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TLibrarics
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LITTERARISCHE ANNALEN
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gesammten Heilkunde.
ln Verbindung
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m/7 mehreren Gelehrten
1t «raus gegeben
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von
Dr. Justus Friedrich Carl Hecker,
Professor der Heilkunde an der Universität Berlin, Mitgliede der
medicinisv Len Ober-Exaroinations - Commission, der medicinischen
Gesellschaften zu Berlin, Kopenhagen, London, Philadelphia und
Zürich, der Wetterauischen Gesellschaft für die gesammle Natur¬
kunde, der Gesellschaften für Natur- und Heilkunde zu Berlin,
Bonn und Dresden, so wie der Accademia Pontaniana zu Neapel
Mitgliede und Correspondenten.
V ier z eh n t er B a n d,
»
Berlin.
im Verlage
von T h e o d. Christ. F r i e d r. K n s 1 i n.
1829.
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Narrte n eerzeich / / ijs der Herren Mitarbeiter .
Herr Professor v. Amnion in Dresden.
— Medicinalrath Dr. Andrea in Magdeburg.
— Dr. Delir in Bernburg.
— Dr. Brüggemann in Magdeburg.
— Professor Dr. Carus in Dresden.
— Hofrath Dr. Clarus in Leipzig.
— Dr. Dieffenbach in Berlin.
— Collegienrath und Professor Dr. Erdmann in Dorpat.
— Dr. Haindorf in Münster.
— Dr. Iley fei der in Trier.
— Professor Jäger in Erlangen.
— Dr. Köhler in Dorpat.
— Hof- und Medicinalrath Dr. Kreysig in Dresden.
— Professor Dr. Lichtenstädt in Breslau.
— Dr. Lo eher - Bai her in Zürich.
— Professor Dr. Marx in Güttingen.
— Dr. Monfalcon in Lyon.
— Dr. Otto in Kopenhagen.
— Dr. Plagge in Burg -Steinfurth.
— Dr. G. 11. Richter io Königsberg.
—r- »Geh. Medüinairaih Dr. Sachsa in Ludwigdust
— Dr. Schilling in Dresden.
— Dr. Schön in Hamburg.
— Dr. Serlo in Crossen.
— Dr. E. v. Siebold in Berlin.
— Dr. Siel mann in Moskau.
— « Prof. Spitta in Rostock.
— Hofrath Dr. Stark in Jena.
— Medicinalrath Dr. Steffen in Stettin.
— Geh. Medicinalrath Dr. Vogel in Rostock.
— Professor Dr. Wagner in Berlin.
— Professor Weber in Bonn.
— Professor Dr. Wendt in Kopenhagen.
— Regimentsarzt Dr. Wutzer in Münster.
11 PROPCTY1 OF“«
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Dem Herrn
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Dr. Henry Scoutetten,
Aide-major am Militair- Hospital zu Metz, Milglled der Acade-
mieen der Wissenschaften in Toulouse, Lille und Metz, der
raedicinischen Gesellschaften in Berlin, Metz, Paris, Toulouse,
Würz bürg, der naturhistorischen Gesellschaft in Leipzig,
u. s. w.
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widmet
den vierzehnten Band dieser Annalen
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hochachtungsvoll
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der Herausgeber.
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Inhalt des vierzehnten Bandes.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
I
2.
3.
4
I. Originalabhandltmgen.
Seite
Paracelsus, von Dr. F. Jah n. . .... 1.129
Ein Beitrag zur Lehre von den Rückenmarkkrankhei-
ten, von Dr. M. Schlesinger. . . 74
Zur Lehre von der forensischen Beurtheilung der Ver¬
giftungen, von Dr. Lichtenstädt . 162
Skizze der Lehre von den kritischen Tagen. Von Dr.
Steinheim . 257
Philosophie und Physik. Von Dr. Stein heim. . . 387
Fortgesetzte Beobachtungen über die Lebensart und
den Bifs der gemeinen Otter. Von Dr. Wagner. . 433
II. Kritische Anzeigen.
A. Homöopathie.
C. G. Ch. II artlaub, Tabellen für die praktische Me-
dicin nach homöopathischen Grundsätaen. . . . . 31
G. A. Tittmann, Die Homöopathie in staatspolizei-
rechtlicher Hinsicht . i 31
C. L. Kaiser, D ie homöopathische Heilkunst u. s. w. 43
B. Geschichte der Heilkunde.
P. «L Schneider, Die Ilamatomanie des ersten Vier¬
tels des neunzehnten Jahrhunderts . 46
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VI
5.
6
7#
8.
9.
10.
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12
13.
14.
Inhalt des vierzehnten Bandes.
i
C. Praktische Heilkunde.
•Seite
A. J. L. Jourdan, 'fraite Oomplct des maladics venr-
rienncs. . 102. 289
N. Chr. M ühl, Ucber die Varioloideu und Varicellen.
A. d. Lat. mit Anm. und Zus. von C. F. Th. Krause. 225
Th u 1 cs i u s , Variolarum, quac llalae Saxonum a. 1826 27.
florucrunt, descriptio . 230
L. Maier, Feber die Yarioloidcn oder die modi-ficir-
ten Pocken . 288
Ulrich, Generalbericht des königl. Rheinischen Me*
dicinal - Collegiums über das Jahr 1826 . 281
Ilertwig, Beiträge zur näheren Kcnutnifs der Wuth-
krankheit oder Tollheit der Hunde . . . 294
A. W. v. Stosch, Versuch einer Pathologie und The¬
rapie des Diabetes mellitus . 304
J. F. Engelhard, Der Croup in dreifacher Form u.
s. w. . 339
C. A. W. Berends Vorlesungen über praktische Arz-
nciwisscnschaft, herausgeg. von K. Sundelin. Bd. 5. 479
F. Magendie, Beehcrches physiologiques et medicalcs
sur les causes, les syinptomes et 1c traitemeut de ia
gravclle . 495
D. Heilmittellehre, Toxicologie, Heilquel¬
len n n d Bäder.
15. J. F. Brandt und J. T. C. Ratzeburg, Getreue
Darstellung und Beschreibung der 1 liiere, welche in
der Arzneimittellehre in Betracht kommen. lieft 3.
und 4 . 119
16. C. Wenzel, Die Heilkräfte des W asserlenchcl-
saamens . . . . . n. . . .... 122
17. K. Th. Merrem, Feber den Cortex adstringens Bra-
siliensis. . . . . - . 408
18. K. Sundclin, Taschenbuch der ärztlichen Receptir-
kunst und der Arzneiformeln . 413
19. F. S. Ratier, Formulaire pratique des llöpitaux
civils de Paris. . . 41/
20. Fr. G. Ilaync’s Darstellung und Beschreibung der
Arzneigcwächse, welche in die neue preufsischc Phar-
macopöe aufgenommen sind, iiacli natürlichen h ami-
licn geordnet und erläutert von J. F. Brandt und J.
3’h. Chr. Ratzeburg. 5te und 6te Lieferung. . . , 428
21. J. F. Brandt und J. Th. Chr. Ratzeburg, Abbil¬
dung und Beschreibung der in Deutschland wildwach-
Inhalt dos vierzehnten Bandes. Vll
, Seite
senden, in Gärten und im Freien ausdauernden Gift¬
gewächse. Heft 1. und 2 . 430
22. P. feblin, Mineralquelle und Bad 7.u Jenatz. . . 439
23. A. E. v. Sieb old, Ausführliche B eschreibung der
Heilquellen zu Kissingen . . 442
24. S. G. Vogel, B eweis der unschädlichen und heil¬
samen Wirkungen des Badens im Winter . 449
, ✓ _ ' _ — '
E. Staatsarzneikunde.
25. Fr. Klug, Auswahl medicinisch -gerichtlicher Gutach¬
ten der Königl. wissenschaftlichen Deputation für das
Medicinalwesen. Bd. 1 . 152
x . , . • • r * ! * i « • .<<-■ i f
* / ■ *
F. Physiologie.
P
26. M. Troja, Neue Beobachtungen und Versuche über
die Knochen. A. d. Ital. von A. v. Schönberg. . . 173
G. Chirurgie.
27. A. Cooper, Illustrations of the diseases of the breast. 213
\
H. Allgemeine Pathologie.
28. F. Jahn, Ahnungen einer allgemeinen Naturgeschichte
der Krankheiten . 357
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\ *
I
I. Psychische Heilkunde.
29. G. M. Burrows, Commentaries on the causes, forms,
Symptoms, and treatment, moral and medical of In-
sanity . • . 451
K. Populäre Schriften.
m 4 / ' i
30. K. F. Lutheritz, Der freundliche Hausarzt als Rath¬
geber bei Erkältungskrankheiten und allen Folgen der
Blutverschleimung. . . . 355
31 G. W. Becker, Guter Rath für Schwerhörige und
Taube . r 356
L. Dissertationen.
1. Der Universität Königsberg . ?..... 124
2. — — Berlin. . . . , • , , , ' . . , , 127
\
/
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I
♦
Inhalt des vierzehnten Bandes.
VIII
III. Notizen.
1. Chirurgische .
2. Praktische.
Seite
. . 186
245.345.497
IV. Preisfrage,
die Zulassung tu den Facultats- Studien betreffend. . . . 167
. t • \
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V. Berichtigung,
von Clarus . . . ..172
Medicinische Bibliographie . 249.384.508
I
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4
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*>
I
Par,acelsus.
Von
D r. F. Jahn.
«Ich will’s euch dermaafsen erläutern und Vorhalten, dafs
bis an den letzten Tag der Welt meine Schriften müssen blei-
ben, und wahrhaftig! Mehr -will ich richten nach meinem Tod
wider eüch, denn davor!»
Par acels u s»
•' . I i ■'
Wohl wenige Menschen sind allgemeiner verschrieen wor¬
den, als Paracelsus. Nach langem Studium seiner dun-
kelen Bücher *), zu denen mich besonders sein grofser
Schüler und Geistesverwandter Heimo nt hinleitete, glaube
ich in Wahrheit aussagen zu können, dafs der Tadel, der
ihm geworden, gröfstentheils als ungegründet und unge¬
recht, und er selbst als einer der erhabensten Menschen
aller Zeiten und Völker angesehen werden müsse 1 2).
Zeit, Ort, Vorbereitung, Fähigkeit erlauben mir für
den Augenblick nicht, ein umfassendes und in allen Par-
1) Schon Helmont sagt: Libros Paracelsi densa ob-
scuritate obsitos investigavi illumque homincm admiratus sum.
2) Pcce, locabo loco celso cclsum Paracelsum — sagt
ein alter Poet
XIV. Bd. l. St.
1
o
I. Paracelsus.
tiecn ausgeführtes Bild des grofsen Todtcn zu geben, ihn
seiner würdig und seiner vollen weltgeschichtlichen Bedeu¬
tung nach zu schildern, darzulegen, wie er, von der Zeit
gefordert und nothwendig für den Gang der Ausbildung
des Menschenlebens , in jener wundervollen mystischen
i
Epoche, wo die Kreuzzüge und andere grofse kriegerische
Bewegungen das Feuerleben des Orients mit dem kalten
ernsten Leben des Occidents in Conflict gebracht hatten,
. wo die I niversitäten in ihrer Blüthe standen, wo die hel¬
lenische Philosophie in regen Kampf mit der Scholastik trat,
wo Poesie, Malerei und Bildhauerkunst ihre gröfste Höhe
gewannen, wo die Alchymie emporkam, wo die Buch¬
druckerkunst erfunden w>ard und das Schiefspulver, wo
Ostindien und Amerika als neue Welten sich dem Meere
enthoben, wo nie gesehene seltsame Krankheiten zu Häuf
hervortraten, wo Luther Europa von den schmählichen
Fesseln des neuen geistigen Rom rettete und uns keinen
Homer, aber die Bibel gab, wo Deutschland seine höchste
Macht und Gröfse errang — wie er, sage ich, in diesem
Zeitabschnitte und nur vermöge desselben, ein neuer Pro¬
metheus, in die alte tausendjährige galenistische Nacht helles
schlagendes Licht warf, wie er eine Zwingburg der Aerzte,
an der Tausende tausend Jahre lang gebaut, befestigt und
geflickt hatten, als einzelner Mensch mit herkulischer Stärke
von Grund aus zerstörte, wie er das Herrliche, das in der
Medicin von den alten griechischen Naturphilosophen, von
Platon, von Hippokratcs zu Tage gefordert, später
aber begraben worden, wieder ans Licht und zu Ehren
brachte und durch Helmont, Stahl und Schell ing auf
unsere Zeit übertrug, wie er in dieser Weise und auf die¬
sem Wege ein System erbaute, das, wie an anderem Orte
gesagt, wohl einem Baume verglichen werden kann, der,
der Zeit ihren Zoll pflichtend !), mit knorrigen zcrsplit-
1 ) Die Zeit ist scharf, denn sic giebt alle Stunden Neues.
In gleicher V\eise, wie des Menschen Gedanken sind, die alle
I. Paracelsus.
3
terten Aesten und zerklüfteter erstorbener Rinde, von After¬
gebilden bedeckt, zum grofsen Theile vom Wurme zer¬
nagt, krumm und verwachsen auf nacktem Felsen bängt,
der aber zugleich noch im Innern lebendes Mark und in
diesem eine Fülle schaffender Gewalt herbergt, und so blüht
und Früchte treibt, die, edlen Wesens, die Enkel des Pflan¬
zers erfreuen und labeD.
Die angedeutete Schilderung bleibt anderer Zeit und
anderem Orte Vorbehalten, und ich liefere hier nur eine
Aehrenlese aus den paracelsischen Schriften, zum Beweise,
dafs meine Ansicht über den Reformator gerecht sei und
wahr. Hierbei ist sonderbar, dafs ich in derselbigen Ge¬
gend wohne, in welcher dereinst Erastus, Galle statt der
Tinte gebrauchend, gegen den von mir hochverehrten Mann
schrieb. —
Ich beginne meinen Aufsatz mit der Erörterung einiger
Vorwürfe und Beschuldigungen, die gewöhnlich gegen Pa¬
racelsus erhoben werden.
Man rückt ihm allgemein Sittenlosigkeit , Hochmuth
und Ruhmredigkeit vor. Dafs er mitunter Wein über Ge¬
bühr zu sich genommen habe, kann niemand ableugnen,
und wird auch von Helmont bestätigt *); es ist aus
des Mannes unstetem Leben, aus seinen Kriegsfahrten, aus
den Verfolgungen, die er bestehen mufste, aus seinem Un-
Stunden anders und anders sind, 12 Stunden im Tag umgewen¬
det — niemand mag’s wissen, denn Einer allein — ; also auch
ist’s mit der Zeit; sie bringt Neues. — Darum soll sich der
Arzt nicht zu viel atisthun, denn es ist ein Herr über ihm, das
ist die Zeit, die mit dem Arzt spielet, wie die Katze mit den
Mäusen. Parac. Th. 5. S. 83. (Ich citire nach de^ Frank¬
furter Ausgabe von 1603, zum Theil auch, besonders in Be¬
ziehung auf das Chirurgische , nach der Genfer lateinischen
von 1658. )
1) Interim, ut sua quemque voluptas trahit, justo
nimis compotationibus indulgens coepit spernere cathedram. J.
B. Hel inont opp. omn. Francof. S. 223.
1 *
• •
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M
4
I.
Paracelsus,
willen über die Zeit r) leicht erklärlich; dafs er aber, wie
ihm die Gegner vorwerfen, beständig berauscht gewesen
sei, ist nicht möglich, weil er dann seine Leistungen ge-
wifs nicht vollbracht hätte 1 2 3). .Er* Selbst sagt auch, dafs
ein « voller Zapf »» nicht ans Krankenbette gehöre *). —
Grofsen Abscheu zeigt er vor dem Mifsbrauche des weib¬
lichen Geschlechtes. «Der Geist des Herrn ist in den
Frauen, der sich einbildet und setzt Frucht in ihnen.
Darum sie nicht sollen zu Hurerei gebraucht werden, denn
da ist der Geist, der vom Herrn kommt, zu dem er auch
wieder geht.» 4) — Dafs er Stolz besafs, ist klar; eben
so, dafs er Ursache dazu batte. So konnte er denn die
1) «Verum nil istis mcis argumentis etiam firrnissimis per-
moveri Gerrnanos ct Italos medicos 3 ex rationibus intelligo.
Alii namque eorum jam senes et laboribus fracti quictem quae-
runt; alii crumenac quam aegris medentur aceuratius; ultimi no-
vitatis pertaesi tarn pigri ac vccordes sunt, ut vix se ipsos loco
moveant. >» «Naturae imperitos esse cique manifeste eontradiccrc
cum vitiosum non putetis , dein morborurn descriptionibus (eliam
invita Minerva consarcinatis ) , quac nuda antiquitate commendan-
tur, sine judicio pertinaciter fidcm adhibeatis, cur non ad dete-
gendos errores vestros compclli me paterer?» (3, 106.)
2) Man führt gewöhnlich an, wenn man P. als Trunken¬
bold bezeichnet, dafs er die Studenten combibones optimi nenne.
D er Ausdruck kommt in einem Briefe vor, in dem er die Zü¬
richer Studenten von Frohen ius Tode benachrichtigt. (Th. 7.
S. 4.) Man lese diesen herrlichen, rührenden, von tiefer Ge-
roüthlichkcit zeugenden Brief, und man wird die Stelle gewifs
milder beurtheilen und nicht anstöfsig finden. Es kommt in dem
Briefe vor: Convictus vester suavissiinus , quo nuper apud vos
fruitus sum , cujus etiam adhuc cum summa gratiaruin actione
recordor. Auf diesen Convictus bezieht sich der Ausdru ck
Combibones.
3) Th. 7. S. 116. u. a. a. O.
4) Th. 1. S. 116. Hierbei ist freilich zu erwägen, dafs
er durch «in Schwein castrirt gewesen »ein soll, was auch ilei-
raont a. a. O. sagt.
I
I. Paracelsus,
5
bekannte Aeufserung thun: «Mir nach, nur nach, Avi-
cenna, Galen us, Rhases, Montagnana, Mesoe und
ihr Anderen! Mir nach und ich nit euch nach, ihr von
Paris, ihr von Meifsen, ihr von Montpellier u. s. w. Ich
werd Monarcha und mein wird die Monarchei sein und ich
führe die Monarchei und gürte euch eure Lenden! u.$. w. »*)
Aber von Ilochmuth und Eitelkeit ist er fern. « Das mer¬
ket wohl, dafs Gott uns gesetzt hat die Strafe, das Anzei¬
chen, das Exempel in unsern Krankheiten, dafs wir sehen
sollen, dafs all unsere Sache nichts ist und dafs wir in kei¬
nem Ding gut ergründet sind und die Wahrheit wissen.
Sondern in allen Dingen sind wir bresthaftig und unser
Wissen und Können ist nichts!” 1 2) So kann man ihm auch
nicht eigentlich Ruhmredigkeit vorwerfen. Er sagt zu sei¬
nen Gegnern, den Humoralpathologen: «Nein! nein! was
ihr verderbt, dasselbige unterstehe ich mich wieder aufzu¬
bringen!” 3 4) — aber in der That hat er auch Wunder-
curen verrichtet, wie das Experiment beweist, das er vor
Basa, dem Leibarzt des Königs von Polen, zu Basel an¬
stellte, und der Umstand, dafs ihn die scharfsinnigsten Män¬
ner der Zeit, z. B. Erasmus *), und vornehme Personen
1) Th. 2. S. 232. Aehnliche Reden: «Jetzt folgt in der
mittleren Welt die Monarchei aller Künste an Theophr. , den
Fürsten. Ich, von Gott dem Allmächtigen erkoren, werd alle
Phantasei und erdichtete Werke unterdrücken der Vermeinten,
sie heifsen Aristoteles, Avicenna, Mesoe, oder wie sie
wollen.» 6, 200. «Omnes, quotquot sunt scholastici medici,
non digni sunt, qui corrigiam calceamentorum mihi solvant. »>
Chirurg. 13.
2) Th. 2. S. 146.
3) Th. 3. S. 20. ' • '
4) Erasmus schreibt an Par.: Rci medicae peritissimo
Dr. Th eophr. eremitae S.! Derairor, unde metam penitus
noris semel duntaxat visam. — Frobenium ab inferis rcvo-
casti, h. e. diruidium ruei; si me quoque restitueris , in singulum
ntrumque restitues etc, 3, 180.
6
%
I. Paracelsus.
aus weit entlegenen Landern, z. B. Bonerus in Krakau,
K welcher, wie Huserus berichtet, dazumal aller gelehrten
Leute Mecänas und Patronus gewesen,” 1 2 3 4 ) und Leipnik,
Oberst- Erbmarschalk in Böhmen, a) um Rath fragten *).
Vielen ist die Schreibart des Mannes ein Aergernifs
geweserf. u In der That wirft er mit Redensarten um sich,
die heutigen Tages als pöbelhaft gelten. Schanddeckel , lau¬
siger Sophist, unwissender Stölpel, Bequiem-Doctor, Ga-
leni -Leviten , Zahnbrecher, Hodenschneider, Dr. Gimpel,
Polster- Doetor, Stümpler, grober Stuffel -Doctor der ho¬
hen Schulen, Pseudomedicus, Meister Arschkratzer, Laus¬
jäger, Laussträler, Hundschläger, Dr. Starwadel, Kälber¬
arzt, schelmigc Juden, Cadavera, contrafeite Oelgötzen,
Lusirer im Seckel, Säue, fiir die das « Perlin M nicht ge¬
hört, sind gewöhnliche Titel, mit denen er seine Gegner
belegt *), und Diebs- und Beschifsgrube heifst ihm die alte
1) Paracelsus Consilien an Bonerus s. 5. 68.
2) Consilium für von der Leipnirk (Sprengel schreibt
Leippa) das. 69.
3) Dafs unjerm Manne wcmdergrofsc Heilungen gelungen
seien, ist sonnenklar, llelmo nt, der ihm der Zeit nach so nahe
stand, sagt: Graviorum inorborum myriades passim, velut falce
demetendo, Herculis clava trucidavit. IScminis apologum ago.
Fateor autem lubens , illum potuisse per remedia sua sanare
lepram, asthma, tabem, paralysin, cpilcpsiam, calculum , hydro-
pem, podagram, cancrum, atque ejusmodi vulgo incurabilcs mor-
bos. Atque hactenus fuit morborum fere omnium vindex et sa-
nator. Opp. 739. So steht auch auf Paracelsus Grabe zu
Salzburg: — lepram, podagram, hydropisim aliaque insanabilia
corporis contagia mirifica arte sustulit. VcrgL Parac. testament,
c. Toxi t es, in der Genfer Ausgabe.
4) O vere pileatos doctorculos, qui praeter pileolum
subrubrum et titulum nil insigne geritis, qui ex pumice Nilum
abundantem petitis ! Coecus sequitur coecum, cascnm cascus !
6, 93. «Es will ja nichts sagen, dafs eine .Sau irn Itübcnackcr
sei ! *» I, 65. Wohin der Athem der Gemahlin eines seiner
Gegner gehöre, lehrt er 2, 412.
I. Paracelsus.
7
v \
Medicin. Aber man darf, wenn man über diese Reden
urtheilt, den Geist der Zeit nicht vergessen, und mufs er¬
wögen, dafs damals *) Dinge, die wir überbildete Menschen
nicht zu nennen wagen, beim rechten Namen gerufen wur¬
den, dafs Luther in ähnlicher Weise schrieb 1 2), dafs die
Humanisten jener Zeit noch gröber zankten, so dafs sie nur
koct dvTt(p£ct<riv Humanisten heifsen können, endlich, dafs
Paracelsus, der seinen Gegner Waldesel von Einsiedlen,
landstreicherischen Bettler, Cacophrastus, Plagiarius, Necro-
mantist, Ilomicida, Lutherus medicorum, ja, vom « Beelze-
bock” besessen, liiefs, nur das Vergeltungsrecht ausübte 3)
und den Satz beachtete, dafs man unter Wölfen mitheulen
1 • ■
müsse 4). In der That, hätte Paracelsus in der groben
1) «Da man Wohlredens nicht so grofs geachtet, als jetzi¬
ger Zeit» — sagt Huserus, der Herausgeber des Parac.
2) Interessant ist es, dafs Luther und Paracelsus den
Aristoteles, den sie beide nur aus verdorbenen, von den
Scholastikern verfertigten Uebersetzungen kannten, auf dieselbe
Weise mit Schmähungen behandeln. Luther nennt den Philo-
so ph en einen verdammten, hochraüthigen , schalkhaftigen , blin¬
den, todlen Heiden, einen Elenden, der mit falschen Worten
so viele genarrt; Paracelsus begrüfst ihn als scharfen Phan¬
tasten, als verführten Mann, ganz unwissend der natürlichen
Philosophie, aber scharfsinnig und bissig auf irrigem Wege.
3) Er sagt selbst, es sei ihm unmöglich, jedem groben
Esel, wie einem jungen Kind, Mus ins Maul zu streichen.
4) Seine Feinde verglichen ihn häufig mit Luther, wie
schon gesagt, und in der That hat er in seinem ganzen Sein und
Wesen grofse Aehnlichkeit mit dem grofsen Manne. Er sagt
aber irgendwo, dafs Luther noch lange nicht weit genug ge¬
gangen sei, und dafs er selbst ganz anders reformirt haben
würde. Merkwürdige Aeulserungen , die sich auf Luther be¬
ziehen, sind folgende: «Mit was Spott habt ihr ausgeschrieen,
ich sei Lutherus medicorum, mit der Auslegung: ich sei Haere-
siarcha! Ich bin Theophrastus und mehr als die, denen ihr
mich vergleichet. Ich bin derselbige und bin Monarcha medico¬
rum dazu , und darf euch beweisen , was ihr nicht beweisen
8
I. Paracelsus.
derben Zeit allein den Höflichen und Feinen gespielt, er
wäre nicht gehört worden, ihm wäre widerfahren, wie
dem wohlgewachsencn Manne im Lande der Hinkenden.
Er sagt übrigens selbst, dafs er sein derbes gerades Wesen
für eine Tugend halte, und dafs er dasselbe weder ändern
wolle, noch, da es in seiner Natur und ganzen Erziehung
gegründet sei, ändern könne x). — Er braucht oft neue
Worte, oft alte Worte in neuem Sinne. Adech oder
Aniadus ist ihm der innere geistige Mensch, Adessi die
Grundmaterie der Nahrungsstoffe, Alboras eine Art Aus¬
satz, Alchaest ein Quecksilberpräparat, Aquastor ein
täuschendes Gesicht, Astrum oder Essatum die Grund-
4
kraft in den Dingen, Azoth die geheime Mcdicin, I)ue-
lech eine Art des Tartarus, Fugile die Parotisgeschwulst,
liech, lleias, lleados die Urkraft der Natur, lliastes
die Grundmaterie, Magna lia die Werke Gottes, Mumia
die die Wunde heilende Materie, Sylo das Weltall, Sy-
phita der Veitstanz und Noctambulismus, Taphneus die
gereinigte Medicin, Truphat die Kraft der Mineralien u.
s. w. * 1 2) Er vertheidigt sich dieser Neuerungen wegen sehr
niöget. Wer Ist dem Luther feind? Eine solche Rotte ist mir
auch gehafs. I nd wie ihr von ihm meinet, also meinet ihr von
mir auch, d. i. dem Feuer zu! Du darfst auf die Lauge nicht
warten!» 2, 235. vergl.
1) *Mir gefällt meine Weise fast wohl. Von der Natur
bin ich nicht subtil gesponnen, ist auch nicht meines Landes
Art, dafs man was mit Scidenspinncn erlange. Wir werden
auch nicht mit E'eigcn erzogen, noch mit Meth , noch mit W ei-
zenhrof, aber mit Käse» Milch und llaberbrot. Es kann nit
subtile Gesellen machen. Zudem, dafs einem all seine läge
anhängt, das er in der Jugend empfangen hat; dersclbigc scheint
nun fast grob zu sein gegen die Subtilen , Katzrcinen, Super-
feinen. Denn dieselbigcn, die in weichen Kleidern und bei
Frauenzimmern erzogen werden, und wir, die in Tannzapfen
erwachsen, verstehen einander nicht wohl!» 2 , 328.
2) Ein (sehr un vollständiges) Dictionariolura Paracclsia-
num hat Baillif zu der Genfer Ausgabe der paracclsischcn VA erke
I. Paracelsus.
9
bündig: «Nova quandoque usurpo vocabula, non sine caussa.
Medicinae namque varietas hoc jubet, subjecti novitas cogit,
namque novus morbus novum nomen, novum remedium
novumque medicum parit. » — Dafs übrigens der Styl des
Reformators, wenn auch gröfstentheils roh und ungehobelt
und nicht selten dunkel, oft bündig und körnig, immer
kräftig, häufig auch grofsartig sei, so dafs er namentlich an
Luther’s unsterbliche Bibelübersetzung erinnert, wird kei¬
ner verkennen, der seine Schriften studiert, und ßiefst
schon aus den von mir angeführten Stellen *). Niemand
wird auch leugnen, dafs er sich dadurch, dafs er die zu
seinem Krame nicht passende, todte lateinische Sprache ver¬
warf und deutsch lehrte und schrieb, grofse Verdienste um
Wissenschaft und Vaterland erworben * 1 2) 3).
Ein Vorwurf, der Paracelsus häufig gemacht wird,
ist von seiner unsteten Lebensweise, von seinem Herum¬
schweifen hergenommen. Er vertheidigt (2, 323.) sein
«beweglich Wesen, Landfahren und Peregriniren » selbst
geliefert. Die seltsamen Worte, die P. gebraucht, haben viele
von dem Studium seiner Werke abgeschreckt. Man darf sich
vor ihnen nicht fürchten; bald ist man an sie gewöhnt und ver¬
steht sie.
1) Sprengel führt als Grund der Unverständlichkeit des
Parac. mit Recht die Untreue seiner Schreiber an. Man vergl.
Parac. Abh. vom langen Leben mit der Uebersetzung derselben,
die Oporin lieferte. Oporin’s W^erk ist ganz dunkel und
mit Mystik überhäuft; Parac. schreibt ganz deutlich, einfach,
verständig.
2) Paracelsus verachtete alle rhetorische Kunst, Sie ge¬
höre nicht in die Medicin. «So sie Philosophen wären für
Poeten, veraces, nicht nugatores u. s. w. » 1, 82. «Ihr Maul
und ihr Schwätzwerk ist all ihr Pracht.» 1, 90.
3) Deutsch schreibe nnd lehre er, sagt P. (Chir. 102.),
weil jhn die Aerzte kaum so verstehen würden; wolle er seine
neue Lehre in der todten Sprache vortragen, so verstehe sie
gewifs niemand.
%
\ - ‘
10
I. Paracelsus.
sehr schön. « Mein Wandern , so ich bisher vollbracht,
hat mir wohl erschossen. Ursach, dafs keinem sein Meister
im Haus wächst, noch einer seinen Lehrer hinter dem Ofen
hat. Sind doch die Künste nicht alle verschlossen in Kines
Vaterland, sondern ausgctheilt durch die ganze Welt. Nicht,
dafs sie in Einem Menschen sind allein, oder an Einem Ort,
sondern sie müssen zusammengeklaubt werden und gesucht
da, da sie sind. — Ein Arzt soll ein Landfahrcr sein.
Ursach: Die Krankheiten wandern hin und her, soweit die
Welt ist, und bleiben nicht an Einem Orte. Will einer
viel Krankheiten erkennen , so wandere er auch. Wandert
er weit, so erfährt er viel und lernt viel erkennen. Und
ob es würde, dafs er wieder in seiner Mütter SchooCs
kommt, kommt dann ein solcher fremder Gast in sein Vater¬
land, so kennt er ihn. — Die engländischen Humores sind
nit ungarisch, noch die neapolitanischen preufsisch — darum
mufst du dahin ziehen, wo sie lind. Und je mehr du sie
suchst und je mehr du von ihnen erfährst, je gröfser wird
dein Verstand in deinem Vaterland. — Also ist auch noth,
dafs der Arzt sei ein Alcbymist. Will er nun derselbige
sein, mufs er die Mutter sehen, aus der die Mineren wach¬
sen. Nun gehen ihru die Berge nicht nach, sondern er
mufs ihnen nachgehen. Will einer Künstler suchen in Be¬
reitung und Scheidung der Natur, da mufs er sie suchen,
wo die Mineralia sind. Soll mir denn das verarget werden,
dafs ich meine Mineralia durchlaufen habe und ihr Gemüth
und Herz erfahren, ihre Künste in meine Ilände gefafst,
di» mich lehren, das Beine von Koth zu scheiden. — Die
Natur wird erforscht von Land zu Land. ” — Ich habe zu
dieser Verantwortung nichts hinzuzusetzen J).
1) Auch Helraont bestätigt, dafs P. in ConstantinOpel
und in der Tartarei gewesen sei. Sub annuin ‘20. namque varias
mineraruni fodinas Gcrmaniac inquirens, in Moscoviaru tandem
venit, in cujus fmitimis a Tartar« captus ad Cliaiuuin Eunuchu»
nosfer deduritur. Indc cum Principe Chami filio Constantino-
poliu ablegatur. li. opp. 222.
\
t
I. Paracelsus.
11
Mangel an Gelehrsamkeit wird unserm Manne häufig
vorgerückt, und er selbst bezeugt an vielen Stellen, dafs er
sehr wenig auf Bücher halte *), wie er denn auch, so wie
Luther die Bulle des Pabstes, Galcn’s und Avicenna’s
Schriften zu Basel verbrannt hat. « Ein anderer meint, ich
stehle meine Sachen, deren keine je am Tag gewesen, noch
beut den Morgen. Ein jeglicher Leser soll merken, dafs
Deiner Werke nie eines je geschrieben worden, weder durch
Philosophen, noch durch Aerzte je erhört, noch gelesen,
foidem, dafs meine gegenwärtige Librei, wie einem jegli¬
chen wissend ist, 6 Blätter nicht vermag, noch unterhab
>o viel , dafs ich möcht’ einen Bogen überschreiben. Ueber
fas alles bezeugen meine Secretarii, dafs alles vom Mund
*ehet und dafs ich in 10 Jahren kein Buch gelesen.» (1,
MO.) — Erwägt man nun, welches der Gehalt und das
Innen wesen der zu Paracelsus Zeit und. lange vor ihm
ausgegangenen und hochgefeierten Bücher gewesen ist 1 2),
and wie er selbst eben so sehr auf treues Studium der ge-
sammten Natur drang, als er auf Schulweisheit und gelehrte
Träumereien schalt 3), so mufs man ihm ganz recht geben,
1) «Aus Uebung und Erfahrenheit wird der Ai t geboren;
fenn wer -wollte gelehrt werden in Erkenntnifs der Erfahrenheit
rom Papier. So das Papier die Eigenschaft hat, dafs es faule
and schläferige Leute macht, aber hoffärtige, die lernen sich
selbst überreden, lernen fliegen ohne Flügel, welche Dinge alle
lern Arzt widerwärtig sind.» 5, 21.
2) «Von dem reinen frommen Sinne, der sich nach Hip-
pokrates Weise treu an die Natur hält und noch in Gale-
nus darslellt, war so wenig eine Spur vorhanden, als von dem
liellcn philosophischen Geiste, mit welchem Platon das allge¬
meine Leben begriff und es im besonderen Leben nachzuweisen
strebte. Die Wissenschaft und Kunst des Orients hatte ihren
Cyclus vollendet und war abgestorben.» Kies er.
3) So sagt er in der Einleitung zu seinen Baseler Vorle¬
sungen von sich: Non veterum addicti praeccptis, sed iis dun-
axat , quac partim indicationc rerum naturae , partim nostro
12
I. Paracelsus.
besonders wenn man sieht, dafs er mit jenen Büchern nicht
0
ganz unbekannt gewesen ist *), und dafs er Ilippokrates
und mehrere andere Aerzte des Alterthums zwar nicht so
hoch feierte* 1 2), als diejenigen, welche die Kindheit mensch¬
licher Bildung zu der Bliithe derselben machen, aber doch
ehrte. So hat er denn auch die hippokratischen Aphorismen
commentirt, freilich in seiner Weise und in seinem
Sinne, nicht, wie es wohl Ilippokrates gewünscht und
gethan haben würde, und so sagt er, dafs Gott den Geist
der Arznei durch Apollon, Machaon, Podaleirios
und Ilippokrates gründlich habe anfangen und das Licht
der Natur ohne befinsterten Geist habe wirken lassen, dafs
aber später durch «Sophisterei, Disputiren, Poesie in der
Arzneikundet rhetorisch Receptschreiben und nebulonisch
Präpariren » das Gute wieder verloren gegangen sei. (2,
315.) So ist dem auch in Wahrheit. — Ks scheint auch,
als sei die Verachtung aller gelehrten Kenntnisse, und na-
roarte invenimus, et longo remm usu ac experientia compro-
bavimus. 7, 1. «Die Kranken sollen des Arztes Bücher sein.»*
2, 390.
1) «Anfänglich ermahnen wir euch, dafs ihr nicht geden*
ken sollt, dafs wir in eueren Büchern leer seien und unerfah¬
ren, darum, dafs wir nicht euren Pflug ziehen. Wir cntschla-
gen uns defs: denn uns mifsfällt euer Styl, Praktik und Ursach.
Und wiewohl ihr gründet auf die geschriebenen Aerzte, chaldäi-
sche, arabische und griechische, will uns wenig ansehen. Denn
ihre Schriften weisen, dafs es ihnen mit den Kranken gegangen,
wie euch, denen die Mehrzahl stirbt.»
2) Und obschon die Alten, unsre Vorvodern, so wie sio
wieder geboren würden, in unseren Arzneien sich würden ver¬
wundern und befremden, soll uns der wenigste Kummer sein.
Ihre Iieeepte wollen wir nicht entsetzt haben, sondern ausklau¬
ben den Kern aus iltnen. Und wenn die Ersten hier wären, so
war all ihr Sachen blind.»
«Ilippokrates ist gestorben vor der Kunst. Sic ist lang,
«las T. el>en kurz. Das Suchen ist bei ihm gewesen, aber das
Doduiu Anis ihm nicht gegeben worden.»
I. Paracelsus.
13
j
mentlich der alten Sprachen, erst später in dem Manne
emporgekommen , wie denn mehrere seiner Bücher in einem
für die damalige Zeit nicht üblem Latein geschrieben sind,
wie er ferner Spuren von Kenntnifs der hebräischen *)
und griechischen Sprache zeigt, und wie Helmont be¬
zeugt, dafs er erst zufolge seiner weiten lange dauernden
Wanderungen und in späterem Alter das Latein vernach¬
lässigt habe 1 2).
Eine der vorzüglichsten Ansichten, die man über Pa¬
racelsus hegt, ist die, dafs er an astrologischen Träume¬
reien hänge und dieselben in der Medicin handhabe und
mifsbrauche. Ich aber glaube, dafs er, wiewohl er sich
offenbar nicht ganz und immer von den Verirrungen seiner
Zeit loszuringen vermocht hat 3), doch eine freiere, küh¬
nere und richtigere Ansicht über Astrologie in sich ent¬
wickelt habe, als die meisten seiner Zeitgenossen, und dafs
er dieselben in Bezug auf den fraglichen Punkt weit über¬
sehen und übereilt habe. Er verkennt nämlich die bis zur
neuesten Zeit mit Unrecht übersehene Gewalt der grofsen
kosmischen Bewegungen und Veränderungen und ihren Ein-
fiufs auf das Befinden des Menschengeschlechtes um so we¬
niger, je mehr er, wie unten zu zeigen, stetig und in aller
Weise den innigen Zusammenhang und Verband aller Par- /
tieen der Natur anerkennt, eifert aber hierbei gegen die
astrologischen Ideen, die zu seiner Zeit im Schwange wa-
1) So sagt er irgendwo sehr richtig, dafs die hebräische
Spra che die besten und bedeutungsvollsten, die bezeichnendsten
Namen für alle Thiere, die selbst (durch ihre Stimme u. s. w. )
ihre Namen anzeigen, enthalte.
2) Hel rnont (opp. 223.) sagt, dafs er erst, nachdem er
drei Jahre zu Basel gelehrt habe, die lateinische Sprache ver¬
nachlässigt habe. Coepit Spernere Latinitatem, ratusque est,
veritatera duntaxat germanicc loqui debere.
3) Es ist bekannt, dafs die aufgeklärtesten Männer des
Jahrhunderts, z. B. Melanchthon, sehr auf Astrologie hielten.
14
I. ParaccTlsns.
ren, und verlacht seine Zeitgenossen, dafs sie die Gestirne
«den Körper bilden, naturen, regieren Helsen und derglei¬
chen»* — « das mehr denn ein linker Verstand ist.»* «Der
Gang Saturnus bekümmert keinen Menschen um sein Leben,
längert noch kürzt nichts; darum, dafs Mars grimmig ist»
ist Nero nicht sein Kind gewesen; ob sie schon Eine Natur
gehabt haben, liats doch keiner von dem anderen genom¬
men. Seht, Helena und Venus ist Eine Natur, und ob
schon Venus nie gewesen war, doch war Helena eine Hure
gewesen, und ob schon Venus älter ist, als Helena, bedenkt,
dafs vor Helena auch Huren gewesen *). — « Uns will nicht
bekümmern der Spruch: ein weiser Mann herrscht über
die Gestirne, wie ihr ihn verstehet; aber wie wir ihn ver¬
stehen, so wollen wir ihn annehmen. Sie gewaltigen
gar nichts in uns, sie inbilden nichts, sie incli-
niren nichts, sie sind frei für sich selbst und wir
frei für uns selbst.”2) — «Ein Kind, das geboren
wird oder empfangen in den besten Planeten und Sternen,
und in den tugendreichsten nach allem Wunsch — wenn
es in seiner Eigenschaft das Widerspiel hat und ist ganz
überzwerch, weis ist die Schuld? Defs, von dem das Blut
kommt, als de generatione stehet. Also merket, dafs das
Gestirn gar nichts wirkt; allein das Blut. »» — «Dafs einer
mehr aufwächst, als der andere, einer in Künsten, der
andere in Reichthum, der dritte in Gewalt u. dergl., ein
solches legt ihr zu dem Gestirn, das ihr von ihnen habt.
DefS entschlagen wir uns, und legen es also aus: Das Glück
kommt aus der Geschicklichkeit, und die Geschicklichkeit
kommt aus dem Geist. Was wollen wir uns denn jovisebe
Kinder heifsen, oder monische?” *) — — Aber ihr sollt
verstehen, dafs das Firmament und die Astra so viel ver¬
ordnet sind, dafs die Menschen und die empfindlichen Ge-
1) 1, 8.
2) 1, 9.
3) 1, 10.
I. Paracelsus
15
schöpfe ohne sie nicht sein mögen; aber sie werden nicht
durch sie. Ein solch Exempel verstehet: Ein Saame, der
in einen Acker geworfen wird, der giebt seine Frucht von
ihm selbst. Aber so die Sonne nicht war, so wuchs er
nicht. Denkt nicht, dafs die Sonne ihn mache, das Firma¬
ment u. dergl.; aber also merket, dafs die Wärme der
Sonne eine solche Zeit giebt.» «Nu merkt aber, dafs wir
ohne das Gestirn nicht leben können, denn Kälte und
Wärme und die Digestionen der Dinge *), die wir essen
und gebrauchen, kommen von ihm. Allein der Mensch
nicht. Und so viel müssen wir sie haben, als viel, dafs
wir Kalt und Warm, Essen, Trinken, Luft haben müssen.
Aber nit weiter sind sie in uns, noch wir in ihnen. Also
bat es der Fabricator haben wollen. Uns nutzt die Reinig-
keit der Sonne nicht, noch die Kunst Mercurius, noch die
Schöne der Venus; uns nuzt allein der Schein von der
Sonne, dafs er die Flüchte macht und den Sommer, darin
unsere Nahrung wächst. » 1 2)
Es ist eine bekannte Sage, dafs sich Paracelsus
eifrig mit der Goldmacherei abgegeben und um die Erfin¬
dung eines unsterblich machenden Mittels abgemübt habe.
Seine Zeitgenossen glaubten in der That zum grofsen
Theile, dafs er im Besitze des grofsen Geheimnisses sei,
und man staunte, als er im besten Alter starb. 3) Jch
meines Theiles nehme an, er habe an die Möglichkeit,
1) Er hatte früher gesagt, dafs die Saamen in der Erde
gleichsam eine Digestion durch die Sonnenwärme bestehen
müssen.
2) 1, 9. So eifert er aucli gegen das Aderlässen an den
Kalendertagen. 5, 106.
3) Stupcnt sui miranturque, quo morbo casuve adhuc flo-
ridus aetate sit abreptus, Iapidis chrysopoei verus coropos. Hei¬
ni o n t. Dieser geistreiche Arzt selzt den frühzeitigen Tod des
Paracelsus auf Rechnung der schädlichen Dünste, die er bei
seinem beständigen Laboriren eihgeathraet habe.
16
I. Paracelsus.
Gold zu machen und Unsterblichkeit zu gewinnen, nicht
geglaubt und blofs dem alten Mundus vult decipi, decipia-
tur zu gefallen, deshalb, um sich Kuhm und Namen und
Eingang zu verschaffen, also aus ärztlicher Politik, sich als
im Besitze des Steines der Weisen ausgeschricen. Hätte
er dies zu jener Zeit, wo jeder nur irgend bedeutende
Mann im Besitze des grofsen Mysteriums geglaubt ward
und sich glauben liels und lassen mufste, nicht gethan,
wahrlich, er wäre gar nicht beachtet worden. Die Richtig¬
keit meiner Ansicht verbürgen folgende Stellen: « Statim
in primo nostro ortu ipsaque et jam conceptione ad mortem
nos praedestinari, noturn omnibus est. » (Ghir. 45.) f)
«So wir möchten das Leben des Herzens also heraus¬
ziehen ohne Zerstörung, wie uns möglich ist, aus den
unempfindlichen Dingen (die Quintessenz herauszuziehen),
wollten wir ungezweifelt ohne einen Tod und ohne Wissen
der Krankheiten leben in Ewigkeit, das wir dann nicht
können.» (6, 14.) «Wie ein Löwe, der ausgefochten
bat und nimmer mag, auch so wir nimmer mögen Holz
an unser (Lebens-) Feuer legen, und uns das verfault ist,
wollen wir dem Ewigen zugehen.» (6*, 70.) « Die Metalle
bestehen aus den drei Elementarstoffen , sind also im We¬
sentlichen einander gleich geartet. Das aber soll also nicht
verstanden werden, als ob aus jedem Mercurius, aus jedem
Sulphur, aus jedem Sal die 7 Metalle geboren werden,
oder desgleichen eine Tinktur oder der Lapis philosopho-
rum durch des Alchymisten Kunst und Geschicklichkeit
im Feuer: sondern in den Bergen, durch den Archäum
lerra
1) «Alle Dinge haben ihre Zeit, wie lange sie stehen sol¬
len. Die Heiligen haben ihre Zeit, in der sie aufhören müssen,
auf Erden ihr Leben zu führen. Also haben auch ihre. Zeit die
Bösen. Alle Dinge werden von Gott auf ihren Termin gesetzt,
und den mag kein Heiliger übertreten, er sei, wie fromm, ge¬
recht oder wie nute dem Volk er wolle. So die Zeit kommt,
so wird nichts angesehen — darum auf und davon!» 1, 68.
I. Paracelsus.
17
Terra müssen geboren werden und werden geboren'* die
7 Metalle." *)
Eifrig arbeitete der Mann dagegen offenbar, Mittel zur
Verlängerung des kurzen menschlichen Lebens ausfindig zu
machen. 1 2) Er geht hierbei für seine Zeit sehr vernünftig
zu Werke. «Die Metalle kann man vor Rost schützen
9
die Hölzer vor Fäulnifs. (67, 6.) Alle Mineralien werden
gereinigt, renovirt und restaurirt, also, dafs das verrostete
Eisen wieder zu frischem Eisen gebracht wird, das Span-
grün wieder zu Kupfer, desgleichen Minium zu Blei und
Kalch in Zinn. (6, 58.) Blut kann auf lange Zeit unver¬
sehrt bewahrt werden. (6, 144.) Todte Körper sehen wir
in Balsam und durch die Conservation viel 100 und 1000
Jahre liegen ohne alle Veränderung zur Fäulnifs. (6, 50.)
Der Eisvogel verjüngt sich bekanntlich selbst aus eigener
Natur. (6, 61.) Also auch viel Würme sind, die sich
regeneriren und renoviren. (64.) Es begiebt sich viel,
dafs ein Baum, der 20 Jahre keine Frucht getragen, wieder
anhebt zu grünen und blühen, wie im ersten Anfang. (65.)
Dann sehen wir, dafs erstarrte Schlangen und Fliegen wie¬
der lebendig werden. (159.) Es sind ferner Regionen,
darin kein Sterben ist, und in etlichen fast spät und lang
und grofs Alter darin.» (77.) — Dies sind Thatsachen.
Nach ihnen «soll sich defs niemand wundern, dafs das
1) Quod autem perfectum non est ac integrum, ex Deo
non est, sed ex phantasia hominum. Sic nimirum Alchy-
m i a aurum et argentura produce re satagens vera
non est. Et aurifices isti inane st r amen triturant.
(II, 556.)
2) «Wolil wahr ist: was seines natürlichen Todes stirbt,
und was die Natur tödtet nach der Prädestination, darüber hat
der Mensch keine Gewalt, dasselbe zu resuscitiren ; dann allein
Gott. Also auch, was die Natur consumirt, mag der Mensch
nicht restauriren. Das aber, was der Mensch zerbricht, mag er
aucli wieder machen, und das Gemachte wieder zerbrechen.»
6, 157.
XIV. Fd. I.SI.
2
18
J. Paracelsus.
Leben soll gelungert werden,“ zumal, da kein Terminus
mortis gesetzt ist, nicht, auf welchen Tag wir sterben sol¬
len. “ (71.) «Ist es dann möglich^ den todten Körper zu
behalten, noch viel mehr, den lebenden. (6, 50.) Ks
wäre ganz unchristlich, dafs wir nicht mögen solle«, unser
Leben auszustrecken dyreh die Arznei, die uns geschaffen
ist.“ (71.) — — «Nun ist das Leben etwas Himmlisches,
ein Ausilufs der Gottheit (s. unten), somit an sich selbst
ewig und unvergänglich (81), hat aber ein irrdisches ma¬
teriales Substrat und Instrument, Subjekt, nüthig. Dies
letztere neigt, wie alles Irrdische, zur Auflösung, und führt
so den Tod herbei. (82.) An diesem Substrate, dem Kör¬
per, und besonders in seinen flüssigen Theilcn zehrt das
einem Feuer ähnliche Leben, gleichwie die Flamme am
Holze zehrt und lebt. (70.) Auf das Substrat des Lebens¬
prozesses uun müssen wir wirken, wenn wir ihn selbst
verlängern und unterhalten wollen. Dies aber in folgender
"Weise: 1.) Wir tilgen vorhandene Krankheiten, weil die¬
selben das Leben untergraben, gleichviel, sie seien soma¬
tisch oder psychisch. 11.) Wir beugen den Krankheiten
vor, sowohl denen, « mit welchen sich die Körper aus un¬
ordentliche Leben beladen, wie der Wassersucht, dem
Podagra, • * Icteritia,” als denen, «die aus der Zeit und
Zufällen ’ i allem ordentlichen Leben und Gesundheit ein-
fallen,” als der Pestilenz u. s. w. Dies geschieht, indem
wir das Kind im Mutterleihe, in der Wiege, im Wachsen,
. ferner den Jüngling, den Mann, den Greis vor Schädlich¬
keiten 1 ) wahren, vor unordentlichem Essen und Trinken,
vor zu viel Arbeit, vor üblen tellurischeu Einflüssen 2),
1 ) «'Das jüngste Lehen wird etwa verderbt in dem Leib
der Mutter, etwa in der Wiege, etwa unter dem Wachsen , mit
tu viel Arbeit oder unordentliebem Leben , Essen und Trinken,
durch das der Natur eine solche Schwäche r.ugcht, dafs sic von
ihrer Kraft kommt und nicht erreichen mag das Rechte im Alter.»»
2) «'So ist auch tu wissen , dafs die Regionen, Länder,
I. Paracelsus.
19
/
vor Tristi'tia und zu viel Laetitia, indem wir durch Talis¬
mane, Ringe, Bilder u. s. w. auf die Phantasie wirken, die
hei der Ansteckung und Erkrankung überhaupt eine grofse
Rolle spielt (69), indem wir das Leben durch Arzneien in
dem Kampfe gegen die Aufsenwelt stärken und kräftigen.
III.) Die Materie, die Basis des Lebens ist, besteht aus den
Elementarstoffen. Wie sich nun der Eisvogel und das
Gewürm dadurch regeneriren , dals sie sich aus den primis
entibus ernähren und, dieselben an sich nehmen, dafs sie
die Corpora herbarum oder seminum und dergleichen essten,
so müssen wir dem Körper stets die Elementarstoffe neu
zuführen und erneuen, was dadurch geschieht, dals wir die
G rundbestand theile der Dinge in den Quintessenzen heraus¬
ziehen und anwenden. » — — Durch dies Verfahren nun
wird der Mensch nicht, wie sonst gewöhnlich, vor den
Jahren sterben. Ist er aber seinem höchsten Lebensziele
nahe gebracht worden und hochbejahrt und gealtert, so
gilt es, dafs die Kunst ihn eben so verjünge und erneue,
wie es manchmal die Natur von selbst thut; wie wir denn
sehen, dafs manchmal alternde, ihrem natürlichen Ende sich
nähernde Pflanzen unter günstigen Verhältnissen oft wieder
neue Triebe und jugendlichen Wuchs zefgeirpeund Men¬
schen, deren Lebenssonne dem Naturlaufe gurnäfs sich zu
neigen anfängt, sich oft unerw I t wieder verjüngen, neue
Zähne, farbige Haare, neue Nägel, gröfserc Lebensvolle er¬
halten, in dem Falle, dafs sie Weiber sind, ihre Menstrua¬
tion, schwellende Brüste wieder bekommen u. s. w. — -
«Das Altern und allmählige AI sterben der Organismen
Städte und Thäler, eins zum langen Leben mehr gesund und
nütz ist, denn das andere, und mehr Freude, mehr Lust, mehr
llumores giebt dem Leben, denn das andere. Dabei zu verste¬
hen sind etliche U rsachen des Erdreichs, der Elemente, der
W inde, der Gestirne. Denn aus dem Erdreich wird geboren
alles, so uosern Leib mehret und forthält, auch tödtet und
verderbt.»
2*
20
I. Paracelsus.
gleicht nun dem Rosten und Verkalchen der Metalle. r )
Alle Rcduction verrosteter und verkalchter Erze in die ur¬
sprüngliche reine ( regulinische) Form aber geschieht durch
das Feuer; das Feuer ist es, das alle Ringe reinigt und lau¬
tert. So ist auch die Erneuung und Verjüngung des Le¬
bens nur dadurch möglich, dafs wir ein Feuer anmachen
im Leibe, aber ein Feuer, das nicht actu und materialiter,
sondern sensibiliter und essentialisch erscheint, wie denn
Nesseln, Flammula und Canthariden durch ihre Esscntia
uirl Yirtus brennen, als ein gewaltig Feuer, und sind doch
kein Feuer.» Ein solch Feuer sollen nun die Arzneien
erregen. Auf dieselben — es sind scharfe mineralische
Dinge und aus PflanzcnstofTen gezogene Tincturen — baut
der Mann viel. Namentlich ist das Quecksilber das beste
«
und kräftigste lebensverlängernde und verjüngende Mittel.
« Unter dem Gebrauche der Arzneien aber vergehen die
Krankheiten, verzehrt durch die mächtigen Stoffe, wie das
Holz und alles Rrennbare von der Flamme verzehrt wird,
zugleich fallen aus und erneuen sich Ilaare, Zähne
und Nägel, und während dieser Vorgänge wird der ganze
Organismus verjüngt und wieder geboren.”
Dies sind /Raracelsus Ansichten über Verlängerung
und Verjüngung des Lebens. Er schliefst witzig mit dem
Ausrufe: diejenigen, die die Natur nicht erkennten und ver¬
ständen, würden auch ihn nicht erkennen und verstehen;
seine Rathschläge und Angaben zur Verlängerung des Le¬
bens bezögen sich aber auch nicht auf solche Menschen,
1) «Also ist auch zu verstehen, so der Mensch ih seinem
AbncLracn wäre und decrepitus, das gleichwohl so viel als ein
Rost mag in seiner Essentia verstanden werden , mag dies Cor¬
pus wohl reducirt werden von dieser Decrepidität in seine. Ge¬
sundheit, wie von einer Krankheit in Gesundheit ist eine Re-
duction.» (58.)
f
I. Paracelsus. 2t
weil an Dummköpfen überhaupt nichts gelegen und verlo¬
ren sei *). —
Nach dem Vorgetragenen ist klar wie der Tag, dafs
die allgemeinen Beschuldigungen, die gegen Paracelsus
erhöhen werden, grüfstentheils nichtig oder doch unerheb¬
lich sind. Ich könnte dagegen leicht beweisen, dafs er sehr
viel Edles und Liebenswürdiges, hohe Kalokagathia, an sich
trug, übergehe das aber, als zur Sache nicht eigentlich
gehörig und für uns nicht viel ausmachend, und erinnere
nur, dafs er aus Liebe zur Menschheit und zur Natur, und
aus heiligem Feuereifer für die Wissenschaft und für das,
was ihm Wahrheit schien, mit eiserner Beharrlichkeit das
höchste Ungemach ertrug 1 2). —
1) Man vergleiche mit diesen Vorschlägen zur Verlängerung
des Lehens diejenigen, welche einer der weisesten Menschen,
der Kanzler Bakon, giebt. S. the works of Francis Bakon.
Lond. 1753. vol. 3. p. 93 und 351. Auch er glaubt, dafs es
möglich sei, eine Verjüngung des Organismus herbeizuführen,
und dafs dieselbe Hauptaugenmerk des Arztes sein müsse. Wenn
ich nicht irre, so habe ich einmal bei Reil gelesen, dafs auch
Bakon das Quecksilber zur Erneuung des Körpers empfohlen
hafe; bei Bakon finde ich aber nichts davon. D ie Jdee ist
nicht ganz übel; man denke an die Folgen der Schmier- und
Hu ngercur, nach der die Menschen oft ganz neu aufleben und
aul blühen! Offenbar hat der Umstand, dafs bei langem Ge¬
hrauche des Quecksilbers Haare und Zähne ausfallen , den Par.
auf die Ansicht geleitet, dafs das Mittel zur Verjüngung des
Leibes nutzen könne. , )
2) «O wie vielen hab ich gerathen und geholfen, da ihr
mit euren Arzneien vezagt seid, dafür mir auch kein Pfennig
worden. Ich geschweig anderer Müh und Arbeit, so ich um¬
sonst gethan, so ihr Doctoren auch nicht einen Seich beschauet
ohne Geld.» Vergleiche 2, 326. 327. *
Ille ego , qui tantas infracto pectore curas , Aerumnas casus-
<jue graves durosque labores Exhausi, crehro vigilatus ordine
noctes, Insanos acstus, immanis frigora Brumae, Insidras structos-
<]ue dolos et facta periclis Retia sustinui dirisque imbuta venenis,
90
1. Par?, r rVsns.
Soll icli nun ein I >1 1 il auf. teilen von dem Systeme fies
Mannes, so mufs ich <las folgende gehen, das seinen Gruod-
zügen nach sicherlich treu und wahrhaftig und lebendig
gezeichnet ist, wenn es gleich wegen der unendlichen Schwie¬
rigkeiten , die seiner Ausführung entgegen stehen, in man¬
chen Nebenzügen mangelhaft sein sollte.
I. Die Natur, «welche die Welt ist und all ihr An¬
fang,» erschien, wie sie den hellenischen Philosophen älte¬
ster und neuerer Zeit erschienen war, und wie sic jedem,
der sie mit reinem treuen Sinne betfachtet, erscheinen mufs,
auch unserem Reformator als ein einziges grofses Ganze,
als ein Organismus, in welchem, um mit Hippokrates
zu reden, a-vynrotek uia, cv^oix uia, , (tv/uttclS-hcc 7tol»tcl\ *)
«Omnia unica creatura sunt.» (1, 663.) « Macrocosmus
et homo unum sunt.» (1, 6S2. «Ein Ding ist das Innere
und das Aeufsere. Eine Constellation, Eine Influenz, Eine
Concordanz, Eine Zeit, Ein Erz, Ein Tereniabin, Eine
Frucht. Dann das ist der Limbus, in dem alle Geschöpfe
verborgen liegen und sin 1, als in dem Saamen da liegt der
ganze Mensch.» (2, 31'”.)
II. Der Mensch, um dessen Leben sich die Medicin
dreht, ist nur ein Glied grofsen YV ellorganismus, und
kann nur im Zusammenhänge mit der ganzen übrigen Natur
richtig erkannt werden, wie man denn ein Ruch aus einem
einzelnen Platte nicht verstehen kann. Somit ist das Erste
Cum terras omnea et cum tuaria omnia circum, Ignotos repetens
tolles, ignota viarurn Compita, praeruptosque nditus imosque
rccessus Lustrarem, patrio late seclusus ab orbc, Ut generi hu-
mano totique ut sedulus orbi Prodesscm , Ieprasque graves diras-
que podagras, Herculcainque hydraru ac tetrae contagia pestis
Hydropi.sisque alrna fraenareni nionstra mcdela ctc. — so sagt
Linck schön und wahr von Paracelsus.
I) leb erinnere an die alten Sprüche: E» to kolI. —
O T7TK yct{> tfJtO» >00» UQ'JtrctlUl, SIS t> TOLVTO TO TU.» U»t\VtTO.
7rec> fo. er etm 7rx>TK tcrs^Kousro» y.ia > tts <pvn> irotb eyoto tr, —
Auch Platon im iirnäos spricht sehr schön über die Ansicht.
4
/
I. Paracelsus.
23
für den Arzt Philosophie, oder Naturwissenschaft. » x) «Ein
Arzt ist der, der da öffnet die Wunderwerke Gottes man-
niglichen. — Denn was ist im Meer, das dem Arzt soll
verborgen sein? Nichts! Was ist im Meer, das er nicht
soll öffnen? Nichts! Er solls hervorbringen! Und, nicht
allein im Meer — in der Erden, in der Luft, im Firma¬
ment!” (1, 54.) «Betracht, dafs kein Arzt der Krankheit
oder des Menschen Grund mag fürhalten, er habe denn
genugsam Zeugnifs aus dem Licht der Natur. Dasselbige
Licht ist die grofse Welt.” (1,40.) — So soll denn kei¬
ner Arzt seiu, der nicht die gesammten Naturwissenschaften
gründlich studiert hat, Kosmologie, Physik, Geographie,
Astronomie, Theosophie u. s. w.
Die Philosophie aber, die der Arzt haben soll, darf
keine Ausgeburt der Phantasie und Speculation sein, son¬
dern mufs sich blofs auf Anschauung und Studium der
Natur, auf Induction und Erfahrung gründen. «Der Arzt
mufs durch der Natur Examen gehen, welche Natur die
Welt ist nnd all ihr Anfang. Und dasselbige, was ihn die
Natur lehrt, das mufs er seiner Weisheit befehlen, aber
nichts in seiner Weisheit suchen, sondern allein im Licht
der Natur. — Dann eigene Vernunft mag nimmermehr
dahin kommen. — Das ist wahr, dafs der unerfahrene Theil
das ist, der nicht aus der Natur geboren ist, will nicht
seinen Schulmeister erkennen, sondern seine eigene Ver¬
nunft eine arzneiische Weisheit sein lassen und darauf grün¬
den. ” (1, 40.) «Eins ist also. Der Glasmacher, aus wem
1) «Requirimus in medico non solum naturae microcosmi^
sed et univer6ae naturalis philosophiae cognitionem , non ex phan-
tasmatibus ac speculationibus , sed sensuura et experientiae judi-
cio exort'arn.» Paracelsus. In ganz ähnlicher Weise spricht
1) a Lun: Phil osophia naturalis pro magna matre scientiarum ha-
beri «lebet u. s. w. Das klingt freilich nicht zu Brown’s so
oft nachgesprochenem Worte: dafs die Philosophie als giftige
Schlange zu fliehen sei. Aber auch Hippokrates hat gesagt:
uLTgos (piXo<ro(poi troSsos!
24
I. Paracelsus.
hat er seine Kunst? Nicht aus ihm selbst. Aber da nahm
er die Subjecte der Kunst und warf sie ins Feuer; da zeigt
ihm das Licht der Natur das Glas. Also ist es auch mit
dem Arzt.” (das.) «Wir achten auf Krden dem Menschen
für leibliche Seligkeit nichts F.dleres, denn die Na*ur zu
erkennen, und von ihr als vom rechten Grunde zu phi-
losophiren und wohlzureden. Dergleichen hinwiederum
verachten wir die sinnliche Listigkeit, die sich Philosophie
nennt, und ein gefärbtes Gedünken ist, aber w'ohl geblümt
und ausgekittet. ” (l. 188.) «Also ist das Licht der Natur
geschaffen, dafs man daraus jedes Dinges Probe und Bewei¬
sung sehe und in demselben Lumen wandle, nicht aus eige¬
ner Phantasie.” (6, 201.) «Diese Philosophie der Arznei
soll nun also geführt werden, dafs sie in die Öhren tone,
wie der Fall des Rheines, dafs ihr Getön also hell in die
Ohren klinge, wie die sausenden Winde aus dem Meere,
dafs die Zunge dermaafsen ein Wissen trage als des Honigs
und der Galle, und dafs die Nase schmecke einen jeden
Geruch des ganzen Subjectes. ” (2, 239.)
III. In der Natur ist nichts todt; alles ist organisch
und lebendig. «Es ist nichts corporalisch , es hätte und
fiihrete nicht auch einen Spiritus in ihm verborgen; es ist
nichts, es hätte nicht auch ein Leben in ihm verborgen
und lebete. Es hat auch nicht nur das Leben, was sich
regt und bewegt, als die Menschen, die Thiere, die Wür¬
mer der Erde, die Vögel im Himmel und die Fische im
Wasser, sondern auch alle corporalischen und wesentlichen
Dinge.” (6, 118.) Die Welt erscheint somit als ein
grofses Lebenswesen, ^uor. *)
1) «©£>! tx ya^ xxi xS-xtXTct Xxßnt xxi ^v^inrXiip nS-ti*
•K « i y < «
e6i o xerfcos, ovtcj C^not o(>xto> rx cgxrx ?rigti%or , tixnt rtf
for)TX 3-itf xicrS-yiros » ptyiros xxi xgiros xxXXtros n xxi Ti%tn-
txto<; ytyotet, itf tt^xtef oh, /utteyttfig nt.» Platon; die er«
habenc Srhlufsrcdc im Tiraäos.
I. Paracelsus.
24
IV. So kann denn auch kein Tod in der Natur sein,
und das Hinsterben der Wesen ist nichts, als ein Zurück¬
sinken derselben in ihrer Mutter Leib (6, 150.), nichts
« als eine Austilgung und Unterdrückung der ersten Na¬
tur, und eine Generation der anderen und neuen Natur. »
(6, 150.)
V. In jedem Dinge ist somit zweierlei zu erkennen
und zu beachten, Materie und Thatigkeit (Geist, Astrum,
Spiritus), welche Thatigkeit durch Prosopopöe und Hypo¬
stasirung und dem herrschenden Aberglauben zu gefallen,
in sofern sie in der Luft ist, als Luftgeister oder Sylvanen,
in sofern sie im Wasser ist, als Wassergeister oder Undi¬
nen u. s. w., in der Erde als Gnomen oder Pygmäen, im
Feuer als Salamander r), im Menschen als Archäus begrüfst
wird. 1 2)
1) Die Paracelsischen Elementargeister haben Aehnlichkeit
mit den Dämonen des Pythagoras, des Pia ton, des Por-
phvrius u. s. w. Auch Platon’s Dämonen offenbarten sich
in Träumen, Stimmen und Wahrsagungen , durch sie sollten die
Wahrsagerkunst, die Opfer, die Weihen , die Sühnungen der
Uöttcr, die Beschwörungen , die Zaubereien möglich sein; sie
wurden als geistige Wesen mit aus Aether, Luft und Wasser
gebildeten Körpern und als für gewöhnlich unsichtbar gedacht.
\ergl, Plato n*s Timäos. Aehnlich betrachtete auch Empe-
dokles das Feuer als Hephästos, das Wasser als Nestis, die
Erde als Aidoneus und die Luft als (ps^strßiog H^jj. Paracel¬
sus sagt aber merkwürdigerweise von seinen Dämonen : «Ehe
die W eit untergeht, müssen noch viele Künste, die
man sonst der W irkung des Teufels und jener Vice-
M enschen zuschrieb, offenbar werden, und man wird
sehen, dafs die meisten dieser Wirkungen von na¬
türlichen Kräften abhangen.»
2) Ich bin noch ungewifs, ob unter dem Archäus die
ganze Belebung und Begeistung (^v^acru;) des Organismus, der
Verein aller organischen Thätigk eiten gedacht werde, oder ob
Paracelsus unter ihm blofs den oder das ^coothlov der
Pythagoräcr, das des Xcnophanes, die 4/vZ *
TiKYjy Jjr.x/t j yivviTiKY) des Aristoteles, die sterbliche Seele
i
26
I. Paracelsus.
VI, Die Thäligkeit in den Dingen ist nichts als ein
Ausllufs der Gottheit* nichts als eine Fraction des Gött¬
lichen. « Gott, in den alle Dinge gehen und aus dem allen
C^eaturcn das Ihrige ausfleul'st. » (I, 143.) «Alle Dinge
sind gewesen unsichtbar bei Gott. w (4, 142.)
VII. Eben so sind laut der Chemie in allen Dingen
dieselben Grundstoffe, Salz, Schwefel, Quecksilber. «Und
soll verstanden werden, dafs alle Geschöpfe aus Kiner Ma¬
terie kommen, und ist nicht einem Jeglichen ein Eigenes
gegeben.” (7, 1.) « Unum quodlibct generatum et a suis
elementis productum in tria collocatur, in Sal, in Sulphur,
in Mercurium. E tribus bis conjunctio fit, quae corpus
unum et unitam essentiam constiluit. ” (1, 354.) «Sal
Sulphur et Mercurius, haec tria sunt rerum omnium prin-
cipia et prima materia.” (II, 2S3.) «Sulphur, Mercurius
et Sal — haec vera materia, e qua universa animalia et
tandem ipse homo quoque condita suut. ” (1,361.) J) a)
%
des Platon, also die niedersten am Ganglicnsysteroe haftenden
sensitiven Thätigkeiten , oder diese und vegetative und animalische
Thätigkeit zugleich verstanden habe. Er scheint in Bezug auf
den Archäus nie ht consequent.
I) Wohl erkennt Paracelsus an, dafs der chemische
Prozefs im Organischen durch die Lebenskraft gebunden, bewäl¬
tigt und latent gemacht werde. «Sulphur, Mercurius und Sal
sind die Substanzen des Leibes, aber durch das Leben verhör-
•
gen. In Abziehung des Lebens werden sie offenbar. — Der
Mensch sicht die Dinge (die Grundstoffe) nicht, dieweil das
Leben da ist; allein in der Zerstörung. Drum so gieb dem Le¬
ben das zu, dafs du sie nicht siehst; dasselbigc ist ein solcher
D eckmantcl, der die Dinge verbirgt u. s. w. >» (1, 43.)
2) Man darf ja nicht glauben, dafs Parac. mit den Wor¬
ten Sal, Sulphur, Mercurius die Substanzen bezeichnet habe,
die wir so nennen. Die Bezeichnungen sind nur symbolisch.
«Das, so da brennt, ist Sulphur; nichts brennt, denn allein der
Sulpbmv Das da raucht, ist der Mercurius; nichts subhinirt
sich, allein, es sei dann Mercurius. Das da zu Asche wird, ist
Sal; nichts wird zu Asche, allein, es sei dann Sal.» (1, 42.)
i
f
I. Paracelsus. 27
VIII. Somit, da Alles dieselbe Kraft und dieselbe
Materie besitzt, ist jedes Ding dem anderen innig verwandt
und im Wesentlichen gleich. «Sola forma discrimen facit. **
(I, 372.)
IX. Der Unterschied in den einzelnen Dingen ruht
darin, dafs das eine höher steht, als das andere, dafs das
eine eine höhere Stufe im Systeme der Wesen einnimmt
und behauptet, als das andere.
X. Das höchste Ding auf Erden ist der Mensch; in
ihm ist alles erreicht, was die Natur auf tieferer Stufe
ihrer Entwickelung versuchte; in ihm sind alle Weltkräfte *
9
und Weltmaterien vereinigt, wenn nicht actu, doch poten-
tia, virtute, essentia; er ist Mikrokosmus. «Also merket;
zweierlei Geschöpf; Himmel und Erde für eins, der Mensch
fürs andere.» (1, 22.) «ln ihm sind alle Coelestia, Ter-
restria , Undosa und Aeria. » (1, 62.) «In dem Genus
das, in dem das, im Menschen aber alles. (1, 46.) Es
be währt sich, dafs der Mensch die kleine Welt sei mit
allen Creaturen der vier Elemente. (4, 135.) In homine
creaturarum universa insunt. Sicut filius parentis sui omnia
memhra exhihet, sic homo qtioque creaturas universas in se
continet. Creaturarum universarum, quas quidem omnis
mundus novit, natura, essentia et proprietas in
bominem congesta et ordinata est. (1, 631.) Jam, quia
homo caeteris creaturis sublimior est, hac universae in eo
sint oportet (1, 203.) Und das ist ein Grofses, dafs ihr
bedenken sollt: nichts ist im Himmel und auf Erden, das
nicht sei im Menschen. Und Gott, der im Himmel ist, der
ist im Menschen. (1, 31.) Der Mikrokosmus ist so viel zu
erkennen, dafs er in den vier Elementen steht, und ist die-
selbigen unsichtlich. Drum so ist er die Erde an einem
T heil und mufs den Himmel haben, die Luft, das Feuer.
(4, 65.) Also nun hat der Mikrokosmus, ^mundus minor,
in seinem Leib alle Mineraiia mundi. (1, 126.)» u. s. w.
XI. In d er Welt ist ein liellum onmium contra
omnia; jedes Ding erhält sich und besteht auf Kosten
28
I. Paracelsus.
i
anderer, und so strebt jedes Din:;, andere zu schädigen
und zu vertilgen. Hierdurch entstellt Krankheit, die immer
in 'S erderhnifs gründet und ein Schritt tum Tode und zur
Auflösung ist J). «Der Arzt soll die tödtliche Art erken¬
nen, wie die Natur wider die Natur strebt, wie je eins in
der Natur wider das andere ist. ln gleicher Weise, wie
die Thiere auf Erden, die sich zusammenrottiren wider ein¬
ander. (5, 7.) Darauf merket, dafs alle Dinge, die da
geschaffen sind, wider den Menschen sind, und der Mensch
wider sie. (1, 11.) Es ist ja ein Ding wider das andere,
ein Kraut wider das audere, ein Stein wider den andern,
ein Mineral wider die anderen, ein Metall wider das an¬
dere, ein Gift wider Jas andere.«
XII. Drum sind die Krankheiten nichts Zufälliges und
Normwidriges, sondern nolhvvendig in den Gang der Dinge
verllochten und in der Vollendung gesetzlich bestimmt; sie
sind aus Gott und in ihnen ist etwas Göttliches, wie schon
llippokrates ausgesagt. « Ilinc non inconcinne Oportet
Omnium morborum caussam dixerit quispiam. ” (3, 52.) —
«Mors naturalis ejusque anteambulones, morhi, a Deo, ceu
' parente nostro, egrediuntur. « (II, 423.) «Denn ihr sollt
wissen, dafs Gott in den Krankheiten gleich so grofs geloht
und gepriesen will werden in meisterlichen seltsamen Wer¬
ken, als wohl in den Blumen des Feldes. W iewohl wider¬
wärtig dem Menschen. Seht aber an: alle Vögel hat er
geschaffen, das ist ihm ein Loh; hingegen auch die Würmer,
Spinnen, Basilisken; ist ihm gleich sowohl ein Loh, als die
Nachtigall, der Pfau. Also auch viel gute Gewächse, als
Gold, Perlin, hingegen auch viel Gift, Arsenicum, Mercu-
rius u. s. w., ist alles sein Loh. Also ist ihm ein Loh,
dafs er uns die Gesundheit gegeben hat, also auch ein
gleichmäfsig Loh ist die Krankheit; und zu beiden Seiten
1) «Morborum oinnium raussa corruptio cst.» Chirurg,
inngna, S. 52. Häufig heifsen hei Paracelsus die Krankheiten:
Anteambulones mortis. ,S. XII.
I. Paracelsus.
29
gleiche Meisterschaft braucht er, zu schmieden die Blumen,
und zu schmieden die Krankheit, und Eine Ordnung und
Ein Wesen.» (4, 150.) «Denn nicht aus dem Menschen,
sondern aus dem Vater kommen die Krankheiten.» (2, 251.)
«Deus hominibus omne morborum genus inseminavit, ut
jam quivis homo in suum morbum praedestinatus oriatur
seu nascatur. » (III, 45.)
XIII. Das Wesen der Krankheit besteht in Dishar¬
monie der Elementarstoffe des Körpers; einseitiges selbsti¬
sches Hervortreten und Vorschlägen (« Sieh-überheben »)
des einen oder des anderen Elementarstoffes (VII.) setzt
Krankheit, so dafs dieselbe gleichsam als Frucht der Grund¬
stoffe des Körpers erscheint.» (1, 170.) «Dann so die
Drei einig sind und nicht zertrennt, so stehet die Gesund¬
heit wohl. Wo aber sie sich zertrennen, das ist, zerthei-
len und sondern, das eine fault, das andere brennt, da
dritte zeucht einen anderen Weg: das sind die Anfänge
der Krankheiten. Dieweil das ein einig Corpus bleibt, die¬
weil ist keine Krankheit da; wo aber nicht, sondern es
spaltet sich, jetzt geht an das, so der Arzt wissen soll. —
Das ist Zerstörung des ganzen Reiches, der Anfang des
Todes.” (1, 43.) J) - So ist denn Gesundheit Friede
der Grundbestandtheile des Leibes, Krankheit Krieg dersel¬
ben, ein bellum intestinum.» Dann dem Leben ist, wie
dem Frieden; wo Frieden ist, da ist Einigkeit, und sobald
die Einigkeit sich entschleufst, da entschleufst sich auch der
Friede, und gehet ab.» (1, 45.) 1 2) —
1) “Also entspringen die Krankheiten, wie Lucifer im
II imniel , aus Hoffart, die alle bella intestina macht. So sich
der Mercurius erhebt seines Liquors, so er aufsteigt und bleibt
nicht in seinen Staffeln, das ist jetzt ein Anfang der Discordanz.
Also auch mit dem Sulphur und Sah So sich das Sal erhöht
und besondert sich, was ist es allein, als ein fressendes Ding?
Wo seine Iloffart liegt, da nagt und frifst sie u. s. w. » (1,64.)
2) D er Begriff, den Parac. von Krankheit aufstellt, schliefst
sich an die Definitionen älterer Naturforscher an. Pythagoras
30
I. Paracelsus.
Auf die erwähnte Disharmonie der Klementarstoffe soll
die höchste Rücksicht genommen werden hei dem Studium
der Krankheiten, « in keinem Weg aber sollen angesehen
werden die vier Ilumores, die, wenn sie ja vorhanden,
was bezweifelt wird, immer erst aus der Verbindung der
Grundstoffe hervorgehen, gleichwie der Raum aus der \\ ur-
zel. « Es ist gleich anzusehen um einen Arzt, der aus den
Complexcn arzneiet die Kraft der Natur, als um einen, der
die Flammen vom Feuer löscht, das nicht brennt, und lälst
die Kohlen glühend. Denn es ist mehr zu betrachten, dafs
die Wurzeln des Baumes erhalten werden, denn die Aeste —
i
denn aus der Wurzel kommt die Kraft.» (6, TG.) « Qui
bonus medicus esse volet, philosophiae cognitione instructu»
sit oportet. Idem enim, quod ligna, herbas, frutices cett.
laedit, in homine causare putanduw est. \ erum quemad-
modum in herbis nemo humores inesse recte dixerit, sed
unica illis lmmiditas inest, quam nos liquoris nomine afii-
cimtis, sic in homine liquor, non humor aliquis inesse dica-
tur. » ( III, 47.)
XIV. So wie nun jeder Organismus aus Materie und
Thätigkeit besteht (V.), so ist bei Krankheit mit der Ver¬
änderung in der Materie des Organismus auch eine Verän¬
derung in seiner Thätigkeit, abnorme Action, gegeben, es
findet bei jeder Krankheit zugleich eine Veränderung, Um¬
bildung und Umwandlung eines Theiles des Lebens statt.
» Versteht, das zweierlei Subjekte der Krankheiten seien,
darin sie alle vollbracht werden und eingedruckt. Das eine
Subjekt ist die Materie, das ist der Leib. In demselbigen
liegen alle Krankheiten still und wohnen in ihm. Das an¬
dere Subjekt ist keine Materie, ist der Spiritus des Leibes;
und Alkmäon sagten aus: Ttjf vyitcti titeti trsPoutctP r mp
DVPO.f4.lU9 , T9)9 d tP OVTAi<i flO*X(>%UX.9 POOH 7ST 0 UtT l KP) P . PlatODi
Flcmentoruru corporis physicorum ftroportio mala proxima omnium
luorboruui causa. Ga lenus nannte die Krankheit: UftlTgiu, rif.
Nur nahmen diese M. inner andere Klerueule an.
3t
II. Homöopathie.
derselbige ist im Leib ungreiflich, unsichtlich. Derselbige
mag leiden alle Krankheiten in ihm selbst und tragen und
haben, wie der Leib.» (1, 27.)
(Beschluss folgt.)
II.
1. Tabellen fiir die praktische Medicin
nach homöopathischen Grundsätzen, von
Dr. Carl Georg: Christian Hartlaub, aus-
übendem Arzte in Leipzig. Leipzig, bei Leo. 1829.
52 grofseBogen, auf EinerSeite bedruckt. (4Thlr.)
2. Die H omöopathie in staatspolizeirecht¬
licher H in sicht, von Dr. Carl Aug. Titt-
mann, Künigl. Sachs. Hof- und Justiz -Rathe u.
s. w. Meifsen, bei Gödsche. 1829. 8. XYI und
126 S. (16 Gr.)
Als vor einiger Zeit das bevorstehende nahe Ende der
Homöopathie verkündet wurde, behauptete der Unterzeich¬
nete Referent dieser Angelegenheit in unseren Annalen, dafs
er kein nahes Ende voraussehe, und vielmehr noch gar
mancherlei Kämpfe gewärtige, ehe durch das läuternde Feuer
der Eeobachtungen und Versuche, des Streites dafür und
dagegen, und endlich der Zeit selbst einerseits das Unhalt¬
bare dieser Lehre den Aerzten wie der Gesanuntwelt, welche
den eifrigsten Antheil nimmt, klar geworden sein, und ehe
andererseits das Wahre derselben der gesammten herrschen¬
den Heilkunde einverleibt sein wird. Die Richtigkeit dieser
Behauptung ergiebt sich nicht nur aus dem Inhalte, son¬
dern schon aus der blofsen Erscheinung der beiden oben
genannten Schriften. Denn wenn überhaupt die zuneh-
32
II. Homöopathie.
mende Zahl homöopathischer Schriften hinlänglichen Beweis
für den Ankauf derselben gewährt, weil sonst kein Buch¬
händler sich mit dem \ erläge derselben befassen könnte,
so sehen wir nun gar No. 1. mit einer Eleganz und Ver¬
schwendung gedruckt, deren sich kein anderes tabellarisches
Werk der gegenwärtigen Medicin rühmen kann. Der Ver¬
leger, welcher aus buchhändlerischer Erfahrung den Gang
des Absatzes der verschiedenen literarischen Zweige kennt,
hat sich nicht gescheut, ein theurcs Werk, zu dein eine
sehr lange Fortsetzung erfolgen kann, auf den Büchermarkt
zu bringen. Er mufs also eines grofsen Publikums von
Käufern gewdfs sein, da nicht anzunehmen ist, dafs er aus
reiner Vorliebe für den Gegenwand sich einem grofsen Ver¬
luste aussetzen wird, ln No. 2. sehen wir einen eben so
angesehenen als gelehrten sächsischen Juristen als Verfechter
der Homöopathie auftreten, ein Beweis, dafs diese Lehre
sich unter dem gebildeten Publikum ansehnliche Anhänger
erworben hat, wie denn auch verlautet, dafs eine hohe
Person des Königl. Sachs. Ilofes sich homöopathischer Hülfe
mit Nutzen bedient habe.
Wir haben alles dieses angeführt, nicht etwa um die
Wahrheit der neuen Lehre (über welche die Zahl der An¬
hänger nicht wesentlich entscheiden kann) oder unsere
gröfsere Geneigtheit zu derselben zu erweisen, indem die
früher von uns aufgestellte Ansicht nicht aus Halsstarrig¬
keit, sondern aus Ueberzeugung noch von uns festgehallen
wird. Unser Zweck ging einzig dahin, zu erweisen, dals
die Homöopathie tatsächlich als eine bedeutende, keincs-
weges im Untergange begriffene Richtung der Medicin da¬
steht, und dafs es nicht genüge, mit vornehmem Achsel¬
zucken oder mit sophistischen Nichtigkeitsbeweisen, oder,
was freilich das Allerschlimmste wäre, mit ’S erboten und
Drohungen von oben her, in dieser Sache zu verfahren.
Vielmehr bleiben uns anhaltend nur zwei Wege offen; der
eine ist der Weg der vernünftigen Sichtung und unpar¬
teiischen Erwägung, den wir hier eigeschlagen haben; der
andere
33
II. Homöopathie.
andere ist der des Versuchs im Grofsen in öffentlichen
Krankenanstalten. Das Gerücht sagt, dals solche Versuche
liier mit, dort ohne Erfolg angestellt worden seien; allein
Gewifsheit ist uns hierüber noch keinesweges geworden.
Möchte doch der Weg der freimüthigsten Oeflentlichkeit,
den wir in allen Beziehungen als den besten betrachten,
doch recht bald wenigstens in inedicinischer Beziehung ein¬
geschlagen werden! Leider sieht man den meisten ärzt¬
lichen Druckschriften die Befangenheit an, wenn sie auf
Verhältnisse der Gegenwart gelangen, während nur das
unumwundenste Aussprechen der L eberzeugung, der Wahr¬
heit förderlich sein kann.
Doch wir kehren zu unserem Gegenstände zurück, und
erwägen zuerst die Schrift des schon sonst als homöopa¬
thischen Schriftstellers bekannten Hrn. Dr. Hartlaub. In¬
dem sie nichts Neues aufstellen, sondern nur die allerdings
höchst schwierige Anwendung der Arzneisymptome in Krank¬
heiten für den homöopathischen Praktiker erleichtern will,
so finden wir hier nur die bekannten homöopathischen Arz¬
neisymptome, jedoch in einer neuen eigentümlichen Ord¬
nung, indem bei jedem Symptome tabellarisch auseinander¬
gesetzt wird, wie dasselbe sich in Folge verschiedener Arz¬
neien mit mannigfaltigen Verschiedenheiten äufsere. Der
Verf. gesteht in der Vorrede, dafs es nach homöopathischen
Grundsätzen keine speciellen Pathologieen und Therapieen
geben könne, und dafs, die reine Arzneimittellehre immer
das wesentlichste Studium des Homöopathen machen müsse.
Er giebt also unbedingt zu, was andere und wir selbst
dieser Schule vorgeworfen haben, dafs sie nämlich einem
gründlichen Studium der Medicin ganz entgegentrete. Wozu
allgemeine wissenschaftliche Bildung, naturwissenschaftliche
Kenntnisse, Anatomie, Physiologie, allgemeine Pathologie,
pathologische und therapeutische Monographien, wenn man >
homöopathisch heilt? Lernt fleifsig die Arzneisymptome
auswendig, stellt ein recht genaues Krankenexamen an, und
vergleicht die pathologischen und arzneilichen Zeichen mit
XIV. Bd. i. St. 3
34
II. Homöopathie.
gröfster Sorgfalt, so ergiebt sich mit Noth wendigkeit, was
und wie viel ihr verdünnen müfst, und der Kranke wird
geheilt. Möglichst geringes Nachdenken um! möglichst star¬
kes Gedächtnifs, sind zu dieser Heilmethode durchaus erfor¬
derlich. I)a nun Ree. nichts zu erfassen vermag, als was
entweder ein deutliches sinnliches Bild oder einen klaren
Regriff gewährt, reines Gedächtnilswerk aber nur allzuleicht
vergifst, so fehlt es ihm an aller Anlage zu einem auch nur
mittelmäfsigen homöopathischen Arzte; ja er sieht sich sei¬
nerseits unfähig, nach homöopathischen Grundsätzen Ver¬
suche anzustcllen, und kann die Wahrheit der in den Ta¬
bellen aufgestellten Arzneisymptome eben so wenig prüfen,
als er dieselben in den früheren Werken dieser Schule zu
prüfen vermocht hat. Es bleibt ihm daher nur die geringe
Aufgabe, die hier abgehandelten Zeichen und die ihnen
entsprechenden Arzneien, bei welchen verwandte Arz.nei-
symptome in Anmerkungen genannt sind, mit wenigen
Worten anzugeben, nämlich 1. Kopfschmerzen mit den Arz¬
neien 1. Aconit, 2. Belladonna, 3. Merc. solub., 4. China,
5. Staphisagria , 6. Tart. stib., 7. Spigelia, 8. Brvonia,
9. Ledum, 10. Arsenicum, 11. Hyoscyamus, 12. Veratrum,
13. Arnica, 14. Platina, 15. Anacardium, 16. Cannabis,
17. Colocvnthis, 18. Mezereum, 19. Capsicum, ‘20. Sabina,
21. Cuprum, 22. Ignatia, 23. Cocculus, 24. Stannum,
25. Carbo veget. 26. Nux vömica, 27. Rhus Toxicodendron,
28. Chamomilla, 29. Pulsatilla, 30. Asa foet. , 31. Dulca-
mara, 32. Ilelleb. niger, 33. Cina, 34. Sabadilla, 35. Au¬
rum, 36. Oleander, 37. Manganesium, 38. Thuya, 39. Ma-
gnetis polus austral. et 40. arctic., 41. Sulphur. II. Schmer¬
zen und Entzündungen der Augen mit den Arzneien 1. 2.
3. Calcaria sulphurata, 41. 5. Wratrum, 8. 28. 29. 24. Acid.
phosphoric. , 7. Ferrum, 4. 9. 10. Conium, Euphorbium,
Spongia marina, Euphrasia, Digitalis, 38. Stramonium,
17. 1.9. Crocus, Tinct.acris, 35. Zincum, 18. Valeriana, 22. 11.
Auf ganz gleiche Weise sind ferner mit den Arzneien, die
wir jedoch zur Vermeidung der W eitläufligkeit nicht nen-
i
35
If. Homöopathie.
nen, zusammcngestellt: III. Ohrschmerzen, IV. Gesichts¬
schmerzen, V. Zahnschmerzen, VI. Halsentzündungen, VII.
Gliederschmerzen , VIII. Fieber. — Ein Urtheil über den
eigentlichen Werth dieser Tabellen vermögen wir nicht zu
fällen, indem nach unserem ärztlichen Standpunkte ein Ge¬
brauch derselben ganz unstatthaft ist. Gern geben wir
jedoch einen Nutzen derselben vom homöopathischen Ge¬
sichtspunkte aus zu, obgleich auch zu diesem Zwecke die
Stoffe nicht deutlich genug übersehen werden können. Zu¬
gleich wünschten wir von Homöopathen gelegentlich dar¬
über belehrt zu werden, ob sie, wenn zwei oder mehrere
derselben zugleich einen Kranken behandeln, nach Anlei¬
tung ihrer Arzneisymptome sich leicht über den Gebrauch
eines Mittels vereinigen können, indem unserer Meinung
nach bei demselben Krankheitszustande sehr oft verschiedene
homöopathische Arzneien anwendbar sein müssen, je nach¬
dem man diese oder jene Reihe von Zeichen mehr her¬
vorhebt.
f. . . . • *r*
In No. 2. sehen wir einen Nichtarzt mit dem Beweise
beschäftigt, dafs es den Homöopathen gestattet sein müsse,
selbst zu dispensiren. Eine grofse Gelehrsamkeit und ein
nicht minder ausgezeichneter Scharfsinn sind zu dlescitj
Zwecke aufgeboten worden; unverkennbar ist jedoch die
Parteilichkeit des Verfassers, indem er ohne diese, ver¬
schiedene yvichtige Gegengründe nicht unerwähnt gelassen
hätte. In der Vorrede wird der Grundsatz aufgestellt, dafs
es nur Sache der Regierungen, nicht aber der Aerzte sein
könne, über die dieser Heilmethode zustehenden Befugnisse
zu entscheiden, da es hier nicht gelte, ein wissenschaftliches
Gutachten zu erlangen, sondern dem Staate die Vorlhcile
zu erhalten, welche ihr die Methode gewährt. Allein be¬
denkt man , wie doch der Werth jedes Gegenstandes immer
am besten durch die Kundigen entschieden, und wie der
Anschein glücklicher Heilungen so leicht durch Aberglau¬
ben, Thorheit, Mode uiid Vorurtheil hervorgebracht wird,
3 *
36
If. Homöopathie.
so wird sich leicht ergeben, dafs die Regierungen nur dann
7.11 passenden Maafsregeln in Beziehung auf Homöopathie
gelangen können, wenn sie sich dabei von medicinischer *
Intelligenz leiten lassen, nicht dem Scheine ungeprüfter
Heilungen vertrauen, und auf keine YV eise in die selbst¬
tätige Entwickelung der Lehre eingreifen. Ganz beson¬
ders aber ist et ihnen nicht zuzumuthen, die nicht durch
einen einzelnen wiilkührlichen Befehl, sondern durch lang¬
jährige Prüfung und allmählige Entwickelung hervorgegan¬
gene Apothekerordnung, welche mit unserer ganzen Mcdi-
cinalverfassung so innig zusammenhängt, zum Besten der
Homöopathie zu untergraben , zumal (ja die gegen das Dis-
pensiren der Apotheken von den Homöopathen aufgestellten
Ansichten nicht zureichend sind. — Doch wir gehen zur
Darlegung der Schrift selbst, die mit grofser logischer Kunst
angelegt ist. Wir heben die Hauptsätze des Verf. hervor,
und begleiten sie nup da mit Anmerkungen, wo wir ihnen
entgegentreten müssen.
Der Staat kann bei einer Heilmethode nur in sofern
mit gesetzlichen Vorschriften einschreiten, als sic sich ge¬
fährlich für das Leben oder hindernd für die YN iederher-
stellung der Kranken darstellt. (Der für die Freiheit käm¬
pfende erf. giebt hier zu wenig zu; denn leicht könnte
eine neue Heilmethode von den Gegnern, die die herr¬
schende Parthei ausmachen, als gefährlich geschildert und
eben deswegen verboten werden; eben deswegen ist unsere
Ueberzcugung, dafs der Staat bei keiner Heilmethode hem¬
mend eintreten dürfe, die von denen geübt wird, welche
er als der Heilkunst vollkommen kundig anerkannt hat. L.)
Von einem gesetzlichen Einschreiten gegen die Homöopa¬
thie kann nicht die Bede sein (ganz gewifs nicht, L.); wohl
aber fragt es sich, was in dem Falle polizeirechtlich sei,
wenn die Anwendung einer Heilmethode, und hier im spe-
ciellen Falle, der Homöopathie, mit den gesetzlichen \ or-
schriften und Einrichtungen, welche vor Erfindung dersel¬
ben in Betreff der Ausübung der Heilkunde überhaupt fest-
37
II. Homöopathie.
gestellt worden sind, In Collision geräth. Es ergiebt sich
leicht, dafs der Staat solche gesetzliche Bestimmungen,
welche der Anwendung der meuen Heilmethode und dem
aus derselben sich ergebenden öffentlichen Nutzen hemmend
entgegen treten, in Beziehung auf dieselbe nicht in Anwen¬
dung bringen darf, oder mit neuen vertauschen mufs. Die
Untersuchung mufs nun dahin gerichtet sein, ob diese all¬
gemeinen Bestimmungen auf das Selbstdispensiren von Sei¬
ten der Aerzte, welches die Homöopathen für nothwendig
halten, angewandt werden können. Zu diesem Zwecke wer¬
den drei Fragen aufgestellt:
I. Was haben die Gesetze, welche das Dispensiren
der Aerzte verbieten, eigentlich bezweckt und verboten?
und sind sie auf die Verfertigung und Ausgabe der Arz¬
neien anwendbar? Die Arzneien sind nicht nur ursprüng¬
lich, sondern bis in die letzten Jahrhunderte hinein, gröfs-
tentheils von den Aerzten selbst gefertigt worden. Die
Entstehung der Arzneibereitung, als eines besonderen Ge¬
schäftes , beruhete vorzüglich auf der grofsen Mannigfaltig¬
keit und Zusammensetzung der Arzneien ; immer aber wur¬
den die Aerzte als die eigentlichen Kenner und als die auf¬
sichtliche Behörde der Bereitung angesehen. Selbst als es
schon Apotheker gab, verfertigten viele Aerzte einzelne
Mischungen, und reichten sie ihren Kranken ohne Vermit¬
telung der Apotheker; es dauerte sehr lange, ja bis in die
Mitte des vorigen Jahrhunderts, ehe den Apothekern in
Deutschland ein Privilegium exclusivum auf das Ausgeben
der Arzneien ertheilt, und den Aerzten das Selbstdispensi¬
ren, übrigens auch nicht unbedingt, untersagt wurde. In
vielen anderen gebildeten Staaten besteht noch bis jezt kein
solches Privilegium. Der Geist der jetzt in Deutschland
bestehenden Apothekerordnung wird auf folgende Weise
bezeichnet: 1) sie hat den Apothekern das Geschäft der
Arzneibereilung vorzugsweise, aber nicht ohne Ausnahme
zugeschrieben. Man hat nämlich an Orten, wo keine Apo¬
theken sind, ferner an grofsen Krankenanstalten und bei
38 II. Homöopathie.
Geheimmittcln das Dispensi en «1er Aerzte gestaltet. 2) *SIe
hat das Hecht der Aerzt.', öle W ahl der Arzneien zu be¬
stimmen, nicht auf den Gebrauch der Apothekerarzneien
beschränkt. Indem der Arzt mit mancherlei im Hause oder
anderweitig bereiteten Mitteln ctiriren darf, mufs es ihm
auch freistehen, auf nicht gewöhnliche Art zubercitete Arz¬
neien selbst den Kranken zu reichen. (Dieser Sehlufs ist
ganz unrichtig; das Verbot des Selbstdispensircns bezieht
sich blofs auf diejenigen Mittel, welche dem Stoffe und der
Torrn nach im allgemeinen Sprachgebrauche als Arzneien
bezeichnet werden. Arzneien seihst zu bereiten, kann aufser
den unter No. 1. angegebenen Fällen nur dann gestattet
werden, wenn der Apotheker die von dem Arzte verord¬
nten Mittel nicht bereit halten, oder dieselben nicht nach
den ihm von dem Arzte gegebenen Vorschriften bereiten
will. Können die Homöopathen einen dieser Fälle nach-
weisen, so mufs ihnen allerdings das ScH>stdispensiren , aber
nur für diesen Fall, ge tattet sein. Allein da die Apothe¬
ker in der Hegel jedem Wunsche der Aerzte mit gröfster
Bereitwilligkeit entgegenkommen , so dürfte eine solche
Nachweisung unmöglich sein. L.) 3) Das Verbot des
Sclbstdispensirens bezieht sich blofs auf gemischte, nicht
auf einfache und ohne Kunst zuzubereitehde Arzneien. AU
letzte werden die homöopathischen Mittel betrachtet, in¬
dem bei ihnen nicht chemische Kunst, sondern kunstlose
mechanische Zertheilung obwalte. (Auch das Sclbstdispcn-
siren einfacher Mittel und blofs mechanischer Verbindungen
ist bisher verboten gewesen; es kann also aus der Beschaf¬
fenheit der homöopathischen Arzneien kein Grund zur Ge¬
stattung des Selbstdispensircns hergenommen werden. L.)
4) Das Verbot zweckt blofs darauf ab, den Staatsbürgern
Gelegenheit zu Ankaufung kunstgerecht gefertigter Arznei
zu schaffen, den Apothekern durch das Selbstdispensircn
der Aerzte und sonstigem Handel mit Arznei waaren bei den
ihnen mit allöopathischen (der Verf. schreibt mit Hecht
Allöopathie, nicht Allopathie, L.) Arzneien zugestandenen
39
II. Homöopathie.
K »
Handel keinen Abbruch thun zu lassen, und endlich das
Curiren von Quacksalbern zu verhindern. Ein solcher
Abbruch könne durch die homöopathischen Arzneien nicht
erfolgen, weil sie bei ihrem höchst unbedeutenden Geld¬
werth vom Arzte umsonst gereicht werden. (Wenn der
Geld werth gering sein mag, so mufs der unsägliche Mecha¬
nismus der Verkleinerung nach der dabei obwaltenden Mühe
und Zeitverlust in Betracht kommen. Her Arzt kann daher
die Arznei nur scheinbar umsonst geben, und mufs sich
seine übrigen Bemühungen um desto höher bezahlen lassen,
ln Beziehung auf die Entstehung des Verbotes zu dispen-
siren müssen wir noch bemerken, dafs es ganz auf dem
staatswirthschaftlichen Grundsätze der Arbeitstheilung be¬
ruhe. So wie in der Zeit eines niedrigen Standpunktes
der Industrie jeder sich Kleider, Wohnung u. s. f. selbst
bereitet, hingegen mit steigender Ausbildung diese Geschäfte
sich auf das Mannigfaltigste vertheilen, so ist auch der Arzt
allerdings ursprünglich zugleich Apotheker. Je mehr aber
die ärztliche Kunst nach allen Zweigen hingewachsen ist,
um desto weniger war dem Arzte die Technik der Arznei¬
bereitung zuzumuthen. Nur bei einer sehr geringen Anzahl
von Kranken ist dem Arzte das Selbstdispensiren möglich ;
indem die Homöopathen dasselbe für sich verlangen, bewei¬
sen sie, dafs sie nicht sehr beschäftigt sind, und dafs sie
die Zeit ihrer Mufse lieber zu mechanischen Arbeiten, als
zu weiteren Studien in Kunst und Wissenschaft verwenden.
Endlich ist nicht unbeachtet zu lassen, dafs durch die Ge¬
stattung des Selbstdispensirens die einzige jetzt bestehende
Gontrolle des ärztlichen Handelns vernichtet, der Pfusche-
# •
rei und dem Charlatanismus Thür und Thor geöffnet, und
der Untergang des hoch ausgebildeten Zustandes der Phar-
macie und der Apotheken begründet wird. L.)
11. Giebt es ein gegründetes Ilindernifs, die homöo¬
pathischen Arzneien in den bestehenden Apotheken fertigen
zu lassen? Bekanntlich haben die Homöopathen diese Frage
verneinend beantwortet. (Alle von den Homöopathen an-
40
II. Homöopathie.
gegebenen Gründe, deren Richtigkeit wir hier ganz auf
sich beruhen lassen, müssen als nichtig betrachtet werden,
sobald der Apotheker sich entschliefst, die von ihnen für
nöthig gehaltenen Maafsregeln zu ergreifen, über deren
Ausführung sie selbst die stärkste Controlle halten mögen.
Erst wenn der einzelne Homöopath erweisen kann, dafs
der oder die Apotheker, mit denen er zu thun hat, seinen
Vorschriften nicht Folge leisten, steht es ihm frei selbst zu
dispensiren, gerade so w'ie es jedem Arzte frei stehen muls,
dem Kranken eine Arznei zu reichen, die der Apotheker
nicht auf Verlangen des Arztes anschaffen, oder deren be¬
sonders vorgeschriebene Bereitungsweise er nicht vollziehen
will. L.) .
III. Hat sich die homöopathische Heilmethode in Hin¬
sicht ihrer Wirkungen einer Berücksichtigung von Seiten
der Regierungen würdig gezeigt? Die bedeutende und
noch im Wachsen begriffene Zahl der unbedingten Anhän¬
ger dieser Heilmethode und die von vielen Gegnern ge-
machten Zugeständnisse, dafs gewisse Grundsätze der Ho¬
möopathie grofse Berücksichtigung verdienen, veranlassen
die Bejahung dieser Frage.
Nach diesen Erörterungen geht der Verf. zu dem
Schlüsse über, dafs der Staat den Homöopathen das Selbst-
dispensiren gestatten müsse, indem für sie ein Verbot des
Selbstdispensirens einem Verbote der Anwendung der Heil¬
methode selbst gleich zu stellen sei. Da nun aber ein sol¬
ches Verbot die Freiheit der Kranken beschränken und aus
den früher angegebenen Gründen durchaus unstatthaft sein
würde, so ergiebt sich die Nothwendigkeit, das Verbot des
Selbstdispensirens für die homöopathische Praxis aufzuhe¬
ben. (Wäre der nothwendige Zusammenhang der Homöo¬
pathie mit dem Selbstdispensiren erwiesen, so [liefse sich
gegen die Richtigkeit des Schlusses nichts einwenden; da
aber die Nothwendigkeit jenes Zusammenhanges nicht er¬
weislich ist, und da übrigens durch die theilweisc Auf¬
hebung jenes Verbots ein gewaltsamer und für die Allöo-
41
II. Homöopathie.
pathie höchst nachtheiliger Eingriff in die Medicinalverfas-
sung erfolgen würde, so müssen wir die Nothwendigkeit
der Aufhebung dieses Verbots durchaus bestreiten. L.)
Rechtlich sei. gegen die Bewilligung des Selbstdispensirens
nichts einzuwenden, weil die Privilegien der Apotheker
keine ausdrückliche Zusicherung enthalten, den Aerzten die
Abfertigung der Arzneien unbedingt zu verbieten, weil
ferner kein privilegirtes Gewerbe vom Staate gegen die
Jsachtheile geschützt werden kann, welche für dasselbe aus
neuen Erfindungen und Ereignissen hervorgehen, weil Pri-
vilegia immer strictissimae ohservationis sind, und nicht auf
neue Entdeckungen, übertragen werden, und weil endlich
niemand gezwungen werden darf, Stoffe theuer zu kaufen,
die er wohlfeil oder gar umsonst erlangen kann. Polizei¬
liche Gründe zum Besten der Apotheker, in sofern diese
die Yorräthe und die Apparate bereit halten und dadurch
dem Publikum die Möglichkeit des Arzneigebrauchs ver¬
schaffen, fallen bei den Homöopathen weg, weil sie die
ihnen nöthigen geringen Vorräthe selbst bewahren und kei¬
ner Apparate bedürfen. (Wollen die Homöopathen nicht
durch fernere Versuche die Zahl ihrer Arzneien steigern,
und wird nicht eben dadurch die Möglichkeit, den gesamm-
ten Arzneischatz zu bewahren, für jeden Einzelnen er¬
schwert? Hoffen sie denn überhaupt immer so wenig zu
thun zu haben, dafs ihnen zu der Arbeit der Arzneiberei¬
tung, die, wenn sie nach homöopathischen Grundsätzen
angeordnet wird, auch von dem dümmsten und ungebilde¬
testen Menschen verrichtet werden kann, Zeit und Lust
Lleil >en werden? L.) Die Controlle, welche sich durch
die Apotheken für die Aerzte ergeben soll, wird als trüg-
lich angegeben, und andererseits eine strenge Beaufsichtung
des Apothekers als unmöglich geschildert; man könne nicht
den Anhängern der Homöopathie, denen die höchste Ge¬
nauigkeit erforderlich ist, zumuthen, den Erfolg ihrer Curen
von dem Apotheker und seinem Personale abhängig zu
machen, die das ganze homöopathische Verfahren vielleicht
42
II. Homöopathie.
für lächerlich halten und daher die gegebenen Vorschriften
nicht genau beachten. (Die Allöopathie könnte ganz ähn¬
liche Gründe Vorbringen, um die Nothwendigkeit des Selbst-
dispensirens zu erweisen. Denn nicht nur die Güte der
h aaren ist in dem zusammengesetzten Mittei oft der Con-
trolle entzogen, sondern die Art der Zusammensetzung mag
nicht selten dem von rein chemischen Grundsätzen ausge¬
henden Apotheker lächerlich sein und ihn zu Ungenauigkeit
verleiten. Allein der Apotheker ist überall verpilichtet, der
ärztlichen Vorschrift genau naebzukommen , und empfiehlt
sich dem Arzte eben durch diese Genauigkeit. Er wird
daher schon seines eigenen Yorthcils wegen dieselbe in der
Kegel üben; Ausnahmen können nicht die Nothwendigkeit
der Aufhebung einer in allen anderen Beziehungen treff¬
lichen Einrichtung erweisen. L. ) Mehrere Mittelwege zwi¬
schen der bisherigen Einrichtung und der von den Homöo¬
pathen gewünschten werden angeführt und sämmtlich als
unzulänglich verworfen, nämlich die Arzneien von den
Apothekern in Gegenwart des Arztes fertigen zu lassen,
die von den Aerzten zubereiteten '\ erdünnungen dem Apo¬
theker zum Dispensiren zu übergeben, gewisse Aerzte zur
Fertigung der Arzneipräparate zu beauftragen und die Aerzte
zu dem Gebrauche derselben anzuweisen, oder eigene Apo¬
theken für homöopathische Arzneien zu errichten. Passen¬
der scheint es allerdings, die homöopathischen Aerzte we¬
gen der Arzneibereitung und unentgeltlichen Abgabe an die
Kranken besonders zu verpflichten, und denselben die Hal¬
tung besonderer Tagebücher über ihr Heilverfahren zur
Pflicht zu machen. Enter diesen Bedingungen hält der
Verf. die Freigebung des Selbstdispensircns für unerläßliche
Pflicht des Staates, wozu er in dem Vorhergegangenen hin¬
längliche Gründe angegeben zu haben meint. (Wenn wir
schon in vielen Beziehungen jene Freigebung bestritten ha¬
ben, so müssen wir dies schließlich um so mehr thun, als
unter den Homöopathen selbst sich Stimmen gegen die
Nothwendigkeit des Selbstdispcusirens erhoben haben, und
43
II. Homöopathie.
< f » , v > _
als «an Orten, wq mit Strenge auf das Verbot des Selbst-
dispcnsirens gehalten wird, die homöopathische Praxis nicht
wenigere Erfolge gehabt zu haben scheint, als wo das
Selhstdispensiren durch Schlaffheit der Medicinalpolizei be¬
günstigt worden ist. L.)
Noch vor der Erscheinung der eben besprochenen
Schrift war in Leipzig eine juristische Inauguralschrift über
dasselbe Thema unter dem Titel: Ars ’medendi homoeopa-
thica ejusque cultores medicamenta ipsi praeparantes coram
tribunali juris et politiae medicae, am 18. Sept. 1828 von
Hrn. Karl Aug. Albrecht, Advocaten in Dresden, ver-
theidigt worden. Indem wir dieselbe nicht zu Gesicht be¬
kommen haben, bemerken wir nur, dafs sie dem Verneh¬
men nach ebenfalls den Grundsatz vertheidigt, dafs* den
Homöopathen das Selhstdispensiren frei gegeben werden
müsse. Wir sehen hier eine neue Bestätigung des Grund¬
satzes, dafs keine Lehre so fest steht, um für immer gegen
Anfechtung gesichert zu sein. Denn bis vor wenigen Jah¬
ren gab es wohl niemand, der nicht in dem Verbote des
*
Scdbstdispensirens eine der wohlthätigsten Einrichtungen der
neueren Zeit anerkannt hätte, während dasselbe jetzt von
einer ärztlichen Schule unter Beistand der Juristen bekämpft
wird. Leicht könnten wir hierdurch zum Geschrei über
Obscurantismus und rückgängige Tendenzen veranlafst wer¬
den; indessen ziehen war es vor, mit klaren Gründen un¬
sere Gegner zu bekämpfen, und ihnen die Schmähungen
zu überlassen, deren sie sich nach dem Beispiele ihres Ober¬
hauptes eben so oft, als ungeschickt bedienen.
. •
Schon waren diese Zeilen zur Absendung bereit, als
uns folgende, hierher gehörige Schrift in die Hände kam:
3. Die homöopathische Heilkunst im Ein¬
klänge mit der seitherigen M e d i c i n und
den Gesetzen derselben untergeo r.d n e t ,
von Dr. Carl Ludw. Kaiser, Groish. Sachs.
44
II. Homöopathie.
Amtsphysicns* u. s. w. zu Geisa. Erlangen, bei
Palm und Enke. 1829; 8- XV I u. 160 S. (18 Gr.)
Der Verf. dieses Versuchs zu einem gütlichen Ver¬
gleiche zwischen der Homöopathie und der bisherigen Me-
dicin verlangt von den Lesern seiner Schrift, dafs sie gleich¬
zeitig 11 ahnemann 's Organon, Heinrot h 's Anti -Orga¬
non, einen Aufsatz des Verf. im llufelandschen Journal
und eine Schrift von ihm, über medicinische Systeme, vor
Augen haben sollen. Da nun die beiden letztgenannten
Quellen uns noch nicht zu Gesicht gekommen sind, so kön¬
nen wir auch’ über die aus denselben für unseren Gegen¬
stand hervorgehenden Beweise kein genügendes Urtheil fäl¬
len. • Die vorliegende Schrift in ihre Linzeinheiten vollstän¬
dig zu verfolgen, dürfte um so weniger nötbig sein, als
sie sich gröfstentheils mit Widerlegung solcher Behauptun¬
gen Hahn ernannt beschäftigt, die bereits widerlegt sind.
Wir beschränken uns daher auf die Angabe dessen, was
der \ erf. der Homöopathie entlehnt, ohne sich jedoch des¬
wegen der bisherigen Medicin entfremden zu wollen. Das
homöopathische Heilen erfolgt nicht immer mit kleinen,
sondern zuweilen auch mit grolsen Gaben. Das eigentliche
Heilgesetz ist daher nach 19.: Krankheiten werden ver¬
drängt, und zwar durch kleine Gaben Arzneimittel, wenn
sie in gröfseren ähnliche Krankheitssymptome, oder durch
gröfsere Gaben, wenn sie in kleineren Gaben ähnliche Krank-
heitssymplome hervorzubringen vermögen. (Man kann die¬
sen Satz eben so wenig billigen, als den von Hahne-
mann, da alle blofs quantitative Bestimmungen schon an
sich für den Heilzweck ungenügend sind. L. ) Die homöo¬
pathischen Arzneien heilen oft nur durch Beförderung der
Krisen, welche überhaupt vom "\ erf. vertheidigt werden.
Auch bei der Erstwirkung ist Selbstthätigkeit des empfan¬
genden Wesens vorhanden, jene also nicht als der Arznei
allein angehörig anzuteben. Die Erstwirkung »st immer
contrahirend, die Nachwirkung expandirend. (Eine ganz
45
II, Homöopathie.
unerweisliche, aus Kieser’s System abgeleitete Ansicht. L.)
Das Simiiia similibus der Homöopathen ist in sofern falsch,
als das Ziel, die Gesundheit, doch immer der Gegensatz
des obwaltenden Krankheitszustandes ist. Das Hahne-
mannsche Krankenexamen ist verwirrend und für den be¬
schäftigten Praktiker unmöglich. Die homöopathischen Arz¬
neisymptome sind unzuverlässig , weil Erstwirkung und
Nachwirkung, Nothwendiges und Zufälliges nicht genug
geschieden werden. Die Anwendung von Arzneien nach
homöopathischer Weise steht in keinem unbedingten Gegen¬
sätze gegen die herrschende Medicin, sondern kann nur als
eine einzelne für gewisse Fälle beschränkte Methode be¬
trachtet werden. Die sogenannte homöopathische Ver¬
schlimmerung beruht auf einer Täuschung, und ist nicht in
der Natur vorhanden. Man mufs die Gaben öfter wieder¬
holen, als H. zugeben will.
Indem wir in den genannten Sätzen die wesentlichsten
Abweichungen des Verf. von den Grundsätzen der Homöo¬
pathie angegeben haben, finden wir ihn jedoch ebenfalls in
der Meinung begriffen, dafs die Verdünnungen dynamisch
verstärken, und dafs die sehr kleinen Gaben, wenn auch
nicht für alle Fälle, doch oft heilsam sind. Welche Er¬
fahrungen den Verf. zu dieser Annahme bewogen haben,
erfahren wir nicht, so dafs wir also im Wesentlichen nicht
bedeutend durch diese Schrift gefördert sein dürften.
Schliefslich bemerken wir noch, dafs Hr. B.au, den
wir schon in unserer ersten Kritik der Homöopathie (Bd.III.
S. 33 ff. d. A.) als einen gelehrten und gemäfsigten Ver-
theidiger derselben kennen gelernt haben, kürzlich in einem
ganz nach allopathisch -rationellen Grundsätzen geschriebe¬
nen Werke über das Nervenfieber am Schlüsse bemerkt
4
hat, dafs er nicht nur den früher geäufserten günstigen
Grundsätzen in Beziehung auf Homöopathie auch jetzt noch
beistimme, sondern dafs er auch in Beziehung auf homöo¬
pathische Behandlung des Nervenfiebers sehr günstige Er¬
fahrungen gemacht habe. Indem wir dieses der neuen
<
III. Adcrlafs.
46
Schule so günstige Zeugnifs anführen, und eben dadurch
unsere Unparteilichkeit erweisen, so müssen wir dennoch
gestehen, dafs unsere l cberzeugung dadurch nicht verän¬
dert worden, indem die Bestimmung der Mittel, welche in
einem so schwankenden Zustande, wie das Nervenfiebcr ist,
heilsam wirken, höchst unzuverlässig ist.
. Licht cnstädt.
Die 11 aematomanic des ersten Viertels des
neunzehnten Jahrhunderts, oder der Ader-
lafs in historischer, therapeutischer und inedici-
nisch -polizeilicher Hinsicht; von U etcr Joseph
Schneider, der Med., Chir. und Gehurtsh. I)r.,
Grofsherzogl. Badischem Amtsphysicus zu Eltcn-
heim, Mitgl. mehr, geh Gcsellsch. Mit einem Stein¬
druck. Tübingen, hei H. Laupp. 1827. 8. XU
and 512 S. (2 Thlr. 6 Gr.)
Die deutsche Litteratur hat seit Me zier’ s Versuch
einer Geschichte des Aderlasses (Ulm 1793), kein umfas¬
sendes historisches Werk über die Blutentziehungen aufzu¬
weisen , wiewohl der Gegenstand wichtig genug war, um
die Thätigkeit gelehrter Forscher in Anspruch zu nehmen,
und entgegengesetzte Ansichten über das Aderlafs, die in
die Praxis vielfältig eingriffen, wohl hätten Aufforderung
gehen können, die Lehren der Vorzeit mit den Ansichten,
denen gegenwärtig gehuldigt w-ird, zu vergleichen. So
geistreich Mezler zu Werke ging, so leidet doch seine
Schrift an zwei Hauptgehrechen, einer ziemlich oberfläch¬
lichen Erforschung der Tbatsachen, und einer zu sanguini¬
schen Beurtbeilung derselben. Ref. nahm daher das vor¬
liegende Werk, das in dem ersten Abschnitte eine Ge-
III. Aderlafs.
47
schichte der künstlichen Blutentziehungen enthält, freudig
zur Hand, hoffend, es würde nun endlich jenem dringen¬
den Bedürfnisse genügt worden sein, und der Leser dieses
Werkes die Ursprünge richtiger Ansichten, so wie ver¬
derblicher Vorurtheile in pragmatischer Entwickelung dar¬
gelegt erhalten.
Seit einer Reihe von Jahren finden die Worte des
Celsus: « Sanguinem incisa vena, mitti, novum non est
sed nullum pene morbum esse, in quo non mittatur, no¬
vum est,» buchstäblich ihre Anwendung, und schon berei¬
tet sich wieder eine neue Reaction vor, die das entgegen¬
gesetzte Extrem, die BJutscheu herbeizuführen droht, und
so scheint die Lehre von den Blutentziehungen, wenn auch
auf einfachen Grundsätzen, wie nur wenig andere, beru¬
hend,. dem immer wiederkehrenden Kampfe der Meinungen,
und der Macht leidenschaftlicher Anmaafsung ausgesetzt zu
sein, die das gewonnene Gute der Vorzeit mit sich fort¬
reifst, zufrieden, für den Augenblick gewirkt, und sich
selbst geschmeichelt zu haben.
Nach einer genauen Durchsicht des Werkes finden wir,
dafs Ilr. S. den geschichtlichen Abschnitt desselben nur zum
Theil nach den Quellen, gröfstentheils aber nach vorhan¬
denen Lehrbüchern bearbeitet hat. Es ist daher leicht be-
greiflich, dafs die Mängel der letzten, ohne die Schuld
des sie benutzenden Verf. , hier und da hervortreten. Er
theil t diesen Abschnitt in 27 Kapitel von gröfserem oder
geringerem Umfange, indem er mit den bekannten griechi¬
schen Angaben über die Erfindung des Aderlasses beginnt.
Diese Angaben würden an Interesse sehr gewonnen haben,
wenn der Verf. einige Notizen über den Gebrauch des
Aderlasses bei rohen Völkern hinzugefügt hätte, Notizen^
die sich in vielen Reisebeschreibungen vorfinden, und die
Autocratie des menschlichen Verstandes, bei der Erfindung
einfacher Heilmittel in ein helles Licht setzen. Po liniere
hat in seinem gehaltreichen Werke über Blutentziehungen
dergleichen Notizen umsichtig benutzt, und Ref. bat bei
48
III. Adcrlals.
der Anzeige desselben ’) Gelegenheit genommen, sie mit
einer nicht unwichtigen Angabe zu vermehren.
Der Abschnitt über II i p p o k ra t es enthält nur das
bekannte aus den Lehrbüchern. Dennoch hätte sich hier,
was hei der leichten Zugänglichkeit der hippokratischen
Schriften allerdings erwartet werden durfte, Gelegenheit zu
manchen lehrreichen Erörterungen gegeben. Die Quelle
durchgreifender \ orurtheile über das Aderlafs im ganzen
Alterthum, und also auch im Mittelalter, so wie zum Theil
in der neueren Zeit, liegt schon in der vor wissenschaftli¬
chen Periode, der sich die hippokratische unmittelbar an¬
schliefst. AJbentheuerliche Gefäfslehren waren verbreitet,
von denen die des Polybus, des Diogenes von Apol¬
lonia, und des Syennesis von Cypern wahrscheinlich nur
Wiederholungen sind, und nach diesen Gefäfslehren wur¬
den in der hippokratischen Zeit die wichtigsten Grundsätze
über das Aderlafs bestimmt. Als zu Anfänge des dritten
Jahrhunderts vor Chr. das Licht der Anatomie zu leuchten
begann, blieben diese Grundsätze unverändert, daher die
späteren Uebertreibungen der an sich sehr leicht begründe¬
ten Lehre von der Derivation und Revulsion, einer Lehre,
die so viele dogmatische Verwirrungen und Vorurtheile in
der Praxis veranlagt hat.
Was der Yerf. von den hippokratischen Dogmatikern
sagt, hätte sich aus den vorhandenen Quellen leicht ver¬
vielfältigen und überhaupt lehrreicher darstellen lassen. So
finden wir bei Praxagoras nicht einmal angeführt, dafs
er die Schlagadern von den Blutadern zuerst unterschieden
hat, und der eigentliche Urheber des grofsen crasistratäi-
schen Irrthums von der Blutleerhcit der Arterien gewesen
ist, eines Irrthumes, der in der Lehre vom Aderlafs eine
mächtige Rolle spielt. Bei Chrysipp von Knidus hätte
der ägyptisch- pythagorischc Ursprung seiner Blutscheu an¬
geführt
1) Bd. X. II. 3 S. 303. d. A.
III. Aderlafs. 49
»
geführt werden müssen, aucii durfte das von ihrn empfoh¬
lene finden der Glieder nicht so unbedingt verworfen wer¬
den. Dos ganze Alterthum erkannte hierin ein mächtiges
Mittel nicht nur zur Hemmung starken Blutandranges nach
inneren edlen Theilen, sondern auch zur Unterdrückung
krankhafter Thätigkeiten , die im Nervensystem ihren Sitz
haben, und die neueste Zeit hat die Erfahrungen der Alten
hierüber auf eine sehr glänzende Weise bestätigt. Da nun
Chrysipp überdies das Fasten und die ganze im Einzelnen
vortreffliche ägyptische Diätetik zu Hülfe nahm, um ent¬
zündliche. Krankheiten zu bekämpfen, so leuchtet es ein,
dafs ihm in dem Vereine dieser Mittel ein Ersatz für das
Aderlafs zu Gebote stand, aus dem der Beifall seiner Nach¬
folger sehr erklärlich wird. Dafs man in entzündlichen
Krankheiten überhaupt auch auf anderen Wegen als durch
das Aderlafs zum Ziele gelangen könne, haben die Contra-
stimulisten der neuesten Zeit genugsam bewiesen. Die Blut¬
scheu des E rasistra tus, der nur kein unmittelbarer Schü¬
ler Chrysipp’s war, ist der Hauptsache nach ganz rich¬
tig dargestellt, aber die Aeufserung, dafs Galen seine be¬
kannte Streitschrift gegen Erasistrat us, von Neid und
Scheelsucht bewogen, verfafst haben sollte, weil dessen
Lehre eines gröfseren Beifalles sich erfreuete als die sei-
nige, läfst nicht den Geist unparteiischer Forschung er¬
kennen, auch möchte der Verf. schwer erweisen können,
dafs die Erasistratäer durch « macchiavellistische Künste, ”
wie er sich ausdrückt, ihre Blutscheu verteidigt hätten.
Bei so entfernten Zeiten ist es wenigstens nie gerathen,
Ausdrücke zu wählen, die bei dem Mangel an Beweisquel¬
len nie motivirt sein können, und sein Urteil durch lei¬
denschaftliche Aeufserungen irgend eines Zeitgenossen be¬
stimmen zu lassen. Auf diese Weise bat Sprengel, in¬
dem er PI in i ms blindlings folgte, den um die Heilkunde
hochverdienten Asklepiades zum Charlatan herabgewür¬
digt. Anachronistische Ausdrücke, wie der obige, und wie
« Asthenie, ” der einige Seiten weiter, auch in Bezug auf
4
XIV. Bd. 1. St.
50
III. Aderlafs.
eine alterthümliche Lehre vorkommt, sind überhaupt in ge¬
schichtlichen Darstellungen sorgsam zu vermeiden, oder
doch nur mit grolser Vorsicht und Einschränkung zu be¬
nutzen.
Die Bemerkungen über die Lehren der Empiriker in
Bezug auf das Aderlafs sind ziemlich mangelhaft. Dafs diese
Aerzte Vollblütigkeit und angehäufte Cruditäten der ersten
Wege für die vorzüglichsten und häufigsten Krankheitszu¬
stände gehalten haben, ist Bef. bis jetzt unbekannt gewe¬
sen, eben so, dafs sie nie Blut entzogen haben sollten, ohne
vorher Abführmittel angewandt zu haben. ArcLagathus
hätte in einer Geschichte des Aderlasses füglich wegbleiben,
und dagegen die Darstellung der Grundsätze des Askle-
piades über Blutentziehungen vollständiger ausfallen kön¬
nen. Themison ist nicht (S. 24) «der Erfinder der
Blutegel , ” die schon von N i k a n de r von Kolophon als Heil¬
mittel gegen Schlangenbifs angeführt werden, sondern er
hat den Gebrauch dieser Thiere in der Medicin nur allge¬
meiner gemacht. C. Gelsus durfte ferner durchaus nicht,
wie hier geschehen ist, zu den Methodikern gerechnet wer¬
den, deren eifriger Widersacher er war. Die Grundsätze
dieses Arztes über das Aderlafs hat der Verf. ausführlich
darzustellen gesucht, es bedarf hierzu auch fast nur einer
Uebersetzung des zehnten Kapitels im zweiten Buche. Den¬
noch sind hier zwei wesentliche Umstände übergangen:
1 ) dals das Aderlafs auf zwei Zeiten eingetheilt werden
soll, um den Kranken zuerst zu erleichtern, und ihn dann
völlig zu reinigen (perpurgare) ein unrichtiger, oder doch
nur auf wenige Fälle anwendbarer Grundsatz; und 2) dafs
das Blut so lange lliefsen soll, bis es röther wird, und wenn
es roth und durchscheinend ist, gar nicht gelassen werden
dürfe. Dieser Grundsatz, der gewifs von Celsus selbst
nicht herrührt, hat in der späteren Zeit viel Unheil gestif¬
tet, und wurde mit der grüfsten Hartnäckigkeit beibehal¬
ten. Der Verf. führt ihn erst bei Galen an, der ihn
durchaus nicht zuerst aufgestellt, sondern nur seine längere
I
111. Aderlais.
51
Fortdauer verrpittelt hat. Bei Themison ist es nicht deut¬
lich ausgesprochen, dafs er wie die übrigen Methodiker,
bei Entzündungen an der entgegengesetzten Seite die Ader
zu üffnen pH egte; dies wird vielmehr ganz fälschlich , von
Aretäus behauptet, der immer nur auf der schmerzenden
Seite zur Ader liefs. Soranus von Ephesus kommt ohne
seine Schuld unter die Pneümatiker oder Eklektiker, wäh¬
rend er doch zu den Methodikern gehurt, ja selbst der ein¬
zige Methodiker ist, Von dem wir noch ein zusammenhän¬
gendes Werk, wenn auch in der sehr stümperhaften Ueber-
setzung des Cälius Aurelian us besitzen. Dafs er die
örtlichen Blutentziehungen verworfen haben sollte, ist durch¬
aus ungegründet, vielmehr bedienten sich ihrer die Metho¬
diker sehr eifrig und bei den meisten örtlichen Affectionen
mit Blutandrang und Hitze. Sehr umsichtig erklärte sich
der treffliche Soranus gegen die zu starken und zu oft
wiederholten Aderlässe, worüber seine von Cälius Aure-
lianus erhaltenen Aussprüche noch jetzt zu beherzigende
Andeutungen geben.
Die Charakteristik Galen’s zeugt von gänzlicher f n-
kenntnifs dieses grofsen Mannes. Der Yerf. erklärt ihn für
« einen feingebildeten Höfling, den eine ungeheure Ambi¬
tion beherrschte,» und seine Lehre für «ein eitles Gemisch
der spitzfindigen Lehren der Dogmatiker, verbunden mit
einer grofsen Menge widersinniger Hypothesen und schola¬
stischer Alfanzereien. » Verdammungsurtheile dieser Art sind
über Galen in der neueren Zeit häufig gesprochen wor¬
den, aber immer nur von Schriftstellern , die ihre Ober¬
flächlichkeit durch apodictisches Absprechen zu verbergen
suchten. Es ist hier nicht der Ort, dergleichen Aeufserun-
gen zu widerlegen. Bef. hat dies schon bei anderer Gele¬
genheit, und nicht auf polemische W eise, sondern durch
freie Würdigung der Thatsachen versucht; fast möchte man
aber glauben, die medicinische Geschichtsforschung wäre
noch in ihrer ersten Kindheit, wenn grofse Männer des
Alterthums durch einseitige Hervorhebung ihrer Fehler so
4 *
52
III. Ailerlals.
gemifshandelt werden können! Galcn's Grundsätze über
Blutentziehung sind offenbar aus den Compendien entlehnt,
was schon daraus genugsam erhellt, dals der Verf. , die fal¬
sche Uehersetzung von animalis (-^v^ixef) nicht ahnend,
von thierischer Lebenskraft im Gehirne spricht.
^ on den griechischen Aerzten nach Galen, hebt der
Verf. Antyllus, Oribasius, Aetius, Alexander von
Tralles und Paul von Aegina hervor. Antyllus ist viel
zu spät angesetzt, er lebte nicht im vierten, sondern im
dritten Jahrhundert; über Oribasius hätten wir eine aus¬
führlichere Darstellung erwartet, denn hei ihm findet sich
die Gesammtlehre vom Aderlafs mit ausgezeichneter Klar¬
heit und Vollständigkeit dargestellt. Alexander von Tralles
wird ein Nachbeter Galen ’s genannt, was er gewifs we¬
niger war, als alle späteren Griechen, doch deutet der \ eff.
einige seiner Grundsätze über das Aderlafs ziemlich richtig
an. Zweckmäfsiger, als mit Paul von Aegina, würde der
Verf. die griechische Medicin mit Johannes Actuarius
geschlossen haben, der ungeachtet seiner sonstigen Vortreff¬
lichkeit recht deutlich zeigt, wie unverändert die uranfäng-
lichen \ orurtheile über das Aderlafs ungeachtet aller Er¬
weiterungen der Physiologie in eiuem Zeiträume von sieb¬
zehn Jahrhunderten gehliehen waren. Johannes war über¬
zeugt, dals durch Illutentziehung nicht nur Vollblütigkeit*
sondern auch jede Ueherfiillung mit schadhaften Säften be¬
seitigt werden könne, und wählte mit ängstlicher Genauig¬
keit unter den einzelnen Adern am Arme, als wenn diese
mit bestimmten Theilen in einer näheren Verbindung stän¬
den, und dies alles nach Ansichten, die sich zuai Theil aus
den ältesten verwissenschaftlichen Gefäfslehren herschreiben.
Bei Kopf leiden soll die Ader am Oberarm, hei Brustleiden
die im Ellenbogen, und die übrigen am Vorderarm in Krank¬
heiten der unteren Theile, wie vornehmlich die Milz- und
Leberader auf der Hand in Krankheiten dieser Eingeweide
geschlagen werden. Die revulsorischcn Aderlässe zog Jo-
III. Aderlafs.
53
hannes keinesweges den derivatorischen unbedingt vor,
sondern suchte der oft verunstalteten Anzeige der Revulsion
nur in bestimmten Fällen zu genügen, wie etwa in Krank¬
heiten durch Blutentziehungen am Fufse, und bei Entzün¬
dungen der Geschlechtstheile durch Aderlässe am Arm. Bei
Brustentzündungen , die späterhin der Gegenstand so viei-
fält igen und unbegründeten Streites geworden sind, schlug
er die Armader der leidenden, nicht wie einst die Metho¬
diker der entgegengesetzten Seite. Den Unterschied der
Arteriotomie (die vom Verf. fast ganz unbeachtet geblieben
ist, wiewohl sie in der griechischen Heilkunde eine wich¬
tige Bolle spielt) von dem Aderlässe suchte er in der we¬
sentlichen, nach der pneumatischen Physiologie trefflich
bestimmten Verschiedenheit des arteriellen von dem venösen
Blute, und behielt über die örtlichen Blutentziehungen die
hergebrachten Grundsätze unverändert bei. Johannes hat
eine noch ungedruckte Schrift über das Aderlafs hinterlas¬
sen, die der Herausgabe wahrscheinlich werth ist, und ge-
wifs als ein werthvolles Doeument für die Geschichte der
Blutentziehungen betrachtet werden kann.
Es folgen nun die arabischen Aerzte, bei denen der
Verf. nur wenig Eigentümliches bemerken konnte, indem
sie, ohne eine auf Zergliederung gegründete Physiologie
nur nachbeteten und verdreheten, was in den galenischen
Schriften enthalten war. Die prophylactischen Aderlässe
wurden zuerst von den Arabern in Spanien eingeführt, und
arabische Autoritäten waren es, die der Revulsion bald vor
der Derivation den Vorzug geben liefsen. Eben dies hätte
jedoch hier und da durch gründlicheres Eindringen in den
Gegenstand deutlicher nachgewiesen werden können. Von
Mezler hat der \erf. die Gründe entlehnt, die den ent¬
setzlichen Mifsbrauch der propbylactischen Aderlässe in der
Möpchsheilkunde des Mittelalters veranlafst zu haben schei¬
nen, und die Salernitanischen Verse über das Aderlafs in
deutscher Uebersetzung aus Becker’s Parnassus medicinalfs
54
III. AJcrlals.
illuslratus hinzugefügt, denen sich eine astrologische Ader-
lalstafel aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit einem beige-
gebenen' Aderlafsniännchen in Steindruck anschliefst.
Die Br i sso t sehe Aderlafsrevolution und ihre Folgen
hat der Verf. nach den vorhandenen Vorarbeiten recht an¬
ziehend dargestellt, und es zeichnet sich dieser Abschnitt,
aus den» wir keine einzelnen Angaben hervorheben wollen,
durch gröfscre Richtigkeit und Klarheit vortheilhaft vor den
das Alterthum betreffenden aus. Dagegen wird Paracel¬
sus, wie zu erwarten, tief herabgesetzt, und es widerfahrt
ihm kaum einige Gerechtigkeit. Van Helmont wird mit
Recht gerühmt, wenn es aber anerkannt ist, dafs dessen
Lehre vom Archäus die späteren dvnamischen Systeme
des achtzehnten Jahrhunderts, namentlich das Stahl sehe
herbeiführte, warum wollen wir nicht seinem Vorgänger
Paracelsus den Ruhm lassen, diese Lehre zuerst begrün¬
det zu haLen? Gcwifs ist ihm dafür die Nachwelt den ge¬
rechtesten Dank schuldig! Die hier aufgeführten Helmonti-
schen Lehrsätze über das Alterthum hat schon Mezler in
nicht ganz gleichlautender Uebersetzung mitgethoilt. — Die
Theorie von Sylvins würdigt der Verf. mit wenigen Wor¬
ten, und zeigt, wie durch die cingefiihrten iatrochemischen
Ansichten das Aderlafs nach und nach sehr eingeschränkt
werden mufstc. Ilarvey’s Entdeckung des Kreislaufes
wird ganz zweckmäfsig mit der Theorie der Iatromathema-
tiker in Wrbindung gebracht, in einer geschichtlichen Dar¬
stellung dürften jedoch Andeutungen über die Vorbereitung
dieser Entdeckung durch die italienischen Anatomen nicht
fehlen, wenn auch der Verf. weniger geneigt sein mochte,
Galen 's vom lief, erwiesene vollständige Kenntnifs des
Kreislaufes in Erwägung zu bringen. • Hätte er überhaupt
Galen ’s Anatomie und Physiologie des Blutsystems nur
oberllächlich beachtet, so würde er gewifs sein Urtheil über
diesen grofsen Arzt entweder sehr gcniäfsigt, oder zurück¬
genommen haben.
Sydenhaip, den grofsen Wicderherstellcr der anti-
. III. Aderlafs,
55
phlogistischen Methode, stellt der Verf. ganz passend mit
dem gleichzeitigen Ramazzini und mit Pech 1 in zusam¬
men, und zeigt, wie in eben dieser Zeit die Aderlafswuth
in Frankreich ihre zahlreichen Vertheidiger fand. Auf die
Lehren von Boerhaave und Friedrich Hoffmann, aus
denen das Wesentliche recht zweckmäfsig hervorgehoben
ist, folgt nun Stahl’s System. Hier sind die auf die Blut¬
entziehungen in hitzigen Krankheiten bezüglichen Grund¬
sätze deutlich entwickelt, in Betreff der chronischen Krank¬
heiten vermifst aber Ref. eine Angabe der Motive, die
Stahl’s Anhänger zur Blutverschwendung antrieben. Ge¬
rade hierin lag ein grofser Unsegen der Stahlseilen Praxis;
während man sich scheute, in acuten Krankheiten die kleinste
Quantität Blut zu entziehen, sondern hier die Bekämpfung
der Plethora der Seele allein durch die Secretionen und
Excretionen überliefs, liefs man das Blut in chronischen
Uebeln stromweise fliefsen, so dafs gar manche Stahlianer
den Mönchen des Mittelalters nachzueifern schienen.
Von Stahl geht der Verf. auf Bordeu über, dem
die neuere Zeit mehr verpflichtet ist, als die Dankbarkeit
für die Verdienste derer glauben läfst, die auf seinen Schul¬
tern standen. Er war es, der die Vitalität des Blutes auf
eine eindringliche und überzeugende Weise lehrte, er war
es, der die Lehre von der Contractilität begründete. Die
Aderlafswuth seiner Landsleute beschränkte Bordeu mit
grofsem Erfolg, und seine ganze Art die Heilkunde zu be¬
arbeiten , trug zur Befestigung naturgemäfser Grundsätze
über die Blutentziehungen nicht wenig bei. Der Verf. hat
seine hierhergehörigen Ansichten sehr klar und beifallswür¬
dig entwickelt, und diesen die gleichzeitige Hämatomanie
der englischen Aerzte, namentlich Pringle’s und Grant’s,
anschaulich gegenübergestellt. — Cullen’s System läfst
der Verf. nur für ein erweitertes Stahlseiles und’Hoffmann-
sches gelten, sein eigentliches Verdienst aber darin beste¬
hen, dals er ganz besonders auf die Lebenskraft aufmerksam
I
machte, und die Theorie der Blutentziehungen der Wahr-
5b
111. Atlerlafs.
heit näher fördert^. Es darf in unsern Tagen nicht ver¬
gessen werden, was denn auch der \ crf. ganz richtig an¬
deutet, dafs Cu 1 len die Wirksamkeit des Aderlasses mehr
auf Erschlaffung, als auf Blutverminderung zurückführte,
und die Acrztc lehrte, den Coliapsus vasorum im Auge zu
behalten, der nach einer geläuterten Physiologie Contraclio
vasorum zu nennen sein dürfte. Auf Cullen’s System
würde Ref. nun gleich das daraus unmittelbar hervorgegan¬
gene Brownsche haben folgen lassen, doch hat cs der
Verf. vorgezogen, erst die gastrische TheoVie, dann Woll-
stein’s Grundsätze über Blutentziehungen, und Keil s
System abzuhandeln. Die Empfehlung des Aderlasses in
Stoll’s gastrischer Lehre wurde von dessen Annahme ver¬
borgener Entzündungen motivirt, einer Annahme die nicht nur
damals, und jetzt in der Broussaisschen Schule, sondern schon
im sechsten Jahrhundert n. Chr. und zu Anfang des vori¬
gen (von Baglivi aufgestcllt) zu eigentümlichem Heil¬
verfahren Veranlassung gab. Baglivi ’s Erfahrungen über
diesen wichtigen Gegenstand können wir als bekannt vor¬
aussetzen, jeder Leser kann sie in seinen leicht zugängli¬
chen Werken selbst nachsehen. Von keinem Geschichtfor-
scher sind aber bis jetzt die altertümlichen Ursprünge
der Lehre von den heimlichen Entzündungen berührt. Nach
Aetius, der diese Annahme wahrscheinlich von irgend
einen) Früheren entlehnt, und selbst nur weiter durchge¬
führt bat, soll die rosenartige Entzündung der Ein¬
geweide (f gv<rt7riXxg auf eine eigentümliche
W eise Fieber erregen, vorzüglich das Brennfieber und das
hektische, wobei die humoralpathologische Rücksicht völlig
beseitigt, und die Anzeige der kühlenden Behandlung, be¬
sonders des reichlichen Trinkens von kaltem \\ asser, von
der Natur der Entzündung hercenommen ist. Befällt die
D o
Entzündung den Magen, so entsteht die Lipyria, ein Fie¬
ber, das die inneren Theile mit brennender Hitze verzehrt,
während die äulseren frieren (an vollendete Gastritis ist hier
nicht zu dcoken, iudem die Kranken von kaltem Getränk
i
III. Aderlafs.
57
Erleichterung bekommen sollen); wird die Leber entzündet,
so erfolgt das Typhusfieber ( > dessen wesentliche
Zufälle Irrereden und Betäubung sind, und entzündet sich
die Lunge, so wird ein nicht näher beschriebenes Lieber
mit Eiskälte algida) erregt. (Tetrabl. II. Serm. I.
c. 89. seq.) War diese Ansicht auch gewifs nicht auf
pathologisch -anatomische Beobachtungen gegründet, so ent¬
hält sie doch wesentlich dieselbe Idee, die dem Brous-
saisschen Systeme zum Grunde liegt, und mufs daher in
der Geschichte der medicinischen Theorieen gebührend aus¬
gezeichnet werden.
Die Ansichten der deutschen und italienischen Zeitge¬
nossen und Nachfolger S toi Ts über das Aderlafs sind
durchweg lehrreich und übersichtlich dargestellt, so dafs
wir die genaueste Bekanntschaft des Verf. mit der Littera-
tur dieser Zeit voraussetzen können. Wo llstein’s Ueber-
gang von der Aderlafswuth zur Blutscheu mag im Jahre
1791 Aufsehn erregt haben, gegenwärtig ist sie von um
so geringerem Interesse, da sie ohne erhebliche Folgen
blieb, wenn sich auch in dem damaligen Streite über das
Aderlafs nicht unbedeutende Stimmen vernehmen liefsen,
und S toi Ls Theorie von den heimlichen Entzündungen
mehr und mehr zu ihrem Nachtheile erörtert würde. Es
schliefsen sich hieran wahre und treffende Bemerkungen
über Gail, dessen Verdienste um die freie Würdigung des
Aderlasses ausgezeichnet waren, Scherer und Cammerer,
Schaffer, Bernstein und Me zier, den der Verf., wie
billig, gegen das herabsetzende Urtheil Sprengel ’s in
Schutz* nimmt, dessen Werk, wenn es auch an den oben
angedeuteten Mängeln leidet, doch wesentlich zur Aufklä¬
rung der Ansichten über das Aderlafs beigetragen hat.
Reil’s grofse Verdienste um den richtigen Gebrauch der
Blutentziehungen würden gewifs noch mehr hervorgetreten
sein, und grölsere historische Wichtigkeit haben, wenn der¬
selbe die nächste Ursache der Wirkung des Aderlasses nicht
in der blofsen Verminderung des Blutes, sondern in der
58
III. Aderlafc.
Erschlaffung, wie Cullen gesucht, mehr auf das Herz, als
den Mittelpunkt der Thätigkeit des Blutsystems Rücksicht
genommen, und die von Borden so trefflich begründete
und von Bichat mit so grofsem Erfolge wiedererweckte
Lehre von der Contractilif.it mehr in Anschlag gebracht
hätte. Doch standen die bekannten Theorieen über Irrita- '
Lilität und die Lehrsätze der Erregungstheorie noch in viel
zu grofsem Ansehn, als dafs in der damaligen vielbewegten
Zeit hieran zu denken gewesen wäre. Brown’s System,
oder wohl richtiger die "N erirrungen der Brownianer, denn
dem scharfsinnigen schottischen Arzte dürfen die Uebertrei-
bungen dieser Zeloten nicht füglich zur East gelegt werden,
fertigt der Verf. nur kurz ab, indem sie noch in zu fri¬
schem Andenken stehen, und mehrere von den Lebenden
nicht genannt werden konnten. Der Homöopathie zeigt er
sich durchaus abhold, indem kein medicinisches System, das
je der Welt zur Schau ausgestellt ward, durch seine höchst
paradoxen Lehrsätze so entschiedene Ilämatophoben gebildet
habe. Ohne weitere Kritik der II ah nemannschcn Lehre
beschränkt er sich nur darauf, einige Fälle von homöopa¬
thisch behandelten Enzundungen von Bau mitzuthcilen, und
das Weitere dem Uriheil des Lesers zu überlassen. Ohne
Zweifel ist die Vermeidung des Schädlichen, das Hippokra¬
tische ftn ßXcLTrrti* die beste Seite der Homöopathie; mögen
die Homöopathen immerhin ihre unendlich kleinen Dosen
abtröpfeln, mögen die Beschränkten unter ihnen immerhin
die Worte ihres Meisters über diesen Punkt anstaunen und
bewundern, viele sind gewifs überzeugt, und es bedarf dazu
keiner tiefen arithmetischen Kenntnisse, dafs hierin nichts
W esentliches beruht, und sie scheinen in der Thal nur
bemüht zu sein, durch ihre paradoxe Dosenlehre ihrem
System den Anstrich des Wunderbaren zu erhalten, das
von dem grofsen Haufen von jeher verlangt worden ist,
und in welcher Form cs sich auch zeigen mag, die Mei¬
nungen immer um so sicherer gewinnt, je unbegreil lichcr
und widersinniger cs erscheint. Durch Beseitigung der zu-
III. Aderlafs.
59
sammengesetzten Heiltränke, durch Verwerfung eines schäd¬
lichen Arzneikrams, der von vielen für unumgänglich nöthig
gehalten wird, wo die Natur seiner durchaus nicht bedarf,
durch richtige Würdigung des Schädlichen in einer fehler¬
haften Diät, durch richtige Handhabung der negativen Ein¬
flüsse leisten sie aber gewils der Heilkunst wesentliche
Dienste, die mit allem Dank anerkannt werden müssen, und
noch viele zur Ueberzeugung bringen werden, dafs die her¬
gebrachte Heilkunde an vielen Stellen Fehler enthält, wo
sie bisher noch kaum vermuthet wurden. Chrysipp und
F>r as ist rat us, und wenn von Beseitigung eines unnützen
Arzneivorrathes die Bede ist, auch Asklepiades, haben
ähnliche Reformationen und rnit besserem Erfolge für die
Wissenschaft bewirkt, weil sie in ihren übrigen Theoremen
die Vernunft mehr auf ihrer Seite batten, als die Homöo¬
pathen.
Weusseux’s Aderlafstheorie wird in einem eigenen
Abschnitte ausführlich gewürdigt, und dieser Arzt den ent¬
schiedenen Phlogosozeloten , ein schwerfälliger Ausdruck,
dessen sich der \erf. im ganzen Werke mit einer besonde¬
ren Vorliebe bedient, beigezählt, ln der That sind die
Grundsätze dieses sonst achtungswerthen Arztes, da sie
besonders eine dreiste Blutverschwendung in chronischen
Krankheiten empfehlen, wenig geeignet, allgemeine Aner¬
kennung zu finden, die ihnen denn auch in Frankreich ge¬
genwärtig nicht mehr zu Theil wird. Erwähnung finden
noch aufserdem in diesem Abschnitte Rush, Horn, jedoch
nur nach einem vor 26 Jahren geschriebenen Werke, das
seiner gegenwärtigen Ueberzeugung längst nicht mehr ent¬
spricht, und ein Engländer Seeds, nach einer geringfügi¬
gen Inauguraldissertation, die hier nicht beachtet zu werden
verdiente. — Geber die Lehre vom Contrastimulus hat der
V erf. allein W agner’s Schrift benutzt, und diesen Ab¬
schnitt bei weitem nicht vielseitig genug, selbst mit Ueber-
gehung des Guten, und Lehrreichen, das in dieser Lehre
allerdings enthalten ist, bearbeitet. So hätten namentlich
I
60
III. Aderlafs.
die von gewichtigen Autoritäten anerkannten Brcchwein-
steincuren in Entzündungen ganz anders, als dies hier ge¬
schehen ist, gewürdigt werden müssen. — Der Grund,
warum Kieser’s Ansicht über das Aderlafs in einem be-
sondern Abschnitte vorgetragen worden ist, will l\ef. nicht
einleuchten. Sie ist überhaupt nicht so wichtig, um hier
eine Siedle zu verdienen, und wenigstens hätte, wenn sie
dennoch aufgenommen werden sollte, vielen anderen, die
hier übergangen worden sind, eine gleiche Auszeichnung
gebii hrt.
Broussais’s System hat der Vcrf. , wie zu erwarten,
ganz aus dem Gesichtspunkte der ßlutegelverschwendung,
und weniger in Bezug auf erwiesene Darmentzündungen
betrachtet. Polinieres angeführtes, im Jahre 1827 er¬
schienenes Werk über die Blutentziehungen konnte ihm bei
der Ausarbeitung des seinigen noch nicht bekannt gewor¬
den sein, sonst würde er seine Leser auf eine sehr erfreu¬
liche NN eise überzeugt haben, dafs gegenwärtig das Ader¬
lafs gegen den allgemeinen Gebrauch der Blutegel in Frank¬
reich wiederum in Schutz genommen wird, und die Brous-
saissche Blutegelmanie bereits ihre Beaction gefunden hat.
Er giebt indessen einen ausführlichen Auszug der diese
Beaction ebenfalls bezeichnenden, mehr polemischen Schrift
von Audin - Rouviere, Plus de sangsues, Paris 1827.
Den Beschlufs dieses historischen Theils macht eine sehr
vollständige Angabe der Litteratur über das Aderlafs, eine
schätzbare Norarbeit für alle, die sich späterhin mit diesem
Gegenstände beschäftigen werden.
Den zweiten Abschnitt seines Werkes, von den
künstlichen I> I u ten tz ich u ngen in therapeutischer
Hinsicht, hat der N erf. in sieben Kapitel getheilt. Im
ersten derselben schildert er die allgemeinen Wir¬
kungen der Blutentziehungen ganz naturgetreu und mit
lebendigen karben, in dem zweiten wird der Linfluls der¬
selben auf die Beproduction , die Irritabilität und die Sen¬
sibilität besonders erwogen. Es kommen liier durchweg
i
III. Aderlafs.
61
nur beifallswerthe Lehrsätze und Erfahrungen zur Sprache,
und der Yerf. bemüht sich besonders, die Wirkungen des
zu häufigen Aderlassens auf die Quantität des Blutes selbst
hervorzuheben. Auf das Verhalten der Arterien ist weni¬
ger Rücksicht genommen, wiewohl diesem bei dem gegen¬
wärtigen Zustande der Physiologie des Blutsystems eine ganz
besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden mufs. Die
Contractilität der Arterien und Venen, vermöge welcher
sie die vorhandene Blutmasse beständig genau umschliefsen,
das Verhalten derselben bei schnelleren oder langsameren
Blutentziehungen, die davon abhängigen Zustände des Ca-
pillarsystems in Bezug auf Wärmebereitung und Stoffwech¬
sel, die damit in genauer Verbindung stehenden Verände¬
rungen aller contractiien Theiie, alles dies giebt die licht¬
vollsten praktischen Gesichtspunkte, die um so sicherer ins
Auge gefafst werden können, als sie physiologischen That-
sachen genau entsprechen. Der Begriff der Inanition läfst
sich hiernach viel genauer bestimmen, als dies von unsern
Vorfahren geschehen konnte, und an die Stelle vager An¬
sichten über die Wirkung des Aderlasses ist das klare Be-
wufstsein von Veränderungen getreten, die sich aus dem
Pulse und anderen semiotischen Merkmalen genauer erken¬
nen lassen.
Im ,dritten Kapitel ist? von den allgemei¬
nen und besonderen Indicationen zu künstlichen
Blutentziehungen die Rede. Der Verf. theilt die hier¬
her gehörigen Krankheitszustände in neun Klassen, nämlich
1) Entzündungen und entzündliche Fieber mit
dem Charakter der Hy persthenie; a) einfaches ent¬
zündliches Fieber, Synocha, b) gastrische und gallichte Fie¬
ber, gallichte Entzündungen, c) nervöse und typhöse Fie¬
ber, d) Wechselfieber, e) phlegmonöse und topische Ent¬
zündungen, f) catarrhalische Entzündungen und catarrhali-
sehe Fieber, g) rheumatische und gichtische Entzündungen,
rheumatische Fieber, h) erysipelatöse Entzündungen und
exan thematische Krankheiten überhaupt, i) Nervenentzün-
62
III. Aderlals.
düngen, k) chronische Entzündungen, I) Entzündungszu¬
stände nach Verletzungen und chirurgischen Operationen. —
2) Vollblütigkeit. — 3) Orgasmus, Congestio-
nen und Stasen des Blutes. — 1) Blutflüsse und
ihre Anomalien. — 5) Organische Herzkrank¬
heiten. — 6) Lungensuchten. — 7) Wasse rsu eil¬
ten. — 8) Neurosen; a) schmerzhafte Krankheiten,
b) psychische Krankheiten, c) krampfhafte Krankheiten ,
d) Apoplexie, e) Asphyxieen. — 9)Schwangerschafts-
beschwerden. — Der gegebene Begriff von Entzündung:
(( krankhaft gesteigerte Thätigkeit des Eebensprozesscs irgend
eines Organs oder organischen Systems, wobei die Functio¬
nen desselben entweder alienirt, oder gar aufgehoben (.’)
und zernichtet sind,“ scheint Bef. viel zu vage. Wollte
der Verf. danach consequent bleiben, so mufste er den
neueren Entzündungspathologieen, und mithin auch der Blut-
yerschwendung eifrig das Wort reden, was mit seiner riih-
menswerthen Absicht, die Anzeigen des Aderlasses auf klare
Begriffe zurückzuführen, nicht übereinstimmen würde. Im
übrigen finden wir durchgängig beifallswerthc Ansichten,
und die Warnung vor einseitiger Hämatophobie uud Iläma-
tomonie ausgesprochen. Auf die von Puchelt näher be¬
stimmten venösen Entzündungen macht der Verf. gebührend
aufmerksam, ohne jedoch auf die treffliche Arbeit von Bi-
bes in der Bevue medicale, die nach Bef. Ueberzeugung
die beste über diesen Gegenstand ist, und auf das Resultat
der neuern mikroscopischen l ntersuchungen der Entzün¬
dung, nach denen die ^ enenanfänge bei jeder Entzündung
bei weitem mehr betroffen sind, als die Arterienenden,
Rücksicht zu nehmen. Er beschreibt eine in seiner Gegend
epidemisch vorgekommene venöse Lungenentzündung, und
pflichtet im Allgemeinen der von Puchelt ausgesprochenen
Ansicht bei, dals die venösen Entzündungen noch dreister
mit Aderlässen zu bekämpfen seien, a|s die arteriellen. Die
beigegebene Krankengeschichte einer venösen Lebercntziin-
dung, mit dem Leichenbefunde, ist in vieler Beziehung sehr
III. Aderlafs.
63
lehrreich. — In Betreff der Anwendbarkeit der Blutent¬
ziehungen in nervösen oder typhösen Fiebern verweist der
Verf. auf seine in unsern Annalen (Bd. VI. II. 2. S. 1,91)
angezeigten medicinisch -praktischen Adversarien, in denen
er hierüber gemäfsigte Grundsätze ausgesprochen hat. —
Das Wesen des Wechselfiebers in einen Krampf des Gan¬
gliensystems zu setzen, ist eine ziemlich unhaltbare, wenn
auch den Meinungen vieler Praktiker entsprechende Bestim¬
mung. Die Nervenpathologie, und noch überdies in Bezug
auf einen wenig ergründeten Theil des Nervensystems, giebt
hier unfruchtbare Ansichten in Vergleich mit einer gemäfsig-
ten Humoralpathologie, die die ursprüngliche Affection der
Respirationsorgane und des Blutes durch eine darstellbare
Schädlichkeit ins Auge fafst, und von dieser die übrigen
Erscheinungen abhängen läfst. — In Betreff der örtlichen
Entzündungen hat der Verf. die besten Erfahrungssätze ver¬
einigt, und auch diesem Abschnitt ein lebendiges Interesse
zu geben gewufst. Dasselbe gilt von den nächstfolgenden
Abtheilungen. Bei der Erörterung der Nervenentzündun-
gen fühlte er sich aufgefordert, die Einseitigkeit vieler neuen
Aerzte, diese Entzündungen, die, wenn auch in der Wirk¬
lichkeit nachgewiesen, doch nur selten Vorkommen, überall
anzunehmen, als ein schädliches Extrem zu bekämpfen. Be^
sanders lehrreich sind in diesem Abschnitte einige von ihm
beobachtete Fälle von nervenentzündlichen Leiden, die mit
heroischen Aderlässen (sechs bis sieben Pfund in einem
Nachmittage) wirksam behandelt wurden, und im Werke
selbst nachgelesen zu werden verdienen.
Die allgemeinen Unterschiede der Vollblütigkeit hat der
Verf. nach den gangbaren pathologischen Bestimmungen
angegeben, und zu Anfang einige historische Notizen mit-
getheilt, die jedoch zu sehr aus dem Zusammenhänge ge¬
rissen, und zum Theil unrichtig sind. W ie konnte Py tha-
goras die Arterien, die Venen und die Nerven für die
eigentlichen Bande der Seele halten, da zu seiner Zeit die
Nerven noch nicht bekannt, und die Arterien von den
I
64 III. Aderlafs.
Venen noch nicht unterschieden waren? Die Anzeigen de*
Aderlasses in Bezug auf V ollbliiligkeit sind dagegen klar
und naturgemäß entwickelt. Aus den zunächst folgenden,
oben angegebenen Abtheilungen wollen wir nichts einzelnes
hervorheben, indem wir hier überall den 'S erf. auf dem
Wege einer gesunden, rationellen Empirie finden, und nur
Gelegenheit nehmen müßten, von bekannten Gegenständen
zu reden.
In dem siebenten Kapitel werden die verschie¬
denen Arten der künstlichen Blutentziehung ab-
gehandelt, die Arteriotomie, das Aderlafs, die Blutegel, die
Scarificationen und die Schröpfköpfe. Die erste hat «1er
Yerf. fast zu kurz, nur auf einer Seite abgefertigt, was bei
den sehr getheilten Meinungen über die Y\ irksamkeit dieser
Art Blutentziehung, und in einem sonst so ausführlichen
Werke nicht zu erwarten gewesen wäre. In der That
scheinen die Anzeigen der Arteriotomie »mehr theoretisch,
als auf unzweifelhafte Erfahrung gegründet zu sein, und
fafst man ohne Yorurtheil die wesentliche Wirkung der
allgemeinen Blutentziehung, den Eindruck auf das Herz und
die Zusammenziehung der Gefäfse ins Auge, so ergiebt sich
durchaus kein erheblicher Vorzug der Arteriotomie vor dem
Aderlafs. Ausführlicher ist der Verf. über das letzte, be¬
schreibt die einzelnen Arten desselben nach der Localität,
und giebt mit seiner gewöhnlichen l msicht die nöthigen
Verhaltungsregeln. An genauer Kritik des Einzelnen fehlt
es indessen hier und da, so berührt der Verf. namentlich
das Aderlafs an der Drosseladcr nur im N oriibergehen , und
nirgends ist ausgesprochen, dafs das Aderlafs am Arm als
die Cardinalblutentziehung zu betrachten ist, worüber doch
jetzt kein Zweifel obwalten kann. Die wesentliche Wir¬
kung der Blutegel sucht der Verf. ganz richtig in örtlicher
Blutverminderung, Erhöhung der Kosorptionsthütigkjeit im
erkrankten Gebilde und seinen Umgebungen, und in" Üm-
stimmung der Nervcnlhätigkcit und der Heproduction, Ueber
Scarificationeu und Schröpfköpfe erhalten wir das Bekannte,
. ' bei
I
» . # ^
HI. Aderlais. 05
bei den letzten Ist indessen ihre eigenthümliche, sehr we¬
sentliche Wirkung auf die Gefäfsenden , den Riickflufs und
Stillstand des Bluts in den dieser Wirkung ausgesetzten
Venen (Barry) vergessen worden. Dann wendet sich der
Verf. im fünften Kapitel zur Derivation und Re-
vulsion, geht aber hier keinesweges so zu Werke, wie
die geschichtliche Begründung dieses Gegenstandes es erfor¬
dert. Er giebt zu, dafs unleugbare Fälle vorhanden seien,
in welchen Derivation und Revulsion für nicht so ganz be-,
deutungslose Worte zu nehmen wären, versteht aber unter
Revulsion, dem unabänderlichen Sprachgebrauche ganz ent¬
gegengesetzt, die Wirkung künstlicher Blutentziehungen zu¬
nächst auf den Sitz der Entzündung und die nahe gelegenen
Theile, indem er mit Derivation jene Wirkung bezeichnet,
welche man dem Aderlafs rücksichtlich der vom Sitz der
Entzündung entfernteren Organe beilegt. Es ist hieraus
ersichtlich, dafs die Entscheidung des bekannten Streites
ganz anders ausfallen müsse, als nach den unveränderten
Begriffen beider Wirkungen des Aderlasses, und mithin
nicht als eine eigentliche Entscheidung anerkannt werden
könne. Po liniere ist hier auf eine ganz andere, |wenn
auch den Unterschied beider verneinende Weise zu Werke
gegangen, die sich ihm indessen aus einer freien Würdi¬
gung der wesentlichen Wirkungen des Aderlasses als die
beste ergab.
Das sechste Kapitel handelt von den verschiedenen
Verhältnissen, welche auf die Blutentziehungen einen we¬
sentlichen Einllufs haben, namentlich der Constitution, dem
Alter und Geschlecht, und dem Kräftezustande des Kranken.
Das siebente Kapitel endlich von der Quan¬
tität des zu entleerenden Blutes, und den Bestimmungs¬
gründen zur Wiederholung des Aderlasses. Ganz an ihrer
Stelle sind hier einige Beispiele von grofsen und übergrofsen
Aderlässen, wobei der Verf. vor leichtsinniger Nachahmung
eindringlich warnt, jedoch aber auch zugiebt, dafs allerdings
Fälle Vorkommen können, in denen ungewöhnliche Blut-
5
XIV. Rd. 1, St.
66
III. Adertafa.
/
vergiefsungen nöthig sind. Er betrachtet diese Fälle nur
als seltene Ausnahmen der allgemeinen Hegel, und hat in
seiner eigenen glücklichen Praxis bewiesen , dafs er sie rich¬
tig zu erkennen vermag. Er wendet sich alsdann zu dem
Pulse, als Bestimmungsgrund zum Aderlais, handelt hier¬
über die allgemein gültigen praktischen Hegeln ab, und
unterwirft die hergebrachten Annahmen über die Entzün¬
dungshaut einer genauen, für die gegenwärtige Zeit wohl
zu ausführlichen Kritik.
Im dritten Abschnitte werden die künstlichen Blut¬
entziehungen in medicinisch - polizeilicher Hinsicht betrachtet.
Ob in diesen Abschnitt eine theoretisch - praktische Y\ ürdi-
0
gung der prophylactisehen und der Probeaderlässe gehöre,
in der von medicinisch -polizeilichen Rücksichten nicht ent¬
fernt die Hede ist, wollen wir dahingestellt sein lassen, im
übrigen geht der Yerf. hier gröfsteotheiU historisch und
polemisch gegen das Yulgus chriurgorum et tonsoruin zu
Werke, ohne irgend bestimmte Vorschläge zur Beschrän¬
kung des Mifsbrauches der Blutentziehungen zu machen.
Füglich hätte der Inhalt dieses letzten Abschnittes den frü¬
heren einverleibt werden können.
Der gelehrte und lleifsige V erf. hat sich schon oftmals
den Dank seiner Mitärzte für vorzügliche Leistungen in der
praktischen Heilkunde erworben, und hat es auch mit die¬
sem Wrerke, das, ungeachtet unserer gegründeten Ausstel¬
lungen, viel Gutes enthält, und angehenden Aerzten ange¬
legentlich empfohlen zu werden verdient. Der erste, sehr
schwierige Abschnitt ist in der zweiten Hälfte sehr wohl
gelungen, in der ersten entschuldigt ihn für manches Feh¬
lerhafte die unzureichende Bearbeitung der vorgetragenen
Gegenstände in den von ihm benutzten Lehrbüchern, inden}
er sich in seinem praktischen Wirkungskreise schwerlich mit
dem Studium der Quellen beschäftigen konnte. Der prak¬
tische Abschnitt aber kann den vorzüglichsten Arbeiten
über das Aderlafs zur Seite gesetzt werden, und wir müs¬
sen Schneider'9 und Polioi&res Wrerke, beide von
III, Aderlafs.- 07
den verschiedenen Standpunkten ihrer Yerf. aus beurtheilt,
unbedingt als die besten aufführen, die die neueste Zeit
4
über das Aderlafs aufzuweisen hat.
H.
Nachtrag.
Nachdem der vorstehende Artikel bereits abgedruckt
war, ist der Redaction eine kritische Anzeige des Schnei¬
derschen Werkes zugekommen, aus der w*ir Folgendes
ausheben :
Es ist wohl vollkommen wahr, wenn der Verf. be-
t
merkt, dafs es kein geeigneteres und besseres Mittel gäbe
den wahren therapeutischen Werth der' künstlichen Blut¬
entziehungen zu bestimmen, als das Studium der Geschichte
der Medicin. Wir wären daher dem Yerf. in der That
einen grofsen Dank schuldig, wenn er eine allen Ansprü¬
chen genügende, umfassende Geschichte der künstlichen
Blutentziehungen, dieses gröbsten Heilmittels, geliefert hätte,
da wir eine solche noch nicht besitzen, indem Mezler
durch seine mit grofser Partheilichkeit verfafste Schrift zu
sehr die ersten Anforderungen an einen Geschichtschreiber
verletzt hat, als dafs sein Werk genügen könnte, lndefs
mufs Ref. doch bemerken, dafs auch diese Darstellung, wie
sie uns S. giebt, ihm nicht vollkommen gelungen scheint,
wie sehr ihn auch einzelne Theile derselben angesprochen
haben. Abgesehen nämlich von einer überflüssigen Beimi¬
schung manches Fremdartigen, wie wir sie hier finden,
rächt sich an dem Yerf. besonders die Vernachlässigung
einer zweiten, wichtigen Anforderung an den Geschicht¬
schreiber, die des Quellenstudiums. So sieht man es dieser
Darstellung nur zu bald an, wo der Yrerf. aus den Quellen
selbst geschöpft hat oder wo er, wie er in der Einleitung
selbst gesteht, seiner Bearbeitung andere Werke, unter
denen er Mezler ’s, Ileck er ’s (d. V.), Metzger’s,
Sprenge ls, Nicolai’» und Burdach ’s pragmatische
5 *
f
III. Adcrlafs.
68
Geschichten und historische Notizen der Medicin aufliihrl,
zum Grunde gelegt hat. Bef. fühlt sich aulser Stande, in
eine genauere Prüfung dieser geschichtlichen Darstellung,
welche ohnehin die Gränzen dieser Anzeige weit überschrei¬
ten würde, einzugehen; er fügt nur noch einige wenige
Bemerkungen hinzu. W enn Seile 15 behauptet wird, dals
Diokles und Praxagoras, obschon Anhänger der hippo-
• kratischen Medicin, dennoch rücksichtlich der Anwendung
künstlicher Blutentziehungen sehr bedeutend von den Ilip-
pokratikern abwichen, indem sie schon in der Gehirn- und
Halsentzündung, in der Darmgicht, Epilepsie, Lähmung,
in dem Seitenstiche über der Leber und in Krankheiten
der Leber und Milz zu reichlichen Aderlässen ihre Zuflucht
nahmen, so sind das gerade Krankheiten, gegen welche
auch die Hippokratiker Aderlässe anempfahlen , wie solches
der Verfasser des Huches 7rc^\ hctirri; ausdrücklich sagt.
( S. ed. Kuehn. Vol. II. p. 66 sqq.) Berichtet doch auch
Galen zu Anfänge seines Buches de Yenaesect. adv. Era-
• i st rat., dafs Diokles unter denselben Umständen, die
Hippokratcs empfohlen, zur Ader gelassen habe. —
S. TI wird von Asklepiades die gewöhnliche Angabe
erzählt, dafs ihn besonders schmerzhafte Krankheiten zum
Aderlässe bestimmt hätten, dafs er in vielen entzündlichen
und heberhaften Kraokheitcn, wenn sie von keinem Schmerze
begleitet gewesen wären, den Aderlafs vermieden habe.
Sollte wohl der Bithynier, der, nach allem, was wir über
ihn besitzen, unstreitig einer der gröfsten Aerzte gewesen,
sich durch die blofse Gegenwart oder Abwesenheit des
Schmerzes in der Anwendung eines so wichtigen Heilmit¬
tels haben bestimmen lassen, sollte nicht vielmehr, wie
schon Gumpert (s. Asclepiadis Bithyni fragmenta. Vi-
nar. 1791. 8. p. 103) vermuthet, die Stelle, auf welche
jene Angabe fufst (Gael. Aurelian, morb. acut. Lib. II.
Gap. 29. Ed. A mm an. p. L43), eine besondere Deutung
erfahren müssen:’ — S. 24 wird Themison als der Ur¬
bilder der Blutegel (!) angegeben, indefs hat Hecker
%
III. Aderlafs.
69
schon längst erwiesen, wieNikander ihrer früher gedenkt.
(S. Geschichte der Heilkunde. Bd. I. S. 350.) — P. Bris-
sot starb nicht, wie der Verf., wahrscheinlich der bei
Sprengel (Versuch einer pragmat. Gesch. 3te Aull. Bd. 1H.
S. 601) gegebenen chronologischen Lebersicht folgend, an-
giebt 1520, sondern 1522, welche Jahreszahl im Werke
selbst (S. 176) bei Sprengel richtig angegeben, ist. Vergl.
die dem M o rea u sehen Werke: De Missione sanguinis in
pleuritide, angehängte Vita Petr. Brissoti pag. 125, eine
Schrift, die der Verf. indefs wohl nicht gekannt hat. —
Bei Erwähnung der durch Botalli angeregten Aderlafs-
sucht werden die Männer, welche sich diesem Unwesen zu
jener Zeit kräftig entgegensetzten, zu wenig berücksichtigt.
Eine sehr umfassende Würdigung dieser Zeit giebt Har-
lefs in einem vortrefflichen, mit gründlichster Gelehrsam¬
keit verfafsten Aufsatze. (S. Heidelberger clinische Annalen.
Bd. IV. S. 529.) — Stahl endlich ist wohl zu wenig ge¬
würdigt, seiner grofsen Vorliebe gegen die durch ihn be¬
sonders in den mittleren Decennien des verflossenen Jahr¬
hunderts in Deutschland in Ansehen gekommenen Präser¬
vativaderlässe gar nicht gedacht worden, wie er selbst
z. B. berichtet, dafs er in seinem 69sten Jahre an sich be¬
reits den 102ten Aderlafs vorgenommen habe.
Den Beschlufs dieses ersten Abschnitts nimmt eine recht
vollständige Litteratur ein. Mit dankenswerthem Fleifse hat
der Verf. auf 26 Seiten die Titel mehrerer hundert über
Blutentziehungen erschienenen Schriften, die meistens in
Dissertationen bestehen, zusammengebracht. Ob eine solche
Zusammenstellung von Schriften, von denen der Verf. wahr¬
scheinlich nur einen sehr kleinen Theil selbst gelesen und
für seine Arbeit benutzt hat, von Nutzen sei, wäll Ref.
dahingestellt sein lassen; er bemerkt nur noch,, dafs die
von S. aufgeführte, sehr zahlreiche Litteratur gleichwohl
nicht vollständig ist, dafs selbst manches recht sehr wich¬
tige Werk fehlt. Ploucquet kann durch seine Literatur,
med. dfgest. s. v. venaesectio, hirudo u. s. w. die angege-
70 UI. A'Wlafs.
bene Litteratur noch sehr vcrvo II ständigen. Bef., der cs
verschmäht, die bei S. fehlenden Schriften aus Plouccjuet
hier aufzuführen, führt aus seinen Collectaneen nur noch
die Titel einiger Schriften an, die er entweder selbst be¬
sitzt oder mindestens gelesen hat: G. Yalla de universi
corporis purgatione, venaesectionc, cucurbitulis, cathaereti-
cis, corporis exercitatione , alia diaetetica et semeiotica. Ar-
gent. 1529. 8. — L. Bellini de urinis et pulsibus, de
missione sanguinis, de febribus, de morbis capitis et pecto¬
ris. Francof. et Lips. 6*85. 4. — S. A. Uotario rag-
gioni contra Fuso dcl salasso c delle ventosc. Veron. 1699. 4.
(Auch 1\. gehörte zu den Aerzten, «lie siel» besonders gegen
die seit Botalli in Italien geübte Aderlafssucht erklär¬
ten.) — R. Moreau de missione sanguinis in pleuritide etc.
Adjuncta est vita Petr. Brissoti. Ad exempium Parisiis
apud Samuelem Celerium 1630. Hai. 742. 8. (YVie konnte
dem Verf. diese kleine, mit vieler Sachkenntnis geschrie¬
bene, dem bekannten Compend. histor. medic. von J. II.
Schulze beigedruckte Schrift unbekannt sein?) — J, P.
Frank orat. de venae sectionis apud puerperas abusu. Ti¬
cin. 787. in delect. opuscul. medic. Vol. IVT. p. 3. Lips.
791. 8. — Kuntzmann anatomisch -physiologische Un¬
tersuchungen über den Blutegel. Berl. 817. 8. (Auch eine
sehr bekannte, wichtige Schrift! Viel wichtiger als die vom
A erf. angeführten Compilationen von Clesius u. a.) —
K. I). Stahl Bemerkungen über das Aderlässen. Hannov.
823. 8. ( Unbedeutend. ) — Kv. Andr. Gatti del sangue
e del salasso considerati sollo nuovi rapporti. Bologna e
Torino 824. 8. — J • L« Der hei ms histoire naturelle
et medicaie des sangsues. Paris 825. 8. (Aergl. Bd. VI.
S. 375 d. \.) — Boniali diss. de sanguinis missionibus
local ibus. Patar. 825. 8. — J. Fr. F. Fischer Diss. de
hirudine medicinali. Berol. 827. 8. —
Der zweite Abschnitt handelt von den Blutentziehun¬
gen in therapeutischer Beziehung. Aachdem der Verf. in
der ersten Abtheilung diese» Abschnittes die allgemeinen
/
/
III. Aderlafs.
TI
Wirkungen der künstlichen Blutentziehungen auseinander¬
zusetzen unternommen hat, spricht er in der zweiten von
den besonderen Wirkungen derselben, wie sie sich in den
Systemen der Reproduction, Irritabilität und Sensibilität
aussprechen. Ref. scheint es indefs, als wäre es dem Verf.
eben nicht gelungen, eine klare Ansicht von den Wirkun¬
gen dieses Heilmittels zu geben. Indem er nämlich zuerst
von den WTirkungen desselben im Allgemeinen sprechen
will, beginnt er gleich zu Anfänge mit einzelnen Beispielen
der verschiedenen Wirkung des Aderlasses, da sich doch
immer einige Momente gleicher Einwirkung hätten aufstel¬
len lassen, sodann handelt er von den Folgen sehr grofser
Aderlässe, der Verblutung, und denen der Gewohnheits¬
aderlässe, wobei namentlich des Fettwerdens gedacht wird,
immer also von besonderen Zuständen, die auf besondere
An wendungsweisen des Aderlasses folgen. Gelang es also
dem Verf. in diesem ersten Abschnitte nicht, die allgemei¬
nen Wirkungen des Aderlasses gehörig darzusteilen, so
wird in dem zweiten von neuem ein Versuch gemacht, und
hier ein glücklicherer, wenigstens im Verbältnifs zum er¬
sten. Die sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen künstlicher
Blutentziehungen in den Sphären der Reproduction, Irri¬
tabilität und Sensibilität sind hier gut dargestellt. Ob aber
in dieser Untersuchun^sweise selbst nicht der Grund zu
einem minder günstigen Erfolge läge? Wirkt doch das
Aderlafs nicht auf das irritable, oder sensible, oder repro-
ductive System allein ein, sondern auf alle zugleich. So
wäre es wohl besser gewesen, wenn der Verf. die W ir¬
kungen der Blutentziehungen überhaupt und dabei zu¬
gleich, wie es bei der Darstellung von arzneilicher Einwir¬
kung überall nöthig ist, die primären und secundären Wir¬
kungen, wie sie durcheinander bedingt werden, berücksich¬
tigt hätte, wie solches auch Po liniere in seiner, wie es
scheint, ungleich bessern Auseinandersetzung über die all¬
gemeinen Wirkungen oer künstlichen Blutentziehungen ge-
than hat. ,
T2
III. Aderlafs.
Die dritte Abtheilung des zweiten Abschnittes bandelt
von den allgemeinen und besonderen Indicationen zu künst¬
lichen Blutentziehungen, und zwar werden hier in neun
Klassen die einzelnen Krankheitsgruppen der Entzündungen
und Fieber, die Vollblütigkeit, ferner Orgasmus, (Konge¬
stionen und Stasen des Illutes, Bluiflusse und deren Ano¬
malien, organische Herzkrankheiten, Kungensuchtcn , Was¬
sersüchten, Neurosen und Schwangerschaftsbeschw erden ver¬
handelt. Ob es überhaupt nöthig gewesen wäre, die Indi¬
cationen für die künstlichen Blutentziehungen so in specie
zu verhandeln, will Rcf. hier nicht untersuchen. Es giebt
wohl wenige Mittel, über deren Anwendung im Allgemei¬
nen die Aerzte einiger wären, als über die eben dieses
Mittels. Die Casuistik befindet sich freilich nicht in einem
so glücklichen Falle, aber diese kann auch nicht gelehrt
werden. Erkannte der \ erf. nun aber gleichwohl die Nütz¬
lichkeit an, diesen Gegenstand einer neuen Revision zu un¬
terwerfen und das durch Beobachtung und Erfahrung Er¬
probte zusammenzustellen , so wäre wohl eine andere Be-
handlungsweise wünschenswert gewesen. Es gilt nämlich
zuvörderst von dieser Darstellung, die auch nebenbei viel
Unwesentliches enthält, dafs die indicationen meist nicht
tief genug erfafst und umfassend aufgestcllt sind. Natürlich
wäre dies*s bei den Krankheiten vorzugsweise nöthig ge¬
wesen, über welche die Indicationen hinsichtlich der Blut-
•
entziehungen noch nicht vollkommen festgestellt sind. Leber
solche Punkte finden wir aber hier nicht immer Belehrung.
Ein anderer Tadel trifft die ungleich rr/äfsige Behandlung
der einzelnen Gegenstände. So finden wir z. B. die Was¬
sersüchten recht sehr umfassend und mit genügenden litte-
rarisrhen Nachweisungen, vielleicht indefs mit zu grofser
\ orliebc für die Anwendung der Blutentziehungen in ihnen
abgehandelt, die Lungensuchtco hingegen, in welchen Blut-
enlziehuugen gewifs öfter, als in jenen Krankheitsformen
ihre Auwendung finden, sehr kurz abgefertigt.
ln der vierten Abtheilung dieses Abschnittes handelt
i
III. Aderlafs.
73
der Yerf. von den verschiedenen Arten der künstlichen
Blutentziehungen, und zwar von der Arteriotomie, der
Aenäsection, den Blutegeln, Scarificationen und Schröpf¬
köpfen; in der fünften kurz, wie billig, von der Derivation
und Bevulsion , da schon in dem ersten Abschnitte darüber
gesprochen worden war. Die sechste Abtheilung behandelt
die verschiedenen Verhältnisse, welche auf die Blutentzie¬
hungen einen wesentlichen Einflufs haben, und zwar die
Konstitution , das Alter und Geschlecht und den Kräfte¬
zustand des Kranken. Auffallend war es dem Bef., wie
der sonst so umsichtige Verf. hier die Berücksichtigung
mancher nnd zum Theil höchst wichtiger Punkte beinahe
ganz unterlassen hat, nämlich den Einflufs des Clima’s und
der stationären Krankheitsconstitution. Wenn wir dereinst
eine genügende medicinische Geographie (damit Bef. den
schon einmal angenommenen Namen beibehält) und eine
noch ungleich wichtigere Geschichte der Krankheit besitzen
werden, dürfte dadurch oft eine verschiedene, und der
Systemsucht der Aerzte meistens zugeschriebene Behand¬
lungsweise der Krankheiten gerechtfertigt und wesentlich
begründet werden. Treffliches, wie immer, sagt Bagliv
hierüber im letzten Kapitel des ersten Buches seiner Praxis
medica, und seine Worte: Pro varietate temperierum me-
dendi quoque methodus varianda erit; aliter innumeri in
praxi medica committentur errores, gelten vielleicht noch
mehr von der Varietas constitutionis morbi stationariae, als
von der Varietas temperierum. — Die letzte Abtheilung
dieses Abschnittes handelt von der Quantität des zu entlee¬
renden Blutes und den Bestimmungsgründen zur Wieder¬
holung des Aderlasses, wobei besonders über den Puls und
die Entzündungshaut gesprochen wird.
Der dritte, dieses Werk beschliefsende Abschnitt be¬
schäftigt sich mit den künstlichen Blutentziehungen in me-
dicinisch - polizeilicher Hinsicht, wohin indefs eigentlich nur
das in der dritten Abtheilung mitgetheilte gehört; denn
was der Verfasser über die prophylactischen und Probe-
74 IV. Rückenmarkkrankheiten.
aderlässe sagt, würdigt dieselben nur in medicinischer
Hinsicht.
Was die äufsere Ausstattung des Ruches betrifft, so
könnte das Papier besser sein. Aufser den auf zwei eng-
gedruckten Seiten angezeigten Druckfehlern finden sich im
Werke noch mindestens eben so viele vor.
G . II. Richter.
$
IV.
Ein Beitrag zur Lehre von den Rückenmark -
krankheiten.
Von D r. M. Schlesinger,
prakt. Arzte zu Marienburg.
• /
Dr. Mease x) erzählt vier Fälle von nach und nach
eingetretenem Verluste der Muskelkraft ohne deutlich nach¬
zuweisende Ursachen, die sämmtlich, obgleich man bei der
Behandlung von verschiedenen Ansichten ausgegangen war,
unglücklich abgelaufen sind.
Es ist mir vor kurzem ein sehr interessanter Fall in
meiner Praxis vorgekommen, der mit denen von Mease
beschriebenen grolse Aehnlichkeit hat, sich aber dariu von
ihnen unterscheidet, dafs der Ausgang, obschon nach man¬
chen erst spät eingesehenen Irrthümern, glücklich war.
Gern will ich diese offenherzig bekennen, da ich durch sie
zu einer gründlichen Einsicht, wie ich hoffe, in das Wesen
eines dunkeln Krankheitsprozesses gelangt bin, wodurch es
mir auch gelingen wird, einiges Licht auf die von Mease
1) -Neue Sammlung »u«eil. Abb. für prakt. A eitle. X. Itd.
4 S». 182*
»
IV. Riickenmarkkrankheiten. 75
erzählten Fälle zu werfen, auf welche ich später noch ein¬
mal zurückkommen werde. — Der Fall ist folgender:
Johanna Dyk, von etwas laxer, schlaffer und
schwammiger Constitution, mit blonden Haaren, ist von ge¬
sunden Eltern auf dem Lande geboren, wo sie jetzt noch
lebt. Sie ist gegenwärtig 28 Jahre alt, die älteste von acht
noch lebenden, sich einer blühenden Gesundheit erfreuenden
Geschwistern. Sie hat sämmtliche Kinderkrankheiten früh
und ohne Nachtheil für ihre fernere Gesundheit überstan¬
den, und ist selbst von den in hiesiger Gegend endemisch
herrschenden Scrofeln verschont geblieben. In ihrem fünf¬
zehnten Jahre wurde sie leicht und ohne Beschwerden men-
struirt, und hat seit dieser Zeit ihre Menses, selbst im Ver¬
laufe ihrer bald näher zu beschreibenden Krankheit, regel-
mäfsig gehabt. Bis in ihr achtzehntes Jahr ist sie immer
blühend gesund gewesen, von da ab aber datirt sich der
Anfang ihrer Leiden. In dieser Zeit fing sie an, öfters über
heftige Schmerzen im Riicken zu klagen, die sie deutlich
in der Tiefe desselben empfunden zu haben angab, welche
aber periodisch kamen und verschwanden. — Ein zu Rathe
gezogener Arzt vermuthete, dafs diese Schmerzen mit der
Menstruation in Verbindung ständen, da sie ihren Sitz in
dem unteren Theile des Pxiickens hatten und periodisch ka¬
men, und rieth ein kühles Verhalten an, doch ohne Erfolg ;
die Schmerzen kehrten vielmehr öfter, obwohl nicht stär¬
ker wieder, hinterliefsen aber immer eine nach und nach
zunehmende allgemeine Schwäche, besonders der Muskeln,
so dals die Kranke schwereren Arbeiten nicht mehr gewach¬
sen war, und sich, da ihre Eltern ein Landgut besafsen
und wohlhabend waren, blofs auf Verrichtung weiblicher
Han darbeiten beschränken mufste.
Deutlich fühlte sie, dafs sich ihr Zustand in unbestimmt
wiederkehrenden Perioden besserte und verschlimmerte, be¬
sonders war letztes der Fall nach einem neuen Paroxys-
mus von l\ückeuschrnerz, der sie darin verhinderte sich zu
bücken, und sie selbst im Gellen, ja sogar im Liegen bc-
I
IV. Kiickcnmarkkrankheiten.
7G
schwcrtc. Ihre Ffslust war in dieser Zeit gut, alle Functio¬
nen geregelt, Fieber gar nicht vorhanden, blofs der Stuhl¬
gang war etwas träge.
Nach Verlauf einiger Jahre, während welcher der eben
beschriebene Zustand mit einem leidlichen W ohlbefinden
altcrnirte, wurde sie zu ungewissen Perioden so krank, dafs
sie das Rett nicht verlassen konnte. — Sie hatte dann eine
entschiedene Abneigung gegen alle Speisen, litt an andauern¬
der Schlaflosigkeit, oder hatte einen unruhigen, mit ängst¬
lichen Träumen unterbrochenen, wenig erquickenden Schlaf,
ihr Mund wurde übelriechend , die Zähne wurden lang und
lose, der Stuhlgang verzögerte sich oft sechs bis sieben
Tage und mufste durch Klystiere herbeigeführt werden, die
Ausleerungen waren dann übelriechend. Diese Zu f-ille gin-
gen jedoch ohne angewandte Heilmittel vorüber, hinter-
liefsen aber immer eine gröfseie Abnahme ihrer Muskel¬
kräfte. —
In ihrem fünfundzwanzigsten Jahre fiel sie, als sie auf
einem 18 Fufs hohen Damm nach der Stadt fuhr, von die¬
sem, und hatte das Unglück, sich den linken Arm zu ver¬
renken. Sie setzte indessen iure Reise nach der Stadt fort,
wo der Arm glücklich und gut reponirt wurde. Nach der
Reposition konnte sie ihren Arm wie vorher brauchen, und
die genannten Krankheitserscheinungen , die sie immer zwan¬
gen das Rett zu hüten, kehrten seit jenem Falle auch nicht
öfter wieder, als früher.
\ om December 1827 aber veränderte sich die Scene.
Sie erkrankte in diesem Monat in der schon beschriebenen
Art von neuem, aber viel heftiger, und von dieser Zeit ab
konnte sie das Rett gar nicht mehr verlassen. Die erwähn¬
ten Zufälle der Mundhöhle wurden heftiger, und verliefsen
sie nun nicht mehr, der Appetit war ganz gesunken, der
Schlaf fehlend oder nicht erquickend, der Stuhlgang sehr
trage, und die allgemeine Schwäche sehr grofs. Der linke
Fufs fing an seine Dienste zu versagen, so dafs sie mit
Sicherheit auf demselben kaum mehr sichen konnte. Iuj
IV. Hückenmarkkranklieiten.
77
Monat März nahmen auch die Kräfte des linken Arms be¬
deutend ab, er zitterte, wenn sie einen Versuch machte
ihn aufzuheben, und in den Fingern hatte sie so wenig
Kraft, dafs sie nicht den kleinsten Gegenstand, nicht einmal
eine Blume festhalten konnte. Hierbei war es merkwürdig,
dafs sie den Arm nicht heben konnte, ohne in der Gegend
des Herzens sehr unangenehme Empfindungen zu erwecken.
Diese Beschwerden verliefsen sie nun gar nicht mehr, exacer-
hirten aber wiederum zu ungewissen > Perioden , und beson¬
ders wurde sie in solchen Zeiten des Nachts so hinfällig
und schwach, dafs sie und ihre Angehörigen glaubten, ihr
Ende nahe heran. Ein sehr starkes Herzklopfen und das
Gefühl eines gänzlichen Erlöschens aller Kraft, verbunden
mit einer ängstlichen, erschwerten Respiration, waren die
hervorstechenden Symptome, die sie von diesen nächtlichen
%
Zufällen angeben konnte. Seit dem Monat Juni fing sie
an, auch über grofse Schwäche der rechten Extremitäten
zu klagen, die so rasch zunahm, dafs ihre Angehörigen
sich endlich entschlossen, ärztliche Hülfe zu suchen.
Am 9. Juli v. J. wurde ich zuin erstenmal zur Kran¬
ken geholt, früher hatte sie durchaus keine ärztliche Hülfe
in dieser so wichtigen Krankheit gehabt. Ich fand sie in
folgendem Zustande : Sie hatte ein sehr cachectisches Aus¬
sehen und schien sehr schwach zu sein, auch sprach sie mit
auffallend heiserer und rauher Stimme. Beim Sprechen
drang aus der Mundhöhle ein sehr übler Athem, und beim
Untersuchen derselben zeigten sich die Zähne sehr lang,
das Zahnfleisch schwammig, leicht blutend, mit einzelnen
Eiterpunkten besetzt. Appetit und Verdauung lagen sehr
darnieder; der linke Fufs konnte zwar bewegt werden, kei-
nesweges aber vermochte sie ihn zum Gehen, oder auch
nur zum Stehen zu brauchen. Auch der linke Arm konnte
nur unvollkommen bewegt werden, und beim Aufheben
desselben in horizontaler Richtung empfand sie unangenehme,
nicht zu beschreibende Gefühle in der Gegend des Herzens.
Die rechten Extremitäten waren zwar von einer ähnlichen,
78
IV. Rütkeninarkkrankhcitcn.
doch ungleich geringeren Schwäche afficirt. Des Nachts
traten nun sehr häufig die oben beschriebenen sy n co p tischen
Zufälle mit erschwerter Respiration und fast gänzlicher
Aphonie ein. Das Bett konnte sie schon seit dem Monat
Decembcr nicht mehr verlassen, weil sie, wenn sie sich
auch nur kurze Zeit außerhalb desselben aufhielt, sogleich
ohnmächtig wurde. Die Muskeln der linken Extremitäten
waren zwar etwas schlaffer, als- die der rechten, sonst aber
zeigten beide Extremitäten eine normale W ärme und keine
merkbare Abnahme ihres Volumens, doch war an dem un¬
teren Theile beider Extremitäten ein leichtes Oedem vor¬
handen. Der Puls am afficirten Arme war kaum zu fühlen,
am rechten Arme zeigte er sich nicht beschleunigt, aber
sehr schwach, und war leicht zusammenzudrücken.
Das Allgemeinleiden der Kranken zeigte so auffallend
die Symptome eines tief eingewurzelten scorbutischen Zu¬
standes, dafs ich sehr geneigt war, die sehr hervorstechende
Muskelschwäche mit auf Rechnung dieses Allgemeinleidens
zu stellen, um so mehr, da sich in den Verhältnissen der
Kranken genug Momente fanden, die diese Annahme recht¬
fertigten.
Die Lebensweise der Landleute in hiesiger Gegend ist
nämlich so beschaffen, da 1s sie sehr zum Scorbut disponirt.
Es ist hier Sitte, zu Anfang des W inters so viel Vieh zu
schlachten und einzusalzen, als für den ganzen Hausstand
bis zum Eintritt des nächsten Winters nöthig ist. Die
Landleute essen daher im Winter wie im Sommer einge-
pokeltes Fleisch. Hierzu kommt noch, dafs sie den ergie¬
bigen Boden fast ausschliefslich zum Anbau von Getreide
benutzen, daher auch so wenig Gemüse bauen, dafs sie
solches als eine leckere und seltene Speise betrachten. Das
Land ist aulserdem sehr tief gelegen, mit sehr vielen Grä¬
ben durchschnitten, aus welchen bei einigermaafsen hohem
Wasserstande das Wasser auf das Land tritt, dort, beson¬
ders im Frühjahr und Spätherbst, oft Monate lang stehen
bleibt und verdirbt. — Durch diese Momente muls noth-
IV. Rückenmarkkrankheiten.
79
wendig eine Anlage zu scorbutischen Leiden begründet
werden, die auch selbst in den höheren Graden sich in
l »
unserer Gegend öfters zeigen. Es war daher meine erste
und dringendste Indieation, diesen Zustand zu beseitigen,
wobei ich die Hoffnung hatte, mit Beseitigung des scorbu¬
tischen Zustandes auch die Kräfte in die ergriffenen Extre¬
mitäten zurückkehren zu sehen. Die Kranke erhielt daher
zu diesem Zwecke eine Chinaabkochung mit Hai ler schein
Sauer.
Die Diät wurde dahin regulirt, dafs die Kranke frische
Pflanzenkost und junges frisches Fleisch, aufserdem täglich
ein Glas Wein, und zum gewöhnlichen Getränk eine Malz¬
abkochung mit Citronensäure erhielt. Die Fenster mufs-
ten in der schönen Sommerzeit den ganzen Tag geöffnet
bleiben. —
Am 14. Juli sah ich die Kranke wieder. Die scorbu¬
tischen Zufälle hatten sich vermindert, der üble Geruch
hatte sich in etwas verloren, auch hatte sie mehr Appetit
und eine etwas reinere Gesichtsfarbe. Das Leiden der Ex¬
tremitäten war unverändert. Die Medicin wurde reiterirt.
Am 21. Juli hatten die scorbutischen Zufälle noch
mehr abgenommen. Die Kranke versicherte, sich viel woh-
ler zu befinden, namentlich hatte sie gute Efslust und ein
frischeres Aussehen; doch war sie, wie sie sich ausdrückte,
noch einige 3Nächte zum Sterben krank gewesen. De; Puls
war fast nicht verändert. Sie erhielt jetzt Extractum Ra-
tanhiae mit Acidum Halleri. Die vegetabilische Diät u.
s. w. wurde beibehalten.
Die Kranke bekam nun während der nächsten vier
Wochen diese und ähnliche Roborantia, mit dem Erfolge,
dafs ihr Allgemeinbefinden sich auffallend besserte. Die
nächtlichen Beschwerden traten nun noch sehr selten ein,
der Schlaf war ruhiger, die Efslust sehr gut und die Mund-
affection zurückgetreten, das Oedem der Füfse war ver¬
schwunden, der Puls hatte sich gehoben, die Efslust war
vermehrt, so wie alle Secretionen und Excretionen normal.
I
\
80 IV. Riickcniuarkkranklieiten.
Gleichwohl aber blieb die Schwäche der Extremitäten ganz
unverändert, uer linke Fufs konnte noch immer weder zum
Gehen, noch zum Stellen benutzt werden, auch der linke
Arm war in feinem ganzen krankhaften Verhalten unver¬
ändert. — Unter diesen Umständen glaubte ich von dem
ferneren und alleinigen Gebrauche der Roöorantia in Hin¬
sicht auf die fast gelähmten Extremitäten nicht viel erwar¬
ten zu dürfen, und ich mufstc nun eine andere lndication
aufsuchen. —
Die gänzliche F.rfolglosigkeit der besten und stärksten
tonischen Mittel (die Kranke hatte in der letzten Zeit auch
verschiedene Stahlpräparatc genommen) liefs mich vermu- »
then, dafs meine erste Idee, die Schwäche der Extremitäten
von der allgemeinen Schwäche herzuleiten, falsch gewesen,
und ich glaubte nun, die Quelle dieses Uebels im Kücken¬
marke suchen zu müssen. — Es waren zwei Momente
vorhanden, die diese Annahme rechtfertigen konnten. Der
schon seit mehren Jahren wiederkehrende periodische
Schmerz in der Wirbelsäule gleich im Beginn der nun¬
mehr etwas räthsclhaften Krankheit, die Unmöglichkeit, in
solchen Perioden das Kreuz zu beugen, verbunden mit der
nach solchen Zufällen in der Kegel vermehrten Schwäche
der Extremitäten, konnten die Idee eines chronischen Lei¬
dens des Kückenmarkes erregen; aber auch der Fall von
dem 18 Fufs hohen Damme konnte eine Commotio medullac
spinalis herbeigeführt haben. — Da indefs die beschriebe¬
nen Zufälle des Rückgrathes schon lange vor jenem Falle
da gewiesen waren , auch nach diesem keine bemerkenswer-
then, auf das gegenwärtige Leiden Bezug habenden Sym¬
ptome eingetreten waren, so glaubte ich mich für die erste
Annahme bestimmen zu müssen. —
Gleichwohl aber befand ich mich wegen der Wahl der
Mittel noch in nicht geringer Verlegenheit. Die Schmer¬
zen in der Wirbelsäule waren schon seit mehren Jahren
gar nicht mehr eingetreten, ich mufste also annehmen,
dafs, wenn wirklich eine chronische Entzündung vorhanden
gewe-
IV. IViickenmarkkrankheitcn.
\
gewesen, diese schon verlaufen und höchst wahrscheinlich
Desorganisationen im Rückenmark zurückgelassen habe. —
Desorganisationen aber* namentlich in so unzugänglichen
Organen wie die Rückenmarkhöhle, mufsten die Prognose
dieses Falles aufserordentlich trüben, aufserdem aber auch
wirklich hemmend selbst auf uen besten Willen des Arztes
wirken , in sofern dieser nämlich sich von allen Mitteln zur
Beseitigung eines Zustandes verlassen sah, dessen eigent¬
liches Wesen er weder kannte, noch auch selbst durch
emsiges Forschen zu erkennen vermochte. — Unter diesen
Umständen glaubte ich mich berechtigt, nach Analogie und
Hypothesen verfahren zu dürfen, und um nur eine für die
Behandlung fruchtbare Idee zu gewinnen, nahm ich an:
dafs in Folge jener chronischen Entzündung eine lympha¬
tische oder seröse Ausschwitzung statt gefunden habe,
welche das Rückenmark in seiner Function hemme. Es
war demnach die Aufgabe des Arztes, zunächst das Leben
in den ursprünglich leidenden Organen zu erhöhen, und
sodann einen kräftigen Resorptionsprozeis im ganzen Orga¬
nismus zu erregen. — Da ich nun aus früheren Beobach¬
tungen die Nux vomica als dasjenige Mittel kennen gelernt
hatte, das eine wahrhaft specifische Einwirkung auf das
Rückenmark ausübt, so erhielt die Kranke am 21. August
eingranige Pillen aus dieser in steigenden Gaben, sonst aber
kein anderes Mittel innerlich, um die Wirkungen dieses
Specificums nicht zu stören und die Beobachtung derselben
nicht zu trüben. Aufserdem wurde der Rückgrath täglich
dreimal, jedesmal eine halbe Stunde, mit Wolle trocken
frottirt. Stärkere örtliche Mittel, nämlich Cauteria oder
Haarseil, durfte ich nicht anwenden, weil die Kranke nur
/ \
auf dem Rücken liegen konnte und ich daher fürchten
mufste, die cauterisirten Stellen bald gangränös werden zu
sehen. —
Die Kranke konnte, ohne eine sichtbare Wirkung, bis
zu 8 Pillen Morgens und Abends steigen ; nach dieser letz¬
ten Gabe aber entstanden narcotische Zufälle, sie empfand
6
i
\
\
XIV, Bd. I. Si
82
IV. RUckenmarkkrankheiten.
heftige Zuckungen in den leidenden Extremitäten, die sich
innerhalb einer Stunde 5 — 6 mal wiederholten, sodann
eine überaus grofse Angst, so dafs sich niemand ihrem Bette
auf drei Schritte nähern durfte, verbunden mit einer so
gesteigerten Nervenreizbarkcit, dafs ein lautes Wort in»
Nebenzimmer gesprochen , oder ein etwa in demselben zur
Erde gefallenes Messer, sie zum Tode erschrecken konnte.
Hierzu gesellte sich noch: Kopfschmerz, der sehr heftig
war, besonders in der Gegend der Augen, Neigung zum
Erbrechen, grofce Unruhe und eine beinahe völlige Unbe¬
weglichkeit, fast letanischer Zustand des ganzen Körpers.
Ich liefs nun bei diesen Symptomen die Brechnufspillen
aussetzen, verordnete aber auch keine Antidota, um die
eigentümliche Wirkung des gereichten Arzneikörpers nicht
zu stören, und die vielleicht zu einem glücklichen Heilungs-
bestreben erregte Natur nicht zu unterbrechen. Nach drei
bis vier Tagen hatte sich der Sturm im Organismus gelegt,
und ich hatte die Freude von der Kranken zu erfahren,
dafs, obschon in den verflossenen Tagen noch häufige
Zuckungen eingetreten waren, sie dennoch jetzt viel mehr
Leben in den ergriffenen Theilen verspüre, ja sogar den
Fufs schon zum Stehen benutzen könne, was sie bisher
durchaus nicht im Stande gewesen war. — Die Kranke
erhielt am 31. August ein Infusum Arnicae mit Extraclum
Chinae, tassenweise viermal täglich, aufserdem täglich die
Dotter von drei rohen Eiern mit Wein, und eine kräftige
Kost. Der Riickgrath wurde noch immer trocken frottirt,
aufserdem in diesen und die Extremitäten eine Solutio Bal-
sami peruviani in Spiritus Angelicae compositus fleifsig ein¬
gerieben. —
Diese roborirenden Arzneien, verbunden mit der kräf¬
tigsten Diät, schienen indefs nach einem dreiwöchentlichen
Gebrauche gar keinen Einflufs auf das Leiden der Extre¬
mitäten zu haben. Die Kranke konnte zwar auf dem er¬
griffenen Fufse stehen, auch wohl mit Hülfe eines starken
Stabes sich einige Schritte fortbewegen, allein diese Besse-
IV, Rückenmarkkrankheiten. 83
rung hatte sich gleich unmittelbar nach dem Gebrauche der
Nux vomica gezeigt, und war nach dem Aussetzen dieses
Mittels auf demselben Punkte stehen geblieben. Hieraus
schlofs ich, dafs eine neue Anwendung der Nux vomica
hier angezeigt sein dürfte, und die Kranke nahm dieses
Mittel am 3. September wieder in rasch steigenden Gaben,
bis zum Wiedereintritt der oben beschriebenen Zufälle,
wobei es bemerkenswerth erscheint, dafs diese schon nach
5 Pillen Morgens und Abends eintraten. — Der Erfolg
war über alle Erwartung günstig. — Die Kranke konnte,
nachdem die Zufälle gewichen waren, ungleich kräftiger
auftreten und gehen, freilich noch immer mit Hülfe eines
Stabes, den kranken Arm konnte sie leicht und ohne alle
Beschwerden auf den Kopf legen, was sie früher, der nicht
zu beschreibenden aber sehr ängstigenden Gefühle wegen
in der Gegend des Herzens, durchaus nicht vermochte;
auch konnte sie von dieser Zeit an täglich mehre Stun¬
den aufserhalb des Bettes zubringen. —
Aon diesem günstigen Erfolge der Nux vomica sehr
erfreut, beschlofs ich nun, um noch kräftiger auf das Rücken¬
mark einzuwirken, örtliche Erregung desselben in Anwen¬
dung zu ziehen. — Noch immer waren Epispastica oder
Cauteria contraindicirt, weil die Kranke doch immer noch
den gröfsten Theil ihrer Zeit im Bette zubringen mufste;
ich beschlofs also, zu kalten Uebergiefsungen der Wirbel¬
säule meine Zuflucht zu nehmen. — Die Kranke nahm zur
Vorbereitung vier künstliche Salzbäder, in welchen sie
nicht länger als eine Viertelstunde verweilte, und die ihr
trefflich bekamen. Nun erhielt die Mutter der Kranken die
Anweisung, 1 — 2 Eimer sehr frisches kaltes Brunnen¬
wasser von einem fünf Fufs hohen Gerüst in kurzen Inter¬
vallen über den ganzen Rücken der Kranken hinwegzu-
giefsen. Bad und Uebergiefsungen sollten nicht länger als
eine kleine halbe Stunde dauern, die Kranke aber nach dem
Verlassen des Bades, so weit es ihre Kräfte erlaubten, im
Zimmer, wenigstens doch eine halbe Stunde, sich auf und
6 *
84
IV. Rückenmarkkrankheiten.
ab bewegen. Eine Stunde nach dein IJade wurden Rücken
und Extremitäten mit einem Linimentum pbosphoratum ein¬
gerieben. Schon die Wirkung der ersten Räder war auf¬
fallend günstig. Die Kranke fühlte gleich nach dem Ver¬
lassen des Rades eine sehr angenehme, wohlthuende Wärme
im ganzen Rücken, und eine sehr merkliche Zunahme der
Kräfte. — Sie war nach jedem Rade so munter, dafs sie
selbst gar nicht ins Rett mochte, vielmehr ohne grofse An¬
strengung, immer aber noch mit Hülfe eines Stockes, im
Zimmer auf und ab ging. Da die Jahreszeit den Genufs
der frischen Luft erlaubte, und diese ihrem Zustande sehr
heilsam war, so liefs ich die Kranke fast den ganzen Tag
in einem Garten zubringen, der dicht an ihrem Hause lag,
und nur Nachmittags suchte sie auf ein Paar Stunden das
Rett. Von nun an mufste sie auch tägliche Uebungen mit
den kranken Extremitäten vornehmen, die aber nie bis zur
gänzlichen Ermüdung fortgesetzt werden durften. Als Arz¬
nei erhielt sie in dieser Zeit Tinctura ferri acetici aetherea
zu 2 Theelöffel viermal täglich, in einem Infusuin Arnicae
mit China. Als sie unter diesen Umständen 20 Räder in
der oben beschriebenen Art gebraucht hatte, konnte sie
aller Stütze beim Gehen völlig entbehren, auch kleinere
Gegenstände mit der schwachen Hand, Teller, Tassen u. s.
w. festhalten und forttragen. —
Es war nun keinem Zweifel mehr unterworfen, dafs
die eingeschlagene Rehandlung die richtige gewesen, und,
das Leiden der Extremitäten ursprünglich in den Riicken-
marknerven seinen Sitz habe. Zwar war noch immer eine
nicht unbedeutende Schwäche der Extremitäten vorhanden,
die aber in gar keinem Verhältnis mehr zu der früheren
stand. — Noch immer bestand, wie es mir schien, eine
zu grolse Torpidität in dem ganzen Rückenmark und Gan¬
gliensystem, da auch der Stuhlgang wieder etwas träge,
und das .Leiden der Extremitäten doch immer bis auf einen
gewissen Grad nur vermindert war. GeWifs kann mich
niemand tadeln, wenn ich mit entschiedener Vorliebe wie-
IV. Rückenmarkkrankheiten.
85
der zur Nux vomica griff, und sie als die sacra anchora in
dieser Krankheit betrachtete. — Am 17. Sept. fing sie an
dieses Mittel in der oben beschriebenen Art zu nehmen;
die narcotischen Zufälle traten schon nach der fünften Gabe
ein, und nachdem sie gewichen waren, hatten die Extremi¬
täten so bedeutend an Kraft gewonnen, dafs die Kranke
ohne alles Ungemach und ohne Stütze gehen, auch mit der
Hand fast alle Geschäfte des Hauses leichter Art verrichten
konnte. Sie nahm noch zehn Stahlbäder mit kalten Ueber-
giefsungen, und wurde am 22. October v. J. völlig geheilt
entlassen.
Diese Krankheitsgeschichte ist, wie ich glaube, schon
deshalb interessant, weil sie einen Gegenstand von hoher
Bedeutung berührt, einen Gegenstand, der, trotz seiner
"Wichtigkeit, auf eine fast unerklärbare Weise in alter und
neuer Zeit vernachlässigt worden ist, — die Krankheiten
des Rückenmarkes. Wenn auch nicht geleugnet werden
kann, dafs ältere Autoren, wie Hippocrates ‘), Ga¬
len5), Ballonius1 2 3), schon einige Kenntnifs von den
Krankheiten dieses Organs hatten, so war sie doch so un¬
vollkommen, dafs weder eine genaue Erzählung der Sym¬
ptome und Aetiologie, noch viel weniger aber ein ratio¬
neller Heilplan bei ihnen gefunden wird. Das, was nament¬
lich Hippocrates 4) unter dem Namen einer Angina ver-
tebralis beschreibt, könnte bei einer oberflächlichen Be¬
trachtung für Entzündung des Rückenmarkes gehalten wer¬
den; allein eine nur irgend besonnene Betrachtung findet
in der Beschreibung sehr leicht das Bild einer Entzündung
der Wirbelsäul- Ligamente.
In neuerer Zeit hat Peter Frank zuerst wieder die
1) Hippocr. oper. omn. inchoav. Pier. T. III. p. 229.
2) Galen, de loc. affect. Libr. IY. Cap. II.
3) Ballon, oper. omn. med. T. IV. p. 289
4) Epidem L IV. Cap IV
86
IV. Iliickcnmaikkrankhcitcn.
Aufmerksamkeit der Aerzte auf diesen Gegenstand gelenkt ’),
gleichwohl aber hat er in seiner Epitome die Entzündung
des Rückenmarkes nicht einmal einer eigenen Ueberschrift
gewürdigt, er handelt sie vielmehr, und nur mit weni¬
gen Worten, in dem Kapitel von den Kopfentzündungen
ab 1 2 3). Selbst der sonst so fleifsige und ausführliche S. G.
Vogel *) hat der Entzündung des Rückenmarkes nur drei
Seiten gewidmet, und sie aufserdem zum Beweise, wie
wenig er ihr Wresen erkannt haben mag, mit dem unschick¬
lichen Namen Pleuritis dorsalis belegt. Doch ist er noch
so aufrichtig zu gestehen, dafs dieses Uebel gewifs sehr
häufig verkannt wird, während andere Autoren meinen,
die Krankheit komme überhaupt sehr selten vor, da das
Rückenmark durch sein knöchernes Gehäuse gegen Krank¬
heitseinflüsse hinlänglich geschützt sei. Sehr wahr erinnert
hingegen Sachs 4), dafs ja das Gehirn sich eines gleichen
Schutzes zu erfreuen habe, gleichwohl aber, wie auch zu¬
gestanden wird, öfters erkranke. —
In neuester Zeit endlich hat dieser hochwichtige Ge¬
genstand einige Bearbeiter gefunden: Klohfs, Olli vier,
Sonnenkalb, W e n z e I und mehrere andere ha¬
ben die dynamischen Krankheiten des Rückenmarkes eini¬
ger Aufmerksamkeit gewürdigt, ganz besonders aber ver¬
dient hier Sachs genannt zu werden, der in seinem in
jeder Beziehung wichtigen schon genannten Werke diesen
Gegenstand mit philosophischem Geiste und grofsem Scharf¬
sinn erörtert hat. Gleichwohl aber steht die hierher gehö-
1) Jo. P. Frank de vertebr. column. in rnorkis dignitate,
Orat. acadcrn. Pav. 1791.
2) L. c. p. 48.
3) S. Q. Vogel Handbuch der prakt. Arrnciwissenach.
Bd. IV. S. 31 — 34.
4) < » ruudlinien iu einem dwiam. natürl. System der Mc-
dicin S 284. *
IV. Rücken inarkkrankheiten.
87
r ige IJtteratur noch sehr armselig und verkümmert da, wie
fast in keinem anderen Zweige der ganzen Medicin.
Nur diesen angeführten Umständen ist es zuzuschrei-
Len, dals ich für die eben beschriebene und sogar geheilte
Krankheit um einen Namen verlegen bin. — Verlust der
Muskelkraft, wie Mease sie bezeichnet, ist ja doch nur
Symptom der Krankheit, und bezeichnet sie keinesweges
genetisch, da schon oben erwiesen ist, dafs der Sitz der
Krankheit eigentlich im Rückenmark gewesen sei. Wir
miifsten also einen Namen wählen, der den Veränderungen
entspricht, welche am Rückenmarke vorgehen, ehe ihr Re¬
flex, Verlust der Muskelkraft, sichtbar wird. Hier aber
verläfst uns unsere Nosologie, denn die Krankheitsnamen
die sie hat und die dem genannten Zustande ähnlich sind,
ich meine Paresis und Paralysis, sind für diesen Fall keines¬
weges bezeichnend. Abgesehen davon, dafs beide Zustände
nur Ausgänge oft ganz verschiedener Krankheiten sind, so
versteht man doch unter Paralysis völlig aufgehobenes
Empfindungs- und Bewegungsvermögen, unter Pa¬
resis hingegen eine gleichzeitige Abnahme des Em-
pfindungs- und Bewegungsvermögens, keinesweges
also die in Rede stehende Krankheit. —
Fassen wir den ganzen Verlauf der Krankheit sorgfäl-
%
tig ins Auge, so können wir drei ziemlich deutlich abge-
gränzte Stadien derselben klar unterscheiden.
Das erste Stadium wird bezeichnet durch die periodisch
wiederkehrenden Schmerzen in der Wirbelsäule, nament-
lieh in dem unteren Theile derselben, und die hierauf
eintretende, durch jeden Paroxysmus vermehrte Muskel-
Schwäche. Dieses Stadium dauert eine ziemlich lange Zeit,
ohne die übrigen Functionen des Organismus zu stören, bis
endlich, erst nach mehren Jahren, das zweite Stadium
sich entwickelt, welches deutlich und charakteristisch be-
•
zeichnet wird durch Symptome, welche sich auf die Ver¬
dauung beziehen. Hierher gehören alle die Symptome,
weiche dem Scorbut so ähnlich sind, und die ich auch
88 IV. IUickenmarkkrnnkheiten.
anfangs durch Antiscorbutica zu beseitigen gehofft hatte. —
Auch dieses Stadium dauert nur kurze Zeit, alternirt mit
einem Status von Gesundheit, geht aber endlich doch in
das dritte Stadium über. — Als charakteristische Kenn¬
zeichen dieses Stadiums erblicken wir zuvörderst die fast
bis zur Paralyse gesteigerte Schwäche der linken unteren
Extremität, später wurde auch die obere ergrilfen, endlich
gesellten sich noch Symptome hinzu, welche auf die Re¬
spiration liezug haben, Palpitatio cordis, Asthma, syncopti-
sche Zufälle, rauhe, heisere Stimme u. s. w.
Ehe wir die Deutung dieser Symptome aus einer
gemeinsamen Quelle versuchen, müssen wir zuvor einen
flüchtigen Blick werfen auf die physiologische Bedeutung
des Gangliensvstems und seine Beziehung zum Gehirn, so¬
dann aber auch erwägen die Verhältnisse des Rückenmarkes
zum Gehirn einer- und zum Gangliensystcm andererseits.
Das Gangliensystem zuvörderst betreffend, kann es hier
unmöglich unsere Absicht sein, die oft so sonderbaren und
häufig sich widersprechenden Thcorieen der älteren Aerzte
anzuführen, oder gar zu widerlegen. Dies hat Wutzer r)
mit Fleifs und Gelehrsamkeit gethan. Flüchtig selbst nur
können wir verweilen bei den Streitigkeiten der neueren
und neuesten Zeit, keinesweges aber kritisch auf Entschei¬
dung dieser Angelegenheit eingeheu, wohl aber das für
unseren Gegenstand benutzen, was von den streitenden Par¬
theien selbst zugegeben und anerkannt worden ist.
Hier interessiren uns zunächst die Fragen: 1) In wel¬
chem Verhältnis steht das Gangliensystem zum Gehirn?
und 2) welche Function hat es?
Die Acten sind über die erste dieser Fragen noch kei¬
nesweges geschlossen, und in mannigfachem Widerspruch
stehen noch die Gelehrten miteinander. Die herrschende
und von den meisten angenommene Meinung ist doch die:
1) C. G. YNutier <h: corporis litunani g.ifcglior. fabrira
. atque usu Monograpbia.
/
rV. Rückenmarkkrankheiten.
89
\
dafs das Gangliensystem entgegengesetzt sei dem Gehirn,
und im Antagonismus stehe mit demselben. In dieser Be¬
ziehung auch betrachtet man das Sonnengeflecht als das
Centralorgan des Gangliensystems. Ganz besondere Wich¬
tigkeit hat diese Ansicht für die Lehre von dem thierischen
Magnetismus, wie denn auch Kieser J) und Kluge1 2)
hierauf ein besonderes Gewicht legen, und das Ganglion
coeliacum auch das Cerebrum abdominale nennen. Bur¬
dach hingegen, der hier gewifs als eine entscheidende Au¬
torität gelten kann, war zwar früher derselben Meinung,
scheint aber diese geändert zu haben, denn er sagt: 3)
«Die peripherischen Nervenfaden liegen hier in den ver¬
schiedenen der Reproduction dienenden Organen, und en¬
digen sich in die Geflechte der Ganglien, so dafs sie in
diesen ihr Centralende finden. Diese Centralpunkte sind
aber sehr unvollständig, die Einheit, welche sie in dies
System bringen, ist nur unvollkommen, indem es keinen
Punkt giebt, wo alle Nerven sich vereinigten.” In der
neuesten Zeit hat sich Sachs 4) ganz entschieden dahin
erklärt, dafs das Gangliensystem keinen Centralpunkt habe,
noch haben könne, so wie er überhaupt hei dieser Gele¬
genheit eine eigene, und mindestens sehr geistreiche Ansicht
über die wahre Bedeutung des Gangliensystems entwickelt.
Neu aber können wir, zum Theil wenigstens, diese Ansicht
nicht nennen; denn schon Winslow, James John-
stone, besonders aber Bichat 5), haben im Ganglien-
1) Kieser, System des Tellurismus oder des thierischen
Magnetismus. Bd. 2. S. 133.
2) Kluge, Versuch einer Darstellung des animal. Magnet,
als Heilmittel.
3) Burdach, die Physiologie. Leipzig 1810. S. 248.
4) L. c. S. 126.
5) Bichat über Leben und Tod, übersetzt von Veizhans.
S. 76 — 81.
90
IV. Riickenmarkkrankheiten.
\
System keinen Centralpunkt annehmen wollen, wie* denn
auch Bichat das ganze Dasein des Nerv, sympath. als
eines einzigen Nerven direct laugnet.
Wie nun, wie hieraus hervorgeht, diese Angelegen¬
heit noch keinesweges ins Klare gebracht worden ist, so
können wir doch dasjenige aus diesen Verhandlungen für
uns vindiciren , was Von allen Partheien hat anerkannt wer¬
den müssen, das nämlich: dafs das Gangliensystcm in seinem
Normalverhalten, im ganzen Nervensystem überhaupt den
niedrigsten Bang einnehme, dafs es mit dem Gehirn ver¬
bunden sei durch den Sympathicus mittelbar, unmittelbar
aber durch den Vagus und das Rückenmark, und dafs es
seine veredelnden Einflüsse und die normale Richtung sei¬
ner Thätigkeit empfange durch das Gehirn.
Was nun die Function dieses Systems betrifft, so kann
in der That our eine Stimme hierüber sein, wenn man
auf seine Rage in der unteren Bauchhöhle und auf seine
Verzweigung in die Organe der Verdauung sieht. Wirk¬
lich hat man auch allgemein angenommen, dafs es der Re-
production vorstehe, nur hat man sich über das Wie die¬
ser Function noch nicht einigen können. Auch hier scheint
cs, verdient eine von Sachs *) ausgesprochene Meinung
die gröfste Aufmerksamkeit. Er betrachtet nämlich als den
anderen Träger der Reproduction die Arterien, glaubt,
dafs von ihnen alle Ernährung, d. h. der Ersatz der Stoffe
ausgeht, und indem er auf die innige Verschlingung und
Vereinigung der Haupt- Arterienstämme mit den Ganglien
aufmerksam macht, sagt er, dafs « dieses eigentümliche
Nervensystem in seiner Wirksamkeit völlig direct auf das
Blutsystem, und zwar auf die Arterien sich richtet.” —
Sehr interessant in dieser Beziehung sind die Versuche
Edwards und Breschet’s 9). Sie fanden nämlich nach
I) L. c. S. 450.
‘2) Neue Jahrbücher der deutschen Medicin und Chirurgie,
von H «rieft. S. 9t).
IV. Rückenmarkkrankheiten.
91
Durchschneidung des Vagus folgende Resultate für die Ver¬
dauung: a) dafs die Hauptfunction des Nervus vagus in der
Leitung der die Digestion beschleunigenden Bewegung des
Magens bestehe; b) dafs die verzögerte Verdauung nach
Durchschneidung des Nerven aiif Lähmung der Muskelfasern
des Magens, und c) das zuweilen darauf entstehende Er¬
brechen auf Lähmung der Muskelfasern des Oesophagus
beruhe.
Haben wir nun, wenn auch nur flüchtig, die physio¬
logische Bedeutung des Gangliensystems angegeben, so bleibt
uns noch übrig, etwas über das Verhältnifs des Rücken¬
marks zu diesem und zum Gehirn hinzuzufügen. —
Betrachten wir nämlich das Cerebralsystem als den Sitz
des Geistes, als die Quelle des höchsten Nervenlebens, als
den Centralpunkt aller Gesetzlichkeit im Organismus, so
erscheint es als nothwendig, dafs das Gehirn in einer be¬
stimmten Beziehung bleibe selbst zu den entferntesten Re¬
gionen im ganzen Organismus. Diese wird nur möglich
und wirklich erreicht durch eine organische Verbindung
des Gehirns mit den ihm untergeordneten Systemen, dem
Rückenmark und Gangliensystem. Sehr deutlich und voll¬
ständig ist diese Verbindung bei dem Rückenmark durch
die Medulla oblongata, weil es auch, vermöge seiner Fun¬
ction, willkiihrliche Muskelbewegung, eine höhere Dignität,
durch eine innigere Verbindung mit dem Gehirn erhalten
mufste. Viel untergeordneter, fast rein thierisch, erscheint
die Function des Gangliensystems, daher auch seine Ver¬
bindung mit dem Gehirn nur lose, durch zwei schwache
Nervenfädchen (den Nervus profund. Vidiani, und ein
schwaches Ende des sechsten Nervenpaares) angedeutet ist.
Um indefs den Einflufs des Gehirns auf die Ganglien leich¬
ter zu bewirken, geht der Nerv, vagus mannigfache Ver¬
bindungen ein mit den Geflechten des Sympathicus in den
edleren Organen der Brust und Oberbauchgegend, so wie
in die untergeordneteren der Unterbauchgegend das Rücken¬
mark vielfache Acste in die Ganglien einsenkt. Auf diese
92
IY. Rückenmarkkranklieiten.
Weise nun sind Leide untergeordnete Systeme innig ver¬
bunden mit dem Gehirn, und erhalten durch dieses ihre
hohe, edlere Bedeutung, so wie die normale Richtung ihrer
Thätigkeit. Wir erblicken also im Rückenmark nicht blofs
das Organ der willkiihrlichen Bewegung, sondern auch das
der Vermittelung des Gehirnes mit den Theilen des Gan¬
gliensystems, welche nicht mehr Verbindungsäste vom Vagus
erhalten. —
Wenden wir nun diese Ansichten auf die vorerwähnte
Symptomengruppe an, so gewinnen w’ir eine vollständige
Einsicht nicht nur in den ganzen Krankheitsprozefs, son¬
dern wir erkennen auch die nothwendige Aufeinanderfolge
der bezeichneten Krankheitsstadien.
Zuerst erkennen wir in dem ersten Stadium ganz deut¬
lich eine chronische Entzündung, und zwar, wie wir vor¬
läufig hypothetisch aussprechen, später aber zu beweisen
gedenken, in der Arachnoidea des Rückenmarks. Die pe¬
riodisch wiederkehrenden Schmerzen, die heftig und in der
Tiefe der Wirbelsäule empfunden wurden, die Unmöglich¬
keit das Kreuz zu beugen', die nach jedem Paroxysmus ver¬
mehrte Muskelschwäche, bei übrigens normalem Verhalten
des ganzen Organismus, können gar nicht, oder doch nur
so gedeutet werden. Chronisch allerdings und periodisch
war der Gang dieses Uebels, aber dies darf uns in der
Annahme einer Entzündung gar nicht stören, wenn wir uns
einer anderen, dieser Entzündung sehr nahe stehenden Krank¬
heit, des Malum ischiadicum erinnern. Auch der Verlauf
dieses Uebels ist chronisch und periodisch. S. G. Vogel *)
sagt: «Die Ischias nervosa läfst am häufigsten, nachdem sie
anfangs eine gewisse Zeit angehalten, zu gewissen Zeiten
ganz nach, und kömmt dann mit neuer Gewalt wäeder.
Sobald das Uebel einmal ausgesetzt hat, wird es nie wieder
1) S. G. Vogel, Handbuch der prakt. Arznciwissensch.
Th. 2. S 153. .
IV. Rückenmarkkrankheiten.
93
ganz anhaltend.» Sachs *) sagt von demselben Uebel:
«Unter sehr abwechselndem Besser- und Schlimmerwerden
kann dieser Zustand oft Jahre lang dauern, » u. s. w. Gleich¬
wohl aber erkennen wir auch als das Wesen dieses Krank¬
heitsprozesses: Entzündung; später aber, und an einem an¬
deren Orte als in dieser Abhandlung, wollen wir die Ana¬
logie des ischiadischen Leidens mit der in Rede stehenden
Krankheit klar darthun.
'Nun, bei unserer Kranken wurde das Uebel weder er¬
kannt, noch behandelt, und nichts war natürlicher, als dafs
nun der Krankheitsprozefs fortschreiten und sich weiter ent¬
wickeln mufste. Hierdurch mufste das zweite Stadium der
Krankheit herbeigeführt werden.
Dieses haben wir bezeichnet durch das gänzliche Dar¬
niederliegen der Vegetation und Respiration, und dieses
mufste unausbleiblich eintreten, sobald die Krankheit erst
zu einem gewissen Grade sich ausgebildet hatte. Offenbar
nämlich konnte nun das Rückenmark selbst sich nicht län¬
ger in seiner Integrität erhalten, seine beiden Functionen,
willkührliche Muskelbewegung und Vermittelung der Gan¬
glien mit dem Gehirn, wurden verletzt. Hierdurch mufste
nothwendig eine Alienation in der Thatigkeit der Ganglien
eintreten, die sich auch deutlich zu erkennen gab durch die
ganze Reihe der scorbutischen Symptome, so wie besonders
durch die grofse Torpidität in der Secretio alvi. In letz¬
ter Beziehung verdient Raccheti’s 1 2) Meinung Berück¬
sichtigung, der die peristaltische Bewegung des Darmkanals
vom Rückenmark durch Hülfe des Intercostalnerven ab¬
leitet.
Noch immer aber konnte der Krankheitsprozefs unge¬
hindert fortschreiten, da durchaus keine ärztliche Behand-
1) L. c. S. 400.
2) Deila structura delle fungioni, delle malatie della rae-
dull. spin. pag. 430.
94
IV. Rückenmarkkrankheitcn.
/
Iung hemmend eingriff, und nun entwickelte sich ziemlich
rasch das dritte Stadium.
Dieses gab sich zu erkennen: zuvörderst durch eine
lähmungsartige Schwäche, der unteren linken Extremität,
welche rasch zunahm. Später wurde auch der linke Arin
von derselben Schwäche ergriffen, und auch die rechten
Extremitäten nahmen bald Theil an dem Leiden; endlich
stellten sich ein: Palpitatio cordis, Ohnmächten, kurzer
Athem, heisere Stimme, Aphonie u. s. w. Auch die ganze
Reihe dieser Symptome wird nun klar und verständlich.
Nachdem sich im zweiten Stadium der Krankheit schon
ein Mitergriffensein des Rückenmarkes kund gegeben hatte
durch die abnormen Verrichtungen der Ganglien, nmfste,
bei einem Fortschreiten der Entzündung in der Arachnoidea
und ihrem endlichen Ausgang, Exsudation, auch die Haupt-
function des Rückenmarkes: willkührliche Muskelreizung,
abnorm werden. Auch hier trat ein Stillstand des Leidens
ein, indem sich die Muskelschwäche im Anfänge auf die
linke untere Extremität nur bezog, da aber noch immer
mit der Hülfe gezögert wurde, so schritt das Uebel fort,
und erstreckte sich nunmehr schon auf die linke obere Ex¬
tremität, endlich aber auch auf die beiden rechten — Das
nun schon in seinem ganzen Umfange krankhaft ergriffene
Gangliensystem, aller Vermittelung des Gehirns beraubt,
zog nun auch den Vagus in seinen Krankheitskreis, und
von dieser Affection des Vagus erklären sich auch deutlich
die Affectionen des Herzens, der Respiration und der
Stimme von selbst. — Aber auch noch auf eine andere
Weise läfst sich diese letzte Symptomenreihe erklären, wenn
wir nämlich mit le Gallois *) annehmen, dafs die Me-
dulla oblongata die Respiration und Stimme bewirke (w'as
auch gewifs ist, in sofern alle diesen Functionen angehüri-
gen Nerven von dort entspringen); denn da konnte ja der
1) Lt Gallois, Eiper. *ur lc princ. de la rie sur cclui
des niouvcmens du coeur et sur Ie siege de ce principe.
IV, Rückenmarkkrankhelten,
95
Vagus in seinem Ursprünge bereits affrcirt worden sein, da
es nicht wahrscheinlich ist, dais sich das krankhafte Ver¬
halten der Arachnoidea bis auf ihren ganzen Umfang aus¬
gedehnt habe, wofür auch der lähmungsartige Zustand der
oberen Extremitäten sprechen dürfte.
Nachdem wir nun, hoffentlich nicht ohne einsichtliche
Gründe, die Deutung der Symptome aus einer gemeinsa¬
men Quelle versucht haben, bliebe uns noch die Annahme
zu rechtfertigen, dafs die Entzündung ihren Sitz in der
Arachnoidea gehabt habe.
Betrachten wir die Wichtigkeit des Rückenmarkes, seine
wesentliche Verwandtschaft mit dem Gehirn, die Wichtig¬
keit seiner Functionen u. s. w., so mufs sich fast von
selbst, die Bemerkung aufdringen, dafs eine Entzündung
dieses wichtigen Organes unmöglich bestehen könne, ohne
den ganzen Organismus in Mitleidenschaft zu ziehen, und
ein Heer fürchterlicher Symptome herbeizuführen. Wirk¬
lich auch giebt es kaum ein grausenerregenderes Symptom,
dessen die Schriftsteller über Myelitis, als Attribut dersel¬
ben, nicht erwähnen sollten. Tetanus, Emprosthotonus,
Opisthotonus, Hydrophobia spontanea, Convulsionen , Deli-
ria furiosa, heifsen die schrecklichen Begleiter einer soge¬
nannten acuten Entzündung des Rückenmarkes, und alle
diese Symptome sollten fehlen, ja sogar, wie es bei unserer
Kranken der Fall war, ein leidliches Wohlbefinden beste¬
hen können, blofs weil die Entzündung chronisch ist?
Wahrlich dann hätte eine chronische Entzündung so wenig
die Natur einer Entzündung, dafs sie als solche gar nicht
diesen Namen verdient — Welchen Begriff auch man
überhaupt von der Entzündung haben mag, immer doch
wird man, belehrt durch Theorie und Erfahrung, zugeben
müssen, dafs der Organismus bei der Beleidigung eines
seiner wichtigsten Organe sich durchaus nicht unthätig ver¬
halten könne, vielmehr mit allen seinen Kräften einen Kampf
zur Beseitigung des Feindes eingehen werde, sei es zum
Siege oder zum Tode. So auch verhält es sich wirklich
96
IV. Rütkcnmarkkrankheiten.
bei der acuten Entzündung des Rückenmarkes, bei der so¬
genannten chronischen hingegen sehen wir den Organismus
sich ganz leidend verhalten, was doch unmöglich geschehen
könnte, wenn die chronische Entzündung nicht in ihrem
Wesen, sondern nur in der Fortdauer verschieden wäre
von der acuten. — Wollen wir also den Begriff der Ent¬
zündung überhaupt nicht muthwillig verwirren oder gar
zerstören, so können wir ihn da nicht anwenden, wo nach
der Natur des von derselben befallenen Organs keines von
den Symptomen auftritl, die wir erwarten sollten, ,noch
auch meinen, etw’as erklärt zu haben, wenn wir dann die¬
sen Krankheitszustand, der sich so wesentlich von der acu¬
ten Entzündung unterscheidet, einen chronischen nennen.
Vielmehr glauben wir uns zu der Annahme berechtigt, dafs
eine chronische Entzündung des Rückenmarks, vermöge der
Natur dieses Organs, gar nicht gedacht werden könne. —
Noch mehr mufs diese Ansicht bestätigt werden, wenn
markes ins Auge fassen. Ganz übereinstimmend sind die
Autoren über das Vorhandensein der wichtigsten, oben
schon genannten furchtbaren Symptome, darin aber herrscht
bei ihnen ein grofser Streit, ob die Lähmung der Extre¬
mitäten sich zeigen könne w'ährend der Entzündung, oder
ob diese nicht vielmehr zu betrachten sei als ein Ausgang
und eine Folge der Entzündung. Graf, in seiner Disser¬
tation de Myelitide, sagt, nachdem er versichert, sehr
viele Autoren über diesen Gegenstand gelesen zu haben,
folgendes: «In inllammatione ipsa paralyses verae extremi-
tatum non inveniuntur sed impediti motus modo,» und
gleich darauf: «Id vero manifestum est, in myelitide chro¬
nica fere semper paralysibus aegrotos laborare, quum haec
imprimis ad exsudationem tendat, ideoque tali modo pres-
sum efficiat. Si igitur in myelitide acuta paralyses aliis
consociantur signis , tum fere semper inflammatio jam
productura suum progenuit medullaque spinalis compri-
mitur. u
Ist
IV. Rückenmarkkrankheiten.
97
Ist also Lähmung der Extremitäten ganz unabhängig
von der Entzündung des Rückenmarkes selbst, uüd nur zu
betrachten als Folge einer statt gehabten Exsudation, so
wird es ganz unumstöfslich klar, dafs diese, nämlich die
Lähmung, nur erfolgen könne nach einem über die Nor¬
malität gesteigerten Produkt der Häute des Rückenmarkes,
da es deren Function ist, selbst im normalen Zustande,
eine gewisse bestimmte Quantität Flüssigkeit abzusondern,
wie Magendie *) dies neuerlich nachgewiesen hat. Das
Gesammtresultat seiner Untersuchungen ist kürzlich folgen¬
des: Das Secret befindet sich bei Menschen und Thieren
zwischen der Arachnoidea und pia Mater des Gehirns und
Rückenmarkes. Die Quantität desselben beträgt beim Men¬
schen 2 — 5 Unzen, es ist durchaus klar, wird nach dem
Tode zum Theil resorbirt, und ersetzt sich, durch die
Punction abgezapft, binnen 24 Stunden. Nach dem plötz¬
lichen Abzapfen dieser Flüssigkeit entsteht Stumpfsinn und
Unbeweglichkeit. Sie übt einen gewissen Druck auf Hirn
und Rückenmark aus, und bringt durch eine zu starke
Ansammlung apoplectische Erscheinungen hervor. An der
Basis der vierten Hirnhöhle, dem Calamus scriptorius gegen¬
über, besteht beständig eine runde Oeffnung, durch welche
diese Flüssigkeit aus dem Rückenmarke in das Hirn und
wieder zurückfliefst. Die vierte Hirnhöhle steht mit der
dritten durch den Aquaeductus Sylvii, und diese mit der
seitlichen durch den S förmigen Auschnitt in Verbindung,
auf welche Weise eine beständige Cornmunication zwischen
der Arachnoidalhöhle des Rückenmarkes und den vier Hirn¬
höhlen nachgewiesen ist. Die Hirnhöhlen enthalten stets
1 — 2 Unzen Flüssigkeit, eine gröfsere Menge bringt Para¬
lyse, Stumpfsinn u. s. w. hervor. Alle diese Angaben Ma¬
gen die ’s scheinen durch Sectionsresultate erwiesen.
1) .Tourn. gener. de Medec. Janvier 1827. Archive« gener.
Fevrier 1827. Journ. de Physiol. Janv. 1827. Toni VII,
XIV. Bd. l. Sr
i
98
IV. flückenmnrkkrankhciten.
Im Vorbeigehen wollen wir bemerken, dafs diese Ent¬
deckung sehr wichtig ist für die Geschichte des Hydrops
ventriculorum cerebri; denn nun lassen sich auch viele
dunkle Symptome deuten. So z. B. lälst sich nun genü¬
gend erklären: der schwankende, unsichere Gang der Kran¬
ken im Anfänge des Lehels, die gänzliche \ egetationszer-
rüttung im Verlaufe, und die Lähmung der Extremitäten
im letzten Stadium der Krankheit.
Es darf indessen nicht verschwiegen werden, dafs es
noch nicht völlig entschieden ist, ob dieses Secret hervor¬
gebracht werde von der Arachnoidea, oder der pia Mater,
was indessen weder für die Praxis, noch für die Pathologie
von besonderer Wichtigkeit ist. Magen die scheint sich
für die letzte Ansicht zu bestimmen, doch steht seiner
Meinung die entgegengesetzte mit haltbaren Grüuden ge¬
genüber. —
Findet si ch nun in der Arachnoidalhülde im normalen
Zustande schon eine bestimmte Quantität Flüssigkeit, so ist
es klar, dafs bei einer Entzündung der secernirenden Haut
nur entstehen können, entweder eine Hemmung der Secre-
tion, oder eine Steigerung derselben. Im ersten Falle
würde die Entzündung acut sein, im zweiten chronisch.
Etwas ganz analoges sehen wir bei den, den serösen sehr
verwandten Schleimmembranen. Eine acute Entzündung
der letzten hemmt die Secrction , wie wir z. B. bei dem
Stockschnupfen sehen, eine chronische vermehrt sie, wie
z. B. im Fluor albus, Catarrhus pulmonum chronicus. Da
nun nach Magen die’s Versuchen nach einer Entleerung der
ArachnoidalHüssigkeit, Stumpfsinn und Unbeweglichkeit ent¬
stehen, so kann eine Unterdrückung der Secretion nicht statt
finden ohne bedeutende Störung des Organismus; w-ir müs¬
sen also noth wendig annehmen, dafs hier eine chronische
Entzündung statt gefunden habe, also vermehrte Secretion.
Dafs diese aber wirklich die Symptome hervorbringe, die
wir gesehen haben, wdrd dadurch klar, dafs man fast allge¬
mein angenommen hat, die Lähmung der Extremitäten habe
I
IV. Rückenmarkkranklieiten. 99
ihren Grund in einer statt gehabten Ausschwitzung, so wie
besonders noch durch eine sehr interessante Entdeckung
neuester Zeit, von Baumgartner 1 ). Dieser fand
nämlich, dafs das Nervenfieber bisweilen bedingt sei durch
eine Wasseransammlung in der Wirbelhöhle. Seinen da¬
mals angeführten Beobachtungen hat nun derselbe Verfasser
neue hinzugefügt2). Bei allen Nervenfieberkranken mit
W asser in der W irbel höhle bemerkte er aber
eine äufserst grofse Muskelschwäche, von wel¬
cher meistens keine andere, im Verhältnifs ste¬
hende Ursache aufgefunden werden konnte. Auch
zeigte sich bei allen ein trockener Husten mit Beengung,
ohne dafs Entzündung, Blutüberfüllung , oder eine andere
Krankheit in den Lungen oder im Herzen statt fand. Mei¬
stens tödtete die Krankheit unter Erscheinung der Lungen-
lähmung.
Nun auch wird der chronische Verlauf der Krankheit
nicht mehr befremden. Besteht nämlich die Function der
Arachnoidea nur in Absonderung einer bestimmten Flüssig¬
keit, so konnte, wenn die Quantität derselben nur allmäh-
lig vermehrt wird, auch nur sehr langsam seine Störung in
der Function des Rückenmarkes eintreten. — Dasselbe Ver¬
hältnifs, ja fast dieselben Krankheitsstadien sehen wir bei
dem sogenannten Hydr. ventric. cerebr. chron., wie wir
dies in einer bald zu bearbeitenden Monographie über die
Entzündung der Arachnoidea ausführlicher nachzuweisen ge¬
denken; hier genügt es darauf aufmerksam zu machen, dafs
auch diese Krankheit viele Jahre bestehen könne, ohne be¬
deutende Störung des Organismus, bis erst, nachdem die
Quantität der Flüssigkeit sich zu sehr angehäuft hat, die
1) K. W. Baumgärtner, Ueber die Natur und Behand¬
lung der Fieber, oder Handbuch der Fieberlehre.
2) Annalen für die gesarnrnte Heilkunde, miter der Rcdaction
der Mitglieder der Badenschen Sanitälscommission.
7 * *
100
IV. Riickenmarkkrankhcitcn.
bekannten bedenklichen Symptome eintreten ’). — Auch
hoffen wir, in dieser Monographie eine N erwandtschafk der,
Ischias nervosa mit dieser Krankheit darzuthun.
Ks ist daher auch eine durch viele Beobachtungen be¬
stätigte Erfahrung, dafs Rückefimarkkrankhciten sehr lange
idiopathisch bleiben können, und nur erst wenn sie das
Gangliensystem und Gehirn in ihren Krankheitskreis gezo¬
gen haben, wird der Verlauf rascher und bedenklicher.
Sehr wahr sagt dies Sachs in einem ärztlichen Gutachten
über eine Kückenmarkkrankbeit 1 2 3), und ganz in der Er¬
fahrung begründet fügt er hinzu: « Wo Kückenmarkkrank¬
heiten tüdtlich werden, da geschieht es durch Schlagllufs,
Stickflufs oder Vegetationszerrüttung. Nur möchten wir
diesen chronischen Verlauf nur bei einem pathischen Ver-
hältnifs der Häute annehmen, nie und nirgends aber eine
chronische Myelitis zugeben. » Wir können es daher nur
als einen diagnostischen Irrthum betrachten, wenn l)r.
Steeginan J) von sich selbst sagt: er leide schon seit elf
Jahren an einer chronischen Myelitis, deren Hauptsymptom
darin bestehe, dafs er seit dieser Zeit keine 200 Schritte
gehen könne.
Aus der eben gerührten Untersuchung ergeben sich
nun folgende Resultate:
1) Lähmung der Extremitäten ist ganz unabhängig von
der Entzündung des Rückenmarkes selbst.
2) Lähmung der Extremitäten ist bei chronischem Ver¬
laufe meistens abhängig von einem vermehrten Ex¬
sudat.
3) Dieses abnorme Exsudat kann nur hervorgebracht
1) II aase, Chronische Krankheiten. Bd. III. AbtUcil. 2.
S. 552.
2) Journal der praktischen Heilkunde von Ilu fei and und
Osann. Stück VII. Seite 100.
3) Archiv für prakt. Erfahrung von Horn und Wagner.
S 306 — 10
IV. Hückenmarkkrankheiten. 101
werden von den Hauten des Rückenmarkes, und
höchstwahrscheinlich von der Aracbnoidea.
4) Der Prozefs, durch den dies- bewirkt wird, ist höchst¬
wahrscheinlich chronische Entzündung dieser Haut.
Diesen letzten Satz müssen wir hier, um die Gränzen
dieses Aufsatzes nicht zu überschreiten, vorläufig ohne un¬
terstützende Gründe lassen, da diese von Polemik über das
"Wesen der Entzündung unzertrennlich sind. Jeder Billig¬
denkende aber wird zugeben müssen, dafs wir mit viel
gröfserer Wahrscheinlichkeit eine chronische Entzündung
der Arachnoidea anzunehmen befugt sind, als eine solche
des Rückenmarkes selbst.
Werfen wir* nun einen Blick auf die von Mease er-
i
zählten Fälle, so finden wir sehr viel Uebereinstimmendes
mit dem von uns erzählten Falle. —
Der erste Fall von Mease betraf einen 40jährigen
Mann, welcher ein Jahr nach seiner Wiederherstellung von
einem Nervenfieber eine gewisse Schwäche und ein unan¬
genehmes Gefühl, erst im linken Arm und der Hand, und
dann auch im rechten Arme wahrnahm. Blasenpflaster auf
den Arm, der Gebrauch eines eisenhaltigen Wassers, Ge-
nufs der Bergluft, nährende Diät, Hebung der Muskeln,
Reibung mit reizenden Mitteln, kalte und warme Bäder,
blieben unwirksam; Injectionen und Elektricität brachten
einigen vorübergehenden Nutzen. Verlust der Muskelkraft
und allgemeine Schwäche nahmen immer mehr überhand,
zuletzt litt auch das Vermögen zu sprechen und zu schlucken;
0
der Tod machte endlich dem Leiden ein Ende.
Ziemlich deutlich sehen wir hier die von uns angege¬
benen Stadien. Einzelne kleine Verschiedenheiten dürfen
nicht auffallen, da es ja wohl bekannt ist, wie viel bei Be¬
schreibung einer Krankheit davon abhängt, nach welchen
Grundsätzen man sie beurtheilt. Seit Kreysig und Testa
die Herzkrankheiten beschrieben und auf ihre charakteristi¬
schen Kennzeichen aufmerksam gemacht haben,' haben die
i
Aerzte viel mehr Herzkrankheiten erkannt und behandelt,
m
V. Venerisch Krankheiten.
als früher , nicht weil sie öfter Vorkommen als früher, son¬
dern weil wir sie richtiger auf/.ufassen gelernt haben. —
Der zweite Fall Mense’s gehört gar nicht hierher,
so viel wir davon zu urtheilen im Stande sind, betraf er
eine Coxarthrocacc.
Die letzten beiden Fälle sind unvollständig , weil sie
noch nicht verlaufen sind, aber schon aus der dermali-
gen Beschreibung erkennen wir die beiden ersten Stadien
unserer Krankheit. —
Bemerkungen über die Behandlung der eben abgehan¬
delten Krankheit, die wir Arachnitis chronica zu nennen
nicht umhin können, so wie die gründlichere Ausführung
unserer ausgesprochenen Ansichten müssen wir hier über¬
gehen, da sie in unserer Monographie über die Entzündung
der Arachnoidea einen schicklicheren Platz finden werden.
Dort, auch wollen wir nachweisen, dafs der Ausgang dieser
Krankheit, wo sie nicht geheilt wird, allemal bestehe in
einer Lähmung der Lungen, wahrscheinlich oder vielmehr
gewils hervorgebracht durch ein pathisches Verhältnis des
Nervus vagus.
V.
f
T r a i t 6 c o m p 1 e t des m a 1 a d i e s veneriennes,
contenant l’exposition de leurs symptomes et de
leur traitement rationnel, d’apres les principes de
la medecine organique, avec Ihistoire critique des
tlieories et des methodes curatives gcneralement
re^ues; par A. J. L. Jourdan, Dr. en in cd., cbe-
vaher de la iegion d honneur, inembre des acade-
mies royales de medecine ä Paris etc. Paris,
Meqaignon rMarvis, libraiie editeur, rue du Jar-
103
V. Venerische Krankheiten.
dinet No. 13. 1826. 2 Voll. 8. 1 — 430 und
431 — 916. Mit dem Motto: Dans letudc des
maladies il faut voir et non supposer. Baumes.
Der Verfasser stellt in den zwei Bänden . dieses
Werkes eine neue Ansicht von der Natur und Heilung
der venerischen Krankheiten, nach den Grundsätzen der
organischen Medicin auf. Um nun gleich den Grundton,
aus welchem er seine neue Lehre vorträgt, anzugeben, sei
hier angeführt, dafs er durch eine Analyse der Symptome
in den verschiedensten Formen der Syphilis, durch kriti¬
schen Ueberblick der Geschichte, der gesammten alten und
neuen, in- und ausländischen Litteratur, durch kritische
Beleuchtung der Heilmittel und Heilmethoden, so wie durch
Hinweisen auf analoge Krankheitsformen zu beweisen sucht,
dafs die allgemein verbreitete Theorie von ei¬
nem venerischen Gifte, so wie die darauf gestützte
specifische Heilmethode falsch sei, und dagegen eine, auf
allgemeinen einfachen Principien beruhende Ansicht von der
Natur und Heilung der venerischen Krankheiten angenom¬
men werden müsse. Diese Ansicht findet in Frankreich
hier und da Beifall, und haben sieb ihre Verteidiger auch
mancher Paradoxieen und Uebereilungen, die nicht sie, son¬
dern ihre Kranken zu btifsen gehabt haben, schuldig ge¬
macht, so glauben wir doch^ sie mit Unparteilichkeit wür¬
digen zu müssen, was am besten durch die kritische Darle¬
gung des Inhaltes dieser Schrift geschehen kann.
Das Ganze zerfällt in drei Bücher:
1) "von den venerischen Krankheiten, wie sie
sich in ihren Symptomen offenbaren.
2) Von den Theorieen und der Geschichte der
venerischen Krankheit.
3) Ueber die Behandlung derselben.
Im ersten Buche beginnt der Verf. im ersten Abschnitt
(Kap. 1.) mit den primären venerischen Krank¬
heiten, die sich durch Entzündung der Schleim
I
104
X. V onerische Krankheiten.
häute c h a ra k teris i re n. Sic bestehen am häufigsten in
einer Entzündung der Schleimhäute. Alle Membranen die¬
ser Art können davon ergriffen werden, doch Lage und
Bestimmung setzen sie nicht alle gleichen und gleich häufi¬
gen Gelegenheitsursachen aus; aufser der Schleimhaut des
Magens ist keine, die so häufig der Gefahr der Reizung
ausgesetzt wäre, als die der Harn- und Geschlechtsorgane
(Membrane genito - uriuaire ). Man beobachtet jedoch ähn¬
liche Entzündungen an den beiden Extremitäten der Schleim¬
haut der Digestionswege, an dem Auge, der Nase, den
äulseren Gehörgängen; sie sind selten, doch können sie zu¬
fällig, oder durch Unreinlichkeit, oder wie es am meisten
der Fall sein mag, durch naturwidrige Ausschweifungen
entstehen.
Der Gang der venerischen Entzündung äufserer Schleim¬
häute, ist ganz derselbe, wie der durch jede andere Ursache
hervorgerufenen Entzündung; auch sind ihre Wirkungen
*
dieselben, nur deutlicher ausgesprochen.
Die Symptome variiren nach dem Grade der Reizung;
der chronisch -entzündliche Zustand ist schlimmer und ge¬
fährlicher wegen der organischen Veränderungen, zu denen
er Veranlassung giebt, welche ins Unendliche abweichen,
nach der Textur «1er ergriffenen Organe, und unter denen
cfle fibrösen, cartilaginöscn und carcinomatösen Entartungen
die häufigsten sind. Auch bilden diese Entzündungen aufse-
rcr Schleimmembranen öfters Veranlassung und die wahre
Causa proxima intermittirender, und noch öfter hectischer
Fieber (?>.
Die Entzündung der Schleimmembranen der
Ilarn- und Geschlechtswerkzeuge beim Manne
(Aft. E) ist innerlich und äufserlich (Balanitis und Ure¬
thritis). Der Vcrf. hält es für sehr wahrscheinlich, dafs
die reizende Ursache sich immer erst auf die Eichel werfe,
und sich von da auf die Harnröhre, als Fortsetzung ihrer
Bekleidung, fortpflanze, welche viel empfänglicher für die
Einwirkung eines fremden Reizes sei. Wie der Tripper
V. Venerische Krankheiten. 105
entstehe, hat man sich auf verschiedene Weisen erklärt,
die sich auf folgende zwei zurückfiihren lassen:
1) Das reizende Prinzip wird von den lymphatischen
Gefäfsen der Eichel absorbirt; welche es alsbald in
die Fossa navicularis *ablagern.
2) Die reizende Ursache wird durch die Urethra aufge¬
pumpt, welche auf dieselbe wie ein Saugheber wirkt.
Die erste streitet gegen anatomische Thatsachen , indem
es keine lymphatischen Gefäfse giebt, welche von der Eichel
zur Harnröhre führen; die zweite gegen die Gesetze der
Phy sik; beide endlich gegen die Principien der Physiologie.
Von der Entzündung der Eich ei (Balanitis).
Welches auch der Ursprung der Entzündung der Eichel
ist, der daraus entstehende Ausflufs bietet immer dieselben
Erscheinungen dar. Man könne es nicht unterscheiden,
sagt der Verf., ob er aus Unreinlichkeit, wegen Enge der
Vorhaut, oder durch Umgang mit verdächtigen Weibern
entstanden sei. Merat erzählt eine Beobachtung, wo ein
Mann mit einem Eicheltripper seine Frau zu zwei verschie¬
denen Zeiten so ansteckte, dafs sie eine förmliche Blennor-
rhagie bekam; er wurde durch Operation geheilt, und spä¬
ter fand keine Ansteckung mehr statt.
Von der Entzündung der Harnröhre (Urethri¬
tis). Der Verf. glaubt nicht, dafs die Erscheinung eines
Trippers 6 Wochen, 58 Tage oder gar mehre Monate (nach
Hunter, Bell, Duncan und Swediaur) sich verzögern
könne, sondern man bemerke die Spuren oft schon einen
Tag, ja sogar einige Stunden nach dem Beischlaf, in sel¬
tenen Fällen treten sie erst nach 10, 12, 15, 20 — 30 Ta¬
gen ein. Der Verf. glaubt, dafs Morgagni recht habe,
wenn er behaupte, dafs die Krankheit die Fossa navicularis
im Anfänge betreffe, und dafs später bei den meisten Män¬
nern sie sieb sehr weit in den Canal hinein erstrecke.
Cullerier und Delpech kommen indessen der Wahrheit
noch näher, wenn sie annehrnen, dafs der Sitz des Uebels
nicht auf einen Punkt beschränkt sei. Der Verf. stellt
106 V. Venerische Krankheiten.
Folgendes auf, in Rücksicht des Sitzes: Oie Entzün¬
dung kann
1) sich auf einen Theil der Schleimhaut der Harnrohre
beschränken, was nur im Anfänge statt hat, oder
wenn sie sehr leicht ist;
2) allmählig den ganzen Kanal einnehmen, und sich
seihst weiter erstrecken;
3) sich auf verschiedenen Punkten fixiren, entweder zil-
gleich oder vor und nach; ihren Platz verändern;
sich abwechselnd von eihem Punkte auf einen oder
mehre andere begehen;
4) sich entwickeln, wachsen, halten, und abnehmen,
an einem Orte, in dem Momente, wo die Verände¬
rungen der Symptome das nahe Ende anzuzeigen
scheinen, sich auf einem tiefer liegenden Punkte er¬
neuern, indem sie hier die Reihefolge derselben Pe¬
rioden, und zuweilen wichtigerer Symptome zeigt;
5) endlich, wenn sie sich vor und nach auf verschie¬
denen Punkten zeigt, kann sie bald eine genaue Ver¬
bindung zwischen den Symptomen irgend einer an¬
dern Krankheit, bald auch keine Spur dieser Ver¬
bindung zeigen, und mehre Tage zwischen dem
Ende der einen und dem Anfänge der andein Af-
fection verlaufen lassen.
Dies gelte besonders von der mehr ervsipelatösen Ent¬
zündung der Fläche. Was der Verf. ferner in diesem Ar¬
tikel von der trockenen Entzündung der Harnröhre (die
gewöhnlich mit Strangurie verbunden ist), von den Ab-
weichungen des Trippers in Rücksicht des Einflusses, den
die Krankheit auf nähere und entferntere Theile äufsert,
in Hinsicht der Ausgänge der Krankheit und ihrer Compli-
cationen sagt, ist durchweg interessant und zeugt von ge¬
nauer Beobachtung. Er schliefst diesen Artikel, indem er
von den Ursachen spricht, welche, aufser dem Beischlaf,
Harnröhrenentzündung, und somit ansteckenden Ausflufs
veranlassen können, und ist der Meinung, dafs jede
107
, \
V. Venerische Krankheiten.
Entzündung mehr oder weniger , je nach ihrem Grade
und nach der Constitution des davon betroffenen Indi¬
viduums , ein ansteckendes Secret liefern könne , was
durch die giftige Beschaffenheit des Secretes bei Entzün¬
dungen seröser Häute allerdings sehr wahrscheinlich ge¬
macht wird. ( - -
Von der Wedekin dschen Bemerkung hinsichtlich der
Drüsen in der Fossa navicularis hält der Verf. nichts, in¬
dem er dieselben bei zwei Subjekten sehr stark entwickelt
gesehen hat, die nie einen Tripper gehabt hatten.
Der Verf. setzt also das Wesen des Trippers in
eine, durch Reizung entstandene Entzündung der
Schleimhaut der Harnröhre, und ist der Meinung, dafs
jeder Mann, der mit einem Ausflufs, selbst mit dem gut¬
artigsten behaftet ist, sich bis zur völligen Heilung des
Umgangs mit Weibern enthalten müsse.
In der (Art. II.) Geschichte der Entzündung der
Schleimhaut der Harn- und Geschlechtsorgane beim Weibe,
heilst es am Schlufs: Die natürliche Folgerung, die man
aus diesen Thatsachen zieht, ist: dafs nach Art aller Schleim¬
membranen die der Harn- und Geschlechtsmembran beim
Weibe, wenn sie bis zu einem gewissen Grade entzündet
ist, ein Secret liefert, das, auf eine andere gesunde Schleim¬
haut gebracht, im Stande ist, eine Reizung zu erzeugen,
in deren Folge sich eine mehr oder minder heftige Entzün¬
dung entwickelt, je nach dem Grade der Intensität, mit
der die krankhafte Flüssigkeit gewirkt hat, oder der Em¬
pfänglichkeit des Gewebes, worauf sie gelangt war. Die
Klugheit gebietet also, dafs man sich des genauen Umgangs
mit einer Frau enthalte, deren Scheidenschleimhaut, selbst
in geringerem Grade, entzündet ist, welches auch die Ur¬
sache davon sein mag, denn, wenn man auch zuweilen
solche Frauen ungestraft besuchen kann, der Gewohnheit
wegen, oder, wovon manche Männer ein Beispiel geben
aus Mangel an Empfänglichkeit; so beweist doch die täg¬
liche Erfahrung ohne Widerrede, dafs das contagiöse Prin
108
V. Venerische Krankheiten.
zip sich während des IJeischlafes mehr entwickelt, oder
eine gröfsere Thätigkeit aufsert, sei es, wegen der Hitze
und der grölseren Turgesccnz der Geschlechtstheile, sei es,
weil diese während des Actes empfänglicher sind für die
Einwirkung jedes reizenden Einllusses.
In den Artikeln III. his ^ II. handelt der Verf. von
den Entzündungen der Schleimmembranen des Auges, der
Nase, des äufseren Gehörganges und des inneren Ohres, des
Mundes und des Mastdarms. Am Schlüsse des letzten Ar¬
tikels heifst es: Unter allen Zufällen, die so eben beschrie¬
ben sind, ist kein einziger, der nicht von Hämorrhoiden
abhängen könnte (?), und der nicht hei dieser Krankheit
häufig aufträte, und nur die Kenntnifs der Sitten des Kran¬
ken erlaubt uns, diesen krankhaften Abweichungen einen
venerischen Ursprung zuzuschreiben, indem die Symptome
in beiden Fällen ganz dieselben sind.
Zweites Kapitel. Von den primären venerischen
Krankheiten, die sich durch Verschwärung der
aufseren Schleim membranen Charakter isi re n.
Den Namen Schanker, den der Verf. mit Hensler
von Caries, Cariolus ableitet, verwirft er, weil er zu sehr
die Idee von einem fressenden, um sich greifenden Ge¬
schwüre erwecke. Die Zahl der Schanker verhält sich zu
der der Tripper, nach Hunter, wie 1 :4 — 5, nach Bell
wie 1 : 3. Die Zeit des Ausbruchs nach der Ansteckung
ist unbestimmt, und schwankt zwischen drei Stunden und
vier bis sechs Wochen. (Hunter.) Nachdem der \ erf.
die drei Arten von Schanker (den gutartigen, fressenden
und brandigen) beschrieben, sagt er: diese Hauptunter¬
schiede, zwischen denen eine Menge Zwischenstufen sind,
hängen von dem Grade der Entzündung, der Empfänglich¬
keit des Subjekts und einer Menge äufserer Umstände ab,
unter denen man den Einflufs des Kegimens, der Lebens¬
art, des Zustandes anderer Organe und der Behandlung
obenan stellen mufs. Im ersten Artikel handelt er von
den Geschw üren derVorhant und des Bändchens;
V. Venerische Krankheiten.
109
im Art. II. von den Geschwüren der Eichel; hier
bemerkt er S. 130: das Ansehen eines Geschwüres des Glie¬
des erlaubt niemals einen Schlufs auf die Ursache, weil eine
Menge von Umständen, äufsere und innere, dieses Ansehen
ins Unendliche verändern, je nach dem Grade der Energie
den sie der entzündlichen Reaction aufdrücken. Er leugnet
ferner die Diagnose aus Farbe und Geruch des Eiters;
Bell selbst, sagt er, mufste diese unläugbare Wahrheit
anerkennen, indem er, wie Hunter, die Diagnose auf den
Verlauf gründete.
Der dritte Artikel handelt von den Geschwüren
der Harnröhre, und der vierte von den Geshwüren
auf der Schleimhaut der Harn - und Geschlechts¬
organe des Weibes. Die Ursachen, die, aufser dem
Beischlaf, noch Geschwüre erregen können, sind: Einbrin¬
gen eines grofsen harten Körpers (bei der Nothzucht er¬
folgen häufig solche Geschwüre, woraus sich nach der be¬
stehenden Theorie der Thäter einen Beweis seiner Unschuld
entnehmen könnte), Jucken der Geschlechtstheile von Pru¬
rigo, Leucorrhöe, Hämorrhoiden, Ascariden im Rectum,
Schwangerschaft, Vorfall der Scheide und Gebärmutter,
Unreinlichkeit u. s. w. , mit einem Worte, alle Reizungen
dieser Schleimhaut, sie mögen direct oder sympathisch sein,
können dort eine chronische oder acute Entzündung erre¬
gen, die mit Verschwärungen complicirt ist, deren Ober¬
fläche eine eiterförmige Flüssigkeit absondert, und die man
durchaus nicht im Stande ist von venerischen Schankern zu
unterscheiden, denn sie nehmen alle Gestalten an, welche
diese letzten annehmen, erregen dieselben Zufälle, und
können selbst in gewissen Fällen ansteckend sein , d. h. eine
Flüssigkeit absondern, welche die gesunden Schleimflächen,
die mit ihr in Berührung kommen, reizt und entzündet.
Art. V. \on den Geschwüren der Brustwarze
und des Hofes derselben. Es ist unmöglich (??) sagt
hier der Verf. , die venerischen Geschwüre von denen zu
unterscheiden, welche durch gewaltsames Saugen verur-
110
V. Venerische Krankheiten.
, »
sacht sein können; er will diese sogar zuweilen von Pusteln
auf entfernten Hauptstellen begleitet gesehen haben, ohne
dafs man den geringsten Verdacht in Hinsicht der Auffüh¬
rung der Frau hätte hegen können; indessen müsse man
gestehen, dafs die Geschwüre der Brustwarze, die von dem
reinen und gesunden Munde eines Kindes entstehen, eher
heilen, als die, welche von einem Munde der mit Geschwü¬
ren und Bläschen besetzt ist, entstehen; dies verhalte sich
eben so bei allen Verschwärungen; die durch mechanische
Reizung entstandenen heilen eher, als wenn sie ihre Ent¬
stehung der Application einer entzündeten oder geschwüri-’
gen Fläche verdanken. (Dies wäre doch der Theorie der
französischen Noncontagionisten ganz entgegen!)
Art. VI. Von den Geschwüren der Nasen¬
schleimhaut. Nachdem er die Ausgänge der Nasenge-
schwüre (Carba, Krebs, hektisches Fieber, Tod) aufge¬
führt hat, sagt der Verf.: Indessen ist es wahr, dafs ein
so schrecklicher Zustand, wenn nicht immer, doch in der
bei weitem grüfsten Zahl der Fälle, Folge der Uhlen Heil¬
methoden ist, welche von Anfang au befolgt worden sind
(sehr wahr!); ferner: Pocken, Ausrottung eines Polypen,
chronischer Catarrh, Entzündung durch reizende Dinge,
Quetschungen , besonders Flechten, können ebenfalls Ge¬
schwüre erzeugen, die, wenn die begleitende Entzündung
oberflächlich bleibt, und wenig sich ausdehnt, eine geruch¬
lose Feuchtigkeit absondern, im Gegentheil aber dieselben
Symptome hervorbringen, wie die venerische Ozaena. Diese
also scheint sich von den andern nur dadurch zu unter¬
scheiden, dafs sie, weil sie gewöhnlich einen tieferen Sitz
hat, nur dann anfängt bemerkt zu werden, wenn das
Umsichgreifen der Entzündung die Theile schon sehr desor-
ganisirt hat. (??)
Art. VII. Von den Geschwüren des Mundes.
Der Verf. sucht zu beweisen, dafs die, besonders in öffent¬
lichen Anstalten bei Kindern so häufig vorkommenden und
für venerisch gehaltenen Ausschläge des Mundes, der Scheide,
V. Venerische Krankheiten.
111
des Afters u. s. w. nicht venerisch seien, sondern von chro¬
nischer Reizung der Eingeweide herrühren. Die Erb¬
lichkeit der venerischen Krankheit leugnet der
Yerf. geradezu. Auch bei Neugebornen vorkommende
Geschwüre des Mundes oder der Scheide, seien Folgen
einer sich bis ins Fötalleben hinauf erstreckenden Reizung
entweder der ersten Wege, oder der Scheide, und wenn
ein solches mit Bläschen und Geschwüren des Mundes
behaftetes Kind die Brust der Mutter oder der Amme an¬
stecke, so sei dies ganz natürlich, und kein Beweis, dafs
diese Bläschen venerisch seien. (Sehr oberflächlich!)
Eben so wenig genügen die Unterscheidungsmerkmale
venerischer Mundgeschwüre Erwachsener von scorbutischen,
mercuriellen und catarrhalischen Geschwüren.
Art. VIII. Von den Geschwüren des After¬
randes und des Innern des Mastdarms. Hämor¬
rhoidalgeschwüre und Mastdarmzerreifsungen gleichen sehr
den venerischen Exulcerationen des Afterrandes, in dem
Grade, dafs man nach Verlauf einer gewissen Zeit sie nicht
mehr unterscheiden kann.
Die Abhandlung von den Geschwüren der Augenbin¬
dehaut und des äufseren Gehörganges (Art. IX. X.) ent¬
hält das Bekannte.
Bei den Bubonen (Art. XI.) sucht der Verf. ebenfalls
darzuthun, dafs die hier vorkommenden Verschwärungen
eben so gut von allen andern Reizungen nahe liegender
Th eile, von Unterdrückungen natürlicher und gewohnter
Ausleerungen, von Hämorrhoiden, vom Gebrauch der Son¬
den und Bougies, von unterdrückten Hautausschlägen u.
s. w. entstehen können. (?)
Drittes Kapitel. Von den primären venerischen
Krankheiten, welche sich durch Entzündung
oder Verschwärung der Haut charakterisiren.
Es besteht auch hier, wie bei den Schleimhäuten, weder
in der Form, noch im Aussehen, noch in der Farbe der
Hautgeschwüre irgend ein charakteristisches Kennzeichen,
112
V. Venerische Krankheiten.
nach dem man befugt wäre, anzunehmen, dafs die Krank¬
heit vom .Beischlaf eher, als von einer anderen Ursache
entstanden sei, oder, mit andern "W orten, jede reizende
Ursache, welche sie auch sein möge, wenn sie auf die Haut
oder Schleimmembranen wirkt, erregt dort krankhafte Er-
scheinungen, die sich untereinander vollkommen ähnlich
sind, sobald die Ursachen, welche den Kranken seihst he-
treffen, dieselben sind. ” (Sehr vage, und in Y\ iderspruch
mit den bisherigen Erfahrungen. )
Viertes Kapitel. \on den. primären venerischen
Krankheiten, die sich durch Auswüchse, oder
.Vegetationen charakterisiren. Nachdem der Verf.
die verschiedenen Formen derselben, und ihren verschiede¬
nen Sitz aufgeführt, und der Meinung Be II ’s und 11 ein¬
te r’s, dafs 99 von 100 blofs Localübel seien und nur ört¬
licher Behandlung bedürfen, beigetreten ist, behauptet er
am Schlüsse: dafs sie durchaus kein Beweis venerischer
Krankheit seien, und eine Menge* anderer Ursachen diesel¬
ben hervorrufen können. ( Welche Diagnostik!)
Zweiter Abschnitt. Von den secundären veneri¬
schen Krankheiten. Die Krankheiten, die nach einem
unreinen Beischlafe erfolgen, w-erden, so lange sie ihren
ursprünglichen Sitz einnehmen und nur auf die Geschlechts-
theile sich beschränken, jede mit einem besonderen Namen
belegt. Anders ist es, wenn krankhafte Erscheinungen in
gröfsercr oder kleinerer Anzahl sich in Theilen entwickeln,
die mehr oder w-eniger entfernt von denen sind, welche
der Sitz primärer venerischer Krankheiten waren. Die Pa¬
thologen nehmen alsdann au, dafs diese Zufälle nicht allein
mit jenen, sondern auch unter sich in einem genauen Cau-
salnexus stehen, und dafs sie eine, von allen andern abge¬
sonderte Krankheitsgattung ausmachen; demnach umfassen
sie sie alle unter dem Uollectivnamen : Syphilis, Veröle, con¬
stitutioneile oder allgemeine venerische Krankheit. (Und
doch wohl mit vollkommenem Rechte!)
Erstes
V. \onerische Krankheiten.
113
Erstes Kapitel. Von deu secundären veneri¬
schen Krankheiten im Besonderen. Sie werden zu-
rückgeführt auf die Affectionen des lymphatischen Systems,
des Systems der Schleimmembranen, der Haut, des fibrösen,
des Knochensystems , des Systems der serösen Membranen,
und des Nervensystems.
•>
Artikel L Von den secundären venerischen
Krankheiten, die ihren Sitz im Lymphsystem ha¬
ben. Die secundären Bubonen unterscheiden sich in nichts
von den primären, als dafs sie mehr Neigung haben, einen
chronischen Verlauf anzunehmen. (?)
Artikel II. Von den secundären venerischen
Krankheiten, die ihren Sitz imx System der
Schleimhäute haben. Alle Schleimhäute können in
Folge oder während einer primären venerischen Affectiou
gereizt, entzündet und geschwiirig werden, sogar die Schleim¬
haut des Magens wird oft nicht ver^phont, obgleich sie von
der unmittelbaren Berührung des Giftes nicht afficirt zu
werden scheint. Der Verf. will eben dieser Reizung das
Verborgensein und spätere Hervortreten, das syphilitische
Fieber, das häufig bei Behandlung ohne Quecksilber, noch
häufiger aber bei Behandlung mit diesem vorkomme, zu¬
schreiben. Ein primäres venerisches Geschwür hat selten
so viel Einflufs auf die anderen Schlefmmembranen, dafs es
wirklich Entzündung in ihnen hervorruft, es stimmt sie
nur empfänglicher für andere äufsere Reize; deswegen wird
oft die Schleimhaut des Mundes, der Nase, des Auges, des
Afters, der Sitz consecutiver Reizungen, weil sie äufseren
Reizen am meisten ausgesetzt und von Natur reizempfäng¬
licher sind. (Eine ziemlich gezwungene, auf keine Ana^-
logie gestützte Erklärungsweise, die freilich folgerecht aus
diesem System, aber nicht aus einer vorurteilsfreien Un¬
tersuchung der Thatsachen hervorgeht. Welche Klarheit
bietet dagegen die hergebrachte Lehre vom Contagium, und
eine gemäfsigte Ilumoralpathologie dar!) T hränensackge-
schwulst, Thränenfistcl, Ohrensausen, Ohrenklingen, Lun-
8
xiv. r,d. 1. st.
1 14
V. Venerisc he Krankheiten.
gencatnrrh und Luftröhrenschwindsucht können siel» auf
diese Weise in Folge syphilitischer Heizung benachbarter
Schleimhäute entwickeln; eben so Asthma, Hämoptysis,
Lungenentzündung, Lungenschwindsucht, nicht minder Iri¬
tis, Hypopion, Cataracta und Glaucom, venerische Auszeh¬
rung und Atrophie. Indem ich, sagt der Verf. darauf,
diese lange Reihe pathischer Krschcinungen , welche viele
Schriftsteller, namentlich Astruc und seine Nachfolger,
unter die Folgen der venerischen Krankheiten zählen, auf-
slelle, hin ich weit entfernt zu behaupten, dafs ihre Ver¬
bindung mit diesen letzten (obgleich, streng genommen,
möglich) in die Augen springend, bewiesen, oder selbst
immer wahrscheinlich sei. Man beobachtet sie o fl genug,
das ist wahr, bei Subjecten, welche von der venerischen
Krätze befallen waren oder es noch sind, aber, die Rchaud-
lungsweise, die Prädisposition, der directe Einflufs äufserer
Reize auf die Organe, und der von Krankheiten anderer
Theile des Körpers, mit denen diese in genauer Wechsel¬
beziehung stehen, sind gewifs die Haupt-, vielleicht die
einzige Quelle derselben. (??) Indessen schadet diese Dun¬
kelheit der Analogie nichts, oder gerade, weil sie dunkel
ist, glaubt man die Schwierigkeit zu heben, indem man
den zweifelhaften Fall als eine verlarvte, maskirte, verbor¬
gene oder gar entartete Svpbilis betrachtet. Fs wäre ver¬
ständiger gewesen, die Verbindung, welche die für syphi¬
litisch erklärte Affection mit der vorhergehenden venerischen
Krankheit hat, in ein klares Licht zu setzen; man würde
bald eingesehen haben, dafs diese Verbindung nur habe
können angenommen werden, wenn es keine andere Weise
gäbe, die krankhaften Symptome zu erklären, und wenn es
unmöglich wäre, diese dem unmittelbaren Einflüsse äufserer
Ursachen auf die Organe, welche der lieerd derselben .sind,
oder dem sympathischeu Einflüsse auf anderen Organen haf¬
tender Heizungen, zuzusthreihen ; doch die gewohnte Me¬
thode verträgt sich besser mit der Trägheit des mensch¬
lichen Geistes. Hunter war sehr durchdrungen von dieser
V. Venerische Krankheiten. 11 5
WTahrheit, indem er behauptete, dafs, so wie eine Krank¬
heit sich zeigt., über welche der Arzt in Verwirrung gc-
räth, sich gleich die venerische seinem Geiste darstellt.
Wenn, fügt er hinzu, diese Idee ihn zu einer genauen Un¬
tersuchung vermöchte, so wäre das ein Vortheil, aber in
den meisten Fällen dient sie nur, ihn selbst zu befriedigen.
Artikel III. Von den secundären venerischen
Krankheiten, welche ihren Sitz im Hautsystem
und dessen Anhängsel haben. Nachdem der Verf. die
verschiedenen Formen von syphilitischen Exanthemen, von
der Ephelis bis zur Lepra syphilitica aufgeführt, und die
verschiedenen Ausgänge derselben dargestellt hat, fährt er
fort: Der Gebrauch hat es mir zum Gesetz gemacht, diese
enorme Reihe exanthematischer Krankheiten, welche man
gewöhnlich als Symptome der Syphilis betrachtet, aufzu-
fiihren; aber, auf welche Indicien ist die nahe Verbindung
v 7 ' ' Ö
zwischen ihnen und den primären venerischen Krankheiten
gegründet? Man mufs gestehen, dafs sie nur auf Hypo¬
thesen beruht, als z. B. die vorgegebene specielle Kupfer¬
farbe der Eruptionen, welche nicht allein allen denen an¬
gehört, welche zum Bereich der Syphilis gezählt werden,
sondern welche auch in einem mehr oder minder hohen
Grade bei den meisten oberflächlichen und chronischen
Entzündungen der allgemeinen Ilautbedeckung Vorkommen.
Weder in der Art der Veränderung der Haut, noch in der
Farbe oder Ausdehnung der Affection, noch in ihrem Sitze
liegt etwas, was über die Ursache abzusprechen berechtigt,
von der sie entspringe. Selbst die früheren Zufälle und
die begleitenden Symptome an den Geschlechtslheilen füh¬
ren nur zu Wahrscheinlichkeiten, und geben keine Ge-
wifsheit, weil einerseits das Exanthem durch eine andere
Reizung hervorgerufen worden sein kann, als durch ört¬
liche venerische Krankheit, welche man jetzt oder vor kur¬
zem bei dem Subjekte bemerkt hat, und weil auf der an¬
deren Seite dasselbe zuweilen so sehr der Krätze, gewis¬
sen Abarten der Tinea, oder den Flechten gleich!, dafs mau
8 *
116
V. Venerische Krankheiten.
es nicht davon unterscheiden kann. (Die Kritik dieser ge¬
wagten Aussprüche überlassen wir billig unsern Lesern.)
Die Reizungen der Yerdauungswerkzeuge haben häufig
Hautausschläge zur Folge, welche ins Unendliche abweichen.
Ohne von den scorbutischen Flecken, welche selten Vor¬
kommen, oder von den Petechien zu reden, welche gegen
das Ende heftiger Gastro- Enteritis auftreten, ist es jedem
bekannt, dafs gewisse Nahrungsmittel, gegohrnc warme
Getränke, Eingeweidewürmer, hartnäckige Verstopfung, zu¬
weilen mit aufserordentlicher Schnelligkeit Veränderungen
in der Farbe und Texiur der Haut erzeugen. Eben so
erzeugt Reizung des Darmkanals und Zahnreiz bei Kindern
die Crusta lactca, heftige Leidenschaften , Hypochondrie,
Rheumatismus, Reizungen der Geschlechtstheile, durch Ma¬
sturbation, Entwickelung der Pubertät, Unterdrückung der
Menstruation, die letzte Zeit der Schwangerschaft oder die
erste Zeit nach der Entbindung, bringen ebenfalls derglei¬
chen Ausschläge hervor.
ln der Mehrzahl der Fälle sind nach dem Verf. die
Exantheme Folge einer vermehrten Lebcnsthätigkeit der
Verdauungsorgane, (??) jedoch erscheinen sie auch bei Af-
fectionen der Geschlechtstheile. Man ist gewohnt zu ver-
muthen, dafs sie syphilitisch sind, wenn sie in Folge pri¬
märer venerischer Zufälle erschienen, wenn sie auftreten,
nachdem andere für syphilitisch gehaltene Zufälle erschienen
sind, oder grofse Fortschritte gemacht haben, oder selbst
dann, wenn der Kranke sich der Gefahr der Ansteckung
ausgesetzt hatte, oder wenn seine Eltern von irgend einer
dieser Krankheiten befallen gewesen sind. Die Aetiologie
ist also (?) sehr ungewifs, und, um vieles mehr, wenn
man bedenkt, wie die Behandlung venerischer Krankheiten
so oft die Schleimhaut des Darmkanals reizt. Man kann
also, fügt er hinzu, nur dann Grund haben, einen unmit¬
telbaren Lausalnexus zwischen einem Exanthem und einer
primären venerischen Krankheit anzunehmen, wenn das
Examen des Kranken nicht den Einllufs einer anderen inne-
V. Venerische Krankheiten. 117
ren Reizung in Verdacht zu haben erlaubt, was zu dem
Schlüsse führt, dafs dieser Fall äufserst selten ist. (?)
Indem der Verf. nun noch die verschiedenen Formen
von Hautgeschwüren, die Knoten, Tuberkeln, das Ausfallen
der Ilaare und Nägel beschrieben hat, wendet er sich im
Art. VI. zu den secundären venerischen Krank¬
heiten im fibrösen Syst em. Herumziehende Schmer¬
zen in den Gelenken und in der Gontinuität der Glieder
offenbaren sich oft bei Entzündungen der Schleimmembran
der Geschlechtstheile, besonders wenn sie in der Zunahme
begriffen sind, oder wenn ein Ausflufs der Art unterdrückt
wird, oder selbst nach dem Beischlaf. Sie beruhen auf
einer Sympathie zwischen Geschlechtstheilen und dem fibrö¬
sen System, und man sagt nie von ihnen, dafs sie Sym¬
ptome der Syphilis seien, nennt sie blofs sympathisch oder
nietastatisch, während man andere Schmerzen , welche wäh¬
rend des Verlaufes venerischer Zufälle, oder kürzere oder
längere Zeit nachher auftreten, für unzweifelhaft syphilitisch
erklärt, sie mögen acut oder chronisch sein, fix oder her¬
umziehend, anhaltend oder aussetzend, oberflächlich oder
tief. Man kann sie, besonders wenn sie mehrere Jahre
nach den primären Affectionen erfolgen , dann eher als
Folge von Reizung der Eingeweide, oder eines Catarrhal-
fiebers, übler Behandlung, zu grofsen Gaben Quecksilbers,
dem Aufenthalt in feuchter Kälte, ansehen.
Von den secundären venerischen Krankhei¬
ten im Knochensystem (Art. V.) schreibt man die
Exostose einer venerischen Ursache zu, wenn man keine
andere finden kann; auch Delpech ist der Meinung, dafs
in diesem Falle der Einflufs der Syphilis auf den einer ein¬
fachen Reizung beschränkt werden müsse. Die Caries hält
Delpech ebenfalls nicht für Folgekrankheit der Syphilis;
wenn sie damit zugleich vorkomme, so sei das zufällig und
eine einfache Complication. Der \erf. leugnet das Vor¬
kommen der Caries sowohl als der Necrose, als Folgekrank¬
beit der primären syphilitischen Affection. Uebrigens scheint
1 IS
V. Venerische Krankheiten.
es ihm, Hals man bloL aus Gewohnheit die Verletzungen
des knochcngewebes unter die secundären venerischen Krank¬
heiten rechnet, denn man giebt zu, dafs sie seltener ge¬
worden sind, seit man rationellere Heilmethoden befolgt,
d. h. in anderen Ausdrücken: dals ihre frühere Häufigkeit
von der Behandlung abhing, und man giebt dadurch Befug-
nifs zu glauben, dafs sie auch beut zu Tage noch häufig
aus dieser Quelle entstehen. Wirklich sahen Bose, Gu¬
thrie und Thomson sie nie bei den Kranken, die ohne
Quecksilber behandelt waren, so dals sie solche für eine
Folge des Einflusses dieses Metalles auf den Organismus
halten. Der Mercur bringt, nach ihm, allein solche Krank¬
heiten hirvor; Fallopius, Fernei und Pauimier sagen
geradezu, dafs die Affectionen der Nase und des Gaumens
von der Mercurialbehandlung herkommen, und dafs sie nie¬
mals auftreten, wenn man andere Gurmethoden befolgt,
llunter sprach sich ebenfalls dahin aus.
Von den secundären venerischen Krankhei¬
ten im serösen System. (Art. VI.) llydrocele, par¬
tielle Peritonitis, Hydrartbrosis, Pleuresie, Ilvdrotborax,
Phrenesie, Hydrocephalus, Ascites, Aneurysmen, Ilerzklo*
pfen, und Vegetationen auf den Klappen dieses Organs und
auf der Placenta, mit einem Worte, der grüfste Theil der
Krankheiten sind unter Syphilis zusammengebracht, was um
so leichter war, als beim jetzigen (:') Zustande unserer
Sitten man selten einen Mann findet, der nicht mit ver¬
dächtigen Frauen Umgang gehabt hätte. Wenn man übri¬
gens dieser ätiologischen Zullucht beraubt ist, so bleibt
noch die übrig, dafs man die Ursache auf die Eltern uud
Grofseltern schiebt!
Von den secundären venerischen Krankhei¬
ten i in Nervensystem. (Art. VII.) Taubheit, Stimm¬
losigkeit und Banhigkeit gehören nicht hierher, weil sie
von Reizung der betreffenden Scbleimmeinbranen abhängen.
Amaurose, Schlagfluls, Lähmung und verschiedene Geistes-
zerrüttungeu sind unter die Folgekrankheiten der Syphilis
Vf. Offkindle T liiere.
119
gezählt, weil sie Lei Personen Vorkommen, die mit primä¬
ren venerischen krankheilen behaftet waren, oder weil
sie der Mercurialbehandlung wichen; beides unzureichende
Gründe, um eine noth wendige ursächliche Verbindung zwi
sehen diesen Krankheiten anzunehmen. Aber, so zweifel¬
haft es auch ist, dafs die Syphilis jemals die Quelle von
Geisteszerrüttungen werde, so gewifs ist es, dafs sie bei
einer grofsen Zahl von Kranken, und besonders bei vielen
Aerzten (auch in Deutschland?), eine Geistesverwirrung
hervorbringe, welche darin besteht, dafs sie in allen dun¬
keln Krankheiten, die ihnen begegnen mögen, eine verbor¬
gene, verlarvte oder entlarvte Syphilis sehen, während die
anderen, beherrscht von dem allgemeinen Glauben , dafs die
venerischen IJebel, welche Behandlung man ihnen auch
entgegengestellt haben möge, immer eine Spur von conta-
giöser Hefe zurücklasse, welche im Stande sei, früher oder
später neue Zufälle hervorzubringen , sich über die geringste
Unpäfslichkeit, die ihnen zustöfst, erschrecken, sie für einen
Beweis der Ansteckung halten, und ihr Leben in beständi¬
ger ängstlicher Spannung hinbringen. Möchte ich, sagt
der Verf. , dazu beigetragen haben, diese beiden Vorurtheile,
welche viele Menschen so unglücklich machen, welche in
so viele Familien Unruhe und Verwirrung bringen, wenn
nicht zu zerstören, doch zu schwächen!
Stacke.
-f
(Fortsetzung J o t g t. )
I 0
Getreue Darstellung und Beschreibung der
Thiere, welche in der Arzneimittellehre
in Betracht kommen. Von Dr. J . F. B r a n d t
und Dr. J. T. C. Ratzeburg, ausübenden Aerz-
120
\ I. Oflicitielle Tluere.
t <! 1 1 in Berlin, Ehrenmitgliedem »los Apothokcr-
vereins im nördlichen Deutschland. Drittes und
viertes Heit. Berlin, aut Kosten der Verfasser.
Gedruckt hei Trowitzsch und Sohn. 1828. 4.
S. 77 — 140. Tafel XI — XVIII. ( 1 Tldr. 8 Gr.)
Hef. kann sich bei Anzeige dieses dritten und vierten
Heftes kurz fassen , da er sich schon bei der Anzeige der
beiden erstem ( vergl. lkl. IX. S. 55, und Bd. XI. S, 244
d. A.) ausführlich über Plan und Inhalt dieses Werkes aus¬
gesprochen hat.
Das dritte Heft beginnt mit der schon im vorigen an¬
gefangenen Beschreibung des gemeinen Büffels, Bos Buba-
lus. Darauf folgt Sus Scrofa. Den Beschlufs der Säuge-
thiere macht die Familie der Cetaceen, unter welchen die
Verf. zuerst mit der Gattung Pbyseter beginnen. Bei der
grofsen Unbestimmtheit, welche noch gegenwärtig über die
Arten der Pottfische in zoologischer Hinsicht herrscht,
haben es sich die Verf. sehr angelegen sein lassen, durch
genaue Zusammenstellung und Vergleichung der verschie¬
denen Nachrichten eine genauere Bestimmung der einzelnen
Arten zu gewinnen, unter denen sie Ph. macrocephalus,
Ph. Trumpo und Pb. polvcvpbus besonders beschreiben.
Leber den noch nicht ganz bestimmten Ursprung der bei¬
den von diesen Thieren kommenden arzneilichen Stoffe,
den Wallrath und die Ambra, geben sie Folgendes an:
Die Wallrathbehälter finden sich in einer grofsen, mulden¬
förmigen Aushöhlung der oberen Flache des Schädels. Ent¬
fernt man nämlich die äufsere Haut des Kopfes, so stufst
man zunächst auf eine 4 — 5 n hohe Spccklage, welche
eine dicke, feste, sehnige Masse bedeckt, nach deren Weg-
* nähme man auf eine zweite, handhohe Sehnenausbreitung
gelangt, die von der Schnautze bis zum Nacken sich er¬
streckt. Entfernt man dieselbe, so kommmt man auf zel-
lige, von ihr selbst durch zahlreiche perpendiculärc Fort¬
sätze gebildete Räume, welche die ganze Oberfläche des
VI. Officinelle Thiere.
121
\
Kopfes bedecken und eine ölige, helle, weifse Flüssigkeit,
den flüssigen Wallrath, enthalten. Unter dieser Wallrath
enthaltenden Zellschicht liegt eine zweite, die nach der
Gröfse des Thieres 4 — 1~ Fufs dick ist. Die Wallrath¬
behälter werden in der Nasengegend schmaler, und gegen
den Hintertheil des Kopfes breiter und breiter. Die Kam¬
mern hängen durch Oeffnungen mit einander zusammen.
Aufser diesen grofsen Wrallrathzellen , die oft über 50 Cent-
ner Wallrath liefern sollen, soll noch, nach Anderson,
ein mit WTalIrath gefüllter Behälter vom Kopfe zum Schwänze
laufen. — Nachrichten, die auf Ambra absondernde Organe
sich beziehen, werden von mehren Schriftstellern ange¬
führt, und die Yerf. sind geneigt, diese für die Harnblase
zu halten, wenn sie gleich auch eine Entstehungsweise des¬
selben im Darmkanale zugeben. Indessen wird der Ambra
nicht allein im Körper der Pottwalle gefunden, sondern
auch, wie bekannt, auf dem Meere frei schwimmend, oder
auf den Küsten zerstreut.
Darauf lassen die Yerf. die Gattung Balaena folgen,
von welcher sie, aufser einigen andern in den Anmerkun¬
gen erwähnten Arten, ausführlich Bai. Mysticetus, Bai.
Boops, Bai. rostrata und Bai. longimana beschreiben.
S. 135 folgen einige Nachträge zur Klasse der Säuge-
thiere, die Anatomie der Geschlechtstheile des Bibers, uud
die Beschreibung des Moschusthieres betreffend.
ln der nun folgenden Klasse der Yögel beginnen sie
mit Gallus Bankiva, dem wilden Haushuhn, womit das
vierte Heft schliefst.
G. H. Richter.
% \
122
\ 11. Wasserlenchch
VII.'
I 0 I 9
Die Heilkräfte des W asserfenchclsaameu s,
besonders in Lupgensuchteu, im Psoasa bscesse,
in äufseren Geschwüren und im Keuchhusten;
dann: die wurmwidrige Eigenschaft des
Krotonöls. \on Dr. C. \\ eniel, prakt. Arzte
in Volkach. Erlangen, hei Palm und Enke. 1828.
. 8. 136 S. (12 Gr.)
Nachdem der Verf. den botanischen Charakter des Phrl-
landrium aquaticum angegeben hat, iheiit er die chemi¬
sche Analyse mit. Hin Pfund enthält 2 Scrnpel ätheri¬
sches Oel, 1 Unze gummösen Stoff, 1^ Drachme harzigen
Stoff und Drachmen Extractivstoff. Seine Wirkung
ist reizend und etwas narcotisch, daher wirkt er afi f die
Nieren und die Absonderungen überhaupt. Man gitbt ihn
innerlich: in Pulver zu 4, 6 — 12 Scrupel täglich, oder
in Latwerge, oder in Pillen, weniger passend im Aufgufs.
Die von Hosenmüller empfohlene Tinctur bereitet Mar¬
tins in Erlangen aus dem lnfusum einer halben Unze Saa-
men mit 6 Unzen Weingeist, dem er nach sechsstündiger
Digestion 6 Unzen Muscatwein zusetzt und das Ganze noch
24 Stunden digerirt. Aeuferlich wendet der Verf. das
lnfusum oder das Decoct (unpassend) an. Er empfiehlt mit
Langen u. a. den Wasserfenchel in folgenden Krankhei¬
ten: 1 ) in der Lun gen sucht, besonders in der schlei¬
migen, wo er zuerst von Marcus llerz empfohlen werde,
und in der, welche nach zurückgetretcnen Ilautausschiägen
oder nach rheumatischen und catarrhalischen Lungenent¬
zündungen entstand. Hier nützt er durch seine narcoti-
schen und reizenden, alle Secretionen betätigenden Eigen¬
schaften, beruhigt, verbessert den Auswurf, befördert die
Llrinabsondcrung und unterstützt die Keproduction. Uu-
passend ist er in der tuberculösen Lungensucht (die aber
123
VII. Wasserfenchel.
j ' ,/
gerade die häufigste ist!), doch pafst er hei der Anlage
dazu (?). Bei der schleimigen Lungensucht gieht er ihn
mit Digitalis, Lichen island. , China, Chinin, sulphuricum,
Myrrha, hei der nach zuriickgetretenen Hautausschlägen ent¬
standenen mit Schwefel, und hei allen Arten mit Gersten¬
brei (nach Thilenius und. II u fe la n d). Dreiundzwanzig
Krankengeschichten beweisen zum Theil den Nutzen des
Wasserfenchels. Acht Kranke starben. (Eine ähnliche
Wirkung haben die sogenanuten L i eb e rschen Kräuter, die
bekanntlich aus den Blättern, Blüthen und Stengeln der
Galeopsis grandiflora bestehen; nur sind sie milder
und weniger erhitzend. Ref.) — 2) Im Psoasabscesse;
er beobachtete zwei Fälle, in denen der Abscefs sehr viel
schlechten Eiter lieferte, und hectisches Fieber zugegen
war. Mit dem Gebrauche des Wasserfenchels besserte und
verringerte sich die Eiterung, der Urin ging stärker und
trübe ab, und die Heilung erfolgte sehr bald. Er empfiehlt
ihn auch bei nicht aufgebrochenen Lumbarabscessen , allein
die Unterlassung des Oeffnens ist nicht angerathen, da man
durch das künstliche Oeffnen der Natur die Entfernung des
Eiters erspart, und das Eindringen der Luft durch das Vor¬
schieben der Haut verhüten kann. — 3) Bei äufseren
Geschwüren (besonders scrophulösen und scorbutischen ).
4) Im Keuch b usten und iVsthma spasm o dicum. Die¬
ses einheimische Mittel verdient seiner Wohlfeilheit wegen
nicht nur in den genannten Krankheiten, sondern auch bei
Scropheln, Lymphabscessen , angehenden Scirrhen, Diar-
rhoea torpida, Amenorrhoe, Fluor albus, Nachtripper, Ca-
tarrhus vesicae u. s. w. die Aufmerksamkeit der Praktiker. —
Sch lielslich empfiehlt der Verf. das Crotonöl innerlich
und äufserlich als Wurmmittel; die von ihm angegebene
Dosis ist aber zu stark, und die Form unpassend. Am
besten ist die Pillenform.
124
VIII. Dissertationen.
VIII.
Dissertationen.
I. Der Universität Königsberg.
Observatio circa ingentem cor dis tumorem. Spee.
inaug. auct. Carol. Re in hold. Bernhard i, Rcgio-
montano. Def. d. 28. Septbr. 1826. 8. pp. 32. Cum
tabula lignea.
Enthält einen interessanten, wenn auch aus Mangel
der nüthigen Angaben nicht vollkommen genügend beschrie¬
benen Fall von aneurysmatischer Afterbildung des Herzens.
Wir haben in den letzten Jahren so viele Fälle von Herz¬
krankheiten beschrieben erhalten, dafs fernere Mittheilungen
nur durch eine sehr genaue Angabe, namentlich der sich
bildenden Krankheit, von Werth sein können.
De monstroso vituli sceleto. Diss. inaug. auct.
Meyer. Ezechiel. Blumenthal, Mitavia - Curono.
Def. d. 28. Septbr. 1826. 8. pp. 36. Cum tabula litho-
graphica.
Ein seltener Fall einer complicirten Monstrosität, den
wir, da dieser Dissertation anderswo, so viel Bef. weifs,
noch nicht gedacht worden, hier mit des Verf. AN orten
wiedergeben : Columna vertebrarum inde a principio in
altum tendens, ne dimidium quidem longitudinis suae asse-
cuta, arcuatim, concavitate in sinistro, convexitate in dex-
tro animalis latere, sinistrorsum vertitur, unde pars arcus,
quae caudam continet, pari aequore, sed horizontali cum
parle capite continuata eidemque magis magisque appropiu-
quando usque ad caput procedit ibique in regione maxillac
inferioris ad perpendiculum fere cauda excurrit. Coj>lae
utriusque columnae lateris retroversac sunt cadcni(|uc
dircctione ac proccssus spinosi tergum versus tendunt et
V III. Dissertationen.
125
liberis extremitatibus finiuntur, quo fit, ut arcus vertebra-
rum dorsi cum processibus suis obtegantur ct corpora de-
nudata appareant. Scapula utraque quoque retroversa, loco
suo remota maxima ex parte a costis tecta est. Accedit
huc coalitus plurimarum sinistri lateris costarum itemque
plurimorum processuum spinosorum. Pelvis a latere sinistro
disiunctis ossibus pubis longeque a se distantibus posita est.
De Talpae europaeae oculo. Diss. inaug. zootom.
auct. Aug. Guilielm. Koch, Lubraniecensi. Def. d.
30. Octbr. 1826. 8. pp. 46. Cum tabula aeri incisa.
Eine sehr vollständige, auf eigene Untersuchung ge¬
stützte Beschreibung des Auges vom Maulwurfe.
De Chymosi. Pars prior. Diss. inaug. physiolog. auct.
Frideric. Jac. Behrend, Neosedino-Pomerano. Def.
d. 31. Octbr. 1826. 8. pp. 54.
De Metastasi lactea. Diss. inaug. auct. Aug. Ed.
Mette, Schoeppenstadia-Brunscicensi. Def. d. 1. Septbr.
1827. 8. pp. 28.
Enthält eine von Hrn. Dr. Dulk unternommene Ana-
/j
lyse der milchartigen Flüssigkeit, welche sich im Unterleibe
einer an sogenannter Milchversetzung verstorbenen Wöch¬
nerin vorfand.
'lTr7rox.(>ctT6v<; 7n£i vovirov ßlßXtov. Recensuit , novam
interpretationem latinam notasque addidit Fridericus
Dietz. Lipsiae, sumptibus Leopoldi Vofs. 1827. 8.
pp. 184.
Diese, zur Erlangung des Doctorgrades am 13. Sep¬
tember 1827 vertheidigte Schrift, ist schon in diesen Anna¬
len (Bd. XII. S. 259.) angezeigt worden.
De Natura delirii trementis. Diss. inaug. auct. Jo an n.
Jacoby, Regiomontano. Def. d. 20. Septbr. 1827. 8.
pp. 35.
126
VIII. Dissertationen.
De Varia pelvis feroinarum forma. Diss. inaug. amt.
Sam. Dav. Cohn, Gedanensi. Def. d. 5. Octbr. 1 SU7.
8. pp. 31.
Ein dankenswerter Reitrag zu einer vergleichenden
Beschreibung des weiblichen Beckens. ISach den vom Yerf.
angestellten Ausmessungen zeigt das Becken ostpreufsischer
Frauen folgende Dimensionen : Conjugata I \ " , Querdurch¬
messer der oberen Apertur des kleinen Beckens 5j", ge¬
rade Durchmesser der unteren Apertur 4£ ", Abstand des
Oss. coccvg. von der vom unteren Bande des Schaambogcns
geführten Horizontallinie Höhe des Beckens vom
Promont. Oss. sacr. bis zur Spitze Oss. coccvg. 4",. Incli-
nationswinkel der oberen Apertur 45°, der unteren 20 °.
De Anodontarum et unionum ovi ductu. Diss. in¬
aug. zoot. auct. Alb. Constant. Neu mann, Mariae-
Insulano. Def. d. 18. Octobr. 1827. 8. pp. 30.
Eigene Untersuchungen enthaltend, die wir indefs hier,
da sie dem Zwecke dieser Annalen fremd sind, übergehen
müssen.
V y
De A u r i , potis wmum a u r i m u r i a t i c i , u s u in m c -
dicina. Diss. inaug. auct. Constant. Aug. Hilde¬
brand, Wehlavia-Borusso. Def. d. 18. Octobr. 1827.
8. pp. 35.
Ilistoria sectionis caesarea e. Diss. inaug. auct. Isr.
Sam. Davidsohn, Gedanensi. Def. d. 26. Octobr. 1827.
8. pp. 36.
Schon der geringe Umfang dieser Blätter erlaubte dem
Verf. nicht, eine vollständige Geschichte des Kaiserschnittes
zu liefern.
De Filicis maris oleo. Diss. inaug. auct. Herrn. Leone
Maximil. Boretius, Caymen. -Borusso. Def. d. 2. No-
vembr. 1827. 8. pp. 32.
I
VIII. Dissertationen. 127
/ ' =* x
Molluscorum ß o r ussi c o r um synopsis. Diss. inaug.
zoolog. auct. Job. Aug. Guil. Kleeberg, Kutnano.
Def. d. 4. Octobr. 1828. 8. pp. 47.
Ein sehr schätzenswerther Beitrag zu der bis dahin
noch sb sehr vernachlässigten Naturgeschichte Altpreufsens.
Encephaloceles acquisitae cum abscessu cerebri
ohservatio. Diss. inaug. auct. Jac. Lipschitz, Re-
giomontan. Def. d. 8. Novembr. 1828. 8. pp. 39.
Gute Beschreibung eines seltenen, mit dem Sections-
berichte versehenen Falles.
De singulari cuiusdam foetus humani monstrosi-
tate. Diss. inaug. auct. Aug. Sim. Rosenbaum, Re-
giomontan. Def. d. 8. Novembr. 1828. 18. pp. 30.
Beschreibung einer seltenen, durch Verwachsung des
Fötus mit der Placenta bedingten Monstrosität.
. ... • .V
Analecta quaedam ad diagnosin carditidis et pe-
ricarditidis spectantia. Diss. inaug. med. auct. Jul.
Ott. Bergau, Regioraontano. Def. d. 6. Decbr. 1828.
8. pp. 31.
Nonnulla in Hippocratis aphorismum Sect. IV. 57.
* ^ lv / » t \ t I ./
V7T0 (T7rOC.O-[AOV 7] TiTOLVfV £ %0/U.tl/Ct) £V fytV 0 [AiV 0$ X VH
to vovnjftcc. Diss. inaug. auct. Jos. Fr. Sobernheim,
Brombergo-Posnano. Def. d. 14. Decbr. 1828. 8. pp. 36.
II. Der Universität Berlin.
18. Diss. inaug. med. sistens novam de Opii viribus
eiusque antidotis theoriam, auctor. C a r o 1.
Adolph. Frideric. Koepke, Suerin. Megalopolitan.
Def. d. 8. April. 1829. 8. pp. 53.
Der Verf. hat über die Wirkungen des Opiums auf
den menschlichen Organismus reiflich nachgedacht, und mit
lobenswerther Kenntnifs der darüber vorhandenen Litte-
128
VIII. Dissertationen.
ratur das Einzelne nach einer gesunden Kritik zweckmäßig
geordnet. Die durch Klarheit und eine gebildete Sprache
sich empfehlende Abhandlung zerfällt in vier Kapitel: über
die Narcotica überhaupt, über die Geschichte des Opiums,
über die Wirkungen, und über die Antidota desselben. Bei
aller Anerkennung des sonstigen Werthes dieser Disserta¬
tion kann jedoch Ref. die vorgetragene Theorie nicht als
eine neue gelten lassen, denn der Verf. hat sich vorzüglich
an die drei von G. A. Richter aufgestellten Grade der
Wirkungen des Opiums gehalten, und nach diesen die be¬
währtesten Ansichten berühmter Acrzte mitgetheilt.
19. Quaedam de ovariorum morbis. D. i. pa.uolo*
gic. auctor. G u s t a v. A do I p h. Sp i tta, Bcrolinens. Def.
d. 15. April. 1829. 8. pp. 29. Acc. tab. lithographic.
Eine encyclopädische Uebersicht der Krankheiten der
Ovarien mit einem recht interessanten Fall von Degenera¬
tion des linken Eierstocks bei einem jungen Mädchen. Die
beigefügte Abbildung des degeneririen Eierstocks giebt die¬
ser Dissertation für die pathologische Anatomie bleibenden
Werth. '' , ‘ .
20. De Pneumonia typ ho de. D. i. m. auctor. CaroL
Thulemeyer, Gueslphal. Def. d. 18. April. 1829. 8.
n- -1-
21. De Ruptura lienis et de eius certo quodam
easu. D. i. m. auctor. Joann. Carol. Wuestefcld,
Eichsfeldens. Def. d. 22. April. 1829. 8. pp. 31.
Diese Dissertation ist nach den vorhandenen Schriften
mit Fleifs zusammengetragen, und erhält durch einen bei-
gefiigten Fall von Ruptur der Milz, in dem die Diagnose
durch die Section bestätigt wurde, ein besonderes Interesse.
I
J
\ i '4
\
Paracelsus.
Von
D r . F. .1 ahn.
f ß e s c h l u / s. J
«
XV. »So ist in der Krankheit eine der gesund geblie¬
benen Materie feindlich entgegenstehende, fremd gewordene
Materie, und eine der gesund beharrenden organischen Thä-
tigkeit entgegengesetzte von ihr abgefallene Thätigkeit, ein
Krankheitskörper und eine Krankheitsaction ^ also ein Krank-
heitsorganismus gegeben, und die Krankheit erscheint _ als
ein ins Leben eingedrungener, an ihm schmarotzender selbst¬
ständiger niederer Lebensprozefs und Organismus, als After¬
organisation r). «Nun im Menschen, so das Blut bricht,
oder ein Anderes, so wisset vpn selbigem, dafs es irn
Menschen liegt und mit der Haut verdeckt. Das ist so
viel, als es liegt in der Erden. Nun aus dem wächst die
Krankheit, wie ein Kraut aus der Erden. — . So ist eine
Wurzel im Geiste des Lebens; die Krankheit hat eine
- - N
1) So ist nach Par. die Mistel die Kranteif. des Baume«
(K. 56). '
XIV RfJ. 2. St , 9
/
130
I. P a r ;i c I s u s.
Wurzel, von «Irr sie entspringt, wie ein Kraut von einem
Saamen , das abfälll und wieder wächst. — So ist
eine jegliche Krankheit von einem Saamen da, und eine
jegliche Krankheit wächst und ist, ehe sie stirbt, mit dem
Menschen, und so sie erwachsen ist, so ist sie ein Baum
und hat ihre Früchte (2, 343). — ln gleicher Weise,
wie die Kräuter aus der Erden wachsen, Soiatrum, l\osa,
Lactuca, Portulaca, so ist auch im Körper die Generation
der Krankheiten, und also, wie solche Kräuter sich son¬
dern von den anderen, also auch die Krankheiten mit ihren
Geschlechtern und Arten (1, 75) — Wie geiliinkt euch,
dafs die Krankheiten also wachsen und nehmen täglich zu ?
Sehet, wie die Philosophie euch lehret, zu verstehen, wie
das Gras wächst, auch Holz und andere Dinge. Wächst
es nicht aus dem Saamen? Ja! So dann nun aus dem
Saamen, und die Krankheit isl auch aus dem Saamen — so
wächst eins wie das andere (2, 351). — Und so w ifst
denn am ersten, dafs eine jegliche Krankheit einen unsich¬
tigen Leih hat und ist ein Glied des Makrokosmos und des
Mikrokosmos, und ist auch selbst Mikrokosmos und ein
ganzer Mensch, Die Krankheiten werden geschmiedet und
gemacht, wie der Mensch; darum so ist eine jegliche Krank¬
heit ein ganzer Mensch. Also ist der Mensch selbander in
solcher Krankheit, und hat zwei Leiber zu gleicher W ei-^
in einander verschlossen und ist Ein Mensch. ” ')
l) Die Ansicht, dafs die Krankheit als Srhmarotaerpflanie
am thierischen Lebrnshaume betrachtet werden müsse, theilcn
Platon, Heimo nt, Harvcy, Sydenham, unter den Neueren
Kicser, Stark, Hart mann u. s. w. \crgl. Jahn \hnungen
einer allgemeinen Naturgeschichte der Krankheiten. Eisenach, 1K28.
Ich habe, besonders nach dem Vorgänge, des trefflichen Stark,
in der erwähnten Schrift die Ansicht ausführlich erörtert und au
neigen gesucht, wie segensreich sie für allgemeine Pathologie sei.
Hier führe irh noch eine merkwürdige Stelle aus dem trefflichen
Harvey an, die mir erst neulich bekannt wurde: «Ad hunc
paritei modum vivunt fungi arborum et plantar supercrcsccntes.
131
I. Paracelsus.
XVI. Die Form nun , in weicher das Kranksein sieh
darstellt, ist durch zweierlei Momente bedingt und gege¬
ben, einmal und hauptsächlich durch die Natur des befal¬
lenen Organismus und Organes, dann durch die Natur der
einwirkenden Schädlichkeit, der Krankheitsursache. « So
folgt hernach, dals eine andere Krankheit im Bein ist, eine
andere im Fleisch, eine andere im Blut u. s. w. Wie denn
auch andere Würmer im Holz, andere Würmer im Kraut,
andere in Blättern wachsen u. s. w. Und so viel Species
corporales, so viel auch Genera morborum. Denn nach¬
dem das Glied ist, so ist auch die Krankheit, als anders
sind die Würmer des Marks, anders die Würmer des Fin-
geweides u. s. w. Aus solchen Dingen entspringt die Ur-
sach der Krankheiten des IN^enschen « (2, 343 j. Ferner
sind, wie in dem sogenannten Paramirum ausführlich ent¬
wickelt ist, die Krankheiten verschieden, je nachdem kos¬
mische, oder psychische, oder alimentäre, oder als Gift
sich darstellende Potenzen u. s. w. sie hervorrufen und
erzeugen.
XVII. D as Leben ist bei Krankheit bestrebt, sich
>■
selbst zu erhalten und die Krankheit zu bekämpfen und zu
vernichten, und wiederum liegt in der Krankheit selbst die
Tendenz, sich auf Kosten des Lebens zu erhalten und das-
Quinetiam experimur saepius in corporibus nostris cancros, sar-
coses , melicerides aliosque id genus tumores quasi propria
anima vegetativa nutrin et crescere , dura inlerea genumae
corporis partes extcnuantur et raarcescunt. Idque ideo, quia
tumores ist! nutrimentum omne ad se arripiunt , reliquumque
corpus nutritio sueco , ceu genio suo , defraudarft. Unde pha-
gedaenis lupisque inditum noinen. Et fortassis Ilippoe ra¬
te s per to B-etov intellexit raorbos eos, qui ex veneno
seu c o n t a g i o oriuntur, quasi i 1 1 i s v i t a q u a e d a m
insit principiu ui que divinum, quo sese ad äuge aut
aliosque s i b i s i m i 1 e s raorbos e t. i a m in a 1 i e n o cor¬
pore per eontagium generent. Adeo ( ait Aristoteles)
animae plena sunt omnia!» —
9 *
N
I
132 1. Paracelsus.
selbe zu untergraben und 7.11 zerstören. So ist bei jeder
Krankheit ein salntare naturae conamen nicht zu verkennen.
«So eine Krankheit im Leibe ist, so müssen alle gesunde
Glieder gegen sie fechten, nicht eines allein, sondern alle;
denn die Krankheit ist ihr aller Tod. Das merkt die Na¬
tur, drum so fkht sie wider die Krankheit mit aller Macht,
so sie vermag. Drum so bedenket, mit was Gewalt die
Natur sich wider den Tod sträubt, dafs sie (als Mikrokos¬
mos) 7.11 Hülfe nimmt Himmel und Erden und alle ihre
Kräfte und Tugend, dem Erschrecklichen zu widerstehen,
denn erschrecklich ist er, gräulich und streng. »» «Quin
ea benignitas Naturae est, ut, etiamsi quis ad morbum dis-
positus sit, imo eo jam quasi laboret, non tarnen statiin
morbum saevire vel adaugeri patiatur. Omne enim, quod
ruinam minatur, ipsa Omnibus modis suffulcire conatur.
Siquidem Naturam constat, ubicunque possibile est, cor¬
poris nostri structuram sartani tectamque servare couari. "
(3, J23).
XVIII. Siegt das AfterTeben des Krankheitsprozesses
in dem erwähnten Streite, so entsteht Tod; siegt das Le¬
ben selbst, der Archäus, so entsteht Genesung. Das Leben
scheidet hierbei das fremde schmarotzende Leben der Krank¬
heit von sich, wie der Alchymist das unreine Metall vorn
Golde scheidet (3, 117). In der Krisis werden dann die
Reste des Krankhcitsorganismus aus dem Körper geführt,
so dafs das Leben von der ihm anklebendcn Hefe gerei¬
nigt wird.
XIX. Der Mensch ist Mikrokosmos (X.). Somit wer¬
den auch seine' Krankheiten ihre Vorbilder in der grofsen
.Welt haben. In der That finden sich in der Natur stür¬
mische Vorgänge, die Alterationen derselben, Dellexionen
von dem gewöhnlichen Gange der Dinge anzeigen, Erd¬
beben, liebersehwenimungen u. dergl. Diesen Vorgängen
ähneln und entsprechen die Krankheitsprozesse. Dies ist
V »
I. Paracelsus.
133
die microeosmica consensio r). So ist der Scblagflufs gleich
«dem himmlischen Strahl,» dem Blitze (4, 81). Die epi¬
leptischen Paroxysinen gleichen den Erschütterungen des
Erdballes, dem Erdbeben (4, 19). Wie in der äufseren
Natur, so entstehen auch im Körper Würmer. Die Erzeu¬
gung fester Concremente im Körper, die Steinbildung und
dergl., äbnelt der Hagel-, Schnee-, Reifbildung, der Er¬
zeugung der Meteorsteine (4, 74. 104, 105). Die Ent¬
stehung der Blähungen lafst sich gleichen der Entstehung
der Winde (4, 76. 132.), die Bildung und das Zerfliefsen
der Scirrhen und anderer Geschwülste dem Gefrieren und
Aufthauen des Wassers (1, 108.), die Bildung des Was¬
sers bei Wassersucht und die Heilung durch das Caliduin
innatum, den Archäus, der Regenerzeugung, die, Maafs
und Ziel überschreitend, Fluthungen und Ueberschwem-
mungen setzt, und der Verflüchtigung und Verdunstung des
auf der Erde übermäfsig angehäuften Wassers durch die
wärmende belebende Sonne (4, 64. 65. 67. 242.); ferner
die Verschwärung dem Rosten der Metalle (2, 244.), das
pestilenziale Fieber vulkanischem Feuer, den Blitzstrah¬
len, die da zünden (3, 92.), die Abzehrung dem norm¬
widrigen Verdorren und Ilinweiken der Gewächse (4, 68.)
u. s. w. ~),
1) Dieweil der Mensch Mikrokosmos ist, so sind auch in
ihru die Generationen der äufseren Welt — mit seinem Un-
I
terscheid» (1, 105). «So der Mensch will wissen den Men¬
schen und ihn erkennen in seinen Krankheiten, der mufs aller
der Dinge Krankheiten wüssen, so die Natur in der grolsen Welt
leidet» (1, 46). «Die Physica ist gleich in den Krankheiten
der Wrelt und der Menschen.»
• '/ 1
^ 2) «Alles wiederholt sich nur im Leben,» und so hat der
zu frühe verstorbene geistreiche Marcus auch in neuerer Zeit
wieder den Versuch gemacht, die Krankheitserscheinungen stür¬
mischen Naturerscheinungen zu parallelisiren. Ich habe nicht
ohne Interesse die von ihm gegebene Vergleichung zwischen dem
i
134
1. Paracelsus,
9
I
\X. Geschehen im Innern «1er Knie, oder in der
Luft, oder im Wasser grolse neue Bildungen , z. B. Me
teorsteinbildung , lnselbildung, so kommen dabei namhafte
Krschütterüngeti und grofse stürmische Bewegungen vor.
Dieselben zeigen sich auch, wenn die irrdische Materie
imler der Ilnnd des Alchyinislen neue Formen annimmt *).
Auf gleiche Weise entstehen stürmische Lchensbewegungen,
wenn sich Krankheitsprozesse im Körper entwickeln, und
diese Bewegungen bei I sen Fieber, wiewohl die gemeinen
Aerztc mit diesem W orte grofsen Mißbrauch treiben 3).
Besonders bezieht sich die gegebene Deutung auf das Frost¬
stadium des Fiebers. So erscheinen denn die Fieber gleich¬
sam als Krdbeben des Mikrokosmus l).
Zugleich ist zu bemerken, dafs bei jeder Krankheit
Verderbnils der organischen Materie statt findet, und dals
diese verdorbene Materie gleichsam «als eio Excrement und
als liefen dem Körper anhaftet, dafs aber das Leben, sich
selbst zu erhalten eifrig bestrebt, das Unreine auszustofsen
sucht, und dafs dieses Streben in stürmischen Lebensbewe¬
gungen, in Fieber, sich äufsert. Diese Deutung bezieht
sich besonders auf das Hitze- und Krisenstadium des Fie-
bers. ln der erwähnten Beziehung erscheinen denn die
Fieber als heilsame Naturbemühungen, daher sie sich auch
selbst heilen *).
Fieber- und F.ntzündungsproiesse und den im Gewitter «ich aus-
sprechendcn grofsen elektrischen Spannungen in der Atmosphäre
gelesen.
1) * III, 55. ,
2) III, 173 ‘
3) Fcbres sunt terrae motus Arcbaei.
4) Si infectum (a fnateria peccante ) corpuj tremorem pa-
titur — non nisi per motum corporis, quasi terrae pote«t egrr«-
jum facerc. Quod si incipit pro expulsione, iain motns terrae,
i. c. corporis; uique puo putredo ad locum, sc. per egestionciu,
I
I. Paracelsus. 135
XXI. Genesung entstellt dadurch, dafs das Leben,
der Archäus, des in ihm Abweichenden mächtig wird, es
besiegt (XVIII.). Dies ist die Heilkraft der Natur. Sie
thut sehr oft Alles in Allem, wie Hippokrates sagt; oft
aber kommt sie auch nicht zum Ziele, oder erliegt sogar,
ln den letzten Fällen ist sie auf alle Weise zu unter¬
stützen. — ln dem Angegebenen ruht die Grundidee der
Therapeutik. — — « Also ist der Mensch sein Arzt selbst.
Denn so er der Natur hilft, so giebt. sie ihm seine Noth-
«hirft. Denn so wir am Gründlichsten ailen Dingen nach-
denken, so ist unsere eigene Natur unser Arzt selbst, d. i.
sie hat in ihr, das sie bedarf. Seht von aufsen an die
Wunde. Was gebricht der Wunde? Nichts, als allein
«las Fleisch. Das mufs von innen heraus wachsen, und
nicht von aulsen herein. Drum so ist die Arznei der
Wunde allein ein Defensiv, dafs die Natur von aufsen keine
Zufälle habe und ungehindert bleibe in ihrer Wirkung.
Also heilt sie sich selbst und ordnet und ebnet sich selbst,
als dann die Chirurgie ausweist und lehrt der erfahrenen
Aerzte. Denn Mumia, der Balsam, der die Wunden heilt,
ist der Mensch selbst. Mastix, Gummi, Glätte u. s. w.
vermögen nicht einen Tropfen Fleisch zu geben, aber zu
defendiren die Natur, dafs ihr Vornehmen gefördert wird.
Nun also Bt es auch rnit den Krankheiten. So die Natur
allein defendirt wird, so ist sie die, die alle Krankheiten
selbst heilt. Denn sie weifs, wie sie die heilen soll. Der
Arzt mags nicht wissen. Drum so ist. er allein einer, der
der Natur Beschirmung giebt. So sind in der Natur so
destlnata fuerit. Deinceps calor sequitur etc. (3, 143.) — Omnes
febres veniunt a faecibus (3, 251). Omnis febris per se curatur.
Ich habe he! mehren Gelegenheiten darauf aufmerksam
gemacht, dafs Sydenliam’s, Stahl’s und so vieler grofsen
Aerzte Ansicht von der Heilsamkeit des Fiebers weit mehr Be¬
herzigung verdiene, als man ihr heutiges Tages schenkt. Moch- '
ten mein^ Worte nicht in deVn Winde verhallen1
t
136
J. Paracelsus.
viel Eigenschaften, als in der Scicntia. Sie hats in ihr ein¬
geboren; wir habens aus der Lehr. Sö viel sind «vir hier-
aufsen, dafs wir das vermögen, das sic vermag. — Also
so llt ihr verstehen, dafs eine Scienz im Arzte sei und eine
in der INatur des Mikrokosmos. ” — <* Es sind zwei Arz¬
neien , die eine auiserlich, die andere innerlich. Die äufser-
liche thut der Mensch selbst, die innerliche die Natur. Von
Natur hat der Mensch wider jegliche Krankheit Arznei,
und wie er hat den Destructorem sanitatis von Natur, also
hat er auch den Conservatorem sanitatis von Natur. .letzt
folgt aus dem, dafs der Destructor für und für Destruction
und (Jorruption wirket und handelt, den Menschen umzu¬
bringen. Also stark und emsig ist auch Conscrvator na-
turae. Was der andere zerbricht und zerbrechen will,
das richtet der angeborene Arzt wieder auf und zu. » —
Omnes conatus irriti evadunt ac oleuin et Opera perduntur,
si quid attentemus Naturae viribus superius (3, I.). Me-
mineris itaque, Naturam ita comparatam esse, ul sibi similis
semper permaneat, nunquaiu viin sibi fieri a medico patia-
tur, sed sic arli praeesse, nt ad ipsius nutum et volunta-
tem te et artem tuam mutari nett^se sit. Artis igitur sum-
nmm mysterium erit in Naturae et remedii convcnientis
cognitione (ib. etc.). — Eorro autem, quemadmodum in
mineralibus aurum ab aere, sic in corpore humauo mor-
burn a vita separari sciendum est. N icissim veluti non raro
in hujusmodi separationibus mineralium purum ab impuro
omnino non secedit, sic quandoque aegritudines cum vita
ad mortem usque complicatae permanent. Denique perinde
ac artifex in separationibus Naturae impotentiam ac defectum
arte resarcit, dum impurum a puro perfecte separat: sic et
medicus, quod Natura in Microcosmo imperfectum rcliquit,
perficere debet. (3, 117.) * )
I ) Schon dadurch, dal.? Par. seine Ansicht von der Natur-
hrilkraft in der f'hinirgic geltend machte, hat er sich unsterb
liebes \ erdienii um die Heilkunde erworben. Mau vergleiche
I. Paracelsus.
1 37
XXII. Die Dinge der Welt sind einander aufs In nies Le
verwandt (VIII.). Anfser ihrer allgemeinen Verwandtschaft
aber stehep dieselben noch in specifischer Wechselbeziehung,
auf gleiche Weise, wie die Organe des Körpers aufs Innigste
verbunden sind, dabei aber noch in specieller Beziehung
untereinander stehen, die Leber und der Magen mit dem
Gehirn, der Uterus mit den Brüsten u. s. w. ” So haben
nun auch einzelne Dinge der Aufsennatur, des Makrokos¬
mos, specielle Beziehungen zu bestimmten Gebilden und
Prozessen des Organismus, des Mikrokosmos, so dafs sie be¬
stimmte eigentümliche Veränderungen und Umstimmungen
in denselben hervorbringen. Diese Dinge sind besonders
zu Arzneien zu gebrauchen, und der Arzt muls sie und
ihre \Y irkungen erforschen.
Sprengel, der in der erwähnten Beziehung dem Mann Gerech¬
tigkeit widerfahren läfst: «Seias ergo, Nntnram radicalcm et '
congcnitum balsamum in se continere, qui vulnera, puncturas,
ornnemque continui .solutionein curandi facultate praeditus est.
Balsamus Naturae ossa fracta conglutinat ramosaque vulnera sa¬
nnt, sieque omnis corporis pars curationis elficientem causam,
i. e. naturalem medtemn in se continet. Qua propter meminerit
Cbirurgus, non se, sed balsamum, qui in corpore eonsistit,
vulnera curare, non cmni levis error est, si medicus sibi cura-
I
tioneni adseribat. Sol um Chirurg! officium est ac Chirurgiae
onus, Naturae cui'am gerere in loco allecto, ne seil, viilnus a
eaussis externis irritetur ac balsami curatrix virtus impediatur. —
Carnem , adipern, axungiam, sanguinem , mcdullam cet. non sane
liouunem generare quisquam est, qui dicat. Perficit Natura actio-
nem suam, dum edrnem aut nervum, aut ld , m ejuo vulnus con-
sistit, generat. — Ut autern consuendi meliorem et certiorem
rationem teneatis, ista vos Jundamenla observare veilem. Ninii-
rum Naturam ipsain tantuin , quantfum singulis diebus glutinat,
suopte Marte intrinsecus contraliere ac suere sieque progredi
pnuiatiin, donec ad labia et extremitates vulneris jiervenerit to-
luuique glutinetur, fabrorum instar, qui duos asseres glutino
junguni. Cieatricein vero aeque angustam facit, ac si sutori«
iilo consuisses. >»
i
f
138 I. Paracelsus.
XXUi. Nun richtet sich offenbar da» Aeulsere nach
dem Inneren, wie sich denn der Geist des Menschen in der
Physiognomie und im ganzen Habitus abspiegelt. So schlie-
fsen wir füglich vom Aeufscren aufs Innere, und so kön¬
nen wir auch die NN irkungcn der Arzneisubstanzen aus
ihrer Pysiognomic ergründen und erschlichen. Dies gieht
die Lehre von den Signaturen der Dinge, in welcher
Lfchre wir mit Hülfe der Chiromantie, der «Anatomie'’
u. s. w. zu bestimmten Gesetzen und zu wissenschaftlicher
Begründung zu kommen suchen müssen *).
XXIV. Noch muh ein anderes Lebensverhältnifs zur
Heilung benutzt w erden. Die Krankheit ist ein am Leben
schmarotzender, niederer Lebensprozefs (XV.). Nun hat,
weil in der Natur alles wider alles kämpft, jedes Leben
sein ihm speriel! Feindes (XI.). Die Krankheiten, als Le¬
bensformen, eben so. So giebt es Krankheitsgifte, Kra?k-
heitsspecifica. NN ir müssen dieselben erforschen und zur
Krtödtung und Vertilgung der Krankheiten benutzen. Wie
das Feuer die Dinge verzehrt, so verzehren dergleichen
Substanzen die Krankheiten (3, ISS, 189.),* und wie der
Mensch stirbt vor den Augen des Basilisken, so die Krank¬
heit von einem Tropfen der ihr feindlich entgegensteben-
den Arznei (4, 150.).
Die Wirkung der erwähnten Arzneien Iaht sich übri¬
gens nur durch Berücksichtigung ihres dynamischen Ver¬
hältnisses erklären, und nicht der Stoff, sondern die an
ihn* gebundene lebendige Thätigkeit, die Seele der Arzneien,
ist das in ihnen Wirksame «< Qucmadmodum in homine
atiima, qua tarnen homo est, invisibilis existit, sic in me-
clicamento et corpus est medicamenti et ejus velut anima,
quaedam actio seu energia, quae etsi sine corpore uoo ex¬
istit, corpus tarnen ipsum ad sanandum nil conducit, nisi
quod actioni subest. »* (3, 15.)
1) Verfl.: 4, 146; 6, 148. Der hitrlifr fehhrißen Stellen
findet man fa»t atil |edem Blatt der paraceLisehe u Schriften.
I. Paracelsus.
139
I
XXV. Aus den Substanzen aber, die wir zur Hei¬
lung benutzen, mufs das Wirksame, die Quintessenz, der
Grundstoff, der aristotelische Aether, ausgezogen werden,
und dies, nicht aber das Goldmachen, ist das Ziel und der
\orwurf der Alchymie 1 ).
— — Hie aufgezähiten Sätze begründen, so viel ich
sehe, das Wesentliche des allgemeinen Theiles des paracel-
sischen Systenies. Wie der grofse Mann seine generellen
Ansichten ins Einzelne führte, wie er aus ihnen die ein¬
zelnen Verrichtungen, Beziehungen und Verhältnisse des
Organismus, die einzelnen Krankheiten, die Wirkung und
Bedeutung der Arzneien erklärte, hier das Wahre schauend,
dort ahnend und andeutend, hier ganz verkennend, jetzt
mit klarem Blicke über sein Zeitalter sich erhebend, jetzt
in die crasse Mystik, den finsteren Aberglauben und den
wunderlichen Aberwitz der Zeit tief versinkend 2), bald
1) «Frustra de Alch^mia tarn prolixe non scribo , sed id
hoc aniino et fine fäcio, ut ex bis probe et solide cognoscatur,
quid in ipsa lateat et qui intelligi debeat. Nee ex hoc offeudi
debes , quod ex ea non aurum nee argentum prodit, sed boc
potius accurandum est, ut per eam arcana detegantur etc.»
(1, 213.)
2) Wie abergläubisch Paracelsus war, mag Folgendes
zeigen: Fr will attrahirende Mittel gesehen haben, die Zentner
Fleisch an sich gezogen hätten, wie Magnete das Eisen «Fin
solches Attractiv bat herausgezogen aus dem Leib in den Mund die
Lungen , und also den Menschen efwürgt. Fs ist auch gesche¬
hen, dafs der Augapfel mit einem Attractiv herausgezogen wor¬
den bis auf die Nase — mit viel ahentheuerÜcher Anzei¬
gung» (7, 43). So will er Styptica haben, «die den Mund
so zustopfen , dafs er mit Instrumenten inuls aufgebrochen wer¬
den» (46). Genau giebt er die Zeichen der Hexen an (9, 341).
Fr glaubt, dals Menschen von Thieren geboren werden kön¬
nen (7, 137). Durch die Einäscherung eines Vogels kann man
einen neuen machen (das.). Durch allerhand chemische Opera¬
tionen kann man aus Pferdemist einen Menschen ( llomunculus,
Alreona, Mandragora heilst er) machen (6, 139; 7, 36). Aus *
/
I. l'aratclsus.
140
%
mit seinen Leistungen zufrieden, bald die alte Klage über
die Beschränktheit des Irdischen überhaupt und mensch¬
licher Wissenschaft insbesondere anstimmend; wie er bei
seinen chemischen Arbeiten Herrliches fand, oft aber auclv
Faust ’s Vater, wie ihn der Dichter schildert 1 ), glich;
wie er, anders denkend, als Sydenham *), den minera-
tlerglciohcn Menschen werden Kiesen, Zwerge, Sylvester, Nym¬
phen u. s. w. , «denen die Kunst eingeboren ist, so fern sie
durch dieselbe entstehen (140). Enten lassen steh in Frösche
verwandeln u. s. w. (3, 29.) Tolles Zeug über Spectra und
Visionen stellt 6, 170, de natis ex Sodomia 9, INI. — Das
Angeführte, das sich leicht vermehren liefse, mag genug sein,
uiu unseren Mann in der fraglichen Beziehung tu charaktcrisi-
reu. Es Iragt sich übrigens sehr, ob, nicht dies und jenes von
dem Vngelührten blols deshalb geschrieben ward, um die Zeit¬
genossen zu blenden und ihnen zu imponiren. Das Buch de natura
renim , das viel Mystik enthält und von Aberglauben strotzt, ist
an einen gewissen Wr i n k e ls t e i n e r geschrieben. Parac. sagt
in der Vorrede: «ich weils, dafs Du gern etwas Neues und
Wundcrbarliches in der Kunst hörest — Obschon ich solches
selber nicht alles erfahren — So I)u mich nicht verstehen wür¬
dest, schreib mir im Geheim zu — Du sollst das Werk nicht
weiter kommen lassen die Tage Deines Lehens, sondern allein
für Dich und die Deinen in grofsem Geheim behalten, als ser-
borgenen grofsen Schatz, als edles Perlin, als köstlich Kleinod,
das nicht vor die Säue soll geworfen werden, d. i. vor die Ver¬
ächter aller guten natürlichen Künste und Heimlichkeiten — In
gleicher Weise sollst Du hei Deinem Tod verordnen, dafs cs
Deine Kinder und Erben verborgen halten» — u. s. w. Diese
Acufserungcn lassen mich vermuthen, dals Parat, an das, was
er in der besprochenen Weise geschrieben , grölstenllieils seihst
nicht geglaubt habe.
1) ' .Mein \ aicr war ein dunkler Ehrenmann,» u. s.»w.
2) Sanc dolcnduiu est, Planta rum naturam nondum ina-
gis exploralo nobis innotcscere, qnae mihi vidontur reliquae
omni, qua jiatet, Matcriae medicac palinam praeripere. Cuiu
A n i m a I i u in partes cum humauo corpore nmiium convenire
videantur, iiimium dissidere Mineral ia, linde est, quod Minr-
ralia indicationlbus potentins responderr , quam vel Plantas vrl
ah Animalihus doumta, lubens fateor. N wl » n h a ru opp. pracl.
1. Paracelsus. 141
lischen Dingen im Arzneisehatze den obersten Platz ein- *
räumte und, sie zuerst in umfassendster Weise heroisch,
aber doch vorsichtig gebrauchend, die schwierigsten Krank¬
heiten heilte; wie ihm zusammengesetzte Formeln verhakt
waren ‘) — dies und anderes erörtere ich hier nicht wei¬
ter. Zum Schlüsse aber hebe ich einige Hauptlehren des
Reformators hervor, die von der Weltbildung, die
von der Erzeugung, die von der organischen
Ernährung und die von den tartarischen Krank¬
heiten. —
Die Ansicht des Mannes von der Weltbildung ist
folgende:
Das bei der Weltschöpfung Thätige war die Gottheit,
«die nicht allein des Sohnes, sondern aller ewigen und
sterblichen Wesen Vater ist» (8, 31.), der Yligster _
astrum), die Urkraft. Die Gottheit, die tvzgyucc ocnv Jajjs,
wie Aristoteles sagt, war der Fabricator, der Zimmer¬
mann der Himmel, der grofse Bildschnitzer. (8, 29.) 2)
Der Yliaster ist zertheilt worden, zerflofs, indem
die Schöpfung geschah; als ein Saame zerging er bei der
Schöpfung. (8, 30.)
Zunächst entwickelte sich der Yliaster zu einem Ur-
wesen , dem Ideos (Ides, Chaos, Mysterium magnum, Ylia-
dos, Limbus major). (8, 1, 8; 28, 29; 4, 142.) 3) '
1) «Also (nemlich kurz, einfach und bündig) sollen die
Recepte gesetzt werden und componirt, und nicht mit langen
theriakischen Ilecipe und Syrupis und dergleichen, darin keine
Anatomie ist, allein Phantasie.» 1, 51. Yergl. Sprengel.
\
2 ) Der Yliaster des Para c, hat grofse Aehnlichkeit mit
«
dem Ev des Pythagoras, mit dem Zeus des Pherekydes,
mit der Gottheit des Platon und Aristoteles, am meisten
aber entspricht er dem E v des Empedokles. Die erstgenann¬
ten Philosophen gaben ihrer Gottheit, ihrem , immer
eine Urmaterie zur Seite, dagegen Empedokles das Fr -Eine
sich selbst zu den Elementen entwickeln lälst.
3) D ics Urwesen entspricht einigermaafsen dem A7rei^av
des Py thagoras, der formlosen Materie des Platon u. s. w.
i
142
I. Paracelsus.
Dies Urwesen bestand aus zwei « Wesen , * aus Lebens-
thätigkeit («ein spiritualisch Wesen, ein unsichtbar und
ungreiflich Ding, und ein Geist und ein geistig Ding”)
und aus Lebensstoff, aus dem Leben der Geschöpfe und
dem Corpus der Geschöpfe. (H, -V )
ln dem Ideos, der mit dem Grieben begabten Urma-
terie, waren nur die drei Elementarstoffe, die axAot r«,
Salz, Schwefel und Quecksilber, und die aus ihnen beste¬
henden Elemente und sämmtlichen Dinge potentia, nicht
aber actu enthalten, auf gleiche Weise, wie in dem Holze
das Üild, das aus ihm geschnitzt wird, wie im Kiesel das
Feuer, das aus ihm geschlagen wird, wie in der Speise das
Fleisch, das aus ihr durch die Ernährung erzeugt wird.
<*, t. a )
Zunächst gingen aus dem Ideos hervor die aus den
Elementarstoffen bestehenden (8, 30. 32.) Elemente, die
Luft, die, wie die Mauer die Stadt, der Damm den Wei¬
her, die Haut den Körper, die Schale das Ei, alle Welt
umschliefst, sie, der Alhem, aus dem alle Dinge das Leben
haben und den, wie unsere Lungen, Erde, Feuer und
Wasser an sich ziehen; ferner Wasser, Feuer (Licht) und
Erde. (8, 4. 34.)
Die Geburt der Elemente geschah, wie die Entstehung
des Stammes aus dem Saamen , in dem kein Stamm ist, wie
die Entwickelung des Feuers aus dem Kiesel, in dem kein
h euer ist, also nicht « materialisch, » durch blofse Schei¬
dung, sondern dynamisch, « spiritualisch. *»
Die Elemente sind nun corporalisch, aber in Wesen
und Natur sind sie Geiste. (8, 104.) — Der Geist ist
lebendig und das Leben ist der Geist, und das Lebeu und
der Geist wirken alle Dinge, sind aber Ein Ding und nicht
zwei. So gesagt wird: das kommt von dem Element, so
verstehet: vom Element und nicht vom Gorpus. Die Zunge
redet und redet nicht, denn der Geist ist in ihr, der redet,
das Heisch an ihm selbst nicht. — So haben, weil alle
Thätigkeit in der Materie nur ein Ausllufs, eine Separation
%
9
[. Paracelsus. 143
<!es Yliaster ist, auch die Elemente ihre Yliaster, jedes den
seinigen. (b, 33.)
Aus den Elementen wurden, wie die i demente aus dem
Ideos, die Geschöpfe geboren, auf gleiche Weise wieder,
« wie von einem Saamen ausgeht die V\ urzei mit ihren
Fasern, danach der Stengel mit vielen Aesten, danach die
Blatter, das Geblühe und der Saame. ” (S, 55.) Sie alle,
die Geschöpfe, bestehen aus den Elementarstoffen
Wo wir noch jetzo Wesen durch spontane, äquivoke
Zeugung entstehen sehen, da ist Substrat des Eötwicke-
lungsprozesses ein schleimiges Wesen (mucilago), bei
dessen Zersetzung ( Putrefaction) (6, 138.) durch Feuch- ,
tigkeit und Wärme das neue Leben entsteht. Aehnliches
mag bei der ersten Entstehung der Organismen statt gefun¬
den haben, und so läfst sich annehmen, dafs alle irdischen
Naturen ursprünglich aus der Zersetzung eiues Urschleimes
und aus den mitwirkenden Elementen, namentlich aber aus
dem Wasser '), hervorgegangen seien. (6, 140, 141.)
Diese Ansicht wird auch durch die Thatsachen bestätigt,
dafs die schleimige Flüssigkeit im Ei, das Eiweifs, durch
die Wärme zersetzt (faul) und lebendig wird, nicht allein
durch die Wärme der Henne, sondern auch durch je/ie
1) Die Lehre vom Wasser, als dem Ursprünglichen , ist
uralt und weitverbreitet. Der alte I2y»jv, Q.k'/)c/,vo$ > ZIkscavos gilt
im grauen Alterthum und noch bei Homer als Vater Aller.
Poseidaon war der alte Bundesgotl der Joner. Pausa nias
( Aread. VI.) sah in einer arkadischen Stadt ein ura lt Bild einer
Fischgöttin. Thaies nahm das Wasser als göttliches Urele¬
ment der Dinge (#£#*}), und Auflösung alles Seienden in Was¬
ser an. Eben so hat wahrscheinlich der herrliche Xenopha-
n cs das W asser als das Ursprüngliche angenommen, wie er
denn bemerkte, «dafs annoch Muscheln auf der Erde gefunden
würden, und Fische und Formen der Meerkälber,» und alle
leuchtende. Gebilde in der Luft, Gestirne, Regenbogen , St. Elms-
f %
teuer, für feurige Wolken erklärte. Unter den Neueren s. Oken
m seiner Naturphilosophie. 1 \
144
I. Paracelsus.
I
andere, und dafs kein chemischer Prozefs ohne die Elemente,
namentlich das Wasser, vorgeh l. (6, 136.) —
Wie sehr die erörterte Ansicht über die Genesis der
Dinge mit den Ansichten der alteren griechischen Philo¬
sophen, dann mit der Ansicht des Plotinus und sein«*
Nachfolger, endlich mit der der neuesten naturphilosophi-
schen Schule iihereinstimmt, brauche ich niclit wc:tläiiftig
zu entwickeln. Klar ist, dafs sie viel Schönes und Tref¬
fendes enthält. — —
Nicht minder interessant ist die Ansicht, die der Mann
von Einsiedlen über die Zeugung hegte.
Von der überall im Körper verbreiteten flüssigen Thier¬
substanz (Liquor vitne), in der alle die Natur, Eigenschaft,
Wesen und Art der Glieder und Thätigkeiten ist (1, 19b.),
in der der ganze Mikrokosmos liegt, die somit ein verbor¬
gener Mensch ist, gleichsam das inwendige Schatten- oder
Spiegelbild des Menschen, scheidet sich, wie der Schaum
von der Suppe und der Gischt vom Weine, und wie wir
die Quiotesseuz aus den Dingen abscheiden, der Saanie.
(196.)
Diese Scheidung geschieht gleichsam durch eine Dige¬
stion, durch innere Erhitzung und Entzündung, die in der
Geschlechtsreife die Einwirkung der Weiber in uns erregt,
in ähnlicher Weise, wie die Sonne, auf Holz einwirkend,
dasselbe in Flammen setzt. (1, 196.)
Der Saame bildet sich auf gleiche Weise aus dein
Liquor vitae, wie das Feuer aus dem Holze, darin doch
actualiter kein Feuer ist. (das.)
Zur Dildung des Snamens tragen nun alle Organe und
alle Thätigkeiten des Leibes hei, wie sie ja in dem Liquor
vilac, dessen Quintessenz der Saame ist, liegen und ent¬
halten sind, und wie sic aus demselben entstehen und in
ihn zurückgehen und sich auflösen. (1, 196 — 199.) So
ist in dem Saamcn alles, was zu einem Menschen gehört;
in der allgemeinen Saamcnfeuchtigkeit ist Saame vom Kopfe,
vom Hirne, von der Nase, von den Augen u. 5. w. (196.)
Der
I
I
1. Paracelsus.
143
\
Der Saame ist also der Mensch selbst (3, 1.); Sperma
est Microcosmus. (4, 250.)
Grofsert Einflufs auf die Saamenbildung aber hat die
Seele, die Phantasie u. s. w. (1 , 5 DT — 190.)
Das Weib nun, « das der Welt näher ist, als der
Mann,» ist der Acker, in den der Saame gelegt wird, die
Erde, in die die Aussaat geschieht. ( 1, 112.)
Es ernährt, entwickelt und zeitigt den Saamen des
Mannes; nicht, dals es selbst Saamen hergäbe? «Der
Mensch wird nimmer aus der Mutter selbst gemacht, son¬
dern aus dem Manne, aber in die Matrix gesetzt.» (117.)
Die Galenisten irren darin grob, dafs sie annehmen, das
W eib gebe Saamen her. (119.)
Die Aufnahme des Saamens in die Gebärmutter ge¬
schieht dadurch, dafs ihn dieselbe anzieht, «ln der Matrix
ist eine anziehende Kraft, wie im Agatstein und in einem
Magneten, an sich zu ziehen den Saamen.» (197.)
Die Ernährung des Saamens und des in ihm enthalte¬
nen atnbryonischen Menschen geschieht nicht durch die
Menstruation, wie die Acrzte wollen. Die Menstruation
ist vielmehr ein Excrement des Uterus. (126.) Derselbe
nimmt Behufs der Ernährung des Embryo und seiner eige¬
nen Ernährung, wie der Baum aus der Erde, von allen
Gliedern und aus dem ganzen Leib Speise und Nahrung
an sich, von deren Residuen er sich monatlich einmal rei¬
nigt. (126.) Wie jedes Excrement (s. Ansicht über die
Ernährung), so ist auch das Excrement des Uterus Gift,
wie dies schon daraus hervorgeht, dafs menstruirende Wei¬
ber Wein und Essig Umschlägen, Blumen welken, Metalle
rosten, Spiegel mit Flecken anlaufen machen, auf die mit
ihnen in nähere Berührung kommenden Männer krankheit¬
bringend wirken u. s. w. (6, 138.) So sind auch die an
den weiblichen Brüsten und am Uterus so häufig vorkom¬
menden Krebsübel von Störungen der Menstruation herzu¬
leiten. (III. 93.) — Dem Typus der Menstruation ent-
XIV. Bd. 2 St, 10 '
14Ö
I. l'aracelsus.
spricht übrigens in einiger Weise der Typus der Meeres¬
bewegung. (118.)
Das Weib aber ist « Mikrokosma » (126.); es ist die
Erde und alle Elemente. (129, 111.) Aus den Elementen
nun, die in der Mutter Leib sind, wird das Embryo er¬
nährt, auf gleiche Weise, wie die Pflanze aus dem Erd¬
reich, der Luft u. s. w. (111.) Er bedarf, um Speise zu
sich zu nehmen, nicht des Mundes, sondern nährt sich,
wie das Gras sich vom Thau nährt und wie sich die Frucht
des Baumes aus diesem erhält. (S, 220.)
Aus Flüssigem geht der Mensch hervor, wie die Welt
aus der Urfliissigkeit, und wie der Geist Gottes bei der
Weltschöpfung auf dem Wasser ruhte, so ruht er, der
durch die ganze Natur nusgegossen ist, auch auf der Flüs¬
sigkeit, aus der der Mensch sich entwickelt. Er, der Geist
Gottes, ist bei der Zeugung das eigentlich Begeistende und
Belebende. (1, 116.)
Der Mensch im Uterus lebt ein thierähnliches Leben,
und namentlich wird er erst später beseelt. Er gleicht
dem Fisch im Wasser. »Damit er wisse, was er sei, ein
Thiel* der Welt.» (115.)
Es werden Menschen geboren, denen Organe fehlen.
Dies erklärt sich daraus, dafs der Saarne aus allen Theilen
gebildet wird. Wenn nämlich «las eine oder das andere
der organischen Gebilde bei der Saamcpbildung nicht thii-
tig ist, sondern feiert, so fehlt sein Saanie in der Saamen-
llüssigkeit und kann sich in der Mutter nicht zu einem
gleichen Gebilde entfalten. »Sich begiebt auch, dafs oft¬
mals eines Gliedes Saamen verhalten wird durch Krankheit
des Liquor vitae, durch Hinderung in den Wegen, oder
durch Schwäche der Altraclion der Mutter — dasselbige
Glied wird ihrem Kind nicht gegeben. Solch seltsam Mifs-
gcwächs der Natur kommt, so «las Sperma nicht gleich
eingezogen wird und mifsfällt. (201.) So aber das Kin«!
etwa Lins nicht hätte, als das Gesicht nicht, das ist die
I. Paracelsus.
\
147
Ursach, dafs der Saamcn des Instruments Ocnli und der
Zellen des Gesichts nicht gefallen ist. ” (203.)
Eben so werden Menschen geboren, die überzählige*
Glieder haben, «als viele mit zwei Häuptern, mit mehr
Händen, Fingerlein und Gebeinen oder Gliedern, dann
sieb gebührt — minder oder mehr.” (1, 201.) Dies er¬
klärt sich daraus, dafs das eine oder das andere Glied des
v
Vaters doppelt Saamcn hergiebt. «Etwa begiebt sich, dafs
der Hauptsaame fällt zweifältig und die anderen Saamen alle
nur einfältig, da wird ein Kind mit zwei Häuptern gebo¬
ren; etwa der Fingersaame dreifältig, mein* oder minder,
also werden auch die Finger geordnet. »
Groisen Einflufs auf die Bildung des Embryo hat aufser-
dem die Phantasie der Mutter, (6, 137.) — —
Schön ist auch Paracelsus Ansicht über den Ver-
dauungsprozefs.
Jedes Ding, wiewohl an sich und in seiner Art gut
und vollkommen, hat doch Gutes und Böses in sich, Brauch¬
bares für diese Geschöpfe, Schädliches für jene. (1,14,16.)
Das Gute heifst Essenz, das Schlechte Gift. Wie die übri¬
gen Dinge, so verhalten sich auch die Nahrungsmittel, so
dafs es ein Krautgift, ein Fleischgift, ein Gewürzgift giebt
u. s. w. (18.) Die Assirnilationsorgane sind nun als Alchy-
misten zu betrachten; sie zerlegen die Nahrungsstoffe in
ihr Böses und Gutes, in ihre Essenz und ihr Gift. (18.)
Das Gute wird in den Körper aufgenommen, das Böse in
die Emunctorien (17.) und durch sie aus dem Leibe ge¬
führt, wie denn der After gefaulten Schwefel, der Harn
aufgelöste Salze, die Lunge resolvirten Schwefel ausführt
u. s. w. (L9.) So lange d-es regelrecht geschieht, ist der
Mensch gesund. Es kann aber der Scheidungsprozefs, den
die Assimilationsorgane besorgen, gestört werden, «gebro¬
chen,» und hiermit ist Krankheit gegeben. (1.9.) Eben so
kann es geschehen, dafs die Emunctorien ihr Geschäft nicht
gehörig vollbringen — auch daun entsteht Krankheit. (18.)
1 0 *
1. Paracelsus.
146
Aus «ler in «len Digestionsorganen bereiteten Nahrungs-
materie zieht «lann ein jedes Glied seine Nahrung auf gleiche
Weise an sich, wie «1er Magnet das Eisen. (4, 17.) l ud
jedes Glied verdaut nun wieder die allgemeine Nahrungs-
flüssigkeit und verähnlicht, assimilirt sich dieselbe, wie beim
Anfänge «1er Ernährung der Magen die Speise ver«lautc un«l
assimilirle. « Ist also zu verstehen, als wenn ein gebrann¬
ter Wein in Wasser gegossen wird, so schmeckt auch das
ganze Wasser davon, und ist gleich ausgethcilt durch den
ganzen Leib. Oder gleich, als wenn eine Tinte in Wein
gegossen wird, wird alles schwarz. Also auch im Leib.
Der Humor vitae «lurchbreitet ihn schneller, denn wir in
den Exempeln gesagt. Aber in wes Gestalt er sich ver¬
kehret, dieselbige Natur liegt an dem Glied, «las ihn be-
! greift; cs dauet aus ihm seines Gleichen. Als da ist ein
]>rot. Kommt es in einen Menschen, so wirds Menschen-
Ileisch, kommts in einen Hund, so wirds llundefleisch , in
einen Fisch, Fischtleisch. Also zu verstehen ist, dafs aus
Kraft der Natur «1 ie angenommenen Dinge sich verkehren
un«l eignen nach «ler Natur der Glieder. (6, 3.)
Die organische Ernährung hat mit zwei Naturprozessen
die grölste Aehnlichkeit und Verwandtschaft, mit der FäuL
nifs ' ) und der Zeugung.
W ic bei der Eäulnifs «lie organische Materie ertüdtet,
zerfällt und aufgelöst wird und sich in ein formloses, schlei¬
miges Wesen verwandelt, aus welchem dann wieder neue
Geschöpfe hervorgehen, so wir«l bei «ler Ernährung eben¬
falls der organische Stoff in «Jen Digestionswegen getÖdtet
und aufgelöst un«l in den Nahrungsschleim umgebildet, und
aus diesem gehen dann, wie aus dem Producte der Fäul-
nifs, neue Wesen, die Glieder des Organismus neu hervor.
Die Pulrefaction macht im Magen alle Speise zu Kotli
un«l transmulirt sic, «lamit sic zu lllut werde. Auf gleiche
I) «S. Oken in »einer Naturphilosophie über vegetabilische
und thierisc'ic Ernährung,
I. Paracelsus.
149
Weise, wie aus den Dingen, die auisen faulen, andere
ihren Ursprung nehmen, und wie überhaupt die Putrefaction
der erste Anfang aller Generation ist. (6, 136.) 1 ) —
Eben so kann und mufs man die Ernährung als zweite
fortgesetzte Zeugung betrachten, und der Zeugung in aller
Weise gleich stellen. «Und dafs wir müssen zum anderen-
mal geboren werden, das ist durch das tägliche Brot.»
(1, 58.) -
Der Tartarus spielt bei Paracelsus eine grofse
Bolle; nicht mit Unrecht, wie ich denke. Folgendes ist,
wenn ich nicht irre, seine Ansicht:
In jedem Ding ist Stercus oder Excrementum , Schäd¬
liches und Gutes, Essentia. So auch in den Nahrungs¬
stoffen, wie oben gesagt. Das Unbrauchbare in den Nah¬
rungsstoffen wird in der Digestion, das Unbrauchbare, das
-in der Luft enthalten ist, in den Lungen vom Guten ge¬
schieden , und das Letzte wird dem Körper sofort ange¬
bildet, während das Erste durch die Auswurfsorgane, Harn¬
werkzeuge u. s. w. abgeht. Die Lebenskraft wirft das Un¬
brauchbare weg, wie ein Zimmermann das verfaulte Holz.
(2, 366, 307.)
Kommt dieser Prozeis in Unordnung, so sammelt sich
in den Flüssigkeiten des Leibes, namentlich im Blute, ein
erdige Salze in sich tragendes, schleimiges, zähes Wesen
an, der Tartarus. Er liegt in den organischen Flüssigkei¬
ten, wie die Mineralien der Erde vormals im Wasser auf¬
gelöst lagen. (377, 2.)
Erwacht jetzo noch und verstärkt sich die exeretive
Thätigkeit des Organismus, «so scheidet die Natur zum
Ausgange, was wider menschliche Ordnung ist, und da
mag keine tartarische Krankheit werden. » (2, 377.) Ist
dies aber nicht der Fall, und häuft sich der Krankheits¬
zunder im Körper an, so mufs die Natur zu gewaltsamen
und stürmischen Operationen ihre Zuflucht nehmen, und
l) Vergleiche Oken’s Handbuch der Naturphilosophie.
1 50 I. Paracelsus.
cs entstehen tartarischc oder podagrische Paroxysmen , in
welchen unter Frost und Hitze du* Krankheitsmatcric aus
dem Blute abgeschieden und entweder nach aulsen oder im
Innern an die festen Theile abgesetzt wird. Jene Abschei¬
dung ähnelt der Abscheidung des Weinsteins in den mit
gährendem Weine gefüllten Fässern. Wohin der Tartarus
trifft, da erregt er gewöhnlich heftigen Schinerz; die 1 heile
ft dolent de indigestione Archaei; ” der Krankheitsstoff brennt,
wie höllisches Feuer, daher auch die Bezeichnung Tarta¬
rus. (2,355. 3,225.) So kann Magengicht, Darmgicht, Poda¬
gra, Chiragra, Koxalgie, Ischias, Kreuzschmerz u. s. w. ent¬
stehen; der Tartarus kann an allen Orten des Leibes abge¬
setzt werden. Besonders gern wirft er sich dahin, wo
Knochen durch Knorpel oder andere Zwischengebilde ver¬
bunden sind. (4, 140; 4,5; 4, 10.) Anfänglich erscheint
der Tartarus als schleimiges, viscoses Wesen; später aber
wird das Feuchte der Materie verzehrt und die erdigen
Salze bleiben in fester Gestalt zurück (4, 8.), daher denn
die Gichtknoten, die Blasen-, Nieren-, Darm-, Ader-,
Gallensteine u.s. w., j ent; « Steinlein, die geflötzt, geecket
und in vieler anderen Weise sichtbar gnd empfindlich, ge-
schiefert, getäfelt, blätterig, granolirt sind” (4, 7; 1,95.),
und bald dem Marmor, bald dem Alabaster, bald dem Tuf-
steio («Duelech”), bald dem Leberstein (« Lephqntea ”)
ähneln (3, 225.), immer aber von den in der Natur vor¬
kommenden Steinen verschieden sind, daher auch der Name
Steinkrankheit nicht pafst. (2, 365.) Immer sind die Gicht-
affectionen als W erk der heilenden Natur zu betrachten
(2, 375.), die Natur reinigt sich in ihnen.
Also ist nun die Weise des Gichtübels (4, 141.):
«An dem Ork, da es wurzelt, an demselben meldet es sich,
etwa nach Speise und Trank, etwa nach Mond und Wet¬
ter, etwa nach der Nacht, mit Frost, Hitze, Hüthe, Ge¬
schwulst. Zuletzt £ommt ein gewaltig Verhärten , also,
dals es ilie Glaich und die Beine auseinander zeucht, spal¬
tet und entsetzt die Proportion aus ihrer Geometrie,
I. Paracelsus.
151
kriimmts, verhärtets , verwilderts, treibts auf mit Knospen,
Knoten, verhärtet die O laich , macht, dafs sie unbiegsam
werden; demnach wachsen gekörnte Salzgranen darin. —
Dieser Krankheit Bleiben währt neben anderen Krankhei¬
ten, und vergeht, kommt wieder, vergeht, und ist doch
allemal noch da. Tödtet niemand, sie komme denn in eine
Verstopfung, d. i., so sie nicht mag auf ihre Anatomie
kommen, so nimmt sie das Leben. Auch kommen in sol¬
cher Krankheit mancherlei Arten der Schmerzen mit viel
seltsamen Zeichen, verändert und nicht einander gleich
oder selten. Also theilen sich solche Schmerzen aus, dafs
sie jetzt an dem, jetzt an dem Ort sind, nicht gefangen
an Einem Ort, sondern wunderbarlich hin und her. —
Ist auch der Art, als spotte sie der Arznei und des Arztes,
als wär sie der Herr und der Arzt der Narr. » — —
— — So der Arzt von Einsiedlen, anders geartet,
als Hippokrates und die übrigen Heroen der göttlichen
Wissenschaft, aber, wie sie, grofs und herrlich in aller
Weise und unsterblichen Ruhmes werth. — Möchte ich
durch meine Worte den deutschen Manu deutschen Aerz-
ten in Einigem näher gebracht und dazu beigetragen haben,
dafs er, der nur von Deutschen, nie von Ausländern, ver¬
standen werden kann, in künftiger Zeit sorgfältiger stu¬
diert und als das, was er, wie schon Helmont aussprach *),
ist, als Zierde des Vaterlandes, erkannt werden möge! —
Wenns Deutsche gäbe, die ein deutsches Herz
Zu schätzen wülsten, die erkennen möchten,
Welch einen holden Schatz von Treu'’ und Liebe
Der Busen unsres V olks bewahren kann,
- - - — . i
1) Resj »ondeo quoad scoimnata et multorum subsannationes
in \itum Germaniae decus instillata, ne nuce qui dem digna esse
et asserentem ea eo ipso se redolere iiidigniorem , utpote qui
ne dum vivos, sed rnoiluos judicare annititur. Narn quae de
literis , sapientia adeptisque donis perhibent ejus nionirnenta,
non est, quod impar laudem ego, qui neminis encoroium susccpi,
sed res ipsas trutmo.
152 II. Medicinisch - gerichtliche Gutachten.
m
W enn das Gedachtnils einzig deutscher T baten
In unsren Seelen lebhaft bleiben wollte,
Wenn unser liiük, der sonst durchdringend ist,
Auch durch den Schleier dringen könnte, den
Ernst oder Schüchternheit uns überwirft,
Wenn die liewundrung, die begeistern soll,
Nach fremden Gütern uns nicht lüstern machte:
Dann war1 uns wohl ein schöner Tag erschienen,
Dann feierten wir unsre goldne Zeit! —
Auswahl mcdicinisch - gerichtlicher Gut¬
achten der König 1. wissenschaftlichen
Deputation f li r das Me d i c i n a 1 w e s e n ; mit
Genehmigung Eines hohen Ministerii der geist¬
lichen, Unterrichts- und Medicinal -Angelegenhei¬
ten herausgegeben von Dr. Fr. Klug, Künigl.
Geheimen Medicinal - Käthe und Professor, Di-
rector der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Mcdicinalwesen , Mitdirector der Königl.
Ober - Exaniinations - Commission , mehrerer gelehr¬
ten Gesellschaften Mitgliede. Erster Band. Ber¬
lin, gedruckt und verlegt bei G. Reimer. 1828. 8.
‘XIV U. 439 s. (l TLlr. 16 Gr.)
Luter den zahlreichen Sammlungen medicinisch -gericht¬
licher Gutachten behaupten unstreitig diejenigen den vor¬
nehmsten Hang, welche, wie die oben genannten, von der
obersten berathenden Medicinalbehörde eines Staates ausge¬
fertigt worden sind, und daher bei den richterlichen Ver¬
handlungen als Entscheidungen in letzter Instanz gelten.
Wenn die Voraussetzung gerechtfertigt ist, dais nur Mau-
II. Medidniscli-gericlitliche Gutachten. 153
ner von bewährtem litterarischen Ruf und anerkannter
praktischer Sachkunde Eingang in jene Collegien finden,
so müssen ihre gemeinsamen Urtheile den Standpunkt be¬
zeichnen, zu welchem die gerichtliche Medicin sich derma¬
len hinaufgebildet hat, und somit im Allgemeinen als Muster
für ähnliche Arbeiten angesehen werden. Ueberhaupt schliefst
schon die collegialische Berathung in einem hohen Grade
jede Einseitigkeit und Befangenheit in individuellen Ansich¬
ten aus, von denen ganz sich frei zu halten dem Einzelnen
ungleich schwerer fällt; die Gutachten der Wissenschaft-
liehen Deputation gewännen aber, wie der Hr. Herausg. in
der Vorrede bemerkt, noch durch das Verfahren, welches
dieselbe nach der von Einem hohen Vorgesetzten Ministe¬
rium ihr ertheilten Instruction befolgt, eine Ausführlichkeit
der Geschichtserzählung und eine Vollständigkeit der Beur-
theilung, wie sie sonst nicht leicht zu erlangen gewesen
wäre. Es werden nämlich jedesmal zw'ei Referenten er¬
nannt, so dafs jeder derselben ein vollständiges Gutachten
auszuarbeiten hat, welches der erste Referent versiegelt
unmittelbar dem Director der Deputation überschickt. Die
Acten gelangen hierauf an den zweiten Referenten, welcher
sie nebst der von ihm angefertigten zweiten Relation eben¬
falls dem Director Behufs des Vortrages beider Relationen
aushändigt, deren eine demnächst von den Mitgliedern an¬
genommen und unterschrieben wird, nachdem die etwa noch
für nöthig erachteten Anordnungen waren getroffen und
hinzugefügt worden.
Das erste unter den sechszehn mitgetheilten Gutachten
ist eiue gutachtliche Aeufserung über eine von dem
Professor Hein rot h zu Leipzig berausgegebene Schrift
(Heber das falsche ärztliche Verfahren bei criminalgericht-
lichen Untersuchungen zweifelhafter Gemüthszustände), wel¬
che indefs als eine Kritik derselben nicht füglich Gegen¬
stand einer kritischen Anzeige sein kann. Auch die darauf
folgenden vier Gutachten über zweifelhafte und krankhafte
Gemüthszustände lassen ihrer Natur nach keinen gedrängten
154 II. Medicinisch -gerichtliche Gutachten.
Auszug zu. Nur in Bezug auf das zweite unter ihnen, in
welchem es wenigstens wahrscheinlich zu machen gesucht
wird, dafs eine scchszehn jährige Brandstifterin durch die in
ihrem Alter zuweilen vorkommende Feuerlust ( Pyromanie)
zur Begehung ihres Verbrechens angetrieben worden, und
sie seihst daher ni<hl für zurechnungsfähig zu erachten sei,
glaubt Bef. seine Ueberzeugung dahin aussprechen zu müs¬
sen, dafs jene Pyromanie, ungeachtet ihr Begriff von
berühmten Aerzten aufgestellt worden ist, dehnoch eine
schärfere Kritik nicht aushalte. Nie darf man eine Ge-
müthsstörung aus ldofs somatischen Leiden als einen Uellex
derselben herleiten, sondern mufs jederzeit erste als das
Produkt einer fehlerhaften Richtung der Seelenkräfte, zu
denen Körperkrankheiten höchstens entfernte Veranlassun¬
gen gehen können, darzustellen sich bemühen. Da nun
zwischen einer gehemmten Pubertätsentwickelung und dem
Triebe zu Brandsliftungen gar keine unmittelbare Verbin¬
dung gedacht werden kann, durch welche das Gemüth noth-
wendig bestimmt würde, ein iu ihm erzeugtes krankhaftes
Bedürfnifs durch ein solches Verbrechen zu befriedigen; so
ist man genöthigt, die Veranlassung zu letztem in einer
moralischen Schwäche zu suchen, die der Herrschaft sinn¬
licher Begierden keinen Widerstand leistet. Kinder lieben
die glänzenden Erscheinungen des Feuers, und treiben da¬
mit oft ein gefährliches Spiel; jene jugendlichen Brand¬
stifter ermangelten auf gleiche Weise der Reife des Cha¬
rakters, mit welcher Erwachsene sich ihre Besonnenheit
bewahren, und deshalb vor verderblichen Spielen zu hüten
wissen. Wenn die Inquisitin im vorliegenden Falle sich
damit zu entschuldigen suchte, dafs eine innere Stimme sie
gebieterisch zu der Frevelthat angetrieben habe, so inrfs-
brauebte sie das V ertrauen zu ihrer Sittlichkeit, da sie
mehre Diebstähle,, die sie nach der Brandstiftung auf
eine sehr verschmitzte Weise ausführte, eben so mit einem
unwiderstehlichen Antriebe beschönigte*, und aufserdem beim
gerichtlichen Verhör einen nachher cingcstandcncn Betrug
II. Medicinisch - gerichtliche Gutachten. 155
/
sich zu Schulden kommen liefs. Welchen Glauben kann
'man da noch ihrer Versicherung schenken, dafs sie seit
ihrer unglücklichen That stets von Vorwürfen ihres Ge¬
wissens, in denen sich wohl nur die Furcht vor den Fol¬
gen ihres Verbrechens aussprach, gepeinigt worden sei?
Sie gab sich im ganzen Laufe der Verhandlungen, und auch
vorher, als eine lügenhafte, von sinnlichen Begierden be-
he rrschte, an tiefem sittlichen Gefühl verarmte Person zu
erkennen, deren Handlungen an diesem Maafsstabe geprüft
werden mufsten.
Der Inhalt des sechsten Gutachtens betrifft eine Dienst-
\
magd, welche nach erlittenen Faustschlägen in den Nacken
plötzlich gestorben war. Sie war mittleren Alters, und
obwohl von starkem Ansehen, doch kränklich, namentlich
zu Krämpfen geneigt, zugleich böse und zanksüchtig, sie
klagte stets über Unwohlsein, litt an Fufsschäden, und hatte
schon mehrmals geboren. In einem Wortwechsel mit einem
Brauerknechte, wurde sie von demselben mit der geballten
Faust der rechten Hand zwei- oder dreimal in den Nacken
geschlagen. Sie ergriff nachher einen Kessel, um damit
nach ihm zu werfen, und als der Knecht fortging, rief sie ihm
noch eine beleidigende Drohung nach. Die bald nachher
hinzugekommene M. hat sie am Küchenschrank, die Hand
am Kopfe haltend, stehen sehen. Der Eintretenden ist sie,
ohne ein Wort zu sagen, in ihrem gewöhnlichen Gange
entgegengekommen, und als sie etwa drei Schritte gethan,
auf die Knie an die linke Seite gesunken. Sie hat die Au¬
gen auf- und zugeschlagen , ein grüner Geifer ist ihr aus
dem Munde gekommen, und es schien, als ob sie Krämpfe
habe. Sie starb hierauf. Vor der am folgenden Tage an-
gestellten Obduction zeigte sie so wenig am Halse und auf
dem Nacken, als au der Brust und auf dem Bücken Ver¬
änderungen. Die Fäulnifs (es war im Juli) hatte schon
einen hohen Grad erreicht; aus der Nase Hofs stinkende
Feuchtigkeit, der Unterleib war sehr stark aufgetrieben.
(Jeher dem entblöfsten dritten und vierten Halswirbel zeigte
156 II. Medicinisch - gerichtliche Gutachten.
sich ein Blutextravasat. Nachdem sie geöffnet waren, er¬
schien die dura Mater weifs und hart, unter derselben aber,
gleichfalls beim dritten und vierten Halswirbel, coagulirtes
und flüssiges Blut. Nach Eröffnung des Schädels zeigten
sich alle Gefäfse der harten Hirnhaut und des Gehirns mehr
wie gewöhnlich mit lllut gefüllt, doch besonders, und selbst
bis in die kleinsten Verzweigungen, strotzender auf der
linken Seite. Die Gehirnmassc war sehr weich, die Gehirn¬
höhlen enthielten blutige Feuchtigkeit, und der Plexus cho-
roideus der linken Seite war stark gerüthet. Auf der Basis
des kleinen Gehirns an der linken Seite sab man deutlich
extravasirtes und coagulirtes Blut. Im Unterleibe waren
die Eingeweide von Fäulnifs stark aufgetrieben, der Magen
enthielt viel Speisebrei; die blutarme Leber hatte ein blei¬
ches Ansehen, und in der farblosen Gallenblase fanden sich
unzählige Steine von der Gröfse kleiner Erbsen. — Die
wissenschaftliche Deputation entschied, dafs von den an der
Denata Vorgefundenen Verletzungen die Extravasate in der
Gegend der Halswirbel äufserer Gewalt zuzuschreiben seien,
und durch Faustschläge in den Nacken hervorgebracht wer¬
den konnten, der Befund in der Schädelhöhle als Folge
einer Krankheit, namentlich eines Schlagflusses mit Wahr¬
scheinlichkeit betrachtet werden müsse; dafs von den er¬
wähnten Verletzungen das Extravasat unter dem kleinen
Gehirn an und für sich tüdtlich, die V erletzungen in der
Gegend der Halswirbel aber im vorliegenden Falle nicht
tüdtlich waren. Als Zeichen des den Tod herbeigerührt
habenden Schlagflusses werden, aufser dem Extravasat an
dem kleinen Gehirn, die übrigen auffallenden Erscheinun¬
gen in der Schädelhöhle geltend, und der Disposition zu
deniseiben aus der Neigung zu Krämpfen, der heftigen Ge-
miithsart, dem steter Unwohlsein wahrscheinlich gemacht.
Zur wirklichen Ausbildung umlsle jene Disposition heim
llinzutreten von Schädlichkeiten kommen, welche die Ent¬
stehung des Schlagflusses begiiustigen. Als solche war der
zur Zeit der Verdauung einwirkende heftige Zorn zu he-
II. Medicinisch - gerichtliche Gutachten. 157
trachten, welcher durch den erlittenen Widerstand und die
empfangenen Faustschläge bis zur Wuth gesteigert wurde.
Auf eine fehlerhafte Verdauung wiesen überdies die krank¬
hafte Beschaffenheit der Leber und die so früh oTngetretene
faulige Ausdehnung der Eingeweide hin. Die Faustschläge
konnten eben so wenig das Blutextravasat in der Schädel-
hühle, als durch Erschütterung des Rückenmarks eine tödt-
liche Lähmung desselben bewirkt haben; in jener Beziehung
waren sie eine viel zu schwach wirkende mechanische Ge¬
walt, und letzte widerlegt sich durch die vielfältigen will-
kühriiehen Bewegungen, welche Denata nach erlittener Mifs-
handlung ungehindert bis zum Tode vollbrachte.
Das folgende Gutachten beurtheilt die Tödtlichkeit
einer Schufswunde, weiche ein Officier im Duell empfan¬
gen hatte, worauf sein Tod in wenigen Augenblicken ganz
ruhig, ohne Zuckungen erfolgt war. Bei der am folgenden
Tage vorgenommenen Obduction fand man die Schufswunde
fast genau in der Mitte der Stirn, woselbst sie durch den
Knochen gedrungen war, ohne äufserlich weiter eine Quet¬
schung, Zerreilsung oder Extravasat veranlagt zu haben.
Nach Hinwegnahme des Schädelgewölbes und cfar dura Mater
zeigte sich ein über das g#nze Gehirn verbreitetes Extra¬
vasat, welches wohl zwei Unzen betragen mochte. Bei der
genauen Betrachtung der mit der Knochenwunde correspon-
direnden Stelle des Gehirns fand sich , dafs es die Spitze
des vorderen Lobi der linken Hemisphäre war, die den
Anfang des Schufskanals in der Gehirnsubstanz bildete.
Diesen zu verfolgen, wurden in der Substanz des Gehirns
mit Vorsicht horizontale Schnitte gemacht; doch war es,
aller Behutsamkeit ungeachtet, nicht möglich, den Lauf der
Kugel mit vollkommener Deutlichkeit zu verfolgen, da vom
Eingang derselben, bis zu dem Orte, wo sie gefunden
wurde, derselbe durch kein Extravasat oder Zerreilsung der
Substanz bezeichnet war. Nach fortgesetztem Suchen fand
sich die Kugel im unteren und hinteren Theile des Lobi
posterioris der linken Hälfte des grofsen Gehirns auf dem
158 II. Medicinisch - gerichtliche Gutachten.
Tentorio cerebelli liegend. Die Obducentcn hielten die
Todesursache fii r hinlänglich ausgemittelt, und unterliefseu
daher das Oeffnen der anderen Körperhohlen; dies rügte
der Defensor, der aufser anderen Ausstellungen gegen die
Obduclion auch noch die machte, dafs nicht angegeben
worden sei, ob das Corpus callosum verletzt gewesen,
weil, wenn dasselbe und der obere Theil der \ entriculo-
rum cerebri, auch der obere Theil des Pons Yarolii unver¬
letzt geblieben wäre, die im Obdnctionsbericht aufgestellte
absolute Tödtlichkeit der Verletzung keinesweges als erwie¬
sen anzusehen sei. Die wissenschaftliche Deputation liefj
zwar den Tadel in liezug auf die Ln Vollständigkeit der
Obduction gelten, vermeinte aber, dafs die gerügten fehler,
deren aufser den hier genannten noch mehre begangen
wurden, von der Art seien, dals sie das Urtheil der üb-
ducenten umstofsen miifsten, da nach der \ erletzung un¬
mittelbar der Tod erfolgte, und sich mit der gröfsten So¬
phisterei kein Mittel erklügeln liefse, wie derselbe hätte
abgewandt werden können. Wenn der Defensor, heilst es
weiter, von dem Corpus callosum und anderen Gehirnthei-
len spricht, bei deren Nichtverletzung auf keine absolute
Tödtlichkeit zu schlicfsen wä^e», >so verrüth er dadurch blols
seine Lnkunde. Ls giebt keinen einzigen ilirntheil, mit
dessen \ erletzung eine absolute Tödtlichkeit nothwendig
verbunden ist, allein überall im Gehirn kann eine \ er¬
letzung dieselbe hervorbringen, wenn zugleich ein Druck
oder eine Erschütterung statt findet. Erster war i:n vor¬
liegenden Falle in einem solchen Grade durch die Jiluter-
giefsung gegeben, dals diese allein schon Todesursache sein
konnte; höchst wahrscheinlich war aber auch eine starke
Gehirnerschütterung da, indem die Kugel durch das Stirn¬
bein schlug, und obenein hinten nicht hinauskam. ln J>e-
zug auf die übrige Körperbeschaffenheit des Denatus wird
zwar nicht geleugnet, dals derselbe möglicher Weise ciu
verborgenes Uebel oder den Keim zu einer Krankheit in
sich getragen haben konnte, welches unerforscht blieb, da
II. Medicinisch- gerichtliche Gutachten. 159
die Untersuchung sich auf den Kopf beschränkte; aber da¬
durch werde das U/theil über die absolute Lethalität der
Verletzung nicht im mindesten geschwächt.
Das achte Gutachten hatte darüber zu entscheiden, ob
in dem erzählten Falle aus dem Leichenbefunde auf eine
statt gefundene Vergiftung zu schliefsen. Es hatte nach
dem im Jahre 1820 erfolgten Tode des Erbbraukriiger St.
zu B. sich das Gerücht verbreitet, dafs derselbe vergiftet
worden sei. Der Verdacht war auf seine hinterbliebene
Frau, nachher separirte II. gefallen, und es kam darüber
im November 1823 zu gerichtlichen Verhandlungen, durch
welche Folgendes ausgemittelt wurde: Der St., früher
gesund und wohl, klagte einige Zeit vor seinem Tode bald
nach dem Genüsse einer Tasse Kaffee, die er von seiner
Frau erhalten, und die ihm ungewöhnlich süfs geschmeckt
hatte, über Unwohlsein. Er soll besonders über Schneiden
und Reifsen im Leibe geklagt, auch während er nachher
noch zehn Tage krank gewesen, sich übergeben und pur-
girt, über die Ursache seines Uebels sich aber nicht ge-
äufsert haben. Bei der Beerdigung fielen fast allgemein das
frische Ansehn des Leichnams im Gesicht, die Röthung der
Lippen und ein rother Streif unter der Nase, so wie die
Biegsamkeit der Glieder auf. — Die Ehefrau des St. hatte
mit dem in dessen Dienste stehenden Knechte lange Zeit
im vertrauten Umgänge gelebt. Etwa 8 bis 14 Tage vor
dem Tode des St. hatte seine Frau, wie sie dem Knechte
unaufgefordert erzählte, von dem Arsenik, welchen der¬
selbe zur Vertilgung der Ratten sich verschafft hatte, etwas
genommen, und es soll ungefähr die Hälfte davon gefehlt
haben. — Der am 30. November 1823 ausgegrabene Leich¬
nam fand sich äufserlich wie innerlich von brauner Farbe,
mit Schimmel belegt, der Kopf noch mit dunkelbraunen
Haaren besetzt, der Mund mit Zähnen versehen, die ohne
Anwendung von Gewalt herausgezogen werden konnten,
die Kopfhaut lederartig, die fleischigen Theile am Kopf in
Verwesung übergegangen. Das wenige Gehirn war von
l
/
160 II. Mcdicinisch ‘gerichtliche Gutachten.
grüner Farbe und breiartig. Die fleischigen Theilc des
ganzen Körpers waren eingetrocknet, und blos mit einer
lederartigen Haut bedeckt, der Unterleib gänzlich ringezo¬
gen und zusammengelrocknet. Die inneren 1 heile der Brust
und des Unterleibes waren nicht mehr genau zu unterschei¬
den, das Fleischige verweset, und nur zurückgeblieben, was
häutig war. Lungen, Leber, Milz und Herz bestanden aus
Einer Masse. Um die chemische Untersuchung nicht zu
stören, wurden sämmt liehe Theile der Brust, so wie des
Unterleibes, zusammengelassen, herausgenommen, und letzte,
gesondert von den ersten, in einen steinernen Topf gelegt.
Weder bei Oeffnung des Sarges, noch bei der Obduction
war ein leichenartiger, sondern blofs ein dumpfiger Geruch
zu bemerken. Bei einer späteren Besichtigung der zusam¬
mengetrockneten Eingeweide zeigten sich nur noch Magen
und Mastdarm fleischiger und frischer. An der inneren
Fläche der Magenhäute wurden selbst noch rüthlichc Stel¬
len, wie von einer Entzündung herrührend, wahrgenom¬
men. Auch war eine Verdickung des Magens, welcher in
eine lederartige, wie gegerbte Substanz übergegangen war,
nicht zu verkennen. Die hierauf mit Anwendung der ver¬
schiedenartigsten Beagentien durchgeflihrte, und mit den
nöthigen Gegenversuchen verglichene chemische Untersu¬
chung der Eingeweide führte zu «lern Besidtat, dafs in den¬
selben sich kein Arsenik oder ein anderes metallisches Gift
vorgefunden habe. — Die wissenschaftliche Deputation er¬
klärte, dafs, da überhaupt eine Vergiftung zweifelhaft bleibe,
wenn durch chemische Zerlegung das Dasein einer giftigen
Substanz in dem untersuchten Leichnam nicht nachgewiesen
werden konnte, im gegenwärtigen Falle um so weniger
auf eine statt gefundene Vergiftung geschlossen werden
könne, da der Leichnam, mit welchem fruchtlos ^ ersuche
angestellt worden, bereits drei Jahre unter der Erde ge¬
wesen sei. Eben so wenig könne jedoch dieser Erfolg
beweisen, dafs eine Vergiftung nicht statt gehabt habe, da
sowohl bei einem mehrtägigen Krankenlager ein, wahr¬
schein-
II. Medicinisch - gerichtliche Gutachten. 161
scheinlich nur in geringer Menge beigebrachtes Gift durch
Erbrechen und Stuhlgang gänzlich wieder aus dem Körper
entfernt werden, als auch aus dem Leichnam durch chemi¬
sche Zersetzung während des Zeitraums meiner Jahre in
Gasgestalt entweichen konnte. Auch der übrige Leichen¬
befund liefere so wenig einen erheblichen Beweis für eine
Vergiftung, namentlich mit Arsenik, als Data für eine ent¬
gegengesetzte Annahme. Die angetroffene braune Farbe
des ganzen Leichnams, die lederähnliche Ilaut, der einge-
zogene und zusammengeschrumpfte Unterleib, die Verdickung
des Magens, seien allerdings Erscheinungen , wie sie sonst
wohl an Leichnamen von Personen, wo eine Arsenik¬
vergiftung für höchst wahrscheinlich angenommen werden
konnte, angetroffen worden sind. Doch könne ein solcher
Zustand auch aufserdem statt linden, und überhaupt fehje
es noch an genauen Bestimmungen, unter welchen Bedin-’
gungen verschiedene Erscheinungen hei der 'S erwesung ein¬
traten. Die Verdickung und Röthung des Magens könne
auch von anderen Krankheitsursachen entstanden sein; auch
stimme der Umstand, dafs das Fleischige so vollkommen
verwest gefunden wurde, nicht mit den Wahrnehmungen
an den Leichen vergifteter Personen, wo das Muskelfleisch
und die Fetthaut vielmehr in eine käse- oder speckähnliche
Masse verwandelt worden. Ein fauler Geruch sei bei einer
schon seit so langer Zeit beerdigten Leiche nicht mehr zu
erwarten gewesen; diejenigen, welche durch Arsenik ver¬
giftet worden, pflegten einen knoblauchartigen, oder wie
alter Käse stinkenden Geruch zu verbreiten. Endlich seien
die Krankheitserscheinungen des Verstorbenen nur von Un¬
kundigen beobachtet worden, und wenn auch geeignet, den
Verdacht einer Arsenikvergiftung zu erregen, dennoch fÜF
eine solche eben so wenig entscheidend, als das frische
Ansehen der Leiche, welches sich auch zuweilen in anderen
Fällen zeige.
Die noch folgenden acht Gutachten betreffen Unter¬
suchungen an den Leichen neugeborener Kinder, welche von
XIV. P,d. 2. St. 11
HV2 III. I orbnsisilic Beurlheilutfg
jedem, der ähnliche Fälle, die bekanntlich zu den schwie¬
rigsten in der gerichtlichen Arzneikunde gehören, zu be¬
gutachten hat, mit der gröfsten Kelehrung studirt werden
dürften. Ref. , der ohnehin zum Schlul's seiner Anzeige
eilen mufs, würde Mühe haben, zu entscheiden, welches
unter ihnen durch umfassende Darstellung, scharfe Kritik
des oft sehr mangelhaft erhobenen Thatbestandes, Keife und
Gediegenheit des Urtheils sich am meisten vor den übrigen
auszeichnet, und er kann nur wünschen, dafs dergleichen
Musterarbeiten kräftig dazu mitwirken mögen, eine bessere
Epoche der gerichtsärztlichen Praxis herbeizuführen, w'O
dieselbe nicht mehr durch nachlässige Ignoranten bei den
richterlichen Behörden in Mifscredit gebracht wird.
W. F
Zur Lehre von der forensischen Beurthei-
lung der Vergiftungen.
Bei den grofsen Schwierigkeiten, mit welchen die
chemische Ausmittelung von Giften aus dem organischen
Reiche zu kämpfen hat, war es ein geistreicher Gedanke,
organische Keagentien vorzuschlagen. Der alte Versuch,
Thieren die verdächtigen Stoffe zu reichen, w-elche Prü¬
fungsart wir auch heute in den Fällen grofser Ungewifs-
heit lind bei hinreichendem Material nicht abweisen kön¬
nen, ist gleichsam ein rohes Vorspiel von organischen Kea¬
gentien. Zuverlässiger wird dieser Versuch, wenn wir es
vermögen, an Thieren specifische, nur von einem be>tiumi-
ten Stoffe hervorzubringende Erscheinungen aufzufinden.
Ausgezeichnet ist daher die, wahrscheinlich durch die be-
kannte Anwendung der Kelladonna vor der Ausziehung des
der Vergiftungen.
i o:\
grauen Staares veranlagte Entdeckung von Runge, dafs
Thiermigen, ganz besonders aber die der Katze, durch Be¬
streichung mit Belladonna, Ilyoscyamus oder Stramonium,
auch wenn diese Stoffe schon mit organischen Säften ver¬
mischt worden, sein* bedeutend erweitert werden, dafs hin¬
gegen alle anderen bis jetzt bekannten narcotisehcn Stoffe,
namentlich Opium und Blausäure, diese Wirkung nicht zu
erzielen vermögen. Lei vorkommenden Fällen eines Ver¬
dachtes nareotischer Vergiftung wird man daher in der Folge
Rung es Versuch nicht umgehen dürfen, zumal da es bis
jetzt an Mitteln zur Entdeckung der gedachten drei Stoffe
durchaus fehlt. Es entstand nun aber in mir die Frage,
welchen Werth der Richter, und zumal der das preufsische
Criminalrecht als Norm befolgende, darauf legen würde,
wenn man ihm sagte: in dem Falle, der zur Frage vor-
liegt, ist allerdings narcotische Vergiftung vorhanden, und
zwar mit Belladonna, Hyoscyamus oder Strammonium, ohne
dafs wir jedoch entscheiden können, welches der drei ge¬
nannten Gifte hier obwalten mag. Dafs französischen oder
englischen Gerichten diese Aussage zur Annahme einer Ver-
giftting genügen würde, ist bei dem geringen Werthfe,
welchen dieselben auf die ärztliche Seite der Ausmittelung
des Thatbestandes legen, unzweifelhaft; bei der Strenge
aber, mit welcher nach preufsischem Rechte auf Äusmit-
telung des Thatbestandes gehalten wird, schien es sehr
zweifelhaft, ob die genannte Angabe, bei welcher nicht Ein
Gift mit Bestimmtheit genannt, sondern zwischen dreien
geschwankt wird, hinreichend sein dürfte, um darauf die
ordentliche Strafe zu begründen. Dafs sie zu einer aufser-
ordenllichen Strafe zu führen vermöge, war mir nicht zwei¬
felhaft, da aus älterer und neuerer Zeit Fälle vorliegen,
wo hei hohem Verdachte von Arsenikvergiftung und bei
Ermangelung der Ausmittelung des Arseniks selbst, wäh¬
rend es an Zeichen organischer Reaction nicht fehlte, eine
aufserordentliche Strafe, selbst bis zu lebenslänglichem ke-
stuogsarrest, verhängt wurde. TTm nun über diese Sache
XI *
164
111. Forensische Beurtheilung
ins Klare zu kommen, sandte ich meinem verehrten viel-
jährigen Freunde, Herrn Director Hitzig in Berlin, für
die von ihm herausgegebene treffliche Zeitschrift für die
Crimiualrechtspllege in den prcufsfschen Staaten eine kurze
Abhandlung, welche daselbst Bd. 9. S. 40‘2 — 405 abge¬
druckt worden. Fs war in derselben die Frage aufgewor¬
fen : Ob in Verg i ft ungs fällen der preufsische
Richter den T hatbestand für ermittelt anseh en
könne, wenn der Arzt ihm zwar mit Bestimmt¬
heit sagen kann, dafs eine Tüdtung durch Gift
statt gefunden, jedoch ohne genaue Bestimmung
des zur Vergiftung angewendeten Stoffs? Hierauf
erschien im lOten Bande derselben Zeitschrift, S. 451, fol¬
gende Antwort des Herausgebers, welche gewifs jedem ge¬
richtlichen Arzte sehr w ichtig sein mufs, und 'die, abgese¬
hen von Runge1.* Fntdeckung, welche allerdings noch der
Bestätigung durch andere Beobachter bedarf, einen wis¬
senschaftlichen Werth behält. Da wohl nur wenigen un¬
serer Leser jene Zeitschrift zukommen dürfte, so theilen
wir die Antwort wörtlich mit:
«Nicht speciell mit dieser Frage, aber mit einer ähn¬
lichen, hat sich neulich der Criminalsenat des Kammerge¬
richts beschäftigt. In einem ToUtschlagsfafle nämlich hat¬
ten die Obducenten die absolute Tödtlichkcit der \erletzung
ausgesprochen, aber bemerkt: von welcher Art diese \ er-
letzung gewesen, sei nicht auszumitleln gewesen, namentlich
nicht 1 ) ob sie iw einem Knochenbruche mit Quetschung
und Zerreifsuug des Rückenmarkes, 2) oder in einer Ge-
fäfssprengung und Blutergiefsung im "W irbelbcinkanal, 3) in
einer Erschütterung, oder endlich 4) in einer Verw undung
des Rückenmarkes bestanden, und das Resultat endlich dahin
angegeben, dafs die \ erlelzung des Rückenmarkes (die
höchst wahrscheinlich in einer Nerwuudung desselben be¬
standen) so beschaffen gewesen sei, dafs >ic unbedingt und
unter allen Umständen in dem Alter des Verletzten für
sich allein Jen Tod zur Folge haben müsse, welches sie
165
- der Vergiftungen.
durch eine weitläuftige Auseinandersetzung zu begründen
suchten. Das Collegium führte in dem Erkenntnisse aus:
Die diesfällige Erörterung der Sachverständigen könne füg¬
lich übergangen werden, da sie nur ein wissenschaftliches
Interesse habe, und es dem Richter genüge, dafs an dem
Denato überhaupt nur cbie Spuren einer t ö d 1 1 i c h e n
Verletzung des Rückenmarkes vorgefunden worden,
gleichviel, von welcher Art dieselbe gewesen. — In
diesem in einer Todtschlagssache angenommenen Grundsätze
liegt aber unbedenklich die affirmative Beantwortung
jener Frage, da beim Morde, und zwar beim Morde durch
Gift, die Vorschrift der §§. 836, 858 und 859. Th. II.
Tit. XX. des allgem. Landrechts zur Anwendung kommen,
die in Hinsicht der Feststellung des objectiven Thatbestan-
des dem Richter eine weit gröfsere Freiheit gestatten, als
beim Todtschlage. »
Ein zweiter höchst wichtiger Gegenstand für die Lehre
von den Vergiftungen , und zwar für die durch anorgani¬
sche Stoffe erfolgten, ist die Anwendung der galvanischen
Kette, und zwar zu doppeltem Zwecke: einmal nämlich,
um durch vorläufige Andeutung des Stoffes sodann zur
anderweitigen chemischen Ausscheidung den richtigen Weg
vorzuzeichnen, und sodann um in den Fällen, wo die an¬
wesende Masse des Giftes zu einer gewöhnlichen Reduction
#
nicht hinreicht, dennoch das wirkliche Dasein des Giftes zu
erweisen. Schon vor vielen Jahren hat mein hochgeehrter
Freund und College, Herr Prof. R. W. Fischer, aufge¬
zeigt, dafs man in einer tausendfachen Verdünnung den
Arsenik durch die galvanische Kette auszuscheiden vermöge.
Diese von den Toxicologen übersehene Erfahrung hat Herrn
Prof. Fischer veranlafst, dasselbe Mittel für alle giftige
mineralische Substanzen zu versuchen, und zwar mit dem
gröbsten Erfolge. In einer Versammlung der hiesigen ärzt¬
lichen Gesellschaft hat derselbe Arsenik, Quecksilber, Blei,
4 « .
%
\
J6G III. Forensische Beurtheilung der Vergiftungen.
Kupfer mul Spiefsglanz in tausendfachen Verdünnungen durch
die einfache galvanische kelte regulinisch ausgeschieden.
Line sehr geringe Menge von Platten reicht aus, um für
die genannten Gifte eine hinreichende Auswahl zur Bildung
der beiden Pole zu bilden, die nach bekannten galvanischen
Gesetzen für jedes Metall vei >ohieden gewählt werden müs¬
sen. Das Verfahren ist so überaus einfach und zweck-
mäfsig, dafs jeder gebildete Physiker vermittelst eines klei¬
nen nicht kostspieligen Apparats im Stande sein wird,
dasselbe anzuwenden, und dadurch zur Knideckung eines
der grauenhaftesten Verbrechen wirksamer als bisher zu
werden.
Indem wir die nähere Auseinandersetzung in schuldiger
Anerkennung des wissenschaftlichen Kigenthums dem Ent¬
decker überlassen, hegen wir zur Vervollkommnung dieser
Untersuchungsweise den Wunsch, dafs man auszumitteln
strebe, welche Hindernisse durch die Gegenwart der in
dem Magen und in den Gedärmen vorhandenen organischen
Flüssigkeiten , so wie auch durch die in dieselben gelangen¬
den Speisen und Getränke, in Beziehung auf diese Unter-
suchungsweise veranlagt werden dürften. Nur zahlreiche
Versuche können entscheiden, ob und welche Trübungen
durch jene Stoffe bei Anwendung der galvanischen Kette
cintreten, so wie auch welche Mittel anzuwenden sein dürf¬
ten, um jei.e Trübungen aufzuheben und dadurch zu einer
unbeschränkten und zweifelsfreien Anwendung der galvani¬
schen Kette zu führen.
L ic/ilcnstädt.
IV. Preisfrage.
IV.
167
I
Preisfrage,
die Zulassung zu den Eacultäts - Studien betreffend.
Wenn wir die Beantwortung der Frage ganz dahin¬
gestellt sein lassen müssen, ob in früheren Zeiten die Er¬
greifung dieser oder jener Studien mit gröfserer Besonnen¬
heit und Verständigkeit erfolgt sei, als in unserer Zeit,
oder ob umgekehrt diese in der gedachten Beziehung
weniger Uebelstände darbiete, als jene, so ist doch das
gewifs, dals wir viel häufiger, als es ohne ln willen ge¬
schehen kann, den schmerzlichen Anblick von Menschen
ertragen müssen, die dem gelehrten Fache, dem sie sich
gewidmet haben, nur ungern und daher auch mit geringem
FlrfoUe ihre Kräfte weihen. Und doch dürfen wir kaum
O
zweifeln, dals es für jedes nicht ganz verdorbene und von
der Natur nicht durchaus vernachlässigte menschliche Wesen
in der grofsen Mannigfaltigkeit menschlicher Verhältnisse
und Beschäftigungen eine Stellung geben müsse, die seinen
Kräften und Neigungen entspricht, und eben dadurch die
Möglichkeit herbeiiührt, das Höchste zu leisten, was von
den beschränkten Kräften des Einzelnen geleistet z$.i werden
vermag. Bedenken wir aber, wie oft Verhältnisse, Aeuiser-
lichkeiten aller Art, Unkenntnifs seiner selbst und' Mangel
an Bekanntschaft mit der theoretischen und praktischen
Natur der verschiedenen Berufsarten bei der Wahl dersel¬
ben obzuwalten pflegen, so können wir uns über die dar¬
aus entstehenden Uebelstände keinesweges wundern; ja wir
müssen im Gegentheil es als eine gütige Leitung der die
Fehler der Menschen so oft ausgleicbenden Vorsehung an-
sehen, dafs nicht noch gröfseres Uebel hervorgeht, als wir
daraus wirklich hervorgehen sehen. Leicht könnte denen,
welche alles Heil der Völker aus Anordnungen der Regie-
s
106 • IV. Preisfrage.
ningcn erwarten, in «len Sinn kommen, dals liier durch
Befehle und Verbote der Regierenden dem Hebel gesteuert
und das Gute gefördert werden durfte. Kr wägt man je¬
doch, wie viel hei allen geistigen Dingen durch solche Ein-
srhreitungen geschadet, und wie sehr die individuelle 1* rci-
heit dadurch gefährdet werden könne, so mufs man wohl
von andern Seiten her das lleil erwarten, wobei wir je¬
doch immerhin die l eberzeugung hegen müssen, dais eine
völlige Abstellung jener l ebelstände zu den Dingen gehöre,
die nur in einem idealen Staate denkbar sind. Um jedoch
_ •
die möglichste Entfernung derselben zu bewirken, kennen
wir nur Kin Mittel; es besteht zuerst in einer gründlichen
kenuluifs der gesammten Aatur der verschiedenen Studien
und der aus ihnen hervorgehenden I’ rufsarten, und sodann
in einer richtigen psychologischen Schätzung der einzelnen
Personen. W enn Eltern und Vormünder, Kehrer und
I
Erzieher jene Kenntnifs besitzen und zu jener Schätzung
geeignet sind, so bedarf es dann nichts als des guten Wil¬
lens, für ihre Pllegebefohlenen das Beste zu erwählen; es
würde geradehin Bösartigkeit verrathen, wenn man trotz
jener Eigenschaften die Wahl eines Studiums veranlafste
oder auch nur gestattete, von dem man erkennt, dals es
für ein bestimmtes Individuum nicht palst. Aber wie sol¬
len und können wir eine solche Kenntnifs hei vielen Men¬
schen erwarten? Zeigt uns nicht die alltägliche Erfahrung,
dafs die meisten Gelehrten kaum ihr eigenes l ach allseitig
und vorurteilsfrei zu beurteilen vermögen , von anderen
Facultätsstudien aber nur «eine höchst unvollkommene Vor¬
stellung gefafst haben? Betrachten wir nur unser eigenes
Fach, die Medici», und fragen, wie viele von denen, welche
über das Schicksal junger Keule zu bestimmen haben, eine
irgendwie genügende Kenntnifs von den Ansprüchen haben,
welche in unserer Zeit in theoretisher oder praktischer Be¬
ziehung an «len Arzt gemacht werden, so wird unsere Ant¬
wort gewifs dahin ausfalleu müssen, dafs eine solche Kennt¬
nifs sehr selten angelroffen werde, ja dals es eine Unge-
t
I
IV. Pi 'ejsfrage. 169
rechtigkeit sei, an Nrchtärzte solche Forderung zu stellen.
Theologen und Juristen werden wahrscheinlich auf ähn¬
liche Fragen, ähnliche Antwort ertheilen müssen. Wenn
nun die Kenntnisse dieser Art so sparsam verbreitet sind,
so wird auch die Bekanntschaft mit der psychischen Natur
währen, indem man von falscher Beurtheilung der Studien
geleitet, sie leicht zu einer unrichtigen Wahl veranlas¬
sen wird.
Betrachtungen dieser Art sind es, welche einen ärzt¬
lichen Veteranen, der mit klarem Auge die Verhältnisse
des bürgerlichen Lebens überschaut, bewogen haben, durch
Aufstellung einer Preisfrage das Nachdenken der Gelehrten
neuerdings auf diesen Punkt zu richten. Fr wünscht auf
diese Weise zu den zahlreichen Wohlt baten, welche ihm
\
Stadt und Gegend, in denen er fast 40 Jahre lang gewirkt
bat, noch eine neue hinzuzufügen, welche sich auf einen
weiteren Kreis erstrecke. Wie auch die Beantwortung die¬
ser Preisfrage ausfallen möge, so wird sie gewifs dazu bei¬
tragen, einen hochwichtigen Gegenstand näher zu erläutern
und mit gröfserer Wärme, als bisher geschehen, zu erfas¬
sen. Wird dieser Zweck erreicht, so wird gewifs auch
das Andenken dessen dankbar genannt werden, der zu die¬
sen Untersuchungen .angeregt, hat. Wir fügen jetzt die
eigenen Worte der Preisaufgabe hinzu. Sie lauten wört¬
lich also:
Nihil perniciosius et in felicius cogitari potest iis, qui
aliquod vitae genus aut inviti aut non apti capessiverunt.
Neque enim omittitur solum, quod per multos annos boni
a munere recte administrato expectatur, sed tanta eliam
reipublicae detrimenta inferuntur, quae vel posteri recon-
cinnare nequeant. Quam autein est miserum, quotidie cru-
ciari laboribus, quibus irnpar sis, quos fastidias, qui pro
fructu et laude poenitentiam et contumeliam efficiant. Atqui
hoc mal utn in civitate non serpere sed dominari, et ratio
docet et usus evincit. Documento sunt vir i sacris obeundis
i
170
IV. Preisfrage.
praefecti , aut juventutis magiatri, qui aleac, venatiouis con-
viviorumque studiosiores sunt, quam salutis traditorum sitae
curae hominum stabiliendae et adjuvandae, causidici, qui
carminibus faciendi« et «carabaeorum copiae coiligendae cau¬
sa« clientium posthabent , medici denique, qui dclicati mol-
lesque Corpus suum quam aegrotös curare malunt, aut de
rebus tbeologicis libros conscribunt, aut artibus bellicis
oueram dedunt. Hi omnes muneris, cui satisfacere si pos¬
sint, nolunt, si velint, nequeunt, quasi solatium quoddam
in alienis rebus quaerunt, reique publicae, cui non utiiem
vitam gerunt, ne obitu quidem suo nocere semper desinunt,
si , ut fit, sui similibus et se imitaturis iocum suum relin-
quunt. Cujus mali non una est caus3. Nam aut pueris
consilium vitae capiendum permittitur, qui specie rerum
decepti alienurn saepe ab indole sua vitae genus eligunt,
aut parentes rei potius familiaris, bonorumque quam ingeuii
liberorum, quod saepe tantum non ignorant, rationrm ba-
bent. Quorum si qui circumspectiores inagistros filiorum
in deliberationem adliibendos rati, eorum opinionem audire
velint, ne bi quidem, quamvis indolem puerorum fidei suae
commissorum observaverinl, certam, quam in suadendo se-
quantur, rationem haben t, quum philosophi ad id temporis
in rerum aliarum cura occupati, hac suae proviociae parte
vix extremo digito attacta, totam rem ad sensus obscuri
judicium delegavisse videantur. Et quae publice ad candi¬
datos muneruni tentandos constituta sunt examina, bis, quid
tili didicerint, nou quam voluntatem, quem animuni ad
o fficii munia adiaturi sint, investigatur. Quid? quod illa
eo deinum tempore instituuntur, quo magna pars vitae re-
pulsam ferentibus inutilis deperditi: est. ln re tanti mo-
menti, ubi salus patriae agitur, ubi periculum est, ne libe-
raiissimi liostri sapientissiinique regis de scholis augendis
ornandisque consilia publica privato civium erroie irrita
reddanlur, non alienum vi *ctur, baue a celeris muitis vitae
generibus ad tria tantum gravissima revocataui (|uaestioucm
adjecto pracimo proponere:
i
171
IY. Preisfrage.
/
Quaenam sunt certa signa, non illa in adolescen-
tiurn aut calva aut vultu conspieua, sed e psyebo-
logiae ad usum et exempla accommodatae placitis
oblata, quibus quum a parentdjus et magistris in
vitae ratione eligenda, tum a judicibus in examine
deccrni possit, qui ad theologiae, jurisprudentiae,
medicinae aut studia aut munera admittendi sint,
quique non sint?
Summus regni Borussici senatus, qui res sacras et schola-
slieas curat, baue causam sua tutela humanissime dignatus
viros nonnuüos illarurn rerum inteiligentissimos nuncupabit,
quorum ad arbitrium si quem ab hoc die intra trium anno-
rum spatium de quaestione proposita latine ita disseruisse
cognoverirmis , ut usum inde in vitae rationes redundaturum
esse sperent, huic
praemium ducentorum Joacbimicorurn
proponimus, quod Germershausenius mercator, sibi
hanc summam ad id commissam infra testatus, simulac dis-
sertationem illi judices primum ab auctore mihi, deinde sibi
a me missam cum primae laudis testimonio remiserint, prae-
sent? pecunia soluturum se, et per cursores publicos tradi-
turum esse profitetur.
Glogoviae majoris Cal. Februariis cioiocccxxix.
Y o or c 1 i u s ,
Dr. medic. utr. et regii collegii raedici consiliarius.
i
Dafs die Summe von Zweihundert Rthlr. Preufs. Cou¬
rant, als Preis für die Beantwortung der oben aufgestellten
Frage bei mir dato deponirt worden ist, und nach Erfül¬
lung der genannten Bedingung von mir sogleich ausgezahlt
werden wird, erkläre ich hierdurch mit meines Namens
Unterschrift.
Grofs - G logau, den 1. Februar 1829.
Carl Hr. Ger inersba usen.
<
I
f
172 V. Zurechnungsfähigkeit.
Aufsätze, welche obige Aufgabe beantworten, bitten
wir durch Buchhändler- Gelegenheit unter unserer Adresse
an die Kein sehe Buchhandlung in Leipzig zu senden, welche
deren Beförderung an uns übernehmen wird.
Glogau, den 6. Februar 1829.
Neue GiiiU ersehe Buchhandlung.
Berichtigung.
Obgleich bereits in der Vorrede zu den unlängst von
mir herausgegebenen Beiträgen zur Erkenntnifs und
Beurtheilung zweifelhafter Seelenzustände ( Leip¬
zig, bei Gerh. Fleischer. 1828.) Seite XVI entschuldigend
bemerkt worden ist, dafs, im Drange öffentlicher Geschäfte
und eines, gerade damals vielfach beunruhigten Privatlebens
vielleicht hin und wieder eine, in Zeitschriften zerstreute
Nachricht über dieselben Gegenstände übersehen worden
sein könne; so glaube ich dennoch es dem, von mir innigst
verehrten, Herrn Professor Dr Lieh teil stä dt in Breslau
und mir selbst schuldig zu sein, in dieser vielgelesenen Zeit¬
schrift das specielle Bekcnntnils abzulegen, dafs mir dessen
Aeufserungen über die Unzulänglichkeit des,, Freiheitsprin¬
zips zur Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit iii II eck er ’s
Annalen 1825 Bd. 1. S. 314 und Bd. 3. S. 199, so wie
in Hufeland und O s n n n s Journal 1827 Januarheft, Lei
Abfassung der Abhandlung über die Freiheit als oberster
Grund der Zurechnung u. s. w , unbekannt geblieben wa¬
ren und zu versichern, dafs ich, im entgegengesetzten Falle,
selbige eben so gewissenhaft angeführt haben würde, als
VI. Beobachtungen über die Knochen. 173
ich nunmehr, von dem Hin. Prof. Lichtenstädt freund¬
schaftlich darauf aufmerksam gemacht, ihm in Ansehung der
öffentlichen Bekanntmachung dieser Ansicht, so weit wir
in derselben übereinstimmen, die Priorität gern und frei¬
willig zugestehe. — Die Erfüllung dieser Pflicht der An¬
erkennung und Achtung fremden Verdienstes ist mir um
so angenehmer, da sie mir zu der Bemerkung Gelegenheit
giebt, dafs auch noch ein anderes, von ihm gewifs mühsam
aufgefundenes Resultat, über das Vorkommen ansteckender
Augenübel im Alterthume — ( s. dessen klassische Schrift:
Platon’s Lehren auf dem Gebiete der Naturforschun» und
O
der Heilkunde S. 171, Leipz. 1826, und Heck er 's Annalen
Bd. 3. S. 498) — ohne Angabe der Quelle in mehrere
oculistische Schriften übergegangen ist. >
Clarus.
Vi.
Dr. Al. Troja, weiland ProL der Augenheilkunde
in Neapel u. s. w. Neue Beobachtungen und
Versuche über die Knochen. Nach dem
me (?) bekannt gemachten Originale aus dem Ita¬
lienischen ins Deutsche übertragen, umgearbeitet,
mit Anmerkungen, Zusätzen und einer Biographie
des Verfassers versehen von Dr. 3. J. Albr. v o n
Schönberg, Königl. Dan. wirkl. Justizrathe u.
s. w. Erlangen, bei Palm und Enke. 1828. 4.
XXVIII und 192 S. (3 Thlr. )
Vorliegendes Werk des verstorbenen Troja wurde i. J.
1814 unter dem Titel: Osservazioni et esperimenti
/
sulle ossa etc. in Neapel gedruckt, kam aber nicht ins
Publikum, indem der Verf. eines chemischen Irrthums wegen
174 VI. Beobachtungen über die Knochen.
dies scheute. Ilr. v. Sch. übernahm auf Troja s Wunsch
die Uebersetzung ins Deutsche, und arbeitete mit dem
Prof. chem. Cassola in Neapel die fünfte oder chemische
Abtheilung um. Die fünf Kupfertafeln sind unter froja s
Augen gestochen, und wahrscheinlich von dem italienischen
Werke der Uebersetzung beigegeben. In wiefern die che¬
mische Abtheilung gründlich und richtig sei, mögen Che-
miker zeigen, Ref. wird das Resultat der chemischen Unter¬
suchung anführen; aus den vier ersten Abteilungen aber
wird die allgemeine Anatomie, Physiologie und Chi¬
rurgie wenig Neues erfahren; dies scheint denn auch
Troja gefühlt, und daher die Uebersetzung in einer
Sprache, die so gern alles Fremde aufnimmt, gewünscht
zu haben. Folgender, zwar kurze, aber getreue Auszug
wird des Ref. Meinung rechtfertigen.
Biographie ( S. VII — XXVI.). Michel Troja
wurde 1747 in Andria geboren, kam 1765 nach Neapel
als Unterchirurg bei einem Spitale, wo er sich in der Me-
dicin ausbildete, sich vorzüglich mit Anatomie beschäftigte
und den Doctorgrad erhielt. Im Jahre 1774 erhielt er ein
Reisestipendium auf fünf Jahre nach Paris, um sich allda
in der Augenheilkunde und Geburtshülfe auszubilden, und
kehrte 1779 nach Neapel zurück, wo er Oberchirurg am
Spitale der Unheilbaren, Professor der Augenheilkunde und
der Krankheiten der Urinwerkzeuge, und 1781 Leibchirurg
wurde. In Paris gab er 1775 sein Werk de regen era-
tione ossium heraus. Kr hatte an Fontana’s Werk
über die 5 ipern unJ an Polis Testacea utriusque
Siciliae einen grofsen Antheil, und sollte nach dem Wun¬
sche beider als Mitherausgeber auftreteu, was er aber
aus Bescheidenheit ablehnte. Im physikalischen Journale
vom Abbe Rossier sind mehrere interessante Abhandlun¬
gen von ihm, die er später meistens in seine übrigen Werke
aufnahm, z. B. über die künstliche Bildung des grauen
Staares, über das G. elasticum und die elastischen Kathe¬
ter, als deren Krfinder er anzusehen ist, die Fortsetzung
Yl. Beobachtungen Liber die Knochen. 175
der Regeneration der Knochen und die Regeneration der
Schneckenköpfe; in der französischen Encyclopädie eine Ab¬
handlung über die Krankheiten der Urinwege. Im Jahre
1788 erschien sein Werk über die Augenkrankheiten, und
spater das über die Krankheiten der Urin Werkzeuge. Im
Jahre 1812 fing er die Versuche über die Knochen wieder
an, und liefs im Jahre 1814 vorliegendes Werk drucken.
Eine Bearbeitung von Zinn’s Werke über das Auge, eine
vermehrte und mit Kupfern versehene Ausgabe seipes Wer¬
kes über die Augenkrankheiten, eine Sammlung denkwür¬
diger Fälle und anat. phys. Untersuchungen an Thieren
gingen durch die Plünderung seiner Wohnung verloren.
Er hatte das Verdienst, die Vaccination in Neapel lind Si-
cilien eingeführt zu haben.
Das Werk zerfällt in folgende fünf Hauptabthei-
Erste Hauptabtheilung (Seite 29 — 61). Ueber
die innere Structur der menschlichen Knochen.
Zur Untersuchung der Knochen bediente er sich vorzüglich
der Phosphorsäure und eines einfachen Dollondschen Mi-
croscops. Erstes Kapitel. Beobachtungen über das
Cranium eines dreimonatlichen Fötus. Das Schei¬
telbein des Fötus, gegen das Licht gehalten und unter dem
Microscop betrachtet, besteht aus deutlichen,, vom Centro
gegen die Peripherie des Knochen laufenden Strahlen (Fa¬
den oder Schnüren), die sich abwechselnd durch Anhängsel
berühren und ungleiche Zwischenräume zwischen sich las¬
sen, die Kügelctien gleichen, und die er deswegen auch
Kügelchen nennt. Diese Schnüre mit ihren Anhängseln
sind Fibernbänder in einer knöchernen Scheide, welche mit¬
telst der Säuren membranös wird. Zweites Kapitel.
Beobachtungen über den Schädel eines acht- bis
neun monatlichen Fötus. Die Lage der fibrösen Flä¬
chen, die an allen Knochen dieselbe ist, ist am Hinter¬
haupte am deutlichsten ausgedrückt', die äufserste fibröse
f läche erstreckt sich, vom Mittelpunkte der Verknöcherung
176 VI. Beobachtungen über die Knochen.
#
ausgehend, nicht bis an den Knochenrand, sondern verliert
sich nach einer Ausdehnung von 2 — 3 Linien; die Knden
der fibrösen Lander dehnen sich verschieden vorwärts; jedes
biegt sich aber an seinem Ende zurück und bildet mit dem
nächsten einen Logen oder Halbbogen, der sich in die un¬
ter ihm liegende Fläche verliert. Die zweite membranüse,
fibröse Fläche dehnt sich ein wenig weiter aus, und endigt
sich wie die erste. Dasselbe geschieht mit der diitten, vier¬
ten und den folgenden Flächen, nur die letzte erreicht in
ganzer Länge die Seiten des Knochens, daher gehört sic
ausschliefsend der inneren Höhlung desselben an. Jeder
Strahl ist am Ende zahnigt, welches der Anfang der künf¬
tigen Nath ist. Diese mc.nbranös - fibrösen Flächen lassen
sich itrennen, wobei man den Ursprung der äußersten und
innersten Fläche von den fibrösen Anhängseln sieht. So
sind auch die übrigen Schädelknochen gebaut. Drittes
Kapitel. Beobachtungen über die Knochen eines
ausgebildeten Schädels. Alle Knochen, sowohl des
Fötus als des Erwachsenen, und selbst die neugebildeten
Knochen und der Callus sind von einer äufserst feinen
Membran, gleich dem zartesten Spinngewebe, ohne fibröse
Bildung umgeben. Diese Membran sieht man nach der
14 — 20 tägigen Maccration des Knochens in Phosphorsäure
als ein dichtes Wölkchen um den Knochen, nach dessen
Entfernung die unterliegenden fibrösen Flächen, die sich
von einander trennen lassen, deutlicher erscheinen. Vier¬
tes Kapitel. Beobachtungen über einen hundert¬
jährigen Schädel. Er war hypertrophisch. Die ganze
innere Oberfläche der Knochen war mit unzähligen, etwas
erhabenen, fächerartig geordneten Ländern (Streifen) be¬
setzt, die dieselben Verflechtungen wie beim Fötus bilde¬
ten; in \\ asser ai'fgeweicht und unter dein Microscop be¬
trachtet, bestanden sie aus zahlreichen Fibernbändchen, die
von einer gemeinschaftlichen, hier und da zerbröckelten und
mit sehr kleinen, knöchernen Körnern besetzten Scheide
umgeben waren. Aus der Oberlläche derselben traten viele
kleine
VI. Beobachtungen über die Knochen. 177
kleine Bänderchen. Dasselbe beobachtete man an durch
Jahrhunderte beinahe zerstörten Schädeln (Fünftes Kap.).
Mit denselben Mitteln unterwarf er das Schulterblatt, Brust¬
bein, die Kippen, die imbenannten Knochen, die Wirbel¬
beine, die langen Knochen vom Fötus an bis zum höheren
Alter der Untersuchung, und immer zeigte sich, mit Aus¬
nahme der Richtung der Fibern, welche verschieden bei
verschiedenen Knochen erscheint, dasselbe Gewebe, näm¬
lich das membranös- fibröse (Sechstes Kap.). — Sie¬
be n t e s K a p i t e 1. Die Bänder, welche die verschie¬
denen fibrösen Flächen der Knochen unterein¬
ander verbinden. — Achtes Kap. Innere Structur
der Beinhaut und der Markhaut der langen Kno¬
chen. Die Beinhaut und die Markhaut sind fibröse Mem¬
branen, deren Fibern sich nach den Knochen richten, daher
lang an den langen, und fächerartig an den breiten Kno¬
chen sind. — Bau einiger hörnernen Substanzen
und des Fischbeins. Das Horn des Ochsen , des Hir¬
sches und das Fischhein bestehen, wie die Knochen, aus
fibrösen Lamellen. Sie sind bei ihrer Entstehung zwar von
der Beinhaut umgeben, aber ihre Entwickelung und ihr
Wachsthum geschieht aufser derselben.
Zweite Hauptabtheilung. Ueber die neuen
Knochen, welche sich um die langen Knochen
der Thier e durch die Zerstörung der Markhaut
erzeugen lassen ( S. 62 — 69). Dies ist das Haupt¬
thema im ganzen Buche. Wenn man auch den Untersu¬
chungen des \7erf. über die Regeneration (Necrosis) der
Knochen die getreue Beobachtung der Natur nicht abspre¬
chen kann, so hat er doch den ganzen Prozefs weniger
richtig erklärt und gedeutet. Er hat nämlich die von
Blumenbach, Köhler, M a c d o na 1 d , W eidmaun,
Meckel und von ihm seihst bisher angenommene, zwar
schön und künstlich geformte, aber stets von praktischen
Wundärzten bezweifelte Theorie von der WÜcdererzeupunsr
ü Q
des Knochens über den alten abgestorbenen (Sequester) hier
XIV. Bd. 2. St. 12
'
I
l
#
178 VI. Hcobachtungcn über tlic Knochen.
wiedergegeben. Scarpa hat aber bekanntlich mit den
treffendsten Gründen das Falsche und Naturwidrige dieser
Annahme deutlich gezeigt, und es scheint die /.eit nicht
ferne, wo «iic ganze schöne Lehre von der Regeneration
der Knochen zusainmenfallen , und Scarpa s Ansicht von
dem blofsen Absterben der Markröhre und der durch Eut-
ziindung bedingten l'Jrwei terung und N ergröfserung des Kno¬
chens, durch die NN undärzte am Krankenbette nachgewiesen
werden wird. Hierzu haben die deutschen NN undärzte eine
Gelegenheit, die den italienischen sehr zu mangeln scheint,
denn selbst Scarpa scheint die Necrose nicht sehr häufig,
und unser Verf. gar nicht an lebenden Menschen beob¬
achtet zu haben, was aus folgender Acufseruog am Lnde
des ersten Kapitels deutlich hervorgeht: « Ks ist wahr¬
scheinlich, dafs sich beim Menschen an den Stellen der
Fisteln der Haut ähnliche Oeffnungen (Cloaken) iin Kno¬
chen befinden, die zur Ausziehung des Knochens dienen
könnten. » — Des Verf. N erfahrungsweise bei seinem Ver¬
fahren ist der von Scarpa ähnlich; er amputirte nämlich
die Tibia der J liiere, zerstörte bis an das obere Fnde
der Tibia das Mark, und legte ein Fadenbändchen in die
Markröhre.
Erstes Kapitel. Versuche an jungen Thie-
ren. 1) Vierundzwanzig läge nach der Zerstörung des
Markes der Tibia eines Lammes, fand man um die ur¬
sprüngliche Tibia einen neuen Knochen, der an der obe¬
ren Epiphvse anfing, und da endigte, wo hei der Zerstö¬
rung des Markes das Fleisch war geschnitten worden. Seine
Substanz war hinlänglich hart, die Dicke seiner Wände
oberhalb geringer, und gröfser von der Mitte an nach
unten, und übertraf durchgehends die Dicke der alten
Tibia, die er umschiofs. ( Dieser sogenannte neue Knochen
ist nach Sc. der alte, durch Entzündung ausgedehnte, der
die abgestorbene Markröhre (Sequester) als eine Scheide
( Todtcnlade) enthält. rief.) Zwischen beiden, enge mit
einander verbundenen Knochen war eine rotl.c Gräuzlinie,
VI. Beobachtungen über die Knochen. 179
die Epiphyse war völlig vom alten Knochen abgetrennt
und der neue Knochen an der inneren Seite mit einer ro-
t.hen, dicken, gallertartigen Membran bekleidet, der alte
Knochen rauh und sandig. Der gröfste Theil der Zwischen¬
membran hing sehr fest mit dem alten Knochen zusammen,
obgleich der neue an diesen Stellen doppelt so dick als
oben war. Die Beinhaut des neuen Knochens war um vie¬
les dicker, als die der andern nicht operirten Tibia, und
zeigte an der inneren Flache einige knöcherne Knötchen,
die von der überflüssigen Knochenbildung herrührten. —
2) Der neue Knochen bei einem jungen Widder war
dreimal dicker als die gesunde Tibia, seine innere Membran
war sehr dick und glich mehr einem fleischigen Gewebe,
als einer Haut, und füllte genau die Lücke aus, welche die
verlorene Schicht des alten, in ihm wie in einer Scheide
liegenden Knochen gelassen hatte. Die Koochenschicht
hatte sich in diese Membran verwandelt, indem das oberste
äufsere Ende des alten Knochens fest mit der inneren Mem¬
bran zusammenhing. Diese innere fleischige Membran be¬
stand aus zwei membranösen Schichten, verlor durch Aus¬
wässern ihre Farbe und Dichtigkeit, blieb aber zähe wie
zuvor, und glich nach der völligen Eintrocknung einem
Spinnengewebe. Der neue Knochen war sehr dick, porös,
vom Blute durchdrungen, und voll von unzähligen kleinen
Löchern für den Durchgang der Gefäfse. Nach der Ein¬
trocknung zeigte er sich leichter, seine innere Fläche glatt,
die äulsere rauh, die obere Epiphyse hing mit dem neuen
Knochen zusammen. Die Beinhaut war am unteren Theile des
Knochens sehr dick. (Alles richtig! nur ist sein neuer Knochen
nicht neu, sondern der alte, durch Entzündung aufge¬
lockerte.) In den Schluisbemerkungen zu diesem Versuche
stellt er über die Bildung der inneren Membran
folgende Meinung auf: Wenn die Markmembran zerstört
wird, so wird den zunächst liegenden Knochenschichten
iie Nahrung entzogen, die äufsere Knochenhaut entzündet
md dehnt sich aus, sondert die Gallerte ab, der Kalk-
12 *
ISO VI. Beobachtungen Uber die Knochen.
phospliat wird aufgezehrt, und der Knochen wandelt sich
in ein fleischiges Gewebe um, welches man nachher auf
dieselbe Weise mit den» Knochen vereinigt findet, wie cs
mit der Beinhaut früher vereinigt war, ehe es seine knö¬
cherne Consistenz verlor. Er verwahrt sich gegen die ihm
von K ic heran d, Lcveil le u. a. untergeschobene Meinung,
als erzeuge die Beinhaut hauptsächlich den Knochen. Er
spricht ihr diese Eigenschaft ab und nimmt nur an, dafs
sie den Knochen erhalte, und dafs der neue Knochen aus
dem animalischen Schleime zwischen den Lamellen der Bein¬
haut oder unter derselben sich in eine fibröse Membran
gestalte, und von den Gefäfsen und Nerven der Beinhaut
Leben erhalte. Gegen Scarpa’s Meinung macht er einige
unerhebliche Einwürfe. — 3) I)ic Tibia eines Widders
wurde trepanirt, das Mark zerstört und die Höhle mit- Fa¬
den ausgestopft, die nach zwei Tagen wieder entfernt wur¬
den. Es bildete sich bald ein Abscefs in der Nahe des
Gelenkes, ifäch dessen Oeffnung eine ähnliche Jauche wie
aus der künstlichen Oeffnung Hofs. Beide Oeffnungen blie¬
ben fistulös, lieferten aber nach und nach besseren Eiter.
Nach neun Monaten wurde das Thier gelödtet. Auf der
ersten Kupfertafel ist die nicht operirtc und die operirte
Tibia mit der künstlichen und krankhaften Oeffnung, und
der Sequester abgebildet, sie gleichen denen von Weid¬
mann und Scarpa abgebildcten und in allen deutschen
anatomischen Gabinetten häufig vorhandenen necrotischen
Knochen vollkommen. Die Beschreibung füllt mehre Pa¬
ragraphen. — Zweites Kapitel. Zerstörung der
Mark haut bei allen T liieren. Die Versuche an einer
alten Ziege und einem alten Truthahn lieferten dasselbe
Resultat. — Drittes Kapitel. Verknöcherung des
neuen Knochens nach der 1 1 e r a u s n a h m e des allen.
Zwei Monate nach der Amputation der Kiifse verschiedener
I liiere konnte man die ursprüngliche Tibia aus dem neuen
Knochen herausnehmen; bei allen fehlte das obere Ende,
und die äulscre Oberfläche war leicht an^efressen. Einen
181
VI. Beobachtungen über die Knochen.
Monat später fand man den neuen Knochen voll von mar¬
kiger Substanz, die in der Mitte weifs und an den Seiten
etwas röthlich war. In der nicht operirten Tibia war das
Mark gleichmäfsig röther. Die Marksubstanz war von einer
sehr zarten Membran, welche die ganze innere Fläche des
neuen Knochens auskleidete, umhüllt. Unter dem Micro-
scope zeigte sich das neue Mark aus einer Menge sehr klei¬
ner membranüser Bläschen bestehend, welche voll Markül
waren. Bei einer Taube hatte der Knochen nach drei
Monaten einen grofsen Umfang bekommen, seine Wände
waren in zwei Schichten getheilt, so dafs also der Knochen
zwei Röhren darstellte, die ineinander steckten und durch
sehr viele kurze schief laufende knöcherne Fädchen, und
eben so viele dünne knöcherne Lamellen vereinigt waren.
Die innerste Röhre war mit Mark angefüllt, durch welches
mehre knöcherne Fäden gingen. Bei einem, fünf Monate
nach der Operation getödteten Huhne fand er die zwei
Wände näher verbunden, und bei einem Schweine, sieben
Monate nach der Entfernung des alten Knochens, war der
neue Knochen l~ Zoll dick, während der gesunde kaum
einen halben Zoll dick war. Diese Knochen sind Tab. II.
abgebildet. — Um dem Hervorstehen des Knochens nach
der Amputation und den lästigen Mitteln dagegen, beson¬
ders der Amputation vorzubeugen, schlägt er mit Scarpa,
V o 1 p i und Leveille die Zerstörung des Markes im vor¬
stehenden Knochenstumpfe vor, indem sich dieser etwa nach
einem Monate abstofse. Ja! er will diese Methode auch
auf die breiten Knochen ausgedehnt wissen. Mit Recht
nimmt er die Empfindlichkeit des Markes beim Durchsägeu
der Knochen an. — Viertes Kapitel. Versuche über
die Wirkungen des Krapps auf die neu er zeugten
Knochen. Der neue Knochen wurde nach 10 bis 20 Ta¬
gen schön rosenrotb, der alte blieb blafs. Seiner Meinung
nach wird der Kalkphosphat durch den Krapp gefärbt. —
Fünftes 'Kapitel. Innerer Bau des neuen Kno¬
chens. Das Fib^rnsystem desselben ist ungleich feiner und
i
182 VI. Beobachtungen über die Knochen.
zarter, als das des alten Knochens. Diese 1 einhelt, oder die
unvollkommene Entwickelung sowohl der Membranen, als
des Fibernsystems, liefern indessen den Beweis, dals die
Lamellen der Belnhaut nicht immer unmittelbar zur Bildung
des neuen Knochens beilragen; denn der fibröse Zustand
der Beinhaut sei stets vollkommener entwickelt, als der des
neuen Knochens an demselben Thiere. Es werde daher
immer wahrscheinlicher, dafs die Gallerte einer der vor¬
züglichsten Bestandteile der Knochen sei, und ihren wirk¬
lichen animalischen Theil ausmache. —
Dritte Hauptabtheilung. Ueber die neuen
Knochen,, w eiche man vermittelst der Zerstö¬
rung der Be in haut in den Markhöhlen der lan¬
gen Knochen erzeugen kann fS. 97 — 111). So
wie sich durch Zerstörung der Markhaut ein äufserer neuer
Knochen hervorbringen l'afst , so erzeugt die Zerstörung der
Beinhaut einen andern im Innern des Knochens. Bei seinen
Experimenten schnitt der Verf. Fleisch und Beinhaut durch,
schabte letztere ab, und umwickelte den Knochen mit einer
Biude. Erstes Kapitel. An der Stelle des kreisförmigen
Schnittes zeigte sich hei einem Kaninchen am siebenten
Tage die Beinbaut geschwollen und einen dicken, breiten,
gallertartigen Bing bildend Eben so waren die durch¬
schnittenen Sehnenenden angeschwollen. Die Beinhaut löste
sich sehr leicht vom Knochen und zeigte bei der microsco-
pischen Untersuchung Ueberfiillung mit Gallerte, d. h. sie
erschien aus einer unendlichen Menge zarter, durchsichti¬
ger, nut dünner Gallerte erfüllter Bläschen, längs welcher
die angeschwolleneti fibrösen Bänder hinliefen. Unter der
enlhlülstcn Knochcnstelle war das Mark rüther und die
BlutgefäLe erweitert. Am zehnten Tage war der Hing
der Beinhaut härter, sie liels sich vom Knochen ahtrennen,
hinterlicfs aber auf demselben einen sehr leichten Ansatz
von Gallerte. Am dreifsigsten läge war der Bing halb¬
knorpelig, und hing fester am Knochen. Die Farbe des
Markcylindcrs war blässer, und die Substanz härter. Am
N
/
VI. Beobachtungen über die Knochen. 183
dreifsigsten Tage war der King halbknöchern, die äufsere
Oberfläche des Knochens Matt und trocken, schwitzte aber
beim Abschaben kleine Blutströpfchen aus, der Markcylin-
der war ganz gallertartig und weils, und die äufs erste
Schicht desselben, die sich an die Höhlung der entblöfsten
Knochenstelle anschlofs, verknöchert. Am vierzigsten Tage
war der Bing vollkommen verknöchert, sehr breit und
dick, und enthielt die auch verknöcherten Enden einiger
Sehnen. Der der Länge nach durchsägte Knochen zeigte
die innere, schon vollendete Verknöcherung und eine rothe
Linie, die ihre Gränze andeutete. Der Markcylinder des
neuen Knochens war von Gallerte durchweicht, und halb
verknorpelt. Am fünfzigsten Tage waren die Wände des
neuen Knochens und dessen Markcylinder dichter. — Bei
den Tauben war schon am fünften Tage der innere Kno¬
chen ausgebildet (Kapitel 2.). Der neue Knochen wurde
auch durch Krappfütterung gefärbt, und zwar stärker als
der alte ( Kap. 3. ).
Vierte Haup tabthei lung. Leber die Zerstö¬
rung krankhafter Knochen am Menschen ( tS. 1 15
bis 146). Erstes Kapitel. Beinbrüche. Nachdem drei
nichts Interessantes darbietende Beobachtungen über ein
künstliches Gelenk am kleinen Trochanter, und schlecht
geheilte Brüche des Oberschenkels und Oberarmes aufge¬
führt sind, geht der Verf. zu den Beobachtungen über
künstlich erzeugte Beinbrüche bei T liieren über.
JL) ie übereinander geschobenen Knochen werden vermittelst
der Beinhaut zusammengehalten. Beide Beinhäute waren
am zehnten Tage von einer sehr dichten Gallerte an den
Berührungspunkten angeschwollen und vereinigt; die abge¬
brochenen Enden waren von einer dichten Gallerte be¬
deckt, das Mark au den Bruchenden gallertartig, weiterhin
abwechselnd blutig und gallertartig. Am vierzigsten Tage
waren beide Knochen da, wo sie sich vermittelst der Bein¬
haut berührten, durch eiue knöcherne Substanz unauflös¬
lich verbunden, die eine knöcherne, nach den Enden sich
/
»
184 \ 1. Beobachtungen über die Knochen.
verlierende und auisen durch die Sehnen gefurchte Scheide
Lildete und von der Beinhaut bedeckt war. Das Mark war
in der ganzen Länge der Verwachsung der Knochenenden
ganz verknöchert, ln der Schlufsbemerkung heifst es: die
Beinhaut könne nicht a's Erzeugerin des Uallus angesehen
werden, doch sei sie der Verknöcherung fähig, wenn sie
sich nämlich mit Gallerte fülle, die sich nachher verknö¬
chere. — Zweites Kapitel. V ergr öfscrung der
Knochen. Die sechs Wahrnehmungen über eine larrtcllen-
artige Exostose der Tibia, eine elfenbeinerne Exostose, völ¬
lige Verdickung der Diaphyse der Tibia, der Kniescheibe
und des unteren Endes des Oberschenkels, enthalten nichts
Neues. Krankhafte Knochen zeigen die lamellenartig- fibröse
oder häutig- fibröse Structur viel deutlicher, afs gesunde.
Das Marköl, verdorben oder in zu grofser Menge vorhan¬
den, scheine die Ursache der Trennung der Lamellen in
krankhaften Knochen zu sein. Die Ursache des verdorbe¬
nen Markes sei ihm unbekannt; doch sei sie wahrscheinlich
Entzündung, welche er auch für die Ursache der Knochen-
schmcr eil hält. — Das dritte Kapitel enthält zwei Be-
obaehtungen über Anchy losen, das vierte Kapitel
eine Beobachtung über Ostrosarcom, mit einer Abbil¬
dung des Skelets auf der fünften Kupfertafel, das fünfte
Kapitel vier Beobachtungen über Caries und INccro-
sis; Uaries ist das beginnende, die Necrosis das völlige
Absterben eines Knochens. Die fleischigen Knoten in dem
cariösen Knochen zeigen, dafs die Lrsache der Uaries das
Gefäfssystem zuerst ergreife. Die Necrosis des Mittelstückes
der unteren Kinnlade bei einem ( scrophulösen) Knaben,
deren Verlauf Pensa beschreibt, wird vom Verf. der Ge¬
walt, mit welcher die Zahnkeime auf die Alveolen wirkten,
zugeschrieben! — Im siebenten Kapitel werden Be¬
obachtungen und Bemerkungen über rhachiti-
sehe Knochen angeführt. Der Mangel an Phosphat und
das Uebcrmnafs der Gallerte machen in der Bhacbitis die
Knochen biegsam. Die Markhühle ist mit einer knöchernen
VI. Beobachtungen über die Knochen. i 85
Substanz angefüllt, die Wände sind an der Seite, welche
der gröbsten Biegung entspricht, dick und compact. Die
Gelenkenden sind verdickt, ohne dafs ihre dünne, äufsere
Kinde verdickt wäre. Die Zellen sind erweitert, und daher
die Gelenkköpfe ausgedehnt. Dies rührt von dem durch
die aufserordentliche knöcherne Masse in der Markröhre
vertriebenen Marköle her, welches sich auf die Gelenk¬
enden wirft (!).
Fünfte Hauptabteilung. Chemische Ele¬
mente der gesunden und kranken Knochen (Seite
147 b is 184). ln acht Kapiteln wird über das Kalkphos¬
phat, seine Quantität und Oxydation in den menschlichen
Knochen, über die Zersetzung und Wiederzusammensetzung
des Kalkoxyphospbats, über die Auflösung der Knochen¬
substanz in Salpetersäure und das daraus hervorgehende
Kalkphosphat, über die Quantität des Kalkphosphats in eini¬
gen Hörnern , im Fischbein, in den äufserlich und innerlich
neu erzeugten, so wie in den kranken Knochen gehandelt.
Aus den Zusammenstellungen der untersuchten kranken Kno¬
chen läfst sich scbliefsen, dafs die Zerbrechlichkeit der
Knochen nicht durch den Ueberschufs an Kalkphosphat
und Mangel an Gallerte, und die Erweichung der
Knochen nicht durch den Mangel an Phosphat bedingt
werde, sondern dafs vielmehr beide krankhafte Zustände
von der gröfseren oder geringeren Cohäsion ih¬
rer Bestandteile abhängen.
Im Anhänge handelt der Uebersetzer: 1) Ueber
die grüne Farbe der Gräten der Horn fische. Sie
hat in der Oberhaut der Gräte ihren Sitz, indem nach der
Entfernung der Oberhaut die Gräten graulich - weifs sind.
Diese grüne Farbe schien ihm anfangs vom Chrom abzu¬
hangen, was sich aber nicht bestätigte. 2) Ueber einige
in Pompeji gefundene Knochen und ihre Analy¬
sen. Der Febers, erhielt die während der Anwesenheit
Sr. Majestät des Königs von P reu Isen in Pom¬
peji ausgegrabenen Knochen durch die Güte des Hi n. Gehei-
i
186
\ II. Chirurgische Notizen.
«
menrnths von Wiehel, als: Bruchstücke vom Tarsus, Me-
tatnrsus und Metacarpus, eine Kniescheibe, ein Stück vom
Schulterblatt, mehre Schneide- und Stockzähne, und die
grülsere obere Wölbung eines Schädels. Die Zähne sind
ungewöhnlich leicht, hellgelb und haben den Schmelz voll*
kommen erhalten. Die Knochen haben das nämliche Anse¬
hen, sind mehr dunkel- als hellgelb, innen schnecweils,
nufserordentlich leicht zerbrechlich, federleicht, von der
gewöhnlichen Form, ohne Zeichen von Apophysen, die
Erhabenheiten sind beinahe verschwunden. Die vom Profes¬
sor Cassola mit dem Uebersetzer unternommene chemi¬
sche Analyse zeigte Kalkphosphat (48), Kalklluat, thie-
rischeu Stoff ( 2(>,50 ), Kalk, welcher sich mit Kohlen¬
säure vereinigt befindet (12), das Product der Verbren¬
nung der thierischen Materie, Phosphat von Magnesia mit
Soda (8), Sjyiren von lluorischer Säure, Eisenoxyd, Kie¬
sel, Alaun und VN asser. Diese Knochen unterscheiden sich
durch ihre Farbe und Zerbrechlichkeit von gewöhnlichen
ai'sgegrabenen Knochen und von denen ,dcr natürlichen
M umien. In Hinsicht des Gewebes lassen sie durchaus
keinen Fibernlauf beobachten, sondern scheinen ein einziges,
zusammenhängendes, zartes Gewebe zu bilden. —
Druck und Papier sind vortrefflich.
. Jäger.
VII.
Chirurgische Notizen.
1. J. Syme’s, Drei Fälle einer gelungenen l\e-
section des Ellbogengelenkes; mitgetheilt von Dr.
M. J. A. Schön.
Die Kesection des Ellbogengelenkes, eine Operation,
durch welche schon manchem Unglücklichen der Arm er¬
halten wurde, der vor Entdeckung derselben stets durch
187
VII.' Chirurgische Notizen.
die Amputation verloren ging, schlug zuerst der englische
A\ undarzt Park vor. An Lebenden machte sie zuerst im
Jahre 1797 Moreau der Vater, und zwar dreimal, und
jedesmal mit glücklichem Erfolge. Nach ihm vollzogen die¬
selbe Champyon, lustamond, Tyre, und neuerlich
Crampton; alle erhielten ein glückliches Resultat. — An
diese Fälle schliefsen sich nun die drei neuesten vonSyme
in jeder Hinsicht an, welche ich den deutschen Aerzten
mitzutheilen mich beeile. —
Syme schickt der Beschreibung derselben einige ailge-
meine Bemerkungen über die Behandlung der Caries voran,
von denen ich das Wesentlichste aushebe. — Die Caries
kommt in der Regel in Knochen von sehr zelliger und
schwammiger Textur vor, und wenn sie sich in platten
oder cylindrischen Knochen findet, so geht derselben stets
eine krankhafte Ausdehnung der festen Structur jener vor¬
her, gegen welche Vesicatore und der innere Gebrauch des
Sublimates sehr wirksam sind, und w eiche S yme Pseudo-
caries nennt. Die verschiedenen Arten der Caries, die
feuchte (humidj), wurmstichige, fleischige u. s. w., beru¬
hen auf einer Verwechselung dieser Zustände mit anderen
Krankheiten des Knochengewebes. — Ein cariöser Knochen
sieht nach der Maceration aus, als wenn er verbrannt wäre,
\
er ist härter, weifser und brüchiger, als gewöhnlich, und
zeigt stets Vertiefungen, welche die zellige Structur zu
Tage legen; überhaupt gleicht er sehr einem Stück Zucker,
welches durch ein momentanes Eintauchen in heifses Was¬
ser theilweise aufgelöst worden ist. — Caries dringt nie
sehr tief in die Knochen ein, ist meistens sehr begränzl;,
womit oft die Hartnäckigkeit der Symptome in grofsem
V iderspruche steht. — Der abfliefsende Eiter bei Caries
unterscheidet sich durch nichts von gutem Eiter. — Caries
entsteht nicht durch gewaltsame äufsere Verletzung, wie
Necrose, sondern durch eine Entzündung, wiewohl diese
nicht immer Bein frais der Knochen zur Folge hat, wie
I
man es bei complicirten Fracturen, nach Amputationen u. s. w.
188
VII. Chirurgische Notizen.
zu sehen Gelegenheit hat. — Caries kommt ferner bei
schwächlichen und ungesunden (Konstitutionen und bei sol¬
chen, in denen grofse Anlage zum Scorbut, zur Gicht und
Rheumatismus vorhanden ist, vor. — Ihre Behandlung zer¬
fällt in eine palliative und radicale. — Alle Acrzte stimmen
aber jetzt sicher wohl darin überein, dafs die Krankheit
durch äufsere Mittel nicht zu heilen ist, sondern einzig und
allein nur durch gänzliche Zerstörung der kranken Parthie.
Zu dem Ende wendet man Aetz mittel, Cauterien und
die Excision an, von denen die ersten sehr unwirksam
sind; das Cauterium actuale kanu in den meisten Fällen
nicht auf die ganze krankhafte Fläche angewandt werden,
und seine Einwirkung ist sehr begränzt. Die Excision
ist unstreitig die beste Methode, indem durch sic in wenig
Secunden mehr ausgerichtet werden kann, als durch das
Glüheisen in "Wochen und Monaten. Der Kpochcn mufs
dabei so weit als möglich frei gelegt und mit der Exci¬
sion so lange fortgefahren werden, bis man fühlt, dafs
man in den gesunden Knochen schneidet. — Die nach-
herige Anwendung des Glüheisens ist jedenfalls zu verwer¬
fen. Sind grofsc Gelenke cariös, so ist es besser, die
Gelenkenden mit einemmale, als stückweise zu entfernen;
indefs mufs man sich hüten, nicht zu viel wegzunehmen,
indem die (Karies nie sehr in die "l iefe geht. — Einige
Zolle rund um die cariöse Parthie findet sich stets eine
Ablagerung von neuer Knochenmasse, welche Erscheinung
man bis jetzt oft für eine * krankhafte gehalten hat; allein
während die cariöse Fläche rauh, löcherig und scharf ist,
ist jene neue Knochenpartbie erhaben und glatt, und siebt
aus, als wenn flüssige Knochenmasse zu Tropfen geronnen
sei, und ähnelt t heil weise geschmolzenem Zucker. — Die
Operation selbst ist nicht so schmerzhaft, schwierig und
gefährlich, als man zu glauben pllcgt, denn unter den»
Gelenke w'ird auch der durch seine Fnlztindung so verru¬
fene Synovialapparat gleichzeitig entfernt, und meistens ist
das eigentliche Gelenk schon durch die vorhergehende Krank-
189
\ II. Chirurgische Notizen.
heit zerstört worden. — Man kann in cariöse Gelenke, so
gut wie in Abscesse, ohne Nachtbeil einschneiden, und die¬
selben mit weniger Gefahr entfernen, als ein Glied ampu-
tiren, indem durch die Erhaltung des Gliedes, caeteris pa-
ribus, das Gleichgewicht in den Functionen des Körpers
weit weniger gestört wird. Die Schmerzen und die Un¬
annehmlichkeiten dieser Operationsweise können, wenn von
der Erhaltung eines ganzen Gliedes die Rede ist, nicht in
Betracht kommen. —
Am leichtesten für den Wundarzt, und am wohlthä-
tigsten für den Kranken, ist die Excision des Schulter- und
Ellbogengelenkes. — Sy me machte zwei Fälle der Re-
section des Schultergelenkes bis jetzt schon bekannt; die
drei das Ellbogengelenk betreffenden sind folgende:
Erster Fall. ■ \
Herr Y. , 24 Jahre alt, empfand vor vierzehn Monaten
zuerst flüchtige Stiche im rechten Ellbogengelenk, ohne
eine bekannte Ursache, und achtete auch nicht viel auf
dieselben, bis sie nach einigen Monaten sich vermehrten
und der Arm so schwach wurde, dafs er ihn nicht anhal¬
tend anstrengen durfte. — An das beträchtlich angeschwol¬
lene Gelenk wurden ohne Erleichterung Blutegel gesetzt,
warme Umschläge über dasselbe wochenlang gemacht, und
zuletzt über dem inneren Knorren des Oberarmes ein Ein¬
schnitt, wodurch viel Eiter entleert wurde; auch wurden
noch mehre Einschnitte am Vorderarme zu demselben
Zwecke angebracht. — Dennoch blieb aber ein tief sitzen¬
der, Nachts besonders heftiger Schmerz, der ihm die Ruhe
raubte, und sehr beunruhigend war. — Mitte Octobers 1828
sah Sy me zuerst den Kranken, und fand sein Allgemein¬
befinden besser, als man es hätte erwarten sollen. — Doch
waren seine Gesichtszüge sehr leidend, und hatten den
ängstlichen Ausdruck, der so oft Knochenkrankheiten be¬
gleitet. — Der Arm war ohne alle Kraft, konnte etwas
ohne eine hörbare Crepitation bewegt werden, und
war
190
\ II. Chirurgische .Notizen.
t \
von» unteren Driltheile des Oberarmes an Ins zur Ha ml
üdeniatüs. — Obgleich S. vollkommen überzeugt war von
einer Krankheit des Gelenkes, s o konnte er doch eine Sonde
nicht bis zum Knochen einbringen; entdeckte aber zuletzt
doch einen Weg, der zum Olecranon' und hinteren l heile
des Oberarmes führte, welcher cariüs zu sein schien. —
Da die Krankheit nur auf die Knochen begranzt schien,
der Kranke jung war und der Nachtheil «1er Krankheit
gröfser war, als «lie Heizung, welche durch die Operation
entstehen konnte, so entschlof? sich S., am dritten Novem¬
ber die Kesection des Gelenkes vorzunehmen. —
Nachdem dem Kranken eine zweckmäfsige Lage gege¬
ben war, machte S. gleich über dem Olecranon eine trans-
versclle Incision in das Gelenk hinein, vergröfserte «ien
Schnitt bis zum äufseren Knorren des Oberarms und bis
zum inneren, hier aber nur so weit, dafs «1er Ulnarnerv
nicht verletzt wurde. — Mit dem in die Wunde einge-
braebteu Eiuger fühlte er nun alle Knochen krank. An
jedem Ende des Schnittes machte er daher nach oben und
unten einen 1^ Zoll langen Schnitt, und bildete so zwei
grofse Lappen, welche, Von den unterliegenden Knochen
getrennt, «liese frei darlegten. Nachdem er sich überzeugt
hatte, dafs der Kronenfortsatz der Ulna cariüs sei, so sägte
er sie an diesen» Theile durch, und darauf das blolsgeleglc
Ende des Oberarms gleich oberhalb der Knorren eben¬
falls. — Zuletzt entfernte er den sehr entarteten Kopf des
Radius. — Kein Gefäfs wurde unterbunden ; die Jilutung
der Schnittilächen war inäfsig , sie wurden mit kalttun Was¬
ser einigemal befeuchtet; dann die Lappen einander genä¬
hert und durch eine Natb in jedem perpeudiculärcu, und
drei in dem transversalen Schnitte in der Lage erhalten.
Einige Stücke Leinwand und eine Linde wurden angelegt,
und der Kranke ins Rett gebracht. — Am folgenden Mor¬
gen sah derselbe sehr angegriffen aus, und halte in der
Nacht, trotz eines Opiates, nicht geschlafen. Der Puls
war normal, kein Erösfeeln eingetreten, Oeffnung fehlte seit
191
Vil. Chirurgische Notizen.
zwei Tagen, weshalb ein Klystier verordnet wurde. Am
Abend befand er sich recht wohl, der Puls war weich, die
Zunge rein, der ängstliche Ausdruck des Gesichtes wie ver¬
schwunden. — Der gröfste Theil der Wunde heilte per
primam intentionem, und hinterliefs eine geringe Deformi¬
tät; die Vollendung der Cur aber ward durch ein Oedem
des Armes verzögert, welches die eben gebildeten Narben
ausdehnte und die Zusammenziehung der Theile verhinderte,
welche nicht per primam intentionem heilten. Deshalb
wandte S. Bähungen von warmem Salzwasser und den
Druck einer fest angelegten Flanellbinde an. Dieselbe Er¬
scheinung sah S. auch bei der Christiane JLaying, der
er vor vier Jahren das Schultergelenk resecirte, und ent¬
fernte sie durch dieselben Mittel. Die Frau befindet sich
fortwährend wohl, und gebraucht ihren Arm zu allen ge¬
wöhnlichen Arbeiten, Nähen, Stricken u. s. w. Flerr Y.
hatte im Februar 1829 fast ganz die Stärke des Armes
wieder erlangt, und kann ihn in ziemlicher Ausdehnung
leicht bewegen. Er schreibt schon mit der Hand, und
wird in kurzem im vollkommenen Gebrauche seines Armes
sein. — /
Zweiter Fall. \
/
Der achtjährige Knabe A. L. fiel im Februar 1828,
als er mit anderen Kindern spielte, auf seinen linken Ell¬
bogen. Das Gelenk schwoll bald an, ward steif, schmerzte,
und erst im April kam die Mutter mit dem Kinde zu Hrn.
Sy me. Der Arm war ganz gerade, fast unbeweglich, der
Ellbogen sehr geschwollen. Es bildete sich, trotz der
gewöhnlichen Mittel, ein Abscefs, der an der äufseren
Seite des Ellbogens, zwischen Radius und Olecranon, ge¬
öffnet wurde. — Da das Allgemeinbefinden des Knaben
sehr schlecht war, so ward er auf das Land geschickt, von
wo er Mitte Augusts gestärkt in die Stadt zurückkehrte,
mit beweglicherem, und nicht so geschwollenem Gelenke. —
lm October führte S. eine Sonde durch die nicht geschlos-
192
VII. Chirurgische Notizen.
sene Fistelüffoung ein, und fand das Olecranon cariös. —
Am 20. October legte S. das Olecranon Idols, entfernte
mit einer scharfen Zange einen grofsen Theil desselben
und zog mehre lose Knochenstücke aus, welche in der
Mitte des ausgedehnten Olecranon lagen; er glaubte, diese
Kuochenstiicke hatten die Hartnäckigkeit des Uebels veran-
lafst, und verband die W undc mit trockener Charpic.
Wiewohl der Knabe nicht im Bette, selbst nicht einmal im
Hause blieb, erlangte die Wunde doch ein gutes Aussehen,
zog sich indessen bis auf die frühere Grüfse zusammen, und
eine eingefiihrte Sonde iiefs noch andere kranke Knochen-
parthieen entdecken. S. machte daher am 27. November
einen, einem Andreaskreuze ähnlichen Kreuzschnitt, schlug
die vier Lappen zurück, durchschnitt unterhalb des Kronen¬
fortsatzes mit einer scharfen Zange die Ulna und entfernte
den Theil, wegen seiner Verbindung mit dem Brachlacus
internus, nicht ohne Mühe. J)a der Mittelpunkt der runden
Geleukfläche des Radius ebenfalls cariös war, so ward der
Kopf desselben ebenfalls entfernt, und eben so die ganze
Gelenkfläche des Oberarms, weil der äufsere Knorren un¬
gesund war. — Die Enden der Wundlappen wurden mit¬
telst fünf Näthen einander genähert. Die Blutung war
sehr gering, Ligaturen waren nicht nothwendig. — Das
Allgemeinbefinden war nach der Operation gut, aber die
Wunde wollte per primam intentionem nicht heilen; die
Eiterung war sehr reichlich, minderte sich aber nach eini¬
gen Tagen. Nach drei Wochen war alles geheilt. Der
Arm konnte rolirt, gebogen und ausgestreckt werden, und
im Februar konnte der Knabe schon Gewichte mit demsel¬
ben heben. —
Dritter Fall.
Ossory Fitzpatrick, 41 Jahre alt, ein Schiffszim¬
mermann, empfand vor einem Jahre zuweilen vorüberge¬
hende Schmerzen im liukcn Ellbogen, und Steifheit des¬
selben; doch erst vor drei Monaten konnte er den Arm
nicht
4
VII. Chirurgische Notizen.
193
nicht mehr gebrauchen, weil das Gelenk anschwoll, heftig
schmerzte, und das Allgemeinbefinden gleichzeitig sehr ge¬
stört wurde. Das Fieber hörte bald auf, aber Geschwulst
und Schmerz blieben. Ein Abscefs wurde geöffnet; es er¬
schienen mehre freiwillige Oeffuungen , welche nicht hei¬
len wollten. — Am 1. Januar 1829 wandte der Mann sich
an Iirn. Sy me, der mittelst einer Sonde, die er durch
inehre Oeffuungen einführte, das ganze Gelenk cariüs
fand. — Am 3. Januar machte er, mit Einwilligung des
Kra.iken, die Excision. — S. bildete, wie im ersten Falle,
zwei Viereckige Lappen, und da er die Lina bis zum Kro¬
nenfortsatz cariös fand, so sägle er das Olecranon ab und
entfernte das übrige mit der scharfen Zange, wodurch das
Hiudernifs, welches die Verbindungen mit dem Brach iaeus
internus verursachte, ganz gehoben wurde. Dann sägte er
den Kopf des Radius, der ganz cariös war, und das Ende
des Oberarms sammt den beiden Knorren ab. — Ligaturen
waren nicht nötlng-; mit sechs Näthen wurden die Wund-
ränder vereinigt, Cjiarpie aufgelegt, und der Arm mittelst
einer Rinde unterstützt. — Die ganze Operation dauerte
eine Viertelstunde, wegen der festen Verbindung der Kno¬
chen mit den benachbarten Theilen. — Die Wunde heilte
vollkommen per primarn intenlionem, eine kleine Stelle
ausgenommen, und das Allgemeinbefinden des Kranken war
vortrefflich. Nach drei Tagen1 ging der Kranke schon aus,
und nach vierzehn Tagen w'ar die Heilung vollendet. —
Die Bewegungen des Armes sind nicht geschmälert, und
von einer Entstellung ist keine Spur vorhanden. —
Weder in diesem, noch in den anderen Fällen wurde
der Llnarnerv, wie vorgeschrieben wird, zur Seite gehal¬
ten, sondern S. verliefs sich allein auf seine Kenntnifs der
Lage desselben. —
Schlielslich meint S. noch, dafs seine Falle sowohl,
als die früheren von Moreau und Crampton, hoffent¬
lich die Wundärzte bewegen werden, recht sorgfältig den
ihnen vorliegenden Fall zu überlegen, bevor sie einen Ln-
XIV. Bd. 2. Sc 13
l‘U
/
\ 11. Chirurgi.sche Notizen.
glücklichen durch die Amputation des Arnims bcj Krankhei¬
ten des Lllbogengelenkes verstümmeln. — (Kdinbnrg. med.
and surgic. Journ. Vol. XXI. 1829. p. 256 — 266.)
2. Anatomische Untersuchung eines O b e r s c hen¬
ke I s , an «lern vor 27 Jahren ein Aneurysma po-
pliteae, nach der Hunte r sehen Methode, ope-
rirt worden war; von Scarpa. — Mitgetheilt vom
Dr. Lieber.
Wenngleich in der neueren Zeit niemand mehr an
dem Gelingen der Operation des Aneurysma nach der*
Ilunterschen Methode zweifelt, auch die Wege bekannt
sind, auf denen das Blut, wenn der Ilauptarterienstamm
eines Gliedes verschlossen ist, zu den tiefer liegenden Ge¬
bilden gelangt; so sind immer noch anatomische Beschrei¬
bungen so operirter Glieder (besonders lange Zeit nachdem
dies geschehen) gewifs von hohem Interesse, vorzüglich
aber, wenn sie von einem Meister herrühren. Ich hoffe
daher dem deutschen ärztlichen Publikum einen kleinen
Dienst zu leisten, wenn ich die vorliegende Abhandlung,
deren ganzer Titel folgender ist: Ksame comparativo de!
sistema arterioso di ambe due gli arti inferiori ne! cadavere
di un uorno, il quäle, 27 anni fa, era stato operato elaneu-
risma popliteo nell’arto destro col metodo Hunteriano;
del cavaliere professore Scarpa; und die sich in: Annaii
universali di niedicina da Annäbali Omodci Vol. XLV I.
Fase. US. Giugno 1828. befindet, in einer Lebersetzung
mittheile.
Der Gegenstand dieser Untersuchung ist die Leiche des
Joseph Fiorini, von dem in der ersten Beobachtung
am Kn du meines Werkes « ii her Aneurysma '* die Kedfc ist.
Dieser Manu genofs, 'on der Zeit des glücklichen Aus¬
ganges der Ilunterschen Operation, die an ilmi vollzogen
war, bis zu seinem lode die vollkommenste allgemeine
\I1. Cbirnrgiscl ic Notizen. 1 9 ö
. 4
Gesundheit, und niemals beklagte er sich, nachdem das
durch den Rifs der Arteria poplitea entstandene häutige
(Votennoso) Gerinnsel vollkommen aufgesogen war, über
irgend eine R es ch werde in irgend einem Theile der rechten
unteren Extremität, deren er sich vielmehr, in seinem be¬
schwerlichen Dienste als Krankenwärter in dem hiesigen
Givilhospital , mit eben der Leichtigkeit und Kraft bediente,
als der linken.
Dieser glückliche Ausgang der Hunterschen Opern-
tionsmethode , in Verein mit vielen ähnlichen, mit denen
die Geschichte der neueren Chirurgie bereichert ist, würde,
um die Wahrheit zu sagen, für sich allein, und ohne ana¬
tomische Untersuchung hinreichend sein, um auf die ge¬
nügendste Art zu beweisen, dafs die Unterbindung der
Arteria cruralis am Oberschenkel ausgeführt werden kann,
ohne zu befürchten, dafs der übrige T heil der ganzen un¬
teren Extremität der gehörigen Menge Blutes und der Le-
bensthätigkeit beraubt werde, die er vor dem Verse hliefserl
dieser seiner Hauptarterie genofs. Nichts desto weniger,
so schmeichele ich mir, möchte es meinen Kunstgenossen
nicht unangenehm sein, diese wichtige Wahrheit nicht blofs
durch physiologisches Raisonnement und durch Thatsachen
zu kennen; sondern auch durch die Ansicht, und gleichsam,
um so zu sagen, durch das Berühren der Meisterschaft der
Natur, die durch die Kunst unterstützt wird, mit der sie
bei der Heilung einer so schweren Krankheit, wie ein
äufseres Aneurysma ist, den Verlust zu ersetzen, und ein
ungewöhnliches Verfahren zur Erhaltung der Circulation und
des Lebens des ganzen operirten Gliedes, ungeachtet der
Unterbindung und der Verschliefsung der Hauptarterie,
durch die dasselbe versorgt wird, anzuwenden weifs.
Arteria cruralis.
Indem ich die Untersuchung von dem obersten Theile
des Gliedes, das vor so langer Zeit operirt w'ar, begann,
13 *
1 OG
VII. Chirurgische 'Notizen.
fand sich, dafs die Arteria iliaca communis und die iiiaca
interna, so wie die vielen und grofseu \ erzweigungen die¬
ser nach innen und nulscn, und innerhalb des Leckcns, und
gleichfalls die Anastomoscn derselben mit der Arteria femo-
ris profunda, weder in der Zahl, noch in der Gröfsc von
denen des linken Leines verschieden waren. Lben dasselbe
läfst sich von der Pudenda externa sagen. Im Gegensatz,
mit allen diesen war die Arteria cruralis dextra in ihrem
Verlaufe über und unter dem Ligamentum Poupartii, vor
Ursprung der Profunda femoris , deutlich erweitert und
stärker als die ihr correspondirende linke. Hier ist zu be¬
merken, dafs diese Hauptarteric des untere»» Gliedes an dem
oberen Drittheile des Oberschenkels, etwas vor der Stelle,
wo sic im naturgemäfsen Zustande von »lern Musculus sar-
torius, den sie schräg durchkreuzt, bedeckt wird, unter¬
bunden war. liier erblickte man die ^ irkung der Liga¬
tur, die nicht allein in einem vollkommenen \ erschließen
des arteriellen Kanals an der Stelle, wo die Schlinge gele¬
gen hatte, sondern auch einen grofsen I\aum ober- und
unterhalb des Zusammenschniirens, d. h. nach obeu bis zu
einem Zoll unterhalb des Ursprunges der Profunda femo¬
ris, und nach unten ßis nahe an die Höhle der Kniekehle,
oben bis auf wenige Linien über den Ursprung der beiden
Tibialcs anteriores, bestand; und hier glich die ehemalige
Arteria poplilea nun mehr einer starken Geigensaite, ln
der Mitte ungefähr des ganzen Verlaufes der Arteria cru¬
ralis, oder von den Weichen bis zur Kniekehle, befand
sich ein Theil dieses Gefäfses von der Länge vor» vier Zol¬
len offen, d. h. 2wei Zoll oberhalb der Spaltung der Sehne
des Adductor magnus, und zwei unterhalb des l eberganges
der Ader in die Kniekehle. Diese offene Stelle der Arteria
rruralis, obgleich angefüllt und ausgedehnt von (Ter cinge-
spritzten Wachsmasse, erschien doch weniger stark, als
der correspondirende Theil des arteriellen Kaoals im lin¬
ken Leine.
Lei der I ntersuchutig, auf welchem ege die Wachs-
197
VII. Chirurgische Notizen.
masse in diesen Theil des arteriellen Kanals gekommen,
fand es sich, dafs sie durch einen anastomosirenden Zweig
von mafsiger Stärke gedrungen war, der von der Arteria
perforans tertia, der Fortsetzung der profunda femoris ent¬
sprang, und in den oberen Theil der ganz offenen Partie
der Schenkelarterie einmündete. Bei forlgesetzter Unter¬
suchung zeigte sich zwei Zoll, wenig mehr, unter dem
Eintritt dieses anastomosirenden Zweiges, der aus der offe¬
nen Cruralis entsprang, die starke sogenannte Arteria per¬
forans inferior von Murray durchaus offen und voll von
VVachs, unterhalb mit verschiedenen Zweigen der Perfo¬
rans tertia und mit zahlreichen Aesten dem Ramus descen-
dens der Circumflexa externa tommunicirend. Es ist also
deutlich, dafs durch diese Einrichtung das Blut, das durch
den anastomosirenden Ast der Perforans tertia in den obe¬
ren, wegsam gebliebenen Theil der Cruralis eindrang, nach
unten aus derselben durch Murray s Perforans inferior
wieder abflofs. Und da der Impuls des eingeführten Blu¬
tes, der Kleinheit des anastomosirenden Zweiges wegen,
nur gering sein konnte, der Abflufs nach unten aber leicht
war, so fand, während des Verlaufes von 27 Jahren, keine
widernatürliche Ausdehnung dieses offenen Theiles der Cru¬
ralis, noch irgend eine Veränderung in dem Gange der
Circulation des Oberschenkels und des übrigen Gliedes statt.
Wäre der Abflufs des Blutes hier verhindert gewesen, so
würde Gerinnung desselben in dieser offenen Portion der
' - • •
Cruralis, und die allmählige Verwandlung derselben in ein
Ligament, die nolhwendige Folge gewesen sein; wie dies
in dem übrigen Stamme der Arterie, von der die Rede ist,
der Fall war.
Uebrigeus fand sich keine Spur von dem häutigen Ge-
rinsel in der Kniekehle.
Arteria profunda femoris.
Die grofse Menge von arteriellen Gefafsen, welche
sich überall an dem rechten Oberschenkel der Leiche,
11)8
VII. Ciiit'itrgiäi he ISolizeu.
\on «In die Hede ist, zeigte, könnte bei denen, die in der
Augiologie uirlit gehörig bewandert sind, kein geringes
Frstaunen erregen, wie es möglich sei, dals bei ziemlich
hoch oben verschlossener Arteria cruralis, die durch die
Aorta abdominalis injicirle Masse nicht blofs die Verzwei¬
gungen der Profunda femoris, sondern auch alle Fortsetzun¬
gen, selbst die kleinsten der Cruralis habe anfüllen können.
Fs wird dies Frstannen sogleich aufhören, wenn sie hei
der angiologisch - anatomischen Untersuchung ihre Aufmerk¬
samkeit auf die Profunda femoris richten, die nicht weniger
stark ist, als die Cruralis derselben Seite, und zugleich auf
die zahlreichen V erästi ‘lungen und die vielfältigen Anasto-
mosen der Profunda mit den Zweigen der Cruralis, obgleich
diese letzten nicht mit dem obliterirteu Stamme, von dem
sie ausgiiigcn, cominunicirten.
Die Arteria profunda femoris auf der rechten Seite
übertraf, sowohl hei ihrem Ursprünge, als in ihren vielen
V erzweigungen, an Stärke bedeutend die der linken Seite. —
Die beiden Arteriae circumflexae, die zuerst aus ihr ent¬
springen, die interna nämlich und die externa, waren ver-
hältnifsmäfsig nicht sehr erweitert. Der absteigende Ast
aber der Uircumflexa externa war wenigstens um das Dop¬
pelte gröber als der entsprechende am linken Deine. Zahl¬
reich und grofs waren die Zweige, welche diese Arterie
dem Musculus vastus exlernus, dem Sartorius, Kectus, Cru-
ralis und dem Vastus internus giebt, die mit denen, welche
die Cruralis im natürlichen Zustande diesen Muskeln giebt,
obgleich hei ihrem Ursprünge aus dem ursprünglichen
Stamme verschlossen und verwachsen, anastomosirten.
ln der Vertheilung der Profunda femoris folgen auf
die Uircumflexa externa die Arteriae perforantes, die unter
sich als «lie erste, zweite und dritte unterschieden werden.
Fin jeder dieser drei ausgezeichneten Zweige der Profunda
der rechten Seite war um das Dreifache grüfser als am I in-
ken Fulse. Fin jeder war überdies auf eine besondere
NYei>e gekrümmt , uud gleichsam gegen sich seihst zurück-
I
\ II. Chirurgische N otizen.
1 99
gelingen, was sich an der anderen unteren Extremität
nicht zeigte.
Die Perforans prima geht von dem vorderen Theile
des Oberschenkels nach dem hinteren, und, in mehre Aeste
vertheilt, durrhdringt sie den oberen Theil der Flexoren
des Beines. Es entsprang aus diesem Gefäfse ein sehr be¬
deutender Zweig, der zum Nervus ischiadicus tritt, und
. >
denselben bis zur Kniekehle begleitet. Dieser Zweig der
Perforans prima, kaum sichtbar am linken Fufse, war am
rechten von der Dicke einer Taubenfeder , dabei sehr ge¬
krümmt und traubenförmig ( pampiniforme). Am oberen
Theile der Flexoren des Schenkels anastomosiren die Zweige
der Perforans prima mit den Acsten, die oberhalb von der
Cruralis entstehen, wiewohl sie jetzt bei ihrem (ehetnali-
gen) Ursprünge keinen Zusammenhang mit dem Stamme des
Hanptgefälses, das in ein Ligament verwandelt ist, haben.
Die Perforans secunda , vielfach mit der ersten anasto-
mosirend, vertheilt sich auf die hintere Seite des Ober¬
schenkels in der Mitte des Adductor rnagnus, in den langen
Kopf fies Biceps femoris, des Semimembranosus und Semi-
tendinosus, und in der Substanz dieser Muskeln ging die
genannte Arterie Verbindungen mit nicht wenigen und nicht
kleinen Zweigen ein, die von der Cruralis herkommen, ehe
der obliterirte Stamm derselben durch die Spalte der Sehne
des grofsen Adductor tritt.
Die Perforans tertia trat in Verbindung mit den bei¬
den Perforantibus superioribus und mit dem starken abstei¬
genden Aste der Cireumflexa externa, von dem, als anasto-
mosirenden Zweige kurz vorher die Rede war, und der
sich in den ganz offenen Theil der Arteria cruralis öffnete,
und yertheilte sich hierauf in die Musculi adductores femo¬
ris, und in den kleinen Kopf des Biceps femoris. Hier,
und an mehren Stellen , ging die Perforans tertia V erbin¬
dungen mit starken Zweigen der Perforans inferior Mur-
rayi, wie gesagt, der Fortsetzung der unten noch wegsa-
men Cruralis, ein.
200
VII. Chirur gische Notizen.
Fs ist also erstens deutlich, dafs vermittelst dieser Ver¬
bindung die zahlreichen und starken Zweige «1er Profunda
femoris mit «len Zweigen der Cruralis anastomosirtea, und
dafs folglich die in die Profunda injicirle Masse kein Hin¬
dernd';* fand, um von den Fortsetzungen der Profunda in
«lie der Gruralis zu dringen, obgleich, wie es mehremal
gesagt ist, «üese letzten durchaus keine Verbindung mehr
mit ihrem Hauptslamme, der schon in ein Ligament ver¬
wandelt war, halten. Zweitens ist es deutlich 4 dals die in
«lie Aorta abdominalis injicirle Masse, nachdem sie alle ar¬
teriellen Zweige «ler beiden Arteriae femoris am Oberschen¬
kel angeftillt hat, nach unten in das arterielle Gellecht,
das «las Knie umgiebt, tritt, von da in die sogenannten Ar¬
teriae articulares «lesKniees, und aus diesen in die Arteriae
tibiales herabsteigt.
%
Arteriae articulares superior es und inferiores,
internae und extern ae des Kniees.
Wenn im Anfänge gesagt ist, dafs an dem rechten
Peine, an dem das Aneurysma operirt war, «lie Arteria
poplitea zwei Zoll unter der Spalte in der Sehne des grofsen
Adductor, bis zu wenigen Linien über dem l rsprung «ler
beiden Tibiales verschlossen und in ein Ligament verwan¬
delt war, so ist jetzt zu bemerken, dafs bei einer so bedeu¬
tenden Obliteration der Arteria poplitea nothwendig folgen
mufste, dafs alle, o«ler der grofsere T' heil der Arteriae ar-
ticulares nicht aus dem Stamme der Arteria poplitea^ «;ic
in der Kniekehle liegt, entspringen konnten. — So fand
es sich auch, mit Ausnahme «ler Arteria articularis inferior
• •
evterra, die indefs für sich allein nicht hinreichend gewe¬
sen \v;ire in die Tibiales so viel Blut zu bringen, als er¬
forderlich ist, um «las Leben und die Ernährung in dem
übrigen Tbeiie der unteren Extremität zu erhalten. Die
Matur halte in dem vorliegenden Falle einen Ersatz fiir die¬
sen Mangel zu finden, und das Abslerben «les l nterschen-
kels und des Fulscs zu verhindern gewuist.
201
VII. Chirurgische Notizen.
Die Wachsmasse nun, nachdem sie, wie gesagt, auch
die kleinsten arteriellen Zweige des Oberschenkels, sowohl
der Profunda femoris, als der Cruralis, vollkommen ange-
Oi 11t hatte, trat von den unteren Verzweigungen der Profunda,
der i iircumflexa externa und der Perforans inferior der Cru¬
ralis, in das weite arterielle Gefäfsnetz, das von der Arte-
ria articularis superior interna und externa gebildet wird,
und die beiden Seiten des Kniees und der Kniescheibe ober-
%
halb bedeckt. Aus diesem trat die Injectionsmasse in die
Arteria articularis inferior interna und externa, die an der
Dasis des Kniees liegen. Eine Quantität dieser Masse trat
aus dem Stamm der Articularis inferior externa in den ganz
offenen unteren Theil der Arteria poplitea, und folglich in
den Ursprung der beiden Tibiales. Der Stamm aber der
Articularis inferior interna war nicht mehr in Verbindung
mit der in ein Ligament verwandelten Poplitea 1 ). — Die
Natur versorgte auf eine andere Weise, als die äufsere Seite
des Kniees, die innere; d. h. da der gewöhnliche Stamm
der Arteria articularis inferior interna fehlte, so liefs sie aus
derselben drei bedeutend starke entspringen. Eine dersel¬
ben verlief unter dem Ligament der Kniescheibe und ver¬
band sich mit dem Stamm der Tibialis recurrens, von der
sogleich die Rede sein wird; die zweite, an der inneren
Seite der oberen Extremität der Tibia verlaufend, nachher
sich rückwärts beugend, verband sich mit der Tibialis po-
stica, ein wenig unterhalb des Kniees; die dritte, gröfser
als die beiden vorhergehenden, stieg längs der inneren Seite
der Tibia herab, und sich allmählig nach der ^hinteren Seite
dieses Knoche'ns wendend, verband sie sich mit der Arteria
tibialis posterior, ungefähr in der Mitte des Unterschenkels.
1) Die
jj l i Lea* an «1er
der Ursprung
terna ist oft
Muskeln der
Insertion der Articulares inferiores in die Po-
liasis des Kniees ist oft sehr verschieden, so wie
der beiden Tibialcs. Die Arlicularis inferior in-
nur ein Zweig der eigentümlichen Arterien der
Wade.
i
20 2 \ II. Cliiriirgisclie Notizen.
Zu diesem bedeutenden Krsatz kam noch der durch
die eben genannte Arteria tibialis recurrens, die an» rech¬
ten Fulse wenigstens um das Dreifache stärker war, als die
linke. Diese Arterie wird, wegen ihrer vielen und starken
Verbindungen mit den Articulares superiores und inferio-
%
res, die über die Seite und die ganze Oberfläche des knices
verbreitet sind, so wie durch die \ ereinigung des Stammes
derselben mit der Tibialis anterior, unter den oben ange¬
gebenen Umständen, und bei einer Yersrhlielsung der
Poplitea, ein IJawptwrg für den l cbergaug des Blutes im
Lebenden, und der 'Vachsmasse im Todteu, von den Ar¬
terien des Oberschenkels in die des l nterschenkels und des
Fufses. Auch will ich* nicht mit Stillschweigen den Nutzen
übergehen, der durch die aufserordentlich erweiterten und
gekrümmten Arterie entsteht, die von der Perforans prima
ausgeht und den Nervus ischiadicus hegleitet. Denn nach¬
dem sie, gewunden und gekrümmt, den genannten Nerven
bis zur Kniekehle, oder eigentlich bis zu seiner Theilung
in den Tibialis und Peronaeus begleitet batte, trennte sie sich
von beiden, lief auf der inneren Seile um den oberen Kopf
der Fibula, anastomosirle mit dem einen der Hauptäste der
Articularis inferior externa, und nachdem sie sich nach
innen gewandt, mündete sie gänzlich in die Tibialis ante¬
rior. Kn di ich ist noch zu bemerken, dafs die, in Vergleich
zum linken Fufs, bedeutende Stärke aller Arterien, welche
die Seite des rechten Kniees und die Kniescheibe bedecken,
diese aufserd cm noch, keine ausgenommen, auf eine beson¬
dere und ungewöhnliche Weise gebogen, und, un» so zu
sagen, traubenförmig waren, was am linken Fufsc nicht
statt fand.
Zusätze.
I) Wenn die Ilauptarterie eines Gliedes an irgend
einer Stelle ihres ganzen Verlaufes unterbunden ist, so be¬
schränkt sich die \ erschlielsiing derselben, die darauf folgt,
nicht auf den Punkt wo die Schlinge lag, sondern im V’er-
VII. Chirurgische Notizen. 203
lauf der Zeit verbreitet sich die Übliteration mehr oder
weniger über und unter denselben.
2) Immer, oder in den mehresten Fällen, bleibt im
Verlaufe des verschlossenen und in ein Ligament verwan¬
delten Gefäfses hier und da ein mehr oder weniger langes
Stück noch für das Blut wegsam, wenn auch eine bedeu¬
tende Zeit, selbst mehre Jahre, nach der unternommenen
Unterbindung verflossen sind, ohne dafs jedoch aus diesem
Offenbleiben eines Theiles des Stammes der unterbundenen
Arterie irgend ein nächtheiliger Eintlufs auf den Ausgang
der unternommenen Operation nach Hunter’ s Methode
erfolgte.
3) Es ist die Meinung derer ganz h-'-g, die, der zahl¬
reichen glücklichen Ausgänge der Hunterschen Operations¬
methode ungeachtet, beständig glauben, dafs, je höher die
Hauptarterie eines Gliedes unterbunden wird, um desto mehr
die Theile des Blutes und des Lebens beraubt werden müfs-
ten, die zahlreiche Gefäfse aus dem unterbundenen Arte¬
rienstamme erhalten, und dafs cs folglich, bei der Cur eines
äufseren Aneurysma, vernünftig und vorlheilhaft sei, das
kranke Gefäfs so nahe als möglich an dem aneurysmatischen
Sacke zu unterbinden. Hie anatomische Untersuchung in-
defs, so wie die chirurgische Erfahrung, setzen die Falsch¬
heit dieser Theorie in das deutlichste Licht. Denn in dem
Leichnam des vor 27 Jahren wegen Aneurysma popliteae,
mittelst der Unterbindung der Arteria cruralis an dem obe¬
ren Theile des Oberschenkels operirten Mannes, fand kein
llindernils statt, dafs die Injectionsmasse nicht durch die
Aorta abdominalis eben sowohl alle "Verzweigungen der
PrOfunda femoris als der Cruralis vollkommen angefüllt
hätte; ein nicht zu bezweifelnder Beweis, dafs kein Theil
der unteren Extremität der nüthigen Menge Blutes beraubt
war. Wenn man aber ferner von der Betrachtung abstra-
hirt, dals, je höher und je weiter von dem aneurysmati¬
schen Sacke man die Arterie unterbindet, um desto mehr
die Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dals mau dies an einer
204
\ II. Chirurgische Notizen.
Stelle, wo sie frei von Krankheit ist, thut, so ist cs doch
deutlich, besonders wenn cs sich um ein Aneurysma popli-
leae handelt, dafs die Operation an dem oberen Drittheile
hei weitem leichter auszuführen sei, als kurz über der Knie¬
kehle oder gar in dieser selbst, wie sie sonst mit grofser
Mühe und roh ausgeführt wurde.
4) Es ist über allen Streit erhaben, dafs, hei hin¬
länglich kräftigen Subjecten, die Profunda femoris, und der
Impuls, den sie von den üufseren und inneren arteriellen
Gefälsen des Beckens erhält, dem Mangel des Stammes der
Cruralis abhelfen kann.
5) Es kann nicht wieder in Zweifel gezogen werden,
dafs nach der l nterbindung der Hauptarterie eines Gliedes,
die arteriellen Seitenstämme, und die gröfseren, kleinen
und kleinsten Zweige derselben sich attsdehneu und einen
Umfang erhalten, der bei weitem grüfser ist, als der, den
sie früher hatten. — Wenn man aber in einem Leich¬
name, an welchem vor mehren Jahren die Operation des
Aneurysma nach der Hunt ersehen Methode unternommen
worden ist, -einige Arterien , nur in der Gegend des Ellen¬
bogens und Kniees erweitert und gebogen findet, so beweist
der Zusand des arteriellen Systemes bei dem von mir un¬
tersuchten Subject, dafs eine solche theil weise Ausdehnung
der Lateral - Arterien kein Ereignifs von Bedeutung ist.
Man kann es sogar in ähnlichen Fällen als eine beständige
Erscheinung betrachten, dals der Verlauf der, über ihren
natürlichen Durchmesser erweiterten, Laleralgefälse schlan¬
gen -. und traubenförmig ist ’).
3. Neue Methode, den Ar in
gelenk durch Einen Schnitt
1 ) ln der schwangeren Gebärmutter nehmen die bedeutend
0
ausgedehnten Arterien, besonder* die oberflächlichen dieses Ein¬
geweides , immer ein' schlangen- und traubenförmiges Ausc-
|| eil
aus d (* m Schulter-
y. u a m p u t i r c o. N or-
• in.
205
VII. Chirurgische Notizen.
S
geschlagen von A. G. van Onsenoort,; Oberstem Ge¬
sundheitsbeamten bei der Königl. Niederl. Armee u. s. w.
* a • ,1
Das Messer, womit der Hr. Dr. van Onsenoort
diese Operation verrichtet, ist nicht gerade und zweischnei¬
dig, sondern halbzirkelförmig gebogen, 7 Zoll lang,
7 Linien breit, und so gebogen, dafs der Radius des Zir¬
kels 4~ Zoll beträgt, welches dem Grade der Krümmung
entspricht, welche durch den obersten Theil des Oberarm¬
knochens mit der inneren vorderen Fläche der Schulter ge¬
bildet wird. Die convexe Fläche des Messers ist glatt, die
eoncave Seitenfläche, der ganzen Länge nach, mit einer
stumpfen Hervorragung in der Mitte versehen. Der Ope¬
rateur umfafst mit seiner linken Hand den Arm des Kran¬
ken in der Mitte des Oberarms und entfernt denselben so,
dafs der Arm mit der Seite einen Winkel von 30 Graden
macht. Mit dem krummen Messer, welches der Operateur
etwas schräg so hält, dafs dessen eoncave Fläche mehr oder
weniger nach ihm zugewandt ist, fängt derselbe den Schnitt
ungefähr 1-| Zoll oberhalb der Insertion des Deltoideus an,
läfst schnell das Messer bis auf den v\rmknochen eindrin-
gen, und führt dann dasselbe schnell, in einer schrägen
flachen Richtung, nach oben bis an den hervorragenden
Rand des Acromiums, wobei er Sorge trägt, dafs der con-
cave Theil des Messers mit der vordersten Fläche des Ober¬
armknochens und dessen Kopfes in beständiger Berührung
bleibt, und dafs der eine, an der gegenüberstehenden Seite
des Kranken stehende Gehülfe mit den Spitzen der Finger
die zur Bildung des vordersten Lappens bestimmte Muskel¬
masse gehörig in die Höhe zieht. Wenn der Operateur
so bis an den obersten Theil des Schultergelenkes gekom¬
men ist, so wendet er die Schneide des Messers nach diesem
zu, durchschneidet den oberen Theil des Kapselbandes und
dringt in die Gelenkhöhle, welches er dadurch bewerkstel¬
ligt, dafs er die Hand und das Messer in eine gleiche Rich¬
tung mit dem Schlüsselbeine bringt. Er hat während
i
206 \ II. Chirurgische Notizen.
dieser \errichtung den Arm des Kranken langsam gestreckt,
so dafs der Ellenbogen der Seite des Kranken genähert ist,
und indem er den obersten Theil des Armes narb sich hin¬
zieht, führt er den hintersten Theil des Messers, durch
Senkung der Hand, zwischen den Processus coracoideus und
den vorderen Theil des Kopfs des Oberarmbeins ein, um
den Theil des Kapselbandes, der nach dieser Seite liegt,
gemächlich zu dun hsclmeiden , und durchschneidet dann alle
Theile, welche er auf seinem Wege antrifft, hebt den
Kopf des Oberarmbeins aus seiner Gclcnkhöhle heraus,
führt das Messer hinter den Kopf und längs der hinteren
Fläche des Armknochens hin, um den hinteren Lappen zu
bilden, welches er verrichtet, während der Gehiilfc den
vordersten Lappen losläfst und ' mit beiden Händen dem
Messer folgt, um die durchschnittenen Blutgefäfse zwischen
dem Daumen und den Fingern bis zur Unterbindung zu¬
sammenzudrücken.
Die \ ortheile, welche nach dem Verfasser diese neue
Methode verspricht, sind: l) die schnelle Ausführung
der Operation; 2) das Erhalten eines hinlänglich breiten
und dicken Fleischlappens; 3) der, dafs man, von aufsen
nach innen schneidend, besser sehen kann, was man durch¬
schneidet; 4) dafs man den Knochen nicht mit der Spitze
des Messers trifft, welches leicht mit dem geraden Messer
der Fall ist; 5) dafs man die Operation sowohl an der
rechten als linken Seite init der rechten Hand kann ver¬
richten; 6) dafs man längs des Oberarmknochens bei der
Bildung des vorderen Lappens eine sichere Leitung hat,
um in die Gelenkhohle zu kommen. ( Einer der Heraus¬
geber bemerkt, dafs schon früher in den « \ erhandelingen
der heelkundige genootschap le Amsterdam 1 SÖi) rt eine ähn¬
liche Operationsmethode vorgeschlagen sei. Bef.) (Aus den
Genecsk. Byd ragen Theil II. Stück 1. S. 62 — 79.)
207
VII. Ch irurgisdbe Notizen.
4. Heilung der Hydrocele durch die L i g a t u r.
N on A. G. van Onse noort, Med. et Chir. Dr. u. s. w.
Nachdem der Verf. die Nachtheile herausgehoben hat,
welche mit der Operation der Hydrocele durch den Schnitt,
durch das Setaceum und durch das Gausticnm verbun¬
den sind, stellt er folgende Operation als die gemäch¬
lichste, schnellste und unsch «Herzhafteste Me-
i
thode auf:
Der Operateur, zwischen den Schenkeln des auf einem
Stuhle sitzenden Kranken sitzend, umfafst den Hodensack
des Kranken mit der linken Hand, druckt durch den Dau¬
men und Zeigefinger die Flüssigkeit des Sackes nach aufsen
hin, während er den Hoden selbst mit den übrigen Fingern
nach der inneren Seite hin fest zu halten sucht. Die Na¬
del, welche zur Verrichtung der Operation gebraucht wird,
ist krumm, zweischneidig, scharfspitzig und mit einem Heft
versehen; sie mufs die Gestalt eines Bogens von 172 Gra¬
den eines Zirkels, dessen Radius 1 j- Zoll rheinl. beträgt,
haben, und an der Spitze mit einer Oese zur Befestigung
des Unterbindungsfadens versehen sein. Der Unter bin¬
dungsfaden ist entweder ein hinlänglich starker gewichs¬
ter Faden, oder auch statt dessen eine dünne Violinsaite,
oder ein dünner Silber- oder Kupferdrath. Nachdem der
Operateur den Bruchsack in Gedanken in drei gleiche Theile
abgetheilt hat, so stöfst er die Nadel in die Mitte der ersten
oder obersten eingebildeten Linie ein, und auf der zweiten
Linie wieder heraus. Sobald der Drath jetzt sichtbar wird,
wird derselbe durch einen Gehülfen mit der Pincette ge-
fafst, ein wenig hervorgezogen, und mit der Scheere durch-
*
geschnitten; die eine Hälfte zieht dann der Operateur nach
sich zu, während er die andere Hälfte, so wie auch die
Nadel selbst, in derselben Richtung, wie sie einge stofsen
war, herauszieht. Sobald die enthaltene Flüssigkeit sich
ganz entleert hat, wird der Faden fest zaigebunden und
durch eine Schleife zur Verhütung des Losgehens befestigt.
208
\ II. Chirurgische Notizen.
Beim doppelten Wasserbruchc wird das Instrument, mit
dem Faden versehen, wie eine Schreibfeder in der rechten
Iland gehalten, an der vorderen Seite des llodensarkes,
einen Daumen von der Nath entfernt, unter denselben
Bedingungen, wie oben angegeben worden, eingestofsen,
und zwar so, dals die Spitze und die hohle Fläche der
Nadel der linken Seite des Operateurs zugekehrt sind. Er
stufst nun die Nadel, in einer schräg ansteigenden Rich¬
tung, von der linken nach der rechten Seite des Kranken
hin, durch die linke Scheidenhaut und durch das Septum
des Hodensackes, wovon er wenigstens einen Daumen lang
in der Tiefe sucht zu fassen, um durch die Höhle der
Scheidenhaut des rechten Hodens, auf demselben Abstande
von der Nath, obgleich mehr oberwärts, wieder mit der
Nadel herauszukommen. Nach gehöriger Reinigung der
Wunde, wird ein Pliimaceau auf dieselbe gelegt, mit einer
oder mehren Cnmpressen bedeckt, und durch ein Suspen¬
sorium befestigt. Der Operirte braucht nach der Opera¬
tion nicht zu Bette zu bleiben, noch seine Lebensweise zu
verändern. Zweimal täglich wird der Faden etwas ange¬
zogen, und nachdem derselbe die vollkommene Durchschnei¬
dung bewirkt hat (am vierten oder fünften Tage), wird
die dadurch gebildete W unde von Grund auf verbunden,
bis zur vollkommenen Heilung. Wird die Entzündung
nicht stark geuug, so kann dieselbe durch Umschläge
von Kampferspiritus zu der erforderlichen Höhe ge¬
brachtwerden. Der Verf. versichert, bereits fünfmal diese
I
Operation mit glücklichem Erfolge verrichtet zu haben, wo¬
von zwei Fälle mit gleichzeitiger Krankheit der Hoden ver¬
bunden waren. Blofs in einem Falle muRtc die Operation
an einer anderen Stelle des Sackes wiederholt werden, weil
mau die Entzündung zu früh beseitigt hatte, und die An¬
heftung der Scheidenhaut deshalb nur theilweisc erfolgt war
(ein Umstand, der auch oft bei der Anwendung des Haar¬
seils statt findet. Ref. ) (Aus den Genecsk. Byd ragen.
Theil 11. Stück 1. S. Ml — 1)0 )
5. Ana-
209
YJl. Chirurgische Notizen.'
5. A na t o m is c li e Untersuchung von zwei kranken
menschlichen Augen; mitgetheilt von Dr. M. J. A.
Schön.
»
»Je seltener sich dem Arzte die Gelegenheit zu ana¬
tomisch-pathologischen Untersuchungen des menschlichen
Auges darbietet, und je geringer die zur allgemeinen Kennt-
nil’s gekommene Zahl derselben ist, um so willkommener,
glaube ich, wird jede Mittheilung der Art sein, zumal da
wir doch nur auf diesem Wege endlich zu einer eründ-
liehen Einsicht in die Genesis mancher Augenkrankheiten
gelangen können. Ich kann aber nicht umhin, hier den
lebhaften Wunsch auszusprechen, dafs es den Vorstehern
grölserer klinischer Anstalten und den Hospitalärzten, denen
es sicher viel leichter, als dem Privatärzte werden nruls,
kranke Augen zur Zergliederung zu erhalten, gefallen möge,
häufiger als es bis jetzt geschehen ist, die Ergebnisse ihrer
Untersuchungen den Kunstgenossen mitzutheilen. Zu sol¬
chen Untersuchungen gehört allerdings etwas Mulse, ein
geübtes Auge, und ein ziemlicher Grad von manueller Ge¬
schicklichkeit; denn es ist oft, zumal wo eine organische
Veränderung lange im Auge bestanden hat, sehr schwierig,
den pathologischen Zustand der verschiedenen so zart or-
ganisirten Theile desselben deutlich zu entwickeln und genau
zu sondern, und zu bestimmen, wo der ursprüngliche Heerd
der Krankheit gewesen sei, und das letzte eigentlich nur
dann möglich, wenn man von dem früheren Krankheits-
v
verlaufe eine genaue Kunde erhalten konnte, ohne welche
überhaupt die Untersuchung sehr viel von ihrem scientifi-
schen Werthe verliert. Sehr wünschenswert!! , ja noth-
wendig scheint es mir auch zu sein, dafs der Zergliederer
entweder selbst zeichne, oder einen geschickten Künstler
zur Hand habe, indem es sehr schwer ist, die meisten
pathologischen Veränderungen im Auge, ohne erhebliche
Beeinträchtigung ihrer Form und Färbung, in Weingeist
oder anderen Menstruis zu erhalten, und man in manchen
14
XIV. Ed. 2. St.
210
VII. Chirurgische Notizen.
Fällen nicht füglich mit Nutzen von der Untersuchung der
Entartung eines Theiles des Auges zu der eines anderen
übergehen kann, bevor man nicht die erste theilweise zer¬
stört oder ganz entfernt hat. — Es hat dies auch noch
den Vortheil, dafs die Beschreibung durch die beigefügte
Zeichnung sehr an Deutlichkeit und Verständlichkeit ge¬
winnt, wiewohl diese Vorzüge auch ohnedies zu erreichen
sind, uud in dieser Hinsicht empfehle ich den grofsen Zer¬
gliederer Morgagni besonders zum Vorbilde, dessen mei¬
sterhafte Sectionsberichte kranker Augen mich stets mit
grofser Bewunderung erfüllt haben. —
Am 5. Februar 1829 untersuchte ich das rechte, weit
über die Hälfte kleinere Auge eines 20 jähriger, an der
Schwindsucht gestorbenen jungen Mannes, welcher das Auge
in seiner frühesten Jugend mit ‘Glas, in welches er hinein¬
fiel, verwundete, und eine heftige Ophthalmitis universalis
erlitt. — Deutlich sah man auf der vorderen Fläche des
unförmlichen, eckigen Augapfels zwei sich durchkreuzende
Furchen, an deren peripherischen Endpunkten die vier ge¬
raden Augenmuskeln, welche sicherlich diese Formverände¬
rung des Bulbus veranlafst hatten, sich anhefteten; dadurch
war nun das vordere Segment des Bulbus in vier Theile
getheilt. — Die Hornhaut war platt, durchsichtig, um
die Hälfte kleiner, uud quer über dieselbe, etwa* unter¬
halb ihres horizontalen Durchmessers, verlief von einem
Rande bis zum andern eine ungefähr eine halbe Linie breite,
weifsliche Narbe, welche auf der inneren Fläche der Horn¬
haut nicht zu sehen war. — Die ganze Sclerotica
hatte eine etwas gelbliche Färbung; der Bulbus war höcke¬
rig, und liefs sich sehr hart aufühlcn. Der Sehnerv
lag in der etwas verdickten Nervenscheide frei, so dafs
zwischen beiden ein kleiner Raum bli 'b, uud war wohl um
die Hälfte dünner, als gewöhnlich. Ich ihcilte den Bulbus
in zwei Hälften, und sah nun, dafs die S c I er o t i ca überall
sehr fest und verdickt, und an manchen Stellen wohl vier-
2 II
VII. Ch irurgische Notizen.
mal dicker, als im normalen Zustande war. Die Ader¬
haut war überall sichtbar, etwas verdickt, mit schwarzem
Pigment bedeckt, und hing an manchen Stellen sehr fest
mit der Sclerotica zusammen. Von der Netzhaut konnte
ich nur im vorderen Theile des Bulbus einige verdickte
Rudimente entdecken, im hinteren aber war sie gänzlich
geschwunden. Der Glaskörper war in eine kleine, feste,
bräunlich -schwarze, hier und da fibröse Masse verwandelt. —
An dem unteren Theile der Aderhaut, zwischen ihr und
dem Glaskörper und nicht weit von der Insertionsstelle des
Sehnerven, befand sich ein kleines, plattes, länglich -vier¬
eckiges, mit rauhen, ungleichen Rändern versehenes Kno¬
chenstück, welches ziemlich fest mit jenen Theilen zu¬
sammenhing und in den entarteten Glaskörper hineinragte.
Einen ganz ähnlichen Fall habe ich schon früher beobach¬
tet, und nebst denen von anderen Beobachtern bekannt ge¬
wordenen in meinem Handbuche der pathologischen Ana¬
tomie des menschlichen Auges, Seite 1S8 und 190 beschrie¬
ben. — Die Iris war sehr klein, bräunlich, mit kleinen
schwarzen Punkten, die von der durchschimmernden Uvea
herrührten, besetzt, ohne Pupillenöffnung, und leicht zer-
reifsbar. In der kleinen vorderen Augenkammer befand
sich etwas wässerige Feuchtigkeit; die hintere war ganz
aufgehoben, denn gleich hinter der Regenbogenhaut fand
ich mit dieser verwachsen, die um die Hälfte kleinere Linse
und Kapsel; erste war sehr fest nnd weifslich, letzte
getrübt, verdickt und auf der Mitte ihrer vorderen Fläche
kleine knochige Strahlen, die eine kleine Strecke
nach der Peripherie hin verliefen und zuletzt mit dem ver¬
dickten Gewebe der Kapsel Zusammenflüssen ; die hintere
Fläche dieser adhärirte an den entarteten Glaskörper. —
/
• #
Am 17. Februar 1829 untersuchte ich das linke Auge
eines 53jährigen, an einer Febris gastrico- nervosa ge¬
storbenen Mannes, welches er sich vor vielen Jahren
mittelst eines Hornstrauches , jedoch ohne nachfolgende be-
14 *
2 1!2 ”\ II. Chirurgische Notizen.
4 , . ^ _
deutende Entzündung, verletzt haben wollte. — Die Gröfsc
r> ~
des Augapfels war die normale, doch lief* er sich etwas
weich an Pii Iden. Die Iris hatte eine matte, ungleiche,
weifslicb- blaue Farbe, und war etwas dicker, als gewöhn¬
lich; ihre hintere Fläche war reichlich mit einem braunen,
sich leicht lösenden Pigment bedeckt, welches an einigen
Stellen etwas vor dein Pupillarrande, auch während des
Lehens, vorragte; die Pupille war klein und eckig., und hei
Lebzeiten ganz starr. — Die Hornhaut, Sclerotica,
die C i I ia r fo r ts ä tz e und der Sehnerve boten nichts
Krankhaftes dar. — Die Kapsel war wenig getrübt, aber
etwas verdickt, nicht mit der Iris oder den Ciliarfortsätzen
verwachsen. Die Linse war grauweifs, an ihren Rändern
sehr dünn und schmal; diese selbst rauh, ungleich und
weich. In ihrer Mitte war sic ziemlich hart, und gelblich-
braun gefärbt, welche Farbe man nur von ihrer hinteren
Fläche aus deutlich sehen konnte, indem sie sich bis an
diese erstreckte. Reim Durchschneiden zeigte die Schnitt¬
fläche eine noch dunklere Farbe. — Die Aderhaut war
gesund, doch nur mit wenigem hellbraunen Pigment be¬
deckt. Die Netzhaut war sehr weifs und etwas verdickt,
das Foramen Sömmerringii ‘vorhanden, und die Falte
desselben sehr stark entwickelt. Die wässerige Feuch¬
tigkeit war nicht getrübt. — Der G Iaskörper aber war
fast ganz in eine gelbe, dünne, klebrige Flüssigkeit verwan¬
delt, welche das Wasser schön gelb färbte, und nur unge¬
fähr der dritte Theil desselben war hell, durchsichtig ge¬
blieben, und zeigte den zeitigen Rau. — (Sollten solche
Fälle nicht zu den Erweichungen gehören?) Die nach
dem Ausfliefsen jener Flüssigkeit etwas zusammengefallene
Glashaut war etwas fester, als gewöhnlich, aber .ganz
durchsichtig. — Aufserdeni sah ich an diesem Auge wie¬
derum sehr deutlich die vordere Endigung der Netz-
haut auf der vorderen Kapselwand, wie sie Schneider
(n seiner Abhandlung; «Das Ende der Nervenhaut im
menschlichen Auge, Miimh?» 1827,” beschreibt, und wie
\ III. Krankheiten der Brüste. 2 1 3
schon an mehren Augen zuvor (s. diese Annalen,
Juli 18*28, S. 334) gesehen hatte. —
Heide Augen habe ich schon 18 Stunden nach dem
Tode untersuchen können. —
VI ll
1 1 1 Li s t r a t i o n s o f t h e diseases o I t h e breast
by Sir Astley Coopcr, Bart. Serjeant Surgeori
to bis Majesty etc. Pars I. London. Longman,
Bees, Orme, Brown et Green. 1829. gr. Fol.
(89 Seiten, 8 colorirte Kupfertafeln und 1 schwarze
lithographirte Tafel.)
I)er durch so viele treffliche chirurgische Arbeiten
hochberühmte Vcrf. , liefert seinen Kunstgenossen wiederum
ein W erk, dem eine vieljährige und reichhaltige Erfahrung
zum Grunde liegt. — Der vorliegende erste T heil dessel¬
ben, dem Schatzmeister des Gu)’s- Hospitale», B. Ilarri-
son Esq. dedicirt, beschäftigt sich mit den nicht bösar¬
tigen Krankheiten der Brustdrüse; erst in dem z wei¬
ten wird der Verf. die bösartigen abhandeln. In der Vor¬
rede macht er darauf aufmerksam, dafs, wiewohl manche
der hierher gehörigen Anschwellungen der Drüse eine Zeit-
i '
lang gleichsam still zu stehen scheinen, dennoch Verände¬
rungen, welche mit dem Organismus vorgehen, z. B. con¬
stitutioneile Krankheiten, deprimirende Gemüthsaffekte, das
Auf hören der KaLamenien, ihnen oft einen bösartigen Cha¬
rakter geben, welcher die Exstirpation erheischt. —
Es zerfällt der erste Theil in zehn Kapitel, die sehr
ausführlich bearbeitet sind. —
Im ersten. Kapitel (S. 1 — 7.) theilt der Verf.
einige einleitende Bemerkungeil über die Krank-
VIII. Krankheiten der liriiste.
214
beiten der Brustdrüse mit. Einen wie grolscn Vor¬
theil es gewahrt, wenn der Arzt im Stande ist, eine heil¬
bare Krankheit von einer unheilbaren, eine leichte von
einer gefährlichen, und die, welche chirurgische Eingriffe
erfordern, von denen, wo dies nicht der Eall ist, unter¬
scheiden zu können, leuchtet besonders bei den Krankhei¬
ten der weiblichen Brustdrüse ein, welche nicht allein fast
allen Krankheiten anderer ähnlicher Organe, sondern auch
einigen ihr allein eigentümlichen unterworfen ist. — Der
ununterrichtete Wundarzt hält nur zu leicht eine jede An¬
schwellung der Drüse für krebshaft; der unterrichtete sieht
dagegen bald die verschiedene Natur der Anschwellung ein.
Es ist durchaus notwendig, die verschiedenen Krankheits¬
zustände von einander unterscheiden zu können, welches
nur durch eine sorgfältige manuelle Untersuchung, durch
öfteres Beschauen und Präpariren der exstirpirlen Theile,
und durch die Kenntnifs der Geschichte des Falles erreicht
werden kann. — Die Krankheiten der Drüse kann
man in drei Klassen teilen: 1) in solche, die entweder
die Folge einer acuten oder chronischen Entzündung sind.
Milchabscesse, chronische Entzündung der Drüse, die zu¬
weilen erst nach Wochen und Monaten in unempfindliche
Abscesse endet, und solche Fälle, wo ein Milchgang sich
geschlossen hat und eine grofse Milch enthaltende (lacti-
ferous) Geschwulst entstanden ist. — 2) In solche, welche
durch eine specifische Ursache entstehen, nicht bösartig
sind, und benachbarte Gebilde nicht ergreifen; hierher ge¬
hören die Hydatiden, die chronische, knochige und Fett¬
geschwulst der Drüse, die grolsen Hängebrüste, die scro-
phulöse Anschwellung der Drüse, die empfindliche (irritable)
Geschwulst und die Ecchyraosc derselben. 3) In solche,
die bösartig sind und mit einem besonderen krankhaften
Zustande des ganzen Körpers Zusammenhängen.
Zweites Kapitel. Von den Folgen einer ge¬
wöhnlichen Entzündung der Brustdrüse (S. 7
bis 19.). In der Beschreibung derselben hat der Vcrf.
VIII. Krankheiten der Briiste.
215
nichts Neues. — Der öftere und heftige Zuflufs des Blutes
nach der Drüse, wodurch die Milchsecretion eingeleitet
wird, erregt leicht Entzündung, welche noch begünstigt
wird durch das häufige Entblöfsen der Brust beim Stillen
und durch das Saugen des Kindes; oft entsteht sie auch
durch vernachlässigtes frühes Anlegen des Kindes und durch
starke Getränke, die man der Wöchnerin reicht. — Be¬
handlung: Im ersten Stadium kalte Ueberschläge von
Weingeist oder Wasser, oder verdünntem Bleiextract, und
innerlich Ricinusöl oder Bittersalz. — Werden die kalten
Umschläge nicht vertragen, warme Breiumschläge, zuwei¬
len Blutegel. — Bildet sich Eiter, warme narkotische Brei¬
umschläge, drei- bis viermal täglich angewandt. Zur Lin¬
derung der Schmerzen ist zuweilen ein kleines Opiat noth-
wendig. Bildet sich der Abscefs schnell, liegt er an der
vorderen Fläche der Drüse und sind die Schmerzen erträg¬
lich, so über läfst man am besten die Oeffnung desselben
der Natur; im Gegentheil, und bei vorhandenem starken
Fieber, öffnet man ihn mit der Lancette da, wo die Flu-
ctuation sehr deutlich ist, und macht den Schnitt hinläng¬
lich grofs und tief. —
Oft bilden sich schnell hintereinander mehre Abscesse
in einer Brust, und erregen heftige Schmerzen, wogegen
man Opium und China anwenden mufs. — Oft öffnet sich
ein tiefer Abscefs an mehren Stellen, und bildet Sinus
von verschiedener Gröfse. Am besten helfen hier Ein¬
spritzungen von 2 — 3 Tropfen Schwefelsäure auf 1 Unze
Rosen wasser, und Umschläge davon über die Brust, wo¬
durch Adhäsionen herbeigeführt wqrden. Die zwischen der
Drüse und den Rippen befindlichen Abscesse bewirken leicht
eine theilwcise Exfoliation einer Rippe, heilen aber am be¬
sten bei jenen Entzündungen; Einschnitte nutzen nichts. —
In einem Falle beobachtete der Verf. , dafs aus einem Milch-
abscesse, nachdem er sich geöffnet hatte, bei einer Frau,
die viel Gram hatte, ein schwammiger Auswuchs entstand,
der die Brust bald zerstörte. — Eine nach der Entzündung
\
JK)
VIU. K rankheitcn der Brüste.
zurückbleibende Verhärtung, die man schnell entfernen
mufs, zerlheilt man am besten durch ein Empl. Ammoniac.
cum llydrargvro, oder durch Jodinsalbe. — Ist die Ent¬
zündung heftig, so darf das Kind nicht angelegt werden.
Wunde Brustwarzen erzeugen oft Abscesse. — Das beste
Mittel gegen sie ist eine Boraxauflösung; zur N erhiitung
können sie in der letzten Zeit des Wochenbettes oft die
Warzen mit starkem Salzwasser waschen. — Hat eine
junge Frau zu kleine Warzen, so soll sic oft daran sau¬
gen, um sie zu. entwickeln. —
Die in Folge einer chronischen Entzündung entstehen¬
den Abscesse sind wegen Mangel an Rothe und Schmerz
und den übrigen Symptomen leicht zu übersehen, und man
hält die Geschwulst zuweilen für bösartig und eine Ope¬
ralion indicirt, wie der \ erf. es einigemal sah. Zwei Fälle
dieser Art thcilt er mit. — Oertlich gebraucht man gegen
diese chronische Anschwellung das Empl. Ammoniac. c. Ity-
drarg. , oder eine Salmiakauflösung mit rectificirtem Wein¬
geist, und ist das Allgemeinbefinden gestört, einige (Jalo-
melpillen, China, Gentiana, Rhabarber. — Ist titerung
da, so verfährt man wie angegeben. —
Nach einer chronischen Entzündung der Milchgänge
in der Nähe der Warze, entsteht oft durch Verschliefsung
eines Ganges in einer Ausdehnung von 1 Zoll und mehr
eine Geschwulst, welche Milch enthält (lactiferous swel-
iing). — Ohne Zeichen eines Absccsses bildet sich kurz
nach der Entbindung eine Geschwulst in der Brust, welche
deutlich iluctuirt und ein Gefühl von Spannung bewirkt;
Das Anlegen ,des Kindes vermehrt dies Gefühl. Die Ge¬
schwulst hegränzt sich auf eine Stelle von der Warze nach
dem Umfange der Brust hin, die Hautvenen sind sehr grols,
die Haut nicht entfärbt. Nach einem Einstich Hiebst Milch
\
aus, welche sich schnell wieder ansammelt. — Zuweilen .
exulcerirt die Geschwulst, die Milch Hiebst aus; die Oeff-
nung bleibt oft während der ganzen Zeit des Stillens, heilt
schwer, meist erst, wenn nach dem Entwöhnen und nach
\
‘217
VIII. Krankheiten der Briiste.
4
Abführmitteln die Absonderung der INIilcVi auf hört. —
Will die Mutter ihr Kind entwöhnen, so läfst man die
Milch durch einen Einstich ausfliefsen , und mit dem Auf¬
hören der Milchseeretion in den übrigen Theilen der Brust
verschwindet die Geschwulst. — Der Yerf. vergleicht hin¬
sichtlich des Wesefis der Geschwulst dieselbe mit der
Kanula. —
Drittes Kapitel. Von den II y datiden der Brust¬
drüsen (S. 20 — 50). — Der Yerf. hat dieselben sehr
genau bearbeitet, und die fünf ersten Kupfertafeln erläutern
sehr deutlich seine Worte. — Er stellt vier Arten von
llydatiden auf, von denen die drei ersten nicht bösartig
sind, die letzte es aber ist. —
Die erste Art besteht in der Gestalt von einfachen
Säcken, welche eine seröse Flüssigkeit enthalten (z eilige
Ilydatiden). Die Brust schwillt dabei allmählig an,
schmerzt anfangs nicht, wird hart, fluctuirt nicht; Monate,
ja Jahre vergehen, ehe sie beträchtlich grofs wird; die
gröfste fand der Yerf. 9 Pfund wiegend; in anderen Fällen
war sie um zweimal gröfser, als die gesunde Brust. —
Sobald nach einiger Zeit eine Fluctuation an einer Stelle
der Geschwulst zu fühlen ist, wächst sie schnell. Die Ilaut-
venen werden varicös, Schmerz fehlt immer; nur zuweilen
findet sich ein Gefühl von Hitze, und Schmerzen in der
Schulter. Die Geschwulst ist auf dem Brustmuskel beweg¬
lich, hängt herab, befällt bald die ganze Drüse, bald nur
einen Theil derselben. — Zuletzt entzündet sich eine fluctui-
rende Stelle, öffnet sich, und es entleert sich eine Menge
Serum oder klebrige Flüssigkeit, welche sich oft wieder
anhäuft; zuweilen verklebt der Sack; zuweilen fliefst eine
schleimige Flüssigkeit aus; es öffnen sich mehre Säcke
nach einander und es entstehen Sinus, welche schwer hei¬
len. •— Das Ali gemeinbefinden ist im Anfänge nicht gestört,
die Achseldrüsen sind nicht angeschwollen. — Bei der
Scction findet man die Zwischenräume der Drüsenkörner
und das Zellgewebe mit einer fibrösen Masse ausgefüllt;
218
VIII. Krankheiten der Brliste.
zuweilen finden sich daselbst Säcke, bald mit einer serö¬
sen, bald klebrigen, bald schleimigen Flüssigkeit gefüllt,
welche durch eine Entzündung entstehen. Ihre Zahl ist
oft sehr grofs; in ihnen befinden sich Hydatiden, die an
einem dünnen Stiele hängen und aus Zellgewebe bestehen;
sie hangen selten traubenförmig zusammen, sondern sind
getrennt von einander. Ihre Gröfse variirt von der eines
Stecknadelknopfes bis zu der einer Flintenkugel. — Der
Sack ist sehr gefäl'sreich. —
Diese Krankheit unterscheidet sich von einer chroni¬
schen Anschwellung der Drüse durch den fehlenden Schmerz
und die Abwesenheit eines Allgemeinleidens; von einem
Abscefs durch die an verschiedenen Stellen statt findende
Fluctuation und durch einen Einstich, welcher eine seröse
Flüssigkeit entleert; von einem scirrhösen Knoten durch
den Mangel der heftigen Schmerzen, der Härte der Ge¬
schwulst und die ungetrübte Gesundheit. —
Ist nur ein Sack da, so schliefst er sich nach öfterer
Punktion. Sind mehre da, ist die Geschwulst sehr grofs,
furchtet sich die Kranke vor dem Krebs, so ist die Operation*
indicirt. Man schneidet die Geschwulst aus und unterbin¬
det gleich jedes Gefäfs. Jeder harte und geschwollene
Theil der Drüse mtifs entfernt, und kein Sack zurückgelas-
sen werden. — An beiden Brüsten zugleich sah der Verf.
die Krankheit nicht. — Zum Beleg des Gesagten theilt
der Verf. zwölf Fälle dieses Uebels mit, welche keines
Auszugs fähig sind. —
Die zweite Art (s. Tafel 3. und 4.) ist sehr merk¬
würdig. Die Brust der Mrs. King war sehr grofs, hart
durch Exsudation von coagulabler Lymphe, und enthielt
viele Säcke, die mit Serum gefüllt waren, in deren jedem
ein Haufen kleiner, polvpenähnlicher Geschwülste an einem
dünnen Stiel hing. Viele der Hydatiden lagen einzeln,
ihre Gröfse war verschieden; die grüfste glich einem Ger¬
stenkorn; sie hatten eine eiförmige Gestalt, bestanden aus
einet Menge Lamellen, wie die Linse des Auges, welche
VIII. Krankheiten der Brüste.
219
leicht sich trennen liefsen, und der sie enthaltende Sack
war sehr gefäfsreich. — Es bleibt unentschieden, ob sie
zu der folgenden Art gehören und nur durch Druck der
sie umgebenden festeren Massen verändert sind, oder ob
sie Secretionen der Arterien sind. — Von der ersten Art
kann man sie nur erst bei der Section unterscheiden. —
Mrs. King hatte dies Uebel 14 Jahre, als die Geschwulst
von dem \ erf. entfernt wurde, und zwar mit glücklichem
Erfolge. — Eine kurze Krankengeschichte ( das Uebel war
nach einem Stofs entstanden) findet sich S. 44. — Das
Allgemeinbefinden war dabei nicht gestört. —
Die dritte Art, die kugelförmige Hydatide,
hat keine Gefälsverbindung mit den benachbarten Theilen,
und bildet in dem Sacke eine Menge kleiner Säcke. Aehn-
liche kommen in der Leber, dem Ovarium, den Lungen u.
s. w. vor. Sie vereitern zuweilen, und entleeren sich. Der
Yerf. fand sie nur in der Brust allein einzeln. Seine nä¬
here Beschreibung hat nichts Eigentümliches; er hält sie
für Thiere, weil sie durch sich selbst existiren, und sich
selbst erzeugen. — Sie ernähren sich durch Einsaugung,
kommen durch das Blut nach dem Organ hin, erregen eine
entzündliche Reizung, wodurch ein Sack gebildet wird, oder
sie einschliefst. — In der Brust fühlt man erst spät an der
Stelle, wo sich die Hydatiden befinden, eine Fluctuation.
Zuweilen entsteht eine Eiterung, und die Hydatide wird
mit dem Eiter ausgestofsen. — Durch einen Einschnitt
mufs man den Sack entfernen, und mit einem einfachen
Breiumschlag die Wunde heilen, oder man führt ein Haar¬
seil durch. — Das Uebel unterscheidet sich von ähnlichen
Krankheiten durch die centrale Fluctuation, den festen Um-
kreis d'eser, und die Abwesenheit jedes Schmerzes. — Der
Yerf. theilt zwei Fälle kurz mit. —
Yiertes Kapitel. 'Von der chronischen Ge¬
schwulst der Brustdrüse ( S. 51 — 63). — Sie be¬
fällt junge unverheirathete oder kinderlose Personen vom
17ten bis 30sten Jahre, später selten, und das Allgemein-
VIII. Krankheiten der ßliiste.
%
!2'iO
befinden ist gut. Sie hängt mit einer erhöhten Thätigkeit
des Uterus zusammen, und entsteht dann leicht nach einer
äufseren Verletzung. — Die Geschwulst erhebt sich von
der Oberfläche der Drüse, ragt gleich hervor, ist sehr be¬
weglich, bleibt lange schmerzlos, erst spät entstehen zu¬
weilen ziehende Schmerzen, ist bei der Berührung nicht
empfindlich, wird langsam grülser, wiegt gewöhnlich l bis
4 Unzen, selten mehre Pfunde, ist durchaus gutartig, die
Achseldrüsen schwellen tiichL an; sie besteht aus einer Menge
einzelner Lappen , zwischen w elche man etwas mit den Fin¬
gern eingehen kann, weshalb der \ erf. für sie den Namen
gelappte Brustd rüsengesch wulst vorschlägt. — Bei
der Section findet man, dafs die Geschwulst in einem Sacke
liegt, von fibrös - sehniger Structur, der, je gröfser jener
ist, desto bestimmter sich darstellt. — - Sie hängt mit der
J)r iise durch einen dünnen, drüsigen Fortsatz zusammen,
welcher die Beweglichkeit derselben bedingt. Sie besteht
aus einer Menge immer kleiner werdenden Lappen, die sich
an Gestalt ähnlich sind, und sich nach einer kurzen Mace-
ration leicht trennen lassen. — Im Umfange ist sie mehr
roth, im Innern weifs gefärbt. — Bei der Behandlung
derselben mufs mau besonders auf die Menstruation und die
Function der Unterleibsorgane sein Augenmerk richten.
Oertlich gebraucht man das Lmpl. hvdrarg. c. Arnmoniaco,
oder die Jodinsalbe und warme Breiumschläge. — Diese
Geschwülste verschwinden übrigens nur sehr langsam, und
meistens dann erst, wenn die l terimeizung auf hört. —
Wünscht die Kranke von der Geschwulst befreit zu sein,
so ist die Entfernung derselben eine leichte Operation. —
In der Schwangerschaft und nach dem ersten NN ochenbette
pflegt die Geschwulst auch zu verrchwinden. — Bleibt sie
aber nach dem Aufhören der Kegeln in der Brust, so
nimmt sie zuweilen einen bösartigen Charakter an. — Am
I
Schlüsse des Kapitels theilt der \ erf. zehn Fälle mit. —
Fünftes Kapitel. Non der knorpeligen und
knochigen Geschwulst d e r B i u s l d r ü s e ( S. (»4 u. 05 ).
221
VIII. Krankheiten der Brüste.
/
Nach chronisclien Entzündungen wird oft eine gallertartige
Masse ergossen, welche von den benachbarten Theilen
Gefäfse erhalt, den Knorpeln hinsichtlich seiner weifsgelb¬
lichen Farbe, Festigkeit und Elasticität gleich t und einen
Knochenkern erzeugt, der aus phosphorsaurem Kalke be¬
steht. — Der Verf. beobachtete einen solchen Fall bei
einer 32 jährigen Frau; die Geschwulst hatte schon 14 Jahre
bestanden, schmerzte sehr vor der Menstruation, und war
sehr hart. Die Achseldrüsen waren nicht geschwollen.
Eine Abbildung findet sich Taf. 8. Fig. 10. —
Sechstes Kapitel. Von der Fettgeschwulst
der Brustdrüse (S. 66 — 69). — * - Der Verf. sah zwei
Fälle; im ersten begann die Krankheit am hinteren Theile
der Drüse, im zweiten schwollen alle Fettpartieen, die sich
zwischen den einzelnen Acinis der Drüse befinden, an, und
konnten von dieser abgenommen werden. — Im ersten
Falle betrug der Umfang der Geschwulst 31 Zoll, und ihre
Länge 10 §• Zoll; sie wurde sammt der Brust vom Verf.
entfernt. Die Geschwulst wog 14 Pfund und 10 Unzen. —
Im zweiten Falle machte der Verf. einen grofsen Schnitt
über die Brust, und zog die einzelnen Fettgeschwülste aus.
Das Uebel kehrte nicht wieder. —
Siebentes Kapitel. Von der hängenden Brust¬
drüse (S. 69 — 73). — Zuweilen schwillt die Drüse so
an, dafs sie bis zum Bauch herabhängt; man fühlt deutlich
die einzelnen Lappen vergrofsert und verhärtet, und zu¬
weilen sehr empfindlich. — In einem Falle, bei einem
23jährigen Mädchen, litten beide Drüsen, die Menstruation
war unregelmäfsig und das Aussehen kränklich. — Einen
anderen Fall theilte Dr. Jones dem Verf. mit, wo beide
Drüsen bei einem 15jährigen Mädchen (die linke hielt
23 £ Zoll, die rechte 22 Zoll im Umfange), das sonst ge¬
sund war, angeschwoilen waren, und die Katamenien spar¬
sam flössen. — Die Kranken müssen die Brüste aufbinden,
und zur Beförderung der Kegeln wendet man Stahlpräparale
mit Aloe an, am besten das salzsaure und kohlensaure Eisen.
222
VIII. Krankheiten der Brüste.
Angeschwollen, aber nicht hängend, findet man die
Brüste zuweilen bei Frauen, die bis in ihr 35stes Jahr un-
verheirathet blieben und sehr schwach menstruirt waren;
jeder Lappen ist hart, geschwollen, beweglich. — Line
Brust leidet immer mehr, als die andere, sie schmerzen zu¬
weilen, und der Schmerz steigert sich bei kaltem Wetter;
in Folge der Heizung schwillt zuweilen eine Achseldrüse,
doch ohne Gefahr, an. — Nach einigen Jahren fängt die
Brust von selbst an zu schwinden. — Das Lehel besteht
in einer Lmwandlung der Drüse zu einer solideren, feste¬
ren Masse, wobei die Absonderung derselben sehr gemin¬
dert ist. — Behandlung: Beförderung der Menses,
Blutegel, das Tragen eines Ammoniak- und Quecksilber-
ptlasters. —
Achtes Kapitel. Von der scrophulösen Ge¬
schwulst der Brustdrüse (S. 73 — 7(i). — Bei jun¬
gen Frauen, welche au Anschwellung der Llalsdrüsen lit¬
ten, sah der Yerf. zuweilen, doch selten, scrophulöse
Geschwülste y meistens nur in jeder Brust eine; sie sind
schmerzlos, umschrieben, glatt, und bei Druck unempfind¬
lich. — Ihr Verlauf ist sehr langsam, doch werden sie nie
bösartig. Sie erheischen keine Operation. Sie bestehen
aus lockerer, geronnener plastischer Lymphe, die sehr
ungleich organisirt ist; sind bald gefäfsreich, bald nicht,
haben eine gelbliche Farbe, und zuweilen Blutstreifen. —
Behandlung: Aufenthalt in einer trockenen, warmen Luft,
warme Seebäder, Bewegung im Freien, leichte animalische
Kost, Milch. — Innerlich das kohlensaure Eisen mit Hheum,
Columboaufgufs, Chinin. — Oertlich zuweilen ein reizen¬
des Pilaster. —
Neuntes Kapitel. Von der empfindlichen Ge¬
schwulst der Brustdrüse (S. 7ö — 85). — Die Brust¬
drüse wird zuweilen bei einer gleichzeitigen Anschwellung,
und auch ohne diese, sehr empfindlich; die Structur der
Geschwulst gleicht der der Drüse nicht, sondern scheint
eine specifische Lrsache zu haben. Beide Zustände finden
992
VIII. Krankheiten der Brüste.
sich vom löten bis 30sten Jahre, zuweilen noch später.
Befällt das Uebel den drüsigen Theil der Brust, so werden
einer oder mehre Lappen bei Berührung sehr empfind¬
lich , die Schmerzen verbreiten sich zuweilen bis zur Ach¬
selhöhle und Schulter bis zu den Fingern, selbst bis zur
Hüfte; die Kranken können auf der Seite nicht schlafen,
und das Gewicht der Brust erregt oft im Bette die heftig¬
sten Schmerzen. — Zuweilen wechselt, in der Brust ein
Gefühl von Hitze und Kälte ab; die Schmerzen gleichen
sehr denen des Tic douloureux. Zuweilen entsteht Erbre¬
chen nach denselben. — Vor dem Eintritt der Regeln sind
sie sehr heftig, und nehmen nach dein Auf hören derselben
etwas ab. — Hie Haut ist natürlich gefärbt. Zuweilen
leidet nur ein kleiner Theil der Brust, zuweilen die 'ganze,
meistens beide. — Monate, ja Jahre bleiben die Schmerzen
mit geringer Unterbrechung, haben keine böse Bedeutung;
eine Operation ist ganz unnütz. Zuweilen findet man
gleichzeitig eine genau umschriebene Geschwulst, die sehr
empfindlich, besonders bei der Menstruation, sehr beweg¬
lich, oft nicht gröfser als eine Erbse ist, gewöhnlich allein
vorkommt; selten sind mehre zugleich da. — Solche Ge¬
schwülste wachsen nicht, vereitern nicht, sondern werden
zuweilen von selbst unempfindlich und verschwinden. —
Sie bestehen aus einer festen, halbdurchsichtigen, mit Fa¬
sern durchwehten Substanz, in der der Verf. keine Nerven
entdecken konnte. Sie sind Produkte des Zellgewebes, und
finden sich auch an anderen Theilen des Körpers. Sie
finden sich bei reizbaren, nervösen Personen, die Regeln
sind schwach und unregelmäfsig; Fluor albus findet sich
oft dabei. — Die veranlassende Lrsache ist meistens ein
Schlag oder Druck. — Das beste örtliche Mittel ist ein
Pflaster aus einem Seifencerat und Belladonnaextract, oder
aus einem Brei aus Belladonna und Brot. Das Tragen von
Wachstaffet und Pelz lindert durch Vermehrung der Tran¬
spiration den Schmerz. Ist derselbe sehr heftig, Blutegel. —
Innerlich anfangs Caloinel mit Opium und Cicuta, Ab-
224
V III. Krankheiten der IJriiste.
führmittel, und zwei- bis dreimal täglich eine Pille aus
gr. ij. Extr. Conii und Papaveris , und gr. ß Extr. Stra-
monii. — Zur Rcgulirung der Menstruation Eisenmil tel
und AIoi:, und warme Soolbäder. — Zum Beleg des (je¬
sagten theilt der Verf. acht Falle kurz mit, und einen Fall
von einer ähnlichen Geschwulst am Knie einer Dame. —
Zehntes Kapitel. Von der Ecchvmose der
Brustdrüse (S. 85 — 89). — In Verbindung mit dem
eben genannten Uebel kommt zuweilen eine nach Quet¬
schungen sich zeigende Erscheinung in der Brust vor , meist
bei jeder Menstruation , und mit grofser Schmerzhaftigkeit
des Theiles; besonders bei hochbusigen Mädchen unter
20 Jahren. Dem Uebel gehen Schmerzen in Brust und
Arm vorher. Das Austreten des Blutes geschieht einige
Tage vor der Menstruation, und bildet einen grofsen Fleck;
kleinere und heller gefärbte Flecke erscheinen gleichzeitig.
Der Schmerz ist dabei heftig, und verbreitet sich bis in
die Finger. — Nach der Menstruation verschwindet das
Uebel in der Regel, bleibt zuweilen bis zur nächsten. Es
gleicht den Blutunterlaufungen nach dem Ansetzen von
Blutegeln, oder nach einem Aderlässe, lis ist Folge des
vermehrten Blutandranges nach den Brüsten kurz vor dem
Eintritte der Kegeln, und zeugt von allgemeiner Schwäche,
besonders in den Gefäfsen. — Das Uebel ist nicht gefähr¬
lich. — Man wendet Eisenpräparate zur Rcgulirung <Ter
Menses an, und Chinin zur Stärkung des geschwächten
Körperzustandes. — Aeufserlich Liquor Ammoniac acetatis
mit Weingeist. — Vier Fälle theilt der Verfasser schliefs-
lich mit. —
Die diesem Werke angefiängten Kupfertafeln sind mei¬
sterhaft und mit grofser Treue gezeichnet und ausgewählt.
Die zelligen Hydatiden sind auf der ersten, zweiten, drit¬
ten, vierten und fünften Tafel, die kugelförmigen auf der
fünften Tafel Fig. 5. dargestcllt. Die sechste und siebente
'Tafel stellen die chronische Brustdriisengesch willst dar; die
achte die empfindliche BrustdrüsengeschvkuLt , die 9te Figur
die-
IX. 1. Varioloiden.
225
dieser Tafel eine scrophulüse, und die lOte Figur eine
knochige Geschwulst der Brust; die zehnte Tafel die beleb¬
ten Hydatiden. —
Druck und Papier sind, wie man es bei englischen
Werken gewohnt ist, ausgezeichnet. —
, Schon.
\
ix.
Schriften über die Varioloiden.
1. Nicol. Christian Mühl, Ueber die Varioloiden
und Varicellen. A. d. Lat. übers, und mit Anm. und
Zusätzen herausg. von C. Fr. Th. Krause, M. D. Han¬
nover, in der Hahnschen Hofbuchhandlung. 1828. 8. 95 S.
(8 Gr.)
Unter den zahlreichen Schriften über die modifi-
cirten natürlichen Blattern zeichnet sich die des
Hrn. Dr. Mühl zu Kopenhagen: De varioloidibus et
varicellis, conscripsit N. C. Mühl. Hafniae. Gylden-
dal. 1827. 8. 111 S., ganz vorzüglich aus. Sie ist aus der
Fülle eigener Erfahrung geschrieben, da der Verf. in einer
Blatternepidemie nahe an tausend (988) Kranke selbst be¬
handelt hat, worunter 659 Vaccinirte; zugleich hat er sich
aber eine umfassende Kenntnifs der von anderen Aerzten,
vorzüglich Engländern, gemachten Erfahrungen und An¬
sichten erworben, wodurch diese kleine Schrift, ah Zusam¬
menstellung, einen doppelten Werth erhalten hat. Da sie
sehr gedrängt geschrieben ist, so kann Bef. hier nur das¬
jenige herausheben, was dem Verf. eigenthümlich ist, und
empfiehlt sie angelegentlich einem jeden, der über den frag¬
lichen, äufserst wichtigen Gegenstand eine kurze Uebersicht
XIV. Bd. 2. St. 15
I
IX. f. Varioloitlon.
•m
der wichtigsten bisherigen Erfahrungen und Ansichten zu
haben wünscht.
Zuerst beschreibt der Verf. die modificirten Blattern
(Yariolae modificatae oder Yarioloidcs), stellt dann
die Gründe auf, aus welchen sie als eine Form der
wahren natürlichen Blatte rn (Yariolae) anzusehen
sind, und kommt dann zu den Bedingungen, unter welchen
die Pocken diese Form annehmen. Dann sucht er aus den
Schriften der Alten der Yermuthung, dafs nicht Llofs \ ac-
cinirte, sondern auch solche, die bereits natürliche Blattern
überstanden haben, von den Vorioloiden befallen werden,
Bestätigung zu verschaffen. Nachdem er weiterhin die Na¬
turgesetze untersucht, nach welchen der menschliche Kör¬
per für die Pocken empfänglich ist, und die Frage unter¬
sucht und bejaht hat, dafs die Pocken mehr als einmal den
Menschen befallen können, geht er zur Vergleichung und
Unterscheidung der Yarioloiden und Yaricellen über.
Dieselben Symptome, welche dem Ausbruche der äch¬
ten Blattern vorhergehen, kündigen auch den der modifi¬
cirten an, nämlich Fieber, Uebelkeit, Erbrechen, Kopf¬
schmerzen, Bückenschmerzen, Schmerz in den Präcordien
u. s. w. Obgleich zuweilen diese Zufälle, dann und wann
merklich nachlassend, drei und mehre läge hindurch den
Kranken quälen, so sind doch in nicht seltenen Fällen diese
Vorboten gelinde, und nicht alle vorhanden. Am zweiten,
dritten, oder auch am vierten Tage der Krankheit brechen
die Blattern, zuerst im Gesicht und an den Händen,
später an den übrigen Stellen des Körpers, in Gestalt klei¬
ner rother Knötchen hervor, und das Fieber und die übri¬
gen Yorboten hören dann auf. Diese Knötchen pilegen
sich auf verschiedene Weise weiter auszubilden. Entwe¬
der wachsen sie schnell in die Höhe, spitzen sich zu, wer¬
den an der Spitze weifs, dann gelb, und gehen zuletzt in
glatte hornartige, bräunliche Borken über, die auf einer
rothen erhabenen Grundfläche aufsitzen; diese ganze Yer-
änderung erfolgt binuen drei bis fünf lagen, und in der-
IX. 1. Varioloiden. 227
selben Ordnung, in welcher die Pocken ausbrcchen (Va-
rioloides cönicae); — oder sie wachsen langsamer,
und werden den wahren Blattern ähnlicher; sind, gleich
den wahren Blattern, irn unreifen Zustande noch roth und
mit einem Grübchen in der Mitte versehen; im gereiften
Zustande aber weifs, glänzend, halbkugelförmig, und un¬
terscheiden sich von den wahren Blattern kaum durch
geringere Gröfse und ungewöhnliche Härte der
Pusteln (\arioloides globosae). Indessen tritt bei
diesen, wie bei der vorigen Form, die Abtrocknung
plötzlich ein und wird schnell beendigt; zwischen
dem fünften und siebenten Tage nach dem Ausbruche ver¬
wandeln sie sich, zuerst im Gesichte und dann am übrigen
Körper, in hornartige, glatte, braune, halbkugelförmige
Borken. Die gröfseren Pusteln im Gesichte geben an ihrer
Spitze, eben so wie die normalen Blattern, gelben oder
grünlichen Eiter von sich, bevor sie an der Oberfläche
rauh werden und in die hornartigen Borken übergehen.
Sind die Borken nach sieben bis vierzehn Tagen abgefallen,
so lassen sie oft noch lange dunkelrothe Flecke, selten aber
Narben zurück. — Das Contagium dieser modificirten
Pocken erzeugt nach Adams, Bent, Williarti’s Erfah¬
rungen bei Nicht- Vaccinirten wahre Blattern. — Wenn¬
gleich die modificirten Blattern kein Alter verschonen, so
werden doch ältere Menschen und solche, die schon vor
mehren Jahren vaccinirt waren, unter übrigens gleichen
Umständen, vorzüglich leicht ergriffen und erkranken, wel¬
ches gegen Thomson, der dieses bezweifelt, der \ erf.
bei der Epidemie in Kopenhagen zu bestätigen Gelegenheit
fand. — In der Kopenhagener Epidemie sab der Verf. nicht
weniger Vaccinirte mit vier bis sechs Kuhpockennarben,
als solche mit einer Narbe von den modificirten Blattern
I
ergriffen werden. — Der Verf. stimmt keinesweges denen
bei, welche behaupten, dafs die normalen Kuh pocken
jeden einzelnen Menschen gegen die Blattern
vollkommen sichern, und hartnäckig eine abnorme
15 *
m
IX. 1. Yarioloiden.
Vaccination für die einzige Ursache ausgeben, durch welche
modificirte Blattern hei Yaccinirtcn entsteheri. Denn unter
beinahe 700 Yaccinirtcn, bei denen der Yerf. die mehr
oder weniger gemilderte Blatternkrankheit beobachtete, wa¬
ren viele von den geschicktesten und zuverlässigsten Aerz-
ten geimpft, und ihre Kuhpocken in den öffentlichen Impf¬
zeugnissen für normale erklärt. Aufserdem hatten viele
derselben vier bis sechs Kuhpockennarben, oft vom besten
Ansehen. — Der Yerf. sah in der Kopenhagcner Epidemie
153 Menschen, welche die Pocken schon vor mehren Jah¬
ren iiberstanden zu haben behaupteten, an diesem Uebel
abermals leiden. Im Allgemeinen war die Krankheit bei
diesen nicht eben leicht, denn von den 153 starben nicht
weniger als 31; bei 23 aber erschien die Krankheit
als modificirte Blattern oder Yarioloiden. — Auch
bei Kindern, die niemals weder die Kuhpocken noch die
natürlichen Blattern iiberstanden hatten, sah der Yerf. mo¬
dificirte Pocken, jedoch seltener, denn nur bei 17 unter
158 von ihm behandelten nicht vaccinirten Blatternkranken
hatten die Pocken dasselbe Ansehen und den schnellen Ver¬
lauf, wie dieser bei Yaccinirtcn gewöhnlich bemerkt wird.
In allen diesen Fällen waren die Varioloiden von der tu-
berculösen Form, klein und schnell reifend. — Der Yerf.
zieht den Schlufs: Modificirte Blattern entwickeln sich,
wenn die Empfänglichkeit, oder das Contagium, oder die
epidemische Constitution zur Erzeugung der normalen Blat¬
tern nicht hinlänglich wirksam vorhanden sind. —
Nach dem Yerf. sind die unseren Varioloiden gleichenden
Exantheme von den älteren Aerzten falsche Blattern
genannt worden, obgleich sie vom Contagium der ächten
erzeugt waren. — AVer die modificirten Pocken überstand,
kann, nach des Yerf. Ansicht, von den normalen später
noch ergriffen werden. — Durch *die normalen, regcl-
mäfsig verlaufenden Kuhpocken wird die Pockenanlngc bei
den meisten Menschen vollkommen aufgehoben. E inige
wenige Vaccinirte bleiben jedoch fiir die Pockenkrank-
IX. 1. Varioloiden.
229
heit empfänglich; wenige von ihnen für die normalen,
mehre für die modificirten Pocken. Die vor kurzer Zeit
Vaccinirten widerstehen der Ansteckung besser, als die vor
10 bis 20 Jahren Geimpften. Von den 659 Vaccinirten,
die in der Kopenhagener Epidemie von den Pocken ergrif¬
fen wurden, waren nur 46 in der Art krank, dafs ihre
Pocken von den ächten, bei Nicht- Vaccinirten vorkommen¬
den Blattern nicht unterschieden werden konnten, doch
starben nur 5, dahingegen unter einer gleichen Anzahl
Nicht- Vaccinirter 10 starben. Ob aber auch wirklich diese
46 Menschen die Kuhpocken gehörig überstanden hatten,
oder nicht, ist nicht leicht mit Sicherheit zu ermitteln.
Von jenen 46 Blatternpatienten hatten wenigstens 21 durch¬
aus keine Narben aufzuweisen, 14 hatten mehr oder weni¬
ger deutliche Narben, denen aber die charakteristi¬
schen Merkmale abgingen; sie waren nämlich entwe¬
der sehr grofs und Narben von Fontanellen ähnlich, oder
glatt ohne vertiefte Pünktchen und Streifen, und ohne
scharfen Band. Nur 11 hatten eine bis sechs deutliche und
vollkommene Narben. Jedoch kann man aus den Nar¬
ben allein keinen sicheren Schlufs ziehen. — - Der Verf.
neigt sich zu der Ansicht, dafs die Pockenanlage, obgleich
einst zerstört, nach Verlauf einiger Jahre sich wieder her-
steilen kann. — Obgleich Berard und de Lavit, und
später Thomson die Ansicht aufstellten, dals die Varicel¬
len, wie die Varioloiden, Varietäten einer und derselben
Krankheit, der wahren Blattern seien, so kann der Verf.
dieser Meinung doch aus guten Gründen nicht beistim¬
men. — Die pathognomonischen Zeichen der Varicellen
sind nach Br^ce: 1) die geringe, dem Ausbruche vorher¬
gehende fieberhafte Bewegung; 2) die schnelle Absonderung
oder vielmehr Ergielsung der wässerigen Flüssigkeit in dem
Bläschen; 3) endlich die Zartheit und vollkommene Durch¬
sichtigkeit des Bläschens.
Plagge.
230
IX. 2. Vnrioloidcti.
W ir können bei dieser Gelegenheit eine recht interes¬
sante Beschreibung der zu Halle 1826 und 27 vorgekom-
menen Porkcnepidemie nicht unerwähnt lassen. Sie ist in
folgender Abhandlung enthalten:
2. Variolarum, quae HalaeSax. per integrum an-
num 1826 et anni 1827 trimestrc floruerunt,
descriptiö. Diss. inaug. conscr. J. K. Thulesius,
Bremanus. 182t. pp. 54.
Ejne mit vielem Fleifse ausgearheitete Dissertation, die
es schon ihres Inhalts wegen verdient, der Vergessenheit
entzogen zu werden. — lm Monat November 1825 wurde
zuerst ein Pockenkranker, ein Reisender, der von Salzburg
kam, in die med. Klinik aufgenommen, und nach achtzehn
Tagen wieder gesund entlassen. Sechs Wochen darauf
erkrankte an demselben Uebel ein 12 Jahre alter, bereits
vaccinirter Knabe, der aber auch die Krankheit leicht über-
4
stand. Mehre W ochen hindurch schwieg nun die Krank¬
heit, anfangs Mai aber trat sie plötzlich bei vielen auf,
nur bei solchen nicht, die schon die wirklichen Pocken
iiberstanden hatten. Im Anfänge und bis in die Mitje des
Sommers verliefen die Pocken ganz leicht, und es starb
keiner, selbst von denen nicht, die noch nicht vaccinirt wa¬
ren. Dann aber traten sie heftiger auf und tödteten viele,
jedoch nur solche, die nicht vaccinirt waren. Im Allge¬
meinen war der Verlauf der Pocken gutartig, wenn sie
picht complicirt waren, in diesem Falle aber war die Pro¬
gnose sehr böse, und die Kranken starben häufig. Die am
öftersten vorkommende Gomplication war die mit Entzün¬
dung der Respirationsorgane, bald des Larynx und der Tra-
<hea, bald aller Athmungswcrkzenge , bald auch blols der
Lungen und der Bronchien. Selten erkrankte das Gehirn
so, dafs Apoplexie den Tod herbeiführle; Gongest ionen zum
Gehirn, Delirien, stellten sich fast nur im Stadium eruptio-
nis ein, selten kamen sie im Stad, suppurationis vor. Die
1 nterlcibsorgane erkrankten selten bedeutend; nicht oft
IX. 2. V anoioiden.
231
gesellten sich Diarrhöen zuin Stad. suppurationis. Bei den
Sectionen fand man die Milz oft compact und verhärtet;
Zeichen von Milzleiden konnten während des Lebens nicht
aufgefunden werden, Spuren von Affection der Leber
fanden sich nicht. Das Auftreten von Petechien war ein
böses Zeichen, und setzte ziemlich gewifs den Tod voraus.
Die Entzündung der Augen hatte im Allgemeinen nichts zu
sagen, nur bei einem Kranken exulcerirte die Hornhaut,
und die Humores oculi flössen aus. Alle, die die Krank¬
heit überstanden, convalescirten leicht und ohne alle Arz¬
nei. Nur in einem Falle folgten den Pocken gangränöse
Geschwüre, die aber geheilt wurden. Im Ganzen traten
die Pocken im Winter heftiger auf, als im Sommer. Am
heftigsten wütheten sie in den Monaten Januar und Fe¬
bruar, um welche Zeit sie ihre Acme erreicht hatten. 104
Pockenkranke wurden von der ined. Klinik aus behandelt;
51 davon waren nicht vaccinirt gewesen , hatten aber auch
die Pocken noch nicht überstanden, von diesen wurden die
meisten schwer krank, und 15 starben. Die anderen 53
hatten schon die Kuhpocken gehabt, sie erkrankten nur
leicht. Die Pocken befielen sowohl Kinder, als Erwachsene,
das jüngste Kind war 11 Wochen alt, der älteste Erwach¬
sene 31 Jahr. Erwachsene starben weniger, als Kinder.
(Es ist zu bedauern, dafs der Verf. keine ins Specielle ge¬
hende Tabelle über das Mortalitätsverhältnifs mitgetheilt
hat, und zwar um so mehr, da die klinischen Lehrer leider
dem betreffenden Physicus keinen Quartalbericht über die
behandelten Kranken einschicken!) Im Allgemeinen hatten
die Pocken den sthenischen Charakter; Fälle von nervösen
Pocken waren selten. — Auf die Beschreibung des Ver¬
laufes der Pocken nach ihren verschiedenen Stadien können
wir uns nicht einlassen, weil wir sonst zu weitläufig wer¬
den würden, wir bemerken nur, dafs die Schilderung mit
kurzen, kräftigen Zügen , aber meisterhaft abgefafst ist. Der
Verf. betrachtet übrigens mit Recht die Variolae und die
Varioloides als Krankheiten desselben Geschlechts, die sich
I
•m
IX. 3. Varioloiden.
4
nur durch ihren heftigeren oder milderen, regelmäßigen
oder schnelleren Verlauf von einander unterscheiden, und
spricht sich mit klaren Worten für die Schutzkraft der
Kuhpocken aus. Kinder, deren Geschwister an den Pocken
krank lagen, und mit denen sic umgingen, wurden vacci-
nirt, aber am fünften, sechsten oder achten Tage wurden
sie von den Yarioloiden befallen, die gleichzeitig mit den
Kuhpocken verliefen ! Einige noch nicht vaccinirte Kinder,
die aber die Variolae oder die Varioloiden überstanden hat¬
ten, wurden mit anderen noch nicht vaccinirten Kindern
zugleich vaccinirt, aber ohne Erfolg, während bei letzteren
die Kuhpocken sehr schön aufblühten. — Den Beschlufs
dieser Dissertation, die wir mit Vergnügen gelesen haben,
und an welcher wir nur auszusetzen finden, dafs sich der
Verf. nicht auch über die angewandte Kurmethode ausge¬
lassen hat, machen einige gut erzählte Krankengeschichten.
3. Ueber die Varioloiden oder die modificirten
Pocken. Von Dr. Leopold Maier, Kreis-Physicus,
praktischem Azte in Berlin u. s. w. Berlin, bei G. Eincke.
1829. 8. 101 S. Mit «lern Motto: «Non fingendum aut
exeogitandum, sed inveniendum, quid natura faciat aut
ferat. ”
Ein erfreuliches Ergebnifs der besseren Diagnostik der
Ausschlagskrankheiten in neuerer Zeit, ist die Ermittelung
der Natur der Varioloiden in dem verhältnifsmäfsig kurzen
Zeiträume von zehn Jahren. Das vorige Jahrhundert konnte
sich keiner umfassenden Kenntnifs der acuten Exantheme
rühmen. Scharlachfieber, Masern, Külhcln — welche Wider¬
sprüche herrschten über diese Krankheiten selbst bei den
besten ärztlichen Schriftstellern, und nach wie schwanken¬
den Grundsätzen wurden nicht, ungeachtet der klassischen
Vorarbcitcu Sydcnham’s, selbst die Pocken fast bis zu Ende
IX. 3. V arioloidcn.
233
jenes Jahrhunderts behandelt. Blicken wir noch weiter in
das Alterthum zurück, so finden wir nichts als dunkele,
kaum zu beachtende Anfänge einer Lehre von den Exan¬
themen, in der allein der Name derselben einen sinnreichen,
der Natur entsprechenden Gedanken enthält. Fünf Jahr¬
hunderte lang waren die Pocken in Kleinasien, Afrika und
im südlichen Europa verbreitet, und wurden von griechi¬
schen Aerzten, unter denen einige als Beobachter einen
hohen Rang einnahmen, nicht einmal erwähnt, und als sie
in verheerenden. Seuchen oftmals wiederkehrend aufkeimende
Geschlechter zerstörten, da wufsten die Galenisten und
Arabisten nichts Erspriefsliches zu ratben, ja es kann ge¬
schichtlich erwiesen werden, dafs durch die Aerzte, so wie
durch die Yorurtheile unter dem Volke, der Ansteckungs¬
stoff recht eigentlich gehegt, und vielleicht mehr verschlim¬
mert worden ist, als dies nach dem natürlichen Verlaufe
geschehen sein würde. Ueberall nur träges Fortschreiten
in einem für die Menschheit hochwichtigen Zweige der
praktischen Heilkunde, und spärliche Erfahrungskenntnisse,
durch unzählige Opfer erworben, so dafs man das « expe-
rimenta per mortes agere » mit vollem Rechte auf die Lehre
von den xXusschlagskrankheiten anwenden könnte. Welche
Klarheit der Beobachtung bietet dagegen die neuere Zeit
dar! Kaum wurden im Jahre 1818 die ersten unzweifel¬
haften Fälle modificirter Pocken nach regelmäfsig verlaufe¬
ner Vaceination von englischen Aerzten bekannt gemacht r),
so zeigte sich überall ein reger Eifer, die Natur dieses
Exanthems zu ergründen, und schon in wenigen Jahren
verstummten die Aerzte, die durch hartnäckiges Leugnen
der unerfreulichen Thatsache, wie sie meinten, die neuen
Theorieen bekämpften. Erfahrungen, die Allen bekannt
sind, wurden festgestellt, und bald wird auch das noch
hinzugethan sein, was nicht der Scharfsinn ergründen, son¬
dern allein die Zeit lehren kann. Unterdessen haben wir
1) Edinburgh mcd and surg. Journal. Voll XIV. p. 518.
234
IX. 3. VTarioloi(lcn.
darauf zu sehen, dafs die gewonnene sichere Krkenntnifs
der Varioloiden, und die durch Beobachtung dieses Exan¬
thems unleugbar verbesserten Ansichten über die Pocken
und die \aricellen nicht wieder durch einseitige Theoriecn
getrübt werden. Daher müssen uns Schriften, die sichere
Erfahrungskenntnissc hierüber verbreiten, und sollten sic
auch nur einzelne Gegenstände auf hellen, willkommen sein
und werth gehalten werden.
llr. Dr. Maier, der \ crf. der vorliegenden Abhand¬
lung, hat mit unbefangenem Sinn achtzehn Jahre lang die
Kuhpocken, die Menschenpocken und die Varioloiden im
Grofsen beobachtet Er hat als Kreisphysicus im Grofs-
herzogthum Posen über 20,000 Individuen vaccinirt, und
den Verlauf, so wie die Schutzkraft der Vaccine, mit rüh-
menswerther Sorgfalt beachtet, die Impfung nöthigenfails
und selbst in denjenigen Fällen wiederholt, wo nur eine
Pustel erschienen war. Dies ^ erfahren ergab bei ausbre¬
chenden Pockenepidemieen die schönsten Resultate, und
half in dem W irkungskreise des Verf. den Erfahrungssatz
befestigen, dafs die Varioloiden nicht, wie noch jetzt viele
glauben, die Folge einer unvollkommenen Vaccination sind,
sondern aus einem im menschlichen Körper nach überstan¬
dener Vaccine, selbst der besten, noch vorhandenen Resi¬
duum der angebornen Disposition zu den ächten Menschen¬
pocken- entstehen , welches keine Vaccine zu tilgen im Stande
ist. Hier wäre es nun allerdings wünschenswert!) gewesen,
dafs der Verf. sich genauer ausgedrückt hätte. Dafs jene
Disposition für eine gewisse Zeit aulgehoben wird, ist aus¬
gemacht. Wie lange diese Zeit unter verschiedenen l rn-
' ständen währt, darüber fehlt es noch an umfassenden Er¬
fahrungen, «loch wäre es schon zweckdienlich, wenigstens
die vorhandenen zusammenzustclleo , aus denen sich schon
mit einiger Bestimmtheit eine Regel über die W iederholung
der Impfung entnehmen lassen würde. Dies könnte am
besten in tabellarischer Form mit Aufführung aller wesent¬
lichen Entstände in besonderen Rubriken geschehen, der Zahl
IX. 3. V arioloiden.
‘235
der Pusteln, des Verlaufes derselben, der überstandenen
Nachkrankheiten, des Alters und des Gesundheitszustandes
des Impflings, des Ausbruches der Varioloiden u. s. w. ,
woraus der Wahrheit sich annähernde und sich mehr und
mehr berichtigende Zahlenverhältnisse hervorgehen würden.
J) ie D/agnose der Varioloiden hat der Verf. mit vieler
Genauigkeit, und mit Bestätigung der bisherigen besseren
Erfahrungen bearbeitet. Eine ausführliche Darstellung der
vier Stadien derselben dient dem Ganzen zur Grundlage,
das durch eine zweckmäfsigere Eintheilung und den Inhalt
bezeichnende Ueberschriften an Uebersichtlichkeit sehr ge¬
wonnen haben würde. Den Ausbruch sah der Verf. immer
rasch hintereinander erfolgen, so dafs am zweiten Tage
dieses Stadiums, also am fünften oder vierten der ganzen
Krankheit, nur noch einige Nachzügler erschienen. Nie¬
mals beobachtete er eine zweite Eruption, die bei den Va¬
ricellen häufig gesehen wird, auch erschienen die Varioloi¬
den nicht, wie die vollkommenen Menschenpocken , zuerst
im Gesicht, sondern meistens zuerst auf den Oberextremi¬
täten, oder auf dem Halse, oder auf der Brust, auf dem
Bücken, und dann erst auf dem Gesichte und dem übrigen
Körper. Niemals erschienen sie auch in so grofser Anzahl,
als gewöhnlich (?) die ächten Menschenpocken sich zei¬
gen, — gewifs ein schwankendes Diagnosticum, auf das bei
der nicht seltenen Gelindigkeit der letzten, und der oft
beobachteten Heftigkeit der Varioloiden, die wie bei jenen
mit der Zahl der Pusteln im Verhältnifs steht, nicht viel
zu geben sein möchte. Das Eiterungsstadium nennt der
Verf. bei den Varioloiden: Stadium inspissationis, weil in
ihm keine vollständige Eiterung, sondern nur eine Ver¬
dickung der in den Pusteln enthaltenen Flüssigkeit vor sich
geht. Ein secundäres Fieber bat er in diesem Stadium,
wie andere Beobachter, nie gefunden, doch erscheint es
ausnahmsweise in Fällen von gröfserer Heftigkeit. An und
für sich sind die Varioloiden eine milde Krankheit, und
bedürfen gewöhnlich keiner ärztlichen Behandlung ; die vor-
236
IX. 3. Varioloulen.
gekommenen Falle von Bösartigkeit , oder von irgend be-
d nklichen Erscheinungen, setzt der Verf. entweder auf
Rechnung einer iibclen Complication, wie etwa mit «Ty¬
phus, oder einer unvollkommenen Vaccination. lieber «las
Contagium der Varioloiden findet Bef. in dieser Abhand¬
lung die anerkannt richtigen Annahmen durch einige inte¬
ressante, der Schutzkraft der Vaccine sehr günstige Erfah¬
rungen bestätigt, und mit bewährten pathologischen Lehr¬
sätzen verweht, deren Zusammenstellung für Zweifelnde
oder Anfänger gewifs sehr unterrichtend ist. Der Verf.
bestätigt die noch nicht völlig erwiesene Annahme Bei Fs,
dafs die Varicellen die natürliche Anlage zu den Pocken
so modificiren, dafs Individuen, welche dies Exanthem frü¬
her überstanden haben, wenn sie von den Pocken ange-
stcckt werden, diese um so gelinder bekommen, je heftiger
die Varicellen waren. Den Unterschied der letzten von
den Varioloiden bestimmt er durch folgende Diagnostica
(S. 49): 1) Die Varioloiden füllen sich stets wieder, wenn
sie etwa, im Zeiträume der Füllung, aufgestochen werden;
die V aricellen dagegen füllen sich zum zweiten Male nie,
sind gewöhnlich gröfser, als die Varioloiden, und platzen
auch öfter auf. 2) Die Varioloiden bekommen blofs dieje¬
nigen, welche die Vaccine überstanden haben; die \ aricel¬
len dagegen können alle Menschen bekommen, sowohl die
Geblätterten und Vaccinirten, als auch die ISichtgcblatter-
ten und Kichtvaccinirten. 3) Die Varioloiden verlaufen
stets nach denselben Stadien, wie die Menschenpocken; die
Varicellen dagegen zeigen häufig ganz und gar keine regel-
mäfsigen Stadien, und wenn dies in seltenen Fällen ge¬
schieht, so durchlaufen sic dieselben noch weit rascher, als
die Varioloiden, so dafs viele Varicellen am dritten Tage
schon eintrocknen. 4) Die Varioloiden verbreiten oft einen,
dem specifischen der Mei»*chenpocken ganz ähnlichen Ge¬
ruch, die Varicellen dagegen einen von diesem sehr ver¬
schiedenen Geruch. 5) Die Varioloiden lassen sich durch
237
IX. 3. X arioloulcn.
Einimpfung fortpllanzen, die Varicellen nicht, u. s. w
Die Annahme, dafs die Vaccination nur 16 _ 20 Jahre
ihre Schutzkraft behalte, ist der Verf. nicht geneigt zu
unterschreiben, weil, wenn dies der Fall wäre, ungleich
mehr Individuen bei den letzten Pockenepidemieen hätten
angesteckt werden müssen; er ist überzeugt, dafs auch nach
diesem Zeiträume das Pockencontagium nur Varioloiden her¬
vorbringen könne, erkennt die Empfänglichkeit für das
Pockencontagium und die Vaccine nicht für identisch, so
dafs man nicht annehmen könne, ein Individuum, bei dem
die Vaccine zum zweiten Male gehaftet, würde, der An¬
steckung ausgesetzt, die Menschenpocken bekommen haben,
und spricht sich sehr zweifelhaft über die von vielen ange¬
nommene Nothwendigkeit einer erneuten Vaccination aus.
Auch nach der vollkommensten Vaccination bleibe ein Re¬
siduum der natürlichen Pockenanlage zurück, aus dem sich
die Varioloiden entwickeln ? diese können demnach schon
bald nach der Vaccination entstehen, und erscheinen sie
nach längeren Zeiträumen, so behalten sie stets ihre eigen-
thiimliche Natur als Varioloiden, und gehen nie in ächte
Menschenpocken über. Am Schlüsse dieser, den Aerzten
wegen der in ihr enthaltenen Erfahrungsresultate sehr zu
empfehlenden Abhandlung spricht sich der Verf. über den
Unterschied der wahren von den falschen Kuhpocken, und
über das Verfahren aus, eine vollkommene Vaccine zu
erhalten.
Wir verbinden mit diesem Artikel folgende, der Re¬
daction vom Hrn. Dr. Locher zugekommene Correspon-
denznachricht :
Vor einiger Zeit fand in unseren öffentlichen Blättern
eine (zwar nur kurze) Verhandlung wegen der Menschen-
und Kuhpocken statt. Dr. Mayor in Genf machte in ei¬
nem der dortigen Blätter den Vorschlag, zu vollkommener
Sicherung, die Kinder zuerst zu vacciniren, dann noch in
/
238
IX. 3. V arioloidcn.
einigen Wochen nach dem Verlaufe zu inoculiren, und ei¬
nige läge später, noch vor dem Ausbruche der Maltern,
wieder zu vacciniren 1 ). Dadurch soll möglichste Siche¬
rung vor den Variolis erzweckt, und doch der \ erlauf der
inoculirten Blattern gefahrlos gemacht werden. Auf die
Bedenken, welche ein Zürcher Blatt gegen die Wiederein¬
führung der Pocken und gegen die Gefahr der Inoculation
aussprach, gab Mayor dies allerdings zu, glaubt aber, man
dürfe einen Vater nicht bindern, der sein Kind zur grösse¬
ren Sicherheit wolle inoculiren lassen, und bemerkt, dafs
im verflossenen Jahre von mehren angesehenen Genfer Aerz-
ten die Inoculation der Menschenpocken öfters vorgenom¬
men worden. Es waren 1827 in Genf 42 Personen an den
Pocken gestorben, und besonders in der letzten Zeit fing
die Krankheit an, einen epidemischen Charakter anzuneh¬
men. Den eigentlichen Fragepunkt über die Schutzkraft der
Vaccine, und die Nothwendigkeit eines neuen Schutzmittels,
übergeht Mayor; hingegen wurde in einer der Sitzungen
der ISaturforschenden Gesellschaft, wo dieser Gegenstand
zur Sprache kam, einstimmig von allen Züricher Aerzten
die in hohem Grade schützende Kraft der Vaccine bestä¬
tigt, der Absolutismus allerdings nicht anerkannt. Wäh¬
rend vor drei Jahren in den angränzenden , besonders de¬
mokratischen Kantonen, wo die \ accination sehr mangel¬
haft ist, eine Menge von Kindern der Seuche unterlagen,
wurden im Kanton Zürich nur einzelne befallen, und diese
gröfstentheils nicht bösartig. -7— Unbekannt war mir, dafs
auch auf dem Continente Menschenpocken inoculirt werden;
und ungeachtet der als nothwendig anerkannten polizeilichen
Maafsregeln, bleibt die Sache immer ein mifsliches Unter¬
nehmen: anstatt die Krankheit auszurotten, dieselbe zu
unterhalten.
1) Vir
YV 111c verse
erinnern unsere J.cscr an einen ähnlichen, von
h gethanen Vorschlag. JBd. IX. 11. 2. £>. 217 d. A.
239
X. Venerische Krankheiten.
X. - ...
/
Traitd complct des maladies veneriennes,
contenant l’exposilion de leurs symptornes et de
lenr traitement rationnel, d’apres les principes de
la medecine organique, avec l’histoire critiqne des
theories et des me'thodes curatives generalement
regues; par A. J. L. Jourdan, Dr. en me'd., Che¬
valier de la legion d’honneur, membre des acade-
mies royales de medecine ä Paris etc. Paris,
Mequignon-Marvis, libraire editeur, rue du Jar-
dinet No. 13. 1826. 2 Voll. 8. 1 — 430 und
431 — 916. Mit dem Motto: Dans letude des
maladies il faut voir e^; non supposer. Baumes.
( Fortsetz ung.)
Zweites Kapitel. Von den secundären veneri¬
schen Krankheiten im Allgemeinen. Das Resultat
der Untersuchungen des Verf. sind folgende Corollarien :
1) Die secundären venerischen Krankheiten sind diejeni¬
gen, welche in einem Theile des Körpers erschei¬
nen, der verschieden ist von dem, der mit einer
entzündeten oder schwärigen Fläche mittelbar oder
unmittelbar in Berührung gekommen ist bei Gele¬
genheit des Coitus.
2) Man darf als solche nur diejenigen betrachten, welche
sich während des Verlaufes, oder sehr kurze Zeit
nach der Heilung, oder unmittelbar nach der plötz¬
lichen Unterdrückung einer primären venerischen
Affection einstellen.
3) Sie hängen oft von dem Beharren eines geringen
Reizungsgrades in dem vorher entzündeten Theile
ab. Wirklich rühren sie auch oft blofs von den
sympathischen Beziehungen, welche zwischen allen
Organen, und besonders zwischen einigen von ihnen
240
X. Venerische Krankheiten.
obwalten, her. Aber in Her bei weitem grölseren
Zahl der Falle, sind sie das Resultat einer direeten
Reizung, welche durch irgend eine zufällige Ur¬
sache auf den Theil, welcher der Sitz davon wird,
wirkte, oder der Prädisposition zur Reizung, worin
sich der Theil befand.
4) Sie werden oft durch die Wirkung zu heftiger Mit¬
tel, und besonders durch die des Mercurs, auf die
Digestionsorgane erzeugt, so dafs man in ihnen eher
Krankheiten erkennen mufs, die durch die Arzneien
hervorgerufen sind, als solche, welche die Natur
erzeugt hat.
5) Die Fälle, in denen sie nachfolgen, sind w’eit sel¬
tener, als die, in denen sie nicht erscheinen, wenn
man die primären Krankheiten sich selbst überläfst.
6) Man kann sie nicht in eine bestimmte Reihenfolge
bringen, welche mit dieser oder jener Nuance von
primärer Affcction correspondiren.
7 ) Sie beobachten in ihrem Auftreten und in ihrer
Folge weder Ordnung noch Rcgelmäfsigkeit.
8) Wenn ihrer mehre zugleich bestehen, so können
sie eine von der anderen unabhängig und durch
mehre deutliche Reizungsheerde hervorgerufen sein,
oder anscheinend mit einander in Verbindung stehen,
und alsdann hängen sie immer von einer chronischen
Reizung der Eingeweide ab.
9) Man kann sie nicht als eine besondere specifische
Krankheit, als eine Krankheit sui generis betrachten.
10) Folglich besteht die Syphilis, als das was man ge¬
wöhnlich darunter versteht, nicht, weil die ver¬
schiedenen Krankbeitszuständc, die man unter die¬
sem Namen zusammenfafst, auf einer heterogenen
Mischung von Symptomen beruhen, welche unter
dem Einflüsse sehr verschiedener l rsachen, durch
die Verletzung eines oder mehrer Eingeweide her¬
vorgebracht sind.
Drit-
X. Venerische Krankheiten.
24 J
Dritter Abschnitt. Von den Comp lication en der
venerischen Krankheiten. Ganz kurz, und ohne be¬
sonders hervorzuhebende Sätze.
Zweites Buch. Von der Theorie und Geschichte
der venerischen Krankheiten. Man kann die jetzt
noch bestehenden Theorieen auf drei zurückfuhren. Die
eine, allgemein anerkannte, nimmt ein eigenes specifisches,
das venerisch -syphilitische Gift an, dessen specifike Wir¬
kung auf die festen und flüssigen Theile des Körpers alle
die Zufälle hervorruft, welche die Gegenwart dieser Krank¬
heit bezeichnen. Die beiden anderen beziehen die Krank¬
heitserscheinungen auf die blofse Reizung der lebendigen
Gewebe, welche von einem nahe gelegenen Theile auf den
anderen durch eine blofs sympathische Wirkung sich fort¬
pflanzt. Bei der einen von diesen beiden aber, bei der
Hunterschen, nimmt man zugleich ein Gift an, und man
setzt voraus, dafs die durch die blofs örtliche Reizung die¬
ses Princips in Aufregung gekommenen Svmpathieen der
Art sind, dafs sie in den seeundär gereizten Theilen Be¬
wegungen hervorbringen, denen ähnlich, welche das Gift
in den zuerst ergriffenen Theilen erzeugt hatte, ln der
anderen verwirft man jede dem Organismus fremde mate¬
rielle Reizung, und betrachtet die primären venerischen
Krankheiten als Heerde einer örtlichen Reizung, welche
unter gewissen Umständen sympathisch andere entfernte
Organe ins Spiel ziehen kann, wovon jedes nach seiner Art,
d. h. nach Maafsgabe seiner eigenen Textur und seiner Be¬
ziehungen zu den anderen Theilen, reagirt.
In den ersten drei Kapiteln geht der Verf. die ver¬
schiedenen Meinungen über den Ursprung der Syphilis
durch, leugnet den amerikanischen Ursprung derselben,
spricht von der Epidemie der Marranen, und kommt end¬
lich nach vielfältigen Erörterungen, die jedoch kein ganz
sorgfältiges Quellenstudium erkennen lassen , auf den Schluls,
dafs die venerischen Krankheiten schon im entferntesten
Alterthum existirt haben. Er widerspricht der Annahme,
16
XIV. Bd. 2. St.
X. Venerische Krankheiten.
24 2
dafs die Syphilis eine allmählige Verminderung ihrer Inten¬
sität erleide; man könne, sagt er, noch täglich in «Jen Spi-
tälern alle jene schrecklichen Formen von syphilitischen
Atfeclionen sehen; doch hält er diese Zufälle nicht für ve¬
nerisch, sondern vielmehr fiir Folgen der Behandlung, und
namentlich des Gebrauches des Quecksilbers, der Reizmittel
aller Art, wie sie es schon zur Zeit Ulrich $ von Hut¬
ten waren (??).
Er geht hierauf die der Syphilis sich nähernden Krank¬
heiten durch: das Uebel von der St. Pa u 1 ’s- Bucht, die
Sibbens oder Siwin, das Uebel von Schcrlievo, denen sich
das von Ghavanne in Frankreich (ISIS) anschliefst, die
Yaws oder Pians, die Kadesyge. Früher betrachtete man
sie als Kntartungcn der Syphilis, jetzt setzt man die Rade*
svge in die Klasse des Aussatzes, und vermuthet, dafs die
Yaws auch vielleicht nicht syphilitischen Ursprungs seien,
doch niemand zweifelt daran bei dem Uebel von der St.
Pauls -Bucht, und von Scherlievo. Was sehen wir in
diesen verschiedenen Affectionen? Fine deutlich ausgespro¬
chene Entzündung der Digestions- und Respiratiouswege,
die durch den EinHufs der Kälte, Feuchtigkeit, Unreinlich¬
keit, und fast immer von schlechtem Regimen entstanden,
chronisch wird und sich mit sympathischen Zufällen ver¬
bindet, welche besonders ihren Sitz im fibrösen und im
Hautsystem haben, wo sie sich durch Schmerzen, Pusteln
verschiedener Art, sehr schmutzige Geschwüre, deren Jauche
ansteckend ist, aussprechen. Niemals sind die Geschlechts-
theile primär angegriffen, aber bei fortschreitendem Uebel
entzündet sich die Schleimhaut dieser Organe wie jede an¬
dere u. s. w.
Der ^ erf. erweckt kein Vertrauen zu dem Geiste seiner
geschichtlichen Forschung, wenn er die Beschreibungen oft
erwähnter Epidemicen bei Hippokrates, Thucy-
dides (!) und selbst Lucrez auf die venerische Krank¬
heit bezieht, und in seiner Argumentation so fortfährt: Es
herrscht also (?!) eine auffallende Uebereinstiminung zwi-
/
X. V enerischc Krankheiten. 243
schert den Epidemieen , von denen uns die Alten einen
schwachen Ahrifs hinterlassen, denen, welche die Neueren
beobachtet haben, zwischen einigen endemischen Affectio-
nen, die uns noch heutzutage hier und da begegnen, und
zwischen der furchtbaren Epidemie des 15 ten «Jahrhunderts.
Ueberall dieselben (?) Ursachen, dieselben (?) Erscheinun¬
gen. Besteht denn eine Beziehung zwischen ihnen und der
jetzigen venerischen Krankheit? Man stützt sich, um sie
jenen zu nähern, darauf, dafs diese letzten sich selbst über¬
lassen, dieselben Zufälle, Carics der Nasenbeine, Hautaus-
*
schlage, Geschwüre und Schwammgewächse hervorbringe.
Aber, seit die Einführung einer rationelleren Behandlungs¬
weise, welche fast allein der Natur die Heilung überläfst,
es gestattet, den Gang der venerischen Krankheiten, wenn
sie sich selbst überlassen werden, zu studieren, ist man über¬
zeugt, dafs sie viel seltener, als man ehemals glaubte, Nach-
krankheiteu herbeiführen, und dafs diese Zufälle viel leich¬
ter, viel weniger hartnäckig sind. Besonders die Affectio-
nen der Knochen hat man so wenig häufig gefunden, dafs
Rose, Guthrie, Hennen und S. Cooper nicht zögern,
sie dem Mercur zuzuschreiben, wie es schon früher Fal-
lopia und Fernei gethan hatten.
Es ist also bei dem jetzigen Stande unserer Einsicht
erlaubt, zu behaupten, dafs, weil der gröbste Theil der
venerischen Symptome, welche man consecutiv nennt, und
besonders die wichtigeren, das Resultat einer zu reizenden
Behandlung, einer chronischen Reizung der Eingeweide (?)
sind, man weder das französische Uebel des löten Jahr¬
hunderts, noch irgend eine der Epidemieen, welche ihm
gleichen, und welche alle ganz offenbar (!!) von einer
chronischen Entzündung der Eingeweide abhängen, die in
ihren systematischen Wirkungen durch den Einflufs äufse-
rer oder innerer Umstände modificirt werden, mit unseren
jetzigen primären venerischen Krankheiten vergleichen kann.
Hätte man Leichenöffnungen gemacht, so würde man
gleich zu dem Resultate gelangt sein, wohin die patholo-
16 *
244
X. Venerische Krankheiten.
t •
#
gische Anatomie in Hinsicht fies Pellagras, der asturischen
Hose find der rolhen Krankheit von Cayenne gelangt ist,
welche so sehr dem alten Franzosenübel und dem neuen
von Scherl ievo ähneln, dafs man nicht begreift, wie es
niemandem eingefallen ist, sie zu den syphilitischen Krank¬
heiten zu zählen.
In dem vierten Kapitel ist von dem V orkom-
men fl er venerischen Krankheiten im Alterthume
die Hede. Die Leser werden leirht erachten können, dafs
der Yerf. die vorhandenen Andeutungen und Thatsachen,
deren kritische Bearbeitung gewifs die grüfste \ orsicht und
Unbefangenheit erfordert, der Bro ussaisschen Ansicht
gemafs deutet, und was einem Geschichtforscber nie zu
verzeihen ist, eine schwierige Untersuchung mit einem
schon fertigen Hesultate beginnt, und nun auch das Schwan¬
kende und Unwahrscheinliche, so wie Angaben, über die
nie Gewifsheit zu gewinnen ist, sorgsam benutzt, um sei¬
ner Theorie das Wort zu reden. Wir können daher aus
diesem Kapitel nichts der gründlicheren Erörterung des
Gegenstandes förderliches ausheben.
Das folgende fii n f te K a p i te 1 , von dem Ursprünge,
der Entwickelung und den verschiedenen Modi-
ficationen der Theorie des venerischen Giftes,
ist nicht uninteressant, weil sich hier das B ro ussa issche
Vorurtheil weniger cinmischt, und verdient im Zusammen¬
hänge nachgelesen zu werden. Eben so das sechste Ka¬
pitel, von den jetzt bestehenden Theorieen über
das venerische Gift, das der \ erf. folgcndermaafsen
beschliefst :
Ich glaube bewiesen zu haben, dafs die Lehre vom
venerischen Gifte ein nicht zu entwirrendes Chaos von
Widersprüchen, Wrinkelzügen und Beschränkungen, eine
Mischung von chemischen, organischer und Humoralansich -
ten ist, welche eine nach der andern in der Mcdicin ge¬
herrscht haben. Auch scheint es mir, dafs man Folgendes
daraus schliefsen und als Grundsatz aufstellen könne:
XI. Praktische Notizen. • 245
1) D a 1 s das venerische Gift nicht existire.
2) Dafs die primären venerischen Krankheiten das Pro¬
dukt einer Reizung seien, welche direct an dem Orte
von dem Eiter, den die entzündeten und geschwu¬
ngen Schleimmembranen der Geschlechtsteile ab¬
sondern, hervorgebracht ist.
3) Dafs die secundären Affectionen von der Sympathie
abhängen, welche zwischen allen Theilen des Orga¬
nismus besteht, und welche weder bei allen Sub-
jecten, noch zwischen allen Organen, noch unter
allen Lebensverhältnisseri dieselbe ist.
4) Dafs keine dieser Krankheiten erblich sei.
Stucke .
i
( Fortsetzung f o l g t. )
Praktische Notizen.
1. Bei einer gegenwärtig sechsundsiebzigjährigen, an
einem Leberabscesse leidenden Frau, öffnete sich der Abscefs
nach aufsen auf der rechten Seite; nachdem eine Menge
Eiter und kleine Steine (Gallensteine?) durch die Oeffnung
abgegangen waren, erfolgte vollkommene Heilung. Eine
ähnliche Beobachtung theilt Ribes mit. (La Clinique.
Tome III. No. 80.)
2. Eine vierzigjährige Frau, und Mutter sechs leben¬
der, sehr gesunder Kinder, von anerkannt gutem Wandel,
übernimmt es, an ihrer Brust ein ihr übergebenes Kind zu
nähren, welches an einem pustulösen Ausschläge auf den
Schenkeln litt. Ein zu Rathe gezogener Arzt erklärt den
XI. Praktische INolizen.
Ausschlag für syphilitisch, worauf die Frau das Kind zu-
riiekgiebt. Mach Verlauf von wenigen Tagen entsteht an
der linken Brust dieser Unglücklichen ein Geschwür, und
einige Monate später finden sich Condyloma ta am After.
Zugleich wird sie vom siebenten Kinde entbunden, dessen
Gesicht und Gaumen sich mit Pusteln bedecken, welche
den Tod zur Folge haben. Trotz einer rationellen Behand¬
lung, welcher die Frau sich hingab, traten noch andere
Erscheinungen eines seeundären syphilitischen Leidens ein.
( Ebendaselbst. No. 81.)
3. Der bei alten Leuten so häufige chronische Blasen-
catarrh beruht nach Civiale auf Atonie der Tunica muscu-
laris der Harnblase, welche bei einer anhaltend sitzenden
Lebensweise, unter dem Gebrauche weicher und warmer
Sessel, und vor allem durch das lange Anhalten des Harns
tu der Blase mit jedem Tage zunimmt. Unter solchen \ er-
bültnissen entledigt sich die Blase ihres Urins nie vollkom¬
men, es entsteht eine Entzündung der Schleimhaut, es bil¬
den sieh schleimige Ausschwitzungen, welche den Beiz der
Schleimhaut unterhalten und die Entzündung vermehren,
die Muskelhaut verliert an Contractilität und entzündet sich
ebenfalls, ist die Krankheit so weit gediehen, so entleert
der Kranke unter sehr heftigen Schmerzen und mit grofser
Anstrengung einet» dicken, schmutzigen und zuweilen dun¬
kelgefärbten Urin. Von Zeit zu Zeit tritt ein Nachlafs
dieser Erscheinungen ein, welche dann wieder heftiger
werden und zuletzt hectisches Fieber und Marasmus her¬
beiziehen. Die täglich mehrmals bewirkte vollkommene
Urinausleerung mit Hülfe des Katheters, Injectioneu schlei¬
miger Mittel, Klystiere, Bader, späterhin kalte Douchc
aufs Mittelfleisch und aromalische Einreibungen, sind die
von Civiale empfohlenen Mittel. (Ebendaselbst.)
4. Bei einem 17jährigen Jünglinge, der unter deo
Erscheinungen eines llerzubels gestorben war, fand mau bei
XI. Praktische Notizen. 247
der Section das Herz und den Herzbeutel vollkommen ge¬
sund, dagegen sämmtliche Muskeln in einen Fettstoff dege-
nerirt. ( Ebendas. No. 83. ) *
5. Pigeotte fand bei einer an einem Herzübel ver¬
storbenen Frau auf beiden Weichen in der Gegend des
Kal Io pischen Bandes zwei Geschwülste, welche Cruralbrü-
chen durchaus ähnlich sahen, und auch dafür von Pigeotte
gehalten wurden. Bei näherer Untersuchung überzeugte er
sich von der Richtigkeit seiner Jüiag nose in Betreff der
Geschwulst der rechten Seite, indem hier ein Darmstück
vorgefallen war. Die Geschwulst in der linken VAeiche
von der Grcifse einer welschen Nufs war dagegen weiter
nichts, als eine längliche Hydatide, die mit den Drüsen der
W eiche vermöge Zellgewebsfasern zusammenhing. (Eben¬
das. No. 84. )
6. Die für männliche Kranke bestimmte Abtheilung
im Pariser Höpital des Veneriens enthält im Durchschnitt
190 besetzte Betten, und steht unter besonderer Leitung
Cullerier’s. Dieser Arzt hat die Ueberzeugung, dafs alle
örtliche und primäre Erscheinungen auch ohne Mercur be¬
seitigt werden können, welches Mittel nur dann in Ver¬
bindung mit schweilstreibenden Substanzen in Gebrauch
gezogen werden soll, sobald Spuren allgemeiner Lues sich
zeigen. Nach Grundsätzen behandelt Cull. Tripper, Bubo¬
nen und Chancres. Oertliche und allgemeine Blutentzie¬
hungen, erweichende Bäder, späterhin Copaiva-Balsam oder
Cubeben, zu drei Drachmen täglich, sind die Arzneien,
mit welchen er Tripper bekämpft. Nie verordnet er ad-
stringirende Einspritzungen, welche stets Verengerungen
der Harnröhre erzeugen sollen. Primäre venerische Ge¬
schwüre behandelt C. anfangs mit erweichenden Umschlä¬
gen, zu denen er eine geringe Gabe Opium setzt, später¬
hin mit Cauterien, Aqua vegeto -mineralis, Mercurialsalbe,
in seltenen Fällen mit Calomel in Pulverform. Blutegel
i
248
XI. Praktische Notizen.
und erweichende Umschläge wendet er bei Bubonen an,
gehen diese in Eiterung über, so öffnet er sie mit dem
Messer und behandelt sie dann wie die Chancres. In allen
Fällen ist absolute Ruhe und Diät erforderlich. Zum Queck¬
silber greift Cu II. nur in widerspenstigen Fallen, und bei
inveterirter constitutioneller Syphilis. Hier giebt er den
Sublimat in Pillen mit Opium, oder als Liquor van Sw ie-
ten, wobei er noch nebenbei auf die Haut wirkt, indem
er bei Hautaffectionen Dampfbäder verordnet. Bei Auf¬
treibungen der Knochen soll das wiederholte Ansetzen von
Blutegeln vortreffliche Dienste thun. (Kbendas. No. 85.)
7. Rreschet verordnete bei einem am Schlüsselbein¬
bruch leidenden Individuum, das nebenbei von einer Gesichts¬
rose und von einer Lungenentzündung heimgesucht ward,
nach vorangeschickten Blutentziehungen den Brechweinstein
in starker Dosis nach der von Rasori gegebenen Vorschrift.
Der Kranke ward hergestellt. («Wenn nun aber, wie so
häufig geschieht, nach den ersten Gaben Erbrechen erfolgt
wäre; so würde die vielleicht schon begonnene Vereinigung
der Bruchenden wahrscheinlich aufgehoben worden sein. ”)
( Ebendas. Tome IV. No. 11.)
8. Mehre von Dr. Toirac mitgetheilte Beobachtun¬
gen beweisen die Wirksamkeit einer Auflösung von Höllen¬
stein theils bei schon begonnener Entzündung der Tonsil¬
len, theils als Prophylacticum bei Individuen, deren Man¬
deln eine auffallende Empfänglichkeit für die Entzündung
besitzen. (Ebendas.)
.9. Bei einem im achtunddreifsigsten Jahre verstorbe¬
nen Manne, der wiederholt syphilitisch gewesen und län¬
gere Zeit vor seinem Tode Eiter und Blut durch den After
ausgeleert und an einem heftigen Fieber gelitten hatte, wie
es bei versteckten Eitemngen wahrgenommen zu werden
pflegt, fand man die Schleimhaut des Mastdarms schwarz,
dick und an mehren Punkten angefressen, den Mastdarm
249
XII. Medicinische Bibliographie.
I I
selbst dick , hart und scirrhös, über dem Sphmcter ani eine
fistulöse Oellhung von der Gröfse eines Franc’s, welche mit
der Pars membranacea urethrae communicirte, die Harn¬
blase klein, braun und dick, die Saamenbläschen mit einer
gelben, eiterähnlichen Flüssigkeit angefüllt, die Milz er¬
weicht, die Vena -porta mit einem dicken Eiter angefüllt,
die Leber theilweise entzündet. (Ebendas. No. 12.)
XII.
Medicinische Bibliographie.
Abercr ombie’s pathologische und praktische Untersu¬
chungen über die Krankheiten des Gehirns und Rücken¬
marks. Aus dem Engl, von G. von dem Busch, gr. 8.
Bremen. Heyse. XXII u. 582 S. 3 Thlr.
i
Alber’s, F. J. H., die Pathologie und Therapie der Kehl¬
kopfskrankheiten. Eine Monographie, gr. 8. Leipzig.
Cnobloch. XVI u. 280 S. 1 Thlr. 12 Gr.
Alexander, von den Wirkungen der Nahrungsmittel auf
den menschlichen Körper, für gebildete Nichtärzte. 8.
2 Theile. Ir Theil: Von den Speisen. 77 S. 2r Theil:
Von den Getränken. (In Commission in der Enslinschen
Buchhandlung. Berlin.) Graudenz. Röthe. 85 S. 12 Gr.
Ayre, J., über das Wesen und die Behandlung der Was¬
sersucht im Gehirn, der Brust, dem Unterleibe, den
Eierstöcken und der Haut. Ein Versuch, die Pathologie
dieser Krankheit auf richtige Grundsätze zu basiren, eine
i
neue und wirksamere Behandlungsart zu empfehlen und
durch Beispiele zu erläutern. Aus dem Engl, von Ir.
Reinhardt, gr. 8. Ilmenau. Voigt. VIII u. 131 S. 18 Gr.
v. Baer, K. E. , über Entwickelungsgeschichte der Thiere.
Beobachtung und Reflection. Ir Theil. mit 3 colorirten
‘250 XII. Mechanische Bibliographie.
kupfertafeln, gr. 4. Königsberg. Bornträger. XXII und
264 s. i l hl.-.
Bail lie, M. , Beiträge mr praktischen Arzneiwissenschaft
und pathologischen Anatomie. Aus dem Englischen von
J. G. Leukfeld. gr.8. Halberstadt. Brüggemann. II und
18*2 S. 18 Gr.
Becker, C. A., der mineralische Magnetismus und seine
Anwendung in der Heilkunst. 8. Mühlhausen. Heinrichs¬
hofen. 202 S. br. 21 Gr.
B e r t h o I d , A . A .
und der T liiere,
und Ruprecht.
, Lehrbuch der Physiologie des Menschen
. 2 Theile. gr.8. Güttingen. . Vandenhück
XXXVI u. 004 S. 3 Th Ir. 12 Gr.
Billard, C., die Krankheiten der Neugebornen und Säug¬
linge nach neuen klinischen und pathologisch - anatomi¬
schen, im Hospital der Findelkinder zu Paris augestellten
Beobachtungen geschildert. Aus dem Französischen über¬
setzt. Dritte Lieferung, enthaltend Bogen 25 — 36, so
wie Haupttitel, Vorrede und Inhaltsanzeige. Nebst einem
Atlas in besonderen Umschlag geheftet, gr. 8. Weimar.
Industr. Compt. br. 18 Gr.
Bluff, M. J., über die Krankheiten als Krankheitsursachen.
gr.8. Aachen. Mayer. \ 111 u. 77 S. geh. 10 Gr.
Broussais, Vorlesungen über die gastrischen Entzündun¬
gen. Nach der zweiten verbesserten Originalausgabe aus
dem Franz, übers, und mit einer Vorrede begleitet von
J. C. Fleck, gr.8. Rudolstadt. Hofbuchhandlung. XXX
und 239 S. geh. 1 Tblr. 8 Gr,
Caspar i, Pharmacopoea homoeopathica. Denuo edita,
aucta atque emendata a F. Hartmanoo. 8maj. Lipsiae.
Baumgärtner. VIII et 128 P. br. * 12 Gr.
Cazenave XV., und H. E. Sehe fiel, praktische Dar¬
stellung der Hautkrankheiten, nach den geachtetstcn
Schriftstellern, vorzüglich aber nach den in der Klinik
des llcirn Dr. Bictt im Hospital Saint Louis gesammel-
251
Xll. Medicinische Bibliographie.
ten Beobachtungen und Erfahrungen. Aus dem Franzö¬
sischen übers, lste Hälfte, gr.8. 240 S. br. I Thlr. 3 Gr.
D z o n d i , (j. II. i Pathologiae i n flammatio n is sy s t e mat u m
corporis hutnani succincta adumbratio. 8maj. Halae. Hem¬
merde et Schwetschke. IV et 156 P. br. 18 Gr.
Ebermaier, C. H., über den Schwamm der Schädelkno-
cben und die schwammartigen Auswüchse der harten
Hirnhaut. Ein auf Beobachtung und Untersuchung be¬
gründeter, durch 10 Abbilduegen erläuterter Beitrag zur
näheren Erkenntnifs dieser seltenen (Jebel. gr.4. Düssel¬
dorf. Arnz und Comp. 72 S. geh. 2 Thlr.
Hahnemann, S., Organon der Heilkunst. Vierte, ver¬
besserte Auflage, mit dem Bildnisse des Verfassers, gr.8.
• Dresden. Arnold. VI und 307 S. 1 Thlr. 15 Gr.
Hartlaub, C. G. C., kurzer AbrÜs der homöopathischen
Heilmethode zur Belehrung für Laien, gr. 8. Leipzig.
Focke. 64 S. geh. 10 Gr.
— — Katechismus der Homöopathie für Aerzte und INicht-
ärzte. Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage, gr.8.
Leipzig. Baumgärtner. XII u. 132 S. br. 16 Gr.
— — und C. F. Trink’s systematische Darstellung der
antipsorischen Arzneimittel in ihren reinen Wirkungen.
Drei Abtheilungen, gr.8. Dresden. Arnold. (Erste Abth.
VI u. 832 S.) Alle drei Abth. netto 9 Thlr.
He den us, E. J. , de variolis vaccinis earumque VI tutoria
recens in dubium vocaia. Lipsiae. Cnobloch. 98 P. 12 Gr.
H im ly, E. A. W. , Beiträge zur Anatomie und Physio¬
logie. Erste Lieferung. Auch unter dem Titel:
Darstellung des Dualismus am normalen und abnormen
menschlichen Körper, oder physiologische Erörterung
seiner Zusammensetzung aus zwei Hälften und der auf
mangelnder Vereinigung derselben beruhenden Milsgebur-
teu. Mit vier Kupfer- und zwei Steindrucktafeln. 4.
Hannover. Helwings. Vlll u. 209 S. 3 Thlr. 16 Gr.
I
252 XII. Mediciniscbe Bibliographie.
$
Ilürberger, über die Vortrefflichkeit der Hautmittel über¬
haupt, insbesondere der Essig Waschungen bei der Behand¬
lung vieler neueren Krankheiten. 8. Ulm. Lbncr. 48 Sei¬
ten. 5 Gr.
Hoffmann, A., die vollkommene Fufsgeburt, eine prakti¬
sche geburtshilfliche Abhandlung, nebst Tabelle. Berlin.
Hirsch wald. VIII u. 79 S. 8 Gr.
Jung, K. G. , über das Vqrhältnifs der Anatomie zu der
medicinischen Wissenschaft, und über die Leistungen der
Anatomen an der Baseler Hochschule. Kectoratsrede,
gehaltert den ‘26. September. 8. Basel. Schweighauser.
48 S. br. 5 Gr.
Kühn, O. B., praktische Chemie für Staatsärzte. Erster
Theil: Praktische Anweisung, die in gerichtlichen Fällen
voikommenden chemischen Untersuchungen anzustcllen.
Mit einer lithogr. Tafel, gr. 8. Leipzig, llartmann. L und
183 S. 1 Thlr. s Gr.
Kupfertafeln, klinische. Eine auserlesene Sammlung von
Abbildungen in Bezug auf innere Krankheiten, vorzüg¬
lich auf deren Diagnostik und pathologische Anatomie,
für praktische Aerzte. Zweite Lieferung. Tafel 'V II — XII.
4. Weimar. Industrie -Comptoir, br. 1 Thlr. 12 Gr.
Lutheritz, C. F. , Handbuch der medicinischen Diagnostik
Eine Anleitung, die Krankheiten des menschlichen Kör¬
pers richtig zu erkennen, und die ähnlichen von einan¬
der zu unterscheiden. Nach den neuesten Untersuchun¬
gen zum Unterrichte für praktische Aerzte und zum Ge¬
brauche für akademische Vorlesungen entworfen, gr. 8.
Ilmenau. Voigt. XX u. 572 S. 2 Thlr.
de Marners, G., neue Toxicologie, oder Lehre von den
Giften und Vergiftungen in chemischer, physiologischer,
pathologischer und therapeutischer Beziehung. Aus dem
Franzischen übersetzt von A. J. L. Westrumb. 8. Lemgo.
Meyerschc Hofbucbh. VIII u. 229 S. 20 Gr.
253
»
XII. Medicinische Bibliographie.
t t
Monheim, J. P. J., die Heilquellen von Aachen, Burt¬
scheid, Spaa, Malmedy und Heilstein in ihren histori¬
schen, geognostischen, physischen, chemischen und rnedi-
cinischen Beziehungen. Nebst 1 Karte und 1 Titelkupfer.
gr.8. Aachen. Mayer. VIII u. 416 S. br. 2 Thlr. 12 Gr.
Neumann, K. G., von den Krankheiten des Menschen.
Allgemeiner Theil , oder allgemeine Pathologie, gr.8.
Berlin. Herbig. 286 S. 1 Thlr. 12 Gr.
Nicolai, J. A. H., Beschreibung der Knochen des mensch¬
lichen Fötus. Ein Beitrag zur Anatomie des Fötus aus
der Beschaffenheit der Knochen. Mit vier Tabellen. 4.
t
Münster. Regensberg. V u. 72 S. 18 Gr.
Osiander, F. B., Handbuch der Entbindungskunst. Ir Bd.
2te, verm. Aufl. Bearbeitet von J. F. Osiander. Mit dem
Portrait des Verfassers, gr.8. Tübingen. Osiander. XVIII
und 669 S. 3 Thlr.
Pharmacopoea universalis , oder Uebersicht der Pharma-
copöen , Dispensatorien und Formularien Europa’s. Nach
der Pharmacopee universelle des Jourdan bearbeitet. Isten
Bandes lste Hälfte. Bogen 1 — 24. gr.8. Weimar. Indu¬
strie-Comptoir. 2 Thlr.
Pinel’s, Ph., Fieberlehre. Aus dem Französischen über¬
setzt. Kassel. Krieger. 464 S. 2 Thlr.
Puch eit, F. A. B., das System der Medicin im Umrisse
dargestellt, und vorzüglich seinen Zuhörern gewidmet.
Zweiter Theil, die besondere Krankheits- und Heilungs¬
lehre enthaltend. 2r Bd. gr.8. Heidelberg. Mohr. 800 Sei¬
ten. 4 Thlr.
Rau, G. L., über die Erkenntnifs und Heilung des Ner-
venfiebers. gr. 8. Darmstadt. Leske. IV und 502 Sei¬
ten. 2 Thlr. 16 Gr.
Repertorium der besten Heilformeln aus der Praxis der
bewährtesten Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer und der
berühmtesten klinischen Lehrer Deutschlands. Ein Hand-
254 XII. Medicinisrlic Bibliographie.
buch fiir praktische Aerzte, und Geburts¬
helfer; von einem praktischen Arzte und Chirurgen.
Zweite, verbesserte und sehr vermehrte Auflage. S. Leip¬
zig. Hartmann. 154 S. br. 1 Thlr. 12 Gr.
Sammlung auserlesener Abhandlungen, zum Gebrauche
praktischer Aerzte. 36r Bd. 2s Stück; oder neue Samm¬
lung 12r Bd. 2s Stück, gr. 8. Leipzig. Dyk. 200 Sei¬
ten. 18 Gr.
v. Sieb old, L. C. J., Abbildungen aus dem Gesammtge-
biete der theoretisch -praktischen Geburtshülfe , nebst be¬
schreibender Erklärung derselben. Nach dem Französi¬
schen des Maygrier bearbeitet und mit Anmerkungen
versehen. Dritte Lieferung, gr.8. 8 Tafeln und 30 Sei¬
ten in Umschlag. Berlin. Ilerbig. 20 Gr.
Taberger, J. G., der Scheintod in seinen Beziehungen
auf das Erwachen im Grabe, und die verschiedenen \or
schlage zu einer wirksamen und schleunigen Bettung in
Fällen dieser Art. Mit einer Kupfertafel. 8. Hannover.
Hahns. XII u. 112 S. br. 12 Gr.
Tourtual, C. F. , praktische Beiträge zur Therapie der
Kinderkrankheiten. 8. Münster. Hegensberg. 'S II und
126 S. i 15 Gr.
Turnor, J., Bemerkungen über die Heilkraft des weifsen
Senfsaamens (sinapis alba), ungemahlen eingenommen.
Nach der 12ten engl. Auflage übersetzt, gr.8. München.
Lindauer. 10 S. geh. 1 Gr.
Ueberblick, kritischer, der preufsischen Civilmedicinal-
gesetzgebung. gr.8. Allenburg. Litteratur - Comptoir. IV'
und 28 S. geh. 6 Gr.
Vogt, P. F. W., Lehrbuch der Beceptirkunst für Aerzte.
Mit einer lithogr. Tabelle, gr.8. Giefsen. Heyer, Vater.
Vlü u. 371 S. 2 Thlr. 4 Gr.
Wenzel, K., Becepttaschenbuch für das Gebiet der Kin¬
derkrankherten. Nach den einzelnen Krankheitsformen,
255
XII. Medicinische Bibliographie.
und insbesondere nach den Ileilanzeigen , nach dem jedes¬
maligen Stande und den Stadien der Krankheiten u. s w.
geordnet, und mit Anmerkungen versehen. Ir Theil. 8.
Erlangen. Palm und Enke. VIII u. 270 S. 1 Thlr.
Zeitschrift, gemeinsame deutsche, für Geburtskunde, von
einem Verein von Geburtshelfern herausgegeben durch
Rusch, Mende und Ritgen. Vierten Bandes erstes Heft,
gr. 8. Weimar. Landes -Industrie -Comptoir. 166 Sei¬
ten. 1 Thlr. 12 Gr.
- Vierten Bandes zweites lieft. Ebendas. 168 Sei¬
ten. 1 Thlr. 12 Gr.
Wichtiges Werk für Aerzte, Apotheker
und Staatsbeamte.
Bei C. H. F. Hart mann in Leipzig ist so eben die
erste Lieferung einer für Deutschland passenden Bearbei¬
tung von folgendem Werke erschienen:
O r f i 1 a , Professor der gerichtlichen Medicin in
Paris, allgemeine Toxocologie, oder: die
Gifte des Mineral-, Pflanzen- und Thier-
•>
reichs in physiologisch-, pathologi sch¬
und gerichtlich -medicinisc her Hinsicht
betrachtet. Ein praktisches Handbuch
für Aerzte, Apotheker und diejenigen
Staatsbeamten, welche gerichtliche Un¬
tersuchungen zu leiten haben. Nach der
neuesten (dritten) verbesserten und vermehrten
Auflage Deutsch herausgegeben vom Prof. Dr. O.
B. Kühn in Leipzig, gr. 8. Zwei Theile. In
sechs Lieferungen.
Preis der Isten Lieferung: I Thlr. od. 1 FI. 48 Kr.
(Preis für Pranumeranten aufs ganze Werk: 5 Thlr.
✓ oder 9 Gulden Rhein!.)
256
XII. Medicinische Bibliographie.
Das klassische Werk Orfila’s über einen der wich¬
tigsten Theile der Medicin ist auch in Deutschland, wenn
auch nur durch die sehr fehlerhafte II e r in b $ t ä d tsche
Uebersetzung nach der ersten Auflage des Originals von
1814, schon zu rühmlich bekannt, als dafs es einer Anprei¬
sung desselben bedürfte. Es ist das vollständigste Handbuch
über die wichtige Lehre voh den Giften. Durch die dritte,
bedeutend vermeinte Ausgabe des Originals, welches 1826
in Paris erschienen ist, sind alle früheren Ausgaben, und
namentlich die den Gelehrten ungenügende, 1818 und 1819
erschienene deutsche Uebersetzung, gänzlich unbrauchbar
geworden. Im Verein mit mehreren Aerzten hat 1 1 r. Prof.
Kühn in Leipzig es übernommen, eine, dem jetzigen Stand¬
punkte der Wissenschaften angemessene neue deutsche Be¬
arbeitung zu liefern, in der man, nächst der möglichsten
Treue und Richtigkeit in Wiedergabe des Originals, auch
nicht die neuesten Bereicherungen anderer Toxicologen ver¬
missen soll.
Unter der Presse ist, und w'ird baldigst erscheinen:
Eine deutsche Bearbeitung der sämmtlichen Schrif¬
ten Rapou’s über die Heilmethode durch
Dämpfe, oder: über den medicini sehen
Gebrauch der Dampfbäder und Douchcn>
von Hrn. Dr. Schilling zu Dresden,
was wir hiermit zur "\ ermeidung möglicher Collisionen be¬
kannt machen,
bei Joh. Ambr. Barth in Leipzig.
P
• / < ' ,
I.
Skizze der Lehre von den kritischen Tagen.
I ' i «
Von
Dr. Steinheini, v
/ • i ' it
praktischem Arzte in Alton?».
l 1 - **.'•' i
«* , » L#
Lafst uns eine kleine Weile betrachtend stille stehen, da¬
mit wir gewahr werden , in welcher Umgebung wir leben,
und wie dort und hier, vor- und rückwärts, die Stimm¬
führer unserer Kunst sich vernehmen lassen.
Zur selbigen Zeit, da man in Frankreich von den
rüstigsten Vorkämpfern alle Wesen Llichkeit der Fieber, und
mit diesen consequent, alle Krisen und kritischen Tage
frisch wegleugnen hörtt in eben derselben Zeit hört man,
und in eben demselben Lande, die Verkündigung der Kri¬
sen in Geisteszerrüttungen. Jn acuten Uebeln dem¬
nach, wo das ungeübteste Auge beinahe, wo die einfachste
Anschauung diese Gesetze des Krankheitsverlaufes gewahr
werden muls, ja, wo eine dumpfe Kurzsichtigkeit und eine
fast übermäfsige Insolenz dazu erfordert wird, sie zu ver¬
kennen und zu verleugnen, da werden sie schlechtweg als
Ilirngespinnste abgestritten, und dagegen da anerkannt, wo
sie bisher vielleicht von niemandem beobachtet, kaum ge-
ahnet worden sind- — Sie seigen Mücken, und verschlucken
Kamecle ! — *
✓
XIV. Bd. 3. Sl.
17
258
1. Krisenlchre.
Noch vor wenig Jahren raseten die Acrztc Europa’s
mit ihrem Calomel. Es wurde in England selbst zu säure-
tilgcnden Mitteln zugesetzt, und ohne ärztliche Vorschrift
dispensirt. Dies ging so weit, dafs das Calomel in die
Hände der Laien als Hausmittel gerieth, wie ich denn von
einem glaubwürdigen Arzte weifs, dafs eine angesehene
Dame aus England sich Pulver in Schachteln mitbrachte,
um hei ihrem Aufenthalte auf dem (Kontinente nicht sobald
dieses Absorhent, with a little dosis of calomel, entbehren
zu müssen. Ich weifs von den meisten Aerzten meiner
* nächsten Umgehung, dafs sie dies Mittel in allen Uebeln
passend, und fast in keinem entbehrlich fanden. Katarrh,
Rheumatismus, Entzündungen, rosenartige wie phlegmo¬
nöse, chronische Leiden aller Art, wurden mit Calomel
behandelt. — Und jetzt! Mit wahrem Frevel gegen die
Wahrheit der letzten Jahrhunderte, mit frechem Hohne
gegen die Lehren unantastbarer Namen, wird der Mercur
selbst in dem Uebel nicht gegeben, wo er noch eben die
einzige Zuflucht und der letzte Trost hiefs. Eine Erfah¬
rung, die unmündig und bartlos eben der Wiege entlaufen
ist, will sich gegen die grofse Keife eines grofsartigen Ge¬
schlechtes der Vorväter breit machen. Wie? und sie for-
♦
dert, dafs die Nachzeit ihr traue und glaube, ihr, die jruch-
los genug ihrer ’S orzeit Treue und Glauben geweigert? —
Mit diesem Vorw'urf soll gewÜs nicht der Forschung Ab¬
bruch gethan, dem Geiste der Prüfung Schranken gesetzt
werden. Wer wollte auch nur den Versuch machen, die
fortschreitende Untersuchung in einer Kunst, die allein auf
Erfahrung beruht, zu tadeln oder zu hemmen; aber es giebt
eine Zweifel- und Neuerungssucht, die jede Erfahrung, so¬
mit auch die eigene, also überall die Möglichkeit der Kunst
zu Schanden macht oder vernichtet, eine unverständige,
trotzige Fragerei nach Dingen und ihrer Wirklichkeit, die,
so wxtt es für ihre Sphäre, als Gegenstände der Erfahrung,
zulässig ist, coustatirt sind, die auiser einem historischen,
noch einen fortschreitenden Glauben haben. Cf. Baco,
I
I. Krisenlehre.
259
Augm. sc. I. III. c. IV. lstud ipsum, venire sno nomine
nulla antiquitatis, aut (si ita loqui licet), paternitatis habita
ratione, rem mali ominis esse ad veritatem; ut cunque eam
saepenumero comitetur illa fortuna, enm recipietis. Es
ist gefragt worden: Ob denn wirklich ein Virus venereum
existire? noch unverschämter! es ist seine Existenz geleug¬
net worden. Nun wohl!, haben sich alle jene Männer der
vergangenen Jahrhunderte dergestalt geirrt, dafs sie ein Da¬
sein behaupteten, wo kein Dasein war — denn es ist be¬
greiflich ein ganz anderes, eine vorhandene That-
sache nicht zu sehen, als, eine Thatsache zu se¬
hen, die nicht vorhanden ist. — Ist , sage ich , das
Virus venereum wirklich ein Phantom, so wollen wir laut
aller Welt es zurufen: die Wissenschaft mit ihrem stolzen
Namen, und allen hochmüthigen Theorieen, die letzten mit
eingeschlossen, ist Träumerei, oder Lüge, wenn sie
nicht noch etwas ärgeres gescholten zu werden verdient. —
Es ist noth wendig, dafs die Leute einmal einsehen, zu wel¬
chen Endresultaten ihre Theorieen führen, und wie sie,
dem Bären gleich, der die Schlinge mit dem Stein am Halse
fühlt, und vom Felsen, den er in der Absicht, sich von
Stein und Strick zu befreien erklimmt, den Stein und den
eigenen Leib so lange hinabwerfen, bis sie selbst todt neben
dem Leblosen liegen. Die Erfahrung ist der Stein, der
manchem eine Last, aber in der That unser Halt ist. Last
ist sie den Theorieen von der allgemeinen oberflächlichen
Irritationslehre; aber es scheint fast, als ob der Vorschreier
dieser Secte mit dem Steine am Halse schon tief unten leb-
i »
los liegt, so verstummt ist er.
Ferner: Während man fast überall die Parallel -Lehre
verbreitet findet: es giebt keine ursprüngliche allgemeine
Krankheit des Gesamintleibes, und das Fieber ist nichts,
als eine verbreitete, anfangs topische Entzündung; läfst
sich gegentheils eine eindringencie Stimme vernehmen: man
habe ja nicht die scheinbar topischen Uebel, z. B. Balg¬
geschwülste, für wirklich blofs topische Hebel zu hallen,
17 *
260
I. Krisenlcliie.
sie seien oftmals nur locale Aeufserungen allgemeiner krank¬
hafter Körperbeschaffenheiten. Diese letzte Stimme aber
winl kein Arzt verachten; sie rührt von eitlem unserer be¬
deutendsten Wundärzte her, von Kust (s. dessen Maga¬
zin u. s. w. Bd. 24. Heft 2. S. 478 ff. — Als die Gegen¬
stimme müfste ich die gesammte moderne Schule Frank¬
reichs und ihre Affen anführen). Der Wundarzt- Arzt
sieht im Topischen das Universelle, der Arzt- Wundarzt
macht das Universelle zum Topischen. Man sieht hieran,
wie sich der Unterschied gestalte, wenn der Wundarzt in
die Hände des Arztes fällt, oder der Arzt in die Hände
des Wundarztes. Das Mechanische nimmt gar zu gern das
Geistige mit in sein materielles Grab, und deckt sich selbst
als Lcichenstein darüber. Die Natur ist einfach- aber wahr-
/ 7
lieh nicht kahl und trocken, keine Dampfmaschine, und ist
in keinem Theatrum anatomicum bequem zu anatomiren. —
Die Chirurgie, die sich in der modernen Zeit an der
Arzneikunst emporgerichtet, gestärkt und veredelt hat, droht
nun, wie eine Würgschlange, mit unbändiger Kraft ihre
Meisterin zu umknoten und zu verschlingen. Es ist dies
der Lohn, den di£ geistigere Natur im allgemeinen von der
materielleren, die höhere von der niederen für ihre wohl-
thätige Einwirkung zu erwarten hat. Daher ist es noth-
wendig, dafs die höhere ihrer geistigen Obmacht sich von
Zeit zu Zeit erinnere, und durch ihre natürliche Macht den
Materialismus eines sinnlichen Götzendienstes vernichte. Die
Chirurgie hat es ihrer Natur nach mit mehr körperlichen
Gegenständen zu thun. Ihr Plus ist ein Materielles, ein
Sicht- und Tastbares, eine Geschwulst; ihr Minus eben¬
falls, nur im entgegengesetzten Sinne, eine Trennung, eine
Höhle. — Die Arzneikunst, im Gegensätze mit der Chi¬
rurgie, ist mehr Gegenstand der verständigen Untersuchung,
des abwägenden Urtheils. Ihr Gegenstand ist meist der
Hand und dem Gesichte verborgen, und was sichtbar ist,
ist weniger räumlich, ist mehr zeitlich vorhanden.^ Ihr
Hauptaugenmerk ist die Successiou der kranken Thatsachen,
I. Krisen lehre.
261
Ursache und Wirkung; während das der Chirurgie im Ge-
gentheil die Präsenz, das Nebeneinandersein der Krankheits-
läcla ist. In der Chirurgie dominirt der Tastsinn und sein
Object, die Materie. Wer mit Aufmerksamkeit die Ergeb¬
nisse der heutigen Systeme Frankreichs- und Englands beob¬
achtet, dem wird nicht entgehen, was die Medicin unter
den Händen der Chirurgen zum Theil geworden ist, zum
Theil noch zu werden droht.
Oft, wenn zwischen dem und jenem Kunstgenüssen
von den Theorieen des Tages die Rede war., wurde geklagt,
und ausgerufen: die» Arznei geht unter in der Wundarznei,
die Materie rächt sich mit frecher Plumpheit. Es ist das
Säculum der Erniedrigung des Gottes und seiner Vertrü-
bung in der Welt des Schlammes. Die Marterphysiologie
ist an der Tagesordnung; Messer und Retorte sind die Kö¬
nige. Wenigstens soll jeder, den das allgemeine Wohl¬
behagen im Irrthum und das Versinken in den Materialis¬
mus anwidert, andere aufwecken, und, wo dies nicht ge¬
länge, zum mindesten für seine Person protestiren. Es
kommt eine andere Zeit. Hat die Menschheit nicht schon
seihst darum eine Neigung, vom Wahren abzugehn, weil
es lange gegolten hat, und dadurch alt geworden ist; wie
sollte es ihr möglich" sein, beim Truge länger zu ver¬
weilen? —
Du erblickst, lieber Leser, eine Unruhe, ein Schwan¬
ken der Meinungen, ein unsicheres Hin- und Herziehen,
wie das Wirbeln der Wolken am Himmel, wenn ein Un¬
gewitter nahe vor dem Ausbruch ist. Die Meinungen gah-
ren, sagt ein sinniger Mann, aber wir müssen sehen, ob
Wein oder Essig daraus werde. Lafs uns bedachtsam hin¬
zusetzen: freilich werden wir es sehen, aber wahrlich nicht,
als mülsige Zuschauer dessen, was auf der Scene sich vor
unsern Augen entwickeln wird; wir wollen in der That
und mit Kraft Theil nehmen am grofsen Entwickelungs¬
schauspiele der Wissenschaft, und wirksam sein mit klarem
Selbstbewufstsein. Es ist, wenn irgend wann, und irgendwo,
I. Krisenlehre.
262
ilie Area der Wissenschaft das Gebiet, auf dem wir zur
erfolgreichen Thätigkeit hingewiesen sind; weniger dürfen
wir uns eines selbstständigen Eingreifens auf irgend einem
anderen Gebiete der Welthistorie rühmen, die uns am
Ende immer die demüthigende Erinnerung aufnüthigt: du
glaubst zu schieben, und wirst geschoben. Pläne
der Eroberer und Staatsmänner geratheu i r» unvorhergese¬
hene andere Richtungen, selbst noch in den Händen derer,
die sie ins Werk setzen; Entdeckungen und Erfindungen
gehören der Leitung des grofsen Werkmeisters der Welt¬
historie. Wir nennen sie zufällig, oder sind doch über-,
zeugt, dafs sie nur zu ihrer Zeit, unter den zeitigenden
Vorbereitungen zu Tage gefördert werden; kurz, dafs sie
nicht allein das Werk menschlicher Absicht sind. Aber den
Geist der NN issenschaft kann der Mensch, der zurückschaut,
auch vorwärts führen mit Wahl und Absicht; er kann dein
Strome, der mäandrisch und unsicher, in Strudeln und Sor¬
ten fortwallte, ein Bett graben, und mit Ruhe und Be*
wufstsein darf er sich sagen: das ist Menschenwerk. —
Also hat Baco die Wissenschaft geleitet, und es ist Zeit,
ihm im Geiste in geschlossenen Gliedern zu folgen, damit
wir die Arzneiwissenshaft, auf die wir hingewiesen sind,
eben sowohl von leeren und träumerischen Philosophenien
losreifsen, als auch sie vom Drucke eines öden, todten
Materialismus befreien. —
Wollen wir über die Lehre von den Krisen und kri¬
tischen Tagen etwas Erhebliches und Förderndes lernen,
so dürfen wir ja nicht in die Schulen des neueren Jahr-
zehends gehen. Eins von beiden: entweder in die Schule,
die ewige unergründliche, der Natur, zurück; oder in die
der alten Meister. Am besten, in beide! Denn das ist
eben das Verdienst und das NN erk der grofsen Meister,
dafs sie das Wort der Natur lebendig darstellen , und ihr
Verständnifs uns erleichtern. Indessen lliefst uns immer
die Quelle noch, aus der sie selbst einst geschöpft haben,
i. Krisenlohre.
263
«und die Sonne Homer’ s , sieh, sie scheinet auch
uns!« In der Geschichte der letzten Jubelperiode der
Arzneikunst ist das Kapitel der Krisen sehr mager, fast
immer eine Tabula rasa, und glücklich genug, wenn sie
das nur immer wäre. Dies Kapitel ist gewöhnlich noch
etwas Heilloseres, eine Lehre der Verirrung und Verblen¬
dung. Bedenkt man dabei, dafs die Lehre von den Krisen
mit der von den Heilkräften der Natur so genau zusam¬
menhängt, demzufolge mit den Heilanstalten derselben zur
Wiedererzeugung verlorener Kräfte und Regelung irrege¬
hender Bewegungen des organischen Leibes, zur Wieder¬
herstellung der guten Ordnung und des Gesetzes, so wird
es klar, dafs in keinem Abschnitte folgenreichere Mifsgriffe
statt haben konnten. Die Geschichte des gesammten Le¬
bens ist, bis auf die geringsten Veränderungen und Vor¬
gänge, an Zeiten und Stunden geknüpft. Alles verläuft an
der geraden Linie der Zeit und bildet in ihr, durch merk¬
lichere Ausbrüche, nähere oder entferntere Knoten. Der
Arzt nun, der diese Knoten an dem zeitlichen Verlaufe der
Krankheiten nicht zu beachten weifs, der nicht weifs, wann
die Natur vorbereitet, wie lange, mit welcher Zu- oder
Abnahme, und wann sie vollendet, der wird ihr allenthal¬
ben queer in den Weg treten, nicht fordernd und im Ein-
verstande mit ihr, sondern als ihr erbitterter Gegner. Nicht
als ein Therapeut, will sagen, sinniger Diener un4 Schaff¬
ner, sondern als täppischer Lehrling, der mit plumper Faust
ihr Gewebe zerreifst, an dem er mitzuweben berufen ist.
Die gröfste Wichtigkeit liegt hier in den Zahlen; dieser
Rhythmus ist der gröfste Puls, den der Arzt mit treuer
Gewissenhaftigkeit zu studiren hat.
Warum hörst du denn so oft — ja, wo hörst du es
nicht? — wenn von kritischen Tagen die Rede ist, von
Aerzten sagen: Im Alterthume mag so etwas wohl statt ge¬
habt haben, und in dem schönen, sonnigen Griechenland.
Einst, da die Menschen sich noch enger an die Natur an-
geschlosseu fühlten, und dort, wo die astralischen Einllüsse
\
!264
I. Kriscnlchre.
v iet unmittelbarer und augenscheinlicher sind, als im Nor¬
den, wo wir künstlich mit tausend Waffen und Wehren
die Natur von uns abhalten. — Solche und noch andere
Reden und Einwendungen sind an der Tagesordnung. Aber
ich roufs hierauf mit dem göttlichen II ippo krates, oder
dem, der es in seinem Geiste prophetisch und klar nieder-
schrieb, erwiedern: Kx) uti XxiS-xini» on h vrxir) «tu x.x\
\ 7 \v \ \ t \*a\
TXl rv\ TX dt X XXX KXX.61 cr.UXli XI XXI TU %g*IFTX ayX~T09.
Etti'I t4 Kx\ ii'Aißvy xx\ ii Ar,Xy kx\ h 'ExvS'ii) Qxtitrxt rx
‘TQoye'y^xulix xXr, S-tvovrx <r*i/xt7x (Hipp, prognost. XX^ II.
Ed, v. d. Linden). Wer auch nur zwei Lieber verlaufen
sah, der hat diesen Ausspruch entweder bestätigt gefunden,
oder er höre auf, Arzt zu sein, oder vielmehr, er ist es
nie gewesen. Möge er versuchen, es zu werden, wenn et
möglich ist.
_
$
Es ist unser Bemühen dahin gerichtet, zu erforschen,
wie die Natur im anscheinend Ordnung- und Gesetzlosen,
dennoch Gesetz und Ordnung beobachte. Die antike 'Welt
hat die kritischen Tage der Krankheit an die Periode der
Schwangerschaft angereiht. Es ist aber gleichgültig, an
welches Ereignifs des regelroäfsigen Lebensverlaufes der
Krankheitsverlauf angereiht werde; beide haben ihre Wur¬
zel im Leben, und sind seine Offenbarungen in specie.
Am anschaulichsten indefs wird die Periodicität der Lieber,
wenn man vom einfachen, mit dem Wechsel der Tageszeiten
harmonirenden gesunden Lebensgange anhebt. Durch die¬
ses einfache Verfahren wird, denke ich, ein recht volles
Licht über die Lehre von den kritischen Jagen sich ver¬
breiten lassen, ohne die fernere Rücksicht auf Mond- und
Sonnen Wechsel , den Galen besonders in Anspruch nimmt,
oder den Rerurs auf die einfache Naturbeobachtung, die
von van Swieten als eigentliches Lindemittel der kri¬
tischen Tage dem H ippo krates — wohl unverdienter
Weise — angerühmt wird. Deshalb sage ich unverdien¬
ter Weise, weil flippokrates die Krisen allerdings in
I. Krisenlehre.
2Ö5
Krankheiten von längerer als 14 tägiger Dauer an den be¬
stimmten Tagen erwartet hat, und zwar an solchen, die in
der Zahl 20 aufgehn, wenn auch die Beobachtung nicht
ganz genau zutreffen möchte. Er drückt sich nämlich so
aus (Caste, nach van Swieten): um den 20sten, 40sten,
Güsten Tag, aber nicht, wie bei dem 14ten Tage, am 20sten,
40sten , GOsten u. s. w. Warum aber, wenn er die Krisen
nicht genau an diesen Tagen effcctuirt fand, nannte er sie
denn so genau, und nicht andere, etwa den 30sten oder
41sten Tag, statt des 40sten , was doch bei einfacher blofser
Observation ohne Prinzip hätte geschehen müssen? — Da¬
her ist zu schliefsen, dafs dem grofsen Arzte allerdings ein
naturgemäfses Bild der lleihefolge kritischer Tage, wie ein
getreues Maafs und eine strenge Regel vor Augen geschwebt
habe, an dem sich seine Observationen bestätigt und
bewährt haben. Woher aber dies bestehende Schema
gekommen sei, das ist eben die Aufgabe gegenwärtiger
Forschung.
Vor allem wenden wir den Blick nach dem gesetz-
mäfsigen Verlaufe des Lebens im gesunden Zustande. Ueber
diesen lehrt uns die Physiologie in Beziehung der sich wie¬
derholenden Lebensveränderungen , dafs ein sehr strenger,
mit dem Wechsel des Lichtes und der Finsternifs überein¬
stimmender Typus obwalte. Das organische Material be¬
findet sich in einer abwechselnden Fluth und Ebbe, Aus¬
dehnung und Zusarrjmenziehung, und zwar gleichmälsig in
allen seinen vielfältigen Richtungeu und Verrichtungen. Zu
* - ,
unserm Zwecke ist es nöthig, eine und die andere mit
Sorgfalt uns nahe zu bringen ; wir wählen die unmerkliche
Ausdünstung. Diese unterliegt aber zwei Hauptwechselun¬
gen im Verlaufe einer ganzen Tageszeit, gemäfs: der An-
und Abwesenheit des Lichtes. Man mufs die vieruodzwan-
zig Stunden zunächst in 12 und 12 theilen, von denen die
eine Hälfte der Ausdünstung gehört, die andere der Ein¬
saugung, oder doch der Abwesenheit jener. Mit dem Er¬
scheinen des Lichtes tritt die Expansion, die Wirkung
266
I. Kr iscnlchrc.
nach aufsen ein; mit dem Verschwinden die Contraction,
ein Zuriickziehen des Organischen nach seinem Centrum.
Uin die sechste Stunde Morgens herrscht die Expansion,
um die sechste Stunde Abends die Contraction. Diese
Stunde der Contraction, der Lebensebbe, giebt sich durch
manche bezeichnende Erscheinungen zu erkennen. Das Le¬
ben verschliefst sich in sich selbst, und zieht sich in sich
selbst zurück; der Puls wird kleiner, schneller, die Aus¬
dünstung fehlt, das Athmen wird unkräftiger, die Lebens¬
kräfte sinken in Schlaf, und der Organismus ist, bis aufs
Unentbehrlichste, für «las Aeufsere verschlossen. Die Ebbe¬
zeit des Lebens dauert noch immer fort, bis zur Grunze
zwischen dem alten Tagt; und dem neuen, bis zum Punkte,
da die Soune unter uns im Nadir sich befindet. Von die¬
sem Scheidepunkte an, mit dem Aufsteigen der Sonne aus
der Mitternachtslinie, tritt im ganzen Organischen das ent¬
gegengesetzte \ erhältnifs ein. Je näher das Morgenlicht
kommt, desto mehr strebt alles nach aufsen, dehnt es sich
aus, und am sichtbarsten tritt dies ein in der von nun be¬
ginnenden Ausdünstung. Das lebendige Urfluidnm drängt
sich an die Obcrlläche; die Haut turgescirt, und über sie
hinaus bildet sich eine Atmosphäre von Dunst, die eine
Wirkung der Kräfte ist, die nunmehr von innen nach
aufsen streben. Diese Expansion bat ihren Culminations-
punkt mit der sechsten Stunde des neuen Tages erreicht,
und von nun an dauert ihre volle Wirkung eine kurze
Weile, und nimmt sodann allmühlig ab ,bis zum Mittage,
ln dieser Stunde hat sich allem Anschein nach ein Gleich¬
gewicht zwischen den beiden, gegeneinander auf- und nie¬
dersteigenden Polarenden der Lebenskraft hergestellt, Ex¬
pansion und Contraction äquilibriren gegeneinander. Auch
«lies Gleichgewicht ist nur von kurzer Dauer. Mit den
Stunden, da das Licht vom Zenith beruntersteigt, steigen
gleichmälsig die Lebenskräfte nieiler; die sechste Stunde
wäre naturgemäfs wiederum der negative Culminationspunkt
der Lebensebbe, und die Kräfte so weit niedergestiegen,
I. Krisenlehre.
267
dafs eine totale Ruhe, ein Schlaf, das äufsere Merkmal
und das Mittel sein soll, dafs dieselben Lebenskräfte nicht
ganz und gar auf das Minimum eines Punktes reducirt,
völlig zu wirken aufhören müfsten. Das Bedürfnifs der
Ernährung, und die Periodicität der Magenwirkung, hängt
mit diesen Verhältnissen aufs Innigste zusammen. Wo
die Lebenskräfte ihre höchste Spannung und Extension ha-
ben, wird kein Aliment, keine neue Kraftzunahme gefor¬
dert; das ist um 6 Ehr Morgens. Innerhalb der sechs fol¬
genden Stunden wird mit dem V erbrauche der Lebenskräfte
das Material derselben erschöpft, und der Hunger tritt dem
Gesetze gemäfs um 12 Uhr ein. Von nun an mufs das
Leben dahin gerichtet werden, wo sich das Material befin¬
det, damit dies gehörig verarbeitet und zum wahren Ali¬
mente zubereitet werde, das Leben zieht sich nach innen;
die Digestion, im eigentlichen Sinne, ist innerhalb der
sechs folgenden Stunden vollbracht. Die Lebenskräfte wen¬
den sich von ihrem Centrum wiederum nach der Peripherie,
bis sich um Mitternacht ein ähnliches Gleichgewicht herge¬
stellt hat, wie jenes am Mittage, nur dafs das mitternächt¬
liche durch Steigen der gesunkenen Lebenskräfte, durch
die Richtung von innen nach aufsen , das mittägige durch
ein Sinken der gestiegenen, durch die Richtung von aufsen
nach innen bewerkstelligt wurde.
Die doppelten Gleichgewichtspunkte des Lebens, die
beiden 12 Stunden des Tages, haben demgemäfs noch zwi¬
schen sich zwei andere Punkte liegen, die beiden 6 Stun¬
den des Tages, und dieses wären die beiden Culumnations-
stellen, die Ebbe und Fluth. Der Tag zerfiele demnach in
vier Viertel, jedes von 6 Stunden. Auf diese Weise ent¬
steht ein Kreis der Tageszeiten, der einem Planiglobium
gleicht, auf dem Aequator und Linie zwischen Nord- und
Südpol aufgezeichnet sind.
Verhielte es sich nun mathematisch also mit dem Leben,
I
so wäre ein Tag neben dem andern wie zwei gleiche ge¬
sonderte Kreise; sie wären beide neben einander, aber
/
i
i
268
I. Kriscnlchre.
nicht recht in einander. So ist es nicht ganz; durch
eine eigene Einrichtung ist der vergehende 'l ag dem kom¬
menden einverleibt. Dadurch nämlich, dals die Tageszeit
nicht völlig 24 Stunden gleich, und durch die Zahl (i t heil¬
bar ist, und dals ein kleiner Best von gestern übrig bleibt,
greift dieses Gestern ins Heute über, und dieses Uebcrgrei-
fen des vorangehenden Tages in den folgenden hat in der
Lehre von den Krisen die höchste Bedeutung, und deshalb
soll hier ein ganz besonderer Werth darauf gelegt werden.
Es bildet diese Spiralbewegung der Zeit einen ähnlichen
Zusammenhang, einen entsprechenden Verband zwischen den*
Epochen der Krankheit, wie der ist, den sie in dem Gange
der Tage, Wochen und Monate zuwege bringt. Es ist der
oben beschriebene 24stündige Verlauf sich ablösender Con-
tractionen und Expansionen der Lebensverrichtung nicht
mit einer Tageszeit absolvirt und geschlossen; sondern die
Expansion der vorangehenden Tage hat einen sehr kleinen
Ueberflufs an Zeit, und mit diesem greift sie in die Con-
tractionszeit des folgenden Tages hinein, und zwingt diese
Contraction ebenfalls, weiter zu rücken, genau, wie es mit
den periodischen Abwechselungen von Ebbe und Fluth der
Lall ist.
Ferner aber beobachtet man in diesem Spiralgange
der organischen Ebbe und Fluth abermals gröfscre Zeitab¬
schnitte, die einander entsprechen. Der Gang ist nämlich
nicht der Art gleichmäfsig, dafs durch einen ganz gleichen
Ueberflufs den der verfliefsende Tageskreis mehr bat als
der schon verflossene, jedweder Tag sich zu dem folgenden
verhielte, wie der vorhergehende , zu diesem; sondern es
bilden sich gröfsere Zeitconvolute , die neuerdings sich wie
Totalitäten gegen einander verhalten, und jedes Uonvolut
ist ein Cyclus von 7 Tagen; die abermals* in Convolutc von
2:7, und *1 : 7 Tagen zusanjmengehn. Die nähere Erör¬
terung dieser Zahlen Verhältnisse wird sich im Verfolge die
ser Forschung natürlich ergeben. Wir brechen hier vor-
I. Kriscniehrc.
269
läufig ab, um unsere nächste Aufgabe wieder aufzunehmen
und zu losen.
Gang des Fiebers. — 1. Einfachster Gang.
Der grofse Arzt der alten Welt, der JNIark - und
-Schlulsstein der grofsen Epoche der antiken Arzneikunde,
soll mir, wie in Vielem, auch gleich zu Anfang darin Muster
und Führer sein, dafs ich ihn als einen Meister und Ilode-
geten mit Ehrfurcht nenne, wie er seinen Meister und
Führer, den ärztlichen Patriarchen Hipp okrales, immer
anerkannt und genannt hat. Ich fange an mit einem Spruch
aus dem siebenten Kapitel des zweiten Buches de Crisi-
bus (Vol. IX. Edit. Kühn), er heifst: X ^ yeeg h jär» yveo-
gi^siv uvrov ucrurio-ui Qctoiug ccttXxv udog Trv^iTis, x. xorsiir ovrug
(xiTccßotlvziv I7A rx cvvB-stx. So soll denn, oder eigentlich,
so mufs denn auch gegenwärtig der einfachste Gang eines
einfachen Fiebers uns zum Verständnisse des zusammenge¬
setzten führen, und diesen uns klar machen. Mag noch ein
anderer Spruch, der dem oben angeführten voransteht und
soviel heifst als: «Wer nicht am ersten Tage schon
ein Quartanfieber von einem Tertianfieber un¬
terscheiden kann, der ist kein Arzt,” hier einen
\
Platz finden, damit, die ihn lesen, ihn wohl beherzigen,
und ihr « anch’ io » gewissenhaft ausrufen mögen. —
Wie ist denn der Gang des einfachsten Fiebers be-
schaffen? — Der Mensch hat eine unruhige Nacht, mit
ängstlichen Träumen, oder schlaflos, lästigen Gefühlen u.
s. w. zugebracht. Er erwacht unerquickt durch die Nacht¬
ruhe. Steht auf mit Schwere in der Stirn, in den Knieen;
wärmerem Athem, hellem, reichlichen Urin; der gewohnte
Stuhlgang zögert; das Frühstück will nicht schmecken. Der
Zustand , den das Alterthum Koorog nannte, tritt ein, eine
schmerzliche Müdigkeit mit Unruhe. Der Mittag
ist indessen herangekommen. Die Mahlzeit schmeckt nicht.
Der Kranke, der sich noch mit Mühe, als ob es durch
i
270
I. Krisenlehrc.
weichen Lehmboden ging, fortgeschleppt hatte, mufs sich
legen. Unruhe, Kopos und lästige Empfindungen steigern
sich, bis endlich zwischen 6 — 7 Frostschauer deutlich und
deutlicher den Leidenden durchschiittern. Sic dauern mehr
oder weniger lange, von einer bis zu mehren Stunden.
Ein Schwanken zwischen Frost und Wärme tritt nun ein.
Bald hat die Wärme die Oberhand. Sie steigt. Der Kranke
fängt an zu glühen, und endlich hat die trockene Ililze
um die Mitternachtstunde ihren Culminationspunkt erreicht.
Die Haut wird weich und feucht, es tritt zuerst ein IS'ach-
lafs der übermäfsigen Hitze ein, und bald wächst die Aus¬
dünstung und wird zu einem triefenden Schweifse, der ge¬
wöhnlich um die Morgenstunden den höchsten Grad er¬
reicht, und von dieser Zeit an wieder sich zu mindern an¬
fängt, so dafs die Mittagsstunde eine Stunde des hergestell¬
ten Gleichgewichtes und der Kühe für die höher fluthenden
Lebensgeister nach ihrer tieferen Ebbe wird.
Es hiefse dem geneigten Leser zu wenig Zutrauen,
wenn man ihn auf die durchherrschende Gleichmäfsigkeit
des Verlaufes dieser Ephemera mit den» gesunden Lebens¬
laufe eines Tages hinweisen wollte. Hier ist mehr als
Analogie; hier ist Eins und dasselbe, nur in anderer Form.
Nun wohlan! Lalst uns weiter schreiten zum componirten
Fieber !
Gang des Fiebers. — 2. Zusammengesetzter.
ln dem einfachsten Gange haben wir das Bild eines
einzigen Anfalls eines kalten Fiebers, den Tact, der sieb
vielfach wiederholend, eine Reihe von einzelnen Tacteu
bildet, die zusammengenonnnen den Cyclus eines kalten Fie¬
bers ausmachen. Jeder einzelne Tact besteht sonach —
die Terrentia morbi abgerechnet — aus Frost, Hitze,
Schwei fs, Glei ch ge wicht, und die Fortsetzung des
Fiebers, die Verbindung eines neuen Tactes zum schon
vergangenen wird gegeben durch ein u n v o 1 1 k o m nie n es
Gleichgewicht, so dafs noch ein Theil für einen neuen
I. Krisenlehre.
271
Impuls auszugleichen zurückbleibt. Daher ist in der ersten
Verlaufzeit des kalten Fiebers, d. h. bis es seinen, in der
Natur (wie wir bald sehen werden) gegründeten, 7- oder
2:7tägigen Gang vollendet hat, die Pause noch immer von
dem Kopos begleitet; man sagt: die Intermission ist nicht
vollständig; der Kopf ist nicht frei; die Glieder sind bleiern;
es zieht im Kücken; die Zunge ist gastrisch belegt; der
Appetit ist schlecht u. s. w. Aehnlich ist das sich täglich
wiederholende, und bei Thieren und Menschen nicht selten
sehr sichtbare Digestionsfieber, das man auch wohl im
Scherz das Ochsenfieber zu nennen pflegt, und das der ver¬
storbene Wo lstein so genau gezeichnet hat. Man könnte
dies füglich das physiologische Fieber nennen.
Gang des Fiebers. — Zusammengesetzt-zusam¬
mengesetzter.
Nunmehr denke sich der geneigte Leser den Fall, dafs
die Fieberursache von solcher Gewalt sei, und der Wider¬
stand der Lebenskräfte von solcher adäquater Macht, dafs
das Gleichgewicht schwach oder gar nicht hergestellt wer¬
den kann, zwischen je einem und dem andern Fieberanfalle;
so hat er ein confluentes kaltes Fieber, und zwar im leich¬
teren Grade mit einiger Zwischenpause und unvollkom¬
men hergestelltem Gleichgewichte, d. i. eine Febris remit-
tens; oder endlich auch ohne dieses letzte Analogon einer
Zwischenpause, eine Febris continua continens.
Wie uns nun der einfache Typus allrnahlig in diesen
componirten geleitet, und ihn aufgeklärt bat, so mag uns
hinwieder der componirte zum Gange des einfachen zurück¬
führen, und diesen aufhellen und erklären. Wir wissen
alle, dafs das gutartige kalte Fieber einen Verlauf von 7
oder 9 Anfällen macht, mithin in 13 oder 17 Tagen sei¬
nen Kreis durchwandelt. Theils haben wir alle dies Phä¬
nomen oft erlebt, theils haben wir Zeugnisse, dafs es vor
mehr denn 2000 Jahren schon also sich verhalten habe,
272
I. Krisenlehre.
auch dals ei in den verschiedenartigsten Gliinaten sich also
verhalte noch heutigen Tages. Worin mag denn dies Ge¬
setz der Natur begründet sein;’ Welche Einflüsse bestim¬
men diesen, und nur diesen Verlauf? — Vei gehe rnir mein
muthmaafslicher Recensent den Mangel an Citaten ( ich
denke, besser gar nicht, als schlecht citirt, und den letzten
Fehler kann ich wohl verleugnen), und lasse die Parerga
bis der Ernst zu Ende ist. —
Zu dem Ende, und um uns unseres Zieles zu verge¬
wissern, müssen wir die Natur der einzelnen Fiebertage,
und ihr Verhaltnifs gegeneinander, sorgfältig zu ermessen
suchen. Wir wollen vorläufig einmal annehmen, wir hät¬
ten eine ungewisse Zahl von Fiebertagen vor uns, die alle
insgesammt und gemeinschaftlich die Folge einer Krankheits¬
ursache sind, die auf Einmal den Organismus ergriff und
sich mit einer Ephemcra nicht abfinden lassen konnte, auch
zu mächtig war, der Vitalkraft Pausen und Ruhetage zu
vergönnen, sondern jeden Ruhetag zum Tage krankhaft
aufgeregter Thätigkeit macht, wir lieben, mit Einem Worte,
die Continua remittens. Am ersten Tage mithin ist der
Eindruck am lebhaftesten; der zweite Tag hat einen min¬
deren Grad von Aufregung, weil er der Intermission ent¬
spricht. Jetzt kommt der dritte Tag; dieser entspricht
dem zweiten Kaltfieberparoxysmus , ist mithin an Aufregung
dem ersten gleich, wo nicht aufgeregter; und auf den drit¬
ten Tag folgt der vierte mit seiner, der Intermission ent¬
sprechenden, Remission. Dieser vierte giebt noch zu
mancherlei Betrachtungen Anlafs. Erstlich: W’enn die¬
ser vierte Tag in seinen Erscheinungen dem dritten, der
Intermissionstag dem Paroxysmustage gleich kommt, so ist
dies ein so unerwartetes Ereignifs, dafs wir noth wendig
entweder auf eine besondere Mächtigkeit der Krankheits¬
ursache, die den ganzen Verlauf herbeigeführt hat, oder
auf eine neu hinzugetretene schbefsen müssen. — Der
vierte Tag hat das vor dem zweiten deshalb voraus,
weil der zweite uns schon den Gang der Krankheit vor-
zeich-
I. Kriscnlehrc.
273
zeichnet, und die ersten drei Anfälle die drei Punkte sind,
die den Lauf der Krankheitslinie zuerst bestimmen. Ist
nämlich der Zweite dem Ersten gleich, so giebt sich
ein sehr acuter Zustand (ceteris paribus) kund; ist aber,
nachdem der Zweite dem Ersten ungleich, nämlich ein
Remittirender gewesen war, dennoch der Vierte nicht
dem Zweiten, sondern dem Dritten gleich, nämlich ein
Exacerbirender, so mufs, weil dies entweder eine heimliche
Bosheit der ersten Krankheitsursache, oder gar eine neu
hinzugekommene neue Ursache anzeigt, die Krankheit noth-
wendig von ernsterer Natur werden. 2) Wir bemerken
ebenfalls, was der Unterschied zwischen der geraden und
ungeraden Zahl zu sagen habe, und von welchem Gewichte
dies Zahlenverhältnifs in dem Krankheitsverlaufe sei. 3) Le¬
gen wir einen ganz besonderen Nachdruck auf die Stellung
dieses vierten Tages. Die sorgfältigste Beobachtung des
Krankheitsverlaufes, wie ich ihn fast immer, wo keine
erweislichen groben Störungen durch Diät und Be¬
handlung vorgefallen waren, wahrgenommen habe, lehrt:
dafs das Remittens, namentlich, doch nicht ausschliefsend,
das in seinem ferneren Gange mit auseinander gehendem
Typus sich in ein wahres Intermittens auf löst, an derselben
Tageszeit seinen Verlauf beschliefst, an welcher es ihn be¬
gonnen hat, so dafs der letzte Anfall gewöhnlich einen
Nachmittag eintritt, wie der erste an einem Nachmittage,
dem regelmäfsigen Lebensgange conform, einzutreten pflegt.
Die einzelnen Exacerbationen aber kommen entweder jedes¬
mal eine Stunde später oder früher, so dafs damit, genau
wie mit der Erscheinung der Ebbe und Fluth, im Fieber¬
kreislaufe der Eintritt des Paroxysmus nach der Reihe jede
Stunde des Tages trifft, bis der Kreis durch wandelt, und
er wieder in derselbigen Stunde eingefallen ist, in welcher
er das erstemal eintrat. Auch trifft es sich, dafs der Pa¬
roxysmus um zwei Stunden vor- oder nach setzt. Setzt
er nur Eine Stunde vor, so wären, damit der Verlauf voll¬
ständig werde, und der letzte Anfall auf den ersten der
xiv. Bd. a. st. ' IS
274
I. Krisenlehrc.
Zeit nach falle, 25 Exacerbationen; setzte er zwei StunJen
vor, 13 Exacerbationen zum Schlüsse des Kreises erforder¬
lich. — So aber verhält cs sich auch im Leben, mit gerin¬
ger Modification ; es vertheilen sich die 24 Stunden über
sieben oder über dreizehn Kieberzeiträume; z. B. es
trete der erste Paroxysmus ein um 6 Uhr Nachmittags, so
tritt, bei zweistündigem ^orsetzen, der zweite um 8, der
dritte um 10 Uhr ein, und so fort bis zum siebenten, der um
6 Uhr Morgens, und endlich der dreizehnte, der um 6 Uhr
Nachmittags eintritt. Also in 2 : 7 oder 14 Tagen tbeilt sich
der gewonnene Tag bei zweistündiger Differenz; in 4:7
oder in 28 Tagen bei einstiindiger, und dieses wäre der
Berechnung nach der simple Verlauf eines kalten Fiebers,
oder einer Continua remittens, nur bei dieser mit contlui-
renden Paroxysmen.
Welche Stellung ergiebt sich aus diesem allen für den
vierten Tag? Diese Stellung, dafs er das Mittel ist zwi¬
schen deu 2 zeitlichen Hälften -eines grüfseren 7 tägigen
rr der Hälfte oder dein Viertel des 2:7 oder 4 : 7 tägigen
Verlaufes eines inter- und remittirenden Fiebers. Ist nun
der vierte Tag von so grofser Wichtigkeit, so liegt natür¬
lich in seinem \ erhalten der Schlüssel zum Gange der
noch folgenden Hälfte; ist am vierten eine Remission,
so kann am siebenten eine Krise zu Stande kommen;
tritt aber eine neue Exacerbation ein, die in ihrer Svmpto-
mengruppe und Energie der des dritten Tages gleicht, so
ist keine Krise am siebenten zu erwarten. Durch diese
Stellung des vierten Tages schliefst sich die Zahl 7 zu einer
Wochenzahl im Krankheitsgange; ich will sagen die Sie¬
ben za hl wird ein Convolut, ein neues Ganzes, eine in
sich geschlossene Krankheitsepoche. Ich darf wohl nicht
auf den Werth derselben für den Arzt aufmerksam machen,
und mich von dem Verdacht der Subtilitäten säubern! —
Ich schreite fort, und stelle für den ersten Krankheits¬
zeitraum folgendes Schema auf (die Zeichen sind der Metrik
l
I. Krisenlehre.
275
*
entlehnt; Exacerbation hat das Zeichen der gröfseren Quan¬
tität, Remission das der kürzeren):
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8 (oder I.)
— ^ — o — Kris. Gesundheit.
Dies ist das Schema des einfachsten componirten Fieber¬
typus.
4. Ferner Gang des componirten Fiebertypus.
Der gütige Leser hat sich vielleicht schon gewundert,
und Einer von denen — qui malitiose legunt — sich ge¬
freut, dafs der Autor dieser Untersuchung beinahe ver¬
gessen hätte, die oben angegebene Differenz des componir¬
ten Typus nach der Ordnung hier wieder vorzunehme«
und den Faden dort anzuknüpfen , wo er ihn hat fallen
lassen. Zur Genugthuung des Einen und des Andern möge
dies denn unverzüglich hier geschehen, und eine Erörte¬
rung veranstaltet werden, die, meines Wissens, in neueren
Zeiten wenigstens, gar nicht vorgenommen worden, man
möchte sagen, an die nicht gedacht worden ist r).
Die Beobachtung, die, wie gesagt, allgemein gemacht
ist, und beständig sonder Mühe gemacht werden kann, dafs
nämlich ein gewöhnliches, originäres * 2) kaltes Fieber seinen
Verlauf innerhalb 7 oder 9 Anfällen vollende, soll, wo
möglich, auf die einfachsten Lebensgesetze reducirt, d. h.
pathologisch erklärt werden. Diese doppelte Verlaufsweise
J ) Was von der Befruchtung der Veilchen von mir ent¬
deckt worden, ist, wie ich erfahren habe, von einem Zeichner
(Capieux) in der Gartenzeitung schon lange beschrieben. Ich
erfuhr dies aus der Recension eines botanischen Werkes, ich
weifs nicht mehr, wo? Auch ist hier diese Gartenzeitung nicht
aufzutreibeu gewesen.
2) Originär nenne ich ein solches Fieber, das weder ein
chronisches verschlepptes, aus einem gastrischen, biliösen, ur¬
sprünglichen kalten Fieber entstanden, noch auf eine chronische
Krankheit der Eingeweide gepfropft ist.
18 *
276
I. Krisenlehre.
in 7 oder 9 Tagen ist aber gegründet in einer besonderen
Eigentümlichkeit des Fiebers rücksichtlich der Verrückung
der Exacerbationen oder Paroxysmen. Setzt der Typus
um zwei Stunden vor und fängt, nach dem obigen Bei¬
spiele, um 6 Uhr Nachmittags an, so gewinnen die fol¬
genden drei Anfälle 6 Stunden, und der vierte Anfall fällt
in die Mitternacht des Tten Tages; setzt der Typus im
Gegenteil nach, so verlieren die drei folgenden Anfälle
6 Stunden, und der vierte Anfall fällt um 12, die Mit¬
tagsstunde des 7ten Tages. Im ersten Fall, beim Typus
auloponens, wird im ganzen Fieberverlaufe von 4:7 Tagen
ein Tag gewonnen, und innerhalb neun Anfällen ist das
Fieber wieder da angelangt, wo es am allerersten Tage sei¬
nen Verlauf begann. Im entgegengesetzten Falle geht ein
ganzer Tag verloren, und das Fieber bedarf, um seinen
letzten Paroxysmus mit derselben Stunde anzutreten, in
welcher der erste angetreten worden ist, 13 Tage. NB. Ein
Fiebertag besteht aus dem eigentlichen Ficbertage, mit dem
freien dazu. — Eben so verhält es sich mit den Zahlen 7
und 9. Die Zahl sieben bildet die Hälfte des vorsetzenden,
die Zahl neun die Hälfte des nachsetzenden Typus.
•
Folgendes Schema werde von nun an mit Sorgfalt be¬
trachtet, und mit dem Gange der Natur verglichen:
1. Typus a n t i c i p a n s.
Krise. — Mit -
6Fhr Abends. ternarht.
,, Sonntag. Mont. Dienst. Mittw. Donn. Freit. Sonnabcud.
r. rstc
Woche. — ^ v —
Zweite
Woehe.
6Uhr Morgen«.
Krise. Gesundheit.
II. Typus p o s t p o n e n s.
GIJhrAbend«. Mittag«.
Sonntag. Mont. Dienst. Mittw. Donn. Fr. Sonnabend.
- — \J -
6D1. r Morgen«.
W
N
I. Krisenlehre.
277
Dieselben zwei Schemata gelten nicht minder für die
Continua remittens mit dem Unterschiede, dafs hier die Zei¬
chen der Kürze ebenfalls Fiebertage, aber von schwächerem
Grade, gleichsam die minder gute Zeit ausdrücken. Ein
hitziges Fieber von 14 Tagen (nämlich den letzten lieber¬
freien Tag mitgerechnet) ist gleich einem intermittirenden
von doppelter Zeit.
Nachdem nun zur näheren Begründung das Yerhältnifs
der drei Hauptzahlen: 7, 9 und 13, gegeneinander aufge¬
hellt und entwickelt ist, treten wir ein in die Betrachtung
des vollen Verlaufes eines regelmäfsigen hitzigen remittiren-
den Fiebers von 14 Tagen.
Diese vierzehn Fiebertage bilden, wie gezeigt worden,
einen vollen regelmäfsigen 4:7tägigen Verlauf, mit den
ausgefallenen freien Tagen, und dem Gewinn oder Verlust
des Einen Tages, durch den voreilenden oder zurückblei¬
benden Typus. Wenn wir nun, der Natur gemäfs, diese
Fieberhebdomaden jede für sich betrachten, so finden wir
in der Mitte der zweiten Hebdomas wiederum einen mitt-
len Tag, der dem Mitteltage der ersten Hebdomas ent¬
spricht. Sobald nämlich der vierte ein Tag ist, der dem
dritten an Mächtigkeit gleicht, so tritt natürlich eine
mehr als 7 tägige Epoche ein, die Krankheit geht in die
zweite Hebdomas über, und statt, dafs am Sten Tage das
Gleichgewicht hergestellt wäre, beginnt an diesem Tage
ein ganz neuer Umlauf, so dafs nunmehr das Schema also
sich formirt:
Erste Woche.
S.
M.
D.
Mit
—
—
1.
2.
3. /
4.
Zweite Woche.
—
—
sj
8.
9.
10. t
11.
Don.
F.
Son.
—
5.
vj
/«•
7 \
(7
-)
%
12L
'13.
/
Nach diesem Schema verändern die Tage nach dem
vierten ihren Werth. Der vierte, der ein kurzer (Inter¬
oder Remissionstag) sein sollte, ist ein langer (Exacerba¬
tionstag) geworden. Nach dem ersten vierten (dem
vierten der ersten llebdomas) richtet sich der zweite
278 I. K risenlelire.
vierte (der 4te der 2ten Hebdomas) rr dem Ilten, und
somit wird der 13te der entscheidende Tag.
Nunmehr betrachte der gütige Leser mit mir, wie
durch diese Zahlenverhaltnisse bewirkt wird, dafs das Fie¬
ber in derselben Tageszeit aufhören und sich schlieisen
könne, in welcher es begann ; es wird nämlich gerade in der
Zald 13 — 1 — 12, bei der Voraussetzung eines sich um
2 Stunden jedesmal vorrückenden Typus eben ein voller
Tag im Ganzen gerückt, und somit derselbe Verlauf, der
im einfachen kalten Fieber handgreiflich vorliegt, in der
Continua nur verdeckter verfolgt. Somit wäre die Be-
trachtung, von dem physiologischen Lebensgange ausgehend,
zur vollkommneren Einsicht in deu Verlauf eines ganz ein¬
fachen Fieberverlaufes gelegt; von dieser schritt sie zur
Betrachtung des compouirten Verlaufes eines einfachen Fie¬
bers, zur einfachen Kette des ln’ermittens; dieses lntermit-
tens endlich leitete zum Verständnifs des zusammengescho-
benen Verlaufes des Remittens und zum gedrängtesten der
Continua continens. — Die Betrachtungsweise hat aber
zugleich aufgedeckt, wie cs zugehe, dafs die Form der
Continua remittens so gefährlich sein könne; dies lag näm¬
lich in der Natur und Stellung des vierten und elften,
wie jeder leicht einsieht.
Benennung einzelner Tage nach ihrem Werthc.
Das Alterthum hat ungemein tiefe Blicke in die Natur
gethan! Ohne dafs Hippokrates oder Galenits eine so
reichhaltige Physiologie und Pathologie vor Augen gehabt
hatten; ohne die unschätzbare Masse physiologischer und
pathologischer Experimente , Sectionen, Schichtungen der
Facta, Systematisirungen u. s. w. , kannten beide die Wich¬
tigkeit der Fiehertage nach dem Gesetze, das in dieser For¬
schung nach Kräften aufgehellt worden ist. Auch wurden
die Tage von ihnen mit angemessenen Namen belegt, und
somit hervorgehoben, und nach ihrem Werthc bestimmt.
I. Krisenlehre.
279
i
i
Im Plane des Verfassers gegenwärtiger Forschung liegt es
nicht, die Geschichte der Lehre von den kritischen Tagen,
seinen Lesern vorzulegen. Arbeiten mancher Jahre liegen
vor. Die Geschichte dieser Doctrin ist bis zum Schlüsse
der antiken Welt fertig. Aber es ist mir in diesen Tagen
zunächst darum zu thun gewesen , diese Lehre ihrem We¬
sen nach so weit zu führen, dafs jeder, dem es nicht an
Einsicht und Ernst mangelt, die Würdigkeit derselben ein-
sehen möge. Den Reiz, den es hat, sich mit der Fackel
neuer Aufklärung in die verdämmernden grofsen Tage einer
reichbegabten Vorwelt zurück zu versetzen, habe ich unter¬
drücken wollen, bis ich fernerhin mich von dem andauern¬
den, oder, lieber noch, fortschreitend wachsenden Interesse
meiner gütigen Leser vergewissert haben würde. Sind in
dem Eingänge bittere Wahrheiten zu sagen gewesen, so
waren sie doch, wie von der Hand des Arztes bittere und
selbst scharfe Arzneien, mit gutem, wohlmeinendem Sinne
mitgetheilt. Wer mich schilt, damit er mich bessere, ist mir
lieber, als der beifällige ohne Verständnifs und der Lob¬
redner mit Falschheit. Sollte irgend jemand manche der
Vorwürfe, die unserer Zeit 'gemacht werden, und die einige
Vor- und Nachtreter unsanft treffen mögen, unziemlich
finden, so betrachte dieser Gute die Weise der oder jener
arroganten Ignoranz des westlichen Europa's, und ich wette,
er wird die Gegenreden mild und sanftmiithig finden. Warum
führt denn kein kritisches Blatt die Peitsche gegen Schriften
wie die der französischen Schule: Sur la non-existance du
virus venerien etc.? Wo hat denn der deutsche Recensent
seine Kratzfüfse hergenommen, sobald ein Franzose oder
Gentleman seine Waaren feil giebt? Warum wird es ge¬
duldet, dafs man uns in einer Sündfluth elender Ueber-
setzungen, elender Werke ersäuft? Geduldet — frage ich?
Nein, befördert wird dieser Unfug, und verdrängt wird das
edlere Gewächs deutscher Art und Gelehrsamkeit aus dem
Gebiete der praktischen Arzneikunde, damit es der Horde
zahlloser Beutelschueider leicht und leichter gemacht werde,
r
280
I. Krisenlchrc.
von dem Becken und dem Stöfser in die heilige Ileilkunst
einzugehen, mit zwei Semestern, wenn es hoch kommt, und
weil ein solches Studium bei weitem weniger theuer zu
stehen kommt, als ein Baderamt oder eine Apotheke. —
Nächstens vielleicht, favente numine, eine ausführli¬
chere Darstellung dieser Lehre nach Ilippokrates, Ga¬
len und ihren Zeitgenossen, bis zur Epoche, da diese
Doctrin von dem neueren Methodismus vergraben ward.
Jetzt vergönne ich mir noch die Benennung der Haupt¬
tage im Sinne der antiken Welt und der Wahrheit.
Man sondere zuerst die gerade Zahl von der un¬
geraden (dies pares et impares), 2. 4. 8 u. s. w. von 1. 3. 5.
Die obige Erörterung lehrt, weshalb. — Dann die Tage
der Anzeige (dies indices), Tage der Vorbedeutung,
wann die Crisen, und wie sie eintreten werden; 4 und 11 *),
in hitzigen Fiebern. Endlich die kritischen Tage (dies
critici) 7. 9. 13. — Es giebt noch mehre bemerkens¬
werte Tage, zumal beim gedehnteren Verlaufe des Fiebers;
die Beobachtungen der Alten erstrecken sich bis zum SOstcn
Tage, und wohl noch weiter. Wer untersteht sich zu
sagen, dafs sie unrichtig gesehen haben? Man hat es von
den Krisen überall behauptet, dafs ihre Beobachtung über¬
flüssig, voller Unrichtigkeit, Unsicherheit, Widersprüche
wäre, ja Broussais behauptet, es sei schädlich, dieser
Tage zu achten. — Das gröfste Unglück ist, dafs die Seich¬
tigkeit der Methode, die Leichtigkeit des Studiums beför¬
dert. Der Erfolg ist schnell, die Mühe ist leicht, die Zu¬
gänglichkeit allgemein !
1) Das Schema lehrt, wie der 11 tc kein eigentlich unge¬
rader in Beziehung auf die zweite llrhdoma.s ist, sondern cm
gerader, und dem dien entspricht.
II. Generalbericht des Künigl. Rhein. Med. Coli. 281
ii.
i
Generalbericht des Königlichen Rheini¬
schen MeÜicinal- Collegiums über das
Jahr 1826. Referent: Medicinalrath Dr. Ulrich.
(Gedrucktes Manuscript.) Coblenz 1829. 137 Sei¬
ten in Folio.
Bei der Anzeige des Generalberichtes über das Jahr
1825 (s. Bd. XII. H. 4. d. A.) batten wir an sämmtliche
Medicinal-Collegien des Preufsischen Staates die Bitte ge¬
richtet, dem Beispiele des Rheinischen zu folgen, und in
einer gedrängten Zusammenstellung üher den Krankheits¬
genius in ihren Bezirken dem medicinischen Publikum Kunde
zu gehen. Leider ist bisher unser Wunsch unbeachtet ge¬
blieben, wenigstens hat Ref. von ähnlichen Unternehmun¬
gen nichts gehört.
Der Plan, welchem man im vorliegenden Berichte
folgte, ist im Allgemeinen derselbe, wie im früheren.
In dem Vorworte wird kürzlich bemerkt, dafs der sta¬
tionäre Krankheitscharakter in diesem Jahre der nervöse
gewesen, und dafs das Scharlach und die Pocken unter
den epidemisch- contagiösen Krankheiten den ersten Platz
eingenommen.
Der erste Abschnitt betrifft die allgemeinsten, auf
den Gesundheitszustand influirenden Verhältnisse: die Wit¬
terung, die Winde, den Barometer- und Thermometer¬
stand. Aus diesem geht hervor, dafs der Winter sehr kalt,
der Frühling rauh, der Sommer sehr heifs, der Herbst sehr
mild gewesen; dafs es weniger, als im Jahre 1825 gereg¬
net; dafs das Barometer in den Monaten Januar, Februar,
Mai, Junius, Julius und August beständig und hoch, im
März, April, October und November sehr schwankend, und
in diesen vier Monaten, wie im September und December,
unter der mittleren Höhe geblieben. Im Januar, März,
Mai und Junius war der Nord -Ostwind, im Juli, August
II. Gen eralbericht
282
und Februar der Süd- und Südwest der vorherrschende.
Die Erndtc war nicht sehr ergiebig, die Qualität des in
grofser Menge gewonnenen Weines mittclmälsig.
Zweiter Abschnitt. Charakter der Krankheiten,
und merkwürdige Kpidemieen in den einzelnen
Quartalen, ln den Monaten Januar und März waren
Entzündungen ziemlich häufig, die indefs nur in den selt¬
neren Fällen starke Blutentziehungen erforderten, und an
vielen Orten eine grolse Neigung zuin nervösen Krankheits¬
charakter zeigten. Das vom Dr. Graff in Trarbach beob¬
achtete Puerperalfieber herrschte an gedachtem Orte epide¬
misch, entwickelte eine nervöse Form und befiel vorzugs¬
weise Erstgebärende und solche, deren Niederkunft schwie¬
rig gewesen, so wie solche, die sich während der Schwan¬
gerschaft nicht vor Diätfehlern gehütet hatten. Scharlach-,
Masern-, Blattern- und Keuchhustenepidemieen wurden von
verschiedenen Aerzten beobachtet und beschrieben.
ln der ersten Hälfte des zweiten Quartals herrschten
noch Entzündungen, in der anderen Hälfte waren gastrische
Affectionen häufig, welche den Lebergang zu den in den
folgenden Quartalen so oft wahrgenoui menen nervösen Fie¬
bern zu bilden schienen. Wechselfieber, die meist unter
dem Tertian - oder Quotidiantypus auftraten und keinen
bösartigen Charakter annahmen, gehörten zu den häufigsten
Erscheinungen in den Regierungsbezirken Aachen und Düs¬
seldorf. Nervenfieber , gewöhnlich mit gastrischer Compli-
cation, wurden in einigen Kreisen der Regierungsbezirke
Trier, Cöln, Coblenz, besonders in einer Caserne der Stadt
Cölu beobachtet, wo viele Soldaten eine Beute desselben
zwischen dem 12ten und ldten Tage wurden. Sectionen
scheinen leider nicht gemacht zu sein, wenigstens wird der¬
selben hier nicht gedacht. Aerzle, die an Hospitälern fun-
giren und die Leichenöffnungen verabsäumen, sind ihrer
Stellung unwürdig. Das Scharlachfieber zeigte sich epide¬
misch im Regierungsbezirk Coblenz. Die von Kopp aus¬
gesprochene Beobachtung , dals Keuchhusten und Masern so
des Künigl. Rhein. Medicinal - Collegiums. 283
r 1 *
Vm sagen immer nebeneinander die Individuen einer Gegend
hejmsuchen, finden wir hier nicht bestätigt, da in mehren
Kreisen des ' Regierungsbezirks Aachen erster epidemisch
herrschte, während von den Masern auch nicht die geringste
Spur wahrgenommen wurde. Die natürlichen Blattern zeig¬
ten sich in sämmtlichen Kreisen des Regierungsbezirks Trier
(zwei ausgenommen) epidemisch und rafften viele unge¬
schützte Individuen weg.
Während des dritten Quartals war fast jede Spur des
entzündlichen Krankheitscharakters verschwunden und dage¬
gen der gastrisch -biliöse mit groiser Hinneigung zum ner¬
vösen der herrschende geworden, daher Leber- und Milz-
affeclionen, gastrische, gallige, nervöse und Wechselfieber,
Durchfälle und Koliken an der Tagesordnung waren. Ga¬
strisch-nervöse Fieber wurden am häufigsten in dem
unmittelbar an Holland gränzenden Regierungsbezirke Düs¬
seldorf beobachtet, während sie in den übrigen Regierungs¬
bezirken nur sporadisch vorkamen. Im wahren Sinne des
Wortes lehrreich ist die sehr vollständige Zusammenstel¬
lung der verschiedenen Mittheilungen über das Nervenfieber
von den Aerzten des Regierungsbezirks Düsseldorf, freilich
zu lang, um, wie sie es verdiente, hier mitgetheilt und
näher beleuchtet zu werden. Die Sterblichkeit war im All¬
gemeinen nicht bedeutend, da dem Dr. Lisner in Ruhrort
von 580 Kranken nur 39, dem Dr. Günther in Duisburg
von 706 nur 35, und dem Dr. Crem er in Mühlheim an
der Ruhr von 300 nur 18 Kranke starben. Eine gastrische
Complication war immer vorhanden. Säufer unterlagen
vorzugsweise. Leichenöffnungen wurden nicht gemacht,
wie es scheint, wenigstens werden die Resultate derselben
hier nicht angegeben. — Die Wechselfieber traten meist
unter dem Tertiantypus mit biliöser oder gastrisch -nervöser
Complication in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Aachen
und Cöln auf; viele Aerzte beobachteten larvirte Wechsel¬
fieber unter verschiedenen Krankheitsformen. Einfache ga¬
strische und gallige Fieber nahmen unter einer fehlerhaften
284
II. Gencralbericht
Behandlung häufig den intermittircnden Typus an, und
herrschten besonders im Regierungsbezirk Düsseldorf neben
den erwähnten Ncrvcnfiebern epidemisch. Die Pocken mit
ihren Abarten zeigten sich epidemisch im Regierungsbezirk
Trier, das Scharlachfieber unter der Form der Scarlatina
miliaris mit bösartigem Charakter in Coblenz. In mehren
Fällen beobachtete man neben dem friesclartigcn Ausschlage
linsengrofse, mit etwas Feuchtigkeit angefüllte Bläschen,
welche immer auf einen tödtlichen Ausgang deuteten. Mehre
Beispiele werden angeführt, wo alle Symptome des Schar¬
lachs bei Kindern wahrgenommen wurden und nur der Aus¬
schlag fehlte. Von der Schutzkraft der Belladonna gelang
es keinem der handelnden Aerzte sich in dieser Epidemie
zu überzeugen.
Im vierten Quartal trugen die Krankheiten noch den
gastrisch -biliösen Charakter mit Neigung zum nervösen,
wiewohl in der letzten Hälfte dieses Trimesters auch Ca-
tarrhe, Rheumatismen und Entzündungen oft genug sich
zeigten. Auch die Blattern, das Scharlach und die von
Willan genannte Roseola annulata wurden wiederholt
wahrgenommen.
Dritter Abschnitt. Chronische Contagien. Die
Eustseuche ward unter die Landbewohner durch Soldaten
gebracht, die zur Kriegsreserve entlassen worden waren.
Eine Hebamme, welche bei der Entbindung einer syphili¬
tischen Frau auf dem Lande angesteckt wurde, übertrug
die Krankheit auf mehre andere Kreisende und Kinder, bei
welchen letzten die Nabelstelle, der After, die Geschlechts-
theile, sich mit Scbankergeschwüren bedeckten. Die mei¬
sten venerischen Lustdirnen fanden sich in Aachen.
Die Krätze beobachtete man vorzugsweise in den Ge¬
fangenhäusern, unter den Fabrikarbeitern, und den Hand¬
werksburschen. Eine Auflösung von einer Drachme Brecb-
weinstein in einem Pfunde Wasser zum Waschen soll die
Krätze innerhalb acht Tagen gründlich heilen. Zur Nach-
I
des Konigl. Rhein. Medicinal -Collegiums. 285
kur werden Waschungen aus Kleien- oder Seifenwasser
angerathen.
Eine dem contagiösen Augenübel der Soldaten sehr
analoge Ophthalmie zeigte sich in einigen benachbarten
Ortschaften von Aachen, so wie in der Arbeitsanstalt zu
Brauweiler.
Vierter Abschnitt. Merkwürdige einzelne Krank¬
heiten. Hierhin gehört ein Fall, wo eine an Anomalieen
der monatlichen Reinigung leidende Frau sich unmittel¬
bar nach einer starken Mahlzeit Blutegel an die Ge-
schlechtstheile setzen liefs und, nach einem geringen Blut¬
verlust, in einen für die Umstehenden Furcht erregenden,
namentlich von Ohnmächten begleiteten Zustand verfiel. —
Hr. Dr. Settegast, der diesen Fall mittheilt, sieht in
demselben einen neuen Beweis, dafs die alte Regel, Blut¬
entleerungen nicht unmite lbar nach Tische vor-
zunehmen, nicht ungestraft überschritten werden darf. —
Heilung der häutigen Bräune durch kalte Begiefsungen auf
den Nacken (sie wurden das erstemal während 20, das
zweitemal während 15, und das drittemal 8 Minuten lang
fortgesetzt). — Myelitis durch einen Fall auf den Rücken
(kräftige Blutentziehungen bewirkten die Genesung). —
Merkwürdige Metastase. (Ein öjähriger Knabe verfiel in ein
nervöses Fieber, nachdem ihm kurz zuvor eine auf der
linken Seite des Kopfes festsitzende Grindborke plötzlich
trocken geworden war; Einreibungen aus Brechweinstein¬
salbe auf dieser Stelle hatten das Anschwellen der Kopf-
Bedeckungen dieser Seite zur Folge, es entstand Fluctua-
tion und eine Menge Eiter Hofs aus, endlich ward die ganze
Kopfbedeckung hier faul und brandig, so dafs sie wegge¬
nommen und der Schädelknochen blofsgelegt werden mufste.
Gegen den 30sten Tag entschied sich das Fieber unter dem
Erscheinen von vielen kleinen Blutschwären am ganzen Kör¬
per und Panaritien an den Fingern zur Besserung. In der
seiner Beinhaut entblöfsten Stelle des Schädels bemerkte
r
286
II. Generalbericht
der die Behandlung leitende Arzt einen Rifs der Üufseren
Tafel, dessen abgestorbene Ränder weggenomnien wurden,
worauf Fleischwarzen hervorwuchsen, und die Besserung
schnell von statten ging. Noch lange nachher zeigte der
Knabe Spuren von Geisteszerrüttung.) — Metastase aufs
Gehirn. (Kin 40 jähriger, an rheumatischen Beschwerden
leidender Mann starb unter den Symptomen einer Gehirn*
affection, nachdem plötzlich alle Zeichen des Rheumatismus
sich verloren hatten.) — Milchkrise durch den Harn bei
einer Wöchnerin. (Eine im siebenten Monate schwangere
Frau wollte eine seit acht Tagen anhaltende Verstopfung
durch eine Abkochung von vier Loth Sennesblättern heben.
Bald nachdem sie diese genommen, entstanden Geburtswe¬
hen, und nach Austreibung eines todten Kindes erfolgten
stinkende Stühle und der Abgang vieler Spulwürmer. Wie¬
wohl die Lochien flössen, entwickelte sich doch eine schmerz¬
hafte Anschwellung der Knie- und Fufsgelenke, die gegen
den neunten Tag verschwand, worauf Urinbeschwerden
sich einstellten, die nicht eher wichen, als bis nach einigen
Tagen ein fünfmal 24 Stunden anhaltender milchiger Harn¬
abgang eintrat. Die Brüste hatten unterdefs nie eine merk¬
liche Veränderung erlitten. ) — Bei einem 10 jährigen, sehr
abgemagerten, an Stuhlvcrstopfung und Heifshunger leiden¬
den Knaben, der in der Magengegend eine steinharte Ge¬
schwulst hatte, fand man nach dem Tode das Pancreas in
eine steatomatöse Speckgeschwulst verwandelt, an welcher
Degeneration die grofse Curvatur des Magens und die den
Magen bedeckende Leberpartie Theil nahmen. — Delirium
tremens bei einer 40jährigen Frau (mäfsige Bluten tziehun«
gen und die Sy den h am sehe Opiumtinctur bewirkten die
Heilung). — Frühe weibliche Entwickelung. (Ein Jahr
altes Mädchen hatte seit 2 Jahren regelmäfsig die monat¬
liche Reinigung; die Gröfse des Mädchens harmonirt mit
dem Alter, der Knochen- und Muskelbau zeigen eine ge¬
hörige Entwickelung, die Physiognomie ist tiefsinnig und,
so wie das Betragen, nicht kindlich, sondern jungfräulich.
des König], Rhein. Medicinal - Collegiums. 287
Brüste und Schaamtbeile gleichen denen eines 16jährigen
Mädchens. Ref. kennt ein jetzt vielleicht lOiähriges Mäd¬
chen, das seit zwei Jahren regelmäfsig die stark fliefsende
monatliche Reinigung^bekommt.) — Tetanus, in Folge einer
unbedeutenden Ritzwunde am Schienbeine entstanden. Der
Ausgang war tödtlich; hei der Section fand man das Rücken¬
mark entzündet, Gehirn und Lungen mit Blut überfüllt,
die Milz erweicht und entzündet. — Abgang von 900 Stück
Spulwürmern innerhalb vier Wochen bei einem 12jährigen
scrophulösen Mädchen. — * Mehre Falle von schwarzen
Pocken (in allen Fällen that die örtliche Anwendung der
Holzsäure vorzügliche Wirkung). — Tod eines Thierarztes
durch Milzbrandgift (der Unglückliche hatte sich bei der
Section eines am Milzbrände gefallenen Thieres am Finger
verwundet, und starb unter Erscheinungen, die auf ein hef¬
tiges Leiden der Nervensphäre deuteten. Die ihm zu Theil
gewordene ärztliche Behandlung läfst viel zu wünschen
übrig). — Bei einem 6'jährigen, blühenden Mädchen, das
seit neun Monaten an heftigen periodischen Leibschmerzen
und einem gespannten Leibe gelitten, und unter den Sym¬
ptomen eines hectischen Fiebers gestorben war* fand sich
bei der Section ein fünftehalb Pfund schweres Medullar-
sarcom, wahrscheinlich durch Degeneration des gänzlich
geschwundenen Netzes entstanden, welches die rechte Niere
in sich enthielt und mit der Substanz der unteren Leber¬
fläche durch Adhäsionen verbunden war. — Heilung eines
langwierigen Gesichtsschmerzes, der seinen Sitz im Nervus
inframaxillaris hatte, durch Berührungen mit dem Magnete. —
Heilung einer Dysphagia spasmodica mit Krähenaugentinctur
bei einer 40jährigen Jungfrau (dieses Uebel, dem Anscheine
nach hysterischen Ursprunges, würde wahrscheinlich auch
unter dem Gebrauche eines Thees von Valeriana und Cha-
millen verschwunden sein). — Fremder Körper in der
Luftröhre (? ). ( Ein Schmiedegeselle hielt während der Ar¬
beit einen kupfernen Knopf von der Gröfse eines Silber¬
groschens im Munde, zufällig soll dieser in die Luft-
28S
II. Gcncrnlbericht
röhre (wohl nur in die obere Partie des Schlundes!) ge¬
langt sein, und nur einen gelinden, vorübergehenden
Husten verursacht haben. Dieser, durch den Arzt seinem
Schicksal überlassene Mensch, gab den Knopf nach vierzehn
Tagen bei einer starken Exspiration von sich (experientia
fallax!). — Sonnenstich mit clonischen Krämpfen. (Ein Be¬
rauschter, der mit entblüfstem Haupte den Sonnenstrahlen
blofsgestellt eingeschlafen , wurde mit schäumendem Munde,
furchtbaren Zuckungen, röchelndem Athem, intermittiren-
dem Pulse und besinnungslos gefunden. Blutentziehungen,
kalte Umschläge, Brech- und Purgirmittel führten Gene¬
sung herbei.) — Heilung einer schleichenden, durch eine
Quetschung des Mittelfleisches veranlafsten, von elf Aerz-
ten verkannten und mithin erfolglos behandelten, Blasen¬
entzündung durch dreiste Blutentziebungen, lauwarme Bäder
und Einreibungen von grauer Quecksilbersalbe innerhalb
drei Wochen. — Geschichte und Leichenöffnung zweier
Wahnsinnigen. (Höchst interessant in anatomisch -patho¬
logischer Beziehung. In dem ersten Falle fanden sich, aufser
mehren pathologischen Veränderungen im Gehirn und des¬
sen Häuten, auch bedeutende Verknöcherungen in der
Schilddrüse. In dem zweiten Falle war die Hirnsubstanz
sehr hart und mit Blut überfüllt, der Plexus choroideus
mit Hydatiden besetzt, die Processus clinoidci superiores
am Türkensattel spitz und hervorragend, an der Zirbeldrüse
hing eine birnenförmige, röthliche, mit einem Stiel verse¬
hene Polypenmasse, Leber und Milz waren theilweise ver¬
knöchert, der Querdarm bedeutend verengert und mit Kolli
angefüllt, die Harnblase verengert, ihre Wände verdickt,
das Bückenraark mit Blut überfüllt und theilweise gelblich
verändert.
Unter den vom Dr. Ulrich hier mitgethcilten höchst
interessanten und sehr beachtungswerthen Sectionsgeschich-
ten, verdient die Beachtung der Aerzte vor allen folgende:
Bei einem 20jährigen Dienstmädchen, das früher einmal an
einer Brustentzündung gelitten hatte, und unter den eba-
rak-
des Künigl. Rhein. Mcilicinal - Collegiums. 289
rakteristischen Erscheinungen der Hydropliobia spontanea
gestorben war, fand Dr. U. Entzündung und Blulanhäufung
in den Gefäfsen des Gehirns und des Rückenmarks, in dem
linken Saccus pleurae Ergiefsung eines breiartigen Stoffes,
den er für unverdaute Speisen hielt, den unteren Lappen
der linken Lunge entzündet, in dem Zwerchfell, dessen
linke Partie gröfstentheils erweicht und bräunlich war, zwei
Löcher (durch eins derselben ragte ein Stück des Magens
in die Brusthöhle hinein), den Magen zwischen der Cardia
und der Milz durchlöchert.
Die hier mitgetheilten interessanteren chirurgischen und
geburtshilflichen Fälle betreffen: Eine am vierten Tage
nach einer starken Verletzung mit Erfolg gemachte Trepa¬
nation bei einem achtjährigen Mädchen. IJine ebenfalls mit
Glück unternommene Trepanation mit Verletzung des Sinus
sagittalis bei einem sechzehnjährigen Knaben (die wieder¬
holt aus den verletzten Blutbehältern entstehenden Blutun¬
gen wurden durch Tamponirung gestillt; von einem Wund¬
fieber war während der Cur keine Spur bemerkbar). Die
gelungene Heilung einer sehr bedeutenden Gehirnerschüt¬
terung durch wiederholte ßlutentziehungen, kalte Umschläge,
Purgantia (die Cur dauerte neun Wochen). Eine mit Er¬
folg vollbrachte Bruchoperation nach dreizehntägiger Ein¬
klemmung. Die Ausbildung und spätere Schliefsung eines
Anus artificialis bei einer incarcerirten Hernia. Die zwei¬
malige Bildung eines Abscesses in der rechten Leistenge¬
gend, aus welchem mehre Spulwürmer zum Vorschein ka¬
men. Die Bildung eines Abscesses in der Achselhöhle, wo
sich der Eiter ein^n Weg unter die Bauchmuskeln bahnte
und auf der Kante des Hüftbeins zum Vorschein kam (ein
bei Zeiten gemachter Einschnitt würde dies verhindert ha¬
ben). Tödtlich abgelaufene Zerreifsung eines Fingers (am
neunten Tage nach der Verletzung trat Starrkrampf hinzu).
Die Abtragung der entarteten und ungewöhnlich vergröfser-
ten Nymphen, welche das Urinlassen hinderten und das
Gehen und Tanzen fast unmöglich machten, bei einer sechs-
lö
XIV. Ed. 3. St.
290
II. Generalbericht
undzwanzigjährigen , an Anomalieen der Menses leidenden
Jungfrau. Kine Verlängerung und unvollkommene Ver¬
wachsung der Schaamlefzcn in Folg<T einer schweren Nie¬
derkunft (trotz dieser ward die Frau nach sechs Jahren
schwanger, ein zu spät herbeigerufener Arzt trennte die
Verwachsung und entwickelte mit der Zange ein todtes
Kind, die Frau starb). Eine Verwachsung des Mutter¬
mundes nach der Niederkunft (um den Abflufs der Men-
strua zu bewirken, ward mit Hülfe eines Troicart eine
Oeffnung im Mutterhalse gemacht und dieselbe durch Ein¬
legung eines Stücks Preisschwamm vergröfsert; nach drei¬
undzwanzig Tagen war die Frau geheilt). Ein Accouche-
ment force wegen heftiger Convulsionen der Schwängern
(man hätte fri diesem Falle wohl zur rechten Zeit erst
noch warme IVäder versuchen können). Eine Zerrcifsung
der Gebärmutter, während eines Wendungsversuches (die
eingerissenc Partie war\, wie die Section zeigte, brandig). —
Die hier mitgetheilten Nachgeburtsoperationen betreffen die
künstliche Entfernung der Placenta, welche, früh genug
unternommen, stets heilsam war; die Mifsbildungen bezie¬
hen sich auf Atresia ani, auf Hypospadiäen und auf ein
falsches Gelenk in der Mitte beider Vorderarmknochen.
Fünfter Abschnitt. Merkwürdige Unglücks falle
und gerichtlich -medicinische Untersuchungen.
Vorzügliche Beachtung verdient hier eine von Dr. Prie-
ger gemachte Beobachtung bei einen) Erhenkten: der Strick
hatte tiefe Einschnitte in die Haut und in die Halsmuskeln
gemacht, so dafs sogar die Epidermis cxcoriirt war; den¬
noch fehlten alle Spuren einer Sugillation und
einer blutigen Ergiefsung auf der Oberfläche,
wie in der Tiefe; im Grimmdarm fanden sich mehre
bedeutende Verengerungen (welche nach den
französischen Aerzten sehr häufig bei Selbstmördern Vor¬
kommen ).
Sechster Abschnitt. W i sse nsc h af 1 1 i c h e Angele¬
genheiten. Nach Dr. Prieger sind in keiner Gegend
des König). Rhein. Medicinal- Collegiums. 291
von Deutschland Krankheiten der Blase so häufig , als an
den Ufern der Nahe, was er dem zu häufigen und über-
mäfsigen Genüsse des jungen und feurigen Nahe- Weins
zuschreibt. Eine bis drei Drachmen vom Extractum uvae
ursi fand P. gleichsam specifisch wirkend in allen diesen
Krankheitsformen.
Die während der letzten Jahre fast in sämmtlichen
rheinischen Regierungsbezirken beobachteten Pockenepide-
mieen haben unter den dortigen Aerzten zu mancherlei
Forschungen Anlafs gegeben, als deren Resultat sich Fol¬
gendes hervorheben läfst: Vaccinirte Individuen bekommen
nicht die wirklichen natürlichen Blattern, sondern modifi-
cirte Pocken ( Varioloides); Varioloiden und Varicellen sind
durchaus verschiedene Krankheitsformen, der Unterschied
zwischen den wirklichen und modificirten Pocken ist kein
eingebildeter, sondern besteht in der Tbat, und spricht sich
namentlich in der geringeren Sterblichkeit bei den Vario¬
loiden, in dem fehlenden Eiterungsfieber und in der gerin¬
geren Narbenbildung aus; d^e aus modificirten Pocken ent¬
nommene Lymphe auf nicht vaccinirte Individuen geimpft,
erzeugt natürliche Blattern; die Varioloiden werden häufi¬
ger und unter einem bösartigen Verlaufe bei schon vor 16
bis 20 Jahren geimpften, als bei jüngst vaccinirten Perso¬
nen wahrgenommen; diese Beobachtung, so wie die von
mehren Aerzten mit Erfolg versuchte Revaccination (bei
Dr. Comes zeigten sich in Folge einer zweiten Vaccination
in zwölf Fällen einmal wirkliche Kuhpocken) sprechen da¬
für, dafs die Schutzkraft der Vaccine nach und nach sich
vermindere; die Schutpockenlymphe scheint durch das Fort¬
impfen nicht geschwächt zu werden.
Siebenter Abschnitt. Stand der Schutzpocken¬
impfung im Jahre 1826. Im Regierungsbezirk Coblenz
wurden 11,799, im Regierungsbezirk Aachen 13,489 mit
Erfolg geimpft.
Achter Abschnitt. Oeffentliche K ra nk h e i t sp f 1 ege.
Im Regierungsbezirk Cöln wurden 15,791 Individuen auf
19 *
292
II. Gcncralbcricht
öffentliche Kosten behandelt, davon 11,463 geheilt, 65.9
ungeheilt entlassen, 543 starben, 3126 blieben in der Be¬
handlung. Die Zahl der im medicinischen Clinicum zu Bonn
behandelten Kranken betrug 301, cs genasen 183, ungeheilt
entlassen wurden 39, es starben 3, und es blieben in der
Behandlung 76 (?); im mcdicinisch-policlinischen Institut
wurden behandelt 2279 Kranke, von welchen 1801 genasen
und 118 ungeheilt blieben, 16 starben und 346 (?) in der
Behandlung blieben. Im chirurgischen Clinicum wurden
248 Kranke behandelt, 152 geheilt, 11 ungeheilt entlas¬
sen, 6 starben. Im Bürgerhospital zu Cüln wurden 523
Kranke behandelt, von welchen 74 (mithin fast der sie¬
bente) starben. Im geburtshilflichen Clinicum fielen nur
21 Entbindungen vor, worunter eine schwere, im Poli-
clinicum sieben; in dem Entbindungsinstitut zu Cöln fan¬
den 159 Geburten statt. In den Gefangenanstalten zu Trier
wrnrden 327 Kranke, im Landarmenhausc 113, im St. Irini-
nenhospitale beinahe 500 Kranke behandelt. Ilr. M. IJ.
bedauert hierbei (S. 130), dafs ein solches Hospital den
an ihm fungirenden Aerzten keine Veranlassung zu wissen¬
schaftlichen Beobachtungen gegeben hat. Im Biirgerhospital
zu Coblcnz wurden 296 Kranke behandelt ,x 229 geheilt,
14 ungeheilt entlassen, und 19 starben.
In die Lobsprüche, die Ilr. M. U. bei dieser Gele¬
genheit den mit der Verwaltung des Hospitals beauftragten
barmherzigen Schwestern zollt, kann Bef. zufolge seiner
Erfahrung keinesweges cnistimmen. ln Frankreich, wo sich
die Ilospitalkrankcnpflegc nur in den Händen dieser Schwe¬
stern befindet, hörte ich fortwährend die an den Hospitä¬
lern fungirenden Aerzte klagen, dafs die Schwestern nur
zu oft sich Eingriffe in die ärztlichen \ erordnungen er¬
laubten und ihnen geradezu entgegenbandelten, wenn diese
nicht mit ihren Ansichten übereinstimmten. In Paris, wo
ich während zwei Jahren das Findelbaus fast täglich be¬
suchte, blichen die hei den an Aphthen, Ophthalmia neo¬
natorum und Zellgew eh Verhärtung leidenden Kindern ge-
des Königl, Rhein. Medicinal- Collegiums. 293
machten Verordnungen oft unerfüllt, und zwar wie die
I '
Schwester sich ausdrückte: Parceque ce n’est pas l’usage
ici ! ! Zufolge eines Artikels in la clinique (tomelll. 58. 100.
du Samedi 4. Mars 1829. S. 414.) verweigerte jüngst im
Pariser Hotel- Dieu diejenige Schwester, welche die Schlüs¬
sel zur Todtenkammer hat, dem an dieser Krankenanstalt
r
als Chirurgien en second angestellten Dr. Sanson die zu
seinen Vorlesungen über operative Chirurgie erforderli¬
chen Leichen, wahrscheinlich weil die Zerschneidung der
Leichen den religiösen Begriffen dieser Schwester entge¬
gen war ! ! — ,
Neunter Abschnitt. Medicinalpersonen. Es herrscht
ein unverkennbarer Ueberflufs an Medicinalpersonen in den
Rheinlanden. Der Zustand des Apothekerwesens
(welches im elften Abschnitt behandelt wird) ist befriedi¬
gend. Der zwölfte Abschnitt, Gesundbrunnen und
Bäder, betrifft Aachen, die Mineralquelle zu Malmedy,
Bertrich, die Soolbäder bei Kreuznach, den Brunnen zu
Töninstein. Des Rösdorfer und Biresborner Wassers u. s. w.
geschieht keine Erwähnung.
Dreizehnter Abschnitt. Stand der Bevölkerung.
Es wurden in Rheinpreufsen geboren 78,775, nämlich
40,619 Knaben und 38,156 Mädchen. Es starben, mit Ein-
schlufs von 3002 Todtgebornen , 44,352. Selbstmorde fie¬
len vor 61, wovon 13 bei weiblichen Personen.
Mit dem Bekenntnifs, unter steigendem Interesse die¬
sen Bericht gelesen und recht viel Belehrung in demselben
gefunden zu haben, scheidet Ref. von demselben in der
Ueberzeugung, dafs jeder nach wissenschaftlicher Vervoll¬
kommnung strebende, und vorurteilsfreie Leser dasselbe
Urtheil aussprechen werde. Mögen die Berichte über die
folgenden Jahre nicht zu lange ausbleiben, und auch andere
Medicinalcollegien , diesem Beispiele folgend, die ihnen zu-
lliefsenderi der Bekanntmachung werthen Materialien nicht
den Würmern zur Speise überlassen.
Ile yf cid er.
i
'294
111. YVuthkrankheit der Hunde.
Beiträge zur näheren Ken nt nifs der YV u t h -
krankheit oder Tollheit der Hunde. V om
Obei tbrerarztc Dr. Hertwig, Lehrer an der Kü-
nigl. Thierarzneischule zu Berlin. Nebst \ orwort
von C. W. Hufcland. (Aus dem Journal der
praktischen Heilkunde, Supplcinentheft 1828, be¬
sonders abgedruckl. ) Berlin, gedruckt und ver¬
legt bei G. Beimcr. 1829. 8. 174 S.
*< Es ist auffallend,“ sagt Hr. Staatsrath Ilufeland in
dem Vorwort zu dieser, aus seinem Journal der praktischen
Heilkunde besonders abgedruckten Schrift, « dafs man bei
der grolsen Aufmerksamkeit, die man in den letzten Jahren
der Hydrophobie bei Menschen gewidmet hat, und bei der
Menge Schriften , die über ihre TSatur und Behandlung er¬
schienen sind, dennoch die Quelle derselben, die Wuth
der Hunde, fast ganz vernachlässigt hat. Und dennoch
scheint uns die genaue Untersuchung des primitiven thieri-
schtn Krankheitszustandes, aus welcher eben das Gift her¬
vorgeht, das der menschlichen Hydrophobie zum Grunde
liegt, der vorzüglichsten Aufmerksamkeit werth, ja sie mufs
als die Basis der ganzen Lehre von der Hydrophobie be¬
trachtet werden. Mit grofser Freude sahen wir daher die
hiesige Veterinärschule, auf Veranlassung und unter Leitung
ihres würdigen Directors, des Ilrn. Geh. Ob. Med. Baths
Langermann, dessen langes und tiefes Studium dieses
Gegenstandes , «Jessen Scharfsinn, Beobachtungsgabe und
kritische Strenge in Beurtheilung von Thatsachen, ihn dazu
so vorzüglich eignete, sich dieser Untersuchung unterziehen.
Er liefs dazu ganz neue Vorrichtungen und Instrumente zur
Auf bewahru ng der wuthkranken Thiere und zur möglichst
sicheren Ausführung dieser gefährlichen Versuche anferti¬
gen, und »lr. Ober thierarzt Hertwig übernahm die spe-
/
III. Wuthkrankheit der Hunde. 295
cielle Ausführung derselben, denen er sich in Verbindung
mehrer der jüngeren Lehrer der Schule und einiger Studie¬
renden seit drei Jahren mit dem gröfsten Eifer und nicht
geringer Lebensgefahr unterzogen, und sich dadurch ein
grofses Verdienst um die Wissenschaft und die Menschheit
erworben hat. Noch nie wurden so viele Beobachtungen
und V ersuche über diesen Gegenstand im Grofsen, mit sol¬
cher Aufmerksamkeit, und mit so kunstreichen Ilülfsmilteln
gemacht. Denn nur auf diese Art waren sie möglich, und
gewifs lag der Hauptgrund, warum dergleichen Versuche
noch nie bisher im Grofsen gemacht wurden, in der grofsen
Gefahr, der sich die Experimentatoren dabei aussetzten. Es
ist dadurch ein völlig neues Licht über diesen wichtigen
Gegenstand verbreitet, und indem hier die ganze Lehre von
der Hundswuth, nicht durch Speculation, sondern durch
aufmerksam gemachte und streng geprüfte Thatsachen, eine
neue Gestalt und genauere Bestimmugen erhält, hat die
Wissenschaft einen wesentlichen Fortschritt dadurch ge¬
wonnen. » — In der Ueberzeugung , dafs der auf diese
Weise gewonnene Schatz reifer und vollgültiger Erfahrung
bald im Besitze jedes Arztes sein wird, hebt Ref. von
den Ergebnissen jener Forschungen, deren Verdienst eine
dauernde Anerkennung in den Annalen der Medicin finden
wird, die wichtigsten heraus.
Ungeachtet die Erscheinungen der Hundswuth durch
das Naturell der von ihr befallenen Thiere und durch das
zufällige Hinzutreten anderweitiger Krankheiten (unter de¬
nen Entzündungen einzelner Organe, deren Spuren bei der
Zergliederung unverkennbar sind, am häufigsten Vorkom¬
men) mannigfaltige Abänderungen erleiden, so lassen sie
sich doch unter zwei Hauptformen, die rasende und
stille Wuth bringen, die indefs von so wesentlich-glei¬
cher Natur sind, dafs sie durch Ansteckung in einander
übergehen. Doch bezeichnen beide nicht, wie bisher fälsch¬
lich geglaubt wurde, auf einander folgende Stadien des
Krankheitsverlaufes, sondern kommen stets gesondert vor.
i
296
III. Wuthkrankheit der Hunde.
Die wichtigsten Zeichen, welche hei der rasenden
Wuth zu bemerken sind, bestehen in folgenden: 1) Die
Hunde verändern ihr gewöhnliches Benehmen, werden mun¬
terer, dienstwilliger, zum Zorne geneigter, oder träge und
verdriefslich ; doch wechselt diese Stimmung, so wie über¬
haupt die meisten Zufälle sich nicht anhaltend, sondern
wechselnd zeigen. 2) Viele tolle Hunde zeigen anfangs
eine grofse Neigung, an kalten Gegenständen zu lecken.
3) Die meisten verrathen sogleich eine gröfsere oder ge¬
ringere Unruhe, welche sie oft das Haus ihres Herrn zu
verlassen antreibt, zu welchem sie indefs nicht selten zu¬
rückkehren. Dies deutet bei dein sonst so getreuen Hunde
auf eine beträchtliche Störung seines Bewufstseins, und auf
einen hohen Grad seiner Wuth hin. 4) Dbch verschwin¬
det bei keinem tollen Hunde das I»ewufstsein gänzlich eher,
als bis kurz vor dem Tode; alle erkennen fast während der
ganzen Krankheit ihre Herren und Pfleger, sind für eine
gute und freundliche Behandlung empfänglich, und geben
dies durch Wedeln mit dem Schwänze, durch freundliches
Entgegenkommen und V\ insein zu erkennen; sie folgen in
der ersten Zeit ihrem Herrn, verrichten auf dessen Befehl
erlernte Kunststücke u. dergl. 5) Verlust des Appetites,
besonders zu festen Nahrungsmitteln, zeigt sich die ganze
Krankheit hindurch, und es ist dies bei dem so gefräfsigen
Hunde eine desto auffallendere Erscheinung, da sic bei an¬
deren Krankheiten desselben nur während ihrer gröfsten
Heftigkeit vorkommj. G) Doch verschlingen die tollen
Hunde in einzelnen Momenten solche J)inge, die sonst
nicht zu ihrer Nahrung dienen, z. B. Holz, Torf, Stroh,
Glasscherben, zuweilen selbst ihren eigenen Koth. Dies
Symptom ist höchst charakteristisch, daher auch das Vor¬
handensein jener Dinge im Magen bei der Cbduction einen
sicheren Fingerzeig auf die statt gefundene Wuth giebt.
7) Alle wuthkrankc Hunde können Wasser und andere
Flüssigkeiten sehen, lecken und saufen, und zwar in jeder
Periode der Krankheit, manche suchen es sogar mit grofscr
III. Wutlikrankheit der Hunde.
297
Begierde; einige vermögen es nur nicht recht zu ver¬
schlucken, da ihnen der Ilals angeschwollen ist. 8) Ehen
so wenig ist Lichtscheu, Glanzscheu und Luftscheu hei
ihnen vorhanden, obgleich einige eine krankhafte Empfind¬
lichkeit gegen helles Licht zu haben scheinen. 9) Alle lei¬
den, wenigstens einige Zeit hindurch, an hartnäckiger Ver¬
stopfung. 10) In der Regel zeigen sie keinen vermehrten
Begattungstrieb. 11) Das wichtigste und bei allen tollen
Hunden ganz bestimmt zu bemerkende Kennzeichen ist eine
ganz eigenthümliche Veränderung in der Stimme, und in
der Art des Bellens. Die ausgestofsenen Töne sind bald
höher, bald tiefer, dabei etwas rauh und heiser, widerlich
und ängstlich klingend. Das Bellen geschieht nicht, wie
bei gesunden Hunden, in einzelnen, kurz auf einander fol¬
genden, aber doch deutlich von einander getrennten Lau¬
ten oder Schlägen, sondern der erste Anschlag geht allemal
in ein kurzes Geheul über, so dafs das Ganze weder ein
ordentliches Bellen, noch ein wirkliches Heulen, sondern
gleichsam ein Mittelding zwischen beiden vorstellt. Dabei
halten sie das Maul etwas in die Höhe, ähnlich denjenigen
Hunden , welche durch das Spielen musikalischer Instru¬
mente zum Bellen oder Heulen gereizt werden. Dies
Symptom, welches aufserdem bei keiner Hundekrankheit
vorkommt, wird als das entscheidenste angegeben. 12) Die
bei den meisten, an der rasenden Wuth leidenden Hunden
sich äufsernde Neigung zum Beifsen ist bei den gutmüthi-
gen und phlegmatischen doch nur im geringen Grade vor¬
handen, dagegen sie bei Hunden von beifsiger Art und
hitzigem Temperament sogar in wahre Mordsucht übergeht,
wo sie dann über alle lebendigen Geschöpfe in ihrer Nähe
herfallen, selbst leblose Dinge nicht verschonen, und sogar
ihren eigenen Körper angreifen \und zerfleischen. Zuerst
und am heftigsten äufserr sie diesen Trieb zum Beifsen
gegen Katzen, am spätesten gegen den Menschen. Das
Beifsen geschieht gewöhnlich ganz stillschweigend, ohne
vorhergehendes Knurren und Bellen, und besieht mehren-
298
111. W uthkrankheit der Hunde.
theils nur in einem heftigen Schnappen und Reifsen mit
den Zähnen. Andere Hunde pflegen sie recht häufig an
mehren Theilen des Körpers, besonders am Maule, After
und an den Genitalien zu beriechen, dabei mit dem Schwänze
zu wedeln, und dann ganz unverhofft und recht heftig zu-
zubeifsen. 13) Recht viele tolle Hunde schnappen häufig
in die Luft, als ob sie Fliegen oder Mücken fangen woll¬
ten. 14) Das äufsere Ansehen ist in der ersten Zeit wenig
oder gar nicht verändert; um den zweiten Tag werden die
Augen etwas geröthet, und zuweilen wegen Empfindlich¬
keit gegen das Licht verschlossen. Die Haut an der Stirn
und über den Augen zieht sich in kleine Falten zusammen,
wodurch die Thiere ein schläfriges, mürrisches und ver-
driefsliches Ansehen erhalten. In der späteren Zeit werden
die Augen trübe und matt, oft wie mit einem feinen Staub
bestreut, niemals aber feuriger und lebhafter. Manchen
schwillt der ganze Kopf, andern nur ein Theil an demsel¬
ben, z. B. die Nase, die Zunge, mehr oder weniger an;
die meisten bekommen während der Krankheit ein rauhes,
struppiges Ansehen, und alle werden in kurzer Zelt sehr
auffallend mager. 15) Das Maul ist in den meisten Fällen
mehr trocken als feucht, und in der Regel ohne Schaum
und Geifer. 16) So lange die Hunde noch etwas kräftig
sind, tragen sie den Schwanz ganz wie sonst und wedeln
auch freundlich mit demselben; nur w'enn die Schwäche zu¬
nimmt, lassen sie denselben schlaff herunterhängen. 17) ln
der ersten Zeit der Krankheit gehen sie ganz wie gesunde
Hunde, späterhin zeigen sie sich schwach am Hintertheile
des Körpers, und zuletzt werden sie daselbst immer ge¬
lähmt (kreuz- oder lendenlahm).
Bei der stillen W u t h k ra n k h e i t bemerkt man:
1) Dafs die Thiere auch ihr Betragen gewöhnlich auf ir¬
gend eine Weise verändern, dafs sie aber in der Regel
weniger lebhaft und munter als sonst, dagegen still, ruhig,
ja sogar ganz traurig werden. 2) Das auffallendste und
wichtigste Zeichen gleich nach dem Eintritt der Krankheit
III. Wuthkrankheit der Hunde.
299
besteht darin, dafs der Unterkinnbacken wie gelähmt her¬
abhängt, und dats daher das Maul solcher Hunde stets mehr
oder weniger offen steht. Einige Thierärzte suchten den
Grund davon in einer krampfhaften Zusammenziehung der¬
jenigen Muskeln, welche den Unterkiefer herabziehen; doch
findet gegentheils ein lähmungsartiger Zustand der Muskeln
statt, die denselben gegen den Oberkiefer ziehen. Denn
die erstgenannten Muskeln fühlen sich stets weich und schlaff
an, daher auch ein ganz gelinder Fingerdruck hinreicht,
den herabhängenden Kiefer gegen den andern in die Höhe
zu bringen. Nimmt man den unterstützenden Finger weg,
so fällt der Kiefer abermals herab. Werden dergleichen
Hunde indefs gereizt, so erlangen sie zuweilen das Vermö¬
gen zu beifsen auf eine kurze Zeit wieder. 3) Aus dem
in der vorigen Nummer bemerkten Grunde können die
Hunde fast gar nichts, selbst nichts Flüssiges verschlingen,
es fällt ihnen alles aus dem Maule. 4) Daher fliefst nicht
selten der eigene Speichel aus dem Maule, und solche
Patienten geifern deshalb weit mehr, als^die rasend tollen
Hunde. 5) Der Trieb zum Beifsen, welches, wie schon
bemerkt, ihnen weit schwerer fällt, ist nur in einem ge¬
ringen Grade, und zuweilen kaum bemerkbar vorhanden.
6) Eben so verhält es sich mit der Unruhe, und dem Triebe
zum Fortlaufen. 7) Häufig ragt bei den stilltollen Hunden
die Zungenspitze etwas zwischen den Zähnen und aus dem
Maule hervor. 8) Die Stimme ist bei ihnen ganz in der¬
selben Art wie bei den rasendtollen umgeändert. Doch ist
sie hier seltener , als bei den letzten zu hören , ja manch¬
mal so selten, dafs die Thiere freiwillig gar keinen Laut
von sich geben, und förmlich stumm geworden zu sein
scheinen. 9) Hinsichtlich des Bewulstseins, des Appetits
zu Futter und Getränk, der Nichtexistenz der Wasserscheu,
der Leibesverstopfung, der schnellen Abmagerung und über¬
haupt der anderen, beiden rasendtollen Hunden bemerkten
Symptome, verhält es sich bei den stilltollen im Wesent¬
lichen ganz gleich. — Der Verlauf der Krankheit ist bei
300
III. Wutbkrankheit der Hunde.
beiden Formen derselben sehr verschieden und ganz unbe¬
stimmt. Sie führte in allen Fällen den Tod herbei, ge¬
wöhnlich durch allmählige, aber täglich sichtbar zuneh¬
mende Erschöpfung der Lebenskraft, binnen (i — S 'l agen
nach dem ersten Erkranken. Zuweilen tritt der Tod frü¬
her ein, und die Thiere sterben dann plötzlich wie durch
einen Schlagflufs.
Das Ergebnifs von beinahe 200 Zergliederungen führte
den \ crf. zu der Ueberzeugung, dafs keine völlig constante
und der Hundswuth allein zukommende Veränderung in den
Cadavern toller Hunde anzutreffen sei, daher auch die, nur
einen relativen 'SVerth behauptenden Seclionsdata eben so
mit Stillschweigen übergangen werden mögen, wie die,
allerdings sehr instructiven Vergleichungen der Tollheit mit
anderen der Form nach ähnlichen Hundekrnnkheiten , z. B.
der Staupe, Magen- und Darmentzündung, Leibes Versto¬
pfung, Bräune, dem Bruche und der Verrenkung des Un¬
terkiefers. Der Verfasser läfst hierauf mehre Krankheits¬
geschichten folgen, welche zur anschaulichen A orstellung
der marnigfachen Formverschiedenheiten ungemein dien¬
lich sind.
Ref. eilt zum wichtigsten Theile der Schrift, welcher
die zahlreichen Impfversuche enthält, die der Verf. theils
durch Einbringung des giftigen Speichels in frische Wun¬
den gesunder Hunde, theils auf dem gewöhnlichen Wege
durch den Bifs, ferner durch Impfungen mit Blut, mit INer-
venmasse, endlich dadurch zu Stande brachte, dafs er Stoffe
von wuthkranken Hunden von gesunden verzehren liels.
Daraus gehen nachstehende, für die medicinische Polizei höchst
wichtige Folgerungen hervor: 1) Die Wutbkrankheit be¬
weiset sich bei den Impfungen als wirklich ansteckend.
Denn nach Ö0 -einzelnen Ansteckungsversuchen trat bei vier¬
zehn Hunden eine Krankheit ein, welche in ihren Sympto¬
men und in ihrem Verlaufe ganz genau mit der beschriebe¬
nen Wutbkrankheit iibereinstimmtc, so dafs eine Ansteckung
auf i -'4- Impfungen kam. 2) Die Ansteckung von wulh-
i
III. Wuthkrankheifc der Hunde. 301
kranken Thieren erfolgt also nicht in jedem möglichen
Falle, und selbst unter den scheinbar günstigsten Umstän¬
den nicht immer. Die Ursachen davon sind unbekannt,
müssen indefs wohl gröfstentheils in der eigentümlichen
Empfänglichkeit der inficirten Individuen begründet sein,
welche durch Zeit und Ort sehr verändert werden kann,
und daher ähnlich, wie die Empfänglichkeit für andere Con-
tagien, in manchen Zeiten sehr gering, in andern wieder
sehr grofs ist. Ein vierjähriger Mops überstand durch drei
ganze Jahre alle Ansteckungsversuche (von denen 9 be¬
schrieben sind), während sieben andere, bei verschiedenen
Versuchen gleichzeitig mit ihm geimpfte Hunde wirklich
angesteckt wurden. Andere überstanden zwei, drei auch
vier Versuche, und wurden erst bei dem folgenden inficirt;
bei einigen fand die Ansteckung nach der ersten Impfung
statt. 3) Daraus ergiebt ;sich aber auch, dafs in solchen
Fällen, wo man über die Krankheit eines für toll gehalte¬
nen Hundes in Zweifel ist, eine oder zwei zufällige oder
absichtliche Impfungen von ihm auf andere Hunde zwar
entscheidend sein können, wenn sie mit Erfolg begleitet
sind, dafs sie aber bei negativem Erfolge gar nicht als ein
Beweis dafür gelten können, dafs der erwähnte Hund nicht
toll gewesen sei. 4) Das Contagium bei der Wuthkrank-
heit der Hunde scheint nur allein zu den fixen zu gehören;
es erfolgte keine Ansteckung durch die blofse Ausdünstung.
5) Seine Vehikel sind nicht allein der Speichel und Schleim
im Maule, sondern auch das Blut und die Speicheldrüsen.
Die reine Nervenmasse scheint frei davon zu sein. 6) Das
Contagium ist in jeder Periode der ausgebildeten Krankheit,
und selbst nach dem Tode der tollen Hunde noch durch
einige Zeit zugegen, denn die Ansteckung erfolgte durch
die genannten Stoffe sowohl, wenn dieselben von lebenden,
als auch, wenn sie von todten Hunden genommen wurden;
doch von letzten nur binnen den ersten vierundzwanzig
Stunden, oder so lange der Cadaver noch nicht ganz er¬
starrt war. 7) Das Contagium scheint nur seine YVirksam-
4
302
III. Wuthkraiikhcit der Hunde.
keit zu entwickeln, wenn es von der Aufsenflache des Kör¬
pers in die Säftemasse gelangt, und dagegen ganz unwirk¬
sam zu bleiben, wenn es auf die unverletzte Schleimbaut
der Verdauungsorgane gebracht worden ist; denn unter
22 Hunden, welche auf die letzte YVeise niit dem Conta-
gium in Berührung kamen, ist die Ansteckung bei keinem
einzigen erfolgt. 8) Doch beweisen auch die Impfungen
ganz klar, dafs zur Ansteckung nicht gerade der Akt des
Beifsens erforderlich ist, sondern dafs sie auch durch N er-
letzungen mit der Lanzette bewirkt werden kann. 9) Da¬
bei ist es auch durch diese Impfungen erwiesen, dafs die
secundäre Wuthkrankheit weder allein von der Art der
physischen Verletzung (wie Girard meinte), noch allein
von der Furcht des Gebissenen (wie Bosquillon behaup¬
tete) abhängig sei. 10) Die zuerst von Bader und dann
von Cape 11 o ausgesprochene Meinung: dafs sich das Con-
tagium bei der Wuthkrankheit nicht erzeugt, wenn die¬
selbe in der zweiten Generation zugegen, oder mit anderen
Werten, wenn sie durch Ansteckung von einem primär
tollen Hunde verursacht worden ist, — ist ganz bestimmt
falsch, und durch mehre Impfversuche gründlich widerlegt.
M it diesen Beobachtungen stimmen nicht nur die von Ma¬
gen die gemachten vollkommen überein, sondern sie sind
auch in anderer Hinsicht von Interesse und Wichtigkeit.
Kr impfte nämlich mit dem Speichel eines Menschen, der
an der Wasserscheu litt, einen Hund, und dieser wurde
nach einem Monate toll. Dieser Hund bifs zwei andere,
welche ebenfalls die Hundswuth bekamen, jedoch von die¬
sen beiden wurde keine weitere Ansteckung auf andere
Hunde erreicht. 11) Das Contagium bringt in einem an¬
gesteckten Hunde bis zum wirklichen Ausbruch der Wuth¬
krankheit keine bemerkbaren Wirkungen oder Verändertlo¬
gen, weder im ganzen Körper, noch örtlich an der \\ unde
hervor. Beim Menschen mag letztes geschehen, beim Hunde
sah der \ erf. nichts Aehnliches, obgleich er wegen Dr.
Urban 's Erfahrungen sehr aufmerksam auf diesen Gegen-
III. Wuthkrankheit der Hunde.
303
stand gewesen ist. 12) Namentlich kommen auch beim
inficirten Hunde die Marochettischen Bläschen unter der
Zunge nicht vor. 13) Es sind also auch bei solchen Hun¬
den keine bestimmten Prodromen wahrzunehmen. 14) Die
Wuthkrankheit pflegt bei Hunden innerhalb 50 Tagen nach
der Ansteckung, dieselbe mag durch Bifs oder anderweitige
Impfung bewirkt sein, auszubrechen. Beispiele von später
erfolgtem Ausbruch hat der Verf. bis jetzt nicht beobach¬
tet. 15) Die durch Ansteckung erfolgte Wuthkrankheit
der Hunde nimmt nicht immer dieselbe Form an, welche
die Krankheit bei den Thieren hatte, von welchen die An¬
steckung ausgegangen ist. Zuweilen geschieht dieses wohl,
aber in anderen Fällen entsteht bald die rasende Wuth von
einem stilltollen, bald wieder die stille Wuth durch An¬
steckung von einem rasendtollen Hunde. 16) Hieraus ent¬
steht aber auch der Beweis, dafs beide Krankheitsformen
wesentlich mit einander verwandt sind, und wirklich zu
einer und derselben Krankheit gehören. 17) Auch folgt
hieraus und aus allem Uebrigen, dafs die Wuthkrankheit
der Hunde eine eigenthümliche und selbstständige Krankheit
ist, und nicht blofs imaginär, in dem Glauben der Aerzte
oder als zufälliges Symptom anderer Krankheiten besteht,
wie dieses von R. White und Franque in der neuesten
Zeit behauptet worden ist. 18) Es ist unrichtig, dafs ge¬
sunde Hunde durch den Geruch die wuthkranken erkennen,
und deshalb auch Nahrungsmittel, welche mit Se- und Ex-
cretionsstoffen von den letzten bestrichen worden sind,
verabscheuen. 19) Daher ist auch das auf diese Meinung
gegründete, zuerst von J. L. Petit angegebene, und kürz¬
lich wieder als neu empfohlene Verfahren, zur Untersu¬
chung solcher Hunde- Cadaver, bei denen man über die
Vorausgegangene Krankheit zweifelhaft ist, ganz unsicher,
und ohne den geringsten Werth.
In Bezug auf die Ursachen zur Selbstentstehung der
Wuthkrankheit bemerkt der Verf. , dafs er noch nicht zu
ganz bestimmten Resultaten gekommen sei, weil Hunde von
304
IV. Diabetes mellitus.
jeder Race, von jedem Alter und Geschlecht, unter jeder
Art ihres Verhaltens iu Pflege und Wartung, und hei jeder
Jahreszeit und Witterung in die Krankheit verfallen. Kr
glaubt aber, dafs die individuelle Disposition zur Krankheit
ein sehr wichtiger Umstand bei ihrer Entstehung ist, und
dafs diese Disposition besonders bei solchen Hunden sehr
ausgebildet ist, welche an der sogenannten Staupe oder
Hundekrankheit, und deren nervösen Folgekrankheitcn, im
hohen Grade gelitten haben; denn er sah solche Hunde
sehr häufig bald früher, bald später toll werden. Zu den
veranlassenden Ursachen gehört wohl ohne Zweifel der zu
sehr erregte und nicht genügend befriedigte Geschlechts¬
trieb, wie dieses schon lange von Greve, Fischer u. a.
angegeben ist, und wie der Verf. selbst mehre dafür spre¬
chende Fälle kennen gelernt hat. Hitze und Kälte, welche
man gleichfalls als wichtige Ursachen der Wuthkrankheit
betrachtet, hält er nicht für solche, weil diese Krankheit
in und nach kalten Wintern und heifsen Sommern nicht
häufiger ist, als zu anderen Zeiten, und weil solche Hunde,
die diesen Einflüssen am häufigsten ausgesetzt sind, z. B.
Kettenhunde , Fuhrmanns- und Karrenhunde, viel seltener
toll werden, als die gegen Hitze und Kälte geschützten
Stubcnhundc.
W. F.
IV.
Versuch einer Pathologie und Therapie
des Diabetes mellitus, von Dr. Aug. VY ilh.
v. St os ch, Leibärzte Ihrer Kön. Hoheit der Kron¬
prinzessin von Preufsen. Berlin, bei Duncker und
Ilumblot. 1828. 8. XV u. 235 S. (iThlr. 4 Gr.)
Die honigartige Harnruhr gehört ohne Zweifel zu den
Krankheiten, die in jeder Hinsicht am wenigsten erkannt
sind.
IV. Diabetes mellitus.
3o;>
sind. Ein Hauptgrund unserer geringen Kenntnifs dieser
Krankheit liegt sicherlich wohl in dem seltenen Vorkom¬
men derselben, und wir müssen bekennen, dafs uns noch
wahre Erfahrung über sie mangelt. Es gilt nämlich von
ihr wohl dasselbe, was bei anderen seltener vorkommenden
Krankheiten der Fall ist, dafs man ihre Schilderung zu sehr
nach einzelnen Fällen entworfen, und es verschmäht hat,
Resultate aus der umsichtigen Vergleichung vieler über sie
zusaminengebrachter Fälle zu gewinnen. Es haben zwar
Trnka de Krzowitz (Commentarius de diabete. Vindob.
1778. 8.) und Knebel (in seinen Materialien zur theore¬
tischen und praktischen Heilkunde. Bd. 1. Abth. 1. 2, Bres¬
lau, 1800. 8.) viele hierher gehörige Materialien nicht ohne
Fleifs, aber mit zu geringer Kritik gesammelt, indem sie
bei den einzelnen Fällen nicht gehörig erwogen zu haben
scheinen, ob die beschriebene Krankheit eine wirkliche
honigartige Harnruhr gewesen, oder nicht. So geschah es
aber, dafs ihre Beschreibungen, die gleichwohl aus ihren,
in die meisten Hand- und Lehrbücher der specieilen Pa¬
thologie übergingen, nicht ein e Krankheit, die Honigharn¬
ruhr, sondern eine ganze Gruppo äufserlich verwandter
Krankheiten, oft auch nur blofser Krankheitssymptome,
umfassen. Dazu kommt, dafs die Schrift des ersten aus
einer Zeit herrührt, aus welcher wir in der That nur sehr
wenige brauchbare Fälle wirklicher Harnruhr (Ref. bemerkt,
dafs er im Verlaufe dieser Anzeige unter Harnruhr immer
nur den Diabetes mellitus versteht) besitzen, weshalb also
der Verf. auch nur einen geringen Stoff für seine Bearbei¬
tung vorfand, und auch Knebel’s Materialien reichen nur
bis auf Rollo’s Schrift (Account of two cases of the dia-
betes mellitus. Lond. 1797. 8. übers, von Jugler. 2 Bde.
Stendal 1801. 8.), seit deren Erscheinung wir eigentlich
erst eineTxeihe lehrreicher Beobachtungen über diese Krank¬
heit in verschiedenen, namentlich deutschen und englischen
Zeitschriften erhalten haben. Unter solchen Umständen
dürfte es nun allerdings am angemessensten scheinen, wenn
XIV. Ed. 3. St. 20
I 4
\
IV. Dia! jotos mellitus.
'»06
die nächsten Bearbeiter dieser Krankheit einen historisch-
kritisrlieu Wc^ hei ihren Untersuchungen einschlügen, einen
Weg, von welchen) sich Ref. überhaupt viel zur Förde¬
rung der Heilkunde in unserer /eit verspricht, wenn sic
nämlich zuerst die Materialien für eine Monographie dieser
Krankheit sammelten, um dadurch erst zu dem, was Beob-
achtung und Erfahrung über dieselbe wirklich ergeben ha¬
ben, zu gelangen, und von dieser Basis aus eine nähere
Untersuchung des Wesens derselben und der demgemäß
sich ergebenden Heilmethode zu gewinnen. Wenn nun
auch gleichwohl der geistreiche Yerf. dieser vor »ins liegen¬
den, mit grofser Wissenschaftlichkeit abgefafsten Schrift
diesen Weg nicht eingeschiagen hat, indem er zuerst eine
Ansicht von dem Wesen dieser Krankheit zu gewinnen
sucht, aus dieser die ätiologischen Momente und die The-
rapeutik derselben a priori construirt und dann erst die so
gefundenen Resultate mit dem empirisch Gegebenen bei
dieser Kraukheit vergleicht, so ist lief, weit davon entfernt,
etwa gleich von vorn herein einen Fadel dagegen auszuspre¬
chen, indem der mit der Litteratur der Harnruhr vertraute
Leser gleichwohl überall auf eine erschöpfende Kcnntnifs
lind genaue Benutzung derselben stöfst, ohne eben durch
viele, meistens nicht einmal ganz genau angegebene Uitale
geblendet zu werden. Es bleibt uns nur übrig zu unter¬
suchen, ob sich die Erscheinungen der Krankheit mit Leich¬
tigkeit aus der vom Yerf. über sie aufgcstellten Ansicht
deuten lassen, und ob die Resultate der Erfahrung mit der
apriorischen Conslruction des Yerf. übereiustimmen. Ref.
aber holt sich gleich voran die Entschuldigung bei den
Lesern unserer Annalen ein, wenn er, seit einigen Jahren
mit einer Monographie dieser Krankheit* beschäftigt, der
Anzeige und Beurtheilung dieser Schrift einen grölseren
Raum, als vielleicht billig scheinen sollte, vorbehält.
Zur Begründung der vom Yerf. aufzustellenden Pa
thogenie der Harnruhr sieht er sich genöthigt, eine Ueber-
sicht dessen, was ihm über \crdauung, Assimilation und
i
I
IV. Diabetes mellitus. * 307
/
Reproduction wahrscheinlich scheint, voranzuschicken. Es
bildet den Inhalt des ersten Kapitels. Die Reproduktion,
sagt er, besteht aus zwei Hauptmomenten : das erste ist
Ansatz neuen Stoffes, das materielle Substrat desselben das
rotbe Blut, ihr Resultat Festwerden oder thierische Krystal-
lisation des Flüssigen; das zweite Moment derselben ist das
Wied erfliissigwerden des Thiersloffes. Gebunden ist dieser
Akt der Reproduction an das Blutgefäfssystem, und dem
beiden angegebenen Momenten entsprechend, spaltet sich
dasselbe in zwei Hauplzweige: das arterielle System führt
das durch den Akt der Respiration vielleicht nur negativ,
vielleicht zugleich aber auch positiv vervollkommnete arte¬
rielle Blut dem peripherischen Theile desselben zu, welches
das venöse System, gebildet theils durch Anastornosen mit
den feinsten Aestchen des arteriellen Systems, theils aber
auch entstehend in dem wieder flüssig gewordenen Thier-,
Stoffe, wieder aufnimmt. In den Capillargefäfsen ist die
Bewegung des Blutes nicht mehr von den Centralpunkten
des Gefafssystfems direct abhängig, sondern selbstständig,
oscillatorisch, und bedingt durch den Einflufs des sich hier
innig mit dem Gefäfssysteme verbindenden Nervensystems.
Die Einverleibung des aus den Nahrungsmitteln dem Orga¬
nismus zugeführten Nahrungsstoffes geschieht durch das
Lymphgefäfssystem, welches allein, direct und unmittelbar
rohen Chylus aus dem Chymus aufsaugt. Dieser rohe Chy-
lus ist aber von dem, wie er sich später im Ductus thora-
cicus vorfindet, sehr verschieden. Eine Uinwandelung und
Läuterung desselben geschieht zwar offenbar im lymphati¬
schen Systeme, aber nicht alLhi durch dasselbe, sondern
auch gröfstentheils durch das Wnensystem , und ist in so¬
fern negativ, indem sich dasselbe nicht nur in den conglo-
birten Drüsen, sondern schon in den feinsten Anfängen
der lymphatischen Gefäfse r.nt demselben verbindet und
durch Aufsaugung den durch dieselben aufgesogenen Chy¬
lus läutert und so zur höheren Animalisation vorbereitet. ,
Die dem Chylus auf diese Weise entzogenen Stoffe bilden,
20 *
I
303
IV. Diabetes mellitus.
dem Blute beigemischt, das eigentümliche, zur Bildung
der Galle bestimmte Blut der Pfortader. Eine primäre
Yenenresorplion findet indefs vielleicht doch in einem Or¬
gane, nämlich im Magen statt. ' Das harmonische Ineinan¬
dergreifen der Functionen dieser drei tactoren des Gefäfs-
svstems, in welchem die Integrität der vegetativen Sphäre
des Organismus besteht, wird aber allein durch die norm-
gemäfse Einwirkung des vegetativen Nervensystems bedingt,
dessen Centraltheil die der reproductiven Sphäre vorzugs¬
weise angehürigen Organe versorgt, während der periphe¬
rische, mit den bewegenden und Gefühlsnervcn zusammen-
tretend, sich durch den ganzen Körper verbreitet. Die
Fäden, welche den sympathischen Nerven mit dem Spinal¬
und Cerebralsystem verbinden, und welche man gewöhn¬
lich als von diesen ausgehende Wurzeln betrachtet, sieht
der Verf. vielmehr als vom sympathischen Nerven ausge¬
hende Verbreitungen desselben an. Dieses vegetative Ner¬
vensystem selbst aber spaltet sich wiederum in zwei Theile,
einen positiven Pol, welcher dem positiven Bildungsakte
entspricht, und in einen negativen, welcher dem negativen
Momente desselben angehört, eine Ansicht, die der Verf.
vorzüglich in dem paarweisen Vorkommen der Nerven-
ganglien bei unpaaren Organen begründet ansieht. Die Aus¬
scheidung aber der durch die Venenresorption aufgenom¬
menen excrcmentitiellen Stoffe geschieht theils bei der Gal¬
lenbereitung, theils durch die Nieren, und zwar hauptsäch¬
lich im Harnstoffe. Vielleicht findet auch eine ähnliche
wSecretion im unteren Theile des Darmkanals statt, nament¬
lich im Coeco. Eine vicariirende Thätigkeit zwischen Haut
und Nieren anzunehmen, wie solches gewöhnlich geschieht,
scheint dem Verf. dagegen unrichtig. Die Thätigkeit der
Nieren bei Abscheidung ihrer Secretc scheint sich nur dar¬
auf zu beschränken, dafs sie aus dem ihnen durch die Ar¬
terien zugeführten Blute vermöge einer Art von Wahlver¬
wandtschaft die aus der Blutmasse auszuleerenden Stoffe
educiren. Die Schnelligkeit aber, mit «1er genossene Flüs-
IV. Dialj etes mellitus.
• 309
sigkeiten durch die Ilarnwege wieder ausgeschieden werden,
scheint dem Verf. in der Venenresorption ihre hinlängliche
Erklärung zu finden, welche wahrscheinlich im Magen eine
primäre ist, wodurch also die genossenen Flüssigkeiten un¬
mittelbar in den Kreislauf gelangen.
Dieses ist der gedrängte Auszug der vom Verf. im
ersten Kapitel über Verdauung und Assimilation aufgestell-
ten Ansichten. Ref. konnte die Anzeige derselben nicht,
übergehen, da der Verf. auf sie seine Pathogenie der Harn¬
ruh/' baut und es sich also darum bandeln mufs, ob wir
die hier aufgestellten Prämissen als unbezweifelt wahr aner¬
kennen können, oder nicht.
Man hat den Aerzten nur zu oft den Vorwurf gemacht,
dafs sie erst spät oder gar nicht von den Entdeckungen der
Physiologen Gebrauch machen, dafs sie es also verschmä¬
hen, eine wissenschaftliche Begründung der praktischen
Medicin, welche eben nur durch Basirung auf Anatomie
und Physiologie gewonnen werden kann, zu erlangen. Die¬
ser Vorwurf scheint indefs dem Bef., wie wahr er auch
oft im Einzelnen sein mag, im Allgemeinen mindestens ein
ungerechter. Wir besitzen in der That, wollen wir ein
aufrichtiges Bekenntnifs nicht ablehnen, in der Physiologie
so wenig Wahres und über allen Zweifel Erhabenes, dafs
ein jeder Arzt, wenn er einen Versuch macht, eine wis¬
senschaftliche Darstellung der Pathogenie einer Krankheit
zu geben, zuerst ein physiologisches Glaubensbekenntnis
abgeben mufs, um verstanden zu werden. iJnd, wie es
dann in solchem Falle nicht anders geschehen kann, es
werden physiologische und pathologische Ansichten neben
einander gebildet, so dafs sie mit einander in Harmonie
stehen, sich gegenseitig erklären, einander nicht widerspre¬
chen. Dasselbe Verhältnis sehen wir denn auch in vor¬
liegendem Falle eintreten. Die vom Verf. aufgestellten phy¬
siologischen Ansichten lassen allerdings eine Deutung des
Wesens der Honigharnruhr zu, sie selbst erfreuen sich in¬
neren Zusammenhanges, aber sind sie denn auch die wahren:'
I
IV. Diabetes mellitus.
310
Ref. ist weit von der Anmaafsting entfernt, durch Hinwen¬
dungen, die er gegen dies'' Ansichten aufstellen wird, diese
etwa widerlegen zu wol’r», er weils sein* vs »hl, dals cs
Lei der grofsen Verschied» iheit der Meinungen, welche
unter »len Physiologen, namentlich gegenwärtig iiher Venen¬
resorption und die Function des vegetativen Nervensystems
herrschen, viel leichter ist, einer vorgelragenen Meinung
eine andere entgegenzusetzen, als überhaupt eine festbe-
griiodete aufzustellen. Nur »1er Zusammenhang, welcher
zwischen diesen Vordersätzen und der daraus entlehnten
Ansicht des V erf. über »lie Natur der Harnruhr statt findet,
erfordert es, wenigstens aufmerksam zu machen, wie die¬
selben noch keinesweges allgemeine Anerkennung gefunden
haben, wie »1er % erf. also auf einen mindestens noch un¬
sicheren Rodeo gebauet habe. Ref. glaubt seine Absicht
am besten zu erreichen, und sich gegen jeden Schein eiteln
Aburtheilcns in einer Sai.v, in welcher er nicht selbst¬
ständig gearbeitet hat, zu 'wahren, wenn er »len vom
V erf. aufgestellten Ansichten das neueste Werk eines hoch¬
geachteten Physiologen entgegenhält. Fs dürften besonders
folgende allgemeinere Sätze zu berücksichtigen sein, einige
sich mehr auf specicllere A nahmen erstreckende wird Ref.
noch im V erlaufe dieser Recension anzuzeigen Gelegenheit
haben. 1) Der V erf. steüt den Satz auf, dafs die Venen,
und zwar primär im Magen, resorbiren. Wie wahrschein¬
lich es nun auch nach den neuesten Untersuchungen eines
Magen die, Tiedemann und Gmelin, und vieler ande¬
rer sein mag, dals eine V enenresorption statt linde, so darf
dieser Satz doch noch gleichwohl nicht zu einem Axiome
erhoben werden R u d o 1 pji i (Grundrifs der Physiologie
Rd. 11. Ablli. 2. Abschn. h.) spricht sieb gegen dieselbe aus.
2) Von einem grölseren Umfange wie die primäre, soll,
wie der V erf. behauptet, »lic secimdärc Venenresorption
sein, indem nämlich durch das Vciiensvslem die vom R>mph-
gefäfss\slem aufgenominenen Stoffe aufgesogen und durch
dasselbe die excrementitielleii ausgeschiedeu werden sollen.
1Y. Diabetes mellitus.
311
Es müfste also auf irgend eine Weise eine Communication
zwischen dein Venen- und Lyinpbgefäfssystem statt linden.
Es glauben nun zwar allerdings deutsche, französische, und
ganz besonders italienische Anatomen, solche Cornmunica-
tionen und Anastomosen nachgewiesen zu haben. Allein
Rudolphi zeigt, wie leicht hier Täuschung obwalten
könne, und spricht sich ziemlich bestimmt dagegen aus.
3) Wenn nun aber auch die Venen, theils primär im
Magen, theils secundär durch Anastomosirung mit dem
Lympbgefäfssysteme resorbirten, liefse sich dann wohl ein
so bestimmtes Wahlanziehungsvermögen der Lymphgcfäfse
für nutritive, der Venen für excrementitielle Stoffe anneh¬
men? Abgesehen davon, wie diese Annahme immer nur
Annahme bleiben mufs, ohne durch irgend welche bestimmte
Gründe unterstützt zu werden, so treffen wir selbst auf
Erscheinungen, die ihr zu widersprechen scheinen. Wenn
Lower, Viridet, noch neuerlich Maier u. a. im Venen-
blute Chylusstreifen wollen gefunden haben, so mag diese
Erscheinung entweder auf Täuschung beruhen, oder auch
eine andere Deutung« gestatten; wenn ferner im enlgegen-
gesetzten Falle mehre Experimentatoren dem Organismus
fremdartige, nicht nutritive Stoffe in den Eymphgefäfsen
gefunden haben, wie z. B. Seiler und Ficinus blausau¬
res Kali, Em inert blausaures Eisen u. a., so kann man
mit diesem Argumente auch nur theilweise der vom Verf.
aufgestellten Ansicht enlgegentreten, indem diese Stoffe
allerdings von den Eymphgefäfsen aufgenommen werden
inufsten, bevor sie zu den Venen gelangen konnten, oh-
scbon denn doch der Verf. für Flüssigkeiten (und diese
Stoffe wurden doch im aufgelösten Zustande dem Magen
übergeben) eine primäre Venenresorption annimmt, —
wenn Kef. auch mit diesen Gründen der vom Verf. aufge¬
stellten Ansicht nicht entgegentreten will, so treffen wir
doch auf pathologische Erscheinungen, welche eine solche
Wahlanziehung , wie sie der Verf. der Venen- und Lymph-
gefälsresorplion zuschreibt, nicht zulassen. Hier nämlich
\
#
312
IV. Diabetes mellitus.
steht der unabweisbare Satz fest, dafs manche Krankheits¬
stoffe vom Lymphgefäfssystemc nicht allein aufgenommen
werden, sondern sich auch in diesem weiter entwickeln
und die ganze durch sic veranlafste Krankheit in diesem»
Systeme verläuft, ohne auf ifgend eine Weise auf das IMut-
gefäfssystem , namentlich den venösen Theil desselben, über¬
tragen zu werden.
Im zweiten Kapitel handelt der Verf. von den Sym¬
ptomen und dem Verlaufe des Diabetes mellitus. Die Kürze
desselben möchte um so weniger zu tadeln sein, da der
Verf. im Kapitel von der Pathogenie dieser Krankheit auf
die wesentlichen Symptome derselben und deren Deutung
noch einmal zurückkommt. Indefs erlaubt sich I\ef. doch
i
einige Bemerkungen über die vom Verf. aufgestellte Sym¬
ptomatologie hinzuzufugen. Wenn er S. 22 sagt: immer
jedoch fängt die Krankheit mit einem Gefühle von ver¬
mehrtem Durste an, welcher die davon Befallenen beson¬
ders Nachts im Schlafe stört u. s. w. , so ist diese Behaup¬
tung wohl noch keineswpges erwiesen. Abgesehen davon,
dafs der Krankheit meistens Vorboten vorangehen, welche
ihren Grund in einem Leiden der Digestionsorgane, und
zwar in dem Vorhandensein freier Säure haben, wie solches
namentlich Keil (in seiner Fieberlchre Bd. III. S. 511)
und Ilaase (über die Erkenntnifs und Cur der chronischen
Krankheit, Bd. III. Abtheil. 1. S. 327.) bemerken, so
scheint in vielen Fällen mindestens eine Unterdrückung der
Hautthätigkcit, welche die Krankheit auch in ihrem ganzen
Verlaufe begleitet, jederzeit ein früheres Symptom, als
der vermehrte Durst zu sein, ein l mstand, der manche
Schriftsteller wohl zu dem einseitigen Schlüsse veranlafst
haben mochte, das Wesen dieser Krankheit überhaupt in
einer gestörten Hautfunction zu suchen. Ganz unberück¬
sichtigt aber hat der Verf. zwei, wie es dem Bef. scheint,
nicht unwichtige Symptome gelassen: nämlich den eigen-
thümlichen, bald säuerlichen, bald süfslichen Geruch, ‘wel¬
chen die an Diabetes Leidenden verbreiten, und die Vor-
IY. Diabetes mellitus.
313
minderung des Sehvermögens. Was namentlich dieses letzte
Symptom anlangt, so erlaubt sich Ref., darüber hier Eini¬
ges zu bemerken, da es, so viel er weifs, noch in keine
Symptomatologie dieser Krankheit aufgenommen worden ist.
Der Verf. erwähnt desselben an einer anderen Stelle (S. 38)
zwar beiläufig, jedoch so, dafs darin vielleicht zugleich ein
Irrthuin involvirt ist. Er sagt nämlich, wie glaubwürdige
Zeugen ihm erzählt hätten , dafs sie Amaurose zur Krank¬
heit haben hinzukommen gesehen. Ist dieser Fall wirklich
beobachtet worden, so hat Ref. natürlich nichts weiter
dagegen zu erinnern; sollte aber etwa nur, indem man eine
Verminderung des Sehvermögens bei den an Diabetes Lei¬
denden beobachtete, auf eine beginnende Lähmung der Netz¬
haut geschlossen worden sein, so dürfte dieser Schlufs
leicht falsch sein. Es ist dieselbe vielmehr, mindestens in
den vorn Ref. verglichenen Fällen, von einer beginnenden
Verdunkelung der Linse, die zuletzt bis zu völliger Cata-
ractbiidung vorschreitet, abhängig, und tritt meistens erst
nach längerer Dauer der Krankheit auf; ein um so auffal¬
lenderes Symptom, da dieselbe mehr in einem Schmelzungs¬
prozesse besteht. Gewifs steht es in einem wesentlichen
Zusammenhänge mit der Krankheit. Ref. hat es in vier
Fällen der Honigharnruhr, von denen er zwei selbst zu
behandeln, die beiden anderen wenigstens längere Zeit hin¬
durch zu beobachten Gelegenheit hatte, stets bemerkt.
Wenn man es in den zahlreichen, über diese Krankheit in
allen Zeitschriften mitgetheilten Fällen nicht immer aufge¬
führt findet, so mag man es zum Theil wohl übersehen
haben, zum Theil aber auch, indem man es für ein un¬
wesentliches Symptom hielt, absichtlich nicht erwähnt
haben. Es existiren indefs viele Fälle, in welchen des¬
selben gedacht ist. So erwähnen es z. B., damit Ref. nur
einige ausgezeichnete Fälle anführt, Oosterdyck (in der
Sammlung auserles. Abhandlungen für prakt. Aerzte, Bd. 1.
S. 179), Dupuytren (ebendas. Bd. XXIV. S. 123), Dun-
can d. j. (ebendas. Bd. XXVIII. S. 532), Marsh (ebendas.
314
IV. Diabetes mellitus.
Ed. XXX. S.5S0), Horn (in seinem Archive 1M17. Ed. ili.
11. 1. S. 76. Note.), v. Gräfe (iu seinem Jahresberichte
über das clin. Institut der Universität 7.11 Eerlin von 1S‘2'2,
S. 18.), Zipp (in Hufeland 's Journal Ed. LXV. St. 1.
S. 7 ), 11. a.
Im dritten Kapitel macht der V erf. die Anwendung
der in der Einleitung gegebenen physiologischen Skizze auf
die Pathogenie des Diabetes mellitus, und handelt von der
nächsten Ursache der Krankheit. Seitdem, sagt er, die
Chemie die qualitative Entmischung des Urins in der Harn¬
ruhr kennen gelehrt hat, suchte man von jenem Stand¬
punkte aus eine Deutung des Wesens dieser Krankheit zu
gewinnen, ging dabei aber meistens einseitig zu Werke,
indem man nur immer auf den Zuckergehalt im Urine Rück¬
sicht nahm, ohne den verminderten oder auch ganz fehlen¬
den Antheil des Harnstoffs in demselben zu berücksichtigen.
Nehmen wir nun aber an, dafs der Harnstoff nicht in den
Nieren selbst gebildet werden könne, sondern dafs sich die
ihn constituirendcn Thcile aus dem Elute durch Wahl¬
verwandtschaft in den Nieren abscheiden, eine Annahme,
welche mit noch viel grüfserer Wahrscheinlichkeit von dem
Schlcimzucker des diabetischen Urins gilt, so werden wir
zu der Annahme geführt, dafs beide Kischeinungen in einer
Vernichtung der Thätigkeit des venösen Systems, in sofern
dieses als resorbirendes dem lymphatischen System beigege-
bc 1 ist, beruhen. Dadurch werden nämlich theils die den
Harnstoff constituirenden , hyperanimalischen Stoffe nicht
aulgesogen und im Blute zurückgehalten, theils die in den
Nahrungsmitteln enthaltenen zuckerartigen, zur Aniinalisa-
tion nicht geeigneten Produkte vom Lymphgefäfssystcme
aufgenommen, in den Kreislauf gebracht und so den Nieren
zugeführt. Da nun aber die Thätigkeit der Venen nur von
dem Nervensysteme abhängen kann, so ist auch eine Ver¬
nichtung der veuö eu Resorption nicht denkbar, es sei denn
bei bestehender Lähmung desjenigen Theiles des automati¬
schen Nervensystems, welcher dem venösen Systeme ent-
IV. Diabetes mellitus.
315
spricht, Jem negativen Pole de ;elK ;. Dafs nämlich eine
Lähmung des einen Pols einer bestimmten Sphäre des Ner¬
vensystems bei bestehender Integrität der andern bestehen
könne, beweisen analoge Erscheinungen zur Genüge, ln-
dels kann sieb diese Lähmung nicht über den negativen
Factor des automatischen Nervensystems in seiner Totalität
verbreiten, sondern sie betrifft nur eben denjenigen Tbeil
desselben, welcher dem chylopoetischen Systeme zugetheilt
ist. Je nachdem aber die Lähmung dieses Theiles einen
gröfscren oder geringeren Umfang erreicht hat, werden
auch die beiden Hauptsymptome der Krankheit in quantita¬
tiver und qualitativer Hinsicht verschieden sein. Das We¬
sen der Harnruhr besteht also in einer Lähmung der venö¬
sen Resorption, in einer mehr oder weniger verbreiteten
Lähmung des negativen Factors des automatischen Nerven-
system es, in sofern dasselbe der Chylification vorsteht.
Demnach gehört der Diabetes zu den eigentlichen Nerven¬
krankheiten, und kommt der Paralyse am nächsten zu ste¬
hen. Da auf der anderen Seite aber auch diese Krankheit,
als die Reproduction vorzüglich beeinträchtigend, den Grund
zu einer allmähligen Abzehrung des Körpers legt, in wie¬
fern das letzte Stadium derselben durch eine Febris lenta,
welche zuletzt in eine wahre hectica übergebt, bezeichnet
wird, so schliefst sie sich eben so den Zehrkrankheiten an.
Im Systeme gehört sie also zur Gattung der Tabes ner¬
vosa, da die bei ihr stattfindende Abzehrung das Resultat
einer Störung der auf die Reproduction influirenden Ner¬
ventätigkeit ist.
Am Schlüsse dieses Kapitels fügt der Verf. noch seine
Ansicht über die Natur des Diabetes insipidus, und das Ver-
hältnifs desselben zur Honigharnruhr hinzu. Da er den
Mangel an Ausscheidung des Harnstoffs, welcher nach ihm
beim Diabetes insipidus nur in sehr geringer Quantität vor^
banden sein soll, einer Lähmung des negativen Pols der
automatischen Sphäre des Nervensystems zuschreibt, so
kommt der Diabetes insipidus nach ihm in seinem Grund-
31G IV. D iabctcs mellitus.
wesen durchaus mit dem Diabetes mellitus überein, und ist
nur dadurch von ihm unterschieden, dafs bei jenem der
Theil des grofsen sympathischen Nerven, welcher der Gby-
lification vorsteht, in vollkommener Integrität besteht.
E^ ist wohl sehr natürlich, dals die vom Verf. in die¬
sem dritten Kapitel aufgestellte Ansicht über die Pathogcnie
der Harnruhr nur so lange bestehen kann, als die physio¬
logischen 'S ordersätze, auf welche sie sich stützt, richtig
sind. l\ef. glaubt aber doch schon oben darauf aufmerksam
gemacht zu haben, wie ihnen mindestens keine allgemeine
Gültigkeit zukomme, und wie wir sie noch keinesweges als
über allen Zweifel erhaben ansehen können. Nehmen wir
also, wie billig, für den Augenblick ihre Richtigkeit an
und sehen nach, ob die vom Verf. auf sie gebauete Patho-
genie der Harnruhr alle Erscheinungen dieser Krankheit
zwanglos erkläre. Ref. hat in solcher Hinsicht besonders
folgende Punkte zu erörtern: 1) Wenn der Verf. als das
Resultat seiner Untersuchungen den Satz aufstellt, dafs das
Wesen dfcr Honigharnruhr in einer Suspension der» Venen¬
resorption, bedingt durch Lähmung des dieselbe reguliren-
den Nervensystems bestände, so ist damit nur der Gat¬
tungsbegriff für eine Krankheitsg r u p p e, nicht eine
Deutung des Wesens einer einzelnen Krankheit, und zwar
der Honigharnruhr gewonnen, und dieses zwar, wie es
Rcf. scheint, in doppelter Hinsicht. Einmal nämlich fra¬
gen wir: Wie geschieht es, dafs auf diese Weise nur die
Zuckerhaltigen Restandtbeile aus den Nahrungsmitteln
in den Urin abgeschieden werden, und wo bleiben die aus
den Nahrungsmitteln in den Chymus und Ghylus aufgenoin-
menen anderweitigen Restandtheile, da sie sich doch, als
ob die Venenresorption vollkommen normal von statten
ginge, auf keine Weise zu erkennen geben? Zweitens aber:
Warum wird der Zucker in der Honigharnruhr gerade den
Nieren, und nur ihnen allein, zugeführt, da doch, wo
nur immer eine Ausscheidung erfolgt, nach des Verf. An¬
sicht Zucker in dem Ausgeschicdeueu, z. R. im Lungen-
I
I\. Diabetes mellitus.
317
auswurfe, de m Speichel u. s. w. vorhanden sein miifstef
Wir haben in der Tnat durch die vom Verf. auf physio¬
logischem Wege gewonnene Pathogenie einer Krankheit
nur eine für eine Gruppe von Krankheiten gewonnen.
Dann nämlich würden wir einestheils einsehen, wie die
Zustände, welche man als Lienteria urinalis, als Chyluria,
Coeliaca urinalis, Diabetes chylosus, Urina pultacea u. s. w. —
nichts als vorübergehende pathologische Erscheinungen, son¬
dern als bleibende Krankheitsprozesse — bezeichnet, und
an deren Existenz die neuere Zeit meistens mit Unrecht
gezweifelt hat, wirklich existiren können; andererseits aber
würde dann, wenn wir die localen und topischen Bezie¬
hungen der Absonderung zu den einzelnen Absonderungs¬
organen des Organismus auffassen, die Harnruhr neben den
Krankheiten zu stehen kommen, wo zuckerstoffige Bestand¬
teile unter bedeutender Abmagerung durch andere Excre-
tionsorgane aus dem Organismus entfernt werden, wie
Knebel mehre hierher gehörige Beispiele gesammelt hat.
Alien hierher gehörigen Krankheitszuständen würden näm¬
lich nur zwei Grundsymptome: Absonderung eines dem
Organismus sonst fremden, durch eine fehlerhafte Chylifi-
cation producirten Stoffes und dadurch zugleich bedingte
Abmagerung des Körpers zukommen, denn dafs z. B. der
Durst der Harnruhr als wesentliches Symptom nur deshalb
zukommt, weil dieser Stoff hier durch die Nieren ausge¬
schieden wird, liegt wohl am Tage. Für die Ermittelung
und Feststellung aller hierher gehörigen Krankheitsarten
bliebe zunächst der Chemie ein grofses, bis dahin nur noch
sehr dürftig bearbeitetes Feld übrig. Somit wären wir in
Gebiete gelangt, welche beinahe jenseits der Gränzen un¬
serer bisherigen Erfahrungen liegen; wir kehren zurück,
gestatten dem Verf. die Anwendung des Gattungsbegriffes
auf diese eine Krankheit, und sehen zu, ob sie in ihm
ihre volle, ungezwungene Deutung findet. Es handelt sich
also 2) zunächst darum, ob die beiden vom Verf. aufge¬
stellten hauptsächlichsten und pathognomonischen Symptome
318
IV. Diabetes mellitus.
der Harnruhr, nämlich das VorhamJUmsein einer /uckerarti¬
gen Materie im Harne, und die gänzliche Abwesenheit oder
mindestens das geringere Quantum von Harnstoff in dem¬
selben durch die von ihm aufgestellte Pathogcnic der Krank¬
heit einsichtlich werden. Abgesehen also von mehren Punk¬
ten, die hier zur Erörterung kommen miifsten, die sich
aber schon aus dem zuerst aufgestellten Satze ergeben^
z. B. woher es komme, dafs bei Suspension der \ enenre-
sorption, durch welche eine Läuterung des Chylus bedingt
werden soll, gerade nur zuckerhaltige Bestandteile in «las
Blut gelangen, abgesehen also von diesem und anderen
Punkten bemerken wir besonders folgendes: a) ln dem dia¬
betischen Urine findet sich bestimmt ein grüfseres Quan¬
tum von Zuckerstoff, als in dem aufgenommenen Inge^tis.
Der Verf. erkennt diesen Einwand zwar an und verwahrt
§
sich gegen ihn, aber auf eine Weise, die lief, nicht recht
einsichtlich ist. Er sagt nämlich S. 34: «Man darf, was
die Quantität des Zuckers im Haine betrifft, nicht überse¬
hen, wie sehr bei dem angedeuteten krankhaften Zustande
die Verdauung alterirt sein n.ufs, und vorzüglich wie sehr
die Verdauungssäfte bei einer so fehlerhaften Krasis des
Blutes alterirt sein müssen. Wenn, wie eigene Beobach¬
tung mich gelehrt hat, die Galle eines an der Harnruhr
Verstorbenen sauer rcagirte, so ist es leicht erklärlich, dafs
die lngesta eine Art von Fermentation eingeben mögen,
indem sie durch fehlerhafte Quantität der Verdauungssäfte,
vielleicht schon in der Mundhöhle, durchaus nicht zu irgend
einer Art von Assimilation vorbereitet worden sind, und
dafs die in denselben enthaltenen vegetabilischen Stoffe durch
Zumischung der hyperoxydirten Darmsäfte eine aufseror-
dentliche Menge von Schleimzucker entwickeln. n Gegen
diese Argumentation des Verf. läfst sich indefs manches mit
Recht einwenden.» Wie sehr auch in vielen Fällen des
Diabetes die Digestion leiden mag, wie oft auch Zufälle,
welche durch das Vorhandensein vermehrter Magensäure
bediogt werden, vorhanden sein mögen, so ist solches in
IV. Diabct es mellitus.
319
vielen Fällen durchaus nicht der Fall, und die Digestion
geht vollkommen normal von statten. Wo aber auch diese
Zufälle vorhanden sind, so zeigen sie sich besonders am An¬
fänge und beim Beginnen der Krankheit, nicht im weiteren
Verlaufe derselben, wie solches, wenn sie nach dem Verf.
durch eine fehlerhafte Krasis des Blutes bedingt wurden,
der Fall sein müfste: es konnte also durch sie die Quan
tität des Zuckers erst im späteren Verlaufe der Krapkheit
vermehrt werden, da doch solches eben nicht der Fall zu
sein scheint. Endlich ist es noch sehr zu bezweifeln, ob
die von Kirchhof gemachte Entdeckung, vermittelst wel¬
cher aus Stärkemehl, das mit hinlänglichem Wasser ange-
rührt ist, durch Zusatz von Schwefelsäure Zucker ausge¬
schieden wird, worauf bekanntlich Haase seine Theorie
der Harnruhr baut , und die der Verf. im Wesentlichen in
sofern wenigstens benutzt, um daraus ein gröfseres Quan¬
tum von Zucker im Urine zu erklären, als durch die Nah¬
rungsmittel aufgenommen wird, im lebenden Körper sich
bestätigt. Es scheinen mindestens einige Beobachtungen
dagegen zu sprechen. So bemerkt Sharkey (vergl. die
Salzb. med. chir. Zeitung. Jahrg. 1826. Bd. I. S. 72.), dafs
er nicht gefunden habe, dafs solche Nahrungsmittel, welche
viel Zuckerstoff enthalten, oder die weinigte Gährung ein-
gehen, das Uebel verschlimmert hätten. b) Gemäfs der
vom Verf. aufgestellten Pathogenie der Harnruhr, müfste
im Blute Diabetischer Zucker enthalten sein. Wenn der
Verf. dagegen bemerkt, dafs noch zu wenig genaue Analy¬
sen mit dem Blute Diabetischer angestellt worden, um hier¬
über etwas Bestimmtes behaupten zu können, so dürfte ihm
vielleicht entgangen sein, wie ausgezeichnete Chemiker in
der neuesten Zeit das Blut Diabetischer untersucht und
durchaus keinen Zuckergehalt in ihm gefunden haben, so
namentlich Vauquelin und d’Etchep^re (s. Froriep’s
Notizen Bd. IX. S. 192. Harlefs rheinisch- westpbälische
Jahrb. Bd. 111. St. 3. S. 106. v. Gräfe’s und v. Wai¬
th er’s Journal Bd. VII. S. 669.), ein Resultat, welches
320
IV. Diabetes mellitus.
mit den früheren Untersuchungen von Prout, Nicolas
und Guedeville, Wo 1 las ton u. a. vollkommen überein-
stimmt, wenngleich auch lief, kelneswegcs verhehlen will,
wie nach einigen älteren Untersuchungen wirklich Zucker
im Blute vorhanden gewesen sein soll. Wenn der Verf.
später aber annimmt, dafs der Zucker im Blute vielleicht
auch latent sein könne, und gleich dem Harnstoffe auch
die im Blute vorhandenen, den Zucker bildenden Grund¬
stoffe erst durch wahlverwandtschaftliche Attractionskraft
der Nieren dem damit überschwängerten Blute entzogen
werden und so erst im Urine als gebildeter Zucker erschei¬
nen könne, so sprechen dafür allerdings manche analoge
Erscheinungen, und Kef. möchte in dieser Deutung dem
Verf. vollkommen beitreten, wenn aijch der Vergleich mit
dem Harnstoffe, als einer aus dem Blute zu bildenden
Substanz, nicht pafst. Alsdann aber hätte der Verf. jeden¬
falls den Nieren einen gröfseren Antheil an der Krankheit
zuschreiben müssen, als er thut. Seite 28 nämlich be¬
hauptet er, dafs die Verminderung des Harnstoffs im diabe¬
tischen Urine, und noch viel weniger das Vorhandensein
des Zuckerstoffs in demselben, in einer perversen Thätig-
keit der Nieren liegen könne. Die Gründe, welche der
Verf. für diese Annahme anführt, scheinen dem lief., wel¬
cher indefs weit entfernt ist, die Harnruhr etwa blofs in
einer Krankheit der Nieren zu suchen, unzureichend, wie
er überhaupt glaubt, dafs der Verf. den Antheil, welchen
die Nieren an der Entstehung ^dieser Krankheit haben, zu
wenig berücksichtigt hat. Die Gründe aber, welche der
Verf. für jene Behauptung aufstellt, sind folgende: «Der
Grund derv Verminderung dieser Ausscheidung, >» sagt er,
« kann nicht wohl in einer perversen Thätigkeit der Nieren
liegen, da, wenn dieses der Fall wäre und wir annehmen
wollten, dafs durch eine solche die Nieren die in llede
stehenden Stoffe aus dem Blute auszuscheiden unfähig wä¬
ren, der Harnstoff durchaus fehlen müfste. ” Einmal existi-
ren allerdings Analysen diabetischen Urins, in welchem
— * durch-
IV. Diabetes mellitus.
32 1
durchaus kein Harnstoff vorhanden war (woher es auch
wohl kommen mag, dafs viele Chemiker ehedem die Anwe¬
senheit dieses Stoffes im diabetischen Urine leugneten, wie
z. B. John, Fourcroy, Nico los, Guedeviile u. a.,
so dals noch neuerlich Harlefs in seinem Handbuche der
«ärztlichen Klinik Bd. III. S. 144 die Abwesenheit des Harn¬
stoffs als eine Eigentümlichkeit des Diabetes aufführte);
sodann aber ist es auch durchaus nicht einsichtlich , dafs
nicht bei perverser Thätigkeit eines Organs die durch das¬
selbe bedingte Secretion quantitativ verringert sein konnte,
ohne dafs sie völlig aufgehoben wäre. Was aber die Gründe
anlangt, welche der\erf. für die Behauptung aufstellt, dafs
der Schleimzucker in den Nieren nicht erzeugt werden
könne, so scheinen diese dem Ref. nicht minder unzu¬
reichend. Der Verf. sagt nämlich, dafs der Schleimzucker
deshalb nicht Produkt einer alienirten Thätigkeit der Nie¬
ren sein könne, weil man bestimmt beobachtet habe, dafs
bei Diabetischen, wenn dieselben auf absolut animalische
Kost gesetzt wurden, der Zucker im Harne verschwinde.
Einmal ist das aufgestellte Factum wohl noch nicht so be¬
stimmt erwiesen, als der Verf. annimmt, wenn es gleich
über allen Zweifel fest steht, dafs bei absolut animalischer
Nahrung der Zuckergehalt im Urine abnimmt. Wenn jenes
aber auch der Fall wäre, womit beweiset der Verf., dafs
dadurch nicht zugleich auch die Thätigkeit der Nieren ver¬
ändert werde, dafs das Secretum nicht ein anderes werden
müsse, da es das, aus dem secernirt wird, geworden.
Andererseits hat man aber auch Fälle beobachtet, wo der
Zucker im Urine auf eine Zeitlang verschwand, ohne dals
man den Kranken animalische Kost gegeben hätte, woraus
wenigstens folgt, dafs das Vorhandensein desselben minde¬
stens nicht allein den vom Verf. aufgestellten Grund
hat. c) Das geringere Quantum des Harnstoffs endlich,
welches sich im diabetischen Urine findet, lälst der Verf.
durch die bei Suspension der Venenresorption erfolgte Zu¬
rückhaltung dieses Stoffes im Organismus entstehen. Es ist
21
*
xiv. b<j. a. s».
IV. Diabetes mellitus.
erstlich aber wohl noch zweifelhaft , ob in den meisten Kil¬
len eine absolut geringere Quantität desselben nusgeschieden
wird, oder ob dieses nur in» Verhältnisse zu dem grölseren
Quantum wässeriger Bestandteile der hall ist. Betrachten
wir aber demnächst andere Krankheiten, in denen ebenfalls
eine geringere Quantität von Harnstoff als im natürlichen
Zustande ausgeschieden wird, wie z. 15. bei hysterischen
Anfällen (s. Uruikshank bei Rollo und Friedrich in
seinem Handbuchc der animalischen Stöehiologie S. 3*24.),
so treffen wir hier auf Momente, welche den vom Yerf.
aufgestellten Grund für die geringere Quantität dieses Stof-
fes in der Harnruhr zweifelhaft machen. 3) Was nun end¬
lich die Ansicht des Yerf. über die Natur des Diabetes in¬
sipidus und das Verbältnifs desselben zur Honigbarnrultr
anlangt, so kann sich Ref. in der Reurtheilung desselben
kurz fassen. F-s ist nämlich wohl ganz gewifs, dafs unter
der Benennung des Diabetes insipidus bis dahin die verschie¬
densten Krankheitsformen, die theils wirkliche Krankheiten,
t Heils nur Krankheitssymptome sein mögen, beschrieben
worden sind. Ref. hat sich lange die vergebliche Mühe
gegeben, die vielen hierher gehörigen Fälle zu sammeln,
mit einander zu vergleichen und auf specifische Differenzen
zurückzufuhren. Das Resultat seiner Untersuchungen ist
indessen bis dahin noch sehr mangelhaft gewesen, da die
meisten hierher gehörigen Beobachtungen sehr ungenau er¬
zählt sind, und was besonders zu bedauern, die chemische
Analvse eines solchen Urins nur in sehr wenigen Fällen
mitgetheilt worden ist. Linen um so grölseren Dank ver¬
dient daher der Verf. für die genaue Mittheilung eines
hierher gehörigen Falles, welchem geniäfs er den Diabetes
insipidus als die Krankheit bestimmt, welche in der Abson¬
derung eines quantitativ bedeutend vermehrten und quali¬
tativ durch geringeren Gehalt an Harnstoff ausgezeichneten
•Urins besteht. Diesen Diabetes insipidus stellt der Verf.
der Harnruhr nabe, indem er nach ihm in seinem Grund¬
wesen mit dem Diabetes mellitus überein kommt, nur mit
32.3
\
IV. Diabetes rnel I i tu s.
dem Unterschiede, «lafs bei ihm der Theil des grofsen sym¬
pathischen Nerven, welcher <ler Chylopoese vorsteht, in
vollkommener Integrität besteht. Ob die sonst als Diabetes
insipidus mitgetheilten Fälle hierher gehören, ist bei der
grolsen Verschiedenheit , die unter ihnen obwaltet, sehr zu
bezweifeln. Ob aber derselbe überhaupt als eine eigene
Krankheitsform anzuerkennen sei, ob er nicht, wie schon
Dabson, Coindet u. a. behauptet haben, in der Mehr¬
zahl der Fälle mindestens zur Ilonigharnruhr gehöre (da
bei dieser bekanntlich inlercurrirend Zeiten Vorkommen,
wo kein Zuckerstoff im Urine vorhanden ist (s. Bo stock
in den Medico - chirurg. tiansact. of the med. and chir. soc.
Vol. III. p. 116.); ob er endlich in anderen Fällen nicht
nur ein blofses Symptom mancher Krankheiten, wie z. B,
Bef. schon oben in dieser Hinsicht der Hysterie gedacht
hat, sein möge — das alles müssen spätere Beobachtungen
erst ermitteln.
Bis dahin hatte der Verf. nur die Hauptsymptome der
Harnruhr, den Gehalt eines zuckerartigeu Stoffes im Urine
und die geringere Quantität von Harnstoff in demselben,
aus der Pathogenie der Krankheit erläutert. Soll diese
aber allen Anforderungen genügen, so rtiufs sie es unter¬
nehmen, alle wesentlichen Symptome der Krankheit her¬
zuleiten und in ihrer Natur zu deuten. In solcher Aner¬
kennung handelt der Verf. im vierten Kapitel von den Zei¬
chen des Diabetes mellitus und von den denselben beglei¬
tenden Symptomen insbesondere. Die für die Beurtheilung
dieses Werkes gesteckten Gränzen erlauben es dem Ref.
nicht, in eine specielle Prüfung der einzelnen Symptome
einzugehen, die auch um so überflüssiger ist, da es ihm
vielleicht gelingen könnte, ein einzelnes Symptom einfacher,
als es vom Verf, geschehen ist, zu deuten, ein solches
Unternehmen aber auf die ganze Arbeit ohne Einflufs ist.
Denn ungezwungen und folgerecht sollen sich alle wesent¬
lichen Symptome aus der au fgesf eilten nächsten Ursache
ergeben, und nur wenn wir die Deutung eines Symptoms
21 * '
s
IV. Diabetes mellitus.
324
einem anderen widersprechend finden sollten, oder wenn
die Erklärung aller gesucht scheinen sollte, dürften wir zu
Zweifeln gegen die vom \crf. aufgestelltc Pathogenie ver-
anlafst werden. Der Verf. beginnt mit einem der constan-
testen Symptome, mit der quantitativen 'S ermehrung des
Urins. l)a die Krankheit, sagt er, auf Lähmung der venö¬
sen Resorption beruht, so niufs auch die positive, arterielle
Sphäre dc-r Reproduction alienirt, das lymphatische System
in seiner Thätigkeit als resorbirendes gesteigert, und die
Wärmeentwickelung vermindert sein. Unter solchen Um¬
ständen mufs aber auch ein grofser Theil der serösen Flüs¬
sigkeiten, welche in Dunstform während des Actes der Re¬
production ausgeschieden werden sollten, sogleich wieder
als tropfbarflüssig von dem Lymphgefäfssysteme aufgesogen
und in den Kreislauf zurückgerührt werden, wodurch of¬
fenbar ein Ueberschufs von serösen, durch den Urin aus¬
zuleerenden Flüssigkeiten entstehen mufs. Diese Vermeh¬
rung wird aber um so gröfser sein, je weiter sich die Läh¬
mung der venösen Resorption auf den peripherischen Theil
des grofsen sympathischen Nerven erstreckt. Dafs dieses
erste, vom Verf. angegebene Moment, die quantitative Ver¬
mehrung des Urins zu erklären, wohl nicht vollkommen
ausreicht, dürfte vielleicht nicht bezweifelt werden; wenn
anders auch die physiologischen Prämissen, auf welche es
sich stützt, richtig wären; das zweite macht es allerdings
cinsichtlich , wie durch die unterdrückte Exhalation der
Haut, die doch durch Lähmung der Hautnerven entstehen
mufs, allerdings eine gröfsere Absonderung wässeriger Be¬
standteile durch den Urin erfolgen kann. Da aber der
Verf. jene erst im späteren V erlaufe der Krankheit annimmt,
so könnte dadurch auch nur erst später eine stärkere Urin¬
absonderung erklärt werden. Ob aber der Verf. überhaupt
nicht den Antheil der llautthätigkeit in der Pathogenie der
Honigharnruhr zu wenig berücksichtigt, wird Ref. später
noch zu bemerken Gelegenheit finden. — Durst. Nach¬
dem der Verf. mehre Ursachen des Durstes angegeben, die
I
IV. Diabetes mellitus. 325
• %
Anwendung derselben aber auf unsere Kranklieit als unpas¬
send abgelehnt hat, Jäfst er sich über die Natur des Dur¬
stes in der Harnruhr also aus: Mit der Lähmung der Venen¬
resorption in den chylopoetischen Gebilden, sagt er, steht
die Retention eines hyperanimalisirten, höchst scharfen, am-
moniacalischen Stoffes in Verbindung. Dieser aber rei/.t
den Darmkanal und alle Fortsetzungen der Schleimhaut
desselben, und wirkt auf die Gefühlssphäre derselben nach¬
theilig ein, wodurch die Sensation des Durstes hervorge¬
bracht wird, der, da im Diabetes dieser Stoff nicht ergos¬
sen, sondern im Gewebe der Gebilde zurückgehalten wird,
dauernd und unauslöschlich ist. Eine ähnliche Erklärung
findet die in vielen Fällen der Harnruhr vorkommende Ver¬
mehrung des Appetits und das Brennen in den Präcordien.
Das erste dieser beiden Symptome erklärt der Verf. näm¬
lich aus dem Reize, welchen der hypcroxydirte Magensaft
auf die Magenwände ausübt, wodurch das Gefühl des Hun¬
gers erregt wird; das letzte aber von dem Reflexe des
zurückgehaltenen stickstoffhaltigen Auswurfsstoffes auf die
Gefühlsnerven des Gentraltheiis des Gangliensystems. Miifs-
ten diese Symptome aber alsdann nicht in cbenmäfsiger
Verbindung mit einander stehen, da solches doch nicht der
Fall ist? Während der Durst beinahe in keinem einzigen
Falle eines wahren Diabetes fehlt, ist die Vermehrung des
Appetits ein seltener vorkommendes, oft mit Abneigung
gegen Speisen abwechselndes Symptom, das Brennen in der
Präcordialgegend überhaupt aber wohl nur selten beobach¬
tet worden. Was aber namentlich den Durst anlangt, so
dürften zu seiner Entstehung leicht mehre Momente mit-
vvirken, indem wir überall da, wo Flüssigkeiten dem Kör¬
per rasch entzogen werden, ihn entstehen sehen, damit das
gestörte Gleichgewicht ausgeglichen werde; ein Fall, der
auch für den Diabetes seine Anwendung findet. — Eine
qualitative Veränderung der Darmausleerungen dem Gerüche
nach, welches Symptom zuerst Rollo beobachtet und auch
der Neri, bestätigt gefunden hat, leitet ei von der Beten-
IV. Dia! >rtes mellitus.
326
1 io ii eines stickstoffigen , hvperanimalisirlen Stoffes ab, wel¬
cher, dem Harnstoffe analog, im unterm I heile des Darm-
kanals ausgeschieden werden soll. Die Ansicht des Verf.
allerdings sehr bestätigend, ist seine Beobachtung, dafs in
demselben Grade, als mehr oder weniger Harnstoff im Urine
vorhanden war, auch dieses Symptom mehr oder minder
bemerkbar wird. Wenn, wie der \ erf. bemerkt, im Dia¬
betes eine anomale Beschaffenheit der Galle statt findet, so
dafs sie sauer reagirt, so dürfte auch wohl dieser* Umstand
von Einflufs auf die genannte Veränderung der Darmexcrete
sein. — Das Gefühl von Kntkräftung erklärt sich zwar
schon aus der in der Harnruhr unvollkommenen lNutrition.
Da cs aber keinesweges in einem gleichen Verhältnisse mit
der Abmagerung des Körpers steht, so müssen noch andere
Momente zu seiner Entstehung mitwirken. Als solche er¬
kennt der Verf. die Weiterverbreitung des lähmungsartigen
Zustandes des Gangliensyslems auf die Biickenmarksnerven,
die Betention eines hyperanimalisirten Stoffes und die in
Folge des letzten Moments sich ausbildendc Abdominalple¬
thora und Unthätigkeit des Darmkanals an. Auf eine ähn¬
liche VV eise erklärt auch der V erf. das Gefühl von Kälte,
welches die Kranken theils in den unteren Extremitäten,
ihcils in der Eumbargegend und dem Epigastrio empfinden,
so wie die Schmerzen, welche sie im Kreuze und in den
Extremitäten empfinden. — Die Unterdrückung der Ge¬
schlechtsfunctionen leitet der Verf. von der durch Eähmung
der Venenresorption verhinderten Aufsaugung des Fettes,
aus welchem nach seiner Meinung der Saarne secernirt wer¬
den soll, her. Gewifs eine in jeder Hinsicht sehr gewagte,
auf schwer zu erweisende physiologische Vordersätze ge¬
stützte Ansicht, da doch die Deutung dieses Symptoms hei
dieser Krankheit mindestens ungleich natürlicher und ein¬
facher theils aus der allgemeinen Tabes, theils aus dem
lähmungsartigen Zustande, in welchem sieb die l nter-
leibs- und Biickenmarksnerven befinden, bergeieitel werden
konnte. — Was die auf der Haut erscheinenden Symptome,
S
IV. Diabetes mellitus.
327
nämlich die Trockenheit und Mangel an Ausdünstung der¬
selben, ihre mehlartige Abschuppung und den oft bemerk¬
ten flechtenartigen Ausschlag auf derselben anlangt, so
glaubt der Verf. , dafs diese Symptome auf eine doppelte
Weise entstehen können, einmal durch ein directes Leiden
der Haut, wenn die Lähmung des negativen Pols des auto¬
matischen Nervensystems sich auch über den ganzen peri¬
pherischen Theil desselben verbreitet, indirect aber, wenn
nur der i ^en tra Itheil desselben ergriffen ist und somit das
Hautorgan nur in sofern in seiner Thätigkeit verändert ist,
als die Absonderungen desselben vermöge einer alienirten
Krasis des Blutes selbst verändert werden. Durch gleiche
Momente läfst der Verf. die Veränderungen, welche wir in
der Mundhöhle Diabetischer bemerken und die veränderte
Absonderung auf der Vorhaut und Eichel bedingt werden.
Wenn der Verf. eine unterdrückte Hautthätigkeit als ein
weniger constantes Symptom im Diabetes, als die bis dahin
erwähnten, ausgiebt, so thut er darin offenbar unrecht,
ja er widerspricht dieser Behauptung an einer anderen
Stelle (S. 174.) zum Theil selbst. Ref. hat dieses Symptom
in den meisten der von ihm zusammengestellten Fälle immer
ausdrücklich bemerkt gefunden. Meistens ist es schon zu
Anfänge vorhanden und leitet die Krankheit ein, ein Um¬
stand, wodurch der vom Verf. angeführte Grund des di-
recten Erkranktseins des Hautorgans widerlegt wird. Dafs,
wenn anders die physiologischen Prämissen des Verf. rich¬
tig sind, im weiteren Fortschreiten der Krankheit auf diese
Welse die Hautthätigkeit auch noch unterdrückt werden
könne, ist wohl möglich, gewifs aber geschieht es nicht
durch sie allein. Es. scheint überhaupt, dafs der Verf. auf
die Unterdrückung der Hautthätigkeit in der Harnruhr ein
viel zu geringes Gewicht gelegt hat, indem er dieselbe als
ein nur zufälliges Symptom betrachtet wissen will, da sie
gewifs in einer bestimmten Wesensverbindung mit der
Krankheit stellt, und die vielen Schriftsteller, welche den
Diabetes beinahe allein durch eine unterdrückte Hauttliätig-
\
328
IV. Diabetes mellitus.
keit entstellen lielsen, z. B. Kitter (in II u fclan d’s Jour¬
nal Kd. XX. St. 3, S. 115, und später in Ilarlcls’s rhein.
Jahrb. Kd. I. St. 2. S. 88.), Wolf (in Horns Archiv
Jahrg. 1818. II. <i. S. 494.), und die meisten Engländer,
und unter ihnen namentlich Marsh (in der Samml. auser¬
les. Abhandl. Tbl. XXX. S. 580.), haben in sofern minde¬
stens recht, dafs sie in ihr ein sehr zu berücksichtigendes
Moment für die Entstehung dieser Krankheit anerkannten.
Selbst der günstige Erfolg, welchen Mittel, die die llaut-
th'ätigkeit befördern, auf diese Krankheit haben, weiset dar¬
auf hin, und Neu mann hat wohl vollkommen recht, wenn
er (in Hufeland s Journ. Kd. LV. St. 1. S. 63.) sagt:
eine Bedingung zur Cur des Diabetes, ohne welche sie nie
gelingen kann, ist Wärme, man mufs den Kranken nicht
nur vor Erkältung bewahren, sondern ihn immer in einer
Temperatur von 16 — 18 Grad Keaum. leben lassen u.
s. w. — Dafs die Deutung der Abmagerung des Körpers
aus der durchaus gestörten Assimilation des Cl.ylus vollkom¬
men genüge, ist wohl sehr natürlich. — Die heisere
Stimme, ein in vielen Fällen vorkommendes und auch vom
Kef, beobachtetes Symptom, erklärt der Yerf. aus einem
alienirlcn Einilusse der die Stimme moderirenden Nerven. —
Was nun endlich das im späteren Verlaufe des Diabetes
hinzutretende Lungenleiden anlangt, so kann es nach dem
Verf. doppelter Art sein, einmal nämlich ein catarrhalischer
Zustand der Lungenschleimhaut, welcher sich bis zu wirk¬
licher Schleimschwiudsucht steigern kann, und dann wahre
Phthisis tuberculosa, die allerdings auch in vielen Fällen
(z. B. in dem zweiten von \V irren in der Samml. aus¬
erles. Abhandl. l>d. XXV'. S. 262) die Section nachgewie¬
sen hat. Beide Fälle lälst der V erf. durch die fehlerhafte
Krasis des Blutes, wie sie im Diabetes stall lindct, bedingt
werden. Sollte aber nicht auch dieses Lungenleidcn in vie¬
len Fällen durch die anomale Hautthätigkeil bedingt wer¬
den!* — So weit die Deutung der wichtigeren, die Harn
ruhi begleitenden Symptome. Unberücksichtigt hat der
IV. Diabetes mellitus.
329
\ erf. die durch ein vorhandenes Uebergewicht von Magen¬
säure entstehenden gelassen.
Der Verf. kommt jetzt auf die Aetiologie dieser Krank¬
heit, und handelt zunächst im fünften Kapitel von den ent¬
fernten Ursachen des Diabetes mellitus. Da, wie er gewil’s
mit grolsen» Rechte bemerkt, in manchen Fällen dieser
Krankheit die vorbereitende mit der Gelegenheitsursache
höchst wahrscheinlich zusammentrifft und letzte nichts an¬
deres ist, als eine plötzlich sehr gesteigerte, vorbereitende
Ursache, so läfst er dieses Finthcilungsmoment hier fallen
und nimmt ein aus der nächsten Ursache der Krankheit
selbst resultirendes auf. Da er nämlich das Wesen dersel¬
ben in einer partiellen Lähmung des automatischen Nerven¬
systems an seinem negativen Pole feststellte, so kann diese
auf eine doppelte Weise entstehen, indem sie nämlich von
dem Centraltheile ausgeht und sich in den peripherischen
Theilen reflectirt, oder auch, indem der peripherische Theil
von der nächsten Ursache direct angegriffen wird. Der
Weg nun, welchen der Verf. bei der Darstellung der ätio¬
logischen Momente dieser Krankheit einschlägt, ist zunächst
der, dafs er aus der Analogie mit andern lähmungsartigen
Zuständen des Nervensystems die Momente aufführt, welche
die Harnruhr erzeugen können, und diese dann mit den
durch die Erfahrung gewonnenen ursächlichen Momenten
dieser Krankheit zusammenhält. Ref. kann die mit grofser
Consequenz und Klarheit durchgeführte Entwickelung für
die möglichen Ursachen der Harnruhr hier nicht näher an¬
geben, er stellt nun die Resultate, welche der Verb auf
diesem Wege gefunden hat, her. Es werden nämlich als
die möglichen ursächlichen Momente, welche lähmungsartige
Zustände des automatischen Nervensystems, und also auch
die Harnruhr bedingen können, folgende angeführt: Krank¬
heiten des Gehirns oder Rückenmarks, wodurch die Har¬
monie, die zwischen den einzelnen J heilen des Nerven¬
systems bestehen soll, aulgehoben wird, Organisationsfehler
der GenlralLheiie des Ganglieusysteins, fehlerhafte Diät,
IV. Diabetes mellitus.
330
plötzlicher Wechsel der Temperatur, Ausschweifungen in
Befriedigung des Geschlechtstriebes, Krankheiten, bei denen
die Sphäre des Gangliensystems besonders heftig ergriffen
ist, und zwar, wenn sie eine überwiegende Schwäche in
dieser Sphäre des Nervensystems hervorbringen, Ketentio-
nen, Dvscrasieen und Schärfen und durch sie bedingte Me¬
tastasen auf das automatische Nervensystem. Dem für die
apriorische Conslruclion vom N erf. angegebenen Einthei-
luugsrnomente folgend, stellt er zunächst die durch die Er¬
fahrung angegebenen ursächlichen Momente für die Harn¬
ruhr auf. Als solche nennt er folgende: übermäßige An¬
strengung des Geistes, ein Moment, welches bekanntlich
lioerhaave, Heim und Formey für die Aetioiogie des
Diabetes geltend machen. Es wäre wahre Vermessenheil,
die Autoritäten solcher Männer irgendwie bestreiten zu
wollen; iodefs bliebe doch noch immer die Frage übrig,
ob in den von ihnen beobachteten Fällen wirklich das
angegebene Moment den Grund zu der Krankheit gelegt
habe. Gewifs wenigstens wird es immer nur ein sehr sel¬
tenes sein. In einer sehr grofsen Anzahl von Fällen, welche
Bef. Behufs einer Feststellung der ätiologischen Momente
dieser Krankheit mit einander verglichen hat, hat er es nur
in außerordentlich wenigen ( /.. B. bei Dupuytren und
Thenard in der Sammlung auserles. Abhandl. Bd. XXIV
S. 123.) angegeben gefunden. Gegentheiß ist es wohl uu-
bezweifelt, wie die Harnruhr am häufigsten in der arbei¬
tenden Volksklasse vorkommt, bei Personen, welche weder
Beruf noch Neigung zu anstrengenden Geistesarbeiten ha¬
ben, oder auch, worauf noch neuerlich \enables und
Dewees wiederum aufmerksam gemacht haben, bei Kin¬
dern, bei welchen jenes Moment eben so wenig statt hat.
Aß ein zweites ätiologisches Moment führt der \ erl. me-
({erdrückende Gemiithsbewegungen , namentlich Kummer,
Sorgen oder Schreck auf. Dieses Moments finden wir in
der Thal hei den einzelnen Fällen des Diabetes oft gedacht,
wenn dci \ erf. aber aß beweisend für dasselbe einen von
IV. Di abctcs nidliüio.
331
S toller (in Hufeland’s Journ. Bd. VI. St. 1. S. 56.)
beobachteten Fall anfiihrt, so gehört dieser wahrscheinlich
nicht hierher, indem der Vcrf., da ei von einem geruch-
und geschmacklosen Harne (S. 5K. ) spricht, vielleicht kei¬
nen Diabetes mellitus vor sich gehabt hat, abgesehen da¬
von, dafs in diesem Falle, wie auch der Verf. selbst an¬
nimmt, Erkältung die wahrscheinlichere, mindestens mit-
wirkende Ursache der Krankheit war. Als fernere Ursachen
führt der Verf. folgende an: Organisationsfehler des Ge¬
hirns (die indefs Ref. , wie er weiter unten angeben wird,
eher für Folgen der durch den Diabetes gesetzten Structur-
veränderting anderer Organe, als für ätiologische Momente
dieser Krankheit halten möchte), und krankhafte, besonders
» i
durch traumatische Veranlassungen entstandene Affectionen
des Rückenmarks, ferner schlechte, crude, vegetabilische,
schwer verdauliche Speisen und dergleichen Getränke, den
Mifsbrauch harntreibender Mittel, den Einflufs eines schnel¬
len Wechsels der äufseren Temperatur, Organisationsfehler
des Gangliensystems, eine durch Onanie und Ausschwei¬
fungen in Geschlechtsgenüssen erregte Schwache (der Verf.
bezweifelt dieses Moment als ein ätiologisches wohl mit
Unrecht, da es einerseits wohl einsichtlich ist, wie Aus¬
schweifungen in Geschlechtsgenüssen nicht nur lähmend auf
das Nervensystem, sondern auch auf die Geschlechtsorgane
und die mit ihnen in Verbindung stehenden Harnwerkzeuge
wirken, andererseits aber auch mehre Falle existiien, iu
welchen gerade dieses Moments als eines ursächlichen ge¬
dacht wird, z. B. bei llertzog in Hufeland’s Journal
Bd. Vll. Sl. 2. S. 151 , bei Dupuytren a. a. O., J. Frank
rat. ins ti L. diu. Ticmens. p. 203, u. s. w.), erbliche Anlage,
Krankheiten, bei denen das Gangliensystem vorzugsweise
ergriffen ist, wohin der Verf. besonders die Hysterie, Hy¬
pochondrie und das Wechselfieber rechnet, welchen Ref.
noch die Gicht (nach den Beobachtungen von Mac-Cor-
i) i k in Richter s chir. Bibi. Bd. IX. S. 449, und in der
Sammlung auserles. Abhandl. Bd. XI. S. 413, und deuen
332 IV. Diabetes mellitus.
%
Wh) tt's in s. sämmtl. zur prakt. Arzneikunde geh. Schrif¬
ten, lierl. 1790. 8. S. 4*21.) beifügt, endlich Metastasen.
Das sechste Kapitel handelt von den Frgebnissen der
Leichenöffnungen Diabetischer. Ob Leichenöffnungen über¬
haupt, vorausgesetzt, dafs die vom Verf. aufgestellte Patho-
genie der Krankheit eine richtige ist, zur Krkenntnifs der¬
selben etwas beitragen können ? Mit l\echt bezweifelt der
Verf. diese Frage, da es dem anatomischen Messer noch
nie gelang, die feineren Veränderungen in den peripheri¬
schen Thcilen des Nervensystems nachzuweisen. Die Krgeb-
nisse der Leichenöffnungen können sich also nur entweder
auf die entfernten Ursachen der Krankheit beziehen, oder
auf die durch die nächste Ursache derselben erregten krank¬
haften Veränderungen im Organismus. Was nun die Re¬
sultate der ersten Reihe anlangt, so bringt der Verf. die
Organisationsfehler hierher, welche man in den drei Cen¬
tral theilen des Nervensystems gefunden hat. Kr bemerkt
nämlich, dafs man in zwei Fällen (nach Horn und dem
Verf. selbst) solche Fehler im Gehirne, in einem (nach
Vena bl es) im Riickenmarke, und einmal auch (nach
Du n ca n) im sympathischen Nerven gefunden habe. Ob der
Verf. aber mit Recht diese Organisationsfehler zu den ent¬
fernten Ursachen der Krankheit zählt, möchte Ref. doch
bezweifeln, theils da sie in einer verhältnifsmäfsig so sehr
geringen Anzahl von Fällen beobachtet worden (obschou
wir allerdings bekennen müssen, dals man die Untersuchung
dieser Theile eben nicht häufig vorgenommen), theils aber
auch, da er keine rechte Verbindung zwischen ihnen, als
ursächlichen Momenten, und dem Wesen der Krankheit
sieht. Gegentheils möchte er sie, mindestens was die Or¬
ganisationsfehler des Gehirns und Rückenmarks auiangt, für
f oigczustüode der durch die Krankheit bewirkten \ erän-
deruug anderer Organe, namentlich der Nieren, hallen.
Retrachleii wir nämlich die grolse Reihe von Ah normiläten
des Hariisyslems, welche bei Gehirnleiden statt linden (s.
L u v d a c h vom Haue und Leben des Gehn ns. Bd. 3.
IV. Diabetes mellitus.
333
\
§. 326. 330, und Tab. XXXIV. auf S. 319.), so könnten
wir auch wohl zu dem Rückschlüsse veranlafst werden,
welcher denn auch die Erfahrung bestätigt, dafs bei Orga¬
nisationsfehlern der Nieren sich Abnormitäten des Gehirns
entwickeln können. Es liefse sich auch wohl annehmen.
♦ 7
dafs jene Organisationsfehler unmittelbare Folgen der
Krankheit wären, welche Ansicht selbst in der vorn Verf.
aufgestellten Pathogenie der Harnruhr ihre Begründung
finden dürfte. Da der Verf. gleichwohl ein Gewicht auf
diese Fälle legt, und da er zuerst auf sie aufmerksam ge¬
macht hat, da dieser Gegenstand unter allen Umständen
eine weitere Untersuchung erheischt, so führt Ref. noch
zwei hierher gehörige, ihm bekannt gewordene Fälle auf.
In einem Falle nämlich fand Horn (in seinem Archive
Jahrg. 1819. II. 2. S. 264.) in der Leiche eines 26jährigen
Menschen das Rückenmark auffallend geschwunden, so dafs
es im ersten Augenblicke für das eines acht- bis zehnjähri¬
gen Kindes gehalten werden konnte. Einen zweiten hier¬
her gehörigen Fall fand Ref. in einer, aus dem Nachlasse
seines geliebten Lehrers, des für seine Wissenschaft zu früh
verstorbenen Prof. Dr. Eysenhardt, durch die Güte des.
Hrn. Prof. v. Rär ihm zugekommene Krankheitsgeschichte
eines Diabetischen. Eysenhardt giebt den hierher gehö¬
rigen Theil des Sectionsberichtes also an: An den äufseren
O
Bedeckungen des Kopfes und am Schädel selbst nichts Ab¬
normes. An der Dura mater hin und wieder, besonders
am Processus falciformis, einige Ausschwitzungen, durch
welche sie mit der Arachnoidea fest zusammenhing.. Das
Gehirn wurde aus der Schädelhöhle herausgenommen. Da¬
bei Hofs etwas Wasser, ungefähr ein Paar Unzen, aus,
welches wahrscheinlich an der Grundfläche des Gehirns,
zwischen der dura Mater und Arachnoidea befindlich gewe¬
sen. Die Substanz des Gehirns war wie gewöhnlich, eher
etwas zu weich, als zu fest. In jedem hinteren Lappen
des grofsen Gehirns über dem oberen hinteren Horn des
Ventriculus lateralis fand sich eine Stelle, die in der linken
334
IV. Diabetes mellitus.
Hemisphäre ungefähr einen Zoll im Durchmesser hatte, in
der rechten etwas größter war, durchaus vereitert. Der
Eiter hatte in beiden Hemisphären schon di«* obere Decke
des hinteren Horns durchbrochen und ein Theil desselben
sich in den Ventrikel ergossen, im rechten mehr, als im
linken. Dafs er aber nicht ursprünglich im Ventrikel selbst
erzeugt worden, ergab sich aus der völlig normalmälsigen
Beschaffenheit aller in den Ventrikeln liegenden Theile.
Ueberhaupt war in dem Gehirne, aufser dem eben Ange¬
führten, nichts Krankhaftes zu bemerken. — Was nun
aber die zweite Reihe der durch die Section ermittelten
Veränderungen in den Leichnamen Diabetischer betrifft,
diejenigen nämlich, welche als directe oder indirecte Fol¬
gen der Krankheit anzusehen sind, so bemerkt der Verf.,
dals man hier nur zu oft dieselben als die Ursache der
Krankheit angesehen hat, wodurch an der Stelle gewünsch¬
ter Aufklärung nur noch grüfsere Verwirrung entstand.
Um nun diese zu vermeiden , theils aber auch, um zu er¬
fahren, ob die Resultate der Leichenöffnungen in einem
bestimmten Causalverhältnisse zur Krankheit stehen, stellt
der Verf. alle möglichen Folgen des Diabetes mellitus auf,
und bringt die vorhandenen Beobachtungen damit in Ver¬
bindung. So ergehen sich denn als directe Folgen der
Harnruhr folgende von den Schriftstellern aufgeführte Zu¬
stände: Venenüberfüllung im Unterleihe, Anhäufung von
Fett in demselben, namentlich iin Netze, bedeutende Ent¬
wickelung der lymphatischen Drüsen. Zu den indirecten
Folgen der nächsten Ursache werden aber die V eränderun¬
gen gerechnet, welche die absondernden Organe betreffen,
theils in den Secretis, theils in den Organen selbst. So
bandelt der Verf. von den Structurver Änderungen in der
Leber und Gallenblase, der Milz, den Nieren und Neben-
/
nieren, den Lungen. Des Pancreas hat er nicht gedacht.
Auch dieses' Organ hat man in einzelnen Fällen in seiner
Structur verändert gefunden. So fand csCawIev (in der
Sarnml. auserles. Abhandl. Bd. XIII. S. 112.) mit vielen
IV. Diabetes mellitus.
335
kleinen Steinen angefüllt. Hier hatte auch wohl noch eine
Bemerkung Pott ’s (s. Philosophical transact. ann. 1753
INo. 459.), die indefs, so viel Ref. weifs, später keine l>e
stätigung weiter gefunden, eine Erwähnung verdient, näm¬
lich dafs die Knochen Diabetischer mürbe werden, und
zuletzt erweichen.
Das siebente Kapitel handelt von der Prognose des
Diabetes mellitus. Der Verf. weiset in diesem Kapitel zu¬
nächst aus der von ihm aufgestellten Pathogenie der Krank¬
heit nach, warum die Prognose bei derselben eine so un¬
günstige sei. Erkennen wir nämlich Lähmung irgend eines
I heiles des Nervensystems überhaupt schon als ein schwe¬
res Leiden an, so gilt dieses von einer Lähmung des auto¬
matischen Nervensystems ganz besonders, theils weil diese
nolhwendig Tabification des Körpers herbeiführen mufs,
theils aber auch, weil dadurch die Einwirkung der Medi-
camente sehr beschränkt wird. Speciellere Momente für
die Prognose werden theils von der Dauer des Uebels und
seiner V erbreitung, theils von seinem Charakter als abzeh¬
rende Krankheit, theils endlich von den sie bedingenden
ursächlichen Momenten entnommen.
Im achten Kapitel handelt der Verf. von der Thera-
peutik des Diabetes mellitus. Der Weg, welchen er in
diesem Kapitel einschlägt, ist derselbe, wie im ganzen
Werke: aus der von ihm aufgestellten Pathogenie der Krank¬
heit entwickelt er die Grundsätze für die Therapeutik der¬
selben und geht nachher die gegen dieselbe vorzüglich an¬
gewandten Heilmethoden durch, indem er die Resultate,
die durch sie herbeigeführt werden, mit dem, was er a
priori aufgestellt hatte, vergleicht und darauf zurückführt.
Der Verf. t heilt aber die Therapie des Diabetes mellitus in
eine allgemeine, auf die nächste Ursache der Krankheit ge¬
richtete, und in eine specielle, welche sich auf die entfern¬
ten Ursachen derselben bezieht. Die allgemeine Therapie
der llonigharnruhr hat folgende drei Momente zu ihren»
Gegenstände: 1) Den lähmungsartigen Zustand im Central-
336
I\. Diabetes mellitus.
theile des automatischen Nervensystems, als nächste Ursache
der Krankheit. 2) Die von demselben abhängige Aufhe¬
bung venöser Resorption in der betheiligten Sphäre, und
die von diesen abhängigen Retentionen und aus denselben
entspringenden pathologischen Producte als directe tolgen
der nächsten Ursache der Krankheit. 3) Die Abzehrung
des Körpers als nothwendige Folge der beiden ersten Mo¬
mente. Um der ersten Anzeige zu genügen, bringt der
Yerf. die flüchtigen Reizmittel, namentlich Ammonium und
Phosphor, ferner die empyrcumatischen Oelc, die Gum-
niata ferulacea, die Myrrhe und den Terpenthin, sodann
die bitterscharfen Mittel, namentlich die Canthariden, Co-
loquinthen und den Helleborus niger, Aloe und Rheum,
endlich unter den narcotischen Mitteln Relladonna und kirsoh-
lorheer in Norschlag, empfiehl? zugleich aber auch die Er¬
regung des peripherischen Theiles des automatischen Ner-
vensystemes durch Hautreize. Dem zweiten Momente ent¬
sprechen besonders Kmetica und Purgantia, die zugleich
aber auch, namentlich die ersten, der zuerst aufgestellten
Indication genügen. Das dritte Moment endlich bezieht
sich besonders auf Regulirung der Diät und den Gebrauch
stärkender Mittel, Tonico- nervina, Quassia, China und
Eisen. Die sjSeciclIe, auf die eutfernten Ursacbeu des Dia¬
betes sich beziehende Therapie entwirft der Yerf. ausführ¬
lich in der von ihm in dem Abschnitte von der AetioloMe
. » ö
dieser Krankheit befolgten Ordnung. Ref. müfste viel zu
sehr in das Einzelne gehen, wenn er einen Auszug dieses
mit einer ungemeinen Umsicht entworfenen, viele treffliche
Bemerkungen über , Krankheitsheilung überhaupt enthalten¬
den Abschnitts gehen wollte. Gleichwohl mag er aber
auch die Resorgnifs nicht zurückhalten, ob, wie rationell
die Therapie der Harnruhr hier auch entworfen sein möge,
der praktische Arzt einen Gebrauch davon werde machen
können, weil es bei dem Zusammentreffen der vielen die
Harnruhr erzeugenden Momente für die meisten Fälle min¬
destens unmöglich sein dürfte, jedesmal die bestimmten
ent-
IV. Diabetes mellitus.
337
entfernten Ursachen, welche in dem concreten Falle die
Krankheit erzeugten, zu ermitteln. — Indem sich der Verf.
zunächst zu einer Beleuchtung der vorzüglichsten gegen den
Diabetes mellitus angewandten Heilmethoden und Mittel
wendet, handelt er zuerst von der Diät. Er bemerkt hier
zuerst, dafs eine streng durchgeführte animalische Nahrung
keinesweges das geleistet habe, was sich namentlich Rollo,
und später Dupuytren und Thenard von ihr verspro¬
chen, indem kein einziger Fall existire, wo sie allein ange¬
wandt Heilung bewirkt hätte, andererseits aber auch Fälle
bekannt geworden, in denen ohne ihre Anwendung Hei¬
lung erfolgt sei. Aufser einer bestimmten Anordnung der
Nahrungsmittel, verdient aber noch ein zweiter Punkt der
Diätetik, Unterhaltung der Hautcultur durch Reibungen,
Bäder u. s. w. eine besondere, vom Verf. vielleicht nicht
einmal genug anerkannte Berücksichtigung. Bei der Prü¬
fung der eigentlichen, gegen die Harnruhr angewandten
Heilmethoden spricht der Verf. zuerst von der antiphlogi¬
stischen Methode, namentlich von den durch Watt beson¬
ders empfohlenen Blutentziehungen, deren Wirksamkeit er
aus der Beseitigung der durch die nächste Ursache der
Krankheit gesetzten Plethora erklärt. Wenn Ref. auch zu¬
geben mufs, dafs intercurrirend Zustände bei der Harnruhr
eintreten können, Vielehe zu Blulentleerungen auffordern,
so hat er doch von jeher an der Möglichkeit einer Heilung
der Krankheit durch dieses Mittel gezweifelt, und selbst die
vom Verf. versuchte Deutung der Wirksamkeit desselben
dürfte wohl nicht vollkommen ausreichen, da, wenn auch
die Folgen der nächsten Ursache durch dasselbe gehoben
würden, diese selbst dennoch immer fortbesteht, ja sogar,
selbst nach der vom Verf. aufgestellten Pathogenie, noch
tiefere Wurzeln schlagen mufs. Zunächst gedenkt der Verf.
der abführenden Mittel, zu deren Anwendung man wohl
durch den Umstand veranlafst sein möchte, dafs man nach
einem freiwillig entstandenen Durchfalle wenigstens auf eine
Zeitlang einen Nachiafs der Harnruhr beobachtet hatte, wie
XIV. Bd. 3. si. 22
338
IV. Diabetes mellitus.
solches auch der Verf. durch einen der ihm vorgekomme¬
nen Fälle bestätigt. Dem Ref. kam ein ähnlicher Fall vor:
Während die Kranke Opium, und zwar in ziemlich starker
Dose brauchte, stellte sich bei ihr ein Durchlall ein, der
zehn Tage hindurch anhielt und mit grober Frleichterung
verbunden war, worauf freilich bald wieder 'S ermehrung
der Urinabsonderung und des Durstes folgten. So finden
wir auch einen hierher gehörigen Fall in den F.phem. nat.
curios. Dec. 111. ann. 9. et 10. obs. 228. mitgetheilt, und
Sagehorn (s. Diss. de Diabete mellito. Viteberg. 1807. 4.)
sagt S. 16, auf solche Erfahrungen sich stützend: lnterduin
alvi proiluvium supervenit, quo durante urinae cxcrctio
imminuebatur. So minderte sich auch in dem von Marsh
%
(s. Samml. auserl. Abhandl. Bd. XXX. S. 580.) mitgetheil-
ten Falle auf den Gebrauch von Purgiermitteln die Menge
des abgehenden Urins alsbald und bedeutend. — Indem der
Verf. in der Prüfung der gegen die Harnruhr empfohlenen
Heilmethoden weiter geht, kommt er zunächst auf die auf¬
lösenden und alterirenden Mittel, wobei namentlich des
Rhabarbers Erwähnung geschieht, sodann auf die Emetica,
die schon in älteren Zeiten in Anwendung gezogen wur¬
den, und auf die Säuren. Was die flüchtigen Reizmittel
anlangt, so bemerkt der Verf., dafs, seitdem R. A. Vogel
sie zuerst empfohlen, solche späterhin in vielen Fällen mit
unbestreitbarem Nutzen angewandt worden wären. Aus¬
führlicher handelt er von folgenden hierher gehörigen Mit¬
teln: vom Opium, das aber nicht, wie der Verf. sagt, die
englischen Aerzte zuerst angewandt haben, da schon Ar-
chigenes (s. Actii teirahibl. Lib. 111. serm. 3. cap. 1.
ed. Cornar. Basil. 1542. fol. p. 600.) desselben gedenkt,
eiues Mittels, welches ohne allen Zfcveifel die meisten Er¬
fahrungen für sich hat; vom Uampher, welchen er in sehr
grollen Dosen nicht ohne günstigen Erfolg in einem Falle
angewandt hat (Ref. wandte ihn auch in einem Falle in
steigender Gabe an, so dals die Kranke binnen acht Tagen
240 Gran nahm, aber ohne allen Erfolg); vom Liquor
339
V. Cronp.
Ammonii sulphurati, und den Cnnthariden. Unter den to¬
nischen Mitteln erwähnt der Verf. besonders die China,
die Ouassia und das Eisen, unter den adstringirenden end¬
lich den Alaun. Am Schlüsse dieses Kapitels macht der
Verf. auf eiuen Punkt aufmerksam, den er schon oben, hei
der Anwendung der Abführmittel, berührt hatte, auf die
Heilkraft der Natur. Ref. hätte diesen Bemerkungen eine
gröfsere Ausführlichkeit gewünscht, da es an mehren hier¬
her gehörigen Fällen (m. s. Frank de curand. hom. morh.
Lib. V. Pars 1. p. 65. — Ephem. nat. cur. Dec. I. ann. 2.
obs. 143, und die vom Ref. oben angeführten) nicht fehlt.
Hier wäre auch vielleicht der Ort gewesen, des merkwür¬
digen Wechsels zwischen der Harnruhr und Wassersucht,
welchen Desault (auserles, chir. Wahrnehmungen Bd. I.
S. 30. ), P. Frank (Epit. 1. c. p. 61.) und Neumann (in
Hufeland’s Journal Bd. LV. St. 1. S. 63.) beobachteten,
zu gedenken.
In dem letzten Kapitel theilt der Verf. drei höchst inte-
ressanteJK.rankengeschichten mit, von denen zwei die Honig¬
harnruhr betreffen, die dritte vom Diabetes insipidus handelt.
So weit die Anzeige dieser, mit vielem Scharfsinne
verfafsten Schrift. Referent hätte gern noch einige, die
Harnruhr betreffende Punkte hier in Anregung gebracht,
z. B. das Alter der Krankheit, ihr Vorkommen, ihre Ver¬
bindung mit anderen Krankheiten u. s. w. I)a der Verf.
diese indefs in seiner Schrift unberührt läfst, so übergeht
sie auch Ref. bei der phnehin schon ausgedehnten Anzeige
derselben.
G. H. liicht er,
v.
Der Croup in dreifacher Form, mit der Ge¬
schichte von polypösen Erzeugnissen in den Luft-
22 *v
*
-V
340
V. Cronp.
wegen. Von Dr. Joh. Fried. Engelhard, Stadt¬
arzt zu INI arten u. s. w. Zürich, 1828. 8. "VI nnd
112 S. Mit einer lithograph. Abbildung. (20 Gr.)
1. Die drei Formen des Croups, welche der Yerf.
unterscheidet, sind die entzündliche, catarrhalische und ner¬
vöse; unter der letzten Benennung versteht er das Miliar-
sehe Asthma, unter der zweiten die eigentliche Angina mem-
branacea, unter der ersten eine hvpersthenische Entzündung
der Luftwege. Er hat somit den Namen Croup viel weiter
ausgedehnt, als man gewöhnlich zu thun pflegt. Als eine
dem nervösen Croup verwandte Krankheit führt er den
hitzigen Brustrheumatismus (seiner Beschreibung nach, eine
catarrhalische Bronchitis) an. — Bei der hypersthenischen,
oder trockenen Entzündungsform, fehlen alle Vorboten ; die
Krankheit tödtet durch Suffocation, als Folge der heftigen
Entzündung, oder durch Brand; das Fieber ist anhaltend,
es findet sich mehr Hitze als Schmerz in der Luftröhre,
dabei treten Anfalle von Krämpfen und Zusammenschnü¬
rung der Luftröhre ein. Oft siud Kolik und hartnäckige
Verstopfung zugegen. Die Krankheit endet im schlimmen
Falle mit dem dritten Tage tüdtlich; man findet in den
Leichen die Spuren brandiger Entzündung im Munde, der
Luftröhre, den Bronchien, dem Magen und den Gedärmen.
Wie die Erscheinungen der Krankheit sich gestalten, wenn
sie in Genesung übergeht, ist nicht angegeben. Mehr zu
dieser Form gehören wohl die Fälle, wo die Schleimhaut
der Luftröhre in Eiterung übergebt, welche der Yerf. bei
der häutigen Bräune anführt. Bei rein entzündlichem Croup
sah er vielen Nutzen von der Anwendung krampfstillender
Breiumschläge, nach geschehener örtlicher Blutentleerung.
Die Anwendung der Scbwefelleber bei der häutigen Bräune
verwirft er ganz, und giebt alles auf Calomel und Blut¬
egel; dem ersten setzt er Opium und Kampher zu, um
Durchfall und Speichelflufs zu vermeiden. Beide pflegen
aber in der Höhe der Krankheit, wo man zu starken Gaben
I
V. Croup. 341
Quecksilber gezwungen ist, nicht leicht einzutreten, und
nach beiden kann man in einer Krankheit, bei der man
nichts im Auge hat als Lebensrettung, nicht viel fragen.
Brechmittel verwirft er gänzlich, doch finden sie wohl ihre
Anzeige in dem Zeiträume, wo das Concrement locker ge¬
worden ist. — Zu allen drei Formen liefert der Yerf.
Krankengeschichten, und aufserdem die sehr interessante
eines achtzehnjährigen Jünglings, bei dem sich polypöse
Concremente in den Luftwegen bildeten.
Druck und Papier sind sehr gut; doch ist der Preis
von 20 Groschen für eine Broschüre von sieben und einem
halben Bogen ganz unverhältnifsmäfsig hoch.
—72 —
2. Wenn der Verf. irgend einer Schrift, welche einen
Erfahrungsgegenstand zum Yorwurfe hat, von sich sagen
kann, dafs er bereits eine lange Reihe von Jahren densel¬
ben zum Gegenstände seiner Beobachtungen gemacht habe,
so erregt dies für den Leser zum voraus grofse Erwartun¬
gen, derselbe darf sich mit Recht manchen Aufschlufs und
manchen erprobten Rath versprechen. So auch der Yerf.
und der Leser vorliegender kleinen Schrift. Der erste sagt
in der Einleitung, dafs er bereits «ein halbes Jahrhundert
auf der klinischen Schaubühne der Mediein glücklich zurück¬
gelegt, in dieser Eigenschaft mehre, sowohl öffentliche als
Privatanstellungen bekleidet habe,” und Seite 9 erzählt er,
bei Anlafs der ersten in Deutschland erschienenen Mono¬
graphie über den Croup von Michaelis, dafs er «der
rühmlichen Yertheidigung dieser wohlgeschriebenen Inaugu-
ralschrift seines damaligen (1778) akademischen Mitbürgers
beizuwohnen das Vergnügen gehabt habe.” Der Inhalt der
Schrift trägt das Gepräge vielfacher Erfahrung über die in
Frage stehende Krankheit; die Erscheinungen sind mit Klar¬
heit geschildert, ein deutliches, lebendiges Bild des ganzen
Verlaufes gegeben, die Behandlung auf bestimmte Momente
t « i
342
V. Croup.
und Erscheinungen gegründet, und das Verfahren seihst in
zahlreichen Fällen als sehr schnell und sicher zum Ziele
führend erprobt. Aus dem Gesagten lafst sich schon von
selbst schließen, dafs schwerlich viel Neues hier mitgetheilt
werden könne. Denn nach den zahlreichen, von den aus¬
gezeichnetesten Aerzten über die Krankheit, ihre Zeichen,
Verlauf und Heilung verfafsten Schriften ist nicht zu er¬
warten, dafs sich noch grofse Entdeckungen hier werden
machen lassen. Allein die Stimme eines so lange und viel¬
fach erprobten Praktikers ist zur Bestätigung und Berich¬
tigung der verschiedenen Ansichten über manche, noch nicht
entschiedene Punkte immerhin mit Dank anzunehmen, und
seinen Zweck, einigen Beitrag zur richtigen Erkenntnifs
und Behandlung der verschiedenen Formen des Croups zu
liefern, ist zugleich für das, Arzneien gewöhnlich abgeneigte
Kindesalter ein möglichst gefälliges, einfaches Heilverfahren
zur weiteren Vervollkommnung und Prüfung der Wissen¬
schaft darzubringen , darf der Verf. als erreicht betrachten.
Wenn gegen den wesentlichen, auf Beobachtung gegrün¬
deten Inhalt der Schrift keine Einwendungen werden ge¬
macht werden können, so möchten hingegen manche der
theoretischen Ansichten, die Form der Schrift, Schreibart
und Ausdruck mehrfacher Einsprache ausgesetzt sein.
In der Einleitung gieht der Verf. eine kurze, keines-
weges auf Vollständigkeit Anspruch machende, geschicht¬
liche Skizze über den Croup, führt schon aus Hippokra-
tes und Cclsus Stellen an, welche er auf den Croup be¬
zieht, dann solche aus Fahricius Hildanus und Ett-
müller, deren Beziehung auf die Krankheit allerdings weit
sicherer ist , als die der ersten.
ln der ersten Abthcilung: Begriff der verschie¬
denen Formen des Croups, werden die rcin-hvper-
sthenische Entzündungsform, oder Tracheitis sicca, die
feuchte, catarrhalische oder häutige, Tr. humida oder inem-
hranosa, und die nervöse Form, Asthma acutum Miliari
aufgestellt, und in der zweiten Abtheilung: Actiologie
343
V. Croup.
der Croupformen, dieselben von der Anlage des Indi¬
viduums und den Einflüssen der Luft abhängig gemacht.
Im Januar des Jahres 1812 zahlte der Verf. auf eine Be¬
völkerung von 4000 Seelen 25 catarrhalische Croupkranke,
von denen drei stauben. Die dritte Abtheilung: Mono¬
graphie der verschiedenen Croupformen, entwirft
ein lebendiges, naturgetreues Bild derselben, wobei beson¬
ders auf die Verschiedenheit des Fiebers bei den zwei er¬
sten Formen, bei der ersten Febr. continua continens, hei
der zweiten anfangs Typus remittens, später T. continuus
remittens, und auf die Abwesenheit des Fiebers in der drit¬
ten Form aufmerksam gemacht wird. Der Unterschied,
welchen der Verf. S. 19 in dem Tone der Stimme, des
Athems und des Hustens für die drei Formen festsetzt, ist
in manchen Fällen allerdings begründet, allein auf ein ein-
%
zelnes Symptom dieser Art darf zu einer für die Behand¬
lung so entscheidenden Diagnose gewifs kein zu hoher
Werth gelegt werden. In der trockenen Form soll der
Ton fein, zischend-pfeifend, in der feuchten pfeifend-hei-
ser, in der nervösen aufserordentlich grob, ein durchdrin¬
gend-starker Bafston sein. Die vierte Abtheilung: All¬
gemeine Beurtheilung der verschiedenen For¬
men, enthält auf anderthalb Seiten einige Hauptmomente
der Prognose, und die fünfte die Therapie. Nach dem
Vorbilde der Natur -Therapeutik, wie der Verf. sich aus-
drückt, ist ihm in der ersten Form die Hauptiodication
« plötzliche Herabstimmung der höchst exaltirten Dynamik
des arteriellen Systems durch hinlängliche Verminderung
des Blutreizes,” und er erfüllt sie durch Blutegel unten
an dem Kehlkopfe, nach Umständen mehrmals wieder¬
holt; dann warme Breiumschläge, Einathmen warmer Milch¬
dämpfe (welches aber schwerlich durch Böhren geschehen
kann, Bef), möglichst warmes und häufiges Trinken von
Eibischthee und Syrup, oder Honig mit Wasser, überhaupt
recht warmes A erhalten, daneben ableitende Fufsbäder, Kly-
stiere, wohl auch ein Vesicans an den Hals. Auf eigent
344
V. Cronp.
liehe Arzneien setzt der Veff. weniger Werth. Ganz ähn¬
lich ist das Verfahren im heutigen Group, nur die Illutent¬
ziehungen in geringerem Grade, wohl auch gar keine, und
etwa ein Lecksaft mit Sulphur. stib. ruh. Dem Calomel
spricht der Verf. in frühen Zeiträumen die Wirksamkeit kei-
nesweges ab, fürchtet aber allzu häufige und schwächende
Ausleerungen nach unten, oder Salivation, wodurch die
Krankheit unnüthiger Weise in die Länge gezogen werde,
und stellt ihn daher den Illutegeln weit nach. Später, nach
dem vierten Tage, giebt er denselben mit Opium und Kam-
pher, um der tödtenden Ausbildung des pathologischen Er¬
zeugnisses möglichst Einhalt zu thun. Von den Brechmit¬
teln in den ersten Tagen der Krankheit, so lange die Luft¬
röhre in einem entzündeten Zustande sich befindet, sah er
grofses Unheil, und der Opfer nur allzuvicle fallen. Am
sechsten oder siebenten Tage, wenn die Kinder unter grofser
Beängstigung häutige Concremente aushusten, lassen sich
Brechmittel als Remedium anceps melius quam nullum ver¬
suchen, und in der Reconvalescenz, wo Schleimanhäufung
zum Brechen reizt, sind einige Grane Brech wurzel am
Platze. Für die Behandlung des nervösen Croups empfiehlt
der Verf. die bekannten krampfstillenden Mittel, grofse Bla-
senpfiaster, Seoffufsbäder, warmes Getränk und warmes
Verhalten. In den beigefügten Krankheitsgeschichten waren
diejenigen Fälle, in welchen der Verf. sein gewohntes Ver¬
fahren gleich im Beginnen einscldagen konnte, alle sehr
schnell von glücklichem Erfolge begleitet, und die Krank¬
heit gelangte zu keiner weiteren Entwickelung. Einige an¬
dere Fälle, in welchen der Verf. erst später hinzugerufen
wurde, endigten aber doch mit dem Tode.
In einem Anhänge erzählt der Verf. die bemerkens-
werthe Geschichte einer mehrmals wiederholten Erzeugung
von polypösen Concrementen in den Luftwegen. Ein ge¬
sunder junger Mensch von 17 Jahren wurde mehrmals von
Husten und Engbrüstigkeit, mit Druck und Brennen auf
der Brust befallen. Im Winter 1827 erreichten diese Be-
345
VI. Praktische Notizen.
schwerden einen ungewohnt hohen Grad, und nach acht
Tagen wurde in einem starken Hustenanfalle ein festes
cylindrisches Concrement von fasriger Structur mit mehr¬
fachen Verzweigungen und zahlreichen, rothen Blutgefäfsen
durchzogen, ein wahrer Polyp, ausgeworfen. Solche Aus¬
leerungen wiederholten sich dann noch mehrmals, so dafs
vom 5. December 1827 bis 24. Februar 1828 dreizehn,
zwar in abnehmendem Maafse, eintraten, unbeschadet der
übrigens gleich fortbestehenden guten Gesundheit.
Als eine der beiläufig vom Verf. gemachten Bemerkun¬
gen, ist die Beobachtung an einer Frau bemerkenswert!),
bei welcher von jeher im Wohlsein der Puls unordentlich
und aussetzend war, im fieberhaft kranken Zustande hinge¬
gen gleich und ordentlich wurde. — Die Ipecacuanha wird
das unfehlbare Mittel genannt, in öfteren kleinen Gaben
gereicht, den Keuchhusten zu heilen, wenigstens habe sie,
auf diese Weise gegeben, dem Verf. nie die verlangte Hülfe
versagt. (Möchte allen Aerzten zu Theil werden, das
Gleiche sagen zu können!)
Locher - Balber.
Praktische Notizen.
1. Das von Reveille-Parise empfohlene gewalzte
Blei zur Bedeckung von Geschwüren und Wunden, wurde
in dem Kanton -Hospitale zu Zürich von dem Spitalarzte
Dr. Mayer mit verschiedenem Erfolge angewandt. In dem
einen Falle (welchem?) erregte es nach einigen Tagen so
heftige Schmerzen, dafs es ausgesetzt werden mufste; bei
einigen anderen, mehr oberflächlichen Geschwüren, erfolgte
ohne Schmerzen baldige Auftrocknung und feste Vernar¬
bung. ( Verhandl. d. ärztl. Gesellsch. d. Schweiz. 1828. S. 6.)
340
VI. Praktische Notizen.
2. I)r. Mayor, der das gewalzte Blei im Kantonhospi¬
tale zu Lausanne nnwendet, sagt davon: Der Kranke hat
bei diesem Verfahren weniger Schmerz, die Vernarbung
erfolgt schneller, und der Verband ist leichter und wohl¬
feiler. (Verhandl. der Schweiz. Gesellsch. f. Naturwiss.
1827. S. 74.)
3. Das Oleum filicis, nach der Bereitung von Pe-
schier, wurde vom Dr. Fehr in Andelfingen mehrmals
gegen den Bandwurm angewandt. Doch nur ein einziges
Mal gelang es, den Wurm mit einer Dosis von 40 Tropfen
abzutreiben. Zweimal leisteten auch vierfach gesteigerte
und wiederholte Gaben gar nichts. Mehre andere Male
gingen grofse Partieen von dem Wurme ab, ohne dafs der
Kopf gefunden werden konnte. (Verhandl. der ärztl. Ge¬
sellsch. der Schweiz. 1828. S. 15.)
#
4. I)r. Fehr erprobte mehrfach das Mutterkorn in
Pulverform, zu 20 bis 25 Gran auf einmal gegeben, als
ein äufserst wirksames Mittel, schnell starke Wehen her¬
vorzubringen (vergf. Dr. Henne in Siebold’s Journal.
1828. VIII. S. 185); selten mufstc eine zweite Dosis gege¬
ben werden. Der genannte Arzt sah sich schon genöthigt,
Kreisenden, denen die Hebamme einen Aufgufs dieses Mit¬
tels gegeben hatte, zur Verhütung zu heftiger Congestioncn
nach Kopf und Brust, zur Ader zu lassen, da die Wehen
keinen Augenblick nachliefsen. Gewifs ein Beweis, dafs
dies Mittel unkundigen Händen, wie diejenigen der Heb¬
ammen sind, verboten bleiben sollte. (Ebendas.)
5. Die schon von mehren Aerzten gerühmte Wirkung
des Oleun» jecoris aselli gegen Rhachitis, hat sich dem Dr
Fehr auf eine überraschende Weise bestätigt. Er entwirft
von den Wirkungen folgendes lebendige Bild: Nicht erst
nach veränderter Lebensart, oder beim Eintritt einer giin
»Ligen Jahreszeit, oder einer Eutwickelungsperiode, sondern
VI. Praktische N otizen.
347
oft schon nach sieben oder vierzehn Tagen, erscheint die
auffallendste Wirkung des Mittels. Die oft schwarzen, locke¬
ren Zähne werden fester, und ihre Farbe wird natürlich
weils. Kinder, welche die Beine nicht mehr streckten , und
bei jedem Versuche, sie zu stellen, laut aufschrieen, fingen
an zu stehen und selbst zu gehen , wenn sie es schon ver¬
lernt hatten, oder in dem Alter waren, wo sie schon sollten
gehen können. Die Magerkeit, oder im Gegentheil die
Aufgedunsenheit, verschwinden unter Besserwerden der Ver¬
dauung, der Bauch wird besonders auch in der Leberge¬
gend dünner, der Heifshunger oder der gänzliche Mangel
an Appetit verliert sich mit den Zeichen der Säure; die
gleichsam verdrückten Rippen bekommen wieder ihre na¬
türliche Form, die Respiration wird frei und leicht, die
Beine auffallend gerader, die Zähne brechen oft schnell
hervor. Bald verschwindet auch das Schreien solcher Kin¬
der und die grofse Unruhe, besonders während der Nacht,
und eben so die häufig mit dieser Krankheit verbundenen
Convulsionen , welche oft allen Mitteln trotzen.
Mit einer entzündlichen Anlage verträgt sich das Mittel
nicht. Gewöhnlich nehmen die Kinder dasselbe gern. Er¬
brechen folgt nie darauf, selten Durchfall. Entweder wurde
das Ol. jecoris rein gegeben, oder: Ol. jecoris aselli
Unc j. Ol. tartari per deliq. Dr. ij. Ol. calami arom. gtt. iij.
Syr. Cort. aurant. Unc. j. M. S. Morgens und Abends 1 bis
2 Theelöffel voll.
Weniger günstigen Erfolg beobachtete der Verf. von
dem Mittel gegen Gicht und Rheumatismus. (Ebend. S. 16.)
6. Dr. Fehr hob einen Kopfschmerz, welcher nicht
selten bei Hysterischen, oft an Rheumatismen Leidenden
vorkommt, und sich bald als halbseitiges Kopfweh , bald als
Clavus mit einem Gefühl von Kälte oder Druck an einer
einzelnen Stelle, bald als heftiges Zerren, Reilsen oder
Stechen mit Messern ansspricht, und oft den meisten Mit¬
teln trotzt, durch Waschungen der leidenden Stelle mit
348
VI. Praktische Notizen.
der geistigen, aus dem Saamen bereiteten TJnctura Stramo-
nii drei- bis viermal täglich. (Ebend. S. 14.)
7. Einen Beitrag zu den vielen Obductioncn , deren
Befund ganz anders ausfiel, als man erwartete, oder welche
Erscheinungen darboten, von denen man kaum begreifen
konnte, dafs sie sich im Leben duYch keine Zeichen kund
gegeben hatten, liefert Hr. A. Ab egg, Arzt am Kranken¬
hause für Syphilitische und Krebskranke in Zürich. Er fand
in der Leiche eines mit venerischem Ausschlage behafteten
Neugebornen auf beiden Seiten der Halswirbel zwischen
den Muskeln Abscessc, wodurch die Körper der Wirbel,
Atlas und Epistropheus ausgenommen, fast ganz zerstört
waren. Dessenungeachtet bewegte das Kind seinen Kopf,
hob ihn bis zu den letzten Augenblicken seines Lebens in
die Höhe, ohne einige Schmerzäufserung. (Ebend. S. 18.)
4
8. Die Wirksamkeit des Ilellm u nd sehen Mittels ge¬
gen Krebs, hat Herr A. Ab egg mehrfach in den Jahren
1824 bis 1827 zu erfahren Gelegenheit gehabt. Bei einem
vierzigjährigen robusten Manne erstreckten sich die Ge¬
schwüre von beiden Schlüsselbeinen aufwärts über den Kie¬
ferrand bis gegen die Augenbraunen mit nur kleinen, freien
Zwischenräumen. Ober- und Unterlippe waren fast ganz
zerstört, so dafs die ziemlich gut erhaltenen Zähne und die
Zunge frei lagen. Das rechte Auge, anstatt von den Augen¬
liedern geschützt, bewegte sich in einem zinnoberrothen,
flachen Ringe. Unter dem Gebrauche jenes Mittels reinig¬
ten sich die Geschwüre und heilten allinählig, so dafs sieb
selbst wieder eine Art Lippen bilJeten. Gegen Cancer
fungostis zeigte sich die Salbe, übereinstimmend mit den
Beobachtungen von Rust und Kluge, unwirksam. Auch
scheint der in Zürich erhaltene Arsenik, wie derjenige in
Berlin, weit weniger ätzend als der von Ilellmund in
Cburhcssen bezogene; denn der Verf. sah nie von andert¬
halb Gran des Aetzpulver* zu der angegebenen Menge Salbe
VI. Praktische Notizen.
349
von fast elf Drachmen jenen feuchten Schorf entstehen,
sondern mufste zu diesem Zwecke auf das Doppelte und
noch mehr steigen. (Ebend. S. 30.)
9. In vier Jahren hatte Hr. A. Ab egg 68 Kranke
an verschiedenen bösartigen Geschwüren behandelt, darun¬
ter 20 am Gebärmutterkrebs. Eine 67jährige Frau wurde,
an letztem leideud, in das Krankenhaus aufgenommen. Bei
der Untersuchung zeigte sich ein blutiger, höchst übel¬
riechender Ausflufs, und der Muttermund und Hals des
Uterus härtlich angeschwollen; weiter hinauf dann ein Pes-
sarlum, djurch dessen grofse Oeffnung der Uterus herabge¬
sunken war. Die Entfernung des Pessarium, und demulci-
rende Mittel, stellten die Kranke bald her. Ueber das von
Frankreich her auch neuerlich wiederholt empfohlene An¬
setzen von Blutegeln an und um cancröse Geschwüre und
Scirrhen, bemerkt der Verf., dafs er niemals Heilung, hin¬
gegen Verminderung der Schmerzen, Auf halten und tem¬
poräre Schliefsung der Geschwüre dadurch zu Stande ge¬
bracht habe. (Ebendaselbst.)
10. Prof. Isenschmid in Bern erzählt: Ein Hand¬
werksgeselle erhielt Nachts um 10£ Uhr einen Stich, der
die vordere, obere und gewölbte Herzfläche mittelst einer
5 Linien langen Wunde verletzte, und dadurch die rechte
Herzkammer öffnete; doch lebte derselbe noch drittehalb
Stunden. (Ebendas. S. 53.)
11. Gewöhnlich enthält das Pariser Hötel-Dieu 916
besetzte Betten, das Höpital la Pitie 500, und Beaujon 200.
Im letztverflossenen Winter, wo alle Stände ungewöhnlich
von Krankheiten heimgesucht wurden, belief sich im Hötel-
Dieu die Zahl der Kranken nicht selten auf 1124, und in
|der Pitie auf 700. Von den 1124 Kranken im IIötel-Dieu
kommen 823 auf die inneren, und 301 auf äufsere Statio¬
nen. Die 823 inneren Kranken wurden von sieben Aerzten
■
350
VI. Praktische Notizen.
behandelt: die erste, 143 Betten enthaltende Abtheilung von
Petit; die zweite Abtheilung, zu 1)2 Betten, durch Borie;
die dritte, zu 81) Belten, von Recamier; die vierte, zu
14*1 Betten, durch Ilusson; die fünfte, zu 131 Betten,
von Gueneau de Mussy, die sechste, zu 1)0 Betten, von
Martin - S o lo u, der hier an der Stelle des kranken Le¬
veil le fungirte; die siebente, zu 123 Betten, von Gaillard.
Die äufsere Station hat drei Abtheilungen, eine zu 133 Bet¬
ten, welcher Dupuytren, eine zu 77 Betten, welcher
Breschet, und eine zu 1)2 Betten, welcher Sanson vor¬
steht (La Clini(|ue. Tome 111. No. 84.)
12. Bei einem 37jährigen Individuum, an welchem
man die Erscheinungen der Lungenentzündung beobachtet
hatte, zu denen sich späterhin ein Gehirnleiden gesellte,
fand man bei der Sectiou die Lungen in einem geringen
Grade entzündet, den Magen sehr zusammengezogen, seine
Schleimhaut rolhbraun und mit dickem Schleime belegt,
das lleum und den Blinddarm theilweise vereitert, auf der
convexen Fläche der Leber zwei tiefe, durch eine dünne
Wand von einander getrennte Eiterhöhlen, die sich nach
der Brusthöhle hin eröffnet und die Darmentzündung wahr¬
scheinlich veranlafst hatten. (Ebendas. No. 1)1.)
13. Bei zwei Individuen, deren Extremitäten von Gan-
graena senilis befallen wurden, fand man bei der Section
die Hauptarterienstämme des leidenden Gliedes durch einen
Blutklumpen so verstopft, dafs die Circulation vollkommen
gehemmt war. (Ebendas. No. 92.)
14. Ein TSjähriger Mann bot im Ilospice de Bicetre
alle Symptome eines ausgebildeten Herzübels dar. Endlich
stellte sich an den F üfsen Gangraena senilis ein, welcher
sich indessen auf die Zehen und Metatarsen beschränkte.
Bei der Section dieses Individuums fand man den linken
'N entrikel des Herzens sehr erweitert, das tanke Orificium
VI. Praktische Notizen.
351
\
auriculo- ventriculare sehr enge, die obere Partie des Ma¬
gens dick und schwarz, die Nähe des Pylorus erweicht,
die untere Hälfte der Dünndärme in einem Zustande von
Gangrän, sämmtliche grofse Arterienstämme theilweise ver¬
knöchert, die linke Schenkelarterie durch einen dicken Blut¬
klumpen verstopft. (Ebendas. No. 96.)
15 • Rauque in Orleans empfiehlt bei Frauen, die
nicht nähren wollen, zur Beseitigung der Milch, aufser einer
strengen Diät, zweimal täglich den Buseu und die Achsel¬
gruben mit einer Mischung aus zwei Unzen Aqua lauroce-
rasi, zwei Scrupel Extr. belladonnae und einer Unze Schwe¬
feläther sanft zu reiben, und nachher ein Stück Flanell
aufzulegen, das in derselben getränkt ist. (Ebend. No. 99.)
16. Breschet fand bei einem 18jährigen wohlgebil¬
deten Mädchen auf der rechten Seite des Halses eine Ge¬
schwulst, welche die Gröfse einer Faust hatte, sich von,
der Clavicula bis zum Schildknorpel erstreckte, weich an¬
fühlte und stärker hervortrat, sobald das Mädchen eine
enge Schnürbrust trug, was auch noch die Folge hatte,
dafs sogleich Dyspnoe eintrat. Mit Hülfe des Stethoscops
überzeugte sich Br., dafs er einen Lungenbruch vor sich
habe, der zufolge des unsinnigen Zusammenschnürens ent¬
standen war. (Ebend. Tome IV. No. 5.)
17. Ein 48 jähriger Mann, der früher an Hämorrhoi¬
den gelitten hatte, fühlte plötzlich heftige Schmerzen in
der linken Seite, einen Druck in der Magengegend, eine
gestörte Verdauung; sein Urin war nicht selten mit Blut
vermischt. Späterhin stellten sich die Zeichen einer Herz-
affection ein, die Respiration wurde schmerzhaft, und der
Kranke starb unter unsäglichen Schinerzen. Bei der Section
fand man in allen Partieen der Lungen Spuren von Mark¬
schwamm, den Herzbeutel entzündet, auf der vorderen
Fläche der sehr grofsen Leber zwei Geschwülste. Die Leber
352
VI. Praktische Notizen.
selbst war ungewöhnlich schwer, blafs, und enthielt ein
dünnflüssiges, entfärbtes Blut, und Geschwülste, die die
Natur des Markschwammes zu haben schienen; das Pancreas
war in einen Markschwamm verwandelt, eben so die Me¬
senterialdrüsen. Die auffallend grofse, von markschwamm¬
artigen Massen umgebene linke Niere hatte drei Erhöhun¬
gen; das Nierenbecken enthielt einen ungleichen, schwar¬
zen Stein von der Gröfse einer Nufs, der von einer mark¬
schwammartigen Masse umgeben war, dre auch die erwähn¬
ten Erhöhungen ausfüllte. (Ebend. No. 4.)
18. Bei einem unter den charakteristischen Erschei¬
nungen von Cyanosis gestorbenen Kinde fand man die Lun¬
gen gesund, das Herz in einem Zustande von Hypertrophie,
abgerundet, die Aorta nach hinten und rechts ge¬
hend, und in einen Truncus anonymus für die Carotis sini-
stra und die Subclavia sinistra, und in eine Subclavia dextra
und Carotis dextra sich spaltend, den ungewöhnlich langen,
dicht geschlossenen Ductus arteriosus von der Lungenarterie
zur linken Schlüssclbeinartcrie gehend. Zwischen den bei¬
den Vorkammern bestand keine Communication , der sehr
grofse rechte Ventrikel communicirte da, wo die Oeffnung
in die Lungenaitcrie sein sollte, mit der Carotis, die auch
mit der linken Herzkammer in Verbindung war; die Lun¬
genarterie entsprang mehr nach vorn aus dem rechten
Ventrikel, der an dieser Stelle eine gewundene Tasche bil¬
dete. (Ebendaselbst.)
19. Bleynie zieht den Gebrauch des Chinins und des
Cinchonins dem Schwefelsäuren Chinin bei Wechselfiebern
vor, und behauptet namentlich, dafs die beiden erstgenann¬
ten viel wohlfeileren Arzneisubstanzen eben so sichere Fe-
hrifuga seien, als die mit der Schwefelsäure verbundene
Chinabase, und dafs sie von den Kranken weit leichter ge¬
nommen und vertragen werden; nur räth er, stets ein
säuerliches Getränk unmittelbar nach jeder Gabe Chinin
oder
/
I f N I
/ .
VI. Praktische Notizen. 353
oder Cinchonin nehmen zu lassen, damit die Auflösung im
7 O
Magen schneller von statten gehe. (Nouvelle Bibliotheque.
1828. 12.) ' •. fi .. Ui ■
20. Frankreich hat bei einer Bevölkerung von 30,000,000
Einwohnern, 40,000 Aerzte, mithin 10,000 zu viel, in sofern
statistische Untersuchungen dargethan haben, dafs auf die
angeführte Bevölkerung nur 150,000 Kranke täglich kom¬
men. An den drei medicinischen Facultäten: Paris, Strafs¬
burg und Montpellier, werden jährlich 500 Doctoren der
Medicin promovirt, während der Abgang kaum 400 be-
trägt. (Ebendaselbst.)
21. Eine 37 jährige Frau, die dreimal niedergekom¬
men, und bei der letzten Niederkunft an heftigen Metror¬
rhagien gelitten, empfand seit jener Zeit die lästigen Wir¬
kungen der Menstruatio nimia, namentlich eine auffallende
Abnahme der Kräfte, Ohnmächten, habituelle Verstopfun¬
gen u. s. w. Im letztverflossenen Mai suchte sie Hülfe im
Ilötel-Dieu. Dupuytren nahm eine Localbesichtigung mit
Hülfe des von ihm angegebenen Speculum vaginae vor, und
überzeugte sich, dafs das Orificium uteri durch eine Ge¬
schwulst ausgedehnt war. Eine zweite, gröfsere Geschwulst
fand Dup„ in den Umgebungen der Gebärmutter, und zwar
auf der rechten Seite. Er löste mit einem geknöpften Bi-
stourie die Geschwulst von dem Gebärmuttermunde, und
entfernte sie nach einigen Tagen, indem er mit einer eigen
dazu verfertigten Zange sie herabzog, und den Stiel, ver¬
möge dessen sie mit der Gebärmutter in Verbindung war*
mit dem Bistourie durchschnitt. Die Geschwulst selbst war
bimförmig, rothweifs, fest und von fibrös-zeiliger Be¬
schaffenheit. (La Cliniuue. Tome IV. No. 8.)
* • 4 * *
22. In den Pariser Krankenanstalten gehört die Glos-
sitls idiopathica keinesweges zu den ganz seltenen Krank¬
heiten, und man fängt an die Ueberzcugung zu gewinnen,
XtV. Bd. 3. St. . 23
354
VI. Praktische Notizen.
dafs alle ursächlichen Momente, welche Anginen und andere
Schleimhautentzündungen bedingen, auch geeignet sind, eine
Zungenentzündung zu veranlassen. Starke allgemeine Rlut-
entziehungen wirken am sichersten, und beugen namentlich
Erstick ungszu fällen vor. (Ebendas. No. 10.)
23. Leroy (d’Etiolles) erklärt sich in einer der
Pariser Acadcmie der Wissenschaften vorgelegten Schrift
gegen das Einblasen der Luft in die Lungen als Erweckungs-
mittel bei Scheinlodten. Er beruft sich hierbei auf eine
Reihe von Versuchen, die er an Thieren anstellte. Aus
diesen geht hervor, dafs das gewaltsame Einblasen bei eini¬
gen Thierarten, namentlich bei Ziegen, Hammeln, Kanin¬
chen, einen schnellen Tod zur Folge habe, während es
bei Hunden nur eine vorübergehende Asphyxie verursache.
Nähere Untersuchungen haben die Ilm. Leroy, Magen-
die und Dumerii überzeugt, dafs die eingeblasene Luft
das zarte Lungengewebe zerreifse, in das Cavum pleurae
dringe, und das Athemholen hindere. — Um Gewifsheit
zu bekommen, ob die Gegenwart von Luft im Cavum pleu¬
rae den Tod zur Folge habe, injicirten sie solche mit Hülfe
einer zwischen zwei Rippen angebrachten Röhre, das Thier
starb; machten sie eine Gegenöffnung, um die Luft heraus¬
gehen zu lassen, so empfand das Thier nur eine' vorüber¬
gehende Dyspnüe. Dafs die Hunde unter dem Lufteinblasen
nicht sterben, kommt nach L. von der festen Reschaffenheit
der Lungensubstanz her. Rei menschlichen Leichen Erwach¬
sener hat das Einblasen von Luft in die Luftröhre ein
Platzen des Lungengewebes und ein Austreten der Luft in
die Pleura zur Folge; bei Kinderleichen dagegen verhielt
es sich, wie bei den Hunden, mithin ist in sofern das
Lufteinblasen bei scheintodtgcbornen Kindern weniger ge
fährlich, als hei Erwachsenen, obwohl es auch hier scha¬
den mufs.
Vergleicht man die Zahl der mit Erfolg vorgenomme¬
nen Rettungsversuche der neueren Zeit in Paris mit denen
355
VII. Populäre Schriften.
einer früheren , so spricht diese offenbar gegen die jetzt in
Paris in Gebrauch gesetzten Blasebälge.
Im Jahre 1821 wurden aus dem Wasser gezogen
309 Individuen, Rettungsversuche angestellt an 50, und
wirklich gerettet 37.
1823 betrug die Zahl der Ertrunkenen 288, und von 53,
an denen man Rettungsversuche machte, rettete man 46.
1824 war das Verhältnifs 308:51:49.
1825 . 315:73:57.
1826 . 362:77:54.
Mithin wurden kaum zwei Drittel gerettet, während
vor 40 bis 50 Jahren, von 1772 bis 1788, noch neun Zehntel
gerettet worden sind.
ö
Leroy räth dagegen, durch einen Reiz auf das Zwerch-
feil und die Brustmuskeln die natürliche Respiration nach¬
zuahmen, und mit Hülfe der Electropunctur, indem er
Nadeln in die Ansatzpunkte des Diaphragma bringt, Con-
tractionen des Zwerchfells zu veranlassen, vermöge welcher
die Circulation und die Respiration hergestellt werde. (Eben¬
daselbst.)
VII.
Populäre Schriften.
1. Der freundliche Hausarzt als Rathgeber hei
Erkältungskrankheiten und allen Folgen der
Blut Verschleimung, als: Katarrh, Schnupfen, Asthma,
Schleimschwindsucht, Rheuma, Gicht und Hämorrhoiden;
von Dr. K. F. Lutheritz. Dritte, umgearbeitete Auf¬
lage. Meifsen, 1828. 8. VIII u. 106 S. (9 Gr.)
Von allen medicinischen Volksschriften sind solche am
nachtheiligsteu , die über einzelne Krankheiten den Laien
23 *
35G
VII. Populäre Schriften.
zu belehren suchen; denn sie pflanzen die verkehrtesten Ke
griffe fort, und wirken dann feindlich auf den zurück, der,
•wähnend er habe die Heilkunde erfalst, in vorkommenden
Krankheitsfällen wirklich ärztliche Behandlung verschmähet.
lief, kann nicht begreifen, wie sich Aerzte dazu ver¬
stehen können, die Arzneikunde so zu bearbeiten, dafs sic
wie gewöhnliche Marktwaare feil geboten werden kann,
und wir verkünden es diesen Verfassern im Voraus, dafs
bei der fortgesetzten Zunahme ihrer Volksschriften sie ihre
leichten Geistesproducte zukünftig nicht nur dem Buchhänd-
ler, sondern sogar dem Leiermann werden verkaufen kön¬
nen, der sie dann mit einer passenden Melodie begleitet
dem thörichten \ olke singend zu empfehlen wissen wird.
(regen Werke, die allgemeine Diätetik betreffend, de¬
ren mehre recht gute von den besten in - und ausländischen
Aerzten vorhanden sind, hat Bef. nichts zu erinnern, ja,
er sieht sie als nothwendig an, um Laien über nachtheilige
Einflüsse zu belehren; aber über Schriften, die einzelne
Krankheitszustände betrachten und zu behandeln anweisen,
und sollten sie auch noch so meisterhaft abgefafst sein,
findet sich Ref. zur bittersten Beklagung gegen die Verf.
aufgefordert.
Eine Analyse der vorliegenden Broschüre vorzuneh¬
men, ist Ref. nicht geneigt; denn sie enthält nur das All¬
tägliche, welches hier zu wiederholen von den Lesern dieser
• Zeitschrift mit Recht übel aufgenommen werden dürfte.
•
Mansfeld.
2. Guter Rath für Taube und Schwerhörige;
von Dr. G. W. Becker, ausübendem Arzte in Leipzig.
Dritte Auflage. Leipzig, IS2T. S. 61 S. (6 Gr.)
^on allen Krankheiten sind die des Gehörs am weni^-
o
strn geeignet , dem nichtärztlichen Publikum zur Selbstbe-
handlung überlassen zit bleiben; denn sic sind viel zu sehr
«
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten, 357
tlieiis >on anderen krankhaften Zuständen abhängig, theils
sind sie mit der Organisation der Gehürgebiide so verwebt,
dafs sie selbst dem erfahrensten Arzte grofses Nachdenken,
und oft ohne Erfolg verursachen.
lief, kann also schon aus diesem Grunde die Heraus¬
gabe dieser höchst flüchtig gearbeiteten und von Druck¬
fehlern wimmelnden Schrift keinesweges billigen; es sollte
ihm aber eben so leid ihun, wenn er glauben müfste,
Ilr. Becker habe bei der Bearbeitung des Werkchens nur
die Anpreisung seiner Gehörbalsame und Werkzeuge, wo-
%
mit er, wie aus der Schrift erhellet, eigenen Handel treibt,
zur Absicht’ gehabt. Eine Gewinnsucht dieser Art steht
weit unter der Würde des Arztes, und würdigt den
schon sehr gesunkenen Stand noch mehr zu dem eines
Krämers herab.
Mansfeld,
VIII.
v
Ahnungen einer allgemeinen Naturge¬
schichte der Krankheiten; von F erdin and
Jahn. Mit einem Vorwort von G. Fr. Heusin-
ger. Eisenach, hei Bäreke. 1828. 8- Xu. 251 S.
(1 Thlr. 8 Gr.)
Der gelehrte Verf. hat im vorliegenden Werke den
\ ersuch geliefert, die Krankheit als lebendigen Prozefs,
als Leben im Leben, als Organismus zu betrachten, sie
mit den übrigen Organismen, namentlich mit den tiefsten
pflanzlichen und thierischen zu vergleichen, ihre Eigen¬
schaften nach den Lebensaltern der Wesen zu deuten,
auf diese Art eine Physiologie der Krankheit zu ge¬
winnen, und die von Autenrieth, Brandis, Schnur-
rer, Bach, Kieser, Stark und Schünleiu eingeleitele
358 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
naturgeschichtliche Bearbeitung der Pathologie
zu fordern. Kr hat zum Behufe der Parallele des Krank¬
heitsprozesses als Organismus mit den übrigen Organismen
die naturhistorischen Schriften eines Sprengel, Link,
N e e s , Meyer, Ilornschuch, Treviranus, Gruit-
huisen, Oken, Carus, Schwcigger, Meckel, T i e -
demann, Heusinger u. a. trefflich benutzt, und nicht
Dur der theoretische Pathologe, sondern auch der Pilanzen-,
Thier- und Menschen -Physiologe, und selbst der rationell-
empirische Arzt wird mit Belehrung die auf die Krankheit
angewandten Gesetze des Lebens lesen, und des Verf. Fleifs,
grofse Belesenheit und geistvolle Benutzung des grofsen
von den Beobachtern angehäuften Vorraths von Erfahrun¬
gen anerkennen müssen, wenn auch manche der angeführ¬
ten Parallelen zu allgemein oder zu beschränkt, oder nicht
genug entwickelt sind. Der Verf. wollte ja kein abgeschlos¬
senes, systematisches Handbuch der pathologischen Physio¬
logie, sondern nur Andeutungen geben und die Aufmerk¬
samkeit der Forscher darauf leiten. Bef. glaubt, dem Ge¬
genstände des Werkes, seiner Wichtigkeit gemäfs, den
besten Dienst zu leisten, wenn er einen genauen, für prak¬
tische Aerzte vorzüglich berechneten Auszug giebt, woraus
sich der durch das Ganze waltende höhere Geist am besten
von selbst beurtheilen läfst.
Einleitung (S. 1 — 21. und §. 1 — 7.). Die schon
von Paracelsus geäufserte Idee über das Wesen der
Krankheit, dafs sie «nicht etwas Fehlendes, sondern
etwas Positives und Reales, ein eigenes Sein,
ein Leben im Leben, ein dem Organismus aufge¬
pfropfter und in ihm wurzelnder selbstständiger
Lebensprozefs und Organismus, eine Afterorga¬
nisation sei,” sucht der Verf. durch Nachweisung der
allgemeinen Lebensgesetze und wesentlichen Merkmale und
Eigenschaften lebender Wesen zu beweisen, führt die für
dieselbe Ansicht sprechenden Aeufserungen von Helmont,
Sydenhaiu, Kieser, Gmelio, Hartmann, Stark,
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 359
Kreysig und Berndt an, und parallelisirt in drei Abthei¬
lungen die Krankheit mit den übrigen Organismen, indem
er in der ersten Abtheilung die Entwickelung der Orga¬
nismen und der Krankheit, in der zweiten ihre Lebensge¬
schichte, und in der dritten deu Tod derselben abhandelt.
Erster Abschnitt. Zeugungsgeschichte der
Organismen in Bezug auf die Ansteckungsge¬
schichte der Krankheiten (S. 22 bis 127. und §. 8.
bis 47.). In diesem Abschnitte beleuchtet der Verf. den
Satz : «dafs Krankheitszeugung und Zeugung der
Organismen nicht allein höchst analoge, sondern
völlig identische Acte seien,» durch folgende Ver¬
gleichungspunkte, die etwas zweckmäfsiger geordnet sein
können :
1) Zeugungsarten (§. 8. und 9.). So wie alle le¬
benden Wesen entweder durch Saamen (Saamen- oder
Vaterzeugung, Generatio similaris, propagato-
ria, secundaria), oder durch die Summe äufserer Ein¬
flüsse, durch die vegetative Kraft der Natur (saamen-
und vaterlose Zeugung, Gen. dissimilaris, origi-
naria, aequivoca, primitiva), und manche durch beide
Arten entstehen, so entwickeln sich auch die Krankheiten
entweder durch Contagium (Gen. secund.), z. B. Syphilis,
Variola u. s. w., oder durch das Zusammentreffen äufserer
schädlicher Potenzen (Gen. primaria), z. B. Entzündungen
und Neurosen, oder bald durch die eine, bald durch die
andere, jedoch mit besonderer grölserer oder geringerer
Neigung zu einer Entstehungsart, z. B. Hospitalbrand, ägyp¬
tische Augenentzündung , Febris puerperalis, Ruhr, Rose,
Friesei, Purpuralyphus, Varicellen, Croup, Ophthalmia neo¬
natorum, Scorbut, Masern, Scharlach, Flechten, Krätze,
Gicht, Lepra, Phthisis, Furunkel. — Die Saamcnerzeu-
gung hat aber eine höhere Organisation zur Folge, als die
ursprüngliche Zeugung.
2) Bedingungen zur Zeugung (§. 10 — 12.).
Wie bei der originären Zeugung lebender Wesen 1) ein
I
360 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
Substrat des anzufachenden Wesens, ein Lebensstoff, und
2) äufsere belebende Einflüsse nüthig sind, und von der
Natur dieser Basis die Form des künftigen Lebens abhangt;
so müssen auch die durch primitive Zeugung entstehenden
Krankheiten ihr Substrat — organischen Stoff — und äufsere
belebende Einflüsse — Gelegrnbeilsursachen, ursächliche Mo¬
mente, äufsere schädliche Potenzen — zu ihrer Entwicke¬
lung haben, und haben ebenfalls, nach Verschiedenheit bei¬
der — der Individualität, des Systems, Organs und der Ge-
lcgenheitsursachen — eine verschiedene Form. Daher die
Verschiedenheit derselben Krankheit, z. B. in den Scropheln
bei verschiedenen Subjecten, als: Scropheln der llaut, der
Eingeweide, der Knochen u. s. w. — Bei der sccun-
dären Zeugung entstehen die Wesen bald nur durch ein ,
Geschlecht, den Vater (und die, Mutterstelle vertretende,
Erdelemente), bald durch vereinte (Hermaphroditen) oder
getrennte Geschlechter. So schliefscn sich auch die aus
Contagium sich entwickelnden Krankheiten den cryptoga-
mischen Pflanzen, Infusorien, Medusen u. s. \v. an. —
3) Fortpflanzungsvermögen (§. 13.). So wie
auf der einen Seite einige niedere Organismen, z. B. die
tiefsten Infusorien, Blasenwürmer, sich nicht fortpflanzen •
können; so auch mehre Krankheiten, z. B. die Algieen,
mehre Entzündungen (der parenchymatösen Organe ) , Blut-
Hüsse, Wassersüchten , llemmungs- und Thierbildungen.
Auf der anderen Seite pflanzen sich, gleich den höheren
Organismen, auch die mehr ausgebildeten Krankheiten fort,
z. B. Typbus, Pest, gelbes Fieber, Cholera, acute und
chronische llautausschläge, Gicht, Scorbut, manche Scro-
phclformcn, viele Entzündungen (nur die der Haut und
der Schleim- und serösen Häute), daher Catarrhe, Croup,
Buhr, Ophtb. aegypt, nconator., Furunkel, Karbunkel,
Hospitalbrand, Phthisis, Hydrophobie, Krebskrankheit, Epi¬
lepsie, Veitstanz, Wechselfieber u. s. w. —
4) Fruchtbarkeit (§. 14. 15.). Nicht alle Orga¬
nismen und Krankheiten sind mit gleichem Grade von Frucht-
t ~
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 361
barkeit ausgerüstet. So sind Rothlauf, Phthisis, Gicht,
Wechselfieher, Epilepsie u. s. w. selten, dagegen Schar¬
lach, Masern, Blattern, Krätze, Syphilis sehr fruchtbar.
Die Zeit der Fruchtbarkeit fällt in die Blüthezeit des Le¬
bens der Organismen und der Krankheiten (Acme), und
mit dem Zurücktreten der Zeugungskraft nähert sich der
Tod. Die Entwickelung der Saamenorgane oder des Saa-
meos geschieht bei den contagiüsen Krankheiten auf ihrer
Höhe, z. B. beim gelben Fieber, Typhus, Ruhr, Blattern,
Catarrh, Schwindsucht, Carcinom. So wie bei den Pflan¬
zen die Lichenen, so machen bei der Syphilis die Tripper¬
und Schankersaamen eine Ausnahme. —
5) Ereignisse bei der Bildung der Saamen¬
organe und des Saamens (§. 16.). So wie die Bil¬
dung der Saamenorgane, und die Bildung und Absonderung
des Saamens, bei den Pflanzen und Thieren mit auffallen¬
den Bewegungen des sensitiven Lebens geschieht, so tritt
die Bildung der Hautblüthen bei Krankheiten, besonders
bei den acuten Exanthemen, gewöhnlich mit Stürmen im
sensitiven Leben, mit Krämpfen, Delirien u. s. w. ein,
und stets begleitet ihre Eruptionen krankhaft gesteigerte
Sensibilität des Hautorgans selbst, als: Kitzel, Brennen,
Jucken. —
6) Folgen der Saamenabsonderung für das
Leben (§. 17.). Die Lebenskraft der Organismen und
der Krankheiten verzehrt sich in der Bildung des Zeugungs¬
stoffes, des Contagiums. Auffallende Beispiele haben wir
an Pestepidemieen, acuten Exanthemen, an der Krätze. —
7) Geruch bei der Saamenabsonderu ng (§.18.).
Wie zeugende Organismen eine auffallende Tendenz zeigen,
starke Gerüche zu entwickeln, so hat jede contagiöse Krank¬
heit ihren specifischen Geruch, der mit der Saamenbildung,
mit der Abscheidung des Ansteckungsstoffes zusammenhängt.
Beispiele geben die Pest, der Typhus, das gelbe Fieber,
die Blattern, Varicellen, Varioloiden, Scharlach, Masern,
Friesei, Syphilis, Lepra, Pellagra, Weichselzopf, Krätze,
362 \ III. Natorgeschichte der Krankheiten.
Kopfgrind, Phtbisis, Scorbut, Gicht, Carcinom, Hospital¬
brand, Pustula maligna.
8) Rhythmus der Zeugungskraft (§. 19.). Die
Zeugungskraft der Organismen wirkt rhythmisch ; so
scheint es auch hei mehren Krankheiten zu sein. Reispiele
giebt die Art der Ansteckung bei Syphilis, Hydrophobie,
Vaccine.
9) Zeugungsorgane (§.20,21.). Sowie die Zeu¬
gungskraft bei niederen Organismen an kein Organ, bei den
höheren an bestimmte Gebilde (Zeugungsorgane) gebunden
wird, so gehen auch die Contagien bald von allen Theilen
des kranken Lebens aus, z. B. Typhus, Wechseifieber, Gicht,
bald nur von bestimmten Saamenorganen (Exantheme oder
Geschwüre), z. B. bei Blattern, Fricscl, Pest, Aussatz,
Syphilis. Die Bildungsstätte des Saamens ist ein häutiges
Behältnifs, ein Sack, sowohl bei Pflanzen als bei Thicren.
So auch die Saamenorgane der Krankheiten, z. B. die Bläs-
cheu der Variola, Vaccine, Varicellc, des Schankers, der
Krätze, Flechten; die Bläschen der höher entwickelten -
Rose, des ausgebildeten Scharlachs, die Masernstippchen,
das Typhusexanthem, das Blasenexanthem der Yaws und
Plans, die Bubonen der Pest, der Mundausschlag beim
AVechselfieber. Sehr häufig zeigen auch, wie immer bei
Pflanzen und Thieren, diese Bläschen eine zellige Structur,
ein fächeriges Gewebe, in dessen Innerem der Saamen ab¬
gesondert wird. Hierher gehört der fächerartige Bau der
Vaccine, der Variola, der grofsblüthigen Krätze, des Bubo.
Beim Friesei, bei der Blatterrose, bei der \ aricelle scheint
diese Bildung zu fehlen. Es ist noch nicht entschieden, ob
das Verschwinden mancher Exantheme nach dem Tode des
Kranken in dem Mangel der Zellen- und Fächerbildung
seinen Grund habe, ob die ZelTen nach fixen geometrischen
Gesetzen, gleich den Pflanzenzellen gebildet sind, und wie
sich ihre Entwickelung und Metamorphose zu denen des
Exanthems und der Krankheit selbst verhalte. —
10) A u s s t o 1 s u n g des Saamens ( §. 22. ). W ie
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 363
Lei den niedern Organismen die Keimhälter während der
Absetzung des Saamens zerreifsen, so findet dieser Act der
Dehiscenz auch Lei den Saamenorganen der Krankheiten
statt. Das Grübchen der Blatterpustel wird allmählig zuin
Loch, das Schankcrbläschen platzt bald, der syphilitische
und Pestbubo geht in Eiterung über u. s. w. —
11) Mannigfaltigkeit der Zegungst heile (§.23.).
Bei den niederen Organismen ist eine gewisse Mannigfaltig¬
keit der Zeugungstheile. Eben so bilden auch die Krank¬
heiten häufig mehre der Form und Bildung nach von ein¬
ander abweichende Zeugungsorgane. So die Syphilis, der
Aussatz, die Pest, Variola, Varicelle, Yaws und Pians. —
12) Veränderung der Zeugungstheile durch
äufsere Einflüsse (§. 24.). Die Saamenorgane niederer
Wesen, der Pflanzen, werden leicht durch äufsere Ein¬
flüsse in ihrer Form verändert. So auch die Fructifications-
organe der Krankheiten; hierher gehört z. B. die unvoll¬
kommene Entwickelung der Pocken als emphysematose,
Stein-, Warzen-, Nabel-, Blutpocken, als Wasser- und
Lymphblattern , die Arten von Varicelle, Vaccine, Krätze,
die syphilitischen und leprösen Formen. —
13) Quantität des zur Befruchtung nÖthigen
Saamens (§.25.). So wie bei den Pflanzen und Thieren,
eine unendlich kleine Menge Saamen zur vollkommenen
Befruchtung hinreicht, so auch bei den Krankheiten (doch
ohne eine Multiplication anzunehmen). Bekannt ist die An¬
steckung durch Atome von Syphilis-, Vaccine-, Pest- und
Milzbrandstoff, durch den Hauch eines Kranken u. s. w. —
14) Chemisches Verhältnifs des, Saamens
(§. 26'.). Aehnlich dem Saamen der Organismen, verhält
sich in chemischer Hinsicht auch der Saamen der Krank-
*
heilen. So wie bei jenem eine eigentümliche tbierische,
dem Schleim, Kleber und Eiweifs nahestehende Materie die
Grundlage ist, und Stickstoff und Wasserstoff die herr¬
schenden Elemente in ihm sind, und der Saamen basisch
reagirt, so liegt jedem Contagium ein eigenthümiieher thie-
364 \ III. Naturgeschichte der Krankheiten.
D
rischer Stoff, der dem Schleim, Eiwcifs und Kleber nahe¬
steht, mit Salzen zum Grunde, z. II. in der Kratz- und
Vaccine-Lymphe, im syphilitischen und liospitalbrand- Eiter.
Stickstoff und Wasserstoff zeigen sich durch den starken
Geruch, und das Ammonium, das man reichlich entbinden
kann, und die phosphorsauren Salze lassen das Gontagiuw
basisch reagiren. Die lilattern-, Vaccine- und Krätzlymphe,
der syphilitische und carcinomatüse Eiter, färben das rothe
Lackmuspapier blau. —
15) Aura seminalis (§.27.28.). So wie bei Pflan¬
zen und Thieren eine Aura seminalis, eine Verbreitung des
Saameus in Gasform häufig naehgewiesen werden kann, so
haben auch sämmtliche Contagien eine Aura seminalis (Con-
tagium distans). Dafür spricht am auffallendsten der Uebcr-
gang von Exantliemen und Syphilis auf den Fötus mit oder
ohne Erkranken der Mutter. Den Gebergang von lilattern
beobachteten Lcakc, Lcroy, Watson; den der Pest
%
Dawcs, Iilond, Lynn; den von Syphilis Savary, Le-
roy, Dibben, Hunter, Unzcr, Fischer, Ilinzc,
Prieger. Gleiche Beobachtungen liegen von Masern,
Krätze, Ruhr vor. —
16) Saainenth ierchen (§. 29.). In den Saamen
thierischcr und selbst pflanzlicher Wesen, zeigen sich auf¬
fallende Regungen von thierischen Bildungen, Saamenthier-
chen; so auch in den Krankheitsformen; Jahn fand sie im
Blatterneitcr, Saco in der Kuhpockenlymphe, Desault
und Weber im syphilitischen Eiter, Jahn iu der Flüssig¬
keit der Tinea, Alibert in den verschiedenen Krätzarten
und in der Thierraude, Hensler beim Aussatze, Brug-
mans in der Atmosphäre der Hospitalbrandkranken. —
17) Lebcnstenacitat des Saamens (§. 30. ).
Der Saamen der Pflanzen und J liiere hat grofsc Lcbcns-
tenacität, und kann nicht leicht zerstört werden. So trotzt
auch der Krankheitssaame lange der Aufsenwelt, z. I». die
\ accinelymphe, das Gontagium des Milzbraudes (selbst die
gegerbten Häufe stecken noch an), des Hospitalbrandes,
*
\ III. Naturgeschichte der Krankheiten. 365
der Pest, des gelben Fiebers, der ägyptischen Augenenl-
kündung, der Syphilis. —
18) Schädliche Einflüsse auf das Leben des
ESaamens (§. 31.). Gewisse Einflüsse der Aufsenwelt,
besonders hoher Grad der Kälte und Wärme, Licht, Säu¬
ren, Alkalien u. a. mehr vernichten die Wirksamkeit des Saa-
mens der Organismen und der Krankheiten, z. B. des Hos¬
pitalbrandes, der schwarzen Blatter, der ägyptischen Oph¬
thalmie, der Pest, der Blattern, des Typhus, des gelben
Fiebers, der Ruhr, der Vaccinelymphe. Daher der Nutzen
der kalten Waschungen und Umschläge, der salz-, salpeter-
und schwefelsauren Dämpfe, und der sauren Waschungen
gegen ansteckende Krankheiten. —
19) Bedingungen zur Befruchtung: a) Trä¬
ger des Saamens (§. 32.). Der männliche Saamen der
Pflanzen kommt gröfstentheils durch äufsere Einflüsse in die
weiblichen Genitalien, oder in die sie vertretende Erde.
So sind auch bei Krankheiten die Luft und die Thiere Trä¬
ger und Verbreiter des Saamens. Daher die Verbreitung
der ^Epidemieen durch gewisse Winde, die Uebertragung
von Milzbrandcontagium durch Insekten. — b) Aufnahme
des Saamens (§. 33.) Der Saamen organischer Wesen
nufs von einem gleichen Organismus aufgenommen werden.
\ehnlich verhalten sich Krankheitssaamcn. Syphilis haftet
licht bei Thieren, Rinderpest nicht bei Thieren anderer
Gattung und beim Menschen; Masern, Scharlach, Friesei,
^ehen nicht auf Thiere über. So wie aber bei der Zeu¬
gung der Organismen Bastardproductionen möglich sind,
;o werden auch Krankheiten auf einen anderen mütterlichen
Organismus übertragen, durch denselben modificirt. So
)ringt die Räude der Thiere beim Menschen Krätze, die
Variola beim Affen Varioloid, die Mauke beim Rindvieh
Hüllblättern und beim Menschen Vaccine, die Kuhpocke bei
verschiedenen Thieren verschiedene Pusteln hervor. Solche
Eastardorganismen und Bastardkrankheiten entbehren mei-
t.ens des Fortpflanzungsvermögens. — c) Lcbensver-
366 VW. Naturgeschichte der Krankheiten.
haltniss der Mutter (§. 34.). Der den ZeugungsstofT
empfangende mütterliche Thei! mufs reges, blühendes I.e-
ben besitzen, wenn ein dem väterlichen Organismus gleich¬
namiges Wesen gehörig entwickelt werden soll. So haften
die Contagien nur in der Jugend und im entwickelten
Mannesaltcr. Die Receptivität für ein Contagium ist dann
gerade am stärksten, wenn das System, in welchem jenes
Contagium Wurzel schlägt und seinen Ileerd hat, in der
Culmination seines Lebens steht. Der Scharlach, die lila t-
ter, die Varicellen, die vorzüglich im chylopoetischen Sy¬
stem spielen, befallen kindliche Organismen; eben so Croup
und Masern f indem sich im kindlichen Organismus die
Sprache und das anapnoische System entwickeln. Im zwei¬
ten und dritten Decennium des menschlichen Lehens spie¬
len das Ilerz und die ihm angehörigen Partieen eine wich¬
tige Rolle; aber gerade in dieser Periode ist der Friesei
mit dem Herzklopfen und den pathologischen Produkten
im Herzen häufig. Krankheiten, die das sensitive System
vorzugsweise ergreifen, z. B. Pest, Typhus, Ochropyra,
befallen den Menschen vorzüglich dann, wenn das Nerven-
und Seelenleben sich vollständig entwickelt hat, also in den
Blütbejahren. — d) Verhältnifs der zeugenden In¬
dividuen zu einander (§. 35.). Die zeugeuden Organis¬
men müssen in einer dynamischen Wechselbeziehung zu
einander stehen. So mufs auch der anzusteckende Organis¬
mus eine besondere Disposition für die Krankheit besitzen,
d. h. er mufs in besonderem Wahlverwandtschaftsverhält¬
nisse zu der das Contagium entwickelnden Krankheit und
zum Contagium selbst stehen. So werden viele Menschen
nicht leicht durch Syphilis, Krätze, Scharlach, Typhus,
Blattern u. s. w. angesteckt. —
20) Allgemeine und örtliche Wirkungen der
Befruchtung (i^. 36. 37.). Bei der Zeugung der Orga¬
nismen geräth das den Keim empfangende Individuum nach
der Aufnahme desselben in eine besondere allgemeine
Erregung, der eine örtliche Metamorphose des den
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 367
Keim empfangenden Organs parallel läuft. So auch hei der
Aufnahme der Krankheitscontagien. Die allgemeine Er-
regung aller Systeme ist jener bei der Empfängnis ähn¬
lich, und besonders auffallend beim Typhus, bei der Pest,
, der Cholera, Ochropyra, dem Aussatze, den Blattern. Beim
ersten Auftreten der Syphilis waren ähnliche Symptome mit
der Ansteckung verbunden. Gleichwie bei der Empfäng¬
nis, sind diese Zeichen auch bei der Ansteckung häufig
sehr mangelhaft, vermischt und undeutlich. Die örtliche
Erregung der Organismen offenbart sich durch gesteigertes
Bildungs- und Gefäfsleben des recipirenden Organs, mit
Erhöhung der sensitiven Actionen. Diesem Aehnliches fin¬
det sich auch bei der Aufnahme der Krankheitssaamen in
die Atrien des Organismus (die Schleimhäute und das ihnen
ähnliche Malpighische Schleimnetz). Das plastische Gefäfs-
und Nervenleben dieser Atrien wird mächtig gesteigert.
Diese Zustände kann man aber weder bei der Zeugung der
Organismen, noch bei der der Krankheiten Entzündung
nennen. —
21) Bedingungen zur Entwickelung der
Frucht, a) Schleim (§. 38.). So wie die Ausbildung
pflanzlicher und thierischer Keime im Schleime vor sich
geht, so werden auch alle Contagien auf Schleimhäute ab¬
gesetzt und in die Organismen aufgenommen. Die Schleim¬
haut der Respirationsorgane empfängt die Contagien der
Masern, des Keuchhustens, des Frieseis, des Typhus; die
Rachenschleimhaut den Scharlachstoff; die Conjunctiva das
Gift der ägyptischen Augenentzündung, die Schleimhaut
des chylopoetischen Systems den Blatternstoff, die Genital¬
schleimhaut das syphilitische Gift. Sobald die Ansteckung
durch die Haut vermittelt wird, haftet das Contagium im
Malpighischen Schleimnetz, z. B. bei Krätze, Milzbrand;
selbst wo Wunden Atrien der Contagien sind, haften die
Contagien auf der Schleimfläche des Bodens der W^unde
(Hospitalbrand, Lues). — b) Kohle (§. 39). So wie
die Kohle bei der Entwickelung organischer Keime vom
368 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
gröfsten Einflüsse ist, und die Keime der Organismen der
Kohle als eines Substrates und Materiales zu ihrer En tfal-
tung bedürfen, so werden auch die Keime der Krankhei¬
ten, alle Contagien, in Entkohlungs- und Reinigungsor-
ganen (äufsere und innere Ilaut) empfangen und entwickelt.
Ucberhaupt haben alle Krankheiten Neigung, sich auf Ge¬
bilde zu werfen, die dem Reinigungs- und Entkohlungs¬
prozesse des Organismus angehüren. Daher haben die mei¬
sten Krankheiten Tendenz zur Exanthembildung, zu Affectio-
nen des Respirations- oder chylopoi'tiscben Systems. —
22) UnTruc h tbarkeit (§.40.). Gewöhnung an den
Reiz des Saamens, hebt den Einflufs desselben auf eine ge¬
wisse Zeit, oder auf immer. Dies weiset, in Eezichung auf
Krankheiten, auch die Geschichte der Freudenhäuser und
der Epidemieen nach. —
23) Superfötation (§.41.). So wie ein und der¬
selbe Organismus selten Superfötation eingeht, so nimmt
auch selten derselbe Organismus zwei Krankheitsformen auf,
z. R. Scharlach mit Vaccine oder Masern, Masern mit Blat-
tern oder Röthcln oder Vaccine; Blattern und Pest. Gleich
den beiden Fötus, entwickeln sich die beiden Krankheitsfor¬
men, entweder regelmüfsig neben einander, oder der früher
oder später aufgenommene <stört den anderen, oder beide
hemmen und vernichten sich gegenseitig. —
24) Wiederholung der Befruchtung (§. 42.).
Mehre Organismen sind nur einmaliger Empfängnifs und
Befruchtung fähig. Auch die meisten ansteckenden Krank¬
heiten befallen den Menschen nur einmal, und die Recepli-
vität für sie wird durch ihre Gegenwart getilgt, so dafs
die Atrien ihrer Contagien nach einmaliger Aufnahme der
letzten ihre Bedeutung als Atrien eben dieser Contagien
verlieren. Dagegen giebt cs andere Krankheiten, deren
Saamen von demselben Organismus und von demselben
Organe öfter empfangen und entwickelt werden können,
z. B. Eues, Variccllc. —
25) Elec Irisch es und magnetischem Verhält-
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.' 369
nifs der Zeugung (§. 43. 44.). So wie bei der Zeu¬
gung der Organismen, so kann auch bei der Ansteckung
ein elektrischer und magnetischer Prozefs nachgewiesen
werden. —
26) Erblichkeit der Fehler (§. 45. 46.). Die
Keime von niederen Pflanzen und Thieren entwickeln sich
in manchen Fällen nach einem anderen, ganz fremdartigen
Typus, zu Gestalten, die dem älterlichen Organismus nicht
gleichartig sind. Eben so bilden sich die Saamen der Krank¬
heiten zu Krankheitsformen aus, die der Mutterkrankheit
nicht gleich stehen. Das Varicellen - Contagium producirt
wahre Blattern, der Scharlachstoff Angina gangraenosa, das
Hospital- und Milzbrand- Contagium Typhus, und Typhus
wieder Hospitalbrand bei Verwundeten. So wie Abwei¬
chungen zeugender Organismen von ihnen auf ihre Nach¬
kommenschaft übertragen werden, so übertragen auch Krank¬
heitsorganismen die ihnen zustehenden Anomalieen auf ihre
Nachkommenschaft, z. B. anomale Vaccine, anomale syphi¬
litische und lepröse Formen, wohin die Radesyge, die
Marschkrankheit, die Falkadina, der Scherlievo, die Sibbens,
die Yaws und Pians, das Pellagra, die asturische Rose,
der Weichselzopf, die Krimmische Krankheit gehören. —
Zweiter Abschnitt. Lebensgeschichte der Or¬
ganismen in Bezug auf Lebens- (Verlaufs-) Ge¬
schichte des Krankheitsprozesses (S. 128 — 230.).
Das Aehnliche und Gleiche des Lebens der Krankheiten mit
dem Leben der Organismen wird durch folgende Punkte
gezeigt:
1) Lebenserscheinungen und Lebensform (§.48.).
Jedes J^eben beurkundet sich durch Lebenserscheinun¬
gen, und erhält dadurch die Lebensform. So hat auch
die Krankheit ihre Symptome, deren Complex die Krank¬
heitsform giebt. Beide haben einen Leib und eine Seele.
So wie nämlich in jedem Wesen Kraft und Stoff, Seele
und Leib, eine ideale, dynamische, und eine mate¬
riale, reale, somatische Seite, ein Bestimmendes, Schaffen-
XIV. Bd. 3. St. 24
i
I
370 VIII. Natargeschichto der Krankheiten.
des, und ein Bestimmtes, Geschafftes, Thätigkeit und Sub¬
strat, Pr 07. efs und Organ ist, die bei verschiedenen
Wesen in einem verschiedenen Verhältnifs zu einander ste¬
hen, und von denen bald die eine, bald die andere vor¬
herrscht; so hat auch jede Krankheit ein materiales Sub-
srat und lebendige Thätigkeit, ihren Leib und ihre
Seele, krankhaft veränderten Stoff und eine krankhaft ver¬
änderte Thätigkeit, eine Materia peccans und efficacia per¬
niciosa, materiale und dynamische Symptome, die
in verschiedenen Krankheiten mehr oder weniger vorherr¬
schen, woher die Eintheilung der Krankheiten in organi¬
sche und dynamische. —
2) Individualität und Selbstständigkeit (§.49.
und 50.). Jedes Leben hat Individualität und eine gewisse
Selbstständigkeit. So auch die Krankheit; sie strebt sich
selbst zu erhalten, zu vervollkommnen und auszubilden. —
3) Lebensalter und Lebensmetamorphosen
(§. 51.). Jedes Leben hat sein Alter, und erleidet wäh¬
rend desselben verschiedene Veränderungen, organische Me¬
tamorphosen, es hat eine Evolution , Culmination und Invo¬
lution, während welcher Seele und Leib sich verschieden
verhalten. Auch der Krankheitsprozefs hat Increment, die
Acme und Dccrcment, während welcher Metamorphose die
Symptome verschieden sind. Beispiele geben die Syphilis,
die Tuberkelbildung u. s. w. Für diese Metamorpho¬
sen gelten folgende Gesetze: Die Geneigtheit zu Meta¬
morphosen fällt im Allgemeinen in das jugendliche Alter,
z. IL beim Fötus, bei der angehenden Lues; die Metamor¬
phosen sind bald mehr, bald weniger auffallend, oder un¬
deutlich. Sie kommen zu Stande: 1) neue Gebilde und
Actionen kommen zu den ursprünglich vorhandenen, z. B.
zum ursprünglichen Schanker der Bubo und das Condylom;
2) vorhandene Gebilde und Aclionen werden verändert,
z. B. das Maserstippchen zum Maserknötchen; 3) vorhan¬
dene (iehildc sterben ab, und werden nicht wieder ersetzt,
so die Pupillarmembran, der JNabelstrang und mehre andere
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 371
Gebilde des Fötus; Aehnliches geschieht mit dem Schanker
u. s. w. Dies sind die Symptomata temporaria der Alten.
4) Vorhandene Gebilde sterben ah, und werden wieder
ersetzt. So bei Pflanzen, Thieren und Krankheiten, z. B.
Lues. Die Norm dieser Erscheinungen der Metamorpho¬
sen ist: a) der Wechsel ist an bestimmte äufsere Zeitpe¬
rioden gebunden, besonders bei Krankheiten (an den Früh¬
ling und Herbst), b) oder nicht, z. B. die syphilitischen
Hautausschläge ; c) das Intervallum ist verschieden; d) äufsere
Einflüsse fördern oder hemmen den Act. 5) Die zurück¬
tretenden Gebilde bleiben als Rudimente stehen. So die
Geschlechtstheile im Alter, die Thymus- und Schilddrüse,
das Stehenbleiben mancher Tuberkeln als steinharte Massen;
so verliert manches syphilitische Geschwür seinen syphiliti¬
schen Charakter, und bleibt als einfaches Absonderungsor¬
gan zurück. 6) Einzelne Partieen verlieren ihr Gewicht,
und andere, bisher untergeordnete, treten auf. So weicht
das vegetative System des Kindes dem sensitiven des höhe¬
ren Alters, das catarrhalische Leiden im ersten Stadium des
Typhus den nervösen Affectionen. 7) So wue jedes Leben,
so beginnt und endet die Krankheit mit einer latenten Pe¬
riode, unter Scheintod (Stad, prodromorum, invasio-
nis, irritationis, fermentationis, opportunitatis , und Conva-
lescenz, Wiedergenesung), beide sind von verschiede¬
ner Dauer. 8) Der Uebergang aus dem latenten Zustande
in den in die Wahrnehmung fallenden, selbstständigen Pro-
zefs, und von diesem in den latenten Zustand beim Tode,
äufsert sich durch unbestimmte Zeichen. So auch bei
Krankheiten. 9) Organismen und Krankheiten folgen bei
ihrer Entwickelung dem Harvey sehen Gesetze, und gehen
von den niederen zu den höheren Bildungsstufen über.
Beispiele geben: a) das venöse Krankheitsgeschlecht (Kya-
nose), dessen höchste Entwickelung der Scorbut ist. Die
venöse Congestion, venöse Blutungen, die Petechialkrank¬
beit, die Stomacace sind Entwickelungsstufen derselben,
b) Das Geschlecht Rothsucht, Erythrose, dessen Stufen
24 *
372 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
die Plethora arteriosa, Congestio arteriosa, die arterielle
Blutung, die Subinllamniatio, und die höchste die Entzün¬
dung ist. Beide, Scorbut und Entzündung, durchlaufen
bei ihrer Entwickelung den ganzen Kreis dieser Krankhei¬
ten. 10) Der letzte Abschnitt des Lebens ist durch An¬
häufung der Lebensproductc characterisirt, das Leben er¬
lischt in seinen Productcn. Beispiele im Thier- und Pflan¬
zenreiche sind bekannt. Je mehr eine Krankheit Producte
absetzt, desto mehr verliert ihr Leben an Intensität. So
verzehrt sich der Gichtprozels in den Ablagerungen, und
der lahmgewordene Kranke erleidet keine Paroxysmen mehr.
So hört die lntermittens mit dem Erscheinen des Fieber¬
kuchens auf, so endet Entzündung in Lvmph-, Eiter- und
Wasserbildung.
4 ) Rhythmus (Typus) des Lebensprozesses
(^. 52.). Jedes Leben geht in Stöfscn und Pausen, in Span¬
nungen und Abspannungen, in stetem Wechsel von Th'a-
tigkeit und Ruhe einher, zeigt Pulsation. So auch die
Krankheit. Daher die Lehre vom Typus, Rhythmus, Ex¬
acerbationen und Remissionen, Paroxysmen und Intermis¬
sionen der Krankheiten. Gesetze desselben sind: a) Die
Pausen und Steigerungen des Lebensprozesses sind bald
mehr, bald weniger merklich und deutlich. So ist der
Grad der Ruhe bei den Krankheiten verschieden, z. B. bei
der lntermittens, der Entzündung, der Syphilis. Nach die¬
ser gradualen Verschiedenheit der Stärke des Krankheits¬
prozesses theilt man die Krankheiten in intermitti-
rende und r e m i t ti r e n d e. Allein beide sind nicht we¬
sentlich verschieden; die remittirende Krankheit ruht so gut,
als die intermittirende, nur ist die Ruhe nicht so tief, und
nicht so deutlich, b) Die Pausen des Lebensprozesscs der
Organismen und der Krankheiten sind entweder gebunden,
vom Erdorganismus abhängig, oder frei, c) Die Zeit der
Ruhe und die verstärkter Thätigkeit, sind bei verschiedenen
Organismen und Krankheiten von sehr verschiedener Lange. '
Beispiele geben: der Keuchhusten, die lntermittens, Epi-
I
VIII- Naturgeschichte der Krankheiten. 373
Iepsie, Syphilis. d) Gleich der Erde, haben nicht alle
Theile eines Organismus gleiche Zeiten der Kühe und Thä-
tigkeit. e) In der Jugend und im Alter der Organismen
sind die Pausen länger, und die Steigerungen des Lebens
kürzer und seltener. So hei Arthritis, Neurosen u. s. w.
5) Einflufs der Aufsenwelt (§.53.). Potenzen,
die das Leben der niederen Organismen begünstigen, sind
auch dem Leben der meisten Krankheiten befreundet, z. B.
Wärme, Feuchtigkeit, unreine Luft, und umgekehrt, z. B.
Quecksilber, Schwefel u. s. w. Aeufsere Einflüsse modifi-
ciren häufig die Form und Gestalt der Organismen und
Krankheiten , z. B. der Lues , der Hautkrankheiten — oder
trüben und stören ihre Entwickelung und Metamorphose,
z. B. der Vaccine, der Wasserscheu, der Scropheln —
oder veranlassen ein Beharren auf einer Bildungsstufe, z. B.
der primären Syphilis, des catarrhalischen Stadiums des
Typhus u. s. w. — oder beschleuniget ihre Entwickelungs¬
stufen, z. B. den schnellen Uebergang der primären Lues
in die secundare, des catarrhalischen Stadiums des Typhus
in das nervöse — oder verursachen Bildungshemmungen,
z. B. exan thematische Fieber ohne Exanthem, Typhus mi-
tior, Habitus scrophulosus u. s. w. — oder Rücksprünge,
Kecidive — oder modificiren den Rhythmus und Typus
(morbus atypicus, irregularis, vagus, erraticus, corruptus,
devius, aberrans, illegitimus, typus anticipans, anteponens,
postponens, retardans etc.).
(i) Verbreitung der Organismen und Krank¬
heiten über die Erde (§. 54.). (Geographische Zoo¬
logie, Botanik und Krankheitsflora, oder geographische No¬
sologie.) a) Manche W esen und Krankheiten linden sich
überall (Entzündungen, Catarrhe, Rheumatismen, Wasser¬
süchten, Krämpfe), b) andere nur in gewissen Gränzen
(Pest, gelbes Fieber, Radesyge, Weichselzopf, Pellagra),
oder c) nur an einzelnen Orten (aleppische Flechte, ma¬
rokkanische Hodengeschwulst, krimmische Krankheit, Ra¬
desyge, Sibbens, Weichselzopf, der Selienlop in Nieder-
374 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
Sachsen, das Pellagra, die asturiscbe Pose, das Mal rouge
in Cayenne, das knollenbein in Barbados, die Pinta in
Mexico); d) kalte und heifse Erdstriche haben ihre eigen-
tbümlichen Wesen und Krankheiten (Sihbens, Badesyge,
Influenza, Purpuratyphus, Schweifsfieber, Keuchhusten, die
blaue esthländiscbe Blatter gehören den nördlichen, \aws,
Pians, die Krankheit von Soudan, Lepra aegypt, die Seuche
von Mosambique, die rothe Krankheit von Cayenne, Mal
de St. Lazaro, die Fufsgeschwulst von Barbados, Boulam-
fieber, gelbes Fieber, Cholera den südlichen Erdstrichen
an); e) die höchste Frequenz und Mannigfaltigkeit der Or¬
ganismen und Krankheiten fällt in die wärmeren Gegenden,
und in der Nähe des Aequators erhalten sie ihre gröfste
Entwickelung (dies zeigt die Intensität der krampfigen Krank¬
heiten, z. B. des Trismus und Tetanus, der schnelle Ueber-
gang von Entzündungen in Brand, z. B. der Dysenterieeo,
der Mastdarmentzündung); f) in der Vorzeit waren viele
tropische Wesen und Krankheiten weiter als jetzt nach
dem Pole hin verbreitet (Pest, Lepra); g) die östliche
Welt hat mit der westlichen wenig an höheren Organis¬
men und Krankheiten gemein; nur von den tieferen kom¬
men viele zugleich in beiden Welttheileu vor (die Exan¬
theme, die Pest, der Purpuratyphus, die ostindische Cho¬
lera, schwarze Blatter, der Weichselzopf, das Pellagra, die
aleppischc Flechte, die Marschkrankheit, die Badesyge , die
Sibbens, die asturische Bose, der ungarische Pokolwar, die
Furia inf. , der Keuchhusten, die Yaws und Pians, das Bou-
iamfieber u. s, w. sind in der neuen W eit entweder gar
nicht, oder nur nur durch Verschleppung bekannt gewor¬
den; so wie das gelbe Fieber, die Fufsgeschwulst von Bar¬
bados, Mal rouge von Cayenne, die Krankheit von Ca na da,
Pinta, die peruanische Mastdarmgangrän u. s. w. die alte
Welt wenig oder gar nicht berührt haben. Niedere Krank¬
heiten kommen aber in beiden Welttheilen vor, z. B. Ent¬
zündungen, Rheumatismen, iotcrinittircnde Fieber); h) die
barometrische Höhe der Ileimatb hat auf die geographische
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 375
Verbreitung der Pflanzen, Thiere und Krankheiten Einflufs.
Den tief gelegenen Gegenden sind Aussatzformen , Tuber¬
keln, Scropheln, Wechselfieber, viele Hautausschläge, Was¬
sersüchten, den höheren Regionen Lungenentzündung, Kropf,
Gretinisnms eigen. Der gröfste Reichthum von Organismen
und Krankheiten scheint nur in die Reiche von geringer
Elevation über den Meeresspiegel zu fallen. So gelbes
Fieber, Cholera, Aussatz, Wechselfieber, Phthisis, Was¬
sersucht, Scropheln, Scorbut , Arthritis, Haemorrhois.
i) Manche Wesen und Krankheiten gehen dem Meeres¬
strande oder den Flufsufern nach, z. R. gelbes Fieber, die
Intermittens; andere folgen bestimmten Zügen anorganischer
Körper, z. R. den Kalklagern, dem Sandboden; so Kropf
und Cretinismus. k) Die Organismen und Krankheiten
wandern theils von Osten nach Westen, theils von Westen
nach Osten, Erstes ist vorherrschend. Die Blattern,
Masern, und wahrscheinlich auch der Scharlach , wanderten
aus Asien nach Europa und Amerika; der Aussatz und die
Pest zogen immer von Osten nach Westen; der schwarze
Tod, die Influenza, die Epidemieen vom Typhus, der bran¬
digen Braune und des Schweifsfiebers zogen der Sonne
nach; der Weichselzopf stammt aus der Tartarei. ln ent-,
gegengesetzter Richtung haben sich die Lues und das gelbe
Fieber verbreitet. 1) Häufig verändern die in fremdes
Clima versetzten Organismen ihre Züge. So hat der in
den südöstlichen Strichen der alten Welt einheimische Aus-
satz überall andere Gestalten bekommen, zu denen die
krimmische Krankheit, die Yaws, die Krankheit von Cayenne,
die Radcsyge gehören. Die Lues, nach Afrika und Nord¬
amerika gelangend, hat dort als Krankheit von Soudan und
hier als Krankheit von Canada ihren Habitus geändert,
und befällt an beiden Orten den Menschen nur einmal,
m) Manche Organismen und Krankheiten kommen stets
truppweise, andere nur einzeln vor. Bei den Krankheiten
heifsen letzte sporadische, morbi dispersi, erste pande-
mische; ihr einzelnes Erscheinen ist Ausnahme.
376 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
7) Einflufs der Organismen und Krankheiten
auf andere Organismen und Krankheiten (§. 55.)..
a) Manche Organismen und Krankheiten hängen von dem
Lehen anderer ab. Hierher gehören die symptomati¬
schen, secundärcn, dcutcropathischen Krankheiten,
z. B. Petechien, manche Frieseiformen , die chronischen
Wassersüchten, die Pneumatosen, Blutungen u. s. w. Sie
enden mit dem Ende der Grundkrankheit, b) Manche Or¬
ganismen und Krankheiten üben auf andere einen fördern¬
den und günstigen, oder feindlichen und schädlichen Einflufs.
So beschleunigt die Vaccine die Entwickelung der Scro-
phcln. Seropheln oder Scorbut entwickeln die Syphilis zu
einem furchtbaren Grade. Masern beschleunigen die Er¬
weichung der Lungentuberkeln, und die schnelle Entwicke¬
lung des Kropfes. Auf der anderen Seite beschränken siel»
Vaccine und \ ariola> Vaccine und Scharlach, Lepra und
Pest, Typhus und Lues, Krätze und Typhus, ägyptische
Augenentziindung und Typhus, Tripper und Pest, und an¬
dere gegenseitig, c) Manche niedere Organismen und Krank¬
heiten können sich mit anderen, der Art und Gattung nach
verschiedenen, innig verbinden und neue Individualitäten dar-
stellcn, die bei Krankheiten Compl i catio n en heifsen, z. B.
Lues mit Gicht, Rheumatismus, Seropheln, Lepra u. s. w.
8) Selbstständigkeit der Organismen und
Krankheiten, und W id erst and gegen die Aufscn-
welt (§. 50.) a) Alle Organismen und Krankheiten kün-
. nen einzelne ihrer Grbilde verlieren, ohne dafs ihr Ge-
sammtleben dadurch vernichtet wird; sie entfalten vielmehr
häufig ein regeres Leben. So können chronische Haut¬
krankheiten zerstört werden, ihre Wurzel im Innern be¬
steht fort, entwickelt sich stärker, so dafs jene Erscheinun¬
gen, die unter den Namen Metaschematismus, Meta¬
stasen, Diadochc, Metaptosis, Morbus corruptus,
larvatus, suppressus bekannt sind, sich einstellen. Bei¬
spiele geben Syphilis, Krätze, Gicht, Haemorrbois, Lepra.
b) Organismen und Krankheiten haben Rcgcncrationsver-
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 377
I
mögen. Bei Krankheiten heifst man dies häufig Recidiv,
unvollkommene oder theilweise Crisis. Der Ersatz verloren
gegangener Theile geschieht auf Unkosten der unversehrt
gebliebenen Partie. (Wenn Krätze ihre vernichteten Haut-
blülhen wieder hervortreibt, so schwächt der Pxeprodu-
etionsact das Leben des Krankheitsprozesses selbst, so dafs
das Leiden des inneren Organismus, die Krätzmetastasen,
gelinder wird.) Der Ersatz ist aber häufig unvollkommen
(anstatt der reinen unterdrückten Krätze, kommt häufig
nur ein frieselähnlicher Ausschlag. Die anomale Gicht ist
ein die supprimirte Gelenkaffection unvollkommen vertre¬
tendes Leiden). Derselbe Theil kann mehrmals reproducirt
werden. Der Reproductionsact selbst steht unter dem Ein-
llufs äufserer Dinge, namentlich scheint die Wärme noth-
wendig zu sein (z. B. bei Krätze, Gicht). Manche Orga¬
nismen und Krankheiten haben die Reproductionskraft in
einem höheren Grade (z. B. Syphilis mehr als Krätze),
manche können sich selbst aus einem Rudimente wieder
vollständig entwickeln (Beispiele geben die meisten Reci-
dive, Syphilis, Krebs).
9) Schädlicher Einflufs der Schmarotzer¬
organismen auf den Träger, und Reaction des¬
selben (§. 57.). So wie jeder Schmarotzerorganismus
sich auf Kosten desjenigen Organismus erhält, auf dem er
lebt; so verhält sich auch die Krankheit zu dem sie tragen¬
den Organismus, sie befeindet und stört den Lebensprozefs
in verschiedenen Graden, je nach der Individualität der
Krankheit und des Organismus. Der Organismus verhält
sich aber nicht leidend, sondern kämpfend dagegen, er rea-
girt, indem seine Grundsysteme mit ihren Functionen, das
vegetative System mit dem ihm inwohnenden animalischen
Leben, und das Nervensystem mit dem ihm angehörigen
sensitiven Leben gesteigert hervortreten. Fieber ist da¬
her keine Krankheit, sondern der Schatten einer Krankheit,
ist Pieaclion des Organismus gegen örtliches Leiden; Fie¬
ber und lieilslreben der Natur sind Synonyme. Fieber
378 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
ist ohne örtliches Leiden nicht vorhanden, es giebt kein
substantives, essentiales, idiopathisches Fieber.
Jede Reaction des Organismus gegen Krankheit rnufs Fie¬
ber heilsen, daher tritt es in fast unzähligen Gestalten auf,
z. B. als Tetanus, Trismus, Epilepsie, Epiphora. l)ie Form
des Fiebers wird durch die Natur der Krankheit und des
Organismus bedingt. Fieber ist keiner Krankheit wesent¬
lich (Ilirnentzündung, Pest, Scharlach u. a. kommen auch
ohne Fieber vor); es fehlen aber in sehr wenigen Fällen
alle Fieberregungen gänzlich. Oie Reaction (Fieber) kanu
mehr Örtlich oder allgemein sein, und beide sind entweder
vollständig oder unvollständig. Bei der vollständigen Re¬
action kämpfen alle drei Grundsysteme ebenmäfsig, bei der
unvollständigen nur ein oder das andere gegen die Krank¬
heit. Oie Reaction hält der Krankheit entweder das Gleich¬
gewicht ( leichte Aufregung der Functionen — Reizungs¬
fieber), oder sie wird excessiv (örtlich: profuse Se-
cr et io ne n, Blut flösse, Wucherungen, Entzün¬
dung, Krampf, Algie; allgemein: Synocha, heftige
Krämpfe), oder erliegt im Kampfe (örtlich: Nerven¬
lähmung, Brand; allgemein: typhöser Prozefs). So¬
mit kann jede Reaction des Organismus gegen Krankheit
heilsam oder schädlich werden. (Oer Vcrf. führt die An¬
sichten von Gels us, Ilclmont, Paracelsus, Bagliv,
Sydcnham, Boerhaave, Stahl, über das Fieber wört¬
lich an).
10) Macrocosmus und Microcosmus der or¬
ganischen Wesen und Krankheiten ( §. 58. ). So
wie die organischen Wesen grofse Organismen bilden, die
im Innern organisch zerfallen und Systeme, Organe, Ap¬
parate unter der Form der Arten, Gattungen und Familien
darbieten; so constituiren die gesammten Kraukheitsformea
einen einzigen grolsen Organismus, in dessen Leben sich
die Gesetze ihres cigeoen Lebens abspiegelo. a) Gleich
dem Macrocosmus der Pflanzen uod Thiere, ist der der
Krankheiten in einer beständigen Metamorphose, und es
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 379
giebt daher eine Geschichte der Pflanzen, Thiere
und Krankheiten. Diese grofse oder allgemeine Meta¬
morphose gleicht der der einzelnen Organismen und Krank¬
heiten: <*) ln Beziehung auf Entstehung. So wie
jede Krankheit während ihrer Keimepoche keine festen und
scharfen Züge hat und eine gewisse Ungestaltheit zeigt,
und den ausgeprägten Charakter erst im späteren Lehen
bekommt; so war auch das gesammte Krankheitsreich in der
Vorzeit einfach und ungeschieden, und erst später haben
sich die distincten, scharfgezeichneten Krankheitsgestalten
entwickelt. So sind z. B. die mannigfachen Formen des
Aussatzes und der acuten Exantheme sämmtlich späteren
Ursprungs, und gleichsam durch Spaltung der seit den äl¬
testen Zeiten Lestehenden Urform des Aussatzes und des in
den alten Zeiten unter dem Namen Pest gehenden allge¬
meinen Exanthems entstanden, ß ) In Beziehung auf
Fortbildung. Zu den vorhandenen Gebilden rücken bei
dieser Metamorphose neue. So wie dies bei der einzelnen
Krankheit ist, so findet man es bei der gesammten Krank¬
heitswelt. Hierher gehört das Erscheinen der Pocken (1122
vor Christo) in China, der Lues, des Scorbuts, des engli¬
schen Schweifsfiebers, der Rhachitis, des Scharlachs, des
Keuchhustens, der Kriebelkrankheit, des gelben Fiebers (im
löten Jahrhundert), des Frieseis (im 17. Jahrh.), der Pel¬
lagra und des Scherlievo (im 18. Jahrh.), und der ägypti¬
schen Augenentzündung in unsern Tagen, y) In Bezie¬
hung auf Rückbildung. Einzelne Partieen des indivi¬
duellen oder allgemeinen Organismus sterben ab. So wie
sich die einzelne Krankheit dadurch metamorphosirt, dafs
einzelne ihrer Erscheinungen im Verlaufe der Zeit ver¬
schwinden ( Sympt. temporaria); so verändert sich auch die
grofse Krankheitswelt in der Art, dafs einzelne ihrer Glie¬
der, Kraukbeitsgattungen und Arten, aussterben. So ist es
geschehen mit der Pest von Attica, dem schwarzen Tode,
dem englischen SchweifsGeber, und so scheint es gegen¬
wärtig mit dem Aussatz, der Syphilis, der Variola, dem
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/
380 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
0
Scherlicvo zu geschehen. £) Einzelne Theile gestalten sich
um, verlieren ihre alte Bedeutung und erhalten eine neue.
So wie bei der einzelnen Krankheit, so auch im Krank¬
heitsreich. So hat die Syphilis zu unserer Zeit eine ganz
andere Gestalt, als zu Grünbeck 's Tagen; so ging der
Scharlach in früherer Zeit stets mit Affection des Respira-
tionssyst.ems, aber ohne Halsaffection und ohne Bläschen
einher; so tritt jetzt die Yaricelle in nie geahnter Macht
und in ganz veränderter Gestalt auf. — b) Gleich dem
Eeben der Einzelwesen ist auch das allgemeine Leben der
Natur- und Krankheitsreiche rhythmisch , pulsirend. Es
haben die einzelnen Arten des Krankheitsreiches ihre Exa¬
cerbationen und Remissionen , in denen man das epidemische
Auflodern der Krankheiten suchen mufs. Die Pest, das
gelbe Fieber, die Blattern, die Masern, der Friesei, der Ty¬
phus — lodern zu gewissen Zeiten auf und kommen in
grofser Zahl vor, und dann verschwinden sie wieder und
sind nur sporadisch zugegen. So auch der Weichselzopf,
die Lucs (als Lues moravica, canadensis, als Falkadina, als
Krankheit von Soudan, als Seuche von Mosambique u.s.w.),
Lungenentzündung, Croup, Bräune, Scorbut, Rose, Krätze,
Gatarrh, Keuchhusten, Kriebelkrankheit, Wcchselfieber,
Veitstanz, Hundswutb, Aussatz. Auch die Aufloderungen
der Krankheitsarten sind mit Emporkommen und Verschwin¬
den anderer Krankheitsarten verbunden. So hören Pest-
epidemieen im Orient auf, wenn die Blattern zu herrschen
anfangen; so verdrängen Epidemieen und Scharlach die
Masern, Blattern und Masern den Keuchhusten, Lues den
Aussatz, und auf der andern Seite kommen Typhus und
Hospitalbrand, Variola und Varicclle gleichzeitig 'vor. Die
Aufloderungcn der Krankheitsarten scheinen auch an be¬
stimmte Zeitgesetze gebunden zu sein, wie denn die Pest
alle 12, die Blattern alle 5 — (>, der Scharlach alle 7, das
gelbe Heber alle 15 Jahre wiederkehren mag.
11) i . I a ssi fi ca t i o n der organischen Wesen
und Krankheiten (§. 59.). Wie man bei der Classih-
Vni. Naturgeschichte der Krankheiten. 381
cation der Naturkörper künstliche und natürliche Systeme
(Lin ne und Oken) hat, so hat man auch hei den Krank¬
heiten die künstlichen Systeme a) nach der Dauer
des Verlaufs der Krankheit (Aretaeus), oder b) nach
ihrem Sitz (anat. Syst.), oder c) nach den chemischen
Veränderungen (Paracelsus, Sylvius, Baumes,
Brandes), oder d) nach den Lebensaltern der Kranken,
und je) nach den Curmethoden — und den einzigen Ver¬
such eines natürlichen nosologischen Systems von
S c h ö n 1 e i n.
t
Dritter Abschnitt. Todesgeschichte der Or¬
ganismen in Bezug auf die Geschichte des Aus¬
ganges der Krankheiten (§-61 — 70. u. S.231 — 251.).
Der Verf. vergleicht hier die Vorgänge beim Tode der
Krankheiten mit denen beim Tode der organischen Wesen
in folgenden allgemeinen Gesetzen:
1) Natürlicher und widernatürlicher Tod
der Organismen und Krankheiten (§. 62.). Der
Tod ist entweder natürlich (Mors naturalis s. senilis,
Auf hören des Lebens am Ende der Bahn), oder wider-
natiirlich (Mors praeternaturalis, marbosa, violenta,
Stillstand auf der Mitte der Bahn. ) So verhält er sich bei
den Organismen und Krankheiten. Die Exantheme sterben
eines natürlichen Todes, nachdem sie in bestimmten Ter¬
minen keimten, wuchsen, blühten, Saamen absonderten,
und sich wieder allmählig ihrer Symptome entkleideten;
eben so die Scrophel, wenn der mit ihr Behaftete das
männliche Alter erreicht hat; auf der anderen Seite endet
die Entzündung, die Krätze, die Lues im gewaltsamen Tode
durch die [leilungsmelhode. Die Bedingungen des ge¬
waltsamen Todes der Organismen und Krankheiten sind:
a) Er kann in allen Entwickelungsstufen eintreten. b) Je
näher aber Organismen und Krankheiten ihrem Entstehen
und Vergehen stehen, desto eher vermögen äufsere Ein¬
flüsse ihr Sein zu vernichten. In der Acme behaupten sie
die Integrität des Lebens am besten, c) Organismen und
382 VIII. Naturgeschichte der Krankheiten.
Krankheiten können durch die Zernichtung einzelner wich¬
tiger Partieen getödtet werden, doch haben Krankhei¬
ten als niedere Organismen eine starke ReproductionskrafL
d) Entziehung der äulseren Eebensbedingung verursacht den
Tod der Organismen und Krankheiten (durch die Indicatio
causalis). e) So wie bestimmte Stoffe für bestimmte Thier¬
arten Gift sind, so giebt es auch Stoffe, die das Leben
bestimmter Krankheitsformen vernichten (Krankheitsgifte,
Specifica morborum). Das Quecksilber tödtet die Syphilis,
der Schwefel die Krätze, die China das Wechselfieber,
f) Einflüsse, welche thierische Embryonen vernichten, sind
auch Krankheitskeimen schädlich, z. B. Erschütterung durch
Brech- und Abführmittel, Reizung der Keimorgane durch
Uterusspecifiken , Diaphoretica (bei ansteckenden Exanthe¬
men), Cubeben, Terpenthin, Oopaiva (beim Tripper).
‘2) Frühzeitiger Tod (§. 63.). Bei Organismen
und Krankheiten ist durch schnellere Lebensmetamorphose
ein frühzeitiger Tod möglich, so z. B. den Exanthemen
durch Diaphoretica.
3) Lebensdauer (§. 64.). Jedes Wesen und jede
Krankheit hat eine bestimmte Lebensdauer. So wie das
Leben der organischen Wesen von einem Augenblicke bis
zu Jahrhunderten dauert, so auch das Leben der Krank¬
heiten von einigen Augenblicken bis zu Jahren. Der Schlag-
flufs und die Asphyxie durchlaufen ihre Entwickelung in
einigen Minuten, die Entzündung in einigen Tagen, die
Exantheme in mehren Wochen, Schleimflüsse und Wasser¬
süchten in Monaten, Scropheln in Jahren, Gicht und Hä¬
morrhoiden nehmen das halbe, Aussatz und Syphilis oft das
ganze Leben in Anspruch. Daher die Eintheilung der
Krankheiten in sehr acute, acute, subacute und
chronische. Die Krankheiten ähneln auch hier auffallend
den niederen Organismen, indem sehr gleichartige Organis¬
men und Krankheiten hinsichtlich ihrer Lebensdauer sich
sehr verschieden verhalten.
4) Regung der Lebenskraft beim natürlichen
VIII. Naturgeschichte der Krankheiten. 383
und widernatürlichen To de (§. 65.). Die kritischen
Perturbationen der Alten werden vorzüglich beleuchtet.
5) Partieller Tod der Organismen und Krank¬
heiten (§. 66.). Brand, Lähmung, Verschwinden der
Hautausschläge hei Dyscrasieen.
6) Entwickelung niederer Lebensformen beim
Tode der Organismen und Krankheiten (§. 67.).
Katagenesis. Der Tod ist Geburt neuen Lebens; die Or¬
ganismen zerfallen sterbend in niedere infusorische Lebens¬
bildungen, und die sich endende Krankheit in niedere Krank¬
heitsformen. Der Lungenentzündung folgen: Sputa
cocta, Hüsteln, veränderter Urin, gleichsam ein Catarrh,
Erethismus der Brust nerven, Veränderung der Nierenaus¬
scheidung u. s. w.; dem gastrischen Fieber: dyspepti¬
sche Erscheinungen , Geneigtheit zu Diarrhöe und Versto¬
pfung, vermehrte Säure, Gas- und Schleimbildung, Ver¬
stimmung der Ganglien u. s. w. Wie die Infusorien Ele¬
mentarformen des Lebens sind, so sind diese leichte Stö¬
rungen, Krankheitsgrundzüge, Seminia morbi.
7) Umwandlungen niederer Organismen und
Krankheiten beim Tode (§.68.). Mehre niedere Or¬
ganismen bilden sich bei ihrem Tode in Gestalten um, die
von ihren eigenen specifisch verschieden sind. So gehen
auch Krankheiten in ganz andere über (Andeutungen dieser
Erscheinungen findet man bei den Pathologen im Kapitel
von den Metastasen und Metaschematismen). Die Pians ge¬
hen nicht selten in das Mal rouge über, die Syphilis wird
in Guinea nicht selten zu Yaws; bei uns verwandelt sich
die Syphilis in Aussatz; in Polen bildet sich Gicht häufig
in Weichselzopf um. Erysipelas neonatorum gestaltet sich
zu Sclerosej Herpes und Scrophelknoten zu Krebs. Diese
Uehergänge haben a) bestimmte Gränzen. So wird sich
Scharlach nie in Pest, oder Pest in Syphilis umwandeln.
Nur tief stehende Krankheiten haben eine Neigung dazu,
z. B. Congestionen, Catarrh, Entzündungen, b) Die sich
in einander umbildenden Lebens- und Krankheitsformen
384
IX. Medicinischc Bibliographie.
müssen mit einander in einiger Verwandtschaft stehen,
c) Diese Umwandlungen sind häufig ein Streben zuin Fort¬
schreiten auf höhere Stufen der Organisation (z. B. der
Congestion zur Entzündung, der einfachen Krämpfe zur
Epilepsie u. s. w. ), oder d) zum Rückschreiten (z. B. der
Entzündung zur Congestion).
8) Scheintod und Revivisccnz (§. 69.). Das
Leben der Organismen und Krankheiten vermag bis auf
einen höchst schwachen Funken zu erlöschen, lange Zeit
so beharren und dann wieder zu seiner normalen Stärke
aufblühen. Hierher gehört die Lehre von den Recidi-
ven, vom Morbus latens, occultus, reconditus u.
s. w. Beispiele geben Lues, Aussatz, Entzündungen, Wech¬
selfieber, Neurosen.
Ref. wünscht diesem Werke eine allgemeine, wohlver¬
diente Aufmerksamkeit, und glaubt, dafs es nicht blofs vom
Arzte, sondern auch vom Naturhistoriker mit Befriedigung
gelesen werden dürfte.
Jäger .
IX.
Medicinische Bibliographie.
Bock, A. K. , der Prosector, oder Unterricht zur prakti¬
schen und technischen Zergliederungskunst; für solche,
welche sich vorzüglich der praktischen Zergliederung
widmen wollen, und zum Gebrauch beim Präpariren
menschlicher Theile. Mit einer Kupfertafel, gr. 8. Leip¬
zig. Fest XXIV u. 542 S. 2 Thlr. 12 Gr.
Casper, J. T., gegen eines Ungenannten Schrift: Ueber
die Preufsische Medicinaiverfassung, gr. 8. Berlin. Dünmi-
lcr. 32 S. geh. 4 Gr.
C aze-
I
385
IX. Medicinische Bibliographie.
Gazen ave A. und H. E. Sch edel, praktische Darstellung
der Hautkrankheiten, nach den geachtetsten Schriftstellern,
vorzüglich aber nach den in der Klinik des Herrn Dr.
Biett im Hospital Saint- Louis gesammelten Beobachtun¬
gen und Erfahrungen. Aus dem Französischen übersetzt.
Zweite Hälfte, gr.8. Weimar. Ind.Compt. XXXII und
250 S. br. 1 Thlr, 9 Gr.
Ceresa, Apercu adress£ ä l’academie de medecine ä Paris,
sur la question: si la fievre jaune ou fievre d’Amerique
est contagieuse ou non contagieuse, et si l’on doit abolir
les quarantaines. 8maj. Vienne. Sollinger. 29 P. br. 10 Gr.
Choulant, Anleitung zu dem Studium der Medicin gr.8.
Leipzig. Vofs. X u. 201 S. - 21 Gr.
Eichhorn, II., neue Entdeckungen über die praktische
Verhütung der Menschenblattern bei Vaccinirten und in
der empirischen Pathophysiologie der Pocken; nebst An¬
deutungen über das Wesen und die Behandlung der
übrigen fieberhaften Exantheme, gr.8. Leipzig. Vofs
L und 1030 S. 5 Thlr. 16 Gr
Fischer, A. F. , Verhaltungsregeln bei der Luftröhren¬
entzündung und Luftröhrenschwindsucht, nebst den da¬
gegen anzuwendenden Heilmitteln. Ein Belehrungsbuch
für Kranke. 8. Dresden. Hilscher. VIu.224S. 1 Thlr. 4 Gr.
— J. W. C., Handbuch der pharmaceutischen Praxis,
oder Erklärung der in den Apotheken aufgenommenen
chemischen Zubereitungen. Mit ganz vorzüglicher Rück¬
sicht auf die neue preufsische Pharmacopöe. Dritte, um-
gearbeitete Auflage, von Dr. C. H. B. Karsten. Nebst
auf die neueste preufsische Pharmacopöe vom Jahre 1827
sich beziehenden Nachträgen herausgegeben von Dr. L.
F. Bley. gr.8. Basel. Rottmann. XII u. 711 S. 2Thlr. 18Gr.
Frank, J. P., Grundsätze über die Behandlung der Krank¬
heiten des Menschen; zu akademischen Vorlesungen be¬
stimmt. Erster Theil: Von den Fiebern. Unter eigener
Aufsicht des Verfassers aus dem Lateinischen übersetzt.
Neue, verbesserte Ausgabe, gr.8. Mannheim. Schwan und
Gütz. 224 S. 13 Gr.
Hecker, J. F. K., Geschichte der Heilkunde, nach den
Quellen bearbeitet. Zweiter Band. Mit einer chronolo¬
gischen Uebersicht des ersten und zweiten Bandes, gr.8.
Berlin. Enslin. II u. 463 S. 2 Thlr. 8 Gr.
Hcrtwig, Beiträge zur näheren Kenntnifs der Wuthkrank-
heit oder Tollheit der Hunde. Nebst Vorwort von Hufe¬
land. 8. Berlin. Reimer. 174 S. 16 Gr.
Xiv Bd. 3. St.
25
386
IX. Medicinische Bibliographie.
Julius, N. H. , Nachricht von dem Gesundheitszustände
der Hamburgischen Kranken - und Versorgungshäuser, und
der Stadt Hamburg. Drittes Heft, i826 und 1827.
Hamburg. Perthes und Besser. 166 S. br. 1 Jhlr.
Krämer, C. P. , die Molken- und Bade -Anstalt Kreuth
im Baicrschen Hochgebirge bei Tegernsee. Mit einer
Abbildung. 8. München. Fleischmann. "\ 1 und 237 Sei¬
ten. br. 1 Thlr. 3 Gr.
Leben heim, E. L. II., Versuch einer Physiologie des
Schlafes. Zweiter Theil. XIV u. 194 S. 1 Thlr.
Meckel, J. F., System der vergleichenden Anatomie. Vier¬
ter Theil. gr.8. Halle. Benger. VIII u. 741 S. 3 Thlr.
Müller, Job., Grundrifs der Vorlesungen über allgemeine
Pathologie, gr.8. Bonn. Habicht. 34 S. 8 Gr.
Orfila, allgemeine Toxicologie, oder die Gifte des Mine¬
ral-, Bilanzen- und Thierreichs, in physiologischer, pa¬
thologischer und gerichtlich -medicinischer Hinsicht be¬
trachtet. Nach der neuesten (dritten) verbesserten und
vermehrten Auflage deutsch herausgegeben von O. B.
Kühn. gr.8. IrBd. IsteLief. Leipzig. Lehnhold. geh. IThlr.
Pascoli, A., Uebersicht über das im Jahre 18fy an der
K. K. Universität zu Innsbruck gepflogene Heilverfahren.
gr.8. Innsbruck. Wagner. 72 S. geh. 12 Gr.
Pharmacopoea ad pauperes curandos accommodata. In
usum scholae policlinicae Lipsiensis, edidit L. Cerutti.
8maj. Leipzig. Vofs. X et 70 P. 9 Gr.
Beider, J. W., Untersuchungen über die epidemischen
SumpfTieber, die Gesetze ihrer Entstehung, ihrer Ver¬
breitung, die Mittel zu ihrer Verhütung und schnellen
Beendigung, mit vorzüglicher Rücksicht auf das gelbe
Fieber und die gegen letzteres bisher angewandten un-
zweckmäfsigen Quarantaine-, Polizei- und Sanitiits- Ge¬
setze. gr 8. Leipzig. Vofs. XXIV u. 416 S. 2 Thlr. 8 Gr.
Scriptorum classicorum de praxi medica nonnullorum
Opera collecta. Vol. VIII. Cont. .1. B. Morgagni de sedibus
et causis morborum per anatomen indagalis libri (juinrjue.
Curavit J. Radius. T. V. 8. Lips. Volk. XU et 506 P.
br. 1 Thlr. 16 Gr.
— — — - — — V ob XIII. Uont. J. IfuxhauH Opera. Cu-
ravit A. F. Hänel. 8. Lips. VTofs. XVI ct 684 P. hr.
2 Thlr. 12 Gr.
I
;
* i.
^ y /
Philosophie und Physik.
Von
Dr. Steinheim,
praktischem Arzte in Altona.
Antidualismus von je bis jetzt. — Materieller Einflufs der
Philosophie auf die Physik. — Bedeutung und Werth.
*Ev 7TCC<ri T0~s tyVGriKOlS £V£<TTt TI $-0iV fiCtCTTOV ,
Ari st.
]\Ian hat sich bisher recht viel von dem heilbringenden
Einflüsse der Philosophie auf die Naturkunde (Physik im
weitesten Sinne) zu erzählen gewufst. Mit ungeschwäch¬
tem Vertrauen hat man seit Jahrhunderten mifslungene Ver¬
suche durch neue zu ersetzen versucht. Ja, man kann sa¬
gen, es sei einmal eine stereotypische Formel geworden,
die Philosophie wirke fordernd auf die Naturwissenschaften
ein. Wer nun etwa, wäre es auch nur versuchsweise, die¬
ses ewige Sprechen und Nachsprechen vorläufig in Zweifel
ziehen, und, durch manche getäuschte Hoffnung bewogen,
einstweilen das Gegentheil supponiren wollte, würde der
sich einer verbrecherischen Lästerung oder vorsätzlichen
Lust am Sonderbaren verdächtig machen? Die Voraussetzung
der blofsen Möglichkeit einer nachtbciligen Einwirkung der
XIV. Bd. 4. st. 26
388
I. Philosophie und Physik.
Philosophie auf die Physik ist Vielen ein Greuel , Vielen
eine Thorbeit. Weit entfernt also, Behauptungen solcher
Art auf solche Gefahr hin aussprechen zu wollen, ersucht
Hofs der Verfasser gegenwärtiger Zeilen seine Leser, vor
allem folgende Bedenklichkeiten in Betracht zu ziehen.
Philosophie ist ein sehr weitsinniges Wort. Es ist
selbst in das Volk übergegangen, aber die Frage kann hier
nicht sein, wie es sich im Sprachgebrauchs verhalte. Die
Philosophie des Volks ist himmelweit verschieden von der
der Männer vom Fache. Das Wort Philosophie ist aber
auch weitsinnig im Gebrauche derer, die aus der Bearbei¬
tung dieses Feldes des Wissens ihr Hauptgeschäft machen.
Nicht einmal zu gedenken, in welchem unphilosophischen
Sinne unsere Nachbarn jenseits des Kanales la Manche und
diesseits desselben das Wort Philosophie gebrauchen, und
in wie weitschichtigem Sinne es auf unsern Facultäten selbst
gäng und gäbe ist, wollen wir nur den recht eigentlichen
Gebrauch desselben berücksichtigen, den nämlich, da es
die Wissenschaft der Dinge jenseits der Erfah¬
rung bezeichnet, ln diesem Sinne aber begreift die Phi¬
losophie zwei Doctrincn, die in ihrem eigentlichen Sein
und Streben mit einander durchaus polarisiren, nämlich den
positiven Theil des Wissens, und den diesen positiven ein¬
schränkenden Thcii, den kritischen, in sich. Dogmalik und
Kritik heifsen die beiden heterogenen Bestandteile der Phi¬
losophie im engsten Sinne. Die Dogmatik ist wiederum
verschieden, je nach dem Inhalte, den sic lehrt, und tritt
mit einem anderen Theile ihrer selbst, beschränkend gegen
eine andere beuachbarte Lehre; mithin enthält freilich schon
jede Dogmatik einen kritischen Bestandteil. Aber dieser
dient zunächst nur ihr zur Rechtfertigung und Einleitung. —
Die kritische Hälfte der gesammten Philosophie scheidet sich
ebenfalls in zwei nähere Richtungen: in die der eigentlichen
Kritik, und in die «1er Skepsis, von denen letzte eigentlich
wohl nur eine Art Dogmatik zu nennen ist, jedoch eine
negative.
389
I. Philosophie und Physik.
Ist nun die Rede von dem Einflüsse der Philosophie
auf die Physik, so ist vorläufig die Frage enger zu stellen.
Es ist zu bestimmen, von welcher Art Philosophie denn
hier gesprochen werde, von der dogmatischen oder der
kritischen? Auch wenn diese Frage nicht weiter einge¬
schränkt würde, wenn man nicht ferner entschiede, von
welchem Philosophen! von allen dogmatischen, oder von
welcher Art der beiden beschränkenden, ob von der Kritik
oder der Skepsis gehandelt werde; so ist dennoch der Aus¬
fall der Entscheidung, je nach der Antwort, von welcher
Gattung eigentlich die Rede sei, durchaus verschieden; ja,
was von der einen behauptet wird, mufs eben deshalb, weil
es von jener behauptet wird, der andern, als der entge¬
gengesetzten, abgesprochen werden. Die Frage mithin,
welchen Ein flu fs hat die Philosophie auf die
Physik? kann nur für die eine, oder gegenteilig für die
andere Richtung als vortheilhaft angenommen werden. Die
Kritik nämlich wirkt der Dogmatik schnurstracks entgegen,
und hebt die Aussprüche dieser entweder wieder auf, oder
macht sie wenigstens zweifelhaft, und auf gleiche Art würde
sie eine Anmaafslichkeit der Dogmatik in der Physik zu¬
rückweisen, wie sie dieselbe in der Metaphysik zurückzu¬
weisen bemüht ist.
Wenn nun die Kritik eine Prüfung und Begründung
durch Einwürfe und Bedenken des dogmatisch Dargelegten
ist, wenn es ferner nicht zu bezweifeln steht, dafs alles
Wissen durch die Cupelle des Zweifels gereinigt werden
mufs: so w^äre es selbst lächerlich, den wohltätigen Ein-
flul's eines solchen Verfahrens in Anspruch nehmen zu wol- -
len, wenn es Thatsachen der Erfahrung gilt. Geprüft soll
alles werden, und je genauer und schärfer, um desto besser.
Gehen wir also von nun an nur darauf aus, nach unseren
Kräften inne zu werden, wie die dogmatische Philosophie
auf die Naturwissenschaften eingewirkt hat, und wiefern
der Einflufs dieses Zweiges derselben wohltätig oder nach¬
theilig ausgefallen ist.
' 26*
390
I. Philosophie nnd Physik.
Sind wir nun allen Ernstes bemüht, die Frage im zu¬
letzt festgestellten Sinne dem Spruche näher zu bringen, so
wird uns dies Unternehmen dadurch erleichtert, dafs wir
uns das eigentliche Bestreben des dogmatischen Philosophen
deutlicher machen, und uns dieses vergegenwärtigen. Die
gesammte Physik hat die sichtbare Welt, ihre eränderun-
gen und Gesetze, so weit diese auf Erfahrnng und Sinn¬
lichkeit beruhen, zum Gegenstände. Die Metaphysik unter¬
nimmt cs, den Grund dieses und alles Seins zu lehren,
uud lehrt, wie ihr Name zeigt, Dinge, die außerhalb der
Sinneuwelt liegen, und das Wesen der Dinge der Sinnen¬
welt sind. Da sie nun das Wesen des Vorhandenen lehrt,
so lehrt sic natürlich das Vorhandene selbst, und zeigt, wie
es ist und was es ist, wie cs also geworden und wodurch,
kurz, die Metaphysik lehrt uns die Physik in ihrem Grunde,
und giebt uns einen Begriff vorn Wesen der Dinge, er¬
klärt uns die Welt, wie sie ist. Die Art des Einflusses
der Philosophie, der dogmatischen nämlich, ist also ein
mate rie 11er Einfluf« > zu nennen, die Idee, die sie giebt,
enthält nämlich die Erklärung des vorhandenen Weltstoffes
und seiner Veränderungen.
Da nun unsere Untersuchung dem Einflüsse der dogma¬
tischen Philosophie auf die Naturhistorie im Allgemeinen,
nicht dieser oder jener Dogmatik insbesondere, angeht, so
stellen wir, da der Einflufs jeder Dogmatik materiell sein
mufs, die Frage noch näher also: Von welcher Bedeutung
ist der materielle Einflufs der Philosophie auf die Natur¬
wissenschaft seinem Wesen nach? —
Materieller E i n f I u f s der Philosophie auf die Na -
turwisscnschaften.
Es könnte auffnllen, dafs der menschliche Geist, noch
bevor er auch nur zu einer mäfjigen Einsicht, geschweige
denn zu einer vollendeten Erkenntnifs aller Ergebnisse der
Sinne und der Erfahrung gelangt ist, gleichsam mit einem
verwegenen Satze aus der Welt der Erscheinungen hinaus-
I. Philosophie und Physik.
391
springt und ein Wissen von Dingen der unsichtbaren Welt
an sich zu bringen sucht. Indefs hat die Sache ihren guten
Grund. Denn erstlich ist das Gesiechte über die Erfahrung
hinaus eben darum kein «Nach» derselben zu nennen, und
zweitens ist dies Gesuchte eben sowohl ein Bedürfnifs, ohne
das uns die allerersten Ergebnisse der Sinnenwelt ein Räth-
sel bleiben müssen. Aus der letzten Ursache müssen wir
selbst zugeben, dafs die Dinge a priori selbst der Zeit nach
in unserm Erkennen der Erfahrung vorangehen müssen,
und so verhält es sich auch in der That. Es giebt jeder
Naturforscher, indem er das Wort «Gesetz» ausspricht,
damit zu erkennen, dafs er hinter der Sinnenwelt, die im
Wechsel ihm vorbeieilt, ein bestehendes Unwandelbares
wisse, auf dem der Wechsel, wie um einer ruhenden Axe,
sich bewegt. Aber auch, wenn von diesen, durch den
Weg der Erfahrung statuirten Gesetzen der Unwandelbar¬
keit im Wandel, Allgemeinheit im Einzelnen, des Ewigen
im Zeitlichen abgesehen wird; so bewilligt doch jedenfalls
der Physiker den mathematischen Gesetzen ihre Rechte,
und sucht auf ihnen möglicher W eise zu basiren, in der
Ueberzeugung, erst dann, wenn ihm dies Unternehmen
gelungen ist, seinem Wissen den rechten Grund gelegt
zu haben.
Der Naturforscher stöfst schon beim ersten Schritte
auf Schwierigkeiten, die sein Fortschreiten nothwendig hem¬
men müssen, und diese sind der Art, dafs sie in der Physik
seihst unlösbar sind, und daher kommt die Erscheinung,
dafs die Philosophie älter als die Physik ist, wie die Poesie
der Prosa voranging. Zuvörderst hat es ja der Naturhisto¬
riker mit dem Körper zu thun. W7ohlan! bevor wir seine
Eigenschaften erkunden, müfsten wir doch wohl wissen,
/
was er selbst an sich ist. Gehen wir ferner darauf aus,
die Wahrhaftigkeit der Sinneszeugnisse zu wägen, so be¬
geben wir uns abermals über die Gränzen der Sinne hin¬
aus, da es ja unmöglich ist, dafs das Sinnliche über das
Sinnliche in dieser Hinsicht eiuen Spruch abgäbe, weil
392
1. Philosophie und Physik.
dieser Spruch «he Frage nicht lüste, sondern nur veränderte,
oder vertagte, und die Sinnlichkeit sich seihst nicht zu prü¬
fen im Stande ist, als wiederum mit der Sinnlichkeit.
Aus dem Allen ist ersichtlich, dafs cs das erste Hc-
dürfnifs des forschenden Geistes auch im Gebiete des Sicht¬
baren sei, das Unsichtbare zu erkennen, dasjenige, durch
welches Erfahrung allererst möglich wird.
Wie wird nun dies Jiediirfnifs nach dem sogenannten
Transcendentalen befriedigt, nach dem, was nicht Gegen¬
stand der Sinnlichkeit und der Erfahrung ist?
Forderung vollendeter Einsicht; Noth-
wendigkeit.
Der Durst nach Wissen ist nicht zu befriedigen; dennoch,
bei vollkommener Einsicht von der Dodenlosigkeit unseres
Strebens, ist das Streben unverändert nach der Vollendung
hin. So viel ist ausgemacht, dafs diese Vollendung auf dem
Wege der empirischen Synthesis eben so sehr ohne Ende
ist, als die Ixeihefolge der Ursachen und ihrer W irkungen.
Diese Unvollendbarkeit £eht so weit, dafs sie selbst da noch
statt hat, wo unsere Ueberzeugung die Zahl der Fälle für
abgeschlossen erklären nnifste; denn das eigentliche Wesen
der Vollendung würde noch immer fehlen. Das Wesen
der Vollendung kann nämlich eigentlich nur darin bestehen,
dafs wir, auch ohne diese Vollendung ausgeführt zu haben,
ja, bei der Einsicht ihrer Unausfiihrbai keit in der That,
doch ein Mittel besitzen, das uns die Gewißheit verschafft,
jeden Fall, der möglicherweise Vorkommen kann, schon im
gesetzlichen Schema vor seinem Vorhandensein in uns an¬
geschaut zu haben. Wer z, li., um die Summe der drei
in jedem Dreiecke eingeschlosseuen Winkel zu wissen, sieb
die Mühe gegeben hätte, eine grolse Anzahl von Dreiecken
in dieser Absicht auszumessen, und die Summen richtig
gefunden hätte: der wäre doch noch weit entfernt von dem
mathematischen Gesetze, und zwar in zwiefacher Hin¬
sicht, erstlich, weil die Zahl mellt zu vollenden ist, und
393
I. Philosophie und Physik.
noch immer neue Dreiecke denkbar sind, von denen es stets
noch zweifelhaft bliebe, wie grofs die Summe ihrer einge¬
schlossenen Winkel wäre, und vorzüglich zweitens deshalb,
weil noch immer die Anschauung a priori fehlte, die uns
aus dem Gegebenen einen Lehrsatz bildet, der mit Noth-
wendigkeit, und deshalb für alle Fälle gelten mufs.
Wenn nun, falls sie auch möglich wäre *), Vollen¬
dung der Reihe noch immer kein vollendetes Wissen giebt,
sondern nur das Schema derselben für jeden möglichen Fall,
und wenn dieses letzte nur eigentlich vollendetes Wissen
heifsen kann: so ist es von Wichtigkeit, die Natur dieses
Wissens und seine Beziehung zur sogenannten Naturwis¬
senschaft mit strenger Gewissenhaftigkeit zu untersuchen.
Ein Erfordernd^ des Wissens ist das Attribut der Noth-
wrendigkeit. Es wird gefordert, dafs es unmöglich sei einen
Fall in der That zu ersinnen, der nicht unter das Gesetz
gehöre. Die Allheit der Gültigkeit bezieht sie aber keines-
weges auf eine wirkliche Anwendung, auf eine vollendete
Anzahl, denn eine solche Reihe ist ja, wie gesagt, in der
That nicht vollendbar, sie ist unendlich. Diese Nothwen-
digkeit kann sich daher unmöglich von einer Reihe von
Dingen, als solchen, indem diese in der That unendlich
sind, oder doch sich unendlich denken lassen, prädiciren las¬
sen; sie gilt von diesen eigentlich gar nicht, sondern nur
von dem obersten Gesetze, und nur in sofern jedes ein¬
zelne Vorhandene unter dies Gesetz gehörig ist. Wenn es
also hiefse: alle Dreiecke schliefsen zwei Rechte Winkel ein,
so wäre dies ein unrichtiger Ausdruck für: die Summe der
drei in einem beliebigen Dreiecke eingeschossenen Winkel
ist = 2 R. Im letzten Ausdrucke ist nur die Nothwen-
\ •
1) Einigcrmaafsen lafsl sich eine Vollendung der Art in
der Naturhistorie da annehmen, wo die verschiedenen Geschlech¬
ter durch deutliche Mittelglieder verbunden nach7.1rwei.scn sind
Vollendete Durchsuchung der entlegensten Winkel der Erde reicht
nicht hin.
394
I. Philosophie und Physik.
digkeit vom Schema pracdicirt, und sic trifft auch nur das
Schema, und alles Einzelne nur in so weit das Schema in
ihm vorhanden ist.
«Lernen ist ein Erinnern,“ sagte der grolse Athener.
Wirklich ist alle ursprüngliche Synthesis wiederum Nichts,
als Entwickelung dessen, was in dem Begriffe enthalten ist.
Was an Neuem hinzukommt, kann nur dem Scheine nach
hinzukommen, nur in Beziehung auf unser fortschreitendes
Bewufstwerden des vorhandenen Besitzes. Es entwickeln
sich nur andere, bisher uns noch nicht klar gewordene Ver¬
hältnisse. So ist jeder Mensch ein Equilibrist, ein treff¬
licher Maschinist, jeder gute Billardspieler ein noch besserer
Mathematiker, als er vielleicht selbst von sich denkt. Jede
mathematische Synthese ist daher eigentlich doch nur eine
scheinbare. W äre es ein in der That neu Hinzugekomme-
nes, so könnte es nicht das Prädicat der Nothwendigkeit
führen, das gerade ein Neues, nicht hingehöriges, aus¬
schliefst. Was der Art da ist, dafs ich sein Dasein als noth-
wendig begreife, das sehe ich als solcher Art, dafs es nicht
auch nicht -seiend denkbar ist; denn in dem Begriffe, in
dessen Besitz ich, mit oder ohne klare Einsicht, bin, ist es
schon mit Nothwendigkeit enthalten, und wäre es dies nicht
also, so ist es auch nicht nothwendig, und ihm fehlt das
Postulat. Nothwendig ist nur das, dessen Gegenthcil un¬
möglich ist.
Vom Begriffe des Nothwcndigen ist demnach ausge¬
schlossen alles, was sich auf Früher und Später, Hier und
Dort bezieht; denn, da alles in dem daseienden Begriffe
mit Nothwendigkeit enthalten ist: so ist es unmöglich, dafs
etwas hinzukomme, es ist alles in ihm da; eben so wenig,
als etwas austreten kann, von dem was da ist, es ist viel¬
mehr eine Ganzheit zu nenrien, als eine Allheit. I)a nun
das Früher oder Später die Folge ist, die Zeit heifst, so
schliefst das Schema der Nothwendigkeit vor allem die Zeit
aus, und da ferner die Nothwendigkeit nicht eine Zahl
nebeneinander vorhandener Dinge, sondern alles in einem
395
I. Philosophie und Physik.
Bilde, abgesehen von aller Extension, befafst, so schliefst
sie auch allen Kaum aus, denn es läfst sich nichts als noth-
wendig denken, was an einem anderen Orte nicht vorhan¬
den wäre. Nun ik es aber begreiflich, dafs ein Viel des
Ausgedehnten in unserer Anschauung dadurch zu Stande
gebracht wird, dafs wir die übersehbare Flache an eine
andere nach und nach anfiigen; die Ausdehnung ist also
ein in der Zeit vorgehendes Aneinandersetzen eines gege¬
benen Ouantums des Räumlichen. Mithin: wird in der
t
Formel Nothwendigkeit die Zeit ausgeschlossen, so folgt
dieselbe Ausschliefsung für den Kaum ; deshalb mufs nolh-
wendig alles was ist, mit- und nebeneinander da sein. Ist
cs aber hinwieder zugleich und nebeneinander, so
schliefst es ein Nacheinander aus, so wie umgekehrt das
Nacheinander das Neben einander des Totalen unmög¬
lich macht. Es ist ersichtlich, wie sich im a priori des
Begriffs beide Anschauungsformen schon in und an sich
wechselsweise vernichten. —
Da aber die Categorie « Nothwendigkeit » sich den¬
noch aufs Zeitliche und Räumliche deshalb beziehen mufs,
weil sich das nothwendige Wissen, die Mathematik, J)
gerade mit nichts anderem, als mit Gröfsen beschäftigt;
und da zugleich eben dieselbe Categorie die Ausdehnung
und die Folge vernichtet und auf hebt: so mufs ferner er¬
mittelt werden, wie sich diese beiden Verhältnisse denn
eigentlich vereinigt finden? Wie zugleich etwas im Raume
und in der Zeit nothwendig sein kann, und zugleich Raum
uud Zeit selbst nicht nothwendig, ja sogar durch diese Ca¬
tegorie und durch sich selbst gegenseitig vernichtet? —
Das Nothwendige mufs schon vor aller Erfahrung
im Begriffe in uns selbst fertig liegen — wiederholen wir —
weil es, wäre es auf ein Ilinzukommendes hingewiesen,
1 ) Die Skepsis ist nicht mit der strengen Schärfe verfall *
reu, wenn sie, mit HuVne, die Nothwendigkeit auf “Wirkung
und Ursache** sich erstrecken lälst.
396
I. Philosophie und Physik.
eben nicht das Nothwenrlige, «las Totale wäre. Nothwcn-
digkeit liegt innerhalb unseres Geistes, aber was noth wen¬
dig ist, ist einzig sein gebundenes Selbst. Der Menschen¬
geist ist von der Nothwendigkeit gefesselt in sich selbst,
und von aufsen her zwingt nicht*, bindet nichts. Wer die
Gategorieen, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft
sich entwickelt finden, mit Besonnenheit betrachtet, der
wird eine zwiefache Beziehung derselben innc werden ; eine,
die sich aufs denkende Subject ausschliefsend bezieht, und
eine andere, die sich auf die Gegenstände der Erfahrung,
aufs Object erstreckt. I)a dies nun der Punkt ist, aus wel¬
chem sich die Streitfrage, welchen Einflufs die Philosophie
auf .die Physik mit Hecht ausiiben kann, zu schlichten steht,
so mufs es gestattet sein, ihn mit aller möglichen Klarheit
zu umgeben, deren er empfänglich, und der Erläuterung
fähig ist. ' *
Man bat wohl, den Anfängern das mathematische Ob¬
ject in etwas begreiflicher zu machen, folgenden Mittels
sich bedient: Der Lehrer nahm das Stück Kreide, mit dem
er die mathematischen Figuren zeichnen wollte, zwischen
Zeigefinger und Daumen, wies es so, frei gehalten, den
Zuhörern und sagte: denkt euch aus dem, was ich halte,
alle Kreide herausgelällen , was dann noch übrig bleibt, ist
der mathematische Külper. Man hat auf diese Weise zu
dem Irrthume Anlafs gegeben, als ob ein mathematischer
Körper eine wirkliche Ausdehnung habe, und dies gab
Anlals zur Verwechselung des Baumes mit der Ausdeh¬
nung ‘). Eine mathematische bigur ist im Minimum wie
im Maximum; nicht so das Ausgedehnte, da unterscheidet“
I ) Eine genauere Beleuchtung der hierauf bezüglichen Er¬
örterungen de* Skeptiker« llu me mag diese Verwechselung und
die aus ihr entstehenden Schwierigkeiten nur zu deutlich vor
die Augen bringen. (S. I). llu me über die menschliche Natur,
aus dem Englischen von L. 1(. Jacob. 1790. Bd. 1., vorzüglich
den vierten Abschnitt S. Dt) if. )
397
i. Philosophie and Physik.
sich allerdings Körper von Körper durch die blofse Aus¬
dehnung dergestalt, dafs der kleinere von dem gröfseren
angezogen wird. In diesem Unterschiede liegt es auch,
dals die Mathematik, wiewohl sie nur in Beziehung auf
Kaum und Zeit vorhanden ist, und in diesen herrscht, den-
$ # ,
noch seihst weder Kaum noch Zeit in dem objectiven Sinne,
d. h. Ausdehnung und Dauer, kennt, sondern immer nur
das Eins, das Maafs, das selbst ein willkü hrlich gemachtes,
mithin kein mathematisches, a priorisches genannt werden
kann. Ein willkührlich angenommenes Ausgedehntes, als
Einheit, oder das Maafs, mufs gesetzt werden, und dies ist
ein Resultat einer wirklichen oder blofs angenommenen
Erfahrung.
Das Wissen, die Mathesis, das Wissen unter der Ca-
tegorie der jNothwemJigkeit, ist mithin immer nur ein
Messen des Gegebenen, Ausgedehnten und Veränderlichen,
eines unbestimmt supponirten, oder bestimmt gegebenen
Ausgedehnten, oder Wechselnden im Räume und in der
Zeit. Was aber will dies Messen anders sagen, als die
Ausmessung der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse des
Ausgedehnten und Veränderlichen, des Einen gegen das
Andere ? Das Maafs hat es immer nur mit der Gränze zu
schaffen, die das, was wir messen von dem, das noch nicht
gemessen ist, sondert; wie es sich z. B. mit der Frage ver¬
hält, von dem Flächeninhalt eines Dreiecks zu einem Viereck
von gleicher Höhe und Grundlinie. Durch dieses Bestim¬
men einer beliebigen Einheit zum Maafse können wir vom
Inhalte des Gemessenen abstrahiren, und einzig uns mit der
Betrachtung und Entwickelung dieser mannigfachen gegen¬
seitigen Verhältnisse beschäftigen. Dieses ursprüngliche Wis¬
sen — denn dieses Wissen ist ein solches in dem die An¬
schauung des Raumes ohne Ausdehnung, als eine willkühr¬
lich hinzugedachte dieser Erken ntnifsart zum Grunde liegt —
lehrt uns aber durchaus nichts als Gränzbestimmungen ken¬
nen. Selbst der mathematische Cubus giebl weiter nichts
als das Maafs der als Einheit willkührlich gesetzten klei-
398
1. Philosophie und Physik.
ncren Cubi in dem Gröfseren, oder das Verhältnifs dieser
Art der Umgränzung zu irgend einer anderen, z. Ti. der
Pyramide. Unser eigentlich mit Nothwendigkeit vereinigtes
Wissen bezieht sich nach diesem allen nur auf Scheinwesen,
de» unausgedehnten l\aum, und die unveränderliche Zeit.
•
Das mathematische Wissen vom Wesen der
Dinge.
Wie ist nun die Demonstratio more inathematico vom
"Wesen des Weltalls beschaffen? Indem ein Absolutes und
Nothwendiges vorausgesetzt, oder gav demonstrirt wird,
kann möglicherweise nichts anderes herauskommen, als: Ks
existirt kein Nacheinander in der Tbat, sondern nur im
Scheine. — Existirte ein Nacheinander, oder eine Zeit in
der Erscheinung, so mufs eine Zeit gewesen sein, wo das
Vollendete unvollendet gewesen ist; q. e. a. Eben so exi¬
stirt kein Nebeneinander, denn dieses Ausgedehnte kann nur
durch ein Ansetzen eines Neuen, d. i. eines zeitlich hinzu¬
kommenden, zn Stande kommen. — Das strenge Wissen
also von der Natur der Dinge mufs nothwendig, weil es
nur ein Wissen von Vorgefundenen oder supponirten Gränz-
und Gröfsenverbältnissen geben kann, das was den eigent¬
lichen Inhalt dieser Verhältnisse ausmacht, total vernichten,
und die Mathesis auf die Natur der Dinge, auf das wirk¬
liche oder supponirte Ausgedehnte angewandt, vernichtet
dasselbe ganz und gar. Die Welt im Ausgedehnten und
Wandelnden hört auf. Es kann durchaus kein ander Re¬
sultat herauskommen, als: es existirt keine Welt, wenig¬
stens wissen wir von keiner, denn die ursprüngliche Ein¬
heit hat ja keine Ausdehnung, ist ja nicht ein Nacheinander.
Dies ist denn auch das Endresultat, oder vielmehr die noth-
wendige Grundlage aller Demonstrationen more lualhema-
tico von der Welt. Die Sinnen well, die nun einmal vor-
licgt, und deren Vorhandensein, als- ausgemacht, nun auch
dem Verstände begreiflich gemacht werden soll, wird ver¬
tilgt von Grund aus.
399
I. Philosophie und Physik.
Wir müssen daher zu folgendem Resultate uns beken¬
nen: Das Unternehmen an und für sich, ein Ding
an sich als nothwendig begreifen zu wollen, ist
ein falsches, und leidet an einem inneren W i -
' f
derspruche. Die Form «No th wendigkeit” hat
nur Beziehung auf unser Denkvermögen, dieses
ist genöthigt, die Zahl- un d Grö fsenver hältnisse
so und nicht anders anzuschauen. Objecte aber
selbst sind insgesammt, und überhaupt ist alles,
was cxistirt, für uns zufällig. Es hört auf für
uns zu sein, sobald wir es als nothwendig we¬
send anschauen wollen; denn wir verwandeln es
eben damit alsbald in ein Schatten- und Schein¬
wesen, in einen mathematischen Raum ohne Aus¬
dehnung.
Fragen und Antworten der Naturphilosophie.
Wie verhalten sich das Ein und das All? Ist das
All, Eins; oder das Ein, All? Hat die Zeit einen An¬
fang? Ist der Raum begranzt? Oder ist beides anfang-
und gränzlos? Oder, die letzten Fragen anders ausgedrückt:
War eine Zeit, da noch nicht alles da war, was jetzt da
ist? Giebt es einen Raum wo nichts ist, oder weniger
ist, als in dem uns bekannten sichtbaren?
Alle obigen Fragen berühren, genau betrachtet, nur
Zahl- und Maafsverhältnisse dessen, was ist; und dem ge-
mäfs sind auch die Antworten der Naturphilosophen von je
bis jetzt. Die streng- wissenschaftlichen Eleaten hatten den
Grundsatz der Subjectivität, den ein späterer durch sein
cogito ergo sum etwas verändert wiedergab, an der Spitze
ihres unfruchtbaren, logischen Systems. Sie förderten die
grofse, absolut-nothwendige Weisheit zu Tage: dafs A = A
ist, dafs Nichts wird (Verleugnung der Zeit), und:
««,/ > » \ i » » >r /
ug sv re 7rccvT& t<m, kcci ecmjKfv uvto ev ecvra , ük t%o* Xco^a'v
lv kivsTtui (\erieugnung des Raums). Also h eivec ta-rag
to tt&v. Diese Schule hat die Lehre von einem absoluten
400
I. Philosophie und Physik.
Wissen am strengsten gefafst, und vollendet also: das AA is-
sen sei ciue (ein Vernunftwissen, ein mathematisches).
Eine minder strenge Art der neueren Zeit (wiewohl sie
sich stolz, genug die wissenschaftliche genannt hat) hat sich,
eben weil sie sich selbst nicht scharf genug begriff, in tiefe
Widersprüche verwickelt. Verschieden von diesen Philo¬
sophen lehrten die andern (nach Plato n’s Zeugnissen):
das Wissen sei (ein Anschauen), und: <v's to -xoly
Ktt*} rtf vi¥t r?f o\ Kirr)<rtu$ o'vo iJXj , vroiu ’» xoti Die
Satzung von Sub- Object ist hier zu Tage gegangen, und
an der Spitze stellt als Grundton: Der Mensch ist Maafs
aller Dinge (und Messer setzt eine neuere Lehre unnö-
thigerweise hinzu). Ein in sich inconsequentes, und deshalb
auch in sich zerfallenes System, weil Raum und Zeit ge¬
leugnet wird, ohne dafs die Leugner dieser Formen es ge¬
wahr werden, und fortfahren auf dem Acrnicliteten, als auf
einem noch Bestehenden, fortzubauen. Platon hat sich
über das Maafs des Protagoras in seiner AVeise lustig
gemacht, und es sodann mit dem nachdrücklichsten Ernste
zurückgewiesen. (Siehe die Dialogen Theätetos und den
Sophisten.)
Fragen und Antworten d er atur wissen schaf t.
Wenn oben die Frage war nach einem nothwendigen
Grunde, der den Inhalt alles W issens vom Weltgebäu dar¬
stellt; so ist jetzt die Frage nach Ursache und Wir¬
kung. Eins erscheint als bedingt und Folge des andern;
die Zeit ist die Matrix der Betrachtung von Ursache und
W irkung. \\ o nichts ird, ist keine l rsache des A\ er-
dens denkbar; mithin kein AA elturheber als Prius , und keine
AA eit als Posterius und Wirkung. Beides aber, und zwar
ohne Nothwendigkeitsbestiimnung, giebt die Thatsache des
Daseins, ohne welches ja auch jenes sogenannte noth wen¬
dige Sein nicht möglich wäre. Das Dasein ist das eben in
dieser Bedeutung und im AA iderspruche mit der Nothwen-
digkeit, das zufällige, oder das gerade gewordene,
L Philosophie und Physik. 401
wesende; sich verändernde in Kaum und Zeit, sich Ausdeh¬
nende und Zusammenziehende.
Fragt nun der Naturhistoriker den Philosophen, was
ist denn das eigentlich, mit dessen Veränderungen ich mich
befasse? Was ist ein Körper an sich? wie besteht er? wie
ist er geworden? so erhält er — denn in seinem Gebiete
liegen Antworten auf diese Fragen ganz und gar nicht —
mancherlei Kescheid. Alles msgesammt aber läfst sich auf
die mathematischen Axiomata reduciren; und auf diese Art
wird rückwärts ein Körper a priori construirt (rückwärts,
wenn wir das Fragen ein Vorwärtsgehen nennen müssen),
der alle Eigenschaften eines mathematischen hat, d. h. gar
keine, selbst keine Ausdehnung, also wird ein Körper und
eine Welt geboren, die eben keine sind. Vergleiche man,
wie Kant (in seiner Widerlegung der Lehre Leibnitzens
von dem Nicht- Unterscheidbaren), zwei Wrassertropfen mit
zwei gg. Dreiecken, so sind die letzten wirklich einerlei, als
Schemata, die ersten aber, bei aller Unterscheidbarkeit,
dennoch zwei, dem Kaume und der Substanz nach wesent¬
lich verschiedene Dinge.
Die Antwort des Physikers ist: Ich finde den Körper
und untersuche seine Eigenschaften, was er aber an sich
ist, kann ich nicht wissen. Der Philosoph dagegen sagt
freilich, er wisse es, legt aber statt eines wirklichen Dinges,
ein Ding das sich selbst wieder aufhebt und vernichtet vor,
ein Unmögliches, ein p j cv , einen Wortschwall ohne Inhalt
und Sinn.
Was oben im Vorbeigehen schon erwähnt worden ist,
nämlich die Zweifältigkeit der Modal itätscategorie, bedürfte
hier einer besonderen Erläuterung. Die vollendetere Ent¬
wickelung ist indefs für einen anderen Ort aufzusparen,
zumal da es wohl manchen geben mag, der eine Einleitung
wie die gegenwärtige, fürs folgende Thema etwas zu weit
hergeholt finden möchte. Mag ers! der Grundsatz soll er¬
örtert werden, seine Anwendung mag auf einen gröfseren
oder geringeren Gegenstand sich bezieheu. Kant hat sich
402
I. Philosophie und Physik.
(Kritik der reinen Vernunft S. 557.) über diese Zweisei¬
tigkeit verständigt, obwohl er nicht auf diese Scheidung
den Werth und das Gewicht legt, das sie verdient. Kr
theilt die Categoriecn in dynamische und mathematische.
In den ersten ist die Rede vom Dasein der Dinge, in den
zweiten von ihrer Grölse. Wenn ich die vierte Katego¬
rie, die der Modalität, genauer betrachte, so fällt mir auf,
dafs die Gegensätze keine wirklichen sind. Der Möglich¬
keit soll nicht Unmöglichkeit gegenüberstehen; son¬
dern der Gegensatz der Not h wendigkeit ist Unmög¬
lichkeit; noth wendig ist alles, was innerhalb des Um¬
fanges eines gegebenen Begriffes enthalten ist; unmög¬
lich ist das, was denselben Begriff in ihm selbst auf hebt;
das Bestehen des Zirkels wird durch das Schema eines \ ier-
ccks, wenn wir es als Attribut, d. h. als Begriffstbeil , je¬
dem Hauptbegriffe hinzufugen, unmöglich gemacht, d. h. der
ganze ursprüngliche Begriff ist dadurch unmöglich. Was
in dem Begriffe immer enthalten sein mag, ist in keiner
Beziehung «möglich»* zu nennen, es ist noth wendig,
z. B. das Verhältnifs der Radien und der Sehnen u. s. w.
Möglichkeit bildet einen Gegensatz gegen Wirklich¬
keit, « es ist möglich, dafs das N o th we n dige zur Wirk¬
lichkeit werde, »» d. h. das Noth wen dige in der An¬
schauung ist auch möglich in der Ausführung, als That
unseres Willens, oder als Werk irgend eines anderen.
Möglichkeit steht aber der Wirklichkeit nicht dia¬
metral entgegen; sie hat vielmehr eine Verwandtschaft mit
der Zufälligkeit. Das Wirkliche nämlich nennen wir,
mit Rücksicht auf unser \ erständnifs, zufällig, weil wir
von seinem Dasein keinen adäquaten Grund, vielleicht keine
Ursache anzugeben wissen. Zufälligkeit und Noth-
wendigkeit beziehen sich also auf zwei durchaus hetero¬
gene Objecte, diese auf Gegenstände des Begriffes, in
dem nichts Zufälliges sein kann; jene auf Gegenstände des
Historischen, des Daseins. Die Möglichkeit steht
also der Zufälligkeit gegenüber, und der Noth wen¬
dig-
403
I. Philosophie und Physik.
digkeit die U nmöglichkeit; erster Gegensatz auf das
<f>a uvoyXvov* der zweite auf das vxpsvov. Die minder scharfe
Unterscheidung dieser Uategorie in zwei verschiedene Hälf¬
ten, ist, meiner Meinung nach, Veranlassung zu den vielen
Unrichtigkeiten in der Naturwissenschaft, wie nicht minder
in der Ethik, da man fälschlicher Weise der Nothwendig-
keit die Freiheit zum Gegensatz gegeben hat, die doch in
gar keinem solchen Verhältnisse stehen.
i „ . ' • \ ' i . . ' - .
Naturphilosophie von je bis jetzt.
#
Wenn demnach das Regriffswissen , das Wissen des
Grundes seiner Natur nach, nicht sowohl nicht unserer
endlichen Natur gegeben, als vielmehr der Art und Beschaf¬
fenheit ist, dafs es den ganzen Inhalt der Phänomene ver¬
nichten, und also alles Wissen von derselben, trotz seiner
Verheifsung, auf heben müsse; wenn es in seiner (Konse¬
quenz eigentlich zu keinem anderen Resultate kommt, als;
Es ist keine Zeit, es ist kein Raum, und, weil
beide nicht sein können, auch Nichts in ihnen;
und was etwa erschiene, ist erweislich nicht
wirklich, sondern Schemen und Schein, und end¬
lich der Denkende, der also denkt, als zeitliches
und räumliches W esen, nicht minder, oder des
tivcci to ov nach Plato, — so ist dieses als das einzig
mögliche Pxesultat des materiellen Einflusses der dogmati¬
schen Philosophie auf die Physik ein nicht sowohl schäd¬
liches, als vielmehr ein vernichtendes, zerstörendes Prinzip.
Was der Naturphilosophie noch nachgerühmt wird, ist
dem guten Sinne und der Nachreife der wenigen ausge¬
zeichneten Männer in diesen Schulen zu verdanken, nicht
dem Absolutismus an sich. Diejenigen, die sich in stren¬
ger Consequenz an diesen hielten, haben auf dem ewig un¬
fruchtbaren Granit, wie die Isis sich auf ihre geistreiche
Weise ausdrückt, fortgehämmert, und Nichts zu Tage ge¬
fördert. Zum Unglück ist von dem anderen Tbeile, dem
es am Studium der wirklichen Natur fehlte, dessen er sich
21
XIV. Ed. 4. St.
404
1. Philosophie nncl Physik.
vielleicht wegen apriorischer Machtvollkommenheit über¬
heben zn können vermeinte, eine gute Anzahl ins we¬
senlose Reich der Phantasie gerathen, und in demselben
verdampft.
Einiges Geschichtliche — Schlafs.
Sonderbar, fast possierlich, gebehrdet sich der Dogma¬
tismus, wenn sich die Kritik neben ihm als Hofmeisterin
etwas herausnimmt. Er stellt sich gegen sic, wie der Jun¬
ker auf Universitäten gegen seinen Hofmeister. Eine über¬
aus naive Aeufserung eines grofsen Philosophen, der die
Geschichte der pythagoreischen Philosophie a priori aufge-
fafst wissen will, nicht historisch, mithin eine Geschichte,
die doch keine Geschichte sein soll, findet sich in der Isis
(l»d. 20. Heft 12. S. 1053.). Eine Jerembde über den be¬
trübten Gegensatz und die zerstörende Feindseligkeit des
$
Flachen gegen alles Gründliche u. s. w. eröffnet die Klage,
und dafs die Philosophie gleiches Schicksal habe. « Von
jeher hat sich der wahren Grundlehre eine mannigfach ge¬
staltete Sophistik gegenübergestellt. ” — Arme Vernunft!
du bist doch wirklich am Ende der wahre Selbstquäler.
Hier im Subject A bist »du zufrieden und sclbstgeniigsam ;
bis du (immer doch nur Eine und Dieselbe) im Subject ß
dich grämlich zeigst, und dich selbst krittelst. \\ ir schwei¬
gen, und überlassen es dem verständigen Leser, zu ent¬
scheiden, was das Rechte sei: ob sieb reich prahlen heim
Aufzählen von Rechenpfennigen , und so in den Tag hinein
zu arbeiten; oder ob Prüfen mit dem schwarzen Steife der
Scheidekünstler, selbst auf die Gefahr, die Seifenblasen¬
welten am Sonnenlichte zum Platzen zu bringen.
o
VVas die Alten sangen, das pfeifen die Jungen, sagt
das Sprichwort. Auf gleiche Weise haben die alten sike-
lischen Musen, nach Plato, vom Weltall gesungen: «Das
Seiende ist das Ein und das All, durch 11a fs und
Liebe getrennt und gebunden;" und also sang die
neue deutsche Muse: Eins und Alles (zur Natilrwbsen-
405
I. Philosophie und Physik.
schaft,- von Güthe. II. 1. S. 123.). So viel ist aber zu
erweisen, dafs die alten so wenig, als die neuen Musen, zu
irgend einem anderen Meister führen, als eben dem Sang¬
meister selbst, aber schwerlich «zu dem, der Alles
schafft und schuf» (Vers II.). Denn das consequente
Wissen a priori, das absolute, das mit Nothwendigkeit be¬
gleitete, vernichtet das Object, als Schein, als (ty ov, und
eben sowohl das Subject, das Denken Nach - einander, von
Ursache und Wirkung. Was auf diesem W ege also ge¬
funden wird, ist ein mathematischer Körper mit angedich¬
teter Ausdehnung, die ihm nicht zukommt. Dies System
tritt am unverholensten hervor in der Lehre des Jordeus
Bruno (vergl. de triplici minimo et mensura. C. IV.):
Nam nihil est cyclus praeter spectabile centrum,
Et sine fine globus nihil est nisi centrum ubique.
Quare hic simpliciter centrum est, minimumque per omne
Totum se fundens, verum, unum , semper in omni
Omneque compositum in mimmum revocabilur ut sit etc.
Ferner im folgenden Kapitel:
Ergo mensurae rationes atque figurae
Perquirens, variosque in fines tramite eodern
Collimans, qui idem mensura ns format et idem
Mensurat form ans, minimi speculetur oportet,
Naturam primo, solidum capiatque elementum.
Im strengen mathematischen Spinoza gebt der Wider¬
spruch, die Nothwendigkeit der Selbstvernichtung, nicht
minder klar zu Tage. Man vergleiche die 72ste Proposition
und ihren Beweis im vierten Buche der Ethik mit dem
Ilauptgrundsatze: dafs Ausdehnung eins der unendlichen
Attribute der ewigen Substanz sei. Auch die Unterschei¬
dungen von Actus und Potentia sind, bei Lichte besehen,
wahre Schleichwege, auf denen man etwas Wesenheit aus
der Vernichtung retten zu können vermeint. Die Cogitata
metaphysica sprechen diese absolute Folge des apriorischen
Wissens in folgenden Worten klar aus: Quare tempus
est merus modus cogitandi, sive ut jam diximus, ens ra-
27 *
I
406
1, Philosophie und Physik,
tionis (vergleiche den über diese Materie ganz besonders
wichtigen Brief XXIV.). Bei jeder Deutungsart kommt
hier nichts als Widerspruch heraus. Dem ehrlichen Bran¬
denburg war daher schon deshalb , weil er Spinoza
ebenfalls more mathcmatico widerlegen zu müssen glaubte,
sein Horoscop gestellt, er wurde nämlich selbst ein Spino-
zist. (Bayle.)
Wissen können wir von nichts, als von Zahlenverhält¬
nissen des Einen gegen das Andere, wie schon früher
gesagt. Nehmen wir das V\ issen von der Welt in einem
anderen Sinne, ohne dals etwas, als aufser uns gegebenes,
mithin, in Beziehung auf uns, Zufälliges, ursprünglich
gegeben voranstehl: so fällt auch nothwendig das N\ issen,
das uns übrig bleibt, zusammen, und wir wissen auch vom
W isseu nichts mehr. Der Dämmer der alt- oder neupla¬
tonischen Mystik, mufs am Ende, klar gemacht und in sich
consequcnt, auf das elcatische Prinzip kommen, und in sein
\
ödes Nichts zurücksinken. Richtiger — darf man sagen
redlicher? — als Spinoza, hat Galen den Unterschied
zwischen Moses und Plato begriffen. Spinoza sucht
seine Lehre zu unterstützen, indem er in der Schöpfungs¬
geschichte Mosis dieselbe Lehre nach weist, die er gelehrt
hat. Deum mundum hunc visibilem ex chaote fecissc
steht aber nirgends; ja, dieser Ausspruch gebürt der eigent¬
lichen Philosophie ganz und gar, und bildet eben den Ge¬
gensatz zu dem: Im Anfang schuf Gott Himmel und
Erde. Galenus dagegen drückt sich über diesen Gegen¬
satz der Philosophie zur Offenbarung (nach ihm, Plato und
Moses) folgendermaalsen aus (de usu portiuni, A. c. XIV.):
Mhtks aruf l$VTieXcytit k*\ ßiXnot UTaig, i) £7r/jt#£öf;
cteitTov p.t»Toi äAAä rr,t ik tu OQiuueyu $vXtt.TTotTo$
• . j t • v « t • / .. * ' i
yirttrstif tv utxti Toif yitlrouttoif ouoovt M&on Tt)t ik
T?f vAlJf XVT*i 7TgOSTtS-irCtl .... Kx\ TUT ffTIty KxQ O T>} { M U -
ctaf o'ofys r &*)uitI(>x xctl nXuT6>*o< , xeci r> tu* xXXur t tu*
ttx^ EXXr.crif ofiu<; utTX}^UPicrxuttut\ tu { TTfgl X*yu<
oitttylglt. r» Uff yct£ Apli re ßuXtjS-rvui xocrxrecu Tot $tet
407
I. Philosophie und Physik.
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TJjy vhyv, 7) ö ev&vg x.fxorpvTcci. ttxvtx yxg itvxi too 3-?m
ii'VctTU, yo/xt^et , X.CCV u t^v T£<pgav i7r7rov >; ߣy e3~eXf( 7Coii 7».
H.ustf 0 H X, htm yiVMSxopsy, «AAat £/vc£; tivä Aeq/o^j? xov-
yXTX cpvcr£( r) TXTOig £7Tl%Sl(>tlV OÄMf TOV $-£oy , CtAA*
ix. r&ö ^vvxTuiy yiVicrB-ctt to ß'iXnov a'i^ilr&xi. y.xl roivvv xoct rgt-
%cig £7r) ro7g ßXltycl^oig txrudrj ßiXnov aj y U. S. W. .Die t/A>)
gehörte ihm ganz und gar zum « W' ah rhaFt - seiend -
seienden,» als dafs er sie zum blofsen (jeschöpf hätte
machen können. Der Paganismus war so weit von ‘einer
solchen N orstellungsart entfernt, dafs er sie nicht einmal
einem Andern nachzudenken oder nachzusprechen vermochte,
eine Idee, auf welche der Gründer der kritischen Philoso¬
phie als diejenige endliche verwiesen hat, die der Vernunft
von allem Denkbaren am meisten conform wäre. (Man ver¬
gleiche hierüber J äse he, Darstellung der Geschichte des
Pantheismus. Berlin 1826. S. 103.)
*» *
Wenn der römische Philosoph, im Bewufstsein einer
✓
entfernten Unsicherheit, gesteht, jedenfalls wolle er lieber
mit Plato irren, als Recht haben mit Epicur; so wird
es wohl begreiflich sein, wenn man lieber mit dem tief¬
sinnigen Kritiker Kant Recht haben, als mit dem Proteus
des All-Eins, diesem wesen- und trostlosen Undinge, und
seinen Bekennern irren wollte. Doch wie mag man sagen,
«lieber irren,» oder «lieber Recht haben?» — als ob es
auch nur von uns abhinge, das zu wollen, jenes nicht! Ist
nicht die Wahrheit allmächtig, gleich dem, dessen Werk
die Welt ist und sie?
Die mathematische Weltdemonstration, und ein W i s-
sen im eigentlichen Sinne des Wortes, aufzugeben genö-
thigt, ist uns daher keinesweges zu Muthe, wie dem, der
grofsen Besitz ohne Ersatz w'cgzuwcrfen gezwungen ist.
W ir geben kein Gewisses hin, ohne Aussicht auf ein an¬
deres Neue; wir geben vielmehr ein erweislich Nichts, ja
ein weniger als Nichts, einen Widerspruch auf, .mit dem
I) Natur — Gott, und darin liegt es )a eben
40S 1 1 . Coriex adstringens Urasiiicnsis.
Rewufstsein, glatt «K«*se-s Aufgegcbeneh, »Ins nn sich ja eben
ein gewisses Nichts bedeutete, ein gewisses Etwas zu ge¬
winnen, eine ihrem Wesen nach unerklärliche, aber ihrem
Sinne nach nur verdeckte Welt der Anschauung. Zwei
Punkte sin«! uns gegeben; auf dem einen befinden wir uns,
und dies ist der ruhende; der andere, der aufserhalb unser,
ist der bewegliche. Der Welt »les Werdens und \ erge-
hens, in einer Welt des Ausgedehnten und des Veriliefsen-
den, können wir uns nur, so weit solches überall uns ver¬
gönnt ist, unter beiden Formen, des Neben- und des Nach¬
einander, bemeistcni, also durch Vergleichung und Erfah¬
rung. Als Basis »lieses Räumlichen und Zeitlichen ist vor
unserem Genüilhe die Teleologie, als unzertrennliche Idee
von der, eines persönlichen, und also freiwaltenden De-
miurgen. Diese Idee einer Teleologie ist es aber auch, die
alle fruchtbaren Naturforschungen von jeher geleitet hat,
so wie die Methode der Induction im Gegensätze zur De¬
monstration, immer und ewig »lie rechte Rasis aller wirk¬
lichen Rereicherungen der Naturwissenschaften war und
bleiben wird. Wenn nun ein moderner Idealismus das
zweitemal einen ^Veltunterrang demonstrirt, so inonstrirt
er, wie Ixion mit seiner Wolken-Juno, lauter Centauren
und Chimären, ein trostloses, unseliges Gesindel von Ab-
straclionen.
• U. .
Uebcr den Cortcx adstringens Brasilien-
sis; vua K. Tb. Me i rem, Doctor der Mcdiciu,
Chirurgie und Gebartshiilfe , Künigl. Preufs. Re¬
gierungs - und Medicinalralhc bei der Regierung
zu Köln u. s. w. Mit vier ausgemalten Abbil-
409
II. Cortex adstringens Brasiliensis. 409
's/ t * .
(Jungen. Köln am L\hein> Druck und Verlag von
Johann Peter Bachem. 1 S28. 8. 106 S. (1 Thlr.
8 Gr.)
Im October 1818 erhielt M. die Kinde durch einen
Kaufmann, der sie auf einer Keise nach Südamerika von
einem Indianer des stillen südlichen Oceans bekommen zu
haben vorgab (man lese die Berichtigung dieser Stelle in
der medicinisch -chirurgischen Zeitung. 1829. Kd. 1. S. 29.).
Ein beigefügter, in einem schlechten Portugiesisch geschrie¬
bener Zettel (ist weiter nichts als eine Verunstaltung der
dem Kaufmann Schimmelbusch mitgetheilten Vorschrift
der Anwendung dieses Mittels — durch Dr. Pohl aus den
Memorias de Mathematica e Phjsica de Academia das Scien-
cas de LisLoa 1812. Tom. 111. p. 1. entlehnt) lehrte Ilrn. M.
die Gabe und die Krankheiten kennen, gegen welche die
Kinde sich besonders wirksam gezeigt haben sollte. M. be¬
merkt, dafs er von derselben erst Gebrauch gemacht, nach¬
dem er sich durch Versuche an sich selbst von der Un¬
schädlichkeit ihrer Einwirkung auf den Organismus über¬
zeugt hatte — ohne in eine Beschreibung dieser Versuche
einzugehen, und ohne die Form und die Dosis anzogeben,
in welcher er diesen Arzneistoff genommen. Freilich heifst
es nach Hrn. M. in jenem der Pxinde beigefügten portugie¬
sisch geschriebenen Zettel, dafs die Eingebornen die Kinde
zu einem Scrupel nehmen; indessen würden wir es als eine
Tollkühnheit arischen, wenn ein Arzt in dieser Gabe so¬
gleich einen fremden Arzneikörper an seiner Person erpro¬
ben wollte, bevor er nicht schon vielfältige Versuche an
Thieren vorangeschickt hätte.
Nach Herrn von Martins ist der Cortex adstringens
Bras. die Binde von einer in Brasilien häufig wachsenden
Acacie, welche dort Jurerna oder Geremma genannt wird
(auch hierüber wird der Leser in jenem oben angeführten
Artikel aus der medicinisch -chirurgischen Zeitung eine Er¬
läuterung linden), lief, möchte den Kaum der Annalen
V
410 II. Corlcx adslringens Brasiliensis.
mifsbrauchen, wenn er dem Vcrf. in der physischen und
chemischen Reschreibung der Kinde folgen wollte, und be¬
merkt nur in aller Kürze, dafs der kalte wässerige Aufgufs
von einem Tbeilc Kinde mit 10 I heilen A\ asser dun kel-
braunrolli, geruchlos, und bitterlich -zusammenziehend von
Geschmack ist; dafs das aus diesem Infusum verfertigte Ex-
tracl eine glänzend -dunkclrothc Karbe, einen stark zusam¬
menziehenden Geschmack besitzt, und sich in Wasser und
Weingeist klar auflöst; dafs dieselben Eigenschaften den
aus dieser Rinde mit Alcohol und Aether bereiteten Tinctu-
ren zukommen; und endlich, dafs es der chemischen Ana¬
lyse nicht hat gelingen wollen, ein Alraloid in derselben
zu entdecken.
Aus dem Gesagten geht hervor, dafs in chemischer
Beziehung die Kinde grofse Aehnlichkeit mit der Ratanhia
hat, was auch in therapeutischer Rücksicht der Fall ist,
wie sich jeder überzeugen wird, der von ihr Gebrauch zu
machen Gelegenheit findet.
Innerlich wendet M. den Cortex adstringens als Pul¬
ver, Decoct, Tinctur und Extract an, äufserlich nur als
Decoct; das Pulver giebt er zu einem Scrupel bis zu einer
halben Drachme drei- bis viermal täglich, bei Schlcimflüssen
dann besonders, wenn nicht Störungen in der Verdauung
vorhanden sind. Die Mischung mit Zucker und aromati¬
schen Sachen will er nie nützlich gefunden haben (sie trägt
indessen doch wesentlich zur Verbesserung des Geschmacks
bei. (lief.). Vom Decoct, das er aus einer Unze der
Kinde mit 16 Unzen Wasser bereitet und bis auf die Hälfte
einkocht, läfst M. gewöhnlich alle zwei Stunden einen bis
zwei Efslöffel voll nehmen. Keim chronischen Tripper
verbindet er hiermit zwei Quentchen Uopaivabalsam und
eben so viel Eisentmctur (schmeckt höchst unangenehm
und wird schwerlich lange von den Kranken genommen
werden können, am wenigsten, wenn diese einen reizbaren
Magen haben. ReL). Das von M. beim Mutterkrebs und
daher entstehenden Blutungen empfohlene Infusodecoct
II. Cortex adstringens Brasiliensis. 411
der Rinde mit der Sabina, dürfte leicht zu reizend wirken,
den Fortgang des Mutterkrebses befördern, und aus diesem
Grunde den Beifall umsichtiger, rationeller Aerzte schwer¬
lich erhalten.
Das Extract verordnet M. zu einer bis zwei Drachmen
in sechs Unzen eines aromatischen Wassers mit einem Zu¬
satze von Orangenbliithensyrup, alle Stunden einen Efs-
löffel voll; die Tinctur bei chronischen Metrorrhagieen zu
1 bis 2 Theelöffel voll mit rothem Weine alle zwei bis
drei Stunden.
$ x
Rücksichtlich der Wirkung der Rinde behauptet der
Verf., dafs sie neben der Eigenschaft aller übrigen adstrin-
girenden Mittel — der Erschlaffung der thierischen Faser
entgegen zu treten, auch den Vorzug habe, eher beruhi¬
gend, als erhitzend, leicht verdaulich und die Leibes¬
öffnung befördernd, langsam, aber sicher zu wirken,
daher sie vortrefflich geeignet sei, lange bestandenen
Ausflüssen ein Ende zu machen — während in Fällen, wo
es darauf ankommt, schnell einen Blutflufs zu beseitigen,
M. die Ratanhia vorzieht, welcher er sehr aufregende (?)
Eigenschaften beimifst.
Mit besonders glücklichem Erfolge verordnete M. den
Gort, adstr. bei passiven Blutflüssen, nachdem es ihm durch
Säuren und andere Mittel gelungen war, die erste drohende
Gefahr abzuwenden, und nachdem das Uebel einen mehr
chronischen Charakter angenommen hatte. Auffallenden
Nutzen brachte der fortgesetzte Gebrauch der Rinde bei
Prreumorrhagien und Mutterblutflüssen aufser und während
der Schwangerschaft, so wie nach der Entbindung (kann
Ref. nicht bestätigen). Eben so rühmt M. dieses Mittel
als Prophylacticum gegen Abortus aus Gewohnheit, und
empfiehlt neben einem ruhigen Verhalten und dem täglichen
Einreiben des C h restien sehen Spiritus aus zwei Unzen
Spiritus juniperi, einer halben Drachme Nelkenöl und eben
so viel Balsamus nucis moschatae, entweder während der
Dauer der Schwangerschaft, oder doch wenigstens während
l
412 II. Cortex adstringeos Brasüicnsis.
acht Tagen vor und nach der Zeit, wo früher abortirt
ward, Morgens und Abends einen halben bis ganzen i'hee-
luffid von der Tinrtur in W asser zu nehmen.
Nächst den Klutllüsspn sind nach IM er rem besonders
die Blennorrbagien die l ehel, in denen der Gebrauch
der Brasilianischen Kinde sich überaus heilsam erweist.
Schleimfieber sollen im Stadium prodromorum ( :’ ) und im
Stadium reconvalescentiae schnell durch dieses Mittel besei¬
tigt werden \ viele hundert an Fluor albus leidende
Frauen versichert M. (S. 85.) mit Hülfe desselben von
ihrem lästigen IJebel befreit (experientia fallaxl), und nur
in einem Falle es ohne Hrfolg verschrieben zu haben
(welch ein Gewinn für die leidende Menschheit, wenn «1er
llr. \ erf. sich bei diesen Worten nicht zu sehr des ver-
grüfserten Maalsstabes bedient bat!). Auch beim Tripper,
bei Hämorrhoiden, als Prophylacticum bei periodisch wie-
derkebrender Halsbräune und bei periodisch wiederkehren¬
der Gesichtsrose, bei Aphthen der Kinder, bei Prolapsus
vaginae, uteri, aui, bei Incontinentia urinae aus Schwäche,
Polin tio diurna und Impotenz, soll die Kinde fast immer
radicale Hülfe bringen.
Hie Sprache ist wenig edel gehalten, und an \ er-
stüfsen, wie Einspritzungen, von auf Chinapulver gestan¬
denem altem Khcinwein S. 77, Althea statt Althaea S. 88,
mit dunkeln Kreisen um den hohle/; Augen S. 89, mit klei¬
nem gereiztem Pulse S. 90, mit losem wenig stöueodem
Husten S. 93, zu reich, als dafs wir diese für Druckfehler
erklären könnten. — Papier, Druck und Abbildungen sind
sehr gut.
XII
• . .. /.
* w
111. Heccp Lirkunst und Arzneiformeln. 413
t
m.
J. Taschenbuch der ärztlichen Receptirkunst
und der Arzneiformeln, nach den Methoden der
berühmtesten Aerzte; herausgegeben von karl Sunde¬
lin, M. Dr. Als Supplement zu der Heilmittellehre des¬
selben Verfassers. Irrstes Bändchen: Receptirkunst.
Zweites Bändchen: Arzneiformeln. Berlin, Verlag
von Th. Chr. Fr. Enslin. 1828. 12. 307 und 278 S.
i
(1 Thlr. 16 Gr.)
\ * ,1 Y
Bei den fortwährenden Erweiterungen der Heilmittel¬
lehre sind Hülfsmittel zum A erschreibcn der Arzneien von
unverkennbaren» Nutzen, und ein nothwendiges Bedürfnis
der medicinischen Praxis, dem seit Gaub viele ausgezeich¬
nete Aerzte und Pharmaceuten, wie Trommsdorf, Eber-
maier, Burdach, Schubarth u. m. a. zu genügen be¬
müht gewesen sind. Allerdings wird durch Sammlungen
von Arzneiformeln bei vielen ein mechanischer Hang zum
Abschreiben berühmter Recepte begünstigt, und entsprechen
die ausgewählten Formeln nicht der nöthigen Einfachheit
bei den Verordnungen, so möchte durch den zu allgemei¬
nen Gebrauch dieser Art von Hülfsmittetn die Heilmittel-
~ t \ , '
lehre in ihrem Fortschreiten eher zurückgehalten, als be¬
günstigt werden. Hoch bedarf auch der denkende Arzt
einiger Anleitung, und die nöthigen Modificationen in den
Gaben und der Zusammensetzung der Heilmittel ergeben
sich ihm leichter, wenn ihm eine grofsere Auswahl unter
bewährten A orschriften dargeboten wird.
Das vorliegende Werkchen des ilrn. Hr. S. empfiehlt
sich durch Gemeinnützigkeit und Brauchbarkeit, so wie
durch • eine zweckmäfsige Auswahl von • Arzneiformeln.
Das erste Bändchen enthält die Receptirkunst, in gedrängter
ii
414 III. Ileceptirkunst und Arzneiformeln.
Kürze, mit Weglassung des Uebcrfliissfgcn, und übersicht¬
lich vorgetragen, doch möchte es hei dem Gebrauche
nöthig sein, sich sogleich mit dem Ganzen genauer be¬
kannt zu machen, indem das Register dem Zwecke der
Erleichterung des Nachschlagens deshalb wenig entspricht,
weil die Namen der Aazncien ganz darin fehlen. Die
einzelnen Abschnitte sind nächst einer kurzen Einleitung
folgende: 1) Von dem Aeulseren des Recepts, 2) von
dem materiellen Inhalte desselben und dessen genauerer
Bezeichnung, 3) von der genaueren Bezeichnung der
Arzneisubstanzen, 4) von der genaueren Bezeichnung der
Arzneiform auf dem Recept, 5) von den Maafsen und
Gewichten, und deren Bezeichnung auf dem Recepte (der
Verfasser hat das französische Decimalgcwicht zur Ver¬
gleichung mit dem gewöhnlichen Medicinalgewicht bei-
gefiigt), 6) von der Bestimmung der Gaben oder Dosen
auf dem Becepte, 7) von dem Verfahren, die Arzneien
angenehmer zu machen. — Hierauf folgt die EintheÜung
der Arzneiformen in feste, flüssige und dunst- lind gasför¬
mige. Bei den ersten werden die Pulver in mehren Unter-
abtheilungen , die Species, die Morsellen, die Zeltchen und
die Küchelchen, durchgängig mit Anführung anschaulicher
Beispiele abgehandelt, hei den festweichen Arzneiformen
die Pillen (sehr ausführlich, wie der Gegenstand es erfor¬
dert), die Bissen, die Latwerge, die Gonserve, die Gallerte
(hier hat siel» der Druckfehler Ichthiocolla eingeschlicliKn),
das Pilaster (S. 111 u. 115 steht Lythargvrmn ), das Stuhl¬
zäpfchen, die Wachskerzen, die Wachssalbe, die Salbe,
das Liniment und der Breiumschlag, — hei den flüssigen
Arzneiformen der Schleim, der Lecksaft, der Pinselsaft,
der ausgeprefste Pflanzensaft, der Aufgufs, die Abkochung,
der Absudaufgufs, die Aufgufsabkochung, die Tisane, die
Molken, die Pflanzenmilch, die Oel- und Harzmixtur, die
Mixtur, die Schüttelmixtur, die Mixtur im engeren Sinne,
die Julepmixtur, das Tränkeben, die Tropfenmixtur, das
Llixir, die Auflösung, die künstlichen Mineralwässer , das
III. Receptirkunst und Arzneiformeln. 415
Wasch wasser, die Bähung, das Augenwasser, das Gurgel¬
wasser, die Einspritzung, das Klystier und das Bad. Die
Erörterung der dunst- und gasförmigen Arzneiformen konnte
hier nur kurz ausfallen; der Verf. würde wohl gethan ha¬
ben, hier beiläufig die Schriftsteller anzugehen, die hier¬
über ausführlichere Belehrung geben, namentlich Rapou,
der in der neuesten Zeit den Gebrauch der Heilmittel in
dunstförmiger Gestalt am vollständigsten und erfahrungs-
gemäfs bearbeitet hat. (Traite de la Methode fumigatoire,
ou de l’emploi medical des bains et douches de vapeurs.
Paris, 1823, 24. 2 Voll. 8. S. d. Annalen, Bd. I. II. 3*
S. 284.) — Den dritten Theil des ersten Bändchens nimmt
hierauf ein alphabetisches Verzeichnis der wichtigeren ro¬
hen oder einfachen officinellen Arzneisubstanzen, ihre Zu¬
bereitungen, Gaben und Hauptwirkungen ein, in dem die
Gaben stets die mittleren für Erwachsene, und die Auf¬
güsse, Mixturen und Abkochungen zu der Colatur oder
Quantität von sechs Unzen, und zu efslöffelgrofsen Gaben
berechnet sind. Den Beschlufs macht eine Erläuterung der
zur Bezeichnung der Arzneiwirkungen gebrauchten Wör¬
ter, und eine Angabe der wichtigeren Zeichen, deren man
sich ehemals auf den Recepten bediente.
Das zweite Bändchen enthält eine ziemlich beträcht¬
liche Sammlung von Arzneiformeln, die gröfstenthefls von
berühmten Männern herrühren. Die Ordnung, in der sie
aufgeführt sind, ist die pharmaceutische, beim ersten Bänd¬
chen angegebene, so dafs die Pulverformeln den Anfang
machen, und die Verordnungen zu Klystieren die Samm¬
lung besehliefsen. Die Unterabteilungen sind nach den
Wirkungen der Mittel geordnet, so dafs z. B. bei den Pillen
auf lösende, alterirende, reizend -auflösende, abführende, diu-
retische, narkotische, metallische (umstimmende), erregende,
reizende und scharfe, tonische und stärkende, und adstrim-
girende Mittel von einander gesondert stehen. Gegen diese
Anordnung läfst sich indessen die erhebliche Einwendung
machen, dafs das pharmaceutische Einteilungsprinzip ein
416 III. Keceptirkunst und Arzneiformeln.
blofs mechanisches, und in einer Reccptsarmnlung für den
praktischen Arzt ganz unwesentlich ist. Die beste Ordnung
für eine solche Sammlung ist ohne Zweifel lie alphabeti¬
sche, der der Yerf. im ersten Händchen bei der irn täg¬
lichen Gebrauche wenig in Anwendung kommenden Auf¬
zählung der v ehtigsten Heilmittel gefolgt ist. Sie erleich¬
tert das Nachschlagcn und die Uebersicht, worauf es hier
am meisten ankommt, und die Unterabtheilungen können
dabei leicht nach pharmnceutischen und allgemein -therapeu¬
tischen Principien gebildet werden, auch lassen sich dabei
Wiederholungen nnd \ creinzelungen am besten vermeiden.
Das Heilmittel an sich ist und bleibt die Hauptsache, ob
es in Form einer Mixtur, oder eines Pulvers, oder in Pillen
gereicht wird, ist therapeutisch oft ganz unwesentlich, und
dieselbe Arznei unter verschiedenen pharmaceutischen Ru¬
briken aufzusuchen, wenigstens beschwerlich und zeitrau¬
bend. Es scheint, dafs der Verf. mit seinen therapeutischen
Unterabtheilungeu eine Beschränkung des mechanischen Trei¬
bens in der Benutz -ng der vorgeschlagenen Formeln beab¬
sichtigt hat. Dawj eignet sich aber eine Bcceptsannnlung
durchaus nicht. Lia Arzt, der nicht mit der Hcilmittel-
lehre bekannt ist, sollte dergleichen Werke gar nicht be¬
nutzen (wiewohl leider die oberflächlich Unterrichteten am
begierigsten dan .<h greifen), für ihn kommen die guten
Gehren an einem solchen Orte zu spät; der Geübte ver¬
langt nur eine airze treffende Andeutung, und beachtet
nicht die ihm längst bekannten allgemein -therapeutischen
Winke. Bef. hofft, dals diese Andeutungen hei einer wahr¬
scheinlich fj; erwartenden zweiten Auflage dieses Wer¬
kes benutzt werden mögen, die Brauchbarkeit desselben
könnte durch die bezeiclmete Anordnung der Formeln,
wie dies gewifs allen Praktikern einlcucbten wird, nur er¬
höht werden.
W ir machen hei dieser Gelegenheit unsere Leser auf
eine schon vor zwei Jahren in der dritten Auflage erschie¬
nene, in Deutschland jedoch wenig bekannte Receptsamm-
III. Arzneiformeln.
417
lang aufmerksam, die den Standpunkt der französischen
Aerzte heim Verordnen der Arzneien recht deutlich bezeich¬
net, und wenn auch in einem, den Deutschen weniir zu-
sagenden Gewände, doch manches Brauchbare enthält, das
sich in viel jähriger Erfahrung bewährt hat:
2. Formulaire pratique des II öp! tau x civils de
Paris, ou Recueil des prescriptions medicamenteuses
emplopees par les medecins et chirurgiens de ces etablis-
semens; avec des notes sur les doses, le mode dadmi-
nistration, les applications particulieres, et les considera-
tions generales sur chaque höpital, sur le genre d?af-
fections auquel il est specialement destine, et sur la
doctrine des praticiens qui le dirigent. Par E. S.
Ratier, Dr. en med. de la Fac. de Paris etc. Troisieme
ödition, revue et considerablement augmentee. A Paris,
chez J. B. Radiere, ä Londres, meine maison. 1827. 12.
589 S.
Bekanntlich sind in den Pariser Krankenhäusern eigen-
thiimliche Verfahrungsweisen von Alters her üblich, es gab
ehedem viele Geheim mittel im Besitz der einzelnen Hospi¬
täler, an die noch gegenwärtig althergebrachte Namen
erinnern, die allen Aerzten unverständlich sind, die sich
nicht mit den Receptbiichern jener Anstalten bekannt ge¬
macht haben. Eine allgemeine Norm für alle Hospitäler
existirt nicht, es war daher ein verdienstliches Unternehmen
von Ratier, seine französischen Kunstgenossen wie die
Aerzte des Auslandes mit dem bekannt zu machen, was die
Pariser Hospitalpraxis in der Verordnung von Arzneien
Interessantes und Nachahmenswertes darbietet. Er ist bei
seiner Auswahl des Wichtigsten (eine blofse Zusammen¬
stellung aller Receptbiicher der Hospitäler würde ihren
Zweck verfehlt haben) ganz historisch zu Werke gegan¬
gen, ohne irgend Veränderungen anzubringen, oder seine
eigene Kritik einzumischen, die bei einem Unternehmen
dieser Art, wo es nur auf Mittheilung des Bestehenden
i
418
III. Arzneiformeln.
ankommt, auch nicht wohl angebracht seia möchte, und
hat seiner Sammlung dadurch ein noch höheres Interesse
zu geben gewußt, dafs er sich mündliche und schriftliche
Erläuterungen der llospitalärzte über diese und jene Zu¬
sammensetzung und Yerfahrungsweise verschafft hat, so dafs
wir nicht durchgängig, wie in ähnlichen Arzneibüchern,
blofs eine trockene Zusammenstellung von Formeln erhal¬
ten. Im Allgemeinen ist in der Pariser Hospitalreceptur
eine grofse Einfachheit vorherrschend, eine Folge der ei-
genthümlichen Gestaltung der Therapie in Frankreich seit
Pinei, zum Theil auch der Verbreitung B roussaisscher
Grundsätze. Die Zahl der scharfen Brech- und Purglrmit-
tcl hat beträchtlich abgenommen , dagegen ist eine Zunahme
der milden und einhiillenden Heilmittel durchgängig bemerk¬
bar. Die neuen Heilmittel, mit denen sich die Materia
medica durch die Fortschritte der Chemie bereichert* hat,
und die allmählig mit grofsem, zum Theil mit zu grofsem
Eifer in Gebrauch gezogen worden sind, hat der Verf.,
wenn sie irgend wichtig waren, aufgenommen. Die Vor¬
schriften sind, wie in Frankreich üblich, durchgängig in
französischer Sprache, und nach dem alten Medicinalgewicht,
da das (wenn auch viel bessere) Decimalgevviclit bei der
Receptur noch nicht eingeführt ist. Zur Beurtheilung des
Standpunktes der medicinischen Praxis in den einzelnen
Krankenanstalten hat der Verf. einige interessante Bemer¬
kungen über dieselben, die zum Theil die persönlichen An¬
sichten der vorstehenden Aerzte betreffen, vorausgeschickt,
in denen hier und da die eigenen Erklärungen der letzten
mitgetheilt werden. Man erhält hierdurch ein ziemlich
treues Bild der in das Beben tretenden theoretischen An¬
sichten der wichtigsten 'Wortführer, wenn auch die Be¬
rücksichtigung persönlicher Verhältnisse eine genauere Kri¬
tik dieser Ansichten zurückhalten mufste, und der \erf.
mit Bobsprüchen offenbar freigebig gewesen ist, die bei
Gelegenheiten dieser Art direct und indirect gefordert zu
werden pllegen. Das Ilötel-Dieu ist gegenwärtig nur für
solche
419
III. Arzneiformeln.
%
solche die an acuten, inneren oder aufseren Krankheiten
leiden, bestimmt. Wir erhalten in einer, dem Verf. zu
diesem Zwecke zugekommenen Mittheilung ])upuytren’s
eine Uebersicht der zeither vorgenommenen Verbesserungen
dieser berühmten, und einst so berüchtigten Krankenanstalt.
Asthenische Fieber und Hospitalbrand sollen hiernach fast
gar nicht mehr Vorkommen, und selbst die Trepanation,
unter übrigens gleichen Umständen, eben so gut gelingen,
wie die anderen Operationen (?). Dagegen, versichert D.,
hätten die Entzündungen bedeutend zugenommen, so dafs
die nach Operationen Verstorbenen bei der, ohne Aus¬
nahme bei jeder Leiche vorgenommenen Section in den
letzten sechs Jahren in der Regel die Spuren von Pleuritis,
Lungenentzündung oder Peritonitis, oft von zwei oder drei
inneren Entzündungen zugleich gezeigt haben sollen (?).
Demgemäls hat die antiphlogistische Methode in den chi¬
rurgischen Stationen ein entschiedenes Uebergewicht ge¬
wonnen , so dafs bei etwa 3000 Kranken alljährlich kaum
ein Pfund China innerlich, und nur einige Pfund äulserlicb
verbraucht werden. Incarcerirte Brüche werden so¬
gleich bei der Aufnahme der Kranken operirt,
die Maschinen zur Einrichtung von Verrenkungen und
Beinbrüchen sind verbannt, fortwährende Extension wird
nie angewandt, und man heilt diese Verletzungen auf die
einfachste, zwangloseste Weise, blofs bei einer zweckmäfsi-
gen Lage, und mit Vorrichtungen, die die Bewegungen
nur verhüten sollen, nicht aber gewaltsam auf die leiden¬
den Theile einwirken. Den grauen Staar operirt D. be¬
kanntlich durch die Depression, während die Kranken das
Bett nicht verlassen, um alle Schädlichkeiten beim Trans¬
port derselben zu vermeiden. Die Sterblichkeit verhält sich
wie 1:18 — 20; die Steinoperation gelingt bei |-, die Bruch¬
operation bei y, die Slaaroperation bei f-, die Operation
der Thranenfistel mit Einführung einer Röhre von Gold
oder Platin bei der Operirten. Aufser D. versehen San-
son und Breschet den Dienst in den ihnen angewiesenen
28 * ' v
XIV. Bd. 4. Sl.
420
III. Arzneiformeln.
Wirkungskreisen. Der vnedicinischen Klinik stehen viertel¬
jährlich abwechselnd Recamier, Petit, Husson, Gue-
ncau de Mussy, Borie, de Montaigu und Geoffroy
vor. Recamier ist kein Systematiker, sondern benutzt
aus allen Lehren das Brauchbare, und beschäftigt sich viel
mit pathologischer Anatomie und mit Vervollkommnung der
Heilmittellehre. Seine Versuche, den Scirrhus als ein, wie
er glaubt, rein örtliches Leiden vermittelst der Compression
zu heilen , sollen seiner Versicherung nach oftmals guten
Erfolg gehabt haben. Montaigu, Petit, Dorle und
Geoffroy werden als Humoraltheorelikcr bezeichnet, und
sollen beim Gebrauch der reizenden und stärkenden Mittel
Brownschen Grundsätzen huldigen (eine sonderbare Ver¬
mischung!). Ilusson war früher ein Anhänger von Brous-
sais, und ist gegenwärtig Contrastimulist.
Das Höpital de la pitie ist eine Filialanstalt des
Hotel -Dieu und des Höpital des Venerien*. Es nimmt aus
jenem die Reconvalescenten und -die chronisch Erkrankten
auf, und hat eine eigene Abtheilung für angesteckle öffent¬
liche Mädchen. Lisfranc, Beclard’s Nachfolger, ver¬
sieht die chirurgische Praxis, zeichnet sich vorteilhaft durch
das Bestreben aus, Operationen durch zweck mäisige innere
Behandlung zu vermeiden, und befolgt Broussaissche
Grundsätze; die übrigen Aerzte sind Serres und Bai ly.
Das Höpital de la charite ist seinem Im fange nach
das zweite Hospital. Boy er und Roux \ ersehen die chi¬
rurgische, Fouquier und L er minier die medicinische
Praxis. An Chomel's Stelle fungirt provisorisch Raver,
der 'S erfnsser eines ausgezeichneten Werkes über die Haut¬
krankheiten. ( lraite theorique et pralique des maladics de
la peau , fonde sur de nouvelles rerherches d'anatomie et de
physiologie palhologiques. Paris, 1826 — 27. 2 Voll. 8.
Mit Kupfern.) Vorzügliches Loh erhält Fouquier als
gelehrter, scharfsinniger und vielerfahrener Kliniker, dessen
Ansichten über einige Klassen von Krankheiten der Verf.
ausführlich darstellt. Von Le r minier sind einige von ihm
III. Arzneiformeln. 42 1
.selbst herrührende Bemerkungen über die Behandlung häufig
vorkommender Krankheiten mitgetheilt.
Cayol und Chomel, beide Professoren der Facultät,
sind die Aerzte am Ho spiee de la clinique interne,
einer für den Unterricht der Studierenden zunächst bestimm¬
ten Anstalt; die Grundsätze beider werden ausführlich an¬
gegeben, doch wollen wir hier dem Verf. nicht in das Ein¬
zelne folgen, indem hauptsächlich nur davon die l\ede ist,
ob und in wie weit sie sich die neue Lehre angeeignel
haben, und inwiefern sie den alten Systemen noch an-
hängen.
Die Aerzte an dem für die Behandlung von Hautkran¬
ken bestimmten Hopital Saint-Louis sind Richerand
und Jules Cloquet für die chirurgischen, und Alibert,
Biett, Manry und Lugol für die medieinischen Abthei¬
lungen. Der \ erf. berührt hier vorzüglich die in diesem
Hospital vorgenommenen Untersuchungen über die Krätze.
Auf die Praxis im Hopital des Veneriens, dem
Cullerier der Neffe, Bard, Gilbert und Bertin als
Aerzte vorstehen, haben die englischen Neuerungen in der
Kur der Syphilitischen noch keinen wesentlichen Einflufs
geäufsert; man betrachtet noch immer das Quecksilber als
das wahre Specificum der Syphilis, und der Liquor Swie-
tenii so wie die Tisane de Feltz sind noch gegenwärtig die
in dieser Anstalt nicht selten mit vieler Einseitigkeit ange¬
wandten Hauptmittel. Der Verf. geht die wichtigsten For¬
men von Syphilis in Bezug auf das gegen sie gebräuchliche
Heilverfahren durch, und berichtet, dafs Cullerier die
Existenz eines syphilitischen Ansteckungsstoffs schon zu be¬
zweifeln anfängt. Die vor kurzem über die nicht- mercu-
rielle Behandlung der primären Symptome und über den
Mercurialgebrauch in diesem Hospitale angestellten Versuche,
haben die in Deutschland gangbaren Grundsätze durchweg
bestätigt. Man sah die primären Symptome nicht selten als
rein örtliche Leiden unter dem Gebrauch von antiphlogi¬
stischen, adstringirenden und ätzenden Mitteln ohne Schwie-
28 *
III. Arzneiformeln.
' 422
rigkeit heilen, aber auch eben so oft syphilitische? Allge
meinleiden ihnen folgen. Man beobachtete Fälle, in denen
das Quecksilber nicht nur nichts half, sondern seihst den
Zustand verschlimmerte und den syphilitischen ähnliche Sym¬
ptome hervorbrachte, und sah Recidive sowohl nach der
nicht mercuriellen Behandlung, wie nach Quecksilberkuren.
Auf allgemeine Resultate ist man noch nicht gekommen. —
Dubois, der als Arzt der Maison de sante vorsteht,
einer Anstalt, in der kein klinischer Unterricht ertheilt wird,
hält den Mercurialspeichelfluis in der Behandlung veralteter
syphilitischer Uebel für unumgänglich nolhwendig; er ist
im übrigeu Llutschcu, und seine Ansichten näheren sich
den Brownschen Grundsätzen.
Der treffliche Chaussier, der keiner systematischen
Lehre huldigt, ist Arzt an dem, f remden und Studierenden
unzugänglichen Hospice sde la niaternite. Sein scho¬
nendes und umsichtiges \ erfahren , so wie seine ausgezeich¬
neten Erfahrungen im Gebiete der Weiherkrankheiten, sind
allgemein rübmiiehst bekannt.
Im Ildpital Saint-Antoine, das sieb bei einem
geringen Umfange durch seine gesunde E3gc und seine gu¬
ten inneren Einrichtungen auszeichnet, bat Kapeler (die
übrigen Aerzte sind Beauchene für die chirurgische, und
Lu liier Winslow für die medicinische Praxis) die con-
trastimulistischen Brechweinsteinkuren einzuführen gesucht,
ist aber von seiner Begeisterung für das Raso rische Sy
stem bereits zuriiekgekommen.
In der Salpetriere nimmt Pariset die Stelle von
Esquirol ein, der die Direction der Maison royale de
(.harenton erhalten hat. Lallemant besorgt die chirurgi¬
sche, und llostan mit Magendie die medicinische Praxis.
Der \ crf. giebt in gedrängter Kürze Esquirol’s ( unsern
Lesern bekannte) Grundsätze über die Behandlung der
Irren an, nach einer Mittheilung des trefflichen, zu früh
verstorbenen George t, eines der besten Schüler dieses
grofsen Irrenarztes.
III. Arzneiformeln.
423
Den Beschluß dieser Uebersicht machen ausführliche
Angaben über das Höpital des enfans. Jadelot und
Guersent sind die Aerzte, Baffos der Chirurg dieser
Anstalt, die kranke Kinder beiderlei Geschlechts bis zu dem
Alter von sechzehn Jahren aufnimmt. Die an Kopfgrind .
Leidenden werden den Gebrüdern Mahon, die im Besitz
eines gerühmten Geheimmittels gegen diese Krankheit sind,
überwiesen. Jadelot’s anderweitig nur aus Bruchstücken
bekannte Grundsätze über die Behandlung der wichtigsten
Kinderkrankheiten, werden nach ausführlichen Mittheilun¬
gen eines seiner Schüler erörtert.
Nach dieser Einleitung wendet sich der Verf. zu den
Arzneivorschriften. Er beginnt mit den Bädern, deren er
gegen 12 aufführt. Eine abentheuerliche Verordnung aus
dem II. des Veneriens findet sich hier unter der Ueber-
schrift Bain antisy ph ilitique : 6 bis 12 feran Sublimat sollen
in 8 Pfund destillirtem und 200 Pfund Flufswasser zu
30 Grad aufgelöst, und dies Bad gegen venerische Uebel
angewandt werden. So weit kanp die rücksichtlose An¬
nahme einer unbedingten specifischen Wirkung des Queck¬
silbers gegen die venerische Krankheit irre leiten! Wir
wollen es dem Verf. gern glauben, dafs dies gegenwärtig
auch aufser Gebrauch gesetzte Bad nicht den geringsten
Nutzen gebracht hat. Wasserdampfbäder in einem ver¬
schlossenen Apparat, und ohne weitere Beimischung, sollen
gegen Krätze im H. St. Louis wirksam gewesen sein. —
Auf uie Bäder folgen die Cataplasmen, unter denen sich
einige sehr empfehlenswerthe befinden, dann die Coily-
rien, die Fo me ntat io n en und. Wasch wasser, die
Räucherungen, die Gurgelwässer, von denen eine
bedeutende Menge mit den verschiedenartigsten Arzneimit¬
teln angegeben sind, die Einspritzungen (Cullerier
bedient sich einer Einspritzung von einem Theil Chlorna-
trum in zwölf Theilen Wasser gegen weifsen Flufs, mit
grofsem Erfolg), die Klystiere, unter denen zwei von
Velpeau von Copaivabalsam und Cubeben (Decoct. al
424
UI. Arzneiformeln.
thaeac 3 vj, Pulv. Cubeb. 3vj.) gegen Tripper aufgefuhrt
werden. Yelpeau zieht diese Anwendungsart der genann¬
ten Mittel dem inneren Gebrauche derselben vor. Dann
die Linimente, die Pommaden und Salben, die Pil¬
len und Dissen, mit einigen Vorschriften zu Latwergen,
denen eine andere Stelle hätte angewiesen werden müssen, und
die Tränke, die sich durch grofse Einfachheit auszeichnen.
Die hier in grofser Menge mitgetheilten Vorschriften geben
eine klare Uebersicht über die herrschenden therapeutischen
Grundsätze berühmter Aerzte; — die Pulver und die
Tisanen; von denen die französischen Arzneibücher einen
grofsen Ueberflufs darbieten.
Besonders reichhaltig an Mittheilungen über eigenthüm-
liche Yerfahrungsweisen ist ein ausführlicher Anhang mit
der Ueberschrift: « Remcdes particuliers, ” dem der Yerf.
die bisherigen Erfahrungen über die wichtigsten neuen Heil¬
mittel und Präparate eingeschaltet hat. Wir wollen hier
nur einiges ausheben, indem wir die Leser in Betreff des
übrigen auf das Werk selbst verweisen. Vielfältige Ver¬
suche in mehren Hospitälern mit der Granatwurzelrinde
gegen den Bandwurm haben alle Erwartungen befriedigt,
was man von den bis jetzt in Deutschland angestellten
durchaus nicht rühmen kann. Man erhält dies Mittel in
Paris aus Afrika, wo ihm die ISatur gewifs viel bessere
Heilkräfte mittheilt, als in Italien. Rcf. hat sich noch kürz¬
lich eine Quantität Granatwurzelrinde aus diesem Lande ver¬
schafft, sie schien ihm indessen bei einiger» angestellten Ver¬
suchen unter der Radix filicis maris zu stehen. Man hat
die afrikanische Rinde in Paris in Form eines Decocts ge¬
geben, ^ iß mit 3 11. Wasser eine halbe Stunde gekocht,
und zur Colatur ^ i ß Syrupus Menthae gesetzt. Davon
nahm der Kranke Morgens und Abends zwei Weingläser
voll, zwei oder drei Tage hintereinander, dann erhielt er
ein Abführmittel, gewöhnlich Ricinusöl, das aber in den
meisten Fällen nicht einmal nöthig war, denn fast immer
ging der Bandwurm von selbst ab. Andere geben das
1 II. Arzneiformeln.
4 25
Mittel in Pulver, mit Wein oder einem aromatischen Was¬
ser. Einige andere Verfahrungsweiscn , von Bourdier,
Dubois und Alibert, bei denen der Gebrauch der Hadix
fil icis maris die Hauptsache ausmacht, werden sehr gerühmt,
und von vielen Aerzten vorzugsweise angewandt.
Gegen Sero fein bedient man sich häufig des Schwe¬
fels; Dapuytren’.s Behandlung dieser Krankheit, die hier
mit dessen eigenen Worten mitgetheilt ist, l'dfst sieh
auf ein stärkendes und antiphlogistisches Verfahren zurück¬
führen. Desselben ausführlich, und wiederum mit seinen
eigenen Worten beschriebene Behandlung veralteter Syphi¬
lis, mit der chirurgische Uebel complicirt sind, vereinigt
den Gebrauch des Sublimats mit Opium, mit dem ein¬
greifender diaphoretischer und sogenannter blutreinigender
Mittel.
Die contrastimulistisehe Brechweinsteinkur ist nach
Laennec’s eigenen Mittheilungen beschrieben, und die
Behandlung der Bleikolik, das sogenannte Traitement
des peres de la Charite ausführlich angegeben. Davon
dieser empirischen Verfahrungsweise häufig die Rede ist,
und eine gründliche Belehrung hierüber selbst in französi¬
schen Schriften nur selten angetroffen wird, so halten wir
es für zweckmäfsig, sie hier mitzutheilen. Am ersten Tage
erhält der Kranke das Lavement purgatif des peintres:
Ree. Folior. Sennae 5 ß* Coque c. Aquae fontan. U. j.
Colat. adde: Natri sulphuric. § ßj Vini stibint. ^ iv. M.
(Nach unserer Art zu verschreiben.) Den Tag über be¬
kommt er zum Getränk Aqua cassiae simplex U. ij mit Magne¬
sia sulphurica und Tartarus stibiatus Gr. lij, zuweilen
mit einem Zusatze von § j Syrupus domesticus (sirop de
nerprun). Am Abend wird das Lavement anodin des peintres
gegeben aus Oleum nucum jugland. ^ vj mit § xij rothem
Wein, und um 8 Uhr ein Bolus aus einer Drachme The-
, * .
riak mit einem Gran Opium. Den zweiten Tag erhält der
Kranke Aqua benedicta zum Erbrechen (Tartarus stibia¬
tus Gr. vj, Aqua tepida Sj j.), das durch zweimaliges Trin-
426
III. Arzneiformeln.
ken von lauwarmem Wasser, so dafs man eine Stunde da¬
zwischen vergehen läfst, befördert wird; den übrigen lag
wird eine Tisane sudorifique aus Guajak, Spina ecrvina
(squine) Sarsapärilla ää 5 j mit zwei Pfund A\ asser auf ein
Pfund eingekocht, mit Zusatz von Sassafras > j und Kadix
Liquiritiae, welche während des Kochens hinzugethan wer¬
den, gegeben. Am Abend bekommt der Kranke wiederum
das obige Lavement anodin und den llolus aus Thcriak und
Opium. Am dritten l äge eine Tisane sudorifique laxative,
bestehend aus Tisane sudorifique simple ‘) mit einer Unze
Senna fünf Minuten lang gekocht, des Vormittags in vier
Gaben zu verbrauchen, den übrigen Tag trinkt er die Ti¬
sane sudorifique simple. Vier Uhr Nachmittags wird wie¬
der das Lavement purgatif des peintres gegeben, sechs Uhr
das Lavement anodin, und acht Uhr der Theriakbolus mit
Opium. Am vierten Tage wird die Potion purgative des
peintres verordnet, aus Infusion Sennae * vj , Natrum sul-
phuricum ^ ß, Pulvis Jalappae 5 j und Syrupus domesti-
cus 5 j , deren Wirkung man mit einer nicht näher ange¬
gebenen Kräuterabkochung unterstützt; den Tag über trinkt
der Kranke wieder die Tisane sudorifique simple, bekommt
fünf Uhr Abends das Lavement anodin und acht Uhr den
Theriakbolus. Am fünften Tage wird die Tisane sudori¬
fique laxative gereicht, ein Uhr Nachmittags das Lavement
purgatif, sechs Uhr das Lavement anodin und acht Uhr der
Theriakbolus gegeben. Damit ist die ganze Kur beschlos¬
sen, deren Wirksamkeit nach tausendfältigen Erfahrungen
so wenig bezweifelt wird, dals viele Aerztc sich mit ängst¬
licher Genauigkeit an die herkömmlichen Vorschriften hal¬
ten. Lerininier wendet sie in der Charite, wo die mei-
1) Die R creilung dieser Tisane ist nicht angegeben; wahr¬
scheinlich ist es doch eine andere, als die in der Maison de
santc gebräuchliche von Duliois, die aus einer Abkochung von
Klettenwurzel ^ j, Gerste ^ ß, Fenchel 3 i'j >o W. i| ß auf H i|
tuit Zusatz, von ^ i) Sirop de < uisinicr besteht.
427
III. Arzneiformeln.
«
sten lilcikollkk ranken Hülfe suchen, ohne Veränderung an,
Fouquier inodificirt sie nach den jedesmaligen Umstän¬
den. — Kanque’s Methode anti-nevropathique gegen die
Bleikolik, die man ebenfalls als sehr wirksam rühmt, ist
ausführlich angegeben.
Von neuen Heilmitteln sind das Extractum alcoho-
licum nucis vomicae nach dem Codex medicamentarius,
mit dem Fouquier günstige Erfolge bei Lähmungen ge¬
habt hat, die Strychnine in verschiedenen Formen, die
Er u eine (von der falschen Angustura, Brucaea dysente-
rica), die in ihrer Wirkung der Strychnine analog, aber
bedeutend schwächer sein soll, die Morphium salze, die
Emetine, gröfstentheils nach Magen die, das Chinin
undjCinchonin, das Gentianin , das Lupulin, die blau-
sauren Präparate, die Jodine, das Veratrin u. m. a. er¬
örtert, und über alte Arzneistoffe neue Versuche mitge-
theilt, wie die von Fouquier über Flyoscyamus, die
diesem Mittel seinen Nimbus sehr benehmen, und über
Belladonna von Dupuytren. Kürzere Bemerkungen
finden sich hier über die Cicuta, das Lactucarium
(Thridace) Lactuca virosa, Aconitum Napellus,
Stramonium, das Crotonöl, das Oel der Euphor-
hia Lathyris, Rhus radicans, die Goldpräparate, den
Chlorkalk und das Chlornatrum, das schwefelsaure
Quecksilber u. m. a. Unter dem Namen Pyrothonide ist
hier und da in französischen Zeitschriften von einem empy-
reumatischen Oel die Rede gewesen, das man durch Ver¬
brennen von Baumwollenzeug oder Leinwand in einer tie¬
fen Schüssel erhält, und nach Entfernung des Zunders in
Wasser auf löst. Ranque, Arzt am Hötel-Dieu in Or¬
leans, hat es in verschiedener Verdünnung zu Einspritzun¬
gen und Fornentationen, auch bei Augenübeln unter die
Augenlieder gebracht, benutzt. Der Verf. erwähnt es in
einem eigenen Artikel, es scheint indessen keiner grolsen
Aufmerksamkeit werth zu sein. Gegen Zahnschmerzen ist
in Deutschland dieselbe Substauz, aus Papier bereitet (Pa-
428
IV. Arzneigewächse.
pieröl), ein längst gebräuchliches, aber nicht mit einem so
wohlklingenden Namen bezeichnetes Hausmittel.
Eine ziemlich vollständige Dosenlehre (Posologie) macht
dies Werk für den Anfänger sehr empfehlenswert , auch
bat der Verfasser für dessen Brauchbarkeit durch ein um¬
fassendes Kcgister gesorgt.
//.
IV.
Dr. Friedrich Gottlob Havne’s, Professors an
der Friedrich - Wilhelms - Universität zu Berlin, u.
s. w. Darstellung und Beschreibung der
Arzneigewächse, welche in die neue preufsi-
sclie Pharmacopüe aufgenommen sind , nach na¬
türlichen Familien geordnet und erläutert von
Johann Fried r. Brandt und Julius Theo¬
dor Christian Ratzeburg, Doctoren der Med.
und Chir., Docenten an der Friedrich- Wilhelms-
Universität u. s. w. Unter Mitwirkung des ersten
Verfassers. Berlin, auf Kosten der Verfasser, und
in Commission bei A. Hirschwald. 1829. 4. Fünfte
und sechste Lieferung, jede za zehn Tafeln, mit
zugehörigem Text von S. 61 — 90.
#
Mit Bezugnahme auf unsere Anzeige der ersten vier
Lieferungen dieses ausgezeichneten Werkes (Bd. XU. H. 1.
S. 109 d. A.) haben wir das Vergnügen, von dessen un¬
unterbrochener Fortsetzung Nachricht geben zu können.
Mit der Hälfte der sechsten Lieferung, S. 86 des Textes
und der Abbildung von Angelica Archangelica ist der erste
Band beschlossen, der zweite Band beginnt mit den Coin-
429
IV. Arzneigewächse.
posltis. Die fünfte und die erste Hälfte der sechsten Lie¬
ferung enthalten die Doldengewächse, deren botanische Cha¬
raktere und chemische Eigenschaften wie bei den übrigen
natürlichen Familien in einem einleitenden Artikel angege¬
ben sind. Abgebildet und botanisch -pharmaceutisch beschrie¬
ben sind: 1) Pimpinella Saxifraga, 2) Pimpinella
Anisum, 3) Ap i um Petro se 1 i n u m, 4) Carum Carvi,
5) An et hum Foeniculum, 6) Anethum graveo-
lens, 7) Coriandrum sativum, 8) Daucus Carota,
9) Cuminum Cyminum, 10) Phellandrium aqua-
ticum, 11) Chaerophy llum syivestre, 12) Conium
niaculatum, 13) Ligusticum Levisticum, 14) Im¬
perator ia Ostruth i um und 15) Angel i ca Archan-
gelica. Die Diagnosen sind durchgängig mit der rühmens-
werthesten Genauigkeit angegeben, die Unterschiede von
ähnlichen Pflanzen, wo es nöthig war, aufgeführt, und
in den pharmocologisch- medicinischen Erörterungen haben
die Verf. durchgängig die besten Quellen benutzt und
angedeutet.
Hierauf folgt die den zweiten Band eröffnende Fami¬
lie der Compositae. "Wir erhalten hier die vorzüglich
gut ausgeführten Abbildungen von 1) Lactuca virosa,
2) Leontodon Taraxacum, 3) Arctium Lappa,
4) Arctium Bardana, und 5) Centaurea benedicta.
Es kann nicht fehlen, dafs dies, dem Bedürfnisse der Aerzte
und Studierenden so durchaus entsprechende Werk die
freundlichste Aufnahme finden, und den verdienstvollen Ver¬
fassern in dem Bewufstsein, das Studium des der Medicin
zunächst liegenden Theiles der Naturkunde kräftig beför¬
dert zu haben, die schönste Belohnung ihrer Bestrebungen
zu Theil werden wird.
Dieselben Hrn. Verf. haben, unablässig bemüht, eine
gründliche Kenntnifs der für die Heilkunde wichtigen Na¬
turkörper zu befördern, und ungeachtet ihrer vielfältigen
Beschäftigung mit ihren beiden anderen Werken, die in
430
V. Giltgewachse.
Deutschland vorkommenden Giftpflanzen einer beifallswer-
then Bearbeitung unterworfen. Von ihrem Werke:
21‘81'Itt 'V.
Abbildung und Beschreibung der in
Deutschland wildwachsenden, in Garten
u n d i m Freien ausdauernden G i f t g e w ä C b -
sc, nach natürlichen Familien erläutert von l)r. J.
F. Brandt und Dr. J.T\ C. Ratze bürg. Berlin,
auf Kosten der Verfasser, und in Commission bei
Hirschwald. 1828. 1829. 4. lieft I. mit 5 colorir-
ten Abbildungen in Kupfer und 24 Seiten Text.
Heft II. mit 5 Abbildungen, S. 25 — 44 Text.
(Jedes Heft 2 Thlr.)
sind bereits die angezeigten beiden Ilefte erschienen, die
sich eben sowohl durch Reichhaltigkeit und Gründlichkeit
der Erläuterungen, als durch besonders gelungene Ausfüll
rung der Abbildungen empfehlen. Die Kennlnifs der Gift«
gewächse ist bei denen, die sie besitzen sollten, keineswe-
ges allgemein genug verbreitet, — eine Folge der Gleich¬
gültigkeit, mit der die Naturkunde auch selbst von Aerzten
betrieben wird, — ein leicht zugängliches Lehrbuch, wie
das vorliegende, ist mithin ganz geeignet , einem dringenden
Bedürfnisse abzuhelfen. W ie in dem Werke über die
Arzneigewächse, haben die Yerf. die Giftpflanzen nach «len
natürlichen Familien geordnet, und den Forderungen, die
der Botaniker wie der Toxicolog an eine solche Sammlung
zu machen berechtigt ist, auf eine durchgängig beifallswiir-
dige Weise entsprochen. In der vorausgeschickten Einlei¬
tung wird zuerst der Begriff des Giftes, als eines Stoffes
aufgestellt, der schon in geringer Menge, wenn er in oder
an den gesunden Organismus gelangt, ohne sich in demsel¬
ben zu reproduciren (wie Ansteckungsstoffe), auf rein dvna«
431
V. Giftgewächse.
mischem, oder chemisch-dynamischem Wege dessen Leben
bedroht oder vernichtet, wenn er nicht durch Gewohnheit
abgestumpft ist, dann folgen die üblichen Einteilungen
der Gifte überhaupt, nach verschiedenen Autoren, einige
Ansichten über die Wirkungsart derselben, eine Angabe
der allgemeinen Erscheinungen der Vergiftungen, und die
allgemeinen Regeln über deren Behandlung. Bei den Pflan¬
zengiften, die die Verf. demnächst einer besonderen Be¬
trachtung unterwerfen, werden die Eintheilungen derselben
kritisch erörtert, vorzüglich die von Büchner, die dem
gegenwärtigen Zustande der organischen Chemie noch am
meisten entspricht, wenn sie auch keinesweges für in sich
abgeschlossen zu halten ist. Die Verf. ziehen die Eintei¬
lung der Giftpflanzen in betäubende (narkotische), ent¬
zündende (scharfe und ätzende) und betäubend - ent¬
zündende, da sie noch durch keine bessere ersetzt wer¬
den kann, allen übrigen vor, und geben dann die Eigen¬
schaften dieser drei Klassen von Giften, dem gegenwärtigen
Zustande der Toxicologie gemäfs, ausführlich an. — Unter
den Gräsern (Gramineae) findet sich nur ein giftiges, der
Taumellolch, Loli um temulentum, das die Reihe
der Giftgewächse eröffnet. Die Abbildung ist nach der
Natur, mit den nötigen Zergliederungen , die hier wie bei
den übrigen Pflanzen sehr instructiv angeordnet sind, die
Erläuterung zeugt von umfassendem Studium, und hebt,
ohne überladen zu sein, das Wesentliche und Wissens-
werte gebührend hervor. — Bei den Liliengewächsen
(Lil iaceae) fällt die Ausbeute reichlicher aus. Wir erhal¬
ten hier die Abbildung und Beschreibung der Kaiser¬
krone (Fritillaria imperial is), mit deren giftiger
Wurzel Orfila Versuche an Hunden angestellt hat, bei
denen der Magen keine Spur von Entzündung zeigte, und
die Tödtung auf dynamischem Wege erfolgt war; — fer¬
ner von Narcissus Pseudonarcissus; nach neueren
Versuchen erregt diese Pflanze in allen ihren Theilen Er¬
brechen und Purgiren, selbst Darmentzündung, und kann
432
V. Giitgewächso.
nach den Vcrf. zu den narkotisch -scharfen Giften gerech-
net werden. Zu bemerken wäre hier gewesen, daU ein
Narcissus, wahrscheinlich Tazetta, von den Alten als Brech¬
mittel benutzt wurde. (Man gab eine Abkochung der Zwie¬
bel, oder liefs die abgekochte Zwiebel verzehren. Dios-
corid. V. 155.) Die Vcrf. haben ein Exemplar mit ein¬
facher Blume, die nur selten angetroffen wird, abbilden
lassen. — - Colchicum autumnale. Die Abbildung vor¬
trefflich, die Erläuterung mit zahlreichen Hinweisungen auf
die vorhandenen Beobachtungen über die Wirkungen der
Zeitlose, wobei sich die Verf. jedoch nur auf das Toxico-
logische beschränkt haben. — . Veratrum alb um. Die
sehr gelungene Abbildung zum Theil nach frischen, zum
Theil nach getrockneten Exemplaren. Albillorum und viri-
dillorum s. Lobelianum sind mit Recht nur als Varietäten,
nicht als verschiedene Arten angegeben. Im Text erhalten
wir eine interessante Uebersicht der neueren Untersuchun¬
gen und Erfahrungen über dieses, aus der Heilmittellehre
fast ganz verbannte Giftgewächs. Auf anti(piarische For¬
schungen sind die Verf. nicht eingegangen. — Paris qua-
drifolia. Die W irkungen der allerdings verdächtigen Bee¬
ren, so wie des Krautes, sind noch nicht genau ausgemit¬
telt, und die Angaben der Schriftsteller über den medici-
nischen Gebrauch des letzten noch sehr schwankend.
Aus der Familie der Arongewächse (Aroideae) ist
Arum maculatum abgebildet. Wurzel und Blätter sind
sehr scharf, und hinterlassen in allen Theilcn, welche sie
berühren, einen brennenden, zusammenziehenden Schmerz;
sie erregen Erbrechen, sogar Blutbrechen, heftige Koliken
und Durchfälle, Magenkrampf, Unterleibsentzündung, und
selbst tödt liehe Folgen sind bekannt. Das aus der ausge-
prefsten frischen Wurzel bereitete Kraftmehl ( Faecula ari)
ist durchaus unschädlich, und in Slavonien bedient man sich
der gekochten und gedörrten Wurzel als eines Nahrungs¬
mittels. —
Die Familie der Thymeläen (Thymeleae) bietet die
433
VI. Naturgeschichte der Otter.
Gattung Daphne als reichlich ausgestattct mit giftigen Ei¬
genschaften dar. Die Verf. haben den gemeinen Seidel¬
bast, Daphne Mezereum, den immergrünen Sei¬
delbast, Daphne Laureola, den Alpen-Seidelbast,
Daphne alpina beschrieben und abgebildet. Auf der
neunten und zehnten Kupfertafel befinden sich noch die
Abbildungen von Daphne striata und Cneorum, deren
Beschreibung in dem vorliegenden zweiten Hefte noch nicht
enthalten ist. Wir dürfen der ununterbrochenen Fort¬
setzung dieses trefflichen ^Werkes, dessen allgemeinere Ver¬
breitung sehr wünschens werth ist, mit Zuversicht entge¬
gensehen.
II
r t •*
VT.
Fortgesetzte Beobachtungen
, /
über die Lebensart und den Bifs der gemei¬
nen Otter (Coluber Berus).
Von
Dr. Friedrieh August Wagner,
Physicus des Scbwcinitzer Kreises und praktischem Arzte
in Schlichen.
Seit dreifsig Jahren bin ich praktischer Arzt in einer
Gegend an der schwarzen Elster, die mit Sümpfen durch¬
zogen ist, in denen die Otter, Coluber Berus, stellenweise
häufig lebt, und zuweilen Menschen und Thieren durch
ihren Bifs schädlich wird, ja solche mitunter auch dadurch
schnell tödtet, daher in diesem ganzen Zeiträume meine fort¬
gesetzte Aufmerksamkeit auf sich gerichtet hat. Wie die Fol¬
gen des Bisses dieser Schlange sich bei Menschen und Thie-
434
VI. Naturgeschichte der Otter.
ren äufsern, and bei welcher Behandlungsart der Arzt am
glücklichsten ist, habe ich in meiner Schrift über den Bih
der Viper Deutschlands vom Jahre 1824 mitgetneilt r). Nur
in naturhistorischer Hinsicht, und in Betreff der Folgen
des Otterbisses, habe ich seit dem Jahre 1824 noch manche
Bemerkungen gemacht, welche, nach meiner Ansicht, mit¬
unter hier und da noch fremd sein dürften, und also einige
Beachtung verdienen, indem sie nicht nur dem Naturfor¬
scher Licht geben, sondern auch dem Arzte zeigen, dals
der Bits von einer und derselben Viper nicht gleich gefähr¬
lich sei und gleiche Behandlungsart erfordere, so wie auch
lange Jahre nachher noch übele Folgen nach sich ziehen
könne, was ich selbst noch nicht wufste, als ich obgedachle
Schrift dem Publikum iibergab.
Seit dem Jahre 1824 habe ich meine Beobachtun¬
gen über die Otter theils in freier Natur, theils an ein¬
gefangenen ausgewachsenen Exemplaren fortgesetzt, und
Folgendes als Resultat gewonnen:
1) Das Thier lebt nie anders, als in sumpfiger Gegend,
wo der lockere, aufgeschwemmte Boden — gewöhn¬
lich Torf oder Moor enthaltend — entweder mit
langem Moose oder mit Gras bewachsen ist, und
sich alte Stämme auf solchem, oder doch nicht fern
davon befinden, um seinen Winterschlaf darin ruhig
halten zu können, und durch das über dergleichen
Gegenden oft stehende Winterwasser nicht darin
gestört zu werden. Im Sommer dienen ihm diese
Stämme als Zufluchtsorte, wenn ihm Gefahr drohet.
Wer die Otter in trockener \\ aldung gefunden zu
haben, oder dort von einer gebissen worden zu
sein glaubt, verwechselt das Thier mit der Flecken¬
natter (Coluber Thuringiacus, oder Austriacus), die
nie feuchte Gegenden, sondern nur ganz trockene
Wal-
1) S. die Anzeige derselben, Bd. I. II. 1. S. 64 d. A*
435
VI. Naturgeschichte 4er Otter.
Waldung bewohnt, und deren Bifs wohl nicht mehr
schadet, als der Bienenstich.
*
2) Die Otter bleibt ihren Wohnsitzen unabänderlich
getreu, so lange sie nicht durch die Cultur mit Ge¬
walt, oder durch besondere Naturereignisse vertrie¬
ben wird, und überschreitet deren Gränzen höchst
selten, und nur in geringer Ferne. Ihre Aufent¬
haltsorte sind den Anwohnern von Alters her wohl
bekannt.
3) Die Otter beifst blofs, wenn man sich ihr überra¬
schend nähert, oder sie wohl gar berührt oder tritt;
aufserdein ist sie furchtsam, und weicht durch die
Flucht aus; indefs ist sie etwas träge, wenn sie ein¬
mal im Grase ruhig liegt, und weicht nicht immer
eher, als bis sie berührt, oder ihr doch sehr nahe
gekommen wird, in welchem Fall sie dann auch
gern erst vor ihrer Flucht beifst, und ihren Ruhe¬
störer dadurch bestraft.
4) Der Unterkiefer wird von der Otter beim Bifs so
weit zurückgelegt, und also der Rachen so stark
geöffnet, dafs die inneren Flächen des Ober- und
Unterkiefers in eine gerade Linie zu stehen kommen,
sie kann aber dessenungeachtet ein starkes Glied nur
schrammend mit ihren in dem Oberkiefer befind¬
lichen zwei Giftzähnen — auf jeder Seite einem —
verletzen, dagegen sie diese beiden Zähne tief ein¬
drückt, sobald irgend ein Glied von der Beschaffen¬
heit ist, dafs sie es mit den Maxillen umfassen kann.
Hieraus wird erklärbar, warum der Bifs, wenn er
einen Zeh trifft, weit gefährlicher ist, als wenn er
ein Glied berührt, was nicht mit den Kinnladen
umfafst werden konnte. Ich habe zwei dergleichen
Fälle beobachtet, und in keinem von beiden lebten
die Kranken nur so lange, bis ärztliche Hülfe her¬
beigeschafft werden konnte. Unerklärbar war mir
dies bis jetzt, da es in acht anderen Fällen, wo der
xiv. Bd. 4. st. ' 29
436
VI. Naturgeschichte der Otter.
Bifs den Fufs am Knöchel oder in dessen Nähe traf,
nicht vorkam, und mitunter schon Auswaschen mit
Wasser und Sand fast allein half.
5) Ihren Winterschlaf hält sie nicht nur gern in alten
Stämmen über dem Winter- Wasserspiegel , sondern
lieber noch in hohlen Wurzeln solcher Stämme, mit
mehren zusammen, lang ausgestreckt und fest einge¬
pfropft. Auf diese Art fand man im W inter des
verwicbenen Jahres 9 Stück in einem Stamme auf
einer sumpfigen, als Otternsitz seit undenklichen
Jahren bekannten Stelle unweit des Dorfes Cotochau,
und dabei einen Iltis, den man dort eingespürt,
und welcher wahrscheinlich die Ottern zu seiner
W internahrung hier gewittert hatte und aufsuchte,
f») Im Winterschlafe ist die Otter so erstarrt, dafs man
ihr kaum ein Zeichen des Lebens abgewinnen kann,
und also an Bifsgefahr nicht zu denken.
7) Eingefangen ist sie sehr schwer zum Beifsen zu brin¬
gen, und beifst lieber sich, als andere Gegenstände,
welche man ihr vorhält, und sie zugleich zum Zorne
reizt, wobei sie ihren Körper so umfafst und die
beiden krummen Giftzähne so tief eindrückt, dafs
sie solche nur mit Kraftanstrengung wieder heraus¬
zuziehen und den Oberkiefer zu lösen vermag', wel¬
cher Bifs ihr, auch im Wiederholungsfälle, nicht
den geringsten Nachtheil bringt. Ob ich gleich über
vier Wochen lang unter andern mit einer muntern,
sehr grofsen eingefangenen, in einer grofsen weifs¬
gläsernen Büchse gehaltenen Otter fast täglich expe-
rimentirt habe, so glückte es mir in der Zeit doch
nur fünfmal, dafs ich sie znm Beifsen brachte, und
zwar nie den Gegenstand, den sie beifsen sollte,
sondern stets sich selbst. Wie Fon tan« dies so
tausendfältig möglich gemacht hat, ist mir daher
unerklärbar, wenn nicht Yipera Bedii, womit dieser
437
VI. Naturgeschichte der Otter.
seine Versuche anstellte, leichter dazu zu bringen
ist, als Coluber Berus.
S) Sie nimmt gefangen nicht die geringste Nahrung an,
bleibt aber dennoch Monate lang munter und ge¬
sund. In freier Natur liebt sie unter andern Mäuse,
wovon ein grofses Exemplar drei Stück, mehr oder
weniger verdaut, in sich hatte. Frösche habe ich
in ihrem Leibe nie gefunden.
9) Die Otter wechselt mit ihrer äufseren Abzeichnung
„ und Farbe sehr, und von den von aufsen sichtbaren,
in den Naturhistorien angegebenen Unterscheidungs¬
kennzeichen hält keins die Probe, als ^ler Zickzack¬
streif auf dem Rücken. Jedes Exemplar weicht
im Colorit von dem anderen ab; gewöhnlich trifft
man sie jedoch braun, aschgrau, kupferfarben und
schmutzig- weifsgelb, was von der Häutung, dem Al¬
ter, Geschlecht, der Lebensart und dem Aufenthaltsorte
abzuhängen scheint. Ihre Kopfbezeichnung bleibt
sich nie gleich, und kann also nicht als Kennzeichen
gelten. So ist die Grundfarbe des Bauches in der
4
Regel schwarz, und an der Kehle gelblich, mitunter
braungelb gepudert. Indefs habe ich sie auch mit
ganz weifsem, und mit kupferröthlichem Bauche ge¬
troffen. Unter dem Schwänze sind manche Exem¬
plare saffrangelb. Die meisten haben auf jeder Seite
eine Reihe runder, dunkeier Flecke ihren ganzen
Körper entlang, jedoch sind diese bei manchen auch
so verloschen, dafs man wenig davon merkt. Der
Zickzackstreif fehlt jedoch nie, und ist bei den jüng¬
sten Exemplaren schon sehr lebhaft ausgedrückt.
Wenn die Otter nafs ist, so bemerkt man die Ab¬
zeichnung am deutlichsten. Alte Ottern sind zuwei¬
len auffallend stark, doch selten über zwei Fufs lang.
Die Jungen von einer Mutter, sind in der Grund¬
farbe der Haut gleich nach der Geburt sehr ver-
29 *
438
VI. Naturgeschichte der Otter.
schieden. Ueber vier Stück habe ich in dem Leibe
eines befruchteten 'Weibchens nicht gefunden, an
welchen Kopf, und ganz besonders Augen, gleich
frühzeitig sehr stark und in Milsverhäitnifs mit dem
übrigen Körper ausgebildet waren.
10) Wenn sie gereizt wird, so giebt sie einen schnar¬
rend -zischenden Ton von sich, doch nicht immer.
11) Der Otternbifs scheint auch nach Verlauf von vie¬
len Jahren noch zuweilen übele Folgen zu haben,
und dies Gift also in einzelnen Fällen in dieser Hin¬
sicht dem Hundswutbgifte ähnlich zu wirken. Fol¬
gender Fall hat mich auf diesen Gedanken gebracht:
Der jetzt mehre siebzig Jahre alte Auszügler Sch o II-
bach in Malitzscbkendorf wurde in seinen jüngeren
Jahren von einer Otter auf den linken Fufsrücken
gebissen , worauf er sofort in einen mit Moder und
Wasser gefüllten Graben sprang , und sich die
'Wunde darin rein auswusclr. Dessenungeachtet
schwoll der Fufs, Ober- und Unterschenkel schnell
bedeutend an, und bekam eine blaurothe Farbe,
welche Zufälle jedoch nach stark eingetretenen
Schweifsen wieder wichen, so dafs Patient in fünf¬
zehn Tagen völlig hergestellt war. So fühlte Scho II-
bach einige vierzig Jahre lang auch nicht die ge¬
ringste Folge weiter davon im Fufse, bis zum Jahre
1826, wo derselbe in sein dreiundsiebzigstes Lebens¬
jahr getreten war. Hier bekam er, ohne alle äufsere
Veranlassung, eine glänzende, mit Fieber und Grim¬
men begleitete und mit blauen IJlasen besetzte, starke
Geschwulst dieses Fufs es , besonders da, wo der IJifs
vor langen Jahren statt gefunden hatte (genau so,
wie ich die Zufälle gleich nach erfolgtem Otternbifs
mehrmals sah), die nachher in völlige, tief eindrin¬
gende V ereiterung überging, und den ganzen Fufs
auf sehr lange Zeit unbrauchbar machte. Dennoch
ist er wieder hergestellt, lebt noch, und hinkt
VII. 1. Mineralquelle zu Jenatz. 439
nur ein wenig in Folge örtlicher, zurückgebliebener
Schwäche.
VII.
Schrillen über Heilquellen und Bader.
1. Mineralquelle und Bad zu Jenatz im Prätti-
gau, Kanton Graub ii nden. Ein Beitrag zur Beschrei¬
bung der bündnerischen Mineralquellen, von Dr. Paul
Eblin, Stadtarzt in Chur. Mit einer lithographirten
Ansicht des Bades. Chur, bei Otto. 1828. 8. XII und
98 S. ,
Den Heilquellen der in jeder naturhistorischen Bezie¬
hung merkwürdigen Gebirge Rhatiens ist in den letzten
Jahren eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden
(Kaiser und Capeller, die vorzüglicheren Sauerquellen von
Graubünden. Chur, 1826". Vergl. Bd. VII. S. 302 d. A.),
und die Aerzte Churs erwerben sich ein Verdienst theils
um ihre Mitbürger, theils um die Wissenschaft, durch sorg¬
fältigere Untersuchung dieser heilbringenden Gaben der
gütigen Natur. Die gegenwärtige kleine Schrift ist weni¬
ger dem Arzte, als dem Kranken bestimmt, und als Zweck
hat der Verf. sich gesetzt, den Leidenden, die diese Quelle
besuchen, in wenigen Umrissen zu zeigen, in welchen Fäl¬
len, und wie sie diese Quelle mit Nutzen gebrauchen kön¬
nen (eine Entscheidung freilich, welche nicht dem Kran¬
ken, sondern dem Arzte zukommen soll. Ref. ).
M it Beziehung auf die, in der Einleitung von dein
Verf. ausgesprochene, und mit verschiedenen Citaten unter¬
stützte Ansicht, wie wenig sich aus den chemischen Be¬
standteilen eines Mineralwassers die Wirkungen desselben
I
440
YIL 1. Mineralquelle zu Jcnatz.
erklären lassen, und wie wenig die letzten mit dem gerin¬
gen, quantitativen Gehalte zu erstem im Verhältnisse ste¬
hen, kann Ref. sich nicht enthalten, folgende Worte des
verstorbenen Forme y , eines anerkannt geist- und kennt¬
nisreichen und denkenden Arztes, der in seinen Schriften
gegen manche allgemein verbreitete Vorurthcile sich ausge¬
sprochen hat, h -rzusetzen. Vermischte Schriften Th. 1.
S. 2(>1 : «Bei der Anwcndf n£ der Rrunnencuren berechnet
man nicht hinlänglich, was dem Wasser als solchem, und
ohne Rücksicht auf seine mineralischen und anderweitigen
Bestandteile, von dem Curerfolge zuzuschreiben sei. Mir
scheint es keinem Zweifel unterworfen zu sein, dafs, wenn
unter ganz gleichen äufseren Umständen, eben so
viel kaltes oder erwärmtes Brunnenwasser von denselben
Kranken genossen worden wäre, als sie an den kalten oder
warmen Mineralquellen zu sich zu nehmen pflegen, in
manchen Fällen beinahe eine gleiche Wirkung erfolgen
dürfte. ” Und ein anderer aufmerksamer und unbefangener
Beobachter spricht sich über die gepriesenen Wirkungen
der berühmten Lauber Heilquellen gegen Flechten dahin
aus: «Nach meinen (während einer in den dortigen Bädern
gemachten Cur) eingezogenen Erkundigungen darf nicht
verschwiegen werden, dafs die Benutzung des Lauber Was¬
sers als Bad, ohne eine gleichzeitige vollständige Trinkcur,
wahrscheinlich in dieser Beziehung nicht viel mehr leisten
werde, als der gleich lange und häufige Aufenthalt von
täglich sechs Stunden in jedem anderen warmen Bade eben¬
falls leisten könnte.» (I)r. Zundel im dritten Hefte der
"V erhandlungen der medic. chirurg; Geselbch. des Kantons
Zürich. 1827. S. 119.) Ref. ist überzeugt, dafs, wenn es
sich um Erklärung von den Wirkungen der Mineralwässer
handelt, man wenigstens wohl thun würde, ehe man zu
einer Qualitas occulta seine Zuflucht nimmt, auch alle Qua-
litates evidentes zu prüfen, und ihre Wirkung durch die
Erfahrung kennen zu lernen, so wie Struve’s Untersu-
chungen über die Entstehung der Mineralquellen gezeigt
441
VII. 1. Mineralquelle zu Jenatz.
haben, dafs das, was man in dieser Hinsicht gar weit
gesucht hatte, zunächst lag, und dafs das Einfache das
Wahre sei.
Das Jenatzer Bad liegt in einer einsamen Thalschlucht
des Prättigau, gegen 3000 Eufs über dem Meer, fast ringsum
von waldreichen Gebirgshöhen umgeben, welche mit Nadel¬
holz bewachsen sind. Die Luft ist mit harzigen Dünsten
erfüllt, die besonders nach starkem Regen dem Gerüche in
bedeutendem Grade wahrnehmbar werden. Die Einrich¬
tungen sind sehr einfach, ländlich, doch reinlich. Das
Wasser der Quelle zeigte bei 16 Grad der Atmosphäre
10 Grad Reaum; die specifische Schwere gleicht der des
d e st i Hirten Wassers; es ist ganz klar, ohne Geruch, und von
höchst geringem tintenhaften Geschmacke. Bei Wetter-
veränderungen, besonders aber im Winter, soll es nach
faulen Eiern riechen. Die von dem Chemiker Bauhof
unternommene chemische Analyse zeigte in 128 Unzen:
16 Kubikzoll kohlensaures Gas, 8 Gran kohlensaure Kalk¬
erde, 1 Gran kohlensaure Magnesia, 4 Gran kohlensaures
Eisenoxydul, 11 Gran salzsaure Kalkerde, schwefelsaure
Magnesia und einen eigenthiimlichen fetten Stoff in unbe¬
stimmbarer Quantität (unbedeutende Brüche in den Ge-
wichtsbeslimmungen sind übergangen). «Der fettige Stoff
batte bei der gewöhnlichen Lufttemperatur die Consistenz
des Tal ges , schmolz in gelinder Wärme von ungefähr
30 Gr. Reaum. zu einem klaren Oele, und verursachte auf
weifsem Papier durchscheinende Fettflecke, welche in der
W ärme nicht wieder verschwanden. Der Geruch des er¬
wärmten fetten Stoffes hat auffallende Aehnlichkeit mit dem
Gerüche von geschmolzenem , ranzigem Unschlitt, doch war
dabei auch noch ein schwacher Steinölgeruch bemerkbar.
Alcohol löste in der Wärme nur wenig von dieser Sub¬
stanz auf. In einem silbernen Löffelchen über der WTin-
geistflamme erhitzt,, verbrannte dieselbe mit starkem Rauche
und Fettgeruch ohne Flamme, und hinterliefs eine Spur
von Kohle. Ein damit getränkter Baumwollenfaden brannte
44 ‘2
VII. 2. Heilquellen zu Kissingen.
hingegen mit heller Flamme ohne Rauch ” *). Ref. glaubte,
die Beschreibung dieses merkwürdigen Stoffes ganz mit den
Worten des Verf. gehen zu müssen. Die Analyse des ge¬
trockneten Schaumes von dem gekochten Wasser, des
getrockneten Schaumes aus der Quelle und des soge¬
nannten Radesteines aus dem Siedckessel, gab ganz ähnliche
Resultate.
Der Verf. stellt das W asser in die Mitte zwischen die
Jaugensalzigcn und neutralsalzigen Eisen wasser, und schreibt
manche seiner Wirkungen jenem Fettstoffe zu, welcher
dieselben erhöhen soll. Als Krankheiten, in welchen der
Erfahrung zufolge das W'asser sich heilsam bewies, wer¬
den aufgezählt: Magensäure, Hämorrhoiden, Schleimflüsse,
Wechselfieber, verschiedene Nervenkrankheiten, Scrofel- und
englische Krankheit, besonders Geschwüre, Rrustleiden, wo¬
bei der Verf. auf jene Eage zwischen Nadelholzwaldungen
aufmerksam macht. — Die Abschnitte: '\ orbereitungscur,
Gebrauchsart, Diät, Lebensordnung, machen, mit ganz zweck-
mäfsigen Regeln für den Nichtarzt, den Reschlufs. Ge¬
legentlich erwähnt der Verf. eines Mittels gegen Lungen¬
schwindsucht, womit ein Pfannenflicker sich einen Ruf in
Heilung dieser Krankheit erwarb: die Brühe von abgekoch¬
tem Fleische sehr fetter Hunde, besonders Castraten. (In
Hufeland’s Journal 1822. II. 2. S. 15 ist des Hundefettes
als eines untrüglichen (?) Volksmittels gegen eiterige Lun¬
gensucht gedacht. Ref.)
Locher - Laib er.
2. Ausführliche Beschreibung der Heilquellen
zu Kissingen und ihrer W irkungen, besonders bei
Frauenzimmerkrankheiten , nebst einer gleichzeitigen Ab-
1) Bauhof vergleicht diese Substanz mit dem von Euch»
und Büchner in dem Bergöle von 1 egernsce gefundenen, be¬
sonderen letten Stoffe.
VII. 2. Heilquellen zu Kissingen. 443
handlung über die zum Behuf der Nachcur wichtigen
Quellen zu Bocklet und Brückenau, von Dr. Ad. Elias
v. Siebold, weiland Künigl. Preufs. Geheimen Medici-
nalrathe, Professor der med. Facultät auf der Universität
zu Berlin, Director der Künigl. Entbindungsanstalt u. s. w.
Berlin, hei F. Dümmler. 1828. 8. XVI und 391 S.
(1 Th lr. 16 Gr.).
Wenige Tage nach dem Erscheinen dieses Werkes
verfiel der verewigte v. Sieb old, in Folge einer schon viele
Jahre bestandenen Desorganisation der Leber, in ein acutes
Unterleibsubei, das nach einem kurzen Verlaufe seinem der
Wissenschaft und einem segensreichen ärztlichen Berufe
geweiheten Leben ein Ziel setzte, und es ist nur zu ge-
wifs, dafs seine unablässigen Studien bei der Bearbeitung
seiner Beobachtungen während der heilsesten Tage des
vorigen Sommers hauptsächlich dazu beigetragen haben,
den von ihm selbst nicht geatmeten Keim der Zerstörung
seines sonst wohl organisirten Körpers zu wecken. Ref.
kann daher nicht ohne ein Gefühl von Wehmuth dieses
theure Andenken von dem Verewigten zur Hand nehmen,
um den Lesern dieser Annalen, die es vielleicht' noch nicht
besitzen sollten , einige Nachricht über den Umfang der
Erfahrungen zu gehen, die der Verf. in einer langen Reihe
von Jahren über die Wirkungen der Kissinger Quellen
gesammelt hat. Noch gegenwärtig werden diese Quellen
von vielen Aerzten unrichtig beurtheilt, dies Werk wird
also hei seiner rein wissenschaftlichen und praktischen Ten¬
denz wesentlich dazu beitragen, bessere Kenntnisse über sie
zu verbreiten. In der Vorrede äufsert sich der Verf. über
seinen unbestreitbaren Beruf, und seine Verpflichtung zu
einer gründlicheren Bearbeitung dieser von ihm recht eigent¬
lich studierten Heilquellen, und selten erscheinen gewils
Schriften über Bäder, denen eine so gediegene Erfahrung
zum Grunde liegt, und die mit einer so rühmenswerthen
Unparteilichkeit verfafst sind, wie die vorliegende. Wir
444
\II. ‘2. Heilquellen zu Kissingen.
haben früher (Bd. IX. II. 1. S. 74. d. A.) Gelegenheit ge¬
habt, die kleine Schrift eines Ungenannten über den Uurort
Kissingen und seine Heilquellen, in der die neuesten, von
uns a. a. O. mitgetheiltcn Analysen derselben enthalten sind,
anzuzeigen , und beziehen uns im Allgemeinen auf die dort
milgctheilten Angaben, um Wiederholungen zu vermeiden,
v. Siebold’s Werk zerfällt in zwölf Kapitel: 1) Ueber
die Geschichte K iss in ge ns und seiner Heilquellen.
Diese wurden schon in den ältesten Zeiten zur Gewinnung
des Salzes benutzt, Kranke brauchten sie viel später, so
dafs sic erst im sechzehnten Jahrhundert einige Berühmtheit
erlangten. Aus der ersten gedruckten Nachricht über sie
von Kuland (1579) ersehen wir, dafs man damals nur
badete, und noch keine Trinkeuren anwendete. Der be¬
rühmte Fiirstbischoff Julius Ech Le r vonMespelbrunn,
der Stifter der Universität und des Julius- Hospitals zu
Würzburg *), erwarb sich zu Ende des sechzehnten Jahr¬
hunderts bedeutende \ erdienste um Kissingen, und seitdem
erfreute sich dieser Curort eines nie ganz verschollenen
Bufes, wie die vom 'S erf. im zweiten Kapitel mit Sorg¬
falt gesammelte Litteratur hinreichend beweist. — Im drit¬
ten, den» Bedürfnisse der Acrzte wie der Curgäste ent¬
sprechenden Kapitel folgt eine topographische Beschrei¬
bung der Stadt Kissingen, ihrer Heilquellen und ihrer Um¬
gebungen, und im vierten eine Betrachtung dieser Quel¬
len in geognostischer , physischer und chemischer Hinsicht.
Beide wollen in» Zusammenhänge gelesen sein, und nur zur
Vervollständigung der oben erwähnten Angaben wollen wir
bemerken, dafs das Wasser des Curbrunncns (sein Name
Bagozi soll von dem Siebenbürgischen Fürsten Joseph
Bagozy herrühren, der sich dort zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts auf hielt) nie gefriert, seine Temperatur nie
unter 5 Grad Beauni. fällt, und gewöhnlich 9~ Grad be¬
trägt. Die neueste bekannt gemachte Analyse ist die a. a. ().
1) 5. Bd. II. II. 2. 5. 255 d. A.
445
VII, 2. Heilquellen zu Kissingcn.
mitgetheilte von Vogel. Ficinus hat in diesem Wasser
Brom aufgefunden, dessen Geschmack sich dem Kenner
leicht verräth, und der Verf. vermuthet, dafs auch wohl
Jod darin enthalten sein möge, indem es sich in allen
Fällen als nützlich erwiesen hat, wo die Jodine wirksam
zu sein pflegt. (?) — Der Badebrunnen , Pandur genannt,
zeigt eine Temperatur von 7 Gr. R. — 9 Gr., zwischen
ö Gr. und 32 Gr. der Luft; die gleiche Temperatur wurde
im Maximilians- oder Sauerbrunnen beobachtet. Der
Verf. giebt eine vergleichende Uebersicht der Analysen
sämmtlicher drei Brunnen von Goldwitz, Liebe lein,
Pickel und Vogel, die bedeutend von einander ab¬
weichen, und neue Untersuchungen sehr wünschenswerth
machen.
Die Vergleichung der Kissinger Mineralquellen mit ei¬
nigen anderen, analog wirkenden Brunnen, im fünften
Kapitel, fällt ganz zum Vortheil der ersten aus. W etz-
ler’s Vergleichung des Ragozi mit den Karlsbader Quel¬
len, die allerdings gewagt ist, jedoch durch die Gleichar¬
tigkeit der Krankheiten, die man in Karlsbad wie in Kissin-
gen geheilt und gelindert werden sieht, einigermaafsen ge¬
rechtfertigt wird, berichtigt der Verf. dahin, dafs ihm die
Karlsbader Wässer vorzüglich für torpide, phlegmatische,
schwammige Subjecte, für die atrabilarische oder die phleg¬
matisch-venöse Constitution zu passen, und besonders den¬
jenigen Krankheitszuständen zu entsprechen scheinen, bei
denen in Folge einer abnormen Mischung und Ueberladung
des Blutes mit solchen Stoffen, die zur Ausscheidung be¬
stimmt sind, sich bereits Anornalieen in der reproductiven
Sphäre gebildet haben, wogegen sie offenbar irritabelen
Constitutionen, dem jugendlichen Alter, und solchen, die
eine Neigung zu activen Blutflüssen oder Congestionen nach
edeln Organen haben, so wie den zum Durchfall Disponir-
ten , schlecht bekommen, und in den meisten Fällen dieser
Art contraindicirt sind. Diese Contraindicationen fallen beim
Ragozi ganz weg, ja er wirkt gerade in diesen Vorzugs-
I
446 VII. 2. Heilquellen za Kissingen.
weise W'ohlthätig, und hat überhaupt hei den gleichartigen
Leiden eine viel gröfsere Anwendbarkeit, namentlich bei
schon ausgebildeten und vorgeschrittenen Desorganisationen,
bei denen Karlsbad in der Kegel nicht palst. Ueberdies
sind die Karlsbader Quellen nur dem Grade nach verschie¬
den, wogegen die Kissinger jede ihre besonderen Eigen¬
tümlichkeiten darbieten. Der therapeutische Charakter des
Ragozi wird endlich, nach einer anderweitigen Vergleichung
desselben mit dem Kreuzbrunnen, dahin festgesetzt, dafs er
die heilsamen Wirkungen von Karlsbad und Eger in sich
vereinige, indem er vermöge seiner salinischen Kestandtheile
auf lösend, expandirend und expulsiv, vermöge seines Eisens
aber tonisch, contrahirend und stärkend wirke. — Den
Pandur, der nur selten getrunken, sondern gewöhnlich nur
zu Kadern benutzt wird, stellt der Yerf., seiner Wirksam¬
keit gegen Gicht und chronischen Rheumatismus wegen,
mit dem Wiesbadner Quell zusammen, mit genauer Re-
zeichnung der Eigenthümlichkeiten beider, und endlich den
Maximiliansbrunnen mit Selters.
Die theoretischen Remerkungen über die W irkungen
der Kissinger Mineralquellen nach ihren chemischen Restand-
theilen, im sechsten Kapitel, müssen wir den Lesern
überlassen in dem Werke selbst nachzusehen; sie sind be¬
lehrend durch einige beifallswerthe Aussprüche über Stär¬
kung, Auflösung u. s. w. Noch ausführlicher sind die the¬
rapeutischen VN irkungen der Kissinger Mineralquellen im
siebenten Kapitel mit Beifügung einiger allgemeinen
Remerkungen über die Reurtheilung der therapeutischen
W irkungen der Mineralwässer überhaupt abgehandelt. Die
Kissinger Quellen «wirken im Allgemeinen kräftig-auflö-
send, alle Secretionen und Excretionen vermehrend, aber
auch zu gleicher Zeit erregend und belebend, besonders
auf die Untcrleibsorgane, die fehlerhaften Functionen der¬
selben verbessernd, ohne zu schwächen, und ohne durch
übermäßige und angreifende Ausleerungen jene Wirkungen
herbeizuführen. * Der Ragozi isL vorzüglich indicirt: 1) bei
447
VII. 2. Heilquellen zu Kissingen.
Schwäche der Verdauung, 2) hei Unreinigkeiten in den
ersten Wegen, selbst Infarcten, 3) bei Plethora abdomi¬
nalis, 4) bei Hypochondrie, 5) bei hysterischen Zuständen,
6) bei chronischen Leberkrankheiten, 7) bei Hämorrhoidal-
übeln verschiedener Art, 8) bei Anomalieen der Menstrua¬
tion, D) in der Scrofelkrankheit , und 10) bei Unterleibs-
Übeln, die sich in Folge von Wechselfiebern ausgebildet
haben. — Der Pandur wird in allep diesen Fällen zur
Badecur gleichzeitig mit der Trinkcur benutzt, findet aber
noch seine besondere Anwendung 1) bei Hautschwäche,
2) bei chronischen Rheumatismen, 3) bei der Gicht, 4) bei
chronischen Hautausschlägen , und 5) bei mancherlei veral¬
teten chirurgischen Schäden. Endlich wird der Maximilians¬
brunnen bei chronischen Affectionen der Lungen und der
Respirationswerkzeuge, in der Scrofelkrankheit und gegen
Krankheiten der Harnwerkzeuge mit entschiedenem Erfolge
verordnet. Den meisten dieser Angaben, die wir hier nur
summarisch haben mittheilen können, hat der Verf. ausführ¬
liche praktische Bemerkungen über chronische Krankheiten
beigefügt, die das Gepräge reifer Erfahrung tragen, und
sich den von Kreys ig ausgesprochenen Grundsätzen auf
A
eine würdige Weise anreihen.
Die praktischen Regeln für den Gebrauch der Mineral¬
wässer überhaupt, und insbesondere der Kissinger Heilquel¬
len, sind im achten Kapitel mit besonderer Umsicht
und Genauigkeit bearbeitet. Der Verf. stellt zuerst die Re¬
geln für den Gebrauch der Trinkcur, dann für die Bade¬
cur, über den Gebrauch der Kissinger Mineralwässer fern
von der Quelle, und über Füllung und Versendung dersel¬
ben auf, und spricht endlich von der Nachwirkung und den
Nachcuren. Aerzte und gebildete Curgäste finden hier die
vollständigste, auf Erfahrung gegründete Belehrung, und
wir können unsern Lesern diesen Abschnitt als vorzüglich
wichtig und beachtenswerth empfehlen. — Das neunte
Kapitel (durch Unachtsamkeit des Correctors ist das achte
Kapitel als das neunte bezeichnet, und so weiter gezählt
448
VII. 2. Heilquellen zu Kissingen.
worden), über wünschenswerte Verbesserungen und Ver¬
schönerungen für Kissingen, hat nur locales Interesse, und
kann liier füglich übergangen werden.
Das zehnte Kapitel ist der Darstellung der Heil¬
quellen von Bocklct und Brückenau gewidmet, die nach
dem Gebrauche von Kissingen zur Nachcur mit Erfolg be¬
nutzt werden können. Der Verf. hat hier die Resultate
seiner eigenen Erfahrungen mit den wichtigsten Angaben
der vielen Schriftsteller über beide Gurorte zusammenge-
stcllt. Diese erfreuten sich ihres gröfsten Rufes in der /.eit
der Brownschen Erregungstheorie, als man überall nur
Schwäche sah, und mithin denjenigen Brunnen den Vorzug
zuerkannte, die keine, wie man wähnte, schwächenden Aus¬
leerungen bewirkten, ein theoretisches Vorurtheil, wodurch
Kissingen alsbald sehr beeinträchtigt wurde. In der That
sind denn auch die Bockleter und Briickenauer Wässer vor¬
zugsweise zur Behandlung von reinen Schwächezuständen
in den verschiedenartigsten Formen geeignet, und stellen
in dieser Beziehung Pyrmont und den analogen Quellen zur
Seite. Bocklet hat vier Quellen, das Schachtwasser, das
Ludwigswasser, das Friedrichswasser und das Karlswa^ser,
die in der Quantität ihrer Bestandteile wenig von einander
abweichen. Es bedarf daher hier nur der Angabe der Be¬
standteile des Ludwigswassers , das die übrigen an Gehalt
um etwas übertrifft. Dies enthält in einem Pfund zu 16 Un¬
zen: 25,457 Gran schwefelsaures Natrum , 10,835 Gr. salz¬
saures Natrum, 0,068 Gr. schwefelsaure Kalkerde, 8,856 Gr.
kohlensaure Kalkerde, 0,318 Gr. salzsaure Talkerde, 1,151 Gr.
kohlensaure Talkerde, 0,051 Gr. Thonerde, 0,102 Gr. Kie¬
selerde, 0,0075 Gr. Extractivstoff, 0,634 Gr. kohlensaures
Eisen, und 36,148 Kuhikzoll Kohlensäure, nach der neue¬
sten im Jahre 1815 von Vogelmann und Mayer vorge¬
nommene Analyse. — In Brückenau sind drei Ouellen in
Gebrauch, die Briickenauer, die Wcrnarzer und das Sinn¬
berger Wasser. Sie haben gleiche Bestandteile, die erste
ist die stärkste und enthält nach Schipper in einem Pfund
VII. 3. Ueber das Baden im Winter. 449
*
zu 16 Unzen: 1,1512 Gr. Glaubersalz, 0,0821 Gr. Bitter¬
salz, 0,0219 Gr. Kochsalz, 0,8081 Gr. kohlensaure Kalk¬
erde, 0,0500 Gr. kohlensaure Talkerde, 0,0360 Gr. Kiesel¬
erde, 0,2554 Gr. Eisenoxydul, und 36 Kubikzoll freie
Kohlensäure. Die Litteratur und alles sonst Wissenswerthe
über diese beiden Curorte ist von dem Verf. mit grofser
Sorgfalt und Genauigkeit angegeben.
Den Beschlufs des Werkes machen fünfundzwanzig aus¬
gewählte Krankengeschichten im elften Kapitel, aus de¬
nen der Praktiker die vielfältige Anwendbarkeit der Kissin-
ger Quellen erfahrungsgemäfs zu erkennen vermag. Möchte
die Litteratur der Heilquellen öfter so gründlich und un¬
parteiisch bearbeitete Schriften darbieten, die wie die vor¬
liegende, so ganz geeignet wären, die ärztlichen Kenntnisse
über einen der wichtigsten Theile der medicinischen Praxis
zu läutern.
H.
3. Beweis der unschädlichen und heilsamen W i r -
kungen des Badens im Winter, nebst Belehrungen
über die zweckmäfsigste Art des Gebrauchs der Bäder
und Trinkeuren zur Winterszeit; von Dr. S. G. Vogel,
Grofsherzogl. Mecklenb. Schwerinsch. Geh. Medicinalrathe
und Professor, Bitter u. s. w. Berlin, Verlag von Th.
Chr. Fr. Enslin. 1828. 8. VI und 40 S. (6 Gr.)
Der Zweck dieser gehaltreichen, für ein gröfseres Pu¬
blikum bestimmten Abhandlung unseres verehrten Hrn. Geh.
Raths Vogel ist die Beseitigung eines noch weit verbrei¬
teten, und selbst noch von Aerzten gehegten Vorurtheils
über die Unzulässigkeit des Badens im Winter. Wer ir¬
gend mit den wechselnden Zuständen der Haut näher be¬
kannt ist, und die Wirkungen der Bäder in verschiedenen
Jahreszeiten an sich selbst geprüft bat, der ist auch von
diesem Vorurtheil zurückgekommen, und wcils aus eigener
450 VII. 3. Uebcr das Baden iin Winter.
Erfahrung, dafs durch das Baden im Winter das Gefühl
der Kälte weniger empfindlich gemacht, und die Neigung
zu Erkaltungen bedeutend vermindert wird. Hierüber wäre
cs also unnüthig noch ein Wort zu verlieren, aber es ge¬
währt Belehrung, die Grundsätze* eines der ehrwürdigsten
Diener der llvgea, dem über diese Angelegenheit unstreitig
die erste Stimme zusteht, zu vernehmen. Er beweist über¬
zeugend, dafs jedes im Herbst oder Winter entstehende
Lehel, dem überhaupt Bäder angemessen sind, durch diese
auf frischer That gehoben werden kann, dafs manche phar-
maceutische Curen in dieser Jahreszeit durch warme Bäder
mit Erfolg unterstützt, und viele Krankheiten dadurch ver¬
hütet werden können, dafs diätetische Vorschriften von
Kranken, die Bäder brauchen, viel bereitwilliger angenom¬
men werden, weil Krankheiten, die für Bäder empfänglich
sind, im Winter häufiger entstehen, als Im Sommer, und
mithin, was vielen noch bis jetzt paradox geschienen hat,
der Gebrauch passender Bäder im Winter für die Erhal¬
tung der Gesundheit noch ungleich nützlicher als im Som¬
mer ist. Er erinnert zugleich an die heilsamen Wirkungen
der Frictioncn und des nassen Bürstens des ganzen Körpers,
so wie des Reibens und Knctens des Unterleibes. Es fehlt
nicht an geeigneten Hindeutungen auf die Erfahrungen be¬
währter Schriftsteller, und wir hegen die feste Ueberzeu-
gung, dafs diese, in dem wohlbekannten würdigen St\le
des Verfassers geschriebene und aus dessen freundlichem
Bestreben hervorgegangene Abhandlung, die ärztliche Ein¬
sicht die möglichst reichen Früchte für das allgemeine Men¬
schenwohl tragen zu lassen, ihre Wirkung nicht verfeh¬
len werde.
//.
VIH. Com-
VIII. Irresein.
4;>i
VIII.
Commentaries on the causes, forms, Sym¬
ptoms,, and treatment, in oral and medi¬
cal of Insanity. By George IM an Burrows,
M. D. Member of the Boyal College of Physicians
of London etcr etc. London: Thomas and George
Undervvood. 1828. 8- II und 716 S. -
4 '
In sofern die eben genannte Schrifty von dem Geiste
der in England herrschenden Empirie in der Arzneikunde
durchdrungen, als die höchste Entwickelung derselben be¬
trachtet werden kann, verdient ihr Inhalt eine desto sorg¬
fältigere Prüfung, je mehr überhaupt die in einem Lande
verbreiteten Lehrmeinungen über die Natur der Seelen¬
krankheiten einen sicheren Maafsstab für die Schätzung des
wissenschaftlichen Werthes darbieten , welcher den in dem¬
selben sich behauptenden medicinischen Schulen beigemessen
werden kann. Denn da die Seele in so enger Verbindung
mit dem Lebensprinzip steht, dafs sie unläugbar das Ver¬
mögen besitzt, letztes in seinem Wirken zur höchsten Stufe
der Vollkommenheit zu erheben, oder umgekehrt mit sich
einer völligen Vernichtung ihrer beiderseitigen Thätigkeit
entgegen zu führen; da sie also den Mittelpunkt des mensch¬
lichen Lebens ausmacht, in welchem die mannigfach ver¬
schlungenen Verhältnisse desselben ihre innigste Vereinigung
und Haltung finden: so kann die medicinische Theorie erst
dann auf einem sicheren Grunde fufsen, wenn sie von jener
inneren Einheit des Lebens ausgegangen, dieselbe in den
Erscheinungen des letzten zur Anschauung zu bringen sucht;
wenn sie also den Einklang der freiesten Geistesthätigkeit
mit allen körperlichen Verrichtungen als das höchste Ziel
geltend macht, zu welchem der handelnde Arzt das von
jener Einheit abgewichene Leben der seiner Pflege anver¬
trauten Jiülfsbedürftigen hinauf geleiten mufs. Wer seinen
XIV. 4. sc 30 ,
452 VIII. Irresein.
Sinn nicht an der äufseren Oberfläche der Erscheinungen,
wo sie ohne Ordnung und Gesetz dem Spiele des Zufalls
preis gegeben zu sein scheinen, kleben liefs, sondern mit
ihm tiefer eindrang in den engen Verband, in welchem die
Natur alle Kräfte zu einem steten Gleichgewicht verknüpfte;
wer diesen geschärften Sinn für jenes innige Zusammen¬
wirken sich rege genug erhielt, um dasselbe auch da zu
ahnen, wo es im scheinbar zerstörenden Widerstreit der
Kräfte nicht zur deutlichen Anschauung erhoben werden
kann: der w'endet sich ab von einer Empirie, welche in
trüber Verworrenheit nach einzelnen sogenannten Erfah¬
rungssätzen hascht, und in ihrem blinden Eifer nicht ge¬
wahr wird, dafs diese, eben von jener Oberfläche abge¬
schöpft, nicht zu einem Schatze bleibender Erkenntnifs ge¬
sammelt werden können, da sie im Widerspruch unterein¬
ander sich gegenseitig vernichten. Unbefriedigt durch den
eitelcn Metaphysicismus früherer Schulen, welche die Natur¬
erscheinungen aus der productiven Phantasie hervorzaubern
wollten, anstatt ihren ungetrübten Wiederschein in einem
geordneten Bewufstseio unter die Gesetze desselben zu brin¬
gen, verfiel die Mehrzahl der Aerzte während der letzten
Decennien in den entgegengesetzten Fehler, ihr Denken
knechtisch den Sinnen unterzuordnen, anstatt letzte unter
die Controlle einer strengen Kritik zu stellen, um das Zu¬
fällige und Veränderliche von dem Wesentlichen und Blei¬
benden abzusondern.
Befangen in diesem Ilerumirren schwebt daher die
"Wissenschaft der Medicin in Gefahr, immer weiter sich
von der Einsicht zu entfernen, dafs das Menschenleben nur
von dem oben bezeichneten Mittelpunkte aus übersehen und
beherrscht werden kann; dafs es also der gröfstc Fehlgriff
ist, die Psychiatrie als einen abgesonderten Theil der The¬
rapie hinzustellen, da sie aufser den gewöhnlichen Our-
regeln noch aus der Psychologie einige Motive entlehnen
müsse, um den Geistesgestörten zu Hülfe zu kommen. Kj
lassen sich aus der Geschichte der Medicin zahlreiche Bei-
VIII. Irresein.
453
spiele sammeln, wo grofse Meister durch unbedingte Herr¬
schaft über das Gemüth die heilkräftigen Anstrengungen
der Natur leiteten, und die äufseren Lebensbedingungen
nebst den pharmaceutischen Heilmitteln nur zu untergeord¬
neten Zwecken benutzten; sie sollten uns einen Fingerzeig
geben, dafs die ärztliche Technik gleich jeder anderen Kunst
nichts anders sein könne, als das besonnene Nachbilden des
in lebendiger Anschauung deutlich verstandenen Naturwir¬
kens, welches in ungeteiltem Flusse einer Quelle ent¬
strömt. Wir sehen ja, wie die handwerksmäfsige Routine
die einzelnen Räche, in welche der durch äufsere Hinder¬
nisse in seinem Laufe aufgehaltene Lebensstrom sich getheilt
hat, planlos hin und wieder leitet, ohne sie nach ihren ur¬
sprünglichen Ufern zurückzuführen, daher die Natur oft
die unverständig ihr entgegengestellten Dämme durchbre¬
chen ntufs, um die zerstreuten Kräfte in der ihr vorge¬
zeichneten Bahn wieder zu sammeln. Daher ist aus dem
Mifsverständnifs des obersten Heilzwecks alles Ungeschick
in die Medicin gekommen, welches vorzugsweise die Psy¬
chiatrie in ihrer Entwickelung aufhalten mufste, da die
Seelenkrankheiten, auf dem tiefsten Grunde des Lebens ge-
wurzelt, den Handgriffen unerreichbar bleiben, mit welchen
die den gröberen sinnlichen Verhältnissen zugewandten Kör¬
perleiden weit eher entfernt werden können.
Von welchem Standpunkte aus unser Verf. zur Lösung
seiner Aufgaben geschritten sei, erhellt sogleich aus der
kurzen Einleitung, in welcher er nach einer, freilich nicht
unbegründeten, scharfen Rüge aller metaphysischen Specu-
iation es bitter beklagt, dafs man auf Baco’s Worte in
seinem Novum Organon so wenig geachtet, und selbst auf
Bonnet’s, Morgagni’s und Meckel’s anatomische Un¬
tersuchungen der Leichen von Geisteskranken keinen Werth
gelegt habe, gleichsam als fürchte man sich, auf diesem
Wege die Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele aus
dem Auge zu verlieren. Allerdings sagt Baco in der
angeführten Stelle, dafs die Quelle der Seelenstörungen,
30 *
454
VIII. Irresein.
wenn sie jemals gefunden werden sollte, in körperlichen
Zuständen aufgesucht werden müsse, welche als die I olgen
äufserer Eiuiliisse anzusehen seien, die auf die grohe Ma¬
schine, und nicht primär auf das immaterielle Prinzip wirk¬
ten, wie dies zum Schaden des mit jenen Krankheiten Be¬
hafteten zu allgemein angenommen werde. W er weiis es
aber nicht, dafs Baco, dessen umfassendes Genie das rich¬
tige Verhältnifs unserer Erkenntnifskräfte zu ihren Objecten
erkannte, und daher mit Meisterhand allen Wissenschaften
die natürlichen Gränzen zog, dennoch durch mannigfaltige
Vorurtheile seines Zeitalters geblendet, oft in der Beur-
theilung einzelner Gegenstände irre ging? Dagegen beweisL
das dritte Kapitel des siebenten Buches seiner Instauratio
magna Pars I. (überschrieben:’ Parlitio doctrinae de cultura
animi), dafs er von den inneren Bedingungen der Seelen-
thätigkeil, ihren Abweichungen, und den Mitteln, sie zu
ihrer natürlichen Regel zurückzuführen, die richtigsten
Begriffe hegte. Zwar geht seine Absicht zunächst auf die
moralischen Ausartungen; es läfst sich indessen von den
Lehren, die er in dieser Bezeichnung giebt, eine so unge¬
zwungene Anwendung auf die Psychiatrie machen, dafs Bef.
sich nicht enthalten kann, einen Auszug davon cinztirücken :
« In cultura animi et morbis ejus persanandis
t ria in considerationem veniunt; Characteres diversi dispo-
sitionum, Affectus et Kcm£dia: quemadmoduin et in corpo-
ribus medicaudis proponuntur illa tria: complexio, sive con-
stilutio aegri, morbus et curatio. ” ln Bezug auf die erste
Aufgabe heilst es: « Neque tarnen loquimur de vulgatis
illis propensionibus in virtutes et vilia, aut etiam in per-
turbationes et affectus: sed de magis intrinsecis et radirali-
bus. — In Traditionibus Astrologiae non inscite omnino
distincta sunt ingenia et dispositiones hominum quod alii a
Datura facti sint ad contemplationes; alii ad res civiles; alii
ad militiam; alii ad ambitum; alii ad amores; alii ad arles;
alii ad vitac genus varium. — At longe optima bujus
Traclatns suppellex ct sylva peti dehnt ab llistoricis pru-
VIII. Irresein.
455
dentioribus. — Isti enim Scriplores, harum Personarum,
quas slbi depingendas delegerunt, Effigies quasi perpetuo
intuentes, nunquam fere Rerum gestarum ab ipsis mentio-
nem faciunt, quin et aliquid insuper de Natura ipsorurn
inspergant. — Neque vero characteres ingeniorura ex natura
impressi, recipi tantum in hunc Tractatum debent, sed et
illi, qui alias anirno imponuntur, ex sexu, aetate, patria,
valetudine, forma et similibus; atque insuper illi, qui ex
fortuna, veluti Principum, Nobiliurn, ignobilium, divitum,
pauperum, Magistratuum, idiotarum, felicium, aerumnoso-
rum, et hujusrnodi. — Quae ad Moralem Philosophiam
pertinent; non minus certe, quam ad Agriculturam Tracta-
tus de diversitate soli et glebae (Baco nennt daher auch
• i
die Doctrina de cultura animi,' im Vergleich mit der Oeko-
nomie, die Georgica animi): aut ad Medicinam, Tractatus
de complexionibus aut habitibus corporum diversis. Id au-
tem nunc tan dem lieri oportet, nisi forte imitari velimus
temeritatem Empiricorum, qui iisdem utuntur medicamentis
ad aegrotos omnes, cujuscunque sint constitutionis. ”
« Sequitur doctrina de affectibus et perturbationibus,
qui loco morborum animi sunt. Quemadmodum Politici
prisci de Democratiis dicere solebant, quod populus esset
mari ipsi similis, Oratoi’es autem ventis: Similiter vere af-
firmari possit, naturam mentis humanae sedatam fore, et
sibi cons.tantem, si affectus tanquam venti, non lumultua-
rentur, ac omnia miscerent. — Sed si verum omnino di-
cendum sit, Doctores hujus scientiae praecipui sunt Poetae
et llistorici, in quibus ad vivum depingi et dissecari solet:
Quomodo Affectus excitandi sint et accendendi? Quomodo
leniendi et sopiendi? Quomodo rursus continendi ac re-
fraenandi, ne in actus erumpant? Quomodo itidem se,
licet compressi et occultati, prodant? Quas operationes
edant? Quas vices subeant? Qualiter sibi mutuo implicen-
tur? Qualiter inter se digladientur et opponantur? })
« Pervenimus nunc ad illa, quae in nostra sunt pote-
slale, quaeque operantur in animum, voluntatemqüe et
456
VIII. Irresein.
appetitum afficiunt et circumagunt, ideoque ad imniutandos
mores plurimum valent. Qua in parte debuerunt Pbilo-
sophi strenue et gnaviter inquirere, De viribus et cnergia
consuetudinis, exercitationis, habitus educaüonis, imitatio-
nis, aemulationis, convictus, amicitiae, laudis, reprehensio-
nis, exhortationis, famae, legurn, librorum, studiorum et si
quae sunt alia. Haec enim sunt illa, quae regnant in Mo-
raiibus. Ab istis agentibus animus patitur et disponitur;
ab istis, veluti ingredientibus, conficiuntur pharniaca, quae
ad conservandam et recuperandam animi sanitatem con-
ducant, quatenus remediis huraanis id praestari possit. —
Concludemus hanc partem de Cultura Animi cum eo Re-
medio, quod omnium est maxime compendiosum, et sum-
marium, et rursus maxime nobile et efficax, quo animus
ad virtutem efformetur, et in statu collocetur perfectioni
proximo. IIoc autem est: Ut fines vitae, actionumque eli-
gamus et nobis ipsis proponamus, rectos, et virtuti con-
gruos, qui tarnen tales sint, i»t eos assequendi nobis ali-
quatenus suppetat facultas. Si enim haec duo supponantur:
ut et fines actionum sint honest! et boni, et decretum animi
de iis assequendis, et obtinendis, fixum sit et constans,
sequetur, ut continuo vertat et efformet se animus, una
opera in virtutes omnes. Atquc haec certe illa est ope-
ratio, quae Naturae ipsius opus referat. cet ”
Hätte der Verf. diese Lehren Baco’s, auf dessen Ur-
theil er einen so hohen Werth legt, mehr beherzigt, so
würde er wohl nicht die Behauptung aufgestellt haben,
dafs die Psychologie, wenn sie auch zur Kennlnifs des
Charakters der Menschen führe, und Anleitung zur Krzic-
hung und Veredlung derselben gebe, dennoch Geisteskrank¬
heiten zu heilen nicht lehre, da der Gebrauch der Mittel,
welche die Logik zur Aufklärung der Verstandesverwirrung
darbiete, nur eine Verschlimmerung derselben kur Folge
habe. Seine materialistische Ansicht tritt sogleich in der
ersten Abtheilung, welche von den Ursachen der Geistes¬
krankheiten handelt, hervor, deren nächste Veranlassung
VIII. Irresein.
457
er in einem krankhaften Zustande der Gehirnthätigkeit sucht,
zu welchem moralische Einflüsse nur als entfernte Ursachen
sollen beitragen können. Alle Eindrücke, sagt er, welch«
Gefühle hervorrufen, pflanzen sich auf das Sensorium fort,
und wirken nach Maalsgabe des Grades der constitutionellen
Empfänglichkeit, und der Beschaffenheit und Stärke des
Reizps. Diesen Eindrücken entspricht die Thätigkeit des
Herzens, welches auf das Gehirn und Nervensystem zurück¬
wirkt. So sind das Nerven- und Gefäfssystem, jenes pri¬
mitiv, letztes consecutiv in den krankhaften Prozefs ver¬
flochten, durch dessen Erzeugung moralische Eindrücke Ur¬
sachen von Seelenstörungen werden. Bei anderen Gelegen¬
heiten meint der Verf. noch, dafs die Forschung nach dem,
was während dieses krankhaften Zustandes des Seelenorgans
in> Gemüthe selbst vorgehe, auf eine fruchtlose Specula-
tion hinauslaufe, da die Natur des letzten sich allen Unter¬
suchungen entziehe; daher könne man auch aus den Aeufse-
rungen des gestörten Bewufstseins keine Folgerungen auf
die nächste Ursache der Geisteskrankheiten als das eigent¬
liche Object der Heilung machen , sondern letztes müsse
auf ganz anderem Wege ausgemittelt werden. Er ist aber,
wie alle gewöhnlichen Empiriker, aus dem ängstlichen Be¬
streben, jede Hypothese zu vermeiden, in die irrigste unter
allen gerathen, nämlich in die durchaus leere Voraussetzung,
dafs allen Gemüthskrankheiten ein fehlerhafter Zustand der
i
Lebensthätigkeit zum Grunde liege. Ref. fordert jeden,
der mit vorurtheilsfreiem Auge eine Menge von Irren beob¬
achtet hat, zu dem Eingeständnis auf, dafs ein grofser
Theil von ihneu körperlich durchaus gesund ist, wenigstens
keine krankhaften körperlichen Erscheinungen darbietet,
welche zu dem Schlüsse berechtigten, dafs durch sie ein
somatisches Leiden angedeutet werde, aus welchem eine
Störung des Bewufstseins erfolgen mufste. Wer ferner mit
Bedacht die mannigfachen pathologischen Zustände prüft,
welche als nächste Ursachen von Geisteskrankheiten an¬
gegeben werden, als Organisatiousfehler und theil weise
458
\ III. Irresein.
t \
Zerstörungen des Gehirns, Nervenkrankheiten aller Art
(K rümpfe, Sinnestäuschungen, Hypochondrie und Hysterie),
Störungen des Blutlaufes, zumal im Kopfe, die mannig¬
fachen Leiden des Herzens, der l nterleibseingeweide, Ge-
schleclitstheile u. s. w. , welche so häufig ohne alle "V er-
letzung der intellectuellen und moralischen Geisteskräfte
beobachtet werden, dem kann es nicht entgehen, dafs die
genannten Krankheiten in keinem not h wendigen ursäch¬
lichen Verhältnisse zu denen der Seele stehen, und dafs zu
ihnen noch ein wesentliches Moment hinzutreten mufs, um
letzte des Vermögens der Selbstbeherrschung zu berauben,
daher sie insgesammt nur als zufällige, äufserc Ursachen
von Geisteskrankheiten gelten können. Jenes wesentliche
Moment, welches fiir sich allein schon zur Urzeugung der
letzten hinreichend ist, läfst sich mit keinem gangbaren
Begriffe besser bezeichnen, als mit dem der Gemiitbs- oder
Charakterschwäche, die den Menschen zum Sklaven seiner
Leidenschaften, zum Spielball des äufseren Geschicks, zur
Marionette seines Körpers herabwürdigt; statt dessen er
letzten zu einem durchaus tauglichen Werkzeug seines Wil¬
lens ausbilden, Herr- seines Schicksals, Meister seiner Vor¬
stellungen, Gefühle und Begierden werden sollte und könnte.
"Wenn also alle Krankheiten körperlicher Erscheinungen,
welche in Verbindung mit Gemüthsstörungen wahrgenom-
men werden, entweder natürliche Folgen der durch letzte
. r °
verstimmten Gehirnthätigkeit, oder zufällige Ereignisse, oder
Symptome eines kürperleidens sind, welches nur schwach
befestigte Charaktere aus ihrem Gleichgewichte bringen
kann; und wenn jedes Delirium, welches aus einer Zerrüt¬
tung des Seelenorgans durch schwere Krankheiten, Fieber,
Gehirnentzündung u. s. w. entspringt, gar nicht in das
engere Gebiet der Geistesstörungen gehört, wohin der
Sprachgebrauch sie auch nicht rechnet; so bleibt nichts
übrig, als die letzten unter einem rein philosophischen Be¬
griffe aufzulässen, und sie zu bestimmen als die unwill-
kührliche, längere Zeit hindurch andauernde
VIII. Irresein.
459
oder häufig wiederkehrende Störung oder Un¬
terdrückung der Denk- und Willenskra ft eines
Menschen, welcher vorher im Besitz der gesun¬
den Vernunft (mens sana) war; welche Störung ge¬
dacht werden mufs in Beziehung auf ein bestimmtes
Object, oder auf die Erkennt nifs der Welt über¬
haupt, und das Handeln, verbunden mit einer
über mäfsi gen Erhöhung oder Verminderung des
Einbildungs- und Gefühls Vermögens I). Von die¬
sem Gesichtspunkte aus sollte dann die allen Geisteskrank¬
heiten zum Grunde liegende Gemüthsschwäche in der frü¬
hesten ( meisten iheils in einer fehlerhaften Erziehung be¬
gründeten) Entstehung, weiteren Entwickelung und letz¬
ten Ausbildung als Seelenstörung aufgesucht, aus ihr der
Gang, der Wechsel, die Widersprüche, die mannigfachen
Verbindungen der widersinnigen Vorstellungen und Triebe
abgeleitet, und damit der Einflufs der äufseren Bedingun¬
gen in natürliche Beziehung gebracht werden. Eine solche
psychologische Deutung läfst aber der Verf. überall ver¬
missen, ca sein Blick beinahe ausschliefslich nur der kör¬
perlichen, untergeordneten Seite der Seelenstörungen zuge¬
wandt ist, und fast allemal irre geht, wenn er die geisti¬
gen Beziehungen derselben auffassen soll. Dies zeigt sich
sogleich bei der ferneren Erläuterung der moralischen Ur¬
sachen, wo er, nach einer kurzen Angabe der verschiede¬
nen Hypothesen über den Sitz der Leidenschaften, die Fol¬
gen derselben beleuchtet. Anstatt dafs beim Schreck und
Entsetzen, sagt er z. B. , das Herz mit gesteigerter Kraft
zurückwirken sollte, entweicht das zurückkehrende venöse
Blut aus den entfernten Gefäfsen, wie dies durch die tod-
V H ,
tengleiche Blässe bewiesen wird; die Bewegung des Her¬
zens wird erschwert, ein heftiger Krampf folgt, und das
Organ kann auf hören zu schlagen, und sogar zerreilsen.
1) Confer. Langer mann Dissert. de Methodo cognoscendi
curandüjuc animi morbos stabilienda.
460
VIII. Irresein.
Wenn Reaction eint ritt , so ist diese gewöhnlich so heftig,
tlafs die Thätigkeit des Gehirns durch die Kraft des in seine
Gefäfse getriebenen Blutes überwältigt wird. Diese Er-
klärung, welche selbst in Beziehung auf die Vorgänge bei
den Leidenschaften höchstens einen datromathematiker be¬
friedigen könnte, wie sollte sie wohl Aufschlufs geben über
die erschütterte Verfassung des Gemüths, welches auch bei
seinen krankhaften Erscheinungen noch den psychologischen
Gesetzen gehorcht, und nur nach diesen verstanden werden
kann:’ Wird denn das Wesen der Seele, welcher der Verf-
doch in ihrem gesunden Zustande Selbstständigkeit und
Autocratie zuschreiben mufs, durchaus vernichtet, sobald
sie in das Gebiet des Wahnsinns sich verirrt, dergestalt,
dafs ihre Vorstellungen und Triebe, von denen sie doch
ein Iiewufstsein sich erhält, gar in keinem Zusammenhänge
stehen? Diese Folgerung, welche alle psychologische For¬
schung bei Gemülhskrankheiten aufheben würde, deutet der
% erf. an, indem er behauptet, dafs nichts trügerischer sei,
als aus dem Inhalte der wahnwitzigen Vorstellungen auf die
vorangegangene moralische Ursache zurückzuschliefsen , und
er reifst somit den Faden ab, welcher durch das Labyrinth
der krankhaften Gemiithserscheinungen leiten sollte. Man
lasse sich nur nicht durch das desultorische Geschwätz des
einen Irren, oder durch den hartnäckigen Eigensinn irre
machen, mit welchem ein anderer seine anmaafslichen Ein¬
bildungen behauptet, so wird man beide mit imponirendem
Ernste zwingen können, einen Blick auf die Fehler ihres
Gemüths zu werfen, also der moralischen Schwäche sich
bewufst zu werden, durch welche sie in ihren dermaligen
klägl ichen Zustand geriethen. Freilich sträuben sich die
meisten Irren nicht weniger, wie die sogenannten geistig
Gesunden gegen eine Selbsterkenntnis, durch welche ihre
Eigenliebe so tief verletzt wird, und man mufs oft zu
Zwangsmitteln greifen, um durch Bekämpfung ihrer ver¬
kehrten Vorstellungen das gefesselte und schlummernde Be-
wufslsein aufzuwecken; daher auch alle, die gleich dem
VIII. Irresein.
461
Verf. die Geisteskranken mit leiser, schüchterner Hand an¬
fassen, um sie nicht durch rauhe Berührung des wunden
Fleckes ihrer Seele zum heftigen Widerstande und Aufruhr
zu reizen, dem zaghaften Chirurgen gleichen, der nicht in
der Tiefe der Wunde die eingedrungene Kugel aufsucht,
um dem Kranken einen neuen Schmerz zu ersparen. Ge-
stehen wollen wir es indefs, dafs eine auf Beobachtung ge¬
gründete Naturlehre der Seele, welche allen psychologischen
Forschungen bei Gemiithskranken zur Richtschnur dienen
könnte, noch nicht durch hinreichende Versuche zur gehö¬
rigen Ausbildung gebracht worden ist. Irrt Ref. nicht, so
würde dazu erforderlich sein, die selbstständige Kraft der
Seele durch die That zur Anschauung zu bringen, derge¬
stalt, dafs jeder Seelenforscher an sich selbst in seinem han¬
delnden Leben erfahren, nicht in metaphysischen Speeula-
tionen sich eingebildet haben miifste, in welcher Ausdeh¬
nung der moralische Wille wirksam sein kann, von weichen
Hindernissen derselbe aufgehalten wird, und wie er diesel¬
ben durch freie Selbstbestimmung nach moralischem Gesetz
zu überwinden vermag. Bei dieser Selbstbeobachtung wird
es ihm zugleich klar werden, wiefern sein geistiges Naturell
ihm dabei zu Hülfe kommt, oder entgegen ist, und wie bei
mangelnder Selbstbeherrschung nach bestimmten Vernunft¬
zwecken die sinnlichen Begierden alsbald die Oberhand ge¬
winnen, und das klare Selbstbewufstsein trüben. Eine Ver¬
gleichung des bei sich Wahrgenommenen mit dem sittlichen
Betragen anderer würde seinen Beobachtungssinn in dem
Maafse üben , dafs ihm das Gebiet der Seelenstörungen
dann nicht mehr unzugänglich bliebe.
Auch über die physischen Ursachen der Seelenstörun¬
gen weifs der Verf. keine befriedigende Rechenschaft abzu¬
legen; er fragt bei allen Autoren der Reihe nach herum,
und da keiner ihm eine entscheidende Antwort giebt, so
bleibt auch er sie schuldig. Zum Beweise des Gesagten
einige Beispiele: Coinbe wirft den Acrzleu Mangel an
(Jonsequenz vor, wenn sie behaupten, dafs die vom Gehirn
4(32
VIII. I rrescin.
ausgeübten Functionen nicht zugleich mit der Zerstörung
desselben vernichtet werden, da doch ein unmittelbarer
Zusammenhang zwischen allen übrigen Organen und ihren
Verrichtungen beobachtet werde. Der Yerf. macht dage¬
gen den Fin wurf, dafs zwischen der göttlichen immateriel¬
len Function des Gehirns und den materiellen und palpa-
beln Functionen anderer Organe gar keine "N ergleichung
statt finden könne; ungeachtet er kurz vorher behauptet
hatte, dafs das Gehirn gleich den übrigen Theilen gewissen
allgemeinen Gesetzen der Thätigkeit unterworfen sei, viele
Formen der Krankheiten mit ihnen gemein habe, die auf
die nämliche Weise erforscht werden müfsteo, obgleich sie
wegen seiner unmittelbaren Verbindung mit der Seele unter
c'genthündichcn Erscheinungen auftreten. Der Gal Ischen
Lehre ist er abhold, da die aus ihr gezogenen Folgerungen
keinen Beitrag zur besseren Erkenntuifs und Heilung der
Gemiilhsstürungen geliefert hätten; doch meint er, dafs
noch sorgfältigere Untersuchungen auf gleichem Wege an¬
zustellen seien, und er beruft sich namentlich auf Gall’s
Behauptung, dafs jedem Seelenvermögen ein doppeltes,- auf
beiden Seiten des Gehirns gelagertes Organ dienstbar sei,
weil nur auf diese Weise es sich erklären lasse, wie hei
Zerstörung des gröfsten Thciles der Gehirnsubstanz den¬
noch die geistige Thätigkeit ununterbrochen fortdauern
könne. Bald nachher macht er aber wieder darauf aufmerk¬
sam, dafs Gall’s System einen grofsen Stofs erleiden würde,
wenn sich Bayle’s Beobachtungen bestätigen sollten, dafs
, in den meisten Fällen von Seelenstörung eine chronische
Arachnitis zum Grunde liege, welche sich vornehmlich durch
hochmüthige Phantasie zu erkennen gebe, so dafs aus der
Lebhaftigkeit der letzten auf den Grad der Entzündung
geschlossen werden könne. An jenen Bayleschen Erfah¬
rungen findet er nur hauptsächlich auszusetzen, dafs sie mit
denen von Ga lmeil in Widerspruch stehen, ungeachtet
beide zu gleicher Zeit, und unter den nämlichen Bedingun¬
gen, zu C baren ton die Materialien zu ihren Schriften sam-
Vin. Irresein.
463
melten. — Das nennt der Verf. auf dem Erfahrungswege
aus Thatsachen Schlüsse ziehen, um mit Vermeidung von
Speculationen zur Wahrheit zu gelangen!
In einem krankhaften Blutumlaufe sucht der Verf. vor¬
nehmlich den nächsten Ursprung der Geisteskrankheiten auf,
und er bringt seine Ansicht hierüber unter folgende allge¬
meine Sätze: 1) Das System der Blutgefäfse ist in jedem
Falle von Geisteskrankheit, wenngleich auf verschiedene
Weise, krankhaft thätig. 2) Die naturgemäfse Aeufserung
der intellectuellen Functionen ist abhängig von einer gehö¬
rigen Regelmäfsigkeit in der Menge und dem Laufe des
Blutes im Gehirn, da jenes die Quelle der Nerventhätigkeit
ist. 3) So lange das Gefäfs- und Nervensystem in Ueber-
einstimmung thätig sind, bleibt die Harmonie der intel¬
lectuellen Functionen ungestört. 4) In allen Fällen von
Geisteskrankheit befinden sich das Gefäfs- und Nervensystem
in einem Zustande von Opposition. 5) Bei beginnender
Geisteskrankheit herrscht in der Regel eine Aufregung
des Gefäfssystems vor, bei chronischer des Nervensystems.
6) In allen mit Gemüthsstörungen verbundenen Krankhei¬
ten behauptet das eine oder andere System ein entschiede¬
nes Uebergewicht. 7) Sobald die Thätigkeiten beider Sy¬
steme sich einander nähern, tritt Verbesserung der intel¬
lectuellen Functionen ein; wenn sie wieder einstimmig sind,
kehrt völlige Genesung zurück. Um seine materialistische
Hypothese zu beweisen , unterscheidet vier Verf. zwei Fälle,
je nachdem entweder das Blut mit zu grofser Schnelligkeit
und in zu grolser Menge nach dem Gehirn geführt, oder
in beiden Momenten unter dem natürlichen Maafse demsel¬
ben zugeleitet wird. In erster Beziehung macht er auf die
häufig vorkommenden Erscheinungen von Ueberfüllung der
Blutgefäfse des Kopfes bei beginnenden Geisteskrankheiten
aufmerksam, die ihm auch niemand streitig machen wird,
jedoch unter der Einschränkung, dafs sie bei weitem nicht
jedesmal sich zeigen. Daraus leitet er die nach dem Tode
sich darbietenden Auftreibungen der Blutgefäfse des Gehirns,
464
VIII. Irresein.
die Wasserergiefsungen in demselben, und die mannigfachen
Spuren von Entzündung, welche dasselbe erlitten hat, her,
und sucht sich gegen den Einwurf, dafs oft bei offenbarem
Blutandrang nach dem Kopfe kein Delirium, uod umgekehrt
letztes häufig in Krankheiten ohne jenen beobachtet werde,
dadurch zu vertheidigen, dafs wenn auch bei Geisteskran¬
ken nicht immer l Jeberfüllung des Gehirns mit Blut, oder
verstärkter Herzschlag angetroffen werde, dennoch in er¬
stem, wie bei örtlichen Entzündungen überhaupt, eine ver¬
mehrte örtliche Gefäfsthätigkeit ohne allgemeine Aufregung
des Kreislaufs statt finden könne. Diese Hypothese ist im
Grunde nichts weiter, als eine neumodisch zugestutzte
Jatromathematik , die über die Entdeckung des Krei-daufs
sich nicht zu erheben vermag, und daher kaum eine andere
selbstständige Lebensthätigkeit anerkennt, als das Pulsiren
der Arterien, dessen Rhythmus in jedem Organe der Maafs-
stab der Function des letzten sein soll, ohne weitere Uück-
sicht auf andere organische Kräfte, denen der Blutslrom
einen dynamischen Beiz und ein materielles Substrat zufüh¬
ren mufs. Nicht immer verläfst zwar den Verf. ein gesun¬
der Sinn; so sagt er z. B., dafs Tobsüchtige sich oft sehr
gut zu beherrschen und ihre Leidenschaften so völlig zu
verbergen wissen, dafs keine veränderte Gebärde, Sprache
u. s. w. den tobenden Aufruhr ihres Innern verräth; aber
letzten könne man sehr leicht an dem jagenden Pulse er¬
kennen, weil der Geist die Wirkung der Leidenschaften
auf den Herzschlag aufzuhellen nicht vemöge. Doch das in
§ •
diesen Worten ausgesprochene klare Bewufstsein der grofsen
Abhängigkeit des Blutumlaufs von der jedesmaligen Gemiiths-
stimmung, woraus die Erscheinungen einer beschleunigten
Cireulation bei den Geisteskrankheiten sich so vollständig
und ungezwungen erklären lassen, verliert sich bald wieder
unter dem blinden Verfolgen einer Hypothese, die in zahl¬
losen Fällen auch nicht durch den schwächsten sinnlichen
Schein bestätigt wird. Es verlohnt sich nicht der Mühe,
den entgegengesetzten Fehler der Gefäfsthätigkeit, wenn
VIII. Irresein.
465
- , , /
sie eine zu geringe Blutmenge mit verzögerter Bewegung
dem Gehirne zuführt, näher zu erörtern, da darauf diesel¬
ben Bemerkungen anwendbar wären. Eben so reducirt sich
die Lehre vom krankhaften Consensus zwischen dem Ge¬
hirn und den übrigen Eingeweidcn, vorzüglich des Unter¬
leibes, nach des Verf. Meinung auf eine correspondirende
Blutströinung nach verschiedenen Richtungen. Am Schlüsse
seiner Betrachtungen über den krankhaften Blutumlauf als
Ursache der Geistesstörungen sagt der Verf. hoch, dafs
damit keinesweges die krankhaften Zustände des Nerven¬
systems und deren Einflufs auf das Gemüth in den Hinter¬
grund gestellt werden sollten; wie wenig Ernst es ihm aber
mit dieser Versicherung ist, und wie sehr seine oberfläch¬
liche Anschauungsweise , die sich nur in den handgreiflichen
Erscheinungen einer krankhaften Gefafsthätigkeit zurecht
finden kann, ihn verhindert, die dynamischen Functionen
des Nervensystems in reiner Absonderung aufzufassen, geht
vorzüglich aus dem Kapitel hervor, in welchem die mit
den Gemüthsstörungen complicirten Nervenkrankheiten er¬
örtert werden, in wiefern sie erste hervorzurufen im Stande
sind. Denn auch bei ihnen fafst er nur die Phänomene
einer gestörten Circulation ins Auge, und läfst letzte das
Medium sein, durch welches sie das Gemüth seiner Fassung
berauben, z. B. Schwindel ist eine Unordnung der Circu¬
lation; Leichenöffnungen Epileptischer beweisen einstimmig
eine vorhanden gewesene vermehrte Blutströmung nach dem,
und erhöhte Gefafsthätigkeit im Gehirn (interessant ist je¬
doch ein vom Verf. erzähltes Beispiel, wo bei einem jungen
Manne während epileptischer Anfälle das Blut mit einer
solchen Kraft in die Gefäfse des Gesichtes und Scheitels
getrieben wurde, dafs es wie ein Schweifs tropfenweise aus
den Poren hervordrang); Convulsionen , welche sich zu¬
weilen zur Manie gesellen, stellen eine andere Art gestör¬
ter Circulation dar; ein Gleiches wird vom blutigen Schlag-
flufs uud der Hysterie behauptet.
In der zweiten Abtheilung versucht der Verf. die
466
VIII. Irresein.
Geisteskrankheiten einzuthcilen , womit er aber nicht r.u
Stande kommt, weil cs ihm dazu gänz.lich an einem Prin¬
zip gehricht, welches nur aus einer tieferen Krkenntnifs der
ersten geschöpft werden kann. Alle psychologischen Mo¬
mente als leere Metaphysik verwerfend, weifs er auch sei¬
ner materialistischen Lehre keine Seite abzugewinnen, die
ihm einen klaren Ucberhlick seines Gegenstandes verschaf¬
fen könnte. Da die Formen der Geisteskrankheiten oft so
wenig beständig sind, dafs sie, z. B. Manie und Melancholie
häufig mit einander wechseln; da ferner die Resultate der
Leichenöffnungen in allen Fällen eine grofse Uebereiostiru-
mung zeigen: so hält er jene ihrem Wesen nach fii r gleich¬
artig, also eine tiefer eindringende Unterscheidung unter
ihnen für unzulässig. Um aber doch einige äufsere Anord¬
nung unter die sinnlichen Formenverschiedenheiten zu brin¬
gen , entscheidet er sich, ohne einen Grund dafür anzuge¬
ben, für Esquirols Eintheilung, aus welcher er indefs
die Monomanie, welche seinen Beifall nicht hat, wegläfst,
dagegen aber das Delirium und die Hypochondrie eipschiebt,
die gar nicht hierher gehören, weil erstes nur psychischer
Reflex eines blofsen Körperlcidens genannt werden kann,
und bei letzter das wesentlichste Kennzeichen der Geistes¬
störungen, fortwährender Mangel des freien Selbsibewufst-
seins fehlt.
Hierauf folgen in einem « Charakter der Geisteskrank¬
heiten n üherschriebenen Kapitel die am häufigsten bei den¬
selben vorkommenden, besonders psychischen Erscheinun¬
gen, die indefs, da der Yerf. ihre eigentliche Bedeutung
und ihren nothwendigen Zusammenhang nicht gehörig wür¬
digt, wie lose Bruchstücke durcheinander geworfen sind.
Ihm ist die Seele ein Aggregat einzelner Kräfte, von denen
einige verletzt, die andern unversehrt geblieben sein kön¬
nen, ohne dafs sich ein innerer Grund dieses theil weisen
Erkrankens angeben ließe. Gcwifs eine der fruchtbarsten
Quellen von Irrthümern in der praktischen Anthropologie
ist die oberflächliche Betrachtung des Bewußtseins, welcher
der
VIII. Irresein.
467
der nothwendige, innere Zusammenhang seiner Erscheinun¬
gen, die Einheit ihres gemeinsamen Ursprunges entgeht.
Aber auch das krankhafte Bewufstsein ist noch ein organi¬
sches, nur mit verschobenem, verzerrtem Verhältnifs seiner
Glieder; und wenn man sich die Beziehung zwischen den
mannigfachen Denkweisen und Gemüthsregungen einer Per¬
son in ihrem gesunden Zustande bekannt gemacht hat; so
wird man auch ihre krankhaften Intentionen errathen, ja
aus letzten auf die Verfassung ihres Gemüths in gesunden
Tagen zurückschliefsen können. Den Verf. würde die An¬
erkennung dieses Satzes nichts Geringeres, als den Umsturz
seines ganzen Systems kosten; daher vertheidigt er sich
auch gegen die Behauptung einiger, dafs Manie ein ver¬
längerter Päroxysmus einer Leidenschaft sei, mit der Be¬
merkung EsquiroUs, dafs man eben so gut sagen könnte,
Erotomanie sei blofs ein Excefs der Liebe, Melancholie nur
ein übertriebener religiöser Eifer, oder übermäfsige Furcht,
Selbstmord allein ein Anfall von Verzweiflung, dergestalt,
dafs jede Art von Geisteskrankheit ihren Urtypus in irgend
einer Leidenschaft habe. So verhält es sich auch wirklich,
und wenn der Verf. dagegen die triviale Einwendung macht,
dafs Personen von unbescholtenem Lebenswandel dennoch
• % v
einen entgegengesetzten Charakter als Geisteskranke verrie-
then, so dafs z. B. Bescheidene anmaafslich, Keusche un¬
züchtig, Tapfere feig, und die Hochherzigsten der empö¬
rendsten und niedrigsten Handlungen fähig würden, so
blickt hieraus jene Afterweisheit hervor, welche mit dem
gemifsbrauchten Namen der Humanität prunkend, nur ihre
Unkunde des menschlichen Gemüths zur Schau stellt, und
über die Riesenfortschritte des ganzen Geschlechts zu hö¬
heren Stufen der Vollkommenheit jubelt, während der
ruhige Beobachter in unserem gegenwärtigen Culturzustande
neben vielem Vortreff liehen auch die zahllosen Gebrechen
einer unnatürlichen Sittenverfeinerung, einer aus morali¬
scher Schwäche entsprungenen üebercmpfindlichkeit, alle
Thorheiten einer verzärtelten Eitelkeit und Selbstliebe, und
XIV. Bd. 4. St. < • 31
468
VUI. I. •rosein.
io allen diesen Ablenkungen von der natürlichen Rahn die
nur zu fruchtbaren Ursachen der Geisteskrankheiten wabr-
nimmt. Was nach dem verderbten Modegeschmacke und
der entarteten Sitte für gut und vorLrefflich gehalten wird,
kann also nicht als Maafsstab der moralischen Schätzung
dienen, also nicht Ausdruck der nach voller Entfaltung
ihrer natürlichen Anlage ringenden sittlichen Kraft sein,
die leider durch einen verkehrten Sinn nur zu oft irre ge¬
leitet, in zahllosen Angewöhnungen sich verbildet. M ic
selten ist in unserer Gesellschaft noch jener edle Freimutti
anzutreffen, welcher der offenen Stirn das Siegel der inne¬
ren Wahrheit aufdrückt, so dafs man des Mannes Charak¬
ter auf den ersten Rlick aus seinem Handeln und Reden
erkennen könnte. Haben nicht die meisten die stillschwei¬
gende Verabredung getroffen, in ein Gewebe von Heuche¬
lei und Verstellung sich kleiden, um damit ihre morali¬
schen Rlöfsen verdecken zu dürfen, und liegt ihnen dies
Liigengewand nicht so fest an, dafs sie sich selbst nur in
demselben erblicken, wenn sie zufällig einmal in den Spie¬
gel -des Selbstbewufslseins schauen ? W ie wollen wir uns
also darüber verwundern, wenn der V\ ahnsinn den absicht¬
lichen Selbstbetrug Lügen straft, und von dem verschlos¬
senen Gemüth den Schleier hiuwegziebt, hinter welchem
die früheren Gebrechen so sorgfältig versteckt waren? Um
Mifsverständnissen vorzubeugen sei es ausdrücklich bemerkt,
dafs zwischen einem erschlafften Charakter, der die Leiden¬
schaften nicht beherrscht, und deshalb leicht vom Wahn¬
sinn überwältigt wird, und Verhärtung, Verstocktheit des
Gemüths, welche mit äufserer Besonnenheit die Mittel zur
Ausführung von Verbrechen wählt, ein sehr grofscr Un¬
terschied statt findet, und dafs Iieinroth sich schwer an
der Menschheit versündigt hat, als er in seinem pietisti-
schen Metaphysirismus behauptete, dafs der Lasterhafte nur
der Vernunft ungehorsam geworden sei, der Wahnsinnige
aber sie in sich ertüdtet habe, daher sie auch jenen zu
ihrem Gesetz durch das Gewissen zurückzuführen strebe,
VIIL Irresein.
469
während letzter als ein gänzlich von ihr Verlassener, Ver¬
lorener, der mithin moralisch noch tiefer gefallen $ei, sei¬
nem Schicksal überlassen bleibe. Als ein Beispiel der V or¬
stellungsweise des Verf. sei es angeführt, dals er die Ent¬
stehung eines krankhaften Geschlechtstriebes bei sittlich rei¬
nen Jungfrauen, wenn sie aus anderen Ursachen wahnsin¬
nig wurden, für möglich hält, und um keine Antwort
schuldig zu bleiben, die Behauptung aufstellt, dafs bei ihnen
der krankhafte Erregungszustand des Gehirns auf die Ge¬
schlechtsteile reflectirt, in diesen ein verborgenes Feuer
entzünde, welches die Unglücklichen vergebens zu verber¬
gen strebten. Kennt er die List der weiblichen V erstel¬
lung, welche oft den erfahrenen Beobachter täuscht, so
wenig? Ist es ihm so fremd, dafs nur die wirkliche That,
der Widerstand gegen verführerische Lockung für die
innere Reinheit des Gemüths zeugt?
Im folgenden Kapitel handelt der Vqrf. das Delirium
ab, von welchem das Del. tremens, eine eigentümliche
Unterart bildet. Da diese Krankheitsformen gar nicht in
das Gebiet der eigentlichen Geisteskrankheiten gehören, so
mögen des Verf. Mittheilungen über sie hier keine weitere
Erwähnung finden.
Hierauf ist von den Stadien der Geisteskrankheiten die
Rede, wobei indefs nur die Manie und Melancholie in Be¬
tracht gezogen werden. Der Verf. kommt hier darauf zu¬
rück, dafs beide, in ihren körperlichen Erscheinungen ana-,
log, dem physischen Grunde nach wesentlich gleicher Na¬
tur seien, und bemerkt dabei, dafs auf der Kenntnifs dieser
gemeinschaftlichen Bedingung die Basis der Kurplane be¬
gründet sei. Welche Einwürfe dieser Behauptung von
psychologischer Seite entgegenzustellen sind, ist unnöthig
zu sagen, da es von selbst erhellt, wie wesentlich verschie¬
den die Gemütsverfassung eines wüthenden Tobsüchtigen
und eines an finsterem Gram sich aufzehrenden Trübsinni¬
gen ist, wonach die ihnen zu leistende Hülfe notwendig
abgemessen werden rnufs. Aber selbst innerhalb des sinn-
/ 31 *
470
VIII. I iTescin.
liehen Kreises, in welchem der Vcrf. seine Lehre abschliefst,
kann diese keine Gültigkeit haben, da die Heaction des
Scelenorgans und der mit ihm in näherer Verbindung ste¬
henden Systeme sich nothW endig nach den verschiedenarti¬
gen Impulsen durch die jedesmalige Gemüthsstimmung ab-
ändern , und sonach ein abweichendes therapeutisches Ver¬
fahren erforderlich machen mufs. Bei dem vorherrschen¬
den Bestreben des Verf., sich in unmittelbarer Nähe der
sinnlichen Erscheinungen zu halfen, fällt es nicht wenig
auf, dals er dennoch einer blofsen Hypothese zu Gunsten
ihre nosologische und pathogenetische Bedeutung so wenig
in Betracht zieht, und daher ihre wesentlichen Unterschiede
nicht in einer schärferen Diagnostik festzustellen sucht. Im
Allgemeinen mufs man indefs einräumen, dafs ihm dies Ka¬
pitel besser gelungen ist, als die bisher beleuchteten, da
er, ohue Einmischung seiner stets verunglückenden Erklä¬
rungsversuche, recht lebendige, wenn auch nicht sorgfältig
geordnete Schilderungen jener beiden Hauptformen, der
Manie und Melancholie, ihres Verlaufs, ihrer Stadien ent¬
wirft; und man sieht es ihnen wohl an, dafs es ihm nicht
an Gelegenheit zu dergleichen Beobachtungen fehlte. Doch
sucht man vergebens nach neuen charakteristischen Zügen;
auch möchten sich dergleichen nicht eher auffindcn lassen,
als bis man sich durch Versuche davon überzeugt hat, in
wiefern cs möglich ist, durch das verworrene Gerniith den
leitenden Faden zu verfolgen, an welchen sic!» die seltsa¬
men Associationen und Antithesen unter den Vorstellungen,
Gefühlen und Begehrungen anreihen, und durch welchen
letzte sich mit der früheren Denk- und Handlungsweise
verknüpfen. Diesen Faden darf man nie aus dem Auge ver¬
lieren, wenn man je zu einer pathologischen Psycho¬
logie gelangen, und in jedem individuellen Falle sich die
Einsicht erwerben will, dafs man nur bei dem Eindringen
in die eigenthiimlichc Vorstellungsweise des Kranken den
Punkt linden kann, auf welchem sich der strategische Plan
/
471
VIIL Irresein.
zur Bekämpfung seines Uebels entwerfen läfst. Wenn daher
/
der Yerf. wiederholt darauf aufmerksam macht, dafs beim
Beginnen der Geisteskrankheiten die natürlichen Dispositio¬
nen sichtlich und ohne anzugebenden Grund sich
verändern, so dafs der Lustige traurig, der Schweigende
geschwätzig und umgekehrt, der Kluge nachlässig und un¬
besonnen wird, dafs die Gefühle der Liebe und des Ver¬
trauens gegen die Angehörigen der Gleichgültigkeit, dem
Hasse, dem Mifstrauen Platz machen; so mufs dies bei sei¬
ner Deutungsart alles räthsclhaft, unnatürlich erscheinen.
Sollten wir uns aber nicht so weit in die Gemüthslage
eines Wahnsinnigen versetzen können, um zu ahnen, wie
sich ihm der Standpunkt zur umgebenden Welt gänzlich
verrückt hat, so dafs sie ihm nur in verzerrten Verhält¬
nissen erscheint, wie ihm eben dadurch sein früheres Le-
-i
ben gleichsam fremd geworden ist, so dafs ihn keine seiner
ehemaligen Erfahrungen mehr richtig leitet? Rechnen wir
dazu noch, dafs sein Sinn entweder durch Trübsinn ver¬
finstert, oder durch den Nimbus einer hochmüthigen Selbst¬
vergötterung geblendet ist; so scheint es wohl begreiflich,
wenn er mit seinem ganzen Wesen eine Haltung und Stel¬
lung annimmt, welche in eben dem Maafse im W iderspruch
mit seinem früheren Benehmen steht, als sie seinem gegen¬
wärtigen Bewufstsein von sich und der Aufsenwelt ange¬
messen ist. Können wir daher nicht aus der Art, wie er
sich aus seiner jetzigen Anschauungsweise eine neue Ord¬
nung der Dinge schafft, folgern, welche frühere Gemüths-
richtung ihn auf den gegenwärtigen Standpunkt führte,
und müssen wir es nicht anerkennen, weil in diesem Vor¬
gänge noch System, Ordnung, selbsithätiges Bilden von
Vorstellungen deutlich bemerkbar werden, dafs das schaf¬
fende Vermögen der Seele, worin ihr wesentlichstes Attri¬
but enthalten . ist, zwar irre geleitet, aber doch, und oft
sogar mit erhöhter Kraft thätig ist; und weil dies alles in
ihren eigenthümlichen Gesetzen volle Erklärung findet, dafs
4712
V III. Irresein.
es eine grofse Verkehrtheit ist, sic in ihrem wahnsinnigen
Zustande zu einer blofsen Marionette des Körpers hernb-
zuwiirdigen ?
Auel» den Wahnsinn der Wöchnerinnen, von welchem
das nächste Kapitel handelt, bemüht sich der Verf. , wie
fast alle seine Vorgänger, aus den mannigfachen Erschei¬
nungen von Eieberbewegungen, gestörter Milch- und Lo-
chienabsonderung (wobei er sich indefs gegen die Lehren
der Ilumoralpalhologie von der Milchversetzung erklärt),
überhaupt aus dem eigentümlichen Lebcnszustande während
des Wochenbettes abzuleiten; aber er wird dabei zu dem
Bekenntnifs genöthigt, dafs nach seiner Anschauungsweise
sich oft keine Ursache ausfindig machen lasse. Er gedenkt
zwar im Vorbeigehen der moralischen Disposition, welche
viele, durch fehlerhafte Erziehung verzärtelte und verbil¬
dete Frauen in die Schwangerschaft mitbringen, und ver¬
möge welcher ihr Gemiith durch die erschütternden Vor¬
gänge bei und nach der Geburt aus den Fugen getrieben
wird; doch legt er darauf keinen grofsen Werth, da er
schlechthin behauptet, dafs nur in seltenen Fällen morali¬
sche l rsachen mitgewirkt hatten. Sein Forschen beginnt
aber erst dann, wenn alles schon längst vorbereitet und
zum Ausbruch reif ist, so dafs er gewissermaafsen den
Sturm durch den Sturm zu erklären genöthigt ist. Bef.
begnügt sich mit der Bemerkung, dafs das Gebären der
Weiber bei Völkern, welche noch im Naturzustände leben,
so leicht und gefahrlos von statten geht, dafs dabei fast
niemals üble Folgen eintreten; daher müssen sie sich wohl
weit von jener ursprünglichen Energie entfernt haben,
wenn sie seihst ein Opfer der Schuld werden, die sie der
Natur zu entrichten haben, wenn also das, was Bedingung
ihrer höheren Entwickelung werden sollte, sie ins Verder¬
ben stürzt.
Der Selbstmord und die Hypochondrie, von denen der
Verf. zunächst handelt, gehören, wie schon bemerkt, streng
genommen, nicht hierher. — Wa* in den letzten Kapiteln
VIII. Irresein.
473
dieser Abtheilung über Moria, Fatuitas und verwandte For¬
men gesagt wird, mag ebenfalls übergangen werden, da es
im herrschenden Geiste dieser Schrift bearbeitet, keine Ge¬
legenheit zu neuen Erörterungen giebt.
In der dritten Abtheilung kommt der Verf. zu den
Ausgängen der Geisteskrankheiten, und zwar im ersten Ka¬
pitel zur Genesung von denselben. Dasselbe enthält aber
eigentlich weiter nichts, als eine Rechtfertigung aus öffent¬
lich bekanntgemachten Krankenlisten gegen die Anschuldi¬
gung derer, die eine wirkliche Heilung des Wahnsinns für
unmöglich halten. Eine solche Vertheidi
jgung
ruht unstrei¬
tig auf sehr schwachem Grunde, da doch zuvörderst die
Richtigkeit jener Listen, gegen die sich sehr gegründet^
Zweifel erheben lassen, bewiesen werden müfste; überdies
bleibt ja dabei unentschieden , was im günstigsten Falle die
Natur gethan, und in wiefern ärztliche Hülfe ihr dabei die
Hand gereicht hat. Man merkt auch bald die Verlegenheit
des Verf., da er es freimiithig eingestellt, bei der Genesung
Wahnsinniger keine eigentlichen Krisen beobachtet zu ha¬
ben, die sich doch einstellen müfsten, wenn wirklich eine
fehlerhafte Erregung des Gefäfssystems vorangegangen wäre,
um so mehr, da er hauptsächlich nur den anfänglichen,
angeblich acuten Verlauf der Manie und Melancholie im
Auge behält. Er läfst es bei dem Factum bewenden, dafs
Geisteskranke, zumal beim Gebrauch von Arzneien, wieder
genesen. Sollte aber bei der Heilung vom Wahnsinn, so
wie von jeder Körperkrankheit, nicht die Autocratie der
Natur, welche stets zum Gleichgewicht der Kräfte zurück¬
zukehren strebt, vorzugsweise in Betracht kommen? Sollte
nicht der Geist seines verrückten Verhältnisses zilr Welt
inne werden können, da er im Fortgange seiner Verwir¬
rung überall den äufsern Widerstand gegen seinen Willen
gewahr, dadurch zur Reflexion über sich angeleitet wird?
Sobald ihm sein Irrthum einleuchtet, da alle seine Berech¬
nungen und Beobachtungen nicht stimmen wollen, so fühlt
er sich nachdrücklich genug zur Beherrschung seiner selbst,
474
VIII. Irresein.
» _ «
zur eigenmächtigen Wiederherstellung seiner Besonnenheit
aufgefordert. Hat nur erst die glänzende Illusion des hoch-
müthig Wahnsinnigen den zauberischen Reiz der Neuheit
verloren; ist nur erst der scharfe Stachel des Schmerzes,
unter welchem der Trübsinnige seufzet, durch Gewohnheit
abgestumpft, so macht sich alles Uebrigc von seihst.
Eben so leicht geht der Vcrf. im nächsten Kapitel
über die Bedingungen zu den häufigen Rückfällen des
Wahnsinns fort, und er verliert sich in Aufzählung klein¬
licher Merkmale, an denen man cs erkennen soll, ob ein
wirklicher Rückfall statt gefunden habe, oder eine neue
Entwickelung abermaliger Geisteskrankheit. Vorzugsweise
käme es aber wohl darauf an, in jedem individuellen Falle
die Stärke oder Schwäche des Gemüths zu erproben, um
darüber zu entscheiden, ob ein Geisteskranker nur äufser-
lich, symptomatisch gebessert, oder innerlich geheilt sei.
Danach <zu forschen, scheint dem Yerf. so unstatthaft zu
sein, dafs er sorgfältig die Regel einschärft, man solle den
Kranken nicht an seine überstandenen Leiden erinnern, alles
aus seiner Nähe entfernen, was ihm seine verkehrten Ideen-
associationen zurückrufen könne. Wie will man es denn
aber herausbringen, ob der Genesene sich wirklich die
Kraft errungen hat, unerschüttert seinen Gang durch das
verhängnisvolle Leben allein anzutreten, wenn man ihn
nicht auf die Probe stellt, oh er seine frühere Leidenschaft
besiegt hat, über seine Schwäche Herr geworden ist, und
somit getrost seinem Schicksal überlassen werden kann?
Wer dieser Prüfung durch ernste Betrachtung seines ver¬
gangenen Lebens, durch Anerkennung seiner Thorheiten
nicht gewachsen ist, den würde Ref. nicht für geheilt, son¬
dern seine Besserung nur für ein Blendwerk erklären, mit
welchem sein Arzt ein leeres Scheinverdienst eitel zur Schau
stellen will. — Die Mittheilungen des Yerf. in den näch¬
sten Kapiteln über l nheilbarkeit und Sterblichkeit Geistes¬
kranker enthalten ciue Reihe von Zahlcnvcrhältnissen, die
, * A- I
VIIL Ir resein. 475
bei dem gegenwärtigen Stande der Psychiatrie keine An¬
deutung über das wahre Sachverhältnifs geben.
Wenn die Erscheinung der Krankheiten nicht in ver¬
einzelten, unzusammenhängenden Symptomen, sondern als
ein Bild des in seinen Verhältnissen zwar verschobenen,
aber doch in herrschenden Regeln noch zusammenhaltenden
organischen Lebens angeschaut wird; so ist eben in dieser
Anschauung, da sie zum Bewusstsein des Abstandes der
krankhaften Verhältnisse von den gesunden, und der Gröfse
dieser Abweichung führt, auch das Maafs enthalten, nach
welchem die prognostische Bedeutung des krankhaften Zu¬
standes abgeschätzt werden mufs. Alle aus dem Zusammen¬
hang gerissenen prognostischen Sätze haben daher an sich
einen geringen Werth, da sich nach Maafsgabe der Um¬
stände ihre Bedeutung vielfältig abändert, daher sie immer
nur unter gewissen Bedingungen und Einschränkungen gül¬
tig sind. Von dieser Art sind die prognostischen Aphoris¬
men, die der Verf. zum Inhalt der kurzen vierten Abthei¬
lung macht, und die bei allem Anschein ihrer Ableitung
aus der ^Erfahrung, doch kein festes Maafs zur Bestimmung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung in jedem einzelnen Falle
darbieten. Wenn er z. B. sagt: die Manie wird schneller
und häufiger als die Melancholie geheilt, so ist dies im
Allgemeinen nicht unrichtig, aber wir wissen damit noch
keinesweges, ob dieser Tobsüchtige heilbarer sei, als jener
Trübsinnige. Wir sehen also nicht, auf welchem Grunde
dieser Ausspruch ruht, um durch ihn ein andermal in un-
serm Urtheil geleitet zu werden. Ref. hält dafür, däfs als
allgemeine prognostische Regel die Bestimmung des Grades
von sittlicher Kraft gelten müsse, die dem Kranken noch
inwohnt. Dafs diese Kraft, welche durch das freie Selbst-
bewufstsein angedeutet wird, in dem Gemüthskranken sich
wohl erwecken lasse, wurde bereits bemerkt; und es braucht
nur noch hinzugefügt zu werden, dafs in dem Talente des
Arztes, dies aus seinem Schlummer hervorgerufene Selbst-
\
476
\ III. Irresein.
bewufstsein wach zu erhalten, und dadurch den Kranken
zur Selbstbeherrschung zu bestimmen, eine Hauptbedingung
eines glücklichen Ausganges enthalten sei.
Wir kommen jetzt zur fünften Abtheilung, in welcher
der Verf. sein Heilverfahren bei Geisteskranken in Ueber-
einstimmung mit seinen pathologischen Grundsätzen ent¬
wickelt. Natürlich nehmen die therapeutischen Lehren bei
weitem den grölseren Kaum ein; da indefs die Beeension
eines so umfangreichen Werkes nicht die Aufgabe lösen
kann, jeden einzelnen Satz zu beleuchten, da ferner der
Leser sich ungefähr selbst sagen kann, was der Verf. über
die Indicationen zum Blutlassen, Abführen u. s. w. mittheilt,
und es im Interesse dieses Aufsatzes liegt, die wahre Psy¬
chiatrie gegen seinen einseitigen Materialismus zu verthei-
digen: so gebt Bef. folglich zu dem über, was der Verf.
die moralische Behandlung nennt. — « Die Mittel, vom
Wahnsinn zu heilen, sagt der Menschenkenner Göthe im
Wilhelm Meister, sind eben dieselben, wodurch man
gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man
errege ihre Selbstthätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung,
man gebe ihnen einen Begriff, dafs sie ihr Sein und Schick¬
sal mit so Vielen gemein haben, dafs das aufserordentliche
Talent, das gröfste Glück und das höchste Unglück nur
kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen sind; so wird
sich kein Wahnsinn einschleichen, und wenn er da ist, nach
und nach wieder verschwinden. — Ls bringt uns nichts'
näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor anderen aus¬
zeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand,
als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben. »
Dafs es aber gar wohl möglich sei, den Wahnsinnigen mit
Nachdruck dahin zu bestimmen, dafs er von seinen wilden
Ausschweifungen zu einem geregelten, besonnenen Bewufst-
sein zurückkehre, um der Selbstthätigkeit fähig zu werden,
darauf hat Bef. schon wiederholt hingedeutet. Freilich läfst
sieb dies meistentheils nicht ohne eine grolse Strenge be¬
wirken, die den Kranken zur Anerkennung einer morali-
VIII. Irresein.
477
sehen Autorität, und zum Gehorsam gegen dieselbe zwingt,
his er aus freiem Antriebe zu einem vernünftigen Lebens¬
wandel sich anschickt.
Hören wir dagegen unsern Verf. Er schreibt Pinel
das grofse Verdiest zu, menschlichere Bedingungen für die
bis auf seine Zeit mrit barbarischer Härte gemifshandelten
Kranken durch eine moralische Behandlung herbeigeführt
und dadurch eine edlere Epoche für die Psychiatrie, na¬
mentlich in Frankreich eingeleitet zu haben. In sofern
Pinel die empörenden Greuel aus der Salpetriere gröfsten-
theils verbannte, hat er allerdings die dankbare Aner¬
kennung seines Vaterlandes in hohem Grade verdient; wie
viel er aber von einer tieferen Erkenntnifs des Wahnsinns
entfernt geblieben sei, erhellt besonders aus seinen prakti¬
schen Regeln, die unser Verf. als Axiome hinstellt: 1) Man
soll nie das Gemüth der Wahnsinnigen im Sinne ihres
Deliriums bewegen (exercise); 2) man soll nie ihren
krankhaften Vorstellungen, Gefühlen und Begehrungen of¬
fen entgegen treten; 3) man soll durch verschiedenartige
Eindrücke neue Vorstellungen und Gefühle bervorrufen,
und dergestalt durch Erregung frischer moralischer Ge¬
mütsbewegungen die schlafenden Kräfte aufwecken; 4) man
soll sich nie den Wahnsinnigen durch ein Versprechen ver¬
bindlich machen ; aber wenn man unvorsichtig eins gegeben
bat, dasselbe redlich erfüllen, es sei denn, dafs die Erfül¬
lung schlimmere Folgen nach sich ziehe, als das Brechen
der Zusage. — Die ersten beiden Regeln sind offenbar
aus der überschätzten Milde hervorgegangen, welche den
Kranken zum Widerstreben zu reizen, dadurch seine Auf¬
regung zu vermehren, seinen Zustand zu verschlimmern
fürchtete. Dieser nachtheilige Erfolg, der eben den Verf.
zu der Bemerkung leitete, dafs mit der Dialectik bei Wahn¬
sinnigen nichts auszurichten sei, stellt sich auch gewils ein,
wenn man sich in Disputiren mit ihnen einläfst, und ihnen
dadurch Gelegenheit giebl, sich auf eine, ihrer Meinung
nach siegreiche, oft allerdings höchst scharfsinnige und sinn-
478
VIII. Irresein.
reiche Weise zu verlheidigcn. Darum mufs der Arzt eine
imposante Persönlichkeit geltend zu machen wissen, die
auch dem hoch fahrendsten Tobsüchtigen Achtung gebietet;
er darf sich mit ihm nicht in ein eitles Gezänk verwickeln,
sondern mufs ihn mit kurzer, nachdrucksvoller Rede ein-
schiichtern, deren Inhalt im Notbfall durch wohlangebrachte
Zwangsmittel bekräftigt wird. Die Ordnung und das strenge
Regiment des Hauses sollen den Kranken im steten Bc-
wufstsein seiner Abhängigkeit und der Lächerlichkeit seiner
Anmaafsungen erhalten. Dann aber ist cs Zeit, ihn» über
seine Verblendung die Augen zu öffnen, ihn «las Irrige und
'S crkehrle seines früheren Lebens einschen zu lassen, ihm
mit lebhaften Farben die traurigen Folgen zu schildern,
die er sich zugezogen hat, und in denen er moralisch zu
Grunde gehen wird, wenn er nicht alle Kraft zur Selbst¬
beherrschung aufbietet. Wird aber dem Kranken das Recht
zugestanden, das Lügengewand der Verstellung über seine
moralischen Flecken zu ziehen, um sich den Schmerz einer
beschämenden Selbsterkenntnis zu ersparen, so bleibt er
ja in seinem innersten Wesen ungebessert, und allezeit ge¬
neigt, auf seine Irrwege zurückzukehren y sobald ihm mit
seiner Freilassung die Gelegenheit dazu dargeboten wird.
ISur indem die angedeutete Aufgabe gelöst wird, läfst sich
auch die dritte, an sich richtige Regel in Ausführung brin¬
gen, weil der Kranke erst dann geneigt sein wird, auf
neue Gegenstände einzugeben, wenn ihm die Rückkehr zu
seinem thörichten Treiben völlig abgeschnitten wird. Auch
wollen wir jene Regel nicht in so schwankender Allgemein¬
heit, wie sie namentlich bei den Franzosen gilt, auffassen,
weil nicht alle und jede Beschäftigung und Zerstreuung für
den YV ahnsinnigen passend ist, daher auch das Verfahren
jener, in Ermangelung eines festen Prinzips von den Ein¬
gebungen des Augenblicks willkührlicl» bestimmt wird. I n-
niitze Beschäftigung, mit welcher der Wahnsinnige nicht
das Lcwulstscin eines bestimmten Zwecks verbinden kann,
mufs ihm selbst als Thorheit erscheinen; eitle Vcrguiigungs-
IX. Vorlesungen über prakt. Arznei Wissenschaft. 479
, a " 4 ,
sucht, mit welcher andere den Kranken aus seinen Träu¬
mereien hervorlocken wollten, macht ihn nur noch mehr
zum Sklaven seiner Sinnlichkeit. Er mufs die Wanrheit
des alten biblischen Spruches: im Schweifse deines Ange¬
sichts sollst du dein Brod essen, anerkennen, und seine
Verpflichtung einsehen, desto mäfsiger, bescheidener, fleifsi-
ger zu werden, je gröfser seine Schuld ist, die er in die¬
ser Hinsicht abzu tragen hat.
Was der Verf. noch in den angeschlossenen Kapiteln
über die Anwendung der Zwangsmittel, über die Nothwen-
digkeit, Wahnsinnige aus ihren bisherigen Verhältnissen zu
entfernen, und über die zweckmäßigste Beschäftigung der¬
selben sagt, enthält nichts Neues, was hier ausgezeichnet
zu werden verdiente.
In der letzten Abtheilung spricht er endlich noch über
das Geschäft der Aerzte, vor Gericht ein Urtheil über
Geisteskranke zu fällen; er verweiset aber selbst auf andere
englische Autoren der gerichtlichen Medicin, und begnügt
sich mit einigen zerstreuten Bemerkungen, bei denen wir
uns nicht weiter aufhalten wollen.
W. F
ix.
* t •' ' r 4
C. A. W. Berends Vorles nn gen über prak¬
tische Arznei Wissenschaft, heraasgegeben
von Karl Sundelin, Med. Dr. Fünfter Band.
Enthaltend: die Gelbsucht, W ass er su cht,
Wind ge sch wulst, den Skorbut, die Flek-
ken krank heit, Skrofelkrankheit, Rh ach i-
tis, Syphilis und W ur m krankh e it. 338 S. —
Sechster Band. Erste Abtheilung: Nervenkrank¬
heiten. 442 S. — Zweite Abtheilung: Weiber-
480
IX. Vorlesungen
krankheiten. 5 TI S. — Siebenter Band, oder
erster Supplementband vom Herausgeber: Zelir-
und Destructionskrankbcite n. 463 S. Ber¬
lin, Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin. J828- '8.
( 1 Thlr. 18 Gr.)
Seit unserer Anzeige des vierten Bandes dieser Vorle¬
sungen ( Bd. XII. H. 2. S. 198 d. A.) sind bereits wieder
vier Bände hinzugekommen, und das Werk nahet sich ra¬
schen Schrittes seiner Vollendung. In dem vorliegenden
fünften Bande sind eine Keihe chronischer Krankheiten ab-
gchandelt, die seit den Jahren, in denen B. seine Hefte
entwarf, zum Theil neue Bearbeitungen erfahren haben.
Ganz besonders gilt dies von der Gelbsucht, die durch
Zusammenstellung und gründlichere physiologische Wür¬
digung mehrer analogen Erscheinungen in verschiedenen
Krankheitsformen unstreitig besser aufgehellt worden ist,
als dies noch unsern nächsten Vorfahren möglich w-ar. B.
geht diese Krankheit sehr genau durch, und giebt eine
gute Uebersicht über die bis zu seiner Zeit vorhandenen
Kenntnisse über dieselbe, vorherrschend ist aber auch hier,
wie in den meisten übrigen Abschnitten dieses Werkes,
eine grofse Hinneigung zur Annahme von Schwache bei
vielen Krankheitszuständen, die gegenwärtig wohl mit Recht
nicht so beurtheilt werden, ganz nach den Grundsätzender
ehemals gangbaren Erregungstheorie, denen wir schon oft
begegnet sind. Wir lassen hier alles uuberück>ichtigt, was
in die allgemeinen Kenntnisse von der Gelbsucht überge¬
gangen ist, und verweilen hier nur, wie bei unsern frü¬
heren Anzeigen, bei dem Wichtigeren. Nachdem der Verf.
zuerst die v. Hoven sehe Unterscheidung in krampfhafte
Gelbsucht, Lebergclbsucht und Gelbsucht von Gallenstei¬
nen als unzureichend bezeichnet hat, wendet er sich zu
seiner, nach den entfernten Lrsacheu entworfenen Einthei-
lung dieser Krankheit. Er unterscheidet hier 1) die
Gelbsucht aus sogenannten Verstopfungen in
481
über praktische Arzneiwissenschaft.
der Leber, besonders des Gallenganges selbst, durch eine
zähe, zur Gallensteinbildung geneigte Galle. 2) Die
Gelbsucht aus Gallensteinen. Diese hätte wohl füg¬
lich als Unterart der vorigen aufgeführt werden können.
3) Die Gelbsucht von mancherlei Reizen des
oberen T heiles des Darmkanals, besonders des Duo¬
denums, z. B. nach starken Brechmitteln, scharfen Purgir-
mitteln und Giften, wohin denn auch die Spulwürmer ge¬
hören. Er rechnet auch die Gelbsucht der Neugebornen
hierher, die von einer Anhäufung des Meconiums entstehen:
soll. Allein die neueren Untersuchungen haben hier, wenn
die Krankheit völlig ausgebildet war, ganz andere Ursachen
nachgewiesen, und überzeugend dargethan, dafs der Keim
des Uebels weit tiefer im Organismus zu suchen sei, als
in einer Reizung des Duodenums, deren Einflufs auf die
Leber, und auf die hier noch wichtigere Vitalität des Blut¬
systems, physiologisch nicht zu begründen sein möchte.
4) Die Gelbsucht von gewissen Giften, besonders
ihierischen, z. B. dem Viperngift. Schwerlich steht diese
Art von Gelbsucht mit irgend einer primären Affection der
Leber in Verbindung. 5) Die Gelbsucht von krank¬
hafter Erregung der Leber, die gewöhnlich mit
Schwäche verbunden sein soll. Zuweilen entspringt diese
Schwäche, wie der Verf. glaubt, aus dem Nervensystem,
woher auch Gelbsucht auf schwere Anfälle der Hysterie
folgen soll. Das wichtigste Element der Krankheit möchte
hier indessen wohl Krampf sein, worin wir dem Heraus¬
geber völlig beistimmen, und eine zu unbedingte Annahme
von Schwäche leicht zu Mifsgriffen in der Behandlung ver¬
leiten. Der Verf. ist geneigt, die Schwäche der Leber
auch der Gelbsucht bei asthenischen Gallenfiebern, und
selbst dem gelben lieber zuzuschreiben; aber wie unzurei¬
chend ist diese Atmahme in Vergleich mit den durch die
Erfahrung ermittelten ätiologischen Verhältnissen dieser
Krankheiten, wenn man die epidemische Entstehung der¬
selben auch nur von Seiten der durch die heilse Luft
482
IX. Vorlesungen
wesentlich beeinträchtigten Respiration betrachten wollte,
wodurch der Entkohlungsprozefs des Blotes' in den Lungen
gehindert, und mithin die Leber gerade in einen der
Schwache entgegengesetzten Zustand versetzt wird. Eine
vermehrte Erregung im Gesamnitorganjsmus erkennt der
Verf. allerdings auch als Ursache der Gelbsucht an, hält
aber diesen Zustand, den er z. B. bei entzündlichen Gallen-
i ,
fiebern annimmt, für bei weitem seltener, (i) Die Gelb¬
sucht von Gemüthsbewcgungcn, welche eine asthe¬
nisch-nervöse Natur haben soll (?). 7) Die Gelbsucht
#
von Kopfverletzungen.
Als nächste .Ursache der Krankheit erkennt der Verf.
einen Uebergang der Galle in das Blut an. Diese Annahme
beleuchtet jedoch das Wesen der Gelbsucht nur von einer
Seite, indem es eine anerkannte Thatsache ist, dafs der fär¬
bende Stoff keinesweges' immer aus der Leber herrührt,
sondern in vielen Fällen in dem Blute entwickelt vvi rd,
ohne dafs ein primärer krankhafter Zustand in der Leber
statt findet, ln dein weiteren Fortgange der Untersuchung
nimmt der Verf. eine Absonderung von Gailstoff in den
Gefäfsenden, besonders in den Ilautartericn, zwar allerdings
an, und erklärt sie für eine vicariirende Secretion, um da¬
mit die Fälle von plötzlicher Entstehung der Gelbsucht zu
erklären; jedoch nur im Zustande der Polycholie, und stellt
überhaupt diese Erklärungsweise sehr in den Hintergrund,
indem er sich bemüht, die Wege der Resorption auszumit-
teln, auf denen die Galle in das Blut gelangen könne. Er
erkennt als solche ausschliefslich die Lymphgcfäfsc an, den
ehemaligen Lehrsätzen gemäfs, nach denen die Resorption
allein dem Lymphsystem, mit Uebergehung der Venen, zu¬
gewiesen wurde. Ganz hypothetisch, und in Uebcreinstim-
mung mit dieser Ansicht, nimmt er dann auch einen über-
grofsen Unterschied zwischen der Leber- und Blasengalle
an. Diese soll es hauptsächlich sein, die durch die zahl¬
reichen lymphatischen Gcfäfse der Gallenblase in das" Blut
übergehe. Der Herausg. berichtigt diese Ansichten den
neue-
*
über praktische Arzneiwissenschaft. 483
neueren Fortschritten der Physiologie gcmäfs, indem er mit
Anerkennung der bisherigen wohlbegründeten Annahme ei¬
ner selbstständigen Entwickelung von Gallentheilen im Blute,
die bereits von Grant und v. Wedekind vorgetragen
worden ist, die in vielen Fällen statt findende Resorption
der Galle aus der Leber allein den Lebervenen zuschreibt.
Schon van Swieten wufste, dafs man niemals den Chylus
im Brustgange gelb gefärbt vorgefunden habe, und diese
Beobachtung hätte seine Nachfolger davon abmahnen müs¬
sen, die Verrichtung des lymphatischen Systems zu hoch
anzuschlagcn. « In den meisten Fällen , » sagt der Herausg.,
«ist es entweder eine heftige Reizung, welche die untere*
Fläche der Leber und die Gallenblase, die Gallengänge
trifft, oder ein mechanisches Hindernifs des Ausflusses der
Galle in den Darmkanal, wodurch die Resorption dieser
Flüssigkeit, und mithin auch die Gelbsucht hervorgebracht
wird. Mechanische Hindernisse, und selbst die zurückge¬
haltene Galle, müssen aber auch reizende Nebenwirkungen
auf die resorbirenden Venenanfänge äufsern. » Auf die
krankhaft erhöhte Venosität, die er mit einer gewissen Vor¬
liebe in vielen krankhaften Zuständen annimmt, giebt er
begreiflich auch hier sehr viel, die Berichtigung und Ver¬
vollständigung der Aussprüche eines älteren Arztes hätte
aber wohl Gelegenheit geben können, das Symptom der
- Gelbsucht an sich einer umfassenderen Untersuchung zu
würdigen. Das Gallenfieber, das gelbe Fieber, die Folgen
des Schlangenbisses, ja selbst die Farbenveränderungen bei
Contusionen, die Gelbsucht und* die derselben sehr nahe
verwandte Zellgewebeverhärtung der Neugebornen, zwei
Krankheiten, in denen eine Communication des venösen
mit dem arteriellen Blute anatomisch nachgewiesen ist, und
die von Lobstein zuerst beschriebene Kirronose der Em¬
bryonen), bieten, zweckmäfsig zusammengestellt, einen Ver¬
ein von Thatsachen dar, nach dem man bei dem jetzigen
Zustande unseres Wissens annehmen darf, dafs die gelbe
Färbung der Theile entweder 1) von rein* örtlicher De-
XIV. Bd. 4. st. .32
484
IX. Vorlesungen
composition des Blutes abhängt, wie hei Quetschungen,
oder 2) von einer selbstständigen Entwickelung von Gall-
stoff in der Blutmasse, wie nach <lem Schlangenbifs, und
höchst wahrscheinlich auch im gelben Fieber; 3) von krank¬
haften Affcctionen der Leber, wie im Gallenfiehcr und in
der Leberentzündung, womit sich jedoch meistens eine vor-
gäugige Veränderung des Blutes verbindet; 4) von einem
durch Gommunication des rechten mit dem linken Herzen
bewirkten venösen Zustande der Blutmasse, wie in der Gelb¬
sucht der Neugebornen. Es wäre nicht unwichtig gewesen,
in Bezug hierauf auch die Analogie zwischen der blauen
und gelben Färbung der Theile zu erörtern, die selbst aus
den äufseren Erscheinungen , durch die nicht selten beob¬
achteten Uebergängc der einen in die andere erwiesen wor¬
den ist. Man denke nur an die Zellgcwebeverhärtung der
Neugehornen *) und den Melas icterus. Untersuchungen
über die Temperaturverhältnisse sind, so viel sich Bef. er¬
innert, nur bei wenigen hierhergehörigen Krankheiten an¬
gestellt worden, wiewohl sich hier wichtige Resultate er¬
warten lassen. Bei der Zellgewebeverhärtung fällt die Haut¬
wärme auf 21 Grad Reauni., bei der Gelbsucht der Neu-
gebornen vermindert sie sich ebenfalls bedeutend — man
beobachte weiter!
Die Behandlung der Gelbsucht wird von B. gröfsten-
theils auf die erregungstheoretischc Ansicht gegründet, dafs
derselben Schwäche, erscheinend in der Form des Krampfes
in der Leber, in der Gallenblase und in den Gallenwegen
zum Grunde liege, und der hypersthenisebe Icterus, dessen
Vorkommen auf die Leberentzündung und das hyperstheni-
sche Gallenfieber beschränkt sei, gar nicht hierher gehören.
Er stellt als Hauptanzeigen auf: 1) I)ic Anwendung llüch-
tiger erregender oder krampfstillender Mittel, um den Krampf
I ) Fine der besten Beschreibungen dieser Krankheit s. in
Heyfelder’s B eobarhtungen über die Krankheiten der Ncnge-
bornen. Leipzig 1825. 8
485
über praktische Arzneiwissenschaft.
zu beseitigen, der den Abflufs der Galle in das Duodenum
verhindert, und deren Aufnahme in die lymphatischen Ge-
fäfse bewirkt. 2) Die Anwendung der fixen, roborirenden
Mittel, um die Vitalität der Leber, so wie des Gesarnmt-
organismus, wieder herzustellen. 3) Die Entfernung und
Beseitigung anderweitiger entfernter Ursachen, welche etwa
vorhanden sind. Nach den ersten beiden Anzeigen wird
die allgemeine, nach der dritten die besondere Behandlung
geordnet. Das Hauptmittel, um der ersten zu genügen,
ist das Opium, neben den bekannten Arzueien. Zuweilen
soll aber auch die Belladonna mit Nutzen angewandt wer¬
den können (?). Die zweite Anzeige erfordert den Gebrauch
der bitteren Mittel, und wenn diese zu stark erregen soll¬
ten (?), neutralsalzige Flüssigkeiten , besonders den Liquor
digestivus, das oft erwähnte Lieblingsmittel von B. Zur
genaueren Bestimmung der dritten Anzeige werden folgende
Arten der Gelbsucht unterschieden : 1) die fieberhafte acute,
2) die sympathische, zum Theil auch symptomatische,
3) die krampfhafte, hysterische, 4) die chronische, wo
von der Diagnose der organischen Fehler und der der Ver¬
stopfungen der Leber die Bede ist. Wenn hier ein nar-
cotisches Mittel angezeigt sei, so soll man nach B. der Bel¬
ladonna den Vorzug geben, die sichere specifische Wir¬
kungen auf die Leber und das Pfortadersystem verspreche,
Wirkungen, die indessen noch keinesweges ganz bestätigt
sind, und wenigstens von viel bedeutenderen dieses Mittels
auf andere Systeme und Organe überboten werden. 5) Die
Gelbsucht von Gallensteinen wird nach den angedeuteten
Ansichten ausführlich behandelt.
Der Darstellung der Wassersüchten geht ein all¬
gemeiner Abschnitt voraus, dann folgen die einzelnen For¬
men derselben, ln jenem werden die Ursachen der Was¬
sersüchten auf vermehrte Erregung und hypersthenische
Affection des Gesammtorganismus, auf Schwäche und auf
Stockungen zurückgeführt; nicht weniger werden auch die
lliudernisse des Blutumlaufs, besonders des Rückflusses in
32 *
480
IX. Vorlesungen
die Venen erörtert. Bei der Eintheilung erhalten wir die
bekannten Unterschiede, und weiterhin hei dem Verlaufe
der Wassersucht, bemühet sich der Yerf. zu erweisen, dafs
diese Krankheit in den meisten Fällen von Schwäche her¬
rühre. Bei der Behandlung werden die übrigen Rücksich¬
ten der Schwächung, und wo es nüthig ist, der Stärkung,
untergeordnet; dann geht der Yerf. die einzelnen Klassen
der die Ausleerungen befördernden Mittel durch, die Fkel
erregenden, die abführenden, die harntreibenden und die
diaphoretischen, wobei durchgängig nur Grundsätze Vor¬
kommen, die hier keiner Erörterung bedürfen. Die Bemer¬
kungen und Ergänzungen des Herausgebers sind hier aus¬
führlich. Um nicht bei den einseitigen Begriffen von Hy-
persthenie und Asthenie, von vermehrter Ausbauchung und
verminderter Einsaugung, die allerdings sehr abgenutzt sind,
stehen zu bleiben, beleuchtet er physiologisch den Repro-
ductionsprozefs, und erhält als Resultate einige recht bei-
fallswerthe Grundansichlen über die Entstehung und Ein-
theilung der Wassersüchten: 1) Abnorme Erhöhung der
Reproduction bewirkt die entzündlichen oder hyperstbeni-
schcn Wassersüchten , denen die antiphlogistische Behand¬
lung und der Gebrauch des versülsten Quecksilbers ent-
gegengeselzt wird. 2) Durch einen unvollkommenen An-
bildungsprozefs kommen die Wassersüchten nach grofsem
Säftevcrlust zu Stande, nach andauernden erschöpfenden
Fiebern u. s. w. Stärkende und erregend harntreibende,
auch wohl diaphoretische Mittel sind hier die angezeigten.
3) Rückgängigkeit des organischen Anbil Jung^prozesscs,
JNeigung zur Verflüssigung und Entmischung, bewirken eine
Art Wassersüchten, die der Herausgeber colliquative nen¬
nen möchte. 4) Aus krankhaft erhöhter Vcnosität gehen
die torpiden- Wassersüchten hervor, denen die reizende
Behandlung entgegensteht. 5) Die krampfhaften , und
fi ) die aus unterdrückter Hautthätigkeit entstehenden
W asscrsuchtcu, kommen ebenfalls häufig vor, und 7) ist
noch ein asthenischer Zustand des arteriellen Systems als
1
über praktische Arznciwissenscliaft. 487
ein Grundcharakter dieser Krankheiten anzuerkennen. Das
Allgemeintherapculische folgt demnächst, wir finden jedoch
keine besonderen Ansichten hier hervorzuheben.
Die Reihe der von B. abgehandelten Formen der Was¬
sersucht eröffnet das Oe dem mit den bekannten Unter¬
scheidungen, und mit Andeutung der Krankheiten, in denen
es symptomatisch zu erscheinen pflegt; dann folgt die Haut»
Wassersucht, H. anasarca, intercus. (Der letzte Name
bezeichnet bei den Alten mehr die Bauchwassersucht, wie
eine nur oberflächliche Vergleichung der Stellen lehrt, und
ist von den Neueren mit Unrecht auf die genannte Form
übertragen worden.) Der Verf. unterscheidet hier beson¬
ders die primäre von der secundären Hautwassersucht, und
erkennt die in der neueren Heilkunde ermittelten verschie-
» + t-' ^ ' p
denen Charaktere derselben an, ohne jedoch bei der Be¬
handlung lange zu verweilen , so dafs der Herausgeber ei¬
nige Zusätze für nüthig erachtet hat, vorzüglich in Betreff
der Hautwassersucht nach dem Scharlachfieber. Noch aus¬
führlichere hat er dem verhältnifsmäfsig sehr kurzen Ab¬
schnitte über die Bauchwassersucht hinzugefügt, in
dem B. fast nur bei den allgemeinsten Bestimmungen über
diese Krankheit stehen bleibt, und auch die Behandlung
nur so erörtert, dafs für den Anfänger eine weitere Aus¬
führung der gegebenen Andeutungen nüthig sein möchte.
Namentlich enthalten die Angaben über die Paracentese
wenig Bestimmtes, wiewohl sich hier nach tausendfältigen
Erfahrungen feststehende Regeln bilden lassen, und von
anderen Schriftstellern denn auch gebildet worden sind;
auch ist die acute entzündliche Bauchwassersucht von B.
ganz unerwähnt geblieben, deren Verlauf und meistens me¬
tastatische Ursachen der Herausgeber recht gut beschreibt,
wie er sich denn durchweg bemüht, die verschiedenen
Charaktere des Uebels nach der obigen Eintbeilung nach-
zuweisen. — Sehr kurz ist auch der nächste Abschnitt
über die Brustwassersucht, in dem B. zwar die groise
Schwierigkeit der Diagnose zeigt, aber doch Zweifel für
488
IX. Vorlesungen
den Anfänger übrig lafst, deren Lösung allerdings möglich
gewesen wäre. Wenn er in der Behandlung behauptet,
an Blutentziehungen sei selbst in der entzündlichen Was¬
sersucht nicht zu denken, so haben tausendfältige ältere
und neuere Erfahrungen diese Adcrlafsscheu glücklicher¬
weise verdrängt. Gegen die Paracentese erklärt er sich
nicht unbedingt, führt aber auch den pathologischen Grund
nicht an, auf dem, unberücksichtigt die Gefahr der Brust¬
fellentzündung, ihre Unzulässigkeit und Nutzlosigkeit in den
meisten Fällen beruht. Man hat geglaubt, und besonders
findet sich diese Annahme in chirurgischen Schriften, dafs
die Beschwerden der Kranken von dein ergossenen Wasser
mechanisch , durch Verengerung des Raumes hervorgebracht
würden; die krampfhafte, asthmatische Zusammenschnürung
der Lungen ist es aber, die die Orthopnoe herbeiführt,
urid meistens von einer sehr geringen Menge ergossener
Flüssigkeit durch dynamische Reizung verursacht wird. Diese
Flüssigkeit kann kein Gegenstand einer gefährlichen Ope¬
ration werden! Die vom Vcrf. aufgcstcllten Formen der
Brustwassersucht sind: 1 ) die freie Brust Wassersucht , 2) die
Sackwassersucht der Pleura, 3) die Wassersucht des Herz¬
beutels, und 4) das Lungenödem. Der Ilerausg. sucht
besonders die Diagnose zu vervollständigen, und die Be¬
handlung mit beständiger Rücksicht auf die verschiedenen
Charaktere der Brustwassersucht zu berichtigen.
Die Sack wassers uchten des Unterleibes wer-
4
den in den Abschnitten über die Wassersucht des Pe-
ritonäums und die Eierstock wasser sucht abgehan¬
delt. Bei jener ist auch von der Ilydatidenbildung im Un¬
terleibe die Bede, doch beschränkt sich der Yorf. nur auf
das Allgemeine, ohne die Bearbeitungen dieses Gegenstan¬
des in der neueren Entozoologic zu berücksichtigen, so
dafs der Herausg. hier einige ergänzende Bemerkungen hin¬
zufügen mufste. Der Paracentese widerfährt ihr Recht;
der Yerf. hält sic in den Sackwassersuchten des Unterleibes
für vorzüglich anwendbar, und verordnet ihre oftmalige
Uber praktische Arzneiwissenschaft. . 489
Wiederholung. — Ueber die Wassersucht der Ge¬
bärmutter finden Sich nur kurze Andeutungen; bei wei¬
tern ausführlicher ist diese Krankheit von dem verewigten
v. Sieboid in seinem Werke über die Frauenzimmerkrank¬
heiten abgehandelt worden, aus dem der Ilerausg. zur Ver¬
vollständigung des hier Vorgetragenen manches hätte ent¬
nehmen können. — Der inneren, von den Wundärzten
zuweilen vernachlässigten Behandlung wegen, hat der Verf.
auch die W a s s e r s u c h t des Hodensacks, des Saamen-
stranges und der Testikeln hier aufgenommen, doch
möchten die beiden, diesen Uebeln gewidmeten Abschnitte
die vorzüglicheren Bearbeitungen derselben in den chirurgi¬
schen Schriften nicht entbehrlich machen.
Als Formen der Kopfwassersucht unterscheidet B.
die äufser liehe, Hydrocephalus externus, den inneren
Wasserkopf, Hydrocephalus internus, und die eigentliche
Iiir n wassersuch t, Hydrops ventriculorum cerebri, nach
der hergebrachten Weise. Bei der am häufigsten verkom¬
menden Art des inneren Wasserkopfes soll sich das Wasser
zwischen den Häuten des Gehirns ansammeln, doch giebt
der Verf. zu, dafs dies auch im Gehirn selbst, besonders
in den Höhlen desselben geschehen könne. Die neuere
pathologische Anatomie hat jedoch bewiesen, dafs die Was¬
seransammlung zwischen den Hirnhäuten bei weitem die
seltenere, dagegen die in den Hirnhöhlen die häufigste sei,
wie dies auch der Herausg. in seinen angehängten Bemer¬
kungen berichtigt hat. Auch inKichter’s specieller The¬
rapie, so wie in gar manchem anderen Lehrbuche der prak¬
tischen Heilkunde findet sich jener Irrthum in Betreff des
i
Sitzes der Wasseransammlung, ja einige, der pothologi-
schen Anatomie unkundige Schriftsteller haben selbst ge¬
glaubt, dafs die Wassersucht der Hirnhöhlen immer von
acutem Verlaufe sein müsse, so dafs man eine weitere Ver¬
breitung und Benutzung der klassischen Monographie von
Gölls angelegentlich wünschen möchte. Die acute Hirn¬
höhlenwassersucht beschreibt der Verf. übrigens nach den
490
IX. \ orlesungcn \
bekannten Erfahrungen. Sollte in der Behandlung dieser
Krankheit die Digitalis wirklich einen Durchfall erregen
können, wie B. glaubt, und deshalb nur mit der allergrö߬
ten Vorsicht gereicht werden dürfen? Sie ist hier, wie in
der chronischen Hirnwassersucht, mit Calomel verbunden,
gewifs ein unschätzbares Hauptmiltel, mit dem lief. in ei¬
nem sehr interessanten l alle dieser Krankheit eine vollstän¬
dige Heilung bewirkte. Die Krankengeschichte ist in II u-
felands Journal der praktischen Heilkunde von 1817 aus¬
führlich mitgetheilt.
Uebcr die Wassersuch t des Kiickgraths war nur
wenig zu bemerken; die angeborne ist mehr Gegenstand
der pathologischen Anatomie, und die Kcnntnifs der acqui-
rirten war noch bis vor kurzer Zeit sehr dunkel. Man
mufs die hierher gehörigen Fälle hei den früheren Schrift¬
stellern unter den Abschnitten « über Lähmung und Kücken¬
darre » suchen. Nach neueren Annahmen kommt man über¬
ein, dafs die Absonderung der wässerigen Flüssigkeit in der
Arachnoidea geschehe. Aus diesem Gesichtspunkte betrach¬
tet diese Krankheit einer der neuesten Beobachter dersel¬
ben, Dr. Salomon Temple in Philadelphia, von dem
wir kürzlich eine recht lehrreiche, das Bekannte sowohl
als neue Untersuchungen enthaltende Abhandlung über Hy-
drorhachis erhalten haben T).
Es folgt jetzt die Luft- oder Windgeschwulst,
Emphysema, von der der Verf. , nach allgemeiner Aufzäh¬
lung ihrer Formen, die Tro mm e ls uc h t, Tympanites, be¬
sonders abhandelt. Er ist geneigt, bei allen Emphysemen
einen Schwächezustand anzunehmen, und ordnet demgcmäfs
die Behandlung der Trommelsucht an, in der krampfstil¬
lende, mit stärkenden Mitteln vereint angewandt werden
sollen. Das Kapitel über die Lufterzeugung im lebenden
Körper ist noch sehr dunkel, und wir bedürfen hier vor
allein noch genauer chemischer Untersuchungen. Der llcr-
1 ) American Journal of medical scicnccs. 1829. May. p. 100
über praktische Arzneiwissenschaft. 491
ausgeber sucht das Vorgetragene vorzüglich nach P. Frank
zu vervollständigen, und unterscheidet im Allgemeinen eine
Pneumatose von atmosphärischer Luft, von gährenden oder
in Verdcrbnifs gehenden Feuchtigkeiten im Innern des Or¬
ganismus, und von einem eigenthümlichen Absonderungs-
prozefs, der freilich noch ganz dunkel ist, und durch seine
Annahme eines anomalen Einflusses des auf irgend ,eine Art
in seinen Verrichtungen gestörten oder gereizten Nerven¬
systems, so wie eines tonischen Krampfes, der die erzeugte
Luft zurückhalten soll, im geringsten nicht aufgehellt wer¬
den kann. Das Lungenemphysem handelt er nach Laen-
nec’s bekannter Bearbeitung ab.
Der Scorbut und die Fl ecken krankh eit nehmen
•* •
die nächste Stelle ein. Beschreibung und Behandlung die¬
ser beiden Krankheiten, sind nach den bekannten Erfah¬
rungen.
Von der Scrofelkrankheit unterscheidet B. drei
Grade, die er ganz empirisch beschreibt, ohne sich auf
theoretische Untersuchungen über die nächste Ursache die¬
ses Uebels einzulassen. Er geht die Behandlung nach den
älteren Erfahrungen durch, und weist von den vielen an¬
gepriesenen Mitteln jedem seine Stelle an. Wenn er aber
auch unter diesen die Belladonna Kindern zu einem Drittel-
Gran zu geben empfiehlt, so möchte hier doch die gröfste
Vorsicht rathsam sein; denn nicht selten bewirkt dieses
heroische Mittel, lange Zeit hindurch gebraucht, eine be¬
denkliche Abnahme der Geisteskräfte der Kranken, wie man
nicht selten nach Behandlungen des Keuchhustens damit
beobachtet hat. Der Verlust des Gedächtnisses und eine
auffallende Verstandesschwäche werden dann der Wirkung
der Krankheit zugeschrieben, während allein der Arzt die
Schuld davon trägt. Warum von der Belladonna von dem
sonst so vorsichtigen Verf. hier ein Drittel-, und in der
Behandlung der Hirn Wassersucht von der Digitalis nur ein
Sechstel -Gran als Dose bestimmt ist, leuchtet nicht ein.
, i ' 1
Die Annahme des Ilerausg., dafs die nächste Ursache der
I
492 IX. Vorlesungen
Scrofelkrankhcit in einem krankhaften Vorherrschen des
lymphatischen Systems zu suchen sei, ist in der That nur
ein sich von selbst darbietender Gemeinplatz, der uns der
Erkcnntnifs dieses Lehels nicht um einen Schritt naher
bringt. Er bemühet sich, Behufs der Behandlung, verschie¬
dene Charaktere der Scrofelkrankhcit aufzustellen , und un¬
terscheidet so Vollsaftigkeit, Erethismus und Torpor als
wichtige Heilungsobjecte. Die Atrophie der Kinder, die
hierher gehört, hat ihre Stelle im siebenten Bande unter den
Zehrkrankheiten erhalten. Auffallend ist es, dafs ungeach¬
tet einer zahllosen Menge von Schriften über die Scrofeln,
dennoch der eigentümliche Destructionsprozcfs der lym-
phatischen Drüsen, der in der Atrophie in seiner höchsten
Ausbildung auftritt, aber auch selbst in den äufseren Drü¬
sen, und noch viel häufiger in den Lungen beobachtet wird,
in der früheren und auch noch in unserer Zeit sehr unge¬
nau gewürdigt ist. Man sprach immer nur von Anschwel¬
lung, Entzündung, Verstopfung und Degeneration der lym¬
phatischen Drüsen, man sah diese Theile im Gekröse, in
den Lungen und in der Haut vereitern, und niemand er¬
kannte bei allen diesen Vorgängen die Tuberkelbildung, die
hier in sehr charakteristischen und handgreiflichen Erschei¬
nungen hervortritt, und sich in den höheren Graden der
Scrofelkrankheit fast immer einfindet. Man untersuche nur
genau das Mesenterium atrophischer Kinder, und man wird
hier die Tuberkeln in den Drüsen zuweilen in den ver¬
schiedensten Stadien antreffen, man wird hier Drüsen fin¬
den, die völlig in Tuberkelmasse umgewandelt sind, so wie
andere, in denen Tuberkeln neben dem gesunden Paren¬
chym liegen, oder von diesem eingeschlossen sind. Man
wird dieselbe Entdeckung nicht selten in verschwörenden
lialsdrüscn machen, und sich auch iu dieser Krankheit von
der Allgemeinheit des tuberculüsen Prozesses überzeugen,
der von den neueren französischen Aerzten so genau cha-
raktcrisirt, und namentlich auch von Louis in den ver¬
schiedenartigsten Orgaucn naebgewiesen worden ist.
über praktische Arzneiwissenschaft. 493
Die Rhachitis hat der Verf. im folgenden Abschnitte
vollständig nach den vorhandenen Erfahrungen geschildert,
mit besonderer Erörterung der rhachitischen Gelenkver-
derbnifs, in deren Behandlung jedoch das Gliiheisen nicht
erwähnt worden ist. Eine eigene Ansicht über die nächste
Ursache der Rhachitis hat B. nicht gegeben, sondern nur
die Meinungen berühmter Schriftsteller angeführt, und weil
diese bekanntlich zur Erläuterung der Natur dieses Uebels
unzureichend sind, so hat der Herausg. sich bemüht, die
Momente hervorzuheben, auf die es ihm vorzüglich anzu¬
kommen scheint. Es sind dies die immer vorhandene Feh¬
lerhaftigkeit der Verdauung und Assimilation, die schon in
der Anlage hervortretende allgemeine Alonie , Zartheit,
Lockerheit der Faser und organischen Substanz überhaupt,
und die damit verbundene Abmagerung, die Osteocachexie,
und endlich die Vergröfserung der Leber. Darniederliegen
des gesammten Anbildungsprozesses, und Steigerung der
lymphatischen, wie der venösen Resorption, bilden nach
ihm die Hauptelemente der Rhachitis, und ganz richtig er¬
klärt er aus der letzten die Leberanschwellung, deren Na¬
tur gewifs noch deutlicher erkannt werden würde, wenn
erst genaue chemische Untersuchungen der bei den Rhachi¬
tischen sehr veränderten Galle vorgenommen wjjren. Die
Gegenwart von Drüsenanschwellungen im Mesenterium, die
nicht selten tuberculös werden (was der Ilerausg., ohne
diesen Prozefs näher zu bezeichnen, durch die Angabe zu-
giebt, dafs sich nicht selten kreidenartige Substanz in die¬
sen Drüsen vorfinde), macht eine nahe, zum Theil auch
schon anerkannte Verwandtschaft der Rhachitis mit der Scro-
felkrankheit sehr wahrscheinlich.
ln dem Abschnitte über die venerische Krankheit
giebt der Verf. zuvörderst einige historische Andeutungen,
die den älteren Annahmen ganz entsprechen. Da dieser
Gegenstand neue gründliche Untertuchungen erfordert, und
überhaupt ganz anders bearbeitet werden riiufs, als früher,
so wollen wir unsere Bemerkungen hierüber für eine schick-
/
494 IX. Vorlesungen über prakt. Arznciwisscnschaft.
licherc Gelegenheit aufsparen. Der ganze Abschnitt ist sehr
ausführlich, und man findet hier die Lehre von den vene-
' *
rischen Krankheiten, wie sic vor etwa dreifsig Jahren sich
gestaltet hatte- Ls kann nicht unsere Aufgabe sein, die
Veränderungen und Verbesserungen dieser Lehre seit dieser
Zeit anzugeben*, hierzu würde sich eher in dem ergänzen¬
den Anhänge des Ilerausg. Gelegenheit dargeboten haben,
doch hat sich dieser darauf beschränkt, mit Anerkennung
der unbedingt specifischcn Wirkungen des Quecksilbers ge¬
gen die Syphilis, einige neuere Gebrauchsweise Y desselben
anzugeben, z. B. Kust’s lnunctionscur , Cullerier's Ver¬
fahren, und die Methoden von Weinhold und Dzondi.
Die beste Pathologie der syphilitischen Krankheiten hat in
der neuesten Zeit unstreitig Carmichacl geliefert, auf
dessen ausgezeichnetes Werk wir unsere Leser wiederho-
lentlich aufmerksam machen wollen. (S. Bd. IV. lieft 1.
S. 92 d. A.)
Eine Abhandlung über die Wurmkrankheiten bc-
schlicfst den vorliegenden Band. In der Litteratur vermifst
Bef. das klassische Werk von Rudolphi, das auch von
dem Ilerausg. nicht angegeben worden ist; von den neue¬
ren Schriften findet sich nur das Brems ersehe Werk
von 1819. Der naturhistorische Theil dieses Abschnittes
ist überhaupt mangelhaft, und deshalb von dem Ilerausg.
unseren gegenwärtigen Kenntnissen gemäfs vervollständigt
worden. Dagegen sind die WTurmkrankheitcn selbst, mit
genauer Y\ ürdigung der mehr oder weniger hervortreten¬
den Symptome, wie sich erwarten läfst, genauer darge¬
stellt. Schwäche der Verdauungsorgane ist r das Bandwurm¬
übel ausgenommen, «las Wesen der Wurmkrankbeiten, und
hddet das eigentliche lleilobject; Stärkung und Ausleerung
bilden demnach die llauptindicationen. Die Cur der Asca¬
riden, der Spulwürmer und des Bandwurms, gegen den B.
vorzüglich da^ gepulverte Lisen empfiehlt, wird besonders
abiiehandcll.
O 4
I
495
X. Gricsbildung.
. X. ; y
Reclierches physiologiques et mcclicalcs
sur les causes, 1 es symptomes et le trai-
t einen t de la gra veile, avec quelques remar¬
ques sur la conduite et le regime que doivent
suivre les personnes, auxquelles on a extrait des
calculs de la vessie; par F. Magen die, membre
de llnstitut etc.; broch. en 8. de 150 pages avec
planches, seconde edition, revue et augmentce.
Paris, Septembre 1828. cbez Mequignon-Marvis.
* *
Der berühmte Verf. verweilt in vorliegender, dem
ärztlichen Publikum schon aus einer früheren Auflage be¬
kannten Schrift nur kurz bei der Entstehung des Ilarn-
grieses, und wendet sich dann zu den verschiedenen Arten
desselben, deren er sechs annimmt, nämlich den rothen
Gries, der aus Harnsäure besteht und am häufigsten vor¬
kommt; den weifsen Gries, der vorzugsweise phosphor¬
saure Kalkerde enthält und auch ziemlich oft beobachtet
wird; den körnigen Gries (Gravelle pileuse), der selte¬
ner als die beiden anderen Arten zu sein scheint (Ma¬
gen die beobachtete ihn nur zweimal), und aus phosphor¬
saurem Kalk und Härchen besteht; den grauen Gries,
ebenfalls selten, dessen Bestandteile phosphorsaures Am¬
monium und phosphorsaure Magnesia sind, den gelben
Gries, welcher aus Calcaria oxalica besteht und von Ma-
gendie bei einem Manne beobachtet wurde, der seit einem
Jahre jeden Morgen eine Schüssel voll Sauerampfer ver¬
zehrt hatte; den durchsichtigen Gries, welcher Mag.
auch nur einmal vorgekommen ist. Zugleich macht unser
Yerf. noch auf zwei Stoffe aufmerksam, welche Marcet
in den Harnconcrementen entdeckte und von welchen er
\
vermutet, dafs der eine weiter nichts als Faserstoff vom
\
496 X. Gricsbildung.
Blute sei, während der zweite von ihm Acidc xanthique
genannt wird.
Das so häufige Vorkommen des rothen Ilarngricses
scheint allein von der Nahrung abzuhängen, wenigstens
beweisen einige in dieser Beziehung höchst bemerkenswerthe
Untersuchungen, dafs die Gegenwart der Harnsäure itn
Urin durch die Qualität der Nahrung bedingt sei, und dafs
der Harn um so viel mehr von dieser Säure enthalte, je
mehr das Thier Fleisch oder eine andere, besonders an Azot
reiche Nahrung zu sich nehme. Bei dem Menschen, der
täglich Fleisch zu essen pflegt, fehlt daher auch die Harn¬
säure nie im Urin, aber sie ist es im aufgelösten Zustande,
und nur, wenn das Harnsystcm krankhaft afficirt wird,
lagert sie sich in den Ureteren und in der Blase als ro-
ther Gries ab.
Mag. nimmt an, dafs der rothe Gries sich vorzugs¬
weise bilde: 1) wenn der Urin zu viel Harnsäure enthalte;
a> wenn die natürliche Temperatur des Leins merklich
abnehme, dafs eine substantielle, besonders eine rein ilei-
schige Nahrung das übermäfsige Entstehen der Harnsäure
befördere, und dafs die Abnahme der Temperatur im Grei-
senalter besonders merklich werde.
Aufser der Fleischnahrung und dem vorgerückten Al¬
ter, bezeichnet M. die sitzende Lebensart, das zu häufige
und zu lange Liegen im Bette, die Gewohnheit wenig zu
trinken, den Genufs starker Weine und anderer spirituöser
Getränke, die zu starke und anhaltende Transpiration bei
Individuen, die Anlage zur Griesbildung haben, die übele
Gewohnheit, den Urin lange bei sich zu behalten, als der
llarngriesbildung vorzüglich günstige Momente.
Die Vermeidung aller dieser Ursachen, der häufige
Genufs wässeriger und dünner Getränke, wird daher der
Griesbildung am besten entgegenwirken und dem Gebrauche
solcher Substanzen vorzuziehen sein, von welcheu inan
zwar eine chemische Zersetzung und Auflösung des Grieses
/
XI. Praktische Notizen. 497
erwarten dürfte, wenn nicht andere, sehr wohl zu berück¬
sichtigende Gründe gegen ihre Anwendung sprächen.
Wie alle Schriften Magendie’s, so wird auch diese
durch äufsere und innere Eleganz und durch eine nachah¬
menswerte Klarheit ausgezeichnete Broschüre gewifs un¬
ter Aerzten und Laien recht viele Leser finden, die nicht
ohne Zufriedenheit sie aus der Hand legen werden, es sei
denn, dafs chemische Untersuchungen und physiologische
Erörterungen ihnen zuwider seien.
IX
Praktische N
o t i z e n.
1. Kürzlich ist ein Epileptischer in Alabama durch
die Trepanation geheilt worden. Vierzig Jahre alt, und
bis dahin immer iin Genufs einer festen Gesundheit, be¬
kam der Kranke (ein Capitain) zuerst im August 1827
einen ungemein heftigen epileptischen Anfall, der sich dann
alle vierzehn Tage bis drei Wochen wiederholte. Bald
fand sich ein unerträglicher Kopfschmerz auf der linken
Seite ein, und das linke Auge wurde blind. Her Arzt
(James Guild) hielt das Uebel irriger Weise für sym¬
pathisch aus dem Unterleibe, und bekämpfte es umsonst
mit Abführmitteln und Aderlässen. Eine Speiehelflufscur (!)
war eben so fruchtlos. Als endlich die Krankheit ein übles
Ende zu nehmen drohte, erkannte man die Nothwendigkeit,
an der am meisten schmerzenden Stelle zu trepaniren. Dies
geschah am 10. Oct. 1828, fünfzehn Monate nach dem er¬
sten epileptischen Anfall, auf der linken Seite des Stirn¬
beins, nahe der Kranznath. Der Knochen war aufgelockert
und verdickt, und während der Trepanation empfand der
i
498
XI. Praktische Notizen.
Kranke so überaus heftige Schmerzen, dafs öfters innc ge¬
halten werden mufste, um ihm einige Kühe zu vergönnen.
Aus der Diploe Hofs Blut in übergrofser Menge, der Biat-
ilufs dauerte jedoch nur einige Minuten, dann ergofs sich
Serum in reichlichen Strömen, welche Absonderung dann
noch fortdauerte, bis die Eiterung entstand. Unmittelbar
nach der Operation trat Besserung ein, die epileptischen
Anfälle erneuerten sich nicht wieder, und der Kopfschmerz
verschwand nach und nach, ln dreifsig lagen war die
W unde vernarbt, und der Kranke nach einer ergiebigen
Eitqrung vollkommen genesen. Dieser letzten mufste man
denn auch wohl, nächst der Operation selbst, den gröfsten
Theilfdes heilsamen Erfolges zuschreiben, denn in gleichem
Vcrhältnifs mit ihrem Fortschreiten besserte sich der Zu¬
stand der in einem gröfscren Umkreise, selbst bis zum
Oberkiefer herunter aufgelockertcu und schmerzhaften Kno¬
chen. An der harten Hirnhaut war nichts Krankhaftes zu
bemerken, und die Pulsation des Gehirns wie bei einem
Gesunden. Der Kranke batte nie eine V erletzung an der
leidenden Stelle erlitten, das Uebel war, ohne auszumit-
telnde Ursachen, ganz auf dynamischem Wege entstanden.
So viel man aus dieser Beschreibung < sehen kann, würde
wahrscheinlich ein sogenannter Auswuchs der harten Hirn¬
haut entstanden sein, ein Uchel, dessen Sitz v. W alther
eben so scharfsinnig als erfahrungsgemäfs in der Diploe
der Schädelknochen ausgemiltelt hat. S. dessen Abhandlung
über die schwammigen Auswüchse auf der harten Hirnhaut,
nn Journal der Chirurgie und Augenheilkunde. Bd. I. H. 1.
S. 55. (American Journal of the medical Sciences. No. VII.
May. 182&)
2. Enter dem spanischen Namen Dengue ist im
Juni 1828 eine exanlhematische| Krankheit in Charleston
erschienen, die der allgemeinen Aufmerksamkeit im höchsten
Grade wcrlh ist. Sie kam zunächst von Cuba dorthin, .
nachdem sich in dein etwas trockenen und angenehmen
Som-
XI. Praktische Notizen.
499
Sommer keine Spur von epidemischen Krankheiten gezeigt
hatte, und befiel Menschen von jedem Alter, jeder Farbe
und jeder Constitution mit sehr verschieden modificirten
Zufällen. Selten brach die Krankheit mit einem deutlichen
Froste aus, gewöhnlich aber mit einem lebhaften Schmerze
an irgend einem Theile des Körpers, vorzüglich an der Hand¬
wurzel, dem Knöchel, dem Rücken, auch wohl an den
Finger- und Zehenspitzen. Bei einem Kinde beobachtete
der Prof. Henry Dickson in Charleston, von dem wir
die erste ausführliche Beschreibung dieses Uebels erhalten,
zuerst einen Schmerz im Fufse, dann wurde eine Hand
steif, hierauf die Kuiee, und dies alles in einem Zeiträume
von fünf Stunden, während noch keine Spur von Fieber¬
bewegung wahrzunehmen war. Bei einer alten Frau wur¬
den alle Finger zugleich schmerzhaft zusammengezogen, so
dafs sie nicht ausgestreckt werden konnten, und die Kranke
laut schrie. Auch einen kräftigen jungen Mann brachte
der unerträgliche Schmerz in den Fingerspitzen zum Schreien.
Nach einem solchen Schmerze traten in kürzerer oder län¬
gerer Zeit Fieberbewegungen ein, mit den gewöhnlichen
Zufällen, Kopfschmerz, rothen Augen, vollem, häufigem
Pulse, heifser, juckender und trockener Haut, Ziehen im
Rücken, und Unruhe. Im Durchschnitt dauerte dieser An¬
fall ohne Nachlafs 36 Stunden, bald mehr, bald weniger,
von achtzehn bis zu achtundvierzig Stunden. Bei den mei¬
sten Kranken war die Zunge rein und der Magen nicht
angegriffen, nur bei einigen beobachtete man Ekel und
Erbrechen , aber die meisten hatten eine entschiedene Nei¬
gung zu Kopfzufällen; einige phantasirten während des gan¬
zen Fieberanfalles. Die anfangs trockene und heifse Haut
wurde bald feucht, die Kranken schwitzten stark, und es
kam bei vielen ein pustulöser oder frieselartiger Ausschlag
zu Stande. In der Form dieses, im ersten Anfall ausbre¬
chenden, offenbar mehr symptomatischen Exanthems, zeigte
sich eine grofse Verschiedenheit, bei Kindern stellte es sich
oft auf diese Weise ein, bei Erwachsenen war zuweilen
xiv. Bd. i. s». 33
XI. Praktische Notixen.
500
ein Haufen Pusteln das erste Zeichen der Krankheit, diese
verschwanden dann wieder in einigen Tagen. Wenn der
Firberanfall sich gelegt halte, so waren gewöhnlich die
Schmerzen gelindert, aber durchaus nicht gehoben, denn
noch mehre Tage lang litten die Kranken an Steifheit, An¬
schwellung und Reizbarkeit der befallenen Tbcile. Viele
liefsen sich dadurch nicht abhalten, ihre gewöhnliche Be-
schäftlgung wieder vorzunehmen, aber am dritten oder vier¬
ten Tage belegte sich, ohne dafs Fieber zugegen w'ar, oder
bei nur sehr geringen Fieberbewegungen, die Zunge mil
einer gelben Borke, und sie empfanden dann grofse Magen¬
beschwerde, brachten die Nacht sehr unruhig zu, und wa¬
ren überaus ungeduldig und mürrisch, bei beschwerlicher
Respiration. Gewöhnlich trat auch Kkel und Erbrechen
hinzu mit grofser Ermattung und Schwäche, und alle diese
Zufälle wurden nicht eher gelindert, als bis sich gegen den
sechsten Tag ein reichlicher Ausschlag zeigte. Er
bestand in unregelmäfsigen , erhabenen und rothen Flecken ;
Fiifse und Hände waren dabei angeschwollen , mit einem
Gefühle von Taubheit. Der Ausschlag juckte und brannte
stark, und gewöhnlich erschien jetzt ein zweiter Fieberan¬
fall mit Vermehrung der Gelenkschmerzen. Die Heftigkeit
dieses Anfalles schien sich nach der des ersten zu richten,
denn wo jener gelinde gewesen wrar, da wurde dieser ge¬
wöhnlich stärker, und umgekehrt. Brach etwa kein Aus¬
schlag aus, so konnte man die Krankheit nicht als entschie¬
den betrachten, wie man denn auch in dergleichen Fällen
wiederholte Recidive, die nie cintralen, wenn der Aus¬
schlag vollständig gewesen war, beobachtete. Bei manchen
schwollen die Leisten- und Achseldrüsen entzündlich an,
und blieben noch eine lange Zeit nachher schmerzhaft. Man
beobachtete diese Krankheit selbst bei Neugebornen,
bei denen eine Scharlachröthe der Haut, der Lippen
und der Zunge, verbunden mit einer grofsen Empfind¬
lichkeit und Neigung zu Gonvillsionen • am meisten hervor-
XI. Praktische Notizen.
501
traten r). Kinder unter fünf Jahren waren den Convul-
sionen überhaupt sehr unterworfen, so dafs man sie in den
Fieberanfällen oftmals sich wiederholen sah. Bei Schwän¬
gern verursachte die Krankheit häufig Fehlgeburt. Sie be¬
kamen gleich zu Anfang heftige Schmerzen im Rücken und
in der Lendengegend , die sich dann tiefer nach unten fort¬
setzten, und am Ende Abortus bewirkten. Alte Leute
wurden sehr schwach; das Uebel verband sich bei ihnen
häufiger mit Rheumatismen, und liefs diese auch zurück.
Bei jüngeren dagegen, die an chronischen Rheumatismen
gelitten hatten, wurden diese von der Krankheit auffallend
gelindert, einer sogar von seinem alten Uebel dadurch
gänzlich befreit. * Bei vielen blieb auch der Mund nicht
verschont. Vor dem Ausbruche des Exanthems trat Spei-
chelflufs ein, mit Auflockerung und bläulicher Färbung des '
Zahnfleisches; es brachen auch reizbare und schmerzhafte
Geschwüre im Munde aus, die nur langsam heilten; bei
einigen traten Blutungen aus dem Schlunde und dem Zahn-\
fleisch ein. Von den Wiedergenesenen klagten sehr viele
über zurückgebliebene rheumatische Schmerzen in den Ge¬
lenken, die sich mit der Zeit eher zu verschlimmern, als
zu bessern schienen. Im Uebrigen war die Prognose sehr
günstig. Dr. D. weifs nur von drei Todesfällen: einer al¬
ten rheumatischen und krüppelhaften Frau, die sehr wider¬
sinnig behandelt wurde; eines viermonatlichen starken Kin¬
des, das an Convulsionen starb, und eines anderthalbjähri¬
gen Mädchens, das durch einen überslandenen Keuchhusten
sehr geschwächt war. Bei Alten waren die Folgeübel weit
beschwerlicher, und die Schwäche und Abmagerung zuwei¬
len bedenklich; es waren im Ganzen nur wenige über
1) Einige Aerzte wollten Kinder gesehen haben, die rpit
diesem Uebel geboren wurden, doch bedarf dies noch der Be¬
stätigung. D. beobachtete den Dengue frühestens in den ersten
Tagen nach der Geburt.
33 *
I
502
XI. Praktische Notizen.
sechzig Jahr, die man als vollständig genesen ansehen konnte.
Jiei einem Kinde von sieben YVochcn war die Krankheit
sehr ernsthaft; der erste Anfall dauerte sechsunddreifsig Stun¬
den, die Schwache, die er hinterliels, war sehr bedenklich,
und beim Ausbruche des Exanthems, am sechsten Tage,
fiel das Kind in eine lange Ohnmacht, die sich in den näch¬
sten drei Wochen oftmals wiederholte; es genas indessen
vollkommen. Corpulcnte und Säufer wurden sehr heftig
ergriffen, auch schienen Lungenkranke das Uebel schwerer
zu ertragen. Die meisten Kranken wurden gar nicht von
Aerzten behandelt. Dr. D. bediente sich hauptsächlich der
milden Abführmittel, und sah den besten Erfolg vom dia¬
phoretischen Verhalten. Gegen die Schnurzen bewies sich
das Opium wirksam, oft in bedeutender Gabe. So erhielt
eine im siebenten Monate schwangere Frau 120 Tropfen
Laudanum auf einmal, worauf sie in Schlaf verfiel und von
ihren Schmerzen befreit war, so dafs sie nicht abortirte.
Andere Aerzte griffen ohne Notb zur Lanzette, und es
fehlte nicht an unzweckmäfsigen Verordnungen. Die Ader¬
lässe schienen in der That die rheumatischen Schmer¬
zen nur noch hartnäckiger zu machen. Dafs diese Krank¬
heit ansteckend sei, scheint dem Dr. D. keinem Zweifel zu
unterliegen; in vielen Fällen liefs sich die Ansteckung ganz
deutlich nachweisen. Dennoch wollten viele Aerzte ihre
contagiöse Natur leugnen, indem sie alles auf epidemische
Einflüsse schoben, die offenbar ihre sehr beträchtliche Ver¬
breitung begünstigten, eine Meinung die sich auch, wie in
jeder anderen contagiüsen Epidemie, mit einzelnen Fällen
von unerwiesener Ansteckung bestätigen liefs. Einige hiel¬
ten die Krankheit nicht für neu, und verglichen damit eine
von Kush im Jahre 1780 beobachtete Epidemie, deren
Descbreibung 1). miltheilt. Es war eiu gaillichlcs Fieber
mit pustulosen Ausschlägen und ebenfalls sehr heftigen
Schmerzen, weshalb man es the break -hone fever nannte.
Die Ordnung, in der diese Zufälle erschienen, und die übri¬
gen Erscheinungen, zeigen jedoch deutlich, dafs dies Fieber
XI. Praktische Notizen.
503
von dem Dengue ganz verschieden war, über dessen Ur¬
sprung und Verbreitung D. die zu ermittelnden Nachrich¬
ten zusammengestellt hat. Hiernach zeigte sich diese Krank¬
heit zuerst in Bengalen im Jahre 1825. 1827 sah man sie
zuerst auf den caraibischen Inseln; im Frühjahr 1828 brach
sie in Cuba aus, und im Juni und Juli desselben Jahres
wurde sie nach Charleston, Neu -Orleans, Vera- Cruz und
Carthagena gebracht. Dr. D., der diesen Gegenstand sehr
umsichtig bearbeitet hat, bringt zur Bestätigung seiner An¬
sichten über die contagiöse Natur dieses Uebels eine Reihe
ärztlicher Zeugnisse über den ersten Ausbruch des Dengue
an v verschiedenen Orten bei, die durchweg die Einschlep¬
pung eines Ansteckungsstoffes bestätigen. Er hält die wei¬
tere Verbreitung dieser Krankheit fiir möglich, und in der
Beschreibung derselben finden sich keine Gründe, die an
dieser Möglichkeit zweifeln liefsen. (The American Jour¬
nal of medical Sciences. No. V. 1828. November. No. VII.
1829. May.)
• * . /
3. Ein sechsundfunfzigjähriger Mann wurde im Hospital
zu Toulon an einem veralteten, von varikösen Venen um-
gebenen Geschwür am linken Unterschenkel behandelt. Ei¬
nige Zeit früher hatte man ihm in Smyrna den linken Ful’s
wegen eines Vipernbisses abgenommen. Er klagte zu¬
gleich über Schmerzen im rechten Fufse, dessen kleiner
Zeh angeschwollen, kalt, und von bläulicher Farbe war.
Seii e sonst feste (Konstitution war durch Kummer und
Noth tief erschüttert, sein Schlaf unruhig, der Puls un-
/
gleich, und der Herzschlag in einem grofsen Umfange fühl¬
bar. Ein organisches Herzübel war unzweifelhaft, und so
konnte man nicht hoffen, den vom Geschwüre aus fort-
♦
schreitenden Brand zu bemeistern, woran denn auch der
Kranke unter anhaltenden unerträglichen Schmerzen starb.
Schon während des Lebens war eine ungewöhnliche Härte
der Arterien aufgefallen, die auf eine weitverbreitete Ver¬
knöcherung derselben schlielsen liefs. Bei der Section fand
504
XI. Praktische Notizen.
sich das Herz sehr erweitert, mit vielen weifsen Flecken
auf der Obcrfliiche, und die Wände des linken Ventri¬
kels von der Consistenz von trockenem dicken Pergament.
J)er Ursprung der Aorta mit den Klappen derselben war
völlig verknorpelt, eben so die Aorta in ihrem ganzen Ver¬
lauf sammt der Arteria iliaca und cruralis mit ihren \ er-
zweigungen auf beiden Seiten. Dieselbe Verknorpelung
war an den Arterien der Oberextremitäten bemerkbar, und
nur liier und da zeigten sich kleine Verknöcherungen in
den verknorpelten Häuten. Sollte nicht das Viperngift die
ersLe Veranlassung zu dieser Desorganisation von so selte¬
ner Ausbreitung gegeben, und dieser ursprünglich Gcfäfs-
entzündung zum Grunde gelegen haben? (Ephemerides de
Montpellier, 1828.)
4. Ein nicht minder wichtiger Fall von organischem
Gefäfslciden wurde vor längerer Zeit (1817) im llöpital
«ie la Charite in Paris beobachtet. Ein zweiundneunzig-
jähriger, im höchsten Grade altersschwacher Schuster, der
von seinem früheren Zustande nur so viel berichten konnte,
dafs er vor unbestimmter Zeit einen Anfall von Schlagfiufs
überstanden, und dann eine Lähmung des rechten Arms
zurückbehalten habe, starb nach verschiedenartigen Zufäl¬
len, auf die es hier weniger ankommt. Bei der Section
fand sich das Herz von gewöhnlichem Umfange, der Ueber-
zug des linken Ventrikels ein wenig verdickt, und die Ar¬
terienklappen stellenweise verknöchert. Die Aorta war an
ihrem Ursprünge von der gewöhnlichen Weite, die A. in-
nominata aber beträchtlich erweitert. Hinter dem Ursprünge
derselben wurde die Aorta bedeutend enger, ging nach
oben und links, gab die linke Carotis ab, wandte sich dann
in einem fast spitzen Winkel nach unten, und erweiterte
sich wieder ein wenig an der Insertionsstelle des Ligamen¬
tum Botalli. Dieser Stelle gegenüber ging die beträchtlich
erweiterte linke Schlüsselbeinarterie ab, und hinter dieser
war die Aorta, wie durch ein fest angezogenes Band zu-
XI. Praktische Notizen.
505
sammengeschnürt. Sie erweiterte sich dann wieder, und
verlief wie gewöhnlich, jedoch von merklich geringerem
Lumen im Unterleibe. Auf der rechten, sehr weiten
A. subclavia entsprangen ebenfalls sehr erweiterte Aeste;
die A. cervicalis transversa und profunda hatten den Um¬
fang der A. brachialis, und ihre Häute waren bedeutend
verdickt. Die erste verlief, ohne dünner zu werden , bis
zwischen die Winkel der vierten und fünften Rippe, ging
hier nach aufsen, gab die vordere und hintere A. interco-
stalis ab, und endete einen halben Zoll unter der Strictur
der Aorta, in die sie einmündete. Die A. cervicalis pro¬
funda machte einen kürzeren Verlauf; sie theilte sich in
drei grofse Aeste, die jeder besonders in den Zwischen¬
räumen der vier ersten Rippen wieder in die Brust zurück¬
kamen, nachdem sie die entsprechenden A. intercostales ab¬
gegeben hatten, und in die Aorta, über der A. cervicalis
transversa übergingen, so dafs also hier durch vier beträcht¬
liche Anastomosen das Blut der A. subclavia dextra in die
Aorta überströmte. Auf der linken Seite wurden drei der¬
gleichen Anastomosen der A. subclavia sinistra mit der Aorta
gefunden. Die A. mammaria interna war auf der rechten,
wie auf der linken Seite ungewöhnlich erweitert; beide
machten tiefer nach unten viele Windungen, und bildeten
mit den A. epigastricis einen Stamm, der von gröfserem
Umfange war, als die A. iliaca externa. Auf beiden Seiten
endigte dieser Stamm in der A. cruralis. Die Structur der
Aorta war im übrigen unverändert, einige verdickte Stellen
ausgenommen, selbst in der INähe der Strictur, die den
Umfang einer Rabenfeder nicht übertraf. (Journal hebdo-
madaire de inedecine.)
5. Dr. Pourche hat das Brom gegen Scrofeln und
Kropf angewandt. Scrofulöse Geschwülste wurden mit einer
Salbe von Kali hydrobromicum zertheilt, oder mit Umschlä¬
gen, die mit einer wässerigen Auflösung von Brom be¬
sprengt waren. Ein grofser Kropf fiel bei dem äufseren
506
XI. Praktische Notizen.
und inneren Gebrauche dieses Mittels bis auf ein Drittheil
seines Umfanges zusammen. Innerlich wendet er das Ilydro-
brom an, einen Theil in vierzehn Theilen destillirtem Was¬
ser aufgelöst, fünf bis sechs Tropfen pro dosi, in Wasser.
Diese Gabe kann nach und nach vermehrt werden. Kali
hvdrobromicum wird zu vier bis acht Gran täglich in Pil-
lenform gegeben. (Journal de chimic raed. 1828. Dec.)
6. WTerthvoll für die Physiologie des Gehirns ist eine
von Horner in Philadelphia kürzlich mitgetheilte Beobach¬
tung einer wahrscheinlich angebornen chronischen Ilirnwasser-
sucht. Der Kranke erreichte ein Alter von acht und einem hal¬
ben Jahre, war im Wachsthum durchaus nicht zurückgeblie¬
ben, lernte erst im vierten Jahre gehen, zeigte aber, die be¬
trächtliche Gröfse seines Kopfes ausgenommen, am übrigen
Körper durchaus keine Mifsbildung. Die Nälhe und Fon¬
tanellen, die noch eine lange Zeit nach seiner Geburt offen
geblieben waren, schlossen sich späterhin vollkommen. Im
December 1828 that er einen schweren Fall auf den Kopf,
und starb am folgenden Tage, nachdem er die gröfste Zeit
seines kurzen Lebens auffallend wohl gewesen war. Der
gröfste Horizontalumfang seines Kopfes betrug achtund¬
zwanzig Zoll, der Abstand von einem Gehörgange bis zum
andern, über den Schädel gemessen, 19^ Zoll, von der
Nasenwurzel bis zur Protuberanz des Hinterhauptbeins eben
so viel. Der längste Durchmesser des Kopfes von vorn
nach hinten betrug 9ys Zoll, vom Kinn bis zum Scheitel
10 Zoll, von einem Gehörgange bis zum andern 5 Zoll,
zwischen den Schläfen, mehr nach hinten, 7 Zoll, von einer
Protuberanz des Scheitelbeins zur andern 7 j Zoll. Die
Schädelknochen waren von der bei Kindern dieses Alters
gewöhnlichen Dicke (sonst pflegen sie nach der Schliefsung
der Fontanellen bedeutend dicker zu sein); die Näthe wa¬
ren fest geschlossen, und eine Sutura frontalis vorhanden,
auf jeder Seite mit einem dreieckigen, überzähligen Kno¬
chen, die aber die einzigen am ganzen Hirnschädel waren.
XI. Praktische Notizen.
507
Die äufsercn Schädeldecken waren dünn und straff, die
harte Hirnhaut fest mit dem Knochen verbunden, vorzüg¬
lich an den Näthen, die weiche Hirnhaut schien sehr ge-
fäfsreich zu sein, die Spinnewebenhaut zeigte aber keine
Ab weichung vom natürlichen Zustande. Die Zwischen¬
räume zwischen den Windungen des Gehirns hatten nur
etwa den dritten Theil der gewöhnlichen Tiefe. Die
Ventrikeln enthielten fünf Tinten klares Was¬
ser, so dafs die Dicke der umgebenden Hirnsubstanz nur
acht bis neun Linien betrug. Das Corpus callosum war
nur vier Linien dick, auf anderthalb Zoll in die Breite ge¬
zogen, und seine Raphe durchscheinend. Von der ganzen
Oberfläche der ausgedehnten Ventrikeln liefs sich eine Lage
Marksubstanz von der Dicke einer Linie leicht abstreifen.
Das Septum pellucidum fehlte gröfstentheils, so dafs zwi¬
schen Fornix und Corpus callosum ein freier Zwischenraum
von einigen Zollen im Durchmesser, beide Hirnhöhlen ver¬
einigte. Der Rand dieser Oeffnung war abgerundet, und
zeigte nicht die geringste Spur von Zerreifsung. Die nach
aufsen gelegene Massa cinerea war so erweicht, dafs sie
zum Theil an der weichen Hirnhaut hängen blieb; dann
folgte eine deutliche Lage Massa subcinerea, aus der die
Basen der Windungen bestanden, und endlich die beschrie¬
bene Marksubstanz, die die Oberfläche der Hirnhöhlen bil¬
deten. Das kleine Gehirn, der Pons Varolii und die ganze
Basis cerebri waren völlig gesund, und aufser der in den
Ventrikeln, keine Wasseransammlung zu finden. Bis hier¬
her hat dieser Fall nur gewöhnliches Interesse, dies stei¬
gert sich indessen, wenn man die seltene und regelmäfsige
Geistesentwickelung dieses Kindes beachtet, der gewifs nur
wenige analoge Beispiele zur Seite gestellt werden können.
Schon im fünfzehnten Monat, während der Umfang des
Kopfes immer mehr und mehr zunahm, sprach das Kind
ganz deutlich, zeigte seit dem ersten Erwachen seiner Sinne
eine grofse Liebe zur Musik, und konnte schon im acht¬
zehnten Monat leichte Melodieen sinaen. Sein Verstand
508
XII. Mcilicinische Bibliographie.
und sein Gedächtnils setzteu späterhin die Umstehenden
oft in Verwunderung. Einstmals erkannte er einen Frem¬
den nach zweijähriger Abwesenheit wieder, und nannte ihn
bei seinem Namen , den die ganze Hausgenossenschaft ver¬
gessen halte. Bei seinem ernsten Wesen waren ihm sanfte
Kinder angenehm, mehr aber noch ältere, dabei hatte er
ein vortreffliches Gemüth, und war in den letzten beiden
Jahren sehr empfänglich für religiöse Eindrücke, sprach
viel von seinem Tode, und zeigte in seiner letzten Krank¬
heit nicht die geringste Furcht vor seiner baldigen Auf¬
lösung, die er deutlich fühlte. In der Schule lernte er
schneller als die meisten seiner Mitschüler, und besafs für
sein Alter ungewöhnliche Kenntnisse. Es verdient bemerkt
zu werden, dafs er in seinem ganzen Leben nie über Kopf¬
schmerz und Schwindel geklagt haben soll, und bis zu sei¬
nem Tode bei voller Besinnung blieb. Er hatte bis zuletzt
nicht das geringste davon gefühlt, dafs der Kopf der Sitz
seines Leidens wäre, es zeigte sich kein Nervenzufall , und
der Tod erfolgte nur unter zunehmender Schwäche des
Pulses, während der Körper allmählig erkaltete. (Ameri¬
can Journal of medical Sciences. 1S29. May.)
XII.
< « ...»
M e d i c t n i s c h e Bibliographie.
Ai brecht, C. A. A., die Homöopathie von dem Stand¬
punkte des Bechls und der Medicinalpolizei beleuchtet.
gr.8. Dresden. Arnold. \ 1 1 1 u. 96 S. 14 Gr.
Bah re ns, Fr., die Harnlehre des Ilippokrates in ihrem
wahren Werthe behauptet, gr. 8. Elberfeld. Biischier.
XX u. 648 S. 3 Tblr. 12 Gr.
Barba, Anton, mikroskopische Beobachtungen über das
Gehirn und die damit zusammenhängenden Theile. Aus
509
XII. Medicinische Bibliographie.
dem Italien, ins Deutsche übertragen und mit einer Bio¬
graphie des Verfassers versehen von J. J. Albr. v. Schön¬
berg. Mit einer Steintafel. 4. Würzburg. Strecker. X und
40 S. 12 Gr.
x • « *
Bark ow, J. C. L., disquisitiones circa originem et decur-
sum arteriarum mammalium. Accedunt tabulae aeneae IV.
4. Leipzig. Vofs. VIII et 114 P. 3 Thlr.
!
— — monstra animalium duplicia per anatomen indagata
habito respectu ad physiologiam medicinam forensem et
artem obstetriciam etc. Tom. I. Acced. tab. aeneae XV.
4. Ebend. X et 142 P. 5 Thlr.
Berends, C. A. G., operum postumorum Tom. primus;
ed. et praefactus est A. G. a Stosch. 8maj. Berlin. Rei¬
mer. XIV et 335 P. 1 Thlr. 12 Gr.
• ‘ J J
Auch unter dem Titel:
Berends lectiones de morbis tabificis.
Bernt, Jos., Visa reperta und gerichtlich -medicinische
Gutachten über gesunde und kranke Zustände des Men¬
schen. Gesammelt aus älteren und neueren Quellen, und
als erklärender Anhang zu seinem systematischen Hand¬
buche der gerichtlichen Arzneikunde. gr.8. Wien. Wal-
lishausser. 2 Thlr.
Bibliothek der deutschen Medicin und Chirurgie, her-
ausg. von A. K. Hesselbach. 2r Jahrgang. 1 — 6. gr.8.
Würzburg. Strecker. 5 Thlr. 12 Gr.
i i ’ / . • • . * * . . • . v
Böneck, G. S., Beobachtungen und Bemerkungen aus dem
Gebiete der Medicin und Chirurgie. Mit vier colorirten
Abbildungen, gr.8. Hamburg. Perthes u. Besser. VIII und
208 S. 2 Thlr. 6 Gr.
Car us, C. G. , Analecten zur Naturwissenschaft und Heil¬
kunde. Gesammelt auf einer Reise durch Italien im Jahfe
1828. Nebst einer Kupfertafel, gr.8. Dresden. Hilscher.
179 S. 1 Thlr. 12 Gr.
510
XII. Medicinisclic Bibliographie.
Dzondi, K. II., Was ist häutige Bräune, und wie kann
das kindliche Alter dagegen geschützt und am schnellsten
und sichersten davon geheilt werden? Für Eltern und
Aerztc beantwortet. Mit einer Abbildung in Steindruck.
8. Halle. Hemmerde. II u. 131 S. 1 Tblr. 6 Gr.
— — Was ist Rheumatismus und Gicht, und wie kann
man sich dagegen schützen und am schnellsten davon be¬
freien? Für Aerzte und Nichtärzte beantwortet. Mit
einer Abbildung in Steindruck. 8. Ebendaselbst. II und
180 S. 1 Thlr. 6 Gr.
Eblin, P., Mineralquelle und Bad zu Jenatz im Prättigau,
Canton Graubünden. Ein Beitrag zur Beschreibung der
Bündnerischen Mineralquellen. Mit einer lithogr. Ansicht
des Bades. Chur. Otto. XII u. 98 S. 18 Gr.
Fischer, A. Fr., die Homöopathie vor dem Richterstuhle
der Vernunft. Ein Belehrungsbuch Für Gebildete. 8.
Dresden. Hilschcr. VIII u. 98 S. 9 Gr.
Fried reich, J. B. , Magazin Für die philosophische, me-
dicinische und gerichtliche Seelenkunde, ls Heft. gr. 8.
Würzburg. Strecker. 150 S. 16 Gr.
Groos, Friedr., Ideen zur Begründung eines obersten Prin¬
zips Für die psychische Legalmedicin. gr. 8. Heidelberg.
Engelmann. 160 S. 1 Thlr.
Heine, Jac., über die Unterbindung der Arteria subclavia.
Inaugural -Abhandlung, gr.8. Würzburg. Becker. 86 Sei¬
ten. 10 Gr.
Hille, K. Chr., das Dampfbad, seine Einrichtung, Wir¬
kung und Anwendung, mit Bezug auf diese Anstalten io
Dresden dargestellt. 8. Dresden. Arnold. 14 Gr.
Jahrbücher der philosophisch-medicinischen Gesellschaft
zu Würzburg. I. 3. gr.8. Würzburg. Strecker. 260 Sei¬
ten. 1 Thlr. 4 Gr.
Kolb, J. N., Bromatologie oder Uebersicht der bekannte¬
sten Nahrungsmittel der Bewohner der verschiedenen
Wclttheile. Naturhistorisch und mit Hinweisung auf ih¬
ren diätetischen und pbarmaco- dynamischen Werth ent-
I
XII. Mechanische Bibliographie. 511
worfen in 3 Theilen. 2r Theil, welcher die eigentlich
nahrhaften Vegetabilien enthält, gr.8. Hadamar. Gelehrten-
Buchh. VIII u. 524 S. 2 Thlr. 10 Gr.
Malik, A. A., Abhandlung über die Ruhr, und ihre ver¬
einfachte Therapie, nebst Beschreibung der Ruhrepidemie,
welche im Jahre 1827 auf den Gütern Naworow und
/ * “ V * •
Jesseney geherrscht hat. 8. Prag. Sommer. 127 S.
Martini, R. J. A., et J. G. Horock, observationes ra-
rioris degenerationis cutis in cruribus elephantiasin simu-
lantis. Accedunt tabulae aeneae duae. 4. Leipzig. Yofs.
Ir Theil. fl u. 28 P. 2r Th. III et 27 P. 1 Thlr. 8 Gr. v
Mellin, Chr. J., der Kinderarzt, oder fafslicher Unter¬
richt über die Behandlung der Kinder im gesunden und
kranken Zustande. Ein nützliches Hülfs- und Lehrbuch
für Landärzte, Landwundärzte u. gebildete Eltern. Dritte,
sehr vermehrte und verbesserte Auflage, bearbeitet von
J. G. Hertel. 8. Kempten. Dannheimer. VIII u. 236 Sei¬
ten. 16 Gr.
du Menil, Aug., der Rehburger Brunnen als Cur- und
Erholungsort. Mit der Ansicht von Rehburg. 12. Han¬
nover. Helwing. VIII u. 200 S. 16 Gr.
Metz, Andr., über den Begriff der Naturphilosophie u. s. w.
gr.8. Würzburg. Strecker. 52 S. 6 Gr.
Pharmacopoea Borussica. Editio quinta. 4. Berlin.
Plahn. X et 418 P. 2 Thlr. 6 Gr.
Pharmakopoe, preufsische. Fünfte Ausgabe. Ueber-
setzung der lateinischen Urschrift, gr.8. Ebendas. XV u.
443 S. 1 Thlr. 18 Gr.
Pharmacopoea universalis, oder Uebersicht der Phar¬
makopoen von Amsterdam, Antwerpen, Dublin, Edin¬
burgh, Ferrara, Genf, London, Oldenburg, Würzburg;
deren Amerika’s, Finnlands, Frankreichs, Hannovers, Hes¬
sens, Hollands, der Niederlande, Oestreichs, Polens, Por¬
tugals, Preufsens, Rufslands, Sachsens, Sardiniens, Schwe¬
dens, Spaniens, Würtembergs; der Dispensatorien von
Braunschweig, Fulda, Hessen, Lippe und der Pfalz; der
512
XII. Medicinische Bibliographie.
Mil itärpharmakopöen Dänemarks, Frankreichs, Preu Tseng,
Rufslands und von Wiirzburg; der Armenpharmakopöc
von Hamburg; der Formularien und Pharmakopoen Au-
gustin’s, Bories’s, Brera’s, Brugnatellis, Cadet de Gassi-
court’s, Gox’s, Ellis’s, Ferrarini’s, Hufeland’s, Magcndie’s,
Piderit’s, Pierquin’s, Ratier’s, Saundejrs s, Sainte- Marie s,
Spielmann’s, Swediaur’s, Taddei’s und van Mons’s. Nach
der Pharmacopöe universelle des A. J. L. Jourdan, mit
Zusätzen. Ersten Bandes zweite Hälfte (JJogen 25 bis
zum Schlufs des Bandes), nebst Haupttitel und Vorrede.
gr.8. Weimar. Industrie- Comptoir. VI und 37S Seiten,
br. 2 Thlr.
Portal, Baron, Beobachtungen über die Natur und Be¬
handlung der Epilepsie. Aus dem Französischen von J.
A. L. W. Hermes, gr.8. Stendal. Frauzen und Grofse.
XVI u. 364 S. 1 Thlr. 12 Gr.
Prus, Bene, neue Untersuchungen über die Natur und
die Behandlung des Magenkrebses. Aus dem Franz, mit
Zusätzen von F. Balliug. 8. Würzburg. Strecker. 163 Sei¬
ten. 16 Gr.
Rast, F. W. , einige Worte über die wahre Bedeutung
des russischen Dampfbades in heilkräftiger Hinsicht, zur
Beachtung für Aerzte und gebildete Nichtärzte. Zum
Besten der abgebrannten Armen in Bonneburg. 8. Zeitz.
Webel. VI u. 76 S.
Sch im ko, J. G., das Hahnemannische System in mathe¬
matischer und chemisch- geologischer Hinsicht betrachtet
und widerlegt. 8. Teschen. Prochaska. 48 S. br. 12 Gr.
Simeons, Karl, Diätetik für gesunde, schwache und kranke
Augen, oder Rath, wie man die Augen gesund erhalten,
schwache Augen stärken, und kranke Augen diätetisch
behandeln soll; nebst ausführlichen Regeln über die Aus¬
wahl, Beschaffenheit und den Gebrauch zweckmäfsiger
Brillen. Mit 2 Steindrucktafeln. 8. Darmstadt. LesVe.
119 S. 12 Gr.
Sprengel, Curt, literatura medica externa recentior seu
enumeratio librorum plerorumque et commentarioruin
singularium, ad doctrinas medicas facientium, qui extra
germaniam ab anno inde 175U impressi sunt. Smaj. Leip¬
zig Brockhaus. 630 P. 1 Thlr. 12 Gr.
Wolffsohn, S, der Zahnarzt. Ein Sendschreiben an
Mütter, denen das Wohl ihrer Kinder in dieser Hinsicht
am Herzen liegt. 16. Berlin. Plahn. X u. 62 S. 8 Gr.
513
XII. Medicinische Bibliographie.
Wurm, AI., de tractatione syphilidis sine hydrargyro.
Dissertatio inauguralis medica etc. 8. Kempten. Mannhei¬
mer. 46 P. 4: Gr.
Zimmermann, anatomische Darstellungen zum Privatstu¬
dium. Fünftes Heft: Tabula XVII — XX. Myologie.
Sechstes Heft: Tabula XXI — XXIV. Angiologie. 4. Leip¬
zig. Lauffer. 1 Thlr. 5 Gr.
Zöhrer, A. F., das Heilverfahren gegen die scrophulösen
Drüsengeschwülste und Abscesse. gr. $. Wien. Mayer.
84 S. 16 Gr.
Für die Herren Apotheker, vorzüglich in
den preufsi sehen Staaten,
ist so eben bei II. A. Rottmann in Basel und Leipzig
erschienen, und in allen Buchhandlungen zu haben:
H andbuch der pharmaceutischen Praxis,
oder Erklärung der in den Apotheken auf¬
genommenen chemischen Zubereitungen.
Mit ganz vorzüglicher Rücksicht auf die neue
preufsische Pharmakopoe entworfen von J. W.
Chr. Fischer. Dritte, umgearbeitete Auflage,
von Dr. C. J. B. Karsten. Nebst auf die neueste
preufsische Pharmakopoe sich beziehenden Nach¬
trägen, herausgegeben von Dr. L. Fr. Bley. gr.8.
45 Bogen. 2 Thlr. 18 Gr.
Die Nachträge apart 15 Bogen. 18 Gr.
Der Werth dieses Buchs ist längst anerkannt, es be¬
darf daher keiner weiteren Anpreisung. Die Nachträge ent¬
halten auch die in dem kürzlich erschienenen Appendix zur
preufs. Pharmakopoe befindlichen Veränderungen. Der Preis
ist so billig als möglich gestellt.
Bei Carl Cnobloch in Leipzig ist erschienen, und durch
alle Buchhandlungen zu erhalten:
Pedanii Dioscoridis Anazarbei de materia
medica libri V. Ad fidem codicum manuscri-
ptor. , editionis Aldinae principis usquequaque nc-
glectae, et interpretum priscorum textum recens.
varias addidit lectiones, interpret. emendavit, com-
mentario illustravit Gurt Sprengel.
514
XII. Mcdicinische Bibliographie.
Auch unter dem Titel:
Mcdicornm graecormn opera quae exstant ed. Kühn.
Vol. XXV.
Seit 1598 ist von diesem für die Arzneimittellehre der
Alten so sehr wichtigen Schriftsteller keine Ausgabe erschie¬
nen, und der Herr Herausgeber, dessen Kenntnisse der
griechischen Sprache und der Iiotanik allgemein bekannt
und geschätzt sind, hat sich daher durch Besorgung einer
neuen und kritischen Ausgabe des Dioskorides ein neues
Verdienst um die W issenschaften erworben. In dem Be¬
sitze eines vortrefflichen kritischen Apparats, hat er sich
desselben, so wie seiner botanischen Kenntnisse, zur Ver¬
besserung vieler verdorbener Stellen dieses Schriftstellers
bedient. Im zweiten Theilc, welcher bis Ende October
erscheint, werden die drei noch rückständigen Bücher nebst
dem die Sachen erklärenden Commentar enthalten sein.
Der Preis beider Theile, welche nicht getrennt werden,
ist 10 Thlr.
Von demselben Verleger ist an sammtliche Buchhandlungen
versandt :
Die Pathologie nnd Therapie der Kehl-
kopfskrankheiten. Eine Monographie von I)r.
Alters, gr. 8. 19 Bogen. 1 Thlr. 12 Gr.
Der Herr Verfasser hat sich bemüht, in diesem Werke
die verschiedenen pathologischen Zustände des Kehlkopfs
für die Erkenntnifs so viel als möglich bestimmt darzule¬
gen, wobei er eine besondere Aufmerksamkeit den Geschwü¬
ren des Kehlkopfs, welche den Aerzten gewöhnlich unter
dem Namen Kehlkopfsschwindsucht bekannt sind, gewidmet,
und diese theils nach dem specifiken Charakter, theils nach
ihrem Sitze gewürdigt hat. Indem er auch die übrigen
Krankheiten des Kehlkopfs mit nicht geringerem Interesse
als Fleifs behandelt und dabei die Littcratur des In - und
Auslandes sorgfältig benutzt hat, liefert derselbe das erste
vollständige Werk über die Kehlkopfskrankhcitcn, was den
Aerzten gewifs eine willkommene Erscheinung ist.
Gedruckt bei A. W. Schade in Berlin.
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