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Full text of "Litterarische Annalen der gesammten Heilkunde / in Verbindung mit mehreren Gelehrten herausgegeben von Justus Friedrich Carl Hecker. Volume 14, 1829."

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LITTERARISCHE  ANNALEN 

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R  -der 

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gesammten  Heilkunde. 


ln  Verbindung 

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m/7  mehreren  Gelehrten 

1t  «raus  gegeben 

V  ,  .  \  •  -  r  '  .  .  , 

»  .  , 

von 

Dr.  Justus  Friedrich  Carl  Hecker, 

Professor  der  Heilkunde  an  der  Universität  Berlin,  Mitgliede  der 
medicinisv  Len  Ober-Exaroinations  -  Commission,  der  medicinischen 
Gesellschaften  zu  Berlin,  Kopenhagen,  London,  Philadelphia  und 
Zürich,  der  Wetterauischen  Gesellschaft  für  die  gesammle  Natur¬ 
kunde,  der  Gesellschaften  für  Natur-  und  Heilkunde  zu  Berlin, 
Bonn  und  Dresden,  so  wie  der  Accademia  Pontaniana  zu  Neapel 
Mitgliede  und  Correspondenten. 


V  ier  z  eh  n  t  er  B  a  n  d, 

» 


Berlin. 

im  Verlage 

von  T  h  e  o  d.  Christ.  F  r  i  e  d  r.  K  n  s  1  i  n. 

1829. 


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v»  l  4t 

Narrte n eerzeich / / ijs  der  Herren  Mitarbeiter . 

Herr  Professor  v.  Amnion  in  Dresden. 

—  Medicinalrath  Dr.  Andrea  in  Magdeburg. 

—  Dr.  Delir  in  Bernburg. 

—  Dr.  Brüggemann  in  Magdeburg. 

—  Professor  Dr.  Carus  in  Dresden. 

—  Hofrath  Dr.  Clarus  in  Leipzig. 

—  Dr.  Dieffenbach  in  Berlin. 

—  Collegienrath  und  Professor  Dr.  Erdmann  in  Dorpat. 

—  Dr.  Haindorf  in  Münster. 

—  Dr.  Iley  fei  der  in  Trier. 

—  Professor  Jäger  in  Erlangen. 

—  Dr.  Köhler  in  Dorpat. 

—  Hof-  und  Medicinalrath  Dr.  Kreysig  in  Dresden. 

—  Professor  Dr.  Lichtenstädt  in  Breslau. 

—  Dr.  Lo  eher  -  Bai  her  in  Zürich. 

—  Professor  Dr.  Marx  in  Güttingen. 

—  Dr.  Monfalcon  in  Lyon. 

—  Dr.  Otto  in  Kopenhagen. 

—  Dr.  Plagge  in  Burg -Steinfurth. 

—  Dr.  G.  11.  Richter  io  Königsberg. 

—r-  »Geh.  Medüinairaih  Dr.  Sachsa  in  Ludwigdust 

—  Dr.  Schilling  in  Dresden. 

—  Dr.  Schön  in  Hamburg. 

—  Dr.  Serlo  in  Crossen. 

—  Dr.  E.  v.  Siebold  in  Berlin. 

—  Dr.  Siel  mann  in  Moskau. 

— «  Prof.  Spitta  in  Rostock. 

—  Hofrath  Dr.  Stark  in  Jena. 

—  Medicinalrath  Dr.  Steffen  in  Stettin. 

—  Geh.  Medicinalrath  Dr.  Vogel  in  Rostock. 

—  Professor  Dr.  Wagner  in  Berlin. 

—  Professor  Weber  in  Bonn. 

—  Professor  Dr.  Wendt  in  Kopenhagen. 

—  Regimentsarzt  Dr.  Wutzer  in  Münster. 


11  PROPCTY1  OF“« 


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Dem  Herrn 

*  i  .  - 

Dr.  Henry  Scoutetten, 

Aide-major  am  Militair- Hospital  zu  Metz,  Milglled  der  Acade- 
mieen  der  Wissenschaften  in  Toulouse,  Lille  und  Metz,  der 
raedicinischen  Gesellschaften  in  Berlin,  Metz,  Paris,  Toulouse, 
Würz  bürg,  der  naturhistorischen  Gesellschaft  in  Leipzig, 

u.  s.  w. 


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* 

widmet 

den  vierzehnten  Band  dieser  Annalen 


i 


hochachtungsvoll 


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der  Herausgeber. 


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Inhalt  des  vierzehnten  Bandes. 


1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 


I 

2. 

3. 

4 


I.  Originalabhandltmgen. 


Seite 


Paracelsus,  von  Dr.  F.  Jah  n.  .  ....  1.129 

Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  den  Rückenmarkkrankhei- 
ten,  von  Dr.  M.  Schlesinger.  .  . 74 

Zur  Lehre  von  der  forensischen  Beurtheilung  der  Ver¬ 
giftungen,  von  Dr.  Lichtenstädt . 162 


Skizze  der  Lehre  von  den  kritischen  Tagen.  Von  Dr. 
Steinheim . 257 

Philosophie  und  Physik.  Von  Dr.  Stein  heim.  .  .  387 

Fortgesetzte  Beobachtungen  über  die  Lebensart  und 
den  Bifs  der  gemeinen  Otter.  Von  Dr.  Wagner.  .  433 


II.  Kritische  Anzeigen. 

A.  Homöopathie. 

C.  G.  Ch.  II  artlaub,  Tabellen  für  die  praktische  Me- 
dicin  nach  homöopathischen  Grundsätaen.  .  .  .  .  31 

G.  A.  Tittmann,  Die  Homöopathie  in  staatspolizei- 
rechtlicher  Hinsicht . i  31 

C.  L.  Kaiser,  D  ie  homöopathische  Heilkunst  u.  s.  w.  43 


B.  Geschichte  der  Heilkunde. 

P.  «L  Schneider,  Die  Ilamatomanie  des  ersten  Vier¬ 
tels  des  neunzehnten  Jahrhunderts . 46 


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VI 


5. 

6 

7# 

8. 

9. 

10. 
n 
12 

13. 

14. 


Inhalt  des  vierzehnten  Bandes. 


i 

C.  Praktische  Heilkunde. 


•Seite 


A.  J.  L.  Jourdan,  'fraite  Oomplct  des  maladics  venr- 
rienncs.  . 102.  289 

N.  Chr.  M  ühl,  Ucber  die  Varioloideu  und  Varicellen. 

A.  d.  Lat.  mit  Anm.  und  Zus.  von  C.  F.  Th.  Krause.  225 

Th  u  1  cs  i  u  s  ,  Variolarum,  quac  llalae  Saxonum  a.  1826  27. 
florucrunt,  descriptio . 230 

L.  Maier,  Feber  die  Yarioloidcn  oder  die  modi-ficir- 

ten  Pocken . 288 

Ulrich,  Generalbericht  des  königl.  Rheinischen  Me* 
dicinal  -  Collegiums  über  das  Jahr  1826 .  281 

Ilertwig,  Beiträge  zur  näheren  Kcnutnifs  der  Wuth- 
krankheit  oder  Tollheit  der  Hunde . .  .  294 

A.  W.  v.  Stosch,  Versuch  einer  Pathologie  und  The¬ 
rapie  des  Diabetes  mellitus . 304 

J.  F.  Engelhard,  Der  Croup  in  dreifacher  Form  u. 

s.  w.  . 339 

C.  A.  W.  Berends  Vorlesungen  über  praktische  Arz- 
nciwisscnschaft,  herausgeg.  von  K.  Sundelin.  Bd.  5.  479 

F.  Magendie,  Beehcrches  physiologiques  et  medicalcs 
sur  les  causes,  les  syinptomes  et  1c  traitemeut  de  ia 
gravclle . 495 


D.  Heilmittellehre,  Toxicologie,  Heilquel¬ 
len  n  n  d  Bäder. 


15.  J.  F.  Brandt  und  J.  T.  C.  Ratzeburg,  Getreue 
Darstellung  und  Beschreibung  der  1  liiere,  welche  in 
der  Arzneimittellehre  in  Betracht  kommen.  lieft  3. 

und  4 . 119 

16.  C.  Wenzel,  Die  Heilkräfte  des  W  asserlenchcl- 

saamens . .  .  .  .  n.  .  .  ....  122 

17.  K.  Th.  Merrem,  Feber  den  Cortex  adstringens  Bra- 

siliensis.  .  .  .  .  - . 408 

18.  K.  Sundclin,  Taschenbuch  der  ärztlichen  Receptir- 

kunst  und  der  Arzneiformeln . 413 

19.  F.  S.  Ratier,  Formulaire  pratique  des  llöpitaux 

civils  de  Paris.  . . 41/ 


20.  Fr.  G.  Ilaync’s  Darstellung  und  Beschreibung  der 
Arzneigcwächse,  welche  in  die  neue  preufsischc  Phar- 
macopöe  aufgenommen  sind,  iiacli  natürlichen  h  ami- 
licn  geordnet  und  erläutert  von  J.  F.  Brandt  und  J. 

3’h.  Chr.  Ratzeburg.  5te  und  6te  Lieferung.  .  .  ,  428 

21.  J.  F.  Brandt  und  J.  Th.  Chr.  Ratzeburg,  Abbil¬ 
dung  und  Beschreibung  der  in  Deutschland  wildwach- 


Inhalt  dos  vierzehnten  Bandes.  Vll 

,  Seite 

senden,  in  Gärten  und  im  Freien  ausdauernden  Gift¬ 
gewächse.  Heft  1.  und  2 . 430 

22.  P.  feblin,  Mineralquelle  und  Bad  7.u  Jenatz.  .  .  439 

23.  A.  E.  v.  Sieb  old,  Ausführliche  B  eschreibung  der 

Heilquellen  zu  Kissingen . .  442 

24.  S.  G.  Vogel,  B  eweis  der  unschädlichen  und  heil¬ 
samen  Wirkungen  des  Badens  im  Winter . 449 

,  ✓  _  '  _  —  ' 


E.  Staatsarzneikunde. 

25.  Fr.  Klug,  Auswahl  medicinisch -gerichtlicher  Gutach¬ 

ten  der  Königl.  wissenschaftlichen  Deputation  für  das 
Medicinalwesen.  Bd.  1 . 152 

x  .  , . •  •  r * ! * i  « •  .<<-■ i f 

*  /  ■  * 

F.  Physiologie. 

P 

26.  M.  Troja,  Neue  Beobachtungen  und  Versuche  über 

die  Knochen.  A.  d.  Ital.  von  A.  v.  Schönberg.  .  .  173 

G.  Chirurgie. 

27.  A.  Cooper,  Illustrations  of  the  diseases  of  the  breast.  213 

\ 

H.  Allgemeine  Pathologie. 

28.  F.  Jahn,  Ahnungen  einer  allgemeinen  Naturgeschichte 

der  Krankheiten . 357 

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\  * 

I 

I.  Psychische  Heilkunde. 

29.  G.  M.  Burrows,  Commentaries  on  the  causes,  forms, 

Symptoms,  and  treatment,  moral  and  medical  of  In- 
sanity . • . 451 


K.  Populäre  Schriften. 

m  4  /  '  i 

30.  K.  F.  Lutheritz,  Der  freundliche  Hausarzt  als  Rath¬ 
geber  bei  Erkältungskrankheiten  und  allen  Folgen  der 
Blutverschleimung.  .  . . 355 

31  G.  W.  Becker,  Guter  Rath  für  Schwerhörige  und 


Taube . r  356 

L.  Dissertationen. 

1.  Der  Universität  Königsberg . ?.....  124 

2.  —  —  Berlin.  .  .  .  ,  •  ,  ,  ,  '  .  .  ,  ,  127 


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I 


♦ 


Inhalt  des  vierzehnten  Bandes. 


VIII 


III.  Notizen. 

1.  Chirurgische . 

2.  Praktische. 


Seite 


.  .  186 
245.345.497 


IV.  Preisfrage, 

die  Zulassung  tu  den  Facultats-  Studien  betreffend.  .  .  .  167 

.  t  •  \ 

y  '  _ 

V.  Berichtigung, 

von  Clarus . . . ..172 


Medicinische  Bibliographie .  249.384.508 


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4 


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I 


Par,acelsus. 


Von 

D  r.  F.  Jahn. 


«Ich  will’s  euch  dermaafsen  erläutern  und  Vorhalten,  dafs 
bis  an  den  letzten  Tag  der  Welt  meine  Schriften  müssen  blei- 
ben,  und  wahrhaftig!  Mehr  -will  ich  richten  nach  meinem  Tod 
wider  eüch,  denn  davor!» 

Par acels u  s» 

•'  .  I  i  ■' 


Wohl  wenige  Menschen  sind  allgemeiner  verschrieen  wor¬ 
den,  als  Paracelsus.  Nach  langem  Studium  seiner  dun- 
kelen  Bücher  *),  zu  denen  mich  besonders  sein  grofser 
Schüler  und  Geistesverwandter  Heimo  nt  hinleitete,  glaube 
ich  in  Wahrheit  aussagen  zu  können,  dafs  der  Tadel,  der 
ihm  geworden,  gröfstentheils  als  ungegründet  und  unge¬ 
recht,  und  er  selbst  als  einer  der  erhabensten  Menschen 
aller  Zeiten  und  Völker  angesehen  werden  müsse 1  2). 

Zeit,  Ort,  Vorbereitung,  Fähigkeit  erlauben  mir  für 
den  Augenblick  nicht,  ein  umfassendes  und  in  allen  Par- 


1)  Schon  Helmont  sagt:  Libros  Paracelsi  densa  ob- 
scuritate  obsitos  investigavi  illumque  homincm  admiratus  sum. 

2)  Pcce,  locabo  loco  celso  cclsum  Paracelsum  —  sagt 
ein  alter  Poet 


XIV.  Bd.  l.  St. 


1 


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I.  Paracelsus. 


tiecn  ausgeführtes  Bild  des  grofsen  Todtcn  zu  geben,  ihn 
seiner  würdig  und  seiner  vollen  weltgeschichtlichen  Bedeu¬ 
tung  nach  zu  schildern,  darzulegen,  wie  er,  von  der  Zeit 
gefordert  und  nothwendig  für  den  Gang  der  Ausbildung 
des  Menschenlebens ,  in  jener  wundervollen  mystischen 

i 

Epoche,  wo  die  Kreuzzüge  und  andere  grofse  kriegerische 
Bewegungen  das  Feuerleben  des  Orients  mit  dem  kalten 
ernsten  Leben  des  Occidents  in  Conflict  gebracht  hatten, 

.  wo  die  I  niversitäten  in  ihrer  Blüthe  standen,  wo  die  hel¬ 
lenische  Philosophie  in  regen  Kampf  mit  der  Scholastik  trat, 
wo  Poesie,  Malerei  und  Bildhauerkunst  ihre  gröfste  Höhe 
gewannen,  wo  die  Alchymie  emporkam,  wo  die  Buch¬ 
druckerkunst  erfunden  w>ard  und  das  Schiefspulver,  wo 
Ostindien  und  Amerika  als  neue  Welten  sich  dem  Meere 
enthoben,  wo  nie  gesehene  seltsame  Krankheiten  zu  Häuf 
hervortraten,  wo  Luther  Europa  von  den  schmählichen 
Fesseln  des  neuen  geistigen  Rom  rettete  und  uns  keinen 
Homer,  aber  die  Bibel  gab,  wo  Deutschland  seine  höchste 
Macht  und  Gröfse  errang  —  wie  er,  sage  ich,  in  diesem 
Zeitabschnitte  und  nur  vermöge  desselben,  ein  neuer  Pro¬ 
metheus,  in  die  alte  tausendjährige  galenistische  Nacht  helles 
schlagendes  Licht  warf,  wie  er  eine  Zwingburg  der  Aerzte, 
an  der  Tausende  tausend  Jahre  lang  gebaut,  befestigt  und 
geflickt  hatten,  als  einzelner  Mensch  mit  herkulischer  Stärke 
von  Grund  aus  zerstörte,  wie  er  das  Herrliche,  das  in  der 
Medicin  von  den  alten  griechischen  Naturphilosophen,  von 
Platon,  von  Hippokratcs  zu  Tage  gefordert,  später 
aber  begraben  worden,  wieder  ans  Licht  und  zu  Ehren 
brachte  und  durch  Helmont,  Stahl  und  Schell  ing  auf 
unsere  Zeit  übertrug,  wie  er  in  dieser  Weise  und  auf  die¬ 
sem  Wege  ein  System  erbaute,  das,  wie  an  anderem  Orte 
gesagt,  wohl  einem  Baume  verglichen  werden  kann,  der, 
der  Zeit  ihren  Zoll  pflichtend  !),  mit  knorrigen  zcrsplit- 


1  )  Die  Zeit  ist  scharf,  denn  sic  giebt  alle  Stunden  Neues. 
In  gleicher  V\eise,  wie  des  Menschen  Gedanken  sind,  die  alle 


I.  Paracelsus. 


3 


terten  Aesten  und  zerklüfteter  erstorbener  Rinde,  von  After¬ 
gebilden  bedeckt,  zum  grofsen  Theile  vom  Wurme  zer¬ 
nagt,  krumm  und  verwachsen  auf  nacktem  Felsen  bängt, 
der  aber  zugleich  noch  im  Innern  lebendes  Mark  und  in 
diesem  eine  Fülle  schaffender  Gewalt  herbergt,  und  so  blüht 
und  Früchte  treibt,  die,  edlen  Wesens,  die  Enkel  des  Pflan¬ 
zers  erfreuen  und  labeD. 

Die  angedeutete  Schilderung  bleibt  anderer  Zeit  und 
anderem  Orte  Vorbehalten,  und  ich  liefere  hier  nur  eine 
Aehrenlese  aus  den  paracelsischen  Schriften,  zum  Beweise, 
dafs  meine  Ansicht  über  den  Reformator  gerecht  sei  und 
wahr.  Hierbei  ist  sonderbar,  dafs  ich  in  derselbigen  Ge¬ 
gend  wohne,  in  welcher  dereinst  Erastus,  Galle  statt  der 
Tinte  gebrauchend,  gegen  den  von  mir  hochverehrten  Mann 
schrieb.  — 

Ich  beginne  meinen  Aufsatz  mit  der  Erörterung  einiger 
Vorwürfe  und  Beschuldigungen,  die  gewöhnlich  gegen  Pa¬ 
racelsus  erhoben  werden. 

Man  rückt  ihm  allgemein  Sittenlosigkeit ,  Hochmuth 
und  Ruhmredigkeit  vor.  Dafs  er  mitunter  Wein  über  Ge¬ 
bühr  zu  sich  genommen  habe,  kann  niemand  ableugnen, 
und  wird  auch  von  Helmont  bestätigt  *);  es  ist  aus 
des  Mannes  unstetem  Leben,  aus  seinen  Kriegsfahrten,  aus 
den  Verfolgungen,  die  er  bestehen  mufste,  aus  seinem  Un- 


Stunden  anders  und  anders  sind,  12  Stunden  im  Tag  umgewen¬ 
det  —  niemand  mag’s  wissen,  denn  Einer  allein  — ;  also  auch 
ist’s  mit  der  Zeit;  sie  bringt  Neues.  —  Darum  soll  sich  der 
Arzt  nicht  zu  viel  atisthun,  denn  es  ist  ein  Herr  über  ihm,  das 
ist  die  Zeit,  die  mit  dem  Arzt  spielet,  wie  die  Katze  mit  den 
Mäusen.  Parac.  Th.  5.  S.  83.  (Ich  citire  nach  de^  Frank¬ 
furter  Ausgabe  von  1603,  zum  Theil  auch,  besonders  in  Be¬ 
ziehung  auf  das  Chirurgische ,  nach  der  Genfer  lateinischen 
von  1658. ) 

1)  Interim,  ut  sua  quemque  voluptas  trahit,  justo 
nimis  compotationibus  indulgens  coepit  spernere  cathedram.  J. 
B.  Hel  inont  opp.  omn.  Francof.  S.  223. 

1  * 

•  • 

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4 


I. 


Paracelsus, 


willen  über  die  Zeit  r)  leicht  erklärlich;  dafs  er  aber,  wie 
ihm  die  Gegner  vorwerfen,  beständig  berauscht  gewesen 
sei,  ist  nicht  möglich,  weil  er  dann  seine  Leistungen  ge- 
wifs  nicht  vollbracht  hätte 1  2 3).  .Er*  Selbst  sagt  auch,  dafs 
ein  « voller  Zapf »»  nicht  ans  Krankenbette  gehöre  *).  — 
Grofsen  Abscheu  zeigt  er  vor  dem  Mifsbrauche  des  weib¬ 
lichen  Geschlechtes.  «Der  Geist  des  Herrn  ist  in  den 
Frauen,  der  sich  einbildet  und  setzt  Frucht  in  ihnen. 
Darum  sie  nicht  sollen  zu  Hurerei  gebraucht  werden,  denn 
da  ist  der  Geist,  der  vom  Herrn  kommt,  zu  dem  er  auch 
wieder  geht.»  4)  —  Dafs  er  Stolz  besafs,  ist  klar;  eben 
so,  dafs  er  Ursache  dazu  batte.  So  konnte  er  denn  die 


1)  «Verum  nil  istis  mcis  argumentis  etiam  firrnissimis  per- 
moveri  Gerrnanos  ct  Italos  medicos  3  ex  rationibus  intelligo. 
Alii  namque  eorum  jam  senes  et  laboribus  fracti  quictem  quae- 
runt;  alii  crumenac  quam  aegris  medentur  aceuratius;  ultimi  no- 
vitatis  pertaesi  tarn  pigri  ac  vccordes  sunt,  ut  vix  se  ipsos  loco 
moveant.  >»  «Naturae  imperitos  esse  cique  manifeste  eontradiccrc 
cum  vitiosum  non  putetis  ,  dein  morborurn  descriptionibus  (eliam 
invita  Minerva  consarcinatis  ) ,  quac  nuda  antiquitate  commendan- 
tur,  sine  judicio  pertinaciter  fidcm  adhibeatis,  cur  non  ad  dete- 
gendos  errores  vestros  compclli  me  paterer?»  (3,  106.) 

2)  Man  führt  gewöhnlich  an,  wenn  man  P.  als  Trunken¬ 
bold  bezeichnet,  dafs  er  die  Studenten  combibones  optimi  nenne. 
D  er  Ausdruck  kommt  in  einem  Briefe  vor,  in  dem  er  die  Zü¬ 
richer  Studenten  von  Frohen  ius  Tode  benachrichtigt.  (Th.  7. 
S.  4.)  Man  lese  diesen  herrlichen,  rührenden,  von  tiefer  Ge- 
roüthlichkcit  zeugenden  Brief,  und  man  wird  die  Stelle  gewifs 
milder  beurtheilen  und  nicht  anstöfsig  finden.  Es  kommt  in  dem 
Briefe  vor:  Convictus  vester  suavissiinus ,  quo  nuper  apud  vos 
fruitus  sum ,  cujus  etiam  adhuc  cum  summa  gratiaruin  actione 
recordor.  Auf  diesen  Convictus  bezieht  sich  der  Ausdru  ck 
Combibones. 

3)  Th.  7.  S.  116.  u.  a.  a.  O. 

4)  Th.  1.  S.  116.  Hierbei  ist  freilich  zu  erwägen,  dafs 
er  durch  «in  Schwein  castrirt  gewesen  »ein  soll,  was  auch  ilei- 
raont  a.  a.  O.  sagt. 


I 


I.  Paracelsus, 


5 


bekannte  Aeufserung  thun:  «Mir  nach,  nur  nach,  Avi- 
cenna,  Galen us,  Rhases,  Montagnana,  Mesoe  und 
ihr  Anderen!  Mir  nach  und  ich  nit  euch  nach,  ihr  von 
Paris,  ihr  von  Meifsen,  ihr  von  Montpellier  u.  s.  w.  Ich 
werd  Monarcha  und  mein  wird  die  Monarchei  sein  und  ich 
führe  die  Monarchei  und  gürte  euch  eure  Lenden!  u.$.  w.  »*) 
Aber  von  Ilochmuth  und  Eitelkeit  ist  er  fern.  «  Das  mer¬ 
ket  wohl,  dafs  Gott  uns  gesetzt  hat  die  Strafe,  das  Anzei¬ 
chen,  das  Exempel  in  unsern  Krankheiten,  dafs  wir  sehen 
sollen,  dafs  all  unsere  Sache  nichts  ist  und  dafs  wir  in  kei¬ 
nem  Ding  gut  ergründet  sind  und  die  Wahrheit  wissen. 
Sondern  in  allen  Dingen  sind  wir  bresthaftig  und  unser 
Wissen  und  Können  ist  nichts!” 1  2)  So  kann  man  ihm  auch 
nicht  eigentlich  Ruhmredigkeit  vorwerfen.  Er  sagt  zu  sei¬ 
nen  Gegnern,  den  Humoralpathologen:  «Nein!  nein!  was 
ihr  verderbt,  dasselbige  unterstehe  ich  mich  wieder  aufzu¬ 
bringen!”  3 4)  —  aber  in  der  That  hat  er  auch  Wunder- 
curen  verrichtet,  wie  das  Experiment  beweist,  das  er  vor 
Basa,  dem  Leibarzt  des  Königs  von  Polen,  zu  Basel  an¬ 
stellte,  und  der  Umstand,  dafs  ihn  die  scharfsinnigsten  Män¬ 
ner  der  Zeit,  z.  B.  Erasmus  *),  und  vornehme  Personen 


1)  Th.  2.  S.  232.  Aehnliche  Reden:  «Jetzt  folgt  in  der 
mittleren  Welt  die  Monarchei  aller  Künste  an  Theophr. ,  den 
Fürsten.  Ich,  von  Gott  dem  Allmächtigen  erkoren,  werd  alle 
Phantasei  und  erdichtete  Werke  unterdrücken  der  Vermeinten, 
sie  heifsen  Aristoteles,  Avicenna,  Mesoe,  oder  wie  sie 
wollen.»  6,  200.  «Omnes,  quotquot  sunt  scholastici  medici, 
non  digni  sunt,  qui  corrigiam  calceamentorum  mihi  solvant. »> 
Chirurg.  13. 

2)  Th.  2.  S.  146. 

3)  Th.  3.  S.  20.  '  •  ' 

4)  Erasmus  schreibt  an  Par.:  Rci  medicae  peritissimo 
Dr.  Th  eophr.  eremitae  S.!  Derairor,  unde  metam  penitus 
noris  semel  duntaxat  visam.  —  Frobenium  ab  inferis  rcvo- 
casti,  h.  e.  diruidium  ruei;  si  me  quoque  restitueris ,  in  singulum 
ntrumque  restitues  etc,  3,  180. 


6 


% 


I.  Paracelsus. 

aus  weit  entlegenen  Landern,  z.  B.  Bonerus  in  Krakau, 
K  welcher,  wie  Huserus  berichtet,  dazumal  aller  gelehrten 
Leute  Mecänas  und  Patronus  gewesen,”  1 2 3 4 )  und  Leipnik, 
Oberst- Erbmarschalk  in  Böhmen,  a)  um  Rath  fragten  *). 

Vielen  ist  die  Schreibart  des  Mannes  ein  Aergernifs 
geweserf.  u  In  der  That  wirft  er  mit  Redensarten  um  sich, 
die  heutigen  Tages  als  pöbelhaft  gelten.  Schanddeckel ,  lau¬ 
siger  Sophist,  unwissender  Stölpel,  Bequiem-Doctor,  Ga- 
leni -Leviten ,  Zahnbrecher,  Hodenschneider,  Dr.  Gimpel, 
Polster- Doetor,  Stümpler,  grober  Stuffel -Doctor  der  ho¬ 
hen  Schulen,  Pseudomedicus,  Meister  Arschkratzer,  Laus¬ 
jäger,  Laussträler,  Hundschläger,  Dr.  Starwadel,  Kälber¬ 
arzt,  schelmigc  Juden,  Cadavera,  contrafeite  Oelgötzen, 
Lusirer  im  Seckel,  Säue,  fiir  die  das  « Perlin M  nicht  ge¬ 
hört,  sind  gewöhnliche  Titel,  mit  denen  er  seine  Gegner 
belegt  *),  und  Diebs-  und  Beschifsgrube  heifst  ihm  die  alte 


1)  Paracelsus  Consilien  an  Bonerus  s.  5.  68. 

2)  Consilium  für  von  der  Leipnirk  (Sprengel  schreibt 
Leippa)  das.  69. 

3)  Dafs  unjerm  Manne  wcmdergrofsc  Heilungen  gelungen 
seien,  ist  sonnenklar,  llelmo  nt,  der  ihm  der  Zeit  nach  so  nahe 
stand,  sagt:  Graviorum  inorborum  myriades  passim,  velut  falce 
demetendo,  Herculis  clava  trucidavit.  IScminis  apologum  ago. 
Fateor  autem  lubens ,  illum  potuisse  per  remedia  sua  sanare 
lepram,  asthma,  tabem,  paralysin,  cpilcpsiam,  calculum ,  hydro- 
pem,  podagram,  cancrum,  atque  ejusmodi  vulgo  incurabilcs  mor- 
bos.  Atque  hactenus  fuit  morborum  fere  omnium  vindex  et  sa- 
nator.  Opp.  739.  So  steht  auch  auf  Paracelsus  Grabe  zu 
Salzburg:  —  lepram,  podagram,  hydropisim  aliaque  insanabilia 
corporis  contagia  mirifica  arte  sustulit.  VcrgL  Parac.  testament, 
c.  Toxi  t es,  in  der  Genfer  Ausgabe. 

4)  O  vere  pileatos  doctorculos,  qui  praeter  pileolum 
subrubrum  et  titulum  nil  insigne  geritis,  qui  ex  pumice  Nilum 
abundantem  petitis !  Coecus  sequitur  coecum,  cascnm  cascus ! 
6,  93.  «Es  will  ja  nichts  sagen,  dafs  eine  .Sau  irn  Itübcnackcr 
sei !  *»  I,  65.  Wohin  der  Athem  der  Gemahlin  eines  seiner 
Gegner  gehöre,  lehrt  er  2,  412. 


I.  Paracelsus. 


7 


v  \ 

Medicin.  Aber  man  darf,  wenn  man  über  diese  Reden 
urtheilt,  den  Geist  der  Zeit  nicht  vergessen,  und  mufs  er¬ 
wögen,  dafs  damals  *)  Dinge,  die  wir  überbildete  Menschen 
nicht  zu  nennen  wagen,  beim  rechten  Namen  gerufen  wur¬ 
den,  dafs  Luther  in  ähnlicher  Weise  schrieb 1  2),  dafs  die 
Humanisten  jener  Zeit  noch  gröber  zankten,  so  dafs  sie  nur 
koct  dvTt(p£ct<riv  Humanisten  heifsen  können,  endlich,  dafs 
Paracelsus,  der  seinen  Gegner  Waldesel  von  Einsiedlen, 
landstreicherischen  Bettler,  Cacophrastus,  Plagiarius,  Necro- 
mantist,  Ilomicida,  Lutherus  medicorum,  ja,  vom  « Beelze- 
bock”  besessen,  liiefs,  nur  das  Vergeltungsrecht  ausübte  3) 

und  den  Satz  beachtete,  dafs  man  unter  Wölfen  mitheulen 

1  •  ■ 

müsse  4).  In  der  That,  hätte  Paracelsus  in  der  groben 


1)  «Da  man  Wohlredens  nicht  so  grofs  geachtet,  als  jetzi¬ 
ger  Zeit»  —  sagt  Huserus,  der  Herausgeber  des  Parac. 

2)  Interessant  ist  es,  dafs  Luther  und  Paracelsus  den 
Aristoteles,  den  sie  beide  nur  aus  verdorbenen,  von  den 
Scholastikern  verfertigten  Uebersetzungen  kannten,  auf  dieselbe 
Weise  mit  Schmähungen  behandeln.  Luther  nennt  den  Philo- 
so  ph  en  einen  verdammten,  hochraüthigen ,  schalkhaftigen ,  blin¬ 
den,  todlen  Heiden,  einen  Elenden,  der  mit  falschen  Worten 
so  viele  genarrt;  Paracelsus  begrüfst  ihn  als  scharfen  Phan¬ 
tasten,  als  verführten  Mann,  ganz  unwissend  der  natürlichen 
Philosophie,  aber  scharfsinnig  und  bissig  auf  irrigem  Wege. 

3)  Er  sagt  selbst,  es  sei  ihm  unmöglich,  jedem  groben 
Esel,  wie  einem  jungen  Kind,  Mus  ins  Maul  zu  streichen. 

4)  Seine  Feinde  verglichen  ihn  häufig  mit  Luther,  wie 
schon  gesagt,  und  in  der  That  hat  er  in  seinem  ganzen  Sein  und 
Wesen  grofse  Aehnlichkeit  mit  dem  grofsen  Manne.  Er  sagt 
aber  irgendwo,  dafs  Luther  noch  lange  nicht  weit  genug  ge¬ 
gangen  sei,  und  dafs  er  selbst  ganz  anders  reformirt  haben 
würde.  Merkwürdige  Aeulserungen ,  die  sich  auf  Luther  be¬ 
ziehen,  sind  folgende:  «Mit  was  Spott  habt  ihr  ausgeschrieen, 
ich  sei  Lutherus  medicorum,  mit  der  Auslegung:  ich  sei  Haere- 
siarcha!  Ich  bin  Theophrastus  und  mehr  als  die,  denen  ihr 
mich  vergleichet.  Ich  bin  derselbige  und  bin  Monarcha  medico¬ 
rum  dazu ,  und  darf  euch  beweisen ,  was  ihr  nicht  beweisen 


8 


I.  Paracelsus. 


derben  Zeit  allein  den  Höflichen  und  Feinen  gespielt,  er 
wäre  nicht  gehört  worden,  ihm  wäre  widerfahren,  wie 
dem  wohlgewachsencn  Manne  im  Lande  der  Hinkenden. 
Er  sagt  übrigens  selbst,  dafs  er  sein  derbes  gerades  Wesen 
für  eine  Tugend  halte,  und  dafs  er  dasselbe  weder  ändern 
wolle,  noch,  da  es  in  seiner  Natur  und  ganzen  Erziehung 
gegründet  sei,  ändern  könne  x).  —  Er  braucht  oft  neue 
Worte,  oft  alte  Worte  in  neuem  Sinne.  Adech  oder 
Aniadus  ist  ihm  der  innere  geistige  Mensch,  Adessi  die 
Grundmaterie  der  Nahrungsstoffe,  Alboras  eine  Art  Aus¬ 
satz,  Alchaest  ein  Quecksilberpräparat,  Aquastor  ein 
täuschendes  Gesicht,  Astrum  oder  Essatum  die  Grund- 

4 

kraft  in  den  Dingen,  Azoth  die  geheime  Mcdicin,  I)ue- 
lech  eine  Art  des  Tartarus,  Fugile  die  Parotisgeschwulst, 
liech,  lleias,  lleados  die  Urkraft  der  Natur,  lliastes 
die  Grundmaterie,  Magna lia  die  Werke  Gottes,  Mumia 
die  die  Wunde  heilende  Materie,  Sylo  das  Weltall,  Sy- 
phita  der  Veitstanz  und  Noctambulismus,  Taphneus  die 
gereinigte  Medicin,  Truphat  die  Kraft  der  Mineralien  u. 
s.  w. * 1  2)  Er  vertheidigt  sich  dieser  Neuerungen  wegen  sehr 


niöget.  Wer  Ist  dem  Luther  feind?  Eine  solche  Rotte  ist  mir 
auch  gehafs.  I  nd  wie  ihr  von  ihm  meinet,  also  meinet  ihr  von 
mir  auch,  d.  i.  dem  Feuer  zu!  Du  darfst  auf  die  Lauge  nicht 
warten!»  2,  235.  vergl. 

1)  *Mir  gefällt  meine  Weise  fast  wohl.  Von  der  Natur 
bin  ich  nicht  subtil  gesponnen,  ist  auch  nicht  meines  Landes 
Art,  dafs  man  was  mit  Scidenspinncn  erlange.  Wir  werden 
auch  nicht  mit  E'eigcn  erzogen,  noch  mit  Meth ,  noch  mit  W  ei- 
zenhrof,  aber  mit  Käse»  Milch  und  llaberbrot.  Es  kann  nit 
subtile  Gesellen  machen.  Zudem,  dafs  einem  all  seine  läge 
anhängt,  das  er  in  der  Jugend  empfangen  hat;  dersclbigc  scheint 
nun  fast  grob  zu  sein  gegen  die  Subtilen ,  Katzrcinen,  Super- 
feinen.  Denn  dieselbigcn,  die  in  weichen  Kleidern  und  bei 
Frauenzimmern  erzogen  werden,  und  wir,  die  in  Tannzapfen 
erwachsen,  verstehen  einander  nicht  wohl!»  2  ,  328. 

2)  Ein  (sehr  un vollständiges)  Dictionariolura  Paracclsia- 
num  hat  Baillif  zu  der  Genfer  Ausgabe  der  paracclsischcn  VA  erke 


I.  Paracelsus. 


9 


bündig:  «Nova  quandoque  usurpo  vocabula,  non  sine  caussa. 
Medicinae  namque  varietas  hoc  jubet,  subjecti  novitas  cogit, 
namque  novus  morbus  novum  nomen,  novum  remedium 
novumque  medicum  parit. »  —  Dafs  übrigens  der  Styl  des 
Reformators,  wenn  auch  gröfstentheils  roh  und  ungehobelt 
und  nicht  selten  dunkel,  oft  bündig  und  körnig,  immer 
kräftig,  häufig  auch  grofsartig  sei,  so  dafs  er  namentlich  an 
Luther’s  unsterbliche  Bibelübersetzung  erinnert,  wird  kei¬ 
ner  verkennen,  der  seine  Schriften  studiert,  und  ßiefst 
schon  aus  den  von  mir  angeführten  Stellen  *).  Niemand 
wird  auch  leugnen,  dafs  er  sich  dadurch,  dafs  er  die  zu 
seinem  Krame  nicht  passende,  todte  lateinische  Sprache  ver¬ 
warf  und  deutsch  lehrte  und  schrieb,  grofse  Verdienste  um 
Wissenschaft  und  Vaterland  erworben * 1  2)  3). 

Ein  Vorwurf,  der  Paracelsus  häufig  gemacht  wird, 
ist  von  seiner  unsteten  Lebensweise,  von  seinem  Herum¬ 
schweifen  hergenommen.  Er  vertheidigt  (2,  323.)  sein 
«beweglich  Wesen,  Landfahren  und  Peregriniren »  selbst 


geliefert.  Die  seltsamen  Worte,  die  P.  gebraucht,  haben  viele 
von  dem  Studium  seiner  Werke  abgeschreckt.  Man  darf  sich 
vor  ihnen  nicht  fürchten;  bald  ist  man  an  sie  gewöhnt  und  ver¬ 
steht  sie. 

1)  Sprengel  führt  als  Grund  der  Unverständlichkeit  des 
Parac.  mit  Recht  die  Untreue  seiner  Schreiber  an.  Man  vergl. 
Parac.  Abh.  vom  langen  Leben  mit  der  Uebersetzung  derselben, 
die  Oporin  lieferte.  Oporin’s  W^erk  ist  ganz  dunkel  und 
mit  Mystik  überhäuft;  Parac.  schreibt  ganz  deutlich,  einfach, 
verständig. 

2)  Paracelsus  verachtete  alle  rhetorische  Kunst,  Sie  ge¬ 
höre  nicht  in  die  Medicin.  «So  sie  Philosophen  wären  für 
Poeten,  veraces,  nicht  nugatores  u.  s.  w. »  1,  82.  «Ihr  Maul 
und  ihr  Schwätzwerk  ist  all  ihr  Pracht.»  1,  90. 

3)  Deutsch  schreibe  nnd  lehre  er,  sagt  P.  (Chir.  102.), 
weil  jhn  die  Aerzte  kaum  so  verstehen  würden;  wolle  er  seine 
neue  Lehre  in  der  todten  Sprache  vortragen,  so  verstehe  sie 
gewifs  niemand. 

% 

\  -  ‘ 


10 


I.  Paracelsus. 


sehr  schön.  « Mein  Wandern ,  so  ich  bisher  vollbracht, 
hat  mir  wohl  erschossen.  Ursach,  dafs  keinem  sein  Meister 
im  Haus  wächst,  noch  einer  seinen  Lehrer  hinter  dem  Ofen 
hat.  Sind  doch  die  Künste  nicht  alle  verschlossen  in  Kines 
Vaterland,  sondern  ausgctheilt  durch  die  ganze  Welt.  Nicht, 
dafs  sie  in  Einem  Menschen  sind  allein,  oder  an  Einem  Ort, 
sondern  sie  müssen  zusammengeklaubt  werden  und  gesucht 
da,  da  sie  sind.  —  Ein  Arzt  soll  ein  Landfahrcr  sein. 
Ursach:  Die  Krankheiten  wandern  hin  und  her,  soweit  die 
Welt  ist,  und  bleiben  nicht  an  Einem  Orte.  Will  einer 
viel  Krankheiten  erkennen ,  so  wandere  er  auch.  Wandert 
er  weit,  so  erfährt  er  viel  und  lernt  viel  erkennen.  Und 
ob  es  würde,  dafs  er  wieder  in  seiner  Mütter  SchooCs 
kommt,  kommt  dann  ein  solcher  fremder  Gast  in  sein  Vater¬ 
land,  so  kennt  er  ihn.  —  Die  engländischen  Humores  sind 
nit  ungarisch,  noch  die  neapolitanischen  preufsisch  —  darum 
mufst  du  dahin  ziehen,  wo  sie  lind.  Und  je  mehr  du  sie 
suchst  und  je  mehr  du  von  ihnen  erfährst,  je  gröfser  wird 
dein  Verstand  in  deinem  Vaterland.  —  Also  ist  auch  noth, 
dafs  der  Arzt  sei  ein  Alcbymist.  Will  er  nun  derselbige 
sein,  mufs  er  die  Mutter  sehen,  aus  der  die  Mineren  wach¬ 
sen.  Nun  gehen  ihru  die  Berge  nicht  nach,  sondern  er 
mufs  ihnen  nachgehen.  Will  einer  Künstler  suchen  in  Be¬ 
reitung  und  Scheidung  der  Natur,  da  mufs  er  sie  suchen, 
wo  die  Mineralia  sind.  Soll  mir  denn  das  verarget  werden, 
dafs  ich  meine  Mineralia  durchlaufen  habe  und  ihr  Gemüth 
und  Herz  erfahren,  ihre  Künste  in  meine  Ilände  gefafst, 
di»  mich  lehren,  das  Beine  von  Koth  zu  scheiden.  —  Die 
Natur  wird  erforscht  von  Land  zu  Land.  ”  —  Ich  habe  zu 
dieser  Verantwortung  nichts  hinzuzusetzen  J). 

1)  Auch  Helraont  bestätigt,  dafs  P.  in  ConstantinOpel 
und  in  der  Tartarei  gewesen  sei.  Sub  annuin  ‘20.  namque  varias 
mineraruni  fodinas  Gcrmaniac  inquirens,  in  Moscoviaru  tandem 
venit,  in  cujus  fmitimis  a  Tartar«  captus  ad  Cliaiuuin  Eunuchu» 
nosfer  deduritur.  Indc  cum  Principe  Chami  filio  Constantino- 
poliu  ablegatur.  li.  opp.  222. 


\ 


t 


I.  Paracelsus. 


11 


Mangel  an  Gelehrsamkeit  wird  unserm  Manne  häufig 
vorgerückt,  und  er  selbst  bezeugt  an  vielen  Stellen,  dafs  er 
sehr  wenig  auf  Bücher  halte  *),  wie  er  denn  auch,  so  wie 
Luther  die  Bulle  des  Pabstes,  Galcn’s  und  Avicenna’s 
Schriften  zu  Basel  verbrannt  hat.  «  Ein  anderer  meint,  ich 
stehle  meine  Sachen,  deren  keine  je  am  Tag  gewesen,  noch 
beut  den  Morgen.  Ein  jeglicher  Leser  soll  merken,  dafs 
Deiner  Werke  nie  eines  je  geschrieben  worden,  weder  durch 
Philosophen,  noch  durch  Aerzte  je  erhört,  noch  gelesen, 
foidem,  dafs  meine  gegenwärtige  Librei,  wie  einem  jegli¬ 
chen  wissend  ist,  6  Blätter  nicht  vermag,  noch  unterhab 
>o  viel ,  dafs  ich  möcht’  einen  Bogen  überschreiben.  Ueber 
fas  alles  bezeugen  meine  Secretarii,  dafs  alles  vom  Mund 
*ehet  und  dafs  ich  in  10  Jahren  kein  Buch  gelesen.»  (1, 
MO.)  —  Erwägt  man  nun,  welches  der  Gehalt  und  das 
Innen  wesen  der  zu  Paracelsus  Zeit  und.  lange  vor  ihm 
ausgegangenen  und  hochgefeierten  Bücher  gewesen  ist 1  2), 
and  wie  er  selbst  eben  so  sehr  auf  treues  Studium  der  ge- 
sammten  Natur  drang,  als  er  auf  Schulweisheit  und  gelehrte 
Träumereien  schalt  3),  so  mufs  man  ihm  ganz  recht  geben, 


1)  «Aus  Uebung  und  Erfahrenheit  wird  der  Ai  t  geboren; 
fenn  wer  -wollte  gelehrt  werden  in  Erkenntnifs  der  Erfahrenheit 
rom  Papier.  So  das  Papier  die  Eigenschaft  hat,  dafs  es  faule 
and  schläferige  Leute  macht,  aber  hoffärtige,  die  lernen  sich 
selbst  überreden,  lernen  fliegen  ohne  Flügel,  welche  Dinge  alle 
lern  Arzt  widerwärtig  sind.»  5,  21. 

2)  «Von  dem  reinen  frommen  Sinne,  der  sich  nach  Hip- 
pokrates  Weise  treu  an  die  Natur  hält  und  noch  in  Gale- 
nus  darslellt,  war  so  wenig  eine  Spur  vorhanden,  als  von  dem 
liellcn  philosophischen  Geiste,  mit  welchem  Platon  das  allge¬ 
meine  Leben  begriff  und  es  im  besonderen  Leben  nachzuweisen 
strebte.  Die  Wissenschaft  und  Kunst  des  Orients  hatte  ihren 
Cyclus  vollendet  und  war  abgestorben.»  Kies  er. 

3)  So  sagt  er  in  der  Einleitung  zu  seinen  Baseler  Vorle¬ 
sungen  von  sich:  Non  veterum  addicti  praeccptis,  sed  iis  dun- 
axat ,  quac  partim  indicationc  rerum  naturae ,  partim  nostro 


12 


I.  Paracelsus. 


besonders  wenn  man  sieht,  dafs  er  mit  jenen  Büchern  nicht 

0 

ganz  unbekannt  gewesen  ist  *),  und  dafs  er  Ilippokrates 
und  mehrere  andere  Aerzte  des  Alterthums  zwar  nicht  so 
hoch  feierte* 1 2),  als  diejenigen,  welche  die  Kindheit  mensch¬ 
licher  Bildung  zu  der  Bliithe  derselben  machen,  aber  doch 
ehrte.  So  hat  er  denn  auch  die  hippokratischen  Aphorismen 
commentirt,  freilich  in  seiner  Weise  und  in  seinem 
Sinne,  nicht,  wie  es  wohl  Ilippokrates  gewünscht  und 
gethan  haben  würde,  und  so  sagt  er,  dafs  Gott  den  Geist 
der  Arznei  durch  Apollon,  Machaon,  Podaleirios 
und  Ilippokrates  gründlich  habe  anfangen  und  das  Licht 
der  Natur  ohne  befinsterten  Geist  habe  wirken  lassen,  dafs 
aber  später  durch  «Sophisterei,  Disputiren,  Poesie  in  der 
Arzneikundet  rhetorisch  Receptschreiben  und  nebulonisch 
Präpariren »  das  Gute  wieder  verloren  gegangen  sei.  (2, 
315.)  So  ist  dem  auch  in  Wahrheit.  —  Ks  scheint  auch, 
als  sei  die  Verachtung  aller  gelehrten  Kenntnisse,  und  na- 


roarte  invenimus,  et  longo  remm  usu  ac  experientia  compro- 
bavimus.  7,  1.  «Die  Kranken  sollen  des  Arztes  Bücher  sein.»* 
2,  390. 

1)  «Anfänglich  ermahnen  wir  euch,  dafs  ihr  nicht  geden* 
ken  sollt,  dafs  wir  in  eueren  Büchern  leer  seien  und  unerfah¬ 
ren,  darum,  dafs  wir  nicht  euren  Pflug  ziehen.  Wir  cntschla- 
gen  uns  defs:  denn  uns  mifsfällt  euer  Styl,  Praktik  und  Ursach. 
Und  wiewohl  ihr  gründet  auf  die  geschriebenen  Aerzte,  chaldäi- 
sche,  arabische  und  griechische,  will  uns  wenig  ansehen.  Denn 
ihre  Schriften  weisen,  dafs  es  ihnen  mit  den  Kranken  gegangen, 
wie  euch,  denen  die  Mehrzahl  stirbt.» 

2)  Und  obschon  die  Alten,  unsre  Vorvodern,  so  wie  sio 
wieder  geboren  würden,  in  unseren  Arzneien  sich  würden  ver¬ 
wundern  und  befremden,  soll  uns  der  wenigste  Kummer  sein. 
Ihre  Iieeepte  wollen  wir  nicht  entsetzt  haben,  sondern  ausklau¬ 
ben  den  Kern  aus  iltnen.  Und  wenn  die  Ersten  hier  wären,  so 
war  all  ihr  Sachen  blind.» 

«Ilippokrates  ist  gestorben  vor  der  Kunst.  Sic  ist  lang, 
«las  T. el>en  kurz.  Das  Suchen  ist  bei  ihm  gewesen,  aber  das 
Doduiu  Anis  ihm  nicht  gegeben  worden.» 


I.  Paracelsus. 


13 


j 


mentlich  der  alten  Sprachen,  erst  später  in  dem  Manne 
emporgekommen ,  wie  denn  mehrere  seiner  Bücher  in  einem 
für  die  damalige  Zeit  nicht  üblem  Latein  geschrieben  sind, 
wie  er  ferner  Spuren  von  Kenntnifs  der  hebräischen  *) 
und  griechischen  Sprache  zeigt,  und  wie  Helmont  be¬ 
zeugt,  dafs  er  erst  zufolge  seiner  weiten  lange  dauernden 
Wanderungen  und  in  späterem  Alter  das  Latein  vernach¬ 
lässigt  habe 1  2). 

Eine  der  vorzüglichsten  Ansichten,  die  man  über  Pa¬ 
racelsus  hegt,  ist  die,  dafs  er  an  astrologischen  Träume¬ 
reien  hänge  und  dieselben  in  der  Medicin  handhabe  und 
mifsbrauche.  Ich  aber  glaube,  dafs  er,  wiewohl  er  sich 
offenbar  nicht  ganz  und  immer  von  den  Verirrungen  seiner 
Zeit  loszuringen  vermocht  hat  3),  doch  eine  freiere,  küh¬ 
nere  und  richtigere  Ansicht  über  Astrologie  in  sich  ent¬ 
wickelt  habe,  als  die  meisten  seiner  Zeitgenossen,  und  dafs 
er  dieselben  in  Bezug  auf  den  fraglichen  Punkt  weit  über¬ 
sehen  und  übereilt  habe.  Er  verkennt  nämlich  die  bis  zur 
neuesten  Zeit  mit  Unrecht  übersehene  Gewalt  der  grofsen 
kosmischen  Bewegungen  und  Veränderungen  und  ihren  Ein- 
fiufs  auf  das  Befinden  des  Menschengeschlechtes  um  so  we¬ 
niger,  je  mehr  er,  wie  unten  zu  zeigen,  stetig  und  in  aller 
Weise  den  innigen  Zusammenhang  und  Verband  aller  Par-  / 
tieen  der  Natur  anerkennt,  eifert  aber  hierbei  gegen  die 
astrologischen  Ideen,  die  zu  seiner  Zeit  im  Schwange  wa- 


1)  So  sagt  er  irgendwo  sehr  richtig,  dafs  die  hebräische 
Spra  che  die  besten  und  bedeutungsvollsten,  die  bezeichnendsten 
Namen  für  alle  Thiere,  die  selbst  (durch  ihre  Stimme  u.  s.  w. ) 
ihre  Namen  anzeigen,  enthalte. 

2)  Hel  rnont  (opp.  223.)  sagt,  dafs  er  erst,  nachdem  er 
drei  Jahre  zu  Basel  gelehrt  habe,  die  lateinische  Sprache  ver¬ 
nachlässigt  habe.  Coepit  Spernere  Latinitatem,  ratusque  est, 
veritatera  duntaxat  germanicc  loqui  debere. 

3)  Es  ist  bekannt,  dafs  die  aufgeklärtesten  Männer  des 
Jahrhunderts,  z.  B.  Melanchthon,  sehr  auf  Astrologie  hielten. 


14 


I.  ParaccTlsns. 


ren,  und  verlacht  seine  Zeitgenossen,  dafs  sie  die  Gestirne 
«den  Körper  bilden,  naturen,  regieren  Helsen  und  derglei¬ 
chen»*  —  « das  mehr  denn  ein  linker  Verstand  ist.»*  «Der 
Gang  Saturnus  bekümmert  keinen  Menschen  um  sein  Leben, 
längert  noch  kürzt  nichts;  darum,  dafs  Mars  grimmig  ist» 
ist  Nero  nicht  sein  Kind  gewesen;  ob  sie  schon  Eine  Natur 
gehabt  haben,  liats  doch  keiner  von  dem  anderen  genom¬ 
men.  Seht,  Helena  und  Venus  ist  Eine  Natur,  und  ob 
schon  Venus  nie  gewesen  war,  doch  war  Helena  eine  Hure 
gewesen,  und  ob  schon  Venus  älter  ist,  als  Helena,  bedenkt, 
dafs  vor  Helena  auch  Huren  gewesen  *).  —  «  Uns  will  nicht 
bekümmern  der  Spruch:  ein  weiser  Mann  herrscht  über 
die  Gestirne,  wie  ihr  ihn  verstehet;  aber  wie  wir  ihn  ver¬ 
stehen,  so  wollen  wir  ihn  annehmen.  Sie  gewaltigen 
gar  nichts  in  uns,  sie  inbilden  nichts,  sie  incli- 
niren  nichts,  sie  sind  frei  für  sich  selbst  und  wir 
frei  für  uns  selbst.”2)  —  «Ein  Kind,  das  geboren 
wird  oder  empfangen  in  den  besten  Planeten  und  Sternen, 
und  in  den  tugendreichsten  nach  allem  Wunsch  —  wenn 
es  in  seiner  Eigenschaft  das  Widerspiel  hat  und  ist  ganz 
überzwerch,  weis  ist  die  Schuld?  Defs,  von  dem  das  Blut 
kommt,  als  de  generatione  stehet.  Also  merket,  dafs  das 
Gestirn  gar  nichts  wirkt;  allein  das  Blut.  »»  —  «Dafs  einer 
mehr  aufwächst,  als  der  andere,  einer  in  Künsten,  der 
andere  in  Reichthum,  der  dritte  in  Gewalt  u.  dergl.,  ein 
solches  legt  ihr  zu  dem  Gestirn,  das  ihr  von  ihnen  habt. 
DefS  entschlagen  wir  uns,  und  legen  es  also  aus:  Das  Glück 
kommt  aus  der  Geschicklichkeit,  und  die  Geschicklichkeit 
kommt  aus  dem  Geist.  Was  wollen  wir  uns  denn  jovisebe 
Kinder  heifsen,  oder  monische?”  *)  —  —  Aber  ihr  sollt 
verstehen,  dafs  das  Firmament  und  die  Astra  so  viel  ver¬ 
ordnet  sind,  dafs  die  Menschen  und  die  empfindlichen  Ge- 


1)  1,  8. 

2)  1,  9. 

3)  1,  10. 


I.  Paracelsus 


15 


schöpfe  ohne  sie  nicht  sein  mögen;  aber  sie  werden  nicht 
durch  sie.  Ein  solch  Exempel  verstehet:  Ein  Saame,  der 
in  einen  Acker  geworfen  wird,  der  giebt  seine  Frucht  von 
ihm  selbst.  Aber  so  die  Sonne  nicht  war,  so  wuchs  er 
nicht.  Denkt  nicht,  dafs  die  Sonne  ihn  mache,  das  Firma¬ 
ment  u.  dergl.;  aber  also  merket,  dafs  die  Wärme  der 
Sonne  eine  solche  Zeit  giebt.»  «Nu  merkt  aber,  dafs  wir 
ohne  das  Gestirn  nicht  leben  können,  denn  Kälte  und 
Wärme  und  die  Digestionen  der  Dinge  *),  die  wir  essen 
und  gebrauchen,  kommen  von  ihm.  Allein  der  Mensch 
nicht.  Und  so  viel  müssen  wir  sie  haben,  als  viel,  dafs 
wir  Kalt  und  Warm,  Essen,  Trinken,  Luft  haben  müssen. 
Aber  nit  weiter  sind  sie  in  uns,  noch  wir  in  ihnen.  Also 
bat  es  der  Fabricator  haben  wollen.  Uns  nutzt  die  Reinig- 
keit  der  Sonne  nicht,  noch  die  Kunst  Mercurius,  noch  die 
Schöne  der  Venus;  uns  nuzt  allein  der  Schein  von  der 
Sonne,  dafs  er  die  Flüchte  macht  und  den  Sommer,  darin 
unsere  Nahrung  wächst.  » 1  2) 

Es  ist  eine  bekannte  Sage,  dafs  sich  Paracelsus 
eifrig  mit  der  Goldmacherei  abgegeben  und  um  die  Erfin¬ 
dung  eines  unsterblich  machenden  Mittels  abgemübt  habe. 
Seine  Zeitgenossen  glaubten  in  der  That  zum  grofsen 
Theile,  dafs  er  im  Besitze  des  grofsen  Geheimnisses  sei, 
und  man  staunte,  als  er  im  besten  Alter  starb.  3)  Jch 
meines  Theiles  nehme  an,  er  habe  an  die  Möglichkeit, 


1)  Er  hatte  früher  gesagt,  dafs  die  Saamen  in  der  Erde 
gleichsam  eine  Digestion  durch  die  Sonnenwärme  bestehen 
müssen. 

2)  1,  9.  So  eifert  er  aucli  gegen  das  Aderlässen  an  den 
Kalendertagen.  5,  106. 

3)  Stupcnt  sui  miranturque,  quo  morbo  casuve  adhuc  flo- 
ridus  aetate  sit  abreptus,  Iapidis  chrysopoei  verus  coropos.  Hei¬ 
ni  o  n  t.  Dieser  geistreiche  Arzt  selzt  den  frühzeitigen  Tod  des 
Paracelsus  auf  Rechnung  der  schädlichen  Dünste,  die  er  bei 
seinem  beständigen  Laboriren  eihgeathraet  habe. 


16 


I.  Paracelsus. 

Gold  zu  machen  und  Unsterblichkeit  zu  gewinnen,  nicht 
geglaubt  und  blofs  dem  alten  Mundus  vult  decipi,  decipia- 
tur  zu  gefallen,  deshalb,  um  sich  Kuhm  und  Namen  und 
Eingang  zu  verschaffen,  also  aus  ärztlicher  Politik,  sich  als 
im  Besitze  des  Steines  der  Weisen  ausgeschricen.  Hätte 
er  dies  zu  jener  Zeit,  wo  jeder  nur  irgend  bedeutende 
Mann  im  Besitze  des  grofsen  Mysteriums  geglaubt  ward 
und  sich  glauben  liels  und  lassen  mufste,  nicht  gethan, 
wahrlich,  er  wäre  gar  nicht  beachtet  worden.  Die  Richtig¬ 
keit  meiner  Ansicht  verbürgen  folgende  Stellen:  « Statim 
in  primo  nostro  ortu  ipsaque  et  jam  conceptione  ad  mortem 
nos  praedestinari,  noturn  omnibus  est.  »  (Ghir.  45.)  f) 
«So  wir  möchten  das  Leben  des  Herzens  also  heraus¬ 
ziehen  ohne  Zerstörung,  wie  uns  möglich  ist,  aus  den 
unempfindlichen  Dingen  (die  Quintessenz  herauszuziehen), 
wollten  wir  ungezweifelt  ohne  einen  Tod  und  ohne  Wissen 
der  Krankheiten  leben  in  Ewigkeit,  das  wir  dann  nicht 
können.»  (6,  14.)  «Wie  ein  Löwe,  der  ausgefochten 
bat  und  nimmer  mag,  auch  so  wir  nimmer  mögen  Holz 
an  unser  (Lebens-)  Feuer  legen,  und  uns  das  verfault  ist, 
wollen  wir  dem  Ewigen  zugehen.»  (6*,  70.)  «  Die  Metalle 

bestehen  aus  den  drei  Elementarstoffen ,  sind  also  im  We¬ 
sentlichen  einander  gleich  geartet.  Das  aber  soll  also  nicht 
verstanden  werden,  als  ob  aus  jedem  Mercurius,  aus  jedem 
Sulphur,  aus  jedem  Sal  die  7  Metalle  geboren  werden, 
oder  desgleichen  eine  Tinktur  oder  der  Lapis  philosopho- 
rum  durch  des  Alchymisten  Kunst  und  Geschicklichkeit 
im  Feuer:  sondern  in  den  Bergen,  durch  den  Archäum 

lerra 


1)  «Alle  Dinge  haben  ihre  Zeit,  wie  lange  sie  stehen  sol¬ 
len.  Die  Heiligen  haben  ihre  Zeit,  in  der  sie  aufhören  müssen, 
auf  Erden  ihr  Leben  zu  führen.  Also  haben  auch  ihre.  Zeit  die 
Bösen.  Alle  Dinge  werden  von  Gott  auf  ihren  Termin  gesetzt, 
und  den  mag  kein  Heiliger  übertreten,  er  sei,  wie  fromm,  ge¬ 
recht  oder  wie  nute  dem  Volk  er  wolle.  So  die  Zeit  kommt, 
so  wird  nichts  angesehen  —  darum  auf  und  davon!»  1,  68. 


I.  Paracelsus. 


17 

Terra  müssen  geboren  werden  und  werden  geboren'*  die 
7  Metalle."  *) 

Eifrig  arbeitete  der  Mann  dagegen  offenbar,  Mittel  zur 
Verlängerung  des  kurzen  menschlichen  Lebens  ausfindig  zu 
machen. 1  2)  Er  geht  hierbei  für  seine  Zeit  sehr  vernünftig 
zu  Werke.  «Die  Metalle  kann  man  vor  Rost  schützen 

9 

die  Hölzer  vor  Fäulnifs.  (67,  6.)  Alle  Mineralien  werden 
gereinigt,  renovirt  und  restaurirt,  also,  dafs  das  verrostete 
Eisen  wieder  zu  frischem  Eisen  gebracht  wird,  das  Span- 
grün  wieder  zu  Kupfer,  desgleichen  Minium  zu  Blei  und 
Kalch  in  Zinn.  (6,  58.)  Blut  kann  auf  lange  Zeit  unver¬ 
sehrt  bewahrt  werden.  (6,  144.)  Todte  Körper  sehen  wir 
in  Balsam  und  durch  die  Conservation  viel  100  und  1000 
Jahre  liegen  ohne  alle  Veränderung  zur  Fäulnifs.  (6,  50.) 
Der  Eisvogel  verjüngt  sich  bekanntlich  selbst  aus  eigener 
Natur.  (6,  61.)  Also  auch  viel  Würme  sind,  die  sich 
regeneriren  und  renoviren.  (64.)  Es  begiebt  sich  viel, 
dafs  ein  Baum,  der  20  Jahre  keine  Frucht  getragen,  wieder 
anhebt  zu  grünen  und  blühen,  wie  im  ersten  Anfang.  (65.) 
Dann  sehen  wir,  dafs  erstarrte  Schlangen  und  Fliegen  wie¬ 
der  lebendig  werden.  (159.)  Es  sind  ferner  Regionen, 
darin  kein  Sterben  ist,  und  in  etlichen  fast  spät  und  lang 
und  grofs  Alter  darin.»  (77.)  —  Dies  sind  Thatsachen. 
Nach  ihnen  «soll  sich  defs  niemand  wundern,  dafs  das 


1)  Quod  autem  perfectum  non  est  ac  integrum,  ex  Deo 
non  est,  sed  ex  phantasia  hominum.  Sic  nimirum  Alchy- 
m  i  a  aurum  et  argentura  produce  re  satagens  vera 
non  est.  Et  aurifices  isti  inane  st r amen  triturant. 

(II,  556.) 

2)  «Wolil  wahr  ist:  was  seines  natürlichen  Todes  stirbt, 
und  was  die  Natur  tödtet  nach  der  Prädestination,  darüber  hat 
der  Mensch  keine  Gewalt,  dasselbe  zu  resuscitiren ;  dann  allein 
Gott.  Also  auch,  was  die  Natur  consumirt,  mag  der  Mensch 
nicht  restauriren.  Das  aber,  was  der  Mensch  zerbricht,  mag  er 
aucli  wieder  machen,  und  das  Gemachte  wieder  zerbrechen.» 

6,  157. 


XIV.  Fd.  I.SI. 


2 


18 


J.  Paracelsus. 


Leben  soll  gelungert  werden,“  zumal,  da  kein  Terminus 
mortis  gesetzt  ist,  nicht,  auf  welchen  Tag  wir  sterben  sol¬ 
len.  “  (71.)  «Ist  es  dann  möglich^  den  todten  Körper  zu 
behalten,  noch  viel  mehr,  den  lebenden.  (6,  50.)  Ks 
wäre  ganz  unchristlich,  dafs  wir  nicht  mögen  solle«,  unser 
Leben  auszustrecken  dyreh  die  Arznei,  die  uns  geschaffen 
ist.“  (71.)  —  —  «Nun  ist  das  Leben  etwas  Himmlisches, 
ein  Ausilufs  der  Gottheit  (s.  unten),  somit  an  sich  selbst 
ewig  und  unvergänglich  (81),  hat  aber  ein  irrdisches  ma¬ 
teriales  Substrat  und  Instrument,  Subjekt,  nüthig.  Dies 
letztere  neigt,  wie  alles  Irrdische,  zur  Auflösung,  und  führt 
so  den  Tod  herbei.  (82.)  An  diesem  Substrate,  dem  Kör¬ 
per,  und  besonders  in  seinen  flüssigen  Theilcn  zehrt  das 
einem  Feuer  ähnliche  Leben,  gleichwie  die  Flamme  am 
Holze  zehrt  und  lebt.  (70.)  Auf  das  Substrat  des  Lebens¬ 
prozesses  uun  müssen  wir  wirken,  wenn  wir  ihn  selbst 
verlängern  und  unterhalten  wollen.  Dies  aber  in  folgender 
"Weise:  1.)  Wir  tilgen  vorhandene  Krankheiten,  weil  die¬ 
selben  das  Leben  untergraben,  gleichviel,  sie  seien  soma¬ 
tisch  oder  psychisch.  11.)  Wir  beugen  den  Krankheiten 
vor,  sowohl  denen,  «  mit  welchen  sich  die  Körper  aus  un¬ 
ordentliche  Leben  beladen,  wie  der  Wassersucht,  dem 
Podagra,  •  *  Icteritia,”  als  denen,  «die  aus  der  Zeit  und 

Zufällen  ’  i  allem  ordentlichen  Leben  und  Gesundheit  ein- 
fallen,”  als  der  Pestilenz  u.  s.  w.  Dies  geschieht,  indem 
wir  das  Kind  im  Mutterleihe,  in  der  Wiege,  im  Wachsen, 
.  ferner  den  Jüngling,  den  Mann,  den  Greis  vor  Schädlich¬ 
keiten  1 )  wahren,  vor  unordentlichem  Essen  und  Trinken, 
vor  zu  viel  Arbeit,  vor  üblen  tellurischeu  Einflüssen  2), 


1  )  «'Das  jüngste  Lehen  wird  etwa  verderbt  in  dem  Leib 
der  Mutter,  etwa  in  der  Wiege,  etwa  unter  dem  Wachsen ,  mit 
tu  viel  Arbeit  oder  unordentliebem  Leben ,  Essen  und  Trinken, 
durch  das  der  Natur  eine  solche  Schwäche  r.ugcht,  dafs  sic  von 
ihrer  Kraft  kommt  und  nicht  erreichen  mag  das  Rechte  im  Alter.»» 

2)  «'So  ist  auch  tu  wissen ,  dafs  die  Regionen,  Länder, 


I.  Paracelsus. 


19 


/ 

vor  Tristi'tia  und  zu  viel  Laetitia,  indem  wir  durch  Talis¬ 
mane,  Ringe,  Bilder  u.  s.  w.  auf  die  Phantasie  wirken,  die 
hei  der  Ansteckung  und  Erkrankung  überhaupt  eine  grofse 
Rolle  spielt  (69),  indem  wir  das  Leben  durch  Arzneien  in 
dem  Kampfe  gegen  die  Aufsenwelt  stärken  und  kräftigen. 
III.)  Die  Materie,  die  Basis  des  Lebens  ist,  besteht  aus  den 
Elementarstoffen.  Wie  sich  nun  der  Eisvogel  und  das 
Gewürm  dadurch  regeneriren  ,  dals  sie  sich  aus  den  primis 
entibus  ernähren  und,  dieselben  an  sich  nehmen,  dafs  sie 
die  Corpora  herbarum  oder  seminum  und  dergleichen  essten, 
so  müssen  wir  dem  Körper  stets  die  Elementarstoffe  neu 
zuführen  und  erneuen,  was  dadurch  geschieht,  dals  wir  die 
G rundbestand theile  der  Dinge  in  den  Quintessenzen  heraus¬ 
ziehen  und  anwenden. »  —  —  Durch  dies  Verfahren  nun 
wird  der  Mensch  nicht,  wie  sonst  gewöhnlich,  vor  den 
Jahren  sterben.  Ist  er  aber  seinem  höchsten  Lebensziele 
nahe  gebracht  worden  und  hochbejahrt  und  gealtert,  so 
gilt  es,  dafs  die  Kunst  ihn  eben  so  verjünge  und  erneue, 
wie  es  manchmal  die  Natur  von  selbst  thut;  wie  wir  denn 
sehen,  dafs  manchmal  alternde,  ihrem  natürlichen  Ende  sich 
nähernde  Pflanzen  unter  günstigen  Verhältnissen  oft  wieder 
neue  Triebe  und  jugendlichen  Wuchs  zefgeirpeund  Men¬ 
schen,  deren  Lebenssonne  dem  Naturlaufe  gurnäfs  sich  zu 
neigen  anfängt,  sich  oft  unerw  I  t  wieder  verjüngen,  neue 
Zähne,  farbige  Haare,  neue  Nägel,  gröfserc  Lebensvolle  er¬ 
halten,  in  dem  Falle,  dafs  sie  Weiber  sind,  ihre  Menstrua¬ 
tion,  schwellende  Brüste  wieder  bekommen  u.  s.  w.  — - 
«Das  Altern  und  allmählige  AI  sterben  der  Organismen 


Städte  und  Thäler,  eins  zum  langen  Leben  mehr  gesund  und 
nütz  ist,  denn  das  andere,  und  mehr  Freude,  mehr  Lust,  mehr 
llumores  giebt  dem  Leben,  denn  das  andere.  Dabei  zu  verste¬ 
hen  sind  etliche  U  rsachen  des  Erdreichs,  der  Elemente,  der 
W  inde,  der  Gestirne.  Denn  aus  dem  Erdreich  wird  geboren 
alles,  so  uosern  Leib  mehret  und  forthält,  auch  tödtet  und 
verderbt.» 


2* 


20 


I.  Paracelsus. 


gleicht  nun  dem  Rosten  und  Verkalchen  der  Metalle.  r ) 
Alle  Rcduction  verrosteter  und  verkalchter  Erze  in  die  ur¬ 
sprüngliche  reine  ( regulinische)  Form  aber  geschieht  durch 
das  Feuer;  das  Feuer  ist  es,  das  alle  Ringe  reinigt  und  lau¬ 
tert.  So  ist  auch  die  Erneuung  und  Verjüngung  des  Le¬ 
bens  nur  dadurch  möglich,  dafs  wir  ein  Feuer  anmachen 
im  Leibe,  aber  ein  Feuer,  das  nicht  actu  und  materialiter, 
sondern  sensibiliter  und  essentialisch  erscheint,  wie  denn 
Nesseln,  Flammula  und  Canthariden  durch  ihre  Esscntia 
uirl  Yirtus  brennen,  als  ein  gewaltig  Feuer,  und  sind  doch 
kein  Feuer.»  Ein  solch  Feuer  sollen  nun  die  Arzneien 
erregen.  Auf  dieselben  —  es  sind  scharfe  mineralische 
Dinge  und  aus  PflanzcnstofTen  gezogene  Tincturen  —  baut 

der  Mann  viel.  Namentlich  ist  das  Quecksilber  das  beste 

« 

und  kräftigste  lebensverlängernde  und  verjüngende  Mittel. 
« Unter  dem  Gebrauche  der  Arzneien  aber  vergehen  die 
Krankheiten,  verzehrt  durch  die  mächtigen  Stoffe,  wie  das 
Holz  und  alles  Rrennbare  von  der  Flamme  verzehrt  wird, 
zugleich  fallen  aus  und  erneuen  sich  Ilaare,  Zähne 
und  Nägel,  und  während  dieser  Vorgänge  wird  der  ganze 
Organismus  verjüngt  und  wieder  geboren.” 

Dies  sind /Raracelsus  Ansichten  über  Verlängerung 
und  Verjüngung  des  Lebens.  Er  schliefst  witzig  mit  dem 
Ausrufe:  diejenigen,  die  die  Natur  nicht  erkennten  und  ver¬ 
ständen,  würden  auch  ihn  nicht  erkennen  und  verstehen; 
seine  Rathschläge  und  Angaben  zur  Verlängerung  des  Le¬ 
bens  bezögen  sich  aber  auch  nicht  auf  solche  Menschen, 


1)  «Also  ist  auch  zu  verstehen,  so  der  Mensch  ih  seinem 
AbncLracn  wäre  und  decrepitus,  das  gleichwohl  so  viel  als  ein 
Rost  mag  in  seiner  Essentia  verstanden  werden  ,  mag  dies  Cor¬ 
pus  wohl  reducirt  werden  von  dieser  Decrepidität  in  seine.  Ge¬ 
sundheit,  wie  von  einer  Krankheit  in  Gesundheit  ist  eine  Re- 
duction.»  (58.) 


f 


I.  Paracelsus.  2t 

weil  an  Dummköpfen  überhaupt  nichts  gelegen  und  verlo¬ 
ren  sei  *).  — 

Nach  dem  Vorgetragenen  ist  klar  wie  der  Tag,  dafs 
die  allgemeinen  Beschuldigungen,  die  gegen  Paracelsus 
erhöhen  werden,  grüfstentheils  nichtig  oder  doch  unerheb¬ 
lich  sind.  Ich  könnte  dagegen  leicht  beweisen,  dafs  er  sehr 
viel  Edles  und  Liebenswürdiges,  hohe  Kalokagathia,  an  sich 
trug,  übergehe  das  aber,  als  zur  Sache  nicht  eigentlich 
gehörig  und  für  uns  nicht  viel  ausmachend,  und  erinnere 
nur,  dafs  er  aus  Liebe  zur  Menschheit  und  zur  Natur,  und 
aus  heiligem  Feuereifer  für  die  Wissenschaft  und  für  das, 
was  ihm  Wahrheit  schien,  mit  eiserner  Beharrlichkeit  das 
höchste  Ungemach  ertrug 1  2).  — 


1)  Man  vergleiche  mit  diesen  Vorschlägen  zur  Verlängerung 

des  Lehens  diejenigen,  welche  einer  der  weisesten  Menschen, 
der  Kanzler  Bakon,  giebt.  S.  the  works  of  Francis  Bakon. 
Lond.  1753.  vol.  3.  p.  93  und  351.  Auch  er  glaubt,  dafs  es 
möglich  sei,  eine  Verjüngung  des  Organismus  herbeizuführen, 
und  dafs  dieselbe  Hauptaugenmerk  des  Arztes  sein  müsse.  Wenn 
ich  nicht  irre,  so  habe  ich  einmal  bei  Reil  gelesen,  dafs  auch 
Bakon  das  Quecksilber  zur  Erneuung  des  Körpers  empfohlen 
hafe;  bei  Bakon  finde  ich  aber  nichts  davon.  D  ie  Jdee  ist 
nicht  ganz  übel;  man  denke  an  die  Folgen  der  Schmier-  und 
Hu  ngercur,  nach  der  die  Menschen  oft  ganz  neu  aufleben  und 
aul  blühen!  Offenbar  hat  der  Umstand,  dafs  bei  langem  Ge¬ 
hrauche  des  Quecksilbers  Haare  und  Zähne  ausfallen ,  den  Par. 
auf  die  Ansicht  geleitet,  dafs  das  Mittel  zur  Verjüngung  des 
Leibes  nutzen  könne.  ,  ) 

2)  «O  wie  vielen  hab  ich  gerathen  und  geholfen,  da  ihr 
mit  euren  Arzneien  vezagt  seid,  dafür  mir  auch  kein  Pfennig 
worden.  Ich  geschweig  anderer  Müh  und  Arbeit,  so  ich  um¬ 
sonst  gethan,  so  ihr  Doctoren  auch  nicht  einen  Seich  beschauet 
ohne  Geld.»  Vergleiche  2,  326.  327.  * 

Ille  ego ,  qui  tantas  infracto  pectore  curas ,  Aerumnas  casus- 
<jue  graves  durosque  labores  Exhausi,  crehro  vigilatus  ordine 
noctes,  Insanos  acstus,  immanis  frigora  Brumae,  Insidras  structos- 
<]ue  dolos  et  facta  periclis  Retia  sustinui  dirisque  imbuta  venenis, 


90 


1.  Par?,  r  rVsns. 


Soll  icli  nun  ein  I >1 1 il  auf. teilen  von  dem  Systeme  fies 
Mannes,  so  mufs  ich  <las  folgende  gehen,  das  seinen  Gruod- 
zügen  nach  sicherlich  treu  und  wahrhaftig  und  lebendig 
gezeichnet  ist,  wenn  es  gleich  wegen  der  unendlichen  Schwie¬ 
rigkeiten ,  die  seiner  Ausführung  entgegen  stehen,  in  man¬ 
chen  Nebenzügen  mangelhaft  sein  sollte. 

I.  Die  Natur,  «welche  die  Welt  ist  und  all  ihr  An¬ 

fang,»  erschien,  wie  sie  den  hellenischen  Philosophen  älte¬ 
ster  und  neuerer  Zeit  erschienen  war,  und  wie  sic  jedem, 
der  sie  mit  reinem  treuen  Sinne  betfachtet,  erscheinen  mufs, 
auch  unserem  Reformator  als  ein  einziges  grofses  Ganze, 
als  ein  Organismus,  in  welchem,  um  mit  Hippokrates 
zu  reden,  a-vynrotek  uia,  cv^oix  uia, ,  (tv/uttclS-hcc  7tol»tcl\  *) 
«Omnia  unica  creatura  sunt.»  (1,  663.)  « Macrocosmus 

et  homo  unum  sunt.»  (1,  6S2.  «Ein  Ding  ist  das  Innere 
und  das  Aeufsere.  Eine  Constellation,  Eine  Influenz,  Eine 
Concordanz,  Eine  Zeit,  Ein  Erz,  Ein  Tereniabin,  Eine 
Frucht.  Dann  das  ist  der  Limbus,  in  dem  alle  Geschöpfe 
verborgen  liegen  und  sin  1,  als  in  dem  Saamen  da  liegt  der 
ganze  Mensch.»  (2,  31'”.) 

II.  Der  Mensch,  um  dessen  Leben  sich  die  Medicin 
dreht,  ist  nur  ein  Glied  grofsen  YV ellorganismus,  und 
kann  nur  im  Zusammenhänge  mit  der  ganzen  übrigen  Natur 
richtig  erkannt  werden,  wie  man  denn  ein  Ruch  aus  einem 
einzelnen  Platte  nicht  verstehen  kann.  Somit  ist  das  Erste 


Cum  terras  omnea  et  cum  tuaria  omnia  circum,  Ignotos  repetens 
tolles,  ignota  viarurn  Compita,  praeruptosque  nditus  imosque 
rccessus  Lustrarem,  patrio  late  seclusus  ab  orbc,  Ut  generi  hu- 
mano  totique  ut  sedulus  orbi  Prodesscm  ,  Ieprasque  graves  diras- 
que  podagras,  Herculcainque  hydraru  ac  tetrae  contagia  pestis 
Hydropi.sisque  alrna  fraenareni  nionstra  mcdela  ctc.  —  so  sagt 
Linck  schön  und  wahr  von  Paracelsus. 

I)  leb  erinnere  an  die  alten  Sprüche:  E»  to  kolI.  — 
O  T7TK  yct{>  tfJtO»  >00»  UQ'JtrctlUl,  SIS  t>  TOLVTO  TO  TU.»  U»t\VtTO. 
7rec>  fo.  er  etm  7rx>TK  tcrs^Kousro»  y.ia >  tts  <pvn>  irotb  eyoto tr,  — 
Auch  Platon  im  iirnäos  spricht  sehr  schön  über  die  Ansicht. 


4 


/ 


I.  Paracelsus. 


23 


für  den  Arzt  Philosophie,  oder  Naturwissenschaft.  »  x)  «Ein 
Arzt  ist  der,  der  da  öffnet  die  Wunderwerke  Gottes  man- 
niglichen.  —  Denn  was  ist  im  Meer,  das  dem  Arzt  soll 
verborgen  sein?  Nichts!  Was  ist  im  Meer,  das  er  nicht 
soll  öffnen?  Nichts!  Er  solls  hervorbringen!  Und,  nicht 
allein  im  Meer  —  in  der  Erden,  in  der  Luft,  im  Firma¬ 
ment!”  (1,  54.)  «Betracht,  dafs  kein  Arzt  der  Krankheit 
oder  des  Menschen  Grund  mag  fürhalten,  er  habe  denn 
genugsam  Zeugnifs  aus  dem  Licht  der  Natur.  Dasselbige 
Licht  ist  die  grofse  Welt.”  (1,40.)  —  So  soll  denn  kei¬ 
ner  Arzt  seiu,  der  nicht  die  gesammten  Naturwissenschaften 
gründlich  studiert  hat,  Kosmologie,  Physik,  Geographie, 
Astronomie,  Theosophie  u.  s.  w. 

Die  Philosophie  aber,  die  der  Arzt  haben  soll,  darf 
keine  Ausgeburt  der  Phantasie  und  Speculation  sein,  son¬ 
dern  mufs  sich  blofs  auf  Anschauung  und  Studium  der 
Natur,  auf  Induction  und  Erfahrung  gründen.  «Der  Arzt 
mufs  durch  der  Natur  Examen  gehen,  welche  Natur  die 
Welt  ist  nnd  all  ihr  Anfang.  Und  dasselbige,  was  ihn  die 
Natur  lehrt,  das  mufs  er  seiner  Weisheit  befehlen,  aber 
nichts  in  seiner  Weisheit  suchen,  sondern  allein  im  Licht 
der  Natur.  —  Dann  eigene  Vernunft  mag  nimmermehr 
dahin  kommen.  —  Das  ist  wahr,  dafs  der  unerfahrene  Theil 
das  ist,  der  nicht  aus  der  Natur  geboren  ist,  will  nicht 
seinen  Schulmeister  erkennen,  sondern  seine  eigene  Ver¬ 
nunft  eine  arzneiische  Weisheit  sein  lassen  und  darauf  grün¬ 
den.  ”  (1,  40.)  «Eins  ist  also.  Der  Glasmacher,  aus  wem 


1)  «Requirimus  in  medico  non  solum  naturae  microcosmi^ 
sed  et  univer6ae  naturalis  philosophiae  cognitionem ,  non  ex  phan- 
tasmatibus  ac  speculationibus ,  sed  sensuura  et  experientiae  judi- 
cio  exort'arn.»  Paracelsus.  In  ganz  ähnlicher  Weise  spricht 
1)  a  Lun:  Phil  osophia  naturalis  pro  magna  matre  scientiarum  ha- 
beri  «lebet  u.  s.  w.  Das  klingt  freilich  nicht  zu  Brown’s  so 
oft  nachgesprochenem  Worte:  dafs  die  Philosophie  als  giftige 
Schlange  zu  fliehen  sei.  Aber  auch  Hippokrates  hat  gesagt: 
uLTgos  (piXo<ro(poi  troSsos! 


24 


I.  Paracelsus. 


hat  er  seine  Kunst?  Nicht  aus  ihm  selbst.  Aber  da  nahm 
er  die  Subjecte  der  Kunst  und  warf  sie  ins  Feuer;  da  zeigt 
ihm  das  Licht  der  Natur  das  Glas.  Also  ist  es  auch  mit 
dem  Arzt.”  (das.)  «Wir  achten  auf  Krden  dem  Menschen 
für  leibliche  Seligkeit  nichts  F.dleres,  denn  die  Na*ur  zu 
erkennen,  und  von  ihr  als  vom  rechten  Grunde  zu  phi- 
losophiren  und  wohlzureden.  Dergleichen  hinwiederum 
verachten  wir  die  sinnliche  Listigkeit,  die  sich  Philosophie 
nennt,  und  ein  gefärbtes  Gedünken  ist,  aber  w'ohl  geblümt 
und  ausgekittet.  ”  (l.  188.)  «Also  ist  das  Licht  der  Natur 
geschaffen,  dafs  man  daraus  jedes  Dinges  Probe  und  Bewei¬ 
sung  sehe  und  in  demselben  Lumen  wandle,  nicht  aus  eige¬ 
ner  Phantasie.”  (6,  201.)  «Diese  Philosophie  der  Arznei 
soll  nun  also  geführt  werden,  dafs  sie  in  die  Öhren  tone, 
wie  der  Fall  des  Rheines,  dafs  ihr  Getön  also  hell  in  die 
Ohren  klinge,  wie  die  sausenden  Winde  aus  dem  Meere, 
dafs  die  Zunge  dermaafsen  ein  Wissen  trage  als  des  Honigs 
und  der  Galle,  und  dafs  die  Nase  schmecke  einen  jeden 
Geruch  des  ganzen  Subjectes.  ”  (2,  239.) 

III.  In  der  Natur  ist  nichts  todt;  alles  ist  organisch 
und  lebendig.  «Es  ist  nichts  corporalisch ,  es  hätte  und 
fiihrete  nicht  auch  einen  Spiritus  in  ihm  verborgen;  es  ist 
nichts,  es  hätte  nicht  auch  ein  Leben  in  ihm  verborgen 
und  lebete.  Es  hat  auch  nicht  nur  das  Leben,  was  sich 
regt  und  bewegt,  als  die  Menschen,  die  Thiere,  die  Wür¬ 
mer  der  Erde,  die  Vögel  im  Himmel  und  die  Fische  im 
Wasser,  sondern  auch  alle  corporalischen  und  wesentlichen 
Dinge.”  (6,  118.)  Die  Welt  erscheint  somit  als  ein 
grofses  Lebenswesen,  ^uor.  *) 


1)  «©£>! tx  ya^  xxi  xS-xtXTct  Xxßnt  xxi  ^v^inrXiip nS-ti* 

•K  «  i  y  <  « 

e6i  o  xerfcos,  ovtcj  C^not  o(>xto>  rx  cgxrx  ?rigti%or ,  tixnt  rtf 

for)TX  3-itf  xicrS-yiros »  ptyiros  xxi  xgiros  xxXXtros  n  xxi  Ti%tn- 
txto<;  ytyotet,  itf  tt^xtef  oh,  /utteyttfig  nt.»  Platon;  die  er« 
habenc  Srhlufsrcdc  im  Tiraäos. 


I.  Paracelsus. 


24 

IV.  So  kann  denn  auch  kein  Tod  in  der  Natur  sein, 
und  das  Hinsterben  der  Wesen  ist  nichts,  als  ein  Zurück¬ 
sinken  derselben  in  ihrer  Mutter  Leib  (6,  150.),  nichts 
«  als  eine  Austilgung  und  Unterdrückung  der  ersten  Na¬ 
tur,  und  eine  Generation  der  anderen  und  neuen  Natur. » 
(6,  150.) 

V.  In  jedem  Dinge  ist  somit  zweierlei  zu  erkennen 
und  zu  beachten,  Materie  und  Thatigkeit  (Geist,  Astrum, 
Spiritus),  welche  Thatigkeit  durch  Prosopopöe  und  Hypo¬ 
stasirung  und  dem  herrschenden  Aberglauben  zu  gefallen, 
in  sofern  sie  in  der  Luft  ist,  als  Luftgeister  oder  Sylvanen, 
in  sofern  sie  im  Wasser  ist,  als  Wassergeister  oder  Undi¬ 
nen  u.  s.  w.,  in  der  Erde  als  Gnomen  oder  Pygmäen,  im 
Feuer  als  Salamander  r),  im  Menschen  als  Archäus  begrüfst 
wird. 1  2) 


1)  Die  Paracelsischen  Elementargeister  haben  Aehnlichkeit 
mit  den  Dämonen  des  Pythagoras,  des  Pia  ton,  des  Por- 
phvrius  u.  s.  w.  Auch  Platon’s  Dämonen  offenbarten  sich 
in  Träumen,  Stimmen  und  Wahrsagungen ,  durch  sie  sollten  die 
Wahrsagerkunst,  die  Opfer,  die  Weihen  ,  die  Sühnungen  der 
Uöttcr,  die  Beschwörungen ,  die  Zaubereien  möglich  sein;  sie 
wurden  als  geistige  Wesen  mit  aus  Aether,  Luft  und  Wasser 
gebildeten  Körpern  und  als  für  gewöhnlich  unsichtbar  gedacht. 
\ergl,  Plato  n*s  Timäos.  Aehnlich  betrachtete  auch  Empe- 
dokles  das  Feuer  als  Hephästos,  das  Wasser  als  Nestis,  die 
Erde  als  Aidoneus  und  die  Luft  als  (ps^strßiog  H^jj.  Paracel¬ 
sus  sagt  aber  merkwürdigerweise  von  seinen  Dämonen :  «Ehe 
die  W  eit  untergeht,  müssen  noch  viele  Künste,  die 
man  sonst  der  W irkung  des  Teufels  und  jener  Vice- 
M  enschen  zuschrieb,  offenbar  werden,  und  man  wird 
sehen,  dafs  die  meisten  dieser  Wirkungen  von  na¬ 
türlichen  Kräften  abhangen.» 

2)  Ich  bin  noch  ungewifs,  ob  unter  dem  Archäus  die 

ganze  Belebung  und  Begeistung  (^v^acru;)  des  Organismus,  der 
Verein  aller  organischen  Thätigk eiten  gedacht  werde,  oder  ob 
Paracelsus  unter  ihm  blofs  den  oder  das  ^coothlov  der 

Pythagoräcr,  das  des  Xcnophanes,  die  4/vZ * 

TiKYjy  Jjr.x/t j  yivviTiKY)  des  Aristoteles,  die  sterbliche  Seele 


i 


26 


I.  Paracelsus. 


VI,  Die  Thäligkeit  in  den  Dingen  ist  nichts  als  ein 
Ausllufs  der  Gottheit*  nichts  als  eine  Fraction  des  Gött¬ 
lichen.  «  Gott,  in  den  alle  Dinge  gehen  und  aus  dem  allen 
C^eaturcn  das  Ihrige  ausfleul'st.  »  (I,  143.)  «Alle  Dinge 
sind  gewesen  unsichtbar  bei  Gott.  w  (4,  142.) 

VII.  Eben  so  sind  laut  der  Chemie  in  allen  Dingen 

dieselben  Grundstoffe,  Salz,  Schwefel,  Quecksilber.  «Und 
soll  verstanden  werden,  dafs  alle  Geschöpfe  aus  Kiner  Ma¬ 
terie  kommen,  und  ist  nicht  einem  Jeglichen  ein  Eigenes 
gegeben.”  (7,  1.)  « Unum  quodlibct  generatum  et  a  suis 

elementis  productum  in  tria  collocatur,  in  Sal,  in  Sulphur, 
in  Mercurium.  E  tribus  bis  conjunctio  fit,  quae  corpus 
unum  et  unitam  essentiam  constiluit.  ”  (1,  354.)  «Sal 
Sulphur  et  Mercurius,  haec  tria  sunt  rerum  omnium  prin- 
cipia  et  prima  materia.”  (II,  2S3.)  «Sulphur,  Mercurius 
et  Sal  —  haec  vera  materia,  e  qua  universa  animalia  et 
tandem  ipse  homo  quoque  condita  suut.  ”  (1,361.)  J)  a) 


% 


des  Platon,  also  die  niedersten  am  Ganglicnsysteroe  haftenden 
sensitiven  Thätigkeiten ,  oder  diese  und  vegetative  und  animalische 
Thätigkeit  zugleich  verstanden  habe.  Er  scheint  in  Bezug  auf 
den  Archäus  nie  ht  consequent. 


I)  Wohl  erkennt  Paracelsus  an,  dafs  der  chemische 
Prozefs  im  Organischen  durch  die  Lebenskraft  gebunden,  bewäl¬ 
tigt  und  latent  gemacht  werde.  «Sulphur,  Mercurius  und  Sal 

sind  die  Substanzen  des  Leibes,  aber  durch  das  Leben  verhör- 

• 

gen.  In  Abziehung  des  Lebens  werden  sie  offenbar.  —  Der 
Mensch  sicht  die  Dinge  (die  Grundstoffe)  nicht,  dieweil  das 
Leben  da  ist;  allein  in  der  Zerstörung.  Drum  so  gieb  dem  Le¬ 
ben  das  zu,  dafs  du  sie  nicht  siehst;  dasselbigc  ist  ein  solcher 
D  eckmantcl,  der  die  Dinge  verbirgt  u.  s.  w.  >»  (1,  43.) 


2)  Man  darf  ja  nicht  glauben,  dafs  Parac.  mit  den  Wor¬ 
ten  Sal,  Sulphur,  Mercurius  die  Substanzen  bezeichnet  habe, 
die  wir  so  nennen.  Die  Bezeichnungen  sind  nur  symbolisch. 
«Das,  so  da  brennt,  ist  Sulphur;  nichts  brennt,  denn  allein  der 
Sulpbmv  Das  da  raucht,  ist  der  Mercurius;  nichts  subhinirt 
sich,  allein,  es  sei  dann  Mercurius.  Das  da  zu  Asche  wird,  ist 
Sal;  nichts  wird  zu  Asche,  allein,  es  sei  dann  Sal.»  (1,  42.) 


i 


f 


I.  Paracelsus.  27 

VIII.  Somit,  da  Alles  dieselbe  Kraft  und  dieselbe 
Materie  besitzt,  ist  jedes  Ding  dem  anderen  innig  verwandt 
und  im  Wesentlichen  gleich.  «Sola  forma  discrimen  facit.  ** 
(I,  372.) 

IX.  Der  Unterschied  in  den  einzelnen  Dingen  ruht 
darin,  dafs  das  eine  höher  steht,  als  das  andere,  dafs  das 
eine  eine  höhere  Stufe  im  Systeme  der  Wesen  einnimmt 
und  behauptet,  als  das  andere. 

X.  Das  höchste  Ding  auf  Erden  ist  der  Mensch;  in 
ihm  ist  alles  erreicht,  was  die  Natur  auf  tieferer  Stufe 
ihrer  Entwickelung  versuchte;  in  ihm  sind  alle  Weltkräfte  * 

9 

und  Weltmaterien  vereinigt,  wenn  nicht  actu,  doch  poten- 
tia,  virtute,  essentia;  er  ist  Mikrokosmus.  «Also  merket; 
zweierlei  Geschöpf;  Himmel  und  Erde  für  eins,  der  Mensch 
fürs  andere.»  (1,  22.)  «ln  ihm  sind  alle  Coelestia,  Ter- 
restria ,  Undosa  und  Aeria.  »  (1,  62.)  «In  dem  Genus 
das,  in  dem  das,  im  Menschen  aber  alles.  (1,  46.)  Es 
be  währt  sich,  dafs  der  Mensch  die  kleine  Welt  sei  mit 
allen  Creaturen  der  vier  Elemente.  (4,  135.)  In  homine 
creaturarum  universa  insunt.  Sicut  filius  parentis  sui  omnia 
memhra  exhihet,  sic  homo  qtioque  creaturas  universas  in  se 
continet.  Creaturarum  universarum,  quas  quidem  omnis 
mundus  novit,  natura,  essentia  et  proprietas  in 
bominem  congesta  et  ordinata  est.  (1,  631.)  Jam,  quia 
homo  caeteris  creaturis  sublimior  est,  hac  universae  in  eo 
sint  oportet  (1,  203.)  Und  das  ist  ein  Grofses,  dafs  ihr 
bedenken  sollt:  nichts  ist  im  Himmel  und  auf  Erden,  das 
nicht  sei  im  Menschen.  Und  Gott,  der  im  Himmel  ist,  der 
ist  im  Menschen.  (1,  31.)  Der  Mikrokosmus  ist  so  viel  zu 
erkennen,  dafs  er  in  den  vier  Elementen  steht,  und  ist  die- 
selbigen  unsichtlich.  Drum  so  ist  er  die  Erde  an  einem 
T  heil  und  mufs  den  Himmel  haben,  die  Luft,  das  Feuer. 
(4,  65.)  Also  nun  hat  der  Mikrokosmus,  ^mundus  minor, 
in  seinem  Leib  alle  Mineraiia  mundi.  (1,  126.)»  u.  s.  w. 

XI.  In  d  er  Welt  ist  ein  liellum  onmium  contra 
omnia;  jedes  Ding  erhält  sich  und  besteht  auf  Kosten 


28 


I.  Paracelsus. 


i 


anderer,  und  so  strebt  jedes  Din:;,  andere  zu  schädigen 
und  zu  vertilgen.  Hierdurch  entstellt  Krankheit,  die  immer 
in  'S  erderhnifs  gründet  und  ein  Schritt  tum  Tode  und  zur 
Auflösung  ist  J).  «Der  Arzt  soll  die  tödtliche  Art  erken¬ 
nen,  wie  die  Natur  wider  die  Natur  strebt,  wie  je  eins  in 
der  Natur  wider  das  andere  ist.  ln  gleicher  Weise,  wie 
die  Thiere  auf  Erden,  die  sich  zusammenrottiren  wider  ein¬ 
ander.  (5,  7.)  Darauf  merket,  dafs  alle  Dinge,  die  da 
geschaffen  sind,  wider  den  Menschen  sind,  und  der  Mensch 
wider  sie.  (1,  11.)  Es  ist  ja  ein  Ding  wider  das  andere, 
ein  Kraut  wider  das  audere,  ein  Stein  wider  den  andern, 
ein  Mineral  wider  die  anderen,  ein  Metall  wider  das  an¬ 
dere,  ein  Gift  wider  Jas  andere.« 

XII.  Drum  sind  die  Krankheiten  nichts  Zufälliges  und 
Normwidriges,  sondern  nolhvvendig  in  den  Gang  der  Dinge 
verllochten  und  in  der  Vollendung  gesetzlich  bestimmt;  sie 
sind  aus  Gott  und  in  ihnen  ist  etwas  Göttliches,  wie  schon 
llippokrates  ausgesagt.  «  Ilinc  non  inconcinne  Oportet 
Omnium  morborum  caussam  dixerit  quispiam.  ”  (3,  52.)  — 
«Mors  naturalis  ejusque  anteambulones,  morhi,  a  Deo,  ceu 
'  parente  nostro,  egrediuntur.  «  (II,  423.)  «Denn  ihr  sollt 
wissen,  dafs  Gott  in  den  Krankheiten  gleich  so  grofs  geloht 
und  gepriesen  will  werden  in  meisterlichen  seltsamen  Wer¬ 
ken,  als  wohl  in  den  Blumen  des  Feldes.  W  iewohl  wider¬ 
wärtig  dem  Menschen.  Seht  aber  an:  alle  Vögel  hat  er 
geschaffen,  das  ist  ihm  ein  Loh;  hingegen  auch  die  Würmer, 
Spinnen,  Basilisken;  ist  ihm  gleich  sowohl  ein  Loh,  als  die 
Nachtigall,  der  Pfau.  Also  auch  viel  gute  Gewächse,  als 
Gold,  Perlin,  hingegen  auch  viel  Gift,  Arsenicum,  Mercu- 
rius  u.  s.  w.,  ist  alles  sein  Loh.  Also  ist  ihm  ein  Loh, 
dafs  er  uns  die  Gesundheit  gegeben  hat,  also  auch  ein 
gleichmäfsig  Loh  ist  die  Krankheit;  und  zu  beiden  Seiten 


1)  «Morborum  oinnium  raussa  corruptio  cst.»  Chirurg, 
inngna,  S.  52.  Häufig  heifsen  hei  Paracelsus  die  Krankheiten: 
Anteambulones  mortis.  ,S.  XII. 


I.  Paracelsus. 


29 


gleiche  Meisterschaft  braucht  er,  zu  schmieden  die  Blumen, 
und  zu  schmieden  die  Krankheit,  und  Eine  Ordnung  und 
Ein  Wesen.»  (4,  150.)  «Denn  nicht  aus  dem  Menschen, 
sondern  aus  dem  Vater  kommen  die  Krankheiten.»  (2,  251.) 
«Deus  hominibus  omne  morborum  genus  inseminavit,  ut 
jam  quivis  homo  in  suum  morbum  praedestinatus  oriatur 
seu  nascatur.  »  (III,  45.) 

XIII.  Das  Wesen  der  Krankheit  besteht  in  Dishar¬ 
monie  der  Elementarstoffe  des  Körpers;  einseitiges  selbsti¬ 
sches  Hervortreten  und  Vorschlägen  («  Sieh-überheben  ») 
des  einen  oder  des  anderen  Elementarstoffes  (VII.)  setzt 
Krankheit,  so  dafs  dieselbe  gleichsam  als  Frucht  der  Grund¬ 
stoffe  des  Körpers  erscheint.»  (1,  170.)  «Dann  so  die 
Drei  einig  sind  und  nicht  zertrennt,  so  stehet  die  Gesund¬ 
heit  wohl.  Wo  aber  sie  sich  zertrennen,  das  ist,  zerthei- 
len  und  sondern,  das  eine  fault,  das  andere  brennt,  da 
dritte  zeucht  einen  anderen  Weg:  das  sind  die  Anfänge 
der  Krankheiten.  Dieweil  das  ein  einig  Corpus  bleibt,  die¬ 
weil  ist  keine  Krankheit  da;  wo  aber  nicht,  sondern  es 
spaltet  sich,  jetzt  geht  an  das,  so  der  Arzt  wissen  soll.  — 
Das  ist  Zerstörung  des  ganzen  Reiches,  der  Anfang  des 

Todes.”  (1,  43.)  J) - So  ist  denn  Gesundheit  Friede 

der  Grundbestandtheile  des  Leibes,  Krankheit  Krieg  dersel¬ 
ben,  ein  bellum  intestinum.»  Dann  dem  Leben  ist,  wie 
dem  Frieden;  wo  Frieden  ist,  da  ist  Einigkeit,  und  sobald 
die  Einigkeit  sich  entschleufst,  da  entschleufst  sich  auch  der 
Friede,  und  gehet  ab.»  (1,  45.) 1  2)  — 


1)  “Also  entspringen  die  Krankheiten,  wie  Lucifer  im 
II  imniel ,  aus  Hoffart,  die  alle  bella  intestina  macht.  So  sich 
der  Mercurius  erhebt  seines  Liquors,  so  er  aufsteigt  und  bleibt 
nicht  in  seinen  Staffeln,  das  ist  jetzt  ein  Anfang  der  Discordanz. 
Also  auch  mit  dem  Sulphur  und  Sah  So  sich  das  Sal  erhöht 
und  besondert  sich,  was  ist  es  allein,  als  ein  fressendes  Ding? 
Wo  seine  Iloffart  liegt,  da  nagt  und  frifst  sie  u.  s.  w. »  (1,64.) 

2)  D  er  Begriff,  den  Parac.  von  Krankheit  aufstellt,  schliefst 
sich  an  die  Definitionen  älterer  Naturforscher  an.  Pythagoras 


30 


I.  Paracelsus. 


Auf  die  erwähnte  Disharmonie  der  Klementarstoffe  soll 
die  höchste  Rücksicht  genommen  werden  hei  dem  Studium 
der  Krankheiten,  «  in  keinem  Weg  aber  sollen  angesehen 
werden  die  vier  Ilumores,  die,  wenn  sie  ja  vorhanden, 
was  bezweifelt  wird,  immer  erst  aus  der  Verbindung  der 
Grundstoffe  hervorgehen,  gleichwie  der  Raum  aus  der  \\  ur- 
zel.  «  Es  ist  gleich  anzusehen  um  einen  Arzt,  der  aus  den 
Complexcn  arzneiet  die  Kraft  der  Natur,  als  um  einen,  der 
die  Flammen  vom  Feuer  löscht,  das  nicht  brennt,  und  lälst 
die  Kohlen  glühend.  Denn  es  ist  mehr  zu  betrachten,  dafs 
die  Wurzeln  des  Baumes  erhalten  werden,  denn  die  Aeste  — 

i 

denn  aus  der  Wurzel  kommt  die  Kraft.»  (6,  TG.)  « Qui 
bonus  medicus  esse  volet,  philosophiae  cognitione  instructu» 
sit  oportet.  Idem  enim,  quod  ligna,  herbas,  frutices  cett. 
laedit,  in  homine  causare  putanduw  est.  \  erum  quemad- 
modum  in  herbis  nemo  humores  inesse  recte  dixerit,  sed 
unica  illis  lmmiditas  inest,  quam  nos  liquoris  nomine  afii- 
cimtis,  sic  in  homine  liquor,  non  humor  aliquis  inesse  dica- 
tur.  »  ( III,  47.) 

XIV.  So  wie  nun  jeder  Organismus  aus  Materie  und 
Thätigkeit  besteht  (V.),  so  ist  bei  Krankheit  mit  der  Ver¬ 
änderung  in  der  Materie  des  Organismus  auch  eine  Verän¬ 
derung  in  seiner  Thätigkeit,  abnorme  Action,  gegeben,  es 
findet  bei  jeder  Krankheit  zugleich  eine  Veränderung,  Um¬ 
bildung  und  Umwandlung  eines  Theiles  des  Lebens  statt. 
» Versteht,  das  zweierlei  Subjekte  der  Krankheiten  seien, 
darin  sie  alle  vollbracht  werden  und  eingedruckt.  Das  eine 
Subjekt  ist  die  Materie,  das  ist  der  Leib.  In  demselbigen 
liegen  alle  Krankheiten  still  und  wohnen  in  ihm.  Das  an¬ 
dere  Subjekt  ist  keine  Materie,  ist  der  Spiritus  des  Leibes; 


und  Alkmäon  sagten  aus:  Ttjf  vyitcti  titeti  trsPoutctP  r  mp 

DVPO.f4.lU9  ,  T9)9  d  tP  OVTAi<i  flO*X(>%UX.9  POOH  7ST 0 UtT l KP) P .  PlatODi 

Flcmentoruru  corporis  physicorum  ftroportio  mala  proxima  omnium 
luorboruui  causa.  Ga  lenus  nannte  die  Krankheit:  UftlTgiu,  rif. 
Nur  nahmen  diese  M. inner  andere  Klerueule  an. 


3t 


II.  Homöopathie. 

derselbige  ist  im  Leib  ungreiflich,  unsichtlich.  Derselbige 
mag  leiden  alle  Krankheiten  in  ihm  selbst  und  tragen  und 
haben,  wie  der  Leib.»  (1,  27.) 

(Beschluss  folgt.) 


II. 

1.  Tabellen  fiir  die  praktische  Medicin 
nach  homöopathischen  Grundsätzen,  von 
Dr.  Carl  Georg:  Christian  Hartlaub,  aus- 
übendem  Arzte  in  Leipzig.  Leipzig,  bei  Leo.  1829. 
52  grofseBogen,  auf EinerSeite  bedruckt.  (4Thlr.) 

2.  Die  H  omöopathie  in  staatspolizeirecht¬ 
licher  H  in  sicht,  von  Dr.  Carl  Aug.  Titt- 
mann,  Künigl.  Sachs.  Hof-  und  Justiz -Rathe  u. 
s.  w.  Meifsen,  bei  Gödsche.  1829.  8.  XYI  und 
126  S.  (16  Gr.) 

Als  vor  einiger  Zeit  das  bevorstehende  nahe  Ende  der 
Homöopathie  verkündet  wurde,  behauptete  der  Unterzeich¬ 
nete  Referent  dieser  Angelegenheit  in  unseren  Annalen,  dafs 
er  kein  nahes  Ende  voraussehe,  und  vielmehr  noch  gar 
mancherlei  Kämpfe  gewärtige,  ehe  durch  das  läuternde  Feuer 
der  Eeobachtungen  und  Versuche,  des  Streites  dafür  und 
dagegen,  und  endlich  der  Zeit  selbst  einerseits  das  Unhalt¬ 
bare  dieser  Lehre  den  Aerzten  wie  der  Gesanuntwelt,  welche 
den  eifrigsten  Antheil  nimmt,  klar  geworden  sein,  und  ehe 
andererseits  das  Wahre  derselben  der  gesammten  herrschen¬ 
den  Heilkunde  einverleibt  sein  wird.  Die  Richtigkeit  dieser 
Behauptung  ergiebt  sich  nicht  nur  aus  dem  Inhalte,  son¬ 
dern  schon  aus  der  blofsen  Erscheinung  der  beiden  oben 
genannten  Schriften.  Denn  wenn  überhaupt  die  zuneh- 


32 


II.  Homöopathie. 

mende  Zahl  homöopathischer  Schriften  hinlänglichen  Beweis 
für  den  Ankauf  derselben  gewährt,  weil  sonst  kein  Buch¬ 
händler  sich  mit  dem  \  erläge  derselben  befassen  könnte, 
so  sehen  wir  nun  gar  No.  1.  mit  einer  Eleganz  und  Ver¬ 
schwendung  gedruckt,  deren  sich  kein  anderes  tabellarisches 
Werk  der  gegenwärtigen  Medicin  rühmen  kann.  Der  Ver¬ 
leger,  welcher  aus  buchhändlerischer  Erfahrung  den  Gang 
des  Absatzes  der  verschiedenen  literarischen  Zweige  kennt, 
hat  sich  nicht  gescheut,  ein  theurcs  Werk,  zu  dein  eine 
sehr  lange  Fortsetzung  erfolgen  kann,  auf  den  Büchermarkt 
zu  bringen.  Er  mufs  also  eines  grofsen  Publikums  von 
Käufern  gewdfs  sein,  da  nicht  anzunehmen  ist,  dafs  er  aus 
reiner  Vorliebe  für  den  Gegenwand  sich  einem  grofsen  Ver¬ 
luste  aussetzen  wird,  ln  No.  2.  sehen  wir  einen  eben  so 
angesehenen  als  gelehrten  sächsischen  Juristen  als  Verfechter 
der  Homöopathie  auftreten,  ein  Beweis,  dafs  diese  Lehre 
sich  unter  dem  gebildeten  Publikum  ansehnliche  Anhänger 
erworben  hat,  wie  denn  auch  verlautet,  dafs  eine  hohe 
Person  des  Königl.  Sachs.  Ilofes  sich  homöopathischer  Hülfe 
mit  Nutzen  bedient  habe. 

Wir  haben  alles  dieses  angeführt,  nicht  etwa  um  die 
Wahrheit  der  neuen  Lehre  (über  welche  die  Zahl  der  An¬ 
hänger  nicht  wesentlich  entscheiden  kann)  oder  unsere 
gröfsere  Geneigtheit  zu  derselben  zu  erweisen,  indem  die 
früher  von  uns  aufgestellte  Ansicht  nicht  aus  Halsstarrig¬ 
keit,  sondern  aus  Ueberzeugung  noch  von  uns  festgehallen 
wird.  Unser  Zweck  ging  einzig  dahin,  zu  erweisen,  dals 
die  Homöopathie  tatsächlich  als  eine  bedeutende,  keincs- 
weges  im  Untergange  begriffene  Richtung  der  Medicin  da¬ 
steht,  und  dafs  es  nicht  genüge,  mit  vornehmem  Achsel¬ 
zucken  oder  mit  sophistischen  Nichtigkeitsbeweisen,  oder, 
was  freilich  das  Allerschlimmste  wäre,  mit  ’S  erboten  und 
Drohungen  von  oben  her,  in  dieser  Sache  zu  verfahren. 
Vielmehr  bleiben  uns  anhaltend  nur  zwei  Wege  offen;  der 
eine  ist  der  Weg  der  vernünftigen  Sichtung  und  unpar¬ 
teiischen  Erwägung,  den  wir  hier  eigeschlagen  haben;  der 

andere 


33 


II.  Homöopathie. 

andere  ist  der  des  Versuchs  im  Grofsen  in  öffentlichen 
Krankenanstalten.  Das  Gerücht  sagt,  dals  solche  Versuche 
liier  mit,  dort  ohne  Erfolg  angestellt  worden  seien;  allein 
Gewifsheit  ist  uns  hierüber  noch  keinesweges  geworden. 
Möchte  doch  der  Weg  der  freimüthigsten  Oeflentlichkeit, 
den  wir  in  allen  Beziehungen  als  den  besten  betrachten, 
doch  recht  bald  wenigstens  in  inedicinischer  Beziehung  ein¬ 
geschlagen  werden!  Leider  sieht  man  den  meisten  ärzt¬ 
lichen  Druckschriften  die  Befangenheit  an,  wenn  sie  auf 
Verhältnisse  der  Gegenwart  gelangen,  während  nur  das 
unumwundenste  Aussprechen  der  L  eberzeugung,  der  Wahr¬ 
heit  förderlich  sein  kann. 

Doch  wir  kehren  zu  unserem  Gegenstände  zurück,  und 
erwägen  zuerst  die  Schrift  des  schon  sonst  als  homöopa¬ 
thischen  Schriftstellers  bekannten  Hrn.  Dr.  Hartlaub.  In¬ 
dem  sie  nichts  Neues  aufstellen,  sondern  nur  die  allerdings 
höchst  schwierige  Anwendung  der  Arzneisymptome  in  Krank¬ 
heiten  für  den  homöopathischen  Praktiker  erleichtern  will, 
so  finden  wir  hier  nur  die  bekannten  homöopathischen  Arz¬ 
neisymptome,  jedoch  in  einer  neuen  eigentümlichen  Ord¬ 
nung,  indem  bei  jedem  Symptome  tabellarisch  auseinander¬ 
gesetzt  wird,  wie  dasselbe  sich  in  Folge  verschiedener  Arz¬ 
neien  mit  mannigfaltigen  Verschiedenheiten  äufsere.  Der 
Verf.  gesteht  in  der  Vorrede,  dafs  es  nach  homöopathischen 
Grundsätzen  keine  speciellen  Pathologieen  und  Therapieen 
geben  könne,  und  dafs,  die  reine  Arzneimittellehre  immer 
das  wesentlichste  Studium  des  Homöopathen  machen  müsse. 
Er  giebt  also  unbedingt  zu,  was  andere  und  wir  selbst 
dieser  Schule  vorgeworfen  haben,  dafs  sie  nämlich  einem 
gründlichen  Studium  der  Medicin  ganz  entgegentrete.  Wozu 
allgemeine  wissenschaftliche  Bildung,  naturwissenschaftliche 
Kenntnisse,  Anatomie,  Physiologie,  allgemeine  Pathologie, 
pathologische  und  therapeutische  Monographien,  wenn  man  > 
homöopathisch  heilt?  Lernt  fleifsig  die  Arzneisymptome 
auswendig,  stellt  ein  recht  genaues  Krankenexamen  an,  und 
vergleicht  die  pathologischen  und  arzneilichen  Zeichen  mit 
XIV.  Bd.  i.  St.  3 


34 


II.  Homöopathie. 

gröfster  Sorgfalt,  so  ergiebt  sich  mit  Noth  wendigkeit,  was 
und  wie  viel  ihr  verdünnen  müfst,  und  der  Kranke  wird 
geheilt.  Möglichst  geringes  Nachdenken  um!  möglichst  star¬ 
kes  Gedächtnifs,  sind  zu  dieser  Heilmethode  durchaus  erfor¬ 
derlich.  I)a  nun  Ree.  nichts  zu  erfassen  vermag,  als  was 
entweder  ein  deutliches  sinnliches  Bild  oder  einen  klaren 
Regriff  gewährt,  reines  Gedächtnilswerk  aber  nur  allzuleicht 
vergifst,  so  fehlt  es  ihm  an  aller  Anlage  zu  einem  auch  nur 
mittelmäfsigen  homöopathischen  Arzte;  ja  er  sieht  sich  sei¬ 
nerseits  unfähig,  nach  homöopathischen  Grundsätzen  Ver¬ 
suche  anzustcllen,  und  kann  die  Wahrheit  der  in  den  Ta¬ 
bellen  aufgestellten  Arzneisymptome  eben  so  wenig  prüfen, 
als  er  dieselben  in  den  früheren  Werken  dieser  Schule  zu 
prüfen  vermocht  hat.  Es  bleibt  ihm  daher  nur  die  geringe 
Aufgabe,  die  hier  abgehandelten  Zeichen  und  die  ihnen 
entsprechenden  Arzneien,  bei  welchen  verwandte  Arz.nei- 
symptome  in  Anmerkungen  genannt  sind,  mit  wenigen 
Worten  anzugeben,  nämlich  1.  Kopfschmerzen  mit  den  Arz¬ 
neien  1.  Aconit,  2.  Belladonna,  3.  Merc.  solub.,  4.  China, 
5.  Staphisagria ,  6.  Tart.  stib.,  7.  Spigelia,  8.  Brvonia, 

9.  Ledum,  10.  Arsenicum,  11.  Hyoscyamus,  12.  Veratrum, 
13.  Arnica,  14.  Platina,  15.  Anacardium,  16.  Cannabis, 
17.  Colocvnthis,  18.  Mezereum,  19.  Capsicum,  ‘20.  Sabina, 
21.  Cuprum,  22.  Ignatia,  23.  Cocculus,  24.  Stannum, 
25.  Carbo  veget.  26.  Nux  vömica,  27.  Rhus  Toxicodendron, 
28.  Chamomilla,  29.  Pulsatilla,  30.  Asa  foet. ,  31.  Dulca- 
mara,  32.  Ilelleb.  niger,  33.  Cina,  34.  Sabadilla,  35.  Au¬ 
rum,  36.  Oleander,  37.  Manganesium,  38.  Thuya,  39.  Ma- 
gnetis  polus  austral.  et  40.  arctic.,  41.  Sulphur.  II.  Schmer¬ 
zen  und  Entzündungen  der  Augen  mit  den  Arzneien  1.  2. 
3.  Calcaria  sulphurata,  41.  5.  Wratrum,  8.  28.  29.  24.  Acid. 
phosphoric. ,  7.  Ferrum,  4.  9.  10.  Conium,  Euphorbium, 
Spongia  marina,  Euphrasia,  Digitalis,  38.  Stramonium, 
17.  1.9.  Crocus,  Tinct.acris,  35.  Zincum,  18.  Valeriana,  22.  11. 
Auf  ganz  gleiche  Weise  sind  ferner  mit  den  Arzneien,  die 
wir  jedoch  zur  Vermeidung  der  W  eitläufligkeit  nicht  nen- 


i 


35 


If.  Homöopathie. 

nen,  zusammcngestellt:  III.  Ohrschmerzen,  IV.  Gesichts¬ 
schmerzen,  V.  Zahnschmerzen,  VI.  Halsentzündungen,  VII. 
Gliederschmerzen ,  VIII.  Fieber.  —  Ein  Urtheil  über  den 
eigentlichen  Werth  dieser  Tabellen  vermögen  wir  nicht  zu 
fällen,  indem  nach  unserem  ärztlichen  Standpunkte  ein  Ge¬ 
brauch  derselben  ganz  unstatthaft  ist.  Gern  geben  wir 
jedoch  einen  Nutzen  derselben  vom  homöopathischen  Ge¬ 
sichtspunkte  aus  zu,  obgleich  auch  zu  diesem  Zwecke  die 
Stoffe  nicht  deutlich  genug  übersehen  werden  können.  Zu¬ 
gleich  wünschten  wir  von  Homöopathen  gelegentlich  dar¬ 
über  belehrt  zu  werden,  ob  sie,  wenn  zwei  oder  mehrere 
derselben  zugleich  einen  Kranken  behandeln,  nach  Anlei¬ 
tung  ihrer  Arzneisymptome  sich  leicht  über  den  Gebrauch 
eines  Mittels  vereinigen  können,  indem  unserer  Meinung 
nach  bei  demselben  Krankheitszustande  sehr  oft  verschiedene 
homöopathische  Arzneien  anwendbar  sein  müssen,  je  nach¬ 
dem  man  diese  oder  jene  Reihe  von  Zeichen  mehr  her¬ 
vorhebt. 

f.  .  .  .  •  *r* 

In  No.  2.  sehen  wir  einen  Nichtarzt  mit  dem  Beweise 
beschäftigt,  dafs  es  den  Homöopathen  gestattet  sein  müsse, 
selbst  zu  dispensiren.  Eine  grofse  Gelehrsamkeit  und  ein 
nicht  minder  ausgezeichneter  Scharfsinn  sind  zu  dlescitj 
Zwecke  aufgeboten  worden;  unverkennbar  ist  jedoch  die 
Parteilichkeit  des  Verfassers,  indem  er  ohne  diese,  ver¬ 
schiedene  yvichtige  Gegengründe  nicht  unerwähnt  gelassen 
hätte.  In  der  Vorrede  wird  der  Grundsatz  aufgestellt,  dafs 
es  nur  Sache  der  Regierungen,  nicht  aber  der  Aerzte  sein 
könne,  über  die  dieser  Heilmethode  zustehenden  Befugnisse 
zu  entscheiden,  da  es  hier  nicht  gelte,  ein  wissenschaftliches 
Gutachten  zu  erlangen,  sondern  dem  Staate  die  Vorlhcile 
zu  erhalten,  welche  ihr  die  Methode  gewährt.  Allein  be¬ 
denkt  man ,  wie  doch  der  Werth  jedes  Gegenstandes  immer 
am  besten  durch  die  Kundigen  entschieden,  und  wie  der 
Anschein  glücklicher  Heilungen  so  leicht  durch  Aberglau¬ 
ben,  Thorheit,  Mode  uiid  Vorurtheil  hervorgebracht  wird, 

3  * 


36 


If.  Homöopathie. 

so  wird  sich  leicht  ergeben,  dafs  die  Regierungen  nur  dann 
7.11  passenden  Maafsregeln  in  Beziehung  auf  Homöopathie 
gelangen  können,  wenn  sie  sich  dabei  von  medicinischer * 
Intelligenz  leiten  lassen,  nicht  dem  Scheine  ungeprüfter 
Heilungen  vertrauen,  und  auf  keine  YV  eise  in  die  selbst¬ 
tätige  Entwickelung  der  Lehre  eingreifen.  Ganz  beson¬ 
ders  aber  ist  et  ihnen  nicht  zuzumuthen,  die  nicht  durch 
einen  einzelnen  wiilkührlichen  Befehl,  sondern  durch  lang¬ 
jährige  Prüfung  und  allmählige  Entwickelung  hervorgegan¬ 
gene  Apothekerordnung,  welche  mit  unserer  ganzen  Mcdi- 
cinalverfassung  so  innig  zusammenhängt,  zum  Besten  der 
Homöopathie  zu  untergraben ,  zumal  (ja  die  gegen  das  Dis- 
pensiren  der  Apotheken  von  den  Homöopathen  aufgestellten 
Ansichten  nicht  zureichend  sind.  —  Doch  wir  gehen  zur 
Darlegung  der  Schrift  selbst,  die  mit  grofser  logischer  Kunst 
angelegt  ist.  Wir  heben  die  Hauptsätze  des  Verf.  hervor, 
und  begleiten  sie  nup  da  mit  Anmerkungen,  wo  wir  ihnen 
entgegentreten  müssen. 

Der  Staat  kann  bei  einer  Heilmethode  nur  in  sofern 
mit  gesetzlichen  Vorschriften  einschreiten,  als  sic  sich  ge¬ 
fährlich  für  das  Leben  oder  hindernd  für  die  YN  iederher- 
stellung  der  Kranken  darstellt.  (Der  für  die  Freiheit  käm¬ 
pfende  erf.  giebt  hier  zu  wenig  zu;  denn  leicht  könnte 
eine  neue  Heilmethode  von  den  Gegnern,  die  die  herr¬ 
schende  Parthei  ausmachen,  als  gefährlich  geschildert  und 
eben  deswegen  verboten  werden;  eben  deswegen  ist  unsere 
Ueberzcugung,  dafs  der  Staat  bei  keiner  Heilmethode  hem¬ 
mend  eintreten  dürfe,  die  von  denen  geübt  wird,  welche 
er  als  der  Heilkunst  vollkommen  kundig  anerkannt  hat.  L.) 
Von  einem  gesetzlichen  Einschreiten  gegen  die  Homöopa¬ 
thie  kann  nicht  die  Bede  sein  (ganz  gewifs  nicht,  L.);  wohl 
aber  fragt  es  sich,  was  in  dem  Falle  polizeirechtlich  sei, 
wenn  die  Anwendung  einer  Heilmethode,  und  hier  im  spe- 
ciellen  Falle,  der  Homöopathie,  mit  den  gesetzlichen  \  or- 
schriften  und  Einrichtungen,  welche  vor  Erfindung  dersel¬ 
ben  in  Betreff  der  Ausübung  der  Heilkunde  überhaupt  fest- 


37 


II.  Homöopathie. 

gestellt  worden  sind,  In  Collision  geräth.  Es  ergiebt  sich 
leicht,  dafs  der  Staat  solche  gesetzliche  Bestimmungen, 
welche  der  Anwendung  der  meuen  Heilmethode  und  dem 
aus  derselben  sich  ergebenden  öffentlichen  Nutzen  hemmend 
entgegen  treten,  in  Beziehung  auf  dieselbe  nicht  in  Anwen¬ 
dung  bringen  darf,  oder  mit  neuen  vertauschen  mufs.  Die 
Untersuchung  mufs  nun  dahin  gerichtet  sein,  ob  diese  all¬ 
gemeinen  Bestimmungen  auf  das  Selbstdispensiren  von  Sei¬ 
ten  der  Aerzte,  welches  die  Homöopathen  für  nothwendig 
halten,  angewandt  werden  können.  Zu  diesem  Zwecke  wer¬ 
den  drei  Fragen  aufgestellt: 

I.  Was  haben  die  Gesetze,  welche  das  Dispensiren 
der  Aerzte  verbieten,  eigentlich  bezweckt  und  verboten? 
und  sind  sie  auf  die  Verfertigung  und  Ausgabe  der  Arz¬ 
neien  anwendbar?  Die  Arzneien  sind  nicht  nur  ursprüng¬ 
lich,  sondern  bis  in  die  letzten  Jahrhunderte  hinein,  gröfs- 
tentheils  von  den  Aerzten  selbst  gefertigt  worden.  Die 
Entstehung  der  Arzneibereitung,  als  eines  besonderen  Ge¬ 
schäftes  ,  beruhete  vorzüglich  auf  der  grofsen  Mannigfaltig¬ 
keit  und  Zusammensetzung  der  Arzneien ;  immer  aber  wur¬ 
den  die  Aerzte  als  die  eigentlichen  Kenner  und  als  die  auf¬ 
sichtliche  Behörde  der  Bereitung  angesehen.  Selbst  als  es 
schon  Apotheker  gab,  verfertigten  viele  Aerzte  einzelne 
Mischungen,  und  reichten  sie  ihren  Kranken  ohne  Vermit¬ 
telung  der  Apotheker;  es  dauerte  sehr  lange,  ja  bis  in  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts,  ehe  den  Apothekern  in 
Deutschland  ein  Privilegium  exclusivum  auf  das  Ausgeben 
der  Arzneien  ertheilt,  und  den  Aerzten  das  Selbstdispensi¬ 
ren,  übrigens  auch  nicht  unbedingt,  untersagt  wurde.  In 
vielen  anderen  gebildeten  Staaten  besteht  noch  bis  jezt  kein 
solches  Privilegium.  Der  Geist  der  jetzt  in  Deutschland 
bestehenden  Apothekerordnung  wird  auf  folgende  Weise 
bezeichnet:  1)  sie  hat  den  Apothekern  das  Geschäft  der 
Arzneibereilung  vorzugsweise,  aber  nicht  ohne  Ausnahme 
zugeschrieben.  Man  hat  nämlich  an  Orten,  wo  keine  Apo¬ 
theken  sind,  ferner  an  grofsen  Krankenanstalten  und  bei 


38  II.  Homöopathie. 

Geheimmittcln  das  Dispensi  en  «1er  Aerzte  gestaltet.  2)  *SIe 
hat  das  Hecht  der  Aerzt.',  öle  W  ahl  der  Arzneien  zu  be¬ 
stimmen,  nicht  auf  den  Gebrauch  der  Apothekerarzneien 
beschränkt.  Indem  der  Arzt  mit  mancherlei  im  Hause  oder 
anderweitig  bereiteten  Mitteln  ctiriren  darf,  mufs  es  ihm 
auch  freistehen,  auf  nicht  gewöhnliche  Art  zubercitete  Arz¬ 
neien  selbst  den  Kranken  zu  reichen.  (Dieser  Sehlufs  ist 
ganz  unrichtig;  das  Verbot  des  Selbstdispensircns  bezieht 
sich  blofs  auf  diejenigen  Mittel,  welche  dem  Stoffe  und  der 
Torrn  nach  im  allgemeinen  Sprachgebrauche  als  Arzneien 
bezeichnet  werden.  Arzneien  seihst  zu  bereiten,  kann  aufser 
den  unter  No.  1.  angegebenen  Fällen  nur  dann  gestattet 
werden,  wenn  der  Apotheker  die  von  dem  Arzte  verord¬ 
nten  Mittel  nicht  bereit  halten,  oder  dieselben  nicht  nach 
den  ihm  von  dem  Arzte  gegebenen  Vorschriften  bereiten 
will.  Können  die  Homöopathen  einen  dieser  Fälle  nach- 
weisen,  so  mufs  ihnen  allerdings  das  ScH>stdispensiren ,  aber 
nur  für  diesen  Fall,  ge  tattet  sein.  Allein  da  die  Apothe¬ 
ker  in  der  Hegel  jedem  Wunsche  der  Aerzte  mit  gröfster 
Bereitwilligkeit  entgegenkommen ,  so  dürfte  eine  solche 
Nachweisung  unmöglich  sein.  L.)  3)  Das  Verbot  des 

Sclbstdispensirens  bezieht  sich  blofs  auf  gemischte,  nicht 
auf  einfache  und  ohne  Kunst  zuzubereitehde  Arzneien.  AU 
letzte  werden  die  homöopathischen  Mittel  betrachtet,  in¬ 
dem  bei  ihnen  nicht  chemische  Kunst,  sondern  kunstlose 
mechanische  Zertheilung  obwalte.  (Auch  das  Sclbstdispcn- 
siren  einfacher  Mittel  und  blofs  mechanischer  Verbindungen 
ist  bisher  verboten  gewesen;  es  kann  also  aus  der  Beschaf¬ 
fenheit  der  homöopathischen  Arzneien  kein  Grund  zur  Ge¬ 
stattung  des  Selbstdispensircns  hergenommen  werden.  L.) 
4)  Das  Verbot  zweckt  blofs  darauf  ab,  den  Staatsbürgern 
Gelegenheit  zu  Ankaufung  kunstgerecht  gefertigter  Arznei 
zu  schaffen,  den  Apothekern  durch  das  Selbstdispensircn 
der  Aerzte  und  sonstigem  Handel  mit  Arznei waaren  bei  den 
ihnen  mit  allöopathischen  (der  Verf.  schreibt  mit  Hecht 
Allöopathie,  nicht  Allopathie,  L.)  Arzneien  zugestandenen 


39 


II.  Homöopathie. 

K  » 

Handel  keinen  Abbruch  thun  zu  lassen,  und  endlich  das 
Curiren  von  Quacksalbern  zu  verhindern.  Ein  solcher 
Abbruch  könne  durch  die  homöopathischen  Arzneien  nicht 
erfolgen,  weil  sie  bei  ihrem  höchst  unbedeutenden  Geld¬ 
werth  vom  Arzte  umsonst  gereicht  werden.  (Wenn  der 
Geld werth  gering  sein  mag,  so  mufs  der  unsägliche  Mecha¬ 
nismus  der  Verkleinerung  nach  der  dabei  obwaltenden  Mühe 
und  Zeitverlust  in  Betracht  kommen.  Her  Arzt  kann  daher 
die  Arznei  nur  scheinbar  umsonst  geben,  und  mufs  sich 
seine  übrigen  Bemühungen  um  desto  höher  bezahlen  lassen, 
ln  Beziehung  auf  die  Entstehung  des  Verbotes  zu  dispen- 
siren  müssen  wir  noch  bemerken,  dafs  es  ganz  auf  dem 
staatswirthschaftlichen  Grundsätze  der  Arbeitstheilung  be¬ 
ruhe.  So  wie  in  der  Zeit  eines  niedrigen  Standpunktes 
der  Industrie  jeder  sich  Kleider,  Wohnung  u.  s.  f.  selbst 
bereitet,  hingegen  mit  steigender  Ausbildung  diese  Geschäfte 
sich  auf  das  Mannigfaltigste  vertheilen,  so  ist  auch  der  Arzt 
allerdings  ursprünglich  zugleich  Apotheker.  Je  mehr  aber 
die  ärztliche  Kunst  nach  allen  Zweigen  hingewachsen  ist, 
um  desto  weniger  war  dem  Arzte  die  Technik  der  Arznei¬ 
bereitung  zuzumuthen.  Nur  bei  einer  sehr  geringen  Anzahl 
von  Kranken  ist  dem  Arzte  das  Selbstdispensiren  möglich ; 
indem  die  Homöopathen  dasselbe  für  sich  verlangen,  bewei¬ 
sen  sie,  dafs  sie  nicht  sehr  beschäftigt  sind,  und  dafs  sie 
die  Zeit  ihrer  Mufse  lieber  zu  mechanischen  Arbeiten,  als 
zu  weiteren  Studien  in  Kunst  und  Wissenschaft  verwenden. 
Endlich  ist  nicht  unbeachtet  zu  lassen,  dafs  durch  die  Ge¬ 
stattung  des  Selbstdispensirens  die  einzige  jetzt  bestehende 

Gontrolle  des  ärztlichen  Handelns  vernichtet,  der  Pfusche- 

#  • 

rei  und  dem  Charlatanismus  Thür  und  Thor  geöffnet,  und 
der  Untergang  des  hoch  ausgebildeten  Zustandes  der  Phar- 
macie  und  der  Apotheken  begründet  wird.  L.) 

11.  Giebt  es  ein  gegründetes  Ilindernifs,  die  homöo¬ 
pathischen  Arzneien  in  den  bestehenden  Apotheken  fertigen 
zu  lassen?  Bekanntlich  haben  die  Homöopathen  diese  Frage 
verneinend  beantwortet.  (Alle  von  den  Homöopathen  an- 


40 


II.  Homöopathie. 

gegebenen  Gründe,  deren  Richtigkeit  wir  hier  ganz  auf 
sich  beruhen  lassen,  müssen  als  nichtig  betrachtet  werden, 
sobald  der  Apotheker  sich  entschliefst,  die  von  ihnen  für 
nöthig  gehaltenen  Maafsregeln  zu  ergreifen,  über  deren 
Ausführung  sie  selbst  die  stärkste  Controlle  halten  mögen. 
Erst  wenn  der  einzelne  Homöopath  erweisen  kann,  dafs 
der  oder  die  Apotheker,  mit  denen  er  zu  thun  hat,  seinen 
Vorschriften  nicht  Folge  leisten,  steht  es  ihm  frei  selbst  zu 
dispensiren,  gerade  so  w'ie  es  jedem  Arzte  frei  stehen  muls, 
dem  Kranken  eine  Arznei  zu  reichen,  die  der  Apotheker 
nicht  auf  Verlangen  des  Arztes  anschaffen,  oder  deren  be¬ 
sonders  vorgeschriebene  Bereitungsweise  er  nicht  vollziehen 
will.  L.)  . 

III.  Hat  sich  die  homöopathische  Heilmethode  in  Hin¬ 
sicht  ihrer  Wirkungen  einer  Berücksichtigung  von  Seiten 
der  Regierungen  würdig  gezeigt?  Die  bedeutende  und 
noch  im  Wachsen  begriffene  Zahl  der  unbedingten  Anhän¬ 
ger  dieser  Heilmethode  und  die  von  vielen  Gegnern  ge- 
machten  Zugeständnisse,  dafs  gewisse  Grundsätze  der  Ho¬ 
möopathie  grofse  Berücksichtigung  verdienen,  veranlassen 
die  Bejahung  dieser  Frage. 

Nach  diesen  Erörterungen  geht  der  Verf.  zu  dem 
Schlüsse  über,  dafs  der  Staat  den  Homöopathen  das  Selbst- 
dispensiren  gestatten  müsse,  indem  für  sie  ein  Verbot  des 
Selbstdispensirens  einem  Verbote  der  Anwendung  der  Heil¬ 
methode  selbst  gleich  zu  stellen  sei.  Da  nun  aber  ein  sol¬ 
ches  Verbot  die  Freiheit  der  Kranken  beschränken  und  aus 
den  früher  angegebenen  Gründen  durchaus  unstatthaft  sein 
würde,  so  ergiebt  sich  die  Nothwendigkeit,  das  Verbot  des 
Selbstdispensirens  für  die  homöopathische  Praxis  aufzuhe¬ 
ben.  (Wäre  der  nothwendige  Zusammenhang  der  Homöo¬ 
pathie  mit  dem  Selbstdispensiren  erwiesen,  so  [liefse  sich 
gegen  die  Richtigkeit  des  Schlusses  nichts  einwenden;  da 
aber  die  Nothwendigkeit  jenes  Zusammenhanges  nicht  er¬ 
weislich  ist,  und  da  übrigens  durch  die  theilweisc  Auf¬ 
hebung  jenes  Verbots  ein  gewaltsamer  und  für  die  Allöo- 


41 


II.  Homöopathie. 

pathie  höchst  nachtheiliger  Eingriff  in  die  Medicinalverfas- 
sung  erfolgen  würde,  so  müssen  wir  die  Nothwendigkeit 
der  Aufhebung  dieses  Verbots  durchaus  bestreiten.  L.) 
Rechtlich  sei.  gegen  die  Bewilligung  des  Selbstdispensirens 
nichts  einzuwenden,  weil  die  Privilegien  der  Apotheker 
keine  ausdrückliche  Zusicherung  enthalten,  den  Aerzten  die 
Abfertigung  der  Arzneien  unbedingt  zu  verbieten,  weil 
ferner  kein  privilegirtes  Gewerbe  vom  Staate  gegen  die 
Jsachtheile  geschützt  werden  kann,  welche  für  dasselbe  aus 
neuen  Erfindungen  und  Ereignissen  hervorgehen,  weil  Pri- 
vilegia  immer  strictissimae  ohservationis  sind,  und  nicht  auf 
neue  Entdeckungen,  übertragen  werden,  und  weil  endlich 
niemand  gezwungen  werden  darf,  Stoffe  theuer  zu  kaufen, 
die  er  wohlfeil  oder  gar  umsonst  erlangen  kann.  Polizei¬ 
liche  Gründe  zum  Besten  der  Apotheker,  in  sofern  diese 
die  Yorräthe  und  die  Apparate  bereit  halten  und  dadurch 
dem  Publikum  die  Möglichkeit  des  Arzneigebrauchs  ver¬ 
schaffen,  fallen  bei  den  Homöopathen  weg,  weil  sie  die 
ihnen  nöthigen  geringen  Vorräthe  selbst  bewahren  und  kei¬ 
ner  Apparate  bedürfen.  (Wollen  die  Homöopathen  nicht 
durch  fernere  Versuche  die  Zahl  ihrer  Arzneien  steigern, 
und  wird  nicht  eben  dadurch  die  Möglichkeit,  den  gesamm- 
ten  Arzneischatz  zu  bewahren,  für  jeden  Einzelnen  er¬ 
schwert?  Hoffen  sie  denn  überhaupt  immer  so  wenig  zu 
thun  zu  haben,  dafs  ihnen  zu  der  Arbeit  der  Arzneiberei¬ 
tung,  die,  wenn  sie  nach  homöopathischen  Grundsätzen 
angeordnet  wird,  auch  von  dem  dümmsten  und  ungebilde¬ 
testen  Menschen  verrichtet  werden  kann,  Zeit  und  Lust 
Lleil  >en  werden?  L.)  Die  Controlle,  welche  sich  durch 
die  Apotheken  für  die  Aerzte  ergeben  soll,  wird  als  trüg- 
lich  angegeben,  und  andererseits  eine  strenge  Beaufsichtung 
des  Apothekers  als  unmöglich  geschildert;  man  könne  nicht 
den  Anhängern  der  Homöopathie,  denen  die  höchste  Ge¬ 
nauigkeit  erforderlich  ist,  zumuthen,  den  Erfolg  ihrer  Curen 
von  dem  Apotheker  und  seinem  Personale  abhängig  zu 
machen,  die  das  ganze  homöopathische  Verfahren  vielleicht 


42 


II.  Homöopathie. 

für  lächerlich  halten  und  daher  die  gegebenen  Vorschriften 
nicht  genau  beachten.  (Die  Allöopathie  könnte  ganz  ähn¬ 
liche  Gründe  Vorbringen,  um  die  Nothwendigkeit  des  Selbst- 
dispensirens  zu  erweisen.  Denn  nicht  nur  die  Güte  der 
h  aaren  ist  in  dem  zusammengesetzten  Mittei  oft  der  Con- 
trolle  entzogen,  sondern  die  Art  der  Zusammensetzung  mag 
nicht  selten  dem  von  rein  chemischen  Grundsätzen  ausge¬ 
henden  Apotheker  lächerlich  sein  und  ihn  zu  Ungenauigkeit 
verleiten.  Allein  der  Apotheker  ist  überall  verpilichtet,  der 
ärztlichen  Vorschrift  genau  naebzukommen ,  und  empfiehlt 
sich  dem  Arzte  eben  durch  diese  Genauigkeit.  Er  wird 
daher  schon  seines  eigenen  Yorthcils  wegen  dieselbe  in  der 
Kegel  üben;  Ausnahmen  können  nicht  die  Nothwendigkeit 
der  Aufhebung  einer  in  allen  anderen  Beziehungen  treff¬ 
lichen  Einrichtung  erweisen.  L. )  Mehrere  Mittelwege  zwi¬ 
schen  der  bisherigen  Einrichtung  und  der  von  den  Homöo¬ 
pathen  gewünschten  werden  angeführt  und  sämmtlich  als 
unzulänglich  verworfen,  nämlich  die  Arzneien  von  den 
Apothekern  in  Gegenwart  des  Arztes  fertigen  zu  lassen, 
die  von  den  Aerzten  zubereiteten  '\  erdünnungen  dem  Apo¬ 
theker  zum  Dispensiren  zu  übergeben,  gewisse  Aerzte  zur 
Fertigung  der  Arzneipräparate  zu  beauftragen  und  die  Aerzte 
zu  dem  Gebrauche  derselben  anzuweisen,  oder  eigene  Apo¬ 
theken  für  homöopathische  Arzneien  zu  errichten.  Passen¬ 
der  scheint  es  allerdings,  die  homöopathischen  Aerzte  we¬ 
gen  der  Arzneibereitung  und  unentgeltlichen  Abgabe  an  die 
Kranken  besonders  zu  verpflichten,  und  denselben  die  Hal¬ 
tung  besonderer  Tagebücher  über  ihr  Heilverfahren  zur 
Pflicht  zu  machen.  Enter  diesen  Bedingungen  hält  der 
Verf.  die  Freigebung  des  Selbstdispensircns  für  unerläßliche 
Pflicht  des  Staates,  wozu  er  in  dem  Vorhergegangenen  hin¬ 
längliche  Gründe  angegeben  zu  haben  meint.  (Wenn  wir 
schon  in  vielen  Beziehungen  jene  Freigebung  bestritten  ha¬ 
ben,  so  müssen  wir  dies  schließlich  um  so  mehr  thun,  als 
unter  den  Homöopathen  selbst  sich  Stimmen  gegen  die 
Nothwendigkeit  des  Selbstdispcusirens  erhoben  haben,  und 


43 


II.  Homöopathie. 

<  f  »  ,  v  >  _ 

als  «an  Orten,  wq  mit  Strenge  auf  das  Verbot  des  Selbst- 
dispcnsirens  gehalten  wird,  die  homöopathische  Praxis  nicht 
wenigere  Erfolge  gehabt  zu  haben  scheint,  als  wo  das 
Selhstdispensiren  durch  Schlaffheit  der  Medicinalpolizei  be¬ 
günstigt  worden  ist.  L.) 

Noch  vor  der  Erscheinung  der  eben  besprochenen 
Schrift  war  in  Leipzig  eine  juristische  Inauguralschrift  über 
dasselbe  Thema  unter  dem  Titel:  Ars  ’medendi  homoeopa- 
thica  ejusque  cultores  medicamenta  ipsi  praeparantes  coram 
tribunali  juris  et  politiae  medicae,  am  18.  Sept.  1828  von 
Hrn.  Karl  Aug.  Albrecht,  Advocaten  in  Dresden,  ver- 
theidigt  worden.  Indem  wir  dieselbe  nicht  zu  Gesicht  be¬ 
kommen  haben,  bemerken  wir  nur,  dafs  sie  dem  Verneh¬ 
men  nach  ebenfalls  den  Grundsatz  vertheidigt,  dafs*  den 
Homöopathen  das  Selhstdispensiren  frei  gegeben  werden 
müsse.  Wir  sehen  hier  eine  neue  Bestätigung  des  Grund¬ 
satzes,  dafs  keine  Lehre  so  fest  steht,  um  für  immer  gegen 
Anfechtung  gesichert  zu  sein.  Denn  bis  vor  wenigen  Jah¬ 
ren  gab  es  wohl  niemand,  der  nicht  in  dem  Verbote  des 

* 

Scdbstdispensirens  eine  der  wohlthätigsten  Einrichtungen  der 
neueren  Zeit  anerkannt  hätte,  während  dasselbe  jetzt  von 
einer  ärztlichen  Schule  unter  Beistand  der  Juristen  bekämpft 
wird.  Leicht  könnten  wir  hierdurch  zum  Geschrei  über 
Obscurantismus  und  rückgängige  Tendenzen  veranlafst  wer¬ 
den;  indessen  ziehen  war  es  vor,  mit  klaren  Gründen  un¬ 
sere  Gegner  zu  bekämpfen,  und  ihnen  die  Schmähungen 
zu  überlassen,  deren  sie  sich  nach  dem  Beispiele  ihres  Ober¬ 
hauptes  eben  so  oft,  als  ungeschickt  bedienen. 

.  • 

Schon  waren  diese  Zeilen  zur  Absendung  bereit,  als 
uns  folgende,  hierher  gehörige  Schrift  in  die  Hände  kam: 

3.  Die  homöopathische  Heilkunst  im  Ein¬ 
klänge  mit  der  seitherigen  M  e  d  i  c  i  n  und 
den  Gesetzen  derselben  untergeo  r.d  n  e  t , 
von  Dr.  Carl  Ludw.  Kaiser,  Groish.  Sachs. 


44 


II.  Homöopathie. 


Amtsphysicns*  u.  s.  w.  zu  Geisa.  Erlangen,  bei 
Palm  und  Enke.  1829;  8-  XV  I  u.  160  S.  (18  Gr.) 


Der  Verf.  dieses  Versuchs  zu  einem  gütlichen  Ver¬ 
gleiche  zwischen  der  Homöopathie  und  der  bisherigen  Me- 
dicin  verlangt  von  den  Lesern  seiner  Schrift,  dafs  sie  gleich¬ 
zeitig  11  ahnemann 's  Organon,  Heinrot  h 's  Anti -Orga¬ 
non,  einen  Aufsatz  des  Verf.  im  llufelandschen  Journal 
und  eine  Schrift  von  ihm,  über  medicinische  Systeme,  vor 
Augen  haben  sollen.  Da  nun  die  beiden  letztgenannten 
Quellen  uns  noch  nicht  zu  Gesicht  gekommen  sind,  so  kön¬ 
nen  wir  auch’  über  die  aus  denselben  für  unseren  Gegen¬ 
stand  hervorgehenden  Beweise  kein  genügendes  Urtheil  fäl¬ 
len.  •  Die  vorliegende  Schrift  in  ihre  Linzeinheiten  vollstän¬ 
dig  zu  verfolgen,  dürfte  um  so  weniger  nötbig  sein,  als 
sie  sich  gröfstentheils  mit  Widerlegung  solcher  Behauptun¬ 
gen  Hahn  ernannt  beschäftigt,  die  bereits  widerlegt  sind. 
Wir  beschränken  uns  daher  auf  die  Angabe  dessen,  was 
der  \  erf.  der  Homöopathie  entlehnt,  ohne  sich  jedoch  des¬ 
wegen  der  bisherigen  Medicin  entfremden  zu  wollen.  Das 
homöopathische  Heilen  erfolgt  nicht  immer  mit  kleinen, 
sondern  zuweilen  auch  mit  grolsen  Gaben.  Das  eigentliche 
Heilgesetz  ist  daher  nach  19.:  Krankheiten  werden  ver¬ 
drängt,  und  zwar  durch  kleine  Gaben  Arzneimittel,  wenn 
sie  in  gröfseren  ähnliche  Krankheitssymptome,  oder  durch 
gröfsere  Gaben,  wenn  sie  in  kleineren  Gaben  ähnliche  Krank- 
heitssymplome  hervorzubringen  vermögen.  (Man  kann  die¬ 
sen  Satz  eben  so  wenig  billigen,  als  den  von  Hahne- 
mann,  da  alle  blofs  quantitative  Bestimmungen  schon  an 
sich  für  den  Heilzweck  ungenügend  sind.  L. )  Die  homöo¬ 
pathischen  Arzneien  heilen  oft  nur  durch  Beförderung  der 
Krisen,  welche  überhaupt  vom  "\  erf.  vertheidigt  werden. 
Auch  bei  der  Erstwirkung  ist  Selbstthätigkeit  des  empfan¬ 
genden  Wesens  vorhanden,  jene  also  nicht  als  der  Arznei 
allein  angehörig  anzuteben.  Die  Erstwirkung  »st  immer 
contrahirend,  die  Nachwirkung  expandirend.  (Eine  ganz 


45 


II,  Homöopathie. 

unerweisliche,  aus  Kieser’s  System  abgeleitete  Ansicht.  L.) 
Das  Simiiia  similibus  der  Homöopathen  ist  in  sofern  falsch, 
als  das  Ziel,  die  Gesundheit,  doch  immer  der  Gegensatz 
des  obwaltenden  Krankheitszustandes  ist.  Das  Hahne- 
mannsche  Krankenexamen  ist  verwirrend  und  für  den  be¬ 
schäftigten  Praktiker  unmöglich.  Die  homöopathischen  Arz¬ 
neisymptome  sind  unzuverlässig ,  weil  Erstwirkung  und 
Nachwirkung,  Nothwendiges  und  Zufälliges  nicht  genug 
geschieden  werden.  Die  Anwendung  von  Arzneien  nach 
homöopathischer  Weise  steht  in  keinem  unbedingten  Gegen¬ 
sätze  gegen  die  herrschende  Medicin,  sondern  kann  nur  als 
eine  einzelne  für  gewisse  Fälle  beschränkte  Methode  be¬ 
trachtet  werden.  Die  sogenannte  homöopathische  Ver¬ 
schlimmerung  beruht  auf  einer  Täuschung,  und  ist  nicht  in 
der  Natur  vorhanden.  Man  mufs  die  Gaben  öfter  wieder¬ 
holen,  als  H.  zugeben  will. 

Indem  wir  in  den  genannten  Sätzen  die  wesentlichsten 
Abweichungen  des  Verf.  von  den  Grundsätzen  der  Homöo¬ 
pathie  angegeben  haben,  finden  wir  ihn  jedoch  ebenfalls  in 
der  Meinung  begriffen,  dafs  die  Verdünnungen  dynamisch 
verstärken,  und  dafs  die  sehr  kleinen  Gaben,  wenn  auch 
nicht  für  alle  Fälle,  doch  oft  heilsam  sind.  Welche  Er¬ 
fahrungen  den  Verf.  zu  dieser  Annahme  bewogen  haben, 
erfahren  wir  nicht,  so  dafs  wir  also  im  Wesentlichen  nicht 
bedeutend  durch  diese  Schrift  gefördert  sein  dürften. 

Schliefslich  bemerken  wir  noch,  dafs  Hr.  B.au,  den 
wir  schon  in  unserer  ersten  Kritik  der  Homöopathie  (Bd.III. 
S.  33  ff.  d.  A.)  als  einen  gelehrten  und  gemäfsigten  Ver- 
theidiger  derselben  kennen  gelernt  haben,  kürzlich  in  einem 
ganz  nach  allopathisch -rationellen  Grundsätzen  geschriebe¬ 
nen  Werke  über  das  Nervenfieber  am  Schlüsse  bemerkt 

4 

hat,  dafs  er  nicht  nur  den  früher  geäufserten  günstigen 
Grundsätzen  in  Beziehung  auf  Homöopathie  auch  jetzt  noch 
beistimme,  sondern  dafs  er  auch  in  Beziehung  auf  homöo¬ 
pathische  Behandlung  des  Nervenfiebers  sehr  günstige  Er¬ 
fahrungen  gemacht  habe.  Indem  wir  dieses  der  neuen 


< 


III.  Adcrlafs. 


46 

Schule  so  günstige  Zeugnifs  anführen,  und  eben  dadurch 
unsere  Unparteilichkeit  erweisen,  so  müssen  wir  dennoch 
gestehen,  dafs  unsere  l  cberzeugung  dadurch  nicht  verän¬ 
dert  worden,  indem  die  Bestimmung  der  Mittel,  welche  in 
einem  so  schwankenden  Zustande,  wie  das  Nervenfiebcr  ist, 
heilsam  wirken,  höchst  unzuverlässig  ist. 

.  Licht  cnstädt. 


Die  11  aematomanic  des  ersten  Viertels  des 
neunzehnten  Jahrhunderts,  oder  der  Ader- 
lafs  in  historischer,  therapeutischer  und  inedici- 
nisch -polizeilicher  Hinsicht;  von  U etcr  Joseph 
Schneider,  der  Med.,  Chir.  und  Gehurtsh.  I)r., 
Grofsherzogl.  Badischem  Amtsphysicus  zu  Eltcn- 
heim,  Mitgl.  mehr,  geh  Gcsellsch.  Mit  einem  Stein¬ 
druck.  Tübingen,  hei  H.  Laupp.  1827.  8.  XU 
and  512  S.  (2  Thlr.  6  Gr.) 

Die  deutsche  Litteratur  hat  seit  Me  zier’ s  Versuch 
einer  Geschichte  des  Aderlasses  (Ulm  1793),  kein  umfas¬ 
sendes  historisches  Werk  über  die  Blutentziehungen  aufzu¬ 
weisen  ,  wiewohl  der  Gegenstand  wichtig  genug  war,  um 
die  Thätigkeit  gelehrter  Forscher  in  Anspruch  zu  nehmen, 
und  entgegengesetzte  Ansichten  über  das  Aderlafs,  die  in 
die  Praxis  vielfältig  eingriffen,  wohl  hätten  Aufforderung 
gehen  können,  die  Lehren  der  Vorzeit  mit  den  Ansichten, 
denen  gegenwärtig  gehuldigt  w-ird,  zu  vergleichen.  So 
geistreich  Mezler  zu  Werke  ging,  so  leidet  doch  seine 
Schrift  an  zwei  Hauptgehrechen,  einer  ziemlich  oberfläch¬ 
lichen  Erforschung  der  Tbatsachen,  und  einer  zu  sanguini¬ 
schen  Beurtbeilung  derselben.  Ref.  nahm  daher  das  vor¬ 
liegende  Werk,  das  in  dem  ersten  Abschnitte  eine  Ge- 


III.  Aderlafs. 


47 


schichte  der  künstlichen  Blutentziehungen  enthält,  freudig 
zur  Hand,  hoffend,  es  würde  nun  endlich  jenem  dringen¬ 
den  Bedürfnisse  genügt  worden  sein,  und  der  Leser  dieses 
Werkes  die  Ursprünge  richtiger  Ansichten,  so  wie  ver¬ 
derblicher  Vorurtheile  in  pragmatischer  Entwickelung  dar¬ 
gelegt  erhalten. 

Seit  einer  Reihe  von  Jahren  finden  die  Worte  des 
Celsus:  « Sanguinem  incisa  vena,  mitti,  novum  non  est 
sed  nullum  pene  morbum  esse,  in  quo  non  mittatur,  no¬ 
vum  est,»  buchstäblich  ihre  Anwendung,  und  schon  berei¬ 
tet  sich  wieder  eine  neue  Reaction  vor,  die  das  entgegen¬ 
gesetzte  Extrem,  die  BJutscheu  herbeizuführen  droht,  und 
so  scheint  die  Lehre  von  den  Blutentziehungen,  wenn  auch 
auf  einfachen  Grundsätzen,  wie  nur  wenig  andere,  beru¬ 
hend,. dem  immer  wiederkehrenden  Kampfe  der  Meinungen, 
und  der  Macht  leidenschaftlicher  Anmaafsung  ausgesetzt  zu 
sein,  die  das  gewonnene  Gute  der  Vorzeit  mit  sich  fort¬ 
reifst,  zufrieden,  für  den  Augenblick  gewirkt,  und  sich 
selbst  geschmeichelt  zu  haben. 

Nach  einer  genauen  Durchsicht  des  Werkes  finden  wir, 
dafs  Ilr.  S.  den  geschichtlichen  Abschnitt  desselben  nur  zum 
Theil  nach  den  Quellen,  gröfstentheils  aber  nach  vorhan¬ 
denen  Lehrbüchern  bearbeitet  hat.  Es  ist  daher  leicht  be- 
greiflich,  dafs  die  Mängel  der  letzten,  ohne  die  Schuld 
des  sie  benutzenden  Verf. ,  hier  und  da  hervortreten.  Er 
theil t  diesen  Abschnitt  in  27  Kapitel  von  gröfserem  oder 
geringerem  Umfange,  indem  er  mit  den  bekannten  griechi¬ 
schen  Angaben  über  die  Erfindung  des  Aderlasses  beginnt. 
Diese  Angaben  würden  an  Interesse  sehr  gewonnen  haben, 
wenn  der  Verf.  einige  Notizen  über  den  Gebrauch  des 
Aderlasses  bei  rohen  Völkern  hinzugefügt  hätte,  Notizen^ 
die  sich  in  vielen  Reisebeschreibungen  vorfinden,  und  die 
Autocratie  des  menschlichen  Verstandes,  bei  der  Erfindung 
einfacher  Heilmittel  in  ein  helles  Licht  setzen.  Po  liniere 
hat  in  seinem  gehaltreichen  Werke  über  Blutentziehungen 
dergleichen  Notizen  umsichtig  benutzt,  und  Ref.  bat  bei 


48 


III.  Adcrlals. 


der  Anzeige  desselben  ’)  Gelegenheit  genommen,  sie  mit 
einer  nicht  unwichtigen  Angabe  zu  vermehren. 

Der  Abschnitt  über  II  i  p  p  o  k  ra  t  es  enthält  nur  das 
bekannte  aus  den  Lehrbüchern.  Dennoch  hätte  sich  hier, 
was  hei  der  leichten  Zugänglichkeit  der  hippokratischen 
Schriften  allerdings  erwartet  werden  durfte,  Gelegenheit  zu 
manchen  lehrreichen  Erörterungen  gegeben.  Die  Quelle 
durchgreifender  \  orurtheile  über  das  Aderlafs  im  ganzen 
Alterthum,  und  also  auch  im  Mittelalter,  so  wie  zum  Theil 
in  der  neueren  Zeit,  liegt  schon  in  der  vor  wissenschaftli¬ 
chen  Periode,  der  sich  die  hippokratische  unmittelbar  an¬ 
schliefst.  AJbentheuerliche  Gefäfslehren  waren  verbreitet, 
von  denen  die  des  Polybus,  des  Diogenes  von  Apol¬ 
lonia,  und  des  Syennesis  von  Cypern  wahrscheinlich  nur 
Wiederholungen  sind,  und  nach  diesen  Gefäfslehren  wur¬ 
den  in  der  hippokratischen  Zeit  die  wichtigsten  Grundsätze 
über  das  Aderlafs  bestimmt.  Als  zu  Anfänge  des  dritten 
Jahrhunderts  vor  Chr.  das  Licht  der  Anatomie  zu  leuchten 
begann,  blieben  diese  Grundsätze  unverändert,  daher  die 
späteren  Uebertreibungen  der  an  sich  sehr  leicht  begründe¬ 
ten  Lehre  von  der  Derivation  und  Revulsion,  einer  Lehre, 
die  so  viele  dogmatische  Verwirrungen  und  Vorurtheile  in 
der  Praxis  veranlagt  hat. 

Was  der  Yerf.  von  den  hippokratischen  Dogmatikern 
sagt,  hätte  sich  aus  den  vorhandenen  Quellen  leicht  ver¬ 
vielfältigen  und  überhaupt  lehrreicher  darstellen  lassen.  So 
finden  wir  bei  Praxagoras  nicht  einmal  angeführt,  dafs 
er  die  Schlagadern  von  den  Blutadern  zuerst  unterschieden 
hat,  und  der  eigentliche  Urheber  des  grofsen  crasistratäi- 
schen  Irrthums  von  der  Blutleerhcit  der  Arterien  gewesen 
ist,  eines  Irrthumes,  der  in  der  Lehre  vom  Aderlafs  eine 
mächtige  Rolle  spielt.  Bei  Chrysipp  von  Knidus  hätte 
der  ägyptisch- pythagorischc  Ursprung  seiner  Blutscheu  an¬ 
geführt 


1)  Bd.  X.  II.  3  S.  303.  d.  A. 


III.  Aderlafs.  49 

» 

geführt  werden  müssen,  aucii  durfte  das  von  ihrn  empfoh¬ 
lene  finden  der  Glieder  nicht  so  unbedingt  verworfen  wer¬ 
den.  Dos  ganze  Alterthum  erkannte  hierin  ein  mächtiges 
Mittel  nicht  nur  zur  Hemmung  starken  Blutandranges  nach 
inneren  edlen  Theilen,  sondern  auch  zur  Unterdrückung 
krankhafter  Thätigkeiten ,  die  im  Nervensystem  ihren  Sitz 
haben,  und  die  neueste  Zeit  hat  die  Erfahrungen  der  Alten 
hierüber  auf  eine  sehr  glänzende  Weise  bestätigt.  Da  nun 
Chrysipp  überdies  das  Fasten  und  die  ganze  im  Einzelnen 
vortreffliche  ägyptische  Diätetik  zu  Hülfe  nahm,  um  ent¬ 
zündliche.  Krankheiten  zu  bekämpfen,  so  leuchtet  es  ein, 
dafs  ihm  in  dem  Vereine  dieser  Mittel  ein  Ersatz  für  das 
Aderlafs  zu  Gebote  stand,  aus  dem  der  Beifall  seiner  Nach¬ 
folger  sehr  erklärlich  wird.  Dafs  man  in  entzündlichen 
Krankheiten  überhaupt  auch  auf  anderen  Wegen  als  durch 
das  Aderlafs  zum  Ziele  gelangen  könne,  haben  die  Contra- 
stimulisten  der  neuesten  Zeit  genugsam  bewiesen.  Die  Blut¬ 
scheu  des  E rasistra tus,  der  nur  kein  unmittelbarer  Schü¬ 
ler  Chrysipp’s  war,  ist  der  Hauptsache  nach  ganz  rich¬ 
tig  dargestellt,  aber  die  Aeufserung,  dafs  Galen  seine  be¬ 
kannte  Streitschrift  gegen  Erasistrat  us,  von  Neid  und 
Scheelsucht  bewogen,  verfafst  haben  sollte,  weil  dessen 
Lehre  eines  gröfseren  Beifalles  sich  erfreuete  als  die  sei- 
nige,  läfst  nicht  den  Geist  unparteiischer  Forschung  er¬ 
kennen,  auch  möchte  der  Verf.  schwer  erweisen  können, 
dafs  die  Erasistratäer  durch  « macchiavellistische  Künste,  ” 
wie  er  sich  ausdrückt,  ihre  Blutscheu  verteidigt  hätten. 
Bei  so  entfernten  Zeiten  ist  es  wenigstens  nie  gerathen, 
Ausdrücke  zu  wählen,  die  bei  dem  Mangel  an  Beweisquel¬ 
len  nie  motivirt  sein  können,  und  sein  Urteil  durch  lei¬ 
denschaftliche  Aeufserungen  irgend  eines  Zeitgenossen  be¬ 
stimmen  zu  lassen.  Auf  diese  Weise  bat  Sprengel,  in¬ 
dem  er  PI  in  i  ms  blindlings  folgte,  den  um  die  Heilkunde 
hochverdienten  Asklepiades  zum  Charlatan  herabgewür¬ 
digt.  Anachronistische  Ausdrücke,  wie  der  obige,  und  wie 
« Asthenie,  ”  der  einige  Seiten  weiter,  auch  in  Bezug  auf 

4 


XIV.  Bd.  1.  St. 


50 


III.  Aderlafs. 

eine  alterthümliche  Lehre  vorkommt,  sind  überhaupt  in  ge¬ 
schichtlichen  Darstellungen  sorgsam  zu  vermeiden,  oder 
doch  nur  mit  grolser  Vorsicht  und  Einschränkung  zu  be¬ 
nutzen. 

Die  Bemerkungen  über  die  Lehren  der  Empiriker  in 
Bezug  auf  das  Aderlafs  sind  ziemlich  mangelhaft.  Dafs  diese 
Aerzte  Vollblütigkeit  und  angehäufte  Cruditäten  der  ersten 
Wege  für  die  vorzüglichsten  und  häufigsten  Krankheitszu¬ 
stände  gehalten  haben,  ist  Bef.  bis  jetzt  unbekannt  gewe¬ 
sen,  eben  so,  dafs  sie  nie  Blut  entzogen  haben  sollten,  ohne 
vorher  Abführmittel  angewandt  zu  haben.  ArcLagathus 
hätte  in  einer  Geschichte  des  Aderlasses  füglich  wegbleiben, 
und  dagegen  die  Darstellung  der  Grundsätze  des  Askle- 
piades  über  Blutentziehungen  vollständiger  ausfallen  kön¬ 
nen.  Themison  ist  nicht  (S.  24)  «der  Erfinder  der 
Blutegel ,  ”  die  schon  von  N  i  k a  n  de  r  von  Kolophon  als  Heil¬ 
mittel  gegen  Schlangenbifs  angeführt  werden,  sondern  er 
hat  den  Gebrauch  dieser  Thiere  in  der  Medicin  nur  allge¬ 
meiner  gemacht.  C.  Gelsus  durfte  ferner  durchaus  nicht, 
wie  hier  geschehen  ist,  zu  den  Methodikern  gerechnet  wer¬ 
den,  deren  eifriger  Widersacher  er  war.  Die  Grundsätze 
dieses  Arztes  über  das  Aderlafs  hat  der  Verf.  ausführlich 
darzustellen  gesucht,  es  bedarf  hierzu  auch  fast  nur  einer 
Uebersetzung  des  zehnten  Kapitels  im  zweiten  Buche.  Den¬ 
noch  sind  hier  zwei  wesentliche  Umstände  übergangen: 
1 )  dals  das  Aderlafs  auf  zwei  Zeiten  eingetheilt  werden 
soll,  um  den  Kranken  zuerst  zu  erleichtern,  und  ihn  dann 
völlig  zu  reinigen  (perpurgare)  ein  unrichtiger,  oder  doch 
nur  auf  wenige  Fälle  anwendbarer  Grundsatz;  und  2)  dafs 
das  Blut  so  lange  lliefsen  soll,  bis  es  röther  wird,  und  wenn 
es  roth  und  durchscheinend  ist,  gar  nicht  gelassen  werden 
dürfe.  Dieser  Grundsatz,  der  gewifs  von  Celsus  selbst 
nicht  herrührt,  hat  in  der  späteren  Zeit  viel  Unheil  gestif¬ 
tet,  und  wurde  mit  der  grüfsten  Hartnäckigkeit  beibehal¬ 
ten.  Der  Verf.  führt  ihn  erst  bei  Galen  an,  der  ihn 
durchaus  nicht  zuerst  aufgestellt,  sondern  nur  seine  längere 


I 


111.  Aderlais. 


51 


Fortdauer  verrpittelt  hat.  Bei  Themison  ist  es  nicht  deut¬ 
lich  ausgesprochen,  dafs  er  wie  die  übrigen  Methodiker, 
bei  Entzündungen  an  der  entgegengesetzten  Seite  die  Ader 
zu  üffnen  pH  egte;  dies  wird  vielmehr  ganz  fälschlich ,  von 
Aretäus  behauptet,  der  immer  nur  auf  der  schmerzenden 
Seite  zur  Ader  liefs.  Soranus  von  Ephesus  kommt  ohne 
seine  Schuld  unter  die  Pneümatiker  oder  Eklektiker,  wäh¬ 
rend  er  doch  zu  den  Methodikern  gehurt,  ja  selbst  der  ein¬ 
zige  Methodiker  ist,  Von  dem  wir  noch  ein  zusammenhän¬ 
gendes  Werk,  wenn  auch  in  der  sehr  stümperhaften  Ueber- 
setzung  des  Cälius  Aurelian us  besitzen.  Dafs  er  die 
örtlichen  Blutentziehungen  verworfen  haben  sollte,  ist  durch¬ 
aus  ungegründet,  vielmehr  bedienten  sich  ihrer  die  Metho¬ 
diker  sehr  eifrig  und  bei  den  meisten  örtlichen  Affectionen 
mit  Blutandrang  und  Hitze.  Sehr  umsichtig  erklärte  sich 
der  treffliche  Soranus  gegen  die  zu  starken  und  zu  oft 
wiederholten  Aderlässe,  worüber  seine  von  Cälius  Aure- 
lianus  erhaltenen  Aussprüche  noch  jetzt  zu  beherzigende 
Andeutungen  geben. 

Die  Charakteristik  Galen’s  zeugt  von  gänzlicher  f  n- 
kenntnifs  dieses  grofsen  Mannes.  Der  Yerf.  erklärt  ihn  für 
« einen  feingebildeten  Höfling,  den  eine  ungeheure  Ambi¬ 
tion  beherrschte,»  und  seine  Lehre  für  «ein  eitles  Gemisch 
der  spitzfindigen  Lehren  der  Dogmatiker,  verbunden  mit 
einer  grofsen  Menge  widersinniger  Hypothesen  und  schola¬ 
stischer  Alfanzereien.  »  Verdammungsurtheile  dieser  Art  sind 
über  Galen  in  der  neueren  Zeit  häufig  gesprochen  wor¬ 
den,  aber  immer  nur  von  Schriftstellern ,  die  ihre  Ober¬ 
flächlichkeit  durch  apodictisches  Absprechen  zu  verbergen 
suchten.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  dergleichen  Aeufserun- 
gen  zu  widerlegen.  Bef.  hat  dies  schon  bei  anderer  Gele¬ 
genheit,  und  nicht  auf  polemische  W  eise,  sondern  durch 
freie  Würdigung  der  Thatsachen  versucht;  fast  möchte  man 
aber  glauben,  die  medicinische  Geschichtsforschung  wäre 
noch  in  ihrer  ersten  Kindheit,  wenn  grofse  Männer  des 
Alterthums  durch  einseitige  Hervorhebung  ihrer  Fehler  so 

4  * 


52 


III.  Ailerlals. 


gemifshandelt  werden  können!  Galcn's  Grundsätze  über 
Blutentziehung  sind  offenbar  aus  den  Compendien  entlehnt, 
was  schon  daraus  genugsam  erhellt,  dals  der  Verf. ,  die  fal¬ 
sche  Uehersetzung  von  animalis  (-^v^ixef)  nicht  ahnend, 
von  thierischer  Lebenskraft  im  Gehirne  spricht. 

^  on  den  griechischen  Aerzten  nach  Galen,  hebt  der 
Verf.  Antyllus,  Oribasius,  Aetius,  Alexander  von 
Tralles  und  Paul  von  Aegina  hervor.  Antyllus  ist  viel 
zu  spät  angesetzt,  er  lebte  nicht  im  vierten,  sondern  im 
dritten  Jahrhundert;  über  Oribasius  hätten  wir  eine  aus¬ 
führlichere  Darstellung  erwartet,  denn  hei  ihm  findet  sich 
die  Gesammtlehre  vom  Aderlafs  mit  ausgezeichneter  Klar¬ 
heit  und  Vollständigkeit  dargestellt.  Alexander  von  Tralles 
wird  ein  Nachbeter  Galen ’s  genannt,  was  er  gewifs  we¬ 
niger  war,  als  alle  späteren  Griechen,  doch  deutet  der  \  eff. 
einige  seiner  Grundsätze  über  das  Aderlafs  ziemlich  richtig 
an.  Zweckmäfsiger,  als  mit  Paul  von  Aegina,  würde  der 
Verf.  die  griechische  Medicin  mit  Johannes  Actuarius 
geschlossen  haben,  der  ungeachtet  seiner  sonstigen  Vortreff¬ 
lichkeit  recht  deutlich  zeigt,  wie  unverändert  die  uranfäng- 
lichen  \  orurtheile  über  das  Aderlafs  ungeachtet  aller  Er¬ 
weiterungen  der  Physiologie  in  eiuem  Zeiträume  von  sieb¬ 
zehn  Jahrhunderten  gehliehen  waren.  Johannes  war  über¬ 
zeugt,  dals  durch  Illutentziehung  nicht  nur  Vollblütigkeit* 
sondern  auch  jede  Ueherfiillung  mit  schadhaften  Säften  be¬ 
seitigt  werden  könne,  und  wählte  mit  ängstlicher  Genauig¬ 
keit  unter  den  einzelnen  Adern  am  Arme,  als  wenn  diese 
mit  bestimmten  Theilen  in  einer  näheren  Verbindung  stän¬ 
den,  und  dies  alles  nach  Ansichten,  die  sich  zuai  Theil  aus 
den  ältesten  verwissenschaftlichen  Gefäfslehren  herschreiben. 
Bei  Kopf  leiden  soll  die  Ader  am  Oberarm,  hei  Brustleiden 
die  im  Ellenbogen,  und  die  übrigen  am  Vorderarm  in  Krank¬ 
heiten  der  unteren  Theile,  wie  vornehmlich  die  Milz-  und 
Leberader  auf  der  Hand  in  Krankheiten  dieser  Eingeweide 
geschlagen  werden.  Die  revulsorischcn  Aderlässe  zog  Jo- 


III.  Aderlafs. 


53 


hannes  keinesweges  den  derivatorischen  unbedingt  vor, 
sondern  suchte  der  oft  verunstalteten  Anzeige  der  Revulsion 
nur  in  bestimmten  Fällen  zu  genügen,  wie  etwa  in  Krank¬ 
heiten  durch  Blutentziehungen  am  Fufse,  und  bei  Entzün¬ 
dungen  der  Geschlechtstheile  durch  Aderlässe  am  Arm.  Bei 
Brustentzündungen ,  die  späterhin  der  Gegenstand  so  viei- 
fält  igen  und  unbegründeten  Streites  geworden  sind,  schlug 
er  die  Armader  der  leidenden,  nicht  wie  einst  die  Metho¬ 
diker  der  entgegengesetzten  Seite.  Den  Unterschied  der 
Arteriotomie  (die  vom  Verf.  fast  ganz  unbeachtet  geblieben 
ist,  wiewohl  sie  in  der  griechischen  Heilkunde  eine  wich¬ 
tige  Bolle  spielt)  von  dem  Aderlässe  suchte  er  in  der  we¬ 
sentlichen,  nach  der  pneumatischen  Physiologie  trefflich 
bestimmten  Verschiedenheit  des  arteriellen  von  dem  venösen 
Blute,  und  behielt  über  die  örtlichen  Blutentziehungen  die 
hergebrachten  Grundsätze  unverändert  bei.  Johannes  hat 
eine  noch  ungedruckte  Schrift  über  das  Aderlafs  hinterlas¬ 
sen,  die  der  Herausgabe  wahrscheinlich  werth  ist,  und  ge- 
wifs  als  ein  werthvolles  Doeument  für  die  Geschichte  der 
Blutentziehungen  betrachtet  werden  kann. 

Es  folgen  nun  die  arabischen  Aerzte,  bei  denen  der 
Verf.  nur  wenig  Eigentümliches  bemerken  konnte,  indem 
sie,  ohne  eine  auf  Zergliederung  gegründete  Physiologie 
nur  nachbeteten  und  verdreheten,  was  in  den  galenischen 
Schriften  enthalten  war.  Die  prophylactischen  Aderlässe 
wurden  zuerst  von  den  Arabern  in  Spanien  eingeführt,  und 
arabische  Autoritäten  waren  es,  die  der  Revulsion  bald  vor 
der  Derivation  den  Vorzug  geben  liefsen.  Eben  dies  hätte 
jedoch  hier  und  da  durch  gründlicheres  Eindringen  in  den 
Gegenstand  deutlicher  nachgewiesen  werden  können.  Von 
Mezler  hat  der  \erf.  die  Gründe  entlehnt,  die  den  ent¬ 
setzlichen  Mifsbrauch  der  propbylactischen  Aderlässe  in  der 
Möpchsheilkunde  des  Mittelalters  veranlafst  zu  haben  schei¬ 
nen,  und  die  Salernitanischen  Verse  über  das  Aderlafs  in 
deutscher  Uebersetzung  aus  Becker’s  Parnassus  medicinalfs 


54 


III.  AJcrlals. 


illuslratus  hinzugefügt,  denen  sich  eine  astrologische  Ader- 
lalstafel  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  mit  einem  beige- 
gebenen'  Aderlafsniännchen  in  Steindruck  anschliefst. 

Die  Br i sso t sehe  Aderlafsrevolution  und  ihre  Folgen 
hat  der  Verf.  nach  den  vorhandenen  Vorarbeiten  recht  an¬ 
ziehend  dargestellt,  und  es  zeichnet  sich  dieser  Abschnitt, 
aus  den»  wir  keine  einzelnen  Angaben  hervorheben  wollen, 
durch  gröfscre  Richtigkeit  und  Klarheit  vortheilhaft  vor  den 
das  Alterthum  betreffenden  aus.  Dagegen  wird  Paracel¬ 
sus,  wie  zu  erwarten,  tief  herabgesetzt,  und  es  widerfahrt 
ihm  kaum  einige  Gerechtigkeit.  Van  Helmont  wird  mit 
Recht  gerühmt,  wenn  es  aber  anerkannt  ist,  dafs  dessen 
Lehre  vom  Archäus  die  späteren  dvnamischen  Systeme 
des  achtzehnten  Jahrhunderts,  namentlich  das  Stahl  sehe 
herbeiführte,  warum  wollen  wir  nicht  seinem  Vorgänger 
Paracelsus  den  Ruhm  lassen,  diese  Lehre  zuerst  begrün¬ 
det  zu  haLen?  Gcwifs  ist  ihm  dafür  die  Nachwelt  den  ge¬ 
rechtesten  Dank  schuldig!  Die  hier  aufgeführten  Helmonti- 
schen  Lehrsätze  über  das  Alterthum  hat  schon  Mezler  in 
nicht  ganz  gleichlautender  Uebersetzung  mitgethoilt.  —  Die 
Theorie  von  Sylvins  würdigt  der  Verf.  mit  wenigen  Wor¬ 
ten,  und  zeigt,  wie  durch  die  cingefiihrten  iatrochemischen 
Ansichten  das  Aderlafs  nach  und  nach  sehr  eingeschränkt 
werden  mufstc.  Ilarvey’s  Entdeckung  des  Kreislaufes 
wird  ganz  zweckmäfsig  mit  der  Theorie  der  Iatromathema- 
tiker  in  Wrbindung  gebracht,  in  einer  geschichtlichen  Dar¬ 
stellung  dürften  jedoch  Andeutungen  über  die  Vorbereitung 
dieser  Entdeckung  durch  die  italienischen  Anatomen  nicht 
fehlen,  wenn  auch  der  Verf.  weniger  geneigt  sein  mochte, 
Galen 's  vom  lief,  erwiesene  vollständige  Kenntnifs  des 
Kreislaufes  in  Erwägung  zu  bringen.  •  Hätte  er  überhaupt 
Galen ’s  Anatomie  und  Physiologie  des  Blutsystems  nur 
oberllächlich  beachtet,  so  würde  er  gewifs  sein  Urtheil  über 
diesen  grofsen  Arzt  entweder  sehr  gcniäfsigt,  oder  zurück¬ 
genommen  haben. 

Sydenhaip,  den  grofsen  Wicderherstellcr  der  anti- 


.  III.  Aderlafs, 


55 


phlogistischen  Methode,  stellt  der  Verf.  ganz  passend  mit 
dem  gleichzeitigen  Ramazzini  und  mit  Pech  1  in  zusam¬ 
men,  und  zeigt,  wie  in  eben  dieser  Zeit  die  Aderlafswuth 
in  Frankreich  ihre  zahlreichen  Vertheidiger  fand.  Auf  die 
Lehren  von  Boerhaave  und  Friedrich  Hoffmann,  aus 
denen  das  Wesentliche  recht  zweckmäfsig  hervorgehoben 
ist,  folgt  nun  Stahl’s  System.  Hier  sind  die  auf  die  Blut¬ 
entziehungen  in  hitzigen  Krankheiten  bezüglichen  Grund¬ 
sätze  deutlich  entwickelt,  in  Betreff  der  chronischen  Krank¬ 
heiten  vermifst  aber  Ref.  eine  Angabe  der  Motive,  die 
Stahl’s  Anhänger  zur  Blutverschwendung  antrieben.  Ge¬ 
rade  hierin  lag  ein  grofser  Unsegen  der  Stahlseilen  Praxis; 
während  man  sich  scheute,  in  acuten  Krankheiten  die  kleinste 
Quantität  Blut  zu  entziehen,  sondern  hier  die  Bekämpfung 
der  Plethora  der  Seele  allein  durch  die  Secretionen  und 
Excretionen  überliefs,  liefs  man  das  Blut  in  chronischen 
Uebeln  stromweise  fliefsen,  so  dafs  gar  manche  Stahlianer 
den  Mönchen  des  Mittelalters  nachzueifern  schienen. 

Von  Stahl  geht  der  Verf.  auf  Bordeu  über,  dem 
die  neuere  Zeit  mehr  verpflichtet  ist,  als  die  Dankbarkeit 
für  die  Verdienste  derer  glauben  läfst,  die  auf  seinen  Schul¬ 
tern  standen.  Er  war  es,  der  die  Vitalität  des  Blutes  auf 
eine  eindringliche  und  überzeugende  Weise  lehrte,  er  war 
es,  der  die  Lehre  von  der  Contractilität  begründete.  Die 
Aderlafswuth  seiner  Landsleute  beschränkte  Bordeu  mit 
grofsem  Erfolg,  und  seine  ganze  Art  die  Heilkunde  zu  be¬ 
arbeiten  ,  trug  zur  Befestigung  naturgemäfser  Grundsätze 
über  die  Blutentziehungen  nicht  wenig  bei.  Der  Verf.  hat 
seine  hierhergehörigen  Ansichten  sehr  klar  und  beifallswür¬ 
dig  entwickelt,  und  diesen  die  gleichzeitige  Hämatomanie 
der  englischen  Aerzte,  namentlich  Pringle’s  und  Grant’s, 
anschaulich  gegenübergestellt.  —  Cullen’s  System  läfst 
der  Verf.  nur  für  ein  erweitertes  Stahlseiles  und’Hoffmann- 
sches  gelten,  sein  eigentliches  Verdienst  aber  darin  beste¬ 
hen,  dals  er  ganz  besonders  auf  die  Lebenskraft  aufmerksam 

I 

machte,  und  die  Theorie  der  Blutentziehungen  der  Wahr- 


5b 


111.  Atlerlafs. 


heit  näher  fördert^.  Es  darf  in  unsern  Tagen  nicht  ver¬ 
gessen  werden,  was  denn  auch  der  \  crf.  ganz  richtig  an¬ 
deutet,  dafs  Cu  1  len  die  Wirksamkeit  des  Aderlasses  mehr 
auf  Erschlaffung,  als  auf  Blutverminderung  zurückführte, 
und  die  Acrztc  lehrte,  den  Coliapsus  vasorum  im  Auge  zu 
behalten,  der  nach  einer  geläuterten  Physiologie  Contraclio 
vasorum  zu  nennen  sein  dürfte.  Auf  Cullen’s  System 
würde  Ref.  nun  gleich  das  daraus  unmittelbar  hervorgegan¬ 
gene  Brownsche  haben  folgen  lassen,  doch  hat  cs  der 
Verf.  vorgezogen,  erst  die  gastrische  TheoVie,  dann  Woll- 
stein’s  Grundsätze  über  Blutentziehungen,  und  Keil  s 
System  abzuhandeln.  Die  Empfehlung  des  Aderlasses  in 
Stoll’s  gastrischer  Lehre  wurde  von  dessen  Annahme  ver¬ 
borgener  Entzündungen  motivirt,  einer  Annahme  die  nicht  nur 
damals,  und  jetzt  in  der  Broussaisschen  Schule,  sondern  schon 
im  sechsten  Jahrhundert  n.  Chr.  und  zu  Anfang  des  vori¬ 
gen  (von  Baglivi  aufgestcllt)  zu  eigentümlichem  Heil¬ 
verfahren  Veranlassung  gab.  Baglivi ’s  Erfahrungen  über 
diesen  wichtigen  Gegenstand  können  wir  als  bekannt  vor¬ 
aussetzen,  jeder  Leser  kann  sie  in  seinen  leicht  zugängli¬ 
chen  Werken  selbst  nachsehen.  Von  keinem  Geschichtfor- 
scher  sind  aber  bis  jetzt  die  altertümlichen  Ursprünge 
der  Lehre  von  den  heimlichen  Entzündungen  berührt.  Nach 
Aetius,  der  diese  Annahme  wahrscheinlich  von  irgend 
einen)  Früheren  entlehnt,  und  selbst  nur  weiter  durchge¬ 
führt  bat,  soll  die  rosenartige  Entzündung  der  Ein¬ 
geweide  (f gv<rt7riXxg  auf  eine  eigentümliche 

W  eise  Fieber  erregen,  vorzüglich  das  Brennfieber  und  das 
hektische,  wobei  die  humoralpathologische  Rücksicht  völlig 
beseitigt,  und  die  Anzeige  der  kühlenden  Behandlung,  be¬ 
sonders  des  reichlichen  Trinkens  von  kaltem  \\  asser,  von 
der  Natur  der  Entzündung  hercenommen  ist.  Befällt  die 

D  o 

Entzündung  den  Magen,  so  entsteht  die  Lipyria,  ein  Fie¬ 
ber,  das  die  inneren  Theile  mit  brennender  Hitze  verzehrt, 
während  die  äulseren  frieren  (an  vollendete  Gastritis  ist  hier 
nicht  zu  dcoken,  iudem  die  Kranken  von  kaltem  Getränk 


i 


III.  Aderlafs. 


57 


Erleichterung  bekommen  sollen);  wird  die  Leber  entzündet, 
so  erfolgt  das  Typhusfieber  (  >  dessen  wesentliche 

Zufälle  Irrereden  und  Betäubung  sind,  und  entzündet  sich 
die  Lunge,  so  wird  ein  nicht  näher  beschriebenes  Lieber 
mit  Eiskälte  algida)  erregt.  (Tetrabl.  II.  Serm.  I. 

c.  89.  seq.)  War  diese  Ansicht  auch  gewifs  nicht  auf 
pathologisch -anatomische  Beobachtungen  gegründet,  so  ent¬ 
hält  sie  doch  wesentlich  dieselbe  Idee,  die  dem  Brous- 
saisschen  Systeme  zum  Grunde  liegt,  und  mufs  daher  in 
der  Geschichte  der  medicinischen  Theorieen  gebührend  aus¬ 
gezeichnet  werden. 

Die  Ansichten  der  deutschen  und  italienischen  Zeitge¬ 
nossen  und  Nachfolger  S  toi  Ts  über  das  Aderlafs  sind 
durchweg  lehrreich  und  übersichtlich  dargestellt,  so  dafs 
wir  die  genaueste  Bekanntschaft  des  Verf.  mit  der  Littera- 
tur  dieser  Zeit  voraussetzen  können.  Wo llstein’s  Ueber- 
gang  von  der  Aderlafswuth  zur  Blutscheu  mag  im  Jahre 
1791  Aufsehn  erregt  haben,  gegenwärtig  ist  sie  von  um 
so  geringerem  Interesse,  da  sie  ohne  erhebliche  Folgen 
blieb,  wenn  sich  auch  in  dem  damaligen  Streite  über  das 
Aderlafs  nicht  unbedeutende  Stimmen  vernehmen  liefsen, 
und  S  toi  Ls  Theorie  von  den  heimlichen  Entzündungen 
mehr  und  mehr  zu  ihrem  Nachtheile  erörtert  würde.  Es 
schliefsen  sich  hieran  wahre  und  treffende  Bemerkungen 
über  Gail,  dessen  Verdienste  um  die  freie  Würdigung  des 
Aderlasses  ausgezeichnet  waren,  Scherer  und  Cammerer, 
Schaffer,  Bernstein  und  Me  zier,  den  der  Verf.,  wie 
billig,  gegen  das  herabsetzende  Urtheil  Sprengel ’s  in 
Schutz*  nimmt,  dessen  Werk,  wenn  es  auch  an  den  oben 
angedeuteten  Mängeln  leidet,  doch  wesentlich  zur  Aufklä¬ 
rung  der  Ansichten  über  das  Aderlafs  beigetragen  hat. 
Reil’s  grofse  Verdienste  um  den  richtigen  Gebrauch  der 
Blutentziehungen  würden  gewifs  noch  mehr  hervorgetreten 
sein,  und  grölsere  historische  Wichtigkeit  haben,  wenn  der¬ 
selbe  die  nächste  Ursache  der  Wirkung  des  Aderlasses  nicht 
in  der  blofsen  Verminderung  des  Blutes,  sondern  in  der 


58 


III.  Aderlafc. 


Erschlaffung,  wie  Cullen  gesucht,  mehr  auf  das  Herz,  als 
den  Mittelpunkt  der  Thätigkeit  des  Blutsystems  Rücksicht 
genommen,  und  die  von  Borden  so  trefflich  begründete 
und  von  Bichat  mit  so  grofsem  Erfolge  wiedererweckte 
Lehre  von  der  Contractilif.it  mehr  in  Anschlag  gebracht 
hätte.  Doch  standen  die  bekannten  Theorieen  über  Irrita-  ' 
Lilität  und  die  Lehrsätze  der  Erregungstheorie  noch  in  viel 
zu  grofsem  Ansehn,  als  dafs  in  der  damaligen  vielbewegten 
Zeit  hieran  zu  denken  gewesen  wäre.  Brown’s  System, 
oder  wohl  richtiger  die  "N  erirrungen  der  Brownianer,  denn 
dem  scharfsinnigen  schottischen  Arzte  dürfen  die  Uebertrei- 
bungen  dieser  Zeloten  nicht  füglich  zur  East  gelegt  werden, 
fertigt  der  Verf.  nur  kurz  ab,  indem  sie  noch  in  zu  fri¬ 
schem  Andenken  stehen,  und  mehrere  von  den  Lebenden 
nicht  genannt  werden  konnten.  Der  Homöopathie  zeigt  er 
sich  durchaus  abhold,  indem  kein  medicinisches  System,  das 
je  der  Welt  zur  Schau  ausgestellt  ward,  durch  seine  höchst 
paradoxen  Lehrsätze  so  entschiedene  Ilämatophoben  gebildet 
habe.  Ohne  weitere  Kritik  der  II ah  nemannschcn  Lehre 
beschränkt  er  sich  nur  darauf,  einige  Fälle  von  homöopa¬ 
thisch  behandelten  Enzundungen  von  Bau  mitzuthcilen,  und 
das  Weitere  dem  Uriheil  des  Lesers  zu  überlassen.  Ohne 
Zweifel  ist  die  Vermeidung  des  Schädlichen,  das  Hippokra¬ 
tische  ftn  ßXcLTrrti*  die  beste  Seite  der  Homöopathie;  mögen 
die  Homöopathen  immerhin  ihre  unendlich  kleinen  Dosen 
abtröpfeln,  mögen  die  Beschränkten  unter  ihnen  immerhin 
die  Worte  ihres  Meisters  über  diesen  Punkt  anstaunen  und 
bewundern,  viele  sind  gewifs  überzeugt,  und  es  bedarf  dazu 
keiner  tiefen  arithmetischen  Kenntnisse,  dafs  hierin  nichts 
W  esentliches  beruht,  und  sie  scheinen  in  der  Thal  nur 
bemüht  zu  sein,  durch  ihre  paradoxe  Dosenlehre  ihrem 
System  den  Anstrich  des  Wunderbaren  zu  erhalten,  das 
von  dem  grofsen  Haufen  von  jeher  verlangt  worden  ist, 
und  in  welcher  Form  cs  sich  auch  zeigen  mag,  die  Mei¬ 
nungen  immer  um  so  sicherer  gewinnt,  je  unbegreil  lichcr 
und  widersinniger  cs  erscheint.  Durch  Beseitigung  der  zu- 


III.  Aderlafs. 


59 


sammengesetzten  Heiltränke,  durch  Verwerfung  eines  schäd¬ 
lichen  Arzneikrams,  der  von  vielen  für  unumgänglich  nöthig 
gehalten  wird,  wo  die  Natur  seiner  durchaus  nicht  bedarf, 
durch  richtige  Würdigung  des  Schädlichen  in  einer  fehler¬ 
haften  Diät,  durch  richtige  Handhabung  der  negativen  Ein¬ 
flüsse  leisten  sie  aber  gewils  der  Heilkunst  wesentliche 
Dienste,  die  mit  allem  Dank  anerkannt  werden  müssen,  und 
noch  viele  zur  Ueberzeugung  bringen  werden,  dafs  die  her¬ 
gebrachte  Heilkunde  an  vielen  Stellen  Fehler  enthält,  wo 
sie  bisher  noch  kaum  vermuthet  wurden.  Chrysipp  und 
F>r  as  ist  rat  us,  und  wenn  von  Beseitigung  eines  unnützen 
Arzneivorrathes  die  Bede  ist,  auch  Asklepiades,  haben 
ähnliche  Reformationen  und  rnit  besserem  Erfolge  für  die 
Wissenschaft  bewirkt,  weil  sie  in  ihren  übrigen  Theoremen 
die  Vernunft  mehr  auf  ihrer  Seite  batten,  als  die  Homöo¬ 
pathen. 

Weusseux’s  Aderlafstheorie  wird  in  einem  eigenen 
Abschnitte  ausführlich  gewürdigt,  und  dieser  Arzt  den  ent¬ 
schiedenen  Phlogosozeloten ,  ein  schwerfälliger  Ausdruck, 
dessen  sich  der  \erf.  im  ganzen  Werke  mit  einer  besonde¬ 
ren  Vorliebe  bedient,  beigezählt,  ln  der  That  sind  die 
Grundsätze  dieses  sonst  achtungswerthen  Arztes,  da  sie 
besonders  eine  dreiste  Blutverschwendung  in  chronischen 
Krankheiten  empfehlen,  wenig  geeignet,  allgemeine  Aner¬ 
kennung  zu  finden,  die  ihnen  denn  auch  in  Frankreich  ge¬ 
genwärtig  nicht  mehr  zu  Theil  wird.  Erwähnung  finden 
noch  aufserdem  in  diesem  Abschnitte  Rush,  Horn,  jedoch 
nur  nach  einem  vor  26  Jahren  geschriebenen  Werke,  das 
seiner  gegenwärtigen  Ueberzeugung  längst  nicht  mehr  ent¬ 
spricht,  und  ein  Engländer  Seeds,  nach  einer  geringfügi¬ 
gen  Inauguraldissertation,  die  hier  nicht  beachtet  zu  werden 
verdiente.  —  Geber  die  Lehre  vom  Contrastimulus  hat  der 
V  erf.  allein  W  agner’s  Schrift  benutzt,  und  diesen  Ab¬ 
schnitt  bei  weitem  nicht  vielseitig  genug,  selbst  mit  Ueber- 
gehung  des  Guten,  und  Lehrreichen,  das  in  dieser  Lehre 
allerdings  enthalten  ist,  bearbeitet.  So  hätten  namentlich 


I 


60 


III.  Aderlafs. 


die  von  gewichtigen  Autoritäten  anerkannten  Brcchwein- 
steincuren  in  Entzündungen  ganz  anders,  als  dies  hier  ge¬ 
schehen  ist,  gewürdigt  werden  müssen.  —  Der  Grund, 
warum  Kieser’s  Ansicht  über  das  Aderlafs  in  einem  be- 
sondern  Abschnitte  vorgetragen  worden  ist,  will  l\ef.  nicht 
einleuchten.  Sie  ist  überhaupt  nicht  so  wichtig,  um  hier 
eine  Siedle  zu  verdienen,  und  wenigstens  hätte,  wenn  sie 
dennoch  aufgenommen  werden  sollte,  vielen  anderen,  die 
hier  übergangen  worden  sind,  eine  gleiche  Auszeichnung 
gebii  hrt. 

Broussais’s  System  hat  der  Vcrf. ,  wie  zu  erwarten, 
ganz  aus  dem  Gesichtspunkte  der  ßlutegelverschwendung, 
und  weniger  in  Bezug  auf  erwiesene  Darmentzündungen 
betrachtet.  Polinieres  angeführtes,  im  Jahre  1827  er¬ 
schienenes  Werk  über  die  Blutentziehungen  konnte  ihm  bei 
der  Ausarbeitung  des  seinigen  noch  nicht  bekannt  gewor¬ 
den  sein,  sonst  würde  er  seine  Leser  auf  eine  sehr  erfreu¬ 
liche  NN  eise  überzeugt  haben,  dafs  gegenwärtig  das  Ader¬ 
lafs  gegen  den  allgemeinen  Gebrauch  der  Blutegel  in  Frank¬ 
reich  wiederum  in  Schutz  genommen  wird,  und  die  Brous- 
saissche  Blutegelmanie  bereits  ihre  Beaction  gefunden  hat. 
Er  giebt  indessen  einen  ausführlichen  Auszug  der  diese 
Beaction  ebenfalls  bezeichnenden,  mehr  polemischen  Schrift 
von  Audin  -  Rouviere,  Plus  de  sangsues,  Paris  1827. 
Den  Beschlufs  dieses  historischen  Theils  macht  eine  sehr 
vollständige  Angabe  der  Litteratur  über  das  Aderlafs,  eine 
schätzbare  Norarbeit  für  alle,  die  sich  späterhin  mit  diesem 
Gegenstände  beschäftigen  werden. 

Den  zweiten  Abschnitt  seines  Werkes,  von  den 
künstlichen  I>  I  u  ten  tz  ich  u  ngen  in  therapeutischer 
Hinsicht,  hat  der  N  erf.  in  sieben  Kapitel  getheilt.  Im 
ersten  derselben  schildert  er  die  allgemeinen  Wir¬ 
kungen  der  Blutentziehungen  ganz  naturgetreu  und  mit 
lebendigen  karben,  in  dem  zweiten  wird  der  Linfluls  der¬ 
selben  auf  die  Beproduction ,  die  Irritabilität  und  die  Sen¬ 
sibilität  besonders  erwogen.  Es  kommen  liier  durchweg 


i 


III.  Aderlafs. 


61 


nur  beifallswerthe  Lehrsätze  und  Erfahrungen  zur  Sprache, 
und  der  Yerf.  bemüht  sich  besonders,  die  Wirkungen  des 
zu  häufigen  Aderlassens  auf  die  Quantität  des  Blutes  selbst 
hervorzuheben.  Auf  das  Verhalten  der  Arterien  ist  weni¬ 
ger  Rücksicht  genommen,  wiewohl  diesem  bei  dem  gegen¬ 
wärtigen  Zustande  der  Physiologie  des  Blutsystems  eine  ganz 
besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet  werden  mufs.  Die 
Contractilität  der  Arterien  und  Venen,  vermöge  welcher 
sie  die  vorhandene  Blutmasse  beständig  genau  umschliefsen, 
das  Verhalten  derselben  bei  schnelleren  oder  langsameren 
Blutentziehungen,  die  davon  abhängigen  Zustände  des  Ca- 
pillarsystems  in  Bezug  auf  Wärmebereitung  und  Stoffwech¬ 
sel,  die  damit  in  genauer  Verbindung  stehenden  Verände¬ 
rungen  aller  contractiien  Theiie,  alles  dies  giebt  die  licht¬ 
vollsten  praktischen  Gesichtspunkte,  die  um  so  sicherer  ins 
Auge  gefafst  werden  können,  als  sie  physiologischen  That- 
sachen  genau  entsprechen.  Der  Begriff  der  Inanition  läfst 
sich  hiernach  viel  genauer  bestimmen,  als  dies  von  unsern 
Vorfahren  geschehen  konnte,  und  an  die  Stelle  vager  An¬ 
sichten  über  die  Wirkung  des  Aderlasses  ist  das  klare  Be- 
wufstsein  von  Veränderungen  getreten,  die  sich  aus  dem 
Pulse  und  anderen  semiotischen  Merkmalen  genauer  erken¬ 
nen  lassen. 

Im  ,dritten  Kapitel  ist?  von  den  allgemei¬ 
nen  und  besonderen  Indicationen  zu  künstlichen 
Blutentziehungen  die  Rede.  Der  Verf.  theilt  die  hier¬ 
her  gehörigen  Krankheitszustände  in  neun  Klassen,  nämlich 
1)  Entzündungen  und  entzündliche  Fieber  mit 
dem  Charakter  der  Hy persthenie;  a)  einfaches  ent¬ 
zündliches  Fieber,  Synocha,  b)  gastrische  und  gallichte  Fie¬ 
ber,  gallichte  Entzündungen,  c)  nervöse  und  typhöse  Fie¬ 
ber,  d)  Wechselfieber,  e)  phlegmonöse  und  topische  Ent¬ 
zündungen,  f)  catarrhalische  Entzündungen  und  catarrhali- 
sehe  Fieber,  g)  rheumatische  und  gichtische  Entzündungen, 
rheumatische  Fieber,  h)  erysipelatöse  Entzündungen  und 
exan  thematische  Krankheiten  überhaupt,  i)  Nervenentzün- 


62 


III.  Aderlals. 

düngen,  k)  chronische  Entzündungen,  I)  Entzündungszu¬ 
stände  nach  Verletzungen  und  chirurgischen  Operationen.  — 
2)  Vollblütigkeit.  —  3)  Orgasmus,  Congestio- 

nen  und  Stasen  des  Blutes.  —  1)  Blutflüsse  und 

ihre  Anomalien.  —  5)  Organische  Herzkrank¬ 

heiten.  —  6)  Lungensuchten.  —  7)  Wasse  rsu eil¬ 
ten.  —  8)  Neurosen;  a)  schmerzhafte  Krankheiten, 

b)  psychische  Krankheiten,  c)  krampfhafte  Krankheiten , 
d)  Apoplexie,  e)  Asphyxieen.  —  9)Schwangerschafts- 
beschwerden.  —  Der  gegebene  Begriff  von  Entzündung: 
((  krankhaft  gesteigerte  Thätigkeit  des  Eebensprozesscs  irgend 
eines  Organs  oder  organischen  Systems,  wobei  die  Functio¬ 
nen  desselben  entweder  alienirt,  oder  gar  aufgehoben  (.’) 
und  zernichtet  sind,“  scheint  Bef.  viel  zu  vage.  Wollte 
der  Verf.  danach  consequent  bleiben,  so  mufste  er  den 
neueren  Entzündungspathologieen,  und  mithin  auch  der  Blut- 
yerschwendung  eifrig  das  Wort  reden,  was  mit  seiner  riih- 
menswerthen  Absicht,  die  Anzeigen  des  Aderlasses  auf  klare 
Begriffe  zurückzuführen,  nicht  übereinstimmen  würde.  Im 
übrigen  finden  wir  durchgängig  beifallswerthc  Ansichten, 
und  die  Warnung  vor  einseitiger  Hämatophobie  uud  Iläma- 
tomonie  ausgesprochen.  Auf  die  von  Puchelt  näher  be¬ 
stimmten  venösen  Entzündungen  macht  der  Verf.  gebührend 
aufmerksam,  ohne  jedoch  auf  die  treffliche  Arbeit  von  Bi- 
bes  in  der  Bevue  medicale,  die  nach  Bef.  Ueberzeugung 
die  beste  über  diesen  Gegenstand  ist,  und  auf  das  Resultat 
der  neuern  mikroscopischen  l  ntersuchungen  der  Entzün¬ 
dung,  nach  denen  die  ^  enenanfänge  bei  jeder  Entzündung 
bei  weitem  mehr  betroffen  sind,  als  die  Arterienenden, 
Rücksicht  zu  nehmen.  Er  beschreibt  eine  in  seiner  Gegend 
epidemisch  vorgekommene  venöse  Lungenentzündung,  und 
pflichtet  im  Allgemeinen  der  von  Puchelt  ausgesprochenen 
Ansicht  bei,  dals  die  venösen  Entzündungen  noch  dreister 
mit  Aderlässen  zu  bekämpfen  seien,  a|s  die  arteriellen.  Die 
beigegebene  Krankengeschichte  einer  venösen  Lebercntziin- 
dung,  mit  dem  Leichenbefunde,  ist  in  vieler  Beziehung  sehr 


III.  Aderlafs. 


63 


lehrreich.  —  In  Betreff  der  Anwendbarkeit  der  Blutent¬ 
ziehungen  in  nervösen  oder  typhösen  Fiebern  verweist  der 
Verf.  auf  seine  in  unsern  Annalen  (Bd.  VI.  II.  2.  S.  1,91) 
angezeigten  medicinisch -praktischen  Adversarien,  in  denen 
er  hierüber  gemäfsigte  Grundsätze  ausgesprochen  hat.  — 
Das  Wesen  des  Wechselfiebers  in  einen  Krampf  des  Gan¬ 
gliensystems  zu  setzen,  ist  eine  ziemlich  unhaltbare,  wenn 
auch  den  Meinungen  vieler  Praktiker  entsprechende  Bestim¬ 
mung.  Die  Nervenpathologie,  und  noch  überdies  in  Bezug 
auf  einen  wenig  ergründeten  Theil  des  Nervensystems,  giebt 
hier  unfruchtbare  Ansichten  in  Vergleich  mit  einer  gemäfsig- 
ten  Humoralpathologie,  die  die  ursprüngliche  Affection  der 
Respirationsorgane  und  des  Blutes  durch  eine  darstellbare 
Schädlichkeit  ins  Auge  fafst,  und  von  dieser  die  übrigen 
Erscheinungen  abhängen  läfst.  —  In  Betreff  der  örtlichen 
Entzündungen  hat  der  Verf.  die  besten  Erfahrungssätze  ver¬ 
einigt,  und  auch  diesem  Abschnitt  ein  lebendiges  Interesse 
zu  geben  gewufst.  Dasselbe  gilt  von  den  nächstfolgenden 
Abtheilungen.  Bei  der  Erörterung  der  Nervenentzündun- 
gen  fühlte  er  sich  aufgefordert,  die  Einseitigkeit  vieler  neuen 
Aerzte,  diese  Entzündungen,  die,  wenn  auch  in  der  Wirk¬ 
lichkeit  nachgewiesen,  doch  nur  selten  Vorkommen,  überall 
anzunehmen,  als  ein  schädliches  Extrem  zu  bekämpfen.  Be^ 
sanders  lehrreich  sind  in  diesem  Abschnitte  einige  von  ihm 
beobachtete  Fälle  von  nervenentzündlichen  Leiden,  die  mit 
heroischen  Aderlässen  (sechs  bis  sieben  Pfund  in  einem 
Nachmittage)  wirksam  behandelt  wurden,  und  im  Werke 
selbst  nachgelesen  zu  werden  verdienen. 

Die  allgemeinen  Unterschiede  der  Vollblütigkeit  hat  der 
Verf.  nach  den  gangbaren  pathologischen  Bestimmungen 
angegeben,  und  zu  Anfang  einige  historische  Notizen  mit- 
getheilt,  die  jedoch  zu  sehr  aus  dem  Zusammenhänge  ge¬ 
rissen,  und  zum  Theil  unrichtig  sind.  W  ie  konnte  Py  tha- 
goras  die  Arterien,  die  Venen  und  die  Nerven  für  die 
eigentlichen  Bande  der  Seele  halten,  da  zu  seiner  Zeit  die 
Nerven  noch  nicht  bekannt,  und  die  Arterien  von  den 


I 


64  III.  Aderlafs. 

Venen  noch  nicht  unterschieden  waren?  Die  Anzeigen  de* 
Aderlasses  in  Bezug  auf  V  ollbliiligkeit  sind  dagegen  klar 
und  naturgemäß  entwickelt.  Aus  den  zunächst  folgenden, 
oben  angegebenen  Abtheilungen  wollen  wir  nichts  einzelnes 
hervorheben,  indem  wir  hier  überall  den  'S  erf.  auf  dem 
Wege  einer  gesunden,  rationellen  Empirie  finden,  und  nur 
Gelegenheit  nehmen  müßten,  von  bekannten  Gegenständen 
zu  reden. 

In  dem  siebenten  Kapitel  werden  die  verschie¬ 
denen  Arten  der  künstlichen  Blutentziehung  ab- 
gehandelt,  die  Arteriotomie,  das  Aderlafs,  die  Blutegel,  die 
Scarificationen  und  die  Schröpfköpfe.  Die  erste  hat  «1er 
Yerf.  fast  zu  kurz,  nur  auf  einer  Seite  abgefertigt,  was  bei 
den  sehr  getheilten  Meinungen  über  die  Y\  irksamkeit  dieser 
Art  Blutentziehung,  und  in  einem  sonst  so  ausführlichen 
Werke  nicht  zu  erwarten  gewesen  wäre.  In  der  That 
scheinen  die  Anzeigen  der  Arteriotomie  »mehr  theoretisch, 
als  auf  unzweifelhafte  Erfahrung  gegründet  zu  sein,  und 
fafst  man  ohne  Yorurtheil  die  wesentliche  Wirkung  der 
allgemeinen  Blutentziehung,  den  Eindruck  auf  das  Herz  und 
die  Zusammenziehung  der  Gefäfse  ins  Auge,  so  ergiebt  sich 
durchaus  kein  erheblicher  Vorzug  der  Arteriotomie  vor  dem 
Aderlafs.  Ausführlicher  ist  der  Verf.  über  das  letzte,  be¬ 
schreibt  die  einzelnen  Arten  desselben  nach  der  Localität, 
und  giebt  mit  seiner  gewöhnlichen  l  msicht  die  nöthigen 
Verhaltungsregeln.  An  genauer  Kritik  des  Einzelnen  fehlt 
es  indessen  hier  und  da,  so  berührt  der  Verf.  namentlich 
das  Aderlafs  an  der  Drosseladcr  nur  im  N  oriibergehen ,  und 
nirgends  ist  ausgesprochen,  dafs  das  Aderlafs  am  Arm  als 
die  Cardinalblutentziehung  zu  betrachten  ist,  worüber  doch 
jetzt  kein  Zweifel  obwalten  kann.  Die  wesentliche  Wir¬ 
kung  der  Blutegel  sucht  der  Verf.  ganz  richtig  in  örtlicher 
Blutverminderung,  Erhöhung  der  Kosorptionsthütigkjeit  im 
erkrankten  Gebilde  und  seinen  Umgebungen,  und  in"  Üm- 
stimmung  der  Nervcnlhätigkcit  und  der  Heproduction,  Ueber 
Scarificationeu  und  Schröpfköpfe  erhalten  wir  das  Bekannte, 

.  '  bei 


I 


»  .  #  ^ 

HI.  Aderlais.  05 

bei  den  letzten  Ist  indessen  ihre  eigenthümliche,  sehr  we¬ 
sentliche  Wirkung  auf  die  Gefäfsenden ,  den  Riickflufs  und 
Stillstand  des  Bluts  in  den  dieser  Wirkung  ausgesetzten 
Venen  (Barry)  vergessen  worden.  Dann  wendet  sich  der 
Verf.  im  fünften  Kapitel  zur  Derivation  und  Re- 
vulsion,  geht  aber  hier  keinesweges  so  zu  Werke,  wie 
die  geschichtliche  Begründung  dieses  Gegenstandes  es  erfor¬ 
dert.  Er  giebt  zu,  dafs  unleugbare  Fälle  vorhanden  seien, 
in  welchen  Derivation  und  Revulsion  für  nicht  so  ganz  be-, 
deutungslose  Worte  zu  nehmen  wären,  versteht  aber  unter 
Revulsion,  dem  unabänderlichen  Sprachgebrauche  ganz  ent¬ 
gegengesetzt,  die  Wirkung  künstlicher  Blutentziehungen  zu¬ 
nächst  auf  den  Sitz  der  Entzündung  und  die  nahe  gelegenen 
Theile,  indem  er  mit  Derivation  jene  Wirkung  bezeichnet, 
welche  man  dem  Aderlafs  rücksichtlich  der  vom  Sitz  der 
Entzündung  entfernteren  Organe  beilegt.  Es  ist  hieraus 
ersichtlich,  dafs  die  Entscheidung  des  bekannten  Streites 
ganz  anders  ausfallen  müsse,  als  nach  den  unveränderten 
Begriffen  beider  Wirkungen  des  Aderlasses,  und  mithin 
nicht  als  eine  eigentliche  Entscheidung  anerkannt  werden 
könne.  Po  liniere  ist  hier  auf  eine  ganz  andere,  |wenn 
auch  den  Unterschied  beider  verneinende  Weise  zu  Werke 
gegangen,  die  sich  ihm  indessen  aus  einer  freien  Würdi¬ 
gung  der  wesentlichen  Wirkungen  des  Aderlasses  als  die 
beste  ergab. 

Das  sechste  Kapitel  handelt  von  den  verschiedenen 
Verhältnissen,  welche  auf  die  Blutentziehungen  einen  we¬ 
sentlichen  Einllufs  haben,  namentlich  der  Constitution,  dem 
Alter  und  Geschlecht,  und  dem  Kräftezustande  des  Kranken. 

Das  siebente  Kapitel  endlich  von  der  Quan¬ 
tität  des  zu  entleerenden  Blutes,  und  den  Bestimmungs¬ 
gründen  zur  Wiederholung  des  Aderlasses.  Ganz  an  ihrer 
Stelle  sind  hier  einige  Beispiele  von  grofsen  und  übergrofsen 
Aderlässen,  wobei  der  Verf.  vor  leichtsinniger  Nachahmung 
eindringlich  warnt,  jedoch  aber  auch  zugiebt,  dafs  allerdings 
Fälle  Vorkommen  können,  in  denen  ungewöhnliche  Blut- 

5 


XIV.  Rd.  1,  St. 


66 


III.  Adertafa. 


/ 


vergiefsungen  nöthig  sind.  Er  betrachtet  diese  Fälle  nur 
als  seltene  Ausnahmen  der  allgemeinen  Hegel,  und  hat  in 
seiner  eigenen  glücklichen  Praxis  bewiesen ,  dafs  er  sie  rich¬ 
tig  zu  erkennen  vermag.  Er  wendet  sich  alsdann  zu  dem 
Pulse,  als  Bestimmungsgrund  zum  Aderlais,  handelt  hier¬ 
über  die  allgemein  gültigen  praktischen  Hegeln  ab,  und 
unterwirft  die  hergebrachten  Annahmen  über  die  Entzün¬ 
dungshaut  einer  genauen,  für  die  gegenwärtige  Zeit  wohl 
zu  ausführlichen  Kritik. 

Im  dritten  Abschnitte  werden  die  künstlichen  Blut¬ 
entziehungen  in  medicinisch  -  polizeilicher  Hinsicht  betrachtet. 

Ob  in  diesen  Abschnitt  eine  theoretisch  -  praktische  Y\  ürdi- 

0 

gung  der  prophylactisehen  und  der  Probeaderlässe  gehöre, 
in  der  von  medicinisch -polizeilichen  Rücksichten  nicht  ent¬ 
fernt  die  Hede  ist,  wollen  wir  dahingestellt  sein  lassen,  im 
übrigen  geht  der  Yerf.  hier  gröfsteotheiU  historisch  und 
polemisch  gegen  das  Yulgus  chriurgorum  et  tonsoruin  zu 
Werke,  ohne  irgend  bestimmte  Vorschläge  zur  Beschrän¬ 
kung  des  Mifsbrauches  der  Blutentziehungen  zu  machen. 
Füglich  hätte  der  Inhalt  dieses  letzten  Abschnittes  den  frü¬ 
heren  einverleibt  werden  können. 

Der  gelehrte  und  lleifsige  V  erf.  hat  sich  schon  oftmals 
den  Dank  seiner  Mitärzte  für  vorzügliche  Leistungen  in  der 
praktischen  Heilkunde  erworben,  und  hat  es  auch  mit  die¬ 
sem  Wrerke,  das,  ungeachtet  unserer  gegründeten  Ausstel¬ 
lungen,  viel  Gutes  enthält,  und  angehenden  Aerzten  ange¬ 
legentlich  empfohlen  zu  werden  verdient.  Der  erste,  sehr 
schwierige  Abschnitt  ist  in  der  zweiten  Hälfte  sehr  wohl 
gelungen,  in  der  ersten  entschuldigt  ihn  für  manches  Feh¬ 
lerhafte  die  unzureichende  Bearbeitung  der  vorgetragenen 
Gegenstände  in  den  von  ihm  benutzten  Lehrbüchern,  inden} 
er  sich  in  seinem  praktischen  Wirkungskreise  schwerlich  mit 
dem  Studium  der  Quellen  beschäftigen  konnte.  Der  prak¬ 
tische  Abschnitt  aber  kann  den  vorzüglichsten  Arbeiten 
über  das  Aderlafs  zur  Seite  gesetzt  werden,  und  wir  müs¬ 
sen  Schneider'9  und  Polioi&res  Wrerke,  beide  von 


III,  Aderlafs.-  07 

den  verschiedenen  Standpunkten  ihrer  Yerf.  aus  beurtheilt, 
unbedingt  als  die  besten  aufführen,  die  die  neueste  Zeit 

4 

über  das  Aderlafs  aufzuweisen  hat. 

H. 


Nachtrag. 

Nachdem  der  vorstehende  Artikel  bereits  abgedruckt 
war,  ist  der  Redaction  eine  kritische  Anzeige  des  Schnei¬ 
derschen  Werkes  zugekommen,  aus  der  w*ir  Folgendes 
ausheben : 

Es  ist  wohl  vollkommen  wahr,  wenn  der  Verf.  be- 

t 

merkt,  dafs  es  kein  geeigneteres  und  besseres  Mittel  gäbe 
den  wahren  therapeutischen  Werth  der'  künstlichen  Blut¬ 
entziehungen  zu  bestimmen,  als  das  Studium  der  Geschichte 
der  Medicin.  Wir  wären  daher  dem  Yerf.  in  der  That 
einen  grofsen  Dank  schuldig,  wenn  er  eine  allen  Ansprü¬ 
chen  genügende,  umfassende  Geschichte  der  künstlichen 
Blutentziehungen,  dieses  gröbsten  Heilmittels,  geliefert  hätte, 
da  wir  eine  solche  noch  nicht  besitzen,  indem  Mezler 
durch  seine  mit  grofser  Partheilichkeit  verfafste  Schrift  zu 
sehr  die  ersten  Anforderungen  an  einen  Geschichtschreiber 
verletzt  hat,  als  dafs  sein  Werk  genügen  könnte,  lndefs 
mufs  Ref.  doch  bemerken,  dafs  auch  diese  Darstellung,  wie 
sie  uns  S.  giebt,  ihm  nicht  vollkommen  gelungen  scheint, 
wie  sehr  ihn  auch  einzelne  Theile  derselben  angesprochen 
haben.  Abgesehen  nämlich  von  einer  überflüssigen  Beimi¬ 
schung  manches  Fremdartigen,  wie  wir  sie  hier  finden, 
rächt  sich  an  dem  Yerf.  besonders  die  Vernachlässigung 
einer  zweiten,  wichtigen  Anforderung  an  den  Geschicht¬ 
schreiber,  die  des  Quellenstudiums.  So  sieht  man  es  dieser 
Darstellung  nur  zu  bald  an,  wo  der  Yrerf.  aus  den  Quellen 
selbst  geschöpft  hat  oder  wo  er,  wie  er  in  der  Einleitung 
selbst  gesteht,  seiner  Bearbeitung  andere  Werke,  unter 
denen  er  Mezler ’s,  Ileck  er ’s  (d.  V.),  Metzger’s, 
Sprenge  ls,  Nicolai’»  und  Burdach ’s  pragmatische 

5  * 


f 


III.  Adcrlafs. 


68 

Geschichten  und  historische  Notizen  der  Medicin  aufliihrl, 
zum  Grunde  gelegt  hat.  Bef.  fühlt  sich  aulser  Stande,  in 
eine  genauere  Prüfung  dieser  geschichtlichen  Darstellung, 
welche  ohnehin  die  Gränzen  dieser  Anzeige  weit  überschrei¬ 
ten  würde,  einzugehen;  er  fügt  nur  noch  einige  wenige 
Bemerkungen  hinzu.  W  enn  Seile  15  behauptet  wird,  dals 
Diokles  und  Praxagoras,  obschon  Anhänger  der  hippo- 
•  kratischen  Medicin,  dennoch  rücksichtlich  der  Anwendung 
künstlicher  Blutentziehungen  sehr  bedeutend  von  den  Ilip- 
pokratikern  abwichen,  indem  sie  schon  in  der  Gehirn-  und 
Halsentzündung,  in  der  Darmgicht,  Epilepsie,  Lähmung, 
in  dem  Seitenstiche  über  der  Leber  und  in  Krankheiten 
der  Leber  und  Milz  zu  reichlichen  Aderlässen  ihre  Zuflucht 
nahmen,  so  sind  das  gerade  Krankheiten,  gegen  welche 
auch  die  Hippokratiker  Aderlässe  anempfahlen ,  wie  solches 
der  Verfasser  des  Huches  7rc^\  hctirri;  ausdrücklich  sagt. 

( S.  ed.  Kuehn.  Vol.  II.  p.  66  sqq.)  Berichtet  doch  auch 
Galen  zu  Anfänge  seines  Buches  de  Yenaesect.  adv.  Era- 
•  i  st  rat.,  dafs  Diokles  unter  denselben  Umständen,  die 
Hippokratcs  empfohlen,  zur  Ader  gelassen  habe.  — 
S.  TI  wird  von  Asklepiades  die  gewöhnliche  Angabe 
erzählt,  dafs  ihn  besonders  schmerzhafte  Krankheiten  zum 
Aderlässe  bestimmt  hätten,  dafs  er  in  vielen  entzündlichen 
und  heberhaften  Kraokheitcn,  wenn  sie  von  keinem  Schmerze 
begleitet  gewesen  wären,  den  Aderlafs  vermieden  habe. 
Sollte  wohl  der  Bithynier,  der,  nach  allem,  was  wir  über 
ihn  besitzen,  unstreitig  einer  der  gröfsten  Aerzte  gewesen, 
sich  durch  die  blofse  Gegenwart  oder  Abwesenheit  des 
Schmerzes  in  der  Anwendung  eines  so  wichtigen  Heilmit¬ 
tels  haben  bestimmen  lassen,  sollte  nicht  vielmehr,  wie 
schon  Gumpert  (s.  Asclepiadis  Bithyni  fragmenta.  Vi- 
nar.  1791.  8.  p.  103)  vermuthet,  die  Stelle,  auf  welche 
jene  Angabe  fufst  (Gael.  Aurelian,  morb.  acut.  Lib.  II. 
Gap.  29.  Ed.  A  mm  an.  p.  L43),  eine  besondere  Deutung 
erfahren  müssen:’  —  S.  24  wird  Themison  als  der  Ur¬ 
bilder  der  Blutegel  (!)  angegeben,  indefs  hat  Hecker 


% 


III.  Aderlafs. 


69 


schon  längst  erwiesen,  wieNikander  ihrer  früher  gedenkt. 
(S.  Geschichte  der  Heilkunde.  Bd.  I.  S.  350.)  —  P.  Bris- 
sot  starb  nicht,  wie  der  Verf.,  wahrscheinlich  der  bei 
Sprengel  (Versuch  einer  pragmat.  Gesch.  3te  Aull.  Bd.  1H. 
S.  601)  gegebenen  chronologischen  Lebersicht  folgend,  an- 
giebt  1520,  sondern  1522,  welche  Jahreszahl  im  Werke 
selbst  (S.  176)  bei  Sprengel  richtig  angegeben, ist.  Vergl. 
die  dem  M o rea u sehen  Werke:  De  Missione  sanguinis  in 
pleuritide,  angehängte  Vita  Petr.  Brissoti  pag.  125,  eine 
Schrift,  die  der  Verf.  indefs  wohl  nicht  gekannt  hat.  — 
Bei  Erwähnung  der  durch  Botalli  angeregten  Aderlafs- 
sucht  werden  die  Männer,  welche  sich  diesem  Unwesen  zu 
jener  Zeit  kräftig  entgegensetzten,  zu  wenig  berücksichtigt. 
Eine  sehr  umfassende  Würdigung  dieser  Zeit  giebt  Har- 
lefs  in  einem  vortrefflichen,  mit  gründlichster  Gelehrsam¬ 
keit  verfafsten  Aufsatze.  (S.  Heidelberger  clinische  Annalen. 
Bd.  IV.  S.  529.)  —  Stahl  endlich  ist  wohl  zu  wenig  ge¬ 
würdigt,  seiner  grofsen  Vorliebe  gegen  die  durch  ihn  be¬ 
sonders  in  den  mittleren  Decennien  des  verflossenen  Jahr¬ 
hunderts  in  Deutschland  in  Ansehen  gekommenen  Präser¬ 
vativaderlässe  gar  nicht  gedacht  worden,  wie  er  selbst 
z.  B.  berichtet,  dafs  er  in  seinem  69sten  Jahre  an  sich  be¬ 
reits  den  102ten  Aderlafs  vorgenommen  habe. 

Den  Beschlufs  dieses  ersten  Abschnitts  nimmt  eine  recht 
vollständige  Litteratur  ein.  Mit  dankenswerthem  Fleifse  hat 
der  Verf.  auf  26  Seiten  die  Titel  mehrerer  hundert  über 
Blutentziehungen  erschienenen  Schriften,  die  meistens  in 
Dissertationen  bestehen,  zusammengebracht.  Ob  eine  solche 
Zusammenstellung  von  Schriften,  von  denen  der  Verf.  wahr¬ 
scheinlich  nur  einen  sehr  kleinen  Theil  selbst  gelesen  und 
für  seine  Arbeit  benutzt  hat,  von  Nutzen  sei,  wäll  Ref. 
dahingestellt  sein  lassen;  er  bemerkt  nur  noch,,  dafs  die 
von  S.  aufgeführte,  sehr  zahlreiche  Litteratur  gleichwohl 
nicht  vollständig  ist,  dafs  selbst  manches  recht  sehr  wich¬ 
tige  Werk  fehlt.  Ploucquet  kann  durch  seine  Literatur, 
med.  dfgest.  s.  v.  venaesectio,  hirudo  u.  s.  w.  die  angege- 


70  UI.  A'Wlafs. 

bene  Litteratur  noch  sehr  vcrvo II ständigen.  Bef.,  der  cs 
verschmäht,  die  bei  S.  fehlenden  Schriften  aus  Plouccjuet 
hier  aufzuführen,  führt  aus  seinen  Collectaneen  nur  noch 
die  Titel  einiger  Schriften  an,  die  er  entweder  selbst  be¬ 
sitzt  oder  mindestens  gelesen  hat:  G.  Yalla  de  universi 
corporis  purgatione,  venaesectionc,  cucurbitulis,  cathaereti- 
cis,  corporis  exercitatione ,  alia  diaetetica  et  semeiotica.  Ar- 
gent.  1529.  8.  —  L.  Bellini  de  urinis  et  pulsibus,  de 
missione  sanguinis,  de  febribus,  de  morbis  capitis  et  pecto¬ 
ris.  Francof.  et  Lips.  6*85.  4.  —  S.  A.  Uotario  rag- 
gioni  contra  Fuso  dcl  salasso  c  delle  ventosc.  Veron.  1699.  4. 
(Auch  1\.  gehörte  zu  den  Aerzten,  «lie  siel»  besonders  gegen 
die  seit  Botalli  in  Italien  geübte  Aderlafssucht  erklär¬ 
ten.)  —  R.  Moreau  de  missione  sanguinis  in  pleuritide  etc. 
Adjuncta  est  vita  Petr.  Brissoti.  Ad  exempium  Parisiis 
apud  Samuelem  Celerium  1630.  Hai.  742.  8.  (YVie  konnte 
dem  Verf.  diese  kleine,  mit  vieler  Sachkenntnis  geschrie¬ 
bene,  dem  bekannten  Compend.  histor.  medic.  von  J.  II. 
Schulze  beigedruckte  Schrift  unbekannt  sein?)  —  J,  P. 
Frank  orat.  de  venae  sectionis  apud  puerperas  abusu.  Ti¬ 
cin.  787.  in  delect.  opuscul.  medic.  Vol.  IVT.  p.  3.  Lips. 
791.  8.  —  Kuntzmann  anatomisch -physiologische  Un¬ 
tersuchungen  über  den  Blutegel.  Berl.  817.  8.  (Auch  eine 
sehr  bekannte,  wichtige  Schrift!  Viel  wichtiger  als  die  vom 
A  erf.  angeführten  Compilationen  von  Clesius  u.  a.)  — 
K.  I).  Stahl  Bemerkungen  über  das  Aderlässen.  Hannov. 
823.  8.  ( Unbedeutend. )  —  Kv.  Andr.  Gatti  del  sangue 
e  del  salasso  considerati  sollo  nuovi  rapporti.  Bologna  e 
Torino  824.  8.  —  J  •  L«  Der  hei  ms  histoire  naturelle 
et  medicaie  des  sangsues.  Paris  825.  8.  (Aergl.  Bd.  VI. 
S.  375  d.  \.)  —  Boniali  diss.  de  sanguinis  missionibus 
local ibus.  Patar.  825.  8.  —  J.  Fr.  F.  Fischer  Diss.  de 
hirudine  medicinali.  Berol.  827.  8.  — 

Der  zweite  Abschnitt  handelt  von  den  Blutentziehun¬ 
gen  in  therapeutischer  Beziehung.  Aachdem  der  Verf.  in 
der  ersten  Abtheilung  diese»  Abschnittes  die  allgemeinen 


/ 


/ 


III.  Aderlafs. 


TI 

Wirkungen  der  künstlichen  Blutentziehungen  auseinander¬ 
zusetzen  unternommen  hat,  spricht  er  in  der  zweiten  von 
den  besonderen  Wirkungen  derselben,  wie  sie  sich  in  den 
Systemen  der  Reproduction,  Irritabilität  und  Sensibilität 
aussprechen.  Ref.  scheint  es  indefs,  als  wäre  es  dem  Verf. 
eben  nicht  gelungen,  eine  klare  Ansicht  von  den  Wirkun¬ 
gen  dieses  Heilmittels  zu  geben.  Indem  er  nämlich  zuerst 
von  den  WTirkungen  desselben  im  Allgemeinen  sprechen 
will,  beginnt  er  gleich  zu  Anfänge  mit  einzelnen  Beispielen 
der  verschiedenen  Wirkung  des  Aderlasses,  da  sich  doch 
immer  einige  Momente  gleicher  Einwirkung  hätten  aufstel¬ 
len  lassen,  sodann  handelt  er  von  den  Folgen  sehr  grofser 
Aderlässe,  der  Verblutung,  und  denen  der  Gewohnheits¬ 
aderlässe,  wobei  namentlich  des  Fettwerdens  gedacht  wird, 
immer  also  von  besonderen  Zuständen,  die  auf  besondere 
An  wendungsweisen  des  Aderlasses  folgen.  Gelang  es  also 
dem  Verf.  in  diesem  ersten  Abschnitte  nicht,  die  allgemei¬ 
nen  Wirkungen  des  Aderlasses  gehörig  darzusteilen,  so 
wird  in  dem  zweiten  von  neuem  ein  Versuch  gemacht,  und 
hier  ein  glücklicherer,  wenigstens  im  Verbältnifs  zum  er¬ 
sten.  Die  sinnlich  wahrnehmbaren  Wirkungen  künstlicher 
Blutentziehungen  in  den  Sphären  der  Reproduction,  Irri¬ 
tabilität  und  Sensibilität  sind  hier  gut  dargestellt.  Ob  aber 
in  dieser  Untersuchun^sweise  selbst  nicht  der  Grund  zu 
einem  minder  günstigen  Erfolge  läge?  Wirkt  doch  das 
Aderlafs  nicht  auf  das  irritable,  oder  sensible,  oder  repro- 
ductive  System  allein  ein,  sondern  auf  alle  zugleich.  So 
wäre  es  wohl  besser  gewesen,  wenn  der  Verf.  die  W  ir¬ 
kungen  der  Blutentziehungen  überhaupt  und  dabei  zu¬ 
gleich,  wie  es  bei  der  Darstellung  von  arzneilicher  Einwir¬ 
kung  überall  nöthig  ist,  die  primären  und  secundären  Wir¬ 
kungen,  wie  sie  durcheinander  bedingt  werden,  berücksich¬ 
tigt  hätte,  wie  solches  auch  Po  liniere  in  seiner,  wie  es 
scheint,  ungleich  bessern  Auseinandersetzung  über  die  all¬ 
gemeinen  Wirkungen  oer  künstlichen  Blutentziehungen  ge- 
than  hat.  , 


T2 


III.  Aderlafs. 


Die  dritte  Abtheilung  des  zweiten  Abschnittes  bandelt 
von  den  allgemeinen  und  besonderen  Indicationen  zu  künst¬ 
lichen  Blutentziehungen,  und  zwar  werden  hier  in  neun 
Klassen  die  einzelnen  Krankheitsgruppen  der  Entzündungen 
und  Fieber,  die  Vollblütigkeit,  ferner  Orgasmus,  (Konge¬ 
stionen  und  Stasen  des  Illutes,  Bluiflusse  und  deren  Ano¬ 
malien,  organische  Herzkrankheiten,  Kungensuchtcn ,  Was¬ 
sersüchten,  Neurosen  und  Schwangerschaftsbeschw  erden  ver¬ 
handelt.  Ob  es  überhaupt  nöthig  gewesen  wäre,  die  Indi¬ 
cationen  für  die  künstlichen  Blutentziehungen  so  in  specie 
zu  verhandeln,  will  Rcf.  hier  nicht  untersuchen.  Es  giebt 
wohl  wenige  Mittel,  über  deren  Anwendung  im  Allgemei¬ 
nen  die  Aerzte  einiger  wären,  als  über  die  eben  dieses 
Mittels.  Die  Casuistik  befindet  sich  freilich  nicht  in  einem 
so  glücklichen  Falle,  aber  diese  kann  auch  nicht  gelehrt 
werden.  Erkannte  der  \  erf.  nun  aber  gleichwohl  die  Nütz¬ 
lichkeit  an,  diesen  Gegenstand  einer  neuen  Revision  zu  un¬ 
terwerfen  und  das  durch  Beobachtung  und  Erfahrung  Er¬ 
probte  zusammenzustellen ,  so  wäre  wohl  eine  andere  Be- 
handlungsweise  wünschenswert  gewesen.  Es  gilt  nämlich 
zuvörderst  von  dieser  Darstellung,  die  auch  nebenbei  viel 
Unwesentliches  enthält,  dafs  die  indicationen  meist  nicht 
tief  genug  erfafst  und  umfassend  aufgestcllt  sind.  Natürlich 
wäre  dies*s  bei  den  Krankheiten  vorzugsweise  nöthig  ge¬ 
wesen,  über  welche  die  Indicationen  hinsichtlich  der  Blut- 

• 

entziehungen  noch  nicht  vollkommen  festgestellt  sind.  Leber 
solche  Punkte  finden  wir  aber  hier  nicht  immer  Belehrung. 
Ein  anderer  Tadel  trifft  die  ungleich  rr/äfsige  Behandlung 
der  einzelnen  Gegenstände.  So  finden  wir  z.  B.  die  Was¬ 
sersüchten  recht  sehr  umfassend  und  mit  genügenden  litte- 
rarisrhen  Nachweisungen,  vielleicht  indefs  mit  zu  grofser 
\  orliebc  für  die  Anwendung  der  Blutentziehungen  in  ihnen 
abgehandelt,  die  Lungensuchtco  hingegen,  in  welchen  Blut- 
enlziehuugen  gewifs  öfter,  als  in  jenen  Krankheitsformen 
ihre  Auwendung  finden,  sehr  kurz  abgefertigt. 

ln  der  vierten  Abtheilung  dieses  Abschnittes  handelt 


i 


III.  Aderlafs. 


73 


der  Yerf.  von  den  verschiedenen  Arten  der  künstlichen 
Blutentziehungen,  und  zwar  von  der  Arteriotomie,  der 
Aenäsection,  den  Blutegeln,  Scarificationen  und  Schröpf¬ 
köpfen;  in  der  fünften  kurz,  wie  billig,  von  der  Derivation 
und  Bevulsion ,  da  schon  in  dem  ersten  Abschnitte  darüber 
gesprochen  worden  war.  Die  sechste  Abtheilung  behandelt 
die  verschiedenen  Verhältnisse,  welche  auf  die  Blutentzie¬ 
hungen  einen  wesentlichen  Einflufs  haben,  und  zwar  die 
Konstitution ,  das  Alter  und  Geschlecht  und  den  Kräfte¬ 
zustand  des  Kranken.  Auffallend  war  es  dem  Bef.,  wie 
der  sonst  so  umsichtige  Verf.  hier  die  Berücksichtigung 
mancher  nnd  zum  Theil  höchst  wichtiger  Punkte  beinahe 
ganz  unterlassen  hat,  nämlich  den  Einflufs  des  Clima’s  und 
der  stationären  Krankheitsconstitution.  Wenn  wir  dereinst 
eine  genügende  medicinische  Geographie  (damit  Bef.  den 
schon  einmal  angenommenen  Namen  beibehält)  und  eine 
noch  ungleich  wichtigere  Geschichte  der  Krankheit  besitzen 
werden,  dürfte  dadurch  oft  eine  verschiedene,  und  der 
Systemsucht  der  Aerzte  meistens  zugeschriebene  Behand¬ 
lungsweise  der  Krankheiten  gerechtfertigt  und  wesentlich 
begründet  werden.  Treffliches,  wie  immer,  sagt  Bagliv 
hierüber  im  letzten  Kapitel  des  ersten  Buches  seiner  Praxis 
medica,  und  seine  Worte:  Pro  varietate  temperierum  me- 
dendi  quoque  methodus  varianda  erit;  aliter  innumeri  in 
praxi  medica  committentur  errores,  gelten  vielleicht  noch 
mehr  von  der  Varietas  constitutionis  morbi  stationariae,  als 
von  der  Varietas  temperierum.  —  Die  letzte  Abtheilung 
dieses  Abschnittes  handelt  von  der  Quantität  des  zu  entlee¬ 
renden  Blutes  und  den  Bestimmungsgründen  zur  Wieder¬ 
holung  des  Aderlasses,  wobei  besonders  über  den  Puls  und 
die  Entzündungshaut  gesprochen  wird. 

Der  dritte,  dieses  Werk  beschliefsende  Abschnitt  be¬ 
schäftigt  sich  mit  den  künstlichen  Blutentziehungen  in  me- 
dicinisch  -  polizeilicher  Hinsicht,  wohin  indefs  eigentlich  nur 
das  in  der  dritten  Abtheilung  mitgetheilte  gehört;  denn 
was  der  Verfasser  über  die  prophylactischen  und  Probe- 


74  IV.  Rückenmarkkrankheiten. 

aderlässe  sagt,  würdigt  dieselben  nur  in  medicinischer 
Hinsicht. 

Was  die  äufsere  Ausstattung  des  Ruches  betrifft,  so 
könnte  das  Papier  besser  sein.  Aufser  den  auf  zwei  eng- 
gedruckten  Seiten  angezeigten  Druckfehlern  finden  sich  im 
Werke  noch  mindestens  eben  so  viele  vor. 

G .  II.  Richter. 


$ 

IV. 


Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  den  Rückenmark  - 

krankheiten. 


Von  D  r.  M.  Schlesinger, 

prakt.  Arzte  zu  Marienburg. 


•  / 

Dr.  Mease  x)  erzählt  vier  Fälle  von  nach  und  nach 
eingetretenem  Verluste  der  Muskelkraft  ohne  deutlich  nach¬ 
zuweisende  Ursachen,  die  sämmtlich,  obgleich  man  bei  der 
Behandlung  von  verschiedenen  Ansichten  ausgegangen  war, 
unglücklich  abgelaufen  sind. 

Es  ist  mir  vor  kurzem  ein  sehr  interessanter  Fall  in 
meiner  Praxis  vorgekommen,  der  mit  denen  von  Mease 
beschriebenen  grolse  Aehnlichkeit  hat,  sich  aber  dariu  von 
ihnen  unterscheidet,  dafs  der  Ausgang,  obschon  nach  man¬ 
chen  erst  spät  eingesehenen  Irrthümern,  glücklich  war. 
Gern  will  ich  diese  offenherzig  bekennen,  da  ich  durch  sie 
zu  einer  gründlichen  Einsicht,  wie  ich  hoffe,  in  das  Wesen 
eines  dunkeln  Krankheitsprozesses  gelangt  bin,  wodurch  es 
mir  auch  gelingen  wird,  einiges  Licht  auf  die  von  Mease 


1)  -Neue  Sammlung  »u«eil.  Abb.  für  prakt.  A eitle.  X.  Itd. 

4  S».  182* 


» 


IV.  Riickenmarkkrankheiten.  75 

erzählten  Fälle  zu  werfen,  auf  welche  ich  später  noch  ein¬ 
mal  zurückkommen  werde.  —  Der  Fall  ist  folgender: 

Johanna  Dyk,  von  etwas  laxer,  schlaffer  und 
schwammiger  Constitution,  mit  blonden  Haaren,  ist  von  ge¬ 
sunden  Eltern  auf  dem  Lande  geboren,  wo  sie  jetzt  noch 
lebt.  Sie  ist  gegenwärtig  28  Jahre  alt,  die  älteste  von  acht 
noch  lebenden,  sich  einer  blühenden  Gesundheit  erfreuenden 
Geschwistern.  Sie  hat  sämmtliche  Kinderkrankheiten  früh 
und  ohne  Nachtheil  für  ihre  fernere  Gesundheit  überstan¬ 
den,  und  ist  selbst  von  den  in  hiesiger  Gegend  endemisch 
herrschenden  Scrofeln  verschont  geblieben.  In  ihrem  fünf¬ 
zehnten  Jahre  wurde  sie  leicht  und  ohne  Beschwerden  men- 
struirt,  und  hat  seit  dieser  Zeit  ihre  Menses,  selbst  im  Ver¬ 
laufe  ihrer  bald  näher  zu  beschreibenden  Krankheit,  regel- 
mäfsig  gehabt.  Bis  in  ihr  achtzehntes  Jahr  ist  sie  immer 
blühend  gesund  gewesen,  von  da  ab  aber  datirt  sich  der 
Anfang  ihrer  Leiden.  In  dieser  Zeit  fing  sie  an,  öfters  über 
heftige  Schmerzen  im  Riicken  zu  klagen,  die  sie  deutlich 
in  der  Tiefe  desselben  empfunden  zu  haben  angab,  welche 
aber  periodisch  kamen  und  verschwanden.  —  Ein  zu  Rathe 
gezogener  Arzt  vermuthete,  dafs  diese  Schmerzen  mit  der 
Menstruation  in  Verbindung  ständen,  da  sie  ihren  Sitz  in 
dem  unteren  Theile  des  Pxiickens  hatten  und  periodisch  ka¬ 
men,  und  rieth  ein  kühles  Verhalten  an,  doch  ohne  Erfolg ; 
die  Schmerzen  kehrten  vielmehr  öfter,  obwohl  nicht  stär¬ 
ker  wieder,  hinterliefsen  aber  immer  eine  nach  und  nach 
zunehmende  allgemeine  Schwäche,  besonders  der  Muskeln, 
so  dals  die  Kranke  schwereren  Arbeiten  nicht  mehr  gewach¬ 
sen  war,  und  sich,  da  ihre  Eltern  ein  Landgut  besafsen 
und  wohlhabend  waren,  blofs  auf  Verrichtung  weiblicher 
Han  darbeiten  beschränken  mufste. 

Deutlich  fühlte  sie,  dafs  sich  ihr  Zustand  in  unbestimmt 
wiederkehrenden  Perioden  besserte  und  verschlimmerte,  be¬ 
sonders  war  letztes  der  Fall  nach  einem  neuen  Paroxys- 
mus  von  l\ückeuschrnerz,  der  sie  darin  verhinderte  sich  zu 
bücken,  und  sie  selbst  im  Gellen,  ja  sogar  im  Liegen  bc- 


I 


IV.  Kiickcnmarkkrankheiten. 


7G 

schwcrtc.  Ihre  Ffslust  war  in  dieser  Zeit  gut,  alle  Functio¬ 
nen  geregelt,  Fieber  gar  nicht  vorhanden,  blofs  der  Stuhl¬ 
gang  war  etwas  träge. 

Nach  Verlauf  einiger  Jahre,  während  welcher  der  eben 
beschriebene  Zustand  mit  einem  leidlichen  W  ohlbefinden 
altcrnirte,  wurde  sie  zu  ungewissen  Perioden  so  krank,  dafs 
sie  das  Rett  nicht  verlassen  konnte.  —  Sie  hatte  dann  eine 
entschiedene  Abneigung  gegen  alle  Speisen,  litt  an  andauern¬ 
der  Schlaflosigkeit,  oder  hatte  einen  unruhigen,  mit  ängst¬ 
lichen  Träumen  unterbrochenen,  wenig  erquickenden  Schlaf, 
ihr  Mund  wurde  übelriechend  ,  die  Zähne  wurden  lang  und 
lose,  der  Stuhlgang  verzögerte  sich  oft  sechs  bis  sieben 
Tage  und  mufste  durch  Klystiere  herbeigeführt  werden,  die 
Ausleerungen  waren  dann  übelriechend.  Diese  Zu  f-ille  gin- 
gen  jedoch  ohne  angewandte  Heilmittel  vorüber,  hinter- 
liefsen  aber  immer  eine  gröfseie  Abnahme  ihrer  Muskel¬ 
kräfte.  — 

In  ihrem  fünfundzwanzigsten  Jahre  fiel  sie,  als  sie  auf 
einem  18  Fufs  hohen  Damm  nach  der  Stadt  fuhr,  von  die¬ 
sem,  und  hatte  das  Unglück,  sich  den  linken  Arm  zu  ver¬ 
renken.  Sie  setzte  indessen  iure  Reise  nach  der  Stadt  fort, 
wo  der  Arm  glücklich  und  gut  reponirt  wurde.  Nach  der 
Reposition  konnte  sie  ihren  Arm  wie  vorher  brauchen,  und 
die  genannten  Krankheitserscheinungen ,  die  sie  immer  zwan¬ 
gen  das  Rett  zu  hüten,  kehrten  seit  jenem  Falle  auch  nicht 
öfter  wieder,  als  früher. 

\  om  December  1827  aber  veränderte  sich  die  Scene. 
Sie  erkrankte  in  diesem  Monat  in  der  schon  beschriebenen 
Art  von  neuem,  aber  viel  heftiger,  und  von  dieser  Zeit  ab 
konnte  sie  das  Rett  gar  nicht  mehr  verlassen.  Die  erwähn¬ 
ten  Zufälle  der  Mundhöhle  wurden  heftiger,  und  verliefsen 
sie  nun  nicht  mehr,  der  Appetit  war  ganz  gesunken,  der 
Schlaf  fehlend  oder  nicht  erquickend,  der  Stuhlgang  sehr 
trage,  und  die  allgemeine  Schwäche  sehr  grofs.  Der  linke 
Fufs  fing  an  seine  Dienste  zu  versagen,  so  dafs  sie  mit 
Sicherheit  auf  demselben  kaum  mehr  sichen  konnte.  Iuj 


IV.  Hückenmarkkranklieiten. 


77 


Monat  März  nahmen  auch  die  Kräfte  des  linken  Arms  be¬ 
deutend  ab,  er  zitterte,  wenn  sie  einen  Versuch  machte 
ihn  aufzuheben,  und  in  den  Fingern  hatte  sie  so  wenig 
Kraft,  dafs  sie  nicht  den  kleinsten  Gegenstand,  nicht  einmal 
eine  Blume  festhalten  konnte.  Hierbei  war  es  merkwürdig, 
dafs  sie  den  Arm  nicht  heben  konnte,  ohne  in  der  Gegend 
des  Herzens  sehr  unangenehme  Empfindungen  zu  erwecken. 
Diese  Beschwerden  verliefsen  sie  nun  gar  nicht  mehr,  exacer- 
hirten  aber  wiederum  zu  ungewissen  >  Perioden ,  und  beson¬ 
ders  wurde  sie  in  solchen  Zeiten  des  Nachts  so  hinfällig 
und  schwach,  dafs  sie  und  ihre  Angehörigen  glaubten,  ihr 
Ende  nahe  heran.  Ein  sehr  starkes  Herzklopfen  und  das 
Gefühl  eines  gänzlichen  Erlöschens  aller  Kraft,  verbunden 
mit  einer  ängstlichen,  erschwerten  Respiration,  waren  die 

hervorstechenden  Symptome,  die  sie  von  diesen  nächtlichen 

% 

Zufällen  angeben  konnte.  Seit  dem  Monat  Juni  fing  sie 
an,  auch  über  grofse  Schwäche  der  rechten  Extremitäten 
zu  klagen,  die  so  rasch  zunahm,  dafs  ihre  Angehörigen 
sich  endlich  entschlossen,  ärztliche  Hülfe  zu  suchen. 

Am  9.  Juli  v.  J.  wurde  ich  zuin  erstenmal  zur  Kran¬ 
ken  geholt,  früher  hatte  sie  durchaus  keine  ärztliche  Hülfe 
in  dieser  so  wichtigen  Krankheit  gehabt.  Ich  fand  sie  in 
folgendem  Zustande :  Sie  hatte  ein  sehr  cachectisches  Aus¬ 
sehen  und  schien  sehr  schwach  zu  sein,  auch  sprach  sie  mit 
auffallend  heiserer  und  rauher  Stimme.  Beim  Sprechen 
drang  aus  der  Mundhöhle  ein  sehr  übler  Athem,  und  beim 
Untersuchen  derselben  zeigten  sich  die  Zähne  sehr  lang, 
das  Zahnfleisch  schwammig,  leicht  blutend,  mit  einzelnen 
Eiterpunkten  besetzt.  Appetit  und  Verdauung  lagen  sehr 
darnieder;  der  linke  Fufs  konnte  zwar  bewegt  werden,  kei- 
nesweges  aber  vermochte  sie  ihn  zum  Gehen,  oder  auch 
nur  zum  Stehen  zu  brauchen.  Auch  der  linke  Arm  konnte 
nur  unvollkommen  bewegt  werden,  und  beim  Aufheben 
desselben  in  horizontaler  Richtung  empfand  sie  unangenehme, 
nicht  zu  beschreibende  Gefühle  in  der  Gegend  des  Herzens. 
Die  rechten  Extremitäten  waren  zwar  von  einer  ähnlichen, 


78 


IV.  Rütkeninarkkrankhcitcn. 


doch  ungleich  geringeren  Schwäche  afficirt.  Des  Nachts 
traten  nun  sehr  häufig  die  oben  beschriebenen  sy n co p tischen 
Zufälle  mit  erschwerter  Respiration  und  fast  gänzlicher 
Aphonie  ein.  Das  Bett  konnte  sie  schon  seit  dem  Monat 
Decembcr  nicht  mehr  verlassen,  weil  sie,  wenn  sie  sich 
auch  nur  kurze  Zeit  außerhalb  desselben  aufhielt,  sogleich 
ohnmächtig  wurde.  Die  Muskeln  der  linken  Extremitäten 
waren  zwar  etwas  schlaffer,  als- die  der  rechten,  sonst  aber 
zeigten  beide  Extremitäten  eine  normale  W  ärme  und  keine 
merkbare  Abnahme  ihres  Volumens,  doch  war  an  dem  un¬ 
teren  Theile  beider  Extremitäten  ein  leichtes  Oedem  vor¬ 
handen.  Der  Puls  am  afficirten  Arme  war  kaum  zu  fühlen, 
am  rechten  Arme  zeigte  er  sich  nicht  beschleunigt,  aber 
sehr  schwach,  und  war  leicht  zusammenzudrücken. 

Das  Allgemeinleiden  der  Kranken  zeigte  so  auffallend 
die  Symptome  eines  tief  eingewurzelten  scorbutischen  Zu¬ 
standes,  dafs  ich  sehr  geneigt  war,  die  sehr  hervorstechende 
Muskelschwäche  mit  auf  Rechnung  dieses  Allgemeinleidens 
zu  stellen,  um  so  mehr,  da  sich  in  den  Verhältnissen  der 
Kranken  genug  Momente  fanden,  die  diese  Annahme  recht¬ 
fertigten. 

Die  Lebensweise  der  Landleute  in  hiesiger  Gegend  ist 
nämlich  so  beschaffen,  da  1s  sie  sehr  zum  Scorbut  disponirt. 
Es  ist  hier  Sitte,  zu  Anfang  des  W  inters  so  viel  Vieh  zu 
schlachten  und  einzusalzen,  als  für  den  ganzen  Hausstand 
bis  zum  Eintritt  des  nächsten  Winters  nöthig  ist.  Die 
Landleute  essen  daher  im  Winter  wie  im  Sommer  einge- 
pokeltes  Fleisch.  Hierzu  kommt  noch,  dafs  sie  den  ergie¬ 
bigen  Boden  fast  ausschliefslich  zum  Anbau  von  Getreide 
benutzen,  daher  auch  so  wenig  Gemüse  bauen,  dafs  sie 
solches  als  eine  leckere  und  seltene  Speise  betrachten.  Das 
Land  ist  aulserdem  sehr  tief  gelegen,  mit  sehr  vielen  Grä¬ 
ben  durchschnitten,  aus  welchen  bei  einigermaafsen  hohem 
Wasserstande  das  Wasser  auf  das  Land  tritt,  dort,  beson¬ 
ders  im  Frühjahr  und  Spätherbst,  oft  Monate  lang  stehen 
bleibt  und  verdirbt.  —  Durch  diese  Momente  muls  noth- 


IV.  Rückenmarkkrankheiten. 


79 


wendig  eine  Anlage  zu  scorbutischen  Leiden  begründet 
werden,  die  auch  selbst  in  den  höheren  Graden  sich  in 

l  » 

unserer  Gegend  öfters  zeigen.  Es  war  daher  meine  erste 
und  dringendste  Indieation,  diesen  Zustand  zu  beseitigen, 
wobei  ich  die  Hoffnung  hatte,  mit  Beseitigung  des  scorbu¬ 
tischen  Zustandes  auch  die  Kräfte  in  die  ergriffenen  Extre¬ 
mitäten  zurückkehren  zu  sehen.  Die  Kranke  erhielt  daher 
zu  diesem  Zwecke  eine  Chinaabkochung  mit  Hai ler schein 
Sauer. 

Die  Diät  wurde  dahin  regulirt,  dafs  die  Kranke  frische 
Pflanzenkost  und  junges  frisches  Fleisch,  aufserdem  täglich 
ein  Glas  Wein,  und  zum  gewöhnlichen  Getränk  eine  Malz¬ 
abkochung  mit  Citronensäure  erhielt.  Die  Fenster  mufs- 
ten  in  der  schönen  Sommerzeit  den  ganzen  Tag  geöffnet 
bleiben.  — 

Am  14.  Juli  sah  ich  die  Kranke  wieder.  Die  scorbu¬ 
tischen  Zufälle  hatten  sich  vermindert,  der  üble  Geruch 
hatte  sich  in  etwas  verloren,  auch  hatte  sie  mehr  Appetit 
und  eine  etwas  reinere  Gesichtsfarbe.  Das  Leiden  der  Ex¬ 
tremitäten  war  unverändert.  Die  Medicin  wurde  reiterirt. 

Am  21.  Juli  hatten  die  scorbutischen  Zufälle  noch 
mehr  abgenommen.  Die  Kranke  versicherte,  sich  viel  woh- 
ler  zu  befinden,  namentlich  hatte  sie  gute  Efslust  und  ein 
frischeres  Aussehen;  doch  war  sie,  wie  sie  sich  ausdrückte, 
noch  einige  3Nächte  zum  Sterben  krank  gewesen.  De;  Puls 
war  fast  nicht  verändert.  Sie  erhielt  jetzt  Extractum  Ra- 
tanhiae  mit  Acidum  Halleri.  Die  vegetabilische  Diät  u. 
s.  w.  wurde  beibehalten. 

Die  Kranke  bekam  nun  während  der  nächsten  vier 
Wochen  diese  und  ähnliche  Roborantia,  mit  dem  Erfolge, 
dafs  ihr  Allgemeinbefinden  sich  auffallend  besserte.  Die 
nächtlichen  Beschwerden  traten  nun  noch  sehr  selten  ein, 
der  Schlaf  war  ruhiger,  die  Efslust  sehr  gut  und  die  Mund- 
affection  zurückgetreten,  das  Oedem  der  Füfse  war  ver¬ 
schwunden,  der  Puls  hatte  sich  gehoben,  die  Efslust  war 
vermehrt,  so  wie  alle  Secretionen  und  Excretionen  normal. 


I 


\ 

80  IV.  Riickcniuarkkranklieiten. 

Gleichwohl  aber  blieb  die  Schwäche  der  Extremitäten  ganz 
unverändert,  uer  linke  Fufs  konnte  noch  immer  weder  zum 
Gehen,  noch  zum  Stellen  benutzt  werden,  auch  der  linke 
Arm  war  in  feinem  ganzen  krankhaften  Verhalten  unver¬ 
ändert.  —  Unter  diesen  Umständen  glaubte  ich  von  dem 
ferneren  und  alleinigen  Gebrauche  der  Roöorantia  in  Hin¬ 
sicht  auf  die  fast  gelähmten  Extremitäten  nicht  viel  erwar¬ 
ten  zu  dürfen,  und  ich  mufstc  nun  eine  andere  lndication 
aufsuchen.  — 

Die  gänzliche  F.rfolglosigkeit  der  besten  und  stärksten 
tonischen  Mittel  (die  Kranke  hatte  in  der  letzten  Zeit  auch 
verschiedene  Stahlpräparatc  genommen)  liefs  mich  vermu-  » 
then,  dafs  meine  erste  Idee,  die  Schwäche  der  Extremitäten 
von  der  allgemeinen  Schwäche  herzuleiten,  falsch  gewesen, 
und  ich  glaubte  nun,  die  Quelle  dieses  Uebels  im  Kücken¬ 
marke  suchen  zu  müssen.  —  Es  waren  zwei  Momente 
vorhanden,  die  diese  Annahme  rechtfertigen  konnten.  Der 
schon  seit  mehren  Jahren  wiederkehrende  periodische 
Schmerz  in  der  Wirbelsäule  gleich  im  Beginn  der  nun¬ 
mehr  etwas  räthsclhaften  Krankheit,  die  Unmöglichkeit,  in 
solchen  Perioden  das  Kreuz  zu  beugen,  verbunden  mit  der 
nach  solchen  Zufällen  in  der  Kegel  vermehrten  Schwäche 
der  Extremitäten,  konnten  die  Idee  eines  chronischen  Lei¬ 
dens  des  Kückenmarkes  erregen;  aber  auch  der  Fall  von 
dem  18  Fufs  hohen  Damme  konnte  eine  Commotio  medullac 
spinalis  herbeigeführt  haben.  —  Da  indefs  die  beschriebe¬ 
nen  Zufälle  des  Rückgrathes  schon  lange  vor  jenem  Falle 
da  gewiesen  waren ,  auch  nach  diesem  keine  bemerkenswer- 
then,  auf  das  gegenwärtige  Leiden  Bezug  habenden  Sym¬ 
ptome  eingetreten  waren,  so  glaubte  ich  mich  für  die  erste 
Annahme  bestimmen  zu  müssen.  — 

Gleichwohl  aber  befand  ich  mich  wegen  der  Wahl  der 
Mittel  noch  in  nicht  geringer  Verlegenheit.  Die  Schmer¬ 
zen  in  der  Wirbelsäule  waren  schon  seit  mehren  Jahren 
gar  nicht  mehr  eingetreten,  ich  mufste  also  annehmen, 
dafs,  wenn  wirklich  eine  chronische  Entzündung  vorhanden 

gewe- 


IV.  IViickenmarkkrankheitcn. 


\ 


gewesen,  diese  schon  verlaufen  und  höchst  wahrscheinlich 
Desorganisationen  im  Rückenmark  zurückgelassen  habe.  — 
Desorganisationen  aber*  namentlich  in  so  unzugänglichen 
Organen  wie  die  Rückenmarkhöhle,  mufsten  die  Prognose 
dieses  Falles  aufserordentlich  trüben,  aufserdem  aber  auch 
wirklich  hemmend  selbst  auf  uen  besten  Willen  des  Arztes 
wirken  ,  in  sofern  dieser  nämlich  sich  von  allen  Mitteln  zur 
Beseitigung  eines  Zustandes  verlassen  sah,  dessen  eigent¬ 
liches  Wesen  er  weder  kannte,  noch  auch  selbst  durch 
emsiges  Forschen  zu  erkennen  vermochte.  —  Unter  diesen 
Umständen  glaubte  ich  mich  berechtigt,  nach  Analogie  und 
Hypothesen  verfahren  zu  dürfen,  und  um  nur  eine  für  die 
Behandlung  fruchtbare  Idee  zu  gewinnen,  nahm  ich  an: 
dafs  in  Folge  jener  chronischen  Entzündung  eine  lympha¬ 
tische  oder  seröse  Ausschwitzung  statt  gefunden  habe, 
welche  das  Rückenmark  in  seiner  Function  hemme.  Es 
war  demnach  die  Aufgabe  des  Arztes,  zunächst  das  Leben 
in  den  ursprünglich  leidenden  Organen  zu  erhöhen,  und 
sodann  einen  kräftigen  Resorptionsprozeis  im  ganzen  Orga¬ 
nismus  zu  erregen.  —  Da  ich  nun  aus  früheren  Beobach¬ 
tungen  die  Nux  vomica  als  dasjenige  Mittel  kennen  gelernt 
hatte,  das  eine  wahrhaft  specifische  Einwirkung  auf  das 
Rückenmark  ausübt,  so  erhielt  die  Kranke  am  21.  August 
eingranige  Pillen  aus  dieser  in  steigenden  Gaben,  sonst  aber 
kein  anderes  Mittel  innerlich,  um  die  Wirkungen  dieses 
Specificums  nicht  zu  stören  und  die  Beobachtung  derselben 
nicht  zu  trüben.  Aufserdem  wurde  der  Rückgrath  täglich 
dreimal,  jedesmal  eine  halbe  Stunde,  mit  Wolle  trocken 
frottirt.  Stärkere  örtliche  Mittel,  nämlich  Cauteria  oder 

Haarseil,  durfte  ich  nicht  anwenden,  weil  die  Kranke  nur 

/  \ 

auf  dem  Rücken  liegen  konnte  und  ich  daher  fürchten 
mufste,  die  cauterisirten  Stellen  bald  gangränös  werden  zu 
sehen.  — 

Die  Kranke  konnte,  ohne  eine  sichtbare  Wirkung,  bis 
zu  8  Pillen  Morgens  und  Abends  steigen ;  nach  dieser  letz¬ 
ten  Gabe  aber  entstanden  narcotische  Zufälle,  sie  empfand 


6 


i 


\ 


\ 


XIV,  Bd.  I.  Si 


82 


IV.  RUckenmarkkrankheiten. 


heftige  Zuckungen  in  den  leidenden  Extremitäten,  die  sich 
innerhalb  einer  Stunde  5  —  6 mal  wiederholten,  sodann 
eine  überaus  grofse  Angst,  so  dafs  sich  niemand  ihrem  Bette 
auf  drei  Schritte  nähern  durfte,  verbunden  mit  einer  so 
gesteigerten  Nervenreizbarkcit,  dafs  ein  lautes  Wort  in» 
Nebenzimmer  gesprochen ,  oder  ein  etwa  in  demselben  zur 
Erde  gefallenes  Messer,  sie  zum  Tode  erschrecken  konnte. 
Hierzu  gesellte  sich  noch:  Kopfschmerz,  der  sehr  heftig 
war,  besonders  in  der  Gegend  der  Augen,  Neigung  zum 

Erbrechen,  grofce  Unruhe  und  eine  beinahe  völlige  Unbe¬ 

weglichkeit,  fast  letanischer  Zustand  des  ganzen  Körpers. 
Ich  liefs  nun  bei  diesen  Symptomen  die  Brechnufspillen 
aussetzen,  verordnete  aber  auch  keine  Antidota,  um  die 
eigentümliche  Wirkung  des  gereichten  Arzneikörpers  nicht 
zu  stören,  und  die  vielleicht  zu  einem  glücklichen  Heilungs- 
bestreben  erregte  Natur  nicht  zu  unterbrechen.  Nach  drei 
bis  vier  Tagen  hatte  sich  der  Sturm  im  Organismus  gelegt, 
und  ich  hatte  die  Freude  von  der  Kranken  zu  erfahren, 

dafs,  obschon  in  den  verflossenen  Tagen  noch  häufige 

Zuckungen  eingetreten  waren,  sie  dennoch  jetzt  viel  mehr 
Leben  in  den  ergriffenen  Theilen  verspüre,  ja  sogar  den 
Fufs  schon  zum  Stehen  benutzen  könne,  was  sie  bisher 
durchaus  nicht  im  Stande  gewesen  war.  —  Die  Kranke 
erhielt  am  31.  August  ein  Infusum  Arnicae  mit  Extraclum 
Chinae,  tassenweise  viermal  täglich,  aufserdem  täglich  die 
Dotter  von  drei  rohen  Eiern  mit  Wein,  und  eine  kräftige 
Kost.  Der  Riickgrath  wurde  noch  immer  trocken  frottirt, 
aufserdem  in  diesen  und  die  Extremitäten  eine  Solutio  Bal- 
sami  peruviani  in  Spiritus  Angelicae  compositus  fleifsig  ein¬ 
gerieben.  — 

Diese  roborirenden  Arzneien,  verbunden  mit  der  kräf¬ 
tigsten  Diät,  schienen  indefs  nach  einem  dreiwöchentlichen 
Gebrauche  gar  keinen  Einflufs  auf  das  Leiden  der  Extre¬ 
mitäten  zu  haben.  Die  Kranke  konnte  zwar  auf  dem  er¬ 
griffenen  Fufse  stehen,  auch  wohl  mit  Hülfe  eines  starken 
Stabes  sich  einige  Schritte  fortbewegen,  allein  diese  Besse- 


IV,  Rückenmarkkrankheiten.  83 

rung  hatte  sich  gleich  unmittelbar  nach  dem  Gebrauche  der 
Nux  vomica  gezeigt,  und  war  nach  dem  Aussetzen  dieses 
Mittels  auf  demselben  Punkte  stehen  geblieben.  Hieraus 
schlofs  ich,  dafs  eine  neue  Anwendung  der  Nux  vomica 
hier  angezeigt  sein  dürfte,  und  die  Kranke  nahm  dieses 
Mittel  am  3.  September  wieder  in  rasch  steigenden  Gaben, 
bis  zum  Wiedereintritt  der  oben  beschriebenen  Zufälle, 
wobei  es  bemerkenswerth  erscheint,  dafs  diese  schon  nach 
5  Pillen  Morgens  und  Abends  eintraten.  —  Der  Erfolg 
war  über  alle  Erwartung  günstig.  —  Die  Kranke  konnte, 
nachdem  die  Zufälle  gewichen  waren,  ungleich  kräftiger 
auftreten  und  gehen,  freilich  noch  immer  mit  Hülfe  eines 
Stabes,  den  kranken  Arm  konnte  sie  leicht  und  ohne  alle 
Beschwerden  auf  den  Kopf  legen,  was  sie  früher,  der  nicht 
zu  beschreibenden  aber  sehr  ängstigenden  Gefühle  wegen 
in  der  Gegend  des  Herzens,  durchaus  nicht  vermochte; 
auch  konnte  sie  von  dieser  Zeit  an  täglich  mehre  Stun¬ 
den  aufserhalb  des  Bettes  zubringen.  — 

Aon  diesem  günstigen  Erfolge  der  Nux  vomica  sehr 
erfreut,  beschlofs  ich  nun,  um  noch  kräftiger  auf  das  Rücken¬ 
mark  einzuwirken,  örtliche  Erregung  desselben  in  Anwen¬ 
dung  zu  ziehen.  —  Noch  immer  waren  Epispastica  oder 
Cauteria  contraindicirt,  weil  die  Kranke  doch  immer  noch 
den  gröfsten  Theil  ihrer  Zeit  im  Bette  zubringen  mufste; 
ich  beschlofs  also,  zu  kalten  Uebergiefsungen  der  Wirbel¬ 
säule  meine  Zuflucht  zu  nehmen.  —  Die  Kranke  nahm  zur 
Vorbereitung  vier  künstliche  Salzbäder,  in  welchen  sie 
nicht  länger  als  eine  Viertelstunde  verweilte,  und  die  ihr 
trefflich  bekamen.  Nun  erhielt  die  Mutter  der  Kranken  die 
Anweisung,  1  —  2  Eimer  sehr  frisches  kaltes  Brunnen¬ 
wasser  von  einem  fünf  Fufs  hohen  Gerüst  in  kurzen  Inter¬ 
vallen  über  den  ganzen  Rücken  der  Kranken  hinwegzu- 
giefsen.  Bad  und  Uebergiefsungen  sollten  nicht  länger  als 
eine  kleine  halbe  Stunde  dauern,  die  Kranke  aber  nach  dem 
Verlassen  des  Bades,  so  weit  es  ihre  Kräfte  erlaubten,  im 
Zimmer,  wenigstens  doch  eine  halbe  Stunde,  sich  auf  und 

6  * 


84 


IV.  Rückenmarkkrankheiten. 


ab  bewegen.  Eine  Stunde  nach  dein  IJade  wurden  Rücken 
und  Extremitäten  mit  einem  Linimentum  pbosphoratum  ein¬ 
gerieben.  Schon  die  Wirkung  der  ersten  Räder  war  auf¬ 
fallend  günstig.  Die  Kranke  fühlte  gleich  nach  dem  Ver¬ 
lassen  des  Rades  eine  sehr  angenehme,  wohlthuende  Wärme 
im  ganzen  Rücken,  und  eine  sehr  merkliche  Zunahme  der 
Kräfte.  —  Sie  war  nach  jedem  Rade  so  munter,  dafs  sie 
selbst  gar  nicht  ins  Rett  mochte,  vielmehr  ohne  grofse  An¬ 
strengung,  immer  aber  noch  mit  Hülfe  eines  Stockes,  im 
Zimmer  auf  und  ab  ging.  Da  die  Jahreszeit  den  Genufs 
der  frischen  Luft  erlaubte,  und  diese  ihrem  Zustande  sehr 
heilsam  war,  so  liefs  ich  die  Kranke  fast  den  ganzen  Tag 
in  einem  Garten  zubringen,  der  dicht  an  ihrem  Hause  lag, 
und  nur  Nachmittags  suchte  sie  auf  ein  Paar  Stunden  das 
Rett.  Von  nun  an  mufste  sie  auch  tägliche  Uebungen  mit 
den  kranken  Extremitäten  vornehmen,  die  aber  nie  bis  zur 
gänzlichen  Ermüdung  fortgesetzt  werden  durften.  Als  Arz¬ 
nei  erhielt  sie  in  dieser  Zeit  Tinctura  ferri  acetici  aetherea 
zu  2  Theelöffel  viermal  täglich,  in  einem  Infusuin  Arnicae 
mit  China.  Als  sie  unter  diesen  Umständen  20  Räder  in 
der  oben  beschriebenen  Art  gebraucht  hatte,  konnte  sie 
aller  Stütze  beim  Gehen  völlig  entbehren,  auch  kleinere 
Gegenstände  mit  der  schwachen  Hand,  Teller,  Tassen  u.  s. 
w.  festhalten  und  forttragen.  — 

Es  war  nun  keinem  Zweifel  mehr  unterworfen,  dafs 
die  eingeschlagene  Rehandlung  die  richtige  gewesen,  und, 
das  Leiden  der  Extremitäten  ursprünglich  in  den  Riicken- 
marknerven  seinen  Sitz  habe.  Zwar  war  noch  immer  eine 
nicht  unbedeutende  Schwäche  der  Extremitäten  vorhanden, 
die  aber  in  gar  keinem  Verhältnis  mehr  zu  der  früheren 
stand.  —  Noch  immer  bestand,  wie  es  mir  schien,  eine 
zu  grolse  Torpidität  in  dem  ganzen  Rückenmark  und  Gan¬ 
gliensystem,  da  auch  der  Stuhlgang  wieder  etwas  träge, 
und  das  .Leiden  der  Extremitäten  doch  immer  bis  auf  einen 
gewissen  Grad  nur  vermindert  war.  GeWifs  kann  mich 
niemand  tadeln,  wenn  ich  mit  entschiedener  Vorliebe  wie- 


IV.  Rückenmarkkrankheiten. 


85 


der  zur  Nux  vomica  griff,  und  sie  als  die  sacra  anchora  in 
dieser  Krankheit  betrachtete.  —  Am  17.  Sept.  fing  sie  an 
dieses  Mittel  in  der  oben  beschriebenen  Art  zu  nehmen; 
die  narcotischen  Zufälle  traten  schon  nach  der  fünften  Gabe 
ein,  und  nachdem  sie  gewichen  waren,  hatten  die  Extremi¬ 
täten  so  bedeutend  an  Kraft  gewonnen,  dafs  die  Kranke 
ohne  alles  Ungemach  und  ohne  Stütze  gehen,  auch  mit  der 
Hand  fast  alle  Geschäfte  des  Hauses  leichter  Art  verrichten 
konnte.  Sie  nahm  noch  zehn  Stahlbäder  mit  kalten  Ueber- 
giefsungen,  und  wurde  am  22.  October  v.  J.  völlig  geheilt 
entlassen. 

Diese  Krankheitsgeschichte  ist,  wie  ich  glaube,  schon 
deshalb  interessant,  weil  sie  einen  Gegenstand  von  hoher 
Bedeutung  berührt,  einen  Gegenstand,  der,  trotz  seiner 
"Wichtigkeit,  auf  eine  fast  unerklärbare  Weise  in  alter  und 
neuer  Zeit  vernachlässigt  worden  ist,  —  die  Krankheiten 
des  Rückenmarkes.  Wenn  auch  nicht  geleugnet  werden 
kann,  dafs  ältere  Autoren,  wie  Hippocrates  ‘),  Ga¬ 
len5),  Ballonius1 2 3),  schon  einige  Kenntnifs  von  den 
Krankheiten  dieses  Organs  hatten,  so  war  sie  doch  so  un¬ 
vollkommen,  dafs  weder  eine  genaue  Erzählung  der  Sym¬ 
ptome  und  Aetiologie,  noch  viel  weniger  aber  ein  ratio¬ 
neller  Heilplan  bei  ihnen  gefunden  wird.  Das,  was  nament¬ 
lich  Hippocrates  4)  unter  dem  Namen  einer  Angina  ver- 
tebralis  beschreibt,  könnte  bei  einer  oberflächlichen  Be¬ 
trachtung  für  Entzündung  des  Rückenmarkes  gehalten  wer¬ 
den;  allein  eine  nur  irgend  besonnene  Betrachtung  findet 
in  der  Beschreibung  sehr  leicht  das  Bild  einer  Entzündung 
der  Wirbelsäul-  Ligamente. 

In  neuerer  Zeit  hat  Peter  Frank  zuerst  wieder  die 


1)  Hippocr.  oper.  omn.  inchoav.  Pier.  T.  III.  p.  229. 

2)  Galen,  de  loc.  affect.  Libr.  IY.  Cap.  II. 

3)  Ballon,  oper.  omn.  med.  T.  IV.  p.  289 

4)  Epidem  L  IV.  Cap  IV 


86 


IV.  Iliickcnmaikkrankhcitcn. 


Aufmerksamkeit  der  Aerzte  auf  diesen  Gegenstand  gelenkt  ’), 
gleichwohl  aber  hat  er  in  seiner  Epitome  die  Entzündung 
des  Rückenmarkes  nicht  einmal  einer  eigenen  Ueberschrift 
gewürdigt,  er  handelt  sie  vielmehr,  und  nur  mit  weni¬ 
gen  Worten,  in  dem  Kapitel  von  den  Kopfentzündungen 
ab 1  2 3).  Selbst  der  sonst  so  fleifsige  und  ausführliche  S.  G. 
Vogel  *)  hat  der  Entzündung  des  Rückenmarkes  nur  drei 
Seiten  gewidmet,  und  sie  aufserdem  zum  Beweise,  wie 
wenig  er  ihr  Wresen  erkannt  haben  mag,  mit  dem  unschick¬ 
lichen  Namen  Pleuritis  dorsalis  belegt.  Doch  ist  er  noch 
so  aufrichtig  zu  gestehen,  dafs  dieses  Uebel  gewifs  sehr 
häufig  verkannt  wird,  während  andere  Autoren  meinen, 
die  Krankheit  komme  überhaupt  sehr  selten  vor,  da  das 
Rückenmark  durch  sein  knöchernes  Gehäuse  gegen  Krank¬ 
heitseinflüsse  hinlänglich  geschützt  sei.  Sehr  wahr  erinnert 
hingegen  Sachs  4),  dafs  ja  das  Gehirn  sich  eines  gleichen 
Schutzes  zu  erfreuen  habe,  gleichwohl  aber,  wie  auch  zu¬ 
gestanden  wird,  öfters  erkranke.  — 

In  neuester  Zeit  endlich  hat  dieser  hochwichtige  Ge¬ 
genstand  einige  Bearbeiter  gefunden:  Klohfs,  Olli  vier, 
Sonnenkalb,  W  e  n  z  e  I  und  mehrere  andere  ha¬ 
ben  die  dynamischen  Krankheiten  des  Rückenmarkes  eini¬ 
ger  Aufmerksamkeit  gewürdigt,  ganz  besonders  aber  ver¬ 
dient  hier  Sachs  genannt  zu  werden,  der  in  seinem  in 
jeder  Beziehung  wichtigen  schon  genannten  Werke  diesen 
Gegenstand  mit  philosophischem  Geiste  und  grofsem  Scharf¬ 
sinn  erörtert  hat.  Gleichwohl  aber  steht  die  hierher  gehö- 


1)  Jo.  P.  Frank  de  vertebr.  column.  in  rnorkis  dignitate, 

Orat.  acadcrn.  Pav.  1791. 

2)  L.  c.  p.  48. 

3)  S.  Q.  Vogel  Handbuch  der  prakt.  Arrnciwissenach. 
Bd.  IV.  S.  31  —  34. 

4)  < » ruudlinien  iu  einem  dwiam.  natürl.  System  der  Mc- 
dicin  S  284.  * 


IV.  Rücken  inarkkrankheiten. 


87 


r ige  IJtteratur  noch  sehr  armselig  und  verkümmert  da,  wie 
fast  in  keinem  anderen  Zweige  der  ganzen  Medicin. 

Nur  diesen  angeführten  Umständen  ist  es  zuzuschrei- 
Len,  dals  ich  für  die  eben  beschriebene  und  sogar  geheilte 
Krankheit  um  einen  Namen  verlegen  bin.  —  Verlust  der 
Muskelkraft,  wie  Mease  sie  bezeichnet,  ist  ja  doch  nur 
Symptom  der  Krankheit,  und  bezeichnet  sie  keinesweges 
genetisch,  da  schon  oben  erwiesen  ist,  dafs  der  Sitz  der 
Krankheit  eigentlich  im  Rückenmark  gewesen  sei.  Wir 
miifsten  also  einen  Namen  wählen,  der  den  Veränderungen 
entspricht,  welche  am  Rückenmarke  vorgehen,  ehe  ihr  Re¬ 
flex,  Verlust  der  Muskelkraft,  sichtbar  wird.  Hier  aber 
verläfst  uns  unsere  Nosologie,  denn  die  Krankheitsnamen 
die  sie  hat  und  die  dem  genannten  Zustande  ähnlich  sind, 
ich  meine  Paresis  und  Paralysis,  sind  für  diesen  Fall  keines¬ 
weges  bezeichnend.  Abgesehen  davon,  dafs  beide  Zustände 
nur  Ausgänge  oft  ganz  verschiedener  Krankheiten  sind,  so 
versteht  man  doch  unter  Paralysis  völlig  aufgehobenes 
Empfindungs-  und  Bewegungsvermögen,  unter  Pa¬ 
resis  hingegen  eine  gleichzeitige  Abnahme  des  Em- 
pfindungs-  und  Bewegungsvermögens,  keinesweges 
also  die  in  Rede  stehende  Krankheit.  — 

Fassen  wir  den  ganzen  Verlauf  der  Krankheit  sorgfäl- 

% 

tig  ins  Auge,  so  können  wir  drei  ziemlich  deutlich  abge- 
gränzte  Stadien  derselben  klar  unterscheiden. 

Das  erste  Stadium  wird  bezeichnet  durch  die  periodisch 
wiederkehrenden  Schmerzen  in  der  Wirbelsäule,  nament- 
lieh  in  dem  unteren  Theile  derselben,  und  die  hierauf 
eintretende,  durch  jeden  Paroxysmus  vermehrte  Muskel- 
Schwäche.  Dieses  Stadium  dauert  eine  ziemlich  lange  Zeit, 
ohne  die  übrigen  Functionen  des  Organismus  zu  stören,  bis 
endlich,  erst  nach  mehren  Jahren,  das  zweite  Stadium 
sich  entwickelt,  welches  deutlich  und  charakteristisch  be- 

• 

zeichnet  wird  durch  Symptome,  welche  sich  auf  die  Ver¬ 
dauung  beziehen.  Hierher  gehören  alle  die  Symptome, 
weiche  dem  Scorbut  so  ähnlich  sind,  und  die  ich  auch 


88  IV.  IUickenmarkkrnnkheiten. 

anfangs  durch  Antiscorbutica  zu  beseitigen  gehofft  hatte.  — 
Auch  dieses  Stadium  dauert  nur  kurze  Zeit,  alternirt  mit 
einem  Status  von  Gesundheit,  geht  aber  endlich  doch  in 
das  dritte  Stadium  über.  —  Als  charakteristische  Kenn¬ 
zeichen  dieses  Stadiums  erblicken  wir  zuvörderst  die  fast 
bis  zur  Paralyse  gesteigerte  Schwäche  der  linken  unteren 
Extremität,  später  wurde  auch  die  obere  ergrilfen,  endlich 
gesellten  sich  noch  Symptome  hinzu,  welche  auf  die  Re¬ 
spiration  liezug  haben,  Palpitatio  cordis,  Asthma,  syncopti- 
sche  Zufälle,  rauhe,  heisere  Stimme  u.  s.  w. 

Ehe  wir  die  Deutung  dieser  Symptome  aus  einer 
gemeinsamen  Quelle  versuchen,  müssen  wir  zuvor  einen 
flüchtigen  Blick  werfen  auf  die  physiologische  Bedeutung 
des  Gangliensvstems  und  seine  Beziehung  zum  Gehirn,  so¬ 
dann  aber  auch  erwägen  die  Verhältnisse  des  Rückenmarkes 
zum  Gehirn  einer-  und  zum  Gangliensystcm  andererseits. 

Das  Gangliensystem  zuvörderst  betreffend,  kann  es  hier 
unmöglich  unsere  Absicht  sein,  die  oft  so  sonderbaren  und 
häufig  sich  widersprechenden  Thcorieen  der  älteren  Aerzte 
anzuführen,  oder  gar  zu  widerlegen.  Dies  hat  Wutzer  r) 
mit  Fleifs  und  Gelehrsamkeit  gethan.  Flüchtig  selbst  nur 
können  wir  verweilen  bei  den  Streitigkeiten  der  neueren 
und  neuesten  Zeit,  keinesweges  aber  kritisch  auf  Entschei¬ 
dung  dieser  Angelegenheit  eingeheu,  wohl  aber  das  für 
unseren  Gegenstand  benutzen,  was  von  den  streitenden  Par¬ 
theien  selbst  zugegeben  und  anerkannt  worden  ist. 

Hier  interessiren  uns  zunächst  die  Fragen:  1)  In  wel¬ 
chem  Verhältnis  steht  das  Gangliensystem  zum  Gehirn? 
und  2)  welche  Function  hat  es? 

Die  Acten  sind  über  die  erste  dieser  Fragen  noch  kei¬ 
nesweges  geschlossen,  und  in  mannigfachem  Widerspruch 
stehen  noch  die  Gelehrten  miteinander.  Die  herrschende 
und  von  den  meisten  angenommene  Meinung  ist  doch  die: 


1)  C.  G.  YNutier  <h:  corporis  litunani  g.ifcglior.  fabrira 
.  atque  usu  Monograpbia. 


/ 


rV.  Rückenmarkkrankheiten. 


89 


\ 


dafs  das  Gangliensystem  entgegengesetzt  sei  dem  Gehirn, 
und  im  Antagonismus  stehe  mit  demselben.  In  dieser  Be¬ 
ziehung  auch  betrachtet  man  das  Sonnengeflecht  als  das 
Centralorgan  des  Gangliensystems.  Ganz  besondere  Wich¬ 
tigkeit  hat  diese  Ansicht  für  die  Lehre  von  dem  thierischen 
Magnetismus,  wie  denn  auch  Kieser  J)  und  Kluge1 2) 
hierauf  ein  besonderes  Gewicht  legen,  und  das  Ganglion 
coeliacum  auch  das  Cerebrum  abdominale  nennen.  Bur¬ 
dach  hingegen,  der  hier  gewifs  als  eine  entscheidende  Au¬ 
torität  gelten  kann,  war  zwar  früher  derselben  Meinung, 
scheint  aber  diese  geändert  zu  haben,  denn  er  sagt:  3) 
«Die  peripherischen  Nervenfaden  liegen  hier  in  den  ver¬ 
schiedenen  der  Reproduction  dienenden  Organen,  und  en¬ 
digen  sich  in  die  Geflechte  der  Ganglien,  so  dafs  sie  in 
diesen  ihr  Centralende  finden.  Diese  Centralpunkte  sind 
aber  sehr  unvollständig,  die  Einheit,  welche  sie  in  dies 
System  bringen,  ist  nur  unvollkommen,  indem  es  keinen 
Punkt  giebt,  wo  alle  Nerven  sich  vereinigten.”  In  der 
neuesten  Zeit  hat  sich  Sachs  4)  ganz  entschieden  dahin 
erklärt,  dafs  das  Gangliensystem  keinen  Centralpunkt  habe, 
noch  haben  könne,  so  wie  er  überhaupt  hei  dieser  Gele¬ 
genheit  eine  eigene,  und  mindestens  sehr  geistreiche  Ansicht 
über  die  wahre  Bedeutung  des  Gangliensystems  entwickelt. 
Neu  aber  können  wir,  zum  Theil  wenigstens,  diese  Ansicht 
nicht  nennen;  denn  schon  Winslow,  James  John- 
stone,  besonders  aber  Bichat  5),  haben  im  Ganglien- 


1)  Kieser,  System  des  Tellurismus  oder  des  thierischen 
Magnetismus.  Bd.  2.  S.  133. 

2)  Kluge,  Versuch  einer  Darstellung  des  animal.  Magnet, 
als  Heilmittel. 

3)  Burdach,  die  Physiologie.  Leipzig  1810.  S.  248. 

4)  L.  c.  S.  126. 

5)  Bichat  über  Leben  und  Tod,  übersetzt  von  Veizhans. 
S.  76  —  81. 


90 


IV.  Riickenmarkkrankheiten. 


\ 

System  keinen  Centralpunkt  annehmen  wollen,  wie*  denn 
auch  Bichat  das  ganze  Dasein  des  Nerv,  sympath.  als 
eines  einzigen  Nerven  direct  laugnet. 

Wie  nun,  wie  hieraus  hervorgeht,  diese  Angelegen¬ 
heit  noch  keinesweges  ins  Klare  gebracht  worden  ist,  so 
können  wir  doch  dasjenige  aus  diesen  Verhandlungen  für 
uns  vindiciren ,  was  Von  allen  Partheien  hat  anerkannt  wer¬ 
den  müssen,  das  nämlich:  dafs  das  Gangliensystcm  in  seinem 
Normalverhalten,  im  ganzen  Nervensystem  überhaupt  den 
niedrigsten  Bang  einnehme,  dafs  es  mit  dem  Gehirn  ver¬ 
bunden  sei  durch  den  Sympathicus  mittelbar,  unmittelbar 
aber  durch  den  Vagus  und  das  Rückenmark,  und  dafs  es 
seine  veredelnden  Einflüsse  und  die  normale  Richtung  sei¬ 
ner  Thätigkeit  empfange  durch  das  Gehirn. 

Was  nun  die  Function  dieses  Systems  betrifft,  so  kann 
in  der  That  our  eine  Stimme  hierüber  sein,  wenn  man 
auf  seine  Rage  in  der  unteren  Bauchhöhle  und  auf  seine 
Verzweigung  in  die  Organe  der  Verdauung  sieht.  Wirk¬ 
lich  hat  man  auch  allgemein  angenommen,  dafs  es  der  Re- 
production  vorstehe,  nur  hat  man  sich  über  das  Wie  die¬ 
ser  Function  noch  nicht  einigen  können.  Auch  hier  scheint 
cs,  verdient  eine  von  Sachs  *)  ausgesprochene  Meinung 
die  gröfste  Aufmerksamkeit.  Er  betrachtet  nämlich  als  den 
anderen  Träger  der  Reproduction  die  Arterien,  glaubt, 
dafs  von  ihnen  alle  Ernährung,  d.  h.  der  Ersatz  der  Stoffe 
ausgeht,  und  indem  er  auf  die  innige  Verschlingung  und 
Vereinigung  der  Haupt- Arterienstämme  mit  den  Ganglien 
aufmerksam  macht,  sagt  er,  dafs  «  dieses  eigentümliche 
Nervensystem  in  seiner  Wirksamkeit  völlig  direct  auf  das 
Blutsystem,  und  zwar  auf  die  Arterien  sich  richtet.”  — 
Sehr  interessant  in  dieser  Beziehung  sind  die  Versuche 
Edwards  und  Breschet’s  9).  Sie  fanden  nämlich  nach 


I)  L.  c.  S.  450. 

‘2)  Neue  Jahrbücher  der  deutschen  Medicin  und  Chirurgie, 
von  H  «rieft.  S.  9t). 


IV.  Rückenmarkkrankheiten. 


91 


Durchschneidung  des  Vagus  folgende  Resultate  für  die  Ver¬ 
dauung:  a)  dafs  die  Hauptfunction  des  Nervus  vagus  in  der 
Leitung  der  die  Digestion  beschleunigenden  Bewegung  des 
Magens  bestehe;  b)  dafs  die  verzögerte  Verdauung  nach 
Durchschneidung  des  Nerven  aiif  Lähmung  der  Muskelfasern 
des  Magens,  und  c)  das  zuweilen  darauf  entstehende  Er¬ 
brechen  auf  Lähmung  der  Muskelfasern  des  Oesophagus 
beruhe. 

Haben  wir  nun,  wenn  auch  nur  flüchtig,  die  physio¬ 
logische  Bedeutung  des  Gangliensystems  angegeben,  so  bleibt 
uns  noch  übrig,  etwas  über  das  Verhältnifs  des  Rücken¬ 
marks  zu  diesem  und  zum  Gehirn  hinzuzufügen.  — 

Betrachten  wir  nämlich  das  Cerebralsystem  als  den  Sitz 
des  Geistes,  als  die  Quelle  des  höchsten  Nervenlebens,  als 
den  Centralpunkt  aller  Gesetzlichkeit  im  Organismus,  so 
erscheint  es  als  nothwendig,  dafs  das  Gehirn  in  einer  be¬ 
stimmten  Beziehung  bleibe  selbst  zu  den  entferntesten  Re¬ 
gionen  im  ganzen  Organismus.  Diese  wird  nur  möglich 
und  wirklich  erreicht  durch  eine  organische  Verbindung 
des  Gehirns  mit  den  ihm  untergeordneten  Systemen,  dem 
Rückenmark  und  Gangliensystem.  Sehr  deutlich  und  voll¬ 
ständig  ist  diese  Verbindung  bei  dem  Rückenmark  durch 
die  Medulla  oblongata,  weil  es  auch,  vermöge  seiner  Fun¬ 
ction,  willkiihrliche  Muskelbewegung,  eine  höhere  Dignität, 
durch  eine  innigere  Verbindung  mit  dem  Gehirn  erhalten 
mufste.  Viel  untergeordneter,  fast  rein  thierisch,  erscheint 
die  Function  des  Gangliensystems,  daher  auch  seine  Ver¬ 
bindung  mit  dem  Gehirn  nur  lose,  durch  zwei  schwache 
Nervenfädchen  (den  Nervus  profund.  Vidiani,  und  ein 
schwaches  Ende  des  sechsten  Nervenpaares)  angedeutet  ist. 
Um  indefs  den  Einflufs  des  Gehirns  auf  die  Ganglien  leich¬ 
ter  zu  bewirken,  geht  der  Nerv,  vagus  mannigfache  Ver¬ 
bindungen  ein  mit  den  Geflechten  des  Sympathicus  in  den 
edleren  Organen  der  Brust  und  Oberbauchgegend,  so  wie 
in  die  untergeordneteren  der  Unterbauchgegend  das  Rücken¬ 
mark  vielfache  Acste  in  die  Ganglien  einsenkt.  Auf  diese 


92 


IY.  Rückenmarkkranklieiten. 


Weise  nun  sind  Leide  untergeordnete  Systeme  innig  ver¬ 
bunden  mit  dem  Gehirn,  und  erhalten  durch  dieses  ihre 
hohe,  edlere  Bedeutung,  so  wie  die  normale  Richtung  ihrer 
Thätigkeit.  Wir  erblicken  also  im  Rückenmark  nicht  blofs 
das  Organ  der  willkiihrlichen  Bewegung,  sondern  auch  das 
der  Vermittelung  des  Gehirnes  mit  den  Theilen  des  Gan¬ 
gliensystems,  welche  nicht  mehr  Verbindungsäste  vom  Vagus 
erhalten.  — 

Wenden  wir  nun  diese  Ansichten  auf  die  vorerwähnte 
Symptomengruppe  an,  so  gewinnen  w’ir  eine  vollständige 
Einsicht  nicht  nur  in  den  ganzen  Krankheitsprozefs,  son¬ 
dern  wir  erkennen  auch  die  nothwendige  Aufeinanderfolge 
der  bezeichneten  Krankheitsstadien. 

Zuerst  erkennen  wir  in  dem  ersten  Stadium  ganz  deut¬ 
lich  eine  chronische  Entzündung,  und  zwar,  wie  wir  vor¬ 
läufig  hypothetisch  aussprechen,  später  aber  zu  beweisen 
gedenken,  in  der  Arachnoidea  des  Rückenmarks.  Die  pe¬ 
riodisch  wiederkehrenden  Schmerzen,  die  heftig  und  in  der 
Tiefe  der  Wirbelsäule  empfunden  wurden,  die  Unmöglich¬ 
keit  das  Kreuz  zu  beugen',  die  nach  jedem  Paroxysmus  ver¬ 
mehrte  Muskelschwäche,  bei  übrigens  normalem  Verhalten 
des  ganzen  Organismus,  können  gar  nicht,  oder  doch  nur 
so  gedeutet  werden.  Chronisch  allerdings  und  periodisch 
war  der  Gang  dieses  Uebels,  aber  dies  darf  uns  in  der 
Annahme  einer  Entzündung  gar  nicht  stören,  wenn  wir  uns 
einer  anderen,  dieser  Entzündung  sehr  nahe  stehenden  Krank¬ 
heit,  des  Malum  ischiadicum  erinnern.  Auch  der  Verlauf 
dieses  Uebels  ist  chronisch  und  periodisch.  S.  G.  Vogel  *) 
sagt:  «Die  Ischias  nervosa  läfst  am  häufigsten,  nachdem  sie 
anfangs  eine  gewisse  Zeit  angehalten,  zu  gewissen  Zeiten 
ganz  nach,  und  kömmt  dann  mit  neuer  Gewalt  wäeder. 
Sobald  das  Uebel  einmal  ausgesetzt  hat,  wird  es  nie  wieder 


1)  S.  G.  Vogel,  Handbuch  der  prakt.  Arznciwissensch. 
Th.  2.  S  153.  . 


IV.  Rückenmarkkrankheiten. 


93 


ganz  anhaltend.»  Sachs  *)  sagt  von  demselben  Uebel: 
«Unter  sehr  abwechselndem  Besser-  und  Schlimmerwerden 
kann  dieser  Zustand  oft  Jahre  lang  dauern,  »  u.  s.  w.  Gleich¬ 
wohl  aber  erkennen  wir  auch  als  das  Wesen  dieses  Krank¬ 
heitsprozesses:  Entzündung;  später  aber,  und  an  einem  an¬ 
deren  Orte  als  in  dieser  Abhandlung,  wollen  wir  die  Ana¬ 
logie  des  ischiadischen  Leidens  mit  der  in  Rede  stehenden 
Krankheit  klar  darthun. 

'Nun,  bei  unserer  Kranken  wurde  das  Uebel  weder  er¬ 
kannt,  noch  behandelt,  und  nichts  war  natürlicher,  als  dafs 
nun  der  Krankheitsprozefs  fortschreiten  und  sich  weiter  ent¬ 
wickeln  mufste.  Hierdurch  mufste  das  zweite  Stadium  der 
Krankheit  herbeigeführt  werden. 

Dieses  haben  wir  bezeichnet  durch  das  gänzliche  Dar¬ 
niederliegen  der  Vegetation  und  Respiration,  und  dieses 
mufste  unausbleiblich  eintreten,  sobald  die  Krankheit  erst 
zu  einem  gewissen  Grade  sich  ausgebildet  hatte.  Offenbar 
nämlich  konnte  nun  das  Rückenmark  selbst  sich  nicht  län¬ 
ger  in  seiner  Integrität  erhalten,  seine  beiden  Functionen, 
willkührliche  Muskelbewegung  und  Vermittelung  der  Gan¬ 
glien  mit  dem  Gehirn,  wurden  verletzt.  Hierdurch  mufste 
nothwendig  eine  Alienation  in  der  Thatigkeit  der  Ganglien 
eintreten,  die  sich  auch  deutlich  zu  erkennen  gab  durch  die 
ganze  Reihe  der  scorbutischen  Symptome,  so  wie  besonders 
durch  die  grofse  Torpidität  in  der  Secretio  alvi.  In  letz¬ 
ter  Beziehung  verdient  Raccheti’s 1  2)  Meinung  Berück¬ 
sichtigung,  der  die  peristaltische  Bewegung  des  Darmkanals 
vom  Rückenmark  durch  Hülfe  des  Intercostalnerven  ab¬ 
leitet. 

Noch  immer  aber  konnte  der  Krankheitsprozefs  unge¬ 
hindert  fortschreiten,  da  durchaus  keine  ärztliche  Behand- 

1)  L.  c.  S.  400. 

2)  Deila  structura  delle  fungioni,  delle  malatie  della  rae- 
dull.  spin.  pag.  430. 


94 


IV.  Rückenmarkkrankheitcn. 

/ 

Iung  hemmend  eingriff,  und  nun  entwickelte  sich  ziemlich 
rasch  das  dritte  Stadium. 

Dieses  gab  sich  zu  erkennen:  zuvörderst  durch  eine 
lähmungsartige  Schwäche,  der  unteren  linken  Extremität, 
welche  rasch  zunahm.  Später  wurde  auch  der  linke  Arin 
von  derselben  Schwäche  ergriffen,  und  auch  die  rechten 
Extremitäten  nahmen  bald  Theil  an  dem  Leiden;  endlich 
stellten  sich  ein:  Palpitatio  cordis,  Ohnmächten,  kurzer 
Athem,  heisere  Stimme,  Aphonie  u.  s.  w.  Auch  die  ganze 
Reihe  dieser  Symptome  wird  nun  klar  und  verständlich. 
Nachdem  sich  im  zweiten  Stadium  der  Krankheit  schon 
ein  Mitergriffensein  des  Rückenmarkes  kund  gegeben  hatte 
durch  die  abnormen  Verrichtungen  der  Ganglien,  nmfste, 
bei  einem  Fortschreiten  der  Entzündung  in  der  Arachnoidea 
und  ihrem  endlichen  Ausgang,  Exsudation,  auch  die  Haupt- 
function  des  Rückenmarkes:  willkührliche  Muskelreizung, 
abnorm  werden.  Auch  hier  trat  ein  Stillstand  des  Leidens 
ein,  indem  sich  die  Muskelschwäche  im  Anfänge  auf  die 
linke  untere  Extremität  nur  bezog,  da  aber  noch  immer 
mit  der  Hülfe  gezögert  wurde,  so  schritt  das  Uebel  fort, 
und  erstreckte  sich  nunmehr  schon  auf  die  linke  obere  Ex¬ 
tremität,  endlich  aber  auch  auf  die  beiden  rechten  —  Das 
nun  schon  in  seinem  ganzen  Umfange  krankhaft  ergriffene 
Gangliensystem,  aller  Vermittelung  des  Gehirns  beraubt, 
zog  nun  auch  den  Vagus  in  seinen  Krankheitskreis,  und 
von  dieser  Affection  des  Vagus  erklären  sich  auch  deutlich 
die  Affectionen  des  Herzens,  der  Respiration  und  der 
Stimme  von  selbst.  —  Aber  auch  noch  auf  eine  andere 
Weise  läfst  sich  diese  letzte  Symptomenreihe  erklären,  wenn 
wir  nämlich  mit  le  Gallois  *)  annehmen,  dafs  die  Me- 
dulla  oblongata  die  Respiration  und  Stimme  bewirke  (w'as 
auch  gewifs  ist,  in  sofern  alle  diesen  Functionen  angehüri- 
gen  Nerven  von  dort  entspringen);  denn  da  konnte  ja  der 


1)  Lt  Gallois,  Eiper.  *ur  lc  princ.  de  la  rie  sur  cclui 
des  niouvcmens  du  coeur  et  sur  Ie  siege  de  ce  principe. 


IV,  Rückenmarkkrankhelten, 


95 


Vagus  in  seinem  Ursprünge  bereits  affrcirt  worden  sein,  da 
es  nicht  wahrscheinlich  ist,  dais  sich  das  krankhafte  Ver¬ 
halten  der  Arachnoidea  bis  auf  ihren  ganzen  Umfang  aus¬ 
gedehnt  habe,  wofür  auch  der  lähmungsartige  Zustand  der 
oberen  Extremitäten  sprechen  dürfte. 

Nachdem  wir  nun,  hoffentlich  nicht  ohne  einsichtliche 
Gründe,  die  Deutung  der  Symptome  aus  einer  gemeinsa¬ 
men  Quelle  versucht  haben,  bliebe  uns  noch  die  Annahme 
zu  rechtfertigen,  dafs  die  Entzündung  ihren  Sitz  in  der 
Arachnoidea  gehabt  habe. 

Betrachten  wir  die  Wichtigkeit  des  Rückenmarkes,  seine 
wesentliche  Verwandtschaft  mit  dem  Gehirn,  die  Wichtig¬ 
keit  seiner  Functionen  u.  s.  w.,  so  mufs  sich  fast  von 
selbst,  die  Bemerkung  aufdringen,  dafs  eine  Entzündung 
dieses  wichtigen  Organes  unmöglich  bestehen  könne,  ohne 
den  ganzen  Organismus  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen,  und 
ein  Heer  fürchterlicher  Symptome  herbeizuführen.  Wirk¬ 
lich  auch  giebt  es  kaum  ein  grausenerregenderes  Symptom, 
dessen  die  Schriftsteller  über  Myelitis,  als  Attribut  dersel¬ 
ben,  nicht  erwähnen  sollten.  Tetanus,  Emprosthotonus, 
Opisthotonus,  Hydrophobia  spontanea,  Convulsionen ,  Deli- 
ria  furiosa,  heifsen  die  schrecklichen  Begleiter  einer  soge¬ 
nannten  acuten  Entzündung  des  Rückenmarkes,  und  alle 
diese  Symptome  sollten  fehlen,  ja  sogar,  wie  es  bei  unserer 
Kranken  der  Fall  war,  ein  leidliches  Wohlbefinden  beste¬ 
hen  können,  blofs  weil  die  Entzündung  chronisch  ist? 
Wahrlich  dann  hätte  eine  chronische  Entzündung  so  wenig 
die  Natur  einer  Entzündung,  dafs  sie  als  solche  gar  nicht 
diesen  Namen  verdient  —  Welchen  Begriff  auch  man 
überhaupt  von  der  Entzündung  haben  mag,  immer  doch 
wird  man,  belehrt  durch  Theorie  und  Erfahrung,  zugeben 
müssen,  dafs  der  Organismus  bei  der  Beleidigung  eines 
seiner  wichtigsten  Organe  sich  durchaus  nicht  unthätig  ver¬ 
halten  könne,  vielmehr  mit  allen  seinen  Kräften  einen  Kampf 
zur  Beseitigung  des  Feindes  eingehen  werde,  sei  es  zum 
Siege  oder  zum  Tode.  So  auch  verhält  es  sich  wirklich 


96 


IV.  Rütkcnmarkkrankheiten. 


bei  der  acuten  Entzündung  des  Rückenmarkes,  bei  der  so¬ 
genannten  chronischen  hingegen  sehen  wir  den  Organismus 
sich  ganz  leidend  verhalten,  was  doch  unmöglich  geschehen 
könnte,  wenn  die  chronische  Entzündung  nicht  in  ihrem 
Wesen,  sondern  nur  in  der  Fortdauer  verschieden  wäre 
von  der  acuten.  —  Wollen  wir  also  den  Begriff  der  Ent¬ 
zündung  überhaupt  nicht  muthwillig  verwirren  oder  gar 
zerstören,  so  können  wir  ihn  da  nicht  anwenden,  wo  nach 
der  Natur  des  von  derselben  befallenen  Organs  keines  von 
den  Symptomen  auftritl,  die  wir  erwarten  sollten,  ,noch 
auch  meinen,  etw’as  erklärt  zu  haben,  wenn  wir  dann  die¬ 
sen  Krankheitszustand,  der  sich  so  wesentlich  von  der  acu¬ 
ten  Entzündung  unterscheidet,  einen  chronischen  nennen. 
Vielmehr  glauben  wir  uns  zu  der  Annahme  berechtigt,  dafs 
eine  chronische  Entzündung  des  Rückenmarks,  vermöge  der 
Natur  dieses  Organs,  gar  nicht  gedacht  werden  könne.  — 
Noch  mehr  mufs  diese  Ansicht  bestätigt  werden,  wenn 


markes  ins  Auge  fassen.  Ganz  übereinstimmend  sind  die 
Autoren  über  das  Vorhandensein  der  wichtigsten,  oben 
schon  genannten  furchtbaren  Symptome,  darin  aber  herrscht 
bei  ihnen  ein  grofser  Streit,  ob  die  Lähmung  der  Extre¬ 
mitäten  sich  zeigen  könne  w'ährend  der  Entzündung,  oder 
ob  diese  nicht  vielmehr  zu  betrachten  sei  als  ein  Ausgang 
und  eine  Folge  der  Entzündung.  Graf,  in  seiner  Disser¬ 
tation  de  Myelitide,  sagt,  nachdem  er  versichert,  sehr 
viele  Autoren  über  diesen  Gegenstand  gelesen  zu  haben, 
folgendes:  «In  inllammatione  ipsa  paralyses  verae  extremi- 
tatum  non  inveniuntur  sed  impediti  motus  modo,»  und 
gleich  darauf:  «Id  vero  manifestum  est,  in  myelitide  chro¬ 
nica  fere  semper  paralysibus  aegrotos  laborare,  quum  haec 
imprimis  ad  exsudationem  tendat,  ideoque  tali  modo  pres- 
sum  efficiat.  Si  igitur  in  myelitide  acuta  paralyses  aliis 
consociantur  signis ,  tum  fere  semper  inflammatio  jam 
productura  suum  progenuit  medullaque  spinalis  compri- 
mitur.  u 

Ist 


IV.  Rückenmarkkrankheiten. 


97 


Ist  also  Lähmung  der  Extremitäten  ganz  unabhängig 
von  der  Entzündung  des  Rückenmarkes  selbst,  uüd  nur  zu 
betrachten  als  Folge  einer  statt  gehabten  Exsudation,  so 
wird  es  ganz  unumstöfslich  klar,  dafs  diese,  nämlich  die 
Lähmung,  nur  erfolgen  könne  nach  einem  über  die  Nor¬ 
malität  gesteigerten  Produkt  der  Häute  des  Rückenmarkes, 
da  es  deren  Function  ist,  selbst  im  normalen  Zustande, 
eine  gewisse  bestimmte  Quantität  Flüssigkeit  abzusondern, 
wie  Magendie  *)  dies  neuerlich  nachgewiesen  hat.  Das 
Gesammtresultat  seiner  Untersuchungen  ist  kürzlich  folgen¬ 
des:  Das  Secret  befindet  sich  bei  Menschen  und  Thieren 
zwischen  der  Arachnoidea  und  pia  Mater  des  Gehirns  und 
Rückenmarkes.  Die  Quantität  desselben  beträgt  beim  Men¬ 
schen  2  —  5  Unzen,  es  ist  durchaus  klar,  wird  nach  dem 
Tode  zum  Theil  resorbirt,  und  ersetzt  sich,  durch  die 
Punction  abgezapft,  binnen  24  Stunden.  Nach  dem  plötz¬ 
lichen  Abzapfen  dieser  Flüssigkeit  entsteht  Stumpfsinn  und 
Unbeweglichkeit.  Sie  übt  einen  gewissen  Druck  auf  Hirn 
und  Rückenmark  aus,  und  bringt  durch  eine  zu  starke 
Ansammlung  apoplectische  Erscheinungen  hervor.  An  der 
Basis  der  vierten  Hirnhöhle,  dem  Calamus  scriptorius  gegen¬ 
über,  besteht  beständig  eine  runde  Oeffnung,  durch  welche 
diese  Flüssigkeit  aus  dem  Rückenmarke  in  das  Hirn  und 
wieder  zurückfliefst.  Die  vierte  Hirnhöhle  steht  mit  der 
dritten  durch  den  Aquaeductus  Sylvii,  und  diese  mit  der 
seitlichen  durch  den  S  förmigen  Auschnitt  in  Verbindung, 
auf  welche  Weise  eine  beständige  Cornmunication  zwischen 
der  Arachnoidalhöhle  des  Rückenmarkes  und  den  vier  Hirn¬ 
höhlen  nachgewiesen  ist.  Die  Hirnhöhlen  enthalten  stets 
1  —  2  Unzen  Flüssigkeit,  eine  gröfsere  Menge  bringt  Para¬ 
lyse,  Stumpfsinn  u.  s.  w.  hervor.  Alle  diese  Angaben  Ma¬ 
gen  die ’s  scheinen  durch  Sectionsresultate  erwiesen. 


1)  .Tourn.  gener.  de  Medec.  Janvier  1827.  Archive«  gener. 
Fevrier  1827.  Journ.  de  Physiol.  Janv.  1827.  Toni  VII, 


XIV.  Bd.  l.  Sr 


i 


98 


IV.  flückenmnrkkrankhciten. 


Im  Vorbeigehen  wollen  wir  bemerken,  dafs  diese  Ent¬ 
deckung  sehr  wichtig  ist  für  die  Geschichte  des  Hydrops 
ventriculorum  cerebri;  denn  nun  lassen  sich  auch  viele 
dunkle  Symptome  deuten.  So  z.  B.  lälst  sich  nun  genü¬ 
gend  erklären:  der  schwankende,  unsichere  Gang  der  Kran¬ 
ken  im  Anfänge  des  Lehels,  die  gänzliche  \  egetationszer- 
rüttung  im  Verlaufe,  und  die  Lähmung  der  Extremitäten 
im  letzten  Stadium  der  Krankheit. 

Es  darf  indessen  nicht  verschwiegen  werden,  dafs  es 
noch  nicht  völlig  entschieden  ist,  ob  dieses  Secret  hervor¬ 
gebracht  werde  von  der  Arachnoidea,  oder  der  pia  Mater, 
was  indessen  weder  für  die  Praxis,  noch  für  die  Pathologie 
von  besonderer  Wichtigkeit  ist.  Magen  die  scheint  sich 
für  die  letzte  Ansicht  zu  bestimmen,  doch  steht  seiner 
Meinung  die  entgegengesetzte  mit  haltbaren  Grüuden  ge¬ 
genüber.  — 

Findet  si  ch  nun  in  der  Arachnoidalhülde  im  normalen 
Zustande  schon  eine  bestimmte  Quantität  Flüssigkeit,  so  ist 
es  klar,  dafs  bei  einer  Entzündung  der  secernirenden  Haut 
nur  entstehen  können,  entweder  eine  Hemmung  der  Secre- 
tion,  oder  eine  Steigerung  derselben.  Im  ersten  Falle 
würde  die  Entzündung  acut  sein,  im  zweiten  chronisch. 
Etwas  ganz  analoges  sehen  wir  bei  den,  den  serösen  sehr 
verwandten  Schleimmembranen.  Eine  acute  Entzündung 
der  letzten  hemmt  die  Secrction ,  wie  wir  z.  B.  bei  dem 
Stockschnupfen  sehen,  eine  chronische  vermehrt  sie,  wie 
z.  B.  im  Fluor  albus,  Catarrhus  pulmonum  chronicus.  Da 
nun  nach  Magen  die’s  Versuchen  nach  einer  Entleerung  der 
ArachnoidalHüssigkeit,  Stumpfsinn  und  Unbeweglichkeit  ent¬ 
stehen,  so  kann  eine  Unterdrückung  der  Secretion  nicht  statt 
finden  ohne  bedeutende  Störung  des  Organismus;  w-ir  müs¬ 
sen  also  noth wendig  annehmen,  dafs  hier  eine  chronische 
Entzündung  statt  gefunden  habe,  also  vermehrte  Secretion. 
Dafs  diese  aber  wirklich  die  Symptome  hervorbringe,  die 
wir  gesehen  haben,  wdrd  dadurch  klar,  dafs  man  fast  allge¬ 
mein  angenommen  hat,  die  Lähmung  der  Extremitäten  habe 


I 


IV.  Rückenmarkkranklieiten.  99 

ihren  Grund  in  einer  statt  gehabten  Ausschwitzung,  so  wie 
besonders  noch  durch  eine  sehr  interessante  Entdeckung 
neuester  Zeit,  von  Baumgartner  1 ).  Dieser  fand 
nämlich,  dafs  das  Nervenfieber  bisweilen  bedingt  sei  durch 
eine  Wasseransammlung  in  der  Wirbelhöhle.  Seinen  da¬ 
mals  angeführten  Beobachtungen  hat  nun  derselbe  Verfasser 
neue  hinzugefügt2).  Bei  allen  Nervenfieberkranken  mit 
W  asser  in  der  W  irbel  höhle  bemerkte  er  aber 
eine  äufserst  grofse  Muskelschwäche,  von  wel¬ 
cher  meistens  keine  andere,  im  Verhältnifs  ste¬ 
hende  Ursache  aufgefunden  werden  konnte.  Auch 
zeigte  sich  bei  allen  ein  trockener  Husten  mit  Beengung, 
ohne  dafs  Entzündung,  Blutüberfüllung ,  oder  eine  andere 
Krankheit  in  den  Lungen  oder  im  Herzen  statt  fand.  Mei¬ 
stens  tödtete  die  Krankheit  unter  Erscheinung  der  Lungen- 
lähmung. 

Nun  auch  wird  der  chronische  Verlauf  der  Krankheit 
nicht  mehr  befremden.  Besteht  nämlich  die  Function  der 
Arachnoidea  nur  in  Absonderung  einer  bestimmten  Flüssig¬ 
keit,  so  konnte,  wenn  die  Quantität  derselben  nur  allmäh- 
lig  vermehrt  wird,  auch  nur  sehr  langsam  seine  Störung  in 
der  Function  des  Rückenmarkes  eintreten.  —  Dasselbe  Ver¬ 
hältnifs,  ja  fast  dieselben  Krankheitsstadien  sehen  wir  bei 
dem  sogenannten  Hydr.  ventric.  cerebr.  chron.,  wie  wir 
dies  in  einer  bald  zu  bearbeitenden  Monographie  über  die 
Entzündung  der  Arachnoidea  ausführlicher  nachzuweisen  ge¬ 
denken;  hier  genügt  es  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dafs 
auch  diese  Krankheit  viele  Jahre  bestehen  könne,  ohne  be¬ 
deutende  Störung  des  Organismus,  bis  erst,  nachdem  die 
Quantität  der  Flüssigkeit  sich  zu  sehr  angehäuft  hat,  die 


1)  K.  W.  Baumgärtner,  Ueber  die  Natur  und  Behand¬ 
lung  der  Fieber,  oder  Handbuch  der  Fieberlehre. 

2)  Annalen  für  die  gesarnrnte  Heilkunde,  miter  der  Rcdaction 
der  Mitglieder  der  Badenschen  Sanitälscommission. 

7  *  * 


100 


IV.  Riickenmarkkrankhcitcn. 


bekannten  bedenklichen  Symptome  eintreten  ’).  —  Auch 
hoffen  wir,  in  dieser  Monographie  eine  N  erwandtschafk  der, 
Ischias  nervosa  mit  dieser  Krankheit  darzuthun. 

Ks  ist  daher  auch  eine  durch  viele  Beobachtungen  be¬ 
stätigte  Erfahrung,  dafs  Rückefimarkkrankhciten  sehr  lange 
idiopathisch  bleiben  können,  und  nur  erst  wenn  sie  das 
Gangliensystem  und  Gehirn  in  ihren  Krankheitskreis  gezo¬ 
gen  haben,  wird  der  Verlauf  rascher  und  bedenklicher. 
Sehr  wahr  sagt  dies  Sachs  in  einem  ärztlichen  Gutachten 
über  eine  Kückenmarkkrankbeit 1  2 3),  und  ganz  in  der  Er¬ 
fahrung  begründet  fügt  er  hinzu:  «  Wo  Kückenmarkkrank¬ 
heiten  tüdtlich  werden,  da  geschieht  es  durch  Schlagllufs, 
Stickflufs  oder  Vegetationszerrüttung.  Nur  möchten  wir 
diesen  chronischen  Verlauf  nur  bei  einem  pathischen  Ver- 
hältnifs  der  Häute  annehmen,  nie  und  nirgends  aber  eine 
chronische  Myelitis  zugeben.  »  Wir  können  es  daher  nur 
als  einen  diagnostischen  Irrthum  betrachten,  wenn  l)r. 
Steeginan  J)  von  sich  selbst  sagt:  er  leide  schon  seit  elf 
Jahren  an  einer  chronischen  Myelitis,  deren  Hauptsymptom 
darin  bestehe,  dafs  er  seit  dieser  Zeit  keine  200  Schritte 
gehen  könne. 

Aus  der  eben  gerührten  Untersuchung  ergeben  sich 
nun  folgende  Resultate: 

1)  Lähmung  der  Extremitäten  ist  ganz  unabhängig  von 
der  Entzündung  des  Rückenmarkes  selbst. 

2)  Lähmung  der  Extremitäten  ist  bei  chronischem  Ver¬ 
laufe  meistens  abhängig  von  einem  vermehrten  Ex¬ 
sudat. 

3)  Dieses  abnorme  Exsudat  kann  nur  hervorgebracht 


1)  II  aase,  Chronische  Krankheiten.  Bd.  III.  AbtUcil.  2. 
S.  552. 

2)  Journal  der  praktischen  Heilkunde  von  Ilu  fei  and  und 
Osann.  Stück  VII.  Seite  100. 

3)  Archiv  für  prakt.  Erfahrung  von  Horn  und  Wagner. 
S  306  —  10 


IV.  Hückenmarkkrankheiten.  101 

werden  von  den  Hauten  des  Rückenmarkes,  und 
höchstwahrscheinlich  von  der  Aracbnoidea. 

4)  Der  Prozefs,  durch  den  dies- bewirkt  wird,  ist  höchst¬ 
wahrscheinlich  chronische  Entzündung  dieser  Haut. 

Diesen  letzten  Satz  müssen  wir  hier,  um  die  Gränzen 
dieses  Aufsatzes  nicht  zu  überschreiten,  vorläufig  ohne  un¬ 
terstützende  Gründe  lassen,  da  diese  von  Polemik  über  das 
"Wesen  der  Entzündung  unzertrennlich  sind.  Jeder  Billig¬ 
denkende  aber  wird  zugeben  müssen,  dafs  wir  mit  viel 
gröfserer  Wahrscheinlichkeit  eine  chronische  Entzündung 
der  Arachnoidea  anzunehmen  befugt  sind,  als  eine  solche 
des  Rückenmarkes  selbst. 

Werfen  wir*  nun  einen  Blick  auf  die  von  Mease  er- 

i 

zählten  Fälle,  so  finden  wir  sehr  viel  Uebereinstimmendes 
mit  dem  von  uns  erzählten  Falle.  — 

Der  erste  Fall  von  Mease  betraf  einen  40jährigen 
Mann,  welcher  ein  Jahr  nach  seiner  Wiederherstellung  von 
einem  Nervenfieber  eine  gewisse  Schwäche  und  ein  unan¬ 
genehmes  Gefühl,  erst  im  linken  Arm  und  der  Hand,  und 
dann  auch  im  rechten  Arme  wahrnahm.  Blasenpflaster  auf 
den  Arm,  der  Gebrauch  eines  eisenhaltigen  Wassers,  Ge- 
nufs  der  Bergluft,  nährende  Diät,  Hebung  der  Muskeln, 
Reibung  mit  reizenden  Mitteln,  kalte  und  warme  Bäder, 
blieben  unwirksam;  Injectionen  und  Elektricität  brachten 
einigen  vorübergehenden  Nutzen.  Verlust  der  Muskelkraft 
und  allgemeine  Schwäche  nahmen  immer  mehr  überhand, 
zuletzt  litt  auch  das  Vermögen  zu  sprechen  und  zu  schlucken; 

0 

der  Tod  machte  endlich  dem  Leiden  ein  Ende. 

Ziemlich  deutlich  sehen  wir  hier  die  von  uns  angege¬ 
benen  Stadien.  Einzelne  kleine  Verschiedenheiten  dürfen 
nicht  auffallen,  da  es  ja  wohl  bekannt  ist,  wie  viel  bei  Be¬ 
schreibung  einer  Krankheit  davon  abhängt,  nach  welchen 
Grundsätzen  man  sie  beurtheilt.  Seit  Kreysig  und  Testa 
die  Herzkrankheiten  beschrieben  und  auf  ihre  charakteristi¬ 
schen  Kennzeichen  aufmerksam  gemacht  haben,'  haben  die 

i 

Aerzte  viel  mehr  Herzkrankheiten  erkannt  und  behandelt, 


m 


V.  Venerisch  Krankheiten. 


als  früher ,  nicht  weil  sie  öfter  Vorkommen  als  früher,  son¬ 
dern  weil  wir  sie  richtiger  auf/.ufassen  gelernt  haben.  — 

Der  zweite  Fall  Mense’s  gehört  gar  nicht  hierher, 
so  viel  wir  davon  zu  urtheilen  im  Stande  sind,  betraf  er 
eine  Coxarthrocacc. 

Die  letzten  beiden  Fälle  sind  unvollständig ,  weil  sie 
noch  nicht  verlaufen  sind,  aber  schon  aus  der  dermali- 
gen  Beschreibung  erkennen  wir  die  beiden  ersten  Stadien 
unserer  Krankheit.  — 

Bemerkungen  über  die  Behandlung  der  eben  abgehan¬ 
delten  Krankheit,  die  wir  Arachnitis  chronica  zu  nennen 
nicht  umhin  können,  so  wie  die  gründlichere  Ausführung 
unserer  ausgesprochenen  Ansichten  müssen  wir  hier  über¬ 
gehen,  da  sie  in  unserer  Monographie  über  die  Entzündung 
der  Arachnoidea  einen  schicklicheren  Platz  finden  werden. 
Dort,  auch  wollen  wir  nachweisen,  dafs  der  Ausgang  dieser 
Krankheit,  wo  sie  nicht  geheilt  wird,  allemal  bestehe  in 
einer  Lähmung  der  Lungen,  wahrscheinlich  oder  vielmehr 
gewils  hervorgebracht  durch  ein  pathisches  Verhältnis  des 
Nervus  vagus. 


V. 

f 

T r a i t 6  c  o  m  p  1  e  t  des  m a  1  a d i e s  veneriennes, 
contenant  l’exposition  de  leurs  symptomes  et  de 
leur  traitement  rationnel,  d’apres  les  principes  de 
la  medecine  organique,  avec  Ihistoire  critique  des 
tlieories  et  des  methodes  curatives  gcneralement 
re^ues;  par  A.  J.  L.  Jourdan,  Dr.  en  in  cd.,  cbe- 
vaher  de  la  iegion  d  honneur,  inembre  des  acade- 
mies  royales  de  medecine  ä  Paris  etc.  Paris, 
Meqaignon  rMarvis,  libraiie  editeur,  rue  du  Jar- 


103 


V.  Venerische  Krankheiten. 

dinet  No.  13.  1826.  2  Voll.  8.  1  —  430  und 

431  —  916.  Mit  dem  Motto:  Dans  letudc  des 
maladies  il  faut  voir  et  non  supposer.  Baumes. 

Der  Verfasser  stellt  in  den  zwei  Bänden .  dieses 
Werkes  eine  neue  Ansicht  von  der  Natur  und  Heilung 
der  venerischen  Krankheiten,  nach  den  Grundsätzen  der 
organischen  Medicin  auf.  Um  nun  gleich  den  Grundton, 
aus  welchem  er  seine  neue  Lehre  vorträgt,  anzugeben,  sei 
hier  angeführt,  dafs  er  durch  eine  Analyse  der  Symptome 
in  den  verschiedensten  Formen  der  Syphilis,  durch  kriti¬ 
schen  Ueberblick  der  Geschichte,  der  gesammten  alten  und 
neuen,  in-  und  ausländischen  Litteratur,  durch  kritische 
Beleuchtung  der  Heilmittel  und  Heilmethoden,  so  wie  durch 
Hinweisen  auf  analoge  Krankheitsformen  zu  beweisen  sucht, 
dafs  die  allgemein  verbreitete  Theorie  von  ei¬ 
nem  venerischen  Gifte,  so  wie  die  darauf  gestützte 
specifische  Heilmethode  falsch  sei,  und  dagegen  eine,  auf 
allgemeinen  einfachen  Principien  beruhende  Ansicht  von  der 
Natur  und  Heilung  der  venerischen  Krankheiten  angenom¬ 
men  werden  müsse.  Diese  Ansicht  findet  in  Frankreich 
hier  und  da  Beifall,  und  haben  sieb  ihre  Verteidiger  auch 
mancher  Paradoxieen  und  Uebereilungen,  die  nicht  sie,  son¬ 
dern  ihre  Kranken  zu  btifsen  gehabt  haben,  schuldig  ge¬ 
macht,  so  glauben  wir  doch^  sie  mit  Unparteilichkeit  wür¬ 
digen  zu  müssen,  was  am  besten  durch  die  kritische  Darle¬ 
gung  des  Inhaltes  dieser  Schrift  geschehen  kann. 

Das  Ganze  zerfällt  in  drei  Bücher: 

1)  "von  den  venerischen  Krankheiten,  wie  sie 
sich  in  ihren  Symptomen  offenbaren. 

2)  Von  den  Theorieen  und  der  Geschichte  der 
venerischen  Krankheit. 

3)  Ueber  die  Behandlung  derselben. 

Im  ersten  Buche  beginnt  der  Verf.  im  ersten  Abschnitt 
(Kap.  1.)  mit  den  primären  venerischen  Krank¬ 
heiten,  die  sich  durch  Entzündung  der  Schleim 


I 


104 


X.  V  onerische  Krankheiten. 


häute  c  h  a  ra  k  teris  i  re  n.  Sic  bestehen  am  häufigsten  in 
einer  Entzündung  der  Schleimhäute.  Alle  Membranen  die¬ 
ser  Art  können  davon  ergriffen  werden,  doch  Lage  und 
Bestimmung  setzen  sie  nicht  alle  gleichen  und  gleich  häufi¬ 
gen  Gelegenheitsursachen  aus;  aufser  der  Schleimhaut  des 
Magens  ist  keine,  die  so  häufig  der  Gefahr  der  Reizung 
ausgesetzt  wäre,  als  die  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane 
(Membrane  genito  -  uriuaire  ).  Man  beobachtet  jedoch  ähn¬ 
liche  Entzündungen  an  den  beiden  Extremitäten  der  Schleim¬ 
haut  der  Digestionswege,  an  dem  Auge,  der  Nase,  den 
äulseren  Gehörgängen;  sie  sind  selten,  doch  können  sie  zu¬ 
fällig,  oder  durch  Unreinlichkeit,  oder  wie  es  am  meisten 
der  Fall  sein  mag,  durch  naturwidrige  Ausschweifungen 
entstehen. 

Der  Gang  der  venerischen  Entzündung  äufserer  Schleim¬ 
häute,  ist  ganz  derselbe,  wie  der  durch  jede  andere  Ursache 

hervorgerufenen  Entzündung;  auch  sind  ihre  Wirkungen 

* 

dieselben,  nur  deutlicher  ausgesprochen. 

Die  Symptome  variiren  nach  dem  Grade  der  Reizung; 
der  chronisch -entzündliche  Zustand  ist  schlimmer  und  ge¬ 
fährlicher  wegen  der  organischen  Veränderungen,  zu  denen 
er  Veranlassung  giebt,  welche  ins  Unendliche  abweichen, 
nach  der  Textur  «1er  ergriffenen  Organe,  und  unter  denen 
cfle  fibrösen,  cartilaginöscn  und  carcinomatösen  Entartungen 
die  häufigsten  sind.  Auch  bilden  diese  Entzündungen  aufse- 
rcr  Schleimmembranen  öfters  Veranlassung  und  die  wahre 
Causa  proxima  intermittirender,  und  noch  öfter  hectischer 
Fieber  (?>. 

Die  Entzündung  der  Schleimmembranen  der 
Ilarn-  und  Geschlechtswerkzeuge  beim  Manne 
(Aft.  E)  ist  innerlich  und  äufserlich  (Balanitis  und  Ure¬ 
thritis).  Der  Vcrf.  hält  es  für  sehr  wahrscheinlich,  dafs 
die  reizende  Ursache  sich  immer  erst  auf  die  Eichel  werfe, 
und  sich  von  da  auf  die  Harnröhre,  als  Fortsetzung  ihrer 
Bekleidung,  fortpflanze,  welche  viel  empfänglicher  für  die 
Einwirkung  eines  fremden  Reizes  sei.  Wie  der  Tripper 


V.  Venerische  Krankheiten.  105 

entstehe,  hat  man  sich  auf  verschiedene  Weisen  erklärt, 
die  sich  auf  folgende  zwei  zurückfiihren  lassen: 

1)  Das  reizende  Prinzip  wird  von  den  lymphatischen 
Gefäfsen  der  Eichel  absorbirt;  welche  es  alsbald  in 
die  Fossa  navicularis  *ablagern. 

2)  Die  reizende  Ursache  wird  durch  die  Urethra  aufge¬ 
pumpt,  welche  auf  dieselbe  wie  ein  Saugheber  wirkt. 

Die  erste  streitet  gegen  anatomische  Thatsachen ,  indem 
es  keine  lymphatischen  Gefäfse  giebt,  welche  von  der  Eichel 
zur  Harnröhre  führen;  die  zweite  gegen  die  Gesetze  der 
Phy  sik;  beide  endlich  gegen  die  Principien  der  Physiologie. 

Von  der  Entzündung  der  Eich  ei  (Balanitis). 
Welches  auch  der  Ursprung  der  Entzündung  der  Eichel 
ist,  der  daraus  entstehende  Ausflufs  bietet  immer  dieselben 
Erscheinungen  dar.  Man  könne  es  nicht  unterscheiden, 
sagt  der  Verf.,  ob  er  aus  Unreinlichkeit,  wegen  Enge  der 
Vorhaut,  oder  durch  Umgang  mit  verdächtigen  Weibern 
entstanden  sei.  Merat  erzählt  eine  Beobachtung,  wo  ein 
Mann  mit  einem  Eicheltripper  seine  Frau  zu  zwei  verschie¬ 
denen  Zeiten  so  ansteckte,  dafs  sie  eine  förmliche  Blennor- 
rhagie  bekam;  er  wurde  durch  Operation  geheilt,  und  spä¬ 
ter  fand  keine  Ansteckung  mehr  statt. 

Von  der  Entzündung  der  Harnröhre  (Urethri¬ 
tis).  Der  Verf.  glaubt  nicht,  dafs  die  Erscheinung  eines 
Trippers  6  Wochen,  58  Tage  oder  gar  mehre  Monate  (nach 
Hunter,  Bell,  Duncan  und  Swediaur)  sich  verzögern 
könne,  sondern  man  bemerke  die  Spuren  oft  schon  einen 
Tag,  ja  sogar  einige  Stunden  nach  dem  Beischlaf,  in  sel¬ 
tenen  Fällen  treten  sie  erst  nach  10,  12,  15,  20  —  30  Ta¬ 
gen  ein.  Der  Verf.  glaubt,  dafs  Morgagni  recht  habe, 
wenn  er  behaupte,  dafs  die  Krankheit  die  Fossa  navicularis 
im  Anfänge  betreffe,  und  dafs  später  bei  den  meisten  Män¬ 
nern  sie  sieb  sehr  weit  in  den  Canal  hinein  erstrecke. 
Cullerier  und  Delpech  kommen  indessen  der  Wahrheit 
noch  näher,  wenn  sie  annehrnen,  dafs  der  Sitz  des  Uebels 
nicht  auf  einen  Punkt  beschränkt  sei.  Der  Verf.  stellt 


106  V.  Venerische  Krankheiten. 

Folgendes  auf,  in  Rücksicht  des  Sitzes:  Oie  Entzün¬ 
dung  kann 

1)  sich  auf  einen  Theil  der  Schleimhaut  der  Harnrohre 
beschränken,  was  nur  im  Anfänge  statt  hat,  oder 
wenn  sie  sehr  leicht  ist; 

2)  allmählig  den  ganzen  Kanal  einnehmen,  und  sich 
seihst  weiter  erstrecken; 

3)  sich  auf  verschiedenen  Punkten  fixiren,  entweder  zil- 
gleich  oder  vor  und  nach;  ihren  Platz  verändern; 
sich  abwechselnd  von  eihem  Punkte  auf  einen  oder 
mehre  andere  begehen; 

4)  sich  entwickeln,  wachsen,  halten,  und  abnehmen, 
an  einem  Orte,  in  dem  Momente,  wo  die  Verände¬ 
rungen  der  Symptome  das  nahe  Ende  anzuzeigen 
scheinen,  sich  auf  einem  tiefer  liegenden  Punkte  er¬ 
neuern,  indem  sie  hier  die  Reihefolge  derselben  Pe¬ 
rioden,  und  zuweilen  wichtigerer  Symptome  zeigt; 

5)  endlich,  wenn  sie  sich  vor  und  nach  auf  verschie¬ 
denen  Punkten  zeigt,  kann  sie  bald  eine  genaue  Ver¬ 
bindung  zwischen  den  Symptomen  irgend  einer  an¬ 
dern  Krankheit,  bald  auch  keine  Spur  dieser  Ver¬ 
bindung  zeigen,  und  mehre  Tage  zwischen  dem 
Ende  der  einen  und  dem  Anfänge  der  andein  Af- 
fection  verlaufen  lassen. 

Dies  gelte  besonders  von  der  mehr  ervsipelatösen  Ent¬ 
zündung  der  Fläche.  Was  der  Verf.  ferner  in  diesem  Ar¬ 
tikel  von  der  trockenen  Entzündung  der  Harnröhre  (die 
gewöhnlich  mit  Strangurie  verbunden  ist),  von  den  Ab- 
weichungen  des  Trippers  in  Rücksicht  des  Einflusses,  den 
die  Krankheit  auf  nähere  und  entferntere  Theile  äufsert, 
in  Hinsicht  der  Ausgänge  der  Krankheit  und  ihrer  Compli- 
cationen  sagt,  ist  durchweg  interessant  und  zeugt  von  ge¬ 
nauer  Beobachtung.  Er  schliefst  diesen  Artikel,  indem  er 
von  den  Ursachen  spricht,  welche,  aufser  dem  Beischlaf, 
Harnröhrenentzündung,  und  somit  ansteckenden  Ausflufs 
veranlassen  können,  und  ist  der  Meinung,  dafs  jede 


107 


,  \ 


V.  Venerische  Krankheiten. 

Entzündung  mehr  oder  weniger ,  je  nach  ihrem  Grade 
und  nach  der  Constitution  des  davon  betroffenen  Indi¬ 
viduums  ,  ein  ansteckendes  Secret  liefern  könne ,  was 
durch  die  giftige  Beschaffenheit  des  Secretes  bei  Entzün¬ 
dungen  seröser  Häute  allerdings  sehr  wahrscheinlich  ge¬ 
macht  wird.  (  -  - 

Von  der  Wedekin dschen  Bemerkung  hinsichtlich  der 
Drüsen  in  der  Fossa  navicularis  hält  der  Verf.  nichts,  in¬ 
dem  er  dieselben  bei  zwei  Subjekten  sehr  stark  entwickelt 
gesehen  hat,  die  nie  einen  Tripper  gehabt  hatten. 

Der  Verf.  setzt  also  das  Wesen  des  Trippers  in 
eine,  durch  Reizung  entstandene  Entzündung  der 
Schleimhaut  der  Harnröhre,  und  ist  der  Meinung,  dafs 
jeder  Mann,  der  mit  einem  Ausflufs,  selbst  mit  dem  gut¬ 
artigsten  behaftet  ist,  sich  bis  zur  völligen  Heilung  des 
Umgangs  mit  Weibern  enthalten  müsse. 

In  der  (Art.  II.)  Geschichte  der  Entzündung  der 
Schleimhaut  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane  beim  Weibe, 
heilst  es  am  Schlufs:  Die  natürliche  Folgerung,  die  man 
aus  diesen  Thatsachen  zieht,  ist:  dafs  nach  Art  aller  Schleim¬ 
membranen  die  der  Harn-  und  Geschlechtsmembran  beim 
Weibe,  wenn  sie  bis  zu  einem  gewissen  Grade  entzündet 
ist,  ein  Secret  liefert,  das,  auf  eine  andere  gesunde  Schleim¬ 
haut  gebracht,  im  Stande  ist,  eine  Reizung  zu  erzeugen, 
in  deren  Folge  sich  eine  mehr  oder  minder  heftige  Entzün¬ 
dung  entwickelt,  je  nach  dem  Grade  der  Intensität,  mit 
der  die  krankhafte  Flüssigkeit  gewirkt  hat,  oder  der  Em¬ 
pfänglichkeit  des  Gewebes,  worauf  sie  gelangt  war.  Die 
Klugheit  gebietet  also,  dafs  man  sich  des  genauen  Umgangs 
mit  einer  Frau  enthalte,  deren  Scheidenschleimhaut,  selbst 
in  geringerem  Grade,  entzündet  ist,  welches  auch  die  Ur¬ 
sache  davon  sein  mag,  denn,  wenn  man  auch  zuweilen 
solche  Frauen  ungestraft  besuchen  kann,  der  Gewohnheit 
wegen,  oder,  wovon  manche  Männer  ein  Beispiel  geben 
aus  Mangel  an  Empfänglichkeit;  so  beweist  doch  die  täg¬ 
liche  Erfahrung  ohne  Widerrede,  dafs  das  contagiöse  Prin 


108 


V.  Venerische  Krankheiten. 


zip  sich  während  des  IJeischlafes  mehr  entwickelt,  oder 
eine  gröfsere  Thätigkeit  aufsert,  sei  es,  wegen  der  Hitze 
und  der  grölseren  Turgesccnz  der  Geschlechtstheile,  sei  es, 
weil  diese  während  des  Actes  empfänglicher  sind  für  die 
Einwirkung  jedes  reizenden  Einllusses. 

In  den  Artikeln  III.  his  ^  II.  handelt  der  Verf.  von 
den  Entzündungen  der  Schleimmembranen  des  Auges,  der 
Nase,  des  äufseren  Gehörganges  und  des  inneren  Ohres,  des 
Mundes  und  des  Mastdarms.  Am  Schlüsse  des  letzten  Ar¬ 
tikels  heifst  es:  Unter  allen  Zufällen,  die  so  eben  beschrie¬ 
ben  sind,  ist  kein  einziger,  der  nicht  von  Hämorrhoiden 
abhängen  könnte  (?),  und  der  nicht  hei  dieser  Krankheit 
häufig  aufträte,  und  nur  die  Kenntnifs  der  Sitten  des  Kran¬ 
ken  erlaubt  uns,  diesen  krankhaften  Abweichungen  einen 
venerischen  Ursprung  zuzuschreiben,  indem  die  Symptome 
in  beiden  Fällen  ganz  dieselben  sind. 

Zweites  Kapitel.  Von  den  primären  venerischen 
Krankheiten,  die  sich  durch  Verschwärung  der 
aufseren  Schleim membranen  Charakter isi re n. 

Den  Namen  Schanker,  den  der  Verf.  mit  Hensler 
von  Caries,  Cariolus  ableitet,  verwirft  er,  weil  er  zu  sehr 
die  Idee  von  einem  fressenden,  um  sich  greifenden  Ge¬ 
schwüre  erwecke.  Die  Zahl  der  Schanker  verhält  sich  zu 
der  der  Tripper,  nach  Hunter,  wie  1  :4  —  5,  nach  Bell 
wie  1  :  3.  Die  Zeit  des  Ausbruchs  nach  der  Ansteckung 
ist  unbestimmt,  und  schwankt  zwischen  drei  Stunden  und 
vier  bis  sechs  Wochen.  (Hunter.)  Nachdem  der  \  erf. 
die  drei  Arten  von  Schanker  (den  gutartigen,  fressenden 
und  brandigen)  beschrieben,  sagt  er:  diese  Hauptunter¬ 
schiede,  zwischen  denen  eine  Menge  Zwischenstufen  sind, 
hängen  von  dem  Grade  der  Entzündung,  der  Empfänglich¬ 
keit  des  Subjekts  und  einer  Menge  äufserer  Umstände  ab, 
unter  denen  man  den  Einflufs  des  Kegimens,  der  Lebens¬ 
art,  des  Zustandes  anderer  Organe  und  der  Behandlung 
obenan  stellen  mufs.  Im  ersten  Artikel  handelt  er  von 
den  Geschw  üren  derVorhant  und  des  Bändchens; 


V.  Venerische  Krankheiten. 


109 


im  Art.  II.  von  den  Geschwüren  der  Eichel;  hier 
bemerkt  er  S.  130:  das  Ansehen  eines  Geschwüres  des  Glie¬ 
des  erlaubt  niemals  einen  Schlufs  auf  die  Ursache,  weil  eine 
Menge  von  Umständen,  äufsere  und  innere,  dieses  Ansehen 
ins  Unendliche  verändern,  je  nach  dem  Grade  der  Energie 
den  sie  der  entzündlichen  Reaction  aufdrücken.  Er  leugnet 
ferner  die  Diagnose  aus  Farbe  und  Geruch  des  Eiters; 
Bell  selbst,  sagt  er,  mufste  diese  unläugbare  Wahrheit 
anerkennen,  indem  er,  wie  Hunter,  die  Diagnose  auf  den 
Verlauf  gründete. 

Der  dritte  Artikel  handelt  von  den  Geschwüren 
der  Harnröhre,  und  der  vierte  von  den  Geshwüren 
auf  der  Schleimhaut  der  Harn  -  und  Geschlechts¬ 
organe  des  Weibes.  Die  Ursachen,  die,  aufser  dem 
Beischlaf,  noch  Geschwüre  erregen  können,  sind:  Einbrin¬ 
gen  eines  grofsen  harten  Körpers  (bei  der  Nothzucht  er¬ 
folgen  häufig  solche  Geschwüre,  woraus  sich  nach  der  be¬ 
stehenden  Theorie  der  Thäter  einen  Beweis  seiner  Unschuld 
entnehmen  könnte),  Jucken  der  Geschlechtstheile  von  Pru¬ 
rigo,  Leucorrhöe,  Hämorrhoiden,  Ascariden  im  Rectum, 
Schwangerschaft,  Vorfall  der  Scheide  und  Gebärmutter, 
Unreinlichkeit  u.  s.  w. ,  mit  einem  Worte,  alle  Reizungen 
dieser  Schleimhaut,  sie  mögen  direct  oder  sympathisch  sein, 
können  dort  eine  chronische  oder  acute  Entzündung  erre¬ 
gen,  die  mit  Verschwärungen  complicirt  ist,  deren  Ober¬ 
fläche  eine  eiterförmige  Flüssigkeit  absondert,  und  die  man 
durchaus  nicht  im  Stande  ist  von  venerischen  Schankern  zu 
unterscheiden,  denn  sie  nehmen  alle  Gestalten  an,  welche 
diese  letzten  annehmen,  erregen  dieselben  Zufälle,  und 
können  selbst  in  gewissen  Fällen  ansteckend  sein ,  d.  h.  eine 
Flüssigkeit  absondern,  welche  die  gesunden  Schleimflächen, 
die  mit  ihr  in  Berührung  kommen,  reizt  und  entzündet. 

Art.  V.  \on  den  Geschwüren  der  Brustwarze 
und  des  Hofes  derselben.  Es  ist  unmöglich  (??)  sagt 
hier  der  Verf. ,  die  venerischen  Geschwüre  von  denen  zu 
unterscheiden,  welche  durch  gewaltsames  Saugen  verur- 


110 


V.  Venerische  Krankheiten. 

,  » 

sacht  sein  können;  er  will  diese  sogar  zuweilen  von  Pusteln 
auf  entfernten  Hauptstellen  begleitet  gesehen  haben,  ohne 
dafs  man  den  geringsten  Verdacht  in  Hinsicht  der  Auffüh¬ 
rung  der  Frau  hätte  hegen  können;  indessen  müsse  man 
gestehen,  dafs  die  Geschwüre  der  Brustwarze,  die  von  dem 
reinen  und  gesunden  Munde  eines  Kindes  entstehen,  eher 
heilen,  als  die,  welche  von  einem  Munde  der  mit  Geschwü¬ 
ren  und  Bläschen  besetzt  ist,  entstehen;  dies  verhalte  sich 
eben  so  bei  allen  Verschwärungen;  die  durch  mechanische 
Reizung  entstandenen  heilen  eher,  als  wenn  sie  ihre  Ent¬ 
stehung  der  Application  einer  entzündeten  oder  geschwüri-’ 
gen  Fläche  verdanken.  (Dies  wäre  doch  der  Theorie  der 
französischen  Noncontagionisten  ganz  entgegen!) 

Art.  VI.  Von  den  Geschwüren  der  Nasen¬ 
schleimhaut.  Nachdem  er  die  Ausgänge  der  Nasenge- 
schwüre  (Carba,  Krebs,  hektisches  Fieber,  Tod)  aufge¬ 
führt  hat,  sagt  der  Verf.:  Indessen  ist  es  wahr,  dafs  ein 
so  schrecklicher  Zustand,  wenn  nicht  immer,  doch  in  der 
bei  weitem  grüfsten  Zahl  der  Fälle,  Folge  der  Uhlen  Heil¬ 
methoden  ist,  welche  von  Anfang  au  befolgt  worden  sind 
(sehr  wahr!);  ferner:  Pocken,  Ausrottung  eines  Polypen, 
chronischer  Catarrh,  Entzündung  durch  reizende  Dinge, 
Quetschungen ,  besonders  Flechten,  können  ebenfalls  Ge¬ 
schwüre  erzeugen,  die,  wenn  die  begleitende  Entzündung 
oberflächlich  bleibt,  und  wenig  sich  ausdehnt,  eine  geruch¬ 
lose  Feuchtigkeit  absondern,  im  Gegentheil  aber  dieselben 
Symptome  hervorbringen,  wie  die  venerische  Ozaena.  Diese 
also  scheint  sich  von  den  andern  nur  dadurch  zu  unter¬ 
scheiden,  dafs  sie,  weil  sie  gewöhnlich  einen  tieferen  Sitz 
hat,  nur  dann  anfängt  bemerkt  zu  werden,  wenn  das 
Umsichgreifen  der  Entzündung  die  Theile  schon  sehr  desor- 
ganisirt  hat.  (??) 

Art.  VII.  Von  den  Geschwüren  des  Mundes. 
Der  Verf.  sucht  zu  beweisen,  dafs  die,  besonders  in  öffent¬ 
lichen  Anstalten  bei  Kindern  so  häufig  vorkommenden  und 
für  venerisch  gehaltenen  Ausschläge  des  Mundes,  der  Scheide, 


V.  Venerische  Krankheiten. 


111 


des  Afters  u.  s.  w.  nicht  venerisch  seien,  sondern  von  chro¬ 
nischer  Reizung  der  Eingeweide  herrühren.  Die  Erb¬ 
lichkeit  der  venerischen  Krankheit  leugnet  der 
Yerf.  geradezu.  Auch  bei  Neugebornen  vorkommende 
Geschwüre  des  Mundes  oder  der  Scheide,  seien  Folgen 
einer  sich  bis  ins  Fötalleben  hinauf  erstreckenden  Reizung 
entweder  der  ersten  Wege,  oder  der  Scheide,  und  wenn 
ein  solches  mit  Bläschen  und  Geschwüren  des  Mundes 
behaftetes  Kind  die  Brust  der  Mutter  oder  der  Amme  an¬ 
stecke,  so  sei  dies  ganz  natürlich,  und  kein  Beweis,  dafs 
diese  Bläschen  venerisch  seien.  (Sehr  oberflächlich!) 

Eben  so  wenig  genügen  die  Unterscheidungsmerkmale 
venerischer  Mundgeschwüre  Erwachsener  von  scorbutischen, 
mercuriellen  und  catarrhalischen  Geschwüren. 

Art.  VIII.  Von  den  Geschwüren  des  After¬ 
randes  und  des  Innern  des  Mastdarms.  Hämor¬ 
rhoidalgeschwüre  und  Mastdarmzerreifsungen  gleichen  sehr 
den  venerischen  Exulcerationen  des  Afterrandes,  in  dem 
Grade,  dafs  man  nach  Verlauf  einer  gewissen  Zeit  sie  nicht 
mehr  unterscheiden  kann. 

Die  Abhandlung  von  den  Geschwüren  der  Augenbin¬ 
dehaut  und  des  äufseren  Gehörganges  (Art.  IX.  X.)  ent¬ 
hält  das  Bekannte. 

Bei  den  Bubonen  (Art.  XI.)  sucht  der  Verf.  ebenfalls 
darzuthun,  dafs  die  hier  vorkommenden  Verschwärungen 
eben  so  gut  von  allen  andern  Reizungen  nahe  liegender 
Th  eile,  von  Unterdrückungen  natürlicher  und  gewohnter 
Ausleerungen,  von  Hämorrhoiden,  vom  Gebrauch  der  Son¬ 
den  und  Bougies,  von  unterdrückten  Hautausschlägen  u. 
s.  w.  entstehen  können.  (?) 

Drittes  Kapitel.  Von  den  primären  venerischen 
Krankheiten,  welche  sich  durch  Entzündung 
oder  Verschwärung  der  Haut  charakterisiren. 
Es  besteht  auch  hier,  wie  bei  den  Schleimhäuten,  weder 
in  der  Form,  noch  im  Aussehen,  noch  in  der  Farbe  der 
Hautgeschwüre  irgend  ein  charakteristisches  Kennzeichen, 


112 


V.  Venerische  Krankheiten. 


nach  dem  man  befugt  wäre,  anzunehmen,  dafs  die  Krank¬ 
heit  vom  .Beischlaf  eher,  als  von  einer  anderen  Ursache 
entstanden  sei,  oder,  mit  andern  "W  orten,  jede  reizende 
Ursache,  welche  sie  auch  sein  möge,  wenn  sie  auf  die  Haut 
oder  Schleimmembranen  wirkt,  erregt  dort  krankhafte  Er- 
scheinungen,  die  sich  untereinander  vollkommen  ähnlich 
sind,  sobald  die  Ursachen,  welche  den  Kranken  seihst  he- 
treffen,  dieselben  sind.  ”  (Sehr  vage,  und  in  Y\  iderspruch 
mit  den  bisherigen  Erfahrungen. ) 

Viertes  Kapitel.  \on  den.  primären  venerischen 
Krankheiten,  die  sich  durch  Auswüchse,  oder 
.Vegetationen  charakterisiren.  Nachdem  der  Verf. 
die  verschiedenen  Formen  derselben,  und  ihren  verschiede¬ 
nen  Sitz  aufgeführt,  und  der  Meinung  Be  II ’s  und  11  ein¬ 
te  r’s,  dafs  99  von  100  blofs  Localübel  seien  und  nur  ört¬ 
licher  Behandlung  bedürfen,  beigetreten  ist,  behauptet  er 
am  Schlüsse:  dafs  sie  durchaus  kein  Beweis  venerischer 
Krankheit  seien,  und  eine  Menge*  anderer  Ursachen  diesel¬ 
ben  hervorrufen  können.  (  Welche  Diagnostik!) 

Zweiter  Abschnitt.  Von  den  secundären  veneri¬ 
schen  Krankheiten.  Die  Krankheiten,  die  nach  einem 
unreinen  Beischlafe  erfolgen,  w-erden,  so  lange  sie  ihren 
ursprünglichen  Sitz  einnehmen  und  nur  auf  die  Geschlechts- 
theile  sich  beschränken,  jede  mit  einem  besonderen  Namen 
belegt.  Anders  ist  es,  wenn  krankhafte  Erscheinungen  in 
gröfsercr  oder  kleinerer  Anzahl  sich  in  Theilen  entwickeln, 
die  mehr  oder  w-eniger  entfernt  von  denen  sind,  welche 
der  Sitz  primärer  venerischer  Krankheiten  waren.  Die  Pa¬ 
thologen  nehmen  alsdann  au,  dafs  diese  Zufälle  nicht  allein 
mit  jenen,  sondern  auch  unter  sich  in  einem  genauen  Cau- 
salnexus  stehen,  und  dafs  sie  eine,  von  allen  andern  abge¬ 
sonderte  Krankheitsgattung  ausmachen;  demnach  umfassen 
sie  sie  alle  unter  dem  Uollectivnamen :  Syphilis,  Veröle,  con¬ 
stitutioneile  oder  allgemeine  venerische  Krankheit.  (Und 
doch  wohl  mit  vollkommenem  Rechte!) 


Erstes 


V.  \onerische  Krankheiten. 


113 

Erstes  Kapitel.  Von  deu  secundären  veneri¬ 
schen  Krankheiten  im  Besonderen.  Sie  werden  zu- 
rückgeführt  auf  die  Affectionen  des  lymphatischen  Systems, 
des  Systems  der  Schleimmembranen,  der  Haut,  des  fibrösen, 
des  Knochensystems ,  des  Systems  der  serösen  Membranen, 

und  des  Nervensystems. 

•> 

Artikel  L  Von  den  secundären  venerischen 
Krankheiten,  die  ihren  Sitz  im  Lymphsystem  ha¬ 
ben.  Die  secundären  Bubonen  unterscheiden  sich  in  nichts 
von  den  primären,  als  dafs  sie  mehr  Neigung  haben,  einen 
chronischen  Verlauf  anzunehmen.  (?) 

Artikel  II.  Von  den  secundären  venerischen 
Krankheiten,  die  ihren  Sitz  imx  System  der 
Schleimhäute  haben.  Alle  Schleimhäute  können  in 
Folge  oder  während  einer  primären  venerischen  Affectiou 
gereizt,  entzündet  und  geschwiirig  werden,  sogar  die  Schleim¬ 
haut  des  Magens  wird  oft  nicht  ver^phont,  obgleich  sie  von 
der  unmittelbaren  Berührung  des  Giftes  nicht  afficirt  zu 
werden  scheint.  Der  Verf.  will  eben  dieser  Reizung  das 
Verborgensein  und  spätere  Hervortreten,  das  syphilitische 
Fieber,  das  häufig  bei  Behandlung  ohne  Quecksilber,  noch 
häufiger  aber  bei  Behandlung  mit  diesem  vorkomme,  zu¬ 
schreiben.  Ein  primäres  venerisches  Geschwür  hat  selten 
so  viel  Einflufs  auf  die  anderen  Schlefmmembranen,  dafs  es 
wirklich  Entzündung  in  ihnen  hervorruft,  es  stimmt  sie 
nur  empfänglicher  für  andere  äufsere  Reize;  deswegen  wird 
oft  die  Schleimhaut  des  Mundes,  der  Nase,  des  Auges,  des 
Afters,  der  Sitz  consecutiver  Reizungen,  weil  sie  äufseren 
Reizen  am  meisten  ausgesetzt  und  von  Natur  reizempfäng¬ 
licher  sind.  (Eine  ziemlich  gezwungene,  auf  keine  Ana^- 
logie  gestützte  Erklärungsweise,  die  freilich  folgerecht  aus 
diesem  System,  aber  nicht  aus  einer  vorurteilsfreien  Un¬ 
tersuchung  der  Thatsachen  hervorgeht.  Welche  Klarheit 
bietet  dagegen  die  hergebrachte  Lehre  vom  Contagium,  und 
eine  gemäfsigte  Ilumoralpathologie  dar!)  T  hränensackge- 
schwulst,  Thränenfistcl,  Ohrensausen,  Ohrenklingen,  Lun- 

8 


xiv.  r,d.  1.  st. 


1 14 


V.  Venerisc  he  Krankheiten. 


gencatnrrh  und  Luftröhrenschwindsucht  können  siel»  auf 
diese  Weise  in  Folge  syphilitischer  Heizung  benachbarter 
Schleimhäute  entwickeln;  eben  so  Asthma,  Hämoptysis, 
Lungenentzündung,  Lungenschwindsucht,  nicht  minder  Iri¬ 
tis,  Hypopion,  Cataracta  und  Glaucom,  venerische  Auszeh¬ 
rung  und  Atrophie.  Indem  ich,  sagt  der  Verf.  darauf, 
diese  lange  Reihe  pathischer  Krschcinungen ,  welche  viele 
Schriftsteller,  namentlich  Astruc  und  seine  Nachfolger, 
unter  die  Folgen  der  venerischen  Krankheiten  zählen,  auf- 
slelle,  hin  ich  weit  entfernt  zu  behaupten,  dafs  ihre  Ver¬ 
bindung  mit  diesen  letzten  (obgleich,  streng  genommen, 
möglich)  in  die  Augen  springend,  bewiesen,  oder  selbst 
immer  wahrscheinlich  sei.  Man  beobachtet  sie  o  fl  genug, 
das  ist  wahr,  bei  Subjecten,  welche  von  der  venerischen 
Krätze  befallen  waren  oder  es  noch  sind,  aber,  die  Rchaud- 
lungsweise,  die  Prädisposition,  der  directe  Einflufs  äufserer 
Reize  auf  die  Organe,  und  der  von  Krankheiten  anderer 
Theile  des  Körpers,  mit  denen  diese  in  genauer  Wechsel¬ 
beziehung  stehen,  sind  gewifs  die  Haupt-,  vielleicht  die 
einzige  Quelle  derselben.  (??)  Indessen  schadet  diese  Dun¬ 
kelheit  der  Analogie  nichts,  oder  gerade,  weil  sie  dunkel 
ist,  glaubt  man  die  Schwierigkeit  zu  heben,  indem  man 
den  zweifelhaften  Fall  als  eine  verlarvte,  maskirte,  verbor¬ 
gene  oder  gar  entartete  Svpbilis  betrachtet.  Fs  wäre  ver¬ 
ständiger  gewesen,  die  Verbindung,  welche  die  für  syphi¬ 
litisch  erklärte  Affection  mit  der  vorhergehenden  venerischen 
Krankheit  hat,  in  ein  klares  Licht  zu  setzen;  man  würde 
bald  eingesehen  haben,  dafs  diese  Verbindung  nur  habe 
können  angenommen  werden,  wenn  es  keine  andere  Weise 
gäbe,  die  krankhaften  Symptome  zu  erklären,  und  wenn  es 
unmöglich  wäre,  diese  dem  unmittelbaren  Einflüsse  äufserer 
Ursachen  auf  die  Organe,  welche  der  lieerd  derselben  .sind, 
oder  dem  sympathischeu  Einflüsse  auf  anderen  Organen  haf¬ 
tender  Heizungen,  zuzusthreihen ;  doch  die  gewohnte  Me¬ 
thode  verträgt  sich  besser  mit  der  Trägheit  des  mensch¬ 
lichen  Geistes.  Hunter  war  sehr  durchdrungen  von  dieser 


V.  Venerische  Krankheiten.  11 5 

WTahrheit,  indem  er  behauptete,  dafs,  so  wie  eine  Krank¬ 
heit  sich  zeigt.,  über  welche  der  Arzt  in  Verwirrung  gc- 
räth,  sich  gleich  die  venerische  seinem  Geiste  darstellt. 
Wenn,  fügt  er  hinzu,  diese  Idee  ihn  zu  einer  genauen  Un¬ 
tersuchung  vermöchte,  so  wäre  das  ein  Vortheil,  aber  in 
den  meisten  Fällen  dient  sie  nur,  ihn  selbst  zu  befriedigen. 

Artikel  III.  Von  den  secundären  venerischen 
Krankheiten,  welche  ihren  Sitz  im  Hautsystem 
und  dessen  Anhängsel  haben.  Nachdem  der  Verf.  die 
verschiedenen  Formen  von  syphilitischen  Exanthemen,  von 
der  Ephelis  bis  zur  Lepra  syphilitica  aufgeführt,  und  die 
verschiedenen  Ausgänge  derselben  dargestellt  hat,  fährt  er 
fort:  Der  Gebrauch  hat  es  mir  zum  Gesetz  gemacht,  diese 
enorme  Reihe  exanthematischer  Krankheiten,  welche  man 
gewöhnlich  als  Symptome  der  Syphilis  betrachtet,  aufzu- 
fiihren;  aber,  auf  welche  Indicien  ist  die  nahe  Verbindung 

v  7  '  '  Ö 

zwischen  ihnen  und  den  primären  venerischen  Krankheiten 
gegründet?  Man  mufs  gestehen,  dafs  sie  nur  auf  Hypo¬ 
thesen  beruht,  als  z.  B.  die  vorgegebene  specielle  Kupfer¬ 
farbe  der  Eruptionen,  welche  nicht  allein  allen  denen  an¬ 
gehört,  welche  zum  Bereich  der  Syphilis  gezählt  werden, 
sondern  welche  auch  in  einem  mehr  oder  minder  hohen 
Grade  bei  den  meisten  oberflächlichen  und  chronischen 
Entzündungen  der  allgemeinen  Ilautbedeckung  Vorkommen. 
Weder  in  der  Art  der  Veränderung  der  Haut,  noch  in  der 
Farbe  oder  Ausdehnung  der  Affection,  noch  in  ihrem  Sitze 
liegt  etwas,  was  über  die  Ursache  abzusprechen  berechtigt, 
von  der  sie  entspringe.  Selbst  die  früheren  Zufälle  und 
die  begleitenden  Symptome  an  den  Geschlechtslheilen  füh¬ 
ren  nur  zu  Wahrscheinlichkeiten,  und  geben  keine  Ge- 
wifsheit,  weil  einerseits  das  Exanthem  durch  eine  andere 
Reizung  hervorgerufen  worden  sein  kann,  als  durch  ört¬ 
liche  venerische  Krankheit,  welche  man  jetzt  oder  vor  kur¬ 
zem  bei  dem  Subjekte  bemerkt  hat,  und  weil  auf  der  an¬ 
deren  Seite  dasselbe  zuweilen  so  sehr  der  Krätze,  gewis¬ 
sen  Abarten  der  Tinea,  oder  den  Flechten  gleich!,  dafs  mau 

8  * 


116 


V.  Venerische  Krankheiten. 


es  nicht  davon  unterscheiden  kann.  (Die  Kritik  dieser  ge¬ 
wagten  Aussprüche  überlassen  wir  billig  unsern  Lesern.) 

Die  Reizungen  der  Yerdauungswerkzeuge  haben  häufig 
Hautausschläge  zur  Folge,  welche  ins  Unendliche  abweichen. 
Ohne  von  den  scorbutischen  Flecken,  welche  selten  Vor¬ 
kommen,  oder  von  den  Petechien  zu  reden,  welche  gegen 
das  Ende  heftiger  Gastro- Enteritis  auftreten,  ist  es  jedem 
bekannt,  dafs  gewisse  Nahrungsmittel,  gegohrnc  warme 
Getränke,  Eingeweidewürmer,  hartnäckige  Verstopfung,  zu¬ 
weilen  mit  aufserordentlicher  Schnelligkeit  Veränderungen 
in  der  Farbe  und  Texiur  der  Haut  erzeugen.  Eben  so 
erzeugt  Reizung  des  Darmkanals  und  Zahnreiz  bei  Kindern 
die  Crusta  lactca,  heftige  Leidenschaften ,  Hypochondrie, 
Rheumatismus,  Reizungen  der  Geschlechtstheile,  durch  Ma¬ 
sturbation,  Entwickelung  der  Pubertät,  Unterdrückung  der 
Menstruation,  die  letzte  Zeit  der  Schwangerschaft  oder  die 
erste  Zeit  nach  der  Entbindung,  bringen  ebenfalls  derglei¬ 
chen  Ausschläge  hervor. 

ln  der  Mehrzahl  der  Fälle  sind  nach  dem  Verf.  die 
Exantheme  Folge  einer  vermehrten  Lebcnsthätigkeit  der 
Verdauungsorgane,  (??)  jedoch  erscheinen  sie  auch  bei  Af- 
fectionen  der  Geschlechtstheile.  Man  ist  gewohnt  zu  ver- 
muthen,  dafs  sie  syphilitisch  sind,  wenn  sie  in  Folge  pri¬ 
märer  venerischer  Zufälle  erschienen,  wenn  sie  auftreten, 
nachdem  andere  für  syphilitisch  gehaltene  Zufälle  erschienen 
sind,  oder  grofse  Fortschritte  gemacht  haben,  oder  selbst 
dann,  wenn  der  Kranke  sich  der  Gefahr  der  Ansteckung 
ausgesetzt  hatte,  oder  wenn  seine  Eltern  von  irgend  einer 
dieser  Krankheiten  befallen  gewesen  sind.  Die  Aetiologie 
ist  also  (?)  sehr  ungewifs,  und,  um  vieles  mehr,  wenn 
man  bedenkt,  wie  die  Behandlung  venerischer  Krankheiten 
so  oft  die  Schleimhaut  des  Darmkanals  reizt.  Man  kann 
also,  fügt  er  hinzu,  nur  dann  Grund  haben,  einen  unmit¬ 
telbaren  Lausalnexus  zwischen  einem  Exanthem  und  einer 
primären  venerischen  Krankheit  anzunehmen,  wenn  das 
Examen  des  Kranken  nicht  den  Einllufs  einer  anderen  inne- 


V.  Venerische  Krankheiten.  117 

ren  Reizung  in  Verdacht  zu  haben  erlaubt,  was  zu  dem 
Schlüsse  führt,  dafs  dieser  Fall  äufserst  selten  ist.  (?) 

Indem  der  Verf.  nun  noch  die  verschiedenen  Formen 
von  Hautgeschwüren,  die  Knoten,  Tuberkeln,  das  Ausfallen 
der  Ilaare  und  Nägel  beschrieben  hat,  wendet  er  sich  im 

Art.  VI.  zu  den  secundären  venerischen  Krank¬ 
heiten  im  fibrösen  Syst  em.  Herumziehende  Schmer¬ 
zen  in  den  Gelenken  und  in  der  Gontinuität  der  Glieder 
offenbaren  sich  oft  bei  Entzündungen  der  Schleimmembran 
der  Geschlechtstheile,  besonders  wenn  sie  in  der  Zunahme 
begriffen  sind,  oder  wenn  ein  Ausflufs  der  Art  unterdrückt 
wird,  oder  selbst  nach  dem  Beischlaf.  Sie  beruhen  auf 
einer  Sympathie  zwischen  Geschlechtstheilen  und  dem  fibrö¬ 
sen  System,  und  man  sagt  nie  von  ihnen,  dafs  sie  Sym¬ 
ptome  der  Syphilis  seien,  nennt  sie  blofs  sympathisch  oder 
nietastatisch,  während  man  andere  Schmerzen ,  welche  wäh¬ 
rend  des  Verlaufes  venerischer  Zufälle,  oder  kürzere  oder 
längere  Zeit  nachher  auftreten,  für  unzweifelhaft  syphilitisch 
erklärt,  sie  mögen  acut  oder  chronisch  sein,  fix  oder  her¬ 
umziehend,  anhaltend  oder  aussetzend,  oberflächlich  oder 
tief.  Man  kann  sie,  besonders  wenn  sie  mehrere  Jahre 
nach  den  primären  Affectionen  erfolgen ,  dann  eher  als 
Folge  von  Reizung  der  Eingeweide,  oder  eines  Catarrhal- 
fiebers,  übler  Behandlung,  zu  grofsen  Gaben  Quecksilbers, 
dem  Aufenthalt  in  feuchter  Kälte,  ansehen. 

Von  den  secundären  venerischen  Krankhei¬ 
ten  im  Knochensystem  (Art.  V.)  schreibt  man  die 
Exostose  einer  venerischen  Ursache  zu,  wenn  man  keine 
andere  finden  kann;  auch  Delpech  ist  der  Meinung,  dafs 
in  diesem  Falle  der  Einflufs  der  Syphilis  auf  den  einer  ein¬ 
fachen  Reizung  beschränkt  werden  müsse.  Die  Caries  hält 
Delpech  ebenfalls  nicht  für  Folgekrankheit  der  Syphilis; 
wenn  sie  damit  zugleich  vorkomme,  so  sei  das  zufällig  und 
eine  einfache  Complication.  Der  \erf.  leugnet  das  Vor¬ 
kommen  der  Caries  sowohl  als  der  Necrose,  als  Folgekrank¬ 
beit  der  primären  syphilitischen  Affection.  Uebrigens  scheint 


1 IS 


V.  Venerische  Krankheiten. 


es  ihm,  Hals  man  bloL  aus  Gewohnheit  die  Verletzungen 
des  knochcngewebes  unter  die  secundären  venerischen  Krank¬ 
heiten  rechnet,  denn  man  giebt  zu,  dafs  sie  seltener  ge¬ 
worden  sind,  seit  man  rationellere  Heilmethoden  befolgt, 
d.  h.  in  anderen  Ausdrücken:  dals  ihre  frühere  Häufigkeit 
von  der  Behandlung  abhing,  und  man  giebt  dadurch  Befug- 
nifs  zu  glauben,  dafs  sie  auch  beut  zu  Tage  noch  häufig 
aus  dieser  Quelle  entstehen.  Wirklich  sahen  Bose,  Gu¬ 
thrie  und  Thomson  sie  nie  bei  den  Kranken,  die  ohne 
Quecksilber  behandelt  waren,  so  dals  sie  solche  für  eine 
Folge  des  Einflusses  dieses  Metalles  auf  den  Organismus 
halten.  Der  Mercur  bringt,  nach  ihm,  allein  solche  Krank¬ 
heiten  hirvor;  Fallopius,  Fernei  und  Pauimier  sagen 
geradezu,  dafs  die  Affectionen  der  Nase  und  des  Gaumens 
von  der  Mercurialbehandlung  herkommen,  und  dafs  sie  nie¬ 
mals  auftreten,  wenn  man  andere  Gurmethoden  befolgt, 
llunter  sprach  sich  ebenfalls  dahin  aus. 

Von  den  secundären  venerischen  Krankhei¬ 
ten  im  serösen  System.  (Art.  VI.)  llydrocele,  par¬ 
tielle  Peritonitis,  Hydrartbrosis,  Pleuresie,  Ilvdrotborax, 
Phrenesie,  Hydrocephalus,  Ascites,  Aneurysmen,  Ilerzklo* 
pfen,  und  Vegetationen  auf  den  Klappen  dieses  Organs  und 
auf  der  Placenta,  mit  einem  Worte,  der  grüfste  Theil  der 
Krankheiten  sind  unter  Syphilis  zusammengebracht,  was  um 
so  leichter  war,  als  beim  jetzigen  (:')  Zustande  unserer 
Sitten  man  selten  einen  Mann  findet,  der  nicht  mit  ver¬ 
dächtigen  Frauen  Umgang  gehabt  hätte.  Wenn  man  übri¬ 
gens  dieser  ätiologischen  Zullucht  beraubt  ist,  so  bleibt 
noch  die  übrig,  dafs  man  die  Ursache  auf  die  Eltern  uud 
Grofseltern  schiebt! 

Von  den  secundären  venerischen  Krankhei¬ 
ten  i  in  Nervensystem.  (Art.  VII.)  Taubheit,  Stimm¬ 
losigkeit  und  Banhigkeit  gehören  nicht  hierher,  weil  sie 
von  Reizung  der  betreffenden  Scbleimmeinbranen  abhängen. 
Amaurose,  Schlagfluls,  Lähmung  und  verschiedene  Geistes- 
zerrüttungeu  sind  unter  die  Folgekrankheiten  der  Syphilis 


Vf.  Offkindle  T liiere. 


119 


gezählt,  weil  sie  Lei  Personen  Vorkommen,  die  mit  primä¬ 
ren  venerischen  krankheilen  behaftet  waren,  oder  weil 
sie  der  Mercurialbehandlung  wichen;  beides  unzureichende 
Gründe,  um  eine  noth wendige  ursächliche  Verbindung  zwi 
sehen  diesen  Krankheiten  anzunehmen.  Aber,  so  zweifel¬ 
haft  es  auch  ist,  dafs  die  Syphilis  jemals  die  Quelle  von 
Geisteszerrüttungen  werde,  so  gewifs  ist  es,  dafs  sie  bei 
einer  grofsen  Zahl  von  Kranken,  und  besonders  bei  vielen 
Aerzten  (auch  in  Deutschland?),  eine  Geistesverwirrung 
hervorbringe,  welche  darin  besteht,  dafs  sie  in  allen  dun¬ 
keln  Krankheiten,  die  ihnen  begegnen  mögen,  eine  verbor¬ 
gene,  verlarvte  oder  entlarvte  Syphilis  sehen,  während  die 
anderen,  beherrscht  von  dem  allgemeinen  Glauben ,  dafs  die 
venerischen  IJebel,  welche  Behandlung  man  ihnen  auch 
entgegengestellt  haben  möge,  immer  eine  Spur  von  conta- 
giöser  Hefe  zurücklasse,  welche  im  Stande  sei,  früher  oder 
später  neue  Zufälle  hervorzubringen ,  sich  über  die  geringste 
Unpäfslichkeit,  die  ihnen  zustöfst,  erschrecken,  sie  für  einen 
Beweis  der  Ansteckung  halten,  und  ihr  Leben  in  beständi¬ 
ger  ängstlicher  Spannung  hinbringen.  Möchte  ich,  sagt 
der  Verf. ,  dazu  beigetragen  haben,  diese  beiden  Vorurtheile, 
welche  viele  Menschen  so  unglücklich  machen,  welche  in 
so  viele  Familien  Unruhe  und  Verwirrung  bringen,  wenn 
nicht  zu  zerstören,  doch  zu  schwächen! 

Stacke. 

-f 

(Fortsetzung  J  o  t  g  t. ) 


I  0 

Getreue  Darstellung  und  Beschreibung  der 
Thiere,  welche  in  der  Arzneimittellehre 
in  Betracht  kommen.  Von  Dr.  J .  F.  B r a n d t 
und  Dr.  J.  T.  C.  Ratzeburg,  ausübenden  Aerz- 


120 


\  I.  Oflicitielle  Tluere. 


t <!  1 1  in  Berlin,  Ehrenmitgliedem  »los  Apothokcr- 
vereins  im  nördlichen  Deutschland.  Drittes  und 
viertes  Heit.  Berlin,  aut  Kosten  der  Verfasser. 
Gedruckt  hei  Trowitzsch  und  Sohn.  1828.  4. 

S.  77  —  140.  Tafel  XI  —  XVIII.  ( 1  Tldr.  8  Gr.) 

Hef.  kann  sich  bei  Anzeige  dieses  dritten  und  vierten 
Heftes  kurz  fassen ,  da  er  sich  schon  bei  der  Anzeige  der 
beiden  erstem  ( vergl.  lkl.  IX.  S.  55,  und  Bd.  XI.  S,  244 
d.  A.)  ausführlich  über  Plan  und  Inhalt  dieses  Werkes  aus¬ 
gesprochen  hat. 

Das  dritte  Heft  beginnt  mit  der  schon  im  vorigen  an¬ 
gefangenen  Beschreibung  des  gemeinen  Büffels,  Bos  Buba- 
lus.  Darauf  folgt  Sus  Scrofa.  Den  Beschlufs  der  Säuge- 
thiere  macht  die  Familie  der  Cetaceen,  unter  welchen  die 
Verf.  zuerst  mit  der  Gattung  Pbyseter  beginnen.  Bei  der 
grofsen  Unbestimmtheit,  welche  noch  gegenwärtig  über  die 
Arten  der  Pottfische  in  zoologischer  Hinsicht  herrscht, 
haben  es  sich  die  Verf.  sehr  angelegen  sein  lassen,  durch 
genaue  Zusammenstellung  und  Vergleichung  der  verschie¬ 
denen  Nachrichten  eine  genauere  Bestimmung  der  einzelnen 
Arten  zu  gewinnen,  unter  denen  sie  Ph.  macrocephalus, 
Ph.  Trumpo  und  Pb.  polvcvpbus  besonders  beschreiben. 
Leber  den  noch  nicht  ganz  bestimmten  Ursprung  der  bei¬ 
den  von  diesen  Thieren  kommenden  arzneilichen  Stoffe, 
den  Wallrath  und  die  Ambra,  geben  sie  Folgendes  an: 
Die  Wallrathbehälter  finden  sich  in  einer  grofsen,  mulden¬ 
förmigen  Aushöhlung  der  oberen  Flache  des  Schädels.  Ent¬ 
fernt  man  nämlich  die  äufsere  Haut  des  Kopfes,  so  stufst 
man  zunächst  auf  eine  4  —  5  n  hohe  Spccklage,  welche 
eine  dicke,  feste,  sehnige  Masse  bedeckt,  nach  deren  Weg- 
*  nähme  man  auf  eine  zweite,  handhohe  Sehnenausbreitung 
gelangt,  die  von  der  Schnautze  bis  zum  Nacken  sich  er¬ 
streckt.  Entfernt  man  dieselbe,  so  kommmt  man  auf  zel- 
lige,  von  ihr  selbst  durch  zahlreiche  perpendiculärc  Fort¬ 
sätze  gebildete  Räume,  welche  die  ganze  Oberfläche  des 


VI.  Officinelle  Thiere. 


121 


\ 


Kopfes  bedecken  und  eine  ölige,  helle,  weifse  Flüssigkeit, 
den  flüssigen  Wallrath,  enthalten.  Unter  dieser  Wallrath 
enthaltenden  Zellschicht  liegt  eine  zweite,  die  nach  der 
Gröfse  des  Thieres  4  —  1~  Fufs  dick  ist.  Die  Wallrath¬ 
behälter  werden  in  der  Nasengegend  schmaler,  und  gegen 
den  Hintertheil  des  Kopfes  breiter  und  breiter.  Die  Kam¬ 
mern  hängen  durch  Oeffnungen  mit  einander  zusammen. 
Aufser  diesen  grofsen  Wrallrathzellen ,  die  oft  über  50  Cent- 
ner  Wallrath  liefern  sollen,  soll  noch,  nach  Anderson, 
ein  mit  WTalIrath  gefüllter  Behälter  vom  Kopfe  zum  Schwänze 
laufen.  —  Nachrichten,  die  auf  Ambra  absondernde  Organe 
sich  beziehen,  werden  von  mehren  Schriftstellern  ange¬ 
führt,  und  die  Yerf.  sind  geneigt,  diese  für  die  Harnblase 
zu  halten,  wenn  sie  gleich  auch  eine  Entstehungsweise  des¬ 
selben  im  Darmkanale  zugeben.  Indessen  wird  der  Ambra 
nicht  allein  im  Körper  der  Pottwalle  gefunden,  sondern 
auch,  wie  bekannt,  auf  dem  Meere  frei  schwimmend,  oder 
auf  den  Küsten  zerstreut. 

Darauf  lassen  die  Yerf.  die  Gattung  Balaena  folgen, 
von  welcher  sie,  aufser  einigen  andern  in  den  Anmerkun¬ 
gen  erwähnten  Arten,  ausführlich  Bai.  Mysticetus,  Bai. 
Boops,  Bai.  rostrata  und  Bai.  longimana  beschreiben. 

S.  135  folgen  einige  Nachträge  zur  Klasse  der  Säuge- 
thiere,  die  Anatomie  der  Geschlechtstheile  des  Bibers,  uud 
die  Beschreibung  des  Moschusthieres  betreffend. 

ln  der  nun  folgenden  Klasse  der  Yögel  beginnen  sie 
mit  Gallus  Bankiva,  dem  wilden  Haushuhn,  womit  das 
vierte  Heft  schliefst. 

G.  H.  Richter. 

%  \ 


122 


\  11.  Wasserlenchch 


VII.' 

I  0  I  9 

Die  Heilkräfte  des  W asserfenchclsaameu s, 
besonders  in  Lupgensuchteu,  im  Psoasa bscesse, 
in  äufseren  Geschwüren  und  im  Keuchhusten; 
dann:  die  wurmwidrige  Eigenschaft  des 
Krotonöls.  \on  Dr.  C.  \\  eniel,  prakt.  Arzte 
in  Volkach.  Erlangen,  hei  Palm  und  Enke.  1828. 
.  8.  136  S.  (12  Gr.) 

Nachdem  der  Verf.  den  botanischen  Charakter  des  Phrl- 
landrium  aquaticum  angegeben  hat,  iheiit  er  die  chemi¬ 
sche  Analyse  mit.  Hin  Pfund  enthält  2  Scrnpel  ätheri¬ 
sches  Oel,  1  Unze  gummösen  Stoff,  1^  Drachme  harzigen 
Stoff  und  Drachmen  Extractivstoff.  Seine  Wirkung 
ist  reizend  und  etwas  narcotisch,  daher  wirkt  er  afi f  die 
Nieren  und  die  Absonderungen  überhaupt.  Man  gitbt  ihn 
innerlich:  in  Pulver  zu  4,  6  —  12  Scrupel  täglich,  oder 
in  Latwerge,  oder  in  Pillen,  weniger  passend  im  Aufgufs. 
Die  von  Hosenmüller  empfohlene  Tinctur  bereitet  Mar¬ 
tins  in  Erlangen  aus  dem  lnfusum  einer  halben  Unze  Saa- 
men  mit  6  Unzen  Weingeist,  dem  er  nach  sechsstündiger 
Digestion  6  Unzen  Muscatwein  zusetzt  und  das  Ganze  noch 
24  Stunden  digerirt.  Aeuferlich  wendet  der  Verf.  das 
lnfusum  oder  das  Decoct  (unpassend)  an.  Er  empfiehlt  mit 
Langen  u.  a.  den  Wasserfenchel  in  folgenden  Krankhei¬ 
ten:  1 )  in  der  Lun  gen  sucht,  besonders  in  der  schlei¬ 
migen,  wo  er  zuerst  von  Marcus  llerz  empfohlen  werde, 
und  in  der,  welche  nach  zurückgetretcnen  Ilautausschiägen 
oder  nach  rheumatischen  und  catarrhalischen  Lungenent¬ 
zündungen  entstand.  Hier  nützt  er  durch  seine  narcoti- 
schen  und  reizenden,  alle  Secretionen  betätigenden  Eigen¬ 
schaften,  beruhigt,  verbessert  den  Auswurf,  befördert  die 
Llrinabsondcrung  und  unterstützt  die  Keproduction.  Uu- 
passend  ist  er  in  der  tuberculösen  Lungensucht  (die  aber 


123 


VII.  Wasserfenchel. 

j  '  ,/ 

gerade  die  häufigste  ist!),  doch  pafst  er  hei  der  Anlage 
dazu  (?).  Bei  der  schleimigen  Lungensucht  gieht  er  ihn 
mit  Digitalis,  Lichen  island. ,  China,  Chinin,  sulphuricum, 
Myrrha,  hei  der  nach  zuriickgetretenen  Hautausschlägen  ent¬ 
standenen  mit  Schwefel,  und  hei  allen  Arten  mit  Gersten¬ 
brei  (nach  Thilenius  und.  II  u  fe  la  n  d).  Dreiundzwanzig 
Krankengeschichten  beweisen  zum  Theil  den  Nutzen  des 
Wasserfenchels.  Acht  Kranke  starben.  (Eine  ähnliche 
Wirkung  haben  die  sogenanuten  L i eb e rschen  Kräuter,  die 
bekanntlich  aus  den  Blättern,  Blüthen  und  Stengeln  der 
Galeopsis  grandiflora  bestehen;  nur  sind  sie  milder 
und  weniger  erhitzend.  Ref.)  —  2)  Im  Psoasabscesse; 
er  beobachtete  zwei  Fälle,  in  denen  der  Abscefs  sehr  viel 
schlechten  Eiter  lieferte,  und  hectisches  Fieber  zugegen 
war.  Mit  dem  Gebrauche  des  Wasserfenchels  besserte  und 
verringerte  sich  die  Eiterung,  der  Urin  ging  stärker  und 
trübe  ab,  und  die  Heilung  erfolgte  sehr  bald.  Er  empfiehlt 
ihn  auch  bei  nicht  aufgebrochenen  Lumbarabscessen ,  allein 
die  Unterlassung  des  Oeffnens  ist  nicht  angerathen,  da  man 
durch  das  künstliche  Oeffnen  der  Natur  die  Entfernung  des 
Eiters  erspart,  und  das  Eindringen  der  Luft  durch  das  Vor¬ 
schieben  der  Haut  verhüten  kann.  —  3)  Bei  äufseren 

Geschwüren  (besonders  scrophulösen  und  scorbutischen ). 
4)  Im  Keuch  b  usten  und  iVsthma  spasm  o  dicum.  Die¬ 
ses  einheimische  Mittel  verdient  seiner  Wohlfeilheit  wegen 
nicht  nur  in  den  genannten  Krankheiten,  sondern  auch  bei 
Scropheln,  Lymphabscessen ,  angehenden  Scirrhen,  Diar- 
rhoea  torpida,  Amenorrhoe,  Fluor  albus,  Nachtripper,  Ca- 
tarrhus  vesicae  u.  s.  w.  die  Aufmerksamkeit  der  Praktiker.  — 
Sch lielslich  empfiehlt  der  Verf.  das  Crotonöl  innerlich 
und  äufserlich  als  Wurmmittel;  die  von  ihm  angegebene 
Dosis  ist  aber  zu  stark,  und  die  Form  unpassend.  Am 
besten  ist  die  Pillenform. 


124 


VIII.  Dissertationen. 


VIII. 

Dissertationen. 


I.  Der  Universität  Königsberg. 

Observatio  circa  ingentem  cor  dis  tumorem.  Spee. 
inaug.  auct.  Carol.  Re  in  hold.  Bernhard  i,  Rcgio- 
montano.  Def.  d.  28.  Septbr.  1826.  8.  pp.  32.  Cum 
tabula  lignea. 

Enthält  einen  interessanten,  wenn  auch  aus  Mangel 
der  nüthigen  Angaben  nicht  vollkommen  genügend  beschrie¬ 
benen  Fall  von  aneurysmatischer  Afterbildung  des  Herzens. 
Wir  haben  in  den  letzten  Jahren  so  viele  Fälle  von  Herz¬ 
krankheiten  beschrieben  erhalten,  dafs  fernere  Mittheilungen 
nur  durch  eine  sehr  genaue  Angabe,  namentlich  der  sich 
bildenden  Krankheit,  von  Werth  sein  können. 

De  monstroso  vituli  sceleto.  Diss.  inaug.  auct. 
Meyer.  Ezechiel.  Blumenthal,  Mitavia  -  Curono. 
Def.  d.  28.  Septbr.  1826.  8.  pp.  36.  Cum  tabula  litho- 
graphica. 

Ein  seltener  Fall  einer  complicirten  Monstrosität,  den 
wir,  da  dieser  Dissertation  anderswo,  so  viel  Bef.  weifs, 
noch  nicht  gedacht  worden,  hier  mit  des  Verf.  AN  orten 
wiedergeben :  Columna  vertebrarum  inde  a  principio  in 
altum  tendens,  ne  dimidium  quidem  longitudinis  suae  asse- 
cuta,  arcuatim,  concavitate  in  sinistro,  convexitate  in  dex- 
tro  animalis  latere,  sinistrorsum  vertitur,  unde  pars  arcus, 
quae  caudam  continet,  pari  aequore,  sed  horizontali  cum 
parle  capite  continuata  eidemque  magis  magisque  appropiu- 
quando  usque  ad  caput  procedit  ibique  in  regione  maxillac 
inferioris  ad  perpendiculum  fere  cauda  excurrit.  Coj>lae 
utriusque  columnae  lateris  retroversac  sunt  cadcni(|uc 
dircctione  ac  proccssus  spinosi  tergum  versus  tendunt  et 


V III.  Dissertationen. 


125 


liberis  extremitatibus  finiuntur,  quo  fit,  ut  arcus  vertebra- 
rum  dorsi  cum  processibus  suis  obtegantur  ct  corpora  de- 
nudata  appareant.  Scapula  utraque  quoque  retroversa,  loco 
suo  remota  maxima  ex  parte  a  costis  tecta  est.  Accedit 
huc  coalitus  plurimarum  sinistri  lateris  costarum  itemque 
plurimorum  processuum  spinosorum.  Pelvis  a  latere  sinistro 
disiunctis  ossibus  pubis  longeque  a  se  distantibus  posita  est. 

De  Talpae  europaeae  oculo.  Diss.  inaug.  zootom. 
auct.  Aug.  Guilielm.  Koch,  Lubraniecensi.  Def.  d. 
30.  Octbr.  1826.  8.  pp.  46.  Cum  tabula  aeri  incisa. 

Eine  sehr  vollständige,  auf  eigene  Untersuchung  ge¬ 
stützte  Beschreibung  des  Auges  vom  Maulwurfe. 

De  Chymosi.  Pars  prior.  Diss.  inaug.  physiolog.  auct. 
Frideric.  Jac.  Behrend,  Neosedino-Pomerano.  Def. 
d.  31.  Octbr.  1826.  8.  pp.  54. 

De  Metastasi  lactea.  Diss.  inaug.  auct.  Aug.  Ed. 
Mette,  Schoeppenstadia-Brunscicensi.  Def.  d.  1.  Septbr. 
1827.  8.  pp.  28. 

Enthält  eine  von  Hrn.  Dr.  Dulk  unternommene  Ana- 

/j 

lyse  der  milchartigen  Flüssigkeit,  welche  sich  im  Unterleibe 
einer  an  sogenannter  Milchversetzung  verstorbenen  Wöch¬ 
nerin  vorfand. 

'lTr7rox.(>ctT6v<;  7n£i  vovirov  ßlßXtov.  Recensuit ,  novam 

interpretationem  latinam  notasque  addidit  Fridericus 
Dietz.  Lipsiae,  sumptibus  Leopoldi  Vofs.  1827.  8. 
pp.  184. 

Diese,  zur  Erlangung  des  Doctorgrades  am  13.  Sep¬ 
tember  1827  vertheidigte  Schrift,  ist  schon  in  diesen  Anna¬ 
len  (Bd.  XII.  S.  259.)  angezeigt  worden. 

De  Natura  delirii  trementis.  Diss.  inaug.  auct.  Jo  an  n. 
Jacoby,  Regiomontano.  Def.  d.  20.  Septbr.  1827.  8. 
pp.  35. 


126 


VIII.  Dissertationen. 


De  Varia  pelvis  feroinarum  forma.  Diss.  inaug.  amt. 
Sam.  Dav.  Cohn,  Gedanensi.  Def.  d.  5.  Octbr.  1 SU7. 
8.  pp.  31. 

Ein  dankenswerter  Reitrag  zu  einer  vergleichenden 
Beschreibung  des  weiblichen  Beckens.  ISach  den  vom  Yerf. 
angestellten  Ausmessungen  zeigt  das  Becken  ostpreufsischer 
Frauen  folgende  Dimensionen :  Conjugata  I \  " ,  Querdurch¬ 
messer  der  oberen  Apertur  des  kleinen  Beckens  5j",  ge¬ 
rade  Durchmesser  der  unteren  Apertur  4£  ",  Abstand  des 
Oss.  coccvg.  von  der  vom  unteren  Bande  des  Schaambogcns 
geführten  Horizontallinie  Höhe  des  Beckens  vom 

Promont.  Oss.  sacr.  bis  zur  Spitze  Oss.  coccvg.  4",.  Incli- 
nationswinkel  der  oberen  Apertur  45°,  der  unteren  20  °. 

De  Anodontarum  et  unionum  ovi ductu.  Diss.  in¬ 
aug.  zoot.  auct.  Alb.  Constant.  Neu  mann,  Mariae- 
Insulano.  Def.  d.  18.  Octobr.  1827.  8.  pp.  30. 

Eigene  Untersuchungen  enthaltend,  die  wir  indefs  hier, 
da  sie  dem  Zwecke  dieser  Annalen  fremd  sind,  übergehen 
müssen. 

V  y 

De  A u r i ,  potis wmum  a u r i  m  u r  i a  t  i c i ,  u s u  in  m c - 
dicina.  Diss.  inaug.  auct.  Constant.  Aug.  Hilde¬ 
brand,  Wehlavia-Borusso.  Def.  d.  18.  Octobr.  1827. 
8.  pp.  35. 

Ilistoria  sectionis  caesarea e.  Diss.  inaug.  auct.  Isr. 
Sam.  Davidsohn,  Gedanensi.  Def.  d.  26.  Octobr.  1827. 
8.  pp.  36. 

Schon  der  geringe  Umfang  dieser  Blätter  erlaubte  dem 
Verf.  nicht,  eine  vollständige  Geschichte  des  Kaiserschnittes 
zu  liefern. 

De  Filicis  maris  oleo.  Diss.  inaug.  auct.  Herrn.  Leone 
Maximil.  Boretius,  Caymen. -Borusso.  Def.  d.  2.  No- 
vembr.  1827.  8.  pp.  32. 


I 


VIII.  Dissertationen.  127 

/  '  =*  x 

Molluscorum  ß o r  ussi  c o  r um  synopsis.  Diss.  inaug. 
zoolog.  auct.  Job.  Aug.  Guil.  Kleeberg,  Kutnano. 
Def.  d.  4.  Octobr.  1828.  8.  pp.  47. 

Ein  sehr  schätzenswerther  Beitrag  zu  der  bis  dahin 
noch  sb  sehr  vernachlässigten  Naturgeschichte  Altpreufsens. 

Encephaloceles  acquisitae  cum  abscessu  cerebri 
ohservatio.  Diss.  inaug.  auct.  Jac.  Lipschitz,  Re- 
giomontan.  Def.  d.  8.  Novembr.  1828.  8.  pp.  39. 

Gute  Beschreibung  eines  seltenen,  mit  dem  Sections- 
berichte  versehenen  Falles. 

De  singulari  cuiusdam  foetus  humani  monstrosi- 
tate.  Diss.  inaug.  auct.  Aug.  Sim.  Rosenbaum,  Re- 
giomontan.  Def.  d.  8.  Novembr.  1828. 18.  pp.  30. 

Beschreibung  einer  seltenen,  durch  Verwachsung  des 
Fötus  mit  der  Placenta  bedingten  Monstrosität. 

.  ...  •  .V 

Analecta  quaedam  ad  diagnosin  carditidis  et  pe- 
ricarditidis  spectantia.  Diss.  inaug.  med.  auct.  Jul. 
Ott.  Bergau,  Regioraontano.  Def.  d.  6.  Decbr.  1828. 
8.  pp.  31. 

Nonnulla  in  Hippocratis  aphorismum  Sect.  IV.  57. 

*  ^  lv  /  »  t  \  t  I  ./ 

V7T0  (T7rOC.O-[AOV  7]  TiTOLVfV  £  %0/U.tl/Ct)  £V  fytV  0  [AiV  0$  X  VH 

to  vovnjftcc.  Diss.  inaug.  auct.  Jos.  Fr.  Sobernheim, 
Brombergo-Posnano.  Def.  d.  14.  Decbr.  1828.  8.  pp.  36. 


II.  Der  Universität  Berlin. 

18.  Diss.  inaug.  med.  sistens  novam  de  Opii  viribus 
eiusque  antidotis  theoriam,  auctor.  C  a  r  o  1. 
Adolph.  Frideric.  Koepke,  Suerin.  Megalopolitan. 
Def.  d.  8.  April.  1829.  8.  pp.  53. 

Der  Verf.  hat  über  die  Wirkungen  des  Opiums  auf 
den  menschlichen  Organismus  reiflich  nachgedacht,  und  mit 
lobenswerther  Kenntnifs  der  darüber  vorhandenen  Litte- 


128 


VIII.  Dissertationen. 


ratur  das  Einzelne  nach  einer  gesunden  Kritik  zweckmäßig 
geordnet.  Die  durch  Klarheit  und  eine  gebildete  Sprache 
sich  empfehlende  Abhandlung  zerfällt  in  vier  Kapitel:  über 
die  Narcotica  überhaupt,  über  die  Geschichte  des  Opiums, 
über  die  Wirkungen,  und  über  die  Antidota  desselben.  Bei 
aller  Anerkennung  des  sonstigen  Werthes  dieser  Disserta¬ 
tion  kann  jedoch  Ref.  die  vorgetragene  Theorie  nicht  als 
eine  neue  gelten  lassen,  denn  der  Verf.  hat  sich  vorzüglich 
an  die  drei  von  G.  A.  Richter  aufgestellten  Grade  der 
Wirkungen  des  Opiums  gehalten,  und  nach  diesen  die  be¬ 
währtesten  Ansichten  berühmter  Acrzte  mitgetheilt. 

19.  Quaedam  de  ovariorum  morbis.  D.  i.  pa.uolo* 
gic.  auctor.  G u s t a v.  A do  I p  h.  Sp  i tta,  Bcrolinens.  Def. 
d.  15.  April.  1829.  8.  pp.  29.  Acc.  tab.  lithographic. 

Eine  encyclopädische  Uebersicht  der  Krankheiten  der 
Ovarien  mit  einem  recht  interessanten  Fall  von  Degenera¬ 
tion  des  linken  Eierstocks  bei  einem  jungen  Mädchen.  Die 
beigefügte  Abbildung  des  degeneririen  Eierstocks  giebt  die¬ 
ser  Dissertation  für  die  pathologische  Anatomie  bleibenden 
Werth.  ''  ,  ‘  . 

20.  De  Pneumonia  typ  ho  de.  D.  i.  m.  auctor.  CaroL 
Thulemeyer,  Gueslphal.  Def.  d.  18.  April.  1829.  8. 

n-  -1- 

21.  De  Ruptura  lienis  et  de  eius  certo  quodam 
easu.  D.  i.  m.  auctor.  Joann.  Carol.  Wuestefcld, 
Eichsfeldens.  Def.  d.  22.  April.  1829.  8.  pp.  31. 

Diese  Dissertation  ist  nach  den  vorhandenen  Schriften 
mit  Fleifs  zusammengetragen,  und  erhält  durch  einen  bei- 
gefiigten  Fall  von  Ruptur  der  Milz,  in  dem  die  Diagnose 
durch  die  Section  bestätigt  wurde,  ein  besonderes  Interesse. 


I 


J 


\  i  '4 

\ 

Paracelsus. 

Von 

D  r .  F.  .1  ahn. 


f  ß  e  s  c  h  l  u  / s.  J 

« 

XV.  »So  ist  in  der  Krankheit  eine  der  gesund  geblie¬ 
benen  Materie  feindlich  entgegenstehende,  fremd  gewordene 
Materie,  und  eine  der  gesund  beharrenden  organischen  Thä- 
tigkeit  entgegengesetzte  von  ihr  abgefallene  Thätigkeit,  ein 
Krankheitskörper  und  eine  Krankheitsaction ^  also  ein  Krank- 
heitsorganismus  gegeben,  und  die  Krankheit  erscheint  _  als 
ein  ins  Leben  eingedrungener,  an  ihm  schmarotzender  selbst¬ 
ständiger  niederer  Lebensprozefs  und  Organismus,  als  After¬ 
organisation  r).  «Nun  im  Menschen,  so  das  Blut  bricht, 
oder  ein  Anderes,  so  wisset  vpn  selbigem,  dafs  es  irn 
Menschen  liegt  und  mit  der  Haut  verdeckt.  Das  ist  so 
viel,  als  es  liegt  in  der  Erden.  Nun  aus  dem  wächst  die 
Krankheit,  wie  ein  Kraut  aus  der  Erden.  —  .  So  ist  eine 
Wurzel  im  Geiste  des  Lebens;  die  Krankheit  hat  eine 

- -  N 

1)  So  ist  nach  Par.  die  Mistel  die  Kranteif.  des  Baume« 

(K.  56).  ' 

XIV  RfJ.  2.  St  ,  9 


/ 


130 


I.  P  a  r  ;i  c  I  s  u  s. 


Wurzel,  von  «Irr  sie  entspringt,  wie  ein  Kraut  von  einem 
Saamen  ,  das  abfälll  und  wieder  wächst.  —  So  ist 
eine  jegliche  Krankheit  von  einem  Saamen  da,  und  eine 
jegliche  Krankheit  wächst  und  ist,  ehe  sie  stirbt,  mit  dem 
Menschen,  und  so  sie  erwachsen  ist,  so  ist  sie  ein  Baum 
und  hat  ihre  Früchte  (2,  343).  —  ln  gleicher  Weise, 
wie  die  Kräuter  aus  der  Erden  wachsen,  Soiatrum,  l\osa, 
Lactuca,  Portulaca,  so  ist  auch  im  Körper  die  Generation 
der  Krankheiten,  und  also,  wie  solche  Kräuter  sich  son¬ 
dern  von  den  anderen,  also  auch  die  Krankheiten  mit  ihren 
Geschlechtern  und  Arten  (1,  75)  —  Wie  geiliinkt  euch, 
dafs  die  Krankheiten  also  wachsen  und  nehmen  täglich  zu  ? 
Sehet,  wie  die  Philosophie  euch  lehret,  zu  verstehen,  wie 
das  Gras  wächst,  auch  Holz  und  andere  Dinge.  Wächst 
es  nicht  aus  dem  Saamen?  Ja!  So  dann  nun  aus  dem 
Saamen,  und  die  Krankheit  isl  auch  aus  dem  Saamen  —  so 
wächst  eins  wie  das  andere  (2,  351).  —  Und  so  w ifst 
denn  am  ersten,  dafs  eine  jegliche  Krankheit  einen  unsich¬ 
tigen  Leih  hat  und  ist  ein  Glied  des  Makrokosmos  und  des 
Mikrokosmos,  und  ist  auch  selbst  Mikrokosmos  und  ein 
ganzer  Mensch,  Die  Krankheiten  werden  geschmiedet  und 
gemacht,  wie  der  Mensch;  darum  so  ist  eine  jegliche  Krank¬ 
heit  ein  ganzer  Mensch.  Also  ist  der  Mensch  selbander  in 
solcher  Krankheit,  und  hat  zwei  Leiber  zu  gleicher  W  ei-^ 
in  einander  verschlossen  und  ist  Ein  Mensch.  ”  ') 


l)  Die  Ansicht,  dafs  die  Krankheit  als  Srhmarotaerpflanie 
am  thierischen  Lebrnshaume  betrachtet  werden  müsse,  theilcn 
Platon,  Heimo  nt,  Harvcy,  Sydenham,  unter  den  Neueren 
Kicser,  Stark,  Hart  mann  u.  s.  w.  \crgl.  Jahn  \hnungen 
einer  allgemeinen  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  Eisenach,  1K28. 
Ich  habe,  besonders  nach  dem  Vorgänge,  des  trefflichen  Stark, 
in  der  erwähnten  Schrift  die  Ansicht  ausführlich  erörtert  und  au 
neigen  gesucht,  wie  segensreich  sie  für  allgemeine  Pathologie  sei. 
Hier  führe  irh  noch  eine  merkwürdige  Stelle  aus  dem  trefflichen 
Harvey  an,  die  mir  erst  neulich  bekannt  wurde:  «Ad  hunc 
paritei  modum  vivunt  fungi  arborum  et  plantar  supercrcsccntes. 


131 


I.  Paracelsus. 

XVI.  Die  Form  nun ,  in  weicher  das  Kranksein  sieh 
darstellt,  ist  durch  zweierlei  Momente  bedingt  und  gege¬ 
ben,  einmal  und  hauptsächlich  durch  die  Natur  des  befal¬ 
lenen  Organismus  und  Organes,  dann  durch  die  Natur  der 
einwirkenden  Schädlichkeit,  der  Krankheitsursache.  «  So 
folgt  hernach,  dals  eine  andere  Krankheit  im  Bein  ist,  eine 
andere  im  Fleisch,  eine  andere  im  Blut  u.  s.  w.  Wie  denn 
auch  andere  Würmer  im  Holz,  andere  Würmer  im  Kraut, 
andere  in  Blättern  wachsen  u.  s.  w.  Und  so  viel  Species 
corporales,  so  viel  auch  Genera  morborum.  Denn  nach¬ 
dem  das  Glied  ist,  so  ist  auch  die  Krankheit,  als  anders 
sind  die  Würmer  des  Marks,  anders  die  Würmer  des  Fin- 
geweides  u.  s.  w.  Aus  solchen  Dingen  entspringt  die  Ur- 
sach  der  Krankheiten  des  IN^enschen «  (2,  343 j.  Ferner 
sind,  wie  in  dem  sogenannten  Paramirum  ausführlich  ent¬ 
wickelt  ist,  die  Krankheiten  verschieden,  je  nachdem  kos¬ 
mische,  oder  psychische,  oder  alimentäre,  oder  als  Gift 
sich  darstellende  Potenzen  u.  s.  w.  sie  hervorrufen  und 
erzeugen. 

XVII.  D  as  Leben  ist  bei  Krankheit  bestrebt,  sich 

>■ 

selbst  zu  erhalten  und  die  Krankheit  zu  bekämpfen  und  zu 
vernichten,  und  wiederum  liegt  in  der  Krankheit  selbst  die 
Tendenz,  sich  auf  Kosten  des  Lebens  zu  erhalten  und  das- 


Quinetiam  experimur  saepius  in  corporibus  nostris  cancros,  sar- 
coses ,  melicerides  aliosque  id  genus  tumores  quasi  propria 
anima  vegetativa  nutrin  et  crescere ,  dura  inlerea  genumae 
corporis  partes  extcnuantur  et  raarcescunt.  Idque  ideo,  quia 
tumores  ist!  nutrimentum  omne  ad  se  arripiunt ,  reliquumque 
corpus  nutritio  sueco  ,  ceu  genio  suo ,  defraudarft.  Unde  pha- 
gedaenis  lupisque  inditum  noinen.  Et  fortassis  Ilippoe  ra¬ 
te  s  per  to  B-etov  intellexit  raorbos  eos,  qui  ex  veneno 
seu  c  o  n  t  a  g  i  o  oriuntur,  quasi  i  1 1  i  s  v  i  t  a  q  u  a  e  d  a  m 
insit  principiu  ui  que  divinum,  quo  sese  ad  äuge  aut 
aliosque  s  i  b  i  s  i  m  i  1  e  s  raorbos  e  t.  i  a  m  in  a  1  i  e  n  o  cor¬ 
pore  per  eontagium  generent.  Adeo  ( ait  Aristoteles) 
animae  plena  sunt  omnia!»  — 

9  * 


N 


I 


132  1.  Paracelsus. 

selbe  zu  untergraben  und  7.11  zerstören.  So  ist  bei  jeder 
Krankheit  ein  salntare  naturae  conamen  nicht  zu  verkennen. 
«So  eine  Krankheit  im  Leibe  ist,  so  müssen  alle  gesunde 
Glieder  gegen  sie  fechten,  nicht  eines  allein,  sondern  alle; 
denn  die  Krankheit  ist  ihr  aller  Tod.  Das  merkt  die  Na¬ 
tur,  drum  so  fkht  sie  wider  die  Krankheit  mit  aller  Macht, 
so  sie  vermag.  Drum  so  bedenket,  mit  was  Gewalt  die 
Natur  sich  wider  den  Tod  sträubt,  dafs  sie  (als  Mikrokos¬ 
mos)  7.11  Hülfe  nimmt  Himmel  und  Erden  und  alle  ihre 
Kräfte  und  Tugend,  dem  Erschrecklichen  zu  widerstehen, 
denn  erschrecklich  ist  er,  gräulich  und  streng. »»  «Quin 
ea  benignitas  Naturae  est,  ut,  etiamsi  quis  ad  morbum  dis- 
positus  sit,  imo  eo  jam  quasi  laboret,  non  tarnen  statiin 
morbum  saevire  vel  adaugeri  patiatur.  Omne  enim,  quod 
ruinam  minatur,  ipsa  Omnibus  modis  suffulcire  conatur. 
Siquidem  Naturam  constat,  ubicunque  possibile  est,  cor¬ 
poris  nostri  structuram  sartani  tectamque  servare  couari. " 

(3,  J23). 

XVIII.  Siegt  das  AfterTeben  des  Krankheitsprozesses 
in  dem  erwähnten  Streite,  so  entsteht  Tod;  siegt  das  Le¬ 
ben  selbst,  der  Archäus,  so  entsteht  Genesung.  Das  Leben 
scheidet  hierbei  das  fremde  schmarotzende  Leben  der  Krank¬ 
heit  von  sich,  wie  der  Alchymist  das  unreine  Metall  vorn 
Golde  scheidet  (3,  117).  In  der  Krisis  werden  dann  die 
Reste  des  Krankhcitsorganismus  aus  dem  Körper  geführt, 
so  dafs  das  Leben  von  der  ihm  anklebendcn  Hefe  gerei¬ 
nigt  wird. 

XIX.  Der  Mensch  ist  Mikrokosmos  (X.).  Somit  wer¬ 
den  auch  seine' Krankheiten  ihre  Vorbilder  in  der  grofsen 
.Welt  haben.  In  der  That  finden  sich  in  der  Natur  stür¬ 
mische  Vorgänge,  die  Alterationen  derselben,  Dellexionen 
von  dem  gewöhnlichen  Gange  der  Dinge  anzeigen,  Erd¬ 
beben,  liebersehwenimungen  u.  dergl.  Diesen  Vorgängen 
ähneln  und  entsprechen  die  Krankheitsprozesse.  Dies  ist 


V  » 


I.  Paracelsus. 


133 


die  microeosmica  consensio  r).  So  ist  der  Scblagflufs  gleich 
«dem  himmlischen  Strahl,»  dem  Blitze  (4,  81).  Die  epi¬ 
leptischen  Paroxysinen  gleichen  den  Erschütterungen  des 
Erdballes,  dem  Erdbeben  (4,  19).  Wie  in  der  äufseren 
Natur,  so  entstehen  auch  im  Körper  Würmer.  Die  Erzeu¬ 
gung  fester  Concremente  im  Körper,  die  Steinbildung  und 
dergl.,  äbnelt  der  Hagel-,  Schnee-,  Reifbildung,  der  Er¬ 
zeugung  der  Meteorsteine  (4,  74.  104,  105).  Die  Ent¬ 
stehung  der  Blähungen  lafst  sich  gleichen  der  Entstehung 
der  Winde  (4,  76.  132.),  die  Bildung  und  das  Zerfliefsen 
der  Scirrhen  und  anderer  Geschwülste  dem  Gefrieren  und 
Aufthauen  des  Wassers  (1,  108.),  die  Bildung  des  Was¬ 
sers  bei  Wassersucht  und  die  Heilung  durch  das  Caliduin 
innatum,  den  Archäus,  der  Regenerzeugung,  die,  Maafs 
und  Ziel  überschreitend,  Fluthungen  und  Ueberschwem- 
mungen  setzt,  und  der  Verflüchtigung  und  Verdunstung  des 
auf  der  Erde  übermäfsig  angehäuften  Wassers  durch  die 
wärmende  belebende  Sonne  (4,  64.  65.  67.  242.);  ferner 
die  Verschwärung  dem  Rosten  der  Metalle  (2,  244.),  das 
pestilenziale  Fieber  vulkanischem  Feuer,  den  Blitzstrah¬ 
len,  die  da  zünden  (3,  92.),  die  Abzehrung  dem  norm¬ 
widrigen  Verdorren  und  Ilinweiken  der  Gewächse  (4,  68.) 
u.  s.  w.  ~), 


1)  Dieweil  der  Mensch  Mikrokosmos  ist,  so  sind  auch  in 
ihru  die  Generationen  der  äufseren  Welt  —  mit  seinem  Un- 

I 

terscheid»  (1,  105).  «So  der  Mensch  will  wissen  den  Men¬ 
schen  und  ihn  erkennen  in  seinen  Krankheiten,  der  mufs  aller 
der  Dinge  Krankheiten  wüssen,  so  die  Natur  in  der  grolsen  Welt 
leidet»  (1,  46).  «Die  Physica  ist  gleich  in  den  Krankheiten 

der  Wrelt  und  der  Menschen.» 

•  '/  1 

^  2)  «Alles  wiederholt  sich  nur  im  Leben,»  und  so  hat  der 
zu  frühe  verstorbene  geistreiche  Marcus  auch  in  neuerer  Zeit 
wieder  den  Versuch  gemacht,  die  Krankheitserscheinungen  stür¬ 
mischen  Naturerscheinungen  zu  parallelisiren.  Ich  habe  nicht 
ohne  Interesse  die  von  ihm  gegebene  Vergleichung  zwischen  dem 


i 


134 


1.  Paracelsus, 

9 

I 

\X.  Geschehen  im  Innern  «1er  Knie,  oder  in  der 
Luft,  oder  im  Wasser  grolse  neue  Bildungen ,  z.  B.  Me 
teorsteinbildung ,  lnselbildung,  so  kommen  dabei  namhafte 
Krschütterüngeti  und  grofse  stürmische  Bewegungen  vor. 
Dieselben  zeigen  sich  auch,  wenn  die  irrdische  Materie 
imler  der  Ilnnd  des  Alchyinislen  neue  Formen  annimmt  *). 
Auf  gleiche  Weise  entstehen  stürmische  Lchensbewegungen, 
wenn  sich  Krankheitsprozesse  im  Körper  entwickeln,  und 
diese  Bewegungen  bei  I  sen  Fieber,  wiewohl  die  gemeinen 
Aerztc  mit  diesem  W  orte  grofsen  Mißbrauch  treiben  3). 
Besonders  bezieht  sich  die  gegebene  Deutung  auf  das  Frost¬ 
stadium  des  Fiebers.  So  erscheinen  denn  die  Fieber  gleich¬ 
sam  als  Krdbeben  des  Mikrokosmus  l). 

Zugleich  ist  zu  bemerken,  dafs  bei  jeder  Krankheit 
Verderbnils  der  organischen  Materie  statt  findet,  und  dals 
diese  verdorbene  Materie  gleichsam  «als  eio  Excrement  und 
als  liefen  dem  Körper  anhaftet,  dafs  aber  das  Leben,  sich 
selbst  zu  erhalten  eifrig  bestrebt,  das  Unreine  auszustofsen 
sucht,  und  dafs  dieses  Streben  in  stürmischen  Lebensbewe¬ 
gungen,  in  Fieber,  sich  äufsert.  Diese  Deutung  bezieht 
sich  besonders  auf  das  Hitze-  und  Krisenstadium  des  Fie- 
bers.  ln  der  erwähnten  Beziehung  erscheinen  denn  die 
Fieber  als  heilsame  Naturbemühungen,  daher  sie  sich  auch 
selbst  heilen  *). 


Fieber-  und  F.ntzündungsproiesse  und  den  im  Gewitter  «ich  aus- 
sprechendcn  grofsen  elektrischen  Spannungen  in  der  Atmosphäre 
gelesen. 

1) *  III,  55.  , 

2)  III,  173  ‘ 

3)  Fcbres  sunt  terrae  motus  Arcbaei. 

4)  Si  infectum  (a  fnateria  peccante )  corpuj  tremorem  pa- 
titur  —  non  nisi  per  motum  corporis,  quasi  terrae  pote«t  egrr«- 
jum  facerc.  Quod  si  incipit  pro  expulsione,  iain  motns  terrae, 
i.  c.  corporis;  uique  puo  putredo  ad  locum,  sc.  per  egestionciu, 


I 


I.  Paracelsus.  135 

XXI.  Genesung  entstellt  dadurch,  dafs  das  Leben, 
der  Archäus,  des  in  ihm  Abweichenden  mächtig  wird,  es 
besiegt  (XVIII.).  Dies  ist  die  Heilkraft  der  Natur.  Sie 
thut  sehr  oft  Alles  in  Allem,  wie  Hippokrates  sagt;  oft 
aber  kommt  sie  auch  nicht  zum  Ziele,  oder  erliegt  sogar, 
ln  den  letzten  Fällen  ist  sie  auf  alle  Weise  zu  unter¬ 
stützen.  —  ln  dem  Angegebenen  ruht  die  Grundidee  der 
Therapeutik.  —  —  «  Also  ist  der  Mensch  sein  Arzt  selbst. 
Denn  so  er  der  Natur  hilft,  so  giebt.  sie  ihm  seine  Noth- 
«hirft.  Denn  so  wir  am  Gründlichsten  ailen  Dingen  nach- 
denken,  so  ist  unsere  eigene  Natur  unser  Arzt  selbst,  d.  i. 
sie  hat  in  ihr,  das  sie  bedarf.  Seht  von  aufsen  an  die 
Wunde.  Was  gebricht  der  Wunde?  Nichts,  als  allein 
«las  Fleisch.  Das  mufs  von  innen  heraus  wachsen,  und 
nicht  von  aulsen  herein.  Drum  so  ist  die  Arznei  der 
Wunde  allein  ein  Defensiv,  dafs  die  Natur  von  aufsen  keine 
Zufälle  habe  und  ungehindert  bleibe  in  ihrer  Wirkung. 
Also  heilt  sie  sich  selbst  und  ordnet  und  ebnet  sich  selbst, 
als  dann  die  Chirurgie  ausweist  und  lehrt  der  erfahrenen 
Aerzte.  Denn  Mumia,  der  Balsam,  der  die  Wunden  heilt, 
ist  der  Mensch  selbst.  Mastix,  Gummi,  Glätte  u.  s.  w. 
vermögen  nicht  einen  Tropfen  Fleisch  zu  geben,  aber  zu 
defendiren  die  Natur,  dafs  ihr  Vornehmen  gefördert  wird. 
Nun  also  Bt  es  auch  rnit  den  Krankheiten.  So  die  Natur 
allein  defendirt  wird,  so  ist  sie  die,  die  alle  Krankheiten 
selbst  heilt.  Denn  sie  weifs,  wie  sie  die  heilen  soll.  Der 
Arzt  mags  nicht  wissen.  Drum  so  ist.  er  allein  einer,  der 
der  Natur  Beschirmung  giebt.  So  sind  in  der  Natur  so 


destlnata  fuerit.  Deinceps  calor  sequitur  etc.  (3,  143.)  —  Omnes 
febres  veniunt  a  faecibus  (3,  251).  Omnis  febris  per  se  curatur. 

Ich  habe  he!  mehren  Gelegenheiten  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dafs  Sydenliam’s,  Stahl’s  und  so  vieler  grofsen 
Aerzte  Ansicht  von  der  Heilsamkeit  des  Fiebers  weit  mehr  Be¬ 
herzigung  verdiene,  als  man  ihr  heutiges  Tages  schenkt.  Moch-  ' 
ten  mein^  Worte  nicht  in  deVn  Winde  verhallen1 


t 


136 


J.  Paracelsus. 


viel  Eigenschaften,  als  in  der  Scicntia.  Sie  hats  in  ihr  ein¬ 
geboren;  wir  habens  aus  der  Lehr.  Sö  viel  sind  «vir  hier- 
aufsen,  dafs  wir  das  vermögen,  das  sic  vermag.  —  Also 
so  llt  ihr  verstehen,  dafs  eine  Scienz  im  Arzte  sei  und  eine 
in  der  INatur  des  Mikrokosmos.  ”  —  <*  Es  sind  zwei  Arz¬ 

neien ,  die  eine  auiserlich,  die  andere  innerlich.  Die  äufser- 
liche  thut  der  Mensch  selbst,  die  innerliche  die  Natur.  Von 
Natur  hat  der  Mensch  wider  jegliche  Krankheit  Arznei, 
und  wie  er  hat  den  Destructorem  sanitatis  von  Natur,  also 
hat  er  auch  den  Conservatorem  sanitatis  von  Natur.  .letzt 
folgt  aus  dem,  dafs  der  Destructor  für  und  für  Destruction 
und  (Jorruption  wirket  und  handelt,  den  Menschen  umzu¬ 
bringen.  Also  stark  und  emsig  ist  auch  Conscrvator  na- 
turae.  Was  der  andere  zerbricht  und  zerbrechen  will, 
das  richtet  der  angeborene  Arzt  wieder  auf  und  zu.  »  — 
Omnes  conatus  irriti  evadunt  ac  oleuin  et  Opera  perduntur, 
si  quid  attentemus  Naturae  viribus  superius  (3,  I.).  Me- 
mineris  itaque,  Naturam  ita  comparatam  esse,  ul  sibi  similis 
semper  permaneat,  nunquaiu  viin  sibi  fieri  a  medico  patia- 
tur,  sed  sic  arli  praeesse,  nt  ad  ipsius  nutum  et  volunta- 
tem  te  et  artem  tuam  mutari  nett^se  sit.  Artis  igitur  sum- 
nmm  mysterium  erit  in  Naturae  et  remedii  convcnientis 
cognitione  (ib.  etc.).  —  Eorro  autem,  quemadmodum  in 
mineralibus  aurum  ab  aere,  sic  in  corpore  humauo  mor- 
burn  a  vita  separari  sciendum  est.  N  icissim  veluti  non  raro 
in  hujusmodi  separationibus  mineralium  purum  ab  impuro 
omnino  non  secedit,  sic  quandoque  aegritudines  cum  vita 
ad  mortem  usque  complicatae  permanent.  Denique  perinde 
ac  artifex  in  separationibus  Naturae  impotentiam  ac  defectum 
arte  resarcit,  dum  impurum  a  puro  perfecte  separat:  sic  et 
medicus,  quod  Natura  in  Microcosmo  imperfectum  rcliquit, 
perficere  debet.  (3,  117.)  * ) 


I  )  Schon  dadurch,  dal.?  Par.  seine  Ansicht  von  der  Natur- 
hrilkraft  in  der  f'hinirgic  geltend  machte,  hat  er  sich  unsterb 
liebes  \  erdienii  um  die  Heilkunde  erworben.  Mau  vergleiche 


I.  Paracelsus. 


1 37 


XXII.  Die  Dinge  der  Welt  sind  einander  aufs  In  nies  Le 
verwandt  (VIII.).  Anfser  ihrer  allgemeinen  Verwandtschaft 
aber  stehep  dieselben  noch  in  specifischer  Wechselbeziehung, 
auf  gleiche  Weise,  wie  die  Organe  des  Körpers  aufs  Innigste 
verbunden  sind,  dabei  aber  noch  in  specieller  Beziehung 
untereinander  stehen,  die  Leber  und  der  Magen  mit  dem 
Gehirn,  der  Uterus  mit  den  Brüsten  u.  s.  w.  ”  So  haben 
nun  auch  einzelne  Dinge  der  Aufsennatur,  des  Makrokos¬ 
mos,  specielle  Beziehungen  zu  bestimmten  Gebilden  und 
Prozessen  des  Organismus,  des  Mikrokosmos,  so  dafs  sie  be¬ 
stimmte  eigentümliche  Veränderungen  und  Umstimmungen 
in  denselben  hervorbringen.  Diese  Dinge  sind  besonders 
zu  Arzneien  zu  gebrauchen,  und  der  Arzt  muls  sie  und 
ihre  \Y  irkungen  erforschen. 


Sprengel,  der  in  der  erwähnten  Beziehung  dem  Mann  Gerech¬ 
tigkeit  widerfahren  läfst:  «Seias  ergo,  Nntnram  radicalcm  et  ' 
congcnitum  balsamum  in  se  continere,  qui  vulnera,  puncturas, 
ornnemque  continui  .solutionein  curandi  facultate  praeditus  est. 
Balsamus  Naturae  ossa  fracta  conglutinat  ramosaque  vulnera  sa¬ 
nnt,  sieque  omnis  corporis  pars  curationis  elficientem  causam, 
i.  e.  naturalem  medtemn  in  se  continet.  Qua  propter  meminerit 
Cbirurgus,  non  se,  sed  balsamum,  qui  in  corpore  eonsistit, 
vulnera  curare,  non  cmni  levis  error  est,  si  medicus  sibi  cura- 

I 

tioneni  adseribat.  Sol  um  Chirurg!  officium  est  ac  Chirurgiae 
onus,  Naturae  cui'am  gerere  in  loco  allecto,  ne  seil,  viilnus  a 
eaussis  externis  irritetur  ac  balsami  curatrix  virtus  impediatur.  — 
Carnem ,  adipern,  axungiam,  sanguinem ,  mcdullam  cet.  non  sane 
liouunem  generare  quisquam  est,  qui  dicat.  Perficit  Natura  actio- 
nem  suam,  dum  edrnem  aut  nervum,  aut  ld  ,  m  ejuo  vulnus  con- 
sistit,  generat.  —  Ut  autern  consuendi  meliorem  et  certiorem 
rationem  teneatis,  ista  vos  Jundamenla  observare  veilem.  Ninii- 
rum  Naturam  ipsain  tantuin ,  quantfum  singulis  diebus  glutinat, 
suopte  Marte  intrinsecus  contraliere  ac  suere  sieque  progredi 
pnuiatiin,  donec  ad  labia  et  extremitates  vulneris  jiervenerit  to- 
luuique  glutinetur,  fabrorum  instar,  qui  duos  asseres  glutino 
junguni.  Cieatricein  vero  aeque  angustam  facit,  ac  si  sutori« 
iilo  consuisses.  >» 


i 


f 


138  I.  Paracelsus. 

XXUi.  Nun  richtet  sich  offenbar  da»  Aeulsere  nach 
dem  Inneren,  wie  sich  denn  der  Geist  des  Menschen  in  der 
Physiognomie  und  im  ganzen  Habitus  abspiegelt.  So  schlie- 
fsen  wir  füglich  vom  Aeufscren  aufs  Innere,  und  so  kön¬ 
nen  wir  auch  die  NN  irkungcn  der  Arzneisubstanzen  aus 
ihrer  Pysiognomic  ergründen  und  erschlichen.  Dies  gieht 
die  Lehre  von  den  Signaturen  der  Dinge,  in  welcher 
Lfchre  wir  mit  Hülfe  der  Chiromantie,  der  «Anatomie'’ 
u.  s.  w.  zu  bestimmten  Gesetzen  und  zu  wissenschaftlicher 
Begründung  zu  kommen  suchen  müssen  *). 

XXIV.  Noch  muh  ein  anderes  Lebensverhältnifs  zur 
Heilung  benutzt  w  erden.  Die  Krankheit  ist  ein  am  Leben 
schmarotzender,  niederer  Lebensprozefs  (XV.).  Nun  hat, 
weil  in  der  Natur  alles  wider  alles  kämpft,  jedes  Leben 
sein  ihm  speriel!  Feindes  (XI.).  Die  Krankheiten,  als  Le¬ 
bensformen,  eben  so.  So  giebt  es  Krankheitsgifte,  Kra?k- 
heitsspecifica.  NN  ir  müssen  dieselben  erforschen  und  zur 
Krtödtung  und  Vertilgung  der  Krankheiten  benutzen.  Wie 
das  Feuer  die  Dinge  verzehrt,  so  verzehren  dergleichen 
Substanzen  die  Krankheiten  (3,  ISS,  189.),*  und  wie  der 
Mensch  stirbt  vor  den  Augen  des  Basilisken,  so  die  Krank¬ 
heit  von  einem  Tropfen  der  ihr  feindlich  entgegensteben- 
den  Arznei  (4,  150.). 

Die  Wirkung  der  erwähnten  Arzneien  Iaht  sich  übri¬ 
gens  nur  durch  Berücksichtigung  ihres  dynamischen  Ver¬ 
hältnisses  erklären,  und  nicht  der  Stoff,  sondern  die  an 
ihn*  gebundene  lebendige  Thätigkeit,  die  Seele  der  Arzneien, 
ist  das  in  ihnen  Wirksame  «<  Qucmadmodum  in  homine 
atiima,  qua  tarnen  homo  est,  invisibilis  existit,  sic  in  me- 
clicamento  et  corpus  est  medicamenti  et  ejus  velut  anima, 
quaedam  actio  seu  energia,  quae  etsi  sine  corpore  uoo  ex¬ 
istit,  corpus  tarnen  ipsum  ad  sanandum  nil  conducit,  nisi 
quod  actioni  subest.  »*  (3,  15.) 


1)  Verfl.:  4,  146;  6,  148.  Der  hitrlifr  fehhrißen  Stellen 
findet  man  fa»t  atil  |edem  Blatt  der  paraceLisehe  u  Schriften. 


I.  Paracelsus. 


139 


I 


XXV.  Aus  den  Substanzen  aber,  die  wir  zur  Hei¬ 
lung  benutzen,  mufs  das  Wirksame,  die  Quintessenz,  der 
Grundstoff,  der  aristotelische  Aether,  ausgezogen  werden, 
und  dies,  nicht  aber  das  Goldmachen,  ist  das  Ziel  und  der 
\orwurf  der  Alchymie  1 ). 

—  —  Hie  aufgezähiten  Sätze  begründen,  so  viel  ich 
sehe,  das  Wesentliche  des  allgemeinen  Theiles  des  paracel- 
sischen  Systenies.  Wie  der  grofse  Mann  seine  generellen 
Ansichten  ins  Einzelne  führte,  wie  er  aus  ihnen  die  ein¬ 
zelnen  Verrichtungen,  Beziehungen  und  Verhältnisse  des 
Organismus,  die  einzelnen  Krankheiten,  die  Wirkung  und 
Bedeutung  der  Arzneien  erklärte,  hier  das  Wahre  schauend, 
dort  ahnend  und  andeutend,  hier  ganz  verkennend,  jetzt 
mit  klarem  Blicke  über  sein  Zeitalter  sich  erhebend,  jetzt 
in  die  crasse  Mystik,  den  finsteren  Aberglauben  und  den 
wunderlichen  Aberwitz  der  Zeit  tief  versinkend  2),  bald 


1)  «Frustra  de  Alch^mia  tarn  prolixe  non  scribo ,  sed  id 
hoc  aniino  et  fine  fäcio,  ut  ex  bis  probe  et  solide  cognoscatur, 
quid  in  ipsa  lateat  et  qui  intelligi  debeat.  Nee  ex  hoc  offeudi 
debes  ,  quod  ex  ea  non  aurum  nee  argentum  prodit,  sed  boc 
potius  accurandum  est,  ut  per  eam  arcana  detegantur  etc.» 

(1,  213.) 

2)  Wie  abergläubisch  Paracelsus  war,  mag  Folgendes 
zeigen:  Fr  will  attrahirende  Mittel  gesehen  haben,  die  Zentner 
Fleisch  an  sich  gezogen  hätten,  wie  Magnete  das  Eisen  «Fin 
solches  Attractiv  bat  herausgezogen  aus  dem  Leib  in  den  Mund  die 
Lungen  ,  und  also  den  Menschen  efwürgt.  Fs  ist  auch  gesche¬ 
hen,  dafs  der  Augapfel  mit  einem  Attractiv  herausgezogen  wor¬ 
den  bis  auf  die  Nase  —  mit  viel  ahentheuerÜcher  Anzei¬ 
gung»  (7,  43).  So  will  er  Styptica  haben,  «die  den  Mund 
so  zustopfen  ,  dafs  er  mit  Instrumenten  inuls  aufgebrochen  wer¬ 
den»  (46).  Genau  giebt  er  die  Zeichen  der  Hexen  an  (9,  341). 
Fr  glaubt,  dals  Menschen  von  Thieren  geboren  werden  kön¬ 
nen  (7,  137).  Durch  die  Einäscherung  eines  Vogels  kann  man 
einen  neuen  machen  (das.).  Durch  allerhand  chemische  Opera¬ 
tionen  kann  man  aus  Pferdemist  einen  Menschen  ( llomunculus, 
Alreona,  Mandragora  heilst  er)  machen  (6,  139;  7,  36).  Aus  * 


/ 


I.  l'aratclsus. 


140 


% 


mit  seinen  Leistungen  zufrieden,  bald  die  alte  Klage  über 
die  Beschränktheit  des  Irdischen  überhaupt  und  mensch¬ 
licher  Wissenschaft  insbesondere  anstimmend;  wie  er  bei 
seinen  chemischen  Arbeiten  Herrliches  fand,  oft  aber  auclv 
Faust ’s  Vater,  wie  ihn  der  Dichter  schildert  1 ),  glich; 
wie  er,  anders  denkend,  als  Sydenham  *),  den  minera- 


tlerglciohcn  Menschen  werden  Kiesen,  Zwerge,  Sylvester,  Nym¬ 
phen  u.  s.  w. ,  «denen  die  Kunst  eingeboren  ist,  so  fern  sie 
durch  dieselbe  entstehen  (140).  Enten  lassen  steh  in  Frösche 
verwandeln  u.  s.  w.  (3,  29.)  Tolles  Zeug  über  Spectra  und 
Visionen  stellt  6,  170,  de  natis  ex  Sodomia  9,  INI.  —  Das 
Angeführte,  das  sich  leicht  vermehren  liefse,  mag  genug  sein, 
uiu  unseren  Mann  in  der  fraglichen  Beziehung  tu  charaktcrisi- 
reu.  Es  Iragt  sich  übrigens  sehr,  ob,  nicht  dies  und  jenes  von 
dem  Vngelührten  blols  deshalb  geschrieben  ward,  um  die  Zeit¬ 
genossen  zu  blenden  und  ihnen  zu  imponiren.  Das  Buch  de  natura 
renim ,  das  viel  Mystik  enthält  und  von  Aberglauben  strotzt,  ist 
an  einen  gewissen  Wr  i  n  k  e  ls  t  e  i  n  e  r  geschrieben.  Parac.  sagt 
in  der  Vorrede:  «ich  weils,  dafs  Du  gern  etwas  Neues  und 
Wundcrbarliches  in  der  Kunst  hörest  —  Obschon  ich  solches 
selber  nicht  alles  erfahren  —  So  I)u  mich  nicht  verstehen  wür¬ 
dest,  schreib  mir  im  Geheim  zu  —  Du  sollst  das  Werk  nicht 
weiter  kommen  lassen  die  Tage  Deines  Lehens,  sondern  allein 
für  Dich  und  die  Deinen  in  grofsem  Geheim  behalten,  als  ser- 
borgenen  grofsen  Schatz,  als  edles  Perlin,  als  köstlich  Kleinod, 
das  nicht  vor  die  Säue  soll  geworfen  werden,  d.  i.  vor  die  Ver¬ 
ächter  aller  guten  natürlichen  Künste  und  Heimlichkeiten  —  In 
gleicher  Weise  sollst  Du  hei  Deinem  Tod  verordnen,  dafs  cs 
Deine  Kinder  und  Erben  verborgen  halten»  —  u.  s.  w.  Diese 
Acufserungcn  lassen  mich  vermuthen,  dals  Parat,  an  das,  was 
er  in  der  besprochenen  Weise  geschrieben ,  grölstenllieils  seihst 
nicht  geglaubt  habe. 

1)  '  .Mein  \  aicr  war  ein  dunkler  Ehrenmann,»  u.  s.»w. 

2)  Sanc  dolcnduiu  est,  Planta  rum  naturam  nondum  ina- 
gis  exploralo  nobis  innotcscere,  qnae  mihi  vidontur  reliquae 
omni,  qua  jiatet,  Matcriae  medicac  palinam  praeripere.  Cuiu 
A  n  i  m  a  I  i  u  in  partes  cum  humauo  corpore  nmiium  convenire 
videantur,  iiimium  dissidere  Mineral  ia,  linde  est,  quod  Minr- 
ralia  indicationlbus  potentins  responderr ,  quam  vel  Plantas  vrl 
ah  Animalihus  doumta,  lubens  fateor.  N  wl  »  n  h  a  ru  opp.  pracl. 


1.  Paracelsus.  141 

lischen  Dingen  im  Arzneisehatze  den  obersten  Platz  ein-  * 
räumte  und,  sie  zuerst  in  umfassendster  Weise  heroisch, 
aber  doch  vorsichtig  gebrauchend,  die  schwierigsten  Krank¬ 
heiten  heilte;  wie  ihm  zusammengesetzte  Formeln  verhakt 
waren  ‘)  —  dies  und  anderes  erörtere  ich  hier  nicht  wei¬ 
ter.  Zum  Schlüsse  aber  hebe  ich  einige  Hauptlehren  des 
Reformators  hervor,  die  von  der  Weltbildung,  die 
von  der  Erzeugung,  die  von  der  organischen 
Ernährung  und  die  von  den  tartarischen  Krank¬ 
heiten.  — 

Die  Ansicht  des  Mannes  von  der  Weltbildung  ist 
folgende: 

Das  bei  der  Weltschöpfung  Thätige  war  die  Gottheit, 
«die  nicht  allein  des  Sohnes,  sondern  aller  ewigen  und 

sterblichen  Wesen  Vater  ist»  (8,  31.),  der  Yligster  _ 

astrum),  die  Urkraft.  Die  Gottheit,  die  tvzgyucc  ocnv  Jajjs, 
wie  Aristoteles  sagt,  war  der  Fabricator,  der  Zimmer¬ 
mann  der  Himmel,  der  grofse  Bildschnitzer.  (8,  29.)  2) 

Der  Yliaster  ist  zertheilt  worden,  zerflofs,  indem 
die  Schöpfung  geschah;  als  ein  Saame  zerging  er  bei  der 
Schöpfung.  (8,  30.) 

Zunächst  entwickelte  sich  der  Yliaster  zu  einem  Ur- 
wesen ,  dem  Ideos  (Ides,  Chaos,  Mysterium  magnum,  Ylia- 
dos,  Limbus  major).  (8,  1,  8;  28,  29;  4,  142.)  3)  ' 

1)  «Also  (nemlich  kurz,  einfach  und  bündig)  sollen  die 
Recepte  gesetzt  werden  und  componirt,  und  nicht  mit  langen 
theriakischen  Ilecipe  und  Syrupis  und  dergleichen,  darin  keine 

Anatomie  ist,  allein  Phantasie.»  1,  51.  Yergl.  Sprengel. 

\ 

2 )  Der  Yliaster  des  Para  c,  hat  grofse  Aehnlichkeit  mit 

« 

dem  Ev  des  Pythagoras,  mit  dem  Zeus  des  Pherekydes, 
mit  der  Gottheit  des  Platon  und  Aristoteles,  am  meisten 
aber  entspricht  er  dem  E v  des  Empedokles.  Die  erstgenann¬ 
ten  Philosophen  gaben  ihrer  Gottheit,  ihrem  ,  immer 

eine  Urmaterie  zur  Seite,  dagegen  Empedokles  das  Fr -Eine 
sich  selbst  zu  den  Elementen  entwickeln  lälst. 

3)  D  ics  Urwesen  entspricht  einigermaafsen  dem  A7rei^av 
des  Py  thagoras,  der  formlosen  Materie  des  Platon  u.  s.  w. 


i 


142 


I.  Paracelsus. 


Dies  Urwesen  bestand  aus  zwei  «  Wesen ,  *  aus  Lebens- 
thätigkeit  («ein  spiritualisch  Wesen,  ein  unsichtbar  und 
ungreiflich  Ding,  und  ein  Geist  und  ein  geistig  Ding”) 
und  aus  Lebensstoff,  aus  dem  Leben  der  Geschöpfe  und 
dem  Corpus  der  Geschöpfe.  (H,  -V ) 

ln  dem  Ideos,  der  mit  dem  Grieben  begabten  Urma- 
terie,  waren  nur  die  drei  Elementarstoffe,  die  axAot  r«, 
Salz,  Schwefel  und  Quecksilber,  und  die  aus  ihnen  beste¬ 
henden  Elemente  und  sämmtlichen  Dinge  potentia,  nicht 
aber  actu  enthalten,  auf  gleiche  Weise,  wie  in  dem  Holze 
das  Üild,  das  aus  ihm  geschnitzt  wird,  wie  im  Kiesel  das 
Feuer,  das  aus  ihm  geschlagen  wird,  wie  in  der  Speise  das 
Fleisch,  das  aus  ihr  durch  die  Ernährung  erzeugt  wird. 

<*,  t.  a ) 

Zunächst  gingen  aus  dem  Ideos  hervor  die  aus  den 
Elementarstoffen  bestehenden  (8,  30.  32.)  Elemente,  die 
Luft,  die,  wie  die  Mauer  die  Stadt,  der  Damm  den  Wei¬ 
her,  die  Haut  den  Körper,  die  Schale  das  Ei,  alle  Welt 
umschliefst,  sie,  der  Alhem,  aus  dem  alle  Dinge  das  Leben 
haben  und  den,  wie  unsere  Lungen,  Erde,  Feuer  und 
Wasser  an  sich  ziehen;  ferner  Wasser,  Feuer  (Licht)  und 
Erde.  (8,  4.  34.) 

Die  Geburt  der  Elemente  geschah,  wie  die  Entstehung 
des  Stammes  aus  dem  Saamen ,  in  dem  kein  Stamm  ist,  wie 
die  Entwickelung  des  Feuers  aus  dem  Kiesel,  in  dem  kein 
h  euer  ist,  also  nicht  « materialisch,  »  durch  blofse  Schei¬ 
dung,  sondern  dynamisch,  «  spiritualisch.  *» 

Die  Elemente  sind  nun  corporalisch,  aber  in  Wesen 
und  Natur  sind  sie  Geiste.  (8,  104.)  —  Der  Geist  ist 
lebendig  und  das  Leben  ist  der  Geist,  und  das  Lebeu  und 
der  Geist  wirken  alle  Dinge,  sind  aber  Ein  Ding  und  nicht 
zwei.  So  gesagt  wird:  das  kommt  von  dem  Element,  so 
verstehet:  vom  Element  und  nicht  vom  Gorpus.  Die  Zunge 
redet  und  redet  nicht,  denn  der  Geist  ist  in  ihr,  der  redet, 
das  Heisch  an  ihm  selbst  nicht.  —  So  haben,  weil  alle 
Thätigkeit  in  der  Materie  nur  ein  Ausllufs,  eine  Separation 


% 


9 


[.  Paracelsus.  143 

<!es  Yliaster  ist,  auch  die  Elemente  ihre  Yliaster,  jedes  den 
seinigen.  (b,  33.) 

Aus  den  Elementen  wurden,  wie  die  i demente  aus  dem 
Ideos,  die  Geschöpfe  geboren,  auf  gleiche  Weise  wieder, 

«  wie  von  einem  Saamen  ausgeht  die  V\  urzei  mit  ihren 
Fasern,  danach  der  Stengel  mit  vielen  Aesten,  danach  die 
Blatter,  das  Geblühe  und  der  Saame.  ”  (S,  55.)  Sie  alle, 
die  Geschöpfe,  bestehen  aus  den  Elementarstoffen 

Wo  wir  noch  jetzo  Wesen  durch  spontane,  äquivoke 
Zeugung  entstehen  sehen,  da  ist  Substrat  des  Eötwicke- 
lungsprozesses  ein  schleimiges  Wesen  (mucilago),  bei 
dessen  Zersetzung  ( Putrefaction)  (6,  138.)  durch  Feuch-  , 
tigkeit  und  Wärme  das  neue  Leben  entsteht.  Aehnliches 
mag  bei  der  ersten  Entstehung  der  Organismen  statt  gefun¬ 
den  haben,  und  so  läfst  sich  annehmen,  dafs  alle  irdischen 
Naturen  ursprünglich  aus  der  Zersetzung  eiues  Urschleimes 
und  aus  den  mitwirkenden  Elementen,  namentlich  aber  aus 
dem  Wasser  '),  hervorgegangen  seien.  (6,  140,  141.) 
Diese  Ansicht  wird  auch  durch  die  Thatsachen  bestätigt, 
dafs  die  schleimige  Flüssigkeit  im  Ei,  das  Eiweifs,  durch 
die  Wärme  zersetzt  (faul)  und  lebendig  wird,  nicht  allein 
durch  die  Wärme  der  Henne,  sondern  auch  durch  je/ie 


1)  Die  Lehre  vom  Wasser,  als  dem  Ursprünglichen ,  ist 
uralt  und  weitverbreitet.  Der  alte  I2y»jv,  Q.k'/)c/,vo$  >  ZIkscavos  gilt 
im  grauen  Alterthum  und  noch  bei  Homer  als  Vater  Aller. 
Poseidaon  war  der  alte  Bundesgotl  der  Joner.  Pausa  nias 
(  Aread.  VI.)  sah  in  einer  arkadischen  Stadt  ein  ura  lt  Bild  einer 
Fischgöttin.  Thaies  nahm  das  Wasser  als  göttliches  Urele¬ 
ment  der  Dinge  (#£#*}),  und  Auflösung  alles  Seienden  in  Was¬ 
ser  an.  Eben  so  hat  wahrscheinlich  der  herrliche  Xenopha- 
n  cs  das  W  asser  als  das  Ursprüngliche  angenommen,  wie  er 
denn  bemerkte,  «dafs  annoch  Muscheln  auf  der  Erde  gefunden 
würden,  und  Fische  und  Formen  der  Meerkälber,»  und  alle 
leuchtende.  Gebilde  in  der  Luft,  Gestirne,  Regenbogen ,  St.  Elms- 

f  % 

teuer,  für  feurige  Wolken  erklärte.  Unter  den  Neueren  s.  Oken 
m  seiner  Naturphilosophie.  1  \ 


144 


I.  Paracelsus. 

I 

andere,  und  dafs  kein  chemischer  Prozefs  ohne  die  Elemente, 
namentlich  das  Wasser,  vorgeh l.  (6,  136.)  — 

Wie  sehr  die  erörterte  Ansicht  über  die  Genesis  der 
Dinge  mit  den  Ansichten  der  alteren  griechischen  Philo¬ 
sophen,  dann  mit  der  Ansicht  des  Plotinus  und  sein«* 
Nachfolger,  endlich  mit  der  der  neuesten  naturphilosophi- 
schen  Schule  iihereinstimmt,  brauche  ich  niclit  wc:tläiiftig 
zu  entwickeln.  Klar  ist,  dafs  sie  viel  Schönes  und  Tref¬ 
fendes  enthält.  —  — 

Nicht  minder  interessant  ist  die  Ansicht,  die  der  Mann 
von  Einsiedlen  über  die  Zeugung  hegte. 

Von  der  überall  im  Körper  verbreiteten  flüssigen  Thier¬ 
substanz  (Liquor  vitne),  in  der  alle  die  Natur,  Eigenschaft, 
Wesen  und  Art  der  Glieder  und  Thätigkeiten  ist  (1,  19b.), 
in  der  der  ganze  Mikrokosmos  liegt,  die  somit  ein  verbor¬ 
gener  Mensch  ist,  gleichsam  das  inwendige  Schatten-  oder 
Spiegelbild  des  Menschen,  scheidet  sich,  wie  der  Schaum 
von  der  Suppe  und  der  Gischt  vom  Weine,  und  wie  wir 
die  Quiotesseuz  aus  den  Dingen  abscheiden,  der  Saanie. 
(196.) 

Diese  Scheidung  geschieht  gleichsam  durch  eine  Dige¬ 
stion,  durch  innere  Erhitzung  und  Entzündung,  die  in  der 
Geschlechtsreife  die  Einwirkung  der  Weiber  in  uns  erregt, 
in  ähnlicher  Weise,  wie  die  Sonne,  auf  Holz  einwirkend, 
dasselbe  in  Flammen  setzt.  (1,  196.) 

Der  Saame  bildet  sich  auf  gleiche  Weise  aus  dein 
Liquor  vitae,  wie  das  Feuer  aus  dem  Holze,  darin  doch 
actualiter  kein  Feuer  ist.  (das.) 

Zur  Dildung  des  Snamens  tragen  nun  alle  Organe  und 
alle  Thätigkeiten  des  Leibes  hei,  wie  sie  ja  in  dem  Liquor 
vilac,  dessen  Quintessenz  der  Saame  ist,  liegen  und  ent¬ 
halten  sind,  und  wie  sic  aus  demselben  entstehen  und  in 
ihn  zurückgehen  und  sich  auflösen.  (1,  196  —  199.)  So 
ist  in  dem  Saamcn  alles,  was  zu  einem  Menschen  gehört; 
in  der  allgemeinen  Saamcnfeuchtigkeit  ist  Saame  vom  Kopfe, 
vom  Hirne,  von  der  Nase,  von  den  Augen  u.  5.  w.  (196.) 

Der 


I 


I 


1.  Paracelsus. 


143 


\ 


Der  Saame  ist  also  der  Mensch  selbst  (3,  1.);  Sperma 
est  Microcosmus.  (4,  250.) 

Grofsert  Einflufs  auf  die  Saamenbildung  aber  hat  die 
Seele,  die  Phantasie  u.  s.  w.  (1 ,  5 DT  —  190.) 

Das  Weib  nun,  «  das  der  Welt  näher  ist,  als  der 
Mann,»  ist  der  Acker,  in  den  der  Saame  gelegt  wird,  die 
Erde,  in  die  die  Aussaat  geschieht.  (  1,  112.) 

Es  ernährt,  entwickelt  und  zeitigt  den  Saamen  des 
Mannes;  nicht,  dals  es  selbst  Saamen  hergäbe?  «Der 
Mensch  wird  nimmer  aus  der  Mutter  selbst  gemacht,  son¬ 
dern  aus  dem  Manne,  aber  in  die  Matrix  gesetzt.»  (117.) 
Die  Galenisten  irren  darin  grob,  dafs  sie  annehmen,  das 
W  eib  gebe  Saamen  her.  (119.) 

Die  Aufnahme  des  Saamens  in  die  Gebärmutter  ge¬ 
schieht  dadurch,  dafs  ihn  dieselbe  anzieht,  «ln  der  Matrix 
ist  eine  anziehende  Kraft,  wie  im  Agatstein  und  in  einem 
Magneten,  an  sich  zu  ziehen  den  Saamen.»  (197.) 

Die  Ernährung  des  Saamens  und  des  in  ihm  enthalte¬ 
nen  atnbryonischen  Menschen  geschieht  nicht  durch  die 
Menstruation,  wie  die  Acrzte  wollen.  Die  Menstruation 
ist  vielmehr  ein  Excrement  des  Uterus.  (126.)  Derselbe 
nimmt  Behufs  der  Ernährung  des  Embryo  und  seiner  eige¬ 
nen  Ernährung,  wie  der  Baum  aus  der  Erde,  von  allen 
Gliedern  und  aus  dem  ganzen  Leib  Speise  und  Nahrung 
an  sich,  von  deren  Residuen  er  sich  monatlich  einmal  rei¬ 
nigt.  (126.)  Wie  jedes  Excrement  (s.  Ansicht  über  die 
Ernährung),  so  ist  auch  das  Excrement  des  Uterus  Gift, 
wie  dies  schon  daraus  hervorgeht,  dafs  menstruirende  Wei¬ 
ber  Wein  und  Essig  Umschlägen,  Blumen  welken,  Metalle 
rosten,  Spiegel  mit  Flecken  anlaufen  machen,  auf  die  mit 
ihnen  in  nähere  Berührung  kommenden  Männer  krankheit¬ 
bringend  wirken  u.  s.  w.  (6,  138.)  So  sind  auch  die  an 
den  weiblichen  Brüsten  und  am  Uterus  so  häufig  vorkom¬ 
menden  Krebsübel  von  Störungen  der  Menstruation  herzu¬ 
leiten.  (III.  93.)  —  Dem  Typus  der  Menstruation  ent- 
XIV.  Bd.  2  St,  10  ' 


14Ö 


I.  l'aracelsus. 


spricht  übrigens  in  einiger  Weise  der  Typus  der  Meeres¬ 
bewegung.  (118.) 

Das  Weib  aber  ist  « Mikrokosma  »  (126.);  es  ist  die 
Erde  und  alle  Elemente.  (129,  111.)  Aus  den  Elementen 
nun,  die  in  der  Mutter  Leib  sind,  wird  das  Embryo  er¬ 
nährt,  auf  gleiche  Weise,  wie  die  Pflanze  aus  dem  Erd¬ 
reich,  der  Luft  u.  s.  w.  (111.)  Er  bedarf,  um  Speise  zu 
sich  zu  nehmen,  nicht  des  Mundes,  sondern  nährt  sich, 
wie  das  Gras  sich  vom  Thau  nährt  und  wie  sich  die  Frucht 
des  Baumes  aus  diesem  erhält.  (S,  220.) 

Aus  Flüssigem  geht  der  Mensch  hervor,  wie  die  Welt 
aus  der  Urfliissigkeit,  und  wie  der  Geist  Gottes  bei  der 
Weltschöpfung  auf  dem  Wasser  ruhte,  so  ruht  er,  der 
durch  die  ganze  Natur  nusgegossen  ist,  auch  auf  der  Flüs¬ 
sigkeit,  aus  der  der  Mensch  sich  entwickelt.  Er,  der  Geist 
Gottes,  ist  bei  der  Zeugung  das  eigentlich  Begeistende  und 
Belebende.  (1,  116.) 

Der  Mensch  im  Uterus  lebt  ein  thierähnliches  Leben, 
und  namentlich  wird  er  erst  später  beseelt.  Er  gleicht 
dem  Fisch  im  Wasser.  »Damit  er  wisse,  was  er  sei,  ein 
Thiel*  der  Welt.»  (115.) 

Es  werden  Menschen  geboren,  denen  Organe  fehlen. 
Dies  erklärt  sich  daraus,  dafs  der  Saarne  aus  allen  Theilen 
gebildet  wird.  Wenn  nämlich  «las  eine  oder  das  andere 
der  organischen  Gebilde  bei  der  Saamcpbildung  nicht  thii- 
tig  ist,  sondern  feiert,  so  fehlt  sein  Saanie  in  der  Saamen- 
llüssigkeit  und  kann  sich  in  der  Mutter  nicht  zu  einem 
gleichen  Gebilde  entfalten.  »Sich  begiebt  auch,  dafs  oft¬ 
mals  eines  Gliedes  Saamen  verhalten  wird  durch  Krankheit 
des  Liquor  vitae,  durch  Hinderung  in  den  Wegen,  oder 
durch  Schwäche  der  Altraclion  der  Mutter  —  dasselbige 
Glied  wird  ihrem  Kind  nicht  gegeben.  Solch  seltsam  Mifs- 
gcwächs  der  Natur  kommt,  so  «las  Sperma  nicht  gleich 
eingezogen  wird  und  mifsfällt.  (201.)  So  aber  das  Kin«! 
etwa  Lins  nicht  hätte,  als  das  Gesicht  nicht,  das  ist  die 


I.  Paracelsus. 


\ 


147 


Ursach,  dafs  der  Saamcn  des  Instruments  Ocnli  und  der 
Zellen  des  Gesichts  nicht  gefallen  ist.  ”  (203.) 

Eben  so  werden  Menschen  geboren,  die  überzählige* 
Glieder  haben,  «als  viele  mit  zwei  Häuptern,  mit  mehr 
Händen,  Fingerlein  und  Gebeinen  oder  Gliedern,  dann 
sieb  gebührt  —  minder  oder  mehr.”  (1,  201.)  Dies  er¬ 
klärt  sich  daraus,  dafs  das  eine  oder  das  andere  Glied  des 

v 

Vaters  doppelt  Saamcn  hergiebt.  «Etwa  begiebt  sich,  dafs 
der  Hauptsaame  fällt  zweifältig  und  die  anderen  Saamen  alle 
nur  einfältig,  da  wird  ein  Kind  mit  zwei  Häuptern  gebo¬ 
ren;  etwa  der  Fingersaame  dreifältig,  mein*  oder  minder, 
also  werden  auch  die  Finger  geordnet.  » 

Groisen  Einflufs  auf  die  Bildung  des  Embryo  hat  aufser- 
dem  die  Phantasie  der  Mutter,  (6,  137.)  —  — 

Schön  ist  auch  Paracelsus  Ansicht  über  den  Ver- 
dauungsprozefs. 

Jedes  Ding,  wiewohl  an  sich  und  in  seiner  Art  gut 
und  vollkommen,  hat  doch  Gutes  und  Böses  in  sich,  Brauch¬ 
bares  für  diese  Geschöpfe,  Schädliches  für  jene.  (1,14,16.) 
Das  Gute  heifst  Essenz,  das  Schlechte  Gift.  Wie  die  übri¬ 
gen  Dinge,  so  verhalten  sich  auch  die  Nahrungsmittel,  so 
dafs  es  ein  Krautgift,  ein  Fleischgift,  ein  Gewürzgift  giebt 
u.  s.  w.  (18.)  Die  Assirnilationsorgane  sind  nun  als  Alchy- 
misten  zu  betrachten;  sie  zerlegen  die  Nahrungsstoffe  in 
ihr  Böses  und  Gutes,  in  ihre  Essenz  und  ihr  Gift.  (18.) 
Das  Gute  wird  in  den  Körper  aufgenommen,  das  Böse  in 
die  Emunctorien  (17.)  und  durch  sie  aus  dem  Leibe  ge¬ 
führt,  wie  denn  der  After  gefaulten  Schwefel,  der  Harn 
aufgelöste  Salze,  die  Lunge  resolvirten  Schwefel  ausführt 
u.  s.  w.  (L9.)  So  lange  d-es  regelrecht  geschieht,  ist  der 
Mensch  gesund.  Es  kann  aber  der  Scheidungsprozefs,  den 
die  Assimilationsorgane  besorgen,  gestört  werden,  «gebro¬ 
chen,»  und  hiermit  ist  Krankheit  gegeben.  (1.9.)  Eben  so 
kann  es  geschehen,  dafs  die  Emunctorien  ihr  Geschäft  nicht 
gehörig  vollbringen  —  auch  daun  entsteht  Krankheit.  (18.) 

1 0  * 


1.  Paracelsus. 


146 

Aus  «ler  in  «len  Digestionsorganen  bereiteten  Nahrungs- 
materie  zieht  «lann  ein  jedes  Glied  seine  Nahrung  auf  gleiche 
Weise  an  sich,  wie  «1er  Magnet  das  Eisen.  (4,  17.)  l  ud 
jedes  Glied  verdaut  nun  wieder  die  allgemeine  Nahrungs- 
flüssigkeit  und  verähnlicht,  assimilirt  sich  dieselbe,  wie  beim 
Anfänge  «1er  Ernährung  der  Magen  die  Speise  ver«lautc  un«l 
assimilirle.  «  Ist  also  zu  verstehen,  als  wenn  ein  gebrann¬ 
ter  Wein  in  Wasser  gegossen  wird,  so  schmeckt  auch  das 
ganze  Wasser  davon,  und  ist  gleich  ausgethcilt  durch  den 
ganzen  Leib.  Oder  gleich,  als  wenn  eine  Tinte  in  Wein 
gegossen  wird,  wird  alles  schwarz.  Also  auch  im  Leib. 
Der  Humor  vitae  «lurchbreitet  ihn  schneller,  denn  wir  in 
den  Exempeln  gesagt.  Aber  in  wes  Gestalt  er  sich  ver¬ 
kehret,  dieselbige  Natur  liegt  an  dem  Glied,  «las  ihn  be- 
!  greift;  cs  dauet  aus  ihm  seines  Gleichen.  Als  da  ist  ein 
]>rot.  Kommt  es  in  einen  Menschen,  so  wirds  Menschen- 
Ileisch,  kommts  in  einen  Hund,  so  wirds  llundefleisch ,  in 
einen  Fisch,  Fischtleisch.  Also  zu  verstehen  ist,  dafs  aus 
Kraft  der  Natur  «1  ie  angenommenen  Dinge  sich  verkehren 
un«l  eignen  nach  «ler  Natur  der  Glieder.  (6,  3.) 

Die  organische  Ernährung  hat  mit  zwei  Naturprozessen 
die  grölste  Aehnlichkeit  und  Verwandtschaft,  mit  der  FäuL 
nifs  ' )  und  der  Zeugung. 

W  ic  bei  der  Eäulnifs  «lie  organische  Materie  ertüdtet, 
zerfällt  und  aufgelöst  wird  und  sich  in  ein  formloses,  schlei¬ 
miges  Wesen  verwandelt,  aus  welchem  dann  wieder  neue 
Geschöpfe  hervorgehen,  so  wir«l  bei  «ler  Ernährung  eben¬ 
falls  der  organische  Stoff  in  «Jen  Digestionswegen  getÖdtet 
und  aufgelöst  un«l  in  den  Nahrungsschleim  umgebildet,  und 
aus  diesem  gehen  dann,  wie  aus  dem  Producte  der  Fäul- 
nifs,  neue  Wesen,  die  Glieder  des  Organismus  neu  hervor. 
Die  Pulrefaction  macht  im  Magen  alle  Speise  zu  Kotli 
un«l  transmulirt  sic,  «lamit  sic  zu  lllut  werde.  Auf  gleiche 


I)  «S.  Oken  in  »einer  Naturphilosophie  über  vegetabilische 
und  thierisc'ic  Ernährung, 


I.  Paracelsus. 


149 


Weise,  wie  aus  den  Dingen,  die  auisen  faulen,  andere 
ihren  Ursprung  nehmen,  und  wie  überhaupt  die  Putrefaction 
der  erste  Anfang  aller  Generation  ist.  (6,  136.)  1  )  — 
Eben  so  kann  und  mufs  man  die  Ernährung  als  zweite 
fortgesetzte  Zeugung  betrachten,  und  der  Zeugung  in  aller 
Weise  gleich  stellen.  «Und  dafs  wir  müssen  zum  anderen- 
mal  geboren  werden,  das  ist  durch  das  tägliche  Brot.» 
(1,  58.) - 

Der  Tartarus  spielt  bei  Paracelsus  eine  grofse 
Bolle;  nicht  mit  Unrecht,  wie  ich  denke.  Folgendes  ist, 
wenn  ich  nicht  irre,  seine  Ansicht: 

In  jedem  Ding  ist  Stercus  oder  Excrementum ,  Schäd¬ 
liches  und  Gutes,  Essentia.  So  auch  in  den  Nahrungs¬ 
stoffen,  wie  oben  gesagt.  Das  Unbrauchbare  in  den  Nah¬ 
rungsstoffen  wird  in  der  Digestion,  das  Unbrauchbare,  das 
-in  der  Luft  enthalten  ist,  in  den  Lungen  vom  Guten  ge¬ 
schieden  ,  und  das  Letzte  wird  dem  Körper  sofort  ange¬ 
bildet,  während  das  Erste  durch  die  Auswurfsorgane,  Harn¬ 
werkzeuge  u.  s.  w.  abgeht.  Die  Lebenskraft  wirft  das  Un¬ 
brauchbare  weg,  wie  ein  Zimmermann  das  verfaulte  Holz. 

(2,  366,  307.) 

Kommt  dieser  Prozeis  in  Unordnung,  so  sammelt  sich 
in  den  Flüssigkeiten  des  Leibes,  namentlich  im  Blute,  ein 
erdige  Salze  in  sich  tragendes,  schleimiges,  zähes  Wesen 
an,  der  Tartarus.  Er  liegt  in  den  organischen  Flüssigkei¬ 
ten,  wie  die  Mineralien  der  Erde  vormals  im  Wasser  auf¬ 
gelöst  lagen.  (377,  2.) 

Erwacht  jetzo  noch  und  verstärkt  sich  die  exeretive 
Thätigkeit  des  Organismus,  «so  scheidet  die  Natur  zum 
Ausgange,  was  wider  menschliche  Ordnung  ist,  und  da 
mag  keine  tartarische  Krankheit  werden.  »  (2,  377.)  Ist 
dies  aber  nicht  der  Fall,  und  häuft  sich  der  Krankheits¬ 
zunder  im  Körper  an,  so  mufs  die  Natur  zu  gewaltsamen 
und  stürmischen  Operationen  ihre  Zuflucht  nehmen,  und 


l)  Vergleiche  Oken’s  Handbuch  der  Naturphilosophie. 


1 50  I.  Paracelsus. 

cs  entstehen  tartarischc  oder  podagrische  Paroxysmen ,  in 
welchen  unter  Frost  und  Hitze  du*  Krankheitsmatcric  aus 
dem  Blute  abgeschieden  und  entweder  nach  aulsen  oder  im 
Innern  an  die  festen  Theile  abgesetzt  wird.  Jene  Abschei¬ 
dung  ähnelt  der  Abscheidung  des  Weinsteins  in  den  mit 
gährendem  Weine  gefüllten  Fässern.  Wohin  der  Tartarus 
trifft,  da  erregt  er  gewöhnlich  heftigen  Schinerz;  die  1  heile 
ft  dolent  de  indigestione  Archaei;  ”  der  Krankheitsstoff  brennt, 
wie  höllisches  Feuer,  daher  auch  die  Bezeichnung  Tarta¬ 
rus.  (2,355.  3,225.)  So  kann  Magengicht,  Darmgicht,  Poda¬ 
gra,  Chiragra,  Koxalgie,  Ischias,  Kreuzschmerz  u.  s.  w.  ent¬ 
stehen;  der  Tartarus  kann  an  allen  Orten  des  Leibes  abge¬ 
setzt  werden.  Besonders  gern  wirft  er  sich  dahin,  wo 
Knochen  durch  Knorpel  oder  andere  Zwischengebilde  ver¬ 
bunden  sind.  (4,  140;  4,5;  4,  10.)  Anfänglich  erscheint 
der  Tartarus  als  schleimiges,  viscoses  Wesen;  später  aber 
wird  das  Feuchte  der  Materie  verzehrt  und  die  erdigen 
Salze  bleiben  in  fester  Gestalt  zurück  (4,  8.),  daher  denn 
die  Gichtknoten,  die  Blasen-,  Nieren-,  Darm-,  Ader-, 
Gallensteine  u.s.  w.,  j ent;  «  Steinlein,  die  geflötzt,  geecket 
und  in  vieler  anderen  Weise  sichtbar  gnd  empfindlich,  ge- 
schiefert,  getäfelt,  blätterig,  granolirt  sind”  (4,  7;  1,95.), 
und  bald  dem  Marmor,  bald  dem  Alabaster,  bald  dem  Tuf- 
steio  («Duelech”),  bald  dem  Leberstein  (« Lephqntea  ”) 
ähneln  (3,  225.),  immer  aber  von  den  in  der  Natur  vor¬ 
kommenden  Steinen  verschieden  sind,  daher  auch  der  Name 
Steinkrankheit  nicht  pafst.  (2,  365.)  Immer  sind  die  Gicht- 
affectionen  als  W  erk  der  heilenden  Natur  zu  betrachten 
(2,  375.),  die  Natur  reinigt  sich  in  ihnen. 

Also  ist  nun  die  Weise  des  Gichtübels  (4,  141.): 
«An  dem  Ork,  da  es  wurzelt,  an  demselben  meldet  es  sich, 
etwa  nach  Speise  und  Trank,  etwa  nach  Mond  und  Wet¬ 
ter,  etwa  nach  der  Nacht,  mit  Frost,  Hitze,  Hüthe,  Ge¬ 
schwulst.  Zuletzt  £ommt  ein  gewaltig  Verhärten ,  also, 
dals  es  ilie  Glaich  und  die  Beine  auseinander  zeucht,  spal¬ 
tet  und  entsetzt  die  Proportion  aus  ihrer  Geometrie, 


I.  Paracelsus. 


151 


kriimmts,  verhärtets ,  verwilderts,  treibts  auf  mit  Knospen, 
Knoten,  verhärtet  die  O laich ,  macht,  dafs  sie  unbiegsam 
werden;  demnach  wachsen  gekörnte  Salzgranen  darin.  — 
Dieser  Krankheit  Bleiben  währt  neben  anderen  Krankhei¬ 
ten,  und  vergeht,  kommt  wieder,  vergeht,  und  ist  doch 
allemal  noch  da.  Tödtet  niemand,  sie  komme  denn  in  eine 
Verstopfung,  d.  i.,  so  sie  nicht  mag  auf  ihre  Anatomie 
kommen,  so  nimmt  sie  das  Leben.  Auch  kommen  in  sol¬ 
cher  Krankheit  mancherlei  Arten  der  Schmerzen  mit  viel 
seltsamen  Zeichen,  verändert  und  nicht  einander  gleich 
oder  selten.  Also  theilen  sich  solche  Schmerzen  aus,  dafs 
sie  jetzt  an  dem,  jetzt  an  dem  Ort  sind,  nicht  gefangen 
an  Einem  Ort,  sondern  wunderbarlich  hin  und  her.  — 
Ist  auch  der  Art,  als  spotte  sie  der  Arznei  und  des  Arztes, 
als  wär  sie  der  Herr  und  der  Arzt  der  Narr.  »  —  — 

—  —  So  der  Arzt  von  Einsiedlen,  anders  geartet, 
als  Hippokrates  und  die  übrigen  Heroen  der  göttlichen 
Wissenschaft,  aber,  wie  sie,  grofs  und  herrlich  in  aller 
Weise  und  unsterblichen  Ruhmes  werth.  —  Möchte  ich 
durch  meine  Worte  den  deutschen  Manu  deutschen  Aerz- 
ten  in  Einigem  näher  gebracht  und  dazu  beigetragen  haben, 
dafs  er,  der  nur  von  Deutschen,  nie  von  Ausländern,  ver¬ 
standen  werden  kann,  in  künftiger  Zeit  sorgfältiger  stu¬ 
diert  und  als  das,  was  er,  wie  schon  Helmont  aussprach  *), 
ist,  als  Zierde  des  Vaterlandes,  erkannt  werden  möge!  — 

Wenns  Deutsche  gäbe,  die  ein  deutsches  Herz 
Zu  schätzen  wülsten,  die  erkennen  möchten, 

Welch  einen  holden  Schatz  von  Treu'’  und  Liebe 
Der  Busen  unsres  V  olks  bewahren  kann, 

- - - —  .  i 

1)  Resj  »ondeo  quoad  scoimnata  et  multorum  subsannationes 
in  \itum  Germaniae  decus  instillata,  ne  nuce  qui  dem  digna  esse 
et  asserentem  ea  eo  ipso  se  redolere  iiidigniorem ,  utpote  qui 
ne  dum  vivos,  sed  rnoiluos  judicare  annititur.  Narn  quae  de 
literis ,  sapientia  adeptisque  donis  perhibent  ejus  nionirnenta, 
non  est,  quod  impar  laudem  ego,  qui  neminis  encoroium  susccpi, 
sed  res  ipsas  trutmo. 


152  II.  Medicinisch  -  gerichtliche  Gutachten. 

m 

W  enn  das  Gedachtnils  einzig  deutscher  T  baten 
In  unsren  Seelen  lebhaft  bleiben  wollte, 

Wenn  unser  liiük,  der  sonst  durchdringend  ist, 
Auch  durch  den  Schleier  dringen  könnte,  den 
Ernst  oder  Schüchternheit  uns  überwirft, 

Wenn  die  liewundrung,  die  begeistern  soll, 

Nach  fremden  Gütern  uns  nicht  lüstern  machte: 
Dann  war1  uns  wohl  ein  schöner  Tag  erschienen, 
Dann  feierten  wir  unsre  goldne  Zeit!  — 


Auswahl  mcdicinisch  -  gerichtlicher  Gut¬ 
achten  der  König  1.  wissenschaftlichen 
Deputation  f  li  r  das  Me  d  i  c  i  n  a  1  w  e  s  e  n ;  mit 
Genehmigung  Eines  hohen  Ministerii  der  geist¬ 
lichen,  Unterrichts-  und  Medicinal -Angelegenhei¬ 
ten  herausgegeben  von  Dr.  Fr.  Klug,  Künigl. 
Geheimen  Medicinal  -  Käthe  und  Professor,  Di- 
rector  der  Königl.  wissenschaftlichen  Deputation 
für  das  Mcdicinalwesen ,  Mitdirector  der  Königl. 
Ober  -  Exaniinations  -  Commission ,  mehrerer  gelehr¬ 
ten  Gesellschaften  Mitgliede.  Erster  Band.  Ber¬ 
lin,  gedruckt  und  verlegt  bei  G.  Reimer.  1828.  8. 
‘XIV  U.  439  s.  (l  TLlr.  16  Gr.) 

Luter  den  zahlreichen  Sammlungen  medicinisch -gericht¬ 
licher  Gutachten  behaupten  unstreitig  diejenigen  den  vor¬ 
nehmsten  Hang,  welche,  wie  die  oben  genannten,  von  der 
obersten  berathenden  Medicinalbehörde  eines  Staates  ausge¬ 
fertigt  worden  sind,  und  daher  bei  den  richterlichen  Ver¬ 
handlungen  als  Entscheidungen  in  letzter  Instanz  gelten. 
Wenn  die  Voraussetzung  gerechtfertigt  ist,  dais  nur  Mau- 


II.  Medidniscli-gericlitliche  Gutachten.  153 

ner  von  bewährtem  litterarischen  Ruf  und  anerkannter 
praktischer  Sachkunde  Eingang  in  jene  Collegien  finden, 
so  müssen  ihre  gemeinsamen  Urtheile  den  Standpunkt  be¬ 
zeichnen,  zu  welchem  die  gerichtliche  Medicin  sich  derma¬ 
len  hinaufgebildet  hat,  und  somit  im  Allgemeinen  als  Muster 
für  ähnliche  Arbeiten  angesehen  werden.  Ueberhaupt  schliefst 
schon  die  collegialische  Berathung  in  einem  hohen  Grade 
jede  Einseitigkeit  und  Befangenheit  in  individuellen  Ansich¬ 
ten  aus,  von  denen  ganz  sich  frei  zu  halten  dem  Einzelnen 
ungleich  schwerer  fällt;  die  Gutachten  der  Wissenschaft- 
liehen  Deputation  gewännen  aber,  wie  der  Hr.  Herausg.  in 
der  Vorrede  bemerkt,  noch  durch  das  Verfahren,  welches 
dieselbe  nach  der  von  Einem  hohen  Vorgesetzten  Ministe¬ 
rium  ihr  ertheilten  Instruction  befolgt,  eine  Ausführlichkeit 
der  Geschichtserzählung  und  eine  Vollständigkeit  der  Beur- 
theilung,  wie  sie  sonst  nicht  leicht  zu  erlangen  gewesen 
wäre.  Es  werden  nämlich  jedesmal  zw'ei  Referenten  er¬ 
nannt,  so  dafs  jeder  derselben  ein  vollständiges  Gutachten 
auszuarbeiten  hat,  welches  der  erste  Referent  versiegelt 
unmittelbar  dem  Director  der  Deputation  überschickt.  Die 
Acten  gelangen  hierauf  an  den  zweiten  Referenten,  welcher 
sie  nebst  der  von  ihm  angefertigten  zweiten  Relation  eben¬ 
falls  dem  Director  Behufs  des  Vortrages  beider  Relationen 
aushändigt,  deren  eine  demnächst  von  den  Mitgliedern  an¬ 
genommen  und  unterschrieben  wird,  nachdem  die  etwa  noch 
für  nöthig  erachteten  Anordnungen  waren  getroffen  und 
hinzugefügt  worden. 

Das  erste  unter  den  sechszehn  mitgetheilten  Gutachten 
ist  eiue  gutachtliche  Aeufserung  über  eine  von  dem 
Professor  Hein  rot h  zu  Leipzig  berausgegebene  Schrift 
(Heber  das  falsche  ärztliche  Verfahren  bei  criminalgericht- 
lichen  Untersuchungen  zweifelhafter  Gemüthszustände),  wel¬ 
che  indefs  als  eine  Kritik  derselben  nicht  füglich  Gegen¬ 
stand  einer  kritischen  Anzeige  sein  kann.  Auch  die  darauf 
folgenden  vier  Gutachten  über  zweifelhafte  und  krankhafte 
Gemüthszustände  lassen  ihrer  Natur  nach  keinen  gedrängten 


154  II.  Medicinisch -gerichtliche  Gutachten. 

Auszug  zu.  Nur  in  Bezug  auf  das  zweite  unter  ihnen,  in 
welchem  es  wenigstens  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht 
wird,  dafs  eine  scchszehn jährige  Brandstifterin  durch  die  in 
ihrem  Alter  zuweilen  vorkommende  Feuerlust  ( Pyromanie) 
zur  Begehung  ihres  Verbrechens  angetrieben  worden,  und 
sie  seihst  daher  ni<hl  für  zurechnungsfähig  zu  erachten  sei, 
glaubt  Bef.  seine  Ueberzeugung  dahin  aussprechen  zu  müs¬ 
sen,  dafs  jene  Pyromanie,  ungeachtet  ihr  Begriff  von 
berühmten  Aerzten  aufgestellt  worden  ist,  dehnoch  eine 
schärfere  Kritik  nicht  aushalte.  Nie  darf  man  eine  Ge- 
müthsstörung  aus  ldofs  somatischen  Leiden  als  einen  Uellex 
derselben  herleiten,  sondern  mufs  jederzeit  erste  als  das 
Produkt  einer  fehlerhaften  Richtung  der  Seelenkräfte,  zu 
denen  Körperkrankheiten  höchstens  entfernte  Veranlassun¬ 
gen  gehen  können,  darzustellen  sich  bemühen.  Da  nun 
zwischen  einer  gehemmten  Pubertätsentwickelung  und  dem 
Triebe  zu  Brandsliftungen  gar  keine  unmittelbare  Verbin¬ 
dung  gedacht  werden  kann,  durch  welche  das  Gemüth  noth- 
wendig  bestimmt  würde,  ein  iu  ihm  erzeugtes  krankhaftes 
Bedürfnifs  durch  ein  solches  Verbrechen  zu  befriedigen;  so 
ist  man  genöthigt,  die  Veranlassung  zu  letztem  in  einer 
moralischen  Schwäche  zu  suchen,  die  der  Herrschaft  sinn¬ 
licher  Begierden  keinen  Widerstand  leistet.  Kinder  lieben 
die  glänzenden  Erscheinungen  des  Feuers,  und  treiben  da¬ 
mit  oft  ein  gefährliches  Spiel;  jene  jugendlichen  Brand¬ 
stifter  ermangelten  auf  gleiche  Weise  der  Reife  des  Cha¬ 
rakters,  mit  welcher  Erwachsene  sich  ihre  Besonnenheit 
bewahren,  und  deshalb  vor  verderblichen  Spielen  zu  hüten 
wissen.  Wenn  die  Inquisitin  im  vorliegenden  Falle  sich 
damit  zu  entschuldigen  suchte,  dafs  eine  innere  Stimme  sie 
gebieterisch  zu  der  Frevelthat  angetrieben  habe,  so  inrfs- 
brauebte  sie  das  V  ertrauen  zu  ihrer  Sittlichkeit,  da  sie 
mehre  Diebstähle,,  die  sie  nach  der  Brandstiftung  auf 
eine  sehr  verschmitzte  Weise  ausführte,  eben  so  mit  einem 
unwiderstehlichen  Antriebe  beschönigte*,  und  aufserdem  beim 
gerichtlichen  Verhör  einen  nachher  cingcstandcncn  Betrug 


II.  Medicinisch  -  gerichtliche  Gutachten.  155 

/ 

sich  zu  Schulden  kommen  liefs.  Welchen  Glauben  kann 
'man  da  noch  ihrer  Versicherung  schenken,  dafs  sie  seit 
ihrer  unglücklichen  That  stets  von  Vorwürfen  ihres  Ge¬ 
wissens,  in  denen  sich  wohl  nur  die  Furcht  vor  den  Fol¬ 
gen  ihres  Verbrechens  aussprach,  gepeinigt  worden  sei? 
Sie  gab  sich  im  ganzen  Laufe  der  Verhandlungen,  und  auch 
vorher,  als  eine  lügenhafte,  von  sinnlichen  Begierden  be- 
he  rrschte,  an  tiefem  sittlichen  Gefühl  verarmte  Person  zu 
erkennen,  deren  Handlungen  an  diesem  Maafsstabe  geprüft 
werden  mufsten. 

Der  Inhalt  des  sechsten  Gutachtens  betrifft  eine  Dienst- 

\ 

magd,  welche  nach  erlittenen  Faustschlägen  in  den  Nacken 
plötzlich  gestorben  war.  Sie  war  mittleren  Alters,  und 
obwohl  von  starkem  Ansehen,  doch  kränklich,  namentlich 
zu  Krämpfen  geneigt,  zugleich  böse  und  zanksüchtig,  sie 
klagte  stets  über  Unwohlsein,  litt  an  Fufsschäden,  und  hatte 
schon  mehrmals  geboren.  In  einem  Wortwechsel  mit  einem 
Brauerknechte,  wurde  sie  von  demselben  mit  der  geballten 
Faust  der  rechten  Hand  zwei-  oder  dreimal  in  den  Nacken 
geschlagen.  Sie  ergriff  nachher  einen  Kessel,  um  damit 
nach  ihm  zu  werfen,  und  als  der  Knecht  fortging,  rief  sie  ihm 
noch  eine  beleidigende  Drohung  nach.  Die  bald  nachher 
hinzugekommene  M.  hat  sie  am  Küchenschrank,  die  Hand 
am  Kopfe  haltend,  stehen  sehen.  Der  Eintretenden  ist  sie, 
ohne  ein  Wort  zu  sagen,  in  ihrem  gewöhnlichen  Gange 
entgegengekommen,  und  als  sie  etwa  drei  Schritte  gethan, 
auf  die  Knie  an  die  linke  Seite  gesunken.  Sie  hat  die  Au¬ 
gen  auf-  und  zugeschlagen ,  ein  grüner  Geifer  ist  ihr  aus 
dem  Munde  gekommen,  und  es  schien,  als  ob  sie  Krämpfe 
habe.  Sie  starb  hierauf.  Vor  der  am  folgenden  Tage  an- 
gestellten  Obduction  zeigte  sie  so  wenig  am  Halse  und  auf 
dem  Nacken,  als  au  der  Brust  und  auf  dem  Bücken  Ver¬ 
änderungen.  Die  Fäulnifs  (es  war  im  Juli)  hatte  schon 
einen  hohen  Grad  erreicht;  aus  der  Nase  Hofs  stinkende 
Feuchtigkeit,  der  Unterleib  war  sehr  stark  aufgetrieben. 
(Jeher  dem  entblöfsten  dritten  und  vierten  Halswirbel  zeigte 


156  II.  Medicinisch  -  gerichtliche  Gutachten. 

sich  ein  Blutextravasat.  Nachdem  sie  geöffnet  waren,  er¬ 
schien  die  dura  Mater  weifs  und  hart,  unter  derselben  aber, 
gleichfalls  beim  dritten  und  vierten  Halswirbel,  coagulirtes 
und  flüssiges  Blut.  Nach  Eröffnung  des  Schädels  zeigten 
sich  alle  Gefäfse  der  harten  Hirnhaut  und  des  Gehirns  mehr 
wie  gewöhnlich  mit  lllut  gefüllt,  doch  besonders,  und  selbst 
bis  in  die  kleinsten  Verzweigungen,  strotzender  auf  der 
linken  Seite.  Die  Gehirnmassc  war  sehr  weich,  die  Gehirn¬ 
höhlen  enthielten  blutige  Feuchtigkeit,  und  der  Plexus  cho- 
roideus  der  linken  Seite  war  stark  gerüthet.  Auf  der  Basis 
des  kleinen  Gehirns  an  der  linken  Seite  sab  man  deutlich 
extravasirtes  und  coagulirtes  Blut.  Im  Unterleibe  waren 
die  Eingeweide  von  Fäulnifs  stark  aufgetrieben,  der  Magen 
enthielt  viel  Speisebrei;  die  blutarme  Leber  hatte  ein  blei¬ 
ches  Ansehen,  und  in  der  farblosen  Gallenblase  fanden  sich 
unzählige  Steine  von  der  Gröfse  kleiner  Erbsen.  —  Die 
wissenschaftliche  Deputation  entschied,  dafs  von  den  an  der 
Denata  Vorgefundenen  Verletzungen  die  Extravasate  in  der 
Gegend  der  Halswirbel  äufserer  Gewalt  zuzuschreiben  seien, 
und  durch  Faustschläge  in  den  Nacken  hervorgebracht  wer¬ 
den  konnten,  der  Befund  in  der  Schädelhöhle  als  Folge 
einer  Krankheit,  namentlich  eines  Schlagflusses  mit  Wahr¬ 
scheinlichkeit  betrachtet  werden  müsse;  dafs  von  den  er¬ 
wähnten  Verletzungen  das  Extravasat  unter  dem  kleinen 
Gehirn  an  und  für  sich  tüdtlich,  die  V  erletzungen  in  der 
Gegend  der  Halswirbel  aber  im  vorliegenden  Falle  nicht 
tüdtlich  waren.  Als  Zeichen  des  den  Tod  herbeigerührt 
habenden  Schlagflusses  werden,  aufser  dem  Extravasat  an 
dem  kleinen  Gehirn,  die  übrigen  auffallenden  Erscheinun¬ 
gen  in  der  Schädelhöhle  geltend,  und  der  Disposition  zu 
deniseiben  aus  der  Neigung  zu  Krämpfen,  der  heftigen  Ge- 
miithsart,  dem  steter  Unwohlsein  wahrscheinlich  gemacht. 
Zur  wirklichen  Ausbildung  umlsle  jene  Disposition  heim 
llinzutreten  von  Schädlichkeiten  kommen,  welche  die  Ent¬ 
stehung  des  Schlagflusses  begiiustigen.  Als  solche  war  der 
zur  Zeit  der  Verdauung  einwirkende  heftige  Zorn  zu  he- 


II.  Medicinisch  -  gerichtliche  Gutachten.  157 

trachten,  welcher  durch  den  erlittenen  Widerstand  und  die 
empfangenen  Faustschläge  bis  zur  Wuth  gesteigert  wurde. 
Auf  eine  fehlerhafte  Verdauung  wiesen  überdies  die  krank¬ 
hafte  Beschaffenheit  der  Leber  und  die  so  früh  oTngetretene 
faulige  Ausdehnung  der  Eingeweide  hin.  Die  Faustschläge 
konnten  eben  so  wenig  das  Blutextravasat  in  der  Schädel- 
hühle,  als  durch  Erschütterung  des  Rückenmarks  eine  tödt- 
liche  Lähmung  desselben  bewirkt  haben;  in  jener  Beziehung 
waren  sie  eine  viel  zu  schwach  wirkende  mechanische  Ge¬ 
walt,  und  letzte  widerlegt  sich  durch  die  vielfältigen  will- 
kühriiehen  Bewegungen,  welche  Denata  nach  erlittener  Mifs- 
handlung  ungehindert  bis  zum  Tode  vollbrachte. 

Das  folgende  Gutachten  beurtheilt  die  Tödtlichkeit 
einer  Schufswunde,  weiche  ein  Officier  im  Duell  empfan¬ 
gen  hatte,  worauf  sein  Tod  in  wenigen  Augenblicken  ganz 
ruhig,  ohne  Zuckungen  erfolgt  war.  Bei  der  am  folgenden 
Tage  vorgenommenen  Obduction  fand  man  die  Schufswunde 
fast  genau  in  der  Mitte  der  Stirn,  woselbst  sie  durch  den 
Knochen  gedrungen  war,  ohne  äufserlich  weiter  eine  Quet¬ 
schung,  Zerreilsung  oder  Extravasat  veranlagt  zu  haben. 
Nach  Hinwegnahme  des  Schädelgewölbes  und  cfar  dura  Mater 
zeigte  sich  ein  über  das  g#nze  Gehirn  verbreitetes  Extra¬ 
vasat,  welches  wohl  zwei  Unzen  betragen  mochte.  Bei  der 
genauen  Betrachtung  der  mit  der  Knochenwunde  correspon- 
direnden  Stelle  des  Gehirns  fand  sich ,  dafs  es  die  Spitze 
des  vorderen  Lobi  der  linken  Hemisphäre  war,  die  den 
Anfang  des  Schufskanals  in  der  Gehirnsubstanz  bildete. 
Diesen  zu  verfolgen,  wurden  in  der  Substanz  des  Gehirns 
mit  Vorsicht  horizontale  Schnitte  gemacht;  doch  war  es, 
aller  Behutsamkeit  ungeachtet,  nicht  möglich,  den  Lauf  der 
Kugel  mit  vollkommener  Deutlichkeit  zu  verfolgen,  da  vom 
Eingang  derselben,  bis  zu  dem  Orte,  wo  sie  gefunden 
wurde,  derselbe  durch  kein  Extravasat  oder  Zerreilsung  der 
Substanz  bezeichnet  war.  Nach  fortgesetztem  Suchen  fand 
sich  die  Kugel  im  unteren  und  hinteren  Theile  des  Lobi 
posterioris  der  linken  Hälfte  des  grofsen  Gehirns  auf  dem 


158  II.  Medicinisch  -  gerichtliche  Gutachten. 

Tentorio  cerebelli  liegend.  Die  Obducentcn  hielten  die 
Todesursache  fii r  hinlänglich  ausgemittelt,  und  unterliefseu 
daher  das  Oeffnen  der  anderen  Körperhohlen;  dies  rügte 
der  Defensor,  der  aufser  anderen  Ausstellungen  gegen  die 
Obduclion  auch  noch  die  machte,  dafs  nicht  angegeben 
worden  sei,  ob  das  Corpus  callosum  verletzt  gewesen, 
weil,  wenn  dasselbe  und  der  obere  Theil  der  \  entriculo- 
rum  cerebri,  auch  der  obere  Theil  des  Pons  Yarolii  unver¬ 
letzt  geblieben  wäre,  die  im  Obdnctionsbericht  aufgestellte 
absolute  Tödtlichkeit  der  Verletzung  keinesweges  als  erwie¬ 
sen  anzusehen  sei.  Die  wissenschaftliche  Deputation  liefj 
zwar  den  Tadel  in  liezug  auf  die  Ln  Vollständigkeit  der 
Obduction  gelten,  vermeinte  aber,  dafs  die  gerügten  fehler, 
deren  aufser  den  hier  genannten  noch  mehre  begangen 
wurden,  von  der  Art  seien,  dals  sie  das  Urtheil  der  üb- 
ducenten  umstofsen  miifsten,  da  nach  der  \  erletzung  un¬ 
mittelbar  der  Tod  erfolgte,  und  sich  mit  der  gröfsten  So¬ 
phisterei  kein  Mittel  erklügeln  liefse,  wie  derselbe  hätte 
abgewandt  werden  können.  Wenn  der  Defensor,  heilst  es 
weiter,  von  dem  Corpus  callosum  und  anderen  Gehirnthei- 
len  spricht,  bei  deren  Nichtverletzung  auf  keine  absolute 
Tödtlichkeit  zu  schlicfsen  wä^e»,  >so  verrüth  er  dadurch  blols 
seine  Lnkunde.  Ls  giebt  keinen  einzigen  ilirntheil,  mit 
dessen  \  erletzung  eine  absolute  Tödtlichkeit  nothwendig 
verbunden  ist,  allein  überall  im  Gehirn  kann  eine  \  er¬ 
letzung  dieselbe  hervorbringen,  wenn  zugleich  ein  Druck 
oder  eine  Erschütterung  statt  findet.  Erster  war  i:n  vor¬ 
liegenden  Falle  in  einem  solchen  Grade  durch  die  Jiluter- 
giefsung  gegeben,  dals  diese  allein  schon  Todesursache  sein 
konnte;  höchst  wahrscheinlich  war  aber  auch  eine  starke 
Gehirnerschütterung  da,  indem  die  Kugel  durch  das  Stirn¬ 
bein  schlug,  und  obenein  hinten  nicht  hinauskam.  ln  J>e- 
zug  auf  die  übrige  Körperbeschaffenheit  des  Denatus  wird 
zwar  nicht  geleugnet,  dals  derselbe  möglicher  Weise  ciu 
verborgenes  Uebel  oder  den  Keim  zu  einer  Krankheit  in 
sich  getragen  haben  konnte,  welches  unerforscht  blieb,  da 


II.  Medicinisch- gerichtliche  Gutachten.  159 

die  Untersuchung  sich  auf  den  Kopf  beschränkte;  aber  da¬ 
durch  werde  das  U/theil  über  die  absolute  Lethalität  der 
Verletzung  nicht  im  mindesten  geschwächt. 

Das  achte  Gutachten  hatte  darüber  zu  entscheiden,  ob 
in  dem  erzählten  Falle  aus  dem  Leichenbefunde  auf  eine 
statt  gefundene  Vergiftung  zu  schliefsen.  Es  hatte  nach 
dem  im  Jahre  1820  erfolgten  Tode  des  Erbbraukriiger  St. 
zu  B.  sich  das  Gerücht  verbreitet,  dafs  derselbe  vergiftet 
worden  sei.  Der  Verdacht  war  auf  seine  hinterbliebene 
Frau,  nachher  separirte  II.  gefallen,  und  es  kam  darüber 
im  November  1823  zu  gerichtlichen  Verhandlungen,  durch 
welche  Folgendes  ausgemittelt  wurde:  Der  St.,  früher 
gesund  und  wohl,  klagte  einige  Zeit  vor  seinem  Tode  bald 
nach  dem  Genüsse  einer  Tasse  Kaffee,  die  er  von  seiner 
Frau  erhalten,  und  die  ihm  ungewöhnlich  süfs  geschmeckt 
hatte,  über  Unwohlsein.  Er  soll  besonders  über  Schneiden 
und  Reifsen  im  Leibe  geklagt,  auch  während  er  nachher 
noch  zehn  Tage  krank  gewesen,  sich  übergeben  und  pur- 
girt,  über  die  Ursache  seines  Uebels  sich  aber  nicht  ge- 
äufsert  haben.  Bei  der  Beerdigung  fielen  fast  allgemein  das 
frische  Ansehn  des  Leichnams  im  Gesicht,  die  Röthung  der 
Lippen  und  ein  rother  Streif  unter  der  Nase,  so  wie  die 
Biegsamkeit  der  Glieder  auf.  —  Die  Ehefrau  des  St.  hatte 
mit  dem  in  dessen  Dienste  stehenden  Knechte  lange  Zeit 
im  vertrauten  Umgänge  gelebt.  Etwa  8  bis  14  Tage  vor 
dem  Tode  des  St.  hatte  seine  Frau,  wie  sie  dem  Knechte 
unaufgefordert  erzählte,  von  dem  Arsenik,  welchen  der¬ 
selbe  zur  Vertilgung  der  Ratten  sich  verschafft  hatte,  etwas 
genommen,  und  es  soll  ungefähr  die  Hälfte  davon  gefehlt 
haben.  —  Der  am  30.  November  1823  ausgegrabene  Leich¬ 
nam  fand  sich  äufserlich  wie  innerlich  von  brauner  Farbe, 
mit  Schimmel  belegt,  der  Kopf  noch  mit  dunkelbraunen 
Haaren  besetzt,  der  Mund  mit  Zähnen  versehen,  die  ohne 
Anwendung  von  Gewalt  herausgezogen  werden  konnten, 
die  Kopfhaut  lederartig,  die  fleischigen  Theile  am  Kopf  in 
Verwesung  übergegangen.  Das  wenige  Gehirn  war  von 


l 


/ 


160  II.  Mcdicinisch ‘gerichtliche  Gutachten. 

grüner  Farbe  und  breiartig.  Die  fleischigen  Theilc  des 
ganzen  Körpers  waren  eingetrocknet,  und  blos  mit  einer 
lederartigen  Haut  bedeckt,  der  Unterleib  gänzlich  ringezo¬ 
gen  und  zusammengelrocknet.  Die  inneren  1  heile  der  Brust 
und  des  Unterleibes  waren  nicht  mehr  genau  zu  unterschei¬ 
den,  das  Fleischige  verweset,  und  nur  zurückgeblieben,  was 
häutig  war.  Lungen,  Leber,  Milz  und  Herz  bestanden  aus 
Einer  Masse.  Um  die  chemische  Untersuchung  nicht  zu 
stören,  wurden  sämmt  liehe  Theile  der  Brust,  so  wie  des 
Unterleibes,  zusammengelassen,  herausgenommen,  und  letzte, 
gesondert  von  den  ersten,  in  einen  steinernen  Topf  gelegt. 
Weder  bei  Oeffnung  des  Sarges,  noch  bei  der  Obduction 
war  ein  leichenartiger,  sondern  blofs  ein  dumpfiger  Geruch 
zu  bemerken.  Bei  einer  späteren  Besichtigung  der  zusam¬ 
mengetrockneten  Eingeweide  zeigten  sich  nur  noch  Magen 
und  Mastdarm  fleischiger  und  frischer.  An  der  inneren 
Fläche  der  Magenhäute  wurden  selbst  noch  rüthlichc  Stel¬ 
len,  wie  von  einer  Entzündung  herrührend,  wahrgenom¬ 
men.  Auch  war  eine  Verdickung  des  Magens,  welcher  in 
eine  lederartige,  wie  gegerbte  Substanz  übergegangen  war, 
nicht  zu  verkennen.  Die  hierauf  mit  Anwendung  der  ver¬ 
schiedenartigsten  Beagentien  durchgeflihrte,  und  mit  den 
nöthigen  Gegenversuchen  verglichene  chemische  Untersu¬ 
chung  der  Eingeweide  führte  zu  «lern  Besidtat,  dafs  in  den¬ 
selben  sich  kein  Arsenik  oder  ein  anderes  metallisches  Gift 
vorgefunden  habe.  —  Die  wissenschaftliche  Deputation  er¬ 
klärte,  dafs,  da  überhaupt  eine  Vergiftung  zweifelhaft  bleibe, 
wenn  durch  chemische  Zerlegung  das  Dasein  einer  giftigen 
Substanz  in  dem  untersuchten  Leichnam  nicht  nachgewiesen 
werden  konnte,  im  gegenwärtigen  Falle  um  so  weniger 
auf  eine  statt  gefundene  Vergiftung  geschlossen  werden 
könne,  da  der  Leichnam,  mit  welchem  fruchtlos  ^  ersuche 
angestellt  worden,  bereits  drei  Jahre  unter  der  Erde  ge¬ 
wesen  sei.  Eben  so  wenig  könne  jedoch  dieser  Erfolg 
beweisen,  dafs  eine  Vergiftung  nicht  statt  gehabt  habe,  da 
sowohl  bei  einem  mehrtägigen  Krankenlager  ein,  wahr¬ 
schein- 


II.  Medicinisch  -  gerichtliche  Gutachten.  161 

scheinlich  nur  in  geringer  Menge  beigebrachtes  Gift  durch 
Erbrechen  und  Stuhlgang  gänzlich  wieder  aus  dem  Körper 
entfernt  werden,  als  auch  aus  dem  Leichnam  durch  chemi¬ 
sche  Zersetzung  während  des  Zeitraums  meiner  Jahre  in 
Gasgestalt  entweichen  konnte.  Auch  der  übrige  Leichen¬ 
befund  liefere  so  wenig  einen  erheblichen  Beweis  für  eine 
Vergiftung,  namentlich  mit  Arsenik,  als  Data  für  eine  ent¬ 
gegengesetzte  Annahme.  Die  angetroffene  braune  Farbe 
des  ganzen  Leichnams,  die  lederähnliche  Ilaut,  der  einge- 
zogene  und  zusammengeschrumpfte  Unterleib,  die  Verdickung 
des  Magens,  seien  allerdings  Erscheinungen ,  wie  sie  sonst 
wohl  an  Leichnamen  von  Personen,  wo  eine  Arsenik¬ 
vergiftung  für  höchst  wahrscheinlich  angenommen  werden 
konnte,  angetroffen  worden  sind.  Doch  könne  ein  solcher 
Zustand  auch  aufserdem  statt  linden,  und  überhaupt  fehje 
es  noch  an  genauen  Bestimmungen,  unter  welchen  Bedin-’ 
gungen  verschiedene  Erscheinungen  hei  der  'S  erwesung  ein¬ 
traten.  Die  Verdickung  und  Röthung  des  Magens  könne 
auch  von  anderen  Krankheitsursachen  entstanden  sein;  auch 
stimme  der  Umstand,  dafs  das  Fleischige  so  vollkommen 
verwest  gefunden  wurde,  nicht  mit  den  Wahrnehmungen 
an  den  Leichen  vergifteter  Personen,  wo  das  Muskelfleisch 
und  die  Fetthaut  vielmehr  in  eine  käse-  oder  speckähnliche 
Masse  verwandelt  worden.  Ein  fauler  Geruch  sei  bei  einer 
schon  seit  so  langer  Zeit  beerdigten  Leiche  nicht  mehr  zu 
erwarten  gewesen;  diejenigen,  welche  durch  Arsenik  ver¬ 
giftet  worden,  pflegten  einen  knoblauchartigen,  oder  wie 
alter  Käse  stinkenden  Geruch  zu  verbreiten.  Endlich  seien 
die  Krankheitserscheinungen  des  Verstorbenen  nur  von  Un¬ 
kundigen  beobachtet  worden,  und  wenn  auch  geeignet,  den 
Verdacht  einer  Arsenikvergiftung  zu  erregen,  dennoch  fÜF 
eine  solche  eben  so  wenig  entscheidend,  als  das  frische 
Ansehen  der  Leiche,  welches  sich  auch  zuweilen  in  anderen 
Fällen  zeige. 

Die  noch  folgenden  acht  Gutachten  betreffen  Unter¬ 
suchungen  an  den  Leichen  neugeborener  Kinder,  welche  von 
XIV.  P,d.  2.  St.  11 


HV2  III.  I  orbnsisilic  Beurlheilutfg 

jedem,  der  ähnliche  Fälle,  die  bekanntlich  zu  den  schwie¬ 
rigsten  in  der  gerichtlichen  Arzneikunde  gehören,  zu  be¬ 
gutachten  hat,  mit  der  gröfsten  Kelehrung  studirt  werden 
dürften.  Ref. ,  der  ohnehin  zum  Schlul's  seiner  Anzeige 
eilen  mufs,  würde  Mühe  haben,  zu  entscheiden,  welches 
unter  ihnen  durch  umfassende  Darstellung,  scharfe  Kritik 
des  oft  sehr  mangelhaft  erhobenen  Thatbestandes,  Keife  und 
Gediegenheit  des  Urtheils  sich  am  meisten  vor  den  übrigen 
auszeichnet,  und  er  kann  nur  wünschen,  dafs  dergleichen 
Musterarbeiten  kräftig  dazu  mitwirken  mögen,  eine  bessere 
Epoche  der  gerichtsärztlichen  Praxis  herbeizuführen,  w'O 
dieselbe  nicht  mehr  durch  nachlässige  Ignoranten  bei  den 
richterlichen  Behörden  in  Mifscredit  gebracht  wird. 

W.  F 


Zur  Lehre  von  der  forensischen  Beurthei- 
lung  der  Vergiftungen. 


Bei  den  grofsen  Schwierigkeiten,  mit  welchen  die 
chemische  Ausmittelung  von  Giften  aus  dem  organischen 
Reiche  zu  kämpfen  hat,  war  es  ein  geistreicher  Gedanke, 
organische  Keagentien  vorzuschlagen.  Der  alte  Versuch, 
Thieren  die  verdächtigen  Stoffe  zu  reichen,  w-elche  Prü¬ 
fungsart  wir  auch  heute  in  den  Fällen  grofser  Ungewifs- 
heit  lind  bei  hinreichendem  Material  nicht  abweisen  kön¬ 
nen,  ist  gleichsam  ein  rohes  Vorspiel  von  organischen  Kea¬ 
gentien.  Zuverlässiger  wird  dieser  Versuch,  wenn  wir  es 
vermögen,  an  Thieren  specifische,  nur  von  einem  be>tiumi- 
ten  Stoffe  hervorzubringende  Erscheinungen  aufzufinden. 
Ausgezeichnet  ist  daher  die,  wahrscheinlich  durch  die  be- 
kannte  Anwendung  der  Kelladonna  vor  der  Ausziehung  des 


der  Vergiftungen. 


i  o:\ 

grauen  Staares  veranlagte  Entdeckung  von  Runge,  dafs 
Thiermigen,  ganz  besonders  aber  die  der  Katze,  durch  Be¬ 
streichung  mit  Belladonna,  Ilyoscyamus  oder  Stramonium, 
auch  wenn  diese  Stoffe  schon  mit  organischen  Säften  ver¬ 
mischt  worden,  sein*  bedeutend  erweitert  werden,  dafs  hin¬ 
gegen  alle  anderen  bis  jetzt  bekannten  narcotisehcn  Stoffe, 
namentlich  Opium  und  Blausäure,  diese  Wirkung  nicht  zu 
erzielen  vermögen.  Lei  vorkommenden  Fällen  eines  Ver¬ 
dachtes  nareotischer  Vergiftung  wird  man  daher  in  der  Folge 
Rung  es  Versuch  nicht  umgehen  dürfen,  zumal  da  es  bis 
jetzt  an  Mitteln  zur  Entdeckung  der  gedachten  drei  Stoffe 
durchaus  fehlt.  Es  entstand  nun  aber  in  mir  die  Frage, 
welchen  Werth  der  Richter,  und  zumal  der  das  preufsische 
Criminalrecht  als  Norm  befolgende,  darauf  legen  würde, 
wenn  man  ihm  sagte:  in  dem  Falle,  der  zur  Frage  vor- 
liegt,  ist  allerdings  narcotische  Vergiftung  vorhanden,  und 
zwar  mit  Belladonna,  Hyoscyamus  oder  Strammonium,  ohne 
dafs  wir  jedoch  entscheiden  können,  welches  der  drei  ge¬ 
nannten  Gifte  hier  obwalten  mag.  Dafs  französischen  oder 
englischen  Gerichten  diese  Aussage  zur  Annahme  einer  Ver- 
giftting  genügen  würde,  ist  bei  dem  geringen  Werthfe, 
welchen  dieselben  auf  die  ärztliche  Seite  der  Ausmittelung 
des  Thatbestandes  legen,  unzweifelhaft;  bei  der  Strenge 
aber,  mit  welcher  nach  preufsischem  Rechte  auf  Äusmit- 
telung  des  Thatbestandes  gehalten  wird,  schien  es  sehr 
zweifelhaft,  ob  die  genannte  Angabe,  bei  welcher  nicht  Ein 
Gift  mit  Bestimmtheit  genannt,  sondern  zwischen  dreien 
geschwankt  wird,  hinreichend  sein  dürfte,  um  darauf  die 
ordentliche  Strafe  zu  begründen.  Dafs  sie  zu  einer  aufser- 
ordenllichen  Strafe  zu  führen  vermöge,  war  mir  nicht  zwei¬ 
felhaft,  da  aus  älterer  und  neuerer  Zeit  Fälle  vorliegen, 
wo  hei  hohem  Verdachte  von  Arsenikvergiftung  und  bei 
Ermangelung  der  Ausmittelung  des  Arseniks  selbst,  wäh¬ 
rend  es  an  Zeichen  organischer  Reaction  nicht  fehlte,  eine 
aufserordentliche  Strafe,  selbst  bis  zu  lebenslänglichem  ke- 
stuogsarrest,  verhängt  wurde.  TTm  nun  über  diese  Sache 

XI  * 


164 


111.  Forensische  Beurtheilung 

ins  Klare  zu  kommen,  sandte  ich  meinem  verehrten  viel- 
jährigen  Freunde,  Herrn  Director  Hitzig  in  Berlin,  für 
die  von  ihm  herausgegebene  treffliche  Zeitschrift  für  die 
Crimiualrechtspllege  in  den  prcufsfschen  Staaten  eine  kurze 
Abhandlung,  welche  daselbst  Bd.  9.  S.  40‘2  —  405  abge¬ 
druckt  worden.  Fs  war  in  derselben  die  Frage  aufgewor¬ 
fen  :  Ob  in  Verg  i  ft  ungs  fällen  der  preufsische 
Richter  den  T hatbestand  für  ermittelt  anseh en 
könne,  wenn  der  Arzt  ihm  zwar  mit  Bestimmt¬ 
heit  sagen  kann,  dafs  eine  Tüdtung  durch  Gift 
statt  gefunden,  jedoch  ohne  genaue  Bestimmung 
des  zur  Vergiftung  angewendeten  Stoffs?  Hierauf 
erschien  im  lOten  Bande  derselben  Zeitschrift,  S.  451,  fol¬ 
gende  Antwort  des  Herausgebers,  welche  gewifs  jedem  ge¬ 
richtlichen  Arzte  sehr  w  ichtig  sein  mufs,  und 'die,  abgese¬ 
hen  von  Runge1.*  Fntdeckung,  welche  allerdings  noch  der 
Bestätigung  durch  andere  Beobachter  bedarf,  einen  wis¬ 
senschaftlichen  Werth  behält.  Da  wohl  nur  wenigen  un¬ 
serer  Leser  jene  Zeitschrift  zukommen  dürfte,  so  theilen 
wir  die  Antwort  wörtlich  mit: 

«Nicht  speciell  mit  dieser  Frage,  aber  mit  einer  ähn¬ 
lichen,  hat  sich  neulich  der  Criminalsenat  des  Kammerge¬ 
richts  beschäftigt.  In  einem  ToUtschlagsfafle  nämlich  hat¬ 
ten  die  Obducenten  die  absolute  Tödtlichkcit  der  \erletzung 
ausgesprochen,  aber  bemerkt:  von  welcher  Art  diese  \  er- 
letzung  gewesen,  sei  nicht  auszumitleln  gewesen,  namentlich 
nicht  1 )  ob  sie  iw  einem  Knochenbruche  mit  Quetschung 
und  Zerreifsuug  des  Rückenmarkes,  2)  oder  in  einer  Ge- 
fäfssprengung  und  Blutergiefsung  im  "W  irbelbcinkanal,  3)  in 
einer  Erschütterung,  oder  endlich  4)  in  einer  Verw  undung 
des  Rückenmarkes  bestanden,  und  das  Resultat  endlich  dahin 
angegeben,  dafs  die  \  erlelzung  des  Rückenmarkes  (die 
höchst  wahrscheinlich  in  einer  Nerwuudung  desselben  be¬ 
standen)  so  beschaffen  gewesen  sei,  dafs  >ic  unbedingt  und 
unter  allen  Umständen  in  dem  Alter  des  Verletzten  für 
sich  allein  Jen  Tod  zur  Folge  haben  müsse,  welches  sie 


165 


-  der  Vergiftungen. 

durch  eine  weitläuftige  Auseinandersetzung  zu  begründen 
suchten.  Das  Collegium  führte  in  dem  Erkenntnisse  aus: 
Die  diesfällige  Erörterung  der  Sachverständigen  könne  füg¬ 
lich  übergangen  werden,  da  sie  nur  ein  wissenschaftliches 
Interesse  habe,  und  es  dem  Richter  genüge,  dafs  an  dem 
Denato  überhaupt  nur  cbie  Spuren  einer  t ö d 1 1  i c h e n 
Verletzung  des  Rückenmarkes  vorgefunden  worden, 
gleichviel,  von  welcher  Art  dieselbe  gewesen.  —  In 
diesem  in  einer  Todtschlagssache  angenommenen  Grundsätze 
liegt  aber  unbedenklich  die  affirmative  Beantwortung 
jener  Frage,  da  beim  Morde,  und  zwar  beim  Morde  durch 
Gift,  die  Vorschrift  der  §§.  836,  858  und  859.  Th.  II. 
Tit.  XX.  des  allgem.  Landrechts  zur  Anwendung  kommen, 
die  in  Hinsicht  der  Feststellung  des  objectiven  Thatbestan- 
des  dem  Richter  eine  weit  gröfsere  Freiheit  gestatten,  als 
beim  Todtschlage.  » 


Ein  zweiter  höchst  wichtiger  Gegenstand  für  die  Lehre 
von  den  Vergiftungen ,  und  zwar  für  die  durch  anorgani¬ 
sche  Stoffe  erfolgten,  ist  die  Anwendung  der  galvanischen 
Kette,  und  zwar  zu  doppeltem  Zwecke:  einmal  nämlich, 
um  durch  vorläufige  Andeutung  des  Stoffes  sodann  zur 
anderweitigen  chemischen  Ausscheidung  den  richtigen  Weg 
vorzuzeichnen,  und  sodann  um  in  den  Fällen,  wo  die  an¬ 
wesende  Masse  des  Giftes  zu  einer  gewöhnlichen  Reduction 
# 

nicht  hinreicht,  dennoch  das  wirkliche  Dasein  des  Giftes  zu 
erweisen.  Schon  vor  vielen  Jahren  hat  mein  hochgeehrter 
Freund  und  College,  Herr  Prof.  R.  W.  Fischer,  aufge¬ 
zeigt,  dafs  man  in  einer  tausendfachen  Verdünnung  den 
Arsenik  durch  die  galvanische  Kette  auszuscheiden  vermöge. 
Diese  von  den  Toxicologen  übersehene  Erfahrung  hat  Herrn 
Prof.  Fischer  veranlafst,  dasselbe  Mittel  für  alle  giftige 
mineralische  Substanzen  zu  versuchen,  und  zwar  mit  dem 
gröbsten  Erfolge.  In  einer  Versammlung  der  hiesigen  ärzt¬ 
lichen  Gesellschaft  hat  derselbe  Arsenik,  Quecksilber,  Blei, 

4  «  . 


% 


\ 


J6G  III.  Forensische  Beurtheilung  der  Vergiftungen. 

Kupfer  mul  Spiefsglanz  in  tausendfachen  Verdünnungen  durch 
die  einfache  galvanische  kelte  regulinisch  ausgeschieden. 
Line  sehr  geringe  Menge  von  Platten  reicht  aus,  um  für 
die  genannten  Gifte  eine  hinreichende  Auswahl  zur  Bildung 
der  beiden  Pole  zu  bilden,  die  nach  bekannten  galvanischen 
Gesetzen  für  jedes  Metall  vei  >ohieden  gewählt  werden  müs¬ 
sen.  Das  Verfahren  ist  so  überaus  einfach  und  zweck- 
mäfsig,  dafs  jeder  gebildete  Physiker  vermittelst  eines  klei¬ 
nen  nicht  kostspieligen  Apparats  im  Stande  sein  wird, 
dasselbe  anzuwenden,  und  dadurch  zur  Knideckung  eines 
der  grauenhaftesten  Verbrechen  wirksamer  als  bisher  zu 
werden. 

Indem  wir  die  nähere  Auseinandersetzung  in  schuldiger 
Anerkennung  des  wissenschaftlichen  Kigenthums  dem  Ent¬ 
decker  überlassen,  hegen  wir  zur  Vervollkommnung  dieser 
Untersuchungsweise  den  Wunsch,  dafs  man  auszumitteln 
strebe,  welche  Hindernisse  durch  die  Gegenwart  der  in 
dem  Magen  und  in  den  Gedärmen  vorhandenen  organischen 
Flüssigkeiten ,  so  wie  auch  durch  die  in  dieselben  gelangen¬ 
den  Speisen  und  Getränke,  in  Beziehung  auf  diese  Unter- 
suchungsweise  veranlagt  werden  dürften.  Nur  zahlreiche 
Versuche  können  entscheiden,  ob  und  welche  Trübungen 
durch  jene  Stoffe  bei  Anwendung  der  galvanischen  Kette 
cintreten,  so  wie  auch  welche  Mittel  anzuwenden  sein  dürf¬ 
ten,  um  jei.e  Trübungen  aufzuheben  und  dadurch  zu  einer 
unbeschränkten  und  zweifelsfreien  Anwendung  der  galvani¬ 
schen  Kette  zu  führen. 

L  ic/ilcnstädt. 


IV.  Preisfrage. 

IV. 


167 


I 


Preisfrage, 

die  Zulassung  zu  den  Eacultäts  -  Studien  betreffend. 


Wenn  wir  die  Beantwortung  der  Frage  ganz  dahin¬ 
gestellt  sein  lassen  müssen,  ob  in  früheren  Zeiten  die  Er¬ 
greifung  dieser  oder  jener  Studien  mit  gröfserer  Besonnen¬ 
heit  und  Verständigkeit  erfolgt  sei,  als  in  unserer  Zeit, 
oder  ob  umgekehrt  diese  in  der  gedachten  Beziehung 
weniger  Uebelstände  darbiete,  als  jene,  so  ist  doch  das 
gewifs,  dals  wir  viel  häufiger,  als  es  ohne  ln  willen  ge¬ 
schehen  kann,  den  schmerzlichen  Anblick  von  Menschen 
ertragen  müssen,  die  dem  gelehrten  Fache,  dem  sie  sich 
gewidmet  haben,  nur  ungern  und  daher  auch  mit  geringem 
FlrfoUe  ihre  Kräfte  weihen.  Und  doch  dürfen  wir  kaum 

O 

zweifeln,  dals  es  für  jedes  nicht  ganz  verdorbene  und  von 
der  Natur  nicht  durchaus  vernachlässigte  menschliche  Wesen 
in  der  grofsen  Mannigfaltigkeit  menschlicher  Verhältnisse 
und  Beschäftigungen  eine  Stellung  geben  müsse,  die  seinen 
Kräften  und  Neigungen  entspricht,  und  eben  dadurch  die 
Möglichkeit  herbeiiührt,  das  Höchste  zu  leisten,  was  von 
den  beschränkten  Kräften  des  Einzelnen  geleistet  z$.i  werden 
vermag.  Bedenken  wir  aber,  wie  oft  Verhältnisse,  Aeuiser- 
lichkeiten  aller  Art,  Unkenntnifs  seiner  selbst  und'  Mangel 
an  Bekanntschaft  mit  der  theoretischen  und  praktischen 
Natur  der  verschiedenen  Berufsarten  bei  der  Wahl  dersel¬ 
ben  obzuwalten  pflegen,  so  können  wir  uns  über  die  dar¬ 
aus  entstehenden  Uebelstände  keinesweges  wundern;  ja  wir 
müssen  im  Gegentheil  es  als  eine  gütige  Leitung  der  die 
Fehler  der  Menschen  so  oft  ausgleicbenden  Vorsehung  an- 
sehen,  dafs  nicht  noch  gröfseres  Uebel  hervorgeht,  als  wir 
daraus  wirklich  hervorgehen  sehen.  Leicht  könnte  denen, 
welche  alles  Heil  der  Völker  aus  Anordnungen  der  Regie- 


s 


106  •  IV.  Preisfrage. 

ningcn  erwarten,  in  «len  Sinn  kommen,  dals  liier  durch 
Befehle  und  Verbote  der  Regierenden  dem  Hebel  gesteuert 
und  das  Gute  gefördert  werden  durfte.  Kr  wägt  man  je¬ 
doch,  wie  viel  hei  allen  geistigen  Dingen  durch  solche  Ein- 
srhreitungen  geschadet,  und  wie  sehr  die  individuelle  1*  rci- 
heit  dadurch  gefährdet  werden  könne,  so  mufs  man  wohl 
von  andern  Seiten  her  das  lleil  erwarten,  wobei  wir  je¬ 
doch  immerhin  die  l  eberzeugung  hegen  müssen,  dais  eine 
völlige  Abstellung  jener  l  ebelstände  zu  den  Dingen  gehöre, 

die  nur  in  einem  idealen  Staate  denkbar  sind.  Um  jedoch 
_  • 

die  möglichste  Entfernung  derselben  zu  bewirken,  kennen 
wir  nur  Kin  Mittel;  es  besteht  zuerst  in  einer  gründlichen 
kenuluifs  der  gesammten  Aatur  der  verschiedenen  Studien 
und  der  aus  ihnen  hervorgehenden  I’  rufsarten,  und  sodann 
in  einer  richtigen  psychologischen  Schätzung  der  einzelnen 
Personen.  W  enn  Eltern  und  Vormünder,  Kehrer  und 

I 

Erzieher  jene  Kenntnifs  besitzen  und  zu  jener  Schätzung 
geeignet  sind,  so  bedarf  es  dann  nichts  als  des  guten  Wil¬ 
lens,  für  ihre  Pllegebefohlenen  das  Beste  zu  erwählen;  es 
würde  geradehin  Bösartigkeit  verrathen,  wenn  man  trotz 
jener  Eigenschaften  die  Wahl  eines  Studiums  veranlafste 
oder  auch  nur  gestattete,  von  dem  man  erkennt,  dals  es 
für  ein  bestimmtes  Individuum  nicht  palst.  Aber  wie  sol¬ 
len  und  können  wir  eine  solche  Kenntnifs  hei  vielen  Men¬ 
schen  erwarten?  Zeigt  uns  nicht  die  alltägliche  Erfahrung, 
dafs  die  meisten  Gelehrten  kaum  ihr  eigenes  l  ach  allseitig 
und  vorurteilsfrei  zu  beurteilen  vermögen  ,  von  anderen 
Facultätsstudien  aber  nur  «eine  höchst  unvollkommene  Vor¬ 
stellung  gefafst  haben?  Betrachten  wir  nur  unser  eigenes 
Fach,  die  Medici»,  und  fragen,  wie  viele  von  denen,  welche 
über  das  Schicksal  junger  Keule  zu  bestimmen  haben,  eine 
irgendwie  genügende  Kenntnifs  von  den  Ansprüchen  haben, 
welche  in  unserer  Zeit  in  theoretisher  oder  praktischer  Be¬ 
ziehung  an  «len  Arzt  gemacht  werden,  so  wird  unsere  Ant¬ 
wort  gewifs  dahin  ausfalleu  müssen,  dafs  eine  solche  Kennt¬ 
nifs  sehr  selten  angelroffen  werde,  ja  dals  es  eine  Unge- 


t 


I 


IV.  Pi  'ejsfrage.  169 

rechtigkeit  sei,  an  Nrchtärzte  solche  Forderung  zu  stellen. 
Theologen  und  Juristen  werden  wahrscheinlich  auf  ähn¬ 
liche  Fragen,  ähnliche  Antwort  ertheilen  müssen.  Wenn 
nun  die  Kenntnisse  dieser  Art  so  sparsam  verbreitet  sind, 
so  wird  auch  die  Bekanntschaft  mit  der  psychischen  Natur 


währen,  indem  man  von  falscher  Beurtheilung  der  Studien 
geleitet,  sie  leicht  zu  einer  unrichtigen  Wahl  veranlas¬ 
sen  wird. 

Betrachtungen  dieser  Art  sind  es,  welche  einen  ärzt¬ 
lichen  Veteranen,  der  mit  klarem  Auge  die  Verhältnisse 
des  bürgerlichen  Lebens  überschaut,  bewogen  haben,  durch 
Aufstellung  einer  Preisfrage  das  Nachdenken  der  Gelehrten 
neuerdings  auf  diesen  Punkt  zu  richten.  Fr  wünscht  auf 

diese  Weise  zu  den  zahlreichen  Wohlt baten,  welche  ihm 

\ 

Stadt  und  Gegend,  in  denen  er  fast  40  Jahre  lang  gewirkt 
bat,  noch  eine  neue  hinzuzufügen,  welche  sich  auf  einen 
weiteren  Kreis  erstrecke.  Wie  auch  die  Beantwortung  die¬ 
ser  Preisfrage  ausfallen  möge,  so  wird  sie  gewifs  dazu  bei¬ 
tragen,  einen  hochwichtigen  Gegenstand  näher  zu  erläutern 
und  mit  gröfserer  Wärme,  als  bisher  geschehen,  zu  erfas¬ 
sen.  Wird  dieser  Zweck  erreicht,  so  wird  gewifs  auch 
das  Andenken  dessen  dankbar  genannt  werden,  der  zu  die¬ 
sen  Untersuchungen  .angeregt,  hat.  Wir  fügen  jetzt  die 
eigenen  Worte  der  Preisaufgabe  hinzu.  Sie  lauten  wört¬ 
lich  also: 

Nihil  perniciosius  et  in felicius  cogitari  potest  iis,  qui 
aliquod  vitae  genus  aut  inviti  aut  non  apti  capessiverunt. 
Neque  enim  omittitur  solum,  quod  per  multos  annos  boni 
a  munere  recte  administrato  expectatur,  sed  tanta  eliam 
reipublicae  detrimenta  inferuntur,  quae  vel  posteri  recon- 
cinnare  nequeant.  Quam  autein  est  miserum,  quotidie  cru- 
ciari  laboribus,  quibus  irnpar  sis,  quos  fastidias,  qui  pro 
fructu  et  laude  poenitentiam  et  contumeliam  efficiant.  Atqui 
hoc  mal utn  in  civitate  non  serpere  sed  dominari,  et  ratio 
docet  et  usus  evincit.  Documento  sunt  vir i  sacris  obeundis 


i 


170 


IV.  Preisfrage. 

praefecti ,  aut  juventutis  magiatri,  qui  aleac,  venatiouis  con- 
viviorumque  studiosiores  sunt,  quam  salutis  traditorum  sitae 
curae  hominum  stabiliendae  et  adjuvandae,  causidici,  qui 
carminibus  faciendi«  et  «carabaeorum  copiae  coiligendae  cau¬ 
sa«  clientium  posthabent ,  medici  denique,  qui  dclicati  mol- 
lesque  Corpus  suum  quam  aegrotös  curare  malunt,  aut  de 
rebus  tbeologicis  libros  conscribunt,  aut  artibus  bellicis 
oueram  dedunt.  Hi  omnes  muneris,  cui  satisfacere  si  pos¬ 
sint,  nolunt,  si  velint,  nequeunt,  quasi  solatium  quoddam 
in  alienis  rebus  quaerunt,  reique  publicae,  cui  non  utiiem 
vitam  gerunt,  ne  obitu  quidem  suo  nocere  semper  desinunt, 
si ,  ut  fit,  sui  similibus  et  se  imitaturis  iocum  suum  relin- 
quunt.  Cujus  mali  non  una  est  caus3.  Nam  aut  pueris 
consilium  vitae  capiendum  permittitur,  qui  specie  rerum 
decepti  alienurn  saepe  ab  indole  sua  vitae  genus  eligunt, 
aut  parentes  rei  potius  familiaris,  bonorumque  quam  ingeuii 
liberorum,  quod  saepe  tantum  non  ignorant,  rationrm  ba- 
bent.  Quorum  si  qui  circumspectiores  inagistros  filiorum 
in  deliberationem  adliibendos  rati,  eorum  opinionem  audire 
velint,  ne  bi  quidem,  quamvis  indolem  puerorum  fidei  suae 
commissorum  observaverinl,  certam,  quam  in  suadendo  se- 
quantur,  rationem  haben t,  quum  philosophi  ad  id  temporis 
in  rerum  aliarum  cura  occupati,  hac  suae  proviociae  parte 
vix  extremo  digito  attacta,  totam  rem  ad  sensus  obscuri 
judicium  delegavisse  videantur.  Et  quae  publice  ad  candi¬ 
datos  muneruni  tentandos  constituta  sunt  examina,  bis,  quid 
tili  didicerint,  nou  quam  voluntatem,  quem  animuni  ad 
o fficii  munia  adiaturi  sint,  investigatur.  Quid?  quod  illa 
eo  deinum  tempore  instituuntur,  quo  magna  pars  vitae  re- 
pulsam  ferentibus  inutilis  deperditi:  est.  ln  re  tanti  mo- 
menti,  ubi  salus  patriae  agitur,  ubi  periculum  est,  ne  libe- 
raiissimi  liostri  sapientissiinique  regis  de  scholis  augendis 
ornandisque  consilia  publica  privato  civium  erroie  irrita 
reddanlur,  non  alienum  vi  *ctur,  baue  a  celeris  muitis  vitae 
generibus  ad  tria  tantum  gravissima  revocataui  (|uaestioucm 
adjecto  pracimo  proponere: 


i 


171 


IY.  Preisfrage. 

/ 

Quaenam  sunt  certa  signa,  non  illa  in  adolescen- 
tiurn  aut  calva  aut  vultu  conspieua,  sed  e  psyebo- 
logiae  ad  usum  et  exempla  accommodatae  placitis 
oblata,  quibus  quum  a  parentdjus  et  magistris  in 
vitae  ratione  eligenda,  tum  a  judicibus  in  examine 
deccrni  possit,  qui  ad  theologiae,  jurisprudentiae, 
medicinae  aut  studia  aut  munera  admittendi  sint, 
quique  non  sint? 

Summus  regni  Borussici  senatus,  qui  res  sacras  et  schola- 
slieas  curat,  baue  causam  sua  tutela  humanissime  dignatus 
viros  nonnuüos  illarurn  rerum  inteiligentissimos  nuncupabit, 
quorum  ad  arbitrium  si  quem  ab  hoc  die  intra  trium  anno- 
rum  spatium  de  quaestione  proposita  latine  ita  disseruisse 
cognoverirmis ,  ut  usum  inde  in  vitae  rationes  redundaturum 
esse  sperent,  huic 

praemium  ducentorum  Joacbimicorurn 

proponimus,  quod  Germershausenius  mercator,  sibi 
hanc  summam  ad  id  commissam  infra  testatus,  simulac  dis- 
sertationem  illi  judices  primum  ab  auctore  mihi,  deinde  sibi 
a  me  missam  cum  primae  laudis  testimonio  remiserint,  prae- 
sent?  pecunia  soluturum  se,  et  per  cursores  publicos  tradi- 
turum  esse  profitetur. 

Glogoviae  majoris  Cal.  Februariis  cioiocccxxix. 

Y  o  or  c  1  i  u  s , 

Dr.  medic.  utr.  et  regii  collegii  raedici  consiliarius. 

i 

Dafs  die  Summe  von  Zweihundert  Rthlr.  Preufs.  Cou¬ 
rant,  als  Preis  für  die  Beantwortung  der  oben  aufgestellten 
Frage  bei  mir  dato  deponirt  worden  ist,  und  nach  Erfül¬ 
lung  der  genannten  Bedingung  von  mir  sogleich  ausgezahlt 
werden  wird,  erkläre  ich  hierdurch  mit  meines  Namens 
Unterschrift. 

Grofs  -  G  logau,  den  1.  Februar  1829. 

Carl  Hr.  Ger inersba usen. 


< 


I 


f 


172  V.  Zurechnungsfähigkeit. 

Aufsätze,  welche  obige  Aufgabe  beantworten,  bitten 
wir  durch  Buchhändler- Gelegenheit  unter  unserer  Adresse 
an  die  Kein  sehe  Buchhandlung  in  Leipzig  zu  senden,  welche 
deren  Beförderung  an  uns  übernehmen  wird. 

Glogau,  den  6.  Februar  1829. 

Neue  GiiiU ersehe  Buchhandlung. 


Berichtigung. 


Obgleich  bereits  in  der  Vorrede  zu  den  unlängst  von 
mir  herausgegebenen  Beiträgen  zur  Erkenntnifs  und 
Beurtheilung  zweifelhafter  Seelenzustände  ( Leip¬ 
zig,  bei  Gerh.  Fleischer.  1828.)  Seite  XVI  entschuldigend 
bemerkt  worden  ist,  dafs,  im  Drange  öffentlicher  Geschäfte 
und  eines,  gerade  damals  vielfach  beunruhigten  Privatlebens 
vielleicht  hin  und  wieder  eine,  in  Zeitschriften  zerstreute 
Nachricht  über  dieselben  Gegenstände  übersehen  worden 
sein  könne;  so  glaube  ich  dennoch  es  dem,  von  mir  innigst 
verehrten,  Herrn  Professor  Dr  Lieh  teil  stä  dt  in  Breslau 
und  mir  selbst  schuldig  zu  sein,  in  dieser  vielgelesenen  Zeit¬ 
schrift  das  specielle  Bekcnntnils  abzulegen,  dafs  mir  dessen 
Aeufserungen  über  die  Unzulänglichkeit  des,,  Freiheitsprin¬ 
zips  zur  Beurtheilung  der  Zurechnungsfähigkeit  iii  II  eck  er ’s 
Annalen  1825  Bd.  1.  S.  314  und  Bd.  3.  S.  199,  so  wie 
in  Hufeland  und  O  s  n  n  n  s  Journal  1827  Januarheft,  Lei 
Abfassung  der  Abhandlung  über  die  Freiheit  als  oberster 
Grund  der  Zurechnung  u.  s.  w  ,  unbekannt  geblieben  wa¬ 
ren  und  zu  versichern,  dafs  ich,  im  entgegengesetzten  Falle, 
selbige  eben  so  gewissenhaft  angeführt  haben  würde,  als 


VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen.  173 

ich  nunmehr,  von  dem  Hin.  Prof.  Lichtenstädt  freund¬ 
schaftlich  darauf  aufmerksam  gemacht,  ihm  in  Ansehung  der 
öffentlichen  Bekanntmachung  dieser  Ansicht,  so  weit  wir 
in  derselben  übereinstimmen,  die  Priorität  gern  und  frei¬ 
willig  zugestehe.  —  Die  Erfüllung  dieser  Pflicht  der  An¬ 
erkennung  und  Achtung  fremden  Verdienstes  ist  mir  um 
so  angenehmer,  da  sie  mir  zu  der  Bemerkung  Gelegenheit 
giebt,  dafs  auch  noch  ein  anderes,  von  ihm  gewifs  mühsam 
aufgefundenes  Resultat,  über  das  Vorkommen  ansteckender 
Augenübel  im  Alterthume  —  ( s.  dessen  klassische  Schrift: 
Platon’s  Lehren  auf  dem  Gebiete  der  Naturforschun»  und 

O 

der  Heilkunde  S.  171,  Leipz.  1826,  und  Heck  er 's  Annalen 
Bd.  3.  S.  498)  —  ohne  Angabe  der  Quelle  in  mehrere 
oculistische  Schriften  übergegangen  ist.  > 

Clarus. 


Vi. 

Dr.  Al.  Troja,  weiland  ProL  der  Augenheilkunde 
in  Neapel  u.  s.  w.  Neue  Beobachtungen  und 
Versuche  über  die  Knochen.  Nach  dem 
me  (?)  bekannt  gemachten  Originale  aus  dem  Ita¬ 
lienischen  ins  Deutsche  übertragen,  umgearbeitet, 
mit  Anmerkungen,  Zusätzen  und  einer  Biographie 
des  Verfassers  versehen  von  Dr.  3.  J.  Albr.  v  o  n 
Schönberg,  Königl.  Dan.  wirkl.  Justizrathe  u. 
s.  w.  Erlangen,  bei  Palm  und  Enke.  1828.  4. 
XXVIII  und  192  S.  (3  Thlr. ) 

Vorliegendes  Werk  des  verstorbenen  Troja  wurde  i.  J. 

1814  unter  dem  Titel:  Osservazioni  et  esperimenti 

/ 

sulle  ossa  etc.  in  Neapel  gedruckt,  kam  aber  nicht  ins 

Publikum,  indem  der  Verf.  eines  chemischen  Irrthums  wegen 


174  VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen. 

dies  scheute.  Ilr.  v.  Sch.  übernahm  auf  Troja  s  Wunsch 
die  Uebersetzung  ins  Deutsche,  und  arbeitete  mit  dem 
Prof.  chem.  Cassola  in  Neapel  die  fünfte  oder  chemische 
Abtheilung  um.  Die  fünf  Kupfertafeln  sind  unter  froja  s 
Augen  gestochen,  und  wahrscheinlich  von  dem  italienischen 
Werke  der  Uebersetzung  beigegeben.  In  wiefern  die  che¬ 
mische  Abtheilung  gründlich  und  richtig  sei,  mögen  Che- 
miker  zeigen,  Ref.  wird  das  Resultat  der  chemischen  Unter¬ 
suchung  anführen;  aus  den  vier  ersten  Abteilungen  aber 
wird  die  allgemeine  Anatomie,  Physiologie  und  Chi¬ 
rurgie  wenig  Neues  erfahren;  dies  scheint  denn  auch 
Troja  gefühlt,  und  daher  die  Uebersetzung  in  einer 
Sprache,  die  so  gern  alles  Fremde  aufnimmt,  gewünscht 
zu  haben.  Folgender,  zwar  kurze,  aber  getreue  Auszug 
wird  des  Ref.  Meinung  rechtfertigen. 

Biographie  ( S.  VII  —  XXVI.).  Michel  Troja 
wurde  1747  in  Andria  geboren,  kam  1765  nach  Neapel 
als  Unterchirurg  bei  einem  Spitale,  wo  er  sich  in  der  Me- 
dicin  ausbildete,  sich  vorzüglich  mit  Anatomie  beschäftigte 
und  den  Doctorgrad  erhielt.  Im  Jahre  1774  erhielt  er  ein 
Reisestipendium  auf  fünf  Jahre  nach  Paris,  um  sich  allda 
in  der  Augenheilkunde  und  Geburtshülfe  auszubilden,  und 
kehrte  1779  nach  Neapel  zurück,  wo  er  Oberchirurg  am 
Spitale  der  Unheilbaren,  Professor  der  Augenheilkunde  und 
der  Krankheiten  der  Urinwerkzeuge,  und  1781  Leibchirurg 
wurde.  In  Paris  gab  er  1775  sein  Werk  de  regen era- 
tione  ossium  heraus.  Kr  hatte  an  Fontana’s  Werk 
über  die  5  ipern  unJ  an  Polis  Testacea  utriusque 
Siciliae  einen  grofsen  Antheil,  und  sollte  nach  dem  Wun¬ 
sche  beider  als  Mitherausgeber  auftreteu,  was  er  aber 
aus  Bescheidenheit  ablehnte.  Im  physikalischen  Journale 
vom  Abbe  Rossier  sind  mehrere  interessante  Abhandlun¬ 
gen  von  ihm,  die  er  später  meistens  in  seine  übrigen  Werke 
aufnahm,  z.  B.  über  die  künstliche  Bildung  des  grauen 
Staares,  über  das  G.  elasticum  und  die  elastischen  Kathe¬ 
ter,  als  deren  Krfinder  er  anzusehen  ist,  die  Fortsetzung 


Yl.  Beobachtungen  Liber  die  Knochen.  175 

der  Regeneration  der  Knochen  und  die  Regeneration  der 
Schneckenköpfe;  in  der  französischen  Encyclopädie  eine  Ab¬ 
handlung  über  die  Krankheiten  der  Urinwege.  Im  Jahre 
1788  erschien  sein  Werk  über  die  Augenkrankheiten,  und 
spater  das  über  die  Krankheiten  der  Urin  Werkzeuge.  Im 
Jahre  1812  fing  er  die  Versuche  über  die  Knochen  wieder 
an,  und  liefs  im  Jahre  1814  vorliegendes  Werk  drucken. 
Eine  Bearbeitung  von  Zinn’s  Werke  über  das  Auge,  eine 
vermehrte  und  mit  Kupfern  versehene  Ausgabe  seipes  Wer¬ 
kes  über  die  Augenkrankheiten,  eine  Sammlung  denkwür¬ 
diger  Fälle  und  anat.  phys.  Untersuchungen  an  Thieren 
gingen  durch  die  Plünderung  seiner  Wohnung  verloren. 
Er  hatte  das  Verdienst,  die  Vaccination  in  Neapel  lind  Si- 
cilien  eingeführt  zu  haben. 

Das  Werk  zerfällt  in  folgende  fünf  Hauptabthei- 

Erste  Hauptabtheilung  (Seite  29  —  61).  Ueber 
die  innere  Structur  der  menschlichen  Knochen. 
Zur  Untersuchung  der  Knochen  bediente  er  sich  vorzüglich 
der  Phosphorsäure  und  eines  einfachen  Dollondschen  Mi- 
croscops.  Erstes  Kapitel.  Beobachtungen  über  das 
Cranium  eines  dreimonatlichen  Fötus.  Das  Schei¬ 
telbein  des  Fötus,  gegen  das  Licht  gehalten  und  unter  dem 
Microscop  betrachtet,  besteht  aus  deutlichen,,  vom  Centro 
gegen  die  Peripherie  des  Knochen  laufenden  Strahlen  (Fa¬ 
den  oder  Schnüren),  die  sich  abwechselnd  durch  Anhängsel 
berühren  und  ungleiche  Zwischenräume  zwischen  sich  las¬ 
sen,  die  Kügelctien  gleichen,  und  die  er  deswegen  auch 
Kügelchen  nennt.  Diese  Schnüre  mit  ihren  Anhängseln 
sind  Fibernbänder  in  einer  knöchernen  Scheide,  welche  mit¬ 
telst  der  Säuren  membranös  wird.  Zweites  Kapitel. 
Beobachtungen  über  den  Schädel  eines  acht-  bis 
neun  monatlichen  Fötus.  Die  Lage  der  fibrösen  Flä¬ 
chen,  die  an  allen  Knochen  dieselbe  ist,  ist  am  Hinter¬ 
haupte  am  deutlichsten  ausgedrückt',  die  äufserste  fibröse 
f  läche  erstreckt  sich,  vom  Mittelpunkte  der  Verknöcherung 


176  VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen. 

# 

ausgehend,  nicht  bis  an  den  Knochenrand,  sondern  verliert 
sich  nach  einer  Ausdehnung  von  2  —  3  Linien;  die  Knden 
der  fibrösen  Lander  dehnen  sich  verschieden  vorwärts;  jedes 
biegt  sich  aber  an  seinem  Ende  zurück  und  bildet  mit  dem 
nächsten  einen  Logen  oder  Halbbogen,  der  sich  in  die  un¬ 
ter  ihm  liegende  Fläche  verliert.  Die  zweite  membranüse, 
fibröse  Fläche  dehnt  sich  ein  wenig  weiter  aus,  und  endigt 
sich  wie  die  erste.  Dasselbe  geschieht  mit  der  diitten,  vier¬ 
ten  und  den  folgenden  Flächen,  nur  die  letzte  erreicht  in 
ganzer  Länge  die  Seiten  des  Knochens,  daher  gehört  sic 
ausschliefsend  der  inneren  Höhlung  desselben  an.  Jeder 
Strahl  ist  am  Ende  zahnigt,  welches  der  Anfang  der  künf¬ 
tigen  Nath  ist.  Diese  mc.nbranös  -  fibrösen  Flächen  lassen 
sich  itrennen,  wobei  man  den  Ursprung  der  äußersten  und 
innersten  Fläche  von  den  fibrösen  Anhängseln  sieht.  So 
sind  auch  die  übrigen  Schädelknochen  gebaut.  Drittes 
Kapitel.  Beobachtungen  über  die  Knochen  eines 
ausgebildeten  Schädels.  Alle  Knochen,  sowohl  des 
Fötus  als  des  Erwachsenen,  und  selbst  die  neugebildeten 
Knochen  und  der  Callus  sind  von  einer  äufserst  feinen 
Membran,  gleich  dem  zartesten  Spinngewebe,  ohne  fibröse 
Bildung  umgeben.  Diese  Membran  sieht  man  nach  der 
14  —  20 tägigen  Maccration  des  Knochens  in  Phosphorsäure 
als  ein  dichtes  Wölkchen  um  den  Knochen,  nach  dessen 
Entfernung  die  unterliegenden  fibrösen  Flächen,  die  sich 
von  einander  trennen  lassen,  deutlicher  erscheinen.  Vier¬ 
tes  Kapitel.  Beobachtungen  über  einen  hundert¬ 
jährigen  Schädel.  Er  war  hypertrophisch.  Die  ganze 
innere  Oberfläche  der  Knochen  war  mit  unzähligen,  etwas 
erhabenen,  fächerartig  geordneten  Ländern  (Streifen)  be¬ 
setzt,  die  dieselben  Verflechtungen  wie  beim  Fötus  bilde¬ 
ten;  in  \\  asser  ai'fgeweicht  und  unter  dein  Microscop  be¬ 
trachtet,  bestanden  sie  aus  zahlreichen  Fibernbändchen,  die 
von  einer  gemeinschaftlichen,  hier  und  da  zerbröckelten  und 
mit  sehr  kleinen,  knöchernen  Körnern  besetzten  Scheide 
umgeben  waren.  Aus  der  Oberlläche  derselben  traten  viele 

kleine 


VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen.  177 

kleine  Bänderchen.  Dasselbe  beobachtete  man  an  durch 
Jahrhunderte  beinahe  zerstörten  Schädeln  (Fünftes  Kap.). 

Mit  denselben  Mitteln  unterwarf  er  das  Schulterblatt,  Brust¬ 
bein,  die  Kippen,  die  imbenannten  Knochen,  die  Wirbel¬ 
beine,  die  langen  Knochen  vom  Fötus  an  bis  zum  höheren 
Alter  der  Untersuchung,  und  immer  zeigte  sich,  mit  Aus¬ 
nahme  der  Richtung  der  Fibern,  welche  verschieden  bei 
verschiedenen  Knochen  erscheint,  dasselbe  Gewebe,  näm¬ 
lich  das  membranös- fibröse  (Sechstes  Kap.).  —  Sie¬ 
be  n  t  e  s  K  a  p  i  t  e  1.  Die  Bänder,  welche  die  verschie¬ 
denen  fibrösen  Flächen  der  Knochen  unterein¬ 
ander  verbinden.  —  Achtes  Kap.  Innere  Structur 
der  Beinhaut  und  der  Markhaut  der  langen  Kno¬ 
chen.  Die  Beinhaut  und  die  Markhaut  sind  fibröse  Mem¬ 
branen,  deren  Fibern  sich  nach  den  Knochen  richten,  daher 
lang  an  den  langen,  und  fächerartig  an  den  breiten  Kno¬ 
chen  sind.  —  Bau  einiger  hörnernen  Substanzen 
und  des  Fischbeins.  Das  Horn  des  Ochsen ,  des  Hir¬ 
sches  und  das  Fischhein  bestehen,  wie  die  Knochen,  aus 
fibrösen  Lamellen.  Sie  sind  bei  ihrer  Entstehung  zwar  von 
der  Beinhaut  umgeben,  aber  ihre  Entwickelung  und  ihr 
Wachsthum  geschieht  aufser  derselben. 

Zweite  Hauptabtheilung.  Ueber  die  neuen 
Knochen,  welche  sich  um  die  langen  Knochen 
der  Thier e  durch  die  Zerstörung  der  Markhaut 
erzeugen  lassen  ( S.  62  —  69).  Dies  ist  das  Haupt¬ 
thema  im  ganzen  Buche.  Wenn  man  auch  den  Untersu¬ 
chungen  des  \7erf.  über  die  Regeneration  (Necrosis)  der 
Knochen  die  getreue  Beobachtung  der  Natur  nicht  abspre¬ 
chen  kann,  so  hat  er  doch  den  ganzen  Prozefs  weniger 
richtig  erklärt  und  gedeutet.  Er  hat  nämlich  die  von 
Blumenbach,  Köhler,  M  a  c  d  o  na  1  d ,  W  eidmaun, 
Meckel  und  von  ihm  seihst  bisher  angenommene,  zwar 
schön  und  künstlich  geformte,  aber  stets  von  praktischen 
Wundärzten  bezweifelte  Theorie  von  der  WÜcdererzeupunsr 

ü  Q 

des  Knochens  über  den  alten  abgestorbenen  (Sequester)  hier 
XIV.  Bd.  2.  St.  12 

' 

I 


l 


# 


178  VI.  Hcobachtungcn  über  tlic  Knochen. 

wiedergegeben.  Scarpa  hat  aber  bekanntlich  mit  den 
treffendsten  Gründen  das  Falsche  und  Naturwidrige  dieser 
Annahme  deutlich  gezeigt,  und  es  scheint  die  /.eit  nicht 
ferne,  wo  «iic  ganze  schöne  Lehre  von  der  Regeneration 
der  Knochen  zusainmenfallen ,  und  Scarpa  s  Ansicht  von 
dem  blofsen  Absterben  der  Markröhre  und  der  durch  Eut- 
ziindung  bedingten  l'Jrwei terung  und  N  ergröfserung  des  Kno¬ 
chens,  durch  die  NN  undärzte  am  Krankenbette  nachgewiesen 
werden  wird.  Hierzu  haben  die  deutschen  NN  undärzte  eine 
Gelegenheit,  die  den  italienischen  sehr  zu  mangeln  scheint, 
denn  selbst  Scarpa  scheint  die  Necrose  nicht  sehr  häufig, 
und  unser  Verf.  gar  nicht  an  lebenden  Menschen  beob¬ 
achtet  zu  haben,  was  aus  folgender  Acufseruog  am  Lnde 
des  ersten  Kapitels  deutlich  hervorgeht:  « Ks  ist  wahr¬ 
scheinlich,  dafs  sich  beim  Menschen  an  den  Stellen  der 
Fisteln  der  Haut  ähnliche  Oeffnungen  (Cloaken)  iin  Kno¬ 
chen  befinden,  die  zur  Ausziehung  des  Knochens  dienen 
könnten. »  —  Des  Verf.  N  erfahrungsweise  bei  seinem  Ver¬ 
fahren  ist  der  von  Scarpa  ähnlich;  er  amputirte  nämlich 
die  Tibia  der  J  liiere,  zerstörte  bis  an  das  obere  Fnde 
der  Tibia  das  Mark,  und  legte  ein  Fadenbändchen  in  die 
Markröhre. 

Erstes  Kapitel.  Versuche  an  jungen  Thie- 
ren.  1)  Vierundzwanzig  läge  nach  der  Zerstörung  des 
Markes  der  Tibia  eines  Lammes,  fand  man  um  die  ur¬ 
sprüngliche  Tibia  einen  neuen  Knochen,  der  an  der  obe¬ 
ren  Epiphvse  anfing,  und  da  endigte,  wo  hei  der  Zerstö¬ 
rung  des  Markes  das  Fleisch  war  geschnitten  worden.  Seine 
Substanz  war  hinlänglich  hart,  die  Dicke  seiner  Wände 
oberhalb  geringer,  und  gröfser  von  der  Mitte  an  nach 
unten,  und  übertraf  durchgehends  die  Dicke  der  alten 
Tibia,  die  er  umschiofs.  (  Dieser  sogenannte  neue  Knochen 
ist  nach  Sc.  der  alte,  durch  Entzündung  ausgedehnte,  der 
die  abgestorbene  Markröhre  (Sequester)  als  eine  Scheide 
( Todtcnlade)  enthält.  rief.)  Zwischen  beiden,  enge  mit 
einander  verbundenen  Knochen  war  eine  rotl.c  Gräuzlinie, 


VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen.  179 

die  Epiphyse  war  völlig  vom  alten  Knochen  abgetrennt 
und  der  neue  Knochen  an  der  inneren  Seite  mit  einer  ro- 
t.hen,  dicken,  gallertartigen  Membran  bekleidet,  der  alte 
Knochen  rauh  und  sandig.  Der  gröfste  Theil  der  Zwischen¬ 
membran  hing  sehr  fest  mit  dem  alten  Knochen  zusammen, 

obgleich  der  neue  an  diesen  Stellen  doppelt  so  dick  als 

oben  war.  Die  Beinhaut  des  neuen  Knochens  war  um  vie¬ 
les  dicker,  als  die  der  andern  nicht  operirten  Tibia,  und 
zeigte  an  der  inneren  Flache  einige  knöcherne  Knötchen, 
die  von  der  überflüssigen  Knochenbildung  herrührten.  — 
2)  Der  neue  Knochen  bei  einem  jungen  Widder  war 
dreimal  dicker  als  die  gesunde  Tibia,  seine  innere  Membran 
war  sehr  dick  und  glich  mehr  einem  fleischigen  Gewebe, 

als  einer  Haut,  und  füllte  genau  die  Lücke  aus,  welche  die 

verlorene  Schicht  des  alten,  in  ihm  wie  in  einer  Scheide 
liegenden  Knochen  gelassen  hatte.  Die  Koochenschicht 
hatte  sich  in  diese  Membran  verwandelt,  indem  das  oberste 
äufsere  Ende  des  alten  Knochens  fest  mit  der  inneren  Mem¬ 
bran  zusammenhing.  Diese  innere  fleischige  Membran  be¬ 
stand  aus  zwei  membranösen  Schichten,  verlor  durch  Aus¬ 
wässern  ihre  Farbe  und  Dichtigkeit,  blieb  aber  zähe  wie 
zuvor,  und  glich  nach  der  völligen  Eintrocknung  einem 
Spinnengewebe.  Der  neue  Knochen  war  sehr  dick,  porös, 
vom  Blute  durchdrungen,  und  voll  von  unzähligen  kleinen 
Löchern  für  den  Durchgang  der  Gefäfse.  Nach  der  Ein¬ 
trocknung  zeigte  er  sich  leichter,  seine  innere  Fläche  glatt, 
die  äulsere  rauh,  die  obere  Epiphyse  hing  mit  dem  neuen 
Knochen  zusammen.  Die  Beinhaut  war  am  unteren  Theile  des 
Knochens  sehr  dick.  (Alles  richtig!  nur  ist  sein  neuer  Knochen 
nicht  neu,  sondern  der  alte,  durch  Entzündung  aufge¬ 
lockerte.)  In  den  Schluisbemerkungen  zu  diesem  Versuche 
stellt  er  über  die  Bildung  der  inneren  Membran 
folgende  Meinung  auf:  Wenn  die  Markmembran  zerstört 
wird,  so  wird  den  zunächst  liegenden  Knochenschichten 
iie  Nahrung  entzogen,  die  äufsere  Knochenhaut  entzündet 
md  dehnt  sich  aus,  sondert  die  Gallerte  ab,  der  Kalk- 

12  * 


ISO  VI.  Beobachtungen  Uber  die  Knochen. 

phospliat  wird  aufgezehrt,  und  der  Knochen  wandelt  sich 
in  ein  fleischiges  Gewebe  um,  welches  man  nachher  auf 
dieselbe  Weise  mit  den»  Knochen  vereinigt  findet,  wie  cs 
mit  der  Beinhaut  früher  vereinigt  war,  ehe  es  seine  knö¬ 
cherne  Consistenz  verlor.  Er  verwahrt  sich  gegen  die  ihm 
von  K  ic  heran  d,  Lcveil  le  u.  a.  untergeschobene  Meinung, 
als  erzeuge  die  Beinhaut  hauptsächlich  den  Knochen.  Er 
spricht  ihr  diese  Eigenschaft  ab  und  nimmt  nur  an,  dafs 
sie  den  Knochen  erhalte,  und  dafs  der  neue  Knochen  aus 
dem  animalischen  Schleime  zwischen  den  Lamellen  der  Bein¬ 
haut  oder  unter  derselben  sich  in  eine  fibröse  Membran 
gestalte,  und  von  den  Gefäfsen  und  Nerven  der  Beinhaut 
Leben  erhalte.  Gegen  Scarpa’s  Meinung  macht  er  einige 
unerhebliche  Einwürfe.  —  3)  I)ic  Tibia  eines  Widders 

wurde  trepanirt,  das  Mark  zerstört  und  die  Höhle  mit- Fa¬ 
den  ausgestopft,  die  nach  zwei  Tagen  wieder  entfernt  wur¬ 
den.  Es  bildete  sich  bald  ein  Abscefs  in  der  Nahe  des 
Gelenkes,  ifäch  dessen  Oeffnung  eine  ähnliche  Jauche  wie 
aus  der  künstlichen  Oeffnung  Hofs.  Beide  Oeffnungen  blie¬ 
ben  fistulös,  lieferten  aber  nach  und  nach  besseren  Eiter. 
Nach  neun  Monaten  wurde  das  Thier  gelödtet.  Auf  der 
ersten  Kupfertafel  ist  die  nicht  operirtc  und  die  operirte 
Tibia  mit  der  künstlichen  und  krankhaften  Oeffnung,  und 
der  Sequester  abgebildet,  sie  gleichen  denen  von  Weid¬ 
mann  und  Scarpa  abgebildcten  und  in  allen  deutschen 
anatomischen  Gabinetten  häufig  vorhandenen  necrotischen 
Knochen  vollkommen.  Die  Beschreibung  füllt  mehre  Pa¬ 
ragraphen.  —  Zweites  Kapitel.  Zerstörung  der 
Mark  haut  bei  allen  T  liieren.  Die  Versuche  an  einer 
alten  Ziege  und  einem  alten  Truthahn  lieferten  dasselbe 
Resultat.  —  Drittes  Kapitel.  Verknöcherung  des 
neuen  Knochens  nach  der  1 1  e  r  a  u  s  n  a  h  m  e  des  allen. 
Zwei  Monate  nach  der  Amputation  der  Kiifse  verschiedener 
I  liiere  konnte  man  die  ursprüngliche  Tibia  aus  dem  neuen 
Knochen  herausnehmen;  bei  allen  fehlte  das  obere  Ende, 
und  die  äulscre  Oberfläche  war  leicht  an^efressen.  Einen 


181 


VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen. 

Monat  später  fand  man  den  neuen  Knochen  voll  von  mar¬ 
kiger  Substanz,  die  in  der  Mitte  weifs  und  an  den  Seiten 
etwas  röthlich  war.  In  der  nicht  operirten  Tibia  war  das 
Mark  gleichmäfsig  röther.  Die  Marksubstanz  war  von  einer 
sehr  zarten  Membran,  welche  die  ganze  innere  Fläche  des 
neuen  Knochens  auskleidete,  umhüllt.  Unter  dem  Micro- 
scope  zeigte  sich  das  neue  Mark  aus  einer  Menge  sehr  klei¬ 
ner  membranüser  Bläschen  bestehend,  welche  voll  Markül 
waren.  Bei  einer  Taube  hatte  der  Knochen  nach  drei 
Monaten  einen  grofsen  Umfang  bekommen,  seine  Wände 
waren  in  zwei  Schichten  getheilt,  so  dafs  also  der  Knochen 
zwei  Röhren  darstellte,  die  ineinander  steckten  und  durch 
sehr  viele  kurze  schief  laufende  knöcherne  Fädchen,  und 
eben  so  viele  dünne  knöcherne  Lamellen  vereinigt  waren. 
Die  innerste  Röhre  war  mit  Mark  angefüllt,  durch  welches 
mehre  knöcherne  Fäden  gingen.  Bei  einem,  fünf  Monate 
nach  der  Operation  getödteten  Huhne  fand  er  die  zwei 
Wände  näher  verbunden,  und  bei  einem  Schweine,  sieben 
Monate  nach  der  Entfernung  des  alten  Knochens,  war  der 
neue  Knochen  l~  Zoll  dick,  während  der  gesunde  kaum 
einen  halben  Zoll  dick  war.  Diese  Knochen  sind  Tab.  II. 
abgebildet.  —  Um  dem  Hervorstehen  des  Knochens  nach 
der  Amputation  und  den  lästigen  Mitteln  dagegen,  beson¬ 
ders  der  Amputation  vorzubeugen,  schlägt  er  mit  Scarpa, 
V o  1  p i  und  Leveille  die  Zerstörung  des  Markes  im  vor¬ 
stehenden  Knochenstumpfe  vor,  indem  sich  dieser  etwa  nach 
einem  Monate  abstofse.  Ja!  er  will  diese  Methode  auch 
auf  die  breiten  Knochen  ausgedehnt  wissen.  Mit  Recht 
nimmt  er  die  Empfindlichkeit  des  Markes  beim  Durchsägeu 
der  Knochen  an.  —  Viertes  Kapitel.  Versuche  über 
die  Wirkungen  des  Krapps  auf  die  neu  er  zeugten 
Knochen.  Der  neue  Knochen  wurde  nach  10  bis  20  Ta¬ 
gen  schön  rosenrotb,  der  alte  blieb  blafs.  Seiner  Meinung 
nach  wird  der  Kalkphosphat  durch  den  Krapp  gefärbt.  — 
Fünftes 'Kapitel.  Innerer  Bau  des  neuen  Kno¬ 
chens.  Das  Fib^rnsystem  desselben  ist  ungleich  feiner  und 


i 


182  VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen. 

zarter,  als  das  des  alten  Knochens.  Diese  1  einhelt,  oder  die 
unvollkommene  Entwickelung  sowohl  der  Membranen,  als 
des  Fibernsystems,  liefern  indessen  den  Beweis,  dals  die 
Lamellen  der  Belnhaut  nicht  immer  unmittelbar  zur  Bildung 
des  neuen  Knochens  beilragen;  denn  der  fibröse  Zustand 
der  Beinhaut  sei  stets  vollkommener  entwickelt,  als  der  des 
neuen  Knochens  an  demselben  Thiere.  Es  werde  daher 
immer  wahrscheinlicher,  dafs  die  Gallerte  einer  der  vor¬ 
züglichsten  Bestandteile  der  Knochen  sei,  und  ihren  wirk¬ 
lichen  animalischen  Theil  ausmache.  — 

Dritte  Hauptabtheilung.  Ueber  die  neuen 
Knochen,,  w eiche  man  vermittelst  der  Zerstö¬ 
rung  der  Be  in  haut  in  den  Markhöhlen  der  lan¬ 
gen  Knochen  erzeugen  kann  fS.  97  —  111).  So 
wie  sich  durch  Zerstörung  der  Markhaut  ein  äufserer  neuer 
Knochen  hervorbringen  l'afst ,  so  erzeugt  die  Zerstörung  der 
Beinhaut  einen  andern  im  Innern  des  Knochens.  Bei  seinen 
Experimenten  schnitt  der  Verf.  Fleisch  und  Beinhaut  durch, 
schabte  letztere  ab,  und  umwickelte  den  Knochen  mit  einer 
Biude.  Erstes  Kapitel.  An  der  Stelle  des  kreisförmigen 
Schnittes  zeigte  sich  hei  einem  Kaninchen  am  siebenten 
Tage  die  Beinbaut  geschwollen  und  einen  dicken,  breiten, 
gallertartigen  Bing  bildend  Eben  so  waren  die  durch¬ 
schnittenen  Sehnenenden  angeschwollen.  Die  Beinhaut  löste 
sich  sehr  leicht  vom  Knochen  und  zeigte  bei  der  microsco- 
pischen  Untersuchung  Ueberfiillung  mit  Gallerte,  d.  h.  sie 
erschien  aus  einer  unendlichen  Menge  zarter,  durchsichti¬ 
ger,  nut  dünner  Gallerte  erfüllter  Bläschen,  längs  welcher 
die  angeschwolleneti  fibrösen  Bänder  hinliefen.  Unter  der 
enlhlülstcn  Knochcnstelle  war  das  Mark  rüther  und  die 
BlutgefäLe  erweitert.  Am  zehnten  Tage  war  der  Hing 
der  Beinhaut  härter,  sie  liels  sich  vom  Knochen  ahtrennen, 
hinterlicfs  aber  auf  demselben  einen  sehr  leichten  Ansatz 
von  Gallerte.  Am  dreifsigsten  läge  war  der  Bing  halb¬ 
knorpelig,  und  hing  fester  am  Knochen.  Die  Farbe  des 
Markcylindcrs  war  blässer,  und  die  Substanz  härter.  Am 


N 


/ 

VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen.  183 

dreifsigsten  Tage  war  der  King  halbknöchern,  die  äufsere 
Oberfläche  des  Knochens  Matt  und  trocken,  schwitzte  aber 
beim  Abschaben  kleine  Blutströpfchen  aus,  der  Markcylin- 
der  war  ganz  gallertartig  und  weils,  und  die  äufs  erste 
Schicht  desselben,  die  sich  an  die  Höhlung  der  entblöfsten 
Knochenstelle  anschlofs,  verknöchert.  Am  vierzigsten  Tage 
war  der  Bing  vollkommen  verknöchert,  sehr  breit  und 
dick,  und  enthielt  die  auch  verknöcherten  Enden  einiger 
Sehnen.  Der  der  Länge  nach  durchsägte  Knochen  zeigte 
die  innere,  schon  vollendete  Verknöcherung  und  eine  rothe 
Linie,  die  ihre  Gränze  andeutete.  Der  Markcylinder  des 
neuen  Knochens  war  von  Gallerte  durchweicht,  und  halb 
verknorpelt.  Am  fünfzigsten  Tage  waren  die  Wände  des 
neuen  Knochens  und  dessen  Markcylinder  dichter.  —  Bei 
den  Tauben  war  schon  am  fünften  Tage  der  innere  Kno¬ 
chen  ausgebildet  (Kapitel  2.).  Der  neue  Knochen  wurde 
auch  durch  Krappfütterung  gefärbt,  und  zwar  stärker  als 
der  alte  (  Kap.  3. ). 

Vierte  Haup  tabthei  lung.  Leber  die  Zerstö¬ 
rung  krankhafter  Knochen  am  Menschen  ( tS.  1 15 
bis  146).  Erstes  Kapitel.  Beinbrüche.  Nachdem  drei 
nichts  Interessantes  darbietende  Beobachtungen  über  ein 
künstliches  Gelenk  am  kleinen  Trochanter,  und  schlecht 
geheilte  Brüche  des  Oberschenkels  und  Oberarmes  aufge¬ 
führt  sind,  geht  der  Verf.  zu  den  Beobachtungen  über 
künstlich  erzeugte  Beinbrüche  bei  T  liieren  über. 
JL)  ie  übereinander  geschobenen  Knochen  werden  vermittelst 
der  Beinhaut  zusammengehalten.  Beide  Beinhäute  waren 
am  zehnten  Tage  von  einer  sehr  dichten  Gallerte  an  den 
Berührungspunkten  angeschwollen  und  vereinigt;  die  abge¬ 
brochenen  Enden  waren  von  einer  dichten  Gallerte  be¬ 
deckt,  das  Mark  au  den  Bruchenden  gallertartig,  weiterhin 
abwechselnd  blutig  und  gallertartig.  Am  vierzigsten  Tage 
waren  beide  Knochen  da,  wo  sie  sich  vermittelst  der  Bein¬ 
haut  berührten,  durch  eiue  knöcherne  Substanz  unauflös¬ 
lich  verbunden,  die  eine  knöcherne,  nach  den  Enden  sich 


/ 


» 


184  \  1.  Beobachtungen  über  die  Knochen. 

verlierende  und  auisen  durch  die  Sehnen  gefurchte  Scheide 
Lildete  und  von  der  Beinhaut  bedeckt  war.  Das  Mark  war 
in  der  ganzen  Länge  der  Verwachsung  der  Knochenenden 
ganz  verknöchert,  ln  der  Schlufsbemerkung  heifst  es:  die 
Beinhaut  könne  nicht  a's  Erzeugerin  des  Uallus  angesehen 
werden,  doch  sei  sie  der  Verknöcherung  fähig,  wenn  sie 
sich  nämlich  mit  Gallerte  fülle,  die  sich  nachher  verknö¬ 
chere.  —  Zweites  Kapitel.  V  ergr öfscrung  der 
Knochen.  Die  sechs  Wahrnehmungen  über  eine  larrtcllen- 
artige  Exostose  der  Tibia,  eine  elfenbeinerne  Exostose,  völ¬ 
lige  Verdickung  der  Diaphyse  der  Tibia,  der  Kniescheibe 
und  des  unteren  Endes  des  Oberschenkels,  enthalten  nichts 
Neues.  Krankhafte  Knochen  zeigen  die  lamellenartig- fibröse 
oder  häutig- fibröse  Structur  viel  deutlicher,  afs  gesunde. 
Das  Marköl,  verdorben  oder  in  zu  grofser  Menge  vorhan¬ 
den,  scheine  die  Ursache  der  Trennung  der  Lamellen  in 
krankhaften  Knochen  zu  sein.  Die  Ursache  des  verdorbe¬ 
nen  Markes  sei  ihm  unbekannt;  doch  sei  sie  wahrscheinlich 
Entzündung,  welche  er  auch  für  die  Ursache  der  Knochen- 
schmcr  eil  hält.  —  Das  dritte  Kapitel  enthält  zwei  Be- 
obaehtungen  über  Anchy  losen,  das  vierte  Kapitel 
eine  Beobachtung  über  Ostrosarcom,  mit  einer  Abbil¬ 
dung  des  Skelets  auf  der  fünften  Kupfertafel,  das  fünfte 
Kapitel  vier  Beobachtungen  über  Caries  und  INccro- 
sis;  Uaries  ist  das  beginnende,  die  Necrosis  das  völlige 
Absterben  eines  Knochens.  Die  fleischigen  Knoten  in  dem 
cariösen  Knochen  zeigen,  dafs  die  Lrsache  der  Uaries  das 
Gefäfssystem  zuerst  ergreife.  Die  Necrosis  des  Mittelstückes 
der  unteren  Kinnlade  bei  einem  ( scrophulösen)  Knaben, 
deren  Verlauf  Pensa  beschreibt,  wird  vom  Verf.  der  Ge¬ 
walt,  mit  welcher  die  Zahnkeime  auf  die  Alveolen  wirkten, 
zugeschrieben!  —  Im  siebenten  Kapitel  werden  Be¬ 
obachtungen  und  Bemerkungen  über  rhachiti- 
sehe  Knochen  angeführt.  Der  Mangel  an  Phosphat  und 
das  Uebcrmnafs  der  Gallerte  machen  in  der  Bhacbitis  die 
Knochen  biegsam.  Die  Markhühle  ist  mit  einer  knöchernen 


VI.  Beobachtungen  über  die  Knochen.  i 85 

Substanz  angefüllt,  die  Wände  sind  an  der  Seite,  welche 
der  gröbsten  Biegung  entspricht,  dick  und  compact.  Die 
Gelenkenden  sind  verdickt,  ohne  dafs  ihre  dünne,  äufsere 
Kinde  verdickt  wäre.  Die  Zellen  sind  erweitert,  und  daher 
die  Gelenkköpfe  ausgedehnt.  Dies  rührt  von  dem  durch 
die  aufserordentliche  knöcherne  Masse  in  der  Markröhre 
vertriebenen  Marköle  her,  welches  sich  auf  die  Gelenk¬ 
enden  wirft  (!). 

Fünfte  Hauptabteilung.  Chemische  Ele¬ 
mente  der  gesunden  und  kranken  Knochen  (Seite 
147  b  is  184).  ln  acht  Kapiteln  wird  über  das  Kalkphos¬ 
phat,  seine  Quantität  und  Oxydation  in  den  menschlichen 
Knochen,  über  die  Zersetzung  und  Wiederzusammensetzung 
des  Kalkoxyphospbats,  über  die  Auflösung  der  Knochen¬ 
substanz  in  Salpetersäure  und  das  daraus  hervorgehende 
Kalkphosphat,  über  die  Quantität  des  Kalkphosphats  in  eini¬ 
gen  Hörnern  ,  im  Fischbein,  in  den  äufserlich  und  innerlich 
neu  erzeugten,  so  wie  in  den  kranken  Knochen  gehandelt. 
Aus  den  Zusammenstellungen  der  untersuchten  kranken  Kno¬ 
chen  läfst  sich  scbliefsen,  dafs  die  Zerbrechlichkeit  der 
Knochen  nicht  durch  den  Ueberschufs  an  Kalkphosphat 
und  Mangel  an  Gallerte,  und  die  Erweichung  der 
Knochen  nicht  durch  den  Mangel  an  Phosphat  bedingt 
werde,  sondern  dafs  vielmehr  beide  krankhafte  Zustände 
von  der  gröfseren  oder  geringeren  Cohäsion  ih¬ 
rer  Bestandteile  abhängen. 

Im  Anhänge  handelt  der  Uebersetzer:  1)  Ueber 
die  grüne  Farbe  der  Gräten  der  Horn  fische.  Sie 
hat  in  der  Oberhaut  der  Gräte  ihren  Sitz,  indem  nach  der 
Entfernung  der  Oberhaut  die  Gräten  graulich  -  weifs  sind. 
Diese  grüne  Farbe  schien  ihm  anfangs  vom  Chrom  abzu¬ 
hangen,  was  sich  aber  nicht  bestätigte.  2)  Ueber  einige 
in  Pompeji  gefundene  Knochen  und  ihre  Analy¬ 
sen.  Der  Febers,  erhielt  die  während  der  Anwesenheit 
Sr.  Majestät  des  Königs  von  P  reu  Isen  in  Pom¬ 
peji  ausgegrabenen  Knochen  durch  die  Güte  des  Hi  n.  Gehei- 


i 


186 


\  II.  Chirurgische  Notizen. 

« 

menrnths  von  Wiehel,  als:  Bruchstücke  vom  Tarsus,  Me- 
tatnrsus  und  Metacarpus,  eine  Kniescheibe,  ein  Stück  vom 
Schulterblatt,  mehre  Schneide-  und  Stockzähne,  und  die 
grülsere  obere  Wölbung  eines  Schädels.  Die  Zähne  sind 
ungewöhnlich  leicht,  hellgelb  und  haben  den  Schmelz  voll* 
kommen  erhalten.  Die  Knochen  haben  das  nämliche  Anse¬ 
hen,  sind  mehr  dunkel-  als  hellgelb,  innen  schnecweils, 
nufserordentlich  leicht  zerbrechlich,  federleicht,  von  der 
gewöhnlichen  Form,  ohne  Zeichen  von  Apophysen,  die 
Erhabenheiten  sind  beinahe  verschwunden.  Die  vom  Profes¬ 
sor  Cassola  mit  dem  Uebersetzer  unternommene  chemi¬ 
sche  Analyse  zeigte  Kalkphosphat  (48),  Kalklluat,  thie- 
rischeu  Stoff  ( 2(>,50 ),  Kalk,  welcher  sich  mit  Kohlen¬ 
säure  vereinigt  befindet  (12),  das  Product  der  Verbren¬ 
nung  der  thierischen  Materie,  Phosphat  von  Magnesia  mit 
Soda  (8),  Sjyiren  von  lluorischer  Säure,  Eisenoxyd,  Kie¬ 
sel,  Alaun  und  VN  asser.  Diese  Knochen  unterscheiden  sich 
durch  ihre  Farbe  und  Zerbrechlichkeit  von  gewöhnlichen 
ai'sgegrabenen  Knochen  und  von  denen  ,dcr  natürlichen 
M  umien.  In  Hinsicht  des  Gewebes  lassen  sie  durchaus 
keinen  Fibernlauf  beobachten,  sondern  scheinen  ein  einziges, 
zusammenhängendes,  zartes  Gewebe  zu  bilden.  — 

Druck  und  Papier  sind  vortrefflich. 

.  Jäger. 


VII. 


Chirurgische  Notizen. 


1.  J.  Syme’s,  Drei  Fälle  einer  gelungenen  l\e- 
section  des  Ellbogengelenkes;  mitgetheilt  von  Dr. 
M.  J.  A.  Schön. 

Die  Kesection  des  Ellbogengelenkes,  eine  Operation, 
durch  welche  schon  manchem  Unglücklichen  der  Arm  er¬ 
halten  wurde,  der  vor  Entdeckung  derselben  stets  durch 


187 


VII.'  Chirurgische  Notizen. 

die  Amputation  verloren  ging,  schlug  zuerst  der  englische 
A\  undarzt  Park  vor.  An  Lebenden  machte  sie  zuerst  im 
Jahre  1797  Moreau  der  Vater,  und  zwar  dreimal,  und 
jedesmal  mit  glücklichem  Erfolge.  Nach  ihm  vollzogen  die¬ 
selbe  Champyon,  lustamond,  Tyre,  und  neuerlich 
Crampton;  alle  erhielten  ein  glückliches  Resultat.  —  An 
diese  Fälle  schliefsen  sich  nun  die  drei  neuesten  vonSyme 
in  jeder  Hinsicht  an,  welche  ich  den  deutschen  Aerzten 
mitzutheilen  mich  beeile.  — 

Syme  schickt  der  Beschreibung  derselben  einige  ailge- 
meine  Bemerkungen  über  die  Behandlung  der  Caries  voran, 
von  denen  ich  das  Wesentlichste  aushebe.  —  Die  Caries 
kommt  in  der  Regel  in  Knochen  von  sehr  zelliger  und 
schwammiger  Textur  vor,  und  wenn  sie  sich  in  platten 
oder  cylindrischen  Knochen  findet,  so  geht  derselben  stets 
eine  krankhafte  Ausdehnung  der  festen  Structur  jener  vor¬ 
her,  gegen  welche  Vesicatore  und  der  innere  Gebrauch  des 
Sublimates  sehr  wirksam  sind,  und  w  eiche  S  yme  Pseudo- 
caries  nennt.  Die  verschiedenen  Arten  der  Caries,  die 
feuchte  (humidj),  wurmstichige,  fleischige  u.  s.  w.,  beru¬ 
hen  auf  einer  Verwechselung  dieser  Zustände  mit  anderen 
Krankheiten  des  Knochengewebes.  —  Ein  cariöser  Knochen 

sieht  nach  der  Maceration  aus,  als  wenn  er  verbrannt  wäre, 

\ 

er  ist  härter,  weifser  und  brüchiger,  als  gewöhnlich,  und 
zeigt  stets  Vertiefungen,  welche  die  zellige  Structur  zu 
Tage  legen;  überhaupt  gleicht  er  sehr  einem  Stück  Zucker, 
welches  durch  ein  momentanes  Eintauchen  in  heifses  Was¬ 
ser  theilweise  aufgelöst  worden  ist.  —  Caries  dringt  nie 
sehr  tief  in  die  Knochen  ein,  ist  meistens  sehr  begränzl;, 
womit  oft  die  Hartnäckigkeit  der  Symptome  in  grofsem 
V  iderspruche  steht.  —  Der  abfliefsende  Eiter  bei  Caries 
unterscheidet  sich  durch  nichts  von  gutem  Eiter.  —  Caries 
entsteht  nicht  durch  gewaltsame  äufsere  Verletzung,  wie 
Necrose,  sondern  durch  eine  Entzündung,  wiewohl  diese 
nicht  immer  Bein  frais  der  Knochen  zur  Folge  hat,  wie 

I 

man  es  bei  complicirten  Fracturen,  nach  Amputationen  u.  s.  w. 


188 


VII.  Chirurgische  Notizen. 

zu  sehen  Gelegenheit  hat.  —  Caries  kommt  ferner  bei 
schwächlichen  und  ungesunden  (Konstitutionen  und  bei  sol¬ 
chen,  in  denen  grofse  Anlage  zum  Scorbut,  zur  Gicht  und 
Rheumatismus  vorhanden  ist,  vor.  —  Ihre  Behandlung  zer¬ 
fällt  in  eine  palliative  und  radicale.  —  Alle  Acrzte  stimmen 
aber  jetzt  sicher  wohl  darin  überein,  dafs  die  Krankheit 
durch  äufsere  Mittel  nicht  zu  heilen  ist,  sondern  einzig  und 
allein  nur  durch  gänzliche  Zerstörung  der  kranken  Parthie. 
Zu  dem  Ende  wendet  man  Aetz mittel,  Cauterien  und 
die  Excision  an,  von  denen  die  ersten  sehr  unwirksam 
sind;  das  Cauterium  actuale  kanu  in  den  meisten  Fällen 
nicht  auf  die  ganze  krankhafte  Fläche  angewandt  werden, 
und  seine  Einwirkung  ist  sehr  begränzt.  Die  Excision 
ist  unstreitig  die  beste  Methode,  indem  durch  sic  in  wenig 
Secunden  mehr  ausgerichtet  werden  kann,  als  durch  das 
Glüheisen  in  "Wochen  und  Monaten.  Der  Kpochcn  mufs 
dabei  so  weit  als  möglich  frei  gelegt  und  mit  der  Exci¬ 
sion  so  lange  fortgefahren  werden,  bis  man  fühlt,  dafs 
man  in  den  gesunden  Knochen  schneidet.  —  Die  nach- 
herige  Anwendung  des  Glüheisens  ist  jedenfalls  zu  verwer¬ 
fen.  Sind  grofsc  Gelenke  cariös,  so  ist  es  besser,  die 
Gelenkenden  mit  einemmale,  als  stückweise  zu  entfernen; 
indefs  mufs  man  sich  hüten,  nicht  zu  viel  wegzunehmen, 
indem  die  (Karies  nie  sehr  in  die  "l  iefe  geht.  —  Einige 
Zolle  rund  um  die  cariöse  Parthie  findet  sich  stets  eine 
Ablagerung  von  neuer  Knochenmasse,  welche  Erscheinung 
man  bis  jetzt  oft  für  eine  *  krankhafte  gehalten  hat;  allein 
während  die  cariöse  Fläche  rauh,  löcherig  und  scharf  ist, 
ist  jene  neue  Knochenpartbie  erhaben  und  glatt,  und  siebt 
aus,  als  wenn  flüssige  Knochenmasse  zu  Tropfen  geronnen 
sei,  und  ähnelt  t  heil  weise  geschmolzenem  Zucker.  —  Die 
Operation  selbst  ist  nicht  so  schmerzhaft,  schwierig  und 
gefährlich,  als  man  zu  glauben  pllcgt,  denn  unter  den» 
Gelenke  w'ird  auch  der  durch  seine  Fnlztindung  so  verru¬ 
fene  Synovialapparat  gleichzeitig  entfernt,  und  meistens  ist 
das  eigentliche  Gelenk  schon  durch  die  vorhergehende  Krank- 


189 


\  II.  Chirurgische  Notizen. 

heit  zerstört  worden.  —  Man  kann  in  cariöse  Gelenke,  so 
gut  wie  in  Abscesse,  ohne  Nachtbeil  einschneiden,  und  die¬ 
selben  mit  weniger  Gefahr  entfernen,  als  ein  Glied  ampu- 
tiren,  indem  durch  die  Erhaltung  des  Gliedes,  caeteris  pa- 
ribus,  das  Gleichgewicht  in  den  Functionen  des  Körpers 
weit  weniger  gestört  wird.  Die  Schmerzen  und  die  Un¬ 
annehmlichkeiten  dieser  Operationsweise  können,  wenn  von 
der  Erhaltung  eines  ganzen  Gliedes  die  Rede  ist,  nicht  in 
Betracht  kommen.  — 

Am  leichtesten  für  den  Wundarzt,  und  am  wohlthä- 
tigsten  für  den  Kranken,  ist  die  Excision  des  Schulter-  und 
Ellbogengelenkes.  —  Sy  me  machte  zwei  Fälle  der  Re- 
section  des  Schultergelenkes  bis  jetzt  schon  bekannt;  die 
drei  das  Ellbogengelenk  betreffenden  sind  folgende: 

Erster  Fall.  ■  \ 

Herr  Y. ,  24  Jahre  alt,  empfand  vor  vierzehn  Monaten 
zuerst  flüchtige  Stiche  im  rechten  Ellbogengelenk,  ohne 
eine  bekannte  Ursache,  und  achtete  auch  nicht  viel  auf 
dieselben,  bis  sie  nach  einigen  Monaten  sich  vermehrten 
und  der  Arm  so  schwach  wurde,  dafs  er  ihn  nicht  anhal¬ 
tend  anstrengen  durfte.  —  An  das  beträchtlich  angeschwol¬ 
lene  Gelenk  wurden  ohne  Erleichterung  Blutegel  gesetzt, 
warme  Umschläge  über  dasselbe  wochenlang  gemacht,  und 
zuletzt  über  dem  inneren  Knorren  des  Oberarmes  ein  Ein¬ 
schnitt,  wodurch  viel  Eiter  entleert  wurde;  auch  wurden 
noch  mehre  Einschnitte  am  Vorderarme  zu  demselben 
Zwecke  angebracht.  —  Dennoch  blieb  aber  ein  tief  sitzen¬ 
der,  Nachts  besonders  heftiger  Schmerz,  der  ihm  die  Ruhe 
raubte,  und  sehr  beunruhigend  war.  —  Mitte  Octobers  1828 
sah  Sy  me  zuerst  den  Kranken,  und  fand  sein  Allgemein¬ 
befinden  besser,  als  man  es  hätte  erwarten  sollen.  —  Doch 
waren  seine  Gesichtszüge  sehr  leidend,  und  hatten  den 
ängstlichen  Ausdruck,  der  so  oft  Knochenkrankheiten  be¬ 
gleitet.  —  Der  Arm  war  ohne  alle  Kraft,  konnte  etwas 
ohne  eine  hörbare  Crepitation  bewegt  werden,  und 


war 


190 


\  II.  Chirurgische  .Notizen. 


t  \ 

von»  unteren  Driltheile  des  Oberarmes  an  Ins  zur  Ha  ml 
üdeniatüs.  —  Obgleich  S.  vollkommen  überzeugt  war  von 
einer  Krankheit  des  Gelenkes,  s o  konnte  er  doch  eine  Sonde 
nicht  bis  zum  Knochen  einbringen;  entdeckte  aber  zuletzt 
doch  einen  Weg,  der  zum  Olecranon'  und  hinteren  l  heile 
des  Oberarmes  führte,  welcher  cariüs  zu  sein  schien.  — 
Da  die  Krankheit  nur  auf  die  Knochen  begranzt  schien, 
der  Kranke  jung  war  und  der  Nachtheil  «1er  Krankheit 
gröfser  war,  als  «lie  Heizung,  welche  durch  die  Operation 
entstehen  konnte,  so  entschlof?  sich  S.,  am  dritten  Novem¬ 
ber  die  Kesection  des  Gelenkes  vorzunehmen.  — 

Nachdem  dem  Kranken  eine  zweckmäfsige  Lage  gege¬ 
ben  war,  machte  S.  gleich  über  dem  Olecranon  eine  trans- 
versclle  Incision  in  das  Gelenk  hinein,  vergröfserte  «ien 
Schnitt  bis  zum  äufseren  Knorren  des  Oberarms  und  bis 
zum  inneren,  hier  aber  nur  so  weit,  dafs  «1er  Ulnarnerv 
nicht  verletzt  wurde.  —  Mit  dem  in  die  Wunde  einge- 
braebteu  Eiuger  fühlte  er  nun  alle  Knochen  krank.  An 
jedem  Ende  des  Schnittes  machte  er  daher  nach  oben  und 
unten  einen  1^  Zoll  langen  Schnitt,  und  bildete  so  zwei 
grofse  Lappen,  welche,  Von  den  unterliegenden  Knochen 
getrennt,  «liese  frei  darlegten.  Nachdem  er  sich  überzeugt 
hatte,  dafs  der  Kronenfortsatz  der  Ulna  cariüs  sei,  so  sägte 
er  sie  an  diesen»  Theile  durch,  und  darauf  das  blolsgeleglc 
Ende  des  Oberarms  gleich  oberhalb  der  Knorren  eben¬ 
falls.  —  Zuletzt  entfernte  er  den  sehr  entarteten  Kopf  des 
Radius.  —  Kein  Gefäfs  wurde  unterbunden ;  die  Jilutung 
der  Schnittilächen  war  inäfsig ,  sie  wurden  mit  kalttun  Was¬ 
ser  einigemal  befeuchtet;  dann  die  Lappen  einander  genä¬ 
hert  und  durch  eine  Natb  in  jedem  perpeudiculärcu,  und 
drei  in  dem  transversalen  Schnitte  in  der  Lage  erhalten. 
Einige  Stücke  Leinwand  und  eine  Linde  wurden  angelegt, 
und  der  Kranke  ins  Rett  gebracht.  —  Am  folgenden  Mor¬ 
gen  sah  derselbe  sehr  angegriffen  aus,  und  halte  in  der 
Nacht,  trotz  eines  Opiates,  nicht  geschlafen.  Der  Puls 
war  normal,  kein  Erösfeeln  eingetreten,  Oeffnung  fehlte  seit 


191 


Vil.  Chirurgische  Notizen. 

zwei  Tagen,  weshalb  ein  Klystier  verordnet  wurde.  Am 
Abend  befand  er  sich  recht  wohl,  der  Puls  war  weich,  die 
Zunge  rein,  der  ängstliche  Ausdruck  des  Gesichtes  wie  ver¬ 
schwunden.  —  Der  gröfste  Theil  der  Wunde  heilte  per 
primam  intentionem,  und  hinterliefs  eine  geringe  Deformi¬ 
tät;  die  Vollendung  der  Cur  aber  ward  durch  ein  Oedem 
des  Armes  verzögert,  welches  die  eben  gebildeten  Narben 
ausdehnte  und  die  Zusammenziehung  der  Theile  verhinderte, 
welche  nicht  per  primam  intentionem  heilten.  Deshalb 
wandte  S.  Bähungen  von  warmem  Salzwasser  und  den 
Druck  einer  fest  angelegten  Flanellbinde  an.  Dieselbe  Er¬ 
scheinung  sah  S.  auch  bei  der  Christiane  JLaying,  der 
er  vor  vier  Jahren  das  Schultergelenk  resecirte,  und  ent¬ 
fernte  sie  durch  dieselben  Mittel.  Die  Frau  befindet  sich 
fortwährend  wohl,  und  gebraucht  ihren  Arm  zu  allen  ge¬ 
wöhnlichen  Arbeiten,  Nähen,  Stricken  u.  s.  w.  Flerr  Y. 
hatte  im  Februar  1829  fast  ganz  die  Stärke  des  Armes 
wieder  erlangt,  und  kann  ihn  in  ziemlicher  Ausdehnung 
leicht  bewegen.  Er  schreibt  schon  mit  der  Hand,  und 
wird  in  kurzem  im  vollkommenen  Gebrauche  seines  Armes 
sein.  —  / 

Zweiter  Fall.  \ 

/ 

Der  achtjährige  Knabe  A.  L.  fiel  im  Februar  1828, 
als  er  mit  anderen  Kindern  spielte,  auf  seinen  linken  Ell¬ 
bogen.  Das  Gelenk  schwoll  bald  an,  ward  steif,  schmerzte, 
und  erst  im  April  kam  die  Mutter  mit  dem  Kinde  zu  Hrn. 
Sy  me.  Der  Arm  war  ganz  gerade,  fast  unbeweglich,  der 
Ellbogen  sehr  geschwollen.  Es  bildete  sich,  trotz  der 
gewöhnlichen  Mittel,  ein  Abscefs,  der  an  der  äufseren 
Seite  des  Ellbogens,  zwischen  Radius  und  Olecranon,  ge¬ 
öffnet  wurde.  —  Da  das  Allgemeinbefinden  des  Knaben 
sehr  schlecht  war,  so  ward  er  auf  das  Land  geschickt,  von 
wo  er  Mitte  Augusts  gestärkt  in  die  Stadt  zurückkehrte, 
mit  beweglicherem,  und  nicht  so  geschwollenem  Gelenke.  — 
lm  October  führte  S.  eine  Sonde  durch  die  nicht  geschlos- 


192 


VII.  Chirurgische  Notizen. 


sene  Fistelüffoung  ein,  und  fand  das  Olecranon  cariös.  — 
Am  20.  October  legte  S.  das  Olecranon  Idols,  entfernte 
mit  einer  scharfen  Zange  einen  grofsen  Theil  desselben 
und  zog  mehre  lose  Knochenstücke  aus,  welche  in  der 
Mitte  des  ausgedehnten  Olecranon  lagen;  er  glaubte,  diese 
Kuochenstiicke  hatten  die  Hartnäckigkeit  des  Uebels  veran- 
lafst,  und  verband  die  W  undc  mit  trockener  Charpic. 
Wiewohl  der  Knabe  nicht  im  Bette,  selbst  nicht  einmal  im 
Hause  blieb,  erlangte  die  Wunde  doch  ein  gutes  Aussehen, 
zog  sich  indessen  bis  auf  die  frühere  Grüfse  zusammen,  und 
eine  eingefiihrte  Sonde  iiefs  noch  andere  kranke  Knochen- 
parthieen  entdecken.  S.  machte  daher  am  27.  November 
einen,  einem  Andreaskreuze  ähnlichen  Kreuzschnitt,  schlug 
die  vier  Lappen  zurück,  durchschnitt  unterhalb  des  Kronen¬ 
fortsatzes  mit  einer  scharfen  Zange  die  Ulna  und  entfernte 
den  Theil,  wegen  seiner  Verbindung  mit  dem  Brachlacus 
internus,  nicht  ohne  Mühe.  J)a  der  Mittelpunkt  der  runden 
Geleukfläche  des  Radius  ebenfalls  cariös  war,  so  ward  der 
Kopf  desselben  ebenfalls  entfernt,  und  eben  so  die  ganze 
Gelenkfläche  des  Oberarms,  weil  der  äufsere  Knorren  un¬ 
gesund  war.  —  Die  Enden  der  Wundlappen  wurden  mit¬ 
telst  fünf  Näthen  einander  genähert.  Die  Blutung  war 
sehr  gering,  Ligaturen  waren  nicht  nothwendig.  —  Das 
Allgemeinbefinden  war  nach  der  Operation  gut,  aber  die 
Wunde  wollte  per  primam  intentionem  nicht  heilen;  die 
Eiterung  war  sehr  reichlich,  minderte  sich  aber  nach  eini¬ 
gen  Tagen.  Nach  drei  Wochen  war  alles  geheilt.  Der 
Arm  konnte  rolirt,  gebogen  und  ausgestreckt  werden,  und 
im  Februar  konnte  der  Knabe  schon  Gewichte  mit  demsel¬ 
ben  heben.  — 

Dritter  Fall. 


Ossory  Fitzpatrick,  41  Jahre  alt,  ein  Schiffszim¬ 
mermann,  empfand  vor  einem  Jahre  zuweilen  vorüberge¬ 
hende  Schmerzen  im  liukcn  Ellbogen,  und  Steifheit  des¬ 
selben;  doch  erst  vor  drei  Monaten  konnte  er  den  Arm 

nicht 


4 


VII.  Chirurgische  Notizen. 


193 


nicht  mehr  gebrauchen,  weil  das  Gelenk  anschwoll,  heftig 
schmerzte,  und  das  Allgemeinbefinden  gleichzeitig  sehr  ge¬ 
stört  wurde.  Das  Fieber  hörte  bald  auf,  aber  Geschwulst 
und  Schmerz  blieben.  Ein  Abscefs  wurde  geöffnet;  es  er¬ 
schienen  mehre  freiwillige  Oeffuungen ,  welche  nicht  hei¬ 
len  wollten.  —  Am  1.  Januar  1829  wandte  der  Mann  sich 
an  Iirn.  Sy  me,  der  mittelst  einer  Sonde,  die  er  durch 
inehre  Oeffuungen  einführte,  das  ganze  Gelenk  cariüs 
fand.  —  Am  3.  Januar  machte  er,  mit  Einwilligung  des 
Kra.iken,  die  Excision.  —  S.  bildete,  wie  im  ersten  Falle, 
zwei  Viereckige  Lappen,  und  da  er  die  Lina  bis  zum  Kro¬ 
nenfortsatz  cariös  fand,  so  sägle  er  das  Olecranon  ab  und 
entfernte  das  übrige  mit  der  scharfen  Zange,  wodurch  das 
Hiudernifs,  welches  die  Verbindungen  mit  dem  Brach  iaeus 
internus  verursachte,  ganz  gehoben  wurde.  Dann  sägte  er 
den  Kopf  des  Radius,  der  ganz  cariös  war,  und  das  Ende 
des  Oberarms  sammt  den  beiden  Knorren  ab.  —  Ligaturen 
waren  nicht  nötlng-;  mit  sechs  Näthen  wurden  die  Wund- 
ränder  vereinigt,  Cjiarpie  aufgelegt,  und  der  Arm  mittelst 
einer  Rinde  unterstützt.  —  Die  ganze  Operation  dauerte 
eine  Viertelstunde,  wegen  der  festen  Verbindung  der  Kno¬ 
chen  mit  den  benachbarten  Theilen.  —  Die  Wunde  heilte 
vollkommen  per  primarn  intenlionem,  eine  kleine  Stelle 
ausgenommen,  und  das  Allgemeinbefinden  des  Kranken  war 
vortrefflich.  Nach  drei  Tagen1  ging  der  Kranke  schon  aus, 
und  nach  vierzehn  Tagen  w'ar  die  Heilung  vollendet.  — 
Die  Bewegungen  des  Armes  sind  nicht  geschmälert,  und 
von  einer  Entstellung  ist  keine  Spur  vorhanden.  — 

Weder  in  diesem,  noch  in  den  anderen  Fällen  wurde 
der  Llnarnerv,  wie  vorgeschrieben  wird,  zur  Seite  gehal¬ 
ten,  sondern  S.  verliefs  sich  allein  auf  seine  Kenntnifs  der 
Lage  desselben.  — 

Schlielslich  meint  S.  noch,  dafs  seine  Falle  sowohl, 
als  die  früheren  von  Moreau  und  Crampton,  hoffent¬ 
lich  die  Wundärzte  bewegen  werden,  recht  sorgfältig  den 
ihnen  vorliegenden  Fall  zu  überlegen,  bevor  sie  einen  Ln- 
XIV.  Bd.  2.  Sc  13 


l‘U 


/ 

\  11.  Chirurgi.sche  Notizen. 

glücklichen  durch  die  Amputation  des  Arnims  bcj  Krankhei¬ 
ten  des  Lllbogengelenkes  verstümmeln.  —  (Kdinbnrg.  med. 
and  surgic.  Journ.  Vol.  XXI.  1829.  p.  256  —  266.) 


2.  Anatomische  Untersuchung  eines  O  b  e  r  s  c  hen¬ 
ke  I  s ,  an  «lern  vor  27  Jahren  ein  Aneurysma  po- 
pliteae,  nach  der  Hunte r sehen  Methode,  ope- 
rirt  worden  war;  von  Scarpa.  —  Mitgetheilt  vom 
Dr.  Lieber. 

Wenngleich  in  der  neueren  Zeit  niemand  mehr  an 
dem  Gelingen  der  Operation  des  Aneurysma  nach  der* 
Ilunterschen  Methode  zweifelt,  auch  die  Wege  bekannt 
sind,  auf  denen  das  Blut,  wenn  der  Ilauptarterienstamm 
eines  Gliedes  verschlossen  ist,  zu  den  tiefer  liegenden  Ge¬ 
bilden  gelangt;  so  sind  immer  noch  anatomische  Beschrei¬ 
bungen  so  operirter  Glieder  (besonders  lange  Zeit  nachdem 
dies  geschehen)  gewifs  von  hohem  Interesse,  vorzüglich 
aber,  wenn  sie  von  einem  Meister  herrühren.  Ich  hoffe 
daher  dem  deutschen  ärztlichen  Publikum  einen  kleinen 
Dienst  zu  leisten,  wenn  ich  die  vorliegende  Abhandlung, 
deren  ganzer  Titel  folgender  ist:  Ksame  comparativo  de! 
sistema  arterioso  di  ambe  due  gli  arti  inferiori  ne!  cadavere 
di  un  uorno,  il  quäle,  27  anni  fa,  era  stato  operato  elaneu- 
risma  popliteo  nell’arto  destro  col  metodo  Hunteriano; 
del  cavaliere  professore  Scarpa;  und  die  sich  in:  Annaii 
universali  di  niedicina  da  Annäbali  Omodci  Vol.  XLV  I. 
Fase.  US.  Giugno  1828.  befindet,  in  einer  Lebersetzung 
mittheile. 

Der  Gegenstand  dieser  Untersuchung  ist  die  Leiche  des 
Joseph  Fiorini,  von  dem  in  der  ersten  Beobachtung 
am  Kn  du  meines  Werkes  «  ii  her  Aneurysma  '*  die  Kedfc  ist. 
Dieser  Manu  genofs,  'on  der  Zeit  des  glücklichen  Aus¬ 
ganges  der  Ilunterschen  Operation,  die  an  ilmi  vollzogen 
war,  bis  zu  seinem  lode  die  vollkommenste  allgemeine 


\I1.  Cbirnrgiscl  ic  Notizen.  1 9 ö 

.  4 

Gesundheit,  und  niemals  beklagte  er  sich,  nachdem  das 
durch  den  Rifs  der  Arteria  poplitea  entstandene  häutige 
(Votennoso)  Gerinnsel  vollkommen  aufgesogen  war,  über 
irgend  eine  R  es  ch  werde  in  irgend  einem  Theile  der  rechten 
unteren  Extremität,  deren  er  sich  vielmehr,  in  seinem  be¬ 
schwerlichen  Dienste  als  Krankenwärter  in  dem  hiesigen 
Givilhospital ,  mit  eben  der  Leichtigkeit  und  Kraft  bediente, 
als  der  linken. 

Dieser  glückliche  Ausgang  der  Hunterschen  Opern- 
tionsmethode ,  in  Verein  mit  vielen  ähnlichen,  mit  denen 
die  Geschichte  der  neueren  Chirurgie  bereichert  ist,  würde, 
um  die  Wahrheit  zu  sagen,  für  sich  allein,  und  ohne  ana¬ 
tomische  Untersuchung  hinreichend  sein,  um  auf  die  ge¬ 
nügendste  Art  zu  beweisen,  dafs  die  Unterbindung  der 
Arteria  cruralis  am  Oberschenkel  ausgeführt  werden  kann, 
ohne  zu  befürchten,  dafs  der  übrige  T heil  der  ganzen  un¬ 
teren  Extremität  der  gehörigen  Menge  Blutes  und  der  Le- 
bensthätigkeit  beraubt  werde,  die  er  vor  dem  Verse  hliefserl 
dieser  seiner  Hauptarterie  genofs.  Nichts  desto  weniger, 
so  schmeichele  ich  mir,  möchte  es  meinen  Kunstgenossen 
nicht  unangenehm  sein,  diese  wichtige  Wahrheit  nicht  blofs 
durch  physiologisches  Raisonnement  und  durch  Thatsachen 
zu  kennen;  sondern  auch  durch  die  Ansicht,  und  gleichsam, 
um  so  zu  sagen,  durch  das  Berühren  der  Meisterschaft  der 
Natur,  die  durch  die  Kunst  unterstützt  wird,  mit  der  sie 
bei  der  Heilung  einer  so  schweren  Krankheit,  wie  ein 
äufseres  Aneurysma  ist,  den  Verlust  zu  ersetzen,  und  ein 
ungewöhnliches  Verfahren  zur  Erhaltung  der  Circulation  und 
des  Lebens  des  ganzen  operirten  Gliedes,  ungeachtet  der 
Unterbindung  und  der  Verschliefsung  der  Hauptarterie, 
durch  die  dasselbe  versorgt  wird,  anzuwenden  weifs. 

Arteria  cruralis. 

Indem  ich  die  Untersuchung  von  dem  obersten  Theile 
des  Gliedes,  das  vor  so  langer  Zeit  operirt  w'ar,  begann, 

13  * 


1  OG 


VII.  Chirurgische  'Notizen. 

fand  sich,  dafs  die  Arteria  iliaca  communis  und  die  iiiaca 
interna,  so  wie  die  vielen  und  grofseu  \  erzweigungen  die¬ 
ser  nach  innen  und  nulscn,  und  innerhalb  des  Leckcns,  und 
gleichfalls  die  Anastomoscn  derselben  mit  der  Arteria  femo- 
ris  profunda,  weder  in  der  Zahl,  noch  in  der  Gröfsc  von 
denen  des  linken  Leines  verschieden  waren.  Lben  dasselbe 
läfst  sich  von  der  Pudenda  externa  sagen.  Im  Gegensatz, 
mit  allen  diesen  war  die  Arteria  cruralis  dextra  in  ihrem 
Verlaufe  über  und  unter  dem  Ligamentum  Poupartii,  vor 
Ursprung  der  Profunda  femoris ,  deutlich  erweitert  und 
stärker  als  die  ihr  correspondirende  linke.  Hier  ist  zu  be¬ 
merken,  dafs  diese  Hauptarteric  des  untere»»  Gliedes  an  dem 
oberen  Drittheile  des  Oberschenkels,  etwas  vor  der  Stelle, 
wo  sic  im  naturgemäfsen  Zustande  von  »lern  Musculus  sar- 
torius,  den  sie  schräg  durchkreuzt,  bedeckt  wird,  unter¬ 
bunden  war.  liier  erblickte  man  die  ^  irkung  der  Liga¬ 
tur,  die  nicht  allein  in  einem  vollkommenen  \  erschließen 
des  arteriellen  Kanals  an  der  Stelle,  wo  die  Schlinge  gele¬ 
gen  hatte,  sondern  auch  einen  grofsen  I\aum  ober-  und 
unterhalb  des  Zusammenschniirens,  d.  h.  nach  obeu  bis  zu 
einem  Zoll  unterhalb  des  Ursprunges  der  Profunda  femo¬ 
ris,  und  nach  unten  ßis  nahe  an  die  Höhle  der  Kniekehle, 
oben  bis  auf  wenige  Linien  über  den  Ursprung  der  beiden 
Tibialcs  anteriores,  bestand;  und  hier  glich  die  ehemalige 
Arteria  poplilea  nun  mehr  einer  starken  Geigensaite,  ln 
der  Mitte  ungefähr  des  ganzen  Verlaufes  der  Arteria  cru¬ 
ralis,  oder  von  den  Weichen  bis  zur  Kniekehle,  befand 
sich  ein  Theil  dieses  Gefäfses  von  der  Länge  vor»  vier  Zol¬ 
len  offen,  d.  h.  2wei  Zoll  oberhalb  der  Spaltung  der  Sehne 
des  Adductor  magnus,  und  zwei  unterhalb  des  l  eberganges 
der  Ader  in  die  Kniekehle.  Diese  offene  Stelle  der  Arteria 
rruralis,  obgleich  angefüllt  und  ausgedehnt  von  (Ter  cinge- 
spritzten  Wachsmasse,  erschien  doch  weniger  stark,  als 
der  correspondirende  Theil  des  arteriellen  Kaoals  im  lin¬ 
ken  Leine. 

Lei  der  I  ntersuchutig,  auf  welchem  ege  die  Wachs- 


197 


VII.  Chirurgische  Notizen. 

masse  in  diesen  Theil  des  arteriellen  Kanals  gekommen, 
fand  es  sich,  dafs  sie  durch  einen  anastomosirenden  Zweig 
von  mafsiger  Stärke  gedrungen  war,  der  von  der  Arteria 
perforans  tertia,  der  Fortsetzung  der  profunda  femoris  ent¬ 
sprang,  und  in  den  oberen  Theil  der  ganz  offenen  Partie 
der  Schenkelarterie  einmündete.  Bei  forlgesetzter  Unter¬ 
suchung  zeigte  sich  zwei  Zoll,  wenig  mehr,  unter  dem 
Eintritt  dieses  anastomosirenden  Zweiges,  der  aus  der  offe¬ 
nen  Cruralis  entsprang,  die  starke  sogenannte  Arteria  per¬ 
forans  inferior  von  Murray  durchaus  offen  und  voll  von 
VVachs,  unterhalb  mit  verschiedenen  Zweigen  der  Perfo¬ 
rans  tertia  und  mit  zahlreichen  Aesten  dem  Ramus  descen- 
dens  der  Circumflexa  externa  tommunicirend.  Es  ist  also 
deutlich,  dafs  durch  diese  Einrichtung  das  Blut,  das  durch 
den  anastomosirenden  Ast  der  Perforans  tertia  in  den  obe¬ 
ren,  wegsam  gebliebenen  Theil  der  Cruralis  eindrang,  nach 
unten  aus  derselben  durch  Murray  s  Perforans  inferior 
wieder  abflofs.  Und  da  der  Impuls  des  eingeführten  Blu¬ 
tes,  der  Kleinheit  des  anastomosirenden  Zweiges  wegen, 
nur  gering  sein  konnte,  der  Abflufs  nach  unten  aber  leicht 
war,  so  fand,  während  des  Verlaufes  von  27  Jahren,  keine 
widernatürliche  Ausdehnung  dieses  offenen  Theiles  der  Cru¬ 
ralis,  noch  irgend  eine  Veränderung  in  dem  Gange  der 
Circulation  des  Oberschenkels  und  des  übrigen  Gliedes  statt. 
Wäre  der  Abflufs  des  Blutes  hier  verhindert  gewesen,  so 

würde  Gerinnung  desselben  in  dieser  offenen  Portion  der 

'  -  •  • 
Cruralis,  und  die  allmählige  Verwandlung  derselben  in  ein 

Ligament,  die  nolhwendige  Folge  gewesen  sein;  wie  dies 

in  dem  übrigen  Stamme  der  Arterie,  von  der  die  Rede  ist, 

der  Fall  war. 

Uebrigeus  fand  sich  keine  Spur  von  dem  häutigen  Ge- 
rinsel  in  der  Kniekehle. 

Arteria  profunda  femoris. 

Die  grofse  Menge  von  arteriellen  Gefafsen,  welche 
sich  überall  an  dem  rechten  Oberschenkel  der  Leiche, 


11)8 


VII.  Ciiit'itrgiäi  he  ISolizeu. 


\on  «In  die  Hede  ist,  zeigte,  könnte  bei  denen,  die  in  der 
Augiologie  uirlit  gehörig  bewandert  sind,  kein  geringes 
Frstaunen  erregen,  wie  es  möglich  sei,  dals  bei  ziemlich 
hoch  oben  verschlossener  Arteria  cruralis,  die  durch  die 
Aorta  abdominalis  injicirle  Masse  nicht  blofs  die  Verzwei¬ 
gungen  der  Profunda  femoris,  sondern  auch  alle  Fortsetzun¬ 
gen,  selbst  die  kleinsten  der  Cruralis  habe  anfüllen  können. 
Fs  wird  dies  Frstannen  sogleich  aufhören,  wenn  sie  hei 
der  angiologisch  -  anatomischen  Untersuchung  ihre  Aufmerk¬ 
samkeit  auf  die  Profunda  femoris  richten,  die  nicht  weniger 
stark  ist,  als  die  Cruralis  derselben  Seite,  und  zugleich  auf 
die  zahlreichen  V  erästi ‘lungen  und  die  vielfältigen  Anasto- 
mosen  der  Profunda  mit  den  Zweigen  der  Cruralis,  obgleich 
diese  letzten  nicht  mit  dem  obliterirteu  Stamme,  von  dem 
sie  ausgiiigcn,  cominunicirten. 

Die  Arteria  profunda  femoris  auf  der  rechten  Seite 
übertraf,  sowohl  hei  ihrem  Ursprünge,  als  in  ihren  vielen 
V  erzweigungen,  an  Stärke  bedeutend  die  der  linken  Seite.  — 
Die  beiden  Arteriae  circumflexae,  die  zuerst  aus  ihr  ent¬ 
springen,  die  interna  nämlich  und  die  externa,  waren  ver- 
hältnifsmäfsig  nicht  sehr  erweitert.  Der  absteigende  Ast 
aber  der  Uircumflexa  externa  war  wenigstens  um  das  Dop¬ 
pelte  gröber  als  der  entsprechende  am  linken  Deine.  Zahl¬ 
reich  und  grofs  waren  die  Zweige,  welche  diese  Arterie 
dem  Musculus  vastus  exlernus,  dem  Sartorius,  Kectus,  Cru- 
ralis  und  dem  Vastus  internus  giebt,  die  mit  denen,  welche 
die  Cruralis  im  natürlichen  Zustande  diesen  Muskeln  giebt, 
obgleich  hei  ihrem  Ursprünge  aus  dem  ursprünglichen 
Stamme  verschlossen  und  verwachsen,  anastomosirten. 

ln  der  Vertheilung  der  Profunda  femoris  folgen  auf 
die  Uircumflexa  externa  die  Arteriae  perforantes,  die  unter 
sich  als  «lie  erste,  zweite  und  dritte  unterschieden  werden. 
Fin  jeder  dieser  drei  ausgezeichneten  Zweige  der  Profunda 
der  rechten  Seite  war  um  das  Dreifache  grüfser  als  am  I in- 
ken  Fulse.  Fin  jeder  war  überdies  auf  eine  besondere 
NYei>e  gekrümmt ,  uud  gleichsam  gegen  sich  seihst  zurück- 


I 


\  II.  Chirurgische  N  otizen. 


1 99 


gelingen,  was  sich  an  der  anderen  unteren  Extremität 
nicht  zeigte. 

Die  Perforans  prima  geht  von  dem  vorderen  Theile 
des  Oberschenkels  nach  dem  hinteren,  und,  in  mehre  Aeste 
vertheilt,  durrhdringt  sie  den  oberen  Theil  der  Flexoren 
des  Beines.  Es  entsprang  aus  diesem  Gefäfse  ein  sehr  be¬ 
deutender  Zweig,  der  zum  Nervus  ischiadicus  tritt,  und 
.  > 

denselben  bis  zur  Kniekehle  begleitet.  Dieser  Zweig  der 
Perforans  prima,  kaum  sichtbar  am  linken  Fufse,  war  am 
rechten  von  der  Dicke  einer  Taubenfeder ,  dabei  sehr  ge¬ 
krümmt  und  traubenförmig  ( pampiniforme).  Am  oberen 
Theile  der  Flexoren  des  Schenkels  anastomosiren  die  Zweige 
der  Perforans  prima  mit  den  Acsten,  die  oberhalb  von  der 
Cruralis  entstehen,  wiewohl  sie  jetzt  bei  ihrem  (ehetnali- 
gen)  Ursprünge  keinen  Zusammenhang  mit  dem  Stamme  des 
Hanptgefälses,  das  in  ein  Ligament  verwandelt  ist,  haben. 

Die  Perforans  secunda  ,  vielfach  mit  der  ersten  anasto- 
mosirend,  vertheilt  sich  auf  die  hintere  Seite  des  Ober¬ 
schenkels  in  der  Mitte  des  Adductor  rnagnus,  in  den  langen 
Kopf  fies  Biceps  femoris,  des  Semimembranosus  und  Semi- 
tendinosus,  und  in  der  Substanz  dieser  Muskeln  ging  die 
genannte  Arterie  Verbindungen  mit  nicht  wenigen  und  nicht 
kleinen  Zweigen  ein,  die  von  der  Cruralis  herkommen,  ehe 
der  obliterirte  Stamm  derselben  durch  die  Spalte  der  Sehne 
des  grofsen  Adductor  tritt. 

Die  Perforans  tertia  trat  in  Verbindung  mit  den  bei¬ 
den  Perforantibus  superioribus  und  mit  dem  starken  abstei¬ 
genden  Aste  der  Cireumflexa  externa,  von  dem,  als  anasto- 
mosirenden  Zweige  kurz  vorher  die  Rede  war,  und  der 
sich  in  den  ganz  offenen  Theil  der  Arteria  cruralis  öffnete, 
und  yertheilte  sich  hierauf  in  die  Musculi  adductores  femo¬ 
ris,  und  in  den  kleinen  Kopf  des  Biceps  femoris.  Hier, 
und  an  mehren  Stellen  ,  ging  die  Perforans  tertia  V  erbin¬ 
dungen  mit  starken  Zweigen  der  Perforans  inferior  Mur- 
rayi,  wie  gesagt,  der  Fortsetzung  der  unten  noch  wegsa- 
men  Cruralis,  ein. 


200 


VII.  Chirur  gische  Notizen. 

Fs  ist  also  erstens  deutlich,  dafs  vermittelst  dieser  Ver¬ 
bindung  die  zahlreichen  und  starken  Zweige  «1er  Profunda 
femoris  mit  «len  Zweigen  der  Cruralis  anastomosirtea,  und 
dafs  folglich  die  in  die  Profunda  injicirle  Masse  kein  Hin¬ 
dernd';*  fand,  um  von  den  Fortsetzungen  der  Profunda  in 
«lie  der  Gruralis  zu  dringen,  obgleich,  wie  es  mehremal 
gesagt  ist,  «üese  letzten  durchaus  keine  Verbindung  mehr 
mit  ihrem  Hauptslamme,  der  schon  in  ein  Ligament  ver¬ 
wandelt  war,  halten.  Zweitens  ist  es  deutlich  4  dals  die  in 
«lie  Aorta  abdominalis  injicirle  Masse,  nachdem  sie  alle  ar¬ 
teriellen  Zweige  «ler  beiden  Arteriae  femoris  am  Oberschen¬ 
kel  angeftillt  hat,  nach  unten  in  das  arterielle  Gellecht, 
das  «las  Knie  umgiebt,  tritt,  von  da  in  die  sogenannten  Ar¬ 
teriae  articulares  «lesKniees,  und  aus  diesen  in  die  Arteriae 
tibiales  herabsteigt. 

% 

Arteriae  articulares  superior es  und  inferiores, 
internae  und  extern ae  des  Kniees. 

Wenn  im  Anfänge  gesagt  ist,  dafs  an  dem  rechten 
Peine,  an  dem  das  Aneurysma  operirt  war,  «lie  Arteria 
poplitea  zwei  Zoll  unter  der  Spalte  in  der  Sehne  des  grofsen 
Adductor,  bis  zu  wenigen  Linien  über  dem  l  rsprung  «ler 
beiden  Tibiales  verschlossen  und  in  ein  Ligament  verwan¬ 
delt  war,  so  ist  jetzt  zu  bemerken,  dafs  bei  einer  so  bedeu¬ 
tenden  Obliteration  der  Arteria  poplitea  nothwendig  folgen 
mufste,  dafs  alle,  o«ler  der  grofsere  T' heil  der  Arteriae  ar- 
ticulares  nicht  aus  dem  Stamme  der  Arteria  poplitea^  «;ic 
in  der  Kniekehle  liegt,  entspringen  konnten.  —  So  fand 

es  sich  auch,  mit  Ausnahme  «ler  Arteria  articularis  inferior 
•  • 

evterra,  die  indefs  für  sich  allein  nicht  hinreichend  gewe¬ 
sen  \v;ire  in  die  Tibiales  so  viel  Blut  zu  bringen,  als  er¬ 
forderlich  ist,  um  «las  Leben  und  die  Ernährung  in  dem 
übrigen  Tbeiie  der  unteren  Extremität  zu  erhalten.  Die 
Matur  halte  in  dem  vorliegenden  Falle  einen  Ersatz  fiir  die¬ 
sen  Mangel  zu  finden,  und  das  Abslerben  «les  l  nterschen- 
kels  und  des  Fulscs  zu  verhindern  gewuist. 


201 


VII.  Chirurgische  Notizen. 

Die  Wachsmasse  nun,  nachdem  sie,  wie  gesagt,  auch 
die  kleinsten  arteriellen  Zweige  des  Oberschenkels,  sowohl 
der  Profunda  femoris,  als  der  Cruralis,  vollkommen  ange- 
Oi  11t  hatte,  trat  von  den  unteren  Verzweigungen  der  Profunda, 
der  i  iircumflexa  externa  und  der  Perforans  inferior  der  Cru¬ 
ralis,  in  das  weite  arterielle  Gefäfsnetz,  das  von  der  Arte- 
ria  articularis  superior  interna  und  externa  gebildet  wird, 

und  die  beiden  Seiten  des  Kniees  und  der  Kniescheibe  ober- 

% 

halb  bedeckt.  Aus  diesem  trat  die  Injectionsmasse  in  die 
Arteria  articularis  inferior  interna  und  externa,  die  an  der 
Dasis  des  Kniees  liegen.  Eine  Quantität  dieser  Masse  trat 
aus  dem  Stamm  der  Articularis  inferior  externa  in  den  ganz 
offenen  unteren  Theil  der  Arteria  poplitea,  und  folglich  in 
den  Ursprung  der  beiden  Tibiales.  Der  Stamm  aber  der 
Articularis  inferior  interna  war  nicht  mehr  in  Verbindung 
mit  der  in  ein  Ligament  verwandelten  Poplitea  1 ).  —  Die 
Natur  versorgte  auf  eine  andere  Weise,  als  die  äufsere  Seite 
des  Kniees,  die  innere;  d.  h.  da  der  gewöhnliche  Stamm 
der  Arteria  articularis  inferior  interna  fehlte,  so  liefs  sie  aus 
derselben  drei  bedeutend  starke  entspringen.  Eine  dersel¬ 
ben  verlief  unter  dem  Ligament  der  Kniescheibe  und  ver¬ 
band  sich  mit  dem  Stamm  der  Tibialis  recurrens,  von  der 
sogleich  die  Rede  sein  wird;  die  zweite,  an  der  inneren 
Seite  der  oberen  Extremität  der  Tibia  verlaufend,  nachher 
sich  rückwärts  beugend,  verband  sich  mit  der  Tibialis  po- 
stica,  ein  wenig  unterhalb  des  Kniees;  die  dritte,  gröfser 
als  die  beiden  vorhergehenden,  stieg  längs  der  inneren  Seite 
der  Tibia  herab,  und  sich  allmählig  nach  der  ^hinteren  Seite 
dieses  Knoche'ns  wendend,  verband  sie  sich  mit  der  Arteria 
tibialis  posterior,  ungefähr  in  der  Mitte  des  Unterschenkels. 


1)  Die 
jj l i Lea*  an  «1er 
der  Ursprung 
terna  ist  oft 
Muskeln  der 


Insertion  der  Articulares  inferiores  in  die  Po- 
liasis  des  Kniees  ist  oft  sehr  verschieden,  so  wie 
der  beiden  Tibialcs.  Die  Arlicularis  inferior  in- 
nur  ein  Zweig  der  eigentümlichen  Arterien  der 
Wade. 


i 


20 2  \  II.  Cliiriirgisclie  Notizen. 

Zu  diesem  bedeutenden  Krsatz  kam  noch  der  durch 
die  eben  genannte  Arteria  tibialis  recurrens,  die  an»  rech¬ 
ten  Fulse  wenigstens  um  das  Dreifache  stärker  war,  als  die 
linke.  Diese  Arterie  wird,  wegen  ihrer  vielen  und  starken 

Verbindungen  mit  den  Articulares  superiores  und  inferio- 

% 

res,  die  über  die  Seite  und  die  ganze  Oberfläche  des  knices 
verbreitet  sind,  so  wie  durch  die  \  ereinigung  des  Stammes 
derselben  mit  der  Tibialis  anterior,  unter  den  oben  ange¬ 
gebenen  Umständen,  und  bei  einer  Yersrhlielsung  der 
Poplitea,  ein  IJawptwrg  für  den  l  cbergaug  des  Blutes  im 
Lebenden,  und  der  'Vachsmasse  im  Todteu,  von  den  Ar¬ 
terien  des  Oberschenkels  in  die  des  l  nterschenkels  und  des 
Fufses.  Auch  will  ich*  nicht  mit  Stillschweigen  den  Nutzen 
übergehen,  der  durch  die  aufserordentlich  erweiterten  und 
gekrümmten  Arterie  entsteht,  die  von  der  Perforans  prima 
ausgeht  und  den  Nervus  ischiadicus  hegleitet.  Denn  nach¬ 
dem  sie,  gewunden  und  gekrümmt,  den  genannten  Nerven 
bis  zur  Kniekehle,  oder  eigentlich  bis  zu  seiner  Theilung 
in  den  Tibialis  und  Peronaeus  begleitet  batte,  trennte  sie  sich 
von  beiden,  lief  auf  der  inneren  Seile  um  den  oberen  Kopf 
der  Fibula,  anastomosirle  mit  dem  einen  der  Hauptäste  der 
Articularis  inferior  externa,  und  nachdem  sie  sich  nach 
innen  gewandt,  mündete  sie  gänzlich  in  die  Tibialis  ante¬ 
rior.  Kn  di  ich  ist  noch  zu  bemerken,  dafs  die,  in  Vergleich 
zum  linken  Fufs,  bedeutende  Stärke  aller  Arterien,  welche 
die  Seite  des  rechten  Kniees  und  die  Kniescheibe  bedecken, 
diese  aufserd  cm  noch,  keine  ausgenommen,  auf  eine  beson¬ 
dere  und  ungewöhnliche  Weise  gebogen,  und,  un»  so  zu 
sagen,  traubenförmig  waren,  was  am  linken  Fufsc  nicht 
statt  fand. 

Zusätze. 

I)  Wenn  die  Ilauptarterie  eines  Gliedes  an  irgend 
einer  Stelle  ihres  ganzen  Verlaufes  unterbunden  ist,  so  be¬ 
schränkt  sich  die  \  erschlielsiing  derselben,  die  darauf  folgt, 
nicht  auf  den  Punkt  wo  die  Schlinge  lag,  sondern  im  V’er- 


VII.  Chirurgische  Notizen.  203 


lauf  der  Zeit  verbreitet  sich  die  Übliteration  mehr  oder 
weniger  über  und  unter  denselben. 

2)  Immer,  oder  in  den  mehresten  Fällen,  bleibt  im 
Verlaufe  des  verschlossenen  und  in  ein  Ligament  verwan¬ 
delten  Gefäfses  hier  und  da  ein  mehr  oder  weniger  langes 
Stück  noch  für  das  Blut  wegsam,  wenn  auch  eine  bedeu¬ 
tende  Zeit,  selbst  mehre  Jahre,  nach  der  unternommenen 
Unterbindung  verflossen  sind,  ohne  dafs  jedoch  aus  diesem 
Offenbleiben  eines  Theiles  des  Stammes  der  unterbundenen 
Arterie  irgend  ein  nächtheiliger  Eintlufs  auf  den  Ausgang 
der  unternommenen  Operation  nach  Hunter’ s  Methode 
erfolgte. 


3)  Es  ist  die  Meinung  derer  ganz  h-'-g,  die,  der  zahl¬ 
reichen  glücklichen  Ausgänge  der  Hunterschen  Operations¬ 
methode  ungeachtet,  beständig  glauben,  dafs,  je  höher  die 
Hauptarterie  eines  Gliedes  unterbunden  wird,  um  desto  mehr 
die  Theile  des  Blutes  und  des  Lebens  beraubt  werden  müfs- 
ten,  die  zahlreiche  Gefäfse  aus  dem  unterbundenen  Arte¬ 
rienstamme  erhalten,  und  dafs  cs  folglich,  bei  der  Cur  eines 
äufseren  Aneurysma,  vernünftig  und  vorlheilhaft  sei,  das 
kranke  Gefäfs  so  nahe  als  möglich  an  dem  aneurysmatischen 
Sacke  zu  unterbinden.  Hie  anatomische  Untersuchung  in- 
defs,  so  wie  die  chirurgische  Erfahrung,  setzen  die  Falsch¬ 
heit  dieser  Theorie  in  das  deutlichste  Licht.  Denn  in  dem 
Leichnam  des  vor  27  Jahren  wegen  Aneurysma  popliteae, 
mittelst  der  Unterbindung  der  Arteria  cruralis  an  dem  obe¬ 
ren  Theile  des  Oberschenkels  operirten  Mannes,  fand  kein 
llindernils  statt,  dafs  die  Injectionsmasse  nicht  durch  die 
Aorta  abdominalis  eben  sowohl  alle  "Verzweigungen  der 
PrOfunda  femoris  als  der  Cruralis  vollkommen  angefüllt 
hätte;  ein  nicht  zu  bezweifelnder  Beweis,  dafs  kein  Theil 
der  unteren  Extremität  der  nüthigen  Menge  Blutes  beraubt 
war.  Wenn  man  aber  ferner  von  der  Betrachtung  abstra- 
hirt,  dals,  je  höher  und  je  weiter  von  dem  aneurysmati¬ 
schen  Sacke  man  die  Arterie  unterbindet,  um  desto  mehr 
die  Wahrscheinlichkeit  vorhanden  ist,  dals  mau  dies  an  einer 


204 


\  II.  Chirurgische  Notizen. 

Stelle,  wo  sie  frei  von  Krankheit  ist,  thut,  so  ist  cs  doch 
deutlich,  besonders  wenn  cs  sich  um  ein  Aneurysma  popli- 
leae  handelt,  dafs  die  Operation  an  dem  oberen  Drittheile 
hei  weitem  leichter  auszuführen  sei,  als  kurz  über  der  Knie¬ 
kehle  oder  gar  in  dieser  selbst,  wie  sie  sonst  mit  grofser 
Mühe  und  roh  ausgeführt  wurde. 

4)  Es  ist  über  allen  Streit  erhaben,  dafs,  hei  hin¬ 
länglich  kräftigen  Subjecten,  die  Profunda  femoris,  und  der 
Impuls,  den  sie  von  den  üufseren  und  inneren  arteriellen 
Gefälsen  des  Beckens  erhält,  dem  Mangel  des  Stammes  der 
Cruralis  abhelfen  kann. 

5)  Es  kann  nicht  wieder  in  Zweifel  gezogen  werden, 
dafs  nach  der  l  nterbindung  der  Hauptarterie  eines  Gliedes, 
die  arteriellen  Seitenstämme,  und  die  gröfseren,  kleinen 
und  kleinsten  Zweige  derselben  sich  attsdehneu  und  einen 
Umfang  erhalten,  der  bei  weitem  grüfser  ist,  als  der,  den 
sie  früher  hatten.  —  Wenn  man  aber  in  einem  Leich¬ 
name,  an  welchem  vor  mehren  Jahren  die  Operation  des 
Aneurysma  nach  der  Hunt  ersehen  Methode  unternommen 
worden  ist, -einige  Arterien ,  nur  in  der  Gegend  des  Ellen¬ 
bogens  und  Kniees  erweitert  und  gebogen  findet,  so  beweist 
der  Zusand  des  arteriellen  Systemes  bei  dem  von  mir  un¬ 
tersuchten  Subject,  dafs  eine  solche  theil weise  Ausdehnung 
der  Lateral  -  Arterien  kein  Ereignifs  von  Bedeutung  ist. 
Man  kann  es  sogar  in  ähnlichen  Fällen  als  eine  beständige 
Erscheinung  betrachten,  dals  der  Verlauf  der,  über  ihren 
natürlichen  Durchmesser  erweiterten,  Laleralgefälse  schlan¬ 
gen -.  und  traubenförmig  ist  ’). 


3.  Neue  Methode,  den  Ar  in 
gelenk  durch  Einen  Schnitt 


1  )  ln  der  schwangeren  Gebärmutter  nehmen  die  bedeutend 
0 

ausgedehnten  Arterien,  besonder*  die  oberflächlichen  dieses  Ein¬ 
geweides  ,  immer  ein'  schlangen-  und  traubenförmiges  Ausc- 

||  eil 


aus  d  (*  m  Schulter- 
y.  u  a  m  p  u  t  i  r  c  o.  N  or- 


•  in. 


205 


VII.  Chirurgische  Notizen. 

S 

geschlagen  von  A.  G.  van  Onsenoort,;  Oberstem  Ge¬ 
sundheitsbeamten  bei  der  Königl.  Niederl.  Armee  u.  s.  w. 

*  a  •  ,1 

Das  Messer,  womit  der  Hr.  Dr.  van  Onsenoort 
diese  Operation  verrichtet,  ist  nicht  gerade  und  zweischnei¬ 
dig,  sondern  halbzirkelförmig  gebogen,  7  Zoll  lang, 
7  Linien  breit,  und  so  gebogen,  dafs  der  Radius  des  Zir¬ 
kels  4~  Zoll  beträgt,  welches  dem  Grade  der  Krümmung 
entspricht,  welche  durch  den  obersten  Theil  des  Oberarm¬ 
knochens  mit  der  inneren  vorderen  Fläche  der  Schulter  ge¬ 
bildet  wird.  Die  convexe  Fläche  des  Messers  ist  glatt,  die 
eoncave  Seitenfläche,  der  ganzen  Länge  nach,  mit  einer 
stumpfen  Hervorragung  in  der  Mitte  versehen.  Der  Ope¬ 
rateur  umfafst  mit  seiner  linken  Hand  den  Arm  des  Kran¬ 
ken  in  der  Mitte  des  Oberarms  und  entfernt  denselben  so, 
dafs  der  Arm  mit  der  Seite  einen  Winkel  von  30  Graden 
macht.  Mit  dem  krummen  Messer,  welches  der  Operateur 
etwas  schräg  so  hält,  dafs  dessen  eoncave  Fläche  mehr  oder 
weniger  nach  ihm  zugewandt  ist,  fängt  derselbe  den  Schnitt 
ungefähr  1-|  Zoll  oberhalb  der  Insertion  des  Deltoideus  an, 
läfst  schnell  das  Messer  bis  auf  den  v\rmknochen  eindrin- 
gen,  und  führt  dann  dasselbe  schnell,  in  einer  schrägen 
flachen  Richtung,  nach  oben  bis  an  den  hervorragenden 
Rand  des  Acromiums,  wobei  er  Sorge  trägt,  dafs  der  con- 
cave  Theil  des  Messers  mit  der  vordersten  Fläche  des  Ober¬ 
armknochens  und  dessen  Kopfes  in  beständiger  Berührung 
bleibt,  und  dafs  der  eine,  an  der  gegenüberstehenden  Seite 
des  Kranken  stehende  Gehülfe  mit  den  Spitzen  der  Finger 
die  zur  Bildung  des  vordersten  Lappens  bestimmte  Muskel¬ 
masse  gehörig  in  die  Höhe  zieht.  Wenn  der  Operateur 
so  bis  an  den  obersten  Theil  des  Schultergelenkes  gekom¬ 
men  ist,  so  wendet  er  die  Schneide  des  Messers  nach  diesem 
zu,  durchschneidet  den  oberen  Theil  des  Kapselbandes  und 
dringt  in  die  Gelenkhöhle,  welches  er  dadurch  bewerkstel¬ 
ligt,  dafs  er  die  Hand  und  das  Messer  in  eine  gleiche  Rich¬ 
tung  mit  dem  Schlüsselbeine  bringt.  Er  hat  während 


i 


206  \  II.  Chirurgische  Notizen. 

dieser  \errichtung  den  Arm  des  Kranken  langsam  gestreckt, 
so  dafs  der  Ellenbogen  der  Seite  des  Kranken  genähert  ist, 
und  indem  er  den  obersten  Theil  des  Armes  narb  sich  hin¬ 
zieht,  führt  er  den  hintersten  Theil  des  Messers,  durch 
Senkung  der  Hand,  zwischen  den  Processus  coracoideus  und 
den  vorderen  Theil  des  Kopfs  des  Oberarmbeins  ein,  um 
den  Theil  des  Kapselbandes,  der  nach  dieser  Seite  liegt, 
gemächlich  zu  dun  hsclmeiden ,  und  durchschneidet  dann  alle 
Theile,  welche  er  auf  seinem  Wege  antrifft,  hebt  den 
Kopf  des  Oberarmbeins  aus  seiner  Gclcnkhöhle  heraus, 
führt  das  Messer  hinter  den  Kopf  und  längs  der  hinteren 
Fläche  des  Armknochens  hin,  um  den  hinteren  Lappen  zu 
bilden,  welches  er  verrichtet,  während  der  Gehiilfc  den 
vordersten  Lappen  losläfst  und  '  mit  beiden  Händen  dem 
Messer  folgt,  um  die  durchschnittenen  Blutgefäfse  zwischen 
dem  Daumen  und  den  Fingern  bis  zur  Unterbindung  zu¬ 
sammenzudrücken. 

Die  \  ortheile,  welche  nach  dem  Verfasser  diese  neue 
Methode  verspricht,  sind:  l)  die  schnelle  Ausführung 
der  Operation;  2)  das  Erhalten  eines  hinlänglich  breiten 
und  dicken  Fleischlappens;  3)  der,  dafs  man,  von  aufsen 
nach  innen  schneidend,  besser  sehen  kann,  was  man  durch¬ 
schneidet;  4)  dafs  man  den  Knochen  nicht  mit  der  Spitze 
des  Messers  trifft,  welches  leicht  mit  dem  geraden  Messer 
der  Fall  ist;  5)  dafs  man  die  Operation  sowohl  an  der 
rechten  als  linken  Seite  init  der  rechten  Hand  kann  ver¬ 
richten;  6)  dafs  man  längs  des  Oberarmknochens  bei  der 
Bildung  des  vorderen  Lappens  eine  sichere  Leitung  hat, 
um  in  die  Gelenkhohle  zu  kommen.  (  Einer  der  Heraus¬ 
geber  bemerkt,  dafs  schon  früher  in  den  «  \  erhandelingen 
der  heelkundige  genootschap  le  Amsterdam  1  SÖi)  rt  eine  ähn¬ 
liche  Operationsmethode  vorgeschlagen  sei.  Bef.)  (Aus  den 
Genecsk.  Byd ragen  Theil  II.  Stück  1.  S.  62  —  79.) 


207 


VII.  Ch  irurgisdbe  Notizen. 

4.  Heilung  der  Hydrocele  durch  die  L  i  g  a  t  u  r. 
N  on  A.  G.  van  Onse noort,  Med.  et  Chir.  Dr.  u.  s.  w. 

Nachdem  der  Verf.  die  Nachtheile  herausgehoben  hat, 
welche  mit  der  Operation  der  Hydrocele  durch  den  Schnitt, 
durch  das  Setaceum  und  durch  das  Gausticnm  verbun¬ 
den  sind,  stellt  er  folgende  Operation  als  die  gemäch¬ 
lichste,  schnellste  und  unsch  «Herzhafteste  Me- 

i 

thode  auf: 

Der  Operateur,  zwischen  den  Schenkeln  des  auf  einem 
Stuhle  sitzenden  Kranken  sitzend,  umfafst  den  Hodensack 
des  Kranken  mit  der  linken  Hand,  druckt  durch  den  Dau¬ 
men  und  Zeigefinger  die  Flüssigkeit  des  Sackes  nach  aufsen 
hin,  während  er  den  Hoden  selbst  mit  den  übrigen  Fingern 
nach  der  inneren  Seite  hin  fest  zu  halten  sucht.  Die  Na¬ 
del,  welche  zur  Verrichtung  der  Operation  gebraucht  wird, 
ist  krumm,  zweischneidig,  scharfspitzig  und  mit  einem  Heft 
versehen;  sie  mufs  die  Gestalt  eines  Bogens  von  172  Gra¬ 
den  eines  Zirkels,  dessen  Radius  1  j-  Zoll  rheinl.  beträgt, 
haben,  und  an  der  Spitze  mit  einer  Oese  zur  Befestigung 
des  Unterbindungsfadens  versehen  sein.  Der  Unter  bin¬ 
dungsfaden  ist  entweder  ein  hinlänglich  starker  gewichs¬ 
ter  Faden,  oder  auch  statt  dessen  eine  dünne  Violinsaite, 
oder  ein  dünner  Silber-  oder  Kupferdrath.  Nachdem  der 
Operateur  den  Bruchsack  in  Gedanken  in  drei  gleiche  Theile 
abgetheilt  hat,  so  stöfst  er  die  Nadel  in  die  Mitte  der  ersten 
oder  obersten  eingebildeten  Linie  ein,  und  auf  der  zweiten 
Linie  wieder  heraus.  Sobald  der  Drath  jetzt  sichtbar  wird, 
wird  derselbe  durch  einen  Gehülfen  mit  der  Pincette  ge- 

fafst,  ein  wenig  hervorgezogen,  und  mit  der  Scheere  durch- 
* 

geschnitten;  die  eine  Hälfte  zieht  dann  der  Operateur  nach 
sich  zu,  während  er  die  andere  Hälfte,  so  wie  auch  die 
Nadel  selbst,  in  derselben  Richtung,  wie  sie  einge  stofsen 
war,  herauszieht.  Sobald  die  enthaltene  Flüssigkeit  sich 
ganz  entleert  hat,  wird  der  Faden  fest  zaigebunden  und 
durch  eine  Schleife  zur  Verhütung  des  Losgehens  befestigt. 


208 


\  II.  Chirurgische  Notizen. 

Beim  doppelten  Wasserbruchc  wird  das  Instrument,  mit 
dem  Faden  versehen,  wie  eine  Schreibfeder  in  der  rechten 
Iland  gehalten,  an  der  vorderen  Seite  des  llodensarkes, 
einen  Daumen  von  der  Nath  entfernt,  unter  denselben 
Bedingungen,  wie  oben  angegeben  worden,  eingestofsen, 
und  zwar  so,  dals  die  Spitze  und  die  hohle  Fläche  der 
Nadel  der  linken  Seite  des  Operateurs  zugekehrt  sind.  Er 
stufst  nun  die  Nadel,  in  einer  schräg  ansteigenden  Rich¬ 
tung,  von  der  linken  nach  der  rechten  Seite  des  Kranken 
hin,  durch  die  linke  Scheidenhaut  und  durch  das  Septum 
des  Hodensackes,  wovon  er  wenigstens  einen  Daumen  lang 
in  der  Tiefe  sucht  zu  fassen,  um  durch  die  Höhle  der 
Scheidenhaut  des  rechten  Hodens,  auf  demselben  Abstande 
von  der  Nath,  obgleich  mehr  oberwärts,  wieder  mit  der 
Nadel  herauszukommen.  Nach  gehöriger  Reinigung  der 
Wunde,  wird  ein  Pliimaceau  auf  dieselbe  gelegt,  mit  einer 
oder  mehren  Cnmpressen  bedeckt,  und  durch  ein  Suspen¬ 
sorium  befestigt.  Der  Operirte  braucht  nach  der  Opera¬ 
tion  nicht  zu  Bette  zu  bleiben,  noch  seine  Lebensweise  zu 
verändern.  Zweimal  täglich  wird  der  Faden  etwas  ange¬ 
zogen,  und  nachdem  derselbe  die  vollkommene  Durchschnei¬ 
dung  bewirkt  hat  (am  vierten  oder  fünften  Tage),  wird 
die  dadurch  gebildete  W  unde  von  Grund  auf  verbunden, 
bis  zur  vollkommenen  Heilung.  Wird  die  Entzündung 
nicht  stark  geuug,  so  kann  dieselbe  durch  Umschläge 
von  Kampferspiritus  zu  der  erforderlichen  Höhe  ge¬ 
brachtwerden.  Der  Verf.  versichert,  bereits  fünfmal  diese 

I 

Operation  mit  glücklichem  Erfolge  verrichtet  zu  haben,  wo¬ 
von  zwei  Fälle  mit  gleichzeitiger  Krankheit  der  Hoden  ver¬ 
bunden  waren.  Blofs  in  einem  Falle  muRtc  die  Operation 
an  einer  anderen  Stelle  des  Sackes  wiederholt  werden,  weil 
mau  die  Entzündung  zu  früh  beseitigt  hatte,  und  die  An¬ 
heftung  der  Scheidenhaut  deshalb  nur  theilweisc  erfolgt  war 
(ein  Umstand,  der  auch  oft  bei  der  Anwendung  des  Haar¬ 
seils  statt  findet.  Ref. )  (Aus  den  Genecsk.  Byd  ragen. 
Theil  11.  Stück  1.  S.  Ml  —  1)0  ) 


5.  Ana- 


209 


YJl.  Chirurgische  Notizen.' 

5.  A  na  t  o  m  is  c  li  e  Untersuchung  von  zwei  kranken 
menschlichen  Augen;  mitgetheilt  von  Dr.  M.  J.  A. 
Schön. 

» 

»Je  seltener  sich  dem  Arzte  die  Gelegenheit  zu  ana¬ 
tomisch-pathologischen  Untersuchungen  des  menschlichen 
Auges  darbietet,  und  je  geringer  die  zur  allgemeinen  Kennt- 
nil’s  gekommene  Zahl  derselben  ist,  um  so  willkommener, 
glaube  ich,  wird  jede  Mittheilung  der  Art  sein,  zumal  da 
wir  doch  nur  auf  diesem  Wege  endlich  zu  einer  eründ- 
liehen  Einsicht  in  die  Genesis  mancher  Augenkrankheiten 
gelangen  können.  Ich  kann  aber  nicht  umhin,  hier  den 
lebhaften  Wunsch  auszusprechen,  dafs  es  den  Vorstehern 
grölserer  klinischer  Anstalten  und  den  Hospitalärzten,  denen 
es  sicher  viel  leichter,  als  dem  Privatärzte  werden  nruls, 
kranke  Augen  zur  Zergliederung  zu  erhalten,  gefallen  möge, 
häufiger  als  es  bis  jetzt  geschehen  ist,  die  Ergebnisse  ihrer 
Untersuchungen  den  Kunstgenossen  mitzutheilen.  Zu  sol¬ 
chen  Untersuchungen  gehört  allerdings  etwas  Mulse,  ein 
geübtes  Auge,  und  ein  ziemlicher  Grad  von  manueller  Ge¬ 
schicklichkeit;  denn  es  ist  oft,  zumal  wo  eine  organische 
Veränderung  lange  im  Auge  bestanden  hat,  sehr  schwierig, 
den  pathologischen  Zustand  der  verschiedenen  so  zart  or- 
ganisirten  Theile  desselben  deutlich  zu  entwickeln  und  genau 
zu  sondern,  und  zu  bestimmen,  wo  der  ursprüngliche  Heerd 
der  Krankheit  gewesen  sei,  und  das  letzte  eigentlich  nur 
dann  möglich,  wenn  man  von  dem  früheren  Krankheits- 

v 

verlaufe  eine  genaue  Kunde  erhalten  konnte,  ohne  welche 
überhaupt  die  Untersuchung  sehr  viel  von  ihrem  scientifi- 
schen  Werthe  verliert.  Sehr  wünschenswert!! ,  ja  noth- 
wendig  scheint  es  mir  auch  zu  sein,  dafs  der  Zergliederer 
entweder  selbst  zeichne,  oder  einen  geschickten  Künstler 
zur  Hand  habe,  indem  es  sehr  schwer  ist,  die  meisten 
pathologischen  Veränderungen  im  Auge,  ohne  erhebliche 
Beeinträchtigung  ihrer  Form  und  Färbung,  in  Weingeist 
oder  anderen  Menstruis  zu  erhalten,  und  man  in  manchen 

14 


XIV.  Ed.  2.  St. 


210 


VII.  Chirurgische  Notizen. 

Fällen  nicht  füglich  mit  Nutzen  von  der  Untersuchung  der 
Entartung  eines  Theiles  des  Auges  zu  der  eines  anderen 
übergehen  kann,  bevor  man  nicht  die  erste  theilweise  zer¬ 
stört  oder  ganz  entfernt  hat.  —  Es  hat  dies  auch  noch 
den  Vortheil,  dafs  die  Beschreibung  durch  die  beigefügte 
Zeichnung  sehr  an  Deutlichkeit  und  Verständlichkeit  ge¬ 
winnt,  wiewohl  diese  Vorzüge  auch  ohnedies  zu  erreichen 
sind,  uud  in  dieser  Hinsicht  empfehle  ich  den  grofsen  Zer¬ 
gliederer  Morgagni  besonders  zum  Vorbilde,  dessen  mei¬ 
sterhafte  Sectionsberichte  kranker  Augen  mich  stets  mit 
grofser  Bewunderung  erfüllt  haben.  — 

Am  5.  Februar  1829  untersuchte  ich  das  rechte,  weit 
über  die  Hälfte  kleinere  Auge  eines  20 jähriger,  an  der 
Schwindsucht  gestorbenen  jungen  Mannes,  welcher  das  Auge 
in  seiner  frühesten  Jugend  mit  ‘Glas,  in  welches  er  hinein¬ 
fiel,  verwundete,  und  eine  heftige  Ophthalmitis  universalis 
erlitt.  —  Deutlich  sah  man  auf  der  vorderen  Fläche  des 
unförmlichen,  eckigen  Augapfels  zwei  sich  durchkreuzende 
Furchen,  an  deren  peripherischen  Endpunkten  die  vier  ge¬ 
raden  Augenmuskeln,  welche  sicherlich  diese  Formverände¬ 
rung  des  Bulbus  veranlafst  hatten,  sich  anhefteten;  dadurch 
war  nun  das  vordere  Segment  des  Bulbus  in  vier  Theile 
getheilt.  —  Die  Hornhaut  war  platt,  durchsichtig,  um 
die  Hälfte  kleiner,  uud  quer  über  dieselbe,  etwa*  unter¬ 
halb  ihres  horizontalen  Durchmessers,  verlief  von  einem 
Rande  bis  zum  andern  eine  ungefähr  eine  halbe  Linie  breite, 
weifsliche  Narbe,  welche  auf  der  inneren  Fläche  der  Horn¬ 
haut  nicht  zu  sehen  war.  —  Die  ganze  Sclerotica 
hatte  eine  etwas  gelbliche  Färbung;  der  Bulbus  war  höcke¬ 
rig,  und  liefs  sich  sehr  hart  aufühlcn.  Der  Sehnerv 
lag  in  der  etwas  verdickten  Nervenscheide  frei,  so  dafs 
zwischen  beiden  ein  kleiner  Raum  bli  'b,  uud  war  wohl  um 
die  Hälfte  dünner,  als  gewöhnlich.  Ich  ihcilte  den  Bulbus 
in  zwei  Hälften,  und  sah  nun,  dafs  die  S  c  I  er o  t  i ca  überall 
sehr  fest  und  verdickt,  und  an  manchen  Stellen  wohl  vier- 


2 II 


VII.  Ch  irurgische  Notizen. 


mal  dicker,  als  im  normalen  Zustande  war.  Die  Ader¬ 
haut  war  überall  sichtbar,  etwas  verdickt,  mit  schwarzem 
Pigment  bedeckt,  und  hing  an  manchen  Stellen  sehr  fest 
mit  der  Sclerotica  zusammen.  Von  der  Netzhaut  konnte 
ich  nur  im  vorderen  Theile  des  Bulbus  einige  verdickte 
Rudimente  entdecken,  im  hinteren  aber  war  sie  gänzlich 
geschwunden.  Der  Glaskörper  war  in  eine  kleine,  feste, 
bräunlich -schwarze,  hier  und  da  fibröse  Masse  verwandelt.  — 
An  dem  unteren  Theile  der  Aderhaut,  zwischen  ihr  und 
dem  Glaskörper  und  nicht  weit  von  der  Insertionsstelle  des 
Sehnerven,  befand  sich  ein  kleines,  plattes,  länglich -vier¬ 
eckiges,  mit  rauhen,  ungleichen  Rändern  versehenes  Kno¬ 
chenstück,  welches  ziemlich  fest  mit  jenen  Theilen  zu¬ 
sammenhing  und  in  den  entarteten  Glaskörper  hineinragte. 
Einen  ganz  ähnlichen  Fall  habe  ich  schon  früher  beobach¬ 
tet,  und  nebst  denen  von  anderen  Beobachtern  bekannt  ge¬ 
wordenen  in  meinem  Handbuche  der  pathologischen  Ana¬ 
tomie  des  menschlichen  Auges,  Seite  1S8  und  190  beschrie¬ 
ben.  —  Die  Iris  war  sehr  klein,  bräunlich,  mit  kleinen 
schwarzen  Punkten,  die  von  der  durchschimmernden  Uvea 
herrührten,  besetzt,  ohne  Pupillenöffnung,  und  leicht  zer- 
reifsbar.  In  der  kleinen  vorderen  Augenkammer  befand 
sich  etwas  wässerige  Feuchtigkeit;  die  hintere  war  ganz 
aufgehoben,  denn  gleich  hinter  der  Regenbogenhaut  fand 
ich  mit  dieser  verwachsen,  die  um  die  Hälfte  kleinere  Linse 
und  Kapsel;  erste  war  sehr  fest  nnd  weifslich,  letzte 
getrübt,  verdickt  und  auf  der  Mitte  ihrer  vorderen  Fläche 
kleine  knochige  Strahlen,  die  eine  kleine  Strecke 
nach  der  Peripherie  hin  verliefen  und  zuletzt  mit  dem  ver¬ 
dickten  Gewebe  der  Kapsel  Zusammenflüssen ;  die  hintere 
Fläche  dieser  adhärirte  an  den  entarteten  Glaskörper.  — 


/ 


•  # 


Am  17.  Februar  1829  untersuchte  ich  das  linke  Auge 
eines  53jährigen,  an  einer  Febris  gastrico- nervosa  ge¬ 
storbenen  Mannes,  welches  er  sich  vor  vielen  Jahren 
mittelst  eines  Hornstrauches ,  jedoch  ohne  nachfolgende  be- 

14  * 


2 1!2  ”\  II.  Chirurgische  Notizen. 

4  ,  .  ^  _ 

deutende  Entzündung,  verletzt  haben  wollte.  —  Die  Gröfsc 

r>  ~ 

des  Augapfels  war  die  normale,  doch  lief*  er  sich  etwas 
weich  an Pii Iden.  Die  Iris  hatte  eine  matte,  ungleiche, 
weifslicb- blaue  Farbe,  und  war  etwas  dicker,  als  gewöhn¬ 
lich;  ihre  hintere  Fläche  war  reichlich  mit  einem  braunen, 
sich  leicht  lösenden  Pigment  bedeckt,  welches  an  einigen 
Stellen  etwas  vor  dein  Pupillarrande,  auch  während  des 
Lehens,  vorragte;  die  Pupille  war  klein  und  eckig.,  und  hei 
Lebzeiten  ganz  starr.  —  Die  Hornhaut,  Sclerotica, 
die  C  i  I  ia  r  fo  r  ts  ä  tz  e  und  der  Sehnerve  boten  nichts 
Krankhaftes  dar.  —  Die  Kapsel  war  wenig  getrübt,  aber 
etwas  verdickt,  nicht  mit  der  Iris  oder  den  Ciliarfortsätzen 
verwachsen.  Die  Linse  war  grauweifs,  an  ihren  Rändern 
sehr  dünn  und  schmal;  diese  selbst  rauh,  ungleich  und 
weich.  In  ihrer  Mitte  war  sic  ziemlich  hart,  und  gelblich- 
braun  gefärbt,  welche  Farbe  man  nur  von  ihrer  hinteren 
Fläche  aus  deutlich  sehen  konnte,  indem  sie  sich  bis  an 
diese  erstreckte.  Reim  Durchschneiden  zeigte  die  Schnitt¬ 
fläche  eine  noch  dunklere  Farbe.  —  Die  Aderhaut  war 
gesund,  doch  nur  mit  wenigem  hellbraunen  Pigment  be¬ 
deckt.  Die  Netzhaut  war  sehr  weifs  und  etwas  verdickt, 
das  Foramen  Sömmerringii  ‘vorhanden,  und  die  Falte 
desselben  sehr  stark  entwickelt.  Die  wässerige  Feuch¬ 
tigkeit  war  nicht  getrübt.  —  Der  G  Iaskörper  aber  war 
fast  ganz  in  eine  gelbe,  dünne,  klebrige  Flüssigkeit  verwan¬ 
delt,  welche  das  Wasser  schön  gelb  färbte,  und  nur  unge¬ 
fähr  der  dritte  Theil  desselben  war  hell,  durchsichtig  ge¬ 
blieben,  und  zeigte  den  zeitigen  Rau.  —  (Sollten  solche 
Fälle  nicht  zu  den  Erweichungen  gehören?)  Die  nach 
dem  Ausfliefsen  jener  Flüssigkeit  etwas  zusammengefallene 
Glashaut  war  etwas  fester,  als  gewöhnlich,  aber  .ganz 
durchsichtig.  —  Aufserdeni  sah  ich  an  diesem  Auge  wie¬ 
derum  sehr  deutlich  die  vordere  Endigung  der  Netz- 
haut  auf  der  vorderen  Kapselwand,  wie  sie  Schneider 
(n  seiner  Abhandlung;  «Das  Ende  der  Nervenhaut  im 
menschlichen  Auge,  Miimh?»  1827,”  beschreibt,  und  wie 


\  III.  Krankheiten  der  Brüste.  2 1 3 

schon  an  mehren  Augen  zuvor  (s.  diese  Annalen, 
Juli  18*28,  S.  334)  gesehen  hatte.  — 

Heide  Augen  habe  ich  schon  18  Stunden  nach  dem 
Tode  untersuchen  können.  — 


VI  ll 


1 1 1  Li  s  t  r  a  t  i  o  n  s  o  f  t  h  e  diseases  o  I  t  h  e  breast 
by  Sir  Astley  Coopcr,  Bart.  Serjeant  Surgeori 
to  bis  Majesty  etc.  Pars  I.  London.  Longman, 
Bees,  Orme,  Brown  et  Green.  1829.  gr.  Fol. 
(89  Seiten,  8  colorirte  Kupfertafeln  und  1  schwarze 
lithographirte  Tafel.) 


I)er  durch  so  viele  treffliche  chirurgische  Arbeiten 
hochberühmte  Vcrf. ,  liefert  seinen  Kunstgenossen  wiederum 
ein  W  erk,  dem  eine  vieljährige  und  reichhaltige  Erfahrung 
zum  Grunde  liegt.  —  Der  vorliegende  erste  T heil  dessel¬ 
ben,  dem  Schatzmeister  des  Gu)’s- Hospitale»,  B.  Ilarri- 
son  Esq.  dedicirt,  beschäftigt  sich  mit  den  nicht  bösar¬ 
tigen  Krankheiten  der  Brustdrüse;  erst  in  dem  z wei¬ 
ten  wird  der  Verf.  die  bösartigen  abhandeln.  In  der  Vor¬ 
rede  macht  er  darauf  aufmerksam,  dafs,  wiewohl  manche 
der  hierher  gehörigen  Anschwellungen  der  Drüse  eine  Zeit- 

i  ' 

lang  gleichsam  still  zu  stehen  scheinen,  dennoch  Verände¬ 
rungen,  welche  mit  dem  Organismus  vorgehen,  z.  B.  con¬ 
stitutioneile  Krankheiten,  deprimirende  Gemüthsaffekte,  das 
Auf  hören  der  KaLamenien,  ihnen  oft  einen  bösartigen  Cha¬ 
rakter  geben,  welcher  die  Exstirpation  erheischt.  — 

Es  zerfällt  der  erste  Theil  in  zehn  Kapitel,  die  sehr 
ausführlich  bearbeitet  sind.  — 

Im  ersten.  Kapitel  (S.  1  —  7.)  theilt  der  Verf. 
einige  einleitende  Bemerkungeil  über  die  Krank- 


VIII.  Krankheiten  der  liriiste. 


214 

beiten  der  Brustdrüse  mit.  Einen  wie  grolscn  Vor¬ 
theil  es  gewahrt,  wenn  der  Arzt  im  Stande  ist,  eine  heil¬ 
bare  Krankheit  von  einer  unheilbaren,  eine  leichte  von 
einer  gefährlichen,  und  die,  welche  chirurgische  Eingriffe 
erfordern,  von  denen,  wo  dies  nicht  der  Eall  ist,  unter¬ 
scheiden  zu  können,  leuchtet  besonders  bei  den  Krankhei¬ 
ten  der  weiblichen  Brustdrüse  ein,  welche  nicht  allein  fast 
allen  Krankheiten  anderer  ähnlicher  Organe,  sondern  auch 
einigen  ihr  allein  eigentümlichen  unterworfen  ist.  —  Der 
ununterrichtete  Wundarzt  hält  nur  zu  leicht  eine  jede  An¬ 
schwellung  der  Drüse  für  krebshaft;  der  unterrichtete  sieht 
dagegen  bald  die  verschiedene  Natur  der  Anschwellung  ein. 
Es  ist  durchaus  notwendig,  die  verschiedenen  Krankheits¬ 
zustände  von  einander  unterscheiden  zu  können,  welches 
nur  durch  eine  sorgfältige  manuelle  Untersuchung,  durch 
öfteres  Beschauen  und  Präpariren  der  exstirpirlen  Theile, 
und  durch  die  Kenntnifs  der  Geschichte  des  Falles  erreicht 
werden  kann.  —  Die  Krankheiten  der  Drüse  kann 
man  in  drei  Klassen  teilen:  1)  in  solche,  die  entweder 
die  Folge  einer  acuten  oder  chronischen  Entzündung  sind. 
Milchabscesse,  chronische  Entzündung  der  Drüse,  die  zu¬ 
weilen  erst  nach  Wochen  und  Monaten  in  unempfindliche 
Abscesse  endet,  und  solche  Fälle,  wo  ein  Milchgang  sich 
geschlossen  hat  und  eine  grofse  Milch  enthaltende  (lacti- 
ferous)  Geschwulst  entstanden  ist.  —  2)  In  solche,  welche 
durch  eine  specifische  Ursache  entstehen,  nicht  bösartig 
sind,  und  benachbarte  Gebilde  nicht  ergreifen;  hierher  ge¬ 
hören  die  Hydatiden,  die  chronische,  knochige  und  Fett¬ 
geschwulst  der  Drüse,  die  grolsen  Hängebrüste,  die  scro- 
phulöse  Anschwellung  der  Drüse,  die  empfindliche  (irritable) 
Geschwulst  und  die  Ecchyraosc  derselben.  3)  In  solche, 
die  bösartig  sind  und  mit  einem  besonderen  krankhaften 
Zustande  des  ganzen  Körpers  Zusammenhängen. 

Zweites  Kapitel.  Von  den  Folgen  einer  ge¬ 
wöhnlichen  Entzündung  der  Brustdrüse  (S.  7 
bis  19.).  In  der  Beschreibung  derselben  hat  der  Vcrf. 


VIII.  Krankheiten  der  Briiste. 


215 


nichts  Neues.  —  Der  öftere  und  heftige  Zuflufs  des  Blutes 
nach  der  Drüse,  wodurch  die  Milchsecretion  eingeleitet 
wird,  erregt  leicht  Entzündung,  welche  noch  begünstigt 
wird  durch  das  häufige  Entblöfsen  der  Brust  beim  Stillen 
und  durch  das  Saugen  des  Kindes;  oft  entsteht  sie  auch 
durch  vernachlässigtes  frühes  Anlegen  des  Kindes  und  durch 
starke  Getränke,  die  man  der  Wöchnerin  reicht.  —  Be¬ 
handlung:  Im  ersten  Stadium  kalte  Ueberschläge  von 
Weingeist  oder  Wasser,  oder  verdünntem  Bleiextract,  und 
innerlich  Ricinusöl  oder  Bittersalz.  —  Werden  die  kalten 
Umschläge  nicht  vertragen,  warme  Breiumschläge,  zuwei¬ 
len  Blutegel.  —  Bildet  sich  Eiter,  warme  narkotische  Brei¬ 
umschläge,  drei-  bis  viermal  täglich  angewandt.  Zur  Lin¬ 
derung  der  Schmerzen  ist  zuweilen  ein  kleines  Opiat  noth- 
wendig.  Bildet  sich  der  Abscefs  schnell,  liegt  er  an  der 
vorderen  Fläche  der  Drüse  und  sind  die  Schmerzen  erträg¬ 
lich,  so  über läfst  man  am  besten  die  Oeffnung  desselben 
der  Natur;  im  Gegentheil,  und  bei  vorhandenem  starken 
Fieber,  öffnet  man  ihn  mit  der  Lancette  da,  wo  die  Flu- 
ctuation  sehr  deutlich  ist,  und  macht  den  Schnitt  hinläng¬ 
lich  grofs  und  tief.  — 

Oft  bilden  sich  schnell  hintereinander  mehre  Abscesse 
in  einer  Brust,  und  erregen  heftige  Schmerzen,  wogegen 
man  Opium  und  China  anwenden  mufs.  —  Oft  öffnet  sich 
ein  tiefer  Abscefs  an  mehren  Stellen,  und  bildet  Sinus 
von  verschiedener  Gröfse.  Am  besten  helfen  hier  Ein¬ 
spritzungen  von  2  —  3  Tropfen  Schwefelsäure  auf  1  Unze 
Rosen wasser,  und  Umschläge  davon  über  die  Brust,  wo¬ 
durch  Adhäsionen  herbeigeführt  wqrden.  Die  zwischen  der 
Drüse  und  den  Rippen  befindlichen  Abscesse  bewirken  leicht 
eine  theilwcise  Exfoliation  einer  Rippe,  heilen  aber  am  be¬ 
sten  bei  jenen  Entzündungen;  Einschnitte  nutzen  nichts.  — 
In  einem  Falle  beobachtete  der  Verf. ,  dafs  aus  einem  Milch- 
abscesse,  nachdem  er  sich  geöffnet  hatte,  bei  einer  Frau, 
die  viel  Gram  hatte,  ein  schwammiger  Auswuchs  entstand, 
der  die  Brust  bald  zerstörte.  —  Eine  nach  der  Entzündung 


\ 


JK) 


VIU.  K  rankheitcn  der  Brüste. 


zurückbleibende  Verhärtung,  die  man  schnell  entfernen 
mufs,  zerlheilt  man  am  besten  durch  ein  Empl.  Ammoniac. 
cum  llydrargvro,  oder  durch  Jodinsalbe.  —  Ist  die  Ent¬ 
zündung  heftig,  so  darf  das  Kind  nicht  angelegt  werden. 
Wunde  Brustwarzen  erzeugen  oft  Abscesse.  —  Das  beste 
Mittel  gegen  sie  ist  eine  Boraxauflösung;  zur  N  erhiitung 
können  sie  in  der  letzten  Zeit  des  Wochenbettes  oft  die 
Warzen  mit  starkem  Salzwasser  waschen.  —  Hat  eine 
junge  Frau  zu  kleine  Warzen,  so  soll  sic  oft  daran  sau¬ 
gen,  um  sie  zu.  entwickeln.  — 

Die  in  Folge  einer  chronischen  Entzündung  entstehen¬ 
den  Abscesse  sind  wegen  Mangel  an  Rothe  und  Schmerz 
und  den  übrigen  Symptomen  leicht  zu  übersehen,  und  man 
hält  die  Geschwulst  zuweilen  für  bösartig  und  eine  Ope¬ 
ralion  indicirt,  wie  der  \  erf.  es  einigemal  sah.  Zwei  Fälle 
dieser  Art  thcilt  er  mit.  —  Oertlich  gebraucht  man  gegen 
diese  chronische  Anschwellung  das  Empl.  Ammoniac.  c.  Ity- 
drarg. ,  oder  eine  Salmiakauflösung  mit  rectificirtem  Wein¬ 
geist,  und  ist  das  Allgemeinbefinden  gestört,  einige  (Jalo- 
melpillen,  China,  Gentiana,  Rhabarber.  —  Ist  titerung 
da,  so  verfährt  man  wie  angegeben.  — 

Nach  einer  chronischen  Entzündung  der  Milchgänge 
in  der  Nähe  der  Warze,  entsteht  oft  durch  Verschliefsung 
eines  Ganges  in  einer  Ausdehnung  von  1  Zoll  und  mehr 
eine  Geschwulst,  welche  Milch  enthält  (lactiferous  swel- 
iing).  —  Ohne  Zeichen  eines  Absccsses  bildet  sich  kurz 
nach  der  Entbindung  eine  Geschwulst  in  der  Brust,  welche 
deutlich  iluctuirt  und  ein  Gefühl  von  Spannung  bewirkt; 
Das  Anlegen  ,des  Kindes  vermehrt  dies  Gefühl.  Die  Ge¬ 
schwulst  hegränzt  sich  auf  eine  Stelle  von  der  Warze  nach 
dem  Umfange  der  Brust  hin,  die  Hautvenen  sind  sehr  grols, 

die  Haut  nicht  entfärbt.  Nach  einem  Einstich  Hiebst  Milch 

\ 

aus,  welche  sich  schnell  wieder  ansammelt.  —  Zuweilen  . 
exulcerirt  die  Geschwulst,  die  Milch  Hiebst  aus;  die  Oeff- 
nung  bleibt  oft  während  der  ganzen  Zeit  des  Stillens,  heilt 
schwer,  meist  erst,  wenn  nach  dem  Entwöhnen  und  nach 


\ 


‘217 


VIII.  Krankheiten  der  Briiste. 

4 

Abführmitteln  die  Absonderung  der  INIilcVi  auf  hört.  — 
Will  die  Mutter  ihr  Kind  entwöhnen,  so  läfst  man  die 
Milch  durch  einen  Einstich  ausfliefsen ,  und  mit  dem  Auf¬ 
hören  der  Milchseeretion  in  den  übrigen  Theilen  der  Brust 
verschwindet  die  Geschwulst.  —  Der  Yerf.  vergleicht  hin¬ 
sichtlich  des  Wesefis  der  Geschwulst  dieselbe  mit  der 
Kanula.  — 

Drittes  Kapitel.  Von  den  II y datiden  der  Brust¬ 
drüsen  (S.  20  —  50).  —  Der  Yerf.  hat  dieselben  sehr 
genau  bearbeitet,  und  die  fünf  ersten  Kupfertafeln  erläutern 
sehr  deutlich  seine  Worte.  —  Er  stellt  vier  Arten  von 
llydatiden  auf,  von  denen  die  drei  ersten  nicht  bösartig 
sind,  die  letzte  es  aber  ist.  — 

Die  erste  Art  besteht  in  der  Gestalt  von  einfachen 
Säcken,  welche  eine  seröse  Flüssigkeit  enthalten  (z eilige 
Ilydatiden).  Die  Brust  schwillt  dabei  allmählig  an, 
schmerzt  anfangs  nicht,  wird  hart,  fluctuirt  nicht;  Monate, 
ja  Jahre  vergehen,  ehe  sie  beträchtlich  grofs  wird;  die 
gröfste  fand  der  Yerf.  9  Pfund  wiegend;  in  anderen  Fällen 
war  sie  um  zweimal  gröfser,  als  die  gesunde  Brust.  — 
Sobald  nach  einiger  Zeit  eine  Fluctuation  an  einer  Stelle 
der  Geschwulst  zu  fühlen  ist,  wächst  sie  schnell.  Die  Ilaut- 
venen  werden  varicös,  Schmerz  fehlt  immer;  nur  zuweilen 
findet  sich  ein  Gefühl  von  Hitze,  und  Schmerzen  in  der 
Schulter.  Die  Geschwulst  ist  auf  dem  Brustmuskel  beweg¬ 
lich,  hängt  herab,  befällt  bald  die  ganze  Drüse,  bald  nur 
einen  Theil  derselben.  —  Zuletzt  entzündet  sich  eine  fluctui- 
rende  Stelle,  öffnet  sich,  und  es  entleert  sich  eine  Menge 
Serum  oder  klebrige  Flüssigkeit,  welche  sich  oft  wieder 
anhäuft;  zuweilen  verklebt  der  Sack;  zuweilen  fliefst  eine 
schleimige  Flüssigkeit  aus;  es  öffnen  sich  mehre  Säcke 
nach  einander  und  es  entstehen  Sinus,  welche  schwer  hei¬ 
len.  •—  Das  Ali  gemeinbefinden  ist  im  Anfänge  nicht  gestört, 
die  Achseldrüsen  sind  nicht  angeschwollen.  —  Bei  der 
Scction  findet  man  die  Zwischenräume  der  Drüsenkörner 
und  das  Zellgewebe  mit  einer  fibrösen  Masse  ausgefüllt; 


218 


VIII.  Krankheiten  der  Brliste. 


zuweilen  finden  sich  daselbst  Säcke,  bald  mit  einer  serö¬ 
sen,  bald  klebrigen,  bald  schleimigen  Flüssigkeit  gefüllt, 
welche  durch  eine  Entzündung  entstehen.  Ihre  Zahl  ist 
oft  sehr  grofs;  in  ihnen  befinden  sich  Hydatiden,  die  an 
einem  dünnen  Stiele  hängen  und  aus  Zellgewebe  bestehen; 
sie  hangen  selten  traubenförmig  zusammen,  sondern  sind 
getrennt  von  einander.  Ihre  Gröfse  variirt  von  der  eines 
Stecknadelknopfes  bis  zu  der  einer  Flintenkugel.  —  Der 
Sack  ist  sehr  gefäl'sreich.  — 

Diese  Krankheit  unterscheidet  sich  von  einer  chroni¬ 
schen  Anschwellung  der  Drüse  durch  den  fehlenden  Schmerz 
und  die  Abwesenheit  eines  Allgemeinleidens;  von  einem 
Abscefs  durch  die  an  verschiedenen  Stellen  statt  findende 
Fluctuation  und  durch  einen  Einstich,  welcher  eine  seröse 
Flüssigkeit  entleert;  von  einem  scirrhösen  Knoten  durch 
den  Mangel  der  heftigen  Schmerzen,  der  Härte  der  Ge¬ 
schwulst  und  die  ungetrübte  Gesundheit.  — 

Ist  nur  ein  Sack  da,  so  schliefst  er  sich  nach  öfterer 
Punktion.  Sind  mehre  da,  ist  die  Geschwulst  sehr  grofs, 
furchtet  sich  die  Kranke  vor  dem  Krebs,  so  ist  die  Operation* 
indicirt.  Man  schneidet  die  Geschwulst  aus  und  unterbin¬ 
det  gleich  jedes  Gefäfs.  Jeder  harte  und  geschwollene 
Theil  der  Drüse  mtifs  entfernt,  und  kein  Sack  zurückgelas- 
sen  werden.  —  An  beiden  Brüsten  zugleich  sah  der  Verf. 
die  Krankheit  nicht.  —  Zum  Beleg  des  Gesagten  theilt 
der  Verf.  zwölf  Fälle  dieses  Uebels  mit,  welche  keines 
Auszugs  fähig  sind.  — 

Die  zweite  Art  (s.  Tafel  3.  und  4.)  ist  sehr  merk¬ 
würdig.  Die  Brust  der  Mrs.  King  war  sehr  grofs,  hart 
durch  Exsudation  von  coagulabler  Lymphe,  und  enthielt 
viele  Säcke,  die  mit  Serum  gefüllt  waren,  in  deren  jedem 
ein  Haufen  kleiner,  polvpenähnlicher  Geschwülste  an  einem 
dünnen  Stiel  hing.  Viele  der  Hydatiden  lagen  einzeln, 
ihre  Gröfse  war  verschieden;  die  grüfste  glich  einem  Ger¬ 
stenkorn;  sie  hatten  eine  eiförmige  Gestalt,  bestanden  aus 
einet  Menge  Lamellen,  wie  die  Linse  des  Auges,  welche 


VIII.  Krankheiten  der  Brüste. 


219 


leicht  sich  trennen  liefsen,  und  der  sie  enthaltende  Sack 
war  sehr  gefäfsreich.  —  Es  bleibt  unentschieden,  ob  sie 
zu  der  folgenden  Art  gehören  und  nur  durch  Druck  der 
sie  umgebenden  festeren  Massen  verändert  sind,  oder  ob 
sie  Secretionen  der  Arterien  sind.  —  Von  der  ersten  Art 
kann  man  sie  nur  erst  bei  der  Section  unterscheiden.  — 
Mrs.  King  hatte  dies  Uebel  14  Jahre,  als  die  Geschwulst 
von  dem  \  erf.  entfernt  wurde,  und  zwar  mit  glücklichem 
Erfolge.  —  Eine  kurze  Krankengeschichte  ( das  Uebel  war 
nach  einem  Stofs  entstanden)  findet  sich  S.  44.  —  Das 
Allgemeinbefinden  war  dabei  nicht  gestört.  — 

Die  dritte  Art,  die  kugelförmige  Hydatide, 
hat  keine  Gefälsverbindung  mit  den  benachbarten  Theilen, 
und  bildet  in  dem  Sacke  eine  Menge  kleiner  Säcke.  Aehn- 
liche  kommen  in  der  Leber,  dem  Ovarium,  den  Lungen  u. 
s.  w.  vor.  Sie  vereitern  zuweilen,  und  entleeren  sich.  Der 
Yerf.  fand  sie  nur  in  der  Brust  allein  einzeln.  Seine  nä¬ 
here  Beschreibung  hat  nichts  Eigentümliches;  er  hält  sie 
für  Thiere,  weil  sie  durch  sich  selbst  existiren,  und  sich 
selbst  erzeugen.  —  Sie  ernähren  sich  durch  Einsaugung, 
kommen  durch  das  Blut  nach  dem  Organ  hin,  erregen  eine 
entzündliche  Reizung,  wodurch  ein  Sack  gebildet  wird,  oder 
sie  einschliefst.  —  In  der  Brust  fühlt  man  erst  spät  an  der 
Stelle,  wo  sich  die  Hydatiden  befinden,  eine  Fluctuation. 
Zuweilen  entsteht  eine  Eiterung,  und  die  Hydatide  wird 
mit  dem  Eiter  ausgestofsen.  —  Durch  einen  Einschnitt 
mufs  man  den  Sack  entfernen,  und  mit  einem  einfachen 
Breiumschlag  die  Wunde  heilen,  oder  man  führt  ein  Haar¬ 
seil  durch.  —  Das  Uebel  unterscheidet  sich  von  ähnlichen 
Krankheiten  durch  die  centrale  Fluctuation,  den  festen  Um- 
kreis  d'eser,  und  die  Abwesenheit  jedes  Schmerzes.  —  Der 
Yerf.  theilt  zwei  Fälle  kurz  mit.  — 

Yiertes  Kapitel.  'Von  der  chronischen  Ge¬ 
schwulst  der  Brustdrüse  ( S.  51  —  63).  —  Sie  be¬ 
fällt  junge  unverheirathete  oder  kinderlose  Personen  vom 
17ten  bis  30sten  Jahre,  später  selten,  und  das  Allgemein- 


VIII.  Krankheiten  der  ßliiste. 


% 


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befinden  ist  gut.  Sie  hängt  mit  einer  erhöhten  Thätigkeit 
des  Uterus  zusammen,  und  entsteht  dann  leicht  nach  einer 
äufseren  Verletzung.  —  Die  Geschwulst  erhebt  sich  von 
der  Oberfläche  der  Drüse,  ragt  gleich  hervor,  ist  sehr  be¬ 
weglich,  bleibt  lange  schmerzlos,  erst  spät  entstehen  zu¬ 
weilen  ziehende  Schmerzen,  ist  bei  der  Berührung  nicht 
empfindlich,  wird  langsam  grülser,  wiegt  gewöhnlich  l  bis 
4  Unzen,  selten  mehre  Pfunde,  ist  durchaus  gutartig,  die 
Achseldrüsen  schwellen  tiichL  an;  sie  besteht  aus  einer  Menge 
einzelner  Lappen ,  zwischen  w  elche  man  etwas  mit  den  Fin¬ 
gern  eingehen  kann,  weshalb  der  \  erf.  für  sie  den  Namen 
gelappte  Brustd  rüsengesch  wulst  vorschlägt.  —  Bei 
der  Section  findet  man,  dafs  die  Geschwulst  in  einem  Sacke 
liegt,  von  fibrös  -  sehniger  Structur,  der,  je  gröfser  jener 
ist,  desto  bestimmter  sich  darstellt.  — -  Sie  hängt  mit  der 
J)r  iise  durch  einen  dünnen,  drüsigen  Fortsatz  zusammen, 
welcher  die  Beweglichkeit  derselben  bedingt.  Sie  besteht 
aus  einer  Menge  immer  kleiner  werdenden  Lappen,  die  sich 
an  Gestalt  ähnlich  sind,  und  sich  nach  einer  kurzen  Mace- 
ration  leicht  trennen  lassen.  —  Im  Umfange  ist  sie  mehr 
roth,  im  Innern  weifs  gefärbt.  —  Bei  der  Behandlung 
derselben  mufs  mau  besonders  auf  die  Menstruation  und  die 
Function  der  Unterleibsorgane  sein  Augenmerk  richten. 
Oertlich  gebraucht  man  das  Lmpl.  hvdrarg.  c.  Arnmoniaco, 
oder  die  Jodinsalbe  und  warme  Breiumschläge.  —  Diese 
Geschwülste  verschwinden  übrigens  nur  sehr  langsam,  und 
meistens  dann  erst,  wenn  die  l  terimeizung  auf  hört.  — 
Wünscht  die  Kranke  von  der  Geschwulst  befreit  zu  sein, 
so  ist  die  Entfernung  derselben  eine  leichte  Operation.  — 
In  der  Schwangerschaft  und  nach  dem  ersten  NN  ochenbette 
pflegt  die  Geschwulst  auch  zu  verrchwinden.  —  Bleibt  sie 
aber  nach  dem  Aufhören  der  Kegeln  in  der  Brust,  so 
nimmt  sie  zuweilen  einen  bösartigen  Charakter  an.  —  Am 

I 

Schlüsse  des  Kapitels  theilt  der  \  erf.  zehn  Fälle  mit.  — 
Fünftes  Kapitel.  Non  der  knorpeligen  und 
knochigen  Geschwulst  d  e  r  B  i  u  s  l  d  r  ü  s  e  (  S.  (»4  u.  05 ). 


221 


VIII.  Krankheiten  der  Brüste. 

/ 

Nach  chronisclien  Entzündungen  wird  oft  eine  gallertartige 
Masse  ergossen,  welche  von  den  benachbarten  Theilen 
Gefäfse  erhalt,  den  Knorpeln  hinsichtlich  seiner  weifsgelb¬ 
lichen  Farbe,  Festigkeit  und  Elasticität  gleich t  und  einen 
Knochenkern  erzeugt,  der  aus  phosphorsaurem  Kalke  be¬ 
steht.  —  Der  Verf.  beobachtete  einen  solchen  Fall  bei 
einer  32 jährigen  Frau;  die  Geschwulst  hatte  schon  14  Jahre 
bestanden,  schmerzte  sehr  vor  der  Menstruation,  und  war 
sehr  hart.  Die  Achseldrüsen  waren  nicht  geschwollen. 
Eine  Abbildung  findet  sich  Taf.  8.  Fig.  10.  — 

Sechstes  Kapitel.  Von  der  Fettgeschwulst 
der  Brustdrüse  (S.  66  —  69).  — * -  Der  Verf.  sah  zwei 
Fälle;  im  ersten  begann  die  Krankheit  am  hinteren  Theile 
der  Drüse,  im  zweiten  schwollen  alle  Fettpartieen,  die  sich 
zwischen  den  einzelnen  Acinis  der  Drüse  befinden,  an,  und 
konnten  von  dieser  abgenommen  werden.  —  Im  ersten 
Falle  betrug  der  Umfang  der  Geschwulst  31  Zoll,  und  ihre 
Länge  10 §•  Zoll;  sie  wurde  sammt  der  Brust  vom  Verf. 
entfernt.  Die  Geschwulst  wog  14  Pfund  und  10  Unzen.  — 
Im  zweiten  Falle  machte  der  Verf.  einen  grofsen  Schnitt 
über  die  Brust,  und  zog  die  einzelnen  Fettgeschwülste  aus. 
Das  Uebel  kehrte  nicht  wieder.  — 

Siebentes  Kapitel.  Von  der  hängenden  Brust¬ 
drüse  (S.  69  —  73).  —  Zuweilen  schwillt  die  Drüse  so 
an,  dafs  sie  bis  zum  Bauch  herabhängt;  man  fühlt  deutlich 
die  einzelnen  Lappen  vergrofsert  und  verhärtet,  und  zu¬ 
weilen  sehr  empfindlich.  —  In  einem  Falle,  bei  einem 
23jährigen  Mädchen,  litten  beide  Drüsen,  die  Menstruation 
war  unregelmäfsig  und  das  Aussehen  kränklich.  —  Einen 
anderen  Fall  theilte  Dr.  Jones  dem  Verf.  mit,  wo  beide 
Drüsen  bei  einem  15jährigen  Mädchen  (die  linke  hielt 
23 £  Zoll,  die  rechte  22  Zoll  im  Umfange),  das  sonst  ge¬ 
sund  war,  angeschwoilen  waren,  und  die  Katamenien  spar¬ 
sam  flössen.  —  Die  Kranken  müssen  die  Brüste  aufbinden, 
und  zur  Beförderung  der  Kegeln  wendet  man  Stahlpräparale 
mit  Aloe  an,  am  besten  das  salzsaure  und  kohlensaure  Eisen. 


222 


VIII.  Krankheiten  der  Brüste. 


Angeschwollen,  aber  nicht  hängend,  findet  man  die 
Brüste  zuweilen  bei  Frauen,  die  bis  in  ihr  35stes  Jahr  un- 
verheirathet  blieben  und  sehr  schwach  menstruirt  waren; 
jeder  Lappen  ist  hart,  geschwollen,  beweglich.  —  Line 
Brust  leidet  immer  mehr,  als  die  andere,  sie  schmerzen  zu¬ 
weilen,  und  der  Schmerz  steigert  sich  bei  kaltem  Wetter; 
in  Folge  der  Heizung  schwillt  zuweilen  eine  Achseldrüse, 
doch  ohne  Gefahr,  an.  —  Nach  einigen  Jahren  fängt  die 
Brust  von  selbst  an  zu  schwinden.  —  Das  Lehel  besteht 
in  einer  Lmwandlung  der  Drüse  zu  einer  solideren,  feste¬ 
ren  Masse,  wobei  die  Absonderung  derselben  sehr  gemin¬ 
dert  ist.  —  Behandlung:  Beförderung  der  Menses, 
Blutegel,  das  Tragen  eines  Ammoniak-  und  Quecksilber- 
ptlasters.  — 

Achtes  Kapitel.  Von  der  scrophulösen  Ge¬ 
schwulst  der  Brustdrüse  (S.  73  —  7(i).  —  Bei  jun¬ 
gen  Frauen,  welche  au  Anschwellung  der  Llalsdrüsen  lit¬ 
ten,  sah  der  Yerf.  zuweilen,  doch  selten,  scrophulöse 
Geschwülste y  meistens  nur  in  jeder  Brust  eine;  sie  sind 
schmerzlos,  umschrieben,  glatt,  und  bei  Druck  unempfind¬ 
lich.  —  Ihr  Verlauf  ist  sehr  langsam,  doch  werden  sie  nie 
bösartig.  Sie  erheischen  keine  Operation.  Sie  bestehen 
aus  lockerer,  geronnener  plastischer  Lymphe,  die  sehr 
ungleich  organisirt  ist;  sind  bald  gefäfsreich,  bald  nicht, 
haben  eine  gelbliche  Farbe,  und  zuweilen  Blutstreifen.  — 
Behandlung:  Aufenthalt  in  einer  trockenen,  warmen  Luft, 
warme  Seebäder,  Bewegung  im  Freien,  leichte  animalische 
Kost,  Milch.  —  Innerlich  das  kohlensaure  Eisen  mit  Hheum, 
Columboaufgufs,  Chinin.  —  Oertlich  zuweilen  ein  reizen¬ 
des  Pilaster.  — 

Neuntes  Kapitel.  Von  der  empfindlichen  Ge¬ 
schwulst  der  Brustdrüse  (S.  7ö  —  85).  —  Die  Brust¬ 
drüse  wird  zuweilen  bei  einer  gleichzeitigen  Anschwellung, 
und  auch  ohne  diese,  sehr  empfindlich;  die  Structur  der 
Geschwulst  gleicht  der  der  Drüse  nicht,  sondern  scheint 
eine  specifische  Lrsache  zu  haben.  Beide  Zustände  finden 


992 


VIII.  Krankheiten  der  Brüste. 

sich  vom  löten  bis  30sten  Jahre,  zuweilen  noch  später. 
Befällt  das  Uebel  den  drüsigen  Theil  der  Brust,  so  werden 
einer  oder  mehre  Lappen  bei  Berührung  sehr  empfind¬ 
lich  ,  die  Schmerzen  verbreiten  sich  zuweilen  bis  zur  Ach¬ 
selhöhle  und  Schulter  bis  zu  den  Fingern,  selbst  bis  zur 
Hüfte;  die  Kranken  können  auf  der  Seite  nicht  schlafen, 
und  das  Gewicht  der  Brust  erregt  oft  im  Bette  die  heftig¬ 
sten  Schmerzen.  —  Zuweilen  wechselt,  in  der  Brust  ein 
Gefühl  von  Hitze  und  Kälte  ab;  die  Schmerzen  gleichen 
sehr  denen  des  Tic  douloureux.  Zuweilen  entsteht  Erbre¬ 
chen  nach  denselben.  —  Vor  dem  Eintritt  der  Regeln  sind 
sie  sehr  heftig,  und  nehmen  nach  dein  Auf  hören  derselben 
etwas  ab.  —  Hie  Haut  ist  natürlich  gefärbt.  Zuweilen 
leidet  nur  ein  kleiner  Theil  der  Brust,  zuweilen  die 'ganze, 
meistens  beide.  —  Monate,  ja  Jahre  bleiben  die  Schmerzen 
mit  geringer  Unterbrechung,  haben  keine  böse  Bedeutung; 
eine  Operation  ist  ganz  unnütz.  Zuweilen  findet  man 
gleichzeitig  eine  genau  umschriebene  Geschwulst,  die  sehr 
empfindlich,  besonders  bei  der  Menstruation,  sehr  beweg¬ 
lich,  oft  nicht  gröfser  als  eine  Erbse  ist,  gewöhnlich  allein 
vorkommt;  selten  sind  mehre  zugleich  da.  —  Solche  Ge¬ 
schwülste  wachsen  nicht,  vereitern  nicht,  sondern  werden 
zuweilen  von  selbst  unempfindlich  und  verschwinden.  — 
Sie  bestehen  aus  einer  festen,  halbdurchsichtigen,  mit  Fa¬ 
sern  durchwehten  Substanz,  in  der  der  Verf.  keine  Nerven 
entdecken  konnte.  Sie  sind  Produkte  des  Zellgewebes,  und 
finden  sich  auch  an  anderen  Theilen  des  Körpers.  Sie 
finden  sich  bei  reizbaren,  nervösen  Personen,  die  Regeln 
sind  schwach  und  unregelmäfsig;  Fluor  albus  findet  sich 
oft  dabei.  —  Die  veranlassende  Lrsache  ist  meistens  ein 
Schlag  oder  Druck.  —  Das  beste  örtliche  Mittel  ist  ein 
Pflaster  aus  einem  Seifencerat  und  Belladonnaextract,  oder 
aus  einem  Brei  aus  Belladonna  und  Brot.  Das  Tragen  von 
Wachstaffet  und  Pelz  lindert  durch  Vermehrung  der  Tran¬ 
spiration  den  Schmerz.  Ist  derselbe  sehr  heftig,  Blutegel.  — 
Innerlich  anfangs  Caloinel  mit  Opium  und  Cicuta,  Ab- 


224 


V III.  Krankheiten  der  IJriiste. 


führmittel,  und  zwei-  bis  dreimal  täglich  eine  Pille  aus 
gr.  ij.  Extr.  Conii  und  Papaveris ,  und  gr.  ß  Extr.  Stra- 
monii.  —  Zur  Rcgulirung  der  Menstruation  Eisenmil tel 
und  AIoi:,  und  warme  Soolbäder.  —  Zum  Beleg  des  (je¬ 
sagten  theilt  der  Verf.  acht  Falle  kurz  mit,  und  einen  Fall 
von  einer  ähnlichen  Geschwulst  am  Knie  einer  Dame.  — 

Zehntes  Kapitel.  Von  der  Ecchvmose  der 
Brustdrüse  (S.  85  —  89).  —  In  Verbindung  mit  dem 
eben  genannten  Uebel  kommt  zuweilen  eine  nach  Quet¬ 
schungen  sich  zeigende  Erscheinung  in  der  Brust  vor ,  meist 
bei  jeder  Menstruation ,  und  mit  grofser  Schmerzhaftigkeit 
des  Theiles;  besonders  bei  hochbusigen  Mädchen  unter 
20  Jahren.  Dem  Uebel  gehen  Schmerzen  in  Brust  und 
Arm  vorher.  Das  Austreten  des  Blutes  geschieht  einige 
Tage  vor  der  Menstruation,  und  bildet  einen  grofsen  Fleck; 
kleinere  und  heller  gefärbte  Flecke  erscheinen  gleichzeitig. 
Der  Schmerz  ist  dabei  heftig,  und  verbreitet  sich  bis  in 
die  Finger.  —  Nach  der  Menstruation  verschwindet  das 
Uebel  in  der  Regel,  bleibt  zuweilen  bis  zur  nächsten.  Es 
gleicht  den  Blutunterlaufungen  nach  dem  Ansetzen  von 
Blutegeln,  oder  nach  einem  Aderlässe,  lis  ist  Folge  des 
vermehrten  Blutandranges  nach  den  Brüsten  kurz  vor  dem 
Eintritte  der  Kegeln,  und  zeugt  von  allgemeiner  Schwäche, 
besonders  in  den  Gefäfsen.  —  Das  Uebel  ist  nicht  gefähr¬ 
lich.  —  Man  wendet  Eisenpräparate  zur  Rcgulirung  <Ter 
Menses  an,  und  Chinin  zur  Stärkung  des  geschwächten 
Körperzustandes.  —  Aeufserlich  Liquor  Ammoniac  acetatis 
mit  Weingeist.  —  Vier  Fälle  theilt  der  Verfasser  schliefs- 
lich  mit.  — 

Die  diesem  Werke  angefiängten  Kupfertafeln  sind  mei¬ 
sterhaft  und  mit  grofser  Treue  gezeichnet  und  ausgewählt. 
Die  zelligen  Hydatiden  sind  auf  der  ersten,  zweiten,  drit¬ 
ten,  vierten  und  fünften  Tafel,  die  kugelförmigen  auf  der 
fünften  Tafel  Fig.  5.  dargestcllt.  Die  sechste  und  siebente 
'Tafel  stellen  die  chronische  Brustdriisengesch willst  dar;  die 
achte  die  empfindliche  BrustdrüsengeschvkuLt ,  die  9te  Figur 

die- 


IX.  1.  Varioloiden. 


225 


dieser  Tafel  eine  scrophulüse,  und  die  lOte  Figur  eine 
knochige  Geschwulst  der  Brust;  die  zehnte  Tafel  die  beleb¬ 
ten  Hydatiden.  — 

Druck  und  Papier  sind,  wie  man  es  bei  englischen 
Werken  gewohnt  ist,  ausgezeichnet.  — 

,  Schon. 

\ 

ix. 

Schriften  über  die  Varioloiden. 


1.  Nicol.  Christian  Mühl,  Ueber  die  Varioloiden 
und  Varicellen.  A.  d.  Lat.  übers,  und  mit  Anm.  und 
Zusätzen  herausg.  von  C.  Fr.  Th.  Krause,  M.  D.  Han¬ 
nover,  in  der  Hahnschen  Hofbuchhandlung.  1828.  8.  95  S. 
(8  Gr.) 

Unter  den  zahlreichen  Schriften  über  die  modifi- 
cirten  natürlichen  Blattern  zeichnet  sich  die  des 
Hrn.  Dr.  Mühl  zu  Kopenhagen:  De  varioloidibus  et 
varicellis,  conscripsit  N.  C.  Mühl.  Hafniae.  Gylden- 
dal.  1827.  8.  111  S.,  ganz  vorzüglich  aus.  Sie  ist  aus  der 
Fülle  eigener  Erfahrung  geschrieben,  da  der  Verf.  in  einer 
Blatternepidemie  nahe  an  tausend  (988)  Kranke  selbst  be¬ 
handelt  hat,  worunter  659  Vaccinirte;  zugleich  hat  er  sich 
aber  eine  umfassende  Kenntnifs  der  von  anderen  Aerzten, 
vorzüglich  Engländern,  gemachten  Erfahrungen  und  An¬ 
sichten  erworben,  wodurch  diese  kleine  Schrift,  ah  Zusam¬ 
menstellung,  einen  doppelten  Werth  erhalten  hat.  Da  sie 
sehr  gedrängt  geschrieben  ist,  so  kann  Bef.  hier  nur  das¬ 
jenige  herausheben,  was  dem  Verf.  eigenthümlich  ist,  und 
empfiehlt  sie  angelegentlich  einem  jeden,  der  über  den  frag¬ 
lichen,  äufserst  wichtigen  Gegenstand  eine  kurze  Uebersicht 
XIV.  Bd.  2.  St.  15 


I 


IX.  f.  Varioloitlon. 


•m 

der  wichtigsten  bisherigen  Erfahrungen  und  Ansichten  zu 
haben  wünscht. 

Zuerst  beschreibt  der  Verf.  die  modificirten  Blattern 
(Yariolae  modificatae  oder  Yarioloidcs),  stellt  dann 
die  Gründe  auf,  aus  welchen  sie  als  eine  Form  der 
wahren  natürlichen  Blatte rn  (Yariolae)  anzusehen 
sind,  und  kommt  dann  zu  den  Bedingungen,  unter  welchen 
die  Pocken  diese  Form  annehmen.  Dann  sucht  er  aus  den 
Schriften  der  Alten  der  Yermuthung,  dafs  nicht  Llofs  \  ac- 
cinirte,  sondern  auch  solche,  die  bereits  natürliche  Blattern 
überstanden  haben,  von  den  Vorioloiden  befallen  werden, 
Bestätigung  zu  verschaffen.  Nachdem  er  weiterhin  die  Na¬ 
turgesetze  untersucht,  nach  welchen  der  menschliche  Kör¬ 
per  für  die  Pocken  empfänglich  ist,  und  die  Frage  unter¬ 
sucht  und  bejaht  hat,  dafs  die  Pocken  mehr  als  einmal  den 
Menschen  befallen  können,  geht  er  zur  Vergleichung  und 
Unterscheidung  der  Yarioloiden  und  Yaricellen  über. 

Dieselben  Symptome,  welche  dem  Ausbruche  der  äch¬ 
ten  Blattern  vorhergehen,  kündigen  auch  den  der  modifi¬ 
cirten  an,  nämlich  Fieber,  Uebelkeit,  Erbrechen,  Kopf¬ 
schmerzen,  Bückenschmerzen,  Schmerz  in  den  Präcordien 
u.  s.  w.  Obgleich  zuweilen  diese  Zufälle,  dann  und  wann 
merklich  nachlassend,  drei  und  mehre  läge  hindurch  den 
Kranken  quälen,  so  sind  doch  in  nicht  seltenen  Fällen  diese 
Vorboten  gelinde,  und  nicht  alle  vorhanden.  Am  zweiten, 
dritten,  oder  auch  am  vierten  Tage  der  Krankheit  brechen 
die  Blattern,  zuerst  im  Gesicht  und  an  den  Händen, 
später  an  den  übrigen  Stellen  des  Körpers,  in  Gestalt  klei¬ 
ner  rother  Knötchen  hervor,  und  das  Fieber  und  die  übri¬ 
gen  Yorboten  hören  dann  auf.  Diese  Knötchen  pilegen 
sich  auf  verschiedene  Weise  weiter  auszubilden.  Entwe¬ 
der  wachsen  sie  schnell  in  die  Höhe,  spitzen  sich  zu,  wer¬ 
den  an  der  Spitze  weifs,  dann  gelb,  und  gehen  zuletzt  in 
glatte  hornartige,  bräunliche  Borken  über,  die  auf  einer 
rothen  erhabenen  Grundfläche  aufsitzen;  diese  ganze  Yer- 
änderung  erfolgt  binuen  drei  bis  fünf  lagen,  und  in  der- 


IX.  1.  Varioloiden.  227 

selben  Ordnung,  in  welcher  die  Pocken  ausbrcchen  (Va- 
rioloides  cönicae);  —  oder  sie  wachsen  langsamer, 
und  werden  den  wahren  Blattern  ähnlicher;  sind,  gleich 
den  wahren  Blattern,  irn  unreifen  Zustande  noch  roth  und 
mit  einem  Grübchen  in  der  Mitte  versehen;  im  gereiften 
Zustande  aber  weifs,  glänzend,  halbkugelförmig,  und  un¬ 
terscheiden  sich  von  den  wahren  Blattern  kaum  durch 
geringere  Gröfse  und  ungewöhnliche  Härte  der 
Pusteln  (\arioloides  globosae).  Indessen  tritt  bei 
diesen,  wie  bei  der  vorigen  Form,  die  Abtrocknung 
plötzlich  ein  und  wird  schnell  beendigt;  zwischen 
dem  fünften  und  siebenten  Tage  nach  dem  Ausbruche  ver¬ 
wandeln  sie  sich,  zuerst  im  Gesichte  und  dann  am  übrigen 
Körper,  in  hornartige,  glatte,  braune,  halbkugelförmige 
Borken.  Die  gröfseren  Pusteln  im  Gesichte  geben  an  ihrer 
Spitze,  eben  so  wie  die  normalen  Blattern,  gelben  oder 
grünlichen  Eiter  von  sich,  bevor  sie  an  der  Oberfläche 
rauh  werden  und  in  die  hornartigen  Borken  übergehen. 
Sind  die  Borken  nach  sieben  bis  vierzehn  Tagen  abgefallen, 
so  lassen  sie  oft  noch  lange  dunkelrothe  Flecke,  selten  aber 
Narben  zurück.  —  Das  Contagium  dieser  modificirten 
Pocken  erzeugt  nach  Adams,  Bent,  Williarti’s  Erfah¬ 
rungen  bei  Nicht- Vaccinirten  wahre  Blattern.  —  Wenn¬ 
gleich  die  modificirten  Blattern  kein  Alter  verschonen,  so 
werden  doch  ältere  Menschen  und  solche,  die  schon  vor 
mehren  Jahren  vaccinirt  waren,  unter  übrigens  gleichen 
Umständen,  vorzüglich  leicht  ergriffen  und  erkranken,  wel¬ 
ches  gegen  Thomson,  der  dieses  bezweifelt,  der  \  erf. 
bei  der  Epidemie  in  Kopenhagen  zu  bestätigen  Gelegenheit 
fand.  —  In  der  Kopenhagener  Epidemie  sab  der  Verf.  nicht 
weniger  Vaccinirte  mit  vier  bis  sechs  Kuhpockennarben, 
als  solche  mit  einer  Narbe  von  den  modificirten  Blattern 

I 

ergriffen  werden.  —  Der  Verf.  stimmt  keinesweges  denen 
bei,  welche  behaupten,  dafs  die  normalen  Kuh  pocken 
jeden  einzelnen  Menschen  gegen  die  Blattern 
vollkommen  sichern,  und  hartnäckig  eine  abnorme 

15  * 


m 


IX.  1.  Yarioloiden. 


Vaccination  für  die  einzige  Ursache  ausgeben,  durch  welche 
modificirte  Blattern  hei  Yaccinirtcn  entsteheri.  Denn  unter 
beinahe  700  Yaccinirtcn,  bei  denen  der  Yerf.  die  mehr 
oder  weniger  gemilderte  Blatternkrankheit  beobachtete,  wa¬ 
ren  viele  von  den  geschicktesten  und  zuverlässigsten  Aerz- 
ten  geimpft,  und  ihre  Kuhpocken  in  den  öffentlichen  Impf¬ 
zeugnissen  für  normale  erklärt.  Aufserdem  hatten  viele 
derselben  vier  bis  sechs  Kuhpockennarben,  oft  vom  besten 
Ansehen.  —  Der  Yerf.  sah  in  der  Kopenhagcner  Epidemie 
153  Menschen,  welche  die  Pocken  schon  vor  mehren  Jah¬ 
ren  iiberstanden  zu  haben  behaupteten,  an  diesem  Uebel 
abermals  leiden.  Im  Allgemeinen  war  die  Krankheit  bei 
diesen  nicht  eben  leicht,  denn  von  den  153  starben  nicht 
weniger  als  31;  bei  23  aber  erschien  die  Krankheit 
als  modificirte  Blattern  oder  Yarioloiden.  —  Auch 
bei  Kindern,  die  niemals  weder  die  Kuhpocken  noch  die 
natürlichen  Blattern  iiberstanden  hatten,  sah  der  Yerf.  mo¬ 
dificirte  Pocken,  jedoch  seltener,  denn  nur  bei  17  unter 
158  von  ihm  behandelten  nicht  vaccinirten  Blatternkranken 
hatten  die  Pocken  dasselbe  Ansehen  und  den  schnellen  Ver¬ 
lauf,  wie  dieser  bei  Yaccinirtcn  gewöhnlich  bemerkt  wird. 
In  allen  diesen  Fällen  waren  die  Varioloiden  von  der  tu- 
berculösen  Form,  klein  und  schnell  reifend.  —  Der  Yerf. 
zieht  den  Schlufs:  Modificirte  Blattern  entwickeln  sich, 
wenn  die  Empfänglichkeit,  oder  das  Contagium,  oder  die 
epidemische  Constitution  zur  Erzeugung  der  normalen  Blat¬ 
tern  nicht  hinlänglich  wirksam  vorhanden  sind.  — 
Nach  dem  Yerf.  sind  die  unseren  Varioloiden  gleichenden 
Exantheme  von  den  älteren  Aerzten  falsche  Blattern 
genannt  worden,  obgleich  sie  vom  Contagium  der  ächten 
erzeugt  waren.  —  AVer  die  modificirten  Pocken  überstand, 
kann,  nach  des  Yerf.  Ansicht,  von  den  normalen  später 
noch  ergriffen  werden.  —  Durch  *die  normalen,  regcl- 
mäfsig  verlaufenden  Kuhpocken  wird  die  Pockenanlngc  bei 
den  meisten  Menschen  vollkommen  aufgehoben.  E inige 
wenige  Vaccinirte  bleiben  jedoch  fiir  die  Pockenkrank- 


IX.  1.  Varioloiden. 


229 


heit  empfänglich;  wenige  von  ihnen  für  die  normalen, 
mehre  für  die  modificirten  Pocken.  Die  vor  kurzer  Zeit 
Vaccinirten  widerstehen  der  Ansteckung  besser,  als  die  vor 
10  bis  20  Jahren  Geimpften.  Von  den  659  Vaccinirten, 
die  in  der  Kopenhagener  Epidemie  von  den  Pocken  ergrif¬ 
fen  wurden,  waren  nur  46  in  der  Art  krank,  dafs  ihre 
Pocken  von  den  ächten,  bei  Nicht- Vaccinirten  vorkommen¬ 
den  Blattern  nicht  unterschieden  werden  konnten,  doch 
starben  nur  5,  dahingegen  unter  einer  gleichen  Anzahl 
Nicht- Vaccinirter  10  starben.  Ob  aber  auch  wirklich  diese 
46  Menschen  die  Kuhpocken  gehörig  überstanden  hatten, 
oder  nicht,  ist  nicht  leicht  mit  Sicherheit  zu  ermitteln. 
Von  jenen  46  Blatternpatienten  hatten  wenigstens  21  durch¬ 
aus  keine  Narben  aufzuweisen,  14  hatten  mehr  oder  weni¬ 
ger  deutliche  Narben,  denen  aber  die  charakteristi¬ 
schen  Merkmale  abgingen;  sie  waren  nämlich  entwe¬ 
der  sehr  grofs  und  Narben  von  Fontanellen  ähnlich,  oder 
glatt  ohne  vertiefte  Pünktchen  und  Streifen,  und  ohne 
scharfen  Band.  Nur  11  hatten  eine  bis  sechs  deutliche  und 
vollkommene  Narben.  Jedoch  kann  man  aus  den  Nar¬ 
ben  allein  keinen  sicheren  Schlufs  ziehen.  — -  Der  Verf. 
neigt  sich  zu  der  Ansicht,  dafs  die  Pockenanlage,  obgleich 
einst  zerstört,  nach  Verlauf  einiger  Jahre  sich  wieder  her- 
steilen  kann.  —  Obgleich  Berard  und  de  Lavit,  und 
später  Thomson  die  Ansicht  aufstellten,  dals  die  Varicel¬ 
len,  wie  die  Varioloiden,  Varietäten  einer  und  derselben 
Krankheit,  der  wahren  Blattern  seien,  so  kann  der  Verf. 
dieser  Meinung  doch  aus  guten  Gründen  nicht  beistim¬ 
men.  —  Die  pathognomonischen  Zeichen  der  Varicellen 
sind  nach  Br^ce:  1)  die  geringe,  dem  Ausbruche  vorher¬ 
gehende  fieberhafte  Bewegung;  2)  die  schnelle  Absonderung 
oder  vielmehr  Ergielsung  der  wässerigen  Flüssigkeit  in  dem 
Bläschen;  3)  endlich  die  Zartheit  und  vollkommene  Durch¬ 
sichtigkeit  des  Bläschens. 

Plagge. 


230 


IX.  2.  Vnrioloidcti. 


W  ir  können  bei  dieser  Gelegenheit  eine  recht  interes¬ 
sante  Beschreibung  der  zu  Halle  1826  und  27  vorgekom- 
menen  Porkcnepidemie  nicht  unerwähnt  lassen.  Sie  ist  in 
folgender  Abhandlung  enthalten: 

2.  Variolarum,  quae  HalaeSax.  per  integrum  an- 
num  1826  et  anni  1827  trimestrc  floruerunt, 
descriptiö.  Diss.  inaug.  conscr.  J.  K.  Thulesius, 
Bremanus.  182t.  pp.  54. 

Ejne  mit  vielem  Fleifse  ausgearheitete  Dissertation,  die 
es  schon  ihres  Inhalts  wegen  verdient,  der  Vergessenheit 
entzogen  zu  werden.  —  lm  Monat  November  1825  wurde 
zuerst  ein  Pockenkranker,  ein  Reisender,  der  von  Salzburg 
kam,  in  die  med.  Klinik  aufgenommen,  und  nach  achtzehn 
Tagen  wieder  gesund  entlassen.  Sechs  Wochen  darauf 
erkrankte  an  demselben  Uebel  ein  12  Jahre  alter,  bereits 
vaccinirter  Knabe,  der  aber  auch  die  Krankheit  leicht  über- 

4 

stand.  Mehre  W  ochen  hindurch  schwieg  nun  die  Krank¬ 
heit,  anfangs  Mai  aber  trat  sie  plötzlich  bei  vielen  auf, 
nur  bei  solchen  nicht,  die  schon  die  wirklichen  Pocken 
iiberstanden  hatten.  Im  Anfänge  und  bis  in  die  Mitje  des 
Sommers  verliefen  die  Pocken  ganz  leicht,  und  es  starb 
keiner,  selbst  von  denen  nicht,  die  noch  nicht  vaccinirt  wa¬ 
ren.  Dann  aber  traten  sie  heftiger  auf  und  tödteten  viele, 
jedoch  nur  solche,  die  nicht  vaccinirt  waren.  Im  Allge¬ 
meinen  war  der  Verlauf  der  Pocken  gutartig,  wenn  sie 
picht  complicirt  waren,  in  diesem  Falle  aber  war  die  Pro¬ 
gnose  sehr  böse,  und  die  Kranken  starben  häufig.  Die  am 
öftersten  vorkommende  Gomplication  war  die  mit  Entzün¬ 
dung  der  Respirationsorgane,  bald  des  Larynx  und  der  Tra- 
<hea,  bald  aller  Athmungswcrkzenge ,  bald  auch  blols  der 
Lungen  und  der  Bronchien.  Selten  erkrankte  das  Gehirn 
so,  dafs  Apoplexie  den  Tod  herbeiführle;  Gongest ionen  zum 
Gehirn,  Delirien,  stellten  sich  fast  nur  im  Stadium  eruptio- 
nis  ein,  selten  kamen  sie  im  Stad,  suppurationis  vor.  Die 
1  nterlcibsorgane  erkrankten  selten  bedeutend;  nicht  oft 


IX.  2.  V  anoioiden. 


231 


gesellten  sich  Diarrhöen  zuin  Stad.  suppurationis.  Bei  den 
Sectionen  fand  man  die  Milz  oft  compact  und  verhärtet; 
Zeichen  von  Milzleiden  konnten  während  des  Lebens  nicht 
aufgefunden  werden,  Spuren  von  Affection  der  Leber 
fanden  sich  nicht.  Das  Auftreten  von  Petechien  war  ein 
böses  Zeichen,  und  setzte  ziemlich  gewifs  den  Tod  voraus. 
Die  Entzündung  der  Augen  hatte  im  Allgemeinen  nichts  zu 
sagen,  nur  bei  einem  Kranken  exulcerirte  die  Hornhaut, 
und  die  Humores  oculi  flössen  aus.  Alle,  die  die  Krank¬ 
heit  überstanden,  convalescirten  leicht  und  ohne  alle  Arz¬ 
nei.  Nur  in  einem  Falle  folgten  den  Pocken  gangränöse 
Geschwüre,  die  aber  geheilt  wurden.  Im  Ganzen  traten 
die  Pocken  im  Winter  heftiger  auf,  als  im  Sommer.  Am 
heftigsten  wütheten  sie  in  den  Monaten  Januar  und  Fe¬ 
bruar,  um  welche  Zeit  sie  ihre  Acme  erreicht  hatten.  104 
Pockenkranke  wurden  von  der  ined.  Klinik  aus  behandelt; 
51  davon  waren  nicht  vaccinirt  gewesen  ,  hatten  aber  auch 
die  Pocken  noch  nicht  überstanden,  von  diesen  wurden  die 
meisten  schwer  krank,  und  15  starben.  Die  anderen  53 
hatten  schon  die  Kuhpocken  gehabt,  sie  erkrankten  nur 
leicht.  Die  Pocken  befielen  sowohl  Kinder,  als  Erwachsene, 
das  jüngste  Kind  war  11  Wochen  alt,  der  älteste  Erwach¬ 
sene  31  Jahr.  Erwachsene  starben  weniger,  als  Kinder. 
(Es  ist  zu  bedauern,  dafs  der  Verf.  keine  ins  Specielle  ge¬ 
hende  Tabelle  über  das  Mortalitätsverhältnifs  mitgetheilt 
hat,  und  zwar  um  so  mehr,  da  die  klinischen  Lehrer  leider 
dem  betreffenden  Physicus  keinen  Quartalbericht  über  die 
behandelten  Kranken  einschicken!)  Im  Allgemeinen  hatten 
die  Pocken  den  sthenischen  Charakter;  Fälle  von  nervösen 
Pocken  waren  selten.  —  Auf  die  Beschreibung  des  Ver¬ 
laufes  der  Pocken  nach  ihren  verschiedenen  Stadien  können 
wir  uns  nicht  einlassen,  weil  wir  sonst  zu  weitläufig  wer¬ 
den  würden,  wir  bemerken  nur,  dafs  die  Schilderung  mit 
kurzen,  kräftigen  Zügen ,  aber  meisterhaft  abgefafst  ist.  Der 
Verf.  betrachtet  übrigens  mit  Recht  die  Variolae  und  die 
Varioloides  als  Krankheiten  desselben  Geschlechts,  die  sich 


I 


•m 


IX.  3.  Varioloiden. 

4 

nur  durch  ihren  heftigeren  oder  milderen,  regelmäßigen 
oder  schnelleren  Verlauf  von  einander  unterscheiden,  und 
spricht  sich  mit  klaren  Worten  für  die  Schutzkraft  der 
Kuhpocken  aus.  Kinder,  deren  Geschwister  an  den  Pocken 
krank  lagen,  und  mit  denen  sic  umgingen,  wurden  vacci- 
nirt,  aber  am  fünften,  sechsten  oder  achten  Tage  wurden 
sie  von  den  Yarioloiden  befallen,  die  gleichzeitig  mit  den 
Kuhpocken  verliefen !  Einige  noch  nicht  vaccinirte  Kinder, 
die  aber  die  Variolae  oder  die  Varioloiden  überstanden  hat¬ 
ten,  wurden  mit  anderen  noch  nicht  vaccinirten  Kindern 
zugleich  vaccinirt,  aber  ohne  Erfolg,  während  bei  letzteren 
die  Kuhpocken  sehr  schön  aufblühten.  —  Den  Beschlufs 
dieser  Dissertation,  die  wir  mit  Vergnügen  gelesen  haben, 
und  an  welcher  wir  nur  auszusetzen  finden,  dafs  sich  der 
Verf.  nicht  auch  über  die  angewandte  Kurmethode  ausge¬ 
lassen  hat,  machen  einige  gut  erzählte  Krankengeschichten. 


3.  Ueber  die  Varioloiden  oder  die  modificirten 
Pocken.  Von  Dr.  Leopold  Maier,  Kreis-Physicus, 
praktischem  Azte  in  Berlin  u.  s.  w.  Berlin,  bei  G.  Eincke. 
1829.  8.  101  S.  Mit  «lern  Motto:  «Non  fingendum  aut 
exeogitandum,  sed  inveniendum,  quid  natura  faciat  aut 
ferat.  ” 

Ein  erfreuliches  Ergebnifs  der  besseren  Diagnostik  der 
Ausschlagskrankheiten  in  neuerer  Zeit,  ist  die  Ermittelung 
der  Natur  der  Varioloiden  in  dem  verhältnifsmäfsig  kurzen 
Zeiträume  von  zehn  Jahren.  Das  vorige  Jahrhundert  konnte 
sich  keiner  umfassenden  Kenntnifs  der  acuten  Exantheme 
rühmen.  Scharlachfieber,  Masern,  Külhcln  —  welche  Wider¬ 
sprüche  herrschten  über  diese  Krankheiten  selbst  bei  den 
besten  ärztlichen  Schriftstellern,  und  nach  wie  schwanken¬ 
den  Grundsätzen  wurden  nicht,  ungeachtet  der  klassischen 
Vorarbcitcu  Sydcnham’s,  selbst  die  Pocken  fast  bis  zu  Ende 


IX.  3.  V  arioloidcn. 


233 


jenes  Jahrhunderts  behandelt.  Blicken  wir  noch  weiter  in 
das  Alterthum  zurück,  so  finden  wir  nichts  als  dunkele, 
kaum  zu  beachtende  Anfänge  einer  Lehre  von  den  Exan¬ 
themen,  in  der  allein  der  Name  derselben  einen  sinnreichen, 
der  Natur  entsprechenden  Gedanken  enthält.  Fünf  Jahr¬ 
hunderte  lang  waren  die  Pocken  in  Kleinasien,  Afrika  und 
im  südlichen  Europa  verbreitet,  und  wurden  von  griechi¬ 
schen  Aerzten,  unter  denen  einige  als  Beobachter  einen 
hohen  Rang  einnahmen,  nicht  einmal  erwähnt,  und  als  sie 
in  verheerenden.  Seuchen  oftmals  wiederkehrend  aufkeimende 
Geschlechter  zerstörten,  da  wufsten  die  Galenisten  und 
Arabisten  nichts  Erspriefsliches  zu  ratben,  ja  es  kann  ge¬ 
schichtlich  erwiesen  werden,  dafs  durch  die  Aerzte,  so  wie 
durch  die  Yorurtheile  unter  dem  Volke,  der  Ansteckungs¬ 
stoff  recht  eigentlich  gehegt,  und  vielleicht  mehr  verschlim¬ 
mert  worden  ist,  als  dies  nach  dem  natürlichen  Verlaufe 
geschehen  sein  würde.  Ueberall  nur  träges  Fortschreiten 
in  einem  für  die  Menschheit  hochwichtigen  Zweige  der 
praktischen  Heilkunde,  und  spärliche  Erfahrungskenntnisse, 
durch  unzählige  Opfer  erworben,  so  dafs  man  das  «  expe- 
rimenta  per  mortes  agere  »  mit  vollem  Rechte  auf  die  Lehre 
von  den  xXusschlagskrankheiten  anwenden  könnte.  Welche 
Klarheit  der  Beobachtung  bietet  dagegen  die  neuere  Zeit 
dar!  Kaum  wurden  im  Jahre  1818  die  ersten  unzweifel¬ 
haften  Fälle  modificirter  Pocken  nach  regelmäfsig  verlaufe¬ 
ner  Vaceination  von  englischen  Aerzten  bekannt  gemacht  r), 
so  zeigte  sich  überall  ein  reger  Eifer,  die  Natur  dieses 
Exanthems  zu  ergründen,  und  schon  in  wenigen  Jahren 
verstummten  die  Aerzte,  die  durch  hartnäckiges  Leugnen 
der  unerfreulichen  Thatsache,  wie  sie  meinten,  die  neuen 
Theorieen  bekämpften.  Erfahrungen,  die  Allen  bekannt 
sind,  wurden  festgestellt,  und  bald  wird  auch  das  noch 
hinzugethan  sein,  was  nicht  der  Scharfsinn  ergründen,  son¬ 
dern  allein  die  Zeit  lehren  kann.  Unterdessen  haben  wir 


1)  Edinburgh  mcd  and  surg.  Journal.  Voll  XIV.  p.  518. 


234 


IX.  3.  VTarioloi(lcn. 


darauf  zu  sehen,  dafs  die  gewonnene  sichere  Krkenntnifs 
der  Varioloiden,  und  die  durch  Beobachtung  dieses  Exan¬ 
thems  unleugbar  verbesserten  Ansichten  über  die  Pocken 
und  die  \aricellen  nicht  wieder  durch  einseitige  Theoriecn 
getrübt  werden.  Daher  müssen  uns  Schriften,  die  sichere 
Erfahrungskenntnissc  hierüber  verbreiten,  und  sollten  sic 
auch  nur  einzelne  Gegenstände  auf  hellen,  willkommen  sein 
und  werth  gehalten  werden. 

llr.  Dr.  Maier,  der  \  crf.  der  vorliegenden  Abhand¬ 
lung,  hat  mit  unbefangenem  Sinn  achtzehn  Jahre  lang  die 
Kuhpocken,  die  Menschenpocken  und  die  Varioloiden  im 
Grofsen  beobachtet  Er  hat  als  Kreisphysicus  im  Grofs- 
herzogthum  Posen  über  20,000  Individuen  vaccinirt,  und 
den  Verlauf,  so  wie  die  Schutzkraft  der  Vaccine,  mit  rüh- 
menswerther  Sorgfalt  beachtet,  die  Impfung  nöthigenfails 
und  selbst  in  denjenigen  Fällen  wiederholt,  wo  nur  eine 
Pustel  erschienen  war.  Dies  ^  erfahren  ergab  bei  ausbre¬ 
chenden  Pockenepidemieen  die  schönsten  Resultate,  und 
half  in  dem  W  irkungskreise  des  Verf.  den  Erfahrungssatz 
befestigen,  dafs  die  Varioloiden  nicht,  wie  noch  jetzt  viele 
glauben,  die  Folge  einer  unvollkommenen  Vaccination  sind, 
sondern  aus  einem  im  menschlichen  Körper  nach  überstan¬ 
dener  Vaccine,  selbst  der  besten,  noch  vorhandenen  Resi¬ 
duum  der  angebornen  Disposition  zu  den  ächten  Menschen¬ 
pocken- entstehen ,  welches  keine  Vaccine  zu  tilgen  im  Stande 
ist.  Hier  wäre  es  nun  allerdings  wünschenswert!)  gewesen, 
dafs  der  Verf.  sich  genauer  ausgedrückt  hätte.  Dafs  jene 
Disposition  für  eine  gewisse  Zeit  aulgehoben  wird,  ist  aus¬ 
gemacht.  Wie  lange  diese  Zeit  unter  verschiedenen  l  rn- 
'  ständen  währt,  darüber  fehlt  es  noch  an  umfassenden  Er¬ 
fahrungen,  «loch  wäre  es  schon  zweckdienlich,  wenigstens 
die  vorhandenen  zusammenzustclleo ,  aus  denen  sich  schon 
mit  einiger  Bestimmtheit  eine  Regel  über  die  W  iederholung 
der  Impfung  entnehmen  lassen  würde.  Dies  könnte  am 
besten  in  tabellarischer  Form  mit  Aufführung  aller  wesent¬ 
lichen  Entstände  in  besonderen  Rubriken  geschehen,  der  Zahl 


IX.  3.  V  arioloiden. 


‘235 

der  Pusteln,  des  Verlaufes  derselben,  der  überstandenen 
Nachkrankheiten,  des  Alters  und  des  Gesundheitszustandes 
des  Impflings,  des  Ausbruches  der  Varioloiden  u.  s.  w. , 
woraus  der  Wahrheit  sich  annähernde  und  sich  mehr  und 
mehr  berichtigende  Zahlenverhältnisse  hervorgehen  würden. 
J)  ie  D/agnose  der  Varioloiden  hat  der  Verf.  mit  vieler 
Genauigkeit,  und  mit  Bestätigung  der  bisherigen  besseren 
Erfahrungen  bearbeitet.  Eine  ausführliche  Darstellung  der 
vier  Stadien  derselben  dient  dem  Ganzen  zur  Grundlage, 
das  durch  eine  zweckmäfsigere  Eintheilung  und  den  Inhalt 
bezeichnende  Ueberschriften  an  Uebersichtlichkeit  sehr  ge¬ 
wonnen  haben  würde.  Den  Ausbruch  sah  der  Verf.  immer 
rasch  hintereinander  erfolgen,  so  dafs  am  zweiten  Tage 
dieses  Stadiums,  also  am  fünften  oder  vierten  der  ganzen 
Krankheit,  nur  noch  einige  Nachzügler  erschienen.  Nie¬ 
mals  beobachtete  er  eine  zweite  Eruption,  die  bei  den  Va¬ 
ricellen  häufig  gesehen  wird,  auch  erschienen  die  Varioloi¬ 
den  nicht,  wie  die  vollkommenen  Menschenpocken ,  zuerst 
im  Gesicht,  sondern  meistens  zuerst  auf  den  Oberextremi¬ 
täten,  oder  auf  dem  Halse,  oder  auf  der  Brust,  auf  dem 
Bücken,  und  dann  erst  auf  dem  Gesichte  und  dem  übrigen 
Körper.  Niemals  erschienen  sie  auch  in  so  grofser  Anzahl, 
als  gewöhnlich  (?)  die  ächten  Menschenpocken  sich  zei¬ 
gen,  —  gewifs  ein  schwankendes  Diagnosticum,  auf  das  bei 
der  nicht  seltenen  Gelindigkeit  der  letzten,  und  der  oft 
beobachteten  Heftigkeit  der  Varioloiden,  die  wie  bei  jenen 
mit  der  Zahl  der  Pusteln  im  Verhältnifs  steht,  nicht  viel 
zu  geben  sein  möchte.  Das  Eiterungsstadium  nennt  der 
Verf.  bei  den  Varioloiden:  Stadium  inspissationis,  weil  in 
ihm  keine  vollständige  Eiterung,  sondern  nur  eine  Ver¬ 
dickung  der  in  den  Pusteln  enthaltenen  Flüssigkeit  vor  sich 
geht.  Ein  secundäres  Fieber  bat  er  in  diesem  Stadium, 
wie  andere  Beobachter,  nie  gefunden,  doch  erscheint  es 
ausnahmsweise  in  Fällen  von  gröfserer  Heftigkeit.  An  und 
für  sich  sind  die  Varioloiden  eine  milde  Krankheit,  und 
bedürfen  gewöhnlich  keiner  ärztlichen  Behandlung ;  die  vor- 


236 


IX.  3.  Varioloulen. 


gekommenen  Falle  von  Bösartigkeit ,  oder  von  irgend  be- 
d  nklichen  Erscheinungen,  setzt  der  Verf.  entweder  auf 
Rechnung  einer  iibclen  Complication,  wie  etwa  mit  «Ty¬ 
phus,  oder  einer  unvollkommenen  Vaccination.  lieber  «las 
Contagium  der  Varioloiden  findet  Bef.  in  dieser  Abhand¬ 
lung  die  anerkannt  richtigen  Annahmen  durch  einige  inte¬ 
ressante,  der  Schutzkraft  der  Vaccine  sehr  günstige  Erfah¬ 
rungen  bestätigt,  und  mit  bewährten  pathologischen  Lehr¬ 
sätzen  verweht,  deren  Zusammenstellung  für  Zweifelnde 
oder  Anfänger  gewifs  sehr  unterrichtend  ist.  Der  Verf. 
bestätigt  die  noch  nicht  völlig  erwiesene  Annahme  Bei  Fs, 
dafs  die  Varicellen  die  natürliche  Anlage  zu  den  Pocken 
so  modificiren,  dafs  Individuen,  welche  dies  Exanthem  frü¬ 
her  überstanden  haben,  wenn  sie  von  den  Pocken  ange- 
stcckt  werden,  diese  um  so  gelinder  bekommen,  je  heftiger 
die  Varicellen  waren.  Den  Unterschied  der  letzten  von 
den  Varioloiden  bestimmt  er  durch  folgende  Diagnostica 
(S.  49):  1)  Die  Varioloiden  füllen  sich  stets  wieder,  wenn 
sie  etwa,  im  Zeiträume  der  Füllung,  aufgestochen  werden; 
die  V  aricellen  dagegen  füllen  sich  zum  zweiten  Male  nie, 
sind  gewöhnlich  gröfser,  als  die  Varioloiden,  und  platzen 
auch  öfter  auf.  2)  Die  Varioloiden  bekommen  blofs  dieje¬ 
nigen,  welche  die  Vaccine  überstanden  haben;  die  \  aricel¬ 
len  dagegen  können  alle  Menschen  bekommen,  sowohl  die 
Geblätterten  und  Vaccinirten,  als  auch  die  ISichtgcblatter- 
ten  und  Kichtvaccinirten.  3)  Die  Varioloiden  verlaufen 
stets  nach  denselben  Stadien,  wie  die  Menschenpocken;  die 
Varicellen  dagegen  zeigen  häufig  ganz  und  gar  keine  regel- 
mäfsigen  Stadien,  und  wenn  dies  in  seltenen  Fällen  ge¬ 
schieht,  so  durchlaufen  sic  dieselben  noch  weit  rascher,  als 
die  Varioloiden,  so  dafs  viele  Varicellen  am  dritten  Tage 
schon  eintrocknen.  4)  Die  Varioloiden  verbreiten  oft  einen, 
dem  specifischen  der  Mei»*chenpocken  ganz  ähnlichen  Ge¬ 
ruch,  die  Varicellen  dagegen  einen  von  diesem  sehr  ver¬ 
schiedenen  Geruch.  5)  Die  Varioloiden  lassen  sich  durch 


237 


IX.  3.  X  arioloulcn. 

Einimpfung  fortpllanzen,  die  Varicellen  nicht,  u.  s.  w 

Die  Annahme,  dafs  die  Vaccination  nur  16  _  20  Jahre 

ihre  Schutzkraft  behalte,  ist  der  Verf.  nicht  geneigt  zu 
unterschreiben,  weil,  wenn  dies  der  Fall  wäre,  ungleich 
mehr  Individuen  bei  den  letzten  Pockenepidemieen  hätten 
angesteckt  werden  müssen;  er  ist  überzeugt,  dafs  auch  nach 
diesem  Zeiträume  das  Pockencontagium  nur  Varioloiden  her¬ 
vorbringen  könne,  erkennt  die  Empfänglichkeit  für  das 
Pockencontagium  und  die  Vaccine  nicht  für  identisch,  so 
dafs  man  nicht  annehmen  könne,  ein  Individuum,  bei  dem 
die  Vaccine  zum  zweiten  Male  gehaftet,  würde,  der  An¬ 
steckung  ausgesetzt,  die  Menschenpocken  bekommen  haben, 
und  spricht  sich  sehr  zweifelhaft  über  die  von  vielen  ange¬ 
nommene  Nothwendigkeit  einer  erneuten  Vaccination  aus. 
Auch  nach  der  vollkommensten  Vaccination  bleibe  ein  Re¬ 
siduum  der  natürlichen  Pockenanlage  zurück,  aus  dem  sich 
die  Varioloiden  entwickeln  ?  diese  können  demnach  schon 
bald  nach  der  Vaccination  entstehen,  und  erscheinen  sie 
nach  längeren  Zeiträumen,  so  behalten  sie  stets  ihre  eigen- 
thiimliche  Natur  als  Varioloiden,  und  gehen  nie  in  ächte 
Menschenpocken  über.  Am  Schlüsse  dieser,  den  Aerzten 
wegen  der  in  ihr  enthaltenen  Erfahrungsresultate  sehr  zu 
empfehlenden  Abhandlung  spricht  sich  der  Verf.  über  den 
Unterschied  der  wahren  von  den  falschen  Kuhpocken,  und 
über  das  Verfahren  aus,  eine  vollkommene  Vaccine  zu 
erhalten. 

Wir  verbinden  mit  diesem  Artikel  folgende,  der  Re¬ 
daction  vom  Hrn.  Dr.  Locher  zugekommene  Correspon- 
denznachricht : 

Vor  einiger  Zeit  fand  in  unseren  öffentlichen  Blättern 
eine  (zwar  nur  kurze)  Verhandlung  wegen  der  Menschen- 
und  Kuhpocken  statt.  Dr.  Mayor  in  Genf  machte  in  ei¬ 
nem  der  dortigen  Blätter  den  Vorschlag,  zu  vollkommener 
Sicherung,  die  Kinder  zuerst  zu  vacciniren,  dann  noch  in 


/ 


238 


IX.  3.  V  arioloidcn. 


einigen  Wochen  nach  dem  Verlaufe  zu  inoculiren,  und  ei¬ 
nige  läge  später,  noch  vor  dem  Ausbruche  der  Maltern, 
wieder  zu  vacciniren  1 ).  Dadurch  soll  möglichste  Siche¬ 
rung  vor  den  Variolis  erzweckt,  und  doch  der  \  erlauf  der 
inoculirten  Blattern  gefahrlos  gemacht  werden.  Auf  die 
Bedenken,  welche  ein  Zürcher  Blatt  gegen  die  Wiederein¬ 
führung  der  Pocken  und  gegen  die  Gefahr  der  Inoculation 
aussprach,  gab  Mayor  dies  allerdings  zu,  glaubt  aber,  man 
dürfe  einen  Vater  nicht  bindern,  der  sein  Kind  zur  grösse¬ 
ren  Sicherheit  wolle  inoculiren  lassen,  und  bemerkt,  dafs 
im  verflossenen  Jahre  von  mehren  angesehenen  Genfer  Aerz- 
ten  die  Inoculation  der  Menschenpocken  öfters  vorgenom¬ 
men  worden.  Es  waren  1827  in  Genf  42  Personen  an  den 
Pocken  gestorben,  und  besonders  in  der  letzten  Zeit  fing 
die  Krankheit  an,  einen  epidemischen  Charakter  anzuneh¬ 
men.  Den  eigentlichen  Fragepunkt  über  die  Schutzkraft  der 
Vaccine,  und  die  Nothwendigkeit  eines  neuen  Schutzmittels, 
übergeht  Mayor;  hingegen  wurde  in  einer  der  Sitzungen 
der  ISaturforschenden  Gesellschaft,  wo  dieser  Gegenstand 
zur  Sprache  kam,  einstimmig  von  allen  Züricher  Aerzten 
die  in  hohem  Grade  schützende  Kraft  der  Vaccine  bestä¬ 
tigt,  der  Absolutismus  allerdings  nicht  anerkannt.  Wäh¬ 
rend  vor  drei  Jahren  in  den  angränzenden ,  besonders  de¬ 
mokratischen  Kantonen,  wo  die  \  accination  sehr  mangel¬ 
haft  ist,  eine  Menge  von  Kindern  der  Seuche  unterlagen, 
wurden  im  Kanton  Zürich  nur  einzelne  befallen,  und  diese 
gröfstentheils  nicht  bösartig.  -7—  Unbekannt  war  mir,  dafs 
auch  auf  dem  Continente  Menschenpocken  inoculirt  werden; 
und  ungeachtet  der  als  nothwendig  anerkannten  polizeilichen 
Maafsregeln,  bleibt  die  Sache  immer  ein  mifsliches  Unter¬ 
nehmen:  anstatt  die  Krankheit  auszurotten,  dieselbe  zu 
unterhalten. 


1)  Vir 

YV  111c  verse 


erinnern  unsere  J.cscr  an  einen  ähnlichen,  von 
h  gethanen  Vorschlag.  JBd.  IX.  11.  2.  £>.  217  d.  A. 


239 


X.  Venerische  Krankheiten. 

X.  -  ... 

/ 

Traitd  complct  des  maladies  veneriennes, 
contenant  l’exposilion  de  leurs  symptornes  et  de 
lenr  traitement  rationnel,  d’apres  les  principes  de 
la  medecine  organique,  avec  l’histoire  critiqne  des 
theories  et  des  me'thodes  curatives  generalement 
regues;  par  A.  J.  L.  Jourdan,  Dr.  en  me'd.,  Che¬ 
valier  de  la  legion  d’honneur,  membre  des  acade- 
mies  royales  de  medecine  ä  Paris  etc.  Paris, 
Mequignon-Marvis,  libraire  editeur,  rue  du  Jar- 
dinet  No.  13.  1826.  2  Voll.  8.  1  —  430  und 

431  —  916.  Mit  dem  Motto:  Dans  letude  des 
maladies  il  faut  voir  e^;  non  supposer.  Baumes. 

(  Fortsetz  ung.) 

Zweites  Kapitel.  Von  den  secundären  veneri¬ 
schen  Krankheiten  im  Allgemeinen.  Das  Resultat 
der  Untersuchungen  des  Verf.  sind  folgende  Corollarien : 

1)  Die  secundären  venerischen  Krankheiten  sind  diejeni¬ 
gen,  welche  in  einem  Theile  des  Körpers  erschei¬ 
nen,  der  verschieden  ist  von  dem,  der  mit  einer 
entzündeten  oder  schwärigen  Fläche  mittelbar  oder 
unmittelbar  in  Berührung  gekommen  ist  bei  Gele¬ 
genheit  des  Coitus. 

2)  Man  darf  als  solche  nur  diejenigen  betrachten,  welche 
sich  während  des  Verlaufes,  oder  sehr  kurze  Zeit 
nach  der  Heilung,  oder  unmittelbar  nach  der  plötz¬ 
lichen  Unterdrückung  einer  primären  venerischen 
Affection  einstellen. 

3)  Sie  hängen  oft  von  dem  Beharren  eines  geringen 
Reizungsgrades  in  dem  vorher  entzündeten  Theile 
ab.  Wirklich  rühren  sie  auch  oft  blofs  von  den 
sympathischen  Beziehungen,  welche  zwischen  allen 
Organen,  und  besonders  zwischen  einigen  von  ihnen 


240 


X.  Venerische  Krankheiten. 


obwalten,  her.  Aber  in  Her  bei  weitem  grölseren 
Zahl  der  Falle,  sind  sie  das  Resultat  einer  direeten 
Reizung,  welche  durch  irgend  eine  zufällige  Ur¬ 
sache  auf  den  Theil,  welcher  der  Sitz  davon  wird, 
wirkte,  oder  der  Prädisposition  zur  Reizung,  worin 
sich  der  Theil  befand. 

4)  Sie  werden  oft  durch  die  Wirkung  zu  heftiger  Mit¬ 
tel,  und  besonders  durch  die  des  Mercurs,  auf  die 
Digestionsorgane  erzeugt,  so  dafs  man  in  ihnen  eher 
Krankheiten  erkennen  mufs,  die  durch  die  Arzneien 
hervorgerufen  sind,  als  solche,  welche  die  Natur 
erzeugt  hat. 

5)  Die  Fälle,  in  denen  sie  nachfolgen,  sind  w’eit  sel¬ 
tener,  als  die,  in  denen  sie  nicht  erscheinen,  wenn 
man  die  primären  Krankheiten  sich  selbst  überläfst. 

6)  Man  kann  sie  nicht  in  eine  bestimmte  Reihenfolge 
bringen,  welche  mit  dieser  oder  jener  Nuance  von 
primärer  Affcction  correspondiren. 

7 )  Sie  beobachten  in  ihrem  Auftreten  und  in  ihrer 
Folge  weder  Ordnung  noch  Rcgelmäfsigkeit. 

8)  Wenn  ihrer  mehre  zugleich  bestehen,  so  können 
sie  eine  von  der  anderen  unabhängig  und  durch 
mehre  deutliche  Reizungsheerde  hervorgerufen  sein, 
oder  anscheinend  mit  einander  in  Verbindung  stehen, 
und  alsdann  hängen  sie  immer  von  einer  chronischen 
Reizung  der  Eingeweide  ab. 

9)  Man  kann  sie  nicht  als  eine  besondere  specifische 
Krankheit,  als  eine  Krankheit  sui  generis  betrachten. 

10)  Folglich  besteht  die  Syphilis,  als  das  was  man  ge¬ 
wöhnlich  darunter  versteht,  nicht,  weil  die  ver¬ 
schiedenen  Krankbeitszuständc,  die  man  unter  die¬ 
sem  Namen  zusammenfafst,  auf  einer  heterogenen 
Mischung  von  Symptomen  beruhen,  welche  unter 
dem  Einflüsse  sehr  verschiedener  l  rsachen,  durch 
die  Verletzung  eines  oder  mehrer  Eingeweide  her¬ 
vorgebracht  sind. 


Drit- 


X.  Venerische  Krankheiten. 


24  J 


Dritter  Abschnitt.  Von  den  Comp  lication en  der 
venerischen  Krankheiten.  Ganz  kurz,  und  ohne  be¬ 
sonders  hervorzuhebende  Sätze. 

Zweites  Buch.  Von  der  Theorie  und  Geschichte 
der  venerischen  Krankheiten.  Man  kann  die  jetzt 
noch  bestehenden  Theorieen  auf  drei  zurückfuhren.  Die 
eine,  allgemein  anerkannte,  nimmt  ein  eigenes  specifisches, 
das  venerisch -syphilitische  Gift  an,  dessen  specifike  Wir¬ 
kung  auf  die  festen  und  flüssigen  Theile  des  Körpers  alle 
die  Zufälle  hervorruft,  welche  die  Gegenwart  dieser  Krank¬ 
heit  bezeichnen.  Die  beiden  anderen  beziehen  die  Krank¬ 
heitserscheinungen  auf  die  blofse  Reizung  der  lebendigen 
Gewebe,  welche  von  einem  nahe  gelegenen  Theile  auf  den 
anderen  durch  eine  blofs  sympathische  Wirkung  sich  fort¬ 
pflanzt.  Bei  der  einen  von  diesen  beiden  aber,  bei  der 
Hunterschen,  nimmt  man  zugleich  ein  Gift  an,  und  man 
setzt  voraus,  dafs  die  durch  die  blofs  örtliche  Reizung  die¬ 
ses  Princips  in  Aufregung  gekommenen  Svmpathieen  der 
Art  sind,  dafs  sie  in  den  seeundär  gereizten  Theilen  Be¬ 
wegungen  hervorbringen,  denen  ähnlich,  welche  das  Gift 
in  den  zuerst  ergriffenen  Theilen  erzeugt  hatte,  ln  der 
anderen  verwirft  man  jede  dem  Organismus  fremde  mate¬ 
rielle  Reizung,  und  betrachtet  die  primären  venerischen 
Krankheiten  als  Heerde  einer  örtlichen  Reizung,  welche 
unter  gewissen  Umständen  sympathisch  andere  entfernte 
Organe  ins  Spiel  ziehen  kann,  wovon  jedes  nach  seiner  Art, 
d.  h.  nach  Maafsgabe  seiner  eigenen  Textur  und  seiner  Be¬ 
ziehungen  zu  den  anderen  Theilen,  reagirt. 

In  den  ersten  drei  Kapiteln  geht  der  Verf.  die  ver¬ 
schiedenen  Meinungen  über  den  Ursprung  der  Syphilis 
durch,  leugnet  den  amerikanischen  Ursprung  derselben, 
spricht  von  der  Epidemie  der  Marranen,  und  kommt  end¬ 
lich  nach  vielfältigen  Erörterungen,  die  jedoch  kein  ganz 
sorgfältiges  Quellenstudium  erkennen  lassen  ,  auf  den  Schluls, 
dafs  die  venerischen  Krankheiten  schon  im  entferntesten 
Alterthum  existirt  haben.  Er  widerspricht  der  Annahme, 

16 


XIV.  Bd.  2.  St. 


X.  Venerische  Krankheiten. 


24  2 


dafs  die  Syphilis  eine  allmählige  Verminderung  ihrer  Inten¬ 
sität  erleide;  man  könne,  sagt  er,  noch  täglich  in  «Jen  Spi- 
tälern  alle  jene  schrecklichen  Formen  von  syphilitischen 
Atfeclionen  sehen;  doch  hält  er  diese  Zufälle  nicht  für  ve¬ 
nerisch,  sondern  vielmehr  fiir  Folgen  der  Behandlung,  und 
namentlich  des  Gebrauches  des  Quecksilbers,  der  Reizmittel 
aller  Art,  wie  sie  es  schon  zur  Zeit  Ulrich  $  von  Hut¬ 
ten  waren  (??). 

Er  geht  hierauf  die  der  Syphilis  sich  nähernden  Krank¬ 
heiten  durch:  das  Uebel  von  der  St.  Pa u  1  ’s- Bucht,  die 
Sibbens  oder  Siwin,  das  Uebel  von  Schcrlievo,  denen  sich 
das  von  Ghavanne  in  Frankreich  (ISIS)  anschliefst,  die 
Yaws  oder  Pians,  die  Kadesyge.  Früher  betrachtete  man 
sie  als  Kntartungcn  der  Syphilis,  jetzt  setzt  man  die  Rade* 
svge  in  die  Klasse  des  Aussatzes,  und  vermuthet,  dafs  die 
Yaws  auch  vielleicht  nicht  syphilitischen  Ursprungs  seien, 
doch  niemand  zweifelt  daran  bei  dem  Uebel  von  der  St. 
Pauls -Bucht,  und  von  Scherlievo.  Was  sehen  wir  in 
diesen  verschiedenen  Affectionen?  Fine  deutlich  ausgespro¬ 
chene  Entzündung  der  Digestions-  und  Respiratiouswege, 
die  durch  den  EinHufs  der  Kälte,  Feuchtigkeit,  Unreinlich¬ 
keit,  und  fast  immer  von  schlechtem  Regimen  entstanden, 
chronisch  wird  und  sich  mit  sympathischen  Zufällen  ver¬ 
bindet,  welche  besonders  ihren  Sitz  im  fibrösen  und  im 
Hautsystem  haben,  wo  sie  sich  durch  Schmerzen,  Pusteln 
verschiedener  Art,  sehr  schmutzige  Geschwüre,  deren  Jauche 
ansteckend  ist,  aussprechen.  Niemals  sind  die  Geschlechts- 
theile  primär  angegriffen,  aber  bei  fortschreitendem  Uebel 
entzündet  sich  die  Schleimhaut  dieser  Organe  wie  jede  an¬ 
dere  u.  s.  w. 

Der  ^  erf.  erweckt  kein  Vertrauen  zu  dem  Geiste  seiner 
geschichtlichen  Forschung,  wenn  er  die  Beschreibungen  oft 
erwähnter  Epidemicen  bei  Hippokrates,  Thucy- 
dides  (!)  und  selbst  Lucrez  auf  die  venerische  Krank¬ 
heit  bezieht,  und  in  seiner  Argumentation  so  fortfährt:  Es 
herrscht  also  (?!)  eine  auffallende  Uebereinstiminung  zwi- 


/ 


X.  V  enerischc  Krankheiten.  243 

schert  den  Epidemieen ,  von  denen  uns  die  Alten  einen 
schwachen  Ahrifs  hinterlassen,  denen,  welche  die  Neueren 
beobachtet  haben,  zwischen  einigen  endemischen  Affectio- 
nen,  die  uns  noch  heutzutage  hier  und  da  begegnen,  und 
zwischen  der  furchtbaren  Epidemie  des  15  ten  «Jahrhunderts. 
Ueberall  dieselben  (?)  Ursachen,  dieselben  (?)  Erscheinun¬ 
gen.  Besteht  denn  eine  Beziehung  zwischen  ihnen  und  der 
jetzigen  venerischen  Krankheit?  Man  stützt  sich,  um  sie 
jenen  zu  nähern,  darauf,  dafs  diese  letzten  sich  selbst  über¬ 
lassen,  dieselben  Zufälle,  Carics  der  Nasenbeine,  Hautaus- 
* 

schlage,  Geschwüre  und  Schwammgewächse  hervorbringe. 
Aber,  seit  die  Einführung  einer  rationelleren  Behandlungs¬ 
weise,  welche  fast  allein  der  Natur  die  Heilung  überläfst, 
es  gestattet,  den  Gang  der  venerischen  Krankheiten,  wenn 
sie  sich  selbst  überlassen  werden,  zu  studieren,  ist  man  über¬ 
zeugt,  dafs  sie  viel  seltener,  als  man  ehemals  glaubte,  Nach- 
krankheiteu  herbeiführen,  und  dafs  diese  Zufälle  viel  leich¬ 
ter,  viel  weniger  hartnäckig  sind.  Besonders  die  Affectio- 
nen  der  Knochen  hat  man  so  wenig  häufig  gefunden,  dafs 
Rose,  Guthrie,  Hennen  und  S.  Cooper  nicht  zögern, 
sie  dem  Mercur  zuzuschreiben,  wie  es  schon  früher  Fal- 
lopia  und  Fernei  gethan  hatten. 

Es  ist  also  bei  dem  jetzigen  Stande  unserer  Einsicht 
erlaubt,  zu  behaupten,  dafs,  weil  der  gröbste  Theil  der 
venerischen  Symptome,  welche  man  consecutiv  nennt,  und 
besonders  die  wichtigeren,  das  Resultat  einer  zu  reizenden 
Behandlung,  einer  chronischen  Reizung  der  Eingeweide  (?) 
sind,  man  weder  das  französische  Uebel  des  löten  Jahr¬ 
hunderts,  noch  irgend  eine  der  Epidemieen,  welche  ihm 
gleichen,  und  welche  alle  ganz  offenbar  (!!)  von  einer 
chronischen  Entzündung  der  Eingeweide  abhängen,  die  in 
ihren  systematischen  Wirkungen  durch  den  Einflufs  äufse- 
rer  oder  innerer  Umstände  modificirt  werden,  mit  unseren 
jetzigen  primären  venerischen  Krankheiten  vergleichen  kann. 

Hätte  man  Leichenöffnungen  gemacht,  so  würde  man 
gleich  zu  dem  Resultate  gelangt  sein,  wohin  die  patholo- 

16  * 


244 


X.  Venerische  Krankheiten. 


t  • 

# 

gische  Anatomie  in  Hinsicht  fies  Pellagras,  der  asturischen 
Hose  find  der  rolhen  Krankheit  von  Cayenne  gelangt  ist, 
welche  so  sehr  dem  alten  Franzosenübel  und  dem  neuen 
von  Scherl ievo  ähneln,  dafs  man  nicht  begreift,  wie  es 
niemandem  eingefallen  ist,  sie  zu  den  syphilitischen  Krank¬ 
heiten  zu  zählen. 

In  dem  vierten  Kapitel  ist  von  dem  V  orkom- 
men  fl  er  venerischen  Krankheiten  im  Alterthume 
die  Hede.  Die  Leser  werden  leirht  erachten  können,  dafs 
der  Yerf.  die  vorhandenen  Andeutungen  und  Thatsachen, 
deren  kritische  Bearbeitung  gewifs  die  grüfste  \  orsicht  und 
Unbefangenheit  erfordert,  der  Bro  ussaisschen  Ansicht 
gemafs  deutet,  und  was  einem  Geschichtforscber  nie  zu 
verzeihen  ist,  eine  schwierige  Untersuchung  mit  einem 
schon  fertigen  Hesultate  beginnt,  und  nun  auch  das  Schwan¬ 
kende  und  Unwahrscheinliche,  so  wie  Angaben,  über  die 
nie  Gewifsheit  zu  gewinnen  ist,  sorgsam  benutzt,  um  sei¬ 
ner  Theorie  das  Wort  zu  reden.  Wir  können  daher  aus 
diesem  Kapitel  nichts  der  gründlicheren  Erörterung  des 
Gegenstandes  förderliches  ausheben. 

Das  folgende  fii  n  f te  K  a p  i  te  1 ,  von  dem  Ursprünge, 
der  Entwickelung  und  den  verschiedenen  Modi- 
ficationen  der  Theorie  des  venerischen  Giftes, 
ist  nicht  uninteressant,  weil  sich  hier  das  B  ro  ussa  issche 
Vorurtheil  weniger  cinmischt,  und  verdient  im  Zusammen¬ 
hänge  nachgelesen  zu  werden.  Eben  so  das  sechste  Ka¬ 
pitel,  von  den  jetzt  bestehenden  Theorieen  über 
das  venerische  Gift,  das  der  \  erf.  folgcndermaafsen 
beschliefst : 

Ich  glaube  bewiesen  zu  haben,  dafs  die  Lehre  vom 
venerischen  Gifte  ein  nicht  zu  entwirrendes  Chaos  von 
Widersprüchen,  Wrinkelzügen  und  Beschränkungen,  eine 
Mischung  von  chemischen,  organischer  und  Humoralansich - 
ten  ist,  welche  eine  nach  der  andern  in  der  Mcdicin  ge¬ 
herrscht  haben.  Auch  scheint  es  mir,  dafs  man  Folgendes 
daraus  schliefsen  und  als  Grundsatz  aufstellen  könne: 


XI.  Praktische  Notizen.  •  245 

1)  D  a  1  s  das  venerische  Gift  nicht  existire. 

2)  Dafs  die  primären  venerischen  Krankheiten  das  Pro¬ 
dukt  einer  Reizung  seien,  welche  direct  an  dem  Orte 
von  dem  Eiter,  den  die  entzündeten  und  geschwu¬ 
ngen  Schleimmembranen  der  Geschlechtsteile  ab¬ 
sondern,  hervorgebracht  ist. 

3)  Dafs  die  secundären  Affectionen  von  der  Sympathie 
abhängen,  welche  zwischen  allen  Theilen  des  Orga¬ 
nismus  besteht,  und  welche  weder  bei  allen  Sub- 
jecten,  noch  zwischen  allen  Organen,  noch  unter 
allen  Lebensverhältnisseri  dieselbe  ist. 

4)  Dafs  keine  dieser  Krankheiten  erblich  sei. 

Stucke . 

i 

( Fortsetzung  f  o  l  g  t. ) 


Praktische  Notizen. 


1.  Bei  einer  gegenwärtig  sechsundsiebzigjährigen,  an 
einem  Leberabscesse  leidenden  Frau,  öffnete  sich  der  Abscefs 
nach  aufsen  auf  der  rechten  Seite;  nachdem  eine  Menge 
Eiter  und  kleine  Steine  (Gallensteine?)  durch  die  Oeffnung 
abgegangen  waren,  erfolgte  vollkommene  Heilung.  Eine 
ähnliche  Beobachtung  theilt  Ribes  mit.  (La  Clinique. 
Tome  III.  No.  80.) 

2.  Eine  vierzigjährige  Frau,  und  Mutter  sechs  leben¬ 
der,  sehr  gesunder  Kinder,  von  anerkannt  gutem  Wandel, 
übernimmt  es,  an  ihrer  Brust  ein  ihr  übergebenes  Kind  zu 
nähren,  welches  an  einem  pustulösen  Ausschläge  auf  den 
Schenkeln  litt.  Ein  zu  Rathe  gezogener  Arzt  erklärt  den 


XI.  Praktische  INolizen. 


Ausschlag  für  syphilitisch,  worauf  die  Frau  das  Kind  zu- 
riiekgiebt.  Mach  Verlauf  von  wenigen  Tagen  entsteht  an 
der  linken  Brust  dieser  Unglücklichen  ein  Geschwür,  und 
einige  Monate  später  finden  sich  Condyloma ta  am  After. 
Zugleich  wird  sie  vom  siebenten  Kinde  entbunden,  dessen 
Gesicht  und  Gaumen  sich  mit  Pusteln  bedecken,  welche 
den  Tod  zur  Folge  haben.  Trotz  einer  rationellen  Behand¬ 
lung,  welcher  die  Frau  sich  hingab,  traten  noch  andere 
Erscheinungen  eines  seeundären  syphilitischen  Leidens  ein. 

(  Ebendaselbst.  No.  81.) 

3.  Der  bei  alten  Leuten  so  häufige  chronische  Blasen- 
catarrh  beruht  nach  Civiale  auf  Atonie  der  Tunica  muscu- 
laris  der  Harnblase,  welche  bei  einer  anhaltend  sitzenden 
Lebensweise,  unter  dem  Gebrauche  weicher  und  warmer 
Sessel,  und  vor  allem  durch  das  lange  Anhalten  des  Harns 
tu  der  Blase  mit  jedem  Tage  zunimmt.  Unter  solchen  \  er- 
bültnissen  entledigt  sich  die  Blase  ihres  Urins  nie  vollkom¬ 
men,  es  entsteht  eine  Entzündung  der  Schleimhaut,  es  bil¬ 
den  sieh  schleimige  Ausschwitzungen,  welche  den  Beiz  der 
Schleimhaut  unterhalten  und  die  Entzündung  vermehren, 
die  Muskelhaut  verliert  an  Contractilität  und  entzündet  sich 
ebenfalls,  ist  die  Krankheit  so  weit  gediehen,  so  entleert 
der  Kranke  unter  sehr  heftigen  Schmerzen  und  mit  grofser 
Anstrengung  einet»  dicken,  schmutzigen  und  zuweilen  dun¬ 
kelgefärbten  Urin.  Von  Zeit  zu  Zeit  tritt  ein  Nachlafs 
dieser  Erscheinungen  ein,  welche  dann  wieder  heftiger 
werden  und  zuletzt  hectisches  Fieber  und  Marasmus  her¬ 
beiziehen.  Die  täglich  mehrmals  bewirkte  vollkommene 
Urinausleerung  mit  Hülfe  des  Katheters,  Injectioneu  schlei¬ 
miger  Mittel,  Klystiere,  Bader,  späterhin  kalte  Douchc 
aufs  Mittelfleisch  und  aromalische  Einreibungen,  sind  die 
von  Civiale  empfohlenen  Mittel.  (Ebendaselbst.) 

4.  Bei  einem  17jährigen  Jünglinge,  der  unter  deo 
Erscheinungen  eines  llerzubels  gestorben  war,  fand  mau  bei 


XI.  Praktische  Notizen.  247 

der  Section  das  Herz  und  den  Herzbeutel  vollkommen  ge¬ 
sund,  dagegen  sämmtliche  Muskeln  in  einen  Fettstoff  dege- 
nerirt.  (  Ebendas.  No.  83. )  * 

5.  Pigeotte  fand  bei  einer  an  einem  Herzübel  ver¬ 
storbenen  Frau  auf  beiden  Weichen  in  der  Gegend  des 
Kal  Io  pischen  Bandes  zwei  Geschwülste,  welche  Cruralbrü- 
chen  durchaus  ähnlich  sahen,  und  auch  dafür  von  Pigeotte 
gehalten  wurden.  Bei  näherer  Untersuchung  überzeugte  er 
sich  von  der  Richtigkeit  seiner  Jüiag  nose  in  Betreff  der 
Geschwulst  der  rechten  Seite,  indem  hier  ein  Darmstück 
vorgefallen  war.  Die  Geschwulst  in  der  linken  VAeiche 
von  der  Grcifse  einer  welschen  Nufs  war  dagegen  weiter 
nichts,  als  eine  längliche  Hydatide,  die  mit  den  Drüsen  der 
W  eiche  vermöge  Zellgewebsfasern  zusammenhing.  (Eben¬ 
das.  No.  84. ) 

6.  Die  für  männliche  Kranke  bestimmte  Abtheilung 
im  Pariser  Höpital  des  Veneriens  enthält  im  Durchschnitt 
190  besetzte  Betten,  und  steht  unter  besonderer  Leitung 
Cullerier’s.  Dieser  Arzt  hat  die  Ueberzeugung,  dafs  alle 
örtliche  und  primäre  Erscheinungen  auch  ohne  Mercur  be¬ 
seitigt  werden  können,  welches  Mittel  nur  dann  in  Ver¬ 
bindung  mit  schweilstreibenden  Substanzen  in  Gebrauch 
gezogen  werden  soll,  sobald  Spuren  allgemeiner  Lues  sich 
zeigen.  Nach  Grundsätzen  behandelt  Cull.  Tripper,  Bubo¬ 
nen  und  Chancres.  Oertliche  und  allgemeine  Blutentzie¬ 
hungen,  erweichende  Bäder,  späterhin  Copaiva-Balsam  oder 
Cubeben,  zu  drei  Drachmen  täglich,  sind  die  Arzneien, 
mit  welchen  er  Tripper  bekämpft.  Nie  verordnet  er  ad- 
stringirende  Einspritzungen,  welche  stets  Verengerungen 
der  Harnröhre  erzeugen  sollen.  Primäre  venerische  Ge¬ 
schwüre  behandelt  C.  anfangs  mit  erweichenden  Umschlä¬ 
gen,  zu  denen  er  eine  geringe  Gabe  Opium  setzt,  später¬ 
hin  mit  Cauterien,  Aqua  vegeto -mineralis,  Mercurialsalbe, 
in  seltenen  Fällen  mit  Calomel  in  Pulverform.  Blutegel 


i 


248 


XI.  Praktische  Notizen. 


und  erweichende  Umschläge  wendet  er  bei  Bubonen  an, 
gehen  diese  in  Eiterung  über,  so  öffnet  er  sie  mit  dem 
Messer  und  behandelt  sie  dann  wie  die  Chancres.  In  allen 
Fällen  ist  absolute  Ruhe  und  Diät  erforderlich.  Zum  Queck¬ 
silber  greift  Cu II.  nur  in  widerspenstigen  Fallen,  und  bei 
inveterirter  constitutioneller  Syphilis.  Hier  giebt  er  den 
Sublimat  in  Pillen  mit  Opium,  oder  als  Liquor  van  Sw  ie- 
ten,  wobei  er  noch  nebenbei  auf  die  Haut  wirkt,  indem 
er  bei  Hautaffectionen  Dampfbäder  verordnet.  Bei  Auf¬ 
treibungen  der  Knochen  soll  das  wiederholte  Ansetzen  von 
Blutegeln  vortreffliche  Dienste  thun.  (Kbendas.  No.  85.) 

7.  Rreschet  verordnete  bei  einem  am  Schlüsselbein¬ 
bruch  leidenden  Individuum,  das  nebenbei  von  einer  Gesichts¬ 
rose  und  von  einer  Lungenentzündung  heimgesucht  ward, 
nach  vorangeschickten  Blutentziehungen  den  Brechweinstein 
in  starker  Dosis  nach  der  von  Rasori  gegebenen  Vorschrift. 
Der  Kranke  ward  hergestellt.  («Wenn  nun  aber,  wie  so 
häufig  geschieht,  nach  den  ersten  Gaben  Erbrechen  erfolgt 
wäre;  so  würde  die  vielleicht  schon  begonnene  Vereinigung 
der  Bruchenden  wahrscheinlich  aufgehoben  worden  sein.  ”) 
(  Ebendas.  Tome  IV.  No.  11.) 

8.  Mehre  von  Dr.  Toirac  mitgetheilte  Beobachtun¬ 
gen  beweisen  die  Wirksamkeit  einer  Auflösung  von  Höllen¬ 
stein  theils  bei  schon  begonnener  Entzündung  der  Tonsil¬ 
len,  theils  als  Prophylacticum  bei  Individuen,  deren  Man¬ 
deln  eine  auffallende  Empfänglichkeit  für  die  Entzündung 
besitzen.  (Ebendas.) 

.9.  Bei  einem  im  achtunddreifsigsten  Jahre  verstorbe¬ 
nen  Manne,  der  wiederholt  syphilitisch  gewesen  und  län¬ 
gere  Zeit  vor  seinem  Tode  Eiter  und  Blut  durch  den  After 
ausgeleert  und  an  einem  heftigen  Fieber  gelitten  hatte,  wie 
es  bei  versteckten  Eitemngen  wahrgenommen  zu  werden 
pflegt,  fand  man  die  Schleimhaut  des  Mastdarms  schwarz, 
dick  und  an  mehren  Punkten  angefressen,  den  Mastdarm 


249 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 

I  I 

selbst  dick ,  hart  und  scirrhös,  über  dem  Sphmcter  ani  eine 
fistulöse  Oellhung  von  der  Gröfse  eines  Franc’s,  welche  mit 
der  Pars  membranacea  urethrae  communicirte,  die  Harn¬ 
blase  klein,  braun  und  dick,  die  Saamenbläschen  mit  einer 
gelben,  eiterähnlichen  Flüssigkeit  angefüllt,  die  Milz  er¬ 
weicht,  die  Vena -porta  mit  einem  dicken  Eiter  angefüllt, 
die  Leber  theilweise  entzündet.  (Ebendas.  No.  12.) 


XII. 

Medicinische  Bibliographie. 


Abercr  ombie’s  pathologische  und  praktische  Untersu¬ 
chungen  über  die  Krankheiten  des  Gehirns  und  Rücken¬ 
marks.  Aus  dem  Engl,  von  G.  von  dem  Busch,  gr.  8. 
Bremen.  Heyse.  XXII  u.  582  S.  3  Thlr. 

i 

Alber’s,  F.  J.  H.,  die  Pathologie  und  Therapie  der  Kehl¬ 
kopfskrankheiten.  Eine  Monographie,  gr.  8.  Leipzig. 
Cnobloch.  XVI  u.  280  S.  1  Thlr.  12  Gr. 

Alexander,  von  den  Wirkungen  der  Nahrungsmittel  auf 
den  menschlichen  Körper,  für  gebildete  Nichtärzte.  8. 
2  Theile.  Ir  Theil:  Von  den  Speisen.  77  S.  2r  Theil: 
Von  den  Getränken.  (In  Commission  in  der  Enslinschen 
Buchhandlung.  Berlin.)  Graudenz.  Röthe.  85  S.  12  Gr. 

Ayre,  J.,  über  das  Wesen  und  die  Behandlung  der  Was¬ 
sersucht  im  Gehirn,  der  Brust,  dem  Unterleibe,  den 
Eierstöcken  und  der  Haut.  Ein  Versuch,  die  Pathologie 
dieser  Krankheit  auf  richtige  Grundsätze  zu  basiren,  eine 

i 

neue  und  wirksamere  Behandlungsart  zu  empfehlen  und 
durch  Beispiele  zu  erläutern.  Aus  dem  Engl,  von  Ir. 
Reinhardt,  gr. 8.  Ilmenau.  Voigt.  VIII  u.  131  S.  18  Gr. 

v.  Baer,  K.  E. ,  über  Entwickelungsgeschichte  der  Thiere. 
Beobachtung  und  Reflection.  Ir  Theil.  mit  3  colorirten 


‘250  XII.  Mechanische  Bibliographie. 


kupfertafeln,  gr. 4.  Königsberg.  Bornträger.  XXII  und 

264  s.  i  l  hl.-. 

Bail  lie,  M. ,  Beiträge  mr  praktischen  Arzneiwissenschaft 
und  pathologischen  Anatomie.  Aus  dem  Englischen  von 
J.  G.  Leukfeld.  gr.8.  Halberstadt.  Brüggemann.  II  und 
18*2  S.  18  Gr. 

Becker,  C.  A.,  der  mineralische  Magnetismus  und  seine 
Anwendung  in  der  Heilkunst.  8.  Mühlhausen.  Heinrichs¬ 
hofen.  202  S.  br.  21  Gr. 


B  e  r  t  h  o  I  d ,  A .  A . 
und  der  T liiere, 
und  Ruprecht. 


,  Lehrbuch  der  Physiologie  des  Menschen 
.  2  Theile.  gr.8.  Güttingen. .  Vandenhück 
XXXVI  u.  004  S.  3  Th  Ir.  12  Gr. 


Billard,  C.,  die  Krankheiten  der  Neugebornen  und  Säug¬ 
linge  nach  neuen  klinischen  und  pathologisch  -  anatomi¬ 
schen,  im  Hospital  der  Findelkinder  zu  Paris  augestellten 
Beobachtungen  geschildert.  Aus  dem  Französischen  über¬ 
setzt.  Dritte  Lieferung,  enthaltend  Bogen  25  —  36,  so 
wie  Haupttitel,  Vorrede  und  Inhaltsanzeige.  Nebst  einem 
Atlas  in  besonderen  Umschlag  geheftet,  gr.  8.  Weimar. 
Industr.  Compt.  br.  18  Gr. 


Bluff,  M.  J.,  über  die  Krankheiten  als  Krankheitsursachen. 
gr.8.  Aachen.  Mayer.  \  111  u.  77  S.  geh.  10  Gr. 

Broussais,  Vorlesungen  über  die  gastrischen  Entzündun¬ 
gen.  Nach  der  zweiten  verbesserten  Originalausgabe  aus 
dem  Franz,  übers,  und  mit  einer  Vorrede  begleitet  von 
J.  C.  Fleck,  gr.8.  Rudolstadt.  Hofbuchhandlung.  XXX 
und  239  S.  geh.  1  Tblr.  8  Gr, 


Caspar  i,  Pharmacopoea  homoeopathica.  Denuo  edita, 
aucta  atque  emendata  a  F.  Hartmanoo.  8maj.  Lipsiae. 
Baumgärtner.  VIII  et  128  P.  br.  *  12  Gr. 


Cazenave  XV.,  und  H.  E.  Sehe  fiel,  praktische  Dar¬ 
stellung  der  Hautkrankheiten,  nach  den  geachtetstcn 
Schriftstellern,  vorzüglich  aber  nach  den  in  der  Klinik 
des  llcirn  Dr.  Bictt  im  Hospital  Saint  Louis  gesammel- 


251 


Xll.  Medicinische  Bibliographie. 

ten  Beobachtungen  und  Erfahrungen.  Aus  dem  Franzö¬ 
sischen  übers,  lste  Hälfte,  gr.8.  240  S.  br.  I  Thlr.  3  Gr. 

D  z  o  n  d  i  ,  (j.  II.  i  Pathologiae  i n flammatio n is  sy s t e mat u m 
corporis  hutnani  succincta  adumbratio.  8maj.  Halae.  Hem¬ 
merde  et  Schwetschke.  IV  et  156  P.  br.  18  Gr. 

Ebermaier,  C.  H.,  über  den  Schwamm  der  Schädelkno- 
cben  und  die  schwammartigen  Auswüchse  der  harten 
Hirnhaut.  Ein  auf  Beobachtung  und  Untersuchung  be¬ 
gründeter,  durch  10  Abbilduegen  erläuterter  Beitrag  zur 
näheren  Erkenntnifs  dieser  seltenen  (Jebel.  gr.4.  Düssel¬ 
dorf.  Arnz  und  Comp.  72  S.  geh.  2  Thlr. 

Hahnemann,  S.,  Organon  der  Heilkunst.  Vierte,  ver¬ 
besserte  Auflage,  mit  dem  Bildnisse  des  Verfassers,  gr.8. 

•  Dresden.  Arnold.  VI  und  307  S.  1  Thlr.  15  Gr. 

Hartlaub,  C.  G.  C.,  kurzer  AbrÜs  der  homöopathischen 
Heilmethode  zur  Belehrung  für  Laien,  gr.  8.  Leipzig. 
Focke.  64  S.  geh.  10  Gr. 

—  —  Katechismus  der  Homöopathie  für  Aerzte  und  INicht- 

ärzte.  Dritte,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage,  gr.8. 
Leipzig.  Baumgärtner.  XII  u.  132  S.  br.  16  Gr. 

—  —  und  C.  F.  Trink’s  systematische  Darstellung  der 

antipsorischen  Arzneimittel  in  ihren  reinen  Wirkungen. 
Drei  Abtheilungen,  gr.8.  Dresden.  Arnold.  (Erste  Abth. 
VI  u.  832  S.)  Alle  drei  Abth.  netto  9  Thlr. 

He  den  us,  E.  J. ,  de  variolis  vaccinis  earumque  VI  tutoria 
recens  in  dubium  vocaia.  Lipsiae.  Cnobloch.  98  P.  12  Gr. 

H  im  ly,  E.  A.  W. ,  Beiträge  zur  Anatomie  und  Physio¬ 
logie.  Erste  Lieferung.  Auch  unter  dem  Titel: 

Darstellung  des  Dualismus  am  normalen  und  abnormen 
menschlichen  Körper,  oder  physiologische  Erörterung 
seiner  Zusammensetzung  aus  zwei  Hälften  und  der  auf 
mangelnder  Vereinigung  derselben  beruhenden  Milsgebur- 
teu.  Mit  vier  Kupfer-  und  zwei  Steindrucktafeln.  4. 
Hannover.  Helwings.  Vlll  u.  209  S.  3  Thlr.  16  Gr. 


I 


252  XII.  Mediciniscbe  Bibliographie. 

$ 

Ilürberger,  über  die  Vortrefflichkeit  der  Hautmittel  über¬ 
haupt,  insbesondere  der  Essig  Waschungen  bei  der  Behand¬ 
lung  vieler  neueren  Krankheiten.  8.  Ulm.  Lbncr.  48  Sei¬ 
ten.  5  Gr. 

Hoffmann,  A.,  die  vollkommene  Fufsgeburt,  eine  prakti¬ 
sche  geburtshilfliche  Abhandlung,  nebst  Tabelle.  Berlin. 
Hirsch wald.  VIII  u.  79  S.  8  Gr. 

Jung,  K.  G. ,  über  das  Vqrhältnifs  der  Anatomie  zu  der 
medicinischen  Wissenschaft,  und  über  die  Leistungen  der 
Anatomen  an  der  Baseler  Hochschule.  Kectoratsrede, 
gehaltert  den  ‘26.  September.  8.  Basel.  Schweighauser. 
48  S.  br.  5  Gr. 

Kühn,  O.  B.,  praktische  Chemie  für  Staatsärzte.  Erster 
Theil:  Praktische  Anweisung,  die  in  gerichtlichen  Fällen 
voikommenden  chemischen  Untersuchungen  anzustcllen. 
Mit  einer  lithogr.  Tafel,  gr. 8.  Leipzig,  llartmann.  L  und 
183  S.  1  Thlr.  s  Gr. 

Kupfertafeln,  klinische.  Eine  auserlesene  Sammlung  von 
Abbildungen  in  Bezug  auf  innere  Krankheiten,  vorzüg¬ 
lich  auf  deren  Diagnostik  und  pathologische  Anatomie, 
für  praktische  Aerzte.  Zweite  Lieferung.  Tafel  'V  II  —  XII. 
4.  Weimar.  Industrie -Comptoir,  br.  1  Thlr.  12  Gr. 

Lutheritz,  C.  F. ,  Handbuch  der  medicinischen  Diagnostik 
Eine  Anleitung,  die  Krankheiten  des  menschlichen  Kör¬ 
pers  richtig  zu  erkennen,  und  die  ähnlichen  von  einan¬ 
der  zu  unterscheiden.  Nach  den  neuesten  Untersuchun¬ 
gen  zum  Unterrichte  für  praktische  Aerzte  und  zum  Ge¬ 
brauche  für  akademische  Vorlesungen  entworfen,  gr. 8. 
Ilmenau.  Voigt.  XX  u.  572  S.  2  Thlr. 

de  Marners,  G.,  neue  Toxicologie,  oder  Lehre  von  den 
Giften  und  Vergiftungen  in  chemischer,  physiologischer, 
pathologischer  und  therapeutischer  Beziehung.  Aus  dem 
Franzischen  übersetzt  von  A.  J.  L.  Westrumb.  8.  Lemgo. 
Meyerschc  Hofbucbh.  VIII  u.  229  S.  20  Gr. 


253 


» 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 

t  t 

Monheim,  J.  P.  J.,  die  Heilquellen  von  Aachen,  Burt¬ 
scheid,  Spaa,  Malmedy  und  Heilstein  in  ihren  histori¬ 
schen,  geognostischen,  physischen,  chemischen  und  rnedi- 
cinischen  Beziehungen.  Nebst  1  Karte  und  1  Titelkupfer. 
gr.8.  Aachen.  Mayer.  VIII  u.  416  S.  br.  2  Thlr.  12  Gr. 

Neumann,  K.  G.,  von  den  Krankheiten  des  Menschen. 
Allgemeiner  Theil ,  oder  allgemeine  Pathologie,  gr.8. 
Berlin.  Herbig.  286  S.  1  Thlr.  12  Gr. 

Nicolai,  J.  A.  H.,  Beschreibung  der  Knochen  des  mensch¬ 
lichen  Fötus.  Ein  Beitrag  zur  Anatomie  des  Fötus  aus 
der  Beschaffenheit  der  Knochen.  Mit  vier  Tabellen.  4. 

t 

Münster.  Regensberg.  V  u.  72  S.  18  Gr. 

Osiander,  F.  B.,  Handbuch  der  Entbindungskunst.  Ir  Bd. 
2te,  verm.  Aufl.  Bearbeitet  von  J.  F.  Osiander.  Mit  dem 
Portrait  des  Verfassers,  gr.8.  Tübingen.  Osiander.  XVIII 
und  669  S.  3  Thlr. 

Pharmacopoea  universalis ,  oder  Uebersicht  der  Pharma- 
copöen ,  Dispensatorien  und  Formularien  Europa’s.  Nach 
der  Pharmacopee  universelle  des  Jourdan  bearbeitet.  Isten 
Bandes  lste  Hälfte.  Bogen  1  —  24.  gr.8.  Weimar.  Indu¬ 
strie-Comptoir.  2  Thlr. 

Pinel’s,  Ph.,  Fieberlehre.  Aus  dem  Französischen  über¬ 
setzt.  Kassel.  Krieger.  464  S.  2  Thlr. 

Puch  eit,  F.  A.  B.,  das  System  der  Medicin  im  Umrisse 
dargestellt,  und  vorzüglich  seinen  Zuhörern  gewidmet. 
Zweiter  Theil,  die  besondere  Krankheits-  und  Heilungs¬ 
lehre  enthaltend.  2r  Bd.  gr.8.  Heidelberg.  Mohr.  800  Sei¬ 
ten.  4  Thlr. 

Rau,  G.  L.,  über  die  Erkenntnifs  und  Heilung  des  Ner- 
venfiebers.  gr.  8.  Darmstadt.  Leske.  IV  und  502  Sei¬ 
ten.  2  Thlr.  16  Gr. 

Repertorium  der  besten  Heilformeln  aus  der  Praxis  der 
bewährtesten  Aerzte,  Wundärzte,  Geburtshelfer  und  der 
berühmtesten  klinischen  Lehrer  Deutschlands.  Ein  Hand- 


254  XII.  Medicinisrlic  Bibliographie. 

buch  fiir  praktische  Aerzte,  und  Geburts¬ 

helfer;  von  einem  praktischen  Arzte  und  Chirurgen. 
Zweite,  verbesserte  und  sehr  vermehrte  Auflage.  S.  Leip¬ 
zig.  Hartmann.  154  S.  br.  1  Thlr.  12  Gr. 

Sammlung  auserlesener  Abhandlungen,  zum  Gebrauche 
praktischer  Aerzte.  36r  Bd.  2s  Stück;  oder  neue  Samm¬ 
lung  12r  Bd.  2s  Stück,  gr.  8.  Leipzig.  Dyk.  200  Sei¬ 
ten.  18  Gr. 

v.  Sieb  old,  L.  C.  J.,  Abbildungen  aus  dem  Gesammtge- 
biete  der  theoretisch -praktischen  Geburtshülfe ,  nebst  be¬ 
schreibender  Erklärung  derselben.  Nach  dem  Französi¬ 
schen  des  Maygrier  bearbeitet  und  mit  Anmerkungen 
versehen.  Dritte  Lieferung,  gr.8.  8  Tafeln  und  30  Sei¬ 
ten  in  Umschlag.  Berlin.  Ilerbig.  20  Gr. 

Taberger,  J.  G.,  der  Scheintod  in  seinen  Beziehungen 
auf  das  Erwachen  im  Grabe,  und  die  verschiedenen  \or 
schlage  zu  einer  wirksamen  und  schleunigen  Bettung  in 
Fällen  dieser  Art.  Mit  einer  Kupfertafel.  8.  Hannover. 
Hahns.  XII  u.  112  S.  br.  12  Gr. 

Tourtual,  C.  F. ,  praktische  Beiträge  zur  Therapie  der 
Kinderkrankheiten.  8.  Münster.  Hegensberg.  'S  II  und 
126  S.  i  15  Gr. 

Turnor,  J.,  Bemerkungen  über  die  Heilkraft  des  weifsen 
Senfsaamens  (sinapis  alba),  ungemahlen  eingenommen. 
Nach  der  12ten  engl.  Auflage  übersetzt,  gr.8.  München. 
Lindauer.  10  S.  geh.  1  Gr. 

Ueberblick,  kritischer,  der  preufsischen  Civilmedicinal- 
gesetzgebung.  gr.8.  Allenburg.  Litteratur  -  Comptoir.  IV' 
und  28  S.  geh.  6  Gr. 

Vogt,  P.  F.  W.,  Lehrbuch  der  Beceptirkunst  für  Aerzte. 
Mit  einer  lithogr.  Tabelle,  gr.8.  Giefsen.  Heyer,  Vater. 
Vlü  u.  371  S.  2  Thlr.  4  Gr. 

Wenzel,  K.,  Becepttaschenbuch  für  das  Gebiet  der  Kin¬ 
derkrankherten.  Nach  den  einzelnen  Krankheitsformen, 


255 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 

und  insbesondere  nach  den  Ileilanzeigen ,  nach  dem  jedes¬ 
maligen  Stande  und  den  Stadien  der  Krankheiten  u.  s  w. 
geordnet,  und  mit  Anmerkungen  versehen.  Ir  Theil.  8. 
Erlangen.  Palm  und  Enke.  VIII  u.  270  S.  1  Thlr. 

Zeitschrift,  gemeinsame  deutsche,  für  Geburtskunde,  von 
einem  Verein  von  Geburtshelfern  herausgegeben  durch 
Rusch,  Mende  und  Ritgen.  Vierten  Bandes  erstes  Heft, 
gr.  8.  Weimar.  Landes -Industrie -Comptoir.  166  Sei¬ 
ten.  1  Thlr.  12  Gr. 

- Vierten  Bandes  zweites  lieft.  Ebendas.  168  Sei¬ 
ten.  1  Thlr.  12  Gr. 

Wichtiges  Werk  für  Aerzte,  Apotheker 

und  Staatsbeamte. 

Bei  C.  H.  F.  Hart  mann  in  Leipzig  ist  so  eben  die 
erste  Lieferung  einer  für  Deutschland  passenden  Bearbei¬ 
tung  von  folgendem  Werke  erschienen: 

O  r  f  i  1  a  ,  Professor  der  gerichtlichen  Medicin  in 
Paris,  allgemeine  Toxocologie,  oder:  die 

Gifte  des  Mineral-,  Pflanzen-  und  Thier- 

•> 

reichs  in  physiologisch-,  pathologi sch¬ 
und  gerichtlich  -medicinisc her  Hinsicht 
betrachtet.  Ein  praktisches  Handbuch 
für  Aerzte,  Apotheker  und  diejenigen 
Staatsbeamten,  welche  gerichtliche  Un¬ 
tersuchungen  zu  leiten  haben.  Nach  der 
neuesten  (dritten)  verbesserten  und  vermehrten 
Auflage  Deutsch  herausgegeben  vom  Prof.  Dr.  O. 
B.  Kühn  in  Leipzig,  gr.  8.  Zwei  Theile.  In 
sechs  Lieferungen. 

Preis  der  Isten  Lieferung:  I  Thlr.  od.  1  FI. 48 Kr. 

(Preis  für  Pranumeranten  aufs  ganze  Werk:  5  Thlr. 

✓  oder  9  Gulden  Rhein!.) 


256 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 

Das  klassische  Werk  Orfila’s  über  einen  der  wich¬ 
tigsten  Theile  der  Medicin  ist  auch  in  Deutschland,  wenn 
auch  nur  durch  die  sehr  fehlerhafte  II  e  r  in  b  $  t ä d  tsche 
Uebersetzung  nach  der  ersten  Auflage  des  Originals  von 
1814,  schon  zu  rühmlich  bekannt,  als  dafs  es  einer  Anprei¬ 
sung  desselben  bedürfte.  Es  ist  das  vollständigste  Handbuch 
über  die  wichtige  Lehre  voh  den  Giften.  Durch  die  dritte, 
bedeutend  vermeinte  Ausgabe  des  Originals,  welches  1826 
in  Paris  erschienen  ist,  sind  alle  früheren  Ausgaben,  und 
namentlich  die  den  Gelehrten  ungenügende,  1818  und  1819 
erschienene  deutsche  Uebersetzung,  gänzlich  unbrauchbar 
geworden.  Im  Verein  mit  mehreren  Aerzten  hat  1 1  r.  Prof. 
Kühn  in  Leipzig  es  übernommen,  eine,  dem  jetzigen  Stand¬ 
punkte  der  Wissenschaften  angemessene  neue  deutsche  Be¬ 
arbeitung  zu  liefern,  in  der  man,  nächst  der  möglichsten 
Treue  und  Richtigkeit  in  Wiedergabe  des  Originals,  auch 
nicht  die  neuesten  Bereicherungen  anderer  Toxicologen  ver¬ 
missen  soll. 


Unter  der  Presse  ist,  und  w'ird  baldigst  erscheinen: 

Eine  deutsche  Bearbeitung  der  sämmtlichen  Schrif¬ 
ten  Rapou’s  über  die  Heilmethode  durch 
Dämpfe,  oder:  über  den  medicini  sehen 
Gebrauch  der  Dampfbäder  und  Douchcn> 
von  Hrn.  Dr.  Schilling  zu  Dresden, 

was  wir  hiermit  zur  "\  ermeidung  möglicher  Collisionen  be¬ 
kannt  machen, 

bei  Joh.  Ambr.  Barth  in  Leipzig. 


P 


•  /  <  ' , 

I. 

Skizze  der  Lehre  von  den  kritischen  Tagen. 

I  '  i  « 

Von 

Dr.  Steinheini,  v 

/  •  i '  it 

praktischem  Arzte  in  Alton?». 

l  1  -  **.'•'  i 

«*  ,  »  L# 


Lafst  uns  eine  kleine  Weile  betrachtend  stille  stehen,  da¬ 
mit  wir  gewahr  werden ,  in  welcher  Umgebung  wir  leben, 
und  wie  dort  und  hier,  vor-  und  rückwärts,  die  Stimm¬ 
führer  unserer  Kunst  sich  vernehmen  lassen. 

Zur  selbigen  Zeit,  da  man  in  Frankreich  von  den 
rüstigsten  Vorkämpfern  alle  Wesen Llichkeit  der  Fieber,  und 
mit  diesen  consequent,  alle  Krisen  und  kritischen  Tage 
frisch  wegleugnen  hörtt  in  eben  derselben  Zeit  hört  man, 
und  in  eben  demselben  Lande,  die  Verkündigung  der  Kri¬ 
sen  in  Geisteszerrüttungen.  Jn  acuten  Uebeln  dem¬ 
nach,  wo  das  ungeübteste  Auge  beinahe,  wo  die  einfachste 
Anschauung  diese  Gesetze  des  Krankheitsverlaufes  gewahr 
werden  muls,  ja,  wo  eine  dumpfe  Kurzsichtigkeit  und  eine 
fast  übermäfsige  Insolenz  dazu  erfordert  wird,  sie  zu  ver¬ 
kennen  und  zu  verleugnen,  da  werden  sie  schlechtweg  als 
Ilirngespinnste  abgestritten,  und  dagegen  da  anerkannt,  wo 
sie  bisher  vielleicht  von  niemandem  beobachtet,  kaum  ge- 
ahnet  worden  sind-  —  Sie  seigen  Mücken,  und  verschlucken 
Kamecle !  —  * 


✓ 


XIV.  Bd.  3.  Sl. 


17 


258 


1.  Krisenlchre. 


Noch  vor  wenig  Jahren  raseten  die  Acrztc  Europa’s 
mit  ihrem  Calomel.  Es  wurde  in  England  selbst  zu  säure- 
tilgcnden  Mitteln  zugesetzt,  und  ohne  ärztliche  Vorschrift 
dispensirt.  Dies  ging  so  weit,  dafs  das  Calomel  in  die 
Hände  der  Laien  als  Hausmittel  gerieth,  wie  ich  denn  von 
einem  glaubwürdigen  Arzte  weifs,  dafs  eine  angesehene 
Dame  aus  England  sich  Pulver  in  Schachteln  mitbrachte, 
um  hei  ihrem  Aufenthalte  auf  dem  (Kontinente  nicht  sobald 
dieses  Absorhent,  with  a  little  dosis  of  calomel,  entbehren 
zu  müssen.  Ich  weifs  von  den  meisten  Aerzten  meiner 
*  nächsten  Umgehung,  dafs  sie  dies  Mittel  in  allen  Uebeln 
passend,  und  fast  in  keinem  entbehrlich  fanden.  Katarrh, 
Rheumatismus,  Entzündungen,  rosenartige  wie  phlegmo¬ 
nöse,  chronische  Leiden  aller  Art,  wurden  mit  Calomel 
behandelt.  —  Und  jetzt!  Mit  wahrem  Frevel  gegen  die 
Wahrheit  der  letzten  Jahrhunderte,  mit  frechem  Hohne 
gegen  die  Lehren  unantastbarer  Namen,  wird  der  Mercur 
selbst  in  dem  Uebel  nicht  gegeben,  wo  er  noch  eben  die 
einzige  Zuflucht  und  der  letzte  Trost  hiefs.  Eine  Erfah¬ 
rung,  die  unmündig  und  bartlos  eben  der  Wiege  entlaufen 
ist,  will  sich  gegen  die  grofse  Keife  eines  grofsartigen  Ge¬ 
schlechtes  der  Vorväter  breit  machen.  Wie?  und  sie  for- 

♦ 

dert,  dafs  die  Nachzeit  ihr  traue  und  glaube,  ihr,  die  jruch- 
los  genug  ihrer  ’S  orzeit  Treue  und  Glauben  geweigert?  — 
Mit  diesem  Vorw'urf  soll  gewÜs  nicht  der  Forschung  Ab¬ 
bruch  gethan,  dem  Geiste  der  Prüfung  Schranken  gesetzt 
werden.  Wer  wollte  auch  nur  den  Versuch  machen,  die 
fortschreitende  Untersuchung  in  einer  Kunst,  die  allein  auf 
Erfahrung  beruht,  zu  tadeln  oder  zu  hemmen;  aber  es  giebt 
eine  Zweifel-  und  Neuerungssucht,  die  jede  Erfahrung,  so¬ 
mit  auch  die  eigene,  also  überall  die  Möglichkeit  der  Kunst 
zu  Schanden  macht  oder  vernichtet,  eine  unverständige, 
trotzige  Fragerei  nach  Dingen  und  ihrer  Wirklichkeit,  die, 
so  wxtt  es  für  ihre  Sphäre,  als  Gegenstände  der  Erfahrung, 
zulässig  ist,  coustatirt  sind,  die  auiser  einem  historischen, 
noch  einen  fortschreitenden  Glauben  haben.  Cf.  Baco, 


I 


I.  Krisenlehre. 


259 


Augm.  sc.  I.  III.  c.  IV.  lstud  ipsum,  venire  sno  nomine 
nulla  antiquitatis,  aut  (si  ita  loqui  licet),  paternitatis  habita 
ratione,  rem  mali  ominis  esse  ad  veritatem;  ut  cunque  eam 
saepenumero  comitetur  illa  fortuna,  enm  recipietis.  Es 
ist  gefragt  worden:  Ob  denn  wirklich  ein  Virus  venereum 
existire?  noch  unverschämter!  es  ist  seine  Existenz  geleug¬ 
net  worden.  Nun  wohl!,  haben  sich  alle  jene  Männer  der 
vergangenen  Jahrhunderte  dergestalt  geirrt,  dafs  sie  ein  Da¬ 
sein  behaupteten,  wo  kein  Dasein  war  —  denn  es  ist  be¬ 
greiflich  ein  ganz  anderes,  eine  vorhandene  That- 
sache  nicht  zu  sehen,  als,  eine  Thatsache  zu  se¬ 
hen,  die  nicht  vorhanden  ist.  —  Ist ,  sage  ich ,  das 
Virus  venereum  wirklich  ein  Phantom,  so  wollen  wir  laut 
aller  Welt  es  zurufen:  die  Wissenschaft  mit  ihrem  stolzen 
Namen,  und  allen  hochmüthigen  Theorieen,  die  letzten  mit 
eingeschlossen,  ist  Träumerei,  oder  Lüge,  wenn  sie 
nicht  noch  etwas  ärgeres  gescholten  zu  werden  verdient.  — 
Es  ist  noth wendig,  dafs  die  Leute  einmal  einsehen,  zu  wel¬ 
chen  Endresultaten  ihre  Theorieen  führen,  und  wie  sie, 
dem  Bären  gleich,  der  die  Schlinge  mit  dem  Stein  am  Halse 
fühlt,  und  vom  Felsen,  den  er  in  der  Absicht,  sich  von 
Stein  und  Strick  zu  befreien  erklimmt,  den  Stein  und  den 
eigenen  Leib  so  lange  hinabwerfen,  bis  sie  selbst  todt  neben 
dem  Leblosen  liegen.  Die  Erfahrung  ist  der  Stein,  der 
manchem  eine  Last,  aber  in  der  That  unser  Halt  ist.  Last 
ist  sie  den  Theorieen  von  der  allgemeinen  oberflächlichen 
Irritationslehre;  aber  es  scheint  fast,  als  ob  der  Vorschreier 
dieser  Secte  mit  dem  Steine  am  Halse  schon  tief  unten  leb- 

i  » 

los  liegt,  so  verstummt  ist  er. 

Ferner:  Während  man  fast  überall  die  Parallel -Lehre 
verbreitet  findet:  es  giebt  keine  ursprüngliche  allgemeine 
Krankheit  des  Gesamintleibes,  und  das  Fieber  ist  nichts, 
als  eine  verbreitete,  anfangs  topische  Entzündung;  läfst 
sich  gegentheils  eine  eindringencie  Stimme  vernehmen:  man 
habe  ja  nicht  die  scheinbar  topischen  Uebel,  z.  B.  Balg¬ 
geschwülste,  für  wirklich  blofs  topische  Hebel  zu  hallen, 

17  * 


260 


I.  Krisenlcliie. 


sie  seien  oftmals  nur  locale  Aeufserungen  allgemeiner  krank¬ 
hafter  Körperbeschaffenheiten.  Diese  letzte  Stimme  aber 
winl  kein  Arzt  verachten;  sie  rührt  von  eitlem  unserer  be¬ 
deutendsten  Wundärzte  her,  von  Kust  (s.  dessen  Maga¬ 
zin  u.  s.  w.  Bd.  24.  Heft  2.  S.  478  ff.  —  Als  die  Gegen¬ 
stimme  müfste  ich  die  gesammte  moderne  Schule  Frank¬ 
reichs  und  ihre  Affen  anführen).  Der  Wundarzt- Arzt 
sieht  im  Topischen  das  Universelle,  der  Arzt- Wundarzt 
macht  das  Universelle  zum  Topischen.  Man  sieht  hieran, 
wie  sich  der  Unterschied  gestalte,  wenn  der  Wundarzt  in 
die  Hände  des  Arztes  fällt,  oder  der  Arzt  in  die  Hände 
des  Wundarztes.  Das  Mechanische  nimmt  gar  zu  gern  das 
Geistige  mit  in  sein  materielles  Grab,  und  deckt  sich  selbst 

als  Lcichenstein  darüber.  Die  Natur  ist  einfach-  aber  wahr- 

/  7 

lieh  nicht  kahl  und  trocken,  keine  Dampfmaschine,  und  ist 
in  keinem  Theatrum  anatomicum  bequem  zu  anatomiren.  — 
Die  Chirurgie,  die  sich  in  der  modernen  Zeit  an  der 
Arzneikunst  emporgerichtet,  gestärkt  und  veredelt  hat,  droht 
nun,  wie  eine  Würgschlange,  mit  unbändiger  Kraft  ihre 
Meisterin  zu  umknoten  und  zu  verschlingen.  Es  ist  dies 
der  Lohn,  den  di£  geistigere  Natur  im  allgemeinen  von  der 
materielleren,  die  höhere  von  der  niederen  für  ihre  wohl- 
thätige  Einwirkung  zu  erwarten  hat.  Daher  ist  es  noth- 
wendig,  dafs  die  höhere  ihrer  geistigen  Obmacht  sich  von 
Zeit  zu  Zeit  erinnere,  und  durch  ihre  natürliche  Macht  den 
Materialismus  eines  sinnlichen  Götzendienstes  vernichte.  Die 
Chirurgie  hat  es  ihrer  Natur  nach  mit  mehr  körperlichen 
Gegenständen  zu  thun.  Ihr  Plus  ist  ein  Materielles,  ein 
Sicht-  und  Tastbares,  eine  Geschwulst;  ihr  Minus  eben¬ 
falls,  nur  im  entgegengesetzten  Sinne,  eine  Trennung,  eine 
Höhle.  —  Die  Arzneikunst,  im  Gegensätze  mit  der  Chi¬ 
rurgie,  ist  mehr  Gegenstand  der  verständigen  Untersuchung, 
des  abwägenden  Urtheils.  Ihr  Gegenstand  ist  meist  der 
Hand  und  dem  Gesichte  verborgen,  und  was  sichtbar  ist, 
ist  weniger  räumlich,  ist  mehr  zeitlich  vorhanden.^  Ihr 
Hauptaugenmerk  ist  die  Successiou  der  kranken  Thatsachen, 


I.  Krisen  lehre. 


261 


Ursache  und  Wirkung;  während  das  der  Chirurgie  im  Ge- 
gentheil  die  Präsenz,  das  Nebeneinandersein  der  Krankheits- 
läcla  ist.  In  der  Chirurgie  dominirt  der  Tastsinn  und  sein 
Object,  die  Materie.  Wer  mit  Aufmerksamkeit  die  Ergeb¬ 
nisse  der  heutigen  Systeme  Frankreichs-  und  Englands  beob¬ 
achtet,  dem  wird  nicht  entgehen,  was  die  Medicin  unter 
den  Händen  der  Chirurgen  zum  Theil  geworden  ist,  zum 
Theil  noch  zu  werden  droht. 

Oft,  wenn  zwischen  dem  und  jenem  Kunstgenüssen 
von  den  Theorieen  des  Tages  die  Rede  war.,  wurde  geklagt, 
und  ausgerufen:  die»  Arznei  geht  unter  in  der  Wundarznei, 
die  Materie  rächt  sich  mit  frecher  Plumpheit.  Es  ist  das 
Säculum  der  Erniedrigung  des  Gottes  und  seiner  Vertrü- 
bung  in  der  Welt  des  Schlammes.  Die  Marterphysiologie 
ist  an  der  Tagesordnung;  Messer  und  Retorte  sind  die  Kö¬ 
nige.  Wenigstens  soll  jeder,  den  das  allgemeine  Wohl¬ 
behagen  im  Irrthum  und  das  Versinken  in  den  Materialis¬ 
mus  anwidert,  andere  aufwecken,  und,  wo  dies  nicht  ge¬ 
länge,  zum  mindesten  für  seine  Person  protestiren.  Es 
kommt  eine  andere  Zeit.  Hat  die  Menschheit  nicht  schon 
seihst  darum  eine  Neigung,  vom  Wahren  abzugehn,  weil 
es  lange  gegolten  hat,  und  dadurch  alt  geworden  ist;  wie 
sollte  es  ihr  möglich"  sein,  beim  Truge  länger  zu  ver¬ 
weilen?  — 

Du  erblickst,  lieber  Leser,  eine  Unruhe,  ein  Schwan¬ 
ken  der  Meinungen,  ein  unsicheres  Hin-  und  Herziehen, 
wie  das  Wirbeln  der  Wolken  am  Himmel,  wenn  ein  Un¬ 
gewitter  nahe  vor  dem  Ausbruch  ist.  Die  Meinungen  gah- 
ren,  sagt  ein  sinniger  Mann,  aber  wir  müssen  sehen,  ob 
Wein  oder  Essig  daraus  werde.  Lafs  uns  bedachtsam  hin¬ 
zusetzen:  freilich  werden  wir  es  sehen,  aber  wahrlich  nicht, 
als  mülsige  Zuschauer  dessen,  was  auf  der  Scene  sich  vor 
unsern  Augen  entwickeln  wird;  wir  wollen  in  der  That 
und  mit  Kraft  Theil  nehmen  am  grofsen  Entwickelungs¬ 
schauspiele  der  Wissenschaft,  und  wirksam  sein  mit  klarem 
Selbstbewufstsein.  Es  ist,  wenn  irgend  wann,  und  irgendwo, 


I.  Krisenlehre. 


262 

ilie  Area  der  Wissenschaft  das  Gebiet,  auf  dem  wir  zur 
erfolgreichen  Thätigkeit  hingewiesen  sind;  weniger  dürfen 
wir  uns  eines  selbstständigen  Eingreifens  auf  irgend  einem 
anderen  Gebiete  der  Welthistorie  rühmen,  die  uns  am 
Ende  immer  die  demüthigende  Erinnerung  aufnüthigt:  du 
glaubst  zu  schieben,  und  wirst  geschoben.  Pläne 
der  Eroberer  und  Staatsmänner  geratheu  i r»  unvorhergese¬ 
hene  andere  Richtungen,  selbst  noch  in  den  Händen  derer, 
die  sie  ins  Werk  setzen;  Entdeckungen  und  Erfindungen 
gehören  der  Leitung  des  grofsen  Werkmeisters  der  Welt¬ 
historie.  Wir  nennen  sie  zufällig,  oder  sind  doch  über-, 
zeugt,  dafs  sie  nur  zu  ihrer  Zeit,  unter  den  zeitigenden 
Vorbereitungen  zu  Tage  gefördert  werden;  kurz,  dafs  sie 
nicht  allein  das  Werk  menschlicher  Absicht  sind.  Aber  den 
Geist  der  NN  issenschaft  kann  der  Mensch,  der  zurückschaut, 
auch  vorwärts  führen  mit  Wahl  und  Absicht;  er  kann  dein 
Strome,  der  mäandrisch  und  unsicher,  in  Strudeln  und  Sor¬ 
ten  fortwallte,  ein  Bett  graben,  und  mit  Ruhe  und  Be* 
wufstsein  darf  er  sich  sagen:  das  ist  Menschenwerk.  — 
Also  hat  Baco  die  Wissenschaft  geleitet,  und  es  ist  Zeit, 
ihm  im  Geiste  in  geschlossenen  Gliedern  zu  folgen,  damit 
wir  die  Arzneiwissenshaft,  auf  die  wir  hingewiesen  sind, 
eben  sowohl  von  leeren  und  träumerischen  Philosophenien 
losreifsen,  als  auch  sie  vom  Drucke  eines  öden,  todten 
Materialismus  befreien.  — 


Wollen  wir  über  die  Lehre  von  den  Krisen  und  kri¬ 
tischen  Tagen  etwas  Erhebliches  und  Förderndes  lernen, 
so  dürfen  wir  ja  nicht  in  die  Schulen  des  neueren  Jahr- 
zehends  gehen.  Eins  von  beiden:  entweder  in  die  Schule, 
die  ewige  unergründliche,  der  Natur,  zurück;  oder  in  die 
der  alten  Meister.  Am  besten,  in  beide!  Denn  das  ist 
eben  das  Verdienst  und  das  NN  erk  der  grofsen  Meister, 
dafs  sie  das  Wort  der  Natur  lebendig  darstellen ,  und  ihr 
Verständnifs  uns  erleichtern.  Indessen  lliefst  uns  immer 
die  Quelle  noch,  aus  der  sie  selbst  einst  geschöpft  haben, 


i.  Krisenlohre. 


263 


«und  die  Sonne  Homer’ s ,  sieh,  sie  scheinet  auch 
uns!«  In  der  Geschichte  der  letzten  Jubelperiode  der 
Arzneikunst  ist  das  Kapitel  der  Krisen  sehr  mager,  fast 
immer  eine  Tabula  rasa,  und  glücklich  genug,  wenn  sie 
das  nur  immer  wäre.  Dies  Kapitel  ist  gewöhnlich  noch 
etwas  Heilloseres,  eine  Lehre  der  Verirrung  und  Verblen¬ 
dung.  Bedenkt  man  dabei,  dafs  die  Lehre  von  den  Krisen 
mit  der  von  den  Heilkräften  der  Natur  so  genau  zusam¬ 
menhängt,  demzufolge  mit  den  Heilanstalten  derselben  zur 
Wiedererzeugung  verlorener  Kräfte  und  Regelung  irrege¬ 
hender  Bewegungen  des  organischen  Leibes,  zur  Wieder¬ 
herstellung  der  guten  Ordnung  und  des  Gesetzes,  so  wird 
es  klar,  dafs  in  keinem  Abschnitte  folgenreichere  Mifsgriffe 
statt  haben  konnten.  Die  Geschichte  des  gesammten  Le¬ 
bens  ist,  bis  auf  die  geringsten  Veränderungen  und  Vor¬ 
gänge,  an  Zeiten  und  Stunden  geknüpft.  Alles  verläuft  an 
der  geraden  Linie  der  Zeit  und  bildet  in  ihr,  durch  merk¬ 
lichere  Ausbrüche,  nähere  oder  entferntere  Knoten.  Der 
Arzt  nun,  der  diese  Knoten  an  dem  zeitlichen  Verlaufe  der 
Krankheiten  nicht  zu  beachten  weifs,  der  nicht  weifs,  wann 
die  Natur  vorbereitet,  wie  lange,  mit  welcher  Zu-  oder 
Abnahme,  und  wann  sie  vollendet,  der  wird  ihr  allenthal¬ 
ben  queer  in  den  Weg  treten,  nicht  fordernd  und  im  Ein- 
verstande  mit  ihr,  sondern  als  ihr  erbitterter  Gegner.  Nicht 
als  ein  Therapeut,  will  sagen,  sinniger  Diener  un4  Schaff¬ 
ner,  sondern  als  täppischer  Lehrling,  der  mit  plumper  Faust 
ihr  Gewebe  zerreifst,  an  dem  er  mitzuweben  berufen  ist. 
Die  gröfste  Wichtigkeit  liegt  hier  in  den  Zahlen;  dieser 
Rhythmus  ist  der  gröfste  Puls,  den  der  Arzt  mit  treuer 
Gewissenhaftigkeit  zu  studiren  hat. 

Warum  hörst  du  denn  so  oft  —  ja,  wo  hörst  du  es 
nicht?  —  wenn  von  kritischen  Tagen  die  Rede  ist,  von 
Aerzten  sagen:  Im  Alterthume  mag  so  etwas  wohl  statt  ge¬ 
habt  haben,  und  in  dem  schönen,  sonnigen  Griechenland. 
Einst,  da  die  Menschen  sich  noch  enger  an  die  Natur  an- 
geschlosseu  fühlten,  und  dort,  wo  die  astralischen  Einllüsse 


\ 


!264 


I.  Kriscnlchre. 


v iet  unmittelbarer  und  augenscheinlicher  sind,  als  im  Nor¬ 
den,  wo  wir  künstlich  mit  tausend  Waffen  und  Wehren 
die  Natur  von  uns  abhalten.  —  Solche  und  noch  andere 
Reden  und  Einwendungen  sind  an  der  Tagesordnung.  Aber 
ich  roufs  hierauf  mit  dem  göttlichen  II  ippo  krates,  oder 
dem,  der  es  in  seinem  Geiste  prophetisch  und  klar  nieder- 
schrieb,  erwiedern:  Kx)  uti  XxiS-xini»  on  h  vrxir)  «tu  x.x\ 

\  7  \v  \  \  t  \*a\ 

TXl rv\  TX  dt  X  XXX  KXX.61  cr.UXli  XI  XXI  TU  %g*IFTX  ayX~T09. 

Etti'I  t4  Kx\  ii'Aißvy  xx\  ii  Ar,Xy  kx\  h  'ExvS'ii)  Qxtitrxt  rx 
‘TQoye'y^xulix  xXr, S-tvovrx  <r*i/xt7x  (Hipp,  prognost.  XX^  II. 
Ed,  v.  d.  Linden).  Wer  auch  nur  zwei  Lieber  verlaufen 
sah,  der  hat  diesen  Ausspruch  entweder  bestätigt  gefunden, 
oder  er  höre  auf,  Arzt  zu  sein,  oder  vielmehr,  er  ist  es 
nie  gewesen.  Möge  er  versuchen,  es  zu  werden,  wenn  et 
möglich  ist. 

_ 

$ 

Es  ist  unser  Bemühen  dahin  gerichtet,  zu  erforschen, 
wie  die  Natur  im  anscheinend  Ordnung-  und  Gesetzlosen, 
dennoch  Gesetz  und  Ordnung  beobachte.  Die  antike  'Welt 
hat  die  kritischen  Tage  der  Krankheit  an  die  Periode  der 
Schwangerschaft  angereiht.  Es  ist  aber  gleichgültig,  an 
welches  Ereignifs  des  regelroäfsigen  Lebensverlaufes  der 
Krankheitsverlauf  angereiht  werde;  beide  haben  ihre  Wur¬ 
zel  im  Leben,  und  sind  seine  Offenbarungen  in  specie. 
Am  anschaulichsten  indefs  wird  die  Periodicität  der  Lieber, 
wenn  man  vom  einfachen,  mit  dem  Wechsel  der  Tageszeiten 
harmonirenden  gesunden  Lebensgange  anhebt.  Durch  die¬ 
ses  einfache  Verfahren  wird,  denke  ich,  ein  recht  volles 
Licht  über  die  Lehre  von  den  kritischen  Jagen  sich  ver¬ 
breiten  lassen,  ohne  die  fernere  Rücksicht  auf  Mond-  und 
Sonnen  Wechsel ,  den  Galen  besonders  in  Anspruch  nimmt, 
oder  den  Rerurs  auf  die  einfache  Naturbeobachtung,  die 
von  van  Swieten  als  eigentliches  Lindemittel  der  kri¬ 
tischen  Tage  dem  H  ippo  krates  —  wohl  unverdienter 
Weise  —  angerühmt  wird.  Deshalb  sage  ich  unverdien¬ 
ter  Weise,  weil  flippokrates  die  Krisen  allerdings  in 


I.  Krisenlehre. 


2Ö5 


Krankheiten  von  längerer  als  14  tägiger  Dauer  an  den  be¬ 
stimmten  Tagen  erwartet  hat,  und  zwar  an  solchen,  die  in 
der  Zahl  20  aufgehn,  wenn  auch  die  Beobachtung  nicht 
ganz  genau  zutreffen  möchte.  Er  drückt  sich  nämlich  so 
aus  (Caste,  nach  van  Swieten):  um  den  20sten,  40sten, 
Güsten  Tag,  aber  nicht,  wie  bei  dem  14ten  Tage,  am  20sten, 
40sten ,  GOsten  u.  s.  w.  Warum  aber,  wenn  er  die  Krisen 
nicht  genau  an  diesen  Tagen  effcctuirt  fand,  nannte  er  sie 
denn  so  genau,  und  nicht  andere,  etwa  den  30sten  oder 
41sten  Tag,  statt  des  40sten ,  was  doch  bei  einfacher  blofser 
Observation  ohne  Prinzip  hätte  geschehen  müssen?  —  Da¬ 
her  ist  zu  schliefsen,  dafs  dem  grofsen  Arzte  allerdings  ein 
naturgemäfses  Bild  der  lleihefolge  kritischer  Tage,  wie  ein 
getreues  Maafs  und  eine  strenge  Regel  vor  Augen  geschwebt 
habe,  an  dem  sich  seine  Observationen  bestätigt  und 
bewährt  haben.  Woher  aber  dies  bestehende  Schema 
gekommen  sei,  das  ist  eben  die  Aufgabe  gegenwärtiger 
Forschung. 

Vor  allem  wenden  wir  den  Blick  nach  dem  gesetz- 
mäfsigen  Verlaufe  des  Lebens  im  gesunden  Zustande.  Ueber 
diesen  lehrt  uns  die  Physiologie  in  Beziehung  der  sich  wie¬ 
derholenden  Lebensveränderungen ,  dafs  ein  sehr  strenger, 
mit  dem  Wechsel  des  Lichtes  und  der  Finsternifs  überein¬ 
stimmender  Typus  obwalte.  Das  organische  Material  be¬ 
findet  sich  in  einer  abwechselnden  Fluth  und  Ebbe,  Aus¬ 
dehnung  und  Zusarrjmenziehung,  und  zwar  gleichmälsig  in 

allen  seinen  vielfältigen  Richtungeu  und  Verrichtungen.  Zu 

*  -  , 

unserm  Zwecke  ist  es  nöthig,  eine  und  die  andere  mit 
Sorgfalt  uns  nahe  zu  bringen  ;  wir  wählen  die  unmerkliche 
Ausdünstung.  Diese  unterliegt  aber  zwei  Hauptwechselun¬ 
gen  im  Verlaufe  einer  ganzen  Tageszeit,  gemäfs:  der  An- 
und  Abwesenheit  des  Lichtes.  Man  mufs  die  vieruodzwan- 
zig  Stunden  zunächst  in  12  und  12  theilen,  von  denen  die 
eine  Hälfte  der  Ausdünstung  gehört,  die  andere  der  Ein¬ 
saugung,  oder  doch  der  Abwesenheit  jener.  Mit  dem  Er¬ 
scheinen  des  Lichtes  tritt  die  Expansion,  die  Wirkung 


266 


I.  Kr  iscnlchrc. 


nach  aufsen  ein;  mit  dem  Verschwinden  die  Contraction, 
ein  Zuriickziehen  des  Organischen  nach  seinem  Centrum. 
Uin  die  sechste  Stunde  Morgens  herrscht  die  Expansion, 
um  die  sechste  Stunde  Abends  die  Contraction.  Diese 
Stunde  der  Contraction,  der  Lebensebbe,  giebt  sich  durch 
manche  bezeichnende  Erscheinungen  zu  erkennen.  Das  Le¬ 
ben  verschliefst  sich  in  sich  selbst,  und  zieht  sich  in  sich 
selbst  zurück;  der  Puls  wird  kleiner,  schneller,  die  Aus¬ 
dünstung  fehlt,  das  Athmen  wird  unkräftiger,  die  Lebens¬ 
kräfte  sinken  in  Schlaf,  und  der  Organismus  ist,  bis  aufs 
Unentbehrlichste,  für  «las  Aeufsere  verschlossen.  Die  Ebbe¬ 
zeit  des  Lebens  dauert  noch  immer  fort,  bis  zur  Grunze 
zwischen  dem  alten  Tagt;  und  dem  neuen,  bis  zum  Punkte, 
da  die  Soune  unter  uns  im  Nadir  sich  befindet.  Von  die¬ 
sem  Scheidepunkte  an,  mit  dem  Aufsteigen  der  Sonne  aus 
der  Mitternachtslinie,  tritt  im  ganzen  Organischen  das  ent¬ 
gegengesetzte  \  erhältnifs  ein.  Je  näher  das  Morgenlicht 
kommt,  desto  mehr  strebt  alles  nach  aufsen,  dehnt  es  sich 
aus,  und  am  sichtbarsten  tritt  dies  ein  in  der  von  nun  be¬ 
ginnenden  Ausdünstung.  Das  lebendige  Urfluidnm  drängt 
sich  an  die  Obcrlläche;  die  Haut  turgescirt,  und  über  sie 
hinaus  bildet  sich  eine  Atmosphäre  von  Dunst,  die  eine 
Wirkung  der  Kräfte  ist,  die  nunmehr  von  innen  nach 
aufsen  streben.  Diese  Expansion  bat  ihren  Culminations- 
punkt  mit  der  sechsten  Stunde  des  neuen  Tages  erreicht, 
und  von  nun  an  dauert  ihre  volle  Wirkung  eine  kurze 
Weile,  und  nimmt  sodann  allmühlig  ab  ,bis  zum  Mittage, 
ln  dieser  Stunde  hat  sich  allem  Anschein  nach  ein  Gleich¬ 
gewicht  zwischen  den  beiden,  gegeneinander  auf-  und  nie¬ 
dersteigenden  Polarenden  der  Lebenskraft  hergestellt,  Ex¬ 
pansion  und  Contraction  äquilibriren  gegeneinander.  Auch 
«lies  Gleichgewicht  ist  nur  von  kurzer  Dauer.  Mit  den 
Stunden,  da  das  Licht  vom  Zenith  beruntersteigt,  steigen 
gleichmälsig  die  Lebenskräfte  nieiler;  die  sechste  Stunde 
wäre  naturgemäfs  wiederum  der  negative  Culminationspunkt 
der  Lebensebbe,  und  die  Kräfte  so  weit  niedergestiegen, 


I.  Krisenlehre. 


267 


dafs  eine  totale  Ruhe,  ein  Schlaf,  das  äufsere  Merkmal 
und  das  Mittel  sein  soll,  dafs  dieselben  Lebenskräfte  nicht 
ganz  und  gar  auf  das  Minimum  eines  Punktes  reducirt, 
völlig  zu  wirken  aufhören  müfsten.  Das  Bedürfnifs  der 
Ernährung,  und  die  Periodicität  der  Magenwirkung,  hängt 
mit  diesen  Verhältnissen  aufs  Innigste  zusammen.  Wo 
die  Lebenskräfte  ihre  höchste  Spannung  und  Extension  ha- 
ben,  wird  kein  Aliment,  keine  neue  Kraftzunahme  gefor¬ 
dert;  das  ist  um  6  Ehr  Morgens.  Innerhalb  der  sechs  fol¬ 
genden  Stunden  wird  mit  dem  V  erbrauche  der  Lebenskräfte 
das  Material  derselben  erschöpft,  und  der  Hunger  tritt  dem 
Gesetze  gemäfs  um  12  Uhr  ein.  Von  nun  an  mufs  das 
Leben  dahin  gerichtet  werden,  wo  sich  das  Material  befin¬ 
det,  damit  dies  gehörig  verarbeitet  und  zum  wahren  Ali¬ 
mente  zubereitet  werde,  das  Leben  zieht  sich  nach  innen; 
die  Digestion,  im  eigentlichen  Sinne,  ist  innerhalb  der 
sechs  folgenden  Stunden  vollbracht.  Die  Lebenskräfte  wen¬ 
den  sich  von  ihrem  Centrum  wiederum  nach  der  Peripherie, 
bis  sich  um  Mitternacht  ein  ähnliches  Gleichgewicht  herge¬ 
stellt  hat,  wie  jenes  am  Mittage,  nur  dafs  das  mitternächt¬ 
liche  durch  Steigen  der  gesunkenen  Lebenskräfte,  durch 
die  Richtung  von  innen  nach  aufsen ,  das  mittägige  durch 
ein  Sinken  der  gestiegenen,  durch  die  Richtung  von  aufsen 
nach  innen  bewerkstelligt  wurde. 

Die  doppelten  Gleichgewichtspunkte  des  Lebens,  die 
beiden  12  Stunden  des  Tages,  haben  demgemäfs  noch  zwi¬ 
schen  sich  zwei  andere  Punkte  liegen,  die  beiden  6  Stun¬ 
den  des  Tages,  und  dieses  wären  die  beiden  Culumnations- 
stellen,  die  Ebbe  und  Fluth.  Der  Tag  zerfiele  demnach  in 
vier  Viertel,  jedes  von  6  Stunden.  Auf  diese  Weise  ent¬ 
steht  ein  Kreis  der  Tageszeiten,  der  einem  Planiglobium 
gleicht,  auf  dem  Aequator  und  Linie  zwischen  Nord-  und 
Südpol  aufgezeichnet  sind. 

Verhielte  es  sich  nun  mathematisch  also  mit  dem  Leben, 

I 

so  wäre  ein  Tag  neben  dem  andern  wie  zwei  gleiche  ge¬ 
sonderte  Kreise;  sie  wären  beide  neben  einander,  aber 

/ 

i 


i 


268 


I.  Kriscnlchre. 


nicht  recht  in  einander.  So  ist  es  nicht  ganz;  durch 
eine  eigene  Einrichtung  ist  der  vergehende  'l  ag  dem  kom¬ 
menden  einverleibt.  Dadurch  nämlich,  dals  die  Tageszeit 
nicht  völlig  24  Stunden  gleich,  und  durch  die  Zahl  (i  t heil¬ 
bar  ist,  und  dals  ein  kleiner  Best  von  gestern  übrig  bleibt, 
greift  dieses  Gestern  ins  Heute  über,  und  dieses  Uebcrgrei- 
fen  des  vorangehenden  Tages  in  den  folgenden  hat  in  der 
Lehre  von  den  Krisen  die  höchste  Bedeutung,  und  deshalb 
soll  hier  ein  ganz  besonderer  Werth  darauf  gelegt  werden. 
Es  bildet  diese  Spiralbewegung  der  Zeit  einen  ähnlichen 
Zusammenhang,  einen  entsprechenden  Verband  zwischen  den* 
Epochen  der  Krankheit,  wie  der  ist,  den  sie  in  dem  Gange 
der  Tage,  Wochen  und  Monate  zuwege  bringt.  Es  ist  der 
oben  beschriebene  24stündige  Verlauf  sich  ablösender  Con- 
tractionen  und  Expansionen  der  Lebensverrichtung  nicht 
mit  einer  Tageszeit  absolvirt  und  geschlossen;  sondern  die 
Expansion  der  vorangehenden  Tage  hat  einen  sehr  kleinen 
Ueberflufs  an  Zeit,  und  mit  diesem  greift  sie  in  die  Con- 
tractionszeit  des  folgenden  Tages  hinein,  und  zwingt  diese 
Contraction  ebenfalls,  weiter  zu  rücken,  genau,  wie  es  mit 
den  periodischen  Abwechselungen  von  Ebbe  und  Fluth  der 
Lall  ist. 

Ferner  aber  beobachtet  man  in  diesem  Spiralgange 
der  organischen  Ebbe  und  Fluth  abermals  gröfscre  Zeitab¬ 
schnitte,  die  einander  entsprechen.  Der  Gang  ist  nämlich 
nicht  der  Art  gleichmäfsig,  dafs  durch  einen  ganz  gleichen 
Ueberflufs  den  der  verfliefsende  Tageskreis  mehr  bat  als 
der  schon  verflossene,  jedweder  Tag  sich  zu  dem  folgenden 
verhielte,  wie  der  vorhergehende ,  zu  diesem;  sondern  es 
bilden  sich  gröfsere  Zeitconvolute ,  die  neuerdings  sich  wie 
Totalitäten  gegen  einander  verhalten,  und  jedes  Uonvolut 
ist  ein  Cyclus  von  7  Tagen;  die  abermals*  in  Convolutc  von 
2:7,  und  *1  :  7  Tagen  zusanjmengehn.  Die  nähere  Erör¬ 
terung  dieser  Zahlen  Verhältnisse  wird  sich  im  Verfolge  die 
ser  Forschung  natürlich  ergeben.  Wir  brechen  hier  vor- 


I.  Kriscniehrc. 


269 

läufig  ab,  um  unsere  nächste  Aufgabe  wieder  aufzunehmen 
und  zu  losen. 

Gang  des  Fiebers.  —  1.  Einfachster  Gang. 

Der  grofse  Arzt  der  alten  Welt,  der  JNIark  -  und 
-Schlulsstein  der  grofsen  Epoche  der  antiken  Arzneikunde, 
soll  mir,  wie  in  Vielem,  auch  gleich  zu  Anfang  darin  Muster 
und  Führer  sein,  dafs  ich  ihn  als  einen  Meister  und  Ilode- 
geten  mit  Ehrfurcht  nenne,  wie  er  seinen  Meister  und 
Führer,  den  ärztlichen  Patriarchen  Hipp  okrales,  immer 
anerkannt  und  genannt  hat.  Ich  fange  an  mit  einem  Spruch 
aus  dem  siebenten  Kapitel  des  zweiten  Buches  de  Crisi- 
bus  (Vol.  IX.  Edit.  Kühn),  er  heifst:  X ^  yeeg  h jär»  yveo- 

gi^siv  uvrov  ucrurio-ui  Qctoiug  ccttXxv  udog  Trv^iTis,  x.  xorsiir  ovrug 

(xiTccßotlvziv  I7A  rx  cvvB-stx.  So  soll  denn,  oder  eigentlich, 
so  mufs  denn  auch  gegenwärtig  der  einfachste  Gang  eines 
einfachen  Fiebers  uns  zum  Verständnisse  des  zusammenge¬ 
setzten  führen,  und  diesen  uns  klar  machen.  Mag  noch  ein 
anderer  Spruch,  der  dem  oben  angeführten  voransteht  und 
soviel  heifst  als:  «Wer  nicht  am  ersten  Tage  schon 
ein  Quartanfieber  von  einem  Tertianfieber  un¬ 
terscheiden  kann,  der  ist  kein  Arzt,”  hier  einen 

\ 

Platz  finden,  damit,  die  ihn  lesen,  ihn  wohl  beherzigen, 
und  ihr  «  anch’  io  »  gewissenhaft  ausrufen  mögen.  — 

Wie  ist  denn  der  Gang  des  einfachsten  Fiebers  be- 
schaffen?  —  Der  Mensch  hat  eine  unruhige  Nacht,  mit 
ängstlichen  Träumen,  oder  schlaflos,  lästigen  Gefühlen  u. 
s.  w.  zugebracht.  Er  erwacht  unerquickt  durch  die  Nacht¬ 
ruhe.  Steht  auf  mit  Schwere  in  der  Stirn,  in  den  Knieen; 
wärmerem  Athem,  hellem,  reichlichen  Urin;  der  gewohnte 
Stuhlgang  zögert;  das  Frühstück  will  nicht  schmecken.  Der 
Zustand ,  den  das  Alterthum  Koorog  nannte,  tritt  ein,  eine 
schmerzliche  Müdigkeit  mit  Unruhe.  Der  Mittag 
ist  indessen  herangekommen.  Die  Mahlzeit  schmeckt  nicht. 
Der  Kranke,  der  sich  noch  mit  Mühe,  als  ob  es  durch 


i 


270 


I.  Krisenlehrc. 


weichen  Lehmboden  ging,  fortgeschleppt  hatte,  mufs  sich 
legen.  Unruhe,  Kopos  und  lästige  Empfindungen  steigern 
sich,  bis  endlich  zwischen  6  —  7  Frostschauer  deutlich  und 
deutlicher  den  Leidenden  durchschiittern.  Sic  dauern  mehr 
oder  weniger  lange,  von  einer  bis  zu  mehren  Stunden. 
Ein  Schwanken  zwischen  Frost  und  Wärme  tritt  nun  ein. 
Bald  hat  die  Wärme  die  Oberhand.  Sie  steigt.  Der  Kranke 
fängt  an  zu  glühen,  und  endlich  hat  die  trockene  Ililze 
um  die  Mitternachtstunde  ihren  Culminationspunkt  erreicht. 
Die  Haut  wird  weich  und  feucht,  es  tritt  zuerst  ein  IS'ach- 
lafs  der  übermäfsigen  Hitze  ein,  und  bald  wächst  die  Aus¬ 
dünstung  und  wird  zu  einem  triefenden  Schweifse,  der  ge¬ 
wöhnlich  um  die  Morgenstunden  den  höchsten  Grad  er¬ 
reicht,  und  von  dieser  Zeit  an  wieder  sich  zu  mindern  an¬ 
fängt,  so  dafs  die  Mittagsstunde  eine  Stunde  des  hergestell¬ 
ten  Gleichgewichtes  und  der  Kühe  für  die  höher  fluthenden 
Lebensgeister  nach  ihrer  tieferen  Ebbe  wird. 

Es  hiefse  dem  geneigten  Leser  zu  wenig  Zutrauen, 
wenn  man  ihn  auf  die  durchherrschende  Gleichmäfsigkeit 
des  Verlaufes  dieser  Ephemera  mit  den»  gesunden  Lebens¬ 
laufe  eines  Tages  hinweisen  wollte.  Hier  ist  mehr  als 
Analogie;  hier  ist  Eins  und  dasselbe,  nur  in  anderer  Form. 
Nun  wohlan!  Lalst  uns  weiter  schreiten  zum  componirten 
Fieber ! 

Gang  des  Fiebers.  —  2.  Zusammengesetzter. 

ln  dem  einfachsten  Gange  haben  wir  das  Bild  eines 
einzigen  Anfalls  eines  kalten  Fiebers,  den  Tact,  der  sieb 
vielfach  wiederholend,  eine  Reihe  von  einzelnen  Tacteu 
bildet,  die  zusammengenonnnen  den  Cyclus  eines  kalten  Fie¬ 
bers  ausmachen.  Jeder  einzelne  Tact  besteht  sonach  — 
die  Terrentia  morbi  abgerechnet  —  aus  Frost,  Hitze, 
Schwei  fs,  Glei  ch  ge  wicht,  und  die  Fortsetzung  des 
Fiebers,  die  Verbindung  eines  neuen  Tactes  zum  schon 
vergangenen  wird  gegeben  durch  ein  u  n  v  o  1 1  k  o  m  nie  n  es 
Gleichgewicht,  so  dafs  noch  ein  Theil  für  einen  neuen 


I.  Krisenlehre. 


271 


Impuls  auszugleichen  zurückbleibt.  Daher  ist  in  der  ersten 
Verlaufzeit  des  kalten  Fiebers,  d.  h.  bis  es  seinen,  in  der 
Natur  (wie  wir  bald  sehen  werden)  gegründeten,  7-  oder 
2:7tägigen  Gang  vollendet  hat,  die  Pause  noch  immer  von 
dem  Kopos  begleitet;  man  sagt:  die  Intermission  ist  nicht 
vollständig;  der  Kopf  ist  nicht  frei;  die  Glieder  sind  bleiern; 
es  zieht  im  Kücken;  die  Zunge  ist  gastrisch  belegt;  der 
Appetit  ist  schlecht  u.  s.  w.  Aehnlich  ist  das  sich  täglich 
wiederholende,  und  bei  Thieren  und  Menschen  nicht  selten 
sehr  sichtbare  Digestionsfieber,  das  man  auch  wohl  im 
Scherz  das  Ochsenfieber  zu  nennen  pflegt,  und  das  der  ver¬ 
storbene  Wo  lstein  so  genau  gezeichnet  hat.  Man  könnte 
dies  füglich  das  physiologische  Fieber  nennen. 

Gang  des  Fiebers.  —  Zusammengesetzt-zusam¬ 
mengesetzter. 

Nunmehr  denke  sich  der  geneigte  Leser  den  Fall,  dafs 
die  Fieberursache  von  solcher  Gewalt  sei,  und  der  Wider¬ 
stand  der  Lebenskräfte  von  solcher  adäquater  Macht,  dafs 
das  Gleichgewicht  schwach  oder  gar  nicht  hergestellt  wer¬ 
den  kann,  zwischen  je  einem  und  dem  andern  Fieberanfalle; 
so  hat  er  ein  confluentes  kaltes  Fieber,  und  zwar  im  leich¬ 
teren  Grade  mit  einiger  Zwischenpause  und  unvollkom¬ 
men  hergestelltem  Gleichgewichte,  d.  i.  eine  Febris  remit- 
tens;  oder  endlich  auch  ohne  dieses  letzte  Analogon  einer 
Zwischenpause,  eine  Febris  continua  continens. 


Wie  uns  nun  der  einfache  Typus  allrnahlig  in  diesen 
componirten  geleitet,  und  ihn  aufgeklärt  bat,  so  mag  uns 
hinwieder  der  componirte  zum  Gange  des  einfachen  zurück¬ 
führen,  und  diesen  aufhellen  und  erklären.  Wir  wissen 
alle,  dafs  das  gutartige  kalte  Fieber  einen  Verlauf  von  7 
oder  9  Anfällen  macht,  mithin  in  13  oder  17  Tagen  sei¬ 
nen  Kreis  durchwandelt.  Theils  haben  wir  alle  dies  Phä¬ 
nomen  oft  erlebt,  theils  haben  wir  Zeugnisse,  dafs  es  vor 
mehr  denn  2000  Jahren  schon  also  sich  verhalten  habe, 


272 


I.  Krisenlehre. 


auch  dals  ei  in  den  verschiedenartigsten  Gliinaten  sich  also 
verhalte  noch  heutigen  Tages.  Worin  mag  denn  dies  Ge¬ 
setz  der  Natur  begründet  sein;’  Welche  Einflüsse  bestim¬ 
men  diesen,  und  nur  diesen  Verlauf?  —  Vei gehe  rnir  mein 
muthmaafslicher  Recensent  den  Mangel  an  Citaten  ( ich 
denke,  besser  gar  nicht,  als  schlecht  citirt,  und  den  letzten 
Fehler  kann  ich  wohl  verleugnen),  und  lasse  die  Parerga 
bis  der  Ernst  zu  Ende  ist.  — 

Zu  dem  Ende,  und  um  uns  unseres  Zieles  zu  verge¬ 
wissern,  müssen  wir  die  Natur  der  einzelnen  Fiebertage, 
und  ihr  Verhaltnifs  gegeneinander,  sorgfältig  zu  ermessen 
suchen.  Wir  wollen  vorläufig  einmal  annehmen,  wir  hät¬ 
ten  eine  ungewisse  Zahl  von  Fiebertagen  vor  uns,  die  alle 
insgesammt  und  gemeinschaftlich  die  Folge  einer  Krankheits¬ 
ursache  sind,  die  auf  Einmal  den  Organismus  ergriff  und 
sich  mit  einer  Ephemcra  nicht  abfinden  lassen  konnte,  auch 
zu  mächtig  war,  der  Vitalkraft  Pausen  und  Ruhetage  zu 
vergönnen,  sondern  jeden  Ruhetag  zum  Tage  krankhaft 
aufgeregter  Thätigkeit  macht,  wir  lieben,  mit  Einem  Worte, 
die  Continua  remittens.  Am  ersten  Tage  mithin  ist  der 
Eindruck  am  lebhaftesten;  der  zweite  Tag  hat  einen  min¬ 
deren  Grad  von  Aufregung,  weil  er  der  Intermission  ent¬ 
spricht.  Jetzt  kommt  der  dritte  Tag;  dieser  entspricht 
dem  zweiten  Kaltfieberparoxysmus ,  ist  mithin  an  Aufregung 
dem  ersten  gleich,  wo  nicht  aufgeregter;  und  auf  den  drit¬ 
ten  Tag  folgt  der  vierte  mit  seiner,  der  Intermission  ent¬ 
sprechenden,  Remission.  Dieser  vierte  giebt  noch  zu 
mancherlei  Betrachtungen  Anlafs.  Erstlich:  W’enn  die¬ 
ser  vierte  Tag  in  seinen  Erscheinungen  dem  dritten,  der 
Intermissionstag  dem  Paroxysmustage  gleich  kommt,  so  ist 
dies  ein  so  unerwartetes  Ereignifs,  dafs  wir  noth wendig 
entweder  auf  eine  besondere  Mächtigkeit  der  Krankheits¬ 
ursache,  die  den  ganzen  Verlauf  herbeigeführt  hat,  oder 
auf  eine  neu  hinzugetretene  schbefsen  müssen.  —  Der 
vierte  Tag  hat  das  vor  dem  zweiten  deshalb  voraus, 
weil  der  zweite  uns  schon  den  Gang  der  Krankheit  vor- 

zeich- 


I.  Kriscnlehrc. 


273 


zeichnet,  und  die  ersten  drei  Anfälle  die  drei  Punkte  sind, 
die  den  Lauf  der  Krankheitslinie  zuerst  bestimmen.  Ist 
nämlich  der  Zweite  dem  Ersten  gleich,  so  giebt  sich 
ein  sehr  acuter  Zustand  (ceteris  paribus)  kund;  ist  aber, 
nachdem  der  Zweite  dem  Ersten  ungleich,  nämlich  ein 
Remittirender  gewesen  war,  dennoch  der  Vierte  nicht 
dem  Zweiten,  sondern  dem  Dritten  gleich,  nämlich  ein 
Exacerbirender,  so  mufs,  weil  dies  entweder  eine  heimliche 
Bosheit  der  ersten  Krankheitsursache,  oder  gar  eine  neu 
hinzugekommene  neue  Ursache  anzeigt,  die  Krankheit  noth- 
wendig  von  ernsterer  Natur  werden.  2)  Wir  bemerken 
ebenfalls,  was  der  Unterschied  zwischen  der  geraden  und 
ungeraden  Zahl  zu  sagen  habe,  und  von  welchem  Gewichte 
dies  Zahlenverhältnifs  in  dem  Krankheitsverlaufe  sei.  3)  Le¬ 
gen  wir  einen  ganz  besonderen  Nachdruck  auf  die  Stellung 
dieses  vierten  Tages.  Die  sorgfältigste  Beobachtung  des 
Krankheitsverlaufes,  wie  ich  ihn  fast  immer,  wo  keine 
erweislichen  groben  Störungen  durch  Diät  und  Be¬ 
handlung  vorgefallen  waren,  wahrgenommen  habe,  lehrt: 
dafs  das  Remittens,  namentlich,  doch  nicht  ausschliefsend, 
das  in  seinem  ferneren  Gange  mit  auseinander  gehendem 
Typus  sich  in  ein  wahres  Intermittens  auf  löst,  an  derselben 
Tageszeit  seinen  Verlauf  beschliefst,  an  welcher  es  ihn  be¬ 
gonnen  hat,  so  dafs  der  letzte  Anfall  gewöhnlich  einen 
Nachmittag  eintritt,  wie  der  erste  an  einem  Nachmittage, 
dem  regelmäfsigen  Lebensgange  conform,  einzutreten  pflegt. 
Die  einzelnen  Exacerbationen  aber  kommen  entweder  jedes¬ 
mal  eine  Stunde  später  oder  früher,  so  dafs  damit,  genau 
wie  mit  der  Erscheinung  der  Ebbe  und  Fluth,  im  Fieber¬ 
kreislaufe  der  Eintritt  des  Paroxysmus  nach  der  Reihe  jede 
Stunde  des  Tages  trifft,  bis  der  Kreis  durch  wandelt,  und 
er  wieder  in  derselbigen  Stunde  eingefallen  ist,  in  welcher 
er  das  erstemal  eintrat.  Auch  trifft  es  sich,  dafs  der  Pa¬ 
roxysmus  um  zwei  Stunden  vor-  oder  nach  setzt.  Setzt 
er  nur  Eine  Stunde  vor,  so  wären,  damit  der  Verlauf  voll¬ 
ständig  werde,  und  der  letzte  Anfall  auf  den  ersten  der 
xiv.  Bd.  a.  st.  '  IS 


274 


I.  Krisenlehrc. 


Zeit  nach  falle,  25  Exacerbationen;  setzte  er  zwei  StunJen 
vor,  13  Exacerbationen  zum  Schlüsse  des  Kreises  erforder¬ 
lich.  —  So  aber  verhält  cs  sich  auch  im  Leben,  mit  gerin¬ 
ger  Modification ;  es  vertheilen  sich  die  24  Stunden  über 
sieben  oder  über  dreizehn  Kieberzeiträume;  z.  B.  es 
trete  der  erste  Paroxysmus  ein  um  6  Uhr  Nachmittags,  so 
tritt,  bei  zweistündigem  ^orsetzen,  der  zweite  um  8,  der 
dritte  um  10  Uhr  ein,  und  so  fort  bis  zum  siebenten,  der  um 
6  Uhr  Morgens,  und  endlich  der  dreizehnte,  der  um  6  Uhr 
Nachmittags  eintritt.  Also  in  2  :  7  oder  14  Tagen  tbeilt  sich 
der  gewonnene  Tag  bei  zweistündiger  Differenz;  in  4:7 
oder  in  28  Tagen  bei  einstiindiger,  und  dieses  wäre  der 
Berechnung  nach  der  simple  Verlauf  eines  kalten  Fiebers, 
oder  einer  Continua  remittens,  nur  bei  dieser  mit  contlui- 
renden  Paroxysmen. 

Welche  Stellung  ergiebt  sich  aus  diesem  allen  für  den 
vierten  Tag?  Diese  Stellung,  dafs  er  das  Mittel  ist  zwi¬ 
schen  deu  2  zeitlichen  Hälften  -eines  grüfseren  7  tägigen 
rr  der  Hälfte  oder  dein  Viertel  des  2:7  oder  4  :  7 tägigen 
Verlaufes  eines  inter-  und  remittirenden  Fiebers.  Ist  nun 
der  vierte  Tag  von  so  grofser  Wichtigkeit,  so  liegt  natür¬ 
lich  in  seinem  \  erhalten  der  Schlüssel  zum  Gange  der 
noch  folgenden  Hälfte;  ist  am  vierten  eine  Remission, 
so  kann  am  siebenten  eine  Krise  zu  Stande  kommen; 
tritt  aber  eine  neue  Exacerbation  ein,  die  in  ihrer  Svmpto- 
mengruppe  und  Energie  der  des  dritten  Tages  gleicht,  so 
ist  keine  Krise  am  siebenten  zu  erwarten.  Durch  diese 
Stellung  des  vierten  Tages  schliefst  sich  die  Zahl  7  zu  einer 
Wochenzahl  im  Krankheitsgange;  ich  will  sagen  die  Sie¬ 
ben  za  hl  wird  ein  Convolut,  ein  neues  Ganzes,  eine  in 
sich  geschlossene  Krankheitsepoche.  Ich  darf  wohl  nicht 
auf  den  Werth  derselben  für  den  Arzt  aufmerksam  machen, 
und  mich  von  dem  Verdacht  der  Subtilitäten  säubern!  — 

Ich  schreite  fort,  und  stelle  für  den  ersten  Krankheits¬ 
zeitraum  folgendes  Schema  auf  (die  Zeichen  sind  der  Metrik 


l 


I.  Krisenlehre. 


275 


* 


entlehnt;  Exacerbation  hat  das  Zeichen  der  gröfseren  Quan¬ 
tität,  Remission  das  der  kürzeren): 

1.  2.  3.  4.  5.  6.  7.  8  (oder  I.) 

—  ^  —  o  —  Kris.  Gesundheit. 

Dies  ist  das  Schema  des  einfachsten  componirten  Fieber¬ 
typus. 

4.  Ferner  Gang  des  componirten  Fiebertypus. 

Der  gütige  Leser  hat  sich  vielleicht  schon  gewundert, 
und  Einer  von  denen  —  qui  malitiose  legunt  —  sich  ge¬ 
freut,  dafs  der  Autor  dieser  Untersuchung  beinahe  ver¬ 
gessen  hätte,  die  oben  angegebene  Differenz  des  componir¬ 
ten  Typus  nach  der  Ordnung  hier  wieder  vorzunehme« 
und  den  Faden  dort  anzuknüpfen ,  wo  er  ihn  hat  fallen 
lassen.  Zur  Genugthuung  des  Einen  und  des  Andern  möge 
dies  denn  unverzüglich  hier  geschehen,  und  eine  Erörte¬ 
rung  veranstaltet  werden,  die,  meines  Wissens,  in  neueren 
Zeiten  wenigstens,  gar  nicht  vorgenommen  worden,  man 
möchte  sagen,  an  die  nicht  gedacht  worden  ist  r). 

Die  Beobachtung,  die,  wie  gesagt,  allgemein  gemacht 
ist,  und  beständig  sonder  Mühe  gemacht  werden  kann,  dafs 
nämlich  ein  gewöhnliches,  originäres *  2)  kaltes  Fieber  seinen 
Verlauf  innerhalb  7  oder  9  Anfällen  vollende,  soll,  wo 
möglich,  auf  die  einfachsten  Lebensgesetze  reducirt,  d.  h. 
pathologisch  erklärt  werden.  Diese  doppelte  Verlaufsweise 


J )  Was  von  der  Befruchtung  der  Veilchen  von  mir  ent¬ 
deckt  worden,  ist,  wie  ich  erfahren  habe,  von  einem  Zeichner 
(Capieux)  in  der  Gartenzeitung  schon  lange  beschrieben.  Ich 
erfuhr  dies  aus  der  Recension  eines  botanischen  Werkes,  ich 
weifs  nicht  mehr,  wo?  Auch  ist  hier  diese  Gartenzeitung  nicht 
aufzutreibeu  gewesen. 

2)  Originär  nenne  ich  ein  solches  Fieber,  das  weder  ein 
chronisches  verschlepptes,  aus  einem  gastrischen,  biliösen,  ur¬ 
sprünglichen  kalten  Fieber  entstanden,  noch  auf  eine  chronische 
Krankheit  der  Eingeweide  gepfropft  ist. 

18  * 


276 


I.  Krisenlehre. 


in  7  oder  9  Tagen  ist  aber  gegründet  in  einer  besonderen 
Eigentümlichkeit  des  Fiebers  rücksichtlich  der  Verrückung 
der  Exacerbationen  oder  Paroxysmen.  Setzt  der  Typus 
um  zwei  Stunden  vor  und  fängt,  nach  dem  obigen  Bei¬ 
spiele,  um  6  Uhr  Nachmittags  an,  so  gewinnen  die  fol¬ 
genden  drei  Anfälle  6  Stunden,  und  der  vierte  Anfall  fällt 
in  die  Mitternacht  des  Tten  Tages;  setzt  der  Typus  im 
Gegenteil  nach,  so  verlieren  die  drei  folgenden  Anfälle 
6  Stunden,  und  der  vierte  Anfall  fällt  um  12,  die  Mit¬ 
tagsstunde  des  7ten  Tages.  Im  ersten  Fall,  beim  Typus 
auloponens,  wird  im  ganzen  Fieberverlaufe  von  4:7  Tagen 
ein  Tag  gewonnen,  und  innerhalb  neun  Anfällen  ist  das 
Fieber  wieder  da  angelangt,  wo  es  am  allerersten  Tage  sei¬ 
nen  Verlauf  begann.  Im  entgegengesetzten  Falle  geht  ein 
ganzer  Tag  verloren,  und  das  Fieber  bedarf,  um  seinen 
letzten  Paroxysmus  mit  derselben  Stunde  anzutreten,  in 
welcher  der  erste  angetreten  worden  ist,  13  Tage.  NB.  Ein 
Fiebertag  besteht  aus  dem  eigentlichen  Ficbertage,  mit  dem 
freien  dazu.  —  Eben  so  verhält  es  sich  mit  den  Zahlen  7 
und  9.  Die  Zahl  sieben  bildet  die  Hälfte  des  vorsetzenden, 

die  Zahl  neun  die  Hälfte  des  nachsetzenden  Typus. 

• 

Folgendes  Schema  werde  von  nun  an  mit  Sorgfalt  be¬ 
trachtet,  und  mit  dem  Gange  der  Natur  verglichen: 

1.  Typus  a  n  t  i  c  i  p  a  n  s. 

Krise.  —  Mit  - 

6Fhr  Abends.  ternarht. 

,,  Sonntag.  Mont.  Dienst.  Mittw.  Donn.  Freit.  Sonnabcud. 
r.  rstc 

Woche.  —  ^  v  — 


Zweite 

Woehe. 


6Uhr  Morgen«. 
Krise.  Gesundheit. 


II.  Typus  p  o  s  t  p  o  n  e  n  s. 

GIJhrAbend«.  Mittag«. 

Sonntag.  Mont.  Dienst.  Mittw.  Donn.  Fr.  Sonnabend. 

-  —  \J  - 

6D1.  r  Morgen«. 


W 


N 


I.  Krisenlehre. 


277 


Dieselben  zwei  Schemata  gelten  nicht  minder  für  die 
Continua  remittens  mit  dem  Unterschiede,  dafs  hier  die  Zei¬ 
chen  der  Kürze  ebenfalls  Fiebertage,  aber  von  schwächerem 
Grade,  gleichsam  die  minder  gute  Zeit  ausdrücken.  Ein 
hitziges  Fieber  von  14  Tagen  (nämlich  den  letzten  lieber¬ 
freien  Tag  mitgerechnet)  ist  gleich  einem  intermittirenden 
von  doppelter  Zeit. 

Nachdem  nun  zur  näheren  Begründung  das  Yerhältnifs 
der  drei  Hauptzahlen:  7,  9  und  13,  gegeneinander  aufge¬ 
hellt  und  entwickelt  ist,  treten  wir  ein  in  die  Betrachtung 
des  vollen  Verlaufes  eines  regelmäfsigen  hitzigen  remittiren- 
den  Fiebers  von  14  Tagen. 

Diese  vierzehn  Fiebertage  bilden,  wie  gezeigt  worden, 
einen  vollen  regelmäfsigen  4:7tägigen  Verlauf,  mit  den 
ausgefallenen  freien  Tagen,  und  dem  Gewinn  oder  Verlust 
des  Einen  Tages,  durch  den  voreilenden  oder  zurückblei¬ 
benden  Typus.  Wenn  wir  nun,  der  Natur  gemäfs,  diese 
Fieberhebdomaden  jede  für  sich  betrachten,  so  finden  wir 
in  der  Mitte  der  zweiten  Hebdomas  wiederum  einen  mitt- 
len  Tag,  der  dem  Mitteltage  der  ersten  Hebdomas  ent¬ 
spricht.  Sobald  nämlich  der  vierte  ein  Tag  ist,  der  dem 
dritten  an  Mächtigkeit  gleicht,  so  tritt  natürlich  eine 
mehr  als  7 tägige  Epoche  ein,  die  Krankheit  geht  in  die 
zweite  Hebdomas  über,  und  statt,  dafs  am  Sten  Tage  das 
Gleichgewicht  hergestellt  wäre,  beginnt  an  diesem  Tage 
ein  ganz  neuer  Umlauf,  so  dafs  nunmehr  das  Schema  also 
sich  formirt: 


Erste  Woche. 

S. 

M. 

D. 

Mit 

— 

— 

1. 

2. 

3.  / 

4. 

Zweite  Woche. 

— 

— 

sj 

8. 

9. 

10.  t 

11. 

Don. 

F. 

Son. 

— 

5. 

vj 

/«• 

7  \ 

(7 

-) 

% 

12L 

'13. 

/ 

Nach  diesem  Schema  verändern  die  Tage  nach  dem 
vierten  ihren  Werth.  Der  vierte,  der  ein  kurzer  (Inter¬ 
oder  Remissionstag)  sein  sollte,  ist  ein  langer  (Exacerba¬ 
tionstag)  geworden.  Nach  dem  ersten  vierten  (dem 
vierten  der  ersten  llebdomas)  richtet  sich  der  zweite 


278  I.  K  risenlelire. 

vierte  (der  4te  der  2ten  Hebdomas)  rr  dem  Ilten,  und 
somit  wird  der  13te  der  entscheidende  Tag. 

Nunmehr  betrachte  der  gütige  Leser  mit  mir,  wie 
durch  diese  Zahlenverhaltnisse  bewirkt  wird,  dafs  das  Fie¬ 
ber  in  derselben  Tageszeit  aufhören  und  sich  schlieisen 
könne,  in  welcher  es  begann  ;  es  wird  nämlich  gerade  in  der 
Zald  13 —  1  —  12,  bei  der  Voraussetzung  eines  sich  um 
2  Stunden  jedesmal  vorrückenden  Typus  eben  ein  voller 
Tag  im  Ganzen  gerückt,  und  somit  derselbe  Verlauf,  der 
im  einfachen  kalten  Fieber  handgreiflich  vorliegt,  in  der 
Continua  nur  verdeckter  verfolgt.  Somit  wäre  die  Be- 
trachtung,  von  dem  physiologischen  Lebensgange  ausgehend, 
zur  vollkommneren  Einsicht  in  deu  Verlauf  eines  ganz  ein¬ 
fachen  Fieberverlaufes  gelegt;  von  dieser  schritt  sie  zur 
Betrachtung  des  compouirten  Verlaufes  eines  einfachen  Fie¬ 
bers,  zur  einfachen  Kette  des  ln’ermittens;  dieses  lntermit- 
tens  endlich  leitete  zum  Verständnifs  des  zusammengescho- 
benen  Verlaufes  des  Remittens  und  zum  gedrängtesten  der 
Continua  continens.  —  Die  Betrachtungsweise  hat  aber 
zugleich  aufgedeckt,  wie  cs  zugehe,  dafs  die  Form  der 
Continua  remittens  so  gefährlich  sein  könne;  dies  lag  näm¬ 
lich  in  der  Natur  und  Stellung  des  vierten  und  elften, 
wie  jeder  leicht  einsieht. 


Benennung  einzelner  Tage  nach  ihrem  Werthc. 

Das  Alterthum  hat  ungemein  tiefe  Blicke  in  die  Natur 
gethan!  Ohne  dafs  Hippokrates  oder  Galenits  eine  so 
reichhaltige  Physiologie  und  Pathologie  vor  Augen  gehabt 
hatten;  ohne  die  unschätzbare  Masse  physiologischer  und 
pathologischer  Experimente ,  Sectionen,  Schichtungen  der 
Facta,  Systematisirungen  u.  s.  w. ,  kannten  beide  die  Wich¬ 
tigkeit  der  Fiehertage  nach  dem  Gesetze,  das  in  dieser  For¬ 
schung  nach  Kräften  aufgehellt  worden  ist.  Auch  wurden 
die  Tage  von  ihnen  mit  angemessenen  Namen  belegt,  und 
somit  hervorgehoben,  und  nach  ihrem  Werthc  bestimmt. 


I.  Krisenlehre. 


279 


i 


i 


Im  Plane  des  Verfassers  gegenwärtiger  Forschung  liegt  es 
nicht,  die  Geschichte  der  Lehre  von  den  kritischen  Tagen, 
seinen  Lesern  vorzulegen.  Arbeiten  mancher  Jahre  liegen 
vor.  Die  Geschichte  dieser  Doctrin  ist  bis  zum  Schlüsse 
der  antiken  Welt  fertig.  Aber  es  ist  mir  in  diesen  Tagen 
zunächst  darum  zu  thun  gewesen ,  diese  Lehre  ihrem  We¬ 
sen  nach  so  weit  zu  führen,  dafs  jeder,  dem  es  nicht  an 
Einsicht  und  Ernst  mangelt,  die  Würdigkeit  derselben  ein- 
sehen  möge.  Den  Reiz,  den  es  hat,  sich  mit  der  Fackel 
neuer  Aufklärung  in  die  verdämmernden  grofsen  Tage  einer 
reichbegabten  Vorwelt  zurück  zu  versetzen,  habe  ich  unter¬ 
drücken  wollen,  bis  ich  fernerhin  mich  von  dem  andauern¬ 
den,  oder,  lieber  noch,  fortschreitend  wachsenden  Interesse 
meiner  gütigen  Leser  vergewissert  haben  würde.  Sind  in 
dem  Eingänge  bittere  Wahrheiten  zu  sagen  gewesen,  so 
waren  sie  doch,  wie  von  der  Hand  des  Arztes  bittere  und 
selbst  scharfe  Arzneien,  mit  gutem,  wohlmeinendem  Sinne 
mitgetheilt.  Wer  mich  schilt,  damit  er  mich  bessere,  ist  mir 
lieber,  als  der  beifällige  ohne  Verständnifs  und  der  Lob¬ 
redner  mit  Falschheit.  Sollte  irgend  jemand  manche  der 
Vorwürfe,  die  unserer  Zeit 'gemacht  werden,  und  die  einige 
Vor-  und  Nachtreter  unsanft  treffen  mögen,  unziemlich 
finden,  so  betrachte  dieser  Gute  die  Weise  der  oder  jener 
arroganten  Ignoranz  des  westlichen  Europa's,  und  ich  wette, 
er  wird  die  Gegenreden  mild  und  sanftmiithig  finden.  Warum 
führt  denn  kein  kritisches  Blatt  die  Peitsche  gegen  Schriften 
wie  die  der  französischen  Schule:  Sur  la  non-existance  du 
virus  venerien  etc.?  Wo  hat  denn  der  deutsche  Recensent 
seine  Kratzfüfse  hergenommen,  sobald  ein  Franzose  oder 
Gentleman  seine  Waaren  feil  giebt?  Warum  wird  es  ge¬ 
duldet,  dafs  man  uns  in  einer  Sündfluth  elender  Ueber- 
setzungen,  elender  Werke  ersäuft?  Geduldet  —  frage  ich? 
Nein,  befördert  wird  dieser  Unfug,  und  verdrängt  wird  das 
edlere  Gewächs  deutscher  Art  und  Gelehrsamkeit  aus  dem 
Gebiete  der  praktischen  Arzneikunde,  damit  es  der  Horde 
zahlloser  Beutelschueider  leicht  und  leichter  gemacht  werde, 


r 


280 


I.  Krisenlchrc. 


von  dem  Becken  und  dem  Stöfser  in  die  heilige  Ileilkunst 
einzugehen,  mit  zwei  Semestern,  wenn  es  hoch  kommt,  und 
weil  ein  solches  Studium  bei  weitem  weniger  theuer  zu 
stehen  kommt,  als  ein  Baderamt  oder  eine  Apotheke.  — 

Nächstens  vielleicht,  favente  numine,  eine  ausführli¬ 
chere  Darstellung  dieser  Lehre  nach  Ilippokrates,  Ga¬ 
len  und  ihren  Zeitgenossen,  bis  zur  Epoche,  da  diese 
Doctrin  von  dem  neueren  Methodismus  vergraben  ward. 
Jetzt  vergönne  ich  mir  noch  die  Benennung  der  Haupt¬ 
tage  im  Sinne  der  antiken  Welt  und  der  Wahrheit. 

Man  sondere  zuerst  die  gerade  Zahl  von  der  un¬ 
geraden  (dies  pares  et  impares),  2.  4.  8  u.  s.  w.  von  1.  3.  5. 
Die  obige  Erörterung  lehrt,  weshalb.  —  Dann  die  Tage 
der  Anzeige  (dies  indices),  Tage  der  Vorbedeutung, 
wann  die  Crisen,  und  wie  sie  eintreten  werden;  4  und  11  *), 
in  hitzigen  Fiebern.  Endlich  die  kritischen  Tage  (dies 
critici)  7.  9.  13.  —  Es  giebt  noch  mehre  bemerkens¬ 
werte  Tage,  zumal  beim  gedehnteren  Verlaufe  des  Fiebers; 
die  Beobachtungen  der  Alten  erstrecken  sich  bis  zum  SOstcn 
Tage,  und  wohl  noch  weiter.  Wer  untersteht  sich  zu 
sagen,  dafs  sie  unrichtig  gesehen  haben?  Man  hat  es  von 
den  Krisen  überall  behauptet,  dafs  ihre  Beobachtung  über¬ 
flüssig,  voller  Unrichtigkeit,  Unsicherheit,  Widersprüche 
wäre,  ja  Broussais  behauptet,  es  sei  schädlich,  dieser 
Tage  zu  achten.  —  Das  gröfste  Unglück  ist,  dafs  die  Seich¬ 
tigkeit  der  Methode,  die  Leichtigkeit  des  Studiums  beför¬ 
dert.  Der  Erfolg  ist  schnell,  die  Mühe  ist  leicht,  die  Zu¬ 
gänglichkeit  allgemein ! 


1)  Das  Schema  lehrt,  wie  der  11  tc  kein  eigentlich  unge¬ 
rader  in  Beziehung  auf  die  zweite  llrhdoma.s  ist,  sondern  cm 
gerader,  und  dem  dien  entspricht. 


II.  Generalbericht  des  Künigl.  Rhein.  Med.  Coli.  281 

ii. 

i 

Generalbericht  des  Königlichen  Rheini¬ 
schen  MeÜicinal- Collegiums  über  das 
Jahr  1826.  Referent:  Medicinalrath  Dr.  Ulrich. 
(Gedrucktes  Manuscript.)  Coblenz  1829.  137  Sei¬ 
ten  in  Folio. 

Bei  der  Anzeige  des  Generalberichtes  über  das  Jahr 
1825  (s.  Bd.  XII.  H.  4.  d.  A.)  batten  wir  an  sämmtliche 
Medicinal-Collegien  des  Preufsischen  Staates  die  Bitte  ge¬ 
richtet,  dem  Beispiele  des  Rheinischen  zu  folgen,  und  in 
einer  gedrängten  Zusammenstellung  üher  den  Krankheits¬ 
genius  in  ihren  Bezirken  dem  medicinischen  Publikum  Kunde 
zu  gehen.  Leider  ist  bisher  unser  Wunsch  unbeachtet  ge¬ 
blieben,  wenigstens  hat  Ref.  von  ähnlichen  Unternehmun¬ 
gen  nichts  gehört. 

Der  Plan,  welchem  man  im  vorliegenden  Berichte 
folgte,  ist  im  Allgemeinen  derselbe,  wie  im  früheren. 

In  dem  Vorworte  wird  kürzlich  bemerkt,  dafs  der  sta¬ 
tionäre  Krankheitscharakter  in  diesem  Jahre  der  nervöse 
gewesen,  und  dafs  das  Scharlach  und  die  Pocken  unter 
den  epidemisch- contagiösen  Krankheiten  den  ersten  Platz 
eingenommen. 

Der  erste  Abschnitt  betrifft  die  allgemeinsten,  auf 
den  Gesundheitszustand  influirenden  Verhältnisse:  die  Wit¬ 
terung,  die  Winde,  den  Barometer-  und  Thermometer¬ 
stand.  Aus  diesem  geht  hervor,  dafs  der  Winter  sehr  kalt, 
der  Frühling  rauh,  der  Sommer  sehr  heifs,  der  Herbst  sehr 
mild  gewesen;  dafs  es  weniger,  als  im  Jahre  1825  gereg¬ 
net;  dafs  das  Barometer  in  den  Monaten  Januar,  Februar, 
Mai,  Junius,  Julius  und  August  beständig  und  hoch,  im 
März,  April,  October  und  November  sehr  schwankend,  und 
in  diesen  vier  Monaten,  wie  im  September  und  December, 
unter  der  mittleren  Höhe  geblieben.  Im  Januar,  März, 
Mai  und  Junius  war  der  Nord -Ostwind,  im  Juli,  August 


II.  Gen  eralbericht 


282 

und  Februar  der  Süd-  und  Südwest  der  vorherrschende. 
Die  Erndtc  war  nicht  sehr  ergiebig,  die  Qualität  des  in 
grofser  Menge  gewonnenen  Weines  mittclmälsig. 

Zweiter  Abschnitt.  Charakter  der  Krankheiten, 
und  merkwürdige  Kpidemieen  in  den  einzelnen 
Quartalen,  ln  den  Monaten  Januar  und  März  waren 
Entzündungen  ziemlich  häufig,  die  indefs  nur  in  den  selt¬ 
neren  Fällen  starke  Blutentziehungen  erforderten,  und  an 
vielen  Orten  eine  grolse  Neigung  zuin  nervösen  Krankheits¬ 
charakter  zeigten.  Das  vom  Dr.  Graff  in  Trarbach  beob¬ 
achtete  Puerperalfieber  herrschte  an  gedachtem  Orte  epide¬ 
misch,  entwickelte  eine  nervöse  Form  und  befiel  vorzugs¬ 
weise  Erstgebärende  und  solche,  deren  Niederkunft  schwie¬ 
rig  gewesen,  so  wie  solche,  die  sich  während  der  Schwan¬ 
gerschaft  nicht  vor  Diätfehlern  gehütet  hatten.  Scharlach-, 
Masern-,  Blattern-  und  Keuchhustenepidemieen  wurden  von 
verschiedenen  Aerzten  beobachtet  und  beschrieben. 

ln  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Quartals  herrschten 
noch  Entzündungen,  in  der  anderen  Hälfte  waren  gastrische 
Affectionen  häufig,  welche  den  Lebergang  zu  den  in  den 
folgenden  Quartalen  so  oft  wahrgenoui menen  nervösen  Fie¬ 
bern  zu  bilden  schienen.  Wechselfieber,  die  meist  unter 
dem  Tertian  -  oder  Quotidiantypus  auftraten  und  keinen 
bösartigen  Charakter  annahmen,  gehörten  zu  den  häufigsten 
Erscheinungen  in  den  Regierungsbezirken  Aachen  und  Düs¬ 
seldorf.  Nervenfieber ,  gewöhnlich  mit  gastrischer  Compli- 
cation,  wurden  in  einigen  Kreisen  der  Regierungsbezirke 
Trier,  Cöln,  Coblenz,  besonders  in  einer  Caserne  der  Stadt 
Cölu  beobachtet,  wo  viele  Soldaten  eine  Beute  desselben 
zwischen  dem  12ten  und  ldten  Tage  wurden.  Sectionen 
scheinen  leider  nicht  gemacht  zu  sein,  wenigstens  wird  der¬ 
selben  hier  nicht  gedacht.  Aerzle,  die  an  Hospitälern  fun- 
giren  und  die  Leichenöffnungen  verabsäumen,  sind  ihrer 
Stellung  unwürdig.  Das  Scharlachfieber  zeigte  sich  epide¬ 
misch  im  Regierungsbezirk  Coblenz.  Die  von  Kopp  aus¬ 
gesprochene  Beobachtung ,  dals  Keuchhusten  und  Masern  so 


des  Künigl.  Rhein.  Medicinal  -  Collegiums.  283 

r  1  * 

Vm  sagen  immer  nebeneinander  die  Individuen  einer  Gegend 
hejmsuchen,  finden  wir  hier  nicht  bestätigt,  da  in  mehren 
Kreisen  des '  Regierungsbezirks  Aachen  erster  epidemisch 
herrschte,  während  von  den  Masern  auch  nicht  die  geringste 
Spur  wahrgenommen  wurde.  Die  natürlichen  Blattern  zeig¬ 
ten  sich  in  sämmtlichen  Kreisen  des  Regierungsbezirks  Trier 
(zwei  ausgenommen)  epidemisch  und  rafften  viele  unge¬ 
schützte  Individuen  weg. 

Während  des  dritten  Quartals  war  fast  jede  Spur  des 
entzündlichen  Krankheitscharakters  verschwunden  und  dage¬ 
gen  der  gastrisch -biliöse  mit  groiser  Hinneigung  zum  ner¬ 
vösen  der  herrschende  geworden,  daher  Leber-  und  Milz- 
affeclionen,  gastrische,  gallige,  nervöse  und  Wechselfieber, 
Durchfälle  und  Koliken  an  der  Tagesordnung  waren.  Ga¬ 
strisch-nervöse  Fieber  wurden  am  häufigsten  in  dem 
unmittelbar  an  Holland  gränzenden  Regierungsbezirke  Düs¬ 
seldorf  beobachtet,  während  sie  in  den  übrigen  Regierungs¬ 
bezirken  nur  sporadisch  vorkamen.  Im  wahren  Sinne  des 
Wortes  lehrreich  ist  die  sehr  vollständige  Zusammenstel¬ 
lung  der  verschiedenen  Mittheilungen  über  das  Nervenfieber 
von  den  Aerzten  des  Regierungsbezirks  Düsseldorf,  freilich 
zu  lang,  um,  wie  sie  es  verdiente,  hier  mitgetheilt  und 
näher  beleuchtet  zu  werden.  Die  Sterblichkeit  war  im  All¬ 
gemeinen  nicht  bedeutend,  da  dem  Dr.  Lisner  in  Ruhrort 
von  580  Kranken  nur  39,  dem  Dr.  Günther  in  Duisburg 
von  706  nur  35,  und  dem  Dr.  Crem  er  in  Mühlheim  an 
der  Ruhr  von  300  nur  18  Kranke  starben.  Eine  gastrische 
Complication  war  immer  vorhanden.  Säufer  unterlagen 
vorzugsweise.  Leichenöffnungen  wurden  nicht  gemacht, 
wie  es  scheint,  wenigstens  werden  die  Resultate  derselben 
hier  nicht  angegeben.  —  Die  Wechselfieber  traten  meist 
unter  dem  Tertiantypus  mit  biliöser  oder  gastrisch -nervöser 
Complication  in  den  Regierungsbezirken  Düsseldorf,  Aachen 
und  Cöln  auf;  viele  Aerzte  beobachteten  larvirte  Wechsel¬ 
fieber  unter  verschiedenen  Krankheitsformen.  Einfache  ga¬ 
strische  und  gallige  Fieber  nahmen  unter  einer  fehlerhaften 


284 


II.  Gencralbericht 


Behandlung  häufig  den  intermittircnden  Typus  an,  und 
herrschten  besonders  im  Regierungsbezirk  Düsseldorf  neben 
den  erwähnten  Ncrvcnfiebern  epidemisch.  Die  Pocken  mit 
ihren  Abarten  zeigten  sich  epidemisch  im  Regierungsbezirk 
Trier,  das  Scharlachfieber  unter  der  Form  der  Scarlatina 
miliaris  mit  bösartigem  Charakter  in  Coblenz.  In  mehren 
Fällen  beobachtete  man  neben  dem  friesclartigcn  Ausschlage 
linsengrofse,  mit  etwas  Feuchtigkeit  angefüllte  Bläschen, 
welche  immer  auf  einen  tödtlichen  Ausgang  deuteten.  Mehre 
Beispiele  werden  angeführt,  wo  alle  Symptome  des  Schar¬ 
lachs  bei  Kindern  wahrgenommen  wurden  und  nur  der  Aus¬ 
schlag  fehlte.  Von  der  Schutzkraft  der  Belladonna  gelang 
es  keinem  der  handelnden  Aerzte  sich  in  dieser  Epidemie 
zu  überzeugen. 

Im  vierten  Quartal  trugen  die  Krankheiten  noch  den 
gastrisch -biliösen  Charakter  mit  Neigung  zum  nervösen, 
wiewohl  in  der  letzten  Hälfte  dieses  Trimesters  auch  Ca- 
tarrhe,  Rheumatismen  und  Entzündungen  oft  genug  sich 
zeigten.  Auch  die  Blattern,  das  Scharlach  und  die  von 
Willan  genannte  Roseola  annulata  wurden  wiederholt 
wahrgenommen. 

Dritter  Abschnitt.  Chronische  Contagien.  Die 
Eustseuche  ward  unter  die  Landbewohner  durch  Soldaten 
gebracht,  die  zur  Kriegsreserve  entlassen  worden  waren. 
Eine  Hebamme,  welche  bei  der  Entbindung  einer  syphili¬ 
tischen  Frau  auf  dem  Lande  angesteckt  wurde,  übertrug 
die  Krankheit  auf  mehre  andere  Kreisende  und  Kinder,  bei 
welchen  letzten  die  Nabelstelle,  der  After,  die  Geschlechts- 
theile,  sich  mit  Scbankergeschwüren  bedeckten.  Die  mei¬ 
sten  venerischen  Lustdirnen  fanden  sich  in  Aachen. 

Die  Krätze  beobachtete  man  vorzugsweise  in  den  Ge¬ 
fangenhäusern,  unter  den  Fabrikarbeitern,  und  den  Hand¬ 
werksburschen.  Eine  Auflösung  von  einer  Drachme  Brecb- 
weinstein  in  einem  Pfunde  Wasser  zum  Waschen  soll  die 
Krätze  innerhalb  acht  Tagen  gründlich  heilen.  Zur  Nach- 


I 


des  Konigl.  Rhein.  Medicinal -Collegiums.  285 

kur  werden  Waschungen  aus  Kleien-  oder  Seifenwasser 
angerathen. 

Eine  dem  contagiösen  Augenübel  der  Soldaten  sehr 
analoge  Ophthalmie  zeigte  sich  in  einigen  benachbarten 
Ortschaften  von  Aachen,  so  wie  in  der  Arbeitsanstalt  zu 
Brauweiler. 

Vierter  Abschnitt.  Merkwürdige  einzelne  Krank¬ 
heiten.  Hierhin  gehört  ein  Fall,  wo  eine  an  Anomalieen 
der  monatlichen  Reinigung  leidende  Frau  sich  unmittel¬ 
bar  nach  einer  starken  Mahlzeit  Blutegel  an  die  Ge- 
schlechtstheile  setzen  liefs  und,  nach  einem  geringen  Blut¬ 
verlust,  in  einen  für  die  Umstehenden  Furcht  erregenden, 
namentlich  von  Ohnmächten  begleiteten  Zustand  verfiel.  — 
Hr.  Dr.  Settegast,  der  diesen  Fall  mittheilt,  sieht  in 
demselben  einen  neuen  Beweis,  dafs  die  alte  Regel,  Blut¬ 
entleerungen  nicht  unmite  lbar  nach  Tische  vor- 
zunehmen,  nicht  ungestraft  überschritten  werden  darf.  — 
Heilung  der  häutigen  Bräune  durch  kalte  Begiefsungen  auf 
den  Nacken  (sie  wurden  das  erstemal  während  20,  das 
zweitemal  während  15,  und  das  drittemal  8  Minuten  lang 
fortgesetzt).  —  Myelitis  durch  einen  Fall  auf  den  Rücken 
(kräftige  Blutentziehungen  bewirkten  die  Genesung).  — 
Merkwürdige  Metastase.  (Ein  öjähriger  Knabe  verfiel  in  ein 
nervöses  Fieber,  nachdem  ihm  kurz  zuvor  eine  auf  der 
linken  Seite  des  Kopfes  festsitzende  Grindborke  plötzlich 
trocken  geworden  war;  Einreibungen  aus  Brechweinstein¬ 
salbe  auf  dieser  Stelle  hatten  das  Anschwellen  der  Kopf- 
Bedeckungen  dieser  Seite  zur  Folge,  es  entstand  Fluctua- 
tion  und  eine  Menge  Eiter  Hofs  aus,  endlich  ward  die  ganze 
Kopfbedeckung  hier  faul  und  brandig,  so  dafs  sie  wegge¬ 
nommen  und  der  Schädelknochen  blofsgelegt  werden  mufste. 
Gegen  den  30sten  Tag  entschied  sich  das  Fieber  unter  dem 
Erscheinen  von  vielen  kleinen  Blutschwären  am  ganzen  Kör¬ 
per  und  Panaritien  an  den  Fingern  zur  Besserung.  In  der 
seiner  Beinhaut  entblöfsten  Stelle  des  Schädels  bemerkte 


r 


286 


II.  Generalbericht 


der  die  Behandlung  leitende  Arzt  einen  Rifs  der  Üufseren 
Tafel,  dessen  abgestorbene  Ränder  weggenomnien  wurden, 
worauf  Fleischwarzen  hervorwuchsen,  und  die  Besserung 
schnell  von  statten  ging.  Noch  lange  nachher  zeigte  der 
Knabe  Spuren  von  Geisteszerrüttung.)  —  Metastase  aufs 
Gehirn.  (Kin  40 jähriger,  an  rheumatischen  Beschwerden 
leidender  Mann  starb  unter  den  Symptomen  einer  Gehirn* 
affection,  nachdem  plötzlich  alle  Zeichen  des  Rheumatismus 
sich  verloren  hatten.)  —  Milchkrise  durch  den  Harn  bei 
einer  Wöchnerin.  (Eine  im  siebenten  Monate  schwangere 
Frau  wollte  eine  seit  acht  Tagen  anhaltende  Verstopfung 
durch  eine  Abkochung  von  vier  Loth  Sennesblättern  heben. 
Bald  nachdem  sie  diese  genommen,  entstanden  Geburtswe¬ 
hen,  und  nach  Austreibung  eines  todten  Kindes  erfolgten 
stinkende  Stühle  und  der  Abgang  vieler  Spulwürmer.  Wie¬ 
wohl  die  Lochien  flössen,  entwickelte  sich  doch  eine  schmerz¬ 
hafte  Anschwellung  der  Knie-  und  Fufsgelenke,  die  gegen 
den  neunten  Tag  verschwand,  worauf  Urinbeschwerden 
sich  einstellten,  die  nicht  eher  wichen,  als  bis  nach  einigen 
Tagen  ein  fünfmal  24  Stunden  anhaltender  milchiger  Harn¬ 
abgang  eintrat.  Die  Brüste  hatten  unterdefs  nie  eine  merk¬ 
liche  Veränderung  erlitten. )  —  Bei  einem  10  jährigen,  sehr 
abgemagerten,  an  Stuhlvcrstopfung  und  Heifshunger  leiden¬ 
den  Knaben,  der  in  der  Magengegend  eine  steinharte  Ge¬ 
schwulst  hatte,  fand  man  nach  dem  Tode  das  Pancreas  in 
eine  steatomatöse  Speckgeschwulst  verwandelt,  an  welcher 
Degeneration  die  grofse  Curvatur  des  Magens  und  die  den 
Magen  bedeckende  Leberpartie  Theil  nahmen.  —  Delirium 
tremens  bei  einer  40jährigen  Frau  (mäfsige  Bluten  tziehun« 
gen  und  die  Sy  den  h  am  sehe  Opiumtinctur  bewirkten  die 
Heilung).  —  Frühe  weibliche  Entwickelung.  (Ein  Jahr 
altes  Mädchen  hatte  seit  2  Jahren  regelmäfsig  die  monat¬ 
liche  Reinigung;  die  Gröfse  des  Mädchens  harmonirt  mit 
dem  Alter,  der  Knochen-  und  Muskelbau  zeigen  eine  ge¬ 
hörige  Entwickelung,  die  Physiognomie  ist  tiefsinnig  und, 
so  wie  das  Betragen,  nicht  kindlich,  sondern  jungfräulich. 


des  König],  Rhein.  Medicinal  -  Collegiums.  287 

Brüste  und  Schaamtbeile  gleichen  denen  eines  16jährigen 
Mädchens.  Ref.  kennt  ein  jetzt  vielleicht  lOiähriges  Mäd¬ 
chen,  das  seit  zwei  Jahren  regelmäfsig  die  stark  fliefsende 
monatliche  Reinigung^bekommt.)  —  Tetanus,  in  Folge  einer 
unbedeutenden  Ritzwunde  am  Schienbeine  entstanden.  Der 
Ausgang  war  tödtlich;  hei  der  Section  fand  man  das  Rücken¬ 
mark  entzündet,  Gehirn  und  Lungen  mit  Blut  überfüllt, 
die  Milz  erweicht  und  entzündet.  —  Abgang  von  900  Stück 
Spulwürmern  innerhalb  vier  Wochen  bei  einem  12jährigen 
scrophulösen  Mädchen.  — *  Mehre  Falle  von  schwarzen 
Pocken  (in  allen  Fällen  that  die  örtliche  Anwendung  der 
Holzsäure  vorzügliche  Wirkung).  —  Tod  eines  Thierarztes 
durch  Milzbrandgift  (der  Unglückliche  hatte  sich  bei  der 
Section  eines  am  Milzbrände  gefallenen  Thieres  am  Finger 
verwundet,  und  starb  unter  Erscheinungen,  die  auf  ein  hef¬ 
tiges  Leiden  der  Nervensphäre  deuteten.  Die  ihm  zu  Theil 
gewordene  ärztliche  Behandlung  läfst  viel  zu  wünschen 
übrig).  —  Bei  einem  6'jährigen,  blühenden  Mädchen,  das 
seit  neun  Monaten  an  heftigen  periodischen  Leibschmerzen 
und  einem  gespannten  Leibe  gelitten,  und  unter  den  Sym¬ 
ptomen  eines  hectischen  Fiebers  gestorben  war*  fand  sich 
bei  der  Section  ein  fünftehalb  Pfund  schweres  Medullar- 
sarcom,  wahrscheinlich  durch  Degeneration  des  gänzlich 
geschwundenen  Netzes  entstanden,  welches  die  rechte  Niere 
in  sich  enthielt  und  mit  der  Substanz  der  unteren  Leber¬ 
fläche  durch  Adhäsionen  verbunden  war.  —  Heilung  eines 
langwierigen  Gesichtsschmerzes,  der  seinen  Sitz  im  Nervus 
inframaxillaris  hatte,  durch  Berührungen  mit  dem  Magnete.  — 
Heilung  einer  Dysphagia  spasmodica  mit  Krähenaugentinctur 
bei  einer  40jährigen  Jungfrau  (dieses  Uebel,  dem  Anscheine 
nach  hysterischen  Ursprunges,  würde  wahrscheinlich  auch 
unter  dem  Gebrauche  eines  Thees  von  Valeriana  und  Cha- 
millen  verschwunden  sein).  —  Fremder  Körper  in  der 
Luftröhre  (? ).  (  Ein  Schmiedegeselle  hielt  während  der  Ar¬ 
beit  einen  kupfernen  Knopf  von  der  Gröfse  eines  Silber¬ 
groschens  im  Munde,  zufällig  soll  dieser  in  die  Luft- 


28S 


II.  Gcncrnlbericht 


röhre  (wohl  nur  in  die  obere  Partie  des  Schlundes!)  ge¬ 
langt  sein,  und  nur  einen  gelinden,  vorübergehenden 
Husten  verursacht  haben.  Dieser,  durch  den  Arzt  seinem 
Schicksal  überlassene  Mensch,  gab  den  Knopf  nach  vierzehn 
Tagen  bei  einer  starken  Exspiration  von  sich  (experientia 
fallax!).  —  Sonnenstich  mit  clonischen  Krämpfen.  (Ein  Be¬ 
rauschter,  der  mit  entblüfstem  Haupte  den  Sonnenstrahlen 
blofsgestellt  eingeschlafen ,  wurde  mit  schäumendem  Munde, 
furchtbaren  Zuckungen,  röchelndem  Athem,  intermittiren- 
dem  Pulse  und  besinnungslos  gefunden.  Blutentziehungen, 
kalte  Umschläge,  Brech-  und  Purgirmittel  führten  Gene¬ 
sung  herbei.)  —  Heilung  einer  schleichenden,  durch  eine 
Quetschung  des  Mittelfleisches  veranlafsten,  von  elf  Aerz- 
ten  verkannten  und  mithin  erfolglos  behandelten,  Blasen¬ 
entzündung  durch  dreiste  Blutentziebungen,  lauwarme  Bäder 
und  Einreibungen  von  grauer  Quecksilbersalbe  innerhalb 
drei  Wochen.  —  Geschichte  und  Leichenöffnung  zweier 
Wahnsinnigen.  (Höchst  interessant  in  anatomisch -patho¬ 
logischer  Beziehung.  In  dem  ersten  Falle  fanden  sich,  aufser 
mehren  pathologischen  Veränderungen  im  Gehirn  und  des¬ 
sen  Häuten,  auch  bedeutende  Verknöcherungen  in  der 
Schilddrüse.  In  dem  zweiten  Falle  war  die  Hirnsubstanz 
sehr  hart  und  mit  Blut  überfüllt,  der  Plexus  choroideus 
mit  Hydatiden  besetzt,  die  Processus  clinoidci  superiores 
am  Türkensattel  spitz  und  hervorragend,  an  der  Zirbeldrüse 
hing  eine  birnenförmige,  röthliche,  mit  einem  Stiel  verse¬ 
hene  Polypenmasse,  Leber  und  Milz  waren  theilweise  ver¬ 
knöchert,  der  Querdarm  bedeutend  verengert  und  mit  Kolli 
angefüllt,  die  Harnblase  verengert,  ihre  Wände  verdickt, 
das  Bückenraark  mit  Blut  überfüllt  und  theilweise  gelblich 
verändert. 

Unter  den  vom  Dr.  Ulrich  hier  mitgethcilten  höchst 
interessanten  und  sehr  beachtungswerthen  Sectionsgeschich- 
ten,  verdient  die  Beachtung  der  Aerzte  vor  allen  folgende: 
Bei  einem  20jährigen  Dienstmädchen,  das  früher  einmal  an 
einer  Brustentzündung  gelitten  hatte,  und  unter  den  eba- 

rak- 


des  Künigl.  Rhein.  Mcilicinal  -  Collegiums.  289 

rakteristischen  Erscheinungen  der  Hydropliobia  spontanea 
gestorben  war,  fand  Dr.  U.  Entzündung  und  Blulanhäufung 
in  den  Gefäfsen  des  Gehirns  und  des  Rückenmarks,  in  dem 
linken  Saccus  pleurae  Ergiefsung  eines  breiartigen  Stoffes, 
den  er  für  unverdaute  Speisen  hielt,  den  unteren  Lappen 
der  linken  Lunge  entzündet,  in  dem  Zwerchfell,  dessen 
linke  Partie  gröfstentheils  erweicht  und  bräunlich  war,  zwei 
Löcher  (durch  eins  derselben  ragte  ein  Stück  des  Magens 
in  die  Brusthöhle  hinein),  den  Magen  zwischen  der  Cardia 
und  der  Milz  durchlöchert. 

Die  hier  mitgetheilten  interessanteren  chirurgischen  und 
geburtshilflichen  Fälle  betreffen:  Eine  am  vierten  Tage 
nach  einer  starken  Verletzung  mit  Erfolg  gemachte  Trepa¬ 
nation  bei  einem  achtjährigen  Mädchen.  IJine  ebenfalls  mit 
Glück  unternommene  Trepanation  mit  Verletzung  des  Sinus 
sagittalis  bei  einem  sechzehnjährigen  Knaben  (die  wieder¬ 
holt  aus  den  verletzten  Blutbehältern  entstehenden  Blutun¬ 
gen  wurden  durch  Tamponirung  gestillt;  von  einem  Wund¬ 
fieber  war  während  der  Cur  keine  Spur  bemerkbar).  Die 
gelungene  Heilung  einer  sehr  bedeutenden  Gehirnerschüt¬ 
terung  durch  wiederholte  ßlutentziehungen,  kalte  Umschläge, 
Purgantia  (die  Cur  dauerte  neun  Wochen).  Eine  mit  Er¬ 
folg  vollbrachte  Bruchoperation  nach  dreizehntägiger  Ein¬ 
klemmung.  Die  Ausbildung  und  spätere  Schliefsung  eines 
Anus  artificialis  bei  einer  incarcerirten  Hernia.  Die  zwei¬ 
malige  Bildung  eines  Abscesses  in  der  rechten  Leistenge¬ 
gend,  aus  welchem  mehre  Spulwürmer  zum  Vorschein  ka¬ 
men.  Die  Bildung  eines  Abscesses  in  der  Achselhöhle,  wo 
sich  der  Eiter  ein^n  Weg  unter  die  Bauchmuskeln  bahnte 
und  auf  der  Kante  des  Hüftbeins  zum  Vorschein  kam  (ein 
bei  Zeiten  gemachter  Einschnitt  würde  dies  verhindert  ha¬ 
ben).  Tödtlich  abgelaufene  Zerreifsung  eines  Fingers  (am 
neunten  Tage  nach  der  Verletzung  trat  Starrkrampf  hinzu). 
Die  Abtragung  der  entarteten  und  ungewöhnlich  vergröfser- 
ten  Nymphen,  welche  das  Urinlassen  hinderten  und  das 
Gehen  und  Tanzen  fast  unmöglich  machten,  bei  einer  sechs- 

lö 


XIV.  Ed.  3.  St. 


290 


II.  Generalbericht 

undzwanzigjährigen ,  an  Anomalieen  der  Menses  leidenden 
Jungfrau.  Kine  Verlängerung  und  unvollkommene  Ver¬ 
wachsung  der  Schaamlefzcn  in  Folg<T  einer  schweren  Nie¬ 
derkunft  (trotz  dieser  ward  die  Frau  nach  sechs  Jahren 
schwanger,  ein  zu  spät  herbeigerufener  Arzt  trennte  die 
Verwachsung  und  entwickelte  mit  der  Zange  ein  todtes 
Kind,  die  Frau  starb).  Eine  Verwachsung  des  Mutter¬ 
mundes  nach  der  Niederkunft  (um  den  Abflufs  der  Men- 
strua  zu  bewirken,  ward  mit  Hülfe  eines  Troicart  eine 
Oeffnung  im  Mutterhalse  gemacht  und  dieselbe  durch  Ein¬ 
legung  eines  Stücks  Preisschwamm  vergröfsert;  nach  drei¬ 
undzwanzig  Tagen  war  die  Frau  geheilt).  Ein  Accouche- 
ment  force  wegen  heftiger  Convulsionen  der  Schwängern 
(man  hätte  fri  diesem  Falle  wohl  zur  rechten  Zeit  erst 
noch  warme  IVäder  versuchen  können).  Eine  Zerrcifsung 
der  Gebärmutter,  während  eines  Wendungsversuches  (die 
eingerissenc  Partie  war\,  wie  die  Section  zeigte,  brandig).  — 
Die  hier  mitgetheilten  Nachgeburtsoperationen  betreffen  die 
künstliche  Entfernung  der  Placenta,  welche,  früh  genug 
unternommen,  stets  heilsam  war;  die  Mifsbildungen  bezie¬ 
hen  sich  auf  Atresia  ani,  auf  Hypospadiäen  und  auf  ein 
falsches  Gelenk  in  der  Mitte  beider  Vorderarmknochen. 

Fünfter  Abschnitt.  Merkwürdige  Unglücks  falle 
und  gerichtlich  -medicinische  Untersuchungen. 
Vorzügliche  Beachtung  verdient  hier  eine  von  Dr.  Prie- 
ger  gemachte  Beobachtung  bei  einen)  Erhenkten:  der  Strick 
hatte  tiefe  Einschnitte  in  die  Haut  und  in  die  Halsmuskeln 
gemacht,  so  dafs  sogar  die  Epidermis  cxcoriirt  war;  den¬ 
noch  fehlten  alle  Spuren  einer  Sugillation  und 
einer  blutigen  Ergiefsung  auf  der  Oberfläche, 
wie  in  der  Tiefe;  im  Grimmdarm  fanden  sich  mehre 
bedeutende  Verengerungen  (welche  nach  den 
französischen  Aerzten  sehr  häufig  bei  Selbstmördern  Vor¬ 
kommen  ). 

Sechster  Abschnitt.  W i sse nsc h af 1 1  i c h e  Angele¬ 
genheiten.  Nach  Dr.  Prieger  sind  in  keiner  Gegend 


des  König).  Rhein.  Medicinal-  Collegiums.  291 

von  Deutschland  Krankheiten  der  Blase  so  häufig ,  als  an 
den  Ufern  der  Nahe,  was  er  dem  zu  häufigen  und  über- 
mäfsigen  Genüsse  des  jungen  und  feurigen  Nahe- Weins 
zuschreibt.  Eine  bis  drei  Drachmen  vom  Extractum  uvae 
ursi  fand  P.  gleichsam  specifisch  wirkend  in  allen  diesen 
Krankheitsformen. 

Die  während  der  letzten  Jahre  fast  in  sämmtlichen 
rheinischen  Regierungsbezirken  beobachteten  Pockenepide- 
mieen  haben  unter  den  dortigen  Aerzten  zu  mancherlei 
Forschungen  Anlafs  gegeben,  als  deren  Resultat  sich  Fol¬ 
gendes  hervorheben  läfst:  Vaccinirte  Individuen  bekommen 
nicht  die  wirklichen  natürlichen  Blattern,  sondern  modifi- 
cirte  Pocken  ( Varioloides);  Varioloiden  und  Varicellen  sind 
durchaus  verschiedene  Krankheitsformen,  der  Unterschied 
zwischen  den  wirklichen  und  modificirten  Pocken  ist  kein 
eingebildeter,  sondern  besteht  in  der  Tbat,  und  spricht  sich 
namentlich  in  der  geringeren  Sterblichkeit  bei  den  Vario¬ 
loiden,  in  dem  fehlenden  Eiterungsfieber  und  in  der  gerin¬ 
geren  Narbenbildung  aus;  d^e  aus  modificirten  Pocken  ent¬ 
nommene  Lymphe  auf  nicht  vaccinirte  Individuen  geimpft, 
erzeugt  natürliche  Blattern;  die  Varioloiden  werden  häufi¬ 
ger  und  unter  einem  bösartigen  Verlaufe  bei  schon  vor  16 
bis  20  Jahren  geimpften,  als  bei  jüngst  vaccinirten  Perso¬ 
nen  wahrgenommen;  diese  Beobachtung,  so  wie  die  von 
mehren  Aerzten  mit  Erfolg  versuchte  Revaccination  (bei 
Dr.  Comes  zeigten  sich  in  Folge  einer  zweiten  Vaccination 
in  zwölf  Fällen  einmal  wirkliche  Kuhpocken)  sprechen  da¬ 
für,  dafs  die  Schutzkraft  der  Vaccine  nach  und  nach  sich 
vermindere;  die  Schutpockenlymphe  scheint  durch  das  Fort¬ 
impfen  nicht  geschwächt  zu  werden. 

Siebenter  Abschnitt.  Stand  der  Schutzpocken¬ 
impfung  im  Jahre  1826.  Im  Regierungsbezirk  Coblenz 
wurden  11,799,  im  Regierungsbezirk  Aachen  13,489  mit 
Erfolg  geimpft. 

Achter  Abschnitt.  Oeffentliche  K  ra  nk  h  e  i  t  sp  f  1  ege. 
Im  Regierungsbezirk  Cöln  wurden  15,791  Individuen  auf 

19  * 


292 


II.  Gcncralbcricht 


öffentliche  Kosten  behandelt,  davon  11,463  geheilt,  65.9 
ungeheilt  entlassen,  543  starben,  3126  blieben  in  der  Be¬ 
handlung.  Die  Zahl  der  im  medicinischen  Clinicum  zu  Bonn 
behandelten  Kranken  betrug  301,  cs  genasen  183,  ungeheilt 
entlassen  wurden  39,  es  starben  3,  und  es  blieben  in  der 
Behandlung  76  (?);  im  mcdicinisch-policlinischen  Institut 
wurden  behandelt  2279  Kranke,  von  welchen  1801  genasen 
und  118  ungeheilt  blieben,  16  starben  und  346  (?)  in  der 
Behandlung  blieben.  Im  chirurgischen  Clinicum  wurden 
248  Kranke  behandelt,  152  geheilt,  11  ungeheilt  entlas¬ 
sen,  6  starben.  Im  Bürgerhospital  zu  Cüln  wurden  523 
Kranke  behandelt,  von  welchen  74  (mithin  fast  der  sie¬ 
bente)  starben.  Im  geburtshilflichen  Clinicum  fielen  nur 
21  Entbindungen  vor,  worunter  eine  schwere,  im  Poli- 
clinicum  sieben;  in  dem  Entbindungsinstitut  zu  Cöln  fan¬ 
den  159  Geburten  statt.  In  den  Gefangenanstalten  zu  Trier 
wrnrden  327  Kranke,  im  Landarmenhausc  113,  im  St.  Irini- 
nenhospitale  beinahe  500  Kranke  behandelt.  Ilr.  M.  IJ. 
bedauert  hierbei  (S.  130),  dafs  ein  solches  Hospital  den 
an  ihm  fungirenden  Aerzten  keine  Veranlassung  zu  wissen¬ 
schaftlichen  Beobachtungen  gegeben  hat.  Im  Biirgerhospital 
zu  Coblcnz  wurden  296  Kranke  behandelt ,x  229  geheilt, 
14  ungeheilt  entlassen,  und  19  starben. 

In  die  Lobsprüche,  die  Ilr.  M.  U.  bei  dieser  Gele¬ 
genheit  den  mit  der  Verwaltung  des  Hospitals  beauftragten 
barmherzigen  Schwestern  zollt,  kann  Bef.  zufolge  seiner 
Erfahrung  keinesweges  cnistimmen.  ln  Frankreich,  wo  sich 
die  Ilospitalkrankcnpflegc  nur  in  den  Händen  dieser  Schwe¬ 
stern  befindet,  hörte  ich  fortwährend  die  an  den  Hospitä¬ 
lern  fungirenden  Aerzte  klagen,  dafs  die  Schwestern  nur 
zu  oft  sich  Eingriffe  in  die  ärztlichen  \  erordnungen  er¬ 
laubten  und  ihnen  geradezu  entgegenbandelten,  wenn  diese 
nicht  mit  ihren  Ansichten  übereinstimmten.  In  Paris,  wo 
ich  während  zwei  Jahren  das  Findelbaus  fast  täglich  be¬ 
suchte,  blichen  die  hei  den  an  Aphthen,  Ophthalmia  neo¬ 
natorum  und  Zellgew  eh  Verhärtung  leidenden  Kindern  ge- 


des  Königl,  Rhein.  Medicinal-  Collegiums.  293 

machten  Verordnungen  oft  unerfüllt,  und  zwar  wie  die 

I  ' 

Schwester  sich  ausdrückte:  Parceque  ce  n’est  pas  l’usage 
ici ! !  Zufolge  eines  Artikels  in  la  clinique  (tomelll.  58.  100. 
du  Samedi  4.  Mars  1829.  S.  414.)  verweigerte  jüngst  im 
Pariser  Hotel- Dieu  diejenige  Schwester,  welche  die  Schlüs¬ 
sel  zur  Todtenkammer  hat,  dem  an  dieser  Krankenanstalt 

r 

als  Chirurgien  en  second  angestellten  Dr.  Sanson  die  zu 
seinen  Vorlesungen  über  operative  Chirurgie  erforderli¬ 
chen  Leichen,  wahrscheinlich  weil  die  Zerschneidung  der 
Leichen  den  religiösen  Begriffen  dieser  Schwester  entge¬ 
gen  war ! !  —  , 

Neunter  Abschnitt.  Medicinalpersonen.  Es  herrscht 
ein  unverkennbarer  Ueberflufs  an  Medicinalpersonen  in  den 
Rheinlanden.  Der  Zustand  des  Apothekerwesens 
(welches  im  elften  Abschnitt  behandelt  wird)  ist  befriedi¬ 
gend.  Der  zwölfte  Abschnitt,  Gesundbrunnen  und 
Bäder,  betrifft  Aachen,  die  Mineralquelle  zu  Malmedy, 
Bertrich,  die  Soolbäder  bei  Kreuznach,  den  Brunnen  zu 
Töninstein.  Des  Rösdorfer  und  Biresborner  Wassers  u.  s.  w. 
geschieht  keine  Erwähnung. 

Dreizehnter  Abschnitt.  Stand  der  Bevölkerung. 
Es  wurden  in  Rheinpreufsen  geboren  78,775,  nämlich 
40,619  Knaben  und  38,156  Mädchen.  Es  starben,  mit  Ein- 
schlufs  von  3002  Todtgebornen ,  44,352.  Selbstmorde  fie¬ 
len  vor  61,  wovon  13  bei  weiblichen  Personen. 

Mit  dem  Bekenntnifs,  unter  steigendem  Interesse  die¬ 
sen  Bericht  gelesen  und  recht  viel  Belehrung  in  demselben 
gefunden  zu  haben,  scheidet  Ref.  von  demselben  in  der 
Ueberzeugung,  dafs  jeder  nach  wissenschaftlicher  Vervoll¬ 
kommnung  strebende,  und  vorurteilsfreie  Leser  dasselbe 
Urtheil  aussprechen  werde.  Mögen  die  Berichte  über  die 
folgenden  Jahre  nicht  zu  lange  ausbleiben,  und  auch  andere 
Medicinalcollegien ,  diesem  Beispiele  folgend,  die  ihnen  zu- 
lliefsenderi  der  Bekanntmachung  werthen  Materialien  nicht 
den  Würmern  zur  Speise  überlassen. 

Ile yf cid  er. 


i 


'294 


111.  YVuthkrankheit  der  Hunde. 


Beiträge  zur  näheren  Ken  nt  nifs  der  YV  u  t  h  - 
krankheit  oder  Tollheit  der  Hunde.  V  om 
Obei  tbrerarztc  Dr.  Hertwig,  Lehrer  an  der  Kü- 
nigl.  Thierarzneischule  zu  Berlin.  Nebst  \  orwort 
von  C.  W.  Hufcland.  (Aus  dem  Journal  der 
praktischen  Heilkunde,  Supplcinentheft  1828,  be¬ 
sonders  abgedruckl. )  Berlin,  gedruckt  und  ver¬ 
legt  bei  G.  Beimcr.  1829.  8.  174  S. 

*<  Es  ist  auffallend,“  sagt  Hr.  Staatsrath  Ilufeland  in 
dem  Vorwort  zu  dieser,  aus  seinem  Journal  der  praktischen 
Heilkunde  besonders  abgedruckten  Schrift,  « dafs  man  bei 
der  grolsen  Aufmerksamkeit,  die  man  in  den  letzten  Jahren 
der  Hydrophobie  bei  Menschen  gewidmet  hat,  und  bei  der 
Menge  Schriften  ,  die  über  ihre  TSatur  und  Behandlung  er¬ 
schienen  sind,  dennoch  die  Quelle  derselben,  die  Wuth 
der  Hunde,  fast  ganz  vernachlässigt  hat.  Und  dennoch 
scheint  uns  die  genaue  Untersuchung  des  primitiven  thieri- 
schtn  Krankheitszustandes,  aus  welcher  eben  das  Gift  her¬ 
vorgeht,  das  der  menschlichen  Hydrophobie  zum  Grunde 
liegt,  der  vorzüglichsten  Aufmerksamkeit  werth,  ja  sie  mufs 
als  die  Basis  der  ganzen  Lehre  von  der  Hydrophobie  be¬ 
trachtet  werden.  Mit  grofser  Freude  sahen  wir  daher  die 
hiesige  Veterinärschule,  auf  Veranlassung  und  unter  Leitung 
ihres  würdigen  Directors,  des  Ilrn.  Geh.  Ob.  Med.  Baths 
Langermann,  dessen  langes  und  tiefes  Studium  dieses 
Gegenstandes ,  «Jessen  Scharfsinn,  Beobachtungsgabe  und 
kritische  Strenge  in  Beurtheilung  von  Thatsachen,  ihn  dazu 
so  vorzüglich  eignete,  sich  dieser  Untersuchung  unterziehen. 
Er  liefs  dazu  ganz  neue  Vorrichtungen  und  Instrumente  zur 
Auf bewahru ng  der  wuthkranken  Thiere  und  zur  möglichst 
sicheren  Ausführung  dieser  gefährlichen  Versuche  anferti¬ 
gen,  und  »lr.  Ober thierarzt  Hertwig  übernahm  die  spe- 


/ 


III.  Wuthkrankheit  der  Hunde.  295 

cielle  Ausführung  derselben,  denen  er  sich  in  Verbindung 
mehrer  der  jüngeren  Lehrer  der  Schule  und  einiger  Studie¬ 
renden  seit  drei  Jahren  mit  dem  gröfsten  Eifer  und  nicht 
geringer  Lebensgefahr  unterzogen,  und  sich  dadurch  ein 
grofses  Verdienst  um  die  Wissenschaft  und  die  Menschheit 
erworben  hat.  Noch  nie  wurden  so  viele  Beobachtungen 
und  V  ersuche  über  diesen  Gegenstand  im  Grofsen,  mit  sol¬ 
cher  Aufmerksamkeit,  und  mit  so  kunstreichen  Ilülfsmilteln 
gemacht.  Denn  nur  auf  diese  Art  waren  sie  möglich,  und 
gewifs  lag  der  Hauptgrund,  warum  dergleichen  Versuche 
noch  nie  bisher  im  Grofsen  gemacht  wurden,  in  der  grofsen 
Gefahr,  der  sich  die  Experimentatoren  dabei  aussetzten.  Es 
ist  dadurch  ein  völlig  neues  Licht  über  diesen  wichtigen 
Gegenstand  verbreitet,  und  indem  hier  die  ganze  Lehre  von 
der  Hundswuth,  nicht  durch  Speculation,  sondern  durch 
aufmerksam  gemachte  und  streng  geprüfte  Thatsachen,  eine 
neue  Gestalt  und  genauere  Bestimmugen  erhält,  hat  die 
Wissenschaft  einen  wesentlichen  Fortschritt  dadurch  ge¬ 
wonnen.  »  —  In  der  Ueberzeugung ,  dafs  der  auf  diese 

Weise  gewonnene  Schatz  reifer  und  vollgültiger  Erfahrung 
bald  im  Besitze  jedes  Arztes  sein  wird,  hebt  Ref.  von 
den  Ergebnissen  jener  Forschungen,  deren  Verdienst  eine 
dauernde  Anerkennung  in  den  Annalen  der  Medicin  finden 
wird,  die  wichtigsten  heraus. 

Ungeachtet  die  Erscheinungen  der  Hundswuth  durch 
das  Naturell  der  von  ihr  befallenen  Thiere  und  durch  das 
zufällige  Hinzutreten  anderweitiger  Krankheiten  (unter  de¬ 
nen  Entzündungen  einzelner  Organe,  deren  Spuren  bei  der 
Zergliederung  unverkennbar  sind,  am  häufigsten  Vorkom¬ 
men)  mannigfaltige  Abänderungen  erleiden,  so  lassen  sie 
sich  doch  unter  zwei  Hauptformen,  die  rasende  und 
stille  Wuth  bringen,  die  indefs  von  so  wesentlich-glei¬ 
cher  Natur  sind,  dafs  sie  durch  Ansteckung  in  einander 
übergehen.  Doch  bezeichnen  beide  nicht,  wie  bisher  fälsch¬ 
lich  geglaubt  wurde,  auf  einander  folgende  Stadien  des 
Krankheitsverlaufes,  sondern  kommen  stets  gesondert  vor. 


i 


296 


III.  Wuthkrankheit  der  Hunde. 


Die  wichtigsten  Zeichen,  welche  hei  der  rasenden 
Wuth  zu  bemerken  sind,  bestehen  in  folgenden:  1)  Die 
Hunde  verändern  ihr  gewöhnliches  Benehmen,  werden  mun¬ 
terer,  dienstwilliger,  zum  Zorne  geneigter,  oder  träge  und 
verdriefslich ;  doch  wechselt  diese  Stimmung,  so  wie  über¬ 
haupt  die  meisten  Zufälle  sich  nicht  anhaltend,  sondern 
wechselnd  zeigen.  2)  Viele  tolle  Hunde  zeigen  anfangs 
eine  grofse  Neigung,  an  kalten  Gegenständen  zu  lecken. 
3)  Die  meisten  verrathen  sogleich  eine  gröfsere  oder  ge¬ 
ringere  Unruhe,  welche  sie  oft  das  Haus  ihres  Herrn  zu 
verlassen  antreibt,  zu  welchem  sie  indefs  nicht  selten  zu¬ 
rückkehren.  Dies  deutet  bei  dein  sonst  so  getreuen  Hunde 
auf  eine  beträchtliche  Störung  seines  Bewufstseins,  und  auf 
einen  hohen  Grad  seiner  Wuth  hin.  4)  Dbch  verschwin¬ 
det  bei  keinem  tollen  Hunde  das  I»ewufstsein  gänzlich  eher, 
als  bis  kurz  vor  dem  Tode;  alle  erkennen  fast  während  der 
ganzen  Krankheit  ihre  Herren  und  Pfleger,  sind  für  eine 
gute  und  freundliche  Behandlung  empfänglich,  und  geben 
dies  durch  Wedeln  mit  dem  Schwänze,  durch  freundliches 
Entgegenkommen  und  V\  insein  zu  erkennen;  sie  folgen  in 
der  ersten  Zeit  ihrem  Herrn,  verrichten  auf  dessen  Befehl 
erlernte  Kunststücke  u.  dergl.  5)  Verlust  des  Appetites, 
besonders  zu  festen  Nahrungsmitteln,  zeigt  sich  die  ganze 
Krankheit  hindurch,  und  es  ist  dies  bei  dem  so  gefräfsigen 
Hunde  eine  desto  auffallendere  Erscheinung,  da  sic  bei  an¬ 
deren  Krankheiten  desselben  nur  während  ihrer  gröfsten 
Heftigkeit  vorkommj.  G)  Doch  verschlingen  die  tollen 
Hunde  in  einzelnen  Momenten  solche  J)inge,  die  sonst 
nicht  zu  ihrer  Nahrung  dienen,  z.  B.  Holz,  Torf,  Stroh, 
Glasscherben,  zuweilen  selbst  ihren  eigenen  Koth.  Dies 
Symptom  ist  höchst  charakteristisch,  daher  auch  das  Vor¬ 
handensein  jener  Dinge  im  Magen  bei  der  Cbduction  einen 
sicheren  Fingerzeig  auf  die  statt  gefundene  Wuth  giebt. 
7)  Alle  wuthkrankc  Hunde  können  Wasser  und  andere 
Flüssigkeiten  sehen,  lecken  und  saufen,  und  zwar  in  jeder 
Periode  der  Krankheit,  manche  suchen  es  sogar  mit  grofscr 


III.  Wutlikrankheit  der  Hunde. 


297 


Begierde;  einige  vermögen  es  nur  nicht  recht  zu  ver¬ 
schlucken,  da  ihnen  der  Ilals  angeschwollen  ist.  8)  Ehen 
so  wenig  ist  Lichtscheu,  Glanzscheu  und  Luftscheu  hei 
ihnen  vorhanden,  obgleich  einige  eine  krankhafte  Empfind¬ 
lichkeit  gegen  helles  Licht  zu  haben  scheinen.  9)  Alle  lei¬ 
den,  wenigstens  einige  Zeit  hindurch,  an  hartnäckiger  Ver¬ 
stopfung.  10)  In  der  Regel  zeigen  sie  keinen  vermehrten 
Begattungstrieb.  11)  Das  wichtigste  und  bei  allen  tollen 
Hunden  ganz  bestimmt  zu  bemerkende  Kennzeichen  ist  eine 
ganz  eigenthümliche  Veränderung  in  der  Stimme,  und  in 
der  Art  des  Bellens.  Die  ausgestofsenen  Töne  sind  bald 
höher,  bald  tiefer,  dabei  etwas  rauh  und  heiser,  widerlich 
und  ängstlich  klingend.  Das  Bellen  geschieht  nicht,  wie 
bei  gesunden  Hunden,  in  einzelnen,  kurz  auf  einander  fol¬ 
genden,  aber  doch  deutlich  von  einander  getrennten  Lau¬ 
ten  oder  Schlägen,  sondern  der  erste  Anschlag  geht  allemal 
in  ein  kurzes  Geheul  über,  so  dafs  das  Ganze  weder  ein 
ordentliches  Bellen,  noch  ein  wirkliches  Heulen,  sondern 
gleichsam  ein  Mittelding  zwischen  beiden  vorstellt.  Dabei 
halten  sie  das  Maul  etwas  in  die  Höhe,  ähnlich  denjenigen 
Hunden ,  welche  durch  das  Spielen  musikalischer  Instru¬ 
mente  zum  Bellen  oder  Heulen  gereizt  werden.  Dies 
Symptom,  welches  aufserdem  bei  keiner  Hundekrankheit 
vorkommt,  wird  als  das  entscheidenste  angegeben.  12)  Die 
bei  den  meisten,  an  der  rasenden  Wuth  leidenden  Hunden 
sich  äufsernde  Neigung  zum  Beifsen  ist  bei  den  gutmüthi- 
gen  und  phlegmatischen  doch  nur  im  geringen  Grade  vor¬ 
handen,  dagegen  sie  bei  Hunden  von  beifsiger  Art  und 
hitzigem  Temperament  sogar  in  wahre  Mordsucht  übergeht, 
wo  sie  dann  über  alle  lebendigen  Geschöpfe  in  ihrer  Nähe 
herfallen,  selbst  leblose  Dinge  nicht  verschonen,  und  sogar 
ihren  eigenen  Körper  angreifen  \und  zerfleischen.  Zuerst 
und  am  heftigsten  äufserr  sie  diesen  Trieb  zum  Beifsen 
gegen  Katzen,  am  spätesten  gegen  den  Menschen.  Das 
Beifsen  geschieht  gewöhnlich  ganz  stillschweigend,  ohne 
vorhergehendes  Knurren  und  Bellen,  und  besieht  mehren- 


298 


111.  W  uthkrankheit  der  Hunde. 


theils  nur  in  einem  heftigen  Schnappen  und  Reifsen  mit 
den  Zähnen.  Andere  Hunde  pflegen  sie  recht  häufig  an 
mehren  Theilen  des  Körpers,  besonders  am  Maule,  After 
und  an  den  Genitalien  zu  beriechen,  dabei  mit  dem  Schwänze 
zu  wedeln,  und  dann  ganz  unverhofft  und  recht  heftig  zu- 
zubeifsen.  13)  Recht  viele  tolle  Hunde  schnappen  häufig 
in  die  Luft,  als  ob  sie  Fliegen  oder  Mücken  fangen  woll¬ 
ten.  14)  Das  äufsere  Ansehen  ist  in  der  ersten  Zeit  wenig 
oder  gar  nicht  verändert;  um  den  zweiten  Tag  werden  die 
Augen  etwas  geröthet,  und  zuweilen  wegen  Empfindlich¬ 
keit  gegen  das  Licht  verschlossen.  Die  Haut  an  der  Stirn 
und  über  den  Augen  zieht  sich  in  kleine  Falten  zusammen, 
wodurch  die  Thiere  ein  schläfriges,  mürrisches  und  ver- 
driefsliches  Ansehen  erhalten.  In  der  späteren  Zeit  werden 
die  Augen  trübe  und  matt,  oft  wie  mit  einem  feinen  Staub 
bestreut,  niemals  aber  feuriger  und  lebhafter.  Manchen 
schwillt  der  ganze  Kopf,  andern  nur  ein  Theil  an  demsel¬ 
ben,  z.  B.  die  Nase,  die  Zunge,  mehr  oder  weniger  an; 
die  meisten  bekommen  während  der  Krankheit  ein  rauhes, 
struppiges  Ansehen,  und  alle  werden  in  kurzer  Zelt  sehr 
auffallend  mager.  15)  Das  Maul  ist  in  den  meisten  Fällen 
mehr  trocken  als  feucht,  und  in  der  Regel  ohne  Schaum 
und  Geifer.  16)  So  lange  die  Hunde  noch  etwas  kräftig 
sind,  tragen  sie  den  Schwanz  ganz  wie  sonst  und  wedeln 
auch  freundlich  mit  demselben;  nur  w'enn  die  Schwäche  zu¬ 
nimmt,  lassen  sie  denselben  schlaff  herunterhängen.  17)  ln 
der  ersten  Zeit  der  Krankheit  gehen  sie  ganz  wie  gesunde 
Hunde,  späterhin  zeigen  sie  sich  schwach  am  Hintertheile 
des  Körpers,  und  zuletzt  werden  sie  daselbst  immer  ge¬ 
lähmt  (kreuz-  oder  lendenlahm). 

Bei  der  stillen  W  u  t  h  k  ra  n  k  h  e  i  t  bemerkt  man: 
1)  Dafs  die  Thiere  auch  ihr  Betragen  gewöhnlich  auf  ir¬ 
gend  eine  Weise  verändern,  dafs  sie  aber  in  der  Regel 
weniger  lebhaft  und  munter  als  sonst,  dagegen  still,  ruhig, 
ja  sogar  ganz  traurig  werden.  2)  Das  auffallendste  und 
wichtigste  Zeichen  gleich  nach  dem  Eintritt  der  Krankheit 


III.  Wuthkrankheit  der  Hunde. 


299 


besteht  darin,  dafs  der  Unterkinnbacken  wie  gelähmt  her¬ 
abhängt,  und  dats  daher  das  Maul  solcher  Hunde  stets  mehr 
oder  weniger  offen  steht.  Einige  Thierärzte  suchten  den 
Grund  davon  in  einer  krampfhaften  Zusammenziehung  der¬ 
jenigen  Muskeln,  welche  den  Unterkiefer  herabziehen;  doch 
findet  gegentheils  ein  lähmungsartiger  Zustand  der  Muskeln 
statt,  die  denselben  gegen  den  Oberkiefer  ziehen.  Denn 
die  erstgenannten  Muskeln  fühlen  sich  stets  weich  und  schlaff 
an,  daher  auch  ein  ganz  gelinder  Fingerdruck  hinreicht, 
den  herabhängenden  Kiefer  gegen  den  andern  in  die  Höhe 
zu  bringen.  Nimmt  man  den  unterstützenden  Finger  weg, 
so  fällt  der  Kiefer  abermals  herab.  Werden  dergleichen 
Hunde  indefs  gereizt,  so  erlangen  sie  zuweilen  das  Vermö¬ 
gen  zu  beifsen  auf  eine  kurze  Zeit  wieder.  3)  Aus  dem 
in  der  vorigen  Nummer  bemerkten  Grunde  können  die 
Hunde  fast  gar  nichts,  selbst  nichts  Flüssiges  verschlingen, 
es  fällt  ihnen  alles  aus  dem  Maule.  4)  Daher  fliefst  nicht 
selten  der  eigene  Speichel  aus  dem  Maule,  und  solche 
Patienten  geifern  deshalb  weit  mehr,  als^die  rasend  tollen 
Hunde.  5)  Der  Trieb  zum  Beifsen,  welches,  wie  schon 
bemerkt,  ihnen  weit  schwerer  fällt,  ist  nur  in  einem  ge¬ 
ringen  Grade,  und  zuweilen  kaum  bemerkbar  vorhanden. 
6)  Eben  so  verhält  es  sich  mit  der  Unruhe,  und  dem  Triebe 
zum  Fortlaufen.  7)  Häufig  ragt  bei  den  stilltollen  Hunden 
die  Zungenspitze  etwas  zwischen  den  Zähnen  und  aus  dem 
Maule  hervor.  8)  Die  Stimme  ist  bei  ihnen  ganz  in  der¬ 
selben  Art  wie  bei  den  rasendtollen  umgeändert.  Doch  ist 
sie  hier  seltener  ,  als  bei  den  letzten  zu  hören ,  ja  manch¬ 
mal  so  selten,  dafs  die  Thiere  freiwillig  gar  keinen  Laut 
von  sich  geben,  und  förmlich  stumm  geworden  zu  sein 
scheinen.  9)  Hinsichtlich  des  Bewulstseins,  des  Appetits 
zu  Futter  und  Getränk,  der  Nichtexistenz  der  Wasserscheu, 
der  Leibesverstopfung,  der  schnellen  Abmagerung  und  über¬ 
haupt  der  anderen,  beiden  rasendtollen  Hunden  bemerkten 
Symptome,  verhält  es  sich  bei  den  stilltollen  im  Wesent¬ 
lichen  ganz  gleich.  —  Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  bei 


300 


III.  Wutbkrankheit  der  Hunde. 


beiden  Formen  derselben  sehr  verschieden  und  ganz  unbe¬ 
stimmt.  Sie  führte  in  allen  Fällen  den  Tod  herbei,  ge¬ 
wöhnlich  durch  allmählige,  aber  täglich  sichtbar  zuneh¬ 
mende  Erschöpfung  der  Lebenskraft,  binnen  (i  —  S  'l  agen 
nach  dem  ersten  Erkranken.  Zuweilen  tritt  der  Tod  frü¬ 
her  ein,  und  die  Thiere  sterben  dann  plötzlich  wie  durch 
einen  Schlagflufs. 

Das  Ergebnifs  von  beinahe  200  Zergliederungen  führte 
den  \  crf.  zu  der  Ueberzeugung,  dafs  keine  völlig  constante 
und  der  Hundswuth  allein  zukommende  Veränderung  in  den 
Cadavern  toller  Hunde  anzutreffen  sei,  daher  auch  die,  nur 
einen  relativen  'SVerth  behauptenden  Seclionsdata  eben  so 
mit  Stillschweigen  übergangen  werden  mögen,  wie  die, 
allerdings  sehr  instructiven  Vergleichungen  der  Tollheit  mit 
anderen  der  Form  nach  ähnlichen  Hundekrnnkheiten ,  z.  B. 
der  Staupe,  Magen-  und  Darmentzündung,  Leibes  Versto¬ 
pfung,  Bräune,  dem  Bruche  und  der  Verrenkung  des  Un¬ 
terkiefers.  Der  Verfasser  läfst  hierauf  mehre  Krankheits¬ 
geschichten  folgen,  welche  zur  anschaulichen  A  orstellung 
der  marnigfachen  Formverschiedenheiten  ungemein  dien¬ 
lich  sind. 

Ref.  eilt  zum  wichtigsten  Theile  der  Schrift,  welcher 
die  zahlreichen  Impfversuche  enthält,  die  der  Verf.  theils 
durch  Einbringung  des  giftigen  Speichels  in  frische  Wun¬ 
den  gesunder  Hunde,  theils  auf  dem  gewöhnlichen  Wege 
durch  den  Bifs,  ferner  durch  Impfungen  mit  Blut,  mit  INer- 
venmasse,  endlich  dadurch  zu  Stande  brachte,  dafs  er  Stoffe 
von  wuthkranken  Hunden  von  gesunden  verzehren  liels. 
Daraus  gehen  nachstehende,  für  die  medicinische  Polizei  höchst 
wichtige  Folgerungen  hervor:  1)  Die  Wutbkrankheit  be¬ 
weiset  sich  bei  den  Impfungen  als  wirklich  ansteckend. 
Denn  nach  Ö0  -einzelnen  Ansteckungsversuchen  trat  bei  vier¬ 
zehn  Hunden  eine  Krankheit  ein,  welche  in  ihren  Sympto¬ 
men  und  in  ihrem  Verlaufe  ganz  genau  mit  der  beschriebe¬ 
nen  Wutbkrankheit  iibereinstimmtc,  so  dafs  eine  Ansteckung 
auf  i  -'4-  Impfungen  kam.  2)  Die  Ansteckung  von  wulh- 


i 


III.  Wuthkrankheifc  der  Hunde.  301 

kranken  Thieren  erfolgt  also  nicht  in  jedem  möglichen 
Falle,  und  selbst  unter  den  scheinbar  günstigsten  Umstän¬ 
den  nicht  immer.  Die  Ursachen  davon  sind  unbekannt, 
müssen  indefs  wohl  gröfstentheils  in  der  eigentümlichen 
Empfänglichkeit  der  inficirten  Individuen  begründet  sein, 
welche  durch  Zeit  und  Ort  sehr  verändert  werden  kann, 
und  daher  ähnlich,  wie  die  Empfänglichkeit  für  andere  Con- 
tagien,  in  manchen  Zeiten  sehr  gering,  in  andern  wieder 
sehr  grofs  ist.  Ein  vierjähriger  Mops  überstand  durch  drei 
ganze  Jahre  alle  Ansteckungsversuche  (von  denen  9  be¬ 
schrieben  sind),  während  sieben  andere,  bei  verschiedenen 
Versuchen  gleichzeitig  mit  ihm  geimpfte  Hunde  wirklich 
angesteckt  wurden.  Andere  überstanden  zwei,  drei  auch 
vier  Versuche,  und  wurden  erst  bei  dem  folgenden  inficirt; 
bei  einigen  fand  die  Ansteckung  nach  der  ersten  Impfung 
statt.  3)  Daraus  ergiebt  ;sich  aber  auch,  dafs  in  solchen 
Fällen,  wo  man  über  die  Krankheit  eines  für  toll  gehalte¬ 
nen  Hundes  in  Zweifel  ist,  eine  oder  zwei  zufällige  oder 
absichtliche  Impfungen  von  ihm  auf  andere  Hunde  zwar 
entscheidend  sein  können,  wenn  sie  mit  Erfolg  begleitet 
sind,  dafs  sie  aber  bei  negativem  Erfolge  gar  nicht  als  ein 
Beweis  dafür  gelten  können,  dafs  der  erwähnte  Hund  nicht 
toll  gewesen  sei.  4)  Das  Contagium  bei  der  Wuthkrank- 
heit  der  Hunde  scheint  nur  allein  zu  den  fixen  zu  gehören; 
es  erfolgte  keine  Ansteckung  durch  die  blofse  Ausdünstung. 
5)  Seine  Vehikel  sind  nicht  allein  der  Speichel  und  Schleim 
im  Maule,  sondern  auch  das  Blut  und  die  Speicheldrüsen. 
Die  reine  Nervenmasse  scheint  frei  davon  zu  sein.  6)  Das 
Contagium  ist  in  jeder  Periode  der  ausgebildeten  Krankheit, 
und  selbst  nach  dem  Tode  der  tollen  Hunde  noch  durch 
einige  Zeit  zugegen,  denn  die  Ansteckung  erfolgte  durch 
die  genannten  Stoffe  sowohl,  wenn  dieselben  von  lebenden, 
als  auch,  wenn  sie  von  todten  Hunden  genommen  wurden; 
doch  von  letzten  nur  binnen  den  ersten  vierundzwanzig 
Stunden,  oder  so  lange  der  Cadaver  noch  nicht  ganz  er¬ 
starrt  war.  7)  Das  Contagium  scheint  nur  seine  YVirksam- 


4 


302 


III.  Wuthkraiikhcit  der  Hunde. 


keit  zu  entwickeln,  wenn  es  von  der  Aufsenflache  des  Kör¬ 
pers  in  die  Säftemasse  gelangt,  und  dagegen  ganz  unwirk¬ 
sam  zu  bleiben,  wenn  es  auf  die  unverletzte  Schleimbaut 
der  Verdauungsorgane  gebracht  worden  ist;  denn  unter 
22  Hunden,  welche  auf  die  letzte  YVeise  niit  dem  Conta- 
gium  in  Berührung  kamen,  ist  die  Ansteckung  bei  keinem 
einzigen  erfolgt.  8)  Doch  beweisen  auch  die  Impfungen 
ganz  klar,  dafs  zur  Ansteckung  nicht  gerade  der  Akt  des 
Beifsens  erforderlich  ist,  sondern  dafs  sie  auch  durch  N  er- 
letzungen  mit  der  Lanzette  bewirkt  werden  kann.  9)  Da¬ 
bei  ist  es  auch  durch  diese  Impfungen  erwiesen,  dafs  die 
secundäre  Wuthkrankheit  weder  allein  von  der  Art  der 
physischen  Verletzung  (wie  Girard  meinte),  noch  allein 
von  der  Furcht  des  Gebissenen  (wie  Bosquillon  behaup¬ 
tete)  abhängig  sei.  10)  Die  zuerst  von  Bader  und  dann 
von  Cape  11  o  ausgesprochene  Meinung:  dafs  sich  das  Con- 
tagium  bei  der  Wuthkrankheit  nicht  erzeugt,  wenn  die¬ 
selbe  in  der  zweiten  Generation  zugegen,  oder  mit  anderen 
Werten,  wenn  sie  durch  Ansteckung  von  einem  primär 
tollen  Hunde  verursacht  worden  ist,  —  ist  ganz  bestimmt 
falsch,  und  durch  mehre  Impfversuche  gründlich  widerlegt. 
M  it  diesen  Beobachtungen  stimmen  nicht  nur  die  von  Ma¬ 
gen  die  gemachten  vollkommen  überein,  sondern  sie  sind 
auch  in  anderer  Hinsicht  von  Interesse  und  Wichtigkeit. 
Kr  impfte  nämlich  mit  dem  Speichel  eines  Menschen,  der 
an  der  Wasserscheu  litt,  einen  Hund,  und  dieser  wurde 
nach  einem  Monate  toll.  Dieser  Hund  bifs  zwei  andere, 
welche  ebenfalls  die  Hundswuth  bekamen,  jedoch  von  die¬ 
sen  beiden  wurde  keine  weitere  Ansteckung  auf  andere 
Hunde  erreicht.  11)  Das  Contagium  bringt  in  einem  an¬ 
gesteckten  Hunde  bis  zum  wirklichen  Ausbruch  der  Wuth¬ 
krankheit  keine  bemerkbaren  Wirkungen  oder  Verändertlo¬ 
gen,  weder  im  ganzen  Körper,  noch  örtlich  an  der  \\  unde 
hervor.  Beim  Menschen  mag  letztes  geschehen,  beim  Hunde 
sah  der  \  erf.  nichts  Aehnliches,  obgleich  er  wegen  Dr. 
Urban 's  Erfahrungen  sehr  aufmerksam  auf  diesen  Gegen- 


III.  Wuthkrankheit  der  Hunde. 


303 


stand  gewesen  ist.  12)  Namentlich  kommen  auch  beim 
inficirten  Hunde  die  Marochettischen  Bläschen  unter  der 
Zunge  nicht  vor.  13)  Es  sind  also  auch  bei  solchen  Hun¬ 
den  keine  bestimmten  Prodromen  wahrzunehmen.  14)  Die 
Wuthkrankheit  pflegt  bei  Hunden  innerhalb  50  Tagen  nach 
der  Ansteckung,  dieselbe  mag  durch  Bifs  oder  anderweitige 
Impfung  bewirkt  sein,  auszubrechen.  Beispiele  von  später 
erfolgtem  Ausbruch  hat  der  Verf.  bis  jetzt  nicht  beobach¬ 
tet.  15)  Die  durch  Ansteckung  erfolgte  Wuthkrankheit 
der  Hunde  nimmt  nicht  immer  dieselbe  Form  an,  welche 
die  Krankheit  bei  den  Thieren  hatte,  von  welchen  die  An¬ 
steckung  ausgegangen  ist.  Zuweilen  geschieht  dieses  wohl, 
aber  in  anderen  Fällen  entsteht  bald  die  rasende  Wuth  von 
einem  stilltollen,  bald  wieder  die  stille  Wuth  durch  An¬ 
steckung  von  einem  rasendtollen  Hunde.  16)  Hieraus  ent¬ 
steht  aber  auch  der  Beweis,  dafs  beide  Krankheitsformen 
wesentlich  mit  einander  verwandt  sind,  und  wirklich  zu 
einer  und  derselben  Krankheit  gehören.  17)  Auch  folgt 
hieraus  und  aus  allem  Uebrigen,  dafs  die  Wuthkrankheit 
der  Hunde  eine  eigenthümliche  und  selbstständige  Krankheit 
ist,  und  nicht  blofs  imaginär,  in  dem  Glauben  der  Aerzte 
oder  als  zufälliges  Symptom  anderer  Krankheiten  besteht, 
wie  dieses  von  R.  White  und  Franque  in  der  neuesten 
Zeit  behauptet  worden  ist.  18)  Es  ist  unrichtig,  dafs  ge¬ 
sunde  Hunde  durch  den  Geruch  die  wuthkranken  erkennen, 
und  deshalb  auch  Nahrungsmittel,  welche  mit  Se-  und  Ex- 
cretionsstoffen  von  den  letzten  bestrichen  worden  sind, 
verabscheuen.  19)  Daher  ist  auch  das  auf  diese  Meinung 
gegründete,  zuerst  von  J.  L.  Petit  angegebene,  und  kürz¬ 
lich  wieder  als  neu  empfohlene  Verfahren,  zur  Untersu¬ 
chung  solcher  Hunde- Cadaver,  bei  denen  man  über  die 
Vorausgegangene  Krankheit  zweifelhaft  ist,  ganz  unsicher, 
und  ohne  den  geringsten  Werth. 

In  Bezug  auf  die  Ursachen  zur  Selbstentstehung  der 
Wuthkrankheit  bemerkt  der  Verf. ,  dafs  er  noch  nicht  zu 
ganz  bestimmten  Resultaten  gekommen  sei,  weil  Hunde  von 


304 


IV.  Diabetes  mellitus. 


jeder  Race,  von  jedem  Alter  und  Geschlecht,  unter  jeder 
Art  ihres  Verhaltens  iu  Pflege  und  Wartung,  und  hei  jeder 
Jahreszeit  und  Witterung  in  die  Krankheit  verfallen.  Kr 
glaubt  aber,  dafs  die  individuelle  Disposition  zur  Krankheit 
ein  sehr  wichtiger  Umstand  bei  ihrer  Entstehung  ist,  und 
dafs  diese  Disposition  besonders  bei  solchen  Hunden  sehr 
ausgebildet  ist,  welche  an  der  sogenannten  Staupe  oder 
Hundekrankheit,  und  deren  nervösen  Folgekrankheitcn,  im 
hohen  Grade  gelitten  haben;  denn  er  sah  solche  Hunde 
sehr  häufig  bald  früher,  bald  später  toll  werden.  Zu  den 
veranlassenden  Ursachen  gehört  wohl  ohne  Zweifel  der  zu 
sehr  erregte  und  nicht  genügend  befriedigte  Geschlechts¬ 
trieb,  wie  dieses  schon  lange  von  Greve,  Fischer  u.  a. 
angegeben  ist,  und  wie  der  Verf.  selbst  mehre  dafür  spre¬ 
chende  Fälle  kennen  gelernt  hat.  Hitze  und  Kälte,  welche 
man  gleichfalls  als  wichtige  Ursachen  der  Wuthkrankheit 
betrachtet,  hält  er  nicht  für  solche,  weil  diese  Krankheit 
in  und  nach  kalten  Wintern  und  heifsen  Sommern  nicht 
häufiger  ist,  als  zu  anderen  Zeiten,  und  weil  solche  Hunde, 
die  diesen  Einflüssen  am  häufigsten  ausgesetzt  sind,  z.  B. 
Kettenhunde ,  Fuhrmanns-  und  Karrenhunde,  viel  seltener 
toll  werden,  als  die  gegen  Hitze  und  Kälte  geschützten 
Stubcnhundc. 

W.  F. 


IV. 

Versuch  einer  Pathologie  und  Therapie 
des  Diabetes  mellitus,  von  Dr.  Aug.  VY  ilh. 
v.  St os ch,  Leibärzte  Ihrer  Kön.  Hoheit  der  Kron¬ 
prinzessin  von  Preufsen.  Berlin,  bei  Duncker  und 
Ilumblot.  1828.  8.  XV  u.  235  S.  (iThlr.  4  Gr.) 

Die  honigartige  Harnruhr  gehört  ohne  Zweifel  zu  den 
Krankheiten,  die  in  jeder  Hinsicht  am  wenigsten  erkannt 

sind. 


IV.  Diabetes  mellitus. 


3o;> 


sind.  Ein  Hauptgrund  unserer  geringen  Kenntnifs  dieser 
Krankheit  liegt  sicherlich  wohl  in  dem  seltenen  Vorkom¬ 
men  derselben,  und  wir  müssen  bekennen,  dafs  uns  noch 
wahre  Erfahrung  über  sie  mangelt.  Es  gilt  nämlich  von 
ihr  wohl  dasselbe,  was  bei  anderen  seltener  vorkommenden 
Krankheiten  der  Fall  ist,  dafs  man  ihre  Schilderung  zu  sehr 
nach  einzelnen  Fällen  entworfen,  und  es  verschmäht  hat, 
Resultate  aus  der  umsichtigen  Vergleichung  vieler  über  sie 
zusaminengebrachter  Fälle  zu  gewinnen.  Es  haben  zwar 
Trnka  de  Krzowitz  (Commentarius  de  diabete.  Vindob. 
1778.  8.)  und  Knebel  (in  seinen  Materialien  zur  theore¬ 
tischen  und  praktischen  Heilkunde.  Bd.  1.  Abth.  1.  2,  Bres¬ 
lau,  1800.  8.)  viele  hierher  gehörige  Materialien  nicht  ohne 
Fleifs,  aber  mit  zu  geringer  Kritik  gesammelt,  indem  sie 
bei  den  einzelnen  Fällen  nicht  gehörig  erwogen  zu  haben 
scheinen,  ob  die  beschriebene  Krankheit  eine  wirkliche 
honigartige  Harnruhr  gewesen,  oder  nicht.  So  geschah  es 
aber,  dafs  ihre  Beschreibungen,  die  gleichwohl  aus  ihren, 
in  die  meisten  Hand-  und  Lehrbücher  der  specieilen  Pa¬ 
thologie  übergingen,  nicht  ein  e  Krankheit,  die  Honigharn¬ 
ruhr,  sondern  eine  ganze  Gruppo  äufserlich  verwandter 
Krankheiten,  oft  auch  nur  blofser  Krankheitssymptome, 
umfassen.  Dazu  kommt,  dafs  die  Schrift  des  ersten  aus 
einer  Zeit  herrührt,  aus  welcher  wir  in  der  That  nur  sehr 
wenige  brauchbare  Fälle  wirklicher  Harnruhr  (Ref.  bemerkt, 
dafs  er  im  Verlaufe  dieser  Anzeige  unter  Harnruhr  immer 
nur  den  Diabetes  mellitus  versteht)  besitzen,  weshalb  also 
der  Verf.  auch  nur  einen  geringen  Stoff  für  seine  Bearbei¬ 
tung  vorfand,  und  auch  Knebel’s  Materialien  reichen  nur 
bis  auf  Rollo’s  Schrift  (Account  of  two  cases  of  the  dia- 
betes  mellitus.  Lond.  1797.  8.  übers,  von  Jugler.  2  Bde. 
Stendal  1801.  8.),  seit  deren  Erscheinung  wir  eigentlich 
erst  eineTxeihe  lehrreicher  Beobachtungen  über  diese  Krank¬ 
heit  in  verschiedenen,  namentlich  deutschen  und  englischen 
Zeitschriften  erhalten  haben.  Unter  solchen  Umständen 
dürfte  es  nun  allerdings  am  angemessensten  scheinen,  wenn 
XIV.  Ed.  3.  St.  20 

I  4 


\ 


IV.  Dia!  jotos  mellitus. 


'»06 

die  nächsten  Bearbeiter  dieser  Krankheit  einen  historisch- 
kritisrlieu  Wc^  hei  ihren  Untersuchungen  einschlügen,  einen 
Weg,  von  welchen)  sich  Ref.  überhaupt  viel  zur  Förde¬ 
rung  der  Heilkunde  in  unserer  /eit  verspricht,  wenn  sic 
nämlich  zuerst  die  Materialien  für  eine  Monographie  dieser 
Krankheit  sammelten,  um  dadurch  erst  zu  dem,  was  Beob- 
achtung  und  Erfahrung  über  dieselbe  wirklich  ergeben  ha¬ 
ben,  zu  gelangen,  und  von  dieser  Basis  aus  eine  nähere 
Untersuchung  des  Wesens  derselben  und  der  demgemäß 
sich  ergebenden  Heilmethode  zu  gewinnen.  Wenn  nun 
auch  gleichwohl  der  geistreiche  Yerf.  dieser  vor  »ins  liegen¬ 
den,  mit  grofser  Wissenschaftlichkeit  abgefafsten  Schrift 
diesen  Weg  nicht  eingeschiagen  hat,  indem  er  zuerst  eine 
Ansicht  von  dem  Wesen  dieser  Krankheit  zu  gewinnen 
sucht,  aus  dieser  die  ätiologischen  Momente  und  die  The- 
rapeutik  derselben  a  priori  construirt  und  dann  erst  die  so 
gefundenen  Resultate  mit  dem  empirisch  Gegebenen  bei 
dieser  Kraukheit  vergleicht,  so  ist  lief,  weit  davon  entfernt, 
etwa  gleich  von  vorn  herein  einen  Fadel  dagegen  auszuspre¬ 
chen,  indem  der  mit  der  Litteratur  der  Harnruhr  vertraute 
Leser  gleichwohl  überall  auf  eine  erschöpfende  Kcnntnifs 
lind  genaue  Benutzung  derselben  stöfst,  ohne  eben  durch 
viele,  meistens  nicht  einmal  ganz  genau  angegebene  Uitale 
geblendet  zu  werden.  Es  bleibt  uns  nur  übrig  zu  unter¬ 
suchen,  ob  sich  die  Erscheinungen  der  Krankheit  mit  Leich¬ 
tigkeit  aus  der  vom  Yerf.  über  sie  aufgcstellten  Ansicht 
deuten  lassen,  und  ob  die  Resultate  der  Erfahrung  mit  der 
apriorischen  Conslruction  des  Yerf.  übereiustimmen.  Ref. 
aber  holt  sich  gleich  voran  die  Entschuldigung  bei  den 
Lesern  unserer  Annalen  ein,  wenn  er,  seit  einigen  Jahren 
mit  einer  Monographie  dieser  Krankheit*  beschäftigt,  der 
Anzeige  und  Beurtheilung  dieser  Schrift  einen  grölseren 
Raum,  als  vielleicht  billig  scheinen  sollte,  vorbehält. 

Zur  Begründung  der  vom  Yerf.  aufzustellenden  Pa 
thogenie  der  Harnruhr  sieht  er  sich  genöthigt,  eine  Ueber- 
sicht  dessen,  was  ihm  über  \crdauung,  Assimilation  und 


i 


I 


IV.  Diabetes  mellitus.  *  307 

/ 

Reproduction  wahrscheinlich  scheint,  voranzuschicken.  Es 
bildet  den  Inhalt  des  ersten  Kapitels.  Die  Reproduktion, 
sagt  er,  besteht  aus  zwei  Hauptmomenten :  das  erste  ist 
Ansatz  neuen  Stoffes,  das  materielle  Substrat  desselben  das 
rotbe  Blut,  ihr  Resultat  Festwerden  oder  thierische  Krystal- 
lisation  des  Flüssigen;  das  zweite  Moment  derselben  ist  das 
Wied  erfliissigwerden  des  Thiersloffes.  Gebunden  ist  dieser 
Akt  der  Reproduction  an  das  Blutgefäfssystem,  und  dem 
beiden  angegebenen  Momenten  entsprechend,  spaltet  sich 
dasselbe  in  zwei  Hauplzweige:  das  arterielle  System  führt 
das  durch  den  Akt  der  Respiration  vielleicht  nur  negativ, 
vielleicht  zugleich  aber  auch  positiv  vervollkommnete  arte¬ 
rielle  Blut  dem  peripherischen  Theile  desselben  zu,  welches 
das  venöse  System,  gebildet  theils  durch  Anastornosen  mit 
den  feinsten  Aestchen  des  arteriellen  Systems,  theils  aber 
auch  entstehend  in  dem  wieder  flüssig  gewordenen  Thier-, 
Stoffe,  wieder  aufnimmt.  In  den  Capillargefäfsen  ist  die 
Bewegung  des  Blutes  nicht  mehr  von  den  Centralpunkten 
des  Gefafssystfems  direct  abhängig,  sondern  selbstständig, 
oscillatorisch,  und  bedingt  durch  den  Einflufs  des  sich  hier 
innig  mit  dem  Gefäfssysteme  verbindenden  Nervensystems. 
Die  Einverleibung  des  aus  den  Nahrungsmitteln  dem  Orga¬ 
nismus  zugeführten  Nahrungsstoffes  geschieht  durch  das 
Lymphgefäfssystem,  welches  allein,  direct  und  unmittelbar 
rohen  Chylus  aus  dem  Chymus  aufsaugt.  Dieser  rohe  Chy- 
lus  ist  aber  von  dem,  wie  er  sich  später  im  Ductus  thora- 
cicus  vorfindet,  sehr  verschieden.  Eine  Uinwandelung  und 
Läuterung  desselben  geschieht  zwar  offenbar  im  lymphati¬ 
schen  Systeme,  aber  nicht  alLhi  durch  dasselbe,  sondern 
auch  gröfstentheils  durch  das  Wnensystem ,  und  ist  in  so¬ 
fern  negativ,  indem  sich  dasselbe  nicht  nur  in  den  conglo- 
birten  Drüsen,  sondern  schon  in  den  feinsten  Anfängen 
der  lymphatischen  Gefäfse  r.nt  demselben  verbindet  und 
durch  Aufsaugung  den  durch  dieselben  aufgesogenen  Chy¬ 
lus  läutert  und  so  zur  höheren  Animalisation  vorbereitet.  , 
Die  dem  Chylus  auf  diese  Weise  entzogenen  Stoffe  bilden, 

20  * 


I 


303 


IV.  Diabetes  mellitus. 


dem  Blute  beigemischt,  das  eigentümliche,  zur  Bildung 
der  Galle  bestimmte  Blut  der  Pfortader.  Eine  primäre 
Yenenresorplion  findet  indefs  vielleicht  doch  in  einem  Or¬ 
gane,  nämlich  im  Magen  statt.  '  Das  harmonische  Ineinan¬ 
dergreifen  der  Functionen  dieser  drei  tactoren  des  Gefäfs- 
svstems,  in  welchem  die  Integrität  der  vegetativen  Sphäre 
des  Organismus  besteht,  wird  aber  allein  durch  die  norm- 
gemäfse  Einwirkung  des  vegetativen  Nervensystems  bedingt, 
dessen  Centraltheil  die  der  reproductiven  Sphäre  vorzugs¬ 
weise  angehürigen  Organe  versorgt,  während  der  periphe¬ 
rische,  mit  den  bewegenden  und  Gefühlsnervcn  zusammen- 
tretend,  sich  durch  den  ganzen  Körper  verbreitet.  Die 
Fäden,  welche  den  sympathischen  Nerven  mit  dem  Spinal¬ 
und  Cerebralsystem  verbinden,  und  welche  man  gewöhn¬ 
lich  als  von  diesen  ausgehende  Wurzeln  betrachtet,  sieht 
der  Verf.  vielmehr  als  vom  sympathischen  Nerven  ausge¬ 
hende  Verbreitungen  desselben  an.  Dieses  vegetative  Ner¬ 
vensystem  selbst  aber  spaltet  sich  wiederum  in  zwei  Theile, 
einen  positiven  Pol,  welcher  dem  positiven  Bildungsakte 
entspricht,  und  in  einen  negativen,  welcher  dem  negativen 
Momente  desselben  angehört,  eine  Ansicht,  die  der  Verf. 
vorzüglich  in  dem  paarweisen  Vorkommen  der  Nerven- 
ganglien  bei  unpaaren  Organen  begründet  ansieht.  Die  Aus¬ 
scheidung  aber  der  durch  die  Venenresorption  aufgenom¬ 
menen  excrcmentitiellen  Stoffe  geschieht  theils  bei  der  Gal¬ 
lenbereitung,  theils  durch  die  Nieren,  und  zwar  hauptsäch¬ 
lich  im  Harnstoffe.  Vielleicht  findet  auch  eine  ähnliche 
wSecretion  im  unteren  Theile  des  Darmkanals  statt,  nament¬ 
lich  im  Coeco.  Eine  vicariirende  Thätigkeit  zwischen  Haut 
und  Nieren  anzunehmen,  wie  solches  gewöhnlich  geschieht, 
scheint  dem  Verf.  dagegen  unrichtig.  Die  Thätigkeit  der 
Nieren  bei  Abscheidung  ihrer  Secretc  scheint  sich  nur  dar¬ 
auf  zu  beschränken,  dafs  sie  aus  dem  ihnen  durch  die  Ar¬ 
terien  zugeführten  Blute  vermöge  einer  Art  von  Wahlver¬ 
wandtschaft  die  aus  der  Blutmasse  auszuleerenden  Stoffe 
educiren.  Die  Schnelligkeit  aber,  mit  «1er  genossene  Flüs- 


IV.  Dialj  etes  mellitus. 


•  309 


sigkeiten  durch  die  Ilarnwege  wieder  ausgeschieden  werden, 
scheint  dem  Verf.  in  der  Venenresorption  ihre  hinlängliche 
Erklärung  zu  finden,  welche  wahrscheinlich  im  Magen  eine 
primäre  ist,  wodurch  also  die  genossenen  Flüssigkeiten  un¬ 
mittelbar  in  den  Kreislauf  gelangen. 

Dieses  ist  der  gedrängte  Auszug  der  vom  Verf.  im 
ersten  Kapitel  über  Verdauung  und  Assimilation  aufgestell- 
ten  Ansichten.  Ref.  konnte  die  Anzeige  derselben  nicht, 
übergehen,  da  der  Verf.  auf  sie  seine  Pathogenie  der  Harn¬ 
ruh/'  baut  und  es  sich  also  darum  bandeln  mufs,  ob  wir 
die  hier  aufgestellten  Prämissen  als  unbezweifelt  wahr  aner¬ 
kennen  können,  oder  nicht. 

Man  hat  den  Aerzten  nur  zu  oft  den  Vorwurf  gemacht, 
dafs  sie  erst  spät  oder  gar  nicht  von  den  Entdeckungen  der 
Physiologen  Gebrauch  machen,  dafs  sie  es  also  verschmä¬ 
hen,  eine  wissenschaftliche  Begründung  der  praktischen 
Medicin,  welche  eben  nur  durch  Basirung  auf  Anatomie 
und  Physiologie  gewonnen  werden  kann,  zu  erlangen.  Die¬ 
ser  Vorwurf  scheint  indefs  dem  Bef.,  wie  wahr  er  auch 
oft  im  Einzelnen  sein  mag,  im  Allgemeinen  mindestens  ein 
ungerechter.  Wir  besitzen  in  der  That,  wollen  wir  ein 
aufrichtiges  Bekenntnifs  nicht  ablehnen,  in  der  Physiologie 
so  wenig  Wahres  und  über  allen  Zweifel  Erhabenes,  dafs 
ein  jeder  Arzt,  wenn  er  einen  Versuch  macht,  eine  wis¬ 
senschaftliche  Darstellung  der  Pathogenie  einer  Krankheit 
zu  geben,  zuerst  ein  physiologisches  Glaubensbekenntnis 
abgeben  mufs,  um  verstanden  zu  werden.  iJnd,  wie  es 
dann  in  solchem  Falle  nicht  anders  geschehen  kann,  es 
werden  physiologische  und  pathologische  Ansichten  neben 
einander  gebildet,  so  dafs  sie  mit  einander  in  Harmonie 
stehen,  sich  gegenseitig  erklären,  einander  nicht  widerspre¬ 
chen.  Dasselbe  Verhältnis  sehen  wir  denn  auch  in  vor¬ 
liegendem  Falle  eintreten.  Die  vom  Verf.  aufgestellten  phy¬ 
siologischen  Ansichten  lassen  allerdings  eine  Deutung  des 
Wesens  der  Honigharnruhr  zu,  sie  selbst  erfreuen  sich  in¬ 
neren  Zusammenhanges,  aber  sind  sie  denn  auch  die  wahren:' 


I 


IV.  Diabetes  mellitus. 


310 

Ref.  ist  weit  von  der  Anmaafsting  entfernt,  durch  Hinwen¬ 
dungen,  die  er  gegen  dies''  Ansichten  aufstellen  wird,  diese 
etwa  widerlegen  zu  wol’r»,  er  weils  sein*  vs  »hl,  dals  cs 
Lei  der  grofsen  Verschied»  iheit  der  Meinungen,  welche 
unter  »len  Physiologen,  namentlich  gegenwärtig  iiher  Venen¬ 
resorption  und  die  Function  des  vegetativen  Nervensystems 
herrschen,  viel  leichter  ist,  einer  vorgelragenen  Meinung 
eine  andere  entgegenzusetzen,  als  überhaupt  eine  festbe- 
griiodete  aufzustellen.  Nur  »1er  Zusammenhang,  welcher 
zwischen  diesen  Vordersätzen  und  der  daraus  entlehnten 
Ansicht  des  V  erf.  über  »lie  Natur  der  Harnruhr  statt  findet, 
erfordert  es,  wenigstens  aufmerksam  zu  machen,  wie  die¬ 
selben  noch  keinesweges  allgemeine  Anerkennung  gefunden 
haben,  wie  »1er  %  erf.  also  auf  einen  mindestens  noch  un¬ 
sicheren  Rodeo  gebauet  habe.  Ref.  glaubt  seine  Absicht 
am  besten  zu  erreichen,  und  sich  gegen  jeden  Schein  eiteln 
Aburtheilcns  in  einer  Sai.v,  in  welcher  er  nicht  selbst¬ 
ständig  gearbeitet  hat,  zu  'wahren,  wenn  er  »len  vom 
V  erf.  aufgestellten  Ansichten  das  neueste  Werk  eines  hoch¬ 
geachteten  Physiologen  entgegenhält.  Fs  dürften  besonders 
folgende  allgemeinere  Sätze  zu  berücksichtigen  sein,  einige 
sich  mehr  auf  specicllere  A  nahmen  erstreckende  wird  Ref. 
noch  im  V  erlaufe  dieser  Recension  anzuzeigen  Gelegenheit 
haben.  1)  Der  V  erf.  steüt  den  Satz  auf,  dafs  die  Venen, 
und  zwar  primär  im  Magen,  resorbiren.  Wie  wahrschein¬ 
lich  es  nun  auch  nach  den  neuesten  Untersuchungen  eines 
Magen  die,  Tiedemann  und  Gmelin,  und  vieler  ande¬ 
rer  sein  mag,  dals  eine  V  enenresorption  statt  linde,  so  darf 
dieser  Satz  doch  noch  gleichwohl  nicht  zu  einem  Axiome 
erhoben  werden  R  u  d  o  1  pji  i  (Grundrifs  der  Physiologie 
Rd.  11.  Ablli.  2.  Abschn.  h.)  spricht  sieb  gegen  dieselbe  aus. 
2)  Von  einem  grölseren  Umfange  wie  die  primäre,  soll, 
wie  der  V  erf.  behauptet,  »lic  secimdärc  Venenresorption 
sein,  indem  nämlich  durch  das  Vciiensvslem  die  vom  R>mph- 
gefäfss\slem  aufgenominenen  Stoffe  aufgesogen  und  durch 
dasselbe  die  excrementitielleii  ausgeschiedeu  werden  sollen. 


1Y.  Diabetes  mellitus. 


311 


Es  müfste  also  auf  irgend  eine  Weise  eine  Communication 
zwischen  dein  Venen-  und  Lyinpbgefäfssystem  statt  linden. 
Es  glauben  nun  zwar  allerdings  deutsche,  französische,  und 
ganz  besonders  italienische  Anatomen,  solche  Cornmunica- 
tionen  und  Anastomosen  nachgewiesen  zu  haben.  Allein 
Rudolphi  zeigt,  wie  leicht  hier  Täuschung  obwalten 
könne,  und  spricht  sich  ziemlich  bestimmt  dagegen  aus. 
3)  Wenn  nun  aber  auch  die  Venen,  theils  primär  im 
Magen,  theils  secundär  durch  Anastomosirung  mit  dem 
Lympbgefäfssysteme  resorbirten,  liefse  sich  dann  wohl  ein 
so  bestimmtes  Wahlanziehungsvermögen  der  Lymphgcfäfse 
für  nutritive,  der  Venen  für  excrementitielle  Stoffe  anneh¬ 
men?  Abgesehen  davon,  wie  diese  Annahme  immer  nur 
Annahme  bleiben  mufs,  ohne  durch  irgend  welche  bestimmte 
Gründe  unterstützt  zu  werden,  so  treffen  wir  selbst  auf 
Erscheinungen,  die  ihr  zu  widersprechen  scheinen.  Wenn 
Lower,  Viridet,  noch  neuerlich  Maier  u.  a.  im  Venen- 
blute  Chylusstreifen  wollen  gefunden  haben,  so  mag  diese 
Erscheinung  entweder  auf  Täuschung  beruhen,  oder  auch 
eine  andere  Deutung«  gestatten;  wenn  ferner  im  enlgegen- 
gesetzten  Falle  mehre  Experimentatoren  dem  Organismus 
fremdartige,  nicht  nutritive  Stoffe  in  den  Eymphgefäfsen 
gefunden  haben,  wie  z.  B.  Seiler  und  Ficinus  blausau¬ 
res  Kali,  Em  inert  blausaures  Eisen  u.  a.,  so  kann  man 
mit  diesem  Argumente  auch  nur  theilweise  der  vom  Verf. 
aufgestellten  Ansicht  enlgegentreten,  indem  diese  Stoffe 
allerdings  von  den  Eymphgefäfsen  aufgenommen  werden 
inufsten,  bevor  sie  zu  den  Venen  gelangen  konnten,  oh- 
scbon  denn  doch  der  Verf.  für  Flüssigkeiten  (und  diese 
Stoffe  wurden  doch  im  aufgelösten  Zustande  dem  Magen 
übergeben)  eine  primäre  Venenresorption  annimmt,  — 
wenn  Kef.  auch  mit  diesen  Gründen  der  vom  Verf.  aufge¬ 
stellten  Ansicht  nicht  entgegentreten  will,  so  treffen  wir 
doch  auf  pathologische  Erscheinungen,  welche  eine  solche 
Wahlanziehung ,  wie  sie  der  Verf.  der  Venen-  und  Lymph- 
gefälsresorplion  zuschreibt,  nicht  zulassen.  Hier  nämlich 


\ 


# 


312 


IV.  Diabetes  mellitus. 


steht  der  unabweisbare  Satz  fest,  dafs  manche  Krankheits¬ 
stoffe  vom  Lymphgefäfssystemc  nicht  allein  aufgenommen 
werden,  sondern  sich  auch  in  diesem  weiter  entwickeln 
und  die  ganze  durch  sic  veranlafste  Krankheit  in  diesem» 
Systeme  verläuft,  ohne  auf  ifgend  eine  Weise  auf  das  IMut- 
gefäfssystem ,  namentlich  den  venösen  Theil  desselben,  über¬ 
tragen  zu  werden. 

Im  zweiten  Kapitel  handelt  der  Verf.  von  den  Sym¬ 
ptomen  und  dem  Verlaufe  des  Diabetes  mellitus.  Die  Kürze 
desselben  möchte  um  so  weniger  zu  tadeln  sein,  da  der 
Verf.  im  Kapitel  von  der  Pathogenie  dieser  Krankheit  auf 
die  wesentlichen  Symptome  derselben  und  deren  Deutung 
noch  einmal  zurückkommt.  Indefs  erlaubt  sich  I\ef.  doch 

i 

einige  Bemerkungen  über  die  vom  Verf.  aufgestellte  Sym¬ 
ptomatologie  hinzuzufugen.  Wenn  er  S.  22  sagt:  immer 
jedoch  fängt  die  Krankheit  mit  einem  Gefühle  von  ver¬ 
mehrtem  Durste  an,  welcher  die  davon  Befallenen  beson¬ 
ders  Nachts  im  Schlafe  stört  u.  s.  w. ,  so  ist  diese  Behaup¬ 
tung  wohl  noch  keineswpges  erwiesen.  Abgesehen  davon, 
dafs  der  Krankheit  meistens  Vorboten  vorangehen,  welche 
ihren  Grund  in  einem  Leiden  der  Digestionsorgane,  und 
zwar  in  dem  Vorhandensein  freier  Säure  haben,  wie  solches 
namentlich  Keil  (in  seiner  Fieberlchre  Bd.  III.  S.  511) 
und  Ilaase  (über  die  Erkenntnifs  und  Cur  der  chronischen 
Krankheit,  Bd.  III.  Abtheil.  1.  S.  327.)  bemerken,  so 
scheint  in  vielen  Fällen  mindestens  eine  Unterdrückung  der 
Hautthätigkcit,  welche  die  Krankheit  auch  in  ihrem  ganzen 
Verlaufe  begleitet,  jederzeit  ein  früheres  Symptom,  als 
der  vermehrte  Durst  zu  sein,  ein  l  mstand,  der  manche 
Schriftsteller  wohl  zu  dem  einseitigen  Schlüsse  veranlafst 
haben  mochte,  das  Wesen  dieser  Krankheit  überhaupt  in 
einer  gestörten  Hautfunction  zu  suchen.  Ganz  unberück¬ 
sichtigt  aber  hat  der  Verf.  zwei,  wie  es  dem  Bef.  scheint, 
nicht  unwichtige  Symptome  gelassen:  nämlich  den  eigen- 
thümlichen,  bald  säuerlichen,  bald  süfslichen  Geruch, ‘wel¬ 
chen  die  an  Diabetes  Leidenden  verbreiten,  und  die  Vor- 


IY.  Diabetes  mellitus. 


313 


minderung  des  Sehvermögens.  Was  namentlich  dieses  letzte 
Symptom  anlangt,  so  erlaubt  sich  Ref.,  darüber  hier  Eini¬ 
ges  zu  bemerken,  da  es,  so  viel  er  weifs,  noch  in  keine 
Symptomatologie  dieser  Krankheit  aufgenommen  worden  ist. 
Der  Verf.  erwähnt  desselben  an  einer  anderen  Stelle  (S.  38) 
zwar  beiläufig,  jedoch  so,  dafs  darin  vielleicht  zugleich  ein 
Irrthuin  involvirt  ist.  Er  sagt  nämlich,  wie  glaubwürdige 
Zeugen  ihm  erzählt  hätten ,  dafs  sie  Amaurose  zur  Krank¬ 
heit  haben  hinzukommen  gesehen.  Ist  dieser  Fall  wirklich 
beobachtet  worden,  so  hat  Ref.  natürlich  nichts  weiter 
dagegen  zu  erinnern;  sollte  aber  etwa  nur,  indem  man  eine 
Verminderung  des  Sehvermögens  bei  den  an  Diabetes  Lei¬ 
denden  beobachtete,  auf  eine  beginnende  Lähmung  der  Netz¬ 
haut  geschlossen  worden  sein,  so  dürfte  dieser  Schlufs 
leicht  falsch  sein.  Es  ist  dieselbe  vielmehr,  mindestens  in 
den  vorn  Ref.  verglichenen  Fällen,  von  einer  beginnenden 
Verdunkelung  der  Linse,  die  zuletzt  bis  zu  völliger  Cata- 
ractbiidung  vorschreitet,  abhängig,  und  tritt  meistens  erst 
nach  längerer  Dauer  der  Krankheit  auf;  ein  um  so  auffal¬ 
lenderes  Symptom,  da  dieselbe  mehr  in  einem  Schmelzungs¬ 
prozesse  besteht.  Gewifs  steht  es  in  einem  wesentlichen 
Zusammenhänge  mit  der  Krankheit.  Ref.  hat  es  in  vier 
Fällen  der  Honigharnruhr,  von  denen  er  zwei  selbst  zu 
behandeln,  die  beiden  anderen  wenigstens  längere  Zeit  hin¬ 
durch  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte,  stets  bemerkt. 
Wenn  man  es  in  den  zahlreichen,  über  diese  Krankheit  in 
allen  Zeitschriften  mitgetheilten  Fällen  nicht  immer  aufge¬ 
führt  findet,  so  mag  man  es  zum  Theil  wohl  übersehen 
haben,  zum  Theil  aber  auch,  indem  man  es  für  ein  un¬ 
wesentliches  Symptom  hielt,  absichtlich  nicht  erwähnt 
haben.  Es  existiren  indefs  viele  Fälle,  in  welchen  des¬ 
selben  gedacht  ist.  So  erwähnen  es  z.  B.,  damit  Ref.  nur 
einige  ausgezeichnete  Fälle  anführt,  Oosterdyck  (in  der 
Sammlung  auserles.  Abhandlungen  für  prakt.  Aerzte,  Bd.  1. 
S.  179),  Dupuytren  (ebendas.  Bd.  XXIV.  S.  123),  Dun- 
can  d.  j.  (ebendas.  Bd.  XXVIII.  S.  532),  Marsh  (ebendas. 


314 


IV.  Diabetes  mellitus. 


Ed.  XXX.  S.5S0),  Horn  (in  seinem  Archive  1M17.  Ed.  ili. 
11.  1.  S.  76.  Note.),  v.  Gräfe  (iu  seinem  Jahresberichte 
über  das  clin.  Institut  der  Universität  7.11  Eerlin  von  1S‘2'2, 
S.  18.),  Zipp  (in  Hufeland 's  Journal  Ed.  LXV.  St.  1. 
S.  7 ),  11.  a. 

Im  dritten  Kapitel  macht  der  V  erf.  die  Anwendung 
der  in  der  Einleitung  gegebenen  physiologischen  Skizze  auf 
die  Pathogenie  des  Diabetes  mellitus,  und  handelt  von  der 
nächsten  Ursache  der  Krankheit.  Seitdem,  sagt  er,  die 
Chemie  die  qualitative  Entmischung  des  Urins  in  der  Harn¬ 
ruhr  kennen  gelehrt  hat,  suchte  man  von  jenem  Stand¬ 
punkte  aus  eine  Deutung  des  Wesens  dieser  Krankheit  zu 
gewinnen,  ging  dabei  aber  meistens  einseitig  zu  Werke, 
indem  man  nur  immer  auf  den  Zuckergehalt  im  Urine  Rück¬ 
sicht  nahm,  ohne  den  verminderten  oder  auch  ganz  fehlen¬ 
den  Antheil  des  Harnstoffs  in  demselben  zu  berücksichtigen. 
Nehmen  wir  nun  aber  an,  dafs  der  Harnstoff  nicht  in  den 
Nieren  selbst  gebildet  werden  könne,  sondern  dafs  sich  die 
ihn  constituirendcn  Thcile  aus  dem  Elute  durch  Wahl¬ 
verwandtschaft  in  den  Nieren  abscheiden,  eine  Annahme, 
welche  mit  noch  viel  grüfserer  Wahrscheinlichkeit  von  dem 
Schlcimzucker  des  diabetischen  Urins  gilt,  so  werden  wir 
zu  der  Annahme  geführt,  dafs  beide  Kischeinungen  in  einer 
Vernichtung  der  Thätigkeit  des  venösen  Systems,  in  sofern 
dieses  als  resorbirendes  dem  lymphatischen  System  beigege- 
bc  1  ist,  beruhen.  Dadurch  werden  nämlich  theils  die  den 
Harnstoff  constituirenden ,  hyperanimalischen  Stoffe  nicht 
aulgesogen  und  im  Blute  zurückgehalten,  theils  die  in  den 
Nahrungsmitteln  enthaltenen  zuckerartigen,  zur  Aniinalisa- 
tion  nicht  geeigneten  Produkte  vom  Lymphgefäfssystcme 
aufgenommen,  in  den  Kreislauf  gebracht  und  so  den  Nieren 
zugeführt.  Da  nun  aber  die  Thätigkeit  der  Venen  nur  von 
dem  Nervensysteme  abhängen  kann,  so  ist  auch  eine  Ver¬ 
nichtung  der  veuö  eu  Resorption  nicht  denkbar,  es  sei  denn 
bei  bestehender  Lähmung  desjenigen  Theiles  des  automati¬ 
schen  Nervensystems,  welcher  dem  venösen  Systeme  ent- 


IV.  Diabetes  mellitus. 


315 


spricht,  Jem  negativen  Pole  de  ;elK  ;.  Dafs  nämlich  eine 
Lähmung  des  einen  Pols  einer  bestimmten  Sphäre  des  Ner¬ 
vensystems  bei  bestehender  Integrität  der  andern  bestehen 
könne,  beweisen  analoge  Erscheinungen  zur  Genüge,  ln- 
dels  kann  sieb  diese  Lähmung  nicht  über  den  negativen 
Factor  des  automatischen  Nervensystems  in  seiner  Totalität 
verbreiten,  sondern  sie  betrifft  nur  eben  denjenigen  Tbeil 
desselben,  welcher  dem  chylopoetischen  Systeme  zugetheilt 
ist.  Je  nachdem  aber  die  Lähmung  dieses  Theiles  einen 
gröfscren  oder  geringeren  Umfang  erreicht  hat,  werden 
auch  die  beiden  Hauptsymptome  der  Krankheit  in  quantita¬ 
tiver  und  qualitativer  Hinsicht  verschieden  sein.  Das  We¬ 
sen  der  Harnruhr  besteht  also  in  einer  Lähmung  der  venö¬ 
sen  Resorption,  in  einer  mehr  oder  weniger  verbreiteten 
Lähmung  des  negativen  Factors  des  automatischen  Nerven- 
system es,  in  sofern  dasselbe  der  Chylification  vorsteht. 
Demnach  gehört  der  Diabetes  zu  den  eigentlichen  Nerven¬ 
krankheiten,  und  kommt  der  Paralyse  am  nächsten  zu  ste¬ 
hen.  Da  auf  der  anderen  Seite  aber  auch  diese  Krankheit, 
als  die  Reproduction  vorzüglich  beeinträchtigend,  den  Grund 
zu  einer  allmähligen  Abzehrung  des  Körpers  legt,  in  wie¬ 
fern  das  letzte  Stadium  derselben  durch  eine  Febris  lenta, 
welche  zuletzt  in  eine  wahre  hectica  übergebt,  bezeichnet 
wird,  so  schliefst  sie  sich  eben  so  den  Zehrkrankheiten  an. 
Im  Systeme  gehört  sie  also  zur  Gattung  der  Tabes  ner¬ 
vosa,  da  die  bei  ihr  stattfindende  Abzehrung  das  Resultat 
einer  Störung  der  auf  die  Reproduction  influirenden  Ner¬ 
ventätigkeit  ist. 

Am  Schlüsse  dieses  Kapitels  fügt  der  Verf.  noch  seine 
Ansicht  über  die  Natur  des  Diabetes  insipidus,  und  das  Ver- 
hältnifs  desselben  zur  Honigharnruhr  hinzu.  Da  er  den 
Mangel  an  Ausscheidung  des  Harnstoffs,  welcher  nach  ihm 
beim  Diabetes  insipidus  nur  in  sehr  geringer  Quantität  vor^ 
banden  sein  soll,  einer  Lähmung  des  negativen  Pols  der 
automatischen  Sphäre  des  Nervensystems  zuschreibt,  so 
kommt  der  Diabetes  insipidus  nach  ihm  in  seinem  Grund- 


31G  IV.  D  iabctcs  mellitus. 

wesen  durchaus  mit  dem  Diabetes  mellitus  überein,  und  ist 
nur  dadurch  von  ihm  unterschieden,  dafs  bei  jenem  der 
Theil  des  grofsen  sympathischen  Nerven,  welcher  der  Gby- 
lification  vorsteht,  in  vollkommener  Integrität  besteht. 

E^  ist  wohl  sehr  natürlich,  dals  die  vom  Verf.  in  die¬ 
sem  dritten  Kapitel  aufgestellte  Ansicht  über  die  Pathogcnie 
der  Harnruhr  nur  so  lange  bestehen  kann,  als  die  physio¬ 
logischen  'S  ordersätze,  auf  welche  sie  sich  stützt,  richtig 
sind.  l\ef.  glaubt  aber  doch  schon  oben  darauf  aufmerksam 
gemacht  zu  haben,  wie  ihnen  mindestens  keine  allgemeine 
Gültigkeit  zukomme,  und  wie  wir  sie  noch  keinesweges  als 
über  allen  Zweifel  erhaben  ansehen  können.  Nehmen  wir 
also,  wie  billig,  für  den  Augenblick  ihre  Richtigkeit  an 
und  sehen  nach,  ob  die  vom  Verf.  auf  sie  gebauete  Patho- 
genie  der  Harnruhr  alle  Erscheinungen  dieser  Krankheit 
zwanglos  erkläre.  Ref.  hat  in  solcher  Hinsicht  besonders 
folgende  Punkte  zu  erörtern:  1)  Wenn  der  Verf.  als  das 
Resultat  seiner  Untersuchungen  den  Satz  aufstellt,  dafs  das 
Wesen  dfcr  Honigharnruhr  in  einer  Suspension  der»  Venen¬ 
resorption,  bedingt  durch  Lähmung  des  dieselbe  reguliren- 
den  Nervensystems  bestände,  so  ist  damit  nur  der  Gat¬ 
tungsbegriff  für  eine  Krankheitsg  r  u  p  p e,  nicht  eine 
Deutung  des  Wesens  einer  einzelnen  Krankheit,  und  zwar 
der  Honigharnruhr  gewonnen,  und  dieses  zwar,  wie  es 
Rcf.  scheint,  in  doppelter  Hinsicht.  Einmal  nämlich  fra¬ 
gen  wir:  Wie  geschieht  es,  dafs  auf  diese  Weise  nur  die 
Zuckerhaltigen  Restandtbeile  aus  den  Nahrungsmitteln 
in  den  Urin  abgeschieden  werden,  und  wo  bleiben  die  aus 
den  Nahrungsmitteln  in  den  Chymus  und  Ghylus  aufgenoin- 
menen  anderweitigen  Restandtheile,  da  sie  sich  doch,  als 
ob  die  Venenresorption  vollkommen  normal  von  statten 
ginge,  auf  keine  Weise  zu  erkennen  geben?  Zweitens  aber: 
Warum  wird  der  Zucker  in  der  Honigharnruhr  gerade  den 
Nieren,  und  nur  ihnen  allein,  zugeführt,  da  doch,  wo 
nur  immer  eine  Ausscheidung  erfolgt,  nach  des  Verf.  An¬ 
sicht  Zucker  in  dem  Ausgeschicdeueu,  z.  R.  im  Lungen- 


I 


I\.  Diabetes  mellitus. 


317 


auswurfe,  de m  Speichel  u.  s.  w.  vorhanden  sein  miifstef 
Wir  haben  in  der  Tnat  durch  die  vom  Verf.  auf  physio¬ 
logischem  Wege  gewonnene  Pathogenie  einer  Krankheit 
nur  eine  für  eine  Gruppe  von  Krankheiten  gewonnen. 
Dann  nämlich  würden  wir  einestheils  einsehen,  wie  die 
Zustände,  welche  man  als  Lienteria  urinalis,  als  Chyluria, 
Coeliaca  urinalis,  Diabetes  chylosus,  Urina  pultacea  u.  s.  w.  — 
nichts  als  vorübergehende  pathologische  Erscheinungen,  son¬ 
dern  als  bleibende  Krankheitsprozesse  —  bezeichnet,  und 
an  deren  Existenz  die  neuere  Zeit  meistens  mit  Unrecht 
gezweifelt  hat,  wirklich  existiren  können;  andererseits  aber 
würde  dann,  wenn  wir  die  localen  und  topischen  Bezie¬ 
hungen  der  Absonderung  zu  den  einzelnen  Absonderungs¬ 
organen  des  Organismus  auffassen,  die  Harnruhr  neben  den 
Krankheiten  zu  stehen  kommen,  wo  zuckerstoffige  Bestand¬ 
teile  unter  bedeutender  Abmagerung  durch  andere  Excre- 
tionsorgane  aus  dem  Organismus  entfernt  werden,  wie 
Knebel  mehre  hierher  gehörige  Beispiele  gesammelt  hat. 
Alien  hierher  gehörigen  Krankheitszuständen  würden  näm¬ 
lich  nur  zwei  Grundsymptome:  Absonderung  eines  dem 
Organismus  sonst  fremden,  durch  eine  fehlerhafte  Chylifi- 
cation  producirten  Stoffes  und  dadurch  zugleich  bedingte 
Abmagerung  des  Körpers  zukommen,  denn  dafs  z.  B.  der 
Durst  der  Harnruhr  als  wesentliches  Symptom  nur  deshalb 
zukommt,  weil  dieser  Stoff  hier  durch  die  Nieren  ausge¬ 
schieden  wird,  liegt  wohl  am  Tage.  Für  die  Ermittelung 
und  Feststellung  aller  hierher  gehörigen  Krankheitsarten 
bliebe  zunächst  der  Chemie  ein  grofses,  bis  dahin  nur  noch 
sehr  dürftig  bearbeitetes  Feld  übrig.  Somit  wären  wir  in 
Gebiete  gelangt,  welche  beinahe  jenseits  der  Gränzen  un¬ 
serer  bisherigen  Erfahrungen  liegen;  wir  kehren  zurück, 
gestatten  dem  Verf.  die  Anwendung  des  Gattungsbegriffes 
auf  diese  eine  Krankheit,  und  sehen  zu,  ob  sie  in  ihm 
ihre  volle,  ungezwungene  Deutung  findet.  Es  handelt  sich 
also  2)  zunächst  darum,  ob  die  beiden  vom  Verf.  aufge¬ 
stellten  hauptsächlichsten  und  pathognomonischen  Symptome 


318 


IV.  Diabetes  mellitus. 


der  Harnruhr,  nämlich  das  VorhamJUmsein  einer  /uckerarti¬ 
gen  Materie  im  Harne,  und  die  gänzliche  Abwesenheit  oder 
mindestens  das  geringere  Quantum  von  Harnstoff  in  dem¬ 
selben  durch  die  von  ihm  aufgestellte  Pathogcnic  der  Krank¬ 
heit  einsichtlich  werden.  Abgesehen  also  von  mehren  Punk¬ 
ten,  die  hier  zur  Erörterung  kommen  miifsten,  die  sich 
aber  schon  aus  dem  zuerst  aufgestellten  Satze  ergeben^ 
z.  B.  woher  es  komme,  dafs  bei  Suspension  der  \  enenre- 
sorption,  durch  welche  eine  Läuterung  des  Chylus  bedingt 
werden  soll,  gerade  nur  zuckerhaltige  Bestandteile  in  «las 
Blut  gelangen,  abgesehen  also  von  diesem  und  anderen 
Punkten  bemerken  wir  besonders  folgendes:  a)  ln  dem  dia¬ 
betischen  Urine  findet  sich  bestimmt  ein  grüfseres  Quan¬ 
tum  von  Zuckerstoff,  als  in  dem  aufgenommenen  Inge^tis. 

Der  Verf.  erkennt  diesen  Einwand  zwar  an  und  verwahrt 

§ 

sich  gegen  ihn,  aber  auf  eine  Weise,  die  lief,  nicht  recht 
einsichtlich  ist.  Er  sagt  nämlich  S.  34:  «Man  darf,  was 
die  Quantität  des  Zuckers  im  Haine  betrifft,  nicht  überse¬ 
hen,  wie  sehr  bei  dem  angedeuteten  krankhaften  Zustande 
die  Verdauung  alterirt  sein  n.ufs,  und  vorzüglich  wie  sehr 
die  Verdauungssäfte  bei  einer  so  fehlerhaften  Krasis  des 
Blutes  alterirt  sein  müssen.  Wenn,  wie  eigene  Beobach¬ 
tung  mich  gelehrt  hat,  die  Galle  eines  an  der  Harnruhr 
Verstorbenen  sauer  rcagirte,  so  ist  es  leicht  erklärlich,  dafs 
die  lngesta  eine  Art  von  Fermentation  eingeben  mögen, 
indem  sie  durch  fehlerhafte  Quantität  der  Verdauungssäfte, 
vielleicht  schon  in  der  Mundhöhle,  durchaus  nicht  zu  irgend 
einer  Art  von  Assimilation  vorbereitet  worden  sind,  und 
dafs  die  in  denselben  enthaltenen  vegetabilischen  Stoffe  durch 
Zumischung  der  hyperoxydirten  Darmsäfte  eine  aufseror- 
dentliche  Menge  von  Schleimzucker  entwickeln. n  Gegen 
diese  Argumentation  des  Verf.  läfst  sich  indefs  manches  mit 
Recht  einwenden.»  Wie  sehr  auch  in  vielen  Fällen  des 
Diabetes  die  Digestion  leiden  mag,  wie  oft  auch  Zufälle, 
welche  durch  das  Vorhandensein  vermehrter  Magensäure 
bediogt  werden,  vorhanden  sein  mögen,  so  ist  solches  in 


IV.  Diabct  es  mellitus. 


319 


vielen  Fällen  durchaus  nicht  der  Fall,  und  die  Digestion 
geht  vollkommen  normal  von  statten.  Wo  aber  auch  diese 
Zufälle  vorhanden  sind,  so  zeigen  sie  sich  besonders  am  An¬ 
fänge  und  beim  Beginnen  der  Krankheit,  nicht  im  weiteren 
Verlaufe  derselben,  wie  solches,  wenn  sie  nach  dem  Verf. 
durch  eine  fehlerhafte  Krasis  des  Blutes  bedingt  wurden, 
der  Fall  sein  müfste:  es  konnte  also  durch  sie  die  Quan 
tität  des  Zuckers  erst  im  späteren  Verlaufe  der  Krapkheit 
vermehrt  werden,  da  doch  solches  eben  nicht  der  Fall  zu 
sein  scheint.  Endlich  ist  es  noch  sehr  zu  bezweifeln,  ob 
die  von  Kirchhof  gemachte  Entdeckung,  vermittelst  wel¬ 
cher  aus  Stärkemehl,  das  mit  hinlänglichem  Wasser  ange- 
rührt  ist,  durch  Zusatz  von  Schwefelsäure  Zucker  ausge¬ 
schieden  wird,  worauf  bekanntlich  Haase  seine  Theorie 
der  Harnruhr  baut ,  und  die  der  Verf.  im  Wesentlichen  in 
sofern  wenigstens  benutzt,  um  daraus  ein  gröfseres  Quan¬ 
tum  von  Zucker  im  Urine  zu  erklären,  als  durch  die  Nah¬ 
rungsmittel  aufgenommen  wird,  im  lebenden  Körper  sich 
bestätigt.  Es  scheinen  mindestens  einige  Beobachtungen 
dagegen  zu  sprechen.  So  bemerkt  Sharkey  (vergl.  die 
Salzb.  med.  chir.  Zeitung.  Jahrg.  1826.  Bd.  I.  S.  72.),  dafs 
er  nicht  gefunden  habe,  dafs  solche  Nahrungsmittel,  welche 
viel  Zuckerstoff  enthalten,  oder  die  weinigte  Gährung  ein- 
gehen,  das  Uebel  verschlimmert  hätten.  b)  Gemäfs  der 
vom  Verf.  aufgestellten  Pathogenie  der  Harnruhr,  müfste 
im  Blute  Diabetischer  Zucker  enthalten  sein.  Wenn  der 
Verf.  dagegen  bemerkt,  dafs  noch  zu  wenig  genaue  Analy¬ 
sen  mit  dem  Blute  Diabetischer  angestellt  worden,  um  hier¬ 
über  etwas  Bestimmtes  behaupten  zu  können,  so  dürfte  ihm 
vielleicht  entgangen  sein,  wie  ausgezeichnete  Chemiker  in 
der  neuesten  Zeit  das  Blut  Diabetischer  untersucht  und 
durchaus  keinen  Zuckergehalt  in  ihm  gefunden  haben,  so 
namentlich  Vauquelin  und  d’Etchep^re  (s.  Froriep’s 
Notizen  Bd.  IX.  S.  192.  Harlefs  rheinisch- westpbälische 
Jahrb.  Bd.  111.  St.  3.  S.  106.  v.  Gräfe’s  und  v.  Wai¬ 
th  er’s  Journal  Bd.  VII.  S.  669.),  ein  Resultat,  welches 


320 


IV.  Diabetes  mellitus. 


mit  den  früheren  Untersuchungen  von  Prout,  Nicolas 
und  Guedeville,  Wo  1  las  ton  u.  a.  vollkommen  überein- 
stimmt,  wenngleich  auch  lief,  kelneswegcs  verhehlen  will, 
wie  nach  einigen  älteren  Untersuchungen  wirklich  Zucker 
im  Blute  vorhanden  gewesen  sein  soll.  Wenn  der  Verf. 
später  aber  annimmt,  dafs  der  Zucker  im  Blute  vielleicht 
auch  latent  sein  könne,  und  gleich  dem  Harnstoffe  auch 
die  im  Blute  vorhandenen,  den  Zucker  bildenden  Grund¬ 
stoffe  erst  durch  wahlverwandtschaftliche  Attractionskraft 
der  Nieren  dem  damit  überschwängerten  Blute  entzogen 
werden  und  so  erst  im  Urine  als  gebildeter  Zucker  erschei¬ 
nen  könne,  so  sprechen  dafür  allerdings  manche  analoge 
Erscheinungen,  und  Kef.  möchte  in  dieser  Deutung  dem 
Verf.  vollkommen  beitreten,  wenn  aijch  der  Vergleich  mit 
dem  Harnstoffe,  als  einer  aus  dem  Blute  zu  bildenden 
Substanz,  nicht  pafst.  Alsdann  aber  hätte  der  Verf.  jeden¬ 
falls  den  Nieren  einen  gröfseren  Antheil  an  der  Krankheit 
zuschreiben  müssen,  als  er  thut.  Seite  28  nämlich  be¬ 
hauptet  er,  dafs  die  Verminderung  des  Harnstoffs  im  diabe¬ 
tischen  Urine,  und  noch  viel  weniger  das  Vorhandensein 
des  Zuckerstoffs  in  demselben,  in  einer  perversen  Thätig- 
keit  der  Nieren  liegen  könne.  Die  Gründe,  welche  der 
Verf.  für  diese  Annahme  anführt,  scheinen  dem  lief.,  wel¬ 
cher  indefs  weit  entfernt  ist,  die  Harnruhr  etwa  blofs  in 
einer  Krankheit  der  Nieren  zu  suchen,  unzureichend,  wie 
er  überhaupt  glaubt,  dafs  der  Verf.  den  Antheil,  welchen 
die  Nieren  an  der  Entstehung  ^dieser  Krankheit  haben,  zu 
wenig  berücksichtigt  hat.  Die  Gründe  aber,  welche  der 
Verf.  für  jene  Behauptung  aufstellt,  sind  folgende:  «Der 
Grund  derv  Verminderung  dieser  Ausscheidung,  >»  sagt  er, 
«  kann  nicht  wohl  in  einer  perversen  Thätigkeit  der  Nieren 
liegen,  da,  wenn  dieses  der  Fall  wäre  und  wir  annehmen 
wollten,  dafs  durch  eine  solche  die  Nieren  die  in  llede 
stehenden  Stoffe  aus  dem  Blute  auszuscheiden  unfähig  wä¬ 
ren,  der  Harnstoff  durchaus  fehlen  müfste.  ”  Einmal  existi- 
ren  allerdings  Analysen  diabetischen  Urins,  in  welchem 
—  *  durch- 


IV.  Diabetes  mellitus. 


32 1 

durchaus  kein  Harnstoff  vorhanden  war  (woher  es  auch 
wohl  kommen  mag,  dafs  viele  Chemiker  ehedem  die  Anwe¬ 
senheit  dieses  Stoffes  im  diabetischen  Urine  leugneten,  wie 
z.  B.  John,  Fourcroy,  Nico  los,  Guedeviile  u.  a., 
so  dals  noch  neuerlich  Harlefs  in  seinem  Handbuche  der 
«ärztlichen  Klinik  Bd.  III.  S.  144  die  Abwesenheit  des  Harn¬ 
stoffs  als  eine  Eigentümlichkeit  des  Diabetes  aufführte); 
sodann  aber  ist  es  auch  durchaus  nicht  einsichtlich ,  dafs 
nicht  bei  perverser  Thätigkeit  eines  Organs  die  durch  das¬ 
selbe  bedingte  Secretion  quantitativ  verringert  sein  konnte, 
ohne  dafs  sie  völlig  aufgehoben  wäre.  Was  aber  die  Gründe 
anlangt,  welche  der\erf.  für  die  Behauptung  aufstellt,  dafs 
der  Schleimzucker  in  den  Nieren  nicht  erzeugt  werden 
könne,  so  scheinen  diese  dem  Ref.  nicht  minder  unzu¬ 
reichend.  Der  Verf.  sagt  nämlich,  dafs  der  Schleimzucker 
deshalb  nicht  Produkt  einer  alienirten  Thätigkeit  der  Nie¬ 
ren  sein  könne,  weil  man  bestimmt  beobachtet  habe,  dafs 
bei  Diabetischen,  wenn  dieselben  auf  absolut  animalische 
Kost  gesetzt  wurden,  der  Zucker  im  Harne  verschwinde. 
Einmal  ist  das  aufgestellte  Factum  wohl  noch  nicht  so  be¬ 
stimmt  erwiesen,  als  der  Verf.  annimmt,  wenn  es  gleich 
über  allen  Zweifel  fest  steht,  dafs  bei  absolut  animalischer 
Nahrung  der  Zuckergehalt  im  Urine  abnimmt.  Wenn  jenes 
aber  auch  der  Fall  wäre,  womit  beweiset  der  Verf.,  dafs 
dadurch  nicht  zugleich  auch  die  Thätigkeit  der  Nieren  ver¬ 
ändert  werde,  dafs  das  Secretum  nicht  ein  anderes  werden 
müsse,  da  es  das,  aus  dem  secernirt  wird,  geworden. 
Andererseits  hat  man  aber  auch  Fälle  beobachtet,  wo  der 
Zucker  im  Urine  auf  eine  Zeitlang  verschwand,  ohne  dals 
man  den  Kranken  animalische  Kost  gegeben  hätte,  woraus 
wenigstens  folgt,  dafs  das  Vorhandensein  desselben  minde¬ 
stens  nicht  allein  den  vom  Verf.  aufgestellten  Grund 
hat.  c)  Das  geringere  Quantum  des  Harnstoffs  endlich, 
welches  sich  im  diabetischen  Urine  findet,  lälst  der  Verf. 
durch  die  bei  Suspension  der  Venenresorption  erfolgte  Zu¬ 
rückhaltung  dieses  Stoffes  im  Organismus  entstehen.  Es  ist 

21 

* 


xiv.  b<j.  a.  s». 


IV.  Diabetes  mellitus. 


erstlich  aber  wohl  noch  zweifelhaft ,  ob  in  den  meisten  Kil¬ 
len  eine  absolut  geringere  Quantität  desselben  nusgeschieden 
wird,  oder  ob  dieses  nur  in»  Verhältnisse  zu  dem  grölseren 
Quantum  wässeriger  Bestandteile  der  hall  ist.  Betrachten 
wir  aber  demnächst  andere  Krankheiten,  in  denen  ebenfalls 
eine  geringere  Quantität  von  Harnstoff  als  im  natürlichen 
Zustande  ausgeschieden  wird,  wie  z.  15.  bei  hysterischen 
Anfällen  (s.  Uruikshank  bei  Rollo  und  Friedrich  in 
seinem  Handbuchc  der  animalischen  Stöehiologie  S.  3*24.), 
so  treffen  wir  hier  auf  Momente,  welche  den  vom  Yerf. 
aufgestellten  Grund  für  die  geringere  Quantität  dieses  Stof- 
fes  in  der  Harnruhr  zweifelhaft  machen.  3)  Was  nun  end¬ 
lich  die  Ansicht  des  Yerf.  über  die  Natur  des  Diabetes  in¬ 
sipidus  und  das  Verbältnifs  desselben  zur  Honigbarnrultr 
anlangt,  so  kann  sich  Ref.  in  der  Reurtheilung  desselben 
kurz  fassen.  F-s  ist  nämlich  wohl  ganz  gewifs,  dafs  unter 
der  Benennung  des  Diabetes  insipidus  bis  dahin  die  verschie¬ 
densten  Krankheitsformen,  die  theils  wirkliche  Krankheiten, 
t Heils  nur  Krankheitssymptome  sein  mögen,  beschrieben 
worden  sind.  Ref.  hat  sich  lange  die  vergebliche  Mühe 
gegeben,  die  vielen  hierher  gehörigen  Fälle  zu  sammeln, 
mit  einander  zu  vergleichen  und  auf  specifische  Differenzen 
zurückzufuhren.  Das  Resultat  seiner  Untersuchungen  ist 
indessen  bis  dahin  noch  sehr  mangelhaft  gewesen,  da  die 
meisten  hierher  gehörigen  Beobachtungen  sehr  ungenau  er¬ 
zählt  sind,  und  was  besonders  zu  bedauern,  die  chemische 
Analvse  eines  solchen  Urins  nur  in  sehr  wenigen  Fällen 
mitgetheilt  worden  ist.  Linen  um  so  grölseren  Dank  ver¬ 
dient  daher  der  Verf.  für  die  genaue  Mittheilung  eines 
hierher  gehörigen  Falles,  welchem  geniäfs  er  den  Diabetes 
insipidus  als  die  Krankheit  bestimmt,  welche  in  der  Abson¬ 
derung  eines  quantitativ  bedeutend  vermehrten  und  quali¬ 
tativ  durch  geringeren  Gehalt  an  Harnstoff  ausgezeichneten 
•Urins  besteht.  Diesen  Diabetes  insipidus  stellt  der  Verf. 
der  Harnruhr  nabe,  indem  er  nach  ihm  in  seinem  Grund¬ 
wesen  mit  dem  Diabetes  mellitus  überein  kommt,  nur  mit 


32.3 


\ 


IV.  Diabetes  rnel I i tu s. 

dem  Unterschiede,  «lafs  bei  ihm  der  Theil  des  grofsen  sym¬ 
pathischen  Nerven,  welcher  <ler  Chylopoese  vorsteht,  in 
vollkommener  Integrität  besteht.  Ob  die  sonst  als  Diabetes 
insipidus  mitgetheilten  Fälle  hierher  gehören,  ist  bei  der 
grolsen  Verschiedenheit ,  die  unter  ihnen  obwaltet,  sehr  zu 
bezweifeln.  Ob  aber  derselbe  überhaupt  als  eine  eigene 
Krankheitsform  anzuerkennen  sei,  ob  er  nicht,  wie  schon 
Dabson,  Coindet  u.  a.  behauptet  haben,  in  der  Mehr¬ 
zahl  der  Fälle  mindestens  zur  Ilonigharnruhr  gehöre  (da 
bei  dieser  bekanntlich  inlercurrirend  Zeiten  Vorkommen, 
wo  kein  Zuckerstoff  im  Urine  vorhanden  ist  (s.  Bo  stock 
in  den  Medico  -  chirurg.  tiansact.  of  the  med.  and  chir.  soc. 
Vol.  III.  p.  116.);  ob  er  endlich  in  anderen  Fällen  nicht 
nur  ein  blofses  Symptom  mancher  Krankheiten,  wie  z.  B, 
Bef.  schon  oben  in  dieser  Hinsicht  der  Hysterie  gedacht 
hat,  sein  möge  —  das  alles  müssen  spätere  Beobachtungen 
erst  ermitteln. 

Bis  dahin  hatte  der  Verf.  nur  die  Hauptsymptome  der 
Harnruhr,  den  Gehalt  eines  zuckerartigeu  Stoffes  im  Urine 
und  die  geringere  Quantität  von  Harnstoff  in  demselben, 
aus  der  Pathogenie  der  Krankheit  erläutert.  Soll  diese 
aber  allen  Anforderungen  genügen,  so  rtiufs  sie  es  unter¬ 
nehmen,  alle  wesentlichen  Symptome  der  Krankheit  her¬ 
zuleiten  und  in  ihrer  Natur  zu  deuten.  In  solcher  Aner¬ 
kennung  handelt  der  Verf.  im  vierten  Kapitel  von  den  Zei¬ 
chen  des  Diabetes  mellitus  und  von  den  denselben  beglei¬ 
tenden  Symptomen  insbesondere.  Die  für  die  Beurtheilung 
dieses  Werkes  gesteckten  Gränzen  erlauben  es  dem  Ref. 
nicht,  in  eine  specielle  Prüfung  der  einzelnen  Symptome 
einzugehen,  die  auch  um  so  überflüssiger  ist,  da  es  ihm 
vielleicht  gelingen  könnte,  ein  einzelnes  Symptom  einfacher, 
als  es  vom  Verf,  geschehen  ist,  zu  deuten,  ein  solches 
Unternehmen  aber  auf  die  ganze  Arbeit  ohne  Einflufs  ist. 
Denn  ungezwungen  und  folgerecht  sollen  sich  alle  wesent¬ 
lichen  Symptome  aus  der  au fgesf eilten  nächsten  Ursache 
ergeben,  und  nur  wenn  wir  die  Deutung  eines  Symptoms 

21  *  ' 


s 


IV.  Diabetes  mellitus. 


324 

einem  anderen  widersprechend  finden  sollten,  oder  wenn 
die  Erklärung  aller  gesucht  scheinen  sollte,  dürften  wir  zu 
Zweifeln  gegen  die  vom  \crf.  aufgestelltc  Pathogenie  ver- 
anlafst  werden.  Der  Verf.  beginnt  mit  einem  der  constan- 
testen  Symptome,  mit  der  quantitativen  'S  ermehrung  des 
Urins.  l)a  die  Krankheit,  sagt  er,  auf  Lähmung  der  venö¬ 
sen  Resorption  beruht,  so  niufs  auch  die  positive,  arterielle 
Sphäre  dc-r  Reproduction  alienirt,  das  lymphatische  System 
in  seiner  Thätigkeit  als  resorbirendes  gesteigert,  und  die 
Wärmeentwickelung  vermindert  sein.  Unter  solchen  Um¬ 
ständen  mufs  aber  auch  ein  grofser  Theil  der  serösen  Flüs¬ 
sigkeiten,  welche  in  Dunstform  während  des  Actes  der  Re¬ 
production  ausgeschieden  werden  sollten,  sogleich  wieder 
als  tropfbarflüssig  von  dem  Lymphgefäfssysteme  aufgesogen 
und  in  den  Kreislauf  zurückgerührt  werden,  wodurch  of¬ 
fenbar  ein  Ueberschufs  von  serösen,  durch  den  Urin  aus¬ 
zuleerenden  Flüssigkeiten  entstehen  mufs.  Diese  Vermeh¬ 
rung  wird  aber  um  so  gröfser  sein,  je  weiter  sich  die  Läh¬ 
mung  der  venösen  Resorption  auf  den  peripherischen  Theil 
des  grofsen  sympathischen  Nerven  erstreckt.  Dafs  dieses 
erste,  vom  Verf.  angegebene  Moment,  die  quantitative  Ver¬ 
mehrung  des  Urins  zu  erklären,  wohl  nicht  vollkommen 
ausreicht,  dürfte  vielleicht  nicht  bezweifelt  werden;  wenn 
anders  auch  die  physiologischen  Prämissen,  auf  welche  es 
sich  stützt,  richtig  wären;  das  zweite  macht  es  allerdings 
cinsichtlich ,  wie  durch  die  unterdrückte  Exhalation  der 
Haut,  die  doch  durch  Lähmung  der  Hautnerven  entstehen 
mufs,  allerdings  eine  gröfsere  Absonderung  wässeriger  Be¬ 
standteile  durch  den  Urin  erfolgen  kann.  Da  aber  der 
Verf.  jene  erst  im  späteren  V  erlaufe  der  Krankheit  annimmt, 
so  könnte  dadurch  auch  nur  erst  später  eine  stärkere  Urin¬ 
absonderung  erklärt  werden.  Ob  aber  der  Verf.  überhaupt 
nicht  den  Antheil  der  llautthätigkeit  in  der  Pathogenie  der 
Honigharnruhr  zu  wenig  berücksichtigt,  wird  Ref.  später 
noch  zu  bemerken  Gelegenheit  finden.  —  Durst.  Nach¬ 
dem  der  Verf.  mehre  Ursachen  des  Durstes  angegeben,  die 


I 


IV.  Diabetes  mellitus.  325 

•  % 

Anwendung  derselben  aber  auf  unsere  Kranklieit  als  unpas¬ 
send  abgelehnt  hat,  Jäfst  er  sich  über  die  Natur  des  Dur¬ 
stes  in  der  Harnruhr  also  aus:  Mit  der  Lähmung  der  Venen¬ 
resorption  in  den  chylopoetischen  Gebilden,  sagt  er,  steht 
die  Retention  eines  hyperanimalisirten,  höchst  scharfen,  am- 
moniacalischen  Stoffes  in  Verbindung.  Dieser  aber  rei/.t 
den  Darmkanal  und  alle  Fortsetzungen  der  Schleimhaut 
desselben,  und  wirkt  auf  die  Gefühlssphäre  derselben  nach¬ 
theilig  ein,  wodurch  die  Sensation  des  Durstes  hervorge¬ 
bracht  wird,  der,  da  im  Diabetes  dieser  Stoff  nicht  ergos¬ 
sen,  sondern  im  Gewebe  der  Gebilde  zurückgehalten  wird, 
dauernd  und  unauslöschlich  ist.  Eine  ähnliche  Erklärung 
findet  die  in  vielen  Fällen  der  Harnruhr  vorkommende  Ver¬ 
mehrung  des  Appetits  und  das  Brennen  in  den  Präcordien. 
Das  erste  dieser  beiden  Symptome  erklärt  der  Verf.  näm¬ 
lich  aus  dem  Reize,  welchen  der  hypcroxydirte  Magensaft 
auf  die  Magenwände  ausübt,  wodurch  das  Gefühl  des  Hun¬ 
gers  erregt  wird;  das  letzte  aber  von  dem  Reflexe  des 
zurückgehaltenen  stickstoffhaltigen  Auswurfsstoffes  auf  die 
Gefühlsnerven  des  Gentraltheiis  des  Gangliensystems.  Miifs- 
ten  diese  Symptome  aber  alsdann  nicht  in  cbenmäfsiger 
Verbindung  mit  einander  stehen,  da  solches  doch  nicht  der 
Fall  ist?  Während  der  Durst  beinahe  in  keinem  einzigen 
Falle  eines  wahren  Diabetes  fehlt,  ist  die  Vermehrung  des 
Appetits  ein  seltener  vorkommendes,  oft  mit  Abneigung 
gegen  Speisen  abwechselndes  Symptom,  das  Brennen  in  der 
Präcordialgegend  überhaupt  aber  wohl  nur  selten  beobach¬ 
tet  worden.  Was  aber  namentlich  den  Durst  anlangt,  so 
dürften  zu  seiner  Entstehung  leicht  mehre  Momente  mit- 
vvirken,  indem  wir  überall  da,  wo  Flüssigkeiten  dem  Kör¬ 
per  rasch  entzogen  werden,  ihn  entstehen  sehen,  damit  das 
gestörte  Gleichgewicht  ausgeglichen  werde;  ein  Fall,  der 
auch  für  den  Diabetes  seine  Anwendung  findet.  —  Eine 
qualitative  Veränderung  der  Darmausleerungen  dem  Gerüche 
nach,  welches  Symptom  zuerst  Rollo  beobachtet  und  auch 
der  Neri,  bestätigt  gefunden  hat,  leitet  ei  von  der  Beten- 


IV.  Dia!  >rtes  mellitus. 


326 

1  io ii  eines  stickstoffigen ,  hvperanimalisirlen  Stoffes  ab,  wel¬ 
cher,  dem  Harnstoffe  analog,  im  unterm  I  heile  des  Darm- 
kanals  ausgeschieden  werden  soll.  Die  Ansicht  des  Verf. 
allerdings  sehr  bestätigend,  ist  seine  Beobachtung,  dafs  in 
demselben  Grade,  als  mehr  oder  weniger  Harnstoff  im  Urine 
vorhanden  war,  auch  dieses  Symptom  mehr  oder  minder 
bemerkbar  wird.  Wenn,  wie  der  \  erf.  bemerkt,  im  Dia¬ 
betes  eine  anomale  Beschaffenheit  der  Galle  statt  findet,  so 
dafs  sie  sauer  reagirt,  so  dürfte  auch  wohl  dieser* Umstand 
von  Einflufs  auf  die  genannte  Veränderung  der  Darmexcrete 
sein.  —  Das  Gefühl  von  Kntkräftung  erklärt  sich  zwar 
schon  aus  der  in  der  Harnruhr  unvollkommenen  lNutrition. 
Da  cs  aber  keinesweges  in  einem  gleichen  Verhältnisse  mit 
der  Abmagerung  des  Körpers  steht,  so  müssen  noch  andere 
Momente  zu  seiner  Entstehung  mitwirken.  Als  solche  er¬ 
kennt  der  Verf.  die  Weiterverbreitung  des  lähmungsartigen 
Zustandes  des  Gangliensyslems  auf  die  Biickenmarksnerven, 
die  Betention  eines  hyperanimalisirten  Stoffes  und  die  in 
Folge  des  letzten  Moments  sich  ausbildendc  Abdominalple¬ 
thora  und  Unthätigkeit  des  Darmkanals  an.  Auf  eine  ähn¬ 
liche  VV  eise  erklärt  auch  der  V  erf.  das  Gefühl  von  Kälte, 
welches  die  Kranken  theils  in  den  unteren  Extremitäten, 
ihcils  in  der  Eumbargegend  und  dem  Epigastrio  empfinden, 
so  wie  die  Schmerzen,  welche  sie  im  Kreuze  und  in  den 
Extremitäten  empfinden.  —  Die  Unterdrückung  der  Ge¬ 
schlechtsfunctionen  leitet  der  Verf.  von  der  durch  Eähmung 
der  Venenresorption  verhinderten  Aufsaugung  des  Fettes, 
aus  welchem  nach  seiner  Meinung  der  Saarne  secernirt  wer¬ 
den  soll,  her.  Gewifs  eine  in  jeder  Hinsicht  sehr  gewagte, 
auf  schwer  zu  erweisende  physiologische  Vordersätze  ge¬ 
stützte  Ansicht,  da  doch  die  Deutung  dieses  Symptoms  hei 
dieser  Krankheit  mindestens  ungleich  natürlicher  und  ein¬ 
facher  theils  aus  der  allgemeinen  Tabes,  theils  aus  dem 
lähmungsartigen  Zustande,  in  welchem  sieb  die  l  nter- 
leibs-  und  Biickenmarksnerven  befinden,  bergeieitel  werden 
konnte.  —  Was  die  auf  der  Haut  erscheinenden  Symptome, 


S 


IV.  Diabetes  mellitus. 


327 


nämlich  die  Trockenheit  und  Mangel  an  Ausdünstung  der¬ 
selben,  ihre  mehlartige  Abschuppung  und  den  oft  bemerk¬ 
ten  flechtenartigen  Ausschlag  auf  derselben  anlangt,  so 
glaubt  der  Verf. ,  dafs  diese  Symptome  auf  eine  doppelte 
Weise  entstehen  können,  einmal  durch  ein  directes  Leiden 
der  Haut,  wenn  die  Lähmung  des  negativen  Pols  des  auto¬ 
matischen  Nervensystems  sich  auch  über  den  ganzen  peri¬ 
pherischen  Theil  desselben  verbreitet,  indirect  aber,  wenn 
nur  der  i ^en tra Itheil  desselben  ergriffen  ist  und  somit  das 
Hautorgan  nur  in  sofern  in  seiner  Thätigkeit  verändert  ist, 
als  die  Absonderungen  desselben  vermöge  einer  alienirten 
Krasis  des  Blutes  selbst  verändert  werden.  Durch  gleiche 
Momente  läfst  der  Verf.  die  Veränderungen,  welche  wir  in 
der  Mundhöhle  Diabetischer  bemerken  und  die  veränderte 
Absonderung  auf  der  Vorhaut  und  Eichel  bedingt  werden. 
Wenn  der  Verf.  eine  unterdrückte  Hautthätigkeit  als  ein 
weniger  constantes  Symptom  im  Diabetes,  als  die  bis  dahin 
erwähnten,  ausgiebt,  so  thut  er  darin  offenbar  unrecht, 
ja  er  widerspricht  dieser  Behauptung  an  einer  anderen 
Stelle  (S.  174.)  zum  Theil  selbst.  Ref.  hat  dieses  Symptom 
in  den  meisten  der  von  ihm  zusammengestellten  Fälle  immer 
ausdrücklich  bemerkt  gefunden.  Meistens  ist  es  schon  zu 
Anfänge  vorhanden  und  leitet  die  Krankheit  ein,  ein  Um¬ 
stand,  wodurch  der  vom  Verf.  angeführte  Grund  des  di- 
recten  Erkranktseins  des  Hautorgans  widerlegt  wird.  Dafs, 
wenn  anders  die  physiologischen  Prämissen  des  Verf.  rich¬ 
tig  sind,  im  weiteren  Fortschreiten  der  Krankheit  auf  diese 
Welse  die  Hautthätigkeit  auch  noch  unterdrückt  werden 
könne,  ist  wohl  möglich,  gewifs  aber  geschieht  es  nicht 
durch  sie  allein.  Es.  scheint  überhaupt,  dafs  der  Verf.  auf 
die  Unterdrückung  der  Hautthätigkeit  in  der  Harnruhr  ein 
viel  zu  geringes  Gewicht  gelegt  hat,  indem  er  dieselbe  als 
ein  nur  zufälliges  Symptom  betrachtet  wissen  will,  da  sie 
gewifs  in  einer  bestimmten  Wesensverbindung  mit  der 
Krankheit  stellt,  und  die  vielen  Schriftsteller,  welche  den 
Diabetes  beinahe  allein  durch  eine  unterdrückte  Hauttliätig- 


\ 


328 


IV.  Diabetes  mellitus. 


keit  entstellen  lielsen,  z.  B.  Kitter  (in  II  u fclan d’s  Jour¬ 
nal  Kd.  XX.  St.  3,  S.  115,  und  später  in  Ilarlcls’s  rhein. 
Jahrb.  Kd.  I.  St.  2.  S.  88.),  Wolf  (in  Horns  Archiv 
Jahrg.  1818.  II.  <i.  S.  494.),  und  die  meisten  Engländer, 
und  unter  ihnen  namentlich  Marsh  (in  der  Samml.  auser¬ 
les.  Abhandl.  Tbl.  XXX.  S.  580.),  haben  in  sofern  minde¬ 
stens  recht,  dafs  sie  in  ihr  ein  sehr  zu  berücksichtigendes 
Moment  für  die  Entstehung  dieser  Krankheit  anerkannten. 
Selbst  der  günstige  Erfolg,  welchen  Mittel,  die  die  llaut- 
th'ätigkeit  befördern,  auf  diese  Krankheit  haben,  weiset  dar¬ 
auf  hin,  und  Neu  mann  hat  wohl  vollkommen  recht,  wenn 
er  (in  Hufeland  s  Journ.  Kd.  LV.  St.  1.  S.  63.)  sagt: 
eine  Bedingung  zur  Cur  des  Diabetes,  ohne  welche  sie  nie 
gelingen  kann,  ist  Wärme,  man  mufs  den  Kranken  nicht 
nur  vor  Erkältung  bewahren,  sondern  ihn  immer  in  einer 
Temperatur  von  16  —  18  Grad  Keaum.  leben  lassen  u. 
s.  w.  —  Dafs  die  Deutung  der  Abmagerung  des  Körpers 
aus  der  durchaus  gestörten  Assimilation  des  Cl.ylus  vollkom¬ 
men  genüge,  ist  wohl  sehr  natürlich.  —  Die  heisere 
Stimme,  ein  in  vielen  Fällen  vorkommendes  und  auch  vom 
Kef,  beobachtetes  Symptom,  erklärt  der  Yerf.  aus  einem 
alienirlcn  Einilusse  der  die  Stimme  moderirenden  Nerven.  — 
Was  nun  endlich  das  im  späteren  Verlaufe  des  Diabetes 
hinzutretende  Lungenleiden  anlangt,  so  kann  es  nach  dem 
Verf.  doppelter  Art  sein,  einmal  nämlich  ein  catarrhalischer 
Zustand  der  Lungenschleimhaut,  welcher  sich  bis  zu  wirk¬ 
licher  Schleimschwiudsucht  steigern  kann,  und  dann  wahre 
Phthisis  tuberculosa,  die  allerdings  auch  in  vielen  Fällen 
(z.  B.  in  dem  zweiten  von  \V  irren  in  der  Samml.  aus¬ 
erles.  Abhandl.  l>d.  XXV'.  S.  262)  die  Section  nachgewie¬ 
sen  hat.  Beide  Fälle  lälst  der  V  erf.  durch  die  fehlerhafte 
Krasis  des  Blutes,  wie  sie  im  Diabetes  stall  lindct,  bedingt 
werden.  Sollte  aber  nicht  auch  dieses  Lungenleidcn  in  vie¬ 
len  Fällen  durch  die  anomale  Hautthätigkeil  bedingt  wer¬ 
den!*  —  So  weit  die  Deutung  der  wichtigeren,  die  Harn 
ruhi  begleitenden  Symptome.  Unberücksichtigt  hat  der 


IV.  Diabetes  mellitus. 


329 


\  erf.  die  durch  ein  vorhandenes  Uebergewicht  von  Magen¬ 
säure  entstehenden  gelassen. 

Der  Verf.  kommt  jetzt  auf  die  Aetiologie  dieser  Krank¬ 
heit,  und  handelt  zunächst  im  fünften  Kapitel  von  den  ent¬ 
fernten  Ursachen  des  Diabetes  mellitus.  Da,  wie  er  gewil’s 
mit  grolsen»  Rechte  bemerkt,  in  manchen  Fällen  dieser 
Krankheit  die  vorbereitende  mit  der  Gelegenheitsursache 
höchst  wahrscheinlich  zusammentrifft  und  letzte  nichts  an¬ 
deres  ist,  als  eine  plötzlich  sehr  gesteigerte,  vorbereitende 
Ursache,  so  läfst  er  dieses  Finthcilungsmoment  hier  fallen 
und  nimmt  ein  aus  der  nächsten  Ursache  der  Krankheit 
selbst  resultirendes  auf.  Da  er  nämlich  das  Wesen  dersel¬ 
ben  in  einer  partiellen  Lähmung  des  automatischen  Nerven¬ 
systems  an  seinem  negativen  Pole  feststellte,  so  kann  diese 
auf  eine  doppelte  Weise  entstehen,  indem  sie  nämlich  von 
dem  Centraltheile  ausgeht  und  sich  in  den  peripherischen 
Theilen  reflectirt,  oder  auch,  indem  der  peripherische  Theil 
von  der  nächsten  Ursache  direct  angegriffen  wird.  Der 
Weg  nun,  welchen  der  Verf.  bei  der  Darstellung  der  ätio¬ 
logischen  Momente  dieser  Krankheit  einschlägt,  ist  zunächst 
der,  dafs  er  aus  der  Analogie  mit  andern  lähmungsartigen 
Zuständen  des  Nervensystems  die  Momente  aufführt,  welche 
die  Harnruhr  erzeugen  können,  und  diese  dann  mit  den 
durch  die  Erfahrung  gewonnenen  ursächlichen  Momenten 
dieser  Krankheit  zusammenhält.  Ref.  kann  die  mit  grofser 
Consequenz  und  Klarheit  durchgeführte  Entwickelung  für 
die  möglichen  Ursachen  der  Harnruhr  hier  nicht  näher  an¬ 
geben,  er  stellt  nun  die  Resultate,  welche  der  Verb  auf 
diesem  Wege  gefunden  hat,  her.  Es  werden  nämlich  als 
die  möglichen  ursächlichen  Momente,  welche  lähmungsartige 
Zustände  des  automatischen  Nervensystems,  und  also  auch 
die  Harnruhr  bedingen  können,  folgende  angeführt:  Krank¬ 
heiten  des  Gehirns  oder  Rückenmarks,  wodurch  die  Har¬ 
monie,  die  zwischen  den  einzelnen  J  heilen  des  Nerven¬ 
systems  bestehen  soll,  aulgehoben  wird,  Organisationsfehler 
der  GenlralLheiie  des  Ganglieusysteins,  fehlerhafte  Diät, 


IV.  Diabetes  mellitus. 


330 

plötzlicher  Wechsel  der  Temperatur,  Ausschweifungen  in 
Befriedigung  des  Geschlechtstriebes,  Krankheiten,  bei  denen 
die  Sphäre  des  Gangliensystems  besonders  heftig  ergriffen 
ist,  und  zwar,  wenn  sie  eine  überwiegende  Schwäche  in 
dieser  Sphäre  des  Nervensystems  hervorbringen,  Ketentio- 
nen,  Dvscrasieen  und  Schärfen  und  durch  sie  bedingte  Me¬ 
tastasen  auf  das  automatische  Nervensystem.  Dem  für  die 
apriorische  Conslruclion  vom  N  erf.  angegebenen  Einthei- 
luugsrnomente  folgend,  stellt  er  zunächst  die  durch  die  Er¬ 
fahrung  angegebenen  ursächlichen  Momente  für  die  Harn¬ 
ruhr  auf.  Als  solche  nennt  er  folgende:  übermäßige  An¬ 
strengung  des  Geistes,  ein  Moment,  welches  bekanntlich 
lioerhaave,  Heim  und  Formey  für  die  Aetioiogie  des 
Diabetes  geltend  machen.  Es  wäre  wahre  Vermessenheil, 
die  Autoritäten  solcher  Männer  irgendwie  bestreiten  zu 
wollen;  iodefs  bliebe  doch  noch  immer  die  Frage  übrig, 
ob  in  den  von  ihnen  beobachteten  Fällen  wirklich  das 
angegebene  Moment  den  Grund  zu  der  Krankheit  gelegt 
habe.  Gewifs  wenigstens  wird  es  immer  nur  ein  sehr  sel¬ 
tenes  sein.  In  einer  sehr  grofsen  Anzahl  von  Fällen,  welche 
Bef.  Behufs  einer  Feststellung  der  ätiologischen  Momente 
dieser  Krankheit  mit  einander  verglichen  hat,  hat  er  es  nur 
in  außerordentlich  wenigen  ( /..  B.  bei  Dupuytren  und 
Thenard  in  der  Sammlung  auserles.  Abhandl.  Bd.  XXIV 
S.  123.)  angegeben  gefunden.  Gegentheiß  ist  es  wohl  uu- 
bezweifelt,  wie  die  Harnruhr  am  häufigsten  in  der  arbei¬ 
tenden  Volksklasse  vorkommt,  bei  Personen,  welche  weder 
Beruf  noch  Neigung  zu  anstrengenden  Geistesarbeiten  ha¬ 
ben,  oder  auch,  worauf  noch  neuerlich  \enables  und 
Dewees  wiederum  aufmerksam  gemacht  haben,  bei  Kin¬ 
dern,  bei  welchen  jenes  Moment  eben  so  wenig  statt  hat. 
Aß  ein  zweites  ätiologisches  Moment  führt  der  \  erl.  me- 
({erdrückende  Gemiithsbewegungen ,  namentlich  Kummer, 
Sorgen  oder  Schreck  auf.  Dieses  Moments  finden  wir  in 
der  Thal  hei  den  einzelnen  Fällen  des  Diabetes  oft  gedacht, 
wenn  dci  \  erf.  aber  aß  beweisend  für  dasselbe  einen  von 


IV.  Di  abctcs  nidliüio. 


331 


S toller  (in  Hufeland’s  Journ.  Bd.  VI.  St.  1.  S.  56.) 
beobachteten  Fall  anfiihrt,  so  gehört  dieser  wahrscheinlich 
nicht  hierher,  indem  der  Vcrf.,  da  ei  von  einem  geruch- 
und  geschmacklosen  Harne  (S.  5K. )  spricht,  vielleicht  kei¬ 
nen  Diabetes  mellitus  vor  sich  gehabt  hat,  abgesehen  da¬ 
von,  dafs  in  diesem  Falle,  wie  auch  der  Verf.  selbst  an¬ 
nimmt,  Erkältung  die  wahrscheinlichere,  mindestens  mit- 
wirkende  Ursache  der  Krankheit  war.  Als  fernere  Ursachen 
führt  der  Verf.  folgende  an:  Organisationsfehler  des  Ge¬ 
hirns  (die  indefs  Ref. ,  wie  er  weiter  unten  angeben  wird, 
eher  für  Folgen  der  durch  den  Diabetes  gesetzten  Structur- 
veränderting  anderer  Organe,  als  für  ätiologische  Momente 
dieser  Krankheit  halten  möchte),  und  krankhafte,  besonders 

»  i 

durch  traumatische  Veranlassungen  entstandene  Affectionen 
des  Rückenmarks,  ferner  schlechte,  crude,  vegetabilische, 
schwer  verdauliche  Speisen  und  dergleichen  Getränke,  den 
Mifsbrauch  harntreibender  Mittel,  den  Einflufs  eines  schnel¬ 
len  Wechsels  der  äufseren  Temperatur,  Organisationsfehler 
des  Gangliensystems,  eine  durch  Onanie  und  Ausschwei¬ 
fungen  in  Geschlechtsgenüssen  erregte  Schwache  (der  Verf. 
bezweifelt  dieses  Moment  als  ein  ätiologisches  wohl  mit 
Unrecht,  da  es  einerseits  wohl  einsichtlich  ist,  wie  Aus¬ 
schweifungen  in  Geschlechtsgenüssen  nicht  nur  lähmend  auf 
das  Nervensystem,  sondern  auch  auf  die  Geschlechtsorgane 
und  die  mit  ihnen  in  Verbindung  stehenden  Harnwerkzeuge 
wirken,  andererseits  aber  auch  mehre  Falle  existiien,  iu 
welchen  gerade  dieses  Moments  als  eines  ursächlichen  ge¬ 
dacht  wird,  z.  B.  bei  llertzog  in  Hufeland’s  Journal 
Bd.  Vll.  Sl.  2.  S.  151 ,  bei  Dupuytren  a.  a.  O.,  J.  Frank 
rat.  ins ti L.  diu.  Ticmens.  p.  203,  u.  s.  w.),  erbliche  Anlage, 
Krankheiten,  bei  denen  das  Gangliensystem  vorzugsweise 
ergriffen  ist,  wohin  der  Verf.  besonders  die  Hysterie,  Hy¬ 
pochondrie  und  das  Wechselfieber  rechnet,  welchen  Ref. 
noch  die  Gicht  (nach  den  Beobachtungen  von  Mac-Cor- 
i)  i  k  in  Richter  s  chir.  Bibi.  Bd.  IX.  S.  449,  und  in  der 
Sammlung  auserles.  Abhandl.  Bd.  XI.  S.  413,  und  deuen 


332  IV.  Diabetes  mellitus. 

% 

Wh)  tt's  in  s.  sämmtl.  zur  prakt.  Arzneikunde  geh.  Schrif¬ 
ten,  lierl.  1790.  8.  S.  4*21.)  beifügt,  endlich  Metastasen. 

Das  sechste  Kapitel  handelt  von  den  Frgebnissen  der 
Leichenöffnungen  Diabetischer.  Ob  Leichenöffnungen  über¬ 
haupt,  vorausgesetzt,  dafs  die  vom  Verf.  aufgestellte  Patho- 
genie  der  Krankheit  eine  richtige  ist,  zur  Krkenntnifs  der¬ 
selben  etwas  beitragen  können  ?  Mit  l\echt  bezweifelt  der 
Verf.  diese  Frage,  da  es  dem  anatomischen  Messer  noch 
nie  gelang,  die  feineren  Veränderungen  in  den  peripheri¬ 
schen  Thcilen  des  Nervensystems  nachzuweisen.  Die  Krgeb- 
nisse  der  Leichenöffnungen  können  sich  also  nur  entweder 
auf  die  entfernten  Ursachen  der  Krankheit  beziehen,  oder 
auf  die  durch  die  nächste  Ursache  derselben  erregten  krank¬ 
haften  Veränderungen  im  Organismus.  Was  nun  die  Re¬ 
sultate  der  ersten  Reihe  anlangt,  so  bringt  der  Verf.  die 
Organisationsfehler  hierher,  welche  man  in  den  drei  Cen¬ 
tral  theilen  des  Nervensystems  gefunden  hat.  Kr  bemerkt 
nämlich,  dafs  man  in  zwei  Fällen  (nach  Horn  und  dem 
Verf.  selbst)  solche  Fehler  im  Gehirne,  in  einem  (nach 
Vena  bl  es)  im  Riickenmarke,  und  einmal  auch  (nach 
Du  n  ca n)  im  sympathischen  Nerven  gefunden  habe.  Ob  der 
Verf.  aber  mit  Recht  diese  Organisationsfehler  zu  den  ent¬ 
fernten  Ursachen  der  Krankheit  zählt,  möchte  Ref.  doch 
bezweifeln,  theils  da  sie  in  einer  verhältnifsmäfsig  so  sehr 
geringen  Anzahl  von  Fällen  beobachtet  worden  (obschou 
wir  allerdings  bekennen  müssen,  dals  man  die  Untersuchung 
dieser  Theile  eben  nicht  häufig  vorgenommen),  theils  aber 

auch,  da  er  keine  rechte  Verbindung  zwischen  ihnen,  als 

ursächlichen  Momenten,  und  dem  Wesen  der  Krankheit 

sieht.  Gegentheils  möchte  er  sie,  mindestens  was  die  Or¬ 
ganisationsfehler  des  Gehirns  und  Rückenmarks  auiangt,  für 
f  oigczustüode  der  durch  die  Krankheit  bewirkten  \  erän- 
deruug  anderer  Organe,  namentlich  der  Nieren,  hallen. 
Retrachleii  wir  nämlich  die  grolse  Reihe  von  Ah  normiläten 
des  Hariisyslems,  welche  bei  Gehirnleiden  statt  linden  (s. 
L  u  v  d  a  c  h  vom  Haue  und  Leben  des  Gehn  ns.  Bd.  3. 


IV.  Diabetes  mellitus. 


333 


\ 


§.  326.  330,  und  Tab.  XXXIV.  auf  S.  319.),  so  könnten 
wir  auch  wohl  zu  dem  Rückschlüsse  veranlafst  werden, 
welcher  denn  auch  die  Erfahrung  bestätigt,  dafs  bei  Orga¬ 
nisationsfehlern  der  Nieren  sich  Abnormitäten  des  Gehirns 
entwickeln  können.  Es  liefse  sich  auch  wohl  annehmen. 

♦  7 

dafs  jene  Organisationsfehler  unmittelbare  Folgen  der 
Krankheit  wären,  welche  Ansicht  selbst  in  der  vorn  Verf. 
aufgestellten  Pathogenie  der  Harnruhr  ihre  Begründung 
finden  dürfte.  Da  der  Verf.  gleichwohl  ein  Gewicht  auf 
diese  Fälle  legt,  und  da  er  zuerst  auf  sie  aufmerksam  ge¬ 
macht  hat,  da  dieser  Gegenstand  unter  allen  Umständen 
eine  weitere  Untersuchung  erheischt,  so  führt  Ref.  noch 
zwei  hierher  gehörige,  ihm  bekannt  gewordene  Fälle  auf. 
In  einem  Falle  nämlich  fand  Horn  (in  seinem  Archive 
Jahrg.  1819.  II.  2.  S.  264.)  in  der  Leiche  eines  26jährigen 
Menschen  das  Rückenmark  auffallend  geschwunden,  so  dafs 
es  im  ersten  Augenblicke  für  das  eines  acht-  bis  zehnjähri¬ 
gen  Kindes  gehalten  werden  konnte.  Einen  zweiten  hier¬ 
her  gehörigen  Fall  fand  Ref.  in  einer,  aus  dem  Nachlasse 
seines  geliebten  Lehrers,  des  für  seine  Wissenschaft  zu  früh 
verstorbenen  Prof.  Dr.  Eysenhardt,  durch  die  Güte  des. 
Hrn.  Prof.  v.  Rär  ihm  zugekommene  Krankheitsgeschichte 
eines  Diabetischen.  Eysenhardt  giebt  den  hierher  gehö¬ 
rigen  Theil  des  Sectionsberichtes  also  an:  An  den  äufseren 

O 

Bedeckungen  des  Kopfes  und  am  Schädel  selbst  nichts  Ab¬ 
normes.  An  der  Dura  mater  hin  und  wieder,  besonders 
am  Processus  falciformis,  einige  Ausschwitzungen,  durch 
welche  sie  mit  der  Arachnoidea  fest  zusammenhing..  Das 
Gehirn  wurde  aus  der  Schädelhöhle  herausgenommen.  Da¬ 
bei  Hofs  etwas  Wasser,  ungefähr  ein  Paar  Unzen,  aus, 
welches  wahrscheinlich  an  der  Grundfläche  des  Gehirns, 
zwischen  der  dura  Mater  und  Arachnoidea  befindlich  gewe¬ 
sen.  Die  Substanz  des  Gehirns  war  wie  gewöhnlich,  eher 
etwas  zu  weich,  als  zu  fest.  In  jedem  hinteren  Lappen 
des  grofsen  Gehirns  über  dem  oberen  hinteren  Horn  des 
Ventriculus  lateralis  fand  sich  eine  Stelle,  die  in  der  linken 


334 


IV.  Diabetes  mellitus. 

Hemisphäre  ungefähr  einen  Zoll  im  Durchmesser  hatte,  in 
der  rechten  etwas  größter  war,  durchaus  vereitert.  Der 
Eiter  hatte  in  beiden  Hemisphären  schon  di«*  obere  Decke 
des  hinteren  Horns  durchbrochen  und  ein  Theil  desselben 
sich  in  den  Ventrikel  ergossen,  im  rechten  mehr,  als  im 
linken.  Dafs  er  aber  nicht  ursprünglich  im  Ventrikel  selbst 
erzeugt  worden,  ergab  sich  aus  der  völlig  normalmälsigen 
Beschaffenheit  aller  in  den  Ventrikeln  liegenden  Theile. 
Ueberhaupt  war  in  dem  Gehirne,  aufser  dem  eben  Ange¬ 
führten,  nichts  Krankhaftes  zu  bemerken.  —  Was  nun 
aber  die  zweite  Reihe  der  durch  die  Section  ermittelten 
Veränderungen  in  den  Leichnamen  Diabetischer  betrifft, 
diejenigen  nämlich,  welche  als  directe  oder  indirecte  Fol¬ 
gen  der  Krankheit  anzusehen  sind,  so  bemerkt  der  Verf., 
dals  man  hier  nur  zu  oft  dieselben  als  die  Ursache  der 
Krankheit  angesehen  hat,  wodurch  an  der  Stelle  gewünsch¬ 
ter  Aufklärung  nur  noch  grüfsere  Verwirrung  entstand. 
Um  nun  diese  zu  vermeiden ,  theils  aber  auch,  um  zu  er¬ 
fahren,  ob  die  Resultate  der  Leichenöffnungen  in  einem 
bestimmten  Causalverhältnisse  zur  Krankheit  stehen,  stellt 
der  Verf.  alle  möglichen  Folgen  des  Diabetes  mellitus  auf, 
und  bringt  die  vorhandenen  Beobachtungen  damit  in  Ver¬ 
bindung.  So  ergehen  sich  denn  als  directe  Folgen  der 
Harnruhr  folgende  von  den  Schriftstellern  aufgeführte  Zu¬ 
stände:  Venenüberfüllung  im  Unterleihe,  Anhäufung  von 
Fett  in  demselben,  namentlich  iin  Netze,  bedeutende  Ent¬ 
wickelung  der  lymphatischen  Drüsen.  Zu  den  indirecten 
Folgen  der  nächsten  Ursache  werden  aber  die  V  eränderun¬ 
gen  gerechnet,  welche  die  absondernden  Organe  betreffen, 
theils  in  den  Secretis,  theils  in  den  Organen  selbst.  So 
bandelt  der  Verf.  von  den  Structurver Änderungen  in  der 
Leber  und  Gallenblase,  der  Milz,  den  Nieren  und  Neben- 

/ 

nieren,  den  Lungen.  Des  Pancreas  hat  er  nicht  gedacht. 
Auch  dieses'  Organ  hat  man  in  einzelnen  Fällen  in  seiner 
Structur  verändert  gefunden.  So  fand  csCawIev  (in  der 
Sarnml.  auserles.  Abhandl.  Bd.  XIII.  S.  112.)  mit  vielen 


IV.  Diabetes  mellitus. 


335 


kleinen  Steinen  angefüllt.  Hier  hatte  auch  wohl  noch  eine 
Bemerkung  Pott ’s  (s.  Philosophical  transact.  ann.  1753 
INo.  459.),  die  indefs,  so  viel  Ref.  weifs,  später  keine  l>e 
stätigung  weiter  gefunden,  eine  Erwähnung  verdient,  näm¬ 
lich  dafs  die  Knochen  Diabetischer  mürbe  werden,  und 
zuletzt  erweichen. 

Das  siebente  Kapitel  handelt  von  der  Prognose  des 
Diabetes  mellitus.  Der  Verf.  weiset  in  diesem  Kapitel  zu¬ 
nächst  aus  der  von  ihm  aufgestellten  Pathogenie  der  Krank¬ 
heit  nach,  warum  die  Prognose  bei  derselben  eine  so  un¬ 
günstige  sei.  Erkennen  wir  nämlich  Lähmung  irgend  eines 
I  heiles  des  Nervensystems  überhaupt  schon  als  ein  schwe¬ 
res  Leiden  an,  so  gilt  dieses  von  einer  Lähmung  des  auto¬ 
matischen  Nervensystems  ganz  besonders,  theils  weil  diese 
nolhwendig  Tabification  des  Körpers  herbeiführen  mufs, 
theils  aber  auch,  weil  dadurch  die  Einwirkung  der  Medi- 
camente  sehr  beschränkt  wird.  Speciellere  Momente  für 
die  Prognose  werden  theils  von  der  Dauer  des  Uebels  und 
seiner  V  erbreitung,  theils  von  seinem  Charakter  als  abzeh¬ 
rende  Krankheit,  theils  endlich  von  den  sie  bedingenden 
ursächlichen  Momenten  entnommen. 

Im  achten  Kapitel  handelt  der  Verf.  von  der  Thera- 
peutik  des  Diabetes  mellitus.  Der  Weg,  welchen  er  in 
diesem  Kapitel  einschlägt,  ist  derselbe,  wie  im  ganzen 
Werke:  aus  der  von  ihm  aufgestellten  Pathogenie  der  Krank¬ 
heit  entwickelt  er  die  Grundsätze  für  die  Therapeutik  der¬ 
selben  und  geht  nachher  die  gegen  dieselbe  vorzüglich  an¬ 
gewandten  Heilmethoden  durch,  indem  er  die  Resultate, 
die  durch  sie  herbeigeführt  werden,  mit  dem,  was  er  a 
priori  aufgestellt  hatte,  vergleicht  und  darauf  zurückführt. 
Der  Verf.  t heilt  aber  die  Therapie  des  Diabetes  mellitus  in 
eine  allgemeine,  auf  die  nächste  Ursache  der  Krankheit  ge¬ 
richtete,  und  in  eine  specielle,  welche  sich  auf  die  entfern¬ 
ten  Ursachen  derselben  bezieht.  Die  allgemeine  Therapie 
der  llonigharnruhr  hat  folgende  drei  Momente  zu  ihren» 
Gegenstände:  1)  Den  lähmungsartigen  Zustand  im  Central- 


336 


I\.  Diabetes  mellitus. 


theile  des  automatischen  Nervensystems,  als  nächste  Ursache 
der  Krankheit.  2)  Die  von  demselben  abhängige  Aufhe¬ 
bung  venöser  Resorption  in  der  betheiligten  Sphäre,  und 
die  von  diesen  abhängigen  Retentionen  und  aus  denselben 
entspringenden  pathologischen  Producte  als  directe  tolgen 
der  nächsten  Ursache  der  Krankheit.  3)  Die  Abzehrung 
des  Körpers  als  nothwendige  Folge  der  beiden  ersten  Mo¬ 
mente.  Um  der  ersten  Anzeige  zu  genügen,  bringt  der 
Yerf.  die  flüchtigen  Reizmittel,  namentlich  Ammonium  und 
Phosphor,  ferner  die  empyrcumatischen  Oelc,  die  Gum- 
niata  ferulacea,  die  Myrrhe  und  den  Terpenthin,  sodann 
die  bitterscharfen  Mittel,  namentlich  die  Canthariden,  Co- 
loquinthen  und  den  Helleborus  niger,  Aloe  und  Rheum, 
endlich  unter  den  narcotischen  Mitteln  Relladonna  und  kirsoh- 
lorheer  in  Norschlag,  empfiehl?  zugleich  aber  auch  die  Er¬ 
regung  des  peripherischen  Theiles  des  automatischen  Ner- 
vensystemes  durch  Hautreize.  Dem  zweiten  Momente  ent¬ 
sprechen  besonders  Kmetica  und  Purgantia,  die  zugleich 
aber  auch,  namentlich  die  ersten,  der  zuerst  aufgestellten 
Indication  genügen.  Das  dritte  Moment  endlich  bezieht 
sich  besonders  auf  Regulirung  der  Diät  und  den  Gebrauch 
stärkender  Mittel,  Tonico-  nervina,  Quassia,  China  und 
Eisen.  Die  sjSeciclIe,  auf  die  eutfernten  Ursacbeu  des  Dia¬ 
betes  sich  beziehende  Therapie  entwirft  der  Yerf.  ausführ¬ 
lich  in  der  von  ihm  in  dem  Abschnitte  von  der  AetioloMe 
.  »  ö 
dieser  Krankheit  befolgten  Ordnung.  Ref.  müfste  viel  zu 

sehr  in  das  Einzelne  gehen,  wenn  er  einen  Auszug  dieses 
mit  einer  ungemeinen  Umsicht  entworfenen,  viele  treffliche 
Bemerkungen  über , Krankheitsheilung  überhaupt  enthalten¬ 
den  Abschnitts  gehen  wollte.  Gleichwohl  mag  er  aber 
auch  die  Resorgnifs  nicht  zurückhalten,  ob,  wie  rationell 
die  Therapie  der  Harnruhr  hier  auch  entworfen  sein  möge, 
der  praktische  Arzt  einen  Gebrauch  davon  werde  machen 
können,  weil  es  bei  dem  Zusammentreffen  der  vielen  die 
Harnruhr  erzeugenden  Momente  für  die  meisten  Fälle  min¬ 
destens  unmöglich  sein  dürfte,  jedesmal  die  bestimmten 

ent- 


IV.  Diabetes  mellitus. 


337 


entfernten  Ursachen,  welche  in  dem  concreten  Falle  die 
Krankheit  erzeugten,  zu  ermitteln.  —  Indem  sich  der  Verf. 
zunächst  zu  einer  Beleuchtung  der  vorzüglichsten  gegen  den 
Diabetes  mellitus  angewandten  Heilmethoden  und  Mittel 
wendet,  handelt  er  zuerst  von  der  Diät.  Er  bemerkt  hier 
zuerst,  dafs  eine  streng  durchgeführte  animalische  Nahrung 
keinesweges  das  geleistet  habe,  was  sich  namentlich  Rollo, 
und  später  Dupuytren  und  Thenard  von  ihr  verspro¬ 
chen,  indem  kein  einziger  Fall  existire,  wo  sie  allein  ange¬ 
wandt  Heilung  bewirkt  hätte,  andererseits  aber  auch  Fälle 
bekannt  geworden,  in  denen  ohne  ihre  Anwendung  Hei¬ 
lung  erfolgt  sei.  Aufser  einer  bestimmten  Anordnung  der 
Nahrungsmittel,  verdient  aber  noch  ein  zweiter  Punkt  der 
Diätetik,  Unterhaltung  der  Hautcultur  durch  Reibungen, 
Bäder  u.  s.  w.  eine  besondere,  vom  Verf.  vielleicht  nicht 
einmal  genug  anerkannte  Berücksichtigung.  Bei  der  Prü¬ 
fung  der  eigentlichen,  gegen  die  Harnruhr  angewandten 
Heilmethoden  spricht  der  Verf.  zuerst  von  der  antiphlogi¬ 
stischen  Methode,  namentlich  von  den  durch  Watt  beson¬ 
ders  empfohlenen  Blutentziehungen,  deren  Wirksamkeit  er 
aus  der  Beseitigung  der  durch  die  nächste  Ursache  der 
Krankheit  gesetzten  Plethora  erklärt.  Wenn  Ref.  auch  zu¬ 
geben  mufs,  dafs  intercurrirend  Zustände  bei  der  Harnruhr 
eintreten  können,  Vielehe  zu  Blulentleerungen  auffordern, 
so  hat  er  doch  von  jeher  an  der  Möglichkeit  einer  Heilung 
der  Krankheit  durch  dieses  Mittel  gezweifelt,  und  selbst  die 
vom  Verf.  versuchte  Deutung  der  Wirksamkeit  desselben 
dürfte  wohl  nicht  vollkommen  ausreichen,  da,  wenn  auch 
die  Folgen  der  nächsten  Ursache  durch  dasselbe  gehoben 
würden,  diese  selbst  dennoch  immer  fortbesteht,  ja  sogar, 
selbst  nach  der  vom  Verf.  aufgestellten  Pathogenie,  noch 
tiefere  Wurzeln  schlagen  mufs.  Zunächst  gedenkt  der  Verf. 
der  abführenden  Mittel,  zu  deren  Anwendung  man  wohl 
durch  den  Umstand  veranlafst  sein  möchte,  dafs  man  nach 
einem  freiwillig  entstandenen  Durchfalle  wenigstens  auf  eine 
Zeitlang  einen  Nachiafs  der  Harnruhr  beobachtet  hatte,  wie 
XIV.  Bd.  3.  si.  22 


338 


IV.  Diabetes  mellitus. 


solches  auch  der  Verf.  durch  einen  der  ihm  vorgekomme¬ 
nen  Fälle  bestätigt.  Dem  Ref.  kam  ein  ähnlicher  Fall  vor: 
Während  die  Kranke  Opium,  und  zwar  in  ziemlich  starker 
Dose  brauchte,  stellte  sich  bei  ihr  ein  Durchlall  ein,  der 
zehn  Tage  hindurch  anhielt  und  mit  grober  Frleichterung 
verbunden  war,  worauf  freilich  bald  wieder  'S  ermehrung 
der  Urinabsonderung  und  des  Durstes  folgten.  So  finden 
wir  auch  einen  hierher  gehörigen  Fall  in  den  F.phem.  nat. 
curios.  Dec.  111.  ann.  9.  et  10.  obs.  228.  mitgetheilt,  und 
Sagehorn  (s.  Diss.  de  Diabete  mellito.  Viteberg.  1807.  4.) 
sagt  S.  16,  auf  solche  Erfahrungen  sich  stützend:  lnterduin 
alvi  proiluvium  supervenit,  quo  durante  urinae  cxcrctio 

imminuebatur.  So  minderte  sich  auch  in  dem  von  Marsh 

% 

(s.  Samml.  auserl.  Abhandl.  Bd.  XXX.  S.  580.)  mitgetheil- 
ten  Falle  auf  den  Gebrauch  von  Purgiermitteln  die  Menge 
des  abgehenden  Urins  alsbald  und  bedeutend.  —  Indem  der 
Verf.  in  der  Prüfung  der  gegen  die  Harnruhr  empfohlenen 
Heilmethoden  weiter  geht,  kommt  er  zunächst  auf  die  auf¬ 
lösenden  und  alterirenden  Mittel,  wobei  namentlich  des 
Rhabarbers  Erwähnung  geschieht,  sodann  auf  die  Emetica, 
die  schon  in  älteren  Zeiten  in  Anwendung  gezogen  wur¬ 
den,  und  auf  die  Säuren.  Was  die  flüchtigen  Reizmittel 
anlangt,  so  bemerkt  der  Verf.,  dafs,  seitdem  R.  A.  Vogel 
sie  zuerst  empfohlen,  solche  späterhin  in  vielen  Fällen  mit 
unbestreitbarem  Nutzen  angewandt  worden  wären.  Aus¬ 
führlicher  handelt  er  von  folgenden  hierher  gehörigen  Mit¬ 
teln:  vom  Opium,  das  aber  nicht,  wie  der  Verf.  sagt,  die 
englischen  Aerzte  zuerst  angewandt  haben,  da  schon  Ar- 
chigenes  (s.  Actii  teirahibl.  Lib.  111.  serm.  3.  cap.  1. 
ed.  Cornar.  Basil.  1542.  fol.  p.  600.)  desselben  gedenkt, 
eiues  Mittels,  welches  ohne  allen  Zfcveifel  die  meisten  Er¬ 
fahrungen  für  sich  hat;  vom  Uampher,  welchen  er  in  sehr 
grollen  Dosen  nicht  ohne  günstigen  Erfolg  in  einem  Falle 
angewandt  hat  (Ref.  wandte  ihn  auch  in  einem  Falle  in 
steigender  Gabe  an,  so  dals  die  Kranke  binnen  acht  Tagen 
240  Gran  nahm,  aber  ohne  allen  Erfolg);  vom  Liquor 


339 


V.  Cronp. 

Ammonii  sulphurati,  und  den  Cnnthariden.  Unter  den  to¬ 
nischen  Mitteln  erwähnt  der  Verf.  besonders  die  China, 
die  Ouassia  und  das  Eisen,  unter  den  adstringirenden  end¬ 
lich  den  Alaun.  Am  Schlüsse  dieses  Kapitels  macht  der 
Verf.  auf  eiuen  Punkt  aufmerksam,  den  er  schon  oben,  hei 
der  Anwendung  der  Abführmittel,  berührt  hatte,  auf  die 
Heilkraft  der  Natur.  Ref.  hätte  diesen  Bemerkungen  eine 
gröfsere  Ausführlichkeit  gewünscht,  da  es  an  mehren  hier¬ 
her  gehörigen  Fällen  (m.  s.  Frank  de  curand.  hom.  morh. 
Lib.  V.  Pars  1.  p.  65.  —  Ephem.  nat.  cur.  Dec.  I.  ann.  2. 
obs.  143,  und  die  vom  Ref.  oben  angeführten)  nicht  fehlt. 
Hier  wäre  auch  vielleicht  der  Ort  gewesen,  des  merkwür¬ 
digen  Wechsels  zwischen  der  Harnruhr  und  Wassersucht, 
welchen  Desault  (auserles,  chir.  Wahrnehmungen  Bd.  I. 
S.  30. ),  P.  Frank  (Epit.  1.  c.  p.  61.)  und  Neumann  (in 
Hufeland’s  Journal  Bd.  LV.  St.  1.  S.  63.)  beobachteten, 
zu  gedenken. 

In  dem  letzten  Kapitel  theilt  der  Verf.  drei  höchst  inte- 
ressanteJK.rankengeschichten  mit,  von  denen  zwei  die  Honig¬ 
harnruhr  betreffen,  die  dritte  vom  Diabetes  insipidus  handelt. 

So  weit  die  Anzeige  dieser,  mit  vielem  Scharfsinne 
verfafsten  Schrift.  Referent  hätte  gern  noch  einige,  die 
Harnruhr  betreffende  Punkte  hier  in  Anregung  gebracht, 
z.  B.  das  Alter  der  Krankheit,  ihr  Vorkommen,  ihre  Ver¬ 
bindung  mit  anderen  Krankheiten  u.  s.  w.  I)a  der  Verf. 
diese  indefs  in  seiner  Schrift  unberührt  läfst,  so  übergeht 
sie  auch  Ref.  bei  der  phnehin  schon  ausgedehnten  Anzeige 
derselben. 

G.  H.  liicht er, 


v. 


Der  Croup  in  dreifacher  Form,  mit  der  Ge¬ 
schichte  von  polypösen  Erzeugnissen  in  den  Luft- 

22  *v 


* 


-V 


340 


V.  Cronp. 

wegen.  Von  Dr.  Joh.  Fried.  Engelhard,  Stadt¬ 
arzt  zu  INI  arten  u.  s.  w.  Zürich,  1828.  8.  "VI  nnd 
112  S.  Mit  einer  lithograph.  Abbildung.  (20  Gr.) 

1.  Die  drei  Formen  des  Croups,  welche  der  Yerf. 
unterscheidet,  sind  die  entzündliche,  catarrhalische  und  ner¬ 
vöse;  unter  der  letzten  Benennung  versteht  er  das  Miliar- 
sehe  Asthma,  unter  der  zweiten  die  eigentliche  Angina  mem- 
branacea,  unter  der  ersten  eine  hvpersthenische  Entzündung 
der  Luftwege.  Er  hat  somit  den  Namen  Croup  viel  weiter 
ausgedehnt,  als  man  gewöhnlich  zu  thun  pflegt.  Als  eine 
dem  nervösen  Croup  verwandte  Krankheit  führt  er  den 
hitzigen  Brustrheumatismus  (seiner  Beschreibung  nach,  eine 
catarrhalische  Bronchitis)  an.  —  Bei  der  hypersthenischen, 
oder  trockenen  Entzündungsform,  fehlen  alle  Vorboten ;  die 
Krankheit  tödtet  durch  Suffocation,  als  Folge  der  heftigen 
Entzündung,  oder  durch  Brand;  das  Fieber  ist  anhaltend, 
es  findet  sich  mehr  Hitze  als  Schmerz  in  der  Luftröhre, 
dabei  treten  Anfalle  von  Krämpfen  und  Zusammenschnü¬ 
rung  der  Luftröhre  ein.  Oft  siud  Kolik  und  hartnäckige 
Verstopfung  zugegen.  Die  Krankheit  endet  im  schlimmen 
Falle  mit  dem  dritten  Tage  tüdtlich;  man  findet  in  den 
Leichen  die  Spuren  brandiger  Entzündung  im  Munde,  der 
Luftröhre,  den  Bronchien,  dem  Magen  und  den  Gedärmen. 
Wie  die  Erscheinungen  der  Krankheit  sich  gestalten,  wenn 
sie  in  Genesung  übergeht,  ist  nicht  angegeben.  Mehr  zu 
dieser  Form  gehören  wohl  die  Fälle,  wo  die  Schleimhaut 
der  Luftröhre  in  Eiterung  übergebt,  welche  der  Yerf.  bei 
der  häutigen  Bräune  anführt.  Bei  rein  entzündlichem  Croup 
sah  er  vielen  Nutzen  von  der  Anwendung  krampfstillender 
Breiumschläge,  nach  geschehener  örtlicher  Blutentleerung. 
Die  Anwendung  der  Scbwefelleber  bei  der  häutigen  Bräune 
verwirft  er  ganz,  und  giebt  alles  auf  Calomel  und  Blut¬ 
egel;  dem  ersten  setzt  er  Opium  und  Kampher  zu,  um 
Durchfall  und  Speichelflufs  zu  vermeiden.  Beide  pflegen 
aber  in  der  Höhe  der  Krankheit,  wo  man  zu  starken  Gaben 


I 


V.  Croup.  341 

Quecksilber  gezwungen  ist,  nicht  leicht  einzutreten,  und 
nach  beiden  kann  man  in  einer  Krankheit,  bei  der  man 
nichts  im  Auge  hat  als  Lebensrettung,  nicht  viel  fragen. 
Brechmittel  verwirft  er  gänzlich,  doch  finden  sie  wohl  ihre 
Anzeige  in  dem  Zeiträume,  wo  das  Concrement  locker  ge¬ 
worden  ist.  —  Zu  allen  drei  Formen  liefert  der  Yerf. 
Krankengeschichten,  und  aufserdem  die  sehr  interessante 
eines  achtzehnjährigen  Jünglings,  bei  dem  sich  polypöse 
Concremente  in  den  Luftwegen  bildeten. 

Druck  und  Papier  sind  sehr  gut;  doch  ist  der  Preis 
von  20  Groschen  für  eine  Broschüre  von  sieben  und  einem 
halben  Bogen  ganz  unverhältnifsmäfsig  hoch. 

—72  — 


2.  Wenn  der  Verf.  irgend  einer  Schrift,  welche  einen 
Erfahrungsgegenstand  zum  Yorwurfe  hat,  von  sich  sagen 
kann,  dafs  er  bereits  eine  lange  Reihe  von  Jahren  densel¬ 
ben  zum  Gegenstände  seiner  Beobachtungen  gemacht  habe, 
so  erregt  dies  für  den  Leser  zum  voraus  grofse  Erwartun¬ 
gen,  derselbe  darf  sich  mit  Recht  manchen  Aufschlufs  und 
manchen  erprobten  Rath  versprechen.  So  auch  der  Yerf. 
und  der  Leser  vorliegender  kleinen  Schrift.  Der  erste  sagt 
in  der  Einleitung,  dafs  er  bereits  «ein  halbes  Jahrhundert 
auf  der  klinischen  Schaubühne  der  Mediein  glücklich  zurück¬ 
gelegt,  in  dieser  Eigenschaft  mehre,  sowohl  öffentliche  als 
Privatanstellungen  bekleidet  habe,”  und  Seite  9  erzählt  er, 
bei  Anlafs  der  ersten  in  Deutschland  erschienenen  Mono¬ 
graphie  über  den  Croup  von  Michaelis,  dafs  er  «der 
rühmlichen  Yertheidigung  dieser  wohlgeschriebenen  Inaugu- 
ralschrift  seines  damaligen  (1778)  akademischen  Mitbürgers 
beizuwohnen  das  Vergnügen  gehabt  habe.”  Der  Inhalt  der 
Schrift  trägt  das  Gepräge  vielfacher  Erfahrung  über  die  in 
Frage  stehende  Krankheit;  die  Erscheinungen  sind  mit  Klar¬ 
heit  geschildert,  ein  deutliches,  lebendiges  Bild  des  ganzen 
Verlaufes  gegeben,  die  Behandlung  auf  bestimmte  Momente 

t  «  i 


342 


V.  Croup. 

und  Erscheinungen  gegründet,  und  das  Verfahren  seihst  in 
zahlreichen  Fällen  als  sehr  schnell  und  sicher  zum  Ziele 
führend  erprobt.  Aus  dem  Gesagten  lafst  sich  schon  von 
selbst  schließen,  dafs  schwerlich  viel  Neues  hier  mitgetheilt 
werden  könne.  Denn  nach  den  zahlreichen,  von  den  aus¬ 
gezeichnetesten  Aerzten  über  die  Krankheit,  ihre  Zeichen, 
Verlauf  und  Heilung  verfafsten  Schriften  ist  nicht  zu  er¬ 
warten,  dafs  sich  noch  grofse  Entdeckungen  hier  werden 
machen  lassen.  Allein  die  Stimme  eines  so  lange  und  viel¬ 
fach  erprobten  Praktikers  ist  zur  Bestätigung  und  Berich¬ 
tigung  der  verschiedenen  Ansichten  über  manche,  noch  nicht 
entschiedene  Punkte  immerhin  mit  Dank  anzunehmen,  und 
seinen  Zweck,  einigen  Beitrag  zur  richtigen  Erkenntnifs 
und  Behandlung  der  verschiedenen  Formen  des  Croups  zu 
liefern,  ist  zugleich  für  das,  Arzneien  gewöhnlich  abgeneigte 
Kindesalter  ein  möglichst  gefälliges,  einfaches  Heilverfahren 
zur  weiteren  Vervollkommnung  und  Prüfung  der  Wissen¬ 
schaft  darzubringen ,  darf  der  Verf.  als  erreicht  betrachten. 
Wenn  gegen  den  wesentlichen,  auf  Beobachtung  gegrün¬ 
deten  Inhalt  der  Schrift  keine  Einwendungen  werden  ge¬ 
macht  werden  können,  so  möchten  hingegen  manche  der 
theoretischen  Ansichten,  die  Form  der  Schrift,  Schreibart 
und  Ausdruck  mehrfacher  Einsprache  ausgesetzt  sein. 

In  der  Einleitung  gieht  der  Verf.  eine  kurze,  keines- 
weges  auf  Vollständigkeit  Anspruch  machende,  geschicht¬ 
liche  Skizze  über  den  Croup,  führt  schon  aus  Hippokra- 
tes  und  Cclsus  Stellen  an,  welche  er  auf  den  Croup  be¬ 
zieht,  dann  solche  aus  Fahricius  Hildanus  und  Ett- 
müller,  deren  Beziehung  auf  die  Krankheit  allerdings  weit 
sicherer  ist ,  als  die  der  ersten. 

ln  der  ersten  Abthcilung:  Begriff  der  verschie¬ 
denen  Formen  des  Croups,  werden  die  rcin-hvper- 
sthenische  Entzündungsform,  oder  Tracheitis  sicca,  die 
feuchte,  catarrhalische  oder  häutige,  Tr.  humida  oder  inem- 
hranosa,  und  die  nervöse  Form,  Asthma  acutum  Miliari 
aufgestellt,  und  in  der  zweiten  Abtheilung:  Actiologie 


343 


V.  Croup. 

der  Croupformen,  dieselben  von  der  Anlage  des  Indi¬ 
viduums  und  den  Einflüssen  der  Luft  abhängig  gemacht. 
Im  Januar  des  Jahres  1812  zahlte  der  Verf.  auf  eine  Be¬ 
völkerung  von  4000  Seelen  25  catarrhalische  Croupkranke, 
von  denen  drei  stauben.  Die  dritte  Abtheilung:  Mono¬ 
graphie  der  verschiedenen  Croupformen,  entwirft 
ein  lebendiges,  naturgetreues  Bild  derselben,  wobei  beson¬ 
ders  auf  die  Verschiedenheit  des  Fiebers  bei  den  zwei  er¬ 
sten  Formen,  bei  der  ersten  Febr.  continua  continens,  hei 
der  zweiten  anfangs  Typus  remittens,  später  T.  continuus 
remittens,  und  auf  die  Abwesenheit  des  Fiebers  in  der  drit¬ 
ten  Form  aufmerksam  gemacht  wird.  Der  Unterschied, 
welchen  der  Verf.  S.  19  in  dem  Tone  der  Stimme,  des 
Athems  und  des  Hustens  für  die  drei  Formen  festsetzt,  ist 

in  manchen  Fällen  allerdings  begründet,  allein  auf  ein  ein- 

% 

zelnes  Symptom  dieser  Art  darf  zu  einer  für  die  Behand¬ 
lung  so  entscheidenden  Diagnose  gewifs  kein  zu  hoher 
Werth  gelegt  werden.  In  der  trockenen  Form  soll  der 
Ton  fein,  zischend-pfeifend,  in  der  feuchten  pfeifend-hei- 
ser,  in  der  nervösen  aufserordentlich  grob,  ein  durchdrin¬ 
gend-starker  Bafston  sein.  Die  vierte  Abtheilung:  All¬ 
gemeine  Beurtheilung  der  verschiedenen  For¬ 
men,  enthält  auf  anderthalb  Seiten  einige  Hauptmomente 
der  Prognose,  und  die  fünfte  die  Therapie.  Nach  dem 
Vorbilde  der  Natur -Therapeutik,  wie  der  Verf.  sich  aus- 
drückt,  ist  ihm  in  der  ersten  Form  die  Hauptiodication 
« plötzliche  Herabstimmung  der  höchst  exaltirten  Dynamik 
des  arteriellen  Systems  durch  hinlängliche  Verminderung 
des  Blutreizes,”  und  er  erfüllt  sie  durch  Blutegel  unten 
an  dem  Kehlkopfe,  nach  Umständen  mehrmals  wieder¬ 
holt;  dann  warme  Breiumschläge,  Einathmen  warmer  Milch¬ 
dämpfe  (welches  aber  schwerlich  durch  Böhren  geschehen 
kann,  Bef),  möglichst  warmes  und  häufiges  Trinken  von 
Eibischthee  und  Syrup,  oder  Honig  mit  Wasser,  überhaupt 
recht  warmes  A  erhalten,  daneben  ableitende  Fufsbäder,  Kly- 
stiere,  wohl  auch  ein  Vesicans  an  den  Hals.  Auf  eigent 


344 


V.  Cronp. 

liehe  Arzneien  setzt  der  Veff.  weniger  Werth.  Ganz  ähn¬ 
lich  ist  das  Verfahren  im  heutigen  Group,  nur  die  Illutent¬ 
ziehungen  in  geringerem  Grade,  wohl  auch  gar  keine,  und 
etwa  ein  Lecksaft  mit  Sulphur.  stib.  ruh.  Dem  Calomel 
spricht  der  Verf.  in  frühen  Zeiträumen  die  Wirksamkeit  kei- 
nesweges  ab,  fürchtet  aber  allzu  häufige  und  schwächende 
Ausleerungen  nach  unten,  oder  Salivation,  wodurch  die 
Krankheit  unnüthiger  Weise  in  die  Länge  gezogen  werde, 
und  stellt  ihn  daher  den  Illutegeln  weit  nach.  Später,  nach 
dem  vierten  Tage,  giebt  er  denselben  mit  Opium  und  Kam- 
pher,  um  der  tödtenden  Ausbildung  des  pathologischen  Er¬ 
zeugnisses  möglichst  Einhalt  zu  thun.  Von  den  Brechmit¬ 
teln  in  den  ersten  Tagen  der  Krankheit,  so  lange  die  Luft¬ 
röhre  in  einem  entzündeten  Zustande  sich  befindet,  sah  er 
grofses  Unheil,  und  der  Opfer  nur  allzuvicle  fallen.  Am 
sechsten  oder  siebenten  Tage,  wenn  die  Kinder  unter  grofser 
Beängstigung  häutige  Concremente  aushusten,  lassen  sich 
Brechmittel  als  Remedium  anceps  melius  quam  nullum  ver¬ 
suchen,  und  in  der  Reconvalescenz,  wo  Schleimanhäufung 
zum  Brechen  reizt,  sind  einige  Grane  Brech wurzel  am 
Platze.  Für  die  Behandlung  des  nervösen  Croups  empfiehlt 
der  Verf.  die  bekannten  krampfstillenden  Mittel,  grofse  Bla- 
senpfiaster,  Seoffufsbäder,  warmes  Getränk  und  warmes 
Verhalten.  In  den  beigefügten  Krankheitsgeschichten  waren 
diejenigen  Fälle,  in  welchen  der  Verf.  sein  gewohntes  Ver¬ 
fahren  gleich  im  Beginnen  einscldagen  konnte,  alle  sehr 
schnell  von  glücklichem  Erfolge  begleitet,  und  die  Krank¬ 
heit  gelangte  zu  keiner  weiteren  Entwickelung.  Einige  an¬ 
dere  Fälle,  in  welchen  der  Verf.  erst  später  hinzugerufen 
wurde,  endigten  aber  doch  mit  dem  Tode. 

In  einem  Anhänge  erzählt  der  Verf.  die  bemerkens- 
werthe  Geschichte  einer  mehrmals  wiederholten  Erzeugung 
von  polypösen  Concrementen  in  den  Luftwegen.  Ein  ge¬ 
sunder  junger  Mensch  von  17  Jahren  wurde  mehrmals  von 
Husten  und  Engbrüstigkeit,  mit  Druck  und  Brennen  auf 
der  Brust  befallen.  Im  Winter  1827  erreichten  diese  Be- 


345 


VI.  Praktische  Notizen. 

schwerden  einen  ungewohnt  hohen  Grad,  und  nach  acht 
Tagen  wurde  in  einem  starken  Hustenanfalle  ein  festes 
cylindrisches  Concrement  von  fasriger  Structur  mit  mehr¬ 
fachen  Verzweigungen  und  zahlreichen,  rothen  Blutgefäfsen 
durchzogen,  ein  wahrer  Polyp,  ausgeworfen.  Solche  Aus¬ 
leerungen  wiederholten  sich  dann  noch  mehrmals,  so  dafs 
vom  5.  December  1827  bis  24.  Februar  1828  dreizehn, 
zwar  in  abnehmendem  Maafse,  eintraten,  unbeschadet  der 
übrigens  gleich  fortbestehenden  guten  Gesundheit. 

Als  eine  der  beiläufig  vom  Verf.  gemachten  Bemerkun¬ 
gen,  ist  die  Beobachtung  an  einer  Frau  bemerkenswert!), 
bei  welcher  von  jeher  im  Wohlsein  der  Puls  unordentlich 
und  aussetzend  war,  im  fieberhaft  kranken  Zustande  hinge¬ 
gen  gleich  und  ordentlich  wurde.  —  Die  Ipecacuanha  wird 
das  unfehlbare  Mittel  genannt,  in  öfteren  kleinen  Gaben 
gereicht,  den  Keuchhusten  zu  heilen,  wenigstens  habe  sie, 
auf  diese  Weise  gegeben,  dem  Verf.  nie  die  verlangte  Hülfe 
versagt.  (Möchte  allen  Aerzten  zu  Theil  werden,  das 
Gleiche  sagen  zu  können!) 

Locher  -  Balber. 


Praktische  Notizen. 


1.  Das  von  Reveille-Parise  empfohlene  gewalzte 
Blei  zur  Bedeckung  von  Geschwüren  und  Wunden,  wurde 
in  dem  Kanton -Hospitale  zu  Zürich  von  dem  Spitalarzte 
Dr.  Mayer  mit  verschiedenem  Erfolge  angewandt.  In  dem 
einen  Falle  (welchem?)  erregte  es  nach  einigen  Tagen  so 
heftige  Schmerzen,  dafs  es  ausgesetzt  werden  mufste;  bei 
einigen  anderen,  mehr  oberflächlichen  Geschwüren,  erfolgte 
ohne  Schmerzen  baldige  Auftrocknung  und  feste  Vernar¬ 
bung.  (  Verhandl.  d.  ärztl.  Gesellsch.  d.  Schweiz.  1828.  S.  6.) 


340 


VI.  Praktische  Notizen. 


2.  I)r.  Mayor,  der  das  gewalzte  Blei  im  Kantonhospi¬ 
tale  zu  Lausanne  nnwendet,  sagt  davon:  Der  Kranke  hat 
bei  diesem  Verfahren  weniger  Schmerz,  die  Vernarbung 
erfolgt  schneller,  und  der  Verband  ist  leichter  und  wohl¬ 
feiler.  (Verhandl.  der  Schweiz.  Gesellsch.  f.  Naturwiss. 

1827.  S.  74.) 

3.  Das  Oleum  filicis,  nach  der  Bereitung  von  Pe- 
schier,  wurde  vom  Dr.  Fehr  in  Andelfingen  mehrmals 
gegen  den  Bandwurm  angewandt.  Doch  nur  ein  einziges 
Mal  gelang  es,  den  Wurm  mit  einer  Dosis  von  40  Tropfen 
abzutreiben.  Zweimal  leisteten  auch  vierfach  gesteigerte 
und  wiederholte  Gaben  gar  nichts.  Mehre  andere  Male 
gingen  grofse  Partieen  von  dem  Wurme  ab,  ohne  dafs  der 
Kopf  gefunden  werden  konnte.  (Verhandl.  der  ärztl.  Ge¬ 
sellsch.  der  Schweiz.  1828.  S.  15.) 

# 

4.  I)r.  Fehr  erprobte  mehrfach  das  Mutterkorn  in 
Pulverform,  zu  20  bis  25  Gran  auf  einmal  gegeben,  als 
ein  äufserst  wirksames  Mittel,  schnell  starke  Wehen  her¬ 
vorzubringen  (vergf.  Dr.  Henne  in  Siebold’s  Journal. 

1828.  VIII.  S.  185);  selten  mufstc  eine  zweite  Dosis  gege¬ 
ben  werden.  Der  genannte  Arzt  sah  sich  schon  genöthigt, 
Kreisenden,  denen  die  Hebamme  einen  Aufgufs  dieses  Mit¬ 
tels  gegeben  hatte,  zur  Verhütung  zu  heftiger  Congestioncn 
nach  Kopf  und  Brust,  zur  Ader  zu  lassen,  da  die  Wehen 
keinen  Augenblick  nachliefsen.  Gewifs  ein  Beweis,  dafs 
dies  Mittel  unkundigen  Händen,  wie  diejenigen  der  Heb¬ 
ammen  sind,  verboten  bleiben  sollte.  (Ebendas.) 

5.  Die  schon  von  mehren  Aerzten  gerühmte  Wirkung 
des  Oleun»  jecoris  aselli  gegen  Rhachitis,  hat  sich  dem  Dr 
Fehr  auf  eine  überraschende  Weise  bestätigt.  Er  entwirft 
von  den  Wirkungen  folgendes  lebendige  Bild:  Nicht  erst 
nach  veränderter  Lebensart,  oder  beim  Eintritt  einer  giin 
»Ligen  Jahreszeit,  oder  einer  Eutwickelungsperiode,  sondern 


VI.  Praktische  N  otizen. 


347 


oft  schon  nach  sieben  oder  vierzehn  Tagen,  erscheint  die 
auffallendste  Wirkung  des  Mittels.  Die  oft  schwarzen,  locke¬ 
ren  Zähne  werden  fester,  und  ihre  Farbe  wird  natürlich 
weils.  Kinder,  welche  die  Beine  nicht  mehr  streckten ,  und 
bei  jedem  Versuche,  sie  zu  stellen,  laut  aufschrieen,  fingen 
an  zu  stehen  und  selbst  zu  gehen ,  wenn  sie  es  schon  ver¬ 
lernt  hatten,  oder  in  dem  Alter  waren,  wo  sie  schon  sollten 
gehen  können.  Die  Magerkeit,  oder  im  Gegentheil  die 
Aufgedunsenheit,  verschwinden  unter  Besserwerden  der  Ver¬ 
dauung,  der  Bauch  wird  besonders  auch  in  der  Leberge¬ 
gend  dünner,  der  Heifshunger  oder  der  gänzliche  Mangel 
an  Appetit  verliert  sich  mit  den  Zeichen  der  Säure;  die 
gleichsam  verdrückten  Rippen  bekommen  wieder  ihre  na¬ 
türliche  Form,  die  Respiration  wird  frei  und  leicht,  die 
Beine  auffallend  gerader,  die  Zähne  brechen  oft  schnell 
hervor.  Bald  verschwindet  auch  das  Schreien  solcher  Kin¬ 
der  und  die  grofse  Unruhe,  besonders  während  der  Nacht, 
und  eben  so  die  häufig  mit  dieser  Krankheit  verbundenen 
Convulsionen ,  welche  oft  allen  Mitteln  trotzen. 

Mit  einer  entzündlichen  Anlage  verträgt  sich  das  Mittel 
nicht.  Gewöhnlich  nehmen  die  Kinder  dasselbe  gern.  Er¬ 
brechen  folgt  nie  darauf,  selten  Durchfall.  Entweder  wurde 
das  Ol.  jecoris  rein  gegeben,  oder:  Ol.  jecoris  aselli 

Unc  j.  Ol.  tartari  per  deliq.  Dr.  ij.  Ol.  calami  arom.  gtt.  iij. 
Syr.  Cort.  aurant.  Unc.  j.  M.  S.  Morgens  und  Abends  1  bis 
2  Theelöffel  voll. 

Weniger  günstigen  Erfolg  beobachtete  der  Verf.  von 
dem  Mittel  gegen  Gicht  und  Rheumatismus.  (Ebend.  S.  16.) 

6.  Dr.  Fehr  hob  einen  Kopfschmerz,  welcher  nicht 
selten  bei  Hysterischen,  oft  an  Rheumatismen  Leidenden 
vorkommt,  und  sich  bald  als  halbseitiges  Kopfweh ,  bald  als 
Clavus  mit  einem  Gefühl  von  Kälte  oder  Druck  an  einer 
einzelnen  Stelle,  bald  als  heftiges  Zerren,  Reilsen  oder 
Stechen  mit  Messern  ansspricht,  und  oft  den  meisten  Mit¬ 
teln  trotzt,  durch  Waschungen  der  leidenden  Stelle  mit 


348 


VI.  Praktische  Notizen. 


der  geistigen,  aus  dem  Saamen  bereiteten  TJnctura  Stramo- 
nii  drei-  bis  viermal  täglich.  (Ebend.  S.  14.) 

7.  Einen  Beitrag  zu  den  vielen  Obductioncn ,  deren 
Befund  ganz  anders  ausfiel,  als  man  erwartete,  oder  welche 
Erscheinungen  darboten,  von  denen  man  kaum  begreifen 
konnte,  dafs  sie  sich  im  Leben  duYch  keine  Zeichen  kund 
gegeben  hatten,  liefert  Hr.  A.  Ab  egg,  Arzt  am  Kranken¬ 
hause  für  Syphilitische  und  Krebskranke  in  Zürich.  Er  fand 
in  der  Leiche  eines  mit  venerischem  Ausschlage  behafteten 
Neugebornen  auf  beiden  Seiten  der  Halswirbel  zwischen 
den  Muskeln  Abscessc,  wodurch  die  Körper  der  Wirbel, 
Atlas  und  Epistropheus  ausgenommen,  fast  ganz  zerstört 
waren.  Dessenungeachtet  bewegte  das  Kind  seinen  Kopf, 
hob  ihn  bis  zu  den  letzten  Augenblicken  seines  Lebens  in 
die  Höhe,  ohne  einige  Schmerzäufserung.  (Ebend.  S.  18.) 

4 

8.  Die  Wirksamkeit  des  Ilellm u nd sehen  Mittels  ge¬ 
gen  Krebs,  hat  Herr  A.  Ab  egg  mehrfach  in  den  Jahren 
1824  bis  1827  zu  erfahren  Gelegenheit  gehabt.  Bei  einem 
vierzigjährigen  robusten  Manne  erstreckten  sich  die  Ge¬ 
schwüre  von  beiden  Schlüsselbeinen  aufwärts  über  den  Kie¬ 
ferrand  bis  gegen  die  Augenbraunen  mit  nur  kleinen,  freien 
Zwischenräumen.  Ober-  und  Unterlippe  waren  fast  ganz 
zerstört,  so  dafs  die  ziemlich  gut  erhaltenen  Zähne  und  die 
Zunge  frei  lagen.  Das  rechte  Auge,  anstatt  von  den  Augen¬ 
liedern  geschützt,  bewegte  sich  in  einem  zinnoberrothen, 
flachen  Ringe.  Unter  dem  Gebrauche  jenes  Mittels  reinig¬ 
ten  sich  die  Geschwüre  und  heilten  allinählig,  so  dafs  sieb 
selbst  wieder  eine  Art  Lippen  bilJeten.  Gegen  Cancer 
fungostis  zeigte  sich  die  Salbe,  übereinstimmend  mit  den 
Beobachtungen  von  Rust  und  Kluge,  unwirksam.  Auch 
scheint  der  in  Zürich  erhaltene  Arsenik,  wie  derjenige  in 
Berlin,  weit  weniger  ätzend  als  der  von  Ilellmund  in 
Cburhcssen  bezogene;  denn  der  Verf.  sah  nie  von  andert¬ 
halb  Gran  des  Aetzpulver*  zu  der  angegebenen  Menge  Salbe 


VI.  Praktische  Notizen. 


349 

von  fast  elf  Drachmen  jenen  feuchten  Schorf  entstehen, 
sondern  mufste  zu  diesem  Zwecke  auf  das  Doppelte  und 
noch  mehr  steigen.  (Ebend.  S.  30.) 

9.  In  vier  Jahren  hatte  Hr.  A.  Ab  egg  68  Kranke 
an  verschiedenen  bösartigen  Geschwüren  behandelt,  darun¬ 
ter  20  am  Gebärmutterkrebs.  Eine  67jährige  Frau  wurde, 
an  letztem  leideud,  in  das  Krankenhaus  aufgenommen.  Bei 
der  Untersuchung  zeigte  sich  ein  blutiger,  höchst  übel¬ 
riechender  Ausflufs,  und  der  Muttermund  und  Hals  des 
Uterus  härtlich  angeschwollen;  weiter  hinauf  dann  ein  Pes- 
sarlum,  djurch  dessen  grofse  Oeffnung  der  Uterus  herabge¬ 
sunken  war.  Die  Entfernung  des  Pessarium,  und  demulci- 
rende  Mittel,  stellten  die  Kranke  bald  her.  Ueber  das  von 
Frankreich  her  auch  neuerlich  wiederholt  empfohlene  An¬ 
setzen  von  Blutegeln  an  und  um  cancröse  Geschwüre  und 
Scirrhen,  bemerkt  der  Verf.,  dafs  er  niemals  Heilung,  hin¬ 
gegen  Verminderung  der  Schmerzen,  Auf  halten  und  tem¬ 
poräre  Schliefsung  der  Geschwüre  dadurch  zu  Stande  ge¬ 
bracht  habe.  (Ebendaselbst.) 

10.  Prof.  Isenschmid  in  Bern  erzählt:  Ein  Hand¬ 
werksgeselle  erhielt  Nachts  um  10£  Uhr  einen  Stich,  der 
die  vordere,  obere  und  gewölbte  Herzfläche  mittelst  einer 
5  Linien  langen  Wunde  verletzte,  und  dadurch  die  rechte 
Herzkammer  öffnete;  doch  lebte  derselbe  noch  drittehalb 
Stunden.  (Ebendas.  S.  53.) 

11.  Gewöhnlich  enthält  das  Pariser  Hötel-Dieu  916 
besetzte  Betten,  das  Höpital  la  Pitie  500,  und  Beaujon  200. 
Im  letztverflossenen  Winter,  wo  alle  Stände  ungewöhnlich 
von  Krankheiten  heimgesucht  wurden,  belief  sich  im  Hötel- 
Dieu  die  Zahl  der  Kranken  nicht  selten  auf  1124,  und  in 
|der  Pitie  auf  700.  Von  den  1124  Kranken  im  IIötel-Dieu 
kommen  823  auf  die  inneren,  und  301  auf  äufsere  Statio¬ 
nen.  Die  823  inneren  Kranken  wurden  von  sieben  Aerzten 

■ 


350 


VI.  Praktische  Notizen. 


behandelt:  die  erste,  143  Betten  enthaltende  Abtheilung  von 
Petit;  die  zweite  Abtheilung,  zu  1)2  Betten,  durch  Borie; 
die  dritte,  zu  81)  Belten,  von  Recamier;  die  vierte,  zu 
14*1  Betten,  durch  Ilusson;  die  fünfte,  zu  131  Betten, 
von  Gueneau  de  Mussy,  die  sechste,  zu  1)0  Betten,  von 
Martin  -  S o  lo  u,  der  hier  an  der  Stelle  des  kranken  Le¬ 
veil  le  fungirte;  die  siebente,  zu  123  Betten,  von  Gaillard. 
Die  äufsere  Station  hat  drei  Abtheilungen,  eine  zu  133  Bet¬ 
ten,  welcher  Dupuytren,  eine  zu  77  Betten,  welcher 
Breschet,  und  eine  zu  1)2  Betten,  welcher  Sanson  vor¬ 
steht  (La  Clini(|ue.  Tome  111.  No.  84.) 

12.  Bei  einem  37jährigen  Individuum,  an  welchem 
man  die  Erscheinungen  der  Lungenentzündung  beobachtet 
hatte,  zu  denen  sich  späterhin  ein  Gehirnleiden  gesellte, 
fand  man  bei  der  Sectiou  die  Lungen  in  einem  geringen 
Grade  entzündet,  den  Magen  sehr  zusammengezogen,  seine 
Schleimhaut  rolhbraun  und  mit  dickem  Schleime  belegt, 
das  lleum  und  den  Blinddarm  theilweise  vereitert,  auf  der 
convexen  Fläche  der  Leber  zwei  tiefe,  durch  eine  dünne 
Wand  von  einander  getrennte  Eiterhöhlen,  die  sich  nach 
der  Brusthöhle  hin  eröffnet  und  die  Darmentzündung  wahr¬ 
scheinlich  veranlafst  hatten.  (Ebendas.  No.  1)1.) 

13.  Bei  zwei  Individuen,  deren  Extremitäten  von  Gan- 
graena  senilis  befallen  wurden,  fand  man  bei  der  Section 
die  Hauptarterienstämme  des  leidenden  Gliedes  durch  einen 
Blutklumpen  so  verstopft,  dafs  die  Circulation  vollkommen 
gehemmt  war.  (Ebendas.  No.  92.) 

14.  Ein  TSjähriger  Mann  bot  im  Ilospice  de  Bicetre 
alle  Symptome  eines  ausgebildeten  Herzübels  dar.  Endlich 
stellte  sich  an  den  F  üfsen  Gangraena  senilis  ein,  welcher 
sich  indessen  auf  die  Zehen  und  Metatarsen  beschränkte. 
Bei  der  Section  dieses  Individuums  fand  man  den  linken 
'N  entrikel  des  Herzens  sehr  erweitert,  das  tanke  Orificium 


VI.  Praktische  Notizen. 


351 


\ 

auriculo- ventriculare  sehr  enge,  die  obere  Partie  des  Ma¬ 
gens  dick  und  schwarz,  die  Nähe  des  Pylorus  erweicht, 
die  untere  Hälfte  der  Dünndärme  in  einem  Zustande  von 
Gangrän,  sämmtliche  grofse  Arterienstämme  theilweise  ver¬ 
knöchert,  die  linke  Schenkelarterie  durch  einen  dicken  Blut¬ 
klumpen  verstopft.  (Ebendas.  No.  96.) 

15 •  Rauque  in  Orleans  empfiehlt  bei  Frauen,  die 
nicht  nähren  wollen,  zur  Beseitigung  der  Milch,  aufser  einer 
strengen  Diät,  zweimal  täglich  den  Buseu  und  die  Achsel¬ 
gruben  mit  einer  Mischung  aus  zwei  Unzen  Aqua  lauroce- 
rasi,  zwei  Scrupel  Extr.  belladonnae  und  einer  Unze  Schwe¬ 
feläther  sanft  zu  reiben,  und  nachher  ein  Stück  Flanell 
aufzulegen,  das  in  derselben  getränkt  ist.  (Ebend.  No.  99.) 

16.  Breschet  fand  bei  einem  18jährigen  wohlgebil¬ 
deten  Mädchen  auf  der  rechten  Seite  des  Halses  eine  Ge¬ 
schwulst,  welche  die  Gröfse  einer  Faust  hatte,  sich  von, 
der  Clavicula  bis  zum  Schildknorpel  erstreckte,  weich  an¬ 
fühlte  und  stärker  hervortrat,  sobald  das  Mädchen  eine 
enge  Schnürbrust  trug,  was  auch  noch  die  Folge  hatte, 
dafs  sogleich  Dyspnoe  eintrat.  Mit  Hülfe  des  Stethoscops 
überzeugte  sich  Br.,  dafs  er  einen  Lungenbruch  vor  sich 
habe,  der  zufolge  des  unsinnigen  Zusammenschnürens  ent¬ 
standen  war.  (Ebend.  Tome  IV.  No.  5.) 

17.  Ein  48 jähriger  Mann,  der  früher  an  Hämorrhoi¬ 
den  gelitten  hatte,  fühlte  plötzlich  heftige  Schmerzen  in 
der  linken  Seite,  einen  Druck  in  der  Magengegend,  eine 
gestörte  Verdauung;  sein  Urin  war  nicht  selten  mit  Blut 
vermischt.  Späterhin  stellten  sich  die  Zeichen  einer  Herz- 
affection  ein,  die  Respiration  wurde  schmerzhaft,  und  der 
Kranke  starb  unter  unsäglichen  Schinerzen.  Bei  der  Section 
fand  man  in  allen  Partieen  der  Lungen  Spuren  von  Mark¬ 
schwamm,  den  Herzbeutel  entzündet,  auf  der  vorderen 
Fläche  der  sehr  grofsen  Leber  zwei  Geschwülste.  Die  Leber 


352 


VI.  Praktische  Notizen. 


selbst  war  ungewöhnlich  schwer,  blafs,  und  enthielt  ein 
dünnflüssiges,  entfärbtes  Blut,  und  Geschwülste,  die  die 
Natur  des  Markschwammes  zu  haben  schienen;  das  Pancreas 
war  in  einen  Markschwamm  verwandelt,  eben  so  die  Me¬ 
senterialdrüsen.  Die  auffallend  grofse,  von  markschwamm¬ 
artigen  Massen  umgebene  linke  Niere  hatte  drei  Erhöhun¬ 
gen;  das  Nierenbecken  enthielt  einen  ungleichen,  schwar¬ 
zen  Stein  von  der  Gröfse  einer  Nufs,  der  von  einer  mark¬ 
schwammartigen  Masse  umgeben  war,  dre  auch  die  erwähn¬ 
ten  Erhöhungen  ausfüllte.  (Ebend.  No.  4.) 

18.  Bei  einem  unter  den  charakteristischen  Erschei¬ 
nungen  von  Cyanosis  gestorbenen  Kinde  fand  man  die  Lun¬ 
gen  gesund,  das  Herz  in  einem  Zustande  von  Hypertrophie, 
abgerundet,  die  Aorta  nach  hinten  und  rechts  ge¬ 
hend,  und  in  einen  Truncus  anonymus  für  die  Carotis  sini- 
stra  und  die  Subclavia  sinistra,  und  in  eine  Subclavia  dextra 
und  Carotis  dextra  sich  spaltend,  den  ungewöhnlich  langen, 
dicht  geschlossenen  Ductus  arteriosus  von  der  Lungenarterie 
zur  linken  Schlüssclbeinartcrie  gehend.  Zwischen  den  bei¬ 
den  Vorkammern  bestand  keine  Communication ,  der  sehr 
grofse  rechte  Ventrikel  communicirte  da,  wo  die  Oeffnung 
in  die  Lungenaitcrie  sein  sollte,  mit  der  Carotis,  die  auch 
mit  der  linken  Herzkammer  in  Verbindung  war;  die  Lun¬ 
genarterie  entsprang  mehr  nach  vorn  aus  dem  rechten 
Ventrikel,  der  an  dieser  Stelle  eine  gewundene  Tasche  bil¬ 
dete.  (Ebendaselbst.) 

19.  Bleynie  zieht  den  Gebrauch  des  Chinins  und  des 
Cinchonins  dem  Schwefelsäuren  Chinin  bei  Wechselfiebern 
vor,  und  behauptet  namentlich,  dafs  die  beiden  erstgenann¬ 
ten  viel  wohlfeileren  Arzneisubstanzen  eben  so  sichere  Fe- 
hrifuga  seien,  als  die  mit  der  Schwefelsäure  verbundene 
Chinabase,  und  dafs  sie  von  den  Kranken  weit  leichter  ge¬ 
nommen  und  vertragen  werden;  nur  räth  er,  stets  ein 
säuerliches  Getränk  unmittelbar  nach  jeder  Gabe  Chinin 

oder 


/ 


I  f  N  I 

/  . 

VI.  Praktische  Notizen.  353 

oder  Cinchonin  nehmen  zu  lassen,  damit  die  Auflösung  im 

7  O 

Magen  schneller  von  statten  gehe.  (Nouvelle  Bibliotheque. 
1828.  12.)  '  •.  fi  ..  Ui  ■ 

20.  Frankreich  hat  bei  einer  Bevölkerung  von  30,000,000 
Einwohnern,  40,000  Aerzte,  mithin  10,000  zu  viel,  in  sofern 
statistische  Untersuchungen  dargethan  haben,  dafs  auf  die 
angeführte  Bevölkerung  nur  150,000  Kranke  täglich  kom¬ 
men.  An  den  drei  medicinischen  Facultäten:  Paris,  Strafs¬ 
burg  und  Montpellier,  werden  jährlich  500  Doctoren  der 
Medicin  promovirt,  während  der  Abgang  kaum  400  be- 
trägt.  (Ebendaselbst.) 

21.  Eine  37 jährige  Frau,  die  dreimal  niedergekom¬ 
men,  und  bei  der  letzten  Niederkunft  an  heftigen  Metror¬ 
rhagien  gelitten,  empfand  seit  jener  Zeit  die  lästigen  Wir¬ 
kungen  der  Menstruatio  nimia,  namentlich  eine  auffallende 
Abnahme  der  Kräfte,  Ohnmächten,  habituelle  Verstopfun¬ 
gen  u.  s.  w.  Im  letztverflossenen  Mai  suchte  sie  Hülfe  im 
Ilötel-Dieu.  Dupuytren  nahm  eine  Localbesichtigung  mit 
Hülfe  des  von  ihm  angegebenen  Speculum  vaginae  vor,  und 
überzeugte  sich,  dafs  das  Orificium  uteri  durch  eine  Ge¬ 
schwulst  ausgedehnt  war.  Eine  zweite,  gröfsere  Geschwulst 
fand  Dup„  in  den  Umgebungen  der  Gebärmutter,  und  zwar 
auf  der  rechten  Seite.  Er  löste  mit  einem  geknöpften  Bi- 
stourie  die  Geschwulst  von  dem  Gebärmuttermunde,  und 
entfernte  sie  nach  einigen  Tagen,  indem  er  mit  einer  eigen 
dazu  verfertigten  Zange  sie  herabzog,  und  den  Stiel,  ver¬ 
möge  dessen  sie  mit  der  Gebärmutter  in  Verbindung  war* 
mit  dem  Bistourie  durchschnitt.  Die  Geschwulst  selbst  war 
bimförmig,  rothweifs,  fest  und  von  fibrös-zeiliger  Be¬ 
schaffenheit.  (La  Cliniuue.  Tome  IV.  No.  8.) 

*  •  4  *  * 

22.  In  den  Pariser  Krankenanstalten  gehört  die  Glos- 
sitls  idiopathica  keinesweges  zu  den  ganz  seltenen  Krank¬ 
heiten,  und  man  fängt  an  die  Ueberzcugung  zu  gewinnen, 

XtV.  Bd.  3.  St.  .  23 


354 


VI.  Praktische  Notizen. 


dafs  alle  ursächlichen  Momente,  welche  Anginen  und  andere 
Schleimhautentzündungen  bedingen,  auch  geeignet  sind,  eine 
Zungenentzündung  zu  veranlassen.  Starke  allgemeine  Rlut- 
entziehungen  wirken  am  sichersten,  und  beugen  namentlich 
Erstick ungszu fällen  vor.  (Ebendas.  No.  10.) 

23.  Leroy  (d’Etiolles)  erklärt  sich  in  einer  der 
Pariser  Acadcmie  der  Wissenschaften  vorgelegten  Schrift 
gegen  das  Einblasen  der  Luft  in  die  Lungen  als  Erweckungs- 
mittel  bei  Scheinlodten.  Er  beruft  sich  hierbei  auf  eine 
Reihe  von  Versuchen,  die  er  an  Thieren  anstellte.  Aus 
diesen  geht  hervor,  dafs  das  gewaltsame  Einblasen  bei  eini¬ 
gen  Thierarten,  namentlich  bei  Ziegen,  Hammeln,  Kanin¬ 
chen,  einen  schnellen  Tod  zur  Folge  habe,  während  es 
bei  Hunden  nur  eine  vorübergehende  Asphyxie  verursache. 
Nähere  Untersuchungen  haben  die  Ilm.  Leroy,  Magen- 
die  und  Dumerii  überzeugt,  dafs  die  eingeblasene  Luft 
das  zarte  Lungengewebe  zerreifse,  in  das  Cavum  pleurae 
dringe,  und  das  Athemholen  hindere.  —  Um  Gewifsheit 
zu  bekommen,  ob  die  Gegenwart  von  Luft  im  Cavum  pleu¬ 
rae  den  Tod  zur  Folge  habe,  injicirten  sie  solche  mit  Hülfe 
einer  zwischen  zwei  Rippen  angebrachten  Röhre,  das  Thier 
starb;  machten  sie  eine  Gegenöffnung,  um  die  Luft  heraus¬ 
gehen  zu  lassen,  so  empfand  das  Thier  nur  eine' vorüber¬ 
gehende  Dyspnüe.  Dafs  die  Hunde  unter  dem  Lufteinblasen 
nicht  sterben,  kommt  nach  L.  von  der  festen  Reschaffenheit 
der  Lungensubstanz  her.  Rei  menschlichen  Leichen  Erwach¬ 
sener  hat  das  Einblasen  von  Luft  in  die  Luftröhre  ein 
Platzen  des  Lungengewebes  und  ein  Austreten  der  Luft  in 
die  Pleura  zur  Folge;  bei  Kinderleichen  dagegen  verhielt 
es  sich,  wie  bei  den  Hunden,  mithin  ist  in  sofern  das 
Lufteinblasen  bei  scheintodtgcbornen  Kindern  weniger  ge 
fährlich,  als  hei  Erwachsenen,  obwohl  es  auch  hier  scha¬ 
den  mufs. 

Vergleicht  man  die  Zahl  der  mit  Erfolg  vorgenomme¬ 
nen  Rettungsversuche  der  neueren  Zeit  in  Paris  mit  denen 


355 


VII.  Populäre  Schriften. 

einer  früheren ,  so  spricht  diese  offenbar  gegen  die  jetzt  in 
Paris  in  Gebrauch  gesetzten  Blasebälge. 

Im  Jahre  1821  wurden  aus  dem  Wasser  gezogen 
309  Individuen,  Rettungsversuche  angestellt  an  50,  und 
wirklich  gerettet  37. 

1823  betrug  die  Zahl  der  Ertrunkenen  288,  und  von  53, 
an  denen  man  Rettungsversuche  machte,  rettete  man  46. 

1824  war  das  Verhältnifs  308:51:49. 

1825  .  315:73:57. 

1826  .  362:77:54. 

Mithin  wurden  kaum  zwei  Drittel  gerettet,  während 
vor  40  bis  50  Jahren,  von  1772  bis  1788,  noch  neun  Zehntel 
gerettet  worden  sind. 

ö 

Leroy  räth  dagegen,  durch  einen  Reiz  auf  das  Zwerch- 
feil  und  die  Brustmuskeln  die  natürliche  Respiration  nach¬ 
zuahmen,  und  mit  Hülfe  der  Electropunctur,  indem  er 
Nadeln  in  die  Ansatzpunkte  des  Diaphragma  bringt,  Con- 
tractionen  des  Zwerchfells  zu  veranlassen,  vermöge  welcher 
die  Circulation  und  die  Respiration  hergestellt  werde.  (Eben¬ 
daselbst.) 


VII. 

Populäre  Schriften. 


1.  Der  freundliche  Hausarzt  als  Rathgeber  hei 
Erkältungskrankheiten  und  allen  Folgen  der 
Blut  Verschleimung,  als:  Katarrh,  Schnupfen,  Asthma, 
Schleimschwindsucht,  Rheuma,  Gicht  und  Hämorrhoiden; 
von  Dr.  K.  F.  Lutheritz.  Dritte,  umgearbeitete  Auf¬ 
lage.  Meifsen,  1828.  8.  VIII  u.  106  S.  (9  Gr.) 

Von  allen  medicinischen  Volksschriften  sind  solche  am 
nachtheiligsteu ,  die  über  einzelne  Krankheiten  den  Laien 

23  * 


35G 


VII.  Populäre  Schriften. 

zu  belehren  suchen;  denn  sie  pflanzen  die  verkehrtesten  Ke 
griffe  fort,  und  wirken  dann  feindlich  auf  den  zurück,  der, 
•wähnend  er  habe  die  Heilkunde  erfalst,  in  vorkommenden 
Krankheitsfällen  wirklich  ärztliche  Behandlung  verschmähet. 

lief,  kann  nicht  begreifen,  wie  sich  Aerzte  dazu  ver¬ 
stehen  können,  die  Arzneikunde  so  zu  bearbeiten,  dafs  sic 
wie  gewöhnliche  Marktwaare  feil  geboten  werden  kann, 
und  wir  verkünden  es  diesen  Verfassern  im  Voraus,  dafs 
bei  der  fortgesetzten  Zunahme  ihrer  Volksschriften  sie  ihre 
leichten  Geistesproducte  zukünftig  nicht  nur  dem  Buchhänd- 
ler,  sondern  sogar  dem  Leiermann  werden  verkaufen  kön¬ 
nen,  der  sie  dann  mit  einer  passenden  Melodie  begleitet 
dem  thörichten  \  olke  singend  zu  empfehlen  wissen  wird. 

(regen  Werke,  die  allgemeine  Diätetik  betreffend,  de¬ 
ren  mehre  recht  gute  von  den  besten  in  -  und  ausländischen 
Aerzten  vorhanden  sind,  hat  Bef.  nichts  zu  erinnern,  ja, 
er  sieht  sie  als  nothwendig  an,  um  Laien  über  nachtheilige 
Einflüsse  zu  belehren;  aber  über  Schriften,  die  einzelne 
Krankheitszustände  betrachten  und  zu  behandeln  anweisen, 
und  sollten  sie  auch  noch  so  meisterhaft  abgefafst  sein, 
findet  sich  Ref.  zur  bittersten  Beklagung  gegen  die  Verf. 
aufgefordert. 

Eine  Analyse  der  vorliegenden  Broschüre  vorzuneh¬ 
men,  ist  Ref.  nicht  geneigt;  denn  sie  enthält  nur  das  All¬ 
tägliche,  welches  hier  zu  wiederholen  von  den  Lesern  dieser 
•  Zeitschrift  mit  Recht  übel  aufgenommen  werden  dürfte. 

• 

Mansfeld. 


2.  Guter  Rath  für  Taube  und  Schwerhörige; 
von  Dr.  G.  W.  Becker,  ausübendem  Arzte  in  Leipzig. 
Dritte  Auflage.  Leipzig,  IS2T.  S.  61  S.  (6  Gr.) 

^on  allen  Krankheiten  sind  die  des  Gehörs  am  weni^- 

o 

strn  geeignet ,  dem  nichtärztlichen  Publikum  zur  Selbstbe- 

handlung  überlassen  zit  bleiben;  denn  sic  sind  viel  zu  sehr 

« 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten,  357 

tlieiis  >on  anderen  krankhaften  Zuständen  abhängig,  theils 
sind  sie  mit  der  Organisation  der  Gehürgebiide  so  verwebt, 
dafs  sie  selbst  dem  erfahrensten  Arzte  grofses  Nachdenken, 
und  oft  ohne  Erfolg  verursachen. 

lief,  kann  also  schon  aus  diesem  Grunde  die  Heraus¬ 
gabe  dieser  höchst  flüchtig  gearbeiteten  und  von  Druck¬ 
fehlern  wimmelnden  Schrift  keinesweges  billigen;  es  sollte 
ihm  aber  eben  so  leid  ihun,  wenn  er  glauben  müfste, 
Ilr.  Becker  habe  bei  der  Bearbeitung  des  Werkchens  nur 

die  Anpreisung  seiner  Gehörbalsame  und  Werkzeuge,  wo- 

% 

mit  er,  wie  aus  der  Schrift  erhellet,  eigenen  Handel  treibt, 
zur  Absicht’  gehabt.  Eine  Gewinnsucht  dieser  Art  steht 
weit  unter  der  Würde  des  Arztes,  und  würdigt  den 
schon  sehr  gesunkenen  Stand  noch  mehr  zu  dem  eines 
Krämers  herab. 

Mansfeld, 


VIII. 

v 

Ahnungen  einer  allgemeinen  Naturge¬ 
schichte  der  Krankheiten;  von  F  erdin  and 
Jahn.  Mit  einem  Vorwort  von  G.  Fr.  Heusin- 
ger.  Eisenach,  hei  Bäreke.  1828.  8-  Xu.  251  S. 
(1  Thlr.  8  Gr.) 

Der  gelehrte  Verf.  hat  im  vorliegenden  Werke  den 
\  ersuch  geliefert,  die  Krankheit  als  lebendigen  Prozefs, 
als  Leben  im  Leben,  als  Organismus  zu  betrachten,  sie 
mit  den  übrigen  Organismen,  namentlich  mit  den  tiefsten 
pflanzlichen  und  thierischen  zu  vergleichen,  ihre  Eigen¬ 
schaften  nach  den  Lebensaltern  der  Wesen  zu  deuten, 
auf  diese  Art  eine  Physiologie  der  Krankheit  zu  ge¬ 
winnen,  und  die  von  Autenrieth,  Brandis,  Schnur- 
rer,  Bach,  Kieser,  Stark  und  Schünleiu  eingeleitele 


358  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

naturgeschichtliche  Bearbeitung  der  Pathologie 
zu  fordern.  Kr  hat  zum  Behufe  der  Parallele  des  Krank¬ 
heitsprozesses  als  Organismus  mit  den  übrigen  Organismen 
die  naturhistorischen  Schriften  eines  Sprengel,  Link, 
N  e  e  s ,  Meyer,  Ilornschuch,  Treviranus,  Gruit- 
huisen,  Oken,  Carus,  Schwcigger,  Meckel,  T  i  e  - 
demann,  Heusinger  u.  a.  trefflich  benutzt,  und  nicht 
Dur  der  theoretische  Pathologe,  sondern  auch  der  Pilanzen-, 
Thier-  und  Menschen -Physiologe,  und  selbst  der  rationell- 
empirische  Arzt  wird  mit  Belehrung  die  auf  die  Krankheit 
angewandten  Gesetze  des  Lebens  lesen,  und  des  Verf.  Fleifs, 
grofse  Belesenheit  und  geistvolle  Benutzung  des  grofsen 
von  den  Beobachtern  angehäuften  Vorraths  von  Erfahrun¬ 
gen  anerkennen  müssen,  wenn  auch  manche  der  angeführ¬ 
ten  Parallelen  zu  allgemein  oder  zu  beschränkt,  oder  nicht 
genug  entwickelt  sind.  Der  Verf.  wollte  ja  kein  abgeschlos¬ 
senes,  systematisches  Handbuch  der  pathologischen  Physio¬ 
logie,  sondern  nur  Andeutungen  geben  und  die  Aufmerk¬ 
samkeit  der  Forscher  darauf  leiten.  Bef.  glaubt,  dem  Ge¬ 
genstände  des  Werkes,  seiner  Wichtigkeit  gemäfs,  den 
besten  Dienst  zu  leisten,  wenn  er  einen  genauen,  für  prak¬ 
tische  Aerzte  vorzüglich  berechneten  Auszug  giebt,  woraus 
sich  der  durch  das  Ganze  waltende  höhere  Geist  am  besten 
von  selbst  beurtheilen  läfst. 

Einleitung  (S.  1  —  21.  und  §.  1  —  7.).  Die  schon 
von  Paracelsus  geäufserte  Idee  über  das  Wesen  der 
Krankheit,  dafs  sie  «nicht  etwas  Fehlendes,  sondern 
etwas  Positives  und  Reales,  ein  eigenes  Sein, 
ein  Leben  im  Leben,  ein  dem  Organismus  aufge¬ 
pfropfter  und  in  ihm  wurzelnder  selbstständiger 
Lebensprozefs  und  Organismus,  eine  Afterorga¬ 
nisation  sei,”  sucht  der  Verf.  durch  Nachweisung  der 
allgemeinen  Lebensgesetze  und  wesentlichen  Merkmale  und 
Eigenschaften  lebender  Wesen  zu  beweisen,  führt  die  für 
dieselbe  Ansicht  sprechenden  Aeufserungen  von  Helmont, 
Sydenhaiu,  Kieser,  Gmelio,  Hartmann,  Stark, 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  359 

Kreysig  und  Berndt  an,  und  parallelisirt  in  drei  Abthei¬ 
lungen  die  Krankheit  mit  den  übrigen  Organismen,  indem 
er  in  der  ersten  Abtheilung  die  Entwickelung  der  Orga¬ 
nismen  und  der  Krankheit,  in  der  zweiten  ihre  Lebensge¬ 
schichte,  und  in  der  dritten  deu  Tod  derselben  abhandelt. 

Erster  Abschnitt.  Zeugungsgeschichte  der 
Organismen  in  Bezug  auf  die  Ansteckungsge¬ 
schichte  der  Krankheiten  (S.  22  bis  127.  und  §.  8. 
bis  47.).  In  diesem  Abschnitte  beleuchtet  der  Verf.  den 
Satz :  «dafs  Krankheitszeugung  und  Zeugung  der 
Organismen  nicht  allein  höchst  analoge,  sondern 
völlig  identische  Acte  seien,»  durch  folgende  Ver¬ 
gleichungspunkte,  die  etwas  zweckmäfsiger  geordnet  sein 
können : 

1)  Zeugungsarten  (§.  8.  und  9.).  So  wie  alle  le¬ 
benden  Wesen  entweder  durch  Saamen  (Saamen-  oder 
Vaterzeugung,  Generatio  similaris,  propagato- 
ria,  secundaria),  oder  durch  die  Summe  äufserer  Ein¬ 
flüsse,  durch  die  vegetative  Kraft  der  Natur  (saamen- 
und  vaterlose  Zeugung,  Gen.  dissimilaris,  origi- 
naria,  aequivoca,  primitiva),  und  manche  durch  beide 
Arten  entstehen,  so  entwickeln  sich  auch  die  Krankheiten 
entweder  durch  Contagium  (Gen.  secund.),  z.  B.  Syphilis, 
Variola  u.  s.  w.,  oder  durch  das  Zusammentreffen  äufserer 
schädlicher  Potenzen  (Gen.  primaria),  z.  B.  Entzündungen 
und  Neurosen,  oder  bald  durch  die  eine,  bald  durch  die 
andere,  jedoch  mit  besonderer  grölserer  oder  geringerer 
Neigung  zu  einer  Entstehungsart,  z.  B.  Hospitalbrand,  ägyp¬ 
tische  Augenentzündung ,  Febris  puerperalis,  Ruhr,  Rose, 
Friesei,  Purpuralyphus,  Varicellen,  Croup,  Ophthalmia  neo¬ 
natorum,  Scorbut,  Masern,  Scharlach,  Flechten,  Krätze, 
Gicht,  Lepra,  Phthisis,  Furunkel.  —  Die  Saamcnerzeu- 
gung  hat  aber  eine  höhere  Organisation  zur  Folge,  als  die 
ursprüngliche  Zeugung. 

2)  Bedingungen  zur  Zeugung  (§.  10  —  12.). 
Wie  bei  der  originären  Zeugung  lebender  Wesen  1)  ein 


I 


360  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

Substrat  des  anzufachenden  Wesens,  ein  Lebensstoff,  und 

2)  äufsere  belebende  Einflüsse  nüthig  sind,  und  von  der 
Natur  dieser  Basis  die  Form  des  künftigen  Lebens  abhangt; 
so  müssen  auch  die  durch  primitive  Zeugung  entstehenden 
Krankheiten  ihr  Substrat  —  organischen  Stoff  —  und  äufsere 
belebende  Einflüsse  —  Gelegrnbeilsursachen,  ursächliche  Mo¬ 
mente,  äufsere  schädliche  Potenzen  —  zu  ihrer  Entwicke¬ 
lung  haben,  und  haben  ebenfalls,  nach  Verschiedenheit  bei¬ 
der  —  der  Individualität,  des  Systems,  Organs  und  der  Ge- 
lcgenheitsursachen  —  eine  verschiedene  Form.  Daher  die 
Verschiedenheit  derselben  Krankheit,  z.  B.  in  den  Scropheln 
bei  verschiedenen  Subjecten,  als:  Scropheln  der  llaut,  der 
Eingeweide,  der  Knochen  u.  s.  w.  —  Bei  der  sccun- 
dären  Zeugung  entstehen  die  Wesen  bald  nur  durch  ein  , 
Geschlecht,  den  Vater  (und  die,  Mutterstelle  vertretende, 
Erdelemente),  bald  durch  vereinte  (Hermaphroditen)  oder 
getrennte  Geschlechter.  So  schliefscn  sich  auch  die  aus 
Contagium  sich  entwickelnden  Krankheiten  den  cryptoga- 
mischen  Pflanzen,  Infusorien,  Medusen  u.  s.  \v.  an.  — 

3)  Fortpflanzungsvermögen  (§.  13.).  So  wie 
auf  der  einen  Seite  einige  niedere  Organismen,  z.  B.  die 
tiefsten  Infusorien,  Blasenwürmer,  sich  nicht  fortpflanzen  • 
können;  so  auch  mehre  Krankheiten,  z.  B.  die  Algieen, 
mehre  Entzündungen  (der  parenchymatösen  Organe ) ,  Blut- 
Hüsse,  Wassersüchten ,  llemmungs-  und  Thierbildungen. 
Auf  der  anderen  Seite  pflanzen  sich,  gleich  den  höheren 
Organismen,  auch  die  mehr  ausgebildeten  Krankheiten  fort, 
z.  B.  Typbus,  Pest,  gelbes  Fieber,  Cholera,  acute  und 
chronische  llautausschläge,  Gicht,  Scorbut,  manche  Scro- 
phclformcn,  viele  Entzündungen  (nur  die  der  Haut  und 
der  Schleim-  und  serösen  Häute),  daher  Catarrhe,  Croup, 
Buhr,  Ophtb.  aegypt,  nconator.,  Furunkel,  Karbunkel, 
Hospitalbrand,  Phthisis,  Hydrophobie,  Krebskrankheit,  Epi¬ 
lepsie,  Veitstanz,  Wechselfieber  u.  s.  w.  — 

4)  Fruchtbarkeit  (§.  14.  15.).  Nicht  alle  Orga¬ 
nismen  und  Krankheiten  sind  mit  gleichem  Grade  von  Frucht- 

t  ~ 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  361 

barkeit  ausgerüstet.  So  sind  Rothlauf,  Phthisis,  Gicht, 
Wechselfieher,  Epilepsie  u.  s.  w.  selten,  dagegen  Schar¬ 
lach,  Masern,  Blattern,  Krätze,  Syphilis  sehr  fruchtbar. 
Die  Zeit  der  Fruchtbarkeit  fällt  in  die  Blüthezeit  des  Le¬ 
bens  der  Organismen  und  der  Krankheiten  (Acme),  und 
mit  dem  Zurücktreten  der  Zeugungskraft  nähert  sich  der 
Tod.  Die  Entwickelung  der  Saamenorgane  oder  des  Saa- 
meos  geschieht  bei  den  contagiüsen  Krankheiten  auf  ihrer 
Höhe,  z.  B.  beim  gelben  Fieber,  Typhus,  Ruhr,  Blattern, 
Catarrh,  Schwindsucht,  Carcinom.  So  wie  bei  den  Pflan¬ 
zen  die  Lichenen,  so  machen  bei  der  Syphilis  die  Tripper¬ 
und  Schankersaamen  eine  Ausnahme.  — 

5)  Ereignisse  bei  der  Bildung  der  Saamen¬ 
organe  und  des  Saamens  (§.  16.).  So  wie  die  Bil¬ 
dung  der  Saamenorgane,  und  die  Bildung  und  Absonderung 
des  Saamens,  bei  den  Pflanzen  und  Thieren  mit  auffallen¬ 
den  Bewegungen  des  sensitiven  Lebens  geschieht,  so  tritt 
die  Bildung  der  Hautblüthen  bei  Krankheiten,  besonders 
bei  den  acuten  Exanthemen,  gewöhnlich  mit  Stürmen  im 
sensitiven  Leben,  mit  Krämpfen,  Delirien  u.  s.  w.  ein, 
und  stets  begleitet  ihre  Eruptionen  krankhaft  gesteigerte 
Sensibilität  des  Hautorgans  selbst,  als:  Kitzel,  Brennen, 
Jucken.  — 

6)  Folgen  der  Saamenabsonderung  für  das 
Leben  (§.  17.).  Die  Lebenskraft  der  Organismen  und 
der  Krankheiten  verzehrt  sich  in  der  Bildung  des  Zeugungs¬ 
stoffes,  des  Contagiums.  Auffallende  Beispiele  haben  wir 
an  Pestepidemieen,  acuten  Exanthemen,  an  der  Krätze.  — 

7)  Geruch  bei  der  Saamenabsonderu ng  (§.18.). 
Wie  zeugende  Organismen  eine  auffallende  Tendenz  zeigen, 
starke  Gerüche  zu  entwickeln,  so  hat  jede  contagiöse  Krank¬ 
heit  ihren  specifischen  Geruch,  der  mit  der  Saamenbildung, 
mit  der  Abscheidung  des  Ansteckungsstoffes  zusammenhängt. 
Beispiele  geben  die  Pest,  der  Typhus,  das  gelbe  Fieber, 
die  Blattern,  Varicellen,  Varioloiden,  Scharlach,  Masern, 
Friesei,  Syphilis,  Lepra,  Pellagra,  Weichselzopf,  Krätze, 


362  \  III.  Natorgeschichte  der  Krankheiten. 

Kopfgrind,  Phtbisis,  Scorbut,  Gicht,  Carcinom,  Hospital¬ 
brand,  Pustula  maligna. 

8)  Rhythmus  der  Zeugungskraft  (§.  19.).  Die 
Zeugungskraft  der  Organismen  wirkt  rhythmisch ;  so 
scheint  es  auch  hei  mehren  Krankheiten  zu  sein.  Reispiele 
giebt  die  Art  der  Ansteckung  bei  Syphilis,  Hydrophobie, 
Vaccine. 

9)  Zeugungsorgane  (§.20,21.).  Sowie  die  Zeu¬ 
gungskraft  bei  niederen  Organismen  an  kein  Organ,  bei  den 
höheren  an  bestimmte  Gebilde  (Zeugungsorgane)  gebunden 
wird,  so  gehen  auch  die  Contagien  bald  von  allen  Theilen 
des  kranken  Lebens  aus,  z.  B.  Typhus,  Wechseifieber,  Gicht, 
bald  nur  von  bestimmten  Saamenorganen  (Exantheme  oder 
Geschwüre),  z.  B.  bei  Blattern,  Fricscl,  Pest,  Aussatz, 
Syphilis.  Die  Bildungsstätte  des  Saamens  ist  ein  häutiges 
Behältnifs,  ein  Sack,  sowohl  bei  Pflanzen  als  bei  Thicren. 
So  auch  die  Saamenorgane  der  Krankheiten,  z.  B.  die  Bläs- 
cheu  der  Variola,  Vaccine,  Varicellc,  des  Schankers,  der 
Krätze,  Flechten;  die  Bläschen  der  höher  entwickelten  - 
Rose,  des  ausgebildeten  Scharlachs,  die  Masernstippchen, 
das  Typhusexanthem,  das  Blasenexanthem  der  Yaws  und 
Plans,  die  Bubonen  der  Pest,  der  Mundausschlag  beim 
AVechselfieber.  Sehr  häufig  zeigen  auch,  wie  immer  bei 
Pflanzen  und  Thieren,  diese  Bläschen  eine  zellige  Structur, 
ein  fächeriges  Gewebe,  in  dessen  Innerem  der  Saamen  ab¬ 
gesondert  wird.  Hierher  gehört  der  fächerartige  Bau  der 
Vaccine,  der  Variola,  der  grofsblüthigen  Krätze,  des  Bubo. 
Beim  Friesei,  bei  der  Blatterrose,  bei  der  \  aricelle  scheint 
diese  Bildung  zu  fehlen.  Es  ist  noch  nicht  entschieden,  ob 
das  Verschwinden  mancher  Exantheme  nach  dem  Tode  des 
Kranken  in  dem  Mangel  der  Zellen-  und  Fächerbildung 
seinen  Grund  habe,  ob  die  ZelTen  nach  fixen  geometrischen 
Gesetzen,  gleich  den  Pflanzenzellen  gebildet  sind,  und  wie 
sich  ihre  Entwickelung  und  Metamorphose  zu  denen  des 
Exanthems  und  der  Krankheit  selbst  verhalte.  — 

10)  A  u  s  s  t  o  1  s  u  n  g  des  Saamens  (  §.  22. ).  W  ie 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  363 

Lei  den  niedern  Organismen  die  Keimhälter  während  der 
Absetzung  des  Saamens  zerreifsen,  so  findet  dieser  Act  der 
Dehiscenz  auch  Lei  den  Saamenorganen  der  Krankheiten 
statt.  Das  Grübchen  der  Blatterpustel  wird  allmählig  zuin 
Loch,  das  Schankcrbläschen  platzt  bald,  der  syphilitische 
und  Pestbubo  geht  in  Eiterung  über  u.  s.  w.  — 

11)  Mannigfaltigkeit  der  Zegungst heile  (§.23.). 
Bei  den  niederen  Organismen  ist  eine  gewisse  Mannigfaltig¬ 
keit  der  Zeugungstheile.  Eben  so  bilden  auch  die  Krank¬ 
heiten  häufig  mehre  der  Form  und  Bildung  nach  von  ein¬ 
ander  abweichende  Zeugungsorgane.  So  die  Syphilis,  der 
Aussatz,  die  Pest,  Variola,  Varicelle,  Yaws  und  Pians.  — 

12)  Veränderung  der  Zeugungstheile  durch 
äufsere  Einflüsse  (§.  24.).  Die  Saamenorgane  niederer 
Wesen,  der  Pflanzen,  werden  leicht  durch  äufsere  Ein¬ 
flüsse  in  ihrer  Form  verändert.  So  auch  die  Fructifications- 
organe  der  Krankheiten;  hierher  gehört  z.  B.  die  unvoll¬ 
kommene  Entwickelung  der  Pocken  als  emphysematose, 
Stein-,  Warzen-,  Nabel-,  Blutpocken,  als  Wasser-  und 
Lymphblattern ,  die  Arten  von  Varicelle,  Vaccine,  Krätze, 
die  syphilitischen  und  leprösen  Formen.  — 

13)  Quantität  des  zur  Befruchtung  nÖthigen 
Saamens  (§.25.).  So  wie  bei  den  Pflanzen  und  Thieren, 
eine  unendlich  kleine  Menge  Saamen  zur  vollkommenen 
Befruchtung  hinreicht,  so  auch  bei  den  Krankheiten  (doch 
ohne  eine  Multiplication  anzunehmen).  Bekannt  ist  die  An¬ 
steckung  durch  Atome  von  Syphilis-,  Vaccine-,  Pest-  und 
Milzbrandstoff,  durch  den  Hauch  eines  Kranken  u.  s.  w.  — 

14)  Chemisches  Verhältnifs  des,  Saamens 
(§.  26'.).  Aehnlich  dem  Saamen  der  Organismen,  verhält 

sich  in  chemischer  Hinsicht  auch  der  Saamen  der  Krank- 

* 

heilen.  So  wie  bei  jenem  eine  eigentümliche  tbierische, 
dem  Schleim,  Kleber  und  Eiweifs  nahestehende  Materie  die 
Grundlage  ist,  und  Stickstoff  und  Wasserstoff  die  herr¬ 
schenden  Elemente  in  ihm  sind,  und  der  Saamen  basisch 
reagirt,  so  liegt  jedem  Contagium  ein  eigenthümiieher  thie- 


364  \  III.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

D 


rischer  Stoff,  der  dem  Schleim,  Eiwcifs  und  Kleber  nahe¬ 
steht,  mit  Salzen  zum  Grunde,  z.  II.  in  der  Kratz-  und 
Vaccine-Lymphe,  im  syphilitischen  und  liospitalbrand- Eiter. 
Stickstoff  und  Wasserstoff  zeigen  sich  durch  den  starken 
Geruch,  und  das  Ammonium,  das  man  reichlich  entbinden 
kann,  und  die  phosphorsauren  Salze  lassen  das  Gontagiuw 
basisch  reagiren.  Die  lilattern-,  Vaccine-  und  Krätzlymphe, 
der  syphilitische  und  carcinomatüse  Eiter,  färben  das  rothe 
Lackmuspapier  blau.  — 

15)  Aura  seminalis  (§.27.28.).  So  wie  bei  Pflan¬ 
zen  und  Thieren  eine  Aura  seminalis,  eine  Verbreitung  des 
Saameus  in  Gasform  häufig  naehgewiesen  werden  kann,  so 
haben  auch  sämmtliche  Contagien  eine  Aura  seminalis  (Con- 
tagium  distans).  Dafür  spricht  am  auffallendsten  der  Uebcr- 
gang  von  Exantliemen  und  Syphilis  auf  den  Fötus  mit  oder 
ohne  Erkranken  der  Mutter.  Den  Gebergang  von  lilattern 

beobachteten  Lcakc,  Lcroy,  Watson;  den  der  Pest 

% 

Dawcs,  Iilond,  Lynn;  den  von  Syphilis  Savary,  Le- 
roy,  Dibben,  Hunter,  Unzcr,  Fischer,  Ilinzc, 
Prieger.  Gleiche  Beobachtungen  liegen  von  Masern, 
Krätze,  Ruhr  vor.  — 

16)  Saainenth  ierchen  (§.  29.).  In  den  Saamen 
thierischcr  und  selbst  pflanzlicher  Wesen,  zeigen  sich  auf¬ 
fallende  Regungen  von  thierischen  Bildungen,  Saamenthier- 
chen;  so  auch  in  den  Krankheitsformen;  Jahn  fand  sie  im 
Blatterneitcr,  Saco  in  der  Kuhpockenlymphe,  Desault 
und  Weber  im  syphilitischen  Eiter,  Jahn  iu  der  Flüssig¬ 
keit  der  Tinea,  Alibert  in  den  verschiedenen  Krätzarten 
und  in  der  Thierraude,  Hensler  beim  Aussatze,  Brug- 
mans  in  der  Atmosphäre  der  Hospitalbrandkranken.  — 

17)  Lebcnstenacitat  des  Saamens  (§.  30. ). 
Der  Saamen  der  Pflanzen  und  J  liiere  hat  grofsc  Lcbcns- 
tenacität,  und  kann  nicht  leicht  zerstört  werden.  So  trotzt 
auch  der  Krankheitssaame  lange  der  Aufsenwelt,  z.  I».  die 
\ accinelymphe,  das  Gontagium  des  Milzbraudes  (selbst  die 
gegerbten  Häufe  stecken  noch  an),  des  Hospitalbrandes, 


* 


\  III.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  365 

der  Pest,  des  gelben  Fiebers,  der  ägyptischen  Augenenl- 
kündung,  der  Syphilis.  — 

18)  Schädliche  Einflüsse  auf  das  Leben  des 
ESaamens  (§.  31.).  Gewisse  Einflüsse  der  Aufsenwelt, 
besonders  hoher  Grad  der  Kälte  und  Wärme,  Licht,  Säu¬ 
ren,  Alkalien  u.  a.  mehr  vernichten  die  Wirksamkeit  des  Saa- 
mens  der  Organismen  und  der  Krankheiten,  z.  B.  des  Hos¬ 
pitalbrandes,  der  schwarzen  Blatter,  der  ägyptischen  Oph¬ 
thalmie,  der  Pest,  der  Blattern,  des  Typhus,  des  gelben 
Fiebers,  der  Ruhr,  der  Vaccinelymphe.  Daher  der  Nutzen 
der  kalten  Waschungen  und  Umschläge,  der  salz-,  salpeter- 
und  schwefelsauren  Dämpfe,  und  der  sauren  Waschungen 
gegen  ansteckende  Krankheiten.  — 

19)  Bedingungen  zur  Befruchtung:  a)  Trä¬ 
ger  des  Saamens  (§.  32.).  Der  männliche  Saamen  der 
Pflanzen  kommt  gröfstentheils  durch  äufsere  Einflüsse  in  die 
weiblichen  Genitalien,  oder  in  die  sie  vertretende  Erde. 
So  sind  auch  bei  Krankheiten  die  Luft  und  die  Thiere  Trä¬ 
ger  und  Verbreiter  des  Saamens.  Daher  die  Verbreitung 
der  ^Epidemieen  durch  gewisse  Winde,  die  Uebertragung 
von  Milzbrandcontagium  durch  Insekten.  —  b)  Aufnahme 
des  Saamens  (§.  33.)  Der  Saamen  organischer  Wesen 
nufs  von  einem  gleichen  Organismus  aufgenommen  werden. 
\ehnlich  verhalten  sich  Krankheitssaamcn.  Syphilis  haftet 
licht  bei  Thieren,  Rinderpest  nicht  bei  Thieren  anderer 
Gattung  und  beim  Menschen;  Masern,  Scharlach,  Friesei, 
^ehen  nicht  auf  Thiere  über.  So  wie  aber  bei  der  Zeu¬ 
gung  der  Organismen  Bastardproductionen  möglich  sind, 
;o  werden  auch  Krankheiten  auf  einen  anderen  mütterlichen 
Organismus  übertragen,  durch  denselben  modificirt.  So 
)ringt  die  Räude  der  Thiere  beim  Menschen  Krätze,  die 
Variola  beim  Affen  Varioloid,  die  Mauke  beim  Rindvieh 
Hüllblättern  und  beim  Menschen  Vaccine,  die  Kuhpocke  bei 
verschiedenen  Thieren  verschiedene  Pusteln  hervor.  Solche 
Eastardorganismen  und  Bastardkrankheiten  entbehren  mei- 
t.ens  des  Fortpflanzungsvermögens.  —  c)  Lcbensver- 


366  VW.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

haltniss  der  Mutter  (§.  34.).  Der  den  ZeugungsstofT 
empfangende  mütterliche  Thei!  mufs  reges,  blühendes  I.e- 
ben  besitzen,  wenn  ein  dem  väterlichen  Organismus  gleich¬ 
namiges  Wesen  gehörig  entwickelt  werden  soll.  So  haften 
die  Contagien  nur  in  der  Jugend  und  im  entwickelten 
Mannesaltcr.  Die  Receptivität  für  ein  Contagium  ist  dann 
gerade  am  stärksten,  wenn  das  System,  in  welchem  jenes 
Contagium  Wurzel  schlägt  und  seinen  Ileerd  hat,  in  der 
Culmination  seines  Lebens  steht.  Der  Scharlach,  die  lila t- 
ter,  die  Varicellen,  die  vorzüglich  im  chylopoetischen  Sy¬ 
stem  spielen,  befallen  kindliche  Organismen;  eben  so  Croup 
und  Masern  f  indem  sich  im  kindlichen  Organismus  die 
Sprache  und  das  anapnoische  System  entwickeln.  Im  zwei¬ 
ten  und  dritten  Decennium  des  menschlichen  Lehens  spie¬ 
len  das  Ilerz  und  die  ihm  angehörigen  Partieen  eine  wich¬ 
tige  Rolle;  aber  gerade  in  dieser  Periode  ist  der  Friesei 
mit  dem  Herzklopfen  und  den  pathologischen  Produkten 
im  Herzen  häufig.  Krankheiten,  die  das  sensitive  System 
vorzugsweise  ergreifen,  z.  B.  Pest,  Typhus,  Ochropyra, 
befallen  den  Menschen  vorzüglich  dann,  wenn  das  Nerven- 
und  Seelenleben  sich  vollständig  entwickelt  hat,  also  in  den 
Blütbejahren.  —  d)  Verhältnifs  der  zeugenden  In¬ 
dividuen  zu  einander  (§.  35.).  Die  zeugeuden  Organis¬ 
men  müssen  in  einer  dynamischen  Wechselbeziehung  zu 
einander  stehen.  So  mufs  auch  der  anzusteckende  Organis¬ 
mus  eine  besondere  Disposition  für  die  Krankheit  besitzen, 
d.  h.  er  mufs  in  besonderem  Wahlverwandtschaftsverhält¬ 
nisse  zu  der  das  Contagium  entwickelnden  Krankheit  und 
zum  Contagium  selbst  stehen.  So  werden  viele  Menschen 
nicht  leicht  durch  Syphilis,  Krätze,  Scharlach,  Typhus, 
Blattern  u.  s.  w.  angesteckt.  — 

20)  Allgemeine  und  örtliche  Wirkungen  der 
Befruchtung  (i^.  36.  37.).  Bei  der  Zeugung  der  Orga¬ 
nismen  geräth  das  den  Keim  empfangende  Individuum  nach 
der  Aufnahme  desselben  in  eine  besondere  allgemeine 
Erregung,  der  eine  örtliche  Metamorphose  des  den 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  367 

Keim  empfangenden  Organs  parallel  läuft.  So  auch  hei  der 
Aufnahme  der  Krankheitscontagien.  Die  allgemeine  Er- 
regung  aller  Systeme  ist  jener  bei  der  Empfängnis  ähn¬ 
lich,  und  besonders  auffallend  beim  Typhus,  bei  der  Pest, 
,  der  Cholera,  Ochropyra,  dem  Aussatze,  den  Blattern.  Beim 
ersten  Auftreten  der  Syphilis  waren  ähnliche  Symptome  mit 
der  Ansteckung  verbunden.  Gleichwie  bei  der  Empfäng¬ 
nis,  sind  diese  Zeichen  auch  bei  der  Ansteckung  häufig 
sehr  mangelhaft,  vermischt  und  undeutlich.  Die  örtliche 
Erregung  der  Organismen  offenbart  sich  durch  gesteigertes 
Bildungs-  und  Gefäfsleben  des  recipirenden  Organs,  mit 
Erhöhung  der  sensitiven  Actionen.  Diesem  Aehnliches  fin¬ 
det  sich  auch  bei  der  Aufnahme  der  Krankheitssaamen  in 
die  Atrien  des  Organismus  (die  Schleimhäute  und  das  ihnen 
ähnliche  Malpighische  Schleimnetz).  Das  plastische  Gefäfs- 
und  Nervenleben  dieser  Atrien  wird  mächtig  gesteigert. 
Diese  Zustände  kann  man  aber  weder  bei  der  Zeugung  der 
Organismen,  noch  bei  der  der  Krankheiten  Entzündung 
nennen.  — 

21)  Bedingungen  zur  Entwickelung  der 
Frucht,  a)  Schleim  (§.  38.).  So  wie  die  Ausbildung 
pflanzlicher  und  thierischer  Keime  im  Schleime  vor  sich 
geht,  so  werden  auch  alle  Contagien  auf  Schleimhäute  ab¬ 
gesetzt  und  in  die  Organismen  aufgenommen.  Die  Schleim¬ 
haut  der  Respirationsorgane  empfängt  die  Contagien  der 
Masern,  des  Keuchhustens,  des  Frieseis,  des  Typhus;  die 
Rachenschleimhaut  den  Scharlachstoff;  die  Conjunctiva  das 
Gift  der  ägyptischen  Augenentzündung,  die  Schleimhaut 
des  chylopoetischen  Systems  den  Blatternstoff,  die  Genital¬ 
schleimhaut  das  syphilitische  Gift.  Sobald  die  Ansteckung 
durch  die  Haut  vermittelt  wird,  haftet  das  Contagium  im 
Malpighischen  Schleimnetz,  z.  B.  bei  Krätze,  Milzbrand; 
selbst  wo  Wunden  Atrien  der  Contagien  sind,  haften  die 
Contagien  auf  der  Schleimfläche  des  Bodens  der  W^unde 
(Hospitalbrand,  Lues).  —  b)  Kohle  (§.  39).  So  wie 
die  Kohle  bei  der  Entwickelung  organischer  Keime  vom 


368  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

gröfsten  Einflüsse  ist,  und  die  Keime  der  Organismen  der 
Kohle  als  eines  Substrates  und  Materiales  zu  ihrer  En  tfal- 
tung  bedürfen,  so  werden  auch  die  Keime  der  Krankhei¬ 
ten,  alle  Contagien,  in  Entkohlungs-  und  Reinigungsor- 
ganen  (äufsere  und  innere  Ilaut)  empfangen  und  entwickelt. 
Ucberhaupt  haben  alle  Krankheiten  Neigung,  sich  auf  Ge¬ 
bilde  zu  werfen,  die  dem  Reinigungs-  und  Entkohlungs¬ 
prozesse  des  Organismus  angehüren.  Daher  haben  die  mei¬ 
sten  Krankheiten  Tendenz  zur  Exanthembildung,  zu  Affectio- 
nen  des  Respirations-  oder  chylopoi'tiscben  Systems.  — 

22)  UnTruc h  tbarkeit  (§.40.).  Gewöhnung  an  den 
Reiz  des  Saamens,  hebt  den  Einflufs  desselben  auf  eine  ge¬ 
wisse  Zeit,  oder  auf  immer.  Dies  weiset,  in  Eezichung  auf 
Krankheiten,  auch  die  Geschichte  der  Freudenhäuser  und 
der  Epidemieen  nach.  — 

23)  Superfötation  (§.41.).  So  wie  ein  und  der¬ 
selbe  Organismus  selten  Superfötation  eingeht,  so  nimmt 
auch  selten  derselbe  Organismus  zwei  Krankheitsformen  auf, 
z.  R.  Scharlach  mit  Vaccine  oder  Masern,  Masern  mit  Blat- 
tern  oder  Röthcln  oder  Vaccine;  Blattern  und  Pest.  Gleich 
den  beiden  Fötus,  entwickeln  sich  die  beiden  Krankheitsfor¬ 
men,  entweder  regelmüfsig  neben  einander,  oder  der  früher 
oder  später  aufgenommene  <stört  den  anderen,  oder  beide 
hemmen  und  vernichten  sich  gegenseitig.  — 

24)  Wiederholung  der  Befruchtung  (§.  42.). 
Mehre  Organismen  sind  nur  einmaliger  Empfängnifs  und 
Befruchtung  fähig.  Auch  die  meisten  ansteckenden  Krank¬ 
heiten  befallen  den  Menschen  nur  einmal,  und  die  Recepli- 
vität  für  sie  wird  durch  ihre  Gegenwart  getilgt,  so  dafs 
die  Atrien  ihrer  Contagien  nach  einmaliger  Aufnahme  der 
letzten  ihre  Bedeutung  als  Atrien  eben  dieser  Contagien 
verlieren.  Dagegen  giebt  cs  andere  Krankheiten,  deren 
Saamen  von  demselben  Organismus  und  von  demselben 
Organe  öfter  empfangen  und  entwickelt  werden  können, 
z.  B.  Eues,  Variccllc.  — 

25)  Elec  Irisch  es  und  magnetischem  Verhält- 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.'  369 

nifs  der  Zeugung  (§.  43.  44.).  So  wie  bei  der  Zeu¬ 
gung  der  Organismen,  so  kann  auch  bei  der  Ansteckung 
ein  elektrischer  und  magnetischer  Prozefs  nachgewiesen 
werden.  — 

26)  Erblichkeit  der  Fehler  (§.  45.  46.).  Die 
Keime  von  niederen  Pflanzen  und  Thieren  entwickeln  sich 
in  manchen  Fällen  nach  einem  anderen,  ganz  fremdartigen 
Typus,  zu  Gestalten,  die  dem  älterlichen  Organismus  nicht 
gleichartig  sind.  Eben  so  bilden  sich  die  Saamen  der  Krank¬ 
heiten  zu  Krankheitsformen  aus,  die  der  Mutterkrankheit 
nicht  gleich  stehen.  Das  Varicellen  -  Contagium  producirt 
wahre  Blattern,  der  Scharlachstoff  Angina  gangraenosa,  das 
Hospital-  und  Milzbrand- Contagium  Typhus,  und  Typhus 
wieder  Hospitalbrand  bei  Verwundeten.  So  wie  Abwei¬ 
chungen  zeugender  Organismen  von  ihnen  auf  ihre  Nach¬ 
kommenschaft  übertragen  werden,  so  übertragen  auch  Krank¬ 
heitsorganismen  die  ihnen  zustehenden  Anomalieen  auf  ihre 
Nachkommenschaft,  z.  B.  anomale  Vaccine,  anomale  syphi¬ 
litische  und  lepröse  Formen,  wohin  die  Radesyge,  die 
Marschkrankheit,  die  Falkadina,  der  Scherlievo,  die  Sibbens, 
die  Yaws  und  Pians,  das  Pellagra,  die  asturische  Rose, 
der  Weichselzopf,  die  Krimmische  Krankheit  gehören.  — 

Zweiter  Abschnitt.  Lebensgeschichte  der  Or¬ 
ganismen  in  Bezug  auf  Lebens-  (Verlaufs-)  Ge¬ 
schichte  des  Krankheitsprozesses  (S.  128 — 230.). 
Das  Aehnliche  und  Gleiche  des  Lebens  der  Krankheiten  mit 
dem  Leben  der  Organismen  wird  durch  folgende  Punkte 
gezeigt: 

1)  Lebenserscheinungen  und  Lebensform  (§.48.). 
Jedes  J^eben  beurkundet  sich  durch  Lebenserscheinun¬ 
gen,  und  erhält  dadurch  die  Lebensform.  So  hat  auch 
die  Krankheit  ihre  Symptome,  deren  Complex  die  Krank¬ 
heitsform  giebt.  Beide  haben  einen  Leib  und  eine  Seele. 
So  wie  nämlich  in  jedem  Wesen  Kraft  und  Stoff,  Seele 
und  Leib,  eine  ideale,  dynamische,  und  eine  mate¬ 
riale,  reale,  somatische  Seite,  ein  Bestimmendes,  Schaffen- 
XIV.  Bd.  3.  St.  24 


i 


I 


370  VIII.  Natargeschichto  der  Krankheiten. 

des,  und  ein  Bestimmtes,  Geschafftes,  Thätigkeit  und  Sub¬ 
strat,  Pr 07. efs  und  Organ  ist,  die  bei  verschiedenen 
Wesen  in  einem  verschiedenen  Verhältnifs  zu  einander  ste¬ 
hen,  und  von  denen  bald  die  eine,  bald  die  andere  vor¬ 
herrscht;  so  hat  auch  jede  Krankheit  ein  materiales  Sub- 
srat  und  lebendige  Thätigkeit,  ihren  Leib  und  ihre 
Seele,  krankhaft  veränderten  Stoff  und  eine  krankhaft  ver¬ 
änderte  Thätigkeit,  eine  Materia  peccans  und  efficacia  per¬ 
niciosa,  materiale  und  dynamische  Symptome,  die 
in  verschiedenen  Krankheiten  mehr  oder  weniger  vorherr¬ 
schen,  woher  die  Eintheilung  der  Krankheiten  in  organi¬ 
sche  und  dynamische.  — 

2)  Individualität  und  Selbstständigkeit  (§.49. 
und  50.).  Jedes  Leben  hat  Individualität  und  eine  gewisse 
Selbstständigkeit.  So  auch  die  Krankheit;  sie  strebt  sich 
selbst  zu  erhalten,  zu  vervollkommnen  und  auszubilden.  — 

3)  Lebensalter  und  Lebensmetamorphosen 
(§.  51.).  Jedes  Leben  hat  sein  Alter,  und  erleidet  wäh¬ 
rend  desselben  verschiedene  Veränderungen,  organische  Me¬ 
tamorphosen,  es  hat  eine  Evolution ,  Culmination  und  Invo¬ 
lution,  während  welcher  Seele  und  Leib  sich  verschieden 
verhalten.  Auch  der  Krankheitsprozefs  hat  Increment,  die 
Acme  und  Dccrcment,  während  welcher  Metamorphose  die 
Symptome  verschieden  sind.  Beispiele  geben  die  Syphilis, 
die  Tuberkelbildung  u.  s.  w.  Für  diese  Metamorpho¬ 
sen  gelten  folgende  Gesetze:  Die  Geneigtheit  zu  Meta¬ 
morphosen  fällt  im  Allgemeinen  in  das  jugendliche  Alter, 
z.  IL  beim  Fötus,  bei  der  angehenden  Lues;  die  Metamor¬ 
phosen  sind  bald  mehr,  bald  weniger  auffallend,  oder  un¬ 
deutlich.  Sie  kommen  zu  Stande:  1)  neue  Gebilde  und 
Actionen  kommen  zu  den  ursprünglich  vorhandenen,  z.  B. 
zum  ursprünglichen  Schanker  der  Bubo  und  das  Condylom; 
2)  vorhandene  Gebilde  und  Aclionen  werden  verändert, 
z.  B.  das  Maserstippchen  zum  Maserknötchen;  3)  vorhan¬ 
dene  (iehildc  sterben  ab,  und  werden  nicht  wieder  ersetzt, 
so  die  Pupillarmembran,  der  JNabelstrang  und  mehre  andere 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  371 

Gebilde  des  Fötus;  Aehnliches  geschieht  mit  dem  Schanker 
u.  s.  w.  Dies  sind  die  Symptomata  temporaria  der  Alten. 
4)  Vorhandene  Gebilde  sterben  ah,  und  werden  wieder 
ersetzt.  So  bei  Pflanzen,  Thieren  und  Krankheiten,  z.  B. 
Lues.  Die  Norm  dieser  Erscheinungen  der  Metamorpho¬ 
sen  ist:  a)  der  Wechsel  ist  an  bestimmte  äufsere  Zeitpe¬ 
rioden  gebunden,  besonders  bei  Krankheiten  (an  den  Früh¬ 
ling  und  Herbst),  b)  oder  nicht,  z.  B.  die  syphilitischen 
Hautausschläge ;  c)  das  Intervallum  ist  verschieden;  d)  äufsere 
Einflüsse  fördern  oder  hemmen  den  Act.  5)  Die  zurück¬ 
tretenden  Gebilde  bleiben  als  Rudimente  stehen.  So  die 
Geschlechtstheile  im  Alter,  die  Thymus-  und  Schilddrüse, 
das  Stehenbleiben  mancher  Tuberkeln  als  steinharte  Massen; 
so  verliert  manches  syphilitische  Geschwür  seinen  syphiliti¬ 
schen  Charakter,  und  bleibt  als  einfaches  Absonderungsor¬ 
gan  zurück.  6)  Einzelne  Partieen  verlieren  ihr  Gewicht, 
und  andere,  bisher  untergeordnete,  treten  auf.  So  weicht 
das  vegetative  System  des  Kindes  dem  sensitiven  des  höhe¬ 
ren  Alters,  das  catarrhalische  Leiden  im  ersten  Stadium  des 
Typhus  den  nervösen  Affectionen.  7)  So  wue  jedes  Leben, 
so  beginnt  und  endet  die  Krankheit  mit  einer  latenten  Pe¬ 
riode,  unter  Scheintod  (Stad,  prodromorum,  invasio- 
nis,  irritationis,  fermentationis,  opportunitatis ,  und  Conva- 
lescenz,  Wiedergenesung),  beide  sind  von  verschiede¬ 
ner  Dauer.  8)  Der  Uebergang  aus  dem  latenten  Zustande 
in  den  in  die  Wahrnehmung  fallenden,  selbstständigen  Pro- 
zefs,  und  von  diesem  in  den  latenten  Zustand  beim  Tode, 
äufsert  sich  durch  unbestimmte  Zeichen.  So  auch  bei 
Krankheiten.  9)  Organismen  und  Krankheiten  folgen  bei 
ihrer  Entwickelung  dem  Harvey  sehen  Gesetze,  und  gehen 
von  den  niederen  zu  den  höheren  Bildungsstufen  über. 
Beispiele  geben:  a)  das  venöse  Krankheitsgeschlecht  (Kya- 
nose),  dessen  höchste  Entwickelung  der  Scorbut  ist.  Die 
venöse  Congestion,  venöse  Blutungen,  die  Petechialkrank¬ 
beit,  die  Stomacace  sind  Entwickelungsstufen  derselben, 
b)  Das  Geschlecht  Rothsucht,  Erythrose,  dessen  Stufen 

24  * 


372  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

die  Plethora  arteriosa,  Congestio  arteriosa,  die  arterielle 
Blutung,  die  Subinllamniatio,  und  die  höchste  die  Entzün¬ 
dung  ist.  Beide,  Scorbut  und  Entzündung,  durchlaufen 
bei  ihrer  Entwickelung  den  ganzen  Kreis  dieser  Krankhei¬ 
ten.  10)  Der  letzte  Abschnitt  des  Lebens  ist  durch  An¬ 
häufung  der  Lebensproductc  characterisirt,  das  Leben  er¬ 
lischt  in  seinen  Productcn.  Beispiele  im  Thier-  und  Pflan¬ 
zenreiche  sind  bekannt.  Je  mehr  eine  Krankheit  Producte 
absetzt,  desto  mehr  verliert  ihr  Leben  an  Intensität.  So 
verzehrt  sich  der  Gichtprozels  in  den  Ablagerungen,  und 
der  lahmgewordene  Kranke  erleidet  keine  Paroxysmen  mehr. 
So  hört  die  lntermittens  mit  dem  Erscheinen  des  Fieber¬ 
kuchens  auf,  so  endet  Entzündung  in  Lvmph-,  Eiter-  und 
Wasserbildung. 

4 )  Rhythmus  (Typus)  des  Lebensprozesses 
(^.  52.).  Jedes  Leben  geht  in  Stöfscn  und  Pausen,  in  Span¬ 
nungen  und  Abspannungen,  in  stetem  Wechsel  von  Th'a- 
tigkeit  und  Ruhe  einher,  zeigt  Pulsation.  So  auch  die 
Krankheit.  Daher  die  Lehre  vom  Typus,  Rhythmus,  Ex¬ 
acerbationen  und  Remissionen,  Paroxysmen  und  Intermis¬ 
sionen  der  Krankheiten.  Gesetze  desselben  sind:  a)  Die 
Pausen  und  Steigerungen  des  Lebensprozesses  sind  bald 
mehr,  bald  weniger  merklich  und  deutlich.  So  ist  der 
Grad  der  Ruhe  bei  den  Krankheiten  verschieden,  z.  B.  bei 
der  lntermittens,  der  Entzündung,  der  Syphilis.  Nach  die¬ 
ser  gradualen  Verschiedenheit  der  Stärke  des  Krankheits¬ 
prozesses  theilt  man  die  Krankheiten  in  intermitti- 
rende  und  r e  m  i  t  ti  r  e n d e.  Allein  beide  sind  nicht  we¬ 
sentlich  verschieden;  die  remittirende  Krankheit  ruht  so  gut, 
als  die  intermittirende,  nur  ist  die  Ruhe  nicht  so  tief,  und 
nicht  so  deutlich,  b)  Die  Pausen  des  Lebensprozesscs  der 
Organismen  und  der  Krankheiten  sind  entweder  gebunden, 
vom  Erdorganismus  abhängig,  oder  frei,  c)  Die  Zeit  der 
Ruhe  und  die  verstärkter  Thätigkeit,  sind  bei  verschiedenen 
Organismen  und  Krankheiten  von  sehr  verschiedener  Lange.  ' 
Beispiele  geben:  der  Keuchhusten,  die  lntermittens,  Epi- 


I 


VIII-  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  373 

Iepsie,  Syphilis.  d)  Gleich  der  Erde,  haben  nicht  alle 
Theile  eines  Organismus  gleiche  Zeiten  der  Kühe  und  Thä- 
tigkeit.  e)  In  der  Jugend  und  im  Alter  der  Organismen 
sind  die  Pausen  länger,  und  die  Steigerungen  des  Lebens 
kürzer  und  seltener.  So  hei  Arthritis,  Neurosen  u.  s.  w. 

5)  Einflufs  der  Aufsenwelt  (§.53.).  Potenzen, 
die  das  Leben  der  niederen  Organismen  begünstigen,  sind 
auch  dem  Leben  der  meisten  Krankheiten  befreundet,  z.  B. 
Wärme,  Feuchtigkeit,  unreine  Luft,  und  umgekehrt,  z.  B. 
Quecksilber,  Schwefel  u.  s.  w.  Aeufsere  Einflüsse  modifi- 
ciren  häufig  die  Form  und  Gestalt  der  Organismen  und 
Krankheiten ,  z.  B.  der  Lues ,  der  Hautkrankheiten  —  oder 
trüben  und  stören  ihre  Entwickelung  und  Metamorphose, 
z.  B.  der  Vaccine,  der  Wasserscheu,  der  Scropheln  — 
oder  veranlassen  ein  Beharren  auf  einer  Bildungsstufe,  z.  B. 
der  primären  Syphilis,  des  catarrhalischen  Stadiums  des 
Typhus  u.  s.  w.  —  oder  beschleuniget  ihre  Entwickelungs¬ 
stufen,  z.  B.  den  schnellen  Uebergang  der  primären  Lues 
in  die  secundare,  des  catarrhalischen  Stadiums  des  Typhus 
in  das  nervöse  —  oder  verursachen  Bildungshemmungen, 
z.  B.  exan thematische  Fieber  ohne  Exanthem,  Typhus  mi- 
tior,  Habitus  scrophulosus  u.  s.  w.  —  oder  Rücksprünge, 
Kecidive  —  oder  modificiren  den  Rhythmus  und  Typus 
(morbus  atypicus,  irregularis,  vagus,  erraticus,  corruptus, 
devius,  aberrans,  illegitimus,  typus  anticipans,  anteponens, 
postponens,  retardans  etc.). 

(i)  Verbreitung  der  Organismen  und  Krank¬ 
heiten  über  die  Erde  (§.  54.).  (Geographische  Zoo¬ 
logie,  Botanik  und  Krankheitsflora,  oder  geographische  No¬ 
sologie.)  a)  Manche  W  esen  und  Krankheiten  linden  sich 
überall  (Entzündungen,  Catarrhe,  Rheumatismen,  Wasser¬ 
süchten,  Krämpfe),  b)  andere  nur  in  gewissen  Gränzen 
(Pest,  gelbes  Fieber,  Radesyge,  Weichselzopf,  Pellagra), 
oder  c)  nur  an  einzelnen  Orten  (aleppische  Flechte,  ma¬ 
rokkanische  Hodengeschwulst,  krimmische  Krankheit,  Ra¬ 
desyge,  Sibbens,  Weichselzopf,  der  Selienlop  in  Nieder- 


374  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

Sachsen,  das  Pellagra,  die  asturiscbe  Pose,  das  Mal  rouge 
in  Cayenne,  das  knollenbein  in  Barbados,  die  Pinta  in 
Mexico);  d)  kalte  und  heifse  Erdstriche  haben  ihre  eigen- 
tbümlichen  Wesen  und  Krankheiten  (Sihbens,  Badesyge, 
Influenza,  Purpuratyphus,  Schweifsfieber,  Keuchhusten,  die 
blaue  esthländiscbe  Blatter  gehören  den  nördlichen,  \aws, 
Pians,  die  Krankheit  von  Soudan,  Lepra  aegypt,  die  Seuche 
von  Mosambique,  die  rothe  Krankheit  von  Cayenne,  Mal 
de  St.  Lazaro,  die  Fufsgeschwulst  von  Barbados,  Boulam- 
fieber,  gelbes  Fieber,  Cholera  den  südlichen  Erdstrichen 
an);  e)  die  höchste  Frequenz  und  Mannigfaltigkeit  der  Or¬ 
ganismen  und  Krankheiten  fällt  in  die  wärmeren  Gegenden, 
und  in  der  Nähe  des  Aequators  erhalten  sie  ihre  gröfste 
Entwickelung  (dies  zeigt  die  Intensität  der  krampfigen  Krank¬ 
heiten,  z.  B.  des  Trismus  und  Tetanus,  der  schnelle  Ueber- 
gang  von  Entzündungen  in  Brand,  z.  B.  der  Dysenterieeo, 
der  Mastdarmentzündung);  f)  in  der  Vorzeit  waren  viele 
tropische  Wesen  und  Krankheiten  weiter  als  jetzt  nach 
dem  Pole  hin  verbreitet  (Pest,  Lepra);  g)  die  östliche 
Welt  hat  mit  der  westlichen  wenig  an  höheren  Organis¬ 
men  und  Krankheiten  gemein;  nur  von  den  tieferen  kom¬ 
men  viele  zugleich  in  beiden  Welttheileu  vor  (die  Exan¬ 
theme,  die  Pest,  der  Purpuratyphus,  die  ostindische  Cho¬ 
lera,  schwarze  Blatter,  der  Weichselzopf,  das  Pellagra,  die 
aleppischc  Flechte,  die  Marschkrankheit,  die  Badesyge ,  die 
Sibbens,  die  asturische  Bose,  der  ungarische  Pokolwar,  die 
Furia  inf. ,  der  Keuchhusten,  die  Yaws  und  Pians,  das  Bou- 
iamfieber  u.  s,  w.  sind  in  der  neuen  W  eit  entweder  gar 
nicht,  oder  nur  nur  durch  Verschleppung  bekannt  gewor¬ 
den;  so  wie  das  gelbe  Fieber,  die  Fufsgeschwulst  von  Bar¬ 
bados,  Mal  rouge  von  Cayenne,  die  Krankheit  von  Ca  na  da, 
Pinta,  die  peruanische  Mastdarmgangrän  u.  s.  w.  die  alte 
Welt  wenig  oder  gar  nicht  berührt  haben.  Niedere  Krank¬ 
heiten  kommen  aber  in  beiden  Welttheilen  vor,  z.  B.  Ent¬ 
zündungen,  Rheumatismen,  iotcrinittircnde  Fieber);  h)  die 
barometrische  Höhe  der  Ileimatb  hat  auf  die  geographische 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  375 

Verbreitung  der  Pflanzen,  Thiere  und  Krankheiten  Einflufs. 
Den  tief  gelegenen  Gegenden  sind  Aussatzformen ,  Tuber¬ 
keln,  Scropheln,  Wechselfieber,  viele  Hautausschläge,  Was¬ 
sersüchten,  den  höheren  Regionen  Lungenentzündung,  Kropf, 
Gretinisnms  eigen.  Der  gröfste  Reichthum  von  Organismen 
und  Krankheiten  scheint  nur  in  die  Reiche  von  geringer 
Elevation  über  den  Meeresspiegel  zu  fallen.  So  gelbes 
Fieber,  Cholera,  Aussatz,  Wechselfieber,  Phthisis,  Was¬ 
sersucht,  Scropheln,  Scorbut ,  Arthritis,  Haemorrhois. 
i)  Manche  Wesen  und  Krankheiten  gehen  dem  Meeres¬ 
strande  oder  den  Flufsufern  nach,  z.  R.  gelbes  Fieber,  die 
Intermittens;  andere  folgen  bestimmten  Zügen  anorganischer 
Körper,  z.  R.  den  Kalklagern,  dem  Sandboden;  so  Kropf 
und  Cretinismus.  k)  Die  Organismen  und  Krankheiten 
wandern  theils  von  Osten  nach  Westen,  theils  von  Westen 
nach  Osten,  Erstes  ist  vorherrschend.  Die  Blattern, 
Masern,  und  wahrscheinlich  auch  der  Scharlach ,  wanderten 
aus  Asien  nach  Europa  und  Amerika;  der  Aussatz  und  die 
Pest  zogen  immer  von  Osten  nach  Westen;  der  schwarze 
Tod,  die  Influenza,  die  Epidemieen  vom  Typhus,  der  bran¬ 
digen  Braune  und  des  Schweifsfiebers  zogen  der  Sonne 
nach;  der  Weichselzopf  stammt  aus  der  Tartarei.  ln  ent-, 
gegengesetzter  Richtung  haben  sich  die  Lues  und  das  gelbe 
Fieber  verbreitet.  1)  Häufig  verändern  die  in  fremdes 
Clima  versetzten  Organismen  ihre  Züge.  So  hat  der  in 
den  südöstlichen  Strichen  der  alten  Welt  einheimische  Aus- 
satz  überall  andere  Gestalten  bekommen,  zu  denen  die 
krimmische  Krankheit,  die  Yaws,  die  Krankheit  von  Cayenne, 
die  Radcsyge  gehören.  Die  Lues,  nach  Afrika  und  Nord¬ 
amerika  gelangend,  hat  dort  als  Krankheit  von  Soudan  und 
hier  als  Krankheit  von  Canada  ihren  Habitus  geändert, 
und  befällt  an  beiden  Orten  den  Menschen  nur  einmal, 
m)  Manche  Organismen  und  Krankheiten  kommen  stets 
truppweise,  andere  nur  einzeln  vor.  Bei  den  Krankheiten 
heifsen  letzte  sporadische,  morbi  dispersi,  erste  pande- 
mische;  ihr  einzelnes  Erscheinen  ist  Ausnahme. 


376  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

7)  Einflufs  der  Organismen  und  Krankheiten 
auf  andere  Organismen  und  Krankheiten  (§.  55.).. 

a)  Manche  Organismen  und  Krankheiten  hängen  von  dem 
Lehen  anderer  ab.  Hierher  gehören  die  symptomati¬ 
schen,  secundärcn,  dcutcropathischen  Krankheiten, 
z.  B.  Petechien,  manche  Frieseiformen ,  die  chronischen 
Wassersüchten,  die  Pneumatosen,  Blutungen  u.  s.  w.  Sie 
enden  mit  dem  Ende  der  Grundkrankheit,  b)  Manche  Or¬ 
ganismen  und  Krankheiten  üben  auf  andere  einen  fördern¬ 
den  und  günstigen,  oder  feindlichen  und  schädlichen  Einflufs. 
So  beschleunigt  die  Vaccine  die  Entwickelung  der  Scro- 
phcln.  Seropheln  oder  Scorbut  entwickeln  die  Syphilis  zu 
einem  furchtbaren  Grade.  Masern  beschleunigen  die  Er¬ 
weichung  der  Lungentuberkeln,  und  die  schnelle  Entwicke¬ 
lung  des  Kropfes.  Auf  der  anderen  Seite  beschränken  siel» 
Vaccine  und  \  ariola>  Vaccine  und  Scharlach,  Lepra  und 
Pest,  Typhus  und  Lues,  Krätze  und  Typhus,  ägyptische 
Augenentziindung  und  Typhus,  Tripper  und  Pest,  und  an¬ 
dere  gegenseitig,  c)  Manche  niedere  Organismen  und  Krank¬ 
heiten  können  sich  mit  anderen,  der  Art  und  Gattung  nach 
verschiedenen,  innig  verbinden  und  neue  Individualitäten  dar- 
stellcn,  die  bei  Krankheiten  Compl  i  catio  n  en  heifsen,  z.  B. 
Lues  mit  Gicht,  Rheumatismus,  Seropheln,  Lepra  u.  s.  w. 

8)  Selbstständigkeit  der  Organismen  und 
Krankheiten,  und  W  id  erst  and  gegen  die  Aufscn- 
welt  (§.  50.)  a)  Alle  Organismen  und  Krankheiten  kün- 

.  nen  einzelne  ihrer  Grbilde  verlieren,  ohne  dafs  ihr  Ge- 
sammtleben  dadurch  vernichtet  wird;  sie  entfalten  vielmehr 
häufig  ein  regeres  Leben.  So  können  chronische  Haut¬ 
krankheiten  zerstört  werden,  ihre  Wurzel  im  Innern  be¬ 
steht  fort,  entwickelt  sich  stärker,  so  dafs  jene  Erscheinun¬ 
gen,  die  unter  den  Namen  Metaschematismus,  Meta¬ 
stasen,  Diadochc,  Metaptosis,  Morbus  corruptus, 
larvatus,  suppressus  bekannt  sind,  sich  einstellen.  Bei¬ 
spiele  geben  Syphilis,  Krätze,  Gicht,  Haemorrbois,  Lepra. 

b)  Organismen  und  Krankheiten  haben  Rcgcncrationsver- 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  377 

I 

mögen.  Bei  Krankheiten  heifst  man  dies  häufig  Recidiv, 
unvollkommene  oder  theilweise  Crisis.  Der  Ersatz  verloren 
gegangener  Theile  geschieht  auf  Unkosten  der  unversehrt 
gebliebenen  Partie.  (Wenn  Krätze  ihre  vernichteten  Haut- 
blülhen  wieder  hervortreibt,  so  schwächt  der  Pxeprodu- 
etionsact  das  Leben  des  Krankheitsprozesses  selbst,  so  dafs 
das  Leiden  des  inneren  Organismus,  die  Krätzmetastasen, 
gelinder  wird.)  Der  Ersatz  ist  aber  häufig  unvollkommen 
(anstatt  der  reinen  unterdrückten  Krätze,  kommt  häufig 
nur  ein  frieselähnlicher  Ausschlag.  Die  anomale  Gicht  ist 
ein  die  supprimirte  Gelenkaffection  unvollkommen  vertre¬ 
tendes  Leiden).  Derselbe  Theil  kann  mehrmals  reproducirt 
werden.  Der  Reproductionsact  selbst  steht  unter  dem  Ein- 
llufs  äufserer  Dinge,  namentlich  scheint  die  Wärme  noth- 
wendig  zu  sein  (z.  B.  bei  Krätze,  Gicht).  Manche  Orga¬ 
nismen  und  Krankheiten  haben  die  Reproductionskraft  in 
einem  höheren  Grade  (z.  B.  Syphilis  mehr  als  Krätze), 
manche  können  sich  selbst  aus  einem  Rudimente  wieder 
vollständig  entwickeln  (Beispiele  geben  die  meisten  Reci- 
dive,  Syphilis,  Krebs). 

9)  Schädlicher  Einflufs  der  Schmarotzer¬ 
organismen  auf  den  Träger,  und  Reaction  des¬ 
selben  (§.  57.).  So  wie  jeder  Schmarotzerorganismus 
sich  auf  Kosten  desjenigen  Organismus  erhält,  auf  dem  er 
lebt;  so  verhält  sich  auch  die  Krankheit  zu  dem  sie  tragen¬ 
den  Organismus,  sie  befeindet  und  stört  den  Lebensprozefs 
in  verschiedenen  Graden,  je  nach  der  Individualität  der 
Krankheit  und  des  Organismus.  Der  Organismus  verhält 
sich  aber  nicht  leidend,  sondern  kämpfend  dagegen,  er  rea- 
girt,  indem  seine  Grundsysteme  mit  ihren  Functionen,  das 
vegetative  System  mit  dem  ihm  inwohnenden  animalischen 
Leben,  und  das  Nervensystem  mit  dem  ihm  angehörigen 
sensitiven  Leben  gesteigert  hervortreten.  Fieber  ist  da¬ 
her  keine  Krankheit,  sondern  der  Schatten  einer  Krankheit, 
ist  Pieaclion  des  Organismus  gegen  örtliches  Leiden;  Fie¬ 
ber  und  lieilslreben  der  Natur  sind  Synonyme.  Fieber 


378  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

ist  ohne  örtliches  Leiden  nicht  vorhanden,  es  giebt  kein 
substantives,  essentiales,  idiopathisches  Fieber. 
Jede  Reaction  des  Organismus  gegen  Krankheit  rnufs  Fie¬ 
ber  heilsen,  daher  tritt  es  in  fast  unzähligen  Gestalten  auf, 
z.  B.  als  Tetanus,  Trismus,  Epilepsie,  Epiphora.  l)ie  Form 
des  Fiebers  wird  durch  die  Natur  der  Krankheit  und  des 
Organismus  bedingt.  Fieber  ist  keiner  Krankheit  wesent¬ 
lich  (Ilirnentzündung,  Pest,  Scharlach  u.  a.  kommen  auch 
ohne  Fieber  vor);  es  fehlen  aber  in  sehr  wenigen  Fällen 
alle  Fieberregungen  gänzlich.  Oie  Reaction  (Fieber)  kanu 
mehr  Örtlich  oder  allgemein  sein,  und  beide  sind  entweder 
vollständig  oder  unvollständig.  Bei  der  vollständigen  Re¬ 
action  kämpfen  alle  drei  Grundsysteme  ebenmäfsig,  bei  der 
unvollständigen  nur  ein  oder  das  andere  gegen  die  Krank¬ 
heit.  Oie  Reaction  hält  der  Krankheit  entweder  das  Gleich¬ 
gewicht  ( leichte  Aufregung  der  Functionen  —  Reizungs¬ 
fieber),  oder  sie  wird  excessiv  (örtlich:  profuse  Se- 
cr et  io  ne  n,  Blut  flösse,  Wucherungen,  Entzün¬ 
dung,  Krampf,  Algie;  allgemein:  Synocha,  heftige 
Krämpfe),  oder  erliegt  im  Kampfe  (örtlich:  Nerven¬ 
lähmung,  Brand;  allgemein:  typhöser  Prozefs).  So¬ 
mit  kann  jede  Reaction  des  Organismus  gegen  Krankheit 
heilsam  oder  schädlich  werden.  (Oer  Vcrf.  führt  die  An¬ 
sichten  von  Gels us,  Ilclmont,  Paracelsus,  Bagliv, 
Sydcnham,  Boerhaave,  Stahl,  über  das  Fieber  wört¬ 
lich  an). 

10)  Macrocosmus  und  Microcosmus  der  or¬ 
ganischen  Wesen  und  Krankheiten  ( §.  58. ).  So 
wie  die  organischen  Wesen  grofse  Organismen  bilden,  die 
im  Innern  organisch  zerfallen  und  Systeme,  Organe,  Ap¬ 
parate  unter  der  Form  der  Arten,  Gattungen  und  Familien 
darbieten;  so  constituiren  die  gesammten  Kraukheitsformea 
einen  einzigen  grolsen  Organismus,  in  dessen  Leben  sich 
die  Gesetze  ihres  cigeoen  Lebens  abspiegelo.  a)  Gleich 
dem  Macrocosmus  der  Pflanzen  uod  Thiere,  ist  der  der 
Krankheiten  in  einer  beständigen  Metamorphose,  und  es 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  379 

giebt  daher  eine  Geschichte  der  Pflanzen,  Thiere 
und  Krankheiten.  Diese  grofse  oder  allgemeine  Meta¬ 
morphose  gleicht  der  der  einzelnen  Organismen  und  Krank¬ 
heiten:  <*)  ln  Beziehung  auf  Entstehung.  So  wie 
jede  Krankheit  während  ihrer  Keimepoche  keine  festen  und 
scharfen  Züge  hat  und  eine  gewisse  Ungestaltheit  zeigt, 
und  den  ausgeprägten  Charakter  erst  im  späteren  Lehen 
bekommt;  so  war  auch  das  gesammte  Krankheitsreich  in  der 
Vorzeit  einfach  und  ungeschieden,  und  erst  später  haben 
sich  die  distincten,  scharfgezeichneten  Krankheitsgestalten 
entwickelt.  So  sind  z.  B.  die  mannigfachen  Formen  des 
Aussatzes  und  der  acuten  Exantheme  sämmtlich  späteren 
Ursprungs,  und  gleichsam  durch  Spaltung  der  seit  den  äl¬ 
testen  Zeiten  Lestehenden  Urform  des  Aussatzes  und  des  in 
den  alten  Zeiten  unter  dem  Namen  Pest  gehenden  allge¬ 
meinen  Exanthems  entstanden,  ß )  In  Beziehung  auf 
Fortbildung.  Zu  den  vorhandenen  Gebilden  rücken  bei 
dieser  Metamorphose  neue.  So  wie  dies  bei  der  einzelnen 
Krankheit  ist,  so  findet  man  es  bei  der  gesammten  Krank¬ 
heitswelt.  Hierher  gehört  das  Erscheinen  der  Pocken  (1122 
vor  Christo)  in  China,  der  Lues,  des  Scorbuts,  des  engli¬ 
schen  Schweifsfiebers,  der  Rhachitis,  des  Scharlachs,  des 
Keuchhustens,  der  Kriebelkrankheit,  des  gelben  Fiebers  (im 
löten  Jahrhundert),  des  Frieseis  (im  17.  Jahrh.),  der  Pel¬ 
lagra  und  des  Scherlievo  (im  18.  Jahrh.),  und  der  ägypti¬ 
schen  Augenentzündung  in  unsern  Tagen,  y)  In  Bezie¬ 
hung  auf  Rückbildung.  Einzelne  Partieen  des  indivi¬ 
duellen  oder  allgemeinen  Organismus  sterben  ab.  So  wie 
sich  die  einzelne  Krankheit  dadurch  metamorphosirt,  dafs 
einzelne  ihrer  Erscheinungen  im  Verlaufe  der  Zeit  ver¬ 
schwinden  ( Sympt.  temporaria);  so  verändert  sich  auch  die 
grofse  Krankheitswelt  in  der  Art,  dafs  einzelne  ihrer  Glie¬ 
der,  Kraukbeitsgattungen  und  Arten,  aussterben.  So  ist  es 
geschehen  mit  der  Pest  von  Attica,  dem  schwarzen  Tode, 
dem  englischen  SchweifsGeber,  und  so  scheint  es  gegen¬ 
wärtig  mit  dem  Aussatz,  der  Syphilis,  der  Variola,  dem 

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380  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

0 

Scherlicvo  zu  geschehen.  £)  Einzelne  Theile  gestalten  sich 
um,  verlieren  ihre  alte  Bedeutung  und  erhalten  eine  neue. 
So  wie  bei  der  einzelnen  Krankheit,  so  auch  im  Krank¬ 
heitsreich.  So  hat  die  Syphilis  zu  unserer  Zeit  eine  ganz 
andere  Gestalt,  als  zu  Grünbeck 's  Tagen;  so  ging  der 
Scharlach  in  früherer  Zeit  stets  mit  Affection  des  Respira- 
tionssyst.ems,  aber  ohne  Halsaffection  und  ohne  Bläschen 
einher;  so  tritt  jetzt  die  Yaricelle  in  nie  geahnter  Macht 
und  in  ganz  veränderter  Gestalt  auf.  —  b)  Gleich  dem 
Eeben  der  Einzelwesen  ist  auch  das  allgemeine  Leben  der 
Natur-  und  Krankheitsreiche  rhythmisch ,  pulsirend.  Es 
haben  die  einzelnen  Arten  des  Krankheitsreiches  ihre  Exa¬ 
cerbationen  und  Remissionen ,  in  denen  man  das  epidemische 
Auflodern  der  Krankheiten  suchen  mufs.  Die  Pest,  das 
gelbe  Fieber,  die  Blattern,  die  Masern,  der  Friesei,  der  Ty¬ 
phus  —  lodern  zu  gewissen  Zeiten  auf  und  kommen  in 
grofser  Zahl  vor,  und  dann  verschwinden  sie  wieder  und 
sind  nur  sporadisch  zugegen.  So  auch  der  Weichselzopf, 
die  Lucs  (als  Lues  moravica,  canadensis,  als  Falkadina,  als 
Krankheit  von  Soudan,  als  Seuche  von  Mosambique  u.s.w.), 
Lungenentzündung,  Croup,  Bräune,  Scorbut,  Rose,  Krätze, 
Gatarrh,  Keuchhusten,  Kriebelkrankheit,  Wcchselfieber, 
Veitstanz,  Hundswutb,  Aussatz.  Auch  die  Aufloderungen 
der  Krankheitsarten  sind  mit  Emporkommen  und  Verschwin¬ 
den  anderer  Krankheitsarten  verbunden.  So  hören  Pest- 
epidemieen  im  Orient  auf,  wenn  die  Blattern  zu  herrschen 
anfangen;  so  verdrängen  Epidemieen  und  Scharlach  die 
Masern,  Blattern  und  Masern  den  Keuchhusten,  Lues  den 
Aussatz,  und  auf  der  andern  Seite  kommen  Typhus  und 
Hospitalbrand,  Variola  und  Varicclle  gleichzeitig  'vor.  Die 
Aufloderungcn  der  Krankheitsarten  scheinen  auch  an  be¬ 
stimmte  Zeitgesetze  gebunden  zu  sein,  wie  denn  die  Pest 
alle  12,  die  Blattern  alle  5  —  (>,  der  Scharlach  alle  7,  das 
gelbe  Heber  alle  15  Jahre  wiederkehren  mag. 

11)  i .  I  a  ssi  fi  ca  t  i  o  n  der  organischen  Wesen 
und  Krankheiten  (§.  59.).  Wie  man  bei  der  Classih- 


Vni.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  381 

cation  der  Naturkörper  künstliche  und  natürliche  Systeme 
(Lin ne  und  Oken)  hat,  so  hat  man  auch  hei  den  Krank¬ 
heiten  die  künstlichen  Systeme  a)  nach  der  Dauer 
des  Verlaufs  der  Krankheit  (Aretaeus),  oder  b)  nach 
ihrem  Sitz  (anat.  Syst.),  oder  c)  nach  den  chemischen 
Veränderungen  (Paracelsus,  Sylvius,  Baumes, 
Brandes),  oder  d)  nach  den  Lebensaltern  der  Kranken, 
und  je)  nach  den  Curmethoden  —  und  den  einzigen  Ver¬ 
such  eines  natürlichen  nosologischen  Systems  von 
S  c  h  ö  n  1  e  i  n. 

t 

Dritter  Abschnitt.  Todesgeschichte  der  Or¬ 
ganismen  in  Bezug  auf  die  Geschichte  des  Aus¬ 
ganges  der  Krankheiten  (§-61  —  70.  u.  S.231 — 251.). 
Der  Verf.  vergleicht  hier  die  Vorgänge  beim  Tode  der 
Krankheiten  mit  denen  beim  Tode  der  organischen  Wesen 
in  folgenden  allgemeinen  Gesetzen: 

1)  Natürlicher  und  widernatürlicher  Tod 
der  Organismen  und  Krankheiten  (§.  62.).  Der 
Tod  ist  entweder  natürlich  (Mors  naturalis  s.  senilis, 
Auf  hören  des  Lebens  am  Ende  der  Bahn),  oder  wider- 
natiirlich  (Mors  praeternaturalis,  marbosa,  violenta, 
Stillstand  auf  der  Mitte  der  Bahn. )  So  verhält  er  sich  bei 
den  Organismen  und  Krankheiten.  Die  Exantheme  sterben 
eines  natürlichen  Todes,  nachdem  sie  in  bestimmten  Ter¬ 
minen  keimten,  wuchsen,  blühten,  Saamen  absonderten, 
und  sich  wieder  allmählig  ihrer  Symptome  entkleideten; 
eben  so  die  Scrophel,  wenn  der  mit  ihr  Behaftete  das 
männliche  Alter  erreicht  hat;  auf  der  anderen  Seite  endet 
die  Entzündung,  die  Krätze,  die  Lues  im  gewaltsamen  Tode 
durch  die  [leilungsmelhode.  Die  Bedingungen  des  ge¬ 
waltsamen  Todes  der  Organismen  und  Krankheiten  sind: 
a)  Er  kann  in  allen  Entwickelungsstufen  eintreten.  b)  Je 
näher  aber  Organismen  und  Krankheiten  ihrem  Entstehen 
und  Vergehen  stehen,  desto  eher  vermögen  äufsere  Ein¬ 
flüsse  ihr  Sein  zu  vernichten.  In  der  Acme  behaupten  sie 
die  Integrität  des  Lebens  am  besten,  c)  Organismen  und 


382  VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten. 

Krankheiten  können  durch  die  Zernichtung  einzelner  wich¬ 
tiger  Partieen  getödtet  werden,  doch  haben  Krankhei¬ 
ten  als  niedere  Organismen  eine  starke  ReproductionskrafL 
d)  Entziehung  der  äulseren  Eebensbedingung  verursacht  den 
Tod  der  Organismen  und  Krankheiten  (durch  die  Indicatio 
causalis).  e)  So  wie  bestimmte  Stoffe  für  bestimmte  Thier¬ 
arten  Gift  sind,  so  giebt  es  auch  Stoffe,  die  das  Leben 
bestimmter  Krankheitsformen  vernichten  (Krankheitsgifte, 
Specifica  morborum).  Das  Quecksilber  tödtet  die  Syphilis, 
der  Schwefel  die  Krätze,  die  China  das  Wechselfieber, 
f)  Einflüsse,  welche  thierische  Embryonen  vernichten,  sind 
auch  Krankheitskeimen  schädlich,  z.  B.  Erschütterung  durch 
Brech-  und  Abführmittel,  Reizung  der  Keimorgane  durch 
Uterusspecifiken ,  Diaphoretica  (bei  ansteckenden  Exanthe¬ 
men),  Cubeben,  Terpenthin,  Oopaiva  (beim  Tripper). 

‘2)  Frühzeitiger  Tod  (§.  63.).  Bei  Organismen 
und  Krankheiten  ist  durch  schnellere  Lebensmetamorphose 
ein  frühzeitiger  Tod  möglich,  so  z.  B.  den  Exanthemen 
durch  Diaphoretica. 

3)  Lebensdauer  (§.  64.).  Jedes  Wesen  und  jede 
Krankheit  hat  eine  bestimmte  Lebensdauer.  So  wie  das 
Leben  der  organischen  Wesen  von  einem  Augenblicke  bis 
zu  Jahrhunderten  dauert,  so  auch  das  Leben  der  Krank¬ 
heiten  von  einigen  Augenblicken  bis  zu  Jahren.  Der  Schlag- 
flufs  und  die  Asphyxie  durchlaufen  ihre  Entwickelung  in 
einigen  Minuten,  die  Entzündung  in  einigen  Tagen,  die 
Exantheme  in  mehren  Wochen,  Schleimflüsse  und  Wasser¬ 
süchten  in  Monaten,  Scropheln  in  Jahren,  Gicht  und  Hä¬ 
morrhoiden  nehmen  das  halbe,  Aussatz  und  Syphilis  oft  das 
ganze  Leben  in  Anspruch.  Daher  die  Eintheilung  der 
Krankheiten  in  sehr  acute,  acute,  subacute  und 
chronische.  Die  Krankheiten  ähneln  auch  hier  auffallend 
den  niederen  Organismen,  indem  sehr  gleichartige  Organis¬ 
men  und  Krankheiten  hinsichtlich  ihrer  Lebensdauer  sich 
sehr  verschieden  verhalten. 

4)  Regung  der  Lebenskraft  beim  natürlichen 


VIII.  Naturgeschichte  der  Krankheiten.  383 

und  widernatürlichen  To  de  (§.  65.).  Die  kritischen 
Perturbationen  der  Alten  werden  vorzüglich  beleuchtet. 

5)  Partieller  Tod  der  Organismen  und  Krank¬ 
heiten  (§.  66.).  Brand,  Lähmung,  Verschwinden  der 
Hautausschläge  hei  Dyscrasieen. 

6)  Entwickelung  niederer  Lebensformen  beim 
Tode  der  Organismen  und  Krankheiten  (§.  67.). 
Katagenesis.  Der  Tod  ist  Geburt  neuen  Lebens;  die  Or¬ 
ganismen  zerfallen  sterbend  in  niedere  infusorische  Lebens¬ 
bildungen,  und  die  sich  endende  Krankheit  in  niedere  Krank¬ 
heitsformen.  Der  Lungenentzündung  folgen:  Sputa 
cocta,  Hüsteln,  veränderter  Urin,  gleichsam  ein  Catarrh, 
Erethismus  der  Brust  nerven,  Veränderung  der  Nierenaus¬ 
scheidung  u.  s.  w.;  dem  gastrischen  Fieber:  dyspepti¬ 
sche  Erscheinungen ,  Geneigtheit  zu  Diarrhöe  und  Versto¬ 
pfung,  vermehrte  Säure,  Gas-  und  Schleimbildung,  Ver¬ 
stimmung  der  Ganglien  u.  s.  w.  Wie  die  Infusorien  Ele¬ 
mentarformen  des  Lebens  sind,  so  sind  diese  leichte  Stö¬ 
rungen,  Krankheitsgrundzüge,  Seminia  morbi. 

7)  Umwandlungen  niederer  Organismen  und 
Krankheiten  beim  Tode  (§.68.).  Mehre  niedere  Or¬ 
ganismen  bilden  sich  bei  ihrem  Tode  in  Gestalten  um,  die 
von  ihren  eigenen  specifisch  verschieden  sind.  So  gehen 
auch  Krankheiten  in  ganz  andere  über  (Andeutungen  dieser 
Erscheinungen  findet  man  bei  den  Pathologen  im  Kapitel 
von  den  Metastasen  und  Metaschematismen).  Die  Pians  ge¬ 
hen  nicht  selten  in  das  Mal  rouge  über,  die  Syphilis  wird 
in  Guinea  nicht  selten  zu  Yaws;  bei  uns  verwandelt  sich 
die  Syphilis  in  Aussatz;  in  Polen  bildet  sich  Gicht  häufig 
in  Weichselzopf  um.  Erysipelas  neonatorum  gestaltet  sich 
zu  Sclerosej  Herpes  und  Scrophelknoten  zu  Krebs.  Diese 
Uehergänge  haben  a)  bestimmte  Gränzen.  So  wird  sich 
Scharlach  nie  in  Pest,  oder  Pest  in  Syphilis  umwandeln. 
Nur  tief  stehende  Krankheiten  haben  eine  Neigung  dazu, 
z.  B.  Congestionen,  Catarrh,  Entzündungen,  b)  Die  sich 
in  einander  umbildenden  Lebens-  und  Krankheitsformen 


384 


IX.  Medicinischc  Bibliographie. 

müssen  mit  einander  in  einiger  Verwandtschaft  stehen, 
c)  Diese  Umwandlungen  sind  häufig  ein  Streben  zuin  Fort¬ 
schreiten  auf  höhere  Stufen  der  Organisation  (z.  B.  der 
Congestion  zur  Entzündung,  der  einfachen  Krämpfe  zur 
Epilepsie  u.  s.  w. ),  oder  d)  zum  Rückschreiten  (z.  B.  der 
Entzündung  zur  Congestion). 

8)  Scheintod  und  Revivisccnz  (§.  69.).  Das 
Leben  der  Organismen  und  Krankheiten  vermag  bis  auf 
einen  höchst  schwachen  Funken  zu  erlöschen,  lange  Zeit 
so  beharren  und  dann  wieder  zu  seiner  normalen  Stärke 
aufblühen.  Hierher  gehört  die  Lehre  von  den  Recidi- 
ven,  vom  Morbus  latens,  occultus,  reconditus  u. 
s.  w.  Beispiele  geben  Lues,  Aussatz,  Entzündungen,  Wech¬ 
selfieber,  Neurosen. 

Ref.  wünscht  diesem  Werke  eine  allgemeine,  wohlver¬ 
diente  Aufmerksamkeit,  und  glaubt,  dafs  es  nicht  blofs  vom 
Arzte,  sondern  auch  vom  Naturhistoriker  mit  Befriedigung 
gelesen  werden  dürfte. 

Jäger . 


IX. 

Medicinische  Bibliographie. 


Bock,  A.  K. ,  der  Prosector,  oder  Unterricht  zur  prakti¬ 
schen  und  technischen  Zergliederungskunst;  für  solche, 
welche  sich  vorzüglich  der  praktischen  Zergliederung 
widmen  wollen,  und  zum  Gebrauch  beim  Präpariren 
menschlicher  Theile.  Mit  einer  Kupfertafel,  gr.  8.  Leip¬ 
zig.  Fest  XXIV  u.  542  S.  2  Thlr.  12  Gr. 

Casper,  J.  T.,  gegen  eines  Ungenannten  Schrift:  Ueber 
die  Preufsische  Medicinaiverfassung,  gr.  8.  Berlin.  Dünmi- 
lcr.  32  S.  geh.  4  Gr. 

C  aze- 


I 


385 


IX.  Medicinische  Bibliographie. 

Gazen  ave  A.  und  H.  E.  Sch  edel,  praktische  Darstellung 
der  Hautkrankheiten,  nach  den  geachtetsten  Schriftstellern, 
vorzüglich  aber  nach  den  in  der  Klinik  des  Herrn  Dr. 
Biett  im  Hospital  Saint- Louis  gesammelten  Beobachtun¬ 
gen  und  Erfahrungen.  Aus  dem  Französischen  übersetzt. 
Zweite  Hälfte,  gr.8.  Weimar.  Ind.Compt.  XXXII  und 
250  S.  br.  1  Thlr,  9  Gr. 

Ceresa,  Apercu  adress£  ä  l’academie  de  medecine  ä  Paris, 
sur  la  question:  si  la  fievre  jaune  ou  fievre  d’Amerique 
est  contagieuse  ou  non  contagieuse,  et  si  l’on  doit  abolir 
les  quarantaines.  8maj.  Vienne.  Sollinger.  29  P.  br.  10  Gr. 

Choulant,  Anleitung  zu  dem  Studium  der  Medicin  gr.8. 
Leipzig.  Vofs.  X  u.  201  S.  -  21  Gr. 

Eichhorn,  II.,  neue  Entdeckungen  über  die  praktische 
Verhütung  der  Menschenblattern  bei  Vaccinirten  und  in 
der  empirischen  Pathophysiologie  der  Pocken;  nebst  An¬ 
deutungen  über  das  Wesen  und  die  Behandlung  der 
übrigen  fieberhaften  Exantheme,  gr.8.  Leipzig.  Vofs 
L  und  1030  S.  5  Thlr.  16  Gr 

Fischer,  A.  F. ,  Verhaltungsregeln  bei  der  Luftröhren¬ 
entzündung  und  Luftröhrenschwindsucht,  nebst  den  da¬ 
gegen  anzuwendenden  Heilmitteln.  Ein  Belehrungsbuch 
für  Kranke.  8.  Dresden.  Hilscher.  VIu.224S.  1  Thlr.  4 Gr. 

—  J.  W.  C.,  Handbuch  der  pharmaceutischen  Praxis, 
oder  Erklärung  der  in  den  Apotheken  aufgenommenen 
chemischen  Zubereitungen.  Mit  ganz  vorzüglicher  Rück¬ 
sicht  auf  die  neue  preufsische  Pharmacopöe.  Dritte,  um- 
gearbeitete  Auflage,  von  Dr.  C.  H.  B.  Karsten.  Nebst 
auf  die  neueste  preufsische  Pharmacopöe  vom  Jahre  1827 
sich  beziehenden  Nachträgen  herausgegeben  von  Dr.  L. 
F.  Bley.  gr.8.  Basel.  Rottmann.  XII u. 711 S.  2Thlr.  18Gr. 

Frank,  J.  P.,  Grundsätze  über  die  Behandlung  der  Krank¬ 
heiten  des  Menschen;  zu  akademischen  Vorlesungen  be¬ 
stimmt.  Erster  Theil:  Von  den  Fiebern.  Unter  eigener 
Aufsicht  des  Verfassers  aus  dem  Lateinischen  übersetzt. 
Neue,  verbesserte  Ausgabe,  gr.8.  Mannheim.  Schwan  und 
Gütz.  224  S.  13  Gr. 

Hecker,  J.  F.  K.,  Geschichte  der  Heilkunde,  nach  den 
Quellen  bearbeitet.  Zweiter  Band.  Mit  einer  chronolo¬ 
gischen  Uebersicht  des  ersten  und  zweiten  Bandes,  gr.8. 
Berlin.  Enslin.  II  u.  463  S.  2  Thlr.  8  Gr. 

Hcrtwig,  Beiträge  zur  näheren  Kenntnifs  der  Wuthkrank- 
heit  oder  Tollheit  der  Hunde.  Nebst  Vorwort  von  Hufe¬ 
land.  8.  Berlin.  Reimer.  174  S.  16  Gr. 


Xiv  Bd.  3.  St. 


25 


386 


IX.  Medicinische  Bibliographie. 

Julius,  N.  H. ,  Nachricht  von  dem  Gesundheitszustände 
der  Hamburgischen  Kranken  -  und  Versorgungshäuser,  und 
der  Stadt  Hamburg.  Drittes  Heft,  i826  und  1827. 
Hamburg.  Perthes  und  Besser.  166  S.  br.  1  Jhlr. 

Krämer,  C.  P. ,  die  Molken-  und  Bade -Anstalt  Kreuth 
im  Baicrschen  Hochgebirge  bei  Tegernsee.  Mit  einer 
Abbildung.  8.  München.  Fleischmann.  "\  1  und  237  Sei¬ 
ten.  br.  1  Thlr.  3  Gr. 

Leben  heim,  E.  L.  II.,  Versuch  einer  Physiologie  des 
Schlafes.  Zweiter  Theil.  XIV  u.  194  S.  1  Thlr. 

Meckel,  J.  F.,  System  der  vergleichenden  Anatomie.  Vier¬ 
ter  Theil.  gr.8.  Halle.  Benger.  VIII  u.  741  S.  3  Thlr. 

Müller,  Job.,  Grundrifs  der  Vorlesungen  über  allgemeine 
Pathologie,  gr.8.  Bonn.  Habicht.  34  S.  8  Gr. 

Orfila,  allgemeine  Toxicologie,  oder  die  Gifte  des  Mine¬ 
ral-,  Bilanzen-  und  Thierreichs,  in  physiologischer,  pa¬ 
thologischer  und  gerichtlich -medicinischer  Hinsicht  be¬ 
trachtet.  Nach  der  neuesten  (dritten)  verbesserten  und 
vermehrten  Auflage  deutsch  herausgegeben  von  O.  B. 
Kühn. gr.8.  IrBd.  IsteLief.  Leipzig. Lehnhold.  geh.  IThlr. 

Pascoli,  A.,  Uebersicht  über  das  im  Jahre  18fy  an  der 
K.  K.  Universität  zu  Innsbruck  gepflogene  Heilverfahren. 
gr.8.  Innsbruck.  Wagner.  72  S.  geh.  12  Gr. 

Pharmacopoea  ad  pauperes  curandos  accommodata.  In 
usum  scholae  policlinicae  Lipsiensis,  edidit  L.  Cerutti. 
8maj.  Leipzig.  Vofs.  X  et  70  P.  9  Gr. 

Beider,  J.  W.,  Untersuchungen  über  die  epidemischen 
SumpfTieber,  die  Gesetze  ihrer  Entstehung,  ihrer  Ver¬ 
breitung,  die  Mittel  zu  ihrer  Verhütung  und  schnellen 
Beendigung,  mit  vorzüglicher  Rücksicht  auf  das  gelbe 
Fieber  und  die  gegen  letzteres  bisher  angewandten  un- 
zweckmäfsigen  Quarantaine-,  Polizei-  und  Sanitiits- Ge¬ 
setze.  gr  8.  Leipzig.  Vofs.  XXIV  u.  416  S.  2  Thlr.  8  Gr. 

Scriptorum  classicorum  de  praxi  medica  nonnullorum 
Opera  collecta.  Vol.  VIII.  Cont.  .1.  B.  Morgagni  de  sedibus 
et  causis  morborum  per  anatomen  indagalis  libri  (juinrjue. 
Curavit  J.  Radius.  T.  V.  8.  Lips.  Volk.  XU  et  506  P. 
br.  1  Thlr.  16  Gr. 

—  —  — -  —  —  V ob  XIII.  Uont.  J.  IfuxhauH  Opera.  Cu- 
ravit  A.  F.  Hänel.  8.  Lips.  VTofs.  XVI  ct  684  P.  hr. 

2  Thlr.  12  Gr. 


I 


; 


*  i. 

^  y  / 

Philosophie  und  Physik. 

Von 

Dr.  Steinheim, 

praktischem  Arzte  in  Altona. 


Antidualismus  von  je  bis  jetzt.  —  Materieller  Einflufs  der 
Philosophie  auf  die  Physik.  —  Bedeutung  und  Werth. 

*Ev  7TCC<ri  T0~s  tyVGriKOlS  £V£<TTt  TI  $-0iV fiCtCTTOV , 

Ari  st. 

]\Ian  hat  sich  bisher  recht  viel  von  dem  heilbringenden 
Einflüsse  der  Philosophie  auf  die  Naturkunde  (Physik  im 
weitesten  Sinne)  zu  erzählen  gewufst.  Mit  ungeschwäch¬ 
tem  Vertrauen  hat  man  seit  Jahrhunderten  mifslungene  Ver¬ 
suche  durch  neue  zu  ersetzen  versucht.  Ja,  man  kann  sa¬ 
gen,  es  sei  einmal  eine  stereotypische  Formel  geworden, 
die  Philosophie  wirke  fordernd  auf  die  Naturwissenschaften 
ein.  Wer  nun  etwa,  wäre  es  auch  nur  versuchsweise,  die¬ 
ses  ewige  Sprechen  und  Nachsprechen  vorläufig  in  Zweifel 
ziehen,  und,  durch  manche  getäuschte  Hoffnung  bewogen, 
einstweilen  das  Gegentheil  supponiren  wollte,  würde  der 
sich  einer  verbrecherischen  Lästerung  oder  vorsätzlichen 
Lust  am  Sonderbaren  verdächtig  machen?  Die  Voraussetzung 
der  blofsen  Möglichkeit  einer  nachtbciligen  Einwirkung  der 
XIV.  Bd.  4.  st.  26 


388 


I.  Philosophie  und  Physik. 

Philosophie  auf  die  Physik  ist  Vielen  ein  Greuel ,  Vielen 
eine  Thorbeit.  Weit  entfernt  also,  Behauptungen  solcher 
Art  auf  solche  Gefahr  hin  aussprechen  zu  wollen,  ersucht 
Hofs  der  Verfasser  gegenwärtiger  Zeilen  seine  Leser,  vor 
allem  folgende  Bedenklichkeiten  in  Betracht  zu  ziehen. 

Philosophie  ist  ein  sehr  weitsinniges  Wort.  Es  ist 
selbst  in  das  Volk  übergegangen,  aber  die  Frage  kann  hier 
nicht  sein,  wie  es  sich  im  Sprachgebrauchs  verhalte.  Die 
Philosophie  des  Volks  ist  himmelweit  verschieden  von  der 
der  Männer  vom  Fache.  Das  Wort  Philosophie  ist  aber 
auch  weitsinnig  im  Gebrauche  derer,  die  aus  der  Bearbei¬ 
tung  dieses  Feldes  des  Wissens  ihr  Hauptgeschäft  machen. 
Nicht  einmal  zu  gedenken,  in  welchem  unphilosophischen 
Sinne  unsere  Nachbarn  jenseits  des  Kanales  la  Manche  und 
diesseits  desselben  das  Wort  Philosophie  gebrauchen,  und 
in  wie  weitschichtigem  Sinne  es  auf  unsern  Facultäten  selbst 
gäng  und  gäbe  ist,  wollen  wir  nur  den  recht  eigentlichen 
Gebrauch  desselben  berücksichtigen,  den  nämlich,  da  es 
die  Wissenschaft  der  Dinge  jenseits  der  Erfah¬ 
rung  bezeichnet,  ln  diesem  Sinne  aber  begreift  die  Phi¬ 
losophie  zwei  Doctrincn,  die  in  ihrem  eigentlichen  Sein 
und  Streben  mit  einander  durchaus  polarisiren,  nämlich  den 
positiven  Theil  des  Wissens,  und  den  diesen  positiven  ein¬ 
schränkenden  Thcii,  den  kritischen,  in  sich.  Dogmalik  und 
Kritik  heifsen  die  beiden  heterogenen  Bestandteile  der  Phi¬ 
losophie  im  engsten  Sinne.  Die  Dogmatik  ist  wiederum 
verschieden,  je  nach  dem  Inhalte,  den  sic  lehrt,  und  tritt 
mit  einem  anderen  Theile  ihrer  selbst,  beschränkend  gegen 
eine  andere  beuachbarte  Lehre;  mithin  enthält  freilich  schon 
jede  Dogmatik  einen  kritischen  Bestandteil.  Aber  dieser 
dient  zunächst  nur  ihr  zur  Rechtfertigung  und  Einleitung.  — 
Die  kritische  Hälfte  der  gesammten  Philosophie  scheidet  sich 
ebenfalls  in  zwei  nähere  Richtungen:  in  die  der  eigentlichen 
Kritik,  und  in  die  «1er  Skepsis,  von  denen  letzte  eigentlich 
wohl  nur  eine  Art  Dogmatik  zu  nennen  ist,  jedoch  eine 
negative. 


389 


I.  Philosophie  und  Physik. 

Ist  nun  die  Rede  von  dem  Einflüsse  der  Philosophie 
auf  die  Physik,  so  ist  vorläufig  die  Frage  enger  zu  stellen. 
Es  ist  zu  bestimmen,  von  welcher  Art  Philosophie  denn 
hier  gesprochen  werde,  von  der  dogmatischen  oder  der 
kritischen?  Auch  wenn  diese  Frage  nicht  weiter  einge¬ 
schränkt  würde,  wenn  man  nicht  ferner  entschiede,  von 
welchem  Philosophen!  von  allen  dogmatischen,  oder  von 
welcher  Art  der  beiden  beschränkenden,  ob  von  der  Kritik 
oder  der  Skepsis  gehandelt  werde;  so  ist  dennoch  der  Aus¬ 
fall  der  Entscheidung,  je  nach  der  Antwort,  von  welcher 
Gattung  eigentlich  die  Rede  sei,  durchaus  verschieden;  ja, 
was  von  der  einen  behauptet  wird,  mufs  eben  deshalb,  weil 
es  von  jener  behauptet  wird,  der  andern,  als  der  entge¬ 
gengesetzten,  abgesprochen  werden.  Die  Frage  mithin, 
welchen  Ein  flu  fs  hat  die  Philosophie  auf  die 
Physik?  kann  nur  für  die  eine,  oder  gegenteilig  für  die 
andere  Richtung  als  vortheilhaft  angenommen  werden.  Die 
Kritik  nämlich  wirkt  der  Dogmatik  schnurstracks  entgegen, 
und  hebt  die  Aussprüche  dieser  entweder  wieder  auf,  oder 
macht  sie  wenigstens  zweifelhaft,  und  auf  gleiche  Art  würde 
sie  eine  Anmaafslichkeit  der  Dogmatik  in  der  Physik  zu¬ 
rückweisen,  wie  sie  dieselbe  in  der  Metaphysik  zurückzu¬ 
weisen  bemüht  ist. 

Wenn  nun  die  Kritik  eine  Prüfung  und  Begründung 
durch  Einwürfe  und  Bedenken  des  dogmatisch  Dargelegten 
ist,  wenn  es  ferner  nicht  zu  bezweifeln  steht,  dafs  alles 
Wissen  durch  die  Cupelle  des  Zweifels  gereinigt  werden 
mufs:  so  w^äre  es  selbst  lächerlich,  den  wohltätigen  Ein- 
flul's  eines  solchen  Verfahrens  in  Anspruch  nehmen  zu  wol-  - 
len,  wenn  es  Thatsachen  der  Erfahrung  gilt.  Geprüft  soll 
alles  werden,  und  je  genauer  und  schärfer,  um  desto  besser. 
Gehen  wir  also  von  nun  an  nur  darauf  aus,  nach  unseren 
Kräften  inne  zu  werden,  wie  die  dogmatische  Philosophie 
auf  die  Naturwissenschaften  eingewirkt  hat,  und  wiefern 
der  Einflufs  dieses  Zweiges  derselben  wohltätig  oder  nach¬ 
theilig  ausgefallen  ist. 

'  26* 


390 


I.  Philosophie  nnd  Physik. 

Sind  wir  nun  allen  Ernstes  bemüht,  die  Frage  im  zu¬ 
letzt  festgestellten  Sinne  dem  Spruche  näher  zu  bringen,  so 
wird  uns  dies  Unternehmen  dadurch  erleichtert,  dafs  wir 
uns  das  eigentliche  Bestreben  des  dogmatischen  Philosophen 
deutlicher  machen,  und  uns  dieses  vergegenwärtigen.  Die 
gesammte  Physik  hat  die  sichtbare  Welt,  ihre  eränderun- 
gen  und  Gesetze,  so  weit  diese  auf  Erfahrnng  und  Sinn¬ 
lichkeit  beruhen,  zum  Gegenstände.  Die  Metaphysik  unter¬ 
nimmt  cs,  den  Grund  dieses  und  alles  Seins  zu  lehren, 
uud  lehrt,  wie  ihr  Name  zeigt,  Dinge,  die  außerhalb  der 
Sinneuwelt  liegen,  und  das  Wesen  der  Dinge  der  Sinnen¬ 
welt  sind.  Da  sie  nun  das  Wesen  des  Vorhandenen  lehrt, 
so  lehrt  sic  natürlich  das  Vorhandene  selbst,  und  zeigt,  wie 
es  ist  und  was  es  ist,  wie  cs  also  geworden  und  wodurch, 
kurz,  die  Metaphysik  lehrt  uns  die  Physik  in  ihrem  Grunde, 
und  giebt  uns  einen  Begriff  vorn  Wesen  der  Dinge,  er¬ 
klärt  uns  die  Welt,  wie  sie  ist.  Die  Art  des  Einflusses 
der  Philosophie,  der  dogmatischen  nämlich,  ist  also  ein 
mate  rie  11er  Einfluf«  >  zu  nennen,  die  Idee,  die  sie  giebt, 
enthält  nämlich  die  Erklärung  des  vorhandenen  Weltstoffes 
und  seiner  Veränderungen. 

Da  nun  unsere  Untersuchung  dem  Einflüsse  der  dogma¬ 
tischen  Philosophie  auf  die  Naturhistorie  im  Allgemeinen, 
nicht  dieser  oder  jener  Dogmatik  insbesondere,  angeht,  so 
stellen  wir,  da  der  Einflufs  jeder  Dogmatik  materiell  sein 
mufs,  die  Frage  noch  näher  also:  Von  welcher  Bedeutung 
ist  der  materielle  Einflufs  der  Philosophie  auf  die  Natur¬ 
wissenschaft  seinem  Wesen  nach?  — 

Materieller  E  i  n  f  I  u  f s  der  Philosophie  auf  die  Na  - 

turwisscnschaften. 

Es  könnte  auffnllen,  dafs  der  menschliche  Geist,  noch 
bevor  er  auch  nur  zu  einer  mäfjigen  Einsicht,  geschweige 
denn  zu  einer  vollendeten  Erkenntnifs  aller  Ergebnisse  der 
Sinne  und  der  Erfahrung  gelangt  ist,  gleichsam  mit  einem 
verwegenen  Satze  aus  der  Welt  der  Erscheinungen  hinaus- 


I.  Philosophie  und  Physik. 


391 


springt  und  ein  Wissen  von  Dingen  der  unsichtbaren  Welt 
an  sich  zu  bringen  sucht.  Indefs  hat  die  Sache  ihren  guten 
Grund.  Denn  erstlich  ist  das  Gesiechte  über  die  Erfahrung 
hinaus  eben  darum  kein  «Nach»  derselben  zu  nennen,  und 
zweitens  ist  dies  Gesuchte  eben  sowohl  ein  Bedürfnifs,  ohne 
das  uns  die  allerersten  Ergebnisse  der  Sinnenwelt  ein  Räth- 
sel  bleiben  müssen.  Aus  der  letzten  Ursache  müssen  wir 
selbst  zugeben,  dafs  die  Dinge  a  priori  selbst  der  Zeit  nach 
in  unserm  Erkennen  der  Erfahrung  vorangehen  müssen, 
und  so  verhält  es  sich  auch  in  der  That.  Es  giebt  jeder 
Naturforscher,  indem  er  das  Wort  «Gesetz»  ausspricht, 
damit  zu  erkennen,  dafs  er  hinter  der  Sinnenwelt,  die  im 
Wechsel  ihm  vorbeieilt,  ein  bestehendes  Unwandelbares 
wisse,  auf  dem  der  Wechsel,  wie  um  einer  ruhenden  Axe, 
sich  bewegt.  Aber  auch,  wenn  von  diesen,  durch  den 
Weg  der  Erfahrung  statuirten  Gesetzen  der  Unwandelbar¬ 
keit  im  Wandel,  Allgemeinheit  im  Einzelnen,  des  Ewigen 
im  Zeitlichen  abgesehen  wird;  so  bewilligt  doch  jedenfalls 
der  Physiker  den  mathematischen  Gesetzen  ihre  Rechte, 
und  sucht  auf  ihnen  möglicher  W  eise  zu  basiren,  in  der 
Ueberzeugung,  erst  dann,  wenn  ihm  dies  Unternehmen 
gelungen  ist,  seinem  Wissen  den  rechten  Grund  gelegt 
zu  haben. 

Der  Naturforscher  stöfst  schon  beim  ersten  Schritte 
auf  Schwierigkeiten,  die  sein  Fortschreiten  nothwendig  hem¬ 
men  müssen,  und  diese  sind  der  Art,  dafs  sie  in  der  Physik 
seihst  unlösbar  sind,  und  daher  kommt  die  Erscheinung, 
dafs  die  Philosophie  älter  als  die  Physik  ist,  wie  die  Poesie 
der  Prosa  voranging.  Zuvörderst  hat  es  ja  der  Naturhisto¬ 
riker  mit  dem  Körper  zu  thun.  W7ohlan!  bevor  wir  seine 

Eigenschaften  erkunden,  müfsten  wir  doch  wohl  wissen, 

/ 

was  er  selbst  an  sich  ist.  Gehen  wir  ferner  darauf  aus, 
die  Wahrhaftigkeit  der  Sinneszeugnisse  zu  wägen,  so  be¬ 
geben  wir  uns  abermals  über  die  Gränzen  der  Sinne  hin¬ 
aus,  da  es  ja  unmöglich  ist,  dafs  das  Sinnliche  über  das 
Sinnliche  in  dieser  Hinsicht  eiuen  Spruch  abgäbe,  weil 


392 


1.  Philosophie  und  Physik. 

dieser  Spruch  «he  Frage  nicht  lüste,  sondern  nur  veränderte, 
oder  vertagte,  und  die  Sinnlichkeit  sich  seihst  nicht  zu  prü¬ 
fen  im  Stande  ist,  als  wiederum  mit  der  Sinnlichkeit. 

Aus  dem  Allen  ist  ersichtlich,  dafs  cs  das  erste  Hc- 
dürfnifs  des  forschenden  Geistes  auch  im  Gebiete  des  Sicht¬ 
baren  sei,  das  Unsichtbare  zu  erkennen,  dasjenige,  durch 
welches  Erfahrung  allererst  möglich  wird. 

Wie  wird  nun  dies  Jiediirfnifs  nach  dem  sogenannten 
Transcendentalen  befriedigt,  nach  dem,  was  nicht  Gegen¬ 
stand  der  Sinnlichkeit  und  der  Erfahrung  ist? 

Forderung  vollendeter  Einsicht;  Noth- 

wendigkeit. 

Der  Durst  nach  Wissen  ist  nicht  zu  befriedigen;  dennoch, 
bei  vollkommener  Einsicht  von  der  Dodenlosigkeit  unseres 
Strebens,  ist  das  Streben  unverändert  nach  der  Vollendung 
hin.  So  viel  ist  ausgemacht,  dafs  diese  Vollendung  auf  dem 
Wege  der  empirischen  Synthesis  eben  so  sehr  ohne  Ende 
ist,  als  die  Ixeihefolge  der  Ursachen  und  ihrer  W  irkungen. 
Diese  Unvollendbarkeit  £eht  so  weit,  dafs  sie  selbst  da  noch 
statt  hat,  wo  unsere  Ueberzeugung  die  Zahl  der  Fälle  für 
abgeschlossen  erklären  nnifste;  denn  das  eigentliche  Wesen 
der  Vollendung  würde  noch  immer  fehlen.  Das  Wesen 
der  Vollendung  kann  nämlich  eigentlich  nur  darin  bestehen, 
dafs  wir,  auch  ohne  diese  Vollendung  ausgeführt  zu  haben, 
ja,  bei  der  Einsicht  ihrer  Unausfiihrbai keit  in  der  That, 
doch  ein  Mittel  besitzen,  das  uns  die  Gewißheit  verschafft, 
jeden  Fall,  der  möglicherweise  Vorkommen  kann,  schon  im 
gesetzlichen  Schema  vor  seinem  Vorhandensein  in  uns  an¬ 
geschaut  zu  haben.  Wer  z,  li.,  um  die  Summe  der  drei 
in  jedem  Dreiecke  eingeschlosseuen  Winkel  zu  wissen,  sieb 
die  Mühe  gegeben  hätte,  eine  grolse  Anzahl  von  Dreiecken 
in  dieser  Absicht  auszumessen,  und  die  Summen  richtig 
gefunden  hätte:  der  wäre  doch  noch  weit  entfernt  von  dem 
mathematischen  Gesetze,  und  zwar  in  zwiefacher  Hin¬ 
sicht,  erstlich,  weil  die  Zahl  mellt  zu  vollenden  ist,  und 


393 


I.  Philosophie  und  Physik. 

noch  immer  neue  Dreiecke  denkbar  sind,  von  denen  es  stets 
noch  zweifelhaft  bliebe,  wie  grofs  die  Summe  ihrer  einge¬ 
schlossenen  Winkel  wäre,  und  vorzüglich  zweitens  deshalb, 
weil  noch  immer  die  Anschauung  a  priori  fehlte,  die  uns 
aus  dem  Gegebenen  einen  Lehrsatz  bildet,  der  mit  Noth- 
wendigkeit,  und  deshalb  für  alle  Fälle  gelten  mufs. 

Wenn  nun,  falls  sie  auch  möglich  wäre  *),  Vollen¬ 
dung  der  Reihe  noch  immer  kein  vollendetes  Wissen  giebt, 
sondern  nur  das  Schema  derselben  für  jeden  möglichen  Fall, 
und  wenn  dieses  letzte  nur  eigentlich  vollendetes  Wissen 
heifsen  kann:  so  ist  es  von  Wichtigkeit,  die  Natur  dieses 
Wissens  und  seine  Beziehung  zur  sogenannten  Naturwis¬ 
senschaft  mit  strenger  Gewissenhaftigkeit  zu  untersuchen. 

Ein  Erfordernd^  des  Wissens  ist  das  Attribut  der  Noth- 
wrendigkeit.  Es  wird  gefordert,  dafs  es  unmöglich  sei  einen 
Fall  in  der  That  zu  ersinnen,  der  nicht  unter  das  Gesetz 
gehöre.  Die  Allheit  der  Gültigkeit  bezieht  sie  aber  keines- 
weges  auf  eine  wirkliche  Anwendung,  auf  eine  vollendete 
Anzahl,  denn  eine  solche  Reihe  ist  ja,  wie  gesagt,  in  der 
That  nicht  vollendbar,  sie  ist  unendlich.  Diese  Nothwen- 
digkeit  kann  sich  daher  unmöglich  von  einer  Reihe  von 
Dingen,  als  solchen,  indem  diese  in  der  That  unendlich 
sind,  oder  doch  sich  unendlich  denken  lassen,  prädiciren  las¬ 
sen;  sie  gilt  von  diesen  eigentlich  gar  nicht,  sondern  nur 
von  dem  obersten  Gesetze,  und  nur  in  sofern  jedes  ein¬ 
zelne  Vorhandene  unter  dies  Gesetz  gehörig  ist.  Wenn  es 
also  hiefse:  alle  Dreiecke  schliefsen  zwei  Rechte  Winkel  ein, 
so  wäre  dies  ein  unrichtiger  Ausdruck  für:  die  Summe  der 
drei  in  einem  beliebigen  Dreiecke  eingeschossenen  Winkel 

ist  =  2  R.  Im  letzten  Ausdrucke  ist  nur  die  Nothwen- 

\  • 


1)  Einigcrmaafsen  lafsl  sich  eine  Vollendung  der  Art  in 
der  Naturhistorie  da  annehmen,  wo  die  verschiedenen  Geschlech¬ 
ter  durch  deutliche  Mittelglieder  verbunden  nach7.1rwei.scn  sind 
Vollendete  Durchsuchung  der  entlegensten  Winkel  der  Erde  reicht 
nicht  hin. 


394 


I.  Philosophie  und  Physik. 

digkeit  vom  Schema  pracdicirt,  und  sic  trifft  auch  nur  das 
Schema,  und  alles  Einzelne  nur  in  so  weit  das  Schema  in 
ihm  vorhanden  ist. 

«Lernen  ist  ein  Erinnern,“  sagte  der  grolse  Athener. 
Wirklich  ist  alle  ursprüngliche  Synthesis  wiederum  Nichts, 
als  Entwickelung  dessen,  was  in  dem  Begriffe  enthalten  ist. 
Was  an  Neuem  hinzukommt,  kann  nur  dem  Scheine  nach 
hinzukommen,  nur  in  Beziehung  auf  unser  fortschreitendes 
Bewufstwerden  des  vorhandenen  Besitzes.  Es  entwickeln 
sich  nur  andere,  bisher  uns  noch  nicht  klar  gewordene  Ver¬ 
hältnisse.  So  ist  jeder  Mensch  ein  Equilibrist,  ein  treff¬ 
licher  Maschinist,  jeder  gute  Billardspieler  ein  noch  besserer 
Mathematiker,  als  er  vielleicht  selbst  von  sich  denkt.  Jede 
mathematische  Synthese  ist  daher  eigentlich  doch  nur  eine 
scheinbare.  W  äre  es  ein  in  der  That  neu  Hinzugekomme- 
nes,  so  könnte  es  nicht  das  Prädicat  der  Nothwendigkeit 
führen,  das  gerade  ein  Neues,  nicht  hingehöriges,  aus¬ 
schliefst.  Was  der  Art  da  ist,  dafs  ich  sein  Dasein  als  noth- 
wendig  begreife,  das  sehe  ich  als  solcher  Art,  dafs  es  nicht 
auch  nicht -seiend  denkbar  ist;  denn  in  dem  Begriffe,  in 
dessen  Besitz  ich,  mit  oder  ohne  klare  Einsicht,  bin,  ist  es 
schon  mit  Nothwendigkeit  enthalten,  und  wäre  es  dies  nicht 
also,  so  ist  es  auch  nicht  nothwendig,  und  ihm  fehlt  das 
Postulat.  Nothwendig  ist  nur  das,  dessen  Gegenthcil  un¬ 
möglich  ist. 

Vom  Begriffe  des  Nothwcndigen  ist  demnach  ausge¬ 
schlossen  alles,  was  sich  auf  Früher  und  Später,  Hier  und 
Dort  bezieht;  denn,  da  alles  in  dem  daseienden  Begriffe 
mit  Nothwendigkeit  enthalten  ist:  so  ist  es  unmöglich,  dafs 
etwas  hinzukomme,  es  ist  alles  in  ihm  da;  eben  so  wenig, 
als  etwas  austreten  kann,  von  dem  was  da  ist,  es  ist  viel¬ 
mehr  eine  Ganzheit  zu  nenrien,  als  eine  Allheit.  I)a  nun 
das  Früher  oder  Später  die  Folge  ist,  die  Zeit  heifst,  so 
schliefst  das  Schema  der  Nothwendigkeit  vor  allem  die  Zeit 
aus,  und  da  ferner  die  Nothwendigkeit  nicht  eine  Zahl 
nebeneinander  vorhandener  Dinge,  sondern  alles  in  einem 


395 


I.  Philosophie  und  Physik. 

Bilde,  abgesehen  von  aller  Extension,  befafst,  so  schliefst 
sie  auch  allen  Kaum  aus,  denn  es  läfst  sich  nichts  als  noth- 
wendig  denken,  was  an  einem  anderen  Orte  nicht  vorhan¬ 
den  wäre.  Nun  ik  es  aber  begreiflich,  dafs  ein  Viel  des 
Ausgedehnten  in  unserer  Anschauung  dadurch  zu  Stande 
gebracht  wird,  dafs  wir  die  übersehbare  Flache  an  eine 
andere  nach  und  nach  anfiigen;  die  Ausdehnung  ist  also 
ein  in  der  Zeit  vorgehendes  Aneinandersetzen  eines  gege¬ 
benen  Ouantums  des  Räumlichen.  Mithin:  wird  in  der 

t 

Formel  Nothwendigkeit  die  Zeit  ausgeschlossen,  so  folgt 
dieselbe  Ausschliefsung  für  den  Kaum ;  deshalb  mufs  nolh- 
wendig  alles  was  ist,  mit-  und  nebeneinander  da  sein.  Ist 
cs  aber  hinwieder  zugleich  und  nebeneinander,  so 
schliefst  es  ein  Nacheinander  aus,  so  wie  umgekehrt  das 
Nacheinander  das  Neben  einander  des  Totalen  unmög¬ 
lich  macht.  Es  ist  ersichtlich,  wie  sich  im  a  priori  des 
Begriffs  beide  Anschauungsformen  schon  in  und  an  sich 
wechselsweise  vernichten.  — 

Da  aber  die  Categorie  « Nothwendigkeit »  sich  den¬ 
noch  aufs  Zeitliche  und  Räumliche  deshalb  beziehen  mufs, 
weil  sich  das  nothwendige  Wissen,  die  Mathematik,  J) 
gerade  mit  nichts  anderem,  als  mit  Gröfsen  beschäftigt; 
und  da  zugleich  eben  dieselbe  Categorie  die  Ausdehnung 
und  die  Folge  vernichtet  und  auf  hebt:  so  mufs  ferner  er¬ 
mittelt  werden,  wie  sich  diese  beiden  Verhältnisse  denn 
eigentlich  vereinigt  finden?  Wie  zugleich  etwas  im  Raume 
und  in  der  Zeit  nothwendig  sein  kann,  und  zugleich  Raum 
uud  Zeit  selbst  nicht  nothwendig,  ja  sogar  durch  diese  Ca¬ 
tegorie  und  durch  sich  selbst  gegenseitig  vernichtet?  — 

Das  Nothwendige  mufs  schon  vor  aller  Erfahrung 
im  Begriffe  in  uns  selbst  fertig  liegen  —  wiederholen  wir  — 
weil  es,  wäre  es  auf  ein  Ilinzukommendes  hingewiesen, 


1  )  Die  Skepsis  ist  nicht  mit  der  strengen  Schärfe  verfall  * 
reu,  wenn  sie,  mit  HuVne,  die  Nothwendigkeit  auf  “Wirkung 
und  Ursache**  sich  erstrecken  lälst. 


396 


I.  Philosophie  und  Physik. 

eben  nicht  das  Nothwenrlige,  «las  Totale  wäre.  Nothwcn- 
digkeit  liegt  innerhalb  unseres  Geistes,  aber  was  noth wen¬ 
dig  ist,  ist  einzig  sein  gebundenes  Selbst.  Der  Menschen¬ 
geist  ist  von  der  Nothwendigkeit  gefesselt  in  sich  selbst, 
und  von  aufsen  her  zwingt  nicht*,  bindet  nichts.  Wer  die 
Gategorieen,  wie  sie  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
sich  entwickelt  finden,  mit  Besonnenheit  betrachtet,  der 
wird  eine  zwiefache  Beziehung  derselben  innc  werden ;  eine, 
die  sich  aufs  denkende  Subject  ausschliefsend  bezieht,  und 
eine  andere,  die  sich  auf  die  Gegenstände  der  Erfahrung, 
aufs  Object  erstreckt.  I)a  dies  nun  der  Punkt  ist,  aus  wel¬ 
chem  sich  die  Streitfrage,  welchen  Einflufs  die  Philosophie 
auf  .die  Physik  mit  Hecht  ausiiben  kann,  zu  schlichten  steht, 
so  mufs  es  gestattet  sein,  ihn  mit  aller  möglichen  Klarheit 
zu  umgeben,  deren  er  empfänglich,  und  der  Erläuterung 
fähig  ist.  '  * 

Man  bat  wohl,  den  Anfängern  das  mathematische  Ob¬ 
ject  in  etwas  begreiflicher  zu  machen,  folgenden  Mittels 
sich  bedient:  Der  Lehrer  nahm  das  Stück  Kreide,  mit  dem 
er  die  mathematischen  Figuren  zeichnen  wollte,  zwischen 
Zeigefinger  und  Daumen,  wies  es  so,  frei  gehalten,  den 
Zuhörern  und  sagte:  denkt  euch  aus  dem,  was  ich  halte, 
alle  Kreide  herausgelällen ,  was  dann  noch  übrig  bleibt,  ist 
der  mathematische  Külper.  Man  hat  auf  diese  Weise  zu 
dem  Irrthume  Anlafs  gegeben,  als  ob  ein  mathematischer 
Körper  eine  wirkliche  Ausdehnung  habe,  und  dies  gab 
Anlals  zur  Verwechselung  des  Baumes  mit  der  Ausdeh¬ 
nung  ‘).  Eine  mathematische  bigur  ist  im  Minimum  wie 
im  Maximum;  nicht  so  das  Ausgedehnte,  da  unterscheidet“ 


I  )  Eine  genauere  Beleuchtung  der  hierauf  bezüglichen  Er¬ 
örterungen  de*  Skeptiker«  llu  me  mag  diese  Verwechselung  und 
die  aus  ihr  entstehenden  Schwierigkeiten  nur  zu  deutlich  vor 
die  Augen  bringen.  (S.  I).  llu  me  über  die  menschliche  Natur, 
aus  dem  Englischen  von  L.  1(.  Jacob.  1790.  Bd.  1.,  vorzüglich 
den  vierten  Abschnitt  S.  Dt)  if.  ) 


397 


i.  Philosophie  and  Physik. 

sich  allerdings  Körper  von  Körper  durch  die  blofse  Aus¬ 
dehnung  dergestalt,  dafs  der  kleinere  von  dem  gröfseren 
angezogen  wird.  In  diesem  Unterschiede  liegt  es  auch, 
dals  die  Mathematik,  wiewohl  sie  nur  in  Beziehung  auf 

Kaum  und  Zeit  vorhanden  ist,  und  in  diesen  herrscht,  den- 

$  #  , 

noch  seihst  weder  Kaum  noch  Zeit  in  dem  objectiven  Sinne, 
d.  h.  Ausdehnung  und  Dauer,  kennt,  sondern  immer  nur 
das  Eins,  das  Maafs,  das  selbst  ein  willkü hrlich  gemachtes, 
mithin  kein  mathematisches,  a  priorisches  genannt  werden 
kann.  Ein  willkührlich  angenommenes  Ausgedehntes,  als 
Einheit,  oder  das  Maafs,  mufs  gesetzt  werden,  und  dies  ist 
ein  Resultat  einer  wirklichen  oder  blofs  angenommenen 
Erfahrung. 

Das  Wissen,  die  Mathesis,  das  Wissen  unter  der  Ca- 
tegorie  der  jNothwemJigkeit,  ist  mithin  immer  nur  ein 
Messen  des  Gegebenen,  Ausgedehnten  und  Veränderlichen, 
eines  unbestimmt  supponirten,  oder  bestimmt  gegebenen 
Ausgedehnten,  oder  Wechselnden  im  Räume  und  in  der 
Zeit.  Was  aber  will  dies  Messen  anders  sagen,  als  die 
Ausmessung  der  räumlichen  und  zeitlichen  Verhältnisse  des 
Ausgedehnten  und  Veränderlichen,  des  Einen  gegen  das 
Andere  ?  Das  Maafs  hat  es  immer  nur  mit  der  Gränze  zu 
schaffen,  die  das,  was  wir  messen  von  dem,  das  noch  nicht 
gemessen  ist,  sondert;  wie  es  sich  z.  B.  mit  der  Frage  ver¬ 
hält,  von  dem  Flächeninhalt  eines  Dreiecks  zu  einem  Viereck 
von  gleicher  Höhe  und  Grundlinie.  Durch  dieses  Bestim¬ 
men  einer  beliebigen  Einheit  zum  Maafse  können  wir  vom 
Inhalte  des  Gemessenen  abstrahiren,  und  einzig  uns  mit  der 
Betrachtung  und  Entwickelung  dieser  mannigfachen  gegen¬ 
seitigen  Verhältnisse  beschäftigen.  Dieses  ursprüngliche  Wis¬ 
sen  —  denn  dieses  Wissen  ist  ein  solches  in  dem  die  An¬ 
schauung  des  Raumes  ohne  Ausdehnung,  als  eine  willkühr¬ 
lich  hinzugedachte  dieser  Erken ntnifsart  zum  Grunde  liegt  — 
lehrt  uns  aber  durchaus  nichts  als  Gränzbestimmungen  ken¬ 
nen.  Selbst  der  mathematische  Cubus  giebl  weiter  nichts 
als  das  Maafs  der  als  Einheit  willkührlich  gesetzten  klei- 


398 


1.  Philosophie  und  Physik. 

ncren  Cubi  in  dem  Gröfseren,  oder  das  Verhältnifs  dieser 
Art  der  Umgränzung  zu  irgend  einer  anderen,  z.  Ti.  der 
Pyramide.  Unser  eigentlich  mit  Nothwendigkeit  vereinigtes 
Wissen  bezieht  sich  nach  diesem  allen  nur  auf  Scheinwesen, 
de»  unausgedehnten  l\aum,  und  die  unveränderliche  Zeit. 

• 

Das  mathematische  Wissen  vom  Wesen  der 

Dinge. 

Wie  ist  nun  die  Demonstratio  more  inathematico  vom 
"Wesen  des  Weltalls  beschaffen?  Indem  ein  Absolutes  und 
Nothwendiges  vorausgesetzt,  oder  gav  demonstrirt  wird, 
kann  möglicherweise  nichts  anderes  herauskommen,  als:  Ks 
existirt  kein  Nacheinander  in  der  Tbat,  sondern  nur  im 
Scheine.  —  Existirte  ein  Nacheinander,  oder  eine  Zeit  in 
der  Erscheinung,  so  mufs  eine  Zeit  gewesen  sein,  wo  das 
Vollendete  unvollendet  gewesen  ist;  q.  e.  a.  Eben  so  exi¬ 
stirt  kein  Nebeneinander,  denn  dieses  Ausgedehnte  kann  nur 
durch  ein  Ansetzen  eines  Neuen,  d.  i.  eines  zeitlich  hinzu¬ 
kommenden,  zn  Stande  kommen.  —  Das  strenge  Wissen 
also  von  der  Natur  der  Dinge  mufs  nothwendig,  weil  es 
nur  ein  Wissen  von  Vorgefundenen  oder  supponirten  Gränz- 
und  Gröfsenverbältnissen  geben  kann,  das  was  den  eigent¬ 
lichen  Inhalt  dieser  Verhältnisse  ausmacht,  total  vernichten, 
und  die  Mathesis  auf  die  Natur  der  Dinge,  auf  das  wirk¬ 
liche  oder  supponirte  Ausgedehnte  angewandt,  vernichtet 
dasselbe  ganz  und  gar.  Die  Welt  im  Ausgedehnten  und 
Wandelnden  hört  auf.  Es  kann  durchaus  kein  ander  Re¬ 
sultat  herauskommen,  als:  es  existirt  keine  Welt,  wenig¬ 
stens  wissen  wir  von  keiner,  denn  die  ursprüngliche  Ein¬ 
heit  hat  ja  keine  Ausdehnung,  ist  ja  nicht  ein  Nacheinander. 
Dies  ist  denn  auch  das  Endresultat,  oder  vielmehr  die  noth- 
wendige  Grundlage  aller  Demonstrationen  more  lualhema- 
tico  von  der  Welt.  Die  Sinnen  well,  die  nun  einmal  vor- 
licgt,  und  deren  Vorhandensein,  als- ausgemacht,  nun  auch 
dem  Verstände  begreiflich  gemacht  werden  soll,  wird  ver¬ 
tilgt  von  Grund  aus. 


399 


I.  Philosophie  und  Physik. 

Wir  müssen  daher  zu  folgendem  Resultate  uns  beken¬ 
nen:  Das  Unternehmen  an  und  für  sich,  ein  Ding 
an  sich  als  nothwendig  begreifen  zu  wollen,  ist 
ein  falsches,  und  leidet  an  einem  inneren  W i - 

'  f 

derspruche.  Die  Form  «No  th  wendigkeit”  hat 
nur  Beziehung  auf  unser  Denkvermögen,  dieses 
ist  genöthigt,  die  Zahl-  un  d  Grö  fsenver  hältnisse 
so  und  nicht  anders  anzuschauen.  Objecte  aber 
selbst  sind  insgesammt,  und  überhaupt  ist  alles, 
was  cxistirt,  für  uns  zufällig.  Es  hört  auf  für 
uns  zu  sein,  sobald  wir  es  als  nothwendig  we¬ 
send  anschauen  wollen;  denn  wir  verwandeln  es 
eben  damit  alsbald  in  ein  Schatten-  und  Schein¬ 
wesen,  in  einen  mathematischen  Raum  ohne  Aus¬ 
dehnung. 

Fragen  und  Antworten  der  Naturphilosophie. 

Wie  verhalten  sich  das  Ein  und  das  All?  Ist  das 
All,  Eins;  oder  das  Ein,  All?  Hat  die  Zeit  einen  An¬ 
fang?  Ist  der  Raum  begranzt?  Oder  ist  beides  anfang- 
und  gränzlos?  Oder,  die  letzten  Fragen  anders  ausgedrückt: 
War  eine  Zeit,  da  noch  nicht  alles  da  war,  was  jetzt  da 
ist?  Giebt  es  einen  Raum  wo  nichts  ist,  oder  weniger 
ist,  als  in  dem  uns  bekannten  sichtbaren? 

Alle  obigen  Fragen  berühren,  genau  betrachtet,  nur 
Zahl-  und  Maafsverhältnisse  dessen,  was  ist;  und  dem  ge- 
mäfs  sind  auch  die  Antworten  der  Naturphilosophen  von  je 
bis  jetzt.  Die  streng- wissenschaftlichen  Eleaten  hatten  den 
Grundsatz  der  Subjectivität,  den  ein  späterer  durch  sein 
cogito  ergo  sum  etwas  verändert  wiedergab,  an  der  Spitze 
ihres  unfruchtbaren,  logischen  Systems.  Sie  förderten  die 
grofse,  absolut-nothwendige  Weisheit  zu  Tage:  dafs  A  =  A 
ist,  dafs  Nichts  wird  (Verleugnung  der  Zeit),  und: 

««,/  >  »  \  i  »  »  >r  / 

ug  sv  re  7rccvT&  t<m,  kcci  ecmjKfv  uvto  ev  ecvra ,  ük  t%o*  Xco^a'v 

lv  kivsTtui  (\erieugnung  des  Raums).  Also  h  eivec  ta-rag 
to  tt&v.  Diese  Schule  hat  die  Lehre  von  einem  absoluten 


400 


I.  Philosophie  und  Physik. 

Wissen  am  strengsten  gefafst,  und  vollendet  also:  das  AA  is- 
sen  sei  ciue  (ein  Vernunftwissen,  ein  mathematisches). 
Eine  minder  strenge  Art  der  neueren  Zeit  (wiewohl  sie 
sich  stolz,  genug  die  wissenschaftliche  genannt  hat)  hat  sich, 
eben  weil  sie  sich  selbst  nicht  scharf  genug  begriff,  in  tiefe 
Widersprüche  verwickelt.  Verschieden  von  diesen  Philo¬ 
sophen  lehrten  die  andern  (nach  Plato  n’s  Zeugnissen): 
das  Wissen  sei  (ein  Anschauen),  und:  <v's  to  -xoly 

Ktt*} rtf  vi¥t  r?f  o\  Kirr)<rtu$  o'vo  iJXj  ,  vroiu ’»  xoti  Die 

Satzung  von  Sub- Object  ist  hier  zu  Tage  gegangen,  und 
an  der  Spitze  stellt  als  Grundton:  Der  Mensch  ist  Maafs 
aller  Dinge  (und  Messer  setzt  eine  neuere  Lehre  unnö- 
thigerweise  hinzu).  Ein  in  sich  inconsequentes,  und  deshalb 
auch  in  sich  zerfallenes  System,  weil  Raum  und  Zeit  ge¬ 
leugnet  wird,  ohne  dafs  die  Leugner  dieser  Formen  es  ge¬ 
wahr  werden,  und  fortfahren  auf  dem  Acrnicliteten,  als  auf 
einem  noch  Bestehenden,  fortzubauen.  Platon  hat  sich 
über  das  Maafs  des  Protagoras  in  seiner  AVeise  lustig 
gemacht,  und  es  sodann  mit  dem  nachdrücklichsten  Ernste 
zurückgewiesen.  (Siehe  die  Dialogen  Theätetos  und  den 
Sophisten.) 

Fragen  und  Antworten  d er atur wissen schaf t. 

Wenn  oben  die  Frage  war  nach  einem  nothwendigen 
Grunde,  der  den  Inhalt  alles  W  issens  vom  Weltgebäu  dar¬ 
stellt;  so  ist  jetzt  die  Frage  nach  Ursache  und  Wir¬ 
kung.  Eins  erscheint  als  bedingt  und  Folge  des  andern; 
die  Zeit  ist  die  Matrix  der  Betrachtung  von  Ursache  und 
W  irkung.  \\  o  nichts  ird,  ist  keine  l  rsache  des  A\  er- 
dens  denkbar;  mithin  kein  AA  elturheber  als  Prius ,  und  keine 
AA  eit  als  Posterius  und  Wirkung.  Beides  aber,  und  zwar 
ohne  Nothwendigkeitsbestiimnung,  giebt  die  Thatsache  des 
Daseins,  ohne  welches  ja  auch  jenes  sogenannte  noth wen¬ 
dige  Sein  nicht  möglich  wäre.  Das  Dasein  ist  das  eben  in 
dieser  Bedeutung  und  im  AA  iderspruche  mit  der  Nothwen- 
digkeit,  das  zufällige,  oder  das  gerade  gewordene, 


L  Philosophie  und  Physik.  401 

wesende;  sich  verändernde  in  Kaum  und  Zeit,  sich  Ausdeh¬ 
nende  und  Zusammenziehende. 

Fragt  nun  der  Naturhistoriker  den  Philosophen,  was 
ist  denn  das  eigentlich,  mit  dessen  Veränderungen  ich  mich 
befasse?  Was  ist  ein  Körper  an  sich?  wie  besteht  er?  wie 
ist  er  geworden?  so  erhält  er  —  denn  in  seinem  Gebiete 
liegen  Antworten  auf  diese  Fragen  ganz  und  gar  nicht  — 
mancherlei  Kescheid.  Alles  msgesammt  aber  läfst  sich  auf 
die  mathematischen  Axiomata  reduciren;  und  auf  diese  Art 
wird  rückwärts  ein  Körper  a  priori  construirt  (rückwärts, 
wenn  wir  das  Fragen  ein  Vorwärtsgehen  nennen  müssen), 
der  alle  Eigenschaften  eines  mathematischen  hat,  d.  h.  gar 
keine,  selbst  keine  Ausdehnung,  also  wird  ein  Körper  und 
eine  Welt  geboren,  die  eben  keine  sind.  Vergleiche  man, 
wie  Kant  (in  seiner  Widerlegung  der  Lehre  Leibnitzens 
von  dem  Nicht- Unterscheidbaren),  zwei  Wrassertropfen  mit 
zwei  gg.  Dreiecken,  so  sind  die  letzten  wirklich  einerlei,  als 
Schemata,  die  ersten  aber,  bei  aller  Unterscheidbarkeit, 
dennoch  zwei,  dem  Kaume  und  der  Substanz  nach  wesent¬ 
lich  verschiedene  Dinge. 

Die  Antwort  des  Physikers  ist:  Ich  finde  den  Körper 
und  untersuche  seine  Eigenschaften,  was  er  aber  an  sich 
ist,  kann  ich  nicht  wissen.  Der  Philosoph  dagegen  sagt 
freilich,  er  wisse  es,  legt  aber  statt  eines  wirklichen  Dinges, 
ein  Ding  das  sich  selbst  wieder  aufhebt  und  vernichtet  vor, 
ein  Unmögliches,  ein  p j  cv ,  einen  Wortschwall  ohne  Inhalt 
und  Sinn. 

Was  oben  im  Vorbeigehen  schon  erwähnt  worden  ist, 
nämlich  die  Zweifältigkeit  der  Modal itätscategorie,  bedürfte 
hier  einer  besonderen  Erläuterung.  Die  vollendetere  Ent¬ 
wickelung  ist  indefs  für  einen  anderen  Ort  aufzusparen, 
zumal  da  es  wohl  manchen  geben  mag,  der  eine  Einleitung 
wie  die  gegenwärtige,  fürs  folgende  Thema  etwas  zu  weit 
hergeholt  finden  möchte.  Mag  ers!  der  Grundsatz  soll  er¬ 
örtert  werden,  seine  Anwendung  mag  auf  einen  gröfseren 
oder  geringeren  Gegenstand  sich  bezieheu.  Kant  hat  sich 


402 


I.  Philosophie  und  Physik. 

(Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  557.)  über  diese  Zweisei¬ 
tigkeit  verständigt,  obwohl  er  nicht  auf  diese  Scheidung 
den  Werth  und  das  Gewicht  legt,  das  sie  verdient.  Kr 
theilt  die  Categoriecn  in  dynamische  und  mathematische. 
In  den  ersten  ist  die  Rede  vom  Dasein  der  Dinge,  in  den 
zweiten  von  ihrer  Grölse.  Wenn  ich  die  vierte  Katego¬ 
rie,  die  der  Modalität,  genauer  betrachte,  so  fällt  mir  auf, 
dafs  die  Gegensätze  keine  wirklichen  sind.  Der  Möglich¬ 
keit  soll  nicht  Unmöglichkeit  gegenüberstehen;  son¬ 
dern  der  Gegensatz  der  Not h wendigkeit  ist  Unmög¬ 
lichkeit;  noth wendig  ist  alles,  was  innerhalb  des  Um¬ 
fanges  eines  gegebenen  Begriffes  enthalten  ist;  unmög¬ 
lich  ist  das,  was  denselben  Begriff  in  ihm  selbst  auf  hebt; 
das  Bestehen  des  Zirkels  wird  durch  das  Schema  eines  \  ier- 
ccks,  wenn  wir  es  als  Attribut,  d.  h.  als  Begriffstbeil ,  je¬ 
dem  Hauptbegriffe  hinzufugen,  unmöglich  gemacht,  d.  h.  der 
ganze  ursprüngliche  Begriff  ist  dadurch  unmöglich.  Was 
in  dem  Begriffe  immer  enthalten  sein  mag,  ist  in  keiner 
Beziehung  «möglich»*  zu  nennen,  es  ist  noth  wendig, 
z.  B.  das  Verhältnifs  der  Radien  und  der  Sehnen  u.  s.  w. 
Möglichkeit  bildet  einen  Gegensatz  gegen  Wirklich¬ 
keit,  «  es  ist  möglich,  dafs  das  N o th  we n dige  zur  Wirk¬ 
lichkeit  werde, »»  d.  h.  das  Noth  wen  dige  in  der  An¬ 
schauung  ist  auch  möglich  in  der  Ausführung,  als  That 
unseres  Willens,  oder  als  Werk  irgend  eines  anderen. 
Möglichkeit  steht  aber  der  Wirklichkeit  nicht  dia¬ 
metral  entgegen;  sie  hat  vielmehr  eine  Verwandtschaft  mit 
der  Zufälligkeit.  Das  Wirkliche  nämlich  nennen  wir, 
mit  Rücksicht  auf  unser  \  erständnifs,  zufällig,  weil  wir 
von  seinem  Dasein  keinen  adäquaten  Grund,  vielleicht  keine 
Ursache  anzugeben  wissen.  Zufälligkeit  und  Noth- 
wendigkeit  beziehen  sich  also  auf  zwei  durchaus  hetero¬ 
gene  Objecte,  diese  auf  Gegenstände  des  Begriffes,  in 
dem  nichts  Zufälliges  sein  kann;  jene  auf  Gegenstände  des 
Historischen,  des  Daseins.  Die  Möglichkeit  steht 
also  der  Zufälligkeit  gegenüber,  und  der  Noth  wen¬ 
dig- 


403 


I.  Philosophie  und  Physik. 

digkeit  die  U  nmöglichkeit;  erster  Gegensatz  auf  das 
<f>a uvoyXvov*  der  zweite  auf  das  vxpsvov.  Die  minder  scharfe 
Unterscheidung  dieser  Uategorie  in  zwei  verschiedene  Hälf¬ 
ten,  ist,  meiner  Meinung  nach,  Veranlassung  zu  den  vielen 
Unrichtigkeiten  in  der  Naturwissenschaft,  wie  nicht  minder 
in  der  Ethik,  da  man  fälschlicher  Weise  der  Nothwendig- 
keit  die  Freiheit  zum  Gegensatz  gegeben  hat,  die  doch  in 
gar  keinem  solchen  Verhältnisse  stehen. 

i  „  .  '  •  \ '  i  .  .  '  -  . 

Naturphilosophie  von  je  bis  jetzt. 

# 

Wenn  demnach  das  Regriffswissen ,  das  Wissen  des 
Grundes  seiner  Natur  nach,  nicht  sowohl  nicht  unserer 
endlichen  Natur  gegeben,  als  vielmehr  der  Art  und  Beschaf¬ 
fenheit  ist,  dafs  es  den  ganzen  Inhalt  der  Phänomene  ver¬ 
nichten,  und  also  alles  Wissen  von  derselben,  trotz  seiner 
Verheifsung,  auf  heben  müsse;  wenn  es  in  seiner  (Konse¬ 
quenz  eigentlich  zu  keinem  anderen  Resultate  kommt,  als; 
Es  ist  keine  Zeit,  es  ist  kein  Raum,  und,  weil 
beide  nicht  sein  können,  auch  Nichts  in  ihnen; 
und  was  etwa  erschiene,  ist  erweislich  nicht 
wirklich,  sondern  Schemen  und  Schein,  und  end¬ 
lich  der  Denkende,  der  also  denkt,  als  zeitliches 
und  räumliches  W esen,  nicht  minder,  oder  des 
tivcci  to  ov  nach  Plato,  —  so  ist  dieses  als  das  einzig 
mögliche  Pxesultat  des  materiellen  Einflusses  der  dogmati¬ 
schen  Philosophie  auf  die  Physik  ein  nicht  sowohl  schäd¬ 
liches,  als  vielmehr  ein  vernichtendes,  zerstörendes  Prinzip. 
Was  der  Naturphilosophie  noch  nachgerühmt  wird,  ist 
dem  guten  Sinne  und  der  Nachreife  der  wenigen  ausge¬ 
zeichneten  Männer  in  diesen  Schulen  zu  verdanken,  nicht 
dem  Absolutismus  an  sich.  Diejenigen,  die  sich  in  stren¬ 
ger  Consequenz  an  diesen  hielten,  haben  auf  dem  ewig  un¬ 
fruchtbaren  Granit,  wie  die  Isis  sich  auf  ihre  geistreiche 
Weise  ausdrückt,  fortgehämmert,  und  Nichts  zu  Tage  ge¬ 
fördert.  Zum  Unglück  ist  von  dem  anderen  Tbeile,  dem 
es  am  Studium  der  wirklichen  Natur  fehlte,  dessen  er  sich 

21 


XIV.  Ed.  4.  St. 


404 


1.  Philosophie  nncl  Physik. 

vielleicht  wegen  apriorischer  Machtvollkommenheit  über¬ 
heben  zn  können  vermeinte,  eine  gute  Anzahl  ins  we¬ 
senlose  Reich  der  Phantasie  gerathen,  und  in  demselben 
verdampft. 

Einiges  Geschichtliche  —  Schlafs. 

Sonderbar,  fast  possierlich,  gebehrdet  sich  der  Dogma¬ 
tismus,  wenn  sich  die  Kritik  neben  ihm  als  Hofmeisterin 
etwas  herausnimmt.  Er  stellt  sich  gegen  sic,  wie  der  Jun¬ 
ker  auf  Universitäten  gegen  seinen  Hofmeister.  Eine  über¬ 
aus  naive  Aeufserung  eines  grofsen  Philosophen,  der  die 
Geschichte  der  pythagoreischen  Philosophie  a  priori  aufge- 
fafst  wissen  will,  nicht  historisch,  mithin  eine  Geschichte, 
die  doch  keine  Geschichte  sein  soll,  findet  sich  in  der  Isis 
(l»d.  20.  Heft  12.  S.  1053.).  Eine  Jerembde  über  den  be¬ 
trübten  Gegensatz  und  die  zerstörende  Feindseligkeit  des 
$ 

Flachen  gegen  alles  Gründliche  u.  s.  w.  eröffnet  die  Klage, 
und  dafs  die  Philosophie  gleiches  Schicksal  habe.  « Von 
jeher  hat  sich  der  wahren  Grundlehre  eine  mannigfach  ge¬ 
staltete  Sophistik  gegenübergestellt.  ”  —  Arme  Vernunft! 
du  bist  doch  wirklich  am  Ende  der  wahre  Selbstquäler. 
Hier  im  Subject  A  bist  »du  zufrieden  und  sclbstgeniigsam ; 
bis  du  (immer  doch  nur  Eine  und  Dieselbe)  im  Subject  ß 
dich  grämlich  zeigst,  und  dich  selbst  krittelst.  \\  ir  schwei¬ 
gen,  und  überlassen  es  dem  verständigen  Leser,  zu  ent¬ 
scheiden,  was  das  Rechte  sei:  ob  sieb  reich  prahlen  heim 
Aufzählen  von  Rechenpfennigen ,  und  so  in  den  Tag  hinein 
zu  arbeiten;  oder  ob  Prüfen  mit  dem  schwarzen  Steife  der 
Scheidekünstler,  selbst  auf  die  Gefahr,  die  Seifenblasen¬ 
welten  am  Sonnenlichte  zum  Platzen  zu  bringen. 

o 

VVas  die  Alten  sangen,  das  pfeifen  die  Jungen,  sagt 
das  Sprichwort.  Auf  gleiche  Weise  haben  die  alten  sike- 
lischen  Musen,  nach  Plato,  vom  Weltall  gesungen:  «Das 
Seiende  ist  das  Ein  und  das  All,  durch  11a  fs  und 
Liebe  getrennt  und  gebunden;"  und  also  sang  die 
neue  deutsche  Muse:  Eins  und  Alles  (zur  Natilrwbsen- 


405 


I.  Philosophie  und  Physik. 

schaft,- von  Güthe.  II.  1.  S.  123.).  So  viel  ist  aber  zu 
erweisen,  dafs  die  alten  so  wenig,  als  die  neuen  Musen,  zu 
irgend  einem  anderen  Meister  führen,  als  eben  dem  Sang¬ 
meister  selbst,  aber  schwerlich  «zu  dem,  der  Alles 
schafft  und  schuf»  (Vers  II.).  Denn  das  consequente 
Wissen  a  priori,  das  absolute,  das  mit  Nothwendigkeit  be¬ 
gleitete,  vernichtet  das  Object,  als  Schein,  als  (ty  ov,  und 
eben  sowohl  das  Subject,  das  Denken  Nach  -  einander,  von 
Ursache  und  Wirkung.  Was  auf  diesem  W  ege  also  ge¬ 
funden  wird,  ist  ein  mathematischer  Körper  mit  angedich¬ 
teter  Ausdehnung,  die  ihm  nicht  zukommt.  Dies  System 
tritt  am  unverholensten  hervor  in  der  Lehre  des  Jordeus 
Bruno  (vergl.  de  triplici  minimo  et  mensura.  C.  IV.): 
Nam  nihil  est  cyclus  praeter  spectabile  centrum, 

Et  sine  fine  globus  nihil  est  nisi  centrum  ubique. 

Quare  hic  simpliciter  centrum  est,  minimumque  per  omne 
Totum  se  fundens,  verum,  unum ,  semper  in  omni 
Omneque  compositum  in  mimmum  revocabilur  ut  sit  etc. 
Ferner  im  folgenden  Kapitel: 

Ergo  mensurae  rationes  atque  figurae 
Perquirens,  variosque  in  fines  tramite  eodern 
Collimans,  qui  idem  mensura  ns  format  et  idem 
Mensurat  form  ans,  minimi  speculetur  oportet, 
Naturam  primo,  solidum  capiatque  elementum. 

Im  strengen  mathematischen  Spinoza  gebt  der  Wider¬ 
spruch,  die  Nothwendigkeit  der  Selbstvernichtung,  nicht 
minder  klar  zu  Tage.  Man  vergleiche  die  72ste  Proposition 
und  ihren  Beweis  im  vierten  Buche  der  Ethik  mit  dem 
Ilauptgrundsatze:  dafs  Ausdehnung  eins  der  unendlichen 
Attribute  der  ewigen  Substanz  sei.  Auch  die  Unterschei¬ 
dungen  von  Actus  und  Potentia  sind,  bei  Lichte  besehen, 
wahre  Schleichwege,  auf  denen  man  etwas  Wesenheit  aus 
der  Vernichtung  retten  zu  können  vermeint.  Die  Cogitata 
metaphysica  sprechen  diese  absolute  Folge  des  apriorischen 
Wissens  in  folgenden  Worten  klar  aus:  Quare  tempus 
est  merus  modus  cogitandi,  sive  ut  jam  diximus,  ens  ra- 

27  * 


I 


406 


1,  Philosophie  und  Physik, 

tionis  (vergleiche  den  über  diese  Materie  ganz  besonders 
wichtigen  Brief  XXIV.).  Bei  jeder  Deutungsart  kommt 
hier  nichts  als  Widerspruch  heraus.  Dem  ehrlichen  Bran¬ 
denburg  war  daher  schon  deshalb ,  weil  er  Spinoza 
ebenfalls  more  mathcmatico  widerlegen  zu  müssen  glaubte, 
sein  Horoscop  gestellt,  er  wurde  nämlich  selbst  ein  Spino- 
zist.  (Bayle.) 

Wissen  können  wir  von  nichts,  als  von  Zahlenverhält¬ 
nissen  des  Einen  gegen  das  Andere,  wie  schon  früher 
gesagt.  Nehmen  wir  das  V\  issen  von  der  Welt  in  einem 
anderen  Sinne,  ohne  dals  etwas,  als  aufser  uns  gegebenes, 
mithin,  in  Beziehung  auf  uns,  Zufälliges,  ursprünglich 
gegeben  voranstehl:  so  fällt  auch  nothwendig  das  N\  issen, 
das  uns  übrig  bleibt,  zusammen,  und  wir  wissen  auch  vom 
W  isseu  nichts  mehr.  Der  Dämmer  der  alt-  oder  neupla¬ 
tonischen  Mystik,  mufs  am  Ende,  klar  gemacht  und  in  sich 

consequcnt,  auf  das  elcatische  Prinzip  kommen,  und  in  sein 

\ 

ödes  Nichts  zurücksinken.  Richtiger  —  darf  man  sagen 
redlicher?  —  als  Spinoza,  hat  Galen  den  Unterschied 
zwischen  Moses  und  Plato  begriffen.  Spinoza  sucht 
seine  Lehre  zu  unterstützen,  indem  er  in  der  Schöpfungs¬ 
geschichte  Mosis  dieselbe  Lehre  nach  weist,  die  er  gelehrt 
hat.  Deum  mundum  hunc  visibilem  ex  chaote  fecissc 
steht  aber  nirgends;  ja,  dieser  Ausspruch  gebürt  der  eigent¬ 
lichen  Philosophie  ganz  und  gar,  und  bildet  eben  den  Ge¬ 
gensatz  zu  dem:  Im  Anfang  schuf  Gott  Himmel  und 
Erde.  Galenus  dagegen  drückt  sich  über  diesen  Gegen¬ 
satz  der  Philosophie  zur  Offenbarung  (nach  ihm,  Plato  und 
Moses)  folgendermaalsen  aus  (de  usu  portiuni,  A.  c.  XIV.): 

Mhtks  aruf  l$VTieXcytit  k*\  ßiXnot  UTaig,  i)  £7r/jt#£öf; 

cteitTov  p.t»Toi  äAAä  rr,t  ik  tu  OQiuueyu  $vXtt.TTotTo$ 

•  .  j  t  •  v  «  t  •  /  ..  *  '  i 

yirttrstif  tv  utxti  Toif  yitlrouttoif  ouoovt  M&on  Tt)t  ik 

T?f  vAlJf  XVT*i  7TgOSTtS-irCtl  ....  Kx\  TUT  ffTIty  KxQ  O  T>}  {  M  U  - 

ctaf  o'ofys  r  &*)uitI(>x  xctl  nXuT6>*o< ,  xeci  r>  tu*  xXXur t  tu* 

ttx^  EXXr.crif  ofiu<;  utTX}^UPicrxuttut\  tu {  TTfgl  X*yu< 

oitttylglt.  r»  Uff  yct£  Apli  re  ßuXtjS-rvui  xocrxrecu  Tot  $tet 


407 


I.  Philosophie  und  Physik. 

,  \  «/  *  K»  «  \  /  9  i 

TJjy  vhyv,  7)  ö  ev&vg  x.fxorpvTcci.  ttxvtx  yxg  itvxi  too  3-?m 

ii'VctTU,  yo/xt^et ,  X.CCV  u  t^v  T£<pgav  i7r7rov  >;  ߣy  e3~eXf(  7Coii 7». 

H.ustf  0  H X,  htm  yiVMSxopsy,  «AAat  £/vc£;  tivä  Aeq/o^j?  xov- 

yXTX  cpvcr£(  r)  TXTOig  £7Tl%Sl(>tlV  OÄMf  TOV  $-£oy  ,  CtAA* 

ix.  r&ö  ^vvxTuiy  yiVicrB-ctt  to  ß'iXnov  a'i^ilr&xi.  y.xl  roivvv  xoct  rgt- 
%cig  £7r)  ro7g  ßXltycl^oig  txrudrj  ßiXnov  aj y  U.  S.  W.  .Die  t/A>) 
gehörte  ihm  ganz  und  gar  zum  «  W'  ah  rhaFt  -  seiend  - 
seienden,»  als  dafs  er  sie  zum  blofsen  (jeschöpf  hätte 
machen  können.  Der  Paganismus  war  so  weit  von ‘einer 
solchen  N  orstellungsart  entfernt,  dafs  er  sie  nicht  einmal 
einem  Andern  nachzudenken  oder  nachzusprechen  vermochte, 
eine  Idee,  auf  welche  der  Gründer  der  kritischen  Philoso¬ 
phie  als  diejenige  endliche  verwiesen  hat,  die  der  Vernunft 
von  allem  Denkbaren  am  meisten  conform  wäre.  (Man  ver¬ 
gleiche  hierüber  J  äse  he,  Darstellung  der  Geschichte  des 

Pantheismus.  Berlin  1826.  S.  103.) 

*»  * 

Wenn  der  römische  Philosoph,  im  Bewufstsein  einer 

✓ 

entfernten  Unsicherheit,  gesteht,  jedenfalls  wolle  er  lieber 
mit  Plato  irren,  als  Recht  haben  mit  Epicur;  so  wird 
es  wohl  begreiflich  sein,  wenn  man  lieber  mit  dem  tief¬ 
sinnigen  Kritiker  Kant  Recht  haben,  als  mit  dem  Proteus 
des  All-Eins,  diesem  wesen-  und  trostlosen  Undinge,  und 
seinen  Bekennern  irren  wollte.  Doch  wie  mag  man  sagen, 
«lieber  irren,»  oder  «lieber  Recht  haben?»  —  als  ob  es 
auch  nur  von  uns  abhinge,  das  zu  wollen,  jenes  nicht!  Ist 
nicht  die  Wahrheit  allmächtig,  gleich  dem,  dessen  Werk 
die  Welt  ist  und  sie? 

Die  mathematische  Weltdemonstration,  und  ein  W  i  s- 
sen  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  aufzugeben  genö- 
thigt,  ist  uns  daher  keinesweges  zu  Muthe,  wie  dem,  der 
grofsen  Besitz  ohne  Ersatz  w'cgzuwcrfen  gezwungen  ist. 
W  ir  geben  kein  Gewisses  hin,  ohne  Aussicht  auf  ein  an¬ 
deres  Neue;  wir  geben  vielmehr  ein  erweislich  Nichts,  ja 
ein  weniger  als  Nichts,  einen  Widerspruch  auf,  .mit  dem 


I)  Natur  —  Gott,  und  darin  liegt  es  )a  eben 


40S  1 1  .  Coriex  adstringens  Urasiiicnsis. 

Rewufstsein,  glatt  «K«*se-s  Aufgegcbeneh,  »Ins  nn  sich  ja  eben 
ein  gewisses  Nichts  bedeutete,  ein  gewisses  Etwas  zu  ge¬ 
winnen,  eine  ihrem  Wesen  nach  unerklärliche,  aber  ihrem 
Sinne  nach  nur  verdeckte  Welt  der  Anschauung.  Zwei 
Punkte  sin«!  uns  gegeben;  auf  dem  einen  befinden  wir  uns, 
und  dies  ist  der  ruhende;  der  andere,  der  aufserhalb  unser, 
ist  der  bewegliche.  Der  Welt  »les  Werdens  und  \  erge- 
hens,  in  einer  Welt  des  Ausgedehnten  und  des  Veriliefsen- 
den,  können  wir  uns  nur,  so  weit  solches  überall  uns  ver¬ 
gönnt  ist,  unter  beiden  Formen,  des  Neben-  und  des  Nach¬ 
einander,  bemeistcni,  also  durch  Vergleichung  und  Erfah¬ 
rung.  Als  Basis  »lieses  Räumlichen  und  Zeitlichen  ist  vor 
unserem  Genüilhe  die  Teleologie,  als  unzertrennliche  Idee 
von  der,  eines  persönlichen,  und  also  freiwaltenden  De- 
miurgen.  Diese  Idee  einer  Teleologie  ist  es  aber  auch,  die 
alle  fruchtbaren  Naturforschungen  von  jeher  geleitet  hat, 
so  wie  die  Methode  der  Induction  im  Gegensätze  zur  De¬ 
monstration,  immer  und  ewig  »lie  rechte  Rasis  aller  wirk¬ 
lichen  Rereicherungen  der  Naturwissenschaften  war  und 
bleiben  wird.  Wenn  nun  ein  moderner  Idealismus  das 
zweitemal  einen  ^Veltunterrang  demonstrirt,  so  inonstrirt 
er,  wie  Ixion  mit  seiner  Wolken-Juno,  lauter  Centauren 
und  Chimären,  ein  trostloses,  unseliges  Gesindel  von  Ab- 
straclionen. 


•  U.  . 

Uebcr  den  Cortcx  adstringens  Brasilien- 
sis;  vua  K.  Tb.  Me  i  rem,  Doctor  der  Mcdiciu, 
Chirurgie  und  Gebartshiilfe ,  Künigl.  Preufs.  Re¬ 
gierungs  -  und  Medicinalralhc  bei  der  Regierung 
zu  Köln  u.  s.  w.  Mit  vier  ausgemalten  Abbil- 


409 


II.  Cortex  adstringens  Brasiliensis.  409 

's/  t  *  . 

(Jungen.  Köln  am  L\hein>  Druck  und  Verlag  von 
Johann  Peter  Bachem.  1 S28.  8.  106  S.  (1  Thlr. 
8  Gr.) 

Im  October  1818  erhielt  M.  die  Kinde  durch  einen 
Kaufmann,  der  sie  auf  einer  Keise  nach  Südamerika  von 
einem  Indianer  des  stillen  südlichen  Oceans  bekommen  zu 
haben  vorgab  (man  lese  die  Berichtigung  dieser  Stelle  in 
der  medicinisch -chirurgischen  Zeitung.  1829.  Kd.  1.  S.  29.). 
Ein  beigefügter,  in  einem  schlechten  Portugiesisch  geschrie¬ 
bener  Zettel  (ist  weiter  nichts  als  eine  Verunstaltung  der 
dem  Kaufmann  Schimmelbusch  mitgetheilten  Vorschrift 
der  Anwendung  dieses  Mittels  —  durch  Dr.  Pohl  aus  den 
Memorias  de  Mathematica  e  Phjsica  de  Academia  das  Scien- 
cas  de  LisLoa  1812.  Tom.  111.  p.  1.  entlehnt)  lehrte  Ilrn.  M. 
die  Gabe  und  die  Krankheiten  kennen,  gegen  welche  die 
Kinde  sich  besonders  wirksam  gezeigt  haben  sollte.  M.  be¬ 
merkt,  dafs  er  von  derselben  erst  Gebrauch  gemacht,  nach¬ 
dem  er  sich  durch  Versuche  an  sich  selbst  von  der  Un¬ 
schädlichkeit  ihrer  Einwirkung  auf  den  Organismus  über¬ 
zeugt  hatte  —  ohne  in  eine  Beschreibung  dieser  Versuche 
einzugehen,  und  ohne  die  Form  und  die  Dosis  anzogeben, 
in  welcher  er  diesen  Arzneistoff  genommen.  Freilich  heifst 
es  nach  Hrn.  M.  in  jenem  der  Pxinde  beigefügten  portugie¬ 
sisch  geschriebenen  Zettel,  dafs  die  Eingebornen  die  Kinde 
zu  einem  Scrupel  nehmen;  indessen  würden  wir  es  als  eine 
Tollkühnheit  arischen,  wenn  ein  Arzt  in  dieser  Gabe  so¬ 
gleich  einen  fremden  Arzneikörper  an  seiner  Person  erpro¬ 
ben  wollte,  bevor  er  nicht  schon  vielfältige  Versuche  an 
Thieren  vorangeschickt  hätte. 

Nach  Herrn  von  Martins  ist  der  Cortex  adstringens 
Bras.  die  Binde  von  einer  in  Brasilien  häufig  wachsenden 
Acacie,  welche  dort  Jurerna  oder  Geremma  genannt  wird 
(auch  hierüber  wird  der  Leser  in  jenem  oben  angeführten 
Artikel  aus  der  medicinisch -chirurgischen  Zeitung  eine  Er¬ 
läuterung  linden),  lief,  möchte  den  Kaum  der  Annalen 


V 


410  II.  Corlcx  adslringens  Brasiliensis. 

mifsbrauchen,  wenn  er  dem  Vcrf.  in  der  physischen  und 
chemischen  Reschreibung  der  Kinde  folgen  wollte,  und  be¬ 
merkt  nur  in  aller  Kürze,  dafs  der  kalte  wässerige  Aufgufs 
von  einem  Tbeilc  Kinde  mit  10  I  heilen  A\  asser  dun  kel- 
braunrolli,  geruchlos,  und  bitterlich -zusammenziehend  von 
Geschmack  ist;  dafs  das  aus  diesem  Infusum  verfertigte  Ex- 
tracl  eine  glänzend -dunkclrothc  Karbe,  einen  stark  zusam¬ 
menziehenden  Geschmack  besitzt,  und  sich  in  Wasser  und 
Weingeist  klar  auflöst;  dafs  dieselben  Eigenschaften  den 
aus  dieser  Rinde  mit  Alcohol  und  Aether  bereiteten  Tinctu- 
ren  zukommen;  und  endlich,  dafs  es  der  chemischen  Ana¬ 
lyse  nicht  hat  gelingen  wollen,  ein  Alraloid  in  derselben 
zu  entdecken. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dafs  in  chemischer 
Beziehung  die  Kinde  grofse  Aehnlichkeit  mit  der  Ratanhia 
hat,  was  auch  in  therapeutischer  Rücksicht  der  Fall  ist, 
wie  sich  jeder  überzeugen  wird,  der  von  ihr  Gebrauch  zu 
machen  Gelegenheit  findet. 

Innerlich  wendet  M.  den  Cortex  adstringens  als  Pul¬ 
ver,  Decoct,  Tinctur  und  Extract  an,  äufserlich  nur  als 
Decoct;  das  Pulver  giebt  er  zu  einem  Scrupel  bis  zu  einer 
halben  Drachme  drei-  bis  viermal  täglich,  bei  Schlcimflüssen 
dann  besonders,  wenn  nicht  Störungen  in  der  Verdauung 
vorhanden  sind.  Die  Mischung  mit  Zucker  und  aromati¬ 
schen  Sachen  will  er  nie  nützlich  gefunden  haben  (sie  trägt 
indessen  doch  wesentlich  zur  Verbesserung  des  Geschmacks 
bei.  (lief.).  Vom  Decoct,  das  er  aus  einer  Unze  der 
Kinde  mit  16  Unzen  Wasser  bereitet  und  bis  auf  die  Hälfte 
einkocht,  läfst  M.  gewöhnlich  alle  zwei  Stunden  einen  bis 
zwei  Efslöffel  voll  nehmen.  Keim  chronischen  Tripper 
verbindet  er  hiermit  zwei  Quentchen  Uopaivabalsam  und 
eben  so  viel  Eisentmctur  (schmeckt  höchst  unangenehm 
und  wird  schwerlich  lange  von  den  Kranken  genommen 
werden  können,  am  wenigsten,  wenn  diese  einen  reizbaren 
Magen  haben.  ReL).  Das  von  M.  beim  Mutterkrebs  und 
daher  entstehenden  Blutungen  empfohlene  Infusodecoct 


II.  Cortex  adstringens  Brasiliensis.  411 

der  Rinde  mit  der  Sabina,  dürfte  leicht  zu  reizend  wirken, 
den  Fortgang  des  Mutterkrebses  befördern,  und  aus  diesem 
Grunde  den  Beifall  umsichtiger,  rationeller  Aerzte  schwer¬ 
lich  erhalten. 

Das  Extract  verordnet  M.  zu  einer  bis  zwei  Drachmen 
in  sechs  Unzen  eines  aromatischen  Wassers  mit  einem  Zu¬ 
satze  von  Orangenbliithensyrup,  alle  Stunden  einen  Efs- 
löffel  voll;  die  Tinctur  bei  chronischen  Metrorrhagieen  zu 
1  bis  2  Theelöffel  voll  mit  rothem  Weine  alle  zwei  bis 
drei  Stunden. 

$  x 

Rücksichtlich  der  Wirkung  der  Rinde  behauptet  der 

Verf.,  dafs  sie  neben  der  Eigenschaft  aller  übrigen  adstrin- 
girenden  Mittel  —  der  Erschlaffung  der  thierischen  Faser 
entgegen  zu  treten,  auch  den  Vorzug  habe,  eher  beruhi¬ 
gend,  als  erhitzend,  leicht  verdaulich  und  die  Leibes¬ 
öffnung  befördernd,  langsam,  aber  sicher  zu  wirken, 
daher  sie  vortrefflich  geeignet  sei,  lange  bestandenen 
Ausflüssen  ein  Ende  zu  machen  —  während  in  Fällen,  wo 
es  darauf  ankommt,  schnell  einen  Blutflufs  zu  beseitigen, 
M.  die  Ratanhia  vorzieht,  welcher  er  sehr  aufregende  (?) 
Eigenschaften  beimifst. 

Mit  besonders  glücklichem  Erfolge  verordnete  M.  den 
Gort,  adstr.  bei  passiven  Blutflüssen,  nachdem  es  ihm  durch 
Säuren  und  andere  Mittel  gelungen  war,  die  erste  drohende 
Gefahr  abzuwenden,  und  nachdem  das  Uebel  einen  mehr 
chronischen  Charakter  angenommen  hatte.  Auffallenden 
Nutzen  brachte  der  fortgesetzte  Gebrauch  der  Rinde  bei 
Prreumorrhagien  und  Mutterblutflüssen  aufser  und  während 
der  Schwangerschaft,  so  wie  nach  der  Entbindung  (kann 
Ref.  nicht  bestätigen).  Eben  so  rühmt  M.  dieses  Mittel 
als  Prophylacticum  gegen  Abortus  aus  Gewohnheit,  und 
empfiehlt  neben  einem  ruhigen  Verhalten  und  dem  täglichen 
Einreiben  des  C  h  restien  sehen  Spiritus  aus  zwei  Unzen 
Spiritus  juniperi,  einer  halben  Drachme  Nelkenöl  und  eben 
so  viel  Balsamus  nucis  moschatae,  entweder  während  der 
Dauer  der  Schwangerschaft,  oder  doch  wenigstens  während 


l 


412  II.  Cortex  adstringeos  Brasüicnsis. 

acht  Tagen  vor  und  nach  der  Zeit,  wo  früher  abortirt 
ward,  Morgens  und  Abends  einen  halben  bis  ganzen  i'hee- 
luffid  von  der  Tinrtur  in  W  asser  zu  nehmen. 

Nächst  den  Klutllüsspn  sind  nach  IM  er  rem  besonders 
die  Blennorrbagien  die  l  ehel,  in  denen  der  Gebrauch 
der  Brasilianischen  Kinde  sich  überaus  heilsam  erweist. 
Schleimfieber  sollen  im  Stadium  prodromorum  ( :’ )  und  im 
Stadium  reconvalescentiae  schnell  durch  dieses  Mittel  besei¬ 
tigt  werden  \  viele  hundert  an  Fluor  albus  leidende 
Frauen  versichert  M.  (S.  85.)  mit  Hülfe  desselben  von 
ihrem  lästigen  IJebel  befreit  (experientia  fallaxl),  und  nur 
in  einem  Falle  es  ohne  Hrfolg  verschrieben  zu  haben 
(welch  ein  Gewinn  für  die  leidende  Menschheit,  wenn  «1er 
llr.  \  erf.  sich  bei  diesen  Worten  nicht  zu  sehr  des  ver- 
grüfserten  Maalsstabes  bedient  bat!).  Auch  beim  Tripper, 
bei  Hämorrhoiden,  als  Prophylacticum  bei  periodisch  wie- 
derkebrender  Halsbräune  und  bei  periodisch  wiederkehren¬ 
der  Gesichtsrose,  bei  Aphthen  der  Kinder,  bei  Prolapsus 
vaginae,  uteri,  aui,  bei  Incontinentia  urinae  aus  Schwäche, 
Polin tio  diurna  und  Impotenz,  soll  die  Kinde  fast  immer 
radicale  Hülfe  bringen. 

Hie  Sprache  ist  wenig  edel  gehalten,  und  an  \  er- 
stüfsen,  wie  Einspritzungen,  von  auf  Chinapulver  gestan¬ 
denem  altem  Khcinwein  S.  77,  Althea  statt  Althaea  S.  88, 
mit  dunkeln  Kreisen  um  den  hohle/;  Augen  S.  89,  mit  klei¬ 
nem  gereiztem  Pulse  S.  90,  mit  losem  wenig  stöueodem 
Husten  S.  93,  zu  reich,  als  dafs  wir  diese  für  Druckfehler 
erklären  könnten.  —  Papier,  Druck  und  Abbildungen  sind 
sehr  gut. 


XII 


•  .  ..  /. 

*  w 

111.  Heccp  Lirkunst  und  Arzneiformeln.  413 

t 


m. 

J.  Taschenbuch  der  ärztlichen  Receptirkunst 
und  der  Arzneiformeln,  nach  den  Methoden  der 
berühmtesten  Aerzte;  herausgegeben  von  karl  Sunde¬ 
lin,  M.  Dr.  Als  Supplement  zu  der  Heilmittellehre  des¬ 
selben  Verfassers.  Irrstes  Bändchen:  Receptirkunst. 
Zweites  Bändchen:  Arzneiformeln.  Berlin,  Verlag 
von  Th.  Chr.  Fr.  Enslin.  1828.  12.  307  und  278  S. 

i 

(1  Thlr.  16  Gr.) 

\  *  ,1  Y 

Bei  den  fortwährenden  Erweiterungen  der  Heilmittel¬ 
lehre  sind  Hülfsmittel  zum  A  erschreibcn  der  Arzneien  von 
unverkennbaren»  Nutzen,  und  ein  nothwendiges  Bedürfnis 
der  medicinischen  Praxis,  dem  seit  Gaub  viele  ausgezeich¬ 
nete  Aerzte  und  Pharmaceuten,  wie  Trommsdorf,  Eber- 
maier,  Burdach,  Schubarth  u.  m.  a.  zu  genügen  be¬ 
müht  gewesen  sind.  Allerdings  wird  durch  Sammlungen 
von  Arzneiformeln  bei  vielen  ein  mechanischer  Hang  zum 
Abschreiben  berühmter  Recepte  begünstigt,  und  entsprechen 
die  ausgewählten  Formeln  nicht  der  nöthigen  Einfachheit 
bei  den  Verordnungen,  so  möchte  durch  den  zu  allgemei¬ 
nen  Gebrauch  dieser  Art  von  Hülfsmittetn  die  Heilmittel- 

~  t  \ ,  ' 

lehre  in  ihrem  Fortschreiten  eher  zurückgehalten,  als  be¬ 
günstigt  werden.  Hoch  bedarf  auch  der  denkende  Arzt 
einiger  Anleitung,  und  die  nöthigen  Modificationen  in  den 
Gaben  und  der  Zusammensetzung  der  Heilmittel  ergeben 
sich  ihm  leichter,  wenn  ihm  eine  grofsere  Auswahl  unter 
bewährten  A  orschriften  dargeboten  wird. 

Das  vorliegende  Werkchen  des  ilrn.  Hr.  S.  empfiehlt 
sich  durch  Gemeinnützigkeit  und  Brauchbarkeit,  so  wie 
durch  •  eine  zweckmäfsige  Auswahl  von  •  Arzneiformeln. 
Das  erste  Bändchen  enthält  die  Receptirkunst,  in  gedrängter 


ii 


414  III.  Ileceptirkunst  und  Arzneiformeln. 

Kürze,  mit  Weglassung  des  Uebcrfliissfgcn,  und  übersicht¬ 
lich  vorgetragen,  doch  möchte  es  hei  dem  Gebrauche 
nöthig  sein,  sich  sogleich  mit  dem  Ganzen  genauer  be¬ 
kannt  zu  machen,  indem  das  Register  dem  Zwecke  der 
Erleichterung  des  Nachschlagens  deshalb  wenig  entspricht, 
weil  die  Namen  der  Aazncien  ganz  darin  fehlen.  Die 
einzelnen  Abschnitte  sind  nächst  einer  kurzen  Einleitung 
folgende:  1)  Von  dem  Aeulseren  des  Recepts,  2)  von 
dem  materiellen  Inhalte  desselben  und  dessen  genauerer 
Bezeichnung,  3)  von  der  genaueren  Bezeichnung  der 
Arzneisubstanzen,  4)  von  der  genaueren  Bezeichnung  der 
Arzneiform  auf  dem  Recept,  5)  von  den  Maafsen  und 
Gewichten,  und  deren  Bezeichnung  auf  dem  Recepte  (der 
Verfasser  hat  das  französische  Decimalgcwicht  zur  Ver¬ 
gleichung  mit  dem  gewöhnlichen  Medicinalgewicht  bei- 
gefiigt),  6)  von  der  Bestimmung  der  Gaben  oder  Dosen 
auf  dem  Becepte,  7)  von  dem  Verfahren,  die  Arzneien 
angenehmer  zu  machen.  —  Hierauf  folgt  die  EintheÜung 
der  Arzneiformen  in  feste,  flüssige  und  dunst-  lind  gasför¬ 
mige.  Bei  den  ersten  werden  die  Pulver  in  mehren  Unter- 
abtheilungen ,  die  Species,  die  Morsellen,  die  Zeltchen  und 
die  Küchelchen,  durchgängig  mit  Anführung  anschaulicher 
Beispiele  abgehandelt,  hei  den  festweichen  Arzneiformen 
die  Pillen  (sehr  ausführlich,  wie  der  Gegenstand  es  erfor¬ 
dert),  die  Bissen,  die  Latwerge,  die  Gonserve,  die  Gallerte 
(hier  hat  siel»  der  Druckfehler  Ichthiocolla  eingeschlicliKn), 
das  Pilaster  (S.  111  u.  115  steht  Lythargvrmn ),  das  Stuhl¬ 
zäpfchen,  die  Wachskerzen,  die  Wachssalbe,  die  Salbe, 
das  Liniment  und  der  Breiumschlag,  —  hei  den  flüssigen 
Arzneiformen  der  Schleim,  der  Lecksaft,  der  Pinselsaft, 
der  ausgeprefste  Pflanzensaft,  der  Aufgufs,  die  Abkochung, 
der  Absudaufgufs,  die  Aufgufsabkochung,  die  Tisane,  die 
Molken,  die  Pflanzenmilch,  die  Oel-  und  Harzmixtur,  die 
Mixtur,  die  Schüttelmixtur,  die  Mixtur  im  engeren  Sinne, 
die  Julepmixtur,  das  Tränkeben,  die  Tropfenmixtur,  das 
Llixir,  die  Auflösung,  die  künstlichen  Mineralwässer ,  das 


III.  Receptirkunst  und  Arzneiformeln.  415 

Wasch wasser,  die  Bähung,  das  Augenwasser,  das  Gurgel¬ 
wasser,  die  Einspritzung,  das  Klystier  und  das  Bad.  Die 
Erörterung  der  dunst-  und  gasförmigen  Arzneiformen  konnte 
hier  nur  kurz  ausfallen;  der  Verf.  würde  wohl  gethan  ha¬ 
ben,  hier  beiläufig  die  Schriftsteller  anzugehen,  die  hier¬ 
über  ausführlichere  Belehrung  geben,  namentlich  Rapou, 
der  in  der  neuesten  Zeit  den  Gebrauch  der  Heilmittel  in 
dunstförmiger  Gestalt  am  vollständigsten  und  erfahrungs- 
gemäfs  bearbeitet  hat.  (Traite  de  la  Methode  fumigatoire, 
ou  de  l’emploi  medical  des  bains  et  douches  de  vapeurs. 
Paris,  1823,  24.  2  Voll.  8.  S.  d.  Annalen,  Bd.  I.  II.  3* 
S.  284.)  —  Den  dritten  Theil  des  ersten  Bändchens  nimmt 
hierauf  ein  alphabetisches  Verzeichnis  der  wichtigeren  ro¬ 
hen  oder  einfachen  officinellen  Arzneisubstanzen,  ihre  Zu¬ 
bereitungen,  Gaben  und  Hauptwirkungen  ein,  in  dem  die 
Gaben  stets  die  mittleren  für  Erwachsene,  und  die  Auf¬ 
güsse,  Mixturen  und  Abkochungen  zu  der  Colatur  oder 
Quantität  von  sechs  Unzen,  und  zu  efslöffelgrofsen  Gaben 
berechnet  sind.  Den  Beschlufs  macht  eine  Erläuterung  der 
zur  Bezeichnung  der  Arzneiwirkungen  gebrauchten  Wör¬ 
ter,  und  eine  Angabe  der  wichtigeren  Zeichen,  deren  man 
sich  ehemals  auf  den  Recepten  bediente. 

Das  zweite  Bändchen  enthält  eine  ziemlich  beträcht¬ 
liche  Sammlung  von  Arzneiformeln,  die  gröfstenthefls  von 
berühmten  Männern  herrühren.  Die  Ordnung,  in  der  sie 
aufgeführt  sind,  ist  die  pharmaceutische,  beim  ersten  Bänd¬ 
chen  angegebene,  so  dafs  die  Pulverformeln  den  Anfang 
machen,  und  die  Verordnungen  zu  Klystieren  die  Samm¬ 
lung  besehliefsen.  Die  Unterabteilungen  sind  nach  den 
Wirkungen  der  Mittel  geordnet,  so  dafs  z.  B.  bei  den  Pillen 
auf  lösende,  alterirende,  reizend -auflösende,  abführende,  diu- 
retische,  narkotische,  metallische  (umstimmende),  erregende, 
reizende  und  scharfe,  tonische  und  stärkende,  und  adstrim- 
girende  Mittel  von  einander  gesondert  stehen.  Gegen  diese 
Anordnung  läfst  sich  indessen  die  erhebliche  Einwendung 
machen,  dafs  das  pharmaceutische  Einteilungsprinzip  ein 


416  III.  Keceptirkunst  und  Arzneiformeln. 

blofs  mechanisches,  und  in  einer  Reccptsarmnlung  für  den 
praktischen  Arzt  ganz  unwesentlich  ist.  Die  beste  Ordnung 
für  eine  solche  Sammlung  ist  ohne  Zweifel  lie  alphabeti¬ 
sche,  der  der  Yerf.  im  ersten  Händchen  bei  der  irn  täg¬ 
lichen  Gebrauche  wenig  in  Anwendung  kommenden  Auf¬ 
zählung  der  v  ehtigsten  Heilmittel  gefolgt  ist.  Sie  erleich¬ 
tert  das  Nachschlagcn  und  die  Uebersicht,  worauf  es  hier 
am  meisten  ankommt,  und  die  Unterabtheilungen  können 
dabei  leicht  nach  pharmnceutischen  und  allgemein -therapeu¬ 
tischen  Principien  gebildet  werden,  auch  lassen  sich  dabei 
Wiederholungen  nnd  \  creinzelungen  am  besten  vermeiden. 
Das  Heilmittel  an  sich  ist  und  bleibt  die  Hauptsache,  ob 
es  in  Form  einer  Mixtur,  oder  eines  Pulvers,  oder  in  Pillen 
gereicht  wird,  ist  therapeutisch  oft  ganz  unwesentlich,  und 
dieselbe  Arznei  unter  verschiedenen  pharmaceutischen  Ru¬ 
briken  aufzusuchen,  wenigstens  beschwerlich  und  zeitrau¬ 
bend.  Es  scheint,  dafs  der  Verf.  mit  seinen  therapeutischen 
Unterabtheilungeu  eine  Beschränkung  des  mechanischen  Trei¬ 
bens  in  der  Benutz  -ng  der  vorgeschlagenen  Formeln  beab¬ 
sichtigt  hat.  Dawj  eignet  sich  aber  eine  Bcceptsannnlung 
durchaus  nicht.  Lia  Arzt,  der  nicht  mit  der  Hcilmittel- 
lehre  bekannt  ist,  sollte  dergleichen  Werke  gar  nicht  be¬ 
nutzen  (wiewohl  leider  die  oberflächlich  Unterrichteten  am 
begierigsten  dan .<h  greifen),  für  ihn  kommen  die  guten 
Gehren  an  einem  solchen  Orte  zu  spät;  der  Geübte  ver¬ 
langt  nur  eine  airze  treffende  Andeutung,  und  beachtet 
nicht  die  ihm  längst  bekannten  allgemein -therapeutischen 
Winke.  Bef.  hofft,  dals  diese  Andeutungen  hei  einer  wahr¬ 
scheinlich  fj;  erwartenden  zweiten  Auflage  dieses  Wer¬ 
kes  benutzt  werden  mögen,  die  Brauchbarkeit  desselben 
könnte  durch  die  bezeiclmete  Anordnung  der  Formeln, 
wie  dies  gewifs  allen  Praktikern  einlcucbten  wird,  nur  er¬ 
höht  werden. 

W  ir  machen  hei  dieser  Gelegenheit  unsere  Leser  auf 
eine  schon  vor  zwei  Jahren  in  der  dritten  Auflage  erschie¬ 
nene,  in  Deutschland  jedoch  wenig  bekannte  Receptsamm- 


III.  Arzneiformeln. 


417 


lang  aufmerksam,  die  den  Standpunkt  der  französischen 
Aerzte  heim  Verordnen  der  Arzneien  recht  deutlich  bezeich¬ 
net,  und  wenn  auch  in  einem,  den  Deutschen  weniir  zu- 
sagenden  Gewände,  doch  manches  Brauchbare  enthält,  das 
sich  in  viel  jähriger  Erfahrung  bewährt  hat: 

2.  Formulaire  pratique  des  II öp! tau x  civils  de 
Paris,  ou  Recueil  des  prescriptions  medicamenteuses 
emplopees  par  les  medecins  et  chirurgiens  de  ces  etablis- 
semens;  avec  des  notes  sur  les  doses,  le  mode  dadmi- 
nistration,  les  applications  particulieres,  et  les  considera- 
tions  generales  sur  chaque  höpital,  sur  le  genre  d?af- 
fections  auquel  il  est  specialement  destine,  et  sur  la 
doctrine  des  praticiens  qui  le  dirigent.  Par  E.  S. 
Ratier,  Dr.  en  med.  de  la  Fac.  de  Paris  etc.  Troisieme 
ödition,  revue  et  considerablement  augmentee.  A  Paris, 
chez  J.  B.  Radiere,  ä  Londres,  meine  maison.  1827.  12. 
589  S. 

Bekanntlich  sind  in  den  Pariser  Krankenhäusern  eigen- 
thiimliche  Verfahrungsweisen  von  Alters  her  üblich,  es  gab 
ehedem  viele  Geheim  mittel  im  Besitz  der  einzelnen  Hospi¬ 
täler,  an  die  noch  gegenwärtig  althergebrachte  Namen 
erinnern,  die  allen  Aerzten  unverständlich  sind,  die  sich 
nicht  mit  den  Receptbiichern  jener  Anstalten  bekannt  ge¬ 
macht  haben.  Eine  allgemeine  Norm  für  alle  Hospitäler 
existirt  nicht,  es  war  daher  ein  verdienstliches  Unternehmen 
von  Ratier,  seine  französischen  Kunstgenossen  wie  die 
Aerzte  des  Auslandes  mit  dem  bekannt  zu  machen,  was  die 
Pariser  Hospitalpraxis  in  der  Verordnung  von  Arzneien 
Interessantes  und  Nachahmenswertes  darbietet.  Er  ist  bei 
seiner  Auswahl  des  Wichtigsten  (eine  blofse  Zusammen¬ 
stellung  aller  Receptbiicher  der  Hospitäler  würde  ihren 
Zweck  verfehlt  haben)  ganz  historisch  zu  Werke  gegan¬ 
gen,  ohne  irgend  Veränderungen  anzubringen,  oder  seine 
eigene  Kritik  einzumischen,  die  bei  einem  Unternehmen 
dieser  Art,  wo  es  nur  auf  Mittheilung  des  Bestehenden 


i 


418 


III.  Arzneiformeln. 


ankommt,  auch  nicht  wohl  angebracht  seia  möchte,  und 
hat  seiner  Sammlung  dadurch  ein  noch  höheres  Interesse 
zu  geben  gewußt,  dafs  er  sich  mündliche  und  schriftliche 
Erläuterungen  der  llospitalärzte  über  diese  und  jene  Zu¬ 
sammensetzung  und  Yerfahrungsweise  verschafft  hat,  so  dafs 
wir  nicht  durchgängig,  wie  in  ähnlichen  Arzneibüchern, 
blofs  eine  trockene  Zusammenstellung  von  Formeln  erhal¬ 
ten.  Im  Allgemeinen  ist  in  der  Pariser  Hospitalreceptur 
eine  grofse  Einfachheit  vorherrschend,  eine  Folge  der  ei- 
genthümlichen  Gestaltung  der  Therapie  in  Frankreich  seit 
Pinei,  zum  Theil  auch  der  Verbreitung  B  roussaisscher 
Grundsätze.  Die  Zahl  der  scharfen  Brech-  und  Purglrmit- 
tcl  hat  beträchtlich  abgenommen ,  dagegen  ist  eine  Zunahme 
der  milden  und  einhiillenden  Heilmittel  durchgängig  bemerk¬ 
bar.  Die  neuen  Heilmittel,  mit  denen  sich  die  Materia 
medica  durch  die  Fortschritte  der  Chemie  bereichert*  hat, 
und  die  allmählig  mit  grofsem,  zum  Theil  mit  zu  grofsem 
Eifer  in  Gebrauch  gezogen  worden  sind,  hat  der  Verf., 
wenn  sie  irgend  wichtig  waren,  aufgenommen.  Die  Vor¬ 
schriften  sind,  wie  in  Frankreich  üblich,  durchgängig  in 
französischer  Sprache,  und  nach  dem  alten  Medicinalgewicht, 
da  das  (wenn  auch  viel  bessere)  Decimalgevviclit  bei  der 
Receptur  noch  nicht  eingeführt  ist.  Zur  Beurtheilung  des 
Standpunktes  der  medicinischen  Praxis  in  den  einzelnen 
Krankenanstalten  hat  der  Verf.  einige  interessante  Bemer¬ 
kungen  über  dieselben,  die  zum  Theil  die  persönlichen  An¬ 
sichten  der  vorstehenden  Aerzte  betreffen,  vorausgeschickt, 
in  denen  hier  und  da  die  eigenen  Erklärungen  der  letzten 
mitgetheilt  werden.  Man  erhält  hierdurch  ein  ziemlich 
treues  Bild  der  in  das  Beben  tretenden  theoretischen  An¬ 
sichten  der  wichtigsten  'Wortführer,  wenn  auch  die  Be¬ 
rücksichtigung  persönlicher  Verhältnisse  eine  genauere  Kri¬ 
tik  dieser  Ansichten  zurückhalten  mufste,  und  der  \erf. 
mit  Bobsprüchen  offenbar  freigebig  gewesen  ist,  die  bei 
Gelegenheiten  dieser  Art  direct  und  indirect  gefordert  zu 
werden  pllegen.  Das  Ilötel-Dieu  ist  gegenwärtig  nur  für 

solche 


419 


III.  Arzneiformeln. 

% 

solche  die  an  acuten,  inneren  oder  aufseren  Krankheiten 
leiden,  bestimmt.  Wir  erhalten  in  einer,  dem  Verf.  zu 
diesem  Zwecke  zugekommenen  Mittheilung  ])upuytren’s 
eine  Uebersicht  der  zeither  vorgenommenen  Verbesserungen 
dieser  berühmten,  und  einst  so  berüchtigten  Krankenanstalt. 
Asthenische  Fieber  und  Hospitalbrand  sollen  hiernach  fast 
gar  nicht  mehr  Vorkommen,  und  selbst  die  Trepanation, 
unter  übrigens  gleichen  Umständen,  eben  so  gut  gelingen, 
wie  die  anderen  Operationen  (?).  Dagegen,  versichert  D., 
hätten  die  Entzündungen  bedeutend  zugenommen,  so  dafs 
die  nach  Operationen  Verstorbenen  bei  der,  ohne  Aus¬ 
nahme  bei  jeder  Leiche  vorgenommenen  Section  in  den 
letzten  sechs  Jahren  in  der  Regel  die  Spuren  von  Pleuritis, 
Lungenentzündung  oder  Peritonitis,  oft  von  zwei  oder  drei 
inneren  Entzündungen  zugleich  gezeigt  haben  sollen  (?). 
Demgemäls  hat  die  antiphlogistische  Methode  in  den  chi¬ 
rurgischen  Stationen  ein  entschiedenes  Uebergewicht  ge¬ 
wonnen  ,  so  dafs  bei  etwa  3000  Kranken  alljährlich  kaum 
ein  Pfund  China  innerlich,  und  nur  einige  Pfund  äulserlicb 
verbraucht  werden.  Incarcerirte  Brüche  werden  so¬ 
gleich  bei  der  Aufnahme  der  Kranken  operirt, 
die  Maschinen  zur  Einrichtung  von  Verrenkungen  und 
Beinbrüchen  sind  verbannt,  fortwährende  Extension  wird 
nie  angewandt,  und  man  heilt  diese  Verletzungen  auf  die 
einfachste,  zwangloseste  Weise,  blofs  bei  einer  zweckmäfsi- 
gen  Lage,  und  mit  Vorrichtungen,  die  die  Bewegungen 
nur  verhüten  sollen,  nicht  aber  gewaltsam  auf  die  leiden¬ 
den  Theile  einwirken.  Den  grauen  Staar  operirt  D.  be¬ 
kanntlich  durch  die  Depression,  während  die  Kranken  das 
Bett  nicht  verlassen,  um  alle  Schädlichkeiten  beim  Trans¬ 
port  derselben  zu  vermeiden.  Die  Sterblichkeit  verhält  sich 
wie  1:18  —  20;  die  Steinoperation  gelingt  bei  |-,  die  Bruch¬ 
operation  bei  y,  die  Slaaroperation  bei  f-,  die  Operation 
der  Thranenfistel  mit  Einführung  einer  Röhre  von  Gold 
oder  Platin  bei  der  Operirten.  Aufser  D.  versehen  San- 
son  und  Breschet  den  Dienst  in  den  ihnen  angewiesenen 

28  *  '  v 


XIV.  Bd.  4.  Sl. 


420 


III.  Arzneiformeln. 


Wirkungskreisen.  Der  vnedicinischen  Klinik  stehen  viertel¬ 
jährlich  abwechselnd  Recamier,  Petit,  Husson,  Gue- 
ncau  de  Mussy,  Borie,  de  Montaigu  und  Geoffroy 
vor.  Recamier  ist  kein  Systematiker,  sondern  benutzt 
aus  allen  Lehren  das  Brauchbare,  und  beschäftigt  sich  viel 
mit  pathologischer  Anatomie  und  mit  Vervollkommnung  der 
Heilmittellehre.  Seine  Versuche,  den  Scirrhus  als  ein,  wie 
er  glaubt,  rein  örtliches  Leiden  vermittelst  der  Compression 
zu  heilen ,  sollen  seiner  Versicherung  nach  oftmals  guten 
Erfolg  gehabt  haben.  Montaigu,  Petit,  Dorle  und 
Geoffroy  werden  als  Humoraltheorelikcr  bezeichnet,  und 
sollen  beim  Gebrauch  der  reizenden  und  stärkenden  Mittel 
Brownschen  Grundsätzen  huldigen  (eine  sonderbare  Ver¬ 
mischung!).  Ilusson  war  früher  ein  Anhänger  von  Brous- 
sais,  und  ist  gegenwärtig  Contrastimulist. 

Das  Höpital  de  la  pitie  ist  eine  Filialanstalt  des 
Hotel -Dieu  und  des  Höpital  des  Venerien*.  Es  nimmt  aus 
jenem  die  Reconvalescenten  und  -die  chronisch  Erkrankten 
auf,  und  hat  eine  eigene  Abtheilung  für  angesteckle  öffent¬ 
liche  Mädchen.  Lisfranc,  Beclard’s  Nachfolger,  ver¬ 
sieht  die  chirurgische  Praxis,  zeichnet  sich  vorteilhaft  durch 
das  Bestreben  aus,  Operationen  durch  zweck mäisige  innere 
Behandlung  zu  vermeiden,  und  befolgt  Broussaissche 
Grundsätze;  die  übrigen  Aerzte  sind  Serres  und  Bai  ly. 

Das  Höpital  de  la  charite  ist  seinem  Im  fange  nach 
das  zweite  Hospital.  Boy  er  und  Roux  \  ersehen  die  chi¬ 
rurgische,  Fouquier  und  L  er  minier  die  medicinische 
Praxis.  An  Chomel's  Stelle  fungirt  provisorisch  Raver, 
der  'S  erfnsser  eines  ausgezeichneten  Werkes  über  die  Haut¬ 
krankheiten.  (  lraite  theorique  et  pralique  des  maladics  de 
la  peau ,  fonde  sur  de  nouvelles  rerherches  d'anatomie  et  de 
physiologie  palhologiques.  Paris,  1826  —  27.  2  Voll.  8. 
Mit  Kupfern.)  Vorzügliches  Loh  erhält  Fouquier  als 
gelehrter,  scharfsinniger  und  vielerfahrener  Kliniker,  dessen 
Ansichten  über  einige  Klassen  von  Krankheiten  der  Verf. 
ausführlich  darstellt.  Von  Le  r  minier  sind  einige  von  ihm 


III.  Arzneiformeln.  42 1 

.selbst  herrührende  Bemerkungen  über  die  Behandlung  häufig 
vorkommender  Krankheiten  mitgetheilt. 

Cayol  und  Chomel,  beide  Professoren  der  Facultät, 
sind  die  Aerzte  am  Ho  spiee  de  la  clinique  interne, 
einer  für  den  Unterricht  der  Studierenden  zunächst  bestimm¬ 
ten  Anstalt;  die  Grundsätze  beider  werden  ausführlich  an¬ 
gegeben,  doch  wollen  wir  hier  dem  Verf.  nicht  in  das  Ein¬ 
zelne  folgen,  indem  hauptsächlich  nur  davon  die  l\ede  ist, 
ob  und  in  wie  weit  sie  sich  die  neue  Lehre  angeeignel 
haben,  und  inwiefern  sie  den  alten  Systemen  noch  an- 
hängen. 

Die  Aerzte  an  dem  für  die  Behandlung  von  Hautkran¬ 
ken  bestimmten  Hopital  Saint-Louis  sind  Richerand 
und  Jules  Cloquet  für  die  chirurgischen,  und  Alibert, 
Biett,  Manry  und  Lugol  für  die  medieinischen  Abthei¬ 
lungen.  Der  \  erf.  berührt  hier  vorzüglich  die  in  diesem 
Hospital  vorgenommenen  Untersuchungen  über  die  Krätze. 

Auf  die  Praxis  im  Hopital  des  Veneriens,  dem 
Cullerier  der  Neffe,  Bard,  Gilbert  und  Bertin  als 
Aerzte  vorstehen,  haben  die  englischen  Neuerungen  in  der 
Kur  der  Syphilitischen  noch  keinen  wesentlichen  Einflufs 
geäufsert;  man  betrachtet  noch  immer  das  Quecksilber  als 
das  wahre  Specificum  der  Syphilis,  und  der  Liquor  Swie- 
tenii  so  wie  die  Tisane  de  Feltz  sind  noch  gegenwärtig  die 
in  dieser  Anstalt  nicht  selten  mit  vieler  Einseitigkeit  ange¬ 
wandten  Hauptmittel.  Der  Verf.  geht  die  wichtigsten  For¬ 
men  von  Syphilis  in  Bezug  auf  das  gegen  sie  gebräuchliche 
Heilverfahren  durch,  und  berichtet,  dafs  Cullerier  die 
Existenz  eines  syphilitischen  Ansteckungsstoffs  schon  zu  be¬ 
zweifeln  anfängt.  Die  vor  kurzem  über  die  nicht- mercu- 
rielle  Behandlung  der  primären  Symptome  und  über  den 
Mercurialgebrauch  in  diesem  Hospitale  angestellten  Versuche, 
haben  die  in  Deutschland  gangbaren  Grundsätze  durchweg 
bestätigt.  Man  sah  die  primären  Symptome  nicht  selten  als 
rein  örtliche  Leiden  unter  dem  Gebrauch  von  antiphlogi¬ 
stischen,  adstringirenden  und  ätzenden  Mitteln  ohne  Schwie- 

28  * 


III.  Arzneiformeln. 


'  422 

rigkeit  heilen,  aber  auch  eben  so  oft  syphilitische?  Allge 
meinleiden  ihnen  folgen.  Man  beobachtete  Fälle,  in  denen 
das  Quecksilber  nicht  nur  nichts  half,  sondern  seihst  den 
Zustand  verschlimmerte  und  den  syphilitischen  ähnliche  Sym¬ 
ptome  hervorbrachte,  und  sah  Recidive  sowohl  nach  der 
nicht  mercuriellen  Behandlung,  wie  nach  Quecksilberkuren. 
Auf  allgemeine  Resultate  ist  man  noch  nicht  gekommen.  — 
Dubois,  der  als  Arzt  der  Maison  de  sante  vorsteht, 
einer  Anstalt,  in  der  kein  klinischer  Unterricht  ertheilt  wird, 
hält  den  Mercurialspeichelfluis  in  der  Behandlung  veralteter 
syphilitischer  Uebel  für  unumgänglich  nolhwendig;  er  ist 
im  übrigeu  Llutschcu,  und  seine  Ansichten  näheren  sich 
den  Brownschen  Grundsätzen. 

Der  treffliche  Chaussier,  der  keiner  systematischen 
Lehre  huldigt,  ist  Arzt  an  dem,  f  remden  und  Studierenden 
unzugänglichen  Hospice  sde  la  niaternite.  Sein  scho¬ 
nendes  und  umsichtiges  \  erfahren ,  so  wie  seine  ausgezeich¬ 
neten  Erfahrungen  im  Gebiete  der  Weiherkrankheiten,  sind 
allgemein  rübmiiehst  bekannt. 

Im  Ildpital  Saint-Antoine,  das  sieb  bei  einem 
geringen  Umfange  durch  seine  gesunde  E3gc  und  seine  gu¬ 
ten  inneren  Einrichtungen  auszeichnet,  bat  Kapeler  (die 
übrigen  Aerzte  sind  Beauchene  für  die  chirurgische,  und 
Lu  liier  Winslow  für  die  medicinische  Praxis)  die  con- 
trastimulistischen  Brechweinsteinkuren  einzuführen  gesucht, 
ist  aber  von  seiner  Begeisterung  für  das  Raso  rische  Sy 
stem  bereits  zuriiekgekommen. 

In  der  Salpetriere  nimmt  Pariset  die  Stelle  von 
Esquirol  ein,  der  die  Direction  der  Maison  royale  de 
(.harenton  erhalten  hat.  Lallemant  besorgt  die  chirurgi¬ 
sche,  und  llostan  mit  Magendie  die  medicinische  Praxis. 
Der  \  crf.  giebt  in  gedrängter  Kürze  Esquirol’s  ( unsern 
Lesern  bekannte)  Grundsätze  über  die  Behandlung  der 
Irren  an,  nach  einer  Mittheilung  des  trefflichen,  zu  früh 
verstorbenen  George  t,  eines  der  besten  Schüler  dieses 
grofsen  Irrenarztes. 


III.  Arzneiformeln. 


423 


Den  Beschluß  dieser  Uebersicht  machen  ausführliche 
Angaben  über  das  Höpital  des  enfans.  Jadelot  und 
Guersent  sind  die  Aerzte,  Baffos  der  Chirurg  dieser 
Anstalt,  die  kranke  Kinder  beiderlei  Geschlechts  bis  zu  dem 
Alter  von  sechzehn  Jahren  aufnimmt.  Die  an  Kopfgrind  . 
Leidenden  werden  den  Gebrüdern  Mahon,  die  im  Besitz 
eines  gerühmten  Geheimmittels  gegen  diese  Krankheit  sind, 
überwiesen.  Jadelot’s  anderweitig  nur  aus  Bruchstücken 
bekannte  Grundsätze  über  die  Behandlung  der  wichtigsten 
Kinderkrankheiten,  werden  nach  ausführlichen  Mittheilun¬ 
gen  eines  seiner  Schüler  erörtert. 

Nach  dieser  Einleitung  wendet  sich  der  Verf.  zu  den 
Arzneivorschriften.  Er  beginnt  mit  den  Bädern,  deren  er 
gegen  12  aufführt.  Eine  abentheuerliche  Verordnung  aus 
dem  II.  des  Veneriens  findet  sich  hier  unter  der  Ueber- 
schrift  Bain  antisy ph ilitique :  6  bis  12  feran  Sublimat  sollen 
in  8  Pfund  destillirtem  und  200  Pfund  Flufswasser  zu 
30  Grad  aufgelöst,  und  dies  Bad  gegen  venerische  Uebel 
angewandt  werden.  So  weit  kanp  die  rücksichtlose  An¬ 
nahme  einer  unbedingten  specifischen  Wirkung  des  Queck¬ 
silbers  gegen  die  venerische  Krankheit  irre  leiten!  Wir 
wollen  es  dem  Verf.  gern  glauben,  dafs  dies  gegenwärtig 
auch  aufser  Gebrauch  gesetzte  Bad  nicht  den  geringsten 
Nutzen  gebracht  hat.  Wasserdampfbäder  in  einem  ver¬ 
schlossenen  Apparat,  und  ohne  weitere  Beimischung,  sollen 
gegen  Krätze  im  H.  St.  Louis  wirksam  gewesen  sein.  — 
Auf  uie  Bäder  folgen  die  Cataplasmen,  unter  denen  sich 
einige  sehr  empfehlenswerthe  befinden,  dann  die  Coily- 
rien,  die  Fo me ntat io n en  und.  Wasch wasser,  die 
Räucherungen,  die  Gurgelwässer,  von  denen  eine 
bedeutende  Menge  mit  den  verschiedenartigsten  Arzneimit¬ 
teln  angegeben  sind,  die  Einspritzungen  (Cullerier 
bedient  sich  einer  Einspritzung  von  einem  Theil  Chlorna- 
trum  in  zwölf  Theilen  Wasser  gegen  weifsen  Flufs,  mit 
grofsem  Erfolg),  die  Klystiere,  unter  denen  zwei  von 
Velpeau  von  Copaivabalsam  und  Cubeben  (Decoct.  al 


424 


UI.  Arzneiformeln. 


thaeac  3  vj,  Pulv.  Cubeb.  3vj.)  gegen  Tripper  aufgefuhrt 
werden.  Yelpeau  zieht  diese  Anwendungsart  der  genann¬ 
ten  Mittel  dem  inneren  Gebrauche  derselben  vor.  Dann 
die  Linimente,  die  Pommaden  und  Salben,  die  Pil¬ 
len  und  Dissen,  mit  einigen  Vorschriften  zu  Latwergen, 
denen  eine  andere  Stelle  hätte  angewiesen  werden  müssen,  und 
die  Tränke,  die  sich  durch  grofse  Einfachheit  auszeichnen. 
Die  hier  in  grofser  Menge  mitgetheilten  Vorschriften  geben 
eine  klare  Uebersicht  über  die  herrschenden  therapeutischen 
Grundsätze  berühmter  Aerzte;  —  die  Pulver  und  die 
Tisanen;  von  denen  die  französischen  Arzneibücher  einen 
grofsen  Ueberflufs  darbieten. 

Besonders  reichhaltig  an  Mittheilungen  über  eigenthüm- 
liche  Yerfahrungsweisen  ist  ein  ausführlicher  Anhang  mit 
der  Ueberschrift:  «  Remcdes  particuliers,  ”  dem  der  Yerf. 
die  bisherigen  Erfahrungen  über  die  wichtigsten  neuen  Heil¬ 
mittel  und  Präparate  eingeschaltet  hat.  Wir  wollen  hier 
nur  einiges  ausheben,  indem  wir  die  Leser  in  Betreff  des 
übrigen  auf  das  Werk  selbst  verweisen.  Vielfältige  Ver¬ 
suche  in  mehren  Hospitälern  mit  der  Granatwurzelrinde 
gegen  den  Bandwurm  haben  alle  Erwartungen  befriedigt, 
was  man  von  den  bis  jetzt  in  Deutschland  angestellten 
durchaus  nicht  rühmen  kann.  Man  erhält  dies  Mittel  in 
Paris  aus  Afrika,  wo  ihm  die  ISatur  gewifs  viel  bessere 
Heilkräfte  mittheilt,  als  in  Italien.  Rcf.  hat  sich  noch  kürz¬ 
lich  eine  Quantität  Granatwurzelrinde  aus  diesem  Lande  ver¬ 
schafft,  sie  schien  ihm  indessen  bei  einiger»  angestellten  Ver¬ 
suchen  unter  der  Radix  filicis  maris  zu  stehen.  Man  hat 
die  afrikanische  Rinde  in  Paris  in  Form  eines  Decocts  ge¬ 
geben,  ^  iß  mit  3  11.  Wasser  eine  halbe  Stunde  gekocht, 
und  zur  Colatur  ^  i  ß  Syrupus  Menthae  gesetzt.  Davon 
nahm  der  Kranke  Morgens  und  Abends  zwei  Weingläser 
voll,  zwei  oder  drei  Tage  hintereinander,  dann  erhielt  er 
ein  Abführmittel,  gewöhnlich  Ricinusöl,  das  aber  in  den 
meisten  Fällen  nicht  einmal  nöthig  war,  denn  fast  immer 
ging  der  Bandwurm  von  selbst  ab.  Andere  geben  das 


1 II.  Arzneiformeln. 


4  25 

Mittel  in  Pulver,  mit  Wein  oder  einem  aromatischen  Was¬ 
ser.  Einige  andere  Verfahrungsweiscn ,  von  Bourdier, 
Dubois  und  Alibert,  bei  denen  der  Gebrauch  der  Hadix 
fil  icis  maris  die  Hauptsache  ausmacht,  werden  sehr  gerühmt, 
und  von  vielen  Aerzten  vorzugsweise  angewandt. 

Gegen  Sero  fein  bedient  man  sich  häufig  des  Schwe¬ 
fels;  Dapuytren’.s  Behandlung  dieser  Krankheit,  die  hier 
mit  dessen  eigenen  Worten  mitgetheilt  ist,  l'dfst  sieh 
auf  ein  stärkendes  und  antiphlogistisches  Verfahren  zurück¬ 
führen.  Desselben  ausführlich,  und  wiederum  mit  seinen 
eigenen  Worten  beschriebene  Behandlung  veralteter  Syphi¬ 
lis,  mit  der  chirurgische  Uebel  complicirt  sind,  vereinigt 
den  Gebrauch  des  Sublimats  mit  Opium,  mit  dem  ein¬ 
greifender  diaphoretischer  und  sogenannter  blutreinigender 
Mittel. 

Die  contrastimulistisehe  Brechweinsteinkur  ist  nach 
Laennec’s  eigenen  Mittheilungen  beschrieben,  und  die 
Behandlung  der  Bleikolik,  das  sogenannte  Traitement 
des  peres  de  la  Charite  ausführlich  angegeben.  Davon 
dieser  empirischen  Verfahrungsweise  häufig  die  Rede  ist, 
und  eine  gründliche  Belehrung  hierüber  selbst  in  französi¬ 
schen  Schriften  nur  selten  angetroffen  wird,  so  halten  wir 
es  für  zweckmäfsig,  sie  hier  mitzutheilen.  Am  ersten  Tage 
erhält  der  Kranke  das  Lavement  purgatif  des  peintres: 
Ree.  Folior.  Sennae  5  ß*  Coque  c.  Aquae  fontan.  U.  j. 
Colat.  adde:  Natri  sulphuric.  §  ßj  Vini  stibint.  ^  iv.  M. 
(Nach  unserer  Art  zu  verschreiben.)  Den  Tag  über  be¬ 
kommt  er  zum  Getränk  Aqua  cassiae  simplex  U.  ij  mit  Magne¬ 
sia  sulphurica  und  Tartarus  stibiatus  Gr.  lij,  zuweilen 
mit  einem  Zusatze  von  §  j  Syrupus  domesticus  (sirop  de 
nerprun).  Am  Abend  wird  das  Lavement  anodin  des  peintres 
gegeben  aus  Oleum  nucum  jugland.  ^  vj  mit  §  xij  rothem 

Wein,  und  um  8  Uhr  ein  Bolus  aus  einer  Drachme  The- 

,  *  . 

riak  mit  einem  Gran  Opium.  Den  zweiten  Tag  erhält  der 
Kranke  Aqua  benedicta  zum  Erbrechen  (Tartarus  stibia¬ 
tus  Gr.  vj,  Aqua  tepida  Sj  j.),  das  durch  zweimaliges  Trin- 


426 


III.  Arzneiformeln. 


ken  von  lauwarmem  Wasser,  so  dafs  man  eine  Stunde  da¬ 
zwischen  vergehen  läfst,  befördert  wird;  den  übrigen  lag 
wird  eine  Tisane  sudorifique  aus  Guajak,  Spina  ecrvina 
(squine)  Sarsapärilla  ää  5  j  mit  zwei  Pfund  A\  asser  auf  ein 
Pfund  eingekocht,  mit  Zusatz  von  Sassafras  >  j  und  Kadix 
Liquiritiae,  welche  während  des  Kochens  hinzugethan  wer¬ 
den,  gegeben.  Am  Abend  bekommt  der  Kranke  wiederum 
das  obige  Lavement  anodin  und  den  llolus  aus  Thcriak  und 
Opium.  Am  dritten  l  äge  eine  Tisane  sudorifique  laxative, 
bestehend  aus  Tisane  sudorifique  simple  ‘)  mit  einer  Unze 
Senna  fünf  Minuten  lang  gekocht,  des  Vormittags  in  vier 
Gaben  zu  verbrauchen,  den  übrigen  Tag  trinkt  er  die  Ti¬ 
sane  sudorifique  simple.  Vier  Uhr  Nachmittags  wird  wie¬ 
der  das  Lavement  purgatif  des  peintres  gegeben,  sechs  Uhr 
das  Lavement  anodin,  und  acht  Uhr  der  Theriakbolus  mit 
Opium.  Am  vierten  Tage  wird  die  Potion  purgative  des 
peintres  verordnet,  aus  Infusion  Sennae  *  vj ,  Natrum  sul- 
phuricum  ^  ß,  Pulvis  Jalappae  5  j  und  Syrupus  domesti- 
cus  5  j ,  deren  Wirkung  man  mit  einer  nicht  näher  ange¬ 
gebenen  Kräuterabkochung  unterstützt;  den  Tag  über  trinkt 
der  Kranke  wieder  die  Tisane  sudorifique  simple,  bekommt 
fünf  Uhr  Abends  das  Lavement  anodin  und  acht  Uhr  den 
Theriakbolus.  Am  fünften  Tage  wird  die  Tisane  sudori¬ 
fique  laxative  gereicht,  ein  Uhr  Nachmittags  das  Lavement 
purgatif,  sechs  Uhr  das  Lavement  anodin  und  acht  Uhr  der 
Theriakbolus  gegeben.  Damit  ist  die  ganze  Kur  beschlos¬ 
sen,  deren  Wirksamkeit  nach  tausendfältigen  Erfahrungen 
so  wenig  bezweifelt  wird,  dals  viele  Aerztc  sich  mit  ängst¬ 
licher  Genauigkeit  an  die  herkömmlichen  Vorschriften  hal¬ 
ten.  Lerininier  wendet  sie  in  der  Charite,  wo  die  mei- 


1)  Die  R  creilung  dieser  Tisane  ist  nicht  angegeben;  wahr¬ 
scheinlich  ist  es  doch  eine  andere,  als  die  in  der  Maison  de 
santc  gebräuchliche  von  Duliois,  die  aus  einer  Abkochung  von 
Klettenwurzel  ^  j,  Gerste  ^  ß,  Fenchel  3  i'j  >o  W.  i|  ß  auf  H  i| 
tuit  Zusatz,  von  ^  i)  Sirop  de  <  uisinicr  besteht. 


427 


III.  Arzneiformeln. 

« 

sten  lilcikollkk ranken  Hülfe  suchen,  ohne  Veränderung  an, 
Fouquier  inodificirt  sie  nach  den  jedesmaligen  Umstän¬ 
den.  —  Kanque’s  Methode  anti-nevropathique  gegen  die 
Bleikolik,  die  man  ebenfalls  als  sehr  wirksam  rühmt,  ist 
ausführlich  angegeben. 

Von  neuen  Heilmitteln  sind  das  Extractum  alcoho- 
licum  nucis  vomicae  nach  dem  Codex  medicamentarius, 
mit  dem  Fouquier  günstige  Erfolge  bei  Lähmungen  ge¬ 
habt  hat,  die  Strychnine  in  verschiedenen  Formen,  die 
Er u eine  (von  der  falschen  Angustura,  Brucaea  dysente- 
rica),  die  in  ihrer  Wirkung  der  Strychnine  analog,  aber 
bedeutend  schwächer  sein  soll,  die  Morphium  salze,  die 
Emetine,  gröfstentheils  nach  Magen  die,  das  Chinin 
undjCinchonin,  das  Gentianin ,  das  Lupulin,  die  blau- 
sauren  Präparate,  die  Jodine,  das  Veratrin  u.  m.  a.  er¬ 
örtert,  und  über  alte  Arzneistoffe  neue  Versuche  mitge- 
theilt,  wie  die  von  Fouquier  über  Flyoscyamus,  die 
diesem  Mittel  seinen  Nimbus  sehr  benehmen,  und  über 
Belladonna  von  Dupuytren.  Kürzere  Bemerkungen 
finden  sich  hier  über  die  Cicuta,  das  Lactucarium 
(Thridace)  Lactuca  virosa,  Aconitum  Napellus, 
Stramonium,  das  Crotonöl,  das  Oel  der  Euphor- 
hia  Lathyris,  Rhus  radicans,  die  Goldpräparate,  den 
Chlorkalk  und  das  Chlornatrum,  das  schwefelsaure 
Quecksilber  u.  m.  a.  Unter  dem  Namen  Pyrothonide  ist 
hier  und  da  in  französischen  Zeitschriften  von  einem  empy- 
reumatischen  Oel  die  Rede  gewesen,  das  man  durch  Ver¬ 
brennen  von  Baumwollenzeug  oder  Leinwand  in  einer  tie¬ 
fen  Schüssel  erhält,  und  nach  Entfernung  des  Zunders  in 
Wasser  auf  löst.  Ranque,  Arzt  am  Hötel-Dieu  in  Or¬ 
leans,  hat  es  in  verschiedener  Verdünnung  zu  Einspritzun¬ 
gen  und  Fornentationen,  auch  bei  Augenübeln  unter  die 
Augenlieder  gebracht,  benutzt.  Der  Verf.  erwähnt  es  in 
einem  eigenen  Artikel,  es  scheint  indessen  keiner  grolsen 
Aufmerksamkeit  werth  zu  sein.  Gegen  Zahnschmerzen  ist 
in  Deutschland  dieselbe  Substauz,  aus  Papier  bereitet  (Pa- 


428 


IV.  Arzneigewächse. 

pieröl),  ein  längst  gebräuchliches,  aber  nicht  mit  einem  so 
wohlklingenden  Namen  bezeichnetes  Hausmittel. 

Eine  ziemlich  vollständige  Dosenlehre  (Posologie)  macht 
dies  Werk  für  den  Anfänger  sehr  empfehlenswert ,  auch 
bat  der  Verfasser  für  dessen  Brauchbarkeit  durch  ein  um¬ 
fassendes  Kcgister  gesorgt. 

//. 


IV. 

Dr.  Friedrich  Gottlob  Havne’s,  Professors  an 
der  Friedrich  -  Wilhelms  -  Universität  zu  Berlin,  u. 
s.  w.  Darstellung  und  Beschreibung  der 
Arzneigewächse,  welche  in  die  neue  preufsi- 
sclie  Pharmacopüe  aufgenommen  sind ,  nach  na¬ 
türlichen  Familien  geordnet  und  erläutert  von 
Johann  Fried r.  Brandt  und  Julius  Theo¬ 
dor  Christian  Ratzeburg,  Doctoren  der  Med. 
und  Chir.,  Docenten  an  der  Friedrich- Wilhelms- 
Universität  u.  s.  w.  Unter  Mitwirkung  des  ersten 
Verfassers.  Berlin,  auf  Kosten  der  Verfasser,  und 
in  Commission  bei  A.  Hirschwald.  1829.  4.  Fünfte 
und  sechste  Lieferung,  jede  za  zehn  Tafeln,  mit 

zugehörigem  Text  von  S.  61  —  90. 

# 

Mit  Bezugnahme  auf  unsere  Anzeige  der  ersten  vier 
Lieferungen  dieses  ausgezeichneten  Werkes  (Bd.  XU.  H.  1. 
S.  109  d.  A.)  haben  wir  das  Vergnügen,  von  dessen  un¬ 
unterbrochener  Fortsetzung  Nachricht  geben  zu  können. 
Mit  der  Hälfte  der  sechsten  Lieferung,  S.  86  des  Textes 
und  der  Abbildung  von  Angelica  Archangelica  ist  der  erste 
Band  beschlossen,  der  zweite  Band  beginnt  mit  den  Coin- 


429 


IV.  Arzneigewächse. 

posltis.  Die  fünfte  und  die  erste  Hälfte  der  sechsten  Lie¬ 
ferung  enthalten  die  Doldengewächse,  deren  botanische  Cha¬ 
raktere  und  chemische  Eigenschaften  wie  bei  den  übrigen 
natürlichen  Familien  in  einem  einleitenden  Artikel  angege¬ 
ben  sind.  Abgebildet  und  botanisch -pharmaceutisch  beschrie¬ 
ben  sind:  1)  Pimpinella  Saxifraga,  2)  Pimpinella 
Anisum,  3)  Ap  i um  Petro se  1  i n u m,  4)  Carum  Carvi, 
5)  An  et  hum  Foeniculum,  6)  Anethum  graveo- 
lens,  7)  Coriandrum  sativum,  8)  Daucus  Carota, 
9)  Cuminum  Cyminum,  10)  Phellandrium  aqua- 
ticum,  11)  Chaerophy llum  syivestre,  12)  Conium 
niaculatum,  13)  Ligusticum  Levisticum,  14)  Im¬ 
perator  ia  Ostruth  i  um  und  15)  Angel  i  ca  Archan- 
gelica.  Die  Diagnosen  sind  durchgängig  mit  der  rühmens- 
werthesten  Genauigkeit  angegeben,  die  Unterschiede  von 
ähnlichen  Pflanzen,  wo  es  nöthig  war,  aufgeführt,  und 
in  den  pharmocologisch-  medicinischen  Erörterungen  haben 
die  Verf.  durchgängig  die  besten  Quellen  benutzt  und 
angedeutet. 

Hierauf  folgt  die  den  zweiten  Band  eröffnende  Fami¬ 
lie  der  Compositae.  "Wir  erhalten  hier  die  vorzüglich 
gut  ausgeführten  Abbildungen  von  1)  Lactuca  virosa, 
2)  Leontodon  Taraxacum,  3)  Arctium  Lappa, 
4)  Arctium  Bardana,  und  5)  Centaurea  benedicta. 
Es  kann  nicht  fehlen,  dafs  dies,  dem  Bedürfnisse  der  Aerzte 
und  Studierenden  so  durchaus  entsprechende  Werk  die 
freundlichste  Aufnahme  finden,  und  den  verdienstvollen  Ver¬ 
fassern  in  dem  Bewufstsein,  das  Studium  des  der  Medicin 
zunächst  liegenden  Theiles  der  Naturkunde  kräftig  beför¬ 
dert  zu  haben,  die  schönste  Belohnung  ihrer  Bestrebungen 
zu  Theil  werden  wird. 

Dieselben  Hrn.  Verf.  haben,  unablässig  bemüht,  eine 
gründliche  Kenntnifs  der  für  die  Heilkunde  wichtigen  Na¬ 
turkörper  zu  befördern,  und  ungeachtet  ihrer  vielfältigen 
Beschäftigung  mit  ihren  beiden  anderen  Werken,  die  in 


430 


V.  Giltgewachse. 

Deutschland  vorkommenden  Giftpflanzen  einer  beifallswer- 
then  Bearbeitung  unterworfen.  Von  ihrem  Werke: 

21‘81'Itt  'V. 

Abbildung  und  Beschreibung  der  in 
Deutschland  wildwachsenden,  in  Garten 
u  n  d  i  m  Freien  ausdauernden  G  i  f  t  g  e w ä  C  b - 
sc,  nach  natürlichen  Familien  erläutert  von  l)r.  J. 
F.  Brandt  und  Dr.  J.T\  C.  Ratze  bürg.  Berlin, 
auf  Kosten  der  Verfasser,  und  in  Commission  bei 
Hirschwald.  1828.  1829.  4.  lieft  I.  mit  5  colorir- 
ten  Abbildungen  in  Kupfer  und  24  Seiten  Text. 
Heft  II.  mit  5  Abbildungen,  S.  25  —  44  Text. 
(Jedes  Heft  2  Thlr.) 

sind  bereits  die  angezeigten  beiden  Ilefte  erschienen,  die 
sich  eben  sowohl  durch  Reichhaltigkeit  und  Gründlichkeit 
der  Erläuterungen,  als  durch  besonders  gelungene  Ausfüll 
rung  der  Abbildungen  empfehlen.  Die  Kennlnifs  der  Gift« 
gewächse  ist  bei  denen,  die  sie  besitzen  sollten,  keineswe- 
ges  allgemein  genug  verbreitet,  —  eine  Folge  der  Gleich¬ 
gültigkeit,  mit  der  die  Naturkunde  auch  selbst  von  Aerzten 
betrieben  wird,  —  ein  leicht  zugängliches  Lehrbuch,  wie 
das  vorliegende,  ist  mithin  ganz  geeignet ,  einem  dringenden 
Bedürfnisse  abzuhelfen.  W  ie  in  dem  Werke  über  die 
Arzneigewächse,  haben  die  Yerf.  die  Giftpflanzen  nach  «len 
natürlichen  Familien  geordnet,  und  den  Forderungen,  die 
der  Botaniker  wie  der  Toxicolog  an  eine  solche  Sammlung 
zu  machen  berechtigt  ist,  auf  eine  durchgängig  beifallswiir- 
dige  Weise  entsprochen.  In  der  vorausgeschickten  Einlei¬ 
tung  wird  zuerst  der  Begriff  des  Giftes,  als  eines  Stoffes 
aufgestellt,  der  schon  in  geringer  Menge,  wenn  er  in  oder 
an  den  gesunden  Organismus  gelangt,  ohne  sich  in  demsel¬ 
ben  zu  reproduciren  (wie  Ansteckungsstoffe),  auf  rein  dvna« 


431 


V.  Giftgewächse. 

mischem,  oder  chemisch-dynamischem  Wege  dessen  Leben 
bedroht  oder  vernichtet,  wenn  er  nicht  durch  Gewohnheit 
abgestumpft  ist,  dann  folgen  die  üblichen  Einteilungen 
der  Gifte  überhaupt,  nach  verschiedenen  Autoren,  einige 
Ansichten  über  die  Wirkungsart  derselben,  eine  Angabe 
der  allgemeinen  Erscheinungen  der  Vergiftungen,  und  die 
allgemeinen  Regeln  über  deren  Behandlung.  Bei  den  Pflan¬ 
zengiften,  die  die  Verf.  demnächst  einer  besonderen  Be¬ 
trachtung  unterwerfen,  werden  die  Eintheilungen  derselben 
kritisch  erörtert,  vorzüglich  die  von  Büchner,  die  dem 
gegenwärtigen  Zustande  der  organischen  Chemie  noch  am 
meisten  entspricht,  wenn  sie  auch  keinesweges  für  in  sich 
abgeschlossen  zu  halten  ist.  Die  Verf.  ziehen  die  Eintei¬ 
lung  der  Giftpflanzen  in  betäubende  (narkotische),  ent¬ 
zündende  (scharfe  und  ätzende)  und  betäubend  -  ent¬ 
zündende,  da  sie  noch  durch  keine  bessere  ersetzt  wer¬ 
den  kann,  allen  übrigen  vor,  und  geben  dann  die  Eigen¬ 
schaften  dieser  drei  Klassen  von  Giften,  dem  gegenwärtigen 
Zustande  der  Toxicologie  gemäfs,  ausführlich  an.  —  Unter 
den  Gräsern  (Gramineae)  findet  sich  nur  ein  giftiges,  der 
Taumellolch,  Loli  um  temulentum,  das  die  Reihe 
der  Giftgewächse  eröffnet.  Die  Abbildung  ist  nach  der 
Natur,  mit  den  nötigen  Zergliederungen ,  die  hier  wie  bei 
den  übrigen  Pflanzen  sehr  instructiv  angeordnet  sind,  die 
Erläuterung  zeugt  von  umfassendem  Studium,  und  hebt, 
ohne  überladen  zu  sein,  das  Wesentliche  und  Wissens- 
werte  gebührend  hervor.  —  Bei  den  Liliengewächsen 
(Lil  iaceae)  fällt  die  Ausbeute  reichlicher  aus.  Wir  erhal¬ 
ten  hier  die  Abbildung  und  Beschreibung  der  Kaiser¬ 
krone  (Fritillaria  imperial  is),  mit  deren  giftiger 
Wurzel  Orfila  Versuche  an  Hunden  angestellt  hat,  bei 
denen  der  Magen  keine  Spur  von  Entzündung  zeigte,  und 
die  Tödtung  auf  dynamischem  Wege  erfolgt  war;  —  fer¬ 
ner  von  Narcissus  Pseudonarcissus;  nach  neueren 
Versuchen  erregt  diese  Pflanze  in  allen  ihren  Theilen  Er¬ 
brechen  und  Purgiren,  selbst  Darmentzündung,  und  kann 


432 


V.  Giitgewächso. 

nach  den  Vcrf.  zu  den  narkotisch -scharfen  Giften  gerech- 
net  werden.  Zu  bemerken  wäre  hier  gewesen,  daU  ein 
Narcissus,  wahrscheinlich  Tazetta,  von  den  Alten  als  Brech¬ 
mittel  benutzt  wurde.  (Man  gab  eine  Abkochung  der  Zwie¬ 
bel,  oder  liefs  die  abgekochte  Zwiebel  verzehren.  Dios- 
corid.  V.  155.)  Die  Vcrf.  haben  ein  Exemplar  mit  ein¬ 
facher  Blume,  die  nur  selten  angetroffen  wird,  abbilden 
lassen.  — -  Colchicum  autumnale.  Die  Abbildung  vor¬ 
trefflich,  die  Erläuterung  mit  zahlreichen  Hinweisungen  auf 
die  vorhandenen  Beobachtungen  über  die  Wirkungen  der 
Zeitlose,  wobei  sich  die  Verf.  jedoch  nur  auf  das  Toxico- 
logische  beschränkt  haben.  — .  Veratrum  alb  um.  Die 
sehr  gelungene  Abbildung  zum  Theil  nach  frischen,  zum 
Theil  nach  getrockneten  Exemplaren.  Albillorum  und  viri- 
dillorum  s.  Lobelianum  sind  mit  Recht  nur  als  Varietäten, 
nicht  als  verschiedene  Arten  angegeben.  Im  Text  erhalten 
wir  eine  interessante  Uebersicht  der  neueren  Untersuchun¬ 
gen  und  Erfahrungen  über  dieses,  aus  der  Heilmittellehre 
fast  ganz  verbannte  Giftgewächs.  Auf  anti(piarische  For¬ 
schungen  sind  die  Verf.  nicht  eingegangen.  —  Paris  qua- 
drifolia.  Die  W  irkungen  der  allerdings  verdächtigen  Bee¬ 
ren,  so  wie  des  Krautes,  sind  noch  nicht  genau  ausgemit¬ 
telt,  und  die  Angaben  der  Schriftsteller  über  den  medici- 
nischen  Gebrauch  des  letzten  noch  sehr  schwankend. 

Aus  der  Familie  der  Arongewächse  (Aroideae)  ist 
Arum  maculatum  abgebildet.  Wurzel  und  Blätter  sind 
sehr  scharf,  und  hinterlassen  in  allen  Theilcn,  welche  sie 
berühren,  einen  brennenden,  zusammenziehenden  Schmerz; 
sie  erregen  Erbrechen,  sogar  Blutbrechen,  heftige  Koliken 
und  Durchfälle,  Magenkrampf,  Unterleibsentzündung,  und 
selbst  tödt liehe  Folgen  sind  bekannt.  Das  aus  der  ausge- 
prefsten  frischen  Wurzel  bereitete  Kraftmehl  ( Faecula  ari) 
ist  durchaus  unschädlich,  und  in  Slavonien  bedient  man  sich 
der  gekochten  und  gedörrten  Wurzel  als  eines  Nahrungs¬ 
mittels.  — 

Die  Familie  der  Thymeläen  (Thymeleae)  bietet  die 


433 


VI.  Naturgeschichte  der  Otter. 

Gattung  Daphne  als  reichlich  ausgestattct  mit  giftigen  Ei¬ 
genschaften  dar.  Die  Verf.  haben  den  gemeinen  Seidel¬ 
bast,  Daphne  Mezereum,  den  immergrünen  Sei¬ 
delbast,  Daphne  Laureola,  den  Alpen-Seidelbast, 
Daphne  alpina  beschrieben  und  abgebildet.  Auf  der 
neunten  und  zehnten  Kupfertafel  befinden  sich  noch  die 
Abbildungen  von  Daphne  striata  und  Cneorum,  deren 
Beschreibung  in  dem  vorliegenden  zweiten  Hefte  noch  nicht 
enthalten  ist.  Wir  dürfen  der  ununterbrochenen  Fort¬ 
setzung  dieses  trefflichen  ^Werkes,  dessen  allgemeinere  Ver¬ 
breitung  sehr  wünschens werth  ist,  mit  Zuversicht  entge¬ 
gensehen. 

II 

r  t  •* 

VT. 

Fortgesetzte  Beobachtungen 

,  / 

über  die  Lebensart  und  den  Bifs  der  gemei¬ 
nen  Otter  (Coluber  Berus). 

Von 

Dr.  Friedrieh  August  Wagner, 

Physicus  des  Scbwcinitzer  Kreises  und  praktischem  Arzte 

in  Schlichen. 


Seit  dreifsig  Jahren  bin  ich  praktischer  Arzt  in  einer 
Gegend  an  der  schwarzen  Elster,  die  mit  Sümpfen  durch¬ 
zogen  ist,  in  denen  die  Otter,  Coluber  Berus,  stellenweise 
häufig  lebt,  und  zuweilen  Menschen  und  Thieren  durch 
ihren  Bifs  schädlich  wird,  ja  solche  mitunter  auch  dadurch 
schnell  tödtet,  daher  in  diesem  ganzen  Zeiträume  meine  fort¬ 
gesetzte  Aufmerksamkeit  auf  sich  gerichtet  hat.  Wie  die  Fol¬ 
gen  des  Bisses  dieser  Schlange  sich  bei  Menschen  und  Thie- 


434 


VI.  Naturgeschichte  der  Otter. 

ren  äufsern,  and  bei  welcher  Behandlungsart  der  Arzt  am 
glücklichsten  ist,  habe  ich  in  meiner  Schrift  über  den  Bih 
der  Viper  Deutschlands  vom  Jahre  1824  mitgetneilt  r).  Nur 
in  naturhistorischer  Hinsicht,  und  in  Betreff  der  Folgen 
des  Otterbisses,  habe  ich  seit  dem  Jahre  1824  noch  manche 
Bemerkungen  gemacht,  welche,  nach  meiner  Ansicht,  mit¬ 
unter  hier  und  da  noch  fremd  sein  dürften,  und  also  einige 
Beachtung  verdienen,  indem  sie  nicht  nur  dem  Naturfor¬ 
scher  Licht  geben,  sondern  auch  dem  Arzte  zeigen,  dals 
der  Bits  von  einer  und  derselben  Viper  nicht  gleich  gefähr¬ 
lich  sei  und  gleiche  Behandlungsart  erfordere,  so  wie  auch 
lange  Jahre  nachher  noch  übele  Folgen  nach  sich  ziehen 
könne,  was  ich  selbst  noch  nicht  wufste,  als  ich  obgedachle 
Schrift  dem  Publikum  iibergab. 

Seit  dem  Jahre  1824  habe  ich  meine  Beobachtun¬ 
gen  über  die  Otter  theils  in  freier  Natur,  theils  an  ein¬ 
gefangenen  ausgewachsenen  Exemplaren  fortgesetzt,  und 
Folgendes  als  Resultat  gewonnen: 

1)  Das  Thier  lebt  nie  anders,  als  in  sumpfiger  Gegend, 
wo  der  lockere,  aufgeschwemmte  Boden  —  gewöhn¬ 
lich  Torf  oder  Moor  enthaltend  —  entweder  mit 
langem  Moose  oder  mit  Gras  bewachsen  ist,  und 
sich  alte  Stämme  auf  solchem,  oder  doch  nicht  fern 
davon  befinden,  um  seinen  Winterschlaf  darin  ruhig 
halten  zu  können,  und  durch  das  über  dergleichen 
Gegenden  oft  stehende  Winterwasser  nicht  darin 
gestört  zu  werden.  Im  Sommer  dienen  ihm  diese 
Stämme  als  Zufluchtsorte,  wenn  ihm  Gefahr  drohet. 
Wer  die  Otter  in  trockener  \\  aldung  gefunden  zu 
haben,  oder  dort  von  einer  gebissen  worden  zu 
sein  glaubt,  verwechselt  das  Thier  mit  der  Flecken¬ 
natter  (Coluber  Thuringiacus,  oder  Austriacus),  die 
nie  feuchte  Gegenden,  sondern  nur  ganz  trockene 

Wal- 


1)  S.  die  Anzeige  derselben,  Bd.  I.  II.  1.  S.  64  d.  A* 


435 


VI.  Naturgeschichte  4er  Otter. 

Waldung  bewohnt,  und  deren  Bifs  wohl  nicht  mehr 
schadet,  als  der  Bienenstich. 

* 

2)  Die  Otter  bleibt  ihren  Wohnsitzen  unabänderlich 
getreu,  so  lange  sie  nicht  durch  die  Cultur  mit  Ge¬ 
walt,  oder  durch  besondere  Naturereignisse  vertrie¬ 
ben  wird,  und  überschreitet  deren  Gränzen  höchst 
selten,  und  nur  in  geringer  Ferne.  Ihre  Aufent¬ 
haltsorte  sind  den  Anwohnern  von  Alters  her  wohl 
bekannt. 

3)  Die  Otter  beifst  blofs,  wenn  man  sich  ihr  überra¬ 
schend  nähert,  oder  sie  wohl  gar  berührt  oder  tritt; 
aufserdein  ist  sie  furchtsam,  und  weicht  durch  die 
Flucht  aus;  indefs  ist  sie  etwas  träge,  wenn  sie  ein¬ 
mal  im  Grase  ruhig  liegt,  und  weicht  nicht  immer 
eher,  als  bis  sie  berührt,  oder  ihr  doch  sehr  nahe 
gekommen  wird,  in  welchem  Fall  sie  dann  auch 
gern  erst  vor  ihrer  Flucht  beifst,  und  ihren  Ruhe¬ 
störer  dadurch  bestraft. 

4)  Der  Unterkiefer  wird  von  der  Otter  beim  Bifs  so 
weit  zurückgelegt,  und  also  der  Rachen  so  stark 
geöffnet,  dafs  die  inneren  Flächen  des  Ober-  und 
Unterkiefers  in  eine  gerade  Linie  zu  stehen  kommen, 
sie  kann  aber  dessenungeachtet  ein  starkes  Glied  nur 
schrammend  mit  ihren  in  dem  Oberkiefer  befind¬ 
lichen  zwei  Giftzähnen  —  auf  jeder  Seite  einem  — 
verletzen,  dagegen  sie  diese  beiden  Zähne  tief  ein¬ 
drückt,  sobald  irgend  ein  Glied  von  der  Beschaffen¬ 
heit  ist,  dafs  sie  es  mit  den  Maxillen  umfassen  kann. 
Hieraus  wird  erklärbar,  warum  der  Bifs,  wenn  er 
einen  Zeh  trifft,  weit  gefährlicher  ist,  als  wenn  er 
ein  Glied  berührt,  was  nicht  mit  den  Kinnladen 
umfafst  werden  konnte.  Ich  habe  zwei  dergleichen 
Fälle  beobachtet,  und  in  keinem  von  beiden  lebten 
die  Kranken  nur  so  lange,  bis  ärztliche  Hülfe  her¬ 
beigeschafft  werden  konnte.  Unerklärbar  war  mir 
dies  bis  jetzt,  da  es  in  acht  anderen  Fällen,  wo  der 

xiv.  Bd.  4.  st.  '  29 


436 


VI.  Naturgeschichte  der  Otter. 

Bifs  den  Fufs  am  Knöchel  oder  in  dessen  Nähe  traf, 
nicht  vorkam,  und  mitunter  schon  Auswaschen  mit 
Wasser  und  Sand  fast  allein  half. 

5)  Ihren  Winterschlaf  hält  sie  nicht  nur  gern  in  alten 
Stämmen  über  dem  Winter-  Wasserspiegel ,  sondern 
lieber  noch  in  hohlen  Wurzeln  solcher  Stämme,  mit 
mehren  zusammen,  lang  ausgestreckt  und  fest  einge¬ 
pfropft.  Auf  diese  Art  fand  man  im  W  inter  des 
verwicbenen  Jahres  9  Stück  in  einem  Stamme  auf 
einer  sumpfigen,  als  Otternsitz  seit  undenklichen 
Jahren  bekannten  Stelle  unweit  des  Dorfes  Cotochau, 
und  dabei  einen  Iltis,  den  man  dort  eingespürt, 
und  welcher  wahrscheinlich  die  Ottern  zu  seiner 
W  internahrung  hier  gewittert  hatte  und  aufsuchte, 
f»)  Im  Winterschlafe  ist  die  Otter  so  erstarrt,  dafs  man 
ihr  kaum  ein  Zeichen  des  Lebens  abgewinnen  kann, 
und  also  an  Bifsgefahr  nicht  zu  denken. 

7)  Eingefangen  ist  sie  sehr  schwer  zum  Beifsen  zu  brin¬ 
gen,  und  beifst  lieber  sich,  als  andere  Gegenstände, 
welche  man  ihr  vorhält,  und  sie  zugleich  zum  Zorne 
reizt,  wobei  sie  ihren  Körper  so  umfafst  und  die 
beiden  krummen  Giftzähne  so  tief  eindrückt,  dafs 
sie  solche  nur  mit  Kraftanstrengung  wieder  heraus¬ 
zuziehen  und  den  Oberkiefer  zu  lösen  vermag',  wel¬ 
cher  Bifs  ihr,  auch  im  Wiederholungsfälle,  nicht 
den  geringsten  Nachtheil  bringt.  Ob  ich  gleich  über 
vier  Wochen  lang  unter  andern  mit  einer  muntern, 
sehr  grofsen  eingefangenen,  in  einer  grofsen  weifs¬ 
gläsernen  Büchse  gehaltenen  Otter  fast  täglich  expe- 
rimentirt  habe,  so  glückte  es  mir  in  der  Zeit  doch 
nur  fünfmal,  dafs  ich  sie  znm  Beifsen  brachte,  und 
zwar  nie  den  Gegenstand,  den  sie  beifsen  sollte, 
sondern  stets  sich  selbst.  Wie  Fon  tan«  dies  so 
tausendfältig  möglich  gemacht  hat,  ist  mir  daher 
unerklärbar,  wenn  nicht  Yipera  Bedii,  womit  dieser 


437 


VI.  Naturgeschichte  der  Otter. 

seine  Versuche  anstellte,  leichter  dazu  zu  bringen 
ist,  als  Coluber  Berus. 

S)  Sie  nimmt  gefangen  nicht  die  geringste  Nahrung  an, 
bleibt  aber  dennoch  Monate  lang  munter  und  ge¬ 
sund.  In  freier  Natur  liebt  sie  unter  andern  Mäuse, 
wovon  ein  grofses  Exemplar  drei  Stück,  mehr  oder 
weniger  verdaut,  in  sich  hatte.  Frösche  habe  ich 
in  ihrem  Leibe  nie  gefunden. 

9)  Die  Otter  wechselt  mit  ihrer  äufseren  Abzeichnung 
„  und  Farbe  sehr,  und  von  den  von  aufsen  sichtbaren, 
in  den  Naturhistorien  angegebenen  Unterscheidungs¬ 
kennzeichen  hält  keins  die  Probe,  als  ^ler  Zickzack¬ 
streif  auf  dem  Rücken.  Jedes  Exemplar  weicht 
im  Colorit  von  dem  anderen  ab;  gewöhnlich  trifft 
man  sie  jedoch  braun,  aschgrau,  kupferfarben  und 
schmutzig- weifsgelb,  was  von  der  Häutung,  dem  Al¬ 
ter,  Geschlecht,  der  Lebensart  und  dem  Aufenthaltsorte 
abzuhängen  scheint.  Ihre  Kopfbezeichnung  bleibt 
sich  nie  gleich,  und  kann  also  nicht  als  Kennzeichen 
gelten.  So  ist  die  Grundfarbe  des  Bauches  in  der 

4 

Regel  schwarz,  und  an  der  Kehle  gelblich,  mitunter 
braungelb  gepudert.  Indefs  habe  ich  sie  auch  mit 
ganz  weifsem,  und  mit  kupferröthlichem  Bauche  ge¬ 
troffen.  Unter  dem  Schwänze  sind  manche  Exem¬ 
plare  saffrangelb.  Die  meisten  haben  auf  jeder  Seite 
eine  Reihe  runder,  dunkeier  Flecke  ihren  ganzen 
Körper  entlang,  jedoch  sind  diese  bei  manchen  auch 
so  verloschen,  dafs  man  wenig  davon  merkt.  Der 
Zickzackstreif  fehlt  jedoch  nie,  und  ist  bei  den  jüng¬ 
sten  Exemplaren  schon  sehr  lebhaft  ausgedrückt. 
Wenn  die  Otter  nafs  ist,  so  bemerkt  man  die  Ab¬ 
zeichnung  am  deutlichsten.  Alte  Ottern  sind  zuwei¬ 
len  auffallend  stark,  doch  selten  über  zwei  Fufs  lang. 
Die  Jungen  von  einer  Mutter,  sind  in  der  Grund¬ 
farbe  der  Haut  gleich  nach  der  Geburt  sehr  ver- 

29  * 


438 


VI.  Naturgeschichte  der  Otter. 

schieden.  Ueber  vier  Stück  habe  ich  in  dem  Leibe 
eines  befruchteten  'Weibchens  nicht  gefunden,  an 
welchen  Kopf,  und  ganz  besonders  Augen,  gleich 
frühzeitig  sehr  stark  und  in  Milsverhäitnifs  mit  dem 
übrigen  Körper  ausgebildet  waren. 

10)  Wenn  sie  gereizt  wird,  so  giebt  sie  einen  schnar¬ 
rend -zischenden  Ton  von  sich,  doch  nicht  immer. 

11)  Der  Otternbifs  scheint  auch  nach  Verlauf  von  vie¬ 
len  Jahren  noch  zuweilen  übele  Folgen  zu  haben, 
und  dies  Gift  also  in  einzelnen  Fällen  in  dieser  Hin¬ 
sicht  dem  Hundswutbgifte  ähnlich  zu  wirken.  Fol¬ 
gender  Fall  hat  mich  auf  diesen  Gedanken  gebracht: 
Der  jetzt  mehre  siebzig  Jahre  alte  Auszügler  Sch  o  II- 
bach  in  Malitzscbkendorf  wurde  in  seinen  jüngeren 
Jahren  von  einer  Otter  auf  den  linken  Fufsrücken 
gebissen ,  worauf  er  sofort  in  einen  mit  Moder  und 
Wasser  gefüllten  Graben  sprang ,  und  sich  die 
'Wunde  darin  rein  auswusclr.  Dessenungeachtet 
schwoll  der  Fufs,  Ober-  und  Unterschenkel  schnell 
bedeutend  an,  und  bekam  eine  blaurothe  Farbe, 
welche  Zufälle  jedoch  nach  stark  eingetretenen 
Schweifsen  wieder  wichen,  so  dafs  Patient  in  fünf¬ 
zehn  Tagen  völlig  hergestellt  war.  So  fühlte  Scho  II- 
bach  einige  vierzig  Jahre  lang  auch  nicht  die  ge¬ 
ringste  Folge  weiter  davon  im  Fufse,  bis  zum  Jahre 
1826,  wo  derselbe  in  sein  dreiundsiebzigstes  Lebens¬ 
jahr  getreten  war.  Hier  bekam  er,  ohne  alle  äufsere 
Veranlassung,  eine  glänzende,  mit  Fieber  und  Grim¬ 
men  begleitete  und  mit  blauen  IJlasen  besetzte,  starke 
Geschwulst  dieses  Fufs  es ,  besonders  da,  wo  der  IJifs 
vor  langen  Jahren  statt  gefunden  hatte  (genau  so, 
wie  ich  die  Zufälle  gleich  nach  erfolgtem  Otternbifs 
mehrmals  sah),  die  nachher  in  völlige,  tief  eindrin¬ 
gende  V ereiterung  überging,  und  den  ganzen  Fufs 
auf  sehr  lange  Zeit  unbrauchbar  machte.  Dennoch 
ist  er  wieder  hergestellt,  lebt  noch,  und  hinkt 


VII.  1.  Mineralquelle  zu  Jenatz.  439 

nur  ein  wenig  in  Folge  örtlicher,  zurückgebliebener 
Schwäche. 


VII. 


Schrillen  über  Heilquellen  und  Bader. 


1.  Mineralquelle  und  Bad  zu  Jenatz  im  Prätti- 
gau,  Kanton  Graub  ii  nden.  Ein  Beitrag  zur  Beschrei¬ 
bung  der  bündnerischen  Mineralquellen,  von  Dr.  Paul 
Eblin,  Stadtarzt  in  Chur.  Mit  einer  lithographirten 
Ansicht  des  Bades.  Chur,  bei  Otto.  1828.  8.  XII  und 
98  S.  , 

Den  Heilquellen  der  in  jeder  naturhistorischen  Bezie¬ 
hung  merkwürdigen  Gebirge  Rhatiens  ist  in  den  letzten 
Jahren  eine  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt  worden 
(Kaiser  und  Capeller,  die  vorzüglicheren  Sauerquellen  von 
Graubünden.  Chur,  1826".  Vergl.  Bd.  VII.  S.  302  d.  A.), 
und  die  Aerzte  Churs  erwerben  sich  ein  Verdienst  theils 
um  ihre  Mitbürger,  theils  um  die  Wissenschaft,  durch  sorg¬ 
fältigere  Untersuchung  dieser  heilbringenden  Gaben  der 
gütigen  Natur.  Die  gegenwärtige  kleine  Schrift  ist  weni¬ 
ger  dem  Arzte,  als  dem  Kranken  bestimmt,  und  als  Zweck 
hat  der  Verf.  sich  gesetzt,  den  Leidenden,  die  diese  Quelle 
besuchen,  in  wenigen  Umrissen  zu  zeigen,  in  welchen  Fäl¬ 
len,  und  wie  sie  diese  Quelle  mit  Nutzen  gebrauchen  kön¬ 
nen  (eine  Entscheidung  freilich,  welche  nicht  dem  Kran¬ 
ken,  sondern  dem  Arzte  zukommen  soll.  Ref. ). 

M  it  Beziehung  auf  die,  in  der  Einleitung  von  dein 
Verf.  ausgesprochene,  und  mit  verschiedenen  Citaten  unter¬ 
stützte  Ansicht,  wie  wenig  sich  aus  den  chemischen  Be¬ 
standteilen  eines  Mineralwassers  die  Wirkungen  desselben 


I 


440 


YIL  1.  Mineralquelle  zu  Jcnatz. 

erklären  lassen,  und  wie  wenig  die  letzten  mit  dem  gerin¬ 
gen,  quantitativen  Gehalte  zu  erstem  im  Verhältnisse  ste¬ 
hen,  kann  Ref.  sich  nicht  enthalten,  folgende  Worte  des 
verstorbenen  Forme y ,  eines  anerkannt  geist-  und  kennt¬ 
nisreichen  und  denkenden  Arztes,  der  in  seinen  Schriften 
gegen  manche  allgemein  verbreitete  Vorurthcile  sich  ausge¬ 
sprochen  hat,  h -rzusetzen.  Vermischte  Schriften  Th.  1. 
S.  2(>1 :  «Bei  der  Anwcndf  n£  der  Rrunnencuren  berechnet 
man  nicht  hinlänglich,  was  dem  Wasser  als  solchem,  und 
ohne  Rücksicht  auf  seine  mineralischen  und  anderweitigen 
Bestandteile,  von  dem  Curerfolge  zuzuschreiben  sei.  Mir 
scheint  es  keinem  Zweifel  unterworfen  zu  sein,  dafs,  wenn 
unter  ganz  gleichen  äufseren  Umständen,  eben  so 
viel  kaltes  oder  erwärmtes  Brunnenwasser  von  denselben 
Kranken  genossen  worden  wäre,  als  sie  an  den  kalten  oder 
warmen  Mineralquellen  zu  sich  zu  nehmen  pflegen,  in 
manchen  Fällen  beinahe  eine  gleiche  Wirkung  erfolgen 
dürfte.  ”  Und  ein  anderer  aufmerksamer  und  unbefangener 
Beobachter  spricht  sich  über  die  gepriesenen  Wirkungen 
der  berühmten  Lauber  Heilquellen  gegen  Flechten  dahin 
aus:  «Nach  meinen  (während  einer  in  den  dortigen  Bädern 
gemachten  Cur)  eingezogenen  Erkundigungen  darf  nicht 
verschwiegen  werden,  dafs  die  Benutzung  des  Lauber  Was¬ 
sers  als  Bad,  ohne  eine  gleichzeitige  vollständige  Trinkcur, 
wahrscheinlich  in  dieser  Beziehung  nicht  viel  mehr  leisten 
werde,  als  der  gleich  lange  und  häufige  Aufenthalt  von 
täglich  sechs  Stunden  in  jedem  anderen  warmen  Bade  eben¬ 
falls  leisten  könnte.»  (I)r.  Zundel  im  dritten  Hefte  der 
"V  erhandlungen  der  medic.  chirurg;  Geselbch.  des  Kantons 
Zürich.  1827.  S.  119.)  Ref.  ist  überzeugt,  dafs,  wenn  es 
sich  um  Erklärung  von  den  Wirkungen  der  Mineralwässer 
handelt,  man  wenigstens  wohl  thun  würde,  ehe  man  zu 
einer  Qualitas  occulta  seine  Zuflucht  nimmt,  auch  alle  Qua- 
litates  evidentes  zu  prüfen,  und  ihre  Wirkung  durch  die 
Erfahrung  kennen  zu  lernen,  so  wie  Struve’s  Untersu- 
chungen  über  die  Entstehung  der  Mineralquellen  gezeigt 


441 


VII.  1.  Mineralquelle  zu  Jenatz. 

haben,  dafs  das,  was  man  in  dieser  Hinsicht  gar  weit 
gesucht  hatte,  zunächst  lag,  und  dafs  das  Einfache  das 
Wahre  sei. 

Das  Jenatzer  Bad  liegt  in  einer  einsamen  Thalschlucht 
des  Prättigau,  gegen  3000  Eufs  über  dem  Meer,  fast  ringsum 
von  waldreichen  Gebirgshöhen  umgeben,  welche  mit  Nadel¬ 
holz  bewachsen  sind.  Die  Luft  ist  mit  harzigen  Dünsten 
erfüllt,  die  besonders  nach  starkem  Regen  dem  Gerüche  in 
bedeutendem  Grade  wahrnehmbar  werden.  Die  Einrich¬ 
tungen  sind  sehr  einfach,  ländlich,  doch  reinlich.  Das 
Wasser  der  Quelle  zeigte  bei  16  Grad  der  Atmosphäre 
10  Grad  Reaum;  die  specifische  Schwere  gleicht  der  des 
d e st i Hirten  Wassers;  es  ist  ganz  klar,  ohne  Geruch,  und  von 
höchst  geringem  tintenhaften  Geschmacke.  Bei  Wetter- 
veränderungen,  besonders  aber  im  Winter,  soll  es  nach 
faulen  Eiern  riechen.  Die  von  dem  Chemiker  Bauhof 
unternommene  chemische  Analyse  zeigte  in  128  Unzen: 
16  Kubikzoll  kohlensaures  Gas,  8  Gran  kohlensaure  Kalk¬ 
erde,  1  Gran  kohlensaure  Magnesia,  4  Gran  kohlensaures 
Eisenoxydul,  11  Gran  salzsaure  Kalkerde,  schwefelsaure 
Magnesia  und  einen  eigenthiimlichen  fetten  Stoff  in  unbe¬ 
stimmbarer  Quantität  (unbedeutende  Brüche  in  den  Ge- 
wichtsbeslimmungen  sind  übergangen).  «Der  fettige  Stoff 
batte  bei  der  gewöhnlichen  Lufttemperatur  die  Consistenz 
des  Tal  ges ,  schmolz  in  gelinder  Wärme  von  ungefähr 
30  Gr.  Reaum.  zu  einem  klaren  Oele,  und  verursachte  auf 
weifsem  Papier  durchscheinende  Fettflecke,  welche  in  der 
W  ärme  nicht  wieder  verschwanden.  Der  Geruch  des  er¬ 
wärmten  fetten  Stoffes  hat  auffallende  Aehnlichkeit  mit  dem 
Gerüche  von  geschmolzenem ,  ranzigem  Unschlitt,  doch  war 
dabei  auch  noch  ein  schwacher  Steinölgeruch  bemerkbar. 
Alcohol  löste  in  der  Wärme  nur  wenig  von  dieser  Sub¬ 
stanz  auf.  In  einem  silbernen  Löffelchen  über  der  WTin- 
geistflamme  erhitzt,,  verbrannte  dieselbe  mit  starkem  Rauche 
und  Fettgeruch  ohne  Flamme,  und  hinterliefs  eine  Spur 
von  Kohle.  Ein  damit  getränkter  Baumwollenfaden  brannte 


44  ‘2 


VII.  2.  Heilquellen  zu  Kissingen. 

hingegen  mit  heller  Flamme  ohne  Rauch  ”  *).  Ref.  glaubte, 
die  Beschreibung  dieses  merkwürdigen  Stoffes  ganz  mit  den 
Worten  des  Verf.  gehen  zu  müssen.  Die  Analyse  des  ge¬ 
trockneten  Schaumes  von  dem  gekochten  Wasser,  des 
getrockneten  Schaumes  aus  der  Quelle  und  des  soge¬ 
nannten  Radesteines  aus  dem  Siedckessel,  gab  ganz  ähnliche 
Resultate. 

Der  Verf.  stellt  das  W  asser  in  die  Mitte  zwischen  die 
Jaugensalzigcn  und  neutralsalzigen  Eisen wasser,  und  schreibt 
manche  seiner  Wirkungen  jenem  Fettstoffe  zu,  welcher 
dieselben  erhöhen  soll.  Als  Krankheiten,  in  welchen  der 
Erfahrung  zufolge  das  W'asser  sich  heilsam  bewies,  wer¬ 
den  aufgezählt:  Magensäure,  Hämorrhoiden,  Schleimflüsse, 
Wechselfieber,  verschiedene  Nervenkrankheiten,  Scrofel-  und 
englische  Krankheit,  besonders  Geschwüre,  Rrustleiden,  wo¬ 
bei  der  Verf.  auf  jene  Eage  zwischen  Nadelholzwaldungen 
aufmerksam  macht.  —  Die  Abschnitte:  '\  orbereitungscur, 
Gebrauchsart,  Diät,  Lebensordnung,  machen,  mit  ganz  zweck- 
mäfsigen  Regeln  für  den  Nichtarzt,  den  Reschlufs.  Ge¬ 
legentlich  erwähnt  der  Verf.  eines  Mittels  gegen  Lungen¬ 
schwindsucht,  womit  ein  Pfannenflicker  sich  einen  Ruf  in 
Heilung  dieser  Krankheit  erwarb:  die  Brühe  von  abgekoch¬ 
tem  Fleische  sehr  fetter  Hunde,  besonders  Castraten.  (In 
Hufeland’s  Journal  1822.  II.  2.  S.  15  ist  des  Hundefettes 
als  eines  untrüglichen  (?)  Volksmittels  gegen  eiterige  Lun¬ 
gensucht  gedacht.  Ref.) 

Locher  -  Laib  er. 


2.  Ausführliche  Beschreibung  der  Heilquellen 
zu  Kissingen  und  ihrer  W  irkungen,  besonders  bei 
Frauenzimmerkrankheiten  ,  nebst  einer  gleichzeitigen  Ab- 


1)  Bauhof  vergleicht  diese  Substanz  mit  dem  von  Euch» 
und  Büchner  in  dem  Bergöle  von  1  egernsce  gefundenen,  be¬ 
sonderen  letten  Stoffe. 


VII.  2.  Heilquellen  zu  Kissingen.  443 

handlung  über  die  zum  Behuf  der  Nachcur  wichtigen 
Quellen  zu  Bocklet  und  Brückenau,  von  Dr.  Ad.  Elias 
v.  Siebold,  weiland  Künigl.  Preufs.  Geheimen  Medici- 
nalrathe,  Professor  der  med.  Facultät  auf  der  Universität 
zu  Berlin,  Director  der  Künigl.  Entbindungsanstalt  u.  s.  w. 
Berlin,  hei  F.  Dümmler.  1828.  8.  XVI  und  391  S. 
(1  Th lr.  16  Gr.). 

Wenige  Tage  nach  dem  Erscheinen  dieses  Werkes 
verfiel  der  verewigte  v.  Sieb  old,  in  Folge  einer  schon  viele 
Jahre  bestandenen  Desorganisation  der  Leber,  in  ein  acutes 
Unterleibsubei,  das  nach  einem  kurzen  Verlaufe  seinem  der 
Wissenschaft  und  einem  segensreichen  ärztlichen  Berufe 
geweiheten  Leben  ein  Ziel  setzte,  und  es  ist  nur  zu  ge- 
wifs,  dafs  seine  unablässigen  Studien  bei  der  Bearbeitung 
seiner  Beobachtungen  während  der  heilsesten  Tage  des 
vorigen  Sommers  hauptsächlich  dazu  beigetragen  haben, 
den  von  ihm  selbst  nicht  geatmeten  Keim  der  Zerstörung 
seines  sonst  wohl  organisirten  Körpers  zu  wecken.  Ref. 
kann  daher  nicht  ohne  ein  Gefühl  von  Wehmuth  dieses 
theure  Andenken  von  dem  Verewigten  zur  Hand  nehmen, 
um  den  Lesern  dieser  Annalen,  die  es  vielleicht' noch  nicht 
besitzen  sollten ,  einige  Nachricht  über  den  Umfang  der 
Erfahrungen  zu  gehen,  die  der  Verf.  in  einer  langen  Reihe 
von  Jahren  über  die  Wirkungen  der  Kissinger  Quellen 
gesammelt  hat.  Noch  gegenwärtig  werden  diese  Quellen 
von  vielen  Aerzten  unrichtig  beurtheilt,  dies  Werk  wird 
also  hei  seiner  rein  wissenschaftlichen  und  praktischen  Ten¬ 
denz  wesentlich  dazu  beitragen,  bessere  Kenntnisse  über  sie 
zu  verbreiten.  In  der  Vorrede  äufsert  sich  der  Verf.  über 
seinen  unbestreitbaren  Beruf,  und  seine  Verpflichtung  zu 
einer  gründlicheren  Bearbeitung  dieser  von  ihm  recht  eigent¬ 
lich  studierten  Heilquellen,  und  selten  erscheinen  gewils 
Schriften  über  Bäder,  denen  eine  so  gediegene  Erfahrung 
zum  Grunde  liegt,  und  die  mit  einer  so  rühmenswerthen 
Unparteilichkeit  verfafst  sind,  wie  die  vorliegende.  Wir 


444 


\II.  ‘2.  Heilquellen  zu  Kissingen. 

haben  früher  (Bd.  IX.  II.  1.  S.  74.  d.  A.)  Gelegenheit  ge¬ 
habt,  die  kleine  Schrift  eines  Ungenannten  über  den  Uurort 
Kissingen  und  seine  Heilquellen,  in  der  die  neuesten,  von 
uns  a.  a.  O.  mitgetheiltcn  Analysen  derselben  enthalten  sind, 
anzuzeigen  ,  und  beziehen  uns  im  Allgemeinen  auf  die  dort 
milgctheilten  Angaben,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden, 
v.  Siebold’s  Werk  zerfällt  in  zwölf  Kapitel:  1)  Ueber 
die  Geschichte  K  iss  in  ge  ns  und  seiner  Heilquellen. 
Diese  wurden  schon  in  den  ältesten  Zeiten  zur  Gewinnung 
des  Salzes  benutzt,  Kranke  brauchten  sie  viel  später,  so 
dafs  sic  erst  im  sechzehnten  Jahrhundert  einige  Berühmtheit 
erlangten.  Aus  der  ersten  gedruckten  Nachricht  über  sie 
von  Kuland  (1579)  ersehen  wir,  dafs  man  damals  nur 
badete,  und  noch  keine  Trinkeuren  anwendete.  Der  be¬ 
rühmte  Fiirstbischoff  Julius  Ech Le r  vonMespelbrunn, 
der  Stifter  der  Universität  und  des  Julius- Hospitals  zu 
Würzburg  *),  erwarb  sich  zu  Ende  des  sechzehnten  Jahr¬ 
hunderts  bedeutende  \  erdienste  um  Kissingen,  und  seitdem 
erfreute  sich  dieser  Curort  eines  nie  ganz  verschollenen 
Bufes,  wie  die  vom  'S  erf.  im  zweiten  Kapitel  mit  Sorg¬ 
falt  gesammelte  Litteratur  hinreichend  beweist.  —  Im  drit¬ 
ten,  den»  Bedürfnisse  der  Acrzte  wie  der  Curgäste  ent¬ 
sprechenden  Kapitel  folgt  eine  topographische  Beschrei¬ 
bung  der  Stadt  Kissingen,  ihrer  Heilquellen  und  ihrer  Um¬ 
gebungen,  und  im  vierten  eine  Betrachtung  dieser  Quel¬ 
len  in  geognostischer ,  physischer  und  chemischer  Hinsicht. 
Beide  wollen  in»  Zusammenhänge  gelesen  sein,  und  nur  zur 
Vervollständigung  der  oben  erwähnten  Angaben  wollen  wir 
bemerken,  dafs  das  Wasser  des  Curbrunncns  (sein  Name 
Bagozi  soll  von  dem  Siebenbürgischen  Fürsten  Joseph 
Bagozy  herrühren,  der  sich  dort  zu  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts  auf  hielt)  nie  gefriert,  seine  Temperatur  nie 
unter  5  Grad  Beauni.  fällt,  und  gewöhnlich  9~  Grad  be¬ 
trägt.  Die  neueste  bekannt  gemachte  Analyse  ist  die  a.  a.  (). 


1)  5.  Bd.  II.  II.  2.  5.  255  d.  A. 


445 


VII,  2.  Heilquellen  zu  Kissingcn. 

mitgetheilte  von  Vogel.  Ficinus  hat  in  diesem  Wasser 
Brom  aufgefunden,  dessen  Geschmack  sich  dem  Kenner 
leicht  verräth,  und  der  Verf.  vermuthet,  dafs  auch  wohl 
Jod  darin  enthalten  sein  möge,  indem  es  sich  in  allen 
Fällen  als  nützlich  erwiesen  hat,  wo  die  Jodine  wirksam 
zu  sein  pflegt.  (?)  —  Der  Badebrunnen ,  Pandur  genannt, 
zeigt  eine  Temperatur  von  7  Gr.  R.  —  9  Gr.,  zwischen 
ö  Gr.  und  32  Gr.  der  Luft;  die  gleiche  Temperatur  wurde 
im  Maximilians-  oder  Sauerbrunnen  beobachtet.  Der 
Verf.  giebt  eine  vergleichende  Uebersicht  der  Analysen 
sämmtlicher  drei  Brunnen  von  Goldwitz,  Liebe  lein, 
Pickel  und  Vogel,  die  bedeutend  von  einander  ab¬ 
weichen,  und  neue  Untersuchungen  sehr  wünschenswerth 
machen. 

Die  Vergleichung  der  Kissinger  Mineralquellen  mit  ei¬ 
nigen  anderen,  analog  wirkenden  Brunnen,  im  fünften 
Kapitel,  fällt  ganz  zum  Vortheil  der  ersten  aus.  W  etz- 
ler’s  Vergleichung  des  Ragozi  mit  den  Karlsbader  Quel¬ 
len,  die  allerdings  gewagt  ist,  jedoch  durch  die  Gleichar¬ 
tigkeit  der  Krankheiten,  die  man  in  Karlsbad  wie  in  Kissin- 
gen  geheilt  und  gelindert  werden  sieht,  einigermaafsen  ge¬ 
rechtfertigt  wird,  berichtigt  der  Verf.  dahin,  dafs  ihm  die 
Karlsbader  Wässer  vorzüglich  für  torpide,  phlegmatische, 
schwammige  Subjecte,  für  die  atrabilarische  oder  die  phleg¬ 
matisch-venöse  Constitution  zu  passen,  und  besonders  den¬ 
jenigen  Krankheitszuständen  zu  entsprechen  scheinen,  bei 
denen  in  Folge  einer  abnormen  Mischung  und  Ueberladung 
des  Blutes  mit  solchen  Stoffen,  die  zur  Ausscheidung  be¬ 
stimmt  sind,  sich  bereits  Anornalieen  in  der  reproductiven 
Sphäre  gebildet  haben,  wogegen  sie  offenbar  irritabelen 
Constitutionen,  dem  jugendlichen  Alter,  und  solchen,  die 
eine  Neigung  zu  activen  Blutflüssen  oder  Congestionen  nach 
edeln  Organen  haben,  so  wie  den  zum  Durchfall  Disponir- 
ten ,  schlecht  bekommen,  und  in  den  meisten  Fällen  dieser 
Art  contraindicirt  sind.  Diese  Contraindicationen  fallen  beim 
Ragozi  ganz  weg,  ja  er  wirkt  gerade  in  diesen  Vorzugs- 


I 


446  VII.  2.  Heilquellen  za  Kissingen. 

weise  W'ohlthätig,  und  hat  überhaupt  hei  den  gleichartigen 
Leiden  eine  viel  gröfsere  Anwendbarkeit,  namentlich  bei 
schon  ausgebildeten  und  vorgeschrittenen  Desorganisationen, 
bei  denen  Karlsbad  in  der  Kegel  nicht  palst.  Ueberdies 
sind  die  Karlsbader  Quellen  nur  dem  Grade  nach  verschie¬ 
den,  wogegen  die  Kissinger  jede  ihre  besonderen  Eigen¬ 
tümlichkeiten  darbieten.  Der  therapeutische  Charakter  des 
Ragozi  wird  endlich,  nach  einer  anderweitigen  Vergleichung 
desselben  mit  dem  Kreuzbrunnen,  dahin  festgesetzt,  dafs  er 
die  heilsamen  Wirkungen  von  Karlsbad  und  Eger  in  sich 
vereinige,  indem  er  vermöge  seiner  salinischen  Kestandtheile 
auf  lösend,  expandirend  und  expulsiv,  vermöge  seines  Eisens 
aber  tonisch,  contrahirend  und  stärkend  wirke.  —  Den 
Pandur,  der  nur  selten  getrunken,  sondern  gewöhnlich  nur 
zu  Kadern  benutzt  wird,  stellt  der  Yerf.,  seiner  Wirksam¬ 
keit  gegen  Gicht  und  chronischen  Rheumatismus  wegen, 
mit  dem  Wiesbadner  Quell  zusammen,  mit  genauer  Re- 
zeichnung  der  Eigenthümlichkeiten  beider,  und  endlich  den 
Maximiliansbrunnen  mit  Selters. 

Die  theoretischen  Remerkungen  über  die  W  irkungen 
der  Kissinger  Mineralquellen  nach  ihren  chemischen  Restand- 
theilen,  im  sechsten  Kapitel,  müssen  wir  den  Lesern 
überlassen  in  dem  Werke  selbst  nachzusehen;  sie  sind  be¬ 
lehrend  durch  einige  beifallswerthe  Aussprüche  über  Stär¬ 
kung,  Auflösung  u.  s.  w.  Noch  ausführlicher  sind  die  the¬ 
rapeutischen  VN  irkungen  der  Kissinger  Mineralquellen  im 
siebenten  Kapitel  mit  Beifügung  einiger  allgemeinen 
Remerkungen  über  die  Reurtheilung  der  therapeutischen 
W  irkungen  der  Mineralwässer  überhaupt  abgehandelt.  Die 
Kissinger  Quellen  «wirken  im  Allgemeinen  kräftig-auflö- 
send,  alle  Secretionen  und  Excretionen  vermehrend,  aber 
auch  zu  gleicher  Zeit  erregend  und  belebend,  besonders 
auf  die  Untcrleibsorgane,  die  fehlerhaften  Functionen  der¬ 
selben  verbessernd,  ohne  zu  schwächen,  und  ohne  durch 
übermäßige  und  angreifende  Ausleerungen  jene  Wirkungen 
herbeizuführen.  *  Der  Ragozi  isL  vorzüglich  indicirt:  1)  bei 


447 


VII.  2.  Heilquellen  zu  Kissingen. 

Schwäche  der  Verdauung,  2)  hei  Unreinigkeiten  in  den 
ersten  Wegen,  selbst  Infarcten,  3)  bei  Plethora  abdomi¬ 
nalis,  4)  bei  Hypochondrie,  5)  bei  hysterischen  Zuständen, 
6)  bei  chronischen  Leberkrankheiten,  7)  bei  Hämorrhoidal- 
übeln  verschiedener  Art,  8)  bei  Anomalieen  der  Menstrua¬ 
tion,  D)  in  der  Scrofelkrankheit ,  und  10)  bei  Unterleibs- 
Übeln,  die  sich  in  Folge  von  Wechselfiebern  ausgebildet 
haben.  —  Der  Pandur  wird  in  allep  diesen  Fällen  zur 
Badecur  gleichzeitig  mit  der  Trinkcur  benutzt,  findet  aber 
noch  seine  besondere  Anwendung  1)  bei  Hautschwäche, 
2)  bei  chronischen  Rheumatismen,  3)  bei  der  Gicht,  4)  bei 
chronischen  Hautausschlägen ,  und  5)  bei  mancherlei  veral¬ 
teten  chirurgischen  Schäden.  Endlich  wird  der  Maximilians¬ 
brunnen  bei  chronischen  Affectionen  der  Lungen  und  der 
Respirationswerkzeuge,  in  der  Scrofelkrankheit  und  gegen 
Krankheiten  der  Harnwerkzeuge  mit  entschiedenem  Erfolge 
verordnet.  Den  meisten  dieser  Angaben,  die  wir  hier  nur 
summarisch  haben  mittheilen  können,  hat  der  Verf.  ausführ¬ 
liche  praktische  Bemerkungen  über  chronische  Krankheiten 
beigefügt,  die  das  Gepräge  reifer  Erfahrung  tragen,  und 
sich  den  von  Kreys  ig  ausgesprochenen  Grundsätzen  auf 

A 

eine  würdige  Weise  anreihen. 

Die  praktischen  Regeln  für  den  Gebrauch  der  Mineral¬ 
wässer  überhaupt,  und  insbesondere  der  Kissinger  Heilquel¬ 
len,  sind  im  achten  Kapitel  mit  besonderer  Umsicht 
und  Genauigkeit  bearbeitet.  Der  Verf.  stellt  zuerst  die  Re¬ 
geln  für  den  Gebrauch  der  Trinkcur,  dann  für  die  Bade¬ 
cur,  über  den  Gebrauch  der  Kissinger  Mineralwässer  fern 
von  der  Quelle,  und  über  Füllung  und  Versendung  dersel¬ 
ben  auf,  und  spricht  endlich  von  der  Nachwirkung  und  den 
Nachcuren.  Aerzte  und  gebildete  Curgäste  finden  hier  die 
vollständigste,  auf  Erfahrung  gegründete  Belehrung,  und 
wir  können  unsern  Lesern  diesen  Abschnitt  als  vorzüglich 
wichtig  und  beachtenswerth  empfehlen.  —  Das  neunte 
Kapitel  (durch  Unachtsamkeit  des  Correctors  ist  das  achte 
Kapitel  als  das  neunte  bezeichnet,  und  so  weiter  gezählt 


448 


VII.  2.  Heilquellen  zu  Kissingen. 

worden),  über  wünschenswerte  Verbesserungen  und  Ver¬ 
schönerungen  für  Kissingen,  hat  nur  locales  Interesse,  und 
kann  liier  füglich  übergangen  werden. 

Das  zehnte  Kapitel  ist  der  Darstellung  der  Heil¬ 
quellen  von  Bocklct  und  Brückenau  gewidmet,  die  nach 
dem  Gebrauche  von  Kissingen  zur  Nachcur  mit  Erfolg  be¬ 
nutzt  werden  können.  Der  Verf.  hat  hier  die  Resultate 
seiner  eigenen  Erfahrungen  mit  den  wichtigsten  Angaben 
der  vielen  Schriftsteller  über  beide  Gurorte  zusammenge- 
stcllt.  Diese  erfreuten  sich  ihres  gröfsten  Rufes  in  der  /.eit 
der  Brownschen  Erregungstheorie,  als  man  überall  nur 
Schwäche  sah,  und  mithin  denjenigen  Brunnen  den  Vorzug 
zuerkannte,  die  keine,  wie  man  wähnte,  schwächenden  Aus¬ 
leerungen  bewirkten,  ein  theoretisches  Vorurtheil,  wodurch 
Kissingen  alsbald  sehr  beeinträchtigt  wurde.  In  der  That 
sind  denn  auch  die  Bockleter  und  Briickenauer  Wässer  vor¬ 
zugsweise  zur  Behandlung  von  reinen  Schwächezuständen 
in  den  verschiedenartigsten  Formen  geeignet,  und  stellen 
in  dieser  Beziehung  Pyrmont  und  den  analogen  Quellen  zur 
Seite.  Bocklet  hat  vier  Quellen,  das  Schachtwasser,  das 
Ludwigswasser,  das  Friedrichswasser  und  das  Karlswa^ser, 
die  in  der  Quantität  ihrer  Bestandteile  wenig  von  einander 
abweichen.  Es  bedarf  daher  hier  nur  der  Angabe  der  Be¬ 
standteile  des  Ludwigswassers ,  das  die  übrigen  an  Gehalt 
um  etwas  übertrifft.  Dies  enthält  in  einem  Pfund  zu  16  Un¬ 
zen:  25,457  Gran  schwefelsaures  Natrum ,  10,835  Gr.  salz¬ 
saures  Natrum,  0,068  Gr.  schwefelsaure  Kalkerde,  8,856  Gr. 
kohlensaure  Kalkerde,  0,318  Gr.  salzsaure  Talkerde,  1,151  Gr. 
kohlensaure  Talkerde,  0,051  Gr.  Thonerde,  0,102  Gr.  Kie¬ 
selerde,  0,0075  Gr.  Extractivstoff,  0,634  Gr.  kohlensaures 
Eisen,  und  36,148  Kuhikzoll  Kohlensäure,  nach  der  neue¬ 
sten  im  Jahre  1815  von  Vogelmann  und  Mayer  vorge¬ 
nommene  Analyse.  —  In  Brückenau  sind  drei  Ouellen  in 
Gebrauch,  die  Briickenauer,  die  Wcrnarzer  und  das  Sinn¬ 
berger  Wasser.  Sie  haben  gleiche  Bestandteile,  die  erste 
ist  die  stärkste  und  enthält  nach  Schipper  in  einem  Pfund 


VII.  3.  Ueber  das  Baden  im  Winter.  449 

* 

zu  16  Unzen:  1,1512  Gr.  Glaubersalz,  0,0821  Gr.  Bitter¬ 
salz,  0,0219  Gr.  Kochsalz,  0,8081  Gr.  kohlensaure  Kalk¬ 
erde,  0,0500  Gr.  kohlensaure  Talkerde,  0,0360  Gr.  Kiesel¬ 
erde,  0,2554  Gr.  Eisenoxydul,  und  36 Kubikzoll  freie 
Kohlensäure.  Die  Litteratur  und  alles  sonst  Wissenswerthe 
über  diese  beiden  Curorte  ist  von  dem  Verf.  mit  grofser 
Sorgfalt  und  Genauigkeit  angegeben. 

Den  Beschlufs  des  Werkes  machen  fünfundzwanzig  aus¬ 
gewählte  Krankengeschichten  im  elften  Kapitel,  aus  de¬ 
nen  der  Praktiker  die  vielfältige  Anwendbarkeit  der  Kissin- 
ger  Quellen  erfahrungsgemäfs  zu  erkennen  vermag.  Möchte 
die  Litteratur  der  Heilquellen  öfter  so  gründlich  und  un¬ 
parteiisch  bearbeitete  Schriften  darbieten,  die  wie  die  vor¬ 
liegende,  so  ganz  geeignet  wären,  die  ärztlichen  Kenntnisse 
über  einen  der  wichtigsten  Theile  der  medicinischen  Praxis 
zu  läutern. 

H. 


3.  Beweis  der  unschädlichen  und  heilsamen  W i r - 
kungen  des  Badens  im  Winter,  nebst  Belehrungen 
über  die  zweckmäfsigste  Art  des  Gebrauchs  der  Bäder 
und  Trinkeuren  zur  Winterszeit;  von  Dr.  S.  G.  Vogel, 
Grofsherzogl.  Mecklenb.  Schwerinsch.  Geh.  Medicinalrathe 
und  Professor,  Bitter  u.  s.  w.  Berlin,  Verlag  von  Th. 
Chr.  Fr.  Enslin.  1828.  8.  VI  und  40  S.  (6  Gr.) 

Der  Zweck  dieser  gehaltreichen,  für  ein  gröfseres  Pu¬ 
blikum  bestimmten  Abhandlung  unseres  verehrten  Hrn.  Geh. 
Raths  Vogel  ist  die  Beseitigung  eines  noch  weit  verbrei¬ 
teten,  und  selbst  noch  von  Aerzten  gehegten  Vorurtheils 
über  die  Unzulässigkeit  des  Badens  im  Winter.  Wer  ir¬ 
gend  mit  den  wechselnden  Zuständen  der  Haut  näher  be¬ 
kannt  ist,  und  die  Wirkungen  der  Bäder  in  verschiedenen 
Jahreszeiten  an  sich  selbst  geprüft  bat,  der  ist  auch  von 
diesem  Vorurtheil  zurückgekommen,  und  wcils  aus  eigener 


450  VII.  3.  Uebcr  das  Baden  iin  Winter. 

Erfahrung,  dafs  durch  das  Baden  im  Winter  das  Gefühl 
der  Kälte  weniger  empfindlich  gemacht,  und  die  Neigung 
zu  Erkaltungen  bedeutend  vermindert  wird.  Hierüber  wäre 
cs  also  unnüthig  noch  ein  Wort  zu  verlieren,  aber  es  ge¬ 
währt  Belehrung,  die  Grundsätze*  eines  der  ehrwürdigsten 
Diener  der  llvgea,  dem  über  diese  Angelegenheit  unstreitig 
die  erste  Stimme  zusteht,  zu  vernehmen.  Er  beweist  über¬ 
zeugend,  dafs  jedes  im  Herbst  oder  Winter  entstehende 
Lehel,  dem  überhaupt  Bäder  angemessen  sind,  durch  diese 
auf  frischer  That  gehoben  werden  kann,  dafs  manche  phar- 
maceutische  Curen  in  dieser  Jahreszeit  durch  warme  Bäder 
mit  Erfolg  unterstützt,  und  viele  Krankheiten  dadurch  ver¬ 
hütet  werden  können,  dafs  diätetische  Vorschriften  von 
Kranken,  die  Bäder  brauchen,  viel  bereitwilliger  angenom¬ 
men  werden,  weil  Krankheiten,  die  für  Bäder  empfänglich 
sind,  im  Winter  häufiger  entstehen,  als  Im  Sommer,  und 
mithin,  was  vielen  noch  bis  jetzt  paradox  geschienen  hat, 
der  Gebrauch  passender  Bäder  im  Winter  für  die  Erhal¬ 
tung  der  Gesundheit  noch  ungleich  nützlicher  als  im  Som¬ 
mer  ist.  Er  erinnert  zugleich  an  die  heilsamen  Wirkungen 
der  Frictioncn  und  des  nassen  Bürstens  des  ganzen  Körpers, 
so  wie  des  Reibens  und  Knctens  des  Unterleibes.  Es  fehlt 
nicht  an  geeigneten  Hindeutungen  auf  die  Erfahrungen  be¬ 
währter  Schriftsteller,  und  wir  hegen  die  feste  Ueberzeu- 
gung,  dafs  diese,  in  dem  wohlbekannten  würdigen  St\le 
des  Verfassers  geschriebene  und  aus  dessen  freundlichem 
Bestreben  hervorgegangene  Abhandlung,  die  ärztliche  Ein¬ 
sicht  die  möglichst  reichen  Früchte  für  das  allgemeine  Men¬ 
schenwohl  tragen  zu  lassen,  ihre  Wirkung  nicht  verfeh¬ 
len  werde. 

//. 


VIH.  Com- 


VIII.  Irresein. 


4;>i 


VIII. 

Commentaries  on  the  causes,  forms,  Sym¬ 
ptoms,,  and  treatment,  in  oral  and  medi¬ 
cal  of  Insanity.  By  George  IM  an  Burrows, 
M.  D.  Member  of  the  Boyal  College  of  Physicians 
of  London  etcr  etc.  London:  Thomas  and  George 
Undervvood.  1828.  8-  II  und  716  S.  - 

4  ' 

In  sofern  die  eben  genannte  Schrifty  von  dem  Geiste 
der  in  England  herrschenden  Empirie  in  der  Arzneikunde 
durchdrungen,  als  die  höchste  Entwickelung  derselben  be¬ 
trachtet  werden  kann,  verdient  ihr  Inhalt  eine  desto  sorg¬ 
fältigere  Prüfung,  je  mehr  überhaupt  die  in  einem  Lande 
verbreiteten  Lehrmeinungen  über  die  Natur  der  Seelen¬ 
krankheiten  einen  sicheren  Maafsstab  für  die  Schätzung  des 
wissenschaftlichen  Werthes  darbieten ,  welcher  den  in  dem¬ 
selben  sich  behauptenden  medicinischen  Schulen  beigemessen 
werden  kann.  Denn  da  die  Seele  in  so  enger  Verbindung 
mit  dem  Lebensprinzip  steht,  dafs  sie  unläugbar  das  Ver¬ 
mögen  besitzt,  letztes  in  seinem  Wirken  zur  höchsten  Stufe 
der  Vollkommenheit  zu  erheben,  oder  umgekehrt  mit  sich 
einer  völligen  Vernichtung  ihrer  beiderseitigen  Thätigkeit 
entgegen  zu  führen;  da  sie  also  den  Mittelpunkt  des  mensch¬ 
lichen  Lebens  ausmacht,  in  welchem  die  mannigfach  ver¬ 
schlungenen  Verhältnisse  desselben  ihre  innigste  Vereinigung 
und  Haltung  finden:  so  kann  die  medicinische  Theorie  erst 
dann  auf  einem  sicheren  Grunde  fufsen,  wenn  sie  von  jener 
inneren  Einheit  des  Lebens  ausgegangen,  dieselbe  in  den 
Erscheinungen  des  letzten  zur  Anschauung  zu  bringen  sucht; 
wenn  sie  also  den  Einklang  der  freiesten  Geistesthätigkeit 
mit  allen  körperlichen  Verrichtungen  als  das  höchste  Ziel 
geltend  macht,  zu  welchem  der  handelnde  Arzt  das  von 
jener  Einheit  abgewichene  Leben  der  seiner  Pflege  anver¬ 
trauten  Jiülfsbedürftigen  hinauf  geleiten  mufs.  Wer  seinen 
XIV.  4.  sc  30  , 


452  VIII.  Irresein. 

Sinn  nicht  an  der  äufseren  Oberfläche  der  Erscheinungen, 
wo  sie  ohne  Ordnung  und  Gesetz  dem  Spiele  des  Zufalls 
preis  gegeben  zu  sein  scheinen,  kleben  liefs,  sondern  mit 
ihm  tiefer  eindrang  in  den  engen  Verband,  in  welchem  die 
Natur  alle  Kräfte  zu  einem  steten  Gleichgewicht  verknüpfte; 
wer  diesen  geschärften  Sinn  für  jenes  innige  Zusammen¬ 
wirken  sich  rege  genug  erhielt,  um  dasselbe  auch  da  zu 
ahnen,  wo  es  im  scheinbar  zerstörenden  Widerstreit  der 
Kräfte  nicht  zur  deutlichen  Anschauung  erhoben  werden 
kann:  der  w'endet  sich  ab  von  einer  Empirie,  welche  in 
trüber  Verworrenheit  nach  einzelnen  sogenannten  Erfah¬ 
rungssätzen  hascht,  und  in  ihrem  blinden  Eifer  nicht  ge¬ 
wahr  wird,  dafs  diese,  eben  von  jener  Oberfläche  abge¬ 
schöpft,  nicht  zu  einem  Schatze  bleibender  Erkenntnifs  ge¬ 
sammelt  werden  können,  da  sie  im  Widerspruch  unterein¬ 
ander  sich  gegenseitig  vernichten.  Unbefriedigt  durch  den 
eitelcn  Metaphysicismus  früherer  Schulen,  welche  die  Natur¬ 
erscheinungen  aus  der  productiven  Phantasie  hervorzaubern 
wollten,  anstatt  ihren  ungetrübten  Wiederschein  in  einem 
geordneten  Bewufstseio  unter  die  Gesetze  desselben  zu  brin¬ 
gen,  verfiel  die  Mehrzahl  der  Aerzte  während  der  letzten 
Decennien  in  den  entgegengesetzten  Fehler,  ihr  Denken 
knechtisch  den  Sinnen  unterzuordnen,  anstatt  letzte  unter 
die  Controlle  einer  strengen  Kritik  zu  stellen,  um  das  Zu¬ 
fällige  und  Veränderliche  von  dem  Wesentlichen  und  Blei¬ 
benden  abzusondern. 

Befangen  in  diesem  Ilerumirren  schwebt  daher  die 
"Wissenschaft  der  Medicin  in  Gefahr,  immer  weiter  sich 
von  der  Einsicht  zu  entfernen,  dafs  das  Menschenleben  nur 
von  dem  oben  bezeichneten  Mittelpunkte  aus  übersehen  und 
beherrscht  werden  kann;  dafs  es  also  der  gröfstc  Fehlgriff 
ist,  die  Psychiatrie  als  einen  abgesonderten  Theil  der  The¬ 
rapie  hinzustellen,  da  sie  aufser  den  gewöhnlichen  Our- 
regeln  noch  aus  der  Psychologie  einige  Motive  entlehnen 
müsse,  um  den  Geistesgestörten  zu  Hülfe  zu  kommen.  Kj 
lassen  sich  aus  der  Geschichte  der  Medicin  zahlreiche  Bei- 


VIII.  Irresein. 


453 


spiele  sammeln,  wo  grofse  Meister  durch  unbedingte  Herr¬ 
schaft  über  das  Gemüth  die  heilkräftigen  Anstrengungen 
der  Natur  leiteten,  und  die  äufseren  Lebensbedingungen 
nebst  den  pharmaceutischen  Heilmitteln  nur  zu  untergeord¬ 
neten  Zwecken  benutzten;  sie  sollten  uns  einen  Fingerzeig 
geben,  dafs  die  ärztliche  Technik  gleich  jeder  anderen  Kunst 
nichts  anders  sein  könne,  als  das  besonnene  Nachbilden  des 
in  lebendiger  Anschauung  deutlich  verstandenen  Naturwir¬ 
kens,  welches  in  ungeteiltem  Flusse  einer  Quelle  ent¬ 
strömt.  Wir  sehen  ja,  wie  die  handwerksmäfsige  Routine 
die  einzelnen  Räche,  in  welche  der  durch  äufsere  Hinder¬ 
nisse  in  seinem  Laufe  aufgehaltene  Lebensstrom  sich  getheilt 
hat,  planlos  hin  und  wieder  leitet,  ohne  sie  nach  ihren  ur¬ 
sprünglichen  Ufern  zurückzuführen,  daher  die  Natur  oft 
die  unverständig  ihr  entgegengestellten  Dämme  durchbre¬ 
chen  ntufs,  um  die  zerstreuten  Kräfte  in  der  ihr  vorge¬ 
zeichneten  Bahn  wieder  zu  sammeln.  Daher  ist  aus  dem 
Mifsverständnifs  des  obersten  Heilzwecks  alles  Ungeschick 
in  die  Medicin  gekommen,  welches  vorzugsweise  die  Psy¬ 
chiatrie  in  ihrer  Entwickelung  aufhalten  mufste,  da  die 
Seelenkrankheiten,  auf  dem  tiefsten  Grunde  des  Lebens  ge- 
wurzelt,  den  Handgriffen  unerreichbar  bleiben,  mit  welchen 
die  den  gröberen  sinnlichen  Verhältnissen  zugewandten  Kör¬ 
perleiden  weit  eher  entfernt  werden  können. 

Von  welchem  Standpunkte  aus  unser  Verf.  zur  Lösung 
seiner  Aufgaben  geschritten  sei,  erhellt  sogleich  aus  der 
kurzen  Einleitung,  in  welcher  er  nach  einer,  freilich  nicht 
unbegründeten,  scharfen  Rüge  aller  metaphysischen  Specu- 
iation  es  bitter  beklagt,  dafs  man  auf  Baco’s  Worte  in 
seinem  Novum  Organon  so  wenig  geachtet,  und  selbst  auf 
Bonnet’s,  Morgagni’s  und  Meckel’s  anatomische  Un¬ 
tersuchungen  der  Leichen  von  Geisteskranken  keinen  Werth 
gelegt  habe,  gleichsam  als  fürchte  man  sich,  auf  diesem 
Wege  die  Immaterialität  und  Unsterblichkeit  der  Seele  aus 
dem  Auge  zu  verlieren.  Allerdings  sagt  Baco  in  der 
angeführten  Stelle,  dafs  die  Quelle  der  Seelenstörungen, 

30  * 


454 


VIII.  Irresein. 


wenn  sie  jemals  gefunden  werden  sollte,  in  körperlichen 
Zuständen  aufgesucht  werden  müsse,  welche  als  die  I olgen 
äufserer  Eiuiliisse  anzusehen  seien,  die  auf  die  grohe  Ma¬ 
schine,  und  nicht  primär  auf  das  immaterielle  Prinzip  wirk¬ 
ten,  wie  dies  zum  Schaden  des  mit  jenen  Krankheiten  Be¬ 
hafteten  zu  allgemein  angenommen  werde.  W  er  weiis  es 
aber  nicht,  dafs  Baco,  dessen  umfassendes  Genie  das  rich¬ 
tige  Verhältnifs  unserer  Erkenntnifskräfte  zu  ihren  Objecten 
erkannte,  und  daher  mit  Meisterhand  allen  Wissenschaften 
die  natürlichen  Gränzen  zog,  dennoch  durch  mannigfaltige 
Vorurtheile  seines  Zeitalters  geblendet,  oft  in  der  Beur- 
theilung  einzelner  Gegenstände  irre  ging?  Dagegen  beweisL 
das  dritte  Kapitel  des  siebenten  Buches  seiner  Instauratio 
magna  Pars  I.  (überschrieben:’  Parlitio  doctrinae  de  cultura 
animi),  dafs  er  von  den  inneren  Bedingungen  der  Seelen- 
thätigkeil,  ihren  Abweichungen,  und  den  Mitteln,  sie  zu 
ihrer  natürlichen  Regel  zurückzuführen,  die  richtigsten 
Begriffe  hegte.  Zwar  geht  seine  Absicht  zunächst  auf  die 
moralischen  Ausartungen;  es  läfst  sich  indessen  von  den 
Lehren,  die  er  in  dieser  Bezeichnung  giebt,  eine  so  unge¬ 
zwungene  Anwendung  auf  die  Psychiatrie  machen,  dafs  Bef. 
sich  nicht  enthalten  kann,  einen  Auszug  davon  cinztirücken : 

« In  cultura  animi  et  morbis  ejus  persanandis 
t ria  in  considerationem  veniunt;  Characteres  diversi  dispo- 
sitionum,  Affectus  et  Kcm£dia:  quemadmoduin  et  in  corpo- 
ribus  medicaudis  proponuntur  illa  tria:  complexio,  sive  con- 
stilutio  aegri,  morbus  et  curatio.  ”  ln  Bezug  auf  die  erste 
Aufgabe  heilst  es:  «  Neque  tarnen  loquimur  de  vulgatis 
illis  propensionibus  in  virtutes  et  vilia,  aut  etiam  in  per- 
turbationes  et  affectus:  sed  de  magis  intrinsecis  et  radirali- 
bus.  —  In  Traditionibus  Astrologiae  non  inscite  omnino 
distincta  sunt  ingenia  et  dispositiones  hominum  quod  alii  a 
Datura  facti  sint  ad  contemplationes;  alii  ad  res  civiles;  alii 
ad  militiam;  alii  ad  ambitum;  alii  ad  amores;  alii  ad  arles; 
alii  ad  vitac  genus  varium.  —  At  longe  optima  bujus 
Traclatns  suppellex  ct  sylva  peti  dehnt  ab  llistoricis  pru- 


VIII.  Irresein. 


455 


dentioribus.  —  Isti  enim  Scriplores,  harum  Personarum, 
quas  slbi  depingendas  delegerunt,  Effigies  quasi  perpetuo 
intuentes,  nunquam  fere  Rerum  gestarum  ab  ipsis  mentio- 
nem  faciunt,  quin  et  aliquid  insuper  de  Natura  ipsorurn 
inspergant.  —  Neque  vero  characteres  ingeniorura  ex  natura 
impressi,  recipi  tantum  in  hunc  Tractatum  debent,  sed  et 
illi,  qui  alias  anirno  imponuntur,  ex  sexu,  aetate,  patria, 
valetudine,  forma  et  similibus;  atque  insuper  illi,  qui  ex 
fortuna,  veluti  Principum,  Nobiliurn,  ignobilium,  divitum, 
pauperum,  Magistratuum,  idiotarum,  felicium,  aerumnoso- 
rum,  et  hujusrnodi.  —  Quae  ad  Moralem  Philosophiam 
pertinent;  non  minus  certe,  quam  ad  Agriculturam  Tracta- 
tus  de  diversitate  soli  et  glebae  (Baco  nennt  daher  auch 

•  i 

die  Doctrina  de  cultura  animi,'  im  Vergleich  mit  der  Oeko- 
nomie,  die  Georgica  animi):  aut  ad  Medicinam,  Tractatus 
de  complexionibus  aut  habitibus  corporum  diversis.  Id  au- 
tem  nunc  tan  dem  lieri  oportet,  nisi  forte  imitari  velimus 
temeritatem  Empiricorum,  qui  iisdem  utuntur  medicamentis 
ad  aegrotos  omnes,  cujuscunque  sint  constitutionis.  ” 

« Sequitur  doctrina  de  affectibus  et  perturbationibus, 
qui  loco  morborum  animi  sunt.  Quemadmodum  Politici 
prisci  de  Democratiis  dicere  solebant,  quod  populus  esset 
mari  ipsi  similis,  Oratoi’es  autem  ventis:  Similiter  vere  af- 
firmari  possit,  naturam  mentis  humanae  sedatam  fore,  et 
sibi  cons.tantem,  si  affectus  tanquam  venti,  non  lumultua- 
rentur,  ac  omnia  miscerent.  —  Sed  si  verum  omnino  di- 
cendum  sit,  Doctores  hujus  scientiae  praecipui  sunt  Poetae 
et  llistorici,  in  quibus  ad  vivum  depingi  et  dissecari  solet: 
Quomodo  Affectus  excitandi  sint  et  accendendi?  Quomodo 
leniendi  et  sopiendi?  Quomodo  rursus  continendi  ac  re- 
fraenandi,  ne  in  actus  erumpant?  Quomodo  itidem  se, 
licet  compressi  et  occultati,  prodant?  Quas  operationes 
edant?  Quas  vices  subeant?  Qualiter  sibi  mutuo  implicen- 
tur?  Qualiter  inter  se  digladientur  et  opponantur?  }) 

« Pervenimus  nunc  ad  illa,  quae  in  nostra  sunt  pote- 
slale,  quaeque  operantur  in  animum,  voluntatemqüe  et 


456 


VIII.  Irresein. 


appetitum  afficiunt  et  circumagunt,  ideoque  ad  imniutandos 
mores  plurimum  valent.  Qua  in  parte  debuerunt  Pbilo- 
sophi  strenue  et  gnaviter  inquirere,  De  viribus  et  cnergia 
consuetudinis,  exercitationis,  habitus  educaüonis,  imitatio- 
nis,  aemulationis,  convictus,  amicitiae,  laudis,  reprehensio- 
nis,  exhortationis,  famae,  legurn,  librorum,  studiorum  et  si 
quae  sunt  alia.  Haec  enim  sunt  illa,  quae  regnant  in  Mo- 
raiibus.  Ab  istis  agentibus  animus  patitur  et  disponitur; 
ab  istis,  veluti  ingredientibus,  conficiuntur  pharniaca,  quae 
ad  conservandam  et  recuperandam  animi  sanitatem  con- 
ducant,  quatenus  remediis  huraanis  id  praestari  possit.  — 
Concludemus  hanc  partem  de  Cultura  Animi  cum  eo  Re- 
medio,  quod  omnium  est  maxime  compendiosum,  et  sum- 
marium,  et  rursus  maxime  nobile  et  efficax,  quo  animus 
ad  virtutem  efformetur,  et  in  statu  collocetur  perfectioni 
proximo.  IIoc  autem  est:  Ut  fines  vitae,  actionumque  eli- 
gamus  et  nobis  ipsis  proponamus,  rectos,  et  virtuti  con- 
gruos,  qui  tarnen  tales  sint,  i»t  eos  assequendi  nobis  ali- 
quatenus  suppetat  facultas.  Si  enim  haec  duo  supponantur: 
ut  et  fines  actionum  sint  honest!  et  boni,  et  decretum  animi 
de  iis  assequendis,  et  obtinendis,  fixum  sit  et  constans, 
sequetur,  ut  continuo  vertat  et  efformet  se  animus,  una 
opera  in  virtutes  omnes.  Atquc  haec  certe  illa  est  ope- 
ratio,  quae  Naturae  ipsius  opus  referat.  cet  ” 

Hätte  der  Verf.  diese  Lehren  Baco’s,  auf  dessen  Ur- 
theil  er  einen  so  hohen  Werth  legt,  mehr  beherzigt,  so 
würde  er  wohl  nicht  die  Behauptung  aufgestellt  haben, 
dafs  die  Psychologie,  wenn  sie  auch  zur  Kennlnifs  des 
Charakters  der  Menschen  führe,  und  Anleitung  zur  Krzic- 
hung  und  Veredlung  derselben  gebe,  dennoch  Geisteskrank¬ 
heiten  zu  heilen  nicht  lehre,  da  der  Gebrauch  der  Mittel, 
welche  die  Logik  zur  Aufklärung  der  Verstandesverwirrung 
darbiete,  nur  eine  Verschlimmerung  derselben  kur  Folge 
habe.  Seine  materialistische  Ansicht  tritt  sogleich  in  der 
ersten  Abtheilung,  welche  von  den  Ursachen  der  Geistes¬ 
krankheiten  handelt,  hervor,  deren  nächste  Veranlassung 


VIII.  Irresein. 


457 


er  in  einem  krankhaften  Zustande  der  Gehirnthätigkeit  sucht, 
zu  welchem  moralische  Einflüsse  nur  als  entfernte  Ursachen 
sollen  beitragen  können.  Alle  Eindrücke,  sagt  er,  welch« 
Gefühle  hervorrufen,  pflanzen  sich  auf  das  Sensorium  fort, 
und  wirken  nach  Maalsgabe  des  Grades  der  constitutionellen 
Empfänglichkeit,  und  der  Beschaffenheit  und  Stärke  des 
Reizps.  Diesen  Eindrücken  entspricht  die  Thätigkeit  des 
Herzens,  welches  auf  das  Gehirn  und  Nervensystem  zurück¬ 
wirkt.  So  sind  das  Nerven-  und  Gefäfssystem,  jenes  pri¬ 
mitiv,  letztes  consecutiv  in  den  krankhaften  Prozefs  ver¬ 
flochten,  durch  dessen  Erzeugung  moralische  Eindrücke  Ur¬ 
sachen  von  Seelenstörungen  werden.  Bei  anderen  Gelegen¬ 
heiten  meint  der  Verf.  noch,  dafs  die  Forschung  nach  dem, 
was  während  dieses  krankhaften  Zustandes  des  Seelenorgans 
in>  Gemüthe  selbst  vorgehe,  auf  eine  fruchtlose  Specula- 
tion  hinauslaufe,  da  die  Natur  des  letzten  sich  allen  Unter¬ 
suchungen  entziehe;  daher  könne  man  auch  aus  den  Aeufse- 
rungen  des  gestörten  Bewufstseins  keine  Folgerungen  auf 
die  nächste  Ursache  der  Geisteskrankheiten  als  das  eigent¬ 
liche  Object  der  Heilung  machen ,  sondern  letztes  müsse 
auf  ganz  anderem  Wege  ausgemittelt  werden.  Er  ist  aber, 
wie  alle  gewöhnlichen  Empiriker,  aus  dem  ängstlichen  Be¬ 
streben,  jede  Hypothese  zu  vermeiden,  in  die  irrigste  unter 
allen  gerathen,  nämlich  in  die  durchaus  leere  Voraussetzung, 
dafs  allen  Gemüthskrankheiten  ein  fehlerhafter  Zustand  der 

i 

Lebensthätigkeit  zum  Grunde  liege.  Ref.  fordert  jeden, 
der  mit  vorurtheilsfreiem  Auge  eine  Menge  von  Irren  beob¬ 
achtet  hat,  zu  dem  Eingeständnis  auf,  dafs  ein  grofser 
Theil  von  ihneu  körperlich  durchaus  gesund  ist,  wenigstens 
keine  krankhaften  körperlichen  Erscheinungen  darbietet, 
welche  zu  dem  Schlüsse  berechtigten,  dafs  durch  sie  ein 
somatisches  Leiden  angedeutet  werde,  aus  welchem  eine 
Störung  des  Bewufstseins  erfolgen  mufste.  Wer  ferner  mit 
Bedacht  die  mannigfachen  pathologischen  Zustände  prüft, 
welche  als  nächste  Ursachen  von  Geisteskrankheiten  an¬ 
gegeben  werden,  als  Organisatiousfehler  und  theil  weise 


458 


\  III.  Irresein. 


t  \ 


Zerstörungen  des  Gehirns,  Nervenkrankheiten  aller  Art 
(K  rümpfe,  Sinnestäuschungen,  Hypochondrie  und  Hysterie), 
Störungen  des  Blutlaufes,  zumal  im  Kopfe,  die  mannig¬ 
fachen  Leiden  des  Herzens,  der  l  nterleibseingeweide,  Ge- 
schleclitstheile  u.  s.  w. ,  welche  so  häufig  ohne  alle  "V  er- 
letzung  der  intellectuellen  und  moralischen  Geisteskräfte 
beobachtet  werden,  dem  kann  es  nicht  entgehen,  dafs  die 
genannten  Krankheiten  in  keinem  not  h  wendigen  ursäch¬ 
lichen  Verhältnisse  zu  denen  der  Seele  stehen,  und  dafs  zu 
ihnen  noch  ein  wesentliches  Moment  hinzutreten  mufs,  um 
letzte  des  Vermögens  der  Selbstbeherrschung  zu  berauben, 
daher  sie  insgesammt  nur  als  zufällige,  äufserc  Ursachen 
von  Geisteskrankheiten  gelten  können.  Jenes  wesentliche 
Moment,  welches  fiir  sich  allein  schon  zur  Urzeugung  der 
letzten  hinreichend  ist,  läfst  sich  mit  keinem  gangbaren 
Begriffe  besser  bezeichnen,  als  mit  dem  der  Gemiitbs- oder 
Charakterschwäche,  die  den  Menschen  zum  Sklaven  seiner 
Leidenschaften,  zum  Spielball  des  äufseren  Geschicks,  zur 
Marionette  seines  Körpers  herabwürdigt;  statt  dessen  er 
letzten  zu  einem  durchaus  tauglichen  Werkzeug  seines  Wil¬ 
lens  ausbilden,  Herr- seines  Schicksals,  Meister  seiner  Vor¬ 
stellungen,  Gefühle  und  Begierden  werden  sollte  und  könnte. 
"Wenn  also  alle  Krankheiten  körperlicher  Erscheinungen, 
welche  in  Verbindung  mit  Gemüthsstörungen  wahrgenom- 

men  werden,  entweder  natürliche  Folgen  der  durch  letzte 

.  r  ° 

verstimmten  Gehirnthätigkeit,  oder  zufällige  Ereignisse,  oder 
Symptome  eines  kürperleidens  sind,  welches  nur  schwach 
befestigte  Charaktere  aus  ihrem  Gleichgewichte  bringen 
kann;  und  wenn  jedes  Delirium,  welches  aus  einer  Zerrüt¬ 
tung  des  Seelenorgans  durch  schwere  Krankheiten,  Fieber, 
Gehirnentzündung  u.  s.  w.  entspringt,  gar  nicht  in  das 
engere  Gebiet  der  Geistesstörungen  gehört,  wohin  der 
Sprachgebrauch  sie  auch  nicht  rechnet;  so  bleibt  nichts 
übrig,  als  die  letzten  unter  einem  rein  philosophischen  Be¬ 
griffe  aufzulässen,  und  sie  zu  bestimmen  als  die  unwill- 
kührliche,  längere  Zeit  hindurch  andauernde 


VIII.  Irresein. 


459 


oder  häufig  wiederkehrende  Störung  oder  Un¬ 
terdrückung  der  Denk-  und  Willenskra  ft  eines 
Menschen,  welcher  vorher  im  Besitz  der  gesun¬ 
den  Vernunft  (mens  sana)  war;  welche  Störung  ge¬ 
dacht  werden  mufs  in  Beziehung  auf  ein  bestimmtes 
Object,  oder  auf  die  Erkennt nifs  der  Welt  über¬ 
haupt,  und  das  Handeln,  verbunden  mit  einer 
über mäfsi gen  Erhöhung  oder  Verminderung  des 
Einbildungs-  und  Gefühls  Vermögens  I).  Von  die¬ 
sem  Gesichtspunkte  aus  sollte  dann  die  allen  Geisteskrank¬ 
heiten  zum  Grunde  liegende  Gemüthsschwäche  in  der  frü¬ 
hesten  ( meisten iheils  in  einer  fehlerhaften  Erziehung  be¬ 
gründeten)  Entstehung,  weiteren  Entwickelung  und  letz¬ 
ten  Ausbildung  als  Seelenstörung  aufgesucht,  aus  ihr  der 
Gang,  der  Wechsel,  die  Widersprüche,  die  mannigfachen 
Verbindungen  der  widersinnigen  Vorstellungen  und  Triebe 
abgeleitet,  und  damit  der  Einflufs  der  äufseren  Bedingun¬ 
gen  in  natürliche  Beziehung  gebracht  werden.  Eine  solche 
psychologische  Deutung  läfst  aber  der  Verf.  überall  ver¬ 
missen,  ca  sein  Blick  beinahe  ausschliefslich  nur  der  kör¬ 
perlichen,  untergeordneten  Seite  der  Seelenstörungen  zuge¬ 
wandt  ist,  und  fast  allemal  irre  geht,  wenn  er  die  geisti¬ 
gen  Beziehungen  derselben  auffassen  soll.  Dies  zeigt  sich 
sogleich  bei  der  ferneren  Erläuterung  der  moralischen  Ur¬ 
sachen,  wo  er,  nach  einer  kurzen  Angabe  der  verschiede¬ 
nen  Hypothesen  über  den  Sitz  der  Leidenschaften,  die  Fol¬ 
gen  derselben  beleuchtet.  Anstatt  dafs  beim  Schreck  und 
Entsetzen,  sagt  er  z.  B. ,  das  Herz  mit  gesteigerter  Kraft 
zurückwirken  sollte,  entweicht  das  zurückkehrende  venöse 
Blut  aus  den  entfernten  Gefäfsen,  wie  dies  durch  die  tod- 

V  H  , 

tengleiche  Blässe  bewiesen  wird;  die  Bewegung  des  Her¬ 
zens  wird  erschwert,  ein  heftiger  Krampf  folgt,  und  das 
Organ  kann  auf  hören  zu  schlagen,  und  sogar  zerreilsen. 


1)  Confer.  Langer  mann  Dissert.  de  Methodo  cognoscendi 
curandüjuc  animi  morbos  stabilienda. 


460 


VIII.  Irresein. 


Wenn  Reaction  eint  ritt ,  so  ist  diese  gewöhnlich  so  heftig, 
tlafs  die  Thätigkeit  des  Gehirns  durch  die  Kraft  des  in  seine 
Gefäfse  getriebenen  Blutes  überwältigt  wird.  Diese  Er- 
klärung,  welche  selbst  in  Beziehung  auf  die  Vorgänge  bei 
den  Leidenschaften  höchstens  einen  datromathematiker  be¬ 
friedigen  könnte,  wie  sollte  sie  wohl  Aufschlufs  geben  über 
die  erschütterte  Verfassung  des  Gemüths,  welches  auch  bei 
seinen  krankhaften  Erscheinungen  noch  den  psychologischen 
Gesetzen  gehorcht,  und  nur  nach  diesen  verstanden  werden 
kann:’  Wird  denn  das  Wesen  der  Seele,  welcher  der  Verf- 
doch  in  ihrem  gesunden  Zustande  Selbstständigkeit  und 
Autocratie  zuschreiben  mufs,  durchaus  vernichtet,  sobald 
sie  in  das  Gebiet  des  Wahnsinns  sich  verirrt,  dergestalt, 
dafs  ihre  Vorstellungen  und  Triebe,  von  denen  sie  doch 
ein  Iiewufstsein  sich  erhält,  gar  in  keinem  Zusammenhänge 
stehen?  Diese  Folgerung,  welche  alle  psychologische  For¬ 
schung  bei  Gemülhskrankheiten  aufheben  würde,  deutet  der 
%  erf.  an,  indem  er  behauptet,  dafs  nichts  trügerischer  sei, 
als  aus  dem  Inhalte  der  wahnwitzigen  Vorstellungen  auf  die 
vorangegangene  moralische  Ursache  zurückzuschliefsen ,  und 
er  reifst  somit  den  Faden  ab,  welcher  durch  das  Labyrinth 
der  krankhaften  Gemiithserscheinungen  leiten  sollte.  Man 
lasse  sich  nur  nicht  durch  das  desultorische  Geschwätz  des 
einen  Irren,  oder  durch  den  hartnäckigen  Eigensinn  irre 
machen,  mit  welchem  ein  anderer  seine  anmaafslichen  Ein¬ 
bildungen  behauptet,  so  wird  man  beide  mit  imponirendem 
Ernste  zwingen  können,  einen  Blick  auf  die  Fehler  ihres 
Gemüths  zu  werfen,  also  der  moralischen  Schwäche  sich 
bewufst  zu  werden,  durch  welche  sie  in  ihren  dermaligen 
klägl  ichen  Zustand  geriethen.  Freilich  sträuben  sich  die 
meisten  Irren  nicht  weniger,  wie  die  sogenannten  geistig 
Gesunden  gegen  eine  Selbsterkenntnis,  durch  welche  ihre 
Eigenliebe  so  tief  verletzt  wird,  und  man  mufs  oft  zu 
Zwangsmitteln  greifen,  um  durch  Bekämpfung  ihrer  ver¬ 
kehrten  Vorstellungen  das  gefesselte  und  schlummernde  Be- 
wufslsein  aufzuwecken;  daher  auch  alle,  die  gleich  dem 


VIII.  Irresein. 


461 


Verf.  die  Geisteskranken  mit  leiser,  schüchterner  Hand  an¬ 
fassen,  um  sie  nicht  durch  rauhe  Berührung  des  wunden 
Fleckes  ihrer  Seele  zum  heftigen  Widerstande  und  Aufruhr 
zu  reizen,  dem  zaghaften  Chirurgen  gleichen,  der  nicht  in 
der  Tiefe  der  Wunde  die  eingedrungene  Kugel  aufsucht, 
um  dem  Kranken  einen  neuen  Schmerz  zu  ersparen.  Ge- 
stehen  wollen  wir  es  indefs,  dafs  eine  auf  Beobachtung  ge¬ 
gründete  Naturlehre  der  Seele,  welche  allen  psychologischen 
Forschungen  bei  Gemiithskranken  zur  Richtschnur  dienen 
könnte,  noch  nicht  durch  hinreichende  Versuche  zur  gehö¬ 
rigen  Ausbildung  gebracht  worden  ist.  Irrt  Ref.  nicht,  so 
würde  dazu  erforderlich  sein,  die  selbstständige  Kraft  der 
Seele  durch  die  That  zur  Anschauung  zu  bringen,  derge¬ 
stalt,  dafs  jeder  Seelenforscher  an  sich  selbst  in  seinem  han¬ 
delnden  Leben  erfahren,  nicht  in  metaphysischen  Speeula- 
tionen  sich  eingebildet  haben  miifste,  in  welcher  Ausdeh¬ 
nung  der  moralische  Wille  wirksam  sein  kann,  von  weichen 
Hindernissen  derselbe  aufgehalten  wird,  und  wie  er  diesel¬ 
ben  durch  freie  Selbstbestimmung  nach  moralischem  Gesetz 
zu  überwinden  vermag.  Bei  dieser  Selbstbeobachtung  wird 
es  ihm  zugleich  klar  werden,  wiefern  sein  geistiges  Naturell 
ihm  dabei  zu  Hülfe  kommt,  oder  entgegen  ist,  und  wie  bei 
mangelnder  Selbstbeherrschung  nach  bestimmten  Vernunft¬ 
zwecken  die  sinnlichen  Begierden  alsbald  die  Oberhand  ge¬ 
winnen,  und  das  klare  Selbstbewufstsein  trüben.  Eine  Ver¬ 
gleichung  des  bei  sich  Wahrgenommenen  mit  dem  sittlichen 
Betragen  anderer  würde  seinen  Beobachtungssinn  in  dem 
Maafse  üben ,  dafs  ihm  das  Gebiet  der  Seelenstörungen 
dann  nicht  mehr  unzugänglich  bliebe. 

Auch  über  die  physischen  Ursachen  der  Seelenstörun¬ 
gen  weifs  der  Verf.  keine  befriedigende  Rechenschaft  abzu¬ 
legen;  er  fragt  bei  allen  Autoren  der  Reihe  nach  herum, 
und  da  keiner  ihm  eine  entscheidende  Antwort  giebt,  so 
bleibt  auch  er  sie  schuldig.  Zum  Beweise  des  Gesagten 
einige  Beispiele:  Coinbe  wirft  den  Acrzleu  Mangel  an 
(Jonsequenz  vor,  wenn  sie  behaupten,  dafs  die  vom  Gehirn 


4(32 


VIII.  I  rrescin. 


ausgeübten  Functionen  nicht  zugleich  mit  der  Zerstörung 
desselben  vernichtet  werden,  da  doch  ein  unmittelbarer 
Zusammenhang  zwischen  allen  übrigen  Organen  und  ihren 
Verrichtungen  beobachtet  werde.  Der  Yerf.  macht  dage¬ 
gen  den  Fin wurf,  dafs  zwischen  der  göttlichen  immateriel¬ 
len  Function  des  Gehirns  und  den  materiellen  und  palpa- 
beln  Functionen  anderer  Organe  gar  keine  "N  ergleichung 
statt  finden  könne;  ungeachtet  er  kurz  vorher  behauptet 
hatte,  dafs  das  Gehirn  gleich  den  übrigen  Theilen  gewissen 
allgemeinen  Gesetzen  der  Thätigkeit  unterworfen  sei,  viele 
Formen  der  Krankheiten  mit  ihnen  gemein  habe,  die  auf 
die  nämliche  Weise  erforscht  werden  müfsteo,  obgleich  sie 
wegen  seiner  unmittelbaren  Verbindung  mit  der  Seele  unter 
c'genthündichcn  Erscheinungen  auftreten.  Der  Gal  Ischen 
Lehre  ist  er  abhold,  da  die  aus  ihr  gezogenen  Folgerungen 
keinen  Beitrag  zur  besseren  Erkenntuifs  und  Heilung  der 
Gemiilhsstürungen  geliefert  hätten;  doch  meint  er,  dafs 
noch  sorgfältigere  Untersuchungen  auf  gleichem  Wege  an¬ 
zustellen  seien,  und  er  beruft  sich  namentlich  auf  Gall’s 
Behauptung,  dafs  jedem  Seelenvermögen  ein  doppeltes,-  auf 
beiden  Seiten  des  Gehirns  gelagertes  Organ  dienstbar  sei, 
weil  nur  auf  diese  Weise  es  sich  erklären  lasse,  wie  hei 
Zerstörung  des  gröfsten  Thciles  der  Gehirnsubstanz  den¬ 
noch  die  geistige  Thätigkeit  ununterbrochen  fortdauern 
könne.  Bald  nachher  macht  er  aber  wieder  darauf  aufmerk¬ 
sam,  dafs  Gall’s  System  einen  grofsen  Stofs  erleiden  würde, 
wenn  sich  Bayle’s  Beobachtungen  bestätigen  sollten,  dafs 
,  in  den  meisten  Fällen  von  Seelenstörung  eine  chronische 
Arachnitis  zum  Grunde  liege,  welche  sich  vornehmlich  durch 
hochmüthige  Phantasie  zu  erkennen  gebe,  so  dafs  aus  der 
Lebhaftigkeit  der  letzten  auf  den  Grad  der  Entzündung 
geschlossen  werden  könne.  An  jenen  Bayleschen  Erfah¬ 
rungen  findet  er  nur  hauptsächlich  auszusetzen,  dafs  sie  mit 
denen  von  Ga  lmeil  in  Widerspruch  stehen,  ungeachtet 
beide  zu  gleicher  Zeit,  und  unter  den  nämlichen  Bedingun¬ 
gen,  zu  C  baren  ton  die  Materialien  zu  ihren  Schriften  sam- 


Vin.  Irresein. 


463 


melten.  —  Das  nennt  der  Verf.  auf  dem  Erfahrungswege 
aus  Thatsachen  Schlüsse  ziehen,  um  mit  Vermeidung  von 
Speculationen  zur  Wahrheit  zu  gelangen! 

In  einem  krankhaften  Blutumlaufe  sucht  der  Verf.  vor¬ 
nehmlich  den  nächsten  Ursprung  der  Geisteskrankheiten  auf, 
und  er  bringt  seine  Ansicht  hierüber  unter  folgende  allge¬ 
meine  Sätze:  1)  Das  System  der  Blutgefäfse  ist  in  jedem 
Falle  von  Geisteskrankheit,  wenngleich  auf  verschiedene 
Weise,  krankhaft  thätig.  2)  Die  naturgemäfse  Aeufserung 
der  intellectuellen  Functionen  ist  abhängig  von  einer  gehö¬ 
rigen  Regelmäfsigkeit  in  der  Menge  und  dem  Laufe  des 
Blutes  im  Gehirn,  da  jenes  die  Quelle  der  Nerventhätigkeit 
ist.  3)  So  lange  das  Gefäfs-  und  Nervensystem  in  Ueber- 
einstimmung  thätig  sind,  bleibt  die  Harmonie  der  intel¬ 
lectuellen  Functionen  ungestört.  4)  In  allen  Fällen  von 
Geisteskrankheit  befinden  sich  das  Gefäfs-  und  Nervensystem 
in  einem  Zustande  von  Opposition.  5)  Bei  beginnender 
Geisteskrankheit  herrscht  in  der  Regel  eine  Aufregung 
des  Gefäfssystems  vor,  bei  chronischer  des  Nervensystems. 
6)  In  allen  mit  Gemüthsstörungen  verbundenen  Krankhei¬ 
ten  behauptet  das  eine  oder  andere  System  ein  entschiede¬ 
nes  Uebergewicht.  7)  Sobald  die  Thätigkeiten  beider  Sy¬ 
steme  sich  einander  nähern,  tritt  Verbesserung  der  intel¬ 
lectuellen  Functionen  ein;  wenn  sie  wieder  einstimmig  sind, 
kehrt  völlige  Genesung  zurück.  Um  seine  materialistische 
Hypothese  zu  beweisen  ,  unterscheidet  vier  Verf.  zwei  Fälle, 
je  nachdem  entweder  das  Blut  mit  zu  grofser  Schnelligkeit 
und  in  zu  grolser  Menge  nach  dem  Gehirn  geführt,  oder 
in  beiden  Momenten  unter  dem  natürlichen  Maafse  demsel¬ 
ben  zugeleitet  wird.  In  erster  Beziehung  macht  er  auf  die 
häufig  vorkommenden  Erscheinungen  von  Ueberfüllung  der 
Blutgefäfse  des  Kopfes  bei  beginnenden  Geisteskrankheiten 
aufmerksam,  die  ihm  auch  niemand  streitig  machen  wird, 
jedoch  unter  der  Einschränkung,  dafs  sie  bei  weitem  nicht 
jedesmal  sich  zeigen.  Daraus  leitet  er  die  nach  dem  Tode 
sich  darbietenden  Auftreibungen  der  Blutgefäfse  des  Gehirns, 


464 


VIII.  Irresein. 


die  Wasserergiefsungen  in  demselben,  und  die  mannigfachen 
Spuren  von  Entzündung,  welche  dasselbe  erlitten  hat,  her, 
und  sucht  sich  gegen  den  Einwurf,  dafs  oft  bei  offenbarem 
Blutandrang  nach  dem  Kopfe  kein  Delirium,  uod  umgekehrt 
letztes  häufig  in  Krankheiten  ohne  jenen  beobachtet  werde, 
dadurch  zu  vertheidigen,  dafs  wenn  auch  bei  Geisteskran¬ 
ken  nicht  immer  l  Jeberfüllung  des  Gehirns  mit  Blut,  oder 
verstärkter  Herzschlag  angetroffen  werde,  dennoch  in  er¬ 
stem,  wie  bei  örtlichen  Entzündungen  überhaupt,  eine  ver¬ 
mehrte  örtliche  Gefäfsthätigkeit  ohne  allgemeine  Aufregung 
des  Kreislaufs  statt  finden  könne.  Diese  Hypothese  ist  im 
Grunde  nichts  weiter,  als  eine  neumodisch  zugestutzte 
Jatromathematik ,  die  über  die  Entdeckung  des  Krei-daufs 
sich  nicht  zu  erheben  vermag,  und  daher  kaum  eine  andere 
selbstständige  Lebensthätigkeit  anerkennt,  als  das  Pulsiren 
der  Arterien,  dessen  Rhythmus  in  jedem  Organe  der  Maafs- 
stab  der  Function  des  letzten  sein  soll,  ohne  weitere  Uück- 
sicht  auf  andere  organische  Kräfte,  denen  der  Blutslrom 
einen  dynamischen  Beiz  und  ein  materielles  Substrat  zufüh¬ 
ren  mufs.  Nicht  immer  verläfst  zwar  den  Verf.  ein  gesun¬ 
der  Sinn;  so  sagt  er  z.  B.,  dafs  Tobsüchtige  sich  oft  sehr 
gut  zu  beherrschen  und  ihre  Leidenschaften  so  völlig  zu 
verbergen  wissen,  dafs  keine  veränderte  Gebärde,  Sprache 
u.  s.  w.  den  tobenden  Aufruhr  ihres  Innern  verräth;  aber 
letzten  könne  man  sehr  leicht  an  dem  jagenden  Pulse  er¬ 
kennen,  weil  der  Geist  die  Wirkung  der  Leidenschaften 

auf  den  Herzschlag  aufzuhellen  nicht  vemöge.  Doch  das  in 

§  • 

diesen  Worten  ausgesprochene  klare  Bewufstsein  der  grofsen 
Abhängigkeit  des  Blutumlaufs  von  der  jedesmaligen  Gemiiths- 
stimmung,  woraus  die  Erscheinungen  einer  beschleunigten 
Cireulation  bei  den  Geisteskrankheiten  sich  so  vollständig 
und  ungezwungen  erklären  lassen,  verliert  sich  bald  wieder 
unter  dem  blinden  Verfolgen  einer  Hypothese,  die  in  zahl¬ 
losen  Fällen  auch  nicht  durch  den  schwächsten  sinnlichen 
Schein  bestätigt  wird.  Es  verlohnt  sich  nicht  der  Mühe, 
den  entgegengesetzten  Fehler  der  Gefäfsthätigkeit,  wenn 


VIII.  Irresein. 


465 


- ,  ,  / 

sie  eine  zu  geringe  Blutmenge  mit  verzögerter  Bewegung 
dem  Gehirne  zuführt,  näher  zu  erörtern,  da  darauf  diesel¬ 
ben  Bemerkungen  anwendbar  wären.  Eben  so  reducirt  sich 
die  Lehre  vom  krankhaften  Consensus  zwischen  dem  Ge¬ 
hirn  und  den  übrigen  Eingeweidcn,  vorzüglich  des  Unter¬ 
leibes,  nach  des  Verf.  Meinung  auf  eine  correspondirende 
Blutströinung  nach  verschiedenen  Richtungen.  Am  Schlüsse 
seiner  Betrachtungen  über  den  krankhaften  Blutumlauf  als 
Ursache  der  Geistesstörungen  sagt  der  Verf.  hoch,  dafs 
damit  keinesweges  die  krankhaften  Zustände  des  Nerven¬ 
systems  und  deren  Einflufs  auf  das  Gemüth  in  den  Hinter¬ 
grund  gestellt  werden  sollten;  wie  wenig  Ernst  es  ihm  aber 
mit  dieser  Versicherung  ist,  und  wie  sehr  seine  oberfläch¬ 
liche  Anschauungsweise ,  die  sich  nur  in  den  handgreiflichen 
Erscheinungen  einer  krankhaften  Gefafsthätigkeit  zurecht 
finden  kann,  ihn  verhindert,  die  dynamischen  Functionen 
des  Nervensystems  in  reiner  Absonderung  aufzufassen,  geht 
vorzüglich  aus  dem  Kapitel  hervor,  in  welchem  die  mit 
den  Gemüthsstörungen  complicirten  Nervenkrankheiten  er¬ 
örtert  werden,  in  wiefern  sie  erste  hervorzurufen  im  Stande 
sind.  Denn  auch  bei  ihnen  fafst  er  nur  die  Phänomene 
einer  gestörten  Circulation  ins  Auge,  und  läfst  letzte  das 
Medium  sein,  durch  welches  sie  das  Gemüth  seiner  Fassung 
berauben,  z.  B.  Schwindel  ist  eine  Unordnung  der  Circu¬ 
lation;  Leichenöffnungen  Epileptischer  beweisen  einstimmig 
eine  vorhanden  gewesene  vermehrte  Blutströmung  nach  dem, 
und  erhöhte  Gefafsthätigkeit  im  Gehirn  (interessant  ist  je¬ 
doch  ein  vom  Verf.  erzähltes  Beispiel,  wo  bei  einem  jungen 
Manne  während  epileptischer  Anfälle  das  Blut  mit  einer 
solchen  Kraft  in  die  Gefäfse  des  Gesichtes  und  Scheitels 
getrieben  wurde,  dafs  es  wie  ein  Schweifs  tropfenweise  aus 
den  Poren  hervordrang);  Convulsionen ,  welche  sich  zu¬ 
weilen  zur  Manie  gesellen,  stellen  eine  andere  Art  gestör¬ 
ter  Circulation  dar;  ein  Gleiches  wird  vom  blutigen  Schlag- 
flufs  uud  der  Hysterie  behauptet. 

In  der  zweiten  Abtheilung  versucht  der  Verf.  die 


466 


VIII.  Irresein. 


Geisteskrankheiten  einzuthcilen ,  womit  er  aber  nicht  r.u 
Stande  kommt,  weil  cs  ihm  dazu  gänz.lich  an  einem  Prin¬ 
zip  gehricht,  welches  nur  aus  einer  tieferen  Krkenntnifs  der 
ersten  geschöpft  werden  kann.  Alle  psychologischen  Mo¬ 
mente  als  leere  Metaphysik  verwerfend,  weifs  er  auch  sei¬ 
ner  materialistischen  Lehre  keine  Seite  abzugewinnen,  die 
ihm  einen  klaren  Ucberhlick  seines  Gegenstandes  verschaf¬ 
fen  könnte.  Da  die  Formen  der  Geisteskrankheiten  oft  so 
wenig  beständig  sind,  dafs  sie,  z.  B.  Manie  und  Melancholie 
häufig  mit  einander  wechseln;  da  ferner  die  Resultate  der 
Leichenöffnungen  in  allen  Fällen  eine  grofse  Uebereiostiru- 
mung  zeigen:  so  hält  er  jene  ihrem  Wesen  nach  fii r  gleich¬ 
artig,  also  eine  tiefer  eindringende  Unterscheidung  unter 
ihnen  für  unzulässig.  Um  aber  doch  einige  äufsere  Anord¬ 
nung  unter  die  sinnlichen  Formenverschiedenheiten  zu  brin¬ 
gen ,  entscheidet  er  sich,  ohne  einen  Grund  dafür  anzuge¬ 
ben,  für  Esquirols  Eintheilung,  aus  welcher  er  indefs 
die  Monomanie,  welche  seinen  Beifall  nicht  hat,  wegläfst, 
dagegen  aber  das  Delirium  und  die  Hypochondrie  eipschiebt, 
die  gar  nicht  hierher  gehören,  weil  erstes  nur  psychischer 
Reflex  eines  blofsen  Körperlcidens  genannt  werden  kann, 
und  bei  letzter  das  wesentlichste  Kennzeichen  der  Geistes¬ 
störungen,  fortwährender  Mangel  des  freien  Selbsibewufst- 
seins  fehlt. 

Hierauf  folgen  in  einem  «  Charakter  der  Geisteskrank¬ 
heiten  n  üherschriebenen  Kapitel  die  am  häufigsten  bei  den¬ 
selben  vorkommenden,  besonders  psychischen  Erscheinun¬ 
gen,  die  indefs,  da  der  Yerf.  ihre  eigentliche  Bedeutung 
und  ihren  nothwendigen  Zusammenhang  nicht  gehörig  wür¬ 
digt,  wie  lose  Bruchstücke  durcheinander  geworfen  sind. 
Ihm  ist  die  Seele  ein  Aggregat  einzelner  Kräfte,  von  denen 
einige  verletzt,  die  andern  unversehrt  geblieben  sein  kön¬ 
nen,  ohne  dafs  sich  ein  innerer  Grund  dieses  theil weisen 
Erkrankens  angeben  ließe.  Gcwifs  eine  der  fruchtbarsten 
Quellen  von  Irrthümern  in  der  praktischen  Anthropologie 
ist  die  oberflächliche  Betrachtung  des  Bewußtseins,  welcher 

der 


VIII.  Irresein. 


467 


der  nothwendige,  innere  Zusammenhang  seiner  Erscheinun¬ 
gen,  die  Einheit  ihres  gemeinsamen  Ursprunges  entgeht. 
Aber  auch  das  krankhafte  Bewufstsein  ist  noch  ein  organi¬ 
sches,  nur  mit  verschobenem,  verzerrtem  Verhältnifs  seiner 
Glieder;  und  wenn  man  sich  die  Beziehung  zwischen  den 
mannigfachen  Denkweisen  und  Gemüthsregungen  einer  Per¬ 
son  in  ihrem  gesunden  Zustande  bekannt  gemacht  hat;  so 
wird  man  auch  ihre  krankhaften  Intentionen  errathen,  ja 
aus  letzten  auf  die  Verfassung  ihres  Gemüths  in  gesunden 
Tagen  zurückschliefsen  können.  Den  Verf.  würde  die  An¬ 
erkennung  dieses  Satzes  nichts  Geringeres,  als  den  Umsturz 
seines  ganzen  Systems  kosten;  daher  vertheidigt  er  sich 
auch  gegen  die  Behauptung  einiger,  dafs  Manie  ein  ver¬ 
längerter  Päroxysmus  einer  Leidenschaft  sei,  mit  der  Be¬ 
merkung  EsquiroUs,  dafs  man  eben  so  gut  sagen  könnte, 
Erotomanie  sei  blofs  ein  Excefs  der  Liebe,  Melancholie  nur 
ein  übertriebener  religiöser  Eifer,  oder  übermäfsige  Furcht, 
Selbstmord  allein  ein  Anfall  von  Verzweiflung,  dergestalt, 
dafs  jede  Art  von  Geisteskrankheit  ihren  Urtypus  in  irgend 
einer  Leidenschaft  habe.  So  verhält  es  sich  auch  wirklich, 
und  wenn  der  Verf.  dagegen  die  triviale  Einwendung  macht, 
dafs  Personen  von  unbescholtenem  Lebenswandel  dennoch 

•  %  v 

einen  entgegengesetzten  Charakter  als  Geisteskranke  verrie- 
then,  so  dafs  z.  B.  Bescheidene  anmaafslich,  Keusche  un¬ 
züchtig,  Tapfere  feig,  und  die  Hochherzigsten  der  empö¬ 
rendsten  und  niedrigsten  Handlungen  fähig  würden,  so 
blickt  hieraus  jene  Afterweisheit  hervor,  welche  mit  dem 
gemifsbrauchten  Namen  der  Humanität  prunkend,  nur  ihre 
Unkunde  des  menschlichen  Gemüths  zur  Schau  stellt,  und 
über  die  Riesenfortschritte  des  ganzen  Geschlechts  zu  hö¬ 
heren  Stufen  der  Vollkommenheit  jubelt,  während  der 
ruhige  Beobachter  in  unserem  gegenwärtigen  Culturzustande 
neben  vielem  Vortreff  liehen  auch  die  zahllosen  Gebrechen 
einer  unnatürlichen  Sittenverfeinerung,  einer  aus  morali¬ 
scher  Schwäche  entsprungenen  üebercmpfindlichkeit,  alle 
Thorheiten  einer  verzärtelten  Eitelkeit  und  Selbstliebe,  und 
XIV.  Bd.  4.  St.  <  •  31 


468 


VUI.  I.  •rosein. 


io  allen  diesen  Ablenkungen  von  der  natürlichen  Rahn  die 
nur  zu  fruchtbaren  Ursachen  der  Geisteskrankheiten  wabr- 
nimmt.  Was  nach  dem  verderbten  Modegeschmacke  und 
der  entarteten  Sitte  für  gut  und  vorLrefflich  gehalten  wird, 
kann  also  nicht  als  Maafsstab  der  moralischen  Schätzung 
dienen,  also  nicht  Ausdruck  der  nach  voller  Entfaltung 
ihrer  natürlichen  Anlage  ringenden  sittlichen  Kraft  sein, 
die  leider  durch  einen  verkehrten  Sinn  nur  zu  oft  irre  ge¬ 
leitet,  in  zahllosen  Angewöhnungen  sich  verbildet.  M  ic 
selten  ist  in  unserer  Gesellschaft  noch  jener  edle  Freimutti 
anzutreffen,  welcher  der  offenen  Stirn  das  Siegel  der  inne¬ 
ren  Wahrheit  aufdrückt,  so  dafs  man  des  Mannes  Charak¬ 
ter  auf  den  ersten  Rlick  aus  seinem  Handeln  und  Reden 
erkennen  könnte.  Haben  nicht  die  meisten  die  stillschwei¬ 
gende  Verabredung  getroffen,  in  ein  Gewebe  von  Heuche¬ 
lei  und  Verstellung  sich  kleiden,  um  damit  ihre  morali¬ 
schen  Rlöfsen  verdecken  zu  dürfen,  und  liegt  ihnen  dies 
Liigengewand  nicht  so  fest  an,  dafs  sie  sich  selbst  nur  in 
demselben  erblicken,  wenn  sie  zufällig  einmal  in  den  Spie¬ 
gel  -des  Selbstbewufslseins  schauen  ?  W  ie  wollen  wir  uns 
also  darüber  verwundern,  wenn  der  V\  ahnsinn  den  absicht¬ 
lichen  Selbstbetrug  Lügen  straft,  und  von  dem  verschlos¬ 
senen  Gemüth  den  Schleier  hiuwegziebt,  hinter  welchem 
die  früheren  Gebrechen  so  sorgfältig  versteckt  waren?  Um 
Mifsverständnissen  vorzubeugen  sei  es  ausdrücklich  bemerkt, 
dafs  zwischen  einem  erschlafften  Charakter,  der  die  Leiden¬ 
schaften  nicht  beherrscht,  und  deshalb  leicht  vom  Wahn¬ 
sinn  überwältigt  wird,  und  Verhärtung,  Verstocktheit  des 
Gemüths,  welche  mit  äufserer  Besonnenheit  die  Mittel  zur 
Ausführung  von  Verbrechen  wählt,  ein  sehr  grofscr  Un¬ 
terschied  statt  findet,  und  dafs  Iieinroth  sich  schwer  an 
der  Menschheit  versündigt  hat,  als  er  in  seinem  pietisti- 
schen  Metaphysirismus  behauptete,  dafs  der  Lasterhafte  nur 
der  Vernunft  ungehorsam  geworden  sei,  der  Wahnsinnige 
aber  sie  in  sich  ertüdtet  habe,  daher  sie  auch  jenen  zu 
ihrem  Gesetz  durch  das  Gewissen  zurückzuführen  strebe, 


VIIL  Irresein. 


469 


während  letzter  als  ein  gänzlich  von  ihr  Verlassener,  Ver¬ 
lorener,  der  mithin  moralisch  noch  tiefer  gefallen  $ei,  sei¬ 
nem  Schicksal  überlassen  bleibe.  Als  ein  Beispiel  der  V  or¬ 
stellungsweise  des  Verf.  sei  es  angeführt,  dals  er  die  Ent¬ 
stehung  eines  krankhaften  Geschlechtstriebes  bei  sittlich  rei¬ 
nen  Jungfrauen,  wenn  sie  aus  anderen  Ursachen  wahnsin¬ 
nig  wurden,  für  möglich  hält,  und  um  keine  Antwort 
schuldig  zu  bleiben,  die  Behauptung  aufstellt,  dafs  bei  ihnen 
der  krankhafte  Erregungszustand  des  Gehirns  auf  die  Ge¬ 
schlechtsteile  reflectirt,  in  diesen  ein  verborgenes  Feuer 
entzünde,  welches  die  Unglücklichen  vergebens  zu  verber¬ 
gen  strebten.  Kennt  er  die  List  der  weiblichen  V  erstel¬ 
lung,  welche  oft  den  erfahrenen  Beobachter  täuscht,  so 
wenig?  Ist  es  ihm  so  fremd,  dafs  nur  die  wirkliche  That, 
der  Widerstand  gegen  verführerische  Lockung  für  die 
innere  Reinheit  des  Gemüths  zeugt? 

Im  folgenden  Kapitel  handelt  der  Vqrf.  das  Delirium 
ab,  von  welchem  das  Del.  tremens,  eine  eigentümliche 
Unterart  bildet.  Da  diese  Krankheitsformen  gar  nicht  in 
das  Gebiet  der  eigentlichen  Geisteskrankheiten  gehören,  so 
mögen  des  Verf.  Mittheilungen  über  sie  hier  keine  weitere 
Erwähnung  finden. 

Hierauf  ist  von  den  Stadien  der  Geisteskrankheiten  die 
Rede,  wobei  indefs  nur  die  Manie  und  Melancholie  in  Be¬ 
tracht  gezogen  werden.  Der  Verf.  kommt  hier  darauf  zu¬ 
rück,  dafs  beide,  in  ihren  körperlichen  Erscheinungen  ana-, 
log,  dem  physischen  Grunde  nach  wesentlich  gleicher  Na¬ 
tur  seien,  und  bemerkt  dabei,  dafs  auf  der  Kenntnifs  dieser 
gemeinschaftlichen  Bedingung  die  Basis  der  Kurplane  be¬ 
gründet  sei.  Welche  Einwürfe  dieser  Behauptung  von 
psychologischer  Seite  entgegenzustellen  sind,  ist  unnöthig 
zu  sagen,  da  es  von  selbst  erhellt,  wie  wesentlich  verschie¬ 
den  die  Gemütsverfassung  eines  wüthenden  Tobsüchtigen 
und  eines  an  finsterem  Gram  sich  aufzehrenden  Trübsinni¬ 
gen  ist,  wonach  die  ihnen  zu  leistende  Hülfe  notwendig 
abgemessen  werden  rnufs.  Aber  selbst  innerhalb  des  sinn- 

/  31  * 


470 


VIII.  I  iTescin. 


liehen  Kreises,  in  welchem  der  Vcrf.  seine  Lehre  abschliefst, 
kann  diese  keine  Gültigkeit  haben,  da  die  Heaction  des 
Scelenorgans  und  der  mit  ihm  in  näherer  Verbindung  ste¬ 
henden  Systeme  sich  nothW endig  nach  den  verschiedenarti¬ 
gen  Impulsen  durch  die  jedesmalige  Gemüthsstimmung  ab- 
ändern ,  und  sonach  ein  abweichendes  therapeutisches  Ver¬ 
fahren  erforderlich  machen  mufs.  Bei  dem  vorherrschen¬ 
den  Bestreben  des  Verf.,  sich  in  unmittelbarer  Nähe  der 
sinnlichen  Erscheinungen  zu  halfen,  fällt  es  nicht  wenig 
auf,  dals  er  dennoch  einer  blofsen  Hypothese  zu  Gunsten 
ihre  nosologische  und  pathogenetische  Bedeutung  so  wenig 
in  Betracht  zieht,  und  daher  ihre  wesentlichen  Unterschiede 
nicht  in  einer  schärferen  Diagnostik  festzustellen  sucht.  Im 
Allgemeinen  mufs  man  indefs  einräumen,  dafs  ihm  dies  Ka¬ 
pitel  besser  gelungen  ist,  als  die  bisher  beleuchteten,  da 
er,  ohue  Einmischung  seiner  stets  verunglückenden  Erklä¬ 
rungsversuche,  recht  lebendige,  wenn  auch  nicht  sorgfältig 
geordnete  Schilderungen  jener  beiden  Hauptformen,  der 
Manie  und  Melancholie,  ihres  Verlaufs,  ihrer  Stadien  ent¬ 
wirft;  und  man  sieht  es  ihnen  wohl  an,  dafs  es  ihm  nicht 
an  Gelegenheit  zu  dergleichen  Beobachtungen  fehlte.  Doch 
sucht  man  vergebens  nach  neuen  charakteristischen  Zügen; 
auch  möchten  sich  dergleichen  nicht  eher  auffindcn  lassen, 
als  bis  man  sich  durch  Versuche  davon  überzeugt  hat,  in 
wiefern  cs  möglich  ist,  durch  das  verworrene  Gerniith  den 
leitenden  Faden  zu  verfolgen,  an  welchen  sic!»  die  seltsa¬ 
men  Associationen  und  Antithesen  unter  den  Vorstellungen, 
Gefühlen  und  Begehrungen  anreihen,  und  durch  welchen 
letzte  sich  mit  der  früheren  Denk-  und  Handlungsweise 
verknüpfen.  Diesen  Faden  darf  man  nie  aus  dem  Auge  ver¬ 
lieren,  wenn  man  je  zu  einer  pathologischen  Psycho¬ 
logie  gelangen,  und  in  jedem  individuellen  Falle  sich  die 
Einsicht  erwerben  will,  dafs  man  nur  bei  dem  Eindringen 
in  die  eigenthiimlichc  Vorstellungsweise  des  Kranken  den 
Punkt  linden  kann,  auf  welchem  sich  der  strategische  Plan 


/ 


471 


VIIL  Irresein. 

zur  Bekämpfung  seines  Uebels  entwerfen  läfst.  Wenn  daher 

/ 

der  Yerf.  wiederholt  darauf  aufmerksam  macht,  dafs  beim 
Beginnen  der  Geisteskrankheiten  die  natürlichen  Dispositio¬ 
nen  sichtlich  und  ohne  anzugebenden  Grund  sich 
verändern,  so  dafs  der  Lustige  traurig,  der  Schweigende 
geschwätzig  und  umgekehrt,  der  Kluge  nachlässig  und  un¬ 
besonnen  wird,  dafs  die  Gefühle  der  Liebe  und  des  Ver¬ 
trauens  gegen  die  Angehörigen  der  Gleichgültigkeit,  dem 
Hasse,  dem  Mifstrauen  Platz  machen;  so  mufs  dies  bei  sei¬ 
ner  Deutungsart  alles  räthsclhaft,  unnatürlich  erscheinen. 
Sollten  wir  uns  aber  nicht  so  weit  in  die  Gemüthslage 
eines  Wahnsinnigen  versetzen  können,  um  zu  ahnen,  wie 
sich  ihm  der  Standpunkt  zur  umgebenden  Welt  gänzlich 
verrückt  hat,  so  dafs  sie  ihm  nur  in  verzerrten  Verhält¬ 
nissen  erscheint,  wie  ihm  eben  dadurch  sein  früheres  Le- 

-i 

ben  gleichsam  fremd  geworden  ist,  so  dafs  ihn  keine  seiner 
ehemaligen  Erfahrungen  mehr  richtig  leitet?  Rechnen  wir 
dazu  noch,  dafs  sein  Sinn  entweder  durch  Trübsinn  ver¬ 
finstert,  oder  durch  den  Nimbus  einer  hochmüthigen  Selbst¬ 
vergötterung  geblendet  ist;  so  scheint  es  wohl  begreiflich, 
wenn  er  mit  seinem  ganzen  Wesen  eine  Haltung  und  Stel¬ 
lung  annimmt,  welche  in  eben  dem  Maafse  im  W iderspruch 
mit  seinem  früheren  Benehmen  steht,  als  sie  seinem  gegen¬ 
wärtigen  Bewufstsein  von  sich  und  der  Aufsenwelt  ange¬ 
messen  ist.  Können  wir  daher  nicht  aus  der  Art,  wie  er 
sich  aus  seiner  jetzigen  Anschauungsweise  eine  neue  Ord¬ 
nung  der  Dinge  schafft,  folgern,  welche  frühere  Gemüths- 
richtung  ihn  auf  den  gegenwärtigen  Standpunkt  führte, 
und  müssen  wir  es  nicht  anerkennen,  weil  in  diesem  Vor¬ 
gänge  noch  System,  Ordnung,  selbsithätiges  Bilden  von 
Vorstellungen  deutlich  bemerkbar  werden,  dafs  das  schaf¬ 
fende  Vermögen  der  Seele,  worin  ihr  wesentlichstes  Attri¬ 
but  enthalten .  ist,  zwar  irre  geleitet,  aber  doch,  und  oft 
sogar  mit  erhöhter  Kraft  thätig  ist;  und  weil  dies  alles  in 
ihren  eigenthümlichen  Gesetzen  volle  Erklärung  findet,  dafs 


4712 


V  III.  Irresein. 


es  eine  grofse  Verkehrtheit  ist,  sic  in  ihrem  wahnsinnigen 
Zustande  zu  einer  blofsen  Marionette  des  Körpers  hernb- 
zuwiirdigen  ? 

Auel»  den  Wahnsinn  der  Wöchnerinnen,  von  welchem 
das  nächste  Kapitel  handelt,  bemüht  sich  der  Verf. ,  wie 
fast  alle  seine  Vorgänger,  aus  den  mannigfachen  Erschei¬ 
nungen  von  Eieberbewegungen,  gestörter  Milch-  und  Lo- 
chienabsonderung  (wobei  er  sich  indefs  gegen  die  Lehren 
der  Ilumoralpalhologie  von  der  Milchversetzung  erklärt), 
überhaupt  aus  dem  eigentümlichen  Lebcnszustande  während 
des  Wochenbettes  abzuleiten;  aber  er  wird  dabei  zu  dem 
Bekenntnifs  genöthigt,  dafs  nach  seiner  Anschauungsweise 
sich  oft  keine  Ursache  ausfindig  machen  lasse.  Er  gedenkt 
zwar  im  Vorbeigehen  der  moralischen  Disposition,  welche 
viele,  durch  fehlerhafte  Erziehung  verzärtelte  und  verbil¬ 
dete  Frauen  in  die  Schwangerschaft  mitbringen,  und  ver¬ 
möge  welcher  ihr  Gemiith  durch  die  erschütternden  Vor¬ 
gänge  bei  und  nach  der  Geburt  aus  den  Fugen  getrieben 
wird;  doch  legt  er  darauf  keinen  grofsen  Werth,  da  er 
schlechthin  behauptet,  dafs  nur  in  seltenen  Fällen  morali¬ 
sche  l  rsachen  mitgewirkt  hatten.  Sein  Forschen  beginnt 
aber  erst  dann,  wenn  alles  schon  längst  vorbereitet  und 
zum  Ausbruch  reif  ist,  so  dafs  er  gewissermaafsen  den 
Sturm  durch  den  Sturm  zu  erklären  genöthigt  ist.  Bef. 
begnügt  sich  mit  der  Bemerkung,  dafs  das  Gebären  der 
Weiber  bei  Völkern,  welche  noch  im  Naturzustände  leben, 
so  leicht  und  gefahrlos  von  statten  geht,  dafs  dabei  fast 
niemals  üble  Folgen  eintreten;  daher  müssen  sie  sich  wohl 
weit  von  jener  ursprünglichen  Energie  entfernt  haben, 
wenn  sie  seihst  ein  Opfer  der  Schuld  werden,  die  sie  der 
Natur  zu  entrichten  haben,  wenn  also  das,  was  Bedingung 
ihrer  höheren  Entwickelung  werden  sollte,  sie  ins  Verder¬ 
ben  stürzt. 

Der  Selbstmord  und  die  Hypochondrie,  von  denen  der 
Verf.  zunächst  handelt,  gehören,  wie  schon  bemerkt,  streng 
genommen,  nicht  hierher.  —  Wa*  in  den  letzten  Kapiteln 


VIII.  Irresein. 


473 


dieser  Abtheilung  über  Moria,  Fatuitas  und  verwandte  For¬ 
men  gesagt  wird,  mag  ebenfalls  übergangen  werden,  da  es 
im  herrschenden  Geiste  dieser  Schrift  bearbeitet,  keine  Ge¬ 
legenheit  zu  neuen  Erörterungen  giebt. 

In  der  dritten  Abtheilung  kommt  der  Verf.  zu  den 
Ausgängen  der  Geisteskrankheiten,  und  zwar  im  ersten  Ka¬ 
pitel  zur  Genesung  von  denselben.  Dasselbe  enthält  aber 
eigentlich  weiter  nichts,  als  eine  Rechtfertigung  aus  öffent¬ 
lich  bekanntgemachten  Krankenlisten  gegen  die  Anschuldi¬ 
gung  derer,  die  eine  wirkliche  Heilung  des  Wahnsinns  für 


unmöglich  halten.  Eine  solche  Vertheidi 


jgung 


ruht  unstrei¬ 


tig  auf  sehr  schwachem  Grunde,  da  doch  zuvörderst  die 
Richtigkeit  jener  Listen,  gegen  die  sich  sehr  gegründet^ 
Zweifel  erheben  lassen,  bewiesen  werden  müfste;  überdies 
bleibt  ja  dabei  unentschieden ,  was  im  günstigsten  Falle  die 
Natur  gethan,  und  in  wiefern  ärztliche  Hülfe  ihr  dabei  die 
Hand  gereicht  hat.  Man  merkt  auch  bald  die  Verlegenheit 
des  Verf.,  da  er  es  freimiithig  eingestellt,  bei  der  Genesung 
Wahnsinniger  keine  eigentlichen  Krisen  beobachtet  zu  ha¬ 
ben,  die  sich  doch  einstellen  müfsten,  wenn  wirklich  eine 
fehlerhafte  Erregung  des  Gefäfssystems  vorangegangen  wäre, 
um  so  mehr,  da  er  hauptsächlich  nur  den  anfänglichen, 
angeblich  acuten  Verlauf  der  Manie  und  Melancholie  im 
Auge  behält.  Er  läfst  es  bei  dem  Factum  bewenden,  dafs 
Geisteskranke,  zumal  beim  Gebrauch  von  Arzneien,  wieder 
genesen.  Sollte  aber  bei  der  Heilung  vom  Wahnsinn,  so 
wie  von  jeder  Körperkrankheit,  nicht  die  Autocratie  der 
Natur,  welche  stets  zum  Gleichgewicht  der  Kräfte  zurück¬ 
zukehren  strebt,  vorzugsweise  in  Betracht  kommen?  Sollte 
nicht  der  Geist  seines  verrückten  Verhältnisses  zilr  Welt 
inne  werden  können,  da  er  im  Fortgange  seiner  Verwir¬ 
rung  überall  den  äufsern  Widerstand  gegen  seinen  Willen 
gewahr,  dadurch  zur  Reflexion  über  sich  angeleitet  wird? 
Sobald  ihm  sein  Irrthum  einleuchtet,  da  alle  seine  Berech¬ 
nungen  und  Beobachtungen  nicht  stimmen  wollen,  so  fühlt 
er  sich  nachdrücklich  genug  zur  Beherrschung  seiner  selbst, 


474 


VIII.  Irresein. 


»  _  « 

zur  eigenmächtigen  Wiederherstellung  seiner  Besonnenheit 

aufgefordert.  Hat  nur  erst  die  glänzende  Illusion  des  hoch- 
müthig  Wahnsinnigen  den  zauberischen  Reiz  der  Neuheit 
verloren;  ist  nur  erst  der  scharfe  Stachel  des  Schmerzes, 
unter  welchem  der  Trübsinnige  seufzet,  durch  Gewohnheit 
abgestumpft,  so  macht  sich  alles  Uebrigc  von  seihst. 

Eben  so  leicht  geht  der  Vcrf.  im  nächsten  Kapitel 
über  die  Bedingungen  zu  den  häufigen  Rückfällen  des 
Wahnsinns  fort,  und  er  verliert  sich  in  Aufzählung  klein¬ 
licher  Merkmale,  an  denen  man  cs  erkennen  soll,  ob  ein 
wirklicher  Rückfall  statt  gefunden  habe,  oder  eine  neue 
Entwickelung  abermaliger  Geisteskrankheit.  Vorzugsweise 
käme  es  aber  wohl  darauf  an,  in  jedem  individuellen  Falle 
die  Stärke  oder  Schwäche  des  Gemüths  zu  erproben,  um 
darüber  zu  entscheiden,  ob  ein  Geisteskranker  nur  äufser- 
lich,  symptomatisch  gebessert,  oder  innerlich  geheilt  sei. 
Danach  <zu  forschen,  scheint  dem  Yerf.  so  unstatthaft  zu 
sein,  dafs  er  sorgfältig  die  Regel  einschärft,  man  solle  den 
Kranken  nicht  an  seine  überstandenen  Leiden  erinnern,  alles 
aus  seiner  Nähe  entfernen,  was  ihm  seine  verkehrten  Ideen- 
associationen  zurückrufen  könne.  Wie  will  man  es  denn 
aber  herausbringen,  ob  der  Genesene  sich  wirklich  die 
Kraft  errungen  hat,  unerschüttert  seinen  Gang  durch  das 
verhängnisvolle  Leben  allein  anzutreten,  wenn  man  ihn 
nicht  auf  die  Probe  stellt,  oh  er  seine  frühere  Leidenschaft 
besiegt  hat,  über  seine  Schwäche  Herr  geworden  ist,  und 
somit  getrost  seinem  Schicksal  überlassen  werden  kann? 
Wer  dieser  Prüfung  durch  ernste  Betrachtung  seines  ver¬ 
gangenen  Lebens,  durch  Anerkennung  seiner  Thorheiten 
nicht  gewachsen  ist,  den  würde  Ref.  nicht  für  geheilt,  son¬ 
dern  seine  Besserung  nur  für  ein  Blendwerk  erklären,  mit 
welchem  sein  Arzt  ein  leeres  Scheinverdienst  eitel  zur  Schau 
stellen  will.  —  Die  Mittheilungen  des  Yerf.  in  den  näch¬ 
sten  Kapiteln  über  l  nheilbarkeit  und  Sterblichkeit  Geistes¬ 
kranker  enthalten  ciue  Reihe  von  Zahlcnvcrhältnissen,  die 


,  *  A-  I 

VIIL  Ir  resein.  475 

bei  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Psychiatrie  keine  An¬ 
deutung  über  das  wahre  Sachverhältnifs  geben. 

Wenn  die  Erscheinung  der  Krankheiten  nicht  in  ver¬ 
einzelten,  unzusammenhängenden  Symptomen,  sondern  als 
ein  Bild  des  in  seinen  Verhältnissen  zwar  verschobenen, 
aber  doch  in  herrschenden  Regeln  noch  zusammenhaltenden 
organischen  Lebens  angeschaut  wird;  so  ist  eben  in  dieser 
Anschauung,  da  sie  zum  Bewusstsein  des  Abstandes  der 
krankhaften  Verhältnisse  von  den  gesunden,  und  der  Gröfse 
dieser  Abweichung  führt,  auch  das  Maafs  enthalten,  nach 
welchem  die  prognostische  Bedeutung  des  krankhaften  Zu¬ 
standes  abgeschätzt  werden  mufs.  Alle  aus  dem  Zusammen¬ 
hang  gerissenen  prognostischen  Sätze  haben  daher  an  sich 
einen  geringen  Werth,  da  sich  nach  Maafsgabe  der  Um¬ 
stände  ihre  Bedeutung  vielfältig  abändert,  daher  sie  immer 
nur  unter  gewissen  Bedingungen  und  Einschränkungen  gül¬ 
tig  sind.  Von  dieser  Art  sind  die  prognostischen  Aphoris¬ 
men,  die  der  Verf.  zum  Inhalt  der  kurzen  vierten  Abthei¬ 
lung  macht,  und  die  bei  allem  Anschein  ihrer  Ableitung 
aus  der  ^Erfahrung,  doch  kein  festes  Maafs  zur  Bestimmung 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  in  jedem  einzelnen  Falle 
darbieten.  Wenn  er  z.  B.  sagt:  die  Manie  wird  schneller 
und  häufiger  als  die  Melancholie  geheilt,  so  ist  dies  im 
Allgemeinen  nicht  unrichtig,  aber  wir  wissen  damit  noch 
keinesweges,  ob  dieser  Tobsüchtige  heilbarer  sei,  als  jener 
Trübsinnige.  Wir  sehen  also  nicht,  auf  welchem  Grunde 
dieser  Ausspruch  ruht,  um  durch  ihn  ein  andermal  in  un- 
serm  Urtheil  geleitet  zu  werden.  Ref.  hält  dafür,  däfs  als 
allgemeine  prognostische  Regel  die  Bestimmung  des  Grades 
von  sittlicher  Kraft  gelten  müsse,  die  dem  Kranken  noch 
inwohnt.  Dafs  diese  Kraft,  welche  durch  das  freie  Selbst- 
bewufstsein  angedeutet  wird,  in  dem  Gemüthskranken  sich 
wohl  erwecken  lasse,  wurde  bereits  bemerkt;  und  es  braucht 
nur  noch  hinzugefügt  zu  werden,  dafs  in  dem  Talente  des 
Arztes,  dies  aus  seinem  Schlummer  hervorgerufene  Selbst- 


\ 


476 


\  III.  Irresein. 


bewufstsein  wach  zu  erhalten,  und  dadurch  den  Kranken 
zur  Selbstbeherrschung  zu  bestimmen,  eine  Hauptbedingung 
eines  glücklichen  Ausganges  enthalten  sei. 

Wir  kommen  jetzt  zur  fünften  Abtheilung,  in  welcher 
der  Verf.  sein  Heilverfahren  bei  Geisteskranken  in  Ueber- 
einstimmung  mit  seinen  pathologischen  Grundsätzen  ent¬ 
wickelt.  Natürlich  nehmen  die  therapeutischen  Lehren  bei 
weitem  den  grölseren  Kaum  ein;  da  indefs  die  Beeension 
eines  so  umfangreichen  Werkes  nicht  die  Aufgabe  lösen 
kann,  jeden  einzelnen  Satz  zu  beleuchten,  da  ferner  der 
Leser  sich  ungefähr  selbst  sagen  kann,  was  der  Verf.  über 
die  Indicationen  zum  Blutlassen,  Abführen  u.  s.  w.  mittheilt, 
und  es  im  Interesse  dieses  Aufsatzes  liegt,  die  wahre  Psy¬ 
chiatrie  gegen  seinen  einseitigen  Materialismus  zu  verthei- 
digen:  so  gebt  Bef.  folglich  zu  dem  über,  was  der  Verf. 
die  moralische  Behandlung  nennt.  —  «  Die  Mittel,  vom 

Wahnsinn  zu  heilen,  sagt  der  Menschenkenner  Göthe  im 
Wilhelm  Meister,  sind  eben  dieselben,  wodurch  man 
gesunde  Menschen  hindert,  wahnsinnig  zu  werden.  Man 
errege  ihre  Selbstthätigkeit,  man  gewöhne  sie  an  Ordnung, 
man  gebe  ihnen  einen  Begriff,  dafs  sie  ihr  Sein  und  Schick¬ 
sal  mit  so  Vielen  gemein  haben,  dafs  das  aufserordentliche 
Talent,  das  gröfste  Glück  und  das  höchste  Unglück  nur 
kleine  Abweichungen  von  dem  gewöhnlichen  sind;  so  wird 
sich  kein  Wahnsinn  einschleichen,  und  wenn  er  da  ist,  nach 
und  nach  wieder  verschwinden.  —  Ls  bringt  uns  nichts' 
näher  dem  Wahnsinn,  als  wenn  wir  uns  vor  anderen  aus¬ 
zeichnen,  und  nichts  erhält  so  sehr  den  gemeinen  Verstand, 
als  im  allgemeinen  Sinne  mit  vielen  Menschen  zu  leben. » 
Dafs  es  aber  gar  wohl  möglich  sei,  den  Wahnsinnigen  mit 
Nachdruck  dahin  zu  bestimmen,  dafs  er  von  seinen  wilden 
Ausschweifungen  zu  einem  geregelten,  besonnenen  Bewufst- 
sein  zurückkehre,  um  der  Selbstthätigkeit  fähig  zu  werden, 
darauf  hat  Bef.  schon  wiederholt  hingedeutet.  Freilich  läfst 
sieb  dies  meistentheils  nicht  ohne  eine  grolse  Strenge  be¬ 
wirken,  die  den  Kranken  zur  Anerkennung  einer  morali- 


VIII.  Irresein. 


477 


sehen  Autorität,  und  zum  Gehorsam  gegen  dieselbe  zwingt, 
his  er  aus  freiem  Antriebe  zu  einem  vernünftigen  Lebens¬ 
wandel  sich  anschickt. 

Hören  wir  dagegen  unsern  Verf.  Er  schreibt  Pinel 
das  grofse  Verdiest  zu,  menschlichere  Bedingungen  für  die 
bis  auf  seine  Zeit  mrit  barbarischer  Härte  gemifshandelten 
Kranken  durch  eine  moralische  Behandlung  herbeigeführt 
und  dadurch  eine  edlere  Epoche  für  die  Psychiatrie,  na¬ 
mentlich  in  Frankreich  eingeleitet  zu  haben.  In  sofern 
Pinel  die  empörenden  Greuel  aus  der  Salpetriere  gröfsten- 
theils  verbannte,  hat  er  allerdings  die  dankbare  Aner¬ 
kennung  seines  Vaterlandes  in  hohem  Grade  verdient;  wie 
viel  er  aber  von  einer  tieferen  Erkenntnifs  des  Wahnsinns 
entfernt  geblieben  sei,  erhellt  besonders  aus  seinen  prakti¬ 
schen  Regeln,  die  unser  Verf.  als  Axiome  hinstellt:  1)  Man 
soll  nie  das  Gemüth  der  Wahnsinnigen  im  Sinne  ihres 
Deliriums  bewegen  (exercise);  2)  man  soll  nie  ihren 
krankhaften  Vorstellungen,  Gefühlen  und  Begehrungen  of¬ 
fen  entgegen  treten;  3)  man  soll  durch  verschiedenartige 
Eindrücke  neue  Vorstellungen  und  Gefühle  bervorrufen, 
und  dergestalt  durch  Erregung  frischer  moralischer  Ge¬ 
mütsbewegungen  die  schlafenden  Kräfte  aufwecken;  4)  man 
soll  sich  nie  den  Wahnsinnigen  durch  ein  Versprechen  ver¬ 
bindlich  machen ;  aber  wenn  man  unvorsichtig  eins  gegeben 
bat,  dasselbe  redlich  erfüllen,  es  sei  denn,  dafs  die  Erfül¬ 
lung  schlimmere  Folgen  nach  sich  ziehe,  als  das  Brechen 
der  Zusage.  —  Die  ersten  beiden  Regeln  sind  offenbar 
aus  der  überschätzten  Milde  hervorgegangen,  welche  den 
Kranken  zum  Widerstreben  zu  reizen,  dadurch  seine  Auf¬ 
regung  zu  vermehren,  seinen  Zustand  zu  verschlimmern 
fürchtete.  Dieser  nachtheilige  Erfolg,  der  eben  den  Verf. 
zu  der  Bemerkung  leitete,  dafs  mit  der  Dialectik  bei  Wahn¬ 
sinnigen  nichts  auszurichten  sei,  stellt  sich  auch  gewils  ein, 
wenn  man  sich  in  Disputiren  mit  ihnen  einläfst,  und  ihnen 
dadurch  Gelegenheit  giebl,  sich  auf  eine,  ihrer  Meinung 
nach  siegreiche,  oft  allerdings  höchst  scharfsinnige  und  sinn- 


478 


VIII.  Irresein. 


reiche  Weise  zu  verlheidigcn.  Darum  mufs  der  Arzt  eine 
imposante  Persönlichkeit  geltend  zu  machen  wissen,  die 
auch  dem  hoch  fahrendsten  Tobsüchtigen  Achtung  gebietet; 
er  darf  sich  mit  ihm  nicht  in  ein  eitles  Gezänk  verwickeln, 
sondern  mufs  ihn  mit  kurzer,  nachdrucksvoller  Rede  ein- 
schiichtern,  deren  Inhalt  im  Notbfall  durch  wohlangebrachte 
Zwangsmittel  bekräftigt  wird.  Die  Ordnung  und  das  strenge 
Regiment  des  Hauses  sollen  den  Kranken  im  steten  Bc- 
wufstsein  seiner  Abhängigkeit  und  der  Lächerlichkeit  seiner 
Anmaafsungen  erhalten.  Dann  aber  ist  cs  Zeit,  ihn»  über 
seine  Verblendung  die  Augen  zu  öffnen,  ihn  «las  Irrige  und 
'S  crkehrle  seines  früheren  Lebens  einschen  zu  lassen,  ihm 
mit  lebhaften  Farben  die  traurigen  Folgen  zu  schildern, 
die  er  sich  zugezogen  hat,  und  in  denen  er  moralisch  zu 
Grunde  gehen  wird,  wenn  er  nicht  alle  Kraft  zur  Selbst¬ 
beherrschung  aufbietet.  Wird  aber  dem  Kranken  das  Recht 
zugestanden,  das  Lügengewand  der  Verstellung  über  seine 
moralischen  Flecken  zu  ziehen,  um  sich  den  Schmerz  einer 
beschämenden  Selbsterkenntnis  zu  ersparen,  so  bleibt  er 
ja  in  seinem  innersten  Wesen  ungebessert,  und  allezeit  ge¬ 
neigt,  auf  seine  Irrwege  zurückzukehren  y  sobald  ihm  mit 
seiner  Freilassung  die  Gelegenheit  dazu  dargeboten  wird. 
ISur  indem  die  angedeutete  Aufgabe  gelöst  wird,  läfst  sich 
auch  die  dritte,  an  sich  richtige  Regel  in  Ausführung  brin¬ 
gen,  weil  der  Kranke  erst  dann  geneigt  sein  wird,  auf 
neue  Gegenstände  einzugeben,  wenn  ihm  die  Rückkehr  zu 
seinem  thörichten  Treiben  völlig  abgeschnitten  wird.  Auch 
wollen  wir  jene  Regel  nicht  in  so  schwankender  Allgemein¬ 
heit,  wie  sie  namentlich  bei  den  Franzosen  gilt,  auffassen, 
weil  nicht  alle  und  jede  Beschäftigung  und  Zerstreuung  für 
den  YV  ahnsinnigen  passend  ist,  daher  auch  das  Verfahren 
jener,  in  Ermangelung  eines  festen  Prinzips  von  den  Ein¬ 
gebungen  des  Augenblicks  willkührlicl»  bestimmt  wird.  I  n- 
niitze  Beschäftigung,  mit  welcher  der  Wahnsinnige  nicht 
das  Lcwulstscin  eines  bestimmten  Zwecks  verbinden  kann, 
mufs  ihm  selbst  als  Thorheit  erscheinen;  eitle  Vcrguiigungs- 


IX.  Vorlesungen  über  prakt.  Arznei  Wissenschaft.  479 

,  a  "  4  , 

sucht,  mit  welcher  andere  den  Kranken  aus  seinen  Träu¬ 
mereien  hervorlocken  wollten,  macht  ihn  nur  noch  mehr 
zum  Sklaven  seiner  Sinnlichkeit.  Er  mufs  die  Wanrheit 
des  alten  biblischen  Spruches:  im  Schweifse  deines  Ange¬ 
sichts  sollst  du  dein  Brod  essen,  anerkennen,  und  seine 
Verpflichtung  einsehen,  desto  mäfsiger,  bescheidener,  fleifsi- 
ger  zu  werden,  je  gröfser  seine  Schuld  ist,  die  er  in  die¬ 
ser  Hinsicht  abzu tragen  hat. 

Was  der  Verf.  noch  in  den  angeschlossenen  Kapiteln 
über  die  Anwendung  der  Zwangsmittel,  über  die  Nothwen- 
digkeit,  Wahnsinnige  aus  ihren  bisherigen  Verhältnissen  zu 
entfernen,  und  über  die  zweckmäßigste  Beschäftigung  der¬ 
selben  sagt,  enthält  nichts  Neues,  was  hier  ausgezeichnet 
zu  werden  verdiente. 

In  der  letzten  Abtheilung  spricht  er  endlich  noch  über 
das  Geschäft  der  Aerzte,  vor  Gericht  ein  Urtheil  über 
Geisteskranke  zu  fällen;  er  verweiset  aber  selbst  auf  andere 
englische  Autoren  der  gerichtlichen  Medicin,  und  begnügt 
sich  mit  einigen  zerstreuten  Bemerkungen,  bei  denen  wir 
uns  nicht  weiter  aufhalten  wollen. 

W.  F 


ix. 

*  t  •'  '  r  4 

C.  A.  W.  Berends  Vorles nn gen  über  prak¬ 
tische  Arznei  Wissenschaft,  heraasgegeben 
von  Karl  Sundelin,  Med.  Dr.  Fünfter  Band. 
Enthaltend:  die  Gelbsucht,  W ass er su cht, 
Wind  ge  sch  wulst,  den  Skorbut,  die  Flek- 
ken  krank  heit,  Skrofelkrankheit,  Rh  ach  i- 
tis,  Syphilis  und  W  ur m krankh e it.  338  S.  — 
Sechster  Band.  Erste  Abtheilung:  Nervenkrank¬ 
heiten.  442  S.  —  Zweite  Abtheilung:  Weiber- 


480 


IX.  Vorlesungen 

krankheiten.  5 TI  S.  —  Siebenter  Band,  oder 
erster  Supplementband  vom  Herausgeber:  Zelir- 
und  Destructionskrankbcite  n.  463  S.  Ber¬ 
lin,  Verlag  von  Th.  Chr.  Fr.  Enslin.  J828-  '8. 
( 1  Thlr.  18  Gr.) 

Seit  unserer  Anzeige  des  vierten  Bandes  dieser  Vorle¬ 
sungen  (  Bd.  XII.  H.  2.  S.  198  d.  A.)  sind  bereits  wieder 
vier  Bände  hinzugekommen,  und  das  Werk  nahet  sich  ra¬ 
schen  Schrittes  seiner  Vollendung.  In  dem  vorliegenden 
fünften  Bande  sind  eine  Keihe  chronischer  Krankheiten  ab- 
gchandelt,  die  seit  den  Jahren,  in  denen  B.  seine  Hefte 
entwarf,  zum  Theil  neue  Bearbeitungen  erfahren  haben. 
Ganz  besonders  gilt  dies  von  der  Gelbsucht,  die  durch 
Zusammenstellung  und  gründlichere  physiologische  Wür¬ 
digung  mehrer  analogen  Erscheinungen  in  verschiedenen 
Krankheitsformen  unstreitig  besser  aufgehellt  worden  ist, 
als  dies  noch  unsern  nächsten  Vorfahren  möglich  w-ar.  B. 
geht  diese  Krankheit  sehr  genau  durch,  und  giebt  eine 
gute  Uebersicht  über  die  bis  zu  seiner  Zeit  vorhandenen 
Kenntnisse  über  dieselbe,  vorherrschend  ist  aber  auch  hier, 
wie  in  den  meisten  übrigen  Abschnitten  dieses  Werkes, 
eine  grofse  Hinneigung  zur  Annahme  von  Schwache  bei 
vielen  Krankheitszuständen,  die  gegenwärtig  wohl  mit  Recht 
nicht  so  beurtheilt  werden,  ganz  nach  den  Grundsätzender 
ehemals  gangbaren  Erregungstheorie,  denen  wir  schon  oft 
begegnet  sind.  Wir  lassen  hier  alles  uuberück>ichtigt,  was 
in  die  allgemeinen  Kenntnisse  von  der  Gelbsucht  überge¬ 
gangen  ist,  und  verweilen  hier  nur,  wie  bei  unsern  frü¬ 
heren  Anzeigen,  bei  dem  Wichtigeren.  Nachdem  der  Verf. 
zuerst  die  v.  Hoven  sehe  Unterscheidung  in  krampfhafte 
Gelbsucht,  Lebergclbsucht  und  Gelbsucht  von  Gallenstei¬ 
nen  als  unzureichend  bezeichnet  hat,  wendet  er  sich  zu 
seiner,  nach  den  entfernten  Lrsacheu  entworfenen  Einthei- 
lung  dieser  Krankheit.  Er  unterscheidet  hier  1)  die 
Gelbsucht  aus  sogenannten  Verstopfungen  in 


481 


über  praktische  Arzneiwissenschaft. 

der  Leber,  besonders  des  Gallenganges  selbst,  durch  eine 
zähe,  zur  Gallensteinbildung  geneigte  Galle.  2)  Die 
Gelbsucht  aus  Gallensteinen.  Diese  hätte  wohl  füg¬ 
lich  als  Unterart  der  vorigen  aufgeführt  werden  können. 

3)  Die  Gelbsucht  von  mancherlei  Reizen  des 
oberen  T heiles  des  Darmkanals,  besonders  des  Duo¬ 
denums,  z.  B.  nach  starken  Brechmitteln,  scharfen  Purgir- 
mitteln  und  Giften,  wohin  denn  auch  die  Spulwürmer  ge¬ 
hören.  Er  rechnet  auch  die  Gelbsucht  der  Neugebornen 
hierher,  die  von  einer  Anhäufung  des  Meconiums  entstehen: 
soll.  Allein  die  neueren  Untersuchungen  haben  hier,  wenn 
die  Krankheit  völlig  ausgebildet  war,  ganz  andere  Ursachen 
nachgewiesen,  und  überzeugend  dargethan,  dafs  der  Keim 
des  Uebels  weit  tiefer  im  Organismus  zu  suchen  sei,  als 
in  einer  Reizung  des  Duodenums,  deren  Einflufs  auf  die 
Leber,  und  auf  die  hier  noch  wichtigere  Vitalität  des  Blut¬ 
systems,  physiologisch  nicht  zu  begründen  sein  möchte. 

4)  Die  Gelbsucht  von  gewissen  Giften,  besonders 
ihierischen,  z.  B.  dem  Viperngift.  Schwerlich  steht  diese 
Art  von  Gelbsucht  mit  irgend  einer  primären  Affection  der 
Leber  in  Verbindung.  5)  Die  Gelbsucht  von  krank¬ 
hafter  Erregung  der  Leber,  die  gewöhnlich  mit 
Schwäche  verbunden  sein  soll.  Zuweilen  entspringt  diese 
Schwäche,  wie  der  Verf.  glaubt,  aus  dem  Nervensystem, 
woher  auch  Gelbsucht  auf  schwere  Anfälle  der  Hysterie 
folgen  soll.  Das  wichtigste  Element  der  Krankheit  möchte 
hier  indessen  wohl  Krampf  sein,  worin  wir  dem  Heraus¬ 
geber  völlig  beistimmen,  und  eine  zu  unbedingte  Annahme 
von  Schwäche  leicht  zu  Mifsgriffen  in  der  Behandlung  ver¬ 
leiten.  Der  Verf.  ist  geneigt,  die  Schwäche  der  Leber 
auch  der  Gelbsucht  bei  asthenischen  Gallenfiebern,  und 
selbst  dem  gelben  lieber  zuzuschreiben;  aber  wie  unzurei¬ 
chend  ist  diese  Atmahme  in  Vergleich  mit  den  durch  die 
Erfahrung  ermittelten  ätiologischen  Verhältnissen  dieser 
Krankheiten,  wenn  man  die  epidemische  Entstehung  der¬ 
selben  auch  nur  von  Seiten  der  durch  die  heilse  Luft 


482 


IX.  Vorlesungen 

wesentlich  beeinträchtigten  Respiration  betrachten  wollte, 
wodurch  der  Entkohlungsprozefs  des  Blotes'  in  den  Lungen 
gehindert,  und  mithin  die  Leber  gerade  in  einen  der 
Schwache  entgegengesetzten  Zustand  versetzt  wird.  Eine 
vermehrte  Erregung  im  Gesamnitorganjsmus  erkennt  der 
Verf.  allerdings  auch  als  Ursache  der  Gelbsucht  an,  hält 
aber  diesen  Zustand,  den  er  z.  B.  bei  entzündlichen  Gallen- 

i  , 

fiebern  annimmt,  für  bei  weitem  seltener,  (i)  Die  Gelb¬ 
sucht  von  Gemüthsbewcgungcn,  welche  eine  asthe¬ 
nisch-nervöse  Natur  haben  soll  (?).  7)  Die  Gelbsucht 

# 

von  Kopfverletzungen. 

Als  nächste  .Ursache  der  Krankheit  erkennt  der  Verf. 
einen  Uebergang  der  Galle  in  das  Blut  an.  Diese  Annahme 
beleuchtet  jedoch  das  Wesen  der  Gelbsucht  nur  von  einer 
Seite,  indem  es  eine  anerkannte  Thatsache  ist,  dafs  der  fär¬ 
bende  Stoff  keinesweges'  immer  aus  der  Leber  herrührt, 
sondern  in  vielen  Fällen  in  dem  Blute  entwickelt  vvi  rd, 
ohne  dafs  ein  primärer  krankhafter  Zustand  in  der  Leber 
statt  findet,  ln  dein  weiteren  Fortgange  der  Untersuchung 
nimmt  der  Verf.  eine  Absonderung  von  Gailstoff  in  den 
Gefäfsenden,  besonders  in  den  Ilautartericn,  zwar  allerdings 
an,  und  erklärt  sie  für  eine  vicariirende  Secretion,  um  da¬ 
mit  die  Fälle  von  plötzlicher  Entstehung  der  Gelbsucht  zu 
erklären;  jedoch  nur  im  Zustande  der  Polycholie,  und  stellt 
überhaupt  diese  Erklärungsweise  sehr  in  den  Hintergrund, 
indem  er  sich  bemüht,  die  Wege  der  Resorption  auszumit- 
teln,  auf  denen  die  Galle  in  das  Blut  gelangen  könne.  Er 
erkennt  als  solche  ausschliefslich  die  Lymphgcfäfsc  an,  den 
ehemaligen  Lehrsätzen  gemäfs,  nach  denen  die  Resorption 
allein  dem  Lymphsystem,  mit  Uebergehung  der  Venen,  zu¬ 
gewiesen  wurde.  Ganz  hypothetisch,  und  in  Uebcreinstim- 
mung  mit  dieser  Ansicht,  nimmt  er  dann  auch  einen  über- 
grofsen  Unterschied  zwischen  der  Leber-  und  Blasengalle 
an.  Diese  soll  es  hauptsächlich  sein,  die  durch  die  zahl¬ 
reichen  lymphatischen  Gcfäfse  der  Gallenblase  in  das"  Blut 
übergehe.  Der  Herausg.  berichtigt  diese  Ansichten  den 


neue- 


* 


über  praktische  Arzneiwissenschaft.  483 

neueren  Fortschritten  der  Physiologie  gcmäfs,  indem  er  mit 
Anerkennung  der  bisherigen  wohlbegründeten  Annahme  ei¬ 
ner  selbstständigen  Entwickelung  von  Gallentheilen  im  Blute, 
die  bereits  von  Grant  und  v.  Wedekind  vorgetragen 
worden  ist,  die  in  vielen  Fällen  statt  findende  Resorption 
der  Galle  aus  der  Leber  allein  den  Lebervenen  zuschreibt. 
Schon  van  Swieten  wufste,  dafs  man  niemals  den  Chylus 
im  Brustgange  gelb  gefärbt  vorgefunden  habe,  und  diese 
Beobachtung  hätte  seine  Nachfolger  davon  abmahnen  müs¬ 
sen,  die  Verrichtung  des  lymphatischen  Systems  zu  hoch 
anzuschlagcn.  «  In  den  meisten  Fällen , »  sagt  der  Herausg., 
«ist  es  entweder  eine  heftige  Reizung,  welche  die  untere* 
Fläche  der  Leber  und  die  Gallenblase,  die  Gallengänge 
trifft,  oder  ein  mechanisches  Hindernifs  des  Ausflusses  der 
Galle  in  den  Darmkanal,  wodurch  die  Resorption  dieser 
Flüssigkeit,  und  mithin  auch  die  Gelbsucht  hervorgebracht 
wird.  Mechanische  Hindernisse,  und  selbst  die  zurückge¬ 
haltene  Galle,  müssen  aber  auch  reizende  Nebenwirkungen 
auf  die  resorbirenden  Venenanfänge  äufsern. »  Auf  die 
krankhaft  erhöhte  Venosität,  die  er  mit  einer  gewissen  Vor¬ 
liebe  in  vielen  krankhaften  Zuständen  annimmt,  giebt  er 
begreiflich  auch  hier  sehr  viel,  die  Berichtigung  und  Ver¬ 
vollständigung  der  Aussprüche  eines  älteren  Arztes  hätte 
aber  wohl  Gelegenheit  geben  können,  das  Symptom  der 
-  Gelbsucht  an  sich  einer  umfassenderen  Untersuchung  zu 
würdigen.  Das  Gallenfieber,  das  gelbe  Fieber,  die  Folgen 
des  Schlangenbisses,  ja  selbst  die  Farbenveränderungen  bei 
Contusionen,  die  Gelbsucht  und*  die  derselben  sehr  nahe 
verwandte  Zellgewebeverhärtung  der  Neugebornen,  zwei 
Krankheiten,  in  denen  eine  Communication  des  venösen 
mit  dem  arteriellen  Blute  anatomisch  nachgewiesen  ist,  und 
die  von  Lobstein  zuerst  beschriebene  Kirronose  der  Em¬ 
bryonen),  bieten,  zweckmäfsig  zusammengestellt,  einen  Ver¬ 
ein  von  Thatsachen  dar,  nach  dem  man  bei  dem  jetzigen 
Zustande  unseres  Wissens  annehmen  darf,  dafs  die  gelbe 
Färbung  der  Theile  entweder  1)  von  rein*  örtlicher  De- 
XIV.  Bd.  4.  st.  .32 


484 


IX.  Vorlesungen 

composition  des  Blutes  abhängt,  wie  hei  Quetschungen, 
oder  2)  von  einer  selbstständigen  Entwickelung  von  Gall- 
stoff  in  der  Blutmasse,  wie  nach  <lem  Schlangenbifs,  und 
höchst  wahrscheinlich  auch  im  gelben  Fieber;  3)  von  krank¬ 
haften  Affcctionen  der  Leber,  wie  im  Gallenfiehcr  und  in 
der  Leberentzündung,  womit  sich  jedoch  meistens  eine  vor- 
gäugige  Veränderung  des  Blutes  verbindet;  4)  von  einem 
durch  Gommunication  des  rechten  mit  dem  linken  Herzen 
bewirkten  venösen  Zustande  der  Blutmasse,  wie  in  der  Gelb¬ 
sucht  der  Neugebornen.  Es  wäre  nicht  unwichtig  gewesen, 
in  Bezug  hierauf  auch  die  Analogie  zwischen  der  blauen 
und  gelben  Färbung  der  Theile  zu  erörtern,  die  selbst  aus 
den  äufseren  Erscheinungen ,  durch  die  nicht  selten  beob¬ 
achteten  Uebergängc  der  einen  in  die  andere  erwiesen  wor¬ 
den  ist.  Man  denke  nur  an  die  Zellgcwebeverhärtung  der 
Neugehornen  *)  und  den  Melas  icterus.  Untersuchungen 
über  die  Temperaturverhältnisse  sind,  so  viel  sich  Bef.  er¬ 
innert,  nur  bei  wenigen  hierhergehörigen  Krankheiten  an¬ 
gestellt  worden,  wiewohl  sich  hier  wichtige  Resultate  er¬ 
warten  lassen.  Bei  der  Zellgewebeverhärtung  fällt  die  Haut¬ 
wärme  auf  21  Grad  Reauni.,  bei  der  Gelbsucht  der  Neu- 
gebornen  vermindert  sie  sich  ebenfalls  bedeutend  —  man 
beobachte  weiter! 

Die  Behandlung  der  Gelbsucht  wird  von  B.  gröfsten- 
theils  auf  die  erregungstheoretischc  Ansicht  gegründet,  dafs 
derselben  Schwäche,  erscheinend  in  der  Form  des  Krampfes 
in  der  Leber,  in  der  Gallenblase  und  in  den  Gallenwegen 
zum  Grunde  liege,  und  der  hypersthenisebe  Icterus,  dessen 
Vorkommen  auf  die  Leberentzündung  und  das  hyperstheni- 
sche  Gallenfieber  beschränkt  sei,  gar  nicht  hierher  gehören. 
Er  stellt  als  Hauptanzeigen  auf:  1)  I)ic  Anwendung  llüch- 
tiger  erregender  oder  krampfstillender  Mittel,  um  den  Krampf 


I  )  Fine  der  besten  Beschreibungen  dieser  Krankheit  s.  in 
Heyfelder’s  B  eobarhtungen  über  die  Krankheiten  der  Ncnge- 
bornen.  Leipzig  1825.  8 


485 


über  praktische  Arzneiwissenschaft. 

zu  beseitigen,  der  den  Abflufs  der  Galle  in  das  Duodenum 
verhindert,  und  deren  Aufnahme  in  die  lymphatischen  Ge- 
fäfse  bewirkt.  2)  Die  Anwendung  der  fixen,  roborirenden 
Mittel,  um  die  Vitalität  der  Leber,  so  wie  des  Gesarnmt- 
organismus,  wieder  herzustellen.  3)  Die  Entfernung  und 
Beseitigung  anderweitiger  entfernter  Ursachen,  welche  etwa 
vorhanden  sind.  Nach  den  ersten  beiden  Anzeigen  wird 
die  allgemeine,  nach  der  dritten  die  besondere  Behandlung 
geordnet.  Das  Hauptmittel,  um  der  ersten  zu  genügen, 
ist  das  Opium,  neben  den  bekannten  Arzueien.  Zuweilen 
soll  aber  auch  die  Belladonna  mit  Nutzen  angewandt  wer¬ 
den  können  (?).  Die  zweite  Anzeige  erfordert  den  Gebrauch 
der  bitteren  Mittel,  und  wenn  diese  zu  stark  erregen  soll¬ 
ten  (?),  neutralsalzige  Flüssigkeiten ,  besonders  den  Liquor 
digestivus,  das  oft  erwähnte  Lieblingsmittel  von  B.  Zur 
genaueren  Bestimmung  der  dritten  Anzeige  werden  folgende 
Arten  der  Gelbsucht  unterschieden :  1)  die  fieberhafte  acute, 

2)  die  sympathische,  zum  Theil  auch  symptomatische, 

3)  die  krampfhafte,  hysterische,  4)  die  chronische,  wo 
von  der  Diagnose  der  organischen  Fehler  und  der  der  Ver¬ 
stopfungen  der  Leber  die  Bede  ist.  Wenn  hier  ein  nar- 
cotisches  Mittel  angezeigt  sei,  so  soll  man  nach  B.  der  Bel¬ 
ladonna  den  Vorzug  geben,  die  sichere  specifische  Wir¬ 
kungen  auf  die  Leber  und  das  Pfortadersystem  verspreche, 
Wirkungen,  die  indessen  noch  keinesweges  ganz  bestätigt 
sind,  und  wenigstens  von  viel  bedeutenderen  dieses  Mittels 
auf  andere  Systeme  und  Organe  überboten  werden.  5)  Die 
Gelbsucht  von  Gallensteinen  wird  nach  den  angedeuteten 
Ansichten  ausführlich  behandelt. 

Der  Darstellung  der  Wassersüchten  geht  ein  all¬ 
gemeiner  Abschnitt  voraus,  dann  folgen  die  einzelnen  For¬ 
men  derselben,  ln  jenem  werden  die  Ursachen  der  Was¬ 
sersüchten  auf  vermehrte  Erregung  und  hypersthenische 
Affection  des  Gesammtorganismus,  auf  Schwäche  und  auf 
Stockungen  zurückgeführt;  nicht  weniger  werden  auch  die 
lliudernisse  des  Blutumlaufs,  besonders  des  Rückflusses  in 

32  * 


480 


IX.  Vorlesungen 

die  Venen  erörtert.  Bei  der  Eintheilung  erhalten  wir  die 
bekannten  Unterschiede,  und  weiterhin  hei  dem  Verlaufe 
der  Wassersucht,  bemühet  sich  der  Yerf.  zu  erweisen,  dafs 
diese  Krankheit  in  den  meisten  Fällen  von  Schwäche  her¬ 
rühre.  Bei  der  Behandlung  werden  die  übrigen  Rücksich¬ 
ten  der  Schwächung,  und  wo  es  nüthig  ist,  der  Stärkung, 
untergeordnet;  dann  geht  der  Yerf.  die  einzelnen  Klassen 
der  die  Ausleerungen  befördernden  Mittel  durch,  die  Fkel 
erregenden,  die  abführenden,  die  harntreibenden  und  die 
diaphoretischen,  wobei  durchgängig  nur  Grundsätze  Vor¬ 
kommen,  die  hier  keiner  Erörterung  bedürfen.  Die  Bemer¬ 
kungen  und  Ergänzungen  des  Herausgebers  sind  hier  aus¬ 
führlich.  Um  nicht  bei  den  einseitigen  Begriffen  von  Hy- 
persthenie  und  Asthenie,  von  vermehrter  Ausbauchung  und 
verminderter  Einsaugung,  die  allerdings  sehr  abgenutzt  sind, 
stehen  zu  bleiben,  beleuchtet  er  physiologisch  den  Repro- 
ductionsprozefs,  und  erhält  als  Resultate  einige  recht  bei- 
fallswerthe  Grundansichlen  über  die  Entstehung  und  Ein- 
theilung  der  Wassersüchten:  1)  Abnorme  Erhöhung  der 
Reproduction  bewirkt  die  entzündlichen  oder  hyperstbeni- 
schcn  Wassersüchten ,  denen  die  antiphlogistische  Behand¬ 
lung  und  der  Gebrauch  des  versülsten  Quecksilbers  ent- 
gegengeselzt  wird.  2)  Durch  einen  unvollkommenen  An- 
bildungsprozefs  kommen  die  Wassersüchten  nach  grofsem 
Säftevcrlust  zu  Stande,  nach  andauernden  erschöpfenden 
Fiebern  u.  s.  w.  Stärkende  und  erregend  harntreibende, 
auch  wohl  diaphoretische  Mittel  sind  hier  die  angezeigten. 
3)  Rückgängigkeit  des  organischen  Anbil  Jung^prozesscs, 
JNeigung  zur  Verflüssigung  und  Entmischung,  bewirken  eine 
Art  Wassersüchten,  die  der  Herausgeber  colliquative  nen¬ 
nen  möchte.  4)  Aus  krankhaft  erhöhter  Vcnosität  gehen 
die  torpiden-  Wassersüchten  hervor,  denen  die  reizende 
Behandlung  entgegensteht.  5)  Die  krampfhaften ,  und 
fi )  die  aus  unterdrückter  Hautthätigkeit  entstehenden 
W  asscrsuchtcu,  kommen  ebenfalls  häufig  vor,  und  7)  ist 
noch  ein  asthenischer  Zustand  des  arteriellen  Systems  als 


1 


über  praktische  Arznciwissenscliaft.  487 

ein  Grundcharakter  dieser  Krankheiten  anzuerkennen.  Das 
Allgemeintherapculische  folgt  demnächst,  wir  finden  jedoch 
keine  besonderen  Ansichten  hier  hervorzuheben. 

Die  Reihe  der  von  B.  abgehandelten  Formen  der  Was¬ 
sersucht  eröffnet  das  Oe  dem  mit  den  bekannten  Unter¬ 
scheidungen,  und  mit  Andeutung  der  Krankheiten,  in  denen 
es  symptomatisch  zu  erscheinen  pflegt;  dann  folgt  die  Haut» 
Wassersucht,  H.  anasarca,  intercus.  (Der  letzte  Name 
bezeichnet  bei  den  Alten  mehr  die  Bauchwassersucht,  wie 
eine  nur  oberflächliche  Vergleichung  der  Stellen  lehrt,  und 
ist  von  den  Neueren  mit  Unrecht  auf  die  genannte  Form 
übertragen  worden.)  Der  Verf.  unterscheidet  hier  beson¬ 
ders  die  primäre  von  der  secundären  Hautwassersucht,  und 
erkennt  die  in  der  neueren  Heilkunde  ermittelten  verschie- 

»  +  t-'  ^  '  p 

denen  Charaktere  derselben  an,  ohne  jedoch  bei  der  Be¬ 
handlung  lange  zu  verweilen ,  so  dafs  der  Herausgeber  ei¬ 
nige  Zusätze  für  nüthig  erachtet  hat,  vorzüglich  in  Betreff 
der  Hautwassersucht  nach  dem  Scharlachfieber.  Noch  aus¬ 
führlichere  hat  er  dem  verhältnifsmäfsig  sehr  kurzen  Ab¬ 
schnitte  über  die  Bauchwassersucht  hinzugefügt,  in 
dem  B.  fast  nur  bei  den  allgemeinsten  Bestimmungen  über 
diese  Krankheit  stehen  bleibt,  und  auch  die  Behandlung 
nur  so  erörtert,  dafs  für  den  Anfänger  eine  weitere  Aus¬ 
führung  der  gegebenen  Andeutungen  nüthig  sein  möchte. 
Namentlich  enthalten  die  Angaben  über  die  Paracentese 
wenig  Bestimmtes,  wiewohl  sich  hier  nach  tausendfältigen 
Erfahrungen  feststehende  Regeln  bilden  lassen,  und  von 
anderen  Schriftstellern  denn  auch  gebildet  worden  sind; 
auch  ist  die  acute  entzündliche  Bauchwassersucht  von  B. 
ganz  unerwähnt  geblieben,  deren  Verlauf  und  meistens  me¬ 
tastatische  Ursachen  der  Herausgeber  recht  gut  beschreibt, 
wie  er  sich  denn  durchweg  bemüht,  die  verschiedenen 
Charaktere  des  Uebels  nach  der  obigen  Eintbeilung  nach- 
zuweisen.  —  Sehr  kurz  ist  auch  der  nächste  Abschnitt 
über  die  Brustwassersucht,  in  dem  B.  zwar  die  groise 
Schwierigkeit  der  Diagnose  zeigt,  aber  doch  Zweifel  für 


488 


IX.  Vorlesungen 

den  Anfänger  übrig  lafst,  deren  Lösung  allerdings  möglich 
gewesen  wäre.  Wenn  er  in  der  Behandlung  behauptet, 
an  Blutentziehungen  sei  selbst  in  der  entzündlichen  Was¬ 
sersucht  nicht  zu  denken,  so  haben  tausendfältige  ältere 
und  neuere  Erfahrungen  diese  Adcrlafsscheu  glücklicher¬ 
weise  verdrängt.  Gegen  die  Paracentese  erklärt  er  sich 
nicht  unbedingt,  führt  aber  auch  den  pathologischen  Grund 
nicht  an,  auf  dem,  unberücksichtigt  die  Gefahr  der  Brust¬ 
fellentzündung,  ihre  Unzulässigkeit  und  Nutzlosigkeit  in  den 
meisten  Fällen  beruht.  Man  hat  geglaubt,  und  besonders 
findet  sich  diese  Annahme  in  chirurgischen  Schriften,  dafs 
die  Beschwerden  der  Kranken  von  dein  ergossenen  Wasser 
mechanisch ,  durch  Verengerung  des  Raumes  hervorgebracht 
würden;  die  krampfhafte,  asthmatische  Zusammenschnürung 
der  Lungen  ist  es  aber,  die  die  Orthopnoe  herbeiführt, 
urid  meistens  von  einer  sehr  geringen  Menge  ergossener 
Flüssigkeit  durch  dynamische  Reizung  verursacht  wird.  Diese 
Flüssigkeit  kann  kein  Gegenstand  einer  gefährlichen  Ope¬ 
ration  werden!  Die  vom  Vcrf.  aufgcstcllten  Formen  der 
Brustwassersucht  sind:  1  )  die  freie  Brust  Wassersucht ,  2)  die 
Sackwassersucht  der  Pleura,  3)  die  Wassersucht  des  Herz¬ 
beutels,  und  4)  das  Lungenödem.  Der  Ilerausg.  sucht 
besonders  die  Diagnose  zu  vervollständigen,  und  die  Be¬ 
handlung  mit  beständiger  Rücksicht  auf  die  verschiedenen 
Charaktere  der  Brustwassersucht  zu  berichtigen. 

Die  Sack wassers uchten  des  Unterleibes  wer- 

4 

den  in  den  Abschnitten  über  die  Wassersucht  des  Pe- 
ritonäums  und  die  Eierstock wasser sucht  abgehan¬ 
delt.  Bei  jener  ist  auch  von  der  Ilydatidenbildung  im  Un¬ 
terleibe  die  Bede,  doch  beschränkt  sich  der  Yorf.  nur  auf 
das  Allgemeine,  ohne  die  Bearbeitungen  dieses  Gegenstan¬ 
des  in  der  neueren  Entozoologic  zu  berücksichtigen,  so 
dafs  der  Herausg.  hier  einige  ergänzende  Bemerkungen  hin¬ 
zufügen  mufste.  Der  Paracentese  widerfährt  ihr  Recht; 
der  Yerf.  hält  sic  in  den  Sackwassersuchten  des  Unterleibes 
für  vorzüglich  anwendbar,  und  verordnet  ihre  oftmalige 


Uber  praktische  Arzneiwissenschaft.  .  489 

Wiederholung.  —  Ueber  die  Wassersucht  der  Ge¬ 
bärmutter  finden  Sich  nur  kurze  Andeutungen;  bei  wei¬ 
tern  ausführlicher  ist  diese  Krankheit  von  dem  verewigten 
v.  Sieboid  in  seinem  Werke  über  die  Frauenzimmerkrank¬ 
heiten  abgehandelt  worden,  aus  dem  der  Ilerausg.  zur  Ver¬ 
vollständigung  des  hier  Vorgetragenen  manches  hätte  ent¬ 
nehmen  können.  —  Der  inneren,  von  den  Wundärzten 
zuweilen  vernachlässigten  Behandlung  wegen,  hat  der  Verf. 
auch  die  W a s s e r s u c h  t  des  Hodensacks,  des  Saamen- 
stranges  und  der  Testikeln  hier  aufgenommen,  doch 
möchten  die  beiden,  diesen  Uebeln  gewidmeten  Abschnitte 
die  vorzüglicheren  Bearbeitungen  derselben  in  den  chirurgi¬ 
schen  Schriften  nicht  entbehrlich  machen. 

Als  Formen  der  Kopfwassersucht  unterscheidet  B. 
die  äufser liehe,  Hydrocephalus  externus,  den  inneren 
Wasserkopf,  Hydrocephalus  internus,  und  die  eigentliche 
Iiir  n  wassersuch  t,  Hydrops  ventriculorum  cerebri,  nach 
der  hergebrachten  Weise.  Bei  der  am  häufigsten  verkom¬ 
menden  Art  des  inneren  Wasserkopfes  soll  sich  das  Wasser 
zwischen  den  Häuten  des  Gehirns  ansammeln,  doch  giebt 
der  Verf.  zu,  dafs  dies  auch  im  Gehirn  selbst,  besonders 
in  den  Höhlen  desselben  geschehen  könne.  Die  neuere 
pathologische  Anatomie  hat  jedoch  bewiesen,  dafs  die  Was¬ 
seransammlung  zwischen  den  Hirnhäuten  bei  weitem  die 
seltenere,  dagegen  die  in  den  Hirnhöhlen  die  häufigste  sei, 
wie  dies  auch  der  Herausg.  in  seinen  angehängten  Bemer¬ 
kungen  berichtigt  hat.  Auch  inKichter’s  specieller  The¬ 
rapie,  so  wie  in  gar  manchem  anderen  Lehrbuche  der  prak¬ 
tischen  Heilkunde  findet  sich  jener  Irrthum  in  Betreff  des 

i 

Sitzes  der  Wasseransammlung,  ja  einige,  der  pothologi- 
schen  Anatomie  unkundige  Schriftsteller  haben  selbst  ge¬ 
glaubt,  dafs  die  Wassersucht  der  Hirnhöhlen  immer  von 
acutem  Verlaufe  sein  müsse,  so  dafs  man  eine  weitere  Ver¬ 
breitung  und  Benutzung  der  klassischen  Monographie  von 
Gölls  angelegentlich  wünschen  möchte.  Die  acute  Hirn¬ 
höhlenwassersucht  beschreibt  der  Verf.  übrigens  nach  den 


490 


IX.  \  orlesungcn  \ 

bekannten  Erfahrungen.  Sollte  in  der  Behandlung  dieser 
Krankheit  die  Digitalis  wirklich  einen  Durchfall  erregen 
können,  wie  B.  glaubt,  und  deshalb  nur  mit  der  allergrö߬ 
ten  Vorsicht  gereicht  werden  dürfen?  Sie  ist  hier,  wie  in 
der  chronischen  Hirnwassersucht,  mit  Calomel  verbunden, 
gewifs  ein  unschätzbares  Hauptmiltel,  mit  dem  lief.  in  ei¬ 
nem  sehr  interessanten  l  alle  dieser  Krankheit  eine  vollstän¬ 
dige  Heilung  bewirkte.  Die  Krankengeschichte  ist  in  II  u- 
felands  Journal  der  praktischen  Heilkunde  von  1817  aus¬ 
führlich  mitgetheilt. 

Uebcr  die  Wassersuch t  des  Kiickgraths  war  nur 
wenig  zu  bemerken;  die  angeborne  ist  mehr  Gegenstand 
der  pathologischen  Anatomie,  und  die  Kcnntnifs  der  acqui- 
rirten  war  noch  bis  vor  kurzer  Zeit  sehr  dunkel.  Man 
mufs  die  hierher  gehörigen  Fälle  hei  den  früheren  Schrift¬ 
stellern  unter  den  Abschnitten  «  über  Lähmung  und  Kücken¬ 
darre  »  suchen.  Nach  neueren  Annahmen  kommt  man  über¬ 
ein,  dafs  die  Absonderung  der  wässerigen  Flüssigkeit  in  der 
Arachnoidea  geschehe.  Aus  diesem  Gesichtspunkte  betrach¬ 
tet  diese  Krankheit  einer  der  neuesten  Beobachter  dersel¬ 
ben,  Dr.  Salomon  Temple  in  Philadelphia,  von  dem 
wir  kürzlich  eine  recht  lehrreiche,  das  Bekannte  sowohl 
als  neue  Untersuchungen  enthaltende  Abhandlung  über  Hy- 
drorhachis  erhalten  haben  T). 

Es  folgt  jetzt  die  Luft-  oder  Windgeschwulst, 
Emphysema,  von  der  der  Verf. ,  nach  allgemeiner  Aufzäh¬ 
lung  ihrer  Formen,  die  Tro mm e ls uc h t,  Tympanites,  be¬ 
sonders  abhandelt.  Er  ist  geneigt,  bei  allen  Emphysemen 
einen  Schwächezustand  anzunehmen,  und  ordnet  demgcmäfs 
die  Behandlung  der  Trommelsucht  an,  in  der  krampfstil¬ 
lende,  mit  stärkenden  Mitteln  vereint  angewandt  werden 
sollen.  Das  Kapitel  über  die  Lufterzeugung  im  lebenden 
Körper  ist  noch  sehr  dunkel,  und  wir  bedürfen  hier  vor 
allein  noch  genauer  chemischer  Untersuchungen.  Der  llcr- 


1  )  American  Journal  of  medical  scicnccs.  1829.  May.  p.  100 


über  praktische  Arzneiwissenschaft.  491 

ausgeber  sucht  das  Vorgetragene  vorzüglich  nach  P.  Frank 
zu  vervollständigen,  und  unterscheidet  im  Allgemeinen  eine 
Pneumatose  von  atmosphärischer  Luft,  von  gährenden  oder 
in  Verdcrbnifs  gehenden  Feuchtigkeiten  im  Innern  des  Or¬ 
ganismus,  und  von  einem  eigenthümlichen  Absonderungs- 
prozefs,  der  freilich  noch  ganz  dunkel  ist,  und  durch  seine 
Annahme  eines  anomalen  Einflusses  des  auf  irgend  ,eine  Art 
in  seinen  Verrichtungen  gestörten  oder  gereizten  Nerven¬ 
systems,  so  wie  eines  tonischen  Krampfes,  der  die  erzeugte 
Luft  zurückhalten  soll,  im  geringsten  nicht  aufgehellt  wer¬ 
den  kann.  Das  Lungenemphysem  handelt  er  nach  Laen- 
nec’s  bekannter  Bearbeitung  ab. 

Der  Scorbut  und  die  Fl  ecken  krankh  eit  nehmen 

•*  • 

die  nächste  Stelle  ein.  Beschreibung  und  Behandlung  die¬ 
ser  beiden  Krankheiten,  sind  nach  den  bekannten  Erfah¬ 
rungen. 

Von  der  Scrofelkrankheit  unterscheidet  B.  drei 
Grade,  die  er  ganz  empirisch  beschreibt,  ohne  sich  auf 
theoretische  Untersuchungen  über  die  nächste  Ursache  die¬ 
ses  Uebels  einzulassen.  Er  geht  die  Behandlung  nach  den 
älteren  Erfahrungen  durch,  und  weist  von  den  vielen  an¬ 
gepriesenen  Mitteln  jedem  seine  Stelle  an.  Wenn  er  aber 
auch  unter  diesen  die  Belladonna  Kindern  zu  einem  Drittel- 
Gran  zu  geben  empfiehlt,  so  möchte  hier  doch  die  gröfste 
Vorsicht  rathsam  sein;  denn  nicht  selten  bewirkt  dieses 
heroische  Mittel,  lange  Zeit  hindurch  gebraucht,  eine  be¬ 
denkliche  Abnahme  der  Geisteskräfte  der  Kranken,  wie  man 
nicht  selten  nach  Behandlungen  des  Keuchhustens  damit 
beobachtet  hat.  Der  Verlust  des  Gedächtnisses  und  eine 
auffallende  Verstandesschwäche  werden  dann  der  Wirkung 
der  Krankheit  zugeschrieben,  während  allein  der  Arzt  die 
Schuld  davon  trägt.  Warum  von  der  Belladonna  von  dem 
sonst  so  vorsichtigen  Verf.  hier  ein  Drittel-,  und  in  der 
Behandlung  der  Hirn  Wassersucht  von  der  Digitalis  nur  ein 
Sechstel -Gran  als  Dose  bestimmt  ist,  leuchtet  nicht  ein. 

,  i  '  1 

Die  Annahme  des  Ilerausg.,  dafs  die  nächste  Ursache  der 


I 


492  IX.  Vorlesungen 

Scrofelkrankhcit  in  einem  krankhaften  Vorherrschen  des 
lymphatischen  Systems  zu  suchen  sei,  ist  in  der  That  nur 
ein  sich  von  selbst  darbietender  Gemeinplatz,  der  uns  der 
Erkcnntnifs  dieses  Lehels  nicht  um  einen  Schritt  naher 
bringt.  Er  bemühet  sich,  Behufs  der  Behandlung,  verschie¬ 
dene  Charaktere  der  Scrofelkrankhcit  aufzustellen ,  und  un¬ 
terscheidet  so  Vollsaftigkeit,  Erethismus  und  Torpor  als 
wichtige  Heilungsobjecte.  Die  Atrophie  der  Kinder,  die 
hierher  gehört,  hat  ihre  Stelle  im  siebenten  Bande  unter  den 
Zehrkrankheiten  erhalten.  Auffallend  ist  es,  dafs  ungeach¬ 
tet  einer  zahllosen  Menge  von  Schriften  über  die  Scrofeln, 
dennoch  der  eigentümliche  Destructionsprozcfs  der  lym- 
phatischen  Drüsen,  der  in  der  Atrophie  in  seiner  höchsten 
Ausbildung  auftritt,  aber  auch  selbst  in  den  äufseren  Drü¬ 
sen,  und  noch  viel  häufiger  in  den  Lungen  beobachtet  wird, 
in  der  früheren  und  auch  noch  in  unserer  Zeit  sehr  unge¬ 
nau  gewürdigt  ist.  Man  sprach  immer  nur  von  Anschwel¬ 
lung,  Entzündung,  Verstopfung  und  Degeneration  der  lym¬ 
phatischen  Drüsen,  man  sah  diese  Theile  im  Gekröse,  in 
den  Lungen  und  in  der  Haut  vereitern,  und  niemand  er¬ 
kannte  bei  allen  diesen  Vorgängen  die  Tuberkelbildung,  die 
hier  in  sehr  charakteristischen  und  handgreiflichen  Erschei¬ 
nungen  hervortritt,  und  sich  in  den  höheren  Graden  der 
Scrofelkrankheit  fast  immer  einfindet.  Man  untersuche  nur 
genau  das  Mesenterium  atrophischer  Kinder,  und  man  wird 
hier  die  Tuberkeln  in  den  Drüsen  zuweilen  in  den  ver¬ 
schiedensten  Stadien  antreffen,  man  wird  hier  Drüsen  fin¬ 
den,  die  völlig  in  Tuberkelmasse  umgewandelt  sind,  so  wie 
andere,  in  denen  Tuberkeln  neben  dem  gesunden  Paren¬ 
chym  liegen,  oder  von  diesem  eingeschlossen  sind.  Man 
wird  dieselbe  Entdeckung  nicht  selten  in  verschwörenden 
lialsdrüscn  machen,  und  sich  auch  iu  dieser  Krankheit  von 
der  Allgemeinheit  des  tuberculüsen  Prozesses  überzeugen, 
der  von  den  neueren  französischen  Aerzten  so  genau  cha- 
raktcrisirt,  und  namentlich  auch  von  Louis  in  den  ver¬ 
schiedenartigsten  Orgaucn  naebgewiesen  worden  ist. 


über  praktische  Arzneiwissenschaft.  493 

Die  Rhachitis  hat  der  Verf.  im  folgenden  Abschnitte 
vollständig  nach  den  vorhandenen  Erfahrungen  geschildert, 
mit  besonderer  Erörterung  der  rhachitischen  Gelenkver- 
derbnifs,  in  deren  Behandlung  jedoch  das  Gliiheisen  nicht 
erwähnt  worden  ist.  Eine  eigene  Ansicht  über  die  nächste 
Ursache  der  Rhachitis  hat  B.  nicht  gegeben,  sondern  nur 
die  Meinungen  berühmter  Schriftsteller  angeführt,  und  weil 
diese  bekanntlich  zur  Erläuterung  der  Natur  dieses  Uebels 
unzureichend  sind,  so  hat  der  Herausg.  sich  bemüht,  die 
Momente  hervorzuheben,  auf  die  es  ihm  vorzüglich  anzu¬ 
kommen  scheint.  Es  sind  dies  die  immer  vorhandene  Feh¬ 
lerhaftigkeit  der  Verdauung  und  Assimilation,  die  schon  in 
der  Anlage  hervortretende  allgemeine  Alonie ,  Zartheit, 
Lockerheit  der  Faser  und  organischen  Substanz  überhaupt, 
und  die  damit  verbundene  Abmagerung,  die  Osteocachexie, 
und  endlich  die  Vergröfserung  der  Leber.  Darniederliegen 
des  gesammten  Anbildungsprozesses,  und  Steigerung  der 
lymphatischen,  wie  der  venösen  Resorption,  bilden  nach 
ihm  die  Hauptelemente  der  Rhachitis,  und  ganz  richtig  er¬ 
klärt  er  aus  der  letzten  die  Leberanschwellung,  deren  Na¬ 
tur  gewifs  noch  deutlicher  erkannt  werden  würde,  wenn 
erst  genaue  chemische  Untersuchungen  der  bei  den  Rhachi¬ 
tischen  sehr  veränderten  Galle  vorgenommen  wjjren.  Die 
Gegenwart  von  Drüsenanschwellungen  im  Mesenterium,  die 
nicht  selten  tuberculös  werden  (was  der  Ilerausg.,  ohne 
diesen  Prozefs  näher  zu  bezeichnen,  durch  die  Angabe  zu- 
giebt,  dafs  sich  nicht  selten  kreidenartige  Substanz  in  die¬ 
sen  Drüsen  vorfinde),  macht  eine  nahe,  zum  Theil  auch 
schon  anerkannte  Verwandtschaft  der  Rhachitis  mit  der  Scro- 
felkrankheit  sehr  wahrscheinlich. 

ln  dem  Abschnitte  über  die  venerische  Krankheit 
giebt  der  Verf.  zuvörderst  einige  historische  Andeutungen, 
die  den  älteren  Annahmen  ganz  entsprechen.  Da  dieser 
Gegenstand  neue  gründliche  Untertuchungen  erfordert,  und 
überhaupt  ganz  anders  bearbeitet  werden  riiufs,  als  früher, 
so  wollen  wir  unsere  Bemerkungen  hierüber  für  eine  schick- 


/ 


494  IX.  Vorlesungen  über  prakt.  Arznciwisscnschaft. 

licherc  Gelegenheit  aufsparen.  Der  ganze  Abschnitt  ist  sehr 

ausführlich,  und  man  findet  hier  die  Lehre  von  den  vene- 
'  * 

rischen  Krankheiten,  wie  sic  vor  etwa  dreifsig  Jahren  sich 
gestaltet  hatte-  Ls  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die 
Veränderungen  und  Verbesserungen  dieser  Lehre  seit  dieser 
Zeit  anzugeben*,  hierzu  würde  sich  eher  in  dem  ergänzen¬ 
den  Anhänge  des  Ilerausg.  Gelegenheit  dargeboten  haben, 
doch  hat  sich  dieser  darauf  beschränkt,  mit  Anerkennung 
der  unbedingt  specifischcn  Wirkungen  des  Quecksilbers  ge¬ 
gen  die  Syphilis,  einige  neuere  Gebrauchsweise Y  desselben 
anzugeben,  z.  B.  Kust’s  lnunctionscur ,  Cullerier's  Ver¬ 
fahren,  und  die  Methoden  von  Weinhold  und  Dzondi. 
Die  beste  Pathologie  der  syphilitischen  Krankheiten  hat  in 
der  neuesten  Zeit  unstreitig  Carmichacl  geliefert,  auf 
dessen  ausgezeichnetes  Werk  wir  unsere  Leser  wiederho- 
lentlich  aufmerksam  machen  wollen.  (S.  Bd.  IV.  lieft  1. 

S.  92  d.  A.) 

Eine  Abhandlung  über  die  Wurmkrankheiten  bc- 
schlicfst  den  vorliegenden  Band.  In  der  Litteratur  vermifst 
Bef.  das  klassische  Werk  von  Rudolphi,  das  auch  von 
dem  Ilerausg.  nicht  angegeben  worden  ist;  von  den  neue¬ 
ren  Schriften  findet  sich  nur  das  Brems  ersehe  Werk 
von  1819.  Der  naturhistorische  Theil  dieses  Abschnittes 
ist  überhaupt  mangelhaft,  und  deshalb  von  dem  Ilerausg. 
unseren  gegenwärtigen  Kenntnissen  gemäfs  vervollständigt 
worden.  Dagegen  sind  die  WTurmkrankheitcn  selbst,  mit 
genauer  Y\  ürdigung  der  mehr  oder  weniger  hervortreten¬ 
den  Symptome,  wie  sich  erwarten  läfst,  genauer  darge¬ 
stellt.  Schwäche  der  Verdauungsorgane  ist r  das  Bandwurm¬ 
übel  ausgenommen,  «las  Wesen  der  Wurmkrankbeiten,  und 
hddet  das  eigentliche  lleilobject;  Stärkung  und  Ausleerung 
bilden  demnach  die  llauptindicationen.  Die  Cur  der  Asca¬ 
riden,  der  Spulwürmer  und  des  Bandwurms,  gegen  den  B. 
vorzüglich  da^  gepulverte  Lisen  empfiehlt,  wird  besonders 
abiiehandcll. 

O  4 


I 


495 


X.  Gricsbildung. 


.  X.  ;  y 

Reclierches  physiologiques  et  mcclicalcs 
sur  les  causes,  1  es  symptomes  et  le  trai- 
t einen t  de  la  gra veile,  avec  quelques  remar¬ 
ques  sur  la  conduite  et  le  regime  que  doivent 
suivre  les  personnes,  auxquelles  on  a  extrait  des 
calculs  de  la  vessie;  par  F.  Magen  die,  membre 
de  llnstitut  etc.;  broch.  en  8.  de  150  pages  avec 
planches,  seconde  edition,  revue  et  augmentce. 
Paris,  Septembre  1828.  cbez  Mequignon-Marvis. 

*  * 

Der  berühmte  Verf.  verweilt  in  vorliegender,  dem 
ärztlichen  Publikum  schon  aus  einer  früheren  Auflage  be¬ 
kannten  Schrift  nur  kurz  bei  der  Entstehung  des  Ilarn- 
grieses,  und  wendet  sich  dann  zu  den  verschiedenen  Arten 
desselben,  deren  er  sechs  annimmt,  nämlich  den  rothen 
Gries,  der  aus  Harnsäure  besteht  und  am  häufigsten  vor¬ 
kommt;  den  weifsen  Gries,  der  vorzugsweise  phosphor¬ 
saure  Kalkerde  enthält  und  auch  ziemlich  oft  beobachtet 
wird;  den  körnigen  Gries  (Gravelle  pileuse),  der  selte¬ 
ner  als  die  beiden  anderen  Arten  zu  sein  scheint  (Ma¬ 
gen  die  beobachtete  ihn  nur  zweimal),  und  aus  phosphor¬ 
saurem  Kalk  und  Härchen  besteht;  den  grauen  Gries, 
ebenfalls  selten,  dessen  Bestandteile  phosphorsaures  Am¬ 
monium  und  phosphorsaure  Magnesia  sind,  den  gelben 
Gries,  welcher  aus  Calcaria  oxalica  besteht  und  von  Ma- 
gendie  bei  einem  Manne  beobachtet  wurde,  der  seit  einem 
Jahre  jeden  Morgen  eine  Schüssel  voll  Sauerampfer  ver¬ 
zehrt  hatte;  den  durchsichtigen  Gries,  welcher  Mag. 
auch  nur  einmal  vorgekommen  ist.  Zugleich  macht  unser 
Yerf.  noch  auf  zwei  Stoffe  aufmerksam,  welche  Marcet 

in  den  Harnconcrementen  entdeckte  und  von  welchen  er 

\ 

vermutet,  dafs  der  eine  weiter  nichts  als  Faserstoff  vom 


\ 


496  X.  Gricsbildung. 

Blute  sei,  während  der  zweite  von  ihm  Acidc  xanthique 
genannt  wird. 

Das  so  häufige  Vorkommen  des  rothen  Ilarngricses 
scheint  allein  von  der  Nahrung  abzuhängen,  wenigstens 
beweisen  einige  in  dieser  Beziehung  höchst  bemerkenswerthe 
Untersuchungen,  dafs  die  Gegenwart  der  Harnsäure  itn 
Urin  durch  die  Qualität  der  Nahrung  bedingt  sei,  und  dafs 
der  Harn  um  so  viel  mehr  von  dieser  Säure  enthalte,  je 
mehr  das  Thier  Fleisch  oder  eine  andere,  besonders  an  Azot 
reiche  Nahrung  zu  sich  nehme.  Bei  dem  Menschen,  der 
täglich  Fleisch  zu  essen  pflegt,  fehlt  daher  auch  die  Harn¬ 
säure  nie  im  Urin,  aber  sie  ist  es  im  aufgelösten  Zustande, 
und  nur,  wenn  das  Harnsystcm  krankhaft  afficirt  wird, 
lagert  sie  sich  in  den  Ureteren  und  in  der  Blase  als  ro- 
ther  Gries  ab. 

Mag.  nimmt  an,  dafs  der  rothe  Gries  sich  vorzugs¬ 
weise  bilde:  1)  wenn  der  Urin  zu  viel  Harnsäure  enthalte; 
a>  wenn  die  natürliche  Temperatur  des  Leins  merklich 
abnehme,  dafs  eine  substantielle,  besonders  eine  rein  ilei- 
schige  Nahrung  das  übermäfsige  Entstehen  der  Harnsäure 
befördere,  und  dafs  die  Abnahme  der  Temperatur  im  Grei- 
senalter  besonders  merklich  werde. 

Aufser  der  Fleischnahrung  und  dem  vorgerückten  Al¬ 
ter,  bezeichnet  M.  die  sitzende  Lebensart,  das  zu  häufige 
und  zu  lange  Liegen  im  Bette,  die  Gewohnheit  wenig  zu 
trinken,  den  Genufs  starker  Weine  und  anderer  spirituöser 
Getränke,  die  zu  starke  und  anhaltende  Transpiration  bei 
Individuen,  die  Anlage  zur  Griesbildung  haben,  die  übele 
Gewohnheit,  den  Urin  lange  bei  sich  zu  behalten,  als  der 
llarngriesbildung  vorzüglich  günstige  Momente. 

Die  Vermeidung  aller  dieser  Ursachen,  der  häufige 
Genufs  wässeriger  und  dünner  Getränke,  wird  daher  der 
Griesbildung  am  besten  entgegenwirken  und  dem  Gebrauche 
solcher  Substanzen  vorzuziehen  sein,  von  welcheu  inan 
zwar  eine  chemische  Zersetzung  und  Auflösung  des  Grieses 


/ 


XI.  Praktische  Notizen.  497 


erwarten  dürfte,  wenn  nicht  andere,  sehr  wohl  zu  berück¬ 
sichtigende  Gründe  gegen  ihre  Anwendung  sprächen. 

Wie  alle  Schriften  Magendie’s,  so  wird  auch  diese 
durch  äufsere  und  innere  Eleganz  und  durch  eine  nachah¬ 
menswerte  Klarheit  ausgezeichnete  Broschüre  gewifs  un¬ 
ter  Aerzten  und  Laien  recht  viele  Leser  finden,  die  nicht 
ohne  Zufriedenheit  sie  aus  der  Hand  legen  werden,  es  sei 
denn,  dafs  chemische  Untersuchungen  und  physiologische 
Erörterungen  ihnen  zuwider  seien. 

IX 


Praktische  N 


o  t  i  z  e  n. 


1.  Kürzlich  ist  ein  Epileptischer  in  Alabama  durch 
die  Trepanation  geheilt  worden.  Vierzig  Jahre  alt,  und 
bis  dahin  immer  iin  Genufs  einer  festen  Gesundheit,  be¬ 
kam  der  Kranke  (ein  Capitain)  zuerst  im  August  1827 
einen  ungemein  heftigen  epileptischen  Anfall,  der  sich  dann 
alle  vierzehn  Tage  bis  drei  Wochen  wiederholte.  Bald 
fand  sich  ein  unerträglicher  Kopfschmerz  auf  der  linken 
Seite  ein,  und  das  linke  Auge  wurde  blind.  Her  Arzt 
(James  Guild)  hielt  das  Uebel  irriger  Weise  für  sym¬ 
pathisch  aus  dem  Unterleibe,  und  bekämpfte  es  umsonst 
mit  Abführmitteln  und  Aderlässen.  Eine  Speiehelflufscur  (!) 
war  eben  so  fruchtlos.  Als  endlich  die  Krankheit  ein  übles 
Ende  zu  nehmen  drohte,  erkannte  man  die  Nothwendigkeit, 
an  der  am  meisten  schmerzenden  Stelle  zu  trepaniren.  Dies 
geschah  am  10.  Oct.  1828,  fünfzehn  Monate  nach  dem  er¬ 
sten  epileptischen  Anfall,  auf  der  linken  Seite  des  Stirn¬ 
beins,  nahe  der  Kranznath.  Der  Knochen  war  aufgelockert 
und  verdickt,  und  während  der  Trepanation  empfand  der 


i 


498 


XI.  Praktische  Notizen. 


Kranke  so  überaus  heftige  Schmerzen,  dafs  öfters  innc  ge¬ 
halten  werden  mufste,  um  ihm  einige  Kühe  zu  vergönnen. 
Aus  der  Diploe  Hofs  Blut  in  übergrofser  Menge,  der  Biat- 
ilufs  dauerte  jedoch  nur  einige  Minuten,  dann  ergofs  sich 
Serum  in  reichlichen  Strömen,  welche  Absonderung  dann 
noch  fortdauerte,  bis  die  Eiterung  entstand.  Unmittelbar 
nach  der  Operation  trat  Besserung  ein,  die  epileptischen 
Anfälle  erneuerten  sich  nicht  wieder,  und  der  Kopfschmerz 
verschwand  nach  und  nach,  ln  dreifsig  lagen  war  die 
W  unde  vernarbt,  und  der  Kranke  nach  einer  ergiebigen 
Eitqrung  vollkommen  genesen.  Dieser  letzten  mufste  man 
denn  auch  wohl,  nächst  der  Operation  selbst,  den  gröfsten 
Theilfdes  heilsamen  Erfolges  zuschreiben,  denn  in  gleichem 
Vcrhältnifs  mit  ihrem  Fortschreiten  besserte  sich  der  Zu¬ 
stand  der  in  einem  gröfscren  Umkreise,  selbst  bis  zum 
Oberkiefer  herunter  aufgelockertcu  und  schmerzhaften  Kno¬ 
chen.  An  der  harten  Hirnhaut  war  nichts  Krankhaftes  zu 
bemerken,  und  die  Pulsation  des  Gehirns  wie  bei  einem 
Gesunden.  Der  Kranke  batte  nie  eine  V  erletzung  an  der 
leidenden  Stelle  erlitten,  das  Uebel  war,  ohne  auszumit- 
telnde  Ursachen,  ganz  auf  dynamischem  Wege  entstanden. 
So  viel  man  aus  dieser  Beschreibung <  sehen  kann,  würde 
wahrscheinlich  ein  sogenannter  Auswuchs  der  harten  Hirn¬ 
haut  entstanden  sein,  ein  Uchel,  dessen  Sitz  v.  W  alther 
eben  so  scharfsinnig  als  erfahrungsgemäfs  in  der  Diploe 
der  Schädelknochen  ausgemiltelt  hat.  S.  dessen  Abhandlung 
über  die  schwammigen  Auswüchse  auf  der  harten  Hirnhaut, 
nn  Journal  der  Chirurgie  und  Augenheilkunde.  Bd.  I.  H.  1. 

S.  55.  (American  Journal  of  the  medical  Sciences.  No.  VII. 

May.  182&) 

2.  Enter  dem  spanischen  Namen  Dengue  ist  im 
Juni  1828  eine  exanlhematische|  Krankheit  in  Charleston 
erschienen,  die  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  im  höchsten 
Grade  wcrlh  ist.  Sie  kam  zunächst  von  Cuba  dorthin,  . 
nachdem  sich  in  dein  etwas  trockenen  und  angenehmen 

Som- 


XI.  Praktische  Notizen. 


499 


Sommer  keine  Spur  von  epidemischen  Krankheiten  gezeigt 
hatte,  und  befiel  Menschen  von  jedem  Alter,  jeder  Farbe 
und  jeder  Constitution  mit  sehr  verschieden  modificirten 
Zufällen.  Selten  brach  die  Krankheit  mit  einem  deutlichen 
Froste  aus,  gewöhnlich  aber  mit  einem  lebhaften  Schmerze 
an  irgend  einem  Theile  des  Körpers,  vorzüglich  an  der  Hand¬ 
wurzel,  dem  Knöchel,  dem  Rücken,  auch  wohl  an  den 
Finger-  und  Zehenspitzen.  Bei  einem  Kinde  beobachtete 
der  Prof.  Henry  Dickson  in  Charleston,  von  dem  wir 
die  erste  ausführliche  Beschreibung  dieses  Uebels  erhalten, 
zuerst  einen  Schmerz  im  Fufse,  dann  wurde  eine  Hand 
steif,  hierauf  die  Kuiee,  und  dies  alles  in  einem  Zeiträume 
von  fünf  Stunden,  während  noch  keine  Spur  von  Fieber¬ 
bewegung  wahrzunehmen  war.  Bei  einer  alten  Frau  wur¬ 
den  alle  Finger  zugleich  schmerzhaft  zusammengezogen,  so 
dafs  sie  nicht  ausgestreckt  werden  konnten,  und  die  Kranke 
laut  schrie.  Auch  einen  kräftigen  jungen  Mann  brachte 
der  unerträgliche  Schmerz  in  den  Fingerspitzen  zum  Schreien. 
Nach  einem  solchen  Schmerze  traten  in  kürzerer  oder  län¬ 
gerer  Zeit  Fieberbewegungen  ein,  mit  den  gewöhnlichen 
Zufällen,  Kopfschmerz,  rothen  Augen,  vollem,  häufigem 
Pulse,  heifser,  juckender  und  trockener  Haut,  Ziehen  im 
Rücken,  und  Unruhe.  Im  Durchschnitt  dauerte  dieser  An¬ 
fall  ohne  Nachlafs  36  Stunden,  bald  mehr,  bald  weniger, 
von  achtzehn  bis  zu  achtundvierzig  Stunden.  Bei  den  mei¬ 
sten  Kranken  war  die  Zunge  rein  und  der  Magen  nicht 
angegriffen,  nur  bei  einigen  beobachtete  man  Ekel  und 
Erbrechen ,  aber  die  meisten  hatten  eine  entschiedene  Nei¬ 
gung  zu  Kopfzufällen;  einige  phantasirten  während  des  gan¬ 
zen  Fieberanfalles.  Die  anfangs  trockene  und  heifse  Haut 
wurde  bald  feucht,  die  Kranken  schwitzten  stark,  und  es 
kam  bei  vielen  ein  pustulöser  oder  frieselartiger  Ausschlag 
zu  Stande.  In  der  Form  dieses,  im  ersten  Anfall  ausbre¬ 
chenden,  offenbar  mehr  symptomatischen  Exanthems,  zeigte 
sich  eine  grofse  Verschiedenheit,  bei  Kindern  stellte  es  sich 
oft  auf  diese  Weise  ein,  bei  Erwachsenen  war  zuweilen 
xiv.  Bd.  i.  s».  33 


XI.  Praktische  Notixen. 


500 

ein  Haufen  Pusteln  das  erste  Zeichen  der  Krankheit,  diese 
verschwanden  dann  wieder  in  einigen  Tagen.  Wenn  der 
Firberanfall  sich  gelegt  halte,  so  waren  gewöhnlich  die 
Schmerzen  gelindert,  aber  durchaus  nicht  gehoben,  denn 
noch  mehre  Tage  lang  litten  die  Kranken  an  Steifheit,  An¬ 
schwellung  und  Reizbarkeit  der  befallenen  Tbcile.  Viele 
liefsen  sich  dadurch  nicht  abhalten,  ihre  gewöhnliche  Be- 
schäftlgung  wieder  vorzunehmen,  aber  am  dritten  oder  vier¬ 
ten  Tage  belegte  sich,  ohne  dafs  Fieber  zugegen  w'ar,  oder 
bei  nur  sehr  geringen  Fieberbewegungen,  die  Zunge  mil 
einer  gelben  Borke,  und  sie  empfanden  dann  grofse  Magen¬ 
beschwerde,  brachten  die  Nacht  sehr  unruhig  zu,  und  wa¬ 
ren  überaus  ungeduldig  und  mürrisch,  bei  beschwerlicher 
Respiration.  Gewöhnlich  trat  auch  Kkel  und  Erbrechen 
hinzu  mit  grofser  Ermattung  und  Schwäche,  und  alle  diese 
Zufälle  wurden  nicht  eher  gelindert,  als  bis  sich  gegen  den 
sechsten  Tag  ein  reichlicher  Ausschlag  zeigte.  Er 
bestand  in  unregelmäfsigen ,  erhabenen  und  rothen  Flecken ; 
Fiifse  und  Hände  waren  dabei  angeschwollen ,  mit  einem 
Gefühle  von  Taubheit.  Der  Ausschlag  juckte  und  brannte 
stark,  und  gewöhnlich  erschien  jetzt  ein  zweiter  Fieberan¬ 
fall  mit  Vermehrung  der  Gelenkschmerzen.  Die  Heftigkeit 
dieses  Anfalles  schien  sich  nach  der  des  ersten  zu  richten, 
denn  wo  jener  gelinde  gewesen  wrar,  da  wurde  dieser  ge¬ 
wöhnlich  stärker,  und  umgekehrt.  Brach  etwa  kein  Aus¬ 
schlag  aus,  so  konnte  man  die  Krankheit  nicht  als  entschie¬ 
den  betrachten,  wie  man  denn  auch  in  dergleichen  Fällen 
wiederholte  Recidive,  die  nie  cintralen,  wenn  der  Aus¬ 
schlag  vollständig  gewesen  war,  beobachtete.  Bei  manchen 
schwollen  die  Leisten-  und  Achseldrüsen  entzündlich  an, 
und  blieben  noch  eine  lange  Zeit  nachher  schmerzhaft.  Man 
beobachtete  diese  Krankheit  selbst  bei  Neugebornen, 
bei  denen  eine  Scharlachröthe  der  Haut,  der  Lippen 
und  der  Zunge,  verbunden  mit  einer  grofsen  Empfind¬ 
lichkeit  und  Neigung  zu  Gonvillsionen •  am  meisten  hervor- 


XI.  Praktische  Notizen. 


501 


traten  r).  Kinder  unter  fünf  Jahren  waren  den  Convul- 
sionen  überhaupt  sehr  unterworfen,  so  dafs  man  sie  in  den 
Fieberanfällen  oftmals  sich  wiederholen  sah.  Bei  Schwän¬ 
gern  verursachte  die  Krankheit  häufig  Fehlgeburt.  Sie  be¬ 
kamen  gleich  zu  Anfang  heftige  Schmerzen  im  Rücken  und 
in  der  Lendengegend ,  die  sich  dann  tiefer  nach  unten  fort¬ 
setzten,  und  am  Ende  Abortus  bewirkten.  Alte  Leute 
wurden  sehr  schwach;  das  Uebel  verband  sich  bei  ihnen 
häufiger  mit  Rheumatismen,  und  liefs  diese  auch  zurück. 
Bei  jüngeren  dagegen,  die  an  chronischen  Rheumatismen 
gelitten  hatten,  wurden  diese  von  der  Krankheit  auffallend 
gelindert,  einer  sogar  von  seinem  alten  Uebel  dadurch 
gänzlich  befreit.  *  Bei  vielen  blieb  auch  der  Mund  nicht 
verschont.  Vor  dem  Ausbruche  des  Exanthems  trat  Spei- 
chelflufs  ein,  mit  Auflockerung  und  bläulicher  Färbung  des  ' 
Zahnfleisches;  es  brachen  auch  reizbare  und  schmerzhafte 
Geschwüre  im  Munde  aus,  die  nur  langsam  heilten;  bei 
einigen  traten  Blutungen  aus  dem  Schlunde  und  dem  Zahn-\ 
fleisch  ein.  Von  den  Wiedergenesenen  klagten  sehr  viele 
über  zurückgebliebene  rheumatische  Schmerzen  in  den  Ge¬ 
lenken,  die  sich  mit  der  Zeit  eher  zu  verschlimmern,  als 
zu  bessern  schienen.  Im  Uebrigen  war  die  Prognose  sehr 
günstig.  Dr.  D.  weifs  nur  von  drei  Todesfällen:  einer  al¬ 
ten  rheumatischen  und  krüppelhaften  Frau,  die  sehr  wider¬ 
sinnig  behandelt  wurde;  eines  viermonatlichen  starken  Kin¬ 
des,  das  an  Convulsionen  starb,  und  eines  anderthalbjähri¬ 
gen  Mädchens,  das  durch  einen  überslandenen  Keuchhusten 
sehr  geschwächt  war.  Bei  Alten  waren  die  Folgeübel  weit 
beschwerlicher,  und  die  Schwäche  und  Abmagerung  zuwei¬ 
len  bedenklich;  es  waren  im  Ganzen  nur  wenige  über 


1)  Einige  Aerzte  wollten  Kinder  gesehen  haben,  die  rpit 
diesem  Uebel  geboren  wurden,  doch  bedarf  dies  noch  der  Be¬ 
stätigung.  D.  beobachtete  den  Dengue  frühestens  in  den  ersten 
Tagen  nach  der  Geburt. 

33  * 


I 


502 


XI.  Praktische  Notizen. 


sechzig  Jahr,  die  man  als  vollständig  genesen  ansehen  konnte. 
Jiei  einem  Kinde  von  sieben  YVochcn  war  die  Krankheit 
sehr  ernsthaft;  der  erste  Anfall  dauerte  sechsunddreifsig  Stun¬ 
den,  die  Schwache,  die  er  hinterliels,  war  sehr  bedenklich, 
und  beim  Ausbruche  des  Exanthems,  am  sechsten  Tage, 
fiel  das  Kind  in  eine  lange  Ohnmacht,  die  sich  in  den  näch¬ 
sten  drei  Wochen  oftmals  wiederholte;  es  genas  indessen 
vollkommen.  Corpulcnte  und  Säufer  wurden  sehr  heftig 
ergriffen,  auch  schienen  Lungenkranke  das  Uebel  schwerer 
zu  ertragen.  Die  meisten  Kranken  wurden  gar  nicht  von 
Aerzten  behandelt.  Dr.  D.  bediente  sich  hauptsächlich  der 
milden  Abführmittel,  und  sah  den  besten  Erfolg  vom  dia¬ 
phoretischen  Verhalten.  Gegen  die  Schnurzen  bewies  sich 
das  Opium  wirksam,  oft  in  bedeutender  Gabe.  So  erhielt 
eine  im  siebenten  Monate  schwangere  Frau  120  Tropfen 
Laudanum  auf  einmal,  worauf  sie  in  Schlaf  verfiel  und  von 
ihren  Schmerzen  befreit  war,  so  dafs  sie  nicht  abortirte. 
Andere  Aerzte  griffen  ohne  Notb  zur  Lanzette,  und  es 
fehlte  nicht  an  unzweckmäfsigen  Verordnungen.  Die  Ader¬ 
lässe  schienen  in  der  That  die  rheumatischen  Schmer¬ 
zen  nur  noch  hartnäckiger  zu  machen.  Dafs  diese  Krank¬ 
heit  ansteckend  sei,  scheint  dem  Dr.  D.  keinem  Zweifel  zu 
unterliegen;  in  vielen  Fällen  liefs  sich  die  Ansteckung  ganz 
deutlich  nachweisen.  Dennoch  wollten  viele  Aerzte  ihre 
contagiöse  Natur  leugnen,  indem  sie  alles  auf  epidemische 
Einflüsse  schoben,  die  offenbar  ihre  sehr  beträchtliche  Ver¬ 
breitung  begünstigten,  eine  Meinung  die  sich  auch,  wie  in 
jeder  anderen  contagiüsen  Epidemie,  mit  einzelnen  Fällen 
von  unerwiesener  Ansteckung  bestätigen  liefs.  Einige  hiel¬ 
ten  die  Krankheit  nicht  für  neu,  und  verglichen  damit  eine 
von  Kush  im  Jahre  1780  beobachtete  Epidemie,  deren 
Descbreibung  1).  miltheilt.  Es  war  eiu  gaillichlcs  Fieber 
mit  pustulosen  Ausschlägen  und  ebenfalls  sehr  heftigen 
Schmerzen,  weshalb  man  es  the  break -hone  fever  nannte. 
Die  Ordnung,  in  der  diese  Zufälle  erschienen,  und  die  übri¬ 
gen  Erscheinungen,  zeigen  jedoch  deutlich,  dafs  dies  Fieber 


XI.  Praktische  Notizen. 


503 


von  dem  Dengue  ganz  verschieden  war,  über  dessen  Ur¬ 
sprung  und  Verbreitung  D.  die  zu  ermittelnden  Nachrich¬ 
ten  zusammengestellt  hat.  Hiernach  zeigte  sich  diese  Krank¬ 
heit  zuerst  in  Bengalen  im  Jahre  1825.  1827  sah  man  sie 

zuerst  auf  den  caraibischen  Inseln;  im  Frühjahr  1828  brach 
sie  in  Cuba  aus,  und  im  Juni  und  Juli  desselben  Jahres 
wurde  sie  nach  Charleston,  Neu -Orleans,  Vera- Cruz  und 
Carthagena  gebracht.  Dr.  D.,  der  diesen  Gegenstand  sehr 
umsichtig  bearbeitet  hat,  bringt  zur  Bestätigung  seiner  An¬ 
sichten  über  die  contagiöse  Natur  dieses  Uebels  eine  Reihe 
ärztlicher  Zeugnisse  über  den  ersten  Ausbruch  des  Dengue 
an  v  verschiedenen  Orten  bei,  die  durchweg  die  Einschlep¬ 
pung  eines  Ansteckungsstoffes  bestätigen.  Er  hält  die  wei¬ 
tere  Verbreitung  dieser  Krankheit  fiir  möglich,  und  in  der 
Beschreibung  derselben  finden  sich  keine  Gründe,  die  an 
dieser  Möglichkeit  zweifeln  liefsen.  (The  American  Jour¬ 
nal  of  medical  Sciences.  No.  V.  1828.  November.  No.  VII. 
1829.  May.) 

•  *  .  / 

3.  Ein  sechsundfunfzigjähriger  Mann  wurde  im  Hospital 
zu  Toulon  an  einem  veralteten,  von  varikösen  Venen  um- 
gebenen  Geschwür  am  linken  Unterschenkel  behandelt.  Ei¬ 
nige  Zeit  früher  hatte  man  ihm  in  Smyrna  den  linken  Ful’s 
wegen  eines  Vipernbisses  abgenommen.  Er  klagte  zu¬ 
gleich  über  Schmerzen  im  rechten  Fufse,  dessen  kleiner 
Zeh  angeschwollen,  kalt,  und  von  bläulicher  Farbe  war. 
Seii  e  sonst  feste  (Konstitution  war  durch  Kummer  und 

Noth  tief  erschüttert,  sein  Schlaf  unruhig,  der  Puls  un- 

/ 

gleich,  und  der  Herzschlag  in  einem  grofsen  Umfange  fühl¬ 
bar.  Ein  organisches  Herzübel  war  unzweifelhaft,  und  so 

konnte  man  nicht  hoffen,  den  vom  Geschwüre  aus  fort- 

♦ 

schreitenden  Brand  zu  bemeistern,  woran  denn  auch  der 
Kranke  unter  anhaltenden  unerträglichen  Schmerzen  starb. 
Schon  während  des  Lebens  war  eine  ungewöhnliche  Härte 
der  Arterien  aufgefallen,  die  auf  eine  weitverbreitete  Ver¬ 
knöcherung  derselben  schlielsen  liefs.  Bei  der  Section  fand 


504 


XI.  Praktische  Notizen. 


sich  das  Herz  sehr  erweitert,  mit  vielen  weifsen  Flecken 
auf  der  Obcrfliiche,  und  die  Wände  des  linken  Ventri¬ 
kels  von  der  Consistenz  von  trockenem  dicken  Pergament. 
J)er  Ursprung  der  Aorta  mit  den  Klappen  derselben  war 
völlig  verknorpelt,  eben  so  die  Aorta  in  ihrem  ganzen  Ver¬ 
lauf  sammt  der  Arteria  iliaca  und  cruralis  mit  ihren  \  er- 
zweigungen  auf  beiden  Seiten.  Dieselbe  Verknorpelung 
war  an  den  Arterien  der  Oberextremitäten  bemerkbar,  und 
nur  liier  und  da  zeigten  sich  kleine  Verknöcherungen  in 
den  verknorpelten  Häuten.  Sollte  nicht  das  Viperngift  die 
ersLe  Veranlassung  zu  dieser  Desorganisation  von  so  selte¬ 
ner  Ausbreitung  gegeben,  und  dieser  ursprünglich  Gcfäfs- 
entzündung  zum  Grunde  gelegen  haben?  (Ephemerides  de 
Montpellier,  1828.) 

4.  Ein  nicht  minder  wichtiger  Fall  von  organischem 
Gefäfslciden  wurde  vor  längerer  Zeit  (1817)  im  llöpital 
«ie  la  Charite  in  Paris  beobachtet.  Ein  zweiundneunzig- 
jähriger,  im  höchsten  Grade  altersschwacher  Schuster,  der 
von  seinem  früheren  Zustande  nur  so  viel  berichten  konnte, 
dafs  er  vor  unbestimmter  Zeit  einen  Anfall  von  Schlagfiufs 
überstanden,  und  dann  eine  Lähmung  des  rechten  Arms 
zurückbehalten  habe,  starb  nach  verschiedenartigen  Zufäl¬ 
len,  auf  die  es  hier  weniger  ankommt.  Bei  der  Section 
fand  sich  das  Herz  von  gewöhnlichem  Umfange,  der  Ueber- 
zug  des  linken  Ventrikels  ein  wenig  verdickt,  und  die  Ar¬ 
terienklappen  stellenweise  verknöchert.  Die  Aorta  war  an 
ihrem  Ursprünge  von  der  gewöhnlichen  Weite,  die  A.  in- 
nominata  aber  beträchtlich  erweitert.  Hinter  dem  Ursprünge 
derselben  wurde  die  Aorta  bedeutend  enger,  ging  nach 
oben  und  links,  gab  die  linke  Carotis  ab,  wandte  sich  dann 
in  einem  fast  spitzen  Winkel  nach  unten,  und  erweiterte 
sich  wieder  ein  wenig  an  der  Insertionsstelle  des  Ligamen¬ 
tum  Botalli.  Dieser  Stelle  gegenüber  ging  die  beträchtlich 
erweiterte  linke  Schlüsselbeinarterie  ab,  und  hinter  dieser 
war  die  Aorta,  wie  durch  ein  fest  angezogenes  Band  zu- 


XI.  Praktische  Notizen. 


505 


sammengeschnürt.  Sie  erweiterte  sich  dann  wieder,  und 
verlief  wie  gewöhnlich,  jedoch  von  merklich  geringerem 
Lumen  im  Unterleibe.  Auf  der  rechten,  sehr  weiten 
A.  subclavia  entsprangen  ebenfalls  sehr  erweiterte  Aeste; 
die  A.  cervicalis  transversa  und  profunda  hatten  den  Um¬ 
fang  der  A.  brachialis,  und  ihre  Häute  waren  bedeutend 
verdickt.  Die  erste  verlief,  ohne  dünner  zu  werden ,  bis 
zwischen  die  Winkel  der  vierten  und  fünften  Rippe,  ging 
hier  nach  aufsen,  gab  die  vordere  und  hintere  A.  interco- 
stalis  ab,  und  endete  einen  halben  Zoll  unter  der  Strictur 
der  Aorta,  in  die  sie  einmündete.  Die  A.  cervicalis  pro¬ 
funda  machte  einen  kürzeren  Verlauf;  sie  theilte  sich  in 
drei  grofse  Aeste,  die  jeder  besonders  in  den  Zwischen¬ 
räumen  der  vier  ersten  Rippen  wieder  in  die  Brust  zurück¬ 
kamen,  nachdem  sie  die  entsprechenden  A.  intercostales  ab¬ 
gegeben  hatten,  und  in  die  Aorta,  über  der  A.  cervicalis 
transversa  übergingen,  so  dafs  also  hier  durch  vier  beträcht¬ 
liche  Anastomosen  das  Blut  der  A.  subclavia  dextra  in  die 
Aorta  überströmte.  Auf  der  linken  Seite  wurden  drei  der¬ 
gleichen  Anastomosen  der  A.  subclavia  sinistra  mit  der  Aorta 
gefunden.  Die  A.  mammaria  interna  war  auf  der  rechten, 
wie  auf  der  linken  Seite  ungewöhnlich  erweitert;  beide 
machten  tiefer  nach  unten  viele  Windungen,  und  bildeten 
mit  den  A.  epigastricis  einen  Stamm,  der  von  gröfserem 
Umfange  war,  als  die  A.  iliaca  externa.  Auf  beiden  Seiten 
endigte  dieser  Stamm  in  der  A.  cruralis.  Die  Structur  der 
Aorta  war  im  übrigen  unverändert,  einige  verdickte  Stellen 
ausgenommen,  selbst  in  der  INähe  der  Strictur,  die  den 
Umfang  einer  Rabenfeder  nicht  übertraf.  (Journal  hebdo- 
madaire  de  inedecine.) 

5.  Dr.  Pourche  hat  das  Brom  gegen  Scrofeln  und 
Kropf  angewandt.  Scrofulöse  Geschwülste  wurden  mit  einer 
Salbe  von  Kali  hydrobromicum  zertheilt,  oder  mit  Umschlä¬ 
gen,  die  mit  einer  wässerigen  Auflösung  von  Brom  be¬ 
sprengt  waren.  Ein  grofser  Kropf  fiel  bei  dem  äufseren 


506 


XI.  Praktische  Notizen. 


und  inneren  Gebrauche  dieses  Mittels  bis  auf  ein  Drittheil 
seines  Umfanges  zusammen.  Innerlich  wendet  er  das  Ilydro- 
brom  an,  einen  Theil  in  vierzehn  Theilen  destillirtem  Was¬ 
ser  aufgelöst,  fünf  bis  sechs  Tropfen  pro  dosi,  in  Wasser. 
Diese  Gabe  kann  nach  und  nach  vermehrt  werden.  Kali 
hvdrobromicum  wird  zu  vier  bis  acht  Gran  täglich  in  Pil- 
lenform  gegeben.  (Journal  de  chimic  raed.  1828.  Dec.) 

6.  WTerthvoll  für  die  Physiologie  des  Gehirns  ist  eine 
von  Horner  in  Philadelphia  kürzlich  mitgetheilte  Beobach¬ 
tung  einer  wahrscheinlich  angebornen  chronischen  Ilirnwasser- 
sucht.  Der  Kranke  erreichte  ein  Alter  von  acht  und  einem  hal¬ 
ben  Jahre,  war  im  Wachsthum  durchaus  nicht  zurückgeblie¬ 
ben,  lernte  erst  im  vierten  Jahre  gehen,  zeigte  aber,  die  be¬ 
trächtliche  Gröfse  seines  Kopfes  ausgenommen,  am  übrigen 
Körper  durchaus  keine  Mifsbildung.  Die  Nälhe  und  Fon¬ 
tanellen,  die  noch  eine  lange  Zeit  nach  seiner  Geburt  offen 
geblieben  waren,  schlossen  sich  späterhin  vollkommen.  Im 
December  1828  that  er  einen  schweren  Fall  auf  den  Kopf, 
und  starb  am  folgenden  Tage,  nachdem  er  die  gröfste  Zeit 
seines  kurzen  Lebens  auffallend  wohl  gewesen  war.  Der 
gröfste  Horizontalumfang  seines  Kopfes  betrug  achtund¬ 
zwanzig  Zoll,  der  Abstand  von  einem  Gehörgange  bis  zum 
andern,  über  den  Schädel  gemessen,  19^  Zoll,  von  der 
Nasenwurzel  bis  zur  Protuberanz  des  Hinterhauptbeins  eben 
so  viel.  Der  längste  Durchmesser  des  Kopfes  von  vorn 
nach  hinten  betrug  9ys  Zoll,  vom  Kinn  bis  zum  Scheitel 
10  Zoll,  von  einem  Gehörgange  bis  zum  andern  5  Zoll, 
zwischen  den  Schläfen,  mehr  nach  hinten,  7  Zoll,  von  einer 
Protuberanz  des  Scheitelbeins  zur  andern  7  j  Zoll.  Die 
Schädelknochen  waren  von  der  bei  Kindern  dieses  Alters 
gewöhnlichen  Dicke  (sonst  pflegen  sie  nach  der  Schliefsung 
der  Fontanellen  bedeutend  dicker  zu  sein);  die  Näthe  wa¬ 
ren  fest  geschlossen,  und  eine  Sutura  frontalis  vorhanden, 
auf  jeder  Seite  mit  einem  dreieckigen,  überzähligen  Kno¬ 
chen,  die  aber  die  einzigen  am  ganzen  Hirnschädel  waren. 


XI.  Praktische  Notizen. 


507 


Die  äufsercn  Schädeldecken  waren  dünn  und  straff,  die 
harte  Hirnhaut  fest  mit  dem  Knochen  verbunden,  vorzüg¬ 
lich  an  den  Näthen,  die  weiche  Hirnhaut  schien  sehr  ge- 
fäfsreich  zu  sein,  die  Spinnewebenhaut  zeigte  aber  keine 
Ab  weichung  vom  natürlichen  Zustande.  Die  Zwischen¬ 
räume  zwischen  den  Windungen  des  Gehirns  hatten  nur 
etwa  den  dritten  Theil  der  gewöhnlichen  Tiefe.  Die 
Ventrikeln  enthielten  fünf  Tinten  klares  Was¬ 
ser,  so  dafs  die  Dicke  der  umgebenden  Hirnsubstanz  nur 
acht  bis  neun  Linien  betrug.  Das  Corpus  callosum  war 
nur  vier  Linien  dick,  auf  anderthalb  Zoll  in  die  Breite  ge¬ 
zogen,  und  seine  Raphe  durchscheinend.  Von  der  ganzen 
Oberfläche  der  ausgedehnten  Ventrikeln  liefs  sich  eine  Lage 
Marksubstanz  von  der  Dicke  einer  Linie  leicht  abstreifen. 
Das  Septum  pellucidum  fehlte  gröfstentheils,  so  dafs  zwi¬ 
schen  Fornix  und  Corpus  callosum  ein  freier  Zwischenraum 
von  einigen  Zollen  im  Durchmesser,  beide  Hirnhöhlen  ver¬ 
einigte.  Der  Rand  dieser  Oeffnung  war  abgerundet,  und 
zeigte  nicht  die  geringste  Spur  von  Zerreifsung.  Die  nach 
aufsen  gelegene  Massa  cinerea  war  so  erweicht,  dafs  sie 
zum  Theil  an  der  weichen  Hirnhaut  hängen  blieb;  dann 
folgte  eine  deutliche  Lage  Massa  subcinerea,  aus  der  die 
Basen  der  Windungen  bestanden,  und  endlich  die  beschrie¬ 
bene  Marksubstanz,  die  die  Oberfläche  der  Hirnhöhlen  bil¬ 
deten.  Das  kleine  Gehirn,  der  Pons  Varolii  und  die  ganze 
Basis  cerebri  waren  völlig  gesund,  und  aufser  der  in  den 
Ventrikeln,  keine  Wasseransammlung  zu  finden.  Bis  hier¬ 
her  hat  dieser  Fall  nur  gewöhnliches  Interesse,  dies  stei¬ 
gert  sich  indessen,  wenn  man  die  seltene  und  regelmäfsige 
Geistesentwickelung  dieses  Kindes  beachtet,  der  gewifs  nur 
wenige  analoge  Beispiele  zur  Seite  gestellt  werden  können. 
Schon  im  fünfzehnten  Monat,  während  der  Umfang  des 
Kopfes  immer  mehr  und  mehr  zunahm,  sprach  das  Kind 
ganz  deutlich,  zeigte  seit  dem  ersten  Erwachen  seiner  Sinne 
eine  grofse  Liebe  zur  Musik,  und  konnte  schon  im  acht¬ 
zehnten  Monat  leichte  Melodieen  sinaen.  Sein  Verstand 


508 


XII.  Mcilicinische  Bibliographie. 

und  sein  Gedächtnils  setzteu  späterhin  die  Umstehenden 
oft  in  Verwunderung.  Einstmals  erkannte  er  einen  Frem¬ 
den  nach  zweijähriger  Abwesenheit  wieder,  und  nannte  ihn 
bei  seinem  Namen ,  den  die  ganze  Hausgenossenschaft  ver¬ 
gessen  halte.  Bei  seinem  ernsten  Wesen  waren  ihm  sanfte 
Kinder  angenehm,  mehr  aber  noch  ältere,  dabei  hatte  er 
ein  vortreffliches  Gemüth,  und  war  in  den  letzten  beiden 
Jahren  sehr  empfänglich  für  religiöse  Eindrücke,  sprach 
viel  von  seinem  Tode,  und  zeigte  in  seiner  letzten  Krank¬ 
heit  nicht  die  geringste  Furcht  vor  seiner  baldigen  Auf¬ 
lösung,  die  er  deutlich  fühlte.  In  der  Schule  lernte  er 
schneller  als  die  meisten  seiner  Mitschüler,  und  besafs  für 
sein  Alter  ungewöhnliche  Kenntnisse.  Es  verdient  bemerkt 
zu  werden,  dafs  er  in  seinem  ganzen  Leben  nie  über  Kopf¬ 
schmerz  und  Schwindel  geklagt  haben  soll,  und  bis  zu  sei¬ 
nem  Tode  bei  voller  Besinnung  blieb.  Er  hatte  bis  zuletzt 
nicht  das  geringste  davon  gefühlt,  dafs  der  Kopf  der  Sitz 
seines  Leidens  wäre,  es  zeigte  sich  kein  Nervenzufall ,  und 
der  Tod  erfolgte  nur  unter  zunehmender  Schwäche  des 
Pulses,  während  der  Körper  allmählig  erkaltete.  (Ameri¬ 
can  Journal  of  medical  Sciences.  1S29.  May.) 


XII. 

<  «  ...» 

M  e  d  i  c  t  n  i  s  c  h  e  Bibliographie. 


Ai  brecht,  C.  A.  A.,  die  Homöopathie  von  dem  Stand¬ 
punkte  des  Bechls  und  der  Medicinalpolizei  beleuchtet. 
gr.8.  Dresden.  Arnold.  \  1 1 1  u.  96  S.  14  Gr. 

Bah  re  ns,  Fr.,  die  Harnlehre  des  Ilippokrates  in  ihrem 
wahren  Werthe  behauptet,  gr.  8.  Elberfeld.  Biischier. 
XX  u.  648  S.  3  Tblr.  12  Gr. 

Barba,  Anton,  mikroskopische  Beobachtungen  über  das 
Gehirn  und  die  damit  zusammenhängenden  Theile.  Aus 


509 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 

dem  Italien,  ins  Deutsche  übertragen  und  mit  einer  Bio¬ 
graphie  des  Verfassers  versehen  von  J.  J.  Albr.  v.  Schön¬ 
berg.  Mit  einer  Steintafel.  4.  Würzburg.  Strecker.  X  und 
40  S.  12  Gr. 

x  •  «  * 

Bark  ow,  J.  C.  L.,  disquisitiones  circa  originem  et  decur- 
sum  arteriarum  mammalium.  Accedunt  tabulae  aeneae  IV. 
4.  Leipzig.  Vofs.  VIII  et  114  P.  3  Thlr. 

! 

—  —  monstra  animalium  duplicia  per  anatomen  indagata 
habito  respectu  ad  physiologiam  medicinam  forensem  et 
artem  obstetriciam  etc.  Tom.  I.  Acced.  tab.  aeneae  XV. 
4.  Ebend.  X  et  142  P.  5  Thlr. 

Berends,  C.  A.  G.,  operum  postumorum  Tom.  primus; 
ed.  et  praefactus  est  A.  G.  a  Stosch.  8maj.  Berlin.  Rei¬ 
mer.  XIV  et  335  P.  1  Thlr.  12  Gr. 

•  ‘  J  J 

Auch  unter  dem  Titel: 

Berends  lectiones  de  morbis  tabificis. 

Bernt,  Jos.,  Visa  reperta  und  gerichtlich -medicinische 
Gutachten  über  gesunde  und  kranke  Zustände  des  Men¬ 
schen.  Gesammelt  aus  älteren  und  neueren  Quellen,  und 
als  erklärender  Anhang  zu  seinem  systematischen  Hand¬ 
buche  der  gerichtlichen  Arzneikunde.  gr.8.  Wien.  Wal- 
lishausser.  2  Thlr. 

Bibliothek  der  deutschen  Medicin  und  Chirurgie,  her- 
ausg.  von  A.  K.  Hesselbach.  2r  Jahrgang.  1  —  6.  gr.8. 
Würzburg.  Strecker.  5  Thlr.  12  Gr. 

i i  ’  /  .  •  •  .  *  *  .  .  •  .  v 

Böneck,  G.  S.,  Beobachtungen  und  Bemerkungen  aus  dem 
Gebiete  der  Medicin  und  Chirurgie.  Mit  vier  colorirten 
Abbildungen,  gr.8.  Hamburg.  Perthes  u.  Besser.  VIII  und 
208  S.  2  Thlr.  6  Gr. 

Car us,  C.  G. ,  Analecten  zur  Naturwissenschaft  und  Heil¬ 
kunde.  Gesammelt  auf  einer  Reise  durch  Italien  im  Jahfe 
1828.  Nebst  einer  Kupfertafel,  gr.8.  Dresden.  Hilscher. 
179  S.  1  Thlr.  12  Gr. 


510 


XII.  Medicinisclic  Bibliographie. 

Dzondi,  K.  II.,  Was  ist  häutige  Bräune,  und  wie  kann 
das  kindliche  Alter  dagegen  geschützt  und  am  schnellsten 
und  sichersten  davon  geheilt  werden?  Für  Eltern  und 
Aerztc  beantwortet.  Mit  einer  Abbildung  in  Steindruck. 
8.  Halle.  Hemmerde.  II  u.  131  S.  1  Tblr.  6  Gr. 

—  —  Was  ist  Rheumatismus  und  Gicht,  und  wie  kann 

man  sich  dagegen  schützen  und  am  schnellsten  davon  be¬ 
freien?  Für  Aerzte  und  Nichtärzte  beantwortet.  Mit 
einer  Abbildung  in  Steindruck.  8.  Ebendaselbst.  II  und 
180  S.  1  Thlr.  6  Gr. 

Eblin,  P.,  Mineralquelle  und  Bad  zu  Jenatz  im  Prättigau, 
Canton  Graubünden.  Ein  Beitrag  zur  Beschreibung  der 
Bündnerischen  Mineralquellen.  Mit  einer  lithogr.  Ansicht 
des  Bades.  Chur.  Otto.  XII  u.  98  S.  18  Gr. 

Fischer,  A.  Fr.,  die  Homöopathie  vor  dem  Richterstuhle 
der  Vernunft.  Ein  Belehrungsbuch  Für  Gebildete.  8. 
Dresden.  Hilschcr.  VIII  u.  98  S.  9  Gr. 

Fried  reich,  J.  B. ,  Magazin  Für  die  philosophische,  me- 
dicinische  und  gerichtliche  Seelenkunde,  ls  Heft.  gr.  8. 
Würzburg.  Strecker.  150  S.  16  Gr. 

Groos,  Friedr.,  Ideen  zur  Begründung  eines  obersten  Prin¬ 
zips  Für  die  psychische  Legalmedicin.  gr.  8.  Heidelberg. 
Engelmann.  160  S.  1  Thlr. 

Heine,  Jac.,  über  die  Unterbindung  der  Arteria  subclavia. 
Inaugural -Abhandlung,  gr.8.  Würzburg.  Becker.  86  Sei¬ 
ten.  10  Gr. 

Hille,  K.  Chr.,  das  Dampfbad,  seine  Einrichtung,  Wir¬ 
kung  und  Anwendung,  mit  Bezug  auf  diese  Anstalten  io 
Dresden  dargestellt.  8.  Dresden.  Arnold.  14  Gr. 

Jahrbücher  der  philosophisch-medicinischen  Gesellschaft 
zu  Würzburg.  I.  3.  gr.8.  Würzburg.  Strecker.  260  Sei¬ 
ten.  1  Thlr.  4  Gr. 

Kolb,  J.  N.,  Bromatologie  oder  Uebersicht  der  bekannte¬ 
sten  Nahrungsmittel  der  Bewohner  der  verschiedenen 
Wclttheile.  Naturhistorisch  und  mit  Hinweisung  auf  ih¬ 
ren  diätetischen  und  pbarmaco- dynamischen  Werth  ent- 


I 


XII.  Mechanische  Bibliographie.  511 

worfen  in  3  Theilen.  2r  Theil,  welcher  die  eigentlich 
nahrhaften  Vegetabilien  enthält,  gr.8.  Hadamar.  Gelehrten- 
Buchh.  VIII  u.  524  S.  2  Thlr.  10  Gr. 

Malik,  A.  A.,  Abhandlung  über  die  Ruhr,  und  ihre  ver¬ 
einfachte  Therapie,  nebst  Beschreibung  der  Ruhrepidemie, 
welche  im  Jahre  1827  auf  den  Gütern  Naworow  und 

/  *  “  V  *  • 

Jesseney  geherrscht  hat.  8.  Prag.  Sommer.  127  S. 
Martini,  R.  J.  A.,  et  J.  G.  Horock,  observationes  ra- 
rioris  degenerationis  cutis  in  cruribus  elephantiasin  simu- 
lantis.  Accedunt  tabulae  aeneae  duae.  4.  Leipzig.  Yofs. 
Ir  Theil.  fl  u.  28  P.  2r  Th.  III  et  27  P.  1  Thlr.  8  Gr.  v 
Mellin,  Chr.  J.,  der  Kinderarzt,  oder  fafslicher  Unter¬ 
richt  über  die  Behandlung  der  Kinder  im  gesunden  und 
kranken  Zustande.  Ein  nützliches  Hülfs-  und  Lehrbuch 
für  Landärzte,  Landwundärzte  u.  gebildete  Eltern.  Dritte, 
sehr  vermehrte  und  verbesserte  Auflage,  bearbeitet  von 
J.  G.  Hertel.  8.  Kempten.  Dannheimer.  VIII  u.  236  Sei¬ 
ten.  16  Gr. 

du  Menil,  Aug.,  der  Rehburger  Brunnen  als  Cur-  und 
Erholungsort.  Mit  der  Ansicht  von  Rehburg.  12.  Han¬ 
nover.  Helwing.  VIII  u.  200  S.  16  Gr. 

Metz,  Andr.,  über  den  Begriff  der  Naturphilosophie  u.  s.  w. 

gr.8.  Würzburg.  Strecker.  52  S.  6  Gr. 

Pharmacopoea  Borussica.  Editio  quinta.  4.  Berlin. 

Plahn.  X  et  418  P.  2  Thlr.  6  Gr. 

Pharmakopoe,  preufsische.  Fünfte  Ausgabe.  Ueber- 
setzung  der  lateinischen  Urschrift,  gr.8.  Ebendas.  XV  u. 
443  S.  1  Thlr.  18  Gr. 

Pharmacopoea  universalis,  oder  Uebersicht  der  Phar¬ 
makopoen  von  Amsterdam,  Antwerpen,  Dublin,  Edin¬ 
burgh,  Ferrara,  Genf,  London,  Oldenburg,  Würzburg; 
deren  Amerika’s,  Finnlands,  Frankreichs,  Hannovers,  Hes¬ 
sens,  Hollands,  der  Niederlande,  Oestreichs,  Polens,  Por¬ 
tugals,  Preufsens,  Rufslands,  Sachsens,  Sardiniens,  Schwe¬ 
dens,  Spaniens,  Würtembergs;  der  Dispensatorien  von 
Braunschweig,  Fulda,  Hessen,  Lippe  und  der  Pfalz;  der 


512 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 


Mil  itärpharmakopöen  Dänemarks,  Frankreichs,  Preu Tseng, 
Rufslands  und  von  Wiirzburg;  der  Armenpharmakopöc 
von  Hamburg;  der  Formularien  und  Pharmakopoen  Au- 
gustin’s,  Bories’s,  Brera’s,  Brugnatellis,  Cadet  de  Gassi- 
court’s,  Gox’s,  Ellis’s,  Ferrarini’s,  Hufeland’s,  Magcndie’s, 
Piderit’s,  Pierquin’s,  Ratier’s,  Saundejrs  s,  Sainte-  Marie  s, 
Spielmann’s,  Swediaur’s,  Taddei’s  und  van  Mons’s.  Nach 
der  Pharmacopöe  universelle  des  A.  J.  L.  Jourdan,  mit 
Zusätzen.  Ersten  Bandes  zweite  Hälfte  (JJogen  25  bis 
zum  Schlufs  des  Bandes),  nebst  Haupttitel  und  Vorrede. 
gr.8.  Weimar.  Industrie- Comptoir.  VI  und  37S  Seiten, 
br.  2  Thlr. 

Portal,  Baron,  Beobachtungen  über  die  Natur  und  Be¬ 
handlung  der  Epilepsie.  Aus  dem  Französischen  von  J. 
A.  L.  W.  Hermes,  gr.8.  Stendal.  Frauzen  und  Grofse. 
XVI  u.  364  S.  1  Thlr.  12  Gr. 

Prus,  Bene,  neue  Untersuchungen  über  die  Natur  und 
die  Behandlung  des  Magenkrebses.  Aus  dem  Franz,  mit 
Zusätzen  von  F.  Balliug.  8.  Würzburg.  Strecker.  163  Sei¬ 
ten.  16  Gr. 

Rast,  F.  W. ,  einige  Worte  über  die  wahre  Bedeutung 
des  russischen  Dampfbades  in  heilkräftiger  Hinsicht,  zur 
Beachtung  für  Aerzte  und  gebildete  Nichtärzte.  Zum 
Besten  der  abgebrannten  Armen  in  Bonneburg.  8.  Zeitz. 
Webel.  VI  u.  76  S. 

Sch  im  ko,  J.  G.,  das  Hahnemannische  System  in  mathe¬ 
matischer  und  chemisch- geologischer  Hinsicht  betrachtet 
und  widerlegt.  8.  Teschen.  Prochaska.  48  S.  br.  12  Gr. 

Simeons,  Karl,  Diätetik  für  gesunde,  schwache  und  kranke 
Augen,  oder  Rath,  wie  man  die  Augen  gesund  erhalten, 
schwache  Augen  stärken,  und  kranke  Augen  diätetisch 
behandeln  soll;  nebst  ausführlichen  Regeln  über  die  Aus¬ 
wahl,  Beschaffenheit  und  den  Gebrauch  zweckmäfsiger 
Brillen.  Mit  2  Steindrucktafeln.  8.  Darmstadt.  LesVe. 
119  S.  12  Gr. 

Sprengel,  Curt,  literatura  medica  externa  recentior  seu 
enumeratio  librorum  plerorumque  et  commentarioruin 
singularium,  ad  doctrinas  medicas  facientium,  qui  extra 
germaniam  ab  anno  inde  175U  impressi  sunt.  Smaj.  Leip¬ 
zig  Brockhaus.  630  P.  1  Thlr.  12  Gr. 

Wolffsohn,  S,  der  Zahnarzt.  Ein  Sendschreiben  an 
Mütter,  denen  das  Wohl  ihrer  Kinder  in  dieser  Hinsicht 
am  Herzen  liegt.  16.  Berlin.  Plahn.  X  u.  62  S.  8  Gr. 


513 


XII.  Medicinische  Bibliographie. 

Wurm,  AI.,  de  tractatione  syphilidis  sine  hydrargyro. 
Dissertatio  inauguralis  medica  etc.  8.  Kempten.  Mannhei¬ 
mer.  46  P.  4:  Gr. 

Zimmermann,  anatomische  Darstellungen  zum  Privatstu¬ 
dium.  Fünftes  Heft:  Tabula  XVII  —  XX.  Myologie. 
Sechstes  Heft:  Tabula  XXI  —  XXIV.  Angiologie.  4.  Leip¬ 
zig.  Lauffer.  1  Thlr.  5  Gr. 

Zöhrer,  A.  F.,  das  Heilverfahren  gegen  die  scrophulösen 
Drüsengeschwülste  und  Abscesse.  gr.  $.  Wien.  Mayer. 
84  S.  16  Gr. 

Für  die  Herren  Apotheker,  vorzüglich  in 
den  preufsi sehen  Staaten, 

ist  so  eben  bei  II.  A.  Rottmann  in  Basel  und  Leipzig 
erschienen,  und  in  allen  Buchhandlungen  zu  haben: 

H  andbuch  der  pharmaceutischen  Praxis, 
oder  Erklärung  der  in  den  Apotheken  auf¬ 
genommenen  chemischen  Zubereitungen. 
Mit  ganz  vorzüglicher  Rücksicht  auf  die  neue 
preufsische  Pharmakopoe  entworfen  von  J.  W. 
Chr.  Fischer.  Dritte,  umgearbeitete  Auflage, 
von  Dr.  C.  J.  B.  Karsten.  Nebst  auf  die  neueste 
preufsische  Pharmakopoe  sich  beziehenden  Nach¬ 
trägen,  herausgegeben  von  Dr.  L.  Fr.  Bley.  gr.8. 
45  Bogen.  2  Thlr.  18  Gr. 

Die  Nachträge  apart  15  Bogen.  18  Gr. 

Der  Werth  dieses  Buchs  ist  längst  anerkannt,  es  be¬ 
darf  daher  keiner  weiteren  Anpreisung.  Die  Nachträge  ent¬ 
halten  auch  die  in  dem  kürzlich  erschienenen  Appendix  zur 
preufs.  Pharmakopoe  befindlichen  Veränderungen.  Der  Preis 
ist  so  billig  als  möglich  gestellt. 

Bei  Carl  Cnobloch  in  Leipzig  ist  erschienen,  und  durch 
alle  Buchhandlungen  zu  erhalten: 

Pedanii  Dioscoridis  Anazarbei  de  materia 
medica  libri  V.  Ad  fidem  codicum  manuscri- 
ptor. ,  editionis  Aldinae  principis  usquequaque  nc- 
glectae,  et  interpretum  priscorum  textum  recens. 
varias  addidit  lectiones,  interpret.  emendavit,  com- 
mentario  illustravit  Gurt  Sprengel. 


514 


XII.  Mcdicinische  Bibliographie. 

Auch  unter  dem  Titel: 

Mcdicornm  graecormn  opera  quae  exstant  ed.  Kühn. 
Vol.  XXV. 

Seit  1598  ist  von  diesem  für  die  Arzneimittellehre  der 
Alten  so  sehr  wichtigen  Schriftsteller  keine  Ausgabe  erschie¬ 
nen,  und  der  Herr  Herausgeber,  dessen  Kenntnisse  der 
griechischen  Sprache  und  der  Iiotanik  allgemein  bekannt 
und  geschätzt  sind,  hat  sich  daher  durch  Besorgung  einer 
neuen  und  kritischen  Ausgabe  des  Dioskorides  ein  neues 
Verdienst  um  die  W  issenschaften  erworben.  In  dem  Be¬ 
sitze  eines  vortrefflichen  kritischen  Apparats,  hat  er  sich 
desselben,  so  wie  seiner  botanischen  Kenntnisse,  zur  Ver¬ 
besserung  vieler  verdorbener  Stellen  dieses  Schriftstellers 
bedient.  Im  zweiten  Theilc,  welcher  bis  Ende  October 
erscheint,  werden  die  drei  noch  rückständigen  Bücher  nebst 
dem  die  Sachen  erklärenden  Commentar  enthalten  sein. 
Der  Preis  beider  Theile,  welche  nicht  getrennt  werden, 
ist  10  Thlr. 

Von  demselben  Verleger  ist  an  sammtliche  Buchhandlungen 

versandt : 

Die  Pathologie  nnd  Therapie  der  Kehl- 
kopfskrankheiten.  Eine  Monographie  von  I)r. 
Alters,  gr.  8.  19  Bogen.  1  Thlr.  12  Gr. 

Der  Herr  Verfasser  hat  sich  bemüht,  in  diesem  Werke 
die  verschiedenen  pathologischen  Zustände  des  Kehlkopfs 
für  die  Erkenntnifs  so  viel  als  möglich  bestimmt  darzule¬ 
gen,  wobei  er  eine  besondere  Aufmerksamkeit  den  Geschwü¬ 
ren  des  Kehlkopfs,  welche  den  Aerzten  gewöhnlich  unter 
dem  Namen  Kehlkopfsschwindsucht  bekannt  sind,  gewidmet, 
und  diese  theils  nach  dem  specifiken  Charakter,  theils  nach 
ihrem  Sitze  gewürdigt  hat.  Indem  er  auch  die  übrigen 
Krankheiten  des  Kehlkopfs  mit  nicht  geringerem  Interesse 
als  Fleifs  behandelt  und  dabei  die  Littcratur  des  In  -  und 
Auslandes  sorgfältig  benutzt  hat,  liefert  derselbe  das  erste 
vollständige  Werk  über  die  Kehlkopfskrankhcitcn,  was  den 
Aerzten  gewifs  eine  willkommene  Erscheinung  ist. 


Gedruckt  bei  A.  W.  Schade  in  Berlin. 


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FIFTH  LEVEL 


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