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Full text of "Werke. Hrsg. von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen"

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GAUSS  ALS  GEOMETER 


PAUL  STACKEL 


Abdruck  aus  Heft  5  der  Materialien  für  eine  tcissenschaftliche  Biographie  von  Gauss 

gesammelt  von  F.  Klein,  M.  Brendel  und  L.  Schlesinger. 

Nachrichten  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen.     Mathem.-  physik.  Klasse,     rj  i ; 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  26.  Oktober  1917. 


Xi  Abh.  4. 


AUS  221967     | 


ftt/.2 


1. 

Einleitung'). 

Gauss  gehört  zu  den  grossen  Mathematikern,  deren  eigentümliche  Be- 
gabung schon  in  der  ersten  Jugend  diu'ch  ungewöhnliche  Leistungen  im 
Zahlenrechnen  hervortrat.  Auch  während  er  das  Collegium  Carolinum  zu 
Braunschweig  besuchte  1792  — 1795),  hat  er  viel  gerechnet;  schon  im  Jahre 
1794  erfand  er  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate.  Auf  umfangreiches 
numerisches  Beobachtungsmaterial  gründen  sich  auch  die  177  5  beginnenden 
Untersuchungen  in  der  höheren  Arithmetik,  die  1801  in  den  Disquisitiones 
arithmetkae  einen  ersten  Abschluss  erhalten.  Neben  die  zahlentheoretischen 
Untersuchungen    treten    in    diesen    Jahren    höchster    Schaffenskraft    die    Ent- 


1)  Verzeichnis  der  Abkürzungen. 

W.  für  C.  F.  G.^uss,  Werke  I— XI. 

T.  für  das  Wissenschaftliche  Tagebuch,  W.  X  l,  S.  48S — 572. 

Br.  G.-Scii.  für  Briefwechsel  zwischen  Gauss  und  Schum.\CHER  I— VI,  Altena  1S60— iss.^. 

Br.  G.-O.  für  Briefwechsel  zwischen  Gauss  und  Olbers,  in  W.  OlüERS,  Sein  I.ebcn  und  seine  Werke  II  i 
und  IIa,  Berlin  lüüü  und  luou. 

Br.  G.-Bessel  für  Briefwechsel  zwischen  Gauss  und  Bessel,  Leipzig  tsso. 

Br.  G.-Bolyai  für  Briefwechsel  zwischen  Gauss  und  W.  Bolyai,  Leipzig  I89'.i. 

P.  Th.   für  P.  Stäckel   und  F.  Engel,   Die  Theoi-ie   der  Parallellinien   von  Euklid   bis   auf  Gauss,    eine 
L'rkundensammlung  ziu'  Vorgeschichte  der  nichteuklidischen  Geometrie,  Leipzig  1895. 

Bol.  für  W.  und  J.  Bolyai,  Geometrische  Untersuchiuigen  herausgegeben  von  P.  St.\ckel;  I.  Leben  und 
Schriften    der   beiden  Bolyai,    IL  Stücke   aus   den  Schriften   der   beiden  Bolyai,   Leipzig  \:\\.\. 

Lob.   für  N.  Iw.  Lobatsciiei'Skli,    zwei    geometrische  Abhandlungen,    aus    dem  Russischen   übersetzt,   mit 
Anmerkungen  und  mit  einer  Biographie  des  Verfassers  von  F.  Engel,  Leipzig  1S9S — 'j;>. 

Sartorius  für  W.  Sartorius  v.  Waltershausen,  Gaiss  zum  Gediichtniss,  Leipzig  i>58. 

Bachmann  für  P.  Bacumann,    Über  Gauss'   zahlentheoretische  Arbeiten,    Materialien  für  eine  wissenschaft- 
liche Biographie  von  Gauss,  Heft  I,   I9ll;  W.  X2,  Abb.  1. 

Schlesinger  für  J^.  Schlesinger,  Über  Gauss'  Arbeiten  zur  Funktionentheorie,  Materialien  usw.,  Heft  III, 
IUI  2;  W.  X2,  Abh.  II. 

1* 


4  STÄrKEI,,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

deckungen  auf  dem  Gebiete  der  elliptischen  Funktionen,  und  auch  die  Al- 
gebra gehört,  wie  das  Tagebuch^)  zeigt  und  die  Dissertation  (1799;  bestätigt, 
zu  den  mathematischen  Gegenständen,  denen  sich  der  junge  Gauss  zuwendet. 
Im  Vergleich  zur  Analysis  steht  die  Geometrie  im  Hintergrunde;  doch  lässt 
eine  Aufzeichnung  im  Tagebuch  vom  September  1799  (T.  Nr.  99)  schon  die 
grosse  Frage  nach  den  Gründen  der  Geometrie  anklingen. 

Die  nun  einsetzende  astronomische  Periode,  die  sich  bis  etwa  1816  er- 
streckt, l)ringt  nach  Aussen  hin  keine  wesentliche  Änderung,  denn  unt(>r  den 
Veröffentlichungen  kommen  nur  Beiträge  zur  elementaren  Geometrie  in  Be- 
tracht. Nachlass  und  Briefwechsel  zeigen  jedoch,  dass  die  Forschungen  über 
die  Grundlagen  der  Geometrie  nicht  geruht  haben,  und  gerade  in  der  Zeit 
zwischen  1810  \md  1816  ist  Gauss  zu  den  grundlegenden  Begi'iffen  und  Sätzen 
aus  der  Lehre  von  den  krummen  Flächen  gelangt. 

Mit  dem  Jahre  J816  beginnt  die  Zeit  der  Geodäsie.  Vorbereitet  durch 
theoretische  Arbeiten  über  die  kürzesten  Linien  auf  dem  Sphäroide,  betätigt 
sich  Gauss  1821  bis  1825  bei  den  Messungen  im  Felde.  Den  Weg  zu 
Grösserem  bahnend,  vcrfasst  er  1822  die  Kopenhagener  Preisschrift  über  die 
konforme  Abbildung  krummer  Flächen,  imd  1828  erscheinen,  als  reife  Frucht 
langer  Mühen,  die  Disqidsitiones  generales  circa  superficies  curvas,  in  denen  aus 
den  Anwendungen  heraus  ein  neuer  Zweig  der  reinen  Mathematik  selbständiges 
Leben  gewinnt. 

Noch  zu  einer  zweiten  Reihe  von  Untersuchungen  hat  die  geodätische 
Tätigkeit  den  Anstoss  gegeben,  zu  sehr  eingehenden  Forschungen  über  die 
Grundlagen  der  Geometrie.  Hier  ist  Gauss  nicht  dazu  gelangt,  seine  Gedanken 
ausführlich  niederzuschreiben,  und  wir  sind  auf  spärliche  Notizen  und  einzelne 
Stellen  in  Briefen  angewiesen. 

Es  folgt  die  Periode  der  mathematischen  Physik.  Als  diese  etwa  1841 
geendet  hat,  kommt  es  zu  einer  Nachblüte  der  geometrischen  Forschung.  Es 
entstehen  die  beiden  Abhandlungen  über  Gegenstände  der  höheren  Geodäsie 
'1843  und  1846);  die  Grundlagen  der  Geometrie  werden  wieder  aufgenommen 
und  erweiterte  Auffassungen  gewonnen,  geometrische  Aufgaben  verschiedener 
Art  werden  behandelt,    und  Gauss  kehrt  auch  zu  zwei  Gebieten   zurück,    die 

1)  Das  von  Gauss  während  der  Jahre  IT.f.i  bis  1815  geführte  wissenschaftliche  Tagebuch  oder  Notizen- 
joumal  ist  abgedruckt  W.  Xl,  S.  48S— 572;  es  wird  im  Folgenden  mit  T.  angeführt. 


EINLEITUNG.  5 

ihn  von  jeher  angezogen  hatten  und  denen  er  hohe  Bedeutung  beimass:  zur 
Geometria  situs  und  zur  geometiischen  Versinnlichung  der  komplexen  Grössen. 
Wie  Sartorius']  berichtet  (S.  80),  hat  Gauss  sich  dahin  geäussert,  »in 
seiner  frühesten  Jugend  habe  ihm  die  Geometrie  wenig  Interesse  eingeflösst, 
welches  sich  erst  später  bei  ihm  in  hohem  Masse  entwickelt  habe«.  Die 
Arithmetik  war-  imd  blieb  ihm  die  »Königin  der  Mathematik«,  deren  Hofstaat 
die  andern  Zweige  der  Analysis  angehörten.  Gewiss  war  ihm  das  geometrisch- 
anschauliche Denken  nicht  fr-emd,  aber  bei  seinen  geometrischen  Untersuchungen 
hat  er  fast  überall  die  analytischen  Methoden  bevorzugt.  »Es  ist  nicht  zu 
leugnen«,  heisst  es  in  der  Besprechung  der  Geometrie  descriptive  von  Monge 
/W.  IV,  S.  359;,  »dass  die  Vorzüge  der  analytischen  Behandlung  vor  der 
geometrischen,  ihre  Kürze,  Einfachheit,  ihr  gleichförmiger  Gang,  und  be- 
sonders ihre  Allgemeinheit,  sich  gewöhnlich  um  so  entschiedener  zeigen,  je 
schwieriger  und  verwickelter  die  Untersuchungen  sind«.  Er  war  sich  jedoch 
dessen  wohl  bewusst,  dass  »die  logischen  Hilfsmittel  für  sich  nichts  zu  leisten 
vermögen  und  nur  taube  Blüten  ti-eiben,  wenn  nicht  die  befi-uchtende,  leben- 
dige Anschauung  des  Gegenstandes  überall  waltet«  (W.  IV,  S.  366';.  Die  Pflege 
der  rein  geometrischen  Methoden  hielt  er  für  »unentbehrlich  beim  frühern 
jugendlichen  Studium,  um  Einseitigkeit  zu  verhüten,  den  Sinn  für  Strenge 
und  Klarheit  zu  schärfen  und  den  Einsichten  eine  Lebendigkeit  und  Unmittel- 
barkeit zu  geben,  welche  durch  die  analytischen  Methoden  weit  weniger  be- 
fördert, mitunter  eher  gefährdet  werden«  "W.  IV,  S.  360',  und  er  wünschte, 
»dass  auch  die  rein  geometrischen  Behandlungen  fortwährend  kultiviert  werden 
und  dass  die  Geometrie  wenigstens  einen  Teil  der  neuen  Felder,  die  die  x\na- 
lyse  erobert,  sich  aneigne«  (W.  II,  S.  186). 


1)  S.UITORIUS  VON  AValteeshacsex,   Gaitss  zum  Gedächtnis,  Leipzig  issfi;   im  Folgenden  mit  Sär- 
TORiüs  anseführt. 


b  STACKEL,    GAUSS  A1,S   GEOMETEK. 

Abschnitt  I. 

Die  Grundlagen  der  Geometrie. 
3. 

Allgemeines  über  die  Arbeitsweise  von  Gauss. 

Bei  den  Grundlagen  der  Geometrie  zeigt  sich  in  hohem  Masse  eine  Er- 
scheinung, der  wir  bei  Gauss  wiederholt  begegnen:  der  Reichtum  der  Gedanken, 
die  ihm,  besonders  in  der  Jugend,  in  solcher  Fülle  zuströmten,  dass  er  ihrer 
kaum  HeiT  werden  konnte  (Sartorius,  S.  7  8),  steht  in  Gegensatz  zu  dem  ge- 
ringen Umfang  dessen,  was  er  aufgezeichnet,  ausgearbeitet  und  veröffentlicht 
hat.  Wenn  daher  auch  der  folgende  Bericht  über  die  Arbeitsweise  von  Gauss 
mehr  in  eine  (noch  fehlende)  Schilderung  seiner  gesamten  wissenschaftlichen 
Persönlichkeit  als  in  eine  Darlegung  seiner  Arbeiten  auf  einem  Teilgebiet  der 
Mathematik  zu  gehören  scheint,  so  dürfte  er  doch  als  Grundlage  für  das  Ver- 
ständnis der  folgenden  Ausführungen  nützlich  sein,  zumal  dabei  der  Zusammen- 
hang mit  den  Grundlagen  der  Geometrie   nicht  aus  dem  Auge  verloren  wird. 

Ein  erster  Grund  für  die  Erscheinung,  auf  die  wir  hingewiesen  haben, 
liegt  darin,  dass  die  Grösse  des  mathematischen  Genies,  das  sich  in  Gauss 
offenbarte,  in  der  Vereinigung  schöpferischer  und  kritischer  Kraft  w^urzelt. 
Diese  Eigentümlichkeit  erkennt  man  schon  in  der  Dissertation,  und  sie  zeigt 
sich  nicht  weniger  in  den  Disquisitiones  arithmcticae.  In  den  späteren  Ver- 
öffentlichungen tritt  die  Kritik  an  den  Leistungen  anderer  zurück,  aber  es  bleibt 
als  auszeichnendes  Merkmal  die  »GAUSSSche  Strenge«. 

Die  GAusssche  Strenge  erkennen  wir  schon  äusserlich  in  der  Form  der 
Darstellung.  «Es  war  zu  aller  Zeit  Gauss'  Streben,  seinen  Untersuchungen 
die  Form  vollendeter  Kunstwerke  zu  geben;  eher  ruhete  er  nicht,  und  er  hat 
daher  nie  eine  Arbeit  veröffentlicht,  bevor  sie  diese  von  ihm  gewünschte, 
durchaus  vollendete  Form  erhalten  hatte.  Man  dürfe  einem  Bauwerke,  pflegte 
er  zu  sagen,  nach  seiner  Vollendung  nicht  mehr  das  Gerüste  ansehen«  (Sar- 
torius, S.  82).  Dieser  Grundsatz  spricht  sich  auch  in  dem  Siegel  aus,  das 
Gauss  benutzte;  es  zeigt  einen  Baum  mit  wenigen  l<'rüchten  und  der  Um- 
schrift:  Pauca,  sed  matura. 


DIE   GRUNDLAGEN   DER  GEOMETRIE.  7 

In  Briefen  an  Schumacher,  Encke  und  Bessel  hat  Gauss  sich  darüber 
geäussert,  warum  er  von  dieser  klassischen  Darstellungsart  nicht  abgehen 
wollte  und  konnte. 

Als  er  nach  Abschluss  der  geodätischen  Messungen  im  Felde  im  Winti>r 
1825/26  seine  theoretischen  Arbeiten  wieder  aufnimmt,  klagt  er  am  2 1 .  No- 
vember 1825  Schumacher  gegenüber:  »Der  Wunsch,  den  ich  immer  bei  meinen 
Arbeiten  gehabt  habe,  ihnen  eine  solche  Vollendung  zu  geben,  ut  nihil  amplius 
desiderari  possit'),  erschwert  sie  mir  freilich  ausserordentlich«  (W.  VIII,  S.  400). 
Schumacher  antwortet  am  2.  Dezember  1825:  »In  Bezug  auf  Ihre  Arbeiten  und 
den  Grundsatz,  ut  nihil  amplius  desiderari  possit,  möchte  ich  fast  wünschen, 
und  zum  Besten  der  Wissenschaft  wünschen,  Sie  hielten  nicht  so  strenge  daran. 
Von  dem  unendlichen  Reichtum  Ihrer  Ideen  würde  dann  mehr  uns  werden 
als  jetzt,  und  mir  scheint  die  Materie  wichtiger  als  die  möglich  vollendetste 
Form,  deren  die  Materie  fähig  ist.  Doch  schreibe  ich  meine  Meinung  mit 
Scheu  hin,  da  Sie  gewiss  längst  das  pro  und  contra  möglichst  erwogen  haben« 
(Br.  G.-ScH.  IL  S.  41).  Gauss  erwiedert  am  12.  Februar  1826:  »Ich  war  etwas 
verwundert  über  Ihre  Äusserung,  als  ob  mein  Fehler  darin  bestehe,  die  Ma- 
terie zu  sehr  der  vollendeten  Form  hintanzusetzen.  Ich  habe  während  meines 
ganzen  wissenschaftlichen  Lebens  immer  das  Gefühl  gerade  vom  Gegenteil 
gehabt,  d.  i.  ich  fühle,  dass  oft  die  Form  vollendeter  hätte  sein  können  und 
dass  darin  Nachlässigkeiten  zurückgeblieben  sind.  Denn  so  werden  Sie  es 
doch  nicht  verstehen,  als  ob  ich  mehr  für  die  Wissenschaft  leisten 
würde,  wenn  ich  mich  damit  begnügte,  einzelne  Mauersteine,  Ziegel  etc.  zu 
liefern,  anstatt  eines  Gebäudes,  sei  es  nun  ein  Tempel  oder  eine  Hütte,  da 
gewissermassen  das  Gebäude  auch  nur  Form  der  Backsteine  ist.  Aber  ungern 
stelle  ich  ein  Gebäude  auf,  worin  Hauptteile  fehlen,  wenngleich  ich  wenig 
auf  den  äusseren  Aufputz  gebe.  Auf  keinen  Fall  aber,  wenn  Sie  sonst  mit 
Ihrem  Vorwurf  auch  Recht  hätten,  passt  er  auf  meine  Klagen  über  die  gegen- 
wärtigen Arbeiten,  wo  es  nur  das  gilt,  was  ich  Materie  nenne;  und  ebenso 
kann  ich  Ihnen  bestimmt  versichern,  dass,  wenn  ich  gern  auch  eine  gefällige 
Form  gebe,  diese  vergleichungsweise  nur  sehr  wenig  Zeit  und  Kraft  in  An- 
spruch nimmt  oder  bei  früheren  Arbeiten  genommen  hat«  (Br.  G.-Sch.  II,  S.  46). 


1)  Diese  Wendung  findet  sich  bei  Euleu,  siehe  z.  B.  Nova  acta  acad.  sc.    Petrop.  4  ;i7s6  ,   I78'j,   S.  73. 


8  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Als  Gauss  bald  darauf  an  Schumacher  eine  kleine  Abhandlung  über  den 
Heliotropen  füi"  die  Astronomischen  Nachrichten  sendet  (W.  IX,  S.  47  2),  jRigt 
er  hinzu:  »Diesmal  habe  ich  gewiss  den  Vorwurf  nicht  verdient,  als  ob  ich  der 
Form  auf  Kosten  der  Materie  zuviel  eingeräumt  hätte,  sondern  eher  das  Gegen- 
teil« (Brief  vom  28.  November  1826,  Br.  G.-Sch.  II,  S.  81),  und  Schumacher 
sieht  sich  jetzt  veranlasst,  seine  Meinung  ausführlich  auseinanderzusetzen.  Am 
Schluss  heisst  es:  »Ich  glaubte,  dies  Ausfeilen  könne  ebenso  gut  ein  anderer 
tun,  und  darin  kann  ich  mich  geirrt  haben;  worin  ich  mich  aber  nicht  geirrt 
habe,  ist  die  Behauptung,  dass  Sie  das  Erfinden  nicht  einem  andern  übertragen 
können.  Jedes  Jahr  Ihres  Lebens  mehrt  die  Ihnen  nur  verständlichen  An- 
deutungen neuer  Ideen.  Soll  alles  dieses  verloren  sein?«  (Brief  vom  2.  De- 
zember 1826,  Br.   G.-ScH.   II,  S.  83). 

Gauss   verhielt   sich   solchen  Anregungeji  gegenüber  durchaus  ablehnend. 

»Ich  weiss«,  schreibt  er  am  18.  August  1832  an  Encke,  »dass  einige  meiner 
Freunde  wünschen,  dass  ich  weniger  in  diesem  Geiste  arbeiten  möchte :  das 
wird  aber  nie  geschehen;  ich  kann  einmal  an  Lückenhaftem  keine  rechte 
Freude  haben,  und  eine  Arbeit,  an  der  ich  keine  Freude  habe,  ist  mir  nur 
eine  Qual.  Möge  auch  jeder  in  dem  Geiste  arbeiten,  der  ihm  am  meisten 
zusagt«  (W.  XI 1,  S.  84). 

Am  15.  Januar  1827  berichtet  er  seinem  Freunde  Schumacher,  er  sei  mit 
der  Ausarbeitung  der  Abhandlung  über  die  krummen  Flächen  ein  gut  Stück 
vorgerückt.  »Ich  finde  dabei  viele  Schwierigkeiten,  allein  das,  was  man  Aus- 
feilen oder  Form  mit  Recht  nennen  könnte,  ist  doch  keineswegs,  was  er- 
heblich aufhält  (wenn  ich  die  Sprödigkeit  der  lateinischen  Sprache  ausnehme), 
vielmehr  ist  es  die  innige  Verkettung  der  Wahrheiten  in  ihrem  Zusammen- 
hange, und  eine  solche  Arbeit  ist  erst  dann  gelungen,  wenn  der  Leser  die 
gi'osse  Mühe,  die  bei  der  Ausführung  stattgefunden  hat,  gar  nicht  mehr  er- 
kennt. Ich  kann  daher  nicht  leugnen,  dass  ich  keinen  recht  klaren  BegiifF 
davon  habe,  wie  ich  meine  Arbeiten  solcher  Art  anders,  als  ich  gewohnt  bin, 
ausführen  könnte,  ohne,  wie  ich  mich  schon  einmal  ausgedrückt  habe,  Mauer- 
steine anstatt  eines  Gebäudes  zu  liefern.  Ich  habe  wohl  zuweilen  versucht, 
über  diesen  oder  jenen  Gegenstand  bloss  Andeutungen  ins  Publikum  zu 
bringen;  entweder  aber  sind  sie  von  Niemand  beachtet  oder  wie  z.  B.  einige 
Äusserungen    in    einer   Rezension    G.   G.  Anz.    1816,  p.  019    [W.  IV,  S.  364, 


DIE   GRUNDLAGEN   DER   GEOMETRIE.  9 

VIII,  S.  170],  es  ist  mit  Kot  darnach  geworfen.  Also,  insofern  von  wichtigen 
Gegenständen  die  Rede  ist,  etwas  im  Wesen  Vollendetes  oder  gar  nichts« 
(Br.  G.-ScH.  II.  S.  93).  Solche  Andeutungen  finden  sich  zahlreich  in  den 
Jugendwerken,  sie  fehlen  aher  auch  nicht  in  den  späteren  Schriften.  Wie 
sorgfältig  Gauss  dabei  verfuhr,  zeigt  der  Brief  an  Encke  vom  18.  August  1832, 
wo  es  heisst:  »Es  ist  von  jeher  mein  gewissenhaft  befolgter  Grundsatz  gewesen, 
solche  Andeutungen,  die  aufmerksame  Leser  in  jeder  meiner  Schriften  in  grosser 
Menge  finden  (sehen  Sie  z.  B.  meine  Disquis.  arithmet.  pag.  593  [art.  335])  stets 
dann  erst  zu  machen,  wenn  ich  den  Gegenstand  für  mich  selbst  ganz  abge- 
macht habe«  (W.  XI  i,  S.  84).  Hiernach  wird  man  im  besonderen  die  vorher 
erwähnten  Andeutungen  in  den  Göttinger  Anzeigen  vom  Jahre  1816  zu  be- 
werten haben,  die  sich  auf  die  Unbeweisbarkeit  des  Parallelenaxioms  beziehen. 

Es  ist  ein  merkwürdiger  Zufall,  dass  Gauss  bald,  nachdem  er  sich  bei 
Schumacher  über  die  Ei-folglosigkeit  seiner  Andeutungen  beklagt  hatte,  am 
24.  Juli  und  14.  August  1827  (Br.  G.-Sch.  II,  S.  10  5,  IM)  durch  seinen  Freund 
die  beiden  Briefe  Jacobis  erhielt,  mit  denen  dessen  Untersuchungen  über  die 
elliptischen  Funktionen  beginnen  (Jacobi,  W^erke  I,  S.  29),  und  dass  er  nicht 
lange  danach  Abels  Recherches  kennen  lernte,  die  ihm  von  seinen  eigenen 
Untersuchungen  «wohl  ein  Drittel  vorweg-nahmen«  Brief  vom  30.  Mai  1828, 
Br.  G.-ScH.  II,  S.  17  7).  Der  ausschlaggebende  Einfluss,  den  die  berühmte 
Stelle  im  art.  335  der  Disqidsitiones  arithmeticae  (W.  I,  S.  412)  auf  Abel  und 
Jacobi  geübt  hat.  ist  anerkannt.  Hier  hat  ein  von  Gauss  ausgestreutes  Samen- 
korn hunderfältige  Frucht  getragen,  und  auch  andere  Andeutungen  sind  nicht 
auf  steinigen  Boden  gefallen. 

Fast  ein  Vierteljahrhundert  später  ist  derselbe  Streitpunkt  zwisclien  den 
beiden  Freunden  noch  einmal  aufgetaucht,  als  nämlich  Schumacher  in  den 
Astronomischen  Nachrichten  Jacobis  Bearbeitung  der  C'ARLiMschen  Abhandlung 
über  die  KEPLERSche  Gleichung  abdruckte  und  Gauss  jenem  mitteilte  Brief 
vom  4.  Dezember  1849,  Br.  G.-Sch.  VI,  S.  51),  er  habe  die  Aufgabe  schon 
vor  langer  Zeit  »auf  eine  ohne  allen  Vergleich  kürzere  Art  aufgelöst«  i^W.  X  i, 
S.  420 — 428).  »Wenn  ich  nicht  wüsste«,  hatte  Schumacher  geantwortet,  »wie- 
viel Zeit  Ihnen  die  letzte  Feile  Ihrer  Arbeiten  kostet,  so  würde  ich  um  Ihre 
Abhandlung  bitten«  (Brief  vom  5.  Dezember  1849,  Br.  G.-Sch.  VI,  S.  52). 
Gauss  erwidert,  er  sei  nicht  abgeneigt,  eine  ilmi  zu  Teil  werdende  Müsse 
X  2  Abh.  4.  2 


10  STÄCKEL,    GAUSS  AhS  GEOMETER. 

zur  Ausarbeitung  einer  Abhandlung  über  den  Gegenstand  zu  verwenden;  es 
werde  aber  erhebliche  Zeit  erfordert  werden,  um  die  ganze  Theorie  in  einer 
ihm  selbst  genügenden  Gestalt  auszuführen.  »Sie  sind  ganz  im  Irrtum,  wenn 
Sie  glauben,  dass  ich  darunter  nur  die  letzte  Politur  in  Beziehung  auf  Sprache 
und  Eleganz  der  Darstellung  verstehe.  Diese  kosten  vergleichungsweise  nur 
unbedeutenden  Zeitaufwand;  was  ich  meine,  ist  die  innere  Vollkommenheit. 
In  manchen  meiner  Arbeiten  sind  solche  Inzidenzjjunkte.  die  mich  jahrelanges 
Nachdenken  gekostet  haben,  und  deren  in  kleinem  Raum  konzentrierte  Dar- 
stellung nachher  niemand  die  Schwierigkeit  anmerkt,  die  erst  überwunden 
werden  mussj^te]«   'Brief  vom  5.  Februar  1850,  Br.  G.-Sch.  VI,  S.  58). 

Ähnliche  Äusserungen  finden  sich  in  dem  Briefe  an  Bessel  vom  28.  Fe- 
bruar J839  (Br.  G. -Bessel,  S.  524);  ihnen  gegenüber  vertritt  BesscI  in  dem 
Briefe  vom  28.  Juni  1839  (Br.  G. -Bessel,  S.  526)  mit  grosser  Wärme  den 
Standpunkt,  den  Schumacher  in  dem  Briefe  vom  2.  Dez.  1826  eingenommen 
hatte. 

Die  vollendete  Darstellung,  bei  der  Archimedes  und  Newton  für  Gauss 
die  Vorbilder  waren,  sollte  nur  das  äussere  Zeichen  der  inneren  Vollkommen- 
heit sein,  und  hier  erst  gewinnt  das  Wort  von  der  GAUSSSchen  Strenge  seine 
wahre  Bedeutung.  Von  den  Geometern  des  18.  Jahrhunderts  war  in  der 
Freude  über  die  Fülle  neuer  Entdeckungen,  zu  denen  die  Infinitesimal- 
rechnung die  Mittel  bot,  die  Sicherung  der  Grundlagen  ausser  Acht  gelassen 
worden.  Sehr  stark  tritt  das  bei  Euler  hervor,  bei  dem  gerade  die  grund- 
legenden Betrachtungen  viel  zu  wünschen  übrig  lassen ').  Dagegen  finden  sich 
schon  bei  d'Alembert  Ansätze  zu  einer  kritischen  oder  besser  skeptischen 
Auffassung,  und  Lagrange  hat  in  der  Theorie  des  fonctions  analytlques  geradezu 
das  Ziel  erstrebt,  den  Beweisen  den  Charakter  einleuchtender  Gewissheit  und 
Strenge  zu  geben,  der  die  Lösungen  der  Alten  auszeichnet').  Der  »rigor  apud 
veteres  consuetus«  ist  es,  den  der  junge  Gauss  im  bewussten  Gegensatz  zu 
den  Gepflogenheiten  des  18.  Jahrhunderts  auf  seine  Fahne  geschrieben  hat'). 
Im  hohen  Alter  hat  er  Schumacher  gegenüber  seine  Überzeugung  mit  folgenden 


1)  Vgl.    etwa  L.  Schlesinger   und  F.  Engei,   in   der  Vorrede    zu  Eulehs  Inslüuticmes  calculi  inte- 
gralis,  Opera  omnia,  ser.  I,  vol.  ii,  Leipzig  1'j13,  S.  XIII. 

•i)  J.  L.  Lagrange,  Tliiorie  des  fonctions  analytiques,  Paris  17S)7;  Oeuvres,  t.  a,  S.  184. 
3)  C.  F.  GAi;.f.s,  Disqidsitiones  arithmeticae,  Lipsiae  isni,  Praefatio  ;  W.  1,  S.  5. 


DIE   GRUNDLAGEN   DER   liEOMETRIE.  11 

Worten  ausgesprochen:  »Es  ist  der  Charakter  der  Mathematik  der  neueren 
Zeit  lim  Gegensatz  gegen  das  Altertum ,  dass  durch  unsere  Zeichensprache 
und  Namengebungen  wir  einen  Hebel  besitzen,  wodurch  die  verwickeltsten 
Argumentationen  auf  einen  gewissen  Mechanismus  reduziert  werden.  An 
Reichtum  hat  dadurch  die  Wissenschaft  unendlich  gewonnen,  an  Schönheit 
und  Solidität  aber,  wie  das  Geschäft  gewöhnlich  betrieben  wird,  eben  so  sehr 
verloren.  Wie  oft  wird  jener  Hebel  eben  n\u-  mechanisch  angewandt,  obgleich 
die  Befugnis  dazu  in  den  meisten  Fällen  gewisse  stillschweigende  Voraus- 
setzungen impliziert.  Ich  fordere,  man  soll  bei  allem  Gebrauch  des  Kalküls, 
bei  allen  BegiifFsverwendungen  sich  immer  der  ursprünglichen  Bedingungen 
bewusst  bleiben,  und  alle  Produkte  des  Mechanismus  niemals  über  die  klare 
Befugnis  hinaus  als  Eigentum  betrachten.  Der  gewöhnliche  Gang  ist  aber 
der,  dass  man  für  die  Analysis  einen  Charakter  der  Allgemeinheit  in  Anspruch 
nimmt  und  dem  Andern,  der  so  herausgebrachte  Resultate  noch  nicht  für 
bewiesen  anerkennt,  zumutet,  er  solle  das  Gegenteil  nachweisen.  Die  Zu- 
mutung darf  man  aber  nur  an  den  stellen,  der  seinerseits  behauptet,  ein 
Resultat  sei  falsch,  nicht  aber  dem,  der  ein  Resultat  nicht  für  bewiesen  aner- 
kennt, welches  auf  einem  Mechanismus  beruhet,  dessen  ursprüngliche,  wesent- 
liche BedingTingen  in  dem  vorliegenden  Fall  gar  nicht  zutreffen«  Brief  an 
Schumacher  vom    1.  September  J850,  W.   Xi,  S.  434;. 

Ein  zweiter  Grund  für  das  Missverhältnis  zwischen  dem  Reichtum  an 
Gedanken,  die  »bei  der  unglaublichen  Produktivität  in  dem  mächtigen  Gehirn 
auftauchten«  Sartorius,  S.  79),  und  dem  verhältnismässig  geringen  Umfang 
der  rein  mathematischen  ^'eröffentlichungen  von  Gauss  liegt  in  Hemmungen 
innerer  und  äusserer  Art,  die  bei  seiner  Art  des  Arbeitens  dem  Druckfertig- 
machen entgegenstanden. 

In  dem  schon  erwähnten  Briefe  an  Bessel  vom  28.  Februar  IS. 3 9  hatte 
Gauss  mit  einer  bei  ilim  ungewöhnlichen  Heftigkeit  des  Tones  hervorgehoben, 
er  brauche  zum  Ausarbeiten  »Zeit,  viel  Zeit,  viel  mehr  Zeit,  als  Sie  sich  wohl 
vorstellen  mögen.  Und  meine  Zeit  ist  vielfach  beschränkt,  sehr  beschränkt«. 
Solche  Klagen  über  Mangel  an  Zeit  für  die  theoretischen  Untersuchungen 
wiederholen  sich  beständig  in  den  Briefen.  Die  glücklichste  Zeit  seines  Lebens 
sind  wohl  jene  neun  .Jahre  von  1799  bis  180  7  gewesen,  die  er  als  Scliützling 
des   »edlen  Fürsten,    dem    er   alles,    was   er   war,    verdankte«    ^Brief  an  Oi.uers 


12  STÄCKEL,    GAUSS   ALS   GKOMETER. 

vom  'IH.  Februar  1802,  Br.  G.-C).  1,  S.  14)  in  Braiinschweig  zugebracht  hat. 
Noch  im  Alter  hat  er  dieser  Jahre  mit  Rührung  und  Dankbarkeit  gedacht. 
So  schreibt  er  am  15  Februar  184  5  an  Encke  über  Eisenstein,  der  damals 
mit  Unterstützung  des  Königs  von  Preussen  in  freier  Müsse  seinen  mathe- 
matischen Forschungen  nachging:  »Er  lebt  noch  in  der  glücklichen  Zeit,  wo 
er  sich  ganz  seiner  Begabung  hingeben  kann,  ohne  dass  er  nötig  hätte,  sich 
durch  irgend  etwas  Fremdartiges  stören  zu  lassen.  Ich  werde  lebhaft  an  die 
—  länest  vei-tiossenen  —  Jahre  erinnert,  wo  icli  in  ähnlichen  Verhältnissen 
lebte.  Von  der  andern  Seite  erfordern  auch  gerade  die  rein  mathematischen 
Spekulationen  eine  unverkümmerte  und  unzerstückelte  Zeit«  (Brief  im  Gauss- 
Archivi. 

Die  Pflichten  der  Professur  haben  schwer  auf  Gauss  gelastet,  zunächst 
sein  Amt  als  Leiter  der  Göttinger  Sternwarte.  »So  sehr  ich  die  Astronomie 
liebe«,  schreibt  er  am  28.  Juni  1820  an  Bessel  (Br.  G.-Bessel,  S.  353),  »fühle  ich 
doch  das  Beschwerliche  des  Lebens  eines  praktischen  Astronomen,  ohne  Hilf(-, 
oft  nur  zu  sehr,  am  peinlichsten  aber  darin,  dass  ich  darüber  fast  gar  nicht 
zu  irgend  einer  zusammenhängenden  grösseren  theoretischen  Arbeit  kommen 
kann«. 

Hierzu  traten  seit  1821  die  geodätischen  Messungen,  und  wenn  auch  die 
mühsamen  und  zeitraubenden  Arbeiten  im  Felde  für  Gauss  selbst  mit  dem 
Jahre  1825  beendet  waren,  so  behielt  er  doch  die  Oberaufsicht  über  die  Tri- 
angulationen und  führte  die  abschliessenden  Rechnungen.  »Mehr  als  zwanzig 
Jahre  hindurch«,  sagt  Gaede').  »hat  Gauss  unter  der  ermüdenden  Last  dieses 
Geschäftes  gelebt  und  gelitten,  welches,  wenn  einmal  in  Gang  gebracht  und 
in  zweckmässiger  Weise  schematisch  organisiert,  von  jedem  andern  ebenso 
gut  hätte  besorgt  werden  können,  während  Gauss  durch  die  massenhafte,  und 
sobald  die  Methode  feststand,  im  Wesentlichen  niu:  noch  mechanische  Rechen- 
arbeit der  Müsse  verlustig  ging,  deren  er  für  seine  schöpferische  Tätigkeit 
auf  spekulativem  Gebiet,  nach  seinem  eigenen  Zeugnis,  in  hohem  Masse  be- 
durfte«. 

Dazu  kam  die  Verpflichtung.  Vorlesungen  zu  halten.  »Für  eine  mathe- 
matische Lehrstelle  hat  er  eine  ganz  entschiedene  Abneigung«,  hatte  Olbers 
j 

1)  Gaede,  Beiträge  zur  Kenntnis  von  Gauss'  praktisch  -  geodätischen  Arbeiten,  Zeitschrift  für  Ver- 
mesgiingswesen,  Bd.  14,   isss;  :mch  als  selbständiges  Werk,   Karlsriilie   issr,,  erschienen,  S.  (;s. 


DIE  URUNDT.AGE^   DER   GEOMETKTE.  13 

am  3.  November  J80  2  au  Heeren  in  Göttingen  geschrieben,  als  es  sich  um 
eine  Berufung  von  Gauss  an  die  dortige  Universität  handelte,  »sein  Lieblings- 
wunsch ist,  Astronom  bei  irgend  einer  Sternwarte  zu  werden,  um  seine  ganze 
Zeit  zwischen  Beobachtungen  und  feinen,  tiefsinnigen  Untersuchungen  zur  Er- 
weiterung der  Wissenschaft  teilen  zu  können«  (Sartorius,  S.  31).  Allein  seine 
Stellung  an  der  Universität  brachte  es  mit  sich,  dass  er  »das  Handwerk  eines 
Professors«  (Sartorius,  S.  96)  ausiUien  musste.  Er  hat  es  mit  der  ihm  eigenen 
Gewissenhaftigkeit  getan,  aber  schon  in  dem  Briefe  an  Bessel  vom  2  7.  Januar 
1816  (Br.  G. -Bessel,  S.  232)  nennt  er  das  Kollegienlescn  »ein  sehr  lästiges, 
undankbares  Geschäft»,  und  ganz  besonders  bitter  werden  seine  Klagen,  als 
die  Last  der  geodätischen  Messungen  hinzukommt.  Die  in  Aussicht  stehende 
Berufung  nach  Berlin  veranlasst  ihn  1824  zu  dem  Ausruf:  »Ich  bin  ja  hier 
so  weit  davon  entfernt,  Herr  meiner  Zeit  zu  sein.  Ich  muss  sie  teilen  zwischen 
Kollegia  lesen  (wogegen  ich  von  jeher  einen  Widerwillen  gehabt  habe,  der, 
wenn  auch  nicht  entstanden,  doch  vergrössert  ist  durch  das  Gefühl,  welches 
mich  immer  dabei  begleitet,  meine  Zeit  wegzuwerfen)  und  praktisch  astrono- 
mische Arbeiten.  .  .  .  Was  bleibt  mir  also  für  solche  Arbeiten,  auf  die  ich 
selbst  einen  höhern  Wert  legen  könnte,  als  flüchtige  Nebenstunden?  Ein 
anderer  Charakter  als  der  meinige,  weniger  empfindlich  für  unangenehme  Ein- 
drücke, oder  ich  selbst,  wenn  manches  andere  anders  wäre,  als  es  ist,  wüi"de 
vielleicht  auch  solchen  Nebenstunden  noch  mehr  abgewinnen,  als  ich  es  im 
allgemeinen  kann«  (Brief  an  Bessel  vom  14.  März  1824,  Br.  G. -Bessel, 
S.  428).  Es  Hessen  sich  den  Briefen  an  die  vertrauten  Freunde  noch  zahl- 
reiche Klagen  dieser  Art  entnehmen.  Hier  möge  nur  noch  eine  Stelle  aus 
dem  Briefe  an  Gebers  vom  19.  Februar  1826  (Br.  G.-O.  2,  S.  438)  angeführt 
werden:  »Unabhängigkeit,  das  ist  das  grosse  Losungswort  für  die  Geistes- 
arbeiten in  die  Tiefe.  Aber  wenn  ich  meinen  Kopf  voll  von  in  der  liuft 
schwebenden  geistigen  Bildern  habe,  die  Stunde  heranrückt,  wo  ich  Kollegien 
lesen  muss,  so  kann  ich  Ihnen  nicht  beschreiben,  wie  angreifend  das  Ab- 
springen, das  Anfrischen  heterogener  Ideen  für  mich  ist,  und  wie  schwer  mir 
oft  Dinge  werden,  die  ich  unter  andern  Umständen  für  eine  erbärmliche  ABC- 
Arbeit  halten  würde.  .  .  .  Inzwischen,  lieber  Olbeüs,  will  ich  Sie  nicht  mit 
Klagen  über  Dinge  [er]müden,  die  niclit  zu  ändern   sind;   nu-ine  ganze  Stellung 


14  STÄCKEL,    GAUSS   ALS   GKOMETER. 

im  Leben  müsstc>  eine  andere  sein,  wenn  dergleichen  Widerwärtigkeiten  nicht 
öfter  eintreffen  sollten«. 

Aus  den  vorstehenden  Äusserungen  klingt  heraus,  dass  es  nicht  nur  Mangel 
an  Müsse  war,  der  den  Fortgang  der  theoretischen  Forschungen  hemmte,  son- 
dern dass  in  der  Gemütsverfassung  von  Gauss  Hinderungen  lagen.  »Es  ist 
wahr«,  schreibt  er  am  20.  April  1848  an  seinen  Jugendfreund  Bolyai  (Br.  G.- 
BoLYAi,  S.  132',  »mein  Leben  ist  mit  Vielem  geschmückt  gewesen,  was  die 
Welt  für  beneidenswert  hält.  Aber  glaube  mir,  lieber  Bolyai,  die  herben 
Seiten  des  Lebens,  wenigstens  des  meinigen,  die  sich  wie  der  rote  Faden  da- 
diu-ch  ziehen  und  denen  man  im  höheren  Alter  immer  wehrloser  gegenüber- 
steht, werden  nicht  zum  hundertsten  Teil  aufgewogen  von  dem  Ertreulichen. 
Ich  will  gern  zugeben,  dass  dieselben  Schicksale,  die  zu  tragen  mir  so  schwer 
geworden  ist  und  noch  ist,  manchem  andern  viel  leichter  gewesen  wären,  aber 
die  Gemütsverfassung  gehört  zu  unserm  Ich,  der  Schöpfer  unserer  Existenz 
hat  sie  uns  mitgegeben,  und  wir  vermögen  wenig  daran  zu  ändern«.  Es  ist 
hier  nicht  der  Ort,  von  dem  Leid  zu  sprechen,  das  Gauss  mehr  als  einmal 
in  seinem  Hause  betroffen  hat.  Es  hat  »die  Heiterkeit  des  Geistes«,  die  er 
zur  wissenschaftlichen  Arbeit  nötig  hatte,  "nur  zu  sehr  und  zu  vielfach  getrübt« 
Brief  an  Bessel  vom  28    Februar  1839,  Br.  G.-Bessel,  S.  524). 

Die  Empfindlichkeit  für  unangenehme  Eindrücke,  von  der  Gauss  in  dem 
Brief  an  Bessel  vom  14.  März  1824  spricht,  hat  sicherlich  dazu  beigetragen, 
dass  er  es  vermied,  in  seinen  Veröffentlichungen  Gegenstände  zu  berühren, 
die  zu  Streitigkeiten  Aulass  geben  konnten.  Wie  behutsam  geht  er  in  seiner 
Dissertation  mit  den  imaginären  Grössen  um,  und  gar  ihre  geometrische  Deu- 
tung, die  er  nach  seinem  Zeugnis  schon  vor  1799  besass,  hat  er  damals  unter- 
drückt und  erst  1831  bekannt  gemacht.  Ebenso  hat  er  seine  antieuklidische 
Geometrie  nicht  zur  Veröffentlichung  ausgearbeitet.  »Vielleicht  wird  dies  auch 
bei  meinen  Lebzeiten  nie  geschehen,  da  ich  das  Geschrei  der  Böoter  scheue, 
wenn  ich  meine  Ansicht  ganz  aussprechen  wollte«  Brief  an  Bessel  vom 
27.  Januar  1829,  W.  VHI,  S.  200). 

Diese  Scheu  war  verstärkt  Avorden  durch  böse  Erfahrungen,  die  Gauss 
machen  musste,  als  er  1816  in  der  Besprechung  der  Parallel entheorien  von 
Sciiwai!  und  Metternich  (W.  TV,  S.  304,  VHL  S.  170)  Andeutungen  über  die 
Unbeweisbarkeit    des    elften   EuKLinischen  Axioms    gewagt   hatte:    »Es   ist   mit 


DIE  GRUNDLAGEN   DER  GEOMETRIE.  15 

Kot  darnach  geworfen«,  schreibt  er  am  15.  Januar  1827  an  Schumacher  Br. 
G.-ScH.  II,  S,  94)').  Solche  Angriffe  hatte  Gauss  wohl  im  Auge,  wenn  er 
am  25.  August  1818  an  Gerling  schrieb:  »Ich  freue  mich,  dass  Sie  den  Mut 
haben,  sich  [in  Ihrem  Lehrbuchj  so  auszudrücken,  als  wenn  Sie  die  Möglich- 
keit, dass  unsere  Parallelentheorie,  mithin  unsere  ganze  Geometrie,  falsch 
wäre,  anerkennten.  Aber  die  Wespen,  deren  Nest  Sie  aufstören,  werden 
Ihnen  um  den  Kopf  fliegen^  (W.  VIII,  S.  179). 

Dazu  kam  die  geringe  Meinung,  die  Gauss  von  der  gi-ossen  Mehrzahl  der 
Mathematiker  hatte.  Bereits  am  16.  Dezember  1799  schreibt  er  an  Wolfgang 
BoLYAi,  der  ihm  einen  Versuch,  das  Parallelenaxiom  zu  beweisen,  übersandt 
hatte:  »Mach'  doch  ja  Deine  Arbeit  bald  bekannt;  gewiss  wirst  Du  dafür  den 
Dank  zwar  nicht  des  grossen  Publikums  ;worunter  auch  mancher  gehört,  der 
für  einen  geschickten  Mathematiker  gehalten  wird)  einernten,  denn  ich  über- 
zeuge mich  immer  mehr,  dass  die  Zahl  der  wahren  Geometer  äusserst  gering 
ist,  und  die  meisten  die  Schwierigkeiten  bei  solchen  Arbeiten  weder  beurteilen 
noch  selbst  einmal  sie  verstehen  können  —  aber  gewiss  den  Dank  aller  derer, 
deren  Urteil  Dir  allein  wirklich  schätzbar  sein  kann«  (W.  VIII,  S.  159).  Als 
Wolfgang  Bolyai  dann  im  Jahre  1832  seinem  Jugendfifeunde  die  Scientia 
spatii  absolute  vera  seines  Sohnes  Johann  übersandt  hatte,  in  der  das  Rätsel 
der  Parallelenfrage  gelöst  war ,  antwortete  dieser  am  6  März  183  2:  »Die 
meisten  Menschen  haben  gar  nicht  den  rechten  Sinn  für  das,  worauf  es  dabei 
ankommt,  und  ieh  habe  nur  wenige  Menschen  gefunden,  die  das,  was  ich 
ihnen  mitteilte,  mit  besonderem  Interesse  aufnahmen.  Um  das  zu  können, 
muss  man  erst  recht  lebendig  gefühlt  haben,  was  eigentlich  fehlt,  und  darüber 
sind  die  meisten  Menschen  ganz  unklar«  iW.  VIII,  S.  221).  Noch  schärfer 
äussert  sich  Gauss  in  einem  Briefe  an  Gerling  vom  25.  Juni  1815:  »Mir  däucht. 
es  ist  in  mehr  als  einer  Rücksicht  wichtig,  bei  den  Schülern  den  Sinn  für 
Rigor  wach  zu  erhalten,  da  die  meisten  Menschen  nur  gar  zu  geneigt  sind, 
zu  einer  laxen  Observanz  überzugehen.  Selbst  unsere  grössten  Mathematiker 
haben  meistenteils  in  dieser  Rücksicht  etwas  stumpfe  Fühlhörner»  ^Brief  im 
Gauss- Archiv).  Ein  gut  Teil  Menschenverachtung  aber  steckt  in  dem  Rat,  den 
Gauss  am  29.  September  1837  seinem  jüngeren  Freunde  Möbius  erteilt:   »Man 


1)  Von  wem  der  bösartige  Angriff'  ausgegangen  ist,  hat  sich  nocli  nicht  ermitteln  hissen. 


16  STÄCKEI,.    GAUSS  ALS   GEOMETER. 

muss  immer  bedenken,  dass,  wo  die  Leser,  für  welche  man  schreibt,  keinen 
Austoss  nehmen,  es  vielleicht  gar  nicht  wohlgetan  wäre,  tiefer  einzudringen, 
als  ihnen  frommt«  (W.  XI  i,  S.  19). 

Gauss  hat  bei  seinen  Klagen  über  mangelndes  Verständnis  wohl  auch  an 
die  Briefe  gedacht,  die  er  im  Jahre  1831  mit  Schumacher  gewechselt  hatte, 
als  dieser  glaubte,  das  Parallelenaxiom  bewiesen  zu  haben  (W.  VIII,  S.  210  — 
2 1 9).  Schumacher  liess  sich  von  der  Unzulänglichkeit  seines  Verfahrens  nicht 
überzeugen  und  sandte  den  ausführlichen  Brief  GAussens  vom  12.  Juli  1831 
an  Bessel.  »Eine  tolle  Geschichte«,  antwortete  dieser  am  1.  Aug.  1831,  »ist 
doch  die  im  GAUssschen  (hier  ziuückfolgenden)  Briefe  vorkommende,  dass  die 
Peripherien  zweier  Kreise  von  den  Halbmessern  /•  und  r'  nicht  im  Verhältnis 
r :  >•'  stehen  sollen.  Ich  bezweifele  dieses  nicht,  weil  Gauss  es  sagt;  allein 
diese  Ungleichheit  ist  mir  so  wenig  anschaulich,  dass  ich  mir,  nach  dem  alten 
KuLENKAMPschen  Ausdruck')  kein  Denkbild  davon  machen  kann«  (Abschrift 
des  Briefes  im  GAUss-Archiv). 

Die  Zurückhaltung,  die  Gauss  übte,  brachte  die  Gefahr  mit  sich,  dass 
andere  ihm  zuvorkamen,  und  das  ist  auch  wiederholt  geschehen.  Aber  in 
diesem  Punkte  war  Gauss  unempfindlich.  Am  30.  Januar  1812  schreibt  er 
an  Laplace:  »J'ai  dans  mes  papiers  beaucoup  de  choses  dont  peut-^tre  je 
pouiTai  perdi'e  la  priorite  de  la  publication,  mais  soit,  j'aime  mieux,  faire 
mürir  les  choses«  ^W.  Xi,  S.  374),  und  als  Abel  seine  Rechcrches  veröffent- 
licht hatte,  begnügt  er  sich  damit  festzustellen,  dass  der  Norweger  ihn  in 
Bezug  anf  etwa  ein  Drittel  der  Sachen  der  Mühe  überhoben  habe,  sie  aus- 
zuarbeiten, »zumal  da  er  alle  Entwickelungen  mit  vieler  Eleganz  und  Kon- 
zision  gemacht«  habe  Brief  an  Bessel  vom  30.  März  1828,  Br.  G. -Bessel, 
S.  47  7).  Bei  Johann  Bolyais  Scientia  spatii  fand  er  es  sogar  höchst  erfreulich, 
dass  gerade  der  Sohn  seines  alten  Freundes  ilim  auf  eine  so  merkwürdige  Art 
zuvorgekommen  sei  (Brief  vom  6.  März  1832,  W.  VIII,  S.  221). 


1)   Andrkas   GottlIEJ)   Kulenkamp    hiess    der    Inhiiber    des    Iliuidelsliaiises    in    Bremen,    bei    dem 
Bessel  von  Itus»  bis  ihu«  tätig  gewesen  war. 


DIE  GRUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  17 

A.     Von    den    Anfängen    der    nichteuklidischen    Geometrie    bis    zur 
Entdeckung  der  transzendenten  Trigonometrie  il792  — 1817). 

3. 

Einleitendes.     Die  Jugendzeit  (1792—1795). 

Als  Jacobi  am  5.  August  1827,  auf  Grund  eines  Briefes,  den  Schumacher 
an  ihn  gerichtet  hatte.  Legendre  mitteilte,  Gauss  habe  schon  1808  einen  Teil 
der  von  Jacobi  in  den  Astronomischen  Nachrichten  veröffentlichten  Sätze  be- 
sessen (Jacobi,  Werke  I,  S.  394),  antwortete  Legendre  am  30.  November: 
»Comment  se  fait-il  que  M.  Gauss  ait  ose  vous  faire  dire  que  la  plupart  de 
vos  theoremes  lui  etaient  connus  et  qu'il  en  avait  fait  la  decouverte  des  1808? 
Cet  exces  d'impudence  n'est  pas  croyable  de  la  part  d'un  homme  qui  a  assez 
de  merite  personel  pour  n'avoir  pas  besoin  de  s'approprier  les  decouvertes  des 
autres«  (S.  398),  und  am  14.  April  1828  setzt  er  hinzu:  »II  y  a  des  gens  comme 
M.  Gauss,  qui  ne  se  feraient  pas  scrupule  de  vous  ravir,  s'ils  le  pouvaient, 
le  fruit  de  vos  recherches,  et  de  pretendre  qu'elles  sont  depuis  longtemps  en 
leui'  possession.  Pretention  bien  absurde  assurement:  car  si  M.  Gauss  etait 
tombe  sur  de  pareilles  decouvertes  qui  surpassent,  k  mes  yeux,  tout  ce  qui  a 
ete  fait  jusqu'ici  en  analyse,  bien  sürement  il  se  serait  empress6  de  les  publier« 
(S.  418). 

Der  Nachlass  von  Gauss  hat  demgegenüber  gezeigt,  dass  dieser  bereits 
im  Jahre  1797  begonnen  hatte,  die  lemniskatischen  Funktionen  zu  untersuchen, 
dass  er  bis  zum  Jahre  1800  die  wesentlichen  Eigenschaften  der  allgemeinen 
elliptischen  Funktionen  erkannt  hatte  und  dass  er  im  Jahre  1808  diese  Unter- 
suchungen wieder  aufgenommen  und  sich  dem  Problem  der  Teilung  zugewandt 
hatte,  auf  das  sich  jene  von  Jacobi  entdeckten  Sätze  beziehen. 

Ebenso  sind  in  anderen  Fällen  die  Angaben,  die  Gauss  über  seine  mathe- 
matischen Entdeckungen  gemacht  hat,  durch  Aufzeichnungen  im  Nachlass  oder 
durch  Briefe  bis  in  die  Einzelheiten  hinein  bestätigt  worden.  Wie  konnte  es 
auch  anders  sein,  bei  einem  Manne  von  so  gi'osser  Wahrheitsliebe  und  Ge- 
wissenhaftigkeit? Dazu  wurde  Gauss  durch  ein  ungewöhnlich  treues  Gedächtnis 
unterstützt.  Auch  hat  er  häufig  die  Aufzeichnungen  aus  den  Jahren  1791) 
bis  1815  benutzt,  die  er  sich  in  einem  Notizenjournal  oder  Tagebuch  gemaclit 
hatte  (W.  Xi,  S  488  —  572);  in  der  späteren  Zeit  pflegte  er  umgekehrt  in  Hand- 

X2  Abh.  4.  3 


18  STÄCKET,,    GAUSS  ALS  GEOMETKR. 

biicher  kurze  Bemerkungeu  über  mathematische  Sätze  einzutragen,  die  er  in 
Briefen  erwähnt  hatte,  (iewiss  kommen  gelegentlicli  Angaben  vor,  die  ein- 
ander zu  widersprechen  scheinen,  allein  in  den  allermeisten  Fällen  haben  sie 
sich  bei  sorgföltiger  Deutung  in  llbereinstinimung  bringisn  lassen,  und  so  wird 
man  den  Äusserungen  von  Gauss  über  die  Entstehung  seiner  Gedanken  volles 
Vertrauen  entgegenbringen  dürfen. 

Hiernach  sind  auch  die  Äusserungen  zu  beurteilen,  di(>  Gauss  über  die 
Anfange  seiner  Beschäftigung  mit  den  Grundlagen  der  (ieometrie  gemacht  hat. 

Am  28.  November  1846  schreibt  Gauss  an  Schumacher,  er  liabe  schon 
im  Jahre  1792,  also  mit  15  Jahren,  an  eine  Geometrie  gedacht,  »die  statt- 
finden müsste  und  strenge  konsequent  stattlinden  könnte,  wenn  die  EuKi,inische 
Geometrie  nicht  die  wahre  ist",  das  lieisst,  wenn  das  elfte  Axiom  nicht  gilt 
(W.  VIII,  S.  238'.  Hiermit  ist  jedenfalls  nur  das  erste  Aufblitzen  des  Ge- 
dankens gemeint.  Denn  unmittelbar  vorher,  am  2.  Oktober  1846,  hatte  Gauss 
zu  Gerling  geäussert,  der  Satz,  dass  in  jeder  vom  Farallelenaxiom  unab- 
hängigen CJeometrie  der  Flächeninhalt  eines  Vielecks  der  Abweichung  der 
Summe  der  Aussenwinkel  von  360"  proportional  ist,  sei  "der  erste,  gleichsam 
an  der  Schwelle  liegende  Satz  der  Theorie,  den  ich  schon  im  Jahr  17  94  als 
notwendig  erkannte«  (W.  VIII,  S.  266).  Wir  werden  sehen,  dass  diese  Be- 
ziehung zwischen  dem  Inhalt  und  der  Winkelsumme  eines  Vielecks  einen 
Angelpunkt  der  GAUSSSchen  Theorie  gebildet  hat.  und  dürfen  daher  annehmen, 
dass  der  Zeitpunkt,  wo  er  zu  einer  solcluai  grundkgendf'n  Einsicht  gelangt 
war,  sich  ihm   fest  eingeprägt  hatte. 

Als  Woi.FGANG  BoLYAi  sciuem  Jugendfreunde  die  Scientia  spatii  abso- 
lute vera  seines  Sohnes  JoHAN^  übersandt  hatte,  bemerkte  Gauss  am  6.  März 
1832,  der  ganze  Inhalt  der  Schrift  komme  fast  durchgeliends  überein  »mit 
seinen  eigenen,  zum  'J'eile  schon  seit  30  bis  35  Jahren  angestellten  Medita- 
tionen« fW.  VIII,  S  22 r.  Man  wird  damit  bis  auf  die  Jahre  von  1797  bis 
1802  zurückgeführt.  Zu  dieser  Zeit  hat  Gauss  also  angefangen,  in  weiterem 
Umfange  die  Folgen  zu  entwickeln,  die  sich  ergeben,  wenn  man  die  Wahr- 
heit des  elften  EuKi.inischen  Axioms  leugnet.  In  der  Tat  bringt  das  Tagebuch 
unter  dem  September  1799  T.  Nr.  99  die  Eintragung:  »In  principiis  geome- 
triae  egi'egios  progressus  fecimus«.  Worin  diese  ausgezeichneten  Fortschritte 
bestanden  haben,  wird  noch  zu  erörtern  sein. 


niE  GRUNDLAGEN   DER  (JEOMETRIE.  19 

Gehen  wir  in  der  Reihe  der  Zeugnisse  weiter.  Kurz  vorher,  am  17.  Mai 
1831,  hatte  Gauss  an  Sciiumachek  berichtet,  er  habe  »angefangen,  einiges  von 
seinen  Meditationen  über  die  Parallellinien  aufzAischreibeu.  die  zum  Teil  schon 
gegen  40  Jahr  alt  sind«  (W.  VIII,  S.  213).  Er  geht  also  hier  bis  auf  die 
keimhaften  Ursprünge  zurück,  für  die  er  die  Jahre  1792  und  1794  genannt 
hatte.  Dieselbe  Datierung  tindet  sich  in  dem  Briefe  an  Taurinus  vom  8.  No- 
vember 1824:  »Ich  vermute,  dass  Sie  sich  noch  nicht  lange  mit  diesem  Gegen- 
stande [der  Parallelentheorie  I  beschäftigt  haben.  Bei  mir  ist  es  über  3(»  Jahr, 
und  ich  glaube  nicht,  dass  jemand  sich  eben  mit  diesem  zweiten  Teil  [wo  die 
Winkelsumme  des  Dreiecks  kleiner  als  zwei  Rechte  ist]  mehr  beschäftigt  haben 
könne  als  ich,  obgleich  ich  niemals  darüber  etwas  bekannt  gemacht  habe« 
(W.  VIII,  S.  186). 

4. 

Fortschritte  in  den  Grundlagen  der  Geometrie  (1795 — 1799). 

Als  Gauss  im  Oktober  1795  seine  Studien  in  Göttingen  begann,  hatte 
er  bereits,  wie  wir  bemerkten,  die  schwache  Stelle  des  EuKLioischen  Lehr- 
gebäudes erkannt  und  war  wenigstens  bei  dem  Inhalt  der  Vielecke  den  Folge- 
rungen nachgegangen,  die  sich  aus  der  Verwerfung  des  Parallelenaxioms  ergeben. 

Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Geometrie  haben  gegen  das 
Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  die  Mathematiker  und  darüber  hinaus  weite 
Kreise  der  Gebildeten  lebhaft  beschäftigt.  Von  zwei  Seiten  waren  Anregungen 
dazu  gekommen. 

Seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  hatten,  um  nur  einige  wichtige 
Namen  zu  nennen,  Hume,  Leibniz,  d'Alembert  die  Frage  nach  dem  Wesen 
der  mathematischen  Erkenntnis  aufgeworfen,  und  durch  Kants  Kritik  der 
reinen  Vernunft  (1781,  17  87)  war  diese  Frage  geradezu  in  den  Mittelpunkt 
der  philosophischen  Erörterungen  gestellt  worden.  Dabei  war  es  besonders 
die  Parallelentheorie,  an  der  sich  Berufene  und  Unberufene  versuchten,  denn 
dem  elften  EuKuoischen  Axiom  fehlte  jenes  Merkmal  der  einleuchtenden  Ge- 
wissheit, die  dem  Apriorischen  eigen  sein  sollte ') ;  es  ist  deutlich  zu  erkennen, 


1)  I.  Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft,  l.  Aufl.  I78i,  S.  2.5,  J.  Aufl.  1777,  S.  3«:  »So  werden  auph 
alle  geometrischen  Grundsätze  .  .  .  niemals  ans  allgemeinen  Begriffen  .  .  .,  sondern  aus  der  Anschauung, 
und  zwar  a  priori  mit  apodiktischer  Gcvvissheit  horgeleitet". 

3* 


20  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

wie  mit  dem  Jahre   1781    die  Flut  der  Veröffentlichungen  anschwillt,  die  sich 
auf  die  Parallelenfrage  beziehen':. 

Noch  von  einer  anderen  Seite  kamen  Einwirkungen.  Der  französische 
Umsturz  führte  zur  Gründung  neuer  Hochschulen  in  Paris,  der  Ecole  poly- 
technique  und  der  Ecole  normale,  an  die  die  bedeutendsten  Mathematiker  des 
Landes  berufen  wurden.  Dies  veranlasste  sie,  zu  den  Elementen  ihrer  Wissen- 
schaft zurückzukehren.  Lagrange  verschmähte  es  nicht,  Vorlesungen  über 
die  Elemente  der  Arithmetik  und  Algebra  zu  halten^),  und  Legendre  liess 
1794  seine  Elemente  der  Geometrie  erscheinen,  die  einen  ungewöhnlichen 
Erfolg  hatten  und  1823  ihre  zwölfte  Auflage  erlebten^).  In  der  Parallelen- 
theorie war  Legendre  bemüht  gewesen,  die  bei  Euklid  vorhandenen  Mängel 
zu  beseitigen,  aber  die  beständigen  Änderungen  bei  den  auf  einander  folgenden 
Aullagen  zeigen,  dass  er  auf  schwankendem  Boden  stand;  wie  seine  letzte, 
zusammenfassende  Veröffentlichung  vom  Jahre  1833  erkennen  lässt*),  hat  er 
sich  niemals  zu  dem  Gedanken  der  Unbeweisbarkeit  des  elften  Axioms  erheben 
können '). 


1)  Vgl.  das  Literaturverzeichnis  bei  F.  Stäckel  und  F.  Engel,  die  Theorie  der  Parallellinien  von 
EiMid  bis  auf  Gatiss,  Leipzig  isas;  im  Folgenden  angeführt  mit  P.  Th. 

2)  J.  L.  Lagrange,  Lefons  eUmentaires  sur  les  mathimatiques,  donnees  ä  l'Ecole  normale  en  1795, 
Oeuvres  t.  7,  S.  183. 

3)  A.  M.  Legendre,  Elements  de  geometrie,  Paris  1794;  12.  ed.,  Paris  1823. 

4)  A.  M.  Legendre,  Iteflexions  sur  les  differentes  manieres  de  demontrer  la  theoric  des  paralleles, 
Mem.  de  l'Acad.,  t.  12,  annee  1828,  Paris  1833,  S.  367. 

5)  In  dem  Briefe  an  Olbers  vom  30.  Juli  180«  (W.  VIII,  S.  13»,  165)  bemerkt  Gauss,  es  scheine  sein 
Schicksal  zu  sein,  in  fast  allen  seinen  theoretischen  Arbeiten  mit  Legendre  zu  konkurrieren,  und  führt 
dafür  an:  die  höhere  Arithmetik,  die  transzendenten  Funktionen,  welche  mit  der  Rektifikation  der  Ellipse 
zusammenhängen,  die  ersten  Gründe  der  Geometrie  und  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate. 

Für  die  höhere  Arithmetik  kommt  in  Betracht  Legendres  Essay  sur  la  thiorie  des  nombres,  Paris 
1798,  dessen  Verhältnis  zu  den  Disquisitiones  arithnieticae  Tscheisyscheff  in  seiner  Theorie  der  Kongruenzen 
(deutsch  von  Schapira,  Berlin  18S0)  gut  gekennzeichnet  hat;  im  Besonderen  ist  noch  das  Reziprozitätsgesetz 
der  quadratischen  Reste  zu  nennen;  vgl.  Bachmann,  W.  X  2,  Abh.  1,  S.  14.  Die  elliptischen  Integrale  hat 
Legendre  in  dem  grundlegenden  Memoire  sur  les  transcendantes  elli2itiques,  Paris  1;ü4  behandelt  und  ihnen 
dann  zwei  umfangreiche  Werke  gewidmet:  Exercices  de  calcul  integral,  3  Bände,  Paris  isii  — 1816;  Traiti 
des  fonctions  elliptiques,  3  Bände,  Paris  I82.s— 1832.  Die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  entwickelt  Le- 
gendre in  den  Nouvelles  mähodes  pour  la  determination  des  orbites  des  com'etes,  Paris  isos,,  während  die 
Theoria  motus  corporum  coelestium  von  Gaus.s  erst  isoii  erschienen  ist  (vgl.  auch  W.  VIII,  S.  136—141 
und  X  1,  S.  37  3  und  3  8  0). 

Hinzuzufügen  wäre  noch,  dass  Gauss  und  I^egendke  sich  mit  der  Theorie  und  Praxis  der  Geodäsie 
beschäftigt   haben   und   dass  Legendres  Satz   über   die  Zurückführung   eines   kleinen  sphärischen  Dreiecks 


DIE  GRUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  21 

Die  Universität  Göttingen  nahm  lebhaften  Anteil  an  der  Bewegung,  deren 
Hervortreten  soeben  geschildert  wurde.  Professor  der  Mathematik  war  damals 
K.\ESTNER  1719 — 1800;.  Er  hat  die  Literatur  über  die  Parallelcntheorie  eifrig 
gesammelt  und  eine  noch  heute  wertvolle  Dissertation,  Ki.ügels  Recennio  cona- 
tuum  praecipuorum  theuriam  paraUelarum  demontitrandi  vom  Jahre  1703,  veran- 
lasst. In  dem  Nachwort  meint  Kaestner,  ein  Beweis  des  Parallelenaxioms 
sei  niu'  zu  erhoffen  durch  eine  genauere  Ausbildung  der  Geometrie  der  Lage, 
die  mit  Leibniz  untergegangen  sei.  Gegenwärtig  bleibe  nur  übrig,  offen  die 
Forderung  Euklids  als  solche  auszusprechen;  niemand,  der  bei  gesunden  Sinnen 
sei.  werde  sie  bestreiten  wollen.  In  seinen  späteren  Vorlesungen  hat  Kaest- 
ner »an  der  Möglichkeit  der  Lösung  verzweifelnd  mit  unbegi-eifiicher  Resig- 
nation, anstatt  nach  der  wahren  Demonstration  zu  forschen,  ein  blindes  An- 
nehmen angeraten«  (P.  Th.  S.  139  — 141).  Ähnlich  wie  Kaestner  dachte  auch 
sein  Kollege  an  der  Nachbar-Universität  Helmstedt,  Jon.  Friede.  Pfaff  (1765 — 
1825),  der  meinte,  alles  was  sich  tun  Hesse  sei,  das  Parallelenaxiom  durch  ein 
einfacheres  zu  ersetzen,  es  zu  simplifizieren  (P.  Th.  S.  2 1  5). 

Als  Gauss  nach  Göttingen  kam,  habilitierte  sich  gerade  für  Mathematik 
J.  WiLDT  (1770  —  1844;  mit  einer  Probeschrift  über  die  Parallelentheorie'). 
Ein  Liebhaber  auf  diesem  Gebiete  war  auch  der  ausserordentliche  Professor 
der  Astronomie  Carl  Felix  Seyffer  (1762  —  1822).  Im  Jahre  1801  hat  er 
zwei  Besprechungen  von  Versuchen,  das  Parallelenaxiom  zu  beweisen,  in  den 
Göttinger  Gelehrten  Anzeigen  veröffentlicht;  sie  zeigen,  dass  er  die  Schriften 
mit  Verständnis    und  Urteil    gelesen    hatte;    ja   Seyffer    war    zu    der  Einsicht 


auf  ein  ebenes  Dreieck  mit  ebenso  langen  Seiten  auf  die  Untersuchungen  von  Gauss  zur  allgemeinen  Lehre 
von  den  krummen  Flächen  anregend  gewirkt  hat.  Auch  bei  der  Anziehung  der  homogenen  Ellipsoide  sind 
beide  zusammengetroffen ;  für  Legendke  sind  hier  zu  nennen  die  Abhandlungen  in  den  Memoires  des  savants 
toangers,  t.  lo,  Paris  ivss  und  in  den  Memoires  de  l'Institut,  annee  isio,  2.  partie,  Paris  isu.  Endlich 
sind  noch  die  Arbeiten  über  das  von  Gauss  mit  H,  von  Legendre  mit  F  bezeichnete  EULERsche  Integral 
zu  erwähnen  {Exercices,  t.  1,  S.  222 — 307). 

Die  Vergleichung  der  Leistungen  zeigt,  dass  Legendre  mit  scharfem  Blick  die  Stellen  erkannt  hatte, 
an  denen  die  mathematische  Forschung  mit  Erfolg  einsetzen  konnte.  Seinem  unermüdlichen  Fleiss  und 
analytischen  Geschick  ist  eine  Reihe  schöner  Erfolge  zu  Teil  geworden,  jedoch  blieb  er  überall  auf  einer 
Stufe  stehen,  die  zu  überschreiten  erst  dem  Genie  von  Gauss  vergönnt  war.  Mit  besonderer  Deutlichkeit 
tritt  dies  bei  den  Grundlagen  der  Geometrie  hervor. 

1)  J.  WlLDT,  Theses  quae  de  lineis  parallelis  respondent,  Göttingen  I7;i5.  Wildt  hat  in  den  Göt- 
tinger  Gelehrten  Anzeigen,  Jahrgang  isoo,  S.  ireii— 1772  drei  »auf  reiner  Anschauung  beruhende  Beweise, 
des  elften  Axioms  veröffentlicht. 


22  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

gekommen,  dass  »es  mehr  als  zweifelhaft  scheine,  ob  es  überhaupt  möglich 
sei,  das  elfte  Axiom  zu  beweisen,  ohne  ein  neues  Axiom  zu  Hilfe  zu  nehmen« 
(P.  Th.  S.  214). 

Während  Gauss  zu  Kaestner  und  Wii.dt  in  kein  uälieres  Verhältnis  ge- 
treten ist,  hat  er  mit  Seyffer  verkehrt  und  ist  mit  ihm  bis  zu  dessen  Tode 
im  Briefwechsel  geblieben.  Ihre  Unterhaltungen  haben  auch  die  Parallelen- 
theorie betrotten,  denn  am  26.  Juni  1801  schreibt  Seyffer  an  Gauss:  «Viel- 
leicht ist  es  Ihnen  nicht  uninteressant,  dass  die  Rezension  in  der  hiesigen 
Zeitung  [den  Gott.  Gel.  Anzeigen]  über  die  Theorie  der  Parallelen  von  Schwab 
von  mir  war.  Ich  wünschte,  dass  Sie  mir  Ihre  lehrreichen  Ideen  hierüber 
gelegentlich  sagten«  (Brief  im  GAuss-Archivi. 

Im  Hause  Setffers  hat  Gauss  seinen  besten  Jugendfreund,  den  Ungarn 
Wolfgang  Bolyai  kennen  gelernt.  »Als  Wolfgang  nach  Göttingen  kam«, 
erzählt  sein  Sohn  Johann,  »traf  er  mit  Gauss  zufällig  bei  dem  Professor 
[Seyffer]  zusammen  und  äusserte  sich  da  freimütig  und  entschieden  über  die 
Leichtfertigkeit  der  Behandlung  der  Mathematik:  kurz  darauf  begegnete  er 
Gauss  am  Walle  beim  Spazierengehen;  sie  näherten  sich  einander.  Mein 
Vater  sprach  unter  anderem  von  seinen  Gedanken  behufs  Erklärung  der  ge- 
raden Linie  und  der  etwaigen  Wege  zum  Beweise  des  elften  Axioms,  und 
der  damals  schon  zum  Koloss  in  den  höheren  Regionen  der  Wissenschaft, 
besonders  der  Zahlenlehre,  emporgewachsene  Gauss  brach  ergötzt,  überrascht 
in  die  lakonischen  Worte  aus:  Sie  sind  ein  Genie;  Sie  sind  mein  Freund!, 
worauf  sogleich  das  Band  der  Brüderschaft  erfolgte«  'j.  Über  den  Verkehr 
zwischen  den  beiden  Freunden  berichtet  Wolfgang:  »Er  war  sehr  bescheiden 
und  zeigte  wenig;  nicht  di'ei  Tage,  wie  mit  Plato,  jahrelang  konnte  man  mit 
ihm  zusammen  sein,  ohne  seine  Grösse  zu  erkennen.  Schade,  dass  ich  dieses 
titellose,  schweigsame  Buch  niclit  aufzumachen  und  zu  lesen  verstand.  Ich 
wusste  nicht,  wie  viel  er  weiss,  und  er  hielt,  nachdem  er  meine  Art  sah,  viel 
von  mir,  ohne  zu  wissen,  wie  wenig  ich  bin.  Uns  verband  die  wahre  (nicht 
oberflächliche)  Leidenschaft  für  die  Mathematik  und  unsere  sittliche  Über- 
einstimmung, so  dass  wir  oft,  mit  einander  wandernd,  mit  den  eigenen  Ge- 
danken beschäftigt  stundenlang  wortlos  waren«  (Bol.  S.  9). 

1)  WoLFGANa  und  Johann  Bolyai,  Geometrische  Untersuchungen,  herausgegeben  von  P.  Stäckel, 
Leipzig   l'Ji:),   I.Teil:  Leben  und  Schriften  dfr  beiden  BoLYAI,  S.  8 ;  im  Folgenden  angeführt  mit  BoL. 


DIE  GRÜNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  23 

Was  BoLYAi  und  Gauss  über  das  Parallelenaxiom  mit  einander  verhandelt 
haben,  wissen  wir  nicht.  Wohl  aber  wissen  wir,  dass  Wolfgang,  nachdem 
sein  Freund  im  Herbst  I  798  nach  Braunschweig  zurückgekehrt  war,  sich  auge- 
strengt bemüht  hat.  das  Axiom  zu  beweisen  und  dass  er  im  Mai  1799  sein 
Ziel  erreicht  zu  haben  glaubte.  Bolyai  ist  nämlich,  ehe  er  Deutschland  ver- 
liess,  noch  einmal  mit  Gauss  zusammengetroffen.  Am  24.  Mai  1799  haben 
die  beiden  zu  Klausthal  im  Harz  von  einander  Abschied  genommen,  und  bei 
dieser  Zusammenkunft  hat  Wolfgang  von  seiner  »Göttinger  Parallelentheorie« 
erzählt.  Hierauf  bezieht  sich  eine  Stelle  des  Briefes  von  Gauss  an  Wolfgang 
vom  16.  Dezember  1799;  »Es  tut  mir  sehr  leid,  dass  ich  unsere  ehemalige 
grössere  Nähe  nicht  benutzt  habe,  um  mehr  von  Deinen  Arbeiten  über  die 
ersten  Gründe  der  Geometrie  zu  erfahren;  ich  würde  mir  gewiss  daduicli 
manche  vergebliche  Mühe  erspart  haben  und  ruhiger  geworden  sein,  als  jemand 
wie  ich  es  sein  kann,  so  lange  bei  einem  solchen  Gegenstande  noch  so  viel 
zu  desiderieren  ist.  Ich  selbst  bin  in  meinen  Arbeiten  darüber  weit  vorge- 
rückt (wiewohl  mir  meine  andern  ganz  heterogenen  Geschäfte  wenig  Zeit  dazu 
lassen; ;  allein  der  Weg,  den  ich  eingeschlagen  habe,  führt  nicht  so  wohl  zu 
dem  Ziele,  das  man  wünscht  und  welches  Du  erreicht  zu  haben  versicherst, 
als  vielmehr  dahin,  die  Wahrheit  der  Geometrie  zweifelhaft  zu  macheu«  iW. 
Vni,   S.  159). 

Die  Ergebnisse,  zu  denen  Gauss,  wie  das  Tagebuch  (T.  Nr.  99)  zeigt,  im 
September  1799  gelangt  war,  hat  er  in  dem  Briefe  nur  angedeutet  Er  fährt 
fort:  »Zwar  bin  ich  auf  manches  gekommen,  was  den  meisten  schon  für  einen 
Beweis  gelten  würde,  aber  was  in  meinen  Augen  so  gut  wie  Nichts  beweist, 
z.  B.  wenn  man  beweisen  könnte,  dass  ein  geradliniges  Dreieck  möglich  sei, 
dessen  Inhalt  grösser  wäre  als  jede  gegebene  Fläche,  so  bin  ich  im  Stande 
die  ganze  Geometrie  völlig  strenge  zu  beweisen.  Die  meisten  würden  nun 
wohl  jenes  als  ein  Axiom  gelten  lassen;  ich  nicht;  es  wäre  ja  wohl  möglich, 
dass,  so  entfernt  man  auch  die  drei  Eckpunkte  des  Dreiecks  im  Räume  von 
einander  annähme,  doch  der  Inhalt  immer  unter  (infra^i  einer  gegebenen 
Grenze  wäre.  Dergleichen  Sätze  habe  ich  mehrere,  aber  in  keinem  linde  ich 
etwas  Befriedigendes«  (W.  VIII,  S.  159  . 

Aufzeichnungen  über  die  Untersuchungen,  von  denen  Gauss  spricht,  sind 
uns    nicht    erhalten.      Es    ist   jedoch    sehr    wahrscheinlich,    dass    der    Brief   an 


24  STÄCKEL,    GAUSS  AT,S  GEOMETER. 

BoLYAi  vom  6.  März  1832  (W.  VIII.  S.  220)  einen  Teil  dieser  Untersuchungen 
wiedergibt.  In  diesem  wiederholt  angeführten  Briefe  sagt  Gauss,  dass  er  schon  vor 
30  bis  35  Jahren  Meditationen  über  die  Grundlagen  der  Geometrie  angestellt  habe 
und  dass  zu  seiner  Überraschung  die  Ergebnisse  der  Scientia  spatii  Johann  Bol- 
YAis  fast  dui'chgehends  damit  übereinstimmten.  In  manchem  Teile  habe  er  etwas 
andere  Wege  eingeschlagen  und  als  ein  Specimen  füge  er  in  den  Haviptzügen 
einen  rein  geometrischen  Beweis  des  Lehrsatzes  bei,  dass  in  der  antieuklidi- 
schen Geometrie  die  Differenz  der  Winkelsumme  eines  Dreiecks  von  180"  dem 
Flächeninhalte  proportional  sei.  Der  Beweis  beginnt  mit  dem  Satze,  dass  das 
asymptotische  Dreieck,  bei  dem  die  drei  Ecken  im  Unendlichen  liegen,  eine 
bestimmte  endliche  Area  habe.  Eine  Herleitung  wird  nicht  angegeben'.  Für 
den  Inhalt  eines  Dreiecks,  bei  dem  eine  Ecke  im  Endlichen  liegt,  während 
die  Gegenseite  zu  den  beiden  anderen  Seiten  asymptotisch  ist.  ergibt  sich 
dann  eine  Funktionalgleichung,  die  im  Gebiete  der  stetigen  Funktionen  leicht 
gelöst  werden  kann.  Nun  entsteht  ein  ganz  im  Endlichen  liegendes  Dreieck 
aus  einem  asymptotischen  Dreieck  durch  Wegnahme  von  solchen  Dreiecken, 
bei  denen  eine  Ecke  im  Endlichen  liegt,  und  so  folgt  schliesslich  die  zu  be- 
weisende Behauptung. 

Wie  immer  auch  Gauss  im  Jahre  17  99  vorgegangen  sein  mag,  so  zeigt 
sein  Brief  von  16.  Dezember  1799  auf  jeden  Fall,  dass  er  sich  damals  auf 
dem  Wege  befand,  den  vor  ihm  Saccheri  (1733)  und  Lambert  (1766)  einge- 
schlagen hatten,  nämlich  planmässig  die  Folgerungen  zu  entwickeln,  die  sich 
aus  der  Annahme  ergeben,  das  EuKuoische  Parallelenaxiom  sei  nicht  erfüllt. 
Da  Gauss  hierbei  auf  keinen  Widerspruch  kam,  wurde  ihm  die  Wahrheit  der 
EuKLioischen  Geometrie  zweifelhaft.  Den  Gedanken,  dass  die  nichteuklidische 
Geometrie  »wahr«  sein  könne,  hatte  übrigens  schon  Lambert  offen  ausgesprochen 
(P.  Th.  S.  200). 

Hierbei  erheben  sich  die  Fragen,  ob  Gauss  jene  Arbeiten  gekannt  und 
wann  er  sie  möglicher  Weise  kennen  gelernt  hat.  Gewiss  sind  sie  ihm  in 
der  Göttinger  Universitätsbibliothek,    die    er   als    Student   fleissig   benutzt   hat. 


1)  Man  kann  durch  eine  einfache,  nur  die  allerersten  Eigenschaften  asymptotischer  Geraden  be- 
nutzende Zeichnung  ein  solches  Dreieck  in  ein  inhaltgleiches,  ganz  im  Endlichen  liegendes  Viereck  ver- 
wandeln. Vgl.  H.  Liebmann,  Zur  nichteuklidischen  Geometrie,  Leipziger  Berichte,  Bd.  68,  lao«,  S.  5i;ii; 
Nichteuklidische   Geometrie,  2.  Aiifl.,  Leipzig   IU12,  S.  s.i. 


DIE  GRUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  25 

zugänglich  gewesen.  Allein  man  muss  bedenken,  dass  diese  Schriften  Wolf- 
gang BoLYAi  unbekannt  geblieben  sind;  dies  geht  mit  voller  Sicherheit  aus 
den  Äusserungen  seines  Sohnes  hervor  (Bol.  S.  221 — 223). 

Dass  andererseits  später  in  den  Kreisen  der  Schüler  von  Gauss  von  Lam- 
berts Theorie  der  Parallellinien  gesprochen  wiude,  zeigen  Briefe  von  Bessel 
an  Encke  vom  9.  Juli  1821  und  von  Encke  an  Bessel  vom  13.  Oktober  1821 
(Abschriften  im  CJAUss-Archiv).  Auch  wird  Lambert  in  dem  Briefe  Bessels 
an  Gauss  vom  10.  Februar  1829  erwähnt  (W.  VELL  S.  201).  Endlich  besass 
Gauss  die  Mathematischen  Abhandlungen  von  J.  W.  H.  Lehmann,  Zerbst  1829, 
in  denen  Saccheri  und  Lambert  angeführt  werden;  Randbemerkungen  und 
Spuren  des  Gebrauches  lassen  darauf  schliessen,  dass  Gauss  darin  geleseu  und 
die  auf  die  Parallelentheorie  bezüglichen  Stellen  beachtet  hat '). 

Entscheidend  für  die  Beurteilung  der  Leistung  von  Gauss  ist  der  Umstand, 
dass  weder  Saccheri  noch  Lambert  bis  ziu-  nichteuklidischen  ebenen  Trigono- 
metrie vorgedrungen  sind,  wenn  ihr  auch  Lambert  durch  den  Gedanken,  »die 
dritte  Hypothese  komme  bei  einer  imaginären  Kugelfläche  vor«  (P.  Th.  S.  203) 
nahe  gekommen  war;  denn  erst  die  Trigonometrie  sichert  für  die  Ebene  die 
Widerspruchslosigkeit  der  absoluten  Geometrie  und  führt  damit  zu  der  Über- 
zeugung, dass  alle  Versuche,  das  Parallelenaxiom  durch  Konstruktionen  in 
der  Ebene  zu  beweisen,  vergeblich  sein  müssen. 

5. 

Schwanken  und  Zweifel  (1799  —  1805). 

Wir  kehren  zu  den  Beziehungen  zwischen  Gauss  und  Bolyai  zurück.  Im 
Sommer  1799  nach  Siebenbüi-gen  ziu'ückgekehrt ,  war  Wolfgang  zunächst 
durch  andere  Geschäfte  in  Anspruch  genommen  worden  und  hatte  die  Mathe- 
matik liegen  lassen.  Erst  nachdem  er  im  Frühjahr  1804  die  Professur  für 
Mathematik  und  Physik  am  evangelisch -reformierten  Kollegium  zu  Maros- 
Väsarhely  angetreten  hatte,  nahm  er  die  »Göttingische  Parallelentheorie«  wieder 
vor,  feilte  sie  aus  und  sandte  den  Entwiuf  am  16.  September  1804  an  Gauss. 
»Ich   kann   den  Fehler  nicht   entdecken,    prüfe  Du   der  Wahrheit   getreu   und 


1)  Vgl.  den  Aufsatz  von  P.  Stäckel  :  t.  A.Taurirws,  Al)handluugen  zur  Geschichte  der  Mathematik, 
Heft  9,  Leipzig  1899,  S.  J27. 

X  -l  Abh.  4.  4 


26  STÄCKEI,.    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

schreibe  mir  so  bald  als  nur  möglich.  .  .  .  Wenn  Du  dieses  Werkchen  davor 
wert  hieltest  (ich  setze  den  Fall),  so  schicke  es  einer  würdigen  Akademie  hin, 
dass  es  beurteilt  werde«  (Br.  G.-Bolyai,  S.  65). 

Wie  stellte  sich  Gauss  zu  den  Bemühungen  seines  Freundes,  das  Paral- 
lelenaxiom zu  beweisen?  Anders,  als  man  es  nach  seinem  Briefe  vom  16.  De- 
zember 1799  erwarten  durfte.  Er  schreibt  am  25.  November  1804:  »Ich  liabe 
Deinen  Aufsatz  mit  grossem  Interesse  und  Aufmerksamkeit  durchgelesen  und 
mich  recht  an  dem  echten  gründlichen  Scharfsinne  ergötzt.  Du  willst  aber 
nicht  mein  leeres  Lob,  das  auch  gewissermassen  schon  darum  parteiisch 
scheinen  könnte,  weil  Dein  Ideengang  sehr  viel  mit  dem  meinigen  Ähnliches 
hat,  worauf  ich  ehemals  die  Lösung  dieses  Gordischen  Knotens  versuchte  und 
vergebens  bis  jetzt  versuchte.  Du  willst  nur  mein  aufrichtiges,  unverhohlenes 
Urteil.  LTnd  dies  ist,  dass  Dein  Verfahren  mir  noch  nicht  Genüge  leistet. 
Ich  will  versuchen,  den  Stein  des  Anstosses,  den  ich  noch  darin  finde  (und 
der  auch  wieder  zu  derselben  Gruppe  von  Klippen  gehört,  woran  meine  Ver- 
suche bis  jetzt  scheiterten)  mit  so  vieler  Klarheit,  als  mir  möglich  ist,  ans 
Licht  zu  ziehen.  Ich  habe  zwar  noch  immer  die  Hoffnung,  dass  jene  Klippen 
einst,  und  noch  vor  meinem  Ende  eine  Durchfahrt  erlauben  werden.  Indess 
liabe  ich  jetzt  so  manche  andere  Beschäftigungen  vor  der  Hand,  dass  ich 
gegenwärtig  daran  nicht  denken  kann,  und  glaube  mir,  es  soll  mich  herzlich 
freuen,  wenn  Du  mir  zuvorkommst  und  es  Dir  gelingt,  alle  Hindernisse  zu 
übersteigen.  Ich  würde  dann  mit  der  innigsten  l''r('U(l('  alles  tun,  um  Dein 
Verdienst  gelten  zu  machen  und  ins  Liclit  zu  stellen,  so  viel  in  meinen 
Kräften  steht«  (W.  VIII,  S.  160). 

BoLYAi  hat  diese  Äusserungen  als  eine  Ermunterung  aufgefasst,  sich  weiter 
um  den  Beweis  zu  bemühen,  und  init  Recht.  »Meine  Ideen  gefielen  ihm 
überhaupt  gar  sehr,  und  er  machte  mich  [in  dem  Brief  vom  25.  November 
1804]  darauf  aufwerksam,  welch  hochwichtige  Sache  die  Materie  der  Parallelen 
sei,  obwohl  er  davon  [von  der  Göttingischen  Parallelentheorie]  doch  keines- 
wegs befriedigt  war«  (Bol.  S.  00).  Am  27.  Dezember  J808  sandte  er  an  Gauss 
einen  Nachtrag  (Br.  G.-Bolyai,  S.  96,  vgl.  Bol.  S.  223).  Als  dieser  keine 
Antwort  gab,  ist  der  Briefwechsel  bis  zum  Jahre  1816  unterbrochen  worden. 
Etwa  bis  zu  diesem  Jahre  hat  Wolfgang  hart  mit  dem  zweitausendjährigen 
Problem    gerungen,    und    hat    schliesslich    nichts   davon  getragen,    als  die  Ein- 


DIE  GRUNni.AGEN   DER  GEOMETRIE.  27 

sieht,  dass  er  alle  seine  Mühe  verschwendet  habe.  »Schauderhafte,  riesige 
Arbeiten  habe  ich  vollbracht,  habe  bei  Weitem  Besseres  geleistet,  als  bisher 
[geleistet  wurdej,  aber  keine  vollkommene  Befriedigung  habe  ich  je  gefunden; 
hier  aber  gilt  es:  si  paullum  a  summo  discessit,  vergit  ad  imum«    Bol.  S.  7  7). 

Als  Johann  Bolyai  von  Wien  aus,  wo  er  seit  1818  Schüler  der  militäri- 
schen Ingenieur -Akademie  war,  im  Frühjahr  1820  dem  Vater  mitteilte,  dass 
er  versuche,  das  elfte  Axiom  zu  beweisen,  war  dieser  aufs  äusserste  erschrocken 
und  beschwor  ihn  mit  den  beweglichsten  Worten,  die  Lehi-e  von  den  Paral- 
lelen in  Frieden  zu  lassen.  »Verliere  keine  Stunde  damit.  Keinen  Lohn 
bringt  es,  und  es  vergiftet  das  ganze  Leben.  Selbst  durch  das  Jahi'hunderte 
dauernde  Kopfzerbrechen  von  hundert  grossen  Geometcrn  ist  es  schlechter- 
dings unmöglich,  [das  elfte]  ohne  ein  neues  Axiom  zu  beweisen.  Ich  glaube 
doch  alle  erdenklichen  Ideen  diesfalls  erschöpft  zu  haben.  Hätte  Gauss  auch 
fernerhin  seine  Zeit  mit  Grübeleien  über  dem  elften  Axiom  zugebracht,  so 
wären  seine  Lehren  von  den  Vielecken,  seine  Theoria  motus  corporum  coele- 
stium  und  alle  seine  sonstigen  Arbeiten  nicht  zum  Vorschein  gekommen,  und 
er  ganz  zurückgeblieben.  Ich  kann  es  schriftlich  nachweisen,  dass  er  seinen 
Kopf  über  die  Parallelen  zerbrach.  Er  äusserte  mündlich  und  schriftlich,  dass 
er  fruchtlos  darüber  nachgedacht  habe«  (Bol.   S.  90). 

Durch  die  nachdrücklichen  Warnungen  seines  Vaters  wurde  Johann  nicht 
abgeschreckt,  im  Gegenteil,  seine  Begierde,  um  jeden  Preis  dui'ch zudringen, 
wuchs  auf  das  heftigste  [Bol.  S.  79).  Gegen  Ende  des  Jahres  1823  gelang  es 
ihm,  den  Gordischen  Knoten  zu  durchhauen.  Die  unerwartete  Lösung,  die 
er  fand,  war  damals  bereits  im  Besitz  von  Gauss,  der,  wie  wir  sehen  werden, 
nach  langen  Zweifeln  um  das  Jahr    1816  zur  Gewissheit  gekommen  war. 

Am  Eingang  des  Briefes  vom  25.  November  1804  hatte  Gauss  angedeutet, 
dass  sein  Ideengang  Ähnlichkeit  mit  dem  Wolfgangs  habe.  Dieser  hatte  die 
Linie  betrachtet,  die  entsteht,  wenn  man  in  gleichweit  von  einander  ab- 
stehenden Punkten  einer  Geraden  nach  derselben  Seite  Lote  derselben  Länge 
errichtet  und  die  auf  einander  folgenden  Endpunkte  durch  Gerade  verbindet. 
Während  man  in  der  euklidischen  Geometrie  auf  solche  Art  eine  Parallele 
zur  Grundlinie  erhält,  ergibt  sicli  in  der  nichteuklidischen  Geometrie  ein  ge- 
brochener Linienzug,  der  aus  gleich  langen,  unter  gleichen  Winkeln  an  ein- 
ander stossenden  Strecken  besteht.     Bolyai  hatte  zu  zeigen  versucht,  dass  cmu 

4* 


28  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Linienzug  der  angegebenen  Art,  wenn  man  weit  genug  auf  ihm  fortgehe,  die 
Grundlinie  schneiden  müsse;  damit  wäre  nachgewiesen,  dass  die  Annahme, 
das  elfte  Axiom  gelte  nicht,  auf  einen  Widerspruch  führt.  Dass  Gauss  sich 
nach  derselben  Richtung  hin  versucht  hat,  wird  durch  eine  Bemerkung  be- 
zeugt, die  sich  auf  der  letzten  Seite  des  Handbuches  »Mathematische  Brouillonsv 
findet  (W.  VIII,  S.  163);  allerdings  beginnen  die  Aufzeichnungen  des  Hand- 
buches erst  mit  dem  Oktober  1805. 

In  der  Zeit  zwischen  1799  und  1804  hatte  Gauss  aber  noch  auf  einem 
anderen  Wege  vorzudringen  versucht.  Notizen  aus  dem  Jahre  1803  (W.  Xi, 
S.  451)  geben  mehrere  Ansätze,  mittels  geometrischer  Konstruktionen  und 
daraus  abgeleiteter  Funktionalgleichungen,  also  durch  dasselbe  Verfahren,  das 
Gauss  auch  bei  dem  Dreiecksinhalt  angewandt  hat  (siehe  S.  45),  die  zwischen 
den  Stücken  eines  Dreiecks  geltenden  Beziehungen  herzuleiten.  Damals  sind 
seine  Anstrengungen  vergeblich  gewesen;  vielleicht  liegt  hierin  der  Giaind, 
warum  er  gegenüber  dem  1799  geäusserten  Zweifel  an  der  Wahrheit  der  Geo- 
metrie im  .Tahre  1804  von  der  Hoffnung  spricht,  nach  vor  seinem  Ende  eine 
Durchfahrt  nach  dem  Hafen  des  Beweises  für  das  Parallelenaxiom   zu  finden. 


Die  Entdeckung  der  transzendenten  Trigonometrie  (1805 — 1817). 

Schumacher  ist  im  Wintersemester  1808/9  in  Göttingen  gewesen,  um  sich 
bei  Gauss  zum  Astronomen  auszubilden;  während  dieser  Zeit  hat  er  Auf- 
zeichnungen über  seine  Gespräche  mit  Gauss  gemacht.  Diese  »Gaussianau 
bringen  unter  dem  November  1808  die  Bemerkung:  »Gauss  hat  die  Theorie 
der  Parallellinien  darauf  zurückgebracht,  dass  wenn  die  angenommene  Theorie 
nicht  wahr  wäre,  es  eine  konstante,  a  priori  der  Länge  nach  gegebene  Linie 
geben  müsste,  welches  absurd  ist.  Doch  hält  er  selbst  diese  Arbeit  noch 
nicht  für  hinreichend«  (W.  VIII,  S.  165).  Hieraus  geht  hervor,  dass  Gauss 
auch  im  Jahre  1808  noch  schwankte.  »Auf  die  Worte:  'welches  absurd  ist' 
wollen  wir  dabei  noch  nicht  einmal  das  geringste  Gewicht  legen,  denn  es  ist 
höchst  wahrscheinlich,  dass  Schumacher  sie  aus  seinem  Eigenen  hinzugefügt 
hat,  wohl  aber  legen  wir  Gewicht  auf  den  nachfolgenden  Satz.  Wenn  Gauss 
selber   seine  Untersuchungen   noch    nicht  für  abgeschlossen   hielt,    so  muss  er 


DIE  GRUNDLAGEN   DER  GEOMETRIE.  29 

noch  immer  halb  und  halb  an  Euklid  geglaubt  haben:  auf  alle  Fälle  war  er 
auch  damals  noch  nicht  vollständig  von  der  Unbeweisbarkeit  des  Parallelen- 
axioms überzeugt!! ':. 

Dass  in  der  nichteuklidischen  Geometrie,  in  der.  ebenso  wie  in  der 
Sphärik,  die  Ähnlichkeit  von  Figiu-en  aufhört,  eine  a  priori  gegebene  Einheit 
der  Länge  vorhanden  ist.  hatte  schon  1766  Lambert  erkannt  (P.  Th.  S.  200), 
und  Legendre  hatte  1794  auf  die  angebliche  Widersinnigkeit  eines  solchen 
absoluten  Masses  einen  Beweis  des  Parallelenaxioms  gegründet. 

Auch  eine  Bemerkung  von  Gauss  aus  dem  Jahre  1813  ist  wohl  in  dem- 
selben Sinne  aufzufassen:  »In  der  Theorie  der  Parallellinien  sind  wir  jetzt 
noch  nicht  weiter  als  Euklid  war.  Dies  ist  die  partie  honteuse  der  Mathe- 
matik, die  früh  oder  spät  eine  ganz  andere  Gestalt  bekommen  muss«  ^W.  VIII, 
S.  166).  Man  wird  dabei  an  den  Ausspruch  d'Alemberts  vom  .Jahre  1759 
erinnert:  »Die  Erklärung  und  die  Eigenschaften  der  geraden  Linie  sowie  der 
parallelen  Geraden  sind  die  Klippe  und  sozusagen  das  Ärgernis  (le  scandale) 
der  Elementargeometrie«  ^). 

Ein  anderer  Ton  wkd  in  der  Besprechung  von  zwei  Beweisversuchen 
angeschlagen,  die  Gauss  in  den  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen  vom  20.  April 
1816  veröflFentHcht  hat  (W.  IV,  S.  364,  VIII,  S.  170).  Hier  spricht  er  von 
dem  »eitelen  Bemühen,  die  Lücke,  die  man  nicht  ausfüllen  kann,  durch  ein 
unhaltbares  Gewebe  von  Scheinbeweisen  zu  verbergen«.  Dass  Gauss  damit 
auf  seine  Überzeugung  von  der  Unbeweisbarkeit  des  elften  Axioms  hindeuten 
wollte,  wird  durch  den  S.  8,  9  angeführten  Brief  an  Schumacher  vom  1  5.  Januar 
1827  bestätigt.  Ein  weiteres  Zeugnis  dafür,  dass  er  jetzt  zur  Gewissheit  durch- 
gedrungen war,  ist  der  Brief  an  Gerling  vom  1 1 .  April  1816,  also  gerade  aus 
der  Zeit,  in  der  er  jene  Besprechung  verfasst  hatte  (W.  VIII,  S.  1681  Gauss 
äussert  sich  hier,  auf  Gerlings  Wunsch,  zu  dem  vorher  erwähnten  Beweis- 
versuch Legendres  und  sagt:  »Es  scheint  etwas  paradox,  dass  eine  konstante 
Linie  gleichsam  a  priori  möglich  sein  könne;  ich  finde  aber  darin  nichts 
Widersprechendes..    Es  wäre  sogar  wünschenswert,  dass  die  Geometrie  Euklids 


1!  F.  Engel,  Lobatschefskijs  Leben  und  Schrifteti,  in  dem  Werke;  N.  I.  Lohatschefskij .  eirei  geo- 
metrische  Abhandlungen,  herausgegeben  von  F.  E.vgel,  Leipzig  1S9S— ou,  S.  380;  im  Folgenden  angeführt 
mit  Lob. 

2)  J.  d'Alembert,  Melanges  de  lüterature,  d'histoire  et  de  Philosophie,  t.  V.,  4.  dA.  Amsterdam  i ;  67,  S.  2oo. 


30  STÄrKET,,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

nicht  wahr  wäre,  weil  wir  dann  ein  allgemeines  Mass  a  priori  hätten,  z.  B. 
könnte  man  als  Raumeinheit  die  Seite  desjenigen  gleichseitigen  Dreiecks 
annehmen,  dessen  Winkel  =  59"  59'  59",99999«. 

Gauss  durfte  sich  mit  solcher  Entschiedenheit  äussern,  denn  er  war  jetzt 
im  Besitz  der  Trigonometrie,  die  in  der  nichteuklidischen  Geometrie  gilt. 
Wir  wissen  dies  nicht  aus  Aufzeichnungen  oder  Briefen  von  Gauss,  sondern 
durch  einen  glücklichen  Zufall.  Ebenfalls  im  April  1816  hatte  Gauss  den 
Besuch  seines  Schülers  Wächter  erhalten,  der  auf  der  Reise  nach  Danzig, 
wo  er  Professor  am  Gymnasium  illustre  geworden  war,  Göttingen  berührte '). 
Wächter  hatte  kurz  vorher  in  der  Zeitschrift  für  Astronomie  und  verwandte 
Wissenschaften  eine  Besprechung  derselben  Parallelentheorie  von  Metternich 
veröffentlicht,  mit  der  Gauss  sich  in  den  Göttinger  Nachrichten  vom  20.  April 
1816  beschäftigt  hat,  und  so  ist  es  erklärlich,  dass  die  Unterhaltung  sich  auch 
den  Grundlagen  der  Geometrie  zuwandte.  Hierauf  bezieht  sich  ein  Brief  von 
Wächter  an  Gauss  vom  12.  Dezember  1816,  in  dem  jener  über  Unter- 
suchungen berichtet,  die  er,  angeregt  durch  das  Gespräch,  über  die  »anti- 
euklidische Geometrie«  angestellt  hatte  (W.  VIII,  S.  17  5).  Wir  erfahren 
hieraus,  dass  Gauss  ihm  von  seiner  transzendenten  Trigonometrie  gesprochen 
hatte;  Wächter  hatte  sich  vergeblich  bemüht,  einen  Eingang  in  diese  zu 
finden.  Man  wird  daher  annehmen  dürfen,  dass  Gauss  damals,  wie  er  in 
einem  bald  darauf,  am  1  6.  März  1819,  an  Gerling  geschriebenen  Briefe  sagt, 
die  nichteuklidische  Geometrie  »so  weit  ausgebildet  hatte,  dass  er  alle  Auf- 
gaben   vollständig    lösen    konnte,    sobald    die    Konstante    =  C   gegeben    wird« 

(w.  vin,  s.  182;. 

Die  jetzt  gewonnene  feste  Stellung  gibt  sich  kund  in  dem  Briefe  an 
Olbers  vom  28.  April  1817:  »Ich  komme  immer  mehr  zu  der  Überzeugung, 
dass  die  Notwendigkeit  unserer  Geometrie  nicht  bewiesen  werden  kann,  wenig- 
stens nicht  vom  menschlichen  Verstände  noch  für  den  menschlichen  Ver 
stand.  Vielleicht  kommen  wir  in  einem  andern  Leben  zu  andern  Einsichten 
in  das  Wesen  des  Raums,  die  uns  jetzt  unerreichbar  sind.  Bis  dahin  müsste 
man  die  Geometrie  nicht  mit  der  Arithmetik,  die  rein  a  priori  steht,  sondern 
etwa  mit  der  Mechanik  in  gleichen  Rang  setzen«  (W.  VIII,  S.  177). 

1)  Vgl.  hierfQr  wie  für  die  folgenden  Angaben  den  Aufsatz  von  P.  Stäckel:  F.  L.  Wächter,  Math. 
Ann:ilen,  Bd.  S4,    lam,  S.  4U — fcs. 


niE  GRUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  31 

Auf  welchem  Wege  Gauss  zur  nichteuklidischen  Trigonometrie  gelangt 
ist,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  sagen.  Im  Nachlass  tindet  sich  eine  Her- 
leitung der  Formeln,  die  wahrscheinlich  im  Jahre  1846  niedergeschrieben  ist 
(W.  VIII,  S.  2  55  .  In  ihr  wird  das  Verfahren  der  geometrischen  Konstruk- 
tionen und  daraus  hergeleiteten  Funktionalgleichungen  angewandt,  das  Gauss, 
wie  wir  gesehen  haben,  schon  im  Jahre  1803,  freilich  ohne  Erfolg,  benutzt 
hatte,  und  es  liegt  daher  nahe  anzunehmen,  dass  er  in  der  Zeit  zwischen  1813 
und  1816  aiuf  diesem  AVege  vorgegangen  ist ;  allein  man  darf  hierin  nicht 
mehr  als  eine  Vermutung  erblicken. 

B.    Der  Ausbau  der  nichteuklidischen  Geometrie  (seit   1817  . 

7. 

Die  Zeit  der  Geodäsie  und  die  Flächentheorie; 

ScHwEiKART  uud  Taurinus  (1817 — 1831). 

Die  Andeutungen  über  die  Unbeweisbarkeit  des  Parallelenaxioms  in  der 
Anzeige  vom  Jahre  1816  hatten  nicht  den  von  Gauss  erwarteten  Erfolg  ge- 
habt, und  er  hatte,  das  Geschrei  der  Böoter  scheuend,  sich  entschlossen,  bei 
Lebzeiten  nichts  über  seine  Ansichten  bekannt  zu  machen.  Um  so  mehr 
sehen  wir  ihn  übeiTascht  und  erfr'eut,  wenn  er  auf  seinem  einsamen  Wege 
Gleichstrebende    antrifft.     Das    ereignete    sich   mit   Sch-\^-eikart   und   Taurinus. 

Der  Rechtsgelehrte  Sc hweikart  1780—1859)  hatte  1807  eine  Schrift  zur 
Parallelentheorie  veröffentlicht',  in  der  er  beanstandete,  dass  man  bei  der 
üblichen  Erklänmg  der  Parallelen  als  einander  nicht  schneidender  Geraden 
das  Unendliche  hereinziehe,  und  forderte,  man  solle  beim  Aufbau  der  Geometrie 
von  der  Existenz  der  Quadrate  ausgehen").  Später,  zwischen  1S12  und  1816, 
hatte  er  »ohne  Hilfe  des  elften  EuKLinischen  Axioms  eine  Geometrie,  die  er 
Astralgeometrie  nannte,  entwickelt«  Brief  von  Gerling  an  W.  Bolyai  vom 
31.  Oktober  1854,  P.  Th.   S.  243    und,  nachdem  er   1816  aus  Charkow  an  die 


1)  F.  C.  ScHWEiKART,  Die  Theorie  der  Parallellinien,  nebst  dem  Vorschlage  ihrer  Verbannung  aus 
der  Geometrie,  Jena  \ind  Leipzig   1807.     Vgl.  P.  Th.  S.  24;!  — 24C. 

2)  In  ähnlicher  Weise  war  ClairaüT,  Elements  de  Geometrie,  Paris  1741,  davon  ausgegangen,  dass 
das  Vorhandensein  von  Rechtecken  durch  die  Anschauung  gegeben  sei,  und  hatte  daraus  mit  grosser  Klar- 
heit die  Sätze  des  ersten  Buches  der  EuKLIDiachen  Element  abgeleitet. 


32  STÄCKEL,    GAUSS  AI^  GEOMETER. 

Universität  Marburg  berufen  worden  war,  1818  mit  seinem  Kollegen  Gerling 
darüber  gesprochen.  »Ich  erzählte  ihm  darauf,  wie  Sie  vor  einigen  Jahren 
[1816]  öffentlich  geäussert  hätten,  dass  man  seit  Eukuds  Zeiten  im  Grunde 
hiermit  nicht  weiter  gekommen  sei:  ja  dass  Sie  gegen  mich  mehrmals  ge- 
äussert hätten,  wie  Sie  diu-ch  vielfältige  Beschäftigung  mit  diesem  Gegenstand 
auch  nicht  zum  Beweis  von  der  Absurdität  einer  solchen  Annahme  [einer 
nichteuklidischen  Geometrie^  gekommen  seien«  Brief  von  Gerling  an  Gauss 
vom  25.  Januar  1S19,  W.  VIII,  S.  180).  Schweikart  bat  darauf  Gerling,  er 
möge  eine  kurze  Aufzeichnung  über  seine  »Astralische  Grössenlehre«  (W.  VIII, 
S.  1  SO;  an  Gauss  weitergeben  und  diesen  ersuchen,  ihn  gelegentlich  sein  Ur- 
teil wissen  zu  lassen.  In  seiner  Antwort  erklärt  Gauss,  es  sei  ihm  fast  alles 
aus  der  Seele  geschrieben  Brief  vom  16.  März  1819,  W.  VIII,  S.  IST.  Er 
fand  hier  die  Auffassung  wieder,  die  er  in  dem  Brief  an  Olbers  vom  28.  April 
1817  ausgesprochen  hatte,  und  die  er  in  dem  Brief  an  Bessel  vom  9.  April 
1830  (W.  VIII,  S.  201'  noch  stärker  betont  hat,  dass  der  Raum  eine  ausser- 
halb von  uns  vorhandene  Wirklichkeit  sei,  der  wir  ihre  Gesetze  nicht  voll- 
ständig vorschreiben  können,  deren  Eigenschaften  vielmehr  niu"  auf  Grund 
der  Erfahrung  vollständig  festzustellen  sind'). 

Das  von  Schweikart  gewählte  Beiwort  »astralisch«  sollte  ausdrücken,  dass 
erst  bei  Abmessungen  der  Grössen,  wie  sie  in  der  Stemenwelt  vorkommen, 
Abweichungen  von  der  EuKUoischen  Geometrie  beobachtet  werden  könnten. 
Es  scheint  Gauss  gefallen  zu  haben,  denn  er  hat  es  in  späteren  Aufzeichnungen 
angewendet    W.  VIII,  S.  232). 

Ein  Neffe  von  Schweikart,  ebenfalls  ein  Rechtsgelehrter.  Taurinus  (1794 
bis  1874  hatte  sich  als  junger  Mann,  angeregt  durch  die  Schrift  seines  Onkels, 
mit  der  Parallelentheorie  beschäftigt  und  im  Oktober  1824  einen  Beweis- 
versuch an  Gauss  gesandt*);  dass  dieser  sich  mit  den  Grundlagen  der  Geo- 
metrie beschäftige,  wusste  er  seit  1821  durch  seinen  Onkel.  Gauss,  der  in 
Taurinus  »einen  denkenden  mathematischen  Kopf«  erkannt  hatte,  antwortete 
in  einem  längeren  Schreiben  vom  8.  November  1824;  er  hat  darin  seine  An- 
sichten   über    das    ParaUelenaxiom    ausführlich    dargelegt,    aber    zugleich    dem 


i;  Vgl.  auch  die  gegen  Kaxt  gerichteten  Bemerkungen  W.  II,  S.  177  und  W.  VIII,  S.  224. 
i]  Für  die  folgende  Darstellung  vgl.  P.  Th.  S.  246 — 252    und   den  Aufsatz   von  P.  Stäckel  :   F.  A. 
Taurinui,  .A.bhandlungen  der  Geschichte  der  Mathematik,  Heft  u,  Leipzig  1899,  S.  397. 


DIE  GUUKDI.AGEN  DER  GEOMETRIE.  33 

Empfänger  des  Briefes  znv  Pflicht  gemacht,  von  dieser  »Privat-Mitteihmg  auf 
keine  Weise  einen  ötfentlicheu  oder  zur  öffentlichkeit  füliren  könnenden  Ge- 
brauch zu  machen«  (W.  VIII,  S.  186  — 188). 

Es  muss  hier  genügen,  aus  dem  Briefe  die  Hauptstellen  anzuführen.  »Die 
Annahme,  dass  die  Summe  der  drei  Winkel  [des  Dreiecks]  kleiner  sei  als 
18ü",  führt  au.f  eine  eigene,  von  der  unsrigen  euklidischen:  ganz  verschiedene 
Geometrie,  die  in  sich  selbst  dui-chaus  konsequent  ist  und  die  ich  für  mich 
selbst  ganz  befiiedigend  ausgebildet  habe,  so  dass  ich  jede  Aufgabe  in  der- 
selben auflösen  kann  mit  Ausnahme  der  Bestimmung  einer  Konstante,  die 
sich  a  priori  nicht  ausmitteln  lässt.  Je  gTösser  man  diese  Konstante  annimmt, 
desto  mehr  nähert  man  sich  der  euklidischen  Geometrie  und  ein  unendlich 
gTosser  Wert  macht  beide  zusammenfallen.  .  .  .  Wäre  die  nichteuklidische 
Geometrie  die  wahre,  und  jene  Konstante  in  einigem  Verhältnisse  zu  solchen 
Grössen,  die  im  Bereich  unserer  Messungen  auf  der  Erde  oder  am  Himmel 
liegen,  so  liesse  sie  sich  a  posteriori  ausmitteln«. 

Die  freundliche  Antwort,  die  der  erste  Mathematiker  der  Zeit  ihm  zu- 
kommen Hess,  hat  Taurinüs  gewiss  angespornt,  seine  Untersuchungen  mit  er- 
höhtem Eifer  fortzusetzen.  In  seiner  1825  veröfl'entlichten  Theorie  der  Parallel- 
Unien  ist  er  zwar  von  der  unbedingten  Giltigkeit  des  Parallelenaxioms  über- 
zeugt, aber  er  beginnt  die  Folgen  zu  entwickeln,  die  sich  aus  dessen  Verwerfung 
ergeben,  und  gelangt  so  seinerseits  zu  jener  Konstanten,  die  einer  , nichteuklidi- 
schen Geometrie  eigen  sein  müsste;  in  der  gleichzeitigen  Möglichkeit  unendlich 
vieler  solcher  Geometrien,  die  jede  füi'  sich  genommen  widerspruchslos  sind, 
sieht  er  jedoch  einen  ausreichenden  Grund,  sie  alle  abzuweisen. 

Gauss,  dem  die  Schrift  zugesandt  wui'de,  hat  sich  eben  so  wenig  dazu 
geäussert  wie  zu  einer  zweiten,  den  1826  veröffentlichten  Geometriae  prima 
elementa^\  Hier  ist  Taurinüs  auf  die  «neue  Geometrie«  genauer  eingegangen 
und  hat  die  Formeln  der  zugehörigen  Trigonometrie  sozusagen  mit  einem 
Schlage  gewonnen,  indem  er  in  den  entsprechenden  Formeln  der  sphärischen 
Trigonometrie  deii  Halbmesser  der  Kugel  imaginär  setzte.  Aber  noch  mehr, 
er  hat   diese  Formeln    sogleich    zur  Lösung   einer  Reihe    von  Aufgaben    auge- 


1)  Dies  geht  aus  dem  Briefe  von  Tal'RINLS  an  Gavss  vom  Im.  Dezember  1S29  hervor    Brief  im  Gavss- 
Archivj.     Vermutlich   hatte  Gauss    daran   Anstoss   genommen,    dass   er   von  TaueikX's   in   der  Vorrede   zur 
Theorie  der  Parallellinien  [S.  XIII    und  in  der  Vorrede  der  Elementa  (S.  V — VI;  erwähnt  worden  war. 
X  2  Abh.  4.  5 


34  STÄf'KEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

wandt  und  zum  Beispiel  den  Umfang  und  den  Inhalt  dos  Kreises,  die  Ober- 
tiäche  und  das  Volumen  der  Kugel  richtig  berechnet. 

Die  Gedanken  von  Taurinus  sind  unbcaclitet  geblieben.  »Der  Erfolg 
bewies  mir»,  schreibt  er  am  '29.  Dezember  1829  an  Gauss,  »dass  Ihre  Auto- 
rität dazu  gehört,  ihnen  Anerkennung  zu  verschaffen,  und  dieser  erste  schrift- 
stellerische Versuch  ist,  anstatt,  wie  ich  gehofft  hatte,  mich  zu  empfehlen,  für 
mich  eine  reiche  Quelle  von  Unzufriedenheit  geworden«  (Brief  im  GAUSS-Archiv). 

Im  fünften  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  wird  ausführlich  über  die  Unter- 
suchungen berichtet  werden,  die  Gauss  in  der  Zeit  von  1816  bis  1827  über 
die  allgemeine  Lehre  von  den  krummen  Flächen  angestellt  hat.  Erst  dort 
soll  auf  die  Zusammenhänge  mit  den  Grundlagen  der  Geometrie  eingegangen 
und  im  Besonderen  die  Frage  erörtert  werden,  ob  Gauss  die  Beziehung  zwi- 
schen der  absoluten  Geometrie  und  der  Geometrie  auf  den  Flächen  konstanten 
Krümmungsmasses  gekannt  hat.  Auch  die  Ansichten  von  Gauss  über  mehr- 
dimensionale M'annigfaltigkeiten  werden  dann  zur  Sprache  kommen. 

Bald  nach  der  Vollendung  der  Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas 
(Oktober  1827),  die,  wie  Gauss  am  11.  Dezember  1825  an  Hansen  schrieb, 
»tief  in  vieles  Andere,  ich  möchte  sogar  sagen,  in  die  Metaphysik  der  Raum- 
lehre eingreifen«  'Brief  im  Gauss- Archiv),  hat  sich  Gauss  erneut  den  Grund- 
lagen der  Geometrie  zugewandt.  Am  27.  Januar  1829  berichtet  er  an  Besset, : 
»Auch  über  ein  anderes  Thema,  das  bei  mir  fast  schon  40  Jahr  alt  ist,  habe 
ich  zuweilen  in  einzelnen  freien  Stunden  wieder  nachgedacht,  ich  meine  die 
ersten  Gründe  der  Geometrie.  .  .  .  Inzwischen  werde  ich  wohl  noch  lange 
nicht  dazu  kommen,  meine  sehr  ausgedehnten  Untersuchungen  darüber 
zur  öffentlichen  Bekanntmachung  auszuarbeiten,  und  vielleicht  wird  dies  auch 
bei  meinen  Lebzeiten  nie  geschehen,  da  ich  das  Geschrei  der  Böoter  scheue, 
wenn  ich  meine  Ansicht  ganz  aussprechen  wollte«  (W.  VIII,  S.  200). 

Von  den  Untersuchungen,  auf  die  Gauss  hindeutet,  ist  uns  nur  eine  kurze 
Notiz  vom  November  1S28  erhalten,  in  der  unabhängig  vom  elften  Axiom 
bewiesen  wird,  dass  die  Winkelsumme  des  Dreiecks  nicht  grösser  sein  kann, 
als  zwei  Rechte  W.  VIII,  S.  190  '.  Aber  im  April  1831  hat  er  begonnen, 
einiges  von  seinen  Meditationen  aufzuschreiben.     »Ich  wünschte  doch,  dass  es 

1)  Dasselbe  Verfahren  hatte  schon  Legkndrk  in  der  zweiten  .\uflage  der  Elementn  de  (f^omHrie  'I7'i8l 
ungewandt. 


DIE  GRl'NDT.AGEN   DER   GEOMETKIE.  35 

nicht  mit  mir  unterginge«  'Brief  an  Schumacher  vom  17.  Mai  1831,  W.  VIII, 
S.  -213. 

Als  diese  Niederschriften  darf  man  drei  Zettel  ansprechen,  die  aus  dem 
Nachlass  W.  YIII,  S.  202  —  209  abgedruckt  sind.  In  der  Notiz  3  ,  die  wohl 
die  fiiiheste  ist.  und  von  der  |l  '  und  \2]  nur  genauere  Ausführungen  sind',, 
werden  die  grundlegenden  Eigenschaften  der  parallelen  oder,  nach  Johann 
Bolyäi,  asymptotischen  Geraden  hergeleitet,  und  in  der  letzten  Nummer  ge- 
langt Gauss  zu  dem  Parazykel,  der  Kurve,  in  die  der  Kreis  übergeht,  wenn 
der  Halbmesser  unendlich  wird.  Er  nennt  sie  Trope,  also  Wendekreis  ^cercle 
tropique ,  ein  deutliches  Zeichen,  dass  er  den  Parazykel  als  den  Übergang 
von  den  eigentlichen  Kreisen  zu  den  Hyperzykeln  aufgefasst  hat.  Der  Gang 
der  Entwicklung  hat  grosse  Ähnlichkeit  mit  dem  von  Johann  Bolyai  in  der 
Scientia  spatii. 

Ein  Ersatz  für  weitere  Aufzeichnungen,  freilich  ein  spärlicher,  ist  der 
Brief  an  Schumacher  vom  12.  Juli  1831,  in  dem  Gauss  die  Folgen  bespricht, 
die  das  Aufhören  der  Ähnlichkeit  in  der  nichteuklidischen  Geometrie  nach 
sich  zieht,  und  die  dort  geltende  Formel  für  den  Umfang  des  Kreises  angibt 
(W.  VIII,  S.  215'.  Es  ist  leider  nur  wenig,  was  wir-  von  jenen  sehr  ausge- 
dehnten Untersuchungen  wissen,  und  auch  aus  den  folgenden  Jahren  wird  nur 
wenig  hinzukommen. 


Die  weitere  Entwicklung  bei  Gauss'; 
Johann  Bolyai  und  Lobatschefskij  (1831  — 1846). 

Am  3.  November  1823  hatte  .Johann  Bolyai  aus  Temesvar,  wo  er  als 
Pionierleutnant  stand,  seinem  Vater  mitgeteilt,  er  habe  »aus  Nichts  eine  neue, 
andere  Welt  geschaffen«.  Im  Febniar  1825  konnte  er  ihm  den  ersten  Ent- 
wurf seiner  absoluten  Kaumlehre  vorlegen.  Wolfgang  war  jedoch  damit  nicht 
einverstanden;  besonders  nahm  er  Anstoss  an  dem  Auftreten  der  an  sich  un- 
bestimmten Koristanten  und  der  dadurch  bedingten  Vielheit  der  möglichen 
hypothetischen    Systeme    (Bol.    S.  87).      Vater    und    Sohn    konnten    sich    nicht 


1)  Nach  einer  brieflichen  Mitteilung  von  H.  S.  Carslaw  (Sydney)  ist  in  Nr.  4  der  Notiz  [i]  der  Fall 
übersehen,  dass  die  Geraden  cb  und  i  einander  nicht  schneiden:  diese  Lücke  ist  in  der  Noti?,  [l],  Nr.  4, 
Fall  II  ausgefüllt. 

5* 


36  STÄCKEI..    GAUSS  A1,S  GKOMETF.R. 

einigen,  und  schliesslich  kam  man  überein,  Johann  möge  das  Wesen  der  Sache 
in  lateinischer  Sprache  darstellen,  die  kleine  Abliandlung  solle  dem  von  Wolf- 
gang  geplanten  Tentamen ')  beigegeben  und  einer  der  herzustellenden  Abzüge 
an  Gauss  gesandt  werden:  seinem  Urteil  über  Wert  oder  Unwert  wollten  sich 
beide  unterwerfen. 

Im  Juni  IS:!I  wurden  die  Sonderabzüge  des  Appendix  sdentiam  spatii  ab- 
solute verum  exhibeiis  fertig,  und  am  20.  Juni  wurde  einer  davon  an  Gauss 
abgesandt.  Jedoch  gelangte  »der  fatalen  Choleraumstände  wegen«  nur  der 
gleichzeitig  abgegangene  Brief  an  Gauss  in  dessen  Hände,  an  dessen  Schluss 
AA'oLFGANG,  wie  er  an  Johann  schrieb,  »eine  kleine,  klare  Idee  der  Arbeit  gab, 
damit  er  nicht  im  voraus  sich  grause  vor  der  Materie«.  Der  Sonderabzug 
selbst  kam  nach  längerer  Zeit  an  Wolfgang  zurück  und  ist  Anfang  Februar 
1832  durch  einen  Bekannten  der  Bolyais,  den  in  Göttingen  studierenden 
Baron  v.  Zevk,  Gauss  übergeben  worden  (Bol.  S.  91 — 92). 

Unter  dem  ersten  Eindruck,  den  die  Schrift  auf  ihn  machte,  schrieb  Gauss 
am  14.  Februar  IS'.M  an  Gerling:  »Noch  bemerke  ich,  dass  ich  dieser  Tage 
eine  kleine  Schrift  aus  Ungarn  über  die  nichteuklidische  Geometrie  erhalten 
habe,  worin  ich  alle  meine  eigenen  Ideen  und  Resultate  wiederfinde, 
mit  grosser  Eleganz  entwickelt,  obwohl  in  einer  für  jemand,  dem  die  Sache 
fremd  ist,  wegen  der  Konzentrierung  etwas  schwer  zu  folgenden  Form.  Der 
Verfasser  ist  ein  sehr  junger  österreichischer  Offizier,  Sohn  eines  Jugend- 
freundes von  mir,  mit  dem  ich  1798  mich  oft  über  die  Sache  unterhalten 
liatte,  wiewohl  damals  meine  Ideen  noch  viel  weiter  von  der  Ausbildung  und 
Reife  entfernt  waren,  die  sie  durch  das  eigene  Nachdenken  dieses  jungen 
Mannes  erhalten  haben.  Ich  halte  diesen  jungen  Geometer  v.  Bolyai  für  ein 
Genie  erster  Grösse«  fW.  VIII,  S.  220). 

Am  (j.  März  folgte  der  wiederholt  angeführte  Brief  an  Wolfgang,  in  dem 
(JAUss  seine  Überraschung  über  das  Zusammentreffen  mit  Johann  ausdrückt 
und  bittet,  diesen  herzlich  von  ihm  zu  grüssen  und  ihm  seine  besondere  Hoch- 
achtung zu  versichern  (W.  VIII,  S  220  —  224).  »GAUSsens  Antwort  hinsichtlich 
Deines  Werkes«,  schrieb  Wolfgang  an  den  Sohn,  »ist  sehr  schön  und  gereicht 
unserem  Vaterlande    und    unserer  Nation   zur   Ehre.     Ein   guter   Freund   sagt. 


1)  W.  Bolyai,  Tenlamcn  iuventutem  sludiosam  in  elcMctUa  malhcseos  .  .  .  iiilrodaccndi,   t.  i,    Maros 
Vfisärhely   I8;r2,  ed.  secundii,   BuUayjcat   i*<m7. 


DIE  GRUNDLAGEN   DER  GEOMETRIE.  37 

es  wäre  eine  grosse  Satisfaktion«  (Bol.  S.  72).  Johann  selbst  hat  es  als  eine 
grosse  Enttäuschung  und  Kränkung  empfunden,  dass  Gauss  den  Appendix 
keiner  öffentlichen  Anerkennung  würdigte  und  das  Vorrecht  der  ersten  Ent- 
deckung für  sich  in  Anspruch  nahm  (Bol.  S.  95  —  97). 

Wie  schon  erwähnt  wurde,  gibt  Gauss  in  dem  Briefe  als  Probe  ihm 
eigentümlicher  Untersuchungen  einen  einfachen  Beweis  für  den  Satz,  dass  in 
der  nichteuklidischen  Geometrie  der  Inhalt  des  Dreiecks  der  Abweichung  der 
Winkelsumme  von  zwei  Rechten  proportional  ist;  der  Umstand,  dass  damals 
die  Erinnerungen  an  den  Verkehr  mit  Wolfgang  in  ihm  wiederauftauchten, 
macht  es  wahrscheinlich,  dass  er  dabei  an  seine  Untersuchungen  vom  Sep- 
tember 1799  angeknüpft  hatte.  Er  schliesst  daran  die  Aufforderung,  Johann 
möge  sich  mit  der  entsprechenden  Aufgabe  für  den  Raum  beschäftigen,  näm- 
lich »den  Kubikinhalt  des  Tetraeders  (von  vier  Ebenen  begrenzten  Raumes) 
zu  bestimmen».  Johann  hatte,  wie  sein  Vater  am  20.  April  1835  an  Gauss 
schreibt  (Br.  G.-Bolyai,  S.  115),  die  Auflösung  der  Aufgabe  bereits  ein  Jahr 
vor  der  Herausgabe  des  Appendix  gefunden.  Der  Nachlass  Johanns  enthält 
in  der  Tat  sogar  mehrere  Verfahren,  die  zur  Lösung  dienen  können  (Bol. 
S.  109 — 118),  darunter  auch  genau  die  Methode,  die  Gauss  im  Auge  hatte 
und  die  er,  seiner  oben  (S.  17,  18)  erwähnten  Gewohnheit  gemäss,  bei  der 
Absendung  des  Briefes  an  Wolfgang  vom  6.  März  1832  in  einem  seiner  Hand- 
bücher angedeutet  hat  (W.  VIII,  S.  228). 

Auf  das  Volumen  des  Tetraeders  bezieht  sich  noch  eine  zweite  Auf- 
zeichnung von  Gauss,  die  etwa  aus  dem  Jahre  1841  stammt.  Sie  steht  auf 
einem  Zettel,  der  sich  in  dem  Sonderabdruck  der  Abhandlung  Lobatschefskms 
vom  Jahre  1836  über  die  Anwendung  der  imaginären  Geometrie  auf  einige 
Integrale  gefunden  hat;  unter  imaginärer  Geometrie  versteht  der  russische 
Mathematiker  die  nichteuklidische  Geometrie. 

LoBATscHEFSKu  (1793  — 1856)  hatte  in  den  Vorlesungen  über  Geometrie, 
die  er  18i5/J6  an  der  Universität  Kasan  hielt,  noch  ganz  auf  dem  Boden  der 
euklidischen  Geometrie  gestanden  und  darin  verschiedene  Versuche  zum  Be- 
weise des  Parallelenaxioms  gemacht  (Lob.  S.  262,  378).  Verraten  schon  diese 
Vorlesungen  eine  eingehende  Beschäftigung  mit  Legendres  Elementen  der  Geo- 
metrie (Lob.  S.  454),  so  lassen  die  späteren  Schriften  Lobatschefsklis  erkennen, 
dass  er  sich  in  den  folgenden  Jahren  in  tief  eindringender  Kritik  mit  Legen dre 


38  STÄCHET,,    GAUSS  AI.S  GEOMETER. 

auseinandergesetzt  und,  indem  er  es  wagte.  Folgerungen  aus  der  Annahme 
des  Nichtbestehens  des  Parallelenaxioms  zu  ziehen,  sich  allmählich  mit  dem 
Gedanken  von  dessen  Unbeweisbarkeit  vertraut  gemacht  hat.  Diesen  Standpunkt 
vertritt  er  in  einem  ungedruckt  gebliebenen  Lehrbuch  der  Geometrie  vom 
Jahre  1823  (Lob.  S.  369).  In  den  folgenden  Jahren  gelangte  er  zu  der  Er- 
kenntnis, dass  es  eine  in  sich  widerspruchsfreie  Geometrie  gibt,  die  des  Paral- 
lelenaxioms nicht  bedarf.  Er  entwickelte  diese  Geometrie  soweit,  dass  er  alle 
ihre  Aufgaben  rein  analytisch  behandeln  konnte;  auch  gab  er  allgemeine 
Regeln  zur  Berechnimg  der  Bogenlängen,  Flächenräume  und  Rauminhalte 
Die  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen  wurden  am  1  2 .  Februar  1  S  2  6  der  Ka- 
saner Gelehrten  Gesellschaft  vorgelegt:  veröffentlicht  sind  sie  jedoch  erst  1829 
und  1830  im  Kasauer  Boten  (Lob.  S.  371).  Ihnen  folgte  eine  Reihe  weiterer, 
in  russischer  Sprache  geschriebener  Abhandlungen  (1835 — 1838). 

Um  seinen  Gedanken  Verbreitung  im  westlichen  Europa  zu  verschaffen, 
liattc  LoBATscHEFSKi.1  1837  in  Grelles  Journal  eine  kurze  Darstellung  seiner 
imaginären  Geometrie  gegeben,  die  freilich  zur  Einführung  in  den  Gegenstand 
wenig  geeignet  war.  Gauss  scheint  sie  nicht  beachtet  zu  haben,  er  ist  viel- 
mehr wohl  erst  im  Jahre  JS40  auf  Lobatschefskij  aufmerksam  geworden,  als 
dessen  vortrefflich  geschriebene  deutsche  Schrift:  Geometrische  Untersuchungev 
zur  Theorie  der  ParalleUinien,  in  Gersdorfs  Repertorium  abfällig  besprochen 
wurde  (Brief  an  Encke  vom  1.  Febr.  1841,  W.  VIII,  S.  232).  Durch  einen 
merkwürdigen  Zufall  erhielt  er  um  dieselbe  Zeit  durch  den  mit  Lobatschefsku 
befreundeten  Physiker  der  Kasaner  Universität  Knorr,  der  ihn  1840  in  Göt- 
tingen besucht  hatte,  die  schon  erwähnte  Abhandlung  vom  Jahre  1836.  Später 
hat  ihm  der  Astronom  W.  Struve  in  Pulkowa  die  anderen,  in  den  Kasaner 
Gelehrten  Schriften  erschienenen  Abhandlungen  verschafft  (W.  VIII,  S.  239); 
woher  Gauss  die  Abhandlung  im  Kasaner  Boten  vom  Jahre  1829/30  bekommen 
hat.  ist  unaufgeklärt  (Lob.  S.  435). 

Ein  weiterer  glücklicher  Umstand  war  es,  dass  (jauss  die  in  russischer 
Sprache  geschriebenen  Schriften  lesen  konnte.  »Die  Aneignung  irgend  einer 
neuen  Fertigkeit  als  eine  Art  Verjüngung  betrachtend"  (Ihief  an  Schumacher 
vom  17.  August  1839,  Br.  G.-Sch.  III,  S.  242)  hatte  er,  nachdem  er  dem 
Sanskrit  keinen  Geschmack  abgewinnen  konnte,  im  Frühjahr  1839  angefangen, 
die  russisclie  Sprache  zu  erlernen.     »Es  dauerte  kaum  zwei  .Jahre,  dass  er  ohne 


DIE  GRUNDLAGEN   DER  GEOMETRIE.  39 

alle  fremde  Hilfe  dieselbe  so  vollständig  in  seine  Gewalt  bekam,  dass  er  nicht 
nur  alle  Bücher  in  Prosa  und  Poesie  mit  Geläufigkeit  lesen  konnte,  sondern 
dass  er  sogar  seine  Korrespondenzen  nach  St.  Petersburg  mitunter  in  russi- 
scher Sprache  besorgte«  (Sartorius,  S.  91). 

Über  die  russischen  Abhandlungen  urteilt  Gauss  in  dem  Brief  an  Ger- 
LiNG  vom  8.  Februar  1844,  dass  sie  »mehr  einem  verworrenen  Walde  gleichen, 
durch  den  es,  ohne  alle  Bäume  erst  einzeln  kennen  gelernt  zu  haben,  schwer 
ist,  einen  Dui'chgang  und  Übersicht  zu  finden«  (W.  VIII,  S.  237).  Dagegen 
lobt  er  die  Konzinnität  und  Präzision  der  Geometrischen  Untersuchungen  und 
wiederholt  dieses  Lob  in  dem  Brief  an  Schumacher  vom  28.  November  1846: 
»Materiell  für  mich  Neues  habe  ich  ....  nicht  gefunden,  aber  die  Ent- 
wicklung ist  auf  anderm  Wege  gemacht,  als  ich  selbst  eingeschlagen  habe, 
und  zwar  von  Lobatschefsklt  auf  eine  meisterhafte  Art  in  echt  geometrischem 
Geiste.  Ich  glaube  Sie  auf  das  Buch  aufmerksam  machen  zu  müssen,  welches 
Ihnen  gewiss  ganz  exquisiten  Genuss  gewähren  wird«  (W.  VIII,  S.  238). 

Auf  einem  Zettel,  der  sich  in  einem  der  beiden  Gauss  gehörenden  Ab- 
drücke der  Geometrischen  Untersuchungen  vorgefunden  hat,  ist  in  gedrängter 
Darstellung  die  bereits  erwähnte  (S.  31)  Herleitung  der  Formeln  der  nicht- 
euklidischen Trigonometrie  enthalten  (W.  VIII,  S.  255 — 257);  vermutlich  ist 
sie  verfasst  worden,  als  Gauss  im  Jahre  1846  »Veranlassung  hatte,  das  Werk- 
chen wieder  durchzusehen«  (W.  VIII,  S.  238).  Wenn  dort  (S.  31)  bemerkt 
wurde,  dass  die  Aufzeichnung  wohl  den  Gedankengang  wiedergebe,  den  Gauss 
im  Jahre  I S 1 6  eingeschlagen  hat,  so  muss  hier  hervorgehoben  werden,  dass 
darin  auch  eine  Auffassung  zu  Tage  tritt,  die  Gauss  erst  später  gewonnen  hat. 
Als  Endergebnis  werden  nämlich  Formeln  erhalten,  die  mit  den  Gleichungen 
der  sphärischen  Trigonometrie,  bezogen  auf  eine  Kugel  vom  Halbmesser  l/A-, 
identisch  sind;  die  entsprechenden  Gleichungen  der  nichteuklidischen  Trigono- 
metrie folgen  daraus,  wenn  der  Konstanten  k  ein  rein  imaginärer  Wert  erteilt 
wird.  Dass  diese  Beziehung  stattfindet,  hatte  Lobatschefskij  am  Schluss  der 
geometrischen  Untersuchungen  (S.  60)  angemerkt.  Sie  erscheint  bei  ihm  als 
ein  sonderbarer  Zufall.  Hat  Gauss  tiefer  geschaut"?  Hat  er  durch  den  Buch- 
staben k  andeuten  wollen,  dass  die  beiden  Geometrien  dem  allgemeineren 
Begriff  der  Geometrie  einer  Mannigfaltigkeit  konstanten  Krümmungsmasses 
untergeordnet    werden    können?     Wie   im   fünften    Abschnitt   dieses   Aufsatzes 


40  STXcKEL,    GAUSS  ALS  ÜEOMETER. 

dargelegt  werden  wird,  spricht  vieles  dafür,  die  Frage  zu  bejahen.  Dann  aber 
würde  ein  Licht  fallen  auf  eine  dunkle  Stelle  in  dem  vorher  angeführten  Brief 
an  Schumacher  vom  28.  November  1846:  »Sie  wissen,  dass  ich  schon  seit  54 
Jahren  (seit  1792)  dieselbe  Überzeugung  habe  (mit  einer  gewissen  spätem  Er- 
weiterung, deren  ich  hier  nicht  erwähnen  will)«  (W.  VIII,  S.  2;) 8).  Darf  man 
noch  weiter  gehen?  Hat  Gauss  seine  ui'sprüngliche  Überzeugung  später  daliin 
erweitert,  dass  er  den  Geometrien,  die  sich  je  nach  dem  Vorzeichen  des 
Krümmungsmasses  ergeben,  volle  Gleichberechtigung  zubilligte,  hat  er  den 
Gedanken  Riemanns  vorausgenommen,  man  brauche  den  Raum  nur  als  unbe- 
gi'enzte,  nicht  als  unendliche  Mannigfaltigkeit  aufzufassen"?  Die  vorliegenden 
Anhaltspunkte  gestatten  es  nur,  Vermutungen  auszusprechen. 

Als  Johann  Bolyai  am  3.  November  1823  dem  Vater  von  seinen  neuen 
Entdeckungen  berichtet  hatte  (Bol.  S.  85),  ermahnte  ihn  dieser,  sich  mit  der 
Bekanntmachung  zu  beeilen,  weil  »manche  Dinge  gleichsam  eine  Epoche  haben, 
wo  sie  dann  an  mehreren  Orten  aufgefunden  werden,  gleichwie  im  Frühjahr 
die  Veilchen  mehrwärts  ans  Licht  kommen«  (Bol.  S.  86V  Die  Namen  Gauss, 
ScHWEiKART.  Taurinus,  Lobatschefski.i  siud  ein  Beweis  dafür,  wie  richtig  Wolf- 
gang geurteilt  hatte. 

Man  liat  allerdings  dieses  Zusammentreffen  dadurch  seiner  Merkwürdig- 
keit zu  entkleiden  versucht,  dass  man  vermutete,  Bolyai  und  Lobatschefskij 
verdankten  Gauss,  der  ohne  Zweifel  als  Erster  sich  von  den  Fesseln  der  Über- 
lieferung frei  gemacht  hat,  die  Fragestellung  ihrer  Untersuchungen  (Lob.  S.  428, 
442).  Dass  ScHWEiKART  von  Gauss  unabhängig  gewesen  ist,  unterliegt  keinem 
Zweifel;  dagegen  sind  bei  Taurinus  Anregungen  durch  Schweikart  und  Gauss 
wirksam  gewesen,  ohne  dass  ihm  damit  die  Selbständigkeit  in  der  Entdeckung 
der  nichteuklidischen  Trigonometrie  abgesprochen  werden  darf. 

Nachdem  die  hinterlassenen  Scliriften  von  Gauss  und  den  beiden  Bolyai 
zugänglich  geworden  sind,  können  die  Beziehungen  zwischen  ihnen  als  völlig 
geklärt  gelten;  man  beachte  vor  allem  die  beiden  Tatsachen,  dass  Wolfgang, 
als  Gauss  im  Herbst  1798  Göttingen  verlassen  hatte,  das  Parallelenaxiom  zu 
beweisen  bemüht  war,  und  dass.  wie  die  S.  48  wiedergegebenc  Stelle  aus  einem 
Briefe  Wolfgangs  beweist,  Johann  erst,  nachdem  er  seine  Untersuchungen 
bereits  begonnen  hatte,   von  seinem   Vater  die  Mitteilung  erliielt,  Gauss   habe 


DIE  ORUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  41 

fruchtlos    Über   die    Parallelen    nachgedacht,    eine  Warnung    eher,    denn    eine 
Anregung. 

Bei  LoBATScHEFSKiJ  hat  man  an  eine  Vermittlung  durch  Bartels  (1769 — 
1836)  gedacht,  der  ISO 7  bis  1821  an  der  Universität  Kasan  gelehrt  hat. 
Bartels  ist  nämlich  Hilfslehrer  au  der  Schule  gewesen,  an  der  Gauss  seinen 
ersten  Unterricht  empting  und  hat  sich  des  Knaben  hilfreich  angenommen: 
später,  1S05  bis  1S07,  wo  er  als  ein  Schützling  des  Herzogs,  wie  Gauss,  in 
Braunschweig  lebte,  hat  er  mit  diesem  freundschaftlich  verkehrt.  Wenn  aber 
schon  die  ganze  Entwicklung  der  Gedanken,  wie  sie  vorher  dargestellt  worden 
ist,  ftii'  die  volle  Selbständigkeit  Lobatschefskijs  spricht,  so  kommt  noch  dazu, 
dass  Bartels,  nach  dem  Zeugnis  seines  Schwiegersohnes  O.  Struve,  in  der 
imaginären  Geometrie  mehr  eine  geistreiche  Spekulation  als  ein  die  Wissen- 
schaft förderndes  Werk  gesehen  hat;  auch  erinnert  sich  Struve  nicht,  dass 
Bartels  jemals  von  anklingenden  Ideen  bei  Gauss  gesprochen  habe  Lob. 
S.  378  —  382). 

9. 

NachAvirkung  der  GAUSsschen  Gedanken. 

Bei  der  Zurückhaltung,  die  sich  Gauss  ziu"  Kegel  gemacht  hatte,  haben 
während  seines  Lebens  nur  wenige  Bevorzugte  etwas  von  seinen  Ansichten 
über  die  Grundlagen  der  Geometrie  erfahren,  und  die  Eingeweihten  haben 
ihr  Wissen  für  sich  behalten.  Zum  Beispiel  hat  Dirichlet.  mit  dem  Gauss 
bei  dessen  Besuch  im  März  182  7  von  der  nichteuklidischen  Geometrie  ge- 
sprochen hatte  W.  Vni,  S.  18S\  untersucht,  wie  sich  die  Poteutialtheorie  im 
nichteuklidischen  Räume  gestalte,  aber  nichts  darüber  veröffentlicht  Lob.  S.  44  V. 
In  weiteren  Kreisen  wurde  erst  etwas  davon  bekannt,  als  Sartorius  IS 56  in 
seiner  Schrift  Gau6s  zum  Gedächtniss  berichtete.  Gauss  habe  eine  selbständige 
Geometrie  ausgebildet,  die  gelte,  wenn  man  das  Parallelenaxiom  nicht  zugebe 
(W.  VIII.  S.  267  —  268).  Diese  Andeutung  wui'de  bald  darauf  bestätigt  durch 
den  1860  herausgekommeneu  zweiten  Band  des  Briefwechsels  zwischen  Gauss 
und  Schumacher  (Briefe  vom  Jahre  1S31,  W.  VIII,  S.  210  —  210),  und  1865 
erschien  der  fünfte  Band  mit  dem  Briefe  vom  28.  November  1846  (W.  VIII. 
S.  238),  durch  den  die  Aufmerksamkeit  airf  Lobatschefsku  gelenkt  wurde. 
Nachdem  jetzt,   um   mit  Hoi'EL   zu   reden,    die   imposante  Autorität  Gausscus 

X  2  Abh.  4.  6 


42  STÄCKEL,    GAUSS  AT.S  GEOilETER. 

gesprochen  hatte,  fand  der  Hinweis  auf  J.  Bolyai  und  Lobatschefsklt  Be- 
iiclituni;,  den  Baltzer  1867  in  der  zweiten  Auflage  seiner  Elemente  der 
Mathematik  gab;  durch  ihn  angeregt  veröffentlichte  Hoüei,  französische  Über- 
setzungen der  Geometrischen  TJntersudmngen  und  der  Scientia  spatü  absolute  vera 
und  machte  so  diese  verschollenen  Schriften  allgemein  zugänglich.  Damit 
war  der  Boden  vorbereitet  für  eine  verständnisvolle  Aufnahme  der  zu  der- 
selben Zeit  aus  Kiemanns  Nachlass  herausgegebenen  Habilitationsrede  vom 
Jahre  1854:  Über  die  Hypothesen,  welche  der  Geometrie  zu  Grunde  liet/en; 
dazu  kamen  1868  die  Aufsätze  von  Helmholtz.  Während  man  bis  dahin  die 
Beschäftigung  mit  dem  elften  Axiom  als  ein  Vorrecht  unklarer  Köpfe  ange- 
selien  imd  mit  den  Bemühungen  um  die  Quacbatiu"  des  Kreises  und  das  Per- 
l)etuum  mobile  auf  eine  Stufe  gestellt  hatte,  erregten  jetzt  die  Untersuchungen 
über  die  Grundlagen  der  Geometrie  allgemeine  Teilnahme,  und  als  später 
noch  die  Kritik  der  Arithmetik  hinzukam,  entstand  ein  neuer  Zweig  der 
Mathematik,  der  als  Axiomatik  bezeichnet  wird. 

C.    Sonstige  Beiträge  zur  Axiomatik. 

10. 

Weitere  Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Geometrie. 
Wenn  von  den  Untersuchungen  die  Rede  ist,  die  Gauss  über  die  Grund- 
lagen der  Geometrie  angestellt  hat,  so  denkt  man  dabei  vor  allem  an  die 
Entdeckung  der  nichteuklidischen  Geometrie.  Gauss  hat  sich  jedoch  keines- 
wegs auf  das  l'arallelenaxiom  beschränkt,  er  hat  sich  vielmehr  noch  mit  einer 
Reihe  anderer  Fragen  beschäftigt,  die  man  heute  ebenfalls  der  Axiomatik  zu- 
weisen würde.  Hierüber  soll  zum  Schluss  dieses  Abschnittes  berichtet  werden. 
Es  kann  nicht  Wunder  nehmen,  dass  die  üblichen  Darstellungen  der 
euklidischen  Geometrie  einen  Mann,  der  an  die  Schärfe  der  Begriffsbestimmungen 
und  die  Strenge  der  Ableitungen  hohe  Forderungen  stellte,  in  mehr  als  einem 
Punkte  nicht  befiiedigten.  Sein  tiefdringender  Blick  erkannte  hier  Lücken, 
die  zum  Teil  erst  nach  Jahrzehnten  von  anderen  Geometern  aufgedeckt  worden 
sind.  Zum  Beispiel  spricht  Gauss  in  dem  Brief  an  Bolyai  vom  G.  März  1832 
von  dem  »Teil  des  Planums,  der  zwischen  drei  Geraden  liegt«  und  macht  dazu 
die  Anmerkung:   »Bei  einer  vollständigen  Durchführung  müssen  solche  Worte 


DIE  GRUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  43 

wie  zwischen  auch  erst  auf  klare  Begriffe  gebracht  werden,  was  sehr  gut 
angeht,  was  ich  aber  nirgends  geleistet  finde«  (W.  VIII,  S.  222^ 

Die  Erklärung  der  geraden  Linie  war  Gegenstand  des  Gespräches  ge- 
wesen, das  Gauss  und  Wolfgang  Bolyai  bei  ihrem  ersten  gemeinsamen 
Spaziergange  im  Herbst  J796  geführt  hatten.  Wie  .Iohann  Bolyai  erzählt, 
erwiderte  Gauss  auf  die  Äusserungen  Wolfgangs:  »Ja  wahrlich,  die  Gerade 
Avird  schändlich  behandelt:  sie  ist  in  der  Tat  die  Linie,  welche  sich  in  sich 
selbst  dreht«  ,Bol.  S.  197;.  Dieselbe  Erklärung  hat  Gauss  in  einer  Vorlesung 
über  praktische  Astronomie  gegeben,  die  Lübsen  im  Jahre  1830  bei  ihm  ge- 
hört hat  (W.  VIII,  S.  196);  auch  die  weitere  Bemerkung  bei  Lübsen,  das 
angegebene  Merkmal  sei  praktisch  wichtig,  z.  B.  bei  der  Justierung  eines 
Ferni'ohres,  bei  der  richtigen  Bohrung  eines  Zylinders  usw.,  ist  wohl  Gauss- 
schen  Ursprungs. 

Im  Tagebuch  steht  unter  dem  28.  Juli  179S  die  Eintragung:  »Plani  possi- 
bilitatem  demonstravi«  (T.  Nr.  72).  Was  Gauss  hiermit  ineiute,  zeigt  eine 
Stelle  in  dem  Briefe  an  Bessel  vom  2  7.  Januar  1829,  die  Erklärung  der  Ebene 
als  einer  Fläche,  in  der  die  irgend  zwei  Punkte  verbindende  gerade  Linie 
ganz  liegt,  enthalte  mehr,  als  ziu*  Bestimmung  der  Fläche  nötig  ist,  und  invol- 
viere tacite  ein  Theorem,  das  erst  bewiesen  werden  müsse  (W.  VIII,  S.  200); 
in  ähnlicher  Weise  äussert  sich  Gauss  auch  in  einer  wohl  aus  der  gleichen 
Zeit  stammenden  Aufzeichnung  (W.  VIII,  S.  194).  Auch  in  dem  Brief  an 
W.  Bolyai  vom  6.  März  1832  erklärt  es  Gauss  für  unerlässlich,  »die  Möglich- 
keit eines  Planums  zu  erweisen«  (W.  VIII,  S.  224).  Ein  solcher  Beweis  steht 
im  Handbuch  19  Be,  S.  153  (W.  VIII,  S.  194);  durch  die  unmittelbar  vorher- 
gehenden Notizen,  die  den  Dreiecks-Inhalt  und  das  Tetraeder- Volumen  in  der 
nichteuklidischen  Geometrie  betreffen  (W.  VIII,  S.  226  —  228),  ist  als  Zeit  der 
Niederschrift  der  Mäi-z  1832  gesichert.  Die  Ebene  denkt  sich  Gauss  erzeugt 
durch  die  Drehung  des  einen  Schenkels  eines  rechten  Winkels  um  den  anderen, 
festgehaltenen  Schenkel.  Auf  Anregungen  von  Gauss  gehen  wohl  auch  die 
Abhandlungen  von  Deahna  (1837)  und  Gerling  (1840)  über  die  Erldänmg 
der  Ebene  zurück^). 


1)  Deahna,  Demonstratio  thcorcmatis  esse  superficiem  planam,  Marburg  is:i7;  Cur.  L.  Gerling, 
Fragment  über  die  Begründung  des  Begriffs  der  Ebene,  Grelles  Journal,  Bd.  20,  1840,  S.  3Si.  Baltzer 
bemerkt  in  der  zweiten  AuHage  seiner  Elemente,  Bd.  II,   1867,  §  4,  Gauss  sei  der  Meinung  gewesen,  Deahnas 

6* 


44  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Bei  der  lichre  von  den  Vielecken  pflegt  man  stillschweigend  oder  aus- 
drücklich voraussetzen,  dass  der  Umfang  sich  selbst  nicht  schneidet.  Gauss 
hat  schon  früh  die  Frage,  ins  Auge  gefasst,  was  man  unter  dem  Inhalt  eines 
beliebigen  A'ielecks  zu  verstehen  habe:  in  Nr.  24  dieses  Aufsatzes  wird  man 
hierüber  Genaueres  finden.  Bei  seinen  Untersuchungen  über  die  allgemeine 
Lehre  von  den  krummen  Flächen  ist  er  auf  den  Gegenstand  zurückgekommen 
und  hat  beliebige  Figuren  betrachtet,  deren  Umfang  sich  selbst  schneidet 
(Brief  an  Olbers  vom  20.  Oktober  1825,  Br.  G.-O.  2,  S.  431,  W.  VIII,  S.  399: 
vgl.  auch  W.  I\,  8.  227).  Auch  die  Zerlegung  der  Vielecke  in  Dreiecke  hat 
er  untersucht  (W.  VIII,  S.  280);  sein  Verfahren  führt  zu  einer  Heiieitung  der 
^\'inkclsumme  des  H-Ecks.  die  dem  üblichen,  unzulänglichen  Induktionsbeweise 
vorzuziehen  ist. 

Eine  Anfrage  Gerlings  vom  20.  Juni  1846,  über  die  Unterscheidung  rechts- 
und  linksgewundener  Schrauben  {W.  VIII,  S.  247}  veranlasste  Gauss  zu  Aus- 
führungen über  die  Begriffe  rechts  und  links,  die  er  »ein  Kernstück  eines  viel 
ausgedehntem  Systems-  nennt  iBrief  vom  23.  Juni  1S46,  W.  VIII,  S.  249). 
Er  war  bereits  in  der  Selbstanzeige  der  zweiten  Abhandlung  über  die  biqua- 
dratischen Reste  vom  15.  April  1S3I  (W.  II,  8.  177),  in  der  er  seine  geo- 
metrische Versinnlichung  der  komplexen  Grössen  darlegt,  auf  den  Unterschied 
von  rechts  und  links  eingegangen  und  hatte  bemerkt,  dieser  Unterschied  sei 
»sobald  man  vorwärts  und  rückwärts  in  der  Ebene  und  oben  und  unten  in 
Beziehung  auf  die  beiden  Seiten  der  Ebene  einmal  (nach  Gefallen)  festgesetzt 
hat,  in  sich  völlig  bestimmt,  wenn  wir  gleich  unsere  Anschauung  dieses 
Unterschiedes  andern  nur  durch  Nachweisung  an  wirklich  vorhandenen  mate- 
riellen Dingen  mitteilen  könnenc  In  einer  Fussnote  hatte  er  hinzugefügt: 
»Beide  Bemerkungen  hat  schon  Kant  gemacht,  aber  man  hegreift  nicht,  wie 
dieser  schai-fsinnigc  Philosoph  in  der  ersteren  einen  Beweis  für  seine  Meinung, 
dass  der  Raum  nur  Form  unserer  äusseren  Anschauung  sei,  zu  finden  glauben 
konnte,  da  die  zweite  so  klar  das  Gegenteil  und  dass  der  Raum  unabhängig 
von  unserer  Anschauungsart  eine  reelle  Bedeutung  haben  muss,  beweiset" 
(vgl.  auch  W,  Xi,  8.  409):    eine    ähnliche    Bemerkung    enthält    der   Brief  an 


Uargtellim;;  lasse  sich  von  einigen  Mängeln,    die  in  ihr  anzutreffen  seien,    befreien ;   vgl.  auch  W.  Killing, 
Eittfiihruny  in  die  Gnmdluijen  der  Geometrie,  lid.  II,  Paderborn   isiib,  S.  iba. 


DIE  GRUNDLAGEN  DER  GEOMETRIE.  45 

Schumacher  vom  8.  Februar  1S46  W.  VIII,  S.  247)').  Einen  zweiten  Grund 
gegen  Kants  Meinung  hat  Gauss  in  dem  Brief  an  W.  Bolyai  vom  6.  März 
1832  vorgebracht.  »Gerade  in  der  Unmöglichkeit  zwischen  S  [Euklidischer 
Geometrie]  und  <S  [nichteuklidischer  Geometrie]  a  priori  zu  entscheiden,  liegt 
der  klarste  Beweis,  dass  Kant  Unrecht  hatte  zu  behaupten,  der  Raum  sei  nur 
Form  unserer  Anschauung«    W.  VIII,  8.  224  . 

In  dasselbe  Kapitel  wie  die  Erörterungen  über  die  Begriffe  von  Rechts 
und  Links  gehören  die  Einführung  der  gerichteten  geraden  Linien  (\V.  VIII, 
S.  408 1,  die  Unterscheidung  zwischen  den  beiden  zu  einem  grössten  Kreise 
der  Kugel  gehörenden  Polen  (W.  VII,  S.  17  7,  IV.  S.  221)  und  die  Sätze,  dass 
symmetrische  sphärische  Dreiecke  flächengleich,  symmetrische  Raumstücke 
volumengleich  sind.  Gerling  hatte  den  ersten  Satz  diu'ch  Zerlegung  in  Teil- 
Dreiecke  bewiesen,  die  paarweise  kongruent  sind  (Brief  an  Gauss  vom  25.  März 
1813,  W.  VIII,  S.  240\  Als  er  am  26.  Februar  1844  darauf  zurückkam, 
forderte  ihn  Gauss  auf,  den  zweiten  zu  beweisen  (Brief  vom  8.  April  1844, 
W.  VIII,  S.  241).  Gerling  konnte  auch  hier  zeigen,  dass  die  Gebilde  sich 
in  PjTramiden  zerlegen  lassen,  die  paarweise  kongruent  sind  (Brief  vom  15.  April 
1844,  W.  VIII,  S.  242)-).  Nunmehr  warf  Gauss  die  Frage  auf,  ob  man  in 
ähnlicher  Weise,  unabhängig  von  der  Exhaustionsmethode,  zeigen  könne,  dass 
Pyramiden  von  gleicher  Grundfläche  und  gleicher  Höhe  gleichen  Rauminhalt 
haben  Brief  vom  17.  April  1844,  W.  VIII,  S.  244  '),  aber  hier  gelangte  Ger- 
ling nicht  zum  Ziele  (Brief  vom  7.  Juli  1844,  W.  VIII,  S.  245).  Durch  die 
Herausgabe  der  bis  dahin  unbekannten  Briefe  von  Gauss  und  Gerling  im 
achten  Bande  der  Werke  (1900)  wurde  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Frage 
der  Volumengleichheit  der  Polyeder  gelenkt,  und  so  könnte  man  letzten  Endes 


1)  Vgl.  noch  E.  Stidy,  Bie  Begriffe  Links,  Rechts,  Windungssinn  und  Drehungssinn,  Archiv  der 
Mathematik  und  Physik,  3.  Reihe,  Bd.  21,  lois,  S.  i'J3;  hier  wird  auf  den  Briefwechsel  zwischen  Gauss 
und  Gekling  ausführlich  Bezug  genommen. 

2)  Gerlings  Beweis  ist  von  HESsf;L  vereinfacht  worden ;  Einige  neue  Beweise  von  Lehrsätzen  aus 
der  Elementar- Stereometrie,  Archiv  der  Mathematik  und  Physik,  I.Reihe,  Bd.  7,  1846,  S.  284;  Hessei,  be- 
merkt, dass  Gerlixg  durch  Gauss  zu  seinen  Untersuchungen  veranlasst  worden  sei. 

3)  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  Gauss  diese  Fragestellung  dem  Tentamen  AVolfg.\NG  Bolyais 
verdankte;  dieser  hatte  die  Frage  von  der  »endlichen  Gleichheit«  bei  Flächenstücken  ausführlich  untersucht 
und  dazu  bemerkt,  ob  eine  beliebige  dreiseitige  Pyramide  durch  endliche  Gleichheit  auf  ein  Prisma  zurück- 
geführt werden  könne  oder  nicht,  sei  noch  nicht  klargestellt  [Tentamen,  t.  II,  S.  I7s.  ed.  secunda,  Budapest 
1904,  S.  241;  vgl.  BOL.   S.  40   und   ISS). 


46  STÄCKET,,    GAUSS  AT.S   GEOMETER. 

den  Bi'weis  Dehns.  dass  die  Exhaustionsmcthode   bei   der  Vülumenbestimmung 
unentbehrlich  ist'),  auf  eine  Ani'egung  von  Gauss  zuiückfühien. 


Abselinilt    II. 

Geometria  sitns. 


11. 

Allgemeines  über  die  Geometria  situs  bei  Gauss. 

Von  den  Schriften,  die  Gauss  veröffentlicht  hat,  bezieht  sich  keine  un- 
mittelbar auf  die  Geometria  situs,  und  doch  hat  dieser  Gegenstand  ihn  sein 
ganzes  Leben  hindurch  beschäftigt.  Aus  Gesprächen  mit  Gauss,  die  in  dessen 
letzte  Lebensjahre,  1S47  bis  1855,  fallen,  berichtet  Sartorius  v.  Walters- 
hausen: »Eine  ausserordentliche  Hoffnung  setzte  er  auf  die  Ausbildung  der 
Geometria  situs,  in  der  weite,  gänzlich  unangebaute  Felder  sich  befänden,  die 
durch  unseren  gegenwärtigen  Kalkül  noch  so  gut  wie  garnicht  beherrscht 
werden  könnten«  (Sartorius,  S.  88).  Eine  ganz  ähnliche  Äusserung  hatte  er 
aber  etwa  50  Jahre  früher  getan.  Am  12.  Oktober  1S02  schrieb  er  an  Olbers: 
».  .  .  auch  werde  nächstens  ein  Werk  von  Carnot,  Geometrie  de  position'^) 
herauskommen,  worauf  ich  überaus  begierig  hin.  Dieser  bisher  fast  ganz 
brachliegende  Gegenstand,  über  den  wir  nur  einige  Fragmente  von  Euler 
und  einem  von  mir  sehr  hochgeschätzten  Geomcter  Vandermonde  haben,  muss 
ein  ganz  neues  Feld  eröffnen  und  einen  ganz  eigenen,  höchst  interessanten 
Zweig  der  erhabenen  Grössenlehre  bilden«  (Br.  G.-O.  1,  S.  103). 

1)  M.  Dehn,  Über  raumgleiche  Polyeder,  Göttinger  Nachrichten  mod,  S.  :i45;  Über  den  Rauminhalt, 
Math.  Annalen,  Bd.  &5,  nioi,  S.  465;  vgl.  jedoch  schon  R.  Uricard,  Sur  une  question  de  giomitrie  relative 
aux  polyedres,  Nouv.  ann.  de  math.,  serie  3,  t.  n,  18'J6,  S.  331  und  G.  Si'OR/A,  Un'  osservazimie  null'  eqüi- 
valeriza  dei  poUedri  per  congruema  delle  parli,  Periodico  di  mat.,  t.  12,  I8'.i7,  S.  105. 

2)  L.  Carnot,  Geometrie  de  posilion,  Paris  IS03;  ins  Deutsche  übersetzt  von  H.  C.  Schumacher, 
2  Bände,  Altena  I810.  Unter  Geometrie  de  position  versteht  jedoch  Carnot  etwas  anderes  als  die  Geo- 
metria situs,  nämlich  Untersuchungen,  die  sich  auf  die  Anwendung  negativer  Zahlen  in  der  Geometrie  be- 
ziehen. Später  hat  man  vielfach  auch  die  projektive  Geometrie  als  Geometrie  der  Lage  bezeichnet  und  ihr 
die  Geometrie  des  Masses  gegenübergestellt,  was  ebenfalls  mit  der  Geometria  situs  im  Sinne  von  Gauss 
nichts  zu  tun  hat. 


GEOMETRIA  SITUS.  47 

In  der  Tat  hatte  Euler  die  Frage  behandelt,  ob  es  möglich  sei,  die 
sieben  Brücken,  die  in  Königsberg  i.  Pr.  über  die  Pregelarme  führen,  hinter 
einander  und  jede  nur  einmal  zu  überschreiten';.  Er  hatte  femer  die  grund- 
legende Beziehung  zwischen  den  Anzahlen  der  Ecken,  Kanten  und  Seiten- 
flächen eines  konvexen  Polyeders  entdeckt  und  bewiesen-].  Endlich  hatte  er 
sich  mit  den  Rösselsprüngen  auf  dem  Schachbrett  befasst^.  An  ihn  anknüpfend 
hatte  Vandermonde  die  mathematische  Behandlung  des  Rösselsprunges  ge- 
fördert und  sein  Verfahren  auf  die  anal)  tische  Darstellung  von  Geweben  aus-7 
gedehnt*;. 

Es  seien  noch  zwei  Äusserungen  von  Gauss  angeführt,  die  aus  der  Mitte 
seiner  Lebensbahn  überliefert  sind. 

Am  30.  Oktober  1825  berichtet  Gauss  seinem  Freunde  Schumacher,  dass 
er  in  den  Untersuchungen  über  die  allgemeine  Lehre  von  den  ki-ummen 
Flächen  Fortschritte  gemacht  habe,  und  sagt:  »Man  muss  den  Baum  zu  allen 
seinen  Wurzelfäden  verfolgen,  und  manches  davon  kostet  mir  wochenlanges 
angestrengtes  Nachdenken.  Vieles  davon  gehört  sogar  in  die  Geometria  situs, 
ein  fast  noch  ganz  unbearbeitetes  Feld«  (W.  VEEI,  S.  400). 

In  einer  Aufzeichnung  im  Handbuch  19  Be,  die  vom  22.  Januar  1833 
datiert  ist,  heisst  es:  «Von  der  Geometria  Situs,  die  Leibniz  ahnte,  und  in 
die  nur  einem  paar  Geometem  (Euler  und  Vandermonde)  einen  schwachen 
Blick  zu  tun  vergönnt  war,  wissen  und  haben  wir  nach  anderthalbhundert 
Jahren  noch  nicht  viel  mehr  wie  nichts.    Eine  Hauptaufgabe  aus  dem  Greuz- 


1)  L.  Euler,  Solutio  pröblematis  ad  geometriam  situs  pertinentis,  Coniment.  acad.  sc.  Petrop.  s  (I7:i6), 
l"4),  S.  I2S  vorgelegt  den  26.  August  i"35);  vgl.  den  Artikel  Situation  von  d'Alembert,  Encyclopedie 
methodique,  Abteilung  Math.,  Bd.  III,  Paris  1789,  S.  53. 

2)  L.  Edler,  Elementa  doctrinae  solidorum,  Novi  Comment.  acad.  sc.  Petrop.  4  (1752/3),  17S8,  S.  lou 
(gelesen  Berlin,  den  26.  Nov.  1750) ;  Demonstratio  nonnullarum  proprietatum,  quibus  solida  hedris  planis 
inclusa  sunt  praedita,  ebenda,  S.  14»  (vorgelegt  den  6.  April  1752);  vgl.  A.  L.  F.  Meister,  Commentatio 
de  solidis  geometricis,  Comment.  See.  sc.  Gotting.    Vol.  7  (17S4/S5)  17  86,  Comm.  Math.  S.  1. 

3)  L.  Edler,  Solution  d'une  question  curieuse  qiii  ne  paroit  soumise  ä  aucune  analyse,  Hist.  de 
TAcad.,  annee  1759,  Berlin  1766,  Memoires,  S.  3lii. 

4)  Ch.  A.  Vandermonde,  Bemarques  sur  les  prdbVcmes  de  Situation,  Hist.  de  l'Acad.  annee  1 7  7 1 , 
Paris  1774,  S.  566.  V.  sagt:  »Leibniz  promit  un  ealcul  de  Situation  et  mourut  sans  lien  publier.  C'est 
un  sujet  oü  tout  reste  ä  faire  et  qui  meriterait  bien  qu'on  s  en  occupät«.  —  Zu  nennen  wären  femer  noch 
die  Abhandlungen:  N.  1''ergol.\,  Nuovo  metodo  da  risolvere  alcuni  prohlemi  di  sito  e  posizione,  Atti  dell- 
Acad.,  Napoli  1787,  S.  ii9;  Nuove  ricerdie  sulle  risolueioni  dei  prohlemi  di  sito,  ebenda,  S.  ts;  und  A.  N. 
GlORU.ASo,  Nuovo  metodo  da  risolvere  alcuni  prohlemi  di  sito  e  posizione,  ebenda,  S.  i:)'j. 


48  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

gebiet  der  Geometria  Situs  und  der  Geometria  Magnitudinis  wird 
die  sein,  die  Umschlingungen  zweier  geschlossener  oder  unendlicher  Linien 
zu  zählen«  (W.  V.,  S.  005). 

Bei  den  vorstehenden  Worten  hat  Gauss  wohl  an  den  Brief  gedacht,  den 
Leibniz  am  S.September  1679  an  Huygens  gerichtet  hatte  imd  der  damals 
von  Uylenbroek  veröffentlicht  worden  war").  Leibniz  schreibt  dort:  »Je  crois 
qu'il  nous  faut  encore  unc  autrc  Analyse  proprement  geometrique  ou  Unfaire 
qui  nous  exprime  directement  situm,  comme  l'Algebre  exprime  magnitu- 
dineni". 

Die  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen  vom  Jahre  1834  enthalten  eine  aus- 
führliche Besprechung  der  ÜTLENBROEKSchen  Veröffentlichung  von  M.  Stern 
(seit  1829  Privatdozent  der  Mathematik  in  Göttingen),  den  der  Essay  von 
Leibniz  um  so  mehr  interessiert  hatte,  »als  ei'  sich  erinnert,  von  dem  grössten 
Mathematiker  unserer  Zeit  einige  Ideen  über  Geometrie  gehört  zu  haben,  die 
mit  einigen  hier  vorkommenden  durchaus  übereinstimmen«  (S.  1940).  Hierzu 
ist  jedoch  zu  bemerken,  dass  Leibniz  weniger  an  die  Geometria  situs  im  Sinne 
von  Gauss  »als  an  einen  geometrischen  Algorithmus  denkt,  der  für  einzelne 
geometi'ische  Probleme  eher  eine  genuine  Lösungsmethode  liefert,  als  die  Me- 
thode der  gewöhnlichen  analytischen  Geometrie«^). 

Bei  der  Geometria  situs  besitzen  wir  in  den  wenigen  uns  erhaltenen  Auf- 
zeichnungen und  überlieferten  gelegentlichen  Äusserungen  nur  die  Spuren 
ausgedehnter  Untersuchungen,  die  Gauss  angestellt  hatte.  Dies  geht  auch 
daraus  hervor,  dass  er  wiederholt  geplant  hat,  darüber  etwas  durch  den  Druck 
bekannt  zu  machen.  So  schreibt  Möbius  am  2.  Februar  1847  an  Gauss:  »Wie 
ich  von  W.  Weber  gehört  habe,  haben  Sie  schon  vor  einigen  Jahren  beab- 
sichtigt,   als  Einleitung    oder  Vorbereitung   der  Theorie    der   elektrischen  oder 


i;  J.  L'Yi.ENisiioEK,  Chr.  Hugenii  aliorumque  secuU  XVII.  virorum  celebrium  exercitationes  viathe- 
maticae  et  philosojjhicae,  Haag  isas,  Heft  l,  S.  a ;  im  Heft  2,  S.  6  ist  der  dem  Briefe  beigelegte  Ver- 
such einer  geometrischen  Charakteristili  abgedruckt.  Beides  findet  man  wieder  in  LElUNIzens  Mathemati- 
schen Schriften,  herausgegeben  von  C.  J.  Gerhardt,  i.  Abt.,  Bd.  2,  Berlin  isso,  S.  l9,  2o,  ferner  in  Gra.s.s- 
MANNs  Gesammelten  mathematischen  und  physikalischen  Werken,  Bd.  I,  Teil  i,  Leipzig  1894,  S.  4i7,  in  den 
Oeuvres  complHes  von  Chr.  Hlvgens,  Bd.  8,  Haag  18U9,  S.  216,  2ii)  und  endlich  bei  C.  J.  Gkrhaudt, 
Der  Briefweclisel  von  Leibniz  mit  Mathematikern,  Bd.  1,  Berlin  18!)9,  S.  568,  57o. 

2)  M.  Dehn  und  V.  Heeoaard,  Analysis  situs,  Encyklopädie  der  mathematischen  Wissenschaften, 
Bd.  Ill,  Teil  1,  S.  l.'.4. 


GEOMETRIA   SITUS.  49 

magnetischen  Strömungen  eine  Abhandlung  über  aUe  möglichen  Umschlingungen 
eines  Fadens  zu  schreiben.  Steht  es  nicht  zu  hoffen,  dass  diese  Abhandlung 
bald  erscheinen  wird?  Die  Erfüllung  dieser  Hoffnung  wüi'de  mir  und  gewiss 
auch  vielen  Andern  sehr  erwünscht  sein«  (Brief  im  Gauss -Archiv:.  Gauss 
scheint  dem  Gedanken  einer  solchen  Veröffentlichung  näher  getreten  zu  sein, 
hat  jedoch  schliesslich  davon  Abstand  genommen.  Dies  ergibt  sich  aus  einem 
Briefe  an  Möbius  vom  13.  August  1849,  in  dem  er  diesem  zunächst  für  die 
Übersendung  einer  Abhandlung  über  die  Gestalten  der  Kurven  dritter  Ord- 
nung dankt  und  ihn  auffordert,  in  entsprechender  Weise  die  gestaltlichen  Ver- 
hältnisse der  algebraischen  Kurven  zu  untersuchen,  die  in  GAUSsens  Disser- 
tation 1709  auftreten,  und  dann  fortfährt:  »Anderes  damit  Verwandtes  hat 
mich  vielfach  beschäftigt,  und  ich  wollte  erst  in  meiner  neulich  16.  Juli  1849] 
in  der  Sozietät  gehaltenen  Vorlesung  [Beiträge  zur  Theorie  der  algebraischen 
Gleichungen]  die  Darstellung  der  Hauptmomente  jener  Untersuchung  als  dritten 
Teil  bestimmen;  aber  ich  würde  zur  Ausarbeitung  dieser  Darstellung  einer 
viel  grösseren  Müsse  bedui'ft  haben,  als  sie  mir  zu  Gebote  gestanden  hat« 
(W.  Xi,  S.  109.  Eine  Andeutung  dieser  Absicht  ist  wohl  die  Stelle  in  Art.  3 
der  Beiträge,  wo  Gauss  bemerkt,  die  von  ihm  vorzutragende  Beweisführung 
für  den  Fnndamentalsatz  der  Algebra  »gehöre  im  Grunde  einem  höhern,  vou 
Räumlichem  unabhängigen  Gebiete  der  allgemeinen  abstrakten  Grössenlehre 
an,  deren  Gegenstand  die  nach  der  Stetigkeit  zusammenhängenden  Grössen- 
kombinationen  sind,  einem  Gebiete,  welches  ziu-  Zeit  noch  wenig  angebauet  ist, 
und  in  welchem  man  sich  auch  nicht  bewegen  kann  ohne  eine  von  räumlichen 
Bildern  entlehnte  Sprache«  (W.  III.  S.  79).  Vielleicht  enthält  das  Bruchstück 
einer  Abhandlung  über  die  Konvergenz  der  Reihen  (W.  Xi,  S.  407 — 410) 
einen  Teil  jener  Untersuchungen  (vgl.  S.  55). 

Im  Folgenden  wird  zunächst  berichtet  werden,  was  sich  unmittelbar  aiif 
Grund  der  nachgelassenen  Aufzeichnungen  und  mittelbar  an  der  Hand  von 
Veröffentlichungen  über  andere  Gegenstände  über  die  Geometria  situs  bei 
Gauss  sagen  lässt.  Alsdann  soll  versucht  werden,  dem  Einfluss  nachzugehen, 
den  mündliche  Andeutungen  von  Gauss  auf  die  Entwicklung  dieses  Zweiges 
der  Grössenlehre  gehabt  liaben. 


X  2  Abh.  A. 


50  STÄCKET.,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

12. 

Verknotungen  und  A'erkettunujen  von  Kurven. 

Eine  der  ältesten  Aufzeichnungen  von  Gauss,  die  uns  überlmupt  im  Nach- 
lass  erhalten  sind,  ist  ein  Blatt  mit  der  Jahreszahl  1794.  Es  trägt  die  Über- 
schrift: A  collect ion  of  knots  iind  enthält  13  sauber  gezeichnete  Ansichten 
von  Knoten  mit  daneben  geschriebenen  englischen  Namen;  man  darf  wohl 
annehmen,  dass  es  sich  um  einen  Auszug  aus  einem  englischen  Buche  über 
Knoten  handelt.  Dabei  liegen  zwei  weitere  Zettel  mit  Zeichnungen  von 
Knoten:  der  eine  ist  datiert  1819,  der  andere  stammt  wohl  aus  noch  späterer 
Zeit,  denn  Gauss  hat  darauf  vermerkt:  »lliEni,,  Beiträge  zur  Theorie  des  Se/nien- 
winkels.  AVien   1827«. 

Auf  die  Verknotungen  geschlossener  Kurven  beziehen  sich  die  Bemerkungen, 
die  aus  dem  Nachlass  W.  VIII.  S.  271 — 285  abgedruckt  sind.  Im  Besonderen 
hat  Gauss  in  einer  aus  dem  Dezember  1844  stammenden  Notiz  die«  zahlreichen 
Formen  ermittelt,  die  geschlossene  Kurven  mit  vier  Knoten  aufweisen  können. 

Die  Verkettung  von  zwei  Kurven  im  Räume  betrifft  die  schon  erwähnte 
Bemerkung  vom  22.  Januar  1833  'W.  V,  S.  605),  in  der  am  Schluss  die  be- 
kannte Integialformel  für-  die  Anzahl  der  Umschlingungcn  mitgeteilt  wird. 
»Es  war  damit  der  erste  Anfang  gemacht  worden  zu  der  später  vor  allem 
durch  die  von  W.  Dyck  benutzte  KRONECKERSche  Charakteristikentheorie  er- 
folgreichen Anwendung  der  höheren  Analysis  auf  die  Geometria  situs« '). 

Die  Bestimmung  der  gegenseitigen  Lage  von  Kurven  in  der  Ebene  ist 
das  Mittel,  dessen  sich  Gauss  in  seiner  Dissertation  (1799)  bei  der  Herleitung 
des  Fundamentalsatzes  der  Algebra  bedient  hatte").  Noch  stärker  tritt  dieser 
Gesichtspunkt  bei  der  neuen  Darstellung  vom  Jahre  IS 49  hervor:  »Ich  werde 
die  Beweisführung  in  einer  der  Geometrie  der  Lage  entnommenen  Einkleidung 
darstellen,  weil  jene  dadurch  die  grösste  Anschaulichkeit  und  Einfachheit  ge- 


i<  M.  Dehn  und  P.  Heegaard,  a.a.O.,  S.  iss.  Man  findet  hier  auch  ausführliche  Angaben  über 
die  anschliessenden  Arbeiten.  Hinzuzufügen  ist,  dass  Fr.  Zöllneu,  Naturwissenschaft  «nd  christliche  Offen- 
barung, Leipzig  issi,  S.  100  berichtet,  ein  gewisser  Schürlein,  ein  Schüler  von  G.\uss,  habe  sich  sehr 
eingehend  und  unter  stetiger  Teilnahme  von  G.w.ss  mit  diesem  Gegenstande  beschäftigt ;  leider  ist  es  nicht 
möglich  gewesen.  Näheres  hierüber  zu  ermitteln. 

1,  In  der  Fuasnote  zum  art.  21  der  Dissertation  sagt  Gauss  ausdrücklich,  Beweise,  die  sich  auf  die 
Geometria  situs  stützten,  seien  nicht  weniger  schlüssig  als  solche,  bei  denen  man  sich  der  Prinzipien  der 
Geometria  magnitudinie  bediene. 


GEOMETRIA  SITUS.  51 

winnt«  ^^^  III.  S.  7vt  .  Es  folgt  die  vorher  (S.  49  angeführte  Bemerkung 
über  die  nach  der  Stetigkeit  zusammenhängenden  Grössenkombinationen.  Hierin 
liegt  jedoch  keine  Einschränkung,  weil  »zwar  die  räumliche  Anschauung  der 
beste  Führer  in  der  Entdeckung  neuer  Sätze  'der  Geometria  situs'  und  ihrer 
Beweise  ist,  man  aber  in  jedem  einzelnen  dieser  Fälle  sehen  kann,  dass  die 
in  Betracht  kommenden  Schlüsse  auch  allein  mit  Hilfe  abstrakter  Entwicklungen 
gemacht  werden  können»  '■. 

Endlich  sind  noch  die  Untersuchungen  zu  nennen,  die  Gauss  über  die 
möglichen  Verteilungsarten  der  geozentrischen  Örter  eines  Planeten  auf  dem 
Zodiakus  angestellt  hat  (W.  VI,  S.  106\  und  die  hierbei  erwähnten  Fälle  eines 
kettenartigen  Ineinandergreifens  zweier  Planetenbahnen,  wie  es  bei  den  Aste- 
roiden mehrfach  verwirklicht  ist. 

13. 

MüBius,  Listing,  Riemann. 

Mit  der  Frage,  welchen  Einfluss  Gauss  auf  die  weitere  Entwicklung  der 
(ieometria  situs  gehabt  hat.  kommen  wir  auf  ein  schwieriges  Gebiet,  denn 
ein  solcher  Einfluss  war  im  Wesentlichen  nur  möglich  durch  mündliche 
Äusserungen,  von  denen  manche,  wie  es  scheint,  gar  erst  diuch  Mittelsleute 
an  die  Stelle  gekommen  sind,  wo  sie  gewirkt  haben:  es  waren  Funken,  die 
nur  da  zündeten,  wo  schlummernde  Energien  zu  wecken  waren,  und  es  heisst 
daher  nicht,  hervorragende  Männer  wie  Möbius,  Listing,  Riemann  verkleinern, 
wenn  man  glaubt,  Gauss  einen  gewissen  Einfluss  auf  ihre  Entdeckungen  zu- 
schreiben zu  müssen. 

MöBius  1790 — 186S  ist  nach  Abschluss  seiner  Leipziger  Studien  im 
Herbst  1813  als  Dreiundzwanzigj ähriger  nach  Göttingen  gekommen  und  hat 
dort  etwa  ein  Semester  lang  unter  Leitung  von  Gauss  auf  der  Sternwarte  ge- 
arbeitet Brief  von  Gauss  an  OlbepxS  vom  23.  April  1814,  Br.  G.-O.  1.  S.  543). 
Es  war  die  Zeit,  wo  man  in  der  Astionomie  von  einer  GAUssschen  Schule 
sprechen  konnte,  aus  der  Encke,  Gekling,  Nicolai,  ScHxntfACHER,  Seeber,  Struve, 
Wächter  hervorgegangen  sind.  Dass  der  junge  Sachse  damals  in  nähere  Be- 
ziehxingen  zu  Gauss  gekommen  ist,  zeigt  der  fieundschaftliche  Ton  der  Briefe, 


I)  M.  Dehn  und  P.  Heega.vru,  a.  a.  ().,  S.  i7o. 


52  STÄCKEI.,     GAUSS  ALS  GEOMETER. 

die  lange  Jahre  hindui-ch  zwischen  ihnen  gewechselt  worden  sind.  Es  bestand 
zwischen  Gauss  und  Möbius.  als  dieser  in  Göttingen  weilte,  jenes  Verhältnis, 
das  Gauss  am  förderlichsten  schien.  -Meiner  Einsicht  nach  ist  [ein  förmlicher 
Unterricht]  bei  solchen  Köpfen,  die  nicht  etwa  nur  eine  Masse  von  Kennt- 
nissen einsammeln  wollen,  sondern  denen  es  hauptsächlich  daran  liegt,  ihre 
eigenen  Kräfte  zu  üben,  sehr  unzweckmässig;  einen  solchen  muss  man  nicht 
bei  der  Hand  fassen  und  zum  Ziele  führen,  sondern  nur  von  Zeit  zu  Zeit 
ihm  AVinke  geben,  um  sich  selbst  auf  dem  kürzesten  Wege  hinzufinden«  (Brief 
an  Schumacher  vom  2.  Oktober  1808.  Br.  G.-Sch.  I,  S.  6  .  Wie  weit  die  zahl- 
reichen Berührungspunkte  zwischen  den  Untersuchungen  von  Möbius  und  den 
Gedanken  von  Gauss  auf  Gespräche  oder  auch,  wie  Listing  einmal  sagt,  auf 
hingeworfene  Äusserungen«  zurückzuführen  sind,  vielleicht  zum  Teil  in  unbe- 
wusster  Nachwirkung,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis.  In  einem  Falle  freilich 
hat  sich  Möbius  ausdrücklich  auf  eine  mündliche  Mitteilung  von  Gauss  be- 
zogen, nämlich  in  Aufzeichnungen  aus  den  Jahren  1858  und  1859  über  die 
Topologie  der  kmmmen  Flächen  und  im  Besonderen  der  Polyeder,  Aufzeich- 
nungen, die  erst  1886  durch  Reinhardt  aus  dem  Nachlass  herausgegeben 
worden  sind ' .  In  dem  Abschnitt  über  Flächen  und  Polyeder  höherer  Klasse 
mehi-fachen  Zusammenhanges;  werden  auch  die  Eigenschaften  eines  Doppel- 
ringes betrachtet,  imd  es  heisst :  oMan  kann  sich  einen  solchen  Doppelring 
leicht  zur  Anschauung  bringen,  wenn  man  ein  Blatt  Papier  in  Form  eines 
T    _  Kreuzes  ausschneidet  und  hierauf  die  Enden  FH 

und  F'  H'    siehe  die  Figur;  des  einen  Paares  ein- 
ander gegenüberliegender  Arme  etwa  oberhalb  der 
anfäuglichen  Ebene    des   Kreuzes    und    die   Enden 
lg     BD  und  B' D'  des  anderen  Paares  unterhalb  dieser 

^     Ebene    mit    einander    vereinigt.     Es    besitzt    diese 

niu-  von  einer  Lmie  ABW IHHOiTD E^FA 
begrenzte  Fläche  noch  die  merkwürdige  Eigen- 
schaft nach  einer  mündlichen  Mitteilunt'  von  Gauss  : 


I  A.  F.  MöBirs,  Gesammelte  Werke  II.  Leipzig  ISss,  S.  sis  —  5s:i.  Eineu  Teil  der  darin  enthaltenen 
Krjrebnisse  hat  MöBlfs  veröffentlicht:  Theorie  der  demenlaren  Verwandtuchaft,  Leipziger  Berichte  1885, 
S.  1».  Werke  II,  S.  4:13;   Über  die  Besliiiiinu»g  des  InhcMs  eines  Polyeders,  ebenda  1865,  S.  31,  Werke  II 

S.  473. 


GEOMETßlA  SITUS.  53 

wodurch  G.  zur  Betrachtung  der  Fläche  geführt  worden  ist,  ist  mir  unbe- 
kannt ,  dass  man  von  irgend  \"ier  auf  ihrem  Perimeter  auf  einander  folgenden 
Punkten  P,  Q.  R,  S  den  ersten  mit  dem  dritten  und  den  zweiten  mit  dem 
vierten  durch  zwei  Linien  FT  TR  und  QUÜ'S  verbinden  kann,  welche  in 
der  Fläche  selbst  liegen  und  dennoch  einander  nicht  schneiden,  —  wie  dies 
doch  immer  geschehen  würde,  wenn  die  Fläche  eine  Grundform  der  ersten 
Klasse  'einfach  zusammenhängend!  wäre«  (S.  541  . 

Als  die  Fürstlich  .lABLoxowsKische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu 
Leipzig  im  Jahre  184  4  die  Preisaufgabe  gestellt  und,  nachdem  keine  Lösung 
eingelaufen  war,  1S4  5  wiederholt  hatte:  »Es  soll  nach  den  vorhandenen  Bruch- 
stücken die  von  Leibniz  geplante  geometrische  Charakteristik  wiederhergestellt 
und  weiter  ausgebildet  werden«,  hat  Möbics  Grassjllnn  darauf  hingewiesen, 
und  dessen  Abhandlung :  Geometrische  Analyse  hat  am  1 .  -Juli  1 S  4  6  auf  den 
eingehend  begriindeten  Antrag  von  Drobisch  imd  Möbius  den  Preis  erhalten';. 
MöBius  hat  am  2.  Februar  1S47  einen  Abdruck  der  Preisarbeit  an  Gauss  ge- 
sandt", sicherlich  in  der  Annahme,  dass  dieser  an  dem  Gegenstande  Anteil 
nehme. 

Weiteres  über  Beziehungen  zwischen  Gedanken  von  Gauss  und  von  Mö- 
bius findet  man  im  vierten  Abschnitt  dieses  Aufsatzes. 

Listing  180  6 — 1882  hatte  in  Göttingen  Mathematik  und  Xaturwissen- 
schaften  studiert  irnd  war  dort  1834  unter  dem  Dekanat  von  Gauss  mit  einer 
Abhandlung  über  die  Flächen  zweiter  Ordnung  promoviert  worden.  Noch  in 
demselben  Jahre  schloss  er  sich  Saktorius  v.  ^\'altershause>"  auf  einer  Reise 
nach  Sizilien  an  und  wurde  sein  Gehilfe  bei  den  geologischen  L^ntersuchungen 
am  Aetna.  Nach  Deutschland  zurückgekehrt  ist  er  seit  1837  als  Lehrer  der 
Maschinenkunde  am  Polytechnikum  zu  Hannover  und  seit  1839  als  Professor 
der  Physik  an  der  Universität  Göttingen  tätig  gewesen. 

Der  Nachlass  Listings'  zeigt,  dass  er  sich  schon  früh  mit  dem  Knoten- 
weseni    und   seinen   Beziehungen   zur   Praxis    der    Seeleute   und   der  Pioniere 


1)  Vgl.  Grassmmms  Leben  von  F.  Engel,  Gkassma>"Ss  Werke  UI,  Teil  2.  Leipzig  i'Jii,  S.  los— tis. 
Die  Abhandlung  ist  abgedruckt  in  den  Werken  Bd.  I,  Teil  i,  S.  321 — 399. 

J)  Gkassmaxns  Werke  UI.  Teil  2,  S.  ut. 

3^  Die  betreffenden  .\ufzeichnungen  besitzt  teils  die  Unirersitätsbibliothek  in  Göttingen,  teOs  der  Ver- 
fagaer  dieses  Aufsatzes. 


54  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

befasst  hat.  In  einem  Briefe  an  einen  gewissen  Müller  in  Göttingrn,  datiert 
Catania,  den  I.April  1836,  schreibt  er:  »Die  erste  Idee,  mich  in  der  Sache 
[der  Geometria  situs]  zu  versuchen,  ist  mir  durch  allerU>i  Vorkommnisse  bei 
den  jiraktischen  Arbeiten  auf  der  Sternwarte  in  (TÖttingen  und  durch  hin- 
geworfene Äusserungen  von  Gauss  beigekommen«.  Dass  Gauss  in  den  Vor- 
lesungen über  praktische  Astronomie  die  Geometria  situs  berührt  hat.  bezeugt 
die  Theorie  den  Vortrags  von  Lehren,  die  Raumverhnltnisse  betreffen.  W.  VIII, 
S.  196—199. 

In  demselben  Sinne  schreibt  Listing  in  einer  1856  verfassten  kurzen 
Lebensbeschreibung:  »Einen  andern  Gegenstand  meiner  Beschäftigung  bildet 
seit  langer  Zeit  die  Untersuchung  der  modalen  nichtquantitativen)  Raum- 
verhältnisse, zu  der  schon  IjEibniz  die  Idee  gefasst  hatte.  Ich  habe  zu  dieser 
fast  noch  ganz  unausgebauten  quasi-mathematischen  Disziplin,  zum  Teil  durch 
Gauss  aufgemuntert,  in  den  Vorstudien  zur  Topologie,  Göttingen  1847,  einen 
ersten  Versuch  veröffentlicht,  dem  ich  künftig  noch  andere  hoffe  folgen  lassen 
zu  können«. 

Nach  seinen  Aufzeichnungen  hat  Listing  schon  während  des  Aufenthalts 
in  Italien,  seit  1835,  begonnen,  sich  mit  der  Topologie  zu  beschäftigen;  so 
wollte  er  die  Lehre  von  den  »qualitativen  Gesetzen  der  örtlichen  Verhältnisse« 
genannt  wissen,  weil  der  Name  Geometrie  der  I^age  schon  in  anderer  Be- 
deutung verwendet  werde.  Der  lange  Brief  an  Müller  vom  I.April  1836 
beweist,  dass  er  bereits  damals  im  Wesentlichen  zu  den  Ergebnissen  gelangt 
war,  die  er  184  7  in  der  Zeitschrift  »Göttinger  Studien«  als  Abhandlung  und 
dann  1848  als  besondere  Schrift  veröffentlicht  hat.  Dass  er  im  Jahre  184  5 
seine  Beschäftigung  mit  der  Topologie  wieder  aufnahm  und  nunmehr  zu  einem 
ersten  Abschluss  kam,  ist  wohl  auf  eine  Anregung  von  Gauss  zurückzuführen, 
denn  in  den  tagebuchartigen  Notizen,  den  »Diarien«,  die  Listing  geführt  hat, 
ist  unter  dem   2.  Januar  184  5  verzeichnet;   »Bei  Gauss,  Geometria  situs«. 

Mit  dem  Jahre  1858  beginnt  eine  neue  Reihe  topologischer  Untersuchungen, 
die  zu  der  grossen,  1862  erschienenen  Abhandlung  über  den  Census  räumlicher 
Complexe  geführt  haben.  Das  Ziel  Listings  war,  dem  EuLERSchen  Satze  über 
die  Beziehung  zwischen  den  Anzahlen  der  Ecken,  Kanten  und  Flächen  eines 
Vielflachs,  der  nur  unter  einschränkenden  Voraussetzungen  richtig  ist,  eine 
allgemein    gültige    Form    zu    geben.       Merkwürdigerweise    hat    in    demselben 


GEOMETRIA  SITUS.  55 

Jahre  185S  auch  Möbius  begonnen,  sich  mit  der  Geometria  situs  der  Polyeder 
zu  beschäftigen'),  und  beide,  Listing  und  Möbius,  sind  fast  gleichzeitig  und 
unabhängig    von    einander   zur   Entdeckung   der   einseitigen  Flächen    gelangt"). 

Den  Schlüssel  zur  Verallgemeinerung  des  EuLERSchen  Satzes  bildet  der 
Begriff  des  Zusammenhangs  oder,  wie  Listing  mit  einem  nicht  üblich  ge- 
wordenen Worte  sagt,  der  Cyklose,  die  einem  irgendwie  berandeten  Flächen- 
stücke zukommt.  Dass  Gauss  den  Begriff  des  Zusammenhanges  und  seine 
Bedeutung  für  die  Lehre  von  den  Funktionen  einer  komplexen  Veränderlichen 
erkannt  hat,  zeigt  das  aus  dem  Nachlass  herausgegebene  Bruchstück  über  die 
Konvergenz  der  Entwicklungen  periodischer  Funktionen  iVV.  Xi,  S.  410 — 412), 
das  um  das  Jahr  1850  entstanden  ist.  Aiich  die  bereits  erwähnte  mündliche 
Mitteilung  an  Möbius  über  den  Doppelring  und  die  darauf  liegenden  Kurven 
gehört  hierher.  Ob  Listing  durch  Äusserungen  von  Gauss  auch  zur  Fort- 
setzung seiner  Untersuchungen  über  die  Topologie  angeregt  worden  ist,  muss 
dahingestellt  bleiben.  Ebenso  ist  das  Verhältnis,  in  dem  die  Arbeiten  von 
Riemann  über  die  Analysis  situs  ^)  zu  den  topologischen  Untersuchungen  von 
Listing  stehen,  noch  ungeklärt. 

Während  bei  Möbius  und  Listing  eigene  Zeugnisse  vorliegen,  dass  sie 
durch  Gauss  zur  Beschäftigung  mit  der  Geometria  situs  angeregt  worden  seien, 
obwohl  nicht  festgestellt  werden  kann,  in  welchem  Umfange  das  geschehen 
sein  mag,  sind  wir  bei  Riemann  (182G — 1866)  lediglich  auf  Vermutungen  ange- 
wiesen. Ein  unmittelbarer  Verkehr  mit  Gauss  kommt  kaum  in  Betracht, 
wohl  aber  darf  man  an  eine  Vermittlung  GAUssscher  Gedanken  durch  A.  Ritter 
(1826—1908)  und  W.  Weber  (1804  — 1891)  denken.  Ritter  hat  während 
seiner  Göttinger  Studienzeit,  1S50  bis  1853,  in  engen  Beziehungen  zu  Rie- 
mann gestanden,  die  sich  später  fortsetzten ;  es  ist  anzunehmen,  dass  Riemann 
durch  ihn  Kenntnis  erhalten  hat  zum  Beispiel  von  den  Ausführungen,  die 
Gauss  in  der  Vorlesung  über  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  im  Winter- 
semester IS 50/51    über  w-dimensionale  Mannigfaltigkeiten  gemacht  hat    W.  Xi, 


1)  Vgl.  die  Bemerkung  Reinhardts,  Mönius  Werke  II,  S.  sin. 

2)  Vgl.  P.  Stäckel,  Die  Entdeckung  der  einseitigen  Flächen,  Math.  Annalen,  Bd.  52,  isü'J,  S.  59S. 

3)  B.  Riemann,  Grundlagen  für  eine  allgemeine  Theorie  der  Functionen  einer  veränderlichen  com- 
plexen  Grösse,  Dissertation,  Göttingen  I85i,  art.  ß;  Werke,  1.  Aufl.,  S.  a — 12;  Theorie  der  Abelsclieti  Func- 
tionen, zweiter  Abschnitt,  Ckelles  Journal,  Bd.  54,   1S57,  Werke,   i.  Aufl.,  S.  84 — S9. 


56  STÄCKEL,    GAUSS  AI,8  GEOMETER. 

S.  473 — 482).  Mit  Weber  aber  stand  Riemann  seit  18  50  als  Teilnehmer,  seit 
1S53  als  Assistent  an  dessen  mathematisch -physikalischem  Seminar  in  engem 
Verkehr*!,  und  wir  haben  aus  dem  Briefe  von  Möbius  an  Gauss  vom  2.  Fe- 
bruar 1S47  erfahren,  dass  dieser  mit  Weber  über  die  Umschlingungen  zweier 
Kurven  im  Räume  gesprochen  hatte.  Wie  dem  aber  auch  sei,  so  gibt  es 
kein  Anzeichen,  dass  Gauss  den  Begriff"  der  mehrblättrigen  Fläche,  die  zur 
Darstellung  des  Verlaufs  einer  mehrdeutigen  Funktion  einer  komplexen  Ver- 
änderlichen dient,  gekannt  habe,  und  hier  liegt  also  sicher  eine  durchaus  ur- 
sprüngliche Schöpfung  RiEMANNS  vor. 


Abschnitt  III. 
Die  komplexen  Grössen  in  ihrer  Beziehung  znr  Geometrie. 

14. 

Kreisteilung. 

Die  »Darstellung  der  imaginären  Grössen  in  den  Relationen  der  Punkte 
in  piano«  (Brief  an  Drobisch  vom  14.  August  1834,  W.  Xi,  S.  106)  hat  nicht 
nur  für  die  arithmetischen  und  funktionen theoretischen,  sondern  auch  für  die 
geometrischen  Untersuchungen  von  Gauss  eine  so  grosse  Bedeutung,  dass  den 
Beziehungen  der  komplexen  Grössen  zur  Raumlehre  ein  besonderer  Abschnitt 
dieses  Aufsatzes  gewidmet  werden  soll;  in  ihm  sollen  die  Ausführungen,  die 
in  den  Aufsätzen  über  Gauss'  Arbeiten  zur  Zahlentheorie,  Funktionentheorie 
und  Algebra  enthalten  sind,  wieder  aufgenommen  und  ergänzt  werden. 

Schon  sehr  früh  hat  Gauss  versucht,  um  einen  von  ihm  gern  gebrauchten 
Ausdruck  anzuwenden,  in  die  Metaphysik  der  imaginären  Grössen  einzudringen. 
In  der  Selbstanzeige  der  zweiten  Abhandlung  über  die  biquadratischen  Reste 
vom  Jahre  1831  sagt  er,  dass  er  »diesen  hochwichtigen  Teil  der  Mathematik 
seit  vielen  Jahren  betrachtet  habe«  (W.  II,  S.  17  5),  und  in  dem  Briefe  an 
Drobisch  vom  14.  August  1S34  freut  er  sich,  dass  dieser  »auf  seine  schon  fast 


I)  Vgl.  die  Bemerkungen  Dkdekinds  in  KlEJlANNS  Lebenslauf,   Werke,    l.  A\ifl.,  S.  512—516. 


DIE  KOMPLEXEN  GRÖSSEN   IN  IHRER  BEZIEHUNG  ZUR  GEOMETRIE.  57 

seit  40  Jahren  gehegten  Grundansichten  über  die  imaginären  Grössen  einge- 
gangen sei«  (W.  Xi,  S.  10(5.  Als  solche  Grundansichten  wird  man  wohl 
erstens  die  Erkenntnis  zu  bezeichnen  haben,  dass  »den  komplexen  Grössen 
das  völlig  gleiche  Bürgerrecht  mit  den  reellen  Grössen  eingeräumt  werden 
müsse«  (W.  II,  S.  17  1 ),  und  zweitens,  dass  diese  Grössen  »ebenso  gut  wie  die 
negativen  ihre  reale  gegenständliche  Bedeutung  haben«  (W.  Xi,  S.  405),  die 
sich  in  ihrer  »Versinnlichnng  durch  die  Punkte  einer  unbegi'enzten  Ebene« 
(W.  Xi,  S.  40 7 1  kund  gibt. 

Wird  man  durch  die  vorstehenden  Angaben  von  Gauss  etwa  auf  die 
Jahre  1795  und  1796  zurückgeführt,  so  kann  als  Bestätigung  eine  Stelle  der 
Disquisitiones  arithmeticae  dienen,  und  zwar  aus  dem  dritten  Abschnitt,  der  nach 
Bachmann  W.  X2,  Abh.  1,  S.  6)  im  Wesentlichen  bereits  1796  entstanden  und 
1797  niedergeschrieben  worden  ist  (der  Druck  der  Disquisitiones  begann  im 
April  1798  und  hat  mit  verschiedenen  Unterbrechungen  bis  1801  gedauert). 
Dort  sagt  Gauss,  er  wolle  auf  die  Lehre  von  den  imaginären  Indizes,  zu  denen 
man  bei  Modviln  ohne  primitive  Wurzeln  seine  Zuflucht  nehmen  muss,  bei 
einer  anderen  Gelegenheit  eingehen,  »wenn  wir  es  vielleicht  unternehmen 
werden,  die  Lehre  von  den  imaginären  Grössen,  die  wenigstens  nach  unserem 
Urteil  bis  jetzt  von  Niemandem  auf  klare  BegTifl^"e  zurückgeführt  ist,  ausführ- 
licher zu  behandeln«   (W  I,  S.  71). 

Im  Tagebuch,  das  mit  dem  März  1796  beginnt,  flndet  sich  keine  Auf- 
zeichnung, die  man  mit  einer  solchen  Absicht  in  Verbindung  bringen  könnte. 
Wohl  aber  zeigt  gerade  die  erste  Eintragung,  dass  Gauss  in  der  vorher- 
gehenden Zeit  mit  imaginären  Grössen  zu  tun  gehabt  hatte,  denn  er  \er- 
kündet  hier,  dass  er  die  geometrische  Siebzehnteilimg  des  Kreisumfanges  ent- 
deckt habe,  das  heisst,  wie  wir  aus  dem  Briefe  an  Gerling  vom  6.  Januar 
1819  (W.  Xi,  S.  125)  wissen,  die  Auflösung  der  zugehörigen  Kreisteilungs- 
gleichung mittels  wiederholter  Ausziehung  von  Quadratwurzeln,  und  zwar  hatte 
Gauss,  nach  den,  Angaben  in  demselben  Briefe,  schon  während  seines  ersten 
Semesters  in  Göttingen,  das  Oktober  1795  begann,  die  Kreisteilungsgleichungen 
für  einen  beliebigen  Primzahlgrad  untersucht. 

Dass  die  Teilung  des  Kreisumfanges  in  n  gleiche  Stücke  mittels  imagi- 
närer Grössen  auf  die  Lösung  der  Gleichung  a,"  —  1  =  0   zurückgeführt  werden 

X'2  Abh.  4.  8 


58  STÄCKEL,    GAUSS  AT.S  GEOMETER. 

kann,  ist  eine  Einsicht,  die  man  Cotes  ')  nnd  Moivre *)  verdankt,  die  aber 
erst  dui"ch  Eüler  geklärt  und  sichergestellt  worden  ist*).  Später  hat  sich 
Vändermonde  mit  der  Auflösung  solcher  Gleichungen  mittels  Wurzelziehens 
befasst.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  Gauss  bei  der  Abfassung  der  Disqui- 
sitiones  arithmeticae  dessen  Abhandlung  gekannt  hat,  denn  in  dem  Briefe  an 
Oi.HEUS  vom  12.  Oktober  1802  sagt  er,  dass  wir  über  die  Geometria  situs  »nui* 
einige  Fragmente  von  Euler  und  einem  vou  mir  sehr  hochgeschätzten  Geo- 
meter  Vändermonde  haben«  Br.  G. -(). .  1,  S.  lu3).  Die  Abhandlung  über 
Geometria  situs  steht  aber  in  demselben  Bande  der  Pariser  Denkschriften  für 
das  Jahr  1771  wie  die  Abhandlung  über  die  Auflösung  der  algebraischen 
Gleichungen*,. 

Nachdem  Gauss  im  Art.  337  der  Disquisitionea  arithmeticae  (AV.  1,  S.  414) 
bemerkt  liat,  die  trigonometrischen  Funktionen  der  Bögen 

•Ikr.jn  k  =  0,  1,  2,  ....  w  — 1) 

seien  die  AVurzeln  von  Gleichungen  w-ten  Grades,  fährt  er  fort:  ».Jedoch  ist 
keine  dieser  Gleichungen  so  leicht  zu  behandeln  und  für  unseren  Zweck  so 
geeignet,  wie  diese :  o."  — 1  =  0,  deren  Wurzeln  bekanntlich  mit  den  Wurzeln 
jener  aufs  engste  verbunden  sind.  Wenn  man  nämlich  der  Kürze  halber  / 
für  die  imaginäre  Grösse  \j—\  schreibt,  so  werden  die  Wurzeln  der  Gleichung 
x"  —  1  =  0   durcli 

cos  2A*Tr/w-(-*  sin  Ik-KJn 

dargestellt,  wo  für  Ä-  alle  Zahlen  0,  1,  2,  ...,//  — )    zu  nehmen  sind«. 

1)  R.  Cotes,  Harmonia  nicnsurarum,  sive  analysis  et  synthesix  per  ralionum  et  aiiguJonim  meiiwras 
promuta,  Cambridge  17  22. 

2)  A.  DE  Moivre,  Miscellanea  analytica,  London  ivno. 

:))  L.  Euler,  Jntroduetio  in  analysin,  Lausanne  und  Genf  I74s,  siehe  besonders  t.  I,  cap.  S:  De 
quantitatibus  transcendentibus  ex  circulo  ortis. 

4  Ch.  A.  Vaxdermokde,  Remarques  sur  les  pröblhnes  de  Situation,  Histoire  de  l'Acad.,  annee  177|, 
Paris  1774,  Memoires,  S.  5GC;  Sur  la  resolution  des  equatimis;  ebenda,  S.  idL-i;  die  letztere  Abhandlung  ist 
in  deutscher  Sprache  herausgegeben  von  C.  IrzicsoHN,  Vändermonde,  Abhandlungen  aus  der  reinen  Mathe- 
matik, Berlin  1887.  Auf  S.  :i75  behauptet  Va.nüermonde,  die  Gleichung  .t"  —  I  =  o  sei  für  jeden  Grad  n 
durch  Wurzelziehen  lösbar  und  führt  die  Rechnungen  für  einige  Fälle  durch,  im  Besonderen  für  n  ^  1  l .  Für 
die  Exponenten  n  ^  lo  hatte  schon  Euler,  De  exlraclione  radicutn  ex  quantitatibus  irratiünalibus,  Com- 
ment.  acad.  sc.  Petrop.  13  ;i74l/3  1751,  §  :i!)  bis  48,  Opera  omnia,  ser.  I,  vol.  6,  S.  31,  die  Wurzeln  mittels 
blosser  Wurzekiehungen  dargestellt ;  dagegen,  meint  er,  führe  der  Fall  n  =  ii  auf  eine  Gleichung  fünften 
Grades,  deren  Lösung  noch  verborgen  sei. 


DIE  KOMPLEXEN  GRÖSSEN   IN   IHRER  BEZIEHUNG  ZUR  GEOMETRIE.  59 

Auf  diese  Art  werden  den  Eckpunkten  des  regelmässigen  w-Ecks.  das 
dem  Ki-eise  vom  Halbmesser  Eins  eingeschrieben  ist,  die  soeben  angegebenen 
komplexen  Grössen  zugeordnet.  Die  dabei  auftretenden  Grössen  cos  -Ikr^jn 
und  sin  Ikizln  sind  die  rechtwinkligen  kartesischen  Koordinaten  der  be- 
treffenden Eckpunkte,  wenn  der  Mittelpunkt  des  Kreises  zum  Anfangspunkt 
gewählt  uud  die  Abszissenachse  durch  den  Eckpunkt  gelegt  wird,  für  den 
k  =  {)  ist.  Mithin  gelangt  man  in  diesem  Falle  ganz  unmittelbar  zu  der 
GAUSSSchen  Versinulichung  der  komplexen  Grössen  durch  die  Punkte  einer 
Ebene. 

Dass  die  Betrachtung  der  Eckpunkte  des  «-Ecks  Gauss  geläufig  war, 
zeigt  auch  die  Ausdi'ucksweise,  ganze  Zahlen  seien  »kongruent  modulo  ««, 
wenn  sie  sich  um  Vielfache  einer  ganzen  Zahl  n  unterscheiden:  beim  Durch- 
laufen des  Ki'eisumfangs  entsprechen  nämlich  den  AVerten  von  k,  die  mod.  n 
kongruent  sind,  dieselben  Eckpunkte  des  ?;-Ecks.  und  so  hat  die  Bezeichnung 
»kongment«  ihre  gute  geometrische  Bedeutung. 

Ob  die  geometrische  Versinulichung  der  komplexen  Grössen  den  Unter- 
suchungen über  die  Kreisteilung  entsprungen  ist,  lässt  sich  freilich  nicht  mit 
Sicherheit  entscheiden.  Man  könnte  dagegen  einwenden,  dass  auch  bei  Euler 
Grössen  der  Form  cos  cp  -\-  i  sin  cp  an  mehr  als  einer  Stelle  in  einer  Weise  auf- 
treten, die  ihre  geometrische  Bedeutung  nahe  zu  legen  scheint,  ohne  dass  es 
dazu  gekommen  ist,  und  die  Hauptsache  liegt  in  dem  Entschluss,  die  imagi- 
nären Grössen  als  den  reellen  gleichberechtigt  anzuerkennen.  Vielleicht  hat 
Gauss  diese  Anerkennung  diuch  die  bereits  erwähnte  Einführung  des  Zeichens 
i  im  art.  337  der  Disq.  aritli.  andeuten  wollen').  Dass  er  sich  in  den  Disqui- 
sitiones  wie  in  der  Dissertation  (1799)  mit  Andeutungen  begnügte,  ist  wohl 
teils  aus  seiner  Scheu,  strittige  Dinge  zu  berühren,  teils  aus  dem  Umstände 
zu  erklären,  dass  er  selbst,  wenn  auch  seine  »Grundansicht«  feststand,  die  neue 
Lehre  noch  nicht  für  reif  hielt.  In  der  Tat  ist  er  erst  nach  einer  langen 
und    harten   Arbeit    zu    einer    ihn    befriedigenden    Auffassung    der    imaginären 

1)  Das  Zeichen  i  für  v'— •  findet  sich  gelegentlich  schon  bei  Euler,  nämlich  in  der  am  5.  Mai 
1777  der  Petersburger  Akademie  vorgelegten  Abhandlung :  De  formulis  differentialibus  angularibus  maxime 
irrationalibus,  quas  tarnen  per  logarithmos  et  arctts  circulares  integrare  licet,  die  1794  aus  dem  Nachlass  im 
vierten  Bande  der  Institutianes  calculi  inlegralis  .ibgcdruckt  ist,  ed.  tertia,  Petersburg  \%\b,  S.  1S4.  Gavss 
hat  das  Zeichen  t  seit  dem  Jahre  1801  beständig  ange'vvandt  und  seinem  Beispiel  sind  die  M.ithematiker 
gefolgt. 


60  STÄCKEI,,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Grössen  gelangt.  So  schreibt  er  am  II.  Dezember  1825  an  Hansen,  seine 
Untersuchungen  über  die  allgemeine  Lehre  von  den  kiummen  Flächen  griffen 
tief  ein  in  die  Metaphysik  der  Raumlehre,  »und  nur  mit  Mühe  kann  ich  mich 
von  solchen  daraus  entspringenden  Folgen,  wie  z.  B.  die  wahre  Metaphysik 
der  imaginären  Grössen  ist,  losreissen.  Der  wahre  Sinn  des  \J—  1  steht  mii' 
dabei  mit  grosser  Lebendigkeit  vor  der  Seele,  aber  es  wird  schwer  sein,  ihn 
in  Worte  zu  fassen,  die  immer  nur  ein  vages,  in  der  Luft  schwebendes  Bild 
geben  können"  Brief  im  GAuss-Archivi.  In  einer  wahrscheinlich  im  Anschluss 
an  diesen  Brief  niedergeschriebenen  Aufzeichnung  Fragen  zur  Metaphysik  der 
Matheiiuitik  ^^^  X 1,  S.  H9(i  hat  er  versucht,  seine  Gedanken  auszugestalten, 
und  man  erkennt  hier  die  Anfänge  der  Darstellung,  die  er  in  der  Selbst- 
anzeige vom  Jahre    1831   gegeben  hat. 

15. 

Elliptische,  im  besonderen  lemniskatische  Funktionen. 

Kin  zweiter  Anlass,  sich  mit  den  imaginären  Grössen  zu  beschäftigen, 
eröffnete  sich  für  Gauss  in  der  doppelten  Periodizität  der  lemniskatischen 
Funktionen.  Im  Januar  1797  hat  er  diese  Funktionen  zu  betrachten  be- 
gonnen (T.  Nr.  5 1  und  ist  spätestens  im  März  zur  Entdeckung  der  zweiten, 
imaginären  Periode  gelangt.  Somit  ergab  sich  »die  Notwendigkeit,  das  Gebiet 
einer  veränderlichen  Grösse  dadurch  zu  erweitern,  dass  dieser  Grösse  auch 
komplexe  Werte  beigelegt  werden«  (Schlesinger,  S.  12  .  Die  darin  liegenden 
Schwierigkeiten  kamen  sogleich  zum  Vorschein,  als  Gauss,  die  lemniskatischen 
Funktionen  mit  dem  arithmetisch  -  geometrischen  Mittel  verknüpfend,  Ende 
1  7  '.t  7  zu  dem  allgemeinen  elliptischen  Integral  erster  Gattung  überging.  Die 
llealitätsverhältnisse  der  Perioden  sind  ihm  erst  allmählich  klar  geworden. 
Bezeichnend  hierfür-  ist  eine  Aufzeichnung,  die,  wie  es  scheint,  aus  dem  An- 
fang des  Jahres  ISoit  stammt:  »Der  Radikalfehler,  woran  meine  bisherigen 
Bestrebungen,  den  (jeist  der  elliptischen  Funktion  zu  verkör])ern,  gescheitert 
sind,  scheint  der  zu  sein,  dass  ich  dem  Integral 


f 


die  Bedeutung  als  Ausdruck  eines  endlichen  Teils  der  Kugelfiäche  habe   unter- 
legen wollen,  während  es  wahrscheinlich  nur  einen  unendlich  schmalen  Kugel- 


DIE  KOMPLEXEN  GRÖSSEN   IN  IHRER  BEZIEHUNG   ZUR  GEOMETRIE.  61 

Sektor  ausdrückt«  (W.  Xi,  S.  546\  Offenbar  bedeutet,  wie  Schlesinger  dazu 
bemerkt,  Kugelfläche  den  Ort  der  komplexen  Veränderlichen,  der  endliche 
Teil,  dessen  Ausdruck  das  Integral  sein  sollte,  das  Bild  des  Periodenparalle- 
logi"amms.  während  man  zu  einem  unendlich  schmalen  Kugelsektor  gelangen 
würde,  wenn  das  Verhältnis  der  Perioden  reell  ausfiele;  vgl.  Werke  Xi,  S.  515. 

In  das  Jahr  1800  fallen  auch  Untersuchungen  über  das  arithmetisch- 
geometrische Mittel  (T.  Nr.  109  .  Gauss  hat  damals  die  wesentlichen  Eigen- 
schaften der  elliptischen  Modulfunktion  aufgefunden;  das  aber  wai  nur  mög- 
lich, wenn  er  den  Bereich  der  Veränderlichen  auf  das  komplexe  Gebiet  aus- 
dehnte. Man  wird  daher  behaupten  dürfen,  dass  die  Auffassungen,  die  er  in 
dem  Briefe  an  Bessel  vom  18.  Dezember  1811  (W.  VIII,  S.  90,  Xi,  S.  3&6) 
ausgesprochen  hat,  bis  in  die  Zeit  um  1800  zurückreichen.  Er  verlangt  hier, 
dass  man  bei  der  Einfühnmg  einer  neuen  Funktion  in  die  Analysis  erkläre, 
ob  man  sich  auf  reelle  Werte  der  Veränderlichen  beschränke  oder  seinem 
Grundsatze  beitrete,  "dass  man  in  dem  Reiche  der  Grössen  die  imaginären 
a-j-ib  als  gleiche  Rechte  mit  den  reellen  geniessend  ansehen  müsse«.  Es 
folgen  Auseinandersetzungen  über  den  Sinn  des  Integrals  bei  Funktionen 
einer  komplexen  Veränderlichen,  Dabei,  sagt  Gauss,  man  könne  »das  ganze 
Reich  aller  Grössen,  reeller  und  imaginärer  Grössen,  sich  durch  eine  unend- 
liche Ebene  sinnlich  machen,  worin  jeder  Punkt,  durch  Abszisse  =  a,  Ordi- 
nate =  b  bestimmt,  die  Grösse  a  -\-  ib  gleichsam  repräsentiert«.  Dies  ist  die 
erste  uns  bekannte  Stelle,  wo  er  die  geometrische  Versinnlichung  der  kom- 
plexen Grössen  schiiftlich  festgelegt  hat. 

In  dem  Entwurf  einer  Abhandlung  über  die  Konvergenz  der  Reihen,  der 
aus  der  Zeit  um  das  Jahr  1851  stammt,  hat  Gauss  seine  Ansichten  folgender- 
massen  zusammengefasst :  »Die  vollständige  Erkenntnis  der  Xatur  einer  analy- 
tischen Funktion  muss  auch  die  Einsicht  in  ihr  Verhalten  bei  den  imaginären 
Werten  des  Arguments  in  sich  schliessen,  und  oft  ist  sogar  letztere  unent- 
behrlich zu  einer  richtigen  Beurteilung  der  Gebahrung  der  Funktionen  im 
Gebiete  der  reellen  Argumente.  Unerlässlich  ist  es  daher  auch,  dass  die  ur- 
sprüngliche Festsetzung  des  Begriffes  der  Funktion  sich  mit  gleicher  Bündig- 
keit über  das  ganze  Grössengebiet  erstrecke,  welches  die  reellen  und  die 
imaginären  Grössen  unter  dem  gemeinschaftlichen  Namen  der  komplexen 
Grössen  in  sich  begreift«  (W.  X  i,  S.  405). 


62  STÄOKEL.    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

In  einem  zweiten  Entwiufe  hat  Gauss  seine  Ansichten  genauer  darzulegen 
begonnen  W.  Xi,  S.  407  —  4  1  Gl.  Wir  AA'erden  darauf  in  Nr.  19  eingehen  und 
fahren  fort  in  der  Schilderung  der  Frühzeit. 

16. 

Existenz  der   Wurzeln  algebraisclier  (Gleichungen. 

Das  Jahr  17  97  brachte  niclit  nur  die  Entdeckungen  über  die  lemniskati- 
schen  Funktionen,  damals  ist  auch  der  Beweis  für  die  Existenz  der  Wurzeln 
algebraischer  Gleichungen  entstanden,  den  Gauss  in  der  Dissertation  1799 
veröffentlicht  hat  T.  Nr.  80).  Allerdings  hat  er  es  dort  vermieden,  imaginäre 
Grössen  zu  benutzen.  Schon  im  Titel  hat  er  den  zu  beweisenden  Satz  in 
der  Form  ausgesprochen,  jede  algebraische  rationale  ganze  Funktion  einer 
Veränderlichen  [mit  reellen  Koeffizienten]  könne  in  reelle  Faktoren  ersten 
oder  zweiten  Grades  zerlegt  werden,  und  im  Art.  :?  äussert  er  sich  über  die 
imaginären  Grössen  in  sehr  vorsichtiger  und  zui'ückhaltender  Weise.  »Sollen 
die  imaginären  Grössen  überhaupt  in  der  Analysis  beibehalten  werden,  was 
aus  mehreren  Gründen,  die  freilich  hinreichend  sichergestellt  werden  müssen, 
richtiger  scheint,  als  sie  zu  verwerfen,  dann  müssen  sie  notwendig  für  ebenso 
möglich  gelten  wie  die  reellen  ....  Doch  will  ich  mir  die  Rechtfertigung 
der  imaginären  Grössen  sowie  eine  eingehende  Auseinandersetzung  dieses  ganzen 
Gegenstandes  für  eine  andere  Gelegenheit  vorbehalten«  (W".  III,  S.  6). 

Dass  Gauss  damals  schon  im  Besitze  der  geometrischen  Versinnlichung 
war.  zeigt  der  Art.  16  (W.  III,  S.  22),  denn  die  ganze  Betrachtung  läuft 
darauf  hinaus,  dass  die  Funktion /(,r-|-*.y)  in  den  reellen  und  den  rein  ima- 
ginären Teil  zerlegt  wird  und  die  Kurven  in  der  .ry-Ebene  untersucht  werden, 
in  denen  je  einer  der  beiden  Teile  verschwindet.  Das  sind  •die  Spuren,  die, 
wie  Gauss  in  der  Selbstanzeige  vom  Jahre  1831  bemerkt  hat,  der  aufmerksame 
Leser  in  dcsr  Dissertation  wiederfinden  wird  (W.  II,  S.  17.5).  Hierzu  ist  frei- 
lich zu  bemerken,  dass  diese  Andeutungen  an  und  für  sich  nicht  dazu  aus- 
reichen würden,  um  den  Schluss  zu  rechtfertigen,  dass  Gauss  damals  die  geo- 
metrische Versinnlichung  der  imaginären  Grössen  besessen  habe,  denn  auch 
d'Alembert   hat   in    seinem   Beweise   für    die  Wurzelexistenz'),    den  Gauss   im 


I)  J.  d'Alembeet,  Recherches  sur  Ic  calad  integral,   i.  partic,  Histoirc  de  l'Acad.  Ann6e  17  1«,  Berlin 


DIE  KOMPLEXEN  GRÖSSEN  IN  IHRER  BEZIEHUNG  ZUR  GEOMETRIE.  63 

Art.  5  wiedergibt  und  im  Art.  6  beurteilt  (W.  III,  S.  7  — 11),  dasselbe  Ver- 
fahren benutzt,  ohne  dass  ihm  doch  deshalb  die  geometrische  Versinnlich ung 
der  komplexen  Grössen  zuzuschreiben  wäre. 

17. 

Biquadratische  Reste. 

Als  Gauss  im  Jahre  1805  von  den  quadratischen  Resten  zu  den  kubischen 
und  biquadratischen  fortschritt,  fand  er  sogleich  durch  Induktion  eine  Reihe 
einfacher  Lehrsätze,  die  mit  den  für  die  quadratischen  Reste  gefundenen  Er- 
gebnissen überraschende  Ähnlichkeit  hatten,  jedoch  ist  es  ihm  erst  nach  vielen, 
durch  eine  Reihe  von  Jahren  fortgesetzten  Versuchen  gelungen,  befriedigende 
Beweise  dafür  aufzufinden.  Zu  diesem  Zwecke  musste  er  neue  Wege  ein- 
schlagen, nämlich  »das  Feld  der  höhern  Arithmetik,  welches  man  sonst  nur 
auf  die  reellen  ganzen  Zahlen  ausdehnte,  auch  über  die  imaginären  erstrecken 
und  diesen  das  völlig  gleiche  Bürgerrecht  mit  jenen  einräumen«  (W.  II,  S.  171). 
Wie  es  scheint  ist  diese  »erlösende  Eingebung«  in  das  Jahr  180  7  zu  setzen 
(Bachmann,  W.  X2,  Abh.  1,  S.  55).  Vollständig  diu-chgedrungen  ist  Gauss  fi-eilich 
erst  1813  (T.  Nr.  144)  und  veröffentlicht  hat  er  seine  Untersuchungen  erst  1831 
in  der  Abhandlung  über  die  biquadratischen  Reste  (W.  II,  S.  93),  die  er  dui'ch 
die  wiederholt  erwähnte  Selbstanzeige  noch  ergänzte  (W.  II,  S.  169).  »Wie 
einfach  jetzt  auch  eine  solche  Einführung  der  komplexen  Zahlen  als  Moduln 
erscheinen  mag«,  hat  Jacobi')  geurteilt,  »so  gehört  sie  nichtsdestoweniger  zu 
den  tiefsten  Gedanken  der  Wissenschaft;  ja  ich  glaube  nicht,  dass  zu  einem 
so  verborgenen  Gedanken  die  Aritlimetik  allein  geführt  hat,  sondern  dass  er 
aus  dem  Studium  der  elliptischen  Transzendenten  gescliöpft  ist,  und  zwar  aus 
der  besonderen  Gattung  derselben,  welche  die  Rektifikation  von  Bogen  der 
Lemniscata  gibt.  In  der  Theorie  der  Vervielfachung  und  Teilung  von  Bogen 
der  Lemniscata  spielen  nämlich  die  komplexen  Zahlen  von  der  Form  a-\-bi 
genau  die  Rolle  gewöhnlicher  Zahlen.  ...  So  wie  man  einen  Kreisbogen, 
wenn  man  ihn  in  1 5  Teile  teilen  soll,  in  3  und  in  5  Teile  teilt  und  aus  beiden 


1748,  Memoires,  S.  182  — 191;    vgl.  P.  Stäckel,  Integration  durch  imaginäres  Gebiet,  Bibliotheca  math.  (3) 

1    (lilOO),    S.   124. 

1)  C.  G.  J.  Jacobi,   über  die  eomplexeti  Primzahlen,  Grelles  Journal,   Bd,  ii),  issii,  S.  :n  i.  Werke 
VI,  S.  27  5. 


64  STÄCKEl-,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Teihingen  die  gesuchte  findet,  so  hat  man  einen  Bogen  der  Lemniscata,  um 
ihn  in  17  Teile  zu  teilen,  in  i -\- 4i  und  1  —  4i  Teile  7.u  teilen,  und  setzt  die 
Teilung  in   1 7  Teile  aus  beiden  zusammen«. 

Ebenso  wichtig  wie  diese  Erweiterung  des  Zahlengebietes,  mit  der  die 
Lehre  von  den  algebraischen  Zahlen  ins  Leben  gerufen  wurde,  ist  für  die 
Fortschritte  der  höheren  Arithmetik  die  Darstellung  der  ganzen  komplexen 
Zahlen  vermöge  der  Gitterpunkte  der  Ebene  geworden.  Hieran  schliesst  sich 
bei  der  Untersuchung  der  ternären  quadratischen  Form  die  Heranziehung  der 
Gitterpunkte  im  Räume  W.  II,  S.  188).  Es  ist  sogar  wahrscheinlich,  dass 
Gauss  bereits  Zahlengitter  im  Räume  von  w  Dimensionen  betrachtet  hat,  denn 
die  Andeutung  nach  dieser  Richtung,  die  Eisenstein  1844  gemacht  hat,  geht 
wohl  auf  seinen  Aufenthalt  in  Göttingen  während  des  Sommers  dieses  Jahres 
zurück").  So  muss  Gauss  auch  als  der  Begründer  der  Geometrie  der  Zahlen 
gelten. 

Die  Bedeutung  der  beiden  \  erötf'entlichungen  vom  Jahre  183  1  geht  jedoch 
über  die  Zahlentheorie  hinaus.  AVenn  Gauss  in  der  neuen  Darstellung  des 
Beweises  für  den  Fundamentalsatz  der  Algebra,  den  er  1849  gab,  sagt:  "gegen- 
wärtig, wo  der  Begriff  der  komplexen  Grössen  jedermann  geläufig  ist«  ^W. 
in,  S.  74),  so  hat  die  Analysis  ihm  diesen  Fortschritt  zu  verdanken.  Gewiss 
hatten  schon  Wessel  (1799),  Argand  (1806)  und  andere  nach  ihnen  die  selb- 
ständige Berechtigung  und  die  geometrische  Darstellung  der  komplexen  Grössen 
erkannt  und  wichtige  Anwendungen  davon  zu  machen  gewusst,  allein  die 
Kenntnis  und  Würdigung  ihrer  Untersucliungen  ist  auf  enge  Kreise  beschränkt 
geblieben.  Es  bedurfte  eines  Gauss,  um  die  Hemmungen  zu  beseitigen  und 
die  neuen  Anschauungen  zum  Siege  zu  führen. 

18. 

Benutzung  der  komplexen  Grössen  für  geometrische  Untersuchungen. 

Es  ist  eine  merkwürdige  Tatsache,  dass  Gauss  fast  überall,  wo  er  mit 
seinen  Forschungen  einsetzte,  auf  die  komplexen  Grössen  stiess.  Gilt  das, 
wie  wir  gesehen  haben,  für  die  Algebra,  die  Funktionentheorie  und  die  Arith- 
metik, so  ist  es  nicht  minder  richtig  für  die  Geometrie  selbst. 

1)  EiSKNSTEiN,  Geometrischer  Beweis  des  Fundamentaltheorems  für  die  quadratischen  Beste,  (Jkellkb 
Journal,   Bd.  28,    1844,  S.  248. 


DIE   KOMPLEXEN  GRÖSSEN  IN  IHRER  BEZIEHUNG  ZUR  GEOMETRIE.  Gf) 

Die  unmittelbare  Anwendung  der  geometrischen  Versinnlichuiig  der  kom- 
plexen Grössen  auf  das  Dreieck,  das  Viereck,  den  Kreis,  die  Kegelschnitte, 
die  Kugel  ist  ein  Gegenstand,  mit  dem  sich  Gauss  sein  ganzes  Leben  lang 
immer  wieder  beschäftigt  hat;  ja  er  hat  diese  Art  der  Behandlung  geometri- 
scher Probleme  als  »eine  ihm  eigentümliche  Methode«  bezeichnet  (Brief  an 
Schumacher  vom  12.  Mai  1843,  W.  VIII,  S.  295  .  Die  betreffenden  Unter- 
suchungen werden  im  vierten  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  im  Zusammenhang 
mit  den  Arbeiten  zur  elementaren  und  analytischen  Geometi-ie  ausführlich 
dargestellt  werden. 

Ausserdem  ist  die  konforme  Abbildung  krummer  Flächen  zu  erwähnen. 
Allerdings  hat  Gauss  in  der  Kopenhagener  Preisschrift  vom  .lahre  1822  sich 
bezüglich  der  geometrischen  Versinnlichung  auf  Andeutungen  beschränkt,  die 
kaum  über  das  hinausgehen,  was  man  in  seiner  Dissertation  lesen  kann.  Im 
übrigen  sei  auf  die  Darstellung  im  fünften  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  verwiesen. 

19. 

Weiterentwicklung  der  Lehre  von  den  komplexen  Grössen. 

Gauss  schliesst  in  der  Selbstanzeige  vom  Jahre  1831  seine  Auseinander- 
setzungen über  die  imaginären  Grössen  mit  den  Worten:  »Hier  ist  also  die 
Nachweisbarkeit  einer  anschaulichen  Bedeutung  von  \J  —  1  vollkommen  ge- 
rechtfertigt und  mehr  bedarf  es  nicht,  um  diese  Grösse  in  das  Gebiet  der 
Gegenstände  der  Arithmetik  zuzulassen«  iW.  II,  S.  117).  In  ähnlicher  Weise 
hat  er  sich  später  um  1850  in  dem  schon  erwähnten  Entwurf  einer  Abhand- 
lung über  die  Konvergenz  der  Reihen  ausgesprochen :  »Die  imaginären  Grössen 
sind,  solange  ihre  Grundlage  immer  nur  in  einer  Fiktion  bestand,  in  der 
Mathematik  nicht  sowohl  wie  eingebürgert,  als  vielmehr  niu-  wie  geduldet 
betrachtet,  und  weit  davon  entfernt  geblieben,  mit  den  reellen  Grössen  auf 
gleiche  Linie  gestellt  zu  werden.  Zu  einer  solchen  Zurücksetzung  ist  aber 
jetzt  kein  Grund  mehr,  nachdem  die  Metaphysik  der  imaginären  Grössen  in 
ihr  wahres  Licht  gesetzt  und  nachgewiesen  ist,  dass  diese,  ebenso  gut  wie  die 
negativen,  ihre  reale  gegenständliche  Bedeutung  haben«    W.   X  i,  S.  40-11 

Johann  Bolyai  hat  in  einer  1837  verfassten,  aber  erst  1899  aus  seinem 
Nachlass  veröffentlichten  Schrift  Bol.  II,  S.  233)  gegen  die  Ausführungen  von 
Gauss  in  der  Selbstanzeige  vom  Jahre  1831  eine  Reihe  Einwendungen  erhoben, 
Xi  Abh.  4.  9 


66  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

(lanmter  auch  die,  dass  Gauss  »sich  auf  die  Betrachtung  des  Raumes  stütze, 
die  man  in  der  Arithmetik  vermeiden  soll«,  und  er  hatte  selbst  eine  rein 
arithmetische  Einführung  der  komplexen  (Grössen  gegeben,  die  im  Wesent- 
lichen mit  Hamiltons')  gleichzeitiger  Begründung  durch  das  Rechnen  mit  Grössen- 
paaren  übereinstimmt.  Verschiedene  Äusserungen  von  Gauss  gestatten  den 
Schluss,  dass  auch  er,  eine  183  1  im  Keime  vorhandene  Autfassung  weiter 
entwickelnd,  später  zu  einer  von  räumlichen  Betrachtungen  unabhängigen  Auf- 
fassung der  komplexen  Grössen  übergegangen  ist. 

Tn  der  Selbstanzeige  vom  Jahre  1831  wird  ausgeführt,  dass  die  komplexen 
(jrössen  zui-  Darstellung  der  Relationen  dienen  können,  die  zwischen  den  Ele- 
menten einer  Mannigfaltigkeit  von  zwei  Dimensionen  stattfinden,  und  es  heisst 
dann,  dass  sich  diese  Verhältnisse  nur  durch  eine  Darstellung  in  der  Ebene 
ziu,-  Anschauung  bringen  Hessen  (W.  II,  S.  176).  Noch  entschiedener  sagt 
Gauss  in  dem  zweiten  Entwiuf  einer  Abhandlung  über  die  Konvergenz  der 
Reihen  um  1850):  «Zuvörderst  ist  die  bekannte  Vcrsinnlichung  der  komplexen 
Grössen  in  Erinnerung  zu  bringen.  ...  Es  wird  damit  nur  bezweckt,  die 
Bewegung  in  dem  an  sich  vom  Räumlichen  unabhängigen  Felde  der  abstrakten 
komplexen  Grössen  zu  erleichtern  und  eine  Sprache  für  dasselbe  zu  vermitteln« 
(W.   Xl,    S.  407). 

Diese  Sprache  für  die  Lehre  von  den  »abstrakten«  komplexen  Grössen 
hat  Gauss  in  ihren  Anfängen  geformt.  Eine  nach  der  Stetigkeit  fortschreitende 
Reihe  komplexer  Grössen  bildet  einen  Zug;  jede  der  dem  Zuge  angehörigen 
Grössen  ist  eine  Stelle  des  Zuges.  Ist  der  Zug  gesclilossen,  so  fügen  sich 
die  nach  der  Stetigkeit  zusammenhängenden  komplexen  Grössen,  die  in  dem 
Zuge  ihre  Begrenzung  finden,  zu  einer  Schicht  zusammen.  Man  erkennt, 
dass  die  geometrischen  Namen  Linie,  Punkt,  Fläche  vermieden  wei'den.  In 
einer  Fussnote  wird  noch  hen'orgehoben,  dass  »die  abstrakte  allgemeine  Lehre 
von  den  komplexen  Grössen  mit  der  Wechselbeziehung  zwischen  vorwärts- 
rückwärts  und  rechts-links  nichts  zu  schaffen  hat«  (W.  X  i,  8.  408). 

Was  man  vermisst,  ist  eine  Erklärung,  in  welchem  Sinne  die  formalen 
Bildungen  a;-\-ii/  als  Grössen  bezeichnet  werden  dürfen.  Gauss  dürfte  auch 
hierüber  seine  Gedanken  gehabt  haben,  denn  in  dem  bereits  angeführten  Briefe 


1)  R.  W.  Hamilton,  Theory  of  conjugate  funclions,  or  uhjehraic  couples,  Transactione  of  the  Royal 
Irish  Academy,  Vol.  17,  Dublin   !«.•):,  S.  aii». 


DIE  KOMPLEXEN   GRÖSSEN   IN   IHRER   BEZIEHUNG   ZUR  GEOMETRIE.  f!7 

an  Bessel  vom  2 1 .  November  1811.  in  dem  er  von  den  Funktionen  einer 
komplexen  Veränderlichen  spricht,  sagt  er:  »Man  sollte  überhaupt  nie  ver- 
gessen, dass  die  Funktionen,  wie  alle  mathematischen  Begriffszusammen- 
setzungen, nur  unsere  eigenen  Geschöpfe  sind  und  dass,  wo  die  Definition, 
von  der  man  ausging,  aufhört,  einen  Sinn  zu  haben,  man  eigentlich  nicht 
fragen  soll:  Was  ist?  sondern  was  konveniert  anzunehmen?  damit  ich 
immer  konsequent  bleiben  kann.  So  z.  B.  das  Produkt  aus  — . — «  W.  X  i, 
S.  363 ■.  Wenn  man  die  Äusserungen  über  die  allgemeine  Arithmetik  in  der 
Selbstanzeige  vom  Jahre  1831  hinzunimmt,  wo  das  Gebiet  der  Zahlen  stufen- 
weise erweitert  wird  fW.  II.  S.  175,  so  ergibt  sich,  wie  nahe  Gauss  dem 
Prinzip  der  Permanenz  gekommen  ist. 

30. 

Komplexe  Grössen  mit  mehr  als  zwei  Einheiten. 

In  dem  Brief  an  Grässmann  vom  14.  Dezember  1844  sagt  Gauss,  auf 
dessen  ihm  übersandte  Ausdehnungslehre  Bezug  nehmend,  »dass  die  Tendenzen 
derselben  teilweise  denjenigen  Wegen  begegnen,  auf  denen  ich  selbst  nun 
fast  seit  einem  halben  .Jahrhundert  gewandelt  bin  und  wovon  fr-eilich  nm-  ein 
kleiner  Teil  1831  in  den  Comment.  der  Göttingischen  Societät  imd  noch  mehr 
in  den  Göttingischen  Gelehrten  Anzeigen  (1831,  Stück  64)  gleichsam  im  Vorbei- 
gehen erwähnt  ist ;  nämlich  die  konzentrierte  Metaphysik  der  komplexen  Grössen, 
während  von  der  unendlichen  Fruchtbarkeit  dieses  Prinzips  für  Untersuchungen 
räumliche  Verhältnisse  betreffend  zwar  \ieLfältig  in  meinen  Vorlesungen  ge- 
handelt [')\  aber  Proben  davon  niu"  hin  und  wieder,  und  als  solche  nur  dem 
aufmerksamem  Auge  erkennbar,  bei  andern  Veranlassungen  mitgeteilt  sind« 
(W.  Xi,  S.  4361.  Solche  Proben  finden  sich  in  der  Dissertation,  in  der  Kopen- 
hagener Preisschrift  und  in  verschiedenen  kleineren  Aufsätzen  zur  elementai'en 
Mathematik,  über  die  im  vierten  Abschnitt  berichtet  werden  wird. 

Von  der  Selbstanzeige  in  den  Göttingischen  Anzeigen  kommt  hier  be- 
sonders der  Schluss  in  Betracht.  »Der  Verfasser  hat  sich  vorbehalten,  den 
Gegenstand  [der  komplexen  Grössen],  welcher  in  der  vorliegenden  Abhandlung 

1)  Zum  Beispiel  hat  Gauss  rom  Dezember  183'J  bis  Ostern  174(i  eine  Vorlesung  fiber  die  Theorie 
der  imaginären  Grössen  gehalten,  Ton  der  zwei  Stücke  in  den  Werken  abgedruckt  sind  (\V.  VIII,  S.  331  — 
:(;t4  und  S.  346—347,. 

9* 


68  STÄCKEI,,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

eigentlich  nm-  gelegentlich  berührt  ist,  künftig  vollständiger  7ai  bearbeiten,  wo 
dann  auch  die  Frage,  warum  die  Relationen  zwischen  Dingen,  die  eine  Mannig- 
faltigkeit von  mehr  als  zwei  Dimensionen  darbieten,  nicht  noch  andere  in 
der  allgemeinen  Arithmetik  zulässige  Grössen  liefern  können,  ihre  Beantwortung 
finden  wird«  (W.  II,  S.  178). 

Leider  ist  (jauss  nicht  dazu  gekommen,  das  hier  gegebene  Versprechen 
einzulösen,  und  auch  die  wenigen  im  Nachlass  vorhandenen  Aufzeichnungen, 
die  man  damit  in  Beziehung  bringen  kann,  reichen  nicht  aus,  um  festzustellen, 
was  er  mit  seinen  Andeutungen  gemeint  hatte. 

Ebenso  wie  den  Punkten  der  Ebene  aus  den  Einheiten  1  und  i  gebildete 
bi komplexe  Grössen  W.  VIII,  S.  354  zugeordnet  werden,  kann  man  für 
die  Punkte  des  Raumes  trikomplexe  Grössen  benutzen  (W.  VIII,  S.  353, 
354).  Gelegentlich  hat  Gauss  geradezu  den  drei  kartesischen  Koordinaten 
X,  y,  z  die  drei  Einheiten  1 ,  t,  k  zugesellt  und  zum  Beispiel  die  Ecken  eines 
Ikosaeders  und  eines  Dodekaeders  durch  trikomplexe  Grössen  x \iy -^kz  dar- 
gestellt (Handbuch  16Bb,  S.  166).  Es  entsteht  dann  die  Frage,  wie  man  mit 
solchen  Grössen  rechnen  und  im  besonderen,  wie  man  für  sie  das  Produkt  deli- 
nieren  soll,  (jauss  hat,  den  Kern  des  Problems  erfassend,  schon  1819  vier- 
gliedrige  komplexe  Grössen  betrachtet,  die  er  Mutationsskalen  nennt  (W.  VIII, 
S.  357  —  362).  Ilu-e  geometrische  Bedeutung  besteht  darin,  dass  sie  die  Drehung 
eines  Raumes  in  einem  andern  Räume  verbunden  mit  einer  Vergrösserung 
oder  Verkleinerung  ausdrücken,  und  Gauss  ist  dazu  gelangt,  die  Multiplikation 
zweier  solcher  Grössen  so  zu  erklären,  dass  das  Produkt  das  geometrische 
Ergebnis  zweier  hintereinander  ausgeführter  Mutationen  darstellt.  Auf  diese 
Art  ist  er  zu  einem  Multiplikationsgesetz  gelangt,  das  mit  dem  der  Hamilton- 
schen  Quaternionen  übereinstimmt. 

Weitere  Ausführungen  über  die  mehrdimensionalen  Mannigfaltigkeiten 
bei  Gauss  llndet  man  in  Nr.  33   dieses  Aufsatzes. 


ELEMENTARE   UND  ANALYTISCHE   GEOMETRIE.  69 

Abschnitt  IV. 
Elementare  nnd  analytische  Geometrie. 

31. 

Allgemeines. 

Im  ersten  Abschnitt  (Nr.  10)  ist  über  verschiedene  Untersuchungen  von 
Gauss  berichtet  worden,  die  entweder  unmittelbar  zur  elementaren  Geometrie 
gehören  oder  doch  eng  damit  zusammenhängen,  bei  denen  aber  das  Axio- 
matische  überwiegt.  Auf  andere  Untersuchungen  wurde  im  diitten  Abschnitt 
hingewiesen,  weil  bei  ihnen  die  Anwendung  komplexer  Grössen  mitspielt. 
Für  deren  Gebrauch  hatte  Gauss  eine  gewisse  Vorliebe,  und  seine  Ausdehnung 
erstreckt  sich  weiter,  als  man  zunächst  glauben  möchte:  Gauss  hat  sich  näm- 
lich lange  Zeit  gescheut,  mit  seiner  geometrischen  Versinnlichung  des  Imagi- 
nären öffentlich  hervorzutreten,  und  hat  deshalb  seine  Lösungen  in  einer  davon 
befreiten  Form  dargestellt.  Wie  gern  er  mit  dem  »««  arbeitet,  zeigt  übrigens 
auch  sein  Ansatz  für  das  Problem  der  acht  Königinnen,  bei  dem  die  Felder 
des  Schachbrettes  mit  den  Zahlen  a-\-ib  [a,b  =  \,  2,  . . .,  8)  bezeichnet  werden 
(Brief  an  Schumacher  vom  2  7.  September  1850,  Br.  G.-Sch.  VI,  S.  120. 

Gauss  hat  es  erlebt,  dass  den  lusprünglichen,  rein  geometrischen  Über- 
legungen und  dem  später  hinzugekommenen  Rechnen  mit  Koordinaten  andere 
Verfahren  zur  Lösung  geometrischer  Aufgaben  an  die  Seite  traten,  wie  der 
Barj/centrische  Calcul  von  Mobius  und  Grassmanns  Ausdehnungslehre.  Über 
den  Wert  und  die  Wirksamkeit  solcher  ^lethoden  hat  er  sich  in  dem  Brief 
an  Schumacher  vom  1  5.  Mai  1843  mit  grosser  Klarheit  ausgesprochen.  «Über- 
haupt verhält  es  sich  mit  allen  solchen  Kalküls  so,  dass  man  duixh  sie  nichts 
leisten  kann,  was  nicht  auch  ohne  sie  zu  leisten  wäre;  der  Vorteil  ist  aber 
der,  dass,  wenn  ein  solcher  Kalkül  dem  innersten  Wesen  vielfach  vorkommender 
Bedürfiaisse  korrespondiert,  jeder,  der  sich  ihn  ganz  angeeignet  hat,  auch  ohne 
die  gleichsam  unbewTissten  Inspirationen  des  Genies,  die  niemand  erzwingen 
kann,  die  dahin  gehörigen  Aufgaben  lösen,  ja  selbst  in  so  verwickelten  Fällen 
gleichsam  mechanisch  lösen  kann,  wo  ohne  eine  solche  Hilfe  auch  das  Genie 
ohnmächtig  wird.    So  ist  es  mit  der  Erfindung  der  Buchstabenrechnung  über- 


70  STXcKKL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

haupt:  so  mit  der  DitFerentialiechnung  gewesen:  so  ist  es  auch  (wenn  auch 
in  partielleren  Sphären)  mit  Lagranges  \ariationsrechnung,  mit  meiner  Kon- 
gruenzrechnung und  mit  MöBius'  Kalkül.  Es  werden  durch  solche  Konzep- 
tionen unzählige  Aufgaben,  die  sonst  vereinzelt  stehen  und  jedesmal  neue 
Efforts  (kleinere  oder  grössere)  des  Erfindungsgeistes  erfordern,  gleichsam  zu 
einem  organischen  Reiche«  (W.  VIII,  S.  298). 

Die  Arbeiten  von  Gauss,  über  die  hier  berichtet  werden  soll,  betreffen 
fast  den  ganzen  Umkreis  der  elementaren  Geometrie,  die  Anfänge  der  analy- 
tischen Geometrie  eingeschlossen.  Eine  erste  Reihe  bezieht  sich  auf  die  Eigen- 
schaften des  Dreiecks,  des  Vierecks  und  der  Vielecke,  eine  zweite  auf  den 
Kreis  und  die  Kugel,  die  Kegelschnitte  und  die  Flächen  zweiter  Ordnung. 
Dazu  kommen  endlich  die  Beiträge  zur  sphärischen  Trigonometrie,  die  in 
einer  Schlussnummer  zusammengefasst  sind.     . 

Man  könnte  diesen  Teil  des  Werkes  von  Gauss  übergehen,  ohne  dass 
sein  Ruhm  geschmälert  würde.  Allein  es  gilt  dafür  das  Wort  seines  Schülers 
und  Freundes  Schumacher:  »Deutlich  genug  ist  des  Meisters  Stempel  auch 
seinen  Erholungen  aufgedrückt« '). 

33. 

Das  Dreieck. 

Rein  geometrisch  ist  der  in  die  Lehrbücher  der  Elementargeometrie  über- 
gegangene klassische  Beweis  für  den  Satz,  dass  die  drei  Höhen  des  Dreiecks 
sich  in  einem  Punkte  schneiden  (W.  IV,  S.  396);  er  ist  J810  in  den  Zusätzen 
veröffentlicht  worden,  die  Gauss  zu  Schumachers  Übersetzung  der  Geometrie  de 
Position  von  Carnot  beigesteuert  hat  iTeil  2,  Zusatz  II.  S.  363)  Auf  einem 
verwandten  Gedanken  beruht  der  weniger  bekannte  Beweis  von  Naude;  dieser 
zeigt,  dass  das  Dreieck  der  Höhenfusspunkte  die  Höhen  zu  Winkelhalbierenden 
hat'). 

In  denselben  Zusätzen  (Zusatz  I,  S.  359)  hat  Gauss  mittels  der  Methoden 
der   analytischeu  Geometrie    einen    merkwürdigen   Punkt    des   Dreiecks   nach- 


ii  L.  Carnot,  Geometrie  der  Stellung,  übersetzt  von  H.  C.  Schumacher,  2.  Teil,  Altona  isi«,  Vor- 
rede, S.U. 

2)  Ph.  Naüde,  Trigonoscopiae  cuiusdam  novae  cönspectus,  Miscellanea  Berolinensia,  t.  V,  I7.i7,  S.  lO; 
siehe  besonders  S.  17. 


ELEMENTARE  UND  ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  71 

gewiesen,  von  dem  die  Durchschnittspunkte  der  Höhen,  der  Mittelsenkrechten 
und  der  Schwerlinien  besondere  Fälle  sind  (W.  IV,  S.  393). 

Eine  handschriftliche  Bemerkung  zum  Zusatz  II  lehrt,  wie  die  genannten 
Durchschnittspunkte  mit  den  komplexen  Zahlen  zusammenhängen,  die  den 
Ecken  des  Dreiecks  zugeordnet  sind  (W.  IV,  S.  396).  Mittels  komplexer 
Grössen  ist  sicherlich  auch  die  Lösung  der  Aufgabe  gewonnen  worden,  die 
Lage  eines  Punktes  aus  den  Verhältnissen  seiner  Abstände  von  drei  der  Lage 
nach  bekannten  Punkten  zu  finden  (W.  VIII,  S.  303). 

Endlich  ist  noch  ein  Beweis  des  Pythagoreischen  Lehrsatzes  aus  dem  Jahre 
1797  (T.  Nr.  81)  zu  nennen,  der  auf  der  Ähnlichkeit  von  Dreiecken  beruht'). 

23. 

Das  Viereck. 

Als  Gauss  die  Zusätze  zu  Schumachers  Übersetzung  des  ÜAENOTSchen 
Werkes  verfasste,  löste  er  auch  eine  Aufgabe,  die  Schumacher  im  Oktober 
1809  gestellt  hatte,  als  Gauss,  Bessel  und  er  selbst  ihren  gemeinsamen  Freund 
Olbers  in  Bremen  besuchten,  die  Aufgabe  nämlich,  in  einem  Viereck  diejenige 
Ellipse  zu  beschreiben,  die  den  grössten  möglichen  Flächenxaum  umfasst. 
Schumacher  hatte  sie  den  diuch  Montucla  erneuerten  R^creations  mathematiques 
et  phj/siques  Von  Ozanam  Paris  1778)  entnommen.  Im  Dezember  1809  wurde 
Gauss  von  Bessel  an  die  Aufgabe  erinnert  Br.  G. -Bessel  S.  104).  »Es  ist 
ein  merkwüi-diges  Beispiel«,  antwortet  dieser  am  7.  Januar  1810,  »wieviel  bis- 
weilen von  der  Wahl  der  unbekannten  Grössen  abhängt.  Ich  setzte  mich 
gleich  daran  und  kam,  da  ich  zufällig  hierin  eine  glückliche  Wahl  getroffen 
hatte,  sofort  darauf,  dass  das  ganze  Problem  bloss  auf  eine  Gleichung  zweiten 
Grades  sich  reduziert«  Br.  G. -Bessel  S.  107).  Die  »glückliche  Wahl«  kam 
darauf  hinaus,  dass  er  komplexe  Grössen  verwandte;  in  der  Darstellung  der 
Lösung,  die  Gauss  Schumacher  mitteilte,  ist  dieser  Ursprung  zwar  verhüllt 
worden,  aber  doch  noch  deutlich  genug  sichtbar  geblieben. 

Nachdem  Gauss   am   H).  Februar  1810  an  Schumacher  geschrieben  hatte. 


1)  Ber  Beweis  tob  Gauss  ist  den  96  Beweisen  hinzuzufügen,  die  J.  Versluts  gesammelt  hat:  Zes 
en  negentig  bewijsm  voor  het  theorema  van  Pythagoras,  Amsterdam  I9U;  von  den  dort  mitgeteilten  Be- 
weisen kommt  dem  GAUSSschen  am  nächsten  der  von  Brand,  Une  notwelle  dimonstrcUion  de  Pythagore, 
Journal  de  mathematiques  elementaires,  Serie  5,  t.  21,   1897,  S.  a«. 


72  STÄCKEL,    GAUSS  AT.S  GEOMETER. 

er  habe  eine  sehr  artige  Auflösung  gefunden  und  sei  nicht  abgeneigt,  sie  be- 
kannt zu  machen  (Br.  G -Sch.  I,  S.  26).  wurde  die  Aufgabe,  wohl  auf  Schu- 
machers Veranlassung,  im  Maiheft  der  Monatlichen  Correspondenz ')  den  Mathe- 
matikern vorgelegt,  und  das  Augustheft  brachte  (S.  112 — 121)  die  Lösung  von 
Gauss  (W.  IV,  S.  385).  Im  Besonderen  wird  darin  der  Lehrsatz  bewiesen, 
dass  der  geometrische  Ort  der  Mittelpunkte  der  Ellipsen,  die  die  vier  Seiten 
des  Vierecks  berühren,  eine  Gerade  ist;  daraus  folgt  als  Zusatz,  dass  die 
Mitten  der  drei  Diagonalen  eines  Vierseits  auf  einer  Geraden  liegen. 

Das  Septemberheft  der  Coiiespondenz  enthält  zwei  weitere  Lösungen,  die 
von  J.  Fr.  Pfaff  und  Mollweide  heiTÜhren '^) ;  eine  vierte,  von  Buzengeiger 
eingesandte  konnte  wegen  Mangel  an  Raum  nicht  abgedruckt  werden  ^).  Pfaff 
bemerkt,  dass  jener  geometrische  Ort  schon  bei  Newton*)  und  Euler ""}  zu 
finden  sei.  Endlich  gab  Schumacher  im  Novemberheft ")  eine  Ergänzung, 
indem  er  zeigte,  dass  unter  Umständen  eine  innerhalb  des  Vierecks  liegende 
Ellipse,  die  nur  drei  Seiten  berührt,  den  grössten  Inhalt  liefert.  Die  Aufgabe 
ist  später  wiederholt  bearbeitet  worden ;  Plücker,  Schläfli  und  Steiner  haben 
sich  um  sie  bemüht^). 

In  die  Zeit  um  1810  gehört  auch  wohl  eine  Aufzeichnung,  die  sich  auf 
der  letzten  Seite  des  GAUssschen  Exemplares  des  ersten  Teiles  der  Schumacher- 
schen  Übersetzung  befindet.  Carnot  hatte  in  einer  1806  erschienenen  Ab- 
handlimg,  die  Schumacher  in  seine  Ausgabe  aufgenommen  hat,  die  zwischen 
den    Seiten    und    den    Diagonalen    eines   Vierecks    bestehende    Gleichung    her- 

1)  Monatliche  Correspondenz  zur  Beförderung  der  Erd-  und  Himmelskunde,  herausgegeben  von  v.  Zach, 
Bd.  21,  isto,  S.  i6-i. 

2)  Monatliche  Correspondenz,  Bd.  22,   18Iü,  S.  223  und  227. 

3)  A.  a.  O.,  S.  513. 

4)  I.  Newton,  Philosophiae  naturalis  princiina  mathematiea,  London  t(i87,  Liber  I,  Lemma  25;  im 
Corollarium  3  wird  auch  der  Satz  ausgesprochen,  dass  die  Mitten  der  diagonalen  eines  Vierseits  auf  einer 
Geraden  liegen. 

5)  L.  Euler,  Introductio  in  analysin,  T.  II,  Lausanne  iTis,  §  123. 

6)  Monatliche  Correspondenz,  Bd.  22,   1810,  S.  505. 

7)  J.  Plückee,  Analytisch -geometrische  Enttcieklungen,  Band  II,  Essen  iit:ti,  S.  208;  L.  Schläfli, 
Anwendungen  des  harycenirisclien  Calculs,  Archiv  der  Mathematik  und  Physik,  Bd.  12,  I84i»,  S.  9si;  J.  Steiner, 
Teoremi  relativi  alle  coniche  inscritte  e  eircoseritte,  Giomale  arcadico,  t.  99,  S.  147,  Crelles  Journal,  Bd.  3u, 
1845,  S.  17,  Gesammelte  Werke,  Bd.  II,  S.  334.  Ecler  hat  die  duale  Aufgabe  behandelt,  um  ein  gegebenes 
Viereck  die  kleinste  Ellipse  zu  beschreiben,  Nova  acta  acad.  sc.  Petrop.  9  (17'ji),  1795,  S.  132;  vorgelegt 
den  4.  Sept   1777. 


ELEMENTARE  UND   ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  73 

geleitet  (2.  Teil,  S.  2  5S\  und  Gauss  gibt  einen  einfachen  Beweis  dieser  für  die 
Ausgleicliungsrechnungen    der  Geodäsie  \vichtigen  Beziehung  (W.  IX,  S.  248). 

Mit  den  geodätischen  Messungen,  die  Gauss  von  1821  bis  1825  anstellte, 
hängt  es  auch  zusammen,  dass  er  sich  eingehend  mit  einer  Aufgabe  beschäftigt 
hat,  die  nach  einem  Mathematiker,  der  weder  ihr  Urheber  noch  ihr  erster 
Löser  ist,  der  sich  aber  Verdienste  um  sie  erworben  hat,  häufig  als  Pothenot- 
sches  Problem  bezeichnet  wii-d*).  Es  handelt  sich  darum,  bei  einer  trigono- 
metrischen Aufnahme  die  Lage  eines  Punktes  dadurch  festzulegen,  dass  die 
AVinkel  gemessen  werden,  welche  die  von  ihm  nach  drei  bekannten  Punkten 
Xetzpunkteu;  gehenden  Richtungen  miteinander  bilden  i  Rückwärtseinschneiden;. 
Die  im  Xachlass  von  Gauss  befindlichen  umfangreichen  Aufzeichnungen  über 
das  PoTHENOTSche  Problem  aus  den  Jahren  1832  bis  1852  werden  ergänzt 
durch  Briefe  an  Gerling  und  Schumacher  aus  den  Jahren  1830  bis  1842  imd 
durch  die  Ausarbeitung  einer  im  Jahre  1840  gehaltenen  Vorlesung  über  die 
Theorie  der  imaginären   Grossen    W.  VIII,  S.  307 — 334. 

Die  Heranziehung  der  komplexen  Grössen  erweist  sich  hier  als  besonders 
nützlich.  Indem  Gauss  den  Ecken  üq,  a,,  0-2,  a^  des  Vierecks,  das  aus  dem 
festzulegenden  Punkt  imd  den  drei  Netzpunkten  besteht,  das  Dreieck  zuordnet, 
dessen  Ecken  diuxh  die  aus  der  Lehre  von  den  biquadratischen  Gleichungen 
wohlbekannten  Verbindungen 

bestimmt  werden,  gelangt  er  zu  seiner  »zierlichen  Auflösung<(:  zu  demselben 
Dreieck  war  übrigens  schon  Collins  durch  einen  geometrischen  Kunstgriff 
gelangt*'. 

Gauss  eigentümlich  ist  die  Frage  nach  der  »physischen  Möglichkeit  der 
Daten  in  Pothenots  Aufgabe«.  Wenn  nämlich  beim  Rückwärtseinschneideu 
der  Punkt  gesucht  wird,  von  dem  aus  zwei  gegebene,  aneinander  stossende 
Strecken   unter  gemessenen  Winkeln   erscheinen,    so  ist  man   sicher,    dass   die 


1)  L.  PoTHEXOT,  Probleme  de  Geometrie  pratique,  M§m.  de  lAcad.  depuis  ibbü  jusqu'ä  16'jm,  t.  m. 
Paris  1730,  S.  15U  (vorgelegt  1692.  Für  das  Geschichtliche  vgl.  die  Dissertation  von  R.  W.\gnek,  Über 
das  Pothenotsche  Problem,  Göttingen  issj  und  die  Angaben  in  J.  C.  Poggkndorffs  Biographisch -literari- 
schem Ilandwörterbuch,  II,  Leipzig   1863,  Spalte  .^O'.i. 

2)  J.  COLLIXS,  Ä  Solution  of  a  chorographical  problem,  Philosophical  transactions.  Vol.  6.  Nr.  ca, 
London,  März  167 1. 

X2  Abh.  4.  10 


74  STÄCKEL,    GAUSS   ALS  GEOMETER. 

Aufgabe,  sobald  nur  der  gefahrliche  Kieis  vermieden  wird,  eine  bestimmte 
Lösung  hat.  Anders  steht  es,  wenn  jene  Winkel  willkürlich  angenommen 
werden.  Dann  braucht  es  keine  Lösung  zu  geben,  und  es  entsteht  die  Frage 
nach  einem  Kennzeichen  für  die  Lösbarkeit;  Gauss  hat  darauf  eine  über- 
raschend einfache  Antwort  gegeben. 

Warum,  wird  man  fragen,  hat  Gauss  auf  (^incn  so  elementaren  Gegen- 
stand so  viel  Zeit  und  Mühe  verwendet?  Aufschluss  hierüber  gibt  der  Brief 
an  Gerling  vom  14.  Januar  1842.  Nachdem  er  diesem  das  Kennzeichen  mit- 
geteilt hat,  bittet  er  ihn,  es  für  sich  zu  behalten,  «weil  ich  das  Theorem, 
womit  es  zusammenhängt,  selbst  einmal  bei  schicklicher  Gelegenheit  zu  be- 
handeln mir  vorbehalte,  weniger  wegen  der  Eleganz  des  Theorems  an  sich, 
als  wegen  der  Eleganz,  welche  die  Anwendung  der  komplexen  Grössen  dabei 
darbietet,  also  namentlich  bei  einer  Gelegenheit,  wo  ich  mehr  von  dem  Ge- 
brauch der  komplexen  Grössen  sagen  kann»    W.  VIII,  S.  315) '). 

34. 

Die  Vielecke. 

Durch  eine  Anfrage  von  Schumacher  vom  19.  März  1836  veranlasst 
,W.  X 1,  S.  459}  hat  sich  Gauss  mit  der  Frage  nach  dem  «kürzesten  Ver- 
bindungssvstem«  von  beliebig  vielen,  im  Besonderen  von  vier  Punkten  be- 
schäftigt W.  Xi,  S.  461 — 467,  einer  glücklichen  Verallgemeinerung  der 
Summe  der  Entfernungen  eines  Punktes  von  gewissen  gegebenen  Punkten, 
die  noch  heute  eingehendere  Erforschung  verdiente"*). 

Die  Lösung  der  Aufgabe,  in  einen  gegebenen  Kreis  ein  Vieleck  zu  be- 
schreiben, dessen  Seiten  durch  je  einen  gegebenen  Punkt  gehen,  ist  wieder 
der  Verwendung  komplexer  Grössen  entsprungen  (W.  IV,  S.  398,  Zusatz  V, 
S.  369). 

Im  ersten  Abschnitt  (Nr.  10)  ist  bemerkt  worden,  dass  Gauss  die  trage 
au%eworfen  hat,  was  man  unter  dem  Inhalt  eines  beliebigen  Vielecks  zu  ver- 


1  Für  die  Behandlung  geometrischer  Aufgaben  mittels  komplexer  Grossen  \g\.  noch  die  Dissertation 
von  H.  ZUB  Nedden,  Applicalio  numeri  complexi  ad  demmstranda  itonnuUa  geometriae  theoremata,  Göt- 
tingen  1840. 

J)  Vgl.  auch  die  Dissertation  von  K.  Bopp,  Das  kürzeste  Verbindungssystem  von  vier  Punkten, 
Göttingen  is;». 


ELEMENTARE  UND  ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  75 

stehen  habe.  Aiif  den  Inhalt  eines  ^  ielecks  bezieht  sich  die  folgende  Stelle 
in  dem  Zusatz  I  zu  SchuMACHERs  Übersetzung  der  Geometrie  de  position  von 
Carnot')  [S.  362): 

Anmerkung  des  Herausgebers  iSchumacher".  »Es  ist,  nach  einem 
schönen  Theorem  des  HeiTn  Professor  Gauss,  der  Inhalt  eines  Vielecks  von 
n  Seiten,  wenn  die  Koordinaten  der  Winkelpunkte  nach  der  Reihe  in  einer 
Richtung  gezählt: 

x,i/;  x\\f':   ...  ^<''-'',j/'»-'' 
sind, 

worüber  Er  selbst  vielleicht,  bey  einer  andern  Gelegenheit,  uns  eine  voll- 
stcändigere  Abhandlung  schenken  wird". 

Die  Ankündigung,  einer  vollständigeren  Abhandlung  macht  es  wahrschein- 
lich, dass  Gauss  schon  damals  die  Verallgemeinenmg  auf  beliebige  Vielecke 
im  Auge  hatte,  bei  denen  also  der  umfang  sich  selbst  durchsetzen  kann,  wie 
er  sie  in  dem  Brief  an  Olbers  vom  :>0.  Oktober  1825  andeutet  W.  VITI. 
S.  398)'.  In  einer  aus  dem  Nachlass  1866  herausgegebenen  Abhandlung  hat 
Jacobi  eine  Regel  für  die  Bestimmung  des  Inhalts  gegeben'). 

In  der  Behaftung  von  Inhalten  mit  Vorzeichen  ist  Möbius  mit  Gauss 
zusammengetrolFen,  zuerst  im  Barycentnschen  Calcul  1827V*,.  dann  in  der  Ab- 
handlung über  den  Inhalt  der  Polyeder  1865)').  Wenn  die  Mathematiker  des 
20.  Jahrhunderts    diese    Dinae    als    selbstverständlich    ansehen,    so    hat    doch 


1)  Werke  XI  i. 

2)  In  dem  Brief  an  Olbers  vom  3 o.  Oktober  1S25  bemerkt  G.\iss,  er  habe  «erst  vor  kurzem  eine 
Abhandlung  von  Meister  im  ersten  Bande  der  Novi  Commentarii  Gotting.  kennen  gelernt,  worin  die  Sache 
fast  ganz  auf  gleiche  Art  betrachtet  und  sehr  schön  entwickelt  wird« :  gemeint  ist  die  Abhandlung  von 
A.  I-.  F.  Meister.  Generalia  de  genesi  figtiramm  platiarum  et  inde  pendentibus  earum  affectionibus,  No^■i 
Commentarii  acad.  Gotting.,  vol.  I  ad  annos  1769/70,  1771,  S.  144. 

3)  C.  G.  J.  Jacobi,  Begel  zur  Bestimmtaig  des  Inhalts  der  Stempolygone,  Journal  für  die  r.  u.  a. 
Mathematik  Bd.  65,  1886,  S.  173,  Werke  VII,  S.  40;  vgl.  auch  AV.  Veltm.wx,  Berechnung  des  Inltalts  eines 
Vielecks  aus  den  Coordinaten  der  Eckpunkte,  Zeitschrift  für  Mathematik  und  Physik,  Bd.  32,  1SS7,  S.  339. 
Nach  L.  Kösigsberger,  C.  G.  J.  Jacobi,  Leipzig  i!)04,  S.  iss  hat  J.4Cobi  seine  Regel  im  Sommer  tS3S 
gefunden. 

4)  A.  F.  MöBlcs,  Der  barycentrische  Calcul,  Leipzig  182  7,  Kap.  11,  S  17  und  iv;  AVerke  I,  S.  39—4  1. 

5)  A.  F.  MÖBITJS,  Über  die  Bestimmung  des  Inhaltes  eines  Polyeders,  Leipziger  Berichte,  Bd.  17, 
1SK5,  S.  3  1,  Werki-  11,  S.  4S5— 4itl. 

10* 


76  StäCKEI.,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Baltzer.  in  den  Erinnerungen  an  die  GAUssschen  Zeiten  wiu'zelnd,  mit  Recht 
hervorgehoben,  dass  die  Bestimmung  des  Zeichens  einer  Strecke  nach  der 
voraus  bestimmten  positiven  Richtung  einer  Geraden,  einer  Dreiecksfläche 
nach  dem  voraus  bestimmten  positiven  Sinn  ihrer  Ebene  und  eines  Tetraeder- 
inhalts nach  einem  voraus  bestimmten  Schraubungssinn  beim  Erscheinen  des 
Barycentrischen   Calculs  »neu  und  fast  befremdend«  erschienen  seien'). 

Gauss  hat  auch  eine  von  jNIöbius  gestellte  Aufgabe"  gelöst,  die  besagt, 
man  solle  den  Inhalt  eines  Fünfecks  aus  den  Inhalten  der  fünf  Dreiecke  be- 
stimmen, die  von  den  Verbindungsstrecken  der  fünf  Eckpunkte  gebildet  werden 
W.  IV.  S.  406). 

35. 

Der  Kreis  und  die  Kugel. 

Das  Tagebuch  von  Gauss  beginnt  mit  der  Eintragung  vom  30.  März  1796: 
»Principia  quibus  innititur  sectio  circuli,  ac  divisibilitas  eiusdem  geometrica 
in  septemdecim  partes  etc.  Nach  dem  Briefe  an  Gerling  vom  6.  Januar  1819 
hatte  er  die  Entdeckung  am  Morgen  des  29.  März  1796  gemacht  (W.  Xi, 
S.  125'!.  »Sie  ist  es  vornehmlich  gewesen,  welche  seinem  Leben  eine  be- 
stimmte Richtung  gab,  denn  von  jenem  Tage  an  war  er  fest  entschlossen, 
nur  der  Mathematik  sein  Leben  zu  widmen«  Sartorius,  S.  16).  Die  Kon- 
struktion des  regelmässigen  Siebzehnecks  ist  geometrisch  ausfuhrbar,  insofern 
sie  sich  allein  durch  Lineal  und  Zirkel  bewerkstelligen  lässt.  jedoch  beruht 
der  Beweis  bei  all'  den  verschiedenen  Durchführungen  auf  der  algebraisclien 
Grundlage  der  Kreisteilungsgleichung').  Gauss  hat  in  den  Göttinger  Anzeigen 
vom  19.  Dezember  1S2  5  eine  Konstruktion  von  Erchinger  mitgeteilt.  Für 
diese  Konstruktion  habe  Erchusger  eine  rein  geometrische  Begründung  ge- 
geben, »mit  musterhafter,  mühsamer  Sorgfalt,  alles  nicht  rein  Elementarisch(> 
zu  vermeiden«  W.  II,  S.  187).  Sie  ist  uns  leider  verloren  gegangen,  da  Er- 
chingers  Abhandlung  nicht  gedi'uckt  wurde*. 


1)  R.  B.\LTZEK,  Vorrede  über  Möbius,  Möbiis'  Werke  I,  S.  VIII. 

2)  A,  F.  MöBas,  Beobachtungen  auf  der  Sternwarte  sii  Leipzig  usw.,  Leipzig  i  <  j:;,  S.  57 ;  Werke  I,  S.  :vj  i. 
:t;  Vgl.  R.  GoLDESKLNG,   Die  elementargeometrischen  Konstruktionen  des  regelmässigen  Siebzehnecks, 

Dissertation,  Jena  I9i.s.    Die  zeitlich  älteste  Konstriiktion  ist  die  dort  noch  nicht  erwähnte  von  Pfleiderer, 
die  erst  1'j17  (Werke  Xi,  S.  120;  veröffentlicht  worden  ist. 

ii  Die  Abhandlung  Ebchingers   hatte  Gauss    von    einem    Braunschweiger  Bekannten,    dem  Juristen 


ELEMENTARE  UND  ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  77 

In  dem  Zusatz  VI  zu  Carnots  Geometrie  der  Stellung  (2.  Teil,  S.  371, 
W.  IV,  S.  399j  wird  eine  analytische  Lösung  der  Aufgabe  gegeben,  einen 
Kreis  zu  beschreiben,  der  drei  der  Grösse  und  Lage  nach  gegebene  Kreise 
berührt,  »vielleicht  die  einfachste  Konstruktion  des  Apollonischen  Problems«, 
wie  Simon  sagt '  ;  sie  ist  wiederum  der  Benutzung  komplexer  Grössen  zu  ver- 
danken. 

Um  das  Jahr  184u  hat  Gauss  den  Begriff  der  harmonischen  Punktepaare 
auf  einer  Geraden  verallgemeinert,  indem  er  die  vier  Abszissen  als  komplexe 
Grössen  auffasst,  denen  Punkte  einer  Ebene  zugeordnet  sind  W.  VIU,  S.  336 — 
337).  Hierin  liegt  ein  fruchtbares  Cbertragungsprinzip ,  das  Möbius,  hier 
wiederum  mit  Gauss  zusammentreffend,  ausgebaut  hat").  Später  ist  Möbius 
zum  allgemeinen  Doppelverhältnis  übergegangen  und  zu  seiner  Lehre  von  der 
Kreisverwandtschaft  gelangt,  bei  der  zwischen  zwei  Ebenen  durch  eine  bilineare 
Gleichung  in  den  lagebestimmenden  komplexen  Grössen  eine  Beziehung  her- 
gestellt wird^. 

Auch  den  Punkten  einer  Kugelfläche  hat  Gauss  schon  sehr  früh  komplexe 
Grössen  zugeordnet,  vermutlich  mittels  der  stereographischen  Projektion;  dies 
zeigt  die  schon  angeführte  Bemerkung  über  das  elliptische  Integral  erster 
Gattung  aus  dem  Jahre    1800    W.  X  i,  S.  546.     In   einer  späteren  Aufzeich- 


E.  SCH3l.^DER  in  Tübingen,  am  i.  Sept.  18  25  zugesandt  erhalten.  Hiemach  war  Erchixgek,  der  sonst  ganz 
unbekannt  ist,  ein  mathematischer  Autodidakt,  der  etwa  seit  1813  in  Tübingen  lebte.  Er  hatte  einen  Bei- 
trag geliefert  zu  der  Abhandlung  ScHRADERs :  Commentatio  de  sutnmatione  seriei 


b!b  +  d]  "*"  (6-}-2d;i6  +  3di  "''  :b+id]{b+bd     '  '"' 

Weimar  isi>,  die  einen  Preis  der  Kopenhagener  Gesellschaft  der  Wissenschaften  erhalten  hatte.  Nach 
ScHRADERs  Brief  an  G.wss  vom  20.  April  issi  war  Erchixger  inzwischen  gestorben  (Briefe  im  Gauss- 
Archiv).  Vgl.  auch  KhiSGELs  Mathematisches  Wörterbuch,  IV.  Teil,  Leipzig  1823,  S.  652  (Artikel  Summierung 
der  Reihen;. 

1)  M.  Simon,  Über  die  Entwicklung  der  ElemerUargeometrie  im  XIX.  Juhrhutuiert,  1.  Ergänzungs- 
band des  Jahresberichtes  der  Deutschen  Mathematiker  -  Vereinigung,  Leipzig  1906,  S.  98;  man  findet  hier 
;S.  97 — 105)    eine  Zusammenstellung   der   umfangreichen  Literatur   über   das   Apollonische  Taktionsproblem. 

2;  A.  F.  MÖBIUS,  Über  eine  Methode,  um  von  Relationen,  welche  der  Longimeirie  angehören,  zu  den 
entsjtrechenden  Sätzen  der  Planimetrie  zu  gelangen,  Leipziger  Berichte,  Bd.  4,   1S52,  S.  41.  AA'erke  II,  S.  isa. 

3)  A.  F.  MÖBIUS,  Über  eine  neue  Verwandtschaft  zicischen  ebenen  Figuren,  Leipziger  Berichte,  Bd.  5, 
1S53,  S.  14,  Werke  II,  S.  205;  später  hat  MÖBILS  die  Kreisverwandtschaft  rein  geometrisch  begründet:  Die 
Theorie  der  Kreisverwandtschaft  in  rein  geometrischer  Darstellung,  Leipziger  Abhandlungen,  Bd.  4,  isss, 
S.  52!) ;  Werke  II,   S.  243. 


78  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

nung:,  die  vor  I  S 1 V)  niedergeschrieben  ist,  hat  er  den  durch  die  stereographische 
Projektion  vermittelten  Zusammenhang  zwischen  Ebene  und  Kugel  genauer 
untersucht  und  dabei  erkannt,  dass  die  »Drehungen  der  Kugelfiäche  in  sich 
selbst«  durch  gewisse  lineare,  gebrochene  Substitutionen  der  lagebestimmenden 
komplexen  Grösse  dargestellt  werden  können  (W.  VITI,  S.  85  1  —  ;556);  man 
kennt  die  Bedeutung,  die  diese  Substitutionen  später  gewonnen  haben'). 

36. 

Kegelschnitte  und  Flächen  zweiter  Ordnung. 

Auf  die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  ist  Gauss  als  Astronom  immer 
wieder  geführt  worden.  Besonders  eifrig  hat  er  sich  damit  im  Frühjahr  1843 
beschäftigt.  In  dem  Briefe  an  Schumacher  vom  12,  Mai  184:5  erzählt  er,  dass 
er  »anfangs  durch  zufällige  Umstände«  seit  vier  bis  sechs  Wochen  in  einige 
mathematische  Spekulationen  hineingezogen  worden  sei,  »wo  ich  immer  wieder 
dxu'ch  neue  Aussichten  in  andere  Richtungen  gelenkt  wurde  und  vieles  erreicht, 
vieles  verfehlt  habe.  .  .  .  Jene  Spekulationen  betrafen  grossenteils  weniger 
neue  Sachen  als  Durchführung  mir  eigentümlicher  Methoden:  zuletzt  u.  a. 
mehreres  sich  auf  die  Kegelschnitte  Beziehendes.  Mir  ist  dabei  wiederholt 
in  Erinnerung  gekommen,  wie  ich  vor  einem  halben  Jahrhundert,  als  ich 
zuerst  Newtons  Principia  las '"),  mehreres  unbefriedigend  fand,  namentlich  seine 
an  sich  herrlichen  Sätze  die  Kegelschnitte  betreffend.  Aber  ich  las  immer 
mit  dem  Gefühl,  dass  ich  durch  das  Erlernte  nicht  Herr  der  Sache  wurde; 
besonders  quälte  mich  die  gerade  Linie,  mit  deren  Hilfe  ein  Kegelschnitt 
beschrieben  werden  kann').  .  .  .  Herr  des  Gegenstandes  ist  man  doch  erst 
dann,  wenn  man  alle  andern,  diese  magische  gerade  Linie  betreffenden  Fragen 
beantworten  kann;  namentlich  will  man  wissen,  welche  Relationen  diese  gerade 


1)  Vgl.  für  die  von  Riemann  benutzte  Verwendung  der  Kugel  zur  Uarstellung  komplexer  Grössen  C. 
NeüMANN,  Vorlesungen  über  EievKoms  Theorie  der  Abcischen  Integrale,  Leipzig  1S65,  für  die  linearen  Sub- 
stitutionen F.  Klein,  Vorlesungen  über  das  Ikosaeder,  Leipzig  1884,  erster  Abschnitt,  Kapitel  IL 

2)  Gauss  hat  sein  Exemplar  der  Principia  im  Jahre  1794  erworben. 

:!j  Es  handelt  sich  um  die  Konstmktion  eines  Kegelschnitts  mittels  zweier  um  ihre  Scheitelpunkte 
drehbarer  Winkel,  deren  eines  Schenkelpaar  sich  auf  einer  Geraden  schneidet,  während  der  Durchschnitts- 
punkt  des  anderen  Schenkelpaares  den  Kegelschnitt  beschreibt,  L  Newton,  Philosophiae  naturalis  principia 
mathemalica,  London  1087,  Liber  l,  Sectio  5,  Lemma  21.  Vgl.  auch  C.  Maclaurin,  Geometria  organica, 
sive  descriptio  linearum  curvartim  universalis,  London   I72n,  erster  Abschnitt. 


ELEMENTARE  UND  ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  79 

Linie  zu  den  Elementen  des  Kegelschnittes  habe,  ob  man  diese  Elemente  selbst 
mit  Leichtigkeit  aus  der  Lage  jener  geraden  Linie  und  der  [gegebenen  Punkte 
des  Kegelschnittes]  ableiten  könne.  Verschiedenes  dieser  Art  kann  ich  jetzt 
recht  artig  ausrichten,  ich  weiss  aber  nicht,  ob  ich  selbst  das  Ganze  durch- 
führen kann,  da  andere  Geschäfte  mich  nötigen  abzubrechen«  (W.  VLEI,  S.  295). 

Was  Gauss  damals  über  seine  Spekulationen  niedergeschrieben  hat,  ist 
aus  dem  Nachlass  W.  VIII,  S.  341 — 344  abgediaickt.  Die  ihm  eigentümliche 
Methode  war  wieder  die  Benutzung  komplexer  Grössen;  mittels  dieses  Ver- 
fahrens hatte  er  schon  etwa  seit  1831  begonnen,  die  Kegelschnitte  zu  be- 
handeln (W.  Vm.  S.  339  — 340). 

Gauss  hat  die  abgebrochene  Arbeit  nicht  wieder  aufgenommen,  nicht  aus 
Mangel  an  Zeit,  sondern  weil  ihm  zufällig  ein  Buch  in  die  Hände  hei,  worin, 
wie  er  am  15.  Mai  1843  an  Schumacher  schreibt,  »die  Quintessenz  der  Lehre 
von  den  Kegelschnitten  in  nucem  gebracht  ist«.  Es  war  der  schon  1S27  er- 
schienene Barycentrische  Calcul  von  Mobius,  ein  Buch,  das  er,  als  es  ihm  1828 
vom  Verfasser  zugegangen  war,  »ohne  viele  Erwartung  davon  zu  haben,  zunächst 
auf  die  Seite  gelegt  und  später  völlig  vergessen  hatte«,  das  aber,  wie  er  jetzt 
»mit  grossem  Vergnügen«  fand,  »auf  dem  leichtesten  Wege  ziu'  Auflösung  aller 
dahin  gehörigen  Aufgaben  führt«  fW.  VIII.  S.  297  '. 

Dass  Gauss  sich  in  das  Buch  von  Möbius  vertieft  hat,  bezeugen  auch  die 
aus  dem  Nachlass  abgediuckten  Notizen  über  das  PentagTamma  miriticum 
Fragment  [ll\  W.  VUI,  S.  109—111)  und  über  den  llesultantencalcul  (W. 
Vin,  S.  298). 

Wenn  Gauss  im  Baiycentrischen  Calcul  die  Quintessenz  der  Lehre  von 
den  Kegelschnitten  erblickt  hat,  so  wird  man  daraus  schliessen  düi'fen,  dass 
ihm  die  Untersuchungen  Poncelets,  Steiners  und  Plückers  fremd  geblieben 
waren.  Um  seine  Stellung  zur  neueren  Geometrie  zu  bezeichnen,  genügt  es 
daher  nicht  zu  sagen,  er  habe  die  analytischen  Methoden  bevorzugt,  man  muss 
vielmehr  hinzufugen,  dass  er  kein  inneres  Verhältnis  zu  den  Auffassungen 
gewonnen  hat,  die  der  projektiven  Geometrie  eigentümlich  sind. 

Ebenfalls  in  das  Jahr  1843  sind  Auszüge  zu  setzen,  die  sich  Gauss  aus 
zwei   in  den  Pariser  Comptes  rendus    vom  24.  April  1843  erschienenen  Noten 


1)  Vgl.  auch  den  Brief  an  ScHUM.^CHER  vom  l'i.  Mai  1843,  Br.  G.-ScH.  IV,  S.  i5i. 


80  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Cauchys  gemacht  hat.  Sie  stehen  teils  auf  einer  Notiztafel,  die  Gauss  im 
April  1840  von  Schumacher  zum  Geschenk  erhalten  hatte  (Br.  G.-Sch.  III, 
S.  369)  und  die  sich  gegenwärtig  im  Besitz  seines  Enkels,  Herrn  C.  Gauss  in 
Hameln,  betindet,  teils  in  dem  Handbuch  19Be,  S.  254  —  257;  auch  die  Notiz 
über  die  Kreisschnitte,  ebenda  S.  253,  hängt  damit  zusammen.  Diese  Auszüge 
verdienen  um  so  mehr  Beachtung,  als  die  im  Nachlass  vorhandenen  Notizen 
über  Abhandlungen,  die  Gauss  gelesen  hatte,  lediglich  aus  der  Göttinger 
Studienzeit  (1795  — 17981  stammen;  aus  der  späteren  Zeit  .sind  uns  jedenfalls 
keine  Aufzeichnungen  dieser  Art  erhalten,  und  auch  in  den  Handbüchern 
fehlen  sie,  abgesehen  von  dem  soeben  erwähnten  Ausnahmefall.  Gauss  muss 
also  in  den  Sätzen  von  Cauchy  etwas  Besonderes  gefunden  haben,  vielleicht 
Berührungspunkte  mit  eigenen  Untersuchungen. 

In  der  ersten  Note')  betrachtet  Cauchy  eine  ganze  rationale  Funktion 
der  rechtwinkligen  Koordinaten  eines  Punktes  der  Ebene  und  zeigt,  dass  mau 
ihren  Werten  eine  einfache  geometrische  Bedeutung  beilegen  kann;  liicrvon 
werden  Anwendungen  auf  die  Kegelschnitte  gemaclit. 

Die  zweite  Note')  enthält  eine  analytische  Lösung  der  Aufgabe  von  Amyot, 
eine  Fläche  zweiter  Ordnung  als  geometrischen  Ort  der  Punkte  darzustellen, 
bei  denen  das  Produkt  der  Entfernungen  von  zwei  festen  Ebenen  zu  dem 
Quadrat  der  Entfernung  von  einem  festen  Punkte  in  einem  gegebenen  Ver- 
hältnis steht*).  Cauchy  zeigt,  dass  die  Aufgabe,  abgesehen  von  der  Aus- 
ziehung gewisser  Quadratwurzeln,  auf  eine  Gleichung  dritten  Grades  führt, 
die  mit  der  bekannten  Gleichung  für  die  reziproken  Quadrate  der  Haupt- 
achsen übereinstimmt,  ein  Ergebnis,  das  man  bei  Heranziehung  der  Kreis- 
schnitte leicht  bestätigen  wird. 

Zu  der  Gleichung  dritten  Grades  bemerkt  Gauss  :  »Dies  Resultat  ist  ganz 
identisch  mit  meinem  eigenen,  vor  24  Jahren  publizierten,  was  auch  auf  einem 


t)  A.  L.  CaüCHY,  Memoire  sur  la  synthese  algehrique,  Comptes  rciidus,  t.  in,  Paris  ih4:),  S.  867, 
Oeuvres,  l.  sferie,  t.  7,  Paris  1892,  S.  382. 

2)  A.  L.  Cauchy,  Notes  annexees  au  Rapport  sur  le  Memoire  de  M.  Amyot,  Comptes  reiulus,  ebenda, 
S.  88  5,  Oeuvres,  ebenda,  S.  3  7  7. 

3)  Ein  ausführlicher  Bericht  über  die  der  Pariser  .\kadsmie  eingereichte  Abhandlung  Amyots  :  Nou- 
velle  mithode  de  generation  et  de  discussion  des  surfaces  du  second  ordre  von  Cauchy  steht  Comptes  rendus 
ebenda,  S.  783,  Oeu^Tee,  ebenda,  S.  325;  die  Abhandlung  Amyots  ist  abgedruckt  in  Liouvilles  Journal, 
2.  a^rie,  t.  s,  1843,  S.  i63. 


ELEMENTARE  UND  ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  81 

besonderen  Blatte  steht«,  und  fügt  die  Buchstabenvertauschung  hinzu,  die 
Cauchys  Gleichung  in  die  seinige  überführe.  Die  Abhandlung,  auf  die  er 
sich  bezieht,  ist  die  1818  erschienene  Determinatio  attractionis,  quam  .  .  .  exer- 
ceret  planeta  .  .  .,  und  zwar  handelt  es  sich  um  die  Formel  [3]  (W.  III,  S.  341  . 
Das  besondere  Blatt  ist  die  Seite  114  des  Handbuchs  1 9  Be ;  es  enthält  die 
kubische  Gleichung  für  die  reziproken  Quadrate  der  Hauptachsen  genau  in 
der  von  Gauss  angegebenen  Bezeichnung.  Damit  stimmt,  dass  eine  Notiz  auf 
S.  103  des  Handbuchs  das  Datum  des  20.  Februar  1817  trägt.  In  anderer 
Bezeichnungsweise  findet  sich  die  kubische  Gleichung  auf  S.  166  desselben 
Handbuches;  diese  etwa  aus  dem.  Jahre  1831  stammende  Notiz  ist  W.  II, 
S.  307  abgedruckt.  In  geschichtlicher  Beziehung  sei  noch  bemerkt,  dass  die 
kubische  Gleichung  schon  1812  von  Hachette  und  Petit  ')  angegeben  war 
und  dass  Cauchy  sie   1826  abgeleitet  hatte"). 

37. 

Sphärische  Trigonometrie. 

De  Gua^  und  Lagrange*)  hatten  gezeigt,  dass  die  Kosinusformel  zum 
Aufbau  der  ganzen  sphärischen  Trigonometrie  ausreicht;  ihre  Ableitungen 
gelten  indessen  nur  für  Bogen,  die  nicht  grösser  als  90"  sind.  In  dem  Zusatz 
VII  (1810)  zu  Carnots  Geometrie  der  Stellung  (2.  Teil,  S.  373,  W.  IV,  S.  401) 
hat  Gauss  diese  Lücke  ausgefüllt  und  Bogen  bis  zu  180"  zugelassen,  wie  sie 
in  der  Praxis  tatsächlich  vorkommen).  Aber  schon  in  der  Theoria  motus  cor- 
porum  coelestiwri,  die  1809  erschienen  war,  hatte  er  im  Art.  54  auf  die  allge- 
meinste Auffassung  des  sphärischen  Dreiecks  hingewiesen,  bei  der  weder  Seiten 
noch  Winkel  irgend  welchen  Beschränkungen  unterworfen  seien;  die  ausführ- 
lichere  Darstellung,    die    er   in   Aussicht   stellte,   ist   aber   weder   veröffentlicht 


1)  Hachette  und  Petit,  De  requation  qui  a  pour  racines  les  earres  des  demiaxes  principattx  d'une 
surface  du  second  ordre,  Correspondance  sur  l'ecole  polytechnique,  t.  2,  isrj,  S.  ■.i24,  327. 

2)  A.  L.  Cauchy,  Legons  sur  les  applications  du  calcul  infinitesimal  ä  la  geometrie,  t.  I,  Paris  t82G, 
S.  240;  Oeuvres,  2.  s6ri'e,  t.  5,  S.  250. 

3)  J.  P.  DE  GuA,  Trigmiometrie  spherique,  M^m.  de  l'Acad.,  annie  nsa,  Paris  i7sb.  S.  29i. 

i]  J.  L.  Lagrange,   Solution  de   quelques  problemes  relatifs  atix  triangles  »pheriques,   Journal    de 
l'ecole  polytechnique,  cahier  6.   ITiis,  S.  271],  Oeuvres,  t.  7,  S.  :i29. 

5)  Für  die  rechtwinkligen  Dreiecke  hatte  schon  KlÜGEL  diese  Erweiterung  vorgenommen,  Amdytische 
Trigonometrie,  Braunschweig  i7  7o. 

X  2  Abh.  4.  1  1 


82  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

worden,  noch  hat  sich  im  Nachlass  etwas  darüber  gefunden.  Später  hat 
MüBiüs,  auch  hier  in  den  Spuren  von  Gauss  wandelnd,  die  Untersuchung  für 
Bogen  und  Winkel  diuchgeführt,  die  bis  :i60'^  reichen',  zur  vollen  Allgemein- 
heit ist  aber  erst  Study  (1893)  gelangt*). 

Die  ^^er  Fundamentalformeln  der  sphärischen  Trigonometrie  lauten  in 
der  Gestalt,  die  Gauss  sich  zu  seinem  Gebrauch  aufgezeichnet  hatte  und  die 
er  für  die  angemessenste  hielt  (Brief  an  Schumacher  vom  26.  September  1844, 
Br.  G.-ScH.,  IV,  S.  310^ 

cos  a  =  cos  b  cos  c  -\-  sin  b  sin  c  cos  A, 
sin  a  sin  i?  =  sin  b  sin  A, 
cos  A  cos  f  =  cotang  b  sin  c  —  cotang  B  sin  A, 

cos  A  =  —  cos  B  cos  C  -\-  sin  B  sin  C  cos  a. 

Sie  sind  nebst  den  zugehörigen,  ebenfalls  von  Gauss  angegebenen  Diff'erential- 
formeln  in  die  Sammlung  von  Hülfstafeln  aufgenommen  worden,  die  Warns- 
TORFF  184  5  als  neue  Ausgabe  der  von  Schumacher  1822  veröffentlichten 
Tafeln  herausgegeben  hat*  .  Man  findet  hier  auch  eine  Anweisung,  die  dritte 
Formel  dem  Gedächtnis  einzuprägen,  die  Gauss,  wie  Wittstein  berichtet*), 
seinen  Zuhörern  mitzuteilen  pflegte. 

Im  Art.  54  der  Theoria  motus  (1  809)  hatte  Gauss  ohne  Beweis  vier  Glei- 
chungen zwischen  den  sechs  Stücken  eines  siihärischen  Dreiecks  angegeben, 
die  er  als  nützlich  für  die  Auflösung  eines  solchen  Dreiecks  bezeichnete,  wenn 
eine  Seite  und  die  anliegenden  AVinkel  gegeben  sind.  Gefunden  hatte  er 
diese  Gleichungen,  wie  es  scheint,  auf  dem  Umwege  von  Betrachtungen  über 
die  Frage,  wie  man  die  Gleichungen  zwischen  den  Stücken  eines  sjihärischen 
Dreiecks  auf  Gleichungen  zwischen  den  Stücken  eines  ebenen  Dreiecks  zurück- 


1)  A.  F.  MöBres,  Über  eine  neue  Behandlungsweise  der  analytischen  Sphärik,  Abhandlungen  bei 
Begründung  der  Königl.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften,  heravisgegeben  von  der  JABLONowsKischen 
Gesellschaft  d.  W.,  Leipzig  I84f.,  S.  45,   Werke  II,  S.  i. 

2)  E.  Study,  Sphärische  Trigonometrie,  orthogonale  Substitutionen  und  elliptische  Funktionen,  I^eip- 
ziger  Abhandlungen,  Bd.  2i,  189  3. 

■■<.  G.  H.  L.  Warnstorkk,  Sammlung  von  Hülfstafeln,  Altona  1845,  S.  i;t2.  Die  Formeln  werden 
dort  nicht  ausdrücklich  als  ron  Gauss  herrührend  bezeichnet,  während  das  bei  den  anderen  Beiträgen  von 
Gauss  geschehen  ist,  z.  B.  bei  den  Tafeln  für  barometrisches  Höhenmessen;  vgl.  W.  IX,  S.  456. 

4)  Tu.  Wittstein,  Lehrbuch  der  Elementar-Mathematik,  2.  Band,  2.  Abteihing,  Hannover  18«2,  S.  14  6  : 
die  betreffende  Stelle  ist  abgedruckt  W.  X  i,  S.  457. 


ELEMENTARE   UND  ANALYTISCHE  GEOMETRIE.  83 

führen  könne  W.  IV,  S.  404).  Später  hat  er  in  dem  Brief  an  Gerling  vom 
18.  Februar  )SI5  eine  einfache  Herleitung  gegeben  (W.  VIII,  S.  289);  dabei 
findet  man  zugleich  die  richtigen  Vorzeichen  der  linken  Seiten,  die,  wie  Gauss 
bereits  in  der  Theoria  motus  bemerkt  hatte,  bei  Ausdehnung  der  Stücke  über 
ISO"  besonders  bestimmt  werden  müssen. 

Delambre  bat  in  der  ausführlichen  Besprechung  der  Theoria  motus,  die 
er  in  der  Connaissance  des  temps  pour  Tan  J">12,  Paris,  juillet  1810,  ver- 
ötFentlicht  hat,  darauf  hingewiesen  (S.  451,  dass  er  jene  Formeln  schon  im 
Jahre  1807  bekannt  gemacht  habe'\  Er  fügt  hinzu:  »Quand  j'eus  trouve  ces 
formules,  j'en  cherchai  des  applications  qui  pouvaient  etre  vraiment  utiles; 
n'en  voyant  aucune  je  les  donnai  simplement  comme  curieuses«,  und  wieder- 
holt di'eimal,  dass  er  ihnen  die  XEPERschen  Analogien  vorziehe  S.  364,  370, 
.18  5).  Eine  Erfahrung  von  mehr  als  hundert  Jahren  hat  gezeigt,  dass  die 
»ÜELAMBRESchen  Gleichungen«  für-  die  Auflösung  der  sphärischen  Dreiecke 
wahrhaft  nützlich  sind""»;  im  Besonderen  werden  sie  in  der  Geodäsie  bei  der 
Berechnung  der  SoLONERschen  rechtwinklig -sphärischen  Koordinaten  ange- 
wandt*). 

Füi-  den  Legen  DREschen  Satz  von  der  Zurückfühnmg  eines  kleinen  sphä- 
rischen Dreiecks  auf  ein  ebenes  Dreieck  mit  eben  so  langen  Seiten  sei  auf 
den  fünften  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  i^Nr.  30)  verwiesen.  Hier  möge  nur 
noch  die  zierliche  Lösung  der  Aufgabe  erwähnt  werden,  den  Ort  der  Spitze 
eines  sphäi-ischen  Dreiecks  auf  gegebener  Grundseite  und  mit  gegebenem 
Inhalt  zu  finden,  die  Gauss  in  dem  Briefe  an  Schumacher  vom  6.  Januar  184  2 
entwickelt  hat  (W.  VIII,  S.  293).  Sie  gehört  in  die  Zeit  der  ).geometrischen 
Nachblüte«,  aus  der  die  Mehrzahl  der  Untersuchungen  herrührt,  über  die  in 
diesem  Abschnitt  berichtet  worden  ist. 


1)  Connaissance  des  temps  pour  Van  iso'j,  Paris  avril  1807,  S.  445.  Auch  Delambre  hat  die  For- 
meln ohne  Beweis  mitgeteilt.  Ein  Beweis  ist  zuerst  von  K.  B.  Mollweide  gegeben  worden,  der  die  For- 
meln selbständig  gefunden  hat,  Zusätse  zur  ebenen  und  sphärischen  Trigonometrie,  Monatliche  Correspondenz. 
Bd.  18,   1808,  S.  394.  ■ 

2,  Vgl.  E.  H.iMMEE,  Lehr-  und  Handbuch  der  ebenen  und  spMrischeti  Trigonometrie,  4.  Aufl.,  Stutt- 
gart  lal6,   S.  47'J,   4SI. 

3;  Vgl.  W.  JoRDAS,  Handbuch  der  Vermessungskunde,  Bd.  III,  4.  .\ufl.,  Stuttgart  isSd,  S.  259. 


11* 


84  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 


Abschnitt  V. 
Die  allgemeine  Lehre  von  den  krummen  Flächen. 

38. 
Entwicklung  der  Grundgedanken  bis  zum  Jahre    1816. 

Ähnlich  wie  im  17.  .Jahrhundert  aus  den  Bedürfnissen  der  Mechanik  die 
Inhnitesimalrechnung  hervorgegangen  ist,  verdankt  im  19.  Jahrhundert  die 
allgemeine  Lehre  von  den  krummen  Flächen  ihre  Entstehung  der  Geodäsie. 
In  beiden  Fällen  hat  sich  aus  der  angewandten  Mathematik  ein  neuer,  lebens- 
fähiger Zweig  der  reinen  Mathematik  losgelöst,  hat  ein  selbständiges  Dasein 
gewonnen  und  sich  zu  einem  ausgedehnten,  reich  gegliederten  Inbegriff  theo- 
retischer Untersuchungen  ausgestaltet. 

Die  Frage  nach  der  Gestalt  und  der  Grösse  der  Erde  hatte  die  Astro- 
nomen, Physiker  und  Mathematiker  während  des  18.  Jahrhunderts  lebhaft  be- 
schäftigt, ja  die  gi'ossen  Gradmessungen  in  Lappland  (1736 — 1737)  und  Peru 
(1735—1741)  hatten  die  Aufmerksamkeit  aller  Gebildeten  erregt.  Handelte 
es  sich  hier  um  einen  rein  wissenschaftlichen  Gegenstand,  so  gewann  die 
Geodäsie  bald  auch  praktische  Wichtigkeit.  Die  Einführung  des  metrischen 
Systems  veranlasste  die  Gradmessung  von  Mechain  und  Delambre  zwischen 
Dünkirchen  und  Barcelona  (1792  —  1798).  Dazu  kamen  die  Anforderungen 
der  Heeresführung  und  der  Steuerverwaltung,  die  eine  planmässige  Triangu- 
lierung  der  Staaten  nötig  machten.  Hand  in  Hand  mit  der  Ausdehnung  der 
geodätischen  Messungen  ging  die  Ausbildung  und  Verfeinerung  der  mathe- 
matischen Hilfsmittel. 

Im  Jahre  1816  hatte  Schumacher,  seit  1815  Leiter  der  Sternwarte  zu 
Altona,  vom  König  Friedrich  VI.  von  Dänemark  den  Auftrag  erhalten,  Grad- 
messungen im  Meridian  von  Skagen  bis  Lauenburg  und  im  Parallel  von 
Kopenhagen  bis  zur  Westküste  Jütlands  als  Grundlage  für  eine  spätere  Tri- 
angulierung  auszuführen.  Als  Schumacher  sogleich  bei  Gauss  anfragte,  ob  es 
sich  ermöglichen  Hesse,  den  Meridianbogen  durch  das  Königreich  Hannover 
fortzusetzen  und  so  den  Anschluss  au  die  Dreiecke  des  preussischen  General- 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON   DEN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  85 

Stabs  zu  gewinnen,  antwortete  dieser  am  5.  Juli  1816  mit  einer  bei  ihm  unge- 
wöhnlichen Wärme  des  Tones : 

»Vor  allen  Dingen  meinen  herzlichen  Glückwunsch  zu  der  herrlichen, 
grossen  Unternehmung,  die  Sie  mir  in  Ihrem  letzten  Briefe  ankündigen. 
Diese  Gradmessung  in  den  k.  dänischen  Staaten  wird  uns,  an  sich  schon, 
über  die  Gestalt  der  Erde  schöne  Aufschlüsse  geben.  Ich  zweifle  indessen 
gar  nicht,  dass  es  in  Zukunft  möglich  zu  machen  sein  wird,  Ihre  Messungen 
durch  das  Königreich  Hannover  südlich  fortzusetzen.  .  .  .  Über  die  Art,  die 
gemessenen  Dreiecke  im  Kalkül  zu  behandeln,  habe  ich  mir  eine  Methode 
entworfen,  die  aber  für  einen  Brief  viel  zu  weitläufig  würde.  In  Zukunft 
.  .  .  werde  ich  mit  Ihnen  darüber  ausführlich  konferieren:  ja  ich  erbiete 
mich,  die  Berechnung  der  Hauptdreiecke  selbst  auf  mich  zu  nehmen«  (W.  IX, 
S.  345). 

Dass  Gauss  Freude  an  geodätischen  Messungen  und  Rechnungen  hatte, 
lässt  sich  bis  in  die  Frühzeit  hinein  verfolgen.  Zum  Beispiel  beteiligte  er 
sich  im  August  und  September  180  3  an  den  Beobachtungen  der  Pulversignale, 
die  V.  Zach  auf  dem  Brocken  veranstaltete,  und  lieferte  um  dieselbe  Zeit 
Berechnungen  für  die  von  dem  preussischen  Generalmajor  v.  Lecoq  vorge- 
nommene trigonometrische  Aufnahme  Westfalens '). 

Als  Gauss  im  September  1812  v.  Zach  auf  der  Sternwarte  Seeberg  bei 
Gotha  besuchte,  fand  er  (T.  Nr.  142)  seine  Auflösung  der  Aufgabe,  die  An- 
ziehung eines  elliptischen  Sphäroids  zu  bestimmen,  die  er  1813  veröffentlicht 
hat  (W.  V,  S.  1).  In  der  Selbstanzeige  sagt  er,  die  Auflösung  sei  so  aus- 
führlich dargestellt,  um  sie  »auch  weniger  geübten  Lesern  verständlich  zu 
machen,  denen  diese  für  die  Gestalt  der  Erde  so  interessanten  Untersuchungen 
bisher  ganz  unzugänglich  waren«  (W   V,  S.  2 1  7). 

Dass  Gauss  sich  in  der  Zeit  zwischen  1812  und  1816  mit  der  Lehre  von 
den  kürzesten  Linien  auf  dem  elliptischen  Sphäroid  beschäftigt  hat,  zeigt  schon 
der  vorhin  angeführte  Brief  an  Schumacher  vom  5.  Juli  1816.  Dazu  kommen 
die  Briefe  an  Olijers  vom  13.  Januar  1821  (W.  IX,  S.  367)  und  an  Bessel 
vom  11.  März  1821  und  15.  November  1822  (Br.  G.-Bessel,  S.  380  und  410), 
in  denen  er  bemerkt,    er  habe    seine  Theorie   der  Behandlung   der  Messungen 

1)  Näheres  hierüber  findet  man  in  dem  Aufsati  von  A.  Galle  über  die  geodätischen  Arbeiten  von 
Gauss,  Werke  XI  a,  Abh.  3. 


86  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

auf  der  Oberfläche  der  Erde  schon  seit  geraumer  Zeit  entwickelt;  seine  An- 
deutungen lassen  erkennen,  dass  er  damit  das  in  den  artt.  1 1  und  1 6  der 
Untersuchunyen  über  Gegenstände  der  höheren  Geodäsie  (W.  IV,  S.  274  und 
286)  dargelegte  Verfahren  meinte.  Auch  erklärt  er  in  der  Selbstanzeige  der 
zweiten  Abhandlung  über  Gegenstände  der  höheren  Geodäsie  vom  28.  Sep- 
tember 1846:  »Der  Verfasser,  welcher  alle  diese  Untersuchungen  schon  vor 
mehr  als  dreissig  Jahren  zu  seinem  Privatgebrauch  durchgeführt  und  nur  bisher 
zur  Veröffentlichung  noch  keine  Veranlassung  gefunden  hatte  . . .«  (W.  IV,  S.  353). 
Gauss  hat  jedoch  damals  noch  mehr  besessen.  Er  kannte  zunächst  die 
in  dem  Brief  an  Schumacher  vom  21.  November  1825  (W^.  VIII,  S.  401)  er- 
wähnte Verallgemeinerung  des  LEGENDRESchen  Lehrsatzes  von  der  Zurück- 
führung  eines  kleinen  sphärischen  Dreiecks  auf  ein  ebenes  Dreieck  mit  eben 
so  langen  Seiten.  Ferner  wird  schon  in  §  10'  der  Theoria  attractionis  corporum 
.sphaeroidicorum  eUiptkorum  (1813)  auf  die  Lehre  von  der  Abbildung  der  krum- 
men Flächen  hingewiesen  (W.  V,  S.  14).  Im  Frühjahr  1816  hatte  Gauss  als 
Preisaufgabe  für  die  neue,  von  v.  Lindenau  und  Bohnenberger  begründete 
»Zeitschrift  für  Astronomie  und  verwandte  Wissenschaften«  die  Aufgabe  vorge- 
schlagen, zwei  krumme  Flächen  mit  Erhaltung  der  Ähnlichkeit  in  den  kleinsten 
Teilen  auf  einander  abzubilden ').  Der  Brief  an  Schumacher  vom  5.  Juli  1816 
W.  VIII,  S.  370)  beweist,  dass  er  ihre  Lösung  besass;  übrigens  hat  er  diese 
in  einer  gleichzeitig  niedergeschriebenen  Aufzeichnung  angegeben  (W.  VIII, 
S.  371).  Unmittelbar  darauf  folgt  (Handbuch  1  6  Bb,  S.  71)  das  »schöne  Theo- 
rem«, dass  einander  entsprechende  Stücke  von  Biegungsflächen,  wenn  sie  auf 
die  Himmelskugel  mittels  paralleler  Normalen  abgebildet  werden,  auf  der 
Kugel  Flächenstücke  gleichen  Inhalts  ergeben  (V^.  VIII,  S.  372).  Hierin  liegt 
die  Erhaltung  der  Gesamtkrümmung  eines  Flächenstückes  gegenüber  Biegungen. 
Aber  auch  der  Begrifl",  freilich  nicht  der  Name,  des  Krümmungsmasses  lässt 
sich  bis  in  die  Zeit  zwischen  1813  und  1816  zurückverfolgen,  denn  eine  Notiz 
aus  dieser  Zeit  bringt  den  Satz,  dass  bei  jener  Abbildung  auf  die  Kugel  vom 
Halbmesser  Eins  das  Verhältnis  des  Bildes  eines  Flächenelementes  zu  diesem 
selbst  gleich  dem  Produkte  der  Hauptkrümmungen  ist  (W^.  VIII,  S.  367). 


1)  Hierauf  beziehen  sich  die  Briefe  von  v.  Lindenau  an  Gauss  vom  is.  und  28.  Juni  1816  (Briefe  im 
GAUSS-Archiv) ;  die  Briefe  von  Gauss  an  v.  Lindenau  scheinen  vernichtet  worden  zu  sein,  vgl.  Br.  G.- 
BoLYAi,  S.  15B  (Brief  von  Sartorius  v.  Waltershausen  an  W.  Bolyai  vom  12.  August  iHsr,). 


niE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON  DEN  KRUMMEN  fLÄCHEN.  87 

Zusammenfassend  und  in  einigen  Punkten  ergänzend  kann  man  die  Ergeb- 
nisse aus  der  allgemeinen  Lehre  von  den  krummen  Flächen,  zu  denen  Gauss 
bis  zum  Jahre   1816  gelangt  war,  etwa  folgcndermassen  darstellen : 

1.  Auffassung  der  kartesischen  Koordinaten  eines  Punktes  einer  krummen 
Fläche  als  Funktionen  von  zwei  Hilfsgrössen  [Theoria  attractionis,  §  10,  W.  V, 
S.  1  4),  Abbildung  krummer  Flächen  (ebenda),  Abbildung  mittels  paralleler  Nor- 
malen auf  die  Kugel  vom  Halbmesser  Eins  (W.  VIII,  S.  367)^),  konforme  Ab- 
bildung zweier  krummer  Flächen  auf  einander  (W.  VIII,  S.  370). 

2.  x\b Wicklung  oder  Biegung  krummer  Flächen  als  besonderer  Fall  der 
Abbildimg;  Begriff  der  Gesamtkrümmung  eines  Flächenstücks,  Begriff  des 
einem  Punkte  der  Fläche  zugeordneten  Krümmungsmasses,  Erhaltung  des 
Krümmungsmasses  gegenüber  Biegungen  i^W.  VIII,  S.  376,   372  . 

3.  Die  Haupteigenschaften  der  kürzesten  Linien  auf  krummen  Flächen, 
genauere  Untersuchung  für  das  elliptische  Sphäroid  W.  IX,  S.  72  —  77),  Ver- 
allgemeinerung des  LEGENDRESchen  Theorems  auf  beliebige  Flächen  (W.  VIII, 
S.  401). 

Man  erkennt,  dass  bereits  in  der  Zeit  zwischen  1  S 1  2  und  1816  die  Funda- 
mente für  das  Gebäude  der  Disquisitiones  generales  gelegt  worden  sind.  Diese 
Leistung  tritt  jedoch  erst  in  das  rechte  Licht,  wenn  man  sich  die  gesamte 
Tätigkeit  von  Gauss  während  jenes  Zeitraumes  vergegenwärtigt. 

In  der  reinen  Mathematik  hatte  das  Jahr  J  8 1 2  mit  der  Veröffentlichmig 
des  ersten  Teiles  der  Untersuchungen  über  die  hypergeometrische  Reihe  be- 
gonnen (W.  III,  S.  123).  Im  Dezember  1815  und  im  Januar  1816  wurden 
der  Göttinger  Gesellschaft  die  beiden  neuen  Beweise  für  den  Fundamentalsatz 
der  Algebra  vorgelegt  (W.  III,  S.  31  und  r>7).  Für  die  Zahlentheorie  ist  die 
im  Februar  1817  vorgelegte  Abhandlung  über  die  quadratischen  Reste  zu 
nennen,  die  den  fünften  und  den  sechsten  Beweis  für  das  Reziprozitätsgesetz 
enthält  (W.  II,  S.  47);  auch  die  Lehre  von  den  biquadratischen  Resten  ist 
damals  gefördert  worden,  wie  aus  den  Briefen  an  Bessel  vom  23.  Dezember 
1816  (W.  Xi.  S.  76)  und  an  Dirichlet  vom  30.  Mai  1828  (W.  II,  S.  516) 
hervorgeht.  Aus  der  Geometrie  sind  die  Untersuchungen  zur  Flächentheorie 
bereits    erwähnt    worden.      Dazu     kommen    aus    dem    Jahre    1816    zwei    Be- 


ti  Die  Beziehung   der  Richtungen   im  Kaume  auf  die  Punkte  der  Einheitskugel  findet  sich  schon   in 
der  Scheda  Ac,  Varia,  begonnen  Nov.  1790,  S.  :). 


88  STÄCKEL,    GAUSS  AT,S  GEOMETER. 

sprechungen  von  Versuchen,  das  Parallelenaxiom  zu  beweisen  (W.  IV.  S.  363. 
VIII,  S.  170).  Wie  wir  gesehen  haben,  wusste  Gauss  hier  mehr,  als  er  öffent- 
lich auszusprechen  für  gut  fand;  er  war  gerade  damals  zur  nichteuklidischen 
Trigonometrie  durchgedrungen  (W.  VIII,  S.  176). 

Die  Abhandlung  über  die  mechanische  Quadratur  vom  1 6.  September 
1S14  bildet  den  Übergang  zur  angewandten  Mathematik  (W.  III,  S.  163).  In 
diese  selbst  gehört  die  Bestimmung  der  Anziehung  der  homogenen  elliptischen 
Sphäroide  vom  18.  März  1813  (W.  V,  S.  1).  Im  Anschluss  an  die  Beob- 
achtungen des  Kometen  vom  Jahre  1813  wurde  die  Theoria  motus  nach  der 
Seite  der  parabolischen  Bahnen  ergänzt;  die  betreffende  Abhandlung  ist  vor- 
gelegt am  lü.  September  1813  jW.  VI,  S.  25).  Ferner  sind  anzuführen  zahl- 
reiche, meistens  in  den  Göttinger  Anzeigen  veröffentlichte  astronomische  Rech- 
nungen und  Beobachtungen  ;W.  VI,  S.  354  —  392).  Die  Untersuchungen  aber, 
denen  Gauss  während  der  Zeit  von  1810  bis  1818  wohl  den  grössten  Teil 
seiner  Zeit  und  Kraft  gewidmet  hat,  die  Störungen  der  Pallas,  sind  nicht  ab- 
geschlossen worden;  erst  im  Jahre  1906  hat  Brendel  die  Bruchstücke  heraus- 
gegeben (W.  VII,  S.  4  39  —  600). 

»In  jener  Zeit«  schreibt  Sartorius  von  Waltershausen  (S.  50),  »schien 
ihm  keine  Anstrengung  des  Geistes  und  des  Körpers  zu  gross,  um  eine  Reihe 
von  Arbeiten  durchzuführen,  dazu  bestimmt,  die  AA^issenschaft  des  1 9.  Jahr- 
hunderts zu  reformieren  und  ihr  Fundamente  zu  unterbreiten,  deren  Festigkeit 
erst  von  künftigen  Geschlechtern  anerkannt  und  gewürdigt  werden  wird«. 

39. 

Die  Kopenhagener  Preisschrift  (1822). 

So  lebhaft  der  Anteil  war,  den  Gauss  an  den  Gradmessungen  nahm,  so 
warm  er  die  Nachricht  von  Schumachers  Unternehmen  begrüsst  hatte,  so  hat 
er  sich  doch  über  den  Vorschlag,  den  Meridian  durch  Hannover  fortzusetzen, 
zurückhaltend  geäussert.  »In  diesem  Augenblick«,  schreibt  er  am  5.  Juli  1816, 
»kann  ich  zwar  solchen  AVunsch  in  Hannover  noch  nicht  in  Anregung  bringen, 
da  erst  die  Astronomie  selbst  noch  so  grosser  Unterstützung  bedarf:  allein  ich 
bin  überzeugt,  dass  demnächst  unsere  Regierung,  die  auch  die  Wissenschaften 
gern  unterstützt,  dem  glorreichen  Beispiel  Ihres  trefflichen  Königs  folgen 
werde«  fW.  IX,  S.  34  5V     In   der  Tat   näherte   sich   zu    dieser  Zeit   der    lange 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON  DEN  KRUMMEN  FLÄfHEN.  89 

hingezogene  Neubau  der  Göttinger  Sternwarte  der  Vollendung,  und  Gauss  war 
im  April  und  Mai  181(3  in  München  gewesen,  um  mit  Reichenbach  und  Stein- 
heil wegen  der  neu  zu  beschaffenden  Messwerkzeuge  zu  verhandeln.  Im 
Herbst  des  Jahres  hat  er  dann  seinen  Einzug  in  die  Räume  gehalten,  die  er 
fast  40  Jahre  innehaben  sollte. 

Gaede  hat  auf  Grund  der  Akten  dargelegt,  wie  der  »welterfahrene  und 
geschäftsgewandte«  Schumacher  Br.  G.-Sch.  I,  S.  190)  in  jahrelangen  Ver- 
handlungen die  Schwierigkeiten  überwand,  die  sich  seinem  zum  »SoUizitieren« 
wenig  geneigten  und  geeigneten  Freunde  Br.  G.-Sch.  I,  S.  142)  entgegen- 
stellten, bis  dieser  endlicli  durch  die  Kabinettsordre  Georgs  IV.,  Königs  von 
England  und  Hannover,  vom  9.  Mai  1820  den  Auftrag  zur  Ausführung  der 
Gradmessung  erhielt ').  Die  Messungen  im  Felde  haben  fünf  Arbeitsjahre. 
1821  bis  1S2  5,  erfordert,  und  im  Frühjahr  1827  folgte  noch  die  astronomische 
Bestimmung  des  Breitenunterschiedes  der  Sternwarten  zu  Göttingen  und  zu 
Altena.  Nunmehr  wurde  durch  die  Kabinettsordre  vom  25.  März  1828  die 
Triangulation  des  ganzen  Königreichs  Hannover  befohlen,  und  Gauss  am 
14.  April  vom  Ministerium  mit  der  Leitung  beauftragt.  Wenn  er  auch  an 
den  Aufiiahmen  im  Feld  nicht  mehr  teilnahm,  so  erwuchs  ihm  doch  aus  den 
Messungsergebnissen  eine  giosse  und  öde  Rechenarbeit,  die  erst  mit  dem 
Jahre  1848  zum  Abschluss  gekommen  ist.  Wiederholt  hat  Gauss  beklagt, 
wie  sehr  er  dadurch  in  seinen  wissenschaftlichen  Untersuchungen  gehemmt 
werde.  »Gewiss  ist,  dass  wenn  meine  Lage  immer  die  nämliche  bleibt,  ich 
den  grössern  Teil  meiner  früheren  theoretischen  Arbeiten,  denen  noch,  der 
einen  mehr,  der  andern  weniger  an  der  Vollendung  fehlt,  und  die  von  solcher 
Art  sind,  dass  Vollendung  sich  nicht  erzwingen  lässt,  wenn  man  eben  will, 
mit  ins  Grab  nehmen  werde.  Denn  etwas  Unvollendetes  kann  imd  mag  ich 
einmal  nicht  geben«  Brief  an  Bessel  vom  15.  November  1822,  Br.  G.-Bessel 
8.  410  .  Nur  wer  sich  in  eine  solche  Lage  und  Stimmung  zu  versetzen  ver- 
mag, wird  verstehen,  wie  es  gekommen  ist,  dass  Gauss  nur  einen  Teil  seiner 
umfangreichen  Untersuchungen  über  die  allgemeine  Lehre  von  den  krummen 
Flächen  ausgearbeitet  und  bekanntgegeben  hat. 

Wir  verdanken  es  wiederum  Schumacher,    dass  Gauss  mit  der  Verötfent- 


r  Vgl.  Gaede,  Beiträge  zur  Kenntnis  von  Gauss'  praktisch-geodäti^ehen  Arbeite»,  Zeitschrift  für  Ver- 
measungswesen,  Bd.  u,   issö;  auch  als  besondere  Schrift,  Karlsruhe   isss  erschieuen. 

X'i  .\l)h.  1.  12 


90  STÄCKEl.,    GAUSS  A1,S  (iEOMETER.    ' 

lichung  seiner  Entdeckungen  einen  Anfang  machte.  Wie  schon  erwähnt 
wurde,  hatte  Gauss  in  dem  Briefe  vom  5.  Juli  1816  von  einer  Preisfrage  er- 
zählt, die  er  für  die  neue  astronomische  Zeitschrift  vorgeschlagen  hatte,  die 
aber  nicht  gewählt  worden  war.  »Mir  war  eine  interessante  Aufgabe  einge- 
fallen«, schreibt  er,  »nämlich:  allgemein  eine  gegebene  Fläche  so  auf  einer 
andern  (gegebenen)  zu  projizieren  (abzubilden,  dass  das  Bild  dem  Original  in 
den  kleinsten  Teilen  ähnlich  werde.  Ein  spezieller  Fall  ist,  wenn  die  erste 
Fläche  eine  Kugel,  die  zweite  eine  Ebene  ist.  Hier  sind  die  stcreographische 
und  die  merkatorische  Projektionen  partikuläre  Auflösungen.  Man  will  aber 
die  allgemeine  Auflösung,  worunter  alle  partikulären  begriffen  sind,  für 
jede  Arten  von  Flächen.  Es  soll  darüber  in  dem  Journal  philomathique  be- 
reits von  Monge  und  Poinsot  gearbeitet  sein  (wie  Bukckhakot-  an  Lindenau 
geschrieben  hat),  allein  da  ich  nicht  genau  weiss  wo,  so  habe  ich  noch  nicht 
nachsuchen  können  und  weiss  daher  nicht,  ob  jener  Herren  Auflösungen  ganz 
meiner  Idee  entsprechen  und  die  Sache  erschöpfen"  (W.  VHI,  S.  3  7o)'). 

Schumacher  benutzte  die  erste  sich  ihm  darbietende  Gelegenheit  und 
veranlasste,  dass  die  Kopenhagener  Sozietät  der  Wissenschaften  im  Jahre  1820 
für  1821  die  Preisaufgabe  stellte,  »generalitcr  superficiem  datara  in  alia  super- 
ficie  ita  exprimere,  ut  partes  minimae  imaginis  archetypo  fiant  similes«.  Nach- 
dem keine  Abhandlung  eingelaufen  war,  wurde  die  Aufgabe  für  1822  erneuert. 
Als  Schumacher  am  4.  Juni  1822  Gauss  daA'^on  ben.achriclitigtc  (Br.  G.-Sch.  I, 
S.  267,  antwortete  dieser  am  10.  Juni:  »Es  tut  mir  leid,  die  Wiederholung 
Ihrer  Preisfrage  erst  jetzt  zu  erfaliren  .  .  .  aber  so  lange  die  praktischen 
Messungsarbeiten  dieses  Jahres  dauern,  kann  ich  natürlich  an  eine  subtile 
theoretische  Ausarbeitung  gar  nicht  denken«  (Br.  G.-Sch.  1,  S.  270).  Am 
25.  November  d.  J.  fragte  er  bei  seinem  Freunde  an,  bis  wann  die  Preisarbeit 
eingesendet  werden  müsse  (Br.  G.-Sch.  I,  S.  293),  und  nachdem  dieser  erwiedert 
hatte,  bis  Ende  des  Jahres,  schickte  ihm  Gauss  am  I  I.  Dezember  1825  seine 
Ausarbeitung  (Br.  G.-Sch.  I,  S.  297).    Am  23.  Juli  1823  konnte  Gauss  melden, 

1)  Weder  in  dem  Bulletin  de  la  societe  philomathique  noch  in  den  sonstigen  Veröffentlichungen  von 
Monge  und  Poinsot  hat  sich  eine  auf  die  konforme  Abbildung  bezügliche  Stelle  finden  lassen.  '  Vielleiclit 
hat  BURCKHAKDT  an  PoissoNs  Note:  Sur  les  surfaces  elasliques  gedacht,  die  im  Bulletin,  ann6e  1814, 
S.  4  7  steht  und  in  deren  erstem  Teil  biegsame,  unausdehnbare  Flächen  betrachtet  werden.  Die  Note  ist 
ein  Auszug  aus  einer  Abhandlung,  die  PoissoN  am  l.  August  1814  gelesen  hatte  und  die  in  dem  zweiten 
Teil  der  MSmoires  de  l'Institut,  annee   ISI2,  Paris   isn;,  S.  ii!7    erschienen  ist. 


DIE  ALLGEMEINE   LEHRE  VON   DEiN"  KRLMMEJJ   FLÄCHEN.  91 

dass  er  den  Preis  erhalten  habe  Br.  G.-Sch.  I,  S.  317).  Da  die  Kopenhagener 
Gesellschaft  sich  mit  dem  Druck  der  gekrönten  Arbeiten  nicht  befasste,  ist 
die  Abhandlung  erst  1S25  im  dritten  und  letzten  Hefte  der  von  Schumacher 
herausgegebenen  Astronomischen  Abhandlungen  erschienen  ^W.  IV,  S.  189; 
vgl.  auch  Br.   G.-Sch.   II,  S.  5  —  7,  17,  22). 

Der  Begriff  der  Abbildung  steht  im  Mittelpunkt  der  GAUssschen  Lehre 
von  den  krummen  Flächen.  »Sie  haben  ganz  Recht«,  schreibt  Gauss  am 
II.  Dezember  1825  an  Hansen,  »dass  bei  allen  Kartenprojektionen  die  Ähn- 
lichkeit der  kleinsten  Teile  die  wesentliche  Bedingung  ist.  die  man  niu*  in 
ganz  speziellen  Fällen  und  Bedürfnissen  hintansetzen  darf.  Es  wäre  wohl 
zweckmässig,  den  Darstellungen,  die  jener  Bedingung  Genüge  leisten,  einen 
eigenen  Namen  zu  geben.  Inzwischen,  allgemein  betrachtet,  ist  sie  doch  nur 
eine  Unterabteilung  des  Generalbegiiffs  von  Darstellung  einer  Fläche  auf  einer 
andern,  die  in  der  Tat  gar  nichts  weiter  enthält,  als  dass  jedem  Punkt  der 
einen  nach  irgend  einem  stetigen  Gesetz  ein  Punkt  der  andern  korrespon- 
dieren soll.  Es  mag  wohl  etwas  Anstrengung  kosten,  sich  zu  diesem  allge- 
meinen Begriff  zu  erheben;  dann  aber  fühlt  man  sich  auch  wirklich  auf  einem 
hohem  Standpunkt,  wo  alles  in  vergrösserter  Klarheit  erscheint.  .  .  .  Man 
kann  leicht  zeigen,  dass,  wie  allgemein  dieser  Begiitf  sei,  doch  allemal  jeder 
unendlich  kleine  Teil  (mit  Ausnahme  der  Stellen  an  singulären  Punkten  oder 
Linien}  wahrhaft  perspektivisch  dargestellt  wii'd.  entweder  mit  völliger  Ähnlich- 
keit, so  wie  perspektivische  Darstellung  auf  pai-alleler  Tafel,  oder  mit  halber 
Ähnlichkeit,  in  der  in  einem  Sinn  eine  Verkürzung  statt  hat«  Brief  im  Gacss- 
Archiv). 

Für  die  xibbildungen,  bei  denen  vöUige  Ähnlichkeit  stattfindet,  hat  Gauss 
im  Jahre  1843  das  Beiwort  konform  vorgeschlagen  (W.  IV,  S.  262);  fiii-  den 
besonderen  Fall  der  Abbildung  des  Erdsphäroids  auf  die  Ebene  hatte  schon 
Schubert  [lliQ]  von  einer  projectio  conformis  gesprochen').  Den  Satz,  dass 
eine  beliebige  stetige  Abbildung,  von  singiüäreu  Stellen  abgesehen,  im  ün- 
endlichkleinen  projektiv  ist,  hat  wohl  Tissot  (1859'  zuerst  bekannt  gemacht-). 

Die   konforme    Abbildung;    hat   eine  Vors;eschichte.     Schon    die    Griechen 


i:  F.  Th.  Schtjbert,   De  projectione  Siihaeroidis  ellipticae  geographita,   Nova  acta  acad.  8c.  Petrop., 
t.  5  ad  annum  1787,  Petersburg  178»,  S.  I3d. 

2;  A.  TissüT,  kur  Ics  caiics  giographiques,  C.  K.  t.  4'j,  Paris  1S59,  S.  t>7:i. 

12* 


92  STÄCKEL,    liAUSS  ALS  GEOMETER. 

kannten  und  benutzten  die  stereogi'aphische  Projektion  der  Kugel  auf  die 
Ebene,  und  Gerhard  Mercator  1512  — 1594)  hatte  die  nach  ihm  benannte 
Abbildung  hinzugefügt.  Lambert  »^l  77  2)  war  dann  zu  dem  allgemeinen  BegiiH' 
solcher  Abbildungen  der  Kugel  auf  eine  Ebene  gelangt,  bei  denen  die  Ähn- 
lichkeit in  den  kleinsten  Teilen  erhalten  bleibt,  und  liatte  verschiedene  neue 
Projektionen  dieser  Art  angegeben,  die  noch  heute  bei  der  Herstellung  geo- 
graphischer Karten  verwendet  werden'). 

Lambert  hat  in  seiner  Abhandlung  auch  die  Formeln  für  die  allgemeine 
konforme  Abbildung  einer  Kugel  auf  eine  Ebene  mitgeteilt,  die  er  Lagrange 
verdankte.  Dieser  geht  aus  von  der  bekannten  Form  für  das  Quadrat  des 
Linienelementes  der  Kugel 

( 1  ds'  =  dp'  -f-  COS"  j) .  f/X*, 

die  er  durch  die  Substitution 

(2)  |i  =  logtang(4  5"  +  |/>) 
auf  die  Form 

(3)  dr  =  COS'  p  {dV  -\-  d[ir) 

bringt.  Die  Forderung,  dass  die  Kugel  konform  auf  die  .ry-Ebene  abgebildet 
werden  soll,  führt  nunmehr  zu  der  Gleichung 

4  dx'^  +  dy'  =  <f  (X,  fi)  {dV  -\-d\i-), 

die,  wie  die  von  Lagrange  bei  Untersuchungen  aus  der  Zahlentheorie  häutig 
benutzte  Identität 

(5)  {Ä'  +  B^{C'  +  D-]  =  {AD-Bq'  +  {AC  +  B]y)' 
zeigt,   erfüllt  ist,  wenn  mau 

(6)  dx  ^=^  ndX  —  md\i.     di/ ^==  md'k-\-tid[i 

setzt,  und  es  ist  daher,  wie  das  D'ALEMBERTsche  Verfahren  der  linearen  Ver- 
bindungen *)   erkennen  lässt,    x  -f  V—  l .  ^   eine  Funktion   von   X  -f-  V —  1  •  (a   und 

I)  J.  H.  Lambert,  Anmerkungen  und  Zusätze  zur  Entwerfung  der  Land-  und  Himmelscharfen, 
emchienen  in  den  Beyträgen  zum  Gehrauch  der  Mathematik,  :i.  Teil,  Berlin   n:'i.  S.  ms — mi. 

•.!)  Vgl.  P.  Stachel,  Beiträge  zur  Geschichte  der  lutnktioneiUhcmie  im  18.  Jahrhundert,  Bibliotheca 
innthem.  [:i},  2,   lliOl,  S.  11»  und   11:1. 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON   DEN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  93 

gleichzeitig  v  —  \J—  1 .  j/  eine  Funktion  von  X  —  V—  1  ■  |J-  Hieraus  ergeben  sich 
endlich  j;  und  i/  als  Funktionen  von  l  und  |x.  die  der  Gleichung  (4)  genügen. 

Bald  darauf  hat  Euler  in  einer  am  4.  September  177  5  der  Petersburger 
Akademie  vorgelegten,  17  78  veröffentlichten  Abhandlung  denselben  Gegen- 
stand behandelt '  .  Er  vermeidet  den  Kunstgi-ift",  die  Identität  (5)  heranzuziehen, 
und  gewinnt  die  Gleichungen  6  oder  doch  mit  ihnen  gleichbedeutende  Glei- 
chungen unmittelbar  aus  der  Forderung  der  Ähnlichkeit  in  den  kleinsten 
Teilen.  Damit  ist  zugleich  bewiesen,  dass  das  Bestehen  der  Gleichungen  (6) 
nicht  nur,  wie  bei  Lagrange,  hinreichend,  sondern  auch  notwendig  ist.  Wäh- 
rend ferner  Lambert  aus  den  Formeln  von  Lagrange  keinen  Nutzen  gezogen 
hatte,  gelingt  es  Euler,  mit  ihrer  Hilfe  besondere  Lösungen  der  Aufgabe 
herzuleiten. 

Ein  Blick  auf  die  vorstehenden  Fonneln  lässt  erkennen,  dass  das  Ver- 
fahren von  Lagrange  und  Euler  sich  ohne  weiteres  auf  den  allgemeineren 
Fall  übertragen  lässt,  wo  das  Quadrat  des  Linienelementes  der  krummen  Fläche, 
die  konform  auf  die  Ebene  abgebildet  werden  soll,  auf  die  Gestalt 

(7)  ds-  =  <!^  (X,  ji)  {dX-  -\-  d\i^) 

gebracht  werden  kann.  Für  die  Drehflächen,  bei  denen  vermöge  der  Meri- 
diane und  Parallelkreise 

(8j  ds-  =  dp'  -{-  G{p)d)c 

ist,  gelingt  das  sofort  durch  die  Substitution 

Auf  diese  Weise  ist  Lagrange  1781  zu  den  allgemeinen  Formeln  für  die 
konforme  Abbildung  einer  Drehfläche  auf  eine  Ebene  gelangt;  er  hat  davon 
schöne  Anwendungen  gemacht*). 

Der  Fortschritt,  den  Gauss  in  der  Preisschrift  vom  Jahre  1S22  gemacht 
hat,  liegt  darin,  ,  dass  er  zeigte,  wie  man  bei  einer  beliebigen  reellen 
krummen  Fläche,  bei  der  das  Quadrat  des  Linienelements  in  der  allgemeinen 


1,  L.  EüLEB,  De  repraesentaiione  superficiei  sphaericae  stiper  piano,  Acta  acad.  sc.  Petroj).  t.  i  pro 
anno   1777  ;  I,   1778,  S.  107. 

2)  J.  L.  Lageange,  Swr  la  construction  des  cartes  geographiques,  Nouv.  M6m.  de  l'.\cad.,  annee  1779, 
Berlin   I7»l,  S.  I6I,  186;  Oeuvres,  t.  4,  S.  635. 


94  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Form 

( 1 0)  ds-  =  Edp-  +  2  Fdp  dq-}-G  dq' 

gegeben  ist,  die  besondere  Form 
(l  1)  ds-  =  '^  (X,  ix)  {dV  +  rffi-) 

herstellen  kann.     Dies  geschieht,  indem  die  Gleichung 
(12)  (//  =  0 

integriert  wird,  oder  was  auf  dasselbe  hinauskommt,  indem  für  zwei  konjugiert 
komplexe  lineare  Differentialformen,  deren  Produkt  ds'  ist,  die  ebenfalls  kon- 
jugiert komplexen  EuLERSchen  Multiplikatoren  ermittelt  werden.  Damit  aber 
erhält  man  zugleich  die  allgemeine  konforme  Abbildung  der  gegebenen 
krummen  Fläche  auf  die  Ebene,  sodass  es  des  Verfahrens  von  Lagrange  gar 
nicht  mehr  bedarf,  und  während  bei  Lagrange  das  Imaginäre  nur  formal  als 
Mittel  zur  Integi-ation  der  Gleichungen  (6)  auftrat,  ist  jetzt  durch  die  Gleichung 
ds^  =  0  der  wahre  Grund  für  das  Auftreten  von  Funktionen  komplexer  Grössen 
aufgedeckt. 

Wer  sich  der  hier  dargelegten  Auffassung  anschliesst,  wird  dem  Urteil 
Jacobis  nicht  beipflichten  können,  dass  »der  LAORANGESchen  Arbeit  nur  wenig 
hinzuzusetzen  war«'i.  Jacobi  hat  auch  beanstandet,  dass  Gauss  diese  Arbeit 
nicht  erwähnt  habe;  allein  Gauss  ist  überhaupt  nicht  auf  die  Geschichte  der 
konformen  Abbildung  eingegangen,  ebenso  wie  sich  auch  Euler  aller  An- 
führungen enthalten  hatte. 

30. 

Vorarbeiten  zu  den  Allgemeinen  Untersuchungen 
über  die  krummen  Flächen  (1822  —  1825). 
Gauss  hatte  der  Kopenhagener  Preisschrift  als  Kennwort  den  Ausspruch 
Newtons  mitgegeben:  Ab  his  via  sternitur  ad  maiora;  diese  Worte  bilden 
den  Schluss  der  1704  als  Anhang  zur  Optik  veröffentlichten  Abhandlung  De 
quadratura  curvarum,  in  der  Newton  ältere  Untersuchungen  bekannt  gab,  die 
ihn  zur  Fluxionsrechnung  geführt  hatten'). 


1)  C.  G.  Jacobi,   Vorlesungen  über  Dynamik,   gehalten  im  W.-S.   is42;43,    2.  Ausgabe,    Berlin   is84, 
S.  215;  vgl.  auch  Br.  G.-ScH.,  III,  S.  173,  der  beim  Abdruck  unterdrückte  Name  ist  v.  LiTTROW. 

2)  J.  Newton,    Opuscula  mathematica,  rec.  I.  Castillioneus,  vol.  i,  Lausanne  und  Genf  174  4,  S.  244|; 
es  heisst  wörtlich:   "Et  his  principiis  via  ad  maiora  sternitur'  . 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON  DEN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  95 

Was  waren  die  grösseren  Dinge,  zu  denen  diu  konforme  Abbildung  den 
Weg  bahnte?  Eine  Andeutung  findet  man  im  Art.  4  der  Preisschrift:  »Wenn 
überdies  [das  Vergrösserungsverhältnis  bei  der  Abbildung]  m  =  1  ist,  wird  eine 
vollkommene  Gleichheit  i^der  einander  entsprechenden  Linienelemente]  statt- 
finden, und  die  eine  Fläche  sich  auf  die  andere  abwickeln  lassen«  (W.  IV, 
S.  195  .  Dass  die  Lehre  von  der  Abwicklung  oder  Biegung  der  krummen 
Flächen  gemeint  war,  beweist  eine  Aufzeichnung,  die  Gauss  am  13.  Dezember 
1822,  zwei  Tage,  nachdem  er  die  Beantwortung  der  Preisfrage  an  Schumacher 
abgesandt  hatte,  begonnen  und  am  15.  Dezember  beendet  hat  W.  VIII, 
S.  374  —  3841  Sie  führt  den  Titel:  Stand  meiner  Untersuchung  über  die 
Umformung  der  Flächen  und  zeigt,  dass  er  damals  für  den  besonderen  Fall, 
wo  das  Quadrat  des  Linienelementes  vermöge  der  konformen  Abbildung  auf 
die  Form 

(1)  ds'-  =  m  [dp'  +  dq'\ 

gebracht  ist,  die  Rechnungen  durchgeführt  hat,  die  sich  für  den  allgemeinen 
Fall,  wo 

(2)  ds-  =  Edf  +  2  Fdp  dq  +  Gd^ 

ist,  in  den  Artt.  9  und  10  der  Disq.  gen.  finden.  Das  Endergebnis  besteht  in 
dem  Lehrsatz,  dass  das  Ki-ümmungsmass  der  Fläche  allein  durch  die  Funktion 
m  j},  q)  und  deren  erste  und  zweite  partielle  Ableitungen  nach  ;;  und  q  aus- 
gedrückt werden  kann.  Hieraus  folgt  sogleich,  dass  das  Krümmungsmass  bei 
den  Biegungen  einer  Fläche  erhalten  bleibt. 

Wir  haben  gesehen,  dass  Gauss  das  »schöne  Theorem«  von  der  Erhaltung 
des  Krümmuugsmasses  oder  genauer  von  der  Erhaltung  der  Gesamtkrünimimg 
solcher  Flächenstücke,  die  durch  Biegung  aus  einander  hervorgehen,  bereits 
im  Jahre  1816  besass.  A^'enn  man  annimmt,  dass  er  den  vorstehenden  aus 
der  konformen  Abbildung  tiiessenden  Beweis,  der  in  der  Aufzeichnung 
vom  Dezember  1822  als  Ziel  der  Untersuchung  erscheint,  in  der  Zeit  zwischen 
1816  und  1S22  gefunden  hat,  so  entsteht  die  Frage,  welches  die  ursprüngliche 
Quelle  für  das  Theorem  gewesen  ist.  Aufzeichnungen  aus  der  Zeit  vor  1S16, 
die  sich  darauf  beziehen,  sind  nicht  vorhanden,  es  lässt  sich  jedoch  sehr  wahr- 
scheinlich machen,  dass  die  Lehre  von  den  kürzesten  Linien  auf  krummen 
Flächen  den  Zugang  eröffnet  hat. 


96  8TÄCKEL,    GAUSS  AI-S  GEOMETER. 

Die  stärksten  Gründe  für  diese  Beliauptung-  ergeben  sicli  aus  einem  ersten 
Entwürfe  der  Bisq.  gen.,  der  den  Titel  führt:  »Neue  allyemetne  Unter.suc/iini(/m 
über  die  krummen  Flärhenv  und  der  aus  den  letzten  Monaten  des  Jahres  182  5 
stammt  W.  VllI,  S.  40S  —  442;.  Es  empfiehlt  sich  daher,  zunächst  die  Ent- 
stehung dieses  Entwurfs  zu  schildern  und  jene  Frage  im  Zusammenliang  mit 
dem  Bericht  über  dessen  Inhalt  zu  erörtern. 

Schon  am  28.  Juli  1823  hatte  Gauss,  an  die  kürzlich  erfolgte  Erteilung 
des  Kopenhagener  Preises  anknüpfend,  zu  Oi.bers  bemerkt:  »Sollte  ich  in 
diesem  Leben  noch  einmal  in  eine  dem  Arbeiten  günstigere  Eago  kommen, 
so  werde  ich  diese  Abhandlung  |die  Preisschrift]  mit  als  Teil  einer  viel  aus- 
gedehnteren Untersuchung  verarbeiten»  (Er.  G. -()..  2,  S  252).  Er  meinte 
damit  ein  grösseres,  die  Theorie  und  die  Praxis  der  höheren  Geodäsie  be- 
handelndes Werk.  Ein  solcher  Plan  wird  ausdrücklich  in  dem  Brief  an  Oi.- 
BERS  vom  9.  Oktober  1825  erwähnt.  »Ich  habe  dieser  Tage  angefangen,  in 
Beziehung  auf  mein  künftiges  Werk  über  Höhere  Geodäsie  einen  (sehr)  kleinen 
Teil  dessen,  was  die  krummen  Flächen  betrifft,  in  Gedanken  etwas  zu  ordnen. 
Allein  ich  überzeuge  mich,  dass  ich  bei  der  Eigentümlichkeit  meiner  ganzen 
Behandlung  des  Zusammenhanges  wegen  gezwungen  bin,  sehr  weit  aus- 
zuholen, sodass  ich  sogar  meine  Ansicht  über  die  Krümmungshalbmesser 
bei  planen  Kurven  vorausschicken  muss.  Ich  bin  darüber  fast  zweifelhaft 
geworden,  ob  es  nicht  geratener  sein  wird,  einen  Teil  dieser  Lehren,  der  ganz 
rein  geometrisch  (in  analytischer  Form;  ist  und  Neues  mit  Bekanntem  gemischt 
in  neuer  Form  enthält,  erst  besonders  auszuarbeiten,  es  vielleicht  von  dem 
Werke  abzutrennen  und  als  eine  oder  zwei  Abhandlungen  in  unsere  Commen- 
tationen  einzurücken.  Indessen  kann  ich  noch  vorerst  die  Form  der  Bekannt- 
machung auf  sich  beruhen  lassen  und  werde  einstweilen  in  dem  zu  Papier 
bringen  fortfahren«  (W.  VIII,  S.  39  7,  IX,  S.  3  76)'). 

Die  Briefe  an  Schumacher  vom  21.  November  1825   (W.  VIII,  S.  400)  und 
an  Hansen  vom  11.  Dezember  1825    Brief  im  GAUSS-Archivj  zeigen,  dass  Gauss 
bis   gegen  Ende   des  Jahres   an    dem   Entwurf  gearbeitet   hat.     Mit    der  Dar- 
stellung des  Krümmungsmasses  bei  geodätischen  Polarkoordinaten,  für  die 
(3)  ds-  =  dp-  -|-  G dq' 

1)  Vgl.  auch  den  Brief  an  Pfaff  vom  21.  März  1S25;  "Nach  Beendigung  der  Messungen  werde  ich 
darüber  ein  eigenes  Werk,  vermutlich  von  bedeutender  Ausdehnung,  ausarbeiten«    W.  X  1,  S.  2.'iuj. 


DIE   ALLGEMEINE  LEHRE  VON   DEN   KRÜMMEN    FLÄCHEN.  97 

wird,  hat  cm'  abgebrochen,  angensc^heinlicli,  weil  er  jetzt  erkannte,  dass  es 
möglich  sei,  eine  entsprechende  Formel  für  di(>  allgemeine  Form  2)  des  Qua- 
drats des  Linienelementes  aufzustellen.  Bei  der  wirklichen  Durchführung 
dieses  Gedankens,  an  die  er  sogleich  ging,  ist  Gauss  auf  grosse  Schwierig- 
keiten gestossen.  Er  hat  sie  erst  im  Herbst  ]S2(i  überwunden.  Hierüber 
wird  in  der  nächsten  Numnu-r  berichtet  werden,  in  dieser  Nummer  wenden 
wir  uns  zu  den  Neuen  aUffemeinen    Untersuchungen. 

Wie  Gauss  in  dem  Brief  an  Olbers  vom  it.  Oktober  1825  angekündigt 
hatte,  beginnen  die  Neuen  allgemeinen  Untersuchungen  über  die  krummen  Flächen 
mit  den  ihm  eigentümlichen  Ansichten  über  die  Krümmung  ebener  Kurven 
(artt.  1  —  6).  Zwei  Punkte  sind  dabei  wesentlich,  erstens  dass  er  gerichtete 
Gerade  einführt  und  so  die  Frage  der  Vorzeichen  klärt,  zweitens,  dass  die 
Krümmung  der  Kurven  mittels  derjenigen  Abbildung  auf  den  Kreis  vom 
Halbmesser  Eins  eingeführt  wird,  bei  der  Punkte  mit  parallelen  Normalen 
einander  entsprechen. 

Zum  Räume  übergehend  bringt  Gauss  zunächst  lartt.  7  —  8j  sieben  ein- 
leitende Sätze,  die  sjjäter  in  die  artt.  1,  2  und  4  der  Disq.  gen.  aufgenommen 
worden  sind;  sie  dienen  dazu,  die  Abbildung  der  krummen  Fläche  auf  die 
Kugel  vom  Halbmesser  Eins  mittels  paralleler  Normalen  vorzubereiten.  Das 
vorletzte  Theorem  ist  neu;  es  findet  sich  auch  im  Handbuch  1  9  Be,  S.  78  und 
stammt  aus  der  Zeit  um    1810. 

Es  folgt  (artt.  9  —  11)  die  Untersuchung  des  Verhaltens  einer  krummen 
Fläche  in  der  Umgebung  eines  regulären  Punktes.  Gauss  benutzt  hier  nicht 
wie  in  den  Bisq.  gen.  (art.  8)  das  Verfahren  der  Reihenentwicklung,  sondern 
betrachtet  die  Schnittkurven  der  Fläche  mit  dem  Büschel  der  diurch  den  be- 
trachteten Punkt  gehenden  Ebenen :  er  gelangt  daher  liier  auch  zu  dem  Satze 
von  Meusnier,  der  in  den  Disq.  gen.  nicht  vorkommt. 

Am  Schluss  des  art.  1  I  wird  die  Abbildung  der  krummen  Fläche  auf  die 
Einheitskugel  mittels  paralleler  Normalen  gelehrt.  Von  hier  aus  gelangt  man, 
in  Verallgemeinerung  der  bei  den  ebenen  Kurven  angestellten  Überlegungen, 
zu  den  Begriffen  der  Gesamtkrümniung  eines  Flächenstückes  und  des  Krüm- 
mungsmasses,  das  einem  Flächenpunkte  zugeordnet  ist.  Die  einem  Flächen- 
stück entsprechende  Area  auf  der  Einheitskugel  wird  hier  noch  nicht  als 
deren  Gesamtkrümmung   bezeichnet.     Dieser  Name   ist   also   wohl   erst   später 

X2    Abh.  4.  13 


98  STÄCKEL.    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

entstanden.  In  dem  Brief  an  Oi.bers  vom  20.  Oktober  1825  sagt  Gauss, 
seine  Untersuchungen  bezögen  sich  auf  eine  Menge  von  Gegenständen,  die 
er  nicht  anführen  könne,  »weil  die  Begriffe  davon  nicht  gangbar  sind  und 
selbst  noch  keine  Namen  dafür  existieren«  (Br.  G. -O.  2,  S.  431,  W.  VIII, 
S.  398'.  Endlich  Avird  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Krümmungsmass  und 
den  beiden  Hauptkrümmungen  entwickelt. 

Im  Unterschied  gegen  die  Disq.  gen.  wendet  sich  Gauss  nunmehr  sogleicli 
zu  den  kürzesten  Linien,  die  auf  der  betrachteten  krummen  Fläche  liegen, 
und  geht  hier  auch  auf  ganz  andere  Art  vor  als  dort. 

Die  Aufgabe,  zwei  gegebene  Punkte  einer  krummen  Fläche  durch  die 
kürzeste  Linie  zu  verbinden,  war  160  7  von  Johann  Bernoulu  den  Geometem 
gestellt  worden',  aber  erst  1732  hatte  Euler  eine  Lösung  veröffentlicht'); 
Bernoulli  gab  sein  Verfahren  17  42  bekannt*.  Im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts 
wiu-den  besonders  die  kürzesten  Linien  auf  dem  elliptischen  Sphäroide  unter- 
sucht, weil  sie  für  die  Geodäsie  wichtig  waren.  Diese  Kurven  wurden  daher 
als  geodätische  Linien  bezeichnet ;  erst  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  ist 
es  üblich  geworden,  bei  beliebigen  krummen  Flächen  von  geodätischen  Linien 
zu  sprechen*. 

Gauss  war,  wie  wir  gesehen  haben  ;S.  85,  schon  vor  1816  damit  be- 
schäftigt gewesen,  die  Lehre  von  den  kürzesten  Linien  des  Sphäroides  für  die 
/wecke  der  Geodäsie  auszubauen.  Er  hat  sich  aber  damals  auch  schon  mit 
den  kürzesten  Linien  auf  beliebigen  krummen  Flächen  beschäftigt,  denn  in 
dem  Briefe  an  Schumacher  vom  21.  November  1825  schreibt  er,  seine  allge- 
meinen Untersuchungen  über  die  krummen  Flächen  seien  durch  manchen 
glücklichen  Fund  belohnt  worden.  »So  habe  ich  zum  Beispiel  die  Generali- 
sierung des  LEGENDREschen  Theorems,  dass  auf  der  Kugel  die  Seiten  [eines 
kleinen  sphärischen  Dreiecks]  proxime  den  Sinus  der  um  l  des  sphärischen 
Exzesses  verminderten  Winkel  proportional  sind,    auf  krumme  Flächen  jeder 

1)  JOH.  Beenoulu,  Journal  des  savants,  ann6e  1697,  S.  VM,  Opera  omnia,  Lausanne  1742,  1. 1,  S.  2o4. 

2)  L.  Eur.ER,  De  linea  hremssima  in  superßcie  quacunqtte  duo  quaelibä  puncla  iungente,  Comment. 
acad    sc.  Petrop.  t.  3  (1728),   17.12,  S.  im. 

X)  Joe.  Bernoulli,  In  superficie  quacuntjue  ctiVBa  ducere  Hneam  inter  duo  pmtcta  brevissimam, 
Opera  omnia,  Lausanne  1742,  t.  IV,  S.  tos. 

4)  Vgl.  P.  Stäckel,   Bemerkungen  ztir  Geschichte  der  geodätischen  Linien,  Leipziger  Berichte,  1893, 

S.  444. 


DIE  ALLGEMELNE   LEHRE   VON   DEN   KRLMMEN   FI.ÄCHEN.  99 

Art  ;wo  die  Verteilung  ungleich  geschehen  inuss ,  welche  ich  der  Materie 
nach  schon  seit  vielen  Jahren  besessen,  aber  noch  nicht  zu  möglicher  Mit- 
teilung an  andere  entwickelt  hatte,  jetzt  auf  eine  überaus  elegante  Gestalt 
gebracht«  W.  VIII,  S.  4  00;  vgl.  auch  den  Brief  an  ülbers  vom  20.  Oktober 
1825,  Br.  G.-C).  2,  S.  431,  W.  VIII,  S.  399;.  In  einer  gleichzeitig  nieder- 
geschriebenen Aufzeichnung  hat  G.\uss  sein  Verfahren  angedeutet  W.  \III, 
S.  401 — 405;;  jene  ungleiche  Verteilung  wii-d  danach  bedingt  durch  die  Werte, 
die  dem  Krümmungsmass  der  Fläche  in  den  Eckpunkten  des  Dreiecks  zu- 
kommen. 

Legendre  hatte  sein  Theorem  von  der  Zurückführung  eines  kleinen  sphä- 
rischen Dreiecks  auf  ein  ebenes  Dreieck  mit  Seiten  derselben  Länge  17S9 
ohne  Beweis  bekanntgemacht'    und  den  Beweis   1798  nachgeholt'. 

Bei  einer  A'erallgemeinerung  auf  geodätische  Dreiecke  beliebiger  krummer 
Flächen  musste  der  erste  Sehritt  sein,  die  Winkelsumme  eines  solchen  Drei- 
ecks zu  ermitteln,  und  nun  sehen  wir,  dass  Gauss  in  den  Neuen  allgemeine)! 
Untersuchungen,  zu  denen  wir  hiermit  zurückkehren,  nachdem  er  bewiesen 
hat,  dass  für-  jeden  Punkt  einer  kürzesten  Linie  die  Schmiegungsebene  die 
beti'effende  Flächennormale  in  sich  enthält  art.  12,  sogleich  zu  dem  Satze 
übergeht,  dass  die  Summe  der  Winkel  eines  geodätischen  Dreiecks  von  zwei 
Rechten  um  einen  Betrag  abweicht,  der  durch  den  Inhalt  des  entsprechenden 
Dreiecks  auf  der  Einheitskugel  gegeben  yroiä.  wenn  man  deren  Obei-fläche 
gleich  acht  Rechten  setzt. 

Gauss  schreibt  am  21.  November  1825,  er  habe  die  Generalisierung  des 
LEGENDRESchen  Theorems  schon  seit  \delen  Jahren  besessen.  Man  wird  daher 
annehmen  dürfen,  dass  er  die  ersten  Schritte  dazu  schon  vor  1 S 1 6  gemacht 
hatte,    dass  er  also  schon    damals   den  Satz  von  der  Winkelsumme  eines  geo- 


1)  A.  M.  Legendre.  Memoire  sur  les  Operations  trigonometriques  dont  les  resultats  dependent  de  la 
figure  de  la  terre,  Hiatoire  de  l'Acad.,  annee  i;8T,  Paris   17S9,  Memoires,  S.  358. 

2;  A.  M.  Legendre,  Resolution  des  triatigles  splteriques  dont  les  cotes  sont  tres-pettts,  potir  la  deter- 
minatioti  d'un  arc  de  meridien,  Note  III  des  Werkes  ron  Delambre,  Methodes  analytiques  pour  la  deter- 
mination  d'un  arc  de  meridien,  Paris,  an  VIII :  kurz  darauf  erschien  im  Journal  de  l'ficole  polytechnique 
ein  Beweis  von  Lagraxge,  Solutions  de  quelques  2)roblenies  relatifs  atix  trinttgles  sphcriques,  t.  II,  cah.  6, 
Paris  1798,  S.  270;  Oeuvres,  t.  ",  S.  329.  Der  Merkwürdigkeit  wegen  sei  hier  auf  die  anmassende  Kritik 
hingewiesen,  die  Kaestser  in  seinen  Geometrischen  Ablumdlwigen,  2.  Sammlung,  Göttingen  iTüi,  S.  456 — 
•»5S  an  dem  LEGENDREschen  Theorem  geübt  hat,  vielleicht  hat  sie  zu  dem  geringschätiigen  Urteil  beigetragen, 
das  Gauss  über  Kaestser  als  Mathematiker  gelallt  hat. 

13* 


100  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

dätischen  Dreiecks  besass.  zu  dessen  Heiieituug  die  Kenntnis  der  einfachsten 
Eigenschaften  der  kürzesten  Linien  genügt,  sobald  man  den  genialen  Ge- 
danken der  Abbildung  mittels  paralleler  Normalen  gefasst  hat;  die  Beziehung 
der  Richtungen  im  llaume  auf  die  Einheitskugel  liat  Gauss  aber  schon  im 
Jahre  1799  besessen,  das  zeigt  die  bereits  S.  87  erwähnte  Aufzeichnung  vom 
November  1799.  Wir  wissen  ferner,  dass  er  schon  vor  1816  die  Biegung 
krummer  Flächen  betrachtet  und  nacli  Kennzeichen  dafür  gefragt  hatte,  dass 
zwei  gegebene  Flächen  durch  Biegung  aus  einander  hervorgehen  (W.  VIII, 
S.  372  .  Bei  der  Biegung  entsteht  aber  aus  einem  geodätischen  Dreieck 
wieder  ein  geodätisches  Dreieck  mit  denselben  Winkeln,  es  bleibt  also  die 
Winkelsumme  erhalten  und  damit  auch  die  Grösse  der  Area,  die  dem  geo- 
dätischen Dreieck  auf  der  Einheitskugel  bei  der  Abbildung  mittels  paralleler 
Normalen  entspricht.  Denkt  man  sich  also  ein  beliebiges  Flächenstück  in 
geodätische  Elementardreiecke  (Triangulation)  zerlegt,  so  folgt,  dass  bei  der 
Biegung  irgend  welchen  einander  entsprechenden  Flächenstücken  gleich  grosse 
Flächenstücke  auf  der  Einheitskugel  zugeordnet  werden,  und  das  ist  genau 
das  »schöne  Theorem«.  Wird  schliesslich,  damit  man  zu  einer  Funktion  des 
Ortes  auf  der  Fläche  gelangt,  in  naturgemässer  Verallgemeinerung  des  Be- 
griffes der  Krümmung  bei  Kurven  das  Krümmungsmass  bei  Flächen  als  der 
Grenzwert  erklärt,  dem  das  Verhältnis  der  Area  auf  der  Einheitskugel  zu 
dem  entsprechenden  Flächenstück  zustrebt,  wenn  dieses  auf  den  betrachteten 
Punkt  zusammenschrumpft,  so  ergibt  sich  »der  wichtige  Lehrsatz,  dass  bei  der 
Übertragung  der  Flächen  durch  Abwicklung  das  Krümmungsmass  an  jeder 
Stelle  unverändert  bleibt«,  und  das  ist  das  Endergebnis  der  Entwicklungen  in 
den  artt.  1  :$ — 16  der  Neuen  allgemeinen  Untersuchungen.  Die  hier  gegebene 
Herleitung  wird  man  mithin  als  die  ursprüngliche,  vor  1816  gefundene,  da- 
gegen die  Herleitung  aus  der  Form  (!)  des  Quadrates  des  Linienelements  als 
die  spätere,  zwischen   1816   und   1825  entstandene  anzusehen  haben. 

Es  folgt  der  Beweis  des  Satzes,  dass  der  Ort  der  Punkte  gleicher  geo- 
dätischer Entfernung  von  einem  Punkte  der  Fläche  eine  Kurve  ist,  die  alle 
von  dem  Punkte  ausgehenden  geodätischen  Linien  unter  rechtem  Winkel 
schneidet  'art.  17  ,  und  den  Schluss  des  liUtwurfes  bildet  der  Satz,  dass  bei 
Einfiihrung  geodätischer  Polarkoordinaten,  die  dem  Quadrate  des  Linien- 
elements   die    Gestalt     :$;    verleihen,    das    Krümmungsmass    allein    durch    die 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON  DEN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  101 

Funktion    G  yp,  q,    und   deren   erste   und   zweite   partielle    Ableitungen   nach  p 
und  q  ausgedrückt  werden  kann   'art.  18. 

Damit  war  ein  dritter  Beweis  für  die  Erhaltung  des  Krümmungsmasses 
gegenüber  Biegungen  gefunden.  Was  aber  bei  den  beiden  besonderen  For- 
men (1)  und  (3)  des  Linienelementes  gelungen  war,  musste  auch  für  die  allge- 
meine Form  (2  gelten,  das  heisst,  es  musste  möglich  sein,  das  Krümmungs- 
mass  allein  durch  die  P'unktionen  E\p,q),  F[p,q;,  G'p,q)  und  deren  erste  und 
zweite  partielle  Ableitungen  auszudrücken.  So  lange  das  nicht  geleistet  war, 
hatte  die  Lehre  vom  Krümmungsmass  keine  befriedigende  Gestalt  gewonnen, 
und  daher  hat  Gauss  Ende  182  5  den  Entwurf  beiseite  gelegt,  »nil  fecisse 
putans.  si  quid  superesset  agendum«. 


31. 

Die  Entstehunng  der  Disquisitiones  generales  circa  superficies 

curvas  (1826  —  1827). 

Nur  nach  langem,  hartem  Ringen  hat  Gauss  das  Ziel  erreicht,  das  er 
sich  Ende  1825  gestellt  hatte,  die  Lehre  von  den  krummen  Flächen  in  voller 
Allgemeinheit  zu  begründen.  Am  19.  Februar  1826  schreibt  er  an  ülbers: 
»Ich  wüsste  kaum  eine  Periode  meines  Lebens,  wo  ich  bei  so  angestrengter 
Arbeit  wie  in  diesem  Winter  doch  verhältnismässig  so  wenig  reinen  Gewinn 
geerntet  hätte.  Ich  habe  viel,  viel  Schönes  herausgebracht,  aber  dagegen 
sind  meine  Bemühungen  über  anderes  oft  Monate  lang  fruchtlos  gewesen 
(Br.  G.-O.  2,  S.  438).  Und  am  2.  April  1826:  »Meine  theoretischen  Arbeiten 
lassen  bei  ihrem  so  sehr  grossen  Umfange  leider  noch  viele  Lücken;  am 
leichtesten  w^äre  mir  geholfen,  wenn  ich  mir  erlaubte,  mit  der  Bekanntmachung 
meiner  Messungen  zwar  alle  meine  Rechnungseinrichtungen  zu  verbinden,  aber 
deren  Ableitungen  aus  ihren  höhern  Gründen  für  ein  ganz  getrenntes  Werk 
für  glücklichere  zukünftige  Zeiten  aufsparte.  Dann  w  äre  nirgends  ein  Anstoss. 
Vors  erste  werde  ich  die  scharfe  Ausgleichung  meiner  32  Punkte,  die  51  Drei- 
ecke und  146  Richtungen  liefern,  vornehmen«  (W.  IX,  S.  376\  Es  sei  hierzu 
bemerkt,  dass  die  Arbeiten  im  Felde  im  August  1825  beendet  waren,  und  eü 
sich  lediglich  um  den  Abschluss  der  Rechnungen  handelte,  sodass  Gauss  für 
seine  theoretischen  Arbeiten  Zeit  gewann. 


102  STÄCKEI.,    GAUSS  ALS   GEOMETER. 

Im  Herbst  1826  scheint  Gauss  durchgedrungen  zu  sein.  Er  berichtet 
am  20.  November  an  Bessel:  »Die  Verarbeitung  der  Materialien  zu  dem  be- 
absichtigten Werke  über  meine  Messungen  kostet  mich  viele  Zeit.  Meine 
Hauptdreiecke,  33  Punkte  befassend,  sind  zwar  längst  fertig  berechnet,  aber 
die  Berechnung  der  vielen  geschnittenen  Nebenpunkte  .  .  .  macht  viel  Ar- 
beit. .  .  .  Noch  viel  mehr  Verlegenheit  macht  mir  der  weit  ausgedehntere 
theoretische  Teil,  der  so  vielfach  in  andere  Teile  der  Mathematik  eingreift. 
Ich  sehe  hier  kein  anderes  Mittel,  als  mehrere  grosse  Hauptpartien  von  dem 
Werke  abzutrennen,  damit  sie  selbständig  und  in  gehöriger  Ausführlichkeit 
entwickelt  werden  können.  Gewissermassen  habe  ich  damit  schon  in  meiner 
Schrift  über  die  Abbildung  der  Flächen  unter  Erhaltung  der  Ähnlichkeit  der 
kleinsten  Teile  den  Anfang  gemacht:  eine  zweite  Abhandlung,  die  ich  vor 
ein  paar  Monaten  der  Königlichen  Sozietät  übergeben  habe  und  die  hoffent- 
lich bald  gedruckt  werden  wird,  enthält  die  Grundsätze  und  Methoden  zur 
Ausgleichung  der  Messungen ').  .  .  .  Vielleicht  werde  ich  zunächst  erst  noch 
eine  dritte  Abhandlung  ausarbeiten,  die  mancherlei  neue  Lehrsätze  über 
ki-umme  Flächen,  kürzeste  Linien,  Darstellung  krummer  Flächen  in  der  Ebene 
usw.  entwickeln  wird.  Hätten  alle  diese  Gegenstände  in  mein  projektiertes 
W^erk  aufgenommen  werden  sollen,  so  hätte  ich  entweder  manches  ungi'ündlich 
abfertigen  oder  dem  Werk  ein  sehr  buntscheckiges  Ansehen  geben  müssen« 
fW.   IX,  S.  362). 

Mit  der  Ausarbeitung  der  dritten  Abhandlung  hat  Gauss  bald  darauf  be- 
gonnen. Nach  dem  Briefe  an  Olbers  vom  J4.  Januar  1827  (Br.  G.-O.  2, 
S.  467)  war  er  damals  »schon  ziemlich  damit  vorgerückt«,  und  am  1  März  1827 
schreibt  er  jenem,  die  Abhandlung  sei  vollendet,  er  werde  sie  jedoch  der 
Sozietät  noch  nicht  übergeben,  da  doch  auf  die  Ostermesse  kein  Band  der 
Denkschriften  herauskomme  (W.  IX,  S.  377).  In  der  Tat  sind  die  Disqui- 
sitiones  generales  circa  superficies  curvas  der  Göttinger  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften erst  am  8.  Oktober  1827  vorgelegt  und  in  den  Band  VI  der  Com- 
mentationes  recentiores  vom  Jahre  1828  aufgenommen  worden  (W.  IV,  S.  217). 
Vorher  war  in  den  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen  vom  5.  November  1827  eine 
ausführliche  Selbstanzeigc  erschienen  (W.  IV,  S.  341 — 347). 

1)  C.  F.  Gaus.s,  Supplcmentum  theoriae  combinationis  observationum  erroribus  minimis  obnoxiae, 
vorgelegt  den   16.  September  I8i6,   W.  IV,  S.  55. 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON  DEN  KRUMMEN   FLÄCHEN.  103 

Von  den  Neuen  allgemeinen  Untersuchungen  unterscheiden  sich  die  Dis- 
qumtiones  generales  hauptsächlich  in  zwei  Punkten:  sie  enthalten  erstens  den 
Ausdruck  für  das  Krümmungsmass  bei  beliebiger  Wahl  der  bestimmenden 
Veränderlichen  p,  q  und  zweitens  die  Verallgemeinerung  des  LEGENDRESchen 
Theorems  von  der  Kugel  auf  beliebige  Flächen. 

Die  allgemeine  Formel  für  das  Krümmungsmass  hat  sich  Gauss,  wie 
schon  angedeutet  wurde,  im  Laufe  des  Jahres  182G  erarbeitet.  Die  im  Nach- 
lass  befindlichen  Aufzeichnungen  gestatten  es  hier,  einmal  einen  vollständigen 
Einblick  in  die  Entstehung  seiner  Gedanken  zu  gewinnen.  Da  Gauss  dabei 
an  schon  vorliegende  Untersuchungen  über  die  Abwicklung  krummer  Flächen 
anknüpft,  wiid  es  angebracht  sein,  einen  kurzen  geschichtlichen  Überblick 
vorauszuschicken  ^). 

Die  Abwicklung  von  Zylindern  und  Kegeln  auf  die  Ebene  war  im  18. 
Jahrhundert  wiederholt  betrachtet  und  zur  Lösung  von  Aufgaben  benutzt 
worden.  Euler  hatte  dann  (17  70)  nach  den  krummen  Flächen  gefragt,  die 
sich  überhaupt  auf  eine  Ebene  abwickeln  lassen,  und  war,  indem  er  der  An- 
schauung entnahm,  dass  die  gesuchten  Flächen  gradlinig  sein  müssen,  zu  ihrer 
allgemeinen  Darstellung  gelangt').  Wie  eine  erst  im  Jahre  1862,  also  nach  dem 
Tode  von  Gauss  aus  Eulers  Xachlass  abgedruckte  Notiz'  zeigt,  ist  dieser  um 
dieselbe  Zeit  zu  dem  Problem  gelangt,  »invenire  duas  superficies,  quarum 
alteram  in  alteram  transformare  licet,  ita  ut  in  utraquc  singula  puncta  liomo- 
loga  easdem  inter  se  teneant  distantias«.  und  er  hat  dafür  genau  die  Glei- 
chungen angesetzt,  die  man  im  art.  1 2  der  Disq.  gen.  findet.  Es  ist  ihm  auch 
gelungen,  ihre  Integiation  für  die  Biegung  von  Kegeln  in  Kegel  durchzuführen, 
und  er  hat  zum  Schluss  die  Frage  nach  den  Biegungen  von  Stücken  einer 
Kugelfläche  aufgeworfen. 

Unabhängig  von  Euler  hatte  Monge  Untersuchungen  über  die  auf  die 
Ebene  abwickelbaren  Flächen  angestellt.  Er  hat  sie.  durch  Eulers  Abhand- 
lung vom  Jahre   1771    veranlasst,   in    einer   zweiten  Arbeit   weiter  gefülut;    in 


1)  Ausführliche  Angaben    lindet   man  bei  P.  Sr.iCKEL.    Bemerkungen  zur  Geschichte  der  geodätischen 
Linien,  Leipziger  Berichte,  I8ii3,  S.  452 — 455. 

2)  L.  Euler,   De  solidis,   quorum  superßciem  in  planum  explicare  licet,   Novi  Comment.  Petrop.   i's 
(1771),  1772,  S.  3;  vorgelegt  am  5.  März  1770. 

3)  L.  Euler,  Opera  postuma,  St.  Petersburg  1862,  t.  I,  S.  4it4-4!iG. 


104  STÄCKEI,.    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

dieser    findet    sich    auch    die    bekannte    partielle    Differentialgleichung    zweiter 
Ordnung  für  die  auf  die  Ebene  abwickelbaren   Flächen 'i. 

Wie  Gauss  zu  dem  allgemeinen  Bcgritl'  der  Biegung  krummer  Flächen 
gelangt  ist,  wissen  wir  nicht.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  die  bereits 
erwähnten  Arbeiten  über  die  Gestalt  elastischer  Flächen,  an  denen  sich  ausser 
PoissoN  (1814)  auch  Lagrange  (1811)  und  Sophie  Germain  (1815)  beteiligt 
hatten*,  auf  ihn  F^inHuss  gehabt  haben.  Dagegen  sind  ihm  die  schon  früher 
veröffentlichten  Abhandlungen  von  Euler  und  Monge  bekannt  gewesen.  Die 
auf  die  Ebene  »abwicklungsfähigen  Flächen«  hat  er  bereits  in  der  Aufzeichnung 
vom  Dezember  1822  (W.  VIII,  S.  382  —  384)  nach  der  Seite  des  Krümmungs- 
masses  betrachtet,  und  in  den  Neuen  allgemeinen  Untersuchungen  art.  1 6 1  be- 
merkt er,  aus  dem  Satze  von  der  Erhaltung  des  Krümniungsmasses  folge  der 
wichtige,  aber  bis  jetzt  nicht  mit  der  wünschenswerten  Evidenz  abgeleitete 
Lehrsatz,  dass  bei  jenen  Flächen  das  Krümmuugsmass  verschwindet,  und  damit 
sei  erst  bewiesen,  dass  sie  der  bekannten  Differentialgleichung  genügen  (vgl. 
auch  AV.  VIII,   S.  437   und  444). 

Wie  wir  sahen,  hatte  Gauss  bei  zwei  besonderen  F'ormen  des  Linien- 
elementes das  Krümmungsmass  durch  den  darin  auftretenden  Koeffizienten 
und  dessen  erste  und  zweite  partielle  Ableitungen  ausdrücken  können.  Er 
wusste,  dass  das  Kiümmungsmass  bei  den  Biegungen  erhalten  bleibt,  folglich 
musste  bei  der  allgemeinen  Form  des  Linienelementes  das  Krümmungsmass 
ebenfalls  dui'ch  die  darin  auftretenden  Koeffizienten  und  deren  partielle  Ab- 
leitungen darstellbar  sein.  Allein  die  Rechnungen,  die  dort  zum  Ziel  geführt 
hatten,  Hessen  sich  nicht  ohne  Weiteres  auf  den  F^all  beliebiger  bestimmender 
Grössen    übertragen;    hierauf   beziehen    sich    wohl    die    Klagen    über    die   Un- 


i)  G.  Monge,  Sur  les  diveloppees,  les  rayons  de  courhure  et  les  differents  genres  d'infleximis  des 
courbes  ä  double  eourbure,  Mem.  sav.  6tr.  t.  lo,  Paris  I785,  S.  .'in  (eingereicht  i77i);  Sur  les  inoprielis 
de  plusieurs  genres  de  surfaees  courbes,  pariicuKerement  sur  cclles  des  surfaces  diveloppables,  avec  une 
appUcation  ä  la  theorie  des  ombres  et  penombres,  Mem.  sav.  etr.  t.  9,  Paris  i78o,  S.  3S2  (eingereicht  1776); 
vgl.  auch  J.  MEU.SNIER,  Sur  la  eourbure  des  surfaces,  Mem.  sav.  6tr.  t.  i  o,  Paris  1785,  S.  50'J   (vorgelegt  1776). 

2)  J.  L.  Lagrange,  Mecanique  analytigue,  2.  4d.,  t.  1,  Paris  isi2,  Statique,  sect.  V,  Chap.  ;),  §  JI ; 
De  riquilibre  d'un  fil  ou  d'une  surface  flexible  et  au  meine  temps  extensible  et  contraclible,  Oe\ives,  t.  1 1 , 
S.  156;  S.  Germain,  Becherehes  sur  la  theorie  des  surfaces  elastiques,  Paris  is2o  (verfasst  1815).  Diese 
Untersuchungen  waren  veranlasst  durch  Ciiladnls  Entdeckungen  über  die  Klangfiguren  {Akustik  Leipzig 
1802). 


niE  AT.T.nRMRiXF,  T,Errur.  von  den  kuummen  flächen.  lOö 

fruclitbarkpit  langer  Bemiilinno(m  in  dem  selion  angefälirten  Biiefe  an  Olbers 
vom   19.  Februar  1826. 

Im  Sommer  oder  Herbst-,  des  Jahres  kam  Gauss  auf  den  Gedanken,  die 
auf  die  Ebene  abwickelbaren  Flächen  heranzuziehen.  Diese  sind  einerseits 
dadurch  gekennzeichnet,  dass  das  Krümmungsmass  verschwindet,  andererseits 
aber  dadurch,   dass  für  sie 

Edf  +  2  Fdp  dq  J-Gdq'  =  df  +  dir, 

das  heisst  gleich  dem  Produkt  der  beiden  vollständigen  Differentiale  dl  =  dt 
-\-idu  und  d\L  =  dt-^idu  ist.  Gauss  verschaffte  sich  jetzt  'W.  VIII,  S.  446, 
Handbuch    1  6  Bb,  S.  I  I  4)  die  Bedingungsgleichung  dafür,  dass 

Edf+2Fdpdq^Gdq'  =  dXd\L 

wird.  Es  ergab  sich  als  linke  Seite  ein  Ausdruck,  der  aus  den  Koeffizienten 
E,  F,  G  und  deren  ersten  und  zweiten  partiellen  Ableitungen  nach  p  und  q 
zusammengesetzt  ist,  und  man  durfte  vermuten,  dass  er  sich  vom  Krümmungs- 
mass nur  um  einen  unwesentlichen  Faktor  unterscheidet. 

Damit  war  Gauss  in  den  Besitz  des  Zählers  gelangt,  der  bei  dem  allge- 
meinen Ausdruck  für  das  Krümmungsmass  auftritt,  und  nachdem  er  so  das 
Ergebnis  kannte,  glückte  es  ihm  auch,  die  unmittelbare  Ableitung  der  Formel 
zu  finden,  die  im  art.  I  1  der  Disq.  qen.  angegeben  wird.  In  der  Tat  stehen 
die  Rechnungen  über  das  »Krümmungsmass  der  Flächen  bei  allgemeinem  Aus- 
druck derselben«  im  Handbuch  1 6  Bb,  S.  128  — 131.  also  einige  Seiten  hinter 
der  vorher  erwähnten  Aufzeichnung  über  die  auf  die  Ebene  abwickelbaren 
Flächen. 

Von  dem  höheren  Standpunkte  aus  betrachtet,  den  Gauss  jetzt  gewonnen 
hatte,  verlor  der  ursprüngliche  Beweis  für  die  Erhaltung  des  Krümmungs- 
masses  in  seinen  Augen  an  Wert,  ja  noch  mehr,  der  Satz  von  der  AVinkel- 
summe  des  geodätischen  Dreiecks,  der  dafür  den  Ausgangspunkt  gebildet  hatte, 
bekam  jetzt  seine  Stelle  als  eine  Folgerung  aus  dem  Hauptsatze  von  dem 
Krümmungsmass,  wenn  man  ihn  nämlich  auf  geodätische  Polarkoordinaten 
anwandte  [Disq.  gen.  art.  20). 

Die  Verallgemeinerung  des  LsGENDREschen  Theorems,  zu  der  wir  uns 
nunmehr  wenden,    hätte  Gauss   schon  in  die  Neuen  allgemrine»   Unti'r.^urlntiKp'n 

X2  Abh.  4.  i  1 


lOß  STÄCKET,,    GAl'RR   A1,S  GEOMETER. 

aufnehmen  können,  denn  es  war  ihm  im  November  1825  gelungen,  sie  auf 
die  elegante  Gestalt  zu  bringen,  die  er  in  den  artt.  25  bis  28  der  Difiq.  gen. 
mitteilt,  und  er  würde  es  sicherlich  getan  haben,  wenn  er  nicht  Ende  1826 
die  Arbeit  an  dem  Entwurf  abgebrochen  hätte.  Bei  jener  Verallgemeinerung 
wird  die  Lehre  von  den  kürzesten  Linien  mit  der  Lehre  vom  Krümmungsmass 
verbunden,  auf  die  sich  die  beiden  Hauptabschnitte  jener  Abhandlung  beziehen. 
>ind  so  erscheint  der  Satz  von  der  Zurückführung  kleiner  geodätischer  Drei- 
ecke auf  ebene  Dreiecke  als  die  Kröniuig  des  Gebäudes  der  allgemeinen  Lehre 
von  den  krummen  Flächen.  Zugleich  aber  bildet  er  in  echt  GAUssscher  Art 
den  Übergang  zu  den  Anwendungen.  Gauss  hat  sich  hierüber  in  dem  Briefe 
an  Olbers  vom  1.  März  1827  folgendermassen  ausgesprochen:  ».Jene  Abhand- 
lung entliält  zur  unmittelbaren  Benutzung  in  meinem  künftigen  Werk  über 
die  Messung  eigentlich  nur  ein  paar  Sätze,  nämlicli: 

1)  was  zur  Berechnung  des  Exzesses  der  Summe  der  3  Winkel  über  180** 
in  einem  Dreiecke  auf  einer  nicht  sjihärischen  Fläche,  wo  die  Seiten  kürzeste 
Tänien  sind,  erforderlich  ist, 

2j  wie  in  diesem  Fall  der  Exzess  ungleich  verteilt  werden  muss,  damit 
die  Sinus  den  Seiten  gegenüber  proj^ortional  werden. 

In  praktischer  Rücksicht  ist  dies  zwar  ganz  unwichtig,  weil  in  der  Tat 
bei  den  grössten  Dreiecken,  die  sich  auf  der  Erde  messen  lassen,  die  Ungleich- 
heit in  der  Verteilung  unmerklich  wird;  aber  die  Würde  der  Wissenschaft 
erfordert  doch,  dass  mau  die  Natur  dieser  Ungleichheit  klar  begrtnfe.  Und 
so  kann  man  allerdings  hier,  wie  öfters,  ausrufen:  Tantae  nu)lis  erat!  um 
daliin  zu  gelangen.  —  Wichtiger  aber  als  die  Auflösung  dieser  2  Aufgaljen 
ist  es,  dass  die  Abhandlung  mehrere  allgemeine  Prinzipien  begründet,  aus 
denen  künftig,  in  einer  speziellem  Untersuchung,  die  Auflösung  von  einer 
Menge  wichtiger  Aufgaben  abgeleitet  werden  kann«  (W.  IX,  S.  378). 

33. 

Weitere  Untersuchungen  über  krumme  Flächen. 

In  der  Selbstanzeige  der  Disq.  gen.  sagt  Gauss,  der  Zweck  der  Abhand- 
hing sei,  neue  Gesichtspunkte  für  die  Lehre  von  den  krummen  Flächen  zu 
eröffnen  und  einen  Tei,l  der  ueuen  Wahrheiten,  die  dadurch  zugänglich  werden. 


DIE   .U,I,GKMEI>iE  LEHRE  VON   DEN   KRUMMEN   KEÄCHEN.  1(J7 

ZU  entwickeln  (W.  IV,  S.  34  1).  Dass  dort  mir  ein  Teil  der  Ergebnisse,  zu 
denen  er  gelangt  war,  dargestellt  ist,  wird  auch  in  den  Briefen  an  Bessel,  Olbers 
und  Schumacher  ausgesprochen,  die  in  der  vorhergehenden  Nummer  angeführt 
sind,  ja  es  wird  einmal  geradezu  eine  zweite  Abhandlung  über  die  krummen 
Flächen  in  Aussicht  gestellt  (Brief  an  Oebers  vom  1.  März  1827,  W.  IX,  S.  377). 

Auch  in  den  Disq.  (jen.  finden  sich  Andeutungen  über  weitergehende 
Untersuchungen.  So  werden  im  art.  6  Erörterungen  über  die  allgemeinste 
Auffassung  des  Inhalts  von  Figuren  auf  eine  andere  Gelegenheit  verschoben. 
Ferner  unterscheidet  Gauss  im  art.  1 3  zwischen  den  Eigenschaften  einer 
kiaimmen  Fläche,  die  von  ihrer  gerade  angenommenen  Form  abhängen,  und 
jenen,  die  erhalten  bleiben,  in  welche  Form  die  Fläche  auch  gebogen  wird. 
Hierfür  nennt  er  das  Krümmungsmass,  die  Lehre  von  den  kürzesten  Linien 
und  einiges  andere,  dessen  Behandlung  er  sich  vorbehalte. 

Zu  den  Gegenständen,  die  im  art.  1 3  gemeint  sind,  gehört  vor  allem  die 
»Seitenkrümmung«  von  Kurven  auf  krummen  Flächen,  die  Gauss  schon  in  der 
Zeit  zwischen  1822  und  1825  eingehend  untersucht  hatte  (W.  VIII,  S.  386— 
395).  Eine  solche  Kurve  besitzt  zunächst  eine  absolute  Krümmung,  die 
durch  den  reziproken  Wert  des  auf  die  übliche  Art  erklärten  Krümmungs- 
halbmessers gegeben  wird.  Wenn  man  aber  den  Krümmungshalbmesser  in 
zwei  Komponenten,  nach  der  Flächennormale  und  senkrecht  dazu,  zerlegt,  so 
werden  in  deren  reziproken  Werten  die  Masse  der  Normalkrümmung  und 
der  Seitenkrümmung  gewonnen.  Die  kürzesten  Linien  auf  der  Fläche 
haben  die  Eigenschaft,  dass  ihr  Krümmungshalbmesser  in  die  zugehörige 
Flächennormale  fällt,  und  ihnen  kommt  daher  die  Seitenkrümmung  Null  zu. 
Sie  entsprechen  auch  in  dieser  Hinsicht  den  geraden  Linien  der  Ebene,  und 
in  einer  Geometrie  der  auf  einer  krummen  Fläche  liegenden  Figuren,  bei  der 
an  die  Stelle  der  Geraden  die  Kürzesten  treten,  ist  bei  einer  Kurve  die  re- 
lative Krümmung,  das  heisst  das  Verhältnis  des  geodätischen  Kontingenz- 
winkels  zum  Linienelement  der  Kurve,  gleich  der  Seitenkrümmung  zu  setzen. 
Bald  nach  dem'  Erscheinen  der  Disq.  gen.  hat  übrigens  Minding  ähnliche  Auf- 
fassungen veröffentliclit '  . 

Im   Laufe    der    Untersuchung    überträgt    Gauss    den    Namen    der    Seiten- 


1)  F.  Minding,    Ühm-  die   Kurven   kürzesten   Perimeters   mif  Irinnmoi    lläeheti,    Cuki.i.ks   Journnl, 
Bd.  5,    I88U,  S.  2!1-. 

14* 


108  STÄCKEI-,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

kxümiuung  auf  das  über  die  Kurve  erstreckte  Integral  der  ursprünglichen 
Seitenkrümmung.  Er  hatte  dabei  wohl  die  Verallgemeinerung  des  Satzes  von 
der  Winkelsumme  des  geodätischen  Dreiecks  im  Auge,  die  später  von  Bonnet 
augegeben  worden  ist').  Hiernach  ist  die  Gesamtkrümnuing  eines  beliebigen 
auf  einer  krummen  Fläche  liegenden  Dreiecks  gleich  dem  Unterschiede  der 
Winkelsumme  gegen  zwei  Rechte,  vermindert  um  das  über  die  Begrenzung 
erstreckte  Integral  der  Seitenkrümmung    im  ursprünglichen  Sinne  des  Wortes). 

Die  Erklärung  der  kürzesten  Linien  als  der  Kiu-ven  von  der  Seiten- 
krümmung Null  ist  auch  insofern  wichtig,  als  die  Rechnungen,  die  Gauss 
daran  anschliesst,  einen  Einblick  in  die  Kunstgriffe  gewähren,  die  ihn  zu  den 
eleganten  Formeln  im  art.  22   der  Disq.  gen.  gefülirt  haben. 

Ob  Gauss  die  Geometrie  der  Figuren  auf  einer  krummen  Fläche  noch 
weiter  ausgebaut,  ob  er  im  besonderen  den  Zusammenhang  zwischen  der  Geo- 
metrie auf  den  Flächen  konstanten  Krümmuugsmasses  und  der  nichteuklidischen 
Geometrie  der  Ebene  erkannt  hat,  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  entscheiden. 
Nahe  genug  musste  er  für  jemand  liegen,  der  schon  J  794  wusste,  dass  dort 
das  Verhältnis  des  Dreiecksinhaltes  zu  der  Abweichung  der  Winkelsumme  von 
zwei  Rechten  eine  Konstante  ist  W.  VIII,  S.  266).  Auch  die  Bemerkungen, 
dass  die  Untersuchungen  über  die  krummen  Flächen  so  vielfach  in  andere  Teile 
der  Mathematik  eingriffen  Brief  an  Bessel  vom  20.  November  1826,  W.  IX, 
S.  362),  dass  sie  tief  in  die  Metaphysik  der  Raumlehre  eingriffen  (Brief  an  Hansen 
vom  11.  Dezember  1825,  GAUSS-Archiv  in  Verbindung  mit  der  Tatsache,  dass 
Gauss  bald  nach  Vollendung  der  Bisq.  gen.  die  Untersuchungen  über  die 
Gi-undlagen  der  Geometrie  wieder  aufgenommen  hat  Brief  an  Bessel  vom 
27.  Januar  1829,  W.  VIII,  S.  200),  lassen  sich  zu  Gunsten  einer  solchen  An- 
nahme geltend  machen.  Ferner  wird  in  einer  Aufzeichnung  aus  dem  Jahre 
1846  (W.  VIII,  S.  257)  die  einer  nichteuklidischen  Geometrie  eigentümliche 
absolute  Konstante  mit  k  bezeichnet,  wo  k  die  Quadratwurzel  aus  dem  Krüni- 
mungsmass  bedeuten  würde.  Bemerkenswert  ist  auch  eine  Wendung  in  einem 
aus  demselben  Jahre  1846  stammenden  Briefe  an  Gerling:  »Der  Satz,  den 
Ihnen  Herr  Schweikart  erwähnt  hat,  dass  in  jeder  Geometrie  die  Summe 
aller  äussern  Polygonwinkel  von  360"  um  eine  Grösse  verschieden  ist    nämlich 

i;  O.  BoN'NET,  Memoires  sur  hi  theurie  ycnerale  des  surf'aces,  Journal  de  1  ccole  polyteohnique,  t.  1», 
cah.  yz,  l(i4»>,  S.  i:il. 


DIE  ALLGEMEINE   LEHRE  VON   DEN    KRUMMEN  FLÄCHEN.  109 

grösser  als  360"  in  der  Astralgeometrie,  wie  Schweikart  sie  aufgefasst  hat), 
welche  dem  Flächeninhalt  proportional  ist,  ist  der  erste,  gleichsam  an  der 
Schwelle  liegende  Satz  der  Theorie,  den  ich  schon  im  Jahr  179  4  als  not- 
wendig erkannte«  (Brief  vom  2.  Oktober  1846,  W.  VIII,  S.  266);  Gauss  unter- 
scheidet also  die  Auffassung  Sc hweikärts  von  der  seinigen,  bei  der  in  jedem 
Falle  die  Winkelsumme  des  Dreiecks  von  180"  verschieden  ist,  sodass  bei  ihm 
neben  die  Geometrie,  bei  der  die  Winkelsumme  kleiner  als  180°  ist,  noch 
eine  zweite  tritt,  bei  der  die  Winkelsumme  gi-össer  als  180**  wird.  Wenn 
man  beachtet,  wie  vorsichtig  Gauss  bei  solchen  Andeutungen  zu  Werk  ging 
(vgl.   S.  9),  so  wird  man  auch  auf  diese  Stelle  Gewicht  zu  legen  haben. 

Schliesslich  verdient  erwähnt  zu  werden,  dass  in  einer  spätestens  182  7 
niedergeschriebenen  Aufzeichnung  die  durch  Drehung  der  Traktrix  entstehende 
krumme  Fläche  negativen  konstanten  Krümmungsmasses  (Pseudosphäre  als 
das  »Gegenstück  der  Kugel«  bezeichnet  wird  (W.  VIII,  S.  265).  Gauss  er- 
wähnt die  Pseudosphäre  im  Zusammenhang  mit  der  Verbiegung  von  Dreh- 
flächen in  Drehflächen.  Aber  noch  mehr,  die  von  ihm  aufgestellten  Formeln 
führen  zu  dem  Satz,  dass  bei  der  Pseudosphäre  und  nur  bei  ihr)  alle  diese 
Drehflächen  einander  kongnient  sind,  und  hierin  liegt,  dass  man  ein  geodäti- 
sches Dreieck,  unter  Bewahrung  dieser  Eigenschaft,  auf  der  Pseudosphäre 
ebenso  verschieben  kann  wie  ein  sphärisches  Dreieck  auf  der  Kugel.  Hat 
Gauss  deshalb  den  Namen  »Gegenstück  der  Kugel«  gewählt?  Jedenfalls  hat 
er  den  krummen  Flächen  von  negativem  konstanten  Ivrümmungsmass  seine 
Aufmerksamkeit  zugewendet.  In  den  schönen  Untersuchungen,  die  Min  ding, 
angeregt  durch  die  Disq.  gen.,  angestellt  hat,  sind  auch  diese  Ergebnisse  über 
die  Biegung  der  Drehflächen  und  über  die  Pseudosphäre  enthalten'). 

Auf  die  Biegung  krummer  Flächen  bezieht  sich  auch  eine  wahrscheinlich 
Ende  1826  niedergeschriebene  kurze  Bemerkung,  in  der  Gauss  die  Beziehung, 
die  bei  zwei  Biegungsflächen  zwischen  den  sphärischen  Abbildungen  mittels 
paralleler  Normalen  besteht,  zu  einem  Ansatz  für  die  Lösung  des  allgemeinen 
Problems  der  Ab^vicklung  krummer  Flächen  auf  einander  benutzt,  der  erst 
im  Jahre   1900  aus  dem  Nachlass  im  achten  Bande  der  Werke  (S.  447 — 448) 


1)  F.  Minding,  Über  die  Biegung  gewisser  Flächen,  Grelles  Journal.  Bd.  is,  isas,  S.  ar.?;  Wie 
sieh  entscheiden  lässt,  ob  zwei  gegebene  krumme  Flächen  auf  einander  abwickelbar  seien  oder  nicht,  ebenda, 
Bd.  i'j,  I83'J,  S.  378;  Über  die  kiinesten  Linien  krummer  Flächen,  ebenda,  Bd.  lo,  1840,  S.  324. 


110  STÄCKEI,,    (tAUSS  als  üEOMETEK. 

veiöfFentlicht    worden   ist.     Es    wäre    zu   wünschen,    dass    dieser  Gedanke,    der 
Gauss  eigentümlich  ist.  vollständig  durchgeführt  würde. 

Zum  Schluss  sei  noch  berichtet,  dass  die  philosophische  Fakultät  der 
Universität  Göttingen  im  Jahre  1830  auf  Veranlassung  von  Gauss  die  Preis- 
frage stellte:  Determinetur  inter  lineas  duo  puncta  jungentes  ea,  quae  circa 
datum  axem  revoluta  gignat  superficiem  minimam.  Sie  wurde  von  seinem 
Landsmann,  Schüler  und  späteren  Mitarbeiter  auf  der  Sternwarte,  (JoLDScuMiirr. 
beantw^ortet,  dem  auch  der  Preis  /.ugefallen  ist '). 

33. 

Bedeutung  und  Wirkung  der  Disquisitiones  generales. 

In  den  Disquisitiones  generales  wird  nur  ein  Geometer  mit  Namen  erwähnt : 
Euler.  Fast  alles,  was  dieser  über  die  Krümmung  der  Oberflächen  gelehrt 
habe,  sagt  Gauss  im  art.  8  der  Disq.,  sei  in  den  von  ihm  gegebenen  Sätzen 
I  bis  IV  enthalten;  augenscheinlich  sind  Eulers  1763  verfasste  Recherches 
sur  la  courhure  des  surfaces'  gemeint.  Die  Untersuchungen  von  Gauss  be- 
rühren sich  aber  noch  in  einer  Reihe  anderer  Punkte  mit  denen  Eulers,  und 
wenn  es  auch  unentschieden  bleiben  muss,  ob  Gauss  die  betreffenden  Abhand- 
lungen gekannt  hat  oder  nicht,  so  scheint  es  doch  um  so  mehr  angebracht, 
die  Berührungspunkte  festzustellen,  als  dadurch  die  Fortschritte,  die  wir  Gauss 
verdanken,  in  ein  helleres  Licht  treten. 

Es  möge  zunächst  an  die  in  den  vorangehenden  Nummern  erwähnten  Ar- 
beiten Eulers  zur  konformen  Abbildung,  über  die  kürzesten  Linien  und  über 
die  Abwicklung  krummer  Flächen  auf  die  Ebene  erinnert  werden.  Für  die 
kürzesten  Linien  kommen  ausser  der  grundlegenden  Abhandlung  vom  Jahre 
1729  noch  zwei  Veröffentlichungen  in  Betracht.  In  der  einen  vom  Jahre 
1755  hatte  Euler  die  Anfänge  einer  sphäroidischen  Trigonometrie  entwickelt, 
einer  Lehre  von  den  Dreiecken,  deren  Seiten  kürzeste  Innien  eines  Dreh- 
ellipsoides  sind;  auch  hatte  er  vorgeschlagen,  dass  man  solche  Dreiecke  in 
der   Geodäsie    benutzen    solle ^).     In    der    zweiten,    erst    1806    gedruckten    Ab- 

1)  B.  Goldschmidt,  Beterminatio  superficiei  minimae  rotatione  curvae  data  duo  puncta  jungmtis  circa 
datum  axem  ortae,  Göttingen  I83i. 

2;  Histoire  de  l'Acad.,  annfee  1760,  Berlin  1767,  Memoires  S.  im. 

:i)  L.  Edi,bu.  EUmeiUs  de  la  trigonomelrie  spMroidique  tires  de  la  tiuHhodc  des  plus  grands  et  plus 
petits,  Histoire  de  l'Acad.,  ann^e  1753,  Berlin   17.55,  Mdmoireg  S.  25S. 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON  DEN  KRUMMEN  FLÄCHEN.  111 

handlung,  die  am  2  5.  Januar  17  79  der  Petersburger  Akademie  vorgelegt  worden 
war.  kommt  er  auf  die  allgemeine  Lehre  von  den  kürzesten  Linien  zurück 
und  stellt  deren  Differentialgleichungen  für  den  Fall  auf,  dass  die  krumme 
Fläche  durch  irgend  eine  Gleichung  zwischen  den  kartesisclien  Koordinaten 
gegeben  wird,  während  man  früher  immer  vorausgesetzt  hatte,  dass  die  Glei- 
chung nach  einer  Koordinate  aufgelöst  sei. 

Die  Einsicht,  dass  die  drei  kartesischen  Koordinaten  gleichberechtigt  sind, 
kommt  bei  Euler  aber  auch  dadurch  zum  Ausdruck,  dass  er  bei  den  Unter- 
suchungen über  die  Abwicklung  krummer  1  lachen  die  drei  Koordinaten  so- 
gleich als  Funktionen  zweier  Hilfsgi'össen  ansetzt.  Wie  Kommerell  mit  Iteclit 
bemerkt ' ,  liegt  hierin  der  erste  Schritt  zu  der  Auffassung  der  krummen 
Flächen  als  selbständiger  Gebilde,  (He  erst  G.iuss  mit  vollem  Bewusstsein 
ihrer  Bedeutung  durchgeführt  hat.  Ebenso  hat  Gauss,  geleitet  von  dem  allge- 
meinen Begriff  der  xlbbildung,  jene  Parameterdarstellung  zur  Grundlage  seiner 
allgemeinen  Untersuchungen  über  die  krummen  Flächen  gemacht. 

Endlich  ist  eine  1  77  5  verfasste,  17  86  gedruckte  Arbeit  über  Ra\imkiu-ven ■) 
zu  erwähnen,  in  der  Ecler  die  Eigenschaften  solcher  Kurven  in  der  Umgebung 
eines  Punktes  untersucht,  indem  er  durch  den  Mittelpunkt  der  Einheitskugel 
Parallelen  zu  den  Tangenten  zieht,  ganz  ähnlich  wie  Gauss  im  art.  2  der 
Neuen  allgemeinen  Untersuchungen  bei  ebenen  Kurven  den  Einheitskreis  ver- 
wendet. Bei  Gauss  findet  sich,  wie  schon  erwähnt  wurde,  die  Beziehung  der 
Richtungen  im  Räume  auf  die  Punkte  der  Einheitskugel  schon  in  einer  auf 
das  Ende  des  Jahres  1799  zu  setzenden  Notiz  i^Scheda  Ac,  Varia,  begonnen 
Nov.  1799,  S.  3).  In  der  Selbstanzeige  der  Disq.  gen.  sagt  Gauss:  »Dies  Ver- 
fahren kommt  im  Grunde  mit  demjenigen  überein,  welches  in  der  Astronomie 
in  stetem  Gebrauch  ist,  wo  man  alle  Richtungen  auf  eine  fingierte  Himmels- 
kugel von  unendlich  gi'ossem  Halbmesser  bezieht^'  VV.  IV,  S.  342';  man  darf 
daher  annehmen,  dass  der  Gedanke  der  Abbildung  auf  die  Einheitskugel 
(Himmelskugel;  der  Astronomie  seinen  Ursprung  verdankt. 

Die    Abbildung    einer    krummen    Fläche    auf    die    Einheitskugel    mittels 


1)  M.  C.U.-TÜR,    Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik,  Bd.  IV,  Leipzig  mos,  Abschnitt  XXIV: 
Ko.MMERELL,  Analytische  Geometrie  des  Baumes  und  der  Ebene,  S.  519. 

2)  L.  Euler,   Methodus  facilis   omnia  symptomata  linearum  curvaritm  non  in  codem  piano  silarim 
investigandi,  .\cta  Petrop.,  t.  n  pro  anno  17S2:  I,   I78ü,  S. 


19.   ;i7 


112  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GKOMETp;U. 

paralleler  Normalen  ist  schon  vor  Gauss  betrachtet  und  mit  der  Lehre  von 
den  Doppelintegralen  in  Zusammenhang  gebracht  worden,  und  zwar  von  ().  Ro- 
DRiGUES  in  einer  1815  veröffentlichten  Abhandlung'',  ganz  ähnlich  wie  es  Gauss 
selbst  in  einer  Notiz  über  die  Oberfläche  des  dreiachsigen  Ellipsoidcs  tut, 
die  wohl  bald  nach  1813  verfasst  ist  (W.  VIII,  S.  367).  Rodrigues  hat  auch 
schon  erkannt  und  genau  auf  dieselbe  Weise  wie  Gauss  im  art.  7  der  Disq. 
gen.  bewiesen,  dass  das  Verhältnis  der  Abbildung  eines  Flächen elementes  auf 
die  Einheitskugel  zu  dem  Flächenelement  gleich  dem  Produkte  der  zugehörigen 
Hauptkrümmungen  ist.  Er  folgert  daraus,  dass  das  Doppelintegral,  das  Gauss 
als  Gesamtkrümmung  eines  Flächenstückes  bezeichnet  hat,  den  Inhalt  der 
Area  auf  der  Kugelfläche  angibt,  die  durch  jene  Abbildung  erhalten  wird,  und 
da  einer  geschlossenen  Fläche  die  ganze,  einfach  oder  mehrfach  bedeckte 
Obei-fläche  der  Kugel  entspricht,  so  ergibt  sich  der  Wert  des  zugehörigen 
Doppelintegrales    gleich    einem    positiven    oder    negativen  Vielfachen   von  27:. 

Auf  einen  zweiten  Geometer  wird  in  den  Neuen  allgemeinen  Unter- 
suchungen und  in  den  Disq.  gen.  hingedeutet.  Auf  Monge  bezieht  sich  näm- 
lich die  Bemerkung,  dass  die  partielle  Differentialgleichung  zweiter  Ordnung 
für  die  auf  die  Ebene  abwickelbaren  Flächen  ))bisher  nicht  mit  der  erforder- 
lichen Strenge  bewiesen  war«  'W.  IV,  S.  344;  vgl.  W.  IV,  S.  237  und  VIII, 
S.  437).  Dass  es  sich  um  Monge  handelt,  ergibt  sich  aus  dem  Briefe  an 
Olbers  vom  Juli  1828  (W^.  VIII,  S.  444)*);  Gauss  sagt  hier  mit  Recht,  dass 
bei  Monge  das  Vorhandensein  gerader  Linien,  nach  denen  die  Fläche  gebrochen 
wird,  erschlichen  sei.  Im  übrigen  haben  die  Untersuchungen  des  französischen 
(ieometers,  die  mehr  die  Untersuchung  besonderer  Flächenklassen  betreffen, 
auf  Gauss  keinen  Einfluss  gehabt,  und  dasselbe  gilt  auch  für  dessen  Dar- 
stellende Geometrie,  die  Gauss  1813  mit  anerkennenden  Worten  besprochen 
hat  (W.  IV,  S.  3  59). 

Wenn  man  noch  die  Anregung  hinzunimmt,  dass  Gauss  durch  das  Le- 
GENDREsche  Theorcm  über  die  Zurückführung  der  kleinen  sphärischen  Dreiecke 

1)  O.  E.0DRIGUE5,  Sur  quelques  propriites  des  integrales  doubles  et  des  rayons  de  courhure  des  sur- 
faees,  Correspondance  sur  l'ficole  polytechnique,  t.  2,  1816,  S.  in2;  abgedruckt  im  Bulletin  de  la  8oci6t6 
philomatique,  annee  1815,  S.  34;  vgl.  P.  Stäckel,  Bemerhmgen  zur  Oeschichte  der  geodätischen  Linien, 
Leipziger  Berichte   189  3,  S.  46fi. 

2)  Der  darin  erwähnte,  »ungezogene  Ausfall«  von  Fayolle  steht  ito  Philosophical  Magazine,  new 
series,  vol.  *,  London  1828,  S.  430;  er  ist  abgedruckt  im  Briefwechsel  G.-O.,  2,  S.  sos. 


DIE  AIl.GEMEINK  LEHRE   VON   OKN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  113 

auf  ebene  Dreiecke  erfahren  hat,  so  ist  alles  erschöpft,  was  sicli  aus  der  Zeit 
vor  182  7  mit  seinen  Forschungen  über  die  allgemeine  Lehre  von  den  krummen 
Flächen  in  Zusammenhang  bringen  lässt,  teils  auf  deren  Gang  einwirkend, 
teils  nur  im  Strom  der  Entwicklung  auftauchend  und  wieder  untergehend. 

Wie  gross  der  Eindruck  war,  den  die  Disq.  gen.  sogleich  bei  ihrem  Er- 
scheinen machten,  geht  aus  den  Briefen  von  Bessel  und  Schumacher  hervor. 
Mit  den  daran  anknüpfenden,  bedeutenden  Arbeiten  Mindings  beginnt  eine 
lange  Reihe  von  Arbeiten,  deren  Ausgangspunkt  die  Untersuchungen  von  Gauss 
bilden.  Es  muss  jedoch  hier  genügen,  einige  noch  nicht  erwähnte  Abhand- 
lungen herauszugreifen,  die  in  besonders  engen  Beziehungen  zu  den  Disq.  gen. 
stehen,  und  die  Wirkung  der  Grundgedanken  auf  die  weitere  Entwicklung  in 
aller  Kürze  zu  schildern;  dabei  soll  die  Geodäsie  ganz  aus  dem  Spiele  bleiben 
und   für   sie    auf  den   schon    erwähnten  Aufsatz  von  Galle  verwiesen   werden. 

Schon  EuLER  hatte  in  seiner  Abhandlung  über  die  Krümmung  der  Flächen 
nach  einem  passenden  Masse  f  juste  mesure)  für  die  Krümmung  solcher  Gebilde 
gefragt,  einem  Masse,  das  sich  der  Krümmung  der  Kurven  an  die  Seite  stellen 
lasse,  und  unter  Hinweis  auf  die  Sattelflächen  erklärt,  dass  es  auf  diese  Frage 
keine  einfache  Antwort  gebe;  man  müsse  vielmehr  die  Gesamtheit  der  Krüm- 
mungen in  Betracht  ziehen,  die  den  zu  einem  Punkte  gehörigen  Normal- 
schnitten  zukommen  \  Später  war  bei  Untersuchungen  über  biegsame  Flächen, 
besonders  über  die  Gestalt  von  Flüssigkeitshäutchen,  das  arithmetische  Mittel 
der  beiden  Hauptkrümmungen  aufgetreten,  das  schon  in  der  von  Lagrange 
(1765)  begründeten  Lehre  von  den  Minimalflächen  eine  Rolle  spielte.  Sophie 
Germain  hat  dafür  1831  den  Ausdruck  mittlere  Krümmung  vorgeschlagen'-'  ; 
In  einem  Briefe  an  Gauss  vom  28.  März  1829  bemerkt  sie,  dieser  verfahre 
geometrisch,  sie  selbst  mechanisch,  denn  die  elastische  Kraft,  welche  die  Fläche 


1)  Diese  richtige  Einsicht  hat  Euler  nicht  davor  bewahrt,  bald  darauf,  l76!i,  in  der  Dioptrien  (Lib.  I. 
§  4,  Opera  omnia,  ser."  3,  vol.  :i,  S.  H)  zu  behaupten,  ein  Flächenelement  lasse  sich  stets  als  sphärisch  ansehen, 
und  damit  in  einen  Fehler  zurückzufallen,  den  schon  Leihmz  begangen  hatte  [Brief  an  Jon.  Bernoulli 
vom  2!).  Juli  1698,  Commercium  epistoUcum,  liausanne  und  Genf  1745,  t.  i,  S.  :i87,  LEIHNlzens  Matlicmatische 
Schriften,  herausgegeben  von  C.  J.  Gerh.\kdt,  i.  Abt.,  Bd.  a,  Holle  185.'),  S.  526).  Auch  dAle.m beut,  hat 
sich  dieses  Fehlers  schuldig  gemacht  (x\rtikel  Surfaces  eourbes  in  der  Encyclopedie  methodique,  Abteilung 
Mathematik,  Bd.  II,  Paris  1784,  S.  464). 

2)  S.  Germ.'VIN,  Memoire  sur  la  courbwe  des  surfaces,  Crelles  Journal,  Ud.  7,   ih;ii.  S.  i. 
X2  Abh.  4.  ir> 


114  STÄCKKL,    GAUSS   ALS  (JKOMETF.U. 

in  ihre  ursprüngliche  Gestalt  zurücktreibt,  sei  der  mittleren  Krümmung  pro- 
portional Brief  im  Gauss- Archiv).  Nach  Sturm')  lässt  sich  die  mittlere 
Krümmung  auf  eine  ähnliche  Art  wie  das  GaussscIic  Krümmungsmass  er- 
klären; beschreibt  man  nämlich  um  einen  Flächenpunkt  eine  Kugel  und  bildet 
die  in  die  Fläche  eingeschnittene  Kurve  mittels  paralleler  Normalen  auf  die 
Einheitskugel  ab.  so  ist  der  Grenzwert  des  Verliältsnisses  der  Umfange  beider 
Kurven  gleich  der  mittleren  Krümmung.  Später  hat  C-asorati"')  das  Wort 
»Krümmung«  beanstandet,  weil  man  aiich  den  Flächen  vom  GAUSsschen  Krüm- 
mungsmasse Null  eine  gewisse  Krummheit  zuschreiben  müsse,  und  als  ein  der 
Anschauung  besser  entsprechendes  Mass  das  arithmetische  Mittel  der  Quadrate 
der  Hauptkrümmungen  vorgeschlagen.  »Demgegenüber  ist  zu  bemerken,  dass 
es  für  eine  Fläche  überhaupt  keinen  Ausdruck  geben  kann,  der  dem  für  die 
Krümmung  einer  Kurve  völlig  entsprechend  und  zugleich  erschöpfend  wäre. 
Es  lassen  sich  vielmehr  von  verschiedenen  Gesichtsj^unkten  aus  für  die  Flächen- 
krümmung mehr  oder  minder  kennzeichnende  Ausdrücke  aufstellen,  die  eben- 
falls als  Grenzwerte  anzusehen  sind«^).  Jedenfalls  hat  sich  unter  ihnen  der 
GAUSSsche  Ausdruck  durch  die  Fruchtbarkeit  seiner  Anwendungen  ausgezeichnet. 
Im  Laufe  der  Zeit  hat  sich  immer  klarer  die  Wichtigkeit  der  Formeln 
im  art.  1  1  der  Disq.  gen.  herausgestellt,  vermöge  deren  die  zweiten  Ableitungen 
der  kartesischen  Koordinaten  eines  Punktes  der  Fläche  als  lineare  homogene 
Funktionen  der  ersten  Ableitungen  und  der  llichtungscosinus  der  Normalen 
dargestellt  Averden.  Weingarten  hat  gezeigt,  wie  man  aus  ihnen  fast  unmittel- 
bar die  bei  dem  Biegimgsjnoblem  auftretende  partielle  Diff'erentialgleiclumg 
zweiter  Ordnung  füi'  eine  der  kartesisclien  Koordinaten  ableiten  kann*).  Auf 
dem  von  Gauss  gebalmten  Wege  weitergelicnd,  liabeu  Mainardi"")  und  ('ouazzi") 

1)  li.  Sturm,  Kin  Analogon  zu  Gauss'  Satz  vcni  der  Krümmung  der  Flächen,  Matliemat.  Auimk-ii, 
Bd.  21,   1883,  S.  37». 

2)  F.  Casorati,  Mesure  de  la  courbure  des  surfaces  siiivant  i'idee  commune,  Acta  math.  14,  1890, 
S.  06;  vgl.  auch  K.  v.  Lilie.nthal,  Zur  Theorie  des  Krümmungsmasses  der  Flächen,  ebenda,  16,  1892,  S.  I4S. 

3)  R.  V.  Lilie.nthal,  Die  auf  einer  Fläche  gezogenen  Kurven,  Encyklciiädie  der  mathematischen 
Wissenschaften,  Bd.  III,  Teil  3,  S.  172  (1902). 

4)  J.  Weingarten,  Über  die  Tliemie  der  auf  einander  abwickelbaren  Oberflächen,  Festschrift  der 
Technischen  Hochschule  zu  Berlin,   18S4. 

5)  Mainardi,  Su  la  teoria  generale  delle  superficie,  Giornale  dell'lstituto  lombardo,  t.  9,   1857,  S.  394. 

6)  D.  Codazzi,  Sülle  coordinate  curvilinee  d'una  superficie  e  dello  spazio,  Ann.  di  mat.  (2),  i,  1867, 
S.  293;  2,  1808,  S.  101,  269;  Mimoire  relatif  ä  l'applicalion  des  surfaces  les  unes  sur  les  atäres,  Mem. 
pr6s.  par  divers  sav.,  2.  s^rie,  t.  27,  Paris  1S83  (vorgelegt  1859). 


DIE   ALLGEMEINE  LEHRE   VON    DEN   KRÜMMEN  FLÄCHEN.  115 

der  GAUSSSchen  Gleichung  zwischen  den  Fundamentalgrössen  erster  und  zweiter 
Ordnung  zwei  Gleichungen  hinzugefügt,  in  denen  auch  noch  die  ersten  par- 
tiellen Ableitungen  der  Fundamentalgi-össen  zweiter  Ordnung  auftreten,  und 
Bonnet']  hat  bewiesen,  dass  umgekehrt  durch  solche  Fundamentalgrössen 
erster  und  zweiter  Ordnung,  die  den  drei  Fundamentalgleichungen  genügen, 
die  Fläche,  abgesehen  von  ihrer  Lage  im  Räume  und  einer  Spiegelung,  voll- 
ständig bestimmt  wird. 

Schliesslich  mögen  noch  Untersuchungen  erwähnt  werden,  die  bei  Leb- 
zeiten von  Gauss  angestellt  worden  sind  imd  eine  Verallgemeinerung  seines 
Lehrsatzes  über  die  Winkelsumme  eines  geodätischen  Dreiecks  bezweckten. 
Jacobi"  hat  im  Jahre  183  6  den  Satz  auf  Dreiecke  ausgedehnt,  die  von  be- 
liebigen Raumkurven  gebildet  werden,  wobei  nur  vorausgesetzt  werden  muss, 
dass  in  den  Ecken  die  beiden  sich  schneidenden  Kurven  dieselbe  Hauptnormale 
haben;  die  Abbildung  auf  die  Einheitskugel  erfolgt  mittels  der  Hauptnormalen 
der  Kurven,  die  ja  bei  den  geodätischen  Linien  mit  den  Normalen  der  Fläche 
zusammenfallen.  Er  hat  dafür  einen  von  dem  GAUssschen  Lehrsatze  unab- 
hängigen, einwandfreien  Beweis  gegeben.  Bedenklich  war  jedoch  eine  Be- 
merkung, die  er  dem  Beweis  vorausschickte,  dass  nämlich  die  Verallgemeinerung 
des  GAUssschen  Lehrsatzes  sich  ohne  Mühe  isine  negotio"  ergebe,  wenn  man 
beachte,  dass  jede  Raumkurve  als  geodätische  Linie  einer  gewissen  Fläche 
angesehen  werden  dirrfe.  Dies  stimmt  zwar  für  eine  einzelne  Raumkurve, 
allein  es  ist,  wie  Clausen')  zeigte,  im  Allgemeinen  bereits  unmöglich,  eine 
krumme  Fläche  zu  bestimmen,  die  zwei  sich  in  einem  Punkte  schneidende 
und  dort  dieselbe  Hauptnormale  besitzende  Raumkiuven  als  geodätische  Linien 
in  sich  fasst^;.     In  seiner  Erwiderung'^  gibt  Jacobi,  »um  einige  unbegi-ündeten 


i;  O.  Bonnet,  Memoire  sur  la  theork  des  sttrfaees  applicables  sttr  «we  surface  donnee,  Journal  de 
l'ecole  polytechnique,  t.  25,  cah.  4'J,   1887,  S.  31. 

2)  C.  G.  J.  Jacobi,  Demonstratio  et  amplificatio  nova  theorematis  Gaussiani  de  eurvatura  integra 
Iriangvli  in  data  s^iperficie  e  lineis  brevissimis  formati,  Grelles  Journal,  Bd.  i«,  is.iT,  S.  344;  Werke, 
Bd.  7,  S.  26. 

3)  Th.  Claüsen,  Berichtigutig  eines  von  Jacobi  aufgestellten  Theorems,  .\stron.  Nachrichten,  Bd.  20, 
Nr.  457  vom  29.  Sept.  1842. 

4  Vgl.  auch  die  Briefe  von  Schumacher  an  Gauss  vom  i.Sept,  ;i.  Nov.  und  i  Bei.  1842  und 
dessen  Antwort  vom  3.  Sept.  1842,  Br.  G.-ScH.  IV,  S.  82,  92,  loi,  83. 

5)  C.  G.  J.  Jacobi,  Über  einige  merkwürdige  Curventhcoreme,  .\stron.  Nachrichten,  Bd.  in,  Nr.  46» 
vom  15.  Dez.  1S42;  Werke,  Bd.  t,  S.  34. 

15* 


116  STÄCKEL,    GAUSS  AI.S  GEOMETER. 

Zweifel  über  die  Richtigkeit  des  Theorems  zu  beseitigen«,  einen  vereinfachten 
Beweis  und  bemerkt  nebenbei,  aus  den  Darlegungen  von  Clausen  folge,  dass 
sein  Theorem  allgemeiner  als  das  GAusssche  sei,  womit  er  stillschweigend  jene 
Bemerkung  (sine  negotio)  preisgibt. 

^^^ir  wenden  uns  nunmehr  zu  den  AVirkungen.  die  die  Disquisitiones 
generales  circa  superficies  curvus  vom  Jahre  1828  im  Lauf  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  ausgeübt  haben.  Wenn  man  die  gesamte  Entwicklung  der 
mathematischen  Wissenschaften  während  dieses  Zeitraums  ins  Auge  fasst,  so 
sind  es  zwei  Punkte,  in  denen  die  Untersuchungen  von  Gauss  zur  Flächen- 
theorie entscheidend  eingegriflFen  haben.  Erstens  ist  Gauss,  während  man  bis 
dahin  in  der  Geometrie  nur  endliche  Gruppen  von  Transformationen  betrachtet 
hatte,  dazu  übergegangen,  eine  unendliche  Gruppe  (im  Sinne  von  S.  Lie)  zu 
Grunde  zu  legen,  zweitens  hat  er  die  Lehre  von  den  krummen  Flächen  als 
die  Geometrie  einer  zweifach  ausgedehnten  Mannigfaltigkeit  in  einer  Weise 
behandelt,  die  der  allgemeinen  Lehre  von  den  mehrfach  ausgedehnten  Mannig- 
faltigkeiten den  Weg  bahnte. 

F.  Klein')  hat  das  allgemeine  Problem  der  geometrischen  Forschung  mit 
den  Worten  formuliert:  »Es  ist  eine  Mannigfaltigkeit  und  in  ihr  eine  Trans- 
formationsgiuppe  gegeben.  Man  entwickle  die  auf  die  Gruppe  bezügliche 
Invariantentlieorie.«  Nachdem  die  Gruppe  der  Bewegungen  und  Spiegelungen 
den  Ausgangspunkt  der  geometrischen  Forschung  gebildet  hatte,  war  man  zu 
den  Gruppen  linearer  Transformationen  übergegangen,  die  der  projektiven 
Geometrie  eigentümlich  sind,  und  hatte  auch  andere  endliche  Gruppen,  wie  die 
der  Transformationen  durch  reziproke  Radien,  herangezogen.  Ein  Ansatz  zur 
Betrachtung  unendlicher  Gruppen  war  allerdings  schon  in  der  Geometria  Situs 
gemacht  worden,  aber  die  Fragestellung  war  hier  zu  allgemein,  als  dass  man 
Anhaltspunkte  für  weitere  Untersuchungen  hätte  gewinnen  können;  ergeben 
sich  doch  als  Invarianten  lediglich  ganze  Zahlen.  Dagegen  haben  die  Trans- 
formationen der  binären  quadratischen  Ditferentialformen  zu  einer  reich- 
gegliederten  Invariantentheoiie  geführt.  Das  GAUsssche  Krümmungsmass  ist 
das  erste  Glied  in  der  Kette  solcher  Invarianten.  Ihm  gesellt  sich  sogleich, 
als  Beispiel   kovarianter  Bildungen,    die  Seitenkrümmung   hinzu.     Auch  findet 

i;  F.  Klein,  Vergleichmde  Betrachtungen  über  neuere  geometrische  Forschungen,  Programm,  Urlangen 
\^ii,  Math.  Annalen,  Ud.  4:!,   IN113,  S.  1.7,  Geüammeltt  Mathem.  Abhandlungen  I,  11121,  S.  460. 


DIE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON   DEN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  117 

sich  im  art.  2 1  der  Disq.  gen.  bei  der  Lehre  von  den  geodätischen  Linien 
schon  der  Differentialparameter  erster  Ordnung.  Für  die  Weiterfiihrung  nach 
der  Seite  der  Flächentheorie  ist  besonders  Minding  zu  nennen'.  Unter- 
suchungen aus  der  theoretischen  Physik  veranlassten  liAME'i  bei  krummlinigen 
Koordinaten  für  Punkte  des  EuKLioischen  Raumes  die  Differentialparameter 
erster  und  zweiter  Ordnung  aufzustellen,  und  nachdem  im  .Jahre  1867  Rie- 
MANNS  Habilitationsvortrag  vom  10.  Juni  1854:  Über  die  Hypothesen,  welche 
der  Geometrie  zu  Grunde  liegen,  veröffentlicht  worden  war,  hat  Beltrami^)  die 
allgemeine  Lehre  von  den  Differentialparametern  quadratischer  Differential- 
formen mit  beliebig  vielen  Veränderlichen  entwickelt.  Gleichzeitig  damit  sind 
die  Untersuchungen  von  Christoffel  "*)  und  Lipschitz  *)  über  die  Transformation 
solcher  Differentialformen.  Damit  wurde  der  Forschung  ein  Feld  erschlossen, 
das  noch  heute  nicht  abgeerntet  ist. 

Mit  der  Verallgemeinerung  auf  beliebig  viele  Veränderliche  kommen  wir 
zu  dem  Gesichtspunkt  der  mehrfach  ausgedehnten  Mannigfaltigkeiten. 

Für  Gauss  hatten  die  mehrdimensionalen  Räume  eine  metaphysische  Be- 
deutung. Es  handelt  sich  hier  um  Spekulationen,  die  im  18.  Jahrhundert 
weit  verbreitet  waren  und  die  auch  ins  19.  hinüberreichen*).  »Gauss,  nach 
seiner  öfters  ausgesprochenen  innersten  Ansicht,  betrachtete  die  drei  Di- 
mensionen des  Raumes  als  eine  spezifische  Eigentümlichkeit  der  menschlichen 
Seele;  Leute,  welche  dieses  nicht  einsehen  könnten,  bezeichnete  er  einmal  in 
seiner  humoristischen  Laune  mit  dem  Namen  Böoter.  Wir  können  uns,  sagte 
er,    etwa   in  Wesen   hineindenken,    die    sich    nur  zweier  Dimensionen   bewusst 


1)  F.  Minding,  Wie  sich  entscheiden  lässt,  ob  zwei  gegebene  krumme  Flächen  auf  einander  abwickelbar 
seien  oder  nicht,  Grelles  Journal,  Bd.  19,  isn.i,  S.  3:0. 

2)  G.  Lame,  Legons  sur  les  fonctions  transcendantes  et  sur  les  surfaces  isothennes,  Paris  is.it. 

3)  E.  Beltrami,  Su!}4.  i^orica  generale  dei  paranietri  differenziali,  Memorie  deU'Acc.  di  Bologna, 
zweite  Reihe,  Bd.  8,   1869,  S.  551,  Opere  matematiche  II,  S.  74. 

4)  E.  B.  Christoffel,  Über  die  Transformation  der  homogenen  Ditf'ercntialausdrücke  zweiten  Grades, 
Journal  f.  r.  u.  a.  Math.,  Bd.  70,  1869,  S.  46;  Gesammelte  mathematische  Abhandlungen,  Bd.  I,  S.  352. 

5)  R.  Lipschitz,  Untersuchungen  in  Betreff  der  ganzen  homogenen  Funktionen  von  n  Differentialen, 
Journal  f.  r.  u.  a.  Mathematik,  Bd.  70,  iSfiii,  S.  71,  Bd.  71,  iS7o,  S.  271,  2S8,  Bd.  72,  I87U,  S.  i;  Bemer- 
kungen  zu  dem  Prinzip  des  kleinsten  Zwanges,  ebenda,  Bd.  s2,  1877,  S.  sii;  lim  Anschluss  an  Riemanns 
187  6  veröffentlichte  Pariser  Pieisarbeit  vom  Jahre  isiM'. 

6)  Man  vgl.  etwa  F.  Zöllner,  Naturwissetischaft  und  christliche  Offenbarung,  Leipzig  issi,  sowie 
die  zahlreichen  Veröffentlichungen  von  H.   Scheffleu  in  Braunschweig. 


118  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

sind;  höher  über  uns  stehende  würden  vielleiclit  in  ähnlicher  Weise  auf  ims 
herabblicken,  und  er  habe,  fuhr  er  scherzend  fort,  gewisse  Probleme  hier  bei 
Seite  gelegt,  die  er  in  einem  höhern  Zustande  später  geometrisch  zu  behandeln 
gedächte«  (Sartorius,  S.  81).  Solche  Gedanken  reichen  wohl  bis  in  die  Jugend 
zurück,  denn  in  dem  Briefe  an  Grassmann  vom  11.  Dezember  1844  (W.  Xi, 
S  436)  sagt  Gauss,  dessen  Tendenzen  in  der  Ausdehnungslehre  begegneten 
teilweise  den  Wegen,  auf  denen  er  selbst  nun  seit  fast  einem  halben  Jahr- 
hundert gewandelt  sei;  dabei  beruft  er  sich  auf  die  Selbstanzeige  vom  Jahre 
1831,  an  deren  Schluss  von  »Mannigfaltigkeiten  von  mehr  als  zwei  Dimensionen« 
gesprochen  wird  (W.  II,  S.  178).  Auch  zeigt  der  Brief  Wächters  an  Gauss 
vom  12.  Dezember  1816  (W.  Xi,  S.  481),  dass  bei  dessen  Besuch  im  April 
1816    von  Räumen   mit   beliebig   vielen  Abmessungen   die  Rede   gewesen  war. 

Die  Äusserung  von  Gauss,  über  die  Sartorius  berichtet  hat,  fällt  in  die 
Zeit  zwischen  1847  und  1855.  Dass  Gauss  sich  gerade  in  den  letzten  Jahren 
seines  Lebens  eingehend  mit  mehrfach  ausgedehnten  Mannigfaltigkeiten  be- 
schäftigt hat,  lässt  auch  eine  Stelle  in  den  Beiträgen  zur  Theorie  der  alge- 
braischen Gleichungen  vom  Jahre  1849  erkennen:  »Im  Grunde  gehört  der 
eigentliche  Inhalt  der  ganzen  Argumentation  [beim  Beweise  der  Wurzel- 
existenz] einem  höhern,  von  Räumlichem  unabhängigen  Gebiete  der  allge- 
meinen abstrakten  Grössenlehre  an,  dessen  Gegenstand  die  nach  der  Stetigkeit 
zusammenhängenden  Grössenkombinationen  sind,  einem  Gebiet,  welches  zur 
Zeit  noch  wenig  angebauet  ist  und  in  welchem  man  sich  auch  nicht  bewegen 
kann  ohne  eine  von  räumlichen  Bildern  entlehnte  Sprache«  (W.  III,  S.  79). 
In  einer  bald  darauf,  im  Wintersemester  1850/51,  gehaltenen  Vorlesung  über 
die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  hat  Gauss  Gelegenheit  genommen,  seinen 
Zuhörern  einige  Gedanken  über  solche  »Mannigfaltigkeiten  von  mehreren 
Dimensionen«,  allerdings  unter  Beschränkung  auf  die  verallgemeinerte  Mass- 
bestimmung des  Euklidischen  Raumes,  mitzuteilen  (W.  X  i,  S.  473  —  481)'). 

Die  von  Gauss  begehrte  Lehre  von  den  nach  der  Stetigkeit  zusammen- 
hängenden Grössenkombinationen  hat  bekanntlich  Riemann  in  seinem  Habili- 
tationsvortrage vom  in.  Juni  1854  begründet;  er  hat  sich  dabei  für  die  Kon- 
struktion des  Begriffes  einer  m-fach  ausgedehnten  Mannigfaltigkeit  ausdrücklich 

t)  V<;1.  P.  Stäckel,  Eine  von  Gauss  gestellte  Aufgabe  des  Minimums,  Heidelberger  Berichte.  Jalir- 
j^ang   1917,   1 1.  Abhandlung. 


niE  ALLGEMEINE  LEHRE  VON   PEN   KRUMMEN   FLÄCHEN.  119 

auf  die  vorher  genannten  Veröffentlichungen  von  Gauss  {Selbstanzeige  vom 
Jahre  1831,  Beiträge  zur  Theorie  der  algebraischen  Gleichungen  vom  Jahre 
1849)  berufen  und  bei  der  weiteren  Untersuchung  über  die  in  den  Mannig- 
faltigkeiten ^^•altenden  Massverhältnisse  als  Grundlage  die  Disquisitiones  gene- 
rales  circa  superficies  curvas  bezeichnet.  Durch  Riemann  haben  also  die  Ge- 
danken, deren  Keime  sich  in  der  GAUSSschen  Abhandlung  finden,  ihre  volle 
Entfaltung  erfahren.  In  den  folgenden  Jahrzehnten  hat  sich  die  Bedeutung 
dieser  Gedanken  in  immer  höherem  Masse  herausgestellt,  nicht  allein  für  die 
Mathematik,  sondern  auch  für  die  analytische  Mechanik  und  schliesslich  für 
die  Grundlagen  der  theoretischen  Physik. 

34. 

Bibliographischer  Anhang. 

Die  von  Gauss  Ende  1S22  au  die  Kopenhagener  Societiit  der  WiBsenschaften  eingesandte  Abhandlung 
über  die  Abbildung  krummer  Flächen  hatte  zwar  den  Preis  erhalten,  allein  die  Gesellschaft  Qberliess  es 
den  Preisträgern,  für  die  Veröffentlichung  zu  sorgen,  und  so  ist  die  Preisschrift  erst  1S25  im  dritten  und 
letzten  Heft  der  Ton  Schimacher  als  Ergänzung  der  Astronomischen  Nachrichten  herausgegebenen  Astro- 
nomischen Abhandlungen  erschienen.  Sie  ist  abgedruckt  in  den  Werken,  Bd.  IV,  1873,  2.  Abdruck  isso, 
S.  18a— 216.  Eine  Übersetzung  ins  Englische,  wahrscheinlich  von  Francis  Baily  (1704—1844),  ist  1S2S 
erschienen : 

General  Solution  of  the  problem:  to  represent  the  parts  of  a  gi\en  surface  on  another  given  surface, 
so  that  the  smallest  parts  of  the  representation  shall  be  similar  to  the  corresponding  parts  of  the  surface 
represented.  By  C.  F.  Gauss.  Answer  to  the  Prize  Question  proposed  by  the  Royal  Society  of  scieni-es 
at  Copenhagen.     The  philosophical  magazine,  new  aeries,  vol.  l,  London  1828,  S.  104 — 113,  206 — 2is. 

Im  Jahre  l»'.i4  ist  die  .\bhandlung  von  A.  WangerIN  neu  herausgegeben  worden;  sie  findet  sicli  im 
Hefte  5  5  von  Ost  WALDS  Klassikern  der  exakten  Wissenschaften ;  Über  Kartenprojection,  Abhandlungen  von 
Lagrange  [1779)  und  Gauss  (is22),  Leipzig  isy4,  S.  57 — si. 

Die  Abhandlung  über  die  allgemeine  Lehre  von  den  krummen  Flüchen  hat  Galss  am  s.  Oktober 
l!>27   der  Göttinger  Societät  vorgelegt.     Eine  von  Gauss  selbst   verfasste  Anzeige   erschien  am  5.  No\ember 

1827  in  den  Göttingischen  Gelehrten  Anzeigen,  Stück  177,  S.  i7iu  — 1768;  sie  ist  abgedruckt  in  den  Werken, 
Bd.  IV,  S.  341  — .147.  Eine  Übersetzung  der  Selbstanzeige  ist  schon  lS2'.i  von  Francis  Baily  her.ius- 
gegeben  worden ;  ' 

Account  of  a  paper  by  Prof.  Gauss,  intitled:  Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas,  com- 
municated  to  the  Royal  Society  of  Göttingen  on  the  sth  of  october  IS27,  The  philosophical  magazine,  new 
series,  vol.  3,  London  ls-.!S,  S.  331  —  336. 

Man   vgl.  hierzu    den  Brief  von  Olbeks  an  Gauss  vom  2.  Juli  1828  und    dessen  Antwort  Ende  Juli 

1828  (Br.  G.-O.  2,  S.  508,  511,  zum  Teil  abgedruckt  AV.  VIII,  S.  444—445). 

Die  Abhandlung  selbst  ist  182  8  in  den  Denkschriften  der  Göttinger  Societät  erschienen: 
(1)         Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas,    auctore  Carolo  Fkiderico  Gauss,    Societati  regiae 
oblatae  d.  s.  Octob.  1827.     Commentationes  societatis  regiae  scientiarum  Gottingensis  recentiores,   Commen- 
tatioues  classis  mathematicae.     T.  VI  (ad  annos  1823-1817),     Gottingae  182S,  S.  on— l4ii. 


120  STÄCKEL,    GAUSS  ALS  GEOMETER. 

Es  gibt  Sonderabzüge  mit  den  Seitenzahlen  i  bis  so  vind  einer  besonderen  Titelseite,  die  den  Ver- 
merk:  Güttingae,  T)i>is  Dieterichianis,   182S  trägt. 

Der  lateinische  Text  wurde  in  der  fünften,  von  LlouviLLK  besorgten  Ausgabe  des  Werkes :  G.  MONGE, 
Application  de  l'analyse  ä  la  g^ometrie,  Paris  1850,  S.  505 — 546  abgedruckt  unter  dem  Titel: 

(2)  Kecherches  sur  la  theorie  g^n^rale  des  surfaces  courbes,  par  M.  C.  F.  Gai'ss. 
Es  folgen  zwei  Übersetzungen  ins  Französische : 

(3)  Kecherches  generales  sur  les  surfaces  courbes  par  M.  Gauss.  Traduit  du  latin  par  M.  T[IBURCE] 
A[badie],  ancien  eleve  de  l'Ecole  pohtechnique,  Nouvelles  annales  de  mathtoatiques,  t.  11,  Paris  1852, 
S.  195— 25S. 

(4)  Kecherches  g6n6rales  sur  les  surfaces  courbes,  par  M.  C.  F.  Gauss,  traduites  en  francais,  suivies  de 
notes  et  d'6tudes  sur  divers  points  de  la  theorie  des  surfaces  et  sur  certaiues  classes  de  courbes,  par  M. 
E.  KOOER,  Paris  i»5S. 

Nach  H.  D.  Thompson  (siehe  Nr.  11)  ist  von  [i)  eine  weitere  Ausgabe  Grenoble  l87u,  Paris  187 1 
erschienen. 

(5)  Die  Werke  von  Cari.  Friedrich  Gauss,  herausgegeben  von  der  Königlichen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften in  Göttingen  bringen  die  Disq.  gen.  im  vierten  Bande,  Göttingen  1873,  S.  217 — 25S;  ein  zweiter, 
unveränderter  Abdruck  ist   l>>80  herausgekommen. 

Es  gibt  zwei  l.'bersetzungen  ins  Deutsche.  Die  erste  ist  ein  Teil  des  Werkes:  O  Böklen,  Analy- 
tische Geometrie    des  Raumes,    zweite  Auflage,   Stuttgart   1S84,    dessen    zweiter  Teil  den    Doppeltitel    führt: 

(6)  Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas  von  C.  F.  Gauss,  ins  Deutsche  übertragen,  mit  An- 
wendungen und  Zusätzen.     Die  FRESNELsche  Wellenfläche. 

Die  Übersetzung  steht  S.  la? — 232.  Die  erste  Auflage,  Stuttgart  1861,  enthält  die  Übersetzung  der 
Disq.  gen.  noch  nicht. 

Zweitens  ist  zu  nennen : 

(7)  Allgemeine  Flächentheorie  (Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas)  von  Carl  Friedrich 
Gauss  (I82").  Deutsch  herausgegeben  von  A.  Wangerin.  Heft  5  von  Ostwalds  Klassikern  der  exakten 
Wissenschaften,  Leipzig   iss9,  «2  S. ;  zweite  revidierte  Auflage,  Leipzig  1900,  «4  S. 

In  den  Budapester  Mathematisch  -  physikalischen  Blättern  hat  Nikolaus  Szi'j.4rtc)  eine  Übersetzung 
ins  Magyarisclie  veröö'entlicht : 

(8)  A  felületek  ältalänos  elmelete.  Irta  Gauss  KXroly  Frigyes.  Forditotta  Szi'järtÖ  Miklös.  Mathe- 
matikai  es  phyaikai  lapok,  Band  c,  Budapest  1897,  S.  45 — 114. 

Eine  Übersetzung  ins  Englische  enthält  das  Buch : 

(9)  Karl  Friedrich  Gauss,  General  investigations  of  curved  surfaces  of  18J7  and  1825.  Translated 
with  notes  and  a  bibliography  by  J.  C.  Morehead  and  A.  M.  Hiltküeitel.  The  Princeton  University 
Library,   1902. 

Die  Einleitung  von  H.  D.  Thompson  gibt  bibliographische  Notize<  ^  Es  folgt  S.  1 — 44  die  Über- 
setzung der  Disq.  gen.  Beigegeben  sind  Übersetzungen  der  Selbstanzeige  und  der  tuuu  im  achten  Bande 
der  Werke  aus  dem  Nachlass  herausgegebenen  Neuen  allgemeinen  Untersuchungen  über  die  krummen 
Flächen. 


SCHLUSSBEMERKUNG.  121 

SCHLUSSBEMERKUNG. 

Kurze  Zeit  nach  dem  Abdruck  der  vorstehenden  Abhandlung  in  den  Materialien  für  eine  toissen- 
schaflliche  Biographie  ton  Gauss,  wurde  der  Verfasser  Paul  Stäckel  aus  voller  Schaffenskraft  durch  einen 
jähen  Tod  der  "Wissenschaft;  entrissen.  —  Seine  grossen  Verdienste  um  die  Weiterführung  der  G.\issausgabe 
vom  VIII.  Bande  an  und  um  die  würdige  Schilderung  der  Leistungen  von  Gauss  auf  den  verschiedenen 
Gebieten  der  Mathematik  erfahren  mit  dem  hier  wiedergegebenen  Aufsatz  ihre  Krönung.  —  Als  es  sich  nun 
darum  handelte,  Stäckels  Abhandlung  über  Gauss  als  Geometer  in  den  Band  X  i  der  Werke  einzufügen, 
konnte  nur  ein  in  allem  Wesentlichen  unveränderter  Wiederabdruck  aus  den  Materialien  in  Frage  kom- 
men. Der  Unterzeichnete  hat  im  Vereine  mit  FRIEDRICH  Engel  eine  sorglaltige  Durchsicht  der  Arbeit 
des  dahingegangenen  Freundes  vorgenommen,  wobei  sich  nur  an  einigen  Stellen  geringfügige  Änderungen 
als  erforderlich  erwiesen  haben.  Es  ist  uns  aber  bekannt,  dass  Stäckel  selbst  die  Absicht  hatte,  beim 
Wiederabdruck  seines  Aufsatzes  in  den  Werken  einen  Punkt  näher  z>i  erörtern,  den  völlig  aufzuklären  ihm 
bei  der  Abfassung  noch  nicht  gelungen  war.  Es  handelt  sich  nämlich  darum,  welche  Bedeutung  G.\uss 
der  Ausmessung  des  Dreiecks  Brocken,  Hohenhagen,  Inselsberg  in  bezug  auf  die  Fr^e  beigelegt  hat,  ob 
man  die  Euklidische  oder  eine  nichteuklidische  Geometrie  als  theoretische  Grundlage  für  die  Messungen 
auf  der  Erde  und  am  Himmel  anzunehmen  habe.  —  Da  sich  im  Nachlasse  St.Kckels  keine  Aufzeichnung 
über  diese  Frage  gefunden  hat,  so  müssen  wir  uns  damit  begnügen,  diejenigen  Stellen  aus  Sartorius  von 
Waltershacsens  Schrift  Gauss  zum  Gedächtnis  hier  wiederzugeben,  die  sich  darauf  beziehen. 


Sartorius,  S.  53. 

».  .  .  Das  Heliotrop  fand  sogleich  bei  der  Hannoverschen  Triangulation 
seine  volle  Anwendung  und  das  grosse  Dreieck,  ^^elleicht  das  grösste,  welches 
gemessen  worden  ist.  nämlich  zwischen  dem  Brocken,  dem  Inselsberg  und  dem 
Hohenhagen,  wurde  mit  Hilfe  desselben  so  genau  gemessen,  dass  die  Summe 
der  drei  Winkel  nur  um  etwa  zwei  Zehnteile  einer  Sekunde  sich  von  zwei 
Rechten  entfernt.« 

Sartorius,  S.  81. 

».  .  .  Die  Geometrie  betrachtete  Gauss  nur  als  ein  konsequentes  Gebäude, 
nachdem  die  Parallelentheorie  als  Axiom  an  der  Spitze  zugegeben  sei;  er  sei 
indes  zur  Überzeugung  gelar^*";  dass  dieser  Satz  nicht  bewiesen  werden  könne, 
doch  wisse  man  aiis.^'^or  Erfahrung,  z.  B.  aus  den  Winkeln  des  Dreiecks 
Brocken,  Hohenhagen.  Inse.sberg,  dass  er  näherungswciso  richtig  sei.  Wolle 
man  dagegen  das  genannte  Axiom  nicht  zugeben,  so  folge  daraus  eine  selb- 
ständige Geometrit-.  die  er  gelegentlich  ein  Mal  verfolgt  und  mit  dem  Namen 
Antieuklidische  Geometiie  bezeichnet  habe.« 

Hierzu  ist  noch  die  oben  S.  33  abgedruckte  Stelle  aus  Gauss'  Brief  an  Tairinis  vom  i.  November 
18J4  zu  vergleichen.  Schlesinger. 

X2  Abb.  4.  16 


Inhaltsverzeichnis. 

1.  Einleitung Seite  3 

I.    Die  Grundlagen  der  Geometrie. 

2.  Allgemeines  über  die  Arbeitsweise  von  Gauss —  « 

A.  Von  den  Anfängen  der  nichteuJclidischeH  Geometrie  bis  zur  Entdeckung  der  transzendenten  Tri- 
gonometrie (1793—1817). 

;t.  Einleitendes.     Die  Jugendzeit  (1792 — 17ii5) —  17 

4.  Fortschritte  in  den  Grundlagen  der  Geometrie  (t7iis — 1799) —  19 

5.  Schwanken  und  Zweifel  (1799  —  1806) —  2.s 

(i.  Die  Entdeckung  der  transzendenten  Trigonometrie  (1805 — 1817) —  28 

li.    Der  Aushau  der  nichteuklidischen  Geometrie  (seit  1817). 

-,.  Die  Zeit  der  Geodäsie  und  der  Flächentheorie;   Schweikart  und  Taueinus  (1817— IS31)  —  31 

8.  Die  weitere  Entwicklung  bei  Gauss;   Johann  Bolyai  und  Lobatschefski.i  (1«3I— 1840)  —  35 

II.  Nachwirkung  der  GAUSSschen  Gedanken —  41 

C.    üonstige  Beiträge  zur  Axiomatik. 

10.  Weitere  Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Geometrie —  42 

II.    GeometriasituB. 

11.  Allgemeines  über  die  Geometria  situs  bei  Gauss —  4  9 

12.  Verknotungen  und  Verkettungen  von  Kurven —  so 

13.  MÖBIU8,  Listing,  Riemann —  .si 

III.    Die  komplexen  Grössen  in  ihrer  Bezi   ei,'i  n  g  /,  u  r  Geometrie. 

14.  Kreisteilung v   .   ^- —  *" 

15.  Elliptische,  im  besonderen  lemniskatische  Funktionen —  80 

1 6.  Existenz  der  Wurzeln  algebraischer  Gleichungen —  «2 

17.  Biquadratische  Reste —  BS 

18.  Benutzung  der  komplexen  Grössen  für  geometrische  Untersuchungen              —  64 

19.  Weiterentwicklung  der  Lehre  von  den  komplexen  Grössen —  0  5 

20.  Komplexe  Grössen  mit  melir  als  zwei  Einheiten —  »7 

IV.    Elementare  und  analytische  Geometrie. 

21.  Allgemeines —  "o 

22.  Das  Dreieck —  70 


INHALTSVERZKICHNIS.  123 

25.  Das  Viereck Seite  71 

-M.  Die  Vielecke 74 

26.  Der  Kreis  und  die  Kugel 7« 

2B.  Kegelschnitte  und  Flächen  zweiter  Ordnung 78 

27.  Sphärische  Trigonometrie Si 

V.    Die  allgemine  Lehre  von  den  krummen  Flächen. 

28.  Entwicklung  der  Gr\indgedanken  bis  zum  Jahre   i  s  1 1; , 84 

29.  Die  Kopenhagener  Preisschrift  (1H2'.!) 88 

30.  Vorarbeiten  zu  den  Allgemeinen  Untersuchungen  über  die  krummen  Flächen   (is22 — 1S25!  —  S4 
ai.  Die  Entstehung  des  Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas  (l82fi — 182")      ...  —  loi 

3  2.  Weitere  Untersuchungen  über  krumme  Flächen —  lufi 

3  3.  Bedeutung  und  Wirkung  der  Disquisitiones  generales —  ilO 

3  4.  Bibliographischer  Anhang —  11« 

Schlussbemerkung. —  121 


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QA  Gauss,   Karl  Pr^ederich 

3  Werke 

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Bd.  10 

Abt,  2 

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