  Flufswasser,  setzt 
die  Blutegel  hinein,  und  deckt  die  Gefäfse  mit  einem  durch¬ 
löcherten  Deckel  zu.  Im  Sommer  erneuert  er  das  Wasser 
alle  acht  läge,  im  Winter  alle  sechs  Wochen,  indem  er 

|  einen  wenige  Zoll  über  dem  Sande  angebrachten  Hahn  öff¬ 
net.  (Ebendaselbst.) 


VII.  Praktische  Notizen. 


199 


14.  Eine  28jährige  Frau,  die  seit  mehreren  Jahren 
an  dumpfen  Schmerzen  in  der  linken  Weiche  gelitten,  die 
zur  Zeit  ' der  nicht  sehr  regelmäfsigen  Menstruation  heftiger 
zu  werden  pflegten,  empfindet  plötzlich  unter  dem  Tragen 
einer  ihren  Kräften  nicht  angemessenen  Bürde  einen  hefti¬ 
gen,  wiewohl  vorübergehenden  Schmerz  im  Unterleibe, 
verfällt  darauf  in  Ohnmächten,  bekommt  heftige  Koliken, 
Erbrechen,  einen  intermittirenden  Puls,  und  stirbt  unter 
den  Händen  des  Arztes. 

Bei  der  Section  findet  man  alle  Organe  der  Brust  und 
des  Unterleibes  blafs  und  fast  blutleer,  im  Abdomen  ein 
bedeutendes  Blutextravasat ,  das  aus  der  Arteria  uterina  her¬ 
zurühren  schien,  welche  durch  ein  sehr  in  die  Augen  fal¬ 
lendes  Geschwür  zerfressen  war.  (Archives  generales.  1828. 
10.  S.  281.)  »  ' 

15.  Bei  einer  seit  12  Stunden  auf  eine  leichte  Weise 
entbundenen  Frau,  entstand  unter  ungewöhnlich  heftigen 
Nachwehen  in  der  rechten  Schaamlefze  durch  Zerreifsung 
einiger  Gefäfse  ein  Thrombus  von  der  Gröfse  eines  Kin¬ 
derkopfes,  welcher  schmerzte,  den  Ab.flufs  der  Lochien  hin¬ 
derte,  und  nach  Verlauf  von  48  Stunden  durch  eine  Inci- 
sion  entleert  wurde.  Mauriceau  beobachtete  diesen  Zu¬ 
fall  nur  zweimal,  und  Madame  La c ha p e  1 1  e  dreimal.  (Me- 
moires  de  la  Societe  de  med.  de  Rouen.  1827.) 

16.  Dr.  Frangois  kennt  ein  blödsinniges,  gegenwär¬ 
tig  20  Jahr  altes  Mädchen  in  der  Salpetriere,  das  erst  mit 
dem  dritten  Jahre  gehen,  niemals  sprechen  lernte,  und 
seine  Wünsche  durch  ein  thierisches  Geschrei  ausdrückt. 
Dasselbe  ist  nicht  taub,  folgt  auch  den  ihm  gegebenen 
Weisungen,  ist  in  fortwährender  Bewegung  und  zerkratzt 
sich  das  Gesicht,  wenn  es  gereizt  wird;  es  hat  eine  blen¬ 
dend -weifse  Haut,  blaue  Augen,  eine  sehr  gewölbte  Stirn, 
einen  grofsen  Mund,  auffallend  dicke  Lippen,  ein  ausdrucks¬ 
loses  Gesicht,  einen  unsichern  Gang,  wie  er  Berauschten 


200 


\II.  Praktische  Notiien. 

eigentümlich  ist.  Am  liebsten  bewegt  es  sich  auf  den  Hän¬ 
den  und  Kniecn,  verrichtet  seine  Bedürfnisse  an  jeglichem 
Orte,  ohne  ein  Gefühl  von  Schaam  zu  zeigen,  und  liebt 
vorzüglich  frischen  Klee  und  Lucerne  als  Nahrung,  nächst 
diesen  rohes  bleisch  und  Eingeweide  von  Thieren.  Brot 
verschlingt  es  nur  in  dem  halle,  wenn  ihm  andere  Nah¬ 
rungsmittel  fehlen;  dagegen  trinkt  es  gern  Wein.  Die 
Lntwickelungsperiode  ist  ungewöhnlich  spät  bei  diesem  un¬ 
glücklichen  Wesen  cingetreten,  das  keinen  Geschlechtsun¬ 
terschied  zu  kennen  scheint,  und  wie  ein  Thier  neben  den 
Kühen  auf  der  Weide  lebt.  (Journal  general.  1828.  8.) 

%  l  A 

1/.  Lei  einem  Manne,  der  einen  Stöfs  beim  Fechten 
ms  retli te  Auge  erhalten  hatte,  entzündete  sich  das  ver¬ 
letzte  Auge  nebst  dessen  Häuten,  und  so  zu  sagen  augen¬ 
blicklich  verfiel  der  \  erwundete  in  einen  Zustand  von  Stu¬ 
por,  so  dafs  er  weder  sah,  noch  redete,  noch  hörte,  was 
um  ihn  vorging.  Hierzu  gesellte  sich  späterhin  Schwerath- 
migkeit,  eine  blaue  Gesichtsfarbe,  eine  schnarchende  He- 
spiration,  Delirium,  unter  welchen  Zufällen  am  dritten  Ta^e 

O 

nach  der  Verletzung  der  lod  erfolgte.  I)ie  Leichenöffnung 
bewies,  dafs  das  verletzende  Instrument  die  hintere  Wand 
des  Auges  durchbohrt  und  das  Gehirn  tief  verletzt,  dafs 
ein  tief  eingedrungener  Knochensplitter  den  vorderen  Hirn¬ 
lappen  und  die  Arteria  corporis  callosi  zerrissen  hatte,  in 
lolge  dessen  ein  grofses  Blutextravasat  an  der  Basis  cranii 
Entstanden  war.  (Journal  general  des  Ilöpit.  No.  46.) 

s 

18.  ,  Line  2.3jährige,  schwächliche  brau,  die  zweimal 
abortirt  und  dreimal  gesunde  Kinder  geboren  hatte,  wurde 
abermals  schwanger ,  und  litt  während  dieser  Schwanger¬ 
schaft  an  \  erdauungsbeschwerden  und  am  weifsen  Flusse, 
der  in  der  letzten  llällte  des  achten  Monats  an  Gonsistenz 
und  Quantität  so  zuuahrn,  dafs  Dr.  Eugfcne  Pinel  ihn 
hätte  für  Liter  halten  mögen.  Um  dieselbe  Zeit  empfand 
die  Mutter  ein  unangenehmes,  drückendes  Gefühl  in  der 


VII.  Praktische  Notizen. 


201 


Regio  bypogastrica,  während  die  Bewegungen  des  Kindes 
seltener  waren  und  zuletzt  ganz  aufhörten.  Bald  darauf 
stellten  sich  Wehen  ein,  der  Muttermund  eröffnete  sich 
langsam,  es  erfolgte  weder  ein  Rifs  der  Eihäute,  noch  ein 
Abgang  des  Wassers,  und  bei  der  Untersuchung  fand  P. 
den  Kopf  vorliegend  und  nicht  von  den  Eihäuten  bedeckt. 
Nach  vielen  Anstrengungen  wurde  die  Frau  von  einem 
todten  Achtmonatkinde  entbunden,  an  welchem  folgende 
Eigenthiimlichkeiten  wahrgenommen  wurden:  Auf  der  Mitte 
des  Unterleibes  und  in  der  Nähe  des  Schaambeins  befand 
sich  eine  Oeffnung,  der  After  fehlte,  eben  so  die  natür¬ 
liche  Schaamspalte ,  an  deren  Stelle  man  zwei  Erhöhungen 
wahrnahm,  zwischen  welchen  P.  eine  ganz  kleine  mit  der 
in  der  Nähe  des  Schaambeins  befindlichen  communicirende 
Oeffnung  entdeckte.  Die  Nase  war  zusammengedrückt,  der 
linke  Fufs  ein  nach  innen  gedrehter  Klumpfufs.  Auf  den 
Abdominaldecken  hing  eine  mit  Flüssigkeit  angefüllte  Blase, 
auf  dieser  safs  die  Placenta.  Das  Coecum  fehlte,  der  übrige 
sonst  gesunde  Darmkanal  lag  aufserhalb  der  Bauchhöhle, 
eben  so  die  Leber,  die  Milz,  der  Magen;  der  Darmkanal 
mündete  in  die  Centralöffnung  des  Unterleibes.  Diejenigen 
Eingeweide,  welche  gewöhnlich  im  Becken  sich  befinden, 
bildeten  den  Besatz  eines  sackartigen  Gebildes,  das  der 
Kloake  der  Vögel  glich.  Auf  der  linken  Seite  bemerkte  P. 
nur  die  Nebenniere,  auf  der  rechten  dagegen  eine  sehr 
entwickelte  Nebenniere,  eine  Niere,  einen  Ureter,  der  sich 
in  die  Centralöffnung  des  Abdomens  mündete,  welche  in 
die  Kloake  führte.  Die  innern  Geschlechtstheile  (der  Fötus 
war  weiblich)  fehlten  rechts.  Die  Arteria  umbilicalis  be¬ 
stand  aus  zwei  Aesten,  von  welchen  der  eine  auf  der  rech¬ 
ten  Seite  längs- den  Gedärmen,  und  der  andere  links  neben 
der  Kloake  lief  und  sich  unmittelbar  unter  den  Arteriis 
coeliacis,  hepaticis,  stomachicis,  splenicis  et  meseraicis  sup. 
mit  der  Aorta  descendens  vereinigte,  -r-  Das  Rückenmark 
bildete  eine  Krümmung  an  zwei  Stellen,  und  lag  unter¬ 
wärts  aufserhalb  der  Wirbelsäule,  indem  die  drei  letzten 


202  VII.  Praktische  Notiaen. 

Vertebrae  ganz  geöffnet  waren.  (Nouvelle  Bibliotheque. 
1828.  7.) 


19.  Eine  62  jährige  Frao  empfand  unter  den  Darm¬ 
und  Harnentleerungen  heftige  Schmerzen  im  Unterleihe, 
späterhin  wurde  der  Urin  blutig,  zugleich  flof«  eine  röth- 
liche  Flüssigkeit  ans  der  Scheide.  Ein  Pfuscher  Verordnetc 
ihr  Einspritzungen  in  die  lllase  und  in  die  Vagina,  nach 
welchen  die  Schmerzen  überaus  heftig  wurden  und  von 
Fieber  begleitet  waren.  Endlich  klagte  die  Kranke  auch 
über  Schmerz  in  den  Weichen,  in  den  Schenkeln  und  in 
der  Lebergegend,  die  l  rinexcretion  ward  mit  jedem  Tage 
schwieriger,  der  Ausflufs  aus  der  Vagina  stärker,  die  un¬ 
tern  Extremitäten  schwollen  und  wurden  schmerzhaft.  Bei 
genauerer  Untersuchung  fand  man  die  Vaginalportion  zer¬ 
stört,  die  vordere  Wand  der  Vagina  ungleich  und  hart, 
den  Ausflufs  aus  den  Genitalien  stinkend,  den  Urin  mit 
Eiter  vermischt.  Der  Tod  erfolgte  unter  gänzlicher  Ent¬ 
kräftung  und  unerträglichen  Schmerzen,  nachdem  dieser 
quälende  Zustand  ungefähr  42  Tage  gedauert  hatte. 

Bei  der  Scction  bemerkte  man,  dafs  die  Urinblase  die 
ganze  Beckenhöhle  einnahm  und  von  Urin  strotzte,  dafs 
die  innere  Fläche  dieses  Organs  schwarz  und  gegen  den 
Blasenhals  zu  thcils  ulcerirt,  theils  mit  Auswüchsen  besetzt 
war.  Die  Schleimhaut  der  Urethra  war  ebenfalls  durch 
Ulceration  zerstört,  schwarz  und  schwammig:  die  Tunica 
muscularis  vesicae  urinariae  bot  eine  hypertrophische  Be¬ 
schaffenheit  dar.  Die  vordere  Wand  der  Vagina  war  durch 
eine  Masse  von  verhärtetem  Zellgewebe  herabgedrückt,  theil- 
weise  hart,  ungleich,  in  einem  Zustande  von  Hypertrophie 
und  ganz  oben  ulcerirt,  die  Vaginalportion  durch  Eiterung 
zerstört,  der  Körper  der  Gebärmutter  gesund,  nur  enthielt 
das  Cavum  uteri  einen  Blasenpolvpen.  Alles  Zellgewebe  in 
der  Nähe  der  I  rinblase  war  hart  und  bildete  zwei  feste 
Massen;  die  benachbarten  Muskeln  waren  dicker,  als  im 
natürlichen  Zustande,  die  Ossa  pubis  erweicht,  die  lugui- 


VII.  Praktische  Notizen.  203 

naldrüsen  hart  und  geschwollen.  (Nouvelle  Bibliotheque. 
1828.  7.) 

20.  Ein  SOjähriger  Mann  litt  seit  fünf  Jahren  an  quä¬ 
lenden  Schmerzen  in  der  linken  Lumbargegend  und  im  lin¬ 
ken  Schenkel.  Verschiedene  Aerzte  hatten  das  Uebel  für 
Ischias  gehalten,  und  mit  örtlichen  Blutentziehungen  und 
ähnlichen  Mitteln  behandelt.  Die  nur  alle  12  bis  14  Tage 
erfolgende  Stuhlausleerung  bestimmte  Hrn.  Lenoir,  den 
Unterleib  des  Kranken  mit  gröfserer  Aufmerksamkeit  zu 
untersuchen.  Er  entdeckte  bei  dieser  Gelegenheit  zwischen 
dem  Nabel  und  der  Schaambeinverbindung  auf  der  weifsen 
Linie  eine  eiförmige,  weiche,  umschriebene  Geschwulst  von 
der  Gröfse  einer  Faust,  in  welcher  er  Bewegungen  wahr¬ 
zunehmen  glaubte ,  die  mit  dem  Herzschlage  isochronisch 
waren,  weshalb  er  ein  Aneurysma  der  Aorta  descendens 
diagnosticirte.  Kurze  Zeit  nach  dieser  Untersuchung  starb 
der  Kranke,  man  machte  die  Section,  und  fand  an  der 
Stelle  der  Geschwulst  die  kleine,  birnenförmige,  zusammen¬ 
gezogene  Harnblase  mit  sehr  verdickten  Häuten,  gleich  hin¬ 
ter  derselben,  auf  dem  Promontorium,  einen  dicken  Tumor, 
der  den  Mastdarm  nach  rechts  gedrängt  hatte,  und  aus  dem 
linken  Darmbeine,  aus  Zellgewebe  und  den  benachbarten 
Muskeln  bestand,  welche  hart,  grau  und  desorganisirt  wa¬ 
ren.  Alle  übrigen  Organe  schienen  vollkommen  gesund  zu 
sein.  (Ebendaselbst.) 

21.  Leblanc  und  Trousseau  fanden  den  Scirrhus 
und  Krebs  nicht  allein  bei  menschlichen  Individuen,  sondern 
auch  beim  Pferde,  Esel,  Maulthiere,  Ochsen,  Schaafe, 
Hunde,  bei  der  Katze,  beim  Hahn  und  beim  Schweine. 
Alle  scirrhösen  Geschwülste  haben  in  der  Pvegel  eine  ab¬ 
gerundete  oder  eine  eiförmige  Gestalt,  eine  ungleiche,  hö¬ 
ckerige,  mit  krummen  Gängen  versehene  Oberfläche,  hän¬ 
gen  mit  den  benachbarten  Gebilden  vermöge  eines  mehr 
oder  weniger  festen  Zellgewebes  zusammen,  und  bestehen 


204  VIII.  Diagnose  der  Brustkrankheiten. 

aus  einer  grauen  oder  auch  blauweifsen ,  glanzenden,  halb¬ 
durchsichtigen  Substanz,  welche  bald  kuorpelhart,  bald 
speckartig  ist.  bängt  eine  scirrhöse  Geschwulst  an,  sich 
auf  mehreren  Punkten  zu  erweichen  und  in  ein  Geschwür 
üherzugehen,  so  erscheint  die  Oberlläche  desselben  bald 
roth  und  trocken,  grau  und  braun,  bald  ist  sie  mit  wei¬ 
chen  Fleischmassen  bedeckt,  die  eine  mehr  oder  minder 
dicke  Lage  bilden,  unter  welcher  man  eine  fleischige,  bald 
mehr,  bald  minder  weiche  Substanz  findet,  die  wiederum 
andere  entartete,  früher  nicht  vorhandene  Massen  bedeckt. 
Gewöhnlich  ist  auch  das  benachbarte  Zellgewebe  mit  er¬ 
griffen,  und  bei  langer  Dauer  der  Krankheit  pflegen  auch 
die  benachbarten  Muskeln  und  Knochen  entartet  zu  sein. 
Die  correspondirenden  lymphatischen  Drüsen  haben  einen 
grüfseren  Umfang,  einige  sind  angeschwollen,  reth  und  in 
einem  Zustande  chronischer  Entzündung,  die  andern  dage¬ 
gen  sind  theilweise  oder  ganz  und  gar  krebsartig.  (Archi- 
ves  generales.  1828.  11.) 


VIII.' 

Die  Untersuchungen  der  Brust  zur  Er- 
kenntnifs  der  Brustkrankheiten;  von  V. 
C  o  1  1  i  n  ,  Dr.  der  Mcdicin  und  Hiilfsarzt  der 

i 

Biirgerspitälcr  zu  Paris.  Aus  dem  Franz,  über¬ 
setzt  und  mit  Zusätzen,  vorzüglich  nach  Lacn- 
nec’s  Beobachtungen,  vermehrt  von  F.  J.  Bou- 
rel,  der  Med  lein  Beflissenen.  Mit  einer  Vorrede 
begleitet  von  F.  Nasse,  Prof,  der  Med.,  Director 
der  med.  Klinik  zu  Bonn  u.  s.  w.  Köln  am  Rhein, 
bei  Joh.  G.  Schmitz,  an  den  Minoriten.  1828.  8. 
XVI  und  142  S.  (20  Gr.) 


\III.  Diagnose  der  Brustkranklieiten.  205 

✓ 

Co  Hin  sammelte  die  Materialien,  verglich  sie  mit  den 
Erfahrungen,  die  er  unter  Cayol  und  Laennec  während 
sieben  Jahren  in  der  Pariser  Hospitalpraxis  machte,  und 
gab  vorliegende  Abhandlung  auf  den  Wunsch  seiner  Freunde 
heraus.  llr.^Prof.  Nasse  macht  in  der  Vorrede  zur  Ueber- 
setzung  auf  die  Yortheil^  der  mittelbaren  Auscultation  auf¬ 
merksam,  und  empfiehlt  die  schon  im  Jahre  1824  ins  Engli¬ 
sche  übersetzte  Schrift.  Ree.  hat  nichts  Neues  in  dersel¬ 
ben,  wohl  aber  Bestätigung  des  schon  Bekannten  gefunden, 
welches  immer  mehr  W^erth  bat,  als  das  sich  oft  nicht  be¬ 
stätigende  Neue. 

Erster  Theil.  Kap.  1.  Die  Untersuchung  der 
Brust  bei  dem  Athmen  zeigt  die  Bewegungen  der  Brust 
in  den  Krankheiten  zu  häufig  oder  zu  selten,  zu  schnell 
oder  zu  langsam;  es  findet  sich  Hoch-  oder  Tiefathmen, 
unregelmäfsiges,  oder  beschwerliches  aber  unvollkommenes 
Athmen,  Bauch-  oder  Brustathmen.  Diese  verschiedenen 
Zustände  werden  kurz  beschrieben,  und  finden  im  zweiten 
Theile  ihre  Anwendung.  , 

Kap.  2.  Die  von  Auenb rugger  erfundene  P ercus- 
sion  hat  seit  der  Erfindung  der  Auscultation  nichts  von 
ihrem  Werthe  eingebüfst,  sie  giebt ,  auf  der  gesunden  Brust 
angewandt,  den  Ton,  der  durch  das  Klopfen  auf  ein  leeres 
Fafs  hervorgebracht  wird.  Die  verschiedenen  Gegenden, 
wo  die  Percussion  angewandt  wird,  die  Bedingungen  der 
Veränderungen  des  Tons,  die  Anwendung  der  Percussion 
selbst  u.  s.  w.  werden  im  Folgenden  erörtert.  Der  Ton 
kann  in  Krankheiten  dumpf  oder  dunkel,  abwesend  oder 
heller  sein. 

Kap.  3.  Auscultation.  Die  unmittelbare  giebt  keine 
so  vollkommene  Reinheit  der  Töne,  als  die  mittelbare, 
welche  nach  Laennec  beschrieben  wird.  Dem  Verfasser 
scheint  es  nach  einigen  Beobachtungen  wahrscheinlich,  dafs 
im  Zustande  der  Hepatisation  des  Lungengewebes  eine  mehr 
oder  minder  vollkommene  Pectoriloquie  entstehen  könne, 
wenn  der  auf  diese  W'eise  verhärtete  Theil  nahe  an  der 


206  VIII.  Diagnose  der  Brustkrankheiten. 

Trachea  gelagert,  oder  in  Berührung  mit  ihr,  oder  von 
grofsen  Bronchienästen  durchzogen  ist.  Auch  Cruveilhier 
machte  diese  Beobachtung.  Die  Mensuration  und  Suc- 
cussion  werden  ebenfalls  beschrieben.  Die  genannten  fünf 
Untersuchungsmethoden  stellt  Co  II  in  nach  ihrem  Nutzen: 
Auscultation,  Percussion,  Succussipn,  Mensuration,  und  die 
Untersuchung  der  Bewegungen  der  Brust.  Rec.  hält  solche 
Einteilungen  der  schwachen  Brüder  wegen  für  schädlich, 
würde  sie  aber  auf  jeden  Fall  anders  machen.  Die  Unter¬ 
suchung  der  Bewegungen  der  Brust  verdient  nach  ihm  die 
erste  Stelle,  da  durch  sie  allein  schon  oft  die  Krankheiten 
der  Brust  bei  kleinen  Kindern  entdeckt  und  bestimmt  wer¬ 
den  können.  Die  Succussion  scheint  dem  Rec.  noch  pro¬ 
blematisch. 

Zweiter  Th  eil.  Kap.  1.  Von  den  Krankhei¬ 
ten  der  Pleura  und  der  Lunge.  (Der  Anfang  dieses 
Kapitels,  die  eben  angeführten  Einteilungen  enthaltend 
(Seite  75  —  77),  gehört  noch  zum  ersten  Theile.  Rec.) 
C.  theilt  die  Brustkrankheiten  in  solche,  welche  die  Respi¬ 
rationsorgane,  und  solche,  welche  das  Herz  und  die  grofsen 
Gefäfse  ergreifen.  Die  erstem  beschreibt  er  nach  den  Er¬ 
scheinungen,  die  uns  der  C)  linder  kennen  lehrt.  Zu  den 
Krankheiten,  die  wir  durch  die  Untersuchung  der  Respira¬ 
tion  erkennen,  gehören  die  Pleurodynie,  Apoplexie  der 
Lungen,  das  Oedem  und  Emphysem  derselben,  der  Keuch¬ 
husten,  Croup  und  die  Pneumonie;  zu  denen,  in  welchen 
man  die  Untersuchung  der  Stimme  mit  der  Respiration  ver¬ 
einigen  mufs,  die  Brustwassersucht,  Eiterbrust,  Pleuritis, 
Erweiterung  der  Bronchien,  Lungenschwindsucht,  der  Brand 
der  Lungen  und  Pneumothorax.  1)  Pleurodynie.  2) 
Lungencatarrh.  Hier  nützt  nur  die  Auscultation,  die 
Schwäche  des  Athmungsgeräusches  von  sonorem  Rasseln 
bei  trocknem  Husten,  von  Scbleimrasseln  bei  dem  feuchten 
begleitet,  zeigt.  3)  Hämorrhagie  der  Bronchien. 
Gegen  das  Ende  des  Anfalls  kommt  ein  schaumiger,  zuwei¬ 
len  geronnener  Blutauswurf.  4)  Lungericblagflufs. 


-  *,  “ 

VIII.  Diagnose  der  Brnstkrankheiten.  207 

Dyspnoe,  Orthopnoe.  Die  Brust  ist  eben  so  tönend  als 
früher,  das  Athmungsgeräusch  fehlt  in  einem  geringen  Um¬ 
fange  der  Lungen,  das  knisternde  Rasseln  entwickelt  sich 
da,  wo  das  Athmungsgeräusch  fehlt,  diese  Stellen  nehmen 
zu,  und  bald  folgt  das  Zeichen  einer  starken  Blutaus¬ 
schwitzung  in  den  Zellen  und  Bronchien,  das  reichliche 
Schleimrasseln,  wie  von  grofsen  Blasen.  Der  blutige  Aus¬ 
wurf  bestätigt  die  Diagnose.  5)  Oedem  der  Lungen. 
Beschwerliche  und  mühsame  Respiration,  von  Zeit  zu  Zeit 
Orthopnoe,  das  Athmungsgeräusch  ist  kaum  merkbar,  durch 
ein  halbknisterndes  Rasseln  verlarvt.  Ist  das  Oedem  sehr 
ausgebreitet  und  stark,  so  wird  der  Ton  der  Brust  merk¬ 
lich  vermindert.  6)  Emphysem  der  Lungen.  Schwer- 
athmigkeit,  die  durch  die  Anfälle  gesteigert  wird;  ausge¬ 
dehnte,  meist  ungleichmäfsige  Bewegung  der  Brust,  unter¬ 
brochene,  in  den  Anfällen  convulsivischer  Respiration.  An 
allen  Stellen,  wo  sich  Emphysem  befindet,  ist  bei  der  Percus¬ 
sion  der  Ton  hell,  die  Auscultation  zeigt  schwaches  Respi¬ 
rationsgeräusch,  und  ein  pfeifendes  oder  sonores  Rasseln 
läfst  sich  beim  tiefen  Einathmen  hören.  Der  Widerspruch 
dieser  starken  Resonanz  des  Brustkastens  mit  der  Schwäche 
des  Athmungsgeräusches  ist  das  charakteristische  Zeichen 
dieser  Krankheit.  Bei  starkem  Emphysem  hört  man  beim 
Einathmen  und  Husten  des  Kranken  ein  Geräusch,  als  wenn 
man  in  eine  halb  trockene  Blase  Luft  einbläst.  Dieses  sonst 
pathognomische  Zeichen  ist  indessen  sehr  selten,  und  von 
kurzer  Dauer.  Die  Mensuration  ergiebt  einen  gröfseren 
Umfang  der  kranken  Seite.  7)  Keuchhusten.  Auch  im 
Stad,  convuls.  findet  man  in  der  freien  Zwischenzeit  durch 
das  Stethoscop  nur  die  Zeichen  des  Catarrhs.  Die  pfeifende 
Inspiration  scheint  nur  in  dem  Larynx  und  der  Trachea 
statt  zu  finden.  In  den  Anfällen  fühlt  man  die  durch  den 
Husten  dem  Körper  mitgetheilte  Erschütterung,  und  hört 
nur  wenig  in  den  sehr  kurzen  Zwischenräumen  des  unter¬ 
brochenen  stofsweifsen  Aushustens  das  Rasseln  und  das  Ath¬ 
mungsgeräusch.  8)  Croup.  W^enn  sich  die  Pseudomem- 


208  VIII.  Diagnose  der  Brnstkrankheiten. 

branen  lösen,  hört  man  eine  Art  Klappen,  gleich  dem  eines 
Blasebalges;  geschieht  dieses  während  der  Inspiration,  so 
lösen  sich  die  Häute  am  oberen  Theile,  findet  es  während 
der  Exspiration  statt,  am  unteren  Theile  zuerst.  9)  Pneu¬ 
monie.  Sind  beide  Seiten  ergriffen,  so  entsteht  Bauch- 
athmen.  An  einzelnen  Stellen  ist  gewöhnlich  der  Ton  ver¬ 
ändert,  und  hier  hört  man  auch  das  Athmungsgeräusch  nur 
schwach,  oder  man  entdeckt  ein  knisterndes  Rasseln.  Die¬ 
ses  nimmt  beim  Weiterschreiten  der  Entzündung  zu  und 
verliert  sich  bei  der  Lösung  der  Krankheit,  wo  zugleich 
das  Athmungsgeräusch  wiederkehrt.  Auch  bei  der  Hepati¬ 
sation  verliert  sich  das  knisternde  Rasseln,  allein  es  entsteht 
kein  Athmungsgeräusch  wieder,  sondern  Bronchophonie, 
besonders  wenn  die  Hepatisation  die  Oberfläche  der  Lun¬ 
ten  einnimmt.  Entsteht  ein  Eiterheerd  in  der  Lungensub¬ 
stanz,  so  werden  die  Bewegungen  der  Brust  schwächer, 
der  Ton  bleibt  matt,  ein  schleimiges,  cavernöses  Rasseln 
entwickelt  sich  zuerst  an  einzelnen  Stellen,  dann  in  dem 
ganzen  erkrankten  Theile.  Bald  geht  dieses  in  Kochen 
über,  der  Eiter  macht  sich  durch  die  Bronchien  Luft,  und 
die  anfangs  dunkele  Pectoriloquie  wird  nun  deutlicher. 
10)  Empyem  und  Hydrothorax.  11)  Pleuritis.  Die 
Bewegungen  der  von  Pleuritis  ergriffenen  Brustseite  sind 
aufgehoben,  die  Percussion  schmerzhaft,  der  Ton  natürlich, 
das  Athmungsgeräusch  schwach,  aber  rein.  Tritt  wenig 
beträchtliche  Ergiefsung  ein,  so  hört  man  durch  den  am 
Rückgrathe  angesetzten  Cy  linder  die  Aegophonie,  aber  das 
Athmungsgeräusch  nicht  mehr.  Nimmt  die  Ergiefsung  zu, 
so  verschwindet  die  Aegophonie  wieder.  Gänzliche  Abwe¬ 
senheit  des  Respiralionsgeräusches  einige  Stunden  nach  Ein¬ 
tritt  der  Krankheit,  ist  ein  ganz  pathognomonisches  Zeichen 
der  Pleuritis  mit  starker  Ergiefsung,  selbst  wenn  das  pleu- 
ritische  Stechen  nicht  da  ist.  Hört  man  die  Respiration 
noch  ziemlich  gut  unterhalb  des  Schlüsselbeins,  obgleich 
die  übrigen  Zeichen  eine  beträchtliche  und  plötzlich  erfolgte 
Ergiefsung  anzeigen,  so  kann  man  gewifs  sein,  dafs  der 

obere 


VIII.  Diagnose  der  Brustkrankheiten.  209 

obere  Theil  der  Lunge  mit  der  Kippenpleura  durch  alte 
Adhäsionen  verwachsen  ist.  Wird  das  Ergossene  aufgeso¬ 
gen,  so  senken  sich  die  nach  auisen  getriebenen  Intcrtostal- 
räume  und  Kippen ,  die  Brust  wird  enger  und  die  krank 
gewesene  Seite  erreicht  nie  mehr  ihren  vorigen  Umfang, 
noch  ihre  frühere  Beweglichkeit.  (Rec.  mufs  diesem  zum 
Theil  widersprechen,  denn  er  kann  jetzt  noch  einen  Kna¬ 
ben  vorstellen,  der  yor  drei  Jahren  durch  die  Paracentese 
von  einem  Empyem  völlig  geheilt  wurde,  dessen  krank  ge¬ 
wesene  linke  Seite  sich  eben  so  gut  als  die  gesunde  bewegt; 
so  ist  auch  bis  auf  die  Intertostalstelle,  wo  die  Oeffnung 
in  der  Brust  gemacht  wurde,  der  jetzige  Umfang  der  linken 
Seite  dem  der  rechten  gleich,  obschon  derselbe  vor  der 
Operation  über  drei  Zoll  gröfser  und  nach  der  Entleerung 
des  Eiters  einen  Zoll  kleiner  war.  Aber  auch  das  ver¬ 
schwundene  Respirationsgeräusch  hat  sich  später  in  der  lin¬ 
ken  Lunge  wieder  eingefunden.  Rec.  fand  bis  jetzt  noch 
immer  die  von  Pleuritis  ergriffene  Seite  im  Anfänge  der 
Krankheit  von  geringerem  Umfange,  als  die  gesunde,  und 
erst  nach  der  oft  erst  nach  3  —  4  Tagen  erfolgenden  Er- 
giefsung  findet  man  das  gröfsere  Volumen  der  kranken  Seite. 
Geschah  die  Ergiefsung  in  der  linken  Brust,  so  wird  das 
Herz  nach  der  rechten  Seite  gedrückt,  und  man  fühlt  dann 
den  Herzschlag  auf  der  rechten  Seite  verbreitet.  Bei  dem 
erwähnten  Knaben  ist  auch  dieses  wieder  an  der  gewöhn¬ 
lichen  Stelle.  Rec.)  Der  Unterschied  zwischen  Hydrothorax 
und  Empyem  kann  nur  durch  die  Anamnese  entdeckt  wer¬ 
den.  12)  Pleuropneumonie.  Verbindung  der  Zeichen 
der  Pneumonie  mit  denen  der  Pleuritis.  13)  Erweite¬ 
rung  der  Bronchien.  Man  hört  vollkommene  Pectori- 
loquie  mit  Schleimrasseln;  nur  die  Anamnese  und  das  keh¬ 
len  des  Eiterauswurfs  unterscheidet  diese  Krankheit  von  der 
Lungenschwindsucht.  14)  Lungenschwindsucht,  ^  or 
dem  Entstehen  der  Pectoriloquie  giebt  das  Stelhoscop  nur 
die  Zeichen  des  chronischen  Catarrhs.  15)  Brand  der 
Lungen,  meistens  die  Zeichen  der  Pneumonie  (aashaitcr 

XIII.  Bd.  2.  St.  H 


!210  \  III.  Diagnose  der  Brustkrankheiten. 

Geruch ,  I\ec.)  16)  Pneumothorax.  Die  ergriffene  Seite 
hat  einen  gröfscren  Umfang,  giebt  einen  hellen,  trommel¬ 
artigen  Ton,  das  Respirationsgeräusch  wird  nicht  gehört. 
Ilat  die  Anhäufung  des  Gases  ihren  Ursprung  in  einer  Zer- 
reifsung  der  Lunge  oder  in  der  Lntstehung  einer  Fistel, 
die  sich  plötzlich  zwischen  Bronchien  und  Pleura  öffnete, 
so  entsteht  das  metallische  Respirationsgeräusch. 

Kap.  2.  Herzkrankheiten.  a)  Krankheiten, 
die  sich  durch  eine  Veränderung  des  Stofses  aus¬ 
zeichnen,  H  y  p  e r  t  r  o p  h  ie.  Die  Zusammenziehungen  der 
Ventrikeln  geschehen  mit  einem  starken  Impulse  und  dum¬ 
pfem  Geräusche,  die  Herzschläge  werden  nur  in  einem  ge¬ 
ringen  Umfange  gehört.  Die  Contractiou  der  Vorhöfe 
geschieht  eher,  als  die  der  Ventrikeln  vollendet  ist.  Ist  der 
linke  Ventrikel  allein  hypertrophisch,  so  bemerkt  man  diese 
Zeichen  zwischen  der  fünften  und  siebenten  linken  Rippe; 
bei  Hypertrophie  des  rechten,  am  unteren  Theile  des 
Brustbeins.  —  b)  Krankheiten,  die  sich  durch  Ver¬ 
änderungen  des  Geräusches  characterisi re  n.  Er¬ 
weiterung  des  Herzens.  Die  Zeichen  'der  Hypertro¬ 
phie,  aber  schwächer;  ein  zuweilen  etwas  dunkler  Ton  in 
den  Präcordien ,  helles,  sonores,  ausgebreitetes  Geräusch  bei 
den  Contractiouen  der  Ventrikeln.  —  c)  Krankheiten,  die 
sich  durch  Veränderungen  des  Stofses  und  Ge¬ 
räusches  charakterisiren.  Erweiterung  mit  Hy¬ 
pertrophie.  DieZeichen  beider  finden  sich  verbunden.  _ 

d)  Knorpelige  und  knöcherne  Verhärtung  der 
Klappen  des  Herzens.  Bei  der  Contraction  des  linken 
Vorhofes  wird,  wenn  die  Valvula  mitralis,  und  bei  der 
des  V  entrikels,  wenn  die  Valvulae  sigmoideae  krankhaft  ver¬ 
ändert  sind,  ein  Blasebalggeräusch  gehört.  —  c)  Erwei¬ 
chung  des  Herzens.  Schwache  Contractionen  mit  einem 
gleiehmäfsigen,  dumpfen  Tone.  —  f)  Aneurysma  Aor¬ 
ta  e.  —  g)  Pericarditis  et  Ilydropericardium.  Un¬ 
bestimmte,  vom  V  erf.  nicht  selbst  beobachtete  Zeichen.  — 

Im  Anhänge  wird  noch  kurz  die  Anwendung  des 


IX.  Radesyge.  211 

Stethoscops  zur  Diagnose  der  Krankheiten  der  Trommel¬ 
höhle,  der  Eustachischen  Röhre,  der  Ausgangs¬ 
höhlen  der  Nase,  der  Leberabscesse,  Gallenbla¬ 
sensteine  (Lisfranc),  der  Fracturen,  der  Blasen¬ 
steine,  der  Herzschläge  des  Fötus  und  der  Pulsa¬ 
tionen  der  Placenta  erwähnt. 

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IX. 

Die  Radesyge  oder  das  Scandinavische  Sy- 
philoid.  Aus  scandinavischen  Quellen  darge¬ 
stellt,  von  Dr.  Ludwig  Hiinefeld,  Professor 
zu  Greifswalde.  Leipzig,  bei  Leopold  Yofs.  1828. 
8.  XII  u.  136  S.  (21  Gr.) 

Der  Verf.  will,  wie  er  sich  selbst  darüber  in  der  Vor¬ 
rede  ausspricht,  nichts  anderes  sein,  als  ein  Organ,  durch 
das  seine  Landsleute,  die  sich  für  die  genauere  Kenntnifs 
des  in  Rede  stehenden  Gegenstandes  interessiren,  hören 
und  erfahren  mögen,  was  man  bisher  in  Scandinavien  davon 
weifs  und  erforscht  hat.  Bei  einem  längeren  Aufenthalte 
in  Schweden  und  Norwegen,  wo  er  die  berühmtesten  Aerzte 
kennen  lernte,  benutzte  er  gewissenhaft  die  selten  einem 
deutschen  Arzte  zu  Theil  werdende  Gelegenheit,  jenes 
Uebel  selbst  genau  zu  beobachten,  und  giebt  uns  nun  eine 
auf  Autopsie  und  vielfältige  Untersuchungen  gegründete 
Darstellung  desselben,  die  um  so  dankenswerter  ist,  je 
weniger  wir  uns  noch  einer  genauen  Kenntnils  der  zum 
Glück  bei  uns  selten  vorkommenden  Radesyge  rühmen 
können. 

Der  Verf.  zählt  zuerst  die  litterarischen  Quellen,  aus 
denen  er  schöpfte,  auf  (wir  vermissen  Hübener  Diss.  de 
morbi  Dithmarsici  natura  ac  indole.  Kiliae,  1821.),  und 

14  * 


212 


IX.  Radesyge. 

spricht  dann  im  ersten  Kapitel  von  der  Benennung 
«  R  adesyge.  “  Er  glaubt,  dafs  Radesyge  ursprünglich  eine 
provincieile  Bezeichnung  des  Syphiloids,  und  die  Munk- 
sehe  etymologische  Entwickelung  (radc:  böse,  häfslich ;  und 
syge*.  Krankheit)  die  wahrscheinlichste  sei,  oder  dafs  die¬ 
selbe  eine  provincieile  Bezeichnung  der  Spetälska  (Aussatz, 
Lepra),  oder  einer  graduell  verschiedenen  Form  derselben 
sei,  oder  endlich,  aus  einer  mangelhaften  Distinction  ent¬ 
sprungen,  oft  beide  bezeichnet  habe,  was  noch  gegenwärtig 
hier  und  da  der  Fall  zu  sein  scheine.  Er  belegt  die  Krank¬ 
heit  mit  dem  Namen  «  Sypbiloid,**  und  nennt  dies  zur  stren¬ 
geren  Distinction  «  scandinavischcs,  »  so  wie  er  die  hollstei- 
nische  Marschkrankheit  « hollsteinischcs, »  und  die  Sibbens 
u  schottisches  Syphiloid  ”  nennt. 

Im  zweiten  Kapitel  schildert  der  Verf.  die  Symptome, 
und  stellt  folgende  Uebersicht  derselben  auf:  A)  Nach 
vorhergegangenen  (Gliederschmerzen ,  Goryza  rheumatica, 
oder  andern  präliminären  Symptomen  entstehen:  a)  kupfer¬ 
farbige  oder  auch  lichtere  Flecke  an  den  Tonsillen,  dem 
Velum  palatinum  u.  s.  w. ,  die  bald  zu  fressenden  Geschwü¬ 
ren  werden,  wenn  sie  constanter  sind;  gleichzeitig,  oder 
auch  mehr  allein,  entstehen  b)  Empfindlichkeit  und  Ge¬ 
schwulst  der  Nase,  Geschwüre,  Caries  der  Nasen-  und 
Gaumenbeine.  Diese  Affectionen  sind  <*)  von  Geschwüren 
am  Körper  begleitet,  oder  ß )  diese  können  auch  fehlen. 
B)  Der  Ausschlag  bricht  mit  einer  Menge  bösartiger  Ge¬ 
schwüre  am  Körper  plötzlich  hervor,  und  nachdem  diese 
eine  Zeitlang  so  fortgefahren  haben,  kommen  hinzu:  a)  Af¬ 
fectionen  der  Nase  und  des  Schlundes,  zuweilen  auch  des 
Scrotums  und  des  Gesäfscs,  so  wie  der  Labia  pudenda  ma- 
jora,  oder  b)  diese  bleiben  aus.  C)  Die  Nase  und  die 
angränzenden  Thcile  sind  entzündet,  empfindlich  und  ge¬ 
schwollen,  ohne  dafs  das  Uebel  sich  weiter  verbreitet. 
D)  Die  Krankheit  beginnt  bald  mit  Entwickelung  von  klei¬ 
neren  oder  gröfseren  Knoten  an  den  Beinen,  welche  nach 
längerer  oder  kürzerer  Zeit  zu  bösartigen  Geschwüren  auf- 


213 


IX.  Radesyge. 

brechen.  E)  Ohne  andere  Symptome  beginnt  die  Krank¬ 
beit  zu  allererst  mit  Schmerzen  in  den  Nasenbeinen,  die 
minder  harten  und  knorpeligen  Theile  entzünden  sich, 
schwellen,  werden  geschwürig,  und  auf  zerstörende  Weise 
zerfressen.  F)  Sörensen,  Zettermann  u.  a.  haben 
auch  Fälle  beobachtet,  wo  die  Krankheit  gleichsam  eine 
umgekehrte  Reihenfolge  der  Symptome  hatte,  so  nämlich, 
dafs  zuerst  die  knochigen  Theile  der  Nase,  des  Gaumens,  sich 
zu  entzünden  und  zu  schwellen  begannen,  bevor  die  Ent¬ 
zündung  die  weicheren  Theile  ergriffen  hatte.  Ergreift  die 
Krankheit  Arme  und  Beine  mit  Exostosen,  Geschwüren  und 
Caries,  so  ist  meist  das  Gesicht  verschont.  Sich  selbst 
überlassen,  hat  sie  denselben  Ausgang,  wie  die  Syphilis 
und  ähnliche  Krankheiten.  Die  Muskeln  können  auf  ihrer 
Oberfläche  von  grofsen,  tiefer  eindringenden  Geschwüren 
ergriffen,  und  darauf  mit  hornartigen,  lagerweis  übereinan¬ 
der  liegenden  Schorfen  bedeckt  werden;  oder  sie  verwelken 
gleichsam,  trocknen  zusammen  und  scheinen  beinahe  zu  ver¬ 
schwinden,  so  dafs  der  Patient  endlich  einem  mit  weifs¬ 
grauer,  verdorbener  Haut  überzogenen  Gerippe  nicht  un¬ 
ähnlich  ist.  Einen  solchen,  Entsetzen  erregenden  Anblick 
sah  der  Yerf.  in  Christiania.  Die  Krankheit  hat,  wie  auch 
aus  der  obigen  Aufzählung  der  Symptome  hervorging,  einen 
solchen  proteusartigen  Charakter,  dafs  ein  sehr  geübter  Blick 
erfordert  wird,  um  sie  zu  erkennen  und  von  andern,  mehr 
oder  minder  ähnlichen  Krankheiten  zu  unterscheiden.  Nach 
dem  Yerf.  hat  Holst  bei  der  Eintheilung  der  Radesyge  in 
eine  Species  squamosa  und  tuberosa  mehr  das  Bild  der 
Lepra,  als  das  dieser  Krankheit  vor  Augen  gehabt.  Rich¬ 
tiger  scheint  ihm  Hollberg’s  Eintheilung  in  Syphilis  in- 
sontium  cutaneo-reticularis,  musculo-cutanea  und  ossea 
zu  sein;  er  kommt  auf  diese  Eintheilung  später  noch  ein¬ 
mal  zurück.  —  Die  Lepra,  wie  sie  noch  in  Norwe¬ 
gen  und  Schweden  ist,  beschreibt  er  im  dritten  Ka¬ 
pitel.  Er  liefert  hier  eine  Uebersetzung  von  einem  Auf¬ 
sätze  des  Hrn.  Welhaven,  Predigers  des  St.  Georgen- 


‘214 


IX.  Radesyge. 


hospitals  der  Stadt  Bergen  in  Norwegen.  Fine  sehr  inte¬ 
ressante  Abhandlung,  die  wir  aber  naehzulesen  bitten  müs¬ 
sen.  —  lm  vierten  Kapitel  kommt  der  Ycrf.  zu  der  Dia¬ 
gnose  des  Syphiloidi  von  ähnlichen  Krankheiten  und  der 
Identität  desselben  mit  einigen  andern.  Zuerst  vergleicht 
er  das  Sypbiolids  mit  der  Lepra.  Aus  folgenden  Gründen 
sind  diese*  Krankheiten  als  durchaus  verschieden  zu  betrach¬ 
ten:  1)  Die  Lepra  ist  von  stinkendem  Athem,  Orthopnoe, 
Ermattung,  cachectischem  Ansehen,  und  glänzendem  Gesicht 
und  dergleichen  Haut,  welche  wie  fettig  anzusehen  ist,  be¬ 
gleitet.  2)  Die  Lepra  ergreift  fast  alle  Theile,  das  Syphi- 
loid  nicht  leicht  viele  zugleich.  3)  Sie  befällt  auch  das 
Gesicht,  den  Augapfel  und  die  Augenlieder,  macht  Oedem 
des  einen  oder  des  andern  Fufses ,  was  selten  bei  dem  Sy¬ 
philoid  der  Fall  ist.  Bei  dem  letzteren,  wenn  wir  das 
Scherlievo  als  Syphiloid  betrachten,  kommt  wohl  auch  Ele¬ 
phantiasis  vor,  aber  die  Functionen  sind  dabei  ungestört, 
und  sie  kann  ziemlich  leicht,  durch  Salzsäure,  geheilt  wer¬ 
den.  i)  Die  leprösen  Tuberkeln,  welche  über  die  Haut 
erhaben  sind,  exulceriren  seltener,  und  geschieht  dies,  so 
ergiefsen  sie  eine  eiterige,  blutige  Materie;  die  Zwischen¬ 
räume  der  Haut  werden  mit  einer  wcifslichen,  schuppigen 
Kruste  bedeckt.  5)  Die  Haut  ist  beim  Syphiloid  während 
aller  Ausschlagsformen  uneben,  Jucken  und  Schmerz  sind 
damit  nicht  verbunden,  oder  werden  nur  durch  besondere 
änfsere  Umstände  veranlafst.  fi)  Das  Syphiloid  kann  ohne 
krankhafte  Aenderung  des  Gemüthes  und  der  übrigen  Ge¬ 
sundheit  bestehen,  und  so  ist  es  in  der  Kegel,  während 
bei  der  Lepra  das  Gegentheil  statt  findet.  7)  Der  Ge¬ 
schlechtstrieb  der  Leprösen  ist  entweder  sehr  stark,  oder 
vernichtet;  mehrere  Glieder  leiden  an  Gefühllosigkeit.  8) 
Das  Syphiloid  kann  verschwinden,  ohne  jemals  wiederzu¬ 
kommen,  selbst  bei  Patienten,  die  niemals  ein  Heilmittel 
dagegen  gebraucht  haben.  9)  Die  Lepra  ist  unheilbar, 
und  der  Gebrauch  des  Quecksilbers  verschlimmert  sie  eher. 
Auch  di£  Diätcur  hilft  nichts  dagegen.  Die  Kadesvge  weicht 


IX.  Kadesyge.  !215 

der  Diätcur,  und  das  Quecksilber  ist  kein,  in  Bezug  auf 
die  Natur  der  Krankheit  contraindicirtes  Mittel.  10)  Wäh¬ 
rend  der  Jahre  1813  bis  20  kam  die  Lepra  auf  dem  Cur- 
hause  zu  Stockholm  nur  19 mal  vor;  die  Lepra  ist  daher 
eine  viel  seltenere  Krankheit,  als  die  Radesyge.  11)  Die 
Lepra  ist  eine  sehr  alte  Krankheit;  die  Radesyge  dagegen 
ist  in  Schweden  zuerst  1787,  und  in  Norwegen  1720  be¬ 
obachtet  worden.  Die  von  5  —  11  angegebenen  Kenn¬ 
zeichen  scheinen  einen  festen  Unterschied  zu  constatiren.  — 
Aus  der  Uebersicht  der  aufgeführten  Symptome  des  Scher- 
lievo  ergiebt  sich  eine  so  grofse  Aehnlichkeit  desselben  mit 
der  Radesyge,  dafs  man  sie  nicht  zu  unterscheiden  vermag, 
und  höchst  wahrscheinlich  sind  es  vollkommen  gleiche  Krank¬ 
heiten,  die  eine  gleiche  Erzeugungsursache  und  Fortpflan- 
zungsart  haben!  —  Das  Syphiloid  verglichen  mit  der  Marsch- 
krankheit  Holsteins,  mit  der  esthländischen  Krankheit  und 
den  schottländischen  Sibbcns,  liefert  nach  dem  Yerf.  diesel¬ 
ben  Resultate.  Dafs  sich  unsere  Krankheit  deutlich  vom 
Scorbut  unterscheidet,  zeigt  er  hinreichend.  In  Hinsicht 
des  Vergleichs  mit  der  Syphilis  meint  er,  die  \erschieden- 
heit  zwischen  beiden  Krankheiten  sei  zu  grofs,  als  dafs  wir 
das  Syphiloid  für  mehr  als  eine  blofse  Abart  der  Syphilis  halten 
sollten.  —  Im  fünften  Kapitel  handelt  der  Verf.  die  Aetio- 
logie  ab.  Armuth  und  Unreinlichkeit  sind  eine  Hauptbe- 
dingung  zur  Entstehung,  wenigstens  ein  Hauptaccidens. 
Für  höchst  wahrscheinlich  hält  es  der  Verf.,  dals  die  man¬ 
gelhafte,  meistens  aus  fetten  oder  auch  getrockneten  und 
geräucherten,  und  schlecht  gesalzenen  oder  wohl  auch  halb 
verfaulten  Fischen  bestehende,  wenig  der  Abwechselung 
unterworfene  Diät,  im  Conflict  mit  einer  Einwirkung  der 
feuchten,  kalten  und  veränderlichen  Luft  auf  die  unreine 
Haut,  eine  Prädisposition  veranlasse,  und  der  Hauptursache, 
dem  syphilitischen  Contagium,  eine  veränderte  torm  auf¬ 
drücke.  Die  hier  gegebene  historische  Entwickelung  der 
Krankheit  scheint  allerdings  für  ein  modificirtes  syphilitisches 
Contagium  zu  sprechen.  Die  Radesyge  mag  daher  wohl 


216 


IX.  Radesygc. 

als  eine  durch  die  Zeit,  Lehensart  und  Ansteckungsweise 
gemilderte  und  veränderte  Lues  venerea  tu  betrachten  sein. 
(Es  ist  d  ies  vorzüglich  v.  yV  eigel’s  Ansicht.)  Ueber- 
einstimmcnd  sollen  die  meisten  Angaben  darin  sein,  dafs 
das  durch  die  Radesyge  erzeugte  Contagium  gewöhnlich 
durch  unreine  Kleider,  Trinkgefäfse,  Tabakspfeifen,  unreine 
Betten  u.  dergl.  verbreitet  werde.  Dafs  die  Krankheit  an¬ 
steckend  und  erblich  sei,  soli  keinem  Zweifel  unterworfen 
sein.  Der  'S  erf.  ist  der  Ueberzeugung,  dafs  der  Sitz  der 
Radesyge  über  den)  Capillargeilechte  der  Haut,  das  Wesen 
derselben  eine  zu  einer  allgemeineren  Vertheilung  gekom¬ 
mene,  und  durch  besondere  Umstände  veränderte,  syphili¬ 
tische  Entzündung  sei.  v.  Weigel  nimmt  folgende  Cir- 
culation  in  der  Entstehung  des  Syphiloids  an:  1)  Meistens 
primäre  Austeckuog  der  Vornehmem  durch  eigentliche  Sy¬ 
philis,  und  zwar  au  den  Gcscblechtslheilen,  was  aus  der 
Gesammtentwickelung  der  Umstände  hervorgeht,  oder  auch 
primäre  Ansteckung  geringer  Leute.  2)  Ansteckung  un¬ 
reinlicher  Individuen  durch  Geschlechtssyphilitische  (sic!) 
an  anderen  Stellen  des  Körpers  durch  unreine  Wäsche, 
Betten  u.  s.  w. ,  durch  die  Brüste  der  Weiber,  durch  das 
Kauen  des  Brotes  u.  s.  w.  zu  Radesygischen.  3)  Ansteckung 
anderer  durch  nicht  Geschlechtssyphilitische ,  sondern  Rade- 
sygische  zu  wiederum  Geschlechtssyphilitischen. 

Im  sechsten  Kapitel  endlich  kommt  der  Verf.  zur  The¬ 
rapie.  Nachdem  er  die  Wirkung  der  Mercurialien ,  und 
unter  den  Pflanzenmitteln  vorzüglich  die  ausgezeichneten 
Wirkungen  der  Radix  Chinae  auseinandergesetzt  hat,  be¬ 
schreibt  er  die  Methodus  mixta,  die  Räucherungsmethode, 
die  Osb  eck  sehe  Diätcur  und  die  Ru  st  sehe  Scbmiercur, 
am  ausführlichsten  die  Osbecksche  Diätcur,  die  er  auch 
geschichtlich  entwickelt,  die  wir  jedoch,  als  aus  anderen 
Schriften  hinlänglich  bekannt,  mit  Stillschweigen  übergehen 
können.  Die  Osbecksche  Curmethode  ist  übrigens  die 
herrschende  in  den  Lazarethen  Schwedens  geworden,  nur 
in  Norwegen,  wo  man  sich  der  Sarsaparille,  des  Queck- 


X.  Keuchhusten,  217 

silbers,  des  Goldschwefels  bedient,  hat  sie  noch  keinen  Ein¬ 
gang  gefunden. 

In  einem  Anhänge  theilt  der  Yerf.  noch  sehr  interes¬ 
sante  tabellarische  Uehersichten  -  seit  dem  Jahre  1813  mit, 
denen  er  auch  die  daraus  gezogenen  Folgerungen  und  An¬ 
sichten  beifügt.  YVir  erwähnen  blofs,  dafs  die  mit  der 
Dzondischen  Sublimat- Curmethode  angesteüten  Versuche 
sehr  unglückliche  Resultate  lieferten. 

Druck  und  Papier  dieser  kleinen,  sehr  zu  beachtenden 
Schrift,  sind  ausgezeichnet  gut. 

>  '  '  J  — 0  — 


X.  ,  , 

H.  M.  J.  Desruelles,  Dr.  der  Med.,  Wundarztes 
am  Militärhospitale  für  den  Unterricht  zu  Val- 
de-Gräce,  Abhandlung  über  den  Keuch 
husten,  nacli  den  Grundsätzen  der  physiologi¬ 
schen  Lehre  verfafst.  Eine  von  der  med.  prakt. 
Gesellschaft  zu  Paris  am  26.  August  1826  ge¬ 
krönte  Schrift.  Aus  dem  Französischen  übersetzt 
und  mit  Anmerkungen  begleitet  von  Gerhard 
von  dem  Busch,  Dr.  der  Med.,  ausübendem 
Arzte  zu  Bremen  u.  s.  w.  Bremen,  Druck  und 
Verlag  von  J.  G.  Heyse.  1828.  8.  XIII  u.  316  S. 
(1  Thlr.  16  Gr.) 

r  , 

i 

Der  Keuchhusten,  ein  Opprobrium  medicorum,  be¬ 
durfte  noch  immer  tüchtige  Bearbeitungen,  da  die  verschie¬ 
denen  Ansichten  über  das  Wesen  desselben  und  die  Mittel 
zu  seiner  Bekämpfung  durchaus  nicht  genügend  waren. 
Deshalb  verdient  die  med.  prakt.  Gesellschaft  zu  Paris  un- 
sern  Dank,  dafs  sic  im  Jahre  1825  eine  Preisaufgabe  über 


218 


X.  Keuchhusten. 


diese  Krankheit  setzte,  für  deren  vorliegende  Lösung  des 
schon  durch  eine  Abhandlung  über  den  Croup  rührolichst 
bekannten  Desruelles  den  Preis  erhielt.  Ob  der  eifrige 
Anhänger  Broussais’s,  der  übrigens  nicht  unbekannt  mit 
der  deutschen,  englischen  und  italienischen  Litteratur  seines 
Gegenstandes  ist,  durch  die  sogenannte  physiologische  Lehre 
die  Aufgabe  wirklich  gelüst  und  uns  das  Wesen  und  den 
Sitz  des  Keuchhustens  kennen  gelehrt  habe,  wird  die  fol¬ 
gende  Analyse  seiner  Schrift  ergeben. 

Mit  Marcus,  l)anz  u.  s.  w'.  hält  der  Verf.  den  Keuch¬ 
husten  für  eine  Krankheit,  die  schon  vor  dem  Jahre  1414 
(Sprengel)  da  gewesen  sein  soll.  Sporadisch  kommt  sie 
selten,  häufiger  epidemisch  vor,  in  den  tropischen  Gegen¬ 
den  nie  (welches  der  Ilr.  Uebersetzer  durch  Beweisstellen 
widerlegt).  D.  hält  den  Keuchhusten  nicht  für  contagiüs, 
und  zur  Erzeugung  desselben  eine  gewisse  Beschaffenheit 
der  Atmosphäre  noth wendig. 

Zu  den  von  D.  angegebenen  Synonymen  des 
Keuchhustens  fügt  B.  die  in  der  englischen,  schwe¬ 
dischen  und  deutschen  Sprache  hinzu.  D.  schlägt,  um  den 
Sitz  und  die  Natur  des  Keuchhustens  zu  bezeichnen,  das 
neue  Wort:  Broncho- Cephalite  vor;  ist  aber  beschei¬ 
den  genug,  das  alte:  Coqueluche,  in  seiner  Schrift  beizu¬ 
behalten. 

In  dem  Abschnitte:  Von  der  Natur  und  dem 
Sitze  des  Keuchhustens,  werden  die  verschiedenen  Mei¬ 
nungen  der  früheren  Beobachter  über  das  Wesen  dieser 
Krankheit  mehr  oder  minder  weitiäuftig  kritisirt  und  ge¬ 
zeigt,  dafs  weder  Entzündung  der  Bronchien  (besonders  nach 
Marcus),  noch  Nervenreizung  (besonders  nach  Iiufe- 
land),  als  nächste  Ursache  des  Keuchhustens  anzunehmen 
sei.  Der  Keuchhusten  ist  nach  D.  eine  Bronchitis, 
verbunden  mit  einer  intermittirenden  Beizung 
des  Hirns  und  einer  Congcstion  zu  diesem  Or¬ 
gane.  Die  Entzündung  der  Bronchien  ist  das  primäre,  die 
Hirnreizung  das  eonsccutivc  Leiden.  So  lange  die  Bron- 


X.  Keuchhusten. 


219 


chitis  einfach  Ist,  hat  der  Husten  nichts  besonderes.  So¬ 
bald  aber  das  Zwerchfell,  die  zur  Exspiration  dienenden 
Muskeln,  die  Muskeln  der  Glottis,  des  Larvnx,  die  hintere 
Haut  der  Bronchien,  die  Luftzellchen  der  Lungen  und 
selbst  der  Gaumenvorhang  (nach  Laennec)  mit  in  das 
Leiden  hineingezogen  und  unter  dem  Einflüsse  der  Hirn¬ 
reizung  krampfhaft  ergriffen  werden,  so  verändert  der  Hu¬ 
sten  seinen  bisherigen  Charakter  und  wird  convulsivisch. 
Jedesmal,  wenn  der  Andrang  von  Blut  zum  Hirne  erfolgt, 
kehrt  der  Husten  wieder  und  giebt  sich  dann  durch  ein¬ 
zelne  Anfälle  zu  erkennen  (der  Kranke  müfste  dann  ohne 
Aufhören  husten,  denn  die  stärkste  Congestion  zum  Hirne 
entsteht  ja  während  des  Hustens,  oder  wird,’ wenn  sie 
früher  schon  da  war,  unterhalten.  Bec.)  Diese  aussetzende 
Congestion  zum  Gehirn  geht  dem  Hustenanfalle  vorher, 
hebt  sich  mit  demselben,  um  bald  neuerdings  wieder  zu 
erscheinen  und  neue  Anfälle  herbeizuführen.  Die  Folge 
dieses  Zustandes  ist  eine  Abscheidung  einer  mehr  oder  min¬ 
der  zähen,  dicken  und  weifslich -schleimigen  Flüssigkeit, 
die  ausgespieen  oder  durch  Erbrechen  ausgeleert  wird.  Diese 
weifslich  (nicht  weichlich,  wie  mehrmals  gedruckt  ist) 
schleimige  Absonderung  ist  Folge  der  Beizung  der  Schleim¬ 
bälge  und  Schleimdrüsen.  Der  Dr.  Beveille  -  Parise, 
der  in  seinem  vierzigsten  Jahre  am  Keuchhusten  litt,  ver¬ 
sicherte,  die  Erschütterungen,  welche  die  krampfhaften 
Zusammenziehungen  des  Zwerchfells  und  der  Exspirations¬ 
muskeln  verursachten,  gefühlt  zu  haben.  Nach  den  Husten¬ 
anfällen  fühlte  er  eine  grofse  Schwäche  im  unteren  Theile 
der  Brust  und  in  der  Gegend  der  Befestigungspunkte  des 
Zwerchfells.  Die  nervösen  Zufälle  entstehen  durch  die 
Bespirationsnerven ,  als  Leiter  des  gereizten  Gehirns.  Diese 
Behauptung  sucht  D.  im  Folgenden  durch  die  neueren  'Ver¬ 
suche  über  das  gesunde  und  kranke  Gehirn  und  Nerven¬ 
system,  von  C.  Bell,  Magen  die  und  Desmoulins  an- 
gestellt,  zu  erläutern.  —  Schon  Leroy  (1803)  hielt  den 
Keuchhusten  für  eine  die  Hirnhäute  afficirende  Krankheit; 


220 


X.  Keuchhusten. 


Boisseau  (1822)  machte  auf  die  Ilirnrcizung  während  des 
Keuchhustens  aufmerksam;  allein  "Webster  zeigte  zuerst, 
dafs  der  Sitz  des  Keuchhustens  im  Gehirne,  und  das  Lun¬ 
genleiden  nur  sympathisch  sei.  Begin  nimmt  an  (und  wohl 
mit  Hecht,  Kec.),  dafs  diese  Ilirnreizung  nur  als  Compli- 
cation  vorkomme,  und  secundäres  Leiden  sei.  (Man  sieht 
hieraus,  dafs  der  Verf.  nicht  der  erste  Beobachter  der  Ilirn- 
reizungen  im  Keuchhusten  gewesen  ist,  und  die  verschie¬ 
denen  Meinungen  früherer  Beobachter  zu  verschmelzen 
sucht.  Kec. )  Mehrere  Mitglieder  der  med.  prakt.  Gesell¬ 
schaft  haben  durch  neue  Thatsachen  die  Richtigkeit  der 
Ansichten  des  \ erf.  bestätigt,  im  Folgenden  zeigt  er  auch, 
dafs  in  den  Beschreibungen  der  früher  beobachteten  Epide- 
mieen  mehrere  Bemerkungen  enthalten  sind,  die  ebenfalls 
für  die  Wahrheit  seiner  Theorie  über  den  Sitz  des  Keuch¬ 
hustens  sprechen.  (Auch  Kec.  sah,  wie  v.  d.  B.,  nie  den 
Keuchhusten  ohne  die  erste,  catarrhalische  Periode.) 

Zu  den  Affectionen,  die  den  Anfällen  des 
Keuchhustens  vorangehen,  rechnet  I).  die  einfache 
und  complicirte  Bronchitis;  zu  dieser  die  Tracheo  -  Bronchi¬ 
tis  und  die  Bronchitis  mit  einer  sympathischen  Heizung  des 
Gehirns  verbunden,  welche  letzteren  Symptome  die  wirk¬ 
lichen  Vorläufer  des  Keuchhustens  sind  (oder  vielmehr, 
nach  den  Ansichten  des  V  erf. ,  der  wirkliche  Keuchhusten.)  — 
Naturgetreu  ist  die  Beschreibung  des  Keuch  h  ustena  n- 
falles.  Die  einzelnen  Anfälle  sollen  häufiger  bei  INacht  als 
bei  Tage  erscheinen.  (Kec.  fand  dieses  umgekehrt;  am  be¬ 
stimmtesten  kam  ein  Anfall  kurz  nach  dem  Essen,  oder  nach 
Aerger  u.  s.  w.  Die  Bemerkung  des  Ilrn.  Ucbersetzers, 
dafs  durch  psychischen  Eindruck,  wie  bei  der  Epilepsie,  ein 
Anfall  hervorgerufen  wurde,  bestätigt  Kec.;  er  fand  dies 
schon  beim  gewöhnlichen  Husten.)  Die  Zahl  der  einzelnen 
täglichen  Anfälle  ist  unbestimmt.  (Gewöhnlich  sind  die 
Anfälle  in  der  ersten  Zeit  der  Krankheit  häufiger,  aber 
nicht  so  stark,  als  in  der  späteren  Periode.  Hinsichtlich 
der  Dauer  der  Krankheit  läfst  sich  gar  keine  Kegel  fest- 


X.  Keuchhusten. 


22t 


setzen,  es  hangt  dieselbe  zum  Theil  von  der  Eigentümlich¬ 
keit  der  Epidemie,  zum  Theil  von  der  Individualität  des 
Kranken  ab.  Rec.  bürte  mehrere  Kinder  noch  Jahre  lang 
nach  dem  Keuchhusten  bei  jedem  Catarrh  mit  dem  Keuch¬ 
hustentone  husten.  Immer  waren  diese  von  nervöser  Con¬ 
stitution.  In  solchen  Fällen  würde  man  gewifs  nach  dem 
durch  Keuchhusten  erfolgten  Tode  die  vom  Prof.  Rauer 
in  den  Tübinger  Blättern  I,  1.  beschriebenen  krankhaften 
Veränderungen  in  dem  Vagus  und  Sympathicus  maxim.  fin¬ 
den.  Rec.) 

Resultate  der  Leichenöffnung.  «Der  einfache 
Keuchhusten  wird  nur  dann  tödtlich,  wenn  während  eines 
Anfalles  durch  einen  langen  Krampf  der  Muskeln  der  Glot¬ 
tis  diese  Oeffnung  plötzlich  verschlossen  und  der  Zugang 
der  Luft  gehemmt  wird”  (wohl  meist  durch  Bronchitis, 
Rec.).  Zwei  Sectionsgeschichten  von  Marcus  führt  der 
Verf.  zum  Belege  dagewesener  Bronchitis  an,  und  in  einer 
von  ihm  gemachten  Leichenöffnung  war  die  Pia  mater  und 
Hirnsubstanz,  besonders  nach  der  vorderen  Seite  der  Basis 
des  Hirns,  mit  Blut  überfüllt;  die  Hirnhöhlen  waren  voll 
von  einer  serösen  Flüssigkeit,  und  die  Sinus  der  Dura  mater 
strotzten  von  Blut,  in  der  Brust  Zeichen  einer  dagewe¬ 
senen  Bronchitis;  dieses  war  auch  in  der  zweiten  Beobach¬ 
tung  der  Fall,  bei  der  sich  noch  rothe  Flecken  in  der 
dicken  und  durchsichtigen  Arachnoidea  und  Wasseransamm¬ 
lung  in  den  Hirnhöhlen  zeigte.  Wichtig  ist  hier  der  er¬ 
gänzende  Zusatz  des  Hrn.  Uebersetzers,  der  die  nicht  er¬ 
wähnten  Beobachter  und  die  Resultate  der  von  denselben 
gemachten  Leichenöffnungen  aufzählt.  Derselbe  macht  hier 
auch  darauf  aufmerksam,  dafs  die  krankhaften  Zeichen,  die 
man  nach  dem  Tode  im  Gehirne  findet,  öfters  erst  durch  ge¬ 
waltsame  Anstrengungen  beim  Husten  entsanden  sind.  Fort¬ 
gesetzte  sorgfältige  Beobachtungen  werden  die  Ansicht  des 
Verf.  wohl  auf  das  Reine  bringen! 

Ursachen  des  Keuchhustens.  Gewisse  Einflüsse, 
die  für  Hirn-  und  Bronchialreizung  empfänglich  machen. 


222 


X.  Keuchhusten. 


Prädisponirend  sind  kindliches  Alter,  weibliches  Geshclecht, 
nervöser,  reizbarer  Zustand,  veränderliche  W  ittcrung,  krank¬ 
hafte  körperliche  Anlage,  z.  B.  Erhitzung,  Zahngeschäft, 
Bronchitis  u.  s.  w. 

Com plicat io n en  des  Keuchhustens.  Die  Hirn¬ 
reizung  geht  in  einen  wirklich  entzündlichen  Zustand  über, 
besonders  bei  Kindern  von  zartem  Alter,  die  dann  häufig 
an  Krämpfen,  Schlagllufs  (Hydrencephalus,  Bec.)  sterben. 
Vermehrter  Kopfschmerz,  gerüthete  Conjunctiva,  Delirium, 
Neigung  zum  Schlaf,  begleiten  die  nach  einem  Hautfrö- 
steln  folgende  brennende  Hitze.  —  Pneumonie  tritt  häufig 
zu  dem  Keuchhusten  hinzu,  desgleichen»  Tracheitis  (noch 
öfter  Laryngitis,  Kec.),  Entzündung  der  erdauungsorgane, 
Masern,  Scharlach,  Blattern  (häufiger  noch  gehen  diese  ex- 
anthematischen  Krankheiten  dem  Keuchhusten  voraus,  Bec.), 
hartnäckige  Augenentzündungen,  Epilepsie,  Lehr,  intermitt. 
tert.  simplex  et  duplicata.  — 

Ausgänge  des  Keuchhustens.  Die  Krankheit  geht 
entweder  in  Genesung,  oder  Tod,  oder  in  andere  Krank¬ 
heiten  über.  Becidive  entstehen  leicht  bei  Kindern,  selten 
bei  Erwachsenen.  Krisen  sind  nicht  nachzu weisen.  Oefte- 
res  Nasenbluten  erleichtert  die  Krankheit,  und  führt  oft  am 
schnellsten  zur  Genesung.  Kopfgrind  soll  den  Keuchhusten 
heben  (weder  v.  d.  B.  noch  Bec.  fanden  dies).  Die  be¬ 
deutendsten  Folgekrankheiten  sind  Apoplexie,  Bluthusten 
(danach  meist  Phthisis,  Bec.),  organische  Herzkrankheiten 
'(ein  nicht  seltener  Ausgang  bei  Säuglingen,  Bec.),  Ilerniae. 

Eintheilung  des  Keuchhustens.  —  Prognose. 
Ungünstig  ist  sie  bei  säugenden,  zahnenden  Kindern,  bei 
denen,  die  von  schwindsüchtigen  Ellern  geboren  wurden 

(auch  Bec.  machte  diese  vom  V  erf.  bezweifelte  Beobach- 

• 

tung),  wenn  die  Bespiration  in  der  anfallsfreicn  Zeit  be¬ 
schleunigt  bleibt,  der  Husten  häufig  und  heftig  ist  u.  s.  w. 
Von  den  günstigen  Zeichen,  deren  D.  neunzehn  aufstellt, 
hebt  Bec.  nur  die  aus,  die  es,  nach  den  Beobachtungen  der 
Epidemieeo  gemach i,  ebenfalls  gewesen  sind:  vorgerücktes 


X.  Keuchhusten. 


223 


Alter,  gut  gebildete  Brust,  Veränderung  der  nafskalten 
Witterung  in  wärmere  und  trockene,  Husten  mit  Erbre¬ 
chen,  völlige  Intermission  der  Krankheit,  besonders  des 
Nachts,  Nasenbluten,  Schmerzhaftigkeit  im  Kopfe,  fieber- 
lose  Ausschläge  u.  s.  w.  \  , 

Fragen  in  Bezug  auf  das  Contagium,  die  R  e  - 
cidive  und  die  Tödtlichkeit  des  Keuchhustens. 
D.  hält  ihn  nicht  für  contagiös,  da  man  das  Dasein  eines 
Ansteckungsstoffes  nicht  beweisen  kann  (v.  d.  B.  ist  aus 
wichtigen  Gründen  von  der  Contagiosität  des  Keuchhustens 
überzeugt,  ruit  ihm  die  meisten  deutschen  Aerzte  und  auch 
Rec.).  ln  der  Regel  befällt  der  Keuchhusten  nur  einmal 
im  Leben.  (Rec.  macht  auf  den  noch  längere  Zeit  bleiben¬ 
den,  eigenthümlichen  Ton  aufmerksam,  der  wohl  öfters  zu 
dem  Glauben  eines  wiederholten  Ausbruchs  der  Krankheit 
Veranlassung  gegeben  hat.).  Lieber  die  relative  Tödtlichkeit 
giebt  der  Verf.  interessante,  keines  Auszuges  fähige  Zusam¬ 
menstellungen.  — 

Prüfung  der  verschiedenen  Mittel,  die  gegen 
den  Keuchhusten  vorgeschlagen  und  gebraucht 
worden  sind.  Allgemeine  und  örtliche  Blutentleerun¬ 
gen  wurden  ziemlich  häufig,  aber  nur  bei  sogenannten 
Complicationen  angewandt.  Der  Hr.  Uebersetzer  fand  in 
mehreren  Fällen  das  Anlegen  der  Blutegel,  nach  Web¬ 
ster,  sehr  zweckmäfsig.  D.  will,  dafs  man  auch  bei  leich¬ 
tem  Keuchhusten  Blutegel  setze,  weil  auch  die  leichteste 
Art  desselben  in  so  schwere  Krankheit  ausarten  könne.  Er 
Täfst  gewöhnlich  zwei  Blutegel  an  jede  Schläfengegend  setzen, 
und  zuweilen  dergleichen  auch  an  die  Brust.  Mehrere 
Krankheitsgeschichten  zeugen  von  dem  ausgezeichneten  Er¬ 
folge  dieser  Heilmethode  auf  die  Linderung  und  Abkürzung 
der  Krankheit,  hierbei  empfiehlt  er  geregelte  Lebens¬ 
art,  milde  Kost,  besänftigende  und  Brustmittel. 
Oft  (gewifs  aber  ohne  Noth,  Rec.)  sind  angezeigt:  Räu¬ 
cherungen,  Kataplasmen,  Foinentationen  und  er¬ 
weichende  Mittel.  Das  isländische  Moos  wendet  er 


224 


X.  Keuchhusten. 


nur  bei  dem  nach  der  Heilung  des  Keuchhustens  zuriickblei- 
benden,  hartnäckigen  Husten  an  (und  cs  ist  dann  ein  höchst 
schätzbares  Mittel,  I\er.).  Magnesia  us ta  ist  unnütz; 
auslcerende  Mittel  sind  zu  verwerfen;  Rrcchmittel 
schädlich  ( Rec.  hat  sie  oft  mit  dem  ausgezeichnetsten  Er¬ 
folge  gegeben,  ja  sie  sind  zuweilen  die  einzigen  Mittel  ge¬ 
wesen,  sie  wurden  dann  alle  drei  bis  vier  Tage  angewandt» 
natürlich  dann  erst,  vVenn  die  entzündliche  Reizung  geho¬ 
ben  war.  Sie  wirken  aber  auch  nicht  allein  ausleerend» 
sondern  auch  krampfstillend,  und  heben  oft  den  sich  noch 
lange  hinziehenden  Husten.  Rec.  gebraucht  mit  den  mei¬ 
sten  Praktikern  fast  nur  Rad.  Ipecac. )  China  nützt  nur 
in  der  intermittirenden  Form  des  Keuchhustens;  Kno¬ 
blauch,  Cantharidcn  (nützten  v.  d.  B.  in  einem  Falle), 
Bibergeil,  Blausäure  (gebrauchte  Rec.  in  einer  Epide¬ 
mie  mit  Nutzen,  in  zwei  andern  ohne  diesen),  Be  dum 
palustre,  Squilla,  Antimonialia,  Kermes  mincra- 
lis,  Diaphoretica,  Opium,  Schierling,  Tabaks- 
und  Bilsenkrautextract,  Belladonna  (v.  d.  B.  fand 
sie  in  einer  Epidemie  nützlich;  Extr.  Pulsat.  nigric.  ver¬ 
suchte  er  nicht;  Extr.  herb.  Stramonii  in  einzelnen  Fällen 
mit  Erfolg).  Flor.  Zinci  werden  aufgezählt,  die  Beob¬ 
achtungen,  in  denen  sie  genützt  haben  sollten,  angeführt, 
aber  alle  diese  Mittel  theils  als  unnütz,  theils  als  schädlich 
verworfen.  Beträchtlich  sind  die  littera rischen  Zusätze  des 
Hrn.  Herausgebers.  (Nur  die  von  Ilahnemann  empfoh¬ 
lenen  Flor.  Droserae  rotundifol.,  deren  Nutzen  sich  auch 
nicht  bestätigt  hat,  ist  nicht  angeführt.  Rec.).  —  Oert- 
liche  Mittel.  Cauterien,  Haarseile,  Vaccination  (ein  Kind, 
welches  während  der  Vaccination  Keuchhusten  bekam,  starb. 
Rec.).  Brech weinsteinsalbe  (v.  d.  B.  hält  sie  mit  Rec., 
der  sich  schon  einmal  an  einem  anderen  Orte  darüber  aus¬ 
sprach,  für  ein  überiliissiges,  q ual volles  Mittel).  D.  sagt 
von  diesen  Mitteln:  Glücklich  waren  die  Kranken  zu  prei¬ 
sen,  die,  der  Natur  überlassen,  nur  die  Qualen  ihrer  Krank¬ 
heit  zu  ertragen  hatten  1  (eine  Bemerkung,  die  Rec.  gern 

unter- 


XI.  Selbstmord. 


225 


unterschreibt).  Laue  Bäder  empfehlen  D.  und  v.  d.  B., 
kalte  schaden.  Fufsbäder  sind  dem  Verf.  nach  den  Blut¬ 
entleerungen  die  wichtigsten  Mittel.  Applicationen  auf 
das  Epigastrium  sind  unnütz. 

Eine  Zusammenstellung  der  vom  Verf.  empfohlenen 
Behandlung  übergehen  wir,  da  diese  sich  schon  aus  dem 
Mitgetheilten  ergiebt.  Er  führt  hierbei  die  ihm  auch  in 
einigen  Fällen  nützlich  gewesene  Ortsveränderung  der 
Kranken  (die  auch  Rec.  in  einigen  Fällen  mit  Erfolg  rieth), 
und  den  von  Willis  und  Odier  empfohlenen  Aufenthalt 
in  Windmühlen  an. 

• 

Rec.,  obschon  er  in  manchen  Punkten  von  den  Mei¬ 
nungen  des  Verf.  abweichen  mufs,  gesteht  doch  gern,  dafs 
ihm  das  Lesen  dieser  Schrift,  die  noch  dazu  auf  feines 
Papier  und  mit  deutlichen  Lettern  gedruckt  ist,  ein  wahres 
Vergnügen  gewährt  hat.  Selten  finden  wir  in  den  Schrif¬ 
ten  unserer  Nachbarn  eine  solche  Kenntnifs  fremder  Litte- 
ratur;  das  wenige  Fehlende  hat  der  in  fliefsendem  Deutsch 
schreibende  Hr.  Herausgeber  hinzugefügt,  dem  wir  für  diese 
Uebertragung  eines  einem  gefühlten  Bedürfnisse  abhelfenden 
Werkes  unsern  aufrichtigen  Dank  sagen. 


Behr . 


XL 

Der  Selbs  tmord  in  arzneigerichtlicher  und 
in  medicinisch-polizeilicher  Beziehung; 
von  Dr.  Hey  fe  Id  er,  Mitgliede  der  mcdicinisch- 
chirurgischen  Gesellschaft  in  Berlin,  der  Societe 
de  medecine  in  Lyon,  der  Societe  des  Sciences 
Medicales  du  Departement  de  la  Moselle  in  Metz, 
der  Wetterauischen  Gesellschaft  für  die  gesammtc 
Naturkuhde,  der  medicinisch- philosophischen  Ge- 
XIII.  Bd.  2.  st.  15 


XI.  Selbstmord. 


226 


Seilschaft  in  Würzburg,  der  Leopoldinisch -  Caro- 
linisclicn  Academie  der  Naturforscher,  und  prakti¬ 
schem  Arzte  in  Trier.  Berlin,  in  der  Knslinschen 
Buchhandlung.  1828.  8.  VI  u.  1 J 3  S.  (18  Gr.) 


Es  ist  eine  betrübende  Erfahrung,  dafs  die  Zahl  der 
Selbstmorde  mit  der  Verfeinerung  der  Sitten  und  der  grölse¬ 
ren  Verwickelung  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  glei- 
chen  Schritt  hält,  und  dadurch  an»  augenscheinlichsten  die 
Gebrechen  offenbart,  an  welchen  die  fortschreitende  Gultur 
des  Menschengeschlechts  je  länger  je  mehr  erkrankt.  Unge¬ 
achtet  der  grofsen  Vorzüge,  welche  die  CiviÜsation  durch 
Eröffnung  eines  u^nbegränzten  Wirkungskreises  für  die  gei¬ 
stige  Thätigkeit  der  einzelnen  Staatsbürger  gewährt,  ist  sie 
leider  nur  zu  sehr  darauf  berechnet,  die  Energie  des  Cha¬ 
rakters  zu  schwächen,  und  dadurch  dem  Genüith  die  uner¬ 
schrockene  Ausdauer  in  Gefahren,  die  unbesiegbare  Stand¬ 
haftigkeit  in  Ertragung  schwerer  Leiden  zu  rauben,  durch 
welche  die  im  Naturzustände  lebenden  Wilden  sieb  so  sehr 
zu  ihrem  Vortheil  auszeichnen.  Nur  wenn  man  dies  lebel 

:n  seiner  Quelle  aufsucht,  uud  laut  seine  Stimme  erhebt 

*  « 

gegen  die  Thorheiten  und  Ausartungen  des  Zeitgeistes, 
welcher  seinen  Verirrungen  immer  zahlreichere '  Opfer  zu 
bringen  droht,  darf  man  hoffen,  den  Makel  auszutilgen, 
mit  welchem  er  sich  befleckt  bat,  und  dadurch  die  zum 
Theil  nur  zu  gegründeten  Anklagen  der  Feinde  aller  fort¬ 
schreitenden  Cultur  zu  entkräften.  Man  zieht  aber  offen¬ 
bar  einen  Schleier  über  die  Kehrseite  unseres  geselligen 
Zustandes,  wenn  man,  wie  der  Verf.,  die  Veranlassungen 
zum  Selbstmorde  gröfstentheils  in  physischen  Bedingungen 
sucht,  gleich  als  wollte  mau  der  Natur  eine  Schuld  auf¬ 
bürden,  deren  der  Meusch  allein  sich  tbeilhaftig  gemacht 
hat.  I)ie  Erfahrung,  dafs  trübe  Gemüthsstinmmng  sich 
im  Gefolge  anhaltender,  nafskallei*  Witterung  einzustcllen 
pflegt,  berechtigt  uns  noch  nicht,  die  Gegenden,  wo  die 
Nebel  während  zwei  DriUheilcu  des  Jahres  den  Zutritt  der 


XI.  Selbstmord. 


227 


Sonne  verhindern,  und  ein  feuchtes  und  kaltes  Wetter  bei 
tiefem  Barometerstände  der  stehende  Typus  der  Atmosphäre 
ist,  als  solche  zu  bezüchtigen,  welche  leicht  lndifferentiV 
mus  und  Lebensüberdrufs  her'vorbringen ;  denn  ein  gesun¬ 
des,  festes  Gemüth  wird  dadurch  nicht  aus  seinem  Gleich¬ 
gewicht  gebracht  werden;  Die  gedachten  climatischen  Ver¬ 
hältnisse  erklären  es  daher  auch  nicht,  wie  der  Verf.  meint, 
dafs  Lyon,  Hamburg,  Petersburg,  Kopenhagen  und  Lon¬ 
don  durch  die  Häufigkeit  der  in  ihnen  verübten  Selbstmorde 
ausgezeichnet  sind.  Wie  viel  näher  liegt  es,  den  verderb¬ 
lichen  Einflufs  nachzuweisen,  den  die  häufigen  und  unver¬ 
meidlichen  Wechselfälle  des  Glücks  in  der  Handelswelt,  der 
hochgesteigerte  Luxus,  die  Entfremdung  von  der  Sittenein¬ 
falt  bei  der  steten  Berührung  mit  Ausländern  auf  schwach¬ 
befestigte  Gemilther  haben  müssen?  Nur  bei  der  Trunk¬ 
sucht  und  den  Ausschweifungen  in  der  Liebe  rnufs  rhan  deri 
Antheil,  welchen  die  Zerrüttung  des  Nervensystems  durch 
jene  Laster  an  dem  Lebensüberdrufs  hat,  ins  Auge  fassen, 
weil  die  Macht  der  physischen  Gewohnheit  nur  zu  oft  den 
Sieg  über  bessere  Grundsätze  davon  trägt.  Der  ^  ert.  ist 
mit  Blumenbach,  Osiander  und  Casper  der  Meinung, 
dafs  die  katholische  Religion  der  Neigung  zum  Selbstmorde 
widerstrebe,  weil  derselbe  in  den  Ländern,  in  w'elchen  sid 
herrscht,  ungleich  seltener  vorkommt;  da  aber,  wie  er  selbst 
bemerket,  in  Spanien  und  Italien  die  Zahl  der  an  anderen 
verübten  Mordthaten  desto  beträchtlicher  ist,  so  wirft« dies 

auf  den  sittlichen  Charakter  der  katholischen  Südländer  ein 

♦ 

desto  nachtheiligeres  Licht. 

Des  Verb  Absicht  ging  indefs  weniger  darauf",  die  ur¬ 
sächlichen  Bedingungen  des  Selbstmordes  zu  ermitteln,  als 
auf  die  Umstände  aufmerksam  zti  machen,  aus  denen  ge¬ 
schlossen  werden  kann,  öb  ein  Todter  durch  eigene  oder 
fremde  Schuld  des  Lebens  beraubt  wurde;  Es  werden  hier 
die  bekannten  Regeln  gegeben:  dafs  man  die  Beschaffen¬ 
heit  der  beigebrachten  Verletzungen^  in  wiefern  sie  der 
Verstorbene  leichter  sich  selbst  beigebracht,  oder  v6m anderen 

15  * 


‘228 


XI.  Selbstmord. 


v 

empfangen  haben  konnte,  berücksichtigen,  ferner  auf  den 
Ort,  wo,  und  auf  die  Lage,  in  welcher  die  Leiche  gefun¬ 
den  wurde,  merken  solle,  so  wie  auf  alles,  was  auf  eine 
statt  gefundene  Gegenw-ehr  hindeutet.  Selbstmörder  wäh¬ 
len  gewöhnlich  einen  kurzen  und  sichern  Weg  zum  Tode, 
wenn  sie  nicht  durch  Schwärmerei  oder  durch  Zeit  und 
I  mstande  zum  Gegentheil  getrieben  wurden.  Nur  Gemüths- 
kranke,  besonders  Fanatiker ,  verstümmeln  sich  zuweilen  auf 
eine  grauenvoll«}  W eise r  um  sich  den  Märtyrertod  zu  be¬ 
reiten.  brauen  scheinen  fiir  solche  Todesarten  eine  Vor¬ 
liebe  zu  haben,  w'elche  keine  grofse  Kraftanstrengung  und 
keine  weitläuftige  Vorbereitung  erheischen,  daher  endigen 
sie  am  häufigsten  durch  einen  Sturz  von  einer  Höhe,  im 
Wasser,  oder  mit  Hülfe  eines  Giftes  u.  s.  w.  ihr  Leben, 
ln  Fällen,  w  o  aus  der  l  ntcrsuchung  eine  eben  so  grofse 
Wahrscheinlichkeit  für  Mord,  als  fiir  Selbstmord  hervor¬ 
geht,  mufs  der  Arzt  nachforschen,  ob  in  der  Leiche  viel¬ 
leicht  Spuren  von  Krankheiten  zu  entdecken  seien,  von 
denen  es  bekannt  ist,  dafs  sie  die  Neigung  zum  Selbstmorde 
besonders  rege  machen.  Dahin  rechnet  Lsquirol  d.  j 
Scropheln,  die  Stockungen  im  Pfortadersystem,  die  Ple¬ 
thora,  besonders  aber  das  Pellagra,  denen  Gsiander  noch 
die  schmerzhafte  Caries  der  Schädelknochcn,  Gehirnentzün¬ 
dungen,  Nervenfieber,  Kopfwunden,  Depressionen  dca  Schä¬ 
dels,  lange  und  sehr  schmerzhafte  Uebel,  Krankheiten  der 
Geschlechtstheile,  chronische  Entzündungen  der  dünnen  Ge¬ 
därme,  Herzkrankheiten,  hartnäckige  Verstopfungen  und 
Würmer  hinzugesellt.  Dieser  Gatalog  wird  aus  anderen 
Schriften  noch  vermehrt;  immer  werden  aber  aus  aufgefun¬ 
denen  organischen  Fehlern  nur  muthmaafsliche  Folgerungen 
auf  verübten  Selbstmord  gezogen  werden  können.  Nach 
Lsquirol  ist  letzterer  zwischen  dem  zwanzigsten  und 
dreißigsten  Lebensjahre  am  häufigsten,  und  es  läfst  sich 
dies  auch  wohl  aus  den  heftigen  Leidenschaften  dieses  Al¬ 
ters,  denen  noch  keine  gewisse  Charakterstärke  das  Gleich¬ 
gewicht  hält,  begreiflich  machen.  Unter  den  merkwürdigen 


'  XI.  Selbstmord, 


229 


Versuchen,  sich  das  Leben  zu  nehmen,  welche  der  Verf. 
erzählt,  verdienen  zwei  ausgezeichnet  zu  werden;  in  dem 
einen  Falle  legte  sich  eine  gesunde  und  starke  dreifsigjäh- 
rige  Dame  auf  eine  Matratze,  und  setzte  200  Blutegel  an 
den  Leib,  doch  bewogen  die  heftigen  Schmerzen  sie,  um 
Hülfe  zu  rufen;  fo  dem  anderen  näherte  sich  eine,  nachher 
in  der  Pariser  Charite  behandelte  Person,  absichtlich  eini¬ 
gen  Bienenschwärmen,  von  denen  sie  abscheulich  zugerich¬ 
tet  wurde.  —  Es  heifst  hier  mit  Recht: 

Mille  modis  morimur  mortales,  nascimur  uno, 

«Una  via  est  vitae,  moriendi  mille  figurae. 

Der  Verf.  geht  hierauf  die  Todesarten,  welche  von 
den  Selbstmördern  am  häufigsten  gewählt  werden,  einzeln 
durch.  Todte,  welche  man  erhenkt  findet,  haben  die  Ver- 
muthung  des  Selbstmordes  wider  sich,  da  diese  Todesart 

einem  Menschen  nicht  leicht  wider  seinen  Willen,  oder 

*  « 

nur  durch  eine  grofse  Uebermacht  angethan  werden  kann. 
iNicht  selten  werden  indefs  Leichen  aufgehenkt,  um  die  an 
ihnen  verübte  Tödtung  durch  den  Anschein  des  Selbstmor¬ 
des  zu  verstecken.  Die  bekannten  Zeichen  der  Apoplexie 
und  Erstickung  müssen  dann  für  den  Beweis  der  Strangu¬ 
lation  aufgesucht  werden,  und  unter  ihnen  gilt  die  Blut¬ 
unterlaufung  an  der  Strangrinne  des  Halses  als  ein  vorzüg¬ 
lich  charakteristisches  Merkmal.  Doch  sind  neuere  Erfah¬ 
rungen  in  Menge  vorhanden,  wo  in  unzweifelhaften  Fällen 
des  Selbstmordes  durch  den  Strang  weder  Aufgetriebenheit, 
noch  Rothe  des  Kopfes  wahrgenommen,  vielmehr  das  Ge¬ 
hirn  und  die  Brustorgane  fast  blutleer  gefunden  wurden. 
Auch  die  Strangrinne  war  oft  durchaus  nicht  sugillirt,  son¬ 
dern  dunkelgelb,  hart  und  spröde,  ganz  analog  den  Erschei¬ 
nungen  an  Individuen,  welche  todt  aufgehängt  waren.  Der 
Verf.  erklärt  diese  Abweichungen  aus  den  verschiedenen 
Todesarten,  welche  durch  die  Strangulation  möglich  wer¬ 
den.  Letztere  bewirkt  einen  Blutschlag,  wenn  der  zwischen 
dem  Kinn  und  Zungenbeine  anliegende  Strang  nur  die  J»Lut- 
gefäfse  des  Halses  comprimirt,  wobei  die  Respiration  noch 


230 


XI,  Selbstmord, 


eine  Zeitlang  fortdauert;  in  diesem  Falle  wird  sich  eine 
Sugillation  an  der  Stangrinne  bilden.  Fin  schneller  Er- 
slickungstod  tritt  ein,  wenn  die  Luftwege  tiefer  abwärts 
zusammcngedVüekt  werden;  alsdann  wird  das  Gesicht  blaU 
sein,  und  die  gedachte  Sugillation  fehlen,  weil  der  Rück¬ 
tritt  des  Blutes  aus  den  Gcfäfsen  des  Gehirns  bis  zuin  Tot 
desaugenblicke  fortdauerte.  Die  Zcrrcifsung  der  Knorpel 
und  Bänder  des  Kehlkopfs,  die  Luxation  oder  Fractur  der 
Halswirbel  sollen  nicht  immer  den  Beweis  eines  gewaltsa¬ 
men  Mordes  liefern,  da  Vigne  einen  Fall  mittheilt,  wo 
ein  starker  und  schwerer  Mann  sich  diese  Verletzungen  zu¬ 
fügte,  als  er  nach  Anlegung  des  Stricks  von  einem  Tisch 
herabsprang.  Ob  die  Erscheinungen  eiucr  Erectio  penis, 
erfolgte  Saamenergiefsung  und  Sugillation  des  llodensacks, 
als  das  Product  eines  apoplectiscben  Todes  von  Blui über- 
füllen"  des  kleinen  Gehirns  anzusehen  sind,  wie  Serres 
beobachtet  haben  will,  und  daher  beim  Ersiickungstode 
fohlen  müssen,  ist  wohl  noch  durch  weitere  Erfahrungen 
zu  bestätigen  Analog  diesen  Erscheinungen  sollen  nach 
Büttner  Anhäufung  von  Blut  im  Uterus  und  der  Scheide, 
und  Vorhandensein  von  Blut  und  Schleim  in  Leiden  hei 
erhenkten  Frauen  angetroffen  werden. 

Noch  schwieriger  ist  die  Unterscheidung,  ob  ein  im 
Wasser  Aufgefundener  in  demselben  gestorben,  oder  als 
Leiche  hineingeworfen  sei.  Das  Vorhandensein  einer  schäu¬ 
menden  Flüssigkeit  in  der  Luftröhre  und  den  Lungen  wurde 
bis  jetzt  meistentheils  für  einen  Beweis  der  Krstickung  im 
Wasser  gehalten;  dagegen  sprechen  aber  die  Resultate  der 
vielen  Versuche,  welche  Orfila  mit  Thieren  anstellte.  Er 
fand,  dafs  der  von  der  Schleimhaut  der  Luftröhre  abgeson¬ 
derte  Schleim  jene  schäumende  Flüssigkeit,  auch  ohne  Hin- 
zutreten  von  Wasser,  bilde,  sobald  unausgesetzt  frische 
Luft  eingeathmet  werde;  daher  finde  sich  dieselbe  auch  bei 
Erhenkten,  und  bei  solchen  Individuen,  die  in  einem  epiT 
lcptjschen  Anfälle  ihren  Geist  aufgegeben  haben,  und  fehle 
gegenlhejls  hei  Ertrunkenen,  die  nach  dem  Sturz  ins  Wasser 


XI.  Selbstmord. 


2'M 


nicht  mehr  nach  der  Oberfläche  zurückkommen.  Er  sieht 
die  Gegenwart  des  Wassers  im  Magen  als  das  einzige 
sichere  Merkmal  des  Todes  durch  Ertrinken  an. 

Bei  Vergiftungen  ist  es  nach  Henke  in  den  meisten 
Fällen  unmöglich,  durch  physische  Merkmale  auszumitteln, 
ob  der  Verstorbene  das  Gift  selbst  nahm,  oder  ob  es  ihm 

‘fr 

von  einem  andern  beigebracht  wurde.  Nur  das  Vorhanden¬ 
sein  von  einer  sehr  grolsen  Quantität  eines  sehr  widrig 
schmeckenden  Giftes  ist  das  einzige  muthmaafsliche  physische 
Merkmal  einer  absichtlichen  Vergiftung. 

Beim  Tode  durch  Erschiefsen  ist  die  Verwechselung 
des  Selbstmordes  mit  gewaltsamem  Morde  am  leichtesten 
möglich,  daher  man  mit  der  gröfsten  Sorgfalt  auf  die  Be¬ 
schaffenheit  des  Ortes,  die  Stellung,  in  welcher  der  Leich¬ 
nam  gefunden  ward,  die  Kleider  und  Lmgebungen  dessel¬ 
ben  achten  mufs.  —  In  Bezug  auf  die  Schnittwunden  ver¬ 
dient  es  bemerkt  zu  werden,  dafs  Selbstmörder  sich  zuwei¬ 
len  auf  eine  Weise  zerfleischen,  welche  man  für  den  Be¬ 
weis  eines  Mordes  halten  sollte.  So  brachte  sich  eine  Frau 
in  Paris  500  Schnitt-  und  Stichwunden  bei;  ein  Pariser 
Banrjuier  schnitt  sich  den  Hals  ab,  nachdem  er  Brust  und 
Unterleib  mehreremale  durchbohrt  hatte.  —  Selten  wer¬ 
den  Selbstmörder  sich  durch  Hiebwunden  tödten;  doch 
schlug  ein  Apotheker  sich  den  Schädel  mit  einer  Mörser¬ 
keule  ein,  ein  Tagelöhner  fügte  sien  eine  tödtliche  Ver¬ 
letzung  mit  einer  Holzaxt  zu.  —  Der  Hungertod  wird  in 
der  Regel  durch  freien  Entschlufs  des  Selbstmörders  her¬ 
beigeführt;  doch  erzählt  der  Verf.  einige  Beispiele,  wo  man 
Personen  verhungern  liels. 


Ideler. 


232 


XII.  Kopfverletzungen. 

XII. 

Al)  handlang  über  die  Verletzungen  am 
Kopfe,  und  die  Darchhohrnng  der  Hirn« 
schale.  Von  \incenz  Ritter  v.  Kern,  der 
Me  di  ein  und  Chirurgie  Doctor,  Sr.  K.  K.  apostol. 
Majestät  Rath  und  wirklichem  Lcibchirurg,  Ritter 
des  Kaiser],  usterr.  Leopold- Ordens,  der  medici- 
mschen,  chirurgischen  und  thierärztlichen  Studien 
an  der  hohen  Schule  zu  Wien  Vice-Dircctor,  u. 

s.  w.  Wien,  hei  J.  P.  Sollinger.  1829.  4.  161  S. 
(3  Thlr.  12  Gr.)  .  0  :  *  • 

^  .  M  *  * 

Die  Verletzungen  des  Kopfes  und  die  Anzeigen  zur 
Trepanation  sind  ein  so  oft  besprochener  Gegenstand,  dafs 
man  glauben  sollte,  die  Acten  hierüber  miifsten  bereits  ge« 
schlossen  sein.  Leider  aber  ist  dieses,  wie  jeder  sachkun¬ 
dige  Wundarzt  uns  zugestehen  wird,  nicht  der  Fall,  und 
somit  verdient  jeder,  der  zur  Aufhellung  dieser  dunkeln 
Punkte  in  der  Wundarzneikunde  beiträgt,  unsern  Dank. 
Das  Unternehmen  des  Verf.  war  daher  lobenswerth,  um  so 
mehr^  da  er  in  der  'S  orrede  behauptet^  in  dieser  Schrift 
nichts  gesagt  zu  haben,  was  nicht  von  ihm  setbst  in  und 
an  der  kranken  Natur  geschaut,  reflectirt  und  beobachtet 
worden  sei,  und  dieselbe  kein  Wort,  welchem  nicht  das 
Siegel  reiner  Wahrheit  aufgedrückt  sei,  enthalte.  Wie  der 
Verf.  sein  Vorhaben  vollbracht  hat,  werden  wir  jetzt,  wo 
wir  uns  zur  Angabe  des  Inhalts  wenden,  sehen. 

Ira  ersten  Abschnitte  spricht  der  Verf.  von  den 
Verletzungen  am  Kopfe,  und  zwar  I.  Von  den 
äufseren  Verletzungen.  A.  ^  on  den  Wunden  am 
Kopfe  durch  scharfe  Instrumente  veranlafst.  a)  Von  den 
Schnittwunden  des  Schädels.  (Die  hier  gegebene 
Linthedung  ist  offenbar  unlogisch.  Der  Verf.  versteht  uu- 
'tcr  « äufseren  Verletzungen  »  solche,  die  äufserlich  wahr- 


XII.  Kopfverletzungen.  233 

nehmbar  sind,  und  doch  rechnet  er  die  Fracturen  der  Schä¬ 
delknochen  zu  den  inneren  Verletzungen!  Eben  so  unlo¬ 
gisch  ist  es,  von  Schnittwunden  des  Schädels  zu  spre¬ 
chen.)  b)  Von  den  Hiebwunden  des  Schädels, 
c)  Von  den  Stichwunden  des  Schädels.  B.  Von 
den  Wunden  des  Kopfes,  durch  stumpfe  Werk¬ 
zeuge  veranlafst.  Ueber  die  Behauptung,  dafs  man  bei 
Streifschüssen  vor  einer  Verletzung  der  Hii  nschalenknochen, 
sowohl  der  äufsern  als  innern  Tafel,  gesichert  sei,  haben 
wir  uns  gewundert,  indem  die  Erfahrung  anderer  Wund¬ 
ärzte  nicht  selten  das  Gegentheil  zeigt.  II.  Von  den  in¬ 
nern  Verletzungen,  a)  Von  der  Gehirnerschüt¬ 
terung.  Sie  soll  jede  (?)  Kopfverletzung  begleiten,  und 
ihrem  Wesen  nach  von  der  Quetschung  äufserer  Theile  in 
nichts,  als  dem  Orte,  verschieden  sein.  War  die  Kraft  der 
mechanischen  Einwirkung,  sagt  der  Vcrf.,  gleich  30,  die 
der  Organisation  des  Gehirns  zur  Beschränkung  der  durch 
die  Erschütterung  hervorgebrachten  schwingenden  Bewe¬ 
gungen  dagegen  ebenfalls  gleich  30,  oder  noch  höher,  so 
erfolgt  die  Ausgleichung,  oder  mit  andern  Worten,  die 
Herstellnng  der  vorigen  Normalität  in  dem  Augenblicke, 
als  die  Einwirkung  vorüber  ist,  und  die  Beleidigung  ist 
gleich  Null.  Je  überwiegender  aber  die  Kraftseite  der  Or¬ 
ganisation  des  Gehirns  ist,  um  so  weniger  erfolgt  auch  eine 
Veränderung  der  Urbestandtheile  aus  ihrer  normalen  Lage, 
und  wenn  sie  eintritt,  wird  sie  desto  schneller  ausgeglichen. 
Ist  hingegen  die  Einwirkung  der  mechanischen  Gewalt 
gleich  20,  die  Rückwirkung  von  Seiten  der  Dynamik  des 
Gehirns  gleich  15,  so  bleibt  die  Beleidigung  gleich  5  u. 
s,  w.  Der  Meinung,  dafs  bei  der  sogenannten  Bluterschüt¬ 
terung  nur  das  Gefäfssystem  des  Gehirns,  bei  der  Nerven¬ 
erschütterung  nur  das  Nervensystem,  und  bei  der  Gallen¬ 
erschütterung  nur  die  Galle  absondernden  Organe  erschüt¬ 
tert  seien,  pflichtet  der  Verf.  wegen  der  organischen  und 
sympathischen  Verbindung  dieser  Systeme  nicht  bei;  aller 
Unterschied  zwischen  diesen  Arten  bezieht  sich  nach  ihm 


234 


XII.  Kopfverletzungen. 


nur  auf  den  Grad  uod  die  Dauer  der  schwingenden  Be¬ 
wegungen,  und  die  nach  denselben  zurückgebliebenen  Fol¬ 
gen.  Da  aber  trotz  des  überall  und  immer  gleichen  W  esens 
der  Erschütterung;  doch  nach  Verschiedenheit  des  Grades 
und  ihrer  Folgen  eine  verschiedene  Handlungsweise  der 
Kunst  eintreten  muCs,  so  betrachtet  er  nun  jene  verschie¬ 
denen  Arten  insbesondere,  und  spricht  daher  a)  von  der 
B 1  u  tersch  ii  ttcr  u  ng.  Die  Symptomatologie  dieser,  so 
wie  der  andern  Arten,  liefert  er  sehr  genau.  Aufgefallen 
ist  uns  die  Behauptung,  dafs  sich  der  \  crlctztc  aus  der 
Sinnlosigkeit  nicht  wieder  erholen  soll.  Das  aus  den  ver¬ 
schiedenen  Oeffnungen  des  Kopfes  auslliefsende  Blut  stammt 
nach  dem  Verf.  nicht  aus  der  Höhle  des  Schädels,  sondern 
aus  jenen  Organen  seihst,  also  aus  dem  Ohre,  der  Nase, 
dem  Auge,  dem  Munde.  Der  bisher  von  den  meisten 
"Wundärzten  als  wahr  angenommenen  Behauptung,  dafs,  je 
gröfser  und  beträchtlicher  die  äufsere  Verletzung  des  Schä¬ 
dels  sei,  die  innere  desto  weniger  zu  bedeuten  habe,  wi¬ 
derspricht  der  Verf.  geradezu.  Die  Behandlung  dieser  Art 
von  Erschütterung  soll  besonders  dahin  zielen,  den  im 
Cercbralsysteme  gestörten  Kreislauf  der  Säfte  wieder  zur 
Norm  zurückzuführen.  Die  in  eiskaltes  Wasser  getauchten 
und  in  möglichst  kurzen  Zwischenräumen  gewechselten  Com- 
pressen  spielen  hier,  und  sicher  mit  Hecht,  eine  Hauptrolle. 
Die  S c h ni uck ersehen  Fomentationen  werden  als  überflüs¬ 
sig,  und  beim  Zwgegenscin  einer  äufseren  Verletzung  als 
schädlich  w'egen  der  chemischen  Beleidigung  (:'  1 )  verwar¬ 
fen.  Die  Arteriotomie,  die  Sectio  venae  jugularis  und  ve- 
nar.  pedis  tadelt  er,  und  empfiehlt  den  Aderlafs  am  Arme, 
aber  nicht  bis  zur  Ohnmacht,  die  Application  der  Saug¬ 
würmer  (sic!)  erst  nach  vorangeschicktem  Aderlafs.  Gegen 
die  Blutegel,  als  allein  seligmachendes  Mittel,  eifert  der 
Verf.  sehr.  Den  Calomei  giebt  er,  was  uns  bisher  völlig 
fremd  war,  auch  in  Klysticren  Der  Drastica  bedurfte  er 
nie-  b)  Von  der  Nerven-  oder  eigentlichen  Ge¬ 
hirnerschütterung.  Hier  sind  die  ürbcstuttdtheile  der 


I 


I 


XII.  Kopfverletzungen. 


235 


Organisation  des  Gehirns  In  hohem  Grade  aus  Ihrer  nor¬ 
malen  Lage  griiekt.  Kranke  der  Art  leben  selten  länger 
als  24  bis  36  Stunden  nach  erlittener  Gewalt,  ln  einigen 
solchen  Fällen  fand  der  Verf.  bei  der  Section  die  harte 
Uirnhaut  von  ihren  Verbindungen  losgetrennt  und  an  der 
Basis  cranii  die  Nerven  aus  ihrer  Lage  gerückt,  und  einige 
leichte  Sprünge  der  Knochen.  Man  hat  es  hier  blofs  mit 
einer  Indicatio  vitalfs  zu  thun.  Moschus  und  Campher  sind 
dem  V  erf.  die  Hauptmiltel,  und  bel£  gesteigerter  Empfind¬ 
lichkeit  Laudanum  (!).  Auch  die  Arnica  rühmt  er.  Viel¬ 
leicht,  meint  er,  wäre  in  dergleichen  Fällen  das  Glüheisen 
auf  den  Kopf  oder  an  die  Wirbelsäule  zu  appliciren. 
c)  Von  der  Gallenerschütterung  (ein  unlogischer 
Ausdruck).  Diese  Form  findet  statt,  wenn  die  mechanische 
Gewalt  ihre  Wirkung  bis  auf  das  Lebersystem  (aberfwie? 
darüber  hätte  sich  der  Verf.  aussprechen  sollen,  denn  mit 
dem  blofsen  Consensus  nervorum  ist  so  gut,  als  nichts  ge¬ 
sagt)  ausdehnte,  oder  wenn  schon  vor  der  Verletzung  ein 
biliöser  Zustand  oder  eine  Anlage  dazu  ausgesprochen  war. 
Die  Blutentziehungen  sollen  hier  mit  Vorsicht  angestellt 
werden.  Gleichzeitig  mit  leichten  Brech-  und  Abführmit¬ 
teln  empfiehlt  der  Verf.,  um  die  Kräfte  zu  unterstützen, 
den  Campher.  —  Die  Frage:  Ist  die  Trepanation  bei  rei¬ 
nen,  für  sich  allein  bestehenden  Gehirnerschütterungen  an¬ 
gezeigt?  beantwortet  er,  in  Uebereinstimmung  mit  den 
meisten  Wundärzten,  aus  guten  Gründen  mit  Nein.  Ob- 
§chon  er  das  augenblickliche  Trepaniren,  ohne  Dasein  einer 
absoluten  Anzeige  nicht  billigt,  weil  dasselbe  dann  oft  un- 
nüthig  geschieht,  und  im  Allgemeinen  für  das  Abwarfen 
der  consccutiven  Erscheinungen  stimmt,  so  gesteht  er  doch, 
dafs  es  Fälle  giebt,  in  denen  sogleich  nach  erfolgter  Ver¬ 
letzung  trepanirt  werden  müsse.  Dies  sind  jedoch  nach  ihm 
nur  jene,  wo  eine  sehr  heftige  Gewalt  auf  den  Kopf  ein¬ 
wirkte,  wo  es  also  mehr  als  wahrscheinlich  ist,  dafs  nebst 
der  unvermeidlichen  Erschütterung  auch  andere  Normwi- 
drigkeiteu,  weiche  nur  durch  die  Trepanation  beseitigt  wer- 


236  XII.  Kopfverletzungen. 

den  können,  vorhanden  sind;  oder  wo  schon  aus  der  Ge¬ 
walt  der  äufseren  Verletzungen,  wie  z.  B.  einem  beträcht¬ 
lichen  Knochenbruche  mit  Kindruck,  die  inneren  Beleidi¬ 
gungen  des  Gehirns  unverkennbar  sind,  und  nur  durch  den 
i  repan  gehoben  werden  können.  —  b)  Von  dem  Kx.«- 
travasate  unter  der  Hirnschale.  Die  Erscheinungen, 
die  auf  Eiterung  des  Gehirns  schliefscn  lassen,  gewährten 
dem  \  erf.  nie  (!?)  die  geringste  Sicherheit;  Frösteln, 
Dummheit,  Sopor,  Sinnlosigkeit  und  Lähmungen  gaben 
ihm  stets  nur  \\  inke,  nie  aber  sichere  Zeichen.  Dasselbe 
gilt  von  dem  wässerigen  Extravasat.  Gesetzt  auch,  meint 
der  \  erf. ,  wir  wären  mit  aller  Gewifsheit  im  Stande,  das 
Dasein  und  die  Stelle  eines  wässerigen  oder  eiterähnlichen 
Extravasats  zu  erkennen,  so  würden  wir  doch  noch  nichts 
gewonnen  haben,  denn  durch  die  Trepanation  könnten  wir 
doch  nie  das  Nächsturs^chliche  dieser  Extravasate  heben.  — 
Kein  Blutextravasat  ist  ohne  vorausgegangene  Extravasation, 
keine  Extravasation  ohne  vorausgegangene  Trennung  eines 
Gefäfses,  und  diese  wieder  nicht  ohne  gleichzeitig  voraus- 
gegangene  mehr  oder  minder  bedeutende  Erschütterung  bis 
zur  Aufhebung  des  Zusammenhangs  denkbar.  Die  Zeichen 
eines  Blutextravasats  sind  auch  nicht  sicher.  Die  Zeit  des 
Eintritts  der  Erscheinungen  desselben  sollen  nichts  weni¬ 
ger,  als  immer,  Gewifsheit  geben.  Oft  wird  der  wieder¬ 
holte  Eintritt  der  Erscheinungen  einem  Extravasat  zuge¬ 
schrieben,  wahrend  er  doch  nur  der  Erschütterung  angc- 
hürt.  Das  Fassen  des  Kranken  mit  der  Iland  nach  dem 
Kopfe,  und  das  Liegen  des  Kranken  auf  einer  Seite,  so 
wifc  das  willkührlicbe  Umdfehen  des  Kranken  auf  diese 
Seite,  falls  man  denselben  auf  die  entgegengesetzte  Seite 
legte,  sind  dem  Yerf.  keine  sicheren  Zeichen.  Für  am 
sichersten  hält  er  das  successivc  Steigern  der  Erscheinun¬ 
gen.  Der  Behauptung,  dafs  beim  Extravasat  die  Respira¬ 
tion  tief  und  schwer,  dagegen  bei  der  Erschütterung  frei 
und  leicht  sei,  pflichtet  er  nicht  bei.  Die  eintretenden  Läh- 
inpngen  sind  ein  unzuverlässiges  Zeichen  in  Hinsicht  des 


237 


XII.  Kopfverletzungen. 

Sitzes  des  Extravasats.  Extravasate  sind  oft  Resultat  des 
aufhörenden  Lebens  im  Cerebralsystem,  und  entstehen  dann 
in  den  letzten  Lebensstunden.  (Eine  besonders  für  gericht¬ 
liche  Aerzte  wichtige  Beobachtung.)  Die  Behandlung  theilt 
der  Verf.  in  die  der  ExtravasatLon  und  in  die  des  Extrava¬ 
sates.  Bei  jener  ist  es  Zweck,  dem  Blutaustritt  Einhalt  zu 
thun,  vorzüglich  durch  kalte  Umschläge;  bei  dieser  entwe¬ 
der  das  Blut  der  Aufsaugungsthätigkeit  der  Natur  zu  über¬ 
lassen,  oder  demselben  künstlich  einen  Ausweg  zu  bahnen. 
Welchen  von  beiden  Wegen  soll  man  einschlagen?  Hat 
man  nicht  Grund,  sagt  der  Verf.,  aus  der  Heftigkeit  der 
vorausgegangenen  mechanischen  Einwirkung  und  den  vor¬ 
handenen  Erscheinungen,  weil  diese  nur  gering  sind,  auf 
eine  bedeutende  Quantität  extravasirten  Blutes,  somit  auf 
keinen  bedeutenden  Druck  des  Gehirns  zu  schliefsen,  so 
handelt  man  am  besten,  dasselbe  der  Thätigkeit  der  Natur 
zu  überlassen,  um  so  mehr,  da  die  Erscheinungen  desselben 
nicht  nur  an  sich,  sondern  auch  vorzugsweise  in  Bezug  auf 
die  Stelle  seines  Sitzes  so  unsicher  und  schwankend  sind. 
Finden  jedoch  die  entgegengesetzten  Verhältnisse  statt,  war 
die  Einwirkung  der  Gewalt  von  grofser  Heftigkeit,  deuten 
die  Erscheinungen  auf  bedeutendes  Extravasat  und  nahe 
Gefahr  oder  auf  anderweitige,  auch  ohne  Extravasat  die 
Trepanation  erfordernde  Zustände  hin,  so  mufs  sogleich 
trepanirt  werden.  Blofs  wegen  eines  Extravasats  hält  der 
Verf.  daher  die  Trepanation  nicht  für  angezeigt.  Aufs  Ge- 
rathewohl  5  bis  6  Trepankronen  an  verschiedenen  Stellen 

•  #  _  y  ' 

aufzusetzen,  um  das  Extravasat  aufzufinden,  mifsbilligt  er 
natürlich  ganz.  Hatte  die  Natur  Kraft  und  Thätigkeit  ge¬ 
nug,  die  an  sich  beträchtlicheren  Folgen  der  Erschütterung 
auszugleichen,  so  hofft  der  Verf.,  wird  sie  auch  die  Auf¬ 
saugung  des  Extravasats  bewerkstelligen;  und  ist  sie  nicht 
im  Stande  jene  auszugleichen,  so  mag  man  immerhin  das 
Extravasat  beseitigen,  man  rettet  den  Kranken  doch  nicht, 
beschleunigt  vielmehr  durch  die  Trepanation  dessen  Tod. 
c)  Von  den  Brüchen  der  Hirnschalknochen.  Der 


238 


XII.  Kopfverletzungen. 


Knochenbruch  an  sich  erfordert  keine  eigene  Behandlung, 
datier  auch  nicht  die  Trepanation.  1)  Von  den  Ein- 
d  rücken.  Ein  Blutextravasat  ist  dabei  stets  unvermeidlich. 
Die  Fortdauer  der  Bewußtlosigkeit  gleich  nach  der  \  er- 
letzung  soll  nicht  sowohl  von  dein  Eindrücke,  als  von  der 
Erschütterung  herrühren  (?  diese  wirkt  vorübergehend, 
jener  bleibend).  Uebereinahderschiebung,  und  Aufthiirtnung 
der  Schädelknochen.  Die  Prognose  in  allen  solchen  t  allen 
ist  böse,  man  kann  des  erlustes  des  Kranken  gewiß  (  !) 
sein,  wegen  der  heftigen  Erschütterung*  Genas  ein  auf 
diese  Art  Verwundeter,  so  ist  dies  eine  Ausnahme  von  der 
Kegel.  Dem  Verf.  leistete  die  Trepanation  hier  nie  etwas, 
doch  aber  nennt  er  sie  «das  einzige  Kettungsmittel.  *  Zur 
Zurückführung  des  Knochens  in  seine  normale  Eage  bedient 
er  sich  nur  der^Trcpanation ,  die  er  sogleich  unternimmt; 
alle  anderen  dazu  empfohlenen  Mittel  verwirft  er.  2)  Von 
den  Knochensplittern.  Der  ziemlich  allgemein  ange¬ 
nommenen  Behauptung,  dafs,  je  größer  die  Beleidigung 
der  äußeren  Tafel  sei,  je  mehr  Splitter  derselben  es  daher 
gäbe,  desto  geringer  die  Verletzung  der  inneren  Tafel  und 
des  Geschwürs  sei,  pflichtet  er  nicht  bei.  Aeufsere  Split¬ 
ter  deuten  daher  immer  (?)  auf  innere  hin.  Automatische 
Bewegungen  des  Kranken  mit  der  Hand  nach  dem  Kopfe 
sind  dem  Verf.  keine  charakteristischen  Zeichen  eines  inne¬ 
ren  Splitters.  Die  Zeichen  von  Entzündung  treten  oft 
erst  den  20sten  bis  40stcn  Tag  auf.  Je  blasser  der  Urin, 
desto  größer  die  Gefahr.  Der  Verf.  fand  bei  Sectionen 
Öfters  Splitter  der  inneren  Tafel,  die  während  des  Bebens 
gar  keine  Zufälle  bervorgebracht  halten.  Auf  das  Dasein 
eines  solchen  Splitters  weist  kein  einziges  Symptom  deut¬ 
lich  hin,  doch  aber  muß  man  hei  bloßer  Wahrscheinlich* 
keit  an  der  Stelle  seines  Sitzes  trepaniren.  Je  früher  die 
Beseitigung  des  Splitters  geschieht,  desto  besser. 

Necrose  und  Ca  ries  wird  von  mancheq  Wund¬ 
ärzten  auch  als  Indication  zur  Trepanation  angesehen.  In 
Hinsicht  der  ISecrose  sagt  der  Verf»  sehr  wahr;  ««  Bei  der 


XII.  Kopfverletzungen. 


239 


unbegrenzten  Necrose  kann  so  wenig  von  der  Trepanation, 
als  bei  dem  unbegrenzten  Brande  weicher  Theile  von  der 
Amputation  die  llede  sein;  und  hatte  die  Natur  so  viel 
Kraft,  die  Necrose  zu  begrenzen,  so  wird  sie  auch  das 
Todte  vom  Lebendigen  ohne  Zuthun  der  Kunst  sondern. » 
Auch  bei  der  Caries  hält  er  die  Trepanation  nicht  für  an¬ 
gezeigt,  denn  die  Caries  ist  fast  nie  eine  rein  örtliche 
Krankheit;  und  beschränkt  sie  sich  blofs  auf  die  innere  Ta¬ 
fel,  so  ist  sie  gar  nicht  (?  auch  nicht  durch  Mifsfarbigwer- 
den  des  Perieraniums?)  zu  entdecken.  Von  den  Kno¬ 
chenauswüchsen  der  inneren  Hirn  schaltafel  be¬ 
hauptet  der  Verf. ,  dafs  sie  immer  dyscrasischen  Ursprungs 
wären,  und  verwirft  daher  auch  bei  denselben  die  Trepa¬ 
nation;  auch  sind  die  Zeichen  derselben  stets  höchst  un¬ 
sicher.  Nur  wenn  die  Afterorganisation  durch  eine  äufsere 
Veranlassung  gesetzt  worden  ist,  keine  Complicalion  mit 
Dyscrasie  statt  findet,  und  noch  nicht  so  lange  bestanden 
hat,  dafs  in  den  benachbarten  Gebilden  solche  Veränderun¬ 
gen,  die  durch  den  Trepan  nicht  gehoben  werden  können, 
hervorgebracht  sind,  hält  er  allenfalls  die  Trepanation  für 
angezeigt. 

Nun  erst  kommt  der  Verf.  zu  der  Behandlung 
A)  jener  äufseren  Verletzungen  des  Schädels,  welche  durch 
scharfe  Instrumente  veranlafst  werden,  a)  Behandlung 
der  Schnittwunden.  Schnelle  Vereinigung.  Kalte  Um¬ 
schläge.  b)  Behandlung  der  Hiebwunden.  Schnelle 
Vereinigung  und  kalte  Umschläge  leisten  auch  hier  dem 
Verf.  iUles.  Her  entblöfste  Knochen  stirbt  nur  ab,  wenn 
er  stark  gequetscht  war,  lange  entblöfst  blieb,  und  vorzüg¬ 
lich,  wenn  er  mit  balsamischen  Mitteln  belegt  wurde.  Heilt 
der  Lappen  nicht  an,  so  soll  man  ihn  doch  nicht  abschnei¬ 
den.  c)  Behandlung  der  Stichwunden.  Das  Erwei¬ 
tern  der  Wunde  räth  der  Verf.  nur  an,  um  sich  von  der 
Beschaffenheit  des  Knochens  zu  üherzeugen,  nicht  aber  um 
die  Spannung  der  Galea  aponeurotica,  ein  gewils  höchst 
wichtiger  Umstand,  zu  beseitigen.  Zur  Trepanation  räth 


240  XII.  Kopfverletzungen. 

er  nur,  wenn  Zeichen  von  Zersplitterung  der  inneren  Tafel 
vorhanden  sind.  B)  Von  der  Behandlung  jener  äufseren 
\erletzuogen  des  Schädels,  welche  durch  stumpfe  Schäd¬ 
lichkeiten  veranlafst  werden.  Gegen  Quetschungen,  Beulen, 
werden  vorzüglich  Umschläge  von  kaltem  N  asser  empfoh¬ 
len,  und  auf  die  schädlichen  Wirkrngen  der  geistigen  und 
warmen  Umschläge  wird  aufmerksam  gemacht.  Ist  die  Ent¬ 
zündung  vorüber,  so  passen  Umschläge  von  warmem  Was¬ 
ser'.  Blutgeschwülste,  mit  Störungen  des  Sensoriums  ver¬ 
bunden,  öffne  man  hinreichend.  Gequetschte  Wunden  er¬ 
weitert  der  Verf.  mit  dem  Messer  und  versucht  dann  die 
schnelle  Wreinigung,  die  allerdings  nichts  schaden  kann. 
Schufs wunden.  Entfernung  der  Kugel.  Das  Anbohren 
derselben  widerräth  er,  weil  man  durch  den  dabei  noth- 
wendigen  Druck  schaden  kann,  und  empfiehlt  dagegen  das 
Erweitern  der  Wunde  oder  die  Trepanation.  Drang  die 
Kugel  zwischen  harte  Hirnhaut  und  Knocheo,  so  entdecke 
man  ihren  Sitz  durch  vorsichtiges  Sondiren,  und  trepanire 
dann.  Bahnte  sich  die  Kugel  einen  Weg  in  das  Gehirn 
selbst,  so  überlasse  man  alles  der  Natur  (!!). 

Die  krage,  ob  die  Trepanation  einen  heilbringenden 
Werth  habe  oder  nicht,  beantwortet  der  Verf.,  wie  aus 
dem  N  origen  erhellet.  Er  betrachtet  sie  als  eine  nicht  ganz 
gefahrlose  Operation,  und  meint,  sie  habe  .in  Bezug  auf 
Ivettung  des  gefährdeten  Lebens  nur  einen  höchst  beschränk¬ 
ten  W  erth.  Ueber  die  Bestimmung  der  Zeit,  wann  trepa- 
nirt  werden  solle  und  müsse,  spricht  er  sich  dahin  aus, 
dafs  die  Trepanation  auf  der  Stelle  zu  vollfuhren  sei,  so¬ 
bald  man  die  Indication  gestellt,  d.  h.  sobald  man  sich  von 
dem  Dasein  eines  fremden,  mit  dem  Gehirne  und  seinen 
Einkleidungen  in  schädlicher  Berührung  stehenden  Körpers 
überzeugt  habe.  Die  Frage,  unter  welchen,  die  Trepana¬ 
tion  absolut  fordernden  Krankheitsverhältnissen  ein  günsti¬ 
ger  Erfolg  von  dieser  Operation  erwartet  werden  könne, 
beantwortet  er  so;  Sie  kann  nur  da  von  einem  glücklichen 
Erfolge  begleitet  sein,  wo  das  Gehirn  auf  keine  andere 

*  *  Weise, 


XII.  Kopfverletzungen.  241 

Weise,  als  jene,  welche  durch  den  Trepari  entfernt  wer¬ 
den  kann  und  wird,  beleidigt  ist.  Zu  den  Gegenanzeigen 
rechnet  er  einzig  und  allein  einen  schon  vorhandenen  Ster- 
bezusland  des  Kranken,  und  glaubt,  dafs  alle  übrigen  in  ihr 
Nichts  zerfallen. 

* 

Seite  110  kommt  der  Yerf.  im  zweiten  Abschnitte 
zu  den  Methoden  der  Trepanation  und  deren  Be¬ 
schreibung.  I.  Verfahren  mit  dem  Bogentrepan. 
a)  Mit  dem  von  Bell  verbesserten  englischen,  den  er  allen 
andern  vorzieht.  A)  Momente  vor  der  Operation. 
Festsetzung  der  Indication;  Bestimmung  der  Stelle,  an  wel¬ 
cher  der  Trepan  in  Anwendung  gebracht  werden  soll; 
Zahl  der  Kronen,  je  weniger,  desto  besser.  So  viele  Kro¬ 
nen,  als  zur  Blofslegung  eines  Extravasats  bis  zu  seinen 
Gränzen  erfordert  werden,  anzusetzen,  widerräth  der  Verf. ; 
da,  wo  das  Extravasat  zwischen  der  Dura  mater  und  dem 
Schädel  sich  befindet,  und  durch  theilweises  Verbundensein 
der  ersteren  mit  letzterem  gleichsam  in  mehrere  Depots  ge- 
theilt  erscheint,  räth  er,  alle  Anhängepunkte  zu  trennen, 
anstatt  auf  jedem  Depot  den  Trepan  aufzusetzen.  S.  119 
sagt  er  aber,  alle  Trepanirte  wären  ihm  gestorben!!  Vor¬ 
richtung  der  nöthigen  Gerätschaften.  Der  Trepanbogen 
soll  anstatt  der  beweglichen  Scheibe  eine  Handhabe  haben, 
in  welcher  der  Bogen  beweglich  ist.  Lagerung  des  Kran¬ 
ken.  Bestimmung  und  Anstellung  der  Gehiilfen.  B)  Mo¬ 
mente  während  der  Operation.  Zur  Trennung  der 
allgemeinen  Bedeckungen  wählt  der  Verf.  immer  den  Län¬ 
genschnitt,  ’  den  er  von  innen  nach  aufsen  vollführt,  um 
gewifs  beim  ersten  Schnitt  die  Schädelmütze  zu  trenpen. 
Ob  das  Pericranium  abgeschabt  wird  oder  nicht,  hält  er 
für  gleichgültig,  doch  aber  zieht  er  ersteres  vor.  Auf  die 
Bildung  der  Schraubenmutter  durch  Ein-  und  Ausschrauben 
des  "lire-Fonds  gleich  nach  Zurückziehung  der  Pyramide 
macht  er  besonders  aufmerksam.  Einen  Längenschnitt  in 
die  Dura  mater  hält  er  zum  Ausflufs  eines  Extravasats  für 
hinreichend.  Splitter,  die  mit  dem  Knochen  noch  in  iheil- 
XIII.  Kd.  2.  Su  16 


242 


XII.  Kopfverletzungen. 

weiser  Verbindung  stehen,  räth  er,  nicht  abzubrechen,  son¬ 
dern  durch  noch  eine  Krone  zu  entfernen,  und,  wenn  die 
Verbindung  noch  bedeutend  ist,  durch  den  Hebel  in  ihre 
normale  Lage  zurnckzudrücken.  b)  Verfahren  mit  dem 
älteren  Trepane.  ( Kr  soll  in  Wien  noch  im  allgemeinen 
Gebrauche  sein;  was,  doch  wirklich  viel  wäre!)  II.  V  er¬ 
fahren  mit  dem  II a  n  d  t  r e p a  n  oder  der  sogenann¬ 
ten  Xrephinc.  Der  VTcrf.  will  sie  nur  im  Kall  der  Notli 
anwenden ! 

B.  Von  den  ungünstigen  Ereignissen  wäh¬ 
rend  der  Operation.  Das  häufigste  ist,  dafs  man  den 
Zweck  der  Operation  durch  die  erste  Krone  gar  nicht,  oder 
nur  unvollkommen  erreicht.  Ein  anderes,  die  Verletzung 
der  harten  Hirnhaut;  die  Verletzung  eines  Bluthälters  oder 
der  Arteria  meningea  media.  Die  Blutung  aus  jener  will 
der  Verf.  durch  Umschläge  von  kaltem  Wasser  oder  durch 
die  Unterbindung  stillen. 

C.  M  o mente  nach  der  Operation.  Die  Haut 
wird  in  ihre  natürliche  Kage  gebracht,  durch  ein  PaarXle- 
bepflasterstreifen  darin  erhalten,  und  Comprfcssen,  die  in 
eiskaltes  Wasser  getaucht  sind,  darüber  gelegt.  Alles  an¬ 
dere  schadet!  Nach  einigen  Tagen  kommt  das  lauwarme 
W  asser  an  die  Reihe,  und  dabei  heilt  die  Wrunde.  Nach¬ 
blutungen  ereignen  sich  bei  diesem  V  erfahren  nie.  Stellen 
sich  Schüttelfröste  ein,  so  sterben  die  Kranken  immer» 
(War  denn  dies  bei  allen  Operirten  des  Verf.  der  Fall?) 
Absterben  der  Knochenränder  an  der  Trepanöffnung.  Wu¬ 
cherungen  der  harten  Hirnhaut  und  Hirnbruch.  Jene  halt 
der  Verf.  für  das  Product  einer  fehlerhaften  örtlichen  Be¬ 
handlung  der  Trepanationswunde  mit  reizenden  Mitteln;  er 
empfiehlt  auch  hier  kalte  Umschläge,  und  zuletzt  die  Eiga- 
tur.  Kalte  Umschläge  empfiehlt  er  auch  beim  Hirnbruch, 
der  schon  in  den  ersten  Momenten  seiner  Entstehung  das 
Gepräge  der  Unheilbarkeit  an  sich  trägt.  Beide  Uebclseins- 
formen  heilte  der  V'erf.  nie!  — *•  Füllt  sich  uach  der  Tre¬ 
panation  die  Koochenöffaung  nicht  mit  neuer  Masse  aus, 


XIII.  1.  Krankh.  d.  Harn  -  u.  Geschlechtsorgane.  243 

so  räth  der  Verf. ,  den  Theil  mit  Lederflecken  (sic!*),  die 
mit  Baumwolle  oder  Flanell  gefüttert  sind,  zu  bedecken. 

Dies  sind  die  Ansichten  Kern’s  über  diesen  wichti¬ 
gen  Gegenstand.  Wir  glaubten  theils  der  Wichtigkeit  des¬ 
selben,  theils  des  Namens  des  Verfassers  wegen  sie  so 
ausführlich  mittheilen  zu  müssen.  Aus  dem  Gesagten  er¬ 
hellt,  dafs  Kern  in  manchen  Stücken  von  den  gewöhn¬ 
lichen  Ansichten  ab  weicht.  Dafs  er  die  Anzeigen  zur  Tre¬ 
panation  zu  beschränken  gesucht,  scheint  uns  das  Haupt¬ 
verdienstliche  dieser  Arbeit  zu  sein,  denn  noch  immer  wird 
diese  an  sich  gewifs  nicht  gleichgültige  Operation  ohne  alle 
Anzeige  von  manchen  Wundärzten  verrichtet,  woher  es 
denn  auch  kommen  mag,  dafs  manche  so  günstige  Resul¬ 
tate,  und  andere,  die  strengeren  Indieationen  folgen,  so 
ungünstige  Resultate  erhalten.  Des  Verfassers  Resultate  sind 
allerdings  sehr  ungünstig,  allein  wir  glauben,  er  hat 
sich  an  jener  Stelle,  wo  er  sagt,  alle  Trepanirte  wären 
ihm  gestorben,  nicht  richtig  ausgedrückt,  denn  an  andern 
SteUen  seines  Werkes,  z.  B.  S.  117,  spricht  er  von  glück¬ 
lich  abgelaufenen  Operationen!  —  Dafs  das  kalte  und  warme 
Wasser  eine  grofse  Rolle  spielt,  darüber  wird  sich  niemand, 
der  Kern’s  Ansichten  kennt,  wundern.  —  Die  Schreibart 
des  Verf.  ist  holperig,  sie  wimmelt  von  Provincialismen, 
die  ein  Professor  der  Chirurgie  doch  eigentlich  vermeiden 
sollte!  —  Druck  und  Papier  sind  gut,  das  Werk  aber 

offenbar  viel  zu  theuer. 

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XIII. 


Kleine  chirurgische  Schriften. 


1.  Krankheiten  der  Harn-  und  Geschlechtsor¬ 
gane;  enthaltend:  Neue  Beobachtungen  über  die  \er- 

16  * 


/ 


244 


XIII.  1.  Krankheiten  der  Harn 


engerungen  der  Harnröhre,  und  derep  Behandlung,  prak¬ 
tische  Bemerkungen  über  nicht  contagiüse  Ausflüsse  und 
chronische  ( inveterirte)  Tripper,  und  deren  Heilung 
durch  die  Cauterisation ,  chronische  Entzündungen  des 
Blasenhalses ,  und  deren  glückliche  Heilung  durch  die  Cau¬ 
terisation.  Von  F.  Lallemand,  Prof,  der  chir.  Klinik 
bei  der  med.  Facultät  zu  Montpellier,  erstem  W  undärzte 
des  Civil-  und  Militär- Spitals  daselbst,  u.  s.  w.  Aus  dem 
Französischen  übersetzt  und  mit  Anmerkungen  begleitet 
von  A.  W.  Pestei.  Leipzig,  Magazin  fiir  Industrie  und 
Litteratur.  1828.  8.  262  S.  (1  Thlr.) 

Vorliegende  Schrift  bildet  den  zweiten  Theil  der  Beob¬ 
achtungen  über  die  Krankheiten  der  Ilarnwerkzeuge  von 
Lallemand,  und  ist  also  eine  Fortsetzung  von:  «<  Ueber 
Verengerungen  der  Harnröhre  und  deren  Behandlung,  von 
Lallemand.  Aus  dem  Franz,  übersetzt  von  A.  W.  Pc- 
stel.  Leipzig,  Magazin  für  Industrie  und  Litteratur.  1825.’» 
Da  wir  glauben,  annehmen  zu  dürfen,  dafs  jeder  Wund- 
arzt,  den  nur  irgend  das  schwierige  Kapitel  über  die  Ver¬ 
engerungen  der  Harnröhre  intercssirt,  Lallemand’s  Me¬ 
thode  diese  Krankheitsform  zu  behandeln  kennen  wird,  und 
da  dieselbe  in  jener  1825  erschienenen  Schrift  hinlänglich 
auseinandergesetzt  ist,  so  übergehen  wir  sie  hier  mit  Still¬ 
schweigen,  und  erwähnen  blofs,  dafs  die  im  ersten  Ab¬ 
schnitt  (Fortsetzung  der  Beobachtungen  und  Bemerkun¬ 
gen  über  die  Verengerungen  der  Harnröhre)  von  Seite  1 
bis  130  mitgetheilten  Beobachtungen  sehr  zu  Gunsten  von 
Lallemand's  Methode  sprechen,  daher  auch  jeden,  der 
es  mit  seinen  Kranken  gut  meint,  anspornen  müssen,  diese 
Methode  selbst  zu  prüfen.  Die  Beobachtungen,  wenn  auch 
nur  im  Auszuge  wiederzugeben,  würde  uns  zu  weit  rühren, 
wir  überlassen  deswegen  das  Nachlesen  derselben  jedem 
selbst,  können  es  aber  nicht  unterlassen,  einiges  aus  den 
diesen  Beobachtungen  angehängten  Bemerkungen,  was  uns 
besonders  wichtig  schien,  mitzutheilcu.  Dafs  der  Vcrf.  seine 


und  Geschlechtsorgane.  245 

Methode  der  Ducampsehen  vorzieht,  erhellt  schon  aus 
dem  ersten  Theile,  in  diesem  aber  finden  wir  viele  Bei¬ 
spiele,  wo  er  durch  seine  Methode  Kranke,  die  lange  Zeit 
vergebens  mit  der  Ducamp sehen  behandelt  waren,  wieder¬ 
herstellte.  In  einem  Falle,  wo  die  Verengerung  21  Linien 
lang  war,  sah  er  sich  genüthigt  von  vorn  nach  hinten  zu 
ätzen,  also  Ilunter’s  Methode  zu  befolgen;  die  Kur  ge¬ 
lang,  allein  jede  Cauterisation  brachte  lebhafte  Schmerzen 
hervor,  die  bisweilen  mehrere  Tage  dauerten;  sie  veran- 
lafste  einen  copiösen,  blutige  Streifen  enthaltenden  Eiter- 
ausflufs;  eine  günstige  Veränderung  des  Harnsträhls  zeigte 
sich  nicht  eher,  als  im  Augenblick  der  Heilung,  und  den 
Gang  der  Cauterisation  im  Kanäle  konnte  er  blofs  muth- 
maafsen.  (Alles  Zufälle,  die  nicht  sonderlich  einladend 
sind.)  In  einem  anderen  Falle,  wo  er  sich  derselben  Me¬ 
thode  bediente,  brach  das  in  der  Sonde  befindliche  Stück 
Höllenstein  ah,  und  blieb  in  der  Harnröhre  sitzen;  ein  die¬ 
ser  Methode  besonders  zum  Vorwurf  gereichender  Zufall. 
Während  einer  Stunde  entstanden  danach  die  heftigsten 
Schmerzen,  allein,  was  eigentlich  Gefahr  genannt  zu  wer¬ 
den  verdiente,  war  unstreitig  die  Harnverhaltung.  Den¬ 
noch  verwirft  er  diese  Methode  nicht  ganz,  sondern  zieht 
sie  sogar  jeder  andern  da  vor,  wo  man  es  mit  einer  Art 
von  Scheidewand,  die  wahrscheinlich  durch  eine  Narbe  her¬ 
vorgebracht  war,  zu  thun  hat;  denn  ätzt  man  hier  von 
innen,  so  zerstört  man  gesunde  Theile  und  wirkt  zu  schwach 
auf  das  Hindernifs  seihst.  Um  die  Nachtheile  des  forcirten 
Catheterisirens  und  des  Verweilens  der  Sonde  im  Kanal  in 
ein  helleres  Licht  zu  setzen,  erzählt  er  einen  Fall,  wo  in 
Folge  dieser  Mittel  Ahsccsse  am  Hinterbacken  und  an  der 
äufseren  Seite  des  Schenkels,  bis  nahe  an  das  Knie  sich 
erstreckend,  entstanden.  In  Fällen,  wo  sich  der  Kanal  der 
Harnröhre  immer  wieder  zusammenzieht,  sobald  die  Aus¬ 
dehnung  durch  Sonden  aufhört,  räth  er  zum  fortgesetzten 
Gebrauch  der  Sonden.  Bei  dieser  Gelegenheit  erzählt  er 
die  Geschichte  eines  Kranken,  der  sogar  während  des  Bei- 


246 


XIII-  1.  Krankheiten  der  Ilam- 


schlafs  die  Sonde  trug.  «(Die  Sonde,  welche  er  damals 
trug,  als  ich  ihn  sah,»  sagt  der  Verf.,  «ragte  ungefähr 
einen  Zoll  aus  der  Ruthe  hervor,  und  ward  5  oder  6  Li¬ 
nien  weit  von  ihrem  Ende  durch  eine  Schlinge  festgehalten^ 
die  hinter  der  Eichel  geknüpft  war.  Sobald  sich  die  Ruthe 
im  Zustande  der  Erection  befand,  band  der  Kranke  die 
Sonde  los,  senkte  sie  dann  etwas  tiefer  in  die  Rläse  ein, 
und  lief  die  Schlinge  aufsen  herabhängen,  um  die  Sonde 
wieder  herausziehen  zu  können.  §o  wie  sich  das  Glied 
verlängerte,  ragte,  auch  die  Eichel  mehr  als  einen  Zoll  über 
das  Instrument  hervor.  Liefs  die  Erection  nach,  so  ergofs 
sich  der  Saame  zwischen  der  Sonde  und  dem  Kanäle.  »  — 
Daf»  diejenigen  Kranken,  welche  die  Anwendung  der  Sonde 
oder  des  Dilatators  nach  Zerstörung  ihrer  Verengerungen 
durch  die  Canterisation  verweigert  hatten,  eben  so  radical 
geheilt  wurden,  als  jene,  die  sich  obiger  Methode  unter¬ 
warfen,  zeigt  der  \  erfasser  deutlich,  und  zieht  hieraus 
gegen, Ducamp  den  Schlufs,  dafs  die  Methode  der  nach- 
herigen  Dilatation  überflüssig  sei.  Er  verwirft  diese  jedoch 
nur  in  den  meisten  Fällen ,  wo  man  es  nämlich  mit  einer 
Veränderung  des  Gewebes  zu  thun  hat,  nicht  aber  bei  den¬ 
jenigen  Verengerungen ,  welche  gewöhnlich  ihren  Sitz  nahe 
an  der  Mündung  des  Kanals  haben,  und  durch  Adhäsionen, 
die  sich  in  Folge  von  Verschwärungen  gebildet,  hervorge¬ 
bracht  worden  sind.  Im  Allgemeinen  räth  er,  sich  nicht 
zu  übereilen,  sondern  genau  zu  beobachten,  was  vorgeht. 
Sobald  der  Ilarnstrahl  nach  vollendeter  Cauterisation  sich 
nicht  verändert,  giebt  es  gar  nichts  zu  thun,  geschieht  dies 
aber,  so  ist  es  immer  noch  Zeit  der  V  erengerung  durch 
Sonden  entgegenzuwirken.  Stets  hat  es  ihm  eben  so  un¬ 
nütz,  als  gefährlich  geschienen,  in  eine  Verengerung  eine 
stärkere  Sonde,  als  es  die  Miinduifg  der  Harnröhre  gestat¬ 
tet,  einführen  zu  wollen.  Die  Gefahr,  die  mit^der  An¬ 
wendung  der  Sonde  oder  des  Dilatators  verbunden  ist,  und 
welche  die  der  Cauterisation  bei  weitem  übersteigt,  ist  sehr 
grell,  vielleicht  zu  grell  hervorgehoben. 


/ 


und  Geschlechtsorgane.  247 

^  f  fr 

Im  zweiten  Abschnitt,  S.  130,  bandelt  der  Verf. 
die  nicht  contagiösen  Ausflüsse,  die  Nachtripper  und  deren 
Behandlung  durch  die  Cauterisation  ah.  Die  in  diesem  Ab¬ 
schnitt  gesammelten  Beobachtungen  und  Erfahrungen  sind 
in  der  That,  wie  auch  der  Hr.  Uebersetzer  sehr  richtig 
bemerkt,  von  dem  gröfsten  wissenschaftlichen  Interesse. 
Wir  lernen  hier  durch  den  Verf.  zwar  keine  neue  Uebel- 
seinsformen  kennen,  wohl  aber  läfst  er  uns  ein  altes  be¬ 
kanntes  Uehel  in  Rücksicht  der  Individuellen  Disposition, 
der  Ursachen,  der  Symptome  der  Krankheit,  besonders  aber 
der  mit  dem  inveterirten  Tripper  verknüpften  Harnbesch  wer¬ 
den  und  des  durch  60  Thatsachen  bestätigten  Gelingens 
der  Cauterisation  im  letztem  Falle,  aus  einem  Gesichts¬ 
punkte  betrachten,  der  jedem  Wundarzt  für  die  Zukunft 
die  günstige  Aussicht  eröffnet,  durch  die  Cauterisation  eine 
Affection  zu  bekämpfen,  die  im  entgegengesetzten  Falle 
den  armen  Kranken,  wenn  er  die  späteren  Jahre  erreicht, 
zu  einem  Proteus  von  Uebelseinsformen  machen  würde!  — 
Zuerst  spricht  der  Verf.  von  den  nicht  contagiösen  Aus¬ 
flüssen  und  zeigt,  dafs  bisweilen  Hautausschläge  mit  Ent¬ 
zündungen  der  Harnröhre  abwechseln.  Obschon  die  Sym¬ 
ptome  dieser  mit  denen  des  acuten  bösartigen  Trippers  viel 
Aehnlichkeit  haben,  so  unterscheiden  sie  sich  von  diesem 
doch  dadurch,  dafs  bei  jenen  das  Urinlassen  weniger  schmerz¬ 
haft  ist,  und  auch  die  Erectionen  nicht  so  anhaltend  und 
beschwerlich  sind,  auch  ist  die  Eiterung  bei  ersteren  ge¬ 
wöhnlich  geringer  und  besteht  blofs  in  einer  Art  dicker, 
gelblicher  Ausschwitzung,  die  eher  mit  Kitzel  oder  Jucken, 
als  wirklichem  Schmerze  verbunden  ist.  Dafs  es  Subjecte 
giebt,  die  nach  plötzlicher  Erkältung  sogleich  chronische  (?) 
Harnröhrenentzündung  bekommen,  zeigt  er  gleichfalls.  Die 
den  Nachtripper  begleitenden  Symptome,  die  davon  her¬ 
rühren  ,  dafs  sich  die  örtliche  Reizung  auf  den  ganzen  Or¬ 
ganismus  ausbreitet,  schildert  er  sehr  genau.  Was  ihn  be¬ 
wog,  die  Cauterisation  in  diesen  Fällen  zu  versuchen,  war 
Folgendes:  So  oft  er  den  Kanal  solcher  Individuen  nach 


I 


*  248 


XIII.  1.  Krankheiten  der  Häm¬ 


meren  Tode  untersuchte,  die  mit  Verengerungen  und  einer 
damit  verbundenen  habituellen,  mehr  oder  minder  copiüsen 
Absonderung  gestorben  waren,  fand  er  hinter  dem  Minder» 
nifs  d  ie  Schleimmembran,  besonders  gegen  den  Blascnbals, 
geschwollen,  wie  injicirt,  schwammig  und  ihre  absondern¬ 
den  Schleimsäckchen,  besonders  die  der  Vorsteherdrüse, 
bedeutend  vergrößert.  In  den  schwersten  Fällen  fand  er 
die  Schleimmembran  ödematüs  angeschwollen,  weich,  mürbe, 
von  geringer  Resistenz  und  die  Schlcimhühlen  so  weit,  dafs 
sie  eine  Sonde  von  der  Starke  einer  Rabenfeder  aufzuneh¬ 
men  vermochten.  Die  nämlichen  Bemerkungen  machte  er 
auch  bei  andern,  welche,  ohne  je  von  Verengerungen  affi- 
cirt  gewesen  zu  sein,  bis  auf  den  letzten  Augenblick  ihre 
Isachtripper  behalten  hatten.  Diese  Resultate  bewogen  den 
\erf. ,  den  Höllenstein  örtlich  anzuwenden,  um  durch  den¬ 
selben  auf  das  kranke  Gewebe  einzuwirken.  Dafs  die  Ana¬ 
logie  für  ihn  sprach,  denn  man  wendet  ja  täglich  dasselbe 
Mittel  äufserli-jh  in  ähnlichen  Fällen  an,  bedarf  wohl  kaum 
der  Erwähnung.  Die  Stelle,  welche  er  ätzte,  war  an  der 
Krümmung  der  Harnröhre,  der  Vorsteherdrüsentheil ,  denn 
diesen  Theil  halte  er  bei  Sectionen  krankhaft  gefunden, 
und  auch  während  des  Lebens  deuteten  Symptome,  als: 
eine  beschwerliche  heimliche  Empfindung  in  dieser  Gegend, 
häufiger  Drang  zum  Harnen  u.  s.  w.  auf  Er^riffensein  des¬ 
selben  hin.  Er  cauterisirt  mit  demselben  Instrumente,  des¬ 
sen  er  sich  bei  Verengerungen  bedient,  nur  befestigt  er 
hier  den  Schieber  der  Sonde  um  einen  halben  Zoll  weni¬ 
ger,  als  die  Länge  der  Harnröhre.  Tritt  der  Stab  nur 
6  Linien  weit  aus  der  Sonde,  so  kann  das  Aetzmittel  nicht 
in  die  Blase  eindringen.  Um  letzteres  zu  vermeiden,  soll 
der  Kranke  stehen  und  sich  etwas  vorwärts  beugen;  auch 
darf  die  Blase  während  des  Aetzens  keinen  Harn  enthalten, 
denn  urinirt  der  Kranke  gleich  nachher,  so  werden  die 
kranken  Stellen  nicht  genug,  und  die  normal  gebliebenen 
ohne  Noth  geätzt.  Er  bedient  sich  einer  starken  Sonde, 
die  mit  einem  Stabe  armirt  ist,  an  dessen  convexer  Seite 


249 


i 


und  Geschlechtsorgane. 

das  salpetersaure  Silber  angebracht  ist,  wobei  die  dasselbe 
aufnehmende  Rinne  mit  der  Stärke  der  Sonde  im  Verhält- 
nils  steht,  so  dafs  sie  3  bis  4  Gran  des  Aetzmittels  zu  fas¬ 
sen  vermag.  Er  führt  dasselbe  drei-  bis  viermal  leicht  über 
die  Oberfläche  bin,  und  erhält  daher  eine  oberflächliche, 
abe”  ausgebreitete  Cauterisation.  Augenblicklich  entsteht 
ein  lebhafter,  brennender  Schmerz,  der  sich  bis  zum  Mast¬ 
darm  erstreckt,  und  ein  dringendes  Rediirfnifs  zum  Urin- 

lassen  ;  letzteres  ist  von  einem  mehr  oder  minder  lebhaften 

• 

Stechen  begleitet.  Den  zweiten  Tag  verwandelt  sich  dies 
stechende  Gefühl  in  ein  Kitzeln;  den  dritten  oder  vierten 
rlag  werden  schon  Schorfe,  in  Form  kleiner  graulicher 
oder  bräunlicher,  dünner,  doch  selten  breit  erscheinender 
Häutchen,  durch  den  Urin  mit  ausgeführt,  auch  erscheint 
dann,  wie  am  ersten  Tage,  etwas  Blut  mit  dem  Urin.  Der 
Ausflufs  verschwand  ganz  oder  allrnählig  während  der  drei 
ersten  Tage  und  kam  am  vierten  wieder  zum  Vorschein, 
den  fünften  oder  sechsten  nahm  er  wieder  zu,  worauf  er 
wieder  geringer  ward,  um  nach  10  bis  20  Tagen  von  selbst 
wegzubleiben.  Der  Verf.  ist  übrigens  offen  genug,  seine 
Methode  nicht  für  untrüglich  auszugeben,  so  erwähnt  er 
z.  B. ,  dafs  bei  vier  Kranken  Entzündungen  der  Testikeln 
3  oder  4  Tage  danach  entstanden;  so  gesteht  er,  dafs  man 
die  Blase  verletzen  könne,  dafs  die  erregte  Entzündung  zu 
schwach  oder  zu  stark  sein  könne.  Unter  zehn  Malen  ge¬ 
lang  es  ihm  neunmal,  mittelst  der  Cauterisation  Ausflüsse 
zu  heilen,  die  sehr  ioveterirt  waren,  und  den  rationellsten 
und  verschiedenartigsten  Behandlungen  widerstanden  hatten. 
Zuletzt  macht  der  Verf.  noch  auf  Ausflüsse  aufmerksam, 
welche  aus  Verschwärungen  entspringen  und  auf  andern 
Stellen  der  Schleimhaut  ihren  Sitz  haben.  Diese  Verschwä¬ 
rungen  bleiben,  wenn  auch  das  Lustseuchengift  getilgt  ist  (?), 
und  lassen  sich  schnell  durch  die  Cautertsation  heben.  — 
Die  Mündung  der  Ausspritzungskanäle  soll  durch  die  Cau¬ 
terisation  nie  leiden,  vielmehr  beobachtete  der  Verf.,  dals 
fast  alle  durch  das  Aetzmittel  von  inveterirten  Ausflüssen 


550  XIII.  1.  Krankh.  d.  Harn*  u.  Geschlechtsorgane. 


geheilte  Kranke  zu  gleicher  Zeit  eine  ihnen  ungewohnte 
Kraft  und  Tbätigkeit  ihrer  Geschlechtsorgane  erlangten! 

Im  dritten  Abschnitt  (S.  1  TG)  spricht  der  ,Vcrf. 
von  der  chronischen  Entzündung  des  Blasenhalses,  die  er 
auch  cauterisirt,  und  erzählt  mehrere  interessante  Beobach- 
iungen  der  Art  Damit  niemand  in  einen  Irrthum  verfalle, 
bemerken  wir,  dafs  er  unter  Entzündung  des  ülasenhalses 
eine  W  citerverbreitung  der  chronischen  Harnröhrenentzün¬ 
dung  oder  eine  besondere  Nuance  der  Illasenentzündung 
versteht,  also  keine  Krankheitsform  sui  generis.  Die  Beob¬ 
achtungen  sind  übrigens  weder  zahlreich,  noch  übereinstim¬ 
mend  genug,  um  eine  allgemeine  Beschreibung  dieser  Uebel- 
seinsform  daraus  bilden  zu  können,  wir  verweisen  daher 
auf  das  Nachlesen  der  Krankengeschichten  und  der  densel¬ 
ben  angehängten  Beobachtungen.  Nicht  unerwähnt  aber 
können  wir  lassen,  dafs  der  Verf.  in  einem  Falle,  wo  in 
Folge  von  Onanie  häufige  Pollutionen  bei  Tage  und  bei 
Nacht,  Augenschwäche,  Trägheit  in  den  intellectuellen  Ver¬ 
richtungen  u.  s.  w.  entstanden  waren,  mit  ausgezeichnet 
glücklichem  Erfolge  die  Acupunctur  versuchte.  Er  nahin 
nämlich  zwei  sehr  dünne,  ungefähr  zwei  Zoll  lange  Nadeln 
und  senkte  sie  vorderhalb  des  Afters,  einen  Zoll  davon 
entfernt,  ein,  indem  er  der  einen  Nadel  eine  mit  dem  auf¬ 
steigenden  Ast  des  Sitzbeins  gleichlaufende  Richtung  gab, 
und  die  andere  gegen  den  Blasenhals  richtete.  Er  liefs  sie 
vom  Abend  bis  zum  Morgen  liegen.  Ihr  Einsenken  ver¬ 
ursachte,  als  deren  Spitzet]  die  Haut  durchstachen,  fast  gar 
Jeeine  Schmerzen,  und  durch  ili*e  Gegenwart  wurde  der 
Schlaf  des  Kranken  nicht  auf  einen  Augenblick  unterbro¬ 
chen.  Während  der  folgenden  Tage  empfand  der  Kranke 
eine  auffallende  Veränderung  in  seinem  ganzen  Körper,  er 
fühlte  sich  weit  freudiger  gestimmt,  weit  lebhafter,  und 
mehr  zur  Arbeit  aufgelegt;  er  hatte  das  Gefühl  ungewohn¬ 
ter  Kraft  und  ihätigkeit,  sein  Kopf  war  ihm  viel  leichter 
geworden,  seine  Augen  fühlte  er  nach  kleinen  Anstren¬ 
gungen  nicht  mehr  so  schnell  angegriffen  und  geschwächt. 


XIII.  2.  Ilarnrölironvcrengcrnngen.  251 

Der  Verf.  machte  nach  acht  Tagen  die  Acupunctur  noch 
einmal,  und  stellte  dadurch  den  Kranken  völlig  her.  (Ein 
ohne  Zweifel  sehr  merkwürdiger  Fall!)  —  Bei  Kindern, 
vorzüglich  bei  Knaben,  die  während  der  Nacht,  ja  sogar 
bisweilen  auch  am  Tage,  nicht  im  Stande  waren,  ihren 
Urin  an  sich  zu  halten,  sah  der  Verf.  immer  den  besten 
Erfolg  von  aromatischen  Bädern,  mehr  als  30  waren  selten 
zur  vollständigen  Heilung  nöthig. 

Die  Uebersetzung  liest  sich  gut.  Die  vom  Uebersetzer 
hinzugefügten  Anmerkungen  sind  unbedeutend. 


2,  Ueber  die  radicale  Heilu  ng  der  Harnröhren¬ 
verengerungen,  und  deren  Folgen;  nebst  kriti¬ 
schen  Bemerkungen  über  Ducamp’s  Heilverfahren  gegen 
dieselben.  Von  Dr.  W.  Kr  im  er,  praktischem  Arzte 
und  Operateur,  u.  s.  w.  Mit  zwei  Steindrucktafeln. 
Aachen,  bei  La  Ruelle  und  Destez.  1828.  8.  88  Seiten. 
(16  Gr.) 

•  , 

Die  Schwierigkeiten,  so  wie  das  Unvollkommene  der 

%  t. 

-Du  ca  mp  sehen  Methode,  setzt  der  Verf.  sehr  genau  aus¬ 
einander.  Er  zeigt,  welche  unzuverlässige  Resultate  die 
Sonde  exploratrice  liefere;  wie  schwierig  es  sei,  den  Porte 

caustique  mit  Höllenstein  zu  füllen  und  dieses  Instrument 

.  \  .  . 

zu  appliciren.  Der  Stiel  mit  dem  Aetzmittel  läfst  sich  näm¬ 
lich  entweder  nicht  vorschieben,  oder  er  läfst  sich  nicht  in 
die  Kapsel  zurückziehen.  Das  Drehen  (Jes  Instrumentes  ist, 
wie  der  \  erf.  ferner  behauptet,  sehr  mifslich;  der  schlimmste 
Zufall  aber,  der  eintreten  kann,  ist  das  Losdrehen  der 
Schlielskapsel  an  dem  metallenen  Aetzmittel  träger,  durch 
die  drehende  Bewegung  bei  dem  Aetzen  und  durch  einge¬ 
tretenen  Harnröhrenkrarupf,  bei  nicht  sehr  fest  angezogener 
Schraube.  Er  verwirft  jedoch  die  Du  ca  mp  sehe  Methode 


252  XIII.  2,  llarnröhrcnvcrcngcriingcn. 

• 

nicht  In  allen  Fallen,  sondern  glaubt  nur,  dafs  sic  dann 
eine  Gegenanzeige  finde,  wenn  mehrere  beträchtliche,*  seit¬ 
wärts  Hegende  Verengerungen  vorhanden  sind ;  wenn  die 
Explorationssonde,  so  wie  andere  Untersuchungsmittel  über 
den  Lauf  und  die  Lage  des  noch  gangbaren  Harnweges 
keine  Zuverlässigkeit  gewähren;  wenn  die  Kanalöffnung  zur 
Seite  geschoben  und  der  Lauf  des  Kanals  winkelig  ist; 
wenn  eine  schwammige,  zur  Blutung  leicht  geneigte  Dege¬ 
neration  der  Harnrührenwände  an  der  leidenden  Stelle,  oder 
eine  scirrhüse  Zerstörung,  selbst  mit  Harnfisteln  und  Harn- 
abscessen  am  Mittellleisch  oder  in  den  naheliegenden  Thei- 
len  zugegen  ist;  wenn  das  ganze  Perinäum  durch  Callosi- 
täten  und  Fistelüffnungen  völlig  entartet  ist,  wenn  die  Ge¬ 
fahr  einer  völligen  Verschiebung  der  Harnröhre  und  Ent¬ 
stehung  von  Ilarnabscessen  augenscheinlich  bevorstehend 
oder  gar  schon  vorhanden  ist;  und  endlich,  wenn  noch 
eine  syphilitische  oder  anderweitige  ursächliche  Dyscrasic 
des  Ucbels  bei  dem  Kranken  statt  findet.  In  allen  andereu 
Fällen  ist  Ducamp’s  Methode  angezeigt. 

Für  die  Fälle  nun,  in  welchen  diese  Methode  nicht 
angezeigt  ist,  entwarf  der  Verf.  eine  Operationsmethode, 
die  auf  C.  I»  c  I  T  s  Operationsmethode  bei  Zerstörungen  der 
Harnröhre  gestützt  ist,  die  er  öfters  mit  glücklichem  Er¬ 
folge  ausfiihrte,  und  die  er  hier  sehr  ausführlich  beschreibt. 
Die  Methode  ist  folgende:  Nachdem  man  sich  von  der  Lage, 
dem  Umfang  und  der  Beschaffenheit  des  Hindernisses  hin¬ 
reichende  Kenntnifs  verschafft  hat,  den  Kranken,  der  nicht 
mehr  venerisch,  auch  nicht  zu  sehr  geschwächt  sein  darf, 
zur  Operation  vorbereitet  hat  (eine  Stunde  zuvor  darf  er 
nicht  harnen),  legt  man  denselben  in  die  nämliche  Lage, 
wie  zum  Steinschnitt,  auf  einen  Tisch.  Nun’ bringt  man 
einen  gefurchten  silbernen  Cathetef  bis  zur  verengerten 
Stelle,  und  übergiebt  denselben  einem  links  stehenden  Ge- 
hülfen;  ein  anderer  Gehülfe  fafst  den  Hodensack  mit  der  x 
Hachen  Hand  und  hält  ihn  nach  oben,  um  die  Haut  am 
Mittellleisch  anzuspannen;  der  Operateur  legt  zw'ei  Finger 


XIII.  2.  Harnröhrenverengerungen.  253 

seiner  linken  Hand,  etwa  einen  Zoll  hoch  oberhalb  der 
Stelle,  wo  er  die  Spitze  des  Catheters  fühlt,  spannt  die 
Haut  an,  und  macht  mit  einem  geradeschneidigen  Messer 
einen  Einschnitt  durch  die  äufseren  Decken,  von  seinen 
Fingern  an  nach  abwärts,  wie  beim  Seitenblasenschnitt. 
(Die  Länge  des  Schnitts  richtet  sich  nach  dem  Umfange 
der  Verengerung.)  Nun  sucht  der  Operateur  mit  dem 
Zeigefinger  der  linken,  Hand  die  Furche  des  Catheters, 
sticht  Dreiviertelzoll  oberhalb  dessen  Spitze  mit  dem  Messer 
in  die  Harnröhre  ein,  fährt  in  der  Furche  abwärts  und 
schlitzt  so  die  Harnröhre  bis  zur  Verengerung  auf.  Jetzt 
wird  die  Blutung  rasch  gestillt  und  die  verengerte  Stelle 
aufgesucht.  Hierbei  können  vier  verschiedene  Fälle  ein 
besonderes  Verfahren  erfordern.  Erstens:  Nach  geschehe¬ 
ner  Eröffnung  der  Harnröhre  findet  man  die  verengerte 
Oeffnung,  durch  welche  der  Harn  abgeht,  und  ist  im  Stande, 
eine  feine  elastische  Sonde  durch  die  verengerte  Stelle  zu 
führen;  hinter  dieser,  oder  sind  deren  mehrere  vorhanden, 
hinter  diesen  ist  jener  Kanal  noch  gesund.  Hier  bringt 
man  das  Knöpfchen  eines  Knopfmessers  ein,  spaltet  mit 
demselben  die  Verengerung  und  schiebt  gleich  den  Catheter 
nach  in  die  Blase.  Zweitens:  Man  findet  nach  geschehener 
Eröffnung  der  Harnröhre  die  verengerte  Oeffnung  nicht, 
oder  sie  ist  so  klein,  oder  der  Kanal  hat  wegen  mehrerer, 
dicht  hintereinander  liegender  ungleichartiger  Verengerun¬ 
gen  und  der  Verhärtungen  der  Harnröhre  einen  solchen 
Lauf,  dafs  man  selbst  mit  der  feinsten  Sonde  nicht  einge- 
hen  kann.  Hier  mache  man  nach  der  Richtung  der  Harn¬ 
röhre  einen  freien  Einschnitt,  und  suche  dann  die  Kanal¬ 
öffnung  vorsichtig  auf.  Drittens:  Es  sind  Fistelgänge,  Eiter¬ 
sacke,  Ilarnabscesse  in  der  Umgegend  und  beträchtliche 
Verhärtungen,  so  wie  auch  Entartungen  der  Harnröhre 
und  der  benachbarten  Theile  vorhanden;  der  Harn  fliefst 
zum  Theil  durch  die  Fistelgänge  ab,  und  der  normale  Lauf 
des  Harnkanals  ist  an  der  krankhaften  Stelle  nicht  zu  er¬ 
mitteln.  Freier  Einschnitt,  ohne  Spalten  der  Fistelgänge. 


254  XIII.  2.  Harnrölironverengernngen. 

Viertens:  Es  ist  völlige  Desorganisation  und  Yerschliefsung 
der  Harnröhre  in  der  MittelHeischgegend  mit  abnormer 
scirrhöser  Substanzvermehrung  von  grofsern  Umfange  an 
dieser  Stelle  vorhanden,  und  der  Harn  llielst  theils  durch 
Fistelgänge,  theils  durch  Ilarnahscesse  ab.  In  einem  zi¬ 
ehen  Falle  machte  der  Yerf.  zwei  halbmondförmige  Schnitte, 
und  exstirpirte  alles  Krankhafte.  —  Der  Operateur  bringt 
nun  einen  langen  Silberdrath  in  den,  unten  geöffneten,  in 
der  Blase  liegenden  gefurchten  Catheter,  zieht  letzteren 
über  ersteren  aus,  und  bringt  über  diesen  einen  gewöhn¬ 
lichen  silbernen  Catheter  in  die  Blase,  der  daselbst  liegen 
bleibt.  Die  Wunde  wird  mit  geölter  Charpie  ausgefüllt, 
darüber  kommen  Longuetten,  die  durch  eine  f-  oder  eine 
derselben  ähnliche  Binde  befestigt  werden.  —  Dies  ist  die 
Beschreibung  der  Operationsmethode  des  Yerf. ,  die  wir 
nur.  in  ihren  Hauptmomenten  mitgetheiit  haben,  da,  in  alle 
Einzelnheiten  derselben  einzugehen  f  uns  zu  weit  führen 
würde.  So  genau,  wie  er  die  Operation  selbst  beschrieben 
bat,  hat  er  auch  die  zufälligen  Umstände  und  Ereignisse 
während  der  Operation,  als:  Erbrechen  und  Würgen, 
Ohnmächten,  Blasen-  und  Mastdarmkrampf,  zu  frühen  Ab- 
flufs  des  Urins,  arterielle  und  venöse  Blutungen,  Verletzun¬ 
gen  des  Mastdarms,  Blasensteine,  Harnfisteln  in  dem  Mast¬ 
darm  und  Scirrhositat  eines  oder  beider  Hoden,  so  wie  die 
Nachbehandlung  und  die  Zufälle  während  der  Behandlung 
oder  nach  erfolgter  Heilung  der  Wunde,  als:  heftiges  Er¬ 
brechen  und  Husten;  Nichtlosgestofsenwerden  der  Ligatu¬ 
ren  (der  Yerf.  empfiehlt  zum  Lösen  derselben  ein  eigenes 
Instrument);  Ausgleiten  des  Catheters  aus  der  Blase;  eiter- 
artigen  SchleimHul's  aus  der  Harnröhre,  so  wie  auch  aus 
der  Blase;  Unvermögen,  den  Harn  so  lange  wie  im  natür¬ 
lichen  Zustande  zu  halten;  krankhafte  Ausdehnung  der 
Harnblase,  und  Verdickung  der  Blasenhäute, ^erörtert.  — 
W  ir  verweisen  auch  in  dieser  Hinsicht  auf  das  Lesen  die¬ 
ser  interessanten  Schrift,  uud  glauben  durch  diese  kurze 
Anzeige  hinlänglich  auf  die  Existenz,  so  wie  auf  den  Inhalt 


XIII.  3.  Zurbckbildung  der  Scirrhen.  255 

derselben  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  Gewifs  wird  es 
jeder  Wundarzt  dem  Verf.  Dank  wissen,  diese  Operations¬ 
methode  so  genau  bis  auf  die  geringste  Kleinigkeit  beschrie¬ 
ben  zu  haben;  denn  wer  den  Vorschriften  des  Verf.  folgt, 
wird,  wenn  er  anders  hinreichende  anatomische  Kenntnisse 
der  in  Ilede  stehenden  Theile  besitzt,  weder  während,  noch 
nach  der  Operation  In  Verlegenheit  kommen.  Dafs  die 
Methode  selbst  ausführbar  und  für  den  Operirten  von 
grofsem  unberechenbaren  Vortheil  sei,  beweist  theils  der 
eine  ausführlich  vom  Verf.  erzählte  Fall,  theils  seine  Ver¬ 
sicherung,  mehrere  dergleichen  Kranke  auf  diese  Art  geheilt 
zu  haben.  Uebrigens  kann  nur  die  Erfahrung  anderer 
Wundärzte  über  den  wirklichen  Werth  dieser  Curmethode 
entscheiden. 

Auf  der  ersten  Tafel  finden  wir  die  vom  Verf.  erfun¬ 
denen  Instrumente  abgebildet.  Die  zweite  Tafel  zeigt  den 
senkrechten  Durchschnitt  der  krankhaften  Theile  einer  Harn¬ 
röhre  und  deren  Umgebung,  und  die  verschiedenen  Ab¬ 
drücke,  welche  Ducamp’s  Explorations- Sonde  von  dieser 
Verengerung  lieferte. 

—  0  — 


3.  Ueber  die  Z  ur  ü  ck  bi  Id  u  ng  der  Scirrhen  und 
der  Polypen,  und  über  die  Heilung  der  Krebs¬ 
geschwüre;  von  Dr.  Friedrich  Adolph  Weise, 
Königl.  Sächsischem  Garnisonmedicus  der  Bergfestung  Kö¬ 
nigstein.  Leipzig/ bei  Lauffer.  1829.  8.  76  S.  (9  Gr.) 

Das,  was  der  Verf.  über  die  Art  und  Weise  der  Ent¬ 
stehung  der  Scirrhen,  über  deren  Aetiologie  und  Diagnose 
sagt,  glauben  wir  um  so  mehr  mit  Stillschweigen  überge¬ 
hen  zu  können,  da  wir  in  allem  diesen  keine  originellen 
Ansichten  gefunden,  da  sie  nur  das  bisher  Bekannte,  und 
noch  dazu  ohne  Berücksichtigung  der  neuesten  Litteratur, 


256  xm.  3.  z  nrtickbildung  der  Scirrhen. 

enthalten.  Wohl  aber  glauben  wir  auf  das  vom  \erf.  sehr 
warm  empfohlene  Mittel,  das  die  Verhärtung  zertheilen  und 
der  zerrütteten  Wirkung  der  Absonderungskräfte  eine  an¬ 
dere  Richtung  geben  soll,  aufmerksam  machen  zu  müssen. 
Dieses  Mittel  ist  die  t hierische  Kohle.  Sie  wird  auf 
folgende  Art  bereitet:  Man  nimmt  Kalbfleisch  mit  den  Kip¬ 
pen,  zerhackt  es  in  mäfsig  kleine  Stücke,  und  brennt  es  in 
einer  Kaffeetrommel  unter  l  mdrehen  über  gehörig  starkem 
Feuer;  wenn  sich  die  brennbare  Luft  anfängt  zu  zeigen, 
welches  man  an  den  Flämmchen  sieht,  welche  um  die 
Trommel  spielen,  so  mufs  man  das  Brennen  noch  eine  • 
Viertelstunde  fortselzen;  setzt  man  es  so  lange  fort,  bis 
sich  keine  entzündliche  Luft  mehr  zeigt,  so  wird  das  Prä¬ 
parat  unwirksam,  und  der  Kranke  bekommt  darnach  einen 
Geruch  aus  dem  Munde,  wie*  von  faulen  Eiern. 

Ueber  die  Wirkungsart  der  thierischen  Kohle  theilen 
wir  aus  dieser  Schrift  folgendes  mit:  Sie  wirkt  sehr  auf 
den  Uterus,  und  man  mufs  bei  Schwängern  damit  vorsich¬ 
tig  sein.  Sie  treibt  den  Schweifs;  entstehen  bei  ihrem  Ge¬ 
brauche  Nachtschweifse,  so  mufs  man  die  Gabe  mindern. 
Bisweilen  fängt  die  Milch  wieder  an  zu  schiefsen,  wenn 
man  die  Kohle  bald  nach  dem  Abstillen  (sic!)  giebt,  aber 
die  Verhärtung  zertheilt  sich  dabei.  Man  giebt  sie  Morgens 
und  Abends  zu  einem  halben  bis  zwei  Gran;  sie  bleibt  im¬ 
mer  körnig,  wenn  man  sie  auch  noch  so  fein  reibt,  und 
nimmt  sich  daher  besser  in  der  Beimischung  von  Allhäe- 
oder  Süfswurzel,  als  mit  Zucker  oder  mit  Milchzucker. 
Knoten,  die  bei  scrofulöscn  Kindern  an  oder  auf  dem  Kopfe 
entstehen  und  schwer  in  Eiterung  zu  bringen  sind',  werden 
danach  schnell  w'eich,  gehen  von  selbst  auf  und  heilen  bald. 
Wenn  man  die  Koble  auf  die  harten  Ränder  bei  Krebsge- 
schwüren  streut,  so  zertheilen  sie  sich  und  eitern  gut. 
Scirrhen  in  den  Brüsten  von  Mädchen,  so  wie  nach  bösen 
Brüsten  zurückgebliebene  Knoten,  und  Milchknoten,  zer¬ 
theilen  sich  nach  «lern  inneren  Gebrauche  in  vier  bis  sechs 
Wochen;  Scirrhen  im  zweiten  Jahre,  erst  nach  einem 

halben 


257 


XIV.  JMedicinische  Bibliographie. 

halben  Jahre.  Bei  Abscessen  in  Brüsten  von  Wöchnerin¬ 
nen  thut  sie  innerlich  auch  gute  Dienste,  dasselbe  gilt  von 
Scirrhen  an  den  Lippen  und  an  der  Gland.  thyreoidea. 
Auf  verhärtete  Bubonen  äufsert  sie  keine  Einwirkung.  Knor¬ 
pelartige  Polypen  bildet  sie  zurück,  Fleischpoiypen  sehr 
langsam.  Sie  verhindert  das  Wiedererscheinen  der  Schleim¬ 
polypen  nach  der  Operation.  Bei  dem  offenen  Brustkrebse 
giebt  man  Morgens  und  Abends  zwei  bis  drei  Gran;  das 
Abfallen  der  Knoten  ,  oder  vielmehr  das  Schmelzen  dersel¬ 
ben,  erfolgt  in  einigen  Tagen,  und  in  der  dadurch  entstan¬ 
denen  Höhle  hängen  schwarze  Fäden  vom  Zellgewebe,  wie 
Spinnewebe;  der  Grund  wird  nach  dem  Verbände  mit  Bals. 
Locatelli  bald  rein  und  eitert  gut,  und  um  den  zurückge¬ 
bliebenen  harten  knotigen  Rand  bildet  sich  eine  Absonde¬ 
rungslinie,  die  darauf  hindeutet,  dafs  die  Natur  im  Los- 
stofsen  unterstützt  sein  will,  man  greife  daher  hier  zum 
Messer  oder  zu  Aetzmitteln.  ln  Betreff  der  Diät  beschränke 
man  die  Kranken  auf  Milch-,  Obst-  und  Mehlspeisen. 
Branntwein  und  Kaffee  müssen  ganz  vermieden  werden. 

Die  vom  Verf.  mitgetheilten  Krankengeschichten,  elf 
an  der  Zahl,  sprechen  sehr  für  dieses  Mittel;  es  verlohnt 
sich  daher  wohl  der  Mühe,  dafs  wir  dasselbe  versuchen! 

—  o  — 


XIV. 

\ 

Medicinische  Bibliographie. 

\  - 

Bartels,  E.  D.  A.,  patogenetische  Physiologie;  oder  die 
physiologischen  Hauptlehren  in  ihrer  Anwendung  auf  die 
Krankheitslehre,  und  insbesondere  auf  Erklärung  der 
Krankheiten.  Zur  Erleichterung  und  Förderung  des  pa¬ 
thologischen  Studiums,  gr.8.  Marburg.  Krieger.  X  und 
389  Seiten.  2  Thlr.  6  Gr. 


XIII.  Bd.  2.  St. 


17 


258 


XIV.  Medicinifcbc  Bibliographie 

/ 

Billard,  C.,  Krankheiten  der  Neugcborncn  und  Säug¬ 
linge,  nach  den  neuesten  klinischen  und  pathologisch¬ 
anatomischen  im  Hospital  der  T  indeikinder  zu  Paris  ge¬ 
machten  Beobachtungen.  Aus  dem  Französischen  frei 
bearbeitet  von  F.  L.  Meifsner.  Nebst  2  Kupfertaf.  gr.8. 
Leipzig.  Hartmann.  XII  u.  3S4  S.  1  Thlr.  16  Gr. 

Biographie,  mediciniscbe,  oder  vollständige  Nachrichten 
von  dem  Leben  und  den  Schriften  der  Aerzte,  Wund¬ 
ärzte,  Apotheker  und  der  vorzüglichsten  Naturforscher, 
welche  als  Schriftsteller  bekannt  geworden  sind.  Aus 
dem  Französischen,  mit  einigen  Zusätzen  von  Aug.  Ferd. 
Brüggemann.  Ir  Bd.  ls  Hft.  gr,8.  Halberstadt.  Brügge¬ 
mann  VIII  u.  136  S.  br.  16  Gr. 

Looper,  Astley,  Vorlesungen  über  die  Grundsätze  und 
Ausübung  der  Chirurgie,  mit  Bemerkungen  und  Krank¬ 
heitsfällen  begleitet  von  Fr.  Tyrrel.  Aus  dem  Engl.  3r  Bd. 
gr.8.  Weimar.  Industr. Compt.  418  S.  geh.  2  Thlr, 

Dittmer,  L. ,  Geschäftstagebuch  für  praktische  Heilkünst¬ 
ler  auf  das  Jahr  1829.  Lin  Taschenbuch  zum  täglichen 
Bedarf  für  ausübende  Aerzte;  nebst  einem  Anhänge,  ent¬ 
haltend:  Mittheilungen  für  Theorie  und  Praxis  über  neue 
Entdeckungen  und  Erfahrungen  im  Gebiete  der  Heilkunde 
und  der  damit  verbundenen  Naturwissenschaften.  8.  Dan¬ 
zig.  Gerhard.  VI  u.  304  S.  geb.  '  20  Gr. 

Ilartlaub,  C.  G.  C. ,  Tabellen  für  die  praktische  Medi- 
cin,  nach  homöopathischen  Grundsätzen.  Vier  Tabellen. 
Leipzig.  Leo.  4  Thlr. 

Klose,  C.  L. ,  über  den  Einflufs  des  Geschlechtsunter¬ 
schiedes  auf  Ausbildung  und  Heilung  von  Krankheiten.  8. 
Stendal.  Franzen  u.  Grofse.  XVI  u.  335  S.  1  Thlr.  8  Gr. 

i 

Most,  G.  1.,  der  Arzt  als  wahrer  Menschenfreund  für 
Gesunde  und  Kranke.  Ein  treuer  Bathgeber  für  alle 
diejenigen,  welche  sich  über  das  Leben,  die  Gesundheit 
und  über  die  Krankheiten  des  Menschen  belehren  wollen. 
2  Theile.  (2r  Tb.  rest.)  gr.8.  Leipzig.  Hartmann.  XIV 
und  326  S.  2  Thlr. 


XIY.  Meclicinische  Bibliographie.  259 

Osiandcr,  J.  F.,  Volksarzneimittel  und  einfache,  nicht 
pharmaceutische  Heilmittel  gegen  Krankheiten  des  Men¬ 
schen.  2te,  sehr  verbesserte  und  vermehrte  Auflage,  gr.8. 
Tübingen.  Osiander.  XVI  u.  538  S.  1  Thlr.  12  Gr. 

v.  Sieb  old,  E.  C.  J. ,  Abbildungen  aus  dem  Gesammt- 
gebiete  der  theoretisch -praktischen  Geburtshülfe,  nebst 
beschreibender  Erklärung  derselben.  Nach  dem  Franzö¬ 
sischen  des  Mavnr./»*  2te  Lieferung.  gF.  8.  Berlin.  Herbig. 
32  Seiten  .  Steindrucktafeln.  20  Gr. 

Stahl,  E.  D.,  Entwurf  eines  naturgemäfsen  Verfahrens, 
•  Krankheiten  zu  heilen.  Ir  Theil.  gr.8.  Hannover.  Hel- 
wings.  XVI  u.  428  S.  2  Thlr. 

*  '■ 

Anzeige  für  deutsche  Aerzte, 

die  !  ortsetzung  des  Summariums  der  medicini- 
schen  Journalistik  betreffend. 

Das  mit  Anfang  des  Jahres  1828  begonnene,  und  mit 
so  vielem  Beifalle  aufgenommene  medicinische  Journal  unter 
dem  Titel: 

Summarium  des  Neuesten  aus  der  ge- 
sammten  Me  di  ein,  eine  fortlaufende,  syste¬ 
matisch  geordnete  Lebersiebt  aller  literarischen 
Erscheinungen  in  der  ärztlichen  Wissenschaft 
und  Kunst;  iri  gedrängten  Auszügen  nach  den 
neuerschienenen  Journalen,  Litteraturzeitungen, 
klinischen  Jahrbüchern  u.  s.  w.,  unter  Mitwir¬ 
kung  der  Herren  Dr.  Braune,  Dr.  Carus, 
Br.  Hänel,  Dr.  Hille,  Dr.  Kühn,  Dr.  Meifsner, 
Dr.  Oehler,  Prof.  Dr.  Radius  und  Dr.  Wal¬ 
ther  bearbeitet,  und  herausgegeben  von  Dr. 
Lnger  und  Dr.  Klose, 

soll  auch  für  1829  mit  gleich  regem  Eifer  von  Seiten  der 
genannten  Herren  Herausgeber  und  des  Verlegers  fortgez 
setzt  werden. 

17  * 


260  XIV.  Medicinische  Bibliographie. 

Für  Diejenigen,  welche  dies  Unternehmen  bisher  noch 
nicht  genauer  kannten,  wird  zugleich  mit  dem  ersten  Hefte 
des  zweiten  Jahrganges  die  früher  bekannt  gemachte  aus¬ 
führliche  Anzeige  über  Plan  und  Hinrichtung  des  Summa- 
riums  wieder  abgedruckt  werden. 

Da  dieses  reichhaltige  Journal,  als  Repertorium  des 
Wissenswürdigsten  aus  allen  Zweigen  der  Medicin,  einen 
bleibenden  Werth  behält,  so  wird  auch  Vielen  der  IJcsitz 
des  bald  beendigten,  mit  einem  vollständigen  Register  ver¬ 
sehenen  ersten  Jahrgangs,  welcher  gegen  ‘2000  Nummern 
enthält,  wünschenswerth  sein,  wovon  noch  eine  kleine  An¬ 
zahl  Exemplare  vorräthig  ist,  die  der  Verleger,  so  weit  der 

* 

Vorrath  reicht,  den  Abonnenten  auf  den  zweiten  Jahrgang 
für  den  ermäfsigten  Preis  von  \  ier  Thalern  oder  7  Gulden 
12  Kreuzer  Rhein,  erlassen  will. 

Der  zweite  Jahrgang,  für  1829,  kostet  Sechs  Thaler 
oder  10  Gulden  48  Kreuzer  Rhein. 


Leipzig,  im  Januar  1829. 


I. 

'  r  ;  ‘  I 

Erfahrungen  und  Bemerkungen  über  Du- 
puytren’s  Operationsmethode,  den  Mast¬ 
darmvorfall  zu  beseitigen; 

•  f  -  ^.1 

vom 

Professor  Dr.  v.  Ammon  in  Dresden. 


v  > 

Circa  anum  oriuntur  abscessus,  ulcera,  condylomata  et  fistulae, 
quae  vitia  omnia  taedii  plena  sunt,  taedii  autem  plenis- 
siraum  vitium  est,  si  anus,  id  quod  interdura  fit, 
procidit. 

Joh.  Zachar.  Platner. 


Seitdem  Dupuytren  seine  auch  in  Deutschland  mitge- 
theilte  *)  Methode,  den  Prolapsus  ani  gründlich  zu  heilen, 
bekannt  gemacht  hat 1  2),  ist,  so  weit  der  Verfasser  dieser 


1 )  Bd.  V.  Heft  3.  S.  524  des  Journals  für  Chirurgie  und 
Augenheilkunde  von  v.  Gräfe  und  v.  Walther. 

2)  Sabatier  Med  ecine  operatoire  par  Sanson  et  B^gin. 
Paris  1824.  Tom.  3.  S.  683.  Während  seines  Aufenthaltes  in 
Paris  (1821  - —  1822)  hörte  der  Vcrf.  dieses  Aufsatzes  von  die¬ 
ser  neuen  Operationsmethode  wohl  sprechen,  sah  sie  jedoch  nie 
von  ihrem  Erfinder  im  Hotel  -Dieu  ausüben.  S.  desselben  Pa¬ 
rallele  der  französischen  und  deutschen  Chirurgie.  Leipzig  1823. 
8.  S.  379. 


XIII.  Bd.  3.  St. 


18 


262 


I.  Mastdarmvorfall. 


Zeilen  die  chirurgische  Litteratur  Deutschlands  kennt,  die¬ 
ser  wichtige  Gegenstand  in  unserm  ’S  atcrlande  nicht  wie¬ 
der  zur  Sprache  gebracht  worden,  und  doch  verdient  der¬ 
selbe  in  mehr  als  einer  Hinsicht  die  Aufmerksamkeit  der 
deutschen  Wundärzte,  da  bis  zu  Dupuytren’s  Methode 
von  vielen  Aerzten  die  Meinung  gehegt  wurde,  dieses  Lehel 
könne  durch  einen  gefahrlosen  operativen  Eingriff  nicht 
geheilt  werden.  Der  Verf.  hält  es  daher  wohl  der  Mühe 
werth,  das  hier  mitzutheilen,  was  er  bei  der  Anwendung 
der  D  u pu yt re n sehen  Methode,  hei  der  Behandlung  von 
zwei  Mastdarmvorfällen,  gegen  die  umsonst  das  Kleinsche 
Pulver,  Adstringentia,  Eiszapfen,  Localbader  u.  s.  w.  ge¬ 
braucht  worden  waren,  gesehen  und  erfahren  hat,  und 
hegt  dabei  den  Wunsch,  dafs  diese  Bereicherung  der  Chi¬ 
rurgie  in  Deutschland  die  Anerkennung  finden  möge,  die 
sie  verdient,  und  durch  welche  Kranke  radical  und  doch 
ohne  Lebensgefahr  von  einem  Uebel  befreiet  werden  kön¬ 
nen,  das  jedenfalls  zu  den  lästigsten  für  das  leidende  Indi¬ 
viduum,  so  wie  für  dessen  Umgebungen  gehört,  und  des¬ 
sen  operative  Beseitigung  vor  der  neuen  D  u  p  u  y  t re n sehen 
Methode,  den  Leidenden  mehr  als  einmal  das  Lehen,  in 
Folge  der  durch  die  Operation  herbeigeführten  tödtlichen 
Blutungen  oder  Eiterung,  gekostet  hat  1 ). 

Während  man  nämlich,  vor  Dupuytren,  den  Pro¬ 
lapsus  ani  so  zu  operiren  pHegte,  dafs  man  den  vorgefalle- 
nen  Theil  des  Mastdarms  an  seiner  Basis  abschnilt,  und  die 
•  gewöhnlich  sehr  heftig  eintretende  Blutung  durch  Tam¬ 
pons,  oder  wenn  diese  den  Blulflufs  zu  sistiren  nicht  ver¬ 
mochten,  durch  das  Glüheisen  zu  stillen  suchte,  hebt  die¬ 
ser  dadurch,  dafs  er  die  Hauptursache  des  Prolapsus  ani, 
die  Erschlaffung  der  Sphincteren  zu  beseitigen  sich  bemüht, 
das  Uebel,  und  zwar  auf  folgende  Weise:  Er  fafst,  nach¬ 
dem  der  Prolapsus  ani  operirt  ist,  mit  einer  an  der  Spitze 


1)  I)r.  ChcliuaVi  Hnndhurh  der  Chirurgie.  Zweite  Auf¬ 
lage.  Heidelberg  1826.  1.  Bd.  S.  777.  Sabatier  a.  a.  O. 


I.  Mastdarm  Vorfall. 


263 


etwas  abgeflachten  Pincette  einige  der  strahlenförmigen -Fal¬ 
ten,  welche  als  Theile  des  erschlafften  Sphincters  die  Mün¬ 
dung  des  Mastdarms  umgehen,  anderhalb  Zoll  vom  Mastdarm 
entfernt,  hebt  sie  in  die  Höhe  und  trägt  sie  mit  einer  nach 
der  Fläche  gekrümmten  Scheere  ah,  indem  er  den  Schnitt 
so  hoch  als  möglich  gegen  den  Innern  erschlafften  Sphincter 
in  die  Höhe  führt.  Hie  Zahl  der  wegzunehmenden  Haut¬ 
falten  mufs  sich  nach  der  Gröfse  des  Vorfalls  und  nach  der 
Schlaffheit  der  Mastdarmöffnung  richten.  Durch  die  Bil¬ 
dung  der  Narben  wird  die  Afterrniindung  verengert. 

Im  November  1826  wendete  sich  die  22jährige 
an  mich,  um  von  ihrem  Mastdarmvorfalle ,  den  sie  schon 
seit  einer  langen  Reihe  von  Jahren  trug,  und  der  ihr  hei 
ihren  Hienstarfceiten  als  Kammermädchen  sehr  lästig  war, 
befreiet  zu  werden,  und  zwar  möglichst  bald  durch  die  neue 
französische  Operationsmethode,  von  der  der  Hausarzt  der 
Familie,  hei  der  sie  diente,  ihr  erzählt  habe.  Hie  Leidende 
v.ar  ziemlich  starker  Constitution,  brünett,  und  bis  auf  das 
Mastdarmleiden  ganz  gesund.  Ich  untersuchte  die  Kranke, 
und  fand,  wenn  sie  sich  auf  die  Seite  legte,  folgendes: 

Hie  Aftermündung  war  sehr  erschlafft,  und  rings  um 
dieselbe  befand  sich  eine  grofse  Anzahl  von  Falten;  aus  ihr 
ragte  selbst  im  Liegen  ein  Theil  der  innern  Wände  des 
Rectums  von  der  Gröfse  eines  grofsen  Hühnereies  heraus, 
und  sobald  die  Kranke  drückte,  so  trat  sehr  rasch  nach  ein¬ 
ander  die  innere  Seite  des  Intestinum  rectum  in  der  Länge 
von  4  bis  5  Zoll  hervor  r).  War  das  der  Fall,  so  dehn¬ 
ten  die  Plicae  an  der  Mastdarmöffnung  sich  aus,  gaben 
nach,  und  die  Basis  des  Prolapsus  ani  ward  dadurch  in  ihren 
Durchmessern  sehr  grofs;  man  sah  demnach  sehr  deutlich, 
dals  auch  hier  die  Hauptursache  des  Vorfalls  in  einer  gänz¬ 
lichen  Erschlaffung  der  Sphinctern  und  des  Levators  des 
Anus  lag.  Hie  jetzt  nach  aufsen  gedrängte  Membrana  mu- 
cosa  des  Rectums  war  zwar  geröthet,  allein  obgleich  die 

1)  S.  die  Tafel  Fig.  1. 

18  * 


1.  Mastdarmvorfall. 


‘-26  4 

Krankheit  schon  Jahre  lang  anhielt,  der  Vorfall  hei  jeder 
Stuhlausleerung,  hei  jeder  etwas  anstrengenden  Arbeit,  z. 
I>.  beim  Treppensteigen  u.  s.  w.  erschien,  doch  nicht  da¬ 
durch,  dafs  sie  sehr  oft  der  atmosphärischen  Luft  ausgesetzt 
war,  aufgelockert  oder  wuchernd.  Lag  der  ^  orfall  offen 
da,  und  man  legte  ein  reines  weil  »es  J  uch  unter  denselben, 
so  war  es  in  sehr  kurzer  Zeit  mit  einem  eiweifsähnlichen 
Schleime,  den  die  Haut  des  \  orlalls  ahsondcrte,  befleckt, 
und  der  einer»  ganz  eigentümlichen  Geruch  verbreitete. 
Leider  versäumte  ich  die  Gelegenheit,  eine  kleine  Menge 
dieser  eigentümlichen  Absonderung  der  inneren  Haut  des 
Intestirii  reeti  zu  sammeln,  und  sie  einer  chemischen  Ana¬ 
lyse  zu  unterwerfen.  Denn  nur  in  diesen  Fällen  von  Lei- 

9 

den,  wenn  besonders,  wie  dies  hier  der  Fall  war,  das  In¬ 
dividuum  ganz  gesund  ist,  würde  es  möglich  sein,  gleich 
nach  geschehener  Absonderung  und  ohne  Begünstigung 
fremder  Stoffe,  den  Schleim  des  K  ec  tu  ms  chemisch  prüfen 
zu  lassen  1 ).  — 

Ohne  grofse  Mühe  konnte  die  Kranke,  wenn  der  Vor¬ 
fall  geschehen  war,  denselben  dadurch  zuriickhriugen ,  dafs 
sie  die  flache  Hand  auf  denselben  legte,  so  einen  gelinden 
Druck  ausiibte,  und  durch  Linziehen  mittelst  der  Glutäen 
und  der  Levatores  ani  die  Taxis  unterstützte.  War  der 
Prolapsus  zurückgebracht,  und  führte  man  den  Zeigefinger 
in  das  Rectum,  so  nahm  man  die  groLe  Erschlaffung  der 
Spbincteren  deutlich  wahr;  stellte  man  eine  Exploratio  per 
vaginam  an,  und  führte  man  auch  den  Zeigefinger  in  der 
Vagina  nach  der  linken  Seite  herüber,  liefs  man  dann  die 


1  )  Line  chemische  Analyse  des  AlisonderungsstofTes  de* 
Rccluiiis  iclilt  noch  m  der  Anlhropochtmie ,  und  dafs  dieser  ein 
eigentümlicher  sein  müsse,  dafür  spricht  die  neruliäre  ,  mit  Drü- 
sfti  eigener  Art  versehene  Structur  des  Rcctums,  und  der  eigene 
Geruch,  deu  derselbe  hei  manchen  Krankheiten,  al*  :  bei  der 
Dysenterie  u.  s.  w.  hat.  Heriinaon  August  Fried  reich  tu 
seinem  Ilandhuche  der  animalischen  Stochinlogie,  Helmstädt  18‘28. 
8.  197 ,  führt  k  ciuc  Analyse  dieses  Schleimes  auf. 


I 


I.  Mastdarmvorfall.  265 

Kranke  den  Vorfall  hervordrängen,  so  konnte  tnan  durch¬ 
aus  nichts  an  der  im  Becken  vorgehenden  Intussusception 
fühlen'. 

Die  Entstehung  des  Uebels  blieb,  trotz  alles  Nach¬ 
fragens,  ganz  im  Dunkeln.  Die  Kranke  behauptete,  dafs 
ihr  zuerst  im  zehnten  Lebensjahre  ein  Stück  des  Mastdarms 
vorgefallen  sei,  als  sie  die  Mitpflege  eines  Mannes  über¬ 
nommen  habe,  der  an  einer  Fractura  colli  ossis  femoris  ge¬ 
litten  habe,  lind  dem  sie  manche  ihre  Kräfte  übersteigende 
Handleistungen  habe  thun  müssen.  Nach  nnd  nach  sei  das 
Uebel  immer  schlimmer  geworden,  und  habe  so  die  beschrie¬ 
bene  Gröfse  erreicht.  Etwas  Näheres  wollte  weder  sie, 
noch  ihre  Mutter,  über  die  Genesis  des  Uebels  wissen. 

Ich  war  bei  so  bewandten  Umständen  sehr  geneigt, 
die  D  u  p  u)  trensche  Methode  zu  erproben,  versuchte  je¬ 
doch  vorher,  ob  das  von  vielen  Seiten  her,  selbst  gegen 
sehr  veraltete,  ungewöhnlich  lange  Vorfälle  des  Mastdarms 
so  gerühmte  Kleinsche  Pulver  r),  das  noch  nicht  ange¬ 
wandt  worden  war,  seine  Dienste  nicht  auch  in  diesem 
Falle  erweisen  würde.  Allein  dasselbe  blieb  ohne  allen 
Erfolg;  eben  so  bestrich  ich  mehreremale  am  Tage  den 
Vorfall  umsonst  mit  der  Thebai  sehen  Tinctur,  wonach 
ich  denselben  gleich  reponiren  liefs.  Das  Opium  machte 
zwar  (es  sei  dies  hier  im  Vorbeigehen  gesagt)  durchaus 
keine  Zufälle,  hatte  aber  auch  nicht  den  mindesten  Ein- 
flul's  auf  die  gröfsere  von  mir  beabsichtigte  Zusammenzie¬ 
hung  des  Kectums,  und  das  war  um  so  natürlicher,  da  ja 
der  Grund  des  Vorfalls  in  der  grofseu  Erschlaffung  der 


1 )  Repertorium  der  besten  Heilformeln  aus  der  Praxis  der 
berühmtesten  Aerzte ,  Wundärzte  und  Geburtshelfer,  und  der 
berühmtesten  klinischen  Lehrer  Deutschlands.  Zweite,  sehr  ver¬ 
mehrte  und  verbesserte  Auflage.  Leipzig,  1829.  8.  36  und  37. 
iy.  Pulv.  Gunim.  Arabici. 

Pulv,  Colophon.  ana  partes  aequales. 

M.  intime.  D.  8.  Hiermit  den  Prolapsus  ani  drei-  bis  viermal 
des  Tages  zu  bestreuen. 


266 


I.  Mastdarmvorfall. 


Sphincteren  lag.  Ich  schritt  demnach,  nachdem  ich  die 
Kranke  einige  Unzen  IVicinu.söl  halte  nehmen  lassen,  und 
nachdem  die  Wirkungen  desselben  vorühergegangen  waren, 
zur  Operation,  die  ich  in  Gegenwart  der  Herren  Doctoren 
Flcmmingsen.  (der  die  Leidende  an  mich  gewiesen  hatte), 
Heden  us  jun.  und  Sieben  haar  anfangs  December  1826 
auf  folgende  Weise  verrichtete: 

Ich  liefs  die  Kranke  auf  den  Leib  legen,  und  zwar  so, 
dafs  derselbe  durch  mehrere  Kissen  unterstützt  ward,  wo¬ 
durch  der  Ilintertheil  der  Kranken  der  operirenden  Hand 
näher  gebracht  wurde.  Die  beiden  grofsen  Glutäen  wur¬ 
den  möglichst  von  einander  gezogen,  der  Prolapsus  ani 
gänzlich  reponirt.  Der'  Gehiilfe  steckte  den  Zeigefinger  der 
rechten  Hand  in  die  sehr  weite  Aftermündung,  und  drückte 
auf  die  der  Operntionsscite  entgegengesetzte  Wand  des 
Rectums.  Jetzt  fafste.  ich  mittelst  einer  ziemlich  starken 
Pincettc  einzelne  Palten  der  um  die  Aftermündung  sehr 
erschlafften  hier  und  dort  gefalteten  Haut,  hob  dieselben  in 
die  Hohe,  und  schnitt  nun  so  rasch  als  möglich  mittelst 
einer  auf  den  Flächen  gebogenen  Schcere  die  Falten  weg. 
Schon  nachdem  der  erste  Schnitt  geschehen  war,  konnte 
der  Gehiilfe  wegen  sehr  heftiger,  fast  spasmodischer  Zu¬ 
sammenziehung  der  vorher  so  erschlafften  Aftermündung 
den  Zeigefinger  nicht  mehr  im  Rectum  lassen,  und  die  Ab¬ 
tragung  der  übrigen,  jetzt  wegen  grofser  Unruhe  der  Kran¬ 
ken  und  wegen  der  bedeutenden  Uonlraction  des  Spbincters 
schwer  zu  fassenden  Hautfalten  wurde  dadurch  verzögert. 
Ich  trug  deren  fünf  ab,  die  sich  mehr  um  die  äufseren 
zwei  Drittheile  des  Orificii  ani  erstreckten,  weil  ich  den 
vorderen,  den  Gcschlechtstheilcn  zugekehrten  Theil  des 
Afters  der  Coinmissur  wegen  schonen  zu  müssen  glaubte, 
und  so  hatte  die  'Umgegend  des  Anus  durch  die  blattför¬ 
migen  Ausschnitte  ein  gesterfites  Aussehen  ').  Die  Blu¬ 
tung,  mehr  venös  als  arteriell,  war  ziemlich  stark,  die 


l  )  S.  die  Tafel  Kig.  2. 


I.  Masldarmvorfall. 


267 


Contraction  der  Sphincteren  nach  der  Operation  so  grofs, 
dafs  ich  den  Finger  in  das  Rectum  nicht  einführen  konnte. 
Ich  liefs  mittelst  eines  in  kaltes  Wasser  getauchten  Schwam¬ 
mes  die  Schnittflächen  kalt  fomentiren,  und  empfahl  Ruhe 
und  die  strengste  Diät.  Im  Fall  dafs  Stuhlausleerungen  ein- 
treten  sollten,  befahl  ich  die  möglichste  Schonung  der 
Theile,  und  alles  und  jedes  Drängen  und  Pressen  zu  ver¬ 
meiden.  Am  Abend  dauerte  die  Blutung  aus  den  Schnitt¬ 
flächen  noch  fort,  allein  sie  war  doch  mehr  seröser  Art; 
der  Blutverlust  war  nicht  unbedeutend  gewesen,  nichts 
desto  weniger  hatte  die  Operirte  am  Abend  fieberhafte  Be¬ 
wegungen  wahrgenommen,  und  der  Puls  war  gereizt.  Ob¬ 
gleich  ich  das  oben  angeführte  Kl  ein  sehe  Pulver  in  ziem¬ 
lich  grofser  Menge  auf  die  noch  blutende  Fläche  gestreut 
hatte,  obgleich  diese  bei  meinem  Weggange  kein  Blut  mehr 
absonderte,  ward  ich  Morgens  3  Ehr  mit  dem  Bedeuten 
gerufen,  die  Kranke  sei  sehr  schwach,  und  falle  aus  einer 
Ohnmacht  in  die  andere.  Bei  meiner  Ankunft  fand  ich  die 
Kranke  sehr  blafs,  doch  ohne  beängstigende  Zufälle;  es 
hatte  sich  plötzlich  heftiges  Drängen  zum  Stuhlgang  einge¬ 
stellt,  dieser  war  erfolgt,  allein  die  durch  die  verwundete 
Mastdarmöffnung  dringenden  Faces  hatten  so  furchtbare 
Schmerzen  erregt,  dafs  die  Kranke  bewufstlos  umgefallen 
war.  Ich  reinigte  das  Orificium  vermittelst  eines  Schwam¬ 
mes,  und  da  die  Blutung  stand,  so  begnügte  ich  mich  da¬ 
mit,  eine  Tasse  Chamillenthee  zu  verordnen,  und  eine 
% 

Mandelemulsion  zu  verschreiben.  Am  andern  Morgen  fand 
ich  die  Operirte  erholt,  sie  hatte  zwar  heftige  Schmerzen 
am  After,  konnte  jedoch  liegen,  und  hatte  einige  Stunden 
ruhig  geschlafen. 

\on  diesem  Tage  an  ging  alles  seinen  gehörigen  Gang; 
das  Fieber  blieb  nüifsig,  und  die  Operations wunden  fingen 
nach  und  nach  an  in  Eiterung  überzugehen.  Die  Kranke 
hatte  weniger  Schmerzen  in  denselben,  und  bekam  erst  am 
fünften  Tage  nach  der  Operation  eine  Stuhlausleerung,  die 
freilich,  der  Beschreibung  nach,  fürchterliche  Schmerzen 


268 


1.  Mastdarmvorfall. 

i 

verursachte.  Die  Opcrirte  beschrieb  sie  so,  als  wurde  ihr 
ein  glühendes  Eisen  in  den  After  gestofsen;  der  Erzählung 
nach  war  die  eine  Wand  des  Rectums  bei  dieser  Stuhlaus¬ 
leerung  etwas  vorgetreten,  allein  sogleich  nach  geendigter 
Function  wieder  schmerzlos  zurückgegangen.  Die  in  den 
folgenden  Tagen  eintretende  Eiterung  war  sehr  gering; 
einige  Ränder  der  blattförmigen  Stellen  der  Schnittwunden 
waren  mit  einander  per  primarn  intentionem  verheilt;  meh¬ 
rere  derselben  sahen  etwas  livid  aus,  hatten  eine  sehr  tor¬ 
pide  Eiterung,  und  sich  nach  innen  umgeschlagen.  Die 
Reaction  in  den  granulirenden  Schnittflächen  zu  erhöhen, 
betupfte  ich  dieselben  mit  Lapis  infernalis. 

Die  Kranke  fing  jetzt  an  umherzugehen,  und  fühlte, 
dafs  der  früher  kaum  schliefsende  Sphincter  sich  sehr  zu¬ 
sammengezogen,  und  dafs  die  ganze  Gegend  des  Afters  mehr 
Festigkeit  erhalten  batte.  Sie  fühlte  nur  dann  Schmerzen, 
wenn  sie  Darmausleernug  bekam,  die  jetzt  regelmäfsig, 
nämlich  täglich  einmal  erschien;  allein,  war  es  die  Schuld 
der  Kranken  dafs  sie  aller  Warnung  ungeachtet  bei  dieser 
Operation  sich  des  Drängens  und  Fressens  nicht  enthalten 
konnte,  oder  hatte  ich  doch  vielleicht  nicht  genug  Falten 
aus  der  Gegend  des  Orificii  ani  ausgeschnitten,  kurz,  bei 
jeder  Exoneratio  albi  trat  doch  ein  Stückchen  davon  aus 
der  Oeffnung  hervor,  wenn  es  auch  nur  die  Grüfse  einer 
Kirsche  oder  Pflaume  erreichte. 

Dieser  Unannehmlichkeit  glaubte  ich  bei  fast  vollende¬ 
ter  Vernarbung  aller  Operationsschnitte  durch  einige  ad- 
stringirende  Lavements  begegnen  zu  können,  und  verschrieb 
daher  ein  Decoctum  Ratauhiae  (3  vj.  Radix  Ratanh.  auf  3  vj. 
Golatur  des  Decocts).  Ich  gab  ihr  das  erste  Lavement,  das 
aus  ungefähr  zwei  EfslöfTeln  des  angegebenen  Decocts  be¬ 
stand,  selbst,  und  verordnete,  wenn  dasselbe  durchaus  keine 
lästigen  Erscheinungen  verursachen  sollte,  ein  zw-eites  am 
Abend  zu  appliciren,  und  dasselbe  möglichst  lange  im  Recto 
xurückzuhalten.  Allein  bei  einem  Besuche  am  nächsten  Mor- 


I.  Mastdarinvorfall. 


269 


gen  erzählte  mir  die  Genesende,  sie  habe  kurz  nach  meinem 
gestrigen  Weggehen,  also  ungefähr  eine  Viertelstunde  nach 
genommenem  Clysma,  heftige  Kopfschmerzen,  furchtbares 
Ohrensausen  und  wiederholtes  Erbrechen  bekommen;  dann 
seien  ihr  mehreremale  hintereinander  die  Sinne  vergangen, 
und  sie  sei  den  ganzen  übrigen  Tag  sehr  abgespannt  geblie¬ 
ben,  habe  daher  kein  zweites  Lavement  genommen.  So¬ 
gleich  fielen  mir  Dupuytren’s  Beobachtungen  ein,  dafs 
Arzneimittel,  durch  das  Lavement  in  den  Körper  gebracht, 
bei  weitem  ungetrübtere  und  heftigere  Wirkungen  hervor¬ 
brächten,  als  wenn  sie  durch  den  Mund  assimilirt  würden, 
Erscheinungen,  die  sich  hauptsächlich  bei  der  Anwendung 
des  Opiums  auf  diese  Weise  durch  eine  grofse  Reihe  oft 
wiederholter  Versuche  dem  genannten  grofsen  französischen 
A\  undarzte  gleichbleibend  ergeben  hatten.  Ich  injicirte  da¬ 
her  nur  einen  Efslöffel  des  Ratanhiadecocts  in  den  Mast¬ 
darm,  und  wartete  die  Wirkung  dieses  Clysma’s  ab;  allein 
auch  jetzt  traten  ähnliche  Erscheinungen,  wenn  auch  in 
geringerem  Maalse ,  wie  die  gestrigen  ein.  Da  die  Gene¬ 
sende  durchaus  keine  gewünschte  Veränderung  bei  den  ein¬ 
tretenden  Stuhlausleerungen  wahrnahm,  da  nämlich  immer 
noch  ein  Stückchen  des  Rectums  hierbei  prolabirte,  so  liefs 
ich  kein  drittes  Ratanhialavement  mehr  geben,  sondern 
wartete  nun  den  weiteren  Verlauf  der  Sache  ruhig  ab. 

Gegen  Weihnachten  fing  die  Kranke  an  auszugehen, 
und  wahrend  sie  früher  nie  einige  Treppenstufen  hinabstei¬ 
gen  konnte,  ohne  dafs  nicht  der  Mastdarm  vorgefallen  wäre, 
verhielt  sich  das  jetzt  ganz  anders,  denn  diese  Erschütte¬ 
rung  des  Körpers  hatte  gar  keineu  Einflufs  mehr  auf  das 
frühere  Uebel.  Ohne  dafs  ich  es  wufste,  besuchte  die  jetzt 
ganz  von  ihren  Operationswunden  Geheilte  während  der 
Weihnachtsfeiertage  einen  Tanzsaal,  und  obgleich  sie  hier, 
nach  ihrer  Aussage  darauf,  fortdauernd  mehrere  Stunden 
tanzte,  so  ging  am  Mastdarme  durchaus  keine  Veränderung 
vor.  Dies  schienen  ihr  Beweise  genug,  dafs  sie  nun  ganz 


270 


I.  Mastdarmvorfall, 


geheilt  sei;  trotz  aller  Gegenvorstellungen,  sich  noch  einige 
"Wochen  zu  schonen,  trat  sie  einen  neuen  Dienst  aufserhalb 
der  Stadt  zu  Anfänge  des  Jahres  1827  an.  Hier  ging  es, 
wie  ich  später  erfuhr,  anfangs  recht  gut  —  allein  lebhaft 
und  aufbrausend  von  Natur  eilte  die  jetzt  Geheilte,  unge¬ 
fähr  drei  Wochen  nachdem  sie  ihren  neuen  Dienst  ange¬ 
treten  hatte,  einst  die  Treppe  hinab,  glitt  aus,  fiel  eine 
grofse  Anzahl  von  Treppenstufen  hinab,  und  als  sie  wieder 
aufsland  fühlte  sie,  dafs  der  nun  über  zehn  Wochen  zu¬ 
rückgebliebene  Mastdarm  wieder  hervorgetreten  war.  — 
"Wahrscheinlich  hatte  der  plötzliche,  durch  den  Fall  her¬ 
beigeführte  Schreck  eine  augenblickliche  Lähmung  des  Sphin- 
cters  herbeigeführt.  —  So  war  das  Rectum  wieder  prola- 
birt.  —  Anstatt  mich  davon  persönlich  zu  unterrichten, 
und  durch  schnelle  ärztliche  Hülfe  das  wieder  neu  entstan¬ 
dene  Üebel  zu  beseitigen,  geschah  nichts.  Ob  Schaam 
oder  Leichtsinn  die  Kranke  davon  abhielt,  weifs  ich  nicht. 
Anderthalb  Jahre  nachdem  das  Rectum  zum  zweitenmale 
prolabirt  war,  begegnete  ich  der  Kranken  zufällig.  Das 
Uebel  war  jetzt  dasselbe  wieder,  welches  es  vor  der  Ope¬ 
ration  gewesen  war.  Gleich  nach  dem  Falle  war  der  Pro¬ 
lapsus  klein  gewesen,  hatte  aber  mehr  und  mehr  zugenom¬ 
men.  Die  Kranke  war  zur  \\  iederholung  der  Operation 
nicht  zu  bewegen,  ja  sie  erlaubte  mir  nicht  einmal  die 
Besichtigung  des  neuen  Vorfalls.  — 

Da  der  Frfolg  der  D  u  puy  trenschen  Opgrationsme- 
thode  in  dem  eben  erzählten  Falle,  trotz  des  durch  die 
Schuld  der  Kranken  herbeigeführten  Recidivs,  sehr  ermu- 
thigend  war,  so  vermochte  er  mich,  die  Sache  auch  einmal 
unter  sehr  ungünstigen  \  erhältnissen  zu  versuchen,  und 
das  geschah  im  November  1828  an  einer  alten  Frau,  die 
bereits  ()8  Lebensjahre  zählte,  und  auf  welche  jene  lieb¬ 
liche  Schilderung,  die  Ovid  in  seinen  Metamorphosen 
von  der  Baucis  macht,  keinesweges  angewandt  werden 
konnte.  — 


I.  Mastdarmvorfall. 


/ 


271 


Johanna  Christ  Jana  Gesnerin  litt  seit  mehreren 
Jahren  an  einem  drei  Zoll  langen  Prolapsus  ani  J),  zu  dem 
sich,  das  Maafs  der  Leiden  voll  zu  machen,  noch  ein  Pro¬ 
lapsus  uteri,  bereits  auch  schon  vor  langer  Zeit,  gesellt 
hatte.  Das  crstere  Uebel ,  das  früher  wohl  dann  und  wann 
sich  hatte  zurückbringen  lassen,  wurde  im  November  1828 
so  lästig  und  so  schmerzhaft,  dafs  die  Gesnerin  in  das 
unter  der  ärztlichen  Leitung  des  Hrn.  Dr.  Schilling  ste¬ 
hende  Amtskrankenhaus  zu  Dresden  gebracht  ward. 
Dieser  mein  College  veranlafste  mich,  den  Fall  mit  in  Au¬ 
genschein  zu  nehmen;  und  da  der  am  Krankenhause  ange- 
stelite  Wundarzt  den  Prolapsus  ani  bereits  mehreremale 
ohne  Erfolg  zurückgebracht  hatte,  allein  nicht  zurückhalten 
konnte,  denselben  auf  operativem  Wege  zu  beseitigen. 

Ich  war,  trotz  des  hohen  Alters,  trotz  des  decrepiden 
Zustandes  der  Frau,  deshalb  nicht  abgeneigt,  weil  der  Zu¬ 
stand  der  Kranken  durch  den  Prolapsus  ani  hier,  um  J.  Z. 
Platner’s  Worte  zu  gebrauchen,  ein  Vitium  taedii  ple- 
nissimum,  ein  wahrhaft  schauderhafter  zu  nennen  war.  Die 
bedeutende  Schleimabsonderung  fler  sehr  gerötheten  und 
aufgelockerten  Schleimhaut  des  Prolapsus  ani  ermattete  die 
Kranke  ungemein,  und  erzeugte  vermöge  seines  specifiken 
Geruchs  eine  Atmosphäre  um  dieselbe,  die  jede  Annähe¬ 
rung  fast  unmöglich  machte.  Dazu  kam,  dafs  die  Unglück¬ 
liche  fortdauernd  auf  einer  oder  der  andern  Seite  zu  liegen 
genöthigt  war,  da  jede  Rückenlage  ihr  die  furchtbarsten 
Schmerzen  verursachte.  Sitzen  konnte  sie  ebenfalls  nicht. 
Das  Maafs  des  Unglücks  wurde  dadurch  voll,  dafs  sich  zu 
diesem  Zustande  eine  nicht  unbedeutende  Diarrhöe  gesellte, 
und  dafs  in  Folge  des  Prolapsus  uteri,  Incontinentia  urinae 
dann  und  wann  eintrat. 

Ein  lautes,  ununterbrochenes  Wimmern  verkündigte 
die  Schmerzen  der  Kranken,  der  man  sich,  des  um  sie 


I 


1)  S.  die  Tafel  Fig.  3. 


272 


I.  Mastdarmvorfall. 


verbreiteten  furchtbaren  Gestankes  wegen,  nur  aus  Men¬ 
schenliebe  und  aus  Liebe  zur  Wissenschaft  auf  kurze  Zeit 
nähern  konnte.  Ls  drohete  unter  diesen  Umständen  der 
nahe  Tod,  denn  es  war  bei  der  gänzlichen  Ermattung  der 
Unglücklichen  ein  Resorptionsfieber  zu  fürchten,  und  nur 
durch  die  radicale  Entfernung  des  Prolapsus  ani  war  schnelle 
und  dauernde  Hülfe  zu  erwarten.  «Aut  cita  mors  venit  — 
aut  victoria  lacta.  M 

Ich  liefs  zu  dem  Ende  die  Kranke  in  ein  Rad  bringen, 
verordncte  rothen  W  ein  mit  Wrasser  gemischt  als  gewöhn¬ 
liches  Getränk,  und  cs  ward  aufserdem  eine  Emulsion  ver¬ 
schrieben.  Anfangs  November  1828  operirte  ich  den  Pro¬ 
lapsus  auf  folgende  Weise:  Ich  liefs  die  Alte  eine  Bauch¬ 
lage  annehmen,  jedoch  so,  dals  die  Posteriora  höher  zu 
liegen  kamen  als  der  Rücken;  hierauf  brachte  ich  den  Pro¬ 
lapsus  mittelst  der  in  Oel  getauchten  Finger  zurück,  und 
zwar  deshalb  nicht  ohne  grofse  Mühe,  weil  die  Erschlaf¬ 
fung  aller  Parthien  so  grols  war,  dafs  die  Kranke  durchaus 
kein  Wrillensvermögen  über  den  Levator  und  die  Sphincte- 
ren  des  Afters  hatte.  Die  Aftermündung  war  enorm  er¬ 
weitert  und  erschlafft,  und  die  Sphincteren  hatten  ihre 
ganze  Reaction  verloren.  Diese  beiden  Dinge  möglichst 
schnell  und  gründlich  zu  beseitigen,  bob  ich  nun  möglichst 
nahe  an  dem  Rande  der  sehr  erschlafften  Aftermündung  die 
daselbst  befindlichen  Falten  der  Haut  in  die  Höhe,  und 
schnitt  deren  acht  l)  mittelst  einer  auf  die  Flache  geboge¬ 
nen  schmalen  Scheere  ab  ,  deren  Spitze  ich  beim  Abtragen 
der  sehr  angezogenen  Hautfalten  möglichst  hoch  in  das 
f  Rectum  hineinschob,  um  die  blattförmigen  Ausschneidungen 
der  erschlafften  innern  und  äufsern  4laut  des  Rectums  mit 
ihrer  Mitte  gerade  auf  den  äufsern  Sphincter  zu  bringen. 
Auch  hier  stellte  sich  das  Phänomen  ein,  dafs  nach  der 
Abtragung  der  ersten  Hautfalten,  wie  mit  einem  Schlage, 
die  "sehr  erschlaffte  Aftermündung  sich  heftig  cusammenzog, 


1  )  S.  Hie  Tafel  Fig.  i. 


I.  Mastdarmvorfall. 


273 


wodurch  die  Entfernung  und  das  Fassen  der  übrigen  abzu¬ 
tragenden  Hautfalten  sehr  erschwert  wurde.  Die  Unglück¬ 
liche  gebehrdete  sich  während  der  Operation  ganz  ungemein, 
und  erschwerte  dieselbe  durch  ihre  grofse  Empfindlichkeit 
sehr.  Die  Blutung  war  sehr  stark,  zwar  meistens  venös, 
jedoch  ging  durch  Durchschneidung  einer  kleinen  Arterie, 
die  bekanntlich  hier  von  der  Haemorrhoidalis  interna,  als 
einem  Zweige  der  Arteria  mesenterica  inferior  entspringen, 
viel  Blut  verloren,  und  ich  mufste  dieselbe  endlich  durch 
Cauterisation  mittelst  des  Argenti  nitrici  stillen.  Die  After-* 
miindung  bot  jetzt  ein  sternförmiges  Ansehen  dar,  und  es 
war  fast  unmöglich,  mit  dem  beölten  Zeigefinger  in  die- 
selbe  einzudringen,  da  die  durch  den  vulneraliven  Eingriff 
gereizten  Sphincteren,  so  wie  der  Levator  ani,  heftig  rea- 
girten.  Der  After  war  sehr  geschlossen,  und  in  die  Höbe 
gezogen. 

Ich  liefs  einen,  mit  kaltem  Wasser  alle  5  —  10  Mi¬ 
nuten  frjsch  befeuchteten,  grofsen  Schwamm  an  die  ver¬ 
wundete  Stelle  legen,  empfahl,  da  die  Kranke  sehr  schwach 
war,  den  Genufs  rothen  Weins  unter  das  Getränk,  liefs 
Mandelmilch  forttrinken,  und  aufscrdem  nur  Suppen  ge- 
niefsen. 

Die  Nachblutung  dauerte  bis  gegen  8  Uhr  Abends. 
Es  trat  keine  besondere  entzündliche  Reaction  ein,  und  die 
Operirte  befand  sich  den  Umständen  nach  recht  gut,  denn 
es  fiel  in  den  ersten  drei  Tagen  durchaus  nichts  Bemerkens- 
werthes  vor.  Die  Kranke  genofs  mit  Appetit  ihre  Suppen, 
und  der  Genufs  des  sie  stärkenden  rothen,  mit  Wasser  ge¬ 
mischten  Weins  bekam  ihr  ebenfalls  recht  gut.  Die  Wohl- 
that,  jetzt  wieder  auf  dem  Rücken  liegen  zu  können,  konnte 
sie  nicht  genug  preisen.  Erst  am  vierten  Tage  stellte  sich 
Drang  zum  Stuhlgange  ein.  Es  ward  ihr  jetzt  eine  halbe 
Obertasse  gewärmten  Baumöls  mittelst  der  Lavementspritze 
in  den  After  gespritzt,  wodurch  der  Abgang  ziemlich  dicker 
Faeces  sehr  erleichtert  und  die  Heftigkeit  des  Schmerzes 
bei  der  Berührung  der  wunden  Theile  durch  den  Koth 


274 


I.*  Mastdarmvorfall. 


i 


sehr  gelindert  wurde.  Von  irgend  einem  Vorfälle  des  Mast¬ 
darms  hatte  sich  durchaus  nichts  gezeigt.  — 

Ich  liefs  d  ie  Aftermündung  mittelst  eines  kleinen  feinen 
Schwammes  öfters  reinigen,  damit  durchaus  nicht  die  ge¬ 
ringste  Spur  von  Koth  in  den  Schnittwunden  der  operirten 
Aftermiindung  Zurückbleiben  konnte;  denn  an  die  Möglich¬ 
keit  einer  krebsigen  Metamorphose  in  den  Wunden  des 
Orificii  ani  dieser  sehr  bejahrten  cat hectischen  Person, 
dachte  ich  sehr  wohl.  —  Allein  von  letzterem  ereignete 
sich  bei  der  grolsen  Reinlichkeit  nichts;  im  Gegentheil  ver¬ 
narbten  einige  Schnittwunden  per  primam  intentionem  schon 
nach  dem  sechsten  Tage,  und  von  den  übrigen  Wunden 
des  Orificii  ani  legten  sich  die  Wundränder  zum  Theil 
nach  innen  um,  verseil  rümpften  sehr,  und  erfüllten  auch 
so  den  Zweck  der  Operation,  nämlich  vermehrte  Reaction 
der  Sphincteren  und  des  Levatoris  ani  in  Folge  einer  durch 
Substanzvcrlust  herbeigefiihrten  Verengerung. 

Jetzt,  beinahe  sechs  Wochen  nach  der  Operation, 
sieht  das  Orificium  ani  sehr  gesund  aus.  Zieht  man  näm¬ 
lich  die  Glütäen  auseinander,  so  klafft  die  Mastdarmöffnung 
durchaus  nicht  mehr,  sondern  ist  so  fest  durch  die  Sphin¬ 
cteren  geschlossen,  dafs  der  zur  Untersuchung  beölte  und 
eingefiihrte  Zeigefinger  einen  ziemlich  grofsen  Widerstand 
findet,  ehe  er  in  das  Rectum  eindringt.  Die  früher  mehr 
sichtbaren  Wundflächen,  und  zum  Theii  auch  die  nicht  ad- 
härirenden  Wundränder,  haben  sich  so  ausgeglichen,  dafs 
alles  wie  mit  einer  Epidermis  überzogen  und  übergranulirt 
aussieht;  auch  ist  die  Farbe  derselben  gesund,  wenn  auch 
bräunlichblau.  Die  Kranke  kann  jetzt  wieder  ganz  gut 
sitzen,  fühlt  einen  festen  Schlufs  im  After,  hat  beim  Stuhl¬ 
gänge  auch  nicht  mehr  die  geringsten  Schmerzen,  und  die 
von  ihr  gehenden  Füces  sind  wurstförmig  gestaltet  und  ha¬ 
ben  den  gehörigen  Durchmesser.  Das  Glück  der  Frau  voll 
zu  machen,  ist,  seitdem  der  Prolapsus  ani  nicht  wie¬ 
der  zum  Vorschein  gekommen,  auch  der  Mutter-  und 
fccheidcnvorfall  zurückgeblieben,  indem  auch  er,  nach  der 


I 


I.  Mastdarmvorfall.  275 

i 

Aussage  der  Kranken,  mehr  Halt  bekommen  zu  haben 
scheint. 

Ist  die  Atmosphäre  der  jetzt  Geheilten  (wenn  nicht 
das  «  Senectus  ipsa  morbus  »  hier  leider  auch  seine  grofse 
Rolle  spielte)  auch  gerade  keine  angenehme,  so  hat  sie  doch 
den  früheren  specifiken,  furchtbaren  Geruch  verloren,  und 
ist  nicht  mehr  stinkend ;  die  Genesene  ist  mit  ihrem  Schick¬ 
sale  sehr  zufrieden. 

Die  Resultate  betreffend,  die  ich  mir  aus  diesen  beiden 
Fällen  für  die  künftige  Vollziehung  der  Dupuytren  sehen 
Operationsmethode  des  Mastdarmvorfalles  ziehe,  sind  nun 
ungefähr  folgende: 

1)  Diese  Operationsmethode  ist  eine  grofse  Bereiche¬ 
rung  der  neueren  Chirurgie,  denn  sie  hebt  den  Mastdarm¬ 
vorfall  selbst  unter  sehr  ungünstiger  Prognose  radical,  und 
gegen  die  Anwendung  derselben  sprechen  weder  zu  hohes, 
noch  zu  zartes  Alter.  Diese  Operationsmethode  ist  übri¬ 
gens  rationell,  indem  sie  das  Wesen  des  Uebels:  Erschlaf¬ 
fung  der  Schliefsmuskeln  des  Afters,  zu  beseitigen  beab¬ 
sichtigt. 

2)  Sie  kann  demnach  in  allen  Fällen  von  Prolapsus 
ani  ihre  Anwendung  finden,  wo  das  Orificium  ani  nicht 
durch  \  erhärtungen  oder  Scirrhositäten  bereits  krankhaft 
verändert  ist,  denn  sie  ist,  so  weit  Erfahrung  urtheilen 
und  die  chirurgische  Reflexion  entscheiden  kann,  gefahrlos, 
wenn  auch  sehr  schmerzhaft. 

3)  Die  Operationsmethode,  deren  Grundidee  sich  als 
heilsam  bewährt,  ist  aber  einiger  Verbesserungen  fähig, 
indem  das  Fassen  der  sehr  empfindlichen,  erschlafften  After¬ 
mündung  mittelst  einer  gewöhnlichen  Pincette,  zum  Behuf 
der  zu  bildenden  und  zu  entfernenden  Ilautfalten  sehr 
schmerzhaft  ist,  und  da  dieses  Instrument,  das  mit  der  lin¬ 
ken  Hand  gehalten  werden  mufs,  die  Führung  der  rechten 
Hand,  die  mittelst  der  Scheere  in  einem  kleinen  Kreise 
operiren  mufs,  sehr  hindert.  Der  Verfasser  schlägt  dem¬ 
nach  eine  sehr  schwach  gebogene  Entropiumpincetle  von 


276 


i 


I.  Mastdarmvorfall.  \ 

v.  Gräfe  zu  dieser  Operation  vor,  oder  er  wird  das 
nächstemal  von  einer  Pincettc  Gebrauch  machen,  welche 
die  auf  der  beiliegenden  Tafel  gegebene  Zeic  hnung  Fig.  5. 
darstellt.  Durch  die  halbe  knieformige  Biegung  der  Schen¬ 
kel  derselben  an  ihrem  Ende  wird  das  Fassen  der  abzutra» 
genden  Hautfalte  gieichmäfsig,  und  die  linke,  die  Pincette 
führende  Hand  hindert  die  Arterien  der  die  Scbcere  diri- 
girenden  rechten  Hand  nicht.  Die  Scheere  betreffend,  so 
mufs  diese  in  ihren  Blättern  möglichst  schmal,  allein  doch 
sehr  fest  sein,  da  das  Abtragen  der  hier  gewöhnlich  etwa» 
verdickten  Hautfalten  ziemlichen  Widerstand  leistet. 

4)  Die  Menge  und  Gröfse  der  abzulragenden  Haut- 
falten  um  das  erschlaffte  Orihcium  am  betreffend,  so  rich¬ 
ten  sich  dieselben  ganz  nach  der  Gröfse  des  Uebels.  Mail 
trage  nie  unter  viere  ab;  mehr  denn  sieben,  oder  höchstens 
acht  derselben,  kann  man  auch  nicht  gut  entfernen,  vor¬ 
züglich  beim  weiblichen  Geschlechte,  wo  an  das  andere 
Ende  des  Orificiums  die  Commissura  labior.  pudend.  infe¬ 
rior  angränzt.  Hebrigeus  scheint  es  gerathen,  lieber  meh¬ 
rere  schmale  Hautstreifen,  als  wenige  breite  zu  entfernen. 
Ist  die  Umgegend  um  das  klaffende  Orificium  ani  sehr  er¬ 
schlafft,  so  ist  es  wohl  rathsam ,  die  auszusebneidenden 
Hautstreifen  möglichst  lang  zu  machen,  so  dafs  dieselben 
mehrere  Zolle  vor  der  Aftermündung  beginnen,  und  eben 
so  hoch  in  das  Rectum  hineinsteigen.  Ist  die  Erschlaf¬ 
fung  nicht  so  grofs,  so  beginne  man  die  Abtragung  der 
Hautfalten  nur  einen  halben  Zoll  von  der  Aftermündung 
entfernt. 

5)  Man  suche  möglichst  lange  nach  der  Operation 
Stuhlausleerungen  zu  verhindern,  und  disponire  den  Ope- 
rirten  daher  zum  Anhalten  derselben;  vermeide  jedenfalls  in 
den  letzten  Tagen  vor  der  Operation  Abführmittel,  *ic 
mögen  heifsen  wie  sic  wollen. 

6)  Die  Blutung,  wenn  sie  arteriell  ist,  stille  man 
durch  die  Ligatur,  oder  durch  das  Causticum.  Jeder 
Tampon,  den  man  nach  der  Operation  in  das  Örificium 


ein 


277 


\ 

II.  Allgemeine  Chirurgie. 

einschiebt,  vermehrt,  da  er  möglichst  grofse  Contraction 
der  Sphincteren  als  fremder  Körper  verhindert,  die  Blu¬ 
tung,  und  vereitelt  die  so  wünschenswerthe  prima  Intentio 
der  Wundlefzen. 


YVilhel  m  Sprengels,  (weiland)  Professors  der 
Chirurgie  zu  Greifswald,  Chirurgie.  Erster  Band. 
Der  allgemeinen  Chirurgie  erster  Theil.  Halle, 
Druck  und  Verlag  der  Gebauersehen  Buchhand- 
'  lung.  1828.  8.  XXXII  u.  798  S.  (5  Thlr.)  (Auch 
unter  dem  Titel:  Allgemeine  Chirurgie.  Er¬ 
ster  Band,  die  Lehre  von  der  Entzündung 
und  den  Wunden  enthaltend;  von  Wilhelm 
Sprengel,  Professor  der  Chirurgie  zu  Greifs¬ 
wald.) 

Da  ein  ausführliches,  dem  Nachschlagen  und  der  Selbst¬ 
belehrung  gewidmetes  Handbuch  der  Chirurgie  neuerer  Zeit 
in  Deutschland  noch  nicht  vollendet  dastehet,  so  entschlofs 
sich  Idr.  Prof.  Sprengel,  dessen  Laufbahn  bereits  ein  zu 
früher  Tod  abgekürzt  hat,  zu  der  Herausgabe  eines  solchen, 
sowohl  um  nach  Kräften  einem,  gewifs  allgemein  gefühlten, 
Bedürfnisse  abzuhelfen,  als  auch  um  seinen  Pflichten  als 
Universitätslehrer  zu  genügen.  Das  ganze  Manuscript,  die 
Hefte  zu  den  academischen  Vorträgen,  liegt  fertig  da  und 
bedarf  nur  der  sorgfältigen  Ueberarbeitung;  der  Verf.  hoffte 
daher  im  Stande  zu  sein,  den  letzten  Band  dieses  Werkes 
hinnen  zwei  Jahren  erscheinen  zu  lassen.  Der  erste  Band 
sollte  die  gesammte  allgemeine  Chirurgie  enthalten,  da  er 
aber  auf  diese  Weise  zu  stark  geworden  wäre,  so  hat  er 
in  zwei  getheilt  werden  müssen,  von  denen  der  gegen- 
XIII.  Bd.  3.  St.  19 


I 


1 


2 78  II.  Allgemeine  Chirurgie. 

wartige,  erste,  die  Lehre  von  der  Entzündung  und  den 
Wunden,  der  zweite  die  von  den  Gesell wülsten  enthält. 
Der  dritte,  den  Uebergang  von  der  allgemeinen  zur  spe- 
cieljen  Chirurgie  machend,  soll  sich  mit  der  Chirurgie  der 
Knochen  beschäftigen ,  der  vierte  mit  der  des  Schädels  und 
der  Augen,  der  fünfte  mit  der  der  Ohren,  der  Nase,  des 
Antlitzes,  der  Mundhöhle  und  des  Halses,  der  sechste  mit 
der  der  Brust,  des  Bauches,  der  Geschlechts-  und  Harn- 
organe,  und  der  siebente  mit  der  der  Gliedmaafsen.  Ueberali 
ist  der  Verf. ,  wie  er  in  der  Vorrede  sagt,  bemüht  gewe¬ 
sen,  genaue,  treffende  und  aus  der  eigenen  Erfahrung, 
oder  den  Beobachtungen  bewahrter  Schriftsteller  gezogene 
Krankheitsbeschreibungen  und  Diagnosen  zu  geben,  und  die 
Behandlung  auf  bestimmte,  daraus  abgezogene,  Hcilanzeigen 
zu  bauen.  In  Hinsicht  der  Operationen  hat  er  nur  bei 
wenigen  etw'as  Geschichtliches  cinfliefsen  lassen,  immer  aber 
diejenige  Operationsweise  als  die  beste  empfohlen  und  ge¬ 
nauer  erörtert,  die  am  leichtesten,  mit  den  wenigsten  und 
geringsten  Werkzeugen,  und  mit  der  geringsten  Gefahr  zu 
verrichten  ist,  besonders  aber  die  Umstände  hervorgehoben, 
welche  sehr  oft  Operationen  entbehrlich  machen  können. 
Unter  den  Schriftstellern,  deren  Werke  der  Verf.  als  Mu¬ 
ster  vor  Augen  gehabt  hat,  finden  wir  die  Namen  eines 
A.  G.  Richter,  B.  Bell,  Boy  er,  A.  Cooper,  Beer, 
Itard,  Hesselbach,  La  n gen b eck,  Zang,  Bast,  Hen¬ 
nen  u.  a.  Die  Litteratur  hat  er  nicht  mit  aufgenommen; 
nur  da,  w'O.er  glaubte,  dafs  das  Bewährte  minder  bekannt, 
und  ohne  bestimmte  Nachvveisung  vielleicht  schwer  zu  fin¬ 
den  sein  möchte,  oder  wo  es  etwa  auf  einen  Beweis  oder 
eine  gewichtige  Autorität  ankam,  hat  er  besondere  Citate 
geliefert.  Jedem  Bande  geht  ein  vollständiges  Inhaltsver¬ 
zeichnis,  eine  Art  Conspectus,  voraus;  dem  letzten  Bande 
soll  ein  genaues  alphabetisches  Sachregister  angehängt  wer¬ 
den.  Durch  Kupfer  soll  nur  das,  was  dem  Verf.  eigen, 
neu  und  noch  nicht  abgebildct  ist,  versinnlicht  werden. 

So  viel  über  den  Plan  und  die  Anlage  des  Werkes. 


Q79 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

Was  nun  die  Ausführung  desselben  betrifft,  so  müssen 
wir  gestehen,  dafs  sie  dem  Verf.  vollkommen  gelungen  ist, 
und  dafs  wir  nur  wünschen  müssen,  dafs  der  Herausgeber 
der  übrigen  Bände  diese  eben  so  bearbeitet  finden  möge. 
Der  verewigte  Verf.  hoffte  das  Ganze  in  zwei  Jahren  be¬ 
enden  zu  können.  Für  den  im  Studium  noch  begriffenen 
Wundarzt  ist  das  Werk  allerdings  zu  weitläuftig,  für  den 
seine  Studien  absolvirt  habenden  Wundarzt  aber  ist  es  un¬ 
entbehrlich,  denn  er  findet  die  neuesten  Ansichten  darin, 
eine  auf  Erfahrung  und  richtige  Grundsätze  fufsende  Kritik, 
und  jeden  Gegenstand  so  erschöpfend  abgehandelt,  dafs  ihm 
nichts  zu  wünschen  übrig  bleiben  wird.  Mit  einem  W'orte, 
der  wahrhaft  gebildete  Wundarzt  wird  gewifs,  von  der 
innigsten  Hochachtung  und  Dankbarkeit  für  den  Verf.  durch¬ 
drungen,  das  Werk  aus  der  Hand  legen,  und  oft  nach  dem¬ 
selben  greifen,  um  sich  Rath  in  zweifelhaften  Fällen  zu 
holen.  Die  Schreibart  des  Verf.  ist  durchaus  gleich,  allent¬ 
halben  klar  und  deutlich,  fern  von  jedem  Wortschwall  und 
von  jeder  Ziererei.  Dafs  durch  das  Erscheinen  dieses  Wer¬ 
kes  einem  offenbaren  Mangel  abgeholfen  wurde,  bedarf 
wohl  kaum  der  Bemerkung,  denn  in  unserer  neueren  Lit- 
teratur  finden  wir,  Langenbeck’s  Handbuch  der  Chirur¬ 
gie  ausgenommen,  welches  jedoch  wohl  nicht  jeden  anspre¬ 
chen  möchte,  kein  ähnliches.  Wir  kommen  nun  zu  der 
Anzeige* des  Inhaltes  dieses  ersten  Bandes,  und  werden 
dabei  Gelegenheit  haben,  auf  einzelne  eigentümliche  An¬ 
sichten  des  Verf.  aufmerksam  zu  machen,  und  einzelne 
Punkte,  wo  wir  anderer  Meinung  sind,  hervorzuheben. 

In  der  Einleitung  spricht  sich  der  Verf.  über  den 
Begriff  der  Chirurgie,  über  das  Verhältnis  derselben  zur 
gesammten  Heilkunde,  über  den  Vortrag  der  Chirurgie, 
über  die  nötigen  Eigenschaften  eines  guten  Chirurgen,  so 
wie  über  die  Fehler,  die  er  zu  vermeiden  hat,  und  über 
sein  Benehmen  vor,  bei  und  nach  Operationen,  hinlänglich 
aus.  Dann  kommt  der  erste  Haupttheil,  die  allgemeine 
Chirurgie.  Erstes  Kapitel.  Von  der  Entzündung. 

19  * 


280 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

I.  Von  der  Entzündung  im  Allgemeinen.  1)  Von 
dem  Begriff  und  den  Zeichen  der  Entzündung.  Rothe, 
Hitze,  Schmerz,  Geschwulst,  und  gestörte  Verrichtungen. 
2)  Von  der  Diagnose  der  Entzündung.  3)  V  on  dem  Ver¬ 
laufe  der  Entzündungen.  4)  Von  den  Ausgängen.  Zurück¬ 
treten,  Zertheilung,  Eiterung,  Verschwärung,  Ausschwit¬ 
zung,  Verhärtung,  Brand,  Tod.  (Verträgt  es  sich  wohl 
mit  dem  Sprachgebrauch,  unter  Zurücktreten  einer  Entzün¬ 
dung  denjenigen  Zustand  zu  verstehen,  wo  die  Krankheit 
plötzlich  spurlos  verschwindet  und  völlige  Rückkehr  zum 
Normal  Verhältnisse  statt  findet?  in  der  Regel  versteht  man 
doch  unter  Zurücktreten:  Metastase!)  Der  Verf.  gestattet 
nur  die  Existenz  einer  guten  Eiterung,  nicht  aber  die  einer 
schlechten;  denn  wo  man  die  letztere  findet,  hat  man  es 
immer  mit  Verschwärung,  also  mit  Jauchebildung  zu  thun. 
Wenn  auch  die  Eiterproben  keine  sicheren  Resultate  lie¬ 
fern,  so  hätten  sie  doch  in  einem  so  ausführlichen  Hand¬ 
buche  näher  erwähnt  werden  müssen.  Der  Unterschied 
zwischen  heifsem  und  kaltem  Brand,  Benennungen  verschie¬ 
dener  Zeiträume  eines  und  desselben  Leidens,  wird  mit  Recht 
gerügt.  5)  Von  den  Unterschieden  der  Entzündung.  Ent¬ 
zündungen  der  Haut,  der  Schleimhäute,  der  serösen  Häute, 
der  Synovialhäute,  des  Zellgewebes,  der  Drüsen,  der  Ge- 
fäfse,  der  Arterien,  Venen  und  Lymphgefäfse,  der  Knor¬ 
pel  und  Easerknorpel ,  der  Knochen,  der  Muskeln,  und  der 
Nerven.  Traumatische  und  örtliche,  symptomatische  und 
specifische  Entzündungen.  Primäre  und  secundäre,  ein¬ 
fache,  complicirte  und  componirte  Entzündungen.  Acute 
und  chronische  Entzündungen.  (Nach  dem  Verf.  giebt  es 
eigentlich  gar  keine  chronischen  Entzündungen,  sondern, 
wenn  eine  Entzündung  ungebührlich  lange  zu  dauern  scheint, 
so  ergiebt  sich  immer,  dafs  man  cs  mit  einer  Reihe  von 
Entzündungen  zu  thun  hat,  deren  keine  zu  einem  bestimm¬ 
ten  Ausgange  gelangt,  weil  es  ihren  Symptomen  an  dem 
hierzu  erforderlichen  Grade  fehlt.  Eine  Begriffsbestimmung, 
die  für  die  Praxis  gevvifs  höchst  wichtig  ist,  uud  allein  zu 


281 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

%  \ 

einer  richtigen  Behandlung  führen  kann!)  Aechte,  stheni- 
sche,  und  unächte,  asthenische  Entzündungen.  (Sthenische 
Entzündung  heifst  ihm  nur  die  Entzündung  in  einem  kräf¬ 
tigen,  starken,  übrigens  gesunden,  asthenische  die  in  einem 
geschwächten,  durch  Krankheit,  Ausschweifungen  oder  An¬ 
strengungen  entkräfteten  Subjekte.  Asthenische  und  chro¬ 
nische  Entzündungen  können  daher  zum  Theil  als  gleich¬ 
bedeutend  betrachtet  werden.)  Phlegmone,  arterielle  und 
venöse  Entzündungen.  Offenbare  und  verborgene,  wan¬ 
dernde  und  fixe,  bösartige  und  gutartige,  adhäsive,  suppu- 
rative  und  exulcerative  Entzündungen.  6)  Von  den  Ursa¬ 
chen  der  Entzündung.  Disposition  und  Gelegenheitsursachcn. 
7)  Von  dem  Wesen  der  Entzündung.  (Entzündung  ist  ein 
abnorm  erhöhter  Lebensprozefs,  wobei  das  Blut  fortwäh¬ 
rend  in  Theile  einströmt,  die  es  vorher  nicht  erfüllte,  und 
wobei  also  das,  an  sich  indifferente  Haargefäfssystem,  an 
der  entzündeten  Stelle,  zur  Thätigkeit  der  Arterien  gestei¬ 
gert  wird.)  8)  Von  der  Prognose,  und  9)  von  der  Be¬ 
handlung  der  Entzündung.  Erste  Indication:  Entfernung 
der  Ursache,  des  Entzüudungsreizes.  Zweite  Indication: 
Herabstimmüng  der  erhöhten  Reizempfänglichkeit,  antiphlo¬ 
gistisches  Verfahren.  Diät.  Therapeutik.  Blutentziehun¬ 
gen,  Aderlafs.  (Das  Aderlässen  aus  der  Jugularis  tadelt  er, 
und  sicher  mit  Recht,  wegen  des  nachherigen  unumgäng¬ 
lich  nothwendigen  Verbandes.  Die  Lancette  zieht  er  un¬ 
bedingt  dem  Schnepper  vor,  denn  der  Lancette  Herr  ist 
der  Arzt  in  jedem  Augenblicke,  der  Schnepper  aber  ist, 
einmal  in  Wirkung,  sein  eigener  Herr.)  Arteriotomie. 
(Man  soll  die  Blutstillung  nie  durch  die  Sonnenbinde,  son¬ 
dern  durch  doppelte  Unterbindung  bewirken.)  Oerlliche 
Blutentziehungen:  Blutegel,  Scarificiren  und  Schröpfen. 
Innerliche  Mittel.  (Ein  viel  zu  wenig  gebrauchtes  Mittel 
ist  nach  dem  V erf.  das  Kali  sulphuricum,  das  in  chroni¬ 
schen,  schleichenden,  zur  Verhärtung  neigenden  Entzün¬ 
dungen  in  gehöriger  Dosis  vorzüglich  passen  soll,  und  das 
er  bei  den  trägen ,  kalten,  gichtischen  und  scrofulöscn  Ent- 


•JS2  II.  Allgemeine  Chirurgie. 

Zündungen  fast  als  ein  Specifirum  betrachtet.)  Aeufscrliche 
Mittel:  Kälte;  Wärme;  zusammenziehende,  zertheilende 
und  ableitende  Mittel. 

II.  Von  der  Eitergeschwulst.  Begriff  und  Dia¬ 
gnose.  (Abscefs  heifst  dem  Vcrf.  eine  Ansammlung  von 
Eiter  in  einer  widernatürlich  gebildeten  Höhle  des  Zellge¬ 
webes.  Sollte  die  Definition:  Absccfs  ist  eine  in  Eiterung 
übergegangene  Entzündungsgeschwulst,  nicht  einen  deut¬ 
licheren  Begriff  feststcllen,  da  sie  zugleich  auf  die  vor¬ 
ausgegangene  Entzündung,  ohne  welche  keine  Eiterung 
möglich,  hindeutet?)  Unterschiede:  primärer,  secundärer, 
nietastatischer  Abscefs.  (Jeden  Abscefs,  der  entfernt  von 
dem  Bildungsorte  des  Eiters  zu  Tage  tritt,  nennt  der  Verf. 
einen  secundären,  und  begreift  daher  auch  unter  dieser 
Benennung  die  unzweckmäfsig  sogenannten  Congestionsab- 
scesse. )  Aeufsere  und  innere,  einfache  und  complicirte, 
idiopathische,  constitutionclle,  kritische  Abscesse.  Wahre 
und  falsche,  acute  oder  inflammatorische,  und  kalte  Abscesse. 
Folgen  der  Abscesse.  Behandlung:  Zeitigung.  (Warme 
Dämpfe  empfiehlt  er  in  einzelnen  Fällen,  wo  sich  warme 
Umschläge  nicht  gut  anbringen  lassen.)  Oncotomia:  Ein¬ 
stich;  Schnitt;  Aetzmittel  (die  beste  Methode  soll  die  sein, 
mit  einem  etwas  angefeuchteten  Stücke  Höllen-  oder  Aetz- 
steines  in  einem  bestimmten  Umfange  so  lange  auf  der  Ge¬ 
schwulst  umherzureiben,  bis  die  Wirkung  des  Aetzmittels 
sich  auf  die  ganze  Dicke  der  Ilautwand  erstreckt  hat); 
Ilaarseil  und  Glüheiseo.  Heilung  der  Abscesse. 

III.  Von  den  Geschwüren.  Begriff.  (Ein  Geschwür 
ist  eine  langsam  entstandene,  mehr  oder  weniger  alte  Tren¬ 
nung  des  Zusammenhanges,  mit  Substanzverlust  und  zuneh¬ 
mender  Zerstörung  der  umliegenden  Theile,  und  mit  Ab¬ 
sonderung  einer,  auf  eine  oder  die  andere  Art  differenten, 
nicht  organisirten,  übelriechenden  und  mifsfarbigen  Flüssig¬ 
keit,  der  Jauche,  verbunden.  Die  Jauche,  ein  Product  der 
zunehmenden  Zerstörung,  bedingt  auch  wiederum  dieselbe.) 
Ursachen;  allgemeine  Disposition,  Süchtigkeit;  örtliche Dispo- 


283 


II,  Allgemeine  Chirurgie. 

sition;  örtliche  und  allgemeine  Gelegenheitsursachen.  Ver¬ 
schiedenheiten:  entzündliches  und  atonisclies,  acutes,  chro¬ 
nisches  und  habituelles  Geschwür;  Unterschiede  nach  Ort 
und  Form,  und  nach  der  Ursache.  Prognose.  Behandlung. 
Erste  Indication:  Entfernung  der  Ursachen.  Ableitende 
Mittel:  Blasenpflaster;  siedender  Dampf;  Fontanell;  Haar- 
seil;  und  Seidelbast.  Zweite  Indication:  Directes  örtliches 
Einwirken  zur  Beschränkung  der  exulcerativen  Thätigkeit, 
und  Entfernung  der  im  Geschwüre  selbst  begründeten,  die 
Heilung  hindernden  Abnormitäten.  Dabei  ist  besonders  zu 
achten  auf  den  Grad  der  Reaction  im  Geschwüre,  und  auf 
die  Form  desselben.  (Ein  Mittel,  dem  der  Verf.  fast  eine 
directe  Wirksamkeit  zur  Umwandlung  der  geschwürigen 
Thätigkeit  in  eine  eiterige  zuschreiben  möchte,  und  das  bei 
den  meisten  Geschwüren  sich  sehr  wirksam  beweist,  ist  die 
Tinct.  Opii  crocata,  örtlich,  als  Verbandmittel  angewandt! 
Die  Regel,  mit  den  örtlichen  Verbandmitteln  von  Zeit  zu 
Zeit  zu  wechseln,  ist  eine  goldene.  In  der  Hellmund- 
schen  Salbe  erblickt  der  Verf.  das  einzige  Mittel,  das  eine 
gänzliche  Umänderung  in  dem  Geschwür  und  seinen  Um¬ 
gebungen  hervorrufen,  eine  völlige  Umstimmung  der  Le- 
bensthätigkeit  an  dem  betroffenen  Orte  bewirken  kann!) 
1)  Von  den  Formverschiedenheiten  der  Geschwüre.  A)  Form¬ 
fehler  der  Geschwür -Ränder.  a)  Von  dem  schwieligen 
Geschwüre.  (Die  Bayntonschen  Zirkelpflaster  empfiehlt 
der  Verf.  sehr.  Sehr  grofsen  Nutzen  sah  er  in  ganz  ver¬ 
alteten  und  erregungslosen  Fällen  von  der  Anwendung  des 
Brennglases,  dessen  Focus  er  nach  und  nach  auf  mehrere 
Stellen  des  Callus  so  lange  fallen  liefs,  bis  sie  deutlich  rauch¬ 
ten ,  und  der  Kranke  einen  lebhaften,  stechenden  Schmerz 
empfindet.)  b)  Von  dem  sinuösen  Geschwüre.  Ein  Ulcus 
sinuosum  ist  ein  solches,  dessen  Ränder  nicht  mit  dem 
Grunde  Zusammenhängen,  sondern  durch  mehr  oder  weni¬ 
ger  grofse  Höhlen  davon  getrennt  sind.  Mechanische  Ent¬ 
fernung  durch  das  Messer  oder  die  Schecre  ist  dagegen  das 
beste  Mittel.  B)  Formfehler  des  Geschwürgrundes,  c)  Von 


284 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

dem  schwammigen  Geschwüre.  (Unmittelbare  Berührung 
mit  dem  glühenden  Eisen  soll  schaden,  weil  die  Hitze  zu 
heftig  auf  die  unterliegenden  gesunden  Theile  hindurch  wir¬ 
ken  würde,  der  Verf.  rath  daher,  die  schwammige  Ober¬ 
fläche  durch  blofse  Annäherung  des  glühenden  Eisens  zu 
braten.  Die  Wirkung  des  blauen  Kupfervitriols  zieht  er 
der  des  Höllensteins  vor,  weil  jener  weniger  ätzt,  als  einen 
andauernden  Heiz  hervorbringt,  d)  Von  dem  röhrenför¬ 
migen  Geschwüre.  (Der  Unterschied  zwischen  Sinus  und 
Fistel  liegt  keineswfeges  blofs  in  der  Form  des  hohlen  Grun¬ 
des,  der  dort  rund  und  kesselförmig,  hier  lang  und  röhren¬ 
artig  ist,  sondern  darin,  dals  der  Sinus  eine  Abnormität 
der  Ränder  ist,  und  durch  die  geringe  Lebensfähigkeit  die¬ 
ser  erhalten  wird,  während  die  Fistel,  ein  Formfehler  des 
Grundes,  nur  durch  die  mangelnde  oder  gehinderte  Thätig- 
keit  dieses  letzteren  besteht.  Line  dem  Verf.  eigentümliche 
Definition!  Zum  Spalten  der  Fistel  wird  besonders  das 
J>1  öm ersehe  Fistelmesser  empfohlen.  Auffallenden  Nutzen 
sah  der  Verf.  in  einigen  Fällen  von  der  Anwendung  eines 
Schröpfkopfes ,  der  täglich  mehrmals  auf  die  Oeffnung  eiher 
blinden  listel  gesetzt  ward;  es  wird  dadurch  alles  Fremd¬ 
artige  und  Abgesonderte  entfernt,  und  ein  kräftiger  Beiz 
hervorgebracht.  C)  Formfehler  der  Umgegend  der  Ge¬ 
schwüre.  c)  Von  dem  varicösen  Geschwüre,  f)  Von  dem 
ödematösen  Geschwüre.  D)  Formfehler  der  Absonderung 
der  Geschwüre,  g)  Von  dem  fauligen  und  brandigen  Ge¬ 
schwüre.  h)  Von  dem  Salzflusse.  (Der  Salzflufs  steht  so 
auf  der  G  ranze  der  Geschwüre  gegen  die  chronischen  Haut¬ 
ausschläge,  wie  das  faulige  Geschwür  den  Uebergang  zum 
Brande  bildet.)  2)  \  on  den  Orlsverschiedenheiten  der 

Geschwüre.  3)  Von  den  speciGschen  Verschiedenheiten  der 
Geschwüre.  (Das  Krebsgeschwür  gehört,  als  Ausdruck 
einer  allgemeinen  Dyscrasie,  auch  ganz  zu  dieser  Klasse; 
allein,  theds  wegen  seines  jedesmaligen  Ursprunges  aus 
einem  Scirrhus,  theds  wegen  seiner  Verwandtschaft  mit 
einigen  andern  Geschwülsten,  dem  Blut-  und  Markschwamme, 


II.  Allgemeine  Chirurgie.  285 

wollte  der  Verf.  dasselbe  bei  der  Lehre  von  den  Geschwülsten 
abhandeln.)  a)  Von  dem  venerischen  Geschwüre. 
1)  Von  dem  primären  venerischen  Geschwüre. 
Der  primäre  Schanker  tritt  bisweilen  unter  etwas  abwei¬ 
chenden  Formen  auf,  diese  haben  aber  nicht  den  geringsten 
Einflufs  auf  sein  Wesen,  sobald  er  wirklich  aus  örtlicher 
Ansteckung  hervorgegangen  war.  Die  unbedingte  Diagnose, 
die  einige  Aerzte  aus  dem  Nutzen  der  Quecksilbermittel  in 
allen  Fällen  für  Vorhandensein  von  Syphilis  ziehen,  wird 
mit  Recht  getadelt.  Die  Prognose  stellt  der  Verf.  auffal¬ 
lend  günstig;  auch  ihm  werden  gewifs  Fälle  genug  vorge¬ 
kommen  sein ,  wo  ifach  völlig  richtig  behandelten  Schan- 
kern  allgemeine  Syphilis  ausbrach.  Im  Allgemeinen  ist  da¬ 
her  die  Prognose  wohl  immer  wenigstens  zweifelhaft  zu 
stellen.  Er  widerräth  jedes  directe  Einwirken  gegen  den 
Schanker  durch  örtliche  Mittel  völlig,  und  hat  darin,  was 

i 

auch  andere  Wundärzte  von  Neutralisation  des  Giftes  u. 
dergl.  sagen  mögen,  gewifs  sehr  recht.  Er  giebt  den  Ca- 
lomel  in  steigenden  und  fallenden  Gaben,  und  will  immer 
mit  demselben  ausgekommen  sein.  Was  wird  aberDzondi 
und  so  viele  andere  sagen,  wenn  sie  hören,  dafs  der  Verf. 
den  Sublimat  ein  unsicheres,  giftiges  Mittel  nennt,  das, 
seiner  Ueberzeugung  nach,  sowohl  als  der  Arsenik,  aus  der 
Reihe  der  innern  Arzneimittel  geradezu  gestrichen  werden 
sollte!  Eine  Behauptung,  über  die  wir  uns  nur  wundern 
können!  Den  Speichelflufs  hält  er  für  ein  sehr  günstiges 
Ereignifs.  2)  Von  den  secundären  venerischen  Ge¬ 
schwüren.  Die  wichtigste  und  traurigste  Complication 
ist  die  mit  Scorbut;  die  mit  Mercurialdyscrasie  leugnet  der 
Verf.;  alle  die  Fälle,  die  man  für  solche  Complicationen 
gehalten  hat,  sagt  er,  waren  nichts  anderes  als  Syphilis, 
deren  Symptome  durch  unzureichenden  und  unzweckmäfsi- 
gen  Quecksilbergebrauch  modificirt  waren.  Das  Zusammen¬ 
vorkommen  mehrerer  secundären  Symptome  ist  ihm,  nächst 
der  Anamnese,  das  einzige,  was  zu  einer  höchst  wahr¬ 
scheinlich  richtigen  Erkenntnifs  leiten  kann.  Rückfälle  soll 


286 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

eine  wirklich  geheilte  Syphilis  nie  machen,  sondern  es  soll 
dazu  immer  einer  neuen  Ansteckung  bedürfen.  (Allein  lei¬ 
der  fehlen  uns  alle  sicheren  Zeichen  einer  Heilung!)  Auch 
hier  empfiehlt  er  den  Calomcl  bis  zum  Speichelllufs,  und 
wo  dieser  nichts  hilft,  die  Inunctionscur,  die  er  nach  den 
'V  orschriften  von  I\ust  sehr  genau  beschreibt,  oder  die 
W  einholdsche  Calomelcur.  Gegen  die  scorbutische  Com- 
jilication  empfiehlt  er  besonders  Säuren.  Gegen  die  anti¬ 
phlogistische  Ilcilart  der  Lustseuche  erklärt  er  sich  geradezu. 
Die  Bubonen  öffnet  er  immer  durch  das  llerumrciben  mit 
einem  Stückchen  Höllenstein,  nie  durch  das  Messer.  Die 
Condylomen  verschwinden  immer  (?),  sobald  die  Syphilis 
getilgt  ist.  b)  Von  den  pseudosyphilitischen  Ge¬ 
schwüren,  oder  den  M  arsch  krank  heitsgeschwü- 
ren.  (Einer  der  interessantesten  Abschnitte  in  diesem 
Theile!  der  Vcrf.  spricht  aus  Erfahrung!  Zuerst  liefert  er 
einige  geschichtliche  Bemerkungen,  und  dann  handelt  er  den 
Verlauf  der  Krankheit  ab.  Sie  soll  keine  bestimmten  Pe¬ 
rioden  haben,  wohl  aber  sich  durch  gewisse  Vorläufer 
unter  der  Gestalt  von  rheumatischen,  gichtischen  und  ca- 
tarrhalischen  Leiden  ankündigen.  Sie  macht  nie  primäre 
Geschwüre,  immer  nur  secundäre.  Da  die  örtlichen  Sym¬ 
ptome  nie  in  einer  bestimmten  Reihenfolge  eintreten,  so 
beschreibt  er  sie  nach  der  Ordnung  der  Theile.  Die  Krank¬ 
heit  verläuft  nur  sehr  langsam.  Niemals  ist  ein  Beispiel 
von  unmittelbarer  Ansteckung  vorgekommen;  findet  eine 
Ansteckung  statt,  so  durchdringt  das  in  der  Atmosphäre 
verbreitete  Contagium  zuerst  die  ganze  Constitution  und 
erzeugt  eine  Dyscrasie,  die  nur  erst,  bei  hinzukommenden 
Gelegenheitsurj>achen ,  sich  hier  oder  da  mit  örtlichen  Sym¬ 
ptomen  äufsert.  Erblich  ist  die  Krankheit  höchst  wahr¬ 
scheinlich.  Die  entfernten  Ursachen  scheinen  dem  Verf.  in 
einer  Menge  von  örtlichen  und  Landes- Einflüssen  zu  lie¬ 
gen,  aus  denen  die  Krankheit  sich  alle  Tage,  gleichsam 
durch  eine  Generatio  aequivoca,  neu  erzeugt.  Die  Marsch¬ 
krankheit  ist  eins  mit  der  Radcsygc,  und  die  Unterschiede, 


287 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

i 

die  zwischen  beiden  statt  finden,  sind  durch  anderes  Klima 
und  andere  Lebensart  bedingt;  sie  ist  nicht  aus  Schweden 
herübergebracht ,  sondern  im  Lande  selbst  erzeugt,  und  aus 
denselben  Verhältnissen,  aus  denen  sie  sich  in  Norwegen 
entwickelt.  Le  mal  de  la  baie  St.  Paul,  die  Sibbens,  die 
\aws  und  Pians,  und  das  Mal  di  Scherlievo  sollen  auch 
völlig  einerlei  mit  dieser  Krankheit  sein.  Eine  sehr  genaue 
Diät  ist  die  Hauptsache  bei  der  Gur;  in  leichteren  Graden 
reichte  sie  zur  Heilung  hin,  in  schwereren  aber  nicht;  in 
diesen  leistete  bisweilen  der  Brechweinstein  viel,  aber  in 
Fällen,  wo  die  Knochen  litten,  bewirkte  weder  er,  noch 
das  Quecksilber,  auf  gewöhnliche  Weise  gereicht,  eine  ra- 
dicale  Heilung.  Die  Rust  -  L  o  uvrier sehe  Inunctions- 
und  Hungercur,  und  die  Wein  hold  sehe  Calomeleur  be¬ 
wiesen  sich  dagegen  hier  sehr  heilsam,  am  heilsamsten, 
wenn  sie  einen  kräftigen  und  anhaltenden  Speichelflufs  er¬ 
regten.  Helfen  diese  Mittel  nichts,  wie  denn  das  Queck¬ 
silber  nicht  in  allen  Fällen  die  Pseudosyphilis  tilgt,  so  em¬ 
pfiehlt  sich  die  Osb  eck  sehe  Hungercur.  Das  salzsaure 
Gold  bewirkte  bei  mehreren  Kranken  Bluthusten,  der  Liq. 
antimiasm.  Koechlini  höchstens  Besserung,  das  Kali  hy- 
drojodin. ,  das  Pollinische  lind  Zitt  mann  sehe  Decoct  gar 
nichts.  Sublimat  und  Arsenik  wurden,  als  höchst  uner¬ 
laubte  Mittel,  nie  angewandt.  Eine  gründliche  Umstim¬ 
mung,  nach  gehobener  Dyscrasie,  bewirkte  am  besten  die 
II  ellmundsche  Salbe.  Bei  Leiden  tiefer  Gelenke  erwies 
sich  das  Glüheisen,  die  Moxa  und  die  Dzondische  Dampf- 
maschiene  höchst  heilsam.)  c)  Von  den  Mercurialge- 
schwüren.  (Die  einzigen  Geschwüre,  welche  diesen  Na¬ 
men  verdienen,  sind  die,  welche  bei  heftigem  Speichelflüsse 
in  der  Mundhöhle  Vorkommen.  Schwefel,  Schwefelleber 
und  Campher  helfen  nichts  hiergegen.)  d)  Von  den 
sco rb utischen  Geschwüren.  (Das  Heilen  der  scor- 
butischcn  Geschwüre  von  der  Mitte  her  betrachtet  der 
Verf.  nicht  als  etwas  dem  Scorbut  Eigentümliches,  da  die¬ 
ses  auch  bei  einfachen,  breiten  und  flachen  eiternden  Wun- 


288 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

den,  bei  den  peripherisch  sich  ausbreitenden  syphilitischen, 
pseudosyphilitischen  und  gichtischen  Geschwüren  statt  hat.) 
e)  Von  den  scrophulüsen  Geschwüren.  (Die  Jauche 
der  scrophulüsen  Driisengeschwürc  soll  ohne  hesondern  Ge¬ 
ruch  und  ohne  alle  Schärfe  sein  (?).  Rhachitis  ist  blofs 
eine  Art  der  Aeufserung  der  Scropheln,  keinesweges  eine 
besondere,  von  dieser  verschiedene  Krankheit,  ln  der  Leiche 
eines  scrophulüsen  Kindes  fand  der  Yerf.  den  Oberarmkopf 
und  den  Kopf  des  Oberschenkels  gleichzeitig  von  ihren 
Kürpern  getrennt,  ohne  dafs  beträchtliche  Spuren  von  Ca- 
ries  vorhanden  waren.  Ein  seltener  Fall!  Das  Kali  car- 
bonicum  rühmt  er  besonders  als  reizend -auf lösendes  Mittel. 
Den  sehr  deutlich  fluctuirenden  Ab$cefs  öffnet  er  stets  mit 
dem  Aetzmittel. )  f)  Von  «Jen  gicntischen  Geschwü¬ 
ren.  (Auf  die  eigenthümliche,  bei  keiner  anderen  Krank¬ 
heit  in  dieser  Art  vorkommende  Verschwärung  unter  der 
Kniescheibe,  meist  gerade  dem  Ansetzungspunkte  des  Knie¬ 
scheibenbandes  gegenüber,  macht  er  besonders  aufmerksam, 
g)  Von  den  erysipelatüsen  Geschwüren,  h)  Von 
den  Mcnstrual-  und  Hämorrhoidal-Geschwüren. 
i)  Von  den  Krätzgesch w üren.  Der  Verf.  erwähnt  hier 
der  von  ihm  mehrmals  beobachteten  Identität  der  Vaccine- 
und  Mauke-Geschwüre,  die  schon  früher  durch  Sacco 
bewiesen  ist 

IV.  Von  d  em  l)ran de.  (Der  Unterschied  zwischen 
•  Gangrän  und  Sphacelus  ist  völlig  nichtig,  erstere  ist  nichts 
anderes  als  die  möglich  höchste  Stufe  der  Entzündung,  von 
welcher  keine  Rückkehr  zum  Leben  mehr  möglich  ist.  Nur 
zur  Bezeichnung  des  feuchten  und  trockenen  Brandes  pas¬ 
sen  diese  Benennungen.)  Begriff,  Unterschiede,  Prognose 
und  Behandlung.  A)  Von  dem  Brande  aus  örtlichen 
Ursachen.  1)  Von  dem  durch  zu  hoch  gestei¬ 
gerte  Entzündung  verursachten  Brande.  (Der 
Verf.  stimmt  für  in  das  Brandige  zu  machende  Einschnitte, 
und  gewifs  aus  guten  Gründen.  Dagegen  aber  verwirft  er 
bei  diesem  rein  entzündlichen  Brande,  der  nicht  traumati- 


289 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

scher  Natur  ist,  3ie  Amputation,  es  mag  sich  nun  eine 
Demarcationslinie  gebildet  haben  oder  nicht.)  2)  Von 
dem  Brande  durch  Erfrierung.  (Ein  einzelner  Theil 
kann  geradezu  von  der  Kälte  getüdtet  werden,  ohne  dafs 
rascher  Uebergang  zur  Wärme  als  Mittelglied  eingetreten 
ist. )  3)  Von  dem  Brande  durch  Verbrennung, 

(ß  er  Verf.  unterscheidet  keine  bestimmten  Grade,  weil  sie 
auf  das  mannigfachste  in  einander  übergehen.)  4)  Von 
dem  Brande  durch  aufgehobenen  Kreislauf.  ( W o 
dieser  Brand  von  Hinderung  des  Kreislaufes  rasche  Fort¬ 
schritte  zu  machen  anfängt,  da  soll  man  das  Glied  sogleich 
amputiren ,  und  zwar  parallel  mit  dem  Hindernisse  des  Kreis¬ 
laufes:  dadurch  kommt  man  den  Absichten  der  Natur  auf 
eine  kürzere,  gefahrlosere  und  bequemere  Weise  zuvor, 
und  verhindert  gewifs  die  sonst  späterhin  vielleicht  zu  fürch¬ 
tende  Rückwirkung  des  ausgebreiteten  örtlichen  Leidens  auf 
den  Organismus.  5)  Vom  Brande  durch  Quetschung. 

6)  Von  dem,  durch  fremde  Körper  bedingten, 
kritischen  Brande.  B)  Von  dem  aus  allgemeinen 
Constitution  eilen  Ursachen  entstandenen  Brande. 

7)  Vom  Hospitalbrande.  (Nach  dem  Verf.  ist  der 
Hospitalbrand  weiter  nichts,  als  die  örtliche  Aeufserung 
derjenigen  Art  des  fauligen  Typhus,  die  man  mit  dem  Na¬ 
men  Lazarethfieber  zu  bezeichnen  pflegt.  Den  Verlauf  des¬ 
selben  schildert  er  so,  wie  er  ihn  am  häufigsten  zu  beob¬ 
achten  Gelegenheit  hatte.  Wo  man  den  Hospitalbrand  ohne 
alles  Allgemeinleiden  gesehen  haben  will,  da,  behauptet  er, 
dürfte  entweder  gar  kein  solcher  Brand  dagewesen  sein, 
oder  man  hätte  auch  wohl  in  gelinderen  Fällen,  bei  zu 
grofser  Aufmerksamkeit  auf  die  örtlichen  Symptome,  die 
constitutioneilen  zu  wenig  gewürdigt  und  übersehen.  Er 
fand  immer,  dafs  die  allgemeinen  Symptome  der  Erschei¬ 
nung  des  Hospitalbrandes  selbst  vorausgingen.  In  der  Epi¬ 
demie  nach  der  Schlacht  bei  Leipzig  fiel  ihm  als  erstes  ört¬ 
liches  Zeichen  besonders  die  ganz  eigene  emphysematose 
Auftreibung  auf;  in  den  Epideinieen  über  dem  Rheine,  1814 


290 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

und  1815,  aber  der  weifse,  aphthöse  Fleck.  Die  Identität 
des  Ilospitaibrandes  und  Typhuscontagiums  folgert  er  mit 
der  vollkommensten  Gewifsheit  aus  den  entfernten  Ursachen, 
welche  beide  erzeugen,  aus  der  völligen  Analogie  des  V  er- 
laufs  beider  Leiden,  aus  der  IJebereinstimmung  der,  beiden 
am  meisten  entsprechenden  Behandlung,  und  aus  den  sehr 
häufig  gemachten  Beobachtungen,  dafs  auch  längst  geheilte 
Narben  wieder  aufbrachen,  dafs  Entzündungen,  z.  B.  Bu¬ 
bonen  Venerischer,  im  Momente  des  Aufbruches  schon  von 
diesem  Brande  ergriffen  erschienen,  u.  dergl.  Dafs  die 
Jauche  des  Ilospitaibrandes  ansteckt,  ist  dem  Verf.  kein 
Beweis  gegen  die  Einheit  dieses  Contagiums  mit  dem  des 
Typh  us;  denn  theils,  sagt  er,  wird  jede  Brand  jauche,  we¬ 
nigstens  oft,  einigermaafsen  ansteckend,  theils  besitzen  ja 
auch  andere,  vom  Körper  Typhuskranker  abgesonderte  Flüs¬ 
sigkeiten  die  Ansteckungskraft  in  einem  hohen  Grade, 
und  der  Schweifs  eines  Faulfieberkranken ,  auf  eine  Wunde 
übertragen,  würde  eben  so  gut  den  Brand  erzeugen,  als 
die  Brandjauche  selbst.  Dafs  der  Brand  ein  und  dasselbe 
Individuum  mehrmals  befallen  kann,  ja  häufig  baldige  Rück¬ 
fälle  macht,  ist  auch  ein  Verhältnis,  das  beiden  Krankhei¬ 
ten  gemeinschaftlich  zukommt.  —  Nach  dieser  Ansicht  darf 
natürlich  die  Behandlung  nur  von  einer  zweckmäfsigen  Ein¬ 
wirkung  gegen  das  Allgemeinleiden  ansgehen.  Die  Guy¬ 
ton  -  M  o  r  v ea  u  sehen  Räucherungen  zur  Verbesserung  der 
Luft  hält  der  Verf.  für  unnütz  und  überflüssig,  selbst  für 
schädlich  (?).  Einschnitte  in  das  Brandige  tadelt  er,  weil 
das  Brandige  immer  nur  von  verbal  tnifsmäfsig  geringer 
Dicke  ist.  Die  Anwendung  des  glühenden  Eisens,  der  Aetz- 
mittel  und  concentrirlen  Säuren  verwirft  er  aus  wohl 
zu  beachtenden  Gründen.  Dafs  man  in  keinem  Falle  des 
Ilospitaibrandes  wegen  amputiren  dürfe,  zeigt  er  deutlich. 
8)  Vom  brandigen  Durch  liegen.  9)  Von  dem 
Brande  bei  der  Abzehrung  der  Greise.  (Der  Ver¬ 
fasser  sah  einen  ähnlichen  Brand  hei  jungen  Leuten  durch 
ein  Uebcrmaafs  von  schwächenden  Einflüssen  entstehen!) 


291 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

10)  Vom  Brande  in  der  Kriebelkrankheit.  11) 
Von  dem  metastatischen  Brande.  (Von  andern,  na¬ 
mentlich  von  Pott,  der  schmerzlose  Brand  genannt.) 

V.  Von  einigen  besonderen  Entzündungen. 
1)  Von  dem  Bothlaufe.  (Auch  hier  versteht  der  Verf., 
gegen  den  Sprachgebrauch,  unter  Zurücklreten  der  Rose 
zum  Theil  einen  günstigen  Ausgang.  Bei  dem  heftigen 
Sonnenbrände  im  Antlitze,  wo  die  starke  Spannung  der 
Haut  sehr  zu  belästigen  pflegt,  und  die  kalten  Umschläge 
nicht  recht  gut  angebracht  werden  können,  empfiehlt  er, 
grofse  Stücke  rohes  Kalbfleisch,  in  breite  Scheiben  geschnit¬ 
ten,  aufzulegen.  2)  Von  dem  bösartigen  Roth  laufe. 
(Ignis  Sancti  Antooii.)  Diese  Krankheit  unterscheidet  sich 
vom  Hospitalbrande  nur  durch  die  Abwesenheit  einer  Wunde, 
und  durch  die  Entstehung  des  örtlichen  Leidens  aus  einem 
zufälligen  Rothlaufe  bei  gleichzeitigem  Typhus.  3)  Von 
dem  Blutschwär.  4)  Von  dem  Carbunkel  und 
der  bösartigen  Blatter.  Dafs  zwischen  diesen  beiden 
Krankheiten  nach  dem  Verf.  kein  wesentlicher  Unterschied 
statt  findet,  geht  schon  aus  der  Ueberschrift  hervor.  Beide 
Krankheiten  sind  sich,  sagt  er,  sowohl  in  den  örtlichen 
Erscheinungen,  als  den  allgemeinen  sie  begleitenden  Zu¬ 
fällen,  völlig  gleich,  und  dafs  bei  der  einen  allgemeine,  bei 
der  andern  örtliche  Ansteckung  vorausging,  kann  um  so 
weniger  einen  wesentlichen  Unterschied  geben,  da  wir  ein 
ganz  ähnliches  Verhältnifs  beim  Hospitalbrande  und  mehre¬ 
ren  andern  contagiösen  Krankheiten  bemerkten.  Bei  der 
Behandlungsweise  der  schwarzen  Blatter  erwähnt  er  blofs 
das  Nützliche  des  Betupfens  mit  Kali  causticum,  wohl  aber 
hätten  die  zahlreichen  glücklichen  Erfolge,  die  Dr.  Herbst 
von  der  innern  und  äufsern  Anwendung  der  Aqua  oxy- 
muriatica  sah,  hier  nicht  mit  Stillschweigen  übergangen 
werden  dürfen. 

N 

Zweites  Kapitel.  Von  den  Wunden. 

I.  Von  den  Wunden  im  Allgemeinen.  1)  Von 
dem  Begriff  einer  Wunde.  (Eine  Wunde  nennt  der  Verf. 


292 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

eine  frische,  schnell  und  aus  mechanischen  Ursachen  ent¬ 
standene  Trennung  des  Zusammenhanges,  meistenteils  ver¬ 
bunden  mit  Klaffen  der  Ränder  und  Ausflufs  von  Blut, 
oder  einer  andern  natürlichen  Flüssigkeit.  Kine  sehr  rich¬ 
tige  Definition ! )  2)  Von  der  Einteilung  der  Wunden. 

3)  Von  der  Diagnose  der  Wunden.  4)  Von  der  Prognose 
der  Wunden.  5)  Von  der  Heilung  der  Wunden.  Hei¬ 
lung  durch  frische  Vereinigung,  und  durch  Eiterung.  (Für 
irrig  hält  der  Verf.  die  Meinung,  dafs  AVunden  an  dvscra- 
sischen  und  süchtigen  Personen,  anstatt  auf  dem  ersten, 
auf  dem  zweiten  Wege  heilen.)  Vorgänge  hei  der  Heilung 
auf  beiden  Wegen.  Narben.  6)  Von  der  Behandlung  der 
Wunden.  7)  Von  den  Zufällen  hei  Wunden,  a)  Von 
der  Blutung.  Verlauf,  Blutstillungsart  der  Natur.  Arten 
und  Ursachen  der  Blutungen.  Erst-  und  Nachblutungen. 
Aeufsere  und  innere  Blutungen.  (Koch ’s  Ansicht,  der 
seihst  nach  Amputationen  nicht  unterbindet  und  meint,  das 
lebendige  Blut  scheue  gevvissermaafsen  vviilkührlich  eine 
offene  Gefäfsmündung,  tritt  der  Verf.  nur  bedingungsweise 
bei.  Auch  tadelt  er  Koch,  der  die  Unterbindung  für  ein 
Beförderungsmittel  der  Nachblutungen  hält.)  Die  Prognose. 
Verblutung.  (Auf  die  sogenannten  Bluter  hätte  hier  auf¬ 
merksam  gemacht  werden  sollen.)  Behandlung:  Finger¬ 
druck;  Tourniquet;  Unterbindung,  mittelbare  und  unmit¬ 
telbare;  Druck ,  Vergleichung  des  Drucks  mit  der  Unter¬ 
bindung;  Blutstillung  hei  angeschnittenen  oder  gestochenen 
Gefäfsen;  zusammenziehende,  styptische  und  ahsorhirende 
Mittel;  Glüheisen  und  Aetzen;  mechanisch -dynamische  und 
dynamische  Blutstilfungsmittel ;  Allgemeinbehandlung  Blu¬ 
tender;  Nachbehandlung  derselben.  (Das  Anlegen  des  Tour- 
niquets  zieht  der  \  erf.  dem  blofsen  Fingerdrucke  vor.  Da, 
wo  er  es  mit  einer  oberen  und .  unteren  Mündung  einer 
durchschnittenen  Arterie  zu  thun  hat,  unterbindet  er  immer 
beide  Mündungen,  weil  sonst  gar  zu  leicht  gefährliche 
Nach-  und  Rückblutungen  eintreten.  Zum  Hertforziehen 
der  Arterie  bedient  er  sich  lieber  der  Pincette,  der  gewöhn¬ 
lichen 


293 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

liehen  anatomischen  oder  der  Blömerschen,  als  des  Hakens. 
Von  der  Furcht,  der  übermäfsig  dünne,  schneidende  Unter- 
hindungsfaden  möge  auch  die  äufseren  Gefäfshäute  durch- 
schneiden,  bevor  noch  die  Vereinigung  der  inneren  auf  eine 
dauerhafte  Weise  zu  Stande  gekommen  ist,  kann  er  sich 
nicht  losmachen.  Scarpa’s  Methode,  die  Cylinderligatur, 
tadelt  er  mit  Recht.  Er  bedient  sich  zur  Unterbindung 
eines  Fadenbändchens  aus  Drehseide,  das  er  so  fest  zusam- 
nienzieht,  dafs  die  inneren  Flächen  der  Arterienwand  ^e-' 

O 

wifs  von  allen  Seiten  her  in  Berührung  gesetzt  werden; 
er  schlägt  also  einen  Mittelweg  zwischen  den  Ansichten 
von  Jones  und  Scarpa  ein.  Unterbindungen  des  Trun¬ 
cus  anonymus  und  der  Aorta  hält  er  für  weit  gefährlicher, 
als  die  Krankheit,  derentwegen  man  sie  vornimmt.  Die 
Nachtheile  des  Umstechens  sind  sehr  genügend  auseinander¬ 
gesetzt.  Mit  Boy  er  unterscheidet  er  eine  seitliche  und 
eine  gerade  Compression,  die  beide  mittelbar  oder  unmit¬ 
telbar  ausgeübt  werden.  Die  Wirkung  der  seitlichen  Tam¬ 
ponade  kommt  der  Unterbindung  am  nächsten,  er  hält  sie 
daher  für  die  beste  Compressionsart.  Lambert’s  Vor¬ 
schlag,  bei  einer  Arterienwunde  die  umschlungene  Nath 
anzulegen,  verwirft  er  mit  Recht  geradezu.  Das  Aetzmit- 
tel,  das  alle  Nachtheile  des  Glüheisens  in  höherem,  und 
alle  Vortheile  desselben  in  geringerem  Grade  hat,  soll  man 
zur  Stillung  von  Blutungen  nie  (?  z.  B.  bei  Blutegelstichen!) 
anwenden,  aufser  in  den  seltenen  Fällen,  wo  gar  nichts 
anderes  zur  Hand  ist.  b)  Von  dem  Schmerze,  c)  Von 
dem  Wundstarrkrämpfe.  (Der  Verlauf  und  die  For¬ 
men  sind  sehr  genau  angegeben.  Der  Verf.  gesteht  zu, 
dafs  man  einen  entzündlichen  Tetanus  von  einem  nicht  ent¬ 
zündlichen  unterscheiden  könne,  glaubt  aber,  dafs  beide 
nicht  wesentlich,  sondern  nur  gradweise  verschieden  sind, 
und  dafs  der  letztere  leicht  in  den  ersteren  übergeht.  Die 
Aehnlichkeit  des  Starrkrampfes  mit  der  Hundswuth,  zeigt 
er  an  mehreren  Stellen.  Erkältung  ist  ihm  die  häufigste 
Gelegenheitsursache ,  und  diese  Ursache  berücksichtigend, 
XIII.  Bd.  a.  st.  20 


294 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

richtet  er  auch  seine  Behandlung,  die  antirheumatisch  ist, 
ein.  Wie  mau  hei  jedem  Rheumatismus  Rücksicht  auf  die 
Körperbeschaffenheit  des  Kranken  und  auf  den  \  erlauf  der 
Krankheit  nehmen  mufs,  so  auch  hier;  daher  kann  auch 
unmöglich  ein  Mittel  fiir  alle  Fälle  passen.  Opium  in  star¬ 
ken  Gaben,  alle  drei  Stunden  7,u  achtzig  Tropfen,  leistete 
dem  Verf.  einige  Male  gute  Dienste.  In  einem  Falle  be¬ 
sänftigte  der  thierisehe  Magnetismus  die  einzelnen  Anfälle 
und  kürzte  sie  ab,  allein  der  Kranke  starb  dennoch.  Die 
gegen  die  Mundklemme  getroffenen  Vorrichtungen  können 
zu  nichts  helfen,  d)  Von  dem  Fieber.  Wundfieber  und 
Eiterungsfieber.  e)  Von  den  Gemüthsbewegungcn  Ver¬ 
wundeter. 

II.  Von  den  Wunden  im  Besonderen. 

1)  Von  den  reinen  Schnitt-  und  Hiebwun¬ 
den.  Bei  der  Behandlung  derselben  erwähnt  der  Verf.  der 
I>age  des  verwundeten  Theiles,  der  vereinigenden  Binden, 
der  trockenen  und  der  blutigen  INath  *  besonders  der  Knopf- 
nath,  der  Verbindung  der  trockenen  Nath  mit  der  blutigen, 
und  der  Entfernung  der  Heftfäden.  Von  den  Uavnton- 
schen  Zirkelpilastern  sagt  er,  dafs  sie  alle  «I ie  Vortheile 
der  Binden  und  der  gewöhnlichen  trockenen  Nath  mit  ein¬ 
ander  vereinigen.  Das  Spalten  des  einen  Heftpflasterkopfes* 
um  den  gegeniiberstebenden  hindurchzuziehen,  tadelt  er, 
weil  dies  immer  zu  drückenden  Falten  auf  der  Wunde  seihst 
Veranlagung  giebt.  Die  Knopfnath  zieht  er  mit  Recht 
allen  anderen  Arten  von  Nöthen  vor. 

2)  Von  den  Stichwunden.  Diagnose,  Prognose 
und  Behandlung. 

3)  Von  den  Quetschungen  und  Quetschwun¬ 
den.  Der  Blutunterlaufung  wird  hier  besonders  gedacht. 
Nur  da,  wo  es  wegen  sehr  bedeutender  Quetschung  der 
Wundränder,  fremder  Körper  in  der  Tiefe,  gesplitterter 
Knochenbruche  oder  anderer  ähnlicher  Verhältnisse  geradezu 
unmöglich  erscheint,  die  Vereinigung  auch  nur  eines  Theiles 
der  Wunde  zu  bewirken,  wo  vielmehr  ihr  Offeubleiben 


I 


II.  Allgemeine  Chirurgie.  295 

zur  Verhütung  oder  Entfernung  von  Mifsverhältnissen  durch¬ 
aus  erforderlich  ist,  soll  man  dergleichen  Wunden  locker 
mit  Charpie  aus füHeo.  Nie  soll  man  sich  aber,  aus  Furcht 
den  Brand  zu  befördern,  von  der  Anwendung  kalter 
Umschläge  äbhalten  lassen;  eine  gewifs  sehr  gute  Regel, 
gegen  welche  gewöhnliche  Wundärzte  leider  noch  sehr  oft 
fehlen. 

4)  Von  den  S  chufswun  den.  (Sie  hätten  eigent¬ 
lich  zu  den  Quetschwunden  gehört,  und  daher  eine  Unter¬ 
abtheilung  von  diesen  bilden  müssen.)  Verschiedenheiten 
der  Schufswunden.i  ■  (Luftstreifschüsse.  (Dafs  weder  die 
Verdichtung  noch  die  Verdünnung  der  Luft  neben,  vor 
oder  hinter  der  Kugel  an  den  sogenannten  Luftstreifschüs¬ 
sen  schuld  sein  können,  lehren  manche  mit  Schiefsgewehren 
angestellte  Versuche.  Sie  können  auf  zweifache  Weise 
entstehen,  und  zwar  bei  grobem  Geschütz  durch  matte 
Kugeln,  bei  kleinem  Gewehr  aber  durch  schief  aufschla- 
gende,  und  verhalten  sich  gerade  so  wie  die  Contusionen, 
nur  dafs  sie  diese  eben  so  viel  an  Gefährlichkeit  übertref¬ 
fen,  als  die  Schufswunde  selbst  die  gewöhnlichen  Quet¬ 
schungen.)  Forrif  der  Schulswunden.  Zufälle.  Verlauf. 
Knochenschufswunden.  (Necrose  folgt  ihnen  häufiger,  als 
Caries.  Bisweilen  zeigt  sich  sogar  von  der  Heilung  durch 
frische  Vereinigung  eine  Art  von  Analogon,  indem,  wider 
Erwarten,  grofse,  halb  abge$chossene  Knochensplitter  sich 
nicht  allein  bisweilen  wieder  anlegen  und  verwachsen,  son¬ 
dern  sogar  ganz  von  der  Kugel  zerbrochene  Knochen,  wie 
andere  einlache  Knochenbrüche,  heilen  können,  wenn  gar 
keine  Splitterung  statt  gefunden  hat.)  Diagnose.  Prognose. 
Behandlung.  Amputation.  (Für  absolut  nothwendig  hält 
der  \  erf.  die  Amputation  in  folgenden  Fällen:  Wenn  ein 
Glied  durch  eine  Pafskugel  oder  ein  grofses  Stück  Hohl- 
kugcl  ganz,  oder  doch  zum  gröbsten  Theile,  und  so,  dafs 
es  nur  noch  an  einigen  Stücken  hängt,  abgerissen  ist;  wenn 
eine  Pafskugel  oder  ein  grofses  Bomben -  oder  Granaten¬ 
stück  ein  Glied  so  getroffen  hat,  dafs  der  Knochen  split- 

>  20* 


296 


II.  Allgemeine  Chirurgie. 

terig  gebrochen  ist,  und  die  Weichthcile,  Nerven  und  Gc- 
fäfse  zerquetscht  und  zermalmt  sind,  die  Haut  mag  dabei 
gleichzeitig  zerrissen  sein  oder  nicht;  wenn  man  es  mit 
Sehufswunden  der  Gelenke,  selbst  von  kleinen  Gewehrku¬ 
geln  und  ohne  sehr  bedeutende  Verletzung  der  Weichtheile, 
aber  mit  grofser  Zerstörung  der  Gelenkenden  der  Knochen 
selbst,  besonders  im  Kniegelenke  zu  thun  hat;  und  endlich 
bei  Schußwunden  des  Oberschenkels  mit  Zersplitterung  des 
Knochens,  selbst  wenn  keine  bedeutende  Verletzung  der 
'Weichtheile  dabei  statt  gefunden  hat  (?).  Relativ  noth- 
wendig  wird  die  Amputation  durch  mancherlei,  hier  auf¬ 
gezählte,  unvermeidliche  Umstände.)  Dilatation  der  Schufs- 
wunden.  Gegenwart  von  Kugeln  oder  von  fremden  Kör¬ 
pern,  und  das  Ausziehen  derselben.  (Der  Verf.  zieht  zom 
Untersucheu  des  Schufskanals  die  Sonde  dem  Finger  vor, 
er  behauptet,  sie  verursache  weniger  Schmerzen,  und  man 
könne  mit  ihr  eben  so  genau  und  sicher,  als  mit  dem  Fin¬ 
ger  fühlen  (?!).  Den  myrthenblattformig  gestalteten  Kugel¬ 
löffel  rühmt  er  zum  Ausziehen  der  Kugel  sehr,  ln  Fällen, 
wo  die  Kugel  immer  der  Zange  entschlüpft,  empfiehlt  er 
eine  Kornzange,  deren  Blätter  sich  vorn,  nach  Art  der 
Blöm  ersehen  Pincette,  das  eine  in  einen,  das  andere  in 
zwei  kurze,  stumpfe  Ilaken  endigen;  die  Haken  drücken 
sich  in  eine  bleierne  Kugel  leicht  ein;  so  dafs  sie  dieselbe 
sehr  fest  fassen,  ohne  doch  ihre  Dicke  beträchtlich  zu  ver¬ 
mehren.)  Frster  \  erband  bei  einfachen  Sehufswunden ,  und 
weitere  Behandlung  derselben.  (Das  Haarseil  pafst  nach 
dem  \erf.  nur  in  seltenen  k  allen,  am  wenigsten  um  die 
Fiterung  zu  befördern,  die  vielmehr,  in  einer  frischen 
Wunde  beginnend,  durch  einen  solchen  fremdartigen  Reiz 
nur  zu  leicht  in  \  erschwärung  verwandelt  wird.  Tiefe 
grofse  Einschnitte  bei  Knochenbrüchen  geben  ganz  unnü- 
thigerweise  grofse,  an  sich  schon  nicht  gut  heilende  Wun¬ 
den,  und  müssen  die  Entstehung  und  Ausbreitung  von 
Garies  und  Necrosis  begünstigen.  Ist  die  \  erwundung  an 
den  unteren  Gliedmaafsen,  so,  sagt  der  Verf.,  wird  keine 


/ 


II.  Allgemeine  Chirurgie.  297 

Lage  und  keine  Ausdehnungsvorrichtung  so  grofse  Vortheile 
gewähren,  als  die  von  mir  verbesserte  Coopersche  Bein- 
bruchmaschiene,  deren  ich  mich  nun  seit  neun  Jahren  bei 
allen  Brüchen  der  unteren  Glieder  bediene,  mit  der  ich 
eine  sehr  grofse  Anzahl  solcher  Brüche,  unter  andern  auch 
zwei  Schenkelbruche,  und  einen  ganz  schiefen  des  unteren 
Drittheils  des  Oberschenkels  an  einer  dreiundachtzigjährigen 
Frau,  ohne  alle  Verkürzung  (hört!!)  geheilt  habe,  und 
die  äch  im  dritten  Bande  näher  beschreiben  und  abbilden 
werde.)  •  * 

5)  Aon  den  W unden  durch  Ausreif sung  von 
Gliedern.  Alle  bekannten  Fälle  dieser  Art  verliefen  ohne 
besondere  Zufälle,  und  wurden  verhältnifsmäfsig  leicht  und 
glücklich  geheilt,  namentlich  beobachtete  man  nie  ein  be¬ 
trächtliches  Nervenleiden  dabei. 

6)  Von  den  vergifteten  Wunden,  a)  Von  dea 
bei  Leichenöffnungen  vergifteten  Wunden.  (Kein  Conta- 
gium,  keine  Inoculation  eines  Krankheitsstoffes  soll  hier  jene 
allgemein  bekannten,  bedeutenden  Zufälle  hervorrufen,  son¬ 
dern  nur  das  Fremdartige,  durch  die  Aerwesung  der  Lei¬ 
chen  erzeugte  soll  sie  ursächlich  bedingen  (?).  Der  Verf. 
hat  es  immer  von  grofsem  Nutzen  gefunden,  auf  die 
gereinigte  und  ausgewaschene*  AVunde  einen  oder  einige 
Tropfen  der  aromatisirten  Essigsäure  zu  bringen.)  b)  Von 
den  vergifteten  Insectenstichen.  c)  Von  dem  Schlangen¬ 
bisse.  (Bei  dem  Bisse  unserer  Vipern  ist  die  Prognose  im 
Allgemeinen  nicht  ungünstig.  Auf  reichliche  Schweifse 
folgte  fast  immer  schnelle  Besserung,  sie  sind  daher  als  ein 
günstiges  oder  kritisches  Zeichen  zu  betrachten.)  d)  Von 
dem  Bisse  wüthender  T liiere.  Wasserscheu.  Ver¬ 
lauf  derselben,  Resultate  der  Leichenöffnungen,  Ursach  der 
Wasserscheu,  das  Wesen,  die  Aehnlichkeit  derselben  mit 
dem  Starrkrampfe,  Prognose  und  Behandlung.  (Das  Ent¬ 
stehen  der  Mar  o  c  h  e  tt  i sehen  Bläschen  unter  der  Zunge 
scheint  dem  Verf.  weit  weuiger  als  die  Folge  einer  unmit¬ 
telbaren,  materiellen  Aufsaugung  und  Wiederablagerung, 


\ 


298 


III.  Chirurgische  Klinik, 

wie  vielmehr  als  die  Aeufserung  eines  in  rein  dynamischen 
Verhältnissen  begründeten  Strebeos  nach  kritischer  Aus¬ 
scheidung  zu  betrachten  zu  Die  Prognose  beim  ßisse 

wüthender  Thiere  stellt  er,  wenn  gleich  von  Anfang  an 
alles  Zweckmäfsige  geschieht,  ziemlich  günstig,  was  wohl 
etwas  zu  viel  gesagt  ist!  ln  der  zweckmäßigen  örtlichen 
Behandlung  d^r  Bifswunde  sucht  er  das  einzige  und  oft 
sichere  Mittel,  der  Wasserscheu  zuvorzukoinmeu.  Kr  räth, 
die  gebähte  und  geschröpfte  Wunde  zunächst,  um  gewifs 
eine  kräftige  Eiterung  oder  Verschwärung  in  ihr  zu  errin¬ 
gen,  nach  Kruttge,  oder  mit  dem  Aetzstein,  dann  aber 
fernerhin  nach  Urban  mit  der  warmen  Salzmilch  zu  be¬ 
handeln,  auch  lieber  die  Anwendung  der  Aetzmittel  mehr¬ 
mals  zu  wiederholen,  um  möglichst  lange  die  Absonderung 
zu  unterhalten.  Zum  innerlichen  Gebrauche  empfehlen  sich 
am  meisten  das  Quecksilber  und  die  spanischen  Fliegen.) 

Das  Interessante  der  abgehandelteu  Gegenstände  wird 
hoffentlich  die  Länge  unserer  Anzeige  entschuldigen.  — 
Druck  und  Papier  sind  ausgezeichnet. 

—  0  — 


III. 

Kurze  Abhandlung  der  chirurgischen  Kli¬ 
nik.  Von  A.  Ta  vernier.  Aus  dem  Französi¬ 
schen.  Weimar,  1828.  8.  XX1\  und  540  Seiten. 
( 1  Thlr.  6  Gr.)  . 

Des  Vcrf.  Absicht  ging  nicht  dahin,  ein  'Vollständiges 
Werk  der  Chirurgie  zu  liefern,  sondern  blofs  dem  Studie¬ 
renden  ein  Buch  zu  übergeben,  welches  ihm  zum  Leitfadeu 
des  so  schweren  Studiums  der  Krankheiten  am  Krankenbette 
dienen  könnte.  Er  thcilt  seine  Schrift  »in  zwei  Theile;  der 
eine  enthält  alles,  was  Bezug  auf  die  Beobachluug  hat,  der 


299 


III.  Chirurgische  Klinik. 

andere  die  Beschreibung  der  diagnostischen  Merkmale  der 
chirurgischen!  Krankheiten.  In  dem  ersten  sucht  er  den 
Nutzen  der  Kliniken  von  grofsen  Hospitälern  zu  erweisen, 
die  beste  Art  anfcugeben,  wie  man  beim  Studium  der  chi¬ 
rurgischen  Krankheiten  verfahren  mufs,  und  endlich  die  ver¬ 
schiedenen  Untersuchungsarten  festzustellen,  welche  man  be¬ 
folgen  mufs,  um  zur  Diagnose  der  verschiedenen  Krankhei¬ 
ten  zu  gelangen.  In  dem  zweiten  T  heile  hat  er  alle  chi¬ 
rurgischen  Krankheiten  nach  den  Schriften  von  Boy  er, 
Dupuytren,  Rieh  er  anu,  Roux,  Delpech,  Scarpa, 
Mounoir,  Lallemand  u.  a.,  hinsichtlich  ihrer  eigentüm¬ 
lichen  Erscheinungen  während  des  Lebens  und  nach  dem 
Tode,  geschildert.  Als  Classification  dabei  befolgt  er  die 
topographische  Ordnung,  die  wohl,  vorzüglich  wo  es  sich 
um  die  Diagnose  handelt,  jeder  systematischen  Eintheilung 
vorzuziehen  ist.  Nach  Angabe  der  diagnostischen  Zeichen 
und  der  anatomischen  Charaktere  einer  Krankheit  folgen 
immer  mit  wenigen  Worten  die  Heilanzeigen,  und  zuletzt 
die  Angaben  derjenigen  Krankheiten,  mit  welchen  die  eben 
abgehandelte  verwechselt  werden  könnte.  Den  einzelnen 
Abschnitten,  also  den  verschiedenen  Regionen  des  mensch¬ 
lichen  Körpers,  ist  immer  eine  Tabelle  vorausgeschickt,  die 
den  Zweck  hat,  dem  Beobachter  die  Krankheit  anzuzeigen, 
welche  er  gerade  studieren  will,  ihm  alle  zusammen  vorzu¬ 
führen,  welche  in  dieser  Region  Vorkommen  können,  und 
ihm  das  Aufsuchen  zu  erleichtern,  ohne  dafs  er  nöthig  bat, 
das  Sachregister  nachzusehen. 

Dies  der  Zweck  und  die  innere  Anlage  des  vor  uns 
liegenden  Werkes.  Sollen  wir  über  die  Brauchbarkeit  des¬ 
selben  ein  Urtheil  fällen,  so  müssen  wir  gestehen,  dafs  es 
seinem  Zwecke  völlig  entspricht.  Obschon  jede  Krankheit 
natürlich  nur  sehr  kurz  abgehandelt  ist,  so  haben  wir  doch 
fast  nirgends  ein  wichtiges  diagnostisches  Kennzeichen  ver- 
mifst,  besonders  gilt  dies  von  den  Fracturen  und  Luxatio¬ 
nen,  und  von  den  Wundem;  wir  können  daher  dieses 
Werk  mit  gutem  Gewissen  jedem  Studierenden  empfehlen, 


300  IV.  Praktische  Beobachtungen 

und  bemerken,  dafs  es  sich  zum  Wiederholen  schon  gehör¬ 
ter  Gegenstände,  und  zum  Einprägen  derselben  in  das  Ge¬ 
dächtnis  sehr  wohl  eignet. 

Diese  wenigen  Worte  mögen  hinreichen,  auf  dieses 
Werk  aufmerksam  zu  machen. 

Druck  und  Papier  sind  ungewöhnlich  gut. 

—  O  — 


IV. 

Praktische  Beobachtungen  in  der  Chirur¬ 
gie,  besonders  in  Beziehung  auf  den  chirurgischen 
Militär-  und  Seedienst.  Durch  Krankengeschichten 
und  officielle  Documentc  erläutert.  Von  Alexan¬ 
der  Copland  H  u  t c  h  i  s  o  n ,  vormals  Chirurg  an 
dem  Künigl.  See -Hospital  zu  Deal,  Mitglied  der 
med.  und  chir.  Gesellschaft  zu  London  u.  s.  w. 
Nach  der  zweiten  Ausgabe  des  englischen  Origi¬ 
nals  übersetzt.  Mit  einer  Kupfertafel.  Weimar, 
1828.  8.  (Chirurgische  Handbibliothek.  Zehnter 
Band.)  VI  u.  36S  S.  (1  Thr.  21  Gr.) 

Die  hier  mitgetheilten  Beobachtungen  enthalten  sehr 
viel  Interessantes,  und  verdienten  daher  übersetzt  zu  wer¬ 
den,  nur  hätte  die  l  ebersetzung  etwas  zusammengezogen, 
namentlich  die  vielen  ofTiciellen  Documente  abgekürzt  wer¬ 
den  können,  da  diese  für  uns  von  weniger  Interesse  sind, 
als  für  die  Engländer,  und  der  Verf.  durch  dieselben  nur 
die  Richtigkeit  seiner  Behauptungen  beweisen  will. 

Im  ersten  Kapitel  spricht  der  Verf.  von  der  Am¬ 
putation.  Eine  ausgebreitete  Hospitalpraxis ,  die  er  den 
verwüstenden  Wirkungen  des  letzten  Land-  und  Seekrieges 
zu  verdanken  hatte,  gaben  ihm  zu  Beobachtungen  über  die- 


301 


In  der  Chirurgie. 

sen  wichtigen  Gegenstand  hinreichende  Gelegenheit.  Der 
erste  Abschnitt  dieses  Kapitels,  von  der  schicklichsten  Ope¬ 
rationsperiode  in  Schufswunden  und  allen  frischen  Zufällen, 
ist  gegen  Guthrie  gerichtet.  Dieser  giebt  nämlich  den 
Rath,  die  Amputation  zwei  bis  sechs  Stunden  zu  ver¬ 
schieben,  um  dem  Krieger  Zeit  zu  lassen,  sich  von  dem 
erlittenen  Choc  und  der  Erschütterung  der  Constitution 
zu  erholen.  Der  Verfasser  dagegen  leugnet,  dafs  Schufs¬ 
wunden  einen  solchen  Choc  und  Alarm  oder  Cömmotiou 
des  Nervensystems  hervorbringen,  um  einen  Aufschub  da¬ 
mit  zu  verantworten,  und  wir  müssen  gestehen,  die  vor 
uns  liegenden  Documente  zeugen  allgemein  gegen  die  Ge¬ 
genwart  dieser  sensoriellen  Aufregung.  Es  ist  nach  diesen 
Documenten  Thatsache,  dafs  man  Matrosen  und  Soldaten 
gesehen  hat,  welche  ruhig  ein  Tourniquet  oder  Halstuch 
an  die  zerrissenen  Ueberbleibsel  eines  Fufses  legten;  dafs 
ein  solcher  Verstümmelter  noch  lange  nach  seiner  Verwun¬ 
dung  in  der  See  herumschwamm;  dafs  ein  Matrose  sich 
selbst  an  den  Seilen  der  Masten  des  Schiffes  aufs  Verdeck 
herablassen  konnte,  und  mitten  unter  den  Seilen  sein  Glied 
in  Sicherheit  brachte,  während  es  nur  noch  fetzenweise  an 
den  Integumenten  hing;  u.  s.  w.  Wir  müssen  daher  zuge¬ 
ben,  dafs  stark  Verwundete  doch  eines  richtigen  Gebrauchs 
der  Seelenfunctionen  fähig  sind,  und  Muth  noch  zeigen, 
anstatt  Furcht  und  Alarm,  und  deswegen  auch  schliefsen, 
dafs  Verletzungen  nur  höchst  selten  eine  so  allgemeine  Auf¬ 
regung  hervorbringen,  als  nöthig  wäre,  um  damit  eine  Ver¬ 
zögerung  der  Amputation  von  mehreren  Stunden  zu  be¬ 
schönigen.  Die  Documente  zeigen  auf  das  deutlichste,  dafs 
der  Erfolg  der  Amputationen  weit  weniger  günstig  war, 
wenn  man  Guthrie’s  Ansichten,  als  wenn  man  des  Verf. 
auf  unumsiöfsliche  Thatsachen  gestützte  Ansichten  ,  so  bald 
als  irgend  möglich  nach  geschehener  Verletzung  zu  ampu- 
tiren,  huldigte.  —  Im  zweiten  Abschnitt  spricht  der  Verf.  von 
der  Application  des  Tourniquets.  Er  bedient  sich  mit  Recht 
eines  viel  kleineren  Kissens  zur  Compression,  als  die  mei- 


302 


IV.  Praktische  Beobachtungen 

sten  (soll  wohl  hcifsen:  englischen)  Wundärzte.  Dann 
kommt  er  zu  der  Trennung  der  Theile.  Die  scharf  gesagte 
Kante  des  Knochens  rundet  er  mit  einem  starken,  stumpfen 
Scalpell  etwas  ab.  Die  Vorschriften  für  die  Unterbiodung 
der  lUutgefafse  (vierter  Abschnitt)  weichen  von  den  bei 
uns  gebräuchlichen  in  keinem  Punkte  ab,  wir  übergeben  sic 
daher  mit  Stillschweigen.  Hinsichtlich  der  Bildung  des 
Stumpfes  (fünfter  Abschnitt)  erklärt  sich  der  Yerf.  mit 
Alan^on  für  die  Bildung  einer  Querspalte,  nur  aus  an¬ 
dern  Gründen,  als  dieser.  Kr  sagt  nämlich:  «Die  Bildung 
einer  Längeufalte  begünstigt  die  Bildung  von  Eiter  zwischen 
den  Lappen,  und  vereitelt  also  die  frische  Vereinigung; 
denn,  setzen  wir  voraus,  dafs  ein  so  gebildeter  Stumpf  auf 
seinem  Kissen  und  dessen  berabbängendem  Winkel  stehe, 
wird  dann  das  Gewicht  des  Schenkels  die  longitudinelle 
Narbe  nicht  dergestalt  gegen  das  Kissen  oder  Polster  au- 
drängen,  dafs  dadurch  die  Bänder  der  Lappen  mehr  oder 
wenige*  sich  trennen.’”  Diese  Trennung  der  Lappen  mufs 
daher  eine  Höhle  formiren,  und  folglich  auch  einen  Behäl¬ 
ter  für  die  Secretion  des  Liters!  —  Für  das  Verbinden  des 
Stumpfes,  so  wie  für  die  medicinische  Behandlung  (sechster 
und  siebenter  Abschnitt),  ertheilt  er  gute  Regelo,  und  er¬ 
zählt  noch  zuletzt  mehrere  interessante  Fälle. 

Im  zweiten  Kapitel  (S.  99)  spricht  der  Verf.  von 
der  Behandlung  der  erysipela  tosen  Entzündung. 
Unter  dem  Namen  Lrysipelas  pldegmonodes  beschreibt  er 
diejenige  Form  von  Bose,  die  wir  mit  dem  Namen  Pseudo- 
erysipelas  belegen.  Dafs  die  Matrosen  dieser  Krankheit  be¬ 
sonders  häufig  ausgesetzt  sind,  schreibt  er  ihren  Nahrungs¬ 
mitteln  und  den  Spirituosen  Getränken  zu,  so  wie  den 
plötzlichen  Temperaturveränderungen,  denen  sie  ausgesetzt 
sind,  nnd  dem  beschränkten  Baume,  in  welchem  sie  schla¬ 
fen.  Seine  Behandlung  besteht  in  frühzeitig  gemachten  In- 
cisionen,  deren  Nutzen  auch  uns  längst  bekannt  ist,  und 
die  von  keinem  anderen  Mittel  übertroffen  werden. 

Das  dritte  Kapitel  (S.  125)  enthält  viele  mehr  oder 


in  der  Chirurgie.  *  ' 


303 


weniger  merkwürdige  Beobachtungen  über  verstellte 
Krankheiten,  die  sich  jedoch  in  der  Kürze  nicht  mitthei- 
len  lassen.  Die  hier  erwähnten  verstellten  Krankheiten 
sind:  Geschwüre;  Diarrhöe;  Fieber;  Krankheiten  des  Her¬ 
zens;  Wahnsinn;  Contracturen  der  Hände,  der  Ellenbogen 
und  der  Kniei),  und  Verlust  der  Kraft  in  diesen  Theilen, 
oder  Paralyse  derselben ;  Augenentziindung;  Harnflufs;  Er¬ 
brechen;  Krankheiten  der  Lenden,  vom  Stofsen,  Fallen  oder 
Verrenken;  Epilepsie;  üdematöse  Geschwulst  der  Extremi¬ 
täten;  llaemoptysis;  Haematemesis;  Blasenstein;  und  Schmer¬ 
zen,  Krämpfe  und  Krankheiten  des  Magens  und  der  Gedärme. 
Besonders  merkwürdig  ist  ein  Fall,  wo  ein  Matrose  durch 
willkiihrliches  Anziehen  der  Hoden  einen  Bruch  fingirte, 
der  Cremaster  war  hier  in  einen  willkührlichen  Muskel 
verwandelt! 

Im  vierte  n  Kapitel  wird  d  er  Ho  s p i  ta  lb ra n d  und 
das  eiternde  p  h  aged  ä  n  is  c  h  e  Geschwür,  welches  auf 
Kriegsschiffen  und  in  See  -  und  Militärhospitälern  vorkommt, 
abgehandelt.  Der  wahre  Hospitalbrand  kommt  nur  auf 
Schiffen  und  in  See-  und  Militärspitälern  vor.  Zuerst  ver¬ 
mindert  sich  die  vorher  gesunde  Eitersecretion,  auch  wird 
sie  dünn,  mifsfarhig  und  scharf;  die  Oberfläche  wird  bläs¬ 
ser  und  glänzender,  es  erzeugen  sich  hier  und  da  Bläschen 
oder  kleine  gangränöse  Punkte.  Die  Entzündung  zunächst 
der  verwundeten  oder  verletzten  Stelle  ist  sehr  dunkel  und 
hoch  gefärbt,  wird  aber,  je  mehr  sie  sich  vom  Central¬ 
punkte  aus  nach  allen  Seiten  hin  verbreitet,  immer  blässer, 
bis  sie  spurlos  in  die  gesunde  Haut  übergeht.  Es  gleicht 
diese  Entzündung  um  den  Mittelpunkt  bei  dem  Hospital¬ 
brande  derjenigen  sehr,  welche  um  das  Kubpockenbläschen 
bemerkt  wird,  w'enn  dasselbe  auf  seiner  Acme  sich  befindet, 
nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  sie  dem  Grade  nach  hefti¬ 
ger,  extensiver,  und  mit  einem  stärkeren  Schmerze,  Span¬ 
nung  und  Geschwulst  der  benachbarten  Theile  verbunden 
ist.  Den  weiteren  Verlauf  des  Brandes  übergehen  wir,  als 
bekannt.  Den  eigenthümlichen  Geruch  vergleicht  der  Vcrf. 


304 


IV.  Praktische  Beobachtungen 


mit  demjenigen  sauren,  höchst  widerwärtigen  Gerüche,  den 
wir  bei,  mit  Caries  behafteten,  schwärenden  Zehen  an- 

i.  _  •  t  ^ 

treffen.  Nie  beobachtete  er,  dafs  das  den  Hospitalbrand 
begleitende  Fieber  demselben  vorangehe.  Bisweilen  bemerkte 
er,  dafs,  wenn  der  Kranke  mehr  als  eine  Wunde  oder 
Geschwür  hatte,  der  Brand  sich  nur  auf  eins  derselben  be¬ 
schränkte,  während  das  andere  sein  vollkommen  gutes  Aus¬ 
sehen  behielt,  selbst,  wenn  sie  in  keiner  grofsen  Entfer¬ 
nung  von  einander  sich  befanden!  Nie  kam  ihm  ein  Fall 
vor,  wo  der  Hospitalbrand  die  gesunde  Haut  ergriffen  hätte. 
In  Hinsicht  der  Ursachen  desselben,  so  wie  der  dagegen  zu 
treffenden  Vorkehrungen  und  anzuwendenden  Behandlung 
(die  mehr  in  entzündungswidrigen  und  erweichenden  Mit¬ 
teln,  als  in  Reizmitteln  besteht),  liefern  die  hier  mit— 
getheilten  amtlichen  Belege  manches  Interessante.  Diesen 
schliefst  sich  S.  20/  der  bereits  bekannte  Bericht  von  Por¬ 
tal  und  Deschamps  über  Delpcch’s  Werk  über  den¬ 
selben  Gegenstand  an.  —  Unter  dem  Namen  des  eiternden 
phagedänischen  Geschwürs  begreift  der  Verf.  dasjenige, 
wrelchcs,  während  es  an  einer  Seite  ein  gesundes  Aussehen 
hat,  als  wolle  es  heilen,  auf  der  andern  immer  mehr  um 
sich  frifst.  —  lin  zweiten  Abschnitt  dieses  Kapitels  spricht 
er  über  die  Behandlung  der  Fufsgeschwüre  durch  Pflaster¬ 
streifen,  nach  Baynton’s  Methode,  rühmt  dieselbe  sehr, 
räth,  vor  dem  Abnehmen  der  Ileftpflasterstreifcn  dieselben 
stellenweise  durchzusrhnciden ,  damit  man  die  neugebildete 
zarte  Haut  nicht  wieder  abreifse,  und  bedauert,  dafs  man 
in  England  die  Schiffsärzte  so  schlecht  mit  Heftpflaster  ver¬ 
sorgt  (Auffallend  ist  es  allerdings,  dafs  man  dort  einer 
Fregatte  der  ersten  Klasse  nur'drei  Pfund  Heftpflaster  jähr¬ 
lich  zutheilt ,  während  man  für,  dieselbe  Zeit,  und  einem 
Schiffe  derselben  Klasse,  z  ehn  Pfund  China  jährlich  giebt, 
da  doch  von  dieser  kaum  der  zehnte  Thcil  gebraucht  wird!) 
Der  häufig  vorkommenden  Ulcerationen  am  Rande  der  Nä¬ 
gel  erwähnt  er  nur  beiläufig.  Er  streut  hierbei  Kupferfeii- 
späne  auf  die  Oberfläche  der  ulccrirten  Tbeile  und  zwischen 


305 


in  der  Chirurgie. 

die  Nägel  und  die  benachbarten  Weichgebilde,  und  will 
durch  dieses  Mittel,  das  er  von  einem  alten  Schiffschirurgen 
anwenden  lernte,  wenn  die  Knochen  und  Gelenke  nicht 
afficirt  waren,  stets  schnelle  Heilung  herbeigefiihrt  haben. 

Im  fünften  Kapitel  (S.  222)  finden  wir  Bemer¬ 
kungen  über  die  angeborne  Versch  liefsung  des 
Afters,  durch  Fälle  erläutert.  Der  Verf.  räth  1  bis  Zoll 
tief  zu  schneiden,  und  sich  dann  eines  Troicarts  zu  bedie¬ 
nen,  wenn  man  den  Mastdarm  noch  nicht  getroffen  hat. 
Die  Sectionsgeschichten  zweier  operirtcn  Kinder  beweisen, 
dafs  man  den  äufseren  Einschnitt  und  den  Stich  mit  dem 
Troicart  mehr  nach  vorwärts,  in  der  Richtung  nach  der 
Blase  zu,  machen  müsse,  weil  man  in  dieser  Richtung  siche¬ 
rer  den  Darm  trifft. 

Die  im  sechsten  Kapitel  (S.  241)  mitgetheilten 
Fälle  von  Erkrankung  des  Gehirns  durch  äufsere 
Verletzungen,  und  deren  Folgen,  verdienen  nachge¬ 
lesen  zu  werden.  Besonders  zu  beachten  bitten  wir  einen 

Fall  von  Fractur  des  Hinterhauptbeines,  die  sich  bis  zum 

* 

Foramen  magnum  erstreckte;  das  Hinterhauptbein  wurde 
trepanirt,  und  selbst  die  Dura  mater  cerebelli,  wegen  eines 
Extravasats  unter  derselben,  angestochen.  Es  beweist  die¬ 
ser  Fall  offenbar,  in  so  weit  wenigstens,  als  überhaupt  eine 
einzelne  Thatsache  einen  Beweis  führen  kann,  dafs  die  mit 
Depression  und  Effusion  verbundenen  Fracturen  des  Hinter¬ 
hauptbeines,  wenn  auch  das  Cerebellum  sichtlich  dadurch 
gedrückt  wird,  doch  nicht  so  unbedingt  lebensgefährlich 
seien,  als  man  bisher  meinte,  und  dafs  auch  hier  mit  Erfolg 
trepanirt  werden  könne! 

Das  siebente  Kapitel  (S.  267)  liefert  interessante 
Resultate  über  das  im  Verhältnifs  seltenere  Vor¬ 
kommen  der  Harnsteine  bei  den  Seeleuten.  Inner¬ 
halb  sechzehn  Jahren  litten  von  der  ganzen  grofsen  Masse, 
aus  welcher  die  Flottenbemannung  besteht,  —  sie  besteht 
im  Durchschnitt  jährlich  aus  132,000  Mann  —  actenmäfsig 
nur  acht  Männer  an  der  Steinkrankheit.  Die  mannigfal- 


306 


IV.  Praktische  Beobachtungen 

tigcn  und  übereinstimmenden,  hier  aufgefiihrten  Thatsachcn 
beweisen,  dafs  in  dem  Geschäft,  der  Nahrung,  dem  Ge¬ 
tränk  und  der  Lebensweise  der  Seeleute  überhaupt  der 
Grund  liegen  müsse,  warum  diese  Menschcnklasse  weit  we¬ 
niger,  als  jede  andere,  der  Steinkrankheit  unterworfen  sei; 
besonders,  dafs  die  thierische  Kost,  verbunden,  mit  einer 
gewissen  Menge  Kochsalz  und  mehligen  Nahrungsmitteln, 
welche  die  Seeleute  vorzüglich  geniefsen,  der  Ansammlung 
steiniger  Concremente  entgegen  wirke.  Angehängt  sind  die¬ 
sem  Kapitel:  der  Bericht  über  den  glücklichen  Ausgang 
eines  Falles,  in  welchem  die  hohe  Steinoperation  verrichtet 
wurde;  und  der  Fall  einer  Blutung  in  der  Harnblase,  welche 
aus  einem  fungösen  Tumor  der  Vorsteherdrüse  entsprang, 
und  wobei,  zur  Entfernung  desselben,  der  Blasenschnitt 
über  den  Schoofsbeinen  erforderlich  wurde.  Der  letzte  lief 
unglücklich  ah. 

Im  achten  Kapitel  (S.  307)  erzählt  der  Verf.  die 
Geschichte  eines  Falles  von  Aneurysma  der  Kniekehl¬ 
arterie,  hei  welchem  eine  neue  Art,  die  Ligatur  anzule¬ 
gen,  versucht  wurde.  Diese  neue  Art  bestand  darin,  dafs 
er,  nachdem  sechs  Stunden  seit  Anlegung  der  Ligatur  ver¬ 
flossen  waren,  dieselbe  lüste;  allein  in  weniger  als  einer 
halben  Minute  nach  der  Entfernung  derselben  wurde  die 
Arterie  vom  Blute  wieder  ausgedehnt  und  die  Pulsation  in 
der  Geschwulst  wieder  eben  so  stark,  als  vor  der  Opera¬ 
tion;  das  Gefäfs  wurde  deshalb  etwas  weniges  nach  aufwärts 
und  abwärts  isolirt,  und  an  zwei  Stellen  bleibend  unter¬ 
bunden.  Am  einundzwanzigsten  Tage  wurden  beide  Liga¬ 
turen  entfernt,  da  sich  aber  nach  dieser  Zeit  öfters  bedeu¬ 
tende  Blutungen  eimtelllen ,  und  da  sich  auch  die  Pulsation 
in  der  Geschwulst  immer  mehr  verstärkte,  so  amputirte  der 
Verf.  das  Glied.  Der  Kranke  starb. 

Zum  Schlufs  theilt  der  Verf.  noch  vermischte  Fälle 
und  Bemerkungen  mit.  Zuerst  spricht  er  vom  Nutzen  der 
Sonde  bei  Unterbindung  verletzter  Arterien.  Wenn  Arte¬ 
rien  blofs  angestochen  siud,  so  räth  er,  in  die  Üeffnung 


307 


in  der  Chirnrgie. 

eine  Sonde  einzubringen,  mit  ihr  das  Gefäfs  in  die  Höhe 
zu  heben,  dasselbe  loszupräparircn,  und  dann  ober-  und 
unterhalb  der  Oeffnung  zu  unterbinden.  Ein  guter  Rath!  — 
Dann  erzählt  er  die  Geschichte  eines  aufserordentlichen 
Leberabscesses  und  eitler  Sackgeschwulst,  welche,  wie  es 
schien,  an  der  Leber  haftete,  und  die  die  ganze  Unterleibs¬ 
höhle  einnahm,  und  fast  acht  Gallonen  gesunden  Eiter  ent¬ 
hielt,  in  welchem  sich  tausende  von  Hydatiden  vorfanden.  — 
Dann  einen  Fall  von  Lendenabscefs,  in  welchem  sich  Aber- 
nethy’s  Methode  nützlich  bewies;  einen  Fall  eines  nicht 
vereinigten  Bruches  des  Oberarmknochens,  in  welchem  das 
Haarseil  nach  Physic  mit  gutem  Erfolge  angewandt  wurde, 
und  zwei  Fälle  von  künstlicher  Nasenbildung  nach  Car- 
pue’s  Methode.  Auch  erwähnt  er  noch  seiner  Methode 
Brei-  oder  Iloniggeschwülste  auszurotten,  die  sich  fast  gar 
nicht  von  der  bekannten  Astley-Coop ersehen  unter¬ 
scheidet,  denn  er  öffnet  erst  den  Sack,  entleert  ihn  seines 
‘Inhalts,  und  zieht  ihn  dann  mit  einer  vorn  etwas  breiten 
Pincette  aus.  Zuletzt  theilt  er  noch  einige  Fälle  von  Ne- 
crose,  nebst  Bemerkungen  über  /die  Wiedererzeugung  der 
Knochen  mit.  Sehr  interessant  ist  der  Fall,  wo  der  Verf. 
fast  die  ganze  vordere  Fläche  der  Tibia  theils  mit  der  Tre- 
phine,  theils  mit  Hay’s  Säge  fortnahm,  um  einen  Seque¬ 
ster  zu  entfernen.  Einige  Wochen  nach  dieser  Operation 
ging  der  Kranke  schon  von  Woolwich  nach  London,  um 
sein  Bein  zu  zeigen  und  sich  beim  Verf.  zu  bedanken. 
Dieselbe  Operation  machte  er  sechsmal,  und  nur  einmal 
mifsglückte  sie!  In  den  Bemerkungen  zu  diesem  und  noch 
einem  anderen  Falle  behauptet  er,  dafs  das  Periosteum  das 
am  meisten  thätige  Organ  bei  der  Bildung  der  neuen  Kno¬ 
chenschale  sei,  dafs  die  Thätigkeit  der  Gefäfse  desselben 
eigenthümlich  sei,  und  sich  nur  auf  dasselbe  selbst  und 
auf  den  Knochen  beziehen,  und  dafs  die  Vereinigung  ge¬ 
brochener  Knochen,  die  Bildung  des  Callus  und  die  Rege¬ 
neration  des  Knochens  in  der  Necrose  durch  die  specihsche 
Thätigkeit  dieser  Gefäfse  bewirkt  werde.  Im  Allgemeinen 


308 


V.  Geschwüre. 


nimmt  er,  und  wohl  mit  Recht,  an,  dafs  hei  allen  Fractu- 
ren  der  Patella,  so  wie  der  Tbeile  anderer  Knochen,  die 
zu  ähnlichem  Gebrauche  bestimmt  sind,  und  welche,  wie 
z.  B.  die  Patella,  das  Olecranon,  der  Kopf  des  Schenkel- 
knochens,  kein  Periosteum  haben,  die  Vereinigung  keine 
knöcherne,  sondern  eine  ligamentÖse  sei.  Das  Periosteum 
kalt  er  für  eine  Membrana  sui  generis,  welche  die  Function 
einer  Drüse  verrichte  und  ihre  Gefäfsc  ermächtige,  Kno- 
chenmaterie  abzulagern,  so  dafs  diese  Gefäfse,  nachdem  sie 
durch  das  Periosteum  gedrungen  sind,  bis  zu  einem  gewis¬ 
sen  Grade  fähig  seien,  aus  den  gebrochenen  Enden  der 
Substanz  des  Knochens  Knochenmasse  zu  secernircn.  Die 
Kupfertafel  dient  zur  Erläuterung  der  Ansichten  Hutchi- 
son’s  über  diesen  noch  sehr  streitigen  Punkt. 

—  O  — 


y. 

Die  K  unst,  die  Geschwüre  za  heilen.  Nach 
den  neuesten  Erfahrungen  und  Berichtigungen  in 
der  Arznei-  und  Wundarzneikunst.  Bearbeitet 
von  I)r.  Franz  Christian  Karl  Krügelstcin, 
Herzoglich  Sächsischem  Amts-  und  Stadt -Physicus 
zu  Ohrdruff.  Gotha,  Hcnnings’sche  Buchhandlung. 
1828.  8.  418  S.  (1  Thlr.  16  Gr.) 

Der  Name  des  Yerf.  vorliegender  Schrift,  die  auch 
den  litel  führt:  «Kunst,  die  äufserlicheu  und  chirurgischen 
Krankheiten  der  Menschen  zu  heilen.  Elfter  Theil,n  be¬ 
rechtigte  uns  zu  der  Annahme,  dafs  wir  in  derselben  eine 
brauchbrre  Bearbeitung  der  Kunst,  die  Geschwüre  zu  hei¬ 
len,  finden  würden,  und  wir  müssen  gestehen,  wir  haben 
uns  nicht  geirrt.  W  ir  empfehlen  daher  dieses  Werk  jedem 
Wundarzte,  zumal  niederer  Categoric,  für  welche  Klasse 


von 


I 


/ 


,  .  S  %  \ 

V.  Geschwüre.  309 

von  Wundärzten  überhaupt  das  Ganze  geschrieben  zu  sein 
scheint.  Dafs  wir  hier  keine  neuen  Ansichten  über  die  Dia¬ 
gnose  und  Therapie  der  Geschwüre  suchen  durften,  ver¬ 
stand  sich  schon  nach  dem  Titel  von  selbst.  Der  Verf.  hat 
aber  das  über  diese  Gegenstände  bisher  Bekannte  reiflich 
aus  mehreren  Schriften  zusammengesucht  und  in  einer  pas¬ 
senden  Ordnung  zusammengestellt;  dafs  er  hierbei  vorzüg¬ 
lich  den  Ansichten  eines  Rust  gefolgt  ist,  wird  ihm  nie¬ 
mand  zum  Vorwurf  machen,  vielmehr  verdient  er  deshalb 
Lob,  und  um  so  mehr,  da  Rust’s  Helcologie  im  Buch¬ 
handel  gar  nicht  mehr  zu  bekommen  ist.  —  Dem  Verf- 
von  Kapitel  zu  Kapitel  folgen  wollen,  hiefse  eine  unnütze 
Arbeit  unternehmen,  längst  Bekanntes  wiederholen;  wir 
begnügen  uns  daher  den  Inhalt  nur  kurz  anzugeben,  und 
dann  noch  einiges,  die  eigenen  Ansichten  und  Kurmethoden 
des  Verf.  betreffend,  mitzutheilen. 

Die  Schrift  zerfällt  in  neunzehn  Kapitel.  Im  ersten 
Kapitel  liefert  der  Verf.  eine  Definition  der  Geschwüre 
nach  Rust  und  Langenbeck;  dann  stellt  er  den  Unter¬ 
schied  zwischen  einem  Abscefs  und  einer  Wunde  auf,  be¬ 
schreibt  die  bei  den  Geschwüren  vorkommenden  Zufälle» 
erwähnt  der  Ursachen  und  der  Eintheilung  der  Geschwüre, 
und  beschreibt  dann  in  diagnostischer  Hinsicht  das  scorbu- 
tische,  scrophulöse,  gichtische,  venerische,  das  Hautgeschwür, 
das  Flechtengeschwür,  Kopfgrind,  Ansprung,  das  Krätz- 
und  das  Krebsgeschwür,  das  complicirte,  entzündliche,  asthe¬ 
nische,  wuchernde,  schwammige,  callöse,  fistulöse,  ödema- 
töse  und  varicöse,  faulige  und  cariöse  Geschwür.  Im  zwei¬ 
ten  Kapitel  handelt  er  die  Prognose,  und  im  dritten  die 
Heilung  im  Allgemeinen  ab.  Im  vierten  spricht  er  von  der 
Heilung  der  einfachen  Geschwüre,  und  erwähnt  hier  fol¬ 
gende  Methoden:  Einwickelung  der  Schenkel,  Rowley’s 
Methode,  Ulmenrinde,  Theden’s  Einwickelung,  Under- 
wo od’s  Methode,  Baynton’s  Methode  und  Wei n h o ld ’s 
Methode.  Vom  fünften  bis  achtzehnten  Kapitel  beschreibt 
er  die  Behandlung  der  complicirten  Geschwüre,  der  inflam- 
XIII.  Bd.  3.  St.  21 

.  I 


t 


$ 


f 

JlO  V.  Geschwüre. 

matorischen  und  atonischcn,  der  schwammigen,  der  callösen 
und  varirösen,  der  ödematösen,  der  fauligen  uud  brandigen, 
der  fistulösen,  der  cariösen,  der  scorbutischen ,  der  scrophu- 
lösen,  der  gichtischen,  der  syphilitischen ,  der  impetiginösen 
Geschwüre  und  der  Krebsgeschwüre.  Im  neunzehnten  Ka¬ 
pitel  endlich  spricht  er  von  einigen  besondern  Mitteln  zur 
Heilung  alter  Geschwüre,  und  erwähnt  folgende:  Bonus 
Henricus.  Plantago  angustifolia.  Millifoliurn.  Bardana.  Mcr- 
cur.  China.  Natrum  murialicum  und  Calx  muriatica.  Opium. 
Jodine.  Goldpräparate.  Kupferpräparate.  Salzsaurer  ZiuJt. 
Blutegel.  Bothcr  Präcipitat.  Ilungercur. 

Nach  des  Verf.  Ansicht  gehört  zur  Entstehung  des 
Krebses  eine  gewisse  Disposition  im  Drüseosysteme,  die 
sowohl  angeboren  sein,  als  durch  eine  später  im  Körper 
entstandene  Dyscrasie,  als  syphilitische  und  scrophulöse  Krank¬ 
heiten  und  Complicationen,  erworben  werden  kann.  Er 
kann* sich  daher  auch  von  der  Existenz  eines*)riinärrn  krebs- 
giftes,  das,  wie  das  syphilitische,  Jahre  lang  in  dem  Kör¬ 
per  schlafen  und  bei  Gelegenheit  einer  Krankheit  oder  einer 
climacterischen  Umwandlung  des  Körpers,  wie  das  Ausblei¬ 
ben  der  weiblichen  Periode,  erwachen  und  rege  werden 
soll,  nicht  überzeugen,  sondern  hält  vielmehr  den  Krebs 
anfänglich  für  ein,  in  einer  dazu  disponirten  Drüse  entste¬ 
hendes,  örtliches  Uebel,  welches  aber  im  Fortgang,  wenn 
der  Scirrhas  sich  als  selbstständige  Krankheit  entwickelt, 
ein  Virus  sui  generis,  das  Krebsgift,  als  Product  der  schon 
vorhandenen  Krebskrankheit,  entwickelt,  welches  nicht  nur 
in  dem  eigenen  Körper  sich  weiter  verbreitet,  sondern 
auch  durch  IJebertragung  in  fremden  Körpern  sich  wieder 
erzeugt!  —  Der  \  erf.  sah  nie,  dafs  ein  Geschwür  durch 
eine  sympathetische  Kur  geheilt  worden  wäre.  Die  Anwen¬ 
dung  der  Purganzen  zur  Heilung  alter  Ftifsgeschw  iire  tadelt 
er,  er  nennt  sic  zu  empirisch,  und  meint,  sie  wären  mit 
einem  zu  grofsen  Nachtheil  für  die  Digestionsorgane  ver¬ 
bunden,  als  dafs  ein  rationeller  Wundarzt  sich  ihrer  bedie¬ 
nen  könne!  (Dafs  sich  hiergegen  viel  einwenden  liefse, 


I 


V.  Geschwüre.  311 

liegt  am  Tage.)  Bei  reizbaren  und  schmerzhaften  Ge¬ 
schwüren  empfiehlt  er  einen  warmen  Umschlag  von  Wai- 
zenkleie  in  Wasser  gekocht,  oder  noch  besser,  einen  war¬ 
men  Kartoffelbrei;  auch  giebt  er  die  praktische  Kegel,  jedes 
alte  Geschwür  zu  Anfang  der  Behandlung  einige  Tage  lang 
mit  warmen  Breiumschlägen  zu  fomentiren.  Des  Verf.  Be¬ 
hauptung,  dafs  die  Heftpflaster  nach  Bayton’s  Methode 
erst  dann  mit  Nutzen  angewandt  werden  können,  wenn 
das  Geschwür  auf  dem  Wege  der  Genesung  in  die  Ver¬ 
hältnisse  einer  eiternden  Wunde  getreten  ist,  und  wenn 
gesunde  Granulationen,  wie  bei  dieser,  hervorschiefsen ,  fand 
Kec.  nie  bestätigt.  Gerade  bei  torpiden,  callösen  Geschwü¬ 
ren  sah  Rec.  stets  die  besten  Erfolge  von  den  Zirkelpfla¬ 
stern,  die  er  immer  alle  2  —  3  Tage,  während  welcher 
Zeit  der  Kranke  immer  liegen  mufs,  erneuern  läfst.  — 
Zur  Begränzung  des  wilden  oder  schwammigen  Fleisches 
fand  der  Verf.  alle  dagegen  gerühmten  Mittel,  zumal  die 
wässerigen  Auflösungen,  weniger  nützlich  als  ein  Streu¬ 
pulver  von  Herba  S^binae,  dem  er  noch  zuweilen  einen 
Theil  feingeriebenen  Kampher  zusetzte.  Von  absoluter  Ruhe 
des  Kranken  bei  chronischen  Geschwüren  will  er  nichts 
wissen ;  er  meint,  eine  mäfsige,  das  Glied  nicht  anstren¬ 
gende  Bewegung  sei  nicht  so  schädlich,  als  man  gewöhn¬ 
lich  glaube.  Auf  die  Anwendung  der  Arnica  in  der  Form 
eines  Umschlages  will  er  häufig  die  Entstehung  von  Maden 
und  Würmern  in  Geschwüren  bemerkt  haben,  auch  behaup¬ 
tet  er,  mehrere  Wundärzte  hätten  ihm  versichert,  dieselbe 
Erfahrung  gemacht  zu  haben !  Den  fortgesetzten  Gebrauch 
der  Schwefelblüthen  in  kleinen  Dosen  bei  der  Scrofelkrank- 
heit  rühmt  er  als  ein  Mittel,  dessen  Wirksamkeit  bis  jetzt 
nicht  gehörig  geschätzt  worden  ist,  und  das  sich  auch  schon 
deshalb  empfiehlt,  weil  es  mit  Zucker  abgerieben  von  Kin¬ 
dern  sehr  gern  trocken  geleckt  wird.  Die  Kastanienrinde 
hat  er  immer  bei  der  atonischen  Gicht,  und  zur  Hebung 
der  nach  den  Gichtanfällen  zurückbleibenden  Schwäche 
und  Verstimmung  in  den  Digestionsorganen  aufserordentlich 

21  * 


312  V.  Gescliwiire. 

wirksam  gefunden.  Die  Behandlung  der  primären  veneri¬ 
schen  Geschwüre,  ohne  den  äufseren  und  inneren  Gebrauch 
des  Mercurs,  durch  blofses  Aufschlagen  von  kaltem  Wasser 
(besteht  die  Behandlung  jener  Geschwüre  ohne  Quecksilber 
denn  blofs  hierin?!)  wird,  nach  dem  Verf. ,  bald  wieder 
vergessen  sein,  da  sie  in  der  Privatpraxis,  wo  der  Arzt 
nicht  Herr  über  die  Lebensart  seines  Kranken  ist  (ist  er 
dies  mehr,  wenn  er  dem  Kranken  Mercur  verordnet,  und 
ist  nicht  während  des  Gebrauchs  desselben  auch  eine  strenge 
Diät  nöthig?),  gar  nicht  pafst.  Das  Kali  causticum  halt  er 
für  ein  schickliches  Präservativ  gegen  die  venerische  An¬ 
steckung,  wenn  man  dasselbe  in  Form  eines  Wasch-  und 
Injectionswassers  nach  jedem  Beischlafe  anwendet.  (Sollten 
dergleichen  Linspritzungen  in  die  männliche  Harnröhre  nicht 
bisweilen  sehr  üble  Folgen  haben  können?)  Da  der  Mer¬ 
cur  das  gröfste  Mittel  ist,  die  Productionskraft  zu  deprimi- 
ren,  und  die  Vegetation  zu  unterdrücken,  so  glaubt  der 
Verf.  auch,  dafs  er  als  ein  solches  Mittel  den  im  Zellstoff 
hausenden  Parasiten,  die  Lutsseuche,  zerstöre  und  tilge. 
Den  Calomel  nennt  er  als  das  zweckmäfsigstc  Mittel,  um 
bei  primären  Schankern  eine  schnelle  Heilung  zu  bewirken, 
und  die  Entstehung  der  allgemeinen  Syphilis  zu  verhüten. 
VV  ie  er  zu  der  Behauptung  kommt,  der  Mercur.  solubil. 
Hahnemanni  habe  den  Gebrauch  des  Calomcls  verdrängt, 
begreifen  wir  nicht.  (Bei  der  Behandlungsart  der  veneri¬ 
schen  Geschwüre  hätten  das  Decoctum  Zittmanni  und 
Wein  ho  Id ’s  Calomel  auch  wohl  einer  Erwähnung  verdient, 
um  so  mehr  da  dies  von  andern,  bei  weitem  weniger  wirk¬ 
samen  Mitteln,  z.  B.  dem  Decoctum  Po llini  geschehen 
ist!).  —  Unter  allen  äufseren,  gegen  Krätzgeschwiire  an¬ 
gepriesenen  Mitteln  hat  sich  dem  Verf.  noch  keines  hülf- 
reicher  erwiesen,  als  das  Ung.  antipsoricum  Werlhofii 
aus  3  j.  Merc.  praecip.  alb.  und  3  j.  Ung.  pomadin.  ln  hart¬ 
näckigen  Fällen  von  Crusta  lactea  soll  man  ohne  den  Ge¬ 
brauch  der  Zink-  und  Bleimittel  nicht  viel  ausrichten,  die 
man  auch  bei  einiger  \  orsiebt  um  so  sicherer  anwenden 


Y.  Geschwüre. 


313 


kann,  da  das  ganze  Geschäft  der  Haut  jetzt  eben  nach  anfsen, 
zur  Ausscheidung,  und  nicht  nach  innen,  zur  Aufsaugung, 
gerichtet  ist.  —  Hie  Exstirpation  des  Krebses  hält  der  Verf. 
dann  nicht  fiir  nöthig,  wenn  der  Krebs  die  Folge  einer 
örtlichen  Ansteckung  und  diese  noch  ganz  oberflächlich  ist, 
ohne  im  Innern  der  Drüse  schon  eine  Desorganisation  be¬ 
wirkt  zu  haben.  (Wird  man  dies  immer  bestimmt  wissen 
können?  Schwerlich!)  Nach  dem  Verf.  soll  man  das  Cosmi- 
sche  Pulver  mit  Wasser  zu  einem  Brei  zusammenrühren; 
Rec.  glaubt,  dafs  dies  der  ursprünglichen  Vorschrift  nach 
nicht  mit  Wasser,  sondern  mit  Speichel  geschehen  soll. 
Er  zieht  übrigens  das  Hellmundsche  Mittel  dem  Cosmi- 
sehen  vor,  und  aus  guten,  in  der  Praxis  bewährten  Grün¬ 
den.  Denn,  sagt  er,  1)  steigert  sich  bei  der  Hellmund- 
sehen  Behandlung  die  Wirkung  erst  in  einem  Zeiträume 
von  sechs  Tagen  bis  zur  Bildung  eines  feuchten  Brand¬ 
schorfes,  und  hierbei  wird  die  Secretion  der  Geschwürs¬ 
fläche  nicht  blofs  fortwährend  unterhalten,  sondern  sogar 
noch  vermehrt;  dagegen  entsteht  bei  der  Cosinischen  Me¬ 
thode  schon  innerhalb  acht  Stunden  ein  trockener  Brand¬ 
schorf,  der  die  Secretion  plötzlich  auf  17  — -  20  Tage  un¬ 
terdrückt.  2)  Die  II.  Methode  wirkt  milder  und  doch 
sicher,  und  3)  man  kann  mit  derselben  mehr  nach  der 
Tiefe  hin,  z.  B.  in  die  Augen-  und  Nasenhöhle,  wirken. 
Die  Belladonna  soll  bestimmt  das  sicherste  Mittel  sein,  um 
anfangende,  scirrhöse  Verhärtungen  aufzulösen,  und  beim 
offenen  Krebs  die  Secretion  zu  verbessern,  die  Schmerzen 
zu  stillen,  und  die  Fortschritte  des  Hebels  zu  beschrän¬ 
ken.  —  Dals  der  Dr.  Dohlhoff  in  v.  Gräfe’s  Journal 
seine  Erfahrungen  über  den  Fucus  Helminthothorton  be¬ 
kannt  gemacht  hat,  ist  ein  Irrthum  des  Verf.;  denn  der 
Dr.  D.  theilt  dort  nur  einen  Auszug  aus  O’Meara’s  Schrift 
über  diesen  Gegenstand  mit.  —  Die  Aqua  antimiasmatica 
leistet  nach  de^  Verf.  Erfahrungen  weniger,  als  das  salz* 
saure  Gold,  sie  ist  wenigstens  nie  im  Stande,  rein  syphili¬ 
tische  Affectionen  zu  heben. 


314 


VI.  Krankheiten  des  Uterus. 


Ein  alphabetisches  Register  würde  die  Brauchbarkeit 
dieser  Schrift  sehr  erhöht  haben.  —  Das  Papier  ist  schlecht. 


0  — 


VI. 

Neue  Behandlungsmethode  der  Geschwüre, 
Ulcerati  onen  und  Anschwellungen  des 
Uterus.  Von  Samuel  L$iir,  der  Heilkunde 
Doctor.  Nach  der  zweiten  Ausgabe  des  Originals 
aus  dem  Französischen  übersetzt.  Mit  einer  Ku¬ 
pfertafel.  Weimar,  18‘iS.  8.  VI  u.  1 22 S.  (18  Gr.) 

Nicht  blofs  die  hier  beschriebene  Behandlungsmethode 
dieser  Schrecken  erregenden  Zufälle  ist  neu,  sondern  auch 
die  Ansichten,  auf  welche  sie  gestützt  ist,  stehen  mit  den 
bisher  als  richtig  angenommenen  in  offenbarem  Widerspruch.' 
Der  Verf.  siebt  überall,  wo  mau  es  bis  jetzt  mit  Scirrhen 
zu  ihun  zu  haben  glaubte,  nur  Hypertrophie  der  Gebär¬ 
mutter,  und  behandelt  dieses  Leiden,  laut  den  beigefügten 
vierzehn  höchst  interessanten  Beobachtungen ,  die  wir  nach¬ 
zulesen  bitten,  mit  vielem  Glück.  500  Leichenöffnungen, 
von  Frauenzimmern,  die  in  den  Pariser  Hospitälern  theils 
an  Krankheiten  des  Uterus,  theils  an  andern  Krankheiten 
gestorben  waren,  überzeugten  ihn  von  der  Richtigkeit  sei¬ 
ner  Ansichten.  Ls  verdient  daher  diese  Schrift  unsere  ge¬ 
naueste  Beachtung!  \ erhält  sich  alles  wirklich  so,  wie  es 
der  'S  erf.  behauptet,  und  warum  sollten  wir  an  dessen 
Wahrhaftigkeit  zweifeln?,  so  haben  diese  Krankheiten  viel 
von  ihrer  Furchtbarkeit  verloren,  und  wir  sind  in  der  Er¬ 
kennung  sowohl,  als  in  der  Behandlung  derselben  um  ein 
Bedeutendes  vorwärts  gekommen. 

Nachdem  der  Verf.  vierzehn  Krankengeschichten  mit. 
gcthcilt  hat,  die  alle  für  die  Vorzüglichkeit  seiner  Behänd- 


VI.  Krankheiten  des  Uterus. 


315 


lungsmethode  sprechen,  kommt  er  im  ersten  Kapitel  zu 
den  Atroph  i  een  des  Uterus  und  seiner  Anhänge. 
Es  soll  dies  eine  ziemlich  häufige,  natürliche  Disposition  sein, 
welche  bei  manchen  Frauenzimmern  die  Neigung  zum  Co- 
libat,  die  Gleichgültigkeit,  die  Aversion  gegen  die  Vereini¬ 
gung  der  Geschlechter  erklärt.  Unter  jenen  500  Leichen¬ 
öffnungen  zeigte  sich  bei  35  ein  deutlicher  Grad  von  Atro¬ 
phie.  Der  Hals  des  Uterus  ist  dabei  weich,  sehr  wenig 
hervorragend,  sehr  wenig  entwickelt;  seine  Mündung  ist 
eng;  selten  kommen  aus  ihr  Flüssigkeiten,  welche  wir  so 
häufig  in  der  Hypertrophie  und  der  Entzündung  (stricte  sic 
dicta?)  finden.  Die  Vagina  ist  mit  wenig  Runzeln  verse¬ 
hen;  sie  ist  eng;  der  Mons  veneris  ist  nicht  sehr  hervor¬ 
springend,  nicht  sehr  mit  Haaren  bedeckt;  die  greisen  und 
die  kleinen  Lefzen  sind  dünn,  nicht  sehr  entwickelt;  die 
Farbe  des  Os  tincae  endlich  ist  bleich.  Zweites  Kapi¬ 
tel.  Hypertrophie  des  Uterus  und  seiner  An¬ 
hänge.  Unter  den  500  Leichen  waren  80  davon  ergrit- 
fen,  bei  30  zeigten  sich  die  Kennzeichen  einer  Entzündung, 
die  sich  bis  zur  Vagina  und  den  Muttertrompeten  erstreckte. 
Die  Hypertrophie  giebt  sich  durch  Neigungen  zu  erkennen, 
die  denen  bei  der  Atrophie  angegebenen  entgegengesetzt 
sind.  Der  Hals  des  Uterus  bildet  hier  einen  mehr  oder 
weniger  beträchtlichen  und  harten  Vorsprung  in  der  Scheide, 
.  den  man  für  Scirrhus  halten  könnte,  allein  er  gehört  einem 
gleichmäfsig  harten  und  in  seinem  Umfange  gleichrnäfsig  ver- 
gröfserten  Uterus  an;  spaltet  man  die  Wände,  so  sieht 
man,  dafs  sie  überall  homogen  sind,  indem  sie  entweder 
weifs  aussehen,  und  unter  dem  Messer  knirschen,  oder  in¬ 
dem  sie  eine  mehr  oder  weniger  lebhafte  rosenrothe  Farbe 
haben  und  sich  eben  so  zerschneiden  lassen,  als  ein  ganz 
gesunder  Uterus.  (Wie  anders  verhält  es  sieb  nicht  beim 
Scirrhus?!)  Oft  befinden  sich  an  diesem  Vorsprunge  gleich¬ 
zeitig  Ulcerationen,  ohne  dafs  das  Uebel  deswegen  Scirrhus 
ist.  Dafs  in  diesen  Fällen  die  Amputation  des  Mutterhalses 
nicht  indicirt  sei,  leidet  wohl  keinen  Zweifel,  denn  man 


316 


VI.  Krankheiten  des  Utcros. 


würde  nur  einen  Theil  des  Uebcls  wegnehmen,  also  eine 
wenigstens  unnütze  Operation  unternehmen!  Drittes  Ka¬ 
pitel.  Von  der  Rothe  im  weiblichen  Zeugungs¬ 
apparat.  An  500  Subjecten  fand  der  Verf.  dies  Phäno¬ 
men  130mal,  und  zwar  in  verschiedenem  Verhältnisse, 
woraus  er  den  #Schlufs  zieht,  dafs  die  Röthe  der  Totalität 
des  Uterus  und  seiner  Anhänge  der  Entzündung  angehöre, 
dafs  aber  die  Röthe  in  der  Höhle  des  Uterus  oft  von  der 
Function  desselben  abhängig  sei.  Wertes  Kapitel.  Von 
der  Röthe  im  Zeugungsapparat,  als  Zeichen  der 
Entzünd  urig  betrachtet.  Fünftes  Kapitel.  Von 
der  Röthe  der  Vagina,  als  Zeichen  von  Entzün¬ 
dung  besonders  betrachtet.  Gleichzeitig  mit  der  Rö¬ 
the  ist  Schmerz  beim  Touchiren,  Aversion  vor  dem  Bei¬ 
schlaf,  und  copiöse  Seeretion  von  serös- muköser  Flüssig¬ 
keit,  die  ein  rahmartiges  Aussehen  hat,  von  der  weifsen 
E'arbe  bis  zur  grünlichen  variirt,  aber  nur  dann  Kügelchen 
enthält,  wenn  Ulcerationen  vorhanden  sind.  Sechstes 
Kapitel.  ^  on  der  Röthe  der  Vagina,  als  Zeichen 
der  Menstruationsepoche  betrachtet.  Röthe,  Span¬ 
nung  und  Ausflufs  sind  hi^r  auch  vorhanden,  aber  die  Röthe 
ist  nicht  sehr  stark,  erstreckt  sich  nicht  leicht  über  das 
obere  Drittel  der  Vagina  hinaus,  und  nimmt  von  oben  nach 
unten  zu  ab;  die  Spannung  ist  tiefer  und  der  Ausflufs  mehr 
serös.  Siebentes  Kapitel.  Von  einer  Röthe  der 
Vagina,  welche  anders  ist,  als  die  zwei  vorher¬ 
gehenden.  Der  Verf.  hat  bisweilen  Petechien  von  einer 
violetrothen  Farbe  in  der  Scheide  gefunden.  Diese  Form 
soll  nur  deshalb  Aufmerksamkeit  verdienen,  damit  man  sie 
nicht  mit  jenen  beiden  andern  Arten  verwechselt.  Achtes 
Kapitel.  Von  der  entzündlichen  Röthe  des  Ute¬ 
rus.  Vermittelst  des  Speculums  soll  man  die  Röthe  des 
Mutterhalses  sehr  leicht  entdecken  können.  Zu  den  ersten 
Symptomen,  sagt  der  Verf.,  gehört  fast  immer  ein  tiefer 
Schmerz  in  der  Mierengegend ,  der  sich  oft  zu  den  Leisten¬ 
gegenden  und  den  Oberschenkeln  fortpflanzt,  und  iutermit- 


VI.  Krankheiten  des  Uterus. 


317 


tirend  oder  anhaltend  ist;  dann  folgt  ein  Gefühl  von  Schwere, 
Unruhe,  Spannung,  Anschwellung  und  dumpfer  Schmerz 
im  Uterus;  gesellen  sich  Ulcerationen  hinzu,  so  werden  die 
Schmerzen  bisweilen  so  heftig,  dafs  sie  die  organischen  und 
vitalen  Functionen  verändern.  Der  Beischlaf  ist  schmerz¬ 
haft,  bisweilen  gleichzeitig  Hysterie,  Herzklopfen,  Häufig¬ 
keit  des  Pulses.  Die  Menstruation  behält  ihre  Periodicität 

i  ^ 

oder  wird  unregelmäfsig,  selten  vermindert,  noch  seltener 
ganz  unterdrückt,  die  Ausflüsse  sind  serös -mukös,  anfangs 
farblos,  später  grünlich,  gelblich.  Beim  Touchiren  findet 
man,  dafs  der  Hals  des  Uterus  empfindlich,  bisweilen  resi- 
stirend  ist,  und  einen  höheren  Wärmegrad  besitzt,  dies 
aber  nur,  wenn  der  Hals  selbst  hypertrophisch  oder  ent¬ 
zündet  ist.  Neuntes  Kapitel.  Von  der  Röthe  des 
Uterus,  als  Zeichen  der  Menstruation.  Die  Men¬ 
struation  zeigt  sich  gewöhnlich  mit  den  Kennzeichen  einer 
sehr  leichten  Entzündung  des  Uterus,  die  während  des  Men- 
strualflusses  ganz  verschwindet.  Zehntes  Kapitel.  Von 
einer  Röthe  des  Uterus,  welche  anders  als  die 
vorhergehende  ist.  Vorzüglich  im  Uterus  fand  der 
Verf.  jene  violetten  Punkte,  deren  er  auch  bei  der  Vagina 
gedenkt.  Ihr  Vorhandensein  soll  mit  keinem  der  Zeichen 
in  Beziehung  stehen,  welche  die  Entzündung  characterisi- 
ren.  Elftes  Kapitel.  Von  den  Afterm  e  mb  ran  en, 
welche  von  dem  Uterus  und  seinen  Anhängen  sich  zu  den 
verschiedenen  Punkten  des  Beckens  und  der  in  ihm  enthal¬ 
tenen  Organe  begeben,  als  ersten  Ursachen  der  Obliquität, 
der  Anteversion  und  der  Retroversion  des  Uterus  betrach¬ 
tet.  Der  Verf.  behauptet,  man  würde  selten  eine  Frauens¬ 
person  von  30  bis  70  Jahren  finden,  die  von  diesen  in 
Folge  der  Entzündung  des  die  Beckenhöhle  auskleidenden 
Bauchfells  entstandenen  Aftermembranen  ganz  frei  wäre. 
(Wohl  etwas  zu  viel  behauptet,  wie  denn  überhaupt  der 
ganze  Satz  noch  näherer  Bestätigung  bedarf.)  Unter  jenen 
500  Subjccten  waren  46,  bei  welchen  der  Uterus  mehr 
oder  weniger  schief,  auf  die  rechte  oder  auf  die  linke  Seile, 


318 


VI.  Krankheiten  des  Uterus. 


sich  neigte;  bei  6  andern  lag  er  schief  nach  vorn,  und  nur 
ein  einziger  lag  schief  nach  hinten.  Zwölftes  Kapitel. 
Von  den  After  in  einbranen  in  der  Mutterscheide, 
in  dem  Uterus  und  in  den  Muttertrompeten.  Der 
häufigste  Sitz  derselben  ist  der  Hals  des  Uterus,  dessen 
tnge  die  Bildung  derselben  sehr  begünstigt.  Sie  ver- 
schliefsen  die  Wege  vollkommen  oder  unvollkommen.  Das 
Hervordringen  des  Monatlichen  ist  nicht  immer  ein  Beweis, 
dafs  keine  Aftermembran  vorhanden  ist,  denn  die  Menstrua¬ 
tion  kommt  da  blofs  aus  dem  Halse  des  Uterus,  welcher 
sich  verlängert  und  sich  erweitert,  während  der  Körper  die¬ 
ses  Organs  unverändert  bleibt  oder  sogar  kleiner  wird,  wenn 
nicht  eine  seröse,  blutige  oder  eiterartige  Ansammlung  ihn 
zwingt,  sich  auszudehnen.  Dreizehntes  Kapitel.  Ana¬ 
tomische  Dispositionen  der  Geschwüre  und  Ul- 
cerationen  in  dem  weiblichen  Zeugungsapparat. 
Geschwüre  nennt  der  Verf.  diejenigen  ulcerösen  Affectio- 
nen,  welche  die  Vagina  oder  den  Uterus  tief  zerstört  ha¬ 
ben,  Ulcerationen  dagegen  diejenigen  oberflächlichen  ulce¬ 
rösen  Affectionen ,  welche  nur  die  Schleimmembran  der 
Vagina  oder  des  Uterus  zerstört  haben.  (Was  für  Defini¬ 
tionen!)  Unter  jenen  500  Subjecten  fand  er  60  mit  der¬ 
gleichen  Affectionen,  und  unter  diesen  viel  mehr  mit  UL 
cera,  als  mit  Ulcerationen  Behaftete,  was  wohl  sehr  natür¬ 
lich  ist,  da  jene  spätere  Stadien  desselben  Uebels,  als  diese 
darstellen.  Im  Moment  des  Todes  verschwinden  die  Fun- 
gositäten,  welche  gewöhnlich  während  des  Lebens  auf  den 
Geschworen  vegetiren,  so  wie  die  Anschwellung  der  Wände 
der  Vagina  gänzlich;  die  Fungositätcn  stoLen  sich  wahr¬ 
scheinlich  in  den  letzten  Lebenstagen,  wo  der  Ausflufs  be¬ 
trächtlich  und  bräunlich  wird,  ab.  Ist  der  Fungus  hart 
und  sondert  er  wenig  Feuchtigkeit  ab,  so  kann  man  ihn 
abschneiden  oder  abbinden,  allein  er  kommt  häufig  wieder, 
dann  zerstöre  man  ihn  durch  die  Uauterisation  und  durch 
Cotnpression ;  letztere  bewirkt  der  Verf.  vermittelst  kleiner 
Schwämme,  die  er  einen  nach  dein  andern  in  die  V  agiua 


VI.  Krankheiten  des  Uterus. 


319 


einbringt,  nachdem  er  sie  in  Bauist  eingehüllt  und  an  einen 
Faden  gebunden  hat,  und  die  er  auch  wohl  mit  einer  Auf¬ 
lösung  von  Chlorkalk  befeuchtet.  Die  Cauterisation  ist 
nach  ihm  nur  da  angezeigt,  wo  sechs  Wochen  oder  zwei 
Monate  seiner  Behandlung  fast  jede  Spur  von  Entzündung 
entfernt  haben,  und  eine  Ulceration  noch  vorhanden  ist, 
die  nicht  vernarben  will.  Das  vierzehnte  Kapitel  han¬ 
delt  sehr  umständlich  von  der  Exploration  der  weib¬ 
lichen  Zeugungsorgane.  Wenn  man  einen  geraden 
Catheter  in  die  Blase  einbringt  (der  Yerf.  bedient  sich  dazu 
eines  eigenen  Instrumentes),  seine  Spitze  auf  die  vordere 
und  obere  Flache  des  Grundes  des  Uterus  stützt,  und  das 
äufsere  Ende  dieses  Instruments  in  die  Höhe  hebt,  so  dafs 
es  unter  dem  Schaambogen  einen  Stützpunkt  erhält,  so 
theilt  man  dem  Uterus^ine  solche  Bewegung  mit,  wodurch 
sein  Grund  nach  der  Höhle  des  Heiligbeins  und  sein  Hals 
nach  der  Höhle  der  Vagina  hin  zu  stehen  kommt,  so  dafs 
man  ihn  in  dem  Speeulum  leicht  sehen  kann.  Bei  Ante- 
versio  uteri  sieht  man  den  Hals  nur,  wenn  man  sich  dieses 
Verfahrens  bedient.  —  Bei  der  Exploration  per  Vaginam 
wird  vorgeschrieben,  man  solle  die  Kranke  auf  eine  Art 
von  Querlager  bringen,  und  sich  beim  Untersuchen  des 
Grundes  der  Scheide  in  Acht  nehmen,  die  Wand,  welche 
durch  Geschwüre  beträchtlich  verdünnt  sein  und  bisweilen 
nur  ein  einfaches,  leicht  zerreifsbares  Gefäfsnetz  darbieten 
kann,  nicht  zu  perforiren.  Immer  soll  man  erst  mit  dem 
rechten  Zeigefinger  und  dann  mit  dem  linken,  nie  aber  mit 
zwei  Fingern  touchiren,  denn  zwei  Finger  legen  sich  we¬ 
niger  genau  an  die  interessirten  Theile  an  (?!).  Zuletzt 
soll  man  noch  in  verticaler  Stellung  touchiren,  weil  der 
Uterus  dabei,  durch  die  Unterleibseingeweide  gedrückt  und 
durch  sein  eigenes  Gewicht  herabgezogen,  tiefer  steht  und 
sich  leichter  erreichen  läfst.  —  Walten  nun  noch  Zweifel 
über  den  Zustand  des  Uterus  ob,  so  soll  man  den  Finger 
in  das  Rectum  einbringeu.  Nur  auf  diesem  Wege  kaun 
man  entdecken,  ob  die  Ligamenta  lata  und  das  Zellgewebe 


320 


VI  Krankheiten  des  Uterus. 


des  kleinen  Beckens  nicht  eine  cancröse  Masse  enthalten, 
ob  die  Ovarien  nicht  scirrhös  sind,  ob  sich  nicht  fibröse 
Körper  in  den  Wänden  des  Uterus  entwickelt  haben,  ob 
die  Muttertrompeten  eine  Ansammlung  von  Wasser  oder 
Eiter  enthalten,  ob  Absccsse  oder  Balggeschwülste  sich  in 
diesen  I  heilen  entwickelt  haben,  ob  nicht  eine  Peritonitis  sie 
in  eine  einzige  Masse  zusammengeschmolzen  hat,  ob  der  Ute¬ 
rus  voluminös  sei  oder  nicht,  lind  ob  er  schief  stehe  oder 
nicht.  —  Ucber  die  Gebrauchsart  des  Speculums  läfst  sich 
der  'S  erf.  hinreichend  aus.  (Er  hat  eine  besondere  Art  er¬ 
funden,  hier  aber  nicht  abgebildet.)  Er  bringt  dasselbe 
immer  durch  einen  conischen  Kopf  aus  elastischem  Gummi, 
geschlossen  ein.  Um  aach  die  Höhle  des  Uterus  zu  unter¬ 
suchen,  bedient  er  sich  der  Larreyschen  Hohlsonde,  die 
er  durch  das  Speculum  einbringt  und  unten  etwas,  wie 
einen  Catheter,  biegt.  Sollte  eine  Aftermembran  dieser 
Sonde  Widerstand  leisten,  so  bringt  er  ein  eigenes,  zan- 
genformiges  Instrument,  das  vorn  zwei  scharfe  Haken  hat, 
geschlossen  ein,  diese  Haken  fixirt  er  in  die  Wände  der 
Gebärmutter,  öffnet  das  Instrument  und  dehnt  dadurch  den 
nun  fixirten  Mutterhals  so  aus,  dafs  die  Sonde  gegen  die 
Membran  wirken  kann.  (Ob  er  sich  dieses  Instruments 
wirklich  schon  mit  Nutzen  bedient  hat,  wird  nicht  ange¬ 
rührt.  Die  scharfen  Haken  müssen  die  Wände  der  Gebär¬ 
mutter  bedeutend  verletzen,  und  daher  leicht  üble  Folgen 
hervorbringen ! )  Fünfzehntes  Kapitel.  Physische, 
microscopische  und  chemische  Charaktere  von 
Flüssigkeiten,  welche  aus  der  Höhle  des  Uterus 
abflielsen.  Sechzehntes  Kapitel.  Behandlung  der 
Ulcerationen  und  der  scirrhös  aussehenden  Hy¬ 
pertroph  i  e  e  n  des  Uterus.  Die  allgemeiuen  Blütentzie- 
huugen  passen  nur,  so  lange  sich  allgemeine  Plethora  und 
Fieber  zeigt.  Die  Häufigkeit  des  Pulses  indicirt  nicht  im¬ 
mer  die  Venäsectionen.  Blutegel  beseitigen  am  besten  die 
Entzündung  und  mit  dieser  die  Hamorrhagiecn,  die  durch 
die  EuUüudung  der  Schleimmcmbran  verursacht  werden. 


VT  Krankheiten  des  Uterus. 


321 


Die  Blutegel  müssen  aber  unmittelbar  an  den  Hals  des  Ute¬ 
rus  gesetzt  werden,  was  am  leichtesten  durch  das  Speculum 
geschieht.  Nachdem  man  dieses  nämlich  eingebracht  und 
die  Theile  durch  Einspritzungen  oder  die  Douche  gehörig 
gereinigt  hat,  bringt  man  eine  Anzahl  von  Blutegeln  in  das 
Speculum,  und  verschliefst  die  äufsere  Mündung  desselben 
mit  einem  leichten  Tampon.  Nach  den  Blutegeln,  deren 
Application  übrigens  die  Menstruation  nicht  stört,  kommt 
die  Douche,  zu  deren  Anwendung  der  Verf.  eine  eigene, 
dem  Anscheine  nach  sehr  zweckmäfslge  Vorrichtung  em¬ 
pfiehlt.  Anfangs  läfst  er  mit  Eibischwasser  douchen,  später 
mit  Auflösungen  von  Alaun,  Opium,  auch  von  Schwefel¬ 
leber.  Dafs  diese  Douche  viel  kräftiger  und  regelmäfsiger 
wirkt,  als  blofse  gewöhnliche  Einspritzungen,  versteht  sich 
wohl  von  selbst.  Sie  zeigt,  nach  dem  Verf.,  ihre  Wir¬ 
kung  zuerst  dadurch,  dafs  sie  die  hypertrophischen  oder 
angeschwollenen  Theile  erweicht,  worauf  eine  mehr  oder 
weniger  schnelle  Zertheilung  folgt.  Je  beträchtlicher  die 
Dauer,  Kraft  und  Temperatur  der  Douche  ist,  desto  leich¬ 
ter  werden  diese  Phänomene  hervorgebracht.  Der  Schmerz 
ist  das  einzige  Hindernifs,  welches  abhalten  mufs;  indessen 
entsteht  er  immer,  wenn  die  Temperatur  der  Douche  höher 
als  32  Grad  R.  ist,  wenn  sie  über  20  Minuten  dauert,  und 
wenn  die  Kraft  die  einer  Wassersäule  von  12  Fufs  Höhe 
und  einigen  Linien  Basis  übersteigt.  Man  darf  daher  nur 
stufenweise  zu  diesen  äufsersten  Gränzen  kommen,  und 
mufs  mit  10  Minuten  Dauer,  3  Fufs  Höhe  der  Säule  und 
26  Grad  Temperatur  anfangen,  ln  Fällen  von  bedeutender 
Hypertrophie,  gleichzeitigen  Ulcerationen  und  Allgemeinlei¬ 
den,  und  lymphatischem  Aussehen  der  Kranken,  verordnete 
der  Verf.  innerlich  die  Tinct.  Jodinae  mit  dem  besten  Er¬ 
folge.  Auch  läfst  er  (siebzehntes  Kapitel)  Morgens 
und  Abends,  nachdem  die  Kranke  Urin  gelassen  hat,  ein 
Cataplasma  aus  geriebenen  Mohrrüben,  gehacktem  Körbel 
und  Leinsaamen  mit  einer  vorn  sehr  weiten  Spritze  ein¬ 
spritzen,  und  durch  mehrere  Compressen  und  eine  T  Binde 


322  VII.  Geburtshilfliche  Operationen. 

zuruckhalten.  Mit  diesem,  wie  er  cs  nennt,  «  köstlichen  * 
Mittel  will  er  eine  ziemlich  grofsc  Anzahl  von  Personen^ 
die  lange  an  Schmerzen  und  Ausflüssen  gelitten  hatten,  ge¬ 
heilt  haben.  Moxen  setzt  er  nicht  mehr  auf  die  Lenden- 
gegend,  wohl  aber  legt  er  Vesicatore,  von  welchen  er  be¬ 
hauptet,  dafs  sic  dazu  beitragen,  die  Heilung  schneller  und 
dauerhafter  zu  machen.  Die  Gesälsbäder  verwirft  er  ganz, 
weil  sie  die  Kongestionen  zu  den  leidenden  Thtilen  beför¬ 
dern;  dagegen  empfiehlt  er,  jedoch  nur  weno  sie  keinen 
Blutverlust  verursachen,  öfters  warme  Bäder.  Zur  IWsie- 
guug  der  habituellen  Hartleibigkeit,  und  um  eine  Ableitung 
im  Darmkaual  hcrzustellen,  giebt  er  alle  drei  Tage  3  bis 
8  Drachmen  Ricinusöl.  Er  schliefst  seine  Schrift  mit  der 
Bemerkung:  «AVer  sich  an  die  Kauterisation  und  die  Am¬ 
putation,  an  das  Opium  und  an  die  Cicuta,  an  das  salzsaure 
Gold  und  an  den  Arsenik  halten  will,  mag  cs  thun,  doch 
hüte  er  sich  da  ein  Urtbeil  zu  fallen ,  welches  nur  dem 
Versuch  und  der  Erfahrung  auszusprechen  zukommt.  “  Hof¬ 
fentlich  werden  deutsche  Aerzte  bald  das  Verfahren  des 
Verf.  am  Krankenbette  prüfen,  und  dann  werden  wir  ja 
sehen,  ob  dasselbe  wirklich  das  leistet,  was  es  leisten  soll. 

Auf  der  beigefügten  Kupfertafel  finden  wir  alle  er¬ 
wähnten  Instrumente  sehr  instructiv  abgebildet. 

—  o  — 


VII. 

Darstellung  der  geburtshilflichen  Opera¬ 
tionen  und  ihrer  Anzeigen.  Nach  den  be¬ 
sten  W  erken  und  neuesten  Grundsätzen,  mit  vor¬ 
züglicher  Berücksichtigung  der  Bo  ersehen  Erfah¬ 
rungen,  für  angehende  Geburtshelfer  bearbeitet  von 
Raphael  Ferdinand  liussiau,  Operateur, 


VII.  Geburtshiilfliche  Operationen.  323 

Angenarzt,  der  Chirurgie  und  Geburtshiilfe  Ma¬ 
gister,  und  ehemaligem  Supplenten  des  Lehramtes 
der  theoretischen  Geburtshiilfe  an  der  hohen  Schule 
zu  Wien.  Mit  einer  Kupfertafel.  (Auch  unter  dem 
Titel:  Handbuch  der  Geburtshiilfe,  von 
Hussian.  Dritter  und  letzter  Theil.)  Wien,  hei 
Carl  Gerold.  1828.  8.  XVI  und  328  S.  ( 1  Thlr. 
12  Gr.) 

Die  geburtshilflichen  Operationen  sind  in  diesem  Werke 
sehr  genau  beschrieben,  und,  was  in  jetzigen  Zeiten,  wo 
von  mehreren  Seiten  her  manchen  Operationen,  z.  B.  der 
künstlichen  Frühgeburt,  der  Synchondrotomie,  und  dem 
Hebel,  denen  entweder  sehr  enge  Grenzen  angewiesen  wer¬ 
den,  oder  die  ganz  der  Vergessenheit  übergehen  werden 
sollten,  das  Wort  selbst  von  Meistern  der  Kunst  geredet 
wird,  von  besonderer  Wichtigkeit  ist,  die  Indicationen  dazu 
sehr  umsichtig  festgestellt.  Wir  können  daher  dieses  Buch, 
vorzüglich  Anfängern ,  mit  gutem  Gewissen  empfehlen,  und 
auch  schon  in  der  Kunst  Erfahrene  werden  es  nicht  aus 
der  Hand  legen,  ohne  sich  gestehen  zu  müssen,  dafs  sie 
durch  das  Lesen  desselben  in  ihren  rationellen  Grundsätzen 
noch  mehr  befestigt  worden  sind.  Dafs  der  Verf.  vorzüg¬ 
lich  der  Bo  ersehen  Schule  ergeben  ist,  kann  kein  Vor¬ 
wurf  für  ihn  sein,  da  er  sich  allenthalben  nicht  als  ein 
blofser  Nachbeter  derselben  zeigt,  und  da  er  auch  die  An¬ 
sichten  anderer  Geburtshelfer,  wenn  sie  mit  den  seinigen 
übereinstimmen ,  gelten  läfst.  Auf  der  Kupfertafel  finden 
wir  Jörg’s  Perforatorium  und  Boer’s  Zange  abgebildet, 
letztere  nach  einem  Exemplar,  das  Bo  er  seihst  zu  diesem 
Zwecke  dem  Verf.  verehrte.  Es  ist  diese  Abbildung  für 
viele  Geburtshelfer  gewifs  eine  angenehme  Zugabe,  indem 
die  Bo  ersehen  Zangen  sogar  in  Wien  von  den  Instrumen¬ 
tenmachern  so  verschieden  angefertigt  werden,  dals  sie  der 
Prof.  Bo  er  seihst  für  ganz  andere  Instrumente,  an  denen 
er  keinen  Antheil  hat  und  haben  mag,  öfters  erkannt  hat. 


324  YII.  Geburtshulfliche  Operationen. 

In  der  Einleitung  spricht  der  Verf.  von  den  geburts¬ 
hilflichen  Operationen  überhaupt,  ihrer  Eintheilung  und 
den  im  Allgemeinen  zu  beobachtenden  Kegeln,  und  dann 
im  ersten  Abschnitt  von  jenen  Operationen,  welche  zur 
Geburt  vorbereiten  oder  diese  veranlassen.  Das  erste  Ka¬ 
pitel  dieses  Abschnittes  handelt  daher  von  der  künstli¬ 
chen  Erweiterung  des  Orificiums.  Da  dieselbe  ein 
Verfahren  ist,  das  am  gewaltsamsten  in  das  gesammte  Ge¬ 
burtsgeschäft  eingreift,  so  wird  es  mit  Recht  vom  Verf. 
blofs  auf  solche  balle  beschränkt,  welche  mit  augenschein¬ 
licher  Lebensgefahr  der  Mutter  oder  des  Kindes  verbunden 
sind.  Den  Vorzug  der  Hand  dabei  vor  den  Instrumenten, 
namentlich  vor  dem  O  sia  n  d ersehen  Dilatationswerkzeug, 
thut  er  sehr  schlagend  dar.  Die  von  einigen  empfohlenen 
Einreibungen  von  Opiatsalbe  oder  des  llyoscyamusöls  in  die 
Lippen  des  Orificiums  zur  Hebung  des  Krampfes  tadelt  er; 
sie  sollen  durch  die  Friction  schaden,  was  aber  wohl  nicht 
der  ball  ist,  vielmehr  haben  sich  uns  Einreibungen  von 
Extr.  Belladonnae  in  ähnlichen  Zuständen  sehr  wirksam  be¬ 
wiesen.  Zweites  Kapitel.  Von  der  künstlichen 
Eröffnung  der  Fruchtblase  oder  dem  sogenann¬ 
ten  W assersprengen.  Alle  dazu  erfundenen  Instru¬ 
mente  werden  verworfen.  Nicht  gut  scheint  uns  der  Rath, 
eine  halte  zu  bilden  und  diese  mit  der  Nabelschnurschere 
abzuschneiden,  denn  cs  könneiv  bei  dem  Schneiden  leicht 
andere  Thcile  verletzt  werden!  Drittes  Kapitel.  Von 
der  künstlichen  \eranlassung  einer  Frühgeburt. 
Keinem  Geburtshelfer,  meint  der  Verf.,  sei  für  sich  allein 
die  künstliche  Veranlassung  einer  Frühgeburt  gestattet,  stets 
sollen  mehrere  Geburtshelfer  zu  Rathe  gezogen,  und,  im 
Beisein  der  ihnen  Vorgesetzten  Medicinalbehörde,  genau  un¬ 
tersucht  werden,  ob  die  Veranlassung  einer  Frühgeburt 
wirklich  indicirt,  und  zu  welcher  Zeit  sie  zu  veranlassen  sei. 
Jeder  gegen  diese  \  orschrift  Handelnde  soll  als  Uebertrcter 
der  Gesetze  angesehen  und  empfindlich  bestraft  werden. 
(Pia  desideria!)  Unter  den  aufgestellten  Indicationen  ver- 


nus- 


\  II.  Geburtshülfliche  Operationen.  325 

missen  wir  die,  dafs  diese  Operation  nur  da  zu  unterneh¬ 
men  sei,  wo  wir  uns  von  dem  Vorliegen  des  Kopfes  über¬ 
zeugt  haben,  denn  die  Erfahrung  lehrt,  dafs  die  Kinder 
fast  in  allen  Fällen,  wo  ein  anderer  Theil  vorlag  und  wo 
daher  die  Wendung  auf  die  Füfse  gemacht  werden  mufste, 
todt  zur  Welt  kamen.  Die  Methode  nach  Wenzel  und 
Reisinger,  den  Eihautstich,  zieht  der  Verf.  mit  Recht 
der  Davis-Hamiltonschen  Methode  und  der  Merriman- 
Klug  eschen  vor.  Viertes  Kapitel.  Von  der  Wen¬ 
dung.  Wendung  an  sich  ist  blofse  Lageverbesserung  der 
Frucht,  und  bestimmt  von  dem  Ausziehen  derselben  an  den 
Füfsen  zu  unterscheiden.  Wendung  auf  den  Kopf  durch 
äufsere  und  innere  Handgriffe.  Den  Kopf  mit  einem  Hebel 
ins  Becken  zu  leiten,  wird  aus  guten  Gründen  getadelt. 
Wendung  auf  den  Steifs.  Wendung  auf  die  Füfse.  Der 
wirkliche  Tod  der  Mutter  nach  dem  vollendeten  siebenten 
Schwangerschaftsmonate  möchte  wohl  schwerlich,  wie  der 
Verf.  will,  dazu  indiciren.  Die  besonderen  Rücksichten, 
die  man  bei  der  Wendung  auf  die  Füfse  zu  nehmen  hat, 
so  wie  das  Technische  der  Operation  selbst,  sind  mit  der 
gröfsten  Genauigkeit  geschildert.  Gewundert  haben  wir! 
uns  über  den  Rath,  zum  Einführen  der  Hand  in  die  Va¬ 
gina  den  Moment  während  einer  ContractiOn  zu  benutzen* 
da  allgemein  gelehrt  wird,  dies  aufser  einer  Wehe  zu  thun, 
und  gewifs  aus  guten  Gründen!  Besondere  Regeln  bei  der 
Wendung  auf  die  Füfse  ertheilt  der  Verf.  bei  vorliegendem 
Kopfe,  bei  vorliegender  vorderen,  hinteren  und  Seiten-; 
fläche  des  Rumpfes,  bei  vorliegendem  Steifse,  und  bei  vor¬ 
handenen  Zwillingen.  r  • 

Zweiter  Abschnitt.  Von  jenen  Operationen,  durch 
welche  die  Ausscheidung  des  Eies  oder';  einzelner  Theile 
desselben  künstlich  bewerkstelligt  wird.  I.)  Vomjenen  Ope¬ 
rationen,  durch  welche  die  Ausscheidung  des  Kindes  künst¬ 
lich  bewerkstelligt  wird.  A.)  Von  jenen  Operationen, 
welche  die  Ausscheidung  des  Kindes  auf  dem  natürlichen 
Geburtswege  bewerkstelligen.  1)  Von  der  künstlichen  Aus- 

22 


XIII.  Ed.  3.  St. 


326  VII.  Geburtshilfliche  Operationen. 

Scheidung  lies  Kindes  anf  dem  natürlichen  Geburtswege, 
ohne  Verletzung  und  Verkleinerung  desselben.  Erstes 
Kapitel.  Von  der  Extraction  des  Kindes  an  «len 
Fiifse  n,  oder  der  s o g e n a n n  t e n  künstlichen  Fufs- 
geburt.  Bei  der  Angabe  der  Prognose  wird  ganz  beson¬ 
ders  die  unvermeidliche  Dehnung  der  Wirbelsäule  und  des 
Rückenmarks  als  schädlich  für  das  Kind  hervorgehoben. 
Den  Haiti,  den  einige  geben,  man  solle  die  Fiifse  während 
des  Anziehens  so  drehen,  dals  die  Zehen  nach  rückwärts 
zu  stehen  kommen,  um  dadurch  die  ganze  vordere  Fläche 
des  Kindes  nach  rückwärts  zu  drehen,  hält  der  \  crf.  mit 
Recht  für  überflüssig,  selbst  für  schädlich,  denn  die  Fiifse 
mögfeh  im  Recken  stehen,  wie  sic  wollen,  so  dreht  sich  der 
Steifs  doch  immer  nach  den  günstigsten  Durchmessern  des 
Reckens,  und  während  des  Durchganges  des  Rumpfes  immer 
so  *  däfs  die  vordere  Fläche  nach  rückwärts  gedreht  wird. 
Aber  jede  an  »den  Füfsen  angebrachte  Drehung  kann  sich 
immer  nur  bi$  an  das  nächste  Gelenk,  und  weiter  nicht,  er¬ 
strecken^  daher  auch  nicht  im  Stande  sein,  die  Richtung 
des  Rumpfes,  und  vorzugsweise  des  Kopfes,  auf  vorteil¬ 
hafte  Weise  zu  ändern!  Doch  aber  giebt  es  Fälle,  die 
der  Verf.  seihst  Ängiebt,  z.  R.  wo  wegen  mangelnder  Ute- 
rinthätigkeit  keine  Drehung  von  Seiten  der  Natur  wahrzu¬ 
nehmen  ivt,)  in  denen  man  die  natürliche  Drehung,  so  viel 
möglich,  kfmvtlieh  nathahmen  mufs.  Die  Frage:  w'ann  sol¬ 
len  die  Arme  künstlich  gelüst  werden?  wird  so  beantwor¬ 
tet:  <*<  Ist  der  Reckenraum  hinlänglich  geräumig,  das  Kind, 
besonders  dessen  Kopf,  nicht  grofs,  sind  die  \\  eben  gut, 
und  drohet  in  keiner  Beziehung  der  Mutter  oder  dem 
Kinde  Gefahr,  so  warte  man  ruhig  ab.»*  Die  Art  und 

,  4  f  •  _  *  fl 

Weise,  den  Kopf,  nachdem  der  Rumpf  geboren,  zu  ent¬ 
wickeln,  ist'  mit  allen-  möglichen  Eautelen  sehr  instructiv 
angegeben*.'  Z  we  i  tes  iK  apite  I.  Von  der  Extraction 
des  Kindes  an  den  Kn i een,  oder  der  sogenannten 
künstlichen  Kniegehurt.  Drittes  Kapitel.  Non 
der  Extraction  des  Kindes  an  dem  Stcifse,  oder 

% 


VII.  Geburtshülf liehe  Operationen.  3^7 

der  künstlichen  Steifsgeburt.  Hier  empfiehlt  der  Verf. 
dringend  das  Anlegen  einer  geraden,  mit  einer  ziemlich 
flachen  Kopfkrümmung  versehenen  Zange,  und  zieht  dies 
der  Application  des  stumpfen  S me  1 1  i e sehen  Hakens  vor. 
Seine  Erfahrung  spricht  dafür.  Viertes  Kapitel.  Von 
der  Ausziehung  des  Kindeskopfes  mittelst  der  Ge¬ 
burtszange.  Der  Verf.  unterscheidet  drei  Gattungen  von 
Zangen,  nämlich  die  mit  einer  einfachen,  einer  doppelten 
und  einer  dreifachen  Krümmung;  jede  dieser  Zangenarten 
hat  entweder  gekreuzte  oder  ungekreuzte  Arme,  und  ge¬ 
fensterte  oder  ungefensterte  Löffel.  Eine  Kritik  der  Zan¬ 
gen  lag  aufser  dem  Vorhaben  des  Verf.;  dagegen  aber  läfst 
er  sich  über  die  Wirkungsart  der  Zange  hinlänglich  aus, 
beschreibt  die  Eigenschaften  einer  guten  Geburtszange  sehr 
genau,  und  erklärt  sich  am  Ende  ausschliefslich  für  die 
Bo  ersehe,  meint  jedoch,  dafs  mit  jeder  Zange  glücklich 
operirt  werden  könne,  und  dafs  Gewohnheit  das  meiste 
ausmache.  Dann  kommt  er  zu  den  Bedingnissen,  unter 
denen  die  Zange  indicirt  sein  kann,  und  welche  daher  vor 
Feststellung  der  lndicationen  dazu  ausgemittelt  werden  müs¬ 
sen;  darauf  zu  den  lndicationen  und  der  Prognose,  und 
endlich  zu  der  Art  und  Weise,  die  Zange  zu  appliciren. 
Den  Vorschlag,  die  Zange  auch  bei  einem  noch  über  dem 
kleinen  Becken  beweglich  stehenden  Kopfe  anzuwenden, 
falls  man  denselben  nur  fassen  kann,  tadelt  er  mit  Recht. 
Beträgt  die  Conjugata  der  obern  Apertur  nicht  über,  oder 
wenigstens  drei  Zoll,  und  sind  die  übrigen  Durchmesser 
des  Beckens  nicht  verhältnifsmäfsig  grofs,  so  soll  keine  (?) 
Hoffnung  vorhanden  sein,  ein  Kind  von  normaler  Beschaf¬ 
fenheit  und  gewöhnlicher  Gröfse  durchs  Becken  zu  führen. 
Eine  Zange  mit  Beckenkrümmung  ist,  wie  der  Verf.  sehr 
wahr  bemerkt,  vermöge  dieser  nur  dazu  geeignet,  nach  der 
Richtung  des  queren  oder  schiefen  Durchmessers,  und  nie¬ 
mals  nach  der  Conjugata  angelegt  zu  werden,  während  eine 
gerade  Zange  sich  bei  hinlänglich  tief  stehendem  Kopie 
•mach  jedem  Durchmesser  appliciren  läfst  und  den  Kopf  lest- 

22  * 


328  VII.  Geburtshilfliche  Operationen. 

hält.  Er  empfiehlt  daher  in  besonderen  1  allen  eine  gerade 
Smelliesche  Zange,  und  will,  jeder  Geburtshelfer  solle 
immer  eine  solche  bei  sich  führen,  ln  Hinsicht  der  Bestim¬ 
mung  des  schicklichsten  Moments  zur  Application  der  Zange 
behauptet  er  im  Allgemeinen,  so  lange  die  Ausschliefsung 
des  Kindes  ohne  Gefahr  von  der  Thätigkeit  der  Natur 
möglich  ist,  soll  man  derselben  die  ihr  gebührende  Ach¬ 
tung  schenken,  jedoch  aber  nicht  so  lange  einen  müisigen 
Zuschauer  abgeben,  bis  alle  kraftäulserung  verschwunden 
ist,  oder  sich  schon  gefährliche  Erscheinungen  anderer  Art 
eingestellt  haben.  Nachdem  er  allgemeine  Kegeln  für  die 
Extraction  des  Kopfes  mittelst  der  Zange  gegeben  hat,  lie¬ 
fert  er  noch  besondere  hei  jener  Art  der  llinterhauptslage, 
wo  das  Gesicht  der  vorderen  Beckenwand  zugekehrt  ist; 
ferner  bei  vorliegendem  Gesichte;  hei  schiefstehendem  Kopfe; 
hei  gleichzeitigem  Vorgefallensein  der  Extremitäten  oder  des 
Naheistranges;  hei  querstehendeni  Kopfe;  hei  zuletzt  kom¬ 
mendem  Kopfe;  hei  vom  Kumpfe  abgerissenem  und  im  Ute¬ 
rus  zurückgebliebenem  Kopfe;  bei  gänzlich  prolabirtem  Ute¬ 
rus,  uud  hei  eingekeiltem  Steiise.  Zuletzt  spricht  er  auch 
von  einigen  Hindernissen,  die  sich  hei  dergleichen  Gelegen¬ 
heiten  einstellen  köunen,  als:  von  dem  Nichtweichen  des 
Kopfes  von  der  Stelle,  an  welcher  er  aufgehalten  ist;  von 
dem  Abgleiten  der  Zange;  von  dem  Hervortreten  von  Schei¬ 
denfalten  oder  den  Lippen  des  Orificiums  neben  dem  Kopfe; 
und  von  heftigen  allgemeinen  krampfhaften  Constrictionen 
des  Fruchthalters.  Fünftes  Kapitel.  Non  der  Aus¬ 
ziehung  des  Kopfes  mittelst  des  Hebels.  Heut  zu 
Tage,  sagt  der  Verf.,  ist  die  Anwendung  des  Hebels  zur 
Extraction  des  Kopfes,  wozu  allein  die  Zange  taugt, 
von  jedem  rationellen  Geburtshelfer  verbannt,  und  unbe¬ 
greiflich  ist  es,  wie  hei  der  gegenwärtigen  Vervollkomm¬ 
nung  der  Zange  es  noch  Geburtshelfer  giebt,  welche  sich 
einfallen  lassen  können,  Indicationen  aufzustellen ,  unter 
denen  der  Hebel  der  Zange  vorzuziehen  sei! 

2)  Von  der  Ausziehung  des  Kindes  auf  dem  natür- 


VII.  Geburtshilfliche  Operationen.  329 

liehen  Geburtswege,  nach  vorausgegangener  Verletzung  und 
Verkleinerung  desselben.  Erstes  Kapitel.  Von  der 
Perforation.  Die  Frage,  ob  man  auch  ein  lebendes  Kind 
perforiren  dürfe,  beantwortet  der  Verf.  sehr  umsichtig,  er 
sagt  nämlich:  Ehe  man  zur  Perforation  eines  Kindes  schrei¬ 
tet,  von  dessen  Tode  man  noch  nicht  mit  aller  Bestimmt¬ 
heit  überzeugt  ist,  ist  es  rathsam,  vor  der  Hand  zurück¬ 
zutreten,  und  es  einem  andern  erfahrnen  Geburtshelfer  zu 
überlassen,  die  Gebärende  durch  Gründe  und  vernünftige 
Vorstellungen  dahin  zu  bewegen,  dafs  sie  den  Kaiserschnitt 
gestatte,  oder,  wenn  sie  sich  doch  nicht  demselben  unter¬ 
ziehen  will,  die  Angehörigen  ihn  nicht  zugeben,  und  die 
Obrigkeit  denselben  nicht  erzwingen  will,  kann,  oder  darf 
die  Perforation  auch  schon  dann  vorzunehmen,  wenn  man 
von  dem  Tode  des  Kindes  einen  hohen  Grad  von  Wahr¬ 
scheinlichkeit  erlangt  hat.  Wäre  jedoch  kein  anderer  Ge¬ 
burtshelfer  in  der  Nähe,  oder  wollte  dieser  die  Perforation 
nicht  vornehmen,  so  dürfte  man  dieselbe  verrichten,  um 
wenigstens  die  Mutter  zu  retten,  weil,  wenn  nichts  ge¬ 
schieht,  Mutter  und  Kind  verloren  sind.  Der  Rath,  so 
lange  zu  warten,  bis  die  Zeichen  vom  Leben  des  Kindes 
verschwunden  sind,  ist  tadelnswerth.  Unter  den  zu  diesem 
Behuf  erfundenen  Instrumenten  empfiehlt  der  Verf.  beson¬ 
ders  Boer’s  scherenförmiges  Perforatorium ,  Jorg’s  tre- 
paoförmiges  Instrument,  und  Boers  Excerebrationspincette. 
Dafs  Fälle  Vorkommen  können,  in  denen  man  noch,  nach 
gemachter  Perforation,  die  Wendung  auf  die  Füfse  ver¬ 
richten  und  das  Kind  ausziehen  müsse,  wird  nicht  erwähnt. 
Einige  besondere  Fälle  der  Perforation  werden  zuletzt  ab¬ 
gehandelt.  Zweites  Kapitel.  Von  der  Zerstücke¬ 
lung  des  Kindes. 

B.)  Von  den  Operationen,  durch  welche  die  Ileraus- 
beförderung  des  Kindes  auf  einem  ungewöhnlichen  Geburts¬ 
wege  bewerkstelligt  wird.  Erstes  Kapitel.  Vom  Kai¬ 
serschnitt.  In»  Durchschnitt  sterben  von  20  Operirten  19. 
Die  neuere  Zeit  hat  ungleich  weniger  glückliche  Ausgänge 


330  VII.  Geburtshillfliche  Operationen. 

des  Kaiserschnittes  aufzuweisen,  als  die  frühere,  was  aber 
wohl  darin  seinen  Grund  haben  mag,  dafs  man  früher  die 
unglücklich  abgclaufcnen  mehr,  als  jetzt,  verschwieg!  Indt- 
cationen,  Prognose  und  das  Technische  der  Operation  seihst 
sind  sehr  genau  angegeben.  Die  verschiedenen  Vereini- 
gungsbinden,  die  graduirten  Compressen,  Bourdoncts  und 
dergl.  hält  der  Yerf.  für  entbehrlich;  er  räth,  die  Sutura 
clavata  anzulegen,  und  diese  durch  lange  Heftpflaster,  die 
den  Leib  ein  und  ein  halb  mal  umgeben,  zu  unterstützen. 
Das  Bauchfell  fafst  er  bei  der  Nath  nicht  mit,  wodurch  aber 
Anlage  zu  einem  Bauchbruch  bedingt  wird.  Die  Yerstrei- 
chung  des  Orificiums  bis  zu  einem  gewissen  Grade  soll  man, 
bevor  man  operirt,  abwarten,  was  gewifs  sehr  zu  rathen 
ist.  Y\  o  eine  bedeutende  Ausdehnung  des  Uterus  vorhan¬ 
den  ist,  will  der  Yerf.  die  Blase  vor  der  Operation  spren¬ 
gen,  damit  sich  nicht  zu  viel  Wasser  in  die  Bauchhöhle 
ergiefse,  dann  ist  aber  die  Gefahr  des  Yorfallens  der  Ge¬ 
därme  gröfser.  Die  verschiedenen  Methoden  werden  rich¬ 
tig  gewürdigt,  nur  vermissen  wir  eine  Angabe  der  neuer¬ 
dings  von  v.  Gräfe  empfohlenen  und  gewifs  sehr  zwcck- 
mäfsigen  Y'orsichtsmaafsregeln.  Die  Nachbehandlung  ist  ge¬ 
nügend  auseinandergesetzt.  Zweites  Kapitel.  Von  dem 
Bauch  schnitte. 

C.)  Von  den  Operationen,  durch  welche  die  künst¬ 
liche  Lrweiterung  des  gewöhnlichen  Geburtsweges  bewerk¬ 
stelligt  wird.  Yon  der  Sc  h  oo  fsb  e  in  tre  n  n  u  n  g.  Aus 
sehr  triftigen  Gründen  wird  diese  Operation  ganz  ver¬ 
worfen. 

II.  Yon  den  Operationen  zur  künstlichen  Entwicke¬ 
lung  der  Nachgeburtstheile.  Erstes  Kapitel.  Von  der 
künstlichen  Lösung  der  Placenta.  Zweites  Ka¬ 
pitel.  Y'on  der  II  in  wegnah  me  der  gelösten  Pla¬ 
centa. 

III.  Y  on  der  künstlichen  Bewerkstelligung  des  ge¬ 
summten  Geburtsgeschäftes.  Die  gewaltsame  Entbindung, 


VHI.  Hydatidcnschwangerscbaft.  331 

A  c co  ucli  einen  t  force.  Dieses  Kapitel  ist  natürlich  nur 
ganz  kurz. 

Druck  und  Papier  sind  sehr  gut. 


VIII. 

Nene  Nachforschungen  über  die  Entste¬ 
llung,  das  W  e  s  e  n  und  die  Behandlung 
der  Blasen  in  ola  oder  Hy  d  ati  d  e  n  Schwan¬ 
gerschaft.  Von  Mad.  Boivin,  Oberbebamme, 
und  Oberaufseherin  der  IVlaison  royal  de  Saute 
zu  Paris,  Inhaberin  der  Preufs.  goldenen  Civil- 
Verdienstmedaille,  Verfasserin  mehrerer  Werke, 
und  Erfinderin  verschiedener  auf  die  Entbind  ungs- 
kunst  und  Frauenzimmerkrankheiten  bezüglichen 
Instrumente.  Mit  einer  Abbildung.  W  eimar,  1828. 
8.  72  S.  (12  Gr.) 

Dieses  Schriftchen  ist  theils  des  an  sich  noch  dunkeln 
Gegenstandes,  theils  der  zwei  darin  mitgetheilten ,  sehr 
gut  erzählten  Krankengeschichten  wegen  interessant,  und 
verdient  daher  wohl  beachtet  zu  werden.  Der  Inhalt  lälst 
sich  auf  folgende  Sätze  reduciren :  Die  Hydatidenmola  ist 
nicht,  wie  heut  zu  Tage  manche  glauben,  aus  Blasenwür¬ 
mern  zusammengesetzt.  Niemand,  ausgenommen  der  Prof. 
Percy,  hat  Bewegungen  dieser  Wasserbläschen  gesehen. 
Diese  Bläschen  sind  das  Product  einer  degenerirten  Con- 
ception.  Sie  sind  die  Folge  einer  krankhaften  Disposition 
der  Capdlargefäfse  der  Amnios,  einer  besondern  Affection 
des  Chorions  oder  der  Placenta.  (Dafs  diese  1  heile  zur 
llvdatidenbildung  disponiren,  ist  bereits  von  vielen,  z.  I>. 
von  Valisnieri,  Blaneardi,  Kuysch,  Haller,  Wris- 


•  -  ‘ »  ♦  •  • 

.  \  s  l,  • 


332  VIII.  Hydatidenschwangerschaft. 

berg,  "N  elpeau,  Desormeaux,  behauptet  worden.)  Mit 
der  Ilydatidenmola  sind  bisweilen  Rudimente  vom  Embryo 
oder  vom  hötus  vermischt.  Diese  Mola  schwankt  nicht  in 
dem  Uterus,  und  die  Ilydatiden  adhäriren  nicht  unmittelbar 
an  diesem  Organe,  sondern  eine  intermediäre  Membran, 
welche  der  Decidua  ähnlich  ist,  dient  zum  Mittel,  wodurch 
der  Uterus  und  die  Mola  miteinander  vereinigt  sind, 
und  communiciren.  Die  keusch  lebenden  Mädchen  und 
trauen  sind  dieser  Krankheit  nicht  unterworfen.  Es 
ist  diese  vasculöse  Production  von  einer  Affection  der 
serösen  Membranen  der  Iliille  des  Eies  abhängig,  denn  cs 
ist  im  Uterus  weiter  keine  seröse  Membran  vorhanden,  als 
diejenigen,  welche  daselbst  durch  die  Conception  temporär 
abgesetzt  werden.  Die  Krankheit  ist  fähig  verschiedene 
Charaktere  anzunehmen,  jedoch  zeigt  sie  sich  oft  unter  der 
t  orm  von  Blasenbildung.  W  ahrscheinlich  ist  dieser  äulscre 
Charakter  der  Mola  von  dem  ursprünglich  veränderten  Fle- 
mentartheile  des  Eies  abhängig.  Der  Uterus  ist  übrigens 
nicht  ausschliefslich  der  zur  Entwickelung  der  traubenför- 
migen  Ilydatiden  bestimmte  Ort,  denn  es  kommen  derglei¬ 
chen  auch  an  den  serösen  Membranen  des  Gehirns  und  der 
Brust-  und  Bauchhöhle  vor.  —  Das  Ovulum  kann,  wenn 
es  noch  an  dem  Ovarium  angeheftet  ist,  von  Krankheit  er¬ 
griffen  sein  und  dennoch  durch  einen  fruchtbaren  Coitus 
befruchtet  werden  (?).  Eine  krankhafte  Disposition  des 
Ovariums  kann  die  ganze  Zeit  unbemerkt  fortdauern,  wo 
die  Frau  zu  concipiren  fähig  ist,  so  dafs  der  befruchtende 
Coitus  nur  die  Entwickelung  eines  ungestalteten,  oder  dem 
fraglichen  Product  ähnlichen  Körpers  zur  Folge  haben  kann, 
wodurch  man  allerdings  das  sehr  seltene  Phänomen  erklären 
könnte,  dafs  manche  verheirathete  Frauen  nur  Molen  zur 
YV  eit  bringen.  —  Die  rationellen  Zeichen  dieser  Schwan¬ 
gerschaft  unterscheiden  sich  eben  nicht  von  denen  der  Fötus¬ 
schwangerschaft.  Man  hat  sie  bei  Weibspersonen  von  ‘20 
bis  36  Jahren  beobachtet.  In  dieser  Schwangerschaft  ist 
der  Uterus  vergröfsert,  doch  entdeckt  man  durch  das  Tou- 


333 


VIII.  Hydatidenschwangerschaft. 

cMren  weder  die  Bewegung  eines  freien,  thätigen  Körpers, 
noch  die  Gegenwart  einer  Flüssigkeit.  Bas  Nichtvorhan¬ 
densein  dieser  zwei  sichern  Zeichen  einer  Fötusschwanger¬ 
schaft,  das  Compacte  der  im  Uterus  enthaltenen  Körper, 
und  die  Schnelligkeit  ihres  Wachsthums  sind  die  am  wenig¬ 
sten  unsichern  Zeichen  einer  Molenschwangerschaft.  Der 
Abgang  einiger  Bläschen  aus  der  Vagina  aber  ist  das  ein¬ 
zige  sichere  Zeichen  einer  Blasenmola  im  Uterus;  doch 
geschieht  es  alsdann  selten,  dafs  ihre  gänzliche  Austreibung 
erst  spät  nach  folgt.  Die  Form,  das  Volumen,  die  Lage 
des  Uterus  zeigen  nicht  blofs  in  den  verschiedenen  Zeit¬ 
räumen,  sondern  auch  in  den  derselben  Art  von  Schwan¬ 
gerschaft  entsprechenden  Zeiträumen  manche  Verschieden¬ 
heiten.  (Letzteres  beweisen  die  beiden  Krankengeschichten 
deutlich.)  Die  Länge  des  Mutterhalses,  seine  Richtung  und 
Stellung  scheinen  von  dem  Zeiträume  abhängig  zu  sein,  in 
welchem  sich  im  Moment  der  Exploration  der  Theile  die 
Hydatidenschwangerschaft  befindet.  Die  Unterschiede,  welche 
man  in  Hinsicht  der  verschiedenen  Verhältnisse  des  Uterus 
bemerkt,  sind,  abgesehen  von  dem  Zeiträume  der  Schwan¬ 
gerschaft,  auch  von  dem  Volumen  der  im  Uterus  enthalte¬ 
nen  Masse  abhängig.  Wenn  man  sich  nicht  durch  mehr¬ 
maliges  Touchiren  von  dem  Volumen  des  Uterus  überzeugt 
hat,  so  wird  man  leicht  die  Hydatidenschwangerschaft  mit 
der  Wassersucht  der  Muttertrompeten  und  der  Ovarien 
verwechseln  können.  Der  eine  hier  mitgetheilte  Fall  zeigt, 
dafs  der  Uterus  nicht  immer  rund  ist,  und  dafs  er  nicht 
immer  die  mittlere  Gegend  des  Unterleibes  einnimmt.  Wenn 
endlich  der  Hals  des  Uterus  verstrichen  ist,  wenn  sein  Ori- 
ficium  offen  steht,  wenn  die  Wehen  in  der  Schaamgegend 
und  in  der  Ileiligbeingegend  empfunden  werden,  wenn  bei 
jeder  Lontraction  Blut  ausfliefst,  so  ist  die  Austreibung  der 
Hydatiden  nicht  fern.  —  Der  Tod  des  Fötus  ist  von  dem 
Vorhandensein  der  Blasenmola  unzertrennlich.  Die  Blasen¬ 
molenschwangerschaft  kann  für  die  Frau  sehr  schwere,  selbst 
tüdtliche  Folgen  haben.  Man  hat  oft  dabei  angreifende 


334 


VIII.  Hydatidcnschwangerscbaft. 

Zufälle  zu  bekämpfen,  als:  Eebelkeiten,  Erbrechen,  einen 
<  opiöseu  Speicbelllufs,  doch  der  häufigste  und  gefährlichste 
Zufall  ist  der  Blutllufs  aus  dem  Uterus.  Die  Vorsicht  ge¬ 
bietet  übrigens,  nicht  gewaltsame  Mittel  zu  versuchen,  um 
die  Austreibung  der  Mola  hervorzurufen,  wofern  man  nicht, 
wie  in  der  Fötusschwangerschaft,  um  ein  grüfseres  Uebel 
zu  vermeiden,  dazu  genütbigt  ist.  Die  gewaltsame  Erwei¬ 
terung  des  Muttermundes  vermittelst  der  Finger  oder  der 
Pince  ä  faut  germe,  deren  Application  von  Levret  em¬ 
pfohlen  und  angewandt  ist  (und  wohin  auch  Osianders 
Instrument  gehört),  kann  gefährlich  sein,  ohne  zu  nutzen. 
Da  die  lnjectionen  in  den  Uterus  nicht  eindringen  können, 
wenn  seine  Höhle  von  der  Ilydatidenmasse  ausgefüllt  ist, 
so  ist  die  Vorschrift,  sie  anzuwenden,  unnütz.  Nach  der 
Austreibung  der  Hydatiden  dagegen  können  die  reizenden 
lnjectionen  sehr  wirksam  sein,  und  sogar  bei  copiösem  Blut- 
llufs,  bei  Trägheit  des  l  terus  und  bei  nicht  völliger  Ent¬ 
leerung  dieses  Organs  durchaus  nothwendig  werden.  Rei¬ 
zende  lnjectionen  aber  dürfen  nicht  angewandt  werden, 
wenn  die  Gebärmutter  der  Sitz  eines  schmerzhaften  Kram¬ 
pfes  ist.  In  dem  Falle,  wo  die  Blasenmola  noch  im  Uterus 
enthalten  ist,  und  wo  die  Trägheit  dieses  Organs  zur  Ilä- 
morrhagie  Anlafs  giebt,  wirken  die  reizenden  lnjectionen, 
welche  empfohlen  werden,  um  die  Contractionen  des  Ute¬ 
rus  hervorzurufen,  besser,  wenn  sie  in  das  Rectum,  als 
wenn  sie  in  die  Vagina  gemacht  wrerden.  Da  die  Folgen 
der  Hydatidengeburt  fast  eben  so  sind,  wie  die  einer  na¬ 
türlichen  Entbindung,  so  richtet  sich  die  Behandlung  nach 
dem  vorhandenen  Zustande  der  Kranken.  Es  bleiben  übri¬ 
gens  danach  die  Brüste  angeschwollen,  und  die  inneren 
und  äufseren  Zeugungstheile  zeigen  noch  20  bis  30  Tage 
Dach  der  Austreibung  der  Mola  fast  alle  Zeichen  einer 
kiirzlichen,  zeitigen  Entbindung. 

In  den  Anmerkungen  spricht  die  Verf.  von  den  vier 
Species  von  Acepbalocysten  nach  Eaennec  und  Gloquct; 
dann  erwähut  sie  der  Werke,  in  denen  sielt  Abbildungen 


IX.  Taschenbuch  der  Geburtshülfe.  335 

von  Blasenmolen  befinden ;  berichtet  von  Versuchen ,  welche 
mit.  den  Hydatiden  des  Uterus  gemacht  worden  sind,  und 
führt  elf  Beispiele  über  die  dieselben  einhüllende  Membran,  so 
wie  zwölf  Beispiele  über  mit  Fötusschwangerschaft  verbun¬ 
dene  Ilydatidenschwangerschaft,  und  einiges  über  die  Stel¬ 
lung  des  Centralkerns  dieser  Molen  an;  dann  theilt  sie  Zu¬ 
sammenstellungen  mit  über  das  Alter  einer  gewissen  Anzahl 
Weiber,  welche  abortirt  haben  und  von  einer  Hydatiden- 
mola  entbunden  sind;  über  die  Zeit  des  ersten  Blutverlustes, 
und  über  seine  Dauer;  über  die  Disposition  und  die  Stel¬ 
lung  des  Collum  uteri;  über  die  Dauer  der  Ilydatiden¬ 
schwangerschaft  an  einer  gewissen  Anzahl  (31)  von  Wei¬ 
bern;  und  Beispiele  über  die  Gefahren  und  die  tödtlichen 
Fälle  von  Hydatidengeburten.  Zuletzt  erklärt  sie  die  beige¬ 
fügte  Abbildung  der  sehr  vollständigen  Hydatidenmola.  Diese 
Mola  ging  einer  28  Jahr  alten  Frau  im  achten  Monat  ihrer 
Sch  wangerschaft  unversehrt  ab.  Die  2  Pfund  6  Unzen 
schwere  Masse  hat  die  Form  der  Höhle  des  Uterus  behal¬ 
ten.  Die  Mola  ist  etwas  geöffnet,  und  läfst  an  dieser  Stelle 
mehrere  Bläschen  heraustreten.  Auf  dem  Schnitte  unter¬ 
scheidet  man  zwei  häutige  Lagen;  die  erste,  der  Decidua 
ähnliche,  ist  die  äufsere  Membran;  die  zweite,  eine  dünne, 
durchsichtige  Membran,  scheint  ein  Rudiment  des  Chorion 
zu  sein. 


IX. 

j.  ii  atin,  Doctor  der  Medicin,  Professor  des  Ac- 
couchements  und  der  Frauenzimmerkrankheiten  zu 
Paris  u.  s.  w.  Taschen bucli  der  Geburts¬ 
hülfe  in  allen  schwierigen  und  naturwidrigen  Fäl¬ 
len,  oder  systematisch -praktische  Darstellung  aller 


336  IX.  Taschenbuch  der  Geburtshülfe. 


regelwidrigen  Entbindungsfälle  und  der  hierbei  an- 
ruwendenden  geburtshilflichen  Handleistungen  und 
Unterstützungsmittel.  Für  praktische  Aerzte  nach 
dem  Französischen  bearbeitet  von  I)r.  Carl  Fitz¬ 
ier,  praktischem  Arzte  und  Pbysicus  zu  Ilmenau. 
Ilmenau,  bei  Voigt.  J 828.  8.  XXVIII  u.  1238  S. 
(18  Gr.) 

Vorliegende  Schrift  beschränkt  sich,  laut  der  Vorrede 
des  Ucbersetzers,  auf  eine  systematische  Ncbcneinanderstel- 
lung  aller  irgend  erdenklichen  anomlen  Entbindungszu¬ 
fälle,  mit  Inbegriff  der  sie  kenntlich  machenden  charakteri¬ 
stischen  Merkmale,  so  wie  auf  die  detaillirte  Nachweisung 
der  für  jeden  einzelnen  Fall  zweckdienlichen  geburtshilf¬ 
lichen  Handgriffe.  Er  empfiehlt  sie  daher  angehenden  oder 
minder  geübten  Entbindungsärzten,  um  sich  in  dein  Geschäft 
des  Accouchements  fest  zu  machen  und  sie  gewissermaafsen 
praktisch  in  dasselbe  einzuweihen,  und  macht  sie  zu  glei¬ 
cher  Zeit,  wozu  sie  sich  auch  vermöge  ihres  Formats  qua- 
lificirt,  zu  einer  Art  von  \ademecum  der  angehenden  Ge¬ 
burtshelfer.  Allein  wir  müssen  nach  genauem  Durchlesen 
dieser  Schrift  gestehen,  dafs  der  Uebersetzer  seine  Mühe 
hätte  sparen  können,  denn  theils  besitzen  wir  Bücher,  in 
denen  das  hier  Gesagte  wenigstens  eben  so  gut,  wo 
nicht  besser,  abgehandelt  ist,  und  theils  enthält  die  Schrift 
Anweisungen  zum  Operiren,  die  von  keinem  deutschen 
Geburtshelfer  so  leicht  werden  gebilligt  werden.  Um  nur 
einiges  zu  erwähnen,  bemerken  wir,  dafs  bei  den  Knielagen 
stumpfe  Haken  und  Schlingen  empfohlen  werden;  zu  letz¬ 
teren  räth  auch  der  Verf.  bei  Steißlagen;  dafs  man  sich  bei 
diesen  einer  Zange  bedieneu  könne,  erwähnt  er  nicht;  dem 
Hebel  und  dessen  Gebrauch  zum  Einleiten  des  Kopfes  giebt 
er  ein  eigenes  Kapitel ,  entfernt  ihn  also  nicht  ganz  aus  der 
Geburtshülfe,  was  billigerweise  geschehen  sollte;  und  sogar 
handelt  er  die  Synchoudrotomie  als  eine  zulässige  Operation 
ab.  Dergleichen  Verstöfsc  gegen  unsere  deutsche  rationelle 


IX.  Taschenbuch  der  Geburtshülfe.  337 

Geburtshülfe  hätten  von  dem  Uebersetzer  gerügt  und  ab¬ 
geändert  werden  müssen,  wenn  anders  das  Buch  seinem 
Zwecke  hätte  entsprechen  sollen.  Anstatt  dessen  aber  hat 
der  Uebersetzer  nur  hier  und  da  einige  Anmerkungen,  mei¬ 
stens  aus  v.  Froriep’s  geschätztem  Handbuche  der  Ge¬ 
burtshülfe,  hinzugefügt,  und  in  einem  Anhänge  auf  sieben 
Seiten  das  vom  Verf.  völlig  mit  Stillschweigen  übergangene 
Accouchement  force  und  die  künstliche  Frühgeburt,  natür¬ 
lich  beides  sehr  spärlich,  abgehandelt. 

/  i . 

Den  Inhalt  dieses  Schriftchens  anzugeben,  halten  wir 
für  völlig  überflüssig  und  begnügen  uns,  zu  bemerken,  dafs 
der  Verf.  die  naturwidrigen  Entbindungen  in  drei  Klassen 
tbeilt.  In  der  ersten  ist  von  den  Fällen  die  Rede,  die  sich 
durch  Hülfe  der  blofsen  Hand  beendigen  lassen;  in  der 
zweiten  von  solchen,  bei  deren  Vorkommen  stumpfe  Instru¬ 
mente  in  Anwendung  zu  ziehen  sind;  in  der  dritten  von 
solchen,  die  blofs  durch  Hülfe  gewisser  an  der  Mutter  oder 
dem  Kinde  unternommener  Operationen  vollendet  werden 
können.  (Diese  Eintheilung  ist  nichts  weniger  als  rationell!) 
Aufserdem  schildert  der  Verf.  im  ersten  Abschnitt  das  weib- 
liehe  Becken  und  die  wichtigsten  Theile  des  Fötus,  wür¬ 
digt  aber  die  weichen  Geburtstheile,  die  doch  auch  wichtig 
sind  und  der  Geburt  Hindernisse  in  den  Weg  legen  kön¬ 
nen,  gar  nicht,  und  beschreibt  den  Mechanismus  der  natür¬ 
lichen  Geburt.  Der  künstlichen  Lösung  der  Nachgeburt 
erwähnt  er  zuletzt  nur  auf  sechs  Seiten,  also  oberflächlich. 

Druck  und  Papier  sind  so,  wie  gewöhnlich  in  diesem 
Verlage,  d.  h.  nicht  sonderlich. 


338 


X.  Das  Wochenbett. 

i 

X. 

Das  Woche  nbett  und  seine  Krankheiten. 
INicbtärztcn  höherer  Bildung  überhaupt,  insbeson¬ 
dere  aber  zärtlichen  Müttern,  und  die  es  werden 
.  wollen,  zur  Belehrung  und  Beherzigung  empfoh¬ 
len  vom  Dr.  U***  Leipzig,  bei  Kollmann.  1828. 
8.  147  S.  (12  Gr.) 

Es  reiht  sich  diese  Schrift  an  die  früher  von  demsel¬ 
ben  Dr.  U***  über  Schwangerschaft  und  Geburt  heraus¬ 
gegebene  an.  "Wir  müssen  sie  für  überflüssig  halten;  denn 
weswegen  soll  ein  Laie  die  verschiedenen  Perioden  des 
Kindbetterinficbers ,  oder  die  Symptome  der  w'eifscn  Scheu- 
kelgeschwulst,  der  Fäulnifs  der  Gebärmutter  u.  s.  w.  ken¬ 
nen?  und  weswegen  soll  sich  eine  Frau  mit  allen  mög¬ 
lichen  Uebeln,  die  ihr  in  Folge  des  Wochenbettes  zustofsen 
können,  bekannt  machen?  Ist  sie  vorher  noch  nicht  ängst¬ 
lich  gewesen,  so  wird  sie  es  nach  Lesung  dieses  Luches 
gewifs  erst  werden.  Für  Nichtärzte  sow'ohl,  als  für  zärt¬ 
liche  Mütter  und  solche,  die  es  werden  wollen,  reicht  es 
vollkommen  hin,  wenn  sie  in  Schriften  belehrt  werden, 
w'ie  sie  sich  in  diätetischer  Hinsicht  wahrend  der  Schwan¬ 
gerschaft  und  im  Wochenbett  zu  verhalten  haben,  und  an 
solchen  Schriften  leiden  wir  keinen  Mangel.  Alles  Uebrige 
ist  vom  Uebel!  —  Meistens  verweist  der  Verf  die  Kran¬ 
ken  an  den  Arzt,  erlaubt  sich  aber  oft  anzuführen,  der 
Arzt  müsse  so  und  nicht  anders  handeln.  Wozu  das? 
Handelt  der  Arzt  nun  doch  anders,  und  ein  Kranker  wollte 
sich  nach  diesem  Buche  richten,  so  würde  er  Mifstrauen  in 
die  Verordnungen  seines  Arztes  setzen  und  diese  vielleicht 
nicht  befolgen.  Auch  müssen  Verordnungen  von  heftig 
wirkenden  Mitteln  aus  dergleichen  Schriften  ganz  wegblei¬ 
ben;  Opium  daher  gegen  Nachwehen  zu  empfehlen,  wie  cs 
hier  geschehen  ist,  ist  unrecht,  denn  leicht  kann  dadurch 
Unheil  gestiftet  werden. 


—  0  — 


XL  Chirurgische  und  geburtshilfliche  Notizen.  339 


XI. 

Chirurgische  und  gcburtshiilfliche  Notizen. 


1.  Ein  26 jähriger  Mann  vertrieb  sich  die  Zeit  damit, 
dafs  er  in  seine  Nase  das  dicke  Ende  einer  mit  einem  Faden 
versehenen  Nähnadel  einführte.  Unglücklicherweise  machte 
er  während  dieses  Spieles  plötzlich  eine  Bewegung  nach 
hinten,  wobei  ihm  die  Nadel  entwischte  und  in  den  Hals 
hinabfiel.  Alsbald  empfand  er  Beschwerden  beim  Schlucken 
und  beim  Athmen,  so  wie  ein  stechendes  Gefühl  unter 
einem  leisen  Druck  auf  den  Kehlkopf.  Zwei  Tage  später 
bekam  er  heftige  Hustenanfälle,  unter  welchen  die  beiden 
Enden  des  Fadens  hervorkamen.  An  diesen  machte  er  selbst 
einige  Versuche,  die  Nadel  hervorzuziehn ,  welche  indessen 
nur  das  stechende  Gefühl  vermehrten.  —  Blardin,  wel¬ 
cher  zu  Rathe  gezogen  wurde,  führte  den  Faden  in  die 
Bellocsche  Sonde,  theils  um  sich  von  der  Lage  derselben 
zu  überzeugen,  theils  um  mit  dieser  sie  vielleicht (zp  ent¬ 
fernen.  Als  dies  nicht  gelang,  schritt  er  zur  Laryngqtprqie. 
Nachdem  er  den  Schnitt  bis  zur  Membrana  crico  -thyrioidea 
geführt  hatte,  entstand  eine  Blutung,  welche  ihn  nöthigte, 
mit  der  Operation  einige  Zelt  inne  zu  halten;  hierauf  durch- 
schnitt  er  den  Schildknorpel  mit  einem  geknöpften  Bistouri 
der  Länge  nach,  und  zog  die  Wundränder  von  einander, 
ohne  die  Nadel  zu  finden.  Am  folgenden  Morgen  lag  die 
Nadel  auf  dem  Bette,  welche  wahrscheinlich  während  eines 
Hustenanfalles  herausgeflogen  war.  (Nouvelle  Bibliotheque. 

1828.  8.)  ’  r 

;  * ; 

2.  Eine  dreifsigjährige  Frau,  welche  seit  einigen  Mo¬ 
naten  eine  Unregelmäfsigkeit  in  ihrer  Menstruation  wahr- 
genommen  hatte,  bemerkte  in  der  -Regio  hypogastrica  eine 
immer  gröfser  werdende  Geschwulst  (so  dafs  sie  sich  schwan¬ 
ger  wähnte),  und  klagte  über  ein  Gefühl  von  Schwere  im 


340  XI.  Chirurgische  und  gcburtshiilfliche  Notizen. 


Mittclfleisch,  Dysurie,  Stuhlvcrstopfung,  über  Schmerzen 
im  Unterleibe,  Infiltration  der  untern  Extremitäten.  Bei 
einer  genauen  Untersuchung  ergab  sich,  rlafs  die  Blase  und 
der  Uterus  nach  oben  gedrängt,  und  dafs  die  Vagina  und 
der  Mastdarm  durch  eine  elastische  Geschwulst  von  einander 
getrennt  waren.  —  Bei  der  Leichenöffnung  dieser  nach 
fünf  Monaten  verstorbenen  Frau  fand  man  in  dem  Epiploon 
gastro  -  splenicum  eine  mit  der  Milz  zusammenhängende 
fibröse  Sackgeschwulst,  welche  eine  gelbliche,  eiterähnliche 
Flüssigkeit  enthielt,  in  der  Ilydatiden  herumschwammen. 
Zwischen  dem  Rectum  und  der  Gebärmutter  war  noch  eine 
gröfsere,  mit  Ilydatiden  angefüllte  Geschwulst,  welche  das 
ganze  Becken  ausfüllte  und  bis  zum  Nabel  hinaufreichte; 
die  Gedärme  waren  nach  oben,  der  Uterus  nach  der  Seite 
gedrängt  und  abgeplattet.  Es  ist  wohl  keinem  Zweifel  un¬ 
terworfen,  dafs  diese  letztere  Geschwulst  die  Unordnungen 
der  Menstruation  und  die  übrigen  Zufälle  veranlafst  hatte. 
(Ebendaselbst.) 

3.  Bei  einem  ausgetragenen  Kinde  fehlte  äufserlich 
jede  Spur  eines  Afters.  Das  Rectum  endigte  in  einem  wei¬ 
ten  I>lindsacke  auf  dem  Promontorium  des  lleiligenheins. 
Von  dem  vorderen  Theile  des  Mastdarms  ging  ein  haarför¬ 
miger  Kanal  durch  den  oberen  Theil  der  1*1X161313  in  die 
Harnröhre,  da,  wo  diese  aus  dem  Blasenhalse  heraustritt. 
Man  hatte  umsonst  versucht,  in  der  Weiche  einen  künst¬ 
lichen  After  zu  (jilden.  (Ebendas.) 

4.  Ein  53  jäh  riger,  an  einem  Schenkelhalsbruch  lei¬ 
dender  Mann,  wurde  nach  Dupuytren ’s  Methode  durch 
Anbringung  von  Kiesen  behandelt,  so  dafs  der  Schenkel 
zwei  Plana  inclinata  bildete.  Die  Unfolgsamkeit  des  Kran¬ 
ken  hatte  eine  Verkürzung  von  fiinftchalb  Zoll  zur  Folge; 
zugleich  war  das  Knie  und  die  Ftifsspitze  nach  innen  ge¬ 
kehrt.  Bei  der  Section  dieses  späterhin  an  einer  Unterleibs¬ 
krankheit  gestorbenen  Mannes  fand  man  nicht  allein  ciucu 

noch 


I 


\ 


XI.  Chirurgische  und  gehurtshiilfliche  Notizen.  341 

noch  nicht  vereinigten  Bruch  des  Schenkelhalses,  des  grofsen 
und  kleinen  Trochanters,  und  eine  fibröse  Masse,  welche 
die  Bruchtheile  umgab  und  zum  Theil  auf  Kosten  der  be¬ 
nachbarten  Muskeln  sich  gebildet  hatte,  sondern  auch  ein 
neues  Gelenk,  das  in  Folge  der  Berührung  des  obern  Endes 
vom  Femur  an  der  Bruchstelle  mit  den  vom  Knochen  <re- 

O 

trennten  Theilen  des  grofsen  und  kleinen  Trochanters  ent¬ 
standen  war.  (Ebend.  1827.  8.) 

\  . 

5.  Velpeau  empfiehlt  in  allen  Fällen  von  Erysipelas 
phlegmonodes  den  Gebrauch  einer  Druckbandage.  Er  theilt 
acht  Beobachtungen  mit,  wo  der  weiteren  Ausbreitung  der 
Entzündung  und  Eiterung  auf  diese  Weise  Schranken  ge¬ 
setzt  wurden,  und  glaubt  in  Folge  seiner  Erfahrungen 
annehmen  zu  können,  dafs  die  namentlich  von  Rust  em¬ 
pfohlenen  Einschnitte  durch  eine  zweckmäfsig  angebrachte 
Bruckbandage  überflüssig  gemacht  werden.  (Archives  gene¬ 
rales.  Juin.  1826.) 


6.  J.  Cloquet  verletzte  ziemlich  stark  bei  der  Ope¬ 
ration  eines  eingeklemmten  Leistenbruchs  das  vorgefallene 
Darmstück.  Sogleich  machte  er  von  dem  von  Jobert  vor¬ 
geschlagenen  Verfahren  Anwendung,  das  zum  Zweck  hat, 
die  Bauchhaut  so  an  die  Wundlefzen  des  verletzten  Darms 
anzulegen  und  zu  befestigen,  dafs  die  genaue  Vereinigung 
derselben  möglich  wird.  (Nouv.  Bibi.  1827.  Novembre. ) 


7.  Segalas  d’Etchepare  versichert,  dafs  zur  Un¬ 
tersuchung  der  Harnröhrenverengerungen  kein  Instrument 
geeigneter  sei,  als  ein  einfacher  silberner  Drath,  der  sphä¬ 
risch  endet.  Er  nennt  dasselbe  Stilet  urethro-cystique, 
und  behauptet,  mit  Hülfe  desselben  nicht  allein  die  Urethra 
und  Blase  genau  untersuchen,  sondern  auch  bestimmen  zu 
können,  welchen  Umfang  und  welche  Form  die  Verenge¬ 
rungen  haben,  und  ob  sie  krampfhafter  oder  entzündlicher 
Natur  sind,  oder  ob  sie  organische  Entartungen  sind, 
xni.  Bd.  n.  St.  .  23 


\ 


342  XI.  Chirurgische  und  gebnrtslüilflichc  Notizen. 

8.  Pailloux  sah  im  Pariser  Hotel -I)icii  einen  45 jäh¬ 
rigen  Mann,  der  wegen  heftiger,  dem  Anscheine  nach  rheu¬ 
matischer  Schmerze»  im  Hüftgelenk,  mit  Blutegeln  und 
Zugpflastern  nicht  ohne  Erfolg  behandelt  worden  war.  Li¬ 
nes  Tages  empfand  der  Kranke,  heim  Niedersetzen  auf  sein 
Bette,  ein  gewaltiges  Krachen  im  linken  Schenkel,  worauf 
sich  sehr  bald  die  heftigsten  Schmerzen  einstcllt.cn.  Einige 
Tage  später  erlitt  er  'dieselben  Zufälle  bei  einer  unvorsich¬ 
tigen  Bewegung  auf  einer  Tragbahre.  Bei  der  Untersu¬ 
chung  fühlte  man  beide  Schenkel  unter  den  grofsen  1  ro- 
chanteren  fracturirt.  Bei  der  Section  dieses  unter  einer 
Febris  hectica  verstorbenen  Mannes  fand  P.  die  Schenkel¬ 
knochen  an  der  Bruchstelle  erweicht  und  carcinomatüs  be- 
schaffen.  Auf  ähnliche  Weise  desorganisirt  zeigten  sich  die 
correspondirenden  Theile  der  Beckenknochen,  mit  dem  Muse, 
iliacus.  (Nouv.  Biblioth.  4.  1827.) 

9.  Nach  Jobert  entstehen  zuweilen  am  achten,  neun¬ 
ten,  zehnten  bis  zwölften  Tage  nach  der  Operation  des 
Steinschnitts  mit  dem  Apparatus  lateralis  Blutungen  aus  der 
Art.  bulbosa,  den  Art.  prostaticis  und  aus  den  Art.  peri- 
naei,  in  Folge  welcher  die  Kranken  nicht  selten  ihren  Geist 
aufgeben.  J.  sieht  vorztigsw'cisc  die  zu  raschen  Bewegun¬ 
gen  des  Kranken  im  Bette,  so  wie  die  Abwaschungen  mit 
lauwarmem  Wasser  (?),  als  die  Ursachen  dieser  gefähr¬ 
lichen  llämorrhagicen  an.  Ist  die  äufsere  Wunde  schon  ge¬ 
schlossen,  so  dafs  das  Blut  durch  die  Wundränder  nicht 
mehr  abflielsen  kann,  so  bezeichnen  ein  eigenthümliches 
Gefühl  von  Wärme  um  den  Blasenhals,  ein  Blutharnen, 
eine  Auftreibung  der  Regio  hypogastrica ,  Schmerzen  am 
Ende  des  Penis,  Ohnmächten,  ein  Gefühl  von  Kälte  die 
innere  Blutung.  Die  dagegen  versuchten  Mittel,  als:  Ad¬ 
stringentia,  die  l  nterbiodung,  die  (Kauterisation  und  die 
(Kompression  werden  oft  erfolglos  angewandt,  und  lassen 
sich  oft  gar  nicht  in  Anwendung  bringen.  Jobert  em¬ 
pfiehlt,  die  Uompression  mit  einem  Stück  Feuerschwamm 


XI.  Chirurgische  und  geburtshilfliche  Notizen.  343 

* 

vorzunehmen,  das  mit  Hülfe  eines  gefensterten  Röhrchens 
auf  das  blutende  Gefäfs  gebracht  und  erhalten  werden  mufs. 
(Gewifs  noch  immer  ein  unsicheres,  schwer  durchzuführen¬ 
des  Verfahren.)  (Nouv.  Bibi.  1827.  5.) 

10.  Doucet  in  New-York  theilt  drei  Fälle  von  Tris¬ 
mus  traumaticus  mit,  wo  die  kalten  Douchen  einen  ent¬ 
schiedenen  Nutzen  hatten.  Gleich  nach  der  ersten  kräfti¬ 
gen  Anwendung  derselben  empfanden  die  Kranken  einen 
auffallenden  Nachlafs  der  Erscheinungen,  und  eine  drei-  bis 
viermalige  Wiederholung  derselben  reichte  hin,  die  Krank¬ 
heit  für  immer  zu  beseitigen.  (?  Ebend.  1828.  3.) 

11.  Bekanntlich  hat  schon  Ambrosius  Pare  wie¬ 
derholt  die  Bleiplatten  zur  Heilung  atonischer  Geschwüre 
versucht,  ln  neuerer  Zeit  war  es  Re  veil  le  Parise,  der 
der  Pariser  Academie  de  med.  eine  Abhandlung  über  die 
Resultate  vorlegte,  welche  er  von  dem  Bedecken  einer  fri¬ 
schen  Wunde  mit  einer  Bleiplatte  gesehen.  Ivan  und 
Meron  haben  eine  Menge  atonischer  Geschwüre,  die  jeder 
andern  Behandlung  widerstanden,  durch  das  Auflegen  einer 
dünnen  Bleiplatte  geheilt,  die  täglich  weggenommen  und 
nach  Reinigung  der  Wunde  wieder  aufgelegt  und  mit  Hülfe 
einer  Binde  befestigt  wurde.  Sechs  bis  acht  Wochen  pfleg¬ 
ten  zur  gänzlichen  Heilung  eines  Geschwürs,  selbst  wenn 
es  callöse  Ränder  hatte,  hinreichend  zu  sein.  Silber-,  Gold- 
und  Zinnplättchen  zeigten  sich  nicht  minder  wirksam,  ein 
Beweis,  dafs  man  den  Erfolg  dieses  Verfahrens  nicht  den 
chemischen  Eigenschaften  des  Bleies  zuschreiben  darf.  (Ar- 
chives  generales.  1828.  5.) 

12.  Dupuytren  unterband  im  Jahre  1816  bei  einem 
45jährigen  Exmilitär  die  Arteria  iliaca  externa  wegen  eines 
Aneurysma  von  der  Gröfse  einer  Birne,  das  in  Folge  einer 
heftigen  Körperanstrengung  entstanden  war  und  sich  vier 
Zoll  unter  den  Schaambogen  erstreckte.  Er  machte  zu 

23  * 


344  XI.  Chirurgische  und  geburtshilfliche  Notizen. 

diesem  Zwecke  einen  Einschnitt,  der  über  der  Spina  supe- 
rior  anterior  ossis  ilei  anfing  und  sich  bis  zum  äulscrsten 
linde  des  Baucbrings  erstreckte,  die  Blofslegung  der  Arterie 
gelang  nicht  ohne  Mühe,  eben  so  die  Unterbindung,  die 
mit  Hülfe  einer  llohlsonde  und  einer  g^ofsen  Nadel  bewerk¬ 
stelligt  ward,  wahrend  ein  Gehülfe  von  Zeit  zu  Zeit  die 
Aorta  descendens  cömprimirte.  Die  Ligatur  fiel  am  1  fiten 
Tage  ab,  am  23sten  entstand  eine  Hämorrhagie,  die  durch 
Compression  der  herabsteigenden  Aorta  beseitigt  wurde. 
Der  Kranke  war  nach  11  Jahren  vollkommen  wohl,  (Eben- 
das.  1827.  6.) 

\  t  » 

13.  Mathias  Major  schlägt  die  Entfernung  des  krebs¬ 
artigen  Muttermundes  mit  Hülfe  der  Unterbindung  vor. 
Das  Verfahren  und  die  hierbei  nüthigen  Instrumente  sind 
so  zu  sagen  dieselben,  deren  man  sich  zur  Beseitigung  eines 
Mutterpolvpen  zu  bedienen  pflegt.  Bcrücksichtigensw  erth 
erscheint  dieses  Verfahren  besonders  in  sofern,  als  der  Ope¬ 
rateur  des  Herabziehens  der  Gebärmutter  in  die  Vulva 
überhoben  ist,  und  keinen  ßlutlluls  befürchten  darf.  (Eben¬ 
das.  1828.  1.) 

11.  Beobachtung  einer  glücklichen  Entbindung  mit¬ 
telst  eioer  Sectio  perinaei,  von  H.  Krieger  Schumer, 
Chirurg  und  Geburtshelfer  zu  Amsterdam. 

Wie  einfach  die  Operation  bei  dieser  Entbindung  auch 
scheinen  mag,  so  entschlofs  ich  mich  doch  auf  dringendes 
Ersuchen  einiger  meiner  Kunstgenossen,  dieselbe  bekannt 
zu  machen,  indem  sie,  so  viel  mir-bekannt,  auf  diese  Weise 
noch  nie  verrichtet  worden  ist. 

Die  Frau,  an  welcher  ich  diese  Operation  zu  machen 
genüthigt  war,  wurde  als  Kind  in  einem  Alter  von  drei 
Jahren  von  einem  Scharlachfieber  ergriffen,  das  plötzlich 
metastatisch  verschwand,  so  dafs  eine  heftige  Entzündung 
entstand,  die  schnell  in  Gangrän  überging,  und  den  Ver¬ 
lust  der  Labia,  Nymphae,  Clitoris ,  des  ganzen  Mons  vene- 


XI.  Chirurgische  und  geburtshilfliche  Notizen.  345 

ris,  des  Hymen  und  eines  3  heiles  der  Vagina  verursachte. 
Hie  Zerstörung  ging  so  weit,  dafs  man  den  Arcus  pubis 
ganz  entblöfst  liegen  sah. 

Nach  einem  schrecklichen  Leiden,  wovon  man  nur  ein 
übeles  Ende  vermuihete,  hatte  Hr.  Chirurgus  van  Aal  de¬ 
ren,  unter  dessen  Behandlung  sie  sich  befand,  das  Glück, 
diese  unglückliche  Dulderin  zu  heilen,  doch  so,  dafs  sich 
statt  der  verlorenen  Theile  eine  sehr  feste  und  zusammen- 
gezogene  Masse  bildete,  in  deren  Mitte  man  eine  runde 
Oeffnung  fand,  welche  durch  Wieken  offen  gehalten  wurde, 
und  der  übrig  gebliebene  3  heil  der  Vagina  war.  - —  Diese 
Oeffnung  hatte  den  Umfang  eines  holländischen  Guldens, 
war  von  einem  dicken  Rande  umgeben,  und  konnte  auf 
keine  Weise  ausgedehnt  werden. 

Obschon  die  Frau  von  einer  schwachen  und  empfind¬ 
lichen  Constitution  war,  so  genofs  sie  nach  ihrer  Genesung 
doch  eine  ziemlich  gute  Gesundheit,  und  heirathete  in  ihrem 
23sten  Jahre. 

Nach  ihrer  Heirath  zeigten  sich  ihre  Regeln  nur  noch 
einmal,  worauf  sie  dann  schwanger  wurde. 

Ihre  Schwangerschaft  verlief,  unbedeutende  Ungemäch¬ 
lichkeiten  abgerechnet,  ziemlich  regelmäfsig  bis  zum  17.  März 
dieses  Jahres,  wo  sich  in  der  Nacht  die  ersten  Wehen 
zeigten. 

Morgens  um  6  Uhr  wurde  ich  ersucht,  ihn  zu  Hülfe 
zu  kommen,  und  fand  bei  der  Untersuchung  den  oben  be¬ 
schriebenen  Zustand  der  äufseren  Zeugungstheile.  Der  Ge- 
bärmutterrnund  war  ungefähr  in  der  Gröfse  eines  kleinen 
Zolles  geöffnet,  und  während  der  Schmerzen  bemerkte  ich, 
dafs  die  Häute  sich  trennten  und  der  Kopf  andrang. 

Ich  beruhigte  sie  und  versprach,  gegen  8  Uhr  zurück¬ 
zukommen;  in  dieser  Zwischenzeit  ging  die  Arbeit  regel¬ 
mäfsig  ihren  Gang,  so  dafs  bei  meiner  Zurückkunft  die 
Eröffnung  beinahe  vollkommen  war;  ungefähr  halb  11  Uhr 

brachen  die  Haute,  und  der  Kindeskopf  drang  auf  das  Pe- 

... 

rinaum  an. 


34t)  XI.  Chirurgische  und  gebnrtshnlfliche  Notizen. 

Ich  *  hoffte  .  noch  immer,  dafs  die  Oeffnung  oder  der 
handartige  King,  vor  welchem  der  Kopf  sich  jetzt  befand 
und  wodurch  die  Kopfhaut  etwas  geschwollen  hervorragte, 
durch  die  starken  Wehen,  welche  kurz  auf  einander  folg¬ 
ten,  sich  ausdehnen  sollte;  doch  hierin  wurde  ich  ganz  ge¬ 
täuscht,  so  dafs  ich  mit  Wahrheit  bezeugen  kann,  dafs, 
bevor  ich  mich  zur  Operation  entschlofs,  diese  Oeffnung 
keine  zwei  Linien  im  Umfange  weiter  geworden  war. 

I)a  die  W  eben  heftig  fortdauerten,  die  Frau  geduldig 
war,  und  die  Kräfte  nicht  sehr  abnahmen,  so  liefs  ich  sie 
auf  diese  Art,  immer  noch  in  der  Hoffnung  eines  guten 
Erfolges,  bis  zwei  Uhr  Nachmittags  fortarbeiten,  wo  sie 
mich  ersuchte,  ihr  zu  helfen,  und  ich  auch  überzeugt 
wurde,  dafs  von  der  Natur  allein  nichts  zu  erwarten  stand. 

Ich  beschlofs  daher,  das  Perinäum  mit  dem  Messer  zu 
durchschneiden ,  wählte  dazu  das  geknöpfte  Bistourie  von 
Pott,  und  bediente  mich  dessen  auf  die  folgende  Weise: 

Während  die  Frau  auf  ihrer  linken  Seite  lag,  stellte 
ich  mich  vor  das  Bett  an  das  Fufsende,  führte  den  vor¬ 
dersten  Finger  meiner  rechten  Hand  zwischen  dem  Kindes¬ 
kopfe  und  dem  Perinäum  ein,  nahm  das  Bistouri  in  die 
linke  Hand,  und  leitete  es  auf  dem  in  der  Vagina  befind¬ 
lichen  Finger,  mit  der  Schneide  dem  Perinäum  zugekehrt, 
ein,  wartete  eine  Wehe  ab,  worauf  ich  während  derselben 
einen  senkrechten  Einschnitt  machte,  in  der  Richtung  nach 
dem  Anus,  in  der  Länge  eines  grofsen  Zolles. 

Zum  Leiter  dieses  Einschnittes  nahm  ich  meinen  Fin¬ 
ger,  um  mich  versichern  zu  können,  nichts  anderes,  als 
was  ich  wollte,  zu  durchschneiden ;  hierauf  zog  ich  Finger 
und  Bistouri  zurück,  in  der  Hoffnung,  dafs  das  Perinäum 
auf  diesen  Einschnitt  sich  ferner  erweitern  sollte,  doch  ich 
wartete  hierauf  vergebens;  es  spannte  sich  wie  Pergament, 
aber  an  Ausdehnung  war  nicht  zu  denken. 

Ich  beschlofs  daher,  einen  zweiten  ähnlichen  Ein¬ 
schnitt  zu  machen,  der  auch  eben  so  gut  als  der  erste 
glückte,  und  wovon  die  Frau  auch  nicht  das  mindeste 


XI.  Chirurgische  und  geburtshülfliche  Notizen.  347 

gefühlt  zu  haben  mich  versicherte,  was  sich  auch  wohl  aus 
der  einfachen  Organisation  und  Gefühllosigkeit  der  Narbe, 
welche  Gefühllosigkeit  durch  die  starke  Spannung  noch  um 
vieles  vermehrt  wurde,  erklären  läfst.  Dieser  zweite  Ein¬ 
schnitt,  in  derselben  Richtung  als  der  erste,  wurde  bis  auf 
den  Abstand  eines  halben  Zolles  vom  Anus  fortgeführt. 

Jetzt  hoffte  ich  wiederum,  dafs  die  Kraft  der  Wehen 
den  Widerstand  überwinden  sollte,  und  hierin  wurde  ich 
nicht  betrogen;  denn  bald  nachher  drang  der  Kopf  regei- 
mäfsig  durch,  und  die  Frau  gebar  einen  lebenden  Sohn. 

Die  Placenta  folgte  bald,  und  die  Frau  genas  völlig 
ohne  Nath,  so  dafs  ich  sie  nach  drei  Wochen  verliefs,  wo 
der  Einschnitt  völlig  geheilt  war,  und  die  Frau  ohne  Hin¬ 
derung  schon  einige  häusliche  Geschäfte  verrichtete.  (Ge- 
neeskundige  Bydragen.  Deel  II.  St.  1.  1827.) 

15.  Pre  is- Abhandlung,  gekrönt  von  der  Gesellschaft 
zur  Beförderung  der  Chirurgie  zu  Amsterdam.  Theil  VII. 
Stück  II.  Amsterdam,  bei  R.  J.  Berntrop.  1827.  8.  f 

In  dem  Programm  des  Jahres  1825  gab  genannte  Ge¬ 
sellschaft  folgende  Fragen  zur  Beantwortung  auf:  «  Welches 
ist  die  Ursache  der  gewöhnlichen  unregelmäfsigen  Wehen 
bei  schlecht  geformtem  Becken?"  «Was  ist  ihr  eigen^ 
thümliches  Kennzeichen?"  «Sind  sie  unter  den  gegebenen 
Umständen  behiilflich  oder  nachtheilig  zur  möglichen  Be¬ 
förderung  der  Geburt  einer  lebenden  Frucht?" 

II r.  Prof,  van  Solingen  hat  diese  Fragen  seiner  wür¬ 
dig  beantwortet,  und  den  Preis  erhalten.  Er  untersucht  in 
der  Einleitung  die  nächste  Ursache  der  Geburt,  spricht  als¬ 
dann  über  die  regelmäfsigen  Wehen  im  Allgemeinen,  und 
über  die  unregelmäfsigen  bei  wohlgeformtem  Becken,  und 
endlich  über  die  unregelmäfsigen  Wehen  bei  Frauen,  deren 
Becken  schlecht  geformt  ist. 

v.  S.  glaubt,  dafs  die  nächste  Ursache  der  Geburt  in 
einem  gänzlichen  Verschwinden  der  Stützpunkte,  die  wäh¬ 
rend  der  Schwangerschaft  die  Frucht  hielten,  zu  suchen  sei, 


348  XI.  Chirurgische  und  geburtsliulfliche  Notizen. 

und  bemerkt,  dafs  bis  jetzt  weder  Analogie,  noch  Experi¬ 
mente  eine  "Wirkung  der  Nervenkraft  bei  den  regelmäfsi- 
gen  Wehen  dargethan  haben.  Er  erklärt  diese  auf  fol¬ 
gende  Weise:  Die  Zusammenzieljungen  der  Fasern  der 
Gebärmutter  (die  Wehen),  verstärkt  durch  das  Prelum 
abdominale  und  durch  die  anderen  bekannten  Ursachen, 
werden  durch  den  Stimulus  der  Frucht  erregt;  sie  hören 
auf  und  setzen  aus  in  Folge  der  Erschöpfung,  und  sie  wer¬ 
den  endlich  austreibend  durch  die  Entfernung  der  Stütz- 
punkte,  die  während  der  Schwangerschaft  die  Frucht  hiel¬ 
ten,  während  der  sic  begleitende  Schmerz  durch  die  Span¬ 
nung  der  aponeurotischen  Auftreibungen,  welche  die  Sym- 
pbyses  sacro-iliacae  bekleiden,  verursacht  wird  (??).  Hierin 
können  wir  dem  Yerf.  nicht  beistimmen,  da  im  Anfänge  der 
Arbeit  der  Sitz  des  Lendenschmerzes  viel  höher  ist,  als  die 
genannte  Stelle,  in  dem  weiteren  Fortgänge  der  Entbin¬ 
dung  bei  dem  Durchdringen  des  Kopfes  nämlich  durch  den 
M  uttermund,  und  durch  die  oberste  Enge  sinkt  der  Schmerz 
erst  tiefer  bis  zu  den  Sympbyses  sacro-iliacae. 

v.  S.  nimmt  sechs  Arten  von  unregelrnäfsigen  Wehen 
bei  Frauen  mit  wohlgebauten  Decken  an:  1)  solche  die  zu 
stark  sind,  und  zu  schnell  auf  einander  folgen;  2)  solche, 
die  zu  langsam  folgen;  3)  die  völlig  aufhören  und  erst 
Dach  einiger,  bisweilen  sehr  langer  Zeit  wiederkehren; 

4)  die  nicht  wirksam,  und  zu  wenig  austreibend  sind; 

5)  die  mitten  in  der  YVehe,  oder  allzuschnell  nach  dem 
Anfänge  der  Wehe  abbrechen;  und  6)  endlich  Schmer¬ 
zen,  unter  dem  Namen  der  falschen  Weben  bekannt. 

Da  wir  dem  V crf.  in  das  Einzelne  nicht  folgen  können, 
so  bemerken  wir  nur,  dafs  diese  unregelrnäfsigen  Wehen 
auch  bei  Frauen  mit  schlecht  gebauten  Decken  Vorkommen. 
Aber  als  eine  vorzügliche  Ursache  der  unregelrnäfsigen 
Wehen  bei  mifsgestaltetem  Decken  betrachtet  der  Yerf.  die 
Schieflage  der  Gebärmutter,  die  er  in  eine  natürliche  und 
nicht  natürliche  unterscheidet.  Die  erste  Art  von  Schief¬ 
lage  geht  gewöhnlich  in  die  zweite  Art  über,  wenn  das 


I 


XI.  Clilrnrgische  und  gcburtshülfliche  Notizen.  349 

.  1  1 

Becken  mifsgestaltet  ist,  weil  durch  den  Vorsprung  der 
Lendenwirbel  in  diesem  Falle  der  Uterus  über  die  meist 
immer  eingezogene  vordere  Wand  des  Beckens  fällt.  Man 
nimmt  bei  einem  mifsgestalteten  Becken  unregelmäfsige  We¬ 
ben,  auch  bei  der  gewöhnlichen  und  natürlichen  Sc  hieflage 
der  Gebärmutter  wahr,  weil  im  ersten  Falle  der  vordere  Rand 
derselben  zwischen  dem  Kopfe  und  dem  vorderen  Rande  der 
oberen  Enge  eingeklemmt  wird,  wodurch  der  Uterus  auf 
dieser  Seite  seine  Kraft  nicht  ausüben  kann.  Eine  zweite 
Ursache  der  Unregelmäfsigkeit  der  Wehen  liegt  in  dem 
Aufschwellen  (meist  durch  Blut)  und  Dickbleiben  der  auf 
diese  Weise  eingeklemmten  vorderen  Wand  der  Gebär¬ 
mutter.  Da  die  Wehen  jetzt  nur  durch  die  bihtere  Wand 
der  Gebärmutter  bewirkt  werden,  so  wird  der  Kopf  nicht 
mit  dem  kleinsten  Umfange  in  das  Becken  getrieben.  Ist 
die  Verengerung  grofs,  dann  verwendet  die  Natur  ihre 
Kräfte  ganz  fruchtlos,  welches  dann  eine  dritte  Ursache  der 
Unregelmäfsigkeit  der  Wehen  abgiebt;  und  endlich  viertens 
wird  das  Nervenvermögen  so  durch  die  genannten  Ursachen 
erschöpft,  dafs  die  Arbeit  bisweilen  während  Stunden  und 
Tagen  ganz  aufhört.  Findet  dieses  alles  bei  einer  natür¬ 
lichen  Schieflage  der  Gebärmutter  bei  engerem  Becken 
statt,  so  müssen  die  genannten  Unregelmäfsigkeiten  der 
Wehen  bei  einer  nicht  natürlichen  Schieflage  um  so  stär¬ 
ker  sein.  — 

r  / 

Die  Antwort  auf  den  ersten  Theil  der  Frage:  Welches 
ist  die  Ursache  der  unregelmäfsigen  Wehen  bei  engem  oder 
mifsgestaltetem  Becken?  liegt  zum  Theil  in  dem  Forherge- 
gangenen.  Die  Verengerung  nämlich  des  Beckens  selbst, 
ist  die  vorzüglichste  Ursache  der  unregelmäfsigen  Wehen. 

Die  Verengerung  hindert  den  Kopf,  in  und  durch  das 
Becken  zu  treten;  die  Zusammenziehungen  des  Uterus  sind 
fruchtlos,  die  Wehen  werden  verhindert  ihre  Wirkung  bis 
auf  den  Muttermund  auszudehnen;  dieser  kann  dadurch  nicht 
gehörig  geöffnet  werden,  und  unterdessen  wird  die  Nerven- 
kraft  der  Gebärmutter  erschöpft,  welches  als  die  Ursache 


350  XI.  Chirurgische  und  geburtshilfliche  Notizen. 

des  endlichen  gänzlichen  Aufhörens  der  Wehen  betrachtet 
werden  rnufs.  Alles  dieses  ist  wiederum  die  Ursache  man¬ 
nigfaltiger  Zufälle,  deren  erste  Ursache  in  der  Klemmung 
des  Uterus  zwischen  dem  Kopfe  und  Becken  zu  finden  ist. 

Die  eigenth  lim  liehen  Kennzeichen  der  unregelmäfsi^en 
Wehen  bei  engem  und  mifsgestalletcm  Becken,  die  den 
zweiten  Theil  der  Frage  ausmachen,  sind  folgende:  Zuerst 
sinkt  die  Gebärmutter  vom  Anfänge  der  .\rbeit  an,  nicht 
oder  nur  sehr  wenig  in  das  Becken  hinein.  (  Dieses  kommt 
Bef.  dunkel  vor,  denn  dadurch  würde  die  vorzüglichste 
Ursache  der  Unregelmäßigkeit  der  Wehen  Wegfällen,  näm¬ 
lich  die  Einklemmung  des  Uterus  zwischen  Jvopf  und  Becken.) 
Ferner  wird  die  5  agina  weder  wie  hei  wohlgestaltetem  Be¬ 
cken  erweitert,  noch  bemerkt  man  auch  jlcn  gewöhnlichen 
blutigen  Schleim.  Drittens  verbreiten  sich  die  Wehen  nicht, 
oder  sehr  spät  in  die  Leisten,  Hinterbacken  und  Glied- 
maafsen,  sondern  bleiben  auf  die  Lenden  beschränkt.  Und 
viertens  ist  ein  vorzügliches  Kennzeichen  der  hohe  Stand 
des  Os  uteri.  Genannte  Kennzeichen  zusammengenommen, 
machen  das  Diagnosticum  aus.  Doch  das  wichtigste  Kenn¬ 
zeichen  ist  der  unregelmäfsige  Verlauf  der  Wehen  seihst, 
da  sie  gewöhnlich  endlich  mit  einer  Ohnmacht  endigen,  und 
die  gefährlichsten  Folgen  für  Mutter  und  Kind  fürchten 
lassen. 

Der  dritte  Theil  der  Frage  verlangt:  eine  Angabe  der 
günstigen  oder  nachtheiiigen  Folgen  der  unz  weckmäfsiger^ 
Wehen.  Diese  setzt  der  Verf.  theils  in  Störungen  der  Ner¬ 
ven  wirkung,  uud  theils  in  die  l  uordnung  in  dem  Laufe 
der  Flüssigkeiten,  welche  beide  Umstände  nicht  allein  für 
das  Leben  der  Frucht,  sondern  auch  für  die  Mutter  höchst 
gefährlich  sind. 

Schnell  tödtlich  für  Mutter,  und  meist  auch  zugleich 
für  die  Frucht,  sind  die  empfindlichen  Wehen ,  wobei  die 
Gebärmutter  so  durch  ihre  Zusammenziehungen  überspannt 
wird,  dafs  dieselbe,  ihrer  Eiasticität  beraubt,  zu  jeder  wei- 


XI.  Chirurgische  und  geburtshilfliche  Notizen.  351 

teren  Wirkung  gänzlich  unvermögend  ist;  die  Folge  davon 
ist  der  Tod  durch  heftige  Blutung. 

Bisweilen  sind  die  gewaltigsten  Beleidigungen  des  Ute¬ 
rus,  durch  Druck,  Congestion  und  Entzündung  verursacht, 
Folgen  dieser  unregelmäfsigen  Wehen,  ja  bisweilen  Zer- 
reifsung  dieses  Eingeweides.  Andere  Nachtheile  fliefsen  aus 
derselben  Quelle,  als:  theilweise  Abstofsung  der  Placenta, 
Druck  des  ganzen  Körpers  der  Frucht,  oder  des  Nabel¬ 
strangs,  welches  wiederum  das  Leben  der  Frucht  in  Ge¬ 
fahr  setzt.  Nicht  weniger  auffallend  sind  die  Nachtheile, 
welche  ein  entzündeter  Uterus  auf  die  Ernährung  des  Kin¬ 
des  ausübt,  aber  am  meisten  wird  noch  das  Leben  der 
Frucht  gefährdet  durch  die  heftige  Quetschung  des  Kopfes 
gegen  das  Becken,  deren  Folge  ein  apoplectischer  Tod  ist. 

Zuweilen  sind  die  Folgen  nicht  immer  so  unglücklich, 
im  Gegentheile  haben  regelmäfsige  Wehen  bei  mifsgestal- 
tetem  Becken  auch  ihre  Yortheile.  Der  erste  \  ortheil  der 
Wehen  ist  ihre  lange  Dauer,  die  in  Intermissionen  auf  hö¬ 
ren,  so  dafs  die  erschöpfte  Nervenkraft  der  Frau  zum  Theii 
erneut,  und  das  Leben  der  Frucht  verlängert  wird.  Hier¬ 
durch  gewinnt  die  Natur  zugleich  Zeit,  um  den  Kopf  zu 
mouliren,  und  die  Kunst  bekommt  Gelegenheit,  es  sei  durch 
Blutentleerungen ,  abspannende  oder  andere  nützliche  Mittel, 
luilfreich  sein  zu  können. 

Ein  anderer  Vortheil  ist  die  Eigentümlichkeit  der  un¬ 
regelmäfsigen  Wehen,  wodurch  der  Geburtshelfer  in  Stand 
gesetzt  wird,  seine  Behandlung  zu  regeln,  und  den  rechten 
Zeitpunkt  zu  bestimmen,  wenn  er  kunstmäfsig  die  Entbin¬ 
dung  verrichten  mufs,  oder,  wenn  er  Zeit  habe,  dieselbe 
der  Natur  zu  überlassen.  — 


352 


XII.  Augcniirztliche  Schriften. 


xn.  . 

Auge  n  ärztliche  Schriften. 


1.  Scriptores  ophthalmologici  minores.  Volumen 
secundum.  Edidit  Justus  Radius,  Phil.  Med.  et  Chir. 
Dr.  in  Acad.  Lipsiensi,  Med.  P.  P.  E.  Orphanotrophci  et 
Lrgast.  St.  Georgii  Chirurgus,  Soc.  Nat.  ('ur.  Lipsi'ens. 
Rihl  ioth.  Acad.  Caesar.  Carol.  Leopoldin.  Societ.  med. 
Londin.  et  infra  Rhenanae,  Linneanae  Paris.  Histor.  nat. 
Oslerland,  et  Erancofurth.  Rotanic.  Ratisbon.  nec  non 
Oeconom.  Lipsiens.  et  Marchicae  Sodalis.  C.  Tab.  aen.  II. 
Lipsiae,  sumt.  Leopoldi  Vossii.  1828.  8.  216  S.  (I  Thlr. 
8  Gr.) 

"N  on  der  mit  gebührender  Anerkennung  in  diesen  An¬ 
nalen  (Mai  1827)  erwähnten  Sammlung  der  Scriptores 
ophthalmol.  min.,  hat  Rec.  das  Vergnügen,  den  zweiten 
Rand  hiermit  anzuzeigen.  Derselbe  enthält  folgende  vier 
treffliche  ophthalmologische  Arbeiten:  1)  Tourtual  l)e 
mentis  circa  visum  efficacia.  (Es  ist  dieses  eine  sehr  ver¬ 
mehrte  und  verbesserte  Ueberarbeitung  der  vom  Vcrf.  im 
Jahre  1823  unter  demselben  Titel  in  Rerlin  herausgegebe¬ 
nen  Inauguraldissertation,  in  der  mit  grofser  Relesenheit 
und  vielem  Scharfsinne  dieser  für  die  Anthropologie  und 
Physiologie  wichtige  Gegenstand  abgehandelt  wird.  2)  Phil, 
a  Walther  Praecepta  et  monita  de  fistula  et  polvpo  sacci 
la^rymalis.  (Diese  für  die  Augenheilkunde  wichtige  Ab¬ 
handlung  eines  unserer  ersten  Meister  ist  hier  nicht  blofs 
nach  der  zuerst  in  Rerlin  1822  von  Hubert  Neifs  her¬ 
ausgegebenen  Inauguraldissertation  abgedruckt,  sondern  von 
dem  berühmten  \  erf.  durchgesehen  und  vermehrt.  Die 
VV  ahl  dieses  Gegenstandes  hält  Ref.  für  sehr  glücklich,  da 
v.  V  alther’s  Rekanntmachungen  immer  Rercichcrungcn 
der  Wissenschaft  sind.)  3)  M.  G.  Martini  (jetzt  Director 


« 


353 


✓  * 

i  *  • 

XII.  Angenärztliche  Schriften. 

der  Irrenanstalt  in  Leibus  in  Schlesien)  De  fili  sericei  usu 
in  quibusdam  viarum  lacrymalium  uiorbis.  (In  dieser  treff¬ 
lichen  Abhandlung  wird  der  von  Dr.  Schmalz  in  Pirna 
vielfach  erprobte  Nutzen  des  seidenen  Fadens  bei  Blennor- 
rhöen  des  Thränensackes  u.  s.  w.  als  Setaceum  durch  den 
geöffneten  Thränensack  und  den  Nasenkanal  vermittelst  einer 
eigenen  sehr  zweckmäfsigen  Vorrichtung  geführt,  näher 
beschrieben.  Die  Sache  ist  zu  wichtig,  um  nicht  die  Auf¬ 
merksamkeit  aller  der  Aerzte,  die  sich  mit  der  Operativ¬ 
chirurgie  beschäftigen,  zu  verdienen.  Auch  die  Wahl  die¬ 
ser  Dissertation  ist  sehr  zu  billigen.)  4)  A.  F.  Schhiidt, 

De  Trichiasi  et  Entropio.  (Diese  wichtige  Streitschrift  er¬ 
schien  im  Jahre  1823  in  Berlin.  Sie  bespricht  einen  Ge¬ 
genstand  der  Augenheilkunde,  um  den  v.  Gräfe,  grofse 
Verdienste  hat,  mit  Gründlichkeit  und  Umsicht.)  Und  so 
hätten  wir  denn  in  diesem  Bande  drei  wichtige  praktische 
Abhandlungen,  an  denen  drei  der  gröfsten  deutschen  Augen¬ 
ärzte,  v.  Walther,  v.  Gräfe  und  Schmalz  wichtigen 
Antheil  haben ,  und  endlich  die  Abhandlung  eines  Mannes, 
der  in  jugendlicher  Kraft  neben  einem  Müller,  Purkinje, 
Treviranus  u.  s.  w.  das  Gebiet  der  vergleichenden  Phy¬ 
siologie  der  Sinne  mit  grofsem  Scharfsinne  und  lleifse  be¬ 
arbeitet.  Wer  würde  demnach  die  Wahl  des  Herausgebers 
nicht  gut  heifsen?  Sein  Name,  wie  der  des  Verlegers,  bür¬ 
gen  für  eine  schnelle  Fortsetzung  dieses  löblichen  Unter¬ 
nehmens!  Papier  und  Kupfertafeln  lassen  nichts  zu  wün¬ 
schen  übrig;  auch  erleichtert  ein  sehr  genauer  Index  den 
Gebrauch  des  Werkes. 

Sollte  Rec.  noch  einen  Wunsch  aussprechen,  so  wäre 
es  der,  dafs  der  Hr.  Herausgeber  hauptsächlich  die  kleinen 
Schriften  berücksichtigen  möchte,  welche  die,  leider  noch 
sehr  in  der  Wiege  liegende,  pathologische  Anatomie  des  A 
Auges  betreffen!  Auch  dürften  ophthalmologische  Schriften 
des  Auslandes,  z.  B.  C.  Appiani  De  Phaco  hymenitide, 

Paviae  1824,  die  Aufmerksamkeit  des  Verf.  verdienen.  Er 
fürchtet  um  so  weniger  von  dem  Herausgeber  hierdurch 


354  XII.  Augenärztliche  Schriften. 

mifsverstanden  zu  werden,  je  freundlicher  der  letztere  die 
von  ihm  in  der  Anzeige  des  ersten  Bandes  gemachten  Vor¬ 
schläge  in  der  Vorrede  zum  vorliegenden  Bande  prüft,  hofft 
vielmehr,  ohne  mit  demselben  über  die  dort  gegebenen 
Gegengriindc  zu  rechten,  eine  baldige  Erfüllung  seines 
'V  unsches,  den  mit  ihm  viele  seiner  Collegen  theilen ! 

v.  Ammon, 


0  « 

2.  Der  Rathgeber  für  die  Erhaltung  der  Augen. 
Gebildeten  Nichtarzten  gewidmet  von  C.  Petit pierre, 
Opticus  Sr.  Majestät  des  Königs,  academischem  Künstler, 
und  Mechanicus  zu  Berlin.  Mit  einer  Vorrede  von  Dr. 
C.  A.  F.  Kluge,  Königl.  Geheimen  Medicinalrath,  und 
Professor.  Nebst  drei  Kupfertafeln  in  Querfolio.  Ber¬ 
lin,  bei  A.  Hirschwald.  1828.  8.  XIV  u.  138  S.  (Ui  Gr.) 

Die  nächste  Veranlassung  dieser  zeitgeiuäfsen  Abhand¬ 
lung  fand  der  llr.  Verf.  darin,  dafs  er  fast  täglich  Personen 
Rath  ertheilen  mufste,  die  sich  bei  der  Wahl  eines  zvveck- 
mäfsigen  Augenglases  an  ihn  wandten.  Zu  gleichem  Zwecke 
wollte  er  den  Personen  nützlich  werden,  die  ohne  Brillen 
u.  s.  vf.  ihre  fehlerfreien  Augen  zu  erhalten  wünschten. 
Aerzte,  die  sich  viel  mit  Augenkrankheiten  und  deren  Hei¬ 
lung  beschäftigen,  und  Physiker,  finden  freilich  wohl  nur 
das  Bekannte;  allein  es  giebt  doch  viele  Aerzte,  denen 
Kenntnisse  dieser  Art,  die  sie  häufig  für  zu  trivial  halten, 
abgehen,  und  oft  Augenkranken  ebenfalls  Rath  ertheilen 
sollen,  für  diese  wird  die  Schrift  ein  willkommener  Leit- 

4 

faden  sein,  den  Rec.  mit  voller  Uebcrzeugung  empfehlen 
kann.  Die  Schrift  wurde  vom  ^  erf.  in  französischer  Sprache 
geschrieben,  und  vom  llrn.  Dr.  S  ie  d  in  ogr  o  d  z  k  i  lliefsend 
übersetzt. 

Rec.  wird  einiges  aus  der  Schrift  unsern  Lesern  mit¬ 
theilen. 


355 


XII.  Augenärztliche  Schriften. 

Die  Abhandlung  zerfallt  in  vier  Abschnitte.  Der  erste 
enthält  die  einzelnen  Lehren  aus  der  ph  ysica li¬ 
sch  en  Betrachtung  des  Lichtes,  so  wie  dieses  mit 
dem  Sehen  in  näherem  Bezüge  steht,  und  die  anatomi¬ 
sche  und  physiologische  Beschreibung  des  Auges 
und  seiner  Nachbargebilde.  Beides  können  wir,  da 
es  nur  das  Bekannte  dieser  Lehren,  aus  angegebenen  Schrif¬ 
ten  gut  zusammengestellt,  enthält,  übergehen. 

Der  zweite  Abschnitt  giebt  die  Lehre  von  den 
fehlerhaften  Zuständen  des  Auges,  und  deren 
Ursachen.  Eine  der  wichtigsten  Schädlichkeiten,  die  das 
Auge  in  optischer  Hinsicht  betrifft,  ist  die  unzweckmäfsige 
Einwirkung  des  Lichtes.  Auch  der  fehlerhafte  Gebrauch 
der  Augen,  durch  Angewöhnung  alle  Gegenstände  nur  in 
der  Nähe,  oder  nur  nur  in  der  Ferne  zu  besehen;  ein  Auge 
vorzugsweise  zu  gebrauchen;  der  Mifsbrauch  der  Augen¬ 
gläser,  der  seit  längerer  Zeit  zur  Mode  geworden  zu  sein 
scheint,  gehört  zu  den  Ursachen,  welche  fehlerhafte 
Zustände  der  Augen  hervorrufen,  die  den  Gebrauch 
eines  Glases  erfordern.  Zu  ihnen  rechnet  der  Verfasser: 
1)  Presbyopia,  die  Weitsichtigkeit.  Kleine  Gegenstände 
müssen  sich  über  18  Zoll  vom  Auge  entfernt  befinden,  um 
deutlich  gesehen  zu  werden.  (Die  Sehweite  (Horopter) 
eines  gesunden  Auges  nimmt  man  *zu  12  bis  18  Zoll  an.) 
Weitsichtig  sind  fast  alle  Alten,  vorzüglich  aber  die  am 
grauen  Staare  Operirten  (wenn  sie  nicht  früher  kurzsichtig 
waren.  Bec. ).  2)  Myopia.  Kurzsichtige  können  nur  dann 

kleine  Gegenstände  deutlich  sehen,  wenn  sie  ihnen  näher 
als  12  Zoll  vor  die  Augen  gebracht  sind.  Meistens  zeich¬ 
nen  sich  die  Augen  derselben  durch  bedeutende  Wölbung 
und  Fülle  aus.  —  3)  Strabismus.  Mit  dem  Schielen  soll 
gewöhnlich  noch  Doppeltsehen  verbunden  sein,  welches 
sich  aber  nach  Bec.  selten  findet,  und  bist  immer  ein  be¬ 
deutendes  Hirnleiden  anzuzeigen  pflegt.  —  4)  Das  un¬ 

gleiche  Brechungsvermögen  beider  Augen.  Zu¬ 
weilen  ist  das  eine  Auge  ganz  gesund,  zuweilen  beide  weit- 


356 


XII.  Augeniirztliche  Schriften. 

sichtig  oder  kurzsichtig,  aber  nur  in  verschiedenen  Graden, 
oder  das  eine  ist  kurz-,  das  andere  weitsichtig.  —  5)  Pho- 
tophobia.  Hierher  gehört  nur  die  Lichtscheu  der  Albi- 
iio’s.  —  Auch  die  fehlerhaften  Zustände  der  Augen,  wo 
die  Anwendung  der  Brillen  entweder  unnütz  oder  gar 
schädlich  ist,  führt  der  \  erfasser  mit  einer  kurzen  Beschrei¬ 
bung  derselben  auf.  Sie  sind:  Amblyopia,  Arnaurosis,  Ile- 
miopia,  Myodesopsia,  Nyctalopia,  Hemeralopia,  Cataracta, 
Glaucoma,  Obscuratio  Corneae,  Pannus  (Pterygium),  Oph¬ 
thalmitis.  — 

Der  dritte  Abschnitt  enthält  die  Augenpflege. 
In  der  allgemeinen  Augendiätetik  warnt  P.  vor  dem 
zu  vielen  Lichte,  und  schlägt  bei  den  Arbeiten  in  dem¬ 
selben  einen  grofsen,  leichten,  grünen,  seidenen  Augen- 
schirm  vor.  Schädlich  ist  aber  auch  den  Augen  das  zu 
wenige  Licht  (Arbeiten  in  der  Dämmerung),  die  ungleich- 
mäfsige  Vertheilung  des  Lichts  (hierin  wird  am  meisten 
gefehlt,  und  viele  sind  schon  durch  Schirmlampen  erblin¬ 
det.  Nie  dar!  der  Schirm  das  Licht  ganz  umgeben.  Am 
besten  ist  ein  Schirm,  der  nur  ein  Secbstheil  oderein  Vier¬ 
tel  der  Lampe  umgiebt,  von  grünem  Tafft),  schnelle 
Abwechselungen  verschiedener  Lichtgrade;  grelle  (beson¬ 
ders  beleuchtete)  Farben,  und  die  Beleuchtung  von  unten. 
Zuträglich  ist  dem  Auge  eine  reine,  mäfsig  warme,  tro¬ 
ckene,  nicht  stark  bewegte  Luft.  Gegen  feinen  Staub  hilft 
nichts  besser,  als  das  öftere  Auswaschen  der  Augen.  Aber 
auch  vielseitige  Ausbildung  der  Augen,  und  Mäfsigkeit  im 
Gebrauche,  erfordert  die  Erhaltung  derselben.  —  Diäte¬ 
tik  für  schon  geschwächte  Augen.  Der  Weitsich¬ 
tige  kann  durch  Uebung  sein  Auge  noch  oft  verbessern. 
Gebraucht  er  aber  täglich  mehr  Licht,  um  deutlich  sehen 
zü  können,  werden  seine  Augen  bei  geringen  Anstrengun¬ 
gen  müde  u.  s.  w. ,  so  ist  ihm  eine  Brille  nöthig.  Auch 
Kurzsichtige  müssen  sich  durch  Vermeidung  von  Be¬ 
schäftigungen  mit  kleinen  Gegenständen  und  allmähligc  Ent¬ 
fernung  von  dem  Gegenstände  seiner  Betrachtung  weit- 

sich- 


357 


XII.  Angenärztliche  Schriften. 


sichtiger  zu  machen  suchen;  aber  bei  zunehmender  Licht¬ 
scheu,  bei  zu  convexer  Hornhaut  u.  s.  w.  sich  der  Brillen 
bedienen,  da  sonst  die  Sehkraft  selbst  mit  leiden  würde. 
Das  Schielen  ist  oft  nur  Angewöhnung,  und  kann  dann 
bei  Aufmerksamkeit  verbessert  werden;  sonst  eine  Schiel¬ 
brille.  Bei  Augen  mit  ungleichem  Brechungsvermö- 
gen  ist  es  oft  hinreichend,  durch  öfteren  Gebrauch  des 
geschonten  Auges,  dieses  zur  gleichen  Sehweite  des  andern 
zu  bringen.  Die  Lichtscheu  der  Kakerlake  erfordert 
immer  Brillen,  die  das  Licht  milder  machen.  — 

Vierter  Abschnitt.  U e b e r  die  o  p t i s c h  e n  H  ii  1  fs - 
mittel  beim  Sehen.  1)  Ueber  die  Instrumente 
zum  Sehen  im  Allgemeinen.  Der  Brasilianische  Kie¬ 
sel  und  der  Bergkrystall  sind  die  besten  Materialien  für 
Augengläser,  doch  zu  theuer.  Der  Verfasser  verarbeitet 
die  Gläser  der  Neustädter  Hütte,  die  zwischen  Flint-  und 
Kronglas  in  der  Mitte  stehen,  durch  Schleifen  in  metal¬ 
lenen  Schalen.  Schädlich  sind  für  die  Augen  die  gegosse¬ 
nen  Gläser.  Um  diese  von  jenen  unterscheiden  zu  können, 
theilt  der  Verfasser  Folgendes  mit:  Hält  man  ein  con¬ 
vexes,  geschliffenes  Glas  in  mäfsiger  Entfernung  vom 
Auge  und  von  einem  Gegenstände,  z.  B.  einem  gedruckten 
Blatte,  so  wird  man  durch  jenes  sowohl  in  der  Mitte,  als 
an  allen  Stellen  gegen  den  Rand  des  Glases  zu  die  Buch¬ 
staben  gleich  scharf,  deutlich  und  grofs  erblicken.  Ist  es 
dagegen  ein  gegossenes  Glas,  so  werden  die  Buchstaben, 
durch  die  Stellen  nach  dem  Rande  des  Glases  zu  gesehen, 
undeutlich,  nicht  scharf,  gleichsam  verwischt  und  von  un¬ 
gleicher  Gröfse  erscheinen.  Sieht  man  dagegen  durch  ein 
in  mäfsiger  Entfernuug  vom  Auge  gehaltenes  convexes, 
geschliffenes  Glas  nach  einem  etwas  fern  aufgestellten 
Gegenstände,  z.  B.  einer  Büste  u.  s.  w.,  so  erscheint  die 
Gestalt  dieses,  durch  die  Mitte  wie  durch  die  Stellen  am 
Rande  des  Glases  gesehen,  ganz  gleich,  während  die  Ge¬ 
stalt  des  Objects  an  jedem  Punkte  des  gegossenen  Gla- 


24 


XIII.  Bd.  3.  St. 


358 


XII.  Aügenarztlichc  Schriften. 

scs,  durch  welche  man  es  betrachtet,  sich  verändert  und 
wahre  Verzerrungen  erleidet. 

Zu  den  st  rahlenbrechen  den  Brillen  rechnet  man 
nur  die  von  concaver  oder  convexer  Oberfläche,  erste 
für  Kurzsichtige,  letzte  für  Weitsichtige.  I  m  eine  pafs- 
liche  Brille  zu  finden,  hat  der  V erf.  eine  einfache  Vorrich¬ 
tung,  um  die  Sehweite  der  Augen  genau  zu  bestimmen. 
Für  Auswärtige  stellt  er  mehrere  zweckmäfsige  Fragen  auf, 
die  dieselben  ihm  bei  Forderung  eines  passenden  Augen¬ 
glases  beantworten,  und  zugleich  die  durch  einen  Faden 
gemessene  Sehweite  einsenden  müssen.  Ueberdies  halt  er 
ein  Buch,  worin  jeder  eingetragen  wird,  welche  Nummer 
der  Brille,  und  wann  er  sie  bekommen  habe.  Mufs  nach 
längerem  Tragen  der  Brille  der  zu  sehende  Gegenstand 
weiter  oder  näher  dem  Auge  gebracht  werden,  fühlt  sich 
das  Auge  nach  Arbeiten  mit  der  Brille  angegriffen,  erschei¬ 
nen  die  durch  die  Brille  gesehenen  Gegenstände  trübe,  oder 
zu  helle,  so  ist  es  Zeit,  sich  ein  neues  Augenglas  anzu¬ 
schaffen.  Um  eine  gute  Brille  gut  zu  conscrviren,  mufs 
man  sie  nicht  mit  unreinen  Fingern  anfassen,  und  nicht 
mit  groben  Tüchern  oder  gebrauchtem  Leder  abwischen. 
Ohne  Futteral  mufs  man  sie  nie  bei  sich  tragen,  am  besten 
ist  es,  wenn  sie  in  Seide  oder  Ledereindrücke  gelegt  wer¬ 
den  kann.  Vor  dem  Gebrauche  wischt  man  sie  mit  reinem, 
weichen  Leder  ab.  ln  dem  Folgenden  giebt  der  Verf.  die 
Brillen  für  Schielende,  und  die  schützenden  Brillen,  gegen 
Licht,  Staub  u.  s.  w.  an.  .  r 

Lorgnetten  sind  durch  das  Schwanken,  hinsichtlich 
der  Fntfernung  und  ihres  Standes  vor  den  Augen,  schäd¬ 
lich;  das  nämliche  gilt  von  dem  anhaltenden  Gebrauche  der 
Lesegläser.  Nach  längerem  Gebrauche  einer  Loupe  lasse 
man  das  Auge  sich  in  der  freien  Natur  erholen.  Man  ge¬ 
brauche  nie  nur  das  eine  Auge,  sondern  wechsele  mit  den 
Augen  ab.  Kurze  Bemerkungen  über  die  Theaterperspective 
und  das  einfache  astronomische  Fernrohr,  beschliefseo  die 
recht  gut  gedruckte  Schrift. 


XIII.  Carbo  animalis  gegen  Scirrhus  u.  Krebs.  359 


Angehängt  ist  ein  Verzeichnis  optischer  Apparate  und 
Instrumente,  welche  fiir  heigesetzte  Preise  bei  dem  Yerf. 
zu  haben  sind.  Die  Preise  sind  billig.  So  kosten  z.  B.  ein 
Paar  weifse  convexe  oder  concave  Gläser  aus  feinem  Neu¬ 
städter  Glase  nur  16  Gr.  Preufs.  Cour. ;  dagegen  freilich 
dieselben  aus  brasilianischem  Kiesel  5  Thlr.  — 

JB  ehr. 


XIII. 

Zwei  Beobachtungen 

v  \  * 

über 

die  Wirkung  des  Carbo  animalis  bei  ange¬ 
hender  Scirrhosität  der  linken  Brust 

und 

beim  offenen  Nasenkrebse; 

von 

Dr.  Friedrich  August  W  a  g  n  e  r , 

Kreisphysicus  in  Schlieben. 


Als  mir  das  Werkchen  über  die  Zurückbildung  der 
Scirrhen  und  Polypen  und  über  die  Heilung  der  Krebsge¬ 
schwüre  durch  Carbo  animalis,  vQm  Dr.  Weise  auf  Kö¬ 
nigstein  in  Sachsen,  1829  *)  in  die  Hände  fiel,  las  ich  sol¬ 
ches  zwar  mit  Bedacht,  konnte  aber  der  Sache  keinen  son¬ 
derlichen  Geschmack  abgewinnen,  noch  weniger  dem  Mit¬ 
tel  selbst  mein  Zutrauen  in  Hinsicht  auf  seine  ihm  zuge- 
schriebene  Wirkungskraft  schenken,  wenn  ich  die  etwani- 
gen  chemischen  Bestandtheile  desselben  berücksichtigte.  Zu- 


1)  S.  Bd.  XIII.  St.  2.  S.  255.  d.  A. 

24* 


360  XIII.  Carbo  animalis 

4 

fällig  hatte  Ich  einen  Kranken,  ehien  Herrn  R.  aus  Thü¬ 
ringen,  welcher  schon  fünf  Jahre  lang  am  offenen  Nasen¬ 
krebse,  nicht  syphilitischen  Ursprungs,  gelitten  hatte,  und 
wodurch  ihm  schon  ein  grofser  Theil  der  Nase  verloren 
gegangen  war,  ungeachtet  er  lange  fruchtlos  sehr  bedeu¬ 
tende  Aerztc  gebraucht,  und  Exstirpationen  mancherlei  Art, 
ohne  erwünschten  Erfolg  erduldet  batte.  Durch  gewalt¬ 
same  Aetzmittel  gelang  es  mir  zwar  im  verwichenen  Jahre, 
denselben  herzustellen,  allein  die  Sache  war  nicht  von 
Dauer.  Gerade,  als  ich  ihn  wieder  von  neuem  zu  behan¬ 
deln  halte,  kam  mir  das  Ruch  vom  Dr.  W  eise  zu  Ge¬ 
sicht.  Wenn  der  Mensch  in  grofser  Verlegenheit,  und  zu 
fallen,  in  Gefahr  ist,  ergreift  er  auch  das  letzte  Rettungs- 
mittel,  so  schwach  es  ihm  auch  scheinen  mag,  und  sucht 
sich  daran  festzuhalten.  So  dachte  auch  ich,  und  griff  bei 
meinem  Kranken  nach  dem  Carbo  animalis.  Zu  zwei  Gran 
früh  und  Abends  gegeben,  und  später  noch  urn»  einen  Gran 
damit  gestiegen,  so  wie  auch  äufserlich  nach  Vorschrift  in 
Anwendung  gebracht,  schien  mir  derselbe  anfangs  vortreff¬ 
liche  Wirkung  zu  thun.  Der  Schade  reinigte  sich,  an  allen 
Orten  erschienen  junge,  gute  Fleisch wärzchen;  der  Umfang 
verringerte  sich,  und  der  Eiter  nahm  eine  bessere  Re- 
schaffcnheit  an.  Lei  dieser  glänzenden  Aussicht  blieb  es 
aber.  Das  Mittel  noch  d^ei  Wochen  lang  fortgebraucht, 
veränderte  nichts  weiter,  daher  ich  mich  cntschlofs,  das 
.  Acidum  sulphuricum  concentratum  abermals  stark  in  Anwen¬ 
dung  zu  bringen,  und  damit  das  Ganze  wiederum,  wie  im 
vorigen  Jahre,  bis  auf  den  Grund  auszurotten;  worauf, 
als  die  entzündlichen  Zufälle  vorüber  waren,  die  Heilung 
schnell  erfolgte,  und  jetzt  nur  noch  eine  ungeschlossene 
Stelle  ,  io  der  Gröfse  einer  ganz  kleinen  Linse,  übrig  ist, 
hier  aber  die  gänzliche  Heilung  etwas  stockt. 

Ob  nun  hierbei  dem  Carbo  animalis  die  scheinbar  gute' 
Wirkung  zugeschrieben  werden  könne,  oder  ob  diese  zu¬ 
fällig  eingetreten  sei;’  Diefs  überlasse  ich  dem  Urtheile 
einsichtsvollerer  Aerztc. 


gegen  Scirrlius  und  Krebs.  361 

9 

Der  zweite  Fall  war  folgender:  Mad.  S.  in  D.,  einem 
sehr  reizbaren  Wesen,  einige  zwanzig  Jahre  alt,  und  welche 
bereits  dreimal  entbunden  worden  war,  wobei  sie  jedoch 
aus  Mangel  hervortretender  Warzen,  bei  den  ersten  beiden 
Niederkünften,  einen  Versuch  ihre  Kinder  zu  stillen,  nicht 
gemacht  hatte,  fiel  es  ein,  bei  der  dritten  Niederkunft  dies 
zu  erzwingen.  Alle  mögliche,  auch  mitunter  wohl  sehr 
kneifende  und  quetschende  Versuche,  wurden  gemacht  die 
Warzen  hervorzulocken,  aber  vergebens.  Dabei  entzün¬ 
dete  sich  die  linke  Brust  mächtig,  und  es  fieberte  die  S. 
bedeutend. 

Man  erwartete  Vereiterung  und  wandte  dabei  eine 
Menge,  bald  zweck-,  bald  unzweckmäfsiger  Mittel  an.  So 
vergingen  viele  Wochen;  die  Entzündung  verschwand,  und 
die  Brust  vereiterte  nicht,  sondern  bildete  einen  steinhar¬ 
ten,  bergigen  Körper,  welcher  die  andere  Brust  an  Gröfse 
einmal  überstieg.  Später  öffnete  sich  zwar  eine  kleine 
Stelle  an  derselben,  aber  nur  oberflächlich,  und  es  lief, 
statt  Eiter,  eine  gelbe,  wässerige  Feuchtigkeit  heraus.  Auch 
diese  Wunde  schlofs  sich  bald,  und  statt  dafs  die  Brust 
dadurch  weicher  und  kleiner  werden  sollte,  nahm  sie  an 
Härte  und  Gröfse  zu.  Schmerz  hatte  die  Kranke  nun  nicht 
mehr.  Die  Drüsen  unter  der  linken  Achsel  waren  dabei 
noch  von  Anschwellung  frei,  und  in  der  anscheinend  völlig 
scirrhüsen  Brust,  wurde  nicht  über  einzelne,  feine  Stiche 
geklagt.  Ein  Arzt  im  Orte,  ein  sehr  würdiger,  erfahrener 
und  der  Sache  gewachsener  Mann,  verliefs  jetzt  aus  Grün¬ 
den,  die  mir  nicht  genau  bekannt  geworden  sind,  wohl 
aber  in  der  Reizbarkeit  der  Kranken  mehr,  als  in  der 
Empfindlichkeit  des  Arztes  zu  suchen  sein  mochten,  die 
Kranke.  Man  vertraute  sich  daselbst  einem  jüngeren,  aber 
ebenfalls  sehr  geschickten  Manne  an,  der  auch  einige 
Wochen  lang  alle  seine  Kräfte  auf  bot,  um  die  bergige, 
aber  ganz  verhärtete  Brust  zu  zertheilen,  und  liefs  auch 
den  gewöhnlichen  alten  Schlendrian,  die  Cicuta  nicht  un¬ 
versucht,  aber  vergebens.  Jetzt  wurde  ich  abermals  hinzu- 


362 


XIII.  Carbo  animalU 


gerufen,  wie  dies  schon  mehrere  Wochen  früher  einmal 
der  Fall  gewesen  war,  und  ich  fand  die  llrust,  wie  ich  sie 
oben  geschildert  habe,  und  nach  meiner  Ansicht  völlig 
scirrhös.  Obgleich  die  Achseldrüsen  noch  frei  waren,  und 
das  eigene  Gefühl  in  der  Verhärtung  noch  fehlte,  welches 
allen  völlig  krcbshaflen  Scirrhen  eigen  sein  soll,  so  stellte 
ich  mir  doch  kein  gutes  Prognosticon.  Die  Kranke  litt 
bedeutend  am  Schleichfieber,  war  sehr  niedergeschlagen,  und 
ahncte  nichts  Gutes,  weshalb  auch  gewifs  die  traurigste 
Vorstellung  ihren  Geist  niederdrückte.  Dabei  fand  eine 
kaum  zu  schildernde  F.rregbarkeit  statt,  so  dafs  auch  die 
unbedeutendste  Kleinigkeit  das  Gemiith  derselben  aufregte 
und  zur  Alteration  Veranlasung  gab.  Im  Ganzen  mochte 
der  sehr  bedenkliche,  übele  Zustand  10  bis  12  Wochen  ge¬ 
dauert  haben. 

Ob  mir  die  Sache  gleich  höchst  bedenklich  schien,  und 
mir  gerade  nicht  wohl  dabei  zu  Mutbe  war,  so  suchte  ich 
dennoch  ihre  ganz  gesunkene  Geisteskraft  aufzurichten,  und 
den  Nerven  dadurch  eine  bessere  Stimmung  zu  geben,  dafs 
ich,  gegen  meine  Ueberzeugung,  ihr  das  Leiden  ganz  un¬ 
bedeutend,  und  dafs  es  leicht  zu  heilen  sei,  vorstellte. 
Dies  gelang  mir,  allem  Anschein  nach,  sehr  gut,  wozu  der 
Umstand  beitrug,  dafs  die  Patientin  ein  unbegräoztes  Zu¬ 
trauen  zu  mir  zu  haben  schien. 

Jetzt  wandte  ich  mich  zu  deren  Hausarzt,  und  erfuhr, 
dafs  dieser  seine  Pflicht  in  vollem  Maafse  getban,  und  mir 
nichts  übrig  gelassen  hatte,  als  zur  Jodine  zu  greifen.  Dies 
spitzige  Messer  aber  bei  einem  so  übertrieben  reizbaren, 
schwächlichen  und  abgemagerten,  schon  am  Schleichfieber 
leidenden  Körper  anzuwenden,  war  mir  gleichwohl  sehr 
bedenklich.  Ich  schlug  daher  zuvörderst  einen  Versuch  mit 
dem  innerlichen  Gebrauche  des  Carbo  animalis  vor,  welches 
mein  Herr  College  auch  einging,  ob  ihm  gleich  dies 
Mittel  noch  unbekannt  war.  Da  man  nicht  verlangen 
konnte,  dafs  es  schon  in  der  Orts- Apotheke  getroffen 
wurde,  ob  ich  es  gleich  in  den  beiden  llaupt- Apotheken 


363 


gegen  Scirrhus  und  Krebs. 

meines  Kreises  bereits  eingeführt  hatte,  so  schickte  ich  die 
Vorschrift  zur  richtigen  Anfertigung  dahin,  worauf  es  auch 
in  der  dasigen  Officin  sofort  bereitet  wurde.  Jetzt  bekam 
die  Kranke  Morgens  und  Abends  zwei  Gran  mit  Zucker 
abgerieben.  Da  nach  vierzehntägigem  Gebrauche  noch  keine 
sonderliche  Einwirkung  auf  die  kranke  Brust  statt  fand,  so 
stieg  der  Hausarzt  mit  meinem  \  orwissen  und  meiner  Zu¬ 
stimmung  bis  auf  drei  Gran.  Nun  kamen  schnell  bedeu¬ 
tende  Veränderungen  zu  Tage;  die  Verhärtung  zertheilte 
sich  mit  jedem  Tage  mehr,  wobei  bald  Frohsinn,  Efslust, 
Verdauungskraft  und  Zunahme  des  Körpers  täglich  sichtba¬ 
rer  wurden.  Jetzt,  da  nun  dies  Mittel  vier  Wochen  lang 
gebraucht  ist,  findet  sich  eine  Brust  der  andern  im  Um¬ 
fange  und  an  Weichheit  fast  gleich,  und  es  ist  keine  Scir- 
rhosität  mehr  in  derselben  wahrzunehmen. 

Ob  nun  gleich  i.die  Naturkraft  oft  viel  thut,  und  bei 
dergleichen  Beobachtungen  nicht  selten  irre  führt,  welches 
auch  hier  ein  möglicher  Fall  sein  konnte,  und  daher  noch 
nicht  mit  aller  Bestimmtheit  festzustellen  war,  dafs  schon 
krebsartiger  Scirrhus  hier  wirklich  statt  fand;  so  geht,  nach 
meiner  Ansicht,  doch  so  viel  aus  diesen  meinen  Beobach¬ 
tungen  hervor,  dafs  dieses  Mittel  einige  Aufmerksamkeit 
verdient,  und  anderweitige  Versuche  damit  angestellt  wer¬ 
den  sollten,  zumal  es  ohne  grofse  Vorsicht,  und  ohne  alle 
Gefahr,  bei  jedem  Körper  in  Anwendung  kommen  kann. 
Auch  dürfte  dieses  Mittel  noch  um  so  mehr  zu  empfehlen 
sein,  da  überhaupt  mit  der  Jodine  schon  viel  Schaden  an¬ 
gerichtet  worden  ist,  und  die  Frage  entsteht,  ob  der  Nach¬ 
theil,  der  oft  verborgen  bleibt,  den  Nutzen  bis  jetzt  nicht 
übersteigt?  Die  Jodine  kann  auch  nicht  bei  allen  Naturen, 
und  bei  jedem  Körper,  angewandt  werden,  so  vortrefflich 
sie  sich  auch  in  der  Wirkung,  hier  und  da  in  Zurückbil¬ 
dung  der  Scirrhen  schon  gezeigt  haben  mag,  und  alle  son¬ 
stige  frühere,  uns  zu  diesem  Zweck  bekannt  gewordene 
Mittel  die  Probe  nicht  gehalten  haben. 


364 


XIV.  Dissertationen. 


XIV. 

D  issertat 


o  li  c  n . 


I.  Der  Universität  Leipzig. 

Observationes  quaed  am  de  Nosocomio  militari 
Methenensi  ac  praecipuis,  qui  in  ipso  (hoc)  ob- 
vii  fuerunt,  morbis,  quas  pro  impetrandis  summis  in 
medicina  et  chirurgia  honoribus  facultatis  medicae  Lipsien- 
sis  indultu  d.  Hl.  mens.  Octobr.  A.  R.  S.  1828.  publice 
proposuit  Auctor  Joannes  Augustus  Kduardus  Bor- 
ipann,  Dresdanus.  Lipsiae.  4.  pp.  22. 

Diese  Abhandlung  macht  dadurch  eine  grofse  Ausnahme 
von  den  gewöhnlichen  Inauguraldissertationen,  daCs  der  Ver¬ 
fasser  derselben  seinen  Gegenstand  nicht  compilatorisch  und 
descriptiv  behandelt,  wozu  die  meisten  angehenden  Aerzte 
durch  die  Natur  ihrer  Verhältnisse  gezwungen  sind,  son¬ 
dern  dafs  er  fern  von  aller  Büchergelehrsamkeit  eine  Art 
von  nfilitärärztlichem  Rapport  über  seine  Erfahrungen  in 
einem  Hospitale  Griechenlands  während  des  griechischen 
Feldzugs  in  dem  Jahre  1826  giebt.  Reine  Liebe  zur  Sache, 
und  der  Wunsch,  durch  seine  ärztlichen  Kenntnisse  den 
Kämpfern  für  Griechenlands  Freiheit  zu  nutzen,  veranlafs- 
ten  den  Verf.  im  Jahre  1826,  von  Marseille  aus  sich  nach 
Griechenland  einzuschiffen.  Er  diente  als  Arzt  bei  dem 
Fabvierschen  Corps,  und  übernahm  dann  eine  Zcitlang 
(6  Monate  hindurch),  da  alle  Aerzte  theils  krank,  theils 
abwesend  waren,  allein  die  Besorgung  einer  Art  von  Mili¬ 
tärhospital  zu  Methena,  einem  kleinen  Dorfe  auf  der  Halb¬ 
insel  gleichen  Namens.  Die  Beschreibung,  welche  der  Vcrf. 
von  diesem  Hospitale  macht,  ist  sehf  kläglich,  denn  es 
fehlte  demselben  nichts  mehr,  als  —  Alles.  Die  Kranken 
und  Verwundeten  lagen  in  den  einzelnen  Häusern,  oder 
vielmehr  Hütten  vertheilt.  Anfangs  fehlte  cs  selbst  an  Stroh, 


XIV.  Dissertationen. 


365 


um  die  Kranken  zu  lagern,  bis  endlich  im  August  1826 
Leinewandsäcke  aus  Frankreich  ankamen,  die  mit  Stroh  oder 
Heu  gefüllt  die  Lager  der  Kranken  abgeben  mufsten;  aufser- 
dem  warea  weder  die  nüthigen  chirurgischen  Instrumente, 
noch  Medicamente  vorhanden,  an  Rettungsmitteln  fehlte  es 
ebenfalls  häufig;  die  vorhandenen  Krankenwärter  waren  mei¬ 
stens  unbrauchbar.  Nichts  destoweniger  starben  während 
der  Monate  September,  October  und  November  1826  von 
97  Griechen  nur  drei,  und  von  dreizehn  Nichtgriechen  zwei; 
von  16  Verwundeten  verloren  drei  das  Leben.  Die  Praxis 
unter  diesen  Leuten  war,  ihrer  abergläubischen  Vorurtheiie 
wegen,  sehr  schwer. 

In  den  Monaten  August,  September  und  October  1826 
war  die  Febris  inflammatoria  das  Hauptleiden,  das  die  Grie¬ 
chen  wie  die  Philhellenen  befiel,  diese  aber  gewöhnlich  star¬ 
ker,  als  jene.  Unter  den  hervorstechenden  Symptomen  war 
ein  nicht  unbedeutender  Schmerz  in  der  epigastrischen  Ge¬ 
gend  das  Hauptzeichen;  die  übrigen  Begleiter  dieser  Krank¬ 
heit  waren  die  gewöhnlichen.  Das  Fieber  endigte  gewöhn¬ 
lich  b  ei  einer  nach  den  Umständen  modificirten  antiphlogi¬ 
stischen  Behandlung  am  siebenten  Tage.  Die  Pteconvales- 
cenz  war  bei  strenger  Diät  sehr  rasch.  Dreiunddreifsig 
Kranke  wurden  ohne  Medicin  geheilt. 

Das  gastrische  Fieber  zeigte  sich  in  den  von  dem 
Verf.  beobachteten  Fällen  fast  immer  als  eine  entzündliche 
Reizung  der  inneren  Auskleidung  des  Magens  und  der  be¬ 
nachbarten  Leber;  die  Behandlung  ward  danach  antiphlo¬ 
gistisch  eingerichtet,  und  der  Verf.  war  nur  sehr  selten 
genöthigt,  nach  Application  von  Blutegeln  oder  nach  einer 
Venäsection,  zum  Brechmittel  zu  schreiten.  Sehr  erschö¬ 
pfende  Durchfälle,  nicht  selten  gegen  das  Ende  der  Krank¬ 
heit  eintretend,  machten  den  Gebrauch  des  Opiums  nöthig. 
Ausländer  litten  am  gastrischen  Fieber  länger  und  heftiger, 
als  die  Griechen;  bisweilen,  jedoch  selten,  ging  das  Leiden 
in  eine  Intermittens  über.  Mehrere  Ausländer  (zwei  Fran¬ 
zosen),  die  sich  nicht  gut  hielten,  und  bei  denen  die  ent- 


366 


XIV.  Dissertationen. 


zündliche  Reizung  der  Eingeweide  chronisch  ward,  ver¬ 
fielen,  wahrscheinlich  hei  sich  ausbildendcn  Geschwüren  auf 
der  inneren  Schleimhaut  und  hei  sich  bildenden  Verhärtun¬ 
gen  der  mesenterischcn  Drüsen,  in  einen  hectischen  Zustand, 
der  sie  nach  mehreren  Monaten  hinwegraffte.  Durchfälle 
blieben  nicht  selten  als  Reste  der  Krankheit  zurück;  meh¬ 
rere  Ausländer,  die  hieran  litten,  verloren  dieses  lästige 
Uebef  nicht  eher,  als  bis  sie  in  ihr  Vaterland  zuriickgekchrt 
waren.  Ein  sehr  häufiges  Leiden  war  in  den  Monaten  No¬ 
vember  und  December  1826  der  Rheumatismus  in  Folge 
heftiger  W  inde  und  sehr  kalter  Nächte,  die  auf  heifse  Tage 
folgten.  Er  trat  gewöhnlich  mit  sehr  starken  Kopfschmer¬ 
zen,  einem  beschleunigten  harten  Pulse,  grofser  Hitze,  hef¬ 
tigem  Durste  und  nächtlicher  Exacerbation  auf;  dabei  war  die 
Zunge  schmutzig  belegt,  der  Geschmack  war  bitter,  öfters 
Durchfall,  nicht  selten  Verstopfung.  ln  diesen  Fällen 
verlangten  alle  Griechen,  sehr  an  Venäsectionen  gewöhnt, 
ein  Aderlafs,  und  der  Verfasser  sah  dasselbe  meistens  von 
grofsem  Nutzen;  ward  die  Ader  nicht  geöffnet,  so  erschien 
gewöhnlich  heftiges  Nasenbluten.  Dabei  reichte  er  den 
Tartarus  emeticus  in  refracta  dosi  (gr.  ij.  —  gr.  iij.  Solve  in 
Aquae  font.  ^  viij.  Alle  halbe  bis  ganze  Stunden  einen  Efs- 
lüffel);  derselbe  machte  in  dieser  Gabe  sehr  häufig  einen, 
den  Zustand  des  Kranken  erleichternden  gallichten  Vomitus 
nach  den  ersten  Efslöffeln,  und  führte  dann  sehr  bald  Kri¬ 
sen  durch  Schweifs  und  Urin  herbei,  so  dafs  die  Reconva- 
lescenz  am  vierten  oder  siebenten  Tage  eintrat.  Dies  ge- 
lang  seltener  bei  Ausländern,  bei  denen  der  acute  Rheuma¬ 
tismus  sehr  leicht  in  einen  chronischen  überging,  ja  biswei¬ 
len  selbst  einen  arthritischen  Ausgang  nahm,  eine  Krank¬ 
heit,  der  maft  in  Griechenland  sehr  selten  begegnet. 

Wechselfieber  kamen  selten  unter  den  Soldaten  vor, 
bei  weitem  häufiger  unter  den  Einwohnern,  die  in  Folge 
des  Krieges  allen  Einflüssen  der  Noth  und  des  oft  rauhen 
Wetters  ausgesetzt  waren;  allein  später,  in  Folge  der  vie¬ 
len  Bivouaks  u.  s.  w.,  befielen  sie  auch  viele  Soldaten;  die 


XIV.  Dissertationen.  367 

* 

Tertianen  kamen  am  häufigsten  vor.  Der  Verfasser  verordn 
nete  gewöhnlich  anfangs  Salmiak  mit  einer  strengen  Diät, 
und  erst  nach  dem  dritten  oder  vierten  Paroxysmus,  in  ge¬ 
brochenen  Gaben,  8  bis  12  Gran  schwefelsaures  Cinchonin, 
an  dem  es  nicht  fehlte,  und  wodurch  er  gewöhnlich  seinen 
Heil  zweck  erreichte.  Die  Febris  perniciosa  intermittens 

beobachtete  der  Verf.  nur  einmal,  er  sagt  nicht,  unter  wel- 

/ 

eben  Umständen.  Sehr  zu  bedauern  ist  es,  dafs  der  Verf. 
seine  chirurgischen  Beobachtungen  gänzlich  mit  Stillschwei¬ 
gen  übergeht. 

II.  Der  Universität  Berlin. 

72.  De  Tendinis  Achillis  Buptura  et  congluti- 
natione.  D.  i.  patbologic.  Chirurgie,  auctor.  Carol. 
Frideric.  Hoffendahl,  Megalopolitan.  Def.  d.  20.  De- 
cembr.  1828.  4.  pp.  22.  Acced.  tab.  aen. 

Der  Verf.  eröffnet  seine  Abhandlung  mit  Erörterung 
des  Bekannten  über  den  Bau  und  die  Vitalität  der  Sehnen, 
beschreibt  die  Achillessehne  besonders,  und  wendet  sich 
dann  zu  den  Krankheiten  und  Verletzungen  der  Sehnen, 
der  Symptomatologie  und  der  Diagnose  der  Zerreifsung  der 
Achillessehne,  die  er  nach  den  besten  Mustern  darstellt, 
beleuchtet  die  Ursachen,  und  spricht  ziemlich  ausführlich 
über  die  Art  der  Wiedervereinigung  derselben  durch  abge¬ 
lagerten  verhärteten  Zellstoff  mit  sehr  unvollkommener  Re¬ 
generation  der  Sehnenfasern ,  und  gewifs  nicht  seltene,  spä¬ 
terhin  eintretende  Ablagerung  von  Knochenmaterie,  auf 
deren  Vorkommen  in  unverletzten  Sehnen  zweckmälsig  hin¬ 
gedeutet  wird.  Was  dieser  Dissertation  das  meiste  Interesse 
giebt,  ist  die  anatomische  Beschreibung  einer  vor  vielen 
Jahren  zerrissen  gewesenen  und  durch  Zellstoff  und  Kno¬ 
chenmasse  wieder  vereinigten  Achillessehne,  die  unter  den 
pathologisch- anatomischen  Präparaten  des  hiesigen  Museums 
aufbewahrt  wird.  Die  beigegebene  Abbildung  ist  sehr  an¬ 
schaulich.  Den  Beschlufs  der  Arbeit  macht  eine  Darstellung 


368  XIV.  Dissertationen. 

t 

der  verschiedenen  Methoden,  die  Zerreißung  der  Achilles¬ 
sehne  zu  heilen. 


1.  De  Gangraena  nosoc  omiali.  D.  i.  Chirurgie,  me- 
dic.  auctor.  Thoro.  Petr.  Thortscn,  Hafniens.  DeF. 
d.  7.  Januar.  1829.  8.  pp.  42. 

Eine  wolrlgeschriebene  Abhandlung  über  den  Ilospital- 
brand,  die  durch  eine  umsichtige  Vergleichung  der  Frühe¬ 
ren  mit  den  im  hiesigen  Charitekrankenhausc  im  Jahre  1827 
gemachten  Beobachtungen  sehr  an  Interesse  gewinnt.  Eine 
sorgsame  Angabe  der  benutzten  Quellen  gewährt  einen 
Ueberblick  über  die  hierher  gehörigen  Leistungen  der  Schrift¬ 
steller. 

2.  De  Ilydropc  cystico  sinuum  frontalium.  D.  i. 
Chirurgie,  med.  auctor.  Jul.  Guilelm.  Brunn,  Anhal¬ 
tin.  DeF.  d.  13.  Januar.  1829.  8.  pp.  22.  Acced.  tabb.  2. 

phic. 

.  .  .  1 

Boi  der  geringen  Bearbeitung,  die  die  Krankheiten  der 

Stirnhöhlen  bisher  erfaliren  haben,  sind  einzelne  Beobach¬ 
tungen  in  diesem  Zweige  der  Pathologie  von  um  so  höhe¬ 
rem  Interesse.  Eine  solche  hat  F.  Jäger  in  Wien  dem 
Yerf.  zur  Bekanntmachung  mitgetheilt,  und  wir  erhalten  sie 
in  der  vorliegenden  Dissertation.  Ein  neunjähriges  zartes, 
bis  dahin  immer  gesund  gewesenes  Judenmädchen  bekam 
nach  Unterdrückung  der  Krätze  einen  heftigen  Kopfschmerz, 
und  zugleich  eine  Geschwulst  def  linken  Augenbraunenge¬ 
gend,  die  bei  allmahligcr  Zunahme  das  Auge  sichtbar  her¬ 
abdrückte.  Bis  zum  vierzehnten  Jahre,  in  dem  das  Kind 
noch  so  wenig  entwickelt  war,  dafs  man  es  für  ein  zwölf¬ 
jähriges  hätte  halten  können,  geschah  nichts.  Prof.  Jäger, 
dem  die  Kranke  jetzt  zuerst  vorgestcllt  wurde,  fühlte,  dafs 
die,  wenn  auch  harte  Geschwulst,  dein  Fingerdrucke  wich, 
und  mit  einem  Geräusch,  als  wenn  eine  eingedrückte  Me¬ 
tallplatte  zurückspränge,  ihren  vorigen  Umfang  wieder  ein¬ 
nahm,  wenn  dieser  nachlicfs.  Dabei  waren  aufser  der  Ent- 


s 


XIV.  Dissertationen. 


369 


Stellung  selbst  lind  einem  zu  unbestimmten  Zeiten  eintre¬ 
tenden  Kopfschmerze  keine  krankhaften  Erscheinungen  zu 
bemerken.  Einige  hinzugerufene  Aerzte  stimmten  mit  Hrn. 
Prof.  Jäger  überein,  dafs  die  Geschwulst,  von  der  es  je¬ 
doch  nicht  feststand,  ob  sie  blofs  in  der  Stirnhöhle  ihren 
Sitz  hätte,  oder  sich  auch  in  die  Schädelhöhle  erstreckte, 
geöffnet  werden  müfste.  Als  dies  bei  der  Dünnheit  der 
überliegenden  sehr  erweichten  Knochenplatte  durch  eine  ein¬ 
fache  Operation  geschehen  war,  flofs  eine  grofse  Menge 
blutiges  Serum  aus,  und  es  zeigte  sich  eine  durch  zarte 
Häute  in  viele  Zellen  getheilte  Höhle;  ob  vielleicht  auch 
die  innere  Platte  des  Stirnbeins  mit  der  harten  Hirnhaut 
angegriffen  sei,  konnte  für  jetzt  nicht  ausgemacht  werden. 
Die  Wunde  entzündete  sich  stark,  so  dals,  bei  noch  ander¬ 
weitigen  Symptomen  heftiger  Reaction  eine  streng-antiphlo¬ 
gistische  Behandlung  nothwendig  wurde,  die  indessen  bei 
fortwährendem  Ausflufs  von  übelriechendem  Serum,  und 
dem  eintretenden  Schwächezustande  der  Kranken  bald  in 
eine  stärkende  übergehen  mufste.  Der  Ausflufs  hörte  auf, 
und  die  Oeffnung  verheilte  unter  dem  Gebrauch  der  ge¬ 
wöhnlichen  örtlichen  Heilmittel,  ohne  dafs  die  Geschwulst 
irgend  an  Umfang  verloren  hätte.  Die  Kranke  war  jetzt 
mehrere  Monate  lang  in  dem  Zustande  wie  vor  der  Ope¬ 
ration  ,  und  litt  bedeutende  Beschwerde  von  dem  öfters 
eintretenden  Kopfschmerz.  Jetzt  stellte  sich  aber  Bleich¬ 
sucht  ein,  und  die  schnelle  Zunahme  der  Geschwulst  konnte 
vermittelst  eines  durchgezogenen  Haarseils  nicht  mehr  ge¬ 
hemmt  werden,  wiewohl  tagtäglich  eine  grofse  Menge  stin¬ 
kender  Jauche  abflofs.  Die  Kranke  blieb  bei  vollem  Be- 

✓ 

wufstsein,  und  das  bervorgetriebene  Auge  behielt  ungeach¬ 
tet  der  starken  Dehnung  des  Sehnerven  seine  Sehkraft,  bis 
etwa  acht  Tage  vor  dem  Tode  eine  heftige  Entzündung 
seiner  äufsern  Theile  die  Hornhaut  trübte.  Endlich  erfolgte 
der  Tod  unter  zunehmendem  hectischen  Fieber,  im  fünf¬ 
zehnten  Jahre  der  Kranken.  (Die  Zeit  von  der  Operation 
bis  dahin  ist  nicht  angegeben.)  Die  Dimensionen  der  Ge- 


370 


XIV.  Dissertationen. 


schwulst  waren  zuletzt:  in  der  Länge  5  Zoll  8  Linien,  in 
der  Breite  4  Zoll  5)  Linien,  in  der  Höhe  4  Zoll  3  Linien. 
"Wir  übergehen  hier  die  nähere,  sehr  genaue  pathologisch- 
anatomische  Beschreibung,  indem  wir  nur  noch  hinzu  fügen, 
dals  die  linke  Nasen-  und  Oberkieferhöhle  bedeutend  veren¬ 
gert  waren,  und  wegen  Ausdehnung  der  Geschwulst  nach 
hinten  auch  das  Gehirn  seine  Lage  verändert  hatte,  so  dafs 
der  vordere  Lobus  die  Stelle  des  mittleren  einnahm,  und 
die  Verschiebung  der  ganzen  linken  Hirnhälfte  noch  hinter 
den  Sehbügeln  merklich  war.  Im  übrigen  war  weder  die 
innere  Lamelle  des  Stirnbeins  durchlöchert,  noch  zeigte  die 
harte  Hirnhaut,  aufser  einer  gröfsern  Vascularität,  irgend 
eine  bemerkbare  Affection.  Bei  Eröffnung  der  Geschwulst 
zeigte  sich  eine  grofse,  mit  Wasserblasen  angefüllte  Höhle, 
und  jene  enthielten  rothes,  oder  bläuliches,  oder  farbloses, 
sehr  klebriges  Serum.  Der  Bau  der  ausgedehnten  Knochen¬ 
platten  glich  dem  der  Hirnschalknochen  eines  neugebornen 
wasserköpfigen  Kindes.  Sie  waren  sehr  verdünnt,  stellen¬ 
weise  bis  auf  eine  Viertellinie,  und  knorpelartig  erweicht, 
jedoch  nicht  aller  Knochensubstanz  beraubt.  Die  aufsere 
Platte  war  glatt,  die  innere  inwendig  mit  einer  faserig- 
knorpeligen,  ziemlich  weichen,  hier  und  da  feine  Knochen- 
körner  enthaltenden  Substanz  überzogen,  die  hier  und  da 
Hervorragungen  von  der  Gröfse  von  Linsen,  Erbsen  oder 
Bohnen,  so  wie  stumpfe  Kämme  bildete.  Die  Dicke  der 
gröfsten  Massen  dieser  Art  mochte  wohl  einen  Zoll  betra¬ 
gen,  und  mit  diesen  Hervorstehungen  waren  die  Häute  der 
Wasserblasen  fest  verbunden.  Diese  Blasen  oder  Zellen 
waren  glänzend  und  von  verschiedenen,  sehr  lebhaften  Far¬ 
ben;  am  besten  liefs  sich  der  Bau  des  Ganzen  mit  dem  der 
Tunica  hyaloidea  vergleichen.  Einige  Zellen  enthielten  kaum 
eine  Drachme,  andere  wohl  eine  oder  zwei  Unzen  Flüssig¬ 
keit;  mehrere  von  den  kleineren  waren  isolirt,  die  größe¬ 
ren  standen  aber  durch  feine  Oeffnungen  in  den  Zwischen¬ 
wänden  miteinander  in  \  erbindung.  \on  den  beigegebenen 
Abbildungen  ist  die  erste  recht  anschaulich,  die  zweite  aber, 


XIV.  Dissertationen. 


371 


die  die  Basis  cranii  darstellt,  weniger  deutlich.  Zu  beiden 
sind  die  Zeichnungen  nach  den  in  Weingeist  aufbewahrten 
Präparaten  angefertigt. 

3.  De  Febre  puerperali.  D.  i.  m.  auctor.  Francisc. 
Anton.  Köchling,  Guestphal.  Def.  d.  2.  Februar.  1829. 

8.  pp.  21. 

4.  Primae  Iineae  Philosophiae  medicae.  Pars 
prior,  sistens  Specimen  systematis  scientiarum 

naturalium  in  Studium  medicum  introducen- 

»  •  * 

tium.  D.  i.  med.  thcoretic.  auctor.  Maurit.  Kalisch, 
Vratislaviens.  Def.  d.  6.  Februar.  1829.  8.  pp.  33. 

Man  überzeugt  sich  leicht,  und  auch  ohne  in  das  an¬ 
gehängte  Curiculum  vitae  gesehen  zu  haben,  dafs  der  Verf. 
durch  ein  längeres,  vielseitiges  Studium  der  Wissenschaften 
eine  Reife  erlangt  hat,  deren  Merkmale  in  den  akademischen 
Schriften  nur  allzuoft  vermifst  werden.  Sehr  richtig  be¬ 
merkt  er  in  seiner  Vorrede,  man  könne  von  jedem  Candi- 
daten  der  Medicin  verlangen,  dafs  er  wisse,  worauf  es  in 
seinem  Fache  ankomme,  und  mit  welchen  Kenntnissen  er 

f  ' 

beim  Antritt  seines  Berufs  ausgerüstet  sein  müsse.  Da  er 
es  nun  ohne  die  nöthige  Erfahrung  verschmähete,  einen 
praktischen  Gegenstand  zu  bearbeiten,  so  wollte  er  lieber 
eine  philosophisch  bearbeitete  Encyclopädie  der  medicini- 
schen  Wissenschaften  und  ihrer  Hülfsfächer  liefern,  von 
der  wir  in  dieser  Abhandlung  das  erste  « Macrocosmus » 
überschriebene  Kapitel  erhalten.  Es  ist  in  demselben  von 
der  Physiographie  und  der  Physik  die  Rede.  In  dem  zwei¬ 
ten  Kapitel  verspricht  der  Verf.  unter  der  Ueberschrift  «  Mi- 
crocosmus  M  die  theoretischen  Fächer  der  Heilkunde,  und  in 

dem  dritten  die  praktischen  abzuhandeln, 

r  ■  .  1  * 

5.  De  Petechiis  in  febribus  acutis  occurrentibus. 

D.  i.  m.  auctor.  Joseph.  Hermann,  Sigena.-Boruss. 
Def.  d.  9.  Februar.  1829.  8.  pp.  29.  * 

*6.  De  Acre  intestinal i.  D.  i.  physiol.  pathologic. 


372 


XV.  Medicitiiscbe  Bibliographie. 

auctor.  Eduard.  Scheib ler,  Rhenan.  I)ef.  d.  11.  Fe¬ 
bruar.  1829.  8.  pp.  38. 

Eine  mit  vielem  Fleifse  ausgearbeitete  Abhandlung  über 
den  bezeichneten  Gegenstand,  in  der  der  Verf.  nichts  We¬ 
sentliches  übergangen  und  sich  bemüht  hat,  unsere  noch 
ziemlich  unvollkommenen  Kenntnisse  in  diesem  Thcilc  der 
Physiologie  und  Pathologie  zu  einem  Ganzen  zu  vereinigen. 
§.  4.  S.  7.  wo  angeführt  wird,  dafs  man  von  jeher  den  Ur¬ 
sprung  der  Intestinalluft  verschieden  erklärt  habe,  sind  Ref. 
die  YY  orte  aufgefallen:  «Quid  quod  cum  animo  et  vi  vitali 
confunderentur  flatus. ”  Offenbar  bat  der  \  erf.  hier  an  die 
Hippokratische  Schrift  «  de  Ilalibus  M  gedacht,  und  sich  durch 
die  unstatthafte  Uebersetzung  des  <pv<retr  zu  dem  Mifs- 

griffe  verleiten  lassen,  das,  was  der  llippokraliker  über  »len 
Luftgeist  spiritus)  lehrt,  auf  die  Intestinalluft  zu 

beziehen! 


XV. 

Medicinische  Bibliographie. 


Alexa  nder,  Kosmetik,  oder  die  Kunst,  den  menschlichen 
Körper  zu  verschönern  und  schön  zu  erhalten;  nach  ra¬ 
tionellen  Grundsätzen,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die 
Erhaltung  der  Gesundheit,  für  Nichtärzte  und  Aerzte 
bearbeitet.  8.  Berlin.  Enslinsche  Ruchhandlung  in  Coinmis- 

•  sion.  98  S.  geh.  .  12  Gr. 

Frank,  L.  F.,  der  Arzt  als  Hausfreund,  oder  freundliche 
Belehrungen  eines  Arztes  an  Väter  und  Mütter  bei  allen 
erdenklichen  Krankheitsvorfällen  in  jedem  Alter.  Vierte, 
durchgängig  vermehrte  und  verbesserte  Auflage,  gr.  8. 
Leipzig.  Fr.  Fleischer.  296  S.  geh.  18  Gr. 

Kaiser,  K.  L.,  die  homöopathische  Heilkunst  im  Einklänge 
mit  der  zeitberigen  Mcdicin,  und  den  Gesetzen  derselben 
untergeordnet.  8.  Erlangen.  Palm  und  Enke.  XVI  und 
160  S.  18  Gr. 

Sammlungen,  neue  Rreslauer,  aus  dem  Gebiete  der  Heil¬ 
kunde;  herausgegeben  von  der  medicinischen  Section  der 
schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Cultur.  IrRd. 
gr.8.  Breslau.  Gosohorsky.  XVIII  u.  414  S.  2  Thlr.  8  Gr. 

Troja,  M.,  neue  Beobachtungen  und  Versuche  über  die 
Knochen.  Aus  dem  Italienischen  von  l)r.  J.  J.  Albrecht 
,von  Schönberg.  Mit  5  Kupfertafeln,  gr.  4.  Erlangen. 
Palm  und  Enke.  3  Thlr. 


I 


Ueber  den  angeborenen,  theilweisen  und  gänz¬ 
lichen  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Yorl  Dr.  K.  Behr, 

pract.  Arzte  in  Bernburg  und  correspondirendem  Mitgliede  der  medici- 
nisch  -  chirurgischen  Gesellschaft  zu  Berlin. 

(Vorgelesen  in  der  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und 

•i 

Aerzte  zu  Berlin  am  18.  September  1828.) 

/ 


Eine  der  merkwürdigsten,  aber  auch  wohl  seltensten  Er¬ 
scheinungen  in  anatomischer  und  physiologischer  Hinsicht 
scheint  wohl  das  Fehlen  der  Regenbogenhaut  hei  vollkom¬ 
mener  Sehkraft,  als  Vitium  congeuitum  zu  sein.  Durch 
mehrere  Beobachtungen  der  verschiedenen  Grade  dieses 
interessanten  Augenfehlers  hin  ich  im  Stande,  auch  mein 
Scherflein  zur  genauen  Kenntnifs  desselben  beizutragen. 
Indem  ich  die  früheren  Beobachtungen,  so  weit  sie  mir  zur 
Kenntnifs  gelangten,  mitzütheilen ,  mir  die  Ehre  gebe,  will 
ich  nur  bezwecken,  die  noch  statt  findenden  Zweifel  über 
die  Existenz  dieses  Naturspiels  zu  beseitigen.  —  Die  Zweif¬ 
ler  stützen  sich  auf  folgende  Beobachtung  S chmidt’s  £): 

<c  Bei  Untersuchungen  solcher  amaurotischen  Augen,  bei 
denen  die  Krystalllinse  nicht  merklich  verdunkelt  ist,  kam 


1) 

Bd.  III. 


II  im  ly  und  Schmidt  ophthalmologischc 

St.  1.  S.  171. 


Bibliothek. 


/ 


XIII.  Bd.  4.  St. 


25 


# 


374 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

es  Schmidt  mehrmals  vor,  als  oh  er  djle  ,Iris  ausge¬ 
breitet  lief  hinten  in  den  Glaskörper  hin  ei  «ge¬ 
zogen  sähe.  Im  Sommer  ISO!  brachte  ihm  der  Prosector 
Ilg  das  rechte  Auge  eines  ihm  bekannten  Mannes,  der 
sich  durch  Zerschmetterung  des  Schädels  seihst  entleibt  hatte, 
mit  der  Bemerkung,  dnfs  man  die  Iris  an  diesem  Auge  ver¬ 
misse,  obschon  dasselbe  unverwundet  und  in  völliger  Inte¬ 
grität  sei;  und  in  der  I  hat  war  es  also,  die  Iris  war  bis 
auf  einen  kaum  bemerkbaren  Saum  verschwunden ,  wie  es 
bei  der  Amaurose  sehr  oft  geschieht.  Schmidt  konnte 
durch  die  Hornhaut  hindurch  bei  den  verschiedensten  Bich- 
tungen  des  Bulbus  nach  dem  Lichte  auch  nicht  eine  Spur 
der  Iris  in  der  Tiefe  des  Auges  Entdecken.  Er  legte  nun 
den  Augapfel  in  ein  flaches  Kelchglas,  und  löste  die  Horn¬ 
haut  ringsum  ab.  Nach  Ablösung  der  Hornhaut  drängte 
sich  die  Krystalllinse  aus  der  wahrscheinlich  durch  die  Er¬ 
schütterung  des  Kopfes  zersprengten  Kapsel  ein  wenig  ent¬ 
gegen;  aber  Schmidt  konnte  nun  durch  die  Einse 
die  Iris  concav  ausgebreitet  deutlich  im  Glaskör¬ 
per  eingesenkt  sehen.  Er  brachte  sogleich  ein  feines 
Häkchen  durch  die  Einse  bis  zum  Glaskörper,  und  da  ihm 
auch  der  Pupillenraum  der  Iris  sichtbar  war,  so  führte  er 
das  Häkchen  durch  die  Pupille,  fafste  die  Iris  hinter  ihrem 
Rande  und  erhob  sie  so,  dafs  sie  über  die  Krystalllinse  zu 
liegen  kam,  und  dafs  er  ihren  ungestörten  Zusammen¬ 
hang  mit  dem  Ciliarligamcnte  bestimmt  sehen  konnte.  Vier 
Stunden  nachher  hatte  sie  sich  wieder  hinabgesenkt,  aber 
Schmidt  zog  sie  im  Beisein  Carl  Schell  in g’s  mittelst 
einer  feinen  Pincette  noch  einmal  empor. »  — 

Rudolph  i  r)  sagt  bei  Anführung  dieser  Stelle;  «»Sollte 
nicht  etwas  Aehnliches  in  den  Eüllen  gewesen  sein,  die 
kürzlich  von  Pönitz  zusammcngestellt  sind,  und  wo  auch 
von  der  Iris  nichts,  oder  sehr  wenig  zu  sehen  war?  u 


1)  Grundrifs  der  Physiologie.  Berlin  1823.  Bd.  II.  Abth.  E 
S.  221. 


375 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Wenn  wir  die  mitgetheilte  Erzählung  Schmidt’s  ge¬ 
nau  durchgehen,  so  wird  es  sehr  klar,  dafs  nur  durch  die 
gewaltsame  Todesart,  durch  die  Erschütterung  des  Kopfes, 
welche  Zerreifsung  der  Linsenkapsel  bewirkte,  die  Disloca¬ 
tion  der  Regenbogenhaut  verursacht  wurde;  denn  früher 
war  der  Augenfehler  gewifs  nicht  dagewesen,  indeih  ihn 
sonst  der  scharf  beobachtende  Augenarzt  Schmidt  bei  dem 
ihm  bekannten  Manne  gewifs  bemerkt  haben  würde.  Ueber- 
dies  sind  diese  Dislocationen  der  Iris  von  Schmidt  nur 
hei  amaurotischen  Augen  bemerkt,  gehören  also  zu  der  oft 
beobachteten  Mydriasis;  allein  nie  fand  sich  bei  angeborenem 
Mangel  der  Regenbogenhaut,  wie  später  erhellen  wird, 
auch  nur  das  geringste  Zeichen  von  Amaurose.  Auch  kam 
das  Fehlen  der  Iris  immer  als  Vitium  congenitum,  und  auf 
beiden  Augen  zugleich  vor. 

Den  Uebergang  zu  dem  gänzlichen  Mangel  der  Re¬ 
genbogenhaut  scheinen  die  öfters  beobachteten,  angeborenen 
Veränderungen  der  natürlichen  Gestalt  der  Pupille  zu  ma¬ 
chen.  Die  geringste  Abweichung  ist  die  längliche  per- 
pendiculäre  Pupille  (  Ka  tz  e  n  p  up  i  1 1  e) ,  die  sich  sel¬ 
ten  findet.  Meistens  kommt  sie  in  beiden  Augen  zugleich 
vor.  Ich  selbst  sah  sie  nur  einmal  und  fand,  dafs  die  Pu¬ 
pillen  mit  ihrem  unteren  Ende  etwas  nach  der  Nase  hin-, 
gerichtet  waren,  wie  der  gewöhnliche  Stand  der  Pupillen 
bei  den  Raubthieren  ist.  In  dem  von  Beer  r)  beschriebenen 
Falle  hatten  auch  die  Augenliedspalte  und  die  Umgebungen 
des  Auges  etwas  katzenartiges.  Die  Pupille  ist  hier  verzo¬ 
gen,  und  es  fehlt  nur  ein  geringer  Theil  des  unteren  Seg¬ 
ments  der  Iris,  indem  man  noch  einen  schmalen  Streifen 
der  Regenbogenhaut  an  der  Verbindung  der  Cornea  mit 
der  Sclerotica  bemerkt.  Die  Bewegungen  der  Regenbogen¬ 
haut  scheinen  nicht  von  denen  im  normalen  Zustande  ab¬ 
zuweichen.  — 

Bedeutender  ist  die  Spaltung  der  Iris  vom  unteren 


25  * 


I)  Das  Auge.  Wien  1813.  S.  62. 


7 


376  I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Pupillarrnnde  bis  zu  der  Verbindung  der  Cornea  mit  der 
Sclcrotica.  Nur  sehr  selten  ist  die  Iris  nach  der  inneren 
Seite  gespalten,  am  seltensten  nach  oben.  Riese  Spaltung, 
von  v.  Walther  J)  Coloboma  iridis  genannt,  findet  in 
beiden  Augen,  noch  häufiger  aber  nur  in  einem  Auge  statt. 
I£ie  mir  bekannt  gewordenen  Fülle  dieser  Art  will  ich  hier 
zur  Vervollständigung  kurz  mittheileo. 

Hagström  ?)  sah  in  beiden-  sonst  gesunden  Augen 
eines  Mannes  eiförmige  Pupillen,  deren  spitzige  Enden  auf- 
ünd  abwärts  gerichtet  waren.  Aufscrdem  waren  sie  so  nie¬ 
drig,  dafs  zwischen  dem  unteren  Rande  der  Pupille  und 
dem  Weifsen  im  Auge  nicht  das  geringste  von  der  Regen¬ 
bogenhaut  zu  sehen  war.  Dieser  Fehler  war  dem  Kranken 
angeboren,  und  einer  seiner  Vorfahren  hatte  denselben  auch 
gehabt.  Der  Mann  sah  übrigens  sehr  gut,  nur  wenn  er 
schnell  nach  etwas  blickte,  konnte  er  den  Gegenstand  nicht 
sogleich  erkennen,  vermuthlieh  weil  sich  die  Pupille  sehr 
langsam  erweiterte  und  zusammenzog. 

Acrel  J)  versichert,  dafs  dergleichen  Fehler  der  Pu¬ 
pille  selten  das  Gesicht  hindern. 

Bloch 1 2 3  4)  kannte  einen  Mann,  der  eine  längliche  und 
unbewegliche  Pupille  hatte,  und  dennoch  sehr  gut  sah. 
Zu  gleicher  Zeit  fand  sich  auch  Mangel  des  Pigments.  An 
einem  sehr  hellen  Orte  zieht  der  Kranke  die  Augenlieder 
zusammen,  und  ersetzt  dadurch  die  Bewegungen  der  Iris. 
Auch  die  Kinder  und  Geschwister  des  Manoes  hatten  die¬ 
sen  Augenfehler. 


1)  ▼.  Grafo  und  v.  VY  a  Ith  er’«  Journal  für  Chirurgie 
und  Augenheilkunde.  Bd.  II.  S.  598. 

2)  Schwedische  Abhandlungen.  1773.  Band  36.  S.  151. 
Cf.  Richter’«  chirurg.  Bibliothek.  Bd.  VJI.  S.  105. 

3)  Schwed.  Abhandl.  Bd.  36.  S.  156.  Richter’«  chir. 
Bibi.  Bd.  VII.  S.  11)6. 

4)  Medicinische  Bemerkungen.  Berlin  1774.  S.  2.  Cf.  Rich¬ 
ter’«  chir.  Bibi.  Bd.  II.  4.  S.  59. 


377 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Tode  *)  sah  eine  angeborene  längliche,  nicht  in  der 
Mitte,  sondern  in  der  unteren  Hälfte  der  Regenbogenhaut 
befindliche  Pupille  eines  Mannes,  der  gut,  aber  niedrige 
Gegenstände  besser  als  erhabene  sah. 

Ausnehmend  grofs  und  eiförmig  sah  man  sie  bei  einem 
Knaben 1  2). 

Conradi  3)  kannte  zu  Nordheim  eine  Familie,  wo 
Vater,  Tochter  und  Grofsvater  eine  Pupille  haben,  die  am 
Rande  wie  ausgeschnitten  ist,  so  dafs  sie  nach  aufsen  spitz 
zuläuft. 

Kühn  4)  beobachtete  die  längliche  Pupille  eines  gut 
sehenden  Mädchens,  die  wenig  durch  den  Eindruck  des 
Lichtes  verändert  wurde. 

Sy  bei  5)  kennt  einen  Mann,  dessen  Augen  beim  er¬ 
sten  Anblicke,  eines  unbekannten  Etwas  wegen,  äufserst 
auffallend  sind;  genauer  betrachtet,  findet  man  im  rechten 
Auge  die  Pupille  nach  unten  spitz  zulaufend,  und  im  lin¬ 
ken  ist  sie  zwar  rund,  aber  fängt  mit  ihrem  oberen  Rande 
in  der  Mitte  der  Iris  erst  an,  so  dafs  diese  unten  kaum 
merkbar  ist.  Eeide  stehen  überdies  der  Nase  um  vieles 
näher,  als  es  gewöhnlich  der  lall  ist. 

Ph.  v.  Walther  6)  sah  bei  einem  jungen  Manne  fol¬ 
genden  angeborenen  Bildungsfehler  der  Regenbogenhaut: 
Hie  Pupille  geht  bis  zum  Boden  der  vorderen  Augenkam- 


1)  Societatis  med.  Ilavn.  Collect.  Vol.  II.  1/75.  p.  146. 
Richter’s  chir.  Bibi.  Bd.  IV.  S.  230. 

2)  Ephemerid.  natur.  curios.  VIII.  p.  132. 

3)  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie.  Hannover  1/96. 
S.  517. 

4)  Naturhistorische  Bemerkungen.  St.  21.  S.  192. 

5)  Hiss,  inaug.  de  quibusdam  materiae  et  formae  ocub  ab- 
errationilms  in  statu  nonuali.  Ilalae  1799.  In  Reil’s  Archiv 
für  Physiologie.  Bd.  V.  S*.  1.  S.  63. 

6)  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  praktischen  Medi- 
cin,  Chirurgie  und  Augenheilkunde.  Eandshut  1810.  8.  /2. 


378 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

mer  herab.  Der  obere  Hand  derselben  steht  etwas  niedri¬ 
ger,  als  auf  dem  andern  Auge,  und  als  dies  bei  wohlgebil¬ 
deten  Menichenaugen  der  Fall  ist.  Dabei  ist  die  Pupille 
nicht  vertical- oblong,  sondern  von  gewöhnlicher  Breite. 
Die  l  arbe  der  Regenbogenhaut  ist  dunkel.  Der  Mann 
sieht  aut  diesem  Auge  nicht  nur  vollkommen  gut,  sondern 
selbst  besser  als  auf  dem  andern  Auge.  —  Später  kamen 
v.  Walther  r)  mehrere  Fälle  dieser  Art  vor,  und  seine 
Beschreibung  und  Bemerkungen  darüber  sind  so  bezeich¬ 
nend,  dafs  ich  sie  zur  genaueren  Keontnifs  dieses  angebo¬ 
renen  Augenfehlers  hier  wörtlich  mittheile: 

«  Es  fehlt  der  untere  mittlere  T heil  der  Iris;  der  un¬ 
tere  Band  der  Pupille  steht  auf  dem  Boden  der  vorderen 
Augenkammer  auf,  oder  vielmehr:  dieser  Pupillarrand  Et 
nicht  vorhanden.  Der  obere  Band  der  Pupille  ist  auf  die 
gewöhnliche  \\  eise  gerundet.  Die  Iris  bildet  zwei  senk¬ 
recht  stehende  Platten,  welche  nach  oben  in  der  Median¬ 
linie  des  Augapfels  vereint  sind  und  unter  sich  Zusammen¬ 
hängen,  nach  unten  aber  getrennt  bleiben  und  eine  bis  zum 
unteren  Bande  der  Hornhaut  herabgehende  breite  Spalte 
zwischen  sich  übrig  lassen.  —  Da,  wo  dieser  Bildungsfehler 
vorhanden  ist,  laufen  die  beiden  seitlichen  Ränder  der  Pu¬ 
pille  gewöhnlich  senkrecht  und  in  parallelen  Linien  bis  zum 
Strahlenbande  herab;  in  zwei  Fällen  unter  sechsen  diver- 
girten  sie  aber  nach  unten  mit  gleichsam  ausgespreizten 
Schenkeln,  so  dals  die  Breite  der  Pupille  nach  unten  grüfser 
war.  Meistens  steht  der  obere  Pupillarrand  in  der  gewöhn¬ 
lichen  Höhe.  In  einigen  Fällen  aber  ist  er  etwas  herunter¬ 
gedrückt,  die  Pupille  steht,  bezugsweise  zu  dem  gröfsten 
Querdurcbmesser  des  Augapfels,  tiefer,  und  der  Ring  der 
Iris  bat  oben  an  Rreite  gewonnen.  Immer  aber  hat  der 
obere  Rand  des  Sehloches  seine  gewöhnliche  Rundung; 
niemals  läuft  dasselbe  nach  oben  in  eine  Spitze  oder  in  eine 


1)  v.  Gräle  und  v.  V\  a  1 1  h  er*  »  Journal  für  Chirurgie  und 
Augenheilkunde.  Bd.  II.  S.  598. 


379 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

senkrecht  stehende  ovale  Spalte  aus.  —  ln  einigen  Fällen 
ist  aufser  diesem  Bildungsfehler  kein  anderer  vorhanden. 
Alle  Theile  des  Augapfels  sind  normal  gebildet,  ohne  sicht¬ 
bare  Spur  einer  anderweitigen  Hemmungsbildung.  Meistens 
aber  hat  doch  das  untere  Segment  der  Kugel,  welche  der 
Augapfel  bildet,  eine  geringere  Wölbung,  als  das  obere. 
Der  Augapfel  ist  nach  unten  wie  zusammengedrückt,  als 
hätte  die  untere  Hemisphäre  desselben  irgend  ein  Hinder- 
nifs  ihrer  freien  Evolution  erfahren.»  —  Wahrscheinlich 
täuscht  sich  hier  v.  Walther.  Es  sieht  anfangs  allerdings 
so  aus,  als  wenn  die  obere  Hälfte  des  Augapfels  grüfser 
als  die  untere  wäre,  doch  liegt  dies  nur  in  der  veränder¬ 
ten  Stellung  der  Pupille,  die  nach  unten  gestellt,  dem  un¬ 
teren  Theile  des  Augapfels  eine  zusammengedrückte  Form 
aufprägt.  Allein  macht  man  einen  Durchschnitt  am  oberen 
Pupillarrande,  der  bei  diesem  Augenfehler  der  Mitte  der 
Pupille  im  normal  gebildeten  Auge  entspricht,  so  wird  man 
finden,  dafs  derselbe  den  Augapfel  in  zwei  gleiche  Theile 
trennt.  Doch  ich  kehre  zu  der  Beschreibung  v.  Wal- 
thef’s  zurück.  1 

t<  In  einigen  Fällen  ist  auch  die  ganze  Entwickelung 
des  Augapfels  mangelhaft.  Derselbe  ist  auffallend  kleiner, 
in  Vergleichung  mit  dem  Apfel  des  zweiten,  nicht  verkrüp¬ 
pelten  Auges  gestellt:  die  Hornhaut  ist  flacher,  weniger 
aufgewölbt;  —  das  Pigment  ist  weniger  ausgebildet  und 
unstät,  rotirende  Bewegungen,  nur  in  geringerem  Grade, 
wie  an  den  Augen  der  Blindgeborenen,  sind  zugegen.  — 
Wenn  der  beschriebene  Bildungsfehler  der  Regenbogenhaut 
für  sich  allein  existirt,  ohne  anderweitige  Verkrüppelung 
des  Augapfels,  so  ist  die  Sehkraft  gut  und  ungeschwächt. 
Auch  sehen  die  damit  Behafteten  in  der  Dämmerung  nicht 
besser,  als  im  vollen  Tageslichte.  Ich  habe  sogar  den  ball 
beobachtet,  wo  der  Kranke  mit  dem  verbildeten  Auge  bes¬ 
ser  sah,  als  mit  dem  zweiten  gesunden,  an  welchem  ich 
keinen  sichtbaren  Fehler  der  Organisation  bemerkLe  (der 
oben  angeführte  Fall).  Sind  aber  die  eben  angegebenen 


380 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Bildcmgsfehler  damit  verbunden,  so  ist  das  Sehvermögen 
schwach,  besonders  der  Gesichtskreis  des  Kranken  beschrankt, 
das  Auge  aber  unfähig,  eine  nur  etwas  andauernde  Anstren¬ 
gung  zu  ertragen.  —  Immer  sind  bei  diesem  Bildungsfeh- 
ler,  auch  wenn  er  rein  für  sich,  ohne  Complication  vor¬ 
kommt,  die  Bewegungen  der  Iris  träger,  als  im  gesunden 
Zustande;  der  Unterschied  in  der  \k  eite  des  Sehlochs  im 
stärksten  Liebte  und  bei  der  schwächsten  Beleuchtung  ist 
geringe.  Bei  dem  l  ebergange  von  dem  einen  zum  andern 
bemerkt  man  zwar  Oscillationen  an  dem  oberen  normal  ge¬ 
bildeten  Pupillarrande;  die  unteren  seitlichen  Bänder  aber 
bleiben  in  Buhe.  —  Nur  in  einem  Falle  unter  sechsen,  sah 
ich  diesen  Bildungsfehler  auf  beiden  Augen;  in  allen  übrigen 
ist  er  nur  einseitig  vorhanden;  und  in  der  Organisation  des 
zweiten  Auges  ist  nichts  regelwidriges.  Niemals  sah  ich 
noch  den  umgekehrten  Bildungsfehler ,  nämlich  eine  ange¬ 
borene  Spaltung  der  Iris  nach  oben  bis  zum  Strahlenbandc, 
bei  gerundetem  unterem  Pupillarrande ;  auch  nie  eine  voll¬ 
kommene,  von  oben  bis  unten  in  der  Medianlinie  hindurch 
gehende  Spaltung  derselben.  Der  Bildungsfehler  kommt 
öfter  in  dunkelgefärbten,  als  in  hellgefärbtcn  Augen  vor. 
Unter  den  sechs  von  mir  beobachteten  Fällen  gehöre«  vier 
dem  weiblichen,  und  nur  zwei  dem  männlichen  Geschlechte 
an.  Ich  möchte  diesen  Bildungsfehler  Coloboma  iridis 
nennen. »  — 

M  agner  r)  kennt  drei  Fälle  dieser  Mifsbildung.  Zwei 
beobachtete  er  selbst,  und  beide  kamen  beim  männlichen 
Geschlechte  vor,  und  bei  beiden  fand  nur  an  einem  Auge 
die  'S  erbildung  statt.  Der  obere  Pupillarrand  stand  wenig¬ 
stens  bei  einem  dieser  Menschen  merklich  tiefer  als  gewöhn¬ 
lich.  Die  seitlichen  Bänder  der  Pupille  liefen  bei  diesem 
Menschen  nach  unten  convergirend  herab,  so  dafs  die  Breite 
der  Pupille  oben  am  gröfsten  war.  Den  dritten  Fall  kennt 


I)  Horn,  Nasse,  Henke  und  W  agner,  Archiv  für 
mcdicinischc  Erfahrung.  1821.  Sept.  Oct.  S.  256. 


381 


L  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

er  aus  einer  genauen  Zeichnung  aus  England,  die  er  auch 
mittheilt.  Bei  einem  44  Jahre  alten  Seefahrer  kam  der 
Fehler  auf  Leiden  Augen  vor,  und  die  Pupille  befand  sich 
unterhalb  der  Mitte  eines  jeden  Auges.  Am  rechten  Auge 
laufen  die  Ränder  der  Pupille  senkrecht  herab,  am  linken 
dagegen  divergiren  sie  nach  oben.  Es  fanden  meist  nur 
träge  Bewegungen  der  Iris  statt.  Die  Sehkraft  war  unge¬ 
stört,  nur  fortgesetzte  Anstrengung  der  Augen  wurde  in 
einem  Falle  nicht  ohne  Schmerzen  ertragen.  — 

Helling  1 )  nennt  diesen  Augenfehler  wegen  seiner 
Gestalt:  Kometenpupille.  Er  theilt  zwei  Fälle  dieser 
Art  mit  Abbildungen  mit.  Der  erste  betraf  ein  22  jähriges 
Mädchen,  das  den  Fehler  am  linken  Auge  hatte.  Im  rech¬ 
ten  Auge  sieht  man  ganz  deutlich,  dafs  der  Fehler  hatte 
beginnen  sollen,  aber  nicht  zur  völligen  Ausbildung  gekom¬ 
men  ist.  In  beiden  Augen  findet  sich  Cataracta  centralis. 
Im  Sehen  war  das  Mädchen  nur  unbedeutend  gehindert, 
sie  erkannte  einen  Menschen  auf  100  Schritte  und  mehr 
genau,  und  machte  die  feinsten  weiblichen  Arbeiten.  Nach 
des  Mädchens  und  ihrer  Mutter  Aussage  hatte  der  Vater 
der  ersten  denselben  Fehler  in  beiden  Augen  gehabt,  der 
auch  ihm  bei  seinem  Geschäfte  als  Mechanicus  nicht  hinder¬ 
lich  gewesen  war,  und  wobei  er  bei  einem  sonst  guten 
Gesichte  das  59ste  Jahr  erlebt  hatte.  Allem  Vermuthen 
nach  war  der  Mann,  von  welchem  Blochj  (siehe  oben 
S.  376)  spricht,  der  Grofsvater  obigen  Mädchens. 

Den  zweiten  Fall  sah  Helling  2)  bei  einem  Schnei¬ 
dergesellen.  Die  Schweife  der  Pupillen  sind  hier  nach  oben, 
und  von  aufsen  nach  innen  dergestalt  gerichtet,  dals  wenn 
man  sie  bis  über  die  Nase  verlängert,  sie  dort  in  einem 
stumpfen  W  inkel  Zusammentreffen  würden.  Die  Pupillen 
waren  übrigens  in  beiden  Augen  völlig  rein,  und  das  Seh- 


1)  Praktisches  Handbuch  der  Augenkrankheiten.  Berl.  1821. 
Bd.  I.  S.  283.  Tab.  I.  Fig.  3.  und  4. 

2)  Ebendas.  Fig.  5.  und  6. 


38'2  1.  Mangel  der  KcgenbogenhauL 

# 

vermögen  ziemlich  gut,  doch  war  die  Beweglichkeit  der 
Regenbogenhaut  bei  beiden  Individuen,  so  wie  auch  bei  den 
übrigen,  die  Helling  sah,  sehr  geringe.  — 

Erdmann  ')  erzählt:  «In  Dorpat  lebt  ein  Goldar¬ 
beiter  ü.  von  46  Jahren,  der  erwähnte  Deformität  auf  bei¬ 
den  Augen  trägt.  Am  rechten  Auge  desselben  fehlt  die 
Iris  unterhalb  der  Pupille  in  der  Breite  einer  Linie  ganz, 
nur  runden  sich  die  senkrechten  Ränder  des  Ausschnittes 
am  Boden  der  vorderen  Augenkammer  ein  wenig  nach  in¬ 
nen  zu  ab.  Am  linken  Auge  scheint  dieser  Fehler  auf  den 
ersten  Anblick  von  gleicher  Beschaffenheit  zu  sein.  Bei 
genauer  Untersuchung  aber  findet  sich  Her  unterste  Theil 
der  Iris  in  dem  Ausschnitte  bis  auf  den  dritten  Theil  noch 
erhalten,  jedoch  so  dünn,  dafs  das  schwarze  Pigment  der 
inneren  Seite  sehr  stark  durchscheint,  und  daher  auch  die¬ 
sem  Auge  fast  ganz  das  Ansehn  des  ersten  giebt.  Die  Seh¬ 
kraft  des  Mannes  war  dabei  bis  vor  16  Jahren  nicht  im 
geringsten  geschwächt,  noch  ihre  Aeufserung  durch  den 
YV  echsel  des  Lichts  auf  irgend  eine  Weise  gestört.  Später 
batte  sich  zwar  eine  gewisse  Schwäche  der  Augen  einge¬ 
stellt,  die  der  Leidende  indessen  blofs  der  Anstrengung  der¬ 
selben  beim  Kerzenlichte  zuschrieb,  und  die  im  Ganzen  so 

» 

unbedeutend  ist,  dafs  er  mit  Hülfe  einer  Brille  immer  noch 
die  feinsten  und  ausgezeichnetesten  Arbeiten  in  der  Stadt 
liefert. 

Aufser  diesem  Bildungsfehler  habe  ich  von  den,  nach 
Hrn.  v.  Walther  meistenteils  gleichzeitig  statt  findenden 
Deformitäten  des  Auges  in  Beziehung  auf  seinen  Umfang, 
seine  Wölbung  und  die  Stellung  seiner  Theile,  in  dem  vor¬ 
liegenden  Falle  nichts  wahrnehmen  können,  höchstens  mochte 
der  obere  Rand  der  Pupille  dem  Mittelpunkte  der  Cornea 
um  ein  Weniges,  doch  kaum  merklich  näher  gerückt  sein. 
Von  einer  rotirenden  Bewegung  des  Augapfels  habe  ich 


1)  Zeitschrift  für  Natur-  und  Heilkunde.  Dresden.  Bd.  IV. 
Heft  3.  S.  501. 


383 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

ebenfalls  nichts  beobachtet,  und  die  Bewegung  der  Pupille 
schien  wenigstens  von  daher  nicht  gehemmt.«  Der  Vater 
hatte  sechs  Kinder,  vier  Knaben  und  zwei  Mädchen.  Zwei 
Söhne  hatten  den  Augenfebler.  Diner  davon  lebte  noch 
und  trug  den  Fehler  vollständig  an  beiden  Augen  ohne  alle 
Störung  der  Sehfunction.  Eben  so  hafte  der  verstorbene 
Knabe  den  fehler  auf  beiden  Augen  gehabt.  Die  Augen 
bei  diesem  fehler  waren  von  hellbrauner  färbe.  Auch 
Erdmarin  konnte  durch  den  krankhaften  Ausschnitt,  ober 
gleich  fast  die  Breite  des  Pupiüendurchmessers  hatte,  eben 
so  wenig  a  1  >  v.  Walther  das  Corpus  ciliare  oder  die  Pro¬ 
cessus  ciliares  erkennen. 

Nur  zum  Theil  gehört  hier  wohl  noch  her  die  Mit¬ 
theilung  des  Dr.  Pönitz  ')  über  einen  angeborenen,  sehr 
unvollkommenen  Zustand  der  Augen,  welcher  von  selbst 
sich  verbessert,  ln  dem  Auge  eines  anderthalbjährigen  Kna¬ 
ben  erblickt  man  hinter  der  unvollkommenen  Hornhaut  in 
dem  inneren  und  unteren  Theile  der  Iris  eine  Pupille,  die 
etwa  den  fünften  Theil  des  Feldes  der  ganzen  Hornhaut 
einnimrnt,  und  ganz  das  Ansehn  einer  durch  Trennung  des 
Irisrandes  vom  Ciliarligamente  gebildeten  hat.  Mir  scheint, 
trotz  der  Ansicht  des  Dr.  Pönitz,  diese  Verbildung  auf 
einer  statt  gefundenen  Entzündung  im  Fötuszustande  des 
Knaben  zu  beruhen,  da  ja  dergleichen  Zustände,  auch  io 
späteren  Jahren  entstanden,  durch  die  Heilkraft  der  Natur 
öfters  verbessert  werden. 

Auch  ich  beobachtete  drei  Fälle  von  dem  Coloboma 
iridis.  Der  erste  kam  bei  einem  jungen  Landwirthe  vor, 
dessen  Eitern  gesunde  Augen  besagen.  An  beiden  Augen, 
die  durch  einen  unsichern  Flick  etwas  Auffallendes  zeigten, 
fanden  sich  die  Pupillen  etwas  gröfser,  als  gewöhnlich,  und 
mehr  nach  unten  gestellt.  Am  unteren  Pupiilenrande  war 
eine  Spalte  io  der  sonst  gesunden,  braun  gefärbten  Regen- 


i )  Zeitschrift  für  Natur-  und  Heilkunde.  Dresden.  Bd.  II. 

Heft  1.  S.  60. 


384 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut 


bogenhaut,  die  ungefähr  zwei  Drittel  des  Durchmessers  der 
Pupille  hatte,  und  sich  bis  zur  Verbindung  der  Cornea  und 
Sclerotica  erstreckte.  Die  Spalte  war  perpendiculär  und 
convergirte  etwas  nach  innen.  Beide  Augen  hatten  dieselbe 
Form  der  Iris.  Grelles  Licht  war  den  Augen  empfindlich 
und  bewirkte  ein  Ein-  und  Unterwärtsdrehen  des  Augapfels. 
Die  Stirnmuskeln  und  obern  Augenlieder  waren,  um  dem 
hellen  Lichte  den  Eingang  zu  verwehren ,  zusammengezo¬ 
gen.  Die  Bewegung  der  Regenbogenhaut  war  trage  und 
verengerte  die  Spalte  nicht,  wohl  aber  den  obern  Theil  der 
Pupille.  Nahe  und  kleine  Gegenstände  konnten  nur  mit 
Anstrengung,  und  dann  doch  nicht  mit  Genauigkeit  gese¬ 
hen  werden.  Seit  zehn  Jahren  habe  ich  die  Pupillen  und 
die  Sehkraft  des  Mannes  unverändert  gefunden.  Er  ist  jetzt 
verheirathet,  bat  aber  seinen  Kindern  den  Augenfehler  nicht 
vererbt. 

Die  zweite  Beobachtung  betrifft  einen  19  jährigen  Pfer¬ 
deknecht.  Das  Coloboma  iridis  findet  sich  im  linken  Auge, 
und  hat  einen  gröfseren  Umfang  als  das  vorige.  Die  Pu¬ 
pille  ist  von  grüfserem  Durchmesser,  als  im  natürlichen  an¬ 
dern  Auge,  und  nur  wenig  schmaler  ist  die  Spalte.  Auch 
hier  fehlt  der  untere  Theil  der  Regenbogenhaut.  Diese, 
in  dem  gesunden  Auge  dunkelbraun  gefärbt,  hat  eine  gleich- 
mäfsige  gelbliche  Farbe,  und  sieht  einer  durch  Entzünduug 
veränderten  dunkelbraunen  Iris  ähnlich.  Allein  weder  der 
Kranke,  noch  dessen  PLltern  erinnern  sich  einer  das  Auge  befal¬ 
len  habenden  Krankheit,  wohl  aber  versichert  die  Mutter,  den 
Augenfehler  bald  nach  der  Geburt  ihres  Sohnes  entdeckt  zu 
haben.  Merkwürdig  ist  die  Behauptung  derselben,  dafs  die 
Pupille  bei  abnehmendem  Monde  kleiner,  bei  zunehmendem 
grüfser  werde.  Zur  Zeit  meiner  mehrtägigen  Beobachtun¬ 
gen  war  Vollmond,  ich  werde  deshalb  den  Menschen  ferner 
beobachten,  um  mich  von  der  wahrscheinlichen  Täuschung 
zu  überzeugen.  '  Lichtscheu  fand  sich  bei  dem  Menschen 
durchaus  nicht,  auch  ist  die  Sehkraft  auf  diesem  Auge  so, 
gut,  als  auf  dem  fehlerfreien.  Die  Bewegung  der  Regen- 


385 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

bogenhaut  geschieht  auf  dem  verbildeten  Auge  träge,  auf 
dem  andern  wie  gewöhnlich.  Der  Vater  hat  braune,  die 
Mutter  blaue  Augen. 

Den  dritten  Fall  sah  ich  an  einem  reisenden  Schneider¬ 
gesellen.  Er  fand  auch  nur  an  einem  Auge,  ebenfalls  dem 
linken  statt,  und  verhielt  sich  wie  in  dem  eben  erzählten. 
Die  Sehkraft  war  sehr  gut.  — 

Fast  alle  diese  mitgetheillen  Fälle  kommen  in  der  Bil¬ 
dung  der  widernatürlichen  Pupille  darin  überein,  dafs  die 
Spalte  der  Iris  in  dem  unteren  Theile  statt  findet.  Nur 
Conradi  sab  dieselbe  nach  aufsen,  und  Helling  nach 
innen  gerichtet.  Nach  oben  fand  sie  sich  in  keinem  Falle. 
Die  Sehkraft  war  nur  sehr  selten  verringert,  meist  der  im 
gesunden  Auge  gleich,  einmal  bei  v.  Walther  in  dem 
verbildeten  Auge  sogar  besser,  als  in  dem  gesunden. 

Den  angeborenen  gänzlichen  Mangel  der  Re¬ 
genbogenhaut  finden  wir  zuerst  von  Klinkosch  r)  be¬ 
obachtet;  allein  hier  war  er  mit  mancherlei  Fehlern  des 
Auges  und  des  ganzen  Körpers  verbunden.  Es  fand  sich 
bei  allgemeiner  mangelhafter  Entwickelung  des  Schädels, 
wo  an  der  Stelle  des  rechten  Auges  und  der  Augenlieder 
nur  eine  Spur  einer  kleinen  Narbe  wahrgenommen  wurde, 
das  linke  Auge  sehr  grofs,  von  den  verwachsenen  Augen¬ 
liedern  bedeckt,  tiefer  als  das  rechte  gelegen  und  gröfsten- 
theils  aus  der  Augenhöhle  hervorragend,  übrigens  von  nor¬ 
maler  Gröfse,  aber  nur  aus  einer  durchsichtigen  Haut,  ver- 
muthlich  der  unvollkommen  entwickelten,  harten  gebildet, 
einer  grofsen  Wasserblase  ähnlich.  Es  enthielt  einen  Glas¬ 
körper  und  eine  Linse,  an  die  ein  Theil  des  Strahlenkran¬ 
zes  geheftet  war,  aber  keine  Spur  der  Aderhaut,  der 
Blendung,  der  Netzhaut.  Eben  so  fehlten  gänzlich  alle 
Nerven,  Muskeln  und  äufseren  und  inneren  Thränenorgane. 

Der  erste  Fall  des  angeborenen  gänzlichen  Man- 


1)  Prograrnma,  quo  sect.  et  demonstr.  indicit.  Prag  176ü. 
Vergl.  Meckel’s  pathol.  Anatomie.  Bd.  I.  S.  395. 


386 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

# 

gels  der  Iris  ohne  alle  Complication  ist  durch 
Alex.  Morisson  r)  zu  London,  der  Societe  du  cercle 
medical  zu  Paris  mitgetheilt.  Die  Augen  des  sonst  gesun¬ 
den  dreijährigen  Sohnes  eines  Sattlers  auf  einem  Dorfe  in 
der  Umgegend  von  London  zeigten  grofsc,  unbewegliche 
und  helle  Pupillen,  hinter  denen  der  Grund  der  Augen  so 
beleuchtet  war,  dafs  man  die  röthlich  gefärbte  Choroidea 
übersehen  konnte;  ein  grelles  Licht  schmerzte  die  Augen, 
ein  mäfsiges  durchaus  nicht;  im  Dunkeln  glänzten  sie,  wie 
die  der  Katzen  und  anderen  Thiere.  Der  kleine  Knabe  sah 
recht  gut  gröfsere  Gegenstände,  als  Tische,  Stühle  u.  s.  w. 
und  vermied  sie  beim  Gehen.  Kleinere  Gegenstände,  als 
Messer,  Löffel  u.  s.  w.  erkannte  er  nur  mit  Anstrengung. 
Bei  genauerer  Untersuchung  der  Augen  war  nicht  die  ge¬ 
ringste  Spur  von  Iris  an  ihnen  zu  finden,  so  dafs  die  Pu¬ 
pille  den  ganzen  Umfang  der  Hornhaut  bis  zur  Sclerotica 
einnahm.  Die  rothe  Farbe  der  Choroidea  erklärt  Moris¬ 
son  für  das  Product  des  zu  grofsen  Lichtreizes,  welcher 
die  Thätigkeit  der  Gefäfse  so  sehr  gesteigert  habe,  dafs 
rothes  Blut  selbst  in  diejenigen  eingedrungen  sei,  welche 
eigentlich  nur  farblose  Fluida  führen  (?).  —  Eine  Com¬ 
mission  der  Societe  du  cercle  medical  hat  ihr  Urtheil  über 
diese  Beobachtung  dahin  gefällt,  dafs  sie  nicht  genau  und 
ausführlich  genug  von  Morisson  mitgetheilt  sei,  und 
glaubt,  dafs  jener  angeborne  Fehler  in  den  Augen  nicht 
sowohl  in  einem  gänzlichen  Mangel  der  Iris,  als  vielmehr 
in  einer  nicht  minder  merkwürdigen  angeborenen  Mvdriasis 
bestehe,  weil  Morisson  nichts  erwähnt  habe,  weder  von 
der  Art,  wie  sich  die  Choroidea  am  Ciliarrande  endet, 
noch  von  der  Beschaffenheit  w  des  Ciliarkörpers  und  der 
Ciliarfortsätze,  welche  bei  einem  gänzlichen  Mangel  der 
Iris  zu  sehen  gewesen  sein  müfsten.  —  Es  scheint  hieraus, 


1)  Nouveau  Journal  dr  Medccine.'  Tome  VI.  Oct.  p.  105 
Vergl.  v.  (»räfe  und  v.  Walther’*  Journal  für  Chirurgie  und 
Augenheilkunde.  Bd.  I.  St.  3.  S.  381. 


387 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

dafs  die  Commission  den  Ciliarkörper  und  die  Ciliarfortsätze 
nach  der  künstlichen  Trennung  der  Iris  von)  Ciliarbande 
schon  einmal  gesehen  hat,  obschon  nichts  davon  bekannt 
geworden  ist! 

Baratta  l)  beschreibt  zwei  Augen,  denen  die  Iris 
fehlte:  «  C.  Lattuada,  22  Jahre  alt,  kam  im  Jahre  1811 
zu  mir,  und  klagte  Uber  eine  sehr  grofse  Schwäche,  die 
von  der  Geburt  an  auf  beiden  Augen  bemerkbar  war,  wes¬ 
halb  der  Patient  die  Gegenstände  in  der  Ferne  schwer  un¬ 
terscheiden  konnte,  ln  der  Nähe  sah  er  etwas  besser,  doch 
auch  nicht  gut.  Als  ich  die  Augen  untersuchte,  fand  ich 

zu  meinem  Erstaunen  keine  Regenbogenhäute,  so  dafs  der 

« 

Grund  des  Auges  ganz  schwarz  erschien.  Meinem  Gesichte 
nicht  trauend,  zeigte  ich  den  Fall  den  Herren  Professoren 
Assalini,  Monteggia  und  Paletta,  und  alle  stimmten 
darin  überein,  dafs  die  Iriden  fehlten.  Im  nächsten  Jahre  kam 
der  Mann  wieder  und  sagte  mir,  dafs  sich  das  Sehen  des  Un¬ 
ken  Auges  etwas  verbessert,  dafs  sich  aber  im  rechten  innerlich 
ein  weifser  Fleck  gebildet  hätte,  welcher  sich  bewegte  und 
das  Sehvermögen  sehr  störte.  Als  ich  die  Augen  genau 
betrachtete,  fand  ich,  dafs  die  Linse  des  rechten  vollkom¬ 
men  verdunkelt,  der  fehlenden  Iris  wegen  aber  in  ihrem 
ganzen  Umfange  sichtbar  war,  dafs  sie  bei  jedem  Blinken 
des  Augenliedes  und  jeder  Bewegung  des  Sehorgans  zitterte, 
und  deshalb  dem  jungen  Manne  sehr  beschwerlich  fiel. 
Nach  einem  Monate  trennte  sich  der  Staar  noch  mehr  von 
seiner  Umgebung,  so  dafs  sich,  wenn  der  junge  Mann  auf¬ 
recht  stand,  die  Linse  nach  dem  Glaskörper  zu  lehnte,  und 
sich  beständig  bewegte.  Senkte  er  aber  den  Kopf  nach 
vorn,  so  kam  der  Staar  an  die  Hornhaut  zu  liegen.  Diese 
Beweglichkeit  machte  mir  wahrscheinlich ,  dafs  aufser  dem 
Mangel  der  Iris,  auch  der  Glaskörper  fehlen,  und  an  seiner 


1 )  Praktische  Beobachtungen  über  die  vorzüglichsten  Au¬ 
genkrankheiten.  Aus  dem  Italienischen  übers,  von  Güntz.  Leip¬ 
zig  1822.  Th.  2.  S.  211. 


388 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

% 

Stelle  der  ganze  Bulbus  mit  wässeriger  Feuchtigkeit  ange¬ 
füllt  sein  möchte.  Der  Kranke  wollte  von  dem  Febel  be¬ 
freit  werden,  und  jenen  dunkeln  Körper  fixirt  haben.  Als 
ich  aber  die  Sache  überlegt  hatte,  vertröstete  ich  ihn  auf 
die  Zeit  der  Auflösung  des  Staars,  welcher  auch  wirklich 
nach  einigen  Monaten  sehr  verkleinert  wurde.  Da  keine 
Anzeige  zur  Depression  vorhanden  war,  w-eil  ein  fester 
Gegenstand  wie  der  Glaskörper  fehlte,  in  welchen  man  den 
Staar  dauernd  versenken  konnte,  so  hätte  man  nur  die  Ex- 
traction  versuchen  können;  allein  der  Gedanke  an  den  völ¬ 
ligen  Ausllufs  des  Augapfels  reichte  hin,  um  mich  zijr 
Guterlassung  dieser  Operation  zu  bewegen.  Im  linken  Auge 
war  Linse  und  Kapsel  verdunkelt;  beide  salsen  jedoch  un¬ 
beweglich  an  ihrem  Platze.  Da  aber  auch  hier  die  Regen¬ 
bogenhaut  fehlte,  so  war  ein  linienbreiter  Ring  im  Um¬ 
fange  des  Staars  frei,  weshalb  der  Mensch  recht  gut  sehen 
konnte.  —  Die  seltene  Beschaffenheit  dieser  Augen  und 
Staare,  die  Begleitung  der  angeführten  Symptome,  uud  der 
Umstand,  dafs  sich  bei  keinem  anderen  Schriftsteller,  so  viel 
ich  weifs,  ein  ähnlicher  Fall  vorfindet,  sind  die  Bewegungs- 
griinde,  welche  mich  zur  Bekanntmachung  dieser  Geschichte 

veranlassen. »  — 

Dzondi  *)  sagt:  «Merkwürdig  und  noch  nicht  beob¬ 
achtet,  so  viel  mir  bekannt  ist,  war  die  angeborene  Abnor¬ 
mität  eines  gänzlichen  Mangels  der  Regenbogenhaut  bei 
einen»  jungen  Frauenzimmer,  der  Dem.  Letzius  aus  Bal- 
lenstädt.  Ob  sie  gleich  ein  grofses  Auge  und  eine  verhält- 
nifsmäfsig  grofse  Cornea  hatte,  und  sehr  viel  Licht  in  das 
Auge  fallen  mufstc,  so  war  sie  doch  dadurch  nie  im  Sehen 
beschränkt  worden,  noch  der  Lichtscheu  unterworfen  gewe¬ 
sen,  sondern  konnte  selbst  jetzt  noch  schreiben,  ob  sie 
gleich  auf  dem  einen  Auge  mehrere  leucomatöse  Vcrdunke- 

lun- 

. .  - 

0 

1)  Rnst’s  Magazin  für  die  gesautnite  Heilkunde.  Bd.  VI. 
St.  1.  S.  33. 


f 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut.  389 

Jungen,  und  im  Mittelpunkte  des  andern  einen  undurchsich¬ 
tigen  Körper  hatte.  Dieser  undurchsichtige,  weifslÄ?hr, 
zackige'  und  unregelmäfsige  Körper,  welcher  drei  bis  vier 
Linien  nach  verschiedenen  Richtungen  im  Durchmesser  hielt, 
einer  zackenformig  crystallisirten  Anschiefsung  von  Kalk 
glich,  und  sich  im  Mittelpunkte  des  Glaskörpers  befand, 
war  gewifs  nichts  anderes,  als  phosphorsaure  Kalkerde,  da 
die  Kranke  an  gichtischen  Beschwerden  litt,  und  lange  ge¬ 
litten  hatte. 5>  — 

Den  neuesten  Fall  des  gänzlichen  Mangels  der 
Blendung  erzählt  uns  Pönitz  *)  in  Dresden.  Er  findet 
sich  an  beiden  Augen  eines  17jährigen  Mädchens,  aus  Wils¬ 
druff,  Namens  Pietsch  mann,  und  ist  angeboren.  Die 
Mutter  versichert,  in  ihrer  Schwangerschaft  über  einen 
Mann  mit  sehr  auffallender  schwarzer  Brille,  welcher  ihr 
schnell  entgegentrat,  sehr  erschrocken  zu  sein.  Sie  hat 
noch  12  Kinder  mit  normal  beschaffenen  Augen  geboren. 
Die  Augen  dieses  Mädchens  waren  bis  vor  zwei  Jahren 
völlig  klar,  und  das  Gesicht  auf  beiden  Augen  so  gut,  dafs 
cs  wie  andere  Kinder  die  Schule  besuchte,  auch  lesen  und 
schreiben  lernte.  Es  wurde  von  hellem  Lichte  nicht  mehr 
geblendet,  als  andere  Kinder,  und  sali  in  der  Nähe  scharf, 
auch  mit  völliger  Ausdauer.  Weniger  gut,  doch  auch 
nicht  schlecht,  war  das  Gesicht  in  die  Ferne.  Seit  zwei 
Jahren  aber  verdunkelte  sich  allmählig  der  Krystallkörper 
beider  Augen;  war  jedoch  zur  Zeit  der  später  gemachten 
Operation  in  beiden,  und  ist  selbst  jetzt  in  dem  nicht  ope- 
rirten  noch  nicht  ganz  undurchsichtig.  In  diesem  Auge 
sieht  man  den  verdunkelten  Krystallkörper  in  seinem  gan¬ 
zen  Umfange  von  einem  schwarzen,  klaren,  die  Breite  einer 
halben  bis  ganzen  Linie  haltenden,  ununterbrochenen  Kreise 
umgeben,  durch  welchen  ungetrübtes  Licht  ins  Auge  fällt 
und  dem  Sehen  durch  den  sehr  trüben  Krystallkörper  zu 


1)  Zeitschrift  für  Natur-  und  Heilkunde.  Dresden.  Bd.  II. 
St.  2.  S.  214. 


XIII.  Bd.  4.  St. 


26 


390  I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Hülfe  kommt;  sonst  wurde  dieses  Mädchen  wohl  kaum 
seihst  in)  hellsten  Sonnenscheine  haben  gehen  und  das  alles 
sehen  können,  was  es  sah,  und  auch  jetzt  mit  dem  cata- 
raetösen  Auge  noch  immer  sieht;  denn  der  bemerkte  klare, 
vom  Krystnllkörper  nicht  erreichte  Kreis  bildet  eine  peri¬ 
pherische  Pupille ,  welche  zwar  schmal,  aber  von  grolscr 
Ausdehnung,  vorzüglich  zum  Sehen  ins  Grofse  nützt.  Den¬ 
noch  machte  die  durch  zunehmende  Verdunkelung  des  kry- 
stallkörpers  verursachte  Untüchtigkeit  zu  den  meisten  Ile  • 
Schädigungen  die  Herstellung  der  Klarheit  und  Deutlichkeit 
*  des  Gesichts  sehr  wünschenswert!).  Pönitz  fand  bei  der 
Zerstückelung  die  verdunkelte  Linse  lederartig,  hart  und 
zähe.  Sie  liefs  sich  ohne  beträchtliche  Schwierigkeit  nur 
in  vier  Stücke  trennen.  Nach  vierzehn  Tagen  war  bereits 
mehr  als  die  Hälfte  resorbirt.  Da  Pönitz  21  Wochen  spä¬ 
ter  keine  Verminderung  des  Biestes  mehr  bemerkte,  so  führte 
er  durch  dieselbe  Stelle  der  Hornhaut  nochmals  die  Nadel 
ein,  und  suchte  die  noch  vorhandene  Staarmasse  möglichst 
zu  zerstückeln.  Nach  sechs  Wochen  war  alles  bis  auf  zwei 
Stückchen  verschwunden,  deren  gröfsercs  man  zwölf  Wo¬ 
chen  nach  der  Operation  in  der  Gröfse  einer  sehr  kleinen 
Erbse  nach  unten  und  aufsen  noch  sieht.  (Aus  dieser  Pe¬ 
riode  ist  die  von  Carus  gemachte  Zeichnung  beider  Augen.) 
Sechs  Wochen  später  war  es  gänzlich  verschwunden,  und 
das  Gesicht  hatte  sich  bis  zum  Unterscheiden  der  Buchsta¬ 
ben  mäfsiger  Gröfse  (und  zwar  ohne  Brille)  gebessert.  Das 
Mädchen  kann  mit  Hülfe  dieses  Auges  schnell  und  sicher 
allein  gehen.  Auch  ist  keine  Spur  von  Lichtscheu  zu  be¬ 
merken.  Das  linke  Auge  zeigt  sich  nun  hinter  der  Horn¬ 
haut,  und  zw'ar  in  einem  Umfange,  wde  diese  ihn  hat, 
schwarz.  Man  sieht  durch  die  Hornhaut  in  den  ganzen 
Augapfel  hinein,  bemerkt  jedoch  durchaus  nichts,  als. eine 
mattschwarze  Höhle.  Später  wollte  Pönitz  auch  das  an¬ 
dere  Auge  operiren;  allein  bis  jetzt  ist  die  Fortsetzung  der 
Beobachtungen  dieser  Augen,  die  er  mitzutheilen  versprach, 
nicht  erschienen.  — 


391 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Ich  komme  nun  zu  dem  von  mir  beobachteten  Falle 
dieser  merkwürdigen  Missbildung.  Caroline  Schwabe’ 
in  den  letzten  Tagen  des  Jahres  1826  in  Rosrhwitz,  einem 
Dorfe  hei  Bernburg  geboren,  zeigte  bald  nach  der  Geburt 
eine  so  bedeutende  Lichtscheu,  dals  sie  heftig  schrie,  wenn 
Lichtstrahlen  in  ihre  Augen  fielen.  Die  Mutter,  ein  noch 
ziemlich  junges  Mädchen,  sah  durchaus  nichts  an  den  Au¬ 
gen,  als  dafs  sie  nicht  roth,  wie  sie  vermuthete,  sondern 
dunkelschwarz  waren.  Am  26.  April  1827,  als  ich  dem 
Kinde  die  Kuhpocken  impfte,  konnte  ich,  obschon  früher 
auf  die  sonderbaren  Augen  des  Kindes  aufmerksam  gemacht, 
dieselben  bei  aller  Mühe  nicht  sehen,  da  die  Impfung  in 
einer  hellen  Stube  bei  starkem  Sonnenscheine  geschah,  und 
hier  das  Kind  sehr  weinte.-  Acht  Tage  darauf  liefs  ich  das 
Kind  sogleich  in  eine  dunkle  Stube  tragen,  und  fand  bei 
der  Untersuchung  der  Augen  diese  nicht  geröthet,  aber 
ohne  eine  Spur  von  Regenbogenhaut.  Die  Augen 
der  Mutter  waren  regelmäfsig  und  von  blauer  Farbe,  die 
des  wahrscheinlichen,  viel  älteren  Vaters  eben  so  gut  ge¬ 
formt,  und  ebenfalls  blau.  Die  Schwangerschaft  der  Mut¬ 
ter  war  normal  verlaufen.  Die  Mutter  konnte  sich  an 

J 

nichts  erinnern,  welches  wohl  eine  Vermuthung  zu  dem 
so  häufig  angegebenen  Versehen  hätte  geben  können.  Aufser 
diesem  Augenfehler  könnte  ich  an  dem  Kinde  keine  bedeu¬ 
tende  Abnormität  entdecken;  es  schienen  nur  die  Kopfhaare 
und  Augenbraunen  schwach,  dünn  und  blond,  die  oberen 
Augenlieder  dick  und  wulstig.  Die  Haut  des  Kindes  war 
zart  und  weich  anzufühlen,  und  das  gut  gebaute  Kind  ge¬ 
dieh  sichtbar.  Nur  sehr  unvollkommen  liefsen  sich  jetzt 
und  in  den  darauf  folgenden  Besuchen  des  Kindes  Augen 
beobachten;  oft  mufste  ich  mich  begnügen,  die  dunkle, 
schwarze  Pupille,  aus  der  das  ganze  Auge  zu  bestehen 
schien,  mit  einem  schnellen  Blicke  gesehen  zu  haben.  Bald 
nachher  verheirathete  sich  die  Mutter,  und  zog  nach  Bern¬ 
burg,  wodurch  ich  Gelegenheit  erhielt,  das  Kind  öfters 
zu  sehen. 

26* 


i 


392  I.  Mangel  der  Hegcnbogcnhaut. 

Nach  und  nach  schien  sich  die  Kleine  an  das  Licht  zu 
gewöhnen,  allein  noch  immer  war  das  Beobachten  der 
Augen  schwer,  da  dieselben  so  unstät  waren  und  «las  Kind, 
wahrscheinlich  wegen  unsicheren  Sehens,  ‘ängstlich  und 
scheu  war.  Bei  stark  einfallendem  Lichte  schien  noch  ein 
Rudiment  der  Iris  da  zu  sein,  welches  sich  aber  später  als 
inneres  Blatt  der  Sclerotica  erwies.  Die  Hornhaut  war 
etwas  gewölbter  als  gewöhnlich.  Zu  dieser  Zeit  schrieb 
ich  meinem  Freunde  Las  per  eine  kurze  Notiz  über  diese 
Augen,  die  dieser  auch  in  Rust  s  und  seinem  Reper¬ 
torium  mittheilte.  Bei  genaueren  Beobachtungen  fanden 
sich  mehrere  Abweichungen  von  dem  früher  Mitgetheilten, 
eben  so  auch  Mittheilungen  früher  bekannt  gemachter  Fälle 
dieses  Augenfehlers.  Zufällig  entdeckte  ich  auch  bei  mei¬ 
nem  Besuche  gegen  Abend,  dafs  des  Kindes  Augen  wie 
Feuer  leuchteten,  doch  konnte  ich  dem  Kinde  wegen  Licht¬ 
scheu  die  Stellung  nicht  wieder  geben,  in  der  mir  das 
Leuchten  erschien. 

Im  November  1827  erkrankte  das  Mädchen  bei  der 
heftigsten  Lichtscheu  an  gutartigen  Masern,  bekam  nach 
einer  Erkältung  heftige  Bronchitis,  die  durch  Antiphlogi- 
stica  gehoben  wurde. 

Jetzt,  im  Anfänge  des  Septembers  1828,  hat  das  Kind 
dieselbe  Gröfse  und  gleiche  Fähigkeiten,  als  andere  Kinder 
von  1  £  Jahren.  Seine  Haut  ist  weich  und  w'eifs,  die  Kopf, 
haare  sind  dunkelblond,  und  die  Augenbraunen  weifslich 
und  schwach.  Ein  etwas  scheues  Betragen  gegen  Kinder 
seines  Alters  rührt  wohl  daher,  dafs  es  wegen  Lichtscheu 
die  gewöhnlichen  Spiele  derselben  nicht  theilen  konnte. 
Es  verliert  sich  aber  dasselbe  mit  der  Abnahme  der  Licht¬ 
scheu;  aber  immer  sieht  das  Kind  finster  aus  wegen  der 
ctw'as  gerunzelten  Stirn  und  der  wulstigen,  dicken  oberen 
Augenlieder ,  hinter  welchen  sich  die  Augen  zu  verbergen 
suchen.  Leim  Aufwärtssehen  verschwindet  auch  noch  der 
kleine  Theii  des  sichtbaren  Ciliarrandes  des  oberen  Augen¬ 
liedes.  Die  Stellung  der  uoruhigen  Augäpfel  ist  meistens 


393 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

nach  unten,  die  des  linken  mehr  nach  unten  und  dem  Na- 
senwinkel  zu.  Durch  Zureden  wird  es  jetzt  möglich,  dals 
das  Kind  die  Augen  fixirt,  und  dann  sieht  man  die  bläu¬ 
lich  gefärbte  Sclerotica,  die  dunkelschwarze  grofse  Pupille, 
aber  nichts  von  Regenbogenhaut.  Die  Cornea  ist  in  die 
Sclerotica  eingesetzt,  und  der  äufsere  Falz  der  letzteren 
giebt  dem  Auge  das  Ansehn  eines  mit  einem  Gerotoxon 
behafteten  Auges.  Stellt  man  sich  vor  das  in  den  Hinter¬ 
grund  der  Stube  gestellte  Kind,  und  läfst  durch  die  Fen¬ 
ster  Licht  in  die  Augen  des  Kindes  fallen,  so  entsteht  in 
denselben  ein  rothes  Leuchten,  das  dem  Auge  das  Ansehn 
eines  leuchtenden  Rubins  giebt.  Die  Augen  des  Beobach¬ 
ters  müssen  aber  fast  ganz  parallel  mit  den  einfallenden 
Lichtstrahlen  nach  den  Augen  des  Kindes  sehen.  Unter 
der  Sehaxe  in  dieser  Stellung  die  Augen  des  Mädchens  be¬ 
trachtet,  ist  das  Leuchten  derselben  verschwunden,  und 
es  erscheint  dann  nur  noch  an  der  Verbindungsstelle  der 
Sclerotica  mit  der  Cornea  gleich  über  dem  unteren  Augen¬ 
liedrande  ein  rother  Streifen,  der  nach  und  nach  gröfser 
wird,  je  höher  man  über  die  Sehaxe  der  Augen  den  Kopf 
hebt.  Einigen  Beobachtern,  und  auch  mir,  schien  deshalb 
das  Leuchten  nur  von  der  unteren  Fläche  der  Choroidea 
herzurühren;  allein  bei  gehöriger  Stellung  der  Augen  des 
Mädchens  leuchtete  auch  die  obere  Hälfte.  Es  ist  zu  dem 
Beobachten  dieses  Leuchtens  nicht  erforderlich,  dafs  in  ein 
ganz  dunkles  Zimmer  Sonnenstrahlen  einfallen;  es  erfolgt 
schon  in  einer  ziemlich  hellen  Stube  bei  gewöhnlicher  Be¬ 
leuchtung,  wenn  nur  das  Kind  etwas  entfernt  von  dem 
Fenster  hingestellt  wird.  Ja  selbst,  wenn  Mondschein  in 
eine  dunkle  Stube  nach  den  Augen  des  Kindes  fällt,  er¬ 
scheint  das  Leuchten,  nur  von  geringerer  Intensität,  da  es 
am  Tage  wie  von  einer  glühenden  Kohle  herzurühren 
scheint.  Durch  diese  rothe  Farbe  unterscheidet  es  sich 
auch  von  dem  Leuchten  der  Katzen-  und  Eulenaugen,  in¬ 
dem  dieses  mehr  ahn  gelbliches,  grünliches,  phosphorisches 
Licht  wahrnehmen  läfst.  — 


394 


L  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Die  Sehkraft  des  Kindes  scheint  ungestört  zu  sein, 

und  oft  ist  die  Lichtscheu  wie  verschwunden.  So  stellte 

ich  mehrmals  das  Kind  auf  einen  Fleck,  auf  den  durch  die 

• 

Fenster  die  helle  Mittagssonne  fiel,  mit  dem  Gesichte  gegen 
das  Fenster,  legte  vor  dasselbe  auf  einen  Stuhl  ein  Bilder¬ 
buch  ,  und  liefs  mir  die  ihm  bekannten  Bilder  zeigen.  Nach 
kurzem  Zögern  suchte  das  Kind  die  Katze,  das  Schaaf,  die 
Kuh  und  das  Pferd  auf,  obschon  auf  die  Bilder  die  Sonnen¬ 
strahlen  fielen.  Auf  den  Fufsboden  warf  ich  eine  Steck¬ 
nadel,  die  cs  auch  nach  einigem  Suchen  aus  einer  von  der 
Sonne  beschienenen  Stelle  herausnahm.  Nach  diesen  Kxpc- 
rimenten  schienen  die  Augen  eben  nicht  angegriffen  zu 
sein.  Dessenungeachtet  scheint  das  Kind  in  der  Dämmerung 
am  wohlsten  sich  zu  befinden,  es  ist  dann  munter,  spielt 
und  läuft  mehr  herum.  Unaufgefordert  zeigte  sie  mir  dann 
ihre  Bilder,  leichter  fand  sie  dann  die  in  Sand  geworfenen 
Steck-  und  Haarnadeln.  In  fast  gänzlicher  Dunkelheit,  wo 
meine  im  Hellen  und  Dunkeln  scharf  sehenden  Augen  kaum 
noch  die  Umrisse  der  bemalten  Holzschnitte  sahen ,  erkannte 
das  Kind  die  Figuren  ziemlich  schnell,  obschon  es  das  Bil¬ 
derbuch  nicht  lange  besessen  hatte,  und  es  vielleicht  sonst 
ein  mehr  mechanisches  Aufsuchen  und  Finden  gewesen  sein 
könnte.  Ueberhaupt  trennt  es  sich  ungern  von  den  mit  leb¬ 
haften  Farben  bemalten  schlechten  Holzschnitten  seines  Bil¬ 
derbuches  und  seiner  bunten  Puppe.  Die  brennendsten  Far¬ 
ben  in  Koth  und  Gelb  sind  dem  Kinde  in  Bildern  und  Blu¬ 
men  die  liebsten,  es  sucht  sich  dieselben  immer  aus,  und 
.  verlangt  sie  mit  Heftigkeit.  Hat  es  dieselben  erlangt,  so 
betrachtet  es  sie  lange  mit  freundlicher  Miene,  und  hebt 
sie  sorgfältig  auf.  Kleinere  Gegenstände  bringt  sie  ziem¬ 
lich  nabe  an  die  Augen,  aber  nie  der  Sehaxe  gegenüber, 
sondern  unter  dieselbe.  Am  unangenehmsten  ist  dem  Kinde 
das  Aufwärtssehen ,  auch  bei  geringer  Beleuchtung;  es  wen¬ 
det  dann  die  Augen  sehr  bald  zur  Seite,  am  liebsten  aber 
nach  unten.  Alle  änderet)  Sinnorgane  sind  gesund;  beson¬ 
ders  das  Gehör  ausgezeichnet. 


I 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut.  395 

Interessant  wird  die  fernere  Entwickelung  sein,  und 
ich  werde  deshalb  meine  Beobachtungen  eifrig  fortsetzen.  — 

Aufsfcr  diesem  Falle  sah  ich  auch  die  von  Dzondi  be¬ 
schriebene  Augenkrankheit  der  Dem.  Lezius  in  Ballenstädt. 
Die  Kranke,  jetzt  47  Jahre  alt  und  gehörig  inenstruirt,  war 
in  der  Kindheit  immer  gesund,  und  konnte  bei  ihrem  ange¬ 
borenen  Augenfehler  die  feinsten  Arbeiten  machen.  Nach 
leidenschaftlichem  Tanzen,  im  zwanzigsten  Jahre,  bekam  sie 
rothe  entzündete  Augen,  zu  deren  Heilung  nichts  versucht 
wurde,  und  seit  dieser  Zeit  eine  noch  jetzt  statt  findende 
Verdunkelung  der  vorderen  Linsenkapsel  des  linken  Auges. 
Die  Verdunkelungen  der  Cornea  sind  grüfstentheils  an  der 
gröfsten  Wölbung  dieser  Haut,  und  die  leichte  Trübung 
der  Basis  derselben  läfst  noch  so  viel  Licht  in  beide  Augen 
fallen,  dafs  die  Kranke  ihre  häuslichen  Arbeiten  verrichten 
kann.  Selbst  die  Verbindung  der  Cornea  mit  der  Sclerotica 
läfst  sich  hier  wie  bei  der  Caroline  Schwabe  erkennen. 
Sie  findet  auf  gleiche  Weise  wie  bei  dieser  statt.  Die 
Unruhe  der  Augäpfel  ist  auch  hier  sehr  auffallend,  und 
scheint  jetzt,  wo  nicht  zu  viel  Licht  in  die  Augen  fällt, 
mehr  Angewöhnung  als  wirkliches  Bedürfnifs  zu  sein.  Die 
Augenlieder  sind  ganz  normal. 

Es  sei  mir  noch  erlaubt,  einige  Folgerungen  über 
mehrere,  noch  immer  der  Beleuchtung  bedürftige,  anato¬ 
misch-physiologische  Gegenstände  aus  den  an  diesen  Augen 
ohne  Iris,  angestellten  Beobachtungen  mitzutheilen. 

Das  Entstehen  des  Mangels  der  Iris  kann  sich  nur  er¬ 
eignen,  während  der  Organismus  in  der  ersten  Periode  der 
Bildung  begriffen  ist,  wo  sich  jedes  Organ  gestaltet  und 
beinahe  jede  Form  annehmen  kann;  nie  kann  ein  neuer  Bil- 
dungsprozefs  eingeleitet  werden,  um  diesen  Fehler  zu  er¬ 
setzen.  Er  gehört  deshalb  zu  den  Mifsbildungen,  den  Feh¬ 
lern  der  ersten  Bildung,  wie  Meckel  l)  sie  nennt.  Die 
Nothwendigkeit,  auf  eine  besondere  Art  milsgebildet  zu 


I)  Pathologische  Anatomie.  Bd.  1.  S.  6. 


396 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

werden,  erklärt  sich  vorzüglich  ans  der  Entwickeluogsge- 
schichte  eines  jeden  Organs,  indem  sich  aus  dieser,  mit  der 
(beschichte  der  Mifsbildungen  verglichen ,  ergieht,  dafs  hei 
weitem  der  grüfstc  Theil  der  letzteren  Hemmungen  auf 
einer  früher  normalen  Bildungsstufe  der  Organe  steht  l 2 3 *), 
deshalb  die  Persistenz  der  Pupillarmembran ,  die  mehrmals 

beobachtet  wurde  9).  Kme  der  seltenen  Ausnahmen  von 

'  / 

dieser  Regel  aber  findet  bei  dem  Fehlen  der  Regenbogen¬ 
haut  statt.  I)ic  von  Wachendorf  entdeckte  Membrana 
pupillaris  entspringt  als  eigene  Haut  mit  ihrem  äufseren 
Rande  vom  innern  der  Blendung,  und  füllt  die  Pupille  so 
vollständig  aus,  dafs  sie  die  beiden  Augenkammern  gänz¬ 
lich  trennt.  Sie  ist  straff  ausgespannt,  ziemlich  fest,  aber 
sehr  zart,  dünn  und  durchsichtig,  so  dafs  sie,  wenn  ihre 
Rlutgefafse  nicht  ausgespritzt  sind,  nur  durch  Erhärtung 
des  Auges  in  Weingeist  deutlich  wird.  Sie  besteht  aus 
zwei  Blättern,  von  denen  das  vordere  eine  Fortsetzung  der 
die  vordere  Fläche  der  Blendung  bekleidenden  serösen  Haut 
ist,  das  hintere  gefäfsreiche  mit  der  Uvea  zusammenhängt* 
Ihre  Arterien  erhält  sie  von  denen  der  Iris  und  der  Lin¬ 
senkapsel;  Venen  sind  in  ihr  noch  nicht  bestimmt  nachge¬ 
wiesen.  Vor  dem  dritten  Monate  ist  sic  nicht  deutlich 
sichtbar,  bis  zum  fünften  gallertähnlich  und  gcfäfslos;  im 
siebenten  ist  sie  am  deutlichsten;  gegen  das  Ende  des  ach¬ 
ten  fängt  sie  gewöhnlich  von  der  Mitte  nach  aufsen,  also 
an  der  gefäfslosen  Stelle  zuerst,  an  zu  verschwinden ,  so 
dafs  man  im  neunten  Monate  gewöhnlich  nur  frei  vom 
Rande  der  Pupille  herabhängende  einzelne  Flocken  als  Spu¬ 
ren  von  ihr  findet  *).  Vermut h  lieh  ist  in  den  Fäl¬ 
len  von  fehlender  Iris  die  Pupillarmembran  mit 
der  Blendung  so  innig  verbunden,  dafs  diese 

t 

■  ■■  ■  - -  # 

T)  Meckel,  Pathologische  Anatomie.  Bd.  I.  S.  15. 

2)  Meckel,  ebendaselbst  S.  396. 

3)  Meckel,  Handbuch  der  menschlichen  Anatomie.  Halle 

und  Berlin  1620.  Bd.  IV.  S.  114. 


397 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

beim  Aufsaugungsprozesse  der  Pupillarmembran 
mit  verzehrt  wurde.  Theitweise  mag  dies  ebenfalls  bei 
den»  Coloboma  iridis  der  Fall  sein  J).  —  Diese  Ver- 
muthung  scheint  wohl  wahrscheinlicher,  als  die  Erklärungs¬ 
weise  von  v.  Walther1 2),  der  das  Coloboma  iridis  wie 
die  Hasenscharte  und  andere  angeborene  Trennungen  in  der 
Medianlinie  des  menschlichen  Körpers  entstehen  läfst.  Es 
soll,  wie  der  ganze  Thierleib  aus  zwei  seitlichen  Hälften 
besteht,  die  erst,  nachdem  sie  einen  gewissen  Grad  der 
Ausbildung  und  Entwickelung  erreicht  haben,  auch  jedes 
besondere  Organ,  selbst  die  doppelt  vorhandenen  in  der 
Medianlinie  zusammen  wachsen.  —  Bis  jetzt  ist  aber  am 
mittelsten  Auge  der  dreiäugigen  Mifsgeburten  die  Iris  grö- 
fser  gewesen,  und  soll  nach  Sybel  3)  ganz  deutlich  die 
Entstehung  dieses  Auges  aus  zweien  gezeigt  habeu.  Me¬ 
ckel  4)  sagt:  Bei  der  Verwachsung  beider  Augen  zu  einem, 
rückt  das  zusammengeflossene  Auge  genau  in  die  Mitte, 
und  ist  auch  in  Hinsicht  auf  seinen  Bau  symmetrisch  ange¬ 
ordnet.  —  Die  Erblichkeit  des  theilweisen  Mangels 
der  Regenbogenhaut  spricht  auch  für  die  des  gänzlichen; 
es  liefert  daher  dieser  Augen  fehler  wieder  einen  Beweis  für 
Me  ekel5  s  5)  Ansicht,  dafs  Mifsbildungen  dieser  Art  nie 
durch  mechanische  Ersachen  entstehen  können.  Wenn  der¬ 
selbe  aber  sagt  6),  dafs  wenn  eine  Mifsbildung  Spuren  einer 

1)  Krukenberg  sagte  mir  in  Berlin,  nachdem  ich  die 
Geschichtserzählung  des  Fehlers  ohne  Iris  vorgetragen  hatte,  dafs 
er  ein  Kind  kenne,  wo  nach  und  nach  die  Iris  verschwunden 
sei.  Bis  jetzt  habe  ich  noch  keine  nähere  Nachricht  von  Kr. 
erhalten,  und  ich  ersuche  ihn  daher,  diesen  interessanten  Fall 
zur  Bekanntmachung  zu  bringen. 

2)  v.  Gräfe  und  v.  Walther,  Journal  für  Chirurgie  u. 

s.  w.  Bd.  II.  p.  602.  j 

3)  Sy  b  el  a.  a.  O.  S.  64. 

4)  Handbuch  der  Anatomie.  Bd.  IV.  S.  120. 

5)  Pathologische  Anatomie.  Bd.  I.  S.  29. 

6)  Ebendaselbst.  S.  25. 


398  J.  Mangel  der  Regenbogenhaut, 

unvollkommenen,  mangelhaften  Entwickelung  trogt,  sich 
diese  häufig  nicht  blofs  auf  einzelne  äufsere  Organe  erstrecke, 
sondern  mehr  oder  weniger  durch  den  ganzen  Körper  greile, 
so  ist  dieser  l  all  eine  Ausnahme  dieser  Kegel,  denn  es  fin¬ 
det  sich  bis  auf  dis  Fehlen  der  Iris  und  die  Veränderung 
der  Ghoroidea,  welche  vielleicht  nur  als  Hiilfsmittel  zum 
Sehen  von  der  Natur  hier  auf  die  noch  später  anzugebende 
Weise  eingerichtet  wurde,  kein  einziger  abnormer  Zustand 
des  Organismus  des  Kindes.  Auch  die  Dem.  Leeius  ist 
normal  gebaut,  und  hat  nur  den  Augenfehler. 

Anmerkung.  Das  Analogon  der  Kegenbogenhaut  im 
Gehörorgane,  das  Trommelfell  x),  ist,  so  viel  ich  auch 
bei  Meckel,  Morgagni,  Kaillie  u.  s.  w.  nachgesucht 
habe,  jetzt  zum  ersten  Male  fehlend  gefunden.  Im  Tübin¬ 
ger  Clinicutn  zeigte  sich  bei  einem  Kinde  ein  angebor- 
ner  Mangel  des  Trommelfells.  An  beiden  Ohren 
war  nur  ein  kleines  Stück  von  dieser  Ilaut  vorhanden,  die 
Gebörknochen ,  vielleicht  mit  Ausschluß  des  Steigbügels, 
fehlten,  und  man  konnte  deutlich  «len  äufseren  Gehörgang 
bis  auf  die  ungleiche  hintere  Wandung  der  Trommelhöhle 
sehen 1  2). 

Aber  einzelne  Veränderungen  in  den  Umgebungen  des 
Augapfels  finden  sich  doch,  sie  scheinen  aber  ebenfalls  von 
der  Natur  dem  Kinde  zum  Ersätze  für  «las  Fehlen  der  Ke¬ 
genbogenhaut  hervorgebracht  zu  sein.  So  hat  die  äufsere 
Umgebung  des  Augapfels,  bis  auf  die  Farbe,  die  gröfste 
Aehnlicbkeit  mit  dem  Mohrenauge.  Die  Augen  braunen 
sind  dünn  und  zart,  nicht  gekräuselt,  und  ragen  nur  wenig 
über  die  Augeulieder  hervor.  Die  obercu  Augenliedcr  sind 


1)  W  i  1 1  i  s  de  anima  brutorum;  vergl.  Iliioly:  Der  Streit 
der  Sinne,  in  seiner  Bibliothek  liir  ( )phlhalmologic ,  Kcnutnils 
und  Behandlung  der  Sinne  überhaupt  in  ihrem  gesunden  und 
kranken  Zustande.  Hannover  181*5.  15 d.  1.  St.  1.  S.  6. 

2)  Klsässer  in  II  uleland 's  und  Osann's  Journal  der 
praktischen  Heilkunde.  iS— S.  Juli.  S.  1—3. 


399 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

wie  geschwollen,  die  Augenliedspalte  enger;  nur  die  lan¬ 
gen,  dunkelgefärbten  Augenwimpern  sind  wie  bei  Kindern 
gleichen  Alters.  Das  Mohrenauge  gleicht  auch  in  sofern 
diesem  Auge  ohne  Iris,  als  in  jenem  die  Iris  so  einfarbig 
und  dunkelbraun  tingirt  ist,  dafs  man  in  einiger  Entfernung 
die  Pupille  nicht  unterscheidet,  sondern  die  ganze  Blendung 
wie  ein  runder  schwarzer  Fleck  erscheint  r).  Die  Entfer¬ 
nung  der  Augenhöhlen  aber  ist  bei  dem  Kinde,  wie  bei 
dem  europäischen  Kindesauge,  Durch  diese  Aehqlichkeiten 
mit  dem  Mohrenauge  ist  es  dem  Auge  ohne  Iris  möglich 
die  blendendsten  Sonnenstrahlen,  wie  jenes  zu  ertragen. 

Ferner  scheint  mir  die  wregen  Fehlen  der  Blendung 
sichtbare  Verbindung  der  Hornhaut  mit  der 
Sclerotica  einiger  Erwähnung  bedürftig,  da  Rudol- 
phi 1  2 3)  behauptet,  dafs  sie  nur  auf  die  Art  geschehe,  in¬ 
dem  die  Sclerotica  die  Hornhaut  so  aufnimmt,  dafs  sie  die¬ 
selbe  schräg  auslaufend  etwas  umfafst,  oder  die  Hornhaut 
etwas  hinter  ihr  vorderes  Ende  tritt.  Die  genaueste 

Beobachtung  des  mitgetheilten  Falles  (und  des  der  Dem.  Le- 
zius)  von  angeborenem  Regenbogenhautmangel  zeigt  aber, 
dafs  sich  hier  die  bei  Menschen  seltenere  Form  der  Verbindung 
der  Cornea  mit  der  Sclerotica  findet,  nämlich  die  zweite 
Art  nach  Müller  5)  und  Meckel4),  die  letzter  so  be¬ 
schreibt:  Beide  Flächen  der  Hornhaut  verkleinern  sich  all— 
mählig,  und  die  Hornhaut  schiebt  sich  daher  in  einen, 
durch  das  Auseinanderweichen  der  harten  Haut  an  ihrem 


1)  v.  Söramerring,  Abbildungen  des  menschlichen  Au¬ 
ges.  Frankf.  a.  M.  1801.  S.  6. 

2)  D  iss.  de  oculi  quibusdam  partibus.  Grryph.  1801.  4. 
Ferner:  Anatomisch  -  physiologische  Abhandlungen.  S.  1  — -  30. 
Desgleichen:  Grundrifs  der  Physiologie.  Iid.  II.  Abth.  1.  Berlin 
1823.  S.  172. 

3)  Anatomisch -physiologische  Darstellung  des  menschlichen 
Auges.  Wien  1819.  8:  46. 

4)  Handbuch  der  menschlichen  Anatomie.  Bd.  IV.  S.  75. 


400 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

vorderen  Rande  gebildeten  Falz.  —  Diese  beiden  Blatter 
oder  Falze  der  Sclcrotica  sieht  man  hier  deutlich,  beson¬ 
ders  «las  hinterste  Blatt,  bei  starker  Beleuchtung  der  Augen, 
so  dafs  ich  anfangs  dadurch  getäuscht  wurde  und  es  für  ein 
Rudiment  der  Regenbogenhaut,  das  durch  das  Finfallen  des 
starken  Lichtes  kräftig  zur  Expansion  aufgeregt  wurde, 
hielt.  Wahrscheinlich  findet  sich  immer  beim  Fehlen  der 
Iris  diese  Verbindungsart  der  beiden  Häute,  da  sie  bei  der 
gewöhnlichen,  von  Rudolphi  angegebenen  Art  durch  «las 
Anhcftcn  der  Iris  Festigkeit  bekommt,  deren  sie  bei  dem 
Mangel  derselben  ganz  entbehren  würde.  Dafs  man  bei 
diesem  Kinde  die  Verbimlungsart  dieser'Häute  so  genau  se- 
ben  kann,  scheint  mir  noch  ein  Beweis  mehr  Air  das  wirk¬ 
liche  Fehlen  der  Regenbogenhaut  zu  sein,  da  diese  bekannt¬ 
lich  gerade  hier  befestigt  und  hierdurch  den  Forschungen 
hinsichtlich  dieser  Verbindung  beim  Leben  des  mit  norma- 
len  Augen  begabten  Menschen  ein  Ziel  gesetzt  wird. 

Wenn  es  möglich  wäre,  im  lebenden  Auge  das  unge¬ 
fähr  eine  Linie  breite,  weifsliche  S  trab  len  band  oder  den 
Faltenkranz  zu  sehen,  so  miifste  es  wohl  in  diesem  dun- 
kelschwarzcn  Auge  «1er  Fall  sein,  da  die  Iris  hier  den  Un¬ 
tersuchungen  an  keiner  Stelle  hinderlich  ist.  Nie  habe  ich 
selbst  mit  gut  bewaffnetem  Auge  auch  nur  das  geringste 
davon  gesehen.  So  bemerkte  man  ja  auch  noch  nie,  das  Ci¬ 
liarligament  nach  der  gliicklichst  ausgerührten  Coredialvse 
gesehen  zu  haben,  wo  die  neugebildete,  schwarze  Pupille  eben¬ 
falls  dazu  geeignet  wäre.  Auch  v.  Walther  bestätigt 
dieses.  Er  gab  .sich  die  gröfste  Mühe,  dasselbe  bei  dem 
Coloboma  iridis  oder  nach  der  Trennung  der  Regenbogen¬ 
haut  vom  CiliailAmde  aufzufinden,  allein  vergeblich.  Hier¬ 
aus  folgt  wohl,  dafs  die  Einwendung  der  Commission  der 
Societe  du  cercle  medical  in  Paris  gegen  die  Beobachtung 


1)  v.  Grafe  und  v.  Walther,  Journal  der  Chirurgie  u. 

5.  w.  Bd.  II.  S.  60 1. 


t 


V  "  j 

I.  Mangel  der  Regenbogenhaut.  401 

Morisson’s  vom  Fehlen  der  Irls,  ohne  praktische  Erfah¬ 
rung  gemacht  worden  ist.  — 

Vorzügliche  Berücksichtigung  bedarf  wohl  ferner  die 
Betrachtung  des  durch  Choroidea,  Uvea  und  Processus  ci¬ 
liares  abgesonderten  schwarzen  Pigments,  das  bekanntlich 
durch  alle  Thierklassen  verbreitet  und  hier  in  Menge  vor¬ 
handen  und  von  der  dunkelsten  Schwärze  ist,  weshalb  auch 
die  Sclerotica  ins  Bläuliche  schimmert,  im  Gegensätze  mit 
dem  gänzlichen  Fehlen  desselben  bei  den  Kakerlaken,  bei 
denen  ebenfalls  im  Gegensätze  bei  hier  fehlender  Iris,  diese 
fast  in  steter  Expansion  ist,  also  fast  immer  Myosis  pupillae 
statt  findet.  Auffallend  ist  das  reichlich  vorhandene  Pigment 
bei  diesem  sonst  blonden  Kinde,  denn  es  pflegt  nur  bei 
Brünetten,  vorzüglich  aber  bei  Mohren  von  so  bedeutender 
Intensität  und  Quantität  zu  sein  J). 

Am  merkwürdigsten  aber  ist  das  Leuchten  der  Au¬ 
gen,  welches  für  ein  das  Pigment  überziehendes  Tapetum 
lucidum  spricht.  Nach  den  von  Prevost2)  und  Edler3)  ge¬ 
machten  Erfahrungen  läfst  sich  jetzt  nicht  mehr  bezweifeln, 
dafs  die  Rückstrahlung  des  Lichtes  von  der  Tapete  die  Ur¬ 
sache  des  Leuchtens  im  Auge  ist,  welches  unter  gewissen 
Umständen  sich  bei  Raubthieren,  Wiederkäuern,  Pachy- 
dermen,  Cetaceen,  Eulen,  Crocodilen,  Schlangen,  Rochen 
und  llayen  findet.  Durch  das  wahrscheinliche,  oder  viel¬ 
mehr  wohl  gewisse  Dasein  de$  Tapeti  lucidi  in  Augen  ohne 
Blendung,  wird  Blumenbach ’s  4)  Vermuthung :  dafs 
das  Tapetum  lucidum  dazu  diene,  um  weniger 
Licht  zu  absorbiren,  sondern  es  vielmehr  an  die 
davor  liegende  Markhaut  zurückzuwerfen,  nicht 


/ 

v.  Sömmerring  a.  a.  0.  S.  6. 

Biblioth.  britannique  A.  1810.  Tom.  45. 

Kastner’s  Archiv  für  Naturlehre.  Bd.  8.  S.  394. 

* 

Handbuch  der  vergleichenden  Anatomie.  Göttingen  1805. 


v 


1) 

2) 

3) 

4) 
S.  389. 


402  I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

ganz  bestätigt,  und  die  Ansicht  Rudolph  Fs  1 ),  welcher 
sagt:  «  Bei  Filieren ,  die  bald  in  grofsc  Ferne  sehen,  bald 
den  Kopf  zur  Erde  halten,  um  ihr  Futter  zu  suchen,  ist 
die  grofse  Beweglichkeit  der  Iris  gewifs  sehr  wichtig,  und 
um  so  mehr,  als  ihr  Auge  durch  die  Tapete  zu 
eben  dem  Zwecke  so  sehr  empfindlich  gegen  das 
Eicht  sein  m u fs,  ”  als  richtig  erwiesen.  Es  giebt  zwar 
mehrere  mit  Tapetum  lucidum  versehene  Thierarten,  die 
auch  bei  dem  heilsten  Sonnenlichte  recht  scharf  sehen,  und 
wieder  andere,  denen  die  Tapete  fehlt  (Nagethiere,  Heder- 
mäuse,  Igel  und  Maulwürfe),  haben  ein  so  empfindliches 
Sehorgan,  dafs  sie  fast  nur  des  Nachts  ihrer  Nahrung  nach¬ 
gehen,  und  selbst  bei  der  grüfsten  Finsternifs  zu  sehen 
scheinen.  Wahrscheinlich  ist  es  aber,  wie  auch  Trevi¬ 
ranus2)  angiebt,  dafs  diese  letzteren  eine  so  reizbare  Netz¬ 
haut  haben,  um  nur  bei  sehr  geringer  Beleuchtung  sehen 
zu  können.  Spallanzani 's  bekannte  Versuche  mit  ge¬ 
blendeten  Fledermäusen  könnten  für  einen  neuen,  dem  Ge¬ 
sichtssinne  analogen,  ihn  unterstützenden  Sinn  sprechen, 
allein  es  läfst  sich  diese  Erscheinung  durch  Annahme  der 
gesteigerten  Empfindlichkeit  der  Netzhaut  w’ohl  am  genü¬ 
gendsten  erklären.  —  Aber  alle  jene  Thiere  mit  Tapetum 
lucidum,  die  auch  Lei  starker  Beleuchtung  sehen  können, 
haben  nur  eine  th  eil  weise  Verbreitung  der  Tapete  auf 
der  Choroidea;  es  ist  nur  die  obere  Fläche  derselben  bis 
zum  hinteren  Ende  der  inneren  Augenaxe  von  ihr  bedeckt. 
Bei  Cetaceen,  Eulen,  Amphibien  und  Fischen  erstreckt  sie 
sich-  über  die  ganze  Choroidea.  Auch  in  den  beiden  Fallen 
der  leuchtenden  Augen  ohne  Blendung,  die  von  Morisson 
und  mir  mitgctheilt  sind,  findet  sich  die  Tapete  wahrschein* 


1  )  Grundrifs  der  Physiologie.  Berlin  1823.  Bd.  11.  Abth.  1. 
S.  222. 

2)  G.  R.  Trcvirann  j,  Beitrage  zur  Anatomie  und  Phy¬ 
siologie  der  Sinneswerkzeuge  der  .Menschen  und  Thiere.  Bremen 

1828.  Fol.  L  S.  73. 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut  403 

lieh  wie  hei  den  Eulen  verbreitet,  und  deshalb  schmerzte 
die  Kinder  ein  grelles  Licht.  Die  mitgetheilten  Fälle  von 
Daratta,  Dzondi  und  Pönitz  sprechen  von  keinem 
Leuchten,  aber  auch  von  keiner  Lichtscheu.  Allein  hier 
waren  Verdunkelung  der  Linse,  und  in  einem  Falle,  der 
Hornhaut  zugegen,  wodurch  vielleicht  die  genaue  Beobach¬ 
tung  gehindert  wurde.  So  konnte  auch  ich  bei  genauester 
Beobachtung  kein  Leuchten  in  den  Augen  der  Dem.  Le- 
zius  finden,  allein,  wie  schon  gesagt,  bedeutende  Verdun¬ 
kelung  der  Hornhaut  verhindert  hier  das  völlige  Eindringen 
der  Lichtstrahlen. 

In  der  Verwandtschaft  des  kleinen  Mädchens  ohne  Iris 
ist  ein  12 jähriges  Mädchen,  dessen  Augen  ebenfalls  im  Dun¬ 
keln  leuchten  sollen.  Vater  und  Mutter  des  Kindes  ver¬ 
sicherten  auf  das  Bestimmteste,  dafs  wenn  das  Kind  im  Dun¬ 
keln  stände,  und  Licht  in  die  Augen  fiele,  diese,  wie 
die  Augen  der  Kakerlaken,  auch  roth  würden.  So  viel 
Wege  ich  auch  nach  dem  Orte  machte,  so  konnte  ich 
doch  dies  nicht  sehen,  und  auchi  die  Eltern  wunderten 
sich  über  das  Fehlen  dieser  so  oft  gesehenen  Erscheinung. 
Auffallend  war  die  grofse  Beweglichkeit  der  Iris  dieses  Mäd¬ 
chens,  und  ein  gewisses  Unstätsein  der  grünlichen  Augen, 
deren  Pupillen  eine  bedeutende  Schwärze  bei  genauer  Be¬ 
trachtung  hatten,  obschon  dieselben  bei  der  Stellung  nach 
dem  Lichte  eine  anscheinend  rothgraue  Färbung  bekamen. 
Die  Selikraft  im  Hellen  und  Dunkeln  weicht  nicht  vom 

*  f 

Normalen  ab.  —  Oder  nimmt  dieses  Leuchten  mit  den 
Jahren  ab?  Bei  dem  ^jährigen  Kinde  fand  ich  dieses  nicht, 
wohl  eher  Zunahme.  Oder  haben  die  genannten  Schrift¬ 
steller  dieses  nur  bei  einer  bestimmten  Stellung  des  Auges 
gegen  das  Licht  zu  bemerkende  Leuchten  zufällig  nicht 
gesehen?  Kaum  ist  dieses  von  dem  sonst  so  scharfen  Beob¬ 
achter  Pönitz  zu  erwarten.  In  dem  Falle  von  Monsson 
wird  die  Farbe  der  Pupille  gar  nicht  erwähnt;  war  hier 
vielleicht  Mangel  des  Pigments,  da  Morisson  von  hellen 
Pupillen  spricht,  hinter  denen  der  Grund  der  Augen  so 


404 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

beleuchtet  war,  dafs  man  die  röthlich  gefärbte  Choroidca 
übersehen  konnte?  Die  rothe  Farbe  erklärt  er  für  das 
Product  des  zu  grofsen  Lichtreizes,  welcher  die  Thätigkeit 
der  Gefafse  so  sehr  gesteigert  habe,  dafs  rothes  Blut  selbst 
in  diejenigen  eingedrungen  sei,  welche  eigentlich  nur  farb¬ 
lose  Fluida  führen;  allein  dergleichen  Gefäfse  giebt  es  in 
der  aus  Blutgcfäfscn  und  Zellgewebe  bestehenden  Choroi- 
dea  nicht,  weshalb  die  Hypothese  in  ihr  Nichts  zurückfällt. 
G.  R.  Treviranus  ')  giebt  folgende  physiologische  Erklä- 
rung  über  den  Nutzen  der  Tapete:  Von  jedem  Punkte  des 
äufseren  Raumes,  wovon  Strahlen  zu  ihr  (der  Tapete)  ge¬ 
langen  können,  werden  diese  auf  ihr  durch  die  durchsich¬ 
tigen  Theilc  des  Auges  vereinigt,  und  sie  wirft  die  sümmt- 
lichen  vereinigten  Strahlen  wieder  nach  der  Linse  zurück. 
Die  letztere  verbindet  dieselben  zu  einem  einzigen  Kegel, 
der  die  Augenaxe  zur  Axe  hat,  und  dessen  Spitze  nach 
aufsen  gerichtet  ist.  Die  sehr  convergenten  Strahlen  dieses 
Kegels  werden  mehr  divergirend  bei  ihrem  Uebergange  aus 
der  Linse  in  die  wässerige  Feuchtigkeit,  und  aus  dieser  in 
die  Luft  oder  das  Wasser.  Die  Spitze  des  Kegels  fällt 
endlich  in  den  Punkt  des  deutlichsten  Sehens:  denn  in  die¬ 
sem  haben  alle  Strahlen,  die  aus  dem  Innern  des  Auges 
zur  hintern  Fläche  der  Linse  gelangen,  ihren  Brennpunkt. 
Der  K^gel  ist  vollständig,  wenn  die  Tapete  sich  über  die 
ganze  Choroidca  erstreckt.  Es  fehlt  die  obere  Hälfte  des¬ 
selben,  wenn  jene  nur  die  obere  Hemisphäre  dieser  Haut 
einnimmt.  Die  Tapete  ist  bei  allen  Thieren,  deren  Aufent¬ 
halt  und  Lebensweise  von  solcher  Art  sind,  dafs  die  untere 
Hälfte  der  Netzhaut  von  dem  hellen  Tageslichte  unmittel¬ 
bar  getroffen  wird,  auf  die  obere  Hülfic  der  Choroidca 
«ingeschränkt,  aus  dem  einfachen  G runde,  weil  das  Thier, 
wenn  die  Rückstrahlung  des  hellen  Lichtes  von  der  untern 
Hälfte  des  letztem  geschähe,  geblendet  werden  ndifste. 

Sie 


1  )  A.  a.  O.  S.  74. 


I.  Mangel  der  Regenbogenhant.  405 

's*  -*■ 

Sie  bedeckt  den  ganzen  Hintergrund  bei  den  Eulen,  Ceta- 
ceen  u.  s.  w.,  weil  diese  Thiere  an  dunkeln  Oertern  oder 
im  Wasser,  einem  wenig  erleuchteten  Medium,  ihren  Aufent¬ 
halt  haben,  oder  nur  Nachts  ihrer  Nahrung  nachgehen.”  — 
So  hält  es  auch  Treviranus  für  eine  noch  nicht  so  ausge¬ 
machte  Sache,  ob  nicht  zuweilen  auch  ein  phosphorisches 
Licht  von  der  Retina  oder  Choroidea  ausgehe,  und  greift 
hier  also  wieder  eine  ältere,  neuerlich  von  einem  Unbe¬ 
kannten  r)  vertheidigte  Ansicht  von  dem  eigenthümlichen 
Lichte  des  Auges  wieder  auf,  obschon  sie,  meiner  Meinung 
nach,  durch  Rudolphi<1 2)  hinlänglich  widerlegt  ist. 

Bei  dieser  Gelegenheit  kann  ich  nicht  umhin,  der 
pathologischen  Lichterscheinung  im  menschlichen 
Auge  zu  gedenken,  die  Beer  3)  unter  dem  Namen  amau¬ 
rotisches  Katzenauge  zuerst  beschrieb,  und  undeutlich, 
wie  er  selbst  gesteht,  abbilden  liefs.  Im  Hintergründe  des 
Auges,  sehr  weit  von  der  Pupille,  entwickelt  sich  ganz 
deutlich  eine  concave,  bleichgraue,  oder  weifslich-gelbliche, 
oder  in  das  Röthliche  schillernde  Verdunkelung,  bei  der 
das  Gesicht  verworren  ist,  indem  alle  kleineren  Gegen¬ 
stände  bei  genauer  Betrachtung  in  einander  laufen.  Je  mehr 
sich  die  Amaurose  entwickelt,  desto  stärker  ist  die  helle 
Stelle  und  im  Halbdunkel  das  Leuchten  sichtbar.  Die  Farbe 
der  Regenbogenhaut  erbleicht  dann  immer  mehr.  Die  Ur¬ 
sachen  dieser  Krankheitsform  sind  nicht  aufzufiuden.  So 
sah  ich  sie  bei  einem  Knaben  von  zehn  Jahren  in  Beer’s 
Klinik  im  Jahre  1817;  ein  seltener  Fall,  da  sie  sonst  meist 
bei  älteren  Personen  vorzukommen  pflegt.  Das  Kind  hatte 
Amblyopia  amaurotica;  das  Auge  schien  nur  bei  dem  hel- 


1)  Schwcigger’s  Journal  für  Chemie  und  Physik.  Bd.  16. 
St.  2.  S.  121  —  157. 

2)  Grundrifs  der  Physiologie  u.  s.  w.  Bd.  II.  Abtheil.  1. 
S.  209. 

3)  Lehre  von  den  Augenkrankheiten.  W  ien  1817.  8.  Bd.  II. 
S.  495. 

XIII.  Bd.  4.  St.  27 


\ 


406 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

lesten  Sonnenlichte  seine  frühere  Sehkraft  zu  empfinden, 
und  der  Knabe  konnte  nie  in  der  Dämmen/ng  mit  demsel¬ 
ben  sehen;  ein  Beweis,  dafs  eine  eigentümliche  Paralyse 
der  Retina,  vielleicht  von  der  Choroidea  ausgehend,  das 
Wesen  der  Krankheit  ist.  Nicht  unwahrscheinlich  ist  mir, 
dafs  das  Leuchten  hier  durch  Phosphorescenz  des  Pigments 
entsteht.  Dafs  dieses  aber  nicht  der  Fall  Lei  dem  Kinde 
ohne  Iris  sei,  geht  wohl  aus  der  Vergleichung  der  verschie¬ 
denen  Art  des  Leuchtens  und  der  völligen  Abwesenheit  der 
Amaurose  Lei  der  Caroline  Schwabe  hervor.  Gegen¬ 
teils  ist  hier  gesteigerte  Empfindlichkeit  der  Netzhaut,  die 
sich  nach  und  nach  verliert. 

Pönitz  *)  glaubt,  dafs  man  nicht  wohl  annehmen 
könne,  dafs  die  den»  Sehen  bestimmte  Nervenmassc  wohl 
weniger  reizbar  sein  möge,  und  deshalb  selbst  viel  Licht 
vertragen  werde,  weil  dieses  Mädchen  auch  bei  schwachem 
Lichte  so  gut  sah,  als  andere.  Ja  das  kleine  Mädchen,  die 
ich  so  oft  beobachtete,  konnte  bei  ziemlich  bedeutender 
Dunkelheit  Farben  und  Umrisse  erkennen,  die  meine  schar¬ 
fen  Augeu  nur  schwach  und  mit  grofser  Mühe  entdecken 
konnten.  Es  mufs  also  etwas  anderes  sein,  was  die  bei 
fehlender  Iris  nothwendig  vorhandene  Lichtscheu  verrin¬ 
gert.  Viel  wird,  wie  immer,  die  Gewöhnung  ans  Licht, 
und  die  dadurch  verminderte  Empfindlichkeit  der  Netzhaut 
dazu  beitragen.  Deshalb  hatten  die  Kinder  Lichtscheu  (ob¬ 
schon  sich  seit  kurzer  Zeit  diese  bei  der  Carol.  Schwabe 
bedeutend  verringert  hat),  die  erwachsenen  Menschen  nicht 
mehr.  Allein  hinreichend  ist  wohl  die  Annahme  der  Ge¬ 
wöhnung  an  das  Licht  nicht.  Pönitz  beschreibt  daher  die 
Art  und  Weise,  wie  nach  seiner  Meinung,  die  ich  auch 
zur  meinigen  machen  mufs,  diese  Individuen  den  Mangel 
der  Iris  zu  ersetzen  suchen.  Es  ist  ein  gelinder  Druck, 
welchen  bei  zu  stark  einwirkendem  Lichte  die  den  Bewc- 


1)  A.  a.  O.  S.  221. 


407 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

4 

I 

gungen  des  Augapfels  dienenden  Muskeln  auf  denselben  aus¬ 
üben,  wodurch  das  innere  eigentliche  Sehorgan  unempfäng¬ 
licher  für  das  einwirkende  Licht,  so  lange  dieser  Druck 
dauert,  werden  mag.  Denkbar  ist  es  Pönitz,  dafs  die  die¬ 
sen  Druck  durch  ihre  Zusammenziehung  ausübenden  Mus¬ 
keln  der  Augen  dieses  Mädchens  durch  frühzeitige,  wohl 
schon  bei  mäfsigem  Lichte  veranlafste  Uebung  eine  ganz 
vorzügliche  Kraft,  ihn  zu  bewirken  und  lange  zu  unterhal¬ 
ten,  können  erlangt  haben.  Und  so  würden  sie,  so  lange 
dieser  statt  findet,  auch  in  sehr  hellem  Lichte  gut  sehen; 
in  schwächerem  aber,  bei  unwillkührlich  dann  aufgehobe¬ 
nem  Drucke  und  dadurch  hergestelltem  Grade  der  eigent¬ 
lichen  Empfänglichkeit  auch  genug  leisten.«  —  Höchst  er¬ 
freulich  ist  es  mir,  durch  meine  mitgetheilten  Beobachtun¬ 
gen  die  so  scharfsinnige  Hypothese  Pönitz’s  zu  bestäti¬ 
gen;  denn  schon  früher  bemerkte  ich  die  bedeutende  Zu¬ 
sammenziehung  der  Augenlieder,  die  den  wahrscheinlichen 
Druck  der  Augenmuskeln  verstärken,  so  dafs  bei  stark  ein¬ 
fallendem  Lichte  diese  so  heftig  wirken,  dafs  die  Hornhaut 
dadurch  hervorragender  gemacht  wird. 

Zuletzt  sind  noch  zu  berücksichtigen,  die  bei  diesen 
Individuen  im  späteren  Alter  fast  immer  vorgekommenen 
Cataracten.  Auch  hier  zeichnete  sich  der  deutsche  Arzt 
vor  dem  italienischen  aus,  indem  dieser  es  nicht  wagte, 
dem  staarblinden  Manne  das  Gesicht  durch  eine  Operation 
wieder  zu  verschaffen.  Pönitz  schlofs  sehr  richtig,  dafs 
die  Extraction  hier  wegen  gänzlich  fehlenden  Wider¬ 
standes,  welchen  in  normal  beschaffenen  Augen  die  Iris 
den  hinter  ihr  befindlichen  Gebilden  des  Auges  bei  geöff¬ 
neter  Hornhaut  entgegenstellt,  nicht  anwendbar  sei.  Von 
der  Depression  und  ähnlichen  Methoden  war  ebenfalls 
nur  ein  unvollkommener  Zustand  des  Gesichts  zu  erwarten, 
da  der  verdunkelte  Krystallkörper  nicht  ganz  aus  der 
Sehaxe  entfernt  werden  konnte.  Also  blieb  keine  andere 
übrig,  als  die  Zerstückelung  des  Staars  durch  die 
Hornhaut,  die  Pönitz  ausführte  und  die  mit  so  herrlichem 

27* 


408 


I.  Mangel  der  Regenbogenhaut. 

Erfolge  gekrönt  wurde.  Also  wieder  eine  Indication  zur, 
Zerstückelung  der  Linse  mehr! 

Das  öftere  Erscheinen  des  Staars  bei  dieser  Krankheits¬ 
form  liegt  zum  Theil  w'ohl  in  der,  die  Linsenkapsel  hei 
heftigen  Erschütterungen  schützenden,  hier  aber  fehlenden 
Iris,  wodurch  die  Kapsel  mit  der  Linse  aus  ihrer  Verbin¬ 
dung  mit  dem  Glaskörper  gelöst,  und  wegen  fehlender  Er¬ 
nährung  verdunkelt  wurde.  \  ielleicht  ist  aber  die  heftige, 
durch  die  Expansion  der  Iris  nicht  verringerte  Einwirkung 
des  Sonnenlichts  Lrsache  zur  Verdunkelung  des  Krystall- 
körpers.  — 

Die  zwei  Abbildungen  enthalten: 

A. )  Den  obern  Theil  des  Gesichts  der  Carol.  Schwabe; 

die  Augen  sind  in  der  Stellung,  wenn  das  Kind 
geradeaus-  und  etwas  nach  oben  blickt.  Man  sieht 
hier  die  etwas  gerunzelte  Stirn,  die  dicken,  wulsti¬ 
gen  oberen  Augenlieder,  deren  Ciliarrand  fast  ganz 
verschwunden  ist,  und  die  schwachen  Augenbraunen. 
Am  Rande  der  grofsen  Pupille  erblickt  man  die  et¬ 
was  über  die  Cornea  geschobene  Sclerotica. 

B.  a.)  Das  linke  Auge  in  natürlicher  Gröfe  drückt  die 

ruhige  Stellung  desselben  aus,  wenn  das  Kind  in 
dunkler  Stube  steht  und  Tageslicht  ins  Auge  fällt. 
So  viel  als  möglich  wurde  das  Glühen  und  Leuchten 
im  Auge  ausgedrückt. 

b. )  Das  nämliche  Auge  bei  derselben  Beleuchtung,  bei 

Anstrengungen  des  Kindes,  nach  oben  zu  sehen  und 
das  Auge  zu  fixireu. 

c. )  Das  rechte  Auge  vergröfsert,  mit  <jer  gewöhnlichen 

k arbe  der  Pupille;  der  etwas  bläuliche  Rand  bezeich¬ 
net  die  Stelle  der  "\  erbindung  der  Cornea  mit  der 
Sclerotica. 


II.  Zweifelhafte  Seelenzustände. 


409 


'  II. 

Beiträge  zur  Erkenntnifs  und  Beurtliei- 
lung  zweifelhafter  Seelen  zu  stände;  von 
Dr.  Johann  Christian  August  Clarus,  Ko- 
nigl.  Sächsischem  Hof-  und  jVIedicinalrathe,  des 
Königl.  Sächsischen  Civilverdienst-  und  des  Kai- 
serl.  Russischen  Wladimir-Ordens  vierter  Klasse 
Ritter,  ordentlichem  Lehrer  der  Klinik,  des  Kreis¬ 
amtes,  .der  Universität  und  der  Stadt  Leipzig  Phy- 
sicus,  Arzte  am  Jacohshospital,  mehrerer  gelehrten 
Gesellschaften  und  der  Kaiserl.  Russischen  Uni¬ 
versität  zu  Charkow  Ehrenmitgliede.  Leipzig,  hei 
Gerhard  Fleischer,  1828.  8.  XVIII  und  332  S. 
(  l  Thlr.  12  Gr.) 

Die  Leipziger  medicinisclie  Facult'at  erwarb  sich  von 
jeher  ein  ausgezeichnetes  Verdienst  um  die  Begründung 
der  psychischen  Legalmedicin ,  sowohl  durch  systematische 
Bearbeitung  derselben,  als  durch  öffentliche  Bekanntmachung 
von  ihr  abgefafster  Gutachten,  welche  eine  glückliche  Mitte 
zwischen  richterlicher  Strenge  und  übelverstandener  Huma¬ 
nität  haltend,  durch  die  Umsicht,  Reife  und  Gediegenheit 
ihrer  Urtheile  sich  als  Muster  zur  Nachahmung  empfehlen. 
Noch  jetzt  gelten  Platner’s  vortreffliche  Quaestiones  me- 
dicae  legales  de  vesania  als  Autorität,  auf  welche  Gerichts¬ 
ärzte  bei  schwierigen  Entscheidungen  sich  berufen,  und 
man  mufs  es  ihnen  auch  im  Allgemeinen  nachrühmen,  dafs 
in  ihnen  ein  acht  philosophischer  Geist  weht,  welcher  mit 
freiem  Blick  das  Verbal tnifs  der  moralischen  und  physischen 
Ursachen  bei  Ilervorbringung  von  Gemüthsstörungen  rich¬ 
tig  aufzufassen  sich  bestrebt,  wenngleich  gelegentlich  sich 
ein  hypothetischer  Begriff,  z.  B.  von  der  Amenlia  occulta 
eingeschlichen  und  auf  die  Gültigkeit  eines  bewährten  Er¬ 
fahrungssatzes  Anspruch  gemacht  hat.  Auch  von  diesem 


I 


'  410  II.  Zweifelhafte  Seelenzustände. 

Fehler  hat  sich  der  hochgeehrte  Verf.  vorgenannter  Schrift 
frei  gehalten,  und  von  den  geläutertsten  Grundsätzen  aus¬ 
gehend,  seinen  mitgetheilten  Gutachten  eine  Evidenz  und 
Bündigkeit  zu  verleihen  gewufst,  welche  ihm  die  Zustim¬ 
mung  aller  unparteiischen  Sachkundigen  zusichern  wird. 
Erhöht  wird  der  Werth  dieser  dankenswerten  (iahe  durch 
die  wichtigsten  Folgerungen,  welche  der  Verf.  aus  jedem 
einzelnen  Gutachten  ableitet,  und  die  um  so  gewisser  zur 
Schlichtung  mannigfacher  Conl roverspunkte  beitragen  wer¬ 
den,  da  sie  nicht  «Jas  Ergelmifs  einer  vagen  Speculation, 
sondern  aus  einer  klaren  Anschauung  des  objectiven  Sach- 
verhältnisses  hervorgegangen  sind. 

In  der  Einleitung  rechtfertigt  sich  der  Verf.  darüber, 
dafs  er  es  überall  vermieden  hat,  den  von  den  meisten  Ge¬ 
richtsärzten  anerkannten  Freiheitsbegriff  als  den  Maafsstab 
bei  seinen  psychisch -gerichtlichen  Entscheidungen  in  An¬ 
wendung  zu  bringen,  indem  er  zu  beweisen  sucht:  1)  dafs 
die  Notwendigkeit  und  Ilinlänglickeit  des  Begriffs  von  Frei¬ 
heit  zum  Behuf  gesetzlicher  Bestimmungen,  richterlicher 
Fragen  und  gerichtsärztlichcr  Entscheidungen  auf  einer  Täu¬ 
schung  beruhe,  und  dafs  der  Zweck  des  Gesetzgebers  und 
Bichters  bei  Untersuchungen  dieser  Art,  auch  ohne  Einmi¬ 
schung  des  l-  reiheitsbegriffs ,  vollständig  erreicht  werden 
könne;  2)  dafs  die  öftere  Verfehlung  dieses  Zwecks  aus 
anderen  Ursachen,  als  aus  dem  Mangel  oder  Nichtgebrauch 
eines  vermittelnden  Princips  herrühre,  und  3)  dafs  sich  die 
verschiedenen  Meinungen  über  diesen  Gegenstand  auf  eine 
ungezwungene  Art  vereinigen  lassen.  Um  allen  Mifsver- 
standnissen  vorzubeugen,  und  die  Verwechselung  des  Frci- 
beitsbegriffs  im  juridischen  Sinne  mit  dem  metaphysischen 
oder  trnnscendeutalen  zu  verhüten,  definirt  der  Verf.  den 
ersten  als  den  Zustand  des  Menschen,  in  dem  der  unbe¬ 
dingte  und  letzte  Bestimmungsgrund  zu  seinem  Handeln  in 
einem  von  ihm  allein  abhängigen  Entschlüsse  enthalten  ist, 
und  indem  es  mithin  in  seiner  Macht  steht,  die  Vorstel¬ 
lung  von  dem,  was  ihm  selbst  und  anderen  zukommt,  in 


II.  Zweifelhafte  Seelenzustande. 


411 


sich  zu  erwecken  und  wirksam  zu  machen,  und  demgcmäfs 
Handlungen  zu  unternehmen  und  zu  unterlassen.  Um  nun 
da  rzuthun,  dafs  die  Freiheit  nicht  die  höchste  Bedin¬ 
gung  desjenigen  Zustandes  sei,  den  der  Gesetzgeber  bei 
denen,  die  das  Gesetz  beherrschen,  und  der  Strafrichter 
bei  denen,  welche  die  Strafe  treffen  soll,  voraussetzt;  und 
dafs  das,  was  der  Begriff  der  Freiheit  hier  ausdriicken  soll, 
durch  einen  andern,  für  diesen  Zweck  deutlicheren  und 
zugleich  gangbareren  Ausdruck  bezeichnet  werden  könne, 
gebt  der  Verf.  auf  das  Wesen  der  Vernunft  zurück,  die  er 
in  einem  licht  pragmatischen  Sinne  als  den  Inbegriff  aller 
Eigenschaften  der  menschlichen  Seele  bestimmt,  die  den 
Menschen  zum  Menschen  machen,  und  ihn  vom  Thiere  un¬ 
terscheiden.  Demnach  offenbart  sich  die  Vernunft  in  dem 
Bedürfnifs  und  Streben  nach  Harmonie  (d.  L  nach  Zusam¬ 
menhang,  Ordnung,  Zweckmäfsigkeit,  Wahrheit,  Recht, 
Licht  und  Einheit)  im  Erkennen  und  Handeln,  und 
ist  bei  allen  Aeufserungen  der  Seelenthätigkeit  nach  beiden 
Richtungen  zugleich  thätig,  so  wie  im  Organismus  die  Re- 
ceptivität  und  das  Reactionsvermögen ,  oder  im  Universum 
die  Anziehung  und  Abstofsung  nothwendig  zu  einander  ge¬ 
hören.  Der  Begriff  von  Freiheit  drückt  also  nicht  die  in¬ 
nere,  höchste  Ursache  oder  Bedingung  des  gesetzmäfsigen 
Handelns,  sondern  nur  die  Wirkung  des  durch  die  Ver¬ 
nunft  geleiteten  Willens  in  der  aufseren  Erscheinung  aus, 
oder  mit  anderen  Worten:  Die  Freiheit  ist  weder  die  Ver¬ 
nunft  selbst,  noch  neben  der  Vernunft,  noch  ein  Th  eil 
der  Vernunft,  sondern  nur  eine  Aeufserung  derselben. 
Wenn  man  daher  die  Freiheit  als  die  höchste  Bedingung 
der  Selbstbestimmung  einsah,  so  täuschte  man  sich,  in  sofern 
man  die  Wirkung  für  die  Ursache  nahm,  und  im  Grunde 
idem  per  idem  zu  erklären  suchte.  Der  Freiheitsbegriff  ist 
folglich  unzureichend,  sobald  man  sich  genöthigt  sieht,  aut 
die  inneren  Bedingungen  des  selbstständigen  Handelns  zu¬ 
rückzugehen,  welche  allein  in  der  Vernunft  enthalten  sind. 
Der  Verf.  erläutert  die  vorgetragenen  Sätze  durch  ein  vom 


412 


II.  Zweifelhafte  Scclcnznstände. 


physischen  Leben  hergenommenes  Beispiel.  Vergleicht  man 
die  organische  und  psychische  Sphäre  mit  einander,  so  kön¬ 
nen  die  Begriffe:  Organismus  und  Seele,  Erregbarkeit  und 
Vernunft,  Receptivität  und  Verstand,  Reactionsvermögen 
und  \\  illc,  Gesundheit  und  Freiheit,  Ungesundheit  und 
Unfreiheit,  jede  Reihe  als  in  gleichen  Bedingungen  unter¬ 
einander  stehend,  einander  gegenüber  gestellt  werden.  Da¬ 
her  kann  auch  die  Lehre  von  der  psychischen  Natur  des 
Menschen,  oder  irgend  ein  Theil  derselben,  eben  so  w'enig 
auf  den  Begriff  der  Freiheit  gebaut  werden,  als  die  Lehre 
von  seiner  physischen  Natur  auf  den  Begriff  der  Gesund¬ 
heit,  und  der  Ausspruch,  dafs  der  Mensch  bei  Begehung 
eines  Verbrechens  unfrei  gewesen  sei,  genügt  zur  Beur- 
theilung  desselben  nicht  mehr,  und  nicht  weniger,  als  die 
F.rklärung,  dafs  ein  Mensch  ungesund  sei,  zur  Beurthei- 
lung  einer  Krankheit.  —  Da  nun  unter  Zurechnung  irn 
•juridischen  Sinne  das  l  rlheil  verstanden  wird,  dafs  ein 
Mensch,  mit  Bewufstsein  und  Einsicht  des  Zweckes,  der 
Mittel  und  der  Folgen,  die  selbstständige  Ursache  einer 
positiven  oder  negativen  W  irkung  geworden  sei,  die  in 
ihrer  Beziehung  zum  äufsern  Rechtsgesetz  betrachtet 
werden  soll;  so  schliefst  dieser  Begriff,  um  dessen  Anwen¬ 
dung  es  eigentlich  dem  Richter  zu  thun  ist,  abermals 
sowohl  das  \  ermögen  des  Verstandes,  die  verschiedenen 
Zwecke,  Mittel  und  Folgen  der  Handlungen  zu  erkennen, 
zu  ordnen  und  zu  vergleichen,  als  den  Akt  des  Willens 
in  sich,  welcher  sich  auf  das  Vermögen  gründet,  zwischen 
mehreren  Möglichkeiten  nach  Grundsätzen  der  Vernunft  zu 
wählen,  und  die  zur  Ausführung  nöthigen  Kräfte  des 
Geistes  und  des  Körpers  selbstthätig  auf  die  Ilervorbrin- 
gung  des  seJbstgewählten  Zwecks  zu  richten.  Die  Bezie¬ 
hung  der  Freiheit  auf  die  W  illensäufserung  allein  würde 
daher  den  Begriff  der  ersten  in  weit  engere  Gränzen,  als 
wie  derselbe  oben  als  allgemeines  Entscheidungsprincip  auf¬ 
gestellt  wurde,  einschliefsen ,  daher  die  Juristen  auch  jeder¬ 
zeit  fragen:  ob  der  Inquisit  mit  Verstand  und  Willensfrei- 


I 


II.  Zweifelhafte  Seelenzustände.  413 

heit  gehandelt  habe.  —  Die  Ursache  der  häufigen  Mifsver- 
ständnisse  zwischen  Aerzten  und  Richtern  liegt  indefs  nicht 
in  d(em  Mangel  eines  vermittelnden  Princips,  nach  welchem 
bestimmt  wurde,  was  von  der  einen  Seite  gefragt,  und  von 
der  andern  geantwortet  werden  soll,  sondern  nach  der  Er¬ 
fahrung  des  Verf.  in  ganz  anderen  Bedingungen,  namentlich 

darin,  dafs  die  Verfasser  ärztlicher  Gutachten  nur  zu  oft 

V 

wissenschaftliche ,  und  besonders  philosophische  Bildung, 
Sachkenntnis ,  Erfahrung  und  Uebung,  gründliche  und  — 
vorurtheilsfreie  Untersuchung  des  Gegenstandes,  logische 
Ordnung  des  Inhalts  und  Präcision  des  Vortrags  vermissen 
lassen.  Aber  eben  so  oft  fällt  den  Juristen  die  Schuld  an¬ 
heim,  wenn  der  Zweck  solcher  Untersuchungen  verfehlt 
wird,  indem  sie  den  Aerzten  dazu  nicht  eine  hinreichende 
Gelegenheit  verschaffen,  von  denselben  die  Exploration  des 
gegenwärtigen  Gemüthszustandes  eines  Inquisiten ,  ohne  alle 
Rücksicht  auf  die  früheren  Verhältnisse  desselben,  verlan¬ 
gen.  Musterhaft  ist  die  Umsicht  und  Sorgfalt,  mit  welcher 
der  Verf:  in  solchen  Fällen  zu  Werke  geht,  worüber  er 
ausführlich  Auskunft  giebt.  Auch  verlangt  er  von  den  Ju¬ 
risten,  dafs  sie  den  Aerzten  nicht  kurzweg  den  Auftrag 
geben,  «ein  pflichtmäfsiges  Gutachten  über  den  Seelenzu¬ 
stand  eines  Menschen  zu  eröffnen,”  sondern  ihnen  zugleich 
andeuten  sollen,  in  welchen  Beziehungen  derselbe  zu  beur- 
theilen,  ob  von  der  Zurechnung  einer  That,  oder  von  der 
Fähigkeit  zu  irgend  einem  Geschäft,  oder  von  einer  Siche- 
rungsmaafsregel  die  Rede  sein.  Ueberhaupt  lassen  sich,  wie 
der  Verf.  überzeugend  darthut,  zwischen  dem  Geschäft  des 
Richters  und  Arztes  gar  keine  scharfen  Gränzen  ziehen, 
beide  müssen  Kenntnisse  auf  dem  benachbarten  Gebiete  be¬ 
sitzen,  um  sich  gegenseitig  verstehen,  und  die  Iland  bieten 
zu  können.  Als  Folgerungen  aus  dem  Vorgetragenen  wer¬ 
den  nachstehende  Ilauptregeln  aufgestellt:  Die  Untersuchung 
mufs  zur  Abfassung  und  Beantwortung  einer  Frage  reif 
sein;  die  Frage  mufs  den  Befragten  in  den  Stand  setzen, 
die  Umstände,  welche  zur  Begründung  des  Urtheils  beitra- 


414 


II.  Zweifelhafte  Scclcnznstiinde. 


gen  können,  vollständig  zu  benutzen;  sie  mufs  alle  einzel¬ 
nen  Punkte  umfassen,  über  die  man  belehrt  zu  sein  wünscht, 
und  selbige  auf  einen  allgemeinen  Begriff,  welcher  den 
Grund  des  von  dem  Kichter  zu  fassenden  Entschlusses  ent¬ 
hält  ( ’S  ernunft  oder  Vernunftgebrauch ),  beziehen;  alle  Aus- 
-^drücke,  Wendungen  und  Wortfügungen  müssen  vermieden 
werden,  die  an  und  für  sich  dunkel,  oder  einer  zweideuti¬ 
gen  Auslegung  fähig  sind.  Die  Wreise,  wie  der  Verf.  nach 
Anleitung  der  rnitgetheilten  Sätze  eine  Ausgleichung  der 
widerstreitenden  Lehren  von  der  Zurechnungsfähigkeit  zu 
Stande  bringt,  mufs  lief,  dem  Leser  im  Werke  selbst  nach¬ 
zusehen  überlassen.  Eben  so  sind  die  meisterhaften  Gut¬ 
achten  keines  Auszuges  fähig;  doch  mögen  hier  die  Ueber- 
schriften  derselben  folgen: 

1)  Brandstiftung,  im  Zustande  geistiger  und  körper¬ 
licher  Abstumpfung  durch  fortgesetzten  Mifsbrauch  geistiger 
Getränke,  nach  vorausgegangenen  Visionen  und  epileptischen 
Anfällen,  in  der  Absicht  verübt,  um  sich  zu  einer  Versor¬ 
gung  im  Zuchthause  zu  verhelfen;  2)  Geschichte  eines 
Todtschlages,  der  bei  Abstumpfung  des  Verstandes  und  des 
Gefühls,  nach  vorausgegangenen  Visionen  und  phantastischen 
Einbildungen,  unter  Umständen,  welche  einen  Einflufs  des 
Hungers  und  der  Schlaftrunkenheit  auf  die  Seelenstimmung 
als  möglich  erscheinen  liefsen,  im  Zustande  der  Erbitterung 
durch  höhnische  Vorwürfe  und  vermeinter  Nothwebr  be¬ 
gangen  worden,  mit  Beantwortung  der  Frage;  ob  hierbei 
vollkommene  oder  unvollkommene  Zurechnungsfähigkeit  an¬ 
zunehmen  sei?  3)  Behelligung  der  Behörden  im  Zustande 
der  Narrheit;  4)  Anmaafsung  fremden  Eigenthums  im  Zu¬ 
stande  vorübergehender  Benommenheit  durch  hämorrhoida- 
lische  Congestionen;  5)  Verheimlichte  Geburt  und  Verdacht, 
den  Tod  des  unreifen,  nachher  heimlich  vergrabenen  Kin¬ 
des,  durch  absichtliches  Versäumen  der  nüthigen  Hilfslei¬ 
stungen  veranlafst  zu  haben;  (i)  Todesursache  eines,  in  den 
Abtritt  gestürzten,  neugebornen  Kindes,  und  Verschuldung 
der  Mutter  desselben  bei  diesem  Vorfälle. 


II.  Zweifelhafte  Seelenznstande. 


415 


Die  den  Gutachten  angehängten  Erläuterungen  ver¬ 
breiten  sich  über  mannigfache  Gegenstände  der  psychischen 
Legalmedicin ,  deren  Beurtheilung  besonderen  Schwierigkei¬ 
ten  unterliegt;  mit  vorzüglicher  Sorgfalt  wird  die  Trunken¬ 
heit  (ebrietns)  und  Trunkfälligkeit  (ebriositas)  aus  gerichts¬ 
ärztlichem  Gesichtspunkte  betrachtet.  Von  jener,  wrelche 
die  verschiedenen  Grade  der  Berauschung  in  sich  begreift, 
unterscheidet  der  Yerf.  die  letztere  als  die  anhaltende 
Wirk  ung  des  fortgesetzten  Genusses  hitziger  Getränke 
in  ihrer  Beziehung  auf  das  Seelenleben.  Diese  Trunkfäl¬ 
ligkeit  stellt  sich  unter  folgenden  vier  verschiedenen  For¬ 
men  dar:« 

1)  Als  trunkfällige  Entartung  der  Sitten  (Inhumani- 
tas  ehriosa),  hervorgehend  aus  einer  durch  den  anhaltenden 
Genufs  starker  Getränke  bewirkten  Verstimmung  der  Em¬ 
pfänglichkeit  für  physische  und  moralische  Eindrücke  und 
Bedürfnisse,  wodurch  die  menschliche  Gesinnung  und  Hand¬ 
lungsweise  herabgewürdigt,  der  Säufer  kalt  und  gleichgül¬ 
tig  gegen  seine  Pflichten,  dagegen  aber  höchst  reizbar  ge¬ 
gen  alles  wird,  was  seinem  Willen  und  seiner,  vorzugs¬ 
weise  auf  niedere  Bedürfnisse  gerichteten  Sinnlichkeit  wider¬ 
spricht.  Der  Yerf.  entscheidet  mit  Recht,  dafs  der  Zustand 
trunkfälliger  Entartung  an  und  für  sich  allein  keinen  Ent¬ 
schuldigungsgrund  für  die  in  demselben  verübten  Vergehun¬ 
gen  und  Verbrechen  abgiebt,  da  der  Mensch  durch  sie 
nicht  aufser  Stand  gesetzt  wird,  Recht  und  Unrecht  zu  un¬ 
terscheiden,  seinen  Willen  zu  zügeln,  und  überhaupt  seine 
Seelenkräfte,  nach  dem  ihm  zugetheilten  Maafs  derselben, 
selbstständig  zu  gebrauchen.  Die  Herrschaft  über  den  Wil¬ 
len  ist  nur  erschwert,  aber  nicht  beschränkt,  das  ist: 
zum  Theil  unmöglich  gemacht  worden. 

2)  Irunksucht  (Polydipsia,  Dipsomania  ebriosa)  nennt 
der  Verf.  ein  mit  dem  zur  Gewohnheit  gewordenen  Mifs- 
brauche  berauschender  Getränke  oft  verbundenes  krank- 
ha  ft  es  und  unwiderstehliches  Bedürfnifs  nach  densel¬ 
ben.  Diese  Trunksucht  soll  ihrem  Wesen  nach  in  einer 


416 


II.  Zweifelhafte  Seelenzuständc. 


durch  anhaltenden  Mißbrauch  geistiger  Getränke  erzeugten 
krankhaften  Beschaffenheit  der  Absonderungswerkzeuge  des 
Unterleibes  bestehen,  verbunden  mit  einer  Verminderung 
und  Mischungsveränderung  der  Verdauungssäfte  und  einem 
cachectischen  Zustande  der  gesammlen  Ernährung,  so  wie 
mit  einer  Verstimmung  der  gesammten  Nerventätigkeit,  die 
ein  Gefühl  der  Erschöpfung  hervorbringt,  und  dadurch  den 
unwiderstehlichen  Trieb  nach  einem  durchdringenden 
Reiz  erzeugt.  Der  Verf.  räumt  nun  zwar  selbst  ein,  dafs 
dieser  krankhafte  Trieb  keinesweges  eine  Krankheit  der  Seele 
sei,  da  dergleichen  Menschen  das  Nachtheilige  und  Enteh¬ 
rende  ihrer  abscheulichen  Gewohnheit  fühlen ,  und  daher 
den  festen  Vorsatz  fassen,  ihrer»  Trieb  zu  bekämpfen;  doch 
sei  die  Trunksucht  ein  zu  krankhafter  Höhe  gesteigertes, 
körperliches  Bedürfnifs,  welches  in  sofern  eine  äufsere  und 
partielle  Beschränkung  der  Willensthätigkeit  mit  sich 
führe,  als  es  dem  Kranken  unmöglich  sei,  diesem  beson- 
dern  Anreiz  zu  widerstehen.  Der  Trunksüchtige  sei  also 
für  den  ihm  inwohnenden  krankhaften  Trieb,  für  die  un¬ 
willkürliche  Befriedigung  desselben,  für  die  daraus  entste¬ 
hende  Irunkenheit,  und  für  die  während  derselben  ver¬ 
übten  gesetzwidrigen  Handlungen  nur  in  sofern  verantwort¬ 
lich,  als  er  selbst  durch  eine  lasterhafte  Gewohnheit  diesen 
1  rieb  verschuldet  habe;  folglich  werde  die  Zurechnung  zwar 
nicht  aufgehoben,  aber  doch  die  Schuld  vermindert.  Rcf. 
hält  dafür,  dafs,  so  lange  noch  ein  freies  Selbstbewufst- 
sein  besteht,  der  Kranke  für  alle  seine  Handlungen  und 
Unterlassungen  durchaus  verantwortlich  sei,  nie  sich  mit 
der  Unbezwinglichkcit  seiner  sinnlichen  Triebe  entschuldi¬ 
gen  könne.  Wie  leicht  oder  schwer  ihm  die  Selbstbeherr¬ 
schung  werde,  danach  kann  nie  gefragt  werden,  weil  es 
dafür  keinen  Maafsstab  giebt;  läfst  man  aber  gar  den  Trunk¬ 
süchtigen,  die  sich  durch  ihr  schändliches  Laster  ohnehin 
jeder  schonenden  Milde  unwürdig  gemacht  haben,  ihre  ver¬ 
schuldete  Charakterschwäche  als  eine  Ausflucht  gelten, 
so  thut  man  der  heilsamen  Strenge  der  Gesetze  Abbruch, 


II.  Zweifelhafte  Seclenzuständc.  417 

welche  jeder  verderblichen  Entartung  der  Menschheit  enge 
Schranken  setzen  müssen. 

-  -  * 

3)  Eine  höhere  Stufe  der  Trunkfälligkeit  nimmt  die 
Sinnestäuschung  und  der  Sinnenwahn  (sensuum  fallacia  und 
hallucinatio  ebriosa)  ein.  Der  Verf.  unterscheidet  hier  die 
Sinnestäuschung,  bei  welcher  der  Verstand  den  Sin¬ 
nentrug  als  solchen  anerkennt,  ihm  keinen  Einflufs  auf  das 
Wollen  und  Handeln  gestattet,  von  dem  Sinnenwahn, 
wobei  das  den  Sinnen  vorgespiegelte  Bild  sich  der  Einbil¬ 
dungskraft  dergestalt  bemächtigt,  dafs  sie  sich  selbiges  als 
einen  Gegenstand  der  wirklichen  Welt  vorstellt,  und  dafs 
Verstand  und  Wille  in  ihren  Urtheilen,  Bestrebungen  und 
Entschliefsungen  sich  nach  demselben  richten.  Diese  Unter¬ 
scheidung  ist  in  der  Natur  gegründet,  und  in  sofern  wich¬ 
tig,  als  sie,  wie  man  leicht  sieht,  den  gröfsten  Einflufs  auf 
die  Zurechnung  hat.  Wenn  aber  der  Verf.  von  dem  Sin¬ 
nenwahn,  der  nach  ihm  von  den  Sinnen  ausgehen  soll, 
die,  in  Folge  einer  krankhaften  körperlichen  Reizung,  die 
Phantasie  zu  isolirten,  irrigen  Vorstellungen  verleiten,  ohne 
dafs  dabei  in  den  Gesetzen,  nach  denen  der  Mensch  denkt, 
empfindet  und  handelt,  etwas  verändert  wird,  den  Wahn¬ 
sinn  absondert,  weil  dieser  aus  einer  krankhaft  erregten 
Phantasie  entspringen  soll,  die,  in  Folge  einer  inneren  Stö¬ 
rung  der  Gesetze  des  Seelenlebens  selbst,  ein  krankhaftes 
Product  erzeugt,  welches  nicht  nur  mit  den  Sinnesanschauun¬ 
gen  zu  falschen  Formen  und  Beziehungen  zusammenfliefst, 
sondern  auch  die  Ordnung  und  den  Zusammenhang,  die 
Einheit  und  Harmonie  des  Denkens  stört  und  verrückt;  so 
scheint  dies  eine  erkünstelte  Subtilität,  durch  welche  der 
Verf.  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  geräth.  Denn  seine 
Charakteristik  des  Sinnenwahns  sagt  ja  nichts  anderes 
aus,  als  eine  Aufhebung  des  freien  Selbstbewufstseins,  an 
welches  alle  Denkgesetze  geknüpft  sind;  unstreitig  denkt 
eine  Seele  unrichtig,  die  das  subjective  Spiel  der  Phantasie 
für  einen  Reflex  der  objectiven  Wirklichkeit  hält.  Der 
EVsprung  des  Sinnenwahns  aus  verkehrter  Thätigkeit  der 


418 


II.  Zweifelhafte  Seelcnzuständc* 


Sinnorganc  allein  läfst  sich  nicht  rechtfertigen  ,  da  hei  un¬ 
gestörtem  Wirken  des  Scelenorgans  aus  jener  hlofse  Sin¬ 
nestäuschungen  entstehen  würden;  andererseits  bleibt  es  jetzt 
noch  unentschieden,  ob  nicht  auch  eine  perverse  Aufregung 
der  Sinnorgane  zur  Verwirrung  der  Phantasie  beiträgt.  J)als 
•  die  Sinnestäuschungen  an  und  für  sich  nur  allein  in  der 
Zurechnungsfähigkeit  und  Rechtsgültigkeit  der  Handlungen 
im  Allgemeinen  gar  nichts  ändern,  weil  die  Seele  durch  sie 
nicht  verhindert  wird,  vernünftig  zu  urtheilen,  und  die 
Täuschung  als  solche  zu  erkennen,  darin  muls  man  dem 
Verf.  unbedingt  beipflichten;  wenn  er  aber  eine  gleiche 
Strenge  gegen  den  Sinnenwahn  gelten  lassen  will,  unge¬ 
achtet  derselbe  nach  seinem  eigenen  Ausspruch  den  "\  er¬ 
stand  und  Willen  im  Urtheilen  und  Entschliefsen  irre  lei¬ 
tet,  so  scheint  er  mit  seinem  eigenen  Princip  in  Wider¬ 
spruch  gerathen  zu  sein,  da  es  unmöglich  seine  Absicht  sein 
kann,  das  getrübte,  befangene,  verkehrte  Selbstoewufstsein 
dem  freien  und  besonnenen  rücksichtlich  der  Imputabilität 
gleich  zu  stellen.  Der  Verf.  widerruft  seine  Meinung  auch 
sogleich  im  nächsten  Satze,  wo  er  die  Zurechnu  ngsfähig- 
keit  und  Rechtsgültigkeit  einer  Handlung  für  aufgehoben 
erklärt,  wenn  ihre  unmittelbare  Abhängigkeit  von  einem 
unverschuldeten  Irrthume,  oder  von  eiocr  krank¬ 
haften  Täuschung  der  Sinne,  oder  von  Sinnenwahn 
nachgewiesen  werden  kann. 

4)  Die  Trunkfälligkeit  ist  endlich  auch  sehr  oft  mit 
Seelenstörung  (Vesania  ebriosa)  verbunden,  die  sich  zu 
den  bisher  betrachteten  Formen  derselben  meistens  langsam 
und  allmählig  gesellt,  zuweilen  aber  auch,  besonders  bei 
jungen  Säufern,  sich  schneller  entwickelt.  Es  kommt  die¬ 
selbe  unter  allen  Formen  von  Geisteskrankheiten,  als  Wahn¬ 
sinn,  Verrücktheit,  Tollheit,  Melancholie  und  Blödsinn  vor. 
Die  sie  veranlassende  körperliche  Umstimmung  bezeichnet 
der  Verf.  theils  als  permanent  andauernde  Turgescenz  der 
Gefäfse,  besonders  der  Venen,  theils  als  vermehrte  Span¬ 
nung  und  krankhafte  Empfänglichkeit  des  Nervensystems, 


II.  z  wcifelhafle  Seelcnzustände. 


419 


die  von  den  Ganglicnncrven  ausgeht,  und  sich  von  da  dem 
Gehirn  mittheilt.  Dahin  wirkt  täglich  mehrmals  wieder¬ 
holte  Berauschung,  vorzüglich  mit  Branntwein,  wenn  im¬ 
mer  ein  neuer  Rausch  entsteht,  ehe  noch  der  vorhergehende 
gänzlich  verllogen  ist,  besonders  wenn  es  dabei  an  geord¬ 
neter  körperlicher  Thätigkeit  in  freier  Luft  fehlt.  Dabei 
ist  aber,  wie  der  Verf.  sehr  richtig  bemerkt,  nicht  zu  über¬ 
sehen,  dafs  eine*  solche  Lebensweise  schon  einen  hohen 
Grad  von  moralischer  Verworfenheit  und  Entartung  voraus¬ 
setzt,  daher  sie  vorzüglich  bei  denen  bemerkt  wird,,  die 
früher  bei  leichtem,  oft  unredlichen  Gewinn,  das  Glück 
und  den  Zweck  ihres  Lebens  darin  gesucht  hatten,  sich 
keinen  sinnlichen  Genufs  zu  versagen,  später  aber,  bei  ge¬ 
sunkenem  Wohlstände,  weder  Lust  noch  Kraft  besafsen, 
um  durch  Fleifs  und  Anstrengung  ihre  Lage  zu  verbessern, 
dabei  ihre  häuslichen  und  bürgerlichen  Pflichten  immer 
mehr  vernachlässigten,  und  zuletzt,  auf  der  tiefsten  Stufe 
des  Elends,  den  Branntwein  wählten,  um  ihr  Elend  zu 
vergessen.  Ref.  möchte  diese  vortreffliche  Bemerkung  be¬ 
sonders  denen  zur  Beherzigung  empfehlen,  welche  die  Gei¬ 
stesstörungen  für  rein  somatische  Leiden  halten,  an  welchen 
kein  Zwiespalt  des  freien  Selbstbewufstseins  mit  den  übri¬ 
gen  Gemüthsbewegungen  Theil  nimmt.  Vorzüglich  ist  man 
geneigt,  den  trunkfälligen  Wahnsinn  für  durchaus  physisch 
begründet  zu  halten,  da  sich  bei  ihm  ein  organisches  Lei¬ 
den  der  Nerven -Blutgefäfse  und  der  Verdauungswerkzeuge 
allerdings  nachweisen  läfst.  Aber  diese  Bedingungen  erklä¬ 
ren  den  Wahnsinn  eben  so  wenig  allein,  als  sie  oft  gar 
nicht  denselben,  und  immer  erst  in  Verbindung  mit  obge¬ 
dachten  moralischen  Veranlassungen  hervorrufen.  Ref.  mufs 
sich  enthalten,  die  ferneren  wichtigen  Bemerkungen  des 
Verf.  im  Auszuge  wiederzugeben,  und  er  beschränkt  sich 
nur  auf  die  eine  Notiz,  dafs  der  Kartoffelbranntwein  vor¬ 
züglich  reich  an  dem  Fuselöl  ist,  so  dafs  dasselbe  in  Frank¬ 
reich  hin  und  wieder  als  Brennöl  benutzt  wird,  und  dafs 
in  diesem  Umstande  wahrscheinlich  die  ungleich  nachtheili- 


420 


III.  Rölheln. 


geren  Wirkungen  des  ersten  begründet  sind,  so  dafs  fran¬ 
zösische  Soldaten,  welche  dem  nordischen  Feldzüge  bei¬ 
wohnten,  glaubten,  er  enthalte  Vilriolöl.  Man  hat  selbst 
bemerkt,  dafs  ungereinigter  Kartoffelbranntwein  eine  heftige 
Trommelsucht  veranlafste,  von  welcher  Franzbranntwein, 
Rum  und  selbst  gereinigter  Kartoffelbranntwcin  die  Leiden¬ 
den  befreite. 

Der  Mangel  an  Raum  verbietet  es,  <tfe  übrigen  höchst 
lehrreichen  Erläuterungen  durchzugehen,  und  Ref.  erlaubt 
sich  nur  noch,  sie  namhaft  zu  machen:  In  wiefern  es  ärzt¬ 
lichen  Collegien  zustehe,  den  ihnen  vorgelegten  Fragen, 
wenn  sie,  aus  ärztlichem  Gesichtspunkte  betrachtet,  ihrem 
Zwecke  nicht  entsprechen,  eine  demselben  angemessene  Deu¬ 
tung  zu  geben.  —  Zurechnungsfähigkeit^  Rechtsgültigkeit 
und  polizeiliche  Berücksichtigung  der  Handlungen  fallsüch¬ 
tiger  Personen.  —  Beleuchtung  der  Frage:  Ist  die  An¬ 
nahme  eines  somatisch -psychischen  Mittelzustandes,  der  die 
Zurechnung  zwar  nicht  vollkommen  gestattet,  aber  auch 
nicht  vollkommen  aufhebt,  praktisch  nützlich  und  noth- 
w  endig? 

W.  F. 


m. 

% 


Die  R  ö  t  h  e  1  n , 

als  für  sich  bestehende  Krankheit. 

Vom 

Herrn  Dr.  W  agner  in  Schlichen, 

Physicus  des  Schweinitzer  Kreise*. 


Bei  dreifsigjähriger,  sehr  starker  Stadt  -  und  Landpraxis, 
richtete  ich  stets  mein  besonderes  Augenmerk  auf  das  Schar- 
lacbfieber  und  die  Masern,  mit  Rückblick  auf  die  sogenann¬ 
ten. 


III.  Rütheln. 


421 


ten,  für  eine  Mittelkrankheit  gehaltenen  Rütheln,  welche 
Krankheiten  hier  auf  dem  Lande  in  der  Regel  von  6  zu 
6  Jahren,  zuweilen  auch  in  kürzeren  Zwischenräumen  epi¬ 
demisch  erscheinen.  Wiederholt  kam  mir  bald  mit,  bald 

\ 

nach  diesen  Epidemieen,  bald  in  den  Zwischenzeiten,  ein 
eigener  gutartiger  Ilautausschlag,  mit  geringem  Fieber  ver¬ 
bunden,  vor,  der  auf  einer  Seite  viel  Aehnlichkeit  mit  den 
Masern  hatte,  a'uf  der  anderen  aber  dem  Scharlach  sehr 
nahe  kam,  nach  welchem  ich  aber  doch  nie  Hautwasser¬ 
sucht,  noch  andere,  dem  Scharlach  und  den  Masern  oft 
eigene,  übcle  Folgen  wahrnahm.  Da  die  Krankheit  über¬ 
dies  stets  sehr  gelinde  war,  nie  mit  Hirnentzündung,  noch 

* 

anderen  schwer  entzündlichen  Zufällen  eintrat,  noch  sich 
später  damit  vereinigte,  so  erkannte  ich  sie  bald  für  eine 
sehr  gutartige  Abart  von  den  Masern,  bald  für  dieselbe  vom 
Scharlach,  und  gewann  die  feste  Ueberzeugung  nicht,  dafs 
es  eine  für  sich  bestehende,  vom  Scharlach  und  den  Masern 
ganz  verschiedene  Krankheit  sei.  Diese  Ansicht  fafste  um 
so  festere  Wurzel,  weil  ich  bei  älteren  Schriftstellern,  wo 
ich  mir  Rath  holen  wollte,  ganz  unbefriedigt  blieb,  und 
bei  neueren  nichts,  als  Widersprüche  antraf,  wenn  ich 
deren  Schilderungen  miteinander  verglich.  So  beschreibt 
H  ecker  die  Rütheln  anders,  als  Heim,  Ziegler  anders, 
als  Seile,  Sprengel  und  Richter  von  einander  abwei¬ 
chend,  Conspruch  wieder  anders,  als  Jahn,  Filitz  und 
Reil,  u.  s.  w. ;  kurz,  keine  Beschreibung  steht  mit  der 
anderen  völlig  irn  Einklänge.  Die  gröfsten  Aerzte  stimmen 
darin  überein,  dafs  Rütheln  eine  Abart  des  Scharlachs  seien. 
Dieser  Meinung  blieb  auch  ich  viele  Jahre  treu.  Einzelne 
Fälle,  die  mir  vorkamen,  dafs  Kinder  und  Erwachsene,  die 
unter  meinen  Augen  Scharlach  und  Masern  überstanden  hat¬ 
ten,  auch  einen  dritten,  epidemisch  umherziehenden  Haut¬ 
ausschlag-  mit  bekamen,  den  ich  bald  für  Masern,  bald  für 
Scharlach  hielt,  brachten  mich  von  dieser  gefafsten  An¬ 
sicht  um  so  weniger  ab,  da  ich  früher  bei  einem  und 
demselben  Subjecte  die  wahren  Menschenpocken  (nicht 
XIII.  Bd.  4.  St.  28 


i 


422 


III.  Rüthcln. 


geimpft)  wiederholt  wahrgenommen  hatte,  folglich  die  Natur 
hier  wohl  auch  ihr  Spielwerk  treiben,  und  Masern,  so  wie 
Scharlach,  wiederholt  an  einem  Menschen  Vorkommen  las¬ 
sen  könnte.  Doch  blich  ich,  bei  diesem  mir  stets  sonder¬ 
bar  vorkommenden  Umstande,  immer  aufmerksam.  Ich 
merkte  mir  gauz  genau,  welche  Körper  in  meinem  Wir¬ 
kungskreise  ächte  Masern ,  oder  Scharlach ,  oder  Masern  und 
Scharlach  überstanden  hatten,  und  wann  dies  der  Fall  ge¬ 
wesen  sei,  um  zu  beurtheilen,  ob  dadurch  die  Anlage  zu 
den  sogenannten  Rötbein  (wenigstens  in  den  mehresten 
Fällen)  aufgehoben  sei,  und  diese  Körper  solche  in  epide¬ 
misch  vorkommendem  Falle,  insgesammt,  oder  doch  wenig¬ 
stens  häufig  mitbekommen  würden,  oder  nicht? 

Dies  zu  beobachten,  gab  das  Wintcrquartal  des  Jahres 
1828  volle  Gelegenheit  in  meinem  nicht  geringen  Wirkungs¬ 
kreise.  Hier  zeigte  sich  ein  acuter,  mit  Fieber  verbunde¬ 
ner  contagiöser,  sich  schnell  an  vielen  Orten  allgemein  ver¬ 
breitender  Ilautausschlag ,  der  zwar  nichts  weniger  als  bös¬ 
artig  war,  aber  Kinder  und  Erwachsene  ohne  Unterschied 
in  vielen  Häusern  überfiel.  Alle  Subjecte  (nur  mit  der 
Ausnahme,  wie  es  dem  Scharlach  eigen  ist,  welcher  immer 
eine  Zahl  übrig  läist  und  solche  ganz  verschont,  oder  nach 
Jahren  erst  wieder  aufsucht  und  sich  in  solchen  Fällen,  wo 
sich  Gelegenheit  zur  Ansteckung  findet,  aufdringt),  die  den 
ächten  Scharlach  und  die  wirklichen  Masern  vor  einigen  und 
mehreren  Jahren,  wie  ich  mir  nun  genau  gemerkt  hatte, 
richtig  überstanden  hatten,  wurden  mit  der  Krankheit  eben 
so  regelmälsig  überfallen,  als  diejenigen  welche  nur  eins 
von  beiden,  oder  gar  keins  gehabt  hatten,  doch  schien  sich 
die  Anlage  nicht  über  das  20ste  Jahr  hinauf  zu  erstrecken. 
Hunderte  sah  ich  davon  ergrilfen,  die  die  beiden  anderen 
eben  genannten,  ihm  ähnlichen  Krankheiten  schon  einst  er¬ 
duldet  hatten. 

Dieser  acute  Ilautausschlag  trat  mit  Halsweh,  Schnu¬ 
pfen  und  sehr  mäfsigem  lieber  begleitet  ein,  und  brach 
sehr  gewöhnlich  am  Halse  und  im  Gesiebt  zuerst  aus;  er 


I 


III.  Rüthein.  423 

war  den  Masern  ähnlicher  als  dem  Scharlach,  sah  wie  ein 
gewöhnliches  blafsrothes,  nicht  zu  kleinpunktiges  Friesei 
aus,  dessen  Pusteln  mit  geringer  Röthe  umkränzt  und  in 
der  Mitte  ein  wenig  erhaben  waren,  und  das  Ansehn  hat¬ 
ten,  wie  Hr.  Geh.  lxath  Heim  die  Rötheln  beschreibt 
(nämlich  so,  als  wenn  man  einen  Punkt  mit  blafsrother 
Tinte  auf  nals  gemachtes  und  wieder  halb  trocken  gewor¬ 
denes  Papier  macht),  jedoch  selten  zusammenliefen.  Husten 
war,  wie  bei  den  Masern,  weder  dessen  Vorbote,  noch 
Begleiter.  Die  Augen  befanden  sich  in  keinem  Falle  so 
stark  angegriffen,  entzündet  und  reizbar,  als  es  dort  der 
Fall  gewöhnlich  ist,  sondern  es  bestand  das  Augenleiden 
nur  in  einem  Grimmen  der  Augenlieder,  die  auch  zuwei¬ 
len,  wie  das  ganze  Gesicht,  ein  wenig  aufgedunsen  zu  sein 
schienen,  wovon  das  vorletzte  Symptom  besonders  charak¬ 
teristisch  hervorstach.  Hatte  dieses  Leiden  Abschuppung  zur 

i 

Folge,  womit  dasselbe,  wie  beim  Scharlach,  nicht  allgemein 
begleitet  wurde,  so  war  dies  Zeichen  etwas  mehr  in  .  die 
Sinne  fallend,  als  bei  den  Masern,  aber  geringer  als  beim 
Scharlach.  Selten  traf  der  Ausschlag  den  ganzen  Körper, 
sondern  blofs  Gesicht,  Hals,  einen  Theil  des  Rückens  und 
der  Brust.  Schon  das  Mitergriffensein  der  obern  und  un¬ 
tern  Gliedmaafsen  schien  nicht  mehr  regelmäfsig.  Noch 
seltener  befiel  er  den  ganzen  Körper,  wenigstens  keines- 
weges  an  allen  Theilen  zugleich.  Die  Dauer  desselben  war 
drei  bis  acht  Tage. 

Dieser  acute  Hautausschlag,  den  ich  von  nun  an  als 
eine  für  sich  bestehende,  weder  mit  den  Masern,  noch  mit 
dem  Scharlach  in  Verwandtschaft  stehende  Krankheit  aner¬ 
kenne,  und  für  wahre,  nicht  mit  den  andern  beiden  Krank- 
heitep  zu  verwechselnde  Rötheln  halte,  hat  mit  den  Masern 
gemein:  dafs  er  häufig  zuerst  im  Gesicht  erscheint,  wobei 
die  Augen  mit  leiden,  wohl  auch  das  Gesicht  mitunter  et¬ 
was  aufgedunsen  ist,  das  Ansehn  des  Ausschlags  selbst  sich 
den  Masern  besonders  nähert,  und  dals  derselbe  mit  Schnu¬ 
pfen,  einzeln  auch  mit  leichten  Catarrhalzufällen  eintritt 

28  * 


\ 


m 


III.  Rötheln. 


i 


und  begleitet  wird.  Mit  dem  Scharlach  theilt  er  die  Hals- 
affection,  und  das  zuweilen  damit  verbundene  gröbere  Ab- 
sehuppen,  als  bei  den  Masern,  welches  ich  jedoch  hier  nur 
am  Halse  und  an  den  Händen  bemerkt  habe.-11  Hautwasser- 
sucht  hatte  diese  Krankheit  nie  zur  Folge,  sa  wie  ich  mich 
nicht  erinnern  kann,  dafs  sie  jemals  irgend  eine  bedeutende 
Nachwehe  gehabt  hätte,  und  zwar  auch  bei  denen  nicht, 
die  gar  keine  Rücksicht  darauf  nahmen,  und  sich  der  streng¬ 
sten  Kälte  dabei  aussetzten;  ja  es  hat  mir  sogar  geschienen, 
als  wären  letztere  noch  leichter  davon  gekommen,  als  die, 
welche  ich  ängstlich  einsperren  liefs.  Uebcrhaupt  ist  das 
Ganze  eine  Krankheit,  die  keinen  Arzt  bedarf,  und  deswe¬ 
gen  wohl  häufig  übersehen  werden  mag,  dennoch  aber  Für 
sich  bestehend  da  ist. 

Noch  mehr  wurde  ich  von  dieser  meiner  Ansicht  über¬ 
zeugt,  als  im  Spätherbst,  hier  und  da  in  Orten,  wo  im 
Monat  Januar,  März  und  April  die  Rötheln  ihren  Besuch 
abgestattet  hatten,  wieder  das  Scharlach  im  reinen  Bilde, 
bald  mit  seiner  Halsbräune  gehörig  begleitet,  bald  verkappt, 
als  solche  allein,  hier  mit  geringem,  dort  mit  sehr  heftigem 
Fieber  und  sehr  vermehrter  thierischer  Wärme  sich  blicken 
liefs  und  schnell  verbreitete,  auch  diejenigen,  wobei  sich 
mein  eigener  siebzehnjähriger  Sohn  befand,  nicht  verschonte, 
die  nur  vor  einem  halben  oder  drei  Vierteljahren  die  ge¬ 
schilderten  Rötheln,  und  weit  früher  die  Masern  gehabt,  und 
nur  bei  solchen,  mit  wenig  Ausnahme,  vorbei  ging,  welche 
drei  dergleichen  Krankheiten,  nämlich  den  Scharlach,  die 
Masern  und  die  Rötheln  früher  überstanden  hatten.  Dabei 
ertönten  bald  die  Glocken,  die  bei  den  Rötheln  vollkom¬ 
mene  Ruhe  hatten,  und  kündigten  unverkennbar  öffentlich 
an ,  dafs  nicht  die  Rötheln,  sondern  der  ■wahre  iirgengel: 
Scharlach,  im  Orte  sei,  was  auch  dessen  besonders  gelieb¬ 
ter  Nachzügler:  die  Hautwassersucht ,  bewies,  die  in  ein¬ 
zelnen  k allen  folgte,  die  Rötheln  aber  nicht  hinter  sich 
herziehen  iiefsen. 

Nun  habe  ich  zwar,  nach  langjähriger  Aufmerksamkeit 


Ilf.  Rüth  ein. 


425 


auf  diesen  Gegenstand,  die  Ueberzeugung  erlangt,  dafs  Rö- 
theln,  als  Mittelding  zwischen  Masern  und  Scharlach,  nicht 
nur  wirklich  Vorkommen,  sondern  auch  diese  Krankheit, 
wie  ich  bereits  erwähnt  habe,  eine  für  sich  bestehende  ist; 
allein  die  Symptome,  welche  sie  von  ihren  beiden  Neben¬ 
buhlerinnen  unverkennbar  scheiden,  wage  ich  mit  der  Feder 
nicht  zu  schildern.  Nur  der  praktische  Blick  kann  dies 
geben,  und  auch  dieser  reicht,  nach  meiner  Ansicht,  nicht 
stets  hin ,  es  mit  aller  Zuversicht  zu  bestimmen,  wenn  man 
sich  aus  seinem  praktischen  Wirkungskreise  gerissen  befin¬ 
det,  und  einen  dergleichen  Kranken,  ohne  zu  wissen  was 
um  und  neben  ihm  vorgebt,  oder  vor  Jahren  mit  diesem 
selbst  vorgegangen  ist,  zur  sofortigen  sicheren  Beurtheilung 
vorgestellt  bekommt.  Bas  Aeufsere  des  Hautausschlages 
selbst  entscheidet  nichts,  man  sage  auch  was  man  wolle. 
Scharlach  kommt  in  sehr  abwechselnder  Gestalt  vor,  des¬ 
gleichen  die  Masern,  und  so  auch  die  Rötheln.  Alle  drei 
Krankheiten  verlaufen  darin  in  einander,  und  vyer  sich  auf 
diese  Stütze  verläfst,  fällt!  Nur  das  Vorhergehende,  das 
Folgende  und  die  Schwere  der  Krankheit  (wenn  zuweilen 
auch  nur  in  sehr  einzelnen  Fällen),  ohne  alle  Rücksicht 
auf  die  Beschaffenheit  der  Ausschlagsform ,  oder  des  gänz¬ 
lichen  Wegfalenls  desselben  in  einzelnen  Fällen,  giebt  einen 
etwas  sicheren  Stützpunkt  ab.  Z.  B:  Hat  der  Kranke  Schar¬ 
lach  und  Rötheln  schon  gehabt,  und  er  bekommt  einen 
dritten,  diesen  Krankheiten  ähnlichen,  epidemisch  herrschen- 

t 

den,  acuten  Ausschlag,  der  sich  übrigens  noch  mit  Husten 
und  Catarrhalzufällen  ankündigt,  zuerst  vielleicht  auc  h  gar 
im  Gesicht,  besonders  an  der  Stirn  ausbricht,  breit  läuft 
u.  s.  w.,  so  kann  es  nicht  fehlen,  dafs  es  die  Masern  sind, 
die  überhaupt  auch  ohnedies  leichter  von  den  übrigen  bei¬ 
den  Krankheiten,  wenn  sie  irgend  regelmäßig,  wie  doch 
gewöhnlich,  auftreten,  zu  unterscheiden  sind.  Weit  schwe¬ 
rer  unterscheiden  sich  Rötheln  vom  Scharlach,  weil  letzte¬ 
rer  mit  Halsaffection  ein  tritt,  und  erstere  auch.  Bas  Hals¬ 
leiden  der  ersteren  Krankheit  habe  ich  zwar  nie  bedeutend, 


426 


III.  Rütteln. 


und  weder  Innerlich  noch  aufserlich  mit  stark  entzündlichen 
Zufallen  und  besonderer  Anschwellung  der  Halsdrfisen  und 
des  ganzen  Halses  gefunden;  aber  auch  bei  manchen  Schar- 
lachepidemieen  (aufser  in  einzelnen  Fallen,  die  blofs  weit 
umfassende  Praxis  liefern  kann)  habe  ich  oft  nichts  mehr 
davon  gesehen.  Aus  diesem  Grunde  bleibt  dieses  Svmptom, 
aus  dem  Zusammenhänge  gerissen,  unzuverlässig.  J)afs  sich 
eine  von  beiden  Krankheiten,  wie  Hr.  Geh.  Rath  Heim 
bemerkt  hat,  durch  einen  besonderen  Geruch  von  der  an¬ 
dern  unterscheide,  habe  ich  nie  gefunden,  lndcfs  spreche 
ich  dieses  Symptom  keinesweges  ab;  denn  anders  kann  eine 
Krankheit  an  grofsen  Orten,  anders  auf  dem  platten  Lande 
und  in  kleinen  Städten  auftreten.  So  viel  folgt  indefs  dar¬ 
aus,  dafs  auch  dieses  Zeichen  keinesweges  die  Probe  hält 
und  ein  sicherer  Wegweiser  ist. 

Die  Schälung,  oder  das  Abschuppen,  geschieht  bei 
den  Rötheln  in  geringerem  Grade,  als  beim  Scharlach, 
und  fällt  zuweilen  ganz  weg.  Welcher  alte  praktische 
Arzt,  der  einer  umfassenden  Praxis  sich  rühmen  kann,  hat 
denn  nicht  gefunden,  dafs  viele  Scharlachkranke,  bei  einer 
und  derselben  Epidemie,  sich  gar  nicht  schälen >  und  andere 
in  Familien,  wo  Scharlach  wüthete,  sich  wieder  völlig  häu¬ 
teten,  die  weder  Scharlachausschlag  gehabt,  noch  sich  sonst 
krank  gefühlt  hatten?  —  Mithin  ist  auch  dieses  ein  die 
Probe  nicht  vollkommen  bestehendes  Zeichen,  ob  es  gleich 
als  eins  der  sichersten  von  allen  anerkannt  werden  mufs. 

Die  Hautwassersucht,  welche  dem  Scharlach  oft, 
den  Masern  nur  in  höchst  seltenem  Falle,  den  ächten 
Rötheln  aber,  wie  ich  gefunden,  nie  nachfolgt,  kann  nach 
meinem  Ermessen  noch  das  beste  Anhalten  gewähren,  um 
während  der  Dauer  einer  Scharlach-  und  Röthel -Epidemie 
mit  einiger  Zuverlässigkeit  zu  entscheiden,  ob  man  ächten 
Scharlach,  oder  die  Rötheln  vor  sich  habe.  Stark  entzünd¬ 
liche  I lalsleiden  und  schnelle  lodesfäile,  wenn  auch  die 
Epidemie  noch  so  gutartig  ist,  geben  gleich  hell  zu  erken¬ 
nen,  was  man  behandelt.  Kommen  dann  hier  und  da  starke 


III.  Rüthein. 


427 


Abhäutungen,  wenn  auch  nur  an  Händen  und  Füfsen  hinzu, 
auch  wohl  einzeln  bei  Kindern  und  Erwachsenen,  die  von 
einer  Krankheit  gar  nichts  wufsten  und  die  Schlinge  un¬ 
sichtbar  uni  den  Hals  trugen,  so  unterscheidet  sich  dadurch 
das  Scharlach  immer  gewisser  von  jeder  anderen  Krankheit. 
Am  allersichersten  und  gewissesten  aber  kann  man  diese 
Krankheiten,  selbst  bei  einer  ganz  neu  eintretenden  Epide¬ 
mie,  nur  dadurch  auf  den  ersten  Blick  von  einander  unter¬ 
scheiden,  wenn  man  seine  ganze  Umgebung  genau  kennt 
und  weifs,  was  jedes  Individuum  gehabt  hat,  und  also  von 
diesen  drei  Krankheiten  nur  noch  diejenige  zu  ertragen 
übrig  sein  dürfte,  welche  noch  nicht  da  gewesen  ist,  und 
welche  sich  dermalen  zeigt.  Richtet  man  dabei  noch  sein 
Augenmerk  auf  die  von  weitem  etwa  nach  und  nach  heran¬ 
nahende  Epidemie,  was  sich  durch  Kunde  immer  schon  vor¬ 
her  verbreitet,  so  wird  und  kann  man  nicht  fehlen.  Einen 
andern  Leitfaden  weifs  ich  wenigstens  nicht  zu  geben,  um 
bei  Scharlach  und  Röthein  nicht  zu  irren.  Die  feineren 
Svmptome  übergehe  ich  ganz,  denn  sie  leiten  den,  der  die 
Krankheiten  nie  sah,  noch  mehr  irre,  zumal  sie  bei  jeder 
Epidemie  abweichend  erscheinen,  oder  wohl  ganz  fehlen. 
Mit  der  Masernkrankheit  verhält  es  sich  anders.  Ohne  auf 
den  Ausschlag  Rücksicht  zu  nehmen,  zeigt  diese  oft  schon 
fünf  bis  acht  Tage  vorher,  was  da  kommen  soll  und  mufs. 
Der  eigene  Husten,  als  der  gewöhnliche,  sichere  Vorgän¬ 
ger,  macht  sie  schon  kenntlich  genug.  Nicht  so  ist  es  bei 
Scharlach  und  Rötheln.  O!  wie  oft  habe  ich  viele  Jahre 
lang  selbst  geirrt,  und  meinen  Irrthum  lange  aus  Ueber- 
zeugung,  um  später  keine  Blülse  zu  geben,  damit  bemän¬ 
telt,  dafs  man  das  Scharlachfieber  auch  zweimal  bekommen 
könne,  und  der  vorliegende  Fall  ein  abermaliger  Beweis 
sei!  —  Der  wahrhaft  praktische  Arzt,  welcher  hierbei  aul 
den  ersten  -Blick  immer  gleich  wulste,  was  er  vor  sich 
hatte,  werfe  den  ersten  Stein  auf  mich!  — 

Jedem  jungen  Arzte,  er  sei  auch  noch  so  gelehrt, 
wüusche  ich,  dafs  er  hierbei  nicht  strauchle.  Ein  Glück, 


428 


IV.  Wasserkrebs. 


dafs  der  Irrthum  nicht  leicht  sonderlichen  Schaden  bringen 
kann,  da  nichts  auf  den  rechten  Namen  der  Krankheit,  son¬ 
dern  alles  auf  die  richtige  Behandlung  des  damit  verbunde¬ 
nen  Fiebers  ankommt.  Ist  er  ungewifs ,  so  laufe  er  ja  nicht 
zu  früh,  um  nicht  wieder  umtaufen  zu  müssen  und  zu  er¬ 
leben,  von  manchem  alten  Dorfbarbier  verlacht  und  verspot¬ 
tet  zu  werden,  der  wenigstens  weifs,  was  jedes  Kind  im 
Orte  gehabt  hat,  und  nicht  annimmt,  dafs  man  von  diesen 
drei  Krankheiten  eine,  höchst  seltene  Fälle  ausgenommen, 
zweimal  bekommt.  — 

Die  gröfste  Vorsicht  ist  nüthig,  wenn  zwei  von  diesen 
hitzigen  Ilautausschlägen  zugleich  herrschen,  was  nicht  sel¬ 
ten  der  Fall  ist.  Weifs  der  Arzt  da  nicht,  was  das  kranke, 
ihm  vorstehende  Subject  schon  von  allen  dreien  überstan¬ 
den  hat,  so  kann  er  am  allerleichtesten  auf  Irrwege  kom¬ 
men,  und  bei  vorschnellem  Urtheile  selbst  von  den  Eltern 
die  Antwort  bekommen:  Hr.  Dr.,  das  kann  es  nicht  sein, 
denn  diese  Krankheit  haben  unsere  Kinder  schon  vor  Jah¬ 
ren  gehabt.  —  Ist  der  Arzt  also  im  Ilause  fremd,  so  mag 
er  sich  bei  hitzigen  Exanthemen  wohl  erkundigen,  was  frü¬ 
her  da  war,  bevor  er  dem  Kinde  einen  Namen  giebt.  — 


Beobachtungen  über  den  Wasserkrebs. 

^  on  einem  praktischen  Arzte. 


In  einer  hiesigen  wohlthätigen  Anstalt,  in  der  nur 
junge  Kinder  vom  zweiten  Jahre  an,  aber  eine  grofsc  An¬ 
zahl  dieser  Kleinen  sich  befinden,  sind  seit  dem  Bestehen 
derselben  (8  Jahre)  sechs  Kinder,  drei  davon  im  letzten 


IV.  “W  asserkrebs. 


i 


429 


Jahre  (1827),  am  Wasserkrebs  gestorben.  Von  diesen 
waren  5  Mädchen  zwischen  2  und  3  Jahren,  und  nur  ein 
Knabe  von  5  Jahren,  die  meisten  scrofulös,  zwei  nur  ganz 
gesund,  besonders  der  Knabe,  der  sich,  als  schon  eine  be¬ 
deutende  Geschwulst  die  Backe  ergriffen  hatte,  beständig 
noch  unter  den  anderen  Kindern  aufhielt.  —  Zwei  wurden 
in  Folge  von  Masern,  und  drei  in  Folge  von  Keuchhusten 
befallen. 

Am  2ten  November  vorigen  Jahres  übernahm  ich  für 
einen  meiner  Ilrn.  Collegen  die  Behandlung  der  kranken 
Kleinen  in  der  oben  angegebenen  Anstalt,  und  fand  daselbst 
die  Louise  II.,  ein  schwächliches,  drei  Jahre  altes  Kind, 
das ,  so  lange  es  in  der  Anstalt  war,  fast  nicht  aus  der 
Krankenstube  gekommen  war,  an  einem  heftigen  Keuch¬ 
husten,  mit  bedeutendem  Blutauswurfe,  lefdend.  Es  wurde 
deswegen  nöthig,  obgleich  es  schon  früher  geschehen  war, 
noch  einmal  zwei  Blutegel  an  die  Brust  zu  legen,  innerlich 
aber  wurde  eine  Auflösung  von  Extractum  Hvoscyami  ge¬ 
reicht.  — -  Der  Blutauswurf  hörte  hiernach  bald  auf,  und 
das  Kind  befand  sieh  am  zweiten  Tage  leidlich,  nur  stellte 
sich  Diarrhöe  ein.  Am  dritten  Tage  zeigte  mir  die  Wär¬ 
terin  schon  bei  meinem  Eintritt  in  das  Haus  mit  grofser  » 
Angst  an  (denn  ein  jeder  in  dieser  Anstalt  geräth  in  Furcht, 
sobald  sich  nur  irgend  ein  Leiden  an  dem  Munde  eines  der 
Kinder  zeigt),  dafs  unserer  Kranken  die  Lippen  geschwol¬ 
len  seien.  Ich  fand  eine  sehr  bedeutende  Geschwulst^  dieser 
Theile,  jedoch  keine  wunde  oder  geschwürige  Stelle,  noch 
einen  Schorf  oder  sonst  etwas,  das  mir  einen  Fleck,  als 
den  wo  Brand  entstehen  würde,  bezeichnete.  Mit  dem 
häufigen  Vorkommen  der  Krankheit  in  dieser  Anstalt  be¬ 
kannt,  verordnete  ich  sogleich  innerlich  eine  Auflösung  von 
Chininum  sulphuricum  mit  Tinctura  Opii,  was  mir  bei  dem 
grofsen  Schwächezustande,  dem  noch  fortdauernden  Keuch-* 
husten  und  der  Diarrhöe  am  besten  zu  passen  schien. 
Aeufscrlich  wurde  eine  Mischung  von  Acidum  pyrolignosum 
und  Mel  rosatum  (ein  Theil  auf  6  Theile)  angewandt.  Am 


430 


IY.  Wasserkrebs. 


folgenden  Tage  war  das  Zahnfleisch  über  den  oberen  Schnci- 
dezähnen  wund,  hatte  ein  schlechtes,  den  scorbutischen  Ge¬ 
schwüren  ähnliches  Ansehen,  blutete  leicht,  und  verbreitete 
einen,  widerlichen  Geruch.  Den  hierauf  folgenden  Tag  zeig¬ 
ten  die  Mundwinkel  Geschwüre  von  demselben  Ansehen. 
Auf  diese  wurde  Charpie,  mit  dem  angegebenen  Mittel  be¬ 
feuchtet,  gelegt.  Eine  bedeutende  Menge  Speichel  flofs 
jetzt  fortwährend  aus  dem  Munde.  —  Die  Geschwüre  be¬ 
kamen  nach  und  nach  ein  besseres  Ansehen,  besonders  die 
am  oberen  Zahnrande,  bluteten  aber  immer  noch  leicht.* 
Auch  das  Allgcmeinleiden  schien  sich  bessern  zu  wollen, 
die  Diarrhöe  hörte  auf,  der  Husten  liefs  nach,  der  Puls 
hob  sich  etwas,  das  Kind  verlangte  zu  essen  und  die,  sonst 
verweigerte,  Arznei  zu  nehmen,  nahm  auch  Theil  an  allem, 
was  in  seiner  Nähe  vorging;  so  dafs  wir  fast  glaubten, 
unsere  Furcht  sei  ungegründet  gewesen. 

Bald  jedoch  veränderte  sich  leider  die  Scene.  Nach 
Verlauf  von  ungefähr  acht  Tagen  entstand  eine  Geschwulst 
der  rechten  Backe,  und  bald  zeigte  sich  in  der  Gegend 
der  hintersten  Backzähne,  an  der  inneren  Seite  der  Backe, 
ein  brandiger  Fleck.  Dabei  sank  der  Puls;  die  Extremitäten 
aber  waren  warm,  jedoch  nicht  spröde- trocken;  die  Aus¬ 
leerungen  und  der  Appetit  ziemlich  natürlich;  der  Husten 
liefs  nach.  Es  schien  also  hier  kein  Grund  vorhanden,  das 
Verfahren  zu  ändern,  sondern  es  wurde  nur  mit  der  Mi¬ 
schung  aus  Acidum  pyrolignosum  die  Stelle  so  oft  als  mög¬ 
lich  gepinselt.  Auch  hier  schienen  die  brandigen  Thcile 
sich  abstofsen  zu  wollen,  und  der  bis  jetzt  noch  nicht 
sehr  bedeutend  üble  Geruch  abzunehmen.  Dessenungeach¬ 
tet  sanken  die  Kräfte  immer  mehr  und  mehr,  der  Appetit 
verlor  sich  wieder,  doch  blieb  das  Auge  klar  und  das  Be- 
wufstseiu  ungestört.  Das  unglückliche  Kind  verlangte  im¬ 
mer  noch  von  Zeit  zu  Zeit  die  Arznei.  Die  Geschwulst 
der  Backe  nahm  bedeutend  zu,  sie  wurde  glänzcndroth  und 
steinhart,  so  dafs  ein  Erscheinen  des  Bebels  auf  der  äulse- 
ren  Haut,  und,  wie  dies  gewöhnlich  der  ball  gewesen,  das 


IV.  "Wasserkrebs. 


431 


Ende  der  Scene  zu  erwarten  stand.  —  Leider  batten  wir 

/ 

uns  nicht  getäuscht.  Am  20.  November  Morgens  um  2  Uhr 
war  die  Epidermis  geplatzt,  und  als  ich  gegen  11  Uhr  das 
Kind  sah,  scjion  eine  brandige  Stelle  vom  Umfange  eines 
Zweigroschensliicks  vorhanden.  Das  Acidum  pyrolignosum 
wurde  sogleich  auch  hier  angewandt,  später  über  dasselbe 
noch  Fomentationen  aus  aromatischen  Kräutern  gemacht, 
und  die  Arznei  in  gröfseren  Gaben  gereicht.  Zu  einem 
anderen  Mittel,  namentlich  zu  Säuren,  konnte  ich  mich, 
des  immer  noch  fortdauernden  Hustens  wegen,  nicht  ent- 
schliefsen.  —  Am  Abend  dieses  Tages  waren  die  obern 
Extremitäten  kalt,  am  andern  Morgen  jedoch  zwar  wieder¬ 
um  warm,  doch,  wie  die  unteren,  pergamentartig  trocken; 
eben  so  die  Zunge.  Der  Puls  schnell,  doch  nicht  iiber- 
mäfsig  klein,  auch  nicht  sehr  schwach;  das  Auge  klar,  das 
Bewufstsein  ungetrübt;  die  Ausleerungen  fast  normal.  In 
zwei  Tagen  hatte  die  brandige  Zerstörung  fast  die  ganze 
Backe  ergriffen,  sie  erstreckte  sich  nämlich  von  dem  auf¬ 
steigenden  Aste  des  Unterkiefers  bis  zu  dem  Mundwinkel, 
und  nach  oben  bis  an  das  Os  zygomaticum,  und  verbreitete 
einen  unausstehlichen  Gestank,  doch  aber  zeigte  sich  an 
dem  Umkreise  des  Geschwürs,  besonders  nach  vorne  zu, 
ein  Rand  der  nicht  brandig  war.  Es  hatte  hier  das  Anse¬ 
hen  eines  schlechteiternden  Geschwüres.  —  Verbunden 
wurde  mit  einer  Salbe  aus  Unguentum  de  Styrace  mit  Pul¬ 
vis  carbonis,  Myrrha,  Acidum  pyrolignosum  und  Oleum 
Terebinthinae.  — 

Aller  angewandten  Mühe  aber  ungeachtet,  schritt  die 
brandige  Zerstörung  unaufhaltsam  fort,  und  die  Hoffnung, 
dafs  sich  eine  Demarcationslinie  bilden  würde,  hatte  uns 
leider  getäuscht.  Das  ganze  Gesicht  fing  jetzt  an  odematös 
zu  schwellen;  die  Kräfte  sanken  immer  mehr,  ja  am  24sten 
zeigten  sich  schon  Brandflecke  an  den  Genitalien.  Dabei 
hatte  die  Abmagerung  den  höchsten  Grad  erreicht.  End¬ 
lich,  am  25.  Nov. ,  berstete  die  Epidermis  in  der  Gegend  des 
Os  zygomaticum,  und  später  auch  am  Mundwinkel,  und 


i 


432 


IV.  Wasserkrebs. 


eine  bedeutende  Menge  brandiger  Jauche  ergofs  sich  aus 
dieser  Wunde,  und  um  Mitternacht  desselben  Tages  ent¬ 
schlief  das  Kind. 

Bemerkenswerth  scheint  mir  noch,  dafs  sowohl  bei  die¬ 
sem,  als  bei  allen  den  Kindern,  welche  der  Anstalt  durch  dieses 
Uebel  geraubt  wurden,  durchaus  keine  Gehirnaffectionen 
zugegen  zu  sein  schienen;  wenigstens  war  das  Bewußtsein 
bis  auf  den  letzten  Augenblick  ungetrübt;  ja,  unsere  Kleine 
batte  sich  noch  am  letzten  Tage  selbst  aufgerichtet,  und 
gegessen. 

•  *  . 

Aehnlich,  und  nur  mit  unwesentlichen  Modificationen, 
war  der  Verlauf  dieses  fürchterlichen  Uebels  bei  allen  Kin¬ 
dern.  Die  meisten  starben  sehr  schnell,  sobald  sich  erst 
die  brandige  Zerstörung  nach  aufsen  zeigte.  Nur  bei  dem 
ersten  der  Kinder,  das  die  Anstalt  verlor,  so  wie  bei  dein, 
das  ich  beobachtete,  war  der  Verlauf  ein  wenig  langsamer; 
ja  bei  dem  ersten  Kinde  entstand  der  Brand  zuerst  an  den 
Genitalien,  und  erst  nachdem  er  fürchterliche  Verwüstun- 
gen,  auch  im  Gesiebte,  angerichtet  hatte,  starb  das  Kind.  — - 
Bei  den  meisten  waren  übrigens  die  Zerstörungen  bei  wei¬ 
tem  gröfser,  als  bei  dem,  das  unter  meiner  Behandlung 
starb;  namentlich  hatten  die  mehresten  fast  alle  Zähne  ver¬ 
loren,  und  das  Zahnfleisch  nicht  nur,  sondern  auch  der 
Zahnrand  hatte  sich  beim  Reinigen  des  Mundes  in  bedeu¬ 
tenden  Stücken  gelöst. 

Die  Section  wurde,  so  viel  ich  w'eifs,  nur  hei  dem 
ersten  Kinde  unternommen.  Die  Resultate  derselben  sind 
mir  aber  unbekannt.  Bei  dem  jetzt  verstorbenen  Mädchen 
fand  sich,  bei  der  39  Stunden  nach  dem  Tode  unternom¬ 
menen  Leichenöffnung,  folgendes: 

Der  Brand  im  Gesicht  erstreckte  sich  von  dem  Ohre 
bis  auf  die  llälftc  der  Lippen  und  des  Kinnes,  hatte  aber 
die  Nase  nur  in  einem  sehr  geringen  Theile  ergriffen;  von 
dem  unteren  Augenliedc  bis  ungefähr  einen  und  einen  hal¬ 
ben  Querfinger  breit  unter  den  Rand  des  Unterkiefers,  ln 


IV.  Wasserkrebs. 


433 


der  Gegend  des  Jochbeins  am  Mundwinkel  befanden  sich 
Rupturen  der  Oberhaut,  die  erste  von  1~  Zoll,  die  andere 
von  1"  Länge.  —  Die  Scheide  war  auch  gröfstentheils 
brandig.  —  Die  Zeichen  der  beginnenden  Verwesung  wa¬ 
ren  schon  12  Stunden  nach  dem  Tode  sehr  deutlich.  Da¬ 
bin  mufs  auch  wohl  die  Erscheinung  gerechnet  werden,  dafs 
zu  derselben  Zeit  schon,  bei  einer  Temperatur  von  3  bis 
4  Graden  unter  dem  Gefrierpunkte,  die  Leichenstarre  gänz¬ 
lich  verschwunden  war.  —  Die  Leiche  war  im  höchsten 
Grade  abgemagert.  * — 

In  der  Brusthöhle  wurde  nichts  Bemerkenswerthes  ge¬ 
funden,  als  eine  grofse  Menge  von  Wasser  im  Herzbeutel. 
Die  Eingeweide  dieser  Höhle  waren  ganz  gesund,  nur 
sämmtliche  venösen  Gefäfse  stark  mit  Blut  gefüllt,  und  die 
Lungen  än  mehreren  Stellen  durch  ziemlich  feste  und  lange 
Bänder  mit  der  Pleura  verbunden.  — -  In  der  Unterleibs¬ 
höhle  fiel  sogleich  die  sehr  grofse  Leber  in  die  Augen. 
Ihr  linker  Lappen  reichte  bis  an  die  Rippen  der  linken 
Seite,  und  der  rechte  einige  Querfinger  unter  den  kurzen 
Rippen  hervor.  Die  Farbe  war  normal.  —  Der  Darm¬ 
kanal  war  gesund,  nur  in  der  Mitte  des  Ileum  fand  sich 
eine  Intussusception  von  ungefähr  einem  Zoll  Länge.  — 
Die  Mesenterialdrüsen  waren  fast  alle  etwas  vergröfsert  und 
verhärtet.  —  Das  Gehirn  konnte  nicht  untersucht  werden. 

Ganz  natürlich  drängte  sich  hier  wohl  die  Frage  auf: 
Woher  kommt  diese,  sonst  so  seltene  Krankheit,  in  dieser 
Anstalt  gerade  so  häufig  vor? 

Das  Öftere  Erscheinen  des  Uebels  in  diesem  Jahre  er¬ 
klärt  sich  wohl  daraus,  dafs  es  sich  auch  aufser  der  Anstalt, 
meist  in  Folge  von  Masern  oder  Scharlach ,  hin  und  wieder 
zeigte.  Mindestens  hat  der  Schreiber  dieses  einige  Fälle, 
deren  Verlauf  w'cnig  anders,  und  nur  einigemale  glücklicher 
war,  zu  sehen  Gelegenheit  gehabt,  und  weifs,  dafs  einer 
seiner  Hrn.  Collegen,  der  ein  benachbartes  Armenrevier 
verwaltet,  auch  einige  Kinder  an  dieser  Krankheit  verlor. 

Als  Ursachen  des  Wasserkrebses  geben  alle  Schrift- 


434 


IV.  Wasserkrebs. 


steiler  einstimmig  feuchte,  kalte,  dumpfe  Wohnungen, 
schlechte,  verdorbene,  mangelhafte  Nahrungsmittel ,  und  un¬ 
reine,  eingeschlossene  Luft  an.  Deswegen  komme  das  Uebel 
ausschließlich  nur  hei  den  ärmeren  Volksklas>cn  vor,  und 
zwar  am  häufigsten  in  nafskalten,  feuchten  und  sumpfigen 
Ländern,  und  zuweilen  endemisch  in  schlechten  l  in- 
delhä usern  1 ). 

Oh  nun  von  diesen  Ursachen  einige  statt  finden,  mag 
das  Folgende  lehren. 

Die  Anstalt  liegt  zwar  in  der  Stadt,  jedoch  in  einer 
ziemlich  freien  Gegend,  und  hat  vor  dem  W  ohpgebäude 
einen  schönen,  mit  Baumen  bepflanzten  Spielplatz.  Zwar 
liegt  dieser  an  einer  ungepllasterten  und  im  höchsten  Grade 
schmutzigen  Strafse,  indefs  wohnen  doch  an  dieser  sehr 
viele,  meist  sehr  arme  Menschen,  in  Wohnungen  und  un¬ 
ter  Umständen,  die  nach  dem  Obigen  ganz  zur  Urzeugung 
des  Uebels  geeignet  sind;  nie  aber  ist  mir  in  dieser  Ge¬ 
gend  die  Noma  zu  Gesichte  gekommen. 

Die  Spiel-  sowohl,  als  Schlafsäle,  sind  hoch  und  ge¬ 
räumig,  und  ich  habe  beide  immer,  so  wie  auch  die  Bet¬ 
ten,  die  Wäsche  und  die  Kleidung  der  Kinder  (die  sich 
durch  ein  sehr  gesundes  Ansehen  vorteilhaft  vor  den  Kin¬ 
dern  aus  anderen  Anstalten  auszeichnen),  sehr  reinlich, 
auch  nie  nur  den  geringsten  Geruch  in  den  Zimmern  ge¬ 
funden.  Zwar  sind  beständig  viele  Kinder  in  einem  Zimmer, 


1)  van  S  wicten,  Comment.  in  Herrn.  Boerhaav. 
Aphorism.  Tom.  I.  §.  423  et  432. 

A.  G.  Richter’«  Anfangsgrüude  der  Wundarzneikunst. 
Bd.  IV.  §.  142. 

A.  G.  Richter’«  Therapie.  Bd.  V.  S.  824. 

llenke’s  Handbuch  inr  Erkenntnifs  und  Heilung  der  Kin¬ 
derkrankheiten.  Bd.  2.  S.  263. 

Sichert,  Leber  den  W  asserkrehs  der  Lippen,  in  Hufe-, 
land’s  Journal.  1818.  December.  S.  74. 

Fischer,  ebendaselbst.  1811.  Juli.  S.  90. 


IV.  Wasserkrebs.  435 

imlefs  findet  dies  doch  auch  in  anderen  ähnlichen  Instituten, 
und  wohl  kaum  unter  so  günstigen  Umständen  statt. 

Die  Diät  der  Kinder  ist  folgende:  Im  Sommer  des 
Morgens  um  5,  im  Winter  um  6  Uhr  stehen  die  Kleinen 
auf.  Sie  werden  alsdann  gewaschen,  und  ihnen  der 
Mund  gereinigt.  (Die  gröfseren  Kinder  thun  dies  na¬ 
türlich  selbst,  von  diesen  aber  braucht  hier  gar  nicht  die 
Rede  zu  sein,  da  bei  ihnen  sich  die  Krankheit  bisher  noch 
nicht  zeigte.)  —  Hierauf  erhält  ein  jedes  der  Kinder  eine 
Tasse  Eichelkaffee  und,  je  nach  dem  Alter,  eine  halbe  oder 
ganze  Semmel,  und  gegen  zehn  Uhr  ein  Stück  gut  ausge¬ 
backenes,  nicht  frisches,  sogenanntes  gemengtes  Brot.  — 
Das  Mittagsbrot,  das  um  12  Uhr  gereicht  wird,  besteht 
aus  einem  Löffel  voll  klein  geschnittenem  Rindfleisch,  und 
einem  mit  Fleischbrühe  gekochten  Gemüse.  Diese  sind  im 
Winter:  Reifs,  Graupe,  Kartoffeln,  allein  oder  mit  Mohr¬ 
rüben,  Weifskohl,  Kohlrüben  u.  s.  w. ,  und  wöchentlich 
einmal  Backobst.  Von  Hülsenfrüchten  werden  nur  Linsen, 
auch  wöchentlich  einmal,  gekocht.  —  Nachmittags  um  2  Uhr 
bekommt  jedes  der  kleineren  Kinder  eine  Tasse  Milch  mit 
Semmel,  und  späterhin  ein  Stückchen  Brot  mit  Syrup; 
zum  Abendbrot  aber  einen  Tag  Mehlsuppe,  den  andern 
Gries  in  Milch  gekocht.  —  Dabei  werden  die  Kinder  im 
Sommer  wöchentlich  einmal  gebadet,  im  Winter  aber  nur 
gänzlich  gewaschen;  doch  sollen  sie  jetzt,  auf  meinen 
Wunsch,  auch  im  Winter  wenigstens  alle  vier  bis  sechs 
Wochen  gebadet  werden. 

Man  sieht  hieraus  wohl,  dafs  wenigstens  keine  der  ge¬ 
wöhnlich  angegebenen  Ursachen  hier  statt  findet.  Wollen 
wir  auch  zugestehen,  dafs  es  bei  einer  so  grofsen  Menge 
von  kleinen  Kindern  nicht  möglich  ist,  die  Reinlichkeit  so 
zu  beobachten,  als  dies  in  einzelnen  Familien  geschieht,  so 
mufs  man  doch  eben  so  auch  zugeben,  dafs  sie  auch  in  an¬ 
deren  Anstalten,  aus  eben  dem  Grunde,  nicht  so  grofs  sei, 
als  in  den  Familien,  und  in  diesen  kommt  doch  die  Krank¬ 
heit  so  selten  vor,  namentlich  wurde  sie  im  hiesigen  Wai- 


436 


IV.  'Wasserkrebs. 


«enbause  noch  nicht  bemerkt.  Und  warum  ist  denn  dieses 
schreckliche  Uebcl  nicht  unter  der  armen  Klasse,  deren 
Kinder  in  den  dumpfigsten  Wohnungen,  häufig  in  finsteren 
Kellern,  unter  einer  Menge  Menschen,  in  der  abschreckend¬ 
sten  Unreinlichkeit,  von  der  sich  niemand  einen  llegrilf 
machen  kann,  der  sich  nicht  durch  den  Augenschein  davon 
überzeugt  hat,  leben,  warum,  sage  ich,  zeigt  sich  beb  die¬ 
sen  Kindern  die  Krankheit  so  sehr  selten? 

Ein  mangelhaftes  Reinigen  des  Mundes,  was  als  Ur¬ 
sache  der  Krankheit  in  dieser  Anstalt  angegeben  worden, 
kann  wohl  kaum  als  solche  betrachtet  werden,  wenn  es 
auch  wirklich  statt  fände,  was  doch  nicht  der  Fall  ist,  wie 
ich  mich  gehörig  davon  überzeugt  habe.  Eine  wie  grofse 
Menge  von  Kindern  müfste  nicht  dann  von  diesem  Uebel 
hinweggerafft  werden,  da  gerade  das  Reinigen  des  Mundes 
bei  der  ärmeren  Volksklasse  fast  beständig  versäumt  wird. 

Eine  Ansteckung  kann  auch  der  Grund  des  häufigen 
Vorkommens  dieser  Krankheit  nicht  sein;  ob  gleichwohl 
ein  solcher  Verdacht  entstehen  könnte,  da  das  letzte  Kind 
vierzehn  Tage  später  als  ein  anderes  Kind  an  demselben 
Uebel  gestorben  war,  davon  ergriffen  wurdö,  Denn  nicht 
nur  verllossen  oft  Jahre,  ehe  wieder  Kinder  davon  befallen 
wurden,  sondern  es  geschah  dies  auch  in  ganz  anderen 
Zimmern,  ja  die  daran  Erkrankten  wurden  nicht  nur  so¬ 
gleich  von  den  übrigen  isolirt,  sondern  auch  alle  Geräth- 
schaften,  deren  sich  ein  solches  Kind  bedient  hatte,  ver¬ 
nichtet,  so  wie  die  Kleidungsstücke,  Eeib-  und  Bettwäsche 
desselben  verbrannt.  —  Den  deutlichsten  Beweis  aber  da¬ 
von,  dafs  das  Uebel  nicht  ansteckend  ist,  liefert  wohl  der 
oben  angeführte  Knabe,  der,  als  die  Krankheit  schon  eine 
geraume  Zeit  bestand,  sich  noch  immer  unter  den  gesunden 
Kindern  aufhielt,  weil  das  Uebel  nicht  erkannt  wurde, 
ohne  dals  eines  derselben  von  der  nämlichen  Krankheit  be¬ 
fallen  worden  wäre.  Trotz  dem  sind  die  Krankenzimmer, 
in  denen  die  letzten  beiden  Kinder  erkrankten  und  starben, 
jetzt  geräumt,  und  in  denselben  werden  täglich  Guyton- 

Mor- 


V.  Praktische  Notizen. 


437 


Morveausche  Räucherungen  gemacht.  —  —  Eben  so  we¬ 
nig  kann  wohl  das  Verfahren  des  Arztes  zur  Entstehung 
des  Uebels  beigetragen  haben,  weil  es  sich  unter  der  Be¬ 
handlung  von  vier  verschiedenen  Aerzten  zeigte. 

Ich  kann  mir  nun  keine  andere  Ursache  dieses  Uebels 
denken,  als  dafs  durch  das  Zusammenleben  so  vieler  Kinder 
einerlei  Alters  sich  ein  Miasma  entwickelt,  das  in  den 
schon  durch  Scrofelkrankheit  oder  durch  einen  bedeutenden 
Grad  von  Schwäche  dazu  disponirten  Kindern  diese  Krank¬ 
heit  erzeugt,  wie  man  überhaupt  beobachtet  hat,  dafs  weit 
leichter  durch  das  Zusammenleben  von  Menschen  von  einer¬ 
lei  Alter  und  Geschlecht  sich  Miasmen  entwickeln,  als  unter 
Menschen  von  verschiedenem  Alter  und  Geschlecht.  Das 
Nichterscheinen  der  Krankheit  in  anderen  Anstalten,  in 
denen  nicht  so  viele  und  so  junge  Kinder  sich  befinden, 
scheint  für  diese  Erklärung  zu  sprechen.  Indefs  mufs  ich 
gestehen,  dafs  'sie  mir  auch  nicht  ganz  genügend  scheint, 
aber  eben  deswegen  habe  ich  sie  hier  öffentlich  mitgetheilt, 
damit  sie  von  erfahreneren  Aerzten,  wenn  sie  es  der  Mühe 
werth  halten,  mich  zu  belehren,  widerlegt  oder  bestätigt, 
und  ich  in  Stand  gesetzt  werde,  die  Anstalt  vor  dem  Wei¬ 
terumsichgreifen  des  Uebels  zu  schützen. 


V. 

Praktische  Notizen. 


1.  Dr.  Meniere  entwirft  in  einer  interessanten  Ab¬ 
handlung  über  die  Hydrophobie  bei  Menschen ,  nachdem  er 
sieben  Krankengeschichten  mitgetheilt,  folgendes  Bild  von 
dieser  Krankheit: 

Die  Section  sämmtlicher  unter  den  Erscheinungen  der 
Ilundswuth  verstorbenen  Individuen  giebt  wenig  genügende 
XIII.  Bd.  4.  St.  29 


438 


V.  Praktische  Notizen. 


Resultate.  Das  Gehirn  unil  Rückenmark  pflegt  rosenroth 
injicirt  zu  sein,  wie  in  einer  Entzündung  der  Hirnhäute 
und  der  Hirnsubstanz.  Das  Herz  i>t  weich,  erweitert  und 
mit  JJlut  überfüllt,  die  Aorta  rosenroth,  die  rechte  wie 
die  linke  Lunge  in  der  Regel  mit  Rlut  überfüllt,  aber  kni¬ 
sternd,  zuweilen  emphysematisch.  Im  Munde,  dem  Pharynx, 
im  Darmkanal  und  in  der  Speiseröhre  fehlen  selten  die 
Zeichen  der  Kntziindung.  Die  IÜfsstellcn  sehen  in  der  Re¬ 
gel  blau  aus,  und  sind  mit  Krusten  bedeckt.  Offen  fand 
sie  M.  nie  beim  Ausbruch  der  Krankheit.  Das  kleine  Ge¬ 
hirn  war  in  einigen  Fällen  ungewöhnlich  weich. 

Line  schnelle  Zersetzung  und  Fäulnifs  bemerkte  der 
Verf.  nie  an  den  Leichen  Ilydrophobischer,  wiewohl  in 
mehreren  Fällen  die  Autopsie  erst  nach  18  Stunden  und 
noch  später  vorgenommen  wurde.  Rei  einem  der  Kranken 
hatte  man  die  Wunde  unmittelbar  nachher  mit  einem  glü¬ 
henden  Eisen  ausgebrannt,  und  aufserdem  ihn  einer  Re- 
handlung  unterworfen.  Rei  den  meisten  waren  die  Zähne 
des  Thiers  durch  verschiedene  Kleidungsstücke  in  die  Haut 
gedrungen,  ein  Rewvis,  dafs  diese  nicht  geeignet  sind,  den 
Ansteckungsstoff  zurückzuhalten.  In  den  meisten  Fällen 
erfolgte  der  Ausbruch  der  Hundswuth  eine  bis  drei  W  o- 
chen  nach  dem  Risse,  was  in  Rezug  auf  die  Intensivität  der 
Krankheit  und  auf  ihre  Dauer  durchaus  ohne  Einflufs  war. 
Rei  den  Frauen  entwickelte  sich  das  Uebel  nie  zu  einem 
so  heftigen  Grade,  als  hei  den  Männern. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  gewöhnlich  sehr  rapide, 
und  selten  währt  sie  von  dem  Augenblicke  an,  wo  die  cha¬ 
rakteristischen  Erscheinungen  auftreten,  noch  länger,  als 
vierundzwanzig  Stunden.  Eine  Reihe  von  Vorboten  gehen 
stets  dem  Ausbruche  des  Uebels  voran,  namentlich  pflegt 
sieb  eine  grofse  Traurigkeit, '  eine  nicht  zu  beschreibende 
Unbehaglichkeit,  Schmerzen  im  Rücken  und  in  den  Glie¬ 
dern,  Kopfweh,  Mangel  an  Efslust,  und  nicht  selten  Schmer- 
zen  in  der  Rifsstelle,  unruhiger  Schlaf  oder  Schlaflosigkeit 
der  Kranken  zu  bemeistern.  Mehrere  klagten  über  ilals- 


V.  Praktische  Notizen. 


439 


weh,  in  welchem  Falle  auch  noch  andere  Zeichen  einer 
Angina  vorhanden  zu  sein  pflegten. 

Wird  unter  solchen  Umständen  vom  Kranken  und  vom 
Arzte  die  Natur  dieser  Erscheinungen  begriffen,  so  läfst 
sich  von  einer  eingreifenden  Behandlung  ein  Erfolg  erwar¬ 
ten,  der  nicht  auf  Blutentziehungen  und  Zugpflaster  be¬ 
schränkt  sein  darf  (??). 

Die  Krankheit  bricht  gewöhnlich  in  Folge  einer  Ueber- 
raschung  aus,  von  welcher  Art  diese  auch  sein  mag.  So 
sah  M.  sie  dadurch  zum  Ausbruch  kommen,  dafs  ein  vor 
längerer  Zeit  gebissenes  Individuum  plötzlich  vom  Winde 
angeweht  wurde.  Erstickungszufälle,  krampfhafte  Bewe¬ 
gungen  des  Auges  und  der  Brustmuskeln,  bezeichnen  den 
Anfang  der  Krankheit.  Oft  steigern  sich  alle  Zufälle  beim 
Anblick  einer  Flüssigkeit,  oft  ist  dies  nicht  der  Fall.  Im 
hohen  Grade  des  Uebels  stellt  sich  ein  heftiger  Speichel- 
Aufs  ein. 

Alle  Erfahrungen  sprechen  für  ein  mächtiges  Ergrif¬ 
fensein  des  Nerven-  und  Gefäfssystems ,  daher  auf  diese 
auch  besonders  zu  wirken  ist.  Einige  Infusionsversuche, 
die  in  dieser  Beziehung  Dupuy  tren  und  Magen  die 
machten,  fordern  zu  neuen  auf  (??!),  die  nach  M.  anfangs 
aus  reinem  Wasser,  nachher  aus  Aqua  laurocerasi  bestehen 
sollen.  (Arcbives  generales.  1828.  Decembre.) 

2.  Dr.  Pourche  rühmt  den  äufserlichen  und  inner¬ 
lichen  Gebrauch  des  Broms  bei  Geschwülsten  scrofulöser 
Natur  und  beim  Kropf.  Aeufserlich  bedient  er  sich  einer 
Salbe,  die  Hydriodate  de  brome  enthält,  oder  Umschläge, 
die  mit  einer  wässerigen  Auflösung  dieser  Substanz  be¬ 
feuchtet  sind.  Zum  innerlichen  Gebrauche  nimmt  er  eine 
Auflösung  von  einem  Theile  Brom  in  vierzig  Theilen  de-* 
stillirtem  Wasser,  von  welcher  er  vier  bis  fünf  Tropfen  in 
einem  Glase  Wasser  nehmen  läfst.  (Journal  de  Chimie 
et  Med.  1828.  12.) 


440 


V.  Praktische  Notizen. 


3.  Die  Versicherung  Co  Iso  n ’s,  in  dem  Blute  und 
in  dem  Speichel  solcher  Personen,  die  langwierige  Mercu- 
rialcurcn  überstanden,  vermöge  chemischer  Analysen  Queck¬ 
silber  entdeckt  zu  haben,  bestimmten  Devergie,  diese 
Untersuchungen  mit  dem  Blute  und  dem  Speichel  von  Kran¬ 
ken  zu  wiederholen,  die  noch  in  der  Mercurialbehandlung 
begriffen  waren.  Die  Resultate,  die  D.  bekommen,  sind 
durchaus  von  denen  des  ersten  Arztes  verschieden,  indem 
es  ihm  nicht  gelang,  auch  nur  die  geringste  Spur  von  Queck¬ 
silber  aufzufinden.  (Nouv.  Biblioth.  Ls2S.  Octobrc.  ) 

4.  Bei  einem  neunzehnjährigen  Mädchen,  das  an  Mc- 
nostasic  litt,  stellten  sich  alle  Monate  zu  der  Zeit,  wo  die 
Menses  erscheinen  sollten,  schmerzhafte  Contractionen  der 
unteren  Extremitäten  ein,  so  dafs  die  Hacken  sich  gegen  die 
Schenkel  lehnten  und  durch  keine  Gewalt  in  ihre  natür¬ 
liche  Lage  zurückgebracht  werden  konnten.  Die  monat¬ 
liche  Reinigung  wiederherzustellen,  waren  eine  Menge  Heil¬ 
mittel  lange  vergebens  versucht  worden.  Fa llot  von  Na- 
mur,  der  diese  Kranke  zuletzt  behandelte,  vermuthete,  dafs 
eine  starke  Congestion  des  Blutes  nach  dem  Rückenmark, 
wo  die  Schenkelnerven  entspringen,  jene  Contractionen 
zur  Menstrualzeit  veranlasse;  er  versuchte  in  dieser  Vor¬ 
aussetzung,  die  Congestion  durch  Ansetzen  von  Blutegeln 
zu  beseitigen,  und  erlangte  nach  einem  zweimaligen  ’S  er¬ 
suche  einen  vollkommen  guten  Erfolg.  (Journal  complcni.1 
1828.  2.) 

5.  Bei  einem  Kranken,  der  Jahre  lang  anDiarrhöeen  gelit¬ 
ten  hatte  und  dabei  sehr  abgemagert  war,  bildete  sich  in  der 
rechten  Seite  zwischen  Crista  ossis  ilei  und  den  Rippen  eine 
harte,  ungleiche  Geschwulst,  welche  späterhin  eine  seltene 
Gröfse  erlangte,  und  der  Sitz  reifsender  Schmerzen  wHJide. 
Der  Kranke  starb  unter  den  Symptomen  einer  völligen  Ent¬ 
kräftung.  Bei  der  Seetion  fand  n».m  auf  «lern  vorderen  und 
inneren  Tbciie  des  Blinddarms  und  auf  dem  Colon  asccndcns 


V.  Praktische  Notizen. 


441 


eine  lappenartige,  halbdurchsichtige,  krebsartige  Geschwulst. 
Der  Seitentheil  des  Mastdarms  war  ebenfalls  krebsartig  affi- 
cirt.  (Nouv.  Biblioth.  1828.  Mars.) 

G.  Lecourt  de  Cantilly  behandelte  eine  Frau, 
welche  anfangs  an  einem  viertägigen  Wechselfieber,  und 
späterhin  an  Ascites  litt,  innerhalb  dreizehn  Monaten  sah 
L.  sich  genüthigt,  der  Kranken  das  Wasser  abzuzapfen. 
Bei  der  Section  boten  sich  folgende  Erscheinungen  dar: 
Die  äufseren  Bauchdecken  waren  hart,  das  Epiploon  fast 
gänzlich  verschwunden ,  das  Peritonäum  mit  einer  dicken, 
perlmutterartigen  und  glänzenden  Seitenmembran  bedeckt, 
drei  grofse  Geschwülste  füllten  wenigstens  zwei  Drittel  der 
Unterleibshöhle.  Die  grüfste  dieser  drei  Geschwülste  war 
das  deformirte  rechte  Ovarium,  welches  bis  zum  Diaphragma 
hinall freichte ,  dieses  zurückdrückte,  und  viel  Flüssigkeit 
enthielt.  Die  sehr  kleine  Leber  bedeckte  einen  Theil  die¬ 
ser  Geschwulst.  Die  mittlere  Geschwulst,  die  ebenfalls 
Flüssigkeit  enthielt,  war  der  entartete  Uterus.  Der  Grund 
und  der  Körper  der  Gebärmutter  waren  carcinomatös.  Die 
dritte  Geschwulst,  die  kleinste  von  diesen  dreien,  war  das 
durch  ein  Convolut  von  Hydatideu  entartete  linke  Ovarium. 
Die  Milz  zeichnete  sich  durch  ihre  Kleinheit  auffallend  aus, 
so  wie  alle  Unterleibsorgane  nicht  den  natürlichen  Grad 
der  Entwickelung  hatten.  (Ebend.  Avril.) 


7.  Ein  Mann,  der  während  drei  Monaten  einen  hef¬ 
tigen  Schmerz  im  Unterleibe  empfunden  hatte,  verfiel  plötz¬ 
lich  in  einen  Zustand  von  Lähmung  der  unteren  Extremitä¬ 
ten,  der  Urinblase  und  des  Mastdarms;  aufserdem  klagte  er 
über  einen  quälenden  Schmerz  im  Bücken.  Bei  der  Section 
fand  man  Eiter  zwischen  den  Bückenmuskeln,  eine  er- 
weichte  tubcrculöse  Masse  von  der  Gröfse  eines  Eies  auf 
dem  fünften,  sechsten  und  siebenten  Bückenwirbel,  welche 
sämmtlich  erweicht  waren  und  eine  Communication  zwischen 
der  Bückenmark-  und  der  Brusthöhle,  und  zugleich  auch 


442 


V.  Praktische  Notizen. 


nach  aufsen  gestatteten.  Das  Rückenmark  selbst  war  auf 
dieser  Stelle  in  eine  rotbe,  weiche  Masse  verwandelt,  und 
uiit  Eiter  bedeckt.  (Ebend.  AoiU.) 

S.  Catania  am  Fufse  des  Aetna  ist,  nach  Professor 
Fulci,  wahrend  des  Herbstes  und  Frühlings  der  Schauplatz 
s<*hr  widerspenstiger  Weehselfiebcr,  die  unter  den  mannig¬ 
faltigsten  Formen  an  einem  Orte  auftreten ,  wo  der  'Wech¬ 
sel  der  Temperatur  bei  einem  übertriebenen  Gebrauche  der 
Seebäder  als  das  alleinige  ursächliche  Moment  dieser  Krank- 
.  beiten  angesehen  wird.  —  Fulci  beschreibt  den  Verlauf 
eines  in  Folge  eines  unreinen  Reischlafes  entstandenen  Trip¬ 
pers,  der  in  allen  seinen  Erscheinungen  einen  Tertiantvpus 
annahm,  eine  Neuralgia  ccrvi -brachialis,  die  unter  dem 
Quotidiantypus  auftrat,  und  eine  Melancholia  intermittens 
tertiana.  (Ebend.  Mars.) 

9.  Monod4  fand  bei  der  Section  eines  72jährigen 
Mannes,  der  an  einem  chronischen  Erbrechen  und  Obstructio 
alvi  gelitten,  die  untere  Hälfte  des  Oesophagus,  den  Magen, 
den  Zwölffingerdarm  und  den  oberen  Theil  vom  Jejunum 
mit  einer  gelbbraunen,  stinkenden  Flüssigkeit  angefüllt.  Ein 
conisch  gestalteter  Gallenstein,  dessen  Durchmesser  einen 
Zoll  und  zwei  Linien  betrug,  war  so  zwischen  den  Darm¬ 
häuten  eingeprefst,  dafs  die  Contenta  nicht  zum  Dick -'und 
Masttarm  gelangen  konnten.  Ueher  dem  Gallenstein  war 
das  Jejunum  sackförmig  ausgedehnt,  unter  demselben  enger, 
als  im  natürlichen  Zustande.  Von  den  Valvulis  conniven- 

l 

tibus  war  unmittelbar  über  dem  Gallenstein  keine  Spur. 
Die  Schleimhaut  war  nach  dem  Magen  zu  gelb,  unter  dem 
Gallenstein  violettschwarz;  das  Duodenum  und  die  Pars 
asrendens  coli  waren  mit  der  Gallenblase  verwachsen.  Rei 
näherer  Untersuchung  entdeckte  Monod  eine  Oeffnung  an 
dem  Iiiserlinnsponkte  des  Zwölffingerdarms,  so  dafs  man 
mit  einem  Finger  aus  d*m  Darm  bequem  in  die  Gallenblase 
gelangen  konnte.  Iu  dieser  Oeffnung  selbst  steckte  ein 


V.  Praktische  Notizen. 


443 


pyramidalisch  gestalteter  Gallenstein.  Die  Gallenblase  batte 
sehr  verdickte  scirrhöse  Wände,  an  ihrem  Grunde  fand  M. 
einen  Abscefs ;  der  Ductus  cysticus  war  verstopft.  (Eben¬ 
daselbst.) 

10.  Zufolge  Hut  in ’s  Untersuchungen  über  das  Rücken¬ 
mark  im  kranken  und  im  gesunden  Zustande  gehört  die 
Atrophie,  die  Verhärtung  und  die  Hypertrophie,  eine  krebs¬ 
artige  Entartung,  Blasenanhäufungen,  und  durch  Austiefung 
des  Blutes  hervorgerufene  Lähmung  (Apoplexie  de  la  moeile 
4piniere)  zu  den  Krankheitserscheinungen,  welche  ziemlich 
häufig  im  Rückenmark  wahrgenommen  werden. 

Die  Atrophie  soll  entweder  die  Folge  einer  vernach¬ 
lässigten  Bewegung  (Atrophie  par  defaut  d’action)  (?),  oder 
aus  inneren  unbekannten  Ursachen  entstanden  (Atrophie  spon- 
tanee)  (?),  oder  das  Product  einer  anhaltenden  Compres- 
sion  sein  (Atrophie  mecanique).  Kälte  und  Lähmung  der 
Glieder  bezeichnen  nach  II.  immer  einen  solchen  Zustand 
des  Rückenmarks,  welcher  tödtlich  wird,  wenn  die  obere 
Partie  des  Rückenmarks  leidet. 

Die  Verhärtung  und  Hypertrophie  des  Rückenmarks 
kommen  nach  H.  in  der  Regel  zusammen  vor.  Eine  er¬ 
höhte  Sensibilität  in  denjenigen  Partieen  des  Körpers,  welche 
von  den  leidenden  Theilen  des  Rückenmarks  die  Nerven 
empfangen,  (Konvulsionen,  Zuckungen,  veitstanzartige  Be¬ 
wegungen,  epileptische  Zufälle  bei  einer  auffallenden  Muscu- 
larschwäche,  sollen  die  charakteristischen  Zeichen  der  Ver¬ 
härtung  und  Hypertrophie  des  Rückenmarks  sein.  (Eben¬ 
das.  Janvier  et  Fevrier. ) 

/  - 

11.  Meniere  beobachtete  wiederholt  bei  Individuen, 
deren  Lebensweise  einen  feindlichen  Einflufs  auf  die  Ver- 
daunngsorgane  üben  mufste,  namentlich  bei  Metallarbeitern, 
Stubengelehrten,  Steinhauern,  besonders  wenn  diese  bei 
schlecht  bereiteter  Nahrung  den  geistigen  Getränken  erge¬ 
ben  waren,  in  der  Regio  iliaca  dextra  eine  phlegmonöse 


✓ 


444 


V.  Praktische  Notizen. 


Geschwulst,  welcher  eine  mit  Diarrhöe  abwechselnde  Stuhl- 
verstopfung,  Kolikschmerzen  in  der  rechten  Darmgegcnd^ 
eine  auffallende  Empfindlichkeit,  Wochen  und  Monate  lang 
voranzugehen  pflegten.  Ein  fixer  Schmerz  und  eine  bedeu¬ 
tende  Auftreibung  bei  heftigem  Fieber  bezeichneten  dann 
den  Moment,  in  welchem  die  Geschwulst  sich  zu  bilden 
anfing.  Zuweilen  gesellt  sich  eine  Entzündung  des  Bauch¬ 
fells  h  inzu,  in  'welchem  Falle  die  Krankheit  immer  einen 
tüdtlichen  Ausgang  nahm.  Ein  antiphlogistisches  \  erfahren 
bei  strenger  Diät  zeitig  in  Anwendung  gebracht,  verhinderte 
in  der  Hegel  den  Uebergang  in  Eiterung.  M.  beobachtete 
einen  Fall,  wo  der  Eiter  sich  nach  innen  ergofs,  und  spä¬ 
terhin  per  anum  entleerte.  (Archives  generales.  1828.  6.) 

12.  Salgues  sah  bei  einem  im  vierten  Monate  schwan¬ 
geren  Mädchen  die  ganze  Oberfläche  des  Körpers 
wie  bei  der  Hose  angeschwollcn,  schmerzhaft  gegen  jede 
Berührung,  stark  geröthet,  heifs  und  hart.  Diese  Erschei¬ 
nungen  waren  auf  der  Conjunctiva  und  auf  den  Lippen  be¬ 
sonders  ausgesprochen,  der  Puls  klein,  weich,  kaum  fühl¬ 
bar,  die  Hespiration  kurz,  beschleunigt,  von  einem  Angst¬ 
gefühl  begleitet,  die  Bewegung  der  Glieder  im  höchsten 
Grade  gehindert.  Salgues  nennt  diesen  Zustand  eine  Apo¬ 
plexie  cutam'e,  welcher  Ausdruck  indefs  nicht  ganz  schick¬ 
lich  erscheint,  indem  die  bezeichnten  Erscheinungen  wohl 
eher  auf  eine  Entzündung  der  Ilaut  und  des  Zellgewebes 
hindeuten.  Die  von  Salgues  verordneten  Blutentziehun¬ 
gen  halten  einen  günstigen  Erfolg.  (  Academie  des  Sciences 
cet.  de  Dijon.) 

13.  Um  zu  ergründen,  in  wiefern  die  allgemein  ange¬ 
nommene  Ansicht  richtig  sei,  dafs  die  auf  Schiffen,  in 
Hospitälern  und  in  Gefängnissen  einheimischen  bösartigen 
Fieber  aus  der  Zusammenwirkung  einer  ungesunden,  schwer 
verdaulichen  Nahrung,  mit  einer  feuchten,  eine  schlechte 
Luft  einschliclsenden  Wohnung  hervorgehen,  hat  Scou- 


VI.  Angina.  445 

tetten  verschiedene  Thiere  dem  Einflüsse  der  bezeichneten 
Schädlichkeiten  preisgegeben,  und  nach  Verlauf  von  einiger 
Zeit  gefunden,  dafs  dieselben  vorzugsweise  die  innere  Fläche 
des  Tractus  intestinal,  afficiren,  an  deren  Foiliculis  er  die 
untrüglichen  Spuren  einer  Entzündung  entdeckte.  (Eben¬ 
daselbst.) 

14.  Paillard  hat  verschiedene  Versuche  mit  der  to- 

'  '! 

pischcn  Anwendung  des  Phosphors  gemacht,  welche  dar- 
thun,  dafs  dieser  Arzneikörper  ein  sehr  kräftiges  äufser- 
liches  Reizmittel  ist,  welches  die  Moxa  nicht  allein  voll¬ 
kommen  ersetzt,  sondern  sogar  in  den  Wirkungen  noch 
übertrifft.  Paillard  bringt  ein  Stück  Phosphor,  von  der 
Gröfse  einer  Linse,  auf  irgend  eine  Hautpartie  und  zündet 
es  an,  wodurch  er  einen  weit  heftigeren  Schmerz,  als  durch 
das  Anbrennen  eines  Cylinders  von  Baumwolle  bewirkt.  Auf 
diese  Weise  heilte  P.  mehrere  alte  und  widerspenstige  AI- 
gien,  krebsartige  Geschwüre,  die  er  mit  Phosphor  bestreute 
und  anzündete,  chronische  Lungencatarrhe,  Rheumatismen 
und  andere  veraltete  Uebel,  gegen  die  man  eine  Menge 
anderer  Heilmittel  vergebens  angewandt  hatte.  (Nouvelle 
Bibliothecpie,  1828.  Mai.) 


VI. 

i  \ 

(Jeber  Angina.  Von  Dr.  Wilhelm  Sachse. 
(Aus  dem  zweiten  Bande  der  medicinisch-  chirur¬ 
gischen  Encyclopädie  besonders  abgedruckt.)  Ber¬ 
lin,  bei  J.  W.  Boike.  1828.  8.  136  S. 

Die  encyclopädisch  -  lexicalische  Bearbeitung  der  Heil¬ 
kunde,  zu  der  in  der  neuesten  Zeit  eine  entschiedene  Vor¬ 
liebe  rege  geworden  ist,  hat  ungeachtet  der  Ordnungslo- 
sigkeit  der  alphabetischen  Reihenfolge  und  ihrer  sonstigen 


446 


YI.  Angina. 

oft  gerügten  Mängel,  Her  Wissenschaft  wesentliche,  Hie 
letzten  hei  weitem  überwiegende  Vortheile  gebracht.  Wir 
rechnen  zu  diesen  vor  allen  die  Verbreitung  gediegener 
Kenntnisse  durch  die  leichtere  Zugänglichkeit  von  Gegen¬ 
ständen,  die  in  tausend  Werken  zerstreut  sind,  und  deren 
Vereinigung  zu  einem  Ganzen  die  bei  den  meisten  Aerzten 
unterbleibende  Anlage  einer  grofsen  Bibliothek  erfordern 
würde.  Was  die  Litteratur  der  Zeitschriften  für  die  Ge¬ 
genwart,  das  leisten  in  gewisser  Rücksicht  die  bin  cyclo  pä- 
dicen  für  die  aus  der  Vorzeit  hervorgegangene  Wissen¬ 
schaft.  In  Frankreich,  wo  dieser  Zweig  der  Litteratur  zu¬ 
erst  gepflegt  wurde,  dann  in  England  und  in  Deutschland, 
haben  die  gelehrtesten  Aerzte  keinen  Anstand  genommen, 
den  Encyclopädieen  ihre  Zeit  und  ihr  Nachdenken  zu  wid¬ 
men,  und  es  hat  sich  dadurch  mannigfache  Anregung  zu 
gediegenen  Arbeiten  gefunden,  denen  schon  oftmals  die  Heil¬ 
kunde  wesentliche  Fortschritte  verdankt  hat.  Mag  immer¬ 
hin  der  Andrang  des  Mittelmäßigen  zu  grofsen,  viele  Fe¬ 
dern  erfordernden  Sammlungen  unvermeidlich  sein,  die  Ab¬ 
handlungen  vielerfahrencr  und  gelehrter  Aerzte  bilden  in 
diesen  die  Ecksteine,  an  die  die  minder  gediegenen  Mate¬ 
rialien  sich  anlehnen.  Das  in  Berlin  seit  1S28  erscheinende 
und  im  zweiten  Bande  bereits  bis  zu  « Antimonium »  fort¬ 
geschrittene  encyclopädische  Wörterbuch  der  medicinischen 
W  issensebaften  hat  Abhandlungen  dieser  Art  in  überwie¬ 
gender  Anzahl  aufzuweisen.  Einmüthig  werden  zu  ihnen 
unsere  Leser  die  vorliegende,  in  besonderem  Abdruck  er¬ 
schienene  rechnen,  und  es  als  einen  wahren  Gewinn  für 
# 

die  praktische  Heilkunde  betrachten,  dafs  der  vielverdiente 
Erbe  von  Wichmann’s  Ruhm  seine  Aufmerksamkeit  einer 
Krankheit  zugewandt  hat,  deren  vielfältige  Formen  und 
Charaktere  einer  neuen  Sichtung  bedurften. 

Nachdem  der  Verf.  eine  Definition  von  Angina  gege¬ 
ben.  die  alle  Entzündungen  der  nicht  zu  den  Schluck-  und 
Athmungswerkzeugen  gehörigen  Tbeilc  ausschlicfst,  und  die 
allgemeinen  Zeichen  dieser  Krankheit  aufge  führt  bat, 


wen- 


447 


VI.  Angina. 

det  er  sieb  sogleich  zu  den  Einteilungen ,  denen  er  zwi- 
.  seliendurch  diagnostische  Bemerkungen  hinzufügt.  I.  ln 

Rücksicht  der  leidenden  T  heile  werden  unterschie- 

\ 

den:  1.  Angina  palatina,  2.  A.  uvularis,  3.  A.  ton¬ 
sillaris,  4.  A.  epiglottidea,  5.  A.  pharyngea,  Oe- 
sophagitis,  denen  endlich  noch  die  Prunella  oder  Herz¬ 
bräune  der  älteren  Aerzte  beigezählt  wird.  Der  Verf.  hat 
diese  mehr  chronische  Entzündung,  welche  sich  von  der 
Zungenwurzel  bis  zu  den  Präcordien  erstreckt,  und  auf 
jener  einen  weifsen  Ueberzug,  in  diesen  ein  Brennen  ver¬ 
ursacht,  nur  einmal  beobachtet.  Auf  der  Zunge,  zeigen 
sich  dabei  zuweilen  schmerzende  Risse.  Diese  Entzündung 
gesellt  sich  oft  den  bösartigen  Fiebern  zu,  und  vorzüglich 
hat  das  ungarische  Fieber  dadurch  getödtet.  —  Die  Ent¬ 
zündungen  der  Luftwege  werden  an  einer  andern  Stelle 
erörtert. 

II.  Die  Einteilung  nach  den  Ursachen  (und  Cha¬ 
rakteren)  in  Angina  arthritica,  rheumatica,  vene- 
rea,  exanthematica  u.  s.  w.  würde  Ref.  lieber  mit  der 
folgenden  111.  in  Rücksicht  des  Fiebers,  in  A.  in- 
flammatoria,  catarrhalis,  biliosa,  putrida  und  in¬ 
te  r  mitte  ns  zusammengenommen  haben,  von  der  sie  nicht 
wesentlich  getrennt  ist.  —  IV.  In  Rücksicht  der  Dauer: 
A.  acuta  und  chronica. 

Hierauf  folgen  die  Erscheinungen  und  der  Ver¬ 
lauf  der  Bräunen  mit  Entzündungsfieber.  Zuvör¬ 
derst  ist  hier  von  den  Entzündungen  der  Schluckorgane 
die  Rede,  von  denen  der  Verf.,  wie  wir  von  ihm  erwar¬ 
ten  dürfen,  ein  vollständiges  und  lebendiges  Bild  entwirft, 
nicht  ohne  belehrende  Ilindeutungen  auf  die  Vorarbeiten 
bewährter  Beobachter.  Oft  sind  ihm  auf  den  entzündeten 
Mandeln  wirkliche,  von  den  mit  Schleim  angefüllten  Ver¬ 
tiefungen  deutlich  zu  unterscheidende  Geschwürchen 
vorgekommen ,  die  von  den  meisten  übersehen  worden  sind, 
v.iew’ohl  sie  schon  Aretäus  kannte,  und  von  den  brandi- 

4 

gen  Geschwüren  unterschied.  Sie  entstehen  als  kleine  gelbe 


448 


VI.  Angina. 


Krdtzpusteln,  die  bald  platzen,  ganz  oberflächlich  bleiben, 
bevor  sie  platzen  oft  nicht  wenig  brennen,  aber  doch  kei¬ 
nen  iibe!n  Geschmack  iin  Munde,  keinen  stinkenden  Athein 
verursachen,  sich  selbst  dann,  wenn  viele  da  sind  und  sich 
in  eine  Fläche  vereinigen,  noch  milde  verhalten,  nicht  in 
die  riefe  fressen,  keine  grauen,  pappartigen  Stellen  bekom¬ 
men,  sondern  vielmehr  die  Quellen  des  weifsen  Ueberzuges 
werden ,  der  entweder  die  ganze  Drüse,  aber  keineswege« 
borkenartig,  sondern  wie  mit  einer  Pseudomembran  bedeckt, 
oder  doch  noch  viele  rolhe  Stellen  zwischen  sich  läfst. 
iSach  der  Trennung  dieser  weifsen  Decke  erblickt  man  dann 
eine  hochrothc,  sehr  empfindliche  Fläche,  oder  wo  jene 
Decke  sich  gar  nicht  bildet,  oft  eine  sehr  empfindliche  Ero- 
sion  der  ganzen  Mandel.  —  A  iele  Frühere  haben  diese 
Geschwüre  als  oberflächliche  gutartige  Eiterung  der  Man¬ 
deln  beschrieben;  sie  kommen  im  Scharlach  und  in  Catar- 
rhalbräunen  nicht  selten  vor,  und  werden  gewöhnlich  mit 
Schwämmchen  verwechselt;  zuweilen  nehmen  sie  unter  un¬ 
günstigen  Umständen  einen  bösartigen,  fauligen  Charakter 
an,  und  häufig  bleiben  sie  nach  der  Zertheilung  noch  eine 
Zeitlang  mit  mäfsigen  Beschwerden  zurück.  —  Die  ver¬ 
schiedenen  Ausgänge  der  entzündlichen  Bräune  geht  der 
Verf.  ausführlich  durch,  mit  Hinweisung  auf  das  Unge¬ 
wöhnliche,  z.  B.  die  Bildung  eines  Abscesses  im  Schlunde, 
die  Dodonäus  beobachtet  hat.  Der  Uebergang  in  Brand 
möchte  doch  bei  diesem  Charakter  der  Entzündung  mit 
C  ul  len  zu  bezweifeln  sein.  —  Bef.  sind  keine  reinen  Fälle 
dieser  Art  bekannt  geworden,  und  die  Scharlachhalsentzün¬ 
dung,  die  von  den  Schriftstellern  gewöhnlich  in  dieser  Be¬ 
ziehung  angeführt  wird,  kann  aus  triftigen  Gründen  nicht 
zur  rein  inllammatorischen  gerechnet  werden.  —  Bei  Gele¬ 
genheit  des  oft  beobachteten  Uebcrganges  in  Lungenent¬ 
zündung  erzählt  der  Verf.  einen  interessanten  hierher  gehö¬ 
rigen  Fall,  der  tödtlich  ablief,  und  wo  die  Leichenöffnung 
die  Spuren  der  Entzündung  in  den  Leichen  deutlich  zeigte. 
Schon  vor  dem  Ausbruch  der  Lungenentzündung  war  Eite- 


i 


449 


VI.  Angiua. 

rung  in  den  Mandeln  erfolgt,  Ilr.  Geh.  R.  S.  liefs  daher  die 
Gelegenheit  nicht  unbenutzt,  die  Quellen  des  Eiters  zu 
untersuchen.  Er  fand  die  Mandeln  nur  ein  wenig  dicker, 
als  natürlich,  und  ihre  sonst  bei  der  Entzündung  so  erwei¬ 
terten  Oeffnungen  für  die  Ausführungsgänge  im  ganz  na¬ 
türlichen  Zustande,  wie  einen  Nadelkopf  grofs,  und  mittelst 
einer  feinen  Sonde  leicht  zu  durchdringen.  Dagegen  wa¬ 
ren  die  Oeffnungen,  welche  den  Eiter  ergossen 
hatten,  lappen  förmig  zerrissen,  so  dafs  die  einge¬ 
sunkenen  Hautstückchen  sich  an  die  innere  fläche  der  Drüse 
anlegten,  aber  leicht  in  die  Höhe  zu  heben,  so  dafs  die 
Sonde  im  Umfange  tiefer  eindringen  konnte.  Dies  scheint 
ihm  die  Oeffnung  mittelst  eines  Einstiches  zu  empfehlen, 
der  schneller  heilenden  Schnittwunde  wegen,  so  wie  die 
Vermeidung  fester,  krümlicher  Kost,  damit  sich  dergleichen 
nicht  einsacke,  und  Anlafs  zu  längeren  Eiterungen  und 
Fisteln  geben  möge.  —  Den  Beschlnfs  dieser  Darstellung 
macht  die  Aufzählung  der  Ursachen. 

Die  entzündlichen  Bräunen  in  den  Luftwe¬ 
gen  sind  entweder  ohne  Ausschwitzung,  Tr  ach  eit  is 
muscularis,  profunda,  sicca,  oder  mit  Ausschwitzung, 
Angina  membranacea.  '  Jene  hat  ihren  Sitz  in  den 
Muskeln  und  Bändern  der  Luftröhre,  diese  in  der  Schleim¬ 
haut  derselben.  Charakteristisch  und  lehrreich  ist  die  dia¬ 
gnostische  Parallele,  die  der  Verf.  zwischen  diesen  beiden 
Entzündungen  zieht,  viele  Leser  werden  hier  Gelegenheit 
finden,  ihre  Kenntnisse  zu  läutern  oder  zu  bereichern,  auch 
ist  die  ausführlichere  Darstellung  des  Verlaufs  des  Croups 
bei  der  hohen  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  ganz  an  ihrem 
Orte.  —  Nach  Erörterung  der  Ausgänge,  und  der  Ursachen 
des  Croups  und  der  Tracheitis  muscularis  wendet  sich  der 
Verf.  zu  der  Prognose  aller  entzündlichen  Bräunten,  die  er 
in  bewährten  Aphorismen  darstellt,  dann  zum  Leichenbe¬ 
funde  und  zur  Behandlung.  Hier  kommen  nun  wieder  zu¬ 
erst  die  Entzündungen  der  Schluckorgane  an  die  Reihe. 
Sämmtliche  Hauptmittel  werden  durchgegangen:  das  Ader- 


I 

450  VI.  Angina. 

lals,  die  örtlichen  Blutentziehungen  (die  Bronchotomie  bei¬ 
läufig  erwähnt),  die  inneren  Antiphlogistica,  die  kühlenden 
und  Mercurialabfiihrungen ,  die  Brechmittel,  die  Breium¬ 
schläge,  die  Einreibungen,  die  Blasenpflaster,  die  übrigen 
Ableitungsmittei ,  die  Gurgelwässer,  die  Dämpfe  und  die 
Einspritzungen  durch  Mund  und  Nase.  E.r  verweilt  dann 
noch  besonders  bei  der  Behandlung  der  Angina  suppurato- 
ria  und  der  Folgeübel.  Bei  zurückbleibenden  Anschwel¬ 
lungen  und  Verhärtungen  der  Mandeln  (der  Verf.  führt 

hier  die  gewöhnlichen  Mittel  an)  hat  Bef.  mehrmals  mit 
ausgezeichnetem  Erfolge  die  lleringskur,  täglich  nüchtern 
einen  halben  oder  ganzen  Hering,  oder  auch  nur  die  Milch 
davon  genossen,  angewandt,  und  zieht  sie  dem  gewöhnlich 
unwirksamen  Gebrauche  der  Gurgelwässer  unbedingt  vor. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  sie  lange  genug  fortgesetzt 
werden  mufs,  wozu  sich  indessen  die  Kranken  gewöhnlich 
bereitwillig  finden  lassen,  indem  schon  nach  kurzer  Zeit 

das  Unangenehme  dieser  Kur  durch  die  Gewohnheit  sich 
sehr  vermindert,  und  namentlich  der  anfangs  sehr  lästige 
Durst  nach  acht  bis  zehn  Tagen  fast  ganz  verschwindet. 

Bei  der  Behandlung  der  Luftröhrenbräunen  berücksich¬ 
tigt  der  Verf.  vorzüglich  den  Croup,  spricht  von  den  Blut¬ 
ausleerungen,  den  allgemeinen  sowohl  wie  den  örtlichen, 
den  inneren  Kühlungs-  und  Schwächungsmitteln,  und  kommt 
dann  auf  den  Gebrauch  der  Brechmittel.  W  ir  haben  die 
Grundsätze  hierüber  bei  einer  früheren  Gelegenheit  erör¬ 
tert  (  Bd.  IX.  1 1  ft.  3.  S.  .348  d.  A.),  und  bitten  die  Leser, 
die  angeführte  Stelle  nachzusehen.  Der  Verf.  trat  bekannt¬ 
lich  mit  Jurine  und  Formey  gegen  Albers  auf,  der  die 
Brechmittel  gleich  zu  Anfang  des  Croups,  ohne  vorherge¬ 
gangene  Blutausleerungen  angewandt  wissen  wollte.  Sachse 
und  die  ihm  zur  Seite  stehenden  Aerzte  verwarfen  sie  durch¬ 
aus  nicht  ganz,  sondern  verlangten  nur,  dafs  der  Entzün¬ 
dungsreiz  erst  durch  Blutentziehungen  gemindert  werde, 
n  Der  Streit  läfst  sich  schlichten ,  ”  so  lauten  die  eigenen 
W  orte  des  \erf.,  «sobald  man  in  bedeutenden  Catarrhen 

% 


451 


VI.  Angina. 

$ 

auch  schon  den  Anfang  des  Croups  (wie  A Ibers)  sieht, 
da  können  sie  allerdings  das  Uebel  oft  allein  heben;  wo 
sich  aber  der  Croup  wirklich  schon  ausgebildet  hat,  da 
schaffen  sie,  ohne  vorgängige  Blutausleerung,  wenn  sich 
nicht  gar  Verschlimmerung  zeigt,  nur  kurze  Zeit,  durch 
Abspannung  Nutzen.  »  Im  catarrhalischen  Stadium  war  es 
denn  auch,  wo  wir  ihnen,  und  gew'ifs  mit  Beistimmung 
aller  vorurteilsfreien  Aerzte,  eifrig  das  Wort  redeten. 
«Der  Grundsatz  mufs  feststehen,  »so  fährt  der  Verf.  fort, 
u  wo  sich  die  Krankheit  sehr  leicht  zeigt,  wo  man  über 
die  wirkliche  Existenz  des  Croups  noch  unentschieden  ist, 
der  Kranke  schwach,  scrophulös  ist,  vorher  viel  gegessen 
bat,  da  mag  man  zuerst  den  Körper  durch  ein  Brechmittel 
reinigen,  vielleicht  kann  man  noch  dadurch  die  Krankheit 
coupiren;  w?o  sich  aber  der  Croup  als  wirklich  ausgebildet 
zeigt,  mufs  allemal  die  Blutentziehung  voraufgehen. »  Hrn. 
G.  B.  S.  scheint  es  hiernach  vorzüglich  auf  die  Reinigung 
des  Körpers  anzukommen,  gewifs  ist  es  aber  eine  günstige 
Umstimmung  des  ganzen  Organismus,  die  sich  in  dem  Grade, 
wie  durch  das  Brechen,  durch  kein  anderes  Mittel  herbei¬ 
führen  läfst,  die  Beseitigung  der  vorwaltenden  Plasticität 
im  Blute  und  in  den  Gefäfsenden,  auf  die  wir  hier  noch 
weit  mehr  Rücksicht  zu  nehmen  haben.  Durch  diese  Wir¬ 
kung  vermag  das  Brechmittel  selbst  Schlundentzündungen 
im  gelinderen  Anfangsstadium  zu  beseitigen,  wie  ja  auch 
seröse  und  rosenartige  Entzündungen  an  andern  Theilen 
damit  glücklich  bekämpft  werden  können.  —  Im  Verlaufe 
des  Croups  kann  der  Verf.  die  Brechmittel  nicht  genug 
preisen,  wie  ihm  denn  bekanntlich  die  meisten  hierin  bei¬ 
stimmen. 

Es  folgen  nun  mehr  oder  minder  ausführliche  Bemer¬ 
kungen  über  den  JVIercur,  die  Klystiere,  die  Vesicatoria, 
die  erweichenden  Umschläge,  die  Einhauchungen  warmer 
Dämpfe,  die  allgemeinen  und  Fufsbäder,  die  kalten  Be- 
giefsungen,  die  schweifstreibenden  Mittel,  die  Antimonialia, 
das  Ammoniacum  und  die  Senega,  die  Naphthadämpfe,  die 


452 


VI.  Angina. 

mechanischen  Reizungen,  die  Niesemittel,  das  flüchtige  Lau¬ 
gensalz,  die  Schwefelleher,  die  krampfstillcnden  und  nar- 
cotischen  Mittel,  und  die  Rronchotomie,  Gegenstände,  über 
die  der  \erf.  die  wichtigsten  Angaben  in  seinem  bekannten 
Werke  (Das  Wissenswürdigste  über  die  häutige  Bräune. 
2  Bde.  Lübeck  und  Hannover.  1810  —  12.  8.)  belehrend 
zusammcngestellt  hat.  —  Die  Abhandlung  über  den  Croup 
sch  liefst  mit  praktischen  Fingerzeigen  über  den  sthenischen 
und  gastrischen  Charakter  desselben,  und  über  seine  Ver¬ 
bindung  mit  Scharlach,  Rose,  Aphthen,  Masern,  Pocken 
u.  s.  w. 

4 

Nächstdem  werden  die  A.  catarrhalis,  A.  habitualis, 
A.  varicosa  und  biliosa  abgehandelt,  dann  wendet  sich  der 
Verf.  zur  brandigen  Bräune,  Angina  gangraenosa.  Die  Be¬ 
schreibung  dieser  grofsen  Krankheit  entspricht  der  hohen 
W  ichtigkeit  des  Gegenstandes;  am  Schlüsse  derselben  war 
es  nothwendig,  die  von  mehreren  behauptete  Identität  der 
brandigen  Bräune  mit  dem  Scharlach  zu  beleuchten.  Es 
möchte  schwer  halten,  hierüber  zu  einer  sichern  Ueberzcu- 
gung  zu  gelangen,  wenn  es  indessen  nur  auf  Meinungen 
ankommt,  so  möchte  sich  doch  wenigstens  eine  ziemlich 
nahe  \  erwandtschaft  beider  Krankheiten  aus  den  bisherigen 
Beobachtungen  erkennen  lassen.  Der  Verf.  entscheidet  sich 
aus  mehreren  hier  aufgeführten  Gründen  nicht  für  die  An¬ 
nahme  einer  solchen,  einige  ältere  Fpidemieen  sind  jedoch 
der  Scharlachnatur  in  hohem  Grade  verdächtig,  so  dafs  die 
Beziehung  ihrer  Beschreibungen  auf  das  Scharlach  nahe 
liegt,  andere  sind  dagegen  weit  davon  entfernt,  so  dafs  die 
Existenz  einer  selbstständigen  brandigen  Bräune  aufser  Zwei¬ 
fel  gesetzt  werden  kann.  Gewifs  haben  die  älteren  Beob¬ 
achter  vieles  untereinander  geworfen,  gewifs  sind  Jahrhun¬ 
derte  vergangen,  ehe  man  das  Scharlach  erkannte,  denn  in 
den  Beschreibungen  der  Ausschlagskrankheiten  hinken  die 
Aerzte  der  Natur  lange  nach.  Gerade  hier  ist  die  Ehre 
der  griechischen  Aerzte  mit  dem  allgemeinen  Ausspruche, 
dafs  sie  gute  Beobachter  gewesen,  und  einen  so  wesent- 
.  -  liehen 


453 


VI.  Angina. 

liehen  Zufall,  wie  die  Scharlachröthe  der  Haut,  nicht  ver¬ 
gessen  haben  würden,  schwer  zu  retten.  Sie  haben  das 
Wesen  der  Hautausschläge  wenig  erkannt,  und  ihre  For¬ 
men  durchweg  schlecht  oder  mittelmäfsig  beschrieben,  wo 
nicht  ganz  übergangen,  wo  sie  erwähnt  werden  mufsten. 
Schon  zu  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts  waren  die  Pocken 
erweislich  in  Europa  ausgebrochen,  zu  Anfang  des  zehnten 
waren  sie  in  Syrien  und  Mesopotanien  so  häufig,  dafs‘,  wie 

Rhazes  versichert,  kaum  Einzelne  von  ihnen  verschont 

v 

wurden,  und  wo  sind  die  Beschreibungen  der  griechischen 
Aerzte  von  diesem  Exanthem,  aufser  der  magern  und  aus 
einem  arabischen  Werke  abgeschriebenen  des  Synesius? 
Dieses  wunderbare  Beispiel  der  Fahrlässigkeit  der  Aerzte 
im  Ueberliejern  von  Beobachtungen  mufs  in  der  That  da¬ 
von  abschrecken,  Krankheiten  blofs  deshalb  für  späteren 
Ursprungs  zu  halten,  weil  sie  von  den  Früheren  nicht  be¬ 
schrieben  worden  sind;  dieselbe  Fahrlässigkeit  unserer  Vor¬ 
fahren  macht  es  aber  auch  unmöglich,  die  vorliegende  Frage 
entscheidend  zu  beantworten,  und  die  Gränzen  der  obigen 
Meinung  auf  der  einen  oder  der  andern  Seite  zu  über¬ 
schreiten.  Der  Verf.  hat  seine  Gründe  gegen  die  Annahme 
einer  Identität  der  brandigen  Bräune  und  des  Scharlachs 
sehr  scharfsinnig  entwickelt,  wir  ersuchen  die  Leser,  sie  in 
der  Schrift  selbst  nachzusehen.  —  Nächst  der  ausführlich 
erörterten  Behandlung  der  brandigen  Bräune  folgert  nun 
noch  die  Angina  exanthematica,  intermittens,  aphthosa, 
venerea,  mercurialis,  rheumatica,  haemorrhoidalis  und  men- 
strualis. 

Wir  halten  cs  für  einen  wesentlichen  Vorzug  dieser 
Schrift,  dafs  der  Verf.  seinen  Gegenstand  historisch  bear¬ 
beitet,  und  mit  einer,  in  praktischen  Werken  ungewöhn¬ 
lichen  Gründlichkeit,  seinen  Lesern  einen  weiten  Üeber- 
blick  über  die  Litteratur  der  Halsentzündungen  gewährt 
hat.  Der  Zweck  einer  Encyclopädie,  schnelle  Belehrung 
und  Anregung  zum  weiteren  Studium,  wird  durch  diese 
Art  der  Bearbeitung  unstreitig  am  sichersten  erreicht.  Viel- 

xrif.  Ra.  4.  St.  JO 


454  VII.  Mineral -Magnetismus. 

leic^  wlire  es  besser  gewesen,  sämmtliche  Citale  unter  den 
Text  zu  bringen,  wodurch  die  häufigen  Unterbrechungen 
des  Vortrags  vermieden  worden  wären;  auch  würde  der 
Verf. ,  wenn  er  den  Druck  selbst  hätte  besorgen  können, 
durch  bessere  systematische  Anordnung  der  Ueberschriften 
der  einzelnen  Abschnitte  gewifs  seine  Abhandlung  übersicht¬ 
licher  gemacht  haben. 

//. 


VII. 

Der  mineralische  Magnetismus,  nnd  seine 
Anwendung  in  der  Heilkunst;  von  Chri¬ 
stian  August  Becker,  M.  D.,  Ritter  des  ei¬ 
sernen  Kreuzes  zweiter  Klasse.  Mühlhausen,  Ver¬ 
lag  von  Friedr.  Heinrichshofen.  1829.  8.  202  S. 

Zu  den  merkwürdigsten  Erscheinungen  in  der  Geschichte 
der  Medicin  gehört  es  gewifs,  dafs  die  W  irkungen  der  Im¬ 
ponderabilien  auf  den  lebenden  Organismus  ungleich  weni¬ 
ger  erforscht  worden  sind,  als  sie  es  ihrer  hohen  Bedeu¬ 
tung  wegen  verdienen.  Sie  stellen  sich  uns  nicht  nur  als 
die  nothwendigsten  äufseren  Lebensbedingungen  dar,  son¬ 
dern  haben  auch  höchst  wahrscheinlich  eine  so  nahe  Ver¬ 
wandtschaft  mit  den  Lebenskräften  selbst,  dafs  letztere  durch 
eine  sorgfältig  durchgefiihrte  Analogie  mit  ihnen,  nament¬ 
lich  mit  der  galvanischen  Elektricität  der  Deutung  ungleich 
zugänglicher  werden,  als  durch  die  mechanischen  und  che¬ 
mischen  1  heoriecn.  Leberdies  hat  die  Erfahrung  uns  be¬ 
reits  eine  Menge  der  wichtigsten  Thatsachen  über  den  wobl- 
thätigen  Einflufs  der  Elektricität  auf  den  kraiiken  Körper 
an  die  Hand  gegeben,  so  dals  es  nur  eines  glücklichen 
Ueberblicks  über  dieselben  bedürfte,  um  uns  zum  Bewufst- 
sein  des  grofsen  Schatzes,  den  wir  an  ihnen  besitzen,  zu 


455 


VII.  Mineral  -  Magnetismus. 

verhelfen.  Dennoch  ermangeln  wir  so  gänzlich  einer  be¬ 
stimmten  und  lebendigen  Erkenntnifs  von  dieser  hochwich¬ 
tigen  Angelegenheit,  dafs  sich  auch  noch  nicht  ein  allge¬ 
meiner  Satz  über  sie  aufstellen  läfst,  der  dem  praktischen 
Arzte  als  Leitstern  dienen  könnte.  Erwägt  man  dabei,  dafs 
es  sich  um  ein  heilkräftiges  Agens  handelt,  das  uns  aus  der 
Noth  helfen  könnte,  wo  uns  alle  übrigen  Arzneien  fast 
durchaus  im  Stiche  lassen,  nämlich  bei  den  idiopathischen 
Nervenkrankheiten,  die  schon  tausendfältig,  und  gewifs 
nicht  mit  Unrecht,  mit  den  elektrischen  Strömungen  ver¬ 
glichen  worden  sind;  so  verdient  eine  solche  unverzeihliche 
Vernachlässigung  wohl  die  bitterste  Büge. 

Dafs  der  Magnet  noch  weniger  beachtet  wurde,  läfst 
sich  noch  eher  entschuldigen:  seine  Thätigkeit  schien  den 
früheren  Physikern  ein  isolirtes,  nur  selten  in  der  Erschei¬ 
nungswelt  vorkommendes  Phänomen  zu  sein;  seine  heilkräf¬ 
tigen  Eigenschaften  wurden  durch  den  übelberüchtigten  Pa¬ 
racelsus,  und  durch  Mesmer,  marktschreierischen  Anden¬ 
kens,  vielmehr  in  Mifscredit  gebracht,  und  gewichtigeren 
Stimmen,  die  Unger,  An  dry,  Thouret  und  Klär  ich 
nebst  wenigen  anderen,  zu  seinen  Gunsten  laut  werden 
liefsen,  verhallten  in  einer  streitsüchtigen  Zeit.  Seitdem 
aber  durch  Coulomb  die  Allgemeinheit  der  magnetischen 
Erscheinungen  in  jeder  Substanz,  und  durch  Oerstedt  die 
nahe  Verwandtschaft  des  Magnetismus  und  der  galvanischen 
Elek tricit ät  erwieset!  worden  ist,  können  und  dürfen  die 
Aerzte  des  ersten  hohe  Bedeutung  für  den  menschlichen 
Körper  nicht  länger  verkennen,  und  man  mufs  es  unserm 
Verf.  Dank  wissen,  sie  mit  rühmlichem  Eifer  wieder  gel¬ 
tend  gemacht  zu  haben.  Er  widmete  diesem  Gegenstände 
ein  sorgfältiges  Studium,  zu  welchem  die  Göttinger  Biblio- 
thek  ihm  alle  Quellen  eröffnete,  machte  sich  vorzüglich  mit 
der  physikalischen  Theorie  des  Magnetismus  vertraut,  stellte 
selbst  zahlreiche  Versuche  mit  demselben  in  verschiedenen 
Krankheiten  an,  und  beschenkt  uns  jetzt  mit  der  Ausbeute 
seiner  Forschungen,  die  zwar  noch  zu  keinem  feststehenden 

30  * 


456 


VII.  Mineral  -Magnetismus. 

Erfahrungssatz  führen,  aber  hoffen t lieh  zu  weiteren  Bemü¬ 
hungen  anregen  werden. 

Die  erste  Hälfte  seiner  Schrift  nehmen  die  wichtigsten 
Satze  aus  der  physikalischen  Lehre  vom  Magnetismus  ein, 
die  der  Arzt  inne  haben  mufs,  um  vorn  letzten  einen 
rationellen  Gebrauch  machen  zu  können,  hier  aber  billig 
übergangen  werden.  Dann  folgt  eine  Geschichte  der 
medicinischcn  Anwendung  desselben,  und  den  Beschluß 
machen  die  vom  Yerf.  selbst  gesammelten  Erfahrungen. 

Die  Reihe  der  magnelisirenden  Acrzte  beginnt  mit 
Paracelsus,  aus  dessen  Lehren  der  Verf.  folgende  zwei 
wichtige  Sätze  ableitet:  1)  Die  Magnete  müssen  mit  ihren 
freundschaftlichen  Polen  gegen  einander  auf  die  Peripherie 
des  Krankheitsfocus  gelegt  werden,  wodurch  die  magneti¬ 
sche  Kraft  nicht  nur  nach  dieser  Richtung  hin  determinirt, 
sondern  auch  verstärkt  wird  (eben  so  wie  man  bei  der 
Anwendung  der  Elcktricität  ihre  beiden  Pole  zu  beiden 
Seiten  des  leidenden  Organs  anbringl);  2)  der  Magnetis¬ 
mus  erhöht  durch  directen  Einflufs  auf  das  Nervensystem 
die  Energie  desselben,  und  bringt  dadurch  dessen  Recepti- 
vität  gegen  die  excentrischen  Wirkungen  des  Krankheits¬ 
heerdes  zur  natürlichen  Temperatur;  er  bewirkt  also,  dafs 
die  kritischen  Prozesse  der  erkrankten  Vegetation  nicht 
durch  Nervcnunruhen  unterbrochen  werden.  —  Bapt.  v. 
Ilelmont,  wenn  auch  sonst  hochverdient,  flirte  nur  meta- 
physische  Träumereien  hinzu.  —  Hierauf  ruhte  der  Magne¬ 
tismus,  bis  Kästner  iro  März  l/tio  in  einer  Y  crsammlung 
der  Göttinger  Socictät  der  Wissenschaften  eine  Erfahrung 
über  den  Nutzen  des  Magnets  gegen  Zahnschmerzen  er¬ 
zählte,  und  dadurch  den  Hofmcdicus  Klär  ich  veranlafste, 
ähnliche  Versuche  anzustellen,  die  derselbe  den  27.  Juli 
mittheille.  Er  hatte  1  JO  Personen,  die  an  Zahnschmerzen 
litten,  magnetisch  behandelt;  von  diesen  halten  nur  IS  ihre 
Schmerzen  wiederbekommen,  und  es  ergab  sich,  dafs  als¬ 
dann  eine  Geschwulst  oder  ein  Geschwür  vorhanden  gewe¬ 
sen  war.  Aufserdem  war  dies  Mittel  bei  Gicht,  Glieder- 


457 


Vif.  Mineral  -  Magnetismus. 

schmerzen  versucht,  und  bei  Fehlern  des  Gehörs  mit  grofsem 
Nutzen  gebraucht  worden.  Dr.  Weber  heilte  einen  Mann 
von  72  Jahren,  der  nach  einem  heftigen  Zorn  alles  doppelt 
und  dreifach  sah,  und  dem  dabei  das  Auge  thränte  und 
schmerzte;  dagegen  bemerkte  er,  dafs  der  Magnet  eine, 
wahrscheinlich  catarrhalische  Augenentzündung,  die  ein  ge-» 
sunder,  18 jähriger  Mensch  sich  durch  Erkältung  zugezogen 
batte,  verschlimmerte.  Eine  bejahrte  Frau,  welche  nach 
heftigem  Flufsfieber  und  starken  Kopfschmerzen  in  den  an¬ 
scheinend  unverletzten  Augen  empfindliche  Schmerzen,  Fun¬ 
kensehen,  Lichtscheu  zuriickbehalten  hatte,  wurde  von  ihm 
geheilt,  desgleichen  ein  CO  jähriger  Mann,  der  fast  immer 
mit  Katarrhen  belästigt  war,  und  seit  20  Jahren  fast  gar 
nichts  mit  dem  rechten  Auge  sehen  konnte.  —  Reichel 
stellte  in  seiner  Dissertation  (De  Magnetismo  in  corpore 
humano.  Lips.  1772.)  die  praktische  Regel  auf,  dafs  der 
Magnet  bei  Fiebern,  Entzündungen  und  Blutungen  nicht 
anwendbar  sei,  sich  mehr  für  chronische  als  acute  Krank¬ 
heiten  eigne,  nnd  unter  diesen  wieder  mehr  für  Krankhei¬ 
ten  einzelner  Theile,  als  des  ganzen  Körpers.  —  Zwei 
Jahre  später  kam  der  Magnetismus  in  Wien  in  Aufnahme, 
als  der  Patqr  Ilell  damit  eine  Dame  vom  Magenkrampf 
befreit  hatte;  die  wichtigste  daraus  entspringende  Folge  war, 
dals  Mesmer  dadurch  zu  weiteren  Versuchen  veranlafst, 
und  somit  auf  eine  Bahn  gebracht  wurde,  auf  welcher  er 
so  grofsen  Unfug  getrieben  hat.  Nur  die  an  Harsu  in 
Genf  von  ihm  verrichtete  Cur  verdient  ausgezeichnet  zu 
werden,  da  sie  von  Tissöt  bestätigt  wurde;  sie  beseitigte 
zwar  nicht  eine  seit  fünf  dahren  bestehende  vollkommene 
Lähmung  der  unteren  Extremitäten,  rief  aber  in  letzteren 
die  enthobene  Wärme  zurück,  stellte  die  gehemmten  oder 
verminderten  Ausleerungen  durch  Haut,  Darm  und  Nieren 
wieder  her,  bildete  eine  seit  20  Jahren  beinahe  unterdrückte 
Gicht  in  dem  grofsen  Zeh  aus,  und  heiterte  den  Kopf 
auf.  llarsu  seihst  machte  vielfältigen  Gebrauch  vom  Magne¬ 
tismus,  den  er  für  eins  der  stärksten  eröffnenden  und  auf- 


458 


Vll.  Mineral -Magnetismus, 

losenden  Mittel  hielt,  «Jessen  Wirkung  indefs  durch  Abfüh- 

% 

rungen  unterstützt  werden  müsse.  Kr  sah  glückliche  Kr- 
folge  nicht  nur  bei  gichtischen,  rheumatischen  und  Nerven¬ 
krankheiten,  sondern  auch  bei  Scropheln,  Khachitis,  Krö¬ 
pfen,  Frostbeulen, 'Sackgeschwülsten  (?).  —  Unzcr  machte 
•eine  wichtige  Beobachtung  bekannt,  w'onach  eine  Frau, 
welche  nach  ihrer  vierten  Niederkunft  aus  gröfser  Schwäche 
an  Ohnmächten,  Zittern  und  Konvulsionen  litt,  innerhalb 
5  J  agen  von  allen  Beschwerden  fast  gänzlich  befreit  wurde, 
wahrend  Stuhlgang  und  Urin  zur  natürlichen  Beschaffenheit 
zurückkehrten,  und  ein  sehr  reichlicher  Schweifs  sich  ein¬ 
stellte.  brimann  heilte  eine  55jährige  Frau  in  Zeit  von 
11  Tagen,  die  seit  1*2  Wochen  an  vollkommener  Lähmung 
des  linken  Arms  und  Taubheit  des  linken  Ohrs  litt.  —  ln 
Paris  stellte  der  Abt  Le  Noble  unter  den  Augen  der 
Academie  Versuche  mit  dem  Magnet  an,  von  welchen  die 
Kommissorien  derselben,  Andry  und  Thouret,  den  be¬ 
kannten  günstigen  Bericht  abstatteten,  der  unter  dem  Titel: 
«  A.  u.  Th.  Beobachtungen  und  Untersuchungen  über  den 
Gebrauch  des  Magnetismus  in  der  Arzneikunst,  Leipzig  1785.» 
ins  Deutsche  übersetzt  wurde,  und  unstreitig  als  das  wich¬ 
tigste  Actenstück  angesehen  werden  mufs.  Der  Verf.  theilt 
von  den  darin  enthaltenen  Beobachtungen  einige  mit,  welche 
meist  den  bereits  geschilderten  Fällen  ähnlich  sind,  und 
unter  denen  sich  auch  einige  Beispiele  von  geheiltem  Ge¬ 
sichtsschmerz,  Nierenkolik,  Brustkrämpfen  und  Herzklopfen 
vorfinden.  Von  den  Bemerkungen  und  Schlüssen,  welche 
die  Berichterstatter  aus  den  aufgeführten  Thatsachcn  zogen, 
dürften  folgende  die  wichtigsten  sein:  Die  Wirkungen  er¬ 
folgen  oft  im  Augenblick;  zuweilen  wurden  die  Schmerzen 
nur  von  einer  Stelle  zur  andern  getrieben;  in  einigen  Fäl¬ 
len  wurden  die  Beschwerden  verschlimmert,  oder  neue  her¬ 
beigeführt;  die  Wirkungen  waren  nicht  blofs  local,  manche 
fühlten  ein  allgemeines  Wohlbefinden  darnach;  die  Nerven¬ 
krankheiten,  bei  welchen  sich  der  Magnetismus  heilsam 
bewies,  schienen  besonders  solche  zu  sein,  in  welchen  ent- 


459 


VII.  Mineral  -  Magnetismus. 

weder  die  Sensibilität,  oder  die  Mobilität,  oder  die  Span¬ 
nung  der  Nerven  übermäfsig  erhöht  war.  Zur  ersten  Reihe 
gehörten  Kopfschmerz,  Gesichtsschmerz,  Zahnweh,  Nieren¬ 
schmerzen,  Magenweh,  Gliederreifsen,  hysterische  Beschwer¬ 
den;  zur  zweiten  Brustkrampf,  Magenkrampf,  Gliederkrampf; 
zur  dritten  Herzklopfen,  Krampfhusten ,  krampfiges  Erbre¬ 
chen,  hysterische  Convulsionen.  Aber  auch  bei  andern 
Nervenkrankheiten,  denen  eine  Schwäche  oder  Mangel  an 
Energie  der  Nerven  zum  Grunde  lag,  leistete  der  Magnet 
gute  Dienste.  Von  der  Art  waren  Zittern,  Schwindel, 
Betäubung,  Ohnmacht,  Schwäche  des  Gesichts,  schwere 
Sprache,  Schwäche  des  Magens,  Kälte,  Frösteln.  Bei1  den 
materiellen  Nervenkrankheiten  hob  der  Magnetismus  oft  nur 
die  Nervenzufälle,  vermochte  aber  nichts  gegen  die  Ur¬ 
sache  der  Krankheit.  In  der  Epilepsie  war  er  ganz  und 
gar  ohne  Nutzen.  In  manchen  Fällen  beobachtete  man 
Wiederkehr  der  natürlichen  Wärme,  Vermehrung  der  Haut¬ 
ausdünstung  und  Beförderung  des  Stuhlgangs.  —  Endlich 
führt  der  Verf.  noch  an,  dafs  Laennec  beim  fixen  nervö¬ 
sen  Brustschmerz  und  krampfhaften  Asthma  gute  Wirkun¬ 
gen  vom  Magnetismus  sah,  den  er  noch  mehr  bei  dem  ner¬ 
vösen  Herzklopfen  und  der  Angina  pectoris  empfiehlt.  Na¬ 
mentlich  soll  derselbe  bei  letzter  Krankheit  das  Angstgefühl 
und  die  Schmerzen  um  das  Herz  vermindern;  mehr  ist  aber 
auch  wohl  bei  der  ihr  zum  Grunde  liegenden  Verknöche¬ 
rung  der  Herzschlagadern  nicht  zu  erwarten. 

Bef.  hat  sich  geflissentlich  jedes  Räsonnements  enthal¬ 
ten,  um  den  -ihm  zugemessenen  Raum  mit  einer  vollständi¬ 
gen  Aufzählung  aller  in  der  Schrift  enthaltenen  wichtigen 
Beobachtungen  zu  füllen,  und  dadurch  den  Leser  zur  eige¬ 
nen  Prüfung  derselben  einzuladen.  Daher  übergeht  er  auch 
die  von  dem  Verf.  als  Einleitung  zu  den  Ergebnissen  sei¬ 
ner  eigenen  Forschung  aufgestellte  Theorie  von  der  Ver¬ 
wandtschaft  der  elektrischen  und  der  Lebenskräfte,  mit  wel¬ 
cher  er  zwar  im  Allgemeinen  einverstanden  ist,  die  ihm 
aber  nicht  glücklich  ausgeführt  zu  sein  scheint,  da  sie  zwar 


I 


4  GO 


VII.  Mineral- Magnetismus. 

auf  dm  elektrischen  Zustand  einzelner  Organe  hiudeutet, 
aber  sieb  weder  darüber  erklärt,  in  wiefern  dieselben  als 
Leiter  oder  Erzeuger  derselben  anzusehen  sind,  noch  auf 
die  allgemeinen  electromotoren  Gegensätze  hinweiset,  ohne 
deren  nähere  Bezeichnung,  in  wiefern  sie  die  gemeinsame 
Quelle  aller  Erscheinungen  des  bewegenden  Lebens  abge¬ 
ben,  die  ganze  Lehre  höchst  unfruchtbar  bleibt,  wie  sich 
dies  auch  bei  der  von  dein  Vcrf.  versuchten  Kintheilung 
der  Krankheiten,  je  nachdem  in  ihnen  die  Klektricität  ver¬ 
mehrt,  vermindert,  oder  ungleich  vertheilt  ist,  deutlich 
zeigt,  da  sie  höchst  hypothetisch  hingestellt,  und  mit  den 
früheren  Sätzen  gai  nicht  in  Zusammenhang  gebracht  wor¬ 
den  ist.  Als  Leitfaden  bei  den  anzustcllcnden  magnetischen 
Versuchen  konnte  ihm  allerdings  ein  Rückblick  auf  das, 
was  durch  die  analogen  elektrischen  Euren  geleistet  worden 
ist,  dienen,  die  bei  allen  Formen  von  Nervenkrankheiten 
sich  hülfreich  bewiesen,  in  einzelnen  Fällen  alle  Secretio- 
nen:  Menstruation,  Ilautausdünstung,  Absonderung  des  Spei¬ 
chels,  der  Darmsäfte,  des*  Harns,  Ohrenschmalzes  beförder¬ 
ten,  nicht  selten  aber  auch,  besonders  bei  reizbaren  Sub- 
jecten,  Schla! losigkeit,  Schwäche,  Zittern  der  Glieder  und 
Neigung  zu  Krämpfen  zurücklielsen,  und  während  der  Men- 

I  0 

struation  und  Schwangerschaft,  bei  Fieber,  Entzündung  und 
grofser  Vollblütigkeit  unbedingt  schadeten.  Die  nicht  be¬ 
deutende  Zahl  von  Erfahrungen,  welche  der  Verf.  einsam- 
meltc,  setzte  ihn  freilich  nicht  in  den  Stand,  wichtige  all¬ 
gemeine  F oJgerungcn  aus  ihnen  zu  ziehen;  dafür  wäre  aber 
zu  wünschen  gewesen,  dafs  er  bei  den  einzelnen  Beobach¬ 
tungen  den  Erfolg  nicht  beinahe  ausschließlich  nur  in  dem 
V  orkonnnen  und  V  ersclnvinden  mannigfacher  Empfindungen, 
die  so  oft  auf  blofse  .Täuschungen  hinführen,  sondern  auch 
in  anderen  Veränderungen  der  Lcbensthäligkcit,  von  denen 
er  nur  einzelne  Beispiele  aumerkt,  aufgesucht  hätte.  Inte¬ 
ressant  ist  jedoch,  was  er  an  sich  selbst  nach  lange  und 
ununterbrochen  iortgesetzter  Anwendung. des  Magnets  wahr- 
nalun.  Er  litt  seit  10  Jahren  an  Obstructionen  und  kalten 


46  i 


VII.  Mineral  -  Magnetismus. 

Fiifsen,  konnte  sich  nie  warm  genug  kleiden.  Zu  diesen 
Beschwerden,  die  sich  bei  angestrengtem  Studieren  ver¬ 
mehrten,  gesellte  sich  des  Morgens  ein  lästiger  Heifshunger, 
der  nur  durch  Wasser  und  Wein  gestillt  werden  konnte, 
aber  nach  dem  Genufs  von  Speisen  Eingenommenheit  und 
Hitze  des  Kopfes,  die  zum  Arbeiten  unfähig  machten,  ,  zur 
Folge  hatte.  Der  Yerf.  legte  alle  Abend  einen  Hufeisen¬ 
magnet  von  10  Pfund  Kraft  unter  das  Kopfkissen.  Danach 
stellte  sich  allmählig  regelrnäfsige  Leibesöffnung  ein,  der 
Heifshunger  verlor  sich,  die  Fiifse  wurden  warm.  Nach 
sechswüchentlichem  Gebrauche  liefs  er  den  Magnet  weg, 
mufste  ihn  aber  bald  wieder  anwenden,  da  die  Beschwerden 
wiederkehrten ,  bis  ihn  endlich  vermehrte  Bewegung  unnö- 
thig  machte.  Der  Yerf.  beschreibt  hierauf  die  verschiede¬ 
nen  Arten  der  Anwendung  desselben,  wie  er  sie  vom  Dr. 
Keil  lernte,  der  nicht  nur  in  der  Yerfertigung  sehr  kräf¬ 
tiger  Magnete  eine  grofse  Geschicklichkeit  besitzt,  sondern 
auch  viele  glückliche  Versuche  mit  ihnen  gemacht  hat,  über 
welche  indefs  nichts  mitgetheilt  wird.  Ref.  bittet  den  dafür 
sich  interessirenden  Leser,  nähere  Belehrung  darüber  in  der 
Schrift  selbst  zu  suchen.  Als  allgemeine  Hegeln  stellt  der 
Yerf.  nur  folgende  auf:  Der  Magnetismus  ist  ein  äufserst 
wirksames  Mittel  bei  rein  nervösen  Schmerzen,  besonders 
wenn  sie  schon  längere  Zeit  gedauert  haben;  er  hilft  nicht, 
und  schadet  vielmehr,  wenn  Entzündung  oder  sonstige  Auf¬ 
regung  des  irritabeln  Systems  damit  verbunden  ist;  er  ist 
unsicher  bei  ganz  frischen  Krankheiten,  weil  dabei  so  leicht 
maskirte  Fieberbewegungen  Vorkommen.  Unter  den  mitge- 
theilten  Beobachtungen  zählt  er  zuerst  einige  Fälle  von 
fieberlosem  Rheumatismus  auf,  die  er  mit  dem  Magnete 
heilte;  dann  einige  Beispiele  von  hysterischem  Kopfschmerz, 
der  nur  bei  einer  Frau,  die  zugleich  an  Fieberwallungen 
litt,  und  schwanger  war,  nicht  weichen  wollte,  vielmehr 
nach  vorübergehender  Erleichterung  sich  verschlimmerte, 
und  den  Gebrauch  kühlender  und  abführender  Mittel  noth- 
wendig  machte.  Nur  langer  dauernde  Zahnschmerzen  wichen 


462 


VII.  Mineral  -  Magnetismus. 

dem  Magnete  sicher,  dagegen  frisch  entstandene  sich  leicht 
danach  verschlimmerten.  Einmal  beseitigte  derselbe  ein  hef¬ 
tiges  Ohrenbrausen,  dagegen  er  in  einem  anderen  Falle* 
dasselbe  vermehrte,  und  zugleich  ein  Pulsircn  im  Ohre  ver- 
anlafste,  welches  den  Verf.  bewog,  Kongestionen  des  Blu¬ 
tes  vorauszusetzen,  und  Blutegel  anzulegen,  welche  auch 
ballen.  Lin  so  eben  entstandenes  rheumatisches  Lendenweb 
verschlimmerte  sich  nach  dem  Gebrauch  des  Magnets,  und 
mulste  durch  Laugenbäder  und  Colocjuinthen  geheilt  wer¬ 
den.  Dagegen  leistete  er  wieder  recht  gute  Dienste  bei 
einer  Paralysis  mcdullaris  rheumatica  eines  12 jährigen  Mäd¬ 
chens,  welche  sich  dies  Uebel  während  eines  aus  Erkältung 
entstandenen  Nervenfiebers  durch  abermalige  Erkältung  zu¬ 
zog,  wodurch  eine,  jede  Bewegung  verhindernde  Spannung 
des  Kückens,  nebst  klonischen  Krämpfen  der  Glieder  und 
Bewufstlosigkeit  entstand.  Nur  durch  den  Genufs  des  Wei¬ 
nes  aus  der  Kose  im  Kathskeller  zu  Bremen  konnte  das 
Leben  erhalten  werden,  aber  es  blieb  bei  grofser  Aufregung 
des  Gemiiths  der  Kranken  eine  lähmungsartige  Steifheit  des 
Rückens,  welche  jede  Bewegung  unmöglich  machte,  weil 
jeder  Versuch  dazu  Brustkrämpfe,  Zuckungen  und  Ohn¬ 
mächten  zur  Folge  hatte.  Es  wurde  jetzt  eine  beständige 
Garnitur  aus  fünf  magnetischen  Platten  angebracht,  von 
denen  eine  vorn  auf  den  Leib  und  vier  auf  den  Rückgrat!» 
zu  liegen  kamen;  dazu  wurde  täglich  zweimal  eine  Viertel¬ 
stunde  hindurch  ein  fünffacher  starker  Magnet  mit  beiden 
Polen  an  das  Kiickgrath,  und  ein  anderer  gegenüber  an  den 
Leib  gehalten.  Danach  nahm  die  Steifigkeit  des  Kückens 
immer  mehr  ab,  der  Stuhlgang,  welcher  bisher  immer  durch 
Arzneien  bewirkt  werden  mulste,  erfolgte  nun  leicht  von 
selbst,  und  die  Kranke  genas  zuletzt  vollkommen.  Doch 
ist  nicht  aufser  Acht  zu  lassen,  dafs  sie  innerlich  täglich 
Extr.  chin.  frig.  par.  nebst  Gelatm.  lieh,  island.  und  zuletzt 
1  inet,  fei  n  acet.  aether.  nahm,  welche  gewiis  wesentlich 
zu  ihrer  Herstellung  beitrugen.  —  Ein  50 jähriger  Mann, 
der  seit  mehreren  Jahren  am  Gonagra/  litt,  empfand  anfangs 


VIII.  Der  Krampf.  463 

•  \ 

nach  der  Anwendung  des  Magnets  zwar  bedeutende  Linde¬ 
rung,  mufste  aber  zuletzt  doch  durch  andere  Mittel  von 
seinem  Uebel  befreit  werden. 

W.  F. 


VIII. 

Der  K  rampf,  insbesondere  der  Wundstarr¬ 
krampf,  in  nosologischer  und  therapeutischer  Hin¬ 
sicht  dargestellt  von  C.  Grötzner,  Dr.  der  Med. 
und  Chir.,  prakt.  Arzte  in  Breslau  u.  s.  w.  Bres¬ 
lau,  im  Verlage  von  A.  Gosohorsky.  1828.  8.  104  S. 
(14  Gr.) 

Ob  der  billigste  Kritiker  es  auf  sich  nehmen  dürfe, 
eine  Schrift  willkommen  zu  heifsen,  in  welcher  ein  im 
höchsten  Grade  vernachlässigter  Styl,  eine  wenig  edel  ge¬ 
haltene  Sprache,  ein  schleppender  Periodenbau,  eine  wi¬ 
drige,  den  Sinn  nur  zu  oft  entstellende  Breite,  bei  den 
Haaren  herbeigezogene  Episoden  (wie  des  Verf.  Auslassun¬ 
gen  über  den  Mutterkrebs  arn  Ende  des  ersten  Abschnitts), 
Unklarheit  und  Verstöfse,  wie  syonim  S.  17,  feces  S.  24, 
ehelig,  Mancherlei  statt  mancherlei  S.  25,  antispasmotica 
S.  26,  paroxismus  S.  28,  mehrerer  Mitteln  S.  29,  Früh 
statt  früh  S.  43,  Völle  statt  Fülle,  Therapeuticer  S.  53,  u. 
s.  w.  gefunden  werden,  darüber  mag  das  Urtheil  des  Lesers 
entscheiden. 

Abgesehen  von  dieser  Schattenseite,  ist  die  Schrift  nicht 
ohne  Werth  für  die  Praxis,  wenigstens  verdienen  die  vom 
Verf.  mitgetheilten  Beobachtungen,  so  wie  die  hier  erör¬ 
terten  Ansichten  des  M.  R.  Dr.  Hanke  über  diese  Krank¬ 
heit  beachtet  zu  werden. 

Die  Schrift  besteht  aus  zwei  Hauptabteilungen.  In  der 
ersten  handelt  der  Verf.  vom  Krampfe  überhaupt,  in  der 


464 


V III.  Der  Krampf. 


zweiten  von  der  Entstehung  des  Wundstarrkrampfes,  seinen 
Formen  und  seiner  Behandlung. 

Des  V  erf.  Bemerkungen  über  den  Krampf  im  Allge¬ 
meinen  haben  im  Ganzen  einen  mäfsigen  Werth,  obwohl 
sie  als  Spröfslinge  der  von  Clarus  ausgesprochenen  An¬ 
sicht  über  diese  Krankheitsform  gellen  können,  dessen  er 
mit  ‘gebührender  Achtung  erwähnt. 

In  der  zweiten,  dem  \\  esen  und  der  Behandlung  des 
Wundstarrkrampfes  gewidmeten  Abtheilung  der  Schrift  ta¬ 
delt  der  V erf.  zunächst,  dafs  man  dem  von  Stütz  angege¬ 
benen  Heilverfahren  in  allen  Fällen  ohne  Ausnahme  gehul¬ 
digt  habe,  was  in  sofern  nicht  ganz  richtig  ist,  als  ver¬ 
schiedene  Aerzte  des  Auslandes  (und  nicht  Dr.  Beck,  wie 
der  Verf.  S.  61.  meint),  den  Wundstarrkrampf  als  den  Re¬ 
flex  einer  Rückenmarksentzündung  betrachtend,  allgemeine 
und  örtliche  Blutentziehungen  verordnet  haben. 

In  wie  weit  die  von  Hanke  entlehnte  Einteilung  des 
W  undstarrkrampfes  in  .Trismus  traumaticus  stricte  sic  dictus 
seu  nervosus*,  I  rismus  träum,  acutus  und  Trismus  träum, 
chronicus  —  je  nachdem  der  Starrkrampf  unmittelbar  nach 
der  Verletzung,  oder  gegen  den  zwanzigsten  oder  den  vier¬ 
zigsten  Tag  eintritt  —  in  Bezug  auf  die  Behandlung, Werth 
hat,  werden  künftige  Beobachtungen  darthun;  nur  so  viel 
erlaubt  sich  Ref.  zu  bemerken,  dafs  an  die  Stelle  der  Be¬ 
nennung  1  rismus  traumaticus  nervosus,  passender  Trismus 
traun),  pcracutus  gesetzt  werden  könnte. 

Diesen  bezeichnet  Gr.  als  eine  von  den  verletzten 
Nerven  pci  consensum  auf  die  übrigen  sich  fortleiteude 
rein  dynamische  Nervenaffection ,  welche  besonders  bei  reiz¬ 
baren  Individuen  unmittelbar  nach  einer  \ erwuodung  ent¬ 
stelle.  (Verletzungen  gewisser  Rückenmarktbeile  bringen 
bekanntlich,  wie  die  Expcrimenlalphysiologie  lehrt,  beson¬ 
ders  dann  Starrkrampf  hervor,  wenn  das  verletzende  Mo¬ 
ment  eine  Erschütterung  mit  sich  führen  mufstc  —  will 
dies  der  V  erf.  auch  tune  rein  dynamische  Nervenaffection 
nennen i )  Schwächlichen  und  abgezehrten  (blutarmen'.’) 


i 


/ 


IX.  Rhinoplastik.  465 

Individuen  soll  man  nach  G.  den  Mohnsaft  anfangs  in  klei¬ 
ner,  und  nach  und  nach  in  gröfserer  Gabe,  innerlich  und 
in  Klystieren  reichen.  (Wird  zum  Steigen  mit  den  Dosen 
dem  Arzte  Zeit  bleiben  können,  da  viele  Beispiele  lehren, 
dafs  der  Tod  innerhalb  weniger  Stunden  erfolgt?)  Die 
Wunde  selbst  räth  G.  zu  erweitern,  und  mit  Ol.  amygd. 
amar.  zu  verbinden. 

Der  Trismus  träum,  acutus  soll  auf  einer  Entzündung 
in  den  Nervenscheiden  beruhen,  und  namentlich  nach  Wun¬ 
den  tendinöser  Theile,  nach  Exstirpationen  von  Balgge¬ 
schwülsten,  eines  Iloden  u.  s.  w.  entstehen,  besonders  wenn 

* 

Verhältnisse  obwalten,  die  auf  die  Eiterabsonderung  un¬ 
günstig  influiren,  daher  er  hier  allgemeine  und  örtliche 
Blutentziehungen ,  abführende  Mittelsalze,  Einreibungen  aus 
der  grauen  Quecksilbersalbe,  warme  Bäder  und  einen  sorg¬ 
fältigen  Verband  der  Wunde  anempfiehlt. 

Die  dritte  Form,  der  chronische  Wundstarrkrampf, 
vom  Verf.  auch  wohl  der  asthenische  genannt  (so  dafs 
man  fast  glauben  sollte,  sthenisch  und  acut- chronisch  und 
asthenisch  seien  in  seinen  Augen  syönym),  soll  besonders 
bei  Wunden  mit  Substanzverlust  und  sehr  copiöser  Eite¬ 
rung  entstehen,  und  nach  der  Stützschen  Methode  durch 
Opium  in  starken  Gaben  bekämpft  werden. 

Warum  der  Verf.  alle  aus  einer  fremden  Sprache  ent¬ 
lehnten  Wörter  mit  römischen  Buchstaben,  und  warum  er 
bei  denen,  die  eine  deutsche  Endigung  haben,  diese  hat 
deutsch  drucken  lassen  (wie  S.  56  suffocatorifd)),  begreift 
Rcf.  nicht,  da  dies  keinen  angenehmen  Eindruck  auf  den 
Leser  macht. 

Heyfelder. 


ix. 


Beiträge  zu 
n  o  p  1  a  s  t  i  k 


d  c  n  E  r  fahr  u  n  g  e  n  ü  her  die  R  h  i  - 
nach  der  deutschen  Methode, 


466  IX*  Rhinoplastik. 

vf>n  Dr.  T.  \Y.  G.  Benedict.  Nebst  vier  Ta¬ 
feln  in  Steindruck.  Breslau,  bei  F.  E.  Leuckart. 

1828,  VI  n.  86  S.  (12  Gr.) 

In  sofern  es  Pflicht  des  Kritikers  ist,  zwischen  Autor 
und  Leser  vermittelnd  aufzutreten,  und  wie  ein  Cicerone 
dem  letzten  zur  Hand  zu  gehen,  so  beginnt  Ref.  mit  der 
Bemerkung,  dafs  nicht  sowohl  des  seligen  Klein  abspre¬ 
chendes  Urtheil  über  die  verschiedenen  Methoden  der  Rhi¬ 
noplastik,  als  die  engen  Gränzen,  welche  um  diese  Opera¬ 
tion  durch  die  Erfinder  selbst  gezogen  wurden,  und  die 
häufig  genug  ohne  Erfolg  gemachten  Versuche,  sobald  man 
über  diese  Gränzen  sich  hinausgewagt  hatte,  der  Opera¬ 
tionslust  in  dieser  Beziehung  Zügel  angelegt  haben.  Auch 
der  Verf.  ist  nicht  innerhalb  dieser  Schranken  geblieben, 
auch  er  hat  nicht  blofs  da  operirt,  wo  der  Verlust  der  Nase 
durch  eine  mechanische  Ursache  bedingt  war,  sondern  auch 
in  Fällen ,  wo  bösartige  Hautübel  die  Nase  zerstört  hatten, 
und  hier  hat  er  den  Weg  betreten,  den  gleichzeitig  mit 
ihm  bei  abwechselndem  Erfolge  Lisfranc,  Dclpech  und 
Lai  lern  and  gewandelt.  Dank  verdient  er,  dafs  er  diese 
mit  Glück  durchgeführten  Versuche  und  die  durch  beson¬ 
dere  Umstände  geforderten  Abänderungen  in  den  Hand¬ 
griffen  dem  ärztlichen  Publikum  mitgetheilt  hat. 

Bei  der  Bereinigung  des  Armhautlappens  mit  dem  Na¬ 
senstumpfe  ist  B.  ganz  den  von  v.  Gräfe  gegebenen  Regeln 
gefolgt,  nur  räth  er,  vom  Nasensturnpfe  möglichst  viel  ab¬ 
zutragen  (um  so  eine  recht  breite  Wundfläche  des  Stum¬ 
pfes  zu  gewinnen),  den  noch  vorhandenen  Stumpf  des 
Septums  ebenfalls  blutig  zu  machen,  und  die  Nadeln  in  wei¬ 
terer  Entfernung  von  den  Rändern,  als.  v.  Gräfe  angiebt, 
durchzustechen.  Die  von  v.  Gräfe  angegebenen  Ligaturstäb¬ 
chen  benutzte  ß.  bei  der  Nasenbildung  nicht,  da  sie  ihm 
die  Aussicht  auf  die  Wunde  beschränkten,  und  den  Ver¬ 
band  mühsamer  machten.  (Grofse  Vortheile  gewährt  in 
dieser  Beziehung  die  von  Dieffenbach  veränderte  um- 


467 


IX.  Rhinoplastik. 

wundene  Nath  mit  den  Insectennadeln,  da  das  Gelingen  der 
Operation  gröfstentheils  davon  abhängt,  dafs  die  *Wund- 
ränder  des  Arinlappens  und  der  Nase  sich  genau  berüh¬ 
ren.  Ref. ) 

Was  der  Verf.  über  das  Verhalten  des  Armhautlappens 
und  die  Veränderungen  desselben  bis  zum  Schlüsse  der  Ope¬ 
ration  anführt ,  ist  naturgetreu  und  enthält  manches  Eigen- 
thümliche,  worauf  andere  noch  nicht  aufmerksam  gemacht 
haben.  Bemerken  will  nur  Ref. ,  dafs  die  Lostrennung  des 
Armlappens  besser  mit  einer  Schere,  als  mittelst  eines  Mes¬ 
sers  geschieht,  wie  B.  gejhan,  indem  dann  eher  die  Zer¬ 
rung  vermieden,  einer  Blutung  vorgebeugt  wird,  und  der 
Schnitt  nicht  so  leicht  ungleich  ausfällt.  —  Zur  Bildung 
des  Septums  und  der  Nasenlöcher  bezeichnet  der  Verf.  den¬ 
jenigen  Zeitpunkt  als  den  geeignetsten,  wo  an  den  Rän¬ 
dern  des  Lappens  einzelne  Vernarbungspunkte  sich  zeigen, 
und  wo  die  äufseren  Ränder  sich  nicht  mehr  über  die  hin¬ 
tere  Fläche  des  Lappens  hin  ausbreiten.  In  dem  einen 
hier  beschriebenen  Falle  hatte  sich  zu  dieser  Zeit  der  Schei¬ 
dewand  des  Nasenstumpfes  gegenüber  auf  der  hinteren 
Fläche  des  Lappens  eine  Falte  gebildet,  welche  sogar  mit 
dem  vorhandenen  Septum  verwachsen  war. 

Bei  dem  Verbände,  welchen  der  Verf.  nach  Anheftung 
des  Armlappens  an  den  Nasenstumpf  und  vor  seiner  Los¬ 
schneidung  vom  Arme  wählte,  suchte  derselbe  vorzugsweise 
folgende  Indicationen  zu  erfüllen:  Jeden  Druck  auf  den 

Lappen  zu  verhüten,  den  freien  Anblick  auf  ihn  sich  zu 

/ 

erhalten,  und  den  Verband  leicht  wechseln  zu  können. 
Deshalb  belegte  er  die  innere  Fläche  des  Lappens  nicht 
mit  Charpie^  sondern  beschränkte  sich  darauf,  diese  nur 
wiederholt  zu  reinigen,  während  er  die  Armwunde  mit 
einer  in  Oel  getränkten  Compresse  bedeckte,  und,  um  den 
Lappen  gleichmäfsig  gegen  die  Nase  angedrückt  zu  erhal¬ 
ten,  einige  schmale  Streifen  des  englischen  Pflasters  auf  die 
Vereinigungsstelle  des  Armlappens  mit  dem  Nasenstumpfe 
anbrachte.  Das  Herausnehmen  sämmtlicher  Hefte  nach  Ver- 


4C8 


IX.  Rhinoplastik. 

lauf  von  drei  Tagen  hält  ß.  für  gefährlich,  daher  er  am 
oberen  und  an  den  Seitenrändern  dieselben  immer  noch 
einige  Tage  länger  liegerV  liefs. 

Nach  der  Trennung  des  Lappens  belegte  er  die  innere 
Fläche  desselben  mit  geölten  Plümaceaux,  und  die  äufscrc 
mit  einer  feinen  Contpresse,  auf  welcher  er  ein  Stück  \\  atte 
mit  Hülfe  einiger  Ileftpllasterstreifen  und  einer  T  Binde  be¬ 
festigte,  um  so  das  Warmhallen  des  Lappens  möglichst  zu 
sichern. 

In  Bezug  auf  die  Behandlung  der  Armwunde  räth  der 
Verf. ,  die  zurückbleibende  Wuqpcl  mit  einem  breiten,  zir- 
kelformig  angelegten  Ilcftpflaslerstreifen  zusammenzudrücken, 
um  zu  verhindern,  dafs  sie  bei  der  Vernarbung  der  Wunde 
eine  unangenehme  und  schmerzhafte  Hervorragung  bilde, 

Der  nach  der  Bildung  des  Septums  uud  der  Nasen¬ 
löcher  vom  Verf.  gewählte  Verband  hat  zum  Zweck,  das 
Wiederverwachsen  der  letzten  und  Zusammensinken  des 
Septums  zu  verhüten. 

Die  von  B.  vorgeschlagene  Veränderung  in  der  Zusam¬ 
mensetzung  der  Ta  gl  i  a  co  z-zo  -  Gr  ä  feschen  Kappe,  welche 
zum  Zweck  hat,  die  durch  den  ausgeflosseneu  Eiter  ver¬ 
schmutzte  Kappe  theiiweise  zu  entfernen  und  durch  ein 
reines  Exemplar  zu  ersetzen,  verdient  beachtet  zu  werden. 

Dafs  die  nach  Abschneidung  des  Armlappeus  und  Zu¬ 
rücksinken  des  Armes  in  seine  natürliche  Lage  sich  einfin¬ 
denden  Schmerzen  im  Schultcrgelenk  nicht  durch  Einrei¬ 
bungen  init  der  Ammoniumsalbe  beseitigt  werden,  lafst  sich 
a  priori  begreifen,  da  ein  nothwendig  veranlagter  Blutan¬ 
drang  wohl  eher  zu  entzündungswidrigen  Mittel«,  zu  Ein¬ 
reibungen  mit  der  grauen  Quecksilbersalbe  und  zu  Bädern 
auffordern. 

Zwei  Opcrationsgcschichten  machen  den  Beschlufs  die¬ 
ser  Schrift,  die  Bef.  mit  Vergnügen  gelesen  und  mit  dein 
Bekenntnifs  aus  der  Hand  legt,  recht  vieles  Belehrende 
darin  gefunden  zu  haben.  Verschiedenemal  findet  der  Verf. 
Gelegenheit,  der  deutschen  Methode  unbedingt  den  Vorzug 


469 


X.  Eingeweidebriicko. 

vor  der  Ca  rpu  eschen  zu  gehen,  ohne  diesen,  in  den  Au¬ 
gen  des  lief,  gewagten,  Ausspruch  mit  Gründen  zu  unter¬ 
stützen.  .  -  i  . 

*  Ileyfelder . 


x. 

r  '  V  ,  * 

V»  v  • 

Die  Lehre  v  o n  dcnEingeweidebr U chen,  von 
Dr.  A.  K.  Hcsselbac  b.  Erster  Tbeil :  Entste¬ 
hung  und  Ausbildung  der  Brüche.  Würzburg, 
bei  Karl  Strecker.  1829.  XII  u.  251  S. 


Kein  Theil  der  Wundarzneikunst  hat  so  grofse  und 
glänzende  Vorlheile  aus  den  gründlichen  Forschungen  im 
Gebiete  der  Anatomie  gezogen,  als  die  Lehre  von  den  Her¬ 
nien,  und  allein  in  dieser  Beziehung  werden  die  Namen 
Hesselbach,  Oken,  Langenbeck,  Scarpa,  Beclard, 
Jules  Cloquet  u.  s.  w.  in  den  Annalen  der  Chirurgie 
mit  Achtung  genannt  werden. 

A  orliegender  erster  Band  beginnt  mit  einer  historischen 
Skizze  der  llerniologie,  und  einer  sehr  vollständigen  An¬ 
gabe  der  Litteratur,  in  welcher  wir  nur  die  Namen  Be¬ 
clard  und  Riehe  ran d  vermissen,  die  freilich  in  keiner 
Monographie  ihre  beachtenswerthen  Ansichten  ausgespro¬ 
chen  haben. 

Nach  einigen  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Brüche, 
wendet  sich  unser  Verf.  zur  Anatomie  derjenigen  Ünter- 
leibstheile,  an  welchen  Ilernieen  entstehen,  ein  Abschnitt, 
der  durch  Klarheit,  Gründlichkeit  und  Einfachheit  sich 
höchst  vorteilhaft  vor  ähnlichen  Arbeiten  auszeichnet,  so 
dafs  man  es  wohl  dem  Ganzen  ansieht,  dafs  II.  nach  viel¬ 
seitigen  Untersuchungen  mit  dem  anatomischen  Messer  erst 
die  Feder  in  die  Hand  genommen  hat.  Besonders  lehrreich 
wird  der  Verf.  da.  wo  er  von  dem  normalen  und  abnor- 

31 


XIII.  Bd.  4.  St. 


470 


X.  Eingewcidehriiclie. 

mm  Verlaufe  der  Rlutgefäfse  dieser  Partieen  handelt,  und 
Bemerkungen  ausspricht,  die  für  den  praktischen  Chirurgen 
von  grofsem  und  unläugbarem  Wcrthe  sein  dürften. 

Hiernächst  handelt  der  Verf.  von  den  Gelegenheitsur- 
sachcn  der  Hernien,  wozu  er  natürlich  alles  rechnet,  was 
ein  Pressen  und  Drängen  der  Unterleibseingeweide  veran¬ 
lagt;  dann  von  den  vorbereitenden  Ursachen,  wohin  das 
Offenbleiben  des  Nabelrings,  eine  schlaffe  Körperbeschaffen¬ 
heit,  Zusammenschnürung  der  oberen  Hälfte  des  Unterleibes, 
Schlaffheit  der  Bauchwände  und  des  Bauchfells,  bedingt 
durch  Wassersucht,  Schwangerschaft,  plötzliche  Abmage¬ 
rung  fetter  Individuen  gehört;  endlich  giebt  er  die  allge¬ 
meinen  Kennzeichen  der  Brüche  und  ihre  Eintheilung  an. 

Die  Leistenbrüche  sind  entweder  äufsere,  oder  in- 

0 

nere.  Erstere,  die  häufigsten  unter  allen  Hernien,  haben 
entweder  einen  langen,  oder  einen  kurzen  Hals,  was  in 
praktischer  Beziehung  wichtig  ist,  da  die  kurzhaLigen  we¬ 
niger  leicht  von  einem  inneren  Leistenbruche  zu  unterschei¬ 
den  sind.  Sie  entstehen  immer  allmablig,  haben  eine  schiefe 
Richtung  von  der  Mitte  der  Leistengegend  nach  innen  zum 
Schaamhöcker  hinunter.  Wenn  auch  späterhin  diese  schiefe 
Lage  immer  mehr  oder  weniger  verschwindet,  und  dadurch 
es  schwieriger  wird,  den  äufseren  vom  inneren  Leistenbruch 
zu  unterscheiden,  so  kann  man  doch  annehmen,  dafs  die 
hintere  Mündung  des  äufseren  Leistenbruchs  immer  etwas 
weiter  von  der  weifsen  Linie  entfernt  ist,  als  die  des  inneren 
Leistenbruchs.  Auch  seine  Lage  und  sein  Verhältnis  zum 
Hoden  und  Saamenstrang,  welcher  letztere  an  der  hinteren 
Wand  des  Bruchsacks  sich  befindet,  während  der  Ilode 
den  Grund  desselben  einnimmt,  sichert  vor  einer  Ver 
wcrhselung. 

In  Bezug  auf  den  Bruchsack  bemerkt  'der  Verf.,  dafs 
bei  Individuen  im  mittleren  Alter,  welche  ein  nnzweck- 
mäfsiges  und  schlecht  angelegtes  Bruchband  getragen  hallen, 
der  Hals  des  Bruchsacks  nicht  selten  beträchtlich  zusammen- 
f^eaogen  und  verdichtet  sei,  und  dann  in  einem  bedeutenden 


471 


'  X.  Eingewcidebrüdhe. 

Lmfange  jeder  Ansdehnung  in  einem  weit  höheren  Grade 
widerstehe,  als  der  Bauchring  selbst.  Bei  solchen  Subjeefen 
glich,  wie  die  Leichenöffnung  bewies,  der  Bruchsackhals 
bald  einem  dichten,  einen  Zoll  langen  Kanäle,  bald  sogar 
einem  dicken  Ringe. 

Der  rechte  äufsere  Leistenbruch  enthält  in  der  Regel 
ein  Stück  des  Dünndarms,  oder  den  Blinddarm  mit  seinem 
Anhänge,  oder  den  Processus  vermiformis  allein;  bei  weib¬ 
lichen  Individuen  fand  II.  hier  zuweilen  einen  Lierstock  und 
eine  Tuba.  Der  linke  äufsere  Lei.^tenbruch  enthält  dage¬ 
gen  häufiger  ein  Stück  vom  herabsteigenden  Colon  und 
vom  Netze. 

Die  Einklemmungsstellen  sind  der  Bruchsackhals,  der 
vordere  und  der  hintere  Leistenring.  Linklemmungen  in 
den  Leistenringen  entstehen  besonders  bei  kleinen  und  fri¬ 
schen  Brüchen,  Einklemmungen  im  Bruchsackhalse  bei  alten 
Hernien.  —  Die  untere  Arteria  epigastrica  liegt  in  der 
Regel  auf  der  inneren  Seite  des  hinteren  Leistenringes, 
mithin  auf  der  inneren  Seite  der  hinteren  Bruchmündung. 

Der  innere  Leistenbruch,  welcher  bekanntlich  am 
inneren  Winkel  der  dreieckigen  Leistenfläche  entsteht,  und 
an  der  inneren  Seite  des  Saamenstrangs  plötzlich  nach  einer 
heftigen  Gewalt,  und  nie  ohne  Schmerz  hervortritt,  hat 
anfangs  eine  kleine  ringförmige  Mündung,  die.  späterhin 
sich  erweitert  und  die  Ringform  verliert.  Anfangs  bildet 
er  eine  runde  Geschwulst,  und  gleicht  dann  der  Hälfte  einer 
Kugel,  späterhin  steigt  er  schief  nach  aufsen,  und  gleicht 
dann  dem  äufseren  kurzhalsigen  Leistenbruche.  Auf  der 
rechten  Seite  enthält  er  gewöhnlich  das  untere  Ende  des 
Dünndarms,  und  zuweilen  das  Netz,  auf  der  linken  eine 
Partie  vom  Dünndarm  und  Netz,  hin  und  wieder  einen 
Theil  der  Harnblase.  Die  untere  Bauchdeckenarterie  liegt 
hier  auswärts  von  der  inneren  Mündung  des  Bruchs. 

In  ähnlicher  Weise,  und  nach  gleichen  Grundsätzen, 
handelt  H.  von  den  Schenkelbrüchen,  wobei  er  daraut  aut- 
merksam  macht,  dafs,  wie  vielfältige  Leichenöffnungen  ihn 

31  * 


472 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwasser. 


überzeugt  haben,  in  den  meisten  Fällen  entweder  die  Art. 
obturatoria,  oder  der  aus  der  Epigastrica  hervorgehendc 
Ramus  communicans  bei  dem  vorderen  Rande  des  hinteren 
Schenkelrings  seinen  \  erlauf  nehme  und  die  vordere  und 
innere  Seile  eines  vorliegenden  inneren  Schcnkelhruchhalses, 
wie  ein  Kranz  umgehe,  welcher  verletzt  werden  mufs, 
wenn  man  die  einschnürenden  Theile  von  hinten'  nach  vorn 
durchschneide. 

Durch  Klarheit  in  der  Darstellung  und  durch  lehr¬ 
reiche  Bemerkungen,  die  nur  das  Resultat  strenger  anato¬ 
mischer  Forschungen  sein  können,  zeichnen  sich  die  übri¬ 
gen  Abschnitte  aus,  in  welchen  der  Verf.  die  Nabelbriichc, 
die  Brüche  in  dpr  weifsen  Linie,  die  Bauch-  und  Mittel- 
Reischbrüche,  und  die  des  Ilüftbeinloches  abhandelt. 

Möge  Ilr.  II.  den  zweiten  Thcil  dieses  Werkes,  wel¬ 
cher  die  Behandlung  der  Ilernien  enthalten  wird,  recht  bald 
erscheinen  lassen. 

Der  Druck  und  das  Papier  ist  in  vorliegender  Schrift 
um  vieles  besser,  als  wir  es  in  den  zu  Würzburg  erschei¬ 
nenden  Werken  zu  sehen  gewohnt  sind. 

II  eyf v  l  (Je  r. 


\v 


LJeber  den  Gebrauch  der  natürlichen  und 
künstlichen  Mineralwässer  von  Karlsbad, 
Embs,  Marienbad,  Eger,  Pyrmont  und 
S  p  a  a.  \  on  I )  r.  Friedrich  Ludwig  Krcysig, 
Königl.  Sachs.  Leibarzt,  Hof-  und  Medicinalrath, 
Kitter  des  Königl.  Sachs.  Livilordcns  für  \  eichenst 
und  Treue,  Professor  an  der  chirurgisch -niedici- 
nischen  Acadeinie  zu  Dresden  u.  s.  w.  Zweite, 


I 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer.  473 

verbesserte  Anfrage.  Leipzig,  bei  J.  A.  Brockbans. 
1828.  8.  XVIII  u.  330  S.  (  f  Tblr.  8  Gr.). 

Von  allen  Seiten  ist  dem  vorliegenden,  zuerst  1825 
erschienenen  Werke  unseres  Hrn.  Hof-  und  Med.  Raths 
Kreysig  eine  so  gebührende  Anerkennung  seiner  Gedie¬ 
genheit  und  vorzüglichen  praktischen  Brauchbarkeit  zu  Theil 
geworden ,  dafs  bereits  nach  drei  Jahren  die  zweite  Auflage 
desselben  nothwendig  wurde.  Der  Unterzeichnete  kann  mit 
voller  Ueberzeugung  nur  in  die  Lobsprüche  der  früheren 

Recensenten  einstimmen,  und  wird  sich,  da  es  der  Zweck 

/ 

dieser  Annalen  ist,  die  wahren  Fortschritte  der  Heilkunst 
auszuzeichnen,  vornehmlich  darauf  beschränken,  den  Inhalt 
dieses,  den  deutschen  Aerzten  lieben  und  werthen  Werkes 
darzulegen. 

ln  der  Vorrede  spricht  sich  der  Hr.  Verf.  über  die 
Entstehung  seiner  Schrift  aus.  Es  war  vom  Anfänge  seiner 
bedeutenden  Praxis,  und  ist  ihm  noch  die  nähere  Erfor¬ 
schung  und  eitle  zuverlässige  Heilart  der  langwierigen  Krank¬ 
heiten  das  vorzüglichste  Ziel  seines  Bestrebens,  und  er  hat 
besonders  in  Dresden,  einem  Ruhepunkte  für  die  nach  und 
von  den  böhmischen  Bädern  kommenden  Kranken,  eine 
groise  Anzahl  längere  Zeit  behandelt  und  später  die  Wirk¬ 
samkeit  der  künstlichen  Heilwässer  in  der  Anstalt  von 
Struve  genau  beobachtet.  Er  bezeugt  nochmals  (früher 
in  der  Vorrede  der  Schrift  von  StTuvc  über  die  Nachbil¬ 
dung  der  natürlichen  Heilquellen.,  Dresden  1824.),  dafs 
er  die  vom  Dr.  Struve  bereiteten  Mineralwässer  für 
äufserst  kräftige  Arzneien,  für  sehr  gelungene  Nachbildun¬ 
gen  der  Natur,  und  seine  Entdeckung  in  diesem  wichtigen 
Zweige  der  Arzneimittellehre  als  höchst  wohlthätig  für  die 
leidende  Menschheit  anerkenne.  Beiläufig  erwähnt  er  auch 
der  Veranlassung  zur  Entstehung  der  Struveschen  Ent¬ 
deckung,  die  aus  reinem  Eifer  für  die  Wissenschaft  ent¬ 
stand,  und  auf  dringendes  Verlangen'  des  Publikums  eine 
gröfsere  Ausdehnung  erhielt,  als  es  früher  der  Entdecker 


ä 

474  XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 

selbst  im  Sinne  hatte.  Dabei  rügt  der  Ilr.  Verf.  die 
Bemerkung  des  ungenannten  Hecensenten  der  erwähnten 
Struveschen  Schrift  in  Rust  s  kritischem  Repertorium 
für  die  gesammte  Heilkunde,  als  habe  ein  Dresdner  Ar/.tf 
den»  die  österreichische  Regierung  verboten  habe,  in  den 
böhmischen  Bädern  zu  prakticiren,  den  Dr.  Struvc  erst 
aufgefordert,  die  Bereitung  künstlicher  Mineralwässer  zu 
erfinden;  und  der  Ilr.  Verf.  beruft  sich  dabei  auf  den  Aus¬ 
spruch  Vogel  s  in  Rostock  (Recens.  ebendaselbst.)  über 
die  Nützlichkeit  derselben;  indem  er  auf  solche  Beschuldi¬ 
gungen  nicht  antworten  werde.  —  tra  bei  der  noch  im¬ 
mer  dauernden  Verschiedenheit  der  Ansichten  Uber  chroni¬ 
sche  Krankheiten,  die  Regeln  zur  Anwendung  der  Heil¬ 
wässer  genauer  zu  bestimmen,  wird  der  Ilr.  Verf.  in  der 
ersten  Abtheilung  die  s einigen  geben,  die  auf  die  neueren 
physiologischen  Grundsätze  Bezug  hat.  — 

Erster,  allgemeiner  T  h  e  i  I.  1.  Allgemeine  Be¬ 
stimmung  des  VV  erthes  der  Mineralwässer  als 
Heilmittel.  Obschon  sie  ihren  Ruf  wohl  meist  der  ver¬ 
änderten  Lebensart  u.  s.  w.  an  der  Quelle  verdanken,  so 
lälst.  sich  doch  nicht  leugnen,  dafs  sie  auch  versandt  grolse 
heilsame  Umänderungen  und  Heilungen  schwerer  Krankhei¬ 
ten  bewirken,  obschon  sie  manche  ihrer  Haupttheile  durch 
Absetzen  in  den  Flaschen  verlieren.  II.  Allgemeine  An¬ 
sichten  und  Grundsätze  zur  Beurtheilung  der 
heilsamen  Wirkungen  der  Mineralwässer.  Die 
höchst  leicht  zersetzbaren  Mineralwasser  sind  gewijs  alte- 
ri re nde  Heilmittel  und  zeigen  oft  ihre  vorzügliche  Wir¬ 
kung  nach  der  Sättigung  der  Säfte,  die  der  Hr.  Neri,  so 
beschreibt;  «  Das  Blut  verräth  die  deutlichsten  Zeichen  einer 
thätigen  Expansion  und  gröfseren  Spannung;  das  Gesicht 
wird  röther,  es  tritt  leicht  auf,  der  Puls  wird  gespannter, 
der  Schlaf  unruhig,  unterbrochen,  oft  die  Glieder  schwer 
und  träge,  der  Leib  aufgetrieben ,  wenn  wenig  Oeffnung 
folgt,  der  Kopf  leicht  eingenommen,  schwer,  schmerzhaft; 
die  Leibesöffnung  wird  oft  jetzt  erst  gehemmt  bei  Personen, 


f 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwasser. 


475 


die  früher,  seihst  bei  Krankheiten  der  Organe  der  Ver¬ 
dauung,  nicht  zur  Verstopfung  geneigt  waren.  Die  Kran¬ 
ken  kommen  zuweilen  auf  eine  Höhe  des  Uebelbefindens, 
welche  sie  von  dem  Fortgehrauche  des  Wassers  fast  ab¬ 
schreckt,  und  es  tritt  nach  zwei  oder  drei  Wochen,  manch¬ 
mal  später,  mit  einem  Male  eine  Krise  durch  Stuhlauslee¬ 
rungen  ein,  welche  eine  schnelle  allgemeine  Erleichterung 
gewährt,  und  dasselbe  Wasser  wirkt  von  nun  an  unter 
gemäfsigten  Ausleerungen  wohlthätig  auf  die  Krankheit  und 
das  Gelühl  des  Kranken.  ”  —  Aber  es  sind  auch  die  Mine¬ 
ralwässer  starke  heroische  Heilmittel,  die  von  Seiten  des 

,  * 

Arztes  mit  Vorsicht  bei  den  verschiedenen  Krankheiten,  und 

der  Kranken,  mit  Beachtung  der  nothwendigen  Diät  ange¬ 
wandt  werden  müssen.  Der  Hr.  Verf.  macht  hierbei  auch 
den  gelinden  und  längere  Zeit  fortgebrauchten  abführenden 
Mitteln,  die  als  auflösend  und  in  langwierigen  Krankheiten 
oft  heilend  wirken,  Lobeserhebungen,  die  mit  dem  Ref. 
gewifs  mancher  praktische  Arzt  gern  unterschreiben  wird.  — 
1JI.  Allgemeine  Grundsätze  über  die  Anwendung 
der  M  in eral wässer.  Nach  dem  Heilzwecke,  den  man 
sich  bei  der  Anwendung  derselben  vorsetzt,  kann  man 
sie  als  restaurirend  -  stärkende  (Spaaj  und  Pyrmont) 
und  verbessernde  (Karlsbad,  Marienbad  und  Embs)  auf- 

"pf 

fassen.  Das  Egerwasser  steht  in  der  Mitte  (deshalb  wird 
jetzt  wieder  eine  Zeit  kommen ,  in  der  das  Egerwasser, 
welches  seit  der  stationären  entzündlichen  Krankheitsconsti¬ 
tution  zugleich  mit  Spaa  und  Pyrmont,  wenig  gebraucht 
wurde,  wieder  mehr  hervorgesucht  werden  wird,  indem 
die  Veränderung  der  entzündlichen  Constitution  in  die  ner¬ 
vöse  anfängt  allgemeiner  zu  werden ,  Ref.)  Hieraus  ergiebt 
sich  schon  die  Anwendbarkeit  derselben.  Die  ersten  werden 
angezeigt  sein,  bei  wahrer  Schwache  des  Nervensystems; 
die  letzten  bei  Fehlern  der  Säftemasse,  welche  die  Vege¬ 
tation  leidet  und  ein  besserer  Lebenszustand  des  Blutes  und 
des  Markes  (als  der  zwei  Pole  und  gemeinschaftlichen  I  rd- 
ger  des  Lebens)  hervorgebracht  werden  soll.  Der  Ilr.  ^  erf. 


476 


XL  Gebrauch  der  Mineralwasser. 


spricht  nun  von  den  scheinbaren  Leiden  des  Nerven¬ 
systems,  die  noch  immer  zu  oft  als  wahre  in  Folge  der 
Bemerkungen  und  Behauptungen  der  Solidarpathologen  an¬ 
gesehen  werden,  und  zeigt  sich  den  Ansichten  der  älteren 
Ilumoralpathologen  geneigter,  obschon  er  behauptet,  dafs 
die  Wahrheit  in  der  Mille  liege:  denn  alle  Krankheiten 
sind  der  Hauptsache  nach  bedingt  von  Abänderungen 
in  den  Assiniilations-  und  \  e g e t a t i o n s p r o z e s s c n 
uud  deren  Produkten,  oder  in  einem  ursprüngli¬ 
chen  nnd  tiefen  Kranksein  des  Nervensystems; 
und  weil  beide  Seiten  des  Lebens  (das  Blut  selbst  als  Blut 
und  das  Mark  als  solches,  und  unabhängig  von  ihren  Hül¬ 
len  sind  die  sinnlich  dargestelllen  Pole  der  Kraft  des  Le¬ 
bens)  in  einem  gemeinschaftlichen  Prinzipe  sich  vereinen, 
so  sind  alle  Krankheiten  als  Kränkung  des  Lebens  überhaupt 
anzusehen.  (Bef.  gesteht,  seit  langer  Zeit  keinen  so  klar 
gedachten  und  durchgeführten  Satz  gelesen  zu  haben,  und 
macht  vorzüglich  auf  diesen  und  einige  der  folgenden  Ab¬ 
schnitte  des  Buches  aufmerksam.)  Der  Hr.  Verf.  kann  aber 
nicht  zweifeln,  dafs  das  Leben  des  Menschen  in  der  Regel 
weit  öfter  von  der  niederen  irdischen  Seite  her  beein¬ 
trächtigt  wird,  als  vom  Gemüthe  aus.  Her  Heilplan  des 
Arztes  ist  daher  das  Resultat  einer  Lombinationsrechnung, 
worin  der  Antheil  der  inneren  ursächlichen  Momente,  de¬ 
ren  letztes  Resultat  eine  besondere  Form  von  Erkranken 
ist,  nach  eines  jeden  wahrem  Werthe  und  Gehalte  genau 
und  richtig  abgeschätzt  worden  ist.  —  IV.  Winke  und 
allgemeine  Grundsätze  über  die  Natur  langwie¬ 
riger  Krankheiten.  Die  chronischen  Krankheiten  sind 
noch  viel  zu  wenig  ergründet.  Der  Verlauf  der  Krankheit 
ist  nur  eine  von  den  vielen  gemeinsamen  wichtigen  Eigen¬ 
schaften,  und  in  dieser  Beziehung  ist  cs  wichtig  zu  wissen, 
von  welchen  Bedingungen  es  abhänge,  dals  eine  Krankheit 
schnell  oder  langsam  verlaufe.  Es  giebt  aber  keine  langsau 
verlaufende  Krankheit,  die  nicht  einen  Typus  hätte,  denn 
die  Natur  ruht  nie,  aber  sie  wirkt  in  Pulsen,  und  sie  kann 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


477 


nur  ein  und  dasselbe  Gesetz  in  der  Entwickelung  der  Krank¬ 
heit  befolgen;  aber  leider  kennen  wir  diese  Gesetze  und 
den  Typus  nicht  genau;  deshalb  fordert  der  Hr.  Verf.  drin¬ 
gend  auf,  genaue  und  lange  Beobachtungen  ohne  "Vor- 
urtheil  für  Theorieen  und  mit  Mifstrauen  gegen  sich  selbst 
zu  machen.  Der  Arzt  soll  die  Gliederreihe  der  inneren 
Abänderungen  durchschauen,  an  denen  die  Krankheit,  gleich¬ 
sam  wie  an  einem  letzten  Ringe  der  Kette,  die  aus  vielen 
Gliedern  von  verschiedenem  inneren  Gehalt  und  VVerthe 
besteht,  hängt.  Die  obersten  Glieder  der  Kette  bilden  die 
kranken  Zustände  des  Blutes  nebst  der  Lymphe,  oder  die 
des  Nervenmarks.  Beide  Potenzen  können  nun  entweder 
ursprünglich  und  primär  durch  krank  machende  Ein¬ 
flüsse  in  ihrem  innern  Leben  gekränkt  werden,  oder  es 
kann  dieses  secundär  und  schon  zufolge  früherer  Ab¬ 
änderung  des  Lebens  in  andern  Theilen  geschehen,  beson¬ 
ders  zufolge  örtlicher  Krankheiten.  Alle  allgemeine  in¬ 
nere  Grundkrankheiten  oder  Anlagen,  welche  als  die 
letzten  wesentlichsten  Objecte  der  Heilung  ange¬ 
sehen  werden  müssen,  lassen  sich  auf  Dyscrasieen  des 
Bluts  und  der  Lymphe  (die  wir  nicht  anders  als  nach 
empirisch  richtig  erkannten  Merkmalen  auffassen  können), 
und  auf  In  firmitäten  des  Marksystems  zurückführen. 
Bei  letzteren  mufs  man  ja  genau  untersuchen:  die  Natur 
dieser  Affectionen,  den  Grad  der  Beeinträchtigung  des  Ner- 
venlebens,  und  den  eigentlichen  Sitz  des  Fehlers  im  Mark- 
systeme;  man  mufs  berechnen,  ob  das  Erkranken  des  Mar¬ 
kes  ein  primäres,  ursprüngliches,  oder  ein  durch 
kranke  Prozesse  der  Vegetation  erst  nachentstandenes 
ist.  (So  sind  sehr  häufig  Neuralgieen  im  Unterleibe  Fol¬ 
gen  von  örtlicher  Vollblütigkeit,  z.  B.  Hämorrhoiden  u. 
s.  w.  Ref.)  Der  Hr.  Verf.  nennt  letzten  Zustand:  Um¬ 
dämmerungen  des  Marklebens.  .Er  theilt  dann  einige 
(wie  zu  erwarten  war,  höchst  praktische)  Beiträge  zur 
richtigen  Diagnose  des  Erkrankens  des  Marksystems  mit. 
Das  Marksystem  verleugnet  die  Natur  eines  organischen 


478 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


Wesens  nicht,  und  dieses  verschmilzt  nur  im  Tbiere  mit 
dem  niederen  Organismus  desselben  zu  einem  Ganzen.  Des¬ 
halb  können  wir  das  Erkranken  des  Marklebens  nach  »1er 
Analogie  des  Krkrankens  der  vegetativen  Seite  des  I  hier- 
organismus  behandeln.  Man  kann  ftir  jedes  Erkranken  drei 
Stadien  annehmen.  Das  erste  umfalst  das  primäre  ur¬ 
sprüngliche  Erkranken,  wo  das  gesunde  Leben  zunächst  von 
aulsen  her,  direct  oder  indirect,  schnell  oder  langsam  in 
einen  Grad  von  Störung  versetzt  worden  ist,  welcher  durch 
Natur  oder  Kunst  ausgeglichen  werden  kann.  Das  secun- 
däre  Stadium  ist  das  eigentliche  dritte;  es  besteht  in  blei¬ 
benden  Produkten*  des  in  kranker  Bildung  begriffenen  Le¬ 
bens.  Das  intermediäre,  zweite  Stadium,  Lebergangs¬ 
stufen  von  dem  ersten  zum  dritten,  liegt  in  der  Milte  bei¬ 
der  Extreme,  und  ist  noch  einer  Rückbildung  fähig.  Die 
erste  Stufe  des  Krkrankens  des  Markwesens  findet  sich  bei 
sogenannten  con sensuellen  Leiden  (Uindämmerung  des 
Marklebens)  und  bei  idiopathishem  primären  Erkranken 
desselben,  dessen  wesentlichster  Grund  in  einer  primären 
Abänderung  des  Marklebens  liegt,  wo  es  jedoch  noch  nicht 
zu  einem  Producte  gekommen  ist.  Die  dritte  Stufe  besteht 
in  Verbildung  der  Marksubstanz,  Verdickung,  Erweichung, 
Einsinkung,  Schwinden,  Eiterung;  das  mittlere  charakteri- 
sirt  sich  durch  habituell  gewordene  kranke  Stim¬ 
mung,  die  so  schwer  zu  tilgen,  weil  das  Markleben  hier 
tief  ergriffen  ist,  obschon  die  Anatomie  kein  Licht  darüber 
giebt.  Deshalb  können  w.ir  nur  durch  die  pathologische 
Anatomie  bei  Grundübeln  des  Marks,  die  in  die  secundäre 
Reibe  geboren,  belehrt  werden.  —  Uoi  über  die  Gegen¬ 
wart  einer  Zerrüttung  des  Markleben»,  als  Grundlage  einer 
Krankheit  gründlich  uilheilen  zu  können,  uiufs  1)  die  Ab¬ 
wesenheit  der  Ilonptgrundlage  desselben  iu  der  vegetativen 
Sphäre  constatirt  sein.  2)  Sehr  wichtig  ist  dann  die  ge¬ 
naue  Kenotuifs  »1er  Konstitution ,  die  oft  vermöge  der  ihr 
eigenen  natürlichen  Zartheit»  des  Marksystems  den  Grund 
enthält,  dals  aus  den  leichtesteu  Graden  \on  Kränkung  des 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer.  479 


niedern  Lebens  sogleich  sehr  heftige  und  scheinbar  schwere 

Nervenkrankheiten  hervorgehn,  welche  das  Bild  jeder  an- 

•  /  • 

deren  Krankheit  gar  sehr  trüben  und  umdüstern,  und  daher 
leicht  zu  Fehlschlüssen  verleiten.  3)  Die  genaue  Untersu¬ 
chung  der  Entstehungs-  und  Bildungsweise  der  Krankheit 
aus  äufseren  und  inneren  Momenten,  wozu  aber  eben  so 
sehr  Fertigkeit  im  Untersuchen,  als  auf  reelle  Kenntnisse 
gegründetes  reifes  Urteilsvermögen  gehört;  so  wie  die  ge¬ 
naue  Beobachtung  des  Entwickelungsganges  der  Krankheit; 
4)  In  zweifelhaften  Fällen  selbst  die  verständige  Prüfung 
der  Krankheit -durch  gereichte  Arzneien.  —  Hieraus  er¬ 
hellet,  dals  das  Nervensystem  wohl  den  Wesentlichsten  Grund 
von  chronischen  Krankheiten  enthalten  kann,  aber  dieser 
weit  häufiger  in  kranker  Abscheidung  oder  kranker  Vege¬ 
tation  liegt.  —  Der  Hauptpunkt  bei  Behandlung  der  chro¬ 
nischen  Krankheiten  (die  auf  denselben  Grundsätzen  wie 
bei  Fiebern  beruht)  ist,  dafs  der  Arzt?*  den  Grundfehler 
auffasse  mit  Rücksicht  1)  auf  das  Stadium  der  Krank¬ 
heit  und  ihre  Epochen,  2)  auf  die  Natur  und  Function 
der  vorzüglich  leidenden  Organe,  3)  auf  den  Zustand  des 
Marksystems,  im  Ganzen  oder  in  einzelnen  Provinzen  des¬ 
selben,  Für  die  beiden  ersten  Fälle  ist  die  Kunst  hinläng¬ 
lich  im  Besitze  sicherer  Methoden  und  Mittel;  weit  schwie¬ 
riger  ist  aber  die  Beurtheilung  und  Behandlung  örtlicher 
Krankheitsformen.  Ueberhaupt  mufs  das  Handeln  des  Arztes 
bei  chronischen  Krankheiten  abwechselnd,  bald  mehr  bald 
weniger  thätig  und  kräftig,  bald  beschränkend,  bald  nega¬ 
tiv  sein.  Bei  Krankheiten,  die  mit  hartnäckigen  Versto¬ 
pfungen  des  Stuhlgangs  verbunden  sind,  ist  es  gewifs  höchst 
wichtig,  diese  Function  so  lange  durch  Kunst  zu  unerhal- 
ten,  als  die  inneren  Bedingungen,  wovon  sie  abhängt,  nicht 
hergestellt  sind.  (Es  folgen  hierüber  herrliche  Bemerkun¬ 
gen,  die  jetzt  so  selten  berücksichtigt  werden,  da  man  fast 
bei  jedem  örtlichen  Nervenleiden,  Entzündung  u.  s.  w. 
sieht.  Ref. )  Auch  der  Zustand  des  Kopfes  und  der  Brust¬ 
organe  erfordert  Aufmerksamkeit,  und  bei  dahin  zu  stark 


480 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


gerichteter  Naturthätigkcit,  Ableitung.  Endlich  mufs  der 
Zustand  des  Marksystems  bei  chronischen  Ucbcln  vorzüg¬ 
lich  beachtet  werden.  Ganz  richtig  bemerkt  der  Hr.  \erf., 
dafs  seit  30  Jahren  die  Kunst  chronische  Krankheiten  zu 
heilen,  eher  Klick-  als  Fortschritte  gemacht  hat,  welches 
aber  auch  wohl  in  der  Vermehrung  und  den  gröfscrcn  'S  er- 
wickelungen  der  jetzigen  Nervenkrankheiten  liegen  mag.  — 
V.  Allgemeine  Grundsätze  und  Kegeln  über  die 
Anwendung  der  Mineralwässer  zur  Heilung  chro¬ 
nischer  Krankheiten.  Die  auf  lösenden  und  Ausleerun¬ 
gen  durch  Stuhl  und  Urin  fordernden  Wässer,  Karlsbad, 
Maricnb ad  und  zflm  Theil  Embs,  sind  da  angezeigt,  wo 
die  Functionen  des  Umlaufs  der  Säfte,  der  Ausscheidung, 
der  Verdauung  träger  von  statten  gehen,  zufolge  innerer 
Unvollkommenheit  der  bildenden  Säfte  und  daher  rührender 
Stockung  und  Ausschwitzung  derselben  in  das  Parenchym 
der  Eingeweide,  der  Drüsen  oder  des  Gekröses,  Anschwel¬ 
lung  der  Venen  des  Unterleibes,  so  dafs  die  daraus  resulti- 
rende  kranke  Ernährung  sich  durch  unreine  Hautfarbe  und 
Gedunsenheit  kund  giebt ,  die  Verdauung  leidet,  und  Ner- 
venzufalie  aller  Art,  besonders  gedrücktes  Gefühl  u.  s.  w. 
daher  entsteht.  Je  mehr  die  Functionen  der  Verdauung 
bedrängt  sind,  besonders  die  Darmauslcerung,  desto  mehr 
sind  die  ausleerenden,  Karlsbad  oder  Marienbad  angezeigt; 
je  zarter  die  Constitution,  desto  inehr  Embs.  Sind  ein¬ 
zelne  Organe  der  Leber,  Milz,  die  Drüsen  des  Gekröses 
angeschwollen  und  vergröfsert,  so  sind  jene  Wässer  eben¬ 
falls  angezeigt,  nur  verlangen  diese  Uebel  theils  eine  Vor- 
bereitung  durch  zweckmäfsige  Mittel  vor  der  Cur,  theils 
eine  genaue  Aufsicht  auf  den  Grad  der  Evolution,  der  bei 
ihnen  statt  findet.  Nähert  sich  ihr  Zustand  dem  der  chro¬ 
nischen  Entzündung,  so  mufs  dieser  vorher  beschwichtigt 
sein;  tritt  er  beim  Gebrauche  der  Wässer  ein,  so  müssen 
diese  beschränkt  oder  selbst  auf  einige  Zeit  ausgesetzt  und 
mit  abspannenden  Mitteln  vertau§cht  werden.  Sind  Pro¬ 
dukte  kranker  Absf heidung,  Lcsomlers  Steine  der  Nieren- 


XL  Gebrauch  der  Mineralwässer.  481 

und  Gallenblase  zu  beseitigen,  so  finden  sie  auch  hier  statt, 
und  Karlsbad  hat  sich  hierin  als  das  oft  heilsamste  Mittel 
ausgezeichnet.  Sind  schon  Verbildungen  in  den  Orga¬ 
nen  entstanden,  es  seien  Scirrhen  oder  Knoten  in  den  Lun¬ 
gen  oder  den  lymphatischen  Drüsen,  oder  Metamorphosen 
in  den  Lierstöcken,  der  Mutter,  dem  Magen,  den  Därmen 
oder  dem  Herzen  und  deri  grofsen  Arterien,  so  ist  der 
Gebrauch  dieser  Wässer  höchst  zweideutig  und  wird  leicht 
gefährlich;  und  das  sanfte  Embs  findet  noch  Anwendung, 
und  verdient  in  zweifelhaften  Fällen  noch  versucht  zu 
werden.  Die  stärkenden  Stahl wässer  sind  da  ange¬ 
zeigt,  wo  das  lebendige  Vermögen  der  Säfte  und  des  Ner- 
venmarks  mehr  wahrhaft  vermindert,  als  durch  Fremdartig¬ 
keit  umdämmert  angesehen  werden  mufs;  wo  wenigstens 
das  erste  den  vorwaltenden  Grund  der  Krankheit  enthält, 
und  das  zweite  nur  Folge  ist,  aber  doch  weit  weniger  vor¬ 
sticht,  als  das  erste.  Finden  beide  Umstände  verbunden 
und  fast  in  gleichem  Grade  statt,  so  passen  sie  schon  nicht, 
oder  höchst  unvollkommen.  Sind  Producte  einer  kranken 
Assimilation,  oder  Abscheidung,  oder  Vegetation  zu  über¬ 
winden,  so  schaden  sie  vielmehr,  oder  man  kann  sie  nur  in 
kleinen  Gaben  und  nur  für  den  ersten  Zweck,  um  die 
Kräfte  einigermaafsen  zunächst  zu  heben,  behutsam  versu¬ 
chen.  (Hier  das  Egerwasser  in  kleinen  Gaben  allein,  oder 
mit  Milch  versetzt.)  Diese  Wässer  sind  aber  vorzüglich 
da  an  ihrer  Stelle,  wo  das  Blut  in  seinen  edlen  Bestand- 
theilen  (durch  Blutflüsse  oder  Verschwendung  edler  Säfte, 
durch  Bauchflüsse  oder  lange  Krankheiten)  sehr  verarmt  ist, 
oder  wo  die  Lebensthätigkeit  des  Marks  zufolge  jener  Krank¬ 
heiten  oder  durch  Kummer  reell  geschwächt  ist,  ohne  dafs 
dabei  die  soliden  Organe  in  ihrer  Textur  gelitten  haben. 
Daher  öfters  als  Nachcur  nach  den  lösenden  Wässern,  je¬ 
doch  mit  grofser  Vorsicht.  —  VI.  Praktische  Anlei¬ 
tung  üb  er  die  Art  und  W  eise,  wie  die  Mineral¬ 
wässer  zum  Behuf  einer  Our  angewandt  werden 
müssen.  Am  besten  ist  im  Frühjahre  eine  Vorcur;  bei 

\  . 


j 


482 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


eingewurzelten  Verstopfungen  der  l 'nterleihsorgane 
die  frisch  atisgeprefsten  Säfte  von  T^raxacum,  Chelidonium 
oder  auch  Mellag.  gramin.,  oder  Taraxac.  1  bis  1*  Pfund 
Molken  täglich.  Bei  vollblütigen  Personen,  besonders  wenn 
sie  nach  dem  Karlsbade  gehen  sollen,  ist  oft  ein  Aderlais 
nöthig.  —  Zur  Sommercur  gehört  wenigstens  ein  Zeit¬ 
raum  von  vier  Wochen.  (Schon  Marcard  in  seinem  klas¬ 
sischen  Werke  über  Pyrmont  Tb,  2.  S.  274  klagte,  dafs  die 
meisten  Kranken  glaubten,  in  11,  höchstens  21  lagen  die 
Cur  vollenden  zu  müssen,  obschon  oft  8  AVochen  dazu  ge¬ 
hörten.  Auch  in  uusern  l  agen  glauben  sehr  viele  Kranke 
mit  einem  dreiwöchentlichen  Aufenthalte  in  einem  Bade  oder 
an  einer  Quelle,  oder  mit  Trinken  eines  Brunnens  zu  Hause, 
jahrelange  Leiden  oder  die  in  den  übrigen  49  Wochen  auf- 
gesammelten  Sünden  zu  tilgen.  Bef.)  Der  1  Ir.  Verf.  meint, 
dafs  bei  stärkenden  Brunnen  dieser  Zeitraum  von  vier  Wo¬ 
chen  hinreichend  sgi,  aber  im  Karlsbade  u.  s.  w.  müsse  er 
oft  auf  sechs  bis  acht  Wochen,  vielleicht  mit  einer  Unter¬ 
brechung  (die  am  besten  durch  eine  kleine,  nicht  mit  Müh¬ 
seligkeiten  verbundene  Heise  ausgefüllt  werden  kann.  Bef ) 
von  höchstens  8  —  14  Tagen,  gesetzt  werden.  —  Man 
trinkt  in  den  Frühstnndrn  des  Morgens,  nachdem  man  am 
Abend  vorher  wenig  oder  gar  nichts  gegessen  hat,  hei  be¬ 
ständiger  und  sanfter  Bewegung  im  Freien,  bald  mehr  bald 
weniger  nach  Vorschrift  des  Arztes,  und  läfst  zwischen 
zwei  Bechern  W  asser  15  Minuten  verstreichen.  Gewöhn¬ 
lich  werden  von  den  stärkenden  Wässern  4,6  —  8  Becher 
(er  enthält  an  diesen  Quellen  gewöhnlich  5  bis  6  Unzen, 
Bef),  von  den  schwächenden,  z.  B.  Marienbad,  6  —  S, 
und  Karlsbad  8,  10  bis  15  Becher  (die  meisten  6,  8  bis 
10  Unzen  enthaltend,  Bef.)  getrunken.  Tritt  Verstopfung 
dabei  ein,  so  giebt  inan  Abends  vorher  ein  leichtes  eröff¬ 
nendes  Mittel,  oder  Morgens  ein  halbes  Loth  Karlsbader 
Salz.  Line  halbe  Stunde  narb  dem  vollendeten  Trinken 
kann  der  Kr  nke  etwas  Kaffee  oder  Thce  mit  Milch,  oder 
eine  lasse  Uhocoladc  oder  Bouillon  mit  etwas  W  eifsbrodt 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


483 


geniefsen.  (Oft  ist  es  nöthig,  besonders  bei  den  kalt  zu 
trinkenden  Wässern,  des  Morgens  vor  dem  Anfänge  des 
Trinkens  eine  Tasse  Kaffee  u.  s.  w.  zu  erlauben,  weil  sehr 
viele  Kranke  nur  zu  sehr  daran  gewöhnt  sind,  und  ohne 
eine  Tasse  Kaffee  gleich  nach  dem  Aufstehen  aus  dem 
Bette  den  ganzen  Tag  über  Kopf-  oder  Magenschmerz 
klagen.  Werden  von  schwachen  hysterischen,  öfters  am 
Magenkrampf  leidenden  Frauen  die  kalten  Eisenwässer  auch 
so  nicht  vertragen  (so  hat  Himly  in  Göttingen  besonders 
bei  dem  Pyrmonter  Wasser  die  Erfahrung  gemacht,  dafs  es 
von  solchen  Personen  fast  immer  nicht  vertragen  wird),  so 
läfst  man  von  einem  guten  bitteren  (Baierschen)  Biere  den 
vierten  bis  halben  Theil '  zugiefsen,  und  macht  da/.u  etwas 
Zucker.  (Es  wird  hierdurch  mehr  kohlensaures  Gas  entbun¬ 
den,  und  deshalb  dem  Magen  verträglicher  gemacht,  lief.) 
Anstrengungen  des  Geistes  und  Körpers  müssen  vermieden, 
leichte  Bewegungen  gemacht  werden.  Die  Bekleidung  si¬ 
chere  vor  Erkältung.  Eine  sehr  mäfsige,  gesunde  und  nahr¬ 
hafte,  aber  leicht  verdauliche  Kost  ist  die  zweckmäfsigste  in 
langwierigen  Krankheiten  und  bei  dem  Gebrauche  der  Mi¬ 
neralwässer.  —  VII.  Geber  den  Gebrauch  von  Arz¬ 
neimitteln  und  Bädern  bei  d  e  r  Anwendung  der 
Mineralwässer.  Die  Arzneimittel  müssen  nur  selten  an¬ 
gewandt  werden.  Greift  "das  Wasser  den  Magen  an,  und 
verliert  sich  der  Appetit,  so  kann  man  eine  Stunde  vor 
dem  Mittagsessen  ein  erwärmendes  Magenelixir  nehmen  las¬ 
sen;  fehlt  Leibesöffnung,  gelinde  Abführungsmittel.  Bä¬ 
der  müssen  oft  in  Pyrmont,  Eger  u.  s.  w.  angewandt  wer¬ 
den,  wenn  der  Magen  den  Brunnen  nicht  vertragen  lernt. 
Kalte  Bäder,  von  10  Grad  Reaum.  und  mehr,  rufen 
durch  Entziehung  der  Wärme  eine  allgemeine  gröfsere  Ile- 
action  hervor,  deren  Resultat  Harmonie  der  noth wendig 
immer  verbundenen  iServen-  und  Blutthätigkeit  ist.  Lau¬ 
warme  Bäder,  von  24  —  28  Gr.  R. ,  sind  in  den  mei¬ 
sten  Fällen  langwieriger  Krankheiten  höchst  wohithdtig. 
Heifsc  Bäder  können  sehr  oft  schaden,  und  sind  wegen 


484 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


der  starken  Aufregung  des  Lebens  zur  Mobilmachung  von 
krankhaften  Prinzipien,  z.  1*.  zurückgetretener  Gicht,  Aus¬ 
schlägen  u.  s.  w.  heilsam.  —  Man  mufs  aber  den  Gebrauch 
der  Lader  bei  dem  inneren  Gebrauche  der  Quellen  aufge¬ 
ben:  1)  sobald  sie  zu  sehr  ermatten  und  angreifen;  2)  wenn 
sie  Congestionen  nach  edlen  Thcilcn  erregen;  3)  wenn  sie 
örtliche  innere  Leiden  aufregen,  die  Gefahr  drohen  könn¬ 
ten,  B.  Brustschmerzen  u.  s.  w.  Man  mufs  sie  auch 
nicht  gleich  zu  Anfänge  der  Cur  nehmen  lassen,  sondern  sie 
später  vorsichtig  versuchen  lassen,  und  dann  wo  möglich 
drei  bis  vier  Stunden  nach  dem  Trinken  der  Wässer. 

Zweiter,  besonderer  Th  eil.  Heber  den  Ge¬ 
brauch  der  natürlichen  oder  künstlichen  Mine¬ 
ralwässer  von  K a r  1  s b a d ,  E in b s ,  Marienbad,  E g e r , 
Pyrmont  und  Spaa  insbesondere.  Man  kann  sie, 
nachdem  sie  warm  oder  kalt  sind,  ob  sie  der  Hauptsache 
nach  mehr  verbessernd  oder  rein  stärkend  sind,  be¬ 
trachten.  Karlsbad  und  Embs  sind  als  warme  Quellen  viel 
ein  dringend  er,  machen  viel  tiefer  gehende  Wir¬ 
kungen,  als  die  kalten.  Als  Repräsentant  der  kalten  steht 
Pyrmont,  welches  die  meiste  Luftsäure  und  den  grüfsten 
Gehalt  an  Eisen  hat,  obenan.  I.  Ueber  die  Anwen¬ 
dung  der  Karlsbader  Wässer.  Die  Geschichte  der 
Entstehung,  Beschreibung  der  verschiedenen  Brunnen,  ihrer 
Bestandteile,  besonders  nach  Berdel ius  (in  vielen  deut¬ 
schen  Journalen)  u.  s.  w. ,  setzt  Ref.  als  bekannt  voraus 
und  bemerkt  nur  noch,  dafs  der  berühmte  Berzclius  im 
Mai  d.  J.  noch  kohlensaüres  Lilhion  in  dem  ihm  nach  Scbwe- 
den  geschickten  Karlsbader  Wasser  fand.  (S.  Schweig- 
ger’s  Journal  für  Chemie  und  Physik.  N.  Reihe  XIV.  1. 
S.  127.)  Die  allgemeinen  von  dem  so  scharf  beobachten¬ 
den  Hrn.  Verf.  angegebenen  Wirkungen  der  Karlsbader 
Wässer  sind  ein  gelindes,  meist  mehr  dünnes  Laxircn,  ohne 
die  geringste  Kolik,  ein  vermehrter  Schweifs  und  Urinab¬ 
gang.  Das  Blut  wird  gleichzeitig  in  starke  Bewegung  ge¬ 
setzt,  weshalb  öfters  ein  Aderlafs  gemacht  werden  mufs, 

damit 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


48') 


damit  nicht  stürmische  Ergiefsung  des  Blutes  durch  den 
Mastdarm,  die  Lungen,  oder  gar  Schlagflufs  entsteht.  Häufig 
entsteht  in  der  Mitte  der  Cur  Aufgetriebensein  des  Unter¬ 
leibes,  Appetitlosigkeit,  "Verminderung  der  Darmfunction, 
Mattigkeit  u.  s.  w. ,  wodurch  viele  Kranke  geängstigt  wer¬ 
den.  Es  ist  dies  die  Periode  der  Lösung,  des  lieilpro- 
zesses  der  Natur.  I  n t er curri r e n d e  Krankheiten  sind 
gewöhnlich  entzündlich,  oder  es  treten  örtliche  Entzün¬ 
dungen,  z.  B.  der  Leber,  der  Lungen  u.  s.  w.  hinzu.  Nach 
vollendeter  Cur  hört  die  Mattigkeit  auf,  der  Kranke  fühlt 
sich  leicht  und  gesund,  welches  er  auch  bleibt,  wenn  er 
sich  noch  einige  Wochen  vor  grofsen  Anstrengungen  des 
Geistes  und  der  Verdauungsorgane  hütet.  Ist  die  Krankheit 
nicht  gehoben,  so  werden  die  Beschwerden  wohl  noch  stär¬ 
ker,  zuweilen  verschwindet  sie  dann  nach  einer  Krise,  die 
mit  Brechen  und  Durchfällen,  oder  auch  wohl  mit  einem 
Fieber  eintritt.  —  Die  Formen  von  Krankheiten,  gegen 
die  das  Karlsbad  ausgezeichnete  Wirkung  zeigt,  sind:  alle 
Stockungen  des  Unterleibes,  besonders  der  Leber,  Milz, 
Gebärmutter,  Drüsen,  des  Pfortadersystems  u.  s.  w. .  sto¬ 
ckende  Hämorrhoiden,  Gallen-  und  Nierensteine,  Gicht. 
Auch  bei  Nervenkrankheiten,  z.  B.  Hypochondrie,  Melan¬ 
cholie,  schwarzem  Staar  hat  es  sich  einen  vorzüglichen 
Kredit  erworben.  Schädlich  ist  es  bei  Anlage  zur  Was¬ 
ser-  und  Lungensucht,  die  dadurch  hervorgerufen  werden; 
wahre  Verhärtungen  der  Eingeweide  und  Drüsen  gehen  in 
bösartige  Eiterung  über;  die  Dyscrasie  der  Säfte,  besonders 
der  Scorbut  wird  verschlimmert;  bei  inneren  Eiterungen, 
Fiebern,  bei  wahrer  allgemeiner  Schwäche  und  grofser 
Zartheit  des  Nervensystems,  Schwäche  der  Verdauungsor¬ 
gane,  Neigung  zum  Durchfall  u.  s.  w.  schadet  es;  endlich 
verträgt  es  sich  nicht  mit  der  Syphilis,  deren  Zufälle  es 
entlarvt  oder  verschlimmert. 

Die  Wirkungsweise  der  Karlsbader  W'ässer  ist  1)  we¬ 
der  an  sich  schwächend,  noch  einfach  laxirend, 
sondern  2)  alter irend,  in  den  Prozefs  der  Assimilation 

32 


XIII.  Bd,  4.  St. 


486 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwasser. 


eingehend,  ihn,  und  folglich  die  Mischung  der  lebendigen 
Säfte  abändernd,  thätige  Prozesse  in  ihnen  bedingend,  bei 
welchen  die  Tendenz  nicht  zu  verkennen  ist,  in  eine  Ab¬ 
schäumung  der  Säfte,  in  Lostrennung  und  Ausstofsung  von 
ihierischcn  Stoffen  auf  verschiedenen  Wegen  sich  zu  en¬ 
den.  —  Eigentlich  schwächend  wirken  diese  W  ässcr  nur 
bei  unzweckmäßigem  Gebrauche,  Diätfehlern,  bei  tiefer 
Ausartung  der  Unterleibseingeweide,  Scirrhen  u.  s.  w.  Auf 
die  physische  Beschaffenheit  der  Faser  und  auf  die  Säfte 
wirken  sie  expandirend,  auflockernd,  folglich  in  einem  ge¬ 
wissen  Grade  erschlaffend  und  scheinbar  schwächend.  Die 
linuptanwendung  findet  statt  bei  den  Dyscrasiecn  der 
lebendigen  Säfte,  besonders  denen,  die  sich  primär 
durch  unzweckmäfsige  Einflüsse  der  Luft  und  Nahrungsmit¬ 
tel,  zumal  bei  sitzender  Lebensart  erzeugt  haben;  dahin 
gehört  die  atrabilarische  und  phlegmatische  Constitution. 
Die  Dyscrasie  der  lebendigen  Säfte  äufsert  sich  sehr  oft 
vorzugsweise  an  der  thierischen  Lymphe,  man  nennt  sic 
die  scrofulöse  Anlage,  die  oft  angeboren,  oder  spät 
durch  dumpfe,  feuchte,  nicht  erneuerte  Luft,  und  zu  viele 
und  zu  grobe  (mehlige  und  fette)  Nahrungsmittel  erzeugt 
wird;  doch  hüte  man  sich  ja,  wenn  die  Drüsen  in  Scirrhen 
oder  chronische  Entzündung  und  Eiterung  übergehen  wol¬ 
len,  die  Karlsbader  Wässer  anzuwenden,  indem  man  nur 
dadurch,  wie  schon  erwähnt,  diesen  Zustand  beschleunigt 
und  Gelegenheit  zur  knotigen  Lungensucht,  Darrsucht  u. 
s.  w.  giebt.  Bei  Kindern  darf  man  sie  gar  nicht,  oder  nur 
höchst  vorsichtig  gebrauchen.  —  Dyscrasiecn  von  spe- 
cifischen  Vergiftungen  (z.  B.  durch  Quecksilber,  Ar¬ 
senik,  Kupfer,  nicht  vollkommen  entschiedene  contagiöse 
Krankheiten)  können  gar  nicht,  wie  die  von  Quecksilber, 
oder  nur  unter  höchst  beschränkten  Bedingungen  die  An¬ 
wendung  der  ässer  vertragen,  sie  bekommen  zuweilen, 
wenn  der  allgemeine  Lebenszustand  nicht  zu  sehr  gesunken 
ist,  bei  Kupfervergiftungen  recht  gut.  —  Kann  das  Le¬ 
ben  des  Marks  von  kranken  Zuständen  im  niedern  Leben 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwasser.  487 

als  um  dämmert  angesehen  werden,  so  findet  ihre  An¬ 
wendung  statt,  Lei  primären  Krankheiten  des  Marks 
durchaus  nicht.  Bei  ersteren  liegt  sehr  häufig  ein  schwe¬ 
res,  partielles  Erkranktsein  des  Verdauungsapparats  zum 
Grunde.  —  Bei  kranken  Zuständen  der  festen  or¬ 
ganischen  Theile,  Lei  denen  das  Gewebe  der  Organe 
an  Umfang,  Dichtheit,  Form  u.  s.  w.  gegen  die  Regel  ab¬ 
geändert  ist,  und  wir  gewohnt  sind,  diese  Zustände  als 
Wirkungen  einer  Erschlaffung  der  Fasern  und  Lebens¬ 
schwäche  derselben  anzusehen,  Lei  denen  das  Blut  in  den 
Gefäfsen  sich  anhäuft,  letztere  ausdehnt,  und  selbst  in  das 
zellige  Gew'ebe  der  Organe  ausschwitzt  (den  Verstopfungen 
der  Eingeweide,  Stockungen  des  Blutes  in  den  Venen,  be¬ 
sonders  des  Unterleibes  u.  s.  w.),  welche  Zustände  man 
auch  Hemmungen  des  Lebens  nennen  kann,  ist  der 
Gebrauch  des  Karlsbades  ganz  ausgezeichnet,  nur  mufs  noch 
keine  wirkliche  Verbildung  (siehe  oben)  da  sein.  Der  Hr. 
Verf.  kann  nicht  oft  genug  gegen  den  Gebrauch  des  Karls¬ 
bades  sprechen,  wenn  grofse  Metamorphosen,  besonders 
Scirrhen  u.  s.  w.  sich  schon  ausgebildet  haben,  aber  auch 
nicht  genug  die  ausgezeichnete  Wirkung  loben,  wenn  diese 
Zustände  in  Verstopfung  oder  Hemmung,  in  dem  fehler¬ 
haften  Umtausche  ihrer  Säfte  bestehen.  Die  specielleren 
Angaben  hierüber  müssen  in  dem  Werke  selbst  nachgele¬ 
sen  werden.  —  Die  Migräne,  besonders  wenn  sie  mit 
tehlern  der  V  erdauungswerkzeuge,  mit  Anlage  zur  Gicht 
u.  s.  w.  in  Verbindung  steht,  wird  oft  durch  Karlsbad  ge¬ 
heilt.  Vorsichtig  mufs  man  mit  dem  Gebrauche  desselben 
sein,  wenn  etwa  Verknöcherungen  in  den  venösen  Be¬ 
hältern  u.  s.  w.  der  Grund  zu  den  halbseitigen  Kopfschmer¬ 
zen  sind.  (Auffallend  war  es  dem  Ref. ,  nichts  über  die  in 
Rust’s  Magazin  u.  s.  w.  Bd.  I.  St.  1.  erwähnte  Beobach¬ 
tung  des  Hrn.  Dr.  Bieske  zu  lesen.  Dieser  bemerkte  näm¬ 
lich,  dafs  sich  während  des  Gebrauches  des  Karlsbades  kein 
Callus  bildete,  und  dieser  sich  sogar  auflöste,  obschon  er 
nach  einem  Bruche  des  Oberarms  sich  schon  völlig  ausge- 

32  * 


488 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


bildet  und  vollkommen  formirt  batte.  Sollte  nicht  diese 
Beobachtung  einen  Wink  geben,  um  das  Karlsbad  bei  Ver¬ 
knöcherungen  der  Häute,  z.  B.  der  Dura  mater,  der  Blut¬ 
gefäße,  z.  B.  der  venösen  Behälter  im  Kopfe,  der  mannig¬ 
faltigen  \  erknücherungen  am  Herzen  u.  s.  \v. ,  freilich  mit 
der  höchsten  Vorsicht,  vielleicht  bei  gleichzeitigem  Gebrauche 
öfterer  Blutentziehungen  anzuwenden?  Gewifs  würde  der 
Hr.  \  erf.  allen  praktischen  Aerzten  einen  grofsen  Dienst 
erzeigen,  wenn  er  hierüber  seine  Meinung  gäbe,  und  über¬ 
haupt  bemerkte,  ob  ihm  nicht  bei  seinen  vielen  über  das 
Karlsbad  gemachten  Erfahrungen  ähnliche  Fälle  über  das 
Zurückschreiten  der  Knochenbjldung  vorgekommen  wären.) 

Ueber  die  Wahl  der  verschiedenen  Quellen 
des  Karlsbades.  Die  Quellen  unterscheiden  sich  Vorzug- 
lieh  durch  ihren  Wärmegrad,  aber  nicht  durch  den  gröfse- 
ren  oder  geringeren  Salzgehalt  (welches  auch  durch  die 
Analysen  des  berühmten  Berzelius  bestätigt  wird.  Ref. ). 
Je  kühler  sie  werden,  desto  mehr  entschwindet  ihnen  das 
Eisen,  wovon  der  Theres ienbrunnen  nur  wenig  hat. 
Der  Mühlbrunnen  schmeckt  salziger,  und  purgirt  auch 
mehr  als  die  andern,  welches  aber  auch  nur  von  seinem 
v geringeren  Wärmegrade  abzuhängen  scheint.  Der  Spru¬ 
del  schmeckt  am  wenigsten  salzig,  purgirt  gewöhnlich  we¬ 
niger,  wirkt  aber  erhitzender.  Der  Ncubrunnen  ist  als 
der  mittlere  anzusehen,  er  ist  mäfsig  warm  und  purgirt 
gelinde.  Den  Müblbrunnen  läfst  mau  gern  die  ersten 
Tage  zu  ^wei  bis  vier  Bechern  trinken,  um  die  Därme  aus¬ 
zuleeren  und  zu  beobachten,  wie  die  Quellen  dem  Kran¬ 
ken  bekommen,  oft  auch  dann,  wenn  die  anderen  Quellen 
verstopfen.  Der  Kranke  trinkt  dann  jeden  Morgen  einige 
Becher  davon,  vielleicht  auch  ein  bis  zwei  Drachmen  Karls¬ 
bader  Salz  dazu.  Den  Theresien-  und  Schlofsbrun- 
nen  läfst  man  Kranke  trinken,  die  sich  auch  noch  nach 
dem  Mühlbrunnen  zu  sehr  erhitzt  fühlen,  deshalb  auch  bei 
Kindern,  bei  Kranken,  deren  Lungen  verdächtig  scheinen, 
bei  Neigung  zu  stark  'fließenden  Hämorrhoiden  oder  Regeln, 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwasser.  489 

bei  grofser  Empfindlichkeit  des  ganzen  Nervensystems  und 
der  Därme.  Mit  dem  Sprudel,  der  kräftigsten  Quelle, 
sei  man  ja  vorsichtig,  er  hat  schon  manchem  Kranken,  für 
den  er  nicht  pafste,  das  Lehen  gekostet.  Am  besten  ist  es 
bei  dem  Gebrauche  der  Quellen,  mit  der  schwächsten  an¬ 
zufangen,  und  zuletzt  einige  Becher  Sprudel  hinzuzusetzen, 
denn  vom  Anfänge  der  Cur  vertragen  die  Kranken  den  letzten 
selten.  Finden  hei  Kranken  keine  Bedenklichkeiten  statt,  so 
kann  man  ihnen  für  die  ersten  acht  Tage  den  Mühl-  und 
Neubrunnen  anempfehlen,  sie  fangen  mit  2  —  4  Bechern 
an,  steigen  täglich  um  1  —  2  Becher,  und  bleiben  bei 
8  —  10  stehen.  Täglich  müssen  die  Kranken  1  —  2  Lei¬ 
besöffnungen  haben,  und  nach  diesen  und  dem  auf  das  Trin¬ 
ken  erfolgenden  Grade  der  Erwärmung  richtet  man  sich  in 
Absicht  der  Zahl  der  Becher.  Gestattet  es  der  Grad  der 

*  0 

Erwärmung,  so  gehe  man  zu  dem  Neubrunnen  allein 
über,  wird  auch  dieser  gut  vertragen,  so  kann  man  in  der 
dritten  W  oche  1  —  2  Becher  Sprudel  nach  dem  Neu¬ 
brunnen  trinken  lassen,  indem  man  eben  so  viel  Becher 
von  diesem  abbricht.  Wird  auch  der  Sprudel  in  dieser 
Quantität  gut  vertragen,  so  läfst  man  mit  der  Zahl  der 
Becher  steigen,  und  weniger  Neubrunnen  trinken.  Diese 
Cur  wird  vier  bis  sechs  Wochen  fortgesetzt,  indem  man 
zu  Ende  derselben  bis  auf  vier  bis  sechs  Becher  fällt.  — 
Hinsichtlich  des  Badens  sei  man  vorsichtig.  (Ref. ,  der 
einige  Male  als  Gesunder  in  Karlsbad  badete,  um  die  Wir¬ 
kung  davon  an  sich  selbst  zu  erfahren,  kann  nicht  genug 
warnen.  Er  selbst  sehr  robust,  vielleicht  mit  bedeutender 
Anlage  zum  Schlagflufs  und  häufigen  Congestionen  nach 
dem  Kopfe,  die  sich  durch  Nasenbluten  vermindern,  konnte 
mehrere  Tage  nach  dem  Bade  vor  Andrang  des  Blutes  nach 
dem  Kopfe  keine  Ruhe  finden,  und  fürchtete  im  Bade  selbst 
einen  Schlagflufs  zu  bekommen;  das  zweite  Mal  möfsigte  er 
diese  Zufälle  durch  Uebergiefsungen  des  Kopfes  mit  kaltem 
W  asser. )  Der  Hr.  \  erf.  rath  die  Bäder  bei  unterdrückter 
Gicht  und  Ausschlägen,  bei  Hautschärfen,  bei  Contracturen 


490 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


der  Glieder ,  und  widerrat!)  sic  bei  gleichzeitigem  inneren 
Gebrauche  der  Wasser  Becker  (in  seiner  klassischen 
Schrift  über  Karlsbad)  glaubt,  dafs  es  gut  sei,  wenn  die 
Kranken  acht  läge  baden,  und  dann  wieder  acht  Tage  trin¬ 
ken,  welches  auch  der  Ilr.  %  erf.  billigt,  nur  müsse  der 
Wärmegrad  des  Bades  höchstens  25  —  28  Gr.  I\.  sein. 
Kr  meint  auch,  dafs  die  Karlsbader  Bäder  grofse  Vorzüge 
vor  denen  zu  Tepl  itz  haben.  — 

II.  K  eher  die  Anwendung  der  W ä s s e r  von 
Kmbs.  Das  Wasser  der  seit  1.355  gekannten  Quellen  ist 
warm,  höchst  klar,  von  einem  feinalkalischen  Gerüche  und 
einem  gclind  säuerlichsalzigen  Geschmacke.  Ks  wird  von 
dem  Magen  ganfc  gut  vertragen,  fördert  meist  Urinausschei¬ 
dung  und  Hautausdünstung,  aber  nicht  den  Stuhlgang.  Bei 
dem  Trinken  empfindet  der  Kranke  nach  und  nach  eine 
gewisse  Hinfälligkeit,  Ermattung,  die  früher  oder  später  in 
ein  Wohlgefühl  übergeht.  \  on  jeher  ist  Embs  als  grofses 
Heilmittel  a)  bei  Krankheiten  der  Lungen,  und  besonders 
bei  drohender  und  angehender  Klingensucht;  b)  bei  Ner¬ 
venschwäche  und  davon  abhängenden  Beschwerden ;  c)  bei 
der  Unfruchtbarkeit  angesehen  worden.  Die  Quellen 
besitzen  überhaupt  das  ^e^mögen,  eine  grofse  Umänderung 
der  thicrischen  Mischung  zu  bewirken, Kmd  deshalb  in  allen 
ballen,  wo  es  auf  Nerdünnung,  V erbesserung  der  Säfte, 
Freimachung  von  Stockungen  ankommt,  z.  B.  bei  Scrofeln, 
Gicht,  Bluthemmung  im  Unterleibe,  Gallen-  und  Nieren¬ 
steinen,  also  gerade  in  solchen  Zuständen,  in  denen  Karls¬ 
bad  so  vorzüglich  ist,  heilsam  zu  sein.  Im  Allgemeinen 
kann  man  Embs  in  den  ballen  allwenden,  in  denen  Karls¬ 
bad  empfohlen  ist  und  wo  es  zweifelhaft  ist,  ob  dieses  nicht 
zu  stark  wirken  möchte;  daher  1)  bei  hohen, Graden 
von  Schwächung,  durch  Krankheiten  oder  andere  Ursachen 
herbeigeführt;  2)  bei  grofser  Nervenreizbarkeit,  sie 
sei  der  Constitution  eigen  oder  Folge  langer  Krankheit, 
oder  einer  örtlichen  Krankheit  in  einem  inneren  Theile, 
z.  B.  von  einer  chronischen  Entzündung  scrofulöser  Drüsen 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwasser.  491 

im  Unterleibe;  3)  bei  der  Furcht,  dafs  ein  örtliches 
Uebel  schon  zu  weit  vorgerückt  sei,  um  Karlsbad  noch 
rathen  zu  können,  z.  B.  Scirrhen  u.  s.  w.  Hieraus  ergicbt 
sich  die  richtige  Anwendung  der  Wässer  bei  Krankheiten 
der  Nerven,  wo  Entfremdung  der  thierischen  Säfte  zum 
Grunde  liegt,  nach  moralischen  Ursachen,  Verlust  von  Säf¬ 
ten,  zu  starker  oder  unnatürlicher  Befriedigung  der  Ge¬ 
schlechtslust  u.  s.  w. ;  bei  vorhandener  scrofulöser  Anlage 
und  krankhafter  Mischung  des  Blutes,  Anlage  zur  Bleich¬ 
sucht,  bei  Verschleimung  des  Blutes,  bei  Hemmung  dessel¬ 
ben  im  Unterleibe,  bei  daraus  entstandener  Gicht-  oder 
Steinanlage,  Hämorrhoidalbeschwerden ;  deshalb  besonders  bei 
scrofulösen  Kindern  und  zärtlichen  oder  geschwächten  Frauen. 
In  Krankheiten  der  Lungen,  ja  in  der  Lungensucht  hat 
Embs  einen  bedeutenden  Ruf,  besonders  bei  chronischem 
Husten  und  Engbrüstigkeit,  wenn  die  Krankheit  auch  schon 
die  Form  der  Schwindsucht  angenommen  hat,  hauptsächlich 
wenn  scrofulöse  Anlage  die  Grundursache  ist.  (Ausgebil¬ 
dete  Lungensucht  geht  in  der  Regel  durch,  oder  besonders 
nach  dem  Gebrauche  von  Embs  schneller  zum  Tode,  über, 
welches  Ref.  durch  mehrere  Fälle  beweisen  könnte.)  Bei 
gewissen  Zuständen  der  weiblichen  Geschlechtsteile,  be¬ 
sonders  um  Unfruchtbarkeit  zu  heben,  wird  die  Bubenquelle 
sehr  häufig  besucht,  ferner  bei  stockenden,  irregulären  Re¬ 
geln,  Leucorrhöe  u.  s.  w.  —  Man  bedient  sich  zweier 
Quellen  zum  inneren  Gebrauche:  des  Kränchens  und  des 
K esselbrunnens;  erster  hat  23  Grad  R.,  letzterer  38 
Gr.  R.  Man  wähle  die  Quelle,  die  der  Constitution  in 
Beziehung  auf  die  Wärme  am  besten  entspricht;  denn  die 
Bestandteile  beider  sind  sich  gleich.  Man  trinkt  zu  4  bis 
6  Unzen  auf  einmal,  und  wiederholt  dies  alle  Viertelstunden 
4,  6  —  lOmal.  (Osann,  in  Ilufeland’s  Supplementhefte 
1824,  zieht  den  Kesselbrunnen  dem  Kränchen  fast  in  allen 
Fällen  vor.  Ref.)  —  Hie  Bäder  machen  in  Embs  fast  den 
Haupttheil  der  Cur  aus;  sie  werden  Vormittags  zu  28  Grad 
Reaum.  genommen.  Der  Ilr.  Verf.  macht  zugleich  noch 


492 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


auf  die  klassische  Schrift:  Diel,  über  den  Gebrauch  der 
Thermalbäder  zu  Embs,  Frankf.  a.  M.  1825,  aufmerksam  *). 

III.  IJ  eher  die  Anwendung  der  Wässer  von 
Marien  ha d.  Diese  Quellen  sind  kalt  und  gehören  zu  den 
alcalisch -salinisch -eisenhaltigen  kohlensauren  Wässern.  Ks 
sind  vier  Quellen  da:  der  Kreuz-  und  Ferdi nandsbr u n- 
nen,  die  Karolinen-  und  Ambrosiusquelle.  Letzte 
sind  mehr  reine  Eisenwässer,  mit  reichlichem  Gehalte  an 
kohlensaurem  Gase;  daher  bei  der  Beschreibung  der  eisen¬ 
haltigen  Wässer  die  Anwendung  ihres  Gebrauchs  erkannt 
werden  wird.  Der  Kreuz-  und  Ferdinandsbrun  neu 
sind  krystallhell ,  ohne  Geruch,  von  Geschmack  angenehm 
prickelnd -säuerlich ,  salzig  und  zuletzt  adstringirend.  (Auch 

in  dem  Kreuzbrutinen  fand  im  Mai  d.  J.  Berzelius  koh- 

# 

lensaures  Lithion,  fast  ein  Centigramm  in  jeder  Flasche, 
1  ir  Centigramme  auf  1000  Gran  Wasser.  Auch  Spuren 
von  Jodine,  obschon  iiufserst  geringe,  fand  er  darin.  Ref.) 
Der  Mariakreuzbrunnen  ist  einer  der  reichsten  an 
Glaubersalz  und  Soda,  er  enthält  überdies  noch  Magnesia 
und  sich  leicht  trennendes  Kisen.  Der  Ferdinandsbrun¬ 
nen  enthält  weniger  Salze  und  mehr  Eisen,  und  weniger 
kohlensaures  Gas  als  der  Egerbrunnen.  Erster  ist  daher 
als  ein  lösender  und  abführender  vorzuziehen,  letzter  nä¬ 
hert  sich  mehr  dem  Egerbrunnen,  indem  er  aber  nicht  so 
reizend  wirkt.  Hieraus  erdicht  sich  die  Art  ihrer  Anwen¬ 
dung  bei  den  verschiedenen  Krankheiten.  Die  sinnlichen 
Wirkungen  der  Quellen  sind:  Der  Magen  nimmt  sie  gern 
auf,  und  verträgt  sie  sehr  gut.  Zu  vier  bis  sechs  Gläsern 
(zu  fünf  bis  sechs  Unzen  das  Glas)  getrunken,  bringen  sie 
laxirende  Stuhlgänge  hervor,  und  bei  dem  Fortgebrauche 
leeren  die  Kranken  meist  grüne  und  dunkelgefärbte  Massen 
von  zähem  Schleim,  oder  zersetztem  Blute  ähnliche  Stoffe, 
oft  auch  Blut  und  Schleim,  Würmer,  Galle,  harte  Knol- 
*en  von  Excrementen,  die  ott  mit  geronnenem  häutigen 


1)  Bd.  II.  H.  3  S.  326.  d  A 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


493 


Schleime  umwickelt  sind,  aus.  Die  Urinausscheidung  wird, 

* 

zumal  anfangs,  sehr  vermehrt.  Hierbei  fühlen  sich  die 
Kranken  durchaus  nicht  matt,  sondern  munter,  haben  mehr 
Appetit,  und  die  erregende  Eigenschaft  der  Wässer  auf 
Blut  und  Nerven  tritt  sehr  gemäfsigt  hervor.  Man  kann 
diese  Quellen,  jedoch  nur  mit  Einschränkung,  ein  kaltes 
Karlsbad  nennen,  jene  wirken  nicht  so  erhitzend,  und  auch 
nicht  so  tief  eingreifend,  als  diese.  —  Der  Hr.  Verf.  führt 
nun  dieses  weiter  aus,  ohne  wieder  die  Krankheiten  her¬ 
zuzählen,  welches  er  schon  bei  dem  Karlsbad^  that,  und 
Ref.  verweist  auf  das  Werk.  —  In  Marienbad  ist  der  Ge¬ 
brauch  der  Bäder  ziemlich  allgemein,  und  nicht  allein  der 
Bäder  aus  dem  Mineralwasser,  sondern  auch  der  Gas-  und 
Moorbäder.  Die  mineralischen  Bäder  müssen  nur  lau- 

*  I  V 

warm  gebraucht  werden,  und  sind  vermöge  ihres  Reich¬ 
thums  an  Luftsäure  belebend  und  stärkend,  und  besonders 
anwendbar,  wo  man  entweder  Folgen  von  nach  innen  ab¬ 
gelagerten  Krankheitsprinzipien  aufheben,  oder  durch  Stär¬ 
kung  der  Haut  ihre  Function  auf  eine  höhere  Stufe  der 
Vollkommenheit  heben,  und  dadurch  das  gestörte  Gleich¬ 
gewicht  mit  den  inneren  Organen  hersteilen  will.  Oft  wird 
man  auch  durch  kühle  Bäder  voh  20  —  2ß  Gr.  R.,  beson- 
ders  bei  Personen,  die  durch  Verschwendung  edler  Säfte 
ihre  Gesundheit  zerrüttet  haben,  zur  Stärkung  nützlich  wir¬ 
ken.  Die  Moorbäder  sind  gewifs  höchst  wirksam,  des-, 
halb  mufs  man  sie  auch  mit  Vorsicht  anwenden.  Sie  be¬ 
stehen  aus  Resten  von  Pflanzenstoffen ,  Schwefel,  salzsaurem 
Natrum,  schwefelsaurem  Talk  und  Kalk,  Eisenoxyd,  Kiesel¬ 
erde,  Extractivstoff  und  verkohlbarem  Pflanzen stoff.  Sie 
erregen  die  Thätigkeit  der  Haut,  und  haben  sich  daher  bei 
langwierigen  Geschwüren,  Flechten,  Steifigkeit  der  Gelenke 
nach  Wunden,  bei  partiellen  Krämpfen  einzelner  Theile, 
Lei  schmerzhaften  Zufällen  aus  rheumatischer  Ablagerung, 
sehr  hiilfreich  erwiesen.  Bei  Stockungen  der  Eingeweide, 
z.  B.  der  Milz,  Leber,  Drüsen,  sei  man  sehr  vorsichtig  mit 
ihrer  Anwendung.  Die  Gasbäder  erregen  nach  Heid ler 


494 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


und  Scheu  ein  Gefühl  von  Wärme  auf  der  Oberfläche 
des  Körpers,  am  meisten  an  den  Geschlechtsteilen ,  ver¬ 
mehrte  Ausdünstung,  zuweilen  ein  leises  Knebeln,  wie 
Ameisenlaufen.  Bei  Neigung  zu  Entzündungen  und  Blut- 
llüssen  darf  man  sie  nicht  anwenden,  aber  wohl  da,  wo 
letzte  unterdrückt  sind.  Die  örtliche  Anwendung  dersel¬ 
ben  ist  gewifs  höchst  heilsam  bei  Lähmung  oder  partiellen 
Krämpfen,  oder  Schmerzen  einzelner  Theile,  wo  ein  ein¬ 
zelner  Nerv  sehr  geschwächt  oder  durch  Ablagerung  von 
Krankheitsstoffen  schwer  gedrückt  ist.  — 

IV.  Ueber  die  besondere  Anwendung  der 
Wässer  von  Franzensbrunn  bei  Eger.  Sie  bilden 
die  erste  Stufe  zu  den  stärkenden  Quellen.  (Auch  in  ih¬ 
nen  fand  Kerze lius  köhlensaures  Liihion.  Ref. )  Ueber 
die  Wirksamkeit  der  kalten  kohlensauren  Stahlwässer  iin 
Allgemeinen  spricht  sich  der  I Ir.  Yerf.  besonders  dahin  aus: 
dals  sie  nur  dann  stärkend  wirken,  wenn  die  Verdauungs¬ 
organe  in  dem  Zustande  sind,  dafs  die  Wässer  gut  assimi- 
lirt  werden  können,  und  wenn  das  Eisen  dem  Bedürfnisse 
der  Natur  eigentlich  entspricht,  das  ist,  wenn  es  mit  der 
Entstehungsweise  der  Infirmität  des  Lebens  einen  Gegen¬ 
satz  bildet,  und  es  derjenigen  Seite  des  Organismus  ent¬ 
spricht,  von  deren  Beeinträchtigung  die  Infirmität  desselben 
ausging.  Die  Erfahrung  hat  auch  schon  hinlänglich  über 
die  arzneilichen  Wirkungen  des  Eisens  entschieden.  — 
Gegen anzei gen  sind:  1)  Wenn  an  sich  eine  Anlage  da 
ist  zu  erhöhter  Thätigkeit  im  Blute  selbst  oder  in  dem  ar¬ 
teriellen  Systeme.  2)  Wo  die  Krankheit  von  der  Natur 
ist,  dafs  der  Körper  eine  Anspannung  nicht  verträgt,  folg¬ 
lich  in  den  Fällen,  wo  das  organische  Leben  in  seinen 
Quellen,  dem  Blute  und  der  Lymphe  von  Fremdartigkeit 
umdämmert  und  tief  befangen  ist,  so  dafs  die  Säfte  deshalb 
in  einzelnen  Provinzen  des  Körpers  sich  hemmen  und  die 
Blutvertheilung  dadurch  ungleich  gemacht  wird,  ln  liiesen 
Fällen  vermehrt  es  die  (Kongestion  nach  andern  Theilen. 
3)  Wo  die  Verdauung  durch  Fehler  ihrer  Organe  zerrül- 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


495 


tet  ist.  —  Gegentheils  ist  das  Eisen  eins  der  herrlichsten 
Heilmittel,  wo  die  Infirriiität  des  Lebens  einfach  ist  und 
wesentlich  aus  einer  unkräftigen  Beschaffenheit  des 
Bluts  oder  der  Nerven  zugleich  hervorgeht;  daher  bei 
Schwäche  nach  Blutfliissen,  schweren  Krankheiten,  Säfte- 
Verlust  u.  s.  w.  Die  Kohlensäure  in  den  eisenhaltigen  Wäs¬ 
sern  macht  das  Eisen  dem  Magen  weit  verträglicher,  des¬ 
halb  sind  diese  auch  da  überall  anzuwenden,  wo  das  Eisen 
in  Substanz  angezeigt  ist.  Man  mufs  aber  sehr  sorgfältig 
die  an  chronischen  Uebeln  leidenden  Kranken  studiereny 
ehe  man  sie  zu  Eisenwässern,  die  so  sehr  leicht  schaden 
können,  schickt.  Sehr  zu  beherzigen  sind  die  vortrefflichen 
praktischen,  in  der  Schrift  selbst  nachzulesenden  Bemerkun¬ 
gen  des  Hrn.  Verf.  über  diesen  Gegenstand.  —  Eger  ver¬ 
dient  oft  den  Vorzug  vor  Spaa  und  Pyrmont,  wenn  zwar 
nicht  sehr  tief  sitzende  Fehler  in  dem  niedern  Leben  wal¬ 
ten,  aber  doch  die  plastische  Seite  des  Lebens  zugleich, 
wenn  auch  in  einem  geringeren  Grade  als  das  Markleben 
erkrankt  erscheint.  Der  Hr.  Verf.  macht  auf  die  gehaltrei¬ 
chen  Schriften  von  Osann,  die  Mineralquellen  zu  Kaiser 
Franzensbad  bei  Eger,  Berlin  1822,  Marcard  über  Pyr¬ 
mont,  welche  letztere  noch  immer  unübertroffen  bleibt, 
und  auf  den  Mangel  einer  guten  Schrift  über  Spaa  auf¬ 
merksam. 

V.  Ueber  die  besondere  Anwendung  des  Pyr- 
monter-  und  Spaawassers.  Die  Anzeigen  zu  dem  Ge¬ 
brauche  dieser  Wässer  kommen  mit  denen  des  Eisens  und 
denen  des  Egerbrunnens  überein.  Das  Pyrmonterwas- 
ser  von  10  Gr.  R.  ist  eins  der  reichsten  an  kohlensaurem 
Gase  und  Eisen,  von  welchem  letztem  es  in  einem  Pfunde 
0,792  Gran  nach  Westr  u mb  hat,  dazu  noch  Glauber- 

1  I 

und  Kochsalz,  Gyps,  und  Schwefel-  und  kohlensaure  Ma¬ 
gnesia.  Es  ist  der  König  der  Stahlwässer  und  bewirkt  zu 
einigen  Gläsern  schnell  hinuntergetrunken  eine  Art  von 
flüchtigem  Rausche,  ein  Gefühl  von  Wohlsein  und  Mun¬ 
terkeit;  der  Puls  wird  ohne  fühlbare  Erhitzung  beschleu- 


496 


XI.  Gebrauch  der  Mineralwässer. 


nigt.  In  Menge  getrunken,  befördert  es  Darm-  und  Urin- 
ausleerungen.  Es  ist  das  erste  Heilmittel  bei*  allen  Krank¬ 
heiten,  denen  Mangel  an  rothem  Blute,  eine  krankhafte 
N  crdünnung  r  eine  der  scorbutischen  ähnliche  Dyscrasie 
zum  Grunde  liegt,  daher  bei  Bleichsucht,  bei  allgemeiner 
Schwäche  nach  bedeutenden  Krankheiten,  Hypochondrie  und 
Hysterie,  die  auf  reinem  Nervenleiden  beruht.  —  Das 
Spaa  wasser  hat  weniger  Eisen  und  Kohlensäure,  seine 
übrigen  Bestandteile  sind  kohlensaurer  Kalk  und  kohlen¬ 
saure  Magnesia,  aber  wenig  Natrum.  Man  trinkt  vorzüg¬ 
lich  den  sogenannten  Pouhon,  der  auch  versandt  wird.  Er 
wird  oft  wegen  seiner  schwächeren  Wirkung  noch  dann 
gut  vertragen,  wenn  Stahlwässer  angezeigt  sind,  und  Eger 
und  Pyrmont  nicht  bekommen.  —  Der  Hr.  Verf.  bemerkt 
noch  zum  Schlüsse  in  Beziehung  auf  alle  stärkenden  Wäs¬ 
ser,  dafs  die  daraus  bereiteten  lauen  Bäder  niemals  bei 
dem  inneren  Gebrauche  versäumt  werden  sollten.  Ihre 
Wirksamkeit  ist  so  grofs,  dafs  sie  oft,  wenn  der  innere 
Gebrauch  der  Y\  ässer  bei  zärtlichen  Kranken  durchaus 
nicht  vertragen  wird,  noch  allein  helfen.  — 

Der  Leser  wird  aus  dieser  Relation  ersehen,  wie  reich¬ 
haltig  das  Werk  des  Hrn.  Kreysig  ist.  Bef.  kann  nicht 
genug  zu  dem  wirklichen  Studiren  desselben  anrathen,  und 
schliefst  mit  den  wichtigen  W  orten  des  Hrn.  Verf.  (S.  241): 
Meine  Geberzeugungen  sind  aber  nicht  das  Product  einer 
1  heorie  oder  eines  Vorurtheils  für  diesen  oder  jenen  Brun¬ 
nen,  sondern  das  Resultat  einer  grofsen  Zahl  von  ver¬ 
gleichenden  Beobachtungen  über  die  W  i  r  k  s  a  m  - 
keit  verschiedenartiger  Heilwässer  nicht  nur  allein 
in  Ucbeln  von  gleicher  Art,  sondern  sehr  oft  auch  in  den¬ 
selben  Individuen  zu  verschiedenen  Jahren;  ferner  von  einer 
langen  Erfahrung  über  langwierige  Krankheiten. 


B  c  h  r. 


XII.  Medicinische  Statistik  der  Niederlande.  497 


XII. 

Recherches  sur  la  population,  les  nais- 
sances,  les  deces,  les  prisons,  les  depots 
de  men  di  eite  dans  le  royaume  des  Pays- 
bas,  par  Mr.  A.  Quetelet,  secretaire  de  la  Com¬ 
mission  de  statistique  etc.  Bruxelles  chez  H.  Fär¬ 
ber,  rue  de  la  Montagne  No.  306.  1827.  90  S. 

Der  durch  mehrere  treffliche  Arbeiten  im  Gebiete 
der  Statistik  berühmte  Verf.  tritt  in  vorliegender  Schrift 
mit  neuen  statistischen  Untersuchungen,  das  Königreich  der 
Niederlande  betreffend,  hervor,  die  in  vielfacher  Beziehung 
eben  so  sehr  die  Aufmerksamkeit  des  Arztes,  als  des  Sta¬ 
tistikers  und  des  Philanthropen  verdienen. 

Nach  Quetelet  betrug  1825  die  Bevölkerung  des 
Königreichs  der  Niederlande  5,992,666  Seelen,  und  der  jähr¬ 
liche  Zuwachs  war  seit  1816  ungefähr  12,4,  oder  1,77, 
während  man  in  Frankreich  denselben  auf  6,36,  also  nur 
auf  die  Hälfte  anschlägt.  D  ie  Fruchtbarkeit  ist  hier  in  einem 
gleichen  Grade,  wie  in  Frankreich,  wo  man  auf  100  Ehen 
476  Geburten  rechnet,  während  man  in  den  Niederlanden 
auf  100  Ehen  480  Kinder  annimmt.  In  den  südlichen  Pro¬ 
vinzen  ist  sie  stärker,  als  in  den  nördlichen,  denn  in  jenen 
rechnet  man  auf  die  Ehe  5,21  Kinder  und  in  diesen  nur 
4,87.  Die  männlichen  Geburten  verhalten  sich  zu  den  weib¬ 
lichen  wie  1000:  938  in  Frankreich,  und  wie  1000  :  945  in 
den  Niederlanden.  In  Frankreich  ist  von  138  Menschen, 
in  den  Niederlanden  von  130  schon  einer  verheirathet. 

Die  Sterblichkeit  ist  in  den  Niederlanden  geringer,  als 
in  Frankreich,  indem  sie  im  ersten  Lande  sich  wie  1  :  42, 
im  letzten  wie  1:39,67  verhält.  Nach  Villerme  hat  die 
Wohlhabenheit  und  Reinlichkeit  einen  grofsen  Einflufs  auf 
die  geringere  Sterblichkeit,  daher  in  einem  Lande,  wo  die 
Bedürfnisse  nicht  die  Einkünfte  der  Einwohner  übersteigen, 


I 


498  XII.  Mcdicinischc  Statistik  der  Niederlande. 

die  Bevölkerung  wächst.  Trotz  dem  ist  in  den  reichen 
Gegenden  der  Niederlande  die  Sterblichkeit  gröfser,  als  in 
den  ärmeren  Provinzen,  was  Quetelet  dem  feuchten  Klima, 
der  Nähe  des  Meeres  und  dem  Zusammenwohnen  zu  vieler 
Menschen  in  einer  Stadt  zuschreiht.  —  Zugleich  hat  Q  u e- 
telet  gefunden,  dafs  ip  den  Provinzen,  die  sich  durch  eine 
gröfsere  Sterblichkeit  auszeichnen,  auch  mehr  Kinder  gebo¬ 
ren  werden.  Dieselbe  Beobachtung  machte  der  Verf.  rück¬ 
sichtlich  der  verschiedenen  Monate.  In  Brüssel  z.  B.  kom¬ 
men  die  meisten  Sterbefälle  im  Januar  vor,  die  wenigsten 
im  Julius,  die  meisten  Geburten  im  Januar  und  Februar, 
die  wenigsten  im  Julius.  Dasselbe  Resultat  gaben  die  Un¬ 
tersuchungen  in  Amsterdam,  Gent,  Rotterdam,  Antwerpen, 
Haag,  Tournai  und  Leroy,  ferner  die  von  Gordini  und 
Orsini  angestellten  Nachforschungen  in  Livorno.  Dem- 
gemäfs  halten  die  Sterbefälle  und  Geburten  gleichen  Schritt 
mit  dem  Thermometerstande,  der,  wie  Quetelet,  Gor¬ 
dini  und  Orsini  sich  überzeugten,  am  niedrigsten  im  Ja¬ 
nuar  und  am  höchsten  im  Juli  ist. 

Quetelet  spricht  sich  über  diese  Erscheinung  dahin 
aus,  dafs  in  den  Wintermonaten  die  Gesundheit  der  Men¬ 
schen  leichter  leide,  indem  der  weniger  wohlhabende  1  heil 
nicht  so  leicht  sich  durch  Arbeit  die  nöthige  Pflege,  Be¬ 
quemlichkeit  und  eine  gesunde  Nahrung  verschaffen,  und 
wegen  Mangel  an  Arbeit  nicht  tiir  die  Befriedigung  der 
nüthigen  Bedürfnisse  seiner  Familie  sorgen  könne.  Solche 
Verhältnisse  sind  allerdings  auch  geeignet,  ihm  die  Lust  zur 
Zeugung  zu  nehmen,  welche  mit  dem  Friihlingc  steigt,  wo 
die  Hoffnung  zur  Beschäftigung  und  zu  besserem  Erwerb 
wiederkchrt,  daher  im  April,  Mai  und  Juni  auch  die  mei¬ 
sten  Empfängnisse  statt  finden,  wie  eine  von  Quetelet 
beigefügle  allgemeine  Tabelle  lehrt.  In  katholischen  Län¬ 
dern  iofluirt  noch  die  Fastenzeit,  weil  in  dieser  wenig  oder 
gar  keine  Ehen  geschlossen  werden. 

Nach  Vil lerme’s  Untersuchungen  in  der  Pariser  Ma- 
ternite  und  nach  den  von  Guiette  (Arzt  an  der  Matcrnit6 


\ 

XII.  Medicinischc  Statistik  der  Niederlande.  499 

de  l’Höpital  St.  Pierre  in  Brüssel)  von  X81I  bis  zum  Ende 
des  Jahres  1822  angestellten  Beobachtungen  erfolgen  die 
meisten  Geburten  von  10  bis  11  Uhr  Abends,  und  die 
wenigsten  von  11  bis  12  Uhr  Nachts  und  von  11  bis  12  Uhr 
Mittags.  Eben  so  finden  die  meisten  Todesfälle  von  10  bis 
11  Uhr,  und  die  wenigsten  von  11  bis  12  Uhr  Nachts  statt. 

Wie  in  Frankreich  und  in  andern  Ländern  bemerkt 
ward,  eben  so  berechnet  auch  Quetelet,  dafs  fast  der 
vierte  Theil  der  Neugebornen  schon  im  ersten  Jahre,  und 
namentlich  vor  verlebtem  ersten  Monate  stirbt.  In  Brüssel 
findet  folgendes  Verhältnis  statt:  im  ersten  Monate  nach 
der  Geburt  sterben  1044,  im  zweiten  390,  im  dritten  231, 
im  vierten  185,  im  fünften  156,  im  sechsten  156,  im  sie¬ 
benten  162,  im  achten  152,  im  neunten  140,  im  zehnten 
153,  im  elften  142,  und  im  zwölften  140  Kinder,  mithin 
sterben  innerhalb  der  drei  ersten  Monate  mehr  Kinder,  als 
in  den  neun  folgenden.  *  , 

Nach  Beroiston  de  Chateauneuf  sterben  von  100 
Kindern,  die  durch  ihre  Mütter  genährt  werden,  18  im 
ersten  Jahre,  während  von  100  durch  Ammen  genährten 
29  schon  im  ersten  Lebensjahre  eine  Beute  des  Todes  wer¬ 
den  (was  doch  ja  alle  Aerzte  beachten  mögen!). 

. 

In  den  Findelhäusern  hat  die  Sterblichkeit  seit  1815, 
wo  sie  sich  wie  1  :  7  verhielt,  abgenommen,  indem  schon 
im  Jahre  1822  sie  sich  wie  1  :  11  verhielt. 

In  gleichem  Grade  hat  man  auch  in  den  niederländi¬ 
schen  Armenanstalten  eine  verminderte  Sterblichkeit  wahr¬ 
genommen.  In  den  sieben  Armenhäusern:  Bruges,  Mons, 
Hoogstraeten,  Reckheim,  Namur,  Hoorn  und  La  Cambre 
wurden  im  Jahre  1821  verpflegt  2022  Individuen,  von  wei¬ 
chen  447  das  65ste  Lebensjahr  überschritten  hatten  und 
als  durchaus  unfähig  angesehen  werden  mufsten,  durch  Ar¬ 
beit  sich  den  Unterhalt  zu  verdienen,  445  waren  zwischen 
dem  sechsten  und  zwölften  und  zwischen  dem  50  und  65sten 
Lebensjahre,  mithin  halb  zur  Arbeit  unfähig,  und  1063  Se" 
suud  und  zur  Arbeit  tüchtig.  Von  den  zur  Arbeit  fäbi- 


500  XII.  Medicinische  Statistik  der  Niederlande. 

»  -  ’■ 

gen  Bettlern  verweilt  ein  jeder  gewöhnlich  sechs  Monate  in 
der  Armenanstalt,  welche  Zeit  nicht  als  lange  genug  gelten 
kann,  um  in  ihm  die  Liebe  zur  Thätigkeit  zu  erwecken, 
und  um  ihn  seine  Kräfte  gehörig  anwenden  zu  lehren,  da¬ 
mit  er  in  der  Zukunft  selbst  es  verstehe,  für  seinen  Unter¬ 
halt  zu  sorgen. 

In  den  117  Gefängnissen  des  Königreichs  befanden 
sich  1821:  10,557  Gefangene,  1819:  11,353,  und  1817: 
11,729.  Die  dem  Civiistande  angehürigen  Gefangenen  wa¬ 
ren  1821:  8618,  nämlich  6337  Männer,  2030  Frauen  und 
251  K  inder,  und  die  Gesammtzahl  der  Gefangenen  machte 
0,00185  der  ganzen  Bevölkerung  aus,  während  die  Gesammt-N 
zahl  der  in  den  Armenanstalten  verpflegten  Individuen 
(2022)  0,000355  der  Bevölkerung  betrug.  Unter  den  Ver¬ 
urteilten  waren  wegen  Wiederholung  ihrer  Vergehungen 
1539  aus  dem  Civiistande,  und  793  Soldaten,  mithin  war 
der  vierte  Theil  schon  einmal  verurteilt  worden. 

Unter  den  Verurteilten  waren  139  des  Mordes  ange¬ 
klagt  und  überwiesen,  110  der  Notzucht,  37  wegen  Brand¬ 
stiftung,  11  wegen  Entführung,  10  wegen  Falschmünzerei, 
13  wegen  Kindermord,  1  wegen  \ergiftung,  6200  wegen 
Diebstahl  u.  s.  w. 

In  den  Armenanstalten  reicht  das  aus  der  Arbeit  der 
Armen  gezogene  Geld  nicht  zum  Unterhalt  hin.  Jedes  In- 
hividuum  kostet  hier  täglich  29,75  Cents,  während  die  Ko¬ 
sten  für  den  Unterhalt  eines  Gefangenen  nur  27,07  Cents 
betragen. 

Aufser  den  Armenhäusern  bestehen  in  den  Niederlan¬ 
den  noch  W  ohlthätigkeitsanstalten ,  in  welchen  1822  ver¬ 
pflegt  wurden:  7988  Kranke,  9463  Greise,  4345  Krüppel, 
8893  Kinder,  im  Ganzen  30,689  Individuen.  Man  zählte 
aufserdem  10,720  gefundene  und  2500  ausgesetzte  Kinder, 
und  verpflegte  in  ihren  Wohnungen  635,991  Ilülfsbedürf- 
tige.  Im  Ganzen  kann  man  aunehmerf,  dafs  in  diesem 
Jahre  0,12  von  der  Bevölkerung  auf  Kosten  ihrer  Mitbür¬ 
ger  lebten. 


Die 


t 


XII.  Medicinische  Statistik  der  Niederlande.  501 

,  \  / 

Die  Elementarschulen  wurden  1825  von  557,211  Schü¬ 
lern  besucht,  was  den  elften  Theil  der  Bevölkerung  aus¬ 
machte,  und  man  kann  dies  auf  den  zehnten  Theil  ausdehr 
nen,  wenn  man  zu  jener  Zahl  noch  76,648  Kinder  zählt, 

9 

welche  theils  in  Privatanstalten,  theils  in  sogenannten  Ar¬ 
beitsschulen  unterrichtet  wurden.  Dies  Verhältnis  ist  viel 
günstiger,  als  Charles  Drepin  es  für  Frankreich  angiebt, 
wo  in  den  nördlichen  Provinzen  von  1000  Einwohnern  57, 
und  in  den  südlichen  nur  21  Kinder  vom  Elementarschul¬ 
unterricht  Gebrauch  machen.  In  den  Mittelstädten  werden 
die  Schulen  am  fleifsigsten  besucht,  namentlich  während  des 
Winters;  in  der  Provinz  Ostflandern  wird  der  Unterricht 
am  wenigsten  benutzt. 

Rücksichtlich  der  Universitäten  gilt  folgende  Propor¬ 
tion:  in  den  nördlichen  Provinzen  kommt  auf  7494  Ein¬ 
wohner,  in  den  südlichen  auf  7712  ein  Recbtscandidat,  in 
den  ersten  auf  21,162  und  in  den  letzten  auf  14,555  ein 
der  Medicin  Beflissener,  in  den  ersten  auf  51,9444  Ein¬ 
wohner  und  in  den  letzten  auf  21,272  einer,  der  die  Wis¬ 
senschaften,  in  den  nördlichen  auf  1869  und  in  den  süd¬ 
lichen  auf  3065  einer,  der  Philosophie  studiert. 

Ref.  übergeht  die  vom  Baron  von  Keverberg  beige- 
fügten  Erläuterungen,  die  allerdings  als  interessante  Belege 
zu  Quetelet’s  Untersuchungen  angesehen  werden  müssen, 
und  hier  nur  deshalb  wegbleiben,  weil  sie  zu  sehr  die 
Oeconomie  politique  berühren  und  in  sofern  ein  gerin¬ 
geres  Interesse  für  den  Arzt  haben. 

'  IX 

'  -  / 


XIII.  Bd.  4.S«. 


33 


502 


XIII.  1.  Biographie  der  Aerzte. 


XIII. 


1.  Biographie  der  Acrztc.  Aus  dem  Französischen, 
mit  einigen  Zusätzen  von  August  Ferdinand  Briigge- 
mann,  INI.  D.  Erster  Band.  Erstes  Heft,  llalberstadt, 
bei  C.  Brüggcniann.  1829.  8.  VIII  u.  136  S. 

Wir  besitzen  kein  vollständiges  Werk,  das  für  unser 
Zeitalter  wäre,  was  für  das  vorige  Jahrhundert  Kest- 
ner’s  medicinisches  Gelehrten -Lexicon  war,  eine  über¬ 
sichtliche  und  wohlgeordnete  Sammlung  von  Lebensbeschrei¬ 
bungen  der  berühmtesten  Aerzte  aller  Zeiten,  deren  Brauch¬ 
barkeit  noch  immer  anerkannt  werden  mufs,  wenn  auch  die 
Schreibart  von  1740  viele  veranlassen  mag,  den  würdigen 
Quartanten  zu  den  veralteten  Büchern  zu  schieben.  Ohne 
Zweifel  hat  die  Schwierigkeit,  gute  Biographieen  von  Aerz- 
ten  zu  sammeln  und  sie  zu  einem  Ganzen  zu  vereinigen, 
die  gelehrten  Forscher  abgeschreckt,  Kestner’s  Werk 
entweder  umzuarbeiten  oder  ein  neues  von  gleichem  Werthe 
an  dessen  Stelle  zu  setzen,  und  so  haben  wir  seitdem  nur 
Einzelnes  erhalten,  das  noch  der  Vereinigung  zu  einem 
Gan#en  harrt.  Die  Biographie  der  Aerzte  kann  in  ihrem 
Verhältnisse  zur  Geschichte  der  Heilkunde,  und  zu  den  me- 
dicinischen  Doctrinen  überhaupt  nicht  gering  angeschlagen 
werden.  Geistvoll  bearbeitet,  zeigt  sie  uns  die  Bearbeiter 
der  Wissenschaft  unter  dem  Einflüsse  ihrer  Umgebungen, 
und  giebt  Aufscblufs  über  ihre  ersten  Anregungen  zu  fol¬ 
genreichem  Bestreben.  Sie  ergründet  und  beleuchtet  die 
menschlichen  Verhältnisse,  wo  sie  irgend  auf  die  V\  issen- 
schaft  eingewirkt  haben,  und  ohne  die  Ergebnisse  der  Be¬ 
mühungen  Einzelner  so  aufstellen  und  ordnen  zu  dürfen, 
wie  dies  der  historischen  Forschung  zusteht,  welche  die  Ent¬ 
wickelung  der  Ideen  mehr  abgesondert  vom  Drange  des 
bestandlosen  Lebens  zum  Zwecke  hat,  nimmt  sie  doch  Tlieil 
an  den  Schwierigkeiten  dieser  Forschung,  ja  es  mufs  ihr 
diese  vorausgegangen  sein,  wenn  sie  irgend  ersprießlich 


503 


XIII.i  1.  Biographie  der  Aerzte. 

sein  soll  für  das  Studium  der  Heilkunde.  Schwerlich  möchte 
jemals  höhere  Vollkommenheit  in  einer  Gesammtbiographie 
der  Aerzte  erreicht  werden  können.  Das  Leben  grofser 
Mä  nner  wird  oft  schon  von  ihren  Zeitgenossen  durch  un¬ 
begründeten  Tadel,  und  noch  mehr  durch  iibermäfsiges  Lob 
entstellt.  Wichtige  Nachrichten  über  sie  gehen  bald  nach 
ihrem  Tode  verloren  und  können  nicht  einmal  durch  Selbst- 
biographieen  ersetzt  werden,  die  vou  den  Würdigeren  nur 
selten  verfafst  werden.  Aber  auch  selbst  bei  dieser  unver¬ 
meidlichen  Mangelhaftigkeit  im  Einzelnen,  bleibt  doch  die¬ 
ser  Zweig  der  Litterärgeschichte  von  hoher  Bedeutung,  und 
wir  sind  unserm  Hrn.  Dr.  Brügge  mann  zu  dem  gröfsten 
Danke  verpflichtet,  dafs  er  sich  der  Bearbeitung  und  An¬ 
ordnung  eines  umfassenden  medicinisch  biographischen  Wer¬ 
kes  unterzog.  Fast  zu  bescheiden,  ein  Tadel,  zu  dem  sich 
nur  selten  Gelegenheit  darbietet,  wollte  er  lieber  ein  vor¬ 
handenes  fremdes  W  erk  seinen  Arbeiten  zum  Grunde  legen, 
als  ein  neues  liefern,  ohne  dafs  ihm  hierdurch  eine  erheb¬ 
liche  Erleichterung  zu  Theil  werden  konnte.  Denn  die  als 
Anhang  zu  dem  grofsen  Dictionaire  des  Sciences  mödicales 
bei  Panckoucke  erschienene  Biographie  medicale  ent¬ 
spricht  strengeren  Anforderungen  nur  wenig.  Sie  ist  «höchst 
ungleich,  in  den  ersten  Bänden  ermüdend  weitlauftig  und 
grölstentheils  höchst  flüchtig  bearbeitet,  wie  nur  irgend  von 
einem  Verein  nicht  genugsam  unterrichteter,  mit  Anmaafsung 
eompilirender  Mitarbeiter  erwartet  werden  konnte,  die  nicht 
unter  der  Oberleitung  eines  gelehrten  Geschichtfqrschers, 
sondern  unter  der  eines  industriösen  Buchhändlers  standen. 
Die  von  gebildeten  und  gelehrten  Aerzten  ausgearbeiteten 
Artikel  machen  in  diesem  übereilten  und  unkritischen  Werke 
die  Minderzahl  aus.  Sehr  richtig  bemerkt  Dr.  Br.  in  sei¬ 
ner  Vorrede,  dafs  der  B.aum,  den  man  den  einzelnen  Schrift¬ 
stellern  zugetheilt  hat,  nicht  nach  ihren  Verdiensten,  son¬ 
dern  nach  der  Menge  der  Nachrichten,  welche  sich  von 
ihnen  gefunden  haben,  abgemessen  ist,  und  dafs  theils  auch 
Namen  aufgenominen  worden  sind,  von  denen  gar  nicht  ein- 

33  * 


504 


t 


XIII.  2.  Ga H's  Leben. 


/.usehen  ist,  wie  sie  in  eine  Biographie  medicinischer  Schrift¬ 
steller  kommen.  Er  hat  lange  Artikel  fiir  weniger  bedeu¬ 
tende  Schriftsteller  abgekürzt,  und  diejenigen,  welche  gera¬ 
dezu  dem  Zwecke  des  Werkes  nicht  entsprechen,  weg¬ 
gelassen.  Er  hat  keinen  bedeutenderen  Artikel  geradezu 
übersetzt,  sondern,  so  weit  es  ihm  möglich  war,  überall 
verglichen  und  Fehlendes  eingeschaltet.  Einzelne  untaug¬ 
liche  Biographieen  in  den  letzten  Bänden  sollen  ganz  um¬ 
gearbeitet  werden.  Ausgelassene  Artikel  verspricht  Hr.  i)r.  B. 
in  einem  Supplemente  nachzuliefern.  —  So  viel  über  die 
Anordnung  des  Ganzen,  in  die  einzelnen  Artikel  können 
wir  hier  nicht  füglich  eingehen.  Die  Darstellung  ist  durch¬ 
weg  der  Würde  der  Sache  angemessen,  die  Weitläufig¬ 
keit  vermieden,  und  überall  ein  rühmenswerthes  Bestreben 
sichtbar,  dem  Ganzen  durch  bezeichnende  Kürze  und  Ge¬ 
nauigkeit  in  den  literarischen  Anführungen  die  möglichste 
Uebersichtlichkeit  und  Brauchbarkeit  zu  geben.  Möchten 
wir  bald  von  der  Fortsetzung  dieses  wichtigen  und  beifalls- 
w'erthen  Unternehmens  Nachricht  geben  können. 

II. 


2.  Johann  Joseph  Gail,  geboren  1758  im  Grofs- 
herzogthum  Baden,  besuchte  nach  beendigten  Studien  in 
Baden  nnd  Bruchsal  die  Universitäten  Strasburg  und  Wien, 
wo  er  im  Jahre  1/85  zum  Doctor  der  Medicin  promovirt 
ward.  Die  Hindernisse,  welche  in  letzter  Stadt  ihm  von 
Seiten  der  LmOichkeit  und  der  Regierung  in  den  Weg 
gelegt  wurden,  nachdem  er  angefangen,  seine  auf  Studium 
und  Beobachtung  gegründeten  Ansichten  über  die  Functio¬ 
nen  des  Gehirns  auszusprechen,  bewogen  ihn,  Wien  zu 
verlassen,  und  nachdem  er  Norddeutschland  und  die  nordi¬ 
schen  Staaten  durchreist  hatte,  Paris  zu  seinem  ferneren 
Aufenthalte  zu  wählen  (1807). 

Mit  ungelheiltem  Eifer  setzte  er  hier  seine  Untersu¬ 
chungen  über  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehirns 


I 


A 


XIII.  2.  Gail  s  Leben.  505 

fort,  welche  er  theils  in  seinem  bekannten  Werke  (in 
sechs  Blinden),  theils  in  öffentlichen  Vorlesungen  mittheilte, 
die  mit  grofsem  Beifall  von  Aerzten  und  Philosophen  aller 
Nationen  besucht  wurden.  Aber  auch  hier  verfolgte  ihn 
der  Ilafs  der  Geistlichkeit,  die  die  von  ihm  ausgesproche¬ 
nen  Ansichten  der  Staatsreligion  für  gefährlich  erklärte,  und 
ein  Verbot  gegen  seine  Vorlesungen  bewirkte. 

Seit  dem  dritten  April  v.  J.  litt  er  wiederholt  am 
Schwindel,  seine  Kräfte  fingen  an  abzunehmen,  seine  Ver¬ 
dauung  wurde  täglich  schwächer,  so  dafs  er  jede  Speise 
ausbrach;  endlich  war  er  auf  der  ganzen  rechten  Hälfte  des 
Körpers  gelähmt,  in  welchem  Zustande  er  am  22sten  Au¬ 
gust  im  71sten  Jahre  auf  seinem  Landhause  zu  Mont¬ 
rouge  starb. 

Bei  der  am  24sten  August  in  Gegenwart  von  Fou- 
quier,  J.  Cloquet,  Dannecy,  Fossati,  Sarlan- 
diere,  Fabre-Palaprat,  Londe,  Costello,  Gau¬ 
be  r  t ,  Casimir  Broussais,  Robouanne,  Vimont, 
Jobert  und  Marotti  vorgenommenen  Section  ergab  sich 
folgendes : 

Fs  fand  ein  hoher  Grad  von  Abmagerung  statt,  die 
Schädelknochen  waren  drei  Linien  dick.  Zwei  Unzen  eines 
blutigen  Serums  fand  man  zwischen  der  harten  und  weichen 
Hirnhaut,  eine  gleiche  Quantität  zwischen  der  pia  Mater 
und  dem  Gehirn.  Auf  der  dura  Mater,  unmittelbar  über 
dem  Sinus  der  rechten  Seite,  entdeckte  man  ein  gestieltes, 
graues,  warzenartiges  Gewächs  von  der  Gröfse  einer  Wall- 
nufs.  Hie  Hirnsubstanz  war  fest  und  normal  gebildet,  die 
Blutgefäfse  der  Oberfläche  waren  ein  wenig  injicirt,  die 
Gehirnarterien  nicht  verknöchert.  Das  ganze  Gehirn  wog 
2  Pfund,  10  Unzen,  1~  Drachme.  Die  Bestattung  der 
Leiche  geschah  am  27sten  August;  an  seinem  Grabe  spra¬ 
chen  Broussais,  Fossati,  Bouillaud,  Londe. 

Fine  gedrängte  und  klare  Zusammenstellung  von  Gall’s 
Lehre  ist  in  dem  vor  einiger  Zeit  erschienenen  Pre- 
cis  analytique  du  Systeme  de  M.  le  Docteur  Gail  sur  les 

v. 


t 


XIV.  Vermischte  Schriften. 


50ß 


facultes  de  l’liommc  et  les  fonctiöns  du  eerveau,  vulgaire 
ment  cranioscopie,  ä  Paris  chez  Mlleret  1828,  enthalten. 

(Nach  der  Revue  encyclopedique.  Aoiit  1828.) 


I 


XIV 

Vermischte  Schriften. 


i 

1.  Discours  sur  l’union  des  Sciences  medicales 
et  leurindependance  reciproque,  par  Mr.  R.  De 
la  Pr  ade;  Professeur  de  clinique  cet.  Lyon  1827. 
47  Seiten. 

Der  Zweck  dieser  kleinen  Schrift  ist  die  Widerlegung 
der  Lehre  von  der  Irritation,  welche  die  Basis  von  Brous- 
sais’s  Theorie  bildet,  in  dessen  Augen  jeder  als  ein  Igno¬ 
rant  oder  als  ein  Anhänger  des  verwitterten  Feudalsystems 
dasteht,  der  nicht  zu  seiner  Fahne  schwört.  Miquel’s 
Lcttres  a  un  medecin  de  province  hat  unter  den  zahlreichen 
in  Frankreich  wider  Broussais  und  dessen  Lehre  erschie¬ 
nenen  Schriften  in  unsern  Augen  den  meisten  Werth,  in¬ 
dem  hier  mit  Gründen  und  Ruhe  die  jetzt  nicht  mehr  neue 
Lehre  bekämpft  wird. 

Der  Yerf.  sucht  in  der  Vorrede  den  Vorwurf  abzu¬ 
weisen,  den  man  ihm  machen  könnte,  als  sei  seine  Bro¬ 
schüre  in  dem  Geiste  Miquel’s  geschrieben;  wir  würden 
ihm  Glück  wünschen,  wenn  es  ihm  gelungen  wäre,  die  in 
Miquel’s  Schrift  ausgesprochenen  Wahrheiten  in  nuce 
wiederzugeben.  Ref.  findet  in  dieser  47  Seiten  langen 
Schrift  sechszehn  Seiten  mit  Fntschuldigungen,  überflüssi¬ 
gen  Noten,  Anreden  an  die  Zöglinge  der  Lyoner  medicini- 


I 


.'107 


V 


XIY.  Vermischte  Schriften. 

sehen  Schule  angefiillt,  und  die  übrigen  mit  Declamationen 
reichhaltig  gespickt. 

Anerkannt  auch,  dafs  mit  dem  Scalpell  in  der  Hand 
es  nie  gelingen  wird,  die  Gesetze  des  Lehens  zu  ergrün¬ 
den,  so  geht  der  Verf.  doch  zu  weit,  wenn  er  Seite  li) 
vom  Studium  der  Anatomie  sagt,  dafs  es  unnütz  sei,  und 
nicht  unverdient  dürfte  er  von  Broussais  für  diese  Aeufse- 
rung  un  homme,  qui  n’est  pas  de  mon  siede  et  qu’il  faut 
renvoyer  aux  tems  barbares  de  la  feodalite  genannt  werden. 

Bekanntlich  ist  Broussais’ s  Theorie  nicht  viel  inehr,  / 
als  der  umgekehrte  Brownianismus ,  gegründet  auf  einige 
anatomisch -pathologische  Beobachtungen,  dieBichat,  wenn 
er  erwachte,  vindiciren  dürfte.  De  la  Prade  will  nun 
Broussais  durch  die  Behauptung  widerlegen,  dals  Anato¬ 
mie,  Physiologie,  Pathologie  und  Therapie  einander  ganz 
heterogene,  nicht  einem  und  demselben  Stamme  entwach¬ 
sene  und  an  demselben  fortgriinendc  Wissenschaften  seien, 
so  dafs  es  absolut  unmöglich  sei,  dafs  die  eine  durch  die 
Fortschritte  der  andern  etwas  gewinne. 

Dafs  die  Bro ussaissche  Theorie  uns  am  Krankenbette 
im  Stich  läfst,  ist  durch  andere  ebenfalls  schon,  und  viel¬ 
leicht  genügender  dargethan  worden;  wir  dürfen  nur  zum 
Beweise  ihrer  Unhaltbarkeit  an  die  Syphilis  und  an  die  in- 
termittirenden  Fieber  erinnern,  wo  Broussais  selbst  nicht 
ansteht,  Sublimat  und  China  zu  reichen.  Freilich  betrach¬ 
tet  Broussais  diese  beiden  Medicamente  als  Contrastimu¬ 
lantia,  die  durch  Ableitung  (par  revulsion)  wirken,  in¬ 
dem  sie  durch  Erregung  einer  Irritation  in  einem  anderen 
Organe,  die  krankhafte  Irritation  auf  heben.  In  welchem 
Organe  bewirkt  indefs  die  China  beim  Wechselfieber  die 
Irritation,  das  ja  nach  Broussais  ebenfalls  auf  einer  Irri¬ 
tation  der  Magenschleimhaut  beruht? 

Der  Verf.  schliefst  mit  einer  kurzen  Geschichte  der 
Medicin,  um  zu  beweisen,  dafs  Philosophie  und  Theorie 
der  eigentlichen  Medicin  schädlich  seien,  und  ärgert  sich, 


\ 


I 


508 


XIV.  Vermischte  Schriften. 


dafs  man  Sy  den  ha  ms  Namen  vor  Ba i  I  Io  u  s  Namen 
nenne  —  wie  der  V  crf.  behauptet,  aus  Anglomanic,  die 
sich  der  französischen  Aerztc  bemeistert  habe. 

,  llcyfelder. 


% 


■  \ 

U  e  s  p  r e j  u g e s  s u r  I a  m e d e c i n  e  consider£e 
comme  seien ce, 'discours  lu  a  la  srance  publique  de 
la  societe  des  Sciences  mcdicales  du  departement  de  la 
Moselle,  le  11  Septembre  1827,  par  II.  Scoutetten, 
Docteur  etc.  Metz  1827.  24  S. 


Der  \  erf.  nimmt  in  einer  wohlgeordneten  und  elegan¬ 
ten  Sprache  die  Arzneiwissenschaft  gegen  die  Spötteleien 
in  Schutz,  welche,  durch  einige  französische  Witzlinge  in 
Umlauf  gesetzt,  hinreichend  waren,  bei  den  für  Witzeleien 
so  empfänglichen  Franzosen  Wurzel  zu  schlagen;  er  begeg¬ 
net  den  Angriffen ,  welche  von  der  einen  und  von  der  an¬ 
deren  Seite  geschehen,  und  weist  auf  die  Wohlthaten  hin, 
welche  die  V  ölker  der  Medicin  verdanken.  Namentlich  ge¬ 
denkt  er  ries  Umflusses  der  Vaccine,  des  Ganges  und  des 
bösartigen  Charakters  der  Krankheiten  und  Upidemieen  in 
einem  Lande,  wo  die  Arzneiwissenschaft  noch  in  der  Kind¬ 
heit  ist  —  im  Vergleich  zu  denjenigen  Gegenden,  wo  die 
Aerzte  sich  durch  eine  allgemeine  wissenschaftliche  Bildung 
auszeichnen.  Wohl  war  es  hier  angebracht,  zu  erwähnen, 
dafs  man  in  Frankreich  im  Jahre  1780  auf  30  Lebende  jähr¬ 
lich  einen  lodesfall  zählte,  während  gegenwärtig  nur  von 
39  Umwohnern  einer  vom  Tode  weggerafft  wird;  dafs  im 
vierzehnten  Jahrhunderte  in  Paris  von  l(i  Umwohnern,  im 
siebzehnten  von  25,  und  jetzt  nur  von  32  Uinwohncrn 
jährlich  ein  Individuum  stirbt. 

Als  das  sicherste  Mittel,  in  einem  Lande  die  Vorur- 
theile  gegen  die  Mcoicm  auszurotten,  schlägt  er  strenge 
1  riitungen  liir  diejenigen  vor ,  welche  sich  der  Ausübung 
der  Medicin  widmen  wollen,  so  wie  die  Einführung  eines 


XIV.  Vermischte  Schriften. 


509 


allgemeinen  Concours  bei  Besetzung  der  Stellen  und  Aem- 
ter  —  so  wie  er  schon  in  Paris,  Lyon,  Marseille,  Mont¬ 
pellier  und  Strasburg  besteht  —  indem  die  Erfahrung  bis 
jetzt  noch  nicht  gelehrt  habe,  dafs  der  Zufall  und  Begün¬ 
stigungen  stets  die  fähigsten  Subjekte  wählen. 

Dafs  es  Broussais  und  seiner  Lehre  Vorbehalten  sein 
sollte,  die  Medicin  besonders  in  den  Augen  des  Publikums 
zu  heben,  wie  der  Verf.  vermuthet,  möchte  Bef.  bezwei¬ 
feln,  indem  diese  wohl  geeignet  sein  dürfte,  den  Laien  die 
Arzneiwissenschaft  als  etwas  sehr  leichtes  zu  zeigen,  das 
weder  eines  umfassenden,  noch  eines  gründlichen  Studiums 
bedarf. 

Heyfelder. 


3.  Supplement  ä  la  Bibliographie  de  l’histoire 
medicale  des  marais,  par  J.  B.  Monfalcon,  Mede- 
cin  de  l’Hötel  Dieu,  Inspecteur  des  eaux  minerales  de 
Lyon  cet.  Paris  1827. 

Der  Verf.,  dessen  treffliches  Werk  über  die  Sümpfe 
und  die  durch  die  Sumpfausdünstungen  bedingten  Krankhei¬ 
ten  wir  in  diesen  Annalen  (Octoberheft  1825,  und  Juni¬ 
heft  1827)  vollständig  angezeigt,  giebt  in  vorliegenden  Sup¬ 
plementbogen  eine  kritische  Anzeige  der  Schriften,  die 
neuerdings  über  die  Fieberepidemie  in  Groningen,  vorzugs¬ 
weise  von  holländischen  Aerzten,  dem  medicinischen  Publi¬ 
kum  vorgelegt  worden  sind.  Mit  Vergnügen  bemerkt  Bef., 
dafs  der  gelehrte  Verf.  bei  dieser  Gelegenheit  auch  noch 
die  Arbeiten  deutscher  Aerzte  benutzt,  manche  Lücke  in 
der  Litteratur  über  die  Sumpfkrankheiten  ausgefüllt,  und 
so  seinem  Werke  einen  Platz  unter  den  klassischen  medi- 
cinischen  Schriften  seines  Vaterlandes  verschafft  hat. 

Heyfelder» 


510 


XV.  Dissc  r  Unionen. 


XV. 


D  i 


s  8  e  r  t  a  t  i 


o  n  e  n . 


I.  Der  Universität  Breslau. 

De  fistula  sacci  lacrymalis.  Diss.  inaug.  chir.  Def. 
d.  11.  Nov.  1828.  Auct.  Franc*  VVelzel*  Keinercen- 
sis.  8.  pp.  40. 

Nach  Angabe  der  gewöhnlichen  Heilmethoden  für  die¬ 
ses  Uebel,  setzt  der  Verf.  die  in  dem  chirurgischen  Clini- 
cum  zu  Breslau  gebräuchliche  auseinander,  zufolge  welcher 
nach  Durchschneidung  der  Fistel  geeignete  örtliche  Arz¬ 
neien  mit  grofsem  Frfolge  angewandt  werden,  welchen 
sechs  angehängte  Beispiele  bestätigen. 

Meletemata  quaedam  circa  Opium.  Diss.  inaug.  med. 
Def.  d.  19.  Dec.  1828.  Auct.  Anselm.  Davidson, 
Vratisl.  8.  pp.  31. 

Versuche  an  Kaninchen,  welchen  der  Verf.  Opium  in 
Substanz  reichte,  schienen  ihm  eine  ursprünglich  herabstira- 
mende  Wirkung  zu  erweisen,  auf  welche  erst  eine  erre¬ 
gende  folge.  So  wenig  wir  hierin  beistimmen,  überzeugt, 
dafs  man  die  Wirkung  des  Opiums  nicht  unter  die  einfache 
Formel  von  Beizung  und  Herabstimmung  bringen  könne, 
so  erkennen  wir  um  so  mehr  zwei  andere  aus  jenen  \  er¬ 
suchen  hervorgehende  Folgerungen  an,  dafs  nämlich  Kanin¬ 
chen  verhältnifsmäfsig  viel  Opium  vertragen,  und  dafs  die 
Gewohnheit  die  "NA  irkung  desselben  bedeutend  vermindere. 

Sphygmologiae  Avicennae  conspectus.  Diss.  inaug. 
med.  Def.  d.  31.  Dec.  18JS.  Auct.  Alexander  Schaul, 
Vratisl.  8.  pp.  26. 

Der  Verf.,  des  Arabischen  kundig,  schildert  die  dem 
Galen  nachgebildete  Fulsiehre  des  Avicenna  nach  dem 
Gruudtexte  der  Schriften  desselben. 


XV.  Dis  sertationen. 


511 


De  Luce.  Diss.  inaug.  med.  Def.  d.  16.  Febr.  1829. 
Auct.  Jos.  Tyc,  Varsoviensis.  8.  pp.  27. 

De  placentae  solutione  et  de  justo  subligandi 
funiculi  umbilicalis  tempore  in  partu  normal i. 
Sectio  prior.  Quam  pro  impetranda  venia  le¬ 
gendi  d.  18.  Febr.  1829.  defendit  Auctor  Maurit. 
Kuestner,  M.  D. ,  instituti  regii  obstetricii  director  se- 
eundarius,  magister  obstetricum  primarius  etc.  4.  pp.  IV 
et  52.  s 

Der  Hr.  Verf.,  ein  durch  amtliche  Stellung  wie  durch 
ausgebreitete  Privatpraxis  sehr  erfahrener  Geburtshelfer, 
stellt  den  von  ihm  praktisch  durchgeführten  Grundsatz  auf, 
dafs  man  bei  der  regelmäfsigen  Geburt  durchaus  nichts  zur 
Entfernung  des  Mutterkuchens  thun,  und  das  Kind  erst 
dann  von  dem  Nabelstrange  trennen  dürfe,  wenn  der  Mut¬ 
terkuchen  durch  die  Naturkräfte  ausgestofsen  worden.  In 
mehr  als  1800  Fällen  ist  dieses  Verfahren  von  ihm  als  nütz¬ 
lich  für  Mutter  und  Kind  beobachtet  worden.  Hingegen 
-  beobachtete  er  429  Fälle,  wo  nach  den  gewöhnlichen  Be¬ 
mühungen  der  Hebammen  zur  baldigen  Lösung  Lebensge¬ 
fahr  entstand;  69  liefen  tödtlich  ab.  Die  Lösung  der  Nach¬ 
geburt  wird  daher  auf  die  Fälle  beschränkt,  wo  durch  un¬ 
geschickte  Bemühungen  zur  Lösung  Gefahr  herbeigeführt 
worden.  Von  der  ganz  der  Natur  überlassenen  Nachgeburt 
hat  der  Verf.  nie  Nachtheil  beobachtet.  Ein  Urtheil  über 
diese,  den  physiologischen  Gesichtspunkt  ansprechende  und 
zum  Theil  auch  schon  anderweitig  vorgetragenen  Grund¬ 
sätze,  müssen  wir  den  besonderen  Bearbeitern  dieses  Faches 
überlassen. 


II.  Der  Universität  Berlin. 

7.  De  Graviditate  extrauterina.  D.  i.  physiologic. 
pathologic.  auctor.  Joann.  August.  Gotthardt,  Neo- 


512 


XV.  Dissertationen. 


marchic.  Def.  d.  13.  Februar.  1829.  4.  pp.  26.  Acc. 
tab.  aen. 

Diese  Dissertation  schliefst  sich  der  in  dem  diesjährigen 
Januarhefte  S.  121  angezeigten  de  graviditale  oarica  von 
Rahts  an,  der  sie  in  Rücksicht  der  Bearbeitung  des  inte¬ 
ressanten  Gegenstandes  nach  den  vorhandenen  Beobachtun¬ 
gen  füglich  zur  Seite  zu  stellen  ist.  Der  Verf.  spricht  zu¬ 
erst  von  der  Diagnose  der  Extrauterinschwangerschaft  irn 
Allgemeinen,  wo  er  sich  denn  vorzüglich  an  Josephi 
hält,  dann  besonders  von  der  Graviditas  ovaria,  tubaria, 
abdominalis,  substantiae  uteri,  vaginalis,  vesicae  urinariae. 
In  allen  diesen  Abschnitten  gewinnt  der  Leser  einen  umfas¬ 
senden  Ueberblick  über  die  früheren  Arbeiten,  das  Sichere 
ist  von  dein  Zweifelhaften  sorgfältig  geschieden,  und  ein¬ 
zelne  frühere  Beobachtungen  sind,  wo  sie  als  Belege  für 
allgemeinere  Aussprüche  dienen  können,  zweckmäfsig  her¬ 
vorgehoben.  So  erzählt  der  Verf.  die  beiden  überhaupt 
nur  vorhandenen  Fälle  von  Graviditas  vesicae  urinariae,  die 
immer  eine  secundaria  ist,  ausführlich.  Die  beiden  letzten 
Abschnitte  sind  über  den  Ausgang  der  Extrauterinschwan¬ 
gerschaft,  und  über  die  Ilülfsleistungen  bei  sicherer  Dia¬ 
gnose  derselben.  Der  Verf.  entscheidet  sich  für  die  Gastro- 
tomie,  ohne  jedoch  den  bisherigen  Verhandlungen  über  die¬ 
sen  vielbesprochenen  Gegenstand  neue  Gründe  dafür  hinzu¬ 
zufugen,  die  Zweifel  über  die  Anwendbarkeit  dieser  Ope¬ 
ration  irgend  zu  beseitigen,  oder  die  Diagnose,  worauf 
es  doch  hauptsächlich  ankommt,  fester  begründen  zu  kön¬ 
nen.  —  Angehängt  ist  ein  hier  beobachteter  Fall  von 
Eierstocksschwangerschaft ,  den  wir  seiner  Seltenheit  wegen 
hier  kürzlich  mittheilen  wollen.  Eine  dreiunddreifsigjährige, 
schon  im  siebzehnten  Jahre  verheirathcle  Frau,  die  bereits 
sechs  Kinder  geboren  hatte,  und  nachdem  sie  ihren  Mann 
verlassen,  ein  ziemlich  ausschweifendes  Leben  im  Goncubi- 
nat  führte,  wurde  zum  siebenten  Male  schwanger  und  ver¬ 
fiel  alsbald  nach  der  Empfängnifs  in  heftige  Krämpfe,  in 
Folge  welcher  sie  das  Bett  sieben  Monate  lang  nicht  ver- 


XV.  Dissertationen. 


513 


lassen  konnte.  Sie  lag  am  bequemsten  auf  dem  Rücken, 
mehr  nach  der  rechten  Seite,  mit  angezogenen  Schenkeln, 
und  vermochte  sich  nicht  ohne  fremde  Hülfe  zu  rühren. 
Die  Menstruation  trat  mehrmals  mit  Erleichterung  der 
Schmerzen  ein,  und  die  letzten  zwei  Monate  flofs  eine 
grofse  Menge  übelriechendes  Wasser  aus  der  Scheide.  Vier¬ 
zehn  Tage  vor  dem  Tode  besserte  sich  die  Kranke  so  weit, 
dafs  sie  aufstehen  und  umhergehen  konnte.  Ihrem  Arzte, 
der  die  Extrauterinschwangerschaft  nicht  erkannte,  sondern 
in  der  Krankheit  nur  eine  Gebärmutterwassersucht  sah,  ge- 

i  , 

lang  es  in  dieser  Zeit,  den  Ausflufs  des  Wassers  auf  einige 
Tage  zum  Stehen  zu  bringen,  doch  erfolgten  darauf  so¬ 
gleich  heftige  Krampfanfälle.  Drei  Tage  vor  dem  Tode 
stürzte  das  Wasser  wieder  reichlich  hervor,  und  endlich 
erfolgte  dieser  unter  starken  Convulsionen.  Bei  der  Section 
(die  Leiche  wurde  auf  das  anatomische  Theater  gebracht) 
fand  sich  im  rechten  Eierstocke  ein  Fötus  von  un¬ 
gefähr  sieben  Monaten,  mit  unversehrten  Eihäuten. 
Die  beigefügte  gute  Abbildung  des  Eierstockes  mit  dem 
Fötus  und  den  übrigen  inneren  Geschlechtstheilen,  bei 
denen  wir  jedoch  genauere  Angaben  über  den  Zustand  des 
Uterus  vermissen,  giebt  dieser  Dissertation  einen  bleiben¬ 
den  Werth. 

8.  Diss.  inaug.  pathologic.  anatomic.  sistens  Casum  sin¬ 
gulärem  de  Amaurosi  cranii  osteosarcomate  e  f  - 
fecta,  auctor.  Adolph.  Albert.  Guilelm.  Rhodius, 
Guestphal.  Boruss.  Def.  d.  16.  Februar.  1829.  4.  pp.  20. 
Acc.  tab.  aen. 

Ein  sehr  ausgezeichneter  Fall  von  organischem  Kopf¬ 
leiden,  wo  nach  vielfältigen  Irrungen  in  der  Diagnose  ein 
bedeutendes  Osteosarcom  an  der  rechten  Seite  des  Keilbeins 

\  N  '  \ 

bei  der  Section  entdeckt  wurde,  das  die  Sehnerven  gedrückt 
und  verschoben  hatte.  Kurze  Zeit  vor  dern  lode  war 
Lähmung  der  linken  Seite  erfolgt.  Die  Amaurose  fand 
sich  nach  mannigfachen  Leiden  erst  später  ein.  Der  Verf. 


514 


XV.  Dissertationen. 


erzählt  die  Krankengeschichte  in  einer  wohlgefälligen,  leben¬ 
digen  Sprache,  und  hat  das  Krgebnifs  der  Leichenöffnung, 
wie  der  Falles  verdient,  durch  eine  gute  Abbildung  ver¬ 
sinnlicht. 

9.  Theoria  auditus.  I).  i.  m.  auctor.  Siegbert  Rcy- 
mann,  Siles.  Neostadiens.  Bef.  d.  20.  Februar.  1829.  8. 
pp.  35. 

Der  \erf.  stellt  die  bisherigen  Ansichten  der  berühm¬ 
testen  Physiologen  und  Physiker  über  das  Gehör  mit  vieler 
Klarheit  dar,  ohne  jedoch  seinem  Gegenstände  eine  neue 
Seite  abzugewiunen. 

10.  De  Gausis  mechanicis  ad  menstrifationem  re- 

tentam  con  ferentibus.  D.  i.  med.  chir.  auctor.  Ca¬ 
ro  1.  Eduard.  Friese,  Primislaviens.  Def.  d.  2.  Mart. 
1829.  8.  pp.  42.  '  - 

Der  Verf.  rechnet  zu  jenen  mechanischen  Ursachen 
vorzüglich  die  Atresie  der  Scheide  und  des  Muttermundes, 
worüber  er  das  Bekannte  mittheilt.  Durch  zwei  Kranken- 
geschichten,  eine  Retentio  menstruorum  durch  erworbene 
Atresia  vaginae,  und  ein  Hymen  claustim  betreffend,  erhält 
diese  Abhandlung  Interesse. 

11.  De  Vestitu  humano.  D.  i.  auctor.  Bartholom. 
Carol.  Ferrari,  Paderan.  Guestphal.  Def.  d.  6.  Mart. 
1829.  8.  pp.  21. 

12.  Diss.  inaug.  pathologic.  anatomic.  de  Cerebri  tu- 
moribus,  auctor.  David.  Meyer,  Berolinens.  Def. 
d.  16.  Mart.  1829.  4.  pp.  22.  Acc.  tab.  aeo. 

Nach  einer  allgemeinen  Abhandlung  über  die  organi¬ 
schen  Veränderungen  des  Hirns  und  seiner  Häute,  in  der 
neun,  gröfstentheils  in  älteren  Werken  enthaltene  Beobach¬ 
tungen  über  die  lolgen  von  Geschwülsten  in  und  am  Ge¬ 
hirn  mitgetheilt  werden,  beschreibt  der  Verf.  eiue  Geschwulst 


XV-  Dissertationen. 


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515 


an  der  Basis  des  Geliirns  einer  alten  Frau,  über  deren 

Structur  jedoch  nichts  näheres  erhellt.  Die  beigegebene 

Abbildung  ist  ganz  deutlich,  und  die  ganze  Beobachtung 

würde,  da  der  Trigeminus  sehr  geschwunden,  und  weder 

vom  Gesichtsnerven,  noch  vom  Gehörnerven  irgend  eine 

Spur  aufzufinden  war,  ein  ungewöhnliches  Interesse  gewäh- 

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ren,  wenn  von  den  diesen  Zustand  betreffenden  Erschei¬ 
nungen  während  des  Lebens  irgend  etwas  zu  ermitteln  ge¬ 
wesen  wäre. 

13.  De  Methodo  diuretica.  D.  i.  m.  auctor.  Gustav. 
Carol.  Anton.  Otto,  Erfordiens.  Def.  d.  30.  Mart. 
1829.  8.  pp.  34. 

14.  De  Dolore  capitis.  D.  i.  pathologic.  therapeutic. 
auctor.  Francisc.  Puellenberg,  Lügdens.  Guestphal. 
Def.  d.  1.  April.  1829.  8.  pp.  27. 

*15.  Observatio  quaedam  de  Fluxu  coeliaco  syphili- 
tico.  I).  i.  m.  auctor.  Carol.  Rasche,  Berolinens. 
Def.  d.  3.  April.  1829.  8.  pp.  22. 

Nach  einigen  allgemeinen  Bemerkungen  über  den  Flu¬ 
xus  coeliacus,  die  das  Bekannte  enthalten,  theilt  der  Verf.  , 
die  erwähnte  Beobachtung  mit.  Die  Kranke  war  eine 
öffentliche  Person,  die  wegen  syphilitischer  Ansteckung 
mehrmals  im  Charitekrankenhause  behandelt  wurde.  Es 
stand  zu  vermuthen,  dafs  der  Fluxus  coeliacus,  der  sie  zu¬ 
letzt  heimsuchte,  von  Trippergift  verursacht  worden  war, 
doch  liefs  sich  diese  Annahme  keinesweges  zur  Gewifsheit 
erheben.  Die  Section  war  auch  in  anderer  Rücksicht,  als 
auf  die  Auflockerung  und  Excoriationen ,  so  wie  Drüsen¬ 
anschwellungen  des  Mastdarms  interessant,  indem  beide  Ova¬ 
rien  sich  wassersüchtig  zeigten,  und  die  Menstruation  den¬ 
noch  bis  wenige  Monate  vor  dem  Tode  regelmäfsig  geblie¬ 
ben  war.  Tuberkeln  fanden  sich  in  den  Lungen  uftd  im 
Gekröse,  die  Aeufserung  aber,  dafs  die  Tuberkeibildung  in 


516 


XV.  Dissertationen. 


den  Lungen  auf  scrofulöser  Affection  derselben  beruhe, 
sollte  man  bei  unserer  gegenwärtigen  Kenntnifs  dieses  krank¬ 
haften  Prozesses  kaum  noch  erwarten  dürfen. 

16.  De  Ilerniis,  speciatim  i ncarcera t is.  D.  i.  med. 
Chirurgie,  auctor.  Carol.  Ferdinand.  Rupp,  Dube- 
nens.  Def.  d.  6.  April.  1829.  8.  pp.  37. 

Eine  kurze  Darstellung  der  Hernien  mit  den  bekannten 
Unterscheidungen,  in  der  jedoch  auf  die  pathologisch -ana¬ 
tomischen  Erweiterungen  der  Lehre  von  den  Rrüchen  zu 
wenig  Rücksicht  genommen  ist.  Der  Name  Hesselbach 
sollte  gegenwärtig  in  keiner  Abhandlung  dieser  Art  fehlen. 

17.  D  e  Phthisi  pulmonum  vera.  D,'i.  pathologic. 
med.  auctor.  Joann.  Carol.  Albert.  Krebs,  Massoic. 
Wilinaburgens.  Def.  d.  10.  April.  1S29.  8.  pp.  44. 

Eine  Darstellung  der  Tuberkelschwindsucht  nach  den 
neueren,  allgemein  anerkannten  Erfahrungen,  mit  umfas¬ 
sender  Angabe  der  Litteratur. 


C. rdrmkl  bei  A.  W.  Schade  in  Berlin 


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