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^mmlnng
zwanglosTr Abhandlungen
aus dem Gebiete der
Nefven- und KeisteskranklieiteD.
Begründet von
Direktor Prof. Dr. Konrad Alt,
Ucbtspringe (Altmark).
In Rücksicht anf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die
Bedürfnisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung
der Herren Geheimer Medizinal>Rst Professor Dr. Anton in Halle, Prof.
Dr. Aschaffenhnrg in Köln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger
in Jena, Prof. Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen,
Geh. Medizinal'Rat Prof. Dr. Goldscheider in Berlin, Professor und
Direktor Dr. Eirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. ErOmer
in ConradsteiOj Sanitätsrat Dr. Laquer in Frankfurt a. H., Medizinalrat
Dr. Majser in Hildburghauson, Med.-Rat Dr. Näcke in Hubertnsbnrg,
Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Pn^, Direktor Dr.
H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in Ucbtspringe, Geheimrat
Dr. Schäle in Illenau, Prof. Dr. Sch ult ze in Greifswald, Geb. Med.-Rat
Dr. Siemens in Lauenbnrg, Geh. Med.-Rat Dr. von Strümpell in
Leipz^ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ünverricht in Magdeburg, Prof. Dr.
von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin
heransgegeben von
Prof. Dr. A. Hoche,
Freiburg i. Br.
Band IX.
Halle a. S.
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung.
1912.
Inhalt.
Schnitze, Ernst. Der Kampf um die Rente nnd der Selbst¬
mord in der Rechtsprectanng des Reichsrersiche-
rnngsamts.
Dierlich, Nervenarzt Dr. med. Symptomatologie und
Diiferentialdiagnose der Erkranknngen in der hinteren
Schädelgrube mit besonderer Beräcksichtignng der
für einen chirurgischen Eingriff zugängigen.
Bethge, W. in Halle a. S. Der Einfluß geistiger Arbeit
auf den Kflrper unter besonderer Berflcksichtignng
der Ermüdungserscheinungen.
Mngdan, Dr. Franz in Freiburg i. B. Periodizität nnd perio¬
dische Geistesstörungen.
Laquer, Sanitätsrat Dr. Leop. in Frankfurt a. M. Die Heil¬
barkeit nervöser Unfalisfolgen. Dauernde Rente oder
einmalige Kapitalabfindnng ?
Laquer, Sanitätsrat Dr. B. in Wiesbaden. Die Großstadt-
Arbeit nnd ihre Hygiene.
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Del: Kampf Keüte'
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Sammlung
zwangloser Abhandlungen
aus dem Gebiete der
Nerven- und Geisteskrankheiten.
Begründet von
Direktor Prof. Dr. Konrad Alt,
Ucbtspringe (Altmark)..
In Rücksicht anf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die
Bedürfiiisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung
der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. Dr.
Aschaffenbnrgin Köln, Geheim. Med.-Rat Prof.Dr. Binswanger in Jena,
Professor Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen,
Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Goldscheider in Berlin, Professor
und Direktor Dr. Kirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr.
Kr Ürner in Gonradstein, Sanitätsrat Dr. La quer in Frankfurt a. M.,
Medizinalrat Dr. Mayser in Hildburghausen, Med.-Rat Dr. Näcke in
'Hubertusburg, Profc Dr. Oppenheim in Berlin, Hofrat Prof. Dr. Pick
in Prag, Direktor Dr. H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in
üchtspringe, Geheimrat Dr. Schüle in Illenau, Prof. Dr. Schultze
in Greifswald, Geh. Med.-Rat Dr. Siemens in Lauenbnrg, Geh. Med.-Rat
Dr. von Strümpell in Breslau, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ünverricht
in Magdeburg, Prof. Dr. von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil
in Stuttgart, Direktor Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof.
Dr. Ziehen in Berlin
herausgegeben von
Prof. Dr. A. Hoche,
Freiburg i. Br.
Band IX, Heft 1
l)er Kampf um die Rente und der Selbstmord
in der
Rechtsprechung des Reichsyerslcherungsamts.
Von
Ernst Schnitze.
Vor einigen Jahren (Januar 1905) habe ich im Aufträge
des Reichsversicherungsamts einen Arbeiter Namens Jung be¬
obachtet, der Ausgang des Jahres 1886 eine unerhebliche
Hoden Verletzung erlitten hatte. In meinem Gutachten kam ich
zu dem Schluß, daß Jung völlig erwerbsunfähig sei, da er
ausgesprochene hysterische Störungen und zahlreiche hypo¬
chondrische und paranoische Züge bot. Diese Störungen waren,
wenn auch weniger erheblich, schon einige Jahre vorher von
Max La ehr, Haus Schönow, festgestellt und vom Beichsver-
sicherungsamt als Folge des Unfalls aufgefaßt worden. Des¬
halb brauchte ich in meinem Gutachten nicht zu der in den
ünfallakten Jung vielfach angeschnittenen Frage Stellung zu
nehmen, ob diese nervösen und psychischen Störungen auf
einen „Kampf um die Rente“ zurückzuführen seien.
Inzwischen hat „Die Deutsche Zuckerindustrie“ in den
Nummern 1 und 5 des Jahrg. 1907, und zwar in ihrer Beilage
„Zucker-Berufsgenossenschaft“ den „Schadenfall Wilhelm Jung“
ausführlich veröffentlicht als einen Beweis dafür, „welche
Arbeiten, Schwierigkeiten und Kosten den Berufsgenossen¬
schaften in einer einzigen Sache entstehen können“. Der Fall Jung
ist auch in der Tat ein ungewöhnlicher. Jung hat während
19 Jahre im Instanzenzuge zehnmal die Schiedsgerichte und
1 *
272681
4
Ernst Schnitze,
achtmal das Keichsversicherungsamt beschäftigt;*) die eigent-
Hellen Unfallakten weisen die stattUebe Anzahl von 724 Blät¬
tern auf. Man muß es der Berufsgenossenschaft schon zugute
halten, wenn sie in ihrem begreiflichen Arger manches harte, ja
ungerechte Wort über den Unfallverletzten, aber auch über ihn
günstig beurteilende Arzte sagt.
Später hat Kollege Sc hon leid, Schöneberg bei BerHn,
Vertrauensarzt der Zuckerberufsgenossenschaft, denselben Fall,
wohl in Anlehnung an die ausführliche Aktenschilderung der
eben genannten Zeitschrift, in der „Medizinischen Klinik*^ 1908,
Nr. 31, eingehend behandelt in einem Aufsatz: „Traumatische
Hypochondrie oder Rentenhypochondrie“. Schönfeld sieht in
der Hypochondrie Jungs keine Folge des Unfalls. Diese Er¬
krankung ist seines Erachtens weder durch die Verletzung
selbst hervorgerufen, noch hat sie sich infolge dieser Ver¬
letzung entwickelt; sie ist vielmehr nur als eine Folge des
Kampfes um die Rente anzusehen und aus der Neigung zum
QneruUeren entstanden; doch muß „ein gewisser Teil von
Qnerulantentnm“ seines Erachtens auch schon vor dem Unfall
in Jung gesteckt haben, wie er vorher betont. Schönfeld
schließt seinen Aufsatz mit den Worten: „Daß aber ein solches
Leiden, welches nur infolge der Aufregungen im Kampfe um
eine möglichst hohe Unfallrente (zu ergänzen: entstanden ist),
nicht als eine Folge des erlittenen Unfalls anzusehen ist, hat
das Reichsversicherungsamt schon selbst durch rechtskräftige
Entscheidung anerkan nt. “
Dieser Aufsatz war für mich die Veranlassung, mich mit
der rechtlichen Bewertung des Kampfes um die Rente genauer
zu beschäftigen, zumal die Redaktion der „Medizinischen
Klinik“, eines in weiteren ärztlichen Kreisen verbreiteten
*) Jung ruht aacb jetzt noch nicht. Die vorliegende Arbeit hatte
ich kaum niedergeschrieben, als ich vom Reichsversichemngsamt unter der
Übersendang von 22 Aktenstücken die Anfforderang erhielt, Jang wiederam
za begatachten. Die Zacker-Berafsgenossenschaft hatte mithin recht, wenn
sie ihre Mitteilang des Falles mit der vorsichtigen and resignierten Äufierang
schloß: „Mit der letzten Entscheidang hat der Schadenfail Jang vorläafig
sein Ende erreicht.“
Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechang des R.-y.-A. 5
Blattes, in einer Fußnote darauf hinwies, daß sie später ein¬
schlägige Fälle bringen werde.
Ich habe daher die im „Kompaß‘‘ veröffentlichten Ent¬
scheidungen des Reicbsversicherungsamts und der Landesver-
sicberungsämter*) durchgesehen. So interessant auch die Ent¬
scheidungen des Reichsversicherungsamts für den Irren- und
Nervenarzt sind, so sind sie im ganzen doch bisher nur selten
Gegenstand psychiatrischer und neurologischer Kritik gewesen.
Bei der Durchsicht der bisher erschienenen 2^ Bände erlebt
man in Kürze die Geschichte eines umschriebenen Kapitels der
Medizin. Mit der Arbeit von Oppenheim hält der Begriff
der „traumatischen Neurose“ seinen Einzug in die Entschei¬
dungen, und ich war erstaunt zu sehen, wie schnell die nicht
zuletzt von den Ärzten vielfach angefeindete Lehre hier ihr
^ Bürgerrecht gewonnen hat. Ich sah sehr bald ein, daß es un¬
möglich war, eine erschöpfende Kritik der zahlreichen Ent¬
scheidungen vom psychiatrischen Standpunkte ans zu geben.
Ich begnüge mich daher vorläufig damit, nur noch den Selbstmord
in seiner Beziehung zur Unfallgesetzgebung zu besprechen,
und zwar wieder im Anschluß an einen Sonderfall. Ein epi¬
leptischer Arbeiter hatte einen Unfall — übrigens im epilep¬
tischen Anfalle — erlitten und war hysterisch geworden. Später
hatte er sich erhängt; es war sicher, daß er vorher psychisch
krank gewesen war und daß eine Psychose den Selbstmord
herbeigeführt hatte. Ich mußte ein Obergutachten darüber
erstatten, ob der Selbstmord als eine Folge des Unfalls anzu-
seben sei oder nicht.
Somit zerfällt die vorliegende Arbeit in zwei Abschnitte;
der erste erörtert den Kampf um die Rente, der zweite den
Selbstmord im Bereiche des Unfallversicherungsgesetzes und
in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts. Aus meinen
Betrachtungen ergeben sich einige praktische Schlußfolgerungen,
die ich kurz zusammenfassen werde.
*) Die Entsoheidangen sind so zitiert, da£ das Datum den Tag au-
gibt, an dem die betreffende Entscheidung gefällt ist; die daraaf&Igende
römische Zahl gibt den Band, die arabische Ziffer die Seite der vom
„Kompaß“ veröffentlichten Entscheidungen an.
6
Ernst Schnitze,
L
Im Interesse des Lesers scheint es mir geboten, den Fall
Jang, Ton dem die Yorliegende Arbeit ihren Ansgang nahm,
hier nicht weiter zu schildern. Ich werde anf ihn nur ge¬
legentlich znrückkommen. Ich halte es yielmehr für ersprie߬
licher, die mir vorliegenden wichtigsten Entscheidungen in der
Reihenfolge ihres Erlasses in Kürze mitzuteilen und dann eine
Kritik folgen zn lassen.
1. Der erste Fall, bei dem meines Wissens das Reichsver¬
sicher nngsamt „unberechtigte Verfolgung von Entschädigungs¬
ansprüchen nicht als Unfallsfolge*^ anerkannte, betraf einen
Schiffsbaner K. (17. Juni 1902, XVI, 127), der offenbar von
Krehl, damals noch hier in Greifswald, begutachtet war.
Dieser Gutachter nahm an, daß bei dem Kläger eine „Nerven¬
schwäche“ bestehe, die als mittelbare Folge der Unfälle inso¬
fern gelten müsse, als sie eine Folge der mit den Unfällen
nnd ihrer Beurteilung verbundenen Erregungen anznseben sei.
„Da der Kläger alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um eine
Rente zu erlangen, so habe durch die mit den daraus ent¬
standenen Prozessen verbundenen Gesuche, Beschwerden und
Entscheidungen das Nervensystem des Klägers gelitten.“ Das
Schiedsgericht trat dieser Auffassung nicht bei; „die Erregung
könne vielmehr nur durch die Verfolgung der nur ver¬
meintlichen, nicht bestehenden, also durch das Gesetz und die
Unfälle nicht hervorgerufenen Ansprüche entstanden sein.“ Das
Reichsversichenmgsamt schloß sich derselben Auffassung an,
„deren Voraussetzungen nicht ausschließlich auf medizinischem
Gebiete liegen, nnd die deshalb der selbständigen Prüfung des
Gerichts zu unterziehen war“. „Es muß zagegeben werden,
daß insbesondere in Fällen, in denen lediglich die subjektiven
Angaben des Verunglückten über die Behinderung seiner Er-
. werhsfähigkeit vorliegen, durch die Schwierigkeit, die Unfall¬
folgen festznstellen, und durch die damit verbundene Ver¬
zögerung der Entscheidung über die zu gewährende Unfall-
entschädignng psychische Erregungen hervorgerufen werden
können, welche znnächst zwar nur anf die Geltendmachung
des Eutschädigungsanspruchs zurückzuführen sind, mittelbar
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des 7
aber auch als Folgen des Unfalls selbst angesehen werden
können. Wo indes die Geltendmachung der Entschädigungs¬
ansprüche nnr deshalb auf den Seelen- und Geisteszustand des
Verletzten einen nachteiligen Einfluß ausübt, weil er yon der
irrigen Vorstellung ausgeht, er müsse ohne Bücksicht auf das
Vorhandensein oder den Grad einer durch den Unfall ver¬
ursachten Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter allen
Umständen schon dafür eine Entschädigung erhalten und fort¬
beziehen, daß er überhaupt einen Unfall erlitten hat, kann an
sich*^ nicht der Unfall, wenn auch nur mittelbar, für jenen
nachteiligen Einfluß verantwortlich gemacht werden, sondern
muß dessen Ursache der Regel nach in der Person des Ver¬
letzten selbst und in der Verkehrtheit seiner subjektiven Auf¬
fassung erblickt werden.“
2. Der Packer W. (20. Okt. 1902, XVI, 179) hatte durch
einen Betriebsunfall angeblich eine [Zerreißung der Bücken¬
muskeln in der rechten Lendengegend erlitten und bot später
Zeichen einer traumatischen Hysterie, welche nach den ärzt¬
lichen Gutachten „zwar nicht unmittelbar, aber insofern mittel¬
bar auf den Unfall zurückzuführen sei, als der Kampf um
die Rente ein wesentliches Moment für die Entwicklung des
Nervenleidens gebildet habe“. Die Gutachter nahmen einen
ursächlichen Zusammenhang des Nervenleidens mit dem Unfall
an, ebenso auch das Schiedsgericht. Die Berufsgenossenschaft
bemängelte das Fehlen äußerlich wahrnehmbarer Folgen des
Unfalls, welche die Erwerbsfähigkeit des Klägers beeinträch¬
tigen könnten, und führt seine Untätigkeit auf „Arbeitsscheu
und Einbildung“ zurück. Das Beichsversicherungsamt leugnete
ebenfalls einen Zusammenhang. „Denn nicht der Unfall als
solcher wird in den Gutachten als wesentliches Moment für
die ^Entstehung der Hysterie erachtet, sondern vielmehr der
Kampf des Klägers um eine Rente. Ist aber danach im wesent¬
lichen nur der eingebildete, einer rechtlichen Grundlage ent¬
behrende Anspruch des Klägers auf eine Rente die Ursache
für die Entstehung und Entwicklung der Hysterie, so liegt ein
ursächlicher Zusammenhang mit dem Unfall nicht vor. Ein
solcher wäre unbedenklich anzunehmen, wenn der Unfall an
sich z. B. durch eine dabei erlittene Nervenreizung oder Nerven-
8
Ernst Schnltae,
erschtttteroDg zur Entwicklung eines Nervenleidens geeignet
gewesen wäre oder sonst der Unfall selbst und dessen Folgen
zur Entstehung und Entwicklung eines Nervenleidens wesent¬
lich beigetragen hätte; ein ursächlicher Zusammenhang kann
aber nicht schon dann angenommen werden, wenn der Unfall
selbst als wesentliches Moment für die Entstehung des Nerven¬
leidens nicht in Betracht kommt, sondern wenn, obgleich von
dem Unfall körperliche Folgen, welche die Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigen, nicht mehr vorhanden sind, der Verletzte sich
nur einbildet, noch einen Anspruch auf Rente zu haben und
dann deshalb, weil diesem eingebildeten Ansprüche die recht¬
liche Anerkennung versagt bleibt, durch die Bemühungen um
Durchsetzung des vermeintlichen Anspruches ein Nervenleiden
zur Entstehung und Entwicklung gelangt Nicht der Unfall
und dessen Folgen sind dann die Ursache des Nervenleidens,
sondern die Bemühungen und der Kampf um Durchsetzung
eines vermeintlichen, aber nicht zu Recht bestehenden An¬
spruches auf eine Rente.“
3. Der Arbeiter M. (7. Nov. 1902, XYI, 198) hatte bei einem
1890 erlittenen Unfall das Nagelglied des rechten Daumens
verloren. 1901 stellte er einen neuen Rentenantrag, der im
Laufe des Verfahrens vom Reichs versicherungsamt zurückge¬
wiesen wurde. Nach dem Gutachten ist die „Schädigung des
Klägers nur gering und durch Gewöhnung und Anpassung
ziemlich ausgeglichen; namentlich finden sich auch keine ana¬
tomischen Veränderungen an dem Danmenstnmpfe vor, welche
auf eine Verschlimmerung des bisherigen Zustandes hin weisen,
sondern vollkommen gute und längst abgeschlossene Heilungs-
Vorgänge. Die bei dem Kläger zur Zeit außerdem noch be¬
stehenden, von ihm als Unfallfolgen angesehenen Erscheinungen
am rechten Arm und in der rechten Hand und Schulter sind
hysterischer Art und stehen mit dem Unfall nicht in unmittel¬
barem Zusammenhänge. Daß, wie der Sachverständige an¬
nimmt, bei dem Kläger die seit Jahren auf die Verletzung und
ihre Folgen gerichtete Konzentration der Gedanken anslösend für
das Auftreten der vorhandenen Störungen gewirkt haben kann,
ist auch noch nicht geeignet, einen mittelbaren Zusammenhang
des Leidens mit dem Unfälle herzustellen; nicht die Einwirkung
'Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechang des K.-'V.-A. 9
des Unfalls ist im vorliegenden Falle wesentlich für die Ent'-
stehung des Leidens gewesen, sondern das Grübeln des Klägers
über das Vorhandensein von Unfallsfolgen und sein Trachten,
solche zwecks Erlangung einer Entschädigung aufzufinden und
geltend zu machen."
4. Der Feuermann E. (23. März 1903, XVII, 79j bezog wegen
der Folgen einer 1899 erlittenen Kopfverletzung eine Rente
von 50% und verlangte 1901 eine Erhöhung seiner Rente.
Das von der Berufsgenossenschaft eingezogene Gutachten
schätzte die Erwerbsunfähigkeit auf 80%, betonte aber, „dafi
eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht nach*
weisbar sei. Allerdings hätten die bei K. bestehenden Wahn¬
vorstellungen, die sich in der Furcht, von den Ärzten und der
Berufsgenossenschaft um die ihm gebührende Rente gebracht
zu werden, äußerten, zugenommen; diese Wahnideen seien
aber keine direkte Folge der Unfallverletzung; dagegen sei
wohl anzunehmen, daß die Existenz der Unfallversicherungs¬
gesetzgebung die chronische Verrücktheit, an der K. leide, zum
Ausbruch gebracht habe.“ Die Berufsgenossenschaft lehnte
die Rentenerhöhung ab, das Schiedsgericht bewilligte sie, da
„der eigenartige Verfolgungswahnsinn des Klägers ohne den
vorausgegangenen Unfall nicht denkbar sei". Das Reichsver-
sichernngsamt wurde von beiden Parteien angerufen. Die tat¬
sächlich erwiesene wesentliche Verschlimmerung wird aber
nicht als Unfallfolge aufgefaßt. Diese Verschlimmerung be¬
steht „in einer weiteren Ausdehnung der krankhaften Vor¬
stellungen des Klägers, welche nunmehr den Grad chronischer
Verrücktheit erreicht haben. Dagegen haben die bisher allein
als Unfallfolgen berücksichtigten Kopfbeschwerden des Klägers
in der Zwischenzeit keinerlei Verschlimmerung erfahren; die¬
selben stehen auch mit jenen krankhaften Vorstellungen in
keinem direkten Zusammenhang. Die Geisteskrankheit des
Klägers ist vielmehr durch seine unausgesetzte Beschäftigung
mit der Verfolgung seiner Rentenansprüche zur Entwicklung
gebracht; seine krankhaften Vorstellungen wurzeln in dem von
ihm immer wieder zum Ausdruck gebrachten Gedanken, daß
^e Beklagte ihm keine ausreichende Rente gewähre und daß
«r von ihr in jeder Beziehung verfolgt und geschädigt werde.
10
Ernst Schnitze,
Nach dem, was sich über die bisherige Behandlung der Renten¬
ansprüche des Klägers seitens der Beklagten aus den Akten
ergibt, hatte und hat der Kläger gar keinen Anlaß dazu, sich
über das Verhalten der Beklagten zu beschweren; sie hat yiel*-
mehr in durchaus sachlicher Weise seiue Ansprüche behandelt
und ihm eine ausreichende Entschädigung gewährt, welche
seinerzeit auch von dem Reichsversicherungsamt in der Rekurs¬
instanz für angemessen erachtet worden ist. Zu einem Kampf
um die Rente war der Kläger also keineswegs gezwungen;
dieser Kampf war, wenn der Kläger ihn trotzdem aufnahm, ein
ganz unberechtigter. Die damit verknüpften Aufregungen^
welche schließlich zu der geistigen Erkrankung des Klägers
führten, waren deshalb nicht eine Folge des Unfalls vom
22. Juli 1899, sondern sie waren lediglich durch die unbe¬
gründeten und übermäßigen Begehrungsvorstellungen im Kläger
in bezug auf die zu erlangende Rente verursacht.“
5. Die von dem 1897 erlittenen Betriebsunfall unmittelbar
herrührenden körperlichen Verletzungen waren in demselben
Jahre vollständig oder doch nahezu vollständig verheilt (24. Jan.
1904, XVII, 286). Schon damals machte sich Arbeitsunlust
und Neigung, den Unfall zur Erlangung einer Rente auszu¬
beuten, bemerkbar. Wenigstens trat K. nach «überstandener
Krankheit mit sehr lebhaften und bisher nicht vorgebrachten
Klagen hervor, für deren Vorhandensein der objektive Befund
keinen Anhalt bot. Möglicherweise waren das bereits die An¬
zeichen eines hysterischen Zustandes. Diese hysterischen Be¬
schwerden schwanden, und K. arbeitete wie vordem. Erst vier
Jahre später greift er auf diesen Unfall zurück, nachdem er
inzwischen einen anderen Betriebsunfall Juli 1901 erlitten und
für ihn vergeblich Entschädigung beansprucht hatte. Nach
dem Gutachten ist es „sicher, daß K. in einem gewissen Grade
Neurastheniker ist, daß er aber alle Beschwerden in gröblicher
Weise übertreibt, nach seiner Art alles auf den Unfall schiebt
und sich zu keiner Anstrengung, keinem Zusammennehmen
für verpflichtet hält, sondern für alles entschädigt sein will»
Will man jene Neurasthenie als Unfallfolge bezeichnen, so mag
das nicht ganz von der Hand zu weisen sein. K. ist ent¬
schieden darauf aufmerksam gemacht worden, daß solche Be-
Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.-V.-A. H
schwerden, wie er sie hat, gelegentlich dazu geführt haben,
daß ünfallrente bewilligt wurde, und nun hat er sich in den
Gedanken verrannt, daß er nicht arbeiten könne und ihm eine
Rente gebühre. K. hat schon mit der Baugewerks-Berufs-
genossenschaft einen vergeblichen Prozeß um Rente geführt,
dadurch ist dies Gefühl in ihm nur verschärft worden. Er
wird nun Rentenquerulant, und'so ist er dann allerdings ge¬
schädigt, leider am meisten durch sich selber. Ein Zusammen¬
hang zwischen dem jetzigen Zustande des Klägers und dem
früheren Unfall lasse sich nur insofern anerkennen, als K. sich
durch Autosuggestion in den Gedanken, ihm geschehe Unrecht,
hineingearbeitet habe.“
Das Schiedsgericht verwarf die Berufung des Bllägers.
Dieser legte Rekurs ein unter Beifügung folgenden Gutachtens:
„Zweifellos sei, daß die Beschwerden K.s vielfach auf Auto-
suggestion beruhten. Die Autosuggestion gehöre aber gerade
zu den typischen Zeichen der Neurasthenie, und wer, wie
Professor H., überhaupt einen gewissen Grad von Neurasthenie
zugebe, müsse auch die Übertreibungen der Beschwerden dem
Krankheitsbilde mit hinzurechnen. Gewiß habe sich der Mann
vielleicht in den Gedanken verrannt, daß er nicht arbeiten
könne und daß ihm eine Rente gebühre. Allein, auch das sei
für den Neurastheniker charakteristisch. Ein physisch und
psychisch gesunder Mensch verrenne sich nicht in solche Ge¬
danken. Unbedenklich sei es auch, die Entstehung der Neur¬
asthenie im vorliegenden Falle auf den Unfall zurückzuführen,
da sich vorher keinerlei neurasthenische Erscheinungen beim
Kläger gezeigt hätten.“
Nach dem Sächsischen Landesversicherungsamt*) ist die
Frage des Kausalzusammenhangs „keine medizinische, sondern
rechtlicher Natur“. „In Wahrheit läßt sich aber jener ältere
Unfall nicht mehr als die Ursache dieses späteren Leidens auf¬
fassen. Man kann freilich sagen: wenn jener Unfall nicht
passiert wäre, würde der Kläger sich nicht haben in den Ge-
*) ln demselben Sinne hat das sächsische Landesrersicbernngsamt die
Torliegende Frage sehr ansfiihrlicb in seiner Entscheidnng rom 20 . Dez. 1902
beantwortet, die Wind scheid wörtlich in seinem Buche: „Der Arzt als
Begutachter usw.“, S. 174—180, abgedruckt hat.
12
Emst Schnitze,
blanken verrennen können, daß er dafür entschädigt werden
müsse, und würde er alsdann vielleicht nicht Neurastheniker
geworden sein. Allein das Kausalitätsprinzip greift nicht so weit,
daß man ein Ereignis für alle und jede Folgen verantwortlich,
machen könnte, die in Anlehnung an das Ereignis und in
irgendeiner Beziehung zu ihm später einmal zutage getreten
sind. Damit käme man ins Uferlose. Von der Ursache eines
Schadens ist zu unterscheiden die äußere Veranlassung. Hier
bildete der Unfall vom 28. April 1897 nur den entfernten Anlaß,
an den das krankhafte Vorstellangsvermögen des Klägers
knüpfte, als er nach dem Scheitern seines Angriffs gegen die
Baugewerks - Berufsgenossenschaft darauf ausging, sich auf
anderem Wege zu helfen. Die Folgen jenes älteren Unfalls
selbst waren längst geschwunden und hatten, auch auf seelischem
Uebiete, nichts Krankhaftes zurückgelassen, was die Erwerbs¬
fähigkeit des Klägers zu mindern geeignet gewesen wäre. Man
eieht nicht ein, wie jener Vorgang nun noch die Schuld tragen
soll an der Entstehung eines Leidens, das in erster Linie durch
spätere krankhafte Veränderungen der Nerven hervorgernfen
worden ist und das nur zufällig an den Unfall vom Jahre 1897
anknüpft, weil der Kläger ihn braucht, um mit seiner Hilfe
einen Rentenanspruch durchzusetzen, und weil sein ganzes
Sinnen und Trachten sich nachträglich auf den Gedanken kon¬
zentriert hat, er sei für jenen Unfall noch nicht hinlänglich
entschädigt worden. Mit demselben Rechte könnte man sich
versucht fühlen, den ablehnenden Bescheid der Baugewerks-
Borufsgenossenschaft für die Neurasthenie verantwortlich zu
machen, da ohne ihn das Leiden wohl ebenfalls nicht die
schweren Formen angenommen haben würde, die Dr. W. für
die Gegenwart feststellt. Schuldig ist nicht der Unfall vom
28. April 1897, sondern die krankhafte Verfassung der Psyche
des Klägers, seine von mehreren Seiten bezeugte geistige
Minderwertigkeit, die den Gedanken, als ob ihm für jenen
Unfall noch eine Rente gebühre, überhaupt hat entstehen und
über ihn hat Macht gewinnen lassen.“
6. Das Reichsversicherungsamt betont (30. Sept. 1905, XK,
156j, daß der Unfall, auf den der Kläger, Kohlenfahrer W.,
sein Leiden zurückführt, ein ganz geringfügiger gewesen ist;
Kampf am die Rente nnd Selbstmord in der Rechtsprechung des R,-y.-A. 13^
„irgendeine ernste Erschütterung des Körpers“ ist nicht ein¬
getreten. Der Kläger hat seine frühere Arbeit bald wieder
aufgenommen nnd erst am zwölften Tage nach dem Unfall sich
leichtere Arbeit geben lassen. „Allmählich ist er dann in eine
Art Selbstbetrachtung verfallen, und es hat sich bei ihm ein
Zustand der Gereiztheit, der Nervosität entwickelt, der, wie
das Gutachten des Dr. G. erkennen läßt, von Tag zu Tag sich
verschlimmert und schließlich ganz den Charakter der Neur¬
asthenie angenommen hat. Indem der Kläger also glaubte,,
durch den Unfall Schaden genommen zu haben, bildete er sich
alle möglichen Leiden ein und empfand naturgemäß auch
sofort dort Beschwerden, wo er meinte, solche haben zu
müssen. Daß es sich in der Tat nur um krankhafte Ein¬
bildungen handelt, folgt aus dem fast völlig negativen objek¬
tiven Befund, der an greifbaren Zeichen bestehender Nerven¬
schwäche trotz wiederholter eingehender Untersuchungen nur
eine leichte Erhöhung der KniescheibenreÜexe und leichtes
Flattern der Augenlider bei Fuß- und Augenschluß ergeben
hat. Der Eiläger ist, wie Professor W. ausführt, hiernach ein
Neurastheniker, der, zur Hypochondrie neigend, gänzlich in
Selbstbeobachtung aufgeht und alle Energie verloren hat, und
dessen Beschwerden, für die sich irgendein greifbarer Anhalt
nicht finden läßt, in der Hauptsache auf dauernde Auto¬
suggestion zurückzuführen sind. Liegt aber der Grund der
vorhandenen Nervenschwäche nur in Einbildungen des Ver¬
letzten, so kann das vorhergegangene geringfügige Unfall¬
ereignis für den Zustand des Klägers auch dann nicht verant¬
wortlich gemacht werden, wenn der Kläger glaubt, sein Leiden
auf diesen Unfall zurückführen zu müssen. Objektiv war dieser
Unfall nicht geeignet, eine Neurasthenie hervorzurufen; dann
aber fehlt der notwendige ursächliche Zusammenhang, wenn
nicht der Unfall selbst, sondern bloß die Einbildung, infolge
des Unfalls einen Körperschaden erlitten zu haben, ein Nerven¬
leiden zur Entstehung gelangen läßt.“
7. Das sächsische Landesversicherungsamt (11. März 1905,
XIX, 261) bestritt in der Unfallsache der Weberin M. einen
Zusammenhang zwischen einer Unterleibsverletzung und der
Hysterie. Die Grundlage zur Entstehung der Hysterie war be-
14
Ernst Schnitze,
reits vor dem Unfall geschaffen; der Gesnndheits- und Kräfte¬
zustand der Klägerin war schon vorher schwer beeinträchtigt,
und sie litt bereits vorher an schweren Menstruationsstörungen
mit krampfartigen Schmerzen. „Wenn sich dann nach dem
Unfall in ihr die Vorstellung entwickelte, daß alle diese körper¬
lichen Leiden in d§m Unfälle ihren Grund hätten, wenn sie
weiter über sonstige Störungen ihres Allgemeinbefindens ge-
grübelt hat mit dem schließlichen Erfolge, daß sie sich ganz
krank und elend fühlte und auch den ihr verbliebenen Rest
von Arbeitsfähigkeit eingebüßt zu haben glaubte, so haben
doch diese wirklichen oder vermeintlichen Beschwerden ihre
Ursache nicht in dem Unfälle, sondern eben in ihrer Ein¬
bildung. Es kann, wie das Landesversicherungsamt in Über¬
einstimmung mit dem Reichsversicherungsamt bereits früher in
ähnlichen Fällen ausgesprochen hat, den Berufsgenossenschaften
nicht angesonnen werden, derartige hysterische Leidensentwick¬
lungen noch als Unfallfolgen anzuerkennen und zu entschädigen.
Es ist auch mit den Sachverständigen K. und H. anzunehmen,
daß die Klägerin, wenn sie sich von der Erfolglosigkeit ihrer Be¬
mühungen um eine Entschädigung für ihre auf Autosuggestion
zurückzuführenden Leiden überzeugt, den Versuch der Arbeit
wieder aufnimmt und in und mit der Arbeit jene Leiden verliert.“
Ist der Rentenanspruch gesetzlich begründet,
erhält der Verletzte aber gar keine oder eine nicht genügend
hohe Rente, so kann man es ihm nicht verdenken, wenn er sich
durch Beschreiten des Instanzenweges sein Recht erkämpft; er ist
hierzu objektiv und subjektiv berechtigt, ja vielleicht sogar,
wird mancher sagen, verpflichtet. Wendet der Verletzte die
gesetzlich zulässigen Mittel und Wege an, erleidet aber durch
seinen Rechtsstreit Schaden, so muß meines Erachtens die Be¬
rufsgenossenschaft auch für diesen aufkommen. Man kann es
auch ihr gewiß nicht verdenken, wenn sie die Ansprüche
des Verletzten nicht kurzerhand freiwillig anerkennt, sondern
auf eingehender Ermittlung des Tatbestandes und genauer
Feststellung ihrer Verpflichtungen im Wege des Streitver¬
fahrens besteht. Dieses Recht steht der Berufsgenossenschaft
zweifellos zu. Wenn sie es aber ausübt, so muß sie mit der
Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechang des R.-Y.-A. 15
Möglichkeit rechnen, daß durch die Aufregungen des von ihr
•eingeleiteten Rechtsstreites der Verletzte weitere Schädigungen
«rleiden kann, für die sie ebenfalls ■ aufkommen muß. In
•diesem Sinne spricht sich auch eine Reichsgerichtsentscheidnng
(IIL Zivilsenat, 19. Juni 1908, cf. III. Zivilsenat, 14. April 1908)
aus. Diese sieht den nachteiligen Einfluß, den der über einen
Haftpflichtanspruch geführte Rechtsstreit auf den Nervenzustand
des Verletzten ausgeübt hat, als Unfallfolge an. Das Reichs¬
versicherungsamt nimmt den gleichen Standpunkt ein, wie aus
d:er unter Nr. 1 mitgeteilten Rekursentscheidung zu entnehmen
ist; nach dieser sind die psychischen Erregungen eine, wenn
auch nur mittelbare Folge des Unfalls.
Hat aber ein Arbeiter einen Unfall erlitten, der keine
Nachwehen hinterläßt, behauptet aber dennoch wider besseres
Wissen, durch den Unfall in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt
zu sein und führt zur Erlangung einer Rente einen Rechts¬
streit, so ist es nicht mehr als billig, wenn er für die durch
diesen Prozeß gesetzte Schädigung keine Entschädigung erhält.
Der Anspruch auf Rente war von vornherein sowohl objektiv
wie subjektiv unberechtigt.
Ebenso wird auch der Arbeiter zu beurteilen sein, der ein tat¬
sächlich vorhandenes Leiden auf einen Unfall zurückführt, das
ursächlich nichts mit ihm zu tun hat. Diese Fälle sind nicht
selten. Gar zu oft und zu gern werden heutzutage Be¬
schwerden nachträglich auf einen lange zurückliegenden Unfall
zurückgeführt, ohne daß nach diesem Unfall in der Zwischen¬
zeit irgendwelche Störungen aufgetreten wären. Daß ein
Unfallverletzter freiwillig seinen Rentenanspruch fallen läßt,
erlebt man nur selten. In einem derartigen Falle konnte ich
mich nicht dem Eindruck entziehen, daß der Arbeiter, der
ostentativ seine volle Gesundheit betonte und jede Rente
energisch zurückwies, geistesgestört war. In der Tat legte
flie weitere Beobachtung dar, daß er an einer leichten Hypo¬
manie erkrankt war.*) Jeder Arbeiter hat einmal einen Unfall
*) Sachs hat es nar ein einziges Mal erlebt, daß ein Unfallver¬
letzter selbst bei der Berafsgenossenschaft eine Herabsetzung der Rente
verlangte, weil er wieder za arbeiten anfangen wolle; „dieser Antrag ging
allerdings von einem Epileptiker mit vorübergehenden Geistesstörungen
16
Ernst Schnitze,
erlitten, und man kann es wohl verstehen, wenn anch ge¬
wiß nicht billigen, daß der Arbeiter sein Leiden, das mit deim
Unfall nichts zu tun hat, anf ihn zurückführt, um eine möglichst
geringe Einbuße zu erleiden; dieses Streben fand ich sehr oft
bei der Pensionierung von jüngeren Bahnangestellten. Da soll
die Paralyse ausgelöst sein durch einen Streifschuß, der den
Rumpf einige Jahre vorher getroffen hat Die Altersdemenz
wird auf einen Schreck zurückgeführt. Epilepsie ist verursacht
durch eine Ohrfeige, die vor Jahr und Tag erteilt ist, ohne daß
in der Zwischenzeit irgend etwas beobachtet ist, was auch nur
entfernt als epileptisches Zeichen gedeutet werden könnte. In
solchen Fällen liegt natürlich kein Anlaß vor, einen ursäch¬
lichen Zusammenhang anzunehmen; und wenn der Verletzte
sich mit der ersten ablehnenden Entscheidung nicht begnügt,,
sondern weiterstreitet und dadurch seine Gesundheit beein¬
trächtigt, so ist es zu verstehen, wenn die Behörde ihn allein
für diese Folgen verantwortlich macht. Anch ich halte daher
den in der Rekursentscheidung, 20. April 1898, XII, 97, ver¬
tretenen Standpunkt durchaus für richtig. Ein Arbeiter hatte
danach eine nur unerhebliche Kopfverletzung erlitten, die
ihn für acht Tage arbeitsunfähig machte. Dann hatteer seine
gewohnte Arbeit bei vollem Lohne sieben Jahre mit nur ge¬
ringen Unterbrechungen verrichtet. Die von ihm vorge¬
brachten glaubhaften neurasthenischen Beschwerden wurden
nicht als Unfallfolge anerkannt, zumal er zeitweilig dem Mi߬
brauch geistiger Getränke ergeben war.
Ebenso kann ich dem Reichsversicherungsamt nur bei¬
treten, das in seiner Entscheidung vom 4. Jan. 1908, XXII, 7,^
den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Nervenleiden
und Unfall leugnete. „Aus der Tatsache, daß der Kläger nach
seiner eigenen Angabe nur bei dem Fall selbst einen stechenden
Schmerz verspürt habe, der alsbald nachließ, daß er am
nächsten Morgen keinerlei Beschwerden mehr gehabt und daff
er dann Jahre lang seine Arbeit fortgesetzt hat, ohne auch
aas"', ln der Zwischenzeit habe ich noch einen ganz ähnlichen Fall
beobachten können. Der Unfallverletzte, der an Eifersachtswahn and
Sinnestäaschangen erkrankte, verlangte am jeden Preis seine Entlassung,,
am seine ungetreue Frau überraschen za können.
Kampf um die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechnng des 17
nur an den Unfall mehr zu denken, geht überzeugend hervor,
daß der Unfall sehr unerheblich und nicht geeignet war, nach
5/4 Jahren derartige Krankheitserscheinungen zu machen, wie
sie dann aufgetreten sind . . Ich sehe davon ab, daß viele
Nebennmstände die Tatsache eines Betriebsunfalles überhaupt
in Frage stellten. Zwar hatte die mit der Begutachtung be¬
traute medizinische Klinik die Neurose in dem Sinne als Un¬
fallfolge angesprochen, daß „die schlummernde oder schon
vorhandene Nervosität durch den Unfall verschlimmert wurde,
wobei als Unfall natürlich nicht der unbedeutende Fall aufs
Gesäß an sich, sondern die Beschädigung unter den heutigen
sozialen Umständen mit ihren genugsam erörterten Folgen für
Seelenleben und Nervensystem des Verletzten zu verstehen“
sei. Also soll mit anderen Worten, führt das Reichsversiche¬
rungsamt aus, ein unbedeutender Fall, der nach Ansicht der
Gutachter keine Folgen hinterlassen hat, nach mehr als Jahres¬
frist imstande sein, lediglich dadurch eine Nervenerkrankung
auszulösen, daß der Betroffene eine Rente wünscht und glaubt,
einen Rentenanspruch aus jenem Fall herleiten zu können.
Einer derartigen Beurteilung der Frage des Zusammenhangs
zwischen Unfall und Neurose meint das Reichsversicherungs¬
amt — und ich glaube mit,vollem Recht — mit allem Nach¬
druck entgegentreten zu müssen. Nicht nur müsse der klare
Nachweis für das Unfallereignis geführt werden, sondern „der
Zusammenhang der Erkrankungen mit dem Unfall muß nicht
allein auf Grund einer entfernten Möglichkeit oder Vermutung
im Hinblick auf rein subjektive Vorgänge im Rentenbewerber,
sondern auf Grund einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit im
Hinblick auf eine objektive sachliche Beziehung zwischen Unfall
und Krankheit bejaht werden können“.
Die Entscheidung wird dann ebenfalls zuungunsten der
Arbeiter ausfallen, wenn der Anspruch auf Rente objek¬
tiv zwar unberechtigt ist, subjektiv aber —'etwa in¬
folge einer geistigen Störung des Unfallverletzten — für g e -
rechtfertigt erachtet wird.
Die Sachlage wird auch dadurch nicht wesentlich ver¬
ändert, wenn der Anspruch auf Rente nicht aus ärztlichen,
sondern aus rechtlichen Gründen hinfällig ist, wenn bei-
2
18
Ernst Schnitze,
spielsweise überhaupt die Existenz eines als Unfall anzu-
sprechenden Ereignisses erfolgreich bestritten wird oder diesem
Ereignis die bestimmten, für einen Unfall im Sinne des Ge¬
setzes notwendigen Merkmale fehlen.
Ich bin bei der Besprechung der Frage, wie die Folgen
des Kampfes um die Rente rechtlich aufzufassen sind, mit Ab¬
sicht von recht einfachen Fällen ausgegangen. Ich habe einmal ange¬
nommen, daß die Ansprüche auf Rente objektiv und subjektiv
berechtigt waren, und dann habe ich vorausgesetzt, daß diese
Ansprüche nicht nur den Tatsachen nach, sondern auch nach
der inneren Überzeugung des Verletzten unberechtigt waren.
Die Fälle aber, die uns die Praxis liefert, liegen nicht immer
so einfach, und die Entscheidung der Frage, ob, und be¬
jahendenfalls, inwieweit ein Anspruch auf Rente in tatsäch¬
licher und persönlicher Hinsicht berechtigt ist, ist mit vielen
und erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Ich beabsichtige hier, nur einige grundsätzliche Gesichts¬
punkte zu erörtern. Um auf konkrete Fälle zurückzukommen,
knüpfe ich an die oben auszugsweise wiedergegebenen Ent¬
scheidungen des Reichsversicherungsamts an und lege der Be¬
sprechung auch andere Entscheidungen zugrunde, die ich bei
der Begutachtung Unfallverletzter kennengelernt habe.
In einigen dieser Fälle hatte ein Unfall nachteilige Folgen
nervöser Art gesetzt, und diese waren sogar oft genug mit
einer Rente entschädigt. Die weitere Verschlimmerung des
Leidens wird aber nicht mehr als eine auch 'nur mittelbare
Folge des Unfalls aufgefaßt, sondern auf einen unbe¬
rechtigten Kampf um die Rente bezogen und damit dem
Unfallverletzten selbst zur Last gelegt.
Wie ist nun die Beweisführung des Reichsversicherungs¬
amts?
Das Reichsversicherungsamt ist anscheinend der Ansicht, daß
zwischen der Größe der Vejrl etzung und der Schwere der
durch sie gesetzten Schädjen bestimmte Beziehungen bestehen
müssen. Eine solche Annahme trifit aber nicht [zu für psy¬
chische und nervöse Störungen, die allein uns hier interessieren.
Die durch den Unfall bedingte Verletzung braucht nicht not¬
wendig mit einer „Nervenreizung oder Nervenerschütterung“
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des B.-V.-A. 19
verbunden zu sein, um zur Entwicklung eines Nervenleidens
geeignet zu werden. Wenn das Reichsversicherungsamt von
einer Verletzung aussagt, sie sei objektiv nicht geeignet, eine
Neurasthenie hervorzurufen, so übersieht es, daß bei den ün-
faJlneurosen nicht nur die Verletzung, die vielleicht an der
Hand der Zeugenaussagen einer objektiven Schätzung zugäng¬
lich sein mag, sondern auch die Person des Verletzten berück¬
sichtigt werden muß, und diese nicht nur ihrer ganzen Per¬
sönlichkeit nach, sondern auch hinsichtlich ihres Verhaltens
grade zum kritischen Zeitpunkte des Unfalls. Andererseits stimme
ich dem Reichsversicherungsamt (20. April 1898, XII, 97) durch¬
aus bei, wenn es eine Neurasthenie nicht als Unfallfolge an¬
sieht, weil dieser Unfall sieben Jahre vorher stattgefunden
hatte; in der Zwischenzeit war der Arbeiter seiner Berufs¬
arbeit bei vollem Lohn nachgegangen. Die Annahme, daß
durch einen Unfall eine Paralyse oder eine Gehimgeschwulst
ausgelöst sei, setzt schon ein Trauma von einer erheblichen
Schwere voraus. In den vorliegenden Fällen aber handelt es
sich um vorwiegend psychogen entstandene Störungen, und bei
ihnen spielt die mechanische Schädigung kaum eine Rolle
gegenüber den seelischen Begleit- und Folgeerscheinungen.
Um so größere Vorsicht ist geboten, als mehrere Unter¬
suchungen grade der letzten Zeit gezeigt haben, daß auch
nach scheinbar leichten Unfällen recht schwere Verletzungen,
die mit Frakturen und Blutungen einhergingen, auftreten können.
So wenig es zulässig ist, die Schwere einer Neurose in
bestimmte Beziehung zu bringen zur Schwere derVerletzung, so
wenig darf eine ebenfalls durch den Unfall bedingte Verschlimme¬
rung der Neurose deshalb ausgeschlossen werden, weil unmittelbare
Folgen derVerletzung nicht mehr nachweisbar seien, weil diese
verheilt seien, weil am Orte der Verletzung keine weiteren
anatomischen Schädigungen aufgetreten seien. Die Neurose ist
weder in ihrer Entstehung noch in ihrer Entwicklung an solche
grobsinnlichen Prozesse auf der Körperoberfläche gebunden.
Über den Verlauf der Neurose entscheidet vielmehr die psy¬
chische Verfassung des Verletzten.
Immer wieder wird bemängelt, daß den so schweren
Krankheitsäußerungen ein so geringer (objektiver) Befund
20
Ernst Schnitze,
eatspricht. Aber wir wissen doch, daß die körperliche Unter¬
suchung Hysterischer zu den verschiedenen Zeiten recht ver¬
schieden ausfallen kann, und ein bei wiederholten Unter¬
suchungen erhobener negativer Befund zwingt noch nicht zum
Ausschluß der Hysterie. Bei dieser Behauptung bin ich schon
von der nicht allgemein geteilten Auffassung ausgegangen,
daß die Hysterie sich stets, wenn auch nicht ständig, durch
Stigmata verrät; ich habe weiterhin - angenommen, daß die
sensibel-sensoriellen Störungen der Hysterischen einen wenig¬
stens relativ-objektiven Befund darstellen, und ich habe schlie߬
lich vorausgesetzt, daß der Gutachter die Untersuchungs-
technik beherrscht; leider trifft diese Annahme nicht immer
zu; Aber bei der Neurasthenie finden wir überhaupt keine
objektiven Zeichen. Die Annahme oder Ausschließung einer
Hysterie darf bei dem Unfallverletzten ebensowenig von dem
Ausfall der körperlichen Untersuchung abhängig gemacht
werden wie bei dem Privatpatienten, der zu uns in die
Sprechstunde kommt. Keinem Menschen wird es einfallcn,
einen der Geisteskrankheit verdächtigen Menschen nur deshalb
als nicht geisteskrank anzusehen, weil objektive Symptome sich
nicht nach weisen lassen!
Wer Gelegenheit hat, nicht durch eine Verletzung bedingte
Neurosen längere Zeit zu beobachten, weiß, daß ihr V erlauf
mannigfachen Schwankungen unterworfen ist, ohne daß es uns
trotz aller angewandten Mühe immer gelingt, ihre Ursache zu ent¬
decken. Wir werden ein gleiches Verhalten auch bei den
Unfallneurosen erwarten dürfen. Nur lehrt uns unsere Er¬
fahrung, daß hier aus so mancherlei Gründen die Prognose
vielfach schlechter ist als bei den anderweitig verursachten
Neurosen. Jedenfalls muß man auch bei einer leichten Neurose
schon von vornherein mit der Möglichkeit einer Verschlimmerung
rechnen; der Zeitpunkt ihres etwaigen Eintritts läßt sich nicht
angeben, da im Voraus nicht zu berechnende endogene und
exogene Faktoren ihn bestimmen.
Also wird die Tatsache, daß überhaupt eine Verschlimme¬
rung der Unfallneurose eingetreten ist, noch nicht zu dem
Schluß zwingen, daß ungewöhnliche Ereignisse diese herbeigeführt
haben müssen. Um so weniger Veranlassung zu dieser An-
Kampf am die Rente und Selbstmord in der Bechtsprecbnng des R.-y.>A. 21
nähme liegt vor, als, soweit ich mir nach den amtlichen Mit¬
teilungen ein Urteil erlauben darf, mit der Verschlimmerung
kein Erankheitszeichen zutage getreten ist, welches nicht auch
sonst bei den Neurosen zu erwarten gewesen wäre. Somit
ist die Möglichkeit nicht zu bestreiten, daß die Neurose auch
ohne den Kampf um die Rente den gleichen Verlauf genom¬
men haben würde. Daß man der traumatischen Neurose die
Beeinflussung durch den Rentenkampf nicht ansehen kann,
erscheint auch nicht sonderlich aufTallend; denn der Kampf
um die Rente birgt ja, worauf ich noch zurückkommen werde,
keine grundsätzlich neuen Schädigungen in sich gegenüber den
Beziehungen zwischen Unfallgesetzgebung und traumatischen
Neurosen schlechtweg.
Sodann wird darauf hingewiesen, daß die Klagen und Be¬
schwerden nur eingebildet waren. Einen Beweis für die
Richtigkeit dieser Behauptung vermisse ich in den mir vorliegenden
Mitteilungen und kann ihn bei der Natur dieses Materials auch
wohl kaum erwarten. Dieser Beweis läßt sich aber auch kaum,
vielleicht sogar überhaupt nicht sicher erbringen, zumal schon
in mehreren Fällen angenommen war, daß früher tatsächlich
eine Neurose Vorgelegen hat. Bei ihr sind die Klagen nicht
organisch begründet; sie bestehen nur in der Vorstellung des
Kranken. Sie sind also, wenn man absolut will, eingebildet.
Aber diese Einbildung ist eine krankhafte und grundsätzlich
scharf zu trennen von der bewußten Vortäuschung. Freilich
ist die Trennung in praxi oft recht schwer; bis an Simulation
grenzende Übertreibung und Krankheit mischen sich oft so
eng, daß es nicht immer gelingt, sie im Krankheitsbilde aus-
einanderzuhalten. Dieser Umstand berechtigt aber nicht, zumal
bei einer schon erwiesenen Neurasthenie oder Hysterie, die ^Ein-
bildungen“ des Unfallverletzten, die „irrigen Vorstellungen“,
die „subjektive Auflassung“ (gibt es auch eine objektive Auf¬
fassung?) als unberechtigt hinzustellen und daraus dem Kranken
geradezu nachteilige Schlüsse zu ziehen. Nach diesen Aus-
Äihrungen brauche ich wohl kaum zu betonen, daß ich einem
Arbeiter selbstverständlich nicht schon deshalb eine Rente zu¬
billigen würde, weil er glaubt krank zu sein, oder gar ohne
weitere Begründung seiner Ansprüche sich bloß auf das Unfall-
22
Erost Schnitze,
yersicherungsgesetz beruft, um allein für die Tatsache, daß er
einen Unfall erlitten hat, entschädigt zu werden. Ebensowenig
würde ich aus dem alleinigen Nachweis öiner Gesichtsfeld-
einengnng oder Sensibilitätsstörung eine Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit herleiten; ihren Wert erblicke ich vielmehr
darin, daß ihr Nachweis mich zur Vorsicht in der Annahme
von Simulation zwingt.
Erwägungen derart, wie ich sie eben kritisiert habe, zeigen^
daß einer traumatischen Neurose nicht allzuviel psycholo¬
gisches Verständnis entgegengebracht wird, oder daß zum
mindesten eine Neigung besteht, sie anders zu betrachten als
die nichttraumatischen. Sonst kann ich es nicht verstehen,
warum es dem Traumatiker zum Nachteil gereichen soll —
und damit gehe ich zu dem Versuche über, auf positivem
Wege die ursächliche Bedeutung des Kampfes um die Rente
zu beweisen —, daß er sich in den Gedanken verrannt
hat, arbeitsunfähig zu sein; daß er seit Jahren seine Gedanken
auf seine Verletzung und ihre Folgen konzentriert hat; daß er
in eine Art Selbstbetrachtung verfallen ist, und dergleichen
mehr. Dieselben Auslassungen würden auch für die gewöhn¬
lichen Neurosen zutreflfen! Kann es denn auffallen, wenn der
an traumatischer Neurose Leidende alle seine krankhaften
Empfindungen und Gefühle an den Unfall ankristallisiert, der seinen
ganzen Ideenkreis beherrscht? Diese Sonderstellung der trau¬
matischen Neurose würde sich nur dann rechtfertigen lassen,
wenn dem Unfallverletzten sein Vorgehen als arglistig, als
schuldhaft anzurechnen ist. Dieser Ansicht scheint das Reichs¬
versicherungsamt zu sein, wenn es sie auch nicht offen aus¬
spricht. Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen. Ich halta
es mit Ho che für unerlaubt, „in den psychologischen Ge¬
dankengängen eine Sortierung zwischen schuldhaften und uner¬
laubten Gedankengängen“ vorzunehmen! Ich finde ein derartiges
Vorgehen geradezu bedenklich bei nervösen Personen. Der Eün-
weis darauf, daß die Unfallfolgen, soweit sie tatsächlich bestehen,
anerkannt seien, daß die anderen aber nur auf Einbildung be¬
ruhen, wird ebenfalls den wirklichen Verhältnissen nicht gerecht,
und überschätzt, wenn er sich wirklich auf ärztliche Gutachten
stützt, unser ärztliches Wissen und Können ganz erheblich.
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-T.-A. 23
Es kann nicht auffallen, wenn bei einem an traumatischer
Neurose leidenden Unfallverletzten im Laufe des Rechtsstreits
psychische Störungen überwiegen. Der in der Rekursent¬
scheidung Nr. 4 geschilderte Fall zeigt einen Verlauf, wie er kli¬
nisch durchaus zu erwarten war, wie er sich auch in anderen
Fällen abgespielt hat. Ich lasse es dahingestellt, ob wirklich
der Rentenkampf die Ursache von Geistesstörungen sein kann;
ein zwingender Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme ist
auch in dieser Entscheidung nicht enthalten. Nach ähnlichen
Fällen, die ich zu beobachten Gelegenheit hatte, halte ich es
für viel wahrscheinlicher, daß schon die Erhebung der „unbe¬
gründeten und übermäßigen“ Ansprüche ein Symptom der
später immer deutlicher werdenden Geistesstörung war. Wird
doch auch der abgefeimte, kriminelle „Simulant“ nicht deshalb
schließlich blödsinnig, weil er für seine Simulation zu viel
geistige Arbeit verbraucht hat, sondern er war vielmehr von vorn¬
herein geisteskrank, und die Zeichen, die für die Annahme
einer Simulation verwertet wurden, waren die ersten Symp¬
tome der zum Blödsinn führenden Psychose. Die Tatsache,
daß in dem eben erwähnten Krankheitsbilde der Paranoia der
Unfall und seine Folgen dominierte, kann nicht beweisen, daß
der Kampf um die Rente die Paranoia verursacht hat. Der
Kranke entnimmt das Material für seine Wahnideen den Er¬
eignissen, die ihn und seine Zeit am meisten bewegen. Es ist
auch gar nicht notwendig, daß, wenn lediglich der Unfall die
Paranoia verursacht hat, Kopfbeschwerden, die früher allein
als Unfallfolgen Vorlagen und auch Berücksichtigung gefunden
haben, in einem direkten Zusammenhang mit den Wahnideen
stehen müssen, wie das Reichs versicherungsamt meint. Es
wäre zudem gar nicht so einfach, einen derartigen Zusammen¬
hang sich vorzustellen, geschweige denn ihn nachzuweisen oder
auszuschließen. Die Behauptung, der Kläger sei zu einem
Kampfe um die Rente gar nicht gezwungen gewesen, der
Kampf sei ein unberechtigter gewesen, verkennt völlig den
zwingenden Einfluß, den Wahnideen auf das Denken und
Handeln des Paranoikers ausüben. Ebensowenig kann man,
wie ich es in einem Falle hörte, dem Unfallverletzten daraus
einen Vorwurf machen, daß er für die Ausführungen der In-
24
Ernst Schnitze,
staozen nicht zugänglich wac, sondern störrisch immer auf
seinen unberechtigten Forderungen bestehen blieb. Jeder siebt
doch die Welt mit seinen Augen an! Die Unbelehrbark eit
dieses Unfallverletzten gibt noch nicht das Recht, seine An¬
sprüche als unberechtigt hinzustellen; sie brauchen es *zuna
mindesten nicht von seinem persönlichen Standpunkte aus
zu sein.
Unfallverletzte derart erinnern durchaus an die sogenannten
Querulanten. Nicht zu Unrecht spricht man daher auch von
„Rentenquerulanten“. Vor Jahren habe ich einen leicht
schwachsinnigen, paranoischen Bauer behandelt, der viel pro¬
zessiert und sich damit um sein ganzes Hab und Gut ge¬
bracht hatte. Er gab mir aus sich unter bitteren Tränen
mehrfach an, er werde ja glücklich sein, wenn er das Pro¬
zessieren nur lassen könne, das habe ihm bisher noch nichts
eingebracht; aber er könne es 'nicht lassen, er müsse eben
prozessieren. Manche Traumatiker, die durch ihr ewiges
Streiten und Kämpfen mit den Unfallbehörden nur sich und
ihrer Familie schaden, beurteilen ihre Handlungen in der
gleichen Weise.
Somit hält die Beweisführung des Reichsversicherungs¬
amts in den besprochenen Entscheidungen einer Kritik in
ärztlicher Hinsicht nicht stand. Der zwingende Nachweis, daß
unberechtigte Ansprüche erhoben seien und daß der Kampf
um ihre Befriedigung und nur dieser die Schädigung des Un¬
fallverletzten herbeigeführt hat, ist nicht erbracht; und solange
dieser Nachweis nicht in einwandfreier Form erbracht ist,
halte ich ,es für bedenklich, dem Arbeiter die Rente zu ver¬
sagen, die der tatsächlichen Einschränkung seiner Erwerbs¬
fähigkeit entspricht.
Ho che bezeichnet es ebenfalls als möglich, daß diese
Entscheidungen dem Unfallverletzten ein Unrecht zufügen.
Ich habe oben die Stellungnahme des Reichsversicherungs-
ämts als bedenklich hingestellt. Ich muß aber betonen, daß
das Reichsversicherungsamt seinen Standpunkt nicht engherzig
vertritt. Denn in seiner Entscheidung vom 27. Februar 1905,
XIX, 31, betont es ausdrücklich, die Tatsache einer Verschlim¬
merung der Unfallfolgen durch den Kampf um die Rente be-
Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechteprechnng des K-Y.-A. 25
Techtige dann nicht zur Ablehnung der Entschädigung für die
hierdurch bedingte Erwerbsunfähigkeit, wenn die Erwerbs¬
unfähigkeit in erheblichem Grade auch durch die unmittelbaren
ünfallfolgen verursacht worden sei.
Spätere Bände des „Rompaß" enthalten, soviel ich gesehen
habe, keine weiteren wichtigen Rekursentscheidungen, welche aus¬
drücklich Stellung zu dieser mehr theoretisch konstruierten Frage
nehmen. Vielleicht ist daraus der Schluß berechtigt, daß das
Reichsversicherungsamt seinen früheren Standpunkt auch jetzt
noch für richtig hält; denn es würde ja zwecklos sein, neue
Entscheidungen über eine grundsätzlich schon entschiedene
Frage immer wieder von neuem zu veröffentlichen. Indes bin
ich in meiner praktischen Tätigkeit Entscheidungen des Reichs¬
versicherungsamts begegnet, in denen es vermied, auf die Frage
der Wirkung des Kampfes um die Rente einzugehen; und eine
Berücksichtigung dieser Frage hätte um so näher gelegen, als
sie bereits in den unteren Instanzen ausführlich besprochen
war. Letzthin hat das Reichsversicherungsamt (8. Febr. 1909)
es sogar dahingestellt sein lassen, ob nicht auch dann schon,
wenn man den Schlußfolgerungen des Professor.folgen
müßte, ein genügender Zusammenhang mit dem Unfall anzu-
nebmen sei. Der Senat müsse sich dann allerdings in Gegen¬
satz zu der oben ebenfalls abgedruckten Rekursentscheidung
.stellen. Danach macht sich auch im Reichsversiche¬
rungsamt, wenn auch vielleicht nur vereinzelt, ein anderer
Standpunkt geltend.
Im Anschluß daran möchte ich eine ältere, weniger be¬
kannte Rekursentscheidung mitteilen, die sich noch deutlicher
ablehnend ausspricht (29. Sept. 1898, XII, 214). Ein Arbeiter
hatte sich den Fuß vertreten. Da er als erwerbsfähig ange¬
sehen wurde, erhielt er keine Rente. Auf Veranlassung des
Schiedsgerichts untersuchte ihn Oberarzt Dr. W. Nach dessen
Gutachten leide Tr. an einer schweren Neurasthenie, die ihn
wohl um etwa 50% in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtige.
Diese sei aber keine direkte Unfallfolge und hänge nur indirekt
mit dem Unfall zusammen; man könnte sie eher als eine Folge
der Unfallversicherungsgesetzgebung bezeichnen, indem sicher
der Kampf um die Rente, der Wunsch, möglichst viel heraus-
26
Ernst Schnitze,
zoschlagen, der hier den Unfallverletzten geradezu zum Be^
trüger werden lasse, eine wesentliche Ursache des nervösen
Leidens sei, das sich entwickelt habe. Die Schmerzen, über
die Tr. klage, würden von ihm simuliert und könnten bei der
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit überhaupt nicht in Betracht
gezogen werden. Direkte Folgen des Unfalls lägen nicht mehr
vor.“ Das Schiedsgericht wies die Berufung zurück. Das
Reichsversicherungsamt bewilligte eine Rente von 50®/o. Es
folgte dem Obergutachten des Oberarztes Dr. W., welcher „das-
Leiden für eine schwere Neurasthenie erklärt und welcher
einen wenigstens mittelbaren Zusammenhang des Leidens mit
dem Unfall annimmt. Die Ausführungen, welche der Sachver¬
ständige über den Zusammenhang macht, sind dabei allerdings
für das Reichsversicherungsamt nicht maßgebend gewesen, da
sie in wesentlichen Punkten anfechtbar sind, vielmehr ist an¬
genommen, daß die Rückenverletzung mit ihren schmerzhaften
Folgen an sich auf die Entstehung des Nervenleidens von
Einfluß gewesen ist, wie dies bei ähnlichen Verletzungen viel¬
fach beobachtet ist. Die Tatsache, daß Tr. vor dem Unfall
ein fleißiger Arbeiter gewesen ist, spricht gegen die Ansicht,,
daß es lediglich das Streben nach einer Rente gewesen sein
sollte, was das Nervenleiden veranlaßt hat.“ Leider erfahren
wir nichts Genaueres über die Gründe, nach denen der Stand¬
punkt des Oberarztes Dr. W. dem Reichsversicherungsamt
anfechtbar erscheint, das in späteren Entscheidungen den
gleichen Standpunkt vertritt.
Das Reichs versicherungsamt hat in dieser letzterwähnten
Entscheidung die Frage, ob das durch den Kampf um die Renta
verursachte Leiden zu entschädigen sei, bejaht, eine Frage, die
es fünf Jahre später in zahlreichen, schnell aufeinander¬
folgenden Entscheidungen verneint hat. Diese Änderung des
Standpunktes läßt daran denken, daß praktische Rücksichten
die Rechtsprechung von ihrer früheren Richtung abgelenkt
haben mögen. Vielleicht war die Hoffnung maßgebend, auf diesem
Wege den zahlreichen, langwierigen Entschädigungsprozessen
vorzubeugen. Ich will auf die Frage, ob praktischen Gesichts¬
punkten ein Einfluß auf die Rechtsprechung einzuräumen ist,
nicht näher eingehen, zumal über diesen heiklen Punkt nicht
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.-A. 27
einmal unter den Juristen volle Einigkeit herrscht; sogar die An¬
gehörigen jedes der beiden Heerlager, der Theoretiker und
Praktiker, sind untereinander verschiedener Meinung. Ich
denke jedoch nicht so sehr daran, daß die Verweigerung einer
Entschädiguug für Nachteile, die durch einen unberechtigten
Kampf um die Rente entstanden sind, den Unfallverletzten ab-
schrecken soll, sein Recht durch Beschreiten des Instanzen¬
weges zu suchen. Ich rechne eher mit der Möglichkeit, daß
der Arbeiter durch Ablehnung seiner Ansprüche zur Arbeit
gezwungen werden soU, zumal dieser Gesichtspunkt auch in
ärztlichen Gutachten deutlich zutage tritt.
Ich halte es für sehr möglich, daß die Sachverständigen
gehofft hatten, durch eine auf diesem Wege herbeigeführte
Rentenkürzung oder Rentenentziehung dem Unfallverletzten am
meisten zu nützen, indem er so zur Arbeit gezwungen wird.
Diese Auffassung ist aber rechtlich nicht zulässig, wie die be¬
kannte Rekursentscheidung vom 7. März 1902, XVI, 65, ergibt
Der Sachverständige wollte in diesem Falle durch Gewährung
einer nicht zu hohen Rente auf die „Klägerin einen heilsamen
Zwang zur Aufnahme und Durchführung einer Erwerbstätigkeit*^
ausüben. In der diesen Vorschlag ablehnenden Entscheidung
führtdasReichsversicherungsamt u.a. aus, daß die „Vorstellung, in
berechtigten Ansprüchen unrechtmäßig verkürzt zu werden,
regelmäßig keineswegs günstig auf die krankhaften Vor¬
stellungsreihen einwirken werde‘‘. Auch später noch hat das
Reichsversicherungsamt (7. April 1904, XVIII, 76) sich zu dem¬
selben Standpunkte bekannt. Wehn auch bei der Art des
Leidens des Unfallverletzten, bei seiner Unlust und Mutlosig¬
keit und Neigung zu hypochondrischen Beschwerden „die Ver¬
richtung leichter Arbeiten aus therapeutischen Gründen wün¬
schenswert sein mag, so darf doch die Berücksichtigung dieses
Gesichtspunktes nicht dahin führen, daß die Rente niedriger
bemessen wird, als dem tatsächlichen Grade der Erwerbs¬
unfähigkeit des Klägers entspricht“. Auch das bayerische
Landesversicherungsamt hat entschieden, der Heilzweck dürfe
bei der Bemessung der Rente nicht hineingezogen werden.
Einen Hinweis auf diese Entscheidungen halte ich auch
deshalb für wünschenswert, weil ein entgegengesetzter Stand-
28
Ernst Schnitze,
pnnkt immer und immer wieder auch heute noch in ärztlichen
Gutachten zum Ausdruck kommt.
Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht, daß es be¬
denklich ist, auf dem Wege der Rentenkürzung therapeu¬
tisch zu wirken. Für ebenso gefährlich halte ich es aber auch
andererseits, bei Gewährung der Rente eine sachlich nicht ge¬
rechtfertigte Milde walten zu lassen. Insbesondere trifit dies
für die Feststellung der ersten Rente zu; mit ihr wird dem
Unfallverletzten offiziell bescheinigt, daß er in seiner Erwerbs¬
fähigkeit durch den Unfall tatsächlich geschädigt ist, und es
besteht die Gefahr, daß der Antrieb zur Wiederaufnahme der
Arbeit geschädigt oder gar vernichtet wird.
Der Kampf um die Rente kann natürlich nur psychische
und nervöse Beschwerden setzen. Darüber besteht kein Zweifel,
daß auch bei den reinen, nicht durch Rentenkampf bedingten
Unfallneurosen die Existenz der Unfallgesetzgebung, „die Tat¬
sache des Versichertseins“, mit ihren mittelbaren und unmittel¬
baren Folgen eine ausschlaggebende Rolle spielt. Schon in
dem bloßen Wunsche nach Rente, auch wenn er tatsächlich
gerechtfertigt ist, kann ein schädigendes Moment liegen, welches
nur durch die Tatsache, daß es ein Unfallgesetz gibt, ermög¬
licht worden ist.
Somit besteht weder klinisch noch auch ätiolo¬
gisch ein grundsätzlicher Unterschied der beiden
Zustän de.
Ich weiß sehr wohl, daß man versucht hat, die reine
Rentenhysterie als ein besonderes Krankheitsbild herauszu¬
schälen im Gegensatz zu der traumatischen Hysterie. Nach
der symptomatologiscben Seite hat man als entscheidende
charakteristische Begleiterscheinung angesprochen das man¬
gelnde Krankheitsbewußtsein der Patienten und ihre Un¬
beeinflußbarkeit in therapeutischer Hinsicht sowie ihre große
Erregtheit gegenüber den Ärzten, denen sie sich zur Unter¬
suchung stellen sollen, ihr mürrisches, unzufriedenes Wesen.
Ich finde aber hierin nur einen quantitativen Unterschied gegen¬
über den Unfallneurosen. So mancher Arbeiter mit reiner
traumatischer Hysterie läßt sich nicht behandeln, weil er ge¬
sehen hat, daß ihm die Behandlung doch nichts hilft. Viele
Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-y.-A. 29
hysterische Frauen tragen gottergeben ihr Schicksal, während
andere Hysterische Ärzte und vor allem Kurpfuscher immer
wieder aufsuchen. Wie viele Unfallverletzte sehen in dem
Arzte ihren von der Berufsgenossenschaft besoldeten Feind und
bringen ihm Mißtrauen entgegen, sofern er sie nicht in dem
von ihnen gewünschten Sinne begutachtet? Die Empfindlich¬
keit der Hysterischen gegenüber Zweifeln an der Berechtigung
ihrer Klagen ist bekannt. Somit bestehen meines Erachtens
fließende Übergänge von der traumatischen Hysterie zur
Rentenhysterie oder, um den nichts vorwegnehmenden Aus¬
druck zu gebrauchen, von den Unfallneurosen zu den Renten¬
neurosen.
Ob tatsächlich die reine Rentenneurose so häufig ist,
wie einige Autoren meinen und wie vor allem die Berufsgenossen¬
schaften, wohl unter dem Einfluß der Reichsversicherungsamts-
Entscheidungen, anoehmen, muß ich nach meinen eigenen Er¬
fahrungen bestreiten. Derselben Ansicht ist auch W i n d -
scheid. Ein Beweis für die Häufigkeit der Rentenneurose,
der allen Einwänden gegenüber standhält, ist in der Tat schwer
zu führen. Man muß verlangen, daß absolut sicher bewiesen
wird, daß der Arbeiter zwar einen Unfall erlitten hat, daß er
aber durch ihn nicht im mindesten geschädigt ist, daß vielmehr
seine gesundheitliche Benachteiligung einzig und allein auf den
Rentenkampf zurückznführen ist. Ich muß auch darauf hin-
weisen, daß wir einer gleich verderblichen Wirkung bei
anderen Prozessen doch recht selten begegnen; sie wäre dann
übrigens auch rechtlich ganz belanglos. Denn der Anspruch
beruht bei anderen Prozessen auf einem in sich abgeschlossenen
Tatbestände, der durch die Führung der Rechtsstreitigkeiten,
abgesehen von etwaigen Folgen des Verzuges, nicht beeinflußt
werden kann.
Daß für eine reine Rentenneurose eine Entschädigung
nicht zu bewilligen ist, habe ich ja oben schon ausgeführt.
Häufiger wird eine bereits vorhandene Neurose durch die
mit dem Kampf um die Rente verbundenen Aufregungen und
Anstrengungen sich verschlimmern oder doch wenigstens pro¬
gnostisch ungünstig beeinflußt werden. Wie man dann aber
angeben will, wie weit die durch die Neurose herbeigeführte
30
Emst Schnitze,
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit auf den Unfall znrück-
znführen ist, wie weit daran der Kampf nm die Rente schuld
ist, ist mir nicht recht erfindlich, wenn auch die Berufa-
genossenschaft und die Schiedsgerichte noch so sehr eine be¬
stimmte Beantwortung dieser Frage wünschen. Meine Skepsis
ist auch nicht gewichen, nachdem ich in einzelnen Gutachten
diesen Einfiuß in ganz bestimmten Zahlen abgeschätzt sah.
Man soll doch nicht vergessen, daß die Abschätzung des Grades
der Erwerbsfähigkeit in vielen Fällen traumatischer Neurosen
mehr oder weniger Gefühlssache ist.
Gibt man grundsätzlich zu, daß der Kampf um die Reute
das Zentralnervensystem schädigen kann, so kann ich für diese
Wirkung keinen wesentlichen Unterschied darin erblicken, ob
der Kampf um die Rente berechtigt war oder nicht.
Vom rechtlichen Standpunkte aus muß man diese Trennung vor¬
nehmen ; für die schädigende Wirkung des Kampfes aber ist
der Unterschied belanglos. Ich kann daher auch dem Reichs¬
versicherungsamt nicht beipflichten, wenn es den Fall erörtert,
daß „die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs nur
deshalb auf den Seelen- und Geisteszustand des Verletzten
einen nachteiligen Einfluß ausübt, weil er von der irrtümlichen
Vorstellung ausgeht, er müsse ohne Rücksicht auf das Vor¬
handensein oder den Grad einer durch den Unfall verursachten
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter allen Umständen
schon dafür eine Entschädigung erhalten, daß er überhaupt
einen Unfall erlitten hat“.
Nur insofern besteht ein Unterschied, als naturgem^ der
Kampf um die Rente bei dem langsamen Arbeiten der In¬
stanzen erst einige Zeit nach dem Unfall Schaden setzt, wäh¬
rend die traumatische Neurose schon eher in die Erscheinung
treten und oft genug sich unmittelbar an den Unfall an¬
schließen kann.
Wenn somit fließende Übergänge bestehen zwischen Unfall¬
neurosen und Rentenneurosen, wenn bei der letzteren das Recht
auf Entschädigung zutreffend bestritten wird, so kann man
sich nicht wundern, wenn grundsätzlich auch bei Unfall¬
neurosen ein Re n tenanspruch geleugnet wird. Inder
Tat ist diese Forderung schon öfter aufgetaucht. Nicht nur
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.«A. 31
in den Kreisen der Ärzte und Juristen begegnet man der¬
artigen Forderungen, sondern das gleiche Verlangen wird auch
in den Kreisen der Arbeiter laut.
Was mag wohl daran schuld sein? Die relative Zahl der
Unfallneurosen überhaupt ist, wie Merzbacher und Biß
an der Hand einer großen Statistik nachgewiesen haben, nicht
groß im Vergleich zu der Gesamtzahl der Unfallverletzungen.
Aber ihre absolute Zahl hat niit dem Zeitpunkte, in dem
die Unfallversicherungsgesetze Rechtskraft erhielten, von Jahr
zu Jahr zugenommen. An dieser Zunahme ist natürlich in
erster Linie die Möglichkeit einer Entschädigung schuld, aber
doch auch die zunehmend genauer gewordene Untersuchung und
die immer mehr verbesserte Untersüchungstechnik. Die Schwere
der Neurose und ihre schlechte Prognose ziehen die Zahlung einer
hohen Rente für lange Zeit nach sich. Die vielfach mehr tem¬
peramentvoll als sachlich geführten Verhandlungen über das Wesen
und die Pathogenese der traumatischen Neurosen haben in weiteren
Kreisen den Eindruck hervorgerufen, als ob die traumatische
Neurose nur der wissenschaftliche Ausdruck für eine besondere
Art der Simulation sei. Diesen Eindruck haben die späteren
Verhandlungen, die zu einer gewissen Einigung in den be¬
rufenen Kreisen geführt haben, nicht völlig zu verwischen ver¬
mocht. In der Tat ist das ganze Gebaren mancher Unfall¬
neurotiker auch derart, daß neurologisch und vor allem psy¬
chiatrisch nicht Vorgebildete — zu denen gehören die Laien
— an groben Betrug denken müssen. Man kann es verstehen,
wenn der einzelne Arbeiter verstimmt wird, der sieht, daß dem
Verletzten eine große Rente mühelos in den Schoß fällt, ob¬
wohl die Verletzung nicht erheblich war. Es braucht hierbei
nicht immer das Motiv des Neides beteiligt zu sein, sondern
dies Gefühl kann auch von edleren Regungen, dem Bedauern
über die vom Gesetzgeber nicht gewollte schädliche Wirkung
des Unfallversicherungsgesetzes, diktiert sein. Jeder, der als
Gutachter tätig ist, wird sicher zeitweilig von einem Gefühle
des Unmuts und Grolls bis zum Ekel übermannt werden, wenn
er die planvolle und skrupellose Ausnutzung der Unfallver-
sicherungsgesetzgebung sieht. Dieser Mangel des Pflichtgefühls
und das Bestreben, die Verantwortlichkeit von den eigenen auf
32
Ernst Schnitze,
fremde Schultern abzuwälzen, finden sich nicht nur in Arbeiter¬
kreisen, sondern auch bei Gebildeten, selbst in den besten
Ständen, wie uns die Haftpflicbtprozesse lehren. Schließ lick
muß auch betont werden, daß die Ton den verschiedenen
Sachverständigen angenommene Beeinträchtigung der Erwerbs-
fahigkeit in demselben Falle großen Schwankungen unterliegen
kann, selbst bei übereinstimmender Auffassung des klinischen
Befundes.
Das sind einige Gesichtspunkte, die die Neigung gefördert
haben, die Unfallneurosen aus der Zahl der entschädigungs¬
berechtigten Unfallfolgen zu streichen. Ich habe gelesen, dafi
große Privatversicherungsgesellschaften mit dem Gedanken um¬
gehen, ihre Statuten dahin zu ändern, daß im Falle des Ein¬
tritts einer traumatischen Neurose überhaupt keine Entschä¬
digung bewilligt wird oder höchstens eine bestimmte Maximal¬
rente, die etwa einem Viertel der Erwerbsfähigkeit entspricht,
oder daß eine Entschädigung gezahlt wird nur für die Zeit,
während deren die traumatische Neurose die Verpflegung und
Behandlung in einem Krankenhause erfordert. Es möge dahin¬
gestellt bleiben, ob das seitens des Reichs bestehende Auf¬
sicht samt über die Privatversicherungsgesellschaften mit einer
Streichung der Neurosen einverstanden sein wird.*) Wird aber
*) Wenn hier und da mit einer solchen Möglichkeit gerechnet wird,
BO handelt es sich offenbar um ein Mißverständnis, welches dadurch hervor¬
gerufen ist, daß in § 3 Abs. 4 Buchstabe b der neuerdings vom Kaiserlichen
Aufsichtsamt für Privatversicherung genehmigten Bedingungen des Verbandes
der in Deutschland arbeitenden IJnfallversicberungsgesellschaften gesagt ist:
„(Als Unfälle gelten nicht) Erkrankungen infolge psychischer Einwirkungen“.
Als ich diese Bestimmung las, stieg in mir sofort der Oedanke auf,
eine echte Schreckneurose und ihre Nachwehen seien nicht mehr als Unfall¬
folgen aufzufassen. Eine Nachfrage bei dem Kaiserlichen Aufsichtsamt für
Privatversicherungen belehrte mich aber eines anderen; denn dieses gab mir
in liebenswürdiger Weise folgenden Bescheid:
„Diese Bestimmung besagt aber nur, daß für psychische Erkrankungen
die nicht durch einen Unfall verursacht werden, eine Entschädigungs¬
verpflichtung nicht besteht. Es handelt sich also nicht um einen den Ver¬
sicherungsschutz einschränkenden Ausschluß, sondern um die negative Ab¬
grenzung der unter die Versicherung fallenden Schadenereignisse gegen an
sich schon begrifflich nicht unter die Versicherung fallende Krankheiten.
Dies ergibt sich mit aller Deutlichkeit aus der Fassung der Bestimmung
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des 33
eine derartige Bestimmung unter die Bedingungen aufgenommen,
so kann der Versicherte sich nicht nachher beklagen, wenn er
und aus ihrer Stellung innerhalb der Bedingungen, welche die begrifflich
gegebene Abgrenzung der Versicherung und die Ausschluübestimmungen scharf
getrennt halten.“
Hieraus ergibt sich also, daß eine Entschädigungspflicht für psychisch
bedingte Erkrankungen infolge von Unfällen nach wie vor besteht, wie denn
auch vollständige Invalidität bei Verfall in unheilbare Geistesstörung —
eine Geistesstörung würde ja vor allen Dingen als Erkrankung infolge
psychischer Einwirkung in Betracht kommen — ausdrücklich anerkannt wird.
Den Leser wird es interessieren, daß von der Versicherung ausge¬
schlossen sind ^Unfälle infolge Geistes- oder Bewußtseinsstörung irgendwelchen
Grades (auch infolge von Ohnmachts- und Schwindelanfällen), es sei denn,
daß diese Störung selbst durch einen Unfall hervorgerufen war; ferner Un¬
fälle infolge offenbarer Trunkenheit“.
Schließlich sei noch eine Bestimmung erwähnt, die für den Neurologen
von großer Bedeutung ist. § 10, 2, c bestimmt: „Bei der Entschädigung
für Nervenkrankheiten im Anschluß an einen Unfall wird nur die Hälfte
des festgesetzten Invaliditätsgrades zugrunde gelegt.“ ,
Eine durch eine schwere Schädelverletzung entstandene traumatische
Epilepsie ist sicher eine Nervenkrankheit. Warum aber die durch sie be¬
dingte Invalidität nur zur Hälfte entschädigt werden soll, ist mir nicht recht
erfindlich. Führt diese Epilepsie im Laufe der Zeit zu einer Demenz, so
liegt eine unheilbare Geistesstörung vor, bei der von denselben Bestimmungen
uneingeschränkt vollständige Invalidität angenommen wird. Man wird aber
zugeben müssen, daß zwischen traumatischer Epilepsie und traumatischer
Demenz nur fließende Übergänge bestehen; daraus ergibt sich ohne weiteres
die Schwierigkeit, um nicht zu sagen Unmöglichkeit der Begutachtung im
Einzelfalle. Doch will die Bestimmung unter Nervenkrankheiten vielleicht
nur Erkrankungen des peripheren Nervensystems verstanden wissen? Auch
dann finde ich es nicht nur unbillig, sondern geradezu ungerecht, daß die
Schädigung durch eine Muskellähmung, welche auf einer Durchtrennung des
zugehörigen motorischen Nerven beruht, nur zur Hälfte entschädigt wird.
Soll diese Sonderbestimmung nur auf Neurosen angewendet werden, also
organisch bedingte Erkrankungen ausschließen, so vertritt sie einen Stand¬
punkt, zu dessen Gunsten sich gewiß nicht nur rechtliche, sondern auch
ärztliche Gründe anfübren lassen. Aber dann muß diese Auffassung auch
in einer Form zum Ausdruck kommen, die jegliches Mißverständnis aus-
Bchließt. Freilich kann ich, wenn unter Nervenkrankheiten nur Neurosen
verstanden werden, nicht das weitere Bedenken unterdrücken, daß der Un¬
fallverletzte, um sich schadlos zu halten, seine Beschwerden erheblich über¬
treibt, und bei der schon mehrfach hervorgehobenen Schwierigkeit, will¬
kürliche Simulation und krankhaft bedingte Übertreibung scharf zu trennen,
eine zutreffende Beurteilung ungemein erschwert wird.
3
34
Ernst Schnitze,
bei Verfall in eine Neurose keinen Anspruch erheben kann.
Von dieser Sachlage war er ja vorher unterrichtet, und es war
sein freier Wüle, wenn er dennoch den Vertrag mit der Privat¬
versicherung schloß.
Wie steht es aber um die Unfallversicherungsgesetz-
gebxmg? Freilich trägt der einzelne Arbeiter nichts zu den
Kosten bei, die durch die Unfallversicherung erwachsen, und inso¬
fern bat er keinen unmittelbaren, durch seine eigenen Leistungen
bedingten Anspruch. Aber er wird nach dem Gesetz zwangs¬
weise versichert, also auch gegen seinen Willen. Er hat An¬
spruch auf Unfallrente, weil die Gefahr, der er erlegen ist,
durch den vom Unternehmer geführten Betrieb gesetzt ist,
dessen Nutzen der Unternehmer bezieht, dessen Schädigungen
er auch tragen muß. Natürlich müßte auch hier das Gesetz,
dessen jetziger Wortlaut die Ausnahmestellung für die trauma¬
tischen Neurosen nicht zuläßt, eine entsprechende Änderung
erleiden.
Dieser ebenso radikale wie einfache Vorschlag wäre an¬
nehmbar, wenn nachgewiesen würde, daß erstens nur das Streben
nach Rente die Unfallneurosen zeitigt, und zweitens der Unfall¬
verletzte sein Begehren infolge des Fehlens einer Entschädigung
sicher unterdrücken kann.
Beide Voraussetzungen treffen aber nicht unbedingt zu.
Die Pathogenese der Unfallneurosen ist doch nicht so ein¬
fach, daß sie mit dem Schlagwort „Begehrungsvorstellung“, bei
aller Anerkennung ihrer Bedeutung, restlos erklärt wird. Wer
die Literatur der Unfallneurosen kennt, weiß, daß noch eine
Reihe von anderen Ursachen dabei beteiligt ist. Wer die Aus¬
führungen über die Prophylaxe der traumatischen Neurosen,
die in ihrer Bekämpfung ungleich mehr leistet als jede The¬
rapie, kennt, weiß, daß eine große Zahl von Vorschlägen ge¬
macht ist, um der Zunahme der Unfallneurosen zu begegnen.
Ich erwähne nur die schnellere Erledigung der Rentenent¬
scheidung durch Abkürzung und Vereinfachung des Verfahrens,
die Abschaffung der Kostenlosigkeit des Berufungsverfahrens,
die einmalige Abfindung bei unbedeutenden Verletzungen, die
Schaffung von Arbeitsgelegenheit für Rentenempfänger, die Ge¬
währung von Genesungsprämien usw. In rein ärztlicher Hin-
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des K-Y.-A. 35
sicht ist immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, daß
der Unfallverletzte sehr bald nach der Verletzung von einem
neurologisch und psychiatrisch vorgebildeten Arzte der Berufs-
genossenschaft, nicht von einem Arzte einer Krankenkasse, in
Behandlung genommen wird. Werden diese Vorschläge ver¬
wirklicht, so lassen sich sicher manche Schädigungen ver¬
meiden, die den Verfall in eine Unfallneurose erleichtern. Man
sollte zuvor versuchen, auf diesem Wege, also durch andere Hand¬
habung der gesetzlichen Bestimmungen und durch Verbesserung
des Verfahrens, das Ziel zu erreichen, als daß man zu einer so
einschneidenden Maßregel, die traumatische Neurose schlecht¬
weg als Unfallfolge zu leugnen, seine Zuflucht nimmt. Die
anderen Vorschläge haben wenigstens den einen großen und
grundsätzlichen Vorzug, daß ihre Befolgung den Unfallver¬
letzten nicht benachteiligen kann; diese neue radikale Ma߬
nahme hat aber noch den weiteren Nachteil, daß sie einen
Erfolg nicht sichert.
Darüber besteht ja kein Zweifel, daß viele die gleichen und
noch schwerere Verletzungen erleiden wie ein Versicherter, ohne
neurotisch zu werden, vielleicht lediglich deshalb nicht, weil
kein Anspruch auf Entschädigung besteht, weil, grob ausge¬
drückt, kein Interesse vorliegt, sich eine Unfallneurose zu¬
zulegen. Allein es wäre falsch, wollte man daraus den Schluß
ziehen: ohne Unfallgesetz keine Unfallneurosen. Denn das
Krankheitsbild der Unfallneurose ist schon, wenn auch nur in
vereinzelten Fällen gegenüber der heutigen großen Zahl, be¬
schrieben, bevor es ein Unfallversicherungsgesetz, ja bevor es
ein Haftpflichtgesetz gab. Vor kurzem hat Knotz über seine
Beobachtungen aus Bosnien berichtet, die durchaus den uns
sattsam bekannten Unfallneurosen gleichen, obwohl es dort
kein Unfallgesetz gibt.
Andere Ursachen spielen somit sicher ebenfalls eine große
Rolle, darunter vor allem die persönliche Veranlagung, mag sie
angeboren oder erworben sein. Deren Bedeutung in der Unfall¬
gesetzgebung werde ich unten noch genauer besprechen.
Nun kann man mir freilich entgegnen, auch der Veranlagte
müsse ebenso wie der Nichtveranlagte seine ganze Energie zu¬
sammennehmen, um einer ihn bedrohenden Neurose Herr zu
3*
36
Ernst Schnitze,
werden; auch der Kranke mit Uofallneurose könne die Arbeit
wieder aufnehmen, wenn er nur den energischen Willen habe,
zo arbeiten. Dieser gute Wille müsse von dem Arbeiter ver¬
langt werden, zumal es nicht angängig sei, die Energielosig¬
keit in allen Fällen als krankhaft anzusprechen. Sachs hat
in weiterer Verfolgung dieses Gedankens darauf hingewiesen,
daß wir den Verbrecher bestrafen, obwohl wir die Willensfrei¬
heit leugnen und ganz genau wissen, daß die Mehrzahl der
Verbrecher von Haus aus entartete Naturen sind. Für beide
Kategorien von Menschen müsse der gleiche Maßstab verlangt
werden.
Selbst die Möglichkeit eines derartigen Analogieschlusses
zugegeben, so sind diese Ausführungen von Sachs nicht
völlig einwandsfrei. Die Strafe ist eine Reaktion des Staates
auf Handlungen, deren Mehrzahl von fast allen Seiten als un¬
sittlich empfunden wird. Hier aber bei den Unfallneurosen
handelt es sich um die Zurechenbarkeit von Handlungen, für
deren Unzulässigkeit ein tiefes Verständnis fehlt. Der Arbeiter
sieht nichts Entehrendes darin, seine Beschwerden zu übertreiben,
um sich eine Rente zu sichern, sowenig wie der reiche Privatver¬
sicherte. Der Arbeiter wird seinen Kameraden, der eine unberech¬
tigte Rente erstrebt, moralisch sicher anders beurteilen wie einen
Kriminellen. Durchaus zutreffend wird bei Besprechung der Un-
falloeurosen darauf hingewiesen, daß keine Dame sich scheut,
Spitzen zu schmuggeln, kein Kaufmann Bedenken hat, bei der
Selbsteinschätzung Abzüge zu machen, kein Gourmand zaudert,
bei Erhöhung der Schaumweinsteuer mehr als zehn Flaschen
Schaumwein unversteuert im Keller zu haben. Die Renten¬
sucht, die das Gesetz geschaffen hat, ist so tief in den Arbeiter¬
kreisen eingewurzelt, daß sie kaum, jedenfalls nicht in abseh¬
barer Zeit, durch eine geänderte Gesetzgebung beseitigt werden
kann. Die Sucht wird ja geradezu als etwas Erlaubtes ange¬
sehen. Dann aber spielen bei und nach den Unfallverletzungen
noch Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichts eine Rolle,
deren Einfluß, mögen sie auch wenig intensiv sein, schon
wegen ihrer Dauer und Nachhaltigkeit nicht unterschätzt
werden dürfen.
Ich habe demnach doch große Bedenken, anzunehmen, daß
Kampf um die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.*Y.>A. 37
der Vorschlag, Unfallneurosen nicht mehr zu entschädigen,
'wirklich eine Besserung oder gar Heilung des sozialen Schadens
ermöglicht. Ich möchte aber auch noch mehr bezweifeln, ob
die hierfür notwendige Gesetzesänderung so leicht zu erreichen
sein wird. Die Verbände, denen beim Ausscheiden der Unfall¬
neurosen aus den Unfallfolgen die Fürsorge für den Unfallver¬
letzten anheimfallen würde, werden sich jedenfalls sehr energisch
zur Wehr setzen. Mit vollem Recht. Denn ich muß füglich
bezweifeln, ob schon die Änderung der Gesetzeslage genügt,
den Arbeiter, auch wenn er nervöse Beschwerden hat, zu ver¬
anlassen, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Der Nachteil, den der Kampf um die Rente setzt, ist, wie
ich oben betont habe, dann nicht Unfallfolge, wenn der Arbeiter
zu Unrecht behauptet, durch einen Unfall geschädigt worden
zu sein. Aber ist dieser Beweis in dem Einzelfalle immer
sicher erbracht? Das vorliegende Material der Entscheidungen
dient wesentlich rechtlichen Zwecken und reicht natürlich
nicht aus, diese Frage zu lösen; immerhin darf ich wohl
hervorheben, daß die Beweisführung an vielen Stellen zu
wünschen übrig läßt. Nach meinen eigenen, an einem großen
Material gewonnenen Beobachtungen muß ich es bezweifeln;
ich muß auch betonen, daß es meines Erachtens Fälle gibt, in
denen es nicht oder kaum möglich ist, den Nachweis, der Ver¬
letzte simuliere seine Beschwerden, mit aller Sicherheit zu führen.
Wie kann ich einem Verletzten nach weisen, daß er nicht die
von ihm behaupteten Kopfschmerzen oder Scbwindelanfalle
hat? Gewiß gibt es sehr viele Methoden, um nachzuweisen,
ob diese oder andere Klagen berechtigt sind. Aber sie sind
vielfach hinter dem grünen Tisch konstruiert und verraten
einen Mangel an psychiatrischem Verständnis für die wahre
Natur der Beschwerden. Sie versagen auch oft insofern, als
ihr positiver Ausfall die Beschwerden nur wahrscheinlich macht,
ihr negativer Ausfall sie aber nicht mit Sicherheit ausschließt.
Es erscheint auch nicht angebracht, die Unfallverletzten, so oft
dies auch geschieht, im Anschluß an das bekannte Sprichwort
„Wer einmal lügt.“ sämtlich als Simulanten anzu¬
sehen, wenn man ihnen in einem Punkte einen Betrug nach¬
gewiesen hat. Ich sehe davon ab, daß ich wiederholt fand.
38
Ernst Schultzo,
daß dieser angebliche Betrag durchaus zu dem Krankheitsbilde
des Unfallverletzten gehörte, das der Sachverständige nicht
kannte oder nicht verstand. Dann aber ist es doch sicher
nicht berechtigt, aus einem einzigen Falle von Betrug den
Schluß zu ziehen, alles sei erlogen, und schließlich wird dabei
übersehen, daß nicht nur Gesunde, sondern auch Kranke lügen.
Es würde zu weit führen, hier auf die Schwierigkeiten des Nach¬
weises des Bestehens gewisser häufiger Beschwerden einzugehen.
Ich habe in vielen konkreten Fällen gesehen, daß Simu¬
lation zu Unrecht angenommen wurde.
Ich will nebenbei, mehr als Kuriosum, erwähnen, daß ich
für das Reichsversicherungsamt einmal einen Seemann begut¬
achtet habe, der als Simulant angesprochen wurde; es bestehe
kein Grund für seine Schmerzen beim Gehen, kein Anlaß für
die ungewöhnliche Gangart. Bei der körperlichen Untersuchung
des Mannes dachte ich an einen Oberschenkelbruch; der voa
mir hinzugezogene Chirurg untersuchte und durchleuchtete dea
Mann und bestätigte meine Diagnose; er konnte es auch
höchst wahrscheinlich machen, daß dieser Bruch auf den Unfall
zurückzuführen sei. In keinem der erstatteten Vorgutachten
war dieser Knochenbruch auch nur mit einem einzigen Wort»
erwähnt, der in zwangloser Weise die Schmerzen und die un¬
gewöhnliche Gangart erklärte.
Naturgemäß handelt es sich in den von mir begutachteten
Fällen um Fehldiagnosen vorwiegend auf neurologischem oder
psychiatrischem Gebiete. Einige Erfahrungen der letzten Zeit, die
meine obigen Behauptungen stützen, will ich in Kürze an¬
führen. Ein Arbeiter hatte eine schwere Verletzung erlitten
und klagte danach über Schwindelanfälle und anfallweise auf¬
tretende Schmerzen in der Brust- und Herzgegend. Da er
diese Schmerzen recht verschieden lokalisierte und ein objek¬
tiver Befund an der Stelle der vermeintlichen Schmerzen nicht
zu erheben war, glaubte man seinen Angaben nicht. Schon
bei der Durchsicht der Akten, insbesondere der ärztlichen
Zeugnisse vermutete ich, es läge ein ungewöhnlicher Fall von
Epilepsie vor. Die Beobachtung in der Klinik bewies di»
Richtigkeit dieser Annahme.
Am meisten wird gesündigt bei der Hysterie. Der Unfall-
Kampf nm die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.'Y.-A. 39
verletzte klagt über Schmerzen oder Gefühlsstörungen in einem
Bereich, der dem Gebiete eines bestimmten Nerven nicht ent¬
spricht; also ist diese Angabe des Unfallverletzten, schließt
der Gutachter, erdichtet, obwohl er dabei ausdrücklich die
Möglichkeit der Hysterie erörtert. Übrigens habe ich bei ähn¬
lichen Argumentationen mehrfach feststellen müssen, daß dem
Gutachter auch die Anatomie nicht geläufig war. Bei der
Prüfung aktiver Bewegungen [spannt der Unfallverletzte die
entgegengesetzten Muskeln straff an, so daß das aktiv bewegte
Glied, bei plötzlichem Aufhören [des ihm geleisteten Wider¬
standes, keine schnellenden Bewegungen macht; also bewußte
Simulation, in Wirklichkeit Hößlinsches Symptom, dessen Nach¬
weis organische Lähmungen ausschließt. Hysterie wurde in
einem Gutachten ausgeschlossen wegen des regelrechten Ver¬
haltens der Reflexe und der psychischen Verfassung des Un¬
fallverletzten; und wer die Seele des Hysterischen so genau
kennen wollte, war ein Chirurg, der in diesem Falle einen
Schulfall von Hysterie glatt als bewußte Simulation ange¬
sprochen hatte. Der Unfallverletzte kann kaum stehen, noch
weniger gehen, ohne daß er umzufallen droht. Wird er im
Bett geprüft, so kann er alle geforderten Bewegungen prompt,
sicher und kräftig ausführen. Dieser scheinbare Gegensatz
führte zur Annahme von Simulation und ließ den doch sicher
recht nahe liegenden Gedanken, es handele sich um Astasie-
Abasie, nicht aufkommen. Wiederholt bin ich in ärztlichen
Gutachten einer Ausführung begegnet, die etwa so lautet; daß
der Gang des Unfallverletzten durchaus gekünstelt und vorge¬
täuscht ist, braucht nicht bewiesen zu werden, das lehrt schon
der erste Blick. Hätte der Träger dieses scharfen diagnosti¬
schen Blickes nur an Hysterie gedacht, so hätte er sich ge¬
freut über den Schulfall von hysterischer Hemiplegie, der das
Toddsche Symptom in typischer Weise bot. Den Angaben des
Unfallverletzten über Schmerzen wird kein Wert beigelegt; er
sei ja doch ein hysterisches Individuum. Tun wirklich die
psychogenen Schmerzen soviel weniger weh als die organisch
bedingten? Kann man über die Stärke der Schmerzen eines
anderen ein so sicheres Urteil sich erlauben?
Das Wesen der Hysterie ist manchen Ärzten nicht hin-
40
Ernst Schnitze,
reichend bekannt. Wenn ich gerade in den letzten Jahren oft
diesen Eindruck erhalten habe, so mag das auch daran liegen,
daß wir hier in Pommern sehr viele Fälle von Hysterie haben,
und darunter befinden sich sehr schwere Formen, die den Ein¬
druck einer organischen ‘Erkrankung machen könnten. Vor
kurzem habe ich einen Unfallverletzten vorgestellt, der früher,
und wie ich zugeben muß, mit durchaus guten Gründen,
als ein Fall von Pedunkulusblutung aufgefaßt wurde. Im
letzten Jahre haben wir Hysterie bei zwei üntersuchungsge-
fangenen beobachtet, die beide von unbeteiligter und speziali-
stischer Seite als Paralytiker angesprochen wurden.
Das wechselvolle, scheinbar widerspruchsvolle Verhalten
der Hysterischen verleitet natürlich auch leicht zu einer falschen
Diagnose; und nun noch die Suggestibilität! Reagiert der Un¬
fallverletzte auf eine der vielen fein erdachten und ausge¬
klügelten Methoden zur Entlarvung von Simulanten, so ist damit
natürlich der Beweis des Betrugs erbracht!
Selbstverständlich wird der Nachweis der Hysterie noch
nicht dartun, daß der Unfallverletzte so erwerbsbeschränkt ist,
wie er behauptet. Auch der voll erwerbsfähige Arbeiter kann
eine große Zahl von hysterischen Zeichen haben, während
wenige Stigmata eine erhebliche Beeinträchtigung der Arbeits¬
fähigkeit nicht ausschließen. Aber die hysterischen Stigmata
sind insofern von großem Werte, als sie uns warnen müssen
vor voreiliger und leichtfertiger Annahme der Simulation.
Ich muß noch betonen, daß psychogene Symptome ein¬
mal ein organisches Leiden des Zentralnervensystems über¬
lagern und andererseits dessen ersten Symptome sein können,
und daß dadurch eine weitere Fehlerquelle geschaffen wird.
Auch hinsichtlich der Neurasthenie herrscht vielfach
noch große Unklarheit. Ich habe schon oben darauf hingewiesen,
daß manche Ärzte den Klagen der Unfallverletzten ihren
Glauben versagen, weil sie keine objektiven Symptome finden,
weil der Kranke seine Klagen maßlos übertreibt und sich ge¬
neigt zeigt, auf Zureden das Heer seiner Klagen zu vergrößern.
Aber beobachten wir nicht dasselbe Verhalten auch bei solchen
Fällen von Neurasthenie, die mit einem Unfall nichts zu tun
haben, bei denen also von einer Einwirkung des Kampfes um
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.>A. 41
•die Rente gar keine Rede sein kann? Was ich Ton der Hysterie
und Neurasthenie sagte, gilt auch für Psychosen nach Un¬
fällen, vor allen Dingen für die leichten Formen traumatischer
Demenz oder die Geistesstöningen vom Charakter der Katatonie,
wie man sie ab und zu nach Kopfverletzungen beobachtet.
Den Behörden kann man es gewiß nicht verdenken, wenn
sie bei dem Mangel eigener fachmännischer Vorbildung sich ohne
weiteres die unzutreffenden Gutachten der Ärzte zu eigen
machen, und es ist zu verstehen, wenn sie den von diesen ein¬
genommenen Standpunkt energisch vertreten. Aber es ist nun
doch nicht zu billigen, wenn eine Berufsgenossenschaft das
Reichsversicherungsamt in einem bestimmten Falle bat, dem
Unfallverletzten an außergerichtlichen Kosten den Betrag von
10 Mark aufzuerlegen, um ihm ,,zum Bewußtsein zu bringen,
daß die Berufsgenossenschaften und Instanzen nicht dazu da
sind, derartige, doch geradezu frivol zu nennende und zum Teil
beleidigende Anträge immer wieder über sich ergehen zu lassen,
und um ferner dem Kläger zu Gemüte zu führen, daß er der¬
artige Anträge in Zukunft zu unterlassen hat**; denn in diesem
Falle lagen einzelne Gutachten vor, aus denen sich ergab, daß
der Unfallverletzte eine geistig abnorme Persönlichkeit war
und an Wahnvorstellungen litt. Derselbe Unfallverletzte
wurde offiziell auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft durch
das Landratsamt auf das Ungehörige eines von ihm verfaßten
Briefes aufmerksam gemacht; er sah offiziell sein Unrecht ein
und schrieb kurze Zeit später einen ganz gleichen Brief. Der¬
selbe Unfallverletzte schließlich war wegen Beleidigung der
Behörde angeklagt, wurde aber freigesprochen; denn der Staats¬
anwalt hatte entgegen der Annahme der Unfallbehörden die
Überzeugung gewonnen, daß der Unfallverletzte wirklich krank
und arbeitsunfähig war. Daß ein derartiges Vorgehen der Be¬
hörden, so begreiflich es auch vom menschlichen Standpunkte
aus sein mag, wenig Zweck hat, daß es keinem nützt und
den Unfallverletzten nur noch mehr schädigt, brauche ich kaum
zu sagen. Man wäre fast versucht, von einer Schädigung
des Unfallverletzten durch den Kampf um die Rente zu sprechen,
den aber in diesem Falle nicht der Unfallverletzte, sondern
die Berufsgenossenschaft führt.
42
Ernst Schnitze,
Wenn ich nun auch den Unfallverletzten mehr Glauben;
entgegenbringe als andere Sachverständige, so bin ich natür¬
lich doch nicht geneigt, dem zu Begutachtenden alles zu
glauben, was er sagt, und mich in meinem Gutachten blind*
lings seinen Wünschen unterzuordnen. Das geht aas meinen
obigen Ausführungen hervor.
Ich füge diese Zeilen hinzu, um mich gegen den uns
Psychiatern und Neurologen ebenso oft wie ungerecht ge¬
machten Vorwurf zu schützen, wir hielten jeden rentensüch¬
tigen Unfallverletzten für einen kranken Menschen. Ich will
dem Arbeiter nicht mehr zukommen lassen, als ihm zusteht,
und glaube damit auch im Interesse der Berufsgenossenschaften
zu handeln, da ich so einem berechtigten Kampf um die Rente-
und der dadurch bedingten Verschlimmerung des Leidens des
Unfallverletzten am ehesten verbeuge.
Die Lehre von der traumatischen Neurose ist von vielen
Seiten, berufenen und unberufenen, einer strengen Kritik unterzogen
worden. Ich will hier nicht weiter auf sie eingehen, als es schon
geschehen ist, möchte nur noch auf einen Punkt zurückkommen.
Wiederholt bin ich in letzter Zeit der Warnung begegnet,
Unfallverletzte einem Neu rologen oder Psychiater zur
Begutachtung zuzuschicken.*) Unlängst warnte, wie ich aus
den Akten entnahm, ein Sachverständiger davor, den Kranken, der
einen schweren Eisenbahnunfall erlitten hatte, einem Neurologen
zur Untersuchung zuzuweisen; er würde dann eine traumatische
Neurose bekommen. Die Tücke des Geschickes fügte es, daß-
in diesem Falle bereits eine Neurose in Form einer schweren
hysterischen Hemiplegie vorlag; der der Neurologie so feind¬
lich gegenüberstehende Kollege hatte aber, entgegen allen
neurologischen Erfahrungen, eine organische Erkrankung einer
Gehirnhälfte mit aller Sicherheit angenommen und durch diese
falsche Diagnose sicher nicht zu einem günstigen Ausgang des
Leidens und des Entschädigungsverfahrens beigetragen. Übrigens
habe ich mehrfach eine derartige Verwechslung organischer und
psychogener Nervenleiden bei Gutachtern gesehen, die der trau-
*) Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als die Diskussion Uber die
gleiche Frage in der Ärzt. Sachv.-Ztg. geführt wurde.
V
Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechung des B.-Y.-A. 4S
matisclien Neurose gegenüber sich sehr skeptisch, ja ablehueud
verhielten.
Ohne weiteres gebe ich zu, daß auch der Neurologe vor
Irrtümem nicht sicher ist. Im allgemeinen wird aber der
Neurologe bei der Beurteilung von Nervenkrankheiten weniger
leicht einem Irrtum unterliegen als der Nichtnervenarzt. Ich
gebe auch zu, daß einzelne Neurologen den Klagen der Unfall¬
verletzten zu weitgehenden Glauben beimessen, daß einzelne
Kollegen den Zustand ihrer Klienten suggestiv, wenn auch
unbewußt, ungünstig beeinflussen mögen. Ich betone diese
Möglichkeit deshalb, weil wiederholt hervorgehoben worden
ist, daß Unfallverletzte, die bei einem bestimmten Nervenarzt
gewesen sind, ganz bestimmte Symptome bieten. Immerhin
ist diese Beobachtung kein zwingender Beweis für die Untaug¬
lichkeit der angegriflenen Sachverständigen, solange nicht dio
Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß der kritisierte Gutachter
gerade auf die gerügten Symptome mehr achtet als andere
Sachverständige und sie daher auch häufiger oder eher findet
Aber diese Übelstände geben doch noch nicht das Recht,
den Neurologen kurzerhand aus der Begutachtung Unfallver¬
letzter auszuschalten. Gewiß würde damit seltener die Diagnose
einer Unfallneurose gestellt werden, und die ganze Frage der
traumatischen Neurose würde so ungemein schnell erledigt
sein. Aber dieses Vorgehen gleicht doch einer Vogelstrau߬
politik, die damit den Gegner beseitigt zu haben glaubt, dafi
sie die Augen schließt. Ein solches Vorgehen erinnert an einen
Richter, für den es grundsätzlich keine epileptischen Dämmerzu¬
stände gab, und der damit der Schwierigkeit enthoben war, im
Einzelfall zu entscheiden, ob ein Dämmerzustand vorlag oder nicht.
Die Fernhaltung der Neurologen schädigt aber auch die
Unfallverletzten und die Berufss^enossenschaft. Möaren auch
einzelne Unfallverletzte durch eine Begutachtuns, die eine
traumatische Neurose nicht anerkennt und Rentenansp rach
nicht ermöglicht, von ihren nervösen Nachwehen des Unfalls ge*
heilt werden, so besteht doch die schon wiederholt auch von
mir beobachtete Gefahr, daß der Gesundheitszustand des Un¬
fallverletzten durch die unzutreffende Begutachtung und die
damit verknüpfte Benachteiligung geschädigt wird. Die Neurose
44
Ernst Schnitze,
verschlimmert sich, die psychischen Symptome werden immer
deutlicher, und die Erwerbsfähigkeit des Unfallverletzten erleidet
immer weitere Einbuße. Also verhindert die Ausschaltung des
Neurologen aus der Gutachtertätigkeit bei Unfallverletzten
keineswegs die weitere Entwicklung der Neurosen und garantiert
noch weniger ihre Heilung. Es mutet aber doch auch komisch
an, gerade den Spezialisten von diesen Erkrankungen fem-
halten zu wollen! Wird nicht der Knochenbruch im allge¬
meinen von dem Chirurgen am besten behandelt werden? Wird
hier nicht der Chirurg oft dank seiner speziellen Ausbildung, etwa
mit der Durchleuchtung den Grund für die Beschwerden finden,
für die ein objektiver Befund bisher fehlte? Warum also hier
einen anderen Grundsatz aufstellen? Wer die Unfallneurosen
dem Neurologen entziehen will, gleicht dem Kranken, der seine
Geschwulst dem Chirurgen nicht zeigen will, weil dieser sie
mit Rücksicht auf ihre Bösartigkeit vielleicht operativ entfernen
will. Ein Neurologe wird rein chirurgische oder gynäkologische
Fälle nicht begutachten; aber ebenso muß auch betont werden,
daß der Chirurg oder Gynäkologe für die Begutachtung von
Unfallnearosen nicht zuständig ist.
Das oft erwähnte Fehlen des Tropfens psychiatrischen Öls
in der Medizin wird durch nichts deutlicher bewiesen als durch
die Tatsache, daß der zuerst behandelnde Arzt nicht sehen an
dem Verfall des Unfallverletzten in eine Neurose schuld ist.
Der alleinige Hinweis auf die Schwere der Verletzung, mag er
auch objektiv berechtigt sein, genügt in geeigneten Fällen,
nervöse, rein psychisch bedingte Folgeerscheinungen zu zeitigen.
So lange und so oft auch auf diesen Fehler hingewiesen ist, so
oft wird er doch immer wieder und wieder gemacht, wovon
auch wir uns überzeugen konnten.
Der Standpunkt des Reichsversicherungsamts, nach dem
die Folgen des Kampfes um eine unberechtigte Rente nicht als
Unfallfolgen aufzufassen sind, ist zwar prinzipiell berechtigt,
aber für die Praxis sehr bedenklich. Reine Fälle sogenannter
Rentenkampfneurose sind selten. Oft liegt eine Unfallneurose
vor, und dann ist es fast unmöglich, die Folgen des Unfalls
von den Folgen des Kampfes um die Rente scharf abzugrenzen.
Unfall- und Rentenneurose lassen sich überhaupt nicht trennen.
Kampf uro die Rente und Selbstmord in der Recbtsprecbung des R.-V.-A. 45
Um so mehr Vorsicht ist geboten, als tatsächlich die Begnt-
achtaog der Verletzten, soweit das Nervensystem in Betracht
kommt, große Schwierigkeiten zu überwinden hat und als in
ärztlichen Kreisen falsche Ansichten noch yielfach verbreitet
sind und Simulation zu leicht und zu oft angenommen wird.
Nicht minder bedenklich erscheint es, traumatische Neurosen
grundsätzlich nicht mehr als eine entschädigungsberecbtigte
ünfallfolge anzusehen; das gleiche gilt auch für die grundsätz¬
liche Fernhaltung des Neurologen von der Begutachtung bei
den Unfallnervenleiden.
II.
„Dem Verletzten und seinen Hinterbliebenen steht ein
Anspruch nicht zu, wenn der Unfall vorsätzlich herbeigeführt
ist.“ So bestimmt der erste Satz des II. Abschnittes des § 8
des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes vom 30. Juni 1906.
Diese Bestimmung stellt eine Ausnahme von der sonst all¬
gemein geltenden Rechtsregel dar und verlangt dementsprechend,
wie das Reichsversicherungsamt (14. Juli 1896, X, 189; 27.
Februar 1905, XIX, 32) mehrfach unzweideutig bekundet
hat, einen strengen Beweis für die Vorsätzlichkeit des Her-
beifübrens des Unfalls. Nach der genannten Gesetzes - Be¬
stimmung haben mithin im Falle des Selbstmordes die
Hinterbliebenen einen Anspruch auf Rente nur dann, wenn
der Selbstmord „ohne Vorsatz“ ausgeführt ist, also dann,
wenn der Selbstmörder geistesgestört war, und zwar derart,
daß seine freie Willensbestimmung oder Zurechnungsfähig¬
keit, um die heute noch allgemein übliche Ausdrucksweise an¬
zuwenden, aufgehoben war. Selbstverständlich aber berechtigt
nicht der Selbstmord des geisteskranken versicherten Arbeiters
schlechtweg zu einen; Anspruch auf Entschädigung der Hinter¬
bliebenen durch die Berufsgenossenschaft. Die Psychose muß
vielmehr die, wenn auch nur mittelbare, Folge eines Betriebs¬
unfalles sein. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall
und Suizid wird in diesem Falle nicht durchbrochen, da bei
dessen Begehung von einer freiwilligen und selbständigen
Handlung nicht mehr die Rede sein kann. Die Entscheidung
46
Ernst Schnitze,
<Jer Frage übrigens, ob im einzelnen Falle der Betriebsnnfall
die Geistesstöiung unmittelbar oder mittelbar verursacht hat, ist
im wesentlichen eine medizinische (30. August 1906, XX, 156).
Diesen Standpunkt hat das Beichsversicherungsamt in
seiner Rechtsprechung (24. Sept 1888, III, 14; 2. Okt. 1888,
III. 23) stets vertreten. Es betont (14. Juli 1896, X, 189),
daß in der heißen Zone Schiffsleute, die in den Kessel- nnd
Maschinenräumen beschäftigt werden, erfahrungsgemäß häufig
Ton plötzlichem Wahnsinn befallen werden und in diesem Zu¬
stande über Bord springen; die Seeberufsgenossenschaft hat
jährlich etwa £0 bis 60 solcher Fälle zu entschädigen. Ich
begnüge mich damit, noch hinzuweisen auf eine Entscheidung
Yom 18. Nov. 1890, Y, 30. Ein Arbeiter hatte mehrere Wochen
hindurch nach dem Unfall anhaltend heftigste Schmerzen zu
erleiden gehabt, und längere Zeit hindurch litt er an Schlaf¬
losigkeit, gegen die „sehr starke und aufregende Mittel“ ange¬
wandt wurden. Ungeachtet aller ärztlichen Bemühungen sehr itt
das Leiden fort und hob die Körperkraft und Widerstands¬
fähigkeit immer mehr auf. Daher war die Annahme geboten,
daß der Arbeiter, als er sich selbst das Leben nahm, nicht
mehr im Besitze seines klaren Bewußtseins und seines freien
Willens gewesen ist. Diese wenigstens zeitweise eingetretene
Ti Übung des Bewußtseins war aber eine Folge .... des
Betriebsunfalls. Mithin muß auch der von ihm in einem
solchen Zustande der Unzurechnungsfähigkeit ausgeführte Selbst¬
mord als mittelbare Folge des Unfalls anerkannt werden.
Andererseits hat das Eeicbsversicherungsamt die Berech¬
tigung eines Rentenanspruchs geleugnet bei dem Selbstmord
eines Kesselheizers, der, wenn er überhaupt geisteskrank war,
dies nur durch die allmähliche Wirkung seiner anhaltenden
Berufstätigkeit unter ungünstigen Verhältnissen geworden sein
konnte; es lag also kein Unfall im Sinne des Gesetzes vor,
„der nach seinem Wesen durch ein plötzlich in die Betriebs¬
tätigkeit eingreifendes Ereignis dargestellt wird“ (6. Juli 1884,
XV, 76).
Es ist nicht notwendig, daß die Geistesstörung, die in
ihrem Verlauf zum Selbstmord führt, ganz allein durch den
Unfall bedingt ist, um den Hinterbliebenen eine Entsebädi-
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtspreehung des R.>y.-A. 47
^Dg zu sichern. Ein Arbeiter war nach der durch den
Unfall notwendig gewordenen ärztlichen Untersuchung in
«inen Zustand seelischer Erregung geraten, der zu einer
seine freie Willensbestimmung ausschließenden Geistesstörung
und einem darin begangenen Selbstmord geführt hatte. Ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und Suizid wurde
vom Reichsversicherungsamt (15. Juni 1896, X, 169) ange¬
nommen, obwohl zwischen beiden Ereignissen ein Zeitraum von
l ®/4 Jahren lag. Das Reichsversicherungsamt hat in seiner
Entscheidung vom 24. Nov. 1888 ausdrücklich hervorgehoben,
daß Hetzereien und Lamentationen der Ehefrau des Arbeiters,
die getäuschte Erwartung hinsichtlich seiner Rente und andere
Umstände die Entwicklung einer auf einen Unfall zurückzu¬
führenden Geistesstörung begünstigt haben können, ohne daß
hierdurch der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und
Psychose aufgehoben wird. Ebensowenig hat das Reichsver¬
sicherungsamt in einem ähnlichen Falle (2. Oktober 1888, HI,
23) dem Umstande Bedeutung beigemessen, daß die Mutter
während der Geburt des betreffenden Selbstmörders geistes¬
gestört gewesen sein soll, da es, die Richtigkeit dieser Be¬
hauptung selbst angenommen, zur Annahme eines ursäch¬
lichen Zusammenhanges genügen würde, „wenn bei dem Ver¬
storbenen eine etwa anzunehmende erbliche Anlage infolge
des Eintritts der Erblindung zum Ausdruck gekommen sei.“
In der oben (S. 15) bereits erwähnten Reichsgerichtsentschei¬
dung vom 19. Juni 1908 wird auf eine ältere Reichsgerichtsent¬
scheidung vom 8. Okt. 1906 verwiesen, die ebenfalls zu der
vorliegenden Frage Stellung nimmt. Der Kläger hatte infolge
eines im Betriebe der Straßenbahn erlittenen Unfalls eine
traumatische Neurasthenie und „damit eine Schwächung der
Widerstandskraft im Kampfe mit den uiigünstigen Bedingungen
des Lebens“ davongetragen. Vermögenssorgen infolge der
Herabsetzung der Arbeitskraft hatten das ohnehin geschwächte
Nervensystem des Klägers weiter und dauernd erschüttert;
dazu traten noch die Aufregungen des Prozesses, den der
Kläger wegen Verlustes oder Verminderung seiner Erwerbs¬
fähigkeit führte. Die Beklagte ist für den schädlichen Erfolg
dieser drei Ereignisse, die durch den Unfall und nur
48
Erust Scbultze,
durch den Unfall verursacht worden sind, verantwortlich,
zu machen. Diese Ereignisse haben zu dem unter Aus¬
schluß der freien Willensbestimmung begangenen Selbst¬
morde des ursprünglichen Klägers geführt; er war der Wider¬
standsfähigkeit beraubt, und in dem Gefühle, den äußeren
Umständen gegenüber ohnmächtig zu sein, faßte er den Ent¬
schluß .zum Selbstmord. Das Reichsgericht spricht in Über¬
einstimmung mit dem Berufungsgericht den Selbstmord als
Folge des Unfalls, wenn auch als entfernte Folge, an; „denn
es lasse sich nicht sagen, daß der Unfall und die durch ihn
hervorgerufene Schwächung des Nervensystems gegenüber den
auf dieses ebenfalls nachteilig wirkenden weiteren Ereignissen
so sehr zurückträten, daß von einer adäquaten Ursache nicht
mehr gesprochen werden könnte.“
Ist nicht nur die Psychose, die den Selbstmord herbeige¬
führt hat, Folge eines Unfalls, sondern ist auch noch der Selbst¬
mord mit den Einrichtungen des Betriebes ausgeführt oder gar
durch diese erst ermöglicht worden, so ist natürlich der An¬
spruch der Hinterbliebenen auf eine Entschädigung erst recht
berechtigt.
Es fragt sich, wie der Selbstmord rechtlich aufzufassen
ist, wenn der Täter zwar geisteskrank, auch unzurechnungs¬
fähig war, wenn aber die Psychose nicht durch den
Betrieb verursacht ist und nur durch die Mittel zum
Selbstmord eine Beziehung zum Betriebe geschaffen
wird. In einem solchen Palle (9. Mai 1903, XVII, 124) hatte der
Täter — höchstwahrscheinlich gelegentlich seiner Berufstätigkeit
— sieb öine Dynamitpatrone verschafft, die er zum Selbstmord be¬
nutzte. „Es gibt“, führt das Reichs versicherungsamt wörtlich aus,
„eine unbegrenzte Anzahl von Gegenständen, die als Werk¬
zeuge .... zur Vernichtung des menschlichen Lebens geeignet
sind; dadurch, daß dergleichen Gegenstände im Betriebe be¬
nutzt werden und während desselben den in ihm beschäftigten
Arbeitern zugänglich werden, wird ein ausreichender Zu¬
sammenhang des durch sie herbeigeführten Unfalls mit dem
Betriebe noch nicht begründet, denn der Unfall wird erst
herbeigeführt durch die das Werkzeug zu einer unfallbringenden
Wirkung benutzende Handlung, und daraus folgt, daß für den
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.-A. 49
Tod des S. „ursächlich“ in dem unterstellten Falle allein oder
doch bei weitem überwiegend die Geisteskrankheit in Be¬
tracht fallen würde. Nur wenn diese selbst die Folge
eines Betriebsunfalls sein würde, würde dieser als Ursache
des im Zustande geistiger Umnachtung ausgeführten Selbst¬
mordes gelten können.“
Das Reicbsyersicherungsamt hat diesen Standpunkt nicht
immer eingenommen. Es (7. Januar 1895, IX, 71) hat einen
Unfall anerkannt bei einem Bergmann, der an der Betriebs¬
stätte durch Sturz in einen Bremsschacht, dessen Schranke er
selbst beseitigt hatte, zu Tode gekommen war; der alsbaldige
tödliche Ausgang der während der Arbeit „aus irgendeinem
Anlaß“ ausgebrochenen Geisteskrankheit ist durch die örtlichen
Verhältnisse der ßetriebsstätte ermöglicht, mindestens aber be¬
günstigt. Ob außerhalb des Betriebes eine gleiche Möglichkeit
zur Ausführung eines Selbstmordes bestanden hätte und von
dem Bergmann benutzt worden wäre oder nicht, erachtet das
Reichsversicberungsamt für unerheblich. Ebenso hat das Reichs¬
versicherungsamt (24. April 1895, IX, 134) einen ursächlichen
Zusammenhang angenommen bei dem Selbstmorde eines melan¬
cholischen Bergmanns, der eine Karbonitpatrone, wie sie in
Bergwerken zum Sprengen von Kohle benutzt werden, mit der
linken Hand *an seinen Kopf gehalten und mit der rechten
Hand vermittels eines Zündholzes zur Explosion gebracht hatte.
Ein Unfall „beim Betriebe“ war auch der Selbstmord des
geisteskranken Sandfonners, der seinen Kopf unter die Kurbel
der Dampfmaschine geschoben hatte, wo er mit zerschmettertem
Schädel aufgefunden wurde. Hier betont das Reichsversiche¬
rungsamt (30. Nov. 1899, XIII, 274) wörtlich, für die Be¬
gründung des Anspruchs sei nicht erforderlich, daß die Geistes¬
störung durch die Schädlichkeiten des Betriebes verursacht
worden ... sei oder daß die Geistesstörung sogar auf einen
Betriebsunfall, also ein plötzliches Ereignis, zurückzuführen sei;
es genüge, wenn der Tod durch eine Betriebseinrichtung her¬
beigeführt sei, also im engsten Zusammenhänge mit dem Be¬
triebe und dessen Gefahren stehe.
Das Reichsversicherungsamt verlangt für gewöhnlich den
Nachweis, daß die Geistesstörung derart war, daß der Selbst-
4
50
Ernst Schnitze,
mörder, wie es sich einmal aasdrückt, als „Willenloser von
den durch seinen körperlich-geistigen Zustand bedingten Emp¬
findungen und Antrieben in den Tod getrieben" wird (24. Sept.
1888, m, 14). Später hat das Reichsyersichemngsamt diese
Forderung wesentlich gemildert und schon dann einen Ent¬
schädigungsanspruch zuerkannt, wenn die freie Willensbe¬
stimmung erheblich beeinträchtigt war (3. Juli 1903, XVII, 175).
Mit den bisher mitgeteilten Entscheidungen kann man sich
vom psychiatrischen Standpunkte aus nur einyerstanden er¬
klären. Der Anspruch auf Rente muß also deu Hinterbliebenen
eines geisteskranken Selbstmörders zugebilligt werden, wenn
entweder die Geisteskrankheit, die zum Selbstmord geführt hat,
Folge eines Betriebsunfalls ist, oder wenn der Selbstmord mit
Einrichtungen des Betriebes ausgeführt ist, gleichgültig, wo¬
durch die Geistesstörung yerursacht worden ist. Ob gegen¬
über der Bewilligung yon Rente in Fällen der letztgenannten
Art nicht rechtliche Bedenken erhoben werden können, möge
dahingestellt bleiben. Übrigens hat das Reichsyersichemngsamt
noch yor kurzem sich zur Frage des Selbstmordes wörtlich
geäußert: „Im Falle eines Selbstmordes ist eine Entschädigung
nur dann zu gewähren, wenn der Selbstmord infolge geistiger
Gestörtheit im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit begangen
ist, und diese letztere durch einen Betriebsunfall yerarsacht ist.“
Ich habe aber eine Reihe yon Entscheidungen gefunden,
die in psychiatrischer Einsicht zu Bedenken Anlaß geben. In
ihnen schließt das Reichsyersichemngsamt Geistesstömng
schlechtweg oder eine die Zurechnungsfähigkeit aufhebende
Geistesstömng aus, ohne daß seine Beweisfübmng zwingend ist
Sehr oft und eindringlich spricht das Reichsyersichemngs¬
amt yon Schmerzen, die durch den Unfall yerursacht und so
erheblich sind, daß der Verletzte, ohne seiner Herr zu sein,
Hand an sich legt. Ich kann mich aber nicht dem Eindmck
entziehen, daß das Reichsyersicbemngsamt die Häufigkeit der
Auslösung einer Psychose durch Vermittlung der durch den
Unfall bedingten Schmerzen überschätzt. Nur so ist es zu er¬
klären, daß das Reichsyersicbemugsamt das Vorliegen einer
Psychose für unwahrscheinlich hält, wenn heftige Schmerzen
nicht nachweisbar sind. In einem Falle (12. März 1894,
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des 51
Vlil, 99) hatte der Arbeiter einen Tag nach einer Beschädigung
-eines Knies Selbstmord verübt. Für die Annahme einer
Geistesstörung fehle nach der mitgeteilten Entscheidung jeder
Anhalt, „zumal da die Schmerzen des Verletzten wohl be¬
deutend gewesen sein mögen, aber doch nicht ganz unerträg¬
lich sein konnten, da sonst die Klägerin nicht erst am Nach¬
mittag des 5. April (am Tage des Selbstmordes) einen Arzt
geholt haben würde, dessen Zuziehung ihrem Manne und ihr,
wie sie wissen mußten, keine Kosten verursachte. Es ist
hieraus auch zu schließen, daß der Verletzte und die Klägerin
den Unfall keineswegs als so ernst angesehen haben, daß sie
den Verlust des Beines befürchtet hätten“. Die allerdings recht
kurze Schilderung des Tatbestandes in der Entscheidung des
Beichsversicherungsamtes läßt aber doch die Annahme zu, daß
die Schmerzen sich erst späterhin so gesteigert haben, daß sie
zum Selbstmord führten; diese Möglichkeit wird bei dem Alko¬
holmißbrauch des Selbstmörders nur noch näher gerückt.
Ähnlich verhielt es sich in einem zweiten Falle (3. Juli
1903, XVII, 175). Ein Maurer hatte am 12. Juni 1902 durch
Sturz von einem Koffer eine Kopfverletzung erlitten und sich
am 16. Juni 1902 ertränkt. Zwar hatte der Maurer am
14. Juni vor Zeugen über Schmerzen geklagt, am 15. Juni
aber „seine Arbeit als Glockenläuter wie gewöhnlich ver¬
richtet. Dieses wäre ihm schwerlich möglich gewesen,
wenn die Schmerzen derartig heftig gewesen wären, daß sie
seine freie Willensbestimmung beschränkten.“ Diese Ausfüh-
mng des Reichsversicherungsamts übersieht die Möglichkeit,
daß die Schmerzen, wie auch in dem vorhin erwähnten Falle,
«rst allmählich die Höhe erreicht haben können, daß dem Ver¬
letzten der Selbstmord als der einzige Ausweg erschien. Die
Begründung des Reichsversicherungsamts rechnet nicht mit der
ferneren Möglichkeit, daß auch nach Verletzungen Schmerzen
nur zeitweilig aufzutreten brauchen. Übrigens schließt in
diesem Falle der vernommene ärztliche Sachverständige die
Möglichkeit aus, daß eine Geisteskrankheit in so kurzer Zeit,
wie sie hier in Betracht kommt, also innerhalb von vier
Tagen, entstehen könne. Es ist nicht angängig, diese Mög¬
lichkeit so bestimmt zu leugnen, und hier war um so größere
4 *
52
Ernst Schnitze,
Vorsicht geboten, als der Maurer bereits früher an Schwindel¬
anfällen gelitten hatte und dadurch in seiner Arbeitskraft be¬
schränkt gewesen war.
Ist es schon schwer, das Vorhandensein von Schmerzen
überhaupt auszuschließen, so ist es noch viel schwerer, ja un¬
möglich, ihre Größe zutreffend einzuschätzen. Daß auch die
nicht organisch bedingten, sondern rein psychogenen Schmerzen
eine solche Höhe erreichen können, daß der Kranke im Selbst¬
mord den einzigen Ausweg aus seinem Leiden sieht, ist nicht
zu bestreiten und wird jeder viel beschäftigte Nervenarzt er¬
lebt haben. Sind aber diese Schmerzen die wenn auch nur
mittelbare Folge eines Unfalls, so berechtigt der Selbstmord
zum Rentenanspruch.
Das Reichsversicherungsamt bekennt sich freilich nicht
durchweg zu dieser Auffassung (2. März 1897, XI, 164). Die
Angabe der Klägerin, ihr Mann sei von heftigen Schmerzen
geplagt worden und habe vergebliche Versuche gemacht, die
Arbeit wieder aufzunehmen und wiederholt gesagt, er könne
sein Leiden nicht mehr ertragen, wird als glaubhaft hinge¬
nommen. „Diese Angaben lassen auf eine Gemütsverfassung
des B. schließen, welche seinen Entschluß, sich selbst den Tod
zu geben und dadurch ein für ihn qualvolles Leben zu enden,
erklärlich erscheinen lassen, ohne daß es dazu der Annahme
einer geistigen Störung bedürfte.“ Diese rechtliche Unter¬
scheidung zwischen Selbstmord aus Geistesstörung und Selbst¬
mord wegen starker Schmerzen erscheint mir nicht haltbar,
ln beiden Fällen ist der Selbstmörder nicht mehr Herr seines
Willens auf Grund krankhafter Störungen, und ob diese nun
psychischer oder körperlicher Natur sind, sollte billigerweise
für den Anspruch der Hinterbliebenen belanglos sein.
Das Reichsversicherungsamt fährt dann fort: „Allerdings
ist es wahrscheinlich, daß dieser Gemütszustand B.s wenigstens
zum Teil durch die Folgen des Unfalls veranlaßt ist.“ Es
kann damit also nur einen ungewöhnlichen Gemütszustand
meinen, sonst hätte dieser nicht „veranlaßt“ werden können,
und insofern war doch die Folge des Unfalles eine Geistes¬
störung, wenn auch im weitesten Sinne des Wortes. Obwohl
nun weiterhin zugegeben wird, daß der Arbeiter „durch die
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.>y.«A. 53
vergeblichen, weil unberechtigten Versuche, eine höhere Rente
sn erlangen, verbittert“ gewesen sein mag, obwohl somit die
unmittelbaren oder mittelbaren Folgen des Unfalls ein Motiv
für den Selbstmord gewesen sein mögen, so ist „dieser Zusam¬
menhang zwischen dem Unfall und der Selbstentleibung . . .
kein notwendiger“. Diesen Ausführungen kann ich nicht bei¬
pflichten. Wer vermittelt dem Reichsversicherungsamt die zu
einer solchen Schlußfolgerung unbedingt notwendigen Kennt¬
nisse aller psychologischen Vorgänge, die sich in dem Unfall¬
verletzten längere Zeit vor dem Unfall und unmittelbar vorher
abgespielt haben? Mao kann nicht verlangen, daß der Zu¬
sammenhang zwischen Unfall und Selbstmord als ein notwen¬
diger bewiesen werden muß, um den Hinterbliebenen eine
Rente zu sichern 1 Dieser Nachweis kann selten erbracht
werden. Er wird übrigens nicht einmal von dem Reichsver-
aicherungsamt selber verlangt. Wenigstens hat es in einem
Falle (24. Sept. 1888, ill, 14) das Suizid als Unfall anerkannt,
obwohl die Berufsgenossenschaft wie das Schiedsgericht eine
durch den Unfall bedingte Geistesstörung zwar Zugaben, aber
übereinstimmend behaupteten, der Selbstmord sei nicht die un¬
vermeidliche, notwendige Folge dieser Geistesstörung gewesen
und diese mithin belanglos. Das Reichsversicherungsamt hat
sich auf diese ungewöhnliche Begründung der Ablehnung des
KeLtenanspruchs nach dem vorliegenden Wortlaut der Ent¬
scheidung mit keinem einzigen Wort eingelassen, ihr also
offensichtlich keine erhebliche Bedeutung beigemessen, so großen
Raum sie auch in den Ausführungen der unteren Instanzen
eingenommen hat.
Das Reichsversicherungsamt hat mehrfach „aus der Art der
Verletzung“ den Schluß gezogen, daß „eine geistige Um¬
nachtung“ zur Zeit des Selbstmordes nicht Vorgelegen hat.
Es ist nicht möglich, so bestimmte Beziehungen zwischen der Art
der Verletzung und der Schwere der Psychose allgemein fest-
zustellen. Die Möglichkeit kann nicht scharf genug hervor¬
gehoben werden, daß auch eine leichte Verletzung, vor allem
bei einem von Haus aus schon minderwertigen oder labilen
Menschen, eine geistige Störung nach sich ziehen kann, die
zu den lebhaftesten Affektschwankungen führt und so den
54 Ernst Schnitze,
Selbstmord ermöglicht. Gewiß wird eine Verletzung schlecht¬
weg, und vor allem eine Kopfverletzung, um so eher eine
Psychose nach sich ziehen, je schwerer sie ist; aber man darf
den Satz nicht umkehren und ihn verallgemeinern, besonders
nicht, nachdem uns die Unfallgesetzgebung mit psychogenen
Störungen noch vertrauter gemacht hat.
Für noch bedenklicher halte ich die mehrfach wiederholte
Behauptung des Reichsversicherungsamts, „aus der gewählten
Todesart'' sei nicht „der Schluß zu ziehen, daß eine geistige
Umnachtung Vorgelegen hat**. Eine für den geisteskranken
Selbstmörder spezifische und nur von ihm angewandte Todesart
gibt es nicht, mag er auch im Einzel falle bei seiner Tat rück¬
sichtsloser und energischer vergehen, mag er auch gelegentlich
andere Mittel und Wege, insbesondere ungewöhnliche, ja grausame
Methoden wählen oder verschiedene Möglichkeiten kombinieren,
um zu seinem Ziele zu gelangen, als die geistesgesunden
Selbstmörder. In einem bestimmten Falle aber zu sagen, die
hier getroffene. Wahl der Todesart beweist einen in
geistiger Gesundheit ausgeführten Selbstmord, halte ich für
unmöglich und im höchsten Grade bedenklich. Ich werde
hierbei an ein Vorkommnis erinnert, das ich vor geraumer
Zeit in einem sensationellen Prozesse erlebt habe. Ein Mann
war angeklagt, Kinder in der scheußlichsten Weise verstümmelt
und zerstückelt zu haben. Der Vertreter der Anklage fragte
einen der Obduzenten, ob er nach der Art der Schnitte ent¬
scheiden könne, ob der Täter bei vollem Bewußtsein diese
Schnitte seinem Opfer zugefügt habe. Nicht genug damit, daß
der Staatsanwalt eine solche Frage überhaupt stellte, bej ihte
sie der Obduzent und bereicherte somit die gerichtsärztliche
Diagnostik um eine Beweisführung, die jeder Psychiater als
ebenso laienhaft wie unbrauchbar außer acht lassen wird.
Wie ich schon sagte, hat das Reichs versicherungsamt mehr¬
fach die gewählte Todesart benutzt, um die Annahme geistiger
Umnachtung bei dem Selbstmörder auszuschließen. Welche
verschiedenen Todesarten kommen nun in Betracht? In dem
einen Falle hatte sich der Arbeiter erhängt (30. Mai 1892,
VI, 137), in einem andern ertränkt (11. Juli 1898, XU, 159),
in einem dritten (26. Januar 1899, XIII, 45) erschossen; in
Kampf um die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-y.-A. 55
einem vierten Falle war der Arbeiter in einem Steinbmch, zu
dem er nur nach Übersteigung eines Gitters gelangen konnte,
tot aufgefunden (23. März 1901, XV, 76). Wir haben hier die
gebräuchlichsten Mittel zur Ausführung des Selbstmordes, und
ich möchte fragen, welche Todesart das Reichsversicherungs¬
amt noch als charakteristisch für geisteskranke Selbstmörder an¬
sieht, wenn es bei jeder dieser gewählten Methoden einen Selbst¬
mord in unzurechnungsfähigem Zustande ausschließt. Auch hier
möchte ich ein ähnliches Erlebnis einschalten. Vor Jahren hatte
ich einen Angeklagten zu begutachten, den ich für unzurechnungs¬
fähig hielt, da er die strafbare Handlung in einem atypischen
Rausche begangen hatte. Das Gericht trug anfänglich Bedenken,
sich meinem Gutachten anzuschließen, da der Angescbuldigte
zielbewußt und logisch vorgegangen sei. Vor demselben Ge¬
richt hatte ich bald darauf ein Gutachten über einen ähnlichen
Fall zu erstatten, und das Gericht hielt meinen Ausführungen
entgegen, daß sinn- und zwecklose Handlungen nicht das Vor¬
liegen eines pathologischen Rausches bewiesen. Verschiedene
Richter waren bei beiden Sitzungen beteiligt, und ich konnte
es mir nicht versagen, sie zu fragen, wie sich denn ein im
pathologischen Rausch befindliches Individuum benehmen solle,
wenn es sich weder geordnet noch ungeordnet benehmen dürfe.
Gewiß ist es in einzelnen Fällen möglich, aus der Art des
Selbstmordes den Schluß zu ziehen, der Selbstmord sei im Zu¬
stande geistiger Störung ausgeführt worden, wie z. B. bei
einem Manne, der in einen Backofen gekrochen war, von dem
er wußte, daß er sehr bald in Gebrauch genommen werden
würde, und sich dann erschossen hatte; bei der Sektion stellte
es sich heraus, daß er sich überdies noch vergiftet hatte. Dieser
Schluß ist aber immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
zu ziehen. Das gilt auch von folgendem, sicher nicht gewöhn¬
lichen Fall. Vor längerer Zeit fragte mich eines Tages ein
mir befreundeter, aufsichtsführender Amtsrichter um Rat. In
der Nachbarschaft seines Gerichtssitzes war die Leiche eines
Mannes anfgeknüpft an einem Baume gefunden worden; die
Hoden waren abgeschnitten. Ein schneidendes Instrument war
in der Nähe der Leiche nicht zu finden. Der Amtsrichter
schloß mit Sicherheit auf einen Mord; denn es schneide doch
56
Ernst Schnitze,
keiner sich selbst die Hoden ab, und wenn das wirklich Vor¬
kommen könne, so sei der Eingriff so schmerzhaft, daß der
Betreffende nicht mehr weitergehen könne, was man im vor¬
liegenden Falle doch annehmen müsse. Der Amtsrichter wurde
in seiner Ansicht bestärkt durch den hinzugerufenen praktischen
Arzt, der noch darauf hinwies, daß bei dem kräftigen Körper¬
bau des Verstorbenen zur Ausführung des Mordes mindestens
drei bis vier Personen nötig gewesen seien. Eine große Auf¬
regung hatte sich der Bevölkerung des Ortes bemächtigt und
war um so mehr gerechtfertigt, als der Ort ein aufstrebender
Badeplatz war. Ich ließ mir von meinem Freunde ^einen
genauen Fundbericht geben, aus dem ich nur das Wichtigste
hervorhebe. Der Ast, um den die Schnur geworfen war, war
höclistens 1 m vom Boden entfernt. Die Leiche war von
normaler Größe. Die Schnur war mehrfach um den Hals ein¬
fach herumgelegt ohne Schlinge und Knoten. Zeichen eines
voraufgegangenen Kampfes waren weder am Fundorte noch
an der Leiche zu erkennen. Ich hielt die Möglichkeit, daß
der Verstorbene ermordet und als Leiche aufgehängt sei, nicht
für wahrscheinlich: die Leiche bot keine Zeichen einer Ver¬
letzung, und das hohe Gras war am Tatorte nur wenig nieder¬
getreten. Ich wies daher den Amtsrichter darauf hin, daß mir
ein Selbstmord viel wahrscheinlicher sei als ein Mord. Der
Richter bestritt meine Annahme unter dem Hinweis auf die
Hoden Verletzung. Nun aber wissen wir, daß Geisteskranke
sich selbst unter dem Einfluß von Wahnideen oder Sinnes¬
täuschungen die Hoden abschneiden; ebenso ist es bekannt,
daß die Selbstverstümmelungen von den Geisteskranken kaum
oder gar nicht schmerzhaft empfunden werden. Mit Rücksicht
hierauf war es auch erklärlich, warum das Messer nicht in der
Nähe der Leiche, auch nicht in Wurfnähe, gefunden war.
Über die Art der geistigen Störung konnte ich natürlich nichts
aussagen. Immerhin wies ich im Hinblick auf eigene Erfah¬
rungen und unter dem suggestiven Einfluß von einigen Zeitungs¬
berichten der letzten Zeit auf die Möglichkeit der Epilepsie
hin; ich betonte die weitere Möglichkeit, daß Alkoholismus,
vielleicht sogar mit der Epilepsie, im Spiele sei. Nun kam
der Richter mit der Mitteilung, der Mann habe nach Schnaps
Kampf am die Rente und Selbstmord in der Kechtsprechung des B.-V.-A. 57
gerochen. Schließlich betonte ich noch, daß der zur Hoden-
amputation vorgenommene Schnitt einen ganz bestimmten
Verlauf zeigen könnte, da der Mann bei den starken
Schwielen gerade der rechten Hand vermutlich ein Rechtser
gewesen sein muß. Bie Sektion und die weiteren Ermittlungen
gaben allen meinen Vermutungen Recht: Der Mann war seit
Jahr und Tag ein Epileptiker, hatte in den letzten Tagen seines
Lebens viel Schnaps getrunken und dann seinem Leben ein
Ende gemacht Über die genauen psychologischen Vorgänge
konnte natürlich nichts festgesteUt werden.
Bei der eben kritisierten Beweisführung des Reichsver¬
sicherungsamts finde ich den immer wiederkehrenden Ausdruck
„geistige Umnachtung“ recht unglücklich. Der Nichtfach¬
mann wird eine solche doch nur dann anzunehmen geneigt sein,
wenn er die Psychose gewissermaßen auf Anhieb erkennt, und
wie selten das zutrifft, selbst guten Willen des Beobachters
vorausgesetzt, weiß der Fachmann nur zu gut. Wenn das
Reichsversicherungsamt in einer Entscheidung wörtlich sagt:
„Es läßt sich aber nicht nachweisen, daß X. die Tat im Zu¬
stande geistiger Umnachtung verübt haben muß“ und dann
die Hinterbliebenenrente ablehnt, so scheint mir die hiermit
gestellte Forderung, von deren Erfüllung der Rentenanspruch
nbhängig gemacht wird, zu hoch gespannt. Hält doch das
Reichsversicherungsamt selbst, wie ich oben schon betonte, den
Rentenanspruch für berechtigt bei einem Zustande, in dem die
freie Willensbestimmung erheblich beeinträchtigt war (3. Juli
1U03, XVH, 175), und hat in einem anderen Falle „bei der
Unmöglichkeit eines vollen und zwingenden Beweises die Un¬
zurechnungsfähigkeit ... für hinreichend dargetan“ erachtet
^24. April 1895, IX, 134). In diesem letzteren Falle war von
autoritativer Seite festgestellt worden, daß der Bergmann an
Melancholie erkrankt war. Der Bergmann hatte sich ohne er¬
kennbaren Grund an einen einsamen Ort begeben, um sich hier
mit einer Earbonitpatrone zu töten. Er hatte seinen Arbeits¬
genossen über den Beweggrund seines Auffahrens an jene Stelle
unrichtige Angaben gemacht; er hatte den Schlüssel zur Schie߬
kiste, den er sonst stets bei sich trug, versteckt, und in seiner
Kleidung fanden sich entgegen seiner Gewohnheit viele Streich-
58
Ernst Schnitze,
holzer. Trotz der bei diesen Vorbereitungen znm Selbst¬
mord bewiesenen Überlegung nahm, und meiner Ansicht nach mit
Recht, das Reichsversicherungsamt eine Unzurechnungsfähigkeit
des Täters an, zumal jede erweisliche äußere Ursache des
Selbstmordes fehlte. Auch in einem anderen Falle bot dem
Reichsversicberungsamt die Tatsache, „daß der Verstorbene die
Vorbereitung zum Selbstmord mit der hierzu nötigen Umsicht
getroffen‘* hat, keinen Anlaß, die Unzurechnungsfähigkeit des
Selbstmörders zu bezweifeln (2. Okt 1888, UI, 23).
Nicht immer stellt sich die höchste Instanz anf diesen
richtigen Standpunkt. So sagt das Sächsische Landesversiche-
rnngsamt einmal (21. Nov. 1903, XVII, 296): „Andererseits
trifft der Verstorbene jedoch eine Reihe von Bestimmungen,
welche Zeugnis dafür ablegen, daß er die geistige Fähigkeit,
klar zu denken und sich die Folgen seines Handelns vor Augen
zu fuhren, noch nicht verloren hat. Er ordnet sein Haus, er¬
teilt seiner Familie Ratschläge, wie und wo sie nach seinem
Tode am besten ihr Fortkommen zu suchen habe, und er be¬
schäftigt sich auch namentlich mit dem Schicksal des Schnitt¬
warengeschäfts, das seine Frau damals soeben übernommen
hatte. So spricht niemand, dessen Geist umnachtet ist und der
nicht weiß, was er will, sondern nur, wer bewußt und mit
Vorbedacht zu Werke geht.“ Die Hinterbliebenenrente wurde
versagt. Diese Beweisführung fordert sehr zur Kritik heraus. Vor
allem zeigt sie das Gefährliche der Ausdrucks weise „geistige
Umnachtung“, einer laienhaften Bezeichnung, unter der wir
P^chiater uns nichts Rechtes vorstellen können. Wäre ein
Selbstmord nur bei der Psychose möglich, die man als „geistige
Umnachtung“ auffassen müßte, so wäre jener Standpunkt dis¬
kutabel. Wir müssen aber auch bei solchen Geisteskranken
mit der Gefahr eines Selbstmordes rechnen, die äußerlich klar
und geordnet sind und von dem Laien auch bei längerer und
eingehender Unterhaltung nicht als krank erkannt werden. Mit
allem Vorbedacht und jeder nur erdenkbareu Vorsicht bereiten
solche Kranke den Selbstmord vor, durch dessen Ausführung
alle überrascht werden. Das sind gerade die Kranken, bei
denen einen Unglücksfall zu verhüten auch der besten fach¬
männischen Aufsicht nicht stets gelingt. Sie überlegen die
Kampf am die Rente and Selbstmord in der Reohtsprechang des R.-Y.-A. öO'
Folgen ihres Selbstmordes genau und treffen dementsprechend
letztwillige Bestiaunnngen. Da es sich vorwiegend um Affekt*
psychosen handelt, können diese Bestimmungen durchaus klar
und sachgemäB sein, und die Neigung der Kranken, ihr Leiden,
das sie selbst unklar als abnorm empfinden, möglichst zu dis¬
simulieren, erklärt es, daß ihre Auslassungen und letztwilligen
Verfügungen keinen Hinweis auf die Psychose zu enthalten
brauchen.
In einer anderen Entscheidung führt das Reichsversiche-
rnngsamt (12. Februar 1904, XVIII, 42) unter anderem aus:
.Nach der eigenen Darstellung der Kläger hat der Verstorbene,
nachdem er noch über die Verletzung gesprochen hatte, das
Zimmer unter einem Vorwände verlassen, um von seinen An¬
gehörigen nicht an der Ausführung der Tat gehindert zu
werden, ein Beweis, daß er sie mit Überlegung ausgeführt
hat.“ Das Reichsversicherungsamt übersieht hierbei völlig, daß
auch der Geisteskranke einer Überlegung fähig ist und daß
eine Überlegung nicht das Handeln aus gesunden Motiven be¬
weist. Ob in dem vorliegenden Falle der Selbstmord die Tat
eines unzurechnungsfähigen Geisteskranken gewesen ist, wage
ich nicht zu entscheiden, da die Darstellung des Tatbestandes
vom psychiatrischen Standpunkte aus höchst unbefriedigend
ist; auffallen muß immerhin die Tat bei den günstigen
äußeren Verhältnissen, zumal der Verstorbene „typischer Neur¬
astheniker“ war.
Mir kommt es vor allem darauf an, gegenüber der Stellung¬
nahme des Reichsversicherungsamts zu betonen, daß auch der
Geisteskranke eines umsichtig vorbereiteten und durchgeführten
Selbstmordes fähig ist.
ln einer nicht geringen Zahl von Entscheidungen gibt das
Reichsversicherungsamt zwar zu, daß der Unfall eine psychische
Störung ausgelöst haben möge, behauptet aber, daß der Selbst¬
mörder mit klarer, bewußter Überlegung, also nicht im Zu¬
stande der Unzurechnungsfähigkeit, gehandelt habe. Dann
liegt — so etwa fährt das Reichsversicherungsamt in einer
großen Zahl von Entscheidungen, die ich hier nicht alle an¬
führen will, und mit einer fast wörtlichen Übereinstimmung
fort — die Annahme viel näher, daß der Selbstmord auf den
60
Ernst Schnitze,
Mangel bestimmter geistiger und moralischer Eigenschaften,
wie Ausdauer, Standhaftigkeit und Selbstüberwindung, ztirlick-
zufübren sei. Es hat dem Yerstorbenen die „moralische Kraft
gefehlt, die Widerwärtigkeiten des Lebens in ihren verschiedenen
Formen zu ertragen“. „Dieser Mangel an moralischer
Festigkeit entspringt jedoch ledighch einer Natur an läge des
Täters und ist regelmäßig auch schon vor dem jetzigen Er¬
eignis vorhanden gewesen, welches den Entschloß zum Selbst¬
mord zur Reife bringt. Dieses Ereignis selbst — hier der
Unfall mit seinen Folgen — bildet dann gewissermaßen nur die
äußere Veranlassung, bei welcher sich die innere Charakter¬
eigenschaft sichtbar betätigt.“
Diese Auslassungen sind nach mehreren Richtungen hin
anfechtbar.
Ist es schon schwierig, in jedem Fall von Selbstmord eines
der Geistesstörung Unverdächtigen einen klaren Einblick in die
Motive des Suizids zu gewinnen, so ist es noch viel schwieriger,
sich über die gleiche Tat bei einem geistig nicht intakten
Menschen ein zutreffendes Urteil zu bilden. Das zur Verfügung
stehende Material ist oft recht dürftig und nur mit Vorsicht
zu gebrauchen. Vor allem fehlt fast immer die Kenntnis der
geistigen Beschaffenheit des Täters, kurz bevor er zum Selbst¬
morde schritt. Mag dieser auch lange vorher geplant sein, so
muß doch der Geisteszustand im kritischen Augenblick die
größte Beachtung verlangen, wollen wir erfahren, warum die
Entscheidung so und nicht anders ausgefallen ist. Wir sind
mithin oft genug auf Analogieschlüsse angewiesen. Aus der
großen Zahl gerade der in letzter Zeit ungemein angewachsenen
Literatur über Selbstmord will ich nur eine Arbeit anführen.
Gaupp hat bei einem Material von 124 Personen, die w^;en
eines Selbstmordversuches in die Münchener psychiatrische
Klinik eingeliefert waren und dort von ihm untersucht wurden,
nur eine einzige geistig gesunde Person gefunden; alle anderen
boten geistige Defekte. Wenn auch gewiß nicht in jedem
Falle eine die Zurechnungsfähigkeit ausschließende Psychose
Vorgelegen hat, so zwingt uns doch diese wichtige Mitteilung zur
äußersten Vorsicht und macht die Annahme eines geistigen
Kampf nm die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.>A. 61
Defektes zur Zeit des Selbstmordes von vornherein wahrschein¬
licher.
Doch ich will auf diese schon hinreichend betonten Schwierig¬
keiten der Begutachtung nicht weiter eingehen. Ich ziehe viel¬
mehr vor, hinzuweisen auf die prinzipiellen Bedenken einer
solchen Anschauung, die die Hinterbliebenen die „Naturanlage**
ihres Verstorbenen entgelten läßt.
Gewiß wird der gesunde und kräftige Arbeiter auch eine
schwere Verletzung, die er bei einem Unfall erlitten hat, über¬
winden. Er wird mit der Möglichkeit der Heilung rechnen;
er weiß, daß ihm eine Rente zusteht für die Dauer der Be¬
schränkung der Erwerbsfähigkeit, und er wird, auch unter
ungünstigen Verhältnissen, auf dem Arbeitsmarkt den ihm mög¬
lichen Verdienst suchen und finden. Ein Grund zur Verzweif¬
lung liegt für ihn nicht vor. Ganz anders verhält sich der leicht
verzagte, energielose Arbeiter, der dem Kampfe mit den Mißhellig¬
keiten des Lebens weniger gewappnet gegenübersteht. Er über¬
schätzt schon sofort die Schwere seiner Verletzung und glaubt
nicht an ihre Heilung. Er sieht sich für geraume Zeit im
Krankenhause untergebracht und damit von den Seinigen, die
‘ allein ihn verstehen, getrennt. Er befürchtet, oft genug grandios,
eingreifende Operationen, ohne sich klar zu machen oder zu
begreifen, daß ihn das Gesetz zu deren Duldung nicht zwingen
kann, und er sieht sich und seine Familie in Hanger und Elend
amkommen. Da erscheint es dann durchaus begreiflich und
verständlich, wenn der Unfallverletzte in seiner verzweifelten
und trostlosen Lage Hand an sich legt. Seine Naturanlage
wird ihm zum Unglück; ohne sie würde der Unfall nicht die
verhängnisvollen Folgen gezeitigt haben. Ebensowenig würde
die Naturanlage allein ohne den Unfall das vorzeitige Lebens¬
ende berbeigefübrt haben, und insofern kommt meines Erachtens
dem Unfall eine wesentliche Bedeutung in diesem Kausal¬
zusammenhang zu. Ob es nötig oder gar möglich ist, seinen
prozentualen Anteil abzuschätzen, bleibe dahingestellt. Ich bin
auf den Einwand gefaßt, daß auch andere widerwärtige Ereig¬
nisse zu demselben Ausgang hätten führen können. Aber das
Reichsversicherungsamt betont bei ähnlich liegenden Fällen
(siehe S. 65), daß die Rechtsprechung auf dem Gebiete der
«2
Ernst Schnitze,
UnfallversicliernDg nicht mit Möglichkeiten, sondern mit tat¬
sächlichen Begebenheiten rechnen muß.
Hier sei darauf hingewiesen, daß der Betriebsunfall gegen¬
über anderen widrigen Ereignissen des Lebens, die ebenfalls
zum Selbstmord führen könnten, insofern eine Sonderstellung
einnimmt, als bei ihm gerade der Anspruch auf Entschädigung
gesetzlich vorgesehen ist.
Das Beichsversichernngsamt verlangt für die Fälle, in
denen es den Hinterbliebenen eine Entschädigung zubilligt,
den Nachweis des Ausschlusses der freien Willensbestimmung
beim Selbstmord und stellt hierbei strengere Anforderungen,
als wir es nach seinen sonstigen Entscheidungen erwarten
sollten. Zwischen dem Geisteszustand eines geistesgesunden
und -kranken Selbstmörders bestehen trotz ihrer grundsätz¬
lichen Verschiedenheit fließende Übergänge. In den Grenz¬
fällen ist die Entscheidung abhängig von dem Gefühl und der
persönlichen Erfahrung des einzelnen Gutachters. Hierbei darf
nicht außer acht gelassen werden, daß auch der ausgesprochen
Geisteskranke bei seinem Handeln sich von Erwägungen leiten
lassen kann, denen auch der Gesunde durchaus zugänglich ist
Der melancholische Arbeiter verzweifelt, weil er auf Grund der
Beurteilung seiner körperlichen Verfassung sein nahes Ende
vorausschaut und infolgedessen seine Familie in Hunger und
Elend untergehen sieht. Diese Vorstellungen können aber
dennoch durchaus pathologisch sein mit Rücksicht auf ihre Be¬
gründung und Gefühlsbetonung. Es ist daher unter keinen
Umständen angängig, derartige, uns Gesunden verständliche
und geläufige Erwägungen als Beweismittel dafür anzusprechen,
daß in zweifelhaften Fällen geistige Gesundheit Vorgelegen
haben muß. Ich habe mich nicht dem Eindruck entziehen
können, daß auch das Reichsversicherungsamt diesem bei
Laien so häufig anzutreffenden Irrtum unterlegen ist.
Das Reichsversicherungsamt beurteilt Veranlagungen und
krankhafte Zustände, die nur auf körperlichem Gebiete
liegen, sehr viel milder.
Bekommt der bereits tuberkulöse Arbeiter bei einer unge¬
wöhnlich schweren Arbeit während des Betriebes einen Blut¬
sturz, so liegt ein Betriebsunfall vor, wie das Reichsversiche-
Kampf um die Rente and Selbstmord in der Bechtsprechnng des R.-y.*A. 63
rangsamt mehrfacli entschieden hat. Es hat einer Arbeiterin
(16. November 1895, X, 40) eine Rente zugebilligt, die in eine
Xleisterschüssel getreten hatte; der hierdurch hervorgerufene
Schrecken hatte den ersten hysterischen Anfall und damit auch
die weiteren ausgelöst. „Allerdings steht auch fest, daß die
Klägerin schon als 13- und 14jähriges Kind an vereinzelten
hysterischen Anfällen gelitten hat, und so ist es nur zu er-
Idären, daß der Schrecken die früher bestandene Krankheit von
neuem in schwerer Form hervorgerufen hat.“ „Nicht darauf
kommt es an, daß auch jeder andere Schrecken bei der schlum¬
mernden Krankheit ebenso schwere Anfälle hätte hervorrufen
können, vielmehr ist entscheidend, daß das mit dem Betriebe
im Zusammenhang stehende plötzliche Hineintreten in die
Kleisterschüssel den Schrecken und als dessen Folge die An¬
fälle verursacht hat.“ Ein Zimmermann erhielt eine Rente,
•der an Arteriosklerose litt, die „erfahrungsgemäß den damit Be¬
hafteten der Gefahr des Eintritts eines Schlaganfalls aussetzt“.
Im Anschluß an eine, zwar betriebsübliche, wegen der be-
«onderen Umstände des Falles aber nicht leichte, ihn über¬
anstrengende Arbeit hatte er eine Apoplexie erlitten (11. Febr.
1899, XIII, 68). Ein diabetischer Maschinenmeister (3. Jan.
1896, X, 72) zog sich eine an sich geringfügige Verletzung
zu; es entstand eine Phlegmone, die zur Amputation einer
Zehe und dann des Unterschenkels führte. Bald nach der
Operation starb er. Der schlechte Heilungsverlauf der an sich
geringfügigen Verletzung war durch den Diabetes „wenn nicht
bervorgerufen, so doch mindestens begünstigt“, und es ist damit
^ein mittelbarer, ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall
und dem Tod“ gegeben.
Das Reichsversicherungsamt hat den Tod an Gehimleiden
a,ls Folge einer Kopfverletzung entschädigt trotz erheblicher
Mitwirkung von Alkoholismns [(8. Juni 1898, XII, 156), also
eines Leidens, das sich der Laie fast nur durch eigenes Ver¬
schulden entstanden denken kann.
Im gleichen Sinne entschied das Reichsversicherungsamt
■(12. Juli 1893, VII, 179) bei einem Alkoholisten, der nach
•einer An sich unerheblichen und ungefährlichen Verbrühung an
heftigen Entzündungserscheinungen mit hohem Fieber erkrankte,
64
Ernst Schnitze,
dadurch in ein Delirium tremens verfiel und daun zugrunde
ging. Das schlummernde Allgemein leiden sei nicht nur im
zeitlichen Anschluß an die Unfallverletzung in die Erscheinung
getreten, sondern stehe auch mit ihm in einem wahren ursäch¬
lichen Zusammenhänge. Ebenso nahm das Reichsversichernngs-
amt (24. Oktober 1908, XXII, 159) einen Unfall an bei einem
Arbeiter, der wegen einer Fingerverletzung operiert wurde,
wenige Tage darauf in Delirium tremens verfiel und an Herz-
lähmung starb. Daß der Verstorbene auch ohne die Verletzung
an Delirium tremens erkrankt wäre, ließ sich nicht beweisen.
Schließlich seien noch Entscheidungen angeführt, die Epi¬
leptiker betreffen. Ein epileptischer Steinbruchsarbeiter (29. Mai
1897, XI, 240) wurde mit dem Kopf in einem Wassertümpel
liegend tot aufgefunden. Das Reicbsversicherungsamt nahm
mit dem Arzt an, daß er plötzlich von Krämpfen befallen
wurde, hinstürzte und nun entweder erstickte oder gar bei
seinem Fall so unglücklich auf einen Stein oder die harte
Grabenkante anfschlug, daß hierdurch die Ohnmacht unmittelbar
in den Tod übergeleitet wurde. Was auch die eigentliche
Todesursache gewesen sein mag, die Besonderheit der Betriebs¬
stätte hat den Tod mittelbar veranlaßt. Ebenso hat das Reichs-
versicherungsamt einen Unfall angenommen bei einem Arbeiter,
der infolge eines epileptischen Anfalls mit dem Gesicht zu
Boden fiel, und zwar in die heiße Asche neben dem Kessel
eines Schweißofens, wodurch er sich eine Verbrennung eines
Auges zuzog. „Wenngleich hier ein inneres Leiden des
Verletzten die erste Ursache des Unfalles war, so muß doch
der Umstand, daß die Arbeiter bei einem Hinfallen in den
Betriebsräumen der Gefahr ausgesetzt sind, in Maschinenteile,
umherliegende Materialien, Erzeugnisse oder Rückstände des
Betriebs zu stürzen und sich daran zu verletzen, den Gefahren
des Betriebs zugerechnet werden, die somit hier eine wesent¬
lich mitwirkende Ursache des Unfalls bildeten.“ (Handbuch
der Unfallversicherung, I, 80.)
Noch letzthin hat das Reichsvers icherungsamt (13. Dez.
1908, XXII, 166) den Rentenanspruch anerkannt, indem es für
wahrscheinlich hielt, „daß der verstorbene Knecht bei dem ihm
von dem Betriebsuuternehmer aufgetragenen Heuwenden am
Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.-V.-A 65
Rande eines Entwässerungsgrabens von epileptischen Krämpfen
befallen und infolgedessen in den Graben gestürzt und er¬
trunken ist“.
Ein epileptischer Bergmann (8. Juli 1907, XXI, 111) war
bei einem Anfall hintenüber gefallen, auf einen eisernen Platten¬
belag aufgeschlagen und hatte hierbei eine schwere Schädel¬
verletzung erlitten, der er erlag. Der Versicherte ist einer
Gefahr erlegen, der er durch den Betrieb ausgesetzt war, und
der Entschädigungsanspruch besteht auch dann, wenn es sich
um eine „Gefahr des gewöhnlichen Lebens handelt, also eine
Gefahr, die dem Versicherten möglicherweise auch außerhalb
des Betriebes gedroht hätte. Entscheidend ist lediglich, ob der
Versicherte in dem einzelnen Falle derjenigen Gefahr, welcher
er tatsächlich erlag, infolge seiner Beschäftigung in dem Be¬
triebe ausgesetzt gewesen ist.“ „Es ist freilich nicht ausge¬
schlossen, daß K. auch dann auf einen harten Boden, auf Stein¬
pflaster oder dergleichen aufgeschlagen wäre, wenn ihn der
Anfall außerhalb des Betriebes betroffen hätte. Beweisen läßt
sich dies aber nicht, denn niemand kann wissen, an welchem
Orte und unter welchen Umständen K. den Anfall erlitten
haben würde, wenn er nicht in dem Betriebe tätig gewesen
wäre. Eine Feststellung dahin, daß der Anfall auch außerhalb
des Betriebes seinen Tod herbeigeführt haben würde, läßt sich
daher nicht treffen.
Das Reichsversicherungsamt berücksichtigt auch Störungen
körperlicher Art, welche nicht unbedingt krankhafter Natur
sind; denn es betont in seiner Entscheidung vom 9. März 1896,
X, 117, ausdrücklich die Möglichkeit, „daß, wenn auch der
Unfall unmittelbar üble Wirkungen auf den Körper des Klägers
nicht gehabt hat, doch die seehsche Erregung über den Unfall
bei dem schwächlichen und frühzeitig gealterten Kläger eine
Hypochondrie hervorgerufen hat, welche die Erwerbsfähigkeit
des Klägers erheblich beeinträchtigt“.
Was aber bei körperlichen Störungen billig ist, sollte auch
bei Abweichungen auf psychischem Gebiete recht sein, mögen
diese auch nur in ungewöhnlichen Charaktereigenschaften be¬
stehen. Keiner wird von einem Tuberkulösen verlangen, er
soUe keinen Blutsturz bekommen. Nun aber fordert das Reichs-
5
66
Ernst Schnitze,
versiclierungsamt von einem willensschwachen Arbeiter, er
müsse entgegen seiner Naturanlage mit den Widerwärtigkeiten
des Lebens sich abznfinden wissen, der Arbeiter hätte bei
ruhiger Überlegung die in ihm auftauchenden Befürchtungen
überwinden müssen, und dabei hat das Reichsversichemngsamt
(9. Oktober 1907, XXI, 139) in diesem Falle kurz vorher be¬
tont, daß der Arbeiter „von jeher zur Schwermut und zu
düsterer Lebensauffassung hinneigte“. Es hat ihm also, führt
das Reichsversicherungsamt zur Begründung seines Stand¬
punktes weiter aus, „an dem Maße von Willensstärke gefehlt,
das von jedem im Leben stehenden Menschen gefordert werden
muß“.
Bei den bisherigen Erörterungen habe ich noch nicht die
Möglichkeit berücksichtigt, daß es sich nicht um einen, sagen
wir kurz, noch physiologischen Mangel an Ausdauer und
Willensstärke handelt, sondern daß eine traumatische Neurose
vorliegt. Eine solche wird oft genug verkannt, und mit dieser
Möglichkeit muß ich nach meinen eigenen, oben zum Teil
wiedergegebenen Erfahrungen rechnen. Daß aber nur sehr
zwingende Gründe den Selbstmord eines an traumatischer
Neurose Erkrankten als Unfall ausschließen dürfen, daß dieser
bindende Nachweis nur in wenigen Fällen erbracht werden
kann, liegt auf der Hand.
Das Reichsversicherungsamt wird mit der hier kritisierten
Auslegung des Gesetzes, das in erster Linie dem Wohle des
Arbeiters dient, der individuellen Eigenart des einzelnen Un¬
fallverletzten nicht gerecht, indem es unmögliche Leistungen
von ihm verlangt. Ebenso wie der tuberkulöse Arbeiter mit
dem Augenblick seiner Anstellung in dem Betriebe und seiner
Anmeldung bei der Unfallversicherung den Anspruch auf eine Ent¬
schädigung auch für die Unfallsfolgen erwirbt, an deren Ausgang
die Tuberkulose wesentlich mitgewirkt hat, deren Verlauf also
ohne die Tuberkulose ein besserer gewesen wäre, ebenso muß
auch der Arbeiter geschützt werden können gegen Schäden,
die sich aus der Mitwirkung des Unfalls und seiner Charakter¬
anlage ergeben. Wird doch jeder Arbeiter ohne weiteres ver¬
sichert! Damit übernimmt die Berufsgenossenscbaft, wenn sie
keine Auslese trifft, die Verpflichtung, auch für die Folgen ein-
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.-A. 67
zustehen, die nicht nur dem Unfall, sondern auch der persön¬
lichen Beschaffenheit des Verletzten zuzuschreiben sind.
„Geistige oder körperliche Schwäche einer Person schließen
ihre Arbeitereigenschaft nicht aus, vorausgesetzt nur, daff
immerhin eine — wenn auch nur beschränkte — Arbeits¬
fähigkeit bei ihr vorhanden ist und daß tatsächlich ein Arbeite-
Verhältnis vorliegt.“ (Handbuch der Unfallvers., I, 54.)
Daß die Berechtigung des Kentenanspruchs nicht nur nach
allgemeinen Grundsätzen, sondern vor allem von Fall zu Fall
geprüft werden muß, ist eine fast selbstverständliche Forderung.
Das Reichsversicherungsamt läßt sich zu dieser Frage in seiner
Entscheidung vom 19. Oktober 1905, XIX, 173, ausführlich
aus, indem es betont, daß ..jeder Schadensfall nur unter Berück¬
sichtigung seiner Eigenart in objektiver und subjektiver Hinsicht
zutreffend gewürdigt werden kann“. Die „Verschiedenheit der
körperlichen und geistigen Eigenschaften des Menschen be¬
dingt, daß ein und dasselbe Ereignis auf verschiedene Personen,
ja sogar auf ein und dieselbe Person unter anderen örtlichen
und zeitlichen Verhältnissen verschieden ein wirkt“. 1
Um so gerechter erscheint die Forderung, mangelhafte
Veranlagung nicht zum Nachteil des Unfallverletzten in Rech¬
nung zu setzen, als das Reichsversicherungsamt mehrfach
(10. April 1907, XXI, 67; 26. November 1907, XXI, 168) bei
der Einschätzung der Erwerbsfähigkeit die höhere Intelligenz
des Unfallverletzten berücksichtigt, die es ihm ermögliche,
einen Beruf zu ergreifen, der im wesentlichen geistige Arbeit
verlange und damit ein verhältnismäßig hohes Einkommen ge¬
währe.
Was ich über die Veranlagung in ihrer Beziehung zum Ver¬
fall in Geisteskrankheit und Neigung zum Selbstmord aus-
geführt habe, trifft natürlich auch für die Unfallneurose zu.
Nicht jeder erkrankt an einer solchen nach einem Unfall.
Von Bedeutung ist hierbei ein in der Person des Ver¬
letzten gelegenes Etwas, das sich nicht immer darstellen
läßt. Daß hierbei Tabak- und Alkoholmißbrauch, eine schon
bestehende Arteriosklerose oder Nervosität eine Rolle spielen,
darauf brauche ich kaum hinzuweisen. Uns ist hier wie auch
5*
68
Ernst Schnitze,
aoderorts aufgefalleo, wie häufig die Unfallverletzten an einer
oft angeborenen geistigen Schwäche leiden.
Soweit mir ein Urteil ohne Kenntnis der gesamten Akten
zusteht, habe ich den Eindruck, als ob das Reichsversicherungs-
amt in einzelnen Fällen zu Unrecht den Selbstmord eines
"Willenlosen geleugnet hat. Ich halte eine größere Milde der
Rechtsprechung in dieser Hinsicht für gerechtfertigt und lasse
mich in dieser Ansicht nicht durch das Bedenken erschüttern,
ein Unfallverletzter Arbeiter werde bei einer weniger strengen
Rechtsprechung leicht zum Selbstmord greifen, um seiner Familie
eine Entschädigung zu sichern. Der Selbsterhaltungstrieb ist
doch eine zu tief im Menschen eingewurzelte Eigenschaft, als
daß derartige Erwägungen zu der Vernichtung des eigenen
Lebens führen könnten. Ich wäre dann schon eher geneigt,
anzunehmen, der Arbeiter habe in krankhafter Weise die Lage
seiner Person und seiner Familie zu schwarz angesehen. Ich
bin überzeugt, daß allein die Aussicht auf die Rente für die
Hinterbliebenen einen Gatten und Familienvater nicht zum
Selbstmord treibt; ebensowenig wird aber auch die Verweigerung
einer Entschädigung den Unfallverletzten abhalten, wegen seines
ernsten Lebensüberdrusses sich das Leben zu nehmen.
Übrigens hat auch das Reichsversicherungsamt selbst in
einem Falle (8. Januar 1891, V, 44) Selbstmord aus Renten¬
sucht ausgeschlossen. „Es läßt sich füglich annehmen, daß T.,
der in den Akten als fleißiger und ordentlicher Mann geschildert
war, gewissenhaft genug war, um lieber die Sorge für seine
Kinder auf sich zu nehmen, als ihnen durch seinen Tod eine
Rente zuzuwenden, welche beträchtlich hinter seinem Arbeits¬
verdienste zurückbleibt.“
III.
Die Durchsicht der vorliegenden Arbeit lehrt, daß an
vielen Entscheidungen des Reichsversicherungsamts vom psy¬
chiatrischen Standpunkte aus Kritik geübt werden muß. Schuld
hieran sind aber weniger rechtliche als vielmehr ärztliche Ge¬
sichtspunkte.
Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.-A. 69
Freilich ist es nicht meines Amtes, auch die ersteren einer
Kritik zu würdigen; immerhin möchte ich mit einigen Worten
auf sie eingehen.
Das Reicbsversicherungsamt unterscheidet bei der £r-
örternng der Beziehungen des Unfalls zu seinen Folgen
zwischen Ursache und äußerem Anlaß; bei den Ursachen
trifft es noch die weitere Unterscheidung zwischen unmittel¬
barer und mittelbarer Ursache. Ist es schon schwer, den
prinzipiellen Unterschied zwischen unmittelbarer und mittel¬
barer Ursache eiuzusehen, so ist es noch schwieriger, eine
scharfe und grundsätzliche Unterscheidung zwischen Ursache
und Anlaß zu treffen. Ursache sowohl wie Anlaß fallen unter
den gemeinsamen Begriff der Bediugung; und es ist eigentlich
Oefühlssache, zu sagen, wie beschaffen eine Bedingung sein
muß, um nicht mehr Ursache, sondern nur noch Anlaß zu
sein. Der Unterschied ist kein qualitativer, sondern nur ein
quantitativer. Aber auch dieser Gesichtspunkt kann uns nicht
über die Schwierigkeiten hinweghelfen, solange es unmöglich
ist, das Eausalitätsverhältnis zahlenmäßig darzustellen. Das
Reichsgericht vermeidet vielfach in seinen Entscheidungen den
Ausdruck Anlaß, und wenn es von einer entfernteren Ursache
oder dergleichen spricht, so meint es offenbar den Anlaß, hebt
aber mit seiner Ausdrucks weise den nur quantitativen Unter¬
schied gebührend hervor.
Ich habe es grundsätzlich möglichst vermieden, mich in
meinen Gutachten darüber auszulassen, ob der Unfall eine
Ursache oder nur ein äußerer Anlaß des ermittelten Krank¬
heitsprozesses oder seines Ablaufes ist. Wenn die gegenseitigen
Abhängigkeitsverbältnisse nicht durchsichtig waren, habe ich
erörtert, was voraussichtlich eingetreten wäre, wenn sich der
Unfall nicht ereignet hätte. Kam ich dann zu dem Ergebnis,
daß ohne den Unfall der Tod oder die Verschlimmerung des
Leidens höchstwahrscheinlich nicht eingetreten wäre, so wurde
von der das Gutachten einholenden Behörde der ursächliche
Zusammenhang als erwiesen oder wahrscheinlich angesehen.
Jeder Fall muß für sich erörtert werden. Wenn zum Beispiel
.ein Arbeiter einige Jahre nach einem Unfall paranoisch wird,
nachdem er in der Zwischenzeit keinerlei Störungen geboten
70
Ernst Schnitze,
hat, and wenn Rentenansprüche in seinem Wahnsjstem ein»
große Rolle spielen, läßt sich zweifellos sagen, daß diese Paranoia^
oder richtiger gesagt diese Form der Paranoia, ohne den Unfall
nicht denkbar ist Ein nrsächlicher Znsammenhang wäre aber
deshalb doch nicht ohne weiteres anznnehmen. An dem Zn-
standekommen des paranoischen Krankheitsprozesses an sich
kann der Unfall nnschnldig sein. Der Unfall hat aber den
Wahnideen die Richtnng gewiesen nnd der Paranoia die be¬
stimmte Färbnng gegeben. Jedes andere Ereignis würde eben¬
falls bei dem Inhalt der Wahnideen Verwertung haben finden
können. Anders ist der Sachverhalt, wenn zwischen Unfall und
Ansbrach der Psychose eine Brücke durch nervöse Symptome
geschlagen wird. Daß dann die Entscheidung nicht immer
leicht zu treffen ist, daß dann oft genug mit der Wahrschein¬
lichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zu rechnen ist, daa
habe ich ja oben erörtert.
Wenn das Reichsversicherungsamt für bestimmte Ereignisse
den Unfall nur als äußeren Anlaß gelten läßt, so sieht es in
diesen Fällen vielfach die Ursache in der Person des Ver¬
letzten, in der krankhaften Verfassung des Klägers, seiner körper-
liehen oder geistigen Minderwertigkeit. In tatsächlicher Hin¬
sicht ist dieser Behauptung nur beizupflichten. Sonst würden
wir eben häufiger ein Suizid nach einem Unfall erleben und
öfter Rentenquerulanten an treffen. Dieselbe Verletzung bringt
bei den verschiedenen Personen ganz verschiedene Folgen hervor
je nach ihrer Veranlagung, und nicht jeder wird nach einer be¬
stimmt gearteten Verletzung paranoisch werden. Aber diese
Verschiedenheit der persönlichen Disposition darf dem Unfall¬
verletzten nicht zum Nachteil gereichen. Der Unfall ist da,
seine Folgen sind festgestellt, und ob diese nun bei ihm dank
seiner persönlichen Veranlagung stärker als bei seinem Mit¬
arbeiter aufgetreten sind, sollte für die Berechtigung des Ent¬
schädigungsanspruches gleichgültig sein, wenn nur ein schuld¬
haftes Verhalten des Verletzten bei dem Zustandekommen der
Unfallfolgen ausgeschlossen werden kann. Hebt ja doch Fahr¬
lässigkeit, selbst leichtsinniges Herbeiführen des Unfalls nicht
den Anspruch auf Rente auf! Was die Trunksucht angeht,
so löst nur sinnlose Trunkenheit die Verbindung mit dem
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprecbung des R.-V.*A. 71
IBetriebe. Das Reichsversicheningsamt hat entschieden, daß
-der Unfall sich nicht beim Betriebe ereignet hat, wenn der
T^erletzte nicht mehr imstande war, seiner Trunkenheit halber
irgendeine Betriebstätigkeit ausznüben. »Der Zustand der
Angetrunkenheit hätte nach der ständigen Rechtsprechung
■des Reichsversicherungsamts allein noch nicht genügt, dem
Verletzten die Rente deshalb zu versagen, weil die Trunken¬
heit den Unfall mit verursacht hat. Es müßte denn sein,
<iaß diese so erheblich wäre, daß der Trunkene seiner Ver¬
nunft und Überlegung völlig beraubt wäre, daß er durch
diesen Zustand aus der Betriebstätigkeit herausgetreten wäre.“
Die Besprechung ärztlicher Gesichtspunkte, die uns natur¬
gemäß vorwiegend interessiert, hat an vielen Stellen die Kritik
herausgefordert. Vor allem habe ich auf Mängel hingewiesen,
die manche Gutachten aufweisen.
Billigerweise kann man nicht von jedem als Gutachter
gehörten Arzte eine genaue Kenntnis der einzelnen Spezialfächer
voraussetzen. Aber bedenklich ist es doch, daß so wenige
Outachter die Grenzen ihres eigenen Wissens kennen und daß
fast jeder Arzt glaubt, auch über schwierige Fälle von trauma¬
tischer Neurose urteilen zu dürfen, wiewohl zu deren sachge¬
mäßer Bewertung ein nicht geringes Maß psychiatrischen
Fühlens und Könnens unerläßlich notwendig ist. Die Tatsache
der mangelnden Selbsteinschätzung der Arzte erklärt die Be¬
obachtung, daß die Sicherheit des Auftretens des Sachver-
«tändigen, sei es im Gutachten, sei es vor Gericht, vielfach im
umgekehrten Verhältnis zu dem tatsächlichen Wissen steht.
Auch mag der Umstand nicht gerade die Qualität der Gut¬
achten fördern, daß von einem einzelnen Arzte oft eine große
Zahl von Gutachten in verhältnismäßig geringer Zeit erstattet
werden muß. Ich kann einige leise Bedenken gegen manche
Gutachten der Krankenhäuser nicht unterdrücken, deren wesent¬
liche Tätigkeit in der Begutachtung Unfallverletzter besteht.
Gewiß wird hier eine große Erfahrung gerade auf diesem
Spezialgebiete erworben; aber es besteht doch auch die Gefahr,
daß der Fall nicht als Einzelfall gewürdigt wird. Darum halte
ich es auch geradezu für bedenklich, nicht ganz klar liegende
Fälle traumatischer Neurose auf Grund einer einmaligen Unter-
72
Ernst Schnitze,
sachung abzufertigen, besonders dann, wenn das Gutachten zu
der Annahme einer Simulation führt. Ich brauche mich da¬
nach gar nicht darüber auszulassen, welchen W ert ich den Massen-
Nacbuntersuchungen von Rentenempfängern beimesse. Dabei
besteht doch gerade die Gefahr, daß eine genaue körperliche
Untersuchung unterlassen wird, die unerläßlich notwendig ist
für die Begutachtung des Falles. Der Kollektivbegriff der
traumatischen Neurose hat auch iusofern etwas Bedenkliches,
als der Sachverständige sieb oft nicht die Mühe nimmt, eine
Spezialdiagnose zu stellen oder es doch wenigstens zu versuchen.
Freilich bedarf der Sachverständige dazu einer Kenntnis der Neu¬
rosen; und er darf nicht, wie in einer Entscheidung des Reichs ver-
sicherungsamts mitgeteilt wird, Neurasthenie mit Hysterie als
durchaus wesensgleich ansehen, und auch nicht annehmen, daß
ein häufiger Endausgang der Neurasthenie die Demenz sei, wie
ich es ebenfalls in einer Rekursentscheidung gelesen habe.
Auch bei der Begutachtung der Unfallverletzten wird viel¬
fach der Fehler begangen, daß der Sachverständige ihnen seine
eigenen Gedankengänge unterschiebt. Der Sachverständige ver¬
mutet nicht nur, daß sich iu der Seele des anderen die psy¬
chischen Vorgänge so abspielen, wie er glaubt, für sich an¬
nehmen zu können — doch nur auf Grund von Analogie¬
schlüssen —, sondern diese Vermutung ist für manche Gut¬
achter schon sehr bald eine bewiesene Tatsache. So wenigstens
erkläre ich mir manche ärztlichen Auslassungen über die ver¬
derbliche Wirkung dieses bösen Kampfes um die Rente, die oft
eine geradezu romanhafte Färbung tragen. Nicht viel anders
steht es um die Psychologie des Selbstmordes.
Eine Besserung dieser Verhältnisse ist nur durch eine gründ¬
liche psychiatrische Ausbildung der Ärzte zu erreichen. Die vor¬
liegenden Ausführungen sind ein weiterer Beweis für die Not¬
wendigkeit, die angehenden Ärzte noch mehr mit den Unfall¬
gesetzen und ihrer praktischen Bedeutung vertraut zu machen
und sie immer wieder von neuem auf die ernste Verantwortung
hinzuweisen, die sie mit der Erstattung eines Gutachtens —
sei es auch nur ein Befundschein für 3 M. — übernehmen.
Nicht oft und nicht eindringlich genug kann darauf hinge¬
wiesen werden, daß die erste Behandlung der Unfallverletzten
Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.-A. 73
und ihre zweckentsprechende Beratung bei dem Auftreten der
ersten Beschwerden geradezu den weiteren Verlauf entscheiden.
Ich halte es nicht für richtig, daß die Unfallheilkunde von
einem einzigen Lehrer an unseren Hochschulen gelehrt wird.
Jeder Vertreter der verschiedenen klinischen Disziplinen soll an
seinem Teil mitarbeiten. Uns Psychiatern würde die Aufgabe
Zufällen, den Studierenden mit dem Wesen der traumatischen
Neurosen vertraut zu machen und ihm ein psychologisches Ver¬
ständnis für diese Erankheitsformen zu eröffnen, die teilweise ein
nicht gewolltes Ergebnis sozialer Fürsorge sind; vor allem
können wir ihn warnen vor gar zu schneller Annahme einer
Simulation. Gewiß werden die in den verschiedenen Kliniken
gehörten Anschauungen über traumatische Neurose nicht über-
einstimmen. Der kritisch veranlagte Student wird schon eine
bestimmte Stellung nehmen. Jeder aber wird zum mindesten
die Mahnung daraus entnehmen, daß bei der Begutachtung
Unfallverletzter besondere Vorsicht angebracht ist.
Schon heute wird an den meisten Hochschulen der psy¬
chiatrische Unterricht auch auf diese Frage ausgedehnt, und
jeder Lehrer wird die Dankbarkeit seines Zuhörers erfahren
haben, der so unmittelbar die große praktische Bedeutung
psychiatrischer Denkweise erfährt. So ist es zu hoffen, daß
bei weiterem Ausbau des Unterrichts vermeidbare Fehler von
den Ärzten in Zukunft nicht mehr begangen werden, Fehler,
die nur zu leicht dazu angetan sind, unsere Arbeiter oder deren
Familien zu schädigen und die Wohlfahrtsgesetze in Verruf
zu bringen.
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Dr. Mayser in Hildburghausen, Med.-Rat Dr. Näcke in Hubertusburg,
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H. Schlüß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in üchtspmge, Geheimrat
Dr. Schüle in Illenau, Prof. Dr. Scbultzein Greifswald, Geh.Med.-Rat
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Wien, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Unverricht in Magdeburg, Prot Dr.
von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin
heransgegeben von
Prof. Dr. A. Hoche,
Freiburg i. Br.
Band IX, Heft 2
Inhaltsübersicht.
Seite
Ä. Übersicht über die Krankheitsäußerungen der in der
hinteren Schädelgrube gelegenen Oehirnteile . 5
L Cerebellum. 5
a) Anatomische Vorbemerkungen. 5
b) Physiologische Vorbemerkungen. 6
a) afferente Leitungsbahnen . .. 7
1. Tractus spino-cerebellaris dorsalis. 7
2. Tractus spino-cerebellaris ventralis .... 7
3. Hinterstrang'Kleinhimbahn und direkte sen¬
sorische Eleinhirnbahn .......... 8
4. Tractus vestibulo-cerebellaris. 8
6. Tractus olivo-cerebellaris. 9
ll) efferente Leitungsbahnen. 9
1. Tractus cerebello-vestibularis.10
2. Tractus vestibulo-spinalis . ..10
3. Tractus vestibulo-nuclearis.11
4. Tractus cerebello-tegmenti.11
y) Reflexbogen .11
1. spino-bulbär-zerebellare.11
2. zerebello-zerebrale.12
c) Symptomatologie.12
1. Zerebellare Ataxie.13
2. Drehschwindel. 14
3. Nystagmus.15
4. Zerebellare Hypotonie . ..16
5. Zerebellare Parese s. Asthenie.17
6. Adiadochokinesis.18
7. Asynergie cer^belleuse ..18
8. Spinale Ataxie.19
4
Nie. Gierlicb, Erkrankungen der hinteren Schädelgrube.
Seit«
II. Kleinhimschenkel.20
a) die unteren, Crura cerebelli ad meduUam . . 20
b) die mittleren, Brachia pontis.21
c) die oberen, Brachia conjunetiva.21
m. Okzipitallappen.21
IV. Corpora quadrigemina.21
V. Pedunculus cerebri.22
VI. Pons .23
Vn. Medulla oblongata.25
Vni. Geschwülste des IV. Ventrikels.26
IX. Aifektionen der Basis.26
B. &pexielle Symptomatologie und Differentialdiagnose der
für einen chirurgischen Eingriff xugängigen Affektionen
in der hinteren Schädelgruhe .28
I. Kleinhimabszeß, Differentialdiagnose.29
Meningitis serosa und purulenta.30
n. Kleinhirntumoren, Differentialdiagnose.31
a) Hydrozephalus.33
b) Neurasthenie.34
c) Multiple Sklerose.35
d) Tuberkulöse und eitrige Meningitis.36
e) Blutung und Erweichung.36
f) Aneurysmen der Basalgefäße. 36
III. TumorendesKleinhirnbrückenwinkels, Differential¬
diagnose .37
a) Affektionen des Himstammes.38
b) Tumoren der vorderen Schädelgrube .... 39
IV. Meningitis chronica circumscripta (cystica) in der
hinteren Schädelgrube.40
C. Eröffnung der hinteren Schädelgrube und Prognose . . 40
■V
Nachdem im letzten Dezennium die Chirurgie des Gehirns
unter Horsleys Vorantritt sich bedeutend erweitert und
namentlich auch die hintere Schädelgrube in ihre Domäne ge¬
zogen hat, war man allgemein bemüht, eine Verfeinerung der
Diagnostik der diese Grube ausfüllenden Gehirnteile anzu-
streben. Hier ist es nun, wie nicht selten in der Medizin, so
ergangen, daß die klinische Beobachtung der exakten Forschung
Yoraneilte, so daß manche klinisch wohlbegründete Tatsache
der anatomisch-physiologischen Begründung noch harrt. Bei
dem allgemeinen Interesse, welches die Erkrankungen der in der
hinteren Schädelgrube gelegenen Organe — Kleinhirn und
Rhombenzephalon — heute daher beanspruchen, will ich ver¬
suchen, Ihnen im folgenden die Symptome übersichtlich zu
schildern, auf denen die Diagnose, besonders des so wichtigen
ersten Beginnes der krankhaften Störung, beruht. Ich beginne
mit dem
Kleinhirn,
dessen Läsionen, namentlich Tumoren und Abszesse, in erster
Linie für einen chirurgischen Eingriff in Frage kommen.
Morphologisch betrachtet, ist das Kleinhirn ein von
seiner Umgebung gut abgeschlossenes Gebilde, welches dem
Rhombenzephalon aufgelagert, die obere Partie der hinteren
Schädelgrube ausfüUt und frontalwärts durch das straffe Ten-
torium vom Okzipitallappen des Großhirns geschieden ist.
Ventralwärts läuft das Kleinhirn in drei Stiele aus, durch die
es mit dem übrigen Nervensystem in Verbindung steht.
Anatomisch unterscheidet man eine Anzahl Lappen
mit vielen Windungen und Furchen, die aus grauer Rinde
und Marksubstanz bestehen und auf Querschnitten das charak¬
teristische Bild des Arbor vitae bilden. Im Innern liegen eine
Anzahl grauer Kerne: der umfangreiche, vielfach gefaltete
6
Nie. Gierlich,
Nacleus dentatus, der Nucleus emboliformis, globosns, tegmenti
s. fastigii. Für unsere klinischen Zwecke kommen wir mit
einer viel einfacheren Einteilung aus, indem wir das Eleinhim
gliedern in ein Mittelstück, den Wurm genannt, und die
beiden Hemisphären.
Von diesen drei Teilen kommt nach unsem physiologischen,
klinischen und phylogenetischen Beobachtungen dem Warm
die weitaus größte Bedeutung zu, da er das Zentrum aller zu
dem Kleinhirn hinziehenden und von demselben ausgehenden
Bahnen bildet, so daß Läsionen der Hemisphären, wie schon
Nothnagel erkannte, ohne klinische Symptome einhergehen
können, sofern sie nicht Druck auf den Wurm ausüben. In
der ganzen Tierreihe bis zu den höheren Wirbeltieren hinauf,
finden wir, soweit die einzelnen Tiere ein Kleinhirn besitzen,
nur den Wurm ausgebildet, und zwar teils in beträchtlicher
Größe, während von den Hemisphären nur der Nucleus dentatus
angelegt ist, den Edinger daher dem Wurm zurechnet.
Auf den Wurm sind also beim Menschen nach unseren
jetzigen Kenntnissen die vom Kleinhirn ausgehenden Impulse
zu beziehen, wenn auch einige Autoren den einzelnen Klein¬
hirnlappen spezielle Dignität zusprechen möchten.
Die Bestimmung der Seite, auf der die Affektion ihren
Sitz hat, ist bei dem durch das straffe Tentorium begrenzten engen
Raume infolge der leichten Femwirkung auf die andere Seite
des Wurmes meist nicht möglich. Dieses Unvermögen hat
freilich für einen chirurgischen Eingriff keine große Bedeutung,
da meist die Schnittführung eine solche ist, daß das ganze
Kleinhirn freigelegt wird.
Im Wurm und speziell in der Rinde des Wurms haben
wir also den Gipfelpunkt der durch die drei Kleinhimstiele
zum Kleinhirn hinziehenden und von demselben ausgehenden
Bahnen zu suchen. Der vordere Kleinhirnstiel oder Bindearm ver¬
mittelt die Verbindung mit dem Großhirn und endet im Nucleus
ruber und Thalamus opticus. Der mittlere Kleinhirnstiel zieht
zum Pons, und der hintere, das Corpus restiforme oder Strick¬
körper genannt, führt die Bahnen von und zur MeduUa oblon-
gata und dem Rückenmark.
Bevor wir uns nach diesen Vorbemerkungen zur Analyse
Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe.
7
der klinischen Symptome wenden, auf denen die Diagnose der
Kleinhimerkrankungen sich auf baut, erscheint es zweckmäßig,
die afferenten und efferenten Bahnen kurz zu schildern,
die der Funktion des Kleinhirns dienen.
Wir unterscheiden da zunächst nach Bruns Vorgang
einen Reflexbogen, der vom Rückenmark und verlängerten
Mark zum Kleinhirn hin und von diesem wieder zum Rücken-
mark herabzieht, den spino-bulbär-zerebellaren Reflex¬
bogen.
Zu den afferenten (Bahnen dieses Reflexbogens zählt
1. der Tractus spino-cerebellaris dorsalis, die
Kleinhirnseitenstrangbahn. Sie zieht in den lateralen, ventralen
Partien des Seitenstrangs zentralwärts, empfängt ihre Fasern
aus den Zellen der Clarkeschen Säulen, die an der Basis
des Hinterhorns liegen und vom oberen Lumbalmark bis ins
obere Dorsalmark reichen.
In diesem endigen die in den hinteren Wurzeln medial
gelegenen, den Muskelsinn und das Lagegefühl speziell der
Rumpf- und Hüftmuskeln vermittelnden Fasern. Der Tractus
spino-cerebellaris ist ein konstanter, in der Wirbeltierreihe bis
zu den Fischen bereits vorhandener, während freilich die um¬
grenzte Gruppe der als Clarke sehe Säulen bezeichneten Zellen
erst bei höheren Wirbeltieren sich deutlich abhebt. Es handelt
sich somit um eine phylogenetisch alte Bahn.
2. Der zweiten afferenten Bahn, dem Tractus spino-
cerebellaris ventralis s. Gowers, der eine ähnliche
Ausbreitung besitzt, ist eine gleiche physiologische Bedeutung
wie der obigen Bahn zuzuschreiben. Sie nimmt ihren Anfang
ebenfalls aus Zellen, die an der Basis des Hinterhorns liegen,
ohne aber einen abgegrenzten Zellkomplex zu bilden. Sie
zieht ventralwärts von der ersten Bahn, gelangt dann im
Bogen durch die vorderen Kleinhimstiele an ihre Endstätte,
die Rinde des Wurms, während die erstere Bahn direkt durch
die hinteren Kleinhirnstiele dahin gelangt. Auf diesen beiden
Bahnen werden der Wurmrinde fortwährend Impulse zugefiihrt
über Lage und Spannungsgrad der Muskeln und Gelenke des
Rumpfes und der Hüfte.
3. Ist auf Grund neuerer Untersuchungen die Annahme be-
8
Nie. Qierlich,
rechtigt, daß ein Teil der in den hinteren Strängen des Rücken¬
marks aufsteigenden sensiblen Fasern direkt oder durch Ver¬
mittlung der Hinterstrangkeme im Corpus restiforme zum Wurm
des Kleinhirns gelangen. Cohnstamm glaubt sogar, daß die
Mehrzahl aller Hinterwurzeliasem zum Kleinhirn zieht und
nur ein geringerer Teil in die mediale Schleife gelangt. Auch
ans den sensiblen Hirnnerven gesellen sich direkt oder durch
Vermittlung der Kerne Fasern diesem Zuge bei, Edingers
direkte sensorische Kleinhirnbahn. Dieser letzte Traktus
ist nach E ding er ein uraltes System. „Bei den Haien ist
es das einzig nennenswert ansgebildete im Kleinhirn. Das
ganze Zerebellum der Selachier ist im wesentlichen nur End¬
apparat für Teile der sensiblen Kopfnerven. Das weist darauf
hin, daß in diesem System der Grundapparat für den Klein-
himmechanismus liegt, daß die anderen Faserbezüge sich diesen
erst allmählich addiert haben.“ Auf diesen Bahnen gelangen sen¬
sible Eindrücke von der gesamten Körperoberfläche und sen¬
sorische Impulse zum Kleinhirn. Eine besondere Stellung in
diesem Traktus kommt
4. der yestibulo-cerebellaren Bahn zu. Der aus
dem Ganglion vestibuläre entspringende Nervus vestibularis
sendet seine peripherwärts ziehenden Fasern zu den Ampullen,
zum Utriculus und Sacculas. Die zentralwärts ziehenden Fasern
verlaufen gemeinsam mit dem Nervus cochlearis, enden aber
getrennt von diesem im Nucleus vestibularis und dem als
Nucleus Deiters bezeichneten, mandelförmigen, dicht unter
dem Kleinhirn gelegenen Gebilde und durch Vermittlung dieser
Kerne, sowie direkt im Markkerne des Kleinhirns und der
Rinde des Wurms. In diesem Nerv gelangen Erregungen aus
den Bogengängen, die bekanntlich mit der Körperhaltung und
Lage im Raum in enger Beziehung stehen, zum Kleinhirn.
Es ist der Nerv des Raumsinns, und die durch ihn vermittelten
Impulse orientieren über die Lage unseres Körpers, speziell
des Kopfes, im Raume, der uns umgibt. Hierzu dienen auch
zahlreiche Assoziationsfasem zwischen den Augenmuskeln und
dem Deiters sehen Kern, die im hinteren Längsbündel ver¬
laufen und über die Stellung der Bulbi und den Kontraktions¬
zustand ihrer Muskeln Empfindungen vermitteln.
Erkrankungen der hinteren Sch&delgrube.
9
5. seien noch kurz Fasern erwähnt, die ans den Oliven
im Strickkörper zum Kleinhirn ziehen — Tractus olivo-
cerebellaris —, über dessen Bedeutung bestimmtere An¬
gaben bisher nicht vorliegen.
Wir sehen also, daß die Rinde des ELleinhimwurmes ein
Zentmm bildet, dem vom Rückenmark und Hirnstamm durch
die Kleinhirnseitenstrangbahn, die Go wer s sehe Bahn, die
R.p. hintere Wurzeln;
Gl.S. Clarkesche Säule;
F. B. Funikulus Burdach;
F.G, Funiculus Gell;
T. S. C. V. Tractus spino-
cerebellaris ventralis;
T. S. C. d. Tractus spino-
cerebellaris dorsalis;
N. G. Gollscher Kern;
N. B. Burdachscher Kern;
O. i. Oliva inf.;
T. 0. C. Tractus olivo-
cerebellaris;
H Kl. Hinterstrang-Klein-
hirnbahn;
S. Kl. B. Sensorische Klein¬
hirnbahn ;
T. V. C. Tractus vestibulo-
cerebellaris;
N. D. Nucleus dentatus.
Fig. 1. Die zum Kleinhirn aufsteigenden Bahnen.
Hinterstrang- und direkte sensorische Kleinhirnbahn, wie
speziell durch den N. vestibularis Erregungen zugeführt werden,
die über den augenblicklichen Spannungsgrad der sämtlichen
Muskeln und Gelenke, die Stellung der Glieder und des Kopfes,
sowie über die Haltung des Körpers und Lage im Raum
orientieren. Diese Impulse dringen zunächst nicht bis zum Be¬
wußtsein vor und automatisch sucht nun das Kleinhirn
auf Grund dieser Nachrichten Stellung, Bewegung
der Glieder, des Rumpfes, des Kopfes, der Augen
etc. zu beeinflussen. Hierzu stehen ihm efferente
10
Nie. Qierlicb,
Bahnen zur Verfügung, die zumeist auf die subkortikalen motori¬
schen Bahnen Einfluß gewinnen. Von der Wurmrinde ziehen
Fibrae sagittales zu den grauen Kemlagem des Kleinhirns
und von diesen gelangen die Erregungen durch die Kleinhim-
stiele auf die motorischen Bahnen. So gehen:
1. Fasern vom Nucleus tegmenti zum Nucleus Deiters —
Tractus cerebello-vestibularis. Von diesem ziehen
auf zwei Wegen die Fasern peripherwärts:
F.S. Fibrae sagittales;
N. T. Nacleus teg¬
menti;
C. R. Corpus resti-
forme;
T. C. V. Tractus
cerebello -vestibularis;
m. Oculomotorius-
kern;
Vl. Abduzenskern;
VIII. Nervus acusti-
cus;
H. L. Hinteres LSngs-
bündel;
N. D. Nucleus Deiters;
T. V. S. Tractus
vestibulo-spinalis;
B. Bogengänge.
Fig. 2. Die absteigenden — motorischen — Bahnen des Kleinhirns
nach Bruce.
2. Im Tractus vestibulospinalis. Dieser ist von
Monakow entdeckt, von Bruce und Probst näher studiert
und führt Fasern, die durch das Corpus restiforme das Rücken¬
mark erreichen und am ventralen Rande der Seitenstränge und
in den Vordersträngen abwärts gelangen. Sie lassen sich bis
ins Lumbalmark verfolgen und finden ihre Aufsplitterung in
der gleichseitigen motorischen Vorderhornsäule. Mit Hilfe dieser
Bahn gewinnt somit das Kleinhirn Einfluß auf die Muskeln
des Rumpfes und der Extremitäten.
■N
Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube.
11
3. Eine zweite, nicht weniger wichtige Bahn geht nocb
vom Deiters sehen Kern aus — Tractus vestibulonnclearis.
Ihre Fasern verlaufen am Boden des 4. Ventrikels und ziehen
nach Bruce im gleichseitigen hinteren Längsbündel teils zentral-
wärts zum Kern des Nervus oculomotorius und trochleari»
beider Seiten, teils peripherwärts bis hinab in die Vordersträngo
des Rückenmarks. Sie endigen ebenfalls in der grauen Vorder-
homsäule. Auf dieser Bahn ist das Kleinhirn in den Stand
gesetzt, auf die Augenbewegung und Stellung der Bulbi regu¬
lierend einzuwirken.
So schließt sich, wie wir sehen, ein mächtiger
Reflexbogen, der unter der Schwelle des Bewußt¬
seins automatisch seine Wirkung entfaltet. Sein
Scheitelpunkt liegt in der Rinde des Kleinhirn¬
wurms. yom Rückenmark und Hirnstamme fließen
diesem durch Kleinhirnseitenstränge, Gowerssche
Bahn, Hinterst ränge, den sensiblen Endkernen,
der spinalen und zerebralen Nerven, und vor allem
durch den Vestibularnerven sensible Erregungen
zu, die über den Spannungsgrad von Muskeln und
Gelenken, die momentane Stellung der Glieder und
des Kopfes, sowie über die ganze Haltung und Lago
des Körpers im Raum unterrichten. Auf Grund
dieser ständig znfließenden Empfindung wirkt das
Kleinhirn dann regulierend und koordinierend ein
auf die Stellung und Bewegung der Glieder, des
Rumpfes und des Kopfes.
Diesem peripheren Reflexbogen ist nun ein weiterer, zen¬
traler übergeordnet — der cerebello-cerebrale Reflex¬
bogen (Bruns). Auf ihm werden dem Großhirn Nachrichten
zuteil über die in der Wurmrinde gesammelten Empfindungen,
die hier wahrscheinlich zu bewußten Vorstellungen umgewan¬
delt werden können, um dann, falls nötig, regulierend und
kontrollierend auf die Tätigkeit des automatischen Gleichge¬
wichtszentrums im Kleinhirn einzuwirken. Die Bahn verläuft
von der Wurmrinde zum Nucleus dentatus und von diesem'
mächtigen Kemlager als
4. dritte efferente Kleinhimbahn, dem Tractus cere-
12
Nie. Qierlich,
bello-tegmenti in den vorderen Kleinbirnstielen nach totaler
Kreuzung zur Haube, speziell zum Nucleus ruber und Thalamus
opticus. Von diesen zwei Kernen gehen wiederum subkorti¬
kale motorische Bahnen zum Rückenmark im Tractus rubro-
und thalamO'Spinalis, die bekanntlich in der Tierreihe eine
große Bedeutung haben und auf der vom Kleinhirn anlangenden
Impulse auf die motorischen Vorderhomsäulen des Rücken¬
marks einwirken können. Ob nun von der Haube noch Neu¬
rone dritter Ordnung in die Hirnrinde und speziell in die
motorische gelangen, ist wohl nicht sicher, aber sehr wahr¬
scheinlich. Es wäre so eine Bahn vom Thalamus zum Stim-
hirn anzunehmen. In diesem vermutet man die Zentren für
die Rumpfmuskulatur, die also hier regulatorische Impulse
empfangen können. Andererseits gelangen auf der gut be¬
kannten frontalen Brückenbahn Fasern zu den motorischen
Ganglien der Brücke und von hier sehr wahrscheinlich durch
den mittleren Kleinhirnschenkel hinauf zur Rinde des Wurms.
So schließt sich ein zweiter Reflexbogen, der von
der Kleinhirnrinde durch die vorderen Kleinhirn-
Schenkel, Haube, Stirnhirn, frontale Brückenbahn,
Brückenkleinhirnbahn ständige Erregungen kreisen
lassen kann, welche die regulierende und koordi¬
nierende Tätigkeit des Kleinhirns auch bewußt be¬
einflussen können.
Schließlich wäre es leicht verständlich, wenn vom Frontal-
him aus die motorischen Zentren in der Zentral Windung direkt
oder auch die Pyramidenbahn in ihrem weiteren Verlaufe von
diesem zerebello-zerebralen Reflexbogen aus unvermittelt Im¬
pulse erhielten.
Auf Grund dieser anatomisch-physiologischen Erwägungen
bietet das Verständnis der Symptome der Kleinhirn¬
erkrankungen keine besondere Schwierigkeit. Wir unter¬
scheiden zweckmäßig allgemein anerkannte, sichere Kardinal¬
symptome neben einer Reihe von Krankheitserscheinungen,
deren direkte Abhängigkeit von Kleinhirnläsionen noch nicht
allgemein feststeht.
Zu den Symptomen ersterer Art zählt
Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube.
13
1. die zerebellare Ataxie, das klassische, typische
Anzeichen einer Kleinhimaffektion. Sie stellt eine Eoordina-
tionsstörung dar der groben, sogenannten Gesellschaftsbe¬
wegungen in den Muskeln, die der Haltung und den Be¬
wegungen des Körpers dienen, also hauptsächlich der Humpf¬
und Beinmuskeln. Das koordinierte Zusammenwirken dieser
Muskelgruppen, soweit es Stehen und Gehen ermöglicht, ist
gestört, während die feineren Zielbewegungen (Eniehackenver-
snch, Ereisbeschreiben etc.) in ihrer Funktion nicht behindert
sind. Die Kranken geraten beim Stehen und Gehen ins
Schwanken und Taumeln wie ein Betrunkener, weshalb die
Franzosen den Zustand Demarche de l’iyresse benennen.
Schließen der Augen erhöht das Schwanken beim Gehen nicht,
im Gegensatz zur Tabes. In höheren Graden macht sich das
Hin- und Hertaumeln auch beim Sitzen geltend und schlie߬
lich ist Patient nicht mehr imstande, aus liegender Stellung
sich aufzurichten.
. Überden zerebellaren Gang haben Steward und Holmes
genauere Studien angestellt. Sie unterscheiden zwei Kompo¬
nenten dieser eigentümlichen Gangstörungen, erstens ein
Schwanken nach der kranken Seite, zweitens eine Abweichung
der Gangrichtung nach dieser Seite. Beim Taumeln hat
Patient die Empfindung, als ob er nach der kranken Seite ge¬
stoßen würde, doch gelingt ihm die Korrektur. Die Gang¬
richtung sucht hingegen ständig eine Abweichung nach der
kranken Seite hin einzuschlagen, als ob Patient auf der Peri¬
pherie eines Kreises sich bewegte, so daß die homolaterale
Schulter gegen das Zentrum gerichtet wäre. Doch gelangt
dies Abweichen von der Richtung ständig zum Bewußtsein
und wird korrigiert. Geht diese Korrektur über das Ziel
hinaus, so kann ein Torkeln nach der gesunden Seite hin er¬
folgen.
Bei medialer oder beiderseitiger Erkrankung des Klein¬
hirns erreicht die zerebellare Ataxie ihre größte Ausbildung.
Bei Tumoren inmitten des Wurms fällt der Kranke am häufig¬
sten nach hinten (Steward, Bruns).
Die zerebellare Ataxie beruht in erster Linie auf
einer Störung der im Kleinhirnseitenstrang, der
14
Nie. Gierlich,
<jowersschen Bahn und dem Yestibularsystem zum
Kleinhirn hinströmenden und auf den subkorti¬
kalen motorischen Bahnen peripherwärts ziehenden
Impulse. Es ist daher auch verständlich, daß nicht nur im
Kleinhirn selbst diese Bahnen, wie wir sie oben genauer ge¬
schildert haben, sondern auch an anderen Stellen ihres
Verlaufs Unterbrechung erleiden können, wodurch
gleichfalls zerebellare Ataxie zur Beobachtung kommt. So
finden wir bei der sogenanten hereditären Ataxie Fried¬
reichs, die unter anderem die zum Kleinhirn ziehenden
Rückenmarksbahnen befällt, die typische zerebellare Ataxie.
Desgl. können unter Umständen Erkrankungen der Medulla
oblongata und des Pons dieselbe Erscheinung im Gefolge haben,
wenn die afferenten und efferenten Bahnen des Kleinhirns ge¬
troffen sind. Besonders häufig finden wir das Symptom bei
Affektionen der Vierhügel, was durch Läsion der nahe
vorbeiziehenden Bindearme sich erklärt Speziell muß schlie߬
lich noch darauf hingewiesen werden, daß auch bei Erkran¬
kungen des Stirnhirns (Bruns) der Demarche de Tivresse
in typischer Ausbildung mitunter angetroffen wird, was nach
unseren obigen Auseinandersetzungen mit einer Störung im
zerebello - zerebralen Refiexbogen in Zusammenhang gesetzt
werden muß.
2. Als zweitwichtigstes Lokalsymptom einer Kleinhim-
erkrankung ist der Schwindel anzusprechen, der fast nie
fehlt, durch seine Heftigkeit und oft paroxysmalen Charakter
sowie durch sein frühzeitiges Auftreten und die Art seines
Ablaufs sich wohl unterscheidet von den mehr unbestimm¬
baren Schwindelerscheinungen, wie sie bei den verschiedenen
Neurosen, bei Großhirntumoren und überhaupt bei Schwan¬
kungen der Zirkulationsverhältnisse im Gehirn sich einstellen
können. Bei Kleinhimerkrankungen handelt es sich um einen
systematischen Schwindel, einen Drehschwindel. Bing erklärt
sich das Phänomen folgendermaßen: „Das Labyrinth wird
seinen Funktionen im Dienst des Raumsinnes dadurch gerecht,
daß die hydrostatischen Verhältnisse in den nach den drei
Hauptebenen des Raumes orientierten Bogengängen zu nervösen
Erregungen im Vestibularis führen, diese letzteren aber via
Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 15
Naclens yestibularis und Deiteraschen Kern ins Kleinhirn
gelangen. Besteht nun ein Widersprach zwischen dem Er¬
regungszustände dieses Yestibularis-Apparates und der wirk¬
lichen Lage des Körpers im Raume, so werden die Rezeptionen
▼on seiten der Muskeln und Gelenke, des Auges gleichsam
Lügen gestraft, und aus dieser Inkongruenz resultieren die
yertiginösen Scheinbewegungen und indirekt deren quälende
Begleiterscheinungen.“ Es ist somit der Kleinhimschwindel
dem labyrinthären Schwindel nahe yerwandt, ja identisch.
Neuere Beobachtungen, die Steward und Holmes an großem
Material angestellt haben, scheinen eine genauere Definition
der Schwindelerscheinungen und lokaldiagnostische Schlüsse
über die befallene Seite des Kleinhirns zuzulassen. Nach den
genannten Autoren hat man zwischen dem Gefühl der Eigen¬
bewegungen und dem Gefühl der Bewegung der umgebenden
Objekte zu unterscheiden, da beide sich unter Umständen yer-
schieden yerhalten. Bei interzerebellaren wie bei extrazere¬
bellaren Tumoren bewegen sich die Scheinbewegungen der
umgebenden Objekte yon der kranken nach der gesunden Seite,
dagegen findet die scheinbare Eigenbewegung des erkrankten
Indiyidaums bei intrazerebellaren Tumoren gleichfalls yon der
kranken nach der gesunden Seite, bei extrazerebellaren dagegen
umgekehrt, yon der gesunden nach der kranken Seite hin statt
Die Bestätigung dieser Befunde bleibt abzuwarten, sie können
unter Umständen eine erwünschte diagnostische Handhabe zur
Bestimmung der erkrankten Seite des Kleinhirns bilden. Doch
wird nach meiner Ansicht die genaue Exploration dieser
Schwindelerscheinung an der mangelhaften Intelligenz oder
auch der ungeübten Fähigkeit der Selbstbeobachtung des Er¬
krankten meist scheitern.
3. Als drittes, wohl bei keiner Kleinhimaffektion fehlendes
Symptom ist der Nystagmus zu nennen. Er ist gleich dem
Kleinhimschwindel bedingt durch eine Störung im Yestibular-
system und kann auch durch eine periphere Reizung der
Yestibularisendigungen in den Bogengängen bekanntlich zu¬
stande kommen. Entzündung des inneren Ohres oder Ein¬
spritzung kalten Wassers ins Ohr können Nystagmus heryor-
rufen. Der Kleinhirnnystagmus ist bedingt durch die yom
16
Nie. Qierlich,
Deiters sehen Kern im hinteren Längsbündel zu den Eem*
lagern der Augenmuskeln verlaufenden Erregungen. Selten
nur ist der Nystagmus beim Blick geradeaus zu beobachten,
er tritt meist erst beim Seitwärtswenden der Augen ein und
am stärksten oder zuerst, wenn der Kranke nach der dem
Krankheitsherd entsprechenden Seite blickt. Gelegentlich soll auf
der kranken Seite eine größere Exkursion der Augenaxen zu
konstatieren sein.
Diese drei Kardinalsymptome: zerebellare Ataxie,
Drehschwindel und Nystagmus, können völlig unab>
hängig voneinander einzeln, namentlich bei Beginn der ELlein-
hirnläsionen, auftreten. Öfters auch kommen sie anfallsweise
zur Beobachtung, worauf Dana, Fränkel und Hunt und
jüngst Ziehen aufmerksam gemacht haben. Diese Vesti-
bularanfälle sind nach Ziehen charakterisiert durch drei
Hauptkennzeichen:
1. Intensives Schwindelgefühl und stärkste vestibuläre
Ataxie.
2. Spontaner, d. h. ohne willkürliche Augenbewegungen
eintretender Nystagmus.
3. Intensiver Nackenkopfsebmerz.
Zuweilen gesellen sich diesen Symptomen im Anfall sub¬
jektive Geräusche bei: Erbrechen, Doppelsehen, Amblyopie
auf dem gleichen Auge und schließlich Bewußtseinsverlust und
motorische Reizerscheinungen. Sie lassen schließen auf eine
Läsion im Bereiche des Yestibularis-Systems und sind oft von
Wichtigkeit bei der Diagnose der raumbeschränkenden Erkran¬
kungen in der hinteren Schädelgrube, speziell des Kleinhirns
als dem Ort des zerebellaren Vestibularis-Zentrums.
Es folgen nun eine Reihe von Krankheitssymptomen, die
von einzelnen Autoren beobachtet und als charakteristische
Zeichen einer Kleinhirnerkrankung aufgestellt sind, aber hier
und da noch der Bestätigung und physiologischen Begründung
bedürfen. Sie zeigen sich vielfach nur beim ersten Beginn
der Erkrankung, werden bald von Nachbarsymptomen über¬
deckt, sind aber, da sie meist einseitig beginnen, von großer
Wichtigkeit zur Be Stimmung der Seite der Erkrankung.
4. Es ist hier zu nennen die zerebellare Hypotonie.
Erkrankungen der hinteren Schädelgrube.
17
Sie ist zu erkennen durch die Palpation der Muskeln, durch
die Prüfung auf Widerstandsbewegung, auf Schlaffheit der Ge¬
lenke bei passiven Bewegungen, so daß die Gliedmaßen in
abnorme Stellungen zu bringen sind. Von der spinalen Hypo¬
tonie unterscheidet sie sich dadurch, daß sie nicht wie diese
mit Hypo- oder Areflexie einhergeht, sondern vom Zustand der
Reflexe völlig unabhängig ist. Sie ist ein halbseitiges homo¬
laterales Symptom. Steward und Holmes beschrieben zum
Nachweis der Hypotonie das „Hypotonische Widerstandsphä¬
nomen“. Wird bei einem Gesunden bei passivem Widerstand
der Gegendruck plötzlich unterbrochen, so geht die begonnene
Bewegung noch ein Stück weiter und dann schnellt das Glied
zurück. Bei Hypotonie der Muskulatur erfolgt ein sehr starker
Rückschlag. Bei Hypertonie, wie sie Kleinhirnerkrankungen im
Gefolge haben, ist die Weiterbewegung exzessiv und der Rück¬
schlag gleich Null. Das Ausbleiben des Rückschlags ist be¬
dingt durch das Fehlen des reflektorischen Muskeltonus der
Antagonisten, der bei normalem Tonus stets eintritt. Man
untersucht das Phänomen am besten durch Widerstand mit
der Hand bei Beugung und Streckung der Glieder.
Nahe verwandt der Hypotonie ist
5. die Parese oder Asthenie, die gleichfalls ein halb¬
seitiges, und zwar dem Krankheitsherd homolaterales
Symptom darstellt. Ihre Pathogenese unterliegt noch der
Kontroverse. Ursprünglich dachte man an eine Mitbeteiligung
der nahegelegenen Pyramidenbahn, doch sind die von dieser
ausgehenden Paresen stets mit Hypertonien und Reflexsteige¬
rungen, eventuell Babinski und Spasmen der Muskeln ver¬
bunden, während die hemilateralen Paresen der Kleinhirnaffek¬
tionen mit Hypotonie und normalen Reflexen einhergehen.
Jüngst haben Steward und Holmes, die das Symptom nie
vermißten, bei mikroskopischer Untersuchung die Pyramiden¬
bahn intakt gefunden. Auch Mann hält die Parese für ein
reines Kleinhirnsymptom. Von der zerebralen Hemiplegie ist
sie noch besonders geschieden durch die Ausdehnung der
Lähmung. Bei der Kleinhirnparese sind alle Muskeln und
Muskelgruppen gleichmäßig schlaff und gelähmt, während bei
Unterbrechung der Pyramidenbahn bekanntlich nur bestimmte
18
Nie. Qierlich,
Muskelgruppen dauernd ihre Funktion einbüßen. Dieser soge¬
nannte Wer nicke sehe Prädilektionstypus findet sich bei den
Paresen der Kleinhirnläsionen nicht Bruns und Oppen¬
heim halten die schlaffe Parese jedenfalls für ein seltenes
Symptom und konnten es bei ihren Fällen nicht nachweisen.
Mann bestätigt das Symptom und fahndete nach Sensibilitäts¬
störungen zur Erklärung desselben, vermochte solche aber
nicht festzustellen. Es muß sich also um Erregungen handeln,
die im Unterbewußtsein ablaufen. Als efferente Bahnen für
diese Erregungen sind die Tractus cerebello-vestibolo- und
rubrospinalis anzusprechen. So findet auch die Gleichseitig¬
keit der Parese mit der Läsion des Kleinhirns seine Erklärung,
da die zerebello-vestibolospinale Bahn ungekreuzt verläuft, der
Tractus cerebello-segmentalis im Bindearm zwar eine Kreuzung
erfährt, die rubrospinale Bahn aber wieder zur andern Seite
kreuzt und so gleichfalls durch den Tractus cerebello-rubro-
spinalis eine Einwirkung auf die der Läsion homolaterale Seite
zustande kommt.
Zwei weitere Symptome hat Babinski beschrieben,
und zwar
6. die sogenannte Adiadochokinesis (diaöo^jj = Auf¬
einanderfolge), es ist dem Patienten unmöglich, rasch aufein¬
anderfolgende antagonistische Bewegungen auszuführen. Zur
Prüfung fordert man den Patienten auf, schnelle Beugung und
Streckung im Ellenbogengelenk, Pro- und Supination des
Vorderarmes vorzunehmen. Diese schnelle Folge der Be¬
wegung ist Patient nicht imstande auszuführen. Das Symptom
ist nur in den oberen Extremitäten nachzuweisen, und zwar
auf der der Affektion homolateralen Seite; es bedeutet eine
grobe Koordinationsstörung, die vielleicht dem zerebellaren
Gang an die Seite zu setzen ist und durch spezielles Suchen
aufgefunden werden muß. Auch Bruns sah das Symptom
einmal bei einem Falle, wo er freilich den Tumor auf der
gegenüberliegenden Seite vermutete. Oppenheim legt dem
Symptom ebenfalls Wert bei.
7. Von Babinski wurde ferner eine Asynergie cere-
belleuse beschrieben; er versteht darunter die Unfähigkeit,
die Bewegung der einzelnen Glieder resp. Gliedmaßen und
Erkrankungen der hinteren Schädelgrube.
19
des Rumpfes im groben zu assoziieren. Beim Versuch zu
gehen bewegen sich die Beine nach vom, während der Rumpf
nach hinten drängt, beim Hintenüberbeugen im Stehen wird
die dazu nötige Kniebeuge nicht ausgeführt, beim Aufrichten
aus liegender Stellung werden die Beine in der Hüfte gebeugt,
der Rumpf nicht erhoben, Babinski sah auch dieses Phä¬
nomen halbseitig, und zwar entsprechend dem Sitz der Läsion,
Es dürfte sich hier doch wohl nur um einen ungewöhnlich
hohen Grad der zerebellaren Ataxie handeln, der freilich in
dieser Halbseitigkeit bisher nicht beobachtet wurde und sehr
bemerkenswert erscheint.
8. findet sich nicht selten echte spinale Ataxie, wie
wir sie bei Tabes zu beobachten gewohnt sind (Bruns,
Steward). Sie ist namentlich in den oberen. Extremitäten
ausgesprochen. Beim Versuche, nach einem vorgehaltenen
Gegenstand oder der eigenen Nase zu greifen resp. mit dem
Zeigefinger hinzustoßen, macht Patient unsichere und aus¬
fahrende Bewegungen und fährt mit dem Finger am Gegen¬
stand vorbei. Auch beim Kniehackenversuch tritt diese Un¬
sicherheit hervor, doch ist der Arm meist mehr befallen
(Bruns). Auch diese Störung ist homolateral mit der Läsion
und ein wertvolles diagnostisches Merkmal für die erkrankte
Hemisphäre, Da, wie wir in den physiologischen Erörte¬
rungen auseinandergesetzt haben, die aus den sensiblen
spinalen und zerebralen Ganglien entspringenden Fasern direkt
oder durch Vermittlung der Endkerne, zum Teil jedenfalls
ins Kleinhirn gelangen, so kann das Auftreten tabischer
Symptome bei Kleinhirnerkrankungen nicht mehr wunder¬
nehmen. Daß sie nicht in jedem Fall nachzuweisen sind, mag
wohl darin seinen Grund haben, daß die Menge dieser Fasern,
die zum Kleinhirn zieht, die, wie wir sahen, bei den Wirbel¬
tieren eine große Bedeutung hat, beim Menschen eine individuell
schwankende ist.
Die Zahl der echten Kleinhirnsymptome ist damit wohl
-erschöpft. Babinski möchte noch Intentionstremor
hierher gerechnet wissen, doch ist sein Vorkommen als reines
Kleinhirnsymptom fraglich, da Tremor einerseits von Ataxie
mitunter schwer zu trennen ist und andererseits bei der Nähe
2 *
20
Nie. Gierlich,
der Pyramidenbahnen leicht motorische Keizsymptome durch
Fern Wirkung ausgelöst werden.
Überblicken wir die Erkrankungen, die im Klein¬
hirn ihren Sitz haben können, so zeigt sich uns eine
große Mannigfaltigkeit der Krankheitsprozesse. Es sind beob¬
achtet Aplasien einzelner Teile, Atrophien mit skleroti¬
schen Schrumpfungen, dann Hämorrhagien, Erweichungen,
Entzündungen und Abszesse. Ferner ist das Kleinhirn
ein Prädilektionsort aller wichtigen Tumoren:
Sarkome, Fibrome, namentlich Gliome und Tuberkel,
die bei genauer Beobachtung vornehmlich der initialen Symp¬
tome oft zu lebensrettenden chirurgischen Eingriffen Anlaß
geben.
Bei dem engen Raum, in den das Kleinhirn einge¬
zwängt ist, stellen sich hier öfter und schneller wie sonst im
Zentralnervensystem Symptome ein, die von den benachbarten
Organen ausgehen, die primären Symptome überlagern und
die Diagnose betreffs des Sitzes der Erkrankung leicht in falsche
Bahnen lenken. Es dürfte sich daher empfehlen, bevor wir
zur Erörterung der Differentialdiagnose der für einen chirurgi¬
schen Eingriff in Betracht kommenden Erkrankungen des Klein¬
hirns übergehen, die Nachbarschaftssymptome einer
kurzen Besprechung zu unterziehen.
Dem Kleinhirn ventral angelagert sind die
Klcinhirnsticlc oder Schenkel.
Läsionen der unteren Kleinhirnschenkel, der Cor¬
pora restiformia, soll Bewegungsstörungen der Augäpfel,
Zwangslage und Schwindelgefühle mit Fallrichtung nach der
kranken Seite infolge Läsion der zerebello-vestibolospinalen Bahn
zur Folge haben. Diese besorgt ja hauptsächlich die Koordination
der Körperaxe und der Haltung resp. Lage im Raum. Doch
ist infolge der Nähe der Kleinhimbasis ein leichtes Übergreifen
auf diese nicht immer von der Hand zu weisen. Die Erkran-
kungen der oberen Kleinhirnschenkel, der Binde¬
arme, bedingt dagegen choreatische Bewegungsstörungen der
gleichseitigen Extremitäten; die in den Tractus cerebello-
tegmenti verlaufende zerebello-rubrospinale Bahn scheint somit
Erkrankungen der hinteren Schädelgrube.
21
die subkortikale Koordination der Bewegungen der einzelnen
Glieder zu beherrschen.
Bei Affektionen im mittleren Kleinhirnschenkel,
der Brachia pontis, beobachtet man die Magendie-
Hertwigsche Schiefstellung der Augenaxen, d. h. eine verti¬
kale Difierenz beider Bnlbi. Dann bewirken Erkrankungen
dieser Gegend Rollbewegungen in der Längsaxe des Körpers.
Die Richtung dieser Rollbewegungen und ihr Verhältnis zur
Seite der Affektion wird verschieden dargestellt, weshalb die¬
selbe für eine Seitendiagnose bisher keine Verwendung finden
kann.
Von weiteren Nachbarschaftssymptomen sind durch Druck
bedingte Einwirkungen von Geschwülsten des
Okzipitallappens
auf das Kleinhirn oder auch das umgekehrte Verhalten ein
seltenes Vorkommnis, da das straffe Tentorium das Über¬
greifen des Druckes verhindert. Oppenheim und Bruns
haben aber solche Fälle beobachtet. Die Hemianopsie resp.
Seelenblindheit ist dann unschwer zu erkennen und die Prä¬
zision der Diagnose meist ohne Schwierigkeit.
Weit komplizierter können sich die Verhältnisse gestalten
und eine Klärung der Diagnose über den primären Sitz der
Affektion erschwert sein, wenn Symptome von Läsion des
ventral gelegenen Himstamms und der Hirnnerven im Krank¬
heitsbilde einen weiten Raum einnehmen. Hier kommen zu¬
nächst in Betracht die
Corpora quadrigemina. «
Ihre Erkrankung ist charakterisiert durch Augenmuskel¬
lähmungen nukleären j Charakters, die erst einseitig, meist aber
bald beiderseits auftreten bei der nahen Lage der Augen-
muskelkeme. Befallen sind gewöhnlich die Kerne des N. oculo-
motorius und trochlearis, während der mehr kaudal gelegene
Abduzenskem freibleibt. Auch die der Akkommodation und
Pupillenveränderung dienenden Fasern sind selten in den Be¬
reich der Lähmung gezogen. Ebenso beobachtet man nur zu¬
weilen Behinderung der konjugierten Bewegung der Augen.
22
Nie. Gierlich,
Erkrankungen der hinteren Vierhügel und Corpora geniculata
mediales bedingt Taubheit,- ein- oder doppelseitig, solche der
Corpora geniculata laterales homonyme Hemianopsie resp.,
falls beide Seiten befallen sind, Amblyopie ohne Stauungs¬
papille. Schließlich fehlen bei Erkrankung dieser Gegend nie
ataktische Erscheinungen, so daß bei fortgeschrittenen Fällen
die Differentialdiagnose betreffs des primären Sitzes der Er¬
krankung sehr erschwert sein kann. Epiphysentumoren
machen im ganzen die gleichen Symptome. Auch Erkran¬
kung des
Pedunculas cerebri
kann zur Verwechslung mit Kleinhirnaffektionen Anlaß geben.
Der Pedunkulus umfaßt den Fuß, die Substantia nigra und
die Schleife. Oberhalb derselben liegt das vorhin beschriebene
Gebiet: Roter Kern, Okulomotoriusregion und Vierhügel. Im
Fuße ziehen die von den motorischen Zentren entspringenden
Bahnen abwärts, welche in ihrer Mitte die Pyramidenbahn
enthalten mit den motorischen Fasern für die Extremitäten
und Hirnnerven. Medial von der Pyramidenbahn verläuft die
frontale, lateral von derselben die okzipitale Brückenbahn.
Die Beziehungen der frontalen Brückenbahn zu dem zerebello-
zerebralen Reflexbogen wurden oben genauer erörtert. Die
Bedeutung der Substantia nigra steht noch nicht fest; in der
Schleife verlaufen jedenfalls sensible Bahnen. Durchzogen ist
das ganze Gebiet von den austretenden Wurzelfäden des N. oculo-
motorius, die ventral konvergieren.
Das Herdsymptom des Pedunkulus ist die Hemiplegia
alternans et n. oculomotorius (Weberscher Typus):
Degenerative Lähmung des N. oculomotorius auf der Seite der
AffSktion infolge Läsion des Kernlagers oder der austretenden
Wurzelfäden mit gekreuzter, kompletter, zerebraler Hemiplegie
(inklusive Fazialis und Hypoglossus) durch Druck auf die
Pyramidenbahn. Von den Fasern des N. oculomotorius sind
die des Levator palpebrae am leichtesten in der Funktion be¬
hindert (Ptosis). Kommt es nur zu einer Reizwirkung auf die
Pyramidenbahn, so ist die Okulomotoriuslähmung kombiniert
mit Tremor der anderen Seite (Benedikt scher Symptomen-
komplex). Greift der Herd auf die Schleife über, so finden
Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube. 23
wir gekreuzte, sensible Störungen, auch wohl Ataxie. Erkran¬
kungen des
Pons
sind ebenfalls charakterisiert durch das Symptomenbild der
Hemiplegia alternans, die nach dem Höhensitz der Läsion und
dem direkt getroffenen Kernlager sich darstellt als
a) Hemiplegia alternans et n. facialis, die häufigste
Form (Millard-Gublersehe Lähmung), bei der der Fazialis-
kern oder seine im Bogen peripherwärts ziehenden Wurzel¬
fäden direkt getroffen sind bei gleichzeitiger zerebraler Läh¬
mung des Hypoglossus und der Extremitäten der anderen
Seite. In diesem Falle zeigt die Fazialislähmung nukleären
Charakter: atrophische schlaffe Lähmung. Sitzt der Herd
mehr frontalwärts vom Fazialiskern, so trifft er die schon ge¬
kreuzten Fasern des primären Neurons und bewirkt dann
gleichfalls homolaterale Fazialislähmung, doch ohne Ea. R. und
Degeneration der peripheren Nervenäste und Muskeln.
b) Hemiplegia alternans et n. abducens, die dann
zustande kommt, wenn der Herd im Abduzenszentrum oder
im Gebiet seiner austretenden Wurzelfäden seinen Sitz hat.
Eine homolaterale degenerative Abduzenslähmung ist gepaart
mit gekreuzter zerebraler Lähmung des Hypoglossus und der
Extremitäten. Sehr oft ist in diesem Falle das in der Nähe
des Abduzenskerns gelegene Zentrum für die konjugierte Blick¬
richtung befallen, so daß der Blick nach der Seite des Herdes
behindert oder aufgehoben ist und die Bulbi nach der gegen¬
überliegenden Seite verzogen sind. Diese assoziierte Lähmung
des Blickes nach der Seite ist charakteristisch für Herde inner¬
halb des Pons; bei Tumoren, die von außen auf den Pons
einen Druck ausüben, kommt sie nur in den seltensten Fällen
zustande.
c) Hemiplegia alternans et n. trigeminus. Diese
Kombination ist selten und besteht in einer Lähmung des
Trigeminus auf der Seite des Herdes mit gekreuzter Hemi¬
plegie inkl. Fazialis und Hypoglossus. Die Lähmung der
motorischen Fasern des N. trigeminus bedingt Paralyse der
Kaumuskeln mit Ea. R. Bei Befallensein der sensiblen Fasern
treten zunächst Reizsymptome — Neuralgien — in den Vorder-
24
Nie. Gierlich,
grund, denen dann mehr oder weniger vollständige Anästhesie
für alle Sinnesqualitäten folgen. Einigemale betraf die An¬
ästhesie nur die Konjunktiva und Kornea (Bruns).
Bei größerer Ausdehnung des Herdes kann eine Kombi¬
nation der verschiedenen Lähmungstypen eintreten. So kommt
es oft zu Fazialis- oder Abduzens- oder Fazialis- und Blick¬
lähmung auf der Seite der Läsion bei gekreuzter, motorischer
oder auch sensibler Lähmung.
d) Hemiplegia alternans et n. cochlearis. Hör¬
störungen kommen durch Zerstörung der intrapontinen Fasern
des Hörnerven zustande. Sind diese am Übergang vom Pons
zur Medulla oblongata — die Grenze ist eine künstliche —
getroffen, woselbst sie in kompakterem Zuge verlaufen, oder
ist das Kernlager des N. cochlearis selbst (Nucleus ventralis
tuberkulum acusticum) in den Herd einbezogen, so kommt es
zur einseitigen Taubheit, die mit gekreuzter Lähmung der
Extremitäten verbunden sein kann. Daß die Hörstörungen so
selten erwähnt sind, hat wohl seinen Grund in der bei der
Häufigkeit peripherer Ohrerkrankungen oft schwierigen Ent¬
scheidung, ob es sich um periphere oder zentrale Taubheit
handelt.
Bei Affektionen des Pons finden wir häufiger als bei denen
des Hirnschenkels, neben oder auch ohne motorische, gekreuzte
sensible Störungen, die durch das Befallensein der Schleifen¬
bahn zustande kommen. Dieselben äußern sich durch Anästhesie
der Extremitäten der gekreuzten Seite, und zwar kann die¬
selbe alle Oberflächenempfindungen umfassen; oder auch nur
Schmerz- und Temperaturgefühl sind befallen, bei normaler
Empfindung für Berührung (dissoziierte Anästhesie). Einige¬
male wurde auch eine Lähmung der Tiefensensibilität mit oder
auch ohne Beeinträchtigung der Oberflächensensibilität nach¬
gewiesen, was darin begründet ist, daß die Oberflächensensi¬
bilität (Tractus spino-thalamicus) und die Tiefensensibilität
(Hinterstrangsystem) in der Schleife des Pons getrennten Ver¬
lauf haben, jedenfalls im frontalen Ende des Pons. Daher
können sie auch isoliert getroffen sein. Im ganzen kommen
gekreuzte, sensible Störungen weit seltener zur Beobachtung
als motorische. In der
Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube.
25
Medulla obloiigata
finden wir ventral die Pyramidenbabnen, die in den kaudalen
Partien zum größten Teil zum gekreuzten Seitenstrang ziehen,
dorsolateral von den Pyramiden liegt die Kleinhimseitenstrang-
und Gowerssehe Bahn; zwischen den Oliven ziehen die von
den Hinterstrangkernen in der sogenannten Schleifenkreuzung
zur anderen Seite gelangenden Fasern für die Tiefensensibilität
(Lage- und Muskelempfindung) und lateral von diesen die be¬
reits im Rückenmark gekreuzten Bahnen der Oberflächensensi¬
bilität (Schmerz-, Wärme-, Berührungsempfindung; letztere
wird von einigen Autoren • auch zum Teil der ersteren Bahn
zugesprochen). Beide sensiblen Faserzüge zusammen bilden
die mediale oder Hauptschleife. Die dorsalen und lateralen
Partien der Medulla oblongata enthalten die Kerne für den
8. bis 12. Hirnnerven, deren Wurzelfäden seitwärts und ab¬
wärts ziehen. Von höher gelegenen Himnerven verläuft noch
die aufsteigende Trigeminuswurzel, welche die äußeren Teile
der Haut des Gesichts, wahrscheinlich besonders der Stirn,
besorgen soll, in diesem Areale. Dann sind hier Zentren ge¬
legen für Herz- und Atmungstätigkeit, für den Brechakt und
Schweißsekretion, für vasomotorische Innervation und Zucker¬
ausscheidung.
Herdsymptome der Medulla oblongata sind in erster
Linie charakterisiert durch Befallensein der Kernlager und
Wurzelfäden des 8. bis 12. Gehirnnerven und der in ihrer
Nähe gelegenen Zentren. Taubheit resp. Schwerhörigkeit,
Schwindel, Lähmung des Pharynx, des Gaumensegels, der
Stimmbänder, Störung der Herztätigkeit, der Atmung, Läh¬
mung der Zunge etc. zählen zu den gewöhnlichsten Symp¬
tomen. Diese kommen nur im ersten Beginne der Erkrankung
und auch dann nicht immer einseitig vor, da die Kerne der
Hirnnerven in dem engen Raume nahe zusammengerückt sind.
Es tritt meist gekreuzte Hemiplegie der Extremitäten hinzu,
so daß wir im Anfänge der Erkrankung den Symptomenkom-
plex der Hemiplegia altemans auch hier finden, der uns dann
wichtige diagnostische Aufschlüsse gibt. Ferner sind Stö¬
rungen der Sensibilität nicht selten, und zwar kommt es, da
die Fasern der Tiefensensibilität relativ leicht bei einem Herde
26
Nie. Gierlich.
am lateralen Rande der ScUeife getroffen werden, zu gekreuzten,,
sensiblen Lähmungen.
Die Allgemeinsymptome pflegen bei Erkrankung der Medulla
oblongata auffallend gering zu sein.
Geschwülste des rierten Ventrikels
können leicht zu Fehldiagnosen fuhren. Es handelt sich meist
um vom Ependym ausgehende Gliome oder auch um Sarkome,
Psammome, Karzinome, die vom Plexus chorioideus herstammen.
Sie rufen Nachbarschaftssymptome hervor — Kleinhirn, Pons,
Medulla oblongata. Mitunter gingen sie einher mit Demenz
und Verworrenheit, die wohl auf starken Hydrozephalus zu¬
rückzuführen sind. Selten ist die Diagnose sicher zu stellen.
Häufiger als Geschwülste fand man Zystizerkenblasen, die frei
im Ventrikel schwimmen oder durch Ependymfaden befestigt
sind. Für ihre Diagnose gibt Bruns folgende Gesichtspunkte
an: „1. Ein Wechsel von Perioden schwerster, allgemeiner
zerebraler Storungen — Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen,
event. Puls- und Atemstörung — mit Perioden, in denen der
Kranke sich relativ wohl fühlt. Der Schwindel und das Er¬
brechen treten besonders bei Lage Veränderung des Kopfes oder
auch des ganzen Körpers ein; bei brüsken, passiven Dreh¬
ungen des Kopfes kann der Kranke wie vom Blitz getroffen
niederfallen. 2. Leichte zerebellare Ataxie, leichter Nystagmus,
Doppeltsehen, seltener Glykosurie. 3. Plötzlicher Exitus.“
Schließlich kommen noch
AflSektionen der Basis
in Betracht, soweit dieselben ihren Sitz in der hinteren Schädel¬
grube haben. Es handelt sich:
1. Um Geschwülste, die vom Knochen ihren
Ausgang nehmen. Meist sind es Metastasen von Karzi¬
nomen und Sarkomen, die sich hier entwickeln, den 7. bis
12. Hirnnerven durch Druck schädigen und dann gegen den
Himstamm weiter Vordringen. Vom Mittelohr können auch
primäre Karzinome ausgehen.
2. Um mehr oder weniger umschriebene syphi¬
litische oder tuberkulöse Meningitis an der ven-
Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 27'
tralen Seite des Hirnstammes, die zu ähnlichen Symp¬
tomen führen kann wie obige Geschwülste. Das gleiche
Krankheitsbild der einfachen progredienten multiplen Hirn¬
nervenlähmung sah man einigemale auch bei zerstreuten kleinen,
von den Häuten der Basis ausgehenden Geschwülsten (Sar¬
kome, Endotheliome). In allen diesen Fällen pflegen Stauungs¬
papille, tiefsitzender Kopfschmerz und Benommenheit zu fehlen;
dagegen ist Druckschmerzhaftigkeit der Hinterhauptgegend meist
sehr ausgesprochen.
3. Um Geschwülste, die von den Nervenscheiden aus¬
gehen, sogenannte Neurofibrome. Sie entwickeln sich
meist an den im Kleinhimbrückenwinkel austretenden Nerven,
oft am N. acusticus, weshalb sie Hart mann Akustikus-
tumoren nannte, doch sind sie auch am N. facialis, trigeminus,
glossopharyngeus u. a. gefunden worden. Man bezeichnet sie
daher am besten als Tumoren des Kleinhimbrückenwinkels
nach dem Vorschläge von Henneberg und Koch, welche
in einer umfassenden Arbeit die Literatur dieser Geschwülste
zusammenstellten und neue Fälle hinzufügen. Diese Ge¬
schwülste sitzen im Winkel zwischen Pons und vorderem,
unterem Kleinhimrande auf dem mittleren Kleinhirnschenkel.
Charakteristisch ist für sie, daß sie den befallenen Nerven um¬
schneiden und durch Kompression zur Degeneration bringen,
während die Nerven der nächsten Nachbarschaft bei dem lang¬
samen Wachstum zur Seite ausweichen und lange Zeit keinen
nachweisbaren Schaden nehmen. Die ersten Symptome gehen
also von dem zunächst befallenen Nerven aus und bleiben
lange auf diesen lokalisiert. — Ist z. B. der Akustikus ge¬
troffen, so finden wir lange Zeit nur Gehörstörungen auf einer
Seite, schließlich Taubheit bei noch guter Funktion des ihm
so nahe anliegenden N. facialis. Geht die Geschwulst vom
N. facialis aus, so ist Gesichtslähmung das erste Symptom mit
Atrophie und Ea. R., bei Ausgang vom N. glossus-pharyngeus
finden wir zunächst einseitig Geschmacksstörung, bei Ausgang
vom N. trigeminus einseitige degenerative Atrophie der Kau¬
muskeln und Sensibilitätsstörungen im Gesicht etc. Bei dem
weiteren Wachstum werden dann durch Kompression die zu¬
nächst gelegenen Hirnnerven geschädigt und es kommen
28
Nie. Qierlicb,
schließlich die durch Druck auf den Hirnstamm und das Klein¬
hirn bedingten Störungen dieser Organe zur Beobachtung. Die
Geschwülste sind mit der Umgebung nur leicht verwachsen,
gut ausschälbar. Sie bieten daher für den chirurgischen Ein¬
griff die besten Chancen, und seitdem in den letzten Jahren
die Aufmerksamkeit besonders auf sie hingelenkt ist, sind be¬
reits mehrere Fälle mit Erfolg operiert worden.
Nach der Schilderung der für die Erkrankung der ein¬
zelnen Organe in der hinteren Schädelgrube charakteristischen
Symptome wollen wir nun die Differentialdiagnose er¬
örtern und uns speziell den Affektionen zuwenden, die
zu einem chirurgischen Eingriffe in letzter Zeit
mit gutem Erfolg Anlaß gegeben haben. Bei der in¬
fausten Prognose der hier in Frage kommenden Erkrankungen
kommt diesen natürlich eine ganz besondere Wichtigkeit zu.
Wir wollen daher zunächst die Frage erörtern:
Welche Erkrankungen in der hinteren Schädelgrabe sind
der chirurgischen Behandlung zugängig?
Da ist gleich die gewiß betrübende Tatsache festzustellen^
daß sämtliche Erkrankungen des Himstamms — Mittelhirn,
Brücke, verlängertes Mark —, mag es sich um Blutungen,
Entzündungen, Erweichung, Abszesse oder Tumoren handeln,
bei der Nähe der lebenswichtigen Zentren für einen chirurgi¬
schen Eingriff heute nicht in Frage kommen. Dieser ist da¬
gegen mit Erfolg vorgenommen worden bei Erkrankungen
desKleinhirns, speziell Absz essen, Zysten und Tumoren,
sowie den im Kleinhirnbrückenwinkel locker ge¬
legenen Neurofibromen. Die Beschränkungen des opera¬
tiven Vorgehens auf die Affektionen machen es uns nur zur
besonderen Pflicht, die Differentialdiagnose aufs ge¬
naueste zu ventilieren, damit ein immerhin lebensge¬
fährlicher Eingriff vermieden wird bei absoluter Aussichtslosig¬
keit. Denn andererseits ist doch nicht die Möglichkeit ganz
von der Hand zu weisen, daß ein Tuberkel oder auch ein
sarkomatöser Tumor in seinem Wachstum einmal einhält oder
Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 29
ein Echinokokkus abstirbt und verkalkt, so daß schließlich eine
Heilung mit Defekt zustande kommt.
Bei dem oben näher begründeten schnellen Übergreifeii
der Symptome auf die Nachbarschaftsorgane kommt es zur
exakten Diagnosenstellung besonders darauf an, den ersten
Symptomen bei Eintritt der Erkrankung seine Auf¬
merksamkeit zu widmen, da nur sie auf den Ausgangs¬
punkt der Affektion einen sicheren Hinweis gestatten. Es ist
somit von übergroßem Wert, daß der zunächst behandelnde
Arzt die Schwere des Leidens erkennt und den initialen Symp¬
tomen seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, damit der
Patient nicht wegen Kopfschmerz, Schwindel etc. erst lange
vergeblich behandelt wird und erst bei bereits vorgeschrittenem
kompliziertem Krankheitsbilde, welches den Ausgangspunkt
verdunkelt, die Diagnose gestellt werden muß.
Betrachten wir nun zunächst die für den
Klciuhirnabszcß
charakteristischen Merkmale. Kleinhirnabszesse sind relativ
häufig. Sie kommen zustande einmal, wie auch Abszesse an
anderen Stellen des Zentralnervensystems durch Verschleppung
von Entzündungserregern aus offenen Wunden am Schädel,
namentlich solchen traumatischen Ursprungs. Doch kann das
Trauma weit zurückliegen, selbst 20 bis 30 Jahre. Ferner sind sie oft
die Folge von metastatischer Verschleppung des Eiters bei
Lungenabszeß, Bronchiektasien, ulzeröser Endokarditis etc. In
den meisten Fällen jedoch liegt dem Kleinhirnabszeß eine
Eiterung im Mittelohr zugrunde, Otitis media chronica puiu-
lenta. Sie findet ihren Weg entweder in den Schläfenlappen
oder durch den Processus mastoideus ins Kleinhirn. Besonders
gefürchtet sind die Nachschübe mit Verlegung des Abflusses
durch das perforierte Trommelfell. Die Eiterung setzt sich
selten direkt auf Hirnhäute und Gehirn fort, gewöhnlich ge¬
langen die Eiterzellen durch die perivaskulären Lymphräume
mehr oder weniger tief in die Marksubstanz, so daß der Ab¬
szeß im Innern des Kleinhirns abgeschlossen, meist abgekapselt
liegt. Die Größe schwankt von der einer Erbse bis Kleinapfel.
Die Entwicklung kann eine akute oder allmähliche sein und
30
Nie. Gierlich
sich über 1 bis 2 Monate bin erstrecken. Von den Allgemein¬
symptomen ist der Kopfschmerz besonders bervortretend
und auf die Hinterbauptgegend lokalisiert, oft bis
zur Nackengegend ausstrahlend und gelegentlich mit Nacken¬
steifigkeit vergesellschaftet, so daß eitrige Meningitis vorge¬
täuscht werden kann. Ferner fehlen Erbrechen, Be¬
nommenheit und allgemeine Unruhe selten. Fieber
ist dagegen nach der heutigen Annahme kein beständiges
Symptom, nach Mazewen verläuft der Abszeß sogar oft
mit subnormalen Temperaturen. Von den speziellen Kleinhim-
symptomen, die oft wenig ausgesprochen sind, ist die zere¬
bellare Atax ie, der Drehschwindel und der Nystagmus
in erster Linie zu nennen. Bruns hält es für charakteristisch,
wenn Schwindel und Erbrechen bei Lageveränderung des
Kopfes oder Körpers sich einstellt. Auch Hemiparese und
Hemiataxie (Oppenheim) auf der Seite des Abszesses
sind beobachtet. Das Symptom ist wichtig für die Seiten¬
bestimmung des Abszesses, ist aber nicht stets vorhanden und
auch an der gekreuzten Seite beobachtet worden. Es kommen
bei weiterer Ausdehnung des Abszesses Nachbarschafts¬
symptome zur Beobachtung durch Druck auf die Vierhügel,
den Pons und die MeduUa oblongata: Augenmuskelläh¬
mung, assoziierte Blicklähmungen, Dysarthrie, Dys¬
phagie, Respirations-Störungen, Affektionen der
Trigeminus und Fazialis und gekreuzte Hemiplegie.
Im späteren Verlauf kann die Fazialis- und Trigeminusparese
so sehr im Vordergrund stehen, daß ein Tnmor im Kleinhirn¬
brückenwinkel vorgetäuscht wird. Auffallend oft machen Ab¬
szesse dieser Gegend auch Stauungspapille, wohl infolge
von Hydrozephalus.
Die Differentialdiagnose von Meningitis serosa ist unter
Umständen sehr schwierig und undurchführbar. In der Regel
sind bei dieser die Herdsymptome wenig hervortretend, die
Stauungspapille dagegen frühzeitig ausgeprägt.
Die Diagnose eines Himabszesses hat in letzter Zeit ein
nicht unwichtiges Hilfsmittel gewonnen in der Hirnpunktion,
wie sieNeißer und Pollak ausgebildet haben; freilich haben
Erkrankungen der hinteren Schädelgrube.
31
Borchard und Krause wegen der Gefahr der Infektion der
Meningen davor gewarnt.
Die Lumbalpunktion, welche bei Verdacht auf Abszeß mit
Nutzen zur Diagnosenstellung herangezogen wird, gibt Auf¬
schluß über den Druck im Zerebrospinalkanal, der bei Abszeß
erhöht ist. Ferner finden sich bei Meningitis Zellvermehrung
event. Eiterzellen in der abgeflossenen Flüssigkeit.
Zu zweit kommen
Tumoren des Kleinhirns
in Betracht. Das Kleinhirn ist eine Prädilektionsstelle für
Tumoren des Zentralnervensystems. Zumal im jugendlichen
Alter haben ein Drittel aller Hirntumoren im Kleinhirn ihren
Sitz. Es sind ihrer Natur nach in erster Linie Gliome und
Tuberkel, dann auch Sarkome, Fibrome. Am leichtesten
ausschälbar sind die Bindegewebsgeschwülste, dann auch die
sogenannten Solitärtuberkel, da sie das Hirngewebe verdrängen,
während das Gliom diffus in das umgebende Gewebe hinein¬
wächst, so daß man bei der Operation die kranke von der
gesunden Zone nicht stets trennen kann. Was die Symptome
der Kleinhirntumoren anbelangt, so sind die allgemeinen
Tumorsymptome, die Kennzeichen einer raumverengenden
Affektion im Schädel, von den speziellen Kleinhirn¬
symptomen zu trennen, denen sich dann die Nachbar¬
schaftssymptome zugesellen.
Am einfachsten gestaltet sich die Diagnose, weim zunächst
die für die Kleinhirnerkrankungen charakteristischen Anzeichen,
die zerebellare Ataxie, dann Schwindel und Nystag¬
mus das. Krankheitsbild einleiten und der alle größeren Tumoren
begleitende Kopfschmerz alsbald auf die richtige Fährte
führt. Findet man außerdem Stauungspapille, so kann
die Diagnose als gesichert gelten.
Es bleibt dann die Aufgabe, möglichst eine Seitenbe¬
stimmung vorzunehmen. Man sucht nach Parese, Ataxie,
Hyp otonie, Adiadochokinesis, Asynergiec6r6belleuse,
Symptome, die auf homolaterale Affektionen hinweisen.
Beim weiteren Wachstum des Tumors bilden sich nun die
Nachbarschaftssymptome aus, vor allem gekreuzte
32
Nie. Gierlich,
Hemiplegie, Lähmung des Blickes nach der kranken
Seite, Läsion des 5. bis 12. Hirnnerven. Die Hemi¬
plegie zeigt den gewöhnlichen Typus, geht mit spastischen
Symptomen, Mitbewegungen und Babinski einher. Auch Hypo-
glossus und Fazialis sind meist auf der gekreuzten Seite ge¬
troffen und wir finden die hierfür charakteristischen Merkmale:
Lähmung des Fazialis in seinen beiden unteren Ästen und
Abweichen der Zunge bei Hervorstrecken nach der gelähmten
Seite ohne Atrophie und Ea. R. Es können aber auch bei
Druck auf die kaudalen Partien der Medulla oblongata die
Kernlager dieser beiden Nerven direkt auf der Seite des
Tumors getroffen werden, und die Lähmung derselben zeigt
dann die bekannten Merkmale der Erkrankung des peripheren
motorischen Neurons: Der Nervus facialis ist in allen seinen
Ästen gelähmt mit Atrophie und Ea. R. Letztere beiden Merk¬
male lassen sich auch an der gelähmten Zungenhälfte nach*
weisen. Gleich diesen beiden können nun alle Hirnnerven
vom 5. bis 12. direkt durch Druck getroffen werden. Am
leichtesten tritt Ptosis auf, da der Ast für den M. levator palpebrae
auffallend leicht vulnerabel ist. Es folgen dann Lähmungen der
anderen Äste des Nervus oculomotorius, solche des Nervus
trochlearis und event. degenerative Lähmungen der Kaumuskeln
der einen Seite mit sensiblem Reiz oder Lähmungserscheinungen
im Gesicht. Oppenheim fand als erstes Anzeichen einer
Läsion des Trigeminus homolaterale Areflexie der Kornea,
welche als wertvolles Hilfsmittel zur Seitenbestim¬
mung des Tumors besondere Beachtung verdient. Einseitige
Gehörstörungen und, wenn auch selten, Geschmackstörungen
sind beobachtet, schließlich kann Druckempfindlichkeit
des homolateralen Warzenfortsatzes oder der be¬
treffenden Hinterkopfgegend die Diagnose der befallenen
Seite sichern.
Die oben beschriebenen einseitigen Lähmungserscheinungen
bestehen meist nur kurze Zeit, da die betreffenden Kernlager
und Wurzelfäden der beiderseitigen Nerven auf engem Raum
nahe zusammenliegen und daher bald beide unter dem
Druck zu leiden haben. In diesem Stadium findet sich
dann Dysarthrie, Dysphagie, Erbrechen und schließ-
Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 33
lieh Atem- und Herzstörung. Kommt der Fall erst
im vorgeschrittenen Stadium zur Beobachtung, so ist eine
exakte Diagnose über den Sitz des Tumors nur möglich,
wenn die anamnestischen Erhebungen über den zeit¬
lichen Eintritt der Symptome genaue Auskunft geben.
Es sind daher die Erkennung und Bewertung der initialen
Ersekeinung von so großer Wichtigkeit.
Zur Sicherung der Diagnose und speziell auch der Seiten-
diagnose hat man auch bei Verdacht auf Tumoren die 6e-
hirnpnnktion mit Nutzen herangezogen. Die mikroskopi¬
sche Untersuchung der im Nadelöhr zurückbleibenden Substanz
kann dann auch über die Natur des Tumors Aufschluß geben.
Auch die Lumbalpunktion ist als diagnostisches Hilfsmittel bei
Verdacht auf Kleinhimtumoren verwandt worden (Quinke).
Abfluß der Spinalflüssigkeit unter starkem Druck spricht gegen
Meningitis. Findet man im Punktat makroskopisch eine Trü¬
bung , mikroskopisch Zellenreichtum, speziell polynukleäre
Leukozyten oder gar Kokken, so weist das auf Meningitis hin.
Oppenheim fand auch noch ein Scheppern — bruit de
pot lölö — bei Perkussion des Schädels, besonders bei
Tumoren der hinteren Schädelgrube mit Hydrozephalus.
Doch auch bei eingehender Krankenbeobachtung und
kritischer Berücksichtigung aller dieser Gesichtspunkte ist die
Diagnose auf einen Kleinhimtumor nicht immer mit absoluter
Gewißheit zu stellen, Veröffentlichungen der letzten Zeit zeigen
dies zur Genüge. Es dürfte daher angebracht sein, die Affek¬
tionen kurz zu besprechen, welche zu differentialdiagnostischen
Irrtümern leicht Anlaß geben können.
Da ist
1. der Hydrozephalus zu nennen, und zwar
a) die Meningitis serosa, welche wohl als akute
Form des Hydrozephalus anzusprechen ist. Hier finden sich
alle Tumorsymptome, Kopfschmerz, Stauungspapille, Schwindel,
Erbrechen, oft auch zerebellare Ataxie und andere auf das
Kleinhirn hinweisende Merkmale. Es tritt uns also das Symp¬
tomen bild eines vorgeschrittenen Kleinhimtumors entgegen, meist
in ziemlich schneller Entwicklung. Seitensymptome sind ge¬
wöhnlich (nicht aufzufinden. Manchmal spricht das plötzliche
3
34
Nie. Gierlich,
Einsetzen, oft unter Fieber, gegen den Eleinhimtumor. In
den meisten Fällen jedoch ist bei diesem Symptomenkomplex
eine Meningitis serosa nicht ausznschließen.
b) Ebenso läßt der mehr chronisch verlaufende Hydro-
cephalus acquisitus eine Differentialdiagnose mit Elein-
hirntumor oft nicht zu. Die vorhin genannten Symptome sind
auch hier ausgeprägt, einseitige Störungen fehlen meist Das
ist auch begreiflich, wenn man bedenkt, daß die in den Ven¬
trikeln, speziell im 4. Ventrikel vermehrte Zerebrospinalflüssig¬
keit mehr oder weniger gleichmäßig auf beide Seiten des
Unterwurms und des Himstamms, sowie die Kleinhirnschenkel
drückt und daher beiderseitige Symptome veranlaßt. Wir
finden dann dieselben Symptome, wie sie vorgeschrittene
Tumoren des Kleinhirns zur Folge haben, die in ähnlicher
Weise raumverengend wirken. Schnelles Einsetzen der
Symptome, Neigung zu starken Schwankungen
sprechen mehr für den Hydrozephalus, sind aber sehr un¬
sichere Kriterien, so daß bei Verdacht auf Kleinhirntumor
Hydrocephalus acquisitus manchmal nicht ausgeschlossen werden
kann. Ob die von Nonne beschriebenen Fälle von Pseudo-
tumor, die nach Ausbildung aller Tumorsymptome spontan
in Heilung übergingen, auf Hydrozephalus zurückzuführen sind,
erscheint noch nicht sicher. Jedenfalls konnte bei der Sektion
kein hierfür sprechendes Anzeichen aufgefunden werden.
2. Ferner kann der neurasthenische Symptomen-
komplex zu diagnostischen Schwierigkeiten Anlaß geben.
Hier ist es namentlich der neben allgemein nervösen Klagen
auftretende Kopfschmerz, welcher irreführt. Der gewöhn¬
liche, neurasthenische Kopfschmerz ist freilich bei einiger Auf¬
merksamkeit von dem Tumorkopfschmerz wohl zu unterscheiden;
ersterer ist nicht heftig, sehr wechselnd an Stärke, wird mehr
als Druck empfunden, der sich über die ganze Hinterhaupt¬
gegend verteilt, wohingegen der Tumorkopfschmerz ungemein
stark und quälend ist, dabei anhaltend, oft zu Schmerzparoxysmen
sich steigernd und zeitweise mit Benommenheit verbunden ist.
Eine Augenspiegeluntersuchung kann in zweifelhaften Fällen
hier oft die Entscheidung bringen, da bei Tumorkopfschmerz
die Stauungspapille nicht zu fehlen pflegt.
Erkrankangea der hinteren Schädelgrube.
35
Schwieriger gestaltet sich die Differentialdiagnose, wenn
der nenrastheniscbe Symptomenkomplex auf dem Boden
einer Infektion sich ansgebildet hat, da in diesen Fällen
neben heftigem Kopfschmerz und Schwindelgefühlen
auch Neuritis optica zur Beobachtung kommt. Hier [ist
yor allem die Influenza zu nennen, auch die multiple
Neuritis, speziell die alkoholische, kann mit diesen Symp¬
tomen verlaufen, desgl. Enzejphalitis satnrnina; ferner
weist Oppenheim darauf hin’, daß auch auf Hg, As, Cu,
Morphium, Nikotinvergiftung geachtet ;|werden muß.
Schließlich ist bekannt, daß auch schwere Anämien Kopf¬
schmerz, Schwindel und Neuritis optica zur Folge haben können.
Im allgemeinen führen die Begleitsymptome bald auf die rich¬
tige Fährte. So finden wir bei der multiplen Neuritis und den
verschiedenen Intoxikationen gewöhnlich Muskelatrophien von
charakteristischer Ausbreitung und Beschaffenheit neben anderen
typischen Symptomen (Bleikolik, Tremor etc.). Bei Anämien
pflegt Eisen und Ruhe bald Besserung zu bewirken.
In allen diesen Fällen läßt die weitere Beobachtung die
Diagnose nicht mehr zweifelhaft, indem bei den Tumoren des
Kleinhirns die charakteristischen Anzeichen: zerebellare Ataxie,
DrehschWindel, Nystagmus, in den Vordergrund des Krank¬
heitsbildes treten, dann Hypotonie, Parese und einseitige Blick¬
lähmung, und bald auch die Nachbarschaftssymptome sich aus¬
bilden, wie wir sie oben geschildert haben.
8. Mitunter ist die multiple Ski er ose differentialdiagno¬
stisch von einem Tumor der hinteren Schädelgrube nicht leicht
zu scheiden. Einmal weisen beide eine Reihe gemeinsamer
Symptome auf, so Nystagmus, taumelnden Gang,
Schwindel, Sprachstörung ähnlicher Art, und es kommt
bei Tumoren des Kleinhirns durch Druck auf die Pyramiden¬
bahn mitunter zu Reiz ersehe in ungen, die dem Intentions¬
tremor der multiplen Sklerose sehr ähnlich sehen. Meist
entscheidet die Untersuchung des Augenhintergrundes die
Diagnose, da bei der multiplen Sklerose gewöhnlich eine bi-
temporale Abblassung der Papille, nicht wie be|^ Tumor eine
Stauungspapille, vorliegt Gelegentlich aber kommt auch bei
36
Nie. Qierlicb,
maltipler Sklerose einmal eine Neuritis optica vor. Es sind
dann namentlich im Kindesalter Verwechslungen vorgekommen.
4. Es kann die tuberkulöse, selten die eitrige Menin¬
gitis, wenn sie sich an der Basis entwickelt, manchmal zu
differentialdiagnostischen Schwierigkeiten führen, zumal wenn
das Fieber zurücktritt und sie mehr eine umschriebene Aus¬
breitung hat. Wir finden dann Kopfschm erz, Erbrechen,
Benommenheit und auch Neuritis optica. Das schnelle
Einsetzen, der rasche Verlauf geben dann oft die Entscheidung
für Meningitis. Auch die Lumbalpunktion ist wertvoll, da in
dem durch Rundzellen getrübten Punktat sich Kokken event.
auch Tuberkelbazillen nachweisen lassen. Immerhin kann nur
der positive Befund die Diagnose entscheiden, da bei eitriger
Meningitis die Flüssigkeit manchmal ungetrübt ist und bei
tuberkulöser Meningitis von Tuberkeln frei. Meist kann jedoch
bei genauer Anamnese die Tumordiagnose mit großer Wahr¬
scheinlichkeit gestellt werden, doch ist eine eng umschriebene,
tuberkulöse Meningitis der hinteren Schädelgrube von einem
hier gelegenen Solitärtuberkel manchmal nicht zu unterscheiden.
5. Blutungen, Erweichungen im Kleinhirn, ebenso
die zerebellare Form der Kinderlähmung, die Fried-
reichsche Ataxie sowie auch die H6r6doataxie c6r6-
belleuse (Marie) sind von Kleinhimtumoren neben dem Ein¬
setzen und Verlauf der Erkrankung durch das Fehlen der
allgemeinen Tumorsymptome, speziell der Stauungspapille,
nicht unschwer zu trennen. Bei Enzephalitis kann freilich
auch eine Neuritis optica zur Ausbildung kommen.
6. Aneurysmen der Basalgefäße können schließlich
Symptome im Gefolge haben, welche eine Differentialdiagnose
mit Tumor recht schwierig gestalten. Hier entwickeln sich
die Symptome meist gleich bilateral, und es kommt bald zu
allgemeinen Drucksymptomen. Als Hauptkennzeichen des
Aneurysmas gilt ein deutliches, dem Herzpuls synchrones Ge¬
räusch im Schädel. Seine häufigste Ursache sind Trauma,
Syphilis, Potus; es ist daher bei Männern viel häufiger als bei
Frauen.
Über die. Art des vorliegenden Tumors — Gliom,
Sarkom, Tuberkel, Fibrom, Endotheliom — sind im allgemeinen
Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe.
37
nur Vermntangen möglich, falls es sich nicht nm metastatische
Tumoren handelt oder etwa ein Durchbruch nach außen er¬
folgt ist.
Für einen chirurgischen Eingriff geeignet sind ferner die
Neurofibreme des Eleinhirnbrttckenwinkels.
Hier ist die sichere Unterscheidung eines extrazerebellaren
Tumors von einem solchen des Himstammes von ganz be¬
sonderer Wichtigkeit, da letztere, wie schon erwähnt, von
einem chirurgischen Eingriff vollständig auszuschließen sind.
Die im Kleinhimbrückenwinkel sich entwickelnden Geschwülste
beginnen mit einseitigen Reiz- resp. Lähmungssymp¬
tomen in einem bestimmten Nerven, von dessen binde¬
gewebiger Umhüllung die Geschwulst ihren Ausgang nimmt.
Es kann dies der 5. bis 12. Hirnnerv sein. So kommen
einseitig Ohrensausen, nervöse Schwerhörigkeit,
die schließlich zu Taubheit führt, Schwindel, Vestibularis-
anfälle, zu anderenmalen Trigeminusneuralgien, die
allen Heilversuchen trotzen, oder auch Geschmacksstö¬
rungen sowie Symptome der Erkrankung des 10., 11.,
seltener auch des 12. Himnerv zur Beobachtung, die das
Krankheitsbild eröffnen und lange Zeit vereinzelt bleiben, ohne
daß jetzt schon eine richtige Diagnose zu stellen wäre. Die
oben beschriebene Eigenart des anatomischen Verhaltens der
Neurofibrome — allmähliche Zerstörung des befallenen Nerven
durch Druck unter Beiseiteschiebung und langer Schonung der
zunächst gelegenen Nerven — läßt das lange Beschränkt¬
bleiben der klinischen Symptome auf einen Nerven
«rklärlich erscheinen. Erst allmählich leiden auch andere
Nerven unter dem vom Tumor ausgehenden Druck. Hier
findet man häufig die Areflexie der Kornea als erstes Symptom
einer Läsion des N. trigeminus. Den Störungen im Gebiete
der benachbarten Nerven (Fazialis, Vagus etc.) gesellen sich
nun bald die charakteristischen Erscheinungen des Drucks auf
das Kleinhirn und den Hirnstamm zu: Zerebellare Ataxie,
Nystagmus, Schwindel, Dysarthrie, Dysphagie, Er¬
brechen, oft auch Bl icklähmung; bald nach diesen direkten
Drucksymptomen folgen dann auch die allgemeinen für den
38
Nie. Qierlicb,
Tumor typischen Symptome, namentlich Kopfschmerz und
Stauungspapille. Sie können sich aber auch spät ent¬
wickeln, so daß die neuritischen Beschwerden mit einzelnen
Drucksymptomen lange Zeit im Vordergrund stehen.
Bei typischem Verlauf bietet die Diagnose des Kleinhirn-
brückenwinkeltumors, falls nur an die Möglichkeit seiner Ent¬
wicklung gedacht wird, keine große Schwierigkeit. Anderer¬
seits können aber bald nach den ersten klinischen Erschei¬
nungen infolge Druck auf Kleinhirn und Himstamm die
Nachbarschaftssymptome sowie auch die allgemeinen Him-
drucksymptome zur Ausbildung kommen. Gelangt der Kranke
in diesem Stadium zur ärztlichen Beobachtung, ohne daß dem
ersten Eintritt und der Entwicklung des Krankheitsbildes be¬
sondere Aufmerksamkeit geschenkt worden war, so kann es
unmöglich sein, zu einer klaren Diagnose zu gelangen, ob ein
Tumor des Hirnstammes oder des Kleinhirnbrücken¬
winkels vorliegt. Differentialdiagnostisch dienen fol¬
gende Gesichtspunkte:
1. Bei Tumoren des Kleinhirnbrückenwinkels
fehlt die Blicklähmung häufig (Uthoff), was freilich
Oppenheim nach seinen Beobachtungen nicht fand. Jeden¬
falls ist nach Bruns eine reine Blicklähmung, nach einer
oder beiden Seiten, als erstes Lokalsymptom beweisend für
den intrapontinen Sitz des Tumors.
2. Bei intrapontinem Tumor treten oft die Hirn¬
druckerscheinungen, namentlich Stauungspapille,
erst spät auf, oder sie fehlen. Das stimmt auch nicht für
alle Fälle. Ich konnte jüngst einen Tuberkel des Hirnstamms
beobachten und sezieren, bei dem neben Drucksymptomen auf
die Pyramidenbahn die Stauungspapille, Kopfschmerz und Ohn¬
mächten die ersten kliuischen Erscheinungen darboten.
3. Wird die Einseitigkeit der befallenen Hirn¬
nerven mehr für extrazerebellaren Sitz sprechen, da
im Himstamm die Zentren sehr nahe zusammenliegen. Das
Symptom ist gewiß wertvoll, aber bei größeren Neurofibromen
werden auch die Nerven der andern Seite oft vom Druck ge¬
troffen.
Es begegnet somit die Differentialdiagnose in vorgeschrit-
Erkrankungen der hinteren Scbädelgmbe.
39
tenen Stadien bei Gescbwiilsten im Kleinbimbrückenwinkel
manchmal unüberwindbaren Schwierigkeiten, falls es unmög¬
lich ist, aus genauer Beobachtung der ersten klini¬
schen Erscheinung auf den Sitz des Tumors seine diagno¬
stischen Schlüsse zu ziehen. In seltenen Fällen sichert eine
allgemeine Neurofibromatose die Art der Erkrankung in der
hinteren Schädelgrube.
Noch eine differentialdiagnostische Besprechung muß Er¬
wähnung finden, und zwar zwischen Geschwülsten des Klein¬
hirnbrückenwinkels und Tumoren der vorderen Schädel¬
grube.
Es ist einigemale und jüngst auch mir vorgekommen, daß
bei Kleinhirnbrückenwinkeltumoren Druckerscheinungen
in der vorderen Schädelgrube so sehr hervortraten, daß
ein Tumor dieser Gegend resp. ein multiples Auftreten von
Tumoren angenommen wurde und ich daher von einem opera¬
tiven Eingriff bei dem sicher vorhandenen Neurofibrom im
Klein hirnbrücken Winkel abriet. Es stellten sich in diesen
Fällen frühzeitig Geruchsstörungen und Optikus¬
atrophie ohne vorausgegangene Stauungspapille ein, ein
sicheres Anzeichen des direkten Druckes auf den Nervus
opticus in der vorderen Schädelgrube. Dieser Druck ging
aber nicht, wie angenommen, von einem Tumor in der vorderen
Schädelgrube aus, sondern war die Folge eines überaus
hochgradigen Hydrozephalus, [der das Infundibulum er¬
weitert und stark vorgewölbt hatte und so Druckatrophie des
Nervus opticus bewirkte. Der Tractus olfatorius war papier¬
dünn beiderseits. Solch ein starker Hydrozephalus kommt
zustande, wenn der Tumor der hinteren Schädelgrube früh¬
zeitig und ziemlich plötzlich das Foramen Magendi verlegt
und so den Abfluß des Liquor hindert. Die Störungen in der
vorderen Scbädelgrube können dann auch homolateral mehr
hervortreten, meist sind sie aber doppelseitig. Wenn man den
Zusammenhang kennt, wird die diagnostische Bewertung dieser
Symptome von Druck in der vorderen Schädelgrube keine be¬
sonderen Schwierigkeiten machen.
Schließlich sind bisher bereits fünf Fälle bekannt, in
denen die
40
Nie. Gierlich,
Meningitis chronica circumscripta des Gehirns in der
hinteren Schttdelgruhe
zur zystenartigen Erweiterung der weichen Hirnhäute führte,
die für eine operative Beseitigung die beste Prognose bieten.
Das ursächliche Moment ist meist ein Trauma. Pathologisch¬
anatomisch handelt es sich um zirkumskripte Hy dropsien
im Arachnoidealranm infolge von Adhäsionen, die
den Abfluß hindern. Sie bilden sich gern an den schon nor¬
malen Aussackungen der weichen Hirnhäute, speziell der
Cistema nervi acnsticofacialis, in der bei normalem Verhalten
meist schon einige Teelöffel Liquor angehänft sind, und der
Cistema cerebello-medullaris, die unter dem Kleinhirn gelegen
ist. Symptomatologisch sind sie vom Tumor kaum zu unter¬
scheiden. Manchmal legt ein auffallender Wechsel von Ex¬
azerbationen der Symptome mit Remissionen die Vermutung
einer Meningitis cystica nahe. Auch der vorübergehende Er¬
folg einer Hg- oder Jodtherapie spricht sehr für eine Zyste
der weichen Häute.
Zur
Freilegung der hinteren Schädelgrnbe
bedient man sich heute meist des von F. Krause angegebenen
Verfahrens, welches die betreffenden Gebilde unterhalb des
Tentoriums zur Anschauung bringt. Ist eine Seitendiagnose
möglich gewesen, so führt man einen Hautschnitt, der vom
hinteren, unteren Ende des Warzenfortsatzes im Bogen bis
etwa 2 cm oberhalb der Protuberantia occip. ext. und dann
wieder nach unten geht. Periost und Knochen werden in
gleicher Ausdehnung durchtrennt und der ganze Lappen so
nach unten geschlagen, daß noch eine Knochenspange ober¬
halb des Foramen occip. stehen bleibt. War eine Seitendia¬
gnose nicht zu stellen, so wird auf beiden Seiten in gleicher
Weise vorgegangen. Dann schneidet man die Dura in der
Größe des Knochenlappens ein und kann das Kleinhirn und
seine Umgebung gut überschauen. Wegen der starken Blu¬
tung aus Galea und Diploe wird auf Horseleys Vorschlag
meist zweiseitig operiert, indem man die Eröffnung der Dura
nach 4 bis 5 Tagen der Bildung des Hautknochenlappens
folgen läßt.
Erkrankangen der hinteren Schädelgrnbe.
41
Was die Prognose der Trepanati onen der hinteren
Schädelgrnbe anbelangt, so ist ein annähernd sicherer Über¬
blick kaum zu gewinnen, da viele Mißerfolge zweifelsohne
nicht publiziert sind. Körner gibt an der Hand einer größeren
Statistik an, daß von 55 Kleinhirnabszeßoperationen 52,8% in
Heilung ausgingen. Der Prozentsatz der Heilungen mag nach
anderer Erfahrung etwas hoch gegriffen sein. Betreffs der
Prognose der Tumoroperationen im Gehirn hat der anfänglich
etwas überschwängliche Enthusiasmus heute bei einigen Autoren
einem zu großen Pessimismus Platz gemacht. So glaubt
Knapp von der Operation gänzlich abraten zu müssen. Ge¬
wiß mit Unrecht, aus mannigfachen Erwägungen. Handelt es
sich doch nicht nur um Heilung, sondern auch um
Besserung eines unerträglichen Zustandes. Der Pro¬
zentsatz der Heilungen wird allgemein heute noch als sehr
gering angegeben. So verzeichnet eine Statistik Oppenheims
aus den Jahren 1903 bis 1907 von 27 Tumoroperationeh im
Gehirn 3 Heilungen, unter ihnen 12 Tumoroperationen in der
hinteren Schädelgrube mit einer Heilung. Dahingegen ist der
Prozentsatz der länger andauernden Besserungen (Oppen¬
heim 22,2%) ein weit höherer, und es ist schließlich die Tat¬
sache nicht hoch genug zu bewerten, daß infolge der Operation,
selbst wenn der Tumor nicht entfernt werden kann, die
# ^ ^ '
quälenden Allgemeinsymptome gemildert werden. So läßt
durch Beseitigung des Bürndruckes der unerträgliche Kopf¬
schmerz nach und infolge des Rückgangs der Stauungspapille
schwindet die Gefahr der Erblindung. Daß die umschriebenen
Zysten der weichen Gehirnhäute eine gute Prognose bieten,
bedarf kaum der näheren Begründung.
Eine besondere Gefahr besteht bei Trepanation der
hinteren Schädelgrube darin, daß infolge Blutung und Er¬
schütterung Shok eintritt, der zum Exitus führt. Die Blutung
der Galea wird durch Umstechungen nach Heidenhain wesent¬
lich vermindert. Zur Einschränkung der Diploeblutung sowie
auch der Erschütterungen vermeidet man möglichst Meißel und
Hammer und bedient sich nach Anlegung der Bohrlöcher der
Dahlgreenschen Zange, die den Knochen durchquetscht, oder
der Drahtsäge. In die sichtbaren Lumina der Diploegefäße
42
Nie. Gierlich,
werden kleine Elfenbeinstifte eingefübrt. Meist geht man, wie
oben schon erwähnt, zweiseitig Tor, um dem Patienten Zeit
znr Erholung zu gewähren.
Am besten wird der immerhin lebensgefährliche Eingriff
dann überstanden werden, wenn eine exakte klinische
Beobachtung eine frühzeitige Sicherung der Dia¬
gnose ermöglicht und der Patient dem Chirurgen zugeführt
werden kann, bevor der Kräfteverfall weit vorge¬
schritten ist. Dann dürfte der Prozentsatz der Heilungen
und Besserungen wesentlich gehoben werden, wenn auch leider
oft infolge Natur, Ausdehnung oder Lage der Geschwulst eine
totale Entfernung nicht angängig ist.
Neuere Literatur.
Die ältere Literatur findet sich in den unten zitierten Monographien von
Bruns und Oppenheim.
Luci ani, Das Kleinhirn in „Ergebnisse der Physiologie“. III. Jahr¬
gang 1904.
Levandowsky, Ueber die Verrichtungen des Kleinhirns. Arch.
f. Anatomie und Physiol. 1903, S. 129 £F.
Munk, Ueber die Funktionen des Kleinhirns. Sitzungsbericht
der kgl. preuß. Akademie d. Wiss. 1906.
Ders., Ueber die Funktionen des Kleinhirns. Dritte Mitteilung,
Sitzungsbericht der kgl. preuß. Akad. d. Wiss. 1908, p. 294.
Probst, Zur Anatomie und Physiologie des Kleinhirns. Arch.
f, Physiologie 1902, Bd. 35 H. 2.
Kohnstamm, Zur anatomischen Grundlegung der Kleinhim-
physiologie. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 89,
p. 240 ff.
Horsley, Viktor, The cerebellum, its relation to spatical Orien¬
tation and to locomotion. London 1905, John Ball Sons and
Danielsson.
Ders. und Clarke, The structure and functions of the cerebellum
examined by a new method. Brain, Part. XXI Vol. 31,
p. 45.
Laurie, Ueber die Augenbewegung bei Kleinhirnreizung. Neu-
rol. Zentralblatt 1908, Nr. 3, p. 102.
Beitzke und Bickel, Zur pathologischen Physiologie des Klein¬
hirns etc. Charite-Annalen Bd. 29, 1905.
Bolk, Das Kleinhirn der Neuwelt-Affen. Morpholog. Jahrbuch
1902, Bd. 21 H. 1.
Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe.
4a
Vinceozoui, Recherches experinaentales sur les localisations
fonctionelles dans le cervelet de la brebis. Arch. ital. de
Biol. T. XnX, p. 383.
Pagano, Studi soUa fanzioni del ceryilette. Riv. di pat. nerv,
et mentale 1908, Vol. VII fase. 4.
Muskens, Ueber Läsionen des Eleinbims und deren Folgen.
Nenrol. Zentralbl. 1902, p. 273.
Andre-Thomas et Jumentiä, AfPect. du cervelet. Rev.
neuroL 1909, Nr. 21.
Steward and Holmes, Symptomatology of cerebellar tumours
a study of fourty cases. Brain 1904, Bd. 27.
Babinski, De l’Asynergie ceröbelleuse. .Revue neurol. 1899.
Mann, Ueber zerebellare Hemiplegie und Hemiatonie. Monats¬
schrift f. Psyoh. und Neur. Bd. 12, 1902.
Mills, The diagnosis of tumours of the cerebellum and the cere-
bellopontile Angle. New York. Med. Joum. Febr. 1905.
Bing, Die Bedeutung der spino-zerebellaren Systeme, kritischer
und experimenteller Beitrag zur Analyse des cerebellaren
Symptomenkomplexes. Wiesbaden, Bergmann 1907.
Hart mann. Die Klinik der sogen. Tumoren des Akustikus.
Zeitschr. f. Heilkunde, Wien-Leipzig 1902.
V. Monakow, Ueber die Neurofibrome der hinteren Schädel¬
grube. Berl. klin. Wochenschr. 1900.
Henneberg und Koch, Ueber zentrale Neuro-Fibromatose und
die Gesohwtilste des Kleinhimbrückenwinkels. Arch. d.
Psych. Bd. 36 H. 1.
Ziehen, Ueber Tumoren der Aikustikusregion. Mediz. Klinik
1905, Nr. 34—35.
Gierlich, Zur Symptomatologie der Tumoren des Kleinhirns und
des ^einhimbrückenwinkels. Deutsche med. Wochenschr.
1908, Nr. 42.
Becker, Operation einer Geschwulst im KleinhimbrückenwinkeL
Deutsch. Arch. f. klin. Medizin. (Siehe hier die ältere
Literatur.)
Seiffert, Ueber die Geschwülste des Kleinhirns und der hin¬
teren Schädelgrube. Beiheft zur Med. Klinik 1907, H. 1.
Bruns, Klinische Erfahrungen über die Funktionen des Kleinhirns.
Wien. klin. Rundschau 1896, Nr. 49—52.
Ders., Der heutige Stand unserer Kenntnisse der anatomischen
Beziehungen des Kleinhirns etc. Berl. klin. Wochenschr.
1900, Nr. 25 und 26.
Ders., Die Geschwülste des Nervensystems. Berlin, Karger,
H. Aufl. 1908.
Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns. Nothnagels spez.
Pathologie und Therapie IX. Bd., III. Abt.
44
Nie. Gierlich, Erkrankangen der hinteren Schädelgrabe.
Ders., Beitrag zur Diagnostik und Therapie der Geschwülste im
Bereiche des zentralen Nervensystems. Berlin, Karger 1907.
Ders., Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin, Karger,
V. Aufl. 1908.
Bechterew, Die Funktionen der Nervenzentra. 2. Heft, Fischer,
Jena 1909.
Oppenheim und Cassirer, Der Hirnabszeß. Wien u. Leipzig,
Holder, II. Aufl. 1908.
Lewandowsky, Die Diagnose des Hirnabszesses. Med. Klinik
1908, Nr. 27.
Koerner, Die otitischen Erkrankungen des Hirns. HI. Aufl.,
Wiesbaden 1902 und Nachträge 1908.
Placzek und Krause, Zur Kenntnis der umschriebenen Arach-
nitis adhaesiva cerebralis. Berl. klin. Wochenschr. 1907,
Nr. 29, p. 911.
Oppenheim und Borchardt, Zur Meningitis chronica serosa
circumscripta (cystica) des Gehirns. Deutsche med. Wochen¬
schrift 1910, Nr. 2, p. Ö7.
Krause, F., Zur Freilegung der hinteren Felsenbeinfläche und
des Kleinhirns. Beitr. zur klin. Chirurgie Bd. 38, H. 3.
Ders., Deutsche Klinik am Eingang des XX. Jahrhunderts.
Bd. 8.
Borchardt, Operationen in der hinteren Schädelgrube. Archiv
f. klin. Chirurgie Bd. 81, H, p. 87.
Hildebrand, Kleinhirnchirurgie. Deutsche med. Wochenschrift
1909, Nr. 46.
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zur Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche und zur Pfleg¬
schaft, nebst kritischen Bemerkungen. Einzelpreis M. 1,—.
„ 2/8. Oorres, Dr. Karl Heli^eh, Rechtsanwalt in Karlsruhe i. B. Der Wahrspruch der
Geschworenen und seine psychologischen Grundlagen. Einzelpreis M. 2,—.
„ 4. Endemann. Prof. Dr. jur. Frledr., in Halle a. S. Die Entmündigung wegen Trunk¬
sucht und das Zwangsheilungsverfahren wegen Trunkfälligkeit. Bisherige Er¬
fahrungen. Gesetzgeberische Vorschläge. ^ Einzelpreis M. 1,50.
,, 6/7. Schaefer, Sanitätsrat Dr. Fr., in Lengerich i. W. Die Aufgaben der Gesetzgebung
hinsichtlich der Trunksüchtigen nebst einer Zusammenstellung bestehender und
vorgeschlagener Gesetze des Auslandes und Inlandes. Einzelpreis M. 8,—.
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abnormer Personen, Mit einigen Bemerkungen dazu von Prof. Dr. A. Finge rin
Halle a. S. — Frankenburger, Justizrat Dr., in München. Aus der Praxis des
Lebens. Einzelpreis M. 0,80.
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Heft 1/2. Tortrftge, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1908.
Heidlen, Oberlandesgerichtsrat Dr, Stuttgart: Vormundschaft oder Pflegschaft.
— Dr. Kreuser, Medizinalrat, Winnenthal: Über Paranoia. — Dr. Wollenberg,
Prof., Tübingen: Über das Querulieren Geisteskranker. — vonSchwab, Ministe¬
rialrat Dr., Stuttgart: Unterbringung geisteskranker Strafgefangener in Württem¬
berg. — Dr. Rob. Gaupp, Privatdozent, Heidelberg: Über moralisches Irresein
und jugendliches Verbrechertum. —■ Dr. A. Fauser, Sanitätsrat, Stuttgart: Über
die Bedeutung der neueren Entwicklung der Psychiatrie für die gerichtliche
Medizin. — Dr. Wildermuth, Sanitätsrat, Stuttgart: Über die Zurechnungs¬
fähigkeit der Hysterischen — Dr. Daiber, Winnenthal: Statistische Erhebungen
über die forensischen Beziehungen der württembergischen Irrenanstaltspfleglinge.
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,, 8/5. Stier, Dr. Ewald, in Berlin. Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Eine psy¬
chologische, psychiatrische und militärrechtliche Studie. Einzelpreis M. 3,—.
„ 6. Mlttermaler, Prof., in Giessen. Die Reform des Verfahrens im Strafprozess. —
Sommer, Prof., in Giessen. Die Forschungen zur Psychologie der Aussage. Vor¬
träge, gehalten zur Eröffnungsversammlung der Vereinigung für gerichtliche Psy¬
chologie und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen am 6. November 1904 zu
Giessen. Einzelpreis M. 1,20.
7/8. Oamerer^ Dr. med., in Winnenthal, und Landauer, Oberlandesgerichtsrat in Stutt¬
gart. Die Geistesschwäche als Entmündigungsgrund. Einzelpreis M. 1,20.
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Heft 1/8. Lohsing, Dr. jur. Emsty Das Geständnis in Strafsachen. Einzelpreis M. 2,50.
„ 4. Cramer, Prof. Dr. A., in Göttingen. Ueber Gemeingefährlichkeit vom ärztlichen
Standpunkte aus. Einzelpreis M. 0,50.
„ 5. Slefert, Dr. Emstj in Halle a. S. Ueber die unverbesserlichen Gewohnheitsver¬
brecher und die Mittel der Fürsorge zu ihrer Bekämpfung. Einzelpreis M. 0,80.
„ 6/7. Torträge, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1906.
Kreuser, Medizinalrat Dr., Winnenthal, Schanz, Oberlandesgerichtsrat Dr.,
Stuttgart: Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetzgebung und Strafprozefl.
— Schott, Oberarzt Dr. A., Weinsberg, Gmelin, Landesgerichtsrat Dr., Stutt¬
gart: Zur Psychologie der Aussage. — Krauss, Dr. Reinhold, Kennenburg,
Teichmann, Justizministerialsekretär, Landrichter R., Stuttgart: Die Berechtigung
der Vernichtung des kindlichen Lebens mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der
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gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen.
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Beaufsichtigung der Geisteskranken ausserhalb der Anstalten. — Kfirz, Med.-Rat
Dr., in Heidelberg. Der Fall H. als res iudicata. Einzelpreis M. 1,20»
„ 2. Jung, Dr. C. O., Privatdozent, in Zürich. Die psychologische Diagnose des Tat¬
bestandes. — nberg, Oberarzt Dr., Bericht über die ersten 100 Sitzungen der
forensisch-psychiatrischen Vereinigung in Dresden.^ ^ Einzelpreis M. 1,20.
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lismus und § 51 St. G. B. — Wnlffen, Staatsanwalt Dr., Gerhart Hauptmann's
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„ 4/6. Sehaefer, Dr., Oberarzt a. D. der Anstalt Friedrichsberg in Hamburg. Der mora¬
lische Schwachsinn. Einzelpreis M. 8,—.
,, 7/8. Vortrage, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart
1906. Dr. Kreuser, Medizinalrat, Winnenthal u. Dr. Schmoller, Landgerichts¬
rat, Tübingen: Testamentserrichtung und Testierfähigkeit. — Dr. Hegler, Amts¬
richter u. Professor, Tübingen und Dr. Fin ckh, Privatdozent, Tübingen: Latente
Geistesstörung bei Prozessbeteiligten — von Schwab, Ministerialdirektor, Stutt¬
gart: Die verminderte Zurechnungsfähigkeit im früheren württembergischen Straf¬
recht. Einzelpreis M. 2,40.
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,, 2/3. Bresler, Oberarzt Dr. Job., in Lüben. Greisenalter und Criminalität.
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„ 4/5. Hoppe, Dr. Hugo, Nervenarzt in Königsberg i, Pr. Der Alkohol im gegenwärtigen
und zukünftigen Strafrecht. Einzelpreis M. 2,—•
„ 6. Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtnm
Hessen. Bericht über die vierte Hauptversammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach.
Dr. Mittermaier, Professor, Giessen, Clement, Strafanstaltsdirektor, Butz¬
bach: Erörterung über die Einrichtung von Gefängnislehrkursen. — Dr. Mitter¬
maier, Professor. Giessen, Theobald, Oberstaatsanwalt, Bücking, Landgerichts¬
direktor, Sommer, Prof. Dr. med. et phil., Giessen. Die Tätigkeit des medi¬
zinischen, im besondem des psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht.
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„ 7. Gross, Dr. jur. Aljh*ed, Prag. Kriminalpsychologische Tatbestandsforschung.
Einzelpreis M. 1,60.
„ 8. Bresler, Oberarzt Dr. Joh«) Lüben. Die pathologische Anschuldigung,
Einzelpreis M. 1,—.
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Heft 1. Weinberg , Dr. jur. Sle^led. Ueber den Einüufi der Geschlechtsfunktionen auf
die weibliche Kriminalität. Einzelpreis M. 1,—.
„ 2/3. Vereinigung für gerichtliche Psychologie nnd Psychiatrie Im Grossherzo^m
Hessen. Viertes Heft. Der Alkoholismus. Seine strafrechtlichen und sozialen
Beziehungen. Seine Bekämpfung. Herausgegeben im Aufträge des Vorstandes
von Prof. Dr. A. Dannemann. Einzelpreis M. 2,—.
,, 4. Longard, Dr. Joh«, Gerichtsarzt a. D. Ueber strafrechtliche Reformbestrebungen
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„ 5/6. Berze, Dr. Josef, Primararzt in Wien, Ueber das Verhältnis des geistigen Inven¬
tars zur Zurechnungs- und Geschäftsfähigkeit, Einzelpreis M. 2,80.
,, 7. Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtum
Hessen. Fünftes Heft. Die Fürsorge für gefährliche Geisteskranke. Hcraus-
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„ 8. Frese, Oberjustizrat Dr., in Meißen. Der Querulant und seine Entmündigung.
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Wien, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Unverricht in Magdeburg, Prof. Dr.
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Band IX, Heft 3
Aus der Königl. Universitäts-, Psychiatrischen- und Nerven-
Klinik zu Halle a. S. (Direktor Prof. Dr. G. Anton.)
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper
unter besonderer
Berücksichtigung der Ermüdungserscheinungen.
Von
W. Bethge, Halle a. S.
Die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist ist
schon vor langer Zeit und von den verschiedensten Philosophen
und Psychologen in Angriff genommen. Wie wechselnd und
mannigfaltig der Standpunkt und die Betrachtungsweise ge¬
wesen ist und auch späterhin sein wird, so sollen sich die
folgenden Erörterungen nur mit einem bestimmten Gebiete
dieses interessanten Kapitels beschäftigen, nämlich mit dem
Einfluß der geistigen Arbeit auf die körperlichen Funktionen.
Doch zuvor möchte ich vorausschicken, daß ich auf die
üntersuchungsmethoden nicht näher eingehen kann. Nur wenn
es zum Verständnis der Resultate nötig sein sollte, werde ich
sie natürlich angeben. Ln übrigen muß ich mich darauf be¬
schränken, die Ergebnisse der Untersuchungen, so wie sie mir
vorliegen, nebeneinander zu stellen, zu vergleichen und daraus
Schlüsse zu ziehen, ohne indessen ihre Genauigkeit und ihren
Wert feststellen zu können. Denn dies kann man nur, wenn
man selbst Versuche anstellt, was mir leider aus Mangel an
Zeit unmöglich war.
Wir wissen, daß verschiedene geistige Zustände beim
Menschen schon äußerlich sich deutlich markieren. Wir
sprechen von einer Mimik des Denkens, wobei die Art des
Gedankens sich im Gesichtsausdruck und in der Haltung des
1 *
4
W. Betbge,
Körpers in bestimmter Weise wiederspiegelt. Die Aufmerk¬
samkeit ist mit einer Anspannung der Muskeln und straffen
Körperhaltung verbunden. Der Wille gibt sich in der Schnellig¬
keit der Handlung kund. Die Grefühle drücken sich meistens
noch am deutlichsten durch gewisse körperliche Zustände aus.
Ich brauche nur an die wutschnaubenden Züge des Zornigen,
den eingezogenen Kopf und den geduckten Körper des Furcht¬
samen, die glänzenden Augen und die expansive Ausgelassen¬
heit des Fröhlichen, den hängenden Kopf und die herabge¬
zogenen Mundwinkel des Traurigen zu erinnern. Zum großen
Teil haben wir diese Erscheinungen nach Darwinauf
zweckmäßige Handlungen der Tiere zurückzuführen, von denen
wir sie als phyletisches Erbteil überkommen haben. Anderer¬
seits müssen wir sie als zweckdienliche Einrichtungen der Natur
betrachten, wie wir dies im folgenden an der Änderung der
ßlutzirkulation, der Atmung usw. noch deutlicher sehen werden.
Daß geistige Anstrengung Veränderungen in dem Zirkula¬
tionsapparat des Blutes hervorruft, ist schon ziemlich lange
bekannt. ^Thanhoffer*) hatte nachgewiesen, daß die Gehirn¬
tätigkeit Einfluß auf den Puls hat und daß dieser durch die
Atmung wiederum modifiziert wird. Der italienische Gelehrte
Mosso*) konnte diese Angaben präzisieren, da es ihm ver¬
gönnt war, die Änderungen im Gehirnvolumen und seinen Blut¬
gefäßen direkt bei Personen mit Schädeldefekten zu beobachten
und zu messen. Er zeigte, daß tiefe Inspiration eine Depression
der Volumkurve des Pulses erzeugt, der eine starke Abnahme
des Gehirnvolumens folgt. Nach einer forcierten Exspiration
trat infolge der venösen Stauung eine Zunahme des Gehim-
volumens ein, und der Puls wies trikuspidale Form auf. Beim
Sprechen nahm ebenfalls das Gehirnvolumen zu, die plethys¬
mographische Kurve zeigte größere respiratorische Schwan¬
kungen und die Höhe der Pulsationen wurde geringer. Infolge
einer angenehmen Erregung entstand ein reichlicherer Blutzu¬
fluß als bei der einfachen physischen Tätigkeit des Sprechens.
Schließlich wies Mosso^) noch nach, daß die Änderungen des
Blutkreislaufs im Gehirn einerseits, in den Händen und Füßen
andererseits unabhängig voneinander sind. Während er selbst
früher einen gewissen Antagonismus zwischen den Gefäßoerven
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
5
des Kopfes und des übrigen Körpers angenommen hatte, mußte
er jetzt schließen, daß die Blutgefäße des Gehirns wie die der
Extremitäten ihre eigenen Bewegungen haben, die nach irgend¬
einem anderen Gesetze geregelt werden.
In Deutschland suchte darauf Leumann^) durch einen
Aufsatz „Die Seelentätigkeit in ihrem Verhältnis zum Blut¬
umlauf und Atmung** zu eingehenderer Behandlung dieses
Themas anzuregen. Er behauptete, daß der Mensch in Puls
und Atem angeborene innere Zeitmesser besitze, deren Wirk¬
samkeit sich durch die im Gehirn erfolgende Aufnahme, Wieder¬
gabe und Erzeugung von Intervallen verraten müsse. Außer¬
dem sei die Pulshöhe von maßgebendem Einfluß auf Rezep-
tivität und Produktivität: zu besonnenen Ergründungen und
zum bloßen künstlerischen Empfinden sei ein weit niedrigerer
Puls erforderlich als zur zusammenfassenden Darstellung und
zur schöpferischen Gestaltung. Leider stehen diese Thesen
ohne jede Versuche da und haben sich auch bisher noch nicht
bestätigen lassen.
Weit intensiver wurde die Frage in Frankreich in Angriff ge¬
nommen. Hier war es hauptsächlich Bin et, der mit verschiedenen
Mitarbeitern umfassende Untersuchungen über dieses Thema an¬
stellte. Zunächst stellten Bin et und Sollier^) fest, daß die
Haltung des Kopfes einen gewissen Einfluß auf die Aufzeich¬
nung der Kurve ausübt, wie auch schon Mosso*) gefunden
hatte: wenn der Kopf nämlich etwas geneigt ist, so steigt die
Pulsationslinie, die Amplituden der Pulse werden größer und
die respiratorischen Oszillationen deutlicher. Wenn man den
Kapillarpuls des Gehirns mit dem der Hand vergleicht, so
findet man folgende Unterschiede. Der Einfluß der Inspiration
markiert sich deutlicher im Gehirnpuls als in dem der Hand.
Bei einer tiefen Inspiration findet im Gehirn eine kurze De¬
pression mit kleinen Pulsationen statt, dann ein Schwanken
mit sehr großen Pulsen und schließlich eine ziemlich lange
Depression, während in der Hand sich das umgekehrte Bild
zeigt. Auch die folgende Arbeit von Binet und Gonrtier^)
sucht im wesentlichen den Einfluß der Atmung auf den Kapillar¬
puls klarzustellen. Hier wird auch der Erscheinung des Dikro-
tismus ein besonderes Augenmerk zugewandt. Unter dem Ein-
6
W. Bethge,
fluß der Atmung ändert sich die Form des Kapillai-pulses
insofern, als die dikrotische Welle bei der Exspiration deut¬
licher wird und sich dem Gipfel der Pulsation nähert, während
sie bei der Inspiration niedersinkt. Geistige Arbeit, in einem
Rechenexempel und dem begleitenden Gefühl bestehend, wirkt
auf die arterielle und kapillare Blutzirkulation, auf die Atmung
und das Herz ein. Die Wirkung ist nicht gleich tief auf die
einzelnen Funktionen, bei einzelnen Personen zeigt die Atmung
größere Veränderungen, bei anderen das Herz oder das Yaso-
motorensystem. Aber jede dieser Funktionen hat ihre eigene
Art, sich zu ändern. In der Kapillarpulskurve finden wir eine
Verringerung der Amplitude, die vielleicht durch eine Ver¬
engerung des Kapillarnetzes hervorgerufen wird, da der Druck
in der zugehörigen Arterie steigt. Form und Volumen ändern
sich gleichzeitig, am häufigsten tritt eine Verzögerung und
Akzentuierung des Dikrotismus infolge der ßlutdrucksteigerung
ein. Das Sinken des Niveaus der Kurve rührt jedenfalls von
einer Kontraktion der Arterie her. Der Radialpuls zeigt deut¬
liche respiratorische Schwankungen und die Spannung in der
Arterie wird stärker. Der Herzschlag wird gegen Ende der
Aufgabe beschleunigt, und wahrscheinlich tritt dabei eine Her¬
absetzung der propulsiven Kraft ein. Die dritte Arbeit Bin et
und Courtiers®) studiert die Wirkung der geistigen Arbeit
auf den Kapillarpuls. Verfasser unterscheiden hier drei ver¬
schiedene Arten von geistiger Anstrengung. Die erste be¬
zeichnen sie als mäßige geistige Arbeit, sie besteht in einem
viertelstündigen Lesen: danach zeigt sich nur eine mäßige Be¬
schleunigung des Pulses, die bald wieder vorübergeht und bis
unter die Norm sinken kann. 2. Kurze intensive Arbeit, in
der Multiplikation von Zahlen bestehend, zeigt teils Erschei¬
nungen der Erregung, teils die der Depression: bei ersterer
tritt nach anfänglicher Erhebung der Kapillarpulskurve infolge
Konzentration der Aufmerksamkeit eine reflektorische Gefä߬
verengerung, die mit einem Sinken der Kurve und Verkleine¬
rung der Pulsationen verbunden ist, ein. Diese Schwankungen
erscheinen mehrmals wieder. Der Herzschlag wird anfangs
verlangsamt, das Herz in seiner propulsiven Kraft aber ver¬
stärkt; hieran reiht sich meist eine Beschleunigung. Der
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Kbrper.
7
Dikrotismus des Pulses sucht anfänglich zu verschwinden, er
tritt aber 15 Sekunden nach Beginn der Arbeit wieder auf
und bleibt lange bestehen. Die Ursache liegt wahrscheinlich in
einem Nachlassen des vaskulären Tonus oder des Blutdruckes.
Die Form der Depression ist weniger charakterisiert, sie be¬
steht im wesentlichen in einer Verlangsamung des Herzschlages
Gefäßerweiterung und Ansteigen der Kurve. 3. Mehrere
Stunden dauernde geistige Arbeit führt zu einer Verlang¬
samung des Herzschlages und einer Verminderung der peri¬
pheren Blutzirkulation.
Die beiden folgenden Arbeiten Bi net und Cour ti er s *)*'')
stehen nur in indirektem Zusammenhang mit dem Thema, sie
geben uns aber einen interessanten Aufschluß über die Ände¬
rungen der Form des Kapillarpulses zu den verschiedenen
Tageszeiten und infolge von Gemütsbewegungen und lassen
uns ihre etwaige Deutung erkennen. Kurz nach den Mahl¬
zeiten beobachteten die Verfasser nämlich eine Herzbeschleuni¬
gung, eine Vergrößerung der Amplitude und ein Absteigen
der dikrotischen Welle nach der Basis der Pulskurve zu. Diese
Erscheinungen gingen allmählich ins Gegenteil über. Dabei
wiesen sie zugleich nach, daß die Form des Kapillarpulses
von Herzschlag, Atmung und Temperatur unabhängig ist, und
vielmehr durch das Gefühl des Wohlseins und der Kraft be¬
stimmt wird, die ein mäßiges Mahl begleiten. Ähnliche Ver¬
änderungen konnten sie nämlich bei einem einzelnen Indivi¬
duum beobachten; bei Überraschung, plötzlichem Reiz, willkür¬
licher Freude trat Akzentuierung des Pulsdikrotismus auf,
während er bei Traurigkeit, intensiver geistiger Anstrengung
und Muskelermüdung das Bestreben, zu verschwinden, zeigte.
Die Verfasser schließen daraus, daß sich die Form des Kapillar¬
pulses mit der Qualität der Gefühle ändert, was einst eine
Kl assifikation der Gefühle nach ihrer physiologischen Wirkung
auf den Kapillarpuls erlauben dürfte.
Endlich hätten wir noch die Änderungen des Blutdrucks
unter dem Einfluß geistiger Arbeit zu betrachten. Die Ver¬
suche hierüber sind bisher gering, da er sich schwer unter dem
schnellen Wechsel geistiger Vorgänge messen läßt. Doch
Binet und Vaschide^^) haben auch seine Veränderungen
8
W. Bethge,
unter geeigneter Anwendung des Sphygmomanometers von
Mdsso mit graduell ansteigendem Druck zu messen gesucht.
Sie sind dabei offenbar zu ganz guten Resultaten gelangt. Der
Blutdruck beginnt bei ungefähr 20 mm Quecksilbergegendruck
auf der Kurve durch flache Erhebungen sich zu zeigen, die
allmählich an Größe zunehmen und bei ca. 80 mm ihr Optimum
erreichen, um bei ca. 120 mm wieder zu verschwinden, weil
hier die Quecksilbersäule das Übergewicht über den Blutdruck
erhält. Bei geistiger Anstrengung kann aber der Blutdruck
bis über 140 mm Quecksilber steigen, so daß ein Unterschied
von ca. 20 mm zwischen Ruhe und geistiger Tätigkeit im Blut¬
druck besteht. Erhöhung des Blutdruckes und Beschleunigung
des Herzschlages gehen meist nebeneinander her. Während
die Form des Kapillarpulses die Qualität wiederzugeben scheint,
scheint die Höhe des Blutdruckes mehr die Quantität der psycho¬
logischen Erscheinungen auszudrücken, da stark ermüdende oder
aufregende Reize ihn nur um 10 bis 15 mm, intensive geistige
Arbeit um 20, lebhafte Unterhaltung um 25 und heftige Er¬
regung um 30 mm Hg erhöhen.
Fassen vdr die Resultate der Arbeiten Binets und seiner
Mitarbeiter kurz zusammen, so können wir sagen: 1. Jede
geistige Arbeit ist mit einer Beschleunigung des
Herzschlages verbunden, die allerdings nicht so deutlich
hervortritt wie bei der körperlichen Anstrengung. Der Be¬
schleunigung kann eine kurz dauernde Verlangsamung
der Pulsschläge vorausgehen. Diese tritt auch jedes¬
mal bei längerer Arbeit infolge von Ermüdung ein.
2. Bei Beginn einer geistigen Tätigkeit beobachten wir ein
Sinken der Kapillarpulskurve, die gleichzeitig ein
Kleinerwerden der Pulsationen zeigt. Beides rührt
jedenfalls von einer Verengerung des Kapillarnetzes
her. 3. Diese ruft wahrscheinlich auch den gesteigerten
Blutdruck hervor. Die Bedeutung dieser Erscheinungen läßt
sich bis jetzt noch nicht genau angeben, sondern nur vermuten;
sie dienen wohl hauptsächlich dazu, das Gehirn während
seiner Tätigkeit reichlicher mit Blut zu versorgen.
Wenden wir uns nun den Untersuchungen des schwedi¬
schen Forschers Lehmann*®) zu, so zeigen diese eine recht
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
9
eingehende Detaillierung der Bewußtseinszustände in ihren
körperlichen Äußerungen. Ich glaube nicht, daß man selbst
bei noch so sorgfältiger Versuchsanordnung heutzutage schon
imstande ist, aus den Änderungen der plethysmographischen
Kurve psychische Vorgänge abzulesen. Da sich seine Unter¬
suchungen hauptsächlich auf die Gefühle erstrecken, so will
ich nür einige für uns wichtige Tatsachen erwähnen. Was
wir schon bei Bin et gefunden haben, so wird auch von ihm
besonders hervorgehoben, daß das jähe Sinken der Volumkurve
des Armes durch Gedanken, durch psychische Tätigkeit ohne
hervortretende Gefühlsbetonung verursacht wird. Er hat ferner
gezeigt, daß der Körper sich während des Wachseins in einem
beständigen Spannungszustand befindet, der nur vorübergehend
durch absolute Ruhe abgelöst werden kann. Die Aufmerksam¬
keit hat zwei verschiedene Ausdrucksformen, je nachdem sie
willkürlich, z. B. beim Denken, oder unwillkürlich durch einen
äußeren plötzlichen Reiz hervorgerufen wird: das Volumen
zeigt eine geringe Neigung zum Steigen, darauf folgen vier
bis acht langsame Pulse, während welcher das Volumen sinkt,
um schließlich wieder zu steigen und zur Norm zurückzu¬
kehren. Der Unterschied zwischen beiden Formen zeigt sich
nur darin, daß der Puls bei willkürlicher Aufmerksamkeit im
allgemeinen verkürzt ist, während die unwillkürliche durch
eine Pulsverlängerung charakterisiert wird. Je mehr ein psychi¬
scher Zustand die Aufmerksamkeit zu fesseln und im Bewußt¬
sein sich Geltung zu verschaffen vermag, um so deutlicher
treten auch seine körperlichen Äußerungen hervor. Über¬
haupt muß ein Reiz erst bis zum Bewußtsein durchdringen,
ehe er organische, Reaktionen auslösen kann; denn in der
Stickstoffoiydul-Narkose z. B. treten diese nicht ein. Im allgemeinen
ist das Gefühl der Unlust mit Volumensenkung, Puls¬
verkürzung und Gefäßverengerung verbunden, während
Lust sich durch Volumensteigerung, Puls Verlänge¬
rung und Gefäßerweiterung kundgibt.
Die bisherigen Untersuchungen haben meistens am Arm
und seinen Gefößen stattgefunden. Bonser^®) und Gley^*)
haben gleichzeitig die Pulsveränderungen an den Karotiden
mit beobachtet: an der Peripherie finden sie im wesentlichen
10
W. Bethge,
dieselben Erscheinungen wie Bi net: Verminderung der Puls
amplitude, Erhöhung des Blutdruckes und Beschleunigung des
Herzschlages. Gley konnte nun außerdem am Karotidenpuls
eine Zunahme der Amplitude und ein deutliches Hervortreten
des Dikrotismus nachweisen, während Bons er daselbst eine
Verminderung der dikrotischen Welle unter dem Einfluß gei¬
stiger Arbeit sah. Wir können auf diesen Unterschied wenig
Wert legen, da er ja nach Bi net nicht für die geistige Tätig¬
keit, sondern nur für die Qualität des begleitenden Gefühls
charakteristisch ist. Da der Radialpuls die umgekehrten Er¬
scheinungen zeigte, so scheint doch ein gewisser Antagonismus
zwischen der Zirkulation des Blutes im Gehirn bei geistiger
Tätigkeit und der des übrigen Körpers zu bestehen, nur daß
er nicht passiver, sondern aktiver Natur ist.
Endlich haben wir noch eine Arbeit von Martins^®) zu
erwähnen, der die Untersuchungsergebnisse Lehmanns als
nicht ganz einwandfrei hinstellt. Die Niveauschwankungen
der Pulskurve ließen sich ebensogut unter der Annahme mit¬
wirkender Bewegungsvorgänge erklären, indem Freude unbe¬
wußt durch kleine unwillkürliche Muskelzuckungen ein Aus¬
dehnen oder Vorwärtsbewegen der Hand und d
Steigerung herbeiführe, während das Zurückziehen der Hand
beim Gefühl der Unlust eine Volumsenkung veranlasse. Ich
möchte aber darauf hinweisen, daß auch bei geistiger Arbeit
ohne Gefühlsbetonung ein Sinken der Volumkurve eintritt, so
daß dieses nicht auf Versuchsfehler zurückgeführt werden kann.
Dagegen konnte auch Martius das Eintreten der Pulsver¬
kürzung bei willkürlicher Aufmerksamkeit bestätigen, im Gegen¬
satz zu Meumann und Zoneff^®) und M, Kelchner*^), die
dabei eine Puls Verlängerung sahen.
Die bisherigen Untersucher hatten, wenn sie auch z. T.
übereinstimmende Tatsachen feststellten, doch noch zu sehr
mit der Methodik und der Deutung der einzelnen Kurven zu
kämpfen, als daß sie sich mit der Begründung ihrer Ergebnisse
und der Zusammenfassung unter einen einheitlichen Gesichts¬
punkt beschäftigen konnten. Erst neuere Forschungen haben
hier einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Tatsachen
entdecken können. Zunächst befaßte sich allerdings Berger^*)
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
11
noch eingehend mit der Frage nach der Blutzirkulation in der
Schädelhöhle: die Aufzeichnung der plethysmographischen Kurve
des Gehirns allein genügt nicht, um darüber eindeutigen Auf¬
schluß zu geben, da eine Zunahme sowohl durch stärkereu
arteriellen Zufluß als durch eine venöse Stauung bedingt sein
kann. Zweckmäßig ist es daher, gleichzeitig eine Bestimmung
des Blutdruckes oder der Stromgeschwindigkeit des Blutes in
den Gehimgefäßen vorzunehmen, was aber nur bei Tieren
möglich ist. Bei Menschen muß man sich mit einer gleich¬
zeitigen Registrierung einer Volumkurve peripherer Organe
begnügen und zieht dann bei Beurteilung der Volumänderung
des Gehirns diese Kurven in Betracht. An der Volumkurve
des Gehirns unterscheidet man die pulsatorischen, die respira¬
torischen und die vasomotorischen Bewegungen. Für alle
diese konnte Berger*®) durch zahlreiche Versuche an einer
dazu geeigneten Person charakteristische Veränderungen in¬
folge geistiger Tätigkeit und psychischer Reize beobachten, die
im wesentlichen mit den bisherigen Befunden sich decken. Im
speziellen konnte er nachweisen, daß die sogen. Hering-
Traubeschen Wellen offenbar mit der Aufmerksamkeits¬
schwankung im Zusammenhang stehen. Daß die Deutung
seiner plethysmographischen Gehirnkurven eine richtige war,
konnte Berger*®) durch spätere Untersuchungen auch an
anderen Personen bestätigen, bei denen er die bereits von
Lehmann*®) angewandte Methode der Berechnung der Puls¬
verspätung berücksichtigte. Die Pulswelle pflanzt sich mit
einer bestimmbaren Geschwindigkeit im Gefäßsystem fort. Mit
Hilfe der sphygmographischen und plethysmographischen Kurve
kann man leicht eine Pulsverspätung in den peripher gelegenen
Abschnitten gegenüber den zentralen feststellen. Eine Ände¬
rung der Pulsverspätung kann bedingt sein einmal durch eine
Änderung des allgemeinen Blutdruckes, und zwar so, daß bei
steigendem Blutdruck die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des
Blutes größer, die Pulsverspätung geringer wird. Andererseits
ist die Pulsverspätung abhängig von dem Gefäßtonus, indem
mit Zunahme der Spannung der Gefäßwand eine Zunahme
der Fortpflanzungsgeschwindigkeit stattfindet. Beide Möglich¬
keiten lassen sich durch gleichzeitige Feststellung des Blut-
12
W. Betbge,
druckes oder der Pulsverspätung in anderen Gefäßgebieten ent¬
scheiden. Wird eine gleiche Änderung der Pulsverspätung,
z B. in den Gehirn- und Armgefäßen beobachtet, so muß man
eine gemeinsame Ursache dafür, d. h. eine allgemeine Blut¬
druckänderung annehmen. Nimmt aber z. B. bei geistiger
Arbeit die Pulsverspätung an den Gehirngefäßen zu, während
sie an den Armgefäßen gleichbleibt oder geringer wird, so
weist dies auf eine lokale Gefäßänderung, und zwar auf eine
Erweiterung der Hirngefäße hin, wie dies auch aus dem
Steigen der plethysmographischen Gehimkurve und der Zu¬
nahme der Pulsationshöhe an den Pialgefäßen hervorgeht. Auf
diese Weise kann man häufig noch feine Unterschiede in der
Änderung einzelner Gefäßgebiete wahrnehmen, die einem durch
die bloße Betrachtung der Kurven vielleicht entgehen würden
Es fragt sich nun, wodurch diese Blutverschiebung zu¬
stande kommt; denn daß tatsächlich eine solche vorhanden
sein muß, geht schon aus der Betrachtung zweier plethysmo¬
graphischer Kurven, z. B. der des Arms und der des Gehirns
hervor. Bei geistiger Arbeit sinkt nämlich das Volumen des
Arms, während das Gehirn an Volumen zunimmt. Diese plötz¬
liche Änderung kann nur durch eine veränderte Blutfülle der
Organe verursacht sein, wie man dies an dem Weiterwerden
der Pialgefäße direkt sehen kann. Auch hatte Mosso schon
mit seiner Menschen wage festgestellt, daß bei geistiger Tätig¬
keit die Seite, auf der der Kopf lag, an Gewicht zunahm, und
er führte dies auf einen vermehrten Blutzufluß zum Gehirn
zurück. W e b e r zeigte nun aber, daß nicht allein das Ge¬
hirn, sondern auch die Banchorgane mit Blut überfüllt werden,
während das Blut aus den peripheren Organen entfernt wird.
Ein Gummisack von 8 cm Durchmesser und 15 cm Länge
wurde in das Rektum eingeführt und mit wenig Luft aufge¬
blasen. Wird dieser „innere Plethysmograph“ mit einem
Schreibhebel in Verbindung gebracht, so erhält man auf der
Kymographiontrommel eine Kurve von dem wechselnden Druck
in der Bauchhöhle, wie er namentlich durch die Atembe¬
wegungen hervorgerufen wird. Aber auch reflektorische Ein¬
flüsse auf den Sphinkter ani, die Blase und die Darmperistaltik
werden sich auf dieser Kurve geltend machen. Durch vor-
Der Einäüß geistiger Arbeit auf deu Körper. 13 ^
übergehende Lähmung des Darms lassen sich wohl einige
dieser Bewegungen ausschalten, doch ganz eindeutig werden
die Resultate auch so nicht, und so muß man ihnen gegen¬
über noch etwas Reserve bewahren. Durch gleichzeitige Auf¬
nahme einer pneumographi sehen Kurve des Bauches glaubte
aber Weber unter Vergleichen beider Kurven einen Schluß
ziehen zu dürfen auf die wechselnde Blutfülle der Bauch¬
organe. Er hat nun festgestellt, wie schon oben erwähnt, daß
mit Abnahme der Blutmenge in den peripheren Organen meist
eine Zunahme der Blutmenge in den inneren Organen ver¬
bunden ist. Und zwar führt er diese Blutverschiebung auf
eine aktive Erweiterung der Gefäße im Splanchnikusgebiet zu¬
rück, während eine gleichzeitige aktive Verengerung der peri¬
pheren Gefäße noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen ist.
Wie bereits früher hervorgehoben ist, so konnte man nie
ein vollkommen gleich entgegengesetztes Verhalten der Gehirn-
und peripheren Gefäße beobachten, und so sah sich schon
Mosso^) gezwungen, für jedes der beiden Gefäßgebiete ein
gesondertes Vasomotorenzentrum anzunehmen. Jetzt ist ee
Weber®*) durch Tierversuche gelangen, mit Sicherheit ein
eigenes Zentrum für die Gehirngefäße nachzuweisen, das zen-
tralwärts von dem Vasomotorenzentrum in der Medulla oblon-
gata gelegen ist. Die Lage dieses Keflexzentrums, das auch
die gleichzeitige Gefäßinnervation der beiden Gehirnhemisphären
vermittelt, ist bis jetzt noch nicht bekannt, doch vermutet
V. Monacow dafür das zentrale Höhlengrau und den Thalamus
opticus. Auf diese Weise wird die Selbständigkeit der Reaktion
der Gehirngefäße auf psychische Reize durchaus verständlich;;
wir haben uns jetzt nur noch nach der Zweckmäßigkeit dieser
Blutverschiebung zu fragen.
Bisher glaubte man, daß das Gehirn mit der reichlicheren
Blutdurchströmung bei geistiger Tätigkeit unter günstigere
Arbeitsbedingungen gestellt werde, wie dies z. B. beim Muskel
der Fall ist. Doch hat sich heraüsgestellt, daß bei bestimmten
psychischen Zuständen die Blutverteilung eine verschiedene ist.
Bei lebhaften Bewegungsvorstellungen findet sich eine Zu¬
nahme der Blutmenge im Gehirn und in den äußeren Körper-
14
W. Bethge,
teilen, während bei geistiger Tätigkeit das Gehirn und die
Bauchorgane die größere Blutftille aufweisen. Lustgefühl ist
mit einer reichlicheren Blutversorgung der gesamten Körper¬
oberfläche, der Extremitäten und des Gehirns verbunden, wäh¬
rend die Bauchorgane weniger mit Blut gefüllt sind. Gerade
das Gegenteil tritt beim Unlustgefühl ein. Nun hat Ve rworn,
wie wir später noch sehen werden, nachgewiesen, daß durch
vermehrte Sauerstoffaufnahme, wie sie bei Erweiterung der
Hirngefäße stattfindet, die Reizbarkeit der Biogenmoleküle ge¬
steigert wird, indem die Zersetzungsmöglichkeit eine größere
ist. Umgekehrt tritt bei Kontraktion der Gefäße eine geringere
Sauerstoffzufuhr ein, wodurch das Biogenmolekül vor weiterem
Zerfall geschützt wird. Findet diese Kontraktion in den Haut¬
gefäßen statt, so wird eine gewisse Anästhesie oder wenigstens
Reizmilderung herbeigeführt. Dieser Zustand ist für die gei¬
stige Tätigkeit insofern sehr günstig, als eine Herabsetzung
der Empfänglichkeit für äußere Sinnesreize die Konzentration
der Aufmerksamkeit sehr erleichtert; andererseits ermöglicht
die größere Reizbarkeit der Gehirnzellen ein schnelleres Arbeiten.
Ja es ist sogar behauptet worden, daß die Verengerung der
äußeren Gefäße des Körpers der Intensität der Himtätigkeit
nahezu entspricht [vergl. H. Frankfurter und A. Hirsch¬
feld t*^)]. Wir haben aber gesehen, daß sehr bald eine Kon¬
traktion der Gehimgefäße -infolge längerer geistiger Arbeit und
schließlich eine vollständige Umkehr der obigen Gesetze für
•die Blutverschiebung eintritt. Aber auch dies ist gerade eine
zweckmäßige Einrichtung, indem im Zustande der Ermüdung
(ähnlich auch bei Hysterie, Neurasthenie und anderen patho¬
logischen Zuständen) weniger Sauerstoff der Nervensubstanz
zugeführt und damit das Biogenmolekül vor weiterer Zer¬
setzung bewahrt wird. Man stellt sich diese Umkehr der
Vasomotoreninnervation nach körperlicher oder geistiger Er¬
müdung so vor, daß infolge der stundenlang gesteigerten Auf¬
merksamkeit das Zentrum, das die Impulse für die äußeren
Gefäße in konstriktorischem Sinne weiterleitet, mehr oder
weniger in Tätigkeit gehalten, und damit seine Aufnahme¬
fähigkeit für Impulse derselben Art herabgesetzt wird, so daß
•das dilatatorisch wirkende Zentrum das Übergewicht erhält.
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
15
Die weitere Beobachtung dieser Vorgänge wird uns schlie߬
lich immer mehr Einblick gewähren in das so komplizierte
Reaktionsvermögen der Geiäße und des Herzens.
Neben der konstanten Beschleunigung der Herzpulsation
usw. infolge psychischer Tätigkeit findet sich regelmäßig eine
Beschleunigung der Atmung. Binet und Courtier'^) konnten
feststellen, daß die Anzahl der Atemzüge in der Minute um
ein Drittel der normalen Zahl zunimmt, also bis auf 20 und
mehr steigen kann. Dabei ändert sich die Ausdehnung des
Brustkorbes: sie wird geringer und damit die Atmung ober¬
flächlicher. Indessen scheint diese Atmung durch eine stärkere
Zwerchfelltätigkeit eine gewisse Kompensation zu erfahren,
worauf besonders Mos so*) hingewiesen hat. Diese Beobach¬
tung konnten Zoneff und Meumann*®) als richtig nach-
weisen, und sie zeigten zugleich, daß sinnliche Aufmerksam¬
keit von einer stärkeren Hemmung der Atmung begleitet ist
als willkürliche. Im Gegensatz hierzu steht die beschleunigte
Atmung bei Gemütsbewegung, bei der die einzelnen Atem¬
züge durch ausgiebige Bewegung des Brustkorbes tiefer werden.
— Trotz der Oberflächlichkeit findet sich eine große Regel¬
mäßigkeit in den Atemzügen, die erst im Zustand der Ermü¬
dung unregelmäßig, d. h. abwechselnd langsamer und schneller
werden, um schließlich in dauernde Verlangsamung überzu¬
gehen. Hier scheint sich nach Obigi**) die Atmung auch
wieder zu vertiefen. Schließlich beobachtet man in der Form
der Atmung noch eine Veränderung, indem nämlich die Atem¬
pause unter dem Einfluß geistiger Arbeit fortfällt. Der Über¬
gang von der Ruhe zur Arbeit vollzieht sich in ungefähr fünf
Atemzügen. Inwiefern wiederum die Atmung psychische Zu¬
stände beeinflußt, darauf hatte schon Landmann^®) hinge¬
wiesen. Er machte z. B. die Beobachtung, daß die Schmerzen
bei Neuralgien auf der Akme tiefster Inspiration nachließen.
Und wer kennt nicht die seelische Erleichterung, die ein tiefer
Seufzer bei verhaltenem Schmerz oder Kummer bereitet?
Landmann erklärt diese Wirkung durch „Veränderungen,
welche von der Lunge durch den höchsten Grad des passiven
Druckes an der Ausdehnung des Herzens und der großen Ge-
himblutgefäße hervorgebracht werden und sekundär mit der
16
W. Bethge,
Verminderung des Blutzuflusses zu den Gehirnzentren eine
Schwankung in der Empfindung bedingen.“
Die Beziehungen der geistigen Tätigkeit zum Stoffwechsel
sind sehr schwierig festzustellen. Lavoisier und Seguin**)
nehmen an, daß jeder geistigen Tätigkeit dieselben stofflichen
Veränderungen zugrunde liegen wie der körperlichen, also
Oxydationsprozesse wären: derselbe chemische Prozeß, der
unter Umständen Wärme hervorbringe, liefere in dem tätigen
Gehirn geistige Arbeit. Wenn wirklich Oxydations Vorgänge
stattfinden, dann müßte sich eine Temperaturerhöhung im Ge¬
hirn viel leichter nachweisen lassen, als es wirklich der Fall
ist. Zwar tritt, ähnlich wie bei der Muskeltätigkeit, vermehrter
Zufluß des Blutes, Beschleunigung des Herzschlages und der
Atmung bei der Tätigkeit des Gehirns ein, aber die Stofif-
wechseländerungen wie dort, nämlich erhöhter Sauerstoffver¬
brauch und gesteigerte Kohlensäureausscheidung, lassen sich
nie so deutlich, wenn überhaupt erkennen. Allerdings fand
Hammond^O? geistige Tätigkeit die Harnmenge, die
Menge des ausgeschiedenen Harnstoffs, des Kochsalzes, der
Phosphor- und Schwefelsäure vermehre und daß Tee und
Kaffee, indem sie das Nervensystem aufregten, zu gleicher
Zeit die Stoffwechselmetamorphose der Gewebe beträchtlich
verzögere und die Ausscheidungen verringere. In neuerer Zeit
hat man darauf hingewiesen, daß verschiedene Geisteskrank¬
heiten mit Stoffwechselanomalien verbunden sind. So beob¬
achtete man namentlich bei der Epilepsie Vermehrung der
Harnsäure-, Phosphorsäure- und Ammoniakausscheidung. Auch
Mainzer*®) fand die Stickstoffausscheidung unter dem Ein¬
fluß geistiger Arbeit vermehrt, während die Phosphorsäureaus¬
scheidung verringert wurde. Wir dürfen aber annehmen, daß
alles dies nicht bedingt ist durch eine Stoffwechseländerung
im Gehirn selbst, sondern die Tätigkeit des Gehirns sich
mittelbar auf den Stoffwechsel geltend macht. Selbst Voit,
dessen Stoffwechselversuche berühmt geworden sind, konnte
eine Vermehrung der Ausscheidung von Stoffwechselprodukten
bei geistiger Tätigkeit nicht finden. Indessen scheint ein be¬
stimmtes Quantum von Sauerstoff zur Unterhaltung geistiger
Tätigkeit und des Bewußtseins überhaupt nötig zu sein; denn
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
17
wie leicht schwindet das Bewußtsein unter Sauerstoffmangel.
Auch bei Seetieren hat Baglioni^ß) die Beobachtung gemacht,
daß das Zentralnervensystem ein spezifisch größeres Sauerstoff¬
bedürfnis hat als die übrigen Körpergewebe und Organe. Dem¬
entsprechend sind bei allen diesen Tieren Mechanismen vor¬
handen, welche das Zentralnervensystem immer reichlich mit
Sauerstoff versorgen. Fast überall fand er eine dem Blut¬
farbstoff ähnliche Substanz, die den „Sauerstoffüberträger“
bildet. Wir können vielleicht den Kopfschmerz und die an¬
dauernde Mattigkeit, die wir als konstante Symptome der
Chlorose finden, auf diesen durch mangelnden Blutfarbstoff be¬
dingten Sauerstoffmangel des Körpers zurückführen. Immerhin
ist noch nicht bewiesen, daß Gehirntätigkeit eine größere
Sauerstoffzufuhr erfordere als in der Ruhe; das Nachlassen
seiner Funktionen kann viel mehr durch Kohlensäureanhäufung
als durch Mangel an Sauerstoff bedingt sein. Auch aus dem
Atemtypus, der zwar eine Beschleunigung, aber geringere Tiefe
aufweist, läßt sich nicht auf einen Mehrbedarf an Sauerstoff
bei geistiger Tätigkeit schließen. Speck**) kommt daher zu
dem Endresultat, daß die geistige Tätigkeit direkt auf den all¬
gemeinen Stoffwechsel keinen Einfluß ausübt. Die moleku¬
laren Vorgänge im Gehirn sind entweder gar keine Oxydations¬
prozesse oder so gering, daß sie unseren (Jntersuchungsmethoden
nicht zugänglich sind. Wie gering der Stoffwechsel im Gehirn
nur sein kann, zeigt sich ferner auch darin, daß bei der Ina-
nition ein Schwund und sehr starker Zerfall der übrigen
Körperorgane sehr bald eintritt, während Gehirn und Herz fast
unversehrt bleiben.
Die Frage der Wärmeentwicklung im Gehirn haben wir
vorhin schon kurz gestreift; hier möchte ich nur noch auf
einige Tatsachen eingehen, die Mosso*) festgestellt hat. Die
Temperatur des Gehirns ist meist etwas höher als die der
Aorta. Unter dem Einfluß der Asphyxie oder elektrischer
Ströme findet eine autonome lokale Temperaturerhöhung im
Gehirn statt. Erklärung findet diese Erscheinung durch die
Annahme, daß im Gehirn ein Vorrat von chemischer Energie
vorhanden ist, der mehr oder weniger rasch zur Entwicklung
von Wärme verbraucht wird. Dieser Verbrauch erfolgt aber
2
18
W. Bethge,
nicht immer im Verhältnis zur psychischen oder motorischen
Funktion des Gehirns. Wir müssen deshalb zwei Prozesse
unterscheiden, einen nutritiven oder trophischen und einen
funktionellen. Auch zu dem trophischen Vorgang steht die
Wärmebildung nicht immer in einem bestimmten Verhältnis;
sondern die wärmeerzeugenden Substanzen werden ohne Nutzen
für psychische Vorgänge des Gehirns verbraucht, wenn dessen
Lebens Verrichtungen in irgendeiner Weise gestört werden.
„Diese organischen Konflagrationen bilden den thermischen
Ausdruck der metabolischen Erscheinungen, welche in den
Organen unabhängig von ihren spezifischen Funktionen er¬
folgen und für den Muskel bereits von Ungelino Mosso nach¬
gewiesen waren. Die thermischen Ei scheinungen manifestieren
sich im Gehirn mit viel größerer Intensität als in anderen
Organen und erfolgen leichter, wenn die Reizbarkeit des Ge¬
hirns erhöht ist.“ Die Temperaturerhöhung steht auch nicht
im Zusammenhang mit dem vermehrten Blutzufluß bei gei¬
stiger Tätigkeit. Während des Schlafes erfolgt zwar eine Ab¬
nahme der Temperatur im Gehirn und Rektum, unbewußte
Prozesse, namentlich äußere Reize, lassen aber sehr deutliche,
plötzliche Temperatursteigerungen erkennen, die auf organische
Konflagrationen zurückzuführen sind. Die Wiederkehr des
Bewußtseins ist nicht von Wärmeentwicklung begleitet, und
bei voller Tätigkeit des Gehirns finden nur minimale Tempe¬
raturschwankungen statt. Pidaucet*^) versuchte mit dem
Arsonvalschen Windkalorimeter etwaige Wärmebildung im
Kopfe zu messen. Aber auch er konnte keine Temperatur¬
steigerung bei geistiger Tätigkeit unter Ausschluß der Fehler¬
quellen finden.
Neuere Untersuchungen über die Temperatur des Gehirns
stammen von Berger*®), der sehr genau beobachtete und jede
Fehlerquelle nach Möglichkeit auszuschalten suchte. Seine
Experimente erstrecken sich auf acht Beobachtungen am Schim¬
pansen und sieben an Menschen. Die Reaktionen der Gehim-
temperatur auf psychische Reize erfolgen beim Tiere schneller
und intensiver als bei den menschlichen Versuchspersonen,
sind aber sonst mit den an Menschen gefundenen Resultaten
sehr gut in Einklang zu bringen. Bei kurzer psychischer In-
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 19
anspnichnahine wird zwar die Gehirntemperatur wenigstens
bei der zunächst angewandten Messungsmethode mit Queck¬
silberthermometern kaum in nachweisbarer Weise beeinflußt,
doch macht sich bei längerer geistiger Arbeit eine Temperatur¬
erhöhung von durchschnittlich 0,01 bis 0,02® C in der Minute
geltend. Berger stellt nun hierüber sehr schöne energetische
Betrachtungen an, zu deren Ausführung natürlich einige Hypo¬
thesen herangezogen werden mußten. Interessant sind viel¬
leicht einige Zahlen, die er herausrechnet und die uns die
Kleinheit der bei der geistigen Arbeit geleisteten mechanischen
Umsetzung illustrieren. So repräsentieren die Rindenvorgänge
bei einer achtstündigen intellektuellen Arbeit mit einmaliger
Unterbrechung einen Energieumsatz von 3997 mkg. Die Herz¬
arbeit in acht Stunden erfordert 8000 mkg. Ein kräftiger
Arbeiter leistet in acht Arbeitsstunden 201600 mkg.
Die letzten Untersuchungen lassen uns nach den Vor¬
gängen in den Nervenzellen selbst fragen; zum größten Teil
sind wir hier auf Hypothesen angewiesen, die aber durch
Beobachtung bekannter Vorgänge in ihnen ähnlichen Zellen
sehr an Wahrscheinlichkeit und Tatsächlichkeit gewinnen. Eine
Tatsache steht wohl fest, daß die Ganglienzellen im Gehirn
durch funktionelle Inanspruchnahme eine Differenzierung ihrer
Struktur und einen feineren Ausbau ihrer Dendriten erhalten.
Man hat dies an jungen Kaninchen beobachten können, bei
denen man gleich nach der Geburt die Augen verband, so daß
sie nichts sehen konnten. Der Unterschied in Form und Ge¬
stalt der Ganglienzellen im Sehzentrum zu den Zellen, die
man aus dem Sehzentrum von Hunden desselben Wurfs er¬
halten hatte, welche man in normalem Zustande gelassen hatte,
war schon nach wenigen Tagen in obenbezeichnetem Sinne
sehr deutlich. Während sich also hier die Fähigkeit, zu sehen,
erst einige Tage bis zu einer Woche mit der vollständigen
Entwicklung der Ganglienzelle ausbildet, so ist das eben aus
dem Ei gekrochene Hühnchen dagegen sofort imstande, ein
vor ihm liegendes Korn zu erblicken und aufzupicken. Beim
Menschen dauert dieser Prozeß des Blickenlernens noch viel
länger als beim Hund. Preyer*®) hat nachgewiesen, daß das
Kind erst im dritten Monat nach der Geburt einen Gegenstand
2 *
20
W. Betbge,
mit den Augen fixieren kann, während es natürlich schon vor¬
her auf Lichtunterschiede reagiert. Erst sehr viel später wird
es in den Stand gesetzt, die Entfernung gesehener Gegen¬
stände richtig abzuschätzen, was ihm meist erst durch die
Ausbildung anderer Sinnesfähigkeiten gelingt. Wir müssen
auch hier annehmen, daß dem allmählichen Lernen eine Diffe¬
renzierung der entsprechenden Ganglienzellen entspricht. Das
Kind scheint in dieser Beziehung im Nachteil zum Tier zu
sein; aber während dem Tiere eine weitere Ausbildung seiner
Sinnesorgane offenbar durch die schnelle Nutzbarmachung
seiner ganzen potentiellen Fähigkeiten genommen wird, wird
dem Menschen die Möglichkeit gebot'en, seine verborgenen
Anlagen durch allmähliche Übung und Veränderungen der
Bedingungen in unendlicher Verschiedenheit zu entfalten und
auszugestalten.
Das Gedächtnis besteht nach Yerworn in nichts anderem
als in einer solchen Aktivitätshypertrophie der Ganglienzelle,
die auf einen Reiz hin einen kräftigen Impuls erfährt, der
sich dann in solcher Stärke durch das Nervensystem fortpflanzt.
Jeder Reiz bringt in der Ganglienzelle eine dissimilatorische
Erregung hervor, d. h. er stört das Stoffwechselgleichgewicht,
das in der Ruhe herrscht und in Assimilation und Dissimilation
von Stoffen besteht. Nur die dissimilatorische Erregung wird
durch den Nerven foxtgepflanzt, keine Lähmung, Hemmung
oder Ermüdung. Ist der Reiz vorüber, so stellt sich sofort
wieder Stoffwechselgleichgewicht her. Wie wir bereits ge¬
sehen haben, ist das Lebensgetriebe der Ganglienzelle mit
einer geradezu sklavischen Abhängigkeit vom Sauerstoff ver¬
bunden. Spritzt man Fröschen ein sauerstofffreies Serum in
ihre Gefäße, so tritt Arbeitslähmung ein. Diese kann zweierlei
Ursachen haben: entweder können sich eine Anzahl von Zer¬
setzungsstoffen angesammelt haben, die eine Lähmung der
Zellfunktionen herbeiführen; man spricht dann von Ermüdung;
oder aber der Sauerstoffvorrat der Ganglienzelle ist soweit
herabgesetzt, daß eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr möglich ist:
dies der Zustand der Erschöpfung.
Die Hemmungsvorgänge beruhen nach Verworn®®) auf
der Entwicklung eines relativen Refraktärzustandes der Gan-
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
21
glienzelle durch Interferenz von Reizwirkungen. Die Ganglien¬
zelle ist nicht dauernd erregbar, nur ungefähr 18 Willens¬
impulse können aus ihr während einer Sekunde hervorgehen.
Das Stadium der Unerregbarkeit heißt 'Refraktärstadium. Es
werden nun z. B. zu einer Gruppe von Ganglienzellen, in der
durch einen Reiz eine dissimilatorische Erregung unterhalten
wird, von einer anderen Gruppe von Ganglienzellen, die mit
ihr in leitender Verbindung steht, Reizimpulse entsandt, welche
in den betroffenen Ganglienzellen so interferieren, daß die
durch den anfänglichen Reiz unterhaltene Erregung einer Läh¬
mung weicht.
• Die Hemmungserscheinungen können aber auch noch
anders gedeutet werden. So hat Cyon®^) in seinem „Ohr¬
labyrinth“ sehr interessante Angaben darüber gemacht. Nach
ihm ist das Ohrlabyrinth nicht nur das Sinnesorgan für die
Richtungs- und Zeitempfindungen, sondern der ßogengang-
apparat ist auch der Regulator für die Intensität und Dauer
von Innervationen. Durch fortwährende Reize, die die End¬
organe sämtlicher Sinnesgebiete unbewußt erfahren, entsteht
im Zentralnervensystem eine Aufspeicherung von Energien,
deren Sammelstellen er Energinome nennt; die peripheren
Organe heißen energigen, während die Hirn-, Rückenmarks¬
und Nervenfasern als energidrome Bahnen bezeichnet werden.
Der Bogengangapparat wird dementsprechend Energimeter ge¬
nannt. Sämtliche Muskeln weisen einen Spannungszustand,
Reflextonus auf, der verschwindet, wenn die hinteren Wurzeln
des Rückenmarks durchschnitten werden. Die Muskeln fühlen
sich dann weich und schlaff an. Cyon meint nun, daß die
sensiblen Nerven durch die dauernden Reize, die sie erhalten,
eine ständige Erregung auch in den motorischen Gebieten
unterhalten, die den Spannungszustand in den Muskeln her-
stellen. Ein geringer Reiz genügt daher, um eine kräftige
Wirkung auszulösen. Wir müssen uns ferner vergegenwärtigen,
daß bei einer Beugung des Armes nicht allein die Kontrak¬
tion des Muse, biceps nötig ist, sondern auch eine Entspan¬
nung seiner Antagonisten, so daß sie sich gegenseitig das
Gleichgewicht halten. Diese feine Abstufung der Innervations¬
stärken, wie sie bei feinen Handarbeiten in noch viel höherem
22
W. Betbge,
Grade erforderlich ist, soll die Aufgabe des Bogengangapparates
sein, indem er sozusagen das Abfließeu der angesammeltem
Reizkräfte auf die motorischen Bahnen reguliert und genau
abmißt. Die Reizkräfte können auch zu geistiger Tätigkeit
verwandt werden. Nicht allzu selten sehen wir denn nach
geistiger Anstrengung eine motorische Schwäche eintreten, die
nach obiger Hypothese sehr leicht durch den Mangel an Reiz¬
kräften zu erklären wäre. Sehr viele Erscheinungen lassen
sich auf diese Art der Erklärung zurückführen, nicht zum
wenigsten die Ermüdung und der Schlaf.
Auch für die Blutzirkulation im Gehirn, die für die gei¬
stige Beschäftigung so wichtig ist, hat Cyon eine eigenartige
Erklärung. Auf Grund seiner physiologischen Untersuchungen
sieht er in der Hypophyse einen „Autoregulator des intra¬
kraniellen Blutdruckes; sie wacht über die Sicherheit des Ge¬
hirns und über die Erhaltung der Leistungsfähigkeit seines Lebens
und seiner Seelenfunktion; sie erfüllt diese Aufgabe teils auf
mechanischem Wege, indem durch erhöhten Druck im Türken¬
sattel ein System von Schleusen, z. B. die Schilddrüse in Be¬
wegung gesetzt wird, teils in chemischer Weise, indem sie
zwei wirksame Substanzen erzeugt, welche das Herz- und Ge¬
fäßnervensystem im Zustande guter Leistungsfähigkeit er¬
halten“.®^) Wir hätten hier also ein Organ vor uns, das uns
das Verständnis des innigen Zusammenhangs zwischen der
Blutzirkulation im Gehirn einerseits und den Änderungen in
der Herzinnervation und dem Gefäßnervensystem andererseits
etwas näher bringen wird.
Überhaupt sind es sehr anregende und interessante Ge¬
danken, die Cyon®*) in einem erst kürzlich erschienenen Auf¬
sätze über „Leib, Seele und Geist“ ausspricht. Er steht darin
allerdings im Widerspruch mit der herrschenden Anschauung,
doch lassen sich seine Ansichten nicht so ohne weiteres von
der Hand weisen. Der Geist ist vollkommen zu trennen von
der Seele, die nichts weiter als die Gehirnfunktion ist. Man
kann nur noch von geistigen Leistungen, Vorgängen sprechen,
nicht mehr von geistigen Funktionen. Der Geist benutzt die
in den Ganglienzellen angehäuften Empfindungen, Eindrücke,
Wahrnehmungen, Vorstellungen, welche man als „seelische
Der Einünß geistiger Arbeit auf den Körper. 23
Funktioaen“ zusammenfaßt, um sie nach den unwandelbaren
Gesetzen des Denkens in vorteilhafter Weise für die Bildung
von Begriffen, abstrakten Ideen, Urteilen, Schlüssen usw. zu
verwenden. Daher findet sich die Tätigkeit des Geistes nur
im Menschen. Man kann doch einen Vorgang, der etwas Ak¬
tives darstellt, nicht als die Funktion einer Zelle ansehen.
Ein ähnlicher Gedankengang mag vielleicht auchBinet^^)
veranlaßt haben, die geistigen Erscheinungen aus verschiedenen
Elementen zusammengesetzt zu denken: 1. aus dem Gegen¬
stand des Bewußtseins, object de conscience, und 2. aus der
Tätigkeit des Bewußtseins, acte de conscience, die hinzu¬
kommen muß, damit der Gegenstand überhaupt ins Bewußt¬
sein gelangt. Diese Tätigkeit des Geistes wird heutzutage
von den meisten übersehen. Und trotzdem hat sie bei allem
geistigen Geschehen den Hauptanteil. Ohne sie bleiben uns
alle Erregungen des Nervensystems unbewußt.
Diese Betrachtungen sind offenbar eng mit dem Wesen
der Aufmerksamkeit verknüpft, wir nehmen nur das wahr,
worauf unser Augenmerk, d. h. unser subjektives Bewußtsein,
gerichtet ist. Ribot*) betrachtet daher die Aufmerksamkeit
als einen Bewegungsvorgang unseres Bewußtseins. Mosso^)
will sie als einen Reflexvorgang ansehen: wie wir für die
Absonderung der Drüsen bestimmte Nerven haben, die die
Sekretion vermehren können, so müssen auch im Gehirn be¬
stimmte Nervenfasern dazu bestimmt sein, das Leben in den
Zellen dieses Organs reger zu machen und zu schüren, wenn
sie an irgendeiner Stelle in Tätigkeit gesetzt werden, v. Kries
glaubt das Wesen der Aufmerksamkeit in bestimmten zere¬
bralen Einstellungen, teils konnektiven, teils dispositiven, suchen
zu müssen. Er vergleicht diesen Vorgang der Einstellung
dem Mitschwingen einer Stimmgabel beim Ertönen eines
Klanges, der einen Ton mit derselben Schwingungszahl wie
die Stimmgabel enthält. Wie die Stimmgabel, so kann auch
die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Töne ein und des¬
selben Klanges besonders eingestellt sein. Schließlich sind
auch die „unbewußten Faktoren“ Lipps^®), die den kausalen
psychischen Lebenszusammenhang konstruieren, nichts anderes
als die „Einstellungen“ v. Kries’.
24
W. Bethge,
Sind wir nun inostande, ein Maß für die Größe der ge¬
leisteten psychischen Arbeit anzugeben, wie wir es zum Bei¬
spiel für die physische in der Formel A = q . h haben, d. h.
die Arbeit ist gleich dem Produkt aus der Größe der bewegten
Last und der Länge des zurückgelegten Weges. Höfler®®)
stellt ein ähnliches Gesetz für die geistige Arbeit auf: A
= p . s, wobei p etwa den Spannungsfaktor, d. h. die zur
Anstrengung nötige Aufmerksamkeit und das Interesse dafür,
8 etwa den Zeitfaktor bedeutet, der aber noch einige Zusätze
erhält. Er kommt hierbei zu sehr interessanten Betrachtungen:
Vorstellungen und Gefühle sind psychische Nichtarbeiten, wäh¬
rend Urteile und Begehrungen als psychische Arbeiten anzu¬
sehen sind. Die Arbeitsleistung ist abhängig von der objek¬
tiven Größe des Pensums und dem subjektiven Anstrengungs¬
gefühl. Die Leichtigkeit der Produktion ist die Kleinheit der
Anstrengung beim Arbeiten. Zum Schluß wirft er die Frage
auf, ob psychische und physiologische Arbeit derart parallel
gehen, daß, wo letztere geleistet wird, auch erstere als ge¬
leistet wahrgenommen werden kann und umgekehrt. Die
Empfindungsvorgänge denkt sich niemand ohne physiologisches
Substrat. Die Funktion der Nervensubstanz ist aber beim
Empfinden z. B, keineswegs immer Verrichten von Arbeit,
d. h‘ Umsatz von potentieller in kinetische Energie, sondern
ähnlich wie beim Regenerationsprozeß des Sehpurpurs im Auge
Vermehrung der potentiellen Energie; um so näher liegt es,
jede Form psychischer Arbeit geradezu als die andere Seite
eines physiologischen Arbeitsvorganges aufzufassen. Dieser
letzte Satz gewinnt praktische Bedeutung, indem wir die Er¬
müdungserscheinungen nach psychischer Arbeit, z. B. auf den
Verbrauch physischer Kräfte zurückführen müssen.
Wir kommen nun zu dem praktischen Teil unserer Arbeit.
Wir haben gesehen, wie unendlich kompliziert und mannig¬
faltig die physiologischen Vorgänge in unserem Gehirn und
Nervensystem jedenfalls sind, wie die Funktionen unseres
ganzen Körpers, die Blutzirkulation, die Atmung, der Stoff¬
wechsel und die Wärmebildung tiefgreifende Modifikationen
durch die Gehirntätigkeit, sei es nun direkt oder indirekt, er¬
fahren; soviel müssen wir als wahrscheinlich annehmen, daß
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
25
ein Übermaß geistiger Arbeit nicht ohne schädliche Folgen für
den Körper bleiben kann. Die Art und die Grenzen dieser
Schädlichkeiten zu bestimmen, soll jetzt unsere Aufgabe sein.
Die ungeheure Empfindlichkeit und Plastizität der Gan¬
glienzellen im Kindesalter erfordert eine sorgfältige Auswahl
der Erziehungs- und Bildungsmittel. Man hat die Entwick¬
lung des Kinderhirns einem Vorgang verglichen, der der Ent¬
zündung sehr nahe steht. Wie leicht können da Eindrücke
und Vorstellungen, für das Kind vielleicht noch unbewußt,
von den Erwachsenen als gleichgültig aufgefaßt, entstehen,
die für den ganzen Charakter des späteren Menschen vielleicht
von entscheidender Bedeutung sind. Hat doch Kraepelin
nachgewiesen, daß die meisten Assoziationen, die unter ge¬
wissen Erscheinungen hervorgerufen werden können, dem
Kindesalter entstammen, während die erst später gebildeten
fast vollständig verschwinden! Dies ist doch ein Beweis da¬
für, wie tief die seelischen Eindrücke der Kindheit im Gehirn
haften. Das Kind kennt vielleicht noch nicht einmal die Worte
dafür, aber trotzdem nimmt eine oft hervorgerufene Empfin¬
dung oder Beobachtung einen dauernden Platz im Gehirn ein.
Daher ist es von allergrößter Wichtigkeit, die Kinderseele
von allen schädlichen Einflüssen femzuhalten. Man glaubt gar
nicht, wie tiefe, wenn auch noch so winzige Spuren die Er¬
innerung an das Verhalten, die Umgangsgewohnheiten der
Eltern untereinander und mit anderen Personen usw. im kind¬
lichen Gemüt hinterläßt. Schon der Nachahmungstrieb, der
im Kinde, wie man leicht beobachten kann, sehr stark aus¬
gesprochen ist, kann darin Gutes, aber auch Schlechtes leisten.
Ferner ist es notwendig, daß das Kind nicht zu früh zum
Arbeiten angehalten wird. Das Kind lernt im Spielen. Geistige
Anstrengung und Aufmerksamkeit würde das kleine Gehirn
viel zu sehr belasten, als daß es ihm nützen würde. Daher
ist es ganz verkehrt, die kleinen Kinder in Kindergärten mit
feinen Häkelarbeiten und sauberen Klebearbeiten zu beschäf¬
tigen. Vielmehr müssen erst alle Sinneswerkzeuge bis zu
einem gewissen Grade ausgebildet sein, ehe sie von der Ver¬
standestätigkeit in Anwendung gebracht werden dürfen. Es
wäre nun wünschenswert, diesen Zustand der physiologischen
26
W. Betbge,
Reife des Kindergehirns, wo wir ihm eine zweck- und ziel¬
bewußte Tätigkeit zumuten dürfen, auf das genaueste festzu¬
stellen. Im allgemeinen besitzen die Kinder diese Reife, wenn
sie mit dem sechsten Jahre in die Schule gebracht werden,
einige aber noch nicht. Für diese machen sich vielleicht im
Anfänge noch keine Nachteile hinter den anderen Schulkindern
bemerkbar, aber nach einigen Jahren sind sie nicht imstande,
mit den anderen gleichen Schritt zu halten, weil eben die
Grundlagen eines fertig ausgebildeten Gehirns fehlten, das nun¬
mehr durch den Schulunterricht noch mehr gelitten hat. Ich
glaube hierin einen Grund zu sehen für so viele Enttäuschungen,
die so manche Kinder in der Schule später bereiten, die an¬
fangs zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Häufig mag
auch Krankheit, die die Kinder in ihrer körperlichen Ent¬
wicklung etwas aufgehalten hat, die Ursache für das geistige
Zurückbleiben bilden. Aber für solche Kinder ist es dann
zweckmäßig, daß sie erst später in die Schule geschickt werden.
Hier aber gilt das Wort Senecas: Cogenda mens, ut incipiat,
d. h. hier muß der Geist in Schranken gehalten werden, damit
er anfange, sc. etwas Ordentliches zu leisten. Während die
Entwicklung bisher eine freie gewesen war, so daß Arbeit,
Ermüdung und Erholung, wenn man von diesen Dingen im
kindlichen Alter schon sprechen darf, unbewußt sich das
Gleichgewicht hielten, so führt jetzt der Zwang eine andere
Ordnung herbei. Jede Arbeit ist mit Ermüdung verbunden;
während aber früher sofort ein Ausgleich durch Erholung ge¬
schaffen wurde, ist jetzt dies weniger möglich, da eben der
Geist in Schranken gehalten werden soll, um ihn zu bilden.
Natürlich kann auch hier immer noch ein gewisses Aus¬
weichen durch Unaufmerksamkeit stattfinden; aber dann wird
der Zweck der Schule nicht erreicht. Eg fragt sich nun, in¬
wieweit hält sich die Ermüdung in physiologischen Grenzen,
und wann wirkt sie auf die körperliche Entwicklung schädlich
ein. Dies ist eine eminent wichtige Frage für die Praxis des
gesamten Schulunterrichtes. Deswegen ist sie schon unendlich
oft in Angriff genommen worden, vollständig gelöst ist sie
aber bisher noch nie.
Fragen wir nach den Äußerungen und dem Wesen der
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Kürper. 27
Ermüdung, so müssen wir vorausscliicken, daß zu jeder gei¬
stigen Tätigkeit zunächst einmal Aufmerksamkeit und dann
eine gewisse freiwillige Anstrengung nötig ist, wenn wir von
den automatischen Arbeiten absehen. Unter dieser Voraus¬
setzung kann geistige Arbeit entstehen, die sich ihrerseits
wiederum aus den Faktoren der Übung und Ermüdung zu¬
sammensetzt. Veranschaulichen wir uns diesen Vorgang durch
eine Kurve, wie es bereits Öhrngetan hat, so würde diese
folgendes Aussehen erhalten: Zunächst hätten wir, im ganzen
betrachtet, einen aufsteigenden und einen absteigenden Teil,
die der Übung und der Ermüdung entsprechen würden. Der
aufsteigende Ast zeigt zunächst eine kleine Senkung, die dem
Nachlassen des „Antriebs“ zuzuschreiben ist: erst allmählich
ist das Individuum imstande, seine Aufmerksamkeit, die zu
Beginn der Arbeit aufs höchste gespannt war, einer länger
dauernden Arbeit anzupassen. Die Kurve beginnt dann unter
dem Einfluß der Übung zu steigen, aber in der Nähe des
Höhepunktes zeigt sie bereits einige kleine Schwankungen, die
bereits als Schwankungen der Aufmerksamkeitsspannung unter
dem Einfluß der Ermüdung zu deuten sind. Der Höhepunkt,
wo sich Übung und Ermüdung sozusagen das Gleichgewicht
halten, liegt verschieden weit vom Anfang entfernt, je nach¬
dem die Ermüdung früher oder später das Übergewicht er¬
hält. Die Kurve zeigt dann in der Ermüdungsphase ziemlich
bedeutende Schwankungen, die um so größer sind, je stärker
der Wille ist, die unabwendlich hereinbrechende Ermüdung
abzuwehren. Sie werden schließlich kleiner, um bei hoch¬
gradiger Ermüdung gänzlich zu verschwinden. Diese Schwan¬
kungen können auch fehlen, wenn die Ermüdung von vorn¬
herein sehr hochgradig war.
Das Wesen der Ermüdung besteht, grob ausgedrückt, in
der Abnahme der Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Sie ist immer
physiologisch bedingt, sei es nun durch Anhäufung von Zer¬
fallsprodukten, die im Blute kreisen und eine Arbeitslähmung
der Nervenzellen herbeiführen, oder durch mangelnden Sauer¬
stoffvorrat in den Ganglienzellen selbst, welchen Zustand wir
Erschöpfung nennen. Nur diese beiden Erscheinungen sind
wir berechtigt Ermüdung zu nennen; völlig davon zu trennen
28
W. Betbge,
und wohl zu unterscheiden ist das Gefühl der Müdigkeit, das
wohl mit dem Zustand der Ermüdung verknüpft sein kann,
aber jedenfalls ganz andere Ursachen hat, da es auch ohne
Ermüdungserscheinungen vorkommt. Die Ermüdungsstoffe in
vitro darzustellen, hat Weichardt®®) versucht. Zunächst
stellte er aus Muskelpreßsaft mit Reduktionsmitteln ein Er¬
müdungstoxin her, das er Mäusen injizierte, die dann die Er¬
müdungserscheinungen, wie Sopor und Atemverlangsamung,
zeigten. Ähnliches ist schon von Mos so gefunden worden.
Weichardt glückte es schließlich, ein aus Eiweiß abspalt¬
bares Toxin, dem er den Namen Kenotoxin gab, zu gewinnen
und durch Injektion bei Tieren Ermüdung hervorzurufen. Neben¬
bei sei erwähnt, daß er auch ein Antikenotoxin gefunden hat,
das die Wirkung des Kenotoxins aufzuheben vermochte. Ver¬
suche, die an Menschen angestellt wurden, haben allerdings
noch ein zweifelhaftes Resultat ergeben, und so muß man erst
weitere Nachprüfungen ab warten. Auf einzelne Besonderheiten
der Ermüdung, insbesondere ihre Beziehungen zu anderen
psychologischen Vorgängen, werde ich noch im Laufe der
folgenden Untersuchungen zu sprechen kommen, die uns mit
den verschiedenen Methoden der Ermüdungsmessung bekannt
machen sollen. Ich werde dabei gleich die Ergebnisse mit
berücksichtigen, zu denen sie geführt haben, um eventuell den
Wert ihrer Brauchbarkeit für die praktische Nutzanwendung
klarlegen zu können.
Wir haben hier zwei Untersuchungsreihen zu unterscheiden,
deren eine im wesentlichen gleich praktisch in der Schule
ausfindig gemacht und erprobt worden ist, während die andere
durch Laboratoriumsversuche und klinische Beobachtungen
dargestellt wird und hauptsächlich in Experimenten besteht,
deren Wert aber durchaus nicht zu unterschätzen ist; denn
erst auf Grund von Experimenten, deren Bedeutung in der
Abänderung der Versuchsbedingungen liegt, sind wir imstande,
Erscheinungen, die uns wohl bekannt zu sein scheinen, in
ihren einzelnen feineren Zügen zu erkennen und diese auf
ihre Ursachen zurückzuführen. Erst wenn die Ermüdung so
in ihren Einzelheiten bekannt sein wird, wird es möglich sein,
•ein wirkliches Maß für die Ermüdung zu finden, bei dem sich
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
29
alle Fehlerquellen ausschließen lassen. Die Ermüdung läßt
sich auf zweierlei Art messen: einmal, indem man das Nach¬
lassen der psychischen Tätigkeit in Quantität und Qualität
selbst prüft, und zweitens, indem man die Eigenschaft der Er¬
müdung benutzt, daß sie die sämtlichen Körperfunktionen in
Mitleidenschaft zieht, und nun auf diesen Satz gegründet die
Änderungen z. B. in der Muskelleistung, in der Muskelkraft,
in der Haut- und Schmerzempfindlichkeit usw. bestimmt.
Am meisten von allen Untersuchungen ist die Rechen¬
methode, das Addieren oder Multiplizieren einfacher Zahlen,
angewandt. Aber selbst diese einfache Operation ist schon
ein ziemlich zusammengesetzter psychischer Vorgang: zunächst
ist das richtige Auffassen der Zahlen erforderlich, das Ge¬
dächtnis spielt bei dem eigentlichen Akt des Addierens oder
Multiplizierens eine Rolle, und schließlich ist das Aussprechen
oder Niederschreiben des Resultats wieder ein gesonderter Ge¬
hirnvorgang. Kraepelin^®) hat auf die Ähnlichkeit hinge¬
wiesen, die zwischen dem psychischen Zustand, der infolge
Alkoholintoxikation eintritt, und dem der physiologischen Er¬
müdung besteht. Der Alkohol erschwert die Auffassung und
die intellektuelle Verarbeitung der äußeren Eindrücke, er¬
leichtert aber die Auslösung von Bewegungen. Ebenso findet
sich bei der Ermüdung eine bedeutende Herabsetzung der Auf-
fassungs- und Rechenfähigkeit. Dagegen sehen wir ein Ge¬
ringerwerden der Denkfehler eintreten, die Resultate werden
zum Teil in qualitativer Hinsicht besser, während die Schreib¬
fehler und Verbesserungen in bedeutendem Maße zunehmen
[Rivers und Kraepelin*®)]. Es hängt dies jedenfalls mit
einer psychomotorischen Erregung zusammen, die sich unter
dem Einfluß der Ermüdung geltend macht. Ebenso haben sie
gewisse qualitative Vei’änderungen im Inhalte der Assozia¬
tionen gemein: Zunahme der äußeren, an Klang und Gesichts¬
vorstellungen sich anlehnenden Assoziationen und ein häufigeres
Auftreten ein und derselben Vorstellungen. Wer hat nicht
schon an sich selbst, wenn er stark ermüdet war, am Schreib¬
tisch die Beobachtung gemacht, daß immer dieselben Worte
und Vorstellungen wiederkehren?
Die Rechenmethode wandte zuerst Burgerstein^^) an,.
30
W. Bethge,
der vier Reihen einfacher Additions- und Multiplikationsauf¬
gaben zusammenstellte, deren Lösung mit den Pausen des
Einsammelns ungefähr eine Schulstunde in Anspruch nahm.
Die Änderung in Quantität und Qualität der Fehler in den
-einzelnen Abschnitten sollte einen Maßstab für die Ermüdung
abgeben. Anfangs ließ sich ein Steigen der gerechneten Auf¬
gaben feststellen, was der Übung zuzuschreiben ist, aber gleich¬
zeitig trat eine Verschlechterung in der Qualität der Leistungen
ein, die viel hochgradiger wuchs als die Geschwindigkeit der
Arbeit.
Laser**) in Königsberg ließ am Anfang jeder Stunde
eines fünfstündigen Schultages je zehn Minuten rechnen. Es
waren meist 13- bis 14jähi’ige Knaben und Mädchen. Auch
hier zeigte sich ein entschiedenes Anwachsen der Leistungsfähig¬
keit, am stärksten von der ersten zur zweiten Stunde; erst im
letzten oder vorletzten Abschnitt war meist eine geringfügige
Abnahme der Arbeitsgeschwindigkeit zu bemerken. Dagegen
erfuhren die Verbesserungen und Fehler gegen Schluß des
Versuchstages eine geringe Zunahme. Obwohl also im Durch¬
schnitt die praktische Arbeitsfähigkeit nicht in hohem Maße
beeinträchtigt gewesen zu sein scheint, so bestanden doch
überraschend große Unterschiede zwischen den Arbeitsleistungen
der einzelnen Schüler. Die höchsten Leistungen überboten
die geringsten vielfach um das Doppelte, ja sie stiegen sogar
auf das Vierfache. Und gerade bei den am wenigsten arbeiten¬
den Kindern findet sich gegen Schluß ein erhebliches Sinken
der Arbeitsleistung. Das weist uns darauf hin, daß wir hin¬
sichtlich der Ermüdbarkeit sehr individualisieren müssen. Mit
Recht hat die Ermüdbarkeit daher Kraepelin*®) eine „Grund¬
eigenschaft der Persönlichkeit“ genannt. Sie steht offenbar in
einem gewissen Gegensatz zur Übungsfähigkeit: je leichter er¬
müdbar eine Person ist, eine um so größere Übungsfähigkeit
scheint sie zu besitzen.
Richter**) in Jena gab in einer Untertertia während der
ersten Vormittagsstunden die Lösung einfacher arithmetischer
Aufgaben auf, die ungefähr ®/4 Stunde in Anspruch nahm.
Der Versuch wurde am folgenden Tage in der vierten Stunde
wiederholt. Während am ersten Tage sich eine Zunahme der
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
31
Arbeitsgeschwindigkeit mit jedem Teilstticke gezeigt batte, die
Fehler allerdings gegen Ende Zunahmen, war am zweiten Tage
die Steigerung der Geschwindigkeit nur gering, während die
Fehlerzahl bereits im zweiten Teilstück beträchtlich wuchs.
Ein zweiter Versuch, bei dem die einzelnen Beobachtungen
allerdings 14 Tage auseinanderliegen, zeigt nicht so deutliche
Resultate.
Alle diese Untersuchungen leiden an dem Mangel ge¬
nügender Eindeutigkeit. Die Aufgaben waren doch zu ver¬
schiedenartig, als daß sie einen Vergleich der einzelnen Werte
untereinander zuließen. Auch die Zeit wurde nicht in ge¬
nügender Weise berücksichtigt. Kraepelin*®) schlägt daher
das „Addieren einstelliger Zahlen“ vor, eine Methode, wie
er sie fast immer in seinen Laboratoriumsversuchen anwendet.
Die Anzahl der Additionen je zweier einstelliger Zahlen wäh¬
rend einer Minute, wobei die Resultate ganz unberücksichtigt
gelassen werden können, soll dem Ermüdungszustand einer
Person proportional sein. Ganz eindeutig ist auch dieses Ver¬
fahren nicht, es stellt aber wenigstens die besten Vergleichs¬
werte her. In der Praxis der Schule ist diese Methode in
größerem Maßstabe bisher wenigstens noch nicht erprobt
worden. Wohl sind einige Versuche damit angestellt worden,
die aber alsbald wieder aufgegeben wurden, da sie zu keinem
ausgesprochenen Resultate führten. Wir dürfen aber hierfür
nicht das Verfahren an sich anschuldigen, sondern müssen den
ungünstigen Erfolg vielmehr auf eine nicht genügende Ver¬
trautheit mit der Anwendung der Methode und der Berech¬
nung ihrer Versuchsergebnisse zurückführen. Daß sie brauch¬
bare Werte liefern kann, zeigen uns die Untersuchungen von
Specht^*), der durch eine 10 Minuten lang dauernde Arbeit
in den Kraepelinschen Rechenheften, die er jeden zweiten Tag
durch eine P^use von 5 Minuten unterbrach, um die Übungs¬
fähigkeit der einzelnen Personen festzustellen, sehr gute Resul¬
tate erzielte. Er stellte seine Versuche an 17 Gesunden und
6 Personen, die an traumatischer Neurose erkrankt waren, an.
Da die Ermüdbarkeit, wie wir wissen, schon unter normalen
Verhältnissen bei den einzelnen Menschen sehr verschieden
ist, so mußte zunächst die „Ermüdungsbreite“ der Gesunden
32
W. Betbge,
bestimmt werden. Dann zeigte sich durch vergleichende Ex¬
perimente an den Kranken, daß bei diesen die Ermüdbarkeit
erheblich größer ist als bei den Gesunden. Die Unterschiede
konnten zahlenmäßig festgelegt werden.
In zweiter Linie benutzte man Diktate von Zahlen, Wörtern
und Sätzen, um mit Hilfe der Fehlerzahl die Ermüdung zu
messen. Höpfner^') in Berlin untersuchte die Fehler eines
zweistündigen Diktats, das aus 19 Sätzen bestand, die einzeln
vorgelesen, von den Schülern hergesagt und niedergeschrieben
wurden. Die Anzahl der Fehler nahm natürlich gegen Ende
zu. Aber auch qualitative Unterschiede ließen sich feststellen.
Namentlich bewiesen die Fehler des „Ausfalls“ von Buch¬
staben, daß die äußeren Klangassoziationen, wie sie dem Kind
in der Umgangssprache geläufig sind, die Fehler bestimmten.
Auch das Schriftbild versagte bei zunehmender Ermüdung
immer leichter. Die logischen Operationen, das Subsumieren
unter Wortklassen resp. Regeln waren geschwächt.
Friedrich^®) aus Würzburg kam es darauf an, den Ein¬
fluß der gegenwärtigen Unterrichtsdauer auf die Leistungs¬
fähigkeit und ferner die Wirkung von eingeschobenen Arbeits¬
pausen zu untersuchen. Zu diesem Zwecke ließ er zehnjährige
Schüler einmal 12 Sätze von annähernd gleicher Buchstaben-
und Zeichenzahl und gleicher Schwierigkeitsstufe schreiben, das
anderemal je 5 Additions- und Multiplikationsaufgaben lösen;
für die erstere Aufgabe stellte er 30, für die letztere 20 Minuten
zur Verfügung. Diese Prüfungsarbeiten wurden zu Anfang
der ersten Stunde, nach der zweiten, dritten und letzten Stunde
geschrieben und auch am Nachmittag in entsprechender Weise
wiederholt. Dazwischen wurden verschieden lange Pausen
eingeschoben. Durchgehende zeigte sich eine Herabsetzung
der Leistungsfähigkeit nach länger dauerndem Unterricht. Die
Pausen sind von durchweg günstiger Wirkung. Eine ein¬
gehende Studie über den Einfluß von Arbeitspausen auf die
geistige Leistungsfähigkeit ist von Arnberg^®) gemacht worden.
Die Wirkung der Pause ist nicht an und für sich feststehend,
sondern hängt wesentlich von dem Zustand ab, in welchem
sich der Arbeitende in den verschiedenen Abschnitten seiner
Tätigkeit befindet. Pausen von gleicher Größe wirken bei
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 33
lange fortgesetzter Arbeit günstig, weil sie Erholung gewähren,
dagegen bei kurzdauernder Tätigkeit ungünstig, weil sie den
Übungsfortschritt herabsetzen und die Wirkung der „Anregung“
vermindern.
Auch die Gedächtnisleistung hat man zur Messung der
Ermüdung herangezogen. Dahin gehört das Memorieren von
Zahlen und zusammenhanglosen Silben, wie es Ebbing¬
haus®'') vorgeschlagen hat. Man hat hierbei einen Maßstab
für die Ermüdung in der Anzahl der Wiederholungen, die
nötig sind, bis die Reihe fehlerlos eingeprägt ist. Die Übungs¬
fähigkeit ist aber so groß dabei, daß die Ermüdungswirkung
nicht zum Vorschein kommt und die Resultate dadurch un¬
genau werden.
Eine sehr gute Methode scheint das Aussuchen und Durch¬
streichen von Buchstaben in vorgelegten Texten zu sein, die
man in mannigfacher Weise variieren kann, so daß hier der
Übungszuwachs nicht so leicht zur Geltung gelangt. Dieses
Verfahren wird von Ritter®^) sehr empfohlen, der es neben
dem Diktat von Wörtern für das beste Mittel hält, um den
Ermüdungsgrad einer Schülerklasse zu messen. Mit diesen
Hilfsmitteln hat er folgende Tatsachen eruieren können; „Die
Anstrengung einer Übersetzung ex tempore ist viel ermüdender
als die bloße Mitbeteiligung an einer Schriftstellerlektüre. 2. Der
vormittägige Unterricht in den Oberklassen der Württem-
bergischen Gymnasien ist im allgemeinen so eingerichtet, daß
die Ermüdung durch den Vormittagsunterricht durch die Mit¬
tagspause im wesentlichen wieder aufgehoben wird, daß aber
die Ermüdung am Schluß des zwei- bis dreistündigen Nach¬
mittagsunterrichts meist merklich größer ist als die nach dem
vierstündigen Vormittagsunterricht.“
Aus rein praktischen Gründen ist noch folgende Methode
von Ebbinghaus®*) angegeben. Er war genötigt, ein Gut¬
achten darüber abzugeben, ob die Ermüdung durch den fünf¬
stündigen Unterricht nachteilige Folgen haben könnte und in¬
wiefern die zunehmende Nervosität der Schulkinder damit in
Zusammenhang zu bringen wäre. Ebbinghaus sah sich
nach den bisher angewandten Methoden der Ermüdungsmessung
um: Griesbachs Methode, die wir später kennen lernen
3
34
W. Bethge,
werden, wurde verworfen, da sie kein Maß für den Grad der
geistigen Ermüdung habe, die Rechen- und Gedächtnismethode
geben nur Aufschluß über relativ niedere und einseitige Be¬
tätigungen des Geistes. Die eigentliche Intelligenztätigkeit ist
das Kombinieren, d. h. eine größere Vielheit von unabhängig
nebeneinander bestehenden Eindrücken zu einem sinnvollen
Ganzen zusammenzuscbließen. Er legte daher Schülern Lese¬
stücke vor, in denen einzelne Silben, Laute und Worte aus¬
gelassen waren, die sie nun sinngemäß ergänzen mußten. Die
Zahl der begangenen Fehler wurde als umgekehrtes Maß der
Kombinationsgabe betrachtet, das zugleich auch die Wirkung
der Ermüdung am deutlichsten erkennen lassen sollte. Das
Ganze wurde als ein Versuch angesehen, und dementsprechend
ließ sich ein definitives Urteil über die Ermüdung oder Nicht¬
ermüdung wenigstens in den oberen Klassen nicht abgeben,
dagegen zeigte sich ein zunehmendes Zurückbleiben der unter¬
sten Klassen mit den Schülern von 10 bis 12 Jahren hinter
dem, was man nach den Leistungen der höheren erwarten
sollte.
Wiermsa®*) konnte dieselbe Methode bei verschiedenen
Schülern mit Vorteil an wenden. Doch scheint sie weniger
ein Maß für die Ermüdung zu geben, als der Ausdruck für
die Kombinationsfähigkeit zu sein, die aber durchaus nicht der
psychischen Leistungsfähigkeit parallel zu gehen braucht.
Während die bisherigen Methoden fast ausschließlich für
die Praxis berechnet wären, werden von Kraepelin noch
einige andere angewandt, die in Laboratoriumsversuchen aus¬
gezeichnete Ergebnisse liefern: es sind dies die Bestimmungen
der einfachen und zusammengesetzten Zeit- und Assoziations¬
reaktionen. Über Ausführung und Deutung der Versuche findet
man in den „Psychologischen Arbeiten“ Kraepelins
und seiner Schüler ausführliche Angaben. Sie geben uns auch
vor allen Dingen einen Aufschluß über die Qualität der psy¬
chischen Leistungen im Ermüdungszustande.
Wir kommen nun zu den Versuchen, die die geistige Er¬
müdung nicht direkt, sondern indirekt messen. Griesbachs®®)
Methode ist sehr einfach und beruht auf der Beobachtung, daß
zwei Zirkelspitzen nur dann noch als gesondert auf der Haut
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
35
empfanden werden, wenn sie eine bestimmte minimale Ent¬
fernung haben, die für die einzelnen Körperregionen ver-
sebieden ist. Griesbach behauptet nun, daß die Gautemp-
findlichkeit durch die Ermüdung herabgesetzt und die Tast¬
kreise größer werden, so daß auch die Entfernung der
Zirkelspitzen vergrößert werden muß. Die Ergebnisse Gries¬
bachs zeigten eine große Übereinstimmung, so daß man auf
diese Untersuchungsart große Hoffnungen zu setzen berechtigt
war, da sie leicht ohne Störung der Unterrichtsbedingungen
ausgeführt werden konnte und wenig Zeit in Anspmch nahm.
Auch kommt der Übungseinfluß offenbar ganz in Fortfall.
Aber auch sie gibt kein Maß für die Schwere der Ermüdung,
da diese nicht mit der größeren Entfernung der Zirkelspitzen
in gleichem Sinne wächst. Trotzdem konnte Griesbach
ganz beachtenswerte Tatsachen damit feststellen. Ich will nur
einiges hervorheben: Die Zahlen für die Entfernung der Zirkel*
spitzen nehmen mit fortschreitender Ermüdung um das Doppelte
bis Vierfache zu. Doch ließ sich ein verschiedener Einfluß
der einzelnen Unterrichtsfächer nachweisen. Namentlich Mathe¬
matik und Latein, aber auch Französisch und Englisch setzten
die Hautempflndlichkeit beträchtlich herab, während besonders
die. Religionsstunden ein Nachlassen dieser Störungen erkennen
ließen. Durch Wechsel der Arbeit könnte hiernach scheinbar
ein günstiger Einfluß auf die Arbeitsfähigkeit ausgeübt werden.
Weygandt®*) hat durch Versuche nachgewiesen, daß dies
im allgemeinen nicht der Fall ist; wenn es aber vorkommt,
so ist die Schwere der Arbeit ausschlaggebend. Günstig wirkt
nur der Wechselantrieb, der mit einer Tätigkeitsänderung ver¬
bunden ist, und meist in einer leichten motorischen Erregung
besteht. Auch dürfen wir nicht einen partiellen Ermüdungs¬
zustand des Gehirns annehmen, der durch einen Arbeitswechsel
beseitigt werden könnte. Außerdem konnte Griesbach fest¬
stellen, daß am Morgen vor dem Unterricht eine Herabsetzung
der Hautempfindlichkeit gegenüber den schulfreien Tagen be¬
stand. Er schließt daraus, daß eine ganze Reihe von Schülern
früh nicht gehörig ausgeruht und frisch in die Schule kam.
Interessant sind die Beziehungen, die Römer®^) zwischen
Schlaf und geistiger Tätigkeit feststellte. Kurz nach dem
36
W. Bethge,
Schlaf zeigte sich eine deutliche Müdigkeit, die sich in dem
Fehlen des Arbeitsantriebs und den geringen absoluten Lei¬
stungen äußerte, aber nicht in die Symptome der Ermüdung
überging, sondern schließlich eine Zunahme der Arbeitsleistung
folgen ließ. Die Zeit des tiefsten Schlafes ist offenbar indivi¬
duell sehr verschieden. Während „Morgenarbeiter“ vor Mitter¬
nacht den tiefsten Schlaf haben, tritt die größte Schlaftiefe
bei „Abendarbeitern“ erst gegen Morgen ein. Diese psycholo¬
gischen Verschiedenheiten verdienen gerade bei Schulkindern
die größte Beachtung.
Vannod®®) und Wagner®**), der sich des Eulenburg-
schen Ästhesiometers bediente, konnten die Resultate Gries¬
bachs nur bestätigen. Auch Wagner fand relativ hohe
Anfangszahlen am Morgen, namentlich bei den Schülern der
Quarta. Es scheint gerade dieses Alter eine starke Ermüdbar¬
keit zu zeigen, wie schon Ebbinghaus gefunden hatte (vergl.
oben). Gleichfalls ist der Turnunterricht den anderen LTnter-
richtsgegenständen vollständig gleichzustellen und der Nach¬
mittagsunterricht ganz zu verwerfen.
Diesem günstigen Ausfall der Untersuchungen, die alle
für die Tauglichkeit der Griesbachschen Methode sprechen,
stehen aber neue Prüfungen gegenüber, die ein ablehnendes
Verhalten zeigen. Leuba®“) und besonders Bolton®^) halten
die Griesbachsche Methode für feinere Raumschwellenunter¬
suchungen für ungeeignet: Das gleichzeitige Aufsetzen der
Zirkelspitzen, der gleichmäßige Druck lassen sich nicht mit
der Exaktheit ausführen, wie es wohl wünschenswert wäre.
Auch ist die Größe der Raumschwelle in keiner Weise als
Maß für die Ermüdungswirkung einer geistigen Arbeit zu ver¬
wenden.
Trotzdem ist diese Methode in letzter Zeit noch einmal
von Binet®2) angewandt worden, allerdings in etwas modifi¬
zierter Form: er bediente sich kleiner Pappdeckel mit je zwei
Nadeln in verschiedener Entfernung, die den Zirkelspitzen
Griesbachs entsprechen, aber ein schnelleres, leichteres und
sorgfältigeres Hantieren zulassen. Auch prüfte er die Aus¬
sagen nicht bloß einmal, sondern öfters, indem er die Ent¬
fernung der Nadelspitzen beliebig oft auch in entgegengesetzter
Der Einfluü geistiger Arbeit auf den Körper. 37
Richtung variierte. Auf diese Weise konnte er zugleich noch
Schlüsse auf die Aufmerksamkeit ziehen. Er fand nun auch
etwas andere Resultate als Griesbach: 1. Die Reizschwelle
variiert außerordentlich bei den einzelnen Personen. 2. Die
geistige Ermüdung ruft eine Herabsetzung der Berührungs¬
empfindlichkeit, allerdings nur eine geringe, hervor. Sie fand
sich aber nur bei 5% der Knaben, bei ll®/o der Mädchen.
Wie erklärt sich diese geringe Zahl? Binet nimmt drei
Klassen von Individuen an: 1. Kräftige Knaben, bei denen
wohl Ermüdung eintritt, die sich aber nicht in der Herab¬
setzung der Empfindlichkeit äußert, oder bei denen das Ver¬
hältnis zwischen Ermüdung und dem Zustand der Empfind¬
lichkeit nicht konstant ist. Doch ist ersteres wahrscheinlicher.
2. Individuen, bei denen sich die Ermüdung normal durch
über drei falsche Antworten zeigt. 3. Paradoxe Subjekte, die
nach der Anstrengung die Spitzen in geringerer Entfernung
unterscheiden als vorher. Eine zweite Versuchsreihe ergibt
die gleichen Resultate, die sich dahin zusammenfassen lassen,
wenn man die Ausnahmefälle 1 und 3 unberücksichtigt läßt:
1. Die geistige Ermüdung der Schüler zeigt sich in einer am
Handrücken meßbaren Abnahme der Berührungsempfindlich¬
keit. 2. Die Herabsetzung drückt sich durch eine Verminde¬
rung der Antwort „doppelt“ bei der kleinen Entfernung 0,5
bis 1,5 cm, besonders stark bei 1 cm aus. 3. Sie ist größer
bei den Mädchen als bei den Knaben. 4. Sie ist einer Ände¬
rung in der Berührungsempfindlichkeit und nicht einer Ver¬
minderung in der Aufmerksamkeit zuzuschreiben. — Binet
hat außerdem noch das Verhalten der Schmerzempfindungen
im Zustande der Ermüdung geprüft und mit Hilfe des
Sphygmometers von Blocq-Verdier die interessante Tatsache
aufgedeckt, daß eine Steigerung des Gewichtes um ca. 1,8 kg
nötig ist, um Schmerz hervorzurufen, während sonst schon eine
Last von 6 bis 8 kg auf dem Rücken der vier Finger der
Hand dazu genügt. Die Angaben sind natürlich sehr subjektiv,
und daher ergaben sich schon bei der zweiten Untersuchung
ungenaue Resultate.
Auch an den Muskeln kann man sehr leicht und deutlich
Ermüdungserscheinungen beobachten; an ihnen sind sie über-
38
W. Bethge,
haupt zum erstenmale von Mos somit dem von ihm ange¬
gebenen Ergographen eingehend untersucht vrorden. Mit dem
Flexor des Mittelfingers einer Hand wird mittels eines ge¬
eigneten Apparates alle zwei Sekunden ein Gewicht von zirka
3 kg gehoben und wieder sinken gelassen. Die Höhepunkte
der einzelnen Zuckungen stellen eine unter dem Einfluß der
Ermüdung absteigende Kurve dar, welche auf einer Kymo-
graphiontrommel aufgezeichnet werden kann und eine für jedes
einzelne Individuum charakteristische Form hat, vorausgesetzt,
daß immer die gleichen Yersuchsbedingungen bestehen. Werden
diese abgeändert, z. B. das Gewicht vermehrt oder der Rhyth¬
mus beschleunigt oder verlangsamt, so treten auch Ände¬
rungen in der Arbeitsleistung ein, wie Oseretzkowsky und
Kraepelin^^) gezeigt haben: Bei Beschleunigung von 30 auf
60 nnd 120 Zuckungen in der Minute bessert sich die Leistung
hauptsächlich durch Vermehrung der Hebungen. Die Gesamt¬
muskelleistung ist beim Heben eines Gewichtes von 4 kg er¬
heblich größer als bei 6 kg. Interessant ist es nun, zu sehen,
wie geistige Arbeit die Muskelleistung beeinflußt. Mosso*)
konnte eine starke Herabsetzung dieser an Dr. Maggiora beob¬
achten, wenn dieser eine anstrengende Prüfung abgehalten
hatte. Er erklärte sich diese Erscheinung dadurch, daß die
übermäßige Gehimtätigkeit nicht allein eine lokale Erschöp¬
fung bedingt, etwa durch Anhäufung von Zerfallsprodukten
im Gehirn, sondern daß diese in den Blutkreislauf gelangen
und nun eine allgemeine Intoxikation der Muskeln des ge¬
samten Körpergewebes herbeiführen. Denn auch wenn er die
Willensanstrengung, d. h. den vom ermüdeten Gehirn aus¬
gehenden Reiz ausschloß, indem er den Muskel direkt durch
elektrische Ströme reizte, konnte er eine Verminderung der
Arbeitsleistung des Muskels wahrnehmen.
Umgekehrt konnte Bum®®) die Beobachtung machen, dafl
der Wille sich bei abwechselnd willkürlichen und unwillkür¬
lichen Kontraktionen des Muskels nicht wieder vollständig er¬
holt während der elektrischen Reizungen, sondern die Abnahme
der Muskelleistung konstant bleibt. Er zieht daraus für die
Praxis die Lehre, daß körperliche Anstrengung, so wie sie z. B.
das deutsche Turnen darstellt, nicht geeignet sein kann, dem
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Eörper.
39
Geist eine Erholung zu* bieten. Selbst Kürturnen und Spiele
verursachen eine, wenn auch nur geringe zentrale Ermüdung.
Erholung kann daher nur durch vollkommene körperliche und
geistige Ruhe erreicht werden.
Diese Frage, ob das Zentralnervensystem durch körper*
liehe, d. h. hauptsächlich Muskelermüdung, irgendwie in Mit¬
leidenschaft gezogen wird, hat auch Jotoiko^^) zu entscheiden
gesucht. Vor und nach einer genügend langen Arbeit der
rechten Hand mit dem Ergographen, wodurch also sicher Er¬
müdung des rechten Armes eintrat, wurde die Kraft der linken
Hand mit dem Dynamometer gemessen. Fand sich ein Unter¬
schied in der Kraftleistung, so war damit bewiesen, daß die
Ermüdung nicht auf den rechten Arm beschränkt geblieben
war, sondern das Gehirn ebenfalls, und zwar allgemein in
seiner Arbeitsfähigkeit geschädigt hatte. Joteiko fand nun
drei Gruppen von Personen: 1. type dynamogöne nennt er
solche Personen, die am besten der Ermüdung widerstehen
(10 :18), ja sogar zu Anfang eine leichte Erhöhung der dynamo¬
metrischen Leistung zeigen. 2. type inhibitoire: sogleich
nach der ersten Ermüdungskurve sinkt auch die dynamometri¬
sche Energie: die Ermüdung beschränkt sich also nicht auf
eine Gehirnhälfte, sondern zeigt auch in den anderen Gehirn¬
zentren Hemmungserscheinungen. 3. type intermödiaire:
zunächst besteht eine motorische Übererregbarkeit, die aber
dann in ein beständiges Nachlassen der dynamometrischen
Kraft übergeht.
Den Dynamometer kann man auch in ähnlicher Weise wie
den Ergographen anwenden, um die Ermüdung zu messen.
Claviere®^) ließ bei ausgestrecktem Arm alle drei Sekunden
15 mal hintereinander mit der Hand einen kräftigen Druck auf
den Dynamometer ausüben. Die Kraftwerte stellen eine ähn¬
liche Kurve dar wie die Höhen der Muskelzuckungen beim
Ergographen. Der Grad der Ermüdung läßt sich dement¬
sprechend ablesen. Nur schleichen sich hier viel leichter Beob¬
achtungsfehler durch auftretenden Schmerz, Transpiration der
Hand, die das Festhalten erschwert, und durch ungeschickte
Haltung des Apparates ein. Trotzdem prägte sich die Er¬
müdung nach einer beliebigen zweistündigen geistigen Arbeit
40
W. Bethge,
in dem Nachlassen der Muskelkraft deutlich aus, während
mittlere geistige Anstrengung keine sichtbare Schwächung der
Muskelkraft erkennen ließ.
Im Anschluß hieran will ich noch einige Untersuchungen
erwähnen, die uns das Verständnis der vorherigen Beobach¬
tungen etwas erleichtern. Durch verschiedenfache Änderung
der Versuchsanordnung bei den Ergographenmessungen waren
Hoch und Kraepelinzu dem Schluß gekommen, daß die
Ermüdung der Nervenzentren oder ihre Reizung die Zahl der
Erhebungen in der Zuckungskurve des Muskels verändert,
während die Höhe durch den Zustand des Muskels beeinflußt
wird. Daß nun auch die fallenden Dynamometerwerte die zen¬
trale Depression anzeigen, konnte Joteiko®®) dadurch beweisen,
daß er nach wies, daß das Sinken der Werte der Verminderung
der Erhebungen gesetzmäßig entsprach.
Schon oft haben wir gesehen, daß dem Nachlassen der
einzelnen Fähigkeiten unter dem Einfluß der Ermüdung eine
kurzdauernde Erregung vorausgeht. Man hat sich diese all¬
gemeine Erfahrung zunutze gemacht, indem man diese Er¬
regung durch künstliche Reizmittel hervorrief und dadurch die
Ermüdungserscheinung etwas hinausschob. Wie F 6re®^) nach¬
gewiesen hat, sind diese wohl imstande, eine augenblickliche
Steigerung der Leistungsfähigkeit sowohl in Quantität wie in
Qualität herbeizuführen, aber die allgemeine Ermüdung schreitet
trotzdem fort, ja sogar in erheblich schnellerem Tempo. Man
benutzt dazu gewöhnlich Tee, Kaffee und Alkohol in den ver¬
schiedensten Formen. Dabei sind aber Unterschiede in den
Reizantrieben dieser verschiedenen Mittel nach Hoch und
Kraepelin®®) zu bemerken: „Während die ätherischen Öle
eine Erleichterung der assoziativen Vorgänge und eine mäßige
Erschwerung in der zentralen Auslösung von Bewegungs¬
antrieben erzeugen, erschwert der Alkohol von vornherein die
Auffassung und die Assoziationen und ist nur mit einer vor¬
übergehenden motorischen Erregung verknüpft.“ Eine leichte
zentrale motorische Erregung findet sich auch in der Ermü¬
dung, die nach körperlicher Arbeit eintritt, im Gegensatz zur
geistigen Lähmung, die nach körperlicher Arbeit viel hoch¬
gradiger ist als nach geistiger (vergl. ßettmann^Q. Turn-
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
41
stunden und lange Spaziergänge können daher nicht als Er¬
holung für geistige Arbeit betrachtet werden.
Erwähnen möchte ich noch, daß die Ergographenkurve
auch für einige geistig-abnorme Zustände charakteristisch ist,
wie dies Breukink’^) zuerst untersucht hat. Die Hebungen
halten sich auf den Ermüdungskurven von Hysterischen ziem¬
lich lange auf großer Höhe, um dann plötzlich abzubrechen.
Nach einer Pause von zwei Minuten wird eine fast gleiche
Kurve gezeichnet. Das plötzliche Aufhören ist nicht durch
physiologische Ermüdung bedingt, sondern das Ermüdungs¬
gefühl wirkt bei Hysterischen derart lähmend, daß die Willens¬
energie plötzlich gehemmt wird. Bei Neurasthenikern bildet
die Verbindungslinie der Spitzen der Hebungen nahezu eine
gerade Linie. Die durchschnittliche Hebungshöhe, Anzahl der
Hebungen und mkg Arbeit ist bei ihnen kleiner als bei Ge¬
sunden.
Schließlich hat man noch die Akkomodations- und Kon¬
vergenzanstrengung der Augenmuskeln zur Feststellung der
Ermüdung herangezogen. Nach geistiger Arbeit erlahmen auch
diese ebenso gut wie die übrigen Körpermuskeln und ver¬
ursachen eine Störung in ihrer Funktion. Bei der Sehprüfung
konnte daher Moore’*) besonders in quantitativer Hinsicht
eine Verschlechterung unter dem Einfluß der Ermüdung nach
geistiger Arbeit beobachten: Ungenauigkeit der einzelnen Ur¬
teile, Unregelmäßigkeit im Gang der Beurteilung und häufigeres
Auftreten extremer Werte.
Auch in der Pupillenreaktion, in der abnehmenden Größe
des Gesichtsfeldes, in gewissen Abweichungen beim Farben-
erkennen fand man Ermüdungssymptome, die aber bisher nicht
weiter untersucht wurden (vergl. M. Offner’*). Soviel scheint
festzustehen, daß bei geistiger Ermüdung eine Erschlaffung
sämtlicher Augenmuskeln eintritt: die Pupille erweitert sich,
die Linse wird abgeflacht, die Augen nehmen eine leichte
Divergenzstellung ein (vergl. A. Binet et V. Henri’^).
Wenn wir nun auch die Ermüdung als einen physiologi¬
schen Vorgang auffassen müssen, der unter günstigen Er¬
holungsbedingungen zur Restitutio ad integrum führt, so
42
W. Betbge,
dürfen wir aber nicht außer acht lassen, daß sie auch vor¬
übergehende oder dauernde Schädigung des ganzen Körper¬
lebens veranlassen kann. Wir wissen z. B., daß eine Nacht¬
arbeit ohne besondere Erholung sich noch mehrere Tage in
der Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit ungünstig
bemerkbar macht. Daher ist es eben von der größten Wichtig¬
keit, daß jede einzelne Person die Grenzen ihrer Leistungs¬
fähigkeit und den Eintritt der Ermüdung kennt, um durch
rechtzeitiges Aussetzen der Arbeit schädlichen Folgen zu ent¬
gehen. Ein objektives Maß dafür haben wir bis jetzt wenig¬
stens noch nicht, und das subjektive ist häufig zu unbestimmt,
als daß man sich darauf verlassen könnte. Wohl äußert sich
die Ermüdung zuweilen in dem Gefühl der Müdigkeit, doch
kann dieses durch äußere Einflüsse und Gewohnheit soweit
herabgesetzt werden, daß es leicht übersehen wird. Und dann
treten plötzlich nach allzu langer geistiger Anstrengung die
Erscheinungen der Erschöpfung auf, ohne daß sich Vorläufer
gezeigt hätten. Man spricht dann gewöhnlich von Über¬
bürdung der Schulkinder (vergl. Kraepelin: Zur Überbür¬
dungsfrage). Gewiß kann eine geistige Überanstrengung in
sehr vielen Fällen zugegeben werden, die aber meist durch
häusliche Erziehungsfehler und Unsitten verschlimmert, anstatt
daß sie durch eine vernunftgemäße Erholung und Lebensweise
beseitigt oder wenigstens gemildert wird. Häufig ist es auch
erbliche Belastung, die diesen Zustand der reizbaren Nerven¬
schwäche leichter hervortreten läßt. Namentlich Wilde r-
muth^5) führt hierauf die Neurasthenie der Schulkinder zu¬
rück, die ebenso wie Hysterie, Chorea, Tic convulsif, Dementia
praecox und Melancholie meist mit der Überanstrengung in
der Schule in keinem kausalen Zusammenhang steht. Da¬
gegen stellt die werdende Geschlechtsreife, worauf Anton
besonders hingewiesen hat, eine folgenschwere Krisis für das
Nervensystem des Menschen dar. Hier kann schon eine rela¬
tive Überbürdung das auslösende Moment für spätere Nerven¬
krankheiten abgeben. Das Stiilestehen der seelischen Ent¬
wicklung, der Verlust der nachhaltigen Aufmerksamkeit, der
auffallende Wechsel der Stimmungslage, die krankhafte Frage¬
sucht bilden häufig die ersten Symptome dieser Änderung im
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 43
Zustand des Seelenlebens des Kindes, die schließlich zu einer
vollständigen Charaktenimwandlung führen kann.
Der Erwachsene scheint der Ermüdung gegenüber einen
größeren Widerstand bieten zu können. Allerdings kommen
auch hier in allen Berufsklassen durch geistige Überarbeitung
Erschöpfungszustände vor, die unter dem mannigfaltigen Bilde
der Neurasthenie und Erschöpfungspsychosen allgemein be*
kannt sind. Nach v. Krafft-Ebing”) haben wir zwei ver¬
schiedene Krankheitsbilder wohl zu unterscheiden: Die Nervosi¬
tät ist eine meist angeborene krankhafte Veranlagung des
zentralen Nervensystems, bei der die Reizschwelle abnorm tief
liegt und die Hemmungsvorgänge mangelhaft ausgebildet sind.
Durch zu frühe und unzweckmäßige Anspannung der Kräfte,
durch die Hast und unter dem Drang des Strebertums wird
diese Anlage nicht nur nicht an der Entwicklung gehindert
oder wenigstens in vernünftige Bahnen gelenkt, sondern die
einzelnen Symptome werden hochgradig verschlimmert bis zur
Irreparabilität. Die Neurasthenie ist eine krankhafte Steige¬
rung und Fixierung physiologischer Vorgänge der Ermüdung,
vielleicht eine trophische Störung der Ganglienzellen. Sie
wird meist erworben durch geistige Überanstrengung und
äußert sich in der Herabsetzung der Leistungsfähigkeit sämt¬
licher Körperorgane. Marie deManac^ine^®) stellt zwei
Hauptgruppen von Überarbeiteten auf, die in einem gewissen
Gegensatz zu einander stehen, und die sie folgendermaßen
charakterisiert: Die einen Menschen sind schlaff und gleich¬
gültig, haben Kopfschmerzen, eine unangenehme Empfindung
von Leerheit und Schwere im Kopf, sprechen und schreiben
langsamer als sonst und leiden an einer Schlafsucht, die nie
zur Erquickung führt. Bei den anderen zeigt sich eine über¬
triebene Erregbarkeit und Unruhe, die geringste Kleinigkeit
regt sie auf. In ihren Schriftstücken finden sich viele Aus¬
lassungen und Wiederholungen von Buchstaben, Silben und
Wörtern, sie gebrauchen viele Superlative, haben Zwangsge¬
danken und leiden an Kopfschmerz und Schlaflosigkeit. Wäh^
rend wir diesen Zustand als das Erregungsstadium der geistigen
Überarbeitung bezeichnen dürfen, haben wir in der ersten
Klasse Menschen des Lähmungsstadiums vor uns. Leider
ireiillea '
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-cTliß .^rpQi'BöjX^^‘ *401^11, Lesen; durch optifi.dkd .dSrinnerungs-.
bildar.Äur psytüiiseliön AusScliwdlftiQg fühTt lind dadurch auch
v-Edrper ain^^rkfe. ' Ihv^de hohem Gira
'di6\J^svhhe;:^ Imstande ist, 'Krankheiten, und Kranke
4mit^kö$iänd6 auszuHi-settv d u ke in ßoche
. hb#;4'l^lat^OT izdhli'eichft Bas ganke grnße
, ; ^leek; dM^ m Efankheden\ gehört hierher. Bie Be-
. ;sbh:weTd»h sind aher nicld nur
; kÖrps,r.iioh^^^s^^ söferi .üachinsseo öder vergehwiädeiiy
■sühgld ähdere' Kichtiitig gegeben isk Förcht,
Schreck^ Angrti dbe^i nnßh^^ I \ind WillenstaGgkmk
kdti&dh Jrtahk^^ ■;. ' : ■
gn lasaeh ;kin.d .sphliehH<di'hOßh
. ' die geistige Anstrengung; indirejiti fdr die
körpörlich«^. iSntW daff KörperXeheÄ hach diöh idehi;,.;
Eahächät vertrsähht diei. ühei’tuäiiigß AnstVengung
0nangeüehmö, ja-. seihet .schädliche Erseheiniingen..Min.’shh’i)
erwähnt in goihcm Buehft «Bife Hrmhdung,“ (hö;Tatäach«\: 4^^
bei 25 % der i^iefter: Gjmnä&iartbn'seh^ leicht- emiAkkomoda'-
tränskrampr dlk eintritt. Die Leichtig¬
keit,; de» . Atigenuauskel. -Itf.,- andatihrnde Kontrakfionr .zu ver-
■setzen, bewirkte alJinählijch eihö Fonnverimdening; dek Auges ,
und weiterhin Kurzsichtigkeit. 0ie Anstrengung, die das
Auge beim BetfUchteQ nufe maphoii nmß^ ,isi die
.:gewc.bnlÜ3hrte: ürtäöhe 'diA'Kdrt’^'^btigkeit in den Bchulenfe^^
■Eine äbnU'#0 .Erklärung^^^, Kürtäichtigkiöh '
' K.hg'^T)' •,_ ■ dpr^' wotjlger Ab) uhhhsöftighh- ^ äiiSefeö; '^etbdl this&e.-
. >Ah. Shlöi'e.hy .die Art idei“ 'BeäChHftigiing’ Ufid- die, Ahlage. des
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
45
einzelnen dafür anschnldigt. Die Kurzsichtigkeit entsteht unter
dem Einfluß der Lese- und Schreibarbeit in der Zeit des
Wachstums. Das kurzsichtige Auge erhält dabei einen größeren
Längsdurchmesser. Die Formveränderung wird hervorgerufen
durch das Wachstum der unter dem Druck der Naharbeit
sich kontrahierenden Augenmuskeln. Die Disposition sei aber,
und das ist das Wesentliche dabei, im Bau des Gesichts¬
schädels zu suchen, wie er durch Messungen an 400 Leichen
festgestellt hat. Interessant sind einige statistische Zahlen,
die Dr. Seggel^®) durch Untersuchung von Kadetten und
Soldaten der bayerischen Armee gefunden hat. Danach sind
kurzsichtig:
1. unter den Soldaten vom Lande und aus Landschulen
2 %,
2. von den städtischen Lohnarbeitern, die meist aus Volks¬
schulen hervorgegangen sind, 4 bis 9®/o,
3. unter den Handwerkern, Kaufleuten und Angestellten
44 »/o,
4. unter den Einjahrig-Freiwilligen 58®/o,
5. und von denen, die das Gymnasium ganz durchgemacht
haben, 63®/o.
Wir sehen also, wie hier die höhere Bildung und damit
die größere geistige Anstrengung auf das Sehvermögen in
steigendem Maße schädlich eingewirkt hat.
Auch das Stubensitzen, das leider unweigerlich mit gei¬
stiger Arbeit verbunden ist, überhaupt die geringe körperliche
Bewegung haben nachteilige Wirkungen für den Körper zur
Folge. Der Kopf wird infolge des Blutandranges bei geistiger
Anstrengung überhitzt, die extremen Körperteile, namentlich
Hände und Füße, erleiden Blutverlust und werden kalt. Nicht
allein bereitet das Kaltwerden der Füße ein unangenehmes
Gefühl, sondern die andauernde veränderte Blutverteilung
lähmt das Vasomotorensystem und erschwert dadurch die
Wärmeregulation, wodurch einer Erkältung Tor und Tür ge¬
öffnet wird. Der Körper ist nicht mehr imstande, auf Tem¬
peraturschwankungen in gehöriger Weise zu reagieren. So
sehen wir denn viele Stubenarbeiter bei dem geringsten Luft¬
zug eine Erkältung davontragen. Und leider ist diese oft der
46
W. Bethge,
Anlaß zum Ausbrucli einer schwereren Krankheit, die den
meist an und für sich nicht kräftigen Organismus in große
"Gefahr bringen kann.
Auch Verdauung und Ernährung haben unter geistiger
Anstrengung indirekt zu leiden. Die veränderte Blutzirkulation
ruft eine leichte Störung der Funktionen der inneren Organe
hervor, wodurch die Resorption und Verbrennung der Nähr¬
stoffe verzögert resp. herabgesetzt wird. Die mangelnde Körper¬
bewegung führt zu einer Verlangsamung der Darmperistaltik
und damit zu habitueller Obstipation. Diese hat wiederum Kopf¬
schmerzen, Unbehagen und Übelkeit im Gefolge. Mit einem
Wort drückt dies Tissot aus, wenn er sagt: L’homme qui pense
le plus, digöre le plus mal.
Die häufig noch ungenügend ventilierte Stubenluft vermag
dem Körper keine Erfrischung und Erholung zu bieten. Der
Hautreiz und der Sauerstoffwechsel sind nicht so rege wie in
frischer Luft. Das Fehlen jeglicher körperlicher Bewegung
läßt die Muskeln erschlaffen und macht sie kraftlos, so daß
eine allgemeine körperliche wie psychische Trägheit eintritt.
Schließlich ist häufig noch ein Sinken der Lebensfreude
und der Freude an der Natur zu bemerken, das einerseits
-durch das Stubenhocken und andererseits durch das Grübeln
über abstrakte Ideen veranlaßt wird. Das ethische Gefühl
wird durch philosophische Begriffe bestimmt und zuweilen in
absurde Bahnen gelenkt, anstatt durch rein natürliches Emp¬
finden geleitet zu werden. Der belebende Hauch des Lebens
in der Natur wirkt auch erfrischend auf den menschlichen
Körper und Geist, die ja doch nur Teile von ihr sind. Ein¬
geschlossen in seine vier Wände wird auch der Mensch ver¬
trocknen wie eine Blume, die in den Keller gestellt wird.
Das Bücherstudium allein bringt uns nicht vorwärts, sondern
wer wirklich leben will, der muß auch täglich aus dem Quell
des Lebens trinken, der muß vertraut sein mit der Natur und
dort seine Erholung suchen, wo allein er sie finden kann.
So kann geistige Arbeit ebenso wie die körperliche, in
übermäßiger und unzweckmäßiger Weise betrieben, für den
Körper schädliche Folgen haben. Aber im allgemeinen ist sie
dem Gehirn ebenso zuträglich wie die Bewegung dem ganzen
Der Einfluß geistiger Arbeit auf den KOrper.
47
Körper. Aufgabe der Zukunft wird es sein, die geistige Aus¬
bildung und Fortentwicklung so zu gestalten, daß auch der
Körper zu seinem Rechte kommt und Geist und Körper harmo¬
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heraasgegeben von
Prof. Dr. A. Hoch6,
Freiburg i. Br.
Band IX, Heft 4.
Periodizität und periodische Oeistesstörungen.
Von
Dr. Franz Mugdan, Freiburg i. B.
Der Begriff der Periodizität gehört der verhältnismäßig
kleinen Klasse derjenigen Begriffe an, die sowohl in der Mathe¬
matik bezw. der mathematischen Naturwissenschaft, als auch
in der Biologie bezw. der Medizin und ihren Untergruppen eine
bedeutsame Bolle spielen. Es ist kein bloßer Zufall, daß die
Klasse dieser Begriffe so eng umgrenzt ist; es hat dies viel¬
mehr seinen guten Grund, und zwar liegt dieser in der prinzi¬
piellen Verschiedenheit der mathematischen Begriffsbildung auf
der einen, der biologischen, überhaupt naturwissenschaftlichen
Begriffsbildung auf der anderen Seite. Beide Disziplinen, Mathe¬
matik und Naturwissenschaft, haben, da sie beide Seinswissen¬
schaften sind, das eine Gemeinsame, daß sie ihr Substrat aus
dem Seienden, d. h. aus der objektiven Wirklichkeit zu formie¬
ren haben. Sie haben es zu formieren, da ja die objektive
Wirklichkeit selbst schlechthin unerkennbar ist; sie ist, wie es
Rickert in einer zunächst paradox, bei näherem Zusehen aber
durchaus zweckmäßig erscheinenden Terminologie ausgedrückt
hat,ein heterogenesKontinuumund als solchesprinzipiellirrational.
Die Wissenschaft hat nun zwei Möglichkeiten, um dieses hete¬
rogene Kontinuum der wissenschaftlichen Bearbeitung zugäng¬
lich, also rational, zu machen; nämlich: entweder sie betont
die Kontinuität und verzichtet auf die Heterogenität, studiert
also ein homogenes Kontinuum — das tut die Mathematik bezw.
die mathematische Naturwissenschaft —, oder aber sie betont
die Heterogenität und verzichtet auf die Kontinuität, studiert
also ein heterogenes Diskretum — das tut die experimentelle
und beschreibende Naturwissenschaft. Beide Wissenschaften
1*
4
Dr. Franz Mugdan,
basieren also auf konträren Voraussetzungen, und daraus erhellt
sofort, daß auch die mathematische und die naturwissenschaft¬
liche Begriffsbildung mit Notwendigkeit gegensätzlich sein
müssen. Hieraus folgt des weiteren, daß ein der Mathematik
und der Naturwissenschaft gemeinsamer Begriff, wie es die
Periodizität ist, in beiden Wissensgebieten eine ganz rerschie-
dene Bedeutung besitzen muß. Der mathematische Begriff der
Periodizität besitzt gegenüber dem naturwissenschaftlichen den
zeitlichen und auch den logischen Primat, weshalb wir uns zu¬
nächst mit jenem beschäftigen.
Wir hatten gesagt, die Mathematik verwandele die hetero¬
gene kontinuierliche objektive Wirklichkeit, um sie mathematisch
faßbar zu machen, in ein homogenes Kontinuum. Sie hebt
dadurch eine Kardinaleigenschaft der Wirklichkeit, nämlich
das Qualitative, auf und beschränkt sich somit auf das Studium
der reinen Quantität. Daraus folgt nun sofort mit Notwendig
keit, daß die mathematischen Begriffe aus bloßen Quantitäts¬
beziehungen resultieren müssen. Dieses Grundprinzip der mathe¬
matischen Begriffsbildung beansprucht selbstverständlich auch
für den mathematischen Begriff der Periodizität seine Geltung.
Das kommt jedoch nur dann klar zur Anschauung, wenn wir
das Periodische oder, besser gesagt, die periodische Funktion
in rein mathematischer Form definieren. Wir haben da die
mannigfachsten, durchaus gleichberechtigten Möglichkeiten der
Begriffsbestimmung; ob wir sagen, eine periodische Funktion
bleibt ungeändert bei Vermehrung des Argumentes um Perioden¬
vielfache, oder eine periodische Funktion läßt sich in eine Fou¬
rier’sehe Reihe entwickeln, oder eine periodische Funktion läßt
sich durch eine Sinuslinie darstellen — es wird damit stets
der gleiche Begriff getroffen und die eine Definition involviert
zugleich die anderen. Alle drei Definitionen haben das eine
Gemeinsame, daß sie bloße Quantitätsrelationen sind; dagege^n
besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den ersten beiden
Begriffsbestimmungen auf der einen, der dritten auf der anderen
Seite, wenn wir sie vom Standpunkte allgemeiner Begriffskritik
aus untersuchen. Die beiden ersten Definitionen basieren offen¬
bar lediglich auf dem reinen Zahlbegriffe; es gehen in sie in¬
folgedessen außer rein logischen Bestandteilen lediglich solche
Periodizität und periodische Geistesstdrungen.
5
nichtlogische Elemente ein, wie sie bereits für die Bildung des
Zahlbegriffes unumgänglich notwendig sind. Die dritte Defini¬
tion «lagegen gibt den Begriff in geometrischer Form, sie ver¬
wendet also außer dem rein Mathematischen noch ein Anschau¬
liches, den Raum. Es ist nun für das Folgende unzweckmäßig, mit
dem Periodizitätsbegriffe in seiner rein mathematischen Form
zu operieren; wir brauchen vielmehr eine Umschreibung, die
zwar, wie alle Umschreibungen des Mathematischen, etwas In¬
korrektes an sich hat, aber trotzdem für unsere Zwecke von
Vorteil ist. Wir wollen dabei von dem Begriffe der periodischen
Funktion abstrahieren und uns lediglich an das Periodische
selbst halten. Eine umschreibende Begriffsbestimmung, wie wir
sie jetzt zu geben beabsichtigen, kann nicht allein auf mathe¬
matischen Begriffen basiert werden; es muß in sie unbedingt eine
der beiden Anschauungsformen, entweder der Raum oder die Zeit,
einbezogen werden. Unter diese bei den vorliegenden Möglich¬
keiten wählen wir die letztere, definieren also Periodizität in
der Zeit. Wir geben dann die folgende Begriffsbestimmung:
Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der
Periodizität zu, wenn in zeitlich gleichen Intervallen gleiche
Ereignisse eintreten.
In diese umschriebene Definition gehen Qualitäten, wie
es Ereignisse doch sind, nur scheinbar ein. Was wir
hier notgedrungen mit dem Worte „Ereignis“ bezeichnen,
das ist in der Mathematik bezw. der mathematischen Physik
nichts als eine reine Quantität, z. B. die Exkursionsgröße eines
Pendels, die räumliche Lage eines Planeten in bezug auf ein
zur Sonne fixes Kordinatensystem, die Länge einer elektrischen
Welle oder ähnliches mehr.
Wir werden nun im folgenden, um zu einem für die Bio¬
logie und ihre Untergruppen brauchbaren Periodizitätsbegriffe
zu gelangen, so verfahren: Zunächst stellen wir den Versuch
an, ob es möglich ist, den mathematischen Periodizitätsbegriff
ohne jede formale oder inhaltliche Änderung auf die Biologie
zu übertragen. Es wird sich zeigen, daß dieser Versuch not¬
wendigerweise scheitern muß. Sobald dieses negative Faktum
erwiesen ist, diskutieren wir ad 1 die Frage: Welches sind
die notwendigen Modifikationen, denen man unsere obige
6
Dr. Franz Magdan,
Begriffsbestinuunug unterwerfen muß, um den allgemeinen
Prinzipien biologischer Begriffsbildnng zu genügen? Und ad 2:
Sind diese notwendigen Modifikationen auch hinreichend,
um dem Periodizitatsbegriffe seine für die Biologie und speziell
für die Neuro- und Psychopathologie zweckmäßigste Form
zu verleihen?
Wir versuchen also, dem eben vorgezeichneten Programme
entsprechend, zunächst, ob die mathematische Form des Perio¬
dizitätsbegriffes auch für die Biologie brauchbar ist. Daß dies
nicht der Fall sein kann, sehen wir sofort ein, wenn wir an
unsere anfänglichen allgemeinen Erörterungen über mathe¬
matische und biologische Begriffsbildung denken. Wir hatten
da gesehen, daß die Mathematik ein homogenes Kontinuum
studiert, daß sie infolgedessen nur quantifizierbare Größen kennt,
und daß demnach auch der Begriff des »Ereignisses“, den wir
in unsere umschriebene Definition des Periodizitätsbegriffes
einbezogen hatten, nichts ist als eine bloße Quantität. Die
Biologie dagegen studiert ein heterogenes Diskretum; daraus
resultiert aber, daß die Qualität die für ihre Begriffsbildung
maßgebende Kategorie sein muß. Wenn wir also unsere Definition
des Periodizitätsbegriffes zunächst formal ungeändert lassen
können, so müssen wir doch sofort eine inhaltliche Modifikation
vornehmen; wir müssen nämlich unter dem Begriffe „Ereignis“
nun nicht mehr bloß, wie in der Mathematik, eine scheinbare,
sondern eine durchaus reale Qualität verstehen. Sobald wir
nun aber diese erste Modifikation vorgenommen haben, drängt
sich uns sofort mit Notwendigkeit eine zweite auf. Was sol¬
len wir nämlich in der Biologie unter gleichen Ereignissen
verstehen? Die biologischen Ereignisse sind, wie wir soeben
gesehen haben, reale Qualitäten, und von der Gleichheit —
vorläufig natürlich noch immer der mathematischen Gleich¬
heit — zweier Qualitäten zu reden ist widersinnig. Wir
sehen uns also sofort gezwungen, den Begriff der mathema¬
tischen Gleichheit durch etwas anderes zu ersetzen, und zwar
wählen wir, wie die Entwickelung gelehrt hat, zweckmäßiger¬
weise als dieses andere das begrifflich Gleiche oder, in
weiterer Fassung, das logisch Assoziierte. Diese logische
Assoziierung kann nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten
Periodizität and periodische Geistesstörungen.
7
vorgenommen werden, nämlich nach dem der Ähnlichkeit und
dem der Unähnlichkeit; fassen wir diese beiden Verknüpfnngs-
formen, einer mathematischen Analogie folgend, nnter dem Be¬
griffe der logischen Verwandtschaft zusammen, so hätten wir
als erste vorläufige Bestimmung des biologischen Periodizi¬
tätsbegriffes die folgende: Einem Systeme von Ereignissen
kommt die Eigenschaft der Periodizität zu, wenn in' zeitlich
gleichen Intervallen logisch verwandte Ereignisse eintreten.
Diese Definition deckt sich — nicht der Form, wohl aber dem
Inhalte nach — mit der Begriffsbestimmung, die Hitz ig gegeben
hat. Niedergelegt ist sie in seiner 1898 in der Berliner Klinischen
Wochenschrift erschienenen Arbeit: Über die nosologische
Auffassung und über die Therapie der periodischen* Geistes¬
störungen.
Die Hitzigsche Definition hat nun einen Mangel, der wieder
auf der Gegensätzlichkeit der mathematischen und der biologi¬
schen Begriffsbildung beruht. Der mathematische Begriff kann
und muß unabhängig von jeder Eausalbeziehung gegeben werden,
der biologische muß dagegen unbedingt eine solche enthalten,
d. h. es muß bereits in der Begriffsbestimmung gesagt werden,
wodurch denn die mehrfache Wiederkehr der verwandten Er¬
eignisse bedingt sei. Sie darf natürlich nicht bedingt sein
durch ein in gleichen Intervallen sich wiederholendes exogenes
Moment — wir würden dann zu Trivialitäten gelangen, wir
müßten z. B. bei einer Frau, die zufällig eine Reihe von Kindern
gebärt, die im Alter untereinander je um ein Jahr differieren,
von einer periodischen Gebärtätigkeit reden u. ähnl. m. Es
muß vielmehr die Wiederkehr der Ereignisse „endogen“ bedingt
sein, sie muß, wie es Ho che in seiner Arbeit „Über die leichteren
Formen des periodischen Irreseins“ formuliert hat, „ohne äußeren
Anlaß oder doch ohne entsprechenden äußeren Anlaß erfolgen,
aus Gründen, die lediglich in der Organisation des Betroffenen
liegen.“
Die letzte Modifikation, die wir mit unserer Definition
vorzunehmen haben, um den allgemeinen Prinzipien biologischer
Begriffsbildung zu genügen, hat sich auf die zeitlich gleichen In¬
tervalle zu beziehen. Es gilt hier für den Begriff der Gleich¬
heit genau dasselbe, was wir bei Gelegenheit der „gleichen
8
Dr. Franz Mngdan,
Ereignisse“ gesagt hatten; es kann natürlich von einer Gleich¬
heit der Intervalle im mathematischen Sinne nicht die Rede
sein, da sich in der „Natur“ niemals mathematische Gleichheiten
vorfinden können. Wir ersetzen demnach den Begriff der zeit¬
lichen Gleichheit durch den der Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßig¬
keit. Dabei müssen wir es uns versagen, an dieser Stelle den
Begriff der Gesetzmäßigkeit näher zu bestimmen; es würde
uns das viel zu weit in rein logische Probleme — über das
Verhältnis der „Natur“ zur objektiven Wirklichkeit und über
die erkenntnistheoretische Bedeutung der Naturgesetzlichkeit —
hineinführen, und wir beschränken uns deshalb darauf, auf das
in diesen Fragen bahnbrechende moderne Buch, auf Rickerts
„Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ hin¬
zuweisen.
Wir haben nunmehr die Klasse derjenigen Modifikationen,
die mit unserer ursprünglichen mathematischen Definition der
Periodizität vorgenommen werden mußten, um diese mit den
biologischen Grundprinzipien in Einklang zu bringen, erschöpft
und damit die folgende vorläufige Begriffsbestimmung gewonnen:
Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der
Periodizität zu, wenn in zeitlich gesetzmäßigen Intervallen
logisch verwandte Ereignisse eintreten, aus Gründen, die ledig¬
lich in der Organisation des Betroffenen liegen, ohne daß dafür
ein äußerer Anlaß oder doch ein entsprechender äußerer An¬
laß vorläge.
Unserem Programme getreu untersuchen wir nunmehr, ob
die eben näher präzisierten notwendigen Modifikationen
unserer ursprünglichen Definition des Periodizitätsbegriffes
gleichzeitig auch hinreichend sind, um der Definition die
für die Biologie im allgemeinen, für die Medizin und ihre
Untergruppen im besonderen zweckmäßige Form zu verleihen.
Wir fragen da zunächst: Gibt es überhaupt in der Biologie
Systeme von Ereignissen, die in dem eben definierten Sinne
als periodisch zu bezeichnen sind? Diese Frage wird unbe¬
dingt von jedem bejaht werden. Die normale menschliche
Physiologie liefert da Beispiele genug. Dem Schlafbedürfnis,
dem Hungergefühl, der Körpertemperatur, der weiblichen
Menstruation und vielen anderen Ereignissen kommt die Eigen-
Periodizität und periodische OeistesstOrungcn.
9
schalt der Periodizität im oben definierten Sinne zu. Ja, es
gibt eine Kategorie von Forschem, die behaupten, daß über¬
haupt alles biologische Geschehen — ganz gleich, ob es sich
im Pflanzen- oder im Tierreiche abspielt — einer durchaus
gesetzmäßigen Periodizität unterworfen ist, mit anderen Worten,
daß die Periodizität das regulative Prinzip aller biologischen
Vorgänge ist.
Diese Lehre knüpft sich, wenn wir von Vorläufern wie
Havelock EUis u. a. absehen, vornehmlich an zwei Namen,
an die Fließ’ und Swobodas. Zwischen beiden hat lange
Zeit hindurch ein Prioritätsstreit bestanden; dieser ist nun
zweifellos zugunsten F1 i e ß ’ entschieden, ja es darf sogar als
feststehend erachtet werden, daß Swoboda seine Gedanken
direkt oder indirekt von Fließ übernommen hat. Wir können
uns deshalb, speziell, da es uns an dieser Stelle natürlich nur
auf prinzipielle, nicht aber auf besondere Fragen ankommen
kann, lediglich auf eine Betrachtung der Fließ sehen Theorie
beschränken. Man könnte uns nun vielleicht von vornherein
den Einwurf machen, daß es nichts heiße als offene Türen
einzurennen, wenn wir uns hier des näheren mit Fließ aus¬
einandersetzen. Dieser Einwurf wäre zweifellos insoweit be¬
rechtigt, als wohl ganz allgemein der Fließ sehen Theorie
jede wissenschaftliche Bedeutung aberkannt wird. Wenn wir
aber trotz dessen näher auf sie eingehen, so hat das seinen
Grund darin, daß die Kritik im allgemeinen nicht die wirklichen
Denkfehler in der Fließschen Lehre aufgedeckt, sondern sie
meist auf falschem Gebiete gesucht hat.
Die Fließsche Theorie basiert auf zwei voneinander
nicht trennbaren Hauptgedanken, sie besagt erstens, daß allen
Lebewesen eine dauernde Doppelgeschlechtigkeit, zweitens allen
Lebensvorgängen eine zweifache Periodizität zukomme. Uns
interessiert im Laufe unseres jetzigen Gedankenganges nur der
zweite Teil dieser Lehre. Genauer präzisiert besagt dieser:
Die Lebensvorgänge spielen sich, als Funktionen der Zeit be¬
trachtet, derart ab, daß sie sich, bei Zugrundelegung des Tages
a,ls der Zeiteinheit, als doppelt periodische Funktionen der Zeit
mit 23 und 28 als Grundperioden darstellen lassen. Diese Be¬
hauptung widerspricht nun zunächst — und damit ist sie natür-
10
Or. Franz Mugdan,
lieh a priori gerichtet — den einfachsten erkenntnistheore*
tischen Prinzipien. Es würde uns zu weit führen, wenn wir
das hier näher auseinandersetzen wollten; wir müssen uns des¬
halb darauf beschränken, wieder auf die grundlegenden Er¬
örterungen über den Charakter biologischer Begriffe in Rickerta
„Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ hinzu¬
weisen. An dieser Stelle wollen wir nur, was viel einfacher
ist und was keine weit ausgreifenden Vorbereitungen erfordert,
den Nachweis führen, daß die Fließsche Lehre vom mathe¬
matischen Standpunkte aus sofort ad absurdum zu führen ist.
Dabei woUen wir von vornherein Eines betonen, was vielfach
gerade von den medizinischen Kritikern Fließ’ außer acht
gelassen worden ist, daß nämlich alle Resultate, die in Fließ’
Bache über den Ablauf des Lebens niedergelegt sind, durchaus
Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben dürfen. Falsch sind
lediglich die Schlußfolgerungen, die Fließ aus seinen Resultaten
zieht. Zunächst ist zu konstatieren, daß die Fließsche Grund¬
behauptung, die Lebensvorgänge seien doppelt periodische
Funktionen der Zeit mit 23 und 28 als Grundperioden, nur auf¬
gestellt werden konnte, wenn der Autor über die prinzipiellen
Sätze der mathematischen Funktionentheorie im unklaren war.^
Die Funktionentheorie liefert nämlich mit ganz elementaren
Hilfsmitteln den Beweis, daß es doppelt periodische Funktionen
mit zwei ganzzahligen Perioden nicht geben kann, sondern daß
sich diese stets als einfach periodische Funktionen darstellen
lassen, deren Grundperiode der größte gemeinschaftliche Teiler
der beiden ursprünglichen Perioden ist. In unserem Falle würden
sich also die Lebensvorgänge, sobald sie sich als doppelt pe¬
riodische Funktionen der Zeit mit den Perioden 23 und 28
darstellen lassen, auch als einfach periodische Funktionen der
Zeit mit dem größten gemeinschaftlichen Teiler von 23 und 28
d. h. aber mit der Einheit, als Grundperiode veranschaulichen
lassen müssen. Diese Behauptung ist aber nichts als eine Tri¬
vialität, denn es ist natürlich absolut selbstverständlich, daß bei
Zugrundelegung des Tages als Zeiteinheit sämtliche Lebens¬
vorgänge, als Funktionen der Zeit betrachtet, periodische Funk¬
tionen mit der Periode Eins sind. Wir sind also auf Grund
prinzipieller mathematischer Sätze gezwungen, die Fließsche
P«|riodizUilt und periodische Geistesstörungen.
11
Lehre a priori als trivial aazusehes. Im speziellen läßt sich
das sofort erhärten, und zwar auf doppelte Weise. Einmal
läßt sich nämlich zeigen, daß s ämtl ic he Zahlen unserer Zahlen¬
reihe sich in einfachster Weise durch 23, 28, sowie die Größen
28—23 und 28-{-23, die Fließ als A bezw. 2 bezeichnet,
darstellen lassen. Sodann aber ist mit Leichtigkeit der Beweis
zu führen, daß bei Zugrundelegung zweier beliebiger anderer
teilerfremder Zahlen als Grundperioden genau ebenso einfache
und scheinbar gesetzmäßige Resultate sich ergeben, wie sie
Fließ als spezifische Konsequenzen der 23- und 28-tägigen
Perioden der Lebensvorgänge hinstellen will. Wir wollen diese
Behauptung hier nicht im speziellen erhärten; jeder, der sich
für derartige Dinge interessiert, kann sie mit Leichtigkeit veri¬
fizieren. Wir sind also zu dem Ergebnisse gekommen, daß die
Gesetzmäßigkeiten, die Fließ aus seinen Resultaten abgelesen
hat, gänzlich unabhängig sind von den biologischen Vorgängen
selbst, und daß sie lediglich längst bekannte zahlentheoretische
Merkwürdigkeiten repräsentieren. Dies gilt natürlich, wie wir
wohl eigentlich nicht noch einmal ausdrücklich zu betonen
brauchten, ausschließlich für diejenigen Lebensvorgänge, die
bei Fließ als doppelt periodische Funktionen der Zeit dar¬
gestellt werden; es hat dagegen keine Geltung für alle die¬
jenigen biologischen Geschehnisse, denen von Hause aus er¬
fahrungsgemäß eine einfache Periodizität zukommt, wie das
z. B. bei der weiblichen Menstruation und den mit ihr zusammen¬
hängenden Ereignissen der Fall ist.
Die Fließsche Theorie hat uns also für die Frage, die
uns überhaupt den Anlaß zur Beschäftigung mit ihr gegeben
hat, ob nämlich unsere vorläufige Definition des Periodizitätsr
begriffes für die Zwecke der Biologie als hinreichend betrachtet
werden darf, kein brauchbares Material geliefert. Wir sind
bis jetzt genau so weit wie vorher, d. h. wir wissen, daß es
in der Biologie, speziell in der normalen menschlichen Physio¬
logie, eine Reihe von Ereignissen gibt, die unserer Definition
des Periodizitätsbegriffes Genüge leisten, wir sind dagegen der
Lösung der Frage, ob die Zahl uhd die Qualität dieser Ereignisse
ausreicht, um den Periodizitätsbegriff vor jeder weiteren Modi¬
fikation zu schützen, noch nicht um einen Schritt näher ge-
12
Dr. Franz Mugdan,
kommen. Ja, selbst wenn wir diese Frage bejahten, d. h. uns
lediglich auf die Existenz echt periodischer Vorgänge in der
normalen Physiologie stützten, so wäre damit noch gar nichts
gewonnen für das Problem, ob unsere Definition des Periodizi¬
tätsbegriffes auch für die Zwecke der pathologischen Physiologie,
im besondern der Neuropathologie und der Psychopathologie,
als hinreichend betrachtet werden darf. Wir haben demnach
zunächst eine Untersuchung darüber anzustellen, ob es über¬
haupt Systeme pathologischer Ereignisse gibt, die unsere Kri¬
terien der Periodizität erfüllen. Wir wollen dabei mit Absicht,
um das Ziel unserer ganzen Untersuchung nicht allzuweit hin-
auszurückeri, die innere Medizin beiseite lassen und uns gleich
auf unser Spezialgebiet, die Neuro- und Psychopathologie be¬
schränken. Wir fragen also: Gibt es in diesen Gebieten Kate¬
gorien von Zuständen, die in unserem obigen Sinne als peri¬
odisch zu bezeichnen sind? Diese Frage ist zweifellos in be¬
jahendem Sinne zu beantworten, wenn auch zugegeben werden
muß, daß die Zahl dieser Zustände verhältnismäßig klein ist.
Der Qualität nach lassen sie sich in drei Gruppen sondern; die
erste Gruppe ist bei systematischer Betrachtung dem Gebiete
der Zyklojthymie, die zweite dem des manisch-depres¬
siven Irreseins zuzurechnen', während die dritte Gruppe,
die die Fälle von „p eriodischem Schwanken der Hirn¬
funktion“ umfaßt, als ein selbständiges Krankheitsgebiet an¬
gesehen werden darf.
Wir beginnen zunächst mit einer Schilderung der echt
periodischen zyklothymisehen Zustände. Unter Zyklo¬
thymie versteht man bekanntlich die ihrer Intensität nach
leichtesten Zustände pathologischer Stimmungsschwankung.
Eine Anzahl von Autoren ordnet diese Zustände ohne
weiteres in die Krankheitsgruppe des manisch-depressiven
Irreseins ein, andere Autoren trennen sie von dieser ab
und wollen sie als eine besondere Äußerungsform psycho¬
pathischer Konstitution aufgefaßt wissen. Für unsere Zwecke
ist es im großen und ganzen gleichgültig, welche Stellung wir
der Zyklothymie im Rahmen eines Systemes der Psychiatrie
zuweisen; für uns kommt es hier im wesentlichen nur darauf
an zu zeigen, daß es gewisse Formen von Zyklothymie gibt,
Periodizität und periodische Geistesstörungen. 13
di - unseren Kriterien der Periodizität genügen. Es sind dies
Formen, die am besten zu verstehen sind, wenn man sie als
eine ins Krankhafte gesteigerte Vergröberung der genereileu
Tageskurve auffaßt. Auch beim normalen Individuum sind ja
alle somatischen und psychischen Vorgänge einer Schwankung
im Laufe des Tages unterworfen, die im allgemeinen — vor¬
ausgesetzt, daß keine besonderen Einwirkungen durch medika¬
mentöse Stoffe, wie Kaffee, Tee oder Alkohol statthaben —
bei ein und demselben Individuum für das ganze Leben fixiert
ist. Bei einer großen Kategorie normaler Menschen verläuft
nun die Kurve der Stimmung und parallel mit ihr die Kupve
der psychischen Leistungsfähigkeit so, daß sie am Morgen ein
Minimum besitzt, in den späten Vormittagsstunden ein flaches
Maximum erreicht, und nach einem relativen Minimum in den
frühen Nachmittagsstunden am Spätnachmittage, bezw. am
Abende, ihr absolutes Maximum aufweist. Sobald nun diese
normale Tageskurve ins Pathologische vergröbert wird, so ent¬
steht diejenige Form der Zyklothymie, von der hier die Rede
sein soll. Am Morgen, nach dem Erwachen, ist die Stimmung
depressiv: die Denk- und Willenstätigkeit ist leicht gehemmt,,
es besteht Arbeitsunlast, und oftmals können sich derartige In¬
dividuen nicht entschließen, überhaupt das Bett zu verlassen.
Gegen Mittag wird die Stimmung, das subjektive Befinden und
auch die objektive Leistungsfähigkeit ein wenig besser, um
dann am frühen Nachmittage, vermutlich unter dem Einflüsse
der das Niveau der psychischen Vorgänge auch beim Normalen
herabdrückenden Verdauungstätigkeit, wieder eine gewisse Ver¬
schlechterung zu erfahren. Sobald nun diese störenden Ein¬
flüsse überwunden sind — das kann ebensowohl relativ früh
am Nachmittage, wie erst am späten Abend der Fall sein —,.
steigt sowohl die Kurve der Stimmung wie die der Denk- und
Willenstätigkeit steil an; sie erreicht dabei oftmals Wert^ die
das normale Durchschnittsmaß nicht unerheblich übersteigen,
d. h. es tritt ein Zustand von Hypomanie — abnorm heitere
Stimmung mit erheblicher Beschleunigung des Ideenablaufes
und mit Beschäftigungsdrange — auf. Dieser Zustand wieder¬
holt sich nun Tag für Tag, zuweilen nur durch Wochen hin¬
durch, zuweilen aber auch während Monaten oder Jahren oder
14
Dr. Franz Mngdan,
sogar während eines ganzen Lebensabschnittes. Derartige
Formen zyklothymischer Geistesstörung gehören keineswegs zu
den Seltenheiten; Yerf. selbst kennt aus eigener Erfahrung
zwei Fälle, die yollkommen in das eben skizzierte Schema
hineinpassen. Der eine dieser Fälle, ein intelligenter, jetzt
fünfzigjähriger Mann, weist die geschilderte chärakteristische
Störung der Seelentätigkeit während einer ununterbrochenen
Zeitdauer von mehr als zehn Jahren auf. Bei ihm ist haupt¬
sächlich die depressive Phase am Vormittage äusgesprochen,
während die expansive am Nachmittage insofern rudimentär
ist; als hier nur etwa das normale Niveau erreicht wird und ein
Übertritt der Kurve in das eigentliche pathologische Gebiet
nicht stattfindet. Der Betreffende — ein höherer Eommunal-
beamter — ist gezwungen, seine ganze Berufstätigkeit auf seine
pathologische Seelentätigkeit hin zuzuschneiden; er ist gänzlich
außerstande, am Vormittage auch nur die geringste psychische
Leistung aufzubringen, und er ist infolgedessen, auf Grund eines
ärztlichen Zeugnisses, autorisiert, seine sämtlichen Berufsge*
schäfte am Nachmittage vorzunehmen. Der andere Fall — es
handelt sich hier um einen jungen Mann am Ende der Puber¬
tätszeit — liegt gerade umgekehrt wie der erste. Die zyklo-
thymische Störung tritt hier unter der besonderen Form der
Dipsomanie auf, und zwar erreicht der Betreffende alltäglich
am frühen Abende ein typisch hypomanisches Stadium, in dem
er, trotz bester Vorsätze am Vormittage, regelmäßig zu erheb¬
lichen Exzessen in Baccho kommt. Eine ausgesprochene depressive
Phase am Vormittage besteht hier nicht; der Zustand geht hier
über das Niveau des physischen und moralischen Katers nicht
hinaus.
Neben den eben geschilderten Zuständen mit eintägiger
Periode haben andere, ebenfalls echt periodische zyklothymische
Zustände nur untergeordnete Bedeutung; Beachtung verdient
höchstens noch diejenige Kategorie von Dipsomanischen, die
als Quartalsäufer bekannt sind. Bei derartigen Individuen
treten im Laufe einer sonst durchaus normalen Lebensführung
in regelmäßigen Intervallen — sonderbarerweise nicht selten
gerade zur Zeit des Voll- oder Neumondes — Impulse zu Alkohol¬
exzessen auf, denen nur schwer oder überhaupt nicht widerstanden
Periodizität und periodische GeistessthrungeiL
15
'werden kann. Die Betreffenden können während dieser Zeit des
Dranges nach dem Alkohol zu enormen Tagesmengen von Alkohol
gelangen; der krankhafte Zustand dauert meist einige Tage, dann
geht er durch ein Stadium schwersten moralischen Katers, der
sich bis zur tiefen Depression steigern kann, wieder ins Normale
über. Auch diese Formen periodischer Geistesstöruug sind
durchaus nicht selten; ein in weiteren Kreisen bekannt gewor¬
denes Beispiel ist das des Dichters Fritz Reuter, bei dem die
Dipsomanie während seiner „Festungstid" ausbrach, um während
seines ganzen Lebens nicht mehr zu verschwinden.
Wir wenden uns nunmehr zu der zweiten Gruppe echt
periodischer Psychosen; diese ist, wie wir schon früher be¬
merkt haben, in das Gebiet des manisch-depressiven Irreseins
«inzurangieren. Die Zustände, die wir hier im Auge haben,
sind bekannt unter der Bezeichnung des menstruellen Irre¬
seins, und sie sind, wie schon der Name sagt, charakterisiert
durch psychische Störungen, deren Ausbruch entweder kurz yor
oder während oder schließlich auch im Anschlüsse an die
Menstruation erfolgt. Es ist im übrigen für die Wertung
dieser Zustände ganz gleichgültig, ob bei dem betreffenden
Individuum die pathologischen Perioden in Zeiten geistiger
Gesundheit oder geistiger Krankheit einsetzen, d. h. ob das
Individuum überhaupt nur zur Zeit der Menses geistig abnorm
ist, oder ob es dauernd geistig abnorm ist und nur zur Zeit
der Menses qualitativ oder quantitativ anders von der Norm
differiert wie sonst. Fälle beider Kategorien sind mehrfach
beschrieben worden. Die Fälle der ersten Kategorie sind in
der weitaus überwiegenden Mehrzahl Fälle von menstrueller
Melancholie; es setzt hier regelmäßig, meist schon mehrere
Tage vor Beginn der Periode, ein Depressionszustand ein, der
im allgemeinen während der Dauer der eigentlichen menstruellen
Blutung sein Maximum erreicht und dann rasch wieder zur
Norm abklingt. Erheblich seltener sind die Fälle von menstru¬
eller Manie; wo sie beobachtet sind, sind sie fast stets in der
Form der alten „Nymphomanie“ aufgetreten, d. h. sie waren
charakterisiert durch eine zur Zeit der Menses einsetzende
pathologische Steigerung der Erotik. Sowohl die menstruelle
Melancholie wie die menstruelle Manie werden außerordentlich
16
Dr. Franz Mugdan,
selten in Irrenanstalten beobachtet; der Grund dafür ist durch¬
sichtig — es werden eben Individuen, die im allgemeinen
ps)-chisch normal und nur während der verhältnismäßig kurzen
Zeit der Menses geistig gestört sind, nur selten in Anstalten
verbracht, weil die kurzen und im übrigen in ihrem zeitliclien
Beginne genau fixierten psychotischen Perioden auch inner¬
halb der Familie hinreichend bekämpft werden können. Da¬
gegen sind Fälle der zweiten Art, also solche, bei denen die
pathologischen Perioden auf anderweitige psychische Störun¬
gen daraufgepfropft sind, verhältnismäßig häufig in ^iniken
zu beobachten; wir selbst haben z. B. in der Freiburger Klinik
über Monate hinaus einen Fall von echter Manie verfolgen
können, bei der mit einer ans Naturgesetzliche erinnernden
Regelmäßigkeit zur Zeit jeder Menstruation eine Depression
zu verzeichnen war. Im übrigen bedarf wohl ^as menstruelle
Irresein keiner weiteren Erläuterung; speziell die Frage des
echt periodischen Verlaufes, die uns hier ja eigentlich aus¬
schließlich interessiert, ist so durchsichtig, daß wir uns jede
nähere Diskussion darüber ersparen dürfen.
Wir gehen also gleich zur Besprechung der dritten Gruppe
periodischer Geistesstörungen über, die wir unter dem Nam^n
eines „periodischen Schwankens der Himfunktion“ gekoip”-
zeichnet hatten. Die Zustände, die hierher gehören, sind vor¬
läufig sehr wenig bekannt geworden; ihre erste eingehende
Schilderung haben sie vor wenigen Monaten in einem Aufsatze
von Stertz gefunden, der im 48. Bande des Archivs für Psychi¬
atrie veröffentlicht worden ist. Die eigenartigen Vorgänge,
die- Stertz beschreibt, sind zu definieren als periodische Be¬
wußtseinsstörungen, und zwar folgen in regelmäßigem Wechsel
immer auf Phasen relativ freien Bewußtseins solche von leichte¬
rer oder schwererer Benommenheit. Die Perioden der Benom¬
men lieit — von Stertz als „negative Phasen“ bezeichnet —
sind charakterisiert durch eine, je nach der Intensität der Störung
wechselnde Beeinträchtigung sämtlicher psychischer Funktionen.
In leichteren Fällen „stocken die Kranken auf einmal in ihrer
Erzählung, perseverieren eine Weile bei dem letzten Wort,
nehmen ein verändertes Aussehen und Benehmen an, antworten
nicht auf Fragen, schweigen für eine kurze Zeit entweder ganz
Periodizität und periodische Geistesstörungen.
oder sprechen von Dingen, die zum Thema der vorangegangenen
Unterhaltung in keiner Beziehung stehen“. In scWereren
Fällen sind die Patienten während der negativen Phase über¬
haupt nicht mehr zu fixieren, starren ausdruckslos ins Leere und
geraten dann meist in einen Zustand deliranter Unruhe mit
Neigung.zu konfabulatorischen sprachlichen Produktionen und ein¬
zelnen Halluzinationen hinein. Sehr häufig war auch in der
negativen Phase ein Umschlagen des Affektes aus der vorherigen
indifferenten Stimmungslage ins Depressive oder Zornige zu kon¬
statieren. Was uns nun hier hauptsächlich interessiert, das ist
der zeitliche Ablauf der geschilderten Störung. Veranschaulichen
wir uns diesen in der gewöhnlichen Weise, indem wir in einem
Koordinatensystem als Abszisse die Zeit in Sekunden werten, als
Ordinate die den einzelnen Zeitmomenten zugehörigen Grade
der Bewußtseinshelligkeit eintragen, so erhalten wir eine nahe¬
zu reguläre Sinuslinie — der beste Beweis dafür, daß wir es
mit einer echt periodischen Schwankung der Geistestätigkeit
zu tun haben. Diese Feststellung genügt für unsere Zwecke;
alle übrigen Fragen — die nach der ätiologischen Bedingtheit
der geschilderten Bewußtseinstrübung, die nach der Art der
von ihr befallenen Individuen etc. — brauchen hier nicht näher
(. örtert zu werden. Soweit sie heute überhaupt eine Lösung
oder wenigstens einen Lösungsversuch gefunden haben, sind sie
in der oben zitierten Stertzschen Arbeit behandelt. Daß die
Störung endogen bedingt ist — das einzige, was in diesem
Zusammenhang von Interesse ist —, versteht sich von selbst
und bedarf deshalb keiner besonderen Erwähnung.
Wir hätten damit in knappen Umrissen einen Überblick
über die wesentlichsten Repräsentanten echt periodischer Geistes¬
störungen gewonnen, und es erhebt sich jetzt von neuem die
Frage, die uns überhaupt zum Studium der geschilderten Psych-
anomalien veranlaßt hat, nämlich; Soll uns die Existenz dieser
Zustände, ihre quantitative und ihre qualitative Ausdehnung
genügen, um den Periodizitätsbegriff vor jeder Erweiterung zu
schützen? Worin könnte überhaupt noch eine Erweiterung
bestehen ? Offenbar lediglich darin, daß man davon abstrahierte,
eine Wiederkehr der logisch verwandten Ereignisse in zeitlich
regelmäßigen Intervallen zu fordern, daß man also kurzerhand
2
18 Dr. Franz lAagdan, Periodizität n. periodische Qeistesstörangen.
die Periodizität mit der Multiplizität identifizierte. Eine Fusion
des Periodizitäts- mit dem Multiplizitätsbegriffe, also des zeitlich
gesetzlichen periodischen Geschehens mit dem zeitlich gesetz¬
losen Rezidive ist nun aber unseres Erachtens im Interesse
einer möglichst scharfen Begriffsbestimmung als durchaus in¬
opportun zu bezeichnen. Eine derartige Fusion würde ja mit
einem Schlage eine ganze Kategorie wichtiger Probleme aus
der Welt schaffen, vor allem dieses eine: Welche integrierende
Faktoren müssen in das zeitlich gesetzlose multiple Geschehen
eingreifen, um die Multiplizität zur Periodizität umzugestalten?
Dieses eine Problem, das in demselben Augenblicke auftaucht,
wo überhaupt ein echt periodischer Lebensvorgang beobachtet
wird, ist zweifellos nicht nur interessant, sondern auch wichtig
genug, um die Definition des Periodischen so und nicht anders
zu geben, wie wir es oben getan haben.
Wir wollen nur, nachdem wir uns zu dieser Ansicht be¬
kannt haben, ausdrücklich noch eins betonen: Eine scharfe
begriffliche Unterscheidung des Periodischen vom Aperiodischen
darf natürlich niemals dazu führen, klinisch zusammengehörige
Krankheitsbilder auseinanderzureißen, z. B. die periodischen
Zyklothymien von den aperiodischen oder das menstruelle Irre¬
sein von der Gesamtheit der manisch-depressiven Psychosen
abzutrennen. Es ist fast selbstverständlich, daß im Interesse
einer rationellen Systematik stets der inhaltlichen Verwandt¬
schaft gegenüber der formalen Verschiedenheit die Priorität
gewahrt werden muß. Unsere Begriffsbestimmungen werden
durch diese Feststellung in keiner Weise tangiert.
Wir rekapitulieren zum Schlüsse unserer Ausführungen
unsere Definition des Periodizitätsbegriffes: Einem Systeme von
Ereignissen ko mm t die Eigenschaft der Periodizität zu, wenn in
zeitlich gesetzmäßigen Intervallen logisch verwandte Ereignisse
eintreten, aus Gründen, die lediglich in der Organisation des
Betroffenen liegen, ohne daß dafür ein äußerer Anlaß. oder
doch ein entsprechender äußerer Anlaß vorläge.
Carl Marhold Yerlagsbnchliandlang in llaile a.
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der Herren Qeheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof.
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, 6/7. Wojgaa^ Professor Dr.W», Hamburg. Ueber Idiotie. Einselpreis H. 8,—.
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Heft 1. AeehaltalNirg» Prof. Dr. G., in Köln. Debet die StimmtmgMchwanknngen der
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• 2. Mooll, Prof Dr. €.• in Berlin. Die in Preossen gültigen Bestimmungen über die
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Heft 1. Wllniumt, Privatdos. Dr. K«, in Heidelberg, lieber Gefängnispsychosen
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aus dem Gebiete der
Nerven- und Geisteskrankheiten.
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Direktor Prof. Dr. Konrad Alt,
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In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die
Bedürfnisse dos praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung
der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof.
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herausgegeben von
Prof. Dr. A. Hoche,
Freiburg i. Br.
Band IX, Heft 5/7.
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
Dauernde Rente oder einmalige Kapitalabfindung?
Klinische und sozialhygieniscbe Studien
von
Sanitätsrat Dr. Leop. Laqaer, Nervenarzt in Frankfurt a. M.
„Aus altruistischer Gesinnung — aus Rück¬
sicht auf die Minderbemittelten sind die sozialen
Gesetze entstanden; sie nähren aber auch zu¬
gleich die egoistischen Empfindungen und Triebe
der Masse; über dem gewährten Recht auf Hilfe
vergißt der einzelne gar zu leicht die Grenzen
•dieses Rechts und seine eigenen Pflichten gegen
die Gesamtheit.“
So drückte sich der bekannte Kliniker Quincke aus, als
er sich veranlaßt sah, im Jahre 1905 in einer deutschen
Zeitung seine Ansichten „über den Einfluß der sozialen Gesetze
auf den Charakter“ niederzulegen: Obwohl der Aufsatz damals
in einer Tageszeitung, nicht in einer ärztlichen Fachzeitschrift
erschien, machte er gerade in den weitesten Kreisen der Ärzte¬
schaft ein großes und berechtigtes Aufsehen.
Es ist bezeichnend für den Anteil, den die medizinische
Wissenschaft an der sozialen Gesetzgebung zu nehmen ge¬
zwungen ist, daß ein ernster Forscher — einer unserer hervor¬
ragendsten Hochschullehrer, sich auf den öffentlichen Markt
des Lebens hinauswagte, um seine Ansichten zu vertreten; er
hielt diesen Weg für den richtigeren. Mit Recht vermied er
es, zuerst seinen Berufsgenossen davon Kenntnis zu geben und
dann die Popularisierung den Dii minorum gentium zu über¬
lassen. Die Frage schien ihm hygienisch so wichtig, daß er
1 *
4
Dr. Leop. Laquer,
selber sofort weite Volkskreise für diesen Teil der Volks-
gesundheit mobil zu machen versuchte!
Wer als Kassenarzt oder als Vertrauensarzt in Fällen von
funktionellen Nervenkrankheiten mit traumatischer Genese des
öfteren tätig ist, der wird — wenigstens nach meinem rein
persönlichen Empfinden — nie das unangenehme Gefühl los,
daß er als Detektiv oder Büttel fungiere, um für die sozial¬
politischen Behörden die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Er soll in gut zwei Dritteln aller Fälle als ärztlicher — Gro߬
inquisitor die Frage entscheiden r Sind die Krankheitserschei¬
nungen bei dem Mangel objektiver Symptome, den der Kranke
oder Verletzte gewöhnlich zeigt, wirklich vorhanden, oder sind
sie nur simuliert bezw. übertrieben?! Das sind recht unerquick¬
liche, oft unlösbare Aufgaben für den human denkenden Arzt,
der ein soziales Gewissen hat und auch in dem Symptomen¬
gemisch von nervösen Unfallsfolgen einerseits die objektive
Wahrheit sucht — andererseits der modernen Strömung in der
Arbeiterfürsorge sich nicht entziehen und dem Arbeiter nicht
unrecht tun will.
Es wird ihm zumeist genügen müssen, wenn er bei ner¬
vösen ünfallsfolgen nach sorgfältiger Untersuchung jedes ein¬
zelnen Falles zu dem bekannten Standpunkte Boches durchge-
drungen ist: „daß ein großer Teil der genannten Fälle
durch die Unfallversicherungsgesetze selbst er¬
zeugt wird, unter der Wirkung des Gesetzes
größtenteils nicht heilt, aber grundsätzlich heil¬
bar ist, wenn alle vermeidbaren seelischen Schäd¬
lichkeiten im Entschädigungsverfahren beseitigt,
die Erziehung des Rentenempfängers zur Arbeit
geregelt und die Kapitalabfindung mehr als bisher
un Stelle der fortlaufenden Renten gesetzt werden
können“. — Trotzdem beschleicht den erfahrenen Gutachter
in solchen Momenten des Zweifels ein Gefühl der Bitterkeit
und des Unwillens, wenn ihn das Rüstzeug seines Wissens und
si iner Erfahrung im Stiche läßt, und die Intuition an ihre
Stolle tritt. Oft fällt ihm dabei ein, wie oft er nur Arbeits¬
scheu und Trägheit unterstützte, als er zugunsten der Ver¬
letzten entschied, und wie oft er getäuscht wurde. — So
Die Heilbarkeit nerrOser Unfallsfolgen.
o
äußerte ich mich selber in dem Jahrgang 1908 der Sachver-
ständigen-Zeitung über die vorliegende Frage.
Die strengste Objektivität ist nirgends so sehr am Platze
als da, wo soziale Nöte die neurotischen und psychogenen
Krankheitsbilder verwischen und es dann dem Arzte nicht immer
leicht fällt, die Klarheit seines Blickes vor Trübung durch
allerlei Gefühlstöne zu schützen!
In den Anschauungen über die Eigenart der nervösen
Unfallsfolgen hat sich im Laufe der zwei Jahrzehnte, die seit
der ersten V eröffentlichung Oppenheims über .„Traumatisch e
Neurosen“ vergangen sind, eine wesentliche Wandlung voll¬
zogen. — Nach einem langwierigen und schweren Kampf der
Meinungen über die Frage, ob die Traumatiker der Simu¬
lation mehr oder minder verdächtig sind, hat sich die klinische
Beobachtung jetzt wohl allgemein zu der Ansicht durch¬
gerungen, daß es fast ohne Ausnahme — Kranke sind, mit
denen wir es da zu tun haben; eine absichtliche straf¬
fällige Simulation liegt nur in sehr vereinzelten Fällen vor. —
Haftpflicht- und Unfallgesetz sind die Nährböden, auf denen
die Keime dieser in den meisten Kulturländern verbreiteten
funktionellen Nervenstörung erwachsen sind.
Bekannt ist ja, daß es hier und da immer noch deutsche Ärzte
gibt, welche die Unfalls-Neurosen überhaupt nicht als Krank¬
heiten, sondern sie in sehr vielen Fällen als Ausdruck niedriger
Berechnung, als eine besondere Form der Habsucht betrachten,
die auf einer gewissen moralischen Schwäche oder auf mangel¬
hafter Eniiehung beruht. Die weitaus größte Zahl erfahrener
Beobachter ist anderer Ansicht. Ihre Voraussetzung, daß alle
die hysterischen, hypochondrischen, neurastheni-
schen Symp^omenkomplexe, die auf Unfälle mit oder
ohne körperliche Verletzungen folgen können, wirklich Krank¬
heiten sind, lege ich meinen nachstehenden Studien zu¬
grunde.
Darum will ich es unterlassen, über hunderte von charak¬
teristischen Fällen zu berichten, die ich als Sachverständiger
bei Eisenbahndirektionen, Berufsgenossenschaften, Arbeiter¬
schiedsgerichten, Privatversicherungsgesellschaften in dreißig¬
jähriger neurologischer und gerichtsärztlicher Spezialpraxis
6
Dr. Leop. Laquer,
gesehen habe. Sie alle etwa genau zu zählen und zu be¬
schreiben bezw. klinisch-statistisch zu verwerten, erschien
mir nicht nötig: es gibt ja kaum noch einen deutschen
Arzt, der nicht genau unterrichtet ist über dies Krankheits¬
bild der Unfallneurosen. Auseinandergehen die Ansichten
der Gutachter über die Bewertung der objektiven und subjek¬
tiven nervösen Krankheitserscheinungen für den Grad der Er¬
werbsbeschränkung, — endlich über Fragen der Behandlungs¬
methoden und der Heilbarkeit der oben erwähnten Erkrankungs¬
formen.
Angesichts der sozial-hygienischen wichtigeren Frage der
Ver hütung und Heilung dieserUnfallsfolgen ist es ratsam, hier
die Namengebung als nebensächlich zu behandeln: ob Renten¬
hysterie, Rentensucht, Rentenkampfneurose, Unfalls-Neurose,
Neurasthenia querulatoria (Mendel) u. a. die passendste Be¬
zeichnung darstellt, soll unerörtert bleiben.
Um aber über die Prognose und Therapie der ner¬
vösen Unfallsfolgen ins klare zu kommen, bedarf es
weitgehender Studien des Charakters, der Lebensgewohnheiten,
der Lebensführung, des sozialen Milieus, der Berufs- und
Familienverhältnisse des verletzten Rentenempfängers vor und
nach dem Unfall. Da genügen auch die sorgfältigsten neurologi¬
schen Krankengeschichten und statistischen Tabellen nicht mehr!
Es drängen sich hier vielmehr andere, mannigfaltige, nicht
eigentlich medizinische Fragen in den Vordergrund.
Der medizinischen Wissenschaft ist es allmählich gelungen,
der schweren, von ihr nicht vorhergesehenen, ihr .durch die
Gesetzgebung gestellten Aufgabe: der Erkennung neuer
klinischer Bilder der Unfallsfolgen Herr zu werden. Vielleicht
glückt der ärztlichen Kunst auch endlich die Heilung eines
sozialen Übels, das aus sozialer Wohltat erwuchs.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist der Versuch gemacht
worden, aus meinem Beobachtungsmaterial genau untersuchte
und auf Grund von Unfallakten begutachtete Fälle klinisch
zu verwerten.
Die folgenden Beobachtungen und Betrachtungen geben viel¬
leicht einen Hinweis auf einen gangbaren Weg zu diesem Ziele,
von dem wir allerdings noch recht weit entfernt zu sein scheinen.
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
7
Es kam mir dabei im wesentlichen auf katamnestische
Nachforschungen an — über das weitere Schicksal
von Unfallverletzten, die nervös und dadurch teil¬
weise oder völlig erwerbsunfähig gewesen waren
— die längere Jahre eine Rente bezogen oder eine
einmalige Abfindungssumme erhalten hatten, —
und schließlich geheilt wurden.
Ich habe in erster Reihe die sozialen Verhältnisse solcher
Unfallneurotiker eingehend gewürdigt, die als Paradigmata
gelten können für das Entstehen und für den weiteren Verlauf,
besonders aber für das — Verschwinden nervöser Unfallsfolgen.
Dabei erschien mir eine genaue Analyse des Verhält¬
nisses von nervösen Erscheinungen und wirtschaftlichen bezw.
persönlichen Vorteilen, die aus dem Unfälle dem Betroffenen
im Einzelfalle erwachsen, wertvoller als ein Versuch der Klä¬
rung des meist unlösbaren Widerspruchs zwischen der Zahl
objektiver und subjektiver Symptome der Unfallsneurose.
Denn nervöse Anlage, Charakter und soziale
Lage des Verletzten lösen zumeist alle jene Be¬
gehrungsvorstellungen aus, die dem Unfälle folgen,
die Psyche des Verletzten in unheilvoller Weise beeinflussen
und oft genug eine Psychone urose hervorrufen. In neuester
Zeit hat Heinr. Sachs (Breslau) in seinem Buche „Die Un¬
fallsneurose“ (Breslau, Preuß & Jünger, 1909) eine sehr ein¬
gehende und prägnante Schilderung des allgemeinen
Krankheitsbildes gegeben:
„ln einzelnen Fällen von Unfallsneurose hat“, sagt Sachs,
„die Untersuchung objektiv ein völlig negatives Ergebnis: man hat
gewöhnlich einen gut genährten, kräftigen, innerlich gesunden
Menschen vorsich,an dem auch diegenauestePrüfungkeineStörung
des Nervensystems erkennen läßt. In der Mehrzahl der Fälle
findet man eine größere oder geringere Zahl derjenigen Er¬
scheinungen, die man als „nervöse“ zu bezeichnen sich ge¬
wöhnt hat. Sensibilitätsstörungen in mehr oder minder großem
Umfange, meist in Form der Herabsetzung, seltener der Stei¬
gerung der Hautempfindlichkeit, Druckpunkte, Verminderung
der Seh- oder Hörschärfe, Aufhebung des Geruchs, Einengung
des Gesichtsfeldes, Erschlaffung der Körpermuskulatur, Stei-
8
Dr. Leop. Laqner,
gerung der Sehnenreflexe, Zittern, tonische und klonische
Muskelkränipfe, Beschleunigung des Pulses, insbesondere unter
dem Einflüsse der Erregung. Neigung zu Kongestionen, Nach¬
röten der Haut, Aufhebung der Schleimhautreflexe vom Rachen,
der Nase und den Hornhäuten, Herabsetzung der Schmerz¬
empfindlichkeit der knöchernen Gehörgangswände, Schmerzen
bei Bewegungen von Gelenken, Schwindelerscheinungen der
allerverschiedensten Art, hochgradige Kraftlosigkeit der Glied¬
maßen, Störungen der Atmung, Aufstoßen, Übelkeiten und Er¬
brechen, dazu anscheinend schwere Verstimmung; der Gesichts¬
ausdruck ist bald ein deprimierter, bald ein nervös gespannter,
bald ein verdrießlicher geärgerter. Ferner besteht Neigung zu
Tränen, wehleidiges klägliches Wesen verbundenmitleiserStimme.
Dazu kommt eine außerordentliche Aufmerksamkeit auf die
Form und die Vorgänge des eigenen Körpers. Alles was nicht
ganz normal erscheint, worauf der Kranke in vielen Fällen
erst bei der ärztlichen Untersuchung aufmerksam wird, wird
nachher als krankhafte Erscheinung betont; kein 'Körperteil,
keine Funktion bleibt unberücksichtigt. Ja selbst ganz nor¬
male physiologische Vorgänge, die auf irgendeine Weise in
das Bewußtsein des Kranken getreten sind, werden hypochon¬
drisch verwertet.
Zu diesem Gemisch neurasthenisch hysterischer und hypo¬
chondrischer Erscheinungen, über die von Kranken tagtäglich
immer wieder in monotoner Weise berichtet wird, kommen in
einzelnen Fällen, besonders wenn das Rentenfestsetzungsver¬
fahren etwas länger dauert, Andeutungen von Beeinträchtigungs¬
und Verfolgungsideen.
Wer je in der Lage war, Akten von Berufsgenossenschaften
zu studieren, weiß, welchen querulatorischen Inhalt diese Schrift¬
stücke haben, die teils von den verletzten Arbeitern selbst
herrühren, teils von Volksanwälten aller Art angefertigt sind.
Solche Helfershelfer tun nichts weiter, als daß sie die subjek¬
tiven Angaben und Beschwerden der Verletzten niederschreiben
ohne Prüfung der Akten oder der Qualität der ratsuchenden
Persönlichkeit. So entstehen die tausendfältigen Vorwürfe
gegen die untersuchenden Arzte: Alle diejenigen, deren Gut¬
achten ungünstig ausgefallen ist — so meinen sie —, hätten
Die Heilbarkeit nerrOser Unfallsfolgen.
9
sie gar nicht untersucht, „sie hätten sich gar nicht auszuziehen
brauchen“ — „in der Klinik hätte sie nur ein junger Assistent
gesehen, der Direktor hätte sich gar nicht darum gekümmert“,
sie wären schlecht behandelt worden, sie hätten hungern
müssen usw.
„So entsteht also ein Gemisch aus einer großen Reihe von
Einzelheiten: Hysterische Krankheitszeichen, übertriebene
Wertschätzung jeder noch so unbedeutenden neurasthenischen
Beschwerden, wie sie bei keinem Menschen, insbesondere in
etwas vorgerückteren Jahren, ausbleiben, sorgfältige Selbst¬
beobachtung, die festsitzende und durch nichts zu erschütternde
Idee der eigenen Leistungsunfähigkeit, die Yerstimmung in den
verschiedenen Erscheinungsformen, Neigung zum Jammern und
Klagen, Verdächtigungsversuche der Berufsgenossenschaften
und Ärzte gegenüber ihrem Querulieren, endlich Täuschungs¬
versuche von kleinen aber offenkundigen Übertreibungen an,
die mitunter dem Arzte entschuldbar erscheinen und sein
Mitleid erregen —, bis zur schwersten, ganz offenkundigen
Simulation.“
„Diese Erscheinungen sehen wir in der verschiedensten
Stärke auftreten“ — meint H. Sachs —, „so daß eine voll¬
ständige Stufenleiter zustande kommt. Auf dem einen Ende
sehen wir Personen, die die Folgen einer Verletzung ein wenig
übertreiben oder bei einer bedeutungslosen Verletzung keine
völlige Wiederherstellung zugeben und dann mit einer kleinen
Rente durchaus zufrieden sind; auf dem anderen Ende finden
wir die schwersten nervösen Krankheitsbilder oder die unglaub¬
lichsten Vortäuschungen.“
Für die Heilbarkeit dieserForm der Unfallsneurose
will ich Beispiele aus meiner Erfahrung erbringen:
sie werden von anderer Seite sich hundertfach vermehren lassen
aus den Krankenjoumalen der Vertrauensärzte, der psychiatrischen
und inneren Kliniken, der Unfallskrankenhäuser, Sanatorien u.a.m.
Daß für die Frage der Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen
verhältnismäßig wenig kasuistische Beiträge in der Literatur
besonders in Deutschland vorliegen, und die Gutachter sich in
ihren Publikationen immer nur auf allgemeine Eindrücke
beschränkt haben, liegt in der Schwierigkeit katamnestischer
10
Dr. Leop. Laquer,
Erhebungen überhaupt, über die ja allenthalben, besonders von
den Kliniken Klage geführt wird. Chirurgen und Internisten
bedauern die 'geringe wissenschaftliche Ausbeute, die ihnen
erwächst, wenn sie Umfragen veranstalten über das weitere
Schicksal entlassener Kranker, an denen sie Interesse haben.
Kraepelin verdanken wir die Betonung der Wichtig¬
keit der Katamnesen bei verschiedenen schweren Irre¬
seinsformen. Die Erforschung der Endzustände vo n
Unfallsneurosen hat aber neben der klinischen eine hohe
sozialhygienische Bedeutung.
Nur sehr vereinzelte der mitgeteilten Fälle von Unfalls¬
neurose habe ich einer persönlichen Nachuntersuchung unter¬
ziehen können. Ich mußte mich vielfach auf die Nachrichten
durch dritte beschränken! Aber auch dann, wenn ich alle
Verletzten wiedergesehen hätte, wäre die Katamnese im klini¬
schen Sinne unvollkommen gewesen, da ich immer wieder
auf ihre subjektiven Angaben angewiesen war.
Hier verweise ich auf die größeren Arbeiten von Gg. D rey-
fnß (Die Melancholie, 1907, Verlag von G. Fischer in Jena)
und H. Schmidt (Zeitschrift für Neurologie und Psychiatrie
Bd. V, H. 2 1911: „Ergebnisse persönlich erhobener Katamnesen
bei geheilten Dementia Praecox-Kranken usw.“). Beide haben
über den Wert der persönlichen Erhebung der Katamnesen
sich ausführlich ausgesprochen. Auch Raecke hat sich bei
Prognose der Katatonie (Arch. f. Psych., Bd. 65, p. 50) mit den
schriftlich erhobenen Katamnesen begnügt.
Die von diesen psychiatrischen Beobachtern beklagten Un¬
vollkommenheiten katamnestischer Untersuchungs-Ergebnisse
mußten wir bei unseren funktionellen Nervenerkrankungen erst
recht mit in den Kauf nehmen:
Bei der Unfallsneurose liegen die Dinge doch noch etwas
anders, wie bei den Psychosen und Neurosen anderer Art: mir kam
es nicht darauf an, mit möglichster Sicherheit zu erfahren, ob
alle einzelnen klinischen Symptome der Unfallsneurose ver¬
schwunden sind. Da genügt es mir festgestellt zu wissen, ob die
soziale Lage des Verletzten wirklich durch den Unfall für alle
Zeiten sich sehr verschlechtert hatte. War die psychische
und .somatische Insuffizienz, welche die haupt-
Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen
11
sächlichste Unfallsfolge bildeten, wirklich so
hochgradig, wie der Verletzte monate- und jahre¬
lang behauptet hatte? Das war für unsere Schlußfolge¬
rungen die entscheidende Frage!
Zur Klärung einer über diesen Punkt noch herrschenden
Unsicherheit war nur die Feststellung einer Heilung im
praktischen Sinne, eine soziale Gesundung, sowie
der Eintritt einer zufriedenen Gemütsstimmung
mit Lust zur Arbeit maßgebend.
„Das spätere Schicksal der in Heilstätten behandelten
Lungenschwindsüchtigen“ hat der Oberarzt am Allgemeinen
Krankenhause Hamburg-Eppendorf, F. Reiche, in Nr. 32 der
Münchener medizinischen Wochenschrift (1911) besprochen.
Auch seine Zusammenstellung beweist, daß es ihm bei der Be¬
urteilung der Dauererfolge von Heilstättenkuren nicht auf die
Änderungen des Lungenbefundes ankam, sondern daß der Grad
der Erwerbsfähigkeit als maßgebend angesehen wurde. Auch
Reiche hat sich in seinen Nachkontrollen mit den Ergeb¬
nissen der behördlichen Auskünfte über behandelte Lungen-
schwindsüchtige begnügt.
Bei der Unfallsneurose konnten wir erst recht auf den
Nachweis einer Heilung im wissenschaftlichen Sinne ver¬
zichten. Das war um so mehr erlaubt, als fast alle sogenannten
objektiven Symptome dieser Erkrankung im Laufe der beiden
letzten Jahrzehnte immer mehr an klinischem Werte eingebüßt
haben.
Von solchen Erwägungen sind auch die dänischen und
schweizer Autoren ausgegangen, als sie den Ausgang von Un¬
fallsneurosen prüften und ihre Heilbarkeit in so vielen Fällen, wie
wir später sehen werden, feststellen konnten. Die mannigfachen,
sehr auseinandergehenden Urteile über die objektiven Symptome
der Unfallsnenrose sind ja bekannt: das Man köpf sehe Symp¬
tom, die Veränderungen des Gesichtsfeldes, die Steigerung der
Kniereflexe, das Nachröten bei Bestreichen der Oberhaut, das
Lidflattern, selbst vielfach das Schwanken bei geschlossenen
Augen sowie die Klopf- bezw. Druckempfindlichkeit am Kopf
und an der Wirbelsäule sind ja von vielen Autoren genugsam
gewürdigt worden. Sie sind wie das Gesamtbild der Unfalls-
12
Dr. Leop. Laquer,
neurose von psychologisch-psychiatrischen Gesichtspunkten aus
zu werten. Reinhard in „Bemerkungen über Unfallbegnt-
achtung und Gutachterwesen“ (G. Fischer, Jena, 1911) kommt
zu ähnlichen Ergebnissen. Placzek („Gutachtliche Seltsam¬
keiten“, pag. 20—30, Leipzig, J. A. Barth, 1911) hat sogar
Pupillen-Anomalien und Blutdrucksteigerungen in gleichem
Sinne gedeutet. Sachs geht darin soweit, zu behaupten, daß
dem Arzte, mit je gröberen (Jntersnchungsmethoden er
auskommen kann, die sichere Beurteilung des klinischen Bildes
der Unfallsneurose um so leichter falle.
Wer viel typische Unfallsneurosen zu sehen in der Lage
ist, gewinnt in der Tat allmählich die sichere Überzeugung, daß
das psychogene Moment in der Pathogenese dieser funktionellen
Nervenkrankheit die Hauptrolle spielt und daß nur in der
seelischen Beeinflussung des Verletzten das Heil
zu suchen ist.
Bei jedem einzelnen der von mir beobachteten und all¬
mählich zum Unfallsneurotiker Gewordenen habe ich mich be¬
müht, Hinweise zu geben auf die von äußern wirkenden Einflüsse,
welche den Gemütszustand des Verletzten umgestimmt haben.
Den nun folgenden Erörterungen über die Literatur, welche
die Heilbarkeit der Unfallsneurosen betrifft, möchte ich einige
kurze Bemerkungen über deren Häufigkeit vorausschicken.
Wieder ist es Hoc he gewesen, der in seiner bekannten
Rektoratsrede „Geisteskrankheit und Kultur“ (Freiburg 1910)
die Häufung der Unfallsneurosen geradezu als eine Volks-
seuche ansah. Man hat ihm vielfach widersprochen.
So berichtete Merzbaeher im Zentralblatt für Nerven¬
krankheiten und Psychiatrie des Jahrgangs 1906 Seite 905
über 1370 Unfälle, die sich bei der Süddeutschen Eisen- und
Stahlberufsgenossenschaft ereignet und mindestens Entschä¬
digung erhalten hatten. Darunter fand er nur 0,9% Neurosen.
Biß zählte im Jahrgang 1904 der Ärztlichen Sachver-
ständigen-Zeitung unter 9000 Unfällen der Seeberufsgenossen¬
schaft nur 0,27 Proz.. bei der Privatbahn-Berufsgenossenschaft
unter 15000 entschädigungsberechtigten Verletzten nur sieben
Proz. funktioneller Nervenkrankheiten nach Unfall.
Wimmer hatte unter 14 305 Unfällen in Dänemark
Die Heilbarkeit nervöser Unfallstolgen
IS
nur 0,6 Proz. Neurosen festzustellen vermocht. Bei der
Sektion V der Rheinisch •Westfälischen Baugewerksberufs¬
genossenschaft in Köln kamen nach Stursberg (Neurolog.
Zentralblatt Nr, 16 1911) in 20 Jahren (1886—1906) nur bei
1,9 Proz. der Rentenempfänger nervöse Störungen funktioneller
Art vor, 1,6 auf 1000 Unfälle, — nur ein Unfallneurotiker
auf 10000 versicherte Arbeiter.
In all diesen Statistiken, die gegen Hoch es Standpunkt
zu sprechen scheinen, ist offenbar das wiederholt charakterisierte
Krankheitsbild der Unfallsneurose der allgemein psycho¬
gen bedingte Symptomenkomplex der Psychoneurose ge¬
meint, während die tausendfältigen örtlichen nervösen Symp¬
tome, die Strümpell ursprünglich als „lokale traumati¬
sche Neurose“ bezeichnet wissen wollte, in jenen Zahlen
nicht mit inbegriffen ist. Die örtlichen Mißempfindungen und
Schwächezustände, welche die Heilung aller Unfallverletzungen
— auch der leichtesten Distorsionen — um Monate, ja um Jahre
verzögern, sind allen Chirurgen, ja jedem Kassenarzte zur Ge¬
nüge bekannt. Wenn mau sie mitzählt, gewinnt Hoches
Stellungnahme durchaus an innerer Berechtigung.
„Man muß schon recht alt werden, um die volle
Heilung einer einfachen Unfallfraktur zu erleben!“
sagte mir einmal ein alter, weiser Chirurg.
Nach Hartmann, Leipzig-Connewitz (Ärztl. Vereinsblatt,
12. Sept. 1911), werden solche Beobachtungen auch im Aus¬
lande vielfach gemacht, z. B. von der Niederländischen Reichs¬
versicherungsbank: „In einem großen holländischen Kranken¬
hause überraschte es jeden Arzt, der den wöchentlichen
Sitzungen im Krankenhause beiwohnte, daß die versicherten
Kranken mit Beinbrüchen in einem gewissen Stadium der
Heilung viel weniger gut gingen, als die nichtversicherten
Dulder. Im allgemeinen wurde von der Art und Weise des Auf¬
tretens eines Patienten gemerkt, ob er versichert war oder nicht I“
Ehe ich über meine eigenen Fälle berichte und allgemeine
Schlußfolgerungen daraus ziehe, möchte ich die Meinungen
anderer Autoren anführen, die sich besonders im letzten
Jahrzehnt über die Frage der Heilbarkeit von ner-
14
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Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 15
der Gesetzgebung an, nach der an Stelle der Rente eine Ab¬
findung und dauernde Entlassung aus der Kontrolle der Berufs¬
genossenschaft Platz greifen könnte.
Mann (Breslau) erachtet für die einzig mögliche Abhilfe
der Übelstände, die sich durch die Verschiedenartigkeit der
Gutachten über Notwendigkeit der Behandlung und Höhe der
Invalidität herausgebildet haben, in der Form einer einheit¬
lichen oder höchstens nach einigen Abstufungen zu unter¬
scheidenden Abfindungssumme.
Gaupp (Tübingen) erblickt keinerlei Nutzen in
längeren Bade-, Land-, Gebirgs- und See-Aufenthalten bei
schweren Unfallsneurosen; wichtiger als alle diese Behand¬
lungsmethoden erscheint ihm die einmalige Kapitalsabfindung,
überhaupt die möglichst schnelle Erledigung des schädlichen
Rentenkampfes.
Auch Sänger (Hamburg) trat für eine möglichst früh¬
zeitige einmalige Abfindung ein.
Döllken (Leipzig) hat dann auf der Versammlung Mittel¬
deutscher Psychiater und Neurologen in Dresden im Jahre 1906
auf Grund eines reichen Materials aus 4 Betrieben mit 13000
Arbeitern seine Erfahrungen in einem Vortrage mitgeteilt. Er
macht für die häufige Verhinderung von Besserung und Hei¬
lung die unvollkommene Möglichkeit einer Kapitalabfindung
verantwortlich. Es sei ja nicht zu bestreiten, meint D., daß in
seltenen Fällen einmal ein notorischer Säufer die Abfindung
O
erhalte, sie vertrinken und dann der Armenpflege zur Last
fallen könnte. D. geht von der Meinung aus, daß auf dem
Gebiete der Unfallsneurosen nur gesetzliche Veränderungen
erfolgreich sein könnten und soziale Mittel — nicht medizinische
Heilfaktoren in Betracht kommen dürften, weil auch nur soziale
Ursachen zu beseitigen wären. Um aber den sozialen Schaden,
den die Unfallsneurosen der Industrie jahraus, jahrein durch
Entziehung von großem Kapital zufügten, zu beseitigen, schlägt
Döllken eine ganze Reihe von Maßregeln vor, so auch die
Kapitalabfindung; sie sollte bis etwa 50 Proz. Erwerbsun¬
fähigkeit möglich sein und leicht erlangt werden können.
Auf der Naturforscher-Versammlung in Stuttgart im Jahre
1906 hat sich Gaupp über den Einfluß der deutschen Unfallgesetz-
16
Dr. Leop. Laquer,
gebung auf den Verlauf der Nerven- und Geisteskrankheiten noch¬
mals ausführlich geäußert und zur Beseitigung der dabei hervor¬
getretenen Übelstände unter anderem ganz besonders die ein¬
malige Kapitalabfindung empfohlen. Er kennzeichnete den
»nervösen Seelenzustand der modernen Zeit“, den Einfluß der
chronischen Trunksucht auf die Energie der arbeitenden Klassen,
die veränderten politischen Anschauungen und Stimmungen der
Arbeiter, ihre anfänglich mißtrauische oder selbst feindliche
Stellung gegen die soziale Gesetzgebung, ihre oft irrigen Vor¬
stellungen über ein vermeintliches Recht auf Rente. Als
Übelstände im einzelnen werden genannt: die Sorge für den
Verletzten liegt anfänglich bei den Krankenkassen, statt gleich
bei den Berufsgenossenschaften. Das Gesetz verlangt leider
keine genaue schriftliche Fixierung des ärztlichen Befundes
sofort nach dem Unfall. Das Rentenfestsetzungsverfahren
dauert zu lange. Das Gesetz selbst ist für den Arbeiter zu
schwer verständlich. Nach erstmaliger Rentenfestsetzung ge¬
laugt der Verletzte nicht zur Ruhe, die häufigen Nachunter¬
suchungen schaden: einmalige Abfindung ist leider nur bei
niedrigen Renten und nur auf Antrag des Verletzten möglich.
Die Uneinigkeit der Arzte bei den in Betracht kommenden
Fragen ist um so verhängnisvoller, als nach dem Wunsche
des Gesetzgebers der Verletzte den wesentlichen Inhalt der
über ihn erstatteten Gutachten erfährt. Die Ärzte urteilen im
Gefühl der Unsicherheit und der großen Verantwortung oft zu
milde, empfehlen Vollrente und schaden damit dem Arbeiter,
machen ihn zum unglücklichen und untätigen Hypochonder.
Eine Kürzung der Rente ist nur bei Nachweis wesentlicher
Besserung zulässig; dieser Nachweis ist bei der subjektiven
Natur der Symptome selten zu führen. Die Prognose des
Leidens ist weniger von dem speziellen Symptomenbild, als
von der Eigenart des Verletzten und von der Gestaltung
des Rentenkampfes abhängig; auch wirken chronischer Alko¬
holismus, Milieueinflüsse oft schädlich. Sehr oft ist der Ver¬
lauf ein ungünstiger; bisweilen beobachtet man frühzeitiges Altem.
Gaupp machte folgenden Vorschlag: Nach Ablauf von drei
Jahren nach dem Unfall steht der Berufsgenossenschaft das
Recht zu, nach Anhörung eines ärztlichen Kollegiums von
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
17
wenigstens drei Ärzten, yon denen zwei den Verletzten schon
früher untersucht hatten, diesen mit einmaliger Auszahlung
eines bestimmten Kapitals abzufinden, wenn nach dem ein¬
stimmigen Ausspruch der Ärzte die Verletzung selbst völlig
geheilt ist und die übrig gebliebenen Störungen im Verlauf
der letzten zwölf Monate objektiv keine Verschlimmerung er¬
fahren hatten. Die einmalige Abfindung soll dann nur statt¬
finden, wenn nach dem Ausspruch der Ärzte die endgültige
Erledigung der Rentenfrage im gesundheitlichen Interesse des
Unfallkranken selbst liegt.
Aus der Tübinger Klinik hat ferner Schaller einige
Zahlen über ünfallneurose, Rente und Kapitalabfindung in
seiner Dissertation von 1910 veröffentlicht. Es wurden 140
Fälle, die von 1894—1909 wegen Unfallneurose in der Tübinger
Nervenklinik begutachtet -wurden, einer Nachprüfung unter¬
zogen. Im ganzen waren 87 Fälle verwertbar, es waren davon
57 Proz. im Gefolge von Kopfverletzungen aufgetreten. Nur
4,6 Proz. davon sind soweit gekommen, daß ihnen die Rente
entzogen werden konnte; teils bei langsamer Herabsetzung der
Rente, teils bei kleiner Abfindung, teils nach langjähriger
Pensionierung vom Postdienst, teils bei völliger Entziehung
der Rente. 21 Personen haben sich auf verschiedentliche Ein¬
wirkungen hin gebessert. 39 Fälle reiner, mit organischen
Läsionen nicht komplizierter Neurose sind gar nicht geheilt.
In 30 Fällen war auf Entstehung und Verlauf der Neurose
ein ungünstiger Einflüsse seitens Familie und anderer Personen
aus der Umgebung ausgeübt worden.
Schaller betont, daß die nervösen Unfallsfolgen mit
sozialen Übelständen zusammenhingen und deshalb nicht mit
medizinischen Heilfaktoren, sondern wiederum nur durch soziale
Mittel bezw. auf dem Wege der Gesetzgebung beseitigt werden
könnten. Wenn Kapitalabfindung an Stelle der Rente
gesetzt werden könnte, so würde das ein Radikal¬
mittel zur Besserung der Vorhersage der Unfalls¬
neurosensein. Denn ein Zahlenvergleich zwischen Deutschland
einerseits, Dänemark und der Schweiz andererseits, spräche in
deutlichen Worten für den Heilwert der Kapitalabfindung.
Friedei (Jena) hat 131 Fälle aus der Nervenabteilung
2
18
Dr. Leop. Laqaer,
der Jenenser psychiatrischen Klinik zusammengestellt nnd 1909
in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXV,
H. 3, veröffentlicht. In dieser Arbeit wurden traumatische
Neurosen berücksichtigt, die 5 bis 20 Jahre lang zurückverfolgt
werden konnten. Es war charakteristisch, daB bei einem 1898
verunglückten und 1907 in Jena untersuchten Kranken nicht
weniger als 18 ausführliche ärztliche Gutachten
sich in den Akten fanden.
F. kommt in seinen SchluBbetrachtungen zu der Ansicht,
daß der Schwerpunkt in bezug auf die Heilbarkeit in der
Regulierung der Entschädigungsfrage zu suchen sei, und läßt
es unentschieden, ob der jetzige Modus i. e. die Gewährung
von mehr oder minder großen Renten oder die einmalige
Kapitalsabfindung die bessere Prognose gebe. Er glaubt, daß
die Lösung dieser schwierigen Frage nur auf empirischem
Wege zu lösen sei.
Der Einfluß der Entschädigungsart auf den Verlauf der
sogenannten Unfallsneurosen ist auch von Windscheid be*
sprechen worden, und zwar in einem Referat, das er auf dem
Internationalen Kongreß für Unfallheilkunde in Rom im Mai
1909 erstattet hat: W. hat die Möglichkeit erörtert, den Ver¬
letzten durch eine einmalige Abfindung so zu entschädigen, „daß
er hn Besitze einer größeren Geldsumme und dadurch in der Lage
sei, einesteils für sich gesundheitlich zu sorgen und andererseits
auch durch Ankauf eines größeren Geschäftes oder Erlernung
eines anderen Erwerbszweiges sich neue Einnahmequellen zu
verschaffen.“ Bei Privatversicherungen führe diese Abfindung
zu einer schnellen und befriedigenden Lösung von Streitig¬
keiten um die Höhe der Unfallsrente: die soziale Verschieden¬
heit der Abzufindenden bedinge eine verschiedene Wertung
und Verwendung der Abfindungssumme: W. fürchtet, daß von
der großen Zahl jener Verletzten, die mit Bargeld nicht um¬
zugehen verstehen, der ihnen zugefallene Betrag bald wieder
verbraucht und die erreichte Zufriedenheit sehr b^d wieder
einer neuen Reihe von Begehrlichkeits-Vorstellungen, gewisser¬
maßen einer neuen „Kapitalunfallneurose“ Platz machen würde.
Trotzdem könnte der Versuch gemacht werden, nicht nur bei
15 Proz. Invalidität, sondern etwa bis zur Höhe von Proz.
Die Heilbarkeit nersbser Unfallsfolgen.
19
die Möglichkeit der Abfindung offen zu lassen — nach freier
Wahl des Verletzten: Voraussetzung wäre allerdings, daß nach
Meinung der Ärzte auf eine Änderung der nervösen ünfalls-
folgen nicht zu hoffen wäre: auch müßte die Abfindung
unwiderruflich sein. Der Abgefundene müßte zu der
Überlegung gelangen, daß mit diesem Ausgang des Renten-
festsetzungs-Verfahrens seiner Begehrlichkeit eine Grenze ge¬
zogen sei. — Eine Prüfung der Erfahrungen mit Ab¬
findung scheine ihm wichtig und wert. . .. Die Frage
harre noch ihrer Klärung.
Von den ausländischen Autoren hat zuvörderst Nägel i
im Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte, 1910, Nr. 2 Nach¬
untersuchungen von traumatischen Neurosen mitgeteilt, und
zwar an 200 Fällen. Davon waren 73 eigene Beobachtungen.
Er legte den Hauptwert der Nachuntersuchung auf die
genaueste objektive Feststellung des Lohnerwerbs. Es lagen
ihm 138 Fälle erledigter nervöser ünfallsfolgen vor. Davon
sind 115 voll erwerbsfähig geworden.
Nägeli bezeichnet die einmalige Erledigung der Unfalls¬
folgen durch Eapitalabfindung geradezu als kausale
Therapie; wenn auch öfters, so meint Nägeli, eine bewußte
Übertreibung mitgespielt haben mag, so wird durch die end¬
gültige Erledigung aller Rechtsansprüche eben derjenige Faktor
beseitigt, der die Leute vorher nicht gesund werden ließ.
Rückfälle oder Verschlimmerungen oder gar Entstehung von
Psychosen nach Unfällen hat der Verfasser nicht gesehen.
Nägeli sieht schließlich die traumatische Neurose nicht als
die schwere Krankheit an, als die sie vielfach hingestellt zu
werden pflegt.
Nägeli schreibt unterm 16. Juli 1911 an den Verfasser:
„Ich glaube Sie versichern zu können, daß in der Schweiz
allgemein die Unfallueurosen mit Kapitalabfindung erledigt und
damit auch geheilt werden. Ein anderes Verfahren kann nur
ganz ausnahmsweise dann verkommen, wenn eine Versicherung
der Sache nicht traut und Rente gibt. Im Entwurf für die
Schweiz. Unfallversicherung, die fertiggestellt ist und vielleicht
bald in Kraft tritt (sofern das Referendum nicht ergriffen
wird), ist Kapitalabfindung für traumatische Neurosen ge-
20
Dr. Leop. Laqaer,
setzlich festgelegt. Rein Mensch denkt an andere
Regulierung. So erzielt man wenigstens Heilung. Es gibt
in der Schweiz keine ungeheilte traumatische Neurose zwei
Jahre nach Abfindung, wenigstens konnte ich nirgends bei
der Fortsetzung meiner Untersuchungen eine finden."
Egger (Basel) kam in einer Diskussionsbemerkung zu
Hoch es Vortrag zu folgenden ganz ähnlichen Schlüssen wie
N aegeli:
1. Eine große Anzahl von Neurasthenikern, mit den
gleichen Beschwerden wie ünfallsneurotiker, versehen ihre
Arbeit Jahr aus, Jahr ein.
2. Das gleiche tun Unfallsneurotiker, deren Unfall nach
Schweizer Recht nicht haftpflichtig war. Sie sind, wie die erste
Kategorie, gezwungen, von Zeit zu Zeit ärztlichen Rat in An¬
spruch zu nehmen.
3. Von den Unfallsneurasthenikern hat selten einer die
Arbeit wieder aufgenommen, ehe sein Fall definitiv er¬
ledigt war.
4. Unfallkranke, bei denen die definitive Erledigung der
Angelegenheit nach dem ärztlichen Gutachten auf 1 bis 2 Jahre
zurückgestellt wurde, weil innerhalb dieser Frist eine Besse¬
rung des Leidens vorauszusehen war, haben nie eine Besse¬
rung zugegeben; im Gegenteil, sie versicherten durchweg, daß
sich ihre Beschwerden verschlimmert hätten.
5. Bei einer Anzahl von Kranken, welche bei uns Renten
erhielten (unser Haftpflichtgesetz sieht diese Art der Ent¬
schädigung bei Eisenbahnunfällen vor), habe ich nie eine
Besserung eintreten sehen.
6. Bei einigen Unfallkranken, die eine große Entschädi¬
gungssumme erhalten hatten, sah ich nachher prompte Heilung.
7. Unfallkranke, denen das Gericht eine kleine oder gar
keine Entschädigung zugesprochen hatte, heilten nicht, bis sie
alle Gerichtsinstanzen durchlaufen hatten. Wurde die erste
Entscheidung von den obersten Instanzen bestätigt, so nahmen
sie die Arbeit wieder auf und heilten.
Das Unfallversicherungsgesetz übe einen erheblichen Ein¬
fluß auf den Ablauf der traumatischen Neurosen aus. Gewisser¬
maßen eine Korrektur dieser Schädigung sei 'zu erreichen durch
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 21
rasche Erledigung der Entschädigungsirage und durch Zubilli¬
gung einer kleinen definitiven Entschädigungssumme.
Von großer Bedeutung für die vorliegende Frage ist auch
die Arbeit, welche Dr. August Wimmer aus Kopenhagen
„Über die Prognose der traumatischen Neurose und ihrer Be¬
einflussung durch die Eapitalabfindung“ ;veröffentlicht hat:
Nach dem Dänischen Unfallversicherungsgesetze vom 7. Januar
1898 soll die einmalige Eapitalabfindung das prinzipale Ver¬
fahren sein. Da das Gesetz aber fordert, daß die Feststellung
des dauernden Invaliditätsgrades spätestens ein Jahr nach dem
Unfall geschehe, so hat man aus Gründen, die in der Natur
der nervösen Unfallsfolgen liegen, es in Dänemark vorgezogen,
die Eapitalabfindung in zwei Stadien vorzunehmen,
und zwar in folgender Weise: Sobald das Vorhandensein einer
traumatischen Neurose beim Verletzten festgestellt ist, wird
ihm nach den zurzeit vorliegenden Verhältnissen eine vor¬
läufige, relative und partielle Entschädigung bewilligt. Es wird
hierdurch ein vorläufiger Abschluß geschaffen und die ganze
Entschädigungsfrage für geraume Zeit eingestellt. Nach Ver¬
lauf von 1 bis 2 Jahren wird die Sache wieder aufgenommen.
Falls sich nun durch eine abschließende Spezialuntersuchung
und durch Erkundigungen über die tatsächliche Arbeitsfähig¬
keit des Verletzten nach der ersten Abfindung eine größere
Invalidität als die vorläufig angenommene (und zwar als eine
wahrscheinlich bleibende) herausstellen sollte, wird dann dem
Verletzten eine weitere definitive Kapitalentschädigung zu¬
erteilt. Sonst wird die Sache ohne weitere Entschädigung er¬
ledigt.
In dieser Weise sind vom Jahre 1898 bis zum Jahre 1907
im ganzen 104 Fälle von traumatischer Neurose vom Dänischen
Arbeiterversicherungsrate behandelt worden. Etwa die Hälfte
davon (54 = 51,9 Proz.) konnten bei der Wiederaufnahme
der Untersuchung als geheilt angesehen und ohne weitere
Entschädigung entlassen werden. Bei weiteren 16 Fällen war
ebenfalls die Neurose bis zum Zeitpunkte der zweiten Ent¬
scheidung gänzlich gewichen oder es hatte sich die Arbeits¬
fähigkeit des Verletzten soweit gebessert, daß eine Grundlage
für weitere Entschädigung nicht mehr anzunehmen war. Die
22
Dr. Leop. Laquer,
Inyalidität war durchschnittlich auf 29 Proz. (etwa auf 1000 Mark)
geschätzt worden.
Es blieben 60 Fälle übrig, von denen Wimm e rdienait „reiner“
und die mit „komplizierter" traumatischer Neurose unterscheidet.
Zu den ersteren rechnet er solche, die im rüstigen Alter ent¬
stehen, meist nach, einfachem Unfälle ohne organische Läsionen
und unter dem Bilde einer traumatischen Hysterie oder Hystero-
neurasthenie verlaufen. Zu den komplizierten Neurosen ge¬
hören nach W.s Annahme die Schädelverletzungen, deren
nervöse Folgen vielleicht auf organischer Grundlage beruhen
und in einer traumatischen Hirndegeneration oder einer zere¬
bralen Arteriosklerose zu suchen sind. Auch traumatische
Neurosen bei Leuten im vorgeschrittenen Alter schließen sich
hier eng an. Ebenso die Komplikationen der traumatischen
Hysterie mit peripheren Nerven-, Gelenk- und Muskelverlet-
zuugen usw. Die letztgenannten haben auch nach W.s Erfah¬
rung eine sehr üble Prognose.
Bei der Frage der Heilbarkeit nervöser ünfallsfolgen steht,
wie ich oben schon kurz erwähnte, W. immer auf dem wohl
allseitig gebilligten Standpunkte, daß hier nur die
praktische Heilung, d. h. die wiedergewonnene Arbeits¬
fähigkeit der Verletzten maßgebend sein kann. Die Fest¬
stellung der neurologischen Heilung, d. h. die Nachunter¬
suchung und ärztliche Prüfung, ob subjektive und objektive
Nervensymptome bei dem Verletzten völlig geschwunden sind,
seien zwar nötig, aber objektiv von einem sehr zweifelhaften
Werte, denn es bestehe keine absolute Übereinstimmung
zwischen Menge und Art • der neurotischen Symptome einer¬
seits und der tatsächlichen Arbeitsfähigkeit des Verletzten
andererseits. Ferner sei eine solche Nachprüfung so vielen
verschiedenartigen bewußten und unbewußten Fehlerquellen aus¬
gesetzt, daß ihre Bedeutung immer eine beschränkte bleiben dürfte.
So wurden also 60 Verletzte zum zweiten Male abge¬
funden; die Invalidität betrug durchschnittlich 24 Proz., die
zweite Abfindungssumme 1300 M. Das weitere Schicksal von
16 dieser Abgefundenen konnte nicht ermittelt werden, meist
waren sie gestorben oder hatten die Arbeit wegen des hohen
Alters eingestellt usw.
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgeiu
23
Über 44 Fälle aber konnte Wimmer genau berichten;
18 davon waren reine traumatische Neurosen.
Im ganzen sind unter 63 Fällen reiner traumatischer
Neurosen 59 durch die geschilderte zweimalige Kapitalabfin¬
dung, d. h. 93,6 Proz. als dauernd geheilt zu betrachten.
W. meint, daß die mehrfach ausgesprochene Furcht vor
einer sogenannten „ Abfindungshysterieals verfrüht zu be¬
trachten ‘ sei.
Die 4 ungeheilten Fälle reiner Neurosen waren
folgende;
29jähriger Arbeiter. Unfall am 5. 7. 1904. Trauma des
Unterleibs. Abdomineller Shok. Anfälle von Dyspnoe und Tachy¬
kardie; hysterische Konvulsionen; gemütliche Verstimmung. Erste
Abfindung am 17. 11. 1904:15%. Fortbestehen der nervösen
Symptome; leichtere Arbeit. Zweite Abfindung am 22. 2. 1906
mit einer weiteren Entschädigung von 15%. Arbeitet jetzt (AfMril
1909) mit einer Lohn Verminderung von 30%.
32jähriger Straßenbahnkondukteur. Unfall am 17. 2. 1904.
Elektrischer Stoß am rechten Auge. Augenschmerzen, Kopfschmerz,
optische Hyperästhesie; Abschwächung der Merkfähigkeit, Gha-
rakterveränderung (Reizbarkeit, Wutanfälle), Schlaflosigkeit, ge¬
mütliche Depression. Schon vor der ersten Abfindung .hatte er
seinen Dienst wieder aufgenommen; seine Tüchtigkeit war aber
entschieden herabgesetzt. Erste Abfindung am 16. 3. 1905 mit
10%. Fortbestehen der Neurose. Zweite Abfindung am 15. 11.
1906, weitere 10%. Ist später mit Pension entlassen worden,
meint selbst nur leichtere Arbeit verrichten zu können.
45jäbriger Arbeiter. Unfall am 6. 10. 1904. Erbränkung;
während zehn Minuten in hoher See. Anterogiade Amnesie. Hä¬
moptysen. Hemihypalgesia sin. Monoplegia crural. sin. Mittel¬
starke Arteriosklerose. Erste Abfindung am 30. 9. 1905 mit 15%.
Leichte Waldarbeit. Neuer Unfall am 19. 12. 1906 (Rippenbruch).
Zweite Abfindung am 6. 7. 1907. Stigmata unverändert; Queru-
lanz. 15% weitere Entschädigung. Im März 1909 beträgt die
Herabminderung seines Arbeitsverdienstes 50 %.
55 jährige Arbeiterin. Unfall am 18. 11. 1904. Hinabstürzen;
gewaltsamer psychischer Shok. Verschiedene Kontusionen des
Rumpfes. Ueberenergische medizinische Behandlung aus falscher
Diagnose („Rückenmarksleiden**). Klassische Hysterie; Spon¬
tanbesserung, durch einen neuen Unfall (herabstürzende Mauer)
vernichtet. Erste Abfindung am 19. 11. 1904 mit 18%. Die
Hysterie besteht fort; komplette Arbeitsinvalidität. Zweite Ab¬
findung am 23. 5. 1906 mit weiteren 40%. Im März 1909
Status ganz unverändert (die Verletzte ist jetzt 60 Jahre alt)-
2 +
Dr. Leop. Laquer,
Das Fortbestehen der Neurose bei diesen Verletzten dürfte
jedenfalls für die zwei letzten durch die erwähnten aggra¬
vierenden resp. fixierenden Momente hinreichend erklärt sein.
Für das Weib ist es eben fraglich, ob ihre Neurose den
„reinen“ Neurosen angehört, oder ob das vorgerückte Alter der
Patientin nicht eher vom Beginn ab der Hysterie dies Ge¬
präge von Tenazität verliehen hat, das dem vorgeschrittenen
Alter eigen ist.
Von 27 Fällen komplizierter Neurose sind nur 3 geheilt.
Für die Prognose kommt das Alter der Verletzten zur Zeit des
Unfalls sehr wesentlich in Betracht; die 24 Neurotiker, die
nicht geheilt waren, hatten ein mittleres Alter von 63 Jahren.
Über die 24 Fälle ungeheilter traumatischer Neurose lautet
das Gesamturteil Dr. W.s, daß sich durch die Kapitalab¬
findung heilen ließe, was eben heilbar sei. Im
Dänischen Arbeiterversicherungsratei[sei man mit dem Resul¬
tate sehr zufrieden. Interessant ist auch, was W. über den
Anteil der „Begehrungsvorstellung“ sagt: Er rät, ihre patho¬
genetische Bedeutung nicht zu überschätzen, hier mahnt schon
die relative Seltenheit der traumatischen Neurosen, von der
schon oben die Rede war, zur Vorsicht. W. hält es nicht für
angängig, in so niedrigen Zahlen ärztliche Dokumente für die
menschliche Habsucht zu sehen.
W. gibt aber zu, daß die ökonomischen Sorgen der Ver¬
letzten nur bei Neurotikern alle jene Symptome unterhalten
und fixieren können, die eine Invalidität bedingen. Und darum
sei die Kapitalabfindung immer angezeigt, wo es
sich um reine traumatische Neurosen ohne kompli¬
zierende organische Körperverletzungen handelt.
Die Renten - Hysterie machte zum Gegenstand eines
größeren Aufsatzes auch Steyerthal (Kleinen) im Band 1908
der „Zeitschrift für Versicherungsmedizin“.
Von großem Interesse sind die von St. beobachteten Fälle,
in denen das Leiden auf eine Verletzung zurückzuführen war,
ohne daß ein Pfennig dafür gezahlt wurde. Unter
86 Fällen von Renten-Hysterie zählte St. 12 (9 männliche
und 3 weibliche), die leer ausgingen. Bei 7 (4 männliche,
3 \v©ibliche) von diesen war gar kein Versuch gemacht, eine
Die Beilbarkeit nerrOeer ünfallsfolgen. 2i
Entschädigung zu bekommen, da nach Lage der Sache keinerlei
Aussicht dazu vorhanden war, die anderen 5 (lanter Männer)
hatten ihre Ansprüche geltend gemacht, waren aber von der Berufs¬
genossenschaft bezw. vom Gerichte abgewiesen. Nun ist der
Verlauf dieser Fälle ein verhältnismäßig günstiger gewesen.
Unter den 7 Kranken der ersten Gruppe waren, wie oben
bereits bemerkt, 3 Damen. Die erste hatte sich beim Springen
eine leichte Verstauchung des Fußgelenkes zugezogen und im
Anschluß daran eine hysterische Kontraktur des Unterschenkels
bekommen, die zweite war durch einen Fahrstuhlschacht ge¬
stürzt und litt seitdem an allgemeinen hysterischen Beschwerden,
bei der dritten endlich hatte sich nach einer großen Schnitt¬
wunde des Unterschenkels mit heftiger Blutung eine schlaffe
hysterische Lähmung des verletzten Beines herausgebildet.
Die beiden zuerst erwähnten Patientinnen sind heute
längst gesund, die dritte aber steht ganz genau auf ihrem
alten Standpunkte, sie hat, trotzdem nunmehr sechs Jahre
seit der Verletzung verstrichen sind, noch nicht wieder gehen
gelernt.
Von den 4 Männern hatten 3 Kopfverletzungen erlitten,
einer eine Rückenquetschung. Die Hystero-Neurasthenie, die
sich herausbildete, ist vollkommen geheilt. Von den 12 ab¬
gewiesenen Männern sind heute 2, trotzdem alle frommen
Wünsche auf Pension ausgeschlossen waren, dauernd krank
geblieben, 8 sind gesund und 2 haben nichts wieder von sich
hören lassen.
Von den 29 Angehörigen der Berufsgenossenschaften —
meist waren es ungelernte Arbeiter — waren nur 6 vollständig
geheilt bezw. bezogen sie keine Rente mehr, einer bezog noch
die volle Rente, die übrigen sind im Laufe besser, aber keiner
völlig gesund geworden. Unter den Schlüssen ist der Ab¬
satz 3 bemerkenswert, den St. dahin formuliert:
„Da uns keinerlei Mittel gegen die Krankheit zur Verfügung
stehen, so ist in den ärztlichen Gutachten zum Ausdruck zu
bringen, daß neurasthenische Beschwerden im allgemeinen kein
Arbeitshindemis bilden, daß die Arbeit vielmehr das beste
Heilmittel dagegen darstellt.“
26
Dr. Leop. Laquer,
Über die Wirkung von Eapitalabfindung hat sich St. nicht
geäußert.
Hellpach, der nach den Anschauungen Herkners, des
bekannten Freiburger Nationalökonomen, den Mangel an Be¬
rufsfreudigkeitunter den Arbeitern für die Störung der Arbeiter¬
psyche nach dem Unfall verantwortlich macht (Neurol. Zentral¬
blatt 1906, Nr. 13, pag. 60), spricht sich in der Zeitschrift für
Vers-Wissenschaft auch für die Kapitalabfindüng aus. Dem
Verletzten werde es dann möglich, sich so lange zu erhalten,
bis er sich ganz gesund fühle oder, wofern er dem alten Be¬
rufe nicht mehr gewachsen erscheine, einen neuen zu gründen.
Dabei könnten ihm die Arbeiterorganisationen so an die Hand
gehen, daß die von der Verwaltung und den Ärzten dagegen
geltend gemachten Bedenken: solche Leute könnten nicht mit
Geld umgehen und deshalb leicht verarmen, leicht zu um¬
gehen wären.
„Die proletarische Unsicherheit der Existenz sei ein be¬
deutsamer Faktor im Rentenbegehren**, meint Hellpach,
„die Loslösung des Arbeiters vom Arbeitsziel, Unterjochung
des Arbeiters unter das Arbeitstempo haben die Arbeit von
Millionen jeder Spur eines Intelligenzwertes und eines Gefühls¬
wertes beraubt!“ Solche Unlustvorstellungen trieben den
Arbeiter auch zum erschöpfenden Rentenkampf, der wegfiele,
wenn das Rentenverfahren sich abkürzen und durch
ein Abfindungs-System ersetzen ließe.
Reichardt (1. c.) führt u. a. aus: „Man findet in der
Literatur wiederholt Angaben, daß durch Kapitalabfindung
viele traumatische Neurosen rasch und völlig geheilt worden
sind. Ich bezweifle diese Tatsache nicht, doch ist sie für
mich nur ein Beweis dafür, daß solche traumatische Neurosen
noch keine wirklichen Krankheitszustände waren, sondern
(wenn nicht bewußte Simulation, die niemals ganz ausge¬
schlossen werden kann) gutgläubige, normalpsychologische
hypochondrische Einbildung. Echte krankhafte Neurosen
lassen sich durch Kapitalabfindung nicht rasch
und völlig heilen; sie verlaufen ganz nach ihren
eigenen, in der krankhaften Hirnanlage begrün¬
deten Gesetzen.“
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfplgen.
27
R. meint weiter, man mache eben bei entsprechender
Charakteranlage solche normalpsychologischen Unfalls - Hypo¬
chonder, „denen man für ihre Einbildungen eine langjährige
Rente zahle“, zum krankhaften Hypochonder und Invaliden.
Seine Unfallsneurose sei dann nur ein Kunstprodukt, er¬
zeugt durch unglückliche Umstände und Mißverständnisse, die
er dann näher bezeichnet. Seine Klagen, Beschwerden,
depressiven, fast paranoischen Gedanken, Willensschwäche,
Energielosigkeit bestanden schon früher: „aber ihr^Inhalt ist
durch das Unfallereignis beeinflußt bezw. verändert worden“.
Einige noch entschiedenere Gegner jedweder Abfindung bei
Unfallsneurosen sollen in der folgenden literarischen Übersicht
zu Worte kommen.
In dem Fragebogen, der von Ri gier, Zeitschrift für
Versicherungsmedizin 1909, pag. 177, an einige hundert
Ärzte versandt wurde und die Bekämpfung der traumatischen
Neurose zum Gegenstand hatte, interessiert uns hier besonders
die zweite Frage:
2. Welche Mittel empfehlen Sie zur Bekämpfung der
traumatischen Neurose:
a) Halten Sie eine einmalige Kapitalabfindung an Stelle
der fortlaufenden Renten für zweckmäßig
b) oder empfehlen Sie andere Mittel?
Es sind 282 Antworten eingelaufen, nicht bloß von deutschen,
sondern auch von einzelnen ausländischen Ärzten. Zu den
Befürwortern der einmaligen Abfindung gehören u. a.: Hoche,
Gramer, Penzoldt, Schmidt-Rimpler, Benda, — zu
den Gegnern: Placzek, Sonnen bürg, Pfalz u. a.
Aus den Antworten hat R. den Eindruck gewonnen, daß
die Kapitalabfindung stets ein zweischneidiges Schwert bleiben
dürfte, als welches sie von vielen Seiten direkt bezeichnet wird.
— „Auch sei zu berücksichtigen, daß man in der Schweiz
damit schlechte Erfahrungen gemacht habe.“
Diese Anschauung beruht auf irrtümlichen Voraussetzungen,
wie die Egg er sehen und Naegeli sehen Ausführungen aus
der jüngsten Zeit ergeben.
Als vorläufiges Ergebnis des Fragebogens bezeichnet R.
„möglichste Ausschaltung der Begehrungs Vorstellungen, Ab-
28
Dr. Leop. Laquer,
kürzung und Vereinfachung des ganzen Verfahrens und immer
wieder den Hinweis auf das einzige Heilmittel der funktionellen
Neurosen überhaupt, auf eine zweckmäßige Arbeit. Die ab¬
weichenden Anschauungen über den Wert der Abfindung er¬
klärt er durch die Verschiedenheit des Krankenmaterials der
einzelnen Autoren.
Placzek (Berlin) spricht sich in demselben Bande der
Zeitschrift über die einmalige Kapitalabfindung dahin aus, daß
sie ihre großen Vorzüge haben kann; es würde die Arbeit
wieder von den Verletzten aufgenommen werden, sobald die
Abfindungssumme ein Rentnerdasein nicht mehr gestattet, viel¬
leicht auch aus Lust zur Arbeit. So wirkungsvoll für die
Psyche dieser Weg der Heilung sich auch darstellt, die
praktische Ausführung erscheint P. aber unmöglich, denn
gerade in dem frühen Stadium des Leidens, wo die einmalige
Kapitalabfindung wünschenswert und erfolgreich erscheint,
kann auch der erfahrenste Gutachter eine zuverlässige Pro¬
gnose nicht stellen, ein bestimmtes endgültiges^ Urteil nicht
abgeben. Es stehen ihm keine klinischen Merkmale zu Ge¬
bote, um all die Kontrastvorstellungen zu übersehen, die sich
jeglicher Heiltendenz entgegenstellen.
Noch viel skeptischer äußert sich Rothenberg (Berlin),
der in einem Zeitraum von 18 Jahren viele hundert Fälle von
nervösen Unfallsfolgen beobachtete und kontrollierte; er steht
auf dem Standpunkt, daß es schwere Fälle von traumatischer
Neurose gibt, denen eine Kapitalabfindung nicht nur keine
Linderung, sondern eine Steigerung ihrer Sorgen bringen
würde: eine sorglose Zukunft könnte ihnen das Kapital, das
ihnen durch die Abfindung zuflösse, doch nicht sichern, darum
würden sie mit banger Sorge der Zeit entgegen sehen, wo das
Kapital schließlich aufgehraucht wäre. Die wirklich schweren
Fälle seien unverbesserlich, ihnen sei auf keine Weise zu
helfen, man lasse ihnen Ruhe und ihre laufende Rente.
Bei den Fällen von traumatischer Neurose, die sich unter
den.Privat-Versicherten ereignen, wirken nach der Meinung R.8
häufig schmutzige Motive mit. Da sei es nur möglich, diese
unreine Quelle ihrer Klagen durch Geld zu verstopfen.
Die Heilbarkeit nervbser ünfallsfolgen.
29
Leppmann sen. (Berlin), der wohl an einem ähnlichen
Material aber wesentlich als forensischer Gutachter seine Er¬
fahrungen sammelte, hat am Schluß seines Fortbildungsvortrages
„über die traumatischen Psychosen und Neurosen mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Unfallgesetzgebung“ im Winter¬
semester 1910/11 (Zeitschr. f. ärztl. Fortbildg. 1911 Nr. 22)
als die verständigste Abgeltung traumatisch neurasthenischer
Schäden die im neuesten Statut der Privatversicherungen festge¬
legte Methode bezeichnet: Danach kann 3 Jahre Rente
gegeben werden. Wenn diese Frist verstrichen ist,
muß Kapitalabfindung eintreten: L. erklärt, daß die
traumatische Neurose niemals unheilbar sei, daß noch nach
Jahren, wenn man den verletzt gewesenen Personen Ruhe
gönnt, Besserungen Vorkommen könnten.
Zingerle (Graz), der seine Erfahrungen in Österreich
in der Monatsschrift f. Unf. u. Inv. (XVIIl. Jahrg. Nr. 9) veröffent¬
licht hat, meint sogar, daß die Eisenbahnverwaltungen in
Österreich in Fällen von Unfalls-Neurose auch bei reichlicher
Entschädigung und schneller Erledigung der Schadenansprüche
immer noch große Ersparungen machen würden: Große Kosten
würden vermieden, und man ginge in der ersten Zeit nach dem
Unfälle den im Laufe des Verfahrens wachsenden dann über¬
hohen Forderungen der Verletzten aus dem Wege. Für beide
Teile sei die rasche Abfindung gleich zweckdienlich.
Ewald kann sich hingegen von einer einmaligen Abfindung
statt einer dauernden Rente gar nichts versprechen; auch er be¬
fürchtet das Auftreten einer Abfindungs-Hysterie und meint sogar,
daß durch die allgemeine Durchführung der Kapitalabfindung
bei über 15 Proz. betragender Invalidität die Unterhaltungs¬
last der Unfallshysteriker von den Berufsgenossenschaften auf
die Armenverbände abgeladen würde. (S. Mediz. Klinik 1908.)
E. führt einen Fall an, wo die Rentenabfindung auf
Grund des Haftpflichtgesetzes erfolgte, aber keinerlei Besse¬
rung eintrat:
Ein 26 jähriger Hansbursche fiel 6 m tief durch eine Falltür,
die offen und nur mit einem Brett bedeckt war. Er war 3 Tage
bewußtlos und soll längere Zeit Blut gehustet haben. Der rechte
Unterarm war doppelt gebrochen. Der Bruch ist schlecht verheilt
80
Dr. Leop. Laquer,
und verorsacht eine erhebliche Bewegungsbehinderung der rechten
Hand. Der Kranke litt dauernd unter Kopfschmerzen, Mattigkeit,
Depression. Elr wurde mit 2500 M. abgefunden. Sein Zustand
bat sich seitdem (öV2 Jahre) nicht gebessert. £r hat immer
wieder versucht zu arbeiten, wurde auch immer wieder Mitglied
der Ortskrankenkasse. Einmal bat er einen kurz dauernden
Dämmerzustand gehabt. Von der Abfindungssumme besitzt er
noch 1200 M., ein Zeichen also, daß er ein solider Mann ist.
Zurzeit befindet sich der jetzt 32jährige Mann in einem Zu¬
stand dauernder Verstimmung, die sich hauptsächlich auf seine
Arbeitsunfähigkeit und den drohenden Ruin seiner Familie kon¬
zentriert. Alle Versuche, ihn zu kleinen Hausarbeiten zu bewegen,
schlugen fehl. Er versicherte, er könne es nicht, es treten sofort
Kopfschmerzen auf. Tatsächlich bestand große Erregbarkeit des
Herzens ohne sonstige nachweisbare Erscheinungen seitens des
Nervensystems. Dagegen litt der Kranke unter ständiger Schlaf¬
losigkeit. Zur Ausführung der meisten Arbeiten war er auch
wegen der ungenügenden Beweglichkeit der rechten Hand, die
ein Folgezustand der schlecht verheilten Fraktur war, nicht fähig.
Zu einer Einarbeitung der linken Hand war er nicht zu bewegen.
Sonstige Heilversuche ließ er über sich ergeben, ohne selbst aber
aktive Hilfe dabei zu leisten. Bei der Entlassung war sein Zu¬
stand unverändert, und er höchstens in der Lage, Botengänge zu
verrichten.
Saki (München) bat in der ärztlichen Sachverständigen-
Zeitung (1909) bei Besprechung der Prophylaxe und Therapie
der ünfallsneurosen hervorgehoben, daß man über ihre
schlechte Prognose, solange noch Rechtsansprüche bestehen,
in ärztlichen Kreisen einig sei. Saki hebt die Wichtigkeit
jener Beobachtungen hervor, aus denen zu ersehen ist, daß
mit Beseitigung dieser Ansprüche durch Abfindung oder durch
Ablehnung aus rechtlichen Gründen die Krankheit zuweilen
heile. Doch rät er von einer gesetzlichen Einführung der
Abfindung bei staatlicher Unfallversicherung entschieden ab,
trotz der vielfachen guten Erfolge im Auslande, weil die staat¬
liche Unfallversicherung in Deutschland den Zweck der Für¬
sorge habe. Es würde nur ein kleiner Teil der Unfalls¬
neurosen dadurch zur Heilung gelangen, ein großer Teil würde
in absehbarer Zeit aus wirtschaftlicher Not der Armenpflege
anheimfallen. Nur ein sehr geringer Prozentsatz unserer Arbeiter
könnte sich eine sichere wirtschaftliche Existenz gründen. Es
sei gleichgültig, ob der Kampf um die Erlangung einer Rente
Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen.
31
oder eines Kapitals geführt werde- Ja es würde wahrschein'
lieh die Simulation häufiger werden, „wenn auf Grund einer
oder weniger Untersuchungen definitiv entschieden würde“.
S. erwähnt noch, daß bei Entschädigungsansprüchen auf Grund
des Haftpflichtgesetzes oder Verträgen mit Privat Versicherungen
den Kranken jetzt allgemein geraten würde, im Interesse ihrer
Gesundheit auf Abfindungsvorschläge einzugehen.
Endlich hat Oppenheim (Berlin) in der neuesten Auflage
(1908) seines bekannten Lehrbuches nur beileichtenFällen von
traumatischer Neurose von der Möglichkeit völliger Heilung
gesprochen: „Die Lage der Kranken, der Kampf um die Ent¬
schädigungs-Ansprüche, die Begehrungsvorstellungen, die Auf¬
hetzung durch Angehörige und "Winkelkonsulenten, die vor¬
zeitige Aufnahme der Arbeit in vollem Umfange, — das seien
Momente, die den Verlauf ungünstig beeinflussen.“
Welche psychischen Momente auf die Unfallsneurose
— auf schwere und leichte Erscheinungsformen der Psycho-
neurose nach Unfällen heilsam eingewirkt haben, erschien mir
außerordentlich wichtig. Der günstige Verlauf von ünfallsneuro-
sen soll deshalb an einer Reihe von Krankengeschichten mit ent¬
sprechender Katamnese gezeigt werden. — Zumeist habe ich mich
darauf beschränkt, die Krankengeschichten so wieder-
zugeben, wie sie in dem betr. Gutachten enthalten
waren: dabei hat sich manche Wiederholung und auch eine
hier und da auffällige Verdeutschung von Fachausdrücken
nicht vermeiden lassen. Wo es irgend anging, habe ich mich,
um Längen in der Darstellung zu umgehen, mit einer kurzen
Skizze des Krankheitsverlaufes begnügt. Wo und an welchen
Organen das Trauma eingewirkt hat, ob es ein vsresentliches
psychisches Trauma war, das den Unfall begleitete, oder ob
dieses wirklich von einer nachweisbaren lokalen Veränderung
organischer Art gefolgt war, erscheint in vielen Fällen neben¬
sächlich! Das ist ja eine längst bekannte, von keinem
Beobachter mehr bestrittene Tatsache. Auch die Schwere
des Traumas spielt zumeist keine Rolle für die Art der ner¬
vösen Folgen des Unfalls, für ihre Dauer und für ihre Heil¬
barkeit.
32
Dr. Leop. Laquer,
Fall 1.
Einer der ältesten von mir beobachteten Fälle von Unfalls-
neorose betraf einen Monteur, den ich schon im Jahre 1884 — also
vor 27 Jahren — zu behandeln und zu begutachten hatte. Cr
stand damals im Alter von 20 Jahren und war im Juni 1883 von
33 Meter Höhe abgestürzt; er trug eine leichte Gehirnerschütterung
.und einen Bruch des Brustbeins sowie eine Quetschung des 7.
und 8. Wirbels davon. Diese Knochenverletzungen heilten in
6 Wochen ab. Zurück blieben schmerzhafte Empfindungen an
den verletzten Stellen mit Kallusbildung am Brustbein, erhöhte
Pulsfrequenz, allgemeine Ermüdbarkeit und verschiedentliche schmerz¬
hafte Sensationen in den Extremitäten usw.
Er wurde von mir wöchentlich mehrmals galvanisiert, sollte
versuchen, die Arbeit wieder aufzunehmen, tat es aber nur wider¬
willig und unregelmäßig, so daß ich nach Verlauf von drei Mo¬
naten, nachdem er längere Zeit eine Rente bezogen hatte, für die
Unfall-Versicherungs-Gesellschaft ein Gutachten über ihn abgeben
konnte, in dem ich schon damals auf die eigentümliche Gemüts¬
verfassung von Unfall-Neurotikern [also schon ö Jahre vor
Publikation der grundlegenden Oppenheim’sohen Arbeit] (1884)
hinweisen konnte:
Wenn man bei Beurteilung des Gesamtbildes — so führte ich
in dem Gutachten damals aus — bei vorliegender Erkrankung
den Gemütszustand des Patienten in Betracht zieht, so wird
der Frage, ob Patient seine Beschwerden simuliert resp. über¬
treibt, doch wohl eine nicht unwesentliche Rolle zufallen
dürfen. Patient macht den Eindruck eines mit sich zer¬
fallenen, seit der Verletzung zum Hypochonder gewordenen
Menschen, der keine Hoffnung auf irgendeine Besserung
seines angeblichen Leidens und sich und seine Familie durch
die Verletzung der völligen Vernichtung preisgegeben sieht.
Diese Gemütsverfassung hatte ich schon in einigen derartigen
Fällen zu beobachten Gelegenheit: Individuen, welche auf
Grund ihrer Erziehung und ihrer angestrengten Beschäftigung
— (auch Patient soll früher ein sehr arbeitsamer Mensch
gewesen sein) — ihren Körper nicht zu beobachten gelernt
haben, sind leicht geneigt, sobald ein größerer Unfall sie
, trifft, der sie arbeitsunfähig macht, die^n gleich für
etwas Ungeheuerliches zu halten. — Ärzte, Arbeitgeber
usw. beschäftigen sich mit ihnen — so glauben sie, selbst
wenn ihre Heilung längst perfekt geworden, auch aus den
kleinsten Ueberresten der körperlichen Veränderungen Kapi¬
tal schlagen zu müssen. — Sie unterscheiden schließlich nicht
mehr den kleinsten von dem größten SchmH'z. — In dieser
mangelhaften Elritik unterstützt sie natürlich ein gewisser
Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen.
33
moralischer Defekt und ihre uogenügende Erziehung. —
Kommt zu dieser psychischen Disposition zur Übertreibung
vorhandener körperlicher Beschwerden die Aussicht auf
gewisse materielle Vorteile hinzu, so ist die Frage, ob wir
es in diesen Fällen mit einer hypochondrischen Ver¬
stimmung oder mit einer berechneten Simulation zu
tun haben. — Das ist eine schwierige Aufgabe für den Arzt!
Im vorliegenden Falle möchte ich für die Annahme beider
Faktoren plädieren und komme so dazu zu erklären, daß
eine mehrwöchige galvanische Behandlung und genaue Be¬
obachtung ergeben hat: Daß eine krankhafte Veränderung
irgendeines Organs nicht vorliegt, welche die Größe der
vom Patient geäußerten Beschwerden uns zu erklären ge¬
eignet wäre. Patient ist ein Hypochonder und erweckt den
Verdacht, daß er aus egoistischen Motiven das, was er sub¬
jektiv an seinem Körper wahmimmt, in beträchtlicher Weise
übertreibt: Derselbe könnte arbeiten, wenn er mit mehr
Energie die leichten subjektiven Beschwerden, wenn solche
überhaupt vorhanden, nicht achtete.
So lautete damals — im Jahre 1885 — mein Gutachten.
Zweiundeinhalb Jahrzehnte hörte ich nichts
Von dem Verletzten. Gegenwärtig ist er als geheilt
anzusehen.
Katamneso.
Nach Berichten von Kollegen P. in 0. ist er jetzt Werk¬
meister in einer großen Maschinenfabrik, lebt in auskömmlichen
Vermögens Verhältnissen, ist gut eingerichtet, macht zur Mon¬
tage Reisen nach auswärts im Aufträge seines Arbeitgebers.
Er äußerte sich auf Befragen, daß er sich jetzt viel wohler
und kräftiger fühle als vor dem Unfall. Man hatte ihm damals
von der Unfallversicherungs - Gesellschaft eine kleine Summe
als Abfindung angeboten, die er ausschlug. Anfangs hatte er
vor, klagend vorzugehen, nachher hat er diese Absicht fallen
lassen, weil ihm der Gedanke, als Faulenzer angesehen zu
werden, zu widerwärtig war. Bei einzelnen ungewohnten Be¬
wegungen empfindet er noch Schmerz in Brust und Rücken.
Etwa Vfi Jahr nach dem Unfall hatte er wieder zu arbeiten
angefangen und bis zum heutigen Tage mit fortschreitendem
Erfolge seine Tätigkeit ausgeübt.
3
34
Dr. Leop. Laquer,
Fall u.
Ein Maurer aus G. stammt angeblich aus gesunder Familie,
war nie luetisch infiziert und dem Mißbrauch geistiger Getränke
nie ergeben. — Pat. hatte am 12. Novbr. 1891 im Alter von
39 Jahren einen Rippenbruch imd eine Kontusion des Kopfes ohne
äußere Verletzung des letzteren durch Fall auf eine Mauer erlitten.
— Seitdem klagt er über Schmerzen in der Lendengegend, des
Rückens, die nach vom ausstrahlen, beim Bücken sehr heftig sind,
über Schwindel und Sausen im Kopfe, über mangelhaften Schlaf,
über allgemeines Schwächegefühl, das ihn an jeder größeren Ar¬
beit verhindere, über Herzklopfen und Knäuelgefühl in der Herz¬
grube, auch über Druck auf der Brust. Von seiten des Nerven¬
systems ist objektiv weder eine Beeinträchtigung der Bewegungen
noch der Empfiudungen zu konstatieren. Nur scheint eine Ver¬
langsamung der Schmerzleitung und auch der Einzelbewegungen
(ruckweise Bewegungsimpulse) vorzuliegen. Ein organisches Leiden
des Rückenmarks und des Gehirns muß ausgeschlossen werden. Es
liegt ein alter Mittelohrkatarrh mit Schwerhörigkeit vor. Auch
die inneren Organe: Lunge, Herz, Nieren, Unterleibsorgane zeigen
keine Abweicliung von der Norm. Auffällig ist die gesteigerte
Herztätigkeit (140—145 Pulse) bei Unversehrtheit der Klappen
und RegelmäLiigkeit der Herztöne; ferner eine eigentümliche
Steigerung der Reflexerregbarkeit der Hautgefäße (Homme auto-
grapliique): Auf leichtes Bestreichen mit stumpfen Gegenständen
reagiert die Haut mit Quaddelbildung und lang andauernder
Rötung. Dem geringen körperlichen Befand gegenüber muß die
psyc.hische Eigentümlichkeit und das seelische Verhalten des Pat.
in den Vordergrund gestellt werden. Seine Intelligenz ist mäßig,
seine Willenskraft ist gering. Seine Stimmung ist andauernd
deprimiert und hypochondrisch. Er macht den Eindruck eines
völlig „schlappenMenschen: Einzig und allein auf diesen Geistes¬
und Gemütszustand, den ich als hysterisch-hypochondrisch bezeichnen
möchte, ist seine Arbeitsunfähigkeit, soiue allgemeine Schwäche,
auch die angebliche Heftigkeit seiner Schinerzempfiudung, die er
mit ermüdender Eintönigkeit immer wieder jammert und stöhnt,
zurückzuführen: Jede moralische Beeinflussung macht auf die ein¬
seitige Gedankenrichtung des Pat. gar keinen Eindruck: Weder
Zureden noch Strenge bringen den Pat. von seinen Lamentationen
ab. Bei dieser Sachlage ist auch die galvan.-farad. Behandlung.,
der sich Pat. ziemlich widerwillig und mit langen Unterbrechungen
unterzog, ohne jeden Erfolg gewesen: Möglicherweise sind im Laufe
der Zeit gewisse Gefäßveränderungen im Hirn oder auch in anderen
Körperteilen entstanden, wie sie bei von Natur schwächlich ange¬
legten Individuen infolge von Verletzungen, besonders solcher
am Schädel, eintreten können, von verschiedenen Autoren auch
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
35
anatomisch schon nachgewiesen worden sind. Einzelne Symp¬
tome seitens des Gefößsystems sprechen für eine solche Annahme.
Bis auf weiteres erscheint Pat. arbeitsunfähig. Vielleicht ge¬
lingt es ihm selber, sich durch eigene Willenskraft aus diesem
Zustande zu befreien und im Laufe der Jahre wieder leichtere
Arbeiten zu verrichten; Bei den mangelhaften häuslichen Verhält¬
nissen (Pat. hat 9 Kinder, 2 davon sind nach dem Unfall ge¬
zeugt) halte ich dies aber für wenig wahrscheinlich: Weitere Be¬
handlung in Krankenhäusern oder durch Arzte dürfte ohne jeden
Einfluß sein.
So lautete mein Gutachten am 13. Februar 1893 etwa
iVz Jahre nach dem Unfall.
Katamuese.
Im Laufe der Jahre sind dann seitens der Berufsgenossen-
.schaft noch mehrere Versuche mit Anstaltsbehandlung gemacht
worden; sie waren ohne Erfolg. Eine Verschlimmerung, eben¬
sowenig die gefürchtete Zunahme der Arteriosklerose trat nicht
ein. Aber der Arbeitslohn war inzwischen sehr gestiegen. —
Pat. fing spontan 1895 zu arbeiten an, erhielt anfangs 50%
Rente; dann verdiente er jahrelang 4 M. 50 Pf. bis 5 M. täg¬
lich, während er vorher nur 2 M. 20 Pf. tägliche Unfallsrente
bezogen hatte. „Er hätte es probiert, er konnte von den paar
Mark nicht leben, es war ihm schlecht gegangen mit seiner
Familie. Er sah, wie andere 5 M. und mehr verdienten. Da
wollte er's auch versuchen.“ So lautete seine Erklärung.
Jetzt im Alter von 59 Jahren beschäftigt er sich in der
Stadtgärtnerei zu F. gegen einen Tagelohn von 3 M. 80 Pf., seine
9 Kinder seien allmählich herangewachsen, da käme er durch.
Als Maurer könne er nicht mehr tätig sein, denn Ohrensausen
und Aufregung kämen immer noch hie und da vor und da
hätte er die leichte Beschäftigung im Gärtnerberufe aufgenommen.
Objektiv war außer gewissen frühzeitigen Alterserscheinungen
nichts Neues nachzuweisen. Pulsfrequenz 88. — Das Aussehen
ist ein viel besseres als in den Jahren kurz nach dem Unfall;
die Stimmung und der Lebensmut sind die gleichen wie in
seinen gesunden Zeiten vor der Verletzung.
Fall 111.
Ende Mai 1907 erlitt am 29. Mai 1907 ein Sljähriger Elek¬
trotechniker durch Kurzschluß einen Stromschlag bei 600 Volt in
3*
der HocbspannuDgsleituQg bei niedriger Periodenzahl mit Ver¬
brennung am kleinen Finger der rechten Hand ohne Bewußtlosig¬
keit. Eis trat in den nächsten Tagen eine große Erregung mit
Zittern in den Beinen ein; er arbeitete aber bis zum Feierabend
ruhig weiter. Dm linke Bein wurde schwächer und wurde nach-
geschleift, bei Ermüdung traten Schmerzen ein. Schlaflosigkeit^
auch krampfhafte Zuckungen in den Beinen kamen hinzu; Veronal
blieb ohne Einfluß, Krämpfe in den Waden, Bückenschmerzen,.
Angstgefühle und profuse Schweiße; er nahm in 3 Wochen, trotz
zweiwöchiger Bettruhe, 22 Pfund ab, er war leicht verstopft.
Nach 4 Wochen war er vollständig geheilt. Pat. nahm im Juli
die Arbeit wieder auf. Dauer der Krankheit im ganzen 6 Wochen.
Ea tarn nese.
Der Verletzte fühlt sich seit Juli 1907, wo ich ihn ge¬
heilt entließ, auch jetzt nach 4 Jahren noch sehr wohl und
ist inzwischen zum Laboratorium-Assistenten aufgerückt.
Wenn man diese erste Gruppe von Unfallsneurotikem be¬
trachtet, dienurUnfallsrenten bezogen, so ist die V erschieden-
heit der Art und Weise auffällig, in der die drei Arbeiter auf
den Unfall reagierten. Der erste, ein intelligenter Schlosser¬
gehilfe von reizbarem Charakter, mit dem gar nichts anzu-
fangen war, der keinerlei ärztlicher Behandlung — keinerlei
Zuspruch zugänglich erschien, ist erst gesund geworden, als
sein Rentenanspruch erledigt bezw. das geringe Angebot der
Versicherungs-Gesellschaft von ihm abgewiesen war. Obwohl
er heute in geordneten Verhältnissen lebt und nichts mehr
von seinen nervösen Unfallsfolgen bemerkt, ist er immer noch
gegen die Ärzte, die z. Zt. der bestehenden Unfallsneurose ge¬
wagt hatten, seine hypochondrischen Stimmungen zu bekämpfen
und ihn zur Arbeit anzuhalten.
Die Reizbarkeit des Charakters, die dabei in Erscheinung
tritt, die ein Arbeiter, der sich über ihn in meinem Aufträge
erkundigte, selbst als auffällig ansah, ist also heute noch vor¬
handen und gibt einen Schlüssel für die Erklärung der langen
Dauer der nervösen Unfallsfolgen. Vielleicht hat neben der Er¬
ledigung der Ansprüche durch eine private Unfalls -Versicherungs-
Gesellschaft — damals gab es ja noch keine staatliche Unfalls-
Gesetzgebung — auch die Eigenart eines Kollegen mitgewirkt,
der zuletzt den Verletzten an seinen Unfallsfolgen behandelte
und die Mißstimmung unterstützte.
Die Heilbarkeit nerrOser ünfallsfolgen.
37
Diesem alten Falle steht gegenüber der Fall III, ein be¬
gabter ruhiger Elektrotechniker von sanfter Gemütsart, der Frau
und Kinder hat, eine schwere Unfalls-Neurose durchmacht mit
einer ausgesprochenen Schreck Wirkung und ihren Folgen, aber
auf Grund seiner Charakter-Anlagen immer nur das Bestreben
hat, die störenden nervösen Mißempfindungen, die ihn nach
dem Unfälle plagen, zu überwinden und die Tätigkeit in der
Fabrik, die ihn nötig braucht, mit voller Kraft wieder aufzu¬
nehmen. Es vergehen wenige Wochen, da ist die Leistungs¬
fähigkeit in vollem Umfange wieder hergestellt, während bei
dem Schlossergehilfen Jahre dazu nötig waren. Der Elektro¬
techniker ist zufrieden und freundlich und denkt mit Dank an
die Zeit ärztlicher Beobachtung und Bemühung zurück, wie
■die Firma in einem Schreiben erklärt. — Der Schlosser er¬
innert sich noch jetzt nach 27 Jahren mit einem gewissen Groll
■des Arztes, der ihn in seinem querulatorischen hypochondrischen
Zirkel zu stören gesucht hatte.
Der Fall II, ein braver, ordentlicher aber nicht sehr be¬
fähigter Maurer, hat jahrelang mit2 M. täglicher Rente eine Familie
mit 6 Kindern zu ernähren gesucht, erfüllt von der hypochon¬
drischen Idee, „daß ihm nicht zu helfen sei“. Als aber noch
drei weitere Bänder zur Welt kamen, wurde er, teilweise wohl auch
angeregt durch die Tatsache, daß der Tagelohn eines Maurers
inzwischen von 3 M. auf 4,50 M. gestiegen war, veranlaßt,
wieder Arbeitsversuche zu machen und allmählich der Rente
zu entsagen. Inzwischen haben wohl auch die ältesten der 9
Kinder angefangen, mitzuverdienen und den etwas schwach
befähigten nicht sehr willensstarken, auch körperlich nicht sehr
rüstigen Ernährer der Familie zu entlasten. Jetzt ist er recht
zufrieden und vergnügt bei einer weniger einträglichen, aber
auch leichteren Tätigkeit. Inzwischen ist der Mann auch nahe¬
zu 60 Jahre alt geworden, hat also ein Alter erreicht, in dem
die Arbeitsfähigkeit solcher Leute auch ohne Ünfalls-Ätiologie
beträchtlich abzunehmen pflegt.
An diese erste Gruppe möchte ich den Bericht über den
Verlauf eines Unfalls anreihen, den ein leicht imbeziller Eisen¬
bahnbeamter erlitt, und der nach sehr langer Dauer der ner-
38
Dr. Lcop. Laquer,
vösen Unfallsfolge schließlich eine Teilrehte empfing. — Auch
er nahm im Laufe der Jahre die Arbeit wieder auf und ist
im sozialen Sinne als geheilt zu betrachten.
Fall IV.
Der 43jährige Hilfsheizer war am 3. November 1894 der
Frankfurter Poliklinik für Nervenkranke überwiesen worden.
Die Eltern haben nicht an Nervenkrankheiten gelitten, ein
Stiefbruder starb an Hirnentzündung; er hat 8 Kinder, die völlig
gesund sind. Er wurde zum Militärdienst körperlich tauglich be¬
funden, soll aber wegen Mangel von Intelligenz bald wieder ent¬
lassen worden sein. Sonst war er immer gesund; er leugnete
luetische Infektion und jegliche alkoholistische Neigung. Am
Abend des 15. August 1894 wurde Pat. bei einem Zusammen¬
stoß zweier Lokomotiven, der zwischen L. und E. statthatte, mit
dem Rücken gegen den eisernen Tender geschleudert. Große
Kohlenstücke fielen dabei auf den Patienten. Der Zug hielt: unter
starken Schmerzen in der rechten Seite stieg Pat. bald darauf von
der Maschine, versuchte an den Rädern noch etwas nachzusehen ^
vermochte das aber nicht mehr, sondern mußte sich mit beiden
Händen festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Da er nicht
gehen konnte, wurde er in ein Koupee 11. Klasse getragen und
fuhr heim; er behauptet, daß er keine deutliche Erinnerung an
die näheren Umstände dieses Transports habe, er sah nach An¬
gabe seiner Umgebung sehr blaß aus. Er kam ins Krankenhaus,
wo er bis zum 4. September verblieb. Dort klagte er über Schmerzen
im Rücken. Er konnte nach 14 Tagen das Bett verlassen, müh¬
sam gehen und wurde auf dringendes Verlangen am 4. September
zu seiner Familie entlassen.
Als direkte Folgen des Unfalls waren entstanden: Kontusion
der unteren Rippen rechterseits, Kontusion des rechten Vorder¬
armes, Hautabschürfungen am linken Unterschenkel. Diese Ver¬
letzungen waren aber am 3. November als abgeheilt zu betrachten
und es waren nur nervöse Störungen („Traumatische Neurose“),
Schmerzen in der rechten Seite, Kopfweh, Schwindel und Herz¬
klopfen zurückgeblieben. Bei guter Ernährung, blühender Gesichts¬
farbe und kräftigem Körperbau ist zunächst ein Schielen auf beiden
Augen auffallend (Strabismus divergens), eine Erscheinung, die
wahrscheinlich von Jugend auf auf Grund alter Hornhautflecke
besteht. Sein Gang ist vorsichtig, etwas nach vorn geneigt, breit¬
beinig, durch Schmerzen ein wenig gehemmt. Es besteht eine
geringe Muskelkraft in beiden Beinen, normale Empfindung für
Berührung und Stiche, Pat. meint aber, daß ihm die Waden leicht
einschliefen. Die Kniereflexe sind gesteigert, Tremor und Fuß-
Die Heilbarkeit iicrTösor IJufallsfolgen.
39
klonus nicht vorhanden, Muskelatrophien, Gleichgewichtsstörungen
fehlen. In den Armen besteht auch eine gewisse Schwäche.
Taubes Gefühl in beiden Händen und Zittern des rechten Armes
bei forciertem Händedruck. Die Pupillen reagieren prompt auf
Licht und Akkomodation. Pat. klagt über leichte Ermüdbarkeit
beim Sehen, über Kopfweh und Ohrensausen und dadurch bedingte
Schlaflosigkeit. Die Stimmung ist sehr gedrückt — hypochondriscli-
melancholisch, seine Intelligenz sehr mäßig.
Sämtliche Wirbel und der 8. bis 12. rechtsseitige Rippen¬
bogen sind auf Druck recht empfindlich. Blase und Mastdarm
funktionieren gut. Schon bei dieser ersten Untersuchung des
Kranken kamen wir zu der Überzeugung, daß es sich um einen
schweren Pall von Unfallsneurose bei imbezillärer Anlage handele.
Trotz mehrwöchiger Behandlung verschiedenster Art schritt das
Leiden fort; das Zittern nahm zu, Pat. klagte über beständige
Schmerzen, die Haut wurde überall überempfindlich, auch über
Ohrensausen wurde geklagt. Bei der letzten Untersuchung, am
18. März 1895 zeigte der Gang auffälliges Einknicken und
Schwanken. Die Prüfung des Fußreflexes ruft ein Zusammen¬
zucken des ganzen Körpers hervor. Im September 1898 unter¬
suchte Dr. C. die Augen, über die geklagt wurde. R. Schielen
und alte Kurzsichtigkeit, L. volle Sehschärfe. Sonst ganz nor¬
maler Befund. Auftreten ruhiger und sicherer. Haltung straffer.
Nach 7 .Tahren nahm Kopfweh und Schwindel ab, die Invalidität
betrug damals 75%.
Dr. K. berichtete am 25. August 1902: Körperlicher Zu¬
stand nicht unerheblich besser als früher. Für die Bemessung der
Erwerbsfähigkeit kommt jetzt mehr der geistige Zustand in Be¬
tracht. Dieser ist nicht besser. Pat. ist nicht imstande,
seine Gedanken kurze Zeit auf einen Gegenstand zu
konzentrieren; schnelle Ermüdbarkeit. Seit der letzten Fo.st-
stellung: Keine die Erwerbsfähigkeit erhöhende Be.sserung im Be¬
finden.
Im Oktober 1904 war von mir kein wesentlicher neuer
Befund zu erheben, Pat. macht aber leichte Arbeit und Boten¬
gänge. Das Reichsversicherungsamt entschied am 14. März 1905
dem Gutachten entsprechend auf 45% Rente.
Katamne se.
Bis Herbst 1907 bekam Pat. jährlich 502 M. Unfallronle.
Er blieb aber noch ohne geregelte Tätigkeit, dann wurde er
bei der Bereinigung des Fußbodens des Bahnhofs angestellt;
er hebt mit einer Beißzange die Papierschnitzel vom Boden
auf und senkt sie in eine Tasche; er bezieht täglich außer der
Unfallrente 2,40 M. Lohn.
40
Dr. Leop. Laquor,
Am 25. August 1911 klagt Pat. noch, über viel Kopf-
sciimeizen, Kreuzschmerzen und Herzklopfen. Der Tumult im
Bahnhof, der durch die vielen Personen und Maschinen bedingt
sei, mache ihm viel Sausen und Schwindel im Kopfe, so daß
er abends, wenn er nach Hause kommt, absolute Ruhe brauchte.
Er hat 7 Kinder, von denen das jüngste 21 Jahre alt ist. Fünf
Kinder sind verheiratet. Er ist sozial dadurch sehr entlastet,
seine Psyche dadurch soweit wie möglich gehoben. Ein
Sohn. Fabrikarbeiter, ist jetzt Soldat. Die 5 Töchter sind an
ordentliche Männer verheiratet und geht es ihnen ganz gut.
Wenn Pat. sich aufregt, tritt immer noch leicht ein Zittern
der Hände ein. Der Bahnhofsvorsteher berichtet auf Anfrage
an die Behörde am 25. August 1911:
Der Mann ist seit 4 Jahren als Bahnsteigkehrer in Fr. be¬
schäftigt; er versieht seinen Dienst stets zur Zufriedenheit.
Still in sich gekehrt, in der Regel mit keinem Menschen sprechend,
tut er seine Arbeit. Öfters kommt er zu mir und klagt über
das Menschengewühl im Bahnhofe. Das geniert ihn und macht
ihn ängstlich. Er ist etwas menschenscheu seit seinem
Unfälle und wird es wohl auch bleiben. In jedem seiner
Kameraden glaubt er einen Feind zu erblicken, obgleich keiner
dem alten braven Manne auch nur irgend etwas zu Leid tun
will. Man hänselt ihn hie und da, die Leute können mit ihm
schlecht fertig worden. Wird gelacht, bezieht er dies auf sich,
wird nichts gesprochen, oder zu viel gesprochen, ist’s ihm
auch nicht recht. Er lebt in geordneten Verhältnissen, ist sehr
solide und trinkt irgendwelche Alkoholika so gut wie gar nicht.
Ein Vei'gleich zwischen einigen durch Unfall nervös
gewordenen Arbeitern, die eine Dauerrente empfingen,
nach einer Reihe von Jahren sehr allmählich erst erwerbs¬
fähig wurden —und Arbeitern, deren Unfallsneurose durch
Kapital-Abfindung schnellstens ihr Ende erreichte,
soll in den folgenden vier Beobachtungen zum Ausdruck kommen.
Fall V.
Der 36 Jahre alte frühere Porzellandreher jetzt Tagelöhner
von den Parbenwerken zu H. erlitt am 18. November 1902 einen
Unfall und zwar dadurch, daß ihm ein schwerer eiserner Schrauben-
Die Heilbarkeit nervbsor Unfallsfolgen.
41
Schlüssel, während er im Alizarin-BAom arbeitete, ans einer Höbe
von 5 Metern auf den Kopf fiel: Er soll danach eine geraume
Zeit bewnfitlos gewesen sein, erbrochen und auch ein wenig aus
der Nase geblutet haben. Er wurde ins H. Krankenhaus gebracht,
wo ein Schädelbasis-Bruch festgestellt wurde.
Am 29. Dezember nahm er die Arbeit wieder auf, mußte
sie aber später des öfteren unterbrechen wegen Kopfschmerz und
Dusel-Gefühl im Kopfe.
Am 14. April 1903 kam er nach vierwöchiger Arbeitstmfähigkeit
in das Katholische Schwesternhaus.
Seine Klagen beziehen sich auf Schmerzen und Schwindel¬
gefühl im Kopfe, auf allgemeine Müdigkeit und Abgeschlagenheit.
Der Schlaf sei oftmals unruhig, manchmal auch durch Schmerzen
unterbrochen. Das Aussehen ist ein vortreifliches. Der objektive
Befund ist ein vollkommen negativer, insbesondere bieten das
zentrale und das periphere Nervensystem, die Ernährung der
Muskulatur, Herz und andere innere Organe keine krankhaften Ab¬
weichungen von der Norm dar; Pupillen sind gleichweit von guter
Reaktion, Sehnenreflexe lebhaft: Bei Neigung des Kopfes weit
nach vorn und Erhebung nach oben tritt kein Schwindelgefühl auf,
ebensowenig bei geschlossenen Augen. Blase und Mastdarm sind
ohne Störung, Intelligenz und Gemütsstimmung sind gute.
Danach ist anzunebmen, daß der Schädelbruch organische
Veränderungen am Nervensystem nicht hinterlassen hat, daß es
sich um eine traumatische Neurasthenie mit geringen funktionellen
Nervenstörungen handelt. Diese UnfaUsfolge beeinträchtigt die
Erwerbsfähigkeit des Verletzten jetzt noch um 20®/4).
Die am 22. September 1905 vorgenommene Untersuchung
durch Dr. G. ergab, daß das Aussehen und der Ernährungszustand
des Pat. ein guter ist. Der Gesichtsausdruck ist frei, die Bewegungen
des Körpers gehen gut von statten und selbst mehrmaliges Bücken
kurz hintereinander wird ohne Schwindel ausgeführt. Die Reflexe
sind nortnal. Beim Drehen mit geschlossenen Augen tritt kein
Schwanken auf und die Zunge zittert nicht beim Herausstrecken.
Die Herztätigkeit ist eine gleichmäßige.
Hiernach trat seit der letzten Rentenfestsetzung im Zustande
des Verletzten insofern eine nicht unwesentliche Besserung ein,
als die Herztätigkeit regelmäßig wurde und die Pulsbeschleunigung
abnahm. Ferner ist auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung und
nach dem seitherigen Verlauf anzunehmen, daß das gute Allgemein¬
befinden anbalten wird. Auch ist eine Abnahme der Schmerzen
im Laufe der Zeit und eine Angewöhnung an den Zustand anzu¬
nehmen, so daß der Pat. jetzt nur noch um 10 ®^ Invalide erachtet
werden kann.
Der Ausschuß hat daher beschlossen, dem Verletzten mit
42
Dr. Leop. Laquer,
Wirkung vom 1, November 1905 bis auf weiteres an Stelle der
seitherigen Rente eine solche von 10% im Betrage von mo¬
natlich 5,80 M, zu gewähren.
Die Untersuchimg vom 28. Februar 1909 durch Dr. L. ei -
gab folgendes:
Der Patient arbeitet wie seit Jahren schon in einer Steingut¬
fabrik in P. gegen einen Stundenlohn von 45 Pf., und zwar als
Vorarbeiter, es sei ihm dadurch möglich, sich zu schonen. Er
gibt an, daß er drei Kinder habe, die gesund seien, das jüngste
steht im Alter von drei Jahren. Er klagt noch immer über
Schmerzen im rechten Obre und über schwache Sehkraft im rechten
Auge, die er mit dem Unfall vom 13, November 1902 in Zu¬
sammenhang bringt. Ferner schlafe er sehr schlecht, habe Stiche
in der Herzgegend, Neigung zur Übelkeit, ferner über Druck im
Hinterkopf und mangelhaften Stuhlgang. Die Untersuchung hat
für diese Beschwerden des Pat. ebensowenig irgendeinen ob¬
jektiven Anhaltspunkt ei’geben wie im Mai 1903 die Be¬
obachtung desselben im hiesigen katholischen Schwesternhausc.
Ueber Schwindel wurde nicht mehr geklagt. Weder auf dem Ge¬
biete des zentralen noch des peripheren Nervensystems habe ich
irgendein wesentliches krankhaftes Symptom nachzuweisen ver¬
mocht, Aussehen und Allgemeinzustand waren gute. Ihrem Vor¬
schläge gemäß ist eine spezialistische Untersuchung von Auge und
Ohr durch den Augenarzt Dr. C. und Ohrenarzt Dr. A, erfolgt.
Es geht daraus hervor, daß die Veränderungen ani Seh- und Hör¬
organe aus früher Kindheit herrühren und mit dem Unfall in
keinerlei Zusammenhang stehen.
Auch die inneren Organe, Unterleib, Herz und Lungen usw.
bieten nichts objektiv Krankhaftes dar.
Es sind seit dem Unfälle mehr als 6 Jahre vergangen.
Nennenswerte organische Veränderungen haben sich nach dei'
Kopfverletzung nicht herausgebildet.
Schon 1903 bestand nichts weiter als eine traumatische Neur¬
asthenie mit geringen funktionellen Störungen.
Tatsächlich hat der Verletzte seit Jahren schon die Arbeit
fast ununterbrochen fortgesetzt und, soweit das ärztlicherseits fest¬
zustellen ist, auch gegen die gleiche Entlohnung wie jeder andre
Arbeiter seiner Art.
Die nervösen Beschwerden können nach meinen ärztlichen
Erfahrungen nicht mehr als ein Arbeitshindernis angesehen werden.
Es ist eine wesentliche Besserung zu verzeichnen. Der Verletzte
ist wieder vollkommen arbeitsfähig.
K a tarn n es 0 .
Pat. arbeitet jetzt wie früher. Volle sieben Jahre hat es
bedurft, ehe bei Bt.'zug der Uauerrento der Verletzte von seiner
Uie Heilbarkeit nervöser Unfalisfolgon.
43
Unfallsneurose geheilt und völlig erwerbsfähig werden konnte.
Irgendein wesentliches Heilverfahren trat nicht in Anwendung.
Ähnlich verhielt es sich mit folgender Beobachtung.
Fall VI.
Ein Maurer aus E. erlitt am 26. August 1901 eine Schädel-
Kontusion dadurch, daß er aus einem Stapel Rüsthölzer ein Stück
herauszog, dabei rücklings zur Erde fiel und mit seinem Hinter¬
kopf etwas heftig aufschlug. Er fuhr nach Hause und wurde
zwei Monate lang von Dr. B. an den Folgen des Unfalls behandelt.
Dr. B. stellte Klagen über Kopfschmerz, SchwindelgefüLl und
Mattigkeit im ganzen Körper fest. Das Aussehen des Verletzten
war schlecht, objektiv aber nichts nachzuweisen.
Ende Oktober wurde er zur Beobachtung in das H. Kranken¬
haus überwiesen. Auch dort fehlte nach Dr. S.’s Bericht für die
Klagen des Verletzten über Kopfschmerz und Schwindel jedes ob¬
jektive Zeichen. Er zeigte kein Romberg’sches Phänomen; Pupillen
und Augenmuskeln boten nichts Abnormes. Bücken konnte sich
Pat. ohne Beschwerden. Es wurde ihm deshalb die Aufnahme
leichter Arbeit empfohlen.
Dr. C. fand am 4. November 1901 auch in den Augen des
Pat. keinerlei krankhafte Veränderung. Am 8. November 1901
klagte Pat. immer noch über Kopfschmerzen, Neigung zu Schwindel
und Erbrechen und zu krampfähnlichen Zuständen. Vom 12. No¬
vember 1901 ab wurde er wiederum im Krankenbause zu H. be¬
obachtet. Er klagte über Hinterkopfschmerzen, Zittern, unruhigen
Schlaf, Mangel der Potentia coeundi. Krampfanfälle waren nicht
eingetreten, auch sonst bot Pat. nichts Krankhaftes dar und wurde
für arbeitsfähig erklärt.
Am 27. November 1901 fand Dr. G. etwas vermehrte Herz¬
tätigkeit und linksseitige Erweiterung der Blutadern am Kniege¬
lenk, die mit dem Unfall nicht zusammenhingen, sonst ebensowenig
wie die anderen Beobachter des Pat. objektive Krankheitszeichen
irgendwelcher Art. Es wurde ihm eine Schonungsrente von 50%
und die Aufnahme einer leichten Arbeit anempfohlen.
Am 7. Februar 1902 gab Pat. bei der Untersuchung durch
Dr. G. an, daß er im Magazin der Bauabteilnng in den H. F.
gegen einen Tagclobn von 2,70 M. beschäftigt wäre, aber noch
immer an Kopfschmerzen und Schwindel leide.
Der objektive Befund war wieder negativ, insbesondere fehlte
jeder Anhaltspunkt für ein zentrales Leiden. Die Herztätigkeit
aber erschien nicht mehr beschleunigt; es war nach Dr. G. An¬
sicht auch eine Abnahme der Schmerzen anzunehmen. Deshalb
wurde Pat. nur noch für 40% invalide erklärt. Gegen die ent¬
sprechende Rentenfestsetzung erhob der Verletzte Einspruch beim
44
Dr. Leop. Laqucr,
Schiedsgericht. Am 18. April 1902 wurde Pat. von Dr. L. unter¬
sucht. Pat. steht jetzt im 41. Lebensjahre, gibt an, daß sein
Vater ertrunken, seine Mutter im Alter von 76 Jahren an Wasser¬
sucht gestorben sei. Alle seine Geschwister sind noch am Leben
und erfreuen sich guter Gesundheit bis anf eine Schwester, die
in ihrer Jugend unheilbar geisteskrank wurde. £r hat öfters
wegen Gelenk-Bheumatismos und Katarrh die Arbeit anssetzen
müssen. Elr ist verheiratet und hat vier Kinder, von denen das
jüngste, elf Monate alt ist.
Seine gegenwärtigen Klagen beziehen sich anf Kopfschmerzen,
Schwindel, Herzklopfen und Aufregungszustände, die bei jeder
größeren Anstrengung sich bemerkbar machten. Er ermüde leicht,
habe öfters Ohrensausen, was seine Gedanken in Verwirrung bringe.
Der Puls zeigt 88 Schläge, die Herztöne sind regelmäßig, rein
und kräftig. Er trägt am linken Unterschenkel einen Leimver-
baud wegen seiner Krampfadern. Er ist ein gut genährter, in¬
telligenter, muskelkräftiger Mensch und zeigt keine hypochondrische
Gemütsverstimmung.
Der objektive Befund am peripheren und zentralen Nerven¬
system erweist sich auch sonst als vollkommen negativ. Augen-
und Zuugenbew'^eguugen, Sprache, Pupillen-Funktion, Reflexe sind
völlig normal. Nirgends sind Lähmungen und Empfindungs-
Störungen vorhanden. Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker.
Mein Gutachten gab ich dahin ab: Ich halte den Kläger nach
dem 1. März 1902 nur noch um 30% in seiner Erwerbs¬
fähigkeit beschränkt.
Kein einziger von den Aerzten, welche den Verletzten vom
Tage des Unfalls bis heute behandelt und untersucht haben, war
imstande, irgendein objektives Krankheitszeichen anfzufinden,
welches seine andauernden Klagen und Schwächegefühle hätte
erklären können.
Weder eine äußere Wunde noch eine nennenswerte Hirner¬
schütterung noch ein erheblicher Bewußtseins-Verlust war mit
dem Pall auf den. Hinterkopf verbunden, der nicht aus irgend¬
welcher Höhe, sondern auf gleichem Boden durch Hinstürzen bei
Herausziehen eines Holzstückes erfolgte. Es sind ferner seit jener
leichten Schädel - Kontusion, die dem Verletzten zu monatelanger
Arbeitsenthaltung und Schonung, sowie zu seiner wiederholten Be¬
handlung im Spitale Veranlassung gab, jetzt fast drei viertel Jahr
vergangen. Sein Aussehen ist ein gutes, seine Ernährung läßt
nichts zu wünschen übrig. Seine Herzaktion ist eine regelmäßige
geworden. Das alles sind Momente, welche als Zeichen einer be¬
deutenden Besserung aufzufassen sind und dem in der Beurteilung
von funktionellen Störungen nach Kopfverletzungen erfahrenen
Beobachter die Erwägung nahelegen, ob nicht die sehr unbe-
Die Heilbarkeit nervöser Uufallsfolgcn.
45
stimmten Klagen des n earasthenisch gewordenen Trauma-
tikers wesentlich übertrieben sind.
Auch dürfte nach meiner Erfahrung Aufnahme einer geregelten
bemfliohen Tätigkeit seitens des Verletzten ein völliges Verschwinden
der noch vorhandenen Sensation im vorliegenden Falle zur Folge
haben und deshalb als heilsam für ihn zu erachten sein.
Das Schiedsgericht sprach ihm eine Rente von 30% im Ok¬
tober 1903 zu.
Im Mai 1904 wurde die Rente auf 20% verkürzt.
Bei der Festsetzung der Rente auf 10% ira April 1908 er¬
klärte dasselbe Schiedsgericht:
Zweifellos hat eine schwerere Schädigung des Zentralnerven¬
systems oder überhaupt lebenswichtiger Organe nicht stattgefunden,
da eine solche im Laufe der seit dem Unfälle verflossenen Zeit
mit absoluter Sicherheit in irgendeiner Weise hätte zum Ausdruck
kommen müssen. Was die vom Verletzten geklagten Beschwerden
über Ohrensausen, Kopfweh und dergleichen anbelaugt, so ist hier¬
für objektiv nichts nachweisbar. Insbesondere ist für die bestehende
Abnahme des Sehvermögens nicht der Unfall, sondern das Alter
des Verletzten die Ursache, wie der Augenarzt Dr. F. in F. be¬
reits in seinem Gutachten vom 29. April 1905 erklärt hat; die
vorhandene Gehörsstörung ist nach den Ausführungen des Ohren¬
arztes Dr. K. in P. vom 27. April 1905 nur so geringfügig, daC
sie für das wirtschaftliche Leben nicht in Betracht kommt.
Wenn dem Verletzten daher für die noch vorhandenen sub¬
jektiven Beschwerden, die nach Lage der Sache nur noch gering¬
fügiger Natur sein können, eine 10 %ige Rente gewährt wird, so
ist er hiermit, wie das Schiedsgericht mit Dr. G. annimmt, aus¬
reichend entschädigt, zumal Pat. ständig arbeitet und einen Lohn
von 40 Pfl für die Stunde verdient.
Am 1 . November 1909 wurde die Rente eingestellt mit der
Begründung:
Bereits zur Zeit der Bewilligung der 10%igen Rente war
der objektive Befund, gleichwie jetzt, vollkommen negativ und
nur mit Rücksicht auf die glaubhaften subjektiven Beschwerden
wurde dem Verletzten noch eine 10 %ige Rente bewilligt. Seit¬
dem sind wieder über iVz Jahre verflossen und der Unfall selbst
liegt 8^4 Jahre zurück. Es ist dah^ mit Sicherheit anzunehmen,
daß in diesen Zeiträumen die Beschwerden so weit geschwunden
sind, daß durch sie die Erwerbsfähigkeit des Verletzten wesentlich
nicht mehr beeinträchtigt wird. Diese Annahme wird auch da¬
durch bestätigt, daß Verletzter seit Jahren ständig einer lohn¬
bringenden Arbeit nachzugehen vermocht hat. Was seine Klagen
Uber Ohrensausen usw. anbelangt, so ist bereits in der Entscheidung
des Schiedsgerichts vom 21 . März 1908 hervorgehoben, daß nach
46
Dr. Leop. Laqaer,
den Ausführungen des Ohrenarztes Dr. K. in F. vom 27. April 06
diese Beschwerden nur so geringfügig sind, daß sie für das wirt¬
schaftliche Leben nicht in Betracht kommen.
Hiernach ist die Aufhebung der Rente gerechtfertigt und,
entsprechend dem Anträge der Genossenschaft, mit Wirkung vom
1. November 1909 ab beschlossen worden.
Katamnese.
Nunmehr besteht die volle Erwerbsfähigkeit wie vor dem
Unfall.
Fall VII.
Am 28. März 1906 erlitt ein Fuhrmann aus F, einen Unfall.
Er wurde von einem Wagen, den er bei Überschreiten der Gleise
bei Station F. lenkte, heruntergeschleudert. Die Pferde wurden
getötet und der Wagen völlig zertrümmert. Er selbst fiel auf
die Schienen und den mit kleinen Steinen gepflasterten Weg so,
daß er nach dem Berichte des Dr. R. eine Gehirnerschütterung
mit Quetschung des linken Scheitelbeins und eine Verrenkung des
dritten und vierten Fingers davontrug. Es trat eine Bewußt¬
losigkeit auf, die wenige Minuten dauerte; später soll sich der
Verletzte in seiner Wohnung auch erbrochen haben. Aerztliche
Hilfe wurde ihm unmittelbar nac^h der Verletzung zuteil. Dr. R.
schätzte am 19. Juli die infolge des Unfalls und der damit zu¬
sammenhängenden nervösen Beschwerden bei Fehlen jeden objek¬
tiven Befundes eingetretene Invalidität auf 25%. Pat, übertreibe
die Beschwerden nach Ansicht des genannten Gutachters.
Am 1. August 1906 ist Pat. von mir untersucht worden. Er
gab an, daß er 28 Jahre alt, Witwer und nicht erblich belastet
sei. Seine Frau ist vor 1^4 Jahren an einem Lungenleiden gestorben.
Das Kind lebe und sei gesund. Er sei früher immer gesund ge¬
wesen und sei schon früher einmal am 12. Oktober 1894 verun¬
glückt durch Sturz von einem Baum, der einen linksseitigen Ellen¬
bogenbruch herbeiführte. Er bezieht für diese Unfallsfolgen eine
Rente von 33^3%.
Pat. klagt über Kopfschmerzen, Schwindel, Herzklopfen, un¬
ruhigen durch Träume iinterhroclienen Schlaf. Sein Appetit sei
schlecht. Einen Arbeitsversuch habe er seit dem Unfall nicht
unternommen, da sich beim,Bü ken die genannten Kopfbeschwerden
steigern und Hitzegefühl mit Wallungen zum Kopfe sich geltend
machte.
Er erklärte deshalb vollkommen arbeitsunfähig zu sein. Die
objektive Untersuchung des iilühend aussehenden, gut genährten,
geistig frischen Mannes fördert wenig Anhaltspunkte für diese
seine Beschwerden zutage. Er zeigt keinerlei hypochondrische
Stimmung und Gedächtnis-Ausialle. Seine Sprache ist unversehrt,
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
47
«beaso Pupillea-Reaktion und Bewegung der Gesichts-Muekulatur.
Am Schädel findet sich keine Narbe oder druckschmerzhafte Stelle.
Die Zunge ist frei beweglich und zittert nicht. Die Sinnesorgane
funktionieren ohne jeden Mangel. Herz und Lunge sind frei von
krankhaften Erscheinungen. Der Puls ist regelmäßig und zeigt
88 Schläge.
An der rechten oberen Extremität im Ellbogengelenk ist eine
Versteifung von dem Unfälle des Jahres 1894 zurückgeblieben.
Der Arm steht im Winkel von 120® fest und kann weder gestreckt
noch gebeugt werden; infolgedessen ist eine leichte Abmagerung
des zwei- und dreiköpfigen Muskels (Biceps und Triceps) eingetreten.
Das Schultergelenk ebenso wie das Handgelenk sind frei beweg¬
lich. Die betreffende Muskulatur hat ihre normale Form behalten.
Der linke Arm ist nur in beschränkter Weise gebrauchsfähig.
An der linken oberen Extremität liegt eine ganz leichte Versteifung
mit Beugung in den Mittelgelenken des vierten und in geringerem
Grade auch des fünften Fingers vor. Abmagerung und Störungen
der Empfindung und Bewegung sind in der linken oberen Extre¬
mität nicht vorhanden.
Die Bewegungen in den Rumpf- und Beinmuskeln sind kräftig
und ausgiebig, der Gang des Verletzten ist aufrecht, rasch und
sicher bei offenen und bei geschlossenen Augen. Die Sehnenreflexe
sind an beiden Knien nicht auffällig gesteigert. Empfiudungs-
störungen und Zittern sind nirgends nachweisbar. Das Körper¬
gewicht soll seit dem Unfall um 12 Pfund abgenommen haben.
Auf Grund der vorstehenden Feststellungen ist anzunebmen,
daß der Verletzte am 28. März 1906 infolge des Sturzes vom
Wagen eine leichte Hirnerschütterung erlitten hat. Eine
wesentliche Verletzung der Schädeldecke und ein Schädelbruch
haben dabei nicht stattgefunden. Eine Reihe von nervösen Mi߬
empfindungen im Kopfe, Schwindel, Kopfweh, auch das Herzklopfen,
über die Pat. noch jetzt Klage führt, müssen als unmittelbare
Folgen der Hirnerschütterung angesehen und als traumatisch neur-
asthenische Sensationen gedeutet werden. Die Steifigkeit der beiden
Finger linkerseits, die die Verrenkung zurückgelassen hat, kommt
als wesentliches Arbeitshindernis nicht in Betracht. Dagegen be¬
steht ira Hinblick auf den großen Schreck, der mit dem geschil¬
derten Unfall verbunden war, auch nicht die Vermutung, daß
Pat., der einen glaubwürdigen Eindruck macht, zur Uebertreibung
neige. Seelische Eindrücke bei schweren Eisenbahnunfällen wirken
lange nach und rufen, auch wenn körperliche Erschütterungen oder
Verletzungen gar nicht damit verknüpft gewesen sind, nervöse
Reiz- und Erschöpfungszustände hervor, wie wir sie in dem vor¬
liegenden Fall beobachten können.
Der Verletzte ist noch um 50®/o in seiner Arb eits-
48
Dr. Leop. Laquor,
ffthigkeit gegenüber seinen Leistungen vor dem Un¬
fall am 28. März 1906 geschädigt. Es sind seit dem schweren
Unfall erst vier Monate vergangen. Diese Zeit reicht nicht aus^
um die krankhaften Störungen im Bereich des Nervensystems auch
i)ei völliger Schonung des Körpers zum Schwinden zu bringen.
Ich nehme sogar an, daß die Erwerbsbeschränkung von 50%
bei dem Verletzten noch etwa ein Jahr bestehen wird, es ist aber
notwendig, daß sich Pat. in dieser Zeit, in Rücksicht auf die
völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit, die mit Sicherheit
allmählich zu erwarten ist, mit leichten Arbeiten beschäftige.
Der Verletzte empfing Ende September 1906 eine Abfindung
von 1000 Mark.
Katamnes e.
San.-Rat Dr. B. in F. schreibt unterm 23. Oktober 1911 :
In meinen Büchern finde ich einen J. R., der vom 28. März
1906 bis 27. Juni 1906 in meiner Behandlung war und eine
Verrenkung des linken dritten und vierten Fingers und eine
Quetschung des linken linksseitigen Schienbeins hatte. R. ist
wieder völlig erwerbsfähig.
Fall VIII.
Ein Maurer von E. schildert seinen Unfall in folgender Weise
Am Abend des 10. Oktober 1907 sei er von P. stehend in
einem Koupee IV. Klasse heimgefahren und zwar in einem Personen¬
zuge, der auf der Station M. mit einem Güterzug zusammenstieß.
Bei der dadurch erfolgten Erschütterung des Wagens sei er um-
gefallen und hätte sich am Kopfe und am Rumpfe verletzt und
für kurze Zeit die Besinnung verloren. Passagiere sollen auch
auf ihn getreten sein. Seitdem litt er an Schmerzen am Rumpfe,
zuerst linkerseits, jetzt mehr rechterseits, und an Schwindelzu-
.ständen. Er hätte zwar sofort den Wagen mit anderen Passa-
gieien verlassen, sei aber genötigt gewesen, noch zwei Stunden
an der Unfallstelle zu warten, ehe er mit anderen zurückbefördert
worden wäre. Nach vielen Wirrnissen und Zögerungen sei er
später mit einem D-Zug angeblich erst nachts um 2^1^ Uhr in E.
wieder eingetroffen. Er versuchte die Arbeit morgens aufzunehmeu,
iühlte sich aber namentlich beim Besteigen des Gerüstes unbehag¬
lich. Da er stärkere Schmerzen empfand, wandte er sich am
13. Oktober an Dr. N. in E., dem er angab, daß er wegen seiner
Beschwerden auf dem Gerüste behindert sei, den ganzen Tag zu
arbeiten.
Zwischen den Schulterblättern und unter den Brustwarzen
bestehen Schmerzen und Druckschmerzhaftigkeit. Objektiv .sei
nichts sichtbar. Die Lungen wären gesund und es wäre wahr-
Die Heilbarkeit nervöser ünfallsfolgen.
49
öcheiulich, daß die Schmerzen in einigen Wochen wieder ver¬
schwinden würden. So lautete Dr. N.s Bericht.
Dr. B., Nervenarzt in F., erklärte am 15. Oktober 1907 die
Beschwerden des Verletzten für glaubwürdig. Pat. sei dadurch
zur Zeit in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt.
Am 15. November 1907 bescheinigt Dr. B., daß der durch
Eisenbahnunfall Verletzte zur Zeit für seinen Beruf als völlig
erwerbsunfähig zu betrachten sei.
Am 2. Dezember 1907 hat dann Dr. N. ein Gutachten er¬
stattet. Danach hatten die Schmerzen im Rücken und an der
linken unteren Brustseite 14 Tage nach dem Unfall nachgelassen,
doch bestand der Schwindel im Kopfe, der anfallsweise und täg¬
lich auftrat und mit Hitze im Kopfe einherging, weiter fort. An¬
fang November gesellten sich Herzbeklemmungen mit Angstgefühl
und Herzklopfen hinzu, was auch auf die Atmung Elinfluß ausübte.
Diese Beklemmungen wiederholten sich täglich mehrmals und
währten bis Ende Oktober, Dann wurden sie geringer und seltener.
Schwindel und Schmerzen in der rechten unteren Brustseite be¬
stand zu Anfang Dezember noch fort. Während an den Stellen
des Schmerzes und im Kopf objektiv nichts nachweisbar war,
konnte bei Herzbeklemmungen in der Sprechstunde Pulsbeschleu¬
nigung wiederholt festgestellt werden. So waren die Pulsschläge
in dieser Zeit 88, 96, 106 und 116 in der Minute. Seit vier
Tagen (von Ende November an) schwankten die Pulsschläge
zwischen 64 und 88.
Dr. N. sah die Erkrankimg für eine typische traumatische
Neurose an, wie sie speziell nach Eisenbahnunfällen verkommen
Die Erwerbsunfähigkeit sei seit dem 12, Oktober 1907 eine gänz¬
liche (100®/o). Wie lange dieselbe dauern würde, sei ungewiß.
Dr. N. empfahl die Unterbringung in einer Nervenheilanstalt.
Von den subjektiven Beschwerden des Verletzten, die
ich Anfangs Januar 1908 feststellte, sind die schon obengenannten
Schwindelempfindungen bemerkenswert, sowie die Schmerzen am
Rumpf, die erst in der linken unteren Rippengegend gesessen
hätten, dann über den Nabel nach der rechten Rumpfseite gezogen
wären. Er könnte ferner nicht ordentlich schlafen und essen; ('r
hätte an Körpergewicht abgenommen. Aus allen diesen Gründen
sei er arbeitsunfähig. Er hätte im Haus eine leichte Beschäftigung
versucht, aber es wäre ihm unmöglich gewesen, sie andauernd fort¬
zusetzen.
Objektiver Befund. Wesentliche seelische Störungen sind
bei dem ziemlich intelligenten, sehr muskelkräftigen, blühend aus-
sebenden Manne nicht zu verzeichnen. Das Gedächtnis ist gut.
Die Stimmung nicht hypochondrisch und nicht depressiv, hie und
da ein wenig gereizt, sobald man auf die wiederholten ärztlichen
4
50
I)r Leop. Laquer,
Uiitertiuchungeu uud Verhandlungen mit den Eisenbabubehörden
zu sprechen kommt: „Ich will mich nicht wichtig machen, ich bin
kein solcher, iler sich drückt. — Ich rege mich bei den Verhand¬
lungen immer auf, und da habe ich die Sache dem Arlmitersekretör
liljergeben, der soll sie führen!“ Der Pat. bekommt leicht eine
Kongestion des Kopfes, die der allgemeinen leichten Erregbarkeit
in allen Hautgefäbgebieteu entspricht. Seine Sprache ist gut er¬
halten, ebenso die Bewegung der Augen-, Gesichts- und Zungen-
inuskulatur. Die Pupillen sind beide gleichweit, reagieren lebhaft
auf Licht und Entfernung.
Auch die Beweglichkeit der Rumpf- und Extremitätenmuskeln
ist gut erhalten; nicht minder die Hantempfindung an dieser Körper¬
stelle. Der Gang ist aufrecht und sicher. Auffällig ist das Zittern
der Augenlider Ijei Lidschluß, während sonstige Zitterbewegungen
nicht zu beobachten sind.
Die Muskulatur ist überall .kräftig entwickelt. An den wieder¬
holt genannten Rumpfstellen, in denen P. Schmerzen empfindet,
auch an der Wirbelsäule besteht keinerlei Druckempfindlichkeit.
Die Sehnen-Ileflexe sind sehr lebhaft. Die Lungen weisen
nirgends einen krankhaften Befund auf.
Dagegen ist auffällig eine Erhöhung der Pulsfrequenz, die
am 9. Jan. auf 140, am 10. Januar auf 120 Schläge in der Mi¬
nute stieg. Eine Verbreiterung der Herzgrenzen, Veränderungen,
Geräusche etc. an den Herzklappen konnte ich nicht feststellen.
Es sind also bei dem Pat. nur nervöse Störungen, namentlich
eine Reizbarkeit uud Neigung zu Blutwallungen mit Erhöhung
der Pulsfrequenz vorhanden, die der Annahme einer anatomischen
Erkrankung des peripheren oder zentralen Nervensystems wider¬
sprechen.
Der Verletzte bietet das typische Bild jenes Komplexes
von traumatisch-hysterischen und -neurasthenischen Krankheitser¬
scheinungen, die sich ohne nennenswerte äußere Verletzungen nach
Unfällen aller Art, auch nach leichten Eisenbahnunfällen entwickeln.
Sie sind weniger als die Folgen des Schrecks und der Erschütterung
bezw. geringen Quetschung beim Fall im Koupee, die er am 10. Ok¬
tober hatte, aufzufassen, sondern müssen als Rentenhysterie
(Rentensucht) bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um eine
Summe von krankhaften Begehrungsvorstellungen — um seelische
Veränderungen, die in dem gesetzlichen Verfahren selbst begründet
sind.
Eine weitere Untersuchung und Beobachtung des Verletzten
würde seine Aufregung vermehren und seine Begehrlichkeit uud
Willensschwäche bezw. Arbeitsunlust steigern.
Aus diesen Grümien möchte ich die baldige Gewährung einer
Abfindungssumme auch ärztlicherseits befürworten. Dr. B. er-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
51
laächtigte mich bei einer gelegentlichen Rücksprache zu der Mit¬
teilung, daß er im Gegensatz zu den Angaben des Verletzten vom
23. Dezember 1907, demselben dringend geraten habe, sich mir
der Direktion über irgend eine Abfindungssumme zu verständigen,
da er sonst' alle halbe Jahre untersucht und noch mehr aufgeregt
werden könnte.
Ich erachte den genannten Weg der Erledigung der vorliegen-
-tlen TJnfallssache für notwendig zur Beseitigung der nervösen Un¬
fallsfolgen und für ersprießlich zur völligen Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit des Verletzten, die mit Sicherheit zu erwarten ist.
Den Grad seiner jetzigen Erwerbsfähigkeit würde ich auf etwa
25®/o schätzen. Dringend widerraten möchte ich der Einweisung
des Verletzten in irgendeine Nervenheilstätte, da dort bei Fällen
wie dem vorliegenden unter Umstanden eine Verschlimmerung der
Krankheitserscheinungen zu erwarten wäre.
Der Verletzte erhielt vou der Eisenbahnbehörde
Ende Februar 1908 eine Abfindung von 1200 Mark.
Katamnese.
Die Bürgermeisterei seines Heimatortes berichtete im Ok¬
tober 1911, daß er vollkommen arbeitsfähig sei und 5 M. pro
Tag verdiene. Schon am 15. April 1908 hatte er die Arbeit
wieder aufgenommen.
Von Wichtigkeit erscheint uns ein Schreiben, das ein orts¬
eingesessener Nachbar des Verletzten mit Namensunterschrift
an die betr. Eisenbahndirektion am 30. März 1908 gerichtet
hatte: „Betreffs Eisenbahnunfall auf der Station M., bei welchem
der Verletzte beteiligt war, möchte ich „Königl, Eisenbahn¬
direktion“ mitteilen, was sich der Verletzte mir und meiner
Frau gegenüber von Anfang an äußerte. Genau Tag und Da¬
tum des Unfalls kann ich nicht mehr bestimmen. Es war
Freitag Morgen, als mich der Verletzte auf den Unfall aufmerk¬
sam machte; er ging Freitag und Samstag arbeiten, war auch
Sonntag bis abends 9 Uhr in der Wirtschaft. Am Montag
ging er wieder zur Arbeit und kam mittags wieder zurück.
Meine Frau fragte nun die Frau des Verletzten, was eigentlich
ihrem Manne fehlte, worauf sie zur Antwort gab: „Wenn mir
fehlen würde, tvas dem fehlt, würde ich nicht daheim bleiben.“
Nach zwei oder drei Tagen fuhr der Verletzte wieder nach F.,
worauf seine Frau erklärte, es wären auf der Baustelle des
Herrn H. zwei Kollegen, welche ihn aufklärten und Anleitung
4*
52
Dr. Leop Laquer,
geben, wie er sich zu dem Unfälle verhalten solle, una eine
Entschädigung zu bekommen, da diese auch schon bei einem
Unfall waren und eine Entschädigung bekamen. Nach etlichen
Tagen erklärte er meiner Frau: „ich gebe dene schon Bescheid für
das Eisenbahn-Unglück; wolle die die Leut kaput fahren, dann solle
die sie auch bezahlen“. Ferner erklärte mir der Verletzte auf Be¬
fragen: „Es könnte noch lange dauern, bis die Sache geregelt
wäre, zwei bis drei Tausend Mark wolle er schon heraus-
schlagenWir brachen alsdann unsere Unterhaltung gegen¬
seitig ab, indem der Verletzte von mir fortzog.
Hoffentlich genügen Ihnen diese Zeilen zur besseren Auf¬
klärung der Sache und stehe zum direkten Beweise vorstehen¬
dem, sowie meine Frau jederzeit gerne zur Verfügung“.
Solchen Denunziationen, die der Mißgunst von übelwollenden
Nachbarn in kleinen Städten und Dörfern entsprungen sind, be¬
gegnet man nicht so selten in den Akten der neurotischen
Rentenempfänger.
Auf der andern Seite ist es bekannt, wie schwer es Berufs¬
genossenschaften upd andern Versicherungsträgern fällt, wahr¬
heitsgetreue Berichte über den Charakter, die Arbeitslust und
Arbeitsfähigkeit eines Unfallsneurotikers von Ortsbehörden und
auch von Ortsärzten zu erlangen. In einem andern, mir be¬
kannt gewordenen Falle ersuchte der Arzt die Berufsgenossen¬
schaft auf das dringendste, von der Bitte um Erstattung
eines Gutachtens über die Arbeitsfähigkeit eines Verletzten ab¬
zusehen, da die Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse
seine Existenz vernichten könnte.
Die eben geschilderten Unfälle waren zwei Arbeitern
nicht im Betrieb begegnet, wo sie unter das Unfallver¬
sicherungs-Gesetz gehört hätten, sondern auf der Eisenbahn,
die haftpflichtig war.
Sie sind schnell abgefunden worden und rasch geheilt.
Wenn man den Verlauf ihrer nervösen Unfallsfolgen mit
dem jener beiden Arbeiter vergleicht (Fall V und VI), die
durch allmähliche Rentenverkürzung und bei weitgehender
Nachsicht der Arbeitgeber unter mehrmaliger Anrufung von
Schiedsgerichten geheilt worden waren, so wird man ohne-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallstolgen.
53
'weiteres sagen: Es gibt Fälle von ünfallsnenrosen, in
denen Abfindung in wenigen Monaten Heilung
bringt. Unter den gleichen individuellen und äußeren Um¬
ständen würden die Verletzten bei Bezug einer Dauer¬
rente mehr Jahre zurHeilung gebraucht haben, als
hier Monate nötig gewesen waren. Solche Beispiele
könnte ich hunderte ans Akten der Berufsgenossenschaften her¬
beiziehen. Die abgefundenen beiden Arbeiter haben ihre beruf¬
liche Tätigkeit, auch nachdem sie die Barsumme erhalten hatten,
in gleicher Weise wie vor dem Unfall betrieben. Ein Rückgang
in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten.
So werden sich auch in Deutschland viele Arbeiter finden,
die in gleicher Weise auf die Abfindung nach Unfallsneurosen
reagieren, wie in Dänemark und in der Schweiz.
Es folgen nunmehr die Krankengeschichten von zwei ledigen
Frauenspersonen, die bei je einem Unfall einen großen Schreck
erlitten, und deren Krankheit durch Abfindung zur raschen
Abheilung gelangte.
Fall IX.
Ein lediges Fräulein, angehende Klavierlehrerin, von 33 Jahren,
uihr am 28. Januar 1907 in einem Koupee III. Klasse im Schnellzuge
von F. nach G. Auf der Station G. gab es plötzlich einen so starken
Stoß, daß alle Insassen des gefüllten Koupees aufflogen. Man hörte
rufen: „Sofort alles aussteigen!“ Die mitfahrenden Herren sprachen
von einer „Explosion“. Es war abends 9 Uhr. Patientin stand
auch auf, schnellte aber wieder zurück und stieg als letzte aus
dem Wagen aus. Sie mußte daun die Unfallsstelle umgehen und
eine Böschung hinaufklettern, um den Hilfszug zu benützen. Sie
geriet durch die Angst der anderen, die von allen möglichen
Schauergeschichten, die passiert waren, erzählten, mehr in Erregung,
als durch den körperlichen Shok, der bei dem Zusammenstoß ein¬
getreten war.
Sie wollte ihre Angehörigen, eine gut bürgerliche höhere Be-
aratenfamilie, deren Ernährer nicht mehr lebte, benachrichtigen;
aber sie war allmählich in eine solche Aufregung geraten, daß sie
dazu unfähig war. Von irgendwelchen Verletzungen anderer hatte
sie selber nichts gesehen. Als sie gegen 1 Uhr durch einen Hilfs¬
zug nach Hause befördert wurde, geriet sie wieder in einen Zu¬
stand der Angst und bekam so heftiges allgemeines Zittern, daß
•es allen Mitfahrenden auffiel.
54
Dr. Leop. Laquer,
Zu Hause angelangt, hat sie zwar erst ein Stündchen von
all’ den Schrecknissen ihrer Familie erzählt, aber als sie sich von^
Stuhle erhob, schlotterten die Knie, sie knickte ein und konnte
kaum stehen und geben. Sie schlief zwar in der folgenden
Nacht, aber am andern Tage war es ihr unmöglich, Klavier¬
stunden zu geben, weil „alles an ihr flog“. — Nach 10 Tagen
bekam ihre Schwester eine Blinddarmentzündung und mußte
operiert werden, was sie wieder sehr aufregte. Ein Bruder, der
Student war, erkrankte an Influenza und Ohrenentzündung etwa
um die gleiche Zeit.
In den dem Unfall folgenden vier Wochen war sie leicht
verstimmt und weinerlich, saß in den Ecken herum, konnte sich
nicht beschäftigen; aber auch die Familie, namentlich die Mutter,
hatte wegen der Erkrankung der Geschwister keine Zeit, sich um
sie zu kümmern. Als ihre Geschwister wieder hergestellt waren,
wurde der nervöse Zustand der Verletzten noch schlimmer. E.s
traten sehr heftige Nackenschraerzen, sowie allgemeine nervöse
Unruhe im ganzen Körper auf. Sie sehnte sich anfangs nach Bett¬
ruhe, die ihr verordnet war, aber sie hielt es im Bett nicht ans,
stand immer wieder auf und lief in der Stadt herum. Dabei war
sie menschenscheu, machte Umwege, um ihren Bekannten nicht zu
begegnen und- nicht nach ihrem Befinden gefragt zu werden.
Ebenso wie die früheren Beobachter habe ich einen ob¬
jektiven körperlichen Befund nicht festzustellen vermocht; Es
fehlen Lähmungen und Empfindungsstörungen im Gebiete der
Hirn- und Rückenmarksnerven. Die Pupillen sind gleichweit uuti
von guter Reaktion; die Sehnenreflexe sind sehr gesteigert, beim
Beklopfen der Sehnen fährt der ganze Körper der Patientin zu¬
sammen. Sie ist mäßig ernährt, zeigt eine geringe Muskelentwicklung,
etwas Blutarmut. Herz und Lunge sind frei von krankhaften
Symptomen; der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. Die
Patientin war an den Untersuchungstagen etwas unruhig; sie war
flattrig, auch in ihrem Blick, verlor den Faden bei der Unter¬
haltung, schien leicht abwesend und zerfahren zu sein und be¬
nahm sich scheu und zurückhaltend gegen den Arzt.
Die Mutter berichtete, daß sie zu Hause gar keine Ausdauer
hätte, beim Handarbeiten und Klavierspielen sofort Schmerzen in
den Armen bekäme, sich auch nichts zutraue. Jede ernste Be¬
schäftigung flele ihr schwer, sie sei auch in der Unterhaltung
mit den Angehörigen zerstreut, ablenkbar und flatterhaft. Ebenso
fehle es ihr an jeder Lebensfreude, so daß sie zu Hause sich absolut
nicht in irgendeiner Weise nützlich machen könne. Eis mangelt
ihr das Interesse an Bekannten und Verwandten; auch soll mit¬
unter eine Gedächtnisschwäche ihrer Umgebung aufgefallen sein.
Sie sei sehr sensibel, könne nichts Trauriges und Unangenehmes hören.
Die Heilbarkeit nervöser l'ufallsfolgen. 55
weint dann leicht und läuft unruhig hin und her. Sie habe
immer noch ziehende Schmerzen in den Armen, Spannungs- und
Klammergefühle mitunter in den Beinen, häufig sei es ihr, als
wenn durch die Muskeln Saiten gezogen würden, die vibrierten.
Pestzustellen war ferner, daß die Patientin schon frühei>
kränklich und auf erblicher Basis nervös veranlagt gewesen ist, und
daß sie in Folge dessen ein Examen, das sie vorhatte, nicht
machen konnte und sich auf die Erteilung von wenigen
Klavierstunden beschränken mußte.
Andererseits ist sicher, daß der Unfall vom 28. Januar 1907
eine bedeutende Steigerung der Nervosität herbeigeführt und ihre
Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigt hat.
Als Folge des Eisenbahnunfalles ist eine hochgradige Unfalls¬
neurose aufgetreten, die unter den Erscheinungen hysterischer
Willensschwäche und Ueberempfindlichkeit mit motorischen Reiz-
erscheintmgen, Schlaflosigkeit einhergegangen ist.
Der Aufenthalt in drei Anstalten, obwohl er monatelang
gedauert hat, ist auf die krankhaiten Symptome ohne jeden Einfluß
gewesen. Wenn auch anzunehmen ist, daß einige unvorsichtige
ärztlicfie Aeußerungen unmittelbar nach dem Unfall, dann die
schweren Erkrankungen in der Familie und endlich eine ungünstige
Beeinflussung durch einen neuropathischen Kranken in einem der
drei Sanatorien, die sie zu Heilzwecken aufsuchte, schädigend und
verzögernd auf den Verlauf der nervösen Erkrankung eingewirkt
haben, so muß doch festgehalten werden, daß ein großer Teil der
erwerbshemmenden Krankheitserscheinungen mit dem Unfall im
direkten Zusammenhang steht.
Nur von einem Zusammenleben mit verständigen, ruhigen
Menschen, leichter Tätigkeit in fremder Familie — die eigene
ist ein unzweckmäßiges Milieu —, nicht im weiteren Sana¬
torienaufenthalt kann ein guter Einfluß auf die Krankheit erhoift
werden. Voraussetzung ist dabei, daß die Patientin sich nicht
mehr untätig ihren Stimmungen und hysterischen Neigung zur
Willenlosigkeit und hypochondrischen Grübeleien überläßt. Dann
ist eine Heilung bezw. eine Wiederkehr ihrer früheren Leistungs¬
fähigkeit, wie sie vor dem Unfall bestanden hat, möglich, sogar
wahrscheinlich. Aber dazu werden nach meiner Ansicht 2 bis 3
Jahre der Ruhe und Schonung notwendig sein.
Der dermalige Zustand einer sehr beschränkten beruflichen
Leistungsfähigkeit wird nicht dauei-nd sein, aber ich möchte von
einer viele Jahre sich hinziebenden Rentenzahlung, die eine wiederholte
ärztliche Nachuntersuchung in diesem Falle notwendig machen wird,
dringend abraten. Dagegen empfehle ich auch hier eine einmalige
größere Kapitalabfindung. Sie ist gerade bei diesen Formen von
nervösen Unfallsfolgen am Platze; denn die Zusicherung einer festen
56
l)r. Leop Laquer,
Reute bestärkt die Uuiall.sbysteriker mänulichen und weiblichen
Geschlechtes in ihrem Krankheitsgefühle und spornt sie in keiner
Weise zu einer Selbständigkeit, zur Selbstbeherrschung, zur Ueber-
windung von Launen und Mißempfindungen an.
Wenn dagegen die Patienten selber oder deren Angehörige
durch ein größeres Kajutal in den Stand gesetzt werden, sich ent¬
weder die Grundlagen zu einem Berufe zu schaffen oder sich das
Leben sorgloser einzurichten, so ist eine Mittätigkeit der in Betracht
kommenden Kranken nicht ausgeschlossen und kann sehr segens¬
reich auf ihre nervösen Zustände einwirken.
Endlich muß der mit der Kapitalabfindiing gegebenen Verkürzung
des Verfahrens bei Rentenfestsetzangen und der Beschleunigung der
Feststellung von Unfallsentschädigungen ärztlicherseits eine heilsame
Beeinflussung der nervösen Unfallsfolgen zugesprochen werden.
Pat. empfing 16 000 Mark als Abfindung.
Katamnese.
Seit d Jahren ist die Pat. nunmehr im Haushalt eines ihr
nahestehenden kranken, nicht mehr tätigen Arztes als Stütze
der Hausfrau und Gesellschafterin des Genannten beschäftigt;
sie macht sich als Vorleserin sehr nützlich und ist teilweise
recht arbeitsfreudig. Ihre Stimmung ist aber immer noch eine
schwankende, hysterische Züge sind aber seltener geworden;
am auffälligsten und schlimmsten ist ihre Nervosität, wenn sie
mit den Angehörigen bes. mit der sehr nervösen Mutter wieder
gelegentlich zusammenkommt.
Mit der Abfindung sind von ihr eine Reihe von Sorgen
gewichen, die in materiellen Nöten ihren Grund hatten. Die
ihre Genesung hemmende Idee, nichts mehr zum Unterhalt der
Familie mit beitragen zu können, hatte die von jeher vorhan¬
denen neuropathischen Zustände bis zur vollen Untätigkeit
gesteigert. Sie ist jetzt weggefallen.
Die oben erwähnten Krankheiten in der Familie hatten
auf ihren Gemütszustand besonders niederdrückend gewirkt.
Fall X.
Die zweite 25jährige nicht belastete ledige Dame war früher
nie erheblich krank oder nervös gewesen. Sie war immer eine
tatkräftige Person und galt für die Stütze der Familie. Sie batte
früher mit der Mutter eine Pension geleitet, dann in einem Kur-
Hötel als Hausdame eine sehr große selbständige Tätigkeit ent-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
57
faltet. Dort hatte sie besonders einige Schwerkranke in ausge¬
zeichneter Weise gepflegt. — Nunmehr beabsichtigte sie, sich wieder
eine neue Stellung zu suchen und fuhr zu diesem Zwecke nach M.
Auf der Rückreise befand sie sich in der Nacht vom 23. zum
24. Oktober 08 in dem Eisenbahnzuge, der bei H. mit einem
Güterzuge zusammenstieß. Sie schildert den Unfall, den sie dabei
erlitt, in folgender Weise: Sie hatte sich in einem Abteil III. Klases
auf einer Bank ausgestreckt und war in einen leichten Halbschlaf
verfallen. Da entstand ein gewaltiges Krachen, das sie erweckte.
Durch einen Ruck des Wagens fuhr sie in die Höhe und fiel dann
gegen die hölzerne Wand. Andere Mitreisende waren zu Boden
gefallen und schrien voller Schrecken; andere liefen angstvoll um¬
her. Man versuchte die Türen und Fenster zu öffnen, was aber
auch starken Männern nicht gelang. Pat. aber faßte Mut, zog
sich in die Höhe und stieß oben am Gepäcknetz
schwebend mit beiden Füßen wider die Tür ihres
Wagens, so daß diese aufsprang und sie dann mit den
anderen den Wagen verlassen konnte. Der Zug war
inzwischen zum Stehen gekommen, es war stockfinstere Nacht; sie
begab sich an den vorderen Teil des Zuges, wo die Schlafwagen
standen, sah dort trotz mangelhafter Laternenbeleuchtung die
Trümmer der ineinander gefahrenen Wagen, hörte das Schreien
der Leute und das Wimmern der Verletzten, die in den Schlaf¬
wagen eingekeilt waren. Sie erfuhr auch, daß mehrere Personen
getötet seien und kam mit diesen Nachrichten zu ihren Mitreisen¬
den zurück, die nicht gewagt hatten, die Abteile zu verlassen.
Unter ihnen befand sich das Hausfräulein einer Familie aus F.;
letztere hatte im Schlafwagen gesessen. Die um ihre Herrschaft
besorgte Dame war vom Schrecken wie gelähmt und mußte von
Pat, an den zertrümmerten Wagen geführt werden, da sie sich
unter jeder Bedingung nach der Familie umsehen wollte. Als sie
sich der Unfallstätte näherten, sahen sie bereits Verwundete und
Tote heraustragen, hatten auch den grausigen Anblick der Leiche
des Herrn der Familie, dessen Schädel und Gesicht vollständig
plattgedrückt war.
Unter diesen schaurigen Eindrücken vergingen eine Reibe
schrecken voller Stunden. Pat. zitterte und bebte am ganzen Körper,
um so mehr, als auch starke Kälte eingetreten war. Ein Hilfs¬
zug brachte sie mit großer Verspätung nach F. Erst am Morgen
des nächsten Tages traf sie zu Hause ein. Sie zeigte sofort die
heftigsten Aufregungszustände, lachte und weinte abwechselnd,
wenn sie die grausigen Erlebnisse zu schildern versuchte.
Mittags um 1 Uhr sah sie ihr Arzt zum ersten Male; er
fand sie in großer Erregung, ihre Stimmung wechselte in krank¬
hafter Weise: bald lachte sie, bald weinte sie. Vor Schwindel
58
Dr. Leop. Laquer,
und Schmerzen in der Brust war ihr das Aufstehen sowie jede
Tätigkeit unmöglich; sie mußte bis zum Tage meiner Untersuchung
ständig die Bettruhe innehaiten; zeitweilig nur konnte sie das
Bett verlassen und einige Stunden auf dem Sofa verbringen. Ihr
seelisches und körperliches Befinden schwankte zwar, doch herrschte
ziuneist depressive Stimmung vor.
So oft man auf den Eisenbahnunfall zu sprechen kam,
zitterte ihr ganzer Körper, die Zähne klapperten, sie stockte dann
hie und da in der Erzählung und stierte in eine Ecke. Ihr
Appetit und Schlaf waren sehr mangelhaft; sie konnte nicht allein
sein; große Angst befiel sie, wenn sie allein gelassen wurde, be¬
sonders wenn sie im Dunkeln war. Oft fing sie dann laut an zu
schreien und es trat heftiger Schweißausbruch ein. Ihre Gesichts¬
farbe veränderte sich leicht; sie war bald kreidebleich, bald tiefrot
im Gesicht. Jegliche Unterhaltung strengte sie an; im Bett und
nur von ihren nächsten Angehörigen umgeben, fühlte sie sich am
wohlsten. In ihrer Ernährung war sie etwas zurückgegangen.
Die Menses waren 10 Tage zu früh gleich nach dem Unfall ein¬
getreten und waren damals und auch später noch sehr kopiös.
Körperlich war am Tage nach dem Unfall außer einer
Schmerzhaftigkeit und einer leichten Schwellung der 6. und 7.
Rippe links sowie einer starken Herzerregung und einzelnen Druck¬
punkten an den Wirbeln kein wesentlicher Befund zu erheben.
Dieser Zustand wurde ärztlicherseits als eine direkte Folge
des Unfalls angesehen. Der Hausarzt gab folgende» Gutachten
ab: Bedeutender Nervenshok mit Zittern durch den ganzen
Körper, bebender Sprache, starkem Kopfschmerz, Verwirrung der
Gedanken neben einer Fraktur der 5. und 6. linken Rippe in der
vorderen Axillarlinie. Dieser Zustand hatte sich, abgesehen von
der Heilung der Rippenfraktur, bisher nicht wesentlich geändert.
Am 16. Dezbr. 1908, also 3 Monate nach dem Unfälle, konnte
ich folgenden Befund erheben: Pat. lag zu Bette. Sie klagte noch
immer über Kopf- und Rückenschmerzen, sowie über solche in der
linken Seite, die 5. und 6. Rippe sind noch immer etwas druck¬
schmerzhaft und in der AxiUarlinie leicht Verdickt. Die Schmerzen
strahlen nicht nur nach beiden Schultern aus, sondern wandern
auch in der Form vager Neuralgien in anderen Körperteilen, in
den oberen und unteren Extremitäten usf. herum. Die Patientin
hat wenig Appetit, der Schlaf ist noch sehr unregelmäßig, der
Stuhlgang aber wieder geregelt.
Solange unsere erste Untersuchung dauerte, durchschüttelte
den ganzen Körper der Patientin ein heftiges Zittern, die Zähne
klapperten und sie war nicht imstande, über die Einzelheiten des
Unfalls und über ihre Beschwerden in zusammenhängender Form
Auskunft zu geben. Sie befand sich also immer noch in einem
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
59
Zustand großer Erregung und ängstlicher Hemmung ihrer (ife-
danken.
Ihre Allgemeinernährung war eine mäßige, Haut und Schleim¬
häute ziemlich blaß, Augen- und Gesichtsmuskeln funktionierten
gut, Pupillen waren beide gleich weit und von guter Reaktion,
die Artikulation ungestört. Lähmungen der Gliedmaßen und
Störungen der HautempAndung fehlten, über Parästhesien wurde
nicht geklagt. Die Kniereflexe erschienen lebhaft. Die Men¬
struation und Blasenfunktion verliefen ohne Besonderheiten. Die
Ovarialgegend ist nicht überempfindlich. Der Urin war frei von
Eiweiß und Zucker.
Nachdem wir in der Untersuchung eine etwa i /2 8tündige
Pause gemacht und uns zur Beratung zurückgezogen hatten, war
die Patientin inzwischen ein wenig ruhiger geworden und konnte sich
etwas freier und leichter äußern. So war es uns dann weiter noch
möglich festzustellen, daß Gedächtnis, Auffassung, Reproduktion
und Urteilsbildung durch den Unfall nicht beeinträchtigt worden
waren, daß zwar tiefe Depression, aber keinerlei hypochondrische
Uebertreibung der Beschwerden bestand; ein Verdacht auf
Simulation war nicht anzunehmen. Wir kamen zu dem Schluß,
daß die Pat. von dem Eisenbahn Unfall vom 24. Oktober 08 einen
leichten Bruch der 5. und 6. Rippe und eine schwere traumatische
Hysterie davongetragen hat.
Da die Verletzte bis kurz vor dem Unfall vollkommen arbeits¬
fähig gewesen ist und nie ein wesentliches Leiden zeigte, so ist
mit Gewißheit anzunehmen — so äußerte ich mich gemeinsam mit
ihrem Hausarzte —, daß die Knochenverletzung durch den Anprall
gegen die Wand des Wagens, die Hysterie aber durch den Schreck
beim Anblick der Trümmer, der verwundeten und getöteten Menschen
entstanden ist. Die Emotion war um so schwerer, als sie nach
Erwachen aus dem Schlaf eingesetzt hatte.
Die Pat. ist infolge des geschilderten Nervenleidens jetzt als
völlig erwerbsunfähig anzusehen. Sie kann dem Haushalt bezw.
der Führung einer Pension oder eines Hötels, die ihren Lebens¬
beruf ausmachen und zur Unterstützung und Erhaltung ihrer
Familie dringend nötig sind, sich nicht widmen. Es kann noch
viele Monate, ein Jahr und länger dauern, ehe die Verletzte dieser
ihrer früheren Tätigkeit wiedergegeben sein wird; doch ist das
Leiden besserungs- bezw. heilungsfühig.
Dringend möchte ich davon abraten, daß die Patientin in
eine Heilanstalt gebracht werde, denn ich fürchte, daß bei der Art
der Erkrankung und der Individualität der Verletzten eher ein
verschlimmernder als ein bessernder Einfluß von der Anstaltsbehand¬
lung zu erwarten sein dürfte. Die Mntter, die sie pflegt, ist eine
ruhige vernünftige Frau, die sich sehr gut zur Pflege der Kranken
GO
Dr. Leop. Laquer,
eignet und günstig d. h. beruhigend auf ihre Stimmung zu wirken
vermag. Ferner ist für die äußere Ruhe der Kranken aufs beste
gesorgt, da das Haus, in dem die aus vier Personen bestehende
Familie wohnt, in einem großen Garten liegt und das Bad S. an
sich im Winter, wo keine Kur gehalten wird, ein außerordentlich
stiller Ort ist. Wenn irgendwo, so kann die Patientin gerade
unter diesen sozialen und örtlichen Verhältnissen völlige Heilung
ihres Leidens erreichen.
Was aber die Verstimmung der Verletzten aufrecht erhält
und fördert, ist die auf traumatisch-hysterischer Grundlage sich
von Tag zu Tag mehr entwickelnde Sorge um ihre eigene Existenz
und um die ihrer Angehörigen, deren Stütze sie bisher gewesen ist.
Zwei Brüder sind ebenfalls durch Unfälle im Erwerb
in erheblichem Grade beschränkt.
Der von der Eisenbahndirektion bereits ausgesprochenen Ab¬
sicht, daß im Interesse der Verletzten eine baldige Regelung der
Entschädigungsansprüche und zwar möglichst in Form einer Ab¬
findung angestrebt werden solle, schließe ich mich an. Meine gut¬
achtlichen Erfahrungen haben mich überzeugt, daß in solchen Fällen
die Abkürzung des Rentenverfahrens und die Beseitigung der
Sorgen um die Zukunft das Auf tauchen und Anwachsen krankhaft
übertriebener „Begehrungsvorstellungen“ am ehesten verhindert,
während die Bestimmung und Festsetzung einer Rente mit
aufregenden Untersuchungen, gerichtlichen Verhandlungen usw.
die Heilungsaussichten wesentlich verschlechtert, immer wieder
Rückfälle auslöst, — ja oft zu unheilbaren Dauerzuständen nervöser
Natur führt.
Es ist dabei zu berücksichtigen, daß der Unfall der Pat.
gerade in einen Abschnitt ihres Lebens fiel, der ohnedies eine Tieit
des Zweifels und der schweren Sorge um das weitere Schicksal
ihrer Familienangehörigen gewesen ist; denn die bisherige aus¬
sichtsvolle Erwerbsquelle war ihrer Mutter durch den Verkauf des
Hauses, wo sie bisher mit großem Erfolge eine Pension betrieben
hatte, abgeschnitten worden.
Pat. empfing darauf 12000 Mark.
Katamnese.
Zwei Jahre nach dieser Begutachtung berichtete der Haus¬
arzt, daß die Verletzte sich von dem Eisenbahnunfall ganz gut
erholt habe. Sie habe einen Winter unmittelbar nach dem
Unfall bei Verwandten am Rhein zugebracht, sei dann wieder
arbeitsfähig geworden, so daß sie im zweiten Jahre nach dem
Unfall in einem Badeorte wieder einer Kurpension vorstehen
Die Heilbarkeit nervöser Uiifallsfolgen.
ßl
konnte und sich durch häusliche Arbeit betätigte. Sie bildet
sich jetzt zur Sängerin ebenfalls mit gutem Erfolge aus.
Wenn auch in dem letzten Falle eine früher gesunde,
jugendkräftige leistungsfähige Person in Frage kam, während
in dem anderen Falle eine psychopathische Hysterika den Un¬
fall erlitt, so hat doch in beiden Fällen der Unfall weniger
körperliche Folgen ausgelöst, als soziale Mißver¬
hältnisse geschaffen; denn beidemal stand in der Tat das
weitere Schicksal einer unverheirateten Frauensperson in Frage,
die für die Familie, die ohnehin ihr knappes Auskommen hatte,
selbst nicht mehr mit erwerben konnte, ja den anderen zur
Last zu fallen drohte.
Hier war es nicht nur eine Sache des ärztlichen Mitleids,
sondern eine ärztliche Berücksichtigung realer Verhältnisse, wenn
man die Psyche der Patientin als durch den Unfall geschädigt
ansah und in diesem Sinne das Bestehen einer Unfallsneurose
im weitesten Sinne des Wortes anzunehmen berechtigt war.
Etwas anders steht es mit einer größeren Reihe von mehr
oder minder begüterten Kaufleuten, die eine relativ große Ab¬
findungssumme erhalten haben. Bei ihnen war zur Vermei¬
dung des Prozesses und seiner schlimmen Folgen für die Psyche
der Verletzten eine Abfindung mit Kapital für den ein¬
zigen Ausweg angesehen worden, um möglichst bald
die ünfallsneurose, die schon Tausende an Kur¬
kosten nutzlos verschlungen hatte, aus der Welt
zu schaffen.
Fall XI.
Ara 31. Mai 1909 abends befand sich ein 38jähriger Frucht¬
händler auf der Reise. Während der Zug auf einer Station hielt,
soll eine Maschine derart auf den Zug aufgefabren sein, daß die
Fahrgäste von den Sitzen geschleudert wurden. Der betr. Patient
schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wagenwand, gleichzeitig
sollen ihm einige im Gepäcknetz untergebrachte Gepäckstücke auf
den Kopf gefallen sein.
Kurz darauf klagte er über Unwohlsein, später trat Erbrechen
ein; als er zu Hause ankam, ging er sogleich zu Bett. Das Er-
l^rechen ließ jedoch nicht nach; der Arzt mußte in der Nacht noch
gerufen werden. Dieser stellte am 2. Juni 09 folgendes ärztliches
62
Dr. Leop. Laquer,
Zeugnis aus; X. leidet an einer mitteischweren Gehirnerschütterung,
die, nach seinen Angaben zu schließen, dadurch entstanden ist,
daß ihm bei einem Eisenbahnunfall schwere Gepäckstücke auf den
Kopf fielen.
Es handelte sich nach den Erhebungen der Eisenbahnverwal¬
tung bei dem Unfall um eine kleine und leichte Verwundung der
Haut über dem Auge, die wahrscheinlich durch ein herunter¬
fallendes Gepäckstück bei einem kleinen Ruck des Wagens beim
Bremsen veranlaßt worden war.
Am 19. Juli 09 begab sich Patient in eine Anstalt. Ueber
die dort gemachten Beobachtunjgen heißt es u. a.:
Patient stammt aus einer gesunden Familie, behauptet vor
dem Unfall immer gesund, auch Soldat gewesen zu sein. Er gab
weiter an, daß er gleich nach dem Unfall vergeblich zu arbeiten
versucht habe.
Bei seiner Ankunft war er in hohem Grade erregt; sein Ge¬
sichtsausdruck war angstvoll und gespannt. Er klagte über starke
Kopfschmerzen, die im Hinterkopf nach vorn und die Stirn aus¬
strahlten und die so arg seien, daß er seinen Hut keine 10 Minuten
auf dem Kopf behalten könnte. Weiterhin bestand heftiger
Schwindel, der es ihm unmöglich machte, sich zu bücken. Er sei
aufgeregt und ängstlich, wenn man etwas zu ihm sage, über¬
empfindlich gegen alle Geräusche. Ferner habe er Neigung zu
heftigem Schwitzen und ein Gefühl von Taubsein in den Fingern.
Der Appetit sei mangelhaft, der Schlaf sehr schlecht, beim Ein¬
schlafen schrecke er heftig zusammen. Außerdem bestehe dauernd
starke Müdigkeit in allen Gliedern.
Weder bei der Aufnahme noch später bei häufig wiederholten
Untersuchungen waren wesentliche krankhafte Veränderungen ob¬
jektiver Art aufzufinden.
Patient erschien als ein untermittelgroßer, dabei aber sehr
kräftig gebauter Mann von gesundem Aussehen und gutem Er¬
nährungszustände. Linke Pupille war eine Spur breiter als die
rechte, die Reaktion auf Lichteinfall beiderseits vollkommen. Beim
Ausstrecken der Arme imd Spreizen der Finger trat Zittern ein,
rechts mehr als links. Beim Stehen mit geschlossenen Augen
schwankt der Kranke, anfangs mehr, dann weniger. Bei Prüfung
der Kniesehnenreflexe zuckte der Kranke lebhaft mit dem ganzen
Körper zusammen, ebenso bei Prüfung der Berührungsempfindlich¬
keit am Rumpf, während sie am Unterschenkel herabgesetzt zu
sein erscheint (?).
Patient brachte in der Anstalt jeden Tag etwas neues Krank¬
haftes vor. Gegen die einzelnen Beschwerden erschienen die an¬
gewandten Behandlungsmethoden fast machtlos. Berichtete er aus¬
nahmsweise mal, daß es ihm besser gehe, so pflegte er dieses
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
63
sofort einzuschränken, indem er über die eine oder andere nervöse
Empfindung, meist Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit klagte.
Diese Beschwerden waren außerdem noch vergesellschaftet
mit einer seelischen Hyperästhesie,, d. h. der Kranke empfindet
seine Beschwerden psychisch viel stärker als körperlich. Seine
Schilderungen machen daher den Eindruck des Uebertriebenen.
Jeder unangenehme Eindruck verstärkt die subjektiven Beschwerden.
Nach einem solchen schrieb er einmal an seine Frau einen recht
konfusen Brief, in dem er u. a. Selbstmordgedanken äußerte.
Dabei konnte er zu anderen Zeiten ganz aufgeräumt sein. War
ein Arzt in seiner Nähe, so machte er immer einen scheuen un¬
sicheren Eindruck.
Er hat infolge des Unfalls eine leichte Gehirnerschütterung
erlitten. Ein organisches Leiden ist auszuschließen. Die Form
seiner nervösen Beschwerden, die Art, wie er seine Klagen an¬
bringt, die Neigung zur Uebertreibung, die Zunahme körperlicher
Symptome während der Untersuchung und die gereizte hypochon¬
drische Stimmung, die stets eintritt, sobald von seiner Krankheit
die Rede ist, sprechen dafür, daß Patient an einer traumatischen
Hysterie leidet. Es war durch die Behandlung eine wesentliche
Besserung herbeigeführt worden, die Erwerbsfähigkeit wurde
schließlich auf 66^8 % geschätzt und eine völlige Wiederher¬
stellung für möglich gehalten.
Am 10. Februar 1910 bescheinigte Professor Dr. S., daß Patient
an einer traumatisch bedingten Psycho-Neurose leidet. Trotz der
vorausgegangenen Anstaltsbebandlung war der Befund am 13. Januar
1910 noch so, daß Prof. S. eine weitere spezialärztliche Behandlung
außerhalb der Heimat für erforderlich hielt. Dabei erschien ihm,
um rasches Eintreten von Heimweh zu verhindern und wegen der
sich manchmal steigernden Aengstlichkeit des Patienten Begleitung
durch seine Frau angebracht.
Am 19. Januar 1910 trat Patient in Beobachtung und Behand¬
lung von Dr. H., Nervenarzt zu W. Dieser führte die bestehende
Nervenkrankheit auf die Kopfverletzung in der Eisenbahn zurück
und sah sie auch für Hysterie an; er hielt damals den Verletzten
für völlig erwerbsunfähig. Seine hauptsä(*-hliebsten Klagen waren
bei Dr. H. andauernder Kopfdruck, links stärker als rechts, Flim¬
mern vor den Augen, wenn er etwas scharf ansehen will, andauern¬
des Gefühl von Angst und Unruhe, Unfähigkeit seine Gedanken
zu konzentrieren und längere Zeit zu lesen o<ler zu schreiben. Es
herrschen ferner anhaltend trübe Gemütsstimmung und der Gedanke
vor, daß er seine Familie nicht mehr ernähren könne und daß
er körperlich und wirtschaftlich zugrnn'le gehen müßte. Auch
treten Selbstmordideen auf bei großer Uebeiempfindlichkeit gegen
'Geräusche und Schreckhaftigkeit, an Schwindelempfindungen und
64
Dr. Leop. Laquer,
unruhigem Schlafe, Kälte der Füße und großer körperlicher Er¬
müdbarkeit.
Die körperliche Untersuchung ergab normale Pupillenfunktioi.,
einen mittleren Grad von Einengung des linken Gesichtsfeldes,
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit besonders der linken
Körperhälfte, Quaddelbildung bei Nadelstichen, Ueberempfindlichkeit
des behaarten Schädels bei Klopfen. Bei Fuß- und Augenschiuß
tritt starkes Schwanken ein, Vermehrung der Gesichtsröte und
Schwindelgefühl beim Bücken. Der Puls schwankt zwischen 64
und 92. Sonst war kein objektiver Befund zu erheben.
Dr. H. gewann im Laufe der Behandlung den Eindruck,
daß Patient unter seinen nervösen Beschwerden tatsäch¬
lich schwer leidet, allen Lebensmut verloren hat und außerstande
ist, sich irgendwie ernsthaft zu beschäftigen. Alle Versuche des
Arztes, den Patienten zu einer, wenn auch nur kurz dauernden
Beschäftigung zu bewegen, scheiterten daran, daß er jedesmal nach
höchstens 10—15 Minuten wegen enorm sich steigernder Kopf¬
schmerzen aufhören zu müssen erklärte. In der Tat wurde dabei
sein Kopf immer dunkelrot.
Der Schlaf war trotz vielfacher Mittel andauernd mangelhaft,
währte höchstens 4—5 Stunden. Nachts stand er häufig auf, war
meist aufgeregt, sah schwarze Gestalten etc.
Dr. H. hielt eine organische Veränderung des Hirns für aus¬
geschlossen, nahm aber als Unfallsfolge „Hysterie“ an. Er hielt den
Patienten für arbeitsunfähig, eine Besserung der Krankheit aber
für möglich.
Am 2. Juni 1910 stellte Dr. H. eine Besserung des Patienten
fest, empfahl aber zur weiteren Förderung seines Befindens einen
Aufenthalt in waldiger Höhenlage. Patient hielt sich dann 4
Wochen in Luzern auf, kehrte am 9. August zurück und trat am
27. August 1911 in meine Beobachtung und Behandlung.
Aus der Auskunft einer Behörde war zu ersehen, daß die
Aussagen des Patienten mit gewisser Vorsicht aufzu¬
nehmen sein dürften.
Bei der eigenen Untersuchung erschien die Anamnese ohne Be¬
lang. Pat. fügte zur Schilderung des Unfalles noch hinzu, daß der
Koffer, der ihm aus dem Gepäcknetz auf den Kopf fiel, mit einigen
Flaschen Wein gefüllt und deswegen sehr schwer gewesen sei. Blutung
aus Nase und Ohr sei nicht eingetreten, dagegen habe sich eine
kurze Bewußtlosigkeit an die Verletzung angeschlossen.
Jetzt sei wieder eine Verschlimmerung seiner nervösen
Be.schwerden eingetreten, seitdem er von der Schweiz in seine
Heimat zurückgekehrt wäre: Kopfdruck, Angstgefühle und große
Ermüdbarkeit belästigten ihn derart, daß er vollständig arbeits-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
65
unfähig sei und allen Lebensmut verloren habe. Er hätte sein
Geschäft, das sich auf den Ein- und Verkauf von Getreide und
von Mühlenfabrikaten erstreckte, vollständig aufgeben müssen,
weil es die Frau allein nicht fahren konnte. Er habe für nichts
Sinn, blättere nach Angaben seiner Frau stumpfsinnig den ganzen
Tag in einem Buche, schlafe sehr unruhig, müsse nachts oft wegen
der Unruhe das Bett verlassen und im Zimmer auf- und abgehen.
Wenn er 10 Min. laBlg wirklich etwas lese oder sich kurze Zeit mit
seinen Geschäftsbüchern beschäftige, bekomme er Flimmern vor den
Augen und Schwindelempfindung. Er könne seine Gedanken nicht auf
die Arbeit konzentrieren und lebe fortwährend in der Angst, seine
Familie nicht mehr ernähren zu können. Die Klage über kalte
Füße, große Ueberempfindlichkeit gegen Geräusche und eine ge¬
wisse Schreckhaftigkeit halten ebenfalls noch an.
Der objektive Befund war ein sehr geringer: Patient ist ein
wohlgenährter, untersetzter Mann mit starker Muskulatur und gutem
Fettpolster und zeigt ein auftällend gerötetes Gesicht. Der Schädel
ist auf Beklopfen etwas überempfindlich. Sein Gang auf der
Straße ist ein ungemein rascher, seine Haltung ist eine aufrechte
und stramme; bei geschlossenen Augen tritt leichtes Schwanken
ein, beim Bücken nach vom wird die Gesichtsröte etwas dunkler
und es tritt leichtes Schwindelgefühl auf.
Weder in der Funktion der Pupillen noch in den sprachlichen
Aeußerungen und in der Beweglichkeit der Gesichtsmuskulatur
ist irgendeine krankhafte Abweichung von der Norm zu bemerken.
Ebensowenig habe ich Lähmungserscheinungen der Muskel an den
Gliedmaßen und an dem Rumpfe, noch halbseitige Empfindungs-
Störungen festzustellen vermocht. Eine Spur von Zittern tritt ein,
wenn Patient bei ausgestrecktem Arm die Finger spreizt.
Bei der Prüfung der Hautempfindung machen alle Angaben
des Patienten, daß er gar keine Empfindung, weder für leichte
Pinselstriche noch für Nadelstiche, für Warm und Kalt habe, den Ein¬
druck offenkundiger und absichtlicher Uebertreibung.
Im übrigen bestehen noch weitere subjektiv wechselnde und
schwankende Beschwerden, wie sie vielfach vorher schon ge¬
schildert sind.
Meine endgültigen gutachtlichen Schlüsse lauteten:
Patient ist am 31. Mai 1909 bei einer Eisenbabnfahrt verletzt
worden: Durch Anschlägen des Kopfes an die Hinterwand des
Wagens bezw. durch Verletzung des Scheitels, auf den von oben
her ein Koffer gefallen sein soll, hat sich eine mittelschwere Ge¬
hirnerschütterung entwickelt. Ein Schädelbruch ist nicht entstan¬
den. Blutungen aus Nase und Ohr haben gefehlt, nur eine kleine
blutende aber unbedeutende Hautwunde, sowie eine in der Nacht
nach dem Unfall aufgetretene Brechneigung waren die Zeichen dc.r
66
Dr. Leop. Laquer,
stattgehabten Kopfverletzung mit Hirnerschütterung. Die näheren
Umstände bei dem Unfall, auch die Dauer der Bewußtlosigkeit, die
Patient erwähnt, konnten durch das Fahrpersonal oder durch ein¬
wandsfreie Zeugen nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
Dagegen ist unmittelbar nach dem mehrfach in den Akten
geschilderten Eisenbahn-Unfall ein Nervenleiden entstanden, das
sowohl von Professor S. wie von Dr. M. und Dr. H. als eine
Psycho-Neurose mit wesentlich hysterischen Symp¬
tomen-Komplexen angesehen wurde.
Ein wesentlicher objektiver Befund ist während der ganzen
Dauer der Erkrankung, also innerhalb von IV 2 Jahren, nicht er-
Jioben worden.
Es erübrigt sich eine wiederholte Aufzählung all der Kopf-
Sensationen, über die der Patient zu klagen hat. Wesentlich er¬
scheinen jetzt nur die Angstzustände, die nervöse Unruhe,
Schlaflosigkeit sowie angebliche Selbstmordgedanken, auch die
geistige Ermüdbarkeit und die mangelhafte Fähigkeit, sich zu
sammeln und bei der Arbeit auszuhalten, die den Patienten, wie
er angibt, arbeitsunfähig machen.
Alle Gutachter ohne Ausnahme sind einig in der Auffassung
<les vorliegenden Krankheitsbildes. Der Verletzte erscheint ihnen
allen’als ein Mann, der an einer Unfallsneuro^e leidet. Ich muß
mich darin ihnen anschließen.
Nicht übereinstimmend lauten die Ansichten der bisherigen
Beobachter über die Bewertung der Unfallsfolgen.
Da müssen nicht bloß die Neigung zur Uebertreibung, die alle
hysterische Personen in der gleichen Weise wie Patient darbieten,
in Betracht gezogen werden, sondern auch die gegenwärtig immer
mehr zur Geltung kommende ärztliche wissenschaftliche Anschau¬
ung über die Natur derartiger nervösen Unfallsfolgen.
Nach meiner Eri'ahrung gilt es für mich als sicher, daß zahl¬
lose Kranke mit schwersten hysterisch-neurasthenischenBeschwerden,
die unter den peinlichsten körperlichen Empfindungen Jahrzehnte
lang zu leiden haben, trotzdem vollkommen ihre Pflicht tun und
mit Ueberwindung der Klagen ihrem Berufe nachgehen und ihre
Familie ernähren. Es ist für mich darum zweifellos, daß auch
Patient, ein körperlich sehr kräftiger Mensch, der immer gesund
war und seiner Militärpflicht genügt hat, sehr wohl in der Lage
ist, trotz seiner Beschwerden, mindestens die Hälfte seines früheren
Einkommens zu verdienen, sei es, daß es jährlich nur 1400 Mark
betrug, wie die Steuerbehörde angibt, sei es, daß er sich selber
5000 Mark aus seinen Büchern herausrechnen will.
Aus den bisherigen Beobachtungen ergibt sich ferner keinerlei
Anhaltspunkt, daß bei dem Patienten sich infolge des Unfalls
eine Gefäßverkalkung im Gehirn früher ausbilden könnte als bei
Oie Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
67
Jedem andern kräftigen und nicht belasteten Menschen, wenn er
nicht Trinker oder Syphilitiker war. Die vasomotorische Erregbar¬
keit des Kopfes beim Bücken und beim Versuchen geistig zu
arbeiten ist eine häufige Erscheinung bei Unfallshysterikern; sie
ist rein psychisch bedingt und funktioneller Natur. Ich sehe
jsie sehr häufig bei jugendlichen Neurasthenikern, ohne daß sie
auch nach Jahr und Tag zur Ausbildung einer Hirn Verkalkung
führt.
Endlich machen die Selbstmordideen, die der Patient weniger
Tor dem Arzt wie vor seinen Angehörigen vorbringt, nicht den
Eindruck, als ob es sich hierbei um eine ernstere melancholische
Depression handelt. Die Klopfempfindlichkeit, das Schwanken
bei Augenschluß und Erhöhung der Pulsfrequenz sind ebenfalls
nicht als ungekünstelt und einwandsfrei aufzufassen, sie stellen
sich leicht ein, wenn Verletzte, wie in diesem Falle, häufig daraufhin
untersucht werden.
Aus allen diesen Gründen lautet mein Gutachten dahin, daß Pat.
jetzt nur noch um höchstens 50 % seiner Erwerbsfähig¬
keit geschädigt ist. Den wissenschaftlichen Erfahrungen gemäß
und nach dem persönlichen Eindruck, den Patient auf den Gut¬
achter bei seinen wiederholten Besuchen gemacht hat, wird er nur
noch etwa 3 Jahre lang in diesem G rade beeinträch tigt
sein.
Irgendein Anhaltspunkt für Abkürzung seines Lebens durch
den Unfall und seine Folgen ist nicht anzunehmen.
Endlich komme ich auch hier nach Erwägung aller ärztlichen
und sozialen Momente zu der Ansicht, daß die Heilung der Psycho-
Neurose bei Patient um so eher eintreten wird, je schneller die
Verhandlungen über das Rentenfestsetzungsverfahren zum Abschluß
kommen.
Patient wird, wie so viele Rentenhysteriker, die von mir
untersucht, und dann durch ein Kapital abgefunden worden sind —
ohne daß ein Rentenprozeß geführt wurde —, nachdem er sein
Geld erhalten hat, sehr bald die Arbeit wieder aufnehmen und von
seiner Unfallhysterie genesen.
Patient empfing darauf 30 000 Mark als Abfindung!
Katamnese.
Der Bürgermeister des Heimatsortes teilte im Juni 1911
auf offizielle Anfrage mit, daß der Verletzte, nachdem er
abgefunden war, den Fruchthandel und zwar mindestens
in dem früheren Umfange wie vor seinem Unfall betreibt.
6a
Dr. Leop. Laquer,
Fall XII.
Ein 40 Jahre alter Eaufmano, der bei einem Eisenbahn¬
unfall keine äußerlichen körperlichen Verletzungen dayontrug,
erlitt einen großen, wesentlich durch den Anblick einer des Kopfes
beraubten Leiche hervorgerufenen Schreck, als er eben seinen
Wagen verlassen hatte. Es war das im Jahre 1907; er wurde
dann in verschiedenen Nervenanstalten beobachtet und trat im
April 1908 in meine Beobachtung. Als nervöse Unfallsfolgen
bestanden noch Stimmungswechsel, Arbeitsunlust, allgemeine Er¬
müdbarkeit, Schlafmangel, Zittern und Taubheit der Hände,
zeitweilige Steigerung der Pulsfrequenz bis auf 120 Schläge,
Spuren von Eiweiß und Zucker, endlich auffälb'ge Schlängelung der
Temporales, die die verschiedenen Beobachter zu der Annahme eines
Atheroma praecox veranlaßten. Auch hier fehlten sonstige objek¬
tive Befunde vollkommen.
Es handelte sich um einen außerordentlich regsamen, intelli¬
genten Mann, dessen Nervensystem infolge von Spekulations-
Geschäften schon vor dem Unfall eine reizbare Schwäche aufwies,
wie sie vielen Kaufleuten, die solchem Berufe nachgeben,
eigentümlich ist; im vorliegenden Falle kamen noch häusliche
emotionelle Momente hinzu, welche die Heilung der Unfallsfolgen
verzögerten.
Er verlangte eine Entschädigung von Million von der
Eisenbahnbehörde, da er nachwies, daß er kurz vor dem Unfall
die Vertretung einer großen auswärtigen Firma zu erhalten im
Begriffe stand, die ihm voraussichtlich jährlich eine Einnahme Von
20 — 25000 Mark eingebracht hätte.
Von den Gutachtern war 60% Invalidität angenommen worden.
Pat. empfing als Abfindung 140000 Mark.
Katamnese.
Eine neue Regelung widriger familiärer Verhältnisse erfolgte
seinerseits unmittelbar nach Auszahlung der Vergleichs¬
summe. Die dadurch geschaffenen neuen Zustände im Leben
des Verletzten verbunden mit einem Ortswechsel hoben seine
Stimmung in erheblichem Grade. Jedenfalls hat Pat. schon
seit einigen Jahren seinen kaufmännischen Betrieb zusammen mit
seinem Bruder wieder aufgenommen, klagt zwar noch über
Nervosität, ist aber in sozialem Sinne als geheilt anzusehen. —
Da er auf grund seiner kaufmännischen Tätigkeit besonders
wegen des spekulativen Geschäfts an der Börse den gleichen
Gemütserregungen ausgesetzt ist, wie vor dem Unfall, werden
seine nervösen Klagen kaum je verschwinden.
69
Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen.
Fall XIII.
Ein 26jähr. Verkäufer, ohne erbliche Belastung, ein schmaler,
-wenig muskulöser, mangelhaft ernährter Mann, hat sich stets guter
Gesundheit erfreut, leugnet eine luetische Infektion und jeden
Mißbrauch von Alkohol. Pat. batte am 1. Okt. 1904 einen Eisen¬
bahnunfall dadurch erlitten, daß beim Zusammenstoß eines Schnell¬
zuges mit einem Eilgüterzug der Wagen, in dem er saß, zur Ent¬
gleisung kam. Pat. stand gerade am Fenster, als der Güterzug
sich seinem Eoupee zu nähern schien. Da er ein Krachen hörte,
geriet er in Angst, öffnete die gegenseitige Tür und sprang zum
Wagen hinaus. Der Zusammenstoß hatte nur unwesentlichen Ma¬
terialschaden verursacht. Pat. wurde dann mit anderen Insassen,
die nach ihm in aller Ruhe ausgestiegen waren, im Packwagen
weiter befördert.
Aeußere Verletzungen hatte er nicht erlitten, aber der Schrecken,
der ihn befiel, war recht groß gewesen: Starke Kopf- und Rücken-
scbmerzen sowie ein Zittern in den Beinen, namentlich in den.
Unterschenkeln waren sofort eingetreten. Den folgenden Tag, der
auf einen Sonntag fiel, brachte er im Bette zu, nahm dann aber
gleich die Arbeit wieder auf. Trotzdem er sich in seinem geschäft¬
lichen Berufe schonen konnte und nur einen halben Tag zu arbeiten
brauchte, wurde sein Schlaf unruhig; es trat nach geistiger und
köiperlicher Arbeit leicht Ermüdung ein und der Appetit nahm ab.
Acht Tage nach dem Unfall hatte er eine schwere Gemüts¬
erschütterung, als seine Schwester, die im jugendlichen Alter stand,
in wenigen Tagen einer Lungenentzündung erlag.
Die schon genannten Beschwerden hielten Monate lang mit
vielen Schwankungen an; der Verletzte war oft sehr verstimmt,
arbeitete aber weiter fort, weil die Weihnachtszeit die Anspannung
aller seiner Kräfte erforderte.
Erst im Januar 1905 konnte er meinem Rate folgen und zur
Erholung einige Wochen im Süden zubringen, wodurch eine Besse¬
rung seines Allgemeinbefindens erreicht wurde. Als er die Arbeit
■wieder aufnahm, war die Stimmung eine sehr gedrückte, die Er¬
müdbarkeit eine sehr große; das Zittern der Hände und der Er¬
nährungszustand wechselten: Auch Solbäder in N. brachten ihm
im Frühjahr 1905 wenig Erleichterung.
Traumatische Hysterie leichteren Grades mit neurasthenischeii
Erschöpfungserscbeinungen war angenommen und die Erwerbs-
beschränkung auf 33*/3 ®/o geschätzt worden.
Da eine Vereinbarung auf gütlichem Wege zwischen der Eisen¬
bahnverwaltung und dem Anwalt des Verletzten erstrebt und ein
gerichtliches Verfahren auf meinen Rat vermieden werden sollte,
.sprach ich mich in meinem Gutachten für die Gewährung einer
70
Dr. Leop. Laquer,
größeren Abfindungssumme aus; „denn auch hier würde wie bei
vielen Unfällen nach meinen Erfahrungen die Beendigung des
Zweifels über die Art der Entschädigung auf den Gemütszustand
des Verletzten von heilsamstem Einfluß sein.“
Patient erhielt eine Abfindung von 5000 Mark,
nachdem ein Kuraufenthalt an der Riviera vorausgegangen war,
der 1740 Mark gekostet hatte. Der betreffende Arzt hatte ihn als
geheilt entlassen.
Katamnese.
Patient hatte ein Einkommen von 2700 Mark und sollte
einen Posten als Geschäftsführer in einem Zweiggeschäft be¬
kommen, als der Unfall sich ereignete.
Im Frühjahr 1906, bald nachdem er in den Besitz des
Kapitals gekommen war, begründete er mit einem andern zu¬
sammen in einer größeren Stadt ein Damen-Mäntelgeschäft.
Es mag 'dahingestellt bleiben, ob die Sehnsucht nach
Selbständigkeit eine jener Begehrungsvorstellungen war, die die
Heilung der Schreckneurose verzögerte. Jedenfalls waren alle
nervösen Störungen nach der Abfindung so weit zurückgegangen,
daß er den Mut fand, sich selbständig an einem neuen größeren
kaufmännischen Unternehmen zu beteiligen.
Fall XIV.
Ein 65jäbriger Händler erlitt am 16. September 1907
einen Eisenbahn-Unfall, indem er in seinem Wagen sitzend über
das Geleise fuhr und von einem Güterzuge angefahreu bezw. aus
dem Wagen geschleudert wurde; das Gefährt ging in Trümmer.
Der behandelnde Arzt Dr. F. von S. gab an, daß der Ver¬
letzte über Schwindel und Unvermögen zu geistiger Tätigkeit klage-
und namentlich behaupte, nicht mehr iin Wagen fahren zu können:
Sein Gehör habe sehr gelitten, sei aber in letzter Zeit wieder
etwas besser geworden. Dr. P. glaubt, daß Pat. eine unbedeutende
Gehirnerschütterung davongetragen habe und schließt dies aus dem
von ihm behaupteten Umstande, daß er kimz nach dem Unfälle
ohnmächtig gewesen sei. Der Bahnwärter, der die Schranke an der
Unfallstelle zu bedienen hatte und der nach dem Unfälle sofort
zur Stelle war, die.sen sogar mit ansah, bestreitet diese Ohnmacht.
Erbrechen hat der Verletzte nicht gehabt und objektiv ließ sich
auch nichts nachweisen. Puls und Sehnenreflexe seien in Ordnung
und die Pupillen reagierten gut.
Bei negativem objektivem Befund waren am ll.Febiuar 1908-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen 71
als Unfallsfolgen noch vorhanden: Schmerzen, Sausen und Summen
im Kopf und Schlafmangel. Von der Schwerhörigkeit, über die
sich Pat. beschwerte, war nach ohrenärztlicher Untersuchung aii-
zunehmen, daß sie größtenteils schon vor dem Unfälle be¬
standen hatfe.
Die genannten Beschwerden 1 äugen zweifellos bis zu einem
gewissen Grade mit dem Unfall zusammen, der zwar zu sehr ge¬
ringen äußeien Verletzungen, auch nach Aussage Dr. F.’s nur zu
einer unbedeutenden Hirnerschtitterung führte, aber doch wohl —
nach Art der begleitenden Umstände — zu einem sehr heftigen
Schrecken Anlaß gegeben hatte.
Solche nervöse Folgezustände gelangen nach Unfällen bei
Leuten, die schon in höherem Lebensalter stehen und Altersver¬
änderungen im Zentralnervensystem, Blutgefäßen, Hirnnerven etc.
zeigen, nicht selten zur Beobachtung.
Pat. ist nach Aussage der Ortsbehörde und des Ohrenarztes
zur Uebertreibung geneigt. Das ist bei Abmessung der durch
den Unfall bedingten Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen.
Der Pat. ist darum nach meiner Ansicht infolge der geschil¬
derten Beschwerden etwa um ein Drittel in seiner Erwerbefähig¬
keit beschränkt: ob diese Behinderung bei dem vorgerückten Alter
desselben sich jemals ausgleichen wird, erscheint mir zweifelhaft.
Der ärztlichen Voraussicht entzieht sich die Beantwortung der
Frage, wie lange Pat. erwerbsfähig geblieben wäre,
wenn er keinen Unfall erlitten hätte: Hat die Schwerhörig¬
keit auch vor dem Unfall bestanden, was nach Lage des Ohren¬
befundes walirscheinlich ist, so hätte sie vermutlich auch ohne
den Unfall Fortschritte gemacht, und wenn auch langsamer, zur
allmählichen Ertaubung des Pat. geführt.
Ich emplelile auch bei diesem Unfälle eine einmalige Kapitals-
Abfindung, da bei einem streitigen Verfahren vor Gericht all die
Beschwerden im Laufe langwieriger Verhandlungen und Unter¬
suchungen wegen des Alters des Verletzten einen immer höheren
Grad annehmen dürften.
Der Verletzte erhielt 6500 Mark.
Katamnese.
Die Ortsbehörde schreibt: „Pat. steht im Alter von 69 Jahren.
Sein Handelsgeschäft hat er an seine beiden erwachsenen
Söhne abgegeben. Soweit hier festgestellt werden konnte, ar¬
beitet er selbst nicht mehr, wenn er auch ab und zu mal mit
den Söhnen Uber Land fährt. Br lebt im Haushalt des ältesten
Sohnes und dürfte seinen Lebensunterhalt im übrigen aus den
Zinsen vorhandenen Kapitalvermögens bestreiten. Seine Ver-
72
I)r. Leop. Laquer,
hältnisse sind geordnete. — Ob er sein Geschäft s. Z. nur mit
Rücksicht auf die Unfallfolgen abgegeben hat. vermögen wir
nicht zu beurteilen.“
Der Arzt schreibt: „Auf Ihre w. Anfrage vom 23. d. M.
erlaube ich mir, Ihnen folgenden Bericht zu erstatten: Pat.
versieht sein Geschäft als Viehhändler trotz seiner 69 J. noch
mit größtem Eifer; man merkt ihm keine Krankheit mehr an;
er hat mich auch nicht mehr konsultiert. Auf Befragen erklärte
er mir, er spüre noch ab und zu Schmerzen im Hinterkopfe,
sein Gehör sei schlecht (war schon vor dem Unfälle der Fall),
auch leide er an Schwindel. Auf alle Fälle hat die
Kapitalsabfindung sehr heilsam gewirkt.“
Fall XY.
Der 41 jährige Kaufmann X. ist seit 20 Jahren etwa als
Reisender angestellt, und ist verpflichtet, nahezu 11 Monate im
Jahre auf der Reise tätig zu sein. — Seine 6 Kinder sind gesund.
Er war nie dem Trünke ergeben, nie syphilitisch, ohne Belastung.
Schon im März 1904 hatte er meinen Rat eingeholt wegen
Aufgeregtheit, Schreckhaftigkeit, Kribbeln und Stechen im Kopf,
in der Stirn und in den Augen, besonders nach angestrengter
Tätigkeit. Er bot damals keinerlei wesentlichen objektiven Befund
dar, insbe.sondere waren Pupillenfunktion, Sehnenreflex, Herz und
Lunge normal befunden worden. Auch die Urinuntersuchung hatte
weder Eiweiß noch Zucker ergeben. Nach geeigneter medikamentöser
Behandlung und nach einem mehrwöchigen Kuraufenthalt in K.
sind damals die genannten Beschwerden allmählich wieder be¬
seitigt worden.
Am 16. April 1908 fuhr Pat. in einem Eilzuge von N. nach
C. Plötzlich spürte er ein lautes Krachen, wie wenn der Zug
gegen eine harte Mauer gestoßen wäre. Er wurde von seinem
Sitze weggeschleudert und ging, da der Zug bald Stillstand, eiligst
zur. Koupeetüre hinaus, weil er in der Furcht lebte, es könnte ein
Unglück eingetreten sein. Der Zug hielt in C. Er war beim Aus¬
steigen wie abwesend. Dabei erblickte er ein Mädchen, das laut
schrie und aus einer Stirnwunde blutete. Wie in der Benommen¬
heit hatte er seinen Koffer aus dem Wagen mitgenommen, suchte
ihn dann längere Zeit, obwohl er auf dem Perron stand. Sein
Schirm und sein Hut waren stark beschädigt — auch das hatte
er nicht l>emerkt. Erst allmählich sammelte er sich wieder und
fühlte jetzt auch Schmerzen im linken Ellbogen und linken Knie,
die Verletzungen zeigten. Ein Gefühl der Schwere und des „Ge*
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
73
schwoUeuseins“ machte dich in der Herzgegend geltend. Er ging
ins Hotel, wo er immer zn wohnen pflegte. Dort flel den Hotel¬
angestellten, die ihn kannten, sein verstörtes Wesen und leichen¬
blasses Aussehen auf. Er ließ sich darauf in der Verbandstation
des C.er Bahnhofs die Wunden an Arm und Bein verbinden und
fuhr nach einem etwa vierstündigen Aufenthalt in C., wo er zwar
geschäftlich tätig sein wollte, sich dazu aber nunmehr wegen Auf¬
regung und Wundschmerzen unfähig fühlte, nach F. zurück.
Am nächsten Tage ließ er sich seinen Hausarzt rufen,
der ihm auch ein Zeugnis ausstellte. Danach waren als Spuren
der erlittenen Verletzungen noch vorhanden; eine leichte, zehn¬
pfennigstückgroße Hautabschürfung am linken Ellbogen und eine
Schmerzhaftigkeit am linken Oberarm bis zur Schulter, ferner eine
leichte Schwellung und Schmerzhaftigkeit der äußeren Seite des
linken Oberschenkels, des linken Knies, das einen traumatischen
Bluterguß zeigte. Es wurde über Herzklopfen und Kopfschmerzen
geklagt, die Dr. S. mit Wahrscheinlichkeit auf die psychische Er¬
regung beim Unfall zurückführte. Dr. S. nahm an, daß durch die
Verletzungen eine Erwerbsunfähigkeit von 8 Tagen bedingt sei;
weitere Folgen wären voraussichtlich ausgeschlossen.
Pat. war 8 Tage bettlägerig, hütete noch eine weitere Woche
das Zimmer und machte dann einen Versuch, seine Reisetätigkeit
wieder aufzunehmen. Dieser mißlang aber vollkommen; er wollte
nach L. und C. reisen, aber sowohl beim Aussteigen aus dem Zuge
wie beim Besuch der Kundschaft überfiel ihn eine Angst und eine
Unruhe mit Zittern, so daß er sich genötigt sah, seine Tour schon
nach zwei Tagen wieder abzubrechen. So ist er viele Monate ar¬
beitsunfähig geblieben -- trotz beruhigender Arzneimittel und
völliger Enthaltung von geschäftlicher Tätigkeit.
Meine eigene Untersuchung ergab folgendes: Der Patient
i^t ein mittelgroßer, etwas blasser, aber sonst gut genährter
Mensch. Er weist in seiner Stimmung und in seiner Intelligenz,
Auffassung uni Ausdrucksweise keinerlei krankhafte Abweichungen
auf, insbesondere sind hypochondrische und depressive Aeußerungen
nicht auffällig.
Er klagt weder über Kopfschmerz noch über Schwindel noch
über irgendwelche Sehstörungen. Die Pupillen sind beide
gleich weit, von guter Reaktion auf Licht und Konvergenz. Seine
•subjektiven Beschwerden bestehen namentlich in einer ständigen
Unruhe im Körper, die sich außerordentlich steigert, wenn er sich
mit jemandem länger unterhält. Er hat nachts Angstgefühle, die
ihn häufig im Schlafe stören: „Wie wenn das Bett umfiele, wie
wenn er sich zum Fenster hinausstürzen müßte!“
Nach der geringsten körperlichen Arbeit fühlt er sich erschlafft;
eine Mattigkeit und ein Kribbeln überfällt dann den ganzen Körper.
74
l)r. Leop. Laqiier,
An den Gesichts- und Zuiigeninuskeln, ebenso an den Glied¬
maßen und am Rumpfe fehlen Lähn.ungen der Bewegung, die
Hautemphndung ist überall gut erhalten. Die Sehnenreflexe sind
lebhaft. Bei offenen und geschlossenen Augen tritt kein Schwanken
ein. Der Gang ist aufrecht und gerade. Blasen- und Mastdarm¬
funktion sind nicht gestört; der Urin ist eiweiß- und zuckerfrei.
Weder am Herzen, das keine Verbreiterung, keine Geräusche und
keine Unregelmäßigkeit der Schlagfolge zeigt, noch an den Lungen
und Unterleibsorganen konnte ich krankhafte Störungen nachweisen.
Die oben von dem Hausarzte Dr. S. beschriebenen Hautverletzungen
sind ohne Narbenbildung völlig ausgeheilt.
Demnach sind bei dem Patient von dem Unfall, den er am
16. April erlitten hat, nur eine Reihe nervöser Störungen zurück¬
geblieben, während körperliche Schäden nicht zu verzeichnen sind.
Anhaltspunkte für ein Leiden des Gehirns, des Rückenmarks oder
der peripheren Nerven sind nicht nachweisbar.
Darum ist es sehr wahrscheinlich, daß die neurasthenischen
Beschwerden, Angst, Unruhe und Zittern, die er beschreibt, und die
Eisenbahnunfällen in ähnlicher Art nicht selten zu folgen pflegen,
ihm die Ausübung seines Berufes als Geschäfts- bezw. Provisions¬
reisender bisher unmöglich gemacht haben.
Der Pat. ist seit dem Unfall bisher vollkommen arbeitsunfähig
gewesen. Ich halte es für zweckmäßig, daß er wiederum die Kur¬
anstalt von Dr. A. in K. für 4 bis 5 Wochen aufsucht, um die
nervösen Angstzustände dort zur Heilung bringen zu lassen, und
daß er dann seine Tätigkeit wieder aufnehme, wenn auch nur
allmählich und nicht in vollem Umfange.
Pat. war wie viele seiner Berufskollegen seit Jahren, auch im
Jahre 1904, in leichtem Grade neurasthenisch, was ihn aber nicht
abgehalten hat, zwei Jahrzehnte lang fast ohne Unterbrechung
seine angestrengte Reisetätigkeit fortznführen. Der mit Schreck
verbundene Unfall vom 16 April, hat die nervösen Beschwerden
des Pat. so gesteigert, daß von da ab eine volle Erwerbsunfähig¬
keit erwuchs. —
Es erscheint mir notwendig und billig, daß dem Verletzten
zu seiner Wiederherstellung die Kosten des vorgescblagenen Aufent¬
haltes in K. von der Direktion erstattet werden.
Ich nehme an, daß nach Beendigung dieser Kur nur noch eine
Arbeitsunfähigkeit von 50% für eine beschränkte Zeit übrig
bleiben wird.
Sowohl meine zahlreichen Begutachtungen als auch die Ergeb¬
nisse anderer ärztlicher Facbkollegen bringen mich auch hier zu
der Ueberzeugung, daß in diesem wie in analogen Fällen die ein¬
malige Kapitalabfindung das be.sto Mittel ist, um rein nervöse Un-
falhsfolgen zu heilen. ICs wäre ev. als Basis dafür: volle Erwerbs-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgeii. 75
Unfähigkeit vom 16. April 1908 bis zum 30. Juni 1908, dann viel¬
leicht eine Erwerbsbeschränkung von 50% bis 1. September 1908,
den betreffenden Verhandlungen mit dem Pat. zugrunde zu legen.
Pat. empfing nach beendigtem Kuraufenthalt 7000 M.
Katamnese.
Der Verletzte war völlig wiederhergestellt, reiste etwa
2 Jahre lang in gleicher Weise wie vor dem Unfall und ver¬
diente zuletzt 15—18000 M. jährlich. Anfangs April 1910
wurden ihm beide Beine in den Hüftgelenken und am Unter¬
schenkel bei einem neuen Eisenbahnunfall gebrochen.
Die Brüche führten zu schwerenDifformitäten und Schmerzen
in den Beinen. Die Lokomotion ist jetzt sehr erschwert, nur
an Stöcken möglich. Eine schwere traumatische Neurasthenie
kompliziert auch jetzt die organisch bedingten Unfallsfolgen
in erheblichem Grade.
Fall XVL
Der 32jährige Geschäftsreisende für eine Gbroßhandlung in B.
ist namentlich in Süd Westdeutschland und m der Schweiz tätig.
Patient ist mütterlicherseits nervös sehr belastet, ist ein sehr leb¬
hafter, intelligenter, muskelkräftiger Mensch mit reichlichem
Fettpolster; er ist ein starker Raucher. Als ich ihn im
September 1897 in Behandlung nahm, klagte er über Zittern
nervöse Erregbarkeit und Neigung zu unruhigem Schlaf, die
damals schon 2—3 Jahre lang bestanden hatten. Er hatte am 25. Juli
bis 16. August 1897 schon eine Kaltwasserkur in B. durchgemacht.
Die hauptsächlichsten, auch objektiv sehr auffälligen Beschwerden,
die ich damals nachweisen konnte, äußerten sich in einer eigen¬
artigen tiefen und relativ häufigen unregelmäßigen
Respiration bei völlig normalem Befunde von Her/ und Lungen
sowie bei negativem Ergebnis der Urinuntersuchung Auch die
Prüfung des Zentral-Nervensystems förderte keinerlei sonstige
krankhafte Erscheinungen zutage. Sein Gang war ein sicherer;
bei geschlossenen Augen trat weder im Gehen noch im Stehen
ein Schwanken ein.
Gegen die in der Zeit der ersten Behandlung nachweisbaren
schon genannten nervösen Atembeschwerden, die ich als „hysterische“
ansah, ei wiesen sich die angewandten Mittel erfolgreich. Die
eigenartigen und quälenden Erscheinungen verloren sich bald und
kehrten nicht wieder.
In den folgenden Jahren sah ich den Patienten öfters, beson-
7G
Dr. Leop. Ljquer,
ders dann, wenn er von längeren und anstrengenden Reisetouren
zurückkehrte und etwas erschöpft war. Es bezogen sich seine
subjektiven Beschwerden fast immer nur auf seine Herzaktion:,
er äußerte wiederholt die hypochondrische Angst, herzkrank zu
sein und an einem Herzschlag zugrunde zu gehen, insbesondere
dann, wenn er von solchen Dingen in der Zeitung gelesen hatte
oder Freunde und Bekannte von ihm daran erkrankt oder gar ge¬
storben waren.
Am Ende Februar 1901 ließ mich Pat. wieder kommen und
erzählte mir, daß er am 16. Januar 1901 auf der Eisenbahn einen
Unfall erlitten: Es sei ihm bei Gelegenheit einer Entgleisung
zwar kein körperlicher Schaden, aber durch Herausspringen aus
einem entgleisten Wagen ein solcher ‘Schrecken zugefügt worden,
daß er bald den E. Schnellzug (in M.) verlassen und einen Personen¬
zug bis D. benutzen mußte. Er sei dort wie gelähmt angekommen
und habe sofort den Nervenarzt Prof. Dr. H. befragt. Auf seinen
Rat sei er nach mehrtägiger Bettruhe im Hotel nach F. bezw. W.
abgereist, ohne die Arbeit wieder aufzunehmen, denn die Angst¬
zustände wären so hochgradig geworden, daß es ihm kaum mög¬
lich gewesen wäre, längere Fahrten mit der Eisenbahn zu machen.
Als ich ihn am 27. Februar \md 20. März 1901 sah, war er
erregter als sonst, das Herz zeigte unruhigere Aktion; mir schien
es danach glaubhaft, daß er an einer hochgradigen Eisenbadinangst
und angeblich gezwungen wäre, sehr oft zu seiner Beruhigung
während der Eisenbahnfahrt seine Ehefrau mitzunehmen. Jedes
Ueberschreiten einer Kurve, Schütteln des.,^ Wagens, schnelles
Rangieren bringe ihn in ein heftiges Zittern mit Angstschweiß,
er bekomme dann die Zwangsidee, sich aus dem Wagen stürzen
zu müssen. Er benutze darum zumeist, besonders wenn er allein
fahre. Expreß- imd Luxuszüge, in denen er sich am sichersten
fühle. Ich hatte zufällig Gelegenheit, mit ihm im März 1901
das gleiche Koupee benutzen zu müssen auf einer kurzen Fahrt am
Abend zwischen W. und F. und war Augenzeuge aller dieser Er¬
scheinungen, an deren Realität ich übrigens zu zweifeln keinen
Anlaß batte!
Diese subjektiven Erscheinungen von krankhafter Angst haben
sich also bis zum Tag des Gutachtens noch nicht verloren, objektiv war
aber niemals ein wesentlicher Befund zu erbeben. Doch zeigten
sich in den letzten 2 Jahren die Herz t ön e bei meiner Unter¬
suchung mitunter von höherer Frequenz, sie waren
dumpfer und schwächer als in den Zeiten vor dem Unfall.
Das war auch der einzige objektive Befund, der in den Jahren
1901—1903 nach dem Vorfall festgestellt werden konnte!
Aus diesen Tatsachen ergibt sich, daß der Pat. schon vor
dem Unfall neurasthenisch und leicht hypochondrisch
Die Heilbarkeit nervöser Unfallstolgen.
77
gewesen ist. Einzelne Symptome seiner nervösen Erscheinungen
zeigten in den letzten beiden Jahren aber eine entschiedene Ver¬
schlimmerung. Diese hängt wahrscheinlich mit dem Schrecken^
den er bei dem Eisenbahn Unfall vom 16. Januar 1901 erlitten
hat, in direktem ursächlichen Zusammenhang. Mir ist
wenigstens keine innere oder äußere Ursache bekannt, die für jene
Verschlimmerung verantwortlich zu machen wäre. Jedenfalls muß
die^Angst bei Eisenbahnfahrten“, über die Pat. früher nie
zu yagen hatte, als unmittelbare Folge der am 16. Januar 1901
stattgehabten Entgleisung angesehen werden. Die Erwerbsfthigkeit
des Pat. ist nur insoweit beeinträchtigt, als ihm höhere Kosten auf
seinen Reisen erwachsen, da er, solange die Eisenbahnangst besteht,
häufig gezwungen ist, teuerere Eisenbahnzüge zu benutzen. •
Pat. hat infolge dieser gesteigerten krankhaften Erscheinungen
noch häufiger als sonst Aerzte konsultiert, Massage gebraucht und
Nervenheilstätten mehrmals besucht. Er soll auf meinen Rat sich
auch im kommenden Frühjahr wieder einer längeren Kor unter¬
ziehen.
Ueber die Höhe der entstandenen oder noch anfzuwendenden
Kosten vermag ich ein Urteil nicht abzugeben.
Pat. empfing als Ersatz der Kurkosten und als
Abfindung 1600 Mark.
Katamnese.
Pat. reist jetzt mit der gleichen neurasthenischen Hast und
Aufregung wie vor dem Unfall, die Unfalls - Neurose darf
als geheilt gelten.
Fall XVII.
Ein 48jäbriger Kaufmann erlitt am 13. Mai 1900 einen Unfall
auf der Straßenbahn, als ein Anhängewagen mit einem Motorwagen
zosammenstieß. Patient erhielt einen heftigen Stoß gegen den
Hinterkopf, der ihm für eine kurze Zeit die Besinnung raubte,
Kopfschmerzen hervorrief und dreiwöchige Bettruhe nötig machte.
Zeichen eines Schädelbruches lagen nicht vor. Wegen der Kopf¬
schmerzen und zunehmender Vergeßlichkeit wurden verschiedene
Badekuren verordnet. Auch Sehstörungen wurden geklagt, ohne
daß eine wiederholte augenärztliche Untersuchung einen objektiven
Befund ergab. Seine geschäftliche Leistungsfähigkeit sollte sehr
abgenommen haben. & gab schließlich die bisherige Tätigkeit
im Dezember 1903 ganz auf und verzog nach D.
Im Januar 1905 wurde er von Professor R. und mir begut¬
achtet in einem Haftpfiichtprozeß gegen die Straßenbahn mit
folgendem Ergebnis;
Pat. machte einen sehr frischen Eindruck, zeigte eine gesunde
78
Dr. Leop. Laquer,
Gesichtsfarbe, sehr reichliche Ernährung mit der von jeher be¬
stehenden Neigung zum Fettansatz an allen Körperteilen.
Pat. hat vier gesunde Kinder, von denen das jüngste 10
Jahre alt ist. Er hat seit einem Jahr sein hiesiges Geschäft auf¬
gelöst, nach seinen Angaben infolge seines Gesundheitszustandes,
denn er sei nicht mehr imstande gewesen, einem Geschäft vor¬
zustehen, entweder er oder das Geschäft wäre zugrunde gegangen,
wenn er es nicht getan hätte. Er lebe nunmehr in D. und gehe
zu seinen Schwägern stundenweise (2—3 Stunden etwa) vormittags
und nachmittags ins Geschäft, um das große Personal dieser Firma
zu beaufsichtigen. Er könne sich diese seine Tätigkeit ganz nach
seiner Bequemlichkeit einrichten; er sei nicht zum Erscheinen ver¬
pflichtet und mit irgendwelchen, besondere geistige Kraft erfordern¬
den Arbeiten nicht betraut.
Er klagte über Kopfschmerz namentlich in der Stirn, der
öfters auch nach dem Scheitel hin ausstrahlte. Eine allgemeine
Mattigkeit befalle ihn oft; ebenso stellte sich nicht selten ein
„Dusel“ im Kopf ein, auch ein Gefühl, wie wenn er ein Brett vor
dem Kopfe habe. Mitunter fange er an zu denken, er habe dann
die Empfindung, als wenn es nicht mehr weiter ginge. (Er ist
während der Untersuchung kurze Zeit weinerlich gestimmt.) Nicht
selten seien Angstgefühle beim Oeffnen des Fensters und beim
Ti eppeusteigen; auch fürchte er oft geisteskrank zu werden. Das
Iniiscblafen falle ihm schwer; er träume viel und wache zu früh
auf. Der Appetit sei mäßig, Stuhlgang normal. Die Beschwerden
belunderten seine Arbeitskraft in erheblichem Maße.
Der von uns erhobene objektive Befund war ein völlig nega¬
tiver. Es ist für ein zentrales oder peripheres Nervenleiden irgend
ein Krankheitszeichen nicht auffindbar. Die Kniereflexe sind ge¬
steigert, Pupillen dagegen völlig normal. Auch die inneren Organe
erwiesen sich als völlig frei von krankhafter Störung.
Auch die seelischen Krankheitserscheinungeu des Klägers,
die Angstzustande und Ermüdungserscheinungen sowie die subjek¬
tiven Beschwerden wie Schmerz und Eingenommensein, sind die
gleichen geblieben. Das Aussehen des Patienten, Gang, Haltung,
Sprache, Sicherheit in der Darstellung der Erlebnisse verraten
nichts von einer schweren funktionellen Nervenerkrankung. Da¬
gegen gibt er selber wohl eine wesentliche Besserung des Allge¬
meinbefindens.
In Uebereinstimmung mit diesen Erhebungen der beiden Gut¬
achter steht das oben genau wiedergegebene Urteil des Augen¬
arztes Dr. R. Auch die schriftlichen Feststellungen von Dr. R. über
den gegenwärtigen Zustand des Klägers decken sich mit unserem
Befunde. Es ist jedenfalls seit 2 Jahren eine weitere Besserung
in dem Befinden des Pat. eingetreten und eine vollkommene Wieder-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
79
lierstellung des Nervenleidens auf Grund unserer ärztlichen Er¬
fahrungen im Laufe der Zeit mit Sicherheit zu erwarten!
Wir geben unser Gutachten dahin ab:-
„Der Kläger hat am 13. Mai 1900 eine leichte Hirn-
■erschütterung durch den Zusammenstoß zweier Straßenbahnwagen
in der Stadt F. erlitten. Er ist dadurch vom 13. Mai 1900
bis etwa Mitte August 1900 völlig arbeitsunfäHg geworden.
Er leidet jetzt noch in geringem Grade an den Folgen jenes
Unfalls und zwar an Kopfschmerzen, Angstzuständen, Zerstreutheit
und leichten sonstigen nervösen Erschöpfungserscheinungen (Trau¬
matische Neurasthenie), die seine Arbeitsfähigkeit gegen früher
um etwa 20 % herabsetzen.“
Pat. empfing im Vergleichswege 20 000 Mark.
Katamnese.
Pat. beteiligte sich bald darauf an einem großen kauf¬
männischen Unternehmen und war darin im ganzen 3 Jahre
als „stiller Teilhaber“ im Büro tätig. — Jetzt hat er einen sehr
arbeitsreichen Posten als Vorsteher der Damen - Konfektions-
Abteilung in einem großen Warenhause inne, den er voll¬
kommen ohne jede Störung und mit voller Kraft ausfüllt.
Fall XYIII.
Ein Metzgermeister von 34 Jahren, der vier gesunde Kinder
hat und selbst aus gesunder Familie stammt, ist Soldat gewesen
und treibt seit zwei Jahren eine kleine Metzgerei und Viehhandel;
dem Trünke war er nie ergeben. Pat. saß am 10. Oktober 1907,
abends nach 8 Uhr, in einem Wagen vierter Klasse vornübergebeugt,
indem er die Ellbogen auf die Knie stützte. Auf der Strecke erhielt
der Wagen plötzlich einen so starken Stoß, daß Patient erschreckt
aufspringen wollte und dabei zu Boden stürzte. Er erhob sich
und fiel bei einem weiteren Stoß mit dem Rücken gegen die Holz¬
wand des Sitzes. Einige Minuten später verließ er den Wagen und
bekam Schwindel. Nach einer Stunde ging er auf einen neufor¬
mierten Zug; in dem Krankenwagen wurde er ärztlich untersucht.
Dabei sei es ihm schlecht geworden, auch verspürte er da schon
Schmerzen im Kreuz und im Steißbein. Erst gegen 5 Uhr morgens
kam er wieder zuhause an. Die Schmerzen vermehrten sich und
es trat Schlaflosigkeit hinzu. Am zweiten Tag nach dem Unfall
trat er in ärztliche Behandlung.
Als zwei Wochen vergangen waren, unternahm er einen Arbeits¬
versuch, der ohne Erfolg war, da er beim Heben und Bücken
Schmerzen im Rücken und in der linken Brustseite bezw. Schwindel
bekam. Später wechselten diese Beschwerden: zeitweilig trat
Dr. Leop. Laquer,
8<t
Besserung ein (auch am Untersuchuugstage fühlte er sioh freier);
Wetterwechsel beeinflußt sein Befinden.
Die gegenwärtigen Beschwerden des Verletzten bestehen im
wesentlichen in Schwindelempfindungen, in zumeist unruhigem
Schlafe, in Kopfschmerzen sowie in Schmerzgefühlen im Kreuzbein,
die beim Setzen und beim Aufstehen, beim Bücken, auch beim
Besteigen von Pferd und Wagen sich geltend machen. Auch
habe er zeitweilig Beklemmungszustände beim Atmen. — Wenn
er längere Zeit gesessen habe, werde er steif im Kreuze. — End¬
lich glaube er seit dem Unfälle um 6—8 Pfund an Körpergewicht
abgenommen zu haben.
Pat., der ein muskelkräftiger Mann von blühendem Aussehen
ist, bringt seine Erzählungen über Gesundheits- und Familien¬
verhältnisse zuerst in weinerlicher Stimmung vor und vergießt
Tränen. Später beruhigt er sich zwar, sein Gesichtsausdruck aber
bleibt ängstlich uud zeigt von einer dauernden hypochondrischen
Mißstimmung. Er befürchtet nicht wieder wie fiüher tätig sein
zu können. Die Beantwortung einiger ihm vorgelegten einfacher
Fragen aus der Geographie und Geschichte sowie die Lösung
einiger Rechenexempel geht nicht sehr prompt von statten, während
er versichert, früher auch beim Militär ein sehr flotter Rechner
gewesen zu sein. In seiner Auffassung, in seinem Gedächtnis und
Urteil und in der Art seines sprachlichen Ausdrucks ist eine ge¬
wisse Hemmung zu bemerken.
Bei der einmaligen Untersuchung ist nicht mit Sicherheit zu
entscheiden, ob diese geistigen Veränderungen nur eine Folge
von Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit sind, die erst seit dem
Unfall einsetzten, oder ob sie auf einer leichten Beschränktheit und
Verlangsamung der Denk Vorgänge und Mängeln der Schulkenntnisse
beruhen, die von jeher bestanden haben. — Objektive Hirnsymp¬
tome fehlen.
Bei Augenschluß zittern die Augenlider, beim Herausstrecken
zittert auch die Zunge, die sonst nach allen Seiten hin gut be¬
weglich ist. — Am Rumpf und an den Gliedmaßen findet sich
nicht wesentlich Krankhaftes vor. Nur in der Mitte des Kreuz¬
beins findet sich eine Stelle, die auf Druck sehr empfindlich ist;
mit dieser Schmerzhaftigkeit hängt es zusammen, daß der Verletzte
sich bei gewissen Bewegungen des Rumpfes, beim An- und Aus¬
ziehen der Stiefel und Strümpfe, beim Aufrichten im Bett, beim
Aufstehen vom Stuhl, auch beim Gehen nach längerem Sitzen
schont. Eine Schwellung der Weichteile und der ELnochen am
Kreuzbein war nicht auffindbar. Die Mastdarm- und Blasenfunk¬
tion war ungestört; der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. Der
Puls war kräftig und regelmäßig, das Herz wies ebensowenig
wie die Lungen uud Unterleibsorgane irgendwelche krankhafte
Störung auf.
Die Heilbarkeit nerrOser Ünfallsfolgen. 81
Es hat sich sonach bei dem Patienten infolge des Eisenbabn-
unfalles, den er am 10. Oktober des vergangenen Jahres erlitten
hat, eine Reihe nervöser Erscheinungen entwickelt, die sich wesent¬
lich aus folgendem zusammensetzen: depressiv hypochondrischer
Verstimmung und einer gewissen psychischen Hemmung und mit
Zerstreutheit sowie Schwindel, Kopfschmerzen, Angstzuständen und
leichter Beklemmung beim Atmen und Rückenschmerzen.
In den 5 Monaten, die seit dem Eisenbahnunfall vergangen
sind, haben sich Anzeichen irgendeiner organischen Erkrankung
des Nervensystems nicht herausgebildet. Der Unfall ist mit einem
besonders starken Schrecken nicht verbunden gewesen. Die Symp¬
tome einer Erschütterung des Gehirns oder Rückenmarkes haben
gefehlt.
Danach ist anzunehmen, daß es sich auch in dem vorliegenden
Falle um das bekannte Krankheitsbild handelt, welches sich nach
Unfällen aller Art entwickelt und aus hysterisch-hypochondrischen
Erscheinungen zusammensetzt. Nur scheint bei dem Patienten die
Verstimmung und die Angst um seine Existenz besonders stark
hervorzutreten, da seine geschäftliche Tätigkeit erst vor 2 Jahren
in E. begonnen hatte und nach Lage der Verhältnisse auch nicht
fest begründet zu sein schien.
Es bleibe dahingestellt, ob eine gewisse Willensschwäche des
Verletzten und seine soziale Lage die Entstehung der Unfalls¬
hysterie befördert haben. — Jedenfalls müssen die krankhaften Er¬
scheinungen als heilbare Unfallsfolgen angesehen werden, da sie
psychogen und nicht organisch bedingt sind und einen körperlich
außerordentlich kräftigen jungen Mann betroffen haben. Zu ihrer
Beseitigung und zur vollen Wiederherstellung des Verletzten möchte
ich nicht eine weitere ärztliche Behandlung, sondern die Gewährung
einer einmaligen Kapitalsabfindung in Vorschlag bringen, die sich
nach der Höhe des bisherigen Einkommens des Pat. richten wird
und so bemessen sein muß, daß er nach etwa 1—2 Jahren in die
Lage gebracht werde, mit einer gewissen Schonung seiner bis¬
herigen Tätigkeit nachzugehen.
Der Verletzte ist meiner Ansicht nach jetzt um etwa 50 bis
60 % invalide. Die allmähliche Aufnahme seiner Tätigkeit kann
nur heilsam auf seinen Gemütszustand einwirken.
Je schneller die Erledigung der Entschädigungsfrage erfolgen
wird, desto eher ist eine Besserung beziehungsweise Heilung der
Unfallsfolgen auch in diesem Falle zu erwarten.
Er erhielt auf dem Wege des Vergleichs 7500 Mark
und wurde sofort wieder arbeitsfähig.
Eatamnese.
Der Hausarzt schrieb mir im Dezember 1910 über das
6
Dr. Leop. Laquer.
Befinden des vorstehenden Patienten . . „Teile Ihnen mit,
daß Patient völlig erwerbsfähig ist und ich ihn niemals mehr
ärztlich zu behandeln brauchte, obwohl ich nach wie vor Arzt
in seiner Familie bin. Im Frühjahr d. J. klagte er gelegentlich
der Behandlung seiner Kinder noch über zuweilen auftretende
Kurzatmigkeit, die er aber schon vor dem Unfall bisweilen
bekommen haben will.“ Ein objektiver Befund war nicht zu
erheben.
Nunmehr handelt es sich darum, aus den Verlaufsarteu
der Unfallsneurosen bei einigen kleinen Leuten zu beweisen,
in welcher Weise hier die Kapitalsabfindung heilsam auf die
Nervosität in dieser sozialen Schicht wirken kann. Außerdem
wird aus den katamnestischen Erhebungen, die erfolgt sind,
ersichtlich sein, daß die gerade von den Organen der Gesetz¬
gebung geltend gemachten und schon von Hellpach er¬
wähnten Einwände, daß kleine Leute, Arbeiter usw.
nicht mit größeren Geldsummen umzugehen wissen,
durch die Tatsachen widerlegt werden.
Die Verletzten haben vielfach aus der Kapitalabfindung
einen für ihr weiteres Fortkommen erheblichen Nutzen ge¬
zogen, der auch für die Kräftigung ihres Nervensystems und
für ihre Lebensfreude von hohem Werte war.
Fall XIX.
Ein 48jähriger Spengler hatte in E. am Morgen des 21. Januar
1908, als dichter Nebel herrschte, beim Ueberschreiten der Gleise
der Bahn einen Schrecken dadurch erlitten, daß er bei noch ge¬
öffneter Schranke einen Zug herankommen sah. Nur durch Zuruf
des Schrankenwärters gelang es ihm, hinter die andere Schranke
zu kommen, die sich sogleich hinter ihm schloß als der Zug den
üebergang passierte. Gleich darauf hatte er einen Geldbetrag
in Empfang zu nehmen, da soll er sehr bleich ausgesehen und
beim Unterschreiben der Quittung stark gezittert haben, .so daß
er mehrmals die Feder eintauchen mußte, ehe ihm die Unterschrift
zur Quittung gelang. Auf dem Heimwege begegnete ihm sein
Arzt, dem er sofort mitteilte, welchen Schrecken er eben erlitten
hätte. Er riet ihm, die Sache gleich anzumelden und sich dann
ins Bett zu legen, um schlimme Folgen zu verhüten. Patient hat
dann drei Wochen lang Zimmer und Bett gehütet.
Der Arzt hat dann am 2. Mäi'z bescheinigt, „daß Patient am
Die Heilbarkeit nervOser ünfallsfolgen. 33
21. Januar 1908 beim Ueberschreiten der Bahngleise einen Unfall
mit starker nervöser Aufregung und anhaltendem Schwindelgefühi
erlitten habe und infolgedessen ca. 3 Wochen lang erwerbsun¬
fähig gewesen sei; aber die Krankheit war auch am 3. März nicht
völlig gehoben, vielmehr klagte Pat. noch immer über Aufregung
und Schwindelgefühle, so daß er keine Leiter besteigen könne.
Pat. müsse bis auf weiteres alsjum 50 % erwerbsunfähig betrachtet
werden.“
Pat. gibt an, daß er wegen Kopfweh, Schwindel' und sehr
beschleunigter Herztätigkeit, ferner wegen eines -Gefühls von
Zerschlagenheit, das sich in allen Gliedmaßen geltend mache, auch
infolge von Zittern und Beben;, das idurch^den ganzenTKörper
ging, auch jetzt noch nicht imstande sei, in vollem Maße seine
Arbeit zu tun, beschäftige zu seiner Unterstützung jetzt zwei
Gehilfen, während er früher mit einem ausgekommen sei, da er
selber eifrig mitgearbeitet habe. „Er gehe jetzt nur ab und zu.“
Was den gegenwärtigen Zustand betrifft, so ist zu bemerken:
Der Patient ist 35 Jahre alt, Spengler und Installateur zu P. Er
ist seit 8 Jahren verheiratet und hat drei gesunde Kinder, von
denen das jüngste ein Jahr alt ist. Seine Mutter lebt noch —
sein Vater starb im Alter von 77 Jahren. Seine Geschwister er¬
freuen sich der besten Gesundheit. — Er ist immer gesund gewesen
und ist auf Reklamation seines Vaters vom Militärdienst befreit
worden. Er hat nie Syphilis überstanden und war niemals dem
Alkoholmißbrauch ergeben.
Jetzt hat der muskelkräftige, blühend aussehende Mann noch
über Kopfschmerz und Schwindel, namentlich beim Besteigen der
Leiter zu klagen. Sein Schlaf soll unregelmäßig sein. Er sei
außerordentlich leicht erregbar, so daß er oft „nicht wisse, was
er tue“. Auch befalle ihn häufig große Angst ohne jeden Grund
— besonders in Neubauten, wenn er Balkenanlagen zu über¬
schreiten hätte. Das Arbeiten auf Dächern sei ihm erschwert, ott
fast unmöglich, wegen seiner Angst und Schwindelgefühle.
Objektiv fand ich gar keine seelische und nur sehr gering¬
fügige körperliche Störungen. Auffassung, Gedächtnis, sprachlicher
Ausdruck und Gemütsstimmung sind ungestört. Bei Prüfung der
Pupillenfunktion zeigt sich ein Unterschied zwischen dem rechten
und dem linken Auge. Es besteht von Kindheit auf noch ein
weißer Fleck auf der linken Hornhaut, sowie eine Verziehung der
Pupille, die lichtstarr ist. Angeblich sei das Sehvermögen da¬
durch in keiner Weise gestört. Ophthalmologischer Befund negativ.
Auch in den übrigen Sinnesnerven findet sich keine Ab¬
weichung von der Norm. Die Bewegung der Zungen- und Ge¬
sichtsmuskulatur vollzieht sich in richtiger Weise. Beim Beugen
des Kopfes und Oberkörpers nach vorn und unten tritt keine auf¬
fällige Rötung des Gesichts und kein Schwanken auf.
6*
84
Dr. Leop. Laqaer,
Weder am Rumpfe noch an den Gliedmaßen finden sich Läh¬
mungen der Bewegung und der Hautempfindung, nirgends Muskel-
abmagerung. Er schwankt nicht — weder beim Stehen noch beim
Geben mit offenen und geschlossenen Augen. Die Sehnenreflexe
am Knie sind lebhaft. Blase und Mastdarm funktionieren ohne
Störung. Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker.
Am Herzen, an der Lunge und an den Unterleibsorganen
konnte ich nichts Krankhaftes auffinden.
Eis bestehen bei dem Pat. jetzt nur noch geringfügige sub¬
jektive Beschwerden: Angst, Kopfweh, Schwindel und Erregbarkeit,
die die Arbeitsfähigkeit angeblich namentlich bei Benutzung der
Leiter imd auf Dächern beeinträchtigen. Objektiv ist jetzt nichts
nachweisbar.
Eis ist möglich, daß Pat. infolge des Schreckens, den er am
21. Januar a. c. erlitt, in den ersten drei Wochen danach arbeits¬
unfähig war, dann bis zu Ende März etwa um die Hälfte seiner
Arbeitsfähigkeit geschädigt war, auch später noch nicht mit aller
Frische an die Arbeit ging.
Jetzt kann ich aber in den subjektiven neurasthenisch-
hysterischen Beschwerden, von denen Pat. berichtet, eine wesent¬
liche Arbeitshinderung nicht mehr erblicken. — Er bat auch seit
Anfang März a. c. ärztliche Behandlung nicht mehr nacbgesucht —
sie wohl auch nicht mehr nötig gehabt.
Man muß in Betracht ziehen, daß im vorliegenden Falle der
Schreck überfahren zu werden, einen Mann getroffen hat, der, wie
er selber betont, gewöhnt sei, furchtlos an gefährlichen Stellen
seine Arbeit zu verrichten, der auch, wie die Eisenbahn beamten
aussagen, auf. den Zuruf, sich zu eilen, mit nicht allzu großer
Schnelligkeit reagierte, da er ja nahe der Barriere war.
Von der allgemein verbreiteten Rentensucht ist er aber auch
nicht frei geblieben. Ich bin überzeugt, daß jede Spur von Arbeits¬
hemmnis, Angst und Erregung verschwinden wird, sobald die
Königliche Eisenbahndirektion sich bereit finden wird, eine kleine
Abfindung zu zahlen.
Er bekam als Abfindung 5000 Mark.
Katamnese.
Die Ortsbehörde berichtet am 5. August 1911, daß er
noch nicht völlig arbeitsfähig sei. Größere Arbeiten und auf
Dächern könne er nicht ausführen, da er sehr nervös sei. Er
mache nur kleinere Arbeiten, besorge die nötigen Wege und
beaufsichtige seine Arbeiter.
Der Arzt schreibt: Der \’erletzte muß wieder völlig arbeits¬
fähig sein. Er habe ihn seitdem nur noch einmal au Influenza
Die Heilbarkeit uerfOser Unfallsfolgen. 85
behandelt. Ich sehe ihn wieder per Rad nach seiner Arbeit
gehen.
Fall XX.
Der Lagerverwalter an einer Kohlen-Großbandlung, ein 46-
jähriger Mann, saß in einem Abteil 3. Klasse, als der Zug auf
einen Güterzug aufstieß. Er flog mit dem Hinterkopf gegen die
Wand des Wagens, es folgte angeblich kurz andauernde Bewußt¬
losigkeit , er mußte an der Unfallstelle eine Stunde auf Rück¬
beförderung warten. Eine äußere Verletzung hatte er nicht davon¬
getragen. In der Nacht um 12 Uhr kam er erst heim, in der
Nacht erbrach er einigemal, war schlaflos und sehr erregt. Nach
zwei Tagen schon ging er wieder ins Geschäft. Im Dezember
setzte er wegen Nervosität drei Monate aus. Eine Hirnerschütierung
wurde vom behandelnden Arzte nicht angenommen, sonst war kein
wesentlicher neurologischer Befund zu erheben. Dagegen war eine
gewisse pastöse Konstitution wohl als Folge von übermäßigem
Genuß von Bier und Wein und gelegentlicher Kognaks vorhanden.
bestand keine neuropatbische Belastung, aber erregte Herzaktion
mit leichtem Herzgeräusch, etwas vergrößerte Leber, leichte Zucker¬
ausscheidung war von mir gefunden worden. 20% Invalidität schien
ausreichend, besonders, da vom Hausarzte langjährige rheumatische
und Herzbeschwerden schon vor dem Unfall beobachtet worden
waren.
Pat. erhielt eine Abfindungssumme von 800 Mark.
Katamnese.
Nach dem Bericht der Ortsbehörde gab er an, daß er seit
dem Unfall seinen früheren Posten nicht mehr versehen könnte
und jetzt nur auf dem Büro beschäftigt würde — zur Kontrolle
des Personals. Er lebe in ganz geordneten Verhältnissen.
Nach privaten Erkundigungen bei den Arbeitgebern ergab
sich aber, daß seine Leistungen durch den Unfall eine Einbuße
nicht erfahren hätten. Er wäre schon vor dem Unfall wegen
Rheumatismus nicht voll arbeitsfähig und nicht mehr fähig
gewesen, den Dienst im Lager bei Wind und Wetter auszu¬
üben. Aus diesem Grunde sei ihm die Büroarbeit seinerzeit ohne
Rücksic ht auf de n Eisenbahnunfall übertragen worden.
Fall XXI.
Ein 27 jähriger Opernsänger fuhr nach Beendigung der Saison
einer kleinen Provinzbühne am 16. April in einem Zuge von C.
nach C, Bei der Ankunft in C. fuhr sein Zug nachmittags um
86
Dr. Leop. Laquer,
3 Uhr plötzlich auf eioen Prellbock auf; er wurde wider die Wand
in eine Ecke geschleudert. Der linke Arm schmerzte und zitterte.
Eine Bewußtlosigkeit trat nicht ein. Da er die Sache für unerheblich
hielt, meldete er den Unfall nicht an, obwohl der Gepäckträger,
den er sich auf dem Bahnhof nahm, ihm dazu geraten hatte.
Zwei Stunden später fuhr er von C. in seine Heimat P. zurück.
Da er aber im linken Arm andauernd Schmerzen empfand, begab
er sich am 21. April zu einem Spezialarzt für Hautkrankheiten.
Nach einem Atteste, das dieser Arzt am 26. August ausstellte,
klagte Pat. über Schmerzen im linken Arm, die Dr. F. auf eine
Sehnenzerrung zurückführte; er hatte zu ihrer Beseitigung Ruhe
und Umschläge empfohlen. Allmählich traten aber allgemeine nervöse
Störungen zu der örtlichen Verletzung hinzu. Pat. suchte dann einen
Nervenarzt Dr. B. auf, der, wie er am 27. August 1908 bescheinigte,
die Schmerzen im linken Arm, die noch bestanden, mit der Sehnen¬
zerrung der Muskelquetscbung und daran anschließender „Nerven¬
entzündung** in Zusammenhang brachte. Dr. B. erklärte den Pat.
für vollständig erwerbsunfähig und meinte in dem genannten Attest:
es sei vorläufig nicht abzusehen, wann diese ElrwerbsunfÜhigkeit
behoben sein würde. Inzwischen hatte Pat. den Unfall auch auf
der Versicherungsgesellschaft gemeldet, bei der er gegen Unfälle
versichert war. Er war sehr nervös und klagte über Herzklopfen.
Die gegenwärtigen Klagen des Pat. bestehen namentlich in
Zittern und Herzklopfen, in Ermüdung beim Singen, in Klagen
über Tremolieren der Stimme. Er sei durch diese Beschwerden
und durch seine allgemeine leichte Ermüdbarkeit seit dem April
unfähig gewesen. Stunden zu nehmen und Klavier zu spielen, so
naß er sich nicht selbst begleiten und darum wenig studieren
konnte. Die elektrische Behandlung hätte ihn sehr angegriffen.
Eine Anstellung wagte er für diesen Winter nicht anzunehmen.
Bei der Untersuchung konnte ich feststellen, daß Patient ein
schmaler, kaum mittelgroßer, blasser Mensch ist, der sich in einem
sehr mäßigen Ernährungszustände befindet. Er behauptet, seit
dem Unfall um 6 Pfund abgenommen zu haben. Seine Stimme
klingt etwas heiser.
Sonst konnte ich in geistiger und körperlicher Hinsicht keinerlei
krankhafte Erscheinungen bei Pat. auf finden. Ich hebe besonders
hervor, daß der bei dem angeblichen Unfall verletzte linke Arm
(der Verletzte ist Linkser) auf Druck nirgends schmerzhaft ist,
daß die Muskulatur nirgends Abmagerung, Lähmung oder Empfin¬
dungslosigkeit zeigt. Ferner sind auch anderweitige Lähmungs¬
erscheinungen und Empfindungsstöruugen im Gebiete der Rumpf¬
und Extremitäten-Muskulatur nicht vorhanden. Die Reflexe am
Knie und an der Achillessehue sind sehr lebhaft. Nie tritt
Dio Heilbarkeit nervöser Uofallsfolgen.
87
Schwanken bei geschlossenen Augen ein, Blase und Mastdarm
funktionieren gut, der Gang i8t*normal.
Auch das Herz sowie die^Lungen und Unterleibsorgane sind
frei von krankhaften Symptomen.
Nachträglich möchte ichlnoch bemerken, daß mit dem Unfall
Bewußtseinsstörung oder somatische Kommotionssymptome nicht
verbunden waren.
Auf Grund dieses {Befundes^’hat Patient bei dem angeblichen
Eisenbahnunfall vom 16. April d, Js. keine wesentliche äußere Ver¬
letzung erlitten. Die von den Aerzten Dr. P. und Dr. B. fest¬
gestellte Zerrung und Quetschung der Muskeln und die sogenannte
Nervenentzündung muß jetzt als abgeheilt angesehen werden.
Wesentliche Herzstörungen nervöser Art fanden sich nicht mehr.
Es ist möglich, daß Pat. noch etwas ermüdbar und bei Gesang¬
studien nicht ausdauernd ist. Inwieweit seine Stimme etwa unter
dem Unfall gelitten haben mag, wage ich nicht zu beurteilen.
Eventuell wäre die Zuziehung eines Kehlkopfspezialisten in Er¬
wägung zu ziehen.
Nach meiner Ueberzeugung^besteht bei dem Pat. jetzt nur
noch eine ganz leichte Nervosität, die mit dem Unfall Zusammen¬
hängen dürfte. Da der Verletzte zu jenen jungen Bühnenkünstlern
gehört, die besonders im Anfange^ihrer Tätigkeit im Sommer ge¬
wöhnlich ohne Engagement sind, so hat er durch die nervösen
Störungen und die Schmerzen im linken Arm eine erhebliche Er¬
werbsbeschränkung nicht zu verzeichnen. Dagegen ist zuzugeben
daß er wegen seiner Linkshändigkeit nicht den linken Arm ge¬
brauchen konnte und dadurch in Üebungen am Klavier und anderen
Hantierungen gehindert war. Ob wirklich seine Rolle als Postillon
von Lonjumeau, auf die er Wert legt, durch die Armschmerzen
beeinträchtigt^ist, „weil er mit der Peitsche njicht knallen
kann“, möchte ich bezweifeln.
Es ist auch möglich, daß bei traumatisch-hysterischen Unfalls¬
folgen die Stärke und Sicherheit der Stimmgebung leidet und bei
solchen Personen leicht ein Tremolieren eintritt, das ihre Bühnen-
leistuogen beeinträchtigt. Jedenfalls kann der Patient als völlig
erwerbsunfähig nicht bezeichnet werden. Es wird ihm sicher ge¬
lingen , wie auch [im vorigen^j^ Jahre [ein Engagement an einer
kleinen oder mittelgroßen Opernbühne zu bekommen, wenn er
sich ernstlich darum bemüht.
Wenn ich eine ungefähre Schätzung der Erwerbsunfähigkeit
nach Graden^mir erlaube, so war Pat. in den ersten vier Monaten
nach dem Unfall um 50 % geschädigt, jetzt dürfte die Schädigung
nur noch höchstens 26 ®/o betragen. Ich glaube, daß dem Pat.
ein d|auernder Schaden aus dem angeblichen Unfall nicht er¬
wachsen wird.
88
Dr. Leop. Laqner,
Der Verletzte erhielt zwei Abfindungen von je
2000 Mark.
Eatamnese.
Als Opernsänger ist er nicht mehr tätig, dagegen in einem
kaufmännischen Geschäfte; er fühlt sich ziemlich wohl, singt
noch in Privatzirkeln. — Inwieweit die Unterbrechung der
Bühnentätigkeit in der allgemeinen Lage der Anstellungsver¬
hältnisse Bühnenangehöriger oder in persönlichen Mißerfolgen
des Verletzten begründet ist, steht dahin.
Fall XXII.
Eine 47jährige Witwe, die von einer kleinen Pension und
von Zimmervermietungen lebt und mir seit dem Jahre 1895 ärztlich
bekannt ist, seit Jahren schon an Akroparästhesie leidet, erlitt
im Jahre 1896 einen Unfall auf der Straäenbahn: Die Deichsel
eines Postwagens stieß mit dem Wagen der Straßenbahn zusammen
und traf den Rücken der Patientin in der Brust- und Lenden¬
gegend. Sie war arbeitsunfähig und mußte vier Wochen das Bett
hüten. — Es waren Rüokenschmerzen und eine Magenverstimmung
vorhanden. Bei dem geringsten Anlaß trat allgemeines Zittern
auf. Kopfschmerzen, Angstzustände und Schlafstörungen plagten
sie, da kurz nach dem Unfall familiäre Sorgen wegen der Aus¬
stattung ihrer Tochter sich zu den nervösen Unfallsfolgen hinzn-
gesellten.
So nahm die Pat. innerhalb von drei Monaten 50 Pfund ab,
trotzdem Kuren in Kreuznach und in Wiesbaden angewendet worden
waren. Ein objektiver Befund war nicht zu erheben.
Neben Ersatz der Kurkosten wurde eine Abfin¬
dung von 2000 Mark gezahlt.
Eatamnese.
Die allgemeinen nervösen Beschwerden und der Eräfte-
zustand hoben sich bald darauf. Jetzt ist die Verletzte eine
arbeitsfreudige leistungsfähige Frau trotz ihrer 63 Jahre. Sie ist
sehr korpulent geworden. Die Akroparästhesie besteht noch fort.
Fall XXIII.
Ein 45jäbriger KeUner behauptet früher niemals krank gewesen
zu sein. Er leugnet eine luetische Infektion und erklärt auf Be¬
fragen, daß er abgesehen von den gewöhnlichen Mengen, die in
seinem Berufe getrunken zu werden pflegen, einem übermäßigen
Alkoholgenusse niemals ergeben gewesen sei. Er ist verheiratet;
Die Heilbarkeit nerrOser ünfallsfolgen.
89
ein Kind sei ihm im Alter von 3 Jahren an Miliartuberkulose
gestorbeo. Am 28. Dezember 1907 sei er auf der Fahrt von D.
nach L. beim Einfahren des Zuges in L. durch ein plötzliches
Anrücken des Wagens, in dem er saß, während er aufrecht stand,
zuerst mit dem Kopfe gegen eine Ecke geschleudert worden, dann
sei er zu Falle gekommen, über Kisten auf die rechte Körperseite
und den Kopf gestürzt, so daß er schließlich auf dem Kopfe stond. (?)
Der Zug hielt bald darauf, er stieg aus; auf dem Perron notierte
er zuerst die Namen von vier Zeugen, die mit ihm im gleichen
Abteil gesessen hatten. Dann ging er zum Stationsvorsteher und
meldete den Unfall. Eine Stunde später begab er sich auf einen
andern Bahnhof und fuhr nach D. zurück. Der folgende Tag war
ein Sonntag. Am 30. Dezember erst suchte er den Rat des Arztes
D. auf, der bei der ärztlichen Untersuchung folgendes feststellte:
Patient klagte über Kopfschmerzen und Schwindel, sowie über
Schmerzen in der rechten Hüfte, rechten Brustseite und Oberarm.
-Das rechte Hüftgelenk war auf Druck empfindlich und in den darüber
gelegenen Hautpartien war eine etwa 2^/3 cm breite und 7 cm lange
blaurötlich verfärbte, blutunterlaufene Stelle sichtbar, die auf Druck
sehr schmerzhaft war. Ebenso war das Hüftgelenk selbst sowie
der rechte Oberarmknochen auf Druck und bei Bewegung schmerz-
empfindlich. Ebenso die drei untersten Rippen. E!s bestand dort
aber keine Schwellung. Nach Angabe des Verletzten hat eine
Blutung aus dem After bei dem Sturze stattgefunden. Dr. D.
nimmt an, daß Hämorrhoidalknoten geplatzt sind und daß seine
Angaben, daß er an starken Kopfschmerzen und leichtem Schwindel
leide, ärztlicherseits glaubhaft seien. Dr. D. kam zti dem Schlüsse,
daß eine starke Prellung (Kontusion) des rechten Hüftgelenkes
und des rechten Oberarmknochens, sowie der drei untersten Rippen
rechterseits zwischen hinterer Axillar- und Papillarlinie stattgefun¬
den habe und daß der Verletzte voraussichtlich etwa 8 Tage
arbeitsunfähig sein werde.
Als Pat. bei mir erschien, gab er an, daß er inzwischen auch
einen Bronchialkatarrh durchgemacht habe. Er klagt über an¬
dauernde Schmerzen in der rechten Hüfte und in der rechtsseitigen
unteren Rippengegend, wo sich oft ein Brennen und Knebeln ent¬
wickele, das bis in die Wirbelsäule ausstrahle und ihn verhindere,
in der Nacht auf der rechten Seite zu liegen. Auch der rechte
Arm sei immer noch nicht brauchbar wegen Schmerzhaftigkeit der
Bewegungen im rechten Schultergelenk. Im Kopfe habe er oft
Schwindelempfindungen, er leide an Vergeßlichkeit und Angst¬
gefühlen, sei leicht schreckhaft und leicht ermüdbar. Diese Be¬
schwerden seien erst infolge des Unfalls bei ihm aufgetreten. Er
hinkt beim Gehen und behauptet, daß er deshalb und wegen der
Schwerbeweglichkeit im rechten Arm für seinen Kellnerbernf völlig
unbrauchbar sei.
Dr. Leop. Laqucr,
[)n
Pat. ist ein sehr korpulenter und muskelkräftiger Mann mit
leicht kongestioniertem gedunsenem Gesicht. Etwas langsam und
bedächtig ini Sprechen, von mäßiger Intelligenz. Er zeigt aber
keinerlei Artikulations-Störungen, hört und sieht gut, seine Pupillen
sind beide gleichweit, reagieren prompt. Die Bewegungen der
Augen- und Gesichtsmuskulatur sind prompt, ebenso die Zungen-
beweguugen. Auch am Rumpfe und an den Gliedmaßen finden
sich weder Lähmungen noch Störungen der Hautempfindung.
Nirgends besteht Zittern. Die Sehnenreflexe am Knie sind normal.
Schwanken bei offenen oder geschlossenen Augen ist weder beim
Gehen noch beim Stehen nachweisbar. Doch schont der Verletzte
!)eim Gehen etwas das rechte Bein. Am rechten Hüftgelenk findet
sich eine leichte Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen und
auch die rechtsseitigen Rippen sind auf Druck noch ein wenig
schmerzhaft, doch liegt diesen Krankheitserscheinungen jetzt weder
eine Schwellung noch eine Blutung in den betreffenden Hautpartien
zugrunde, noch war eine Verdickung '1er Rippen bezw. des Hüft¬
gelenks, nocli irgendeine entsprechende Muskelaffektion nachweis¬
bar. lieber subjektive Taubheitsgofühle hatte der Patient nicht
zu klagen. Auch die Punktion der Blase und des Mastdarms gab
ihm zu Beschwerden keinen Anlaß Die Herztöne waren regel¬
mäßig, rein und kräftig, die Herzaktiou etwas beschleunigt. Puls 92.
Der Urin war frei von Eiweiß und Zucker.
Pat. hatte also am 28. Dezember 1907 beim Sturz im Eisen¬
bahnwagen eine ganz geringe (Quetschung der rechten Rumpfseite,
des rechten Armes und Beins erlitten. Eine wesentliche Hirn-
erschütt'erang hat nicht stattgefimden. Auch der Schreck scheint
kein großer gewesen zu sein, da er in der I^age war, einige
Minuten nach dem Unfall seine Zeugen zu notieren und eine
Stunde später von L. nach F. zu reisen (7 Stunden). Nie sind
Erbrechen und Bewußtlosigkeit aufgetreten. Der erste Arzt Dr. D.,
der ihn zwei Tage nach dem Unfall untersuchte, hat die Unfalls-
folgon für unwesentlich gehalten, da er annahra, daß der Verletzte
nach 8 Tagen wieder hergestellt sein werde.
Trotzdem hat Pat. in den Monaten Januar und Februar eine
Tätigkeit nicht aufgenommen und keinen Arbeitsversuch gemacht.
Er übertreibt nach meiner Ansicht seine Beschwerden und liest^
dieselben teilweise aus einem mitgebrachteu Notizbuche ab. Die objek¬
tiven Krankheitserscheinungen (Muskelschmerzen?) sind am 4. März
1908 so geringfügig, daß sie als ein wesentliches Arbeitshinderuis
nicht mehr angesehen werden können. Der Grad seiner Erwerbs-
beschränkuug beträgt höchstens 25% und es ist mit Sicherheit
eine volle Wiederherstellung in 1 — 2 Monaten zu erwarten.
De r V e r 1 e t z t e w u r d e a m 19. A u g us t m i t 12 000 Mark
a bge fund en.
Die Heilbarkeit nerröeer Untallsfolgen.
91
Eatamnese.
Nach der Abfindung war Patient dann Portier in einem
naittelgroßen Hotel und hat jetzt ein Zigarrengeschäft erworben,
das gut geht, und in dem er selbst mit Eifer und Ausdauer
tätig ist.
Fall XXIY.
Ein 59jähriger, in 32jäbrigem Dienste ergrauter, und sehr ge¬
schätzter Eiseubahnbeamter erleidet einen Unfall in demselben
Zuge, wo sich der Fall XII ereignet hatte, er wird nur ein wenig
geschüttelt, steigt aus, hat den oben erwähnten schreckenerregenden
Anblick nicht, fährt weiter in anderem Wagen, erledigt noch seine
Privatgeschäfte, geht dann noch in den Dienst, später nimmt er
Urlaub. Das hat er in den letzten Jahren nicht selten getan, weil
er schon lange ein nervöser, verärgerter Mensch war, der seine
Pflicht tat, es aber nicht überwinden konnte, daß er vor 8 Jahren
nicht zum Assistenten befördert wurde, weil er über 50 Jahre
alt war. Er hielt das für eine Zurücksetzung, machte eine Ein¬
gabe nach der andern, ging bis an die höchste Stelle. Reiner
konnte ihm helfen, da traf ihn der Eisenbahn-Shok.
Ein blasses Aussehen soll bald nachher Bekannten aufgefallen
sein. — Die Beschwerden waren die bekannten neurasthenischen
Erscheinungen: Schlaflosigkeit, Ermüdbarkeit etc. — Die Aerzte
fanden zumeist nichts Objektives, außer atheromatischen Störungen,
die auch schon vor dem Unfall festzustellen wai'en. Darauf war
wohl auch ein geringer Eiweiß- und Zucker-Befund zurück¬
zuführen. Aber ein Arzt bescheinigte seine Dienstunfäbigkeit wegen
Unfalls-Neurose. — Viele längere Urlaube hatten ihn schon vor
dem Unfall veranlaßt, sich in N. ein Häuschen zu bauen, auf dem
eine Hypothek von 8000 Mark ruhte, seine Familie dort wohnen
zu lassen und seine Pensionierung zu betreiben. Er erhob gleich¬
zeitig Anspruch auf gesetzliche Unfallsrente.
Eatamnese.
Der Verletzte erhielt eine Abfindung von 8000
Mark und ist jetzt pensioniert; er wäre auch ohne den Unfall
in den Ruhestand getreten; er lebt aber jetzt sorglos in seinem
eigenen Häuschen, treibt Gartenpflege und ist frei von nervösen
Beschwerden.
Fall XXV.
Ein Lokomotivführer aus N. gab an, daß er am 13. September
1906 einen Eisenbahnunfall erlitten habe, daß er aber jetzt ganz
92
Dr. Leop. Laquer,
gesund und bereit sei, seinen vollen Dienst als Lokomotivführer
in gleicher Weise wieder zu übernehmen, wie er das vor dem
Unfall mit vollen Kräften und ohne daß er sich jemals einer
strafbaren Verfehlung schuldig gemacht habe, 14 Jahre lang
getan habe.
Die Untersuchung des 40 Jahre alten Mannes, dessen Aus¬
sehen ein gesundes und kräftiges ist, ergab keinen objektiven
Anhaltspunkt dafür, daß sein Nervensystem, seine Gemütsverfassung
noch jetzt durch den erlittenen Unfall krankhaft beeinflußt sind.
Gedächtnis, Auffassung, Sprach- und Ausdrucksvermögen waren
normal. Bei Besprechung seines Unfalls, seiner Krankheit, seiner
Familien Verhältnisse wies er eine durchaus gleichmäßige und keine
gereizte zu querulatorischer Behandlung der Dinge oder zu Ueber-
treibungen geneigte Stimmung auf. — Lähmungserscheinungen im
Gebiete des zentralen und peripheren Nervensystems fanden sich
nirgends vor. Alle Muskeln waren gut beweglich, die Hauteinpfin-
dung ungestört, Blase und Mastdarm funktionierten gut. — Der
Gang war sicher bei offenen und geschlossenen Augen, die Sehnen¬
reflexe am Knie waren lebhaft.
Auch an den inneren Organen, an Lunge und Herz war der
objektive Befund frei von jeder krankhaften Abweichung.
Gegenüber dem gegenwärtigen objektiv und subjektiv durchaus
normalen Gesundheitszustand des Verletzten enthalten die Personal¬
akten über den bisherigen Verlauf der krankhaften Folgen des
Unfalls, den er erlitten hat, eine Reihe von Feststellungen,
die die weitere Frage der Direktion berechtigt erscheinen lassen,
ob der Verletzte, wie der Bahnarzt Dr. G. am 10. Dezember 1907
meinte, seine sämtlichen Beschwerden simuliert hat.
— Die unmittelbare Folge des Eisenbahnnnfalls war nach Bericht
des Dr. G. neben Hautwunden eine leichte Hirnerschütterung.
Anfangs Oktober 1906 erklärte ihn Dr. G. wieder für dienstfähig. —
Nach einer neuntägigen Beobachtung im St. V. H. zu L. war
Dr. H. der Ansicht, daß Pat. eine Schwere Nervenzerrüttung (trau¬
matische Neurose) als psychischen Insult von dem Eisenbahnzu-
sammenstoß bei N. davongetragen habe: „Vielleicht hätten eine
.schon vorbestehende chronische Nierenreizung“ (es waren Spuren
von Eiweiß im Urin nachgewiesen!) und unangenehme Familien-
verhältnisse (Pat. lebt von der Frau geschieden) prädisponierend
eingewirkt, jedenfalls hat der Unfall in seiner, wenn auch nur
sekundenlangen, höchsten seelischen Aufregung die Hauptschuld
an der schweren Erkrankung.“ — Pat. sei wenigstens auf ein
Jahr völlig arbeitsunfähig. — Eine weitere Einweisung in die
Nervenanstalt, die ärztlich empfohlen war, lehnte Patient ab.
Im März 1907 wurde von Dr. K. in W. eine traumatische
Hysterie festgestellt, welche durch jenen Unfall hervorgerufen
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
9:5
worden sei. Die Diagnose wurde unterstützt durch die gleichzeitig
entstandene Schwachsichtigkeit ohne Befund und durch den Nad)-
weis der hochgradig konzentrischen Gesichtsfeldeinengung. Dr. K.
erklärte den Pat. für dienstunfähig voraussichtlich auf mehrere Mo¬
nate, während der Bahnarzt Dr. G. 4 Wochen vorher erklärt
hatte, daß eine Simulation vorliege, da nur subjektive S 3 'mptome
vorhanden seien und das Verhalten des Verletzten in unbeobachteten
Zeiten seinen sonst vorgebrachten Klagen durchaus widersprach,
auch die Prüfung von Hören und Sehen den Verdacht auf Simu¬
lation erweckte.
Am 4. Dezember 1907 hat nun Dr. K. gutachtlich mitgeteilt,
daß die Angaben über Sehschärfe und Gesichtsfeld nicht der Wahr¬
heit entsprochen hatten.
Auch Dr. G. kam am 10. Dezember 1907 zu dem Ergebnis,
daß Pat. seine sämtlichen Beschwerden simuliert und von dem
Unfall im September 1906 nachteilige Folgen nicht davongetragen bat.
Ed ist für den Gutachter, der den Kranken früher nicht kannte,
sehr schwierig, nunmehr, nachdem IV 2 Jahre seit dem Unfälle
verflossen sind und krankhafte Unfallsfolgen nicht mehr bestehen,
festzustellen, ob der Pat. seine sämtlichen Beschwerden simuliert
hat. — Die tatsächlichen Feststellungen von Dr. G. und Dr. K.,
die sich auf eigene genaue Beobachtungen am Verletzten stützen
(gesnndheitsgemäßes Verhalten des Pat. in unbewachten Augen¬
blicken und falsche Angaben über Sehschärfe und Gesichtsfeld)
sind sichere Beweise dafür, daß Pat. einen großen Teil seiner Be¬
schwerden übertrieben oder vorgetäuscht hat. Aus dem jetzigen
Befunde läßt sich gar kein sicherer Anhaltspunkt dafür auffinden,
wie hochgradig seine üebertreibungen waren. Nach ihren in den
Akten befindlichen Darstellungen ist anzunebmen, daß bei dem
Pat. in vielen Punkten eine Simulation von Krankheitserscheinungen
Vorgelegen hat.
In milderem Lichte erscheint dieses sein Verhalten, wenn man
berücksichtigt, daß es sich um eine traumatische Hysterie
handelt, wie sowohl Dr. H. wie Dr. K. angegeben haben. Denn
die Uebertreibung einzelner Krankheitszeicben ist bei der Hysterie
nicht selten; sie muß nach der Meinung erfahrener Beobachter in
manchen Fällen direkt als hysterisches Krankheitssymptom aufgefaßt
werden. Die hysterische Willensschwäche des ILranken ist zudem
gesteigert worden durch die unglückseligen Familienverbältnisse,
in denen er lebte und die seine materielle Lage wegen der Alimen¬
tation seiner geschiedenen Frau verschlechterten und seine Arbeits-
anlust förderten. Er schreibt übrigens die jetzt erfolgte vollkom¬
mene Heilung der Sehstörung einer Schutzbrille zu, die er auf
Anordnung von Dr. K. seit dessen erster Untersuchung getragen
habe; endlich versichert er wiederholt, dnß er seinen Dienst nicht
94
Dt. Leop. Laqaer,
angetreten habe, weil ihm Dr.'H. gesagt haben soll, er würde znm
Wiedereintritt in den Fahrdienst von seiner Vorgesetzten Behörde
rechtzeitig eine Aufforderung erhalten. Ob diese Angabe richtig
ist, kann ich nicht entscheiden.
Ich gebe auf die Anfrage vom 12. Januar 1908 mein Gut¬
achten* dahin ab:
1. Daß Pat. jetzt von den Unfallsfolgen wieder hergestellt
und völlig gesund ist; es dürfte sich aber empfehlen, ihn wegen
der Labilität seines Nervensystems nicht gleich auf den verant¬
wortungsvollen Posten eines Lokomotivführers zu stellen, sondern
ihn entsprechend seinen Fertigkeiten und Kenntnissen anderweitig
zu beschäftigen. 2. Daß Pat. zwar eine große Reihe seiner Be¬
schwerden im Bereiche des Nervensystems und Sehorgans simuliert
hat, daß aber die Uebertreibung und Vortäuschung von Krankheits¬
erscheinungen traumatischen Hysterikern eigentümlich sein kann.
•
Eatamnese.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde der Verletzte im
April 1908 wieder an einem Orte auswärts im Rangierdienst
als Lokomotivführer angestellt, wo er trotz mancher seelischen
Erregungen, die in seiner Ehescheidungssache liegen, seinen
Dienst zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten versieht. Auch
sein außerdienstliches Verhalten hat zuletzt zu Klagen keinen
Anlaß gegeben.
Wenn ich noch einmal das zusammenfassen will, wasimLaufe
der drei Jahrzehnte, wo ich als Gutachter tätig bin, nicht bloß in
den oben kurz skizzierten charakteristischen Fällen von Unfalls¬
neurosen, sondern fast immer da, wo nervöse Unfalls¬
folgen sich besserten oder gar ausheilten, als psychothera¬
peutisches Agens in Betracht kam, so wird es gut sein, unter
den Unfallverletzten eine Scheidung zwischen einzelnen Gruppen
in sozialer Hinsicht vorzunehmen.
Sehr wesentlich von den anderen unterscheiden sich
Unfallverletzte Arbeiter, denen nur die gesetzliche
Rente und nur bei geringerem Grade von Invalidität früher
bei 15, jetzt bei 20 Proz., eine einmalige Abfindung zusteht.
Wie sehr es hier auf endogene Momente, auf die geistige
Begabung des Arbeiters, auf seine Charakter-Eigenschaften,
seine Gemütslage ankommt, beweisen die Fälle II und IV.
Der erste, ein mäßig begabter, körperlich nicht sehr rüstiger
Die Heilbarkeit nervöser ünfallsfolgen.
95
Arbeiter, wird durch den „Zwang der Not“, wie Ho che
es in seinem Referate schon so vortrefflich ausgedrückt hat,
veranlaßt, nach jahrelangem Nichtstun die Arbeit wieder auf¬
zunehmen'; die wachsende Kinderzahl, die Besserung auf dem
Arbeitsmarkt und die Aussicht, einen erhöhten Lohn zu be¬
kommen, der das Doppelte des Rentenbetrages beträgt, drängen
die durch den Unfall gesetzten Begehrungsvorstellungen in den
Hintergrund und führen zur Wiederaufnahme der von Jugend
auf erlernten Beschäftigung. Sobald sich der Neurotiker
wieder einige Jahre an die Arbeit gewöhnt und trotz nervöser
Beschwerden und zunehmender Altersbeschwerden (Atheroma
praecox) jahrelang durchgeführt hat, vertauscht er den Maurer¬
beruf mit dem Gewerbe eines Tagelöhners in einer städtischen
Gärtnerei, die ihm eine Seßhaftigkeit und eine regelmäßige,
ruhigere Tätigkeit ermöglicht. Hierbei wird er unterstützt
durch seine Familie, die aus neun Köpfen besteht. Der pater
familias ist nicht mehr ihr einziger Ernährer, die Kinder sind
allmählich herangewachsen und erleichtern ihm den Brot¬
erwerb, so daß er auf die höheren Löhne vor Eintritt des
Greisenalters und damit auf eine angestrengtere, seinen
alternden Körper weniger erschöpfende Arbeit’ verzichten kann.
Ähnlich steht es bei dem Fall IV, wo ebenfalls eine reich¬
liche Kinderzahl vorhanden ist. Hier wird allmählich die
Lücke ausgefüllt, die durch die geistige Invalidität des Vaters
entstanden ist. Der geistig sehr schwach veranlagte Vater,
dem nicht die Kraft inne wohnte, den Segen der Arbeit zu
erkennen und leichte Mißempfindungen im Laufe der Zeit zu
unterdrücken, bequemt sich erst allmählich zur Aufnahme
einer leichten gewinnbringenden Tätigkeit, da die Töchter sich
verheiratet haben und er sich gezwungen sieht, mit 50 Proz.
Unfallsrente wieder selber Hand ans Werk zu legen.
ln Fall II und IX konnte ich durch eigene Zugeständnisse
der Verletzten und durch persönliche Nachforschungen bei
Arbeitgebern nachweisen, wie die lange Dauer und endliche
Hei’ung der nervösen Unfallsfolgen zustande gekommen war.
Die Mitarbeit der Familienmitglieder wirkt bald hemmend
bald fördernd auf den Verlauf.
Aber bei vielen ländlichen Arbeiterfamilien,- die in Groß-
96
Dr. Leopold Laqaer,
Städten in Arbeit stehen, ist nach meinen Erfahrungen die
Tatsache bemerkenswert, daß sie, wenn ihnen ein Unfall be¬
gegnet, besonders in vorgerücktem Lebensalter, eine Be¬
schäftigung in der Landwirtschaft, besonders auf eigenem
Grund und Boden, der Tätigkeit als Handwerker oder Tagelöhner
in der Großstadt vorziehen. Sie begnügen sich dann mit einem
kleinen Einkommen, das ihnen aus dieser Tätigkeit erwächst.
Dazu tritt die Teilrente, die ihnen für ihre nervösen Unfalls¬
folgen bewilligt ist, und die Unterstützung durch die Kinder
und Frau, die durch Mitarbeit zum Familienunterhalt mit bei¬
tragen. So sind sie von der äußeren Not befreit und scheinen
dabei auf dem Lande mehr „Arbeitsfreude“ zu empfinden, als
wenn sie fern von der Familie den Tag oder die Woche über
ihre industrielle Arbeit leisten müssen.
Die Herkner-Hellpachsehen Ausführungen über die
Beziehungen des Mangels an Arbeitsfreude zu den Unfalls¬
neurosen der Arbeiter erfahren durch solche Fälle eine ent¬
schiedene Bestätigung.
Die nervösen Unfallsfolgen in Fall V und VI, wo die
obligate Form der allmählichen Rentenverkürzung zur An¬
wendung kam, der Verletzte aber mit einer gewissen Schonung
und Nachsicht seitens der Arbeitgeber fast ununterbrochen
weiter arbeitet, haben sieben bezw. acht Jahre zu
ihrer Heilung gebraucht.
Hier war von vornherein durch wiederholte Untersuchung
vorauszusehen, daß nichts als eine Unfallsneurose vorlag.
Wieviel hätte der Gesundheit und der Arbeitskraft des Ver¬
letzten genützt werden können, wenn nach dänischem Muster
zwei entsprechende Abfindungen im ersten und zweiten Jahre
nach dem Unfall zur Auszahlung gelangt wären? Der schon
erwähnte Vergleich mit den abgefundenen Arbeitern unter
Vll und VIH scheint mir beweisend zu sein.
Zwei geistig hochstehende Arbeiter haben wir in den
Fällen I und IH vor uns.
Beide Verletzte sind relativ schneU geheilt.
Aber die Art, vor allem die Dauer ihrer nervösen Unfalls¬
folgen unterscheiden sich sehr wesentlich voneinander durch
die Sinuesa^ ihrer Träger: Hier war es wohl Sache des Tem-
Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
97
peraments und der Gemütsanlage, daß der erste, ein „Sangu¬
iniker*', dem freundlichen Zuspruch des (Arztes ganz unzu¬
gänglich war, erst nach mehr als Jahresfrist aus besonderen
oben angeführten Gründen sich zur Arbeit bequemte, der andere
ein „Phlegmatiker**, schon nach sechs Wochen in altgewohnter
regelmäßiger Weise seine Pflicht tat.
Eine Besserung der sozialen Lage, die vor dem
Unfall schon gefährdet war, nach dem Unfall aber ganz erheblich
verschlechtert erschien, und vom Verletzten auf Grund seiner
Mißstimmung besonders ungünstig beurteilt wurde, hat bei der
Heilung durch Kapitalabfindung im Fall VII und VUI
mitgewirkt. Unglückliche Familienereignisse und Unsicherheit
der Existenz hatten schon Vorgelegen, ehe der Unfall kam. Die
Kapitalabfindung brachte eine Beseitigung sorgenvoller Ge¬
danken und damit eine wesentliche Besserung bezw. Aufhebung
der reizbaren Schwäche.
Im Falle IX war eine hysterische Konstitution schon vor
dem Trauma vorhanden, im Fall X fiel dieses Moment nicht in
die Wagschale, aber ein erheblicher Schreck mußte als die aus¬
lösende Ursache der hysteriformen Unfallsfolgen angesehen
werden.
Die Abfindungssummen, die in den Beobachtungen XI bis
XVin gezahlt wurden, erreichten zum Teil eine recht beträcht¬
liche Höhe, z. B. im Fall XI und XII: Hier wirft sich auch
für den wohlwollendsten Beurteiler der festgestellten Unfalls¬
folgen die Frage auf, ob nicht die „Begehrungs-Vor¬
stellungen** im Laufe der Unfallsneurose schon mehr zu einer
„Bereicherungs-Idee“ ausgewachsen waren. „In solchen
Fällen“ — so meinte einmal der Beauftragte einer Eisenbahn¬
verwaltung — „müßte der Eintritt einer traumatischen Neurose
dem hohen Gewinne eines Lotterieloses gleichgesetzt werden.“
Dieser Laienstandpunkt enthält ein Körnchen Wahrheit, wie
der Verlauf der Beobachtungen IX bis XVI zu beweisen
scheint.
Aber wir dürfen nicht vergessen, daß solche Bereicherungs-
Ideen, wie Gramer in der Diskussion zu Hoch es Vortrag
in Baden-Baden 1907 bemerkt hat, ganz normale Vorgänge in der
Psyche auch der Besten unseres Volkes sind: Bei jedem Büffet,
7
98
Dr. Leop. Laquer,
daa auf Kongressen den Teilnehmern kostenlos zur Verfügung ge¬
stellt wird, sagt C r a m e r, kann man das Auftreten der Begehrungs-
Vorstellungen bei einem nicht geringen Teil der Festgäste trotz
ihrer akademischen Grade und Titel in akutester Weise sich
entwickeln sehen!
Ho che hat gelegentlich auch andere Begehrungs-Vor¬
stellungen, z. B. den Hang zu Zollhinterziehungen bei Ver¬
gnügungsreisenden als Beweis dafür angeführt, wie leicht anch
in den höchsten Gesellschaftsklassen solche Entgleisungen Vor¬
kommen. Hier wird gewiß keinem einfallen, jeden Schreck
bei einer Zollrevision auf Auslandsreisen als — Eisenbahnun¬
fall aufzufassen und damit — Begehrungs-Vorstellungen in Zu¬
sammenhang zu bringen 1 ? —
Bei allen ärztlichen Beobachtungen, wo Verletzte aus
besseren Ständen auf Eisenbahnfahrten Unfälle erleiden,
dann nervös erkranken und schließlich durch Abfindung über¬
raschend schnell geheilt werden, wird es immer schwer sein,
zu entscheiden, ob einfache, ganz natürliche — Gewinnsucht
mit im Spiele war, oder ob die Summe von arbeitshemmenden
Sensationen, über die Klage geführt wird, schon unter den
Begriff der — Krankheit fallen.
Hartmann berichtet (1. c.) von einem Fall, wo einem
Herrn eine Eisenplatte auf den Kopf gefallen war. Seitdem
batte er fast unerträgliche Kopfschmerzen. Sie hielten solange
an und machten ihn arbeitsunfähig, bis er sich mit seiner
Unfallversicherung auf eine Abfindung von 100000 Mark ge¬
einigt hatte. Von dem Augenblicke an war er wieder arbeits¬
fähig, spielte eine große Rolle im öffentlichen Leben, ganz
speziell im — Versicherungswesen!
Der Gutachter ist besonders übel daran, wenn in den
Akten sich nicht bloß hausärztliche Atteste befinden, die un¬
mittelbar oder einige Tage nach dem Unfall abgegeben sind,
sondern auch lang ausgedehnte und vielfach begründete Krank¬
heitsschilderungen aus Sanatorien, Universitätskliniken in den
Akten mehrfach vertreten sind, die voller Widersprüche er¬
scheinen. Da ist nicht immer die unzulängliche Untersuchung
des Kranken und die fehlende Kenntnis der Lehre von den
nervösen Unfallsfolgen schuld an der mangelhaften Unter-
Die Heilbarkeit nervbser ünfallsfolgen.
99
Scheidung zwischen realen und übertriebenen Symptomen-
gruppen; da besteht kein Mangel in der ärztlichen Vorbildung,
wie er von vielen Arzteorganisationen und klinischen Lehrern
beklagt zu werden pflegt. Einer großen Reihe von den leider
meist in nicht immer zugänglichen Akten vergrabenen Tat¬
sachen liegen ganz andere Momente zugrunde.
Haftpflichtprozesse und das Rentenfestsetzungsverfahren
bei der sozialen Versicherung haben eine Nachgiebigkeit und
ein falsches Entgegenkommen bei vielen Ärzten, auch bei
klinischen Lehrern und Anstaltsleitern gezeitigt, welche die Fest-
steUung des wahren Sachverhalts außerordentlich erschweren
und die Gutachter bei endgültiger Beurteilung der Unfalls¬
neurosen und bei Bewertung des Invaliditätsgrades in eine
heikle Lage zu bringen pflegen.
Geradezu ein Dogma in der Volksseele, ein Gemeingut der
Masse ist die Meinung geworden, daß jeder Unfall dem Ver¬
letzten ein Recht auf eine möglichst hohe Entschädi¬
gung gewährt, Ganz allgemein ist der Gedanke verbreitet, wie
Sachs sehr richtig bemerkt, „daß jede Einschränkung der Ent¬
schädigung ein Unrecht der Berufsgenossenschaft (bezw. der Un¬
fall Versicherungsgesellschaft), eine schwere Benachteiligung des
Arbeitenden Volkes (bezw. des Versicherten) sei, daß genug
Geld vorhanden sei und die Mitglieder der Berufsgenossen¬
schaften, die Arbeitgeber bezw. die Versicherungsgesellschaften
„nur nicht zahlen wollten“. Auf der einen Seite der arme,
geschädigte, schmerz- und notleidende Verletzte, auf der anderen
Seite die in der Berufs-Genossenschaft zusammengefaßten
reichen Fabrikanten oder die reiche, hohe Dividende be¬
zahlende Versicherungsgesellschaft. Die Versicherten sind
dann oft der Meinung, „daß sie von dem vielen eingezahlten
Gelde auch einmal selber etwas Wiedersehen wollten“.
Den Eisenbahnverwaltungen gegenüber stehen Unfalls¬
neurotiker nicht so selten auf einem ähnlichen Standpunkte.
Sie meinen, daß die Bereicherung des einzelnen auf Kosten
der Gesamtheit der Eisenbahn gegenüber durchaus erlaubt sei,
da diese öflfentlichen Verkehrsinstitute jahraus jahrein ihre
Rechnungen mit beträchtlichen Überschüssen abschließen. Ja,
manche Leute, die viel unterwegs sein müssen und die Eisen-
7 *
100
Dr. Lcup. LuqiiLT,
bahn benutzen, leben vielfach in dem Glauben, daß sie auf
dem Wege der Aggravation ihre Geschäfts- (Reise-) Unkosten
durch eine einträgliche Unfallsneurose wieder herausbekommen
könnten und dürften! Erst jüngst bin ich in der Praxis der
Meinung begegnet, daß ein mit fünfzehntausend Mark Rente
abgefundener Neurotiker, bei dem die Herzneurose zur Renten¬
quelle wurde, mir auf meinen Vorschlag, er solle doch zu reisen
versuchen, allen Ernstes erwiderte: Er möchte gern wieder zu
reisen versuchen, „aber die Eisenbahn erlaube es ihm nicht“ 1
Gerade in der Psyche jener Unfallsverletzten, deren Neu¬
rose ich in den Beobachtungen XI bis XVHI zu schildern ver¬
sucht habe, mag noch mitunter eine gewisse Angst vor ver¬
meintlichen schwereren späteren Folgen des Unfalls zu über¬
triebener hypochondrischer, grüblerischer Selbstbeobachtung ge¬
führt haben. Diese verschiedenen feineren, psychologischen
Zusammenhänge sind nicht in jedem Falle von Unfallsneurose
der besseren Stände zu enträtseln und leider nicht immer zu
beweisen.
Egger hat schon, wie ich oben erwähnt habe, davon ge¬
sprochen, daß viele Menschen mit den gleichen neurastheni-
schen Erscheinungen, wie sie nach Unfällen auftreten, jahre¬
lang ihrem Berufe ohne Unterbrechung, ohne daß sie sich eine
größere Ausspannung gönnen können, fortsetzen.
Ja, ich gehe noch weiter und möchte sagen, daß eine
ganze Reihe von nervösen Unfallsfolgen nichts weiter dar¬
stellt als jene Nervosität, welche die „Alltags-Neurose“
ausmacht.
Die Verstimmungen des Alltags, die gelegentliche Schlaf¬
losigkeit, der Kopfdruck, die allgemeinen oder örtlichen Er¬
müdungsgefühle, die manchmal schon im kräftigen Mannes¬
alter — häufiger natürlich in vorgerückteren Jahren — dem
Rentner und Berufsmenschen, dem Kopfarbeiter oder dem Ver¬
treter der geistigen und körperlichen Arbeit, dem öffentlichen
und Privatbeamten usw. zeitweilig das Leben verbittern, können
ja ohne weiteres als eine funktionelle Nervenkrankheit gedeutet
werden. Da ist der Übergang von Gesundheit in Krankheit
ein sehr fließender; wenn also ein Unfall passiert, so braucht
der durch die Schwankungen der Geschäftslage sehr leicht ans
Die Heilbarkeit nervtfser Untallsfolgen.
101
dem Gleichgewicht kommende Fabrikant oder Kaufmann eich nur
zu erinnern, wie es ihm zumute ist, wenn einmal bis zwei¬
mal und auch öfter in der Woche schwere, wichtige Über¬
legungen oder gar schicksalsschwere Entscheidungen bei großen
Kursverlusten oder Konkurs und Arbeiter-Streiks seinen Geist
erfüllen. Aus der Alltags-hat sich dann sehr schnell
die Unfallsneurose entwickelt. Wo eine neuropathische
Anlage, eine konstitutionelle Nervosität, die Summe von neur-
asthenischen Erscheinungen bei früher Arterien-Verkalkung
sich geltend machen, oder Stoffwechsel-Anomalien der ver-
schiedentlichsten Art vorhanden sind, vollzieht sich dieses
psychische Geschehen sehr rasch. Fettsucht, Plethora, Gicht,
Alkohol- und Nikotin-Mißbrauch begleiten so viele Menschen
auf ihrer Lebensreise: sie erleichtern diesen Übergang von der
gesunden zur krankhaften Gemütsverfassung.
Im Falle XU, XV, XVI und XVU, wo es mir zufällig
möglich gewesen war, über die Gesundheitszustände der Ver¬
letzten vor dem Unfall eigene und ganz einwandfreie Beob¬
achtungen anzustellen, tritt dieser Zusammenhang zwischen
der Nervosität des Alltags und der der Unfallsfolgen besonders
deutlich in Erscheinung.
Im Falle XIV sprach auf der einen Seite die Auskunft
der Ortsbehörde für das in den betreffenden Kreisen sehr ver¬
breitete Streben nach Bereicherung durch den Unfall; auf der
anderen Seite konnte aus der körperlichen Untersuchung mit
Sicherheit geschlossen werden, daß Alltagsbeschwerden vom
Verletzten als nervöse Unfallsfolgen gedeutet wurden; sie
hatten schon eine Reihe von Jahren vor dem Unfall bestanden,
ohne daß sie dem alten Mann bei der täglichen Ausübung eines
schweren Kleinhandels auf dem Laude irgendwie hinderlich
gewesen waren.
Bei der Begutachtung von Unfallsneurosen begegnet man
ja hier und da auch einer sehr verständnisvollen Objektivität
seitens der behandelnden Kollegen bezw. der Hausärzte.
Manche versagen ihre Mitwirkung nicht, wenn es sich darum
handelt, den Verletzten zur Wiederaufnahme der Arbeit und
zur Beschränkung auf ein vernünftiges Maß der Entschädigungs¬
ansprüche anzuspornen. Es gelingt dann aber auch nach
102 Dr. Leop. Laquer,
kollegialer Verständigung ungemein rasch, der ünfallsneurose
Herr zu werden.
Aber leider kommt das nach meiner Erfahrung gar zu
selten vor; recht oft werden alle Erkrankungen, die vor dem
Unfälle da waren, von dem Patienten oder von dessen Familie
selber verschwiegen oder wenn sie dem Gutachter zufällig be¬
kannt werden, verweigern die Ärzte das Zeugnis. Der Verletzte
selber hat ja kein Interesse daran, dem Gutachter vollen und
klaren Aufschluß zu geben über die Labilität seines Nervensystems,,
die schon vor dem Unfälle ärztliche Hilfe nötig machte. Im Fall
XV z. B. waren mehrfache Kuren in Marienbad und Carlsbad
vorausgegangen; der hochgradige Fettansatz, der noch zur Zeit
der Unfallsneurose bestand, verriet die Wirkungslosigkeit der
Euren. Das gab den Gutachtern einen Hinweis auf krankhafte
Zustände, die mit dem Trauma nichts zu tun hatten und in
der Konstitution des Vorletzten begründet waren. Aus allen
diesen Gründen wäre es angezeigt, von der Einrichtung dea
ärztlichen Schiedsgerichts mehr als bisher Gebrauch zu
machen, wie es bei Privatversicberungen besteht.
„Die Verschiedenheit in der individuellen psychischen
Reaktion auf irgendeine körperliche Erkrankung“ (Reinhard)
spielt auch eine wichtige Rolle in den Einflüssen, die ein
Unfall auf die Psyche des Einzelnen ausübt. R. (1. c.) be¬
zweifelt. ob man entschädigen müsse, etwas, was viel mehr eine
Folge von „Charakter und Persönlichkeitsveranlagung, als
Unfallsfolge!“ Es würdeii gelegentlich ganz gesunde Menschen
zu Hypochondern. Solche Episoden im Lebensgange zahlloser
Individuen von mehr minder kurzer Dauer dürften ärztlicherseits
nicht als Krankheiten angesehen werden, die ein Recht auf
Gelderwerb verleihen.
Wenn man die Beobachtungen unter XEX bis XXIII wieder
in eine soziale Gruppe einreihen wollte, so würde man die
Überschrift „Kleine Leute“ wählen. Da lag nicht ein,
materieller Notstand der Familie, auch nicht — mit einer Aus¬
nahme — eine vielleicht auffällige Bereicherungstendenz vor.
Man ergriff nur die günstige Gelegenheit des plötzlichen Ein¬
tritts nervöser Unfallsfolgen, um bares Geld zu erringen, das
in jenen Kreisen nicht allzu reichlich fließt, und es best-
Die Keilbarkeit nervöser Unfallsfolgen.
103
möglichst zu verwenden. Bei einigen von diesen verletzten
Personen—auch bei anderen Gruppen meines Beobachtungsmate¬
rials — trat die im Volke noch vielfach verbreitete Idee in Erschei¬
nung: Dem Unfallverletzten gehörte ein — „Schnierzens-
geld" für den Schreck, den er ausgestanden, für alle die
Mißempfindungen, für den Schwindel, für die Kopfschmerzen
usw., und wenn sie auch nur einige Tage oder mehrere
Wochen angehalten hätten. Sobald Zahlung erfolgt war, war
die Krankheit sogleich beendet.
Besonders auffällig waren diese Verhältnisse im Falle XX,
wo die Angaben des Patienten über die durch den Unfall not¬
wendig gewordene Änderung in seiner geschäftlichen Stellung
von den Arbeitgebern nicht bestätigt wurden. Hier lagen
übrigens noch deutliche alkoholistische körperliche Merkmale
vor, die von jeher bestanden hatten, die aber für die Hart¬
näckigkeit der nervösen Unfallsfolgen in Betracht gezogen
werden mußten.
Auf die Bedeutung des Alkoholismus für die Nervosität
bei Unfällen komme ich später bei einer Beobachtung von
komplizierter Unfallsneurose noch zurück.
Die Heilung bei XXI, XXII und XXIII wurde durch die
Auszahlung der Abfindungssumme wesentlich beschleunigt; im
ersten Falle war aus äußeren Gründen ein Fortkommen im
künstlerischen Berufe erschwert und ein Berufswechsel ge¬
boten.
Der verletzte Kellner (XXHl) benutzte seine Unfallsneurose
zur Begründung eines neuen, viel leichteren und einträglicheren
Berufes mit Hilfe der Abfindung. Dies wirkte natürlich auch
günstig auf seine Lebenslust und auf seine Gemütsstimmung;
die neue kaufmännische Beschäftigung als Verkäufer im eigenen
Ladengeschäft entzog den Verletzten auch allen alkoholischen
Gefahren des Kellnerberufes.
Der Fall XXII zeigt sehr deutlich die Gleichheit der
arteriosklerotischen Erscheinungen und der neurasthenischen
Unfallsfolgen bei alten verärgerten und erschöpften Eisenbahn-
Beamten. Sie sind klinisch oft nicht zu trennen. Wenn der
Zeitpunkt des Ruhebedtirfnisses von solchen Beamten mit
einem Unfall, und sei er an sich auch noch so unbedeutend.
104
Dr. Leop. Laquer.
zusammenfällt, so werden Rentenansprüche geltend gemacht
Anerkennung des Unfalls seitens der Verwaltung hat außer
einer höheren Bewertung der Pension i66*/g Proz. ihres Ge¬
halts) auch Ersatz der noch erwachsenden Kosten des Heil¬
verfahrens (Badekuren u. a.) nach dem Gesetz vom 2. Juni
1902 im Gefolge.
Hier in Fall XXIV konnten gewisse drückende finanzielle
Verpflichtungen durch die Abfindungssumme gelöst und eine
Beruhigung des Gemüts erzielt werden.
Der Verlauf der Unfallsneurose im Falle XXV zeigt deut¬
lich, wie weit die Aggravation des Verletzten gehen kann,
wenn nervöse Uufallsfolgen mit schweren Familiensorgen (Ehe¬
scheidung!) verquickt sind.
Ho che (1. c.) erklärt i. J. 1904 in seinen Schlußsätzen
unter 4., daß die Reform der Unfallsversicherungsgesetze not¬
wendig und unaufschiebbar sei und sich auf Grund der Er¬
fahrungen der Ärzte über das Zustandekommen nervöser Un¬
fallsfolgen u. a. auch erstrecken müsse:
a) auf eine Beseitigung aller vermeidbaren seelischen
Schädlichkeiten im Entschädigungsverfahren,
b) Regelung der Erziehung zur Arbeit,
c) auf eine Ausdehnung der einmaligen Kapitalabfindung
an Stelle des fortlaufenden Rentenbezuges.
Weitaus die meisten ruhig denkenden Beurteiler dieser
Frage hatten, wie ich oben nachzuweisen versucht habe, den
Standpunkt H.'s gebilligt.
Die Reichsversicherungsordnung ist inzwischen Ge¬
setz geworden, — aber den Rat von Ho che und anderen ärzt¬
lichen Autoritäten hat man in dieser Frage, wie in vielen anderen
ärztlichen Dingen, so auch in Sachen der nervösen Unfalls¬
folgen in keiner Weise beachtet. Hier waren gewiß keine
Standesinteressen, keine wirtschaftlichen Vorteile der Ärzte im
Spiele. Maßgebend war für Ho che und alle, die seine An¬
sicht teilen, nur die Gesundheit des deutschen Volkes
und eine gerechte Anwendung sozialpolitischer
Gesetze.
Die gesetzgebenden Körperschaften haben bei Neuordnung
Die Heilbarkeit nerrOser Hnfailsfoigen.
105
der sozialpolitischen Dinge auch die bekannte Warnung Posa*
dowskys vor Begünstigung der zunehmenden Rentensucht
nicht berücksichtigt. Sie haben z. B. nicht bedacht, daß nach
Meinung aller Juristen und Mediziner die mangelhafte Fassung
des § 3a vom Haftpflichtgesetze vom 7. Juni 1871 bezw. vom
16. Aug. 1896, die Hauptschuld trägt an dem Anwachsen
der Begehrungs Vorstellungen im ganzen deutschen Volke: „Im
Falle einer Körperverletzung ist Schadenersatz zu leisten durch
Ersatz der Heilungskosten und des Yermögensnachteils, den
der Verletzte durch eine infolge der Verletzung eingetretene
zeitweise oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung
der Erwerbsfähigkeit erleidet.“
Bei Beratung des Gesetzes überden Verkehr mit Kraft¬
fahrzeugen (Automobilgesetz vom 3. Mai 1909) hat man darin
mehr Einsicht bewiesen und ist der Gefahr der Rentensucht
im Gesetz entgegengetreten.
Da ist eine Grenze der Schadenersatzhöhe bei Körper¬
verletzung durch Automobile vorgesehen. Denn der Ersatz¬
pflichtige haftet (nach § 12 Abs. 1) im Falle der Verletzung
eines Menschen nur bis zu einem Kapitalbetrage von fünfzig¬
tausend Mark oder bis zu einem Rentenbetrage von jährlich
dreitausend Mark! Zur Beschränkung der psychogenen Mo¬
mente bei Entstehung nervöser Unfallsfolgen dürfte diese ge¬
setzliche Maßnahme von bester Wirkung sein! Ist es doch
vorgekommen, daß nach dem Haftpflichtgesetz in einem mir be¬
kannten Zivilprozesse ein querulierender Landarzt mit mitt¬
lerer Praxis wegen Unfallsneurose mit einer Jahresrente von
zwölf tau send Mark abschloß. — Ein gleichsinniger kauf¬
männischer Sachverständiger ging sogar mit einer lebensläng¬
lichen Jahresrente von einundzwanzigtausend Mark als
Sieger aus längerem Rentenkampf mit einer Eisenbahndirektion
hervor. Zufälligkeiten im Berufe sollen in dem Jahre vor dem
Unfall ihre Einnahmen so kolossal gesteigert haben. Als der
letztgenannte Unfallsueurotiker, nachdem er den Prozeß ge¬
wonnen hatte, noch 3000 Mark jährliche Kurkosten wegen
seiner traumatischen nervösen Herzerkrankung verlangte, wurde
er abgewiesen.
Die lange Dauer von solchen Haftpflichtpro-
106
Dr. Leop. Laqner,
zesseo, die oft unermeßliche Höhe der ursprünglichen
Forderungen, der Mangel an Objektivität und die
schon erwähnte Nachgiebigkeit seitens vieler Ärzte,
die Widersprüche in ihren Gutachten, die Unklar¬
heiten über die dem Unfall vorangegangenen Krank-
heiten und die konstitutionelle Nervosität, sowie
Charakter-Anomallen bilden die ätiologischen Mo¬
mente bei Schädigung der Psyche Unfallverletzter.
Sie züchten Unfallsneurotiker in großen Massen.
Die richterlichen Entscheidungen in diesen Prozessen sind oft
so merkwürdig, daß sie manchenUnfallverletzten zur Nachahmung
von Überforderungen anreizen! Schwerverletzte Arbeiter, die
nach dem Unfall redlich und ehrlich zu arbeiten sich bemühten,
erhalten oft eine kleine Rente; schlappe, querulierende jammer¬
volle Existenzen verstehen es dagegen, eine Dauerrente durch
den Wechsel der Ärzte und die Widersprüche in ihren Befunden
allmählich herauszupressen. Das sind traurige Tatsachen, die in
der Gesetzgebung und in der Justizpflege nicht berücksichtigt
und von den Ärzten nur selten in Betracht gezogen werden.
Rieger und Reichard (1. c.) sehen sie als schreiende Unge¬
rechtigkeit, als „Prämie auf das Gewinsel“ an.
Großes Aufsehen machte jüngst die üble Kritik von
Friedensburg, eines langjährigen richterlichen ordentlichen
Mitglieds des Reichsversicherungsamts, die er jüngst an der
Recht sprechenden, jener höchst sozialpolitischen richterlichen
Instanz geübt: F. spricht in der „Zeitschrift für Politik“ von
dem übergroßen Wohlwollen jenes Gerichts, von dem blinden
Wohltätigkeitssinn unserer Zeit und von den Verheerungen,
welche die Rentensucht im Volkscharakter angerichtet. Als
Beispiel führt er gerade die Zunahme der Unfallsneurose an.
Zu den Fällen, in denen der Träger der Unfallsneurose
nicht versichert war, aber eine leichte nervöse Belastung zeigte,
gehörte ein von mir behandelter lediger, 36jähriger Rechts¬
anwalt von sehr ruhigem Temperament, der im August 1895
bei einer Hochtour in Steiermark eine Hinterkopfwunde durch
Herabfallen eines Felssteines von etwa zehn Pfund davontrug.
Trotz starker Blutung, die sofort eintrat, ging er noch sechs
Stunden bergabwärts, erst am zweiten Tage trat eine Über-
Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen.
107
empfindlichkeit gegen Geräusche, eine gefühlte Eingenommen¬
heit im Kopfe, ein schmerzhaftes Druckgeftihl in den Ohren
und eine Schwere in den Augen ein. Sonst machten sich noch
Erscheinungen allgemeiner Müdigkeit und Erschlaffung gel¬
tend. Objektive Symptome des zentralen und peripheren
Nervensystems fehlten vollkommen. In den ersten Wochen
nach dem Unfall bis etwa Mitte Oktober wurde er mit Gal¬
vanisation des Kopfes mehr zu suggestiven Zwecken behandelt.
Diese Methode, verbunden mit ärztlichem Zuspruch, brachte
wesentliche Milderung der Krankheitserscheinungen. Aber es
dauerte doch zwei Jahre, ehe der Verletzte von allen Kopf-
Sensationen befreit war. Jetzt nach 16 Jahren ist festzu¬
stellen, daß er vollkommen gesund geblieben ist. Er erklärte
mir jüngst übrigens mit Bestimmtheit, daß er auch, wenn er zu
Ansprüchen berechtigt gewesen wäre, sie nie geltend gemacht
haben würde.
ln der Einleitung habe ich schon darauf aufmerksam ge¬
macht, daß örtliche Verletzungen mit allerlei arbeitshemmenden
örtlichen Mißempfindungen in den letzten Jahrzehnten unge¬
wöhnlich langsam oder gar nicht heilten.
Solche nervösen Unfallsfolgen habe ich in meiner vor¬
stehenden Arbeit nicht berücksichtigt. Wir wissen ja aus
vielen Beobachtungen, namentlich aus den bekannten Arbeiten
von Lauenstein und Nonne (Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1905,
Nr. 9), mit wie schweren körperlichen Verstümmelungen Un¬
fallverletzte, die nicht versichert waren, ohne jede Einschrän¬
kung ihrer Erwerbsfähigkeit noch jahrzehntelang weitergearbeitet
haben.
Ganz erhebliche Schwierigkeiten für Heilung nervöser Un¬
fallsfolgen bietet die geistige Minderwertigkeit der Unfallver¬
letzten, die schon vor dem Unfall da war und die dann zu
allerhand posttraumatischen depressiven und hypochondrischen
Angstzuständen führt, wie Fall IV dartut. Auch der Alko¬
holismus, sei es, daß er schon vor dem Unfall bestanden
hat, oder aber während der Unfallsneurose durch den Müßig¬
gang der vorher an regelmäßige Arbeit gewöhnten Traumatiker
erzeugt wird.
ln allen solchen Fällen, wo man über die früheren Er-
108
Dr. Leop. Laquer,
krankungen, über die intellektnelle Leistungsfähigkeit, über
Lebensgewohnheiten and über den Charakter des Verletzten
vor dem Unfall im Unklaren gelassen wird, ist der Arzt ge¬
zwungen, dem Unfall die Hanptschuld an der Nervosität zu¬
zuschieben und tappt über sonstige mitwirkende Ursache im
Dunkeln. Besonders ist es der Alkoholi smus mit seinen ner¬
vösen Herzstörungen, der als eine häufige Komplikation von
Unfallsfolgen auftritt, obwohl er lange vor dem Unfall den Ver¬
letzten neurasthenisch gemacht hatte, was aber nachher objektiv
oft schwer zu beweisen ist. Er verschuldet nach meinen Er¬
fahrungen viele Widersprüche in den Begutachtungen vonUnfalls-
neurotikem. Unter mannigfachen Fällen von seelischer Trinker¬
degeneration, die eine Unfallsneurose mit oder ohne schwere
organische Veränderungen begleitet, möchte ich nur einen charak¬
teristischen Fall von einseitiger traumatischer Erblindung
erwähnen, der im Laufe des Jahres 1910 von mir begutachtet
worden ist.
Einzelheiten aus einem Ehescheidungsprozeß, der gleich¬
zeitig mitdem langjährigenRentenfestsetzungsverfahren schwebte,
wurden zufällig von mir bei Feststellung der Anamnese aufge-
funden und boten einen Schlüssel für die Analyse hartnäckiger
nervöser Erscheinungen. Den Begutachtern, die für das Schieds¬
gericht tätig waren, waren die Ehescheidungsakten völlig
unbekannt geblieben. Die Heilung war hier natürlich unmög¬
lich, wie ja überhaupt die nervösen Unfallsfolgen, die mit irgend¬
welchen alkoholistischen Erscheinungen verknüpft sind, die
denkbar ungünstigsten Objekte für die Behandlung darbieten.
Fall XXVI.
Ein Werkzeugmacher hat am 30. September 1903 im Betriebe
einer Fabrik in F. eine Verletzung des rechten Auges durch ein
Stück Messing erlitten und ist im E. Spital bis zum 31. Oktober
1903 und dann noch ambulant vom Augenarzt Dr. P. in F. be¬
handelt worden.
Nach dem Berichte vom 9. Februar 1904 hatte das rechte
Auge durch Linsenverletzung die Sehkraft veidoren und Pat. war
um 40 % in seiner Erwerbsfähigkeit geschädigt; auf dem linken
Auge bestand Vs der normalen Sehschärfe.
Dieselben Befunde am Auge erhob Dr. P. am 7. Februar 1905.
Die Heilbarkeit nerTöser Unfallffolgcn.
Daneben bestanden aber noch nervöse Erscheinungen, so daß eine
Erhöhung der Rente auf 50 % von Dr. F. vorgeschlagen wurde.
Das Schiedsgericht nahm am 26. April 1904 eine Erhöhung der
Rente auf 66*/t % an. — Wegen Gewöhnung imd Anpassung an
die Unfallsfolgen befürwortete Dr. P. am 10. April 1905 die Her¬
absetzung der Rente auf 45—50%.
Patient hatte seinen Beruf inzwischen aufgegeben, weil ihn.
der Betrieb, besonders das Geräusch der Maschinen nervös gemacht
hätte; die Herabsetzung der Rente auf 45 % wurde von ihm be¬
anstandet. Daher wurde im Juli 1905 eine Beobachtung im Kranken¬
haus zu F. angeordnet; es wurden dort Kopfschmerzen, Flimmern
vor dem Auge, Schwindelanfklle bei Augenschlufi, allgemeine Reiz¬
barkeit, übertriebene Neigung zu blinzeln festgestellt. Dagegen
waren objektiv nur die von Dr. P. schon beschriebenen Augen¬
veränderungen nachzuweisen. Sonst wurden Zeichen einer orga¬
nischen Erkrankung am Nervensystem nicht festgestellt. Insgesamt
wurde die Beschränkung der Erwerbsfähigkeit als Folge des Unfalls
auf 50 % festgesetzt und demgemäß vom Schiedsgericht erkannt.
Am 2. Mai 1910 berichtete der Augenarzt Dr. G., daß der
Verletzte durch sein Augen- und Nervenleiden noch immer um
40% geschädigt sei. —- Nach Bericht der V. W. vom 5. April
1911 ist die Ek'werbsfkhigkeit des Verletzten ungefähr ^/s geringer
als bei normaler Sehkraft.
Nach dem Gutachten des Augenarztes Dr. G. vom 10. Juni
1911 ist eine Einbuße der Erwerbsfähigkeit um SSVs % anzu¬
nehmen, soweit der Augenbefund allein in Betracht kommt.' Die
Rente wurde von 40 % auf 33*/8 % herabgesetzt, weü Gewöhnung
an den Zustand eingetreten sei, wie der ärztliche Befand und die
regelmäßige Arbeitstätigkeit ebenso wie sein hoher Arbeitsverdienst
erweisen.
Als Patient am 7. Juli und 10. Juli 1911 in meiner Sprech¬
stunde zur Untersuchung erschien, gab er an, daß er 42 Jahre
alt sei und von seiner Frau geschieden wäre. Er sei sehr nervös,
er wäre am 30. April 1911 von den V. W. wegen Veränderungen
im Betriebe entlassen worden, konnte dann 3 Wochen keine Arbeit
finden und habe zuletzt bei R. W. & Cie. bis zum 10. Mai in
Arbeit gestanden. Seitdem sei er krank und arbeitsunfähig, er
l)efinde sich in Behandlung von Dr. A.
Patient klagt hauptsächlich über andauerndes Angstgefühl und
Zittern, über Kopfschmerzen, Augenzucken und Unsicherheit beim
Sehen. Er leugnet jeglichen Mißbrauch v on Alkohol, er
trinke nur seinen Schoppen einem anständigen Menschen ge¬
zieme“. Zeitweilig trete morgens Erbrechen auf. — Er sei jetzt wieder
arbeitslos, da ihn die letzte Firma wegen seiner Elrkrankung ent¬
lassen hätte und müsse sich wieder Arbeit suchen.
110
Dr. Leop. Laquer,
Nach dem Grande seiner Ehescheidung befragt, gibt er au,
daß seine Nervosität dabei eine Rolle gespielt habe, verweigert
dem Arzte die Einsicht des ergangenen Urteils, weil es auf dem
Gerichte läge.
Patient zeigt ein ziemlich gerötetes, gedunsenes Gesicht, sehr
starke Fettentwicklung am ganzen Körper, namentlich am Leibe.
Am Auge befindet sich linkerseits die schon wiederholt beschrie¬
bene Veränderung, zeitweilig tritt starkes krampfhaftes Augen-
blinzeln ein.
Abgesehen von einer gewissen allgemeinen Uebererregbarkeit
der Affekte sind Veränderungen der Psyche, der Sprache, der Ge¬
sichtsmuskulatur nicht nachweisbar; die Zunge zittert stark beim
Herausstrecken. Lähmungen der Muskulatur, des Rumpfes und der
Gliedmaßen fehlen, ebenso auch Gefühlsstörungen. D age ge n zittern
A rme und Hände in hohem Grade beim Aus strecken. — Die
Sehnenreflexe am Knie sind lebhaft; bei geschlossenen Augen tritt
kein Schwanken weder beim Gehen noch beim Stehen ein. Blase
und Mastdarm funktionieren gut. Herztöne sind regelmäßig und
kräftig, der Puls weist 80 Schläge auf, die Leber scheint nicht
vergrößert, Herz nicht verbreitert, Urin frei von Eiweiß und
Zucker.
Nach Lage der Akten und dem Ergebnis meiner Untersuchung
liegen bei dem Pat. neben der Erblindung des linken Auges noch
vi i-schiedene Zeichen allgemeiner Nervosität vor: dazu rechne ich
.Aiigenblinzeln, die seelische Uebererregbarkeit, das starke Zittern
der Zunge und der oberen Gliedmaßen. Diese rechtfertigen zu¬
sammen mit der von Dr. G. beschriebenen und bewerteten links¬
seitigen Sehstörung eine Invalidität von 40 ®/o.
Der Sachverständige muß aber dahingestellt sein lassen, ob
das auffällige Händezittern und die Neigung zu affektiver Erregung
nur Folge des Unfalls ist oder ob diese Nervosität mit dem lang¬
jährigen Alkohol-Mißbrauch zusammenhängt, der sich aus den Fest¬
stellungen im Urteil der Zivilkammer des Königl. Landgerichts zu
F. vom 19. Februar 1903 ergibt, der also schon vor dem
Unfall bei dem Verletzten vorhanden war.
Bei solcher mit organischen Zerstörungen sowie mit
Alkoholismus komplizierter Nervosität wird jeglicher Heil-
versuch machtlos sein. Eine Heilung wird bei einmaliger
Abfindung ebensowenig eintreten wie bei Dauerrente und
allmählicher Rentenentziehung, die hier nur immer neue
Untersuchungen, neue Schiedsgerichtsentscheidungen nötig
machten. — Da nimmt die Rentenfestsetzung bei kompli¬
zierten wie bei reinen Unfallsneurosen den obligaten Verlauf.
Die Heilbarkeit nervOser ünfallsfolgen.
111
— „In den Jahren mit gerader Jahreszahl wird die Rente
beraufgesetzt, in ungeraden Jahren heruntergesetzt h sagte
-einmal scherzhaft ein alter richterlicher Kenner der Unfalls'
neurose. Gutachter und Richter wechseln und mit ihnen die
Meinung über den Grad der Invalidität, bes. da die Seßhaftig-
keit, namentlich ungelernter Arbeiter heutzutage sehr schwankt.
In dem neuen umfassenden Gesetz der Reichsversiche-
rungsordnung findet sich nur eine sehr geringe Zahl von
Neuerungen, die vielleicht zur Einschränkung der nervösen Un-
fallsfolgen dienen können. So wird der § 843 der RVO., der den
Genossenschaften die Beschaffung von Arbeitsgelegenheit für
Unfallverletzte ermöglicht, sich als vorteilhaft erweisen. Die
Erfahrungen der Heilstätten für Nervenkranke bezw. Unfalls-
verletzte sprechen dagegen, daß ein hoher Prozentsatz von
Unfallsneurotikern von dieser in einzelnen Fällen gewiß recht
heilsamen Arbeitsgelegenheit wird Gebrauch machen wollen.
Darauf näher einzugehen liegt nicht im Rahmen der Aufgabe,
die ich mir gestellt habe.
Ob der § 616, der besagt, daß ein Verletzter, wenn die
Unfallrente 20 Proz. der Vollrente oder weniger beträgt, mit
einem entsprechenden Kapital abgefunden werden kann, zur
Abkürzung des Verlaufs nervöser Unfallsfolgen beitragen wird,
erscheint, mir noch zweifelhaft. Früher konnte eine Abfindung
erst bei 15 Proz. erfolgen. Aber diejenigen Formen von Un-
fallsneurose, die ich in meinen vorstehenden Ausführungen im
Auge hatte, bedingten gewöhnlich eine viel höhere Invalidität
als 20 Proz. Sie dauerten in einzelnen Fällen, die ich beob¬
achten konnte, und bei vielen anderen Kranken, deren Be¬
schreibung sich für meinen Aufsatz nicht eignete, jahrelang,
ehe es bei besonders günstigen äußeren Umständen gelang,
die Leute zur Arbeit anzuhalten und die Dauerrente allmählich
so zu verkürzen, daß nur noch eine Invalidität von 20 Proz.
nachzuweisen und damit die Möglichkeit einer Abfindung ge¬
geben war. Ob die Initiative der Genossenschaft in dieser
Frage eine Erleichterung der Kapitalabfindung und darum
-einen Fortschritt für die Heilung der Unfallsneurose bedeutet,
ist jetzt noch nicht zu übersehen. Eine Verschlechterung
geradezu liegt nach Magen (briefliche Mitteilung) in
112
Dr. Leop. Laqaer,
der Einschiebong eines Einspruchsverfahrens in den bisherigen
Rechtsgang. Zuerst wollte die Regierung die erste Entschei¬
dung von der Versicherungsbehörde fällen lassen, weil bei
dem bisherigen Verfahren die Genossenschaft Richter und
Leistungspflichtiger zu gleicher Zeit ist Dem Sträuben der
Genossenschaften haben Regierung und Reichstag nachgegeben
und der Rechtsgang wird demnach folgender sein:
1. Wie bisher, nach der Untersuchung des Unfalls durch
die Polizei, Entscheidung durch die Genossenschaft.
2. Bei Einspruch des Verletzten ein Einspruchs verfahren,
das bei dem Versicherungsträger beantragt wird. Hier hat
das Versicherungsamt event. mitzuwirken, indem es das
Gutachten eines bis dahin noch nicht gehörten Arztes ver¬
schaffen soll oder kann. Den Bescheid erteilt wieder der
Versicherungsträger.
3. Das Oberversicherungsamt entsprechend dem jetzigen
Schiedsgericht und
4. das Reichs versicherungsamt (resp. die Landesversiche-
mngsärnter) unbedingt als Revisionsinstanz und bedingt als
Rekursinstanz, letzteres soll heißen, daß grundsätzlich ein Rekurs
ans Reichsversicherungsamt zulässig ist, daß aber eine ge¬
wisse Einschränkung der rekursfähigen Sachen durch das Gesetz
bestimmt ist.
Die Veränderung resp. Entziehung von Teilrenten unter¬
liegt in erster Instanz allerdings der Untersuchung des Ver¬
sicherungsamts. Auch hat das Versicherungsamt unter Bei¬
ziehung von Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein
Gutachten abzugeben, aber dieses entscheidet nicht, sondern
es entscheidet wiederum der Versicherungsträger in dem¬
selben Gange wie vorher.
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß hier eine Verlänge¬
rung und schon deswegen eine Verschlechterung gerade
in bezug auf die Entstehung und Verschlimmerung von
Unfallsneurosen vorliegt.
Auch scheint noch folgendes für die Heilbarkeit dieser
Krankheit nicht ohne Bedeutung zu sein: Der Rentennach-
sucLer hat das Recht, sich Einsicht in die Verhandlung resp.
Abschriften der Gutachten zu verschaffen, also auch der ärzt-^
Die HcilbarkeHb nervöser Uivfallsfolgen.
113
liehen Gutachten, die bekanntlich nicht imnaer gleich sind.
Das Versicherungsamt hat, wenn sein Gutachten nicht ein¬
stimmig zustande gekommen ist, d. h. der Vorsitzende anderer
Ansicht ist als der Beisitzer, die verschiedenen Ansichten dar-
znlegen, also auch diese Verschiedenheit wird dem Renten-
nachsucher bekannt werden. Eine Fixierung der renten¬
hysterischen Ideen dürfte dadurch nur noch häufiger werden,
als bei dem alten Verfahren.
Daß in den ersten zwei Jahren in der Regel vorläufige
Renten bestimmt werden, die jederzeit abgeändert werden
können, und erst nach Ablauf auf eine Dauerrente entschieden
werden muß, ist ja an sich berechtigt, wird aber die Zahl und
die Intensität der nervösen Unfallsfolgen eher steigern als
herabsetzen.
Magen kommt zu dem Schluß, daß die neue Ordnung
der Dinge in der RV0. vom juristischen Standpunkt
aus verbessert, in medizinischer bezw. sozialhygie-
niseber Hinsicht verschlechtert hat.
Zu meinen Auseinandersetzungen über die Bedeutung der
Kapitalabfindung für die Heilbarkeit der nervösen
Unfallsfolgen hatte Hoches Referat von 1907 die An¬
regung gegeben. Ich habe mich bemüht, alle Momente her¬
vorzuheben, die für und wider die Kapi tal-Abfindung als
Heilmittel sprechen.
Ehe ich noch einmal die zu ziehenden Schlüsse zusammen¬
fasse, will ich einen Fall von Hirntumor mitteilen, der an¬
fangs als traumatische Hysterie gedeutet und dement¬
sprechend behandelt, auch wesentlich gebessert und abgefunden
wurde. Zwei Wochen nach Erledigung der Ansprüche er¬
krankte der Verletzte aber unter schwereren organischen Hirn¬
symptomen, denen er drei Jahre nach dem Unfall erlag.
Es folgen die betr. beiden wesentlichen Gutachten, die den
Akten der Eisenbahndirektion entnommen sind und die wich¬
tigsten Punkte aus dem Krankheitsverlauf enthalten.
Fall XXVII.
Der p. A. Sch. hat nach einem Atteste des praktischen Arztes
Dr, R. in H. durch Herabfallen einer Ei.senbahnschranke am
8
][14 t)r. Leopold Leqaer,
31. Oktober 1905, nachmittags, folgende äußere Verletzungen er¬
litten: Eine kleine Wunde über dem linken Auge und auf denn
Nasenrücken sowie starke Hautabschürfung auf der ganzen rechten
Gesichtshälfte. — Am Abend war Dr. R. zu dem Patienten ge¬
rufen worden, der vor dem Unfall stets gesund gewesen war. Er
hatte nach der Schilderung seiner Ehefrau aber einen Krampf-
Anfall gehabt, war zwar bei Bewußtsein, aber bei seinen Ant¬
worten fiel dem untersuchenden Arzte eine gewisse Trägheit und
Schwerbesinnlichkeit auf, die nicht den Eindruck des Gemachten
und Simulierten bot. Er klagte üb.r Schmerzen am Kopf und
allgemeine Müdigkeit. Vorher, und zwar gleich nach dem Unfall,
war Erbrechen aufgetreten. Der Puls war verlangsamt und ge¬
spannt. Dr. R. stellte danach die Diagnose auf „Schädelbruch“.
— In den nächsten Tagen wiederholten sich die Anfälle häufig.
Der Verletzte wurde aufgeregt, unruhig, vollkommen schlaflos und
delirierte zuweilen. Pupillendifferenz und verschiedenartige Pupillen-
Reaktion war nicht festzustellen. Sch. lag ungefähr 4 Wochen
zu Bett, während der Bettruhe klagte er über Schwindelgefühl
bei Erheben des Kopfes. — Die Kopfschmerzen verließen ihn nie.
Eine Röntgenaufnahme des Schädels fiel negativ aus. Kopfschmerzen
und Schwindel dauerten jedoch an. Dr. R. ließ ihn einen Ver¬
such mit leichter Arbeit machen, den er mit einem erneuten An¬
fall, der am gleichen Abend eintrat, zu büßen batte. Nach Dr. R.s
Ansicht war Sch. Anfang April 1907 — zur Zeit der Aus¬
stellung des Attestes — außerstande, die geringste Arbeit
zu verrichten. Er erklärte eine Schätzung der Erwerbsfähigkeit
des Sch. erst vornehmen zu können, wenn ersichtlich wäre, wie
der verordnete Landaufenthalt dem Verletzten bekommen sei.
Am 11. März 1907 ist der Adolph Sch. auf Veranlas¬
sung seines Arztes Dr. R. zum erstenmale in meiner Sprech¬
stunde zu F. gewesen; er hat sich dann auf meinen Wunsch
wiederholt und zwar am 15. und 22. März sowie am 5. und 30. April
bei mir vorgestellt. Sch. steht im 38. Lebensjahr, gibt an, daß
er früher nie krank, nie syphilitisch und dem Alkoholmißbrauch
nicht ergeben war. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, von
denen das jüngste 2 Jahre alt ist. Er ist militäruntauglich ge¬
worden infolge mangelhaften Sehvermögens und wegen Nabelbruchs.
Er erzählte den Vorgang, der seine Verletzung herbeiführte, etwa
folgendermaßen: Beim Versuche auf dem Rade unter der auf¬
gezogenen Barriere hindurchzu fahren, sei er von dieser am Kopfe
getroflfen und vom Rade herunter geworfen worden. Er wurde
sofort bewußtlos und blieb es eine Zeitlang; er wurde dann ver¬
bunden und ging nach seiner Wohnung, wo zweimal Erbrechen
und im Laufe des Nachmittags (der Unfall war um llVz Uhr
passiert) 5—6 Anfälle eintraten, die mit Bewußtlosigkeit verbun¬
den waren, und in denen er mit der Hand um sich geschlagen
haben solL
Die Heilbarkeit nervOser tlnfallsfolgen. 115
Eine Woche nach dem Unfall habe er einen mehrtägigen
Arbeitsversuch gemacht, doch traten dadurch wieder Anfälle auf,
die ihn nötigten die Arbeit auszusetzen.
Die Durchleuchtung des Schädels ergab normale Verhältnisse.
Sch. klagte über Kopfschmerzen, die manchmal fast den ganzen
Tag andauern und namentlich nach geistiger Arbeit sich steigern,
auch mitunter Bettruhe nötig machten; sein Gedächtnis soll nach¬
gelassen haben. Er sei völlig arbeitsunfähig. Anfälle seien seit
Ende des Jahres 1906 nicht mehr aufgetreten. Dagegen litte er
an Schwindel besonders bei schnellen Wendungen des Kopfes nach
oben und nach der Seite. Der Schlaf habe sich wesentlich ge¬
bessert, sei aber immer noch nicht so gut, wie vor dem Unfall.
Die Untersuchung durch den Frankfurter Augenarzt Dr. B.
ergab bei einer Myopie (Kurzsichtigkeit) von 8 Dioptrieen und bei¬
nahe normaler Sehschärfe weder an den inneren noch an den
äußeren Augenmuskeln ebensowenig am Augenhintergrunde irgend
welche krankhafte Veränderung, die mit der Verletzung, die Sch.
am 3. Oktober 1906 erlitten hatte, in Zusammenhang gebracht
werden konnte.
Aus dem objektiven Befund, den ich im März und April in
den genannten Tagen erheben konnte, hebe ich hervor, daß bei
guter Stimmung des Patienten ein erheblicher Ausfall in intellek¬
tueller Beziehung nicht zu ermitteln war, vor allem das Gedächtnis
für alle Vorgänge, die sich auf seine Krankheit bezogen, unversehrt
erschien. — Die Auffassung des Gehörten, der sprachliche Aus¬
druck hatten weder in sensorischer noch in motorischer Beziehung
gelitten; Gesichts- und Zungenbewegungen waren beiderseits frei
geblieben. Der Schädel zeigte nirgends Auftreibungen, war auf
Druck und Beklopfen nirgends schmerzhaft, die Bewegungen des
Rumpfes, der Arme und Beine waren überall korrekt und sicher;
die Hautempfindung zeigte nirgends eine Abstumpfung für Be¬
rührung, Schmerz, Temperaturunterschiede usw.
Abmagerung der Muskulatur fehlt allenthalben. — Die Sehnen-
refleze am Knie waren schwach, meist nur mittels des sog.
Je ndranikschen Handgriffs auszulösen; rechterseitserschienen
sie stärker als links, doch war die Differenz eine wechselnde. —
Bei geschlossenen Augen trat weder im Gehen noch im Stehen ein
Schwanken ein. Der Gang war auch sonst ohne bemerkenswerte
Mängel, fest und sicher. Blase und Mastdarm funktionierten gut.
Der letzte Befund vom 30. April 1907 nach dreiwöchigem
Landaufenthalt ergab zwar im ganzen das gleiche Bild wie vorher,
doch waren die subjektiven Beschwerden geringer, die Sehnen¬
reflexe immer noch different, aber ein wenig kräftiger. Sch. sah
viel besser aus und wollte auf Rat von Dr. R. seine Tätigkeit,
wenn auch in beschränktem Umfange, wieder aufnebmen.
8*
116
t>r. Leop. Laqaer,
Nach diesen Feststellungen hat der p. Sch. am 31. Oktober
1906 eine Kopfverletzung durch eine Barrierenstange erlitten, die
zu einer Gehirnerschütterung geführt hat. Da Blutungen und
langdauernde Bewußtlosigkeit fehlten, lag ein Schädelbruch nicht
vor.
Es sind von dieser Unfallverletzung Kopfschmerzen zurück¬
geblieben, die so heftig waren, daß er bisher als arbeitsunfähig
angesehen werden mußte, da derartige nervöse Folgen nach Hirn¬
erschütterungen 6 Monate und auch noch länger andauern und
jegliche geistige und körperliche Arbeit hemmen. Ich schätze
ihn jetzt noch um 50 % invalide. Es ist nach meinen eigenen
und sonstigen wissenschaftlichen Erfahrungen anznnehmen, daß
er etwa im Laufe eines weiteren halben Jahres genesen sein
wird.
Für irgendeine Erkrankung des Hirns, des Rückenmarks
oder der peripheren Nerven fehlt jeder sichere Anhaltspunkt:
Auffällig ist aber das Verhalten der Reflexe am Knie; es
ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die abnorme Schwäche der
Erregbarkeit und die Ungleichheit der Reflexe schon vor datm
Unfall bestanden hat. — Sie könnte auch mit der Hirnerschütterung
in Zusammenhang ste.hen: Jedenfalls kommt dieses Sy mp tom
auch im Beginn schwerer Krankheit des Zentral¬
nervensystems vor. — Sonst besteht bis jetzt keine krank¬
hafte Erscheinung, die auf eine solche Möglichkeit hinwiese.
Es erscheint darum billig und ärztlich begründet, dem p. Sch.
für die Zeit vom 31. Oktober 06 bis zum 1. Mai 07 den vollen
EiTsatz für den erlittenen Schaden zu gewähren, ihm ferner etwa
bis 1. Nov. 07 eine Unfallrente von 60 % zu zahlen, dann eine
nochmalige spezialärztliche Untersuchung anzuordnen.
Wenn im kommenden Herbste eine weitere Besserung, oder
wenigstens keine Verschlechterung, kein sicheres Symptom eines
organischen Nervenleidens eingetreten sein sollte, empfiehlt es
sich, ihm eine entsprechende Abfindungssumme zu zahlen: Denn
neurasthenische und hysterische Krankheitserscheinungen nach
Unfällen pflegen um so eher zu schwinden, je rascher das Renten-
Festsetzungs-Verfahren seinen Abschluß findet.
Im Herbst 1909 empfing Sch. eine einmalige Abfin-
dung von 10 000 Mark. — Einige Wochen später aber setzten
wieder Ohnmachtsanfälle ein. Pat. brach ohne Krämpfe ohnmächtig
zusammen: Die Bewußtlosigkeit dauerte immer nur einige Minuten:
ein Arzt hatte die Attacken nie gesehen: einen epileptischen
Charakter hatten sie nach den Schilderungen von
Augenzeugen nicht.
Am 21. Januar 09 wurde Pat. im städt. Krankenhause zu
Oie Heilbarkeit nerrttaer Unfallsfolgen.
117
H. aufgenommen. Dort ergab sich folgender Befand: Der blasse
Kranke liegt bei der ersten Untersuchung teiluahmlos in ruhiger
ßtickenlage im Bette. Die Augen sind geschlossen. Die linke
Nasolabialfalte ist etwas verstrichen.
Auf Anrufen reagiert er und klagte über heftige Kopfschmerzen.
Die Zunge wird gerade herausgestreckt. Die Fatellarreflexe sind
nicht auslösbar. Sensibilitätsstörungen sind nicht vorhanden. Der
Puls ist auffallend langsam ohne die Zeichen eines Druckpulses.
Die Organe der Brust- und Bauchhöhle zeigen keine pathologische
Aenderungen. Der Urin ist frei von Zucker und Eiweiß. In den
nächsten Tagen wiu*de die Fazialislähmung deutlicher, die Lid¬
spalten links weiter, auch trat eine deutliche wahrnehmbare Ver¬
minderung der rohen Kraft des linken Armes und der linken
Hand auf. Eine Punktion des Wirbelkanals ergab wasserhelle
Zerebrospinalflüssigkeit, die unter erhöhtem Druck stand und in
der von pathologischen Bestandteilen etwas alter Blutfarbstoff
nachweisbar war.
Bis zum 27. I. verschlimmerte sich der Zustand. Der Kranke
ist zuletzt völlig bewußtlos, reagiert nicht mehr auf Anrufen und
läßt Stuhl und Urin unter sich. Es besteht Nackenstarre. Die
Qualität des Pulses ist sehr verschieden; am 24. I. ist ein deutlicher
Druckpuls von 56 Schlägen vorhanden, am 27. I. sind es 70
Schläge, viel weniger voll und hart.
Am 1. II. kehrt das Bewußtsein wieder; eine am 2. II. durch
den Augenarzt Dr. A. vorgenommene Augenuntersuchung läßt vom
Augenhintergrunde keine deutlichen Veränderungen nachweisen.
Die Hirusymptome nahmen nach vorübergehenden Delirien in der
ersten Februarwoche ab; die Fazialislähmung schwindet, es tritt
jedoch so ernste Herzschwäche auf, daß am 9. II. der Tod als
nahe bevorstehend erschien.
Der Kranke erholte sich aber wieder. Nach Schwinden aller
Hirnsymptome, nachdem noch ein geringes Verstreichen der rechten
Nasolabialfalte und eine Protusio bulbi beobachtet war, und nach
Kräftigung des Pulses, konnte derselbe am 23. 11. das Bett ver¬
lassen. Er nahm wieder an allem teU, war vollständig orientiert,
aß mit Appetit und fühlte sich auch subjektiv ganz wohl.
Doch schon am 27. H. klagte er wieder über starken Kopf¬
schmerz, der Puls wird wieder langsam und voll, er verfällt von
neuem in Teilnahmlosigkeit, die schon am 2. HL so tief ist, daß
er gar nicht mehr reagiert. Am 6. IH. erliegt der Patient einer
Atmungslähmung. Am 27. II. wai' noch im Institut für ex¬
perimentelle Therapie zu F. die Wassermannsche Syphilisreaktion
des Blutes negativ ausgefallen.
Die klinische Diagnose der Blrkrankung wurde auf „apoplektische
Hirnerscheinungen*^ gestellt auf Grund der vorübergehenden
118
Dr. Leop. Laquer,
Lähmungen und des in der Zerebrospinalflüssigkeit gefundenen
alten Blutfarbstoffes: die Ursache derselben mußte fraglich bleiben.
Am 8. III. wurde durch den pathologischen Anatomen Herrn Dr.
Sch. aus P. die Sektion ausgeführt.
Da die inneren Organe des Körpers bis auf hypostatische
Veränderungen in beiden unteren Lungenlappen keine pathologische
Veränderungen aufweisen, so sei hier nur das Protokoll über die
Kopfsektion angeführt;
„Nach Entfernung der Schädeldecke zeigt sich die Dura
überall prall gespannt, die Venen stark mit Blut gefüllt (flüssig).
Schädeldach ziemlich dünn, Dicke 1—4 mm; auf der Höhe des
Scheitels, seitlich d. sitt. sagitt. je eine etwa 2-Centstückgroße
durchscheinende Stelle, d. des r. foss. fylo entsprechende Partie
des Schädeldaches, ebenfalls durchscheinend dünn, kaum 1 mm stark.
Verletzungen oder Spuren früherer Fraktionen finden sich nicht.
Der Längsblutleiter enthält 1 Teelöffel dunkeles, dünnflüssiges
Blut. Beim Abziehen r. Dura zeigt sich diese auf der Höhe des
Scheitelhirns, rechts, dicht neben der Längsincisia mit einer 3 mm
stark großen Fläche der Hirnrinde verwachsen, beim Lösen der
Verwachsungen reißt das markig-hämorrhagische Gewebe ein, kleinere
Partikel derselben bleiben vor der Dura hängen; im übrigen
zeigt die Dura keinen besonderen Befund.
Die von den weichen Hirnhäuten bedeckte Hirnoberfläche
zeigt links normale Ausbildung der Gyri und Sulci, rechts sind die¬
selben besonders auf der Höhe des Scheitelhirns verstrichen, ein
kleiner apfelgroßer Bezirk rechts neben dem Inzisus - wölbt die
Oberfläche erkennbar nach außen und ebenso nach innen in den
Schaltraum des Inzisus hinein. Auf dem Schnitt zeigen die linke
Hirnbälfte, sowie die hintere Hälfte der rechten gelinge Durch¬
feuchtung, überall gut abgesetzte Rinde, einzelne nicht verlaufende
Blutpunkte. Kleinhirn und Medulla ebenfalls ohne Befund.
Die vordere Hälfte der rechten Hemisphäre enthält
einen kleinapfelgroßen markigen weichen Tumor,
der auf der Scheitelfläche von zahlreichen Blutungen durchsetzt
ist, nach oben zu ist er nicht von Rinde bedeckt sowie haftet
unmittelbar der Dura an, nach innen und unten hat er das Mark¬
lager neben und über den Seitenventrikel verdrängt und ist nur
noch durch eine dünne Wand von Marksubstauz von dem Seiten¬
ventrikel getrennt: Dieser selbst ist erweitert, sein Inhalt leicht
rot verfärbt, ebenso die Wandung brauneinbiburt, Reste alter
Hämogien. Der Tumor selbst läßt sich von der Umgebung nicht
abgrenzen. Die weichen Hirnhäute, die Gefäße sowie die Nerven
der Basis zeigen keine Besonderheiten.
M ikroskopischer Befund:
Der Tumor besitzt ein gleichmäßige.^ von zahlreichen kleinen
Die Heilbarkeit nervOser ünfallsfolgen.
119
und größeren Blutungen durchsetztes Gewebe; dasselbe besteht
ausschließlich aus großkörnigen randen bis zylindrischen Zellen
mit schmalen Protoplasmasäumen, sie liegen ohne erkennbares Stroma
dicht nebeneinander und sind nur hier und da von hirschweibartig
gegabelten Bluträumen oder von großen unregelmäßig gestalteten
Blutungen durchsetzt. Die zentralen Portionen des Tumors sind
erweicht, nekrotisch und demgemäß die Zellen hier schlecht färbbar,
z. T. nur noch als Datriusmasse nachweisbar.
Diagnose:
Kleinzelliges Rundzellensarkom der Stirnrinde. Pat. ist also
an einem Sarkom der rechten Hirnbälfte, welches frische und ältere
Blutungen enthielt, gestorben. Die Geschwulst saß auf der Höhe
des Scheitels dort, wo ihn der Angabe nach der Schlagbaum ge¬
troffen.
Die klinische Diagnose: apoplektische Hirnerschütterungen,
würde durch die nachgewiesenen älteren und frischen Blutungen
gerechtfertigt und bestätigt.
Die Krankenhausdirektion kam zu dem Schluß:
Fragen .wir nun, steht der Tod in ursächlichem Zusammen¬
hang mit dem Unfälle vom 31. X. 06, so steht fest: 1. daß Pat.
bis zum Unfall den Eindruck eines ganz gesunden und voll arbeits¬
fähigen Mannes machte; 2. daß er seit dem Unfall auf längere
oder kürzere Zeit die Arbeit aussetzen mußte wegen zeitweise auf¬
tretenden heftigen Kopfschmerzen und Obnmachtsanfällen, und 3.
daß die Sektion für diese Krankheitserscheinungen eine anatomische
Ursache, die Hirngeschwulst mit frischen und alten Blutungen
ergeben hat.
Es bliebe also nur die Frage zu beantworten: Kann durch
den angegebenen Unfall die Geschwulst entstanden sein?
Diese Frage ist in Uebereinstimmung mit ; Autoritäten J auf
dem Gebiete der Geschwulstlehre zu bejahen.
U. A. kommt Prof. R. Z. in der ärztlichen Sachverständigen¬
zeitung (1898 Nr. 19/20) zu dem Resultat, daß man auf Grund
theoretischer Erwägungen und der bisherigen tatsächlichen Be¬
funde dem Trauma eine gewisse Rolle bei der Größe der Neu¬
bildungen zuerkennen müßte. —
Der Schluß des Krankenhausberichts von Dr. S. lautet wörtlich;
„Die Möglichkeit einer traumatischen Aetiologie
der Hirngeschwulst muß im Prinzip zugegeben werden.*
Katamn ese:
Der Witwe'und ^zwei unmündigen Kindern des Verletzten
wurde, nachdem der Tod als Unfallsfolge anerkannt war, für
Lebenszeit eine den Einkommensverhältnissen des Verstorbenen
120
Dr. Leop. Laquer,
entsprechende Rente bewilligt. Das entsprach den Bestimmungen
des Haftpflichtgesetzes für den Todesfall!
Es ist also mehreren Ärzten ein diagnostischer Irrtum
in gleicher Weise begegnet: aber die irrtümliche Diagnose
hat dem Kranken, der unrettbar verloren war — Operation
des Tumors war ausgeschlossen — nicht nur nichts geschadet,
sondern noch bei Lebzeiten sogar eine Vermehrung seines Kapital-
Vermögens um 10000 Mark gebracht. — Die ärztliche wohl¬
wollende Beurteilung seiner Todesursache bezw. des Zusammen¬
hangs eines Schädeltraumas mit Geschwulstbildung im Gehirn
schützte dann nach seinem Tode seino Familie vor Kummer
und Sorgen.
Er hätte bei Rentengewährung nicht mehr erlangen können
So gibt es vereinzelte Fälle von traumatisch-nervösen Zu¬
ständen, deren Verlauf gegen die allzu rasche Beendigung des
Rentenfestsetzungsverfahrens und damit gegen die Abfindung
überhaupt zu sprechen scheint. Solche Erfahrungen müssen
nur offen und ehrlich mitgeteilt werden. Ein Eingeständnis
unsrer Irrtümer fördert die Erkenntnis der Wahrheit. Das
ist besonders wichtig bei der Diagnostik der Hirn- und
Rückenmarkstumoren; der operativen Technik zuliebe wird da
mancher lehrreiche Fall unterdrückt.
Wenngleich in dem letzten Fall das Gesetz die Familie
des früher einmal Abgefundenen vor Not zu schützen ver¬
mochte, so hat doch sein Unwille, den er über Wiederauf¬
treten schwerer Krankheitssymptome gleich nach Erledi¬
gung seiner Ansprüche äußerte, und die Vorwürfe, die er dem Gut¬
achter machte, im Moment etwas bedenklicher machen müssen.
Trotzdem dürfte ein vereinzeltes Ereignis: Überlagerung
der Symptome einer Hirngeschwulst durch hysterische Er¬
scheinungen nichts an dem Ergebnis meiner Darlegungen ändern.
Auch die oben erwähnte recht vereinzelte Beobachtung Ewald’s
kann meine Überzeugung von dem großen Heilwerte der
Kapitalabfindung nicht erschüttern.
Die glänzenden Erfahrungen Schweizer und
Dänischer Forscher, die sie bei genauer Nachprü¬
fung nervös gewordener Unfallverletzter machen
konnten, decken sich mit der von mir wie von
Die Heilbarkeit nervUser Unfallsfolgen.
121
anderen Autoren festgestellten Tatsache, daß die
U n f a 11 n e ur o s en auch in Deutschland in allen
Schichten der Bevölkerung auftreten, aber in sehr
vielen Fällen heilbar sind.
Die nervösen Nachkrankheiten'des Mtihlheimer Eisenbahn¬
unglücks, die Th. Becker bei Soldaten eines Regiments in Nr. 29
der Münch, m. W. 1910 beschrieben hat, führten ebenfalls zu
dem Schlüsse, daß Rentenhysterie und Begehrungsvorstdlungen
hier nicht in Betracht kommen, weil die sozialen Motive dazu
nicht gegeben seien. B. findet sie in „der Geringfügigkeit
der Militär-Rente einerseits und der Höhe der Löhne in den
Zechen und Hütten des Heimatslandes der Patienten andrerseits“.
Auch Nonne hat auf Grund reicher Erfahrungen im Arztl.
Verein zu Hamburg in einem Vortrag am 7. Juni 1910 neuerdings
wieder die Befriedigung der Ansprüche geradezu als
kausale Therapie bei reinen Unfalls-Neurosen be¬
zeichnet und deren Prognose günstiger beurteilen zu müssen
geglaubt, als das früher der Fall war. Auf Grund des Akten¬
studiums der zahlreichen Oberbegutachtungen, die N. alljährlich
vorliegen, hat er den Eindruck, als ob nach den allgemein
und gleichmäßig sich aufdrängenden Erfahrungen allmählich
bei den Gutachtern eine „Schwenkung nach rechts“ — sich zu
vollziehen beginnt: Er meint mit Recht, daß die Einhaltung
dieser Richtung unter den ärztlichen Sachverständigen im
Interesse der Verletzten auch weiterhin sehr zu wünschen wäre. —
Eine Heilung nervöser Unfallsfolgen ist also
auch nach der heutigen Lage der sozialen Gesetz¬
gebung in manchen Fällen ganz gut möglich.
Aber die lange Dauer und schwere Heilbarkeit
dieser krankhaften Zustände liegt nicht immer in
der Schwere des Traumas — in der Art dieser Krank¬
heit —, sondern in vielen Momenten, die mit der sozialen
Lage der Verletzten, mit dem schleppenden Gange der Renten¬
festsetzung und mit der Verschiedenartigkeit und den Wider¬
sprüchen in der Bewertung der Erwerbsbeschränkung seitens
der Arzte und der entscheidenden Instanzen Zusammenhängen.
Das glaube ich im vorstehenden bewiesen zu haben.
Auf dem Wege der bestehenden Haftpflicht-
122
Dr. Leop. Laquer,
gesetze und des BGB. (§ 843) ist die Heilung nervöser
Unfallsfolgen durch Abfindung viel leichter und viel
rascher zu erreichen. Das zeigen die tausendfältigen Er¬
fahrungen der privaten ünfallversicherungsgesellschaften und
der Eisenbahndirektionen im ganzen Deutschen Reiche!
Aber auch diese haftpflichtigen Gesellschaften und Be¬
hörden sollten unter Berücksichtigung der ärztlichen Literatui
über ünfallsneurose die Rentengewährung bei dieser Krank¬
heit noch mehr als bisher einschränken. Vor allem sollten
die obligaten langjährigen Heilversuche in An¬
stalten und Badeorten möglichst abgekürzt werden.
Denn es ist gar nicht selten, daß vier bis fünf Anstalten
ihre Beobachtungen zu den Akten geben. Gewöhnlich Anden
sie immer dieselben Krankheitserscheinungen, aber der Grad
der von den ärztlichen Leitern der Anstalten angenommenen
Invalidität schwankt in weiten Grenzen: die Patienten erfahren
•das sehr bald. — Die Folge ist die zunehmende Steigerung
ihrer hypochondrischen Vorstellungen und damit das Anwachsen
ihrer Ansprüche und Begehrungsvorstellungen.
Oft sind die ersten Begutachter erstaunt, wenn sie nach
Jahr und Tag durch Zufall erfahren, was aus ihrem Pflege¬
befohlenen geworden ist. Sie wollen es gar nicht glauben,
wieviel die Reute oder die AbAndung schließlich nach Aus¬
gang des Prozesses oder des Verfahrens betragen hat. Das
habe ich gar nicht selten erlebt!
Um allen Ärzten, die jemals Atteste bei Unfällen ausge¬
stellt haben — die Leichtigkeit, mit der es vielfach geschieht,
ist ja bekannt —, einen Einblick zu gewähren in den weiteren
Verlauf der nervösen Unfallsfolgen, da sind zahlreiche und
umfangreiche Nachforschungen auf dem von mir versuchten
Wege anzustellen. Die Endausgäoge der Erkrankung komnqen
jetzt gar zu selten zur Kenntnis früherer Beobachter.
Man sollte sich nicht wie bisher auf allgemein gehaltene
anonyme Anzeigen seitens Unbeteiligter, wie ich sie oben
erwähnte, und auf den Zufall verlassen. Bekannt ist die vor
20 Jahren in einem medizinischen Archiv erfolgte Veröffent
lichung (ich habe die Arbeit leider nicht mehr aufAnden können)
eines Kreisarztes im Rheinland: Er war in einen Ort eben neu
l)io Heilbarkeit nervöser Untallsiolgeii
123
versetzt, und begegnete eines Tages als Jagdgenosse einem
früheren Eisenbabnbeamten, der eben drei Stunden lang auf
dem „Anstand“ verbracht hatte. Der Kollege, der gleich¬
zeitig Vertrauensarzt der Eisenhahn ist, erfährt bei dieser Ge¬
legenheit, daß der Mann, der im kräftigsten Alter stand, eine
hohe Unfallrente schon seit Jahren als Ganzinvalide be¬
zieht, aber auch als Gast der Jagdpächter und der Wirt¬
schaften im Orte gern gesehen ist! — Die Feststellung der
Genesung von seinen nervösen Unfallsfolgen und die Ent¬
ziehung der Rente war das Ergebnis der bald darauf erfolgten
ärztlichen Enthüllungen! — Wieviel sich widersprechende
Gutachten mögen über diesen traumatischen Nimrod abgegeben
worden sein??
Die ungeheuren Summen, die auf dom Wege des Zivil¬
prozesses erstritten werden, oder die z. B. die Eisenbahn¬
behörden zur Vermeidung jahrelang dauernder Rechtsstreitig¬
keiten schließlich im Vergleichswego zahlen, sind allbekannt!
Es gibt sogar schon „Unfall-Amateure“ — die immer wieder
Unfälle, und zwar im Bereiche verschiedener Eisenbahnver¬
waltungen zu erleiden pflegen — nie ohne Neurose! —
Aggravation der Beschwerden, Maßlosigkeit in der For¬
derung von kostspieligen Kuren (Placzek, 1. c.) ist eine
schlimme Seite der Anwendung des alten Haftpflichtgesetzes.
Solche traurige Begehrungsvorstellungen bilden heutzutage
beinahe eine soziale Gefahr!
Die Schlauheit gewisser Unfallsneurotiker im Ausnützen
von rechtlichen Schlichen, ihre querulatorische Art, ärztliche
Aussagen zu verdrehen und zu ihrem Vorteile zu gebrauchen,
ist schwer zu erkennen und mit wissenschaftlichen Gründen zu
bekämpfen.
Darum muß die Entwicklung einer Unfallsneurose schon
im statu nascendi von den Ärzten unterdrückt oder wenigstens
das Anwachsen der Flut von neurasthenischen und hypo¬
chondrischen Klagen nach Möglichkeit eingedämmt werden.
Wenn immer wieder durch Unfälle und Unfallsbeschwerden
beträchtliche Geldsummen herausgedrückt werden können, so
ist es doch wohl auch eine sozialhygienische Pflicht der Ärzte,
diesem Anreiz zu unberechtigten Bereicheiungsideen zu begegnen.
124
Dr. Leop. Laquer,
Hat also der Arzt rechtzeitig erkannt, daß in dem Krank¬
heitsbilde die Neigung zur Übertreibung eine große Rolle zu
spielen anfängt, dann erachte ich es für seine Aufgabe, ohne
Rücksicht auf den Patienten seiner vollen Überzeugung Aus¬
druck zu geben und die Begehrungs-Vorstellungen nach Mög¬
lichkeit zu bekämpfen. Nicht schnelle, gar zu entgegenkom¬
mende Zeugniserteilung, sondern rascheste Erledigung der
Unfallsansprücbe ist bei Unfallsneurosen die Hauptaufgabe
ärztlicher Diplomatie.
Einzelne Vorkommnisse namentlich unvorhergesehener
diagnostischer Irrtümer im Verlaufe von funktionellen Unfalls-
folgen machen aber das Einhalten einer längeren Frist bei
Abfindungen zur Notwendigkeit.
Darum habe ich mich im großen und ganzen den Gaupp-
schen Vorschlägen angeschlossen. Mit mehrgliedrigen ärzt¬
lichen Schiedsgerichten, die ja auch in den Versicherungs¬
bedingungen der Privat-Versicherungsgesellschaften vorgesehen
sind und dort sehr erfolgreich wirken, habe ich selbst die
besten Erfahrungen gemacht. Daß Hausärzte und Vorgut¬
achter dabei gehört werden müssen, liegt in der Natur der
Sache.
Um die Möglichkeit von Nachforderungen zu verhüten
und nicht Abfindungshysteriker zu züchten, sind gewisse
Kautelen in den Verträgen mit den Unfallsneurotikem er¬
forderlich.
Jedermann, der einen Prozeß geführt hat, weiß es und
hat es gewiß schon am eigenen Leibe gespürt, wie gut die
Erledigung einer streitigen Angelegenheit auf das Gemüt eines
Menschen zu wirken vermag. Ob der Prozeß gewonnen oder
aber verloren ist, — der Ausgang des Rechtsstreites in letzter
Instanz befreit die Seele eines jeden von schwerer Last, die
oft genug gerade so schwere Erscheinungen am Nervensystem
hervorruft, wie eine Unfallsneurose. „Der normale Mensch
vor Gericht** ist eine psychopathologische Erscheinung, der
Iloche in dem Handbuche der gerichtlichen Psychiatrie, Seite
419 ff. (2. Aufl., 1909), ein besonderes Kapitel gewidmet hat.
Dabei betont er immer wieder die Notwendigkeit der gerichtlichen
Die Heilbarkeit nerrOaer Unfallsfol^ii.
\2fy
Würdigung derartiger ganz normaler Eigentümlich¬
keiten des Seelenlebens.
Nirgends ist sie so notwendig als bei all den nervösen
Unfallsfolgen die sich jahrelang vor dem Forum der Ver¬
trauensärzte, Schiedsgerichte, des Reichsversicherungsamts, vor
allen möglichen juridischen und administrativen Instanzen hin¬
schleppen, bis endlich ein endgültiger Bescheid den Klagen
ein Ende macht. Ans einem querulatorischen Weichling wird
in wenig Wochen ein ruhiger verständiger Mensch, wenn er
es schon vor dem Unfall war.*)
Die von mir beobachteten Heilungen von Unfallsneurosen
berechtigen mich, im Anschluß an anderweitige Erfahrungen
einige Schlüsse zu ziehen, die ich in sechs Sätzen zu¬
sammengefaßt habe, und die am Ende meiner Arbeit wieder¬
gegeben sind.
Es sei nochmals betont, daß es mir, wie so manchem
praktischen Arzte, an der nötigen Zeit und auch mitunter an
der nötigen Stimmung gebricht, um alle wichtigen Erfah¬
rungen der Praxis in die richtige literarische Form zu bringen
und den Berufsgenossen zugänglich zu machen. Ich könnte
sonst die verwertete Zahl von geheilten Unfallsneurosen um
das Drei- und Vierfache vermehren. —
Je älter der praktische Arzt wird, desto häußger wird sein
Bedauern, daß er den größten Teil seiner wichtigen beruflichen
Erlebnisse für sich behalten muß oder nur wenige aus dem
gesetzlichen Grunde der ärztlichen Schweigepflicht verraten darf.
Zu den mitgeteilten Tatsachen gesellen sich bei mir noch
mannigfache allgemeine Eindrücke über die Heilbar¬
keit von Unfallsneurosen, die auch andere Gutachter teilen.
Sie unterstützen die Anschauungen, die das oben von mir
verwertete Gutachtenmaterial ergibt, nach allen Richtungen.
*) Anm. bei der Korrektur: Auch in zwei Urteilen des Reichsgerichts
(Jur. Woch. 1909 S. 137 und 1910 S. 717) komnit eine Auslegung des
§ 843 des BOB., der ja eine Kapitalabfindung statt Rente zulaßt, zum Aus¬
druck. Sie entspricht dem von mir eingenommenen Standpunkte, und er¬
blickt in der vom Gutachter geforderten endgültigen Austragung der
Unfallssache durch Abfindung die im Gesetz erstrebte «Wiederherstellung
des früheren Zustandes“ (Schadenersatz).
126
Dr. Leop. Laquer,
Man wird mir entgegnen, daß meine Auseinandersetzungen
und Schlußfolgerungen über — Abfindung vielleicht nur
eine akademische, keine praktische Bedeutung haben können,
da Haftpflichtgesetz und Reichsversicherung „leges latae“ sind.
Es besteht ja kaum die Aussicht, daß in absehbarer Zeit
eine gesetzliche Änderung kommen wird, welche die ärztlichen
Gesichtspunkte bei Beurteilung von nervösen ünfallsfolgen in
foro zur Geltung bringen könnte, auch wenn mein Standpunkt
allgemeine Billigung fände.
Das mag richtig sein, vielleicht werden die da nach uns
kommen es erst besser machen können!? Aber schon jetzt
haben es alle Praktiker in der Hand, durch rechtzeitige Be¬
einflussung Unfallverletzter und streng objektives Verhalten
n Unfalls-Begutachtung einem großen sozialen Übel, der
Bereicherung durch Unfälle — ein er A usnü tzung
von gesetzlichen Wohlfahrtseinrichtungen Einhalt
zu tun.
Wir Ärzte sind nicht dazu da, unseren Patien¬
ten für nervöse Beschwerden wirtschaftliche Vor¬
teile und Bequemlichkeiten des Daseins zu ver¬
schaffen, sondern ihre Krankheiten zu heilen.
Wenn wir maßvolle Ansprüche Unfall-Verletzter durch Emp¬
fehlung der Kapitalsabfindung unterstützen, so erscheinen wir
als Krankenheiler, ohne die Pflicht gegen die Gesamtheit außer
acht zu lassen und unseren Pflegebefohlenen wehe zu tun.
Von solchen Gefühlen für die Volksgesundheit und für
die Stärkung unseres öffentlichen Ansehens, das durch falsche
Rücksichten auf egoistische Triebe einzelner bei Unfallsbegut-
achtung seitens mancher Berufsgenossen geschmälert wird, waren
die klinischen und sozialhygienischen Darstellungen getragen,
die nunmehr mit folgenden Sätzen ihren Abschluß finden sollen;
1. Die allxu rasche Oeivährung einer Dauer-Rente an Un-
faUsneurotiker und ihr langjähriger Bezug ist ihrer
Heilung fast immer hinderlich.
2. Wiederholte Heüversuche und langansgedehnte Beob¬
achtungen in Klinilcen und sonstigen Heilanstalten
steigern die Beschwerden bei Unfallsneurosen und
hemmen ihre rasche Genesung.
Die Heilbarkeit nerrOser Unfallsfolgfen.
127
3. Eine genatie Nachprüfung der Oesundheits- bexw.
Erwerbsverhältnisse von nervös gewordenen Unfalls-
verletzten, die eine größere oder geringere Abfindung
erhalten hatten, ergibt ihre völlige Oesundung in wirt¬
schaftlicher Beziehung. Eine Kapitalszahlung hilft
den Kranken in rascher und ausgiebiger IVeise über
die nervösen Unfallsfolgen hinweg.
4. Zur Verhütung des Anreizes zu 'unberechtigten Be¬
reicherungsideen in weiten Kreisen der Bei'Ölkerung
darf die Entschädigungssumme nicht zu hoch bemessen
werden.
ö. Um die Folgen von diagnostischen Irrtümem mög¬
lichst einzuschränken, sollten bei Unfallsneurosen etwa
5 Jahre lang nicht zu kleine Teilrenten zum Zwecke
der Schonung gezahlt werden. Dann aber ist der
Anspruch durch einmalige Kapitalabfindung schnell
und endgültig zu erledigen.
6. Wenn die Kapitalabfindung — event. in zwei Bäten
— in Aussicht genommen ist, empfiehlt es sich, die
letzte Untersuchung und Entscheidung durch ein
mehrgliedriges ärztliches Schiedsgericht vornehmen zu
lassen, dem mindestens einer der behandelnden Aerxte
des Verletzten angehören muß.
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herausgegeben von
Prof. Dr. A. Hoche,
Freiburg i. Br.
Band IX, Heft 8.
Die Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
Von ~
San.-Rat Dr. B. Laquer, Wiesbaden,
Der Gegensatz zwischen Individualismus und Kollekti-
yismns kommt auch in der modernen Hygiene zum Durch¬
bruch; der Einzelforschung, welche auf eine Beobachtung, auf
einen seltenen Fall sich beschränkt, welche für ein Symptom
ein Mittel zu finden sich bemüht, stehen die .Bestrebungen
und Forschungen gegenüber, welche das Massenelend, die
Eollektivkrankheit zu beseitigen suchen; „dem größtmöglich¬
sten Glück der größten Zahl‘‘, das Graf Posado wsky im
Reichstage seinerzeit als ideale Forderung hinstellte, entspricht
die relativ stärkste hygienische Wohlfahrt der Massen. Man
nennt das „soziale Hygiene**. Sie operiert mit großen Zahlen;
ihre Angriffspunkte bilden die 600000 ansteckenden Lungen¬
kranken, welche es in Deutschland gibt, die 750000 Ge¬
schlechtskranken, die 300000 Alkoholkranken, die 25 000 Kinder,
welche allein an Brechdurchfall in den Städten über 15000
Einwohnern in Deutschland jährlich sterben, die 50000 an
Krebs Leidenden. Als Quittung für ihre bisherigen Leistungen
präsentiert diese Yolkshygiene eine dem Gedächtnis leicht
einzuprägende Zahl, daß nämlich vor fünfzig Jahren in
Deutschland drei vom Hundert, jetzt kaum noch zwei vom
Hundert jährlich sterben, daß vor fünfzehn Jahren von tausend
Deutschen überhaupt drei an Lungentuberkulose starben,
jetzt nur:noch zwei. — Diese Hygiene zeigt Städte und Flüsse
saniert, sie bewacht unsere Grenzen gegen die Seuchen, sie
weist auf die zwei Millionen Mark hin, welche täglich für
1 *
4
B. Laquer,
die Sicherung von zwei Dritteln unseres Volkes gegen
Krankheit, Unfall und Invalidität ausgezahlt werden; sie rechnet
uns vor, daß in 7500 Krankenhäusern 400000 Betten stehen,
welche jährlich von über zwei Millionen Kranken belegt
werden, daß tausend Millionen Mark Kapital in diesen An¬
stalten investiert sind und daß hundertfünfzig Millionen Mark
in ihnen jährlich ausgegeben werden, sowie daß in diesen An¬
stalten fUnfzigtausend Menschen als Kranken-Schwestern,
Wärter, Pfleger, Diakonissinnen tätig sind, das sind mediko-
ökonomische Zahlen, die eine gewaltige Sprache sprechen!
In diesen Massenkämpfen um die Gesundheit unseres
Volkes gibt es nun Gebiete, in denen vom Einzelangriff aus¬
gegangen, in denen nicht nur der Träger der Krankheit aufs
Korn genommen wird, sondern seine ihn gefährdende Umwelt;
diese Gebiete beschäftigen sich vorwiegend mit der soziologi'-
sehen Erkennung und Behandlung der sogen. Kultur- und im
speziellen der Nerven-Aufbrauch-Krankheiten.
Gerade die Großstädte stellen ja an die Nervenkraft ihrer
Bewohner außerordentliche Ansprüche, und die Großstadtarbeit
und ihr anti-hygienisches Milieu in seinen vielen Verzweigungen
zu erörtern, ist lohnend genug.
Der umfangreiche Stoff wird übersichtlicher durch seine
Zerlegung in drei Teile;
1. die hygienischen oder normalen Arbeitsbedingungen des
großstädtischen Gehimarbeiters,
2. die Folgen der Großstadtarbeit, d. h. ihre Schäden, also
das pathologische Moment,
3. die Mittel und Wege, diese Schäden zu verhüten oder
zu heilen, also die Prophylaxe und die Therapie.
Letzteres kann man im weiteren bezw. im engeren Sinne
wohl auch als die Fürsorge für Kopfarbeiter oder als kauf¬
männische Sozialpolitik bezeichnen. Diese Dreiteilung
ist natürlich nur eine dispositive. In der Ausführung selbst
werden, schon um die Wiederholungen zu vermeiden, diese
drei Reihen sich öfters begegnen und miteinander verflechten.
Non zuvor ein kurzer geschichtlicher Rückblick:
Als ich im vorigen Jahre in der alten norwegischen
Handelsstadt Bergen das Hansahaus an der „Deutschen
Groflstadt'Arbeit und ihre Hygiene.
5
Brücke“ besuchte — es ist noch in seiner ursprünglichen Gestalt
wie vor 500 Jahren erhalten —, da fielen mir in den Räumen
kleine, in die dicken Wände eingebaute Gelasse auf, deren
Holztüren nach unten gingen, von einer Größe etwa wie man
solche Schlafstellen in einem „Asyl für Obdachlose“ sehen
kann. In diesen licht* und luftlosen Kojen nächtigten die
Lehrlinge und die jungen Leute der deutschen Hansakauf¬
mannschaft. Die Kontorränme trugen Steinfliesen, ihre Fenster
waren durch Butzenscheiben gegen Lichteinfail geschützt, und
auch sonst führten die Bergener Hansamänner gemäß der ge¬
bundenen Art, in welcher der Einzelne im Mittelalter nach den
Kegeln der Gemeinschaft zu leben verpflichtet war, ein fast
mönchisch hartes Dasein. Im Frühherbst dieses Jahres
hatte ich fünfzehn Breitegrade südlicher im „Fondaco dei
Tedeschi“ in Venedig die gleichen unhygienischen Eindrücke.
Der Satz „Stadtluft macht frei“, galt damals nur für die
Rechte des freien Kaufmanns, aber nicht für die des lernenden.
Die sogen. „Bergener Spiele“, das sind Aufnahmegebräuche,
bei denen die Hansa-Aspiranten ins kalte Wasser geworfen,
und, um die Ohnmächtigen wieder zu beleben, mit Weiden¬
ruten gebürstet wurden, erinnern an die schlimmsten Formen
des mittelalterlichen Pennalismus.*) Nur das Reiseleben des
Mittelalters brachte Abwechslung in den Frohndienst, aller¬
dings auch neue Gefahren. „Koplude — Loplude“ („Kaufleute —
Laufleute“) hieß es damals. Der Kaufmann war der Reisende**)
schlechtweg; darum war ein Kaufmann — Marco Polo — der
erste Forschungsreisende. Jeder Kaufmann aber, der auf Reisen
giug, machte vorher sein Testament. Diese Sitte hat sich ja
noch bis zu den Meßfahrten des neunzehnten Jahrhunderts
erhalten. Zu den hygienischen Unvollkommenheiten des Ver¬
kehrs,***) der Straßen und der Wirtshäuser gesellten sich die
*) Georg V. d. Ropp, Kauftnannsleben zur Zeit der Hansa. Bl. d.
Hansischen Geschichts-Vereins. Leipzig 1907.
**) „Gesund“ heißt ursprünglich „wegfertig“ von senden — gehen,
reisen; Gesinde = Reisegefolge.
***) Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahr¬
hundert. Berlin 1903. Kap. I: Eine Reise durch Deutschland vor hun¬
dert .fahren.
5 B. Laqaer,
großen Seuchen der damaligen Zeit, welche jahrzehntelang
die Bevölkerung dezimierten. Die an sich einzig dastehenden
Badeformen des Mittelalters sowie das selbstverständlich nie¬
mals einwandfreie Trink- und Nutzwasser verbreiteten die an¬
steckenden Krankheiten wie Feuerherde; denn nicht daß man
oft badete und noch dazu gemeinsam, sondern wie das Wasser
beschaffen war, entschied. Eine blühende Handelsstadt wie
z. B. Frankfurt am Main schwankte innerhalb hundertfünfzig
Jahren, vom Jahre 1355 bis 1499, in seiner Einwohnerzahl
nur zwischen 7600 und 7800! Wäre damals die Einwohner¬
zahl nach der prozentualen Zunahme der letzten fünfzig Jahre ge¬
stiegen, so hätte die Zahl statt 7800 150 000 betragen müssen.*)
In einer Patrizierfamilie derselben Zeit überlebten von 65
lebend geborenen Kindern nur 18 ihre Väter, und nur 12 ge¬
langten zur Verheiratung. Die Zahl der Lahmen, der Blinden,
der Tauben, Geisteskranken, von den Aussätzigen zu ge-
schweigen, war in den deutschen Handelsstädten eine ver¬
hältnismäßig weit größere und in die Augen fallendere als
jetzt. Wenn auch Telephon und Telegraph, Zeitungen, Sensa¬
tionsprozesse, Börsenkurse und Politik, die Sucht nach raschem
Gewinn und die ganze Unrastdes großstädtischen Treibens fehlten,
wenn auch die Lebenshaltung so bescheiden war, daß vor dem
Ende des 15. und des 16. Jahrhunderts Glasfenster nur in
Palästen und Holzsärge nur bei den Vornehmen verwandt
wurden, so lagen doch auch im Leben des mittelalterlichen
Menschen die schroffsten Wechselfölle des Seelenlebens neben¬
einander. Überfluß und Mangel, Völlerei und Darben, Genüß
und Entsagung führten auch damals schon zu jenen seelischen
Massenerkrankungen, über welche die Chroniken berichten.
Der Anblick blutiger Greuelszenen, Belagerungen, Hin¬
richtungen, Bürgerzwiste, Aberglaube und grausamer Strafvoll¬
zug erschütterten die Gemüter aufs tiefste.
Karl Bücher, der Leipziger Na.tionalökonom, ein vor¬
züglicher Kenner und Erforscher dieser Verhältnisse, schließt
seine Betrachtungen mit den Worten: „das ruhige Behagen
*) Karl Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft. V. Auflage.
Tübingen 1906. Kap. Xf. Die soziale Gliederung einer mittelalterlichen
Stadt.
Großstadt-Arbeit nnd ihre Hygiene.
7
einer in festen Linien sich bewegenden, stetigen Entwicklung
war dem Mittelalter fremd“.
Starke Sparen dieser, das Nervenleben der erwerbenden
Schichten zerrüttenden Zustände sind bis zu den Napoleonischen
Zeiten gerade in dem von schweren Krisen heimgesuchten
Handelsstande bis ins 19. Jahrhundert hinein haften geblieben.
Wer diese Anschauungen sich sinnfällig gestalten will, der
studiere die 175jährige Geschichte des Breslauer Bankhauses
Eichborn & Co*) In gleicher Richtung liegen die Schilde¬
rungen Ehrenberg’s in seinem Werke: Die großen Vermögen,**)
sowie in dem bislang erschienenen Band 1 der Geschichte der
Unternehmungen der Gebrüder Siemen s.***) Die neue Zeit
dämmert an, — wir schreiben das Jahr 1788, — ein Justus
Möser klagt aber schon in seinen „patriotischen Phantasien“:
„Vordem arbeitete ein Jeder für seinen Nachruhm, jetzt für
den Tag, den ihm der Himmel gibt. Unbekümmert um Tadel
und Ruhm späterer Zeiten, genießt er, was er findet, verzehrt
er, was er hat, und dient, um genießen und verzehren zu
können. Der Glanz des kurzen Tages hat mehr Neigung für
ihn als der größte Dank des späteren Jahrhunderts und das
Glück, mit Sechsen fahren zu können, dünkt ihm köstlicher
als die Ehre eines marmornen Denkmals.“
Nun zur Gegenwart:
Das Zeitalter der rastlosen Arbeit, in dem wir leben, hat
diejenigen, welche für das Wohl des Staates und seiner Be¬
wohner sorgen, bald ihr Augenmerk auf die normalen Grund¬
lagen der Arbeitsmethoden hingeleitet. Während aber die
Regelung der gesundheitlichen Bedingungen der körper¬
lichen Arbeit — von britischen Vorbildern ausgehend —
Fabriken und Technik mit gerechtfertigten Schranken umgibt
(das erste Arbeiterschutzgesetz wurde 1802 für Baumwolle und
Manufaktur erlassen, und in ihm eine mehr als zwölfstündige
Kinderarbeit verboteni), ist die Hygiene der geistigen Arbeit
erst ein Erzeugnis des letzten Viertels des vergangenen Jahr-
*) K. Moritz Eichborn, Das Soll and Haben von Eichborn & Co.
Breslau 1903.
*♦) Jena 1902.
**♦) Jena 1906.
8
B. Laquer,
hunderts. Eigentlich hat auch hier das 1880 von Nordamerika,
dem Lande der Kontraste, ausgehende Werk des Nervenarztes
Beard:*) „Die Nervenschwäche (Neurasthenie)“, die An¬
regung zu Forschungen gegeben. Einen Augenblick wollen
wir bei dem Unterschied zwischen körperlicher und geistiger
Arbeit verweilen. Jeder Spaziergang, jede Muskelanstrengung,
jedes Heben eines Gewichtes bedeuten in letzter Linie Gehim-
tätigkeit, da ja die Muskeln von ihm aus in Tätigkeit gesetzt
werden. Andrerseits ist auch das Schreiben eines Briefes mit
Muskeltätigkeit verknüpft; ferner gibt es zwischen den
beiden Gebieten liegende Tätigkeiten, wie z. B. das Schleifen
einer Linse, die Bedienung eines Dampfhammers, die Steue¬
rung eines Autos, welche gewiß mehr von dem Kopf als von
den Händen ressortieren.
Was beide Arbeitsmethoden unterscheidet, ist folgendes:
Muskelarbeit ist meßbar. Der Marschierende, der Schwim¬
mer, der Bergsteiger zersetzen meßbare Quantitäten Sauer¬
stoff. Wenn man sich die von dem Berliner Physiologen
Zuntz erfundene Gasuhr auf den Rücken schnallt und durch
dieselbe atmet, so kann man an dem Zeiger ihre Sauerstoff¬
verbrennung während irgendeines Training ablesen. — Alle
Versuche hingegen, die geistige Anstrengung experimentell zu
messen, sind bislang gescheitert. Unser Gehirn umfaßt 2 Proz.
des Gesamtkörpergewichts; die Zeiger-Ausschläge aber unseres
auf- und niedergehenden Gehirn-Stoffwechsels weist uns noch
keine Uhr auf; die Gehirn-Arbeitskurven sind eben im Ver¬
hältnis zu der feinen Nervenmechanik unsichtbar. Und
ferner, angenommen wir besäßen eine solche Uhr; ein Mensch,
welcher sich in ein dunkles Zimmer einschließt mit dem
Vorsatz, ganz unbeschäftigt zu sein, kann sich unwillkürlich
mehr anstrengen und vielleicht in stärkerem Maße sein Ge¬
hirn abnutzen, als wenn er sich an den Schreibtisch setzt,
mit dem Bestreben, alle Geisteskräfte anzuspannen**). Auf einen
zweiten psychologischen Unterschied zwischen geistiger und
*) Leipzig 1889.
**) Die Untersuchungen von Lehmann (Kopenhagen) über den
Stoffwechsel während geistiger Arbeit sind noch nicht allseitig anerkannt
worden.
G roßstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
9
körperlicher Arbeit möchte ich unter Anführung eines viel¬
leicht trivial erscheinenden Beispiels aufmerksam machen.
Wir alle haben gewiß schon einmal einen wichtigen
Brief schreiben, eine schwierige Rechnung ausführen wollen.
Da ertönt von der Straße her Musik und zwingt uns
zu einer ärgerlichen Pause. Von Arnold Böcklin erzählt
sein Biograph G. Floerke,*) er habe einstmals in seinem
Atelier an der Farbe eines Frauenkleides intensiv gearbeitet.
Da erklang aus dem Nebenzimmer, wo sein Schwiegersohn
Bruckmann arbeitete, die Marseillaise. Da rief Böeklin
zornig: „Da hat mir der Bruckmann glücklich meine Farben-
nüance weggepfiffen!“ Als der allerdings ungewöhnlich sensi¬
tive Künstler in Zürich einen Bekannten zu Grabe geleitete,
und die Musikanten, vermutlich weil sie nichts anderes zu
blasen wußten, fünfmal hintereinander den Böcklin sehr unsym¬
pathischen Cbopinschen Trauermarsch spielten, blieb ihm die
Melodie tagelang im Ohre; er konnte kanm arbeiten.
Andererseits werden wir beim Marsch, beim Schlittschuh¬
laufen durch Musik eher angefeuert als gestört. Worin liegt der
Unterschied? Der schon oben erwähnte, auch diese Dinge tief
schürfende Volkswirt Karl Bücher hat auf den Rhythmus**)
hingewiesen, auf den Auftakt, welcher — von den Natur¬
völkern ausgehend und zu den Sklaven übergehend — die
reine Muskelarbeit begleitet. Auf griechischen Reliefs sieht
man Töpfer unter Flötenspiel des Werkmeisters ihre Ar¬
beit verrichten. Der Schmied, der Schlosser, der Klempner
lassen den Hammer im gleichen Takt auf das Metall nieder¬
fallen. Der geldzahlende Bankbeamte streut in einem durch
Übung gewonnenen Gleichmaß die Goldstücke auf das Zahl¬
brett. Jede körperliche Arbeit hat ihre eigene Musik. Der
Steuermann im „Fliegenden Holländer“ singt sie. Die Müller¬
lieder und die Niggersongs, auch „Old Plantations Songs“,
d. h. Pflanzer-Farmerlieder, genannt, haben diesen Rhythmus
der Arbeit, ln Ägypten, in den gewaltigen Ruinen von
Karnak, hörte ich beim Heben eines Obelisken Zwiegespräche
zwischen den Arbeitern singen — ebenfalls Arbeitslieder, wie
*) Zehn Jahre mit Arnold Böcklin. 2. Aufl. Mönchen 1902.
**) K. Bücher, Arbeit nnd Rhythmus. III. Aufl. Leipzig 1903.
10
B. Laquer,
sie dort seit Jahrtausenden üblich sind. „Im Anfang war der
Rhythmus“, sagte einstmals H. v. Bülow. Und Schiller: „Wenn
gute Reden sie begleiten, dann geht die Arbeit munter fort!“
Den Muskelbewegungen schmiegen sich von Urzeiten her
Arbeitsgesänge an, verstärken und erleichtern sie. Anders
bei der geistigen Arbeit. Hier wirkt Musik störend und die
Gedankenreihen unterbrechend. Das Addieren von Zahlen,
das Schreiben von Briefen wird von Nebengeräuschen und
sonstigen unsere Sinnesorgane betreffenden Einwirkungen be¬
einträchtigt. Darum, weil geistige Arbeit zur äußersten Kon¬
zentration, zur Einengung der Gedanken zwingt, weil sie
andere Mitbewegungen und Mitschwingungen ausschließt, weil
sie also im Gegensatz zur körperlichen Tätigkeit ohne Rhythmus
ist, darum nennt man sie monoton und einförmig; darum
führt sie zu einer ihr eigentümlichen Ermüdung und Er¬
schöpfung.
Eines aber ist körperlicher und geistiger Arbeit gemeinsam
und folgt ihnen wie der Schatten; hierin unterscheidet sich
auch die Arbeit unseres Organismus von der Arbeit der Ma¬
schine. Körperliche und geistige Tätigkeiten können ohne
Ruhepausen nicht vor sich gehen. Muskeln, Magen,
Nieren, Leber schaffen nicht ohne stundenlange Pausen;
die Erholungen von Herz und Lunge im Zustande der Er¬
schlaffung sind kurz und häufig. Das Nervensystem hingegen
muß dauernd ausruhen, es bedarf der allerlängsten Zeit zur
Erneuerung seiner Mittel. Bei diesem Begriff der Kraftpause
haben wir nach Kraepelin*) zu unterscheiden: den objek¬
tiven Zustand der Ermüdung und den subjektiven Zustand
der Müdigkeit.
Ermüdung nennen wir den Zustand unseres Körpers,
bei welchem Muskeln und Nerven durch die vorausgegangene
Arbeit derart verändert sind, daß sie ihre Aufgaben entweder
gar nicht mehr oder nicht mehr so gut erfüllen können, als im
nicht ermüdeten Zustande. Unter Müdigkeit verstehen wir
nach Kraepelin dagegen ein subjektives Gefühl, welches
wir durch Energiö eventuell überwinden können, während das
*) Kraepelin, Ober geistige Arbeit, Jena 1903, und Zur Hygiene
der Arbeit, Jona 1896.
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
11
ihr zugrundeliegende Quantum der Ermüdung als solches natür¬
lich dabei rapide anwächst. Ein Vergleich mag dies verdeut¬
lichen: Wenn beim Radfahren das öl der Kugellager abnimmt,
so vergrößert sich die Reibung und die Leistungsfähigkeit der
Kurbeln nimmt ab, ohne daß uns dies zum Bewußtsein kommt
Das ist Ermüdung. — Kommt uns diese Ermüdung aber als
ein deutliches Klappern der Maschine zum Bewußtsein, so ist
das Müdigkeit. Oder auch die Ermüdung werden wir viel¬
leicht einmal durch eine chemische, die Nervenabnutzung dar¬
stellende Formel ausdrücken können; Müdigkeit aber ist und
bleibt eine Nervenstimmung. Natürlich gibt es auch Über¬
gänge. Wir alle kennen nervöse Menschen, welche sich abends
weniger müde fühlen als morgens, trotzdem ihre Leistungs¬
fähigkeit an sich abgenommen, also die objektive Ermüdung zu-
genommen hat. Und umgekehrt fühlen sich solche Kranke nach
gut durchschlafener Nacht gerade morgens müde.
Der Ermüdung steht gegenüber die Erholung, d. h. derjenige
Vorgang, bei welchem die verbrauchten Kräfte ersetzt, die schäd¬
lichen Zersetzungsprodukte der Nervenarbeit entfernt werden.
Nabrungszufuhr und Ruhe wirken hier am meisten. Vor allem
aber der Schlaf. Wenn es auch nur eine Legende ist, daß in
China Leute durch Schlaflosigkeit, anstatt durch Henkershand,
zu Tode gebracht werden, so können doch sowohl Tiere als
Menschen viel länger hungern als nicht schlafen. Wir ver¬
schlafen ein Drittel unseres Lebens; unsere Hausgenossen,
die Hunde, zwei Drittel. Entzieht man letzteren, besonders
wenn sie jung sind, den Schlaf, so sterben sie nach 4 bis
6 Tagen. Wir schlafen wahrscheinlich nur mit einer Gehirn¬
hälfte — mit der linken — oder wenigstens — wie Bunge*)
nach Man asseine annimmt: die linke Hemisphäre, mit welcher
wir vorherrschend tätig sind, versinkt in tieferen Schlaf als
die rechte.
Die erste Bedingung eines guten Schlafes ist Fortfall
aller Sinnes-,' Denk- und Phantasiereizo. Die oben erwähnte,
als „Schlafzentrum** (s. v. v.) supponierte linke Gehirnhälfte
*) Bunge, Lehrb. d. Physiologie des Menschen. 18. Vorl.: Der
Schlaf. Leipzig 1911.
12
B. Laquer,
wird im Schlaf vorübergehend anämisch. Damit hängt zu¬
sammen, daß die Mehrzahl der Menschen auf der rechten
Seite schläft. Rein mechanisch wird nämlich dadurch die
hochliegende linke schlafende Gehirnhälfte vom Blut entleert,
und das Herz arbeitet, wenn wir nicht auf der linken, auf der
Herzseite, schlafen, ruhiger. Die Dauer des Schlafes, weiche
der einzelne Mensch benötigt, ist individuell verschieden.
Friedrich der Große brauchte nicht länger als vier bis
sechs Stunden. Von Napoleon erzählt H. Taine,*) daß
er Aktenstücke während der Nacht aufgearbeitet und mit
Randbemerkungen versehen, zu denen andere eine Woche ge¬
braucht hätten; er konnte 18 Stunden hintereinander arbeiten;
Feldmarscball Moltke hatte einen langen und festen Schlaf
nötig; nur einmal während des ganzen Feldzuges 1870/71
schlief er nur zwei Stunden; das war in der Nacht vor Sedan,
als die Rechtsschwenkung der französischen Armee nach
Belgien gemeldet wurde und die „Einkesselung^* des Feindes
vorbereitet werden mußte.**)
Besonders begnadete Menschen vermögen ihre Nerven zu
kommandieren; ihnen genügt irgendeine Ruhelage, ja schon
das Ausstrecken der Beine im Lehnstuhl, um einen kurzen
Schlaf zu erzielen, aus welchem sie erfrischt wieder aufwachen.
R. Sommer hat Ruhehallen für die Großstädte, für Weltaus¬
stellungen vorgeschlagen; im Orient dienen die Moscheen solch
profanen Zwecken.
Zur Beruhigung der „Schlechtschläfer“ wäre gleich folgendes
zu sagen:
Es gibt gerade - in den Großstädten Menschen, welche tags¬
über in ihrem Beruf Außerordentliches leisten, ganze Nächte
schlecht schlafen und dennoch ihre Arbeit so gut leisten
wie andere Menschen. Nun bedeutet erstens ausgestrecktes
Liegen für Ermüdete auch Nervenauffrischung, w'enn auch mit
offenen Augen, und zweitens ist die Energie-Bilanz solcher
„Schlechtschläfer“ eben eine andere; sie machen mit geöffneten
Sinnen gewissermaßen ihre Abschreibungen von dem Eraft-
*) Hyppolite Taine: Les Origines de la France contemporaine.
Bd. III. Leipzig 1909.
**) Verdy du Vernois. Im großen Hauptquartier 1870/71. Berlin 1895.
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
13
Verlust des Tages. Ihre Aktiva und Passiva schwanken in
engeren Grenzen.*)
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen bedarf es keiner
katalogartigen Aufzählung aller normalen Bedingungen geistiger
Arbeit. Gewisse instinktive, durch unsere Sinne übermittelte
Erfahrungen über den nötigen Luftraum und über Belichtung,
Lüftung, Staubfreiheit der Arbeitsräume, über die notwendige
Temperatur im Winter, über Sitzgelegenheiten in Waren¬
häusern und offenen Läden setze ich als bekannt voraus.
Daß in New York die Wolkenkratzer bis zur Höhe von
vierzig Stockwerken gebaut werden, bat nicht nur seine
Ursache in der so schmalen halbinselförmigen Lage der
Stadt und in dem Riesenpreis des Baugrundes in der Nähe
der Börse, der Banken und des Hafens, sondern auch in
dem Umstande, daß die Bewohner der höheren Stock¬
werke die Staub-,' Kohlen- und Rußteile der engen Straßen
weniger spüren. Offene „Roof-Theater“, d. h. Dachtheater,
habe ich im Hochsommer in New York selbst besucht und mich
an der guten Luft erfrischt. Rubner**) rechnete für Berlin
aus: jeder Einwohner verbraucht im Durchschnitt täglich vier
Kilo Kohlen; da der Kubikmeter ihrer Großstadtluft
0,14 mgr Ruß enthält, jeder Atemzug aber einen halben Liter
Luft passieren läßt, so werden in 24 Stunden durch die Lungen
2 g Ruß aufgenommen. Demgegenüber ist der Rußgehalt der
Londoner Atmosphäre trotz der berühmten Nebel um 10 Proz.
geringer; höher dagegen um 25 Proz. in Dresden, um 50 Proz.
in Chemnitz, am höchsten in Köln und Magdeburg. Nicht¬
raucher und Alkoholenthaltsame, welche ihre Schleimhäute gut
konservieren, spüren schon auf dem Bahnhof Savignyplatz in
Berlin die bessere und reinere Vorstadtluft. Im Monat De¬
zember gab es im Durchschnitt der Jahre 1893 bis 1900 in
Berlin 41 Sonnenscheinstunden, in Potsdam 54. Die Heilige
keit Berlins an nicht nebligen Tagen ist um das 500 fache
größer gegenüber den Tagen, wo die Großstadtnebel die Luft
*) Jendrassik, Die Neurasthenie. Volkmanns klin. Vorträge,
N. F. 476/427, 1906.
**) M. Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 9. Aufl. Leipzig 1907.
14
B. Laqaer,
Terdankeln. Skarbina hat diesen GroQstadtnebel gemalt,
Zola und W. Bölsche haben ihn beschrieben. Ich sah ein«
mal an einem Angnsttage von einer Anhöhe im Westep Lon¬
dons die Sonne untergehen; das war aber keine runde Scheibe,
sondern eine dunkelgelbliche Tunke mit hellem Rand vojl gelb¬
lichen Flecken. Nur der Umstand, daß in London und Paris
die Seewinde alle Nacht die Stadt auslttftan, gibt einen ge¬
wissen Ersatz für den Rußgehalt, welchen der Tag erzeugt
Hier wäre auch, da wir von Großstadtluft sprechen, der
Gartenstadtbewegung zu gedenken als eines sozialhygienischen
Protestes gegen die „Steinschluchtenund gegen die „Asphalt¬
alleen“, in denen die Großstädter leben. In Berliner Einzimmer¬
wohnungen Übertritt die Sterblichkeit die normale um das
Achtfache. Durch Hinausverlegung der Industrie aufs Land
sollen ästhetische, herz- und augeerfreuende Heimstätten den
arbeitenden Schichten zugänglich gemacht werden. In Eng¬
land ist diese Bewegung entstanden. Die ersten Architekten
Londons haben Gartenstadtanlagen, z. B. Bourneville und
Letchworth, entworfen; mit bescheidenen Mitteln wurden
reizvolle Wirkungen erzielt. Auch bei uns haben die Be¬
strebungen Boden gefunden; Kampfmeyer ist ihr Vorkämpfer;
der Münchener Eunstschriftsteller von Berlepsch-Vallendas
hat die Fragen an Ort und Stelle studiert und in seinem
Werke „Englische Arbeiterhäuser“*) darüber berichtet. Wie
aber auch in der Großstadt selbst die Architektur als sozial¬
hygienische Hilfskraft für die Pflege der öffentlichen Hygiene
und für die „Mühseligen und Beladenen“ verwendet werden
kann, das zeigt das Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus,
eine Idealanlage im Stil einer vornehmen und reinlichen deut¬
schen Barockstadt. Mit Recht wird darauf hingewiesen, von
welchem unschätzbaren Einfluß auf die Pflege und die Ge¬
sundung erkrankter Kopfarbeiter es ist, ob das Krankenhaus
nach seinem Aussehen sich als ein finsteres Gefängnis, oder
ob es sich unter Umständen durch sein menschenfreundliches,
♦) Englische Arbeiterhäaser. 1907. Stuttgart. Englische Gartenstädte.
1910. Stuttgart. S.a. Eine Studienreise nach engl. Gartenstädten. Berlin 1911.
**) Krankheit und soziale Lage. Herausg. von Moße und Tugend-
reich. München 1912.
Grottstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
15
gewinnendes Äußeres als ein erwünschter Zufluchtsort für im
Lebenskampf Zusammenbrechendo darstellt. In solchen ver¬
streuten Mustergebäuden, durch Gras- und Blumenatilagen
miteinander verbunden, liegt ein heimlich verborgener, hygieni¬
scher Reiz, der unter Umständen rascher wirkt und besser als
Arznei und Arzt.
Außer dem Schlaf gibt es in der Tagesarbeit des Kopf¬
arbeiters eine längere Erholungspause zwischen Vor- und Nach¬
mittag. In dieser ladet der Abgespannte seinen Nervenakku-
mnlator nicht durch Ruhe, sondern durch Zufuhr chemischer
Spannkräfte in Form der Nahrung. Hier erhebt sich eine rein
praktische Frage. Wie steht es sozialhygienisch um die eng¬
lische Tischzeit? Unser statistisches Amt, speziell die Ab¬
teilung für Arbeiterstatistik hat im Jahre 1903 über die Arbeits¬
zeit der Gehilfen und Lehrlinge sowie der Hilfsarbeiter in den¬
jenigen kaufmännischen Betrieben, die nicht mit offenen Ver¬
kaufsständen verbunden sind, Erhebungen angestellt. Diese
etwa 180 Quartseiten im Druck umfassende Erhebung*) ergab
widersprechende Anschauungen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern. Die Handelskammern einerseits und die kauf¬
männischen Verbände andererseits stimmen in ihren Forderungen
und Vorschlägen nicht überein. In Großstädten, wo die Mittags¬
wege nach Hause oder zur Speisewirtschaft weit und von der Wit¬
terung beeinflußt sind, wo die innere Ruhe zur Einnahme und zur
Verdauung einer ausführlichen Mittagsmahlzeit fehlt, wo auch
die oben geschilderte Helligkeit der Mittagstunden z. B. für
Warenprüfungen wahrgenommen werden muß, wo die Gedanken¬
gänge von Entwürfen, von großzügigen Kontorarbeiten nicht
unterbrochen werden dürfen, ist die englische Tischzeit ein
dringendes Bedürfnis. Die angelsächsischen Länder sowie
unsere Seestädte sind damit vorangegangen. Die vermeintlichen
kleinen Nachteile, z. B. daß die Hausfrauen doppelt für den Vater
und für die Kinder kochen und anrichten müssen, sind leicht
zu beseitigen. Dagegen halte ich folgende Voraussetzungen
für wichtig: Eine allgemeine, daß alle Engros-Geschäfte in der
Annahme der englischen Tischzeit gemeinsam vorangehen
müssen, und folgende spezielle Bedingungen:
*) Berlin, C. Hoymann. 1904.
16
B. Laquer,
1. Nicht nur die englische Tischzeit, sondern schon das
erste Frühstück muß unseren angelsächsischen Vettern nach¬
gebildet werden. Kopfarbeiter dürfen in den Morgenstunden,
in welchen der Magen ausgeruht und zu einer reichlichen
Mahlzeit bereit ist, sich nicht mit dem noch vielfach üblichen
Kaffee und Weißbrot begnügen, sondern eine weit ausgiebigere
Mahlzeit, enthaltend Zucker (in Form von Marmelade, Honig),
Fette, Salate, Obst, Milch, Eier genießen und zwar, was auch
wichtig ist, mit englischem Phlegma; dann wird sich von
selbst die Fähigkeit einstellen, stundenlang durchzuarbeiten
und sich mit einem kurzen Imbiß zwischen 1 und 2 Uhr zu
begnügen.
2. Die großen Bank- und Geschäftshäuser müßten es als
eine sozialhygienische Pflicht ansehen, für alle ihre Angestellte
eine gemeinsame Kantine, geräumig, luftig und mit Licht ver¬
sehen, herzustellen, in welcher zum Selbstkostenpreise ein
warmes und ein kaltes Gericht gereicht werden. Dabei daif
kein Trinkzwang bestehen, und Ruheräume event. auch ein
Rauchzimmer müssen vorhanden sein, in welchem die zweite
halbe Stunde (die erste halbe Stunde ist für die Nahrungs-
zufuhr nötig) verbracht wird. Die alkoholfreien Getränke müssen
ebenfalls in schmackhafter und billiger Form vorhanden sein,
etwa wie sie die Eisenbahnwerkstätten ihren Beamten zu 3, 4
und 5 Pf. darbieten. Solche Kantinen habe ich im Verwal¬
tungsgebäude der Hamburg-Amerika-Linie an der Alster, bei
Wertheim“ in Berlin sowie in der „Deutschen Bank“ gesehen.
Natürlich müssen gerade in den Großstädten die staatlichen
Zentralverwaltungen dem guten Beispiel folgen.
Ein drittes, die englische Tischzeit ergänzendes Moment
ist natürlich die genaue Innehaltung der Mittagspause seitens
der Angestellten und des Geschäftsschlusses seitens des Unter¬
nehmers. Ich bin auch überzeugt, daß die Provinz sich bald
daran gewöhnen wird, ihre „Ordres“ frühzeitig zu geben und
die Verspätung zu vermeiden. Sonst entstehen Verhältnisse
wie in Nordamerika, wo es Frühstücksräume mit sog. „fünf
Minuten-Lunch“ gibt.
Eine vierte Forderung ist die Erziehung der Angestellten
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
17
zum vernünftigen, hygienischen Gebrauch der Stunden von 5
und 6 Uhr nachmittags ab.
Ein vorbildliches Beispiel aus dem Auslande:*)
Die Verkehrsanstalten Australiens sind in jenem kühnen
sozialpolitischen Geiste geleitet, der das ganze dortige Wirt¬
schaftsleben beherrscht, so die Post und die Eisenbahn. Wie
an Sonntagen keine Hand sich rührt, falls es nicht dringende
Not befiehlt, so bewegen sich auch keine Güterzüge auf den
Eisenbahnen, nur die Versorgung der Städte mit der notwen¬
digsten Milch bedingt für den Umkreis der Städte einen be¬
schränkten Verkehr. Wo alles Geschäftsleben ruht, ist natürlich
auch kein Bedürfnis, an Sonntagen die Schalter der Post¬
anstalten geöffnet zu halten, und an Werktagen können sie um
6 Uhr schließen, da die großen Banken um 4 Uhr, die meisten
Handelsbureaus um 5 Uhr, die Verkaufsläden um 6 Uhr ihre
Tätigkeit einstellen.
Wer kennt nicht das Bild, das sich uns spät Abends an den
deutschen Postscbaltem darbietet? Bleiche Ladenangestellte
bringen Stöße von Paketen, kleine Geschäftsleute und müde
Heimarbeiter drängen sich mit ihren Sendungen, langsam bewegt
sich die Reihe vorwärts, um von den Postbeamten, die des Tages
langer, einförmiger Dienst müde und mürrisch gemacht hat, um¬
ständlich abgefertigt zu werden. In Australien hat man mit der
Begleitadresse aufgeräumt. Ein Zettel, welcher Gewichtsangabe,
Frankierung und Absenderadresse aufnimmt, ist dem Paket
selbst aufzukleben und dieses wird wie ein Brief der Post¬
anstalt an vertraut; in fliegender Eile kann der Träger sein
Geschäft erledigen, und den abendlichen Heimweg antreten.
Nie hört man eine Klage über den Paketpostdienst.
Auch das sog. „fair weakend“ Londons, d. h. die Möglich¬
keit durch den Schluß sämtlicher Fabriken, Warenhäuser und
Läden Samstag Mittag vierzig Stunden fern von der Großstadt
auf dem Land, an der See verbringen zu können, ist hier zu
erwähnen; Wochenendzüge fahren ohne Zwischenaufenthalt
zu den Erholungsorten; die großen sportlich • nationalen
*) A. Manes, Ins Land der sozialen Wunder, Berlin 1910, und
R. Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft und Kultur, Jena 1910.
IH
B. Laqner,
Veranstaltungen finden Samstag-Nachmittag statt. Einige Ber¬
liner Großbanken schließen Samstag nachm. 1 Uhr.
Wie steht es, da wir nun einmal den Überseeweg
in unseren Betrachtungen angetreten, mit der Ernährungsfrage
in den Tropen, welche für die Kopfarbeiter von so großer Be¬
deutung ist. Die Arbeitsfähigkeit der Europäer sowohl als
der Eingeborenen erfährt im heißen Klima eine Herabsetzung.
Wenn nämlich die Außentemperatur, in welcher man tags¬
über zu leben und zu arbeiten hat, erheblich steigt, und
insbesondere wenn die hohe Luftfeuchtigkeit unserer Haupt¬
transpiration, also dem Regulator unserer Wärmewirtschaft
entgegen wirkt, so bemüht sich der Körper, seine eigene Tempe¬
ratur in sich selbst herabzusetzen, um der Überhitzung, der
Wärmestauung entgegenzuarbeiten. Er bewegt sich weniger
und nimmt geringere Nahrung zu sich, um eben im eigenen
Körper weniger Wärme zu erzeugen. Aber diese instinktive
Abneigung gegen die Nahrungszufuhr sinkt bei dem monate¬
langen Aufenthalt in den Tropen unter die zur Erhaltung des
Körpers notwendige Norm. Es entwickelt sich eine Art von
Unterernährung und damit sowohl eine Empfänglichkeit für
ansteckende Krankheiten (Malaria usw.) als auch eine gesteigerte
seelische Reizbarkeit, welche sich als Tropenerregung oder sog.
Tropenkoller äußert. Hierbei spielen natürlich sowohl der
Alkoholkonsum als auch die überwertigen, erregenden Ein¬
drücke mit, welche das koloniale Leben und Treiben für
Jüngere und für Neulinge mit sich bringt. Zur Zeit ist man
bemüht, einerseits zahlenmäßig das Maß dieser Stoffwechsel¬
anomalien wissenschaftlich zu ergründen, und andererseits
mit Hilfe der technisch so vorgeschrittenen Kältemaschinen
in den tropischen Geschäfts- und Aufenthaltsräumen für eine
Abkühlung der Zimmertemperatur, also für eine Verminderung
der Wärmestauung zu sorgen, gerade so wie wir hier unsere
Zimmer im Winter heizen. Die Ergebnisse dieser Forschungen*)
können unter Umständen der Akklimatisation gerade der Kopf¬
arbeiter in den Tropen zu Hilfe kommen.
In England, Amerika und Australien sind ja auch die
*) K. B. Ranke, Münchener mediz. Wochenschrift 1907, 8. 1435
nnd F. Daeubler, Deatsche mediz. Wochenschrift 1912, 8. 666.
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
19
Gastwirtschaften sonntäglich geschlossen. In Schweden und
Norwegen dürfen die ßranntweinschenken Sonntags nur von
11—1 Uhr offen gehalten werden.*) Wie anders sieht es bei
uns aus?
In Berlin wurden im Jahre 1905 pro Kopf 215 Liter
Bier, 9'/, Liter Wein und 12 Liter Branntwein, bez. auf die
über 15 Jahre alten männlichen Erwachsenen (das sind doch
die eig. Konsumenten) mal SVs berechnet = 715 Liter Bier,
30 Liter Wein und 40 Liter Branntwein pro Kopf und Jahr
getrunken; in Geldwert 153 Mill. Mark für Bier, 25 Millionen
Mark für Wein und 27 Millionen Mark für Schnaps. Insgesamt
205 Millionen Mark, mit Trinkgeldern 225 Millionen. — Da das
Einkommen jedes Berliner Einwohners, Kinder, Frauen und Säug¬
linge eingeschlossen, 700 M. beträgt, so vertrinkt (im Durchschnitt)
jeder Berliner Einwohner 100 M., d. i. den 7ten Teil seines
Einkommens, nämlich 75 M. für Bier, 12 M. für Wein und
13 M. für Branntwein; jeder Bewohner Deutschlands vertrinkt
im Durchschnitt nur 47,10 Mk. Der Etat der gesamten Stadt
Berlin betrug 1902/03 112^/4 Mill. Mark, d. h. gerade nur die
Hälfte der genannten für Alkoholika ausgegebenen Summe.
Die Zahl der Schankstätten in Berlin betrug 1905 16000, d. h.
auf 128 Einwohner kam eine Schankstätte. Da nur 25000
bewohnte Grundstücke vorhanden sind, so kam auf jedes
zweite Grundstück eine Kneipe. Die „Große Friedrichstraße“
enthält mehr Kneipen als Häuser. „Aschinger“ verschänkt
jährlich b'/i Mill. Liter Bier, d. h. ungefähr den 80. Teil des Ge¬
samtkonsums. In den „Rheinischen Weinstuben“ werden täglich
300 Flaschen Rotwein, 500 Flaschen Moselwein und 300 Flaschen
Sekt getrunken; im „Kaiserkeller“ beinahe das Doppelte.**)
Der englischen Tischzeit entspricht w. o. e. als notwendige
Gegenforderung, daß die freie Zeit von dem Kopfarbeiter in
hygienischer Hinsicht vernünftig und nutzbringend ausgefüllt
wird. Hier kommt abgesehen von den Fortbildungsschulen,
*) B. Laquer, Temperenz und Trunksucht in den Verein. Staaten,
— und: Gothenburger System und Alkoholismus, in „Grenzfr. d. Nerven-
und Seelenlebens“ Nr. 32und53, 1905 undl907, J. P. Bergmann, Wiesbaden.
**) M. Hirscbfeld, Die Gargel von Berlin. Großstadt-Dokumente,
Bd. 41, 1905.
2*
20
B. Laqaer,
Ton Volksbibliotheken und Lesehallen, welche z. B. in den
Vereinigten Staaten ihre Filialen in den öffentlichen Parks,
ja sogar anf den o. e. Dachgärten errichten, welche also die
Konsumenten aufsuchen — „drüben“ kommen auf jeden Ein¬
wohner 2 entliehene Bücher, in Deutschland 18 Bücher —
all das in Betracht, was man als Sport bezeichnet; die
Wertschätzung dieses Nerven- und Muskel-Training bedarf
aber einiger Einschränkungen. Es ist nicht zweckmäßig,
unmittelbar an geistige Anstrengungen, sportliche, körperlich
ermüdende Mnskeltätigkeiten anzuknüpfen. Ebenso wie der
körperlich Erschöpfte nicht im Stande ist, sofort geistige Arbeit
zu leisten, so soll auch der geistig Abgenutzte nicht sofort
irgend ein Training beginnen. Die dazu notwendige WiUens-
anstrengung und Aufmerksamkeit, all’ das Zusammenwirken von
Gehimteilen, welche beim Sport die Grundlage aller Leistungen
bildet, nutzen den erschöpften Kopfarbeiter ab; anstatt dos
erhofften Vorteils entwickelt sich eine weitere Ermüdung
des Gehirns. Aus dem gleichen Grunde ist ja der Stundenplan,
welcher in Schulen die Turnstunde in die Mitte der Unter¬
richtsstunden verlegt, falsch.
Am wohltätigsten wirken die Freiluftsports: Radfahren,
Schwimmen, Rudern, Bergsteigen, Lawn-Tennis, Schlittschuh¬
laufen, Schneeschuhlaufen, weil sie die Muskulatur, die At-
mungs- und Zirkulationsorgane, das Nervensystem und die
Sinneswerkzeuge gleich günstig beeinflussen; je gleichmäßiger
diese Beeinflussung geschieht, desto günstiger wird der Ge¬
samtorganismus beeinflußt. Oft sündigen auch Kopfarbeiter
dadurch, daß sie jenseits der 40 er Jahre noch einmal ver¬
suchen, schwerere gymnastische Übungen z. B. Zimmergymnastik
anzufangen. Wir Ärzte setzen die gute Wirkung der Zimmer-
turn-Übungen z. B. des „Müllems“ aber — nur für jüngere
Leute — mehr auf die Rechnung des damit verbundenen
morgendlichen oder abendlichen Luftbades, als auf die der
Muskelübung. Von großer Bedeutung für den Sport ist es
auch, den Alkoholgenuß dabei ganz fern zu halten, weil der¬
selbe die Möglichkeit der Überanstrengung des Herzmuskels
vergrößert, und weil er über die Müdigkeitsgefühle, welche
als „Warner“ wirken, hinwegtäuscht. Grade die Unter-
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
21
suchungen von Durig*) über die Beeinträchtigung der
Leistungen von Bergsteigern durch AlkoholgenuB ergaben um
20°/o geringere Leistungen bei größerem Energieverbrauch.
Der Alkohol ist, wenn auch ein Teil der Energie des zuge¬
führten Alkohols eine Ersparung an Nahrungsmitteln bewirken
kann, für die Versuchsperson nicht als Nahrungsmittel ver¬
wertbar, da die Mengen, die zwecks Erzeugung einer einiger¬
maßen bemerl^enswerten Arbeit genossen werden müßten, so
groß sind, daß sie bei längere Zeit fortgesetzter Zufuhr unbe¬
dingt zu schweren Störungen im Organismus führen.**) Mit
Hilfe der Energie, die den gewöhnlichen Nahrungsmitteln ent¬
stammt, wird dieselbe Arbeitsleistung in kürzerer Zeit und bei
geringerem Verbrauche geleistet, als bei Zusatz von Alkohol
zur Nahrung. Die beste Stärkung des durch Sport Ermüdeten
ist gute Schokolade oder — im Hochgebirge — stark ge¬
süßter Tee.
In den angelsächsischen Ländern, in welchen unsere mili¬
tärische Erziehung fehlt — die Römer nannten das Heer Exer-
citus d. h. Übung —, spielt der Sport als Stählung des Körpers
eine ungeheure Rolle. In alten Puritaner-Zeiten war der Sport
als triebhafter Lebensgenuß schlecht beleumundet. Heute gilt
„athletische Auszeichnung" dem Engländer als Lebensideal.
Gewiß hilft sportive Ausbildung Widerstände zu überwinden,
den Charakter zu bilden; sie steigert das Daseinsgefühl, sie
lenkt zuweilen von Kneipe und vom Sexual-Verkehr ab; dort
jedoch, wo der Sport zum Mittelpunkt der Volks-Kultur auf¬
rückt, ist er kulturfeindlich. Die Berliner Sechs-Tage-Rennen
sind an Roheit nur den — Stiergefechten vergleichbar. In
England werden pro Jahr 650 Millionen M. für Sport ausge¬
geben. Ja, ein Großkaufmann, welcher in seinem überseeischen
Haus Angestellte verschiedener Nationen beschäftigt, meinte
kürzlich, daß die Engländer im Geschäftsleben deshalb immer
unbrauchbarer würden, weil die Sportneigung das Interesse an
der Berufsarbeit überwuchere. Und v. Schulze- Gaevernitz
hat derartige Betrachtungen in seinem jüngsten Werke „Briti-
*) A. Durig, Pflügers Arch. f. Physiologie, Bd. 113.
**) Robert Heßen, Alkohol und Sport, Preuß. Jahrbuch 1893.
22
B Laqucr,
scher Imperialismus und englischer FreihandeP'"^) unter dem
Titel „Kapitalistische Erschlaflfung“ ausführlich erörtert.
Wie hoch der Sport neuerdings auch von unseren Ver¬
waltungsbehörden eingeschätzt wird, dafür gibt es ein Zeugnis;
das Statist. Jahrb. f. d. Deutsche Reich widmet dem Turnen,
dem Rudersport, den Volks- und Jugendspielen eine eigene
Abteilung.
Es gibt nach diesem Jahrbuch*) bei uns etwa 828574
Mitglieder von Turnvereinen; nur die Hälfte davon beteiligen
sich wirklich am Turnen; von 40000 Mitgliedern Deutscher
Rudervereinen beteiligten sich 1905 nur 4653 aktiv an Rennen!
Zu den hygienischen Mißständen des Kopfarbeiters gehört
natürlich auch die fortgesetzt wachsende Differenzierung der
Arbeit. Das Arbeitsfeld jedes Einzelnen wird immer enger,
immer monotoner. Die Arbeitsgeschicklichkeiten werden tech¬
nisch in ihre Atome aufgelöst und bilden eine Art Baustoff
für das Werk des Unternehmers, welcher erst die verschieden¬
artigen Tätigkeitsfragmente zu einem organischen Ganzen zn-
sammenfaßt. Im engen Kreise des Berufslebens verengert sich
der Sinn oft bis zur völligen Stumpfheit; der Einzelarbeiter ist
oft nur ein wesenloser Teilfunktionär eines Riesenbetriebes, und
wir fragen uns, ob wir für den Verlust an Lebensfülle und
Schaffensfreude in unserem Wirkungskreise genügend ent¬
schädigt sind durch die Varietäten der Kultur, d. h. ob das
Leben zwar genußreicher, aber ob es nicht auch freudenarmer
geworden. Daher die Aufforderung des Staatssekr. Delbrück,
die alte Arbeitsgemeinschaft durch die Kameradschaft zu ersetzen.
Der materielle Lohn, den wir erhalten, ist doch nicht das einzige
Entgelt, nicht der alleinige Maßstab unserer Arbeitsgröße. Es
bilden sich auch immer neue Berufe. Im Jahre 1882 hatten
wir 6000, im Jahre 1895 10000, jetzt existieren über 15000
Einzelberufe. Der englische Humorist Jerome beginnt eins
seiner Bücher über uns mit den Worten: „Deutschland
ist ein Land, welches in zwei Hälften zerfällt, von denen die
eine Hälfte die andere fortwährend examiniert.Natürlich ist
*) Leipzig 1903; vgl auch K. Peters, England und die Engländer,
Berlin 1912.
♦*) Jahrgang 1908.
Großstadt-Arbeit uod ihre Hygiene.
23
es die Aufgabe des Einzelnen, aus einem Teilmenschen sich
zu einem Vollmenschen zu entwickeln, und was der Beruf durch
Eintönigkeit an dem Nervensystem verdirbt, in den Mußestunden
durch harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten wieder zu er¬
setzen. Dabei spielt eine große Rolle, was wir an körperlichen
und geistigen Anlagen unversehrt aus Haus und Schule mitge¬
bracht. Die Gebürtigkeit aus kleinen Verhältnissen und Städten
oder vom flachen Lande her ist eine solche glänzende Mitgabe.
Kant war ein Sattlersohn, Luther der Sohn eines Bergmannes.
Für diejenigen, welche eine zunehmende Neuropathisierung
durch Handel und Industrie fürchten, mögen auch die Gesetze
der Anpassung hier erwähnt werden. Wenn wir unsere Ur¬
großeltern plötzlich auf den Potsdamerplatz in Berlin versetzten,
sie würden hilflos dastehen, ja unter der Wucht der Eindrücke
zusammenbrechen. Wenn wir in einen großen Maschinensaal
eintreten, so verstehen wir unser eigenes Wort kaum, während
die Arbeiter und die Werkmeister ihre Gehörorgane dem Sausen
der Räder, dem Gestampfe der Dampfhämmer längst angepaßt
haben. Daß die Militärtauglichheit der großstädtischen Kopf-
und Handarbeiter im Verhältnis zu denen des flachen Landes
wesentlich geringer ist, ist wohl auch bedeutungsvoll.*)
Auf eine andere Konsequenz haben die Volkswirte auf¬
merksam gemacht. Unsere Gesamtsterblichkeit ist herunter¬
gegangen; es bleiben p. a. 350000 Menschen mehr am Leben
als früher. Wodurch? Der Tod wird schrittweise zurück¬
geworfen! Durch Vermeidung von Seuchen und durch Ver¬
meidung von Notstandsjahren. Die Sterblichkeit ist aber in
den Städten geringer als auf dem Lande, und zwar infolge
von Differenzen im Altersaufbau; es kommen die kräftigsten,
risikofreisten Menschen vom Lande her in die Stadt.
Hingegen nimmt mit zunehmendem Wohlstand und ver¬
besserter Kultur die eheliche Fruchtbarkeit ab — selbst in
der Oberschicht der Handarbeiter. Also die in den Gro߬
städten günstigeren wirtschaftlichen Verhältnisse regen zwar
zum Heiraten an, aber nicht zur Kindererzeugung; so sind die
*) E. Well man, Abstammung, Beruf und Heeresersatz. Leipzig 1907,
und J. Kaup, Ernährung und Lebenskraft der ländlichen Bevblkernng.
Berlin 1911.
24
B. Laquer,
Juden, früher wegen ihres Kinderreichtums bekannt, in Gefahr
in Deutschland wenigstens auszusterben.*)
Die Arbeitsteilung ist zwar ein das Nervenleben be¬
lastendes Moment; sie bietet aber auch zugleich eine ent¬
lastende Seite dar. Auch der Kopfarbeiter muß das Maschinen¬
prinzip in seinen engen Bereich aufnehmen und das technische
Können sich völlig zu eigen machen. Es verschwinden z. B.
in den modernen Kontorbetrieben mehr und mehr die Zu¬
fälligkeiten in der Ausführung geistiger Prozesse. Die Maschine
wird frei von der zufälligen Veranlagung bestimmter Persön¬
lichkeiten (welche einstens wegen ihrer besonders feinen
Zunge, ihrer empfindsamen Nerven, ihrer klaren Augen und
offenen Ohren hoch geschätzt wurden) und ebenso von der
naturveranlagten Zufälligkeit der Ausführung, die solange be¬
stehen bleibt, als lebendige Menschen, durch deren Adern
warmes Blut fließt, die Funktionen ausüben.
Auf der allgemeinen Ausstellung für Bureaubedarf, welche
vor Jahren in Berlin stattfand, konnte man ja derartige tech¬
nische, die geistige Arbeit unterstützende, ja sie ersetzende
Mittel beobachten. Der auf dem Schreibtisch befestigte Blei¬
stift verändert seinen Platz nicht, er ist eben „zentriert** und
nicht zerstreut; der amerikanische Additionsapparat arbeitet
rascher und sicherer als das Gehirn, welches ihn erfunden
hat. Er hat keine Nerven, er irrt sich nicht. Bankdirektoren
erzählten mir, daß wenn ein Beamter in Zusammenrechnung
der sogen. „Provisionen** sich irrt, der die Rechnung kon¬
trollierende zweite Beamte mit großer Wahrscheinlichkeit den
Fehler übersieht. Diese Wahrscheinlichkeit des Irrtums ist
fast gleich Null, wenn zwei Beamte unabhängig voneinander
an zwei Rechenmaschinen die Addition ausführen. Automatisch
arbeitet auch die Handnummeriermascbine und automatisch
verm^ das moderne Warenhaus mit der Lohnauszahlungs-
mascbine seine 3000 Angestellten abzufertigen. Alles was im
modernen Kontor maschinelle Ordnung und Technik heißt, be¬
deutet Hygiene des Gehirns, denn sie entlasten die Gehirne
der Angestellten.
*) F. Theilhaber, Die Zukunft der .Juden. München, 1911.
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
25
Gemäß dem Vorhergesagten neigen die Krankheiten
der Kopfarbeiter nach bestimmter Richtung hin. Auch hier
ei^bt die Statistik Belege. Nach der oben erwähnten £r>
hebnng worden in den Jahren 1901, 1902, 1903 von den zirka
8—10000 kaufmännisch beschäftigten Iditgliedern der Leipziger
Ortskrankenkasse zwischen % und ^jj aller Mitglieder erwerbs¬
unfähig, und zwar erkrankten in erster Linie Verdaunngs-
organe, sodann das Nervensystem, die Lungen, die Augen und
die Ohren. Auch bei einer Hamburger kaufmännischen Kranken¬
kasse, welche noch dazu als eingetragene Hilfskasse in der
Lage ist, ca. 8 Prozent ihrer Aufnahmegesuche abzulehnen,
also eine Art Auslese zu halten, erkrankten die Mitglieder in der
gleichen Reihenfolge. Umfangreiche Statistiken, nicht sowohl
über die Krankheitsgefährdung, sondern auch über die Sterb¬
lichkeitsziffer der Kopfarbeiter, haben England und die Schweiz
geliefert.*) Wenn man die Normalsterblichkeit auf 100 setzt,
so weisen die Geistlichen die Zahl 53 auf. Die Lehrer 69,
die Anwälte 82, die Ladeninhaber 86, das Kontorpersonal 91,
die Handelsreisenden 96, die Ärzte 97, die Gastwirte haben
166. In der Schweiz, wo eine andere Berechnungsart und
auch eine andere Umwelt (wenige Großstädte!) mitwirken,
weisen die Geistlichen die Zahl 97 auf, die Anwälte 127, der
Handel 131.
Nun gibt es auch noch Zahlen, aus denen für eine be¬
stimmte Krankheit die Unterschiede der Anwartschaft zwischen
Kopf- und Handarbeitern hervortreten. So haben die Möglich¬
keit an Tuberkulose zu erkranken in England die Geistlichen
35, die Ärzte 55, der Handel 90, die Buchdrucker 190. In
der Schweiz die Landwirte 54, die Geistlichen 121, der Handel
176, die Schlosser 259. Die Unterschiede hängen mit Rassen-
nnd Volksernährungsfragen zusammen, ferner damit, daß in
England, einem Industriestaat das beste und kräftigste
Menschenmaterial an dem Handel sich beteiligt. In der
Schweiz, einem Agrarstaat, widmen sich die wmiiger Wider¬
standsfähigen dem Handel. Auch für Unfälle gibt es eine
englische Statistik: Lehrer und Geistliche haben die Zahl 15
*) Pr. Prinzing, Handbuch der mediz. Statistik. Jena, 1906.
26
B. Laquer,
Kontorpersonal 37, die Handlaogsreiseoden, welche die Eisen¬
bahn oft benutzen, 82, die Bergleute 241.
Das, was zur Gesunderhaltung der Kopfarbeiter gerade im
Handelsstande führt oder führen soll, faßt man auch als kauf¬
männische Sozialpolitik zusammen. Dieselbe ist jetzt bei uns
auf gutem Wege, vor allem aus politischen Gründen. Man
will Kopf- und Handarbeiter, und dies mit vollem- Recht,
nicht in eine einzige proletarisierte Schicht zusammenfallen
lassen. Bei der drohenden Atomisierung des Volkes, bei der
zunehmenden Zersiebung aller Schichten ist dieses Scheidungs¬
bedürfnis berechtigt; es beruht aber sowohl seitens der Re¬
gierung als auch seitens der kaufmännischen Verbände auf
dem Selbsterhaltungstrieb und nicht auf Standesdünkel. Nur
selbständige große geschlossene einheitliche Organisationen,
hinter denen Hunderttausende stehen, vermögen heute auf die
Parlamente und die Parteien zu wirken. Natürlich liegt auch
die Gefahr der Überspannung von Forderungen vor. So wünscht
man Handelsinspektoren zur Beseitigung der hygienischen Mi߬
stände, wie sie für Gewerbe und Fabriken seit 1892 existieren.
Die Einrichtung, die in England 15 Jahre besteht, hat sich
dort nicht besonders bewährt. Ich verweise auf die Kritik,
welche van der Borght,*) früher Direktor unseres Statisti¬
schen Amts, und Vogelstein*) gegen die zunehmende Burean-
kratisierung des Handelsstandes gerichtet haben. Es würde
zu weit führen, die Bestrebungen zur Einführung einer Ver¬
sicherung gegen Invalidität sowie einer solchen für Witwen
und Waisen, wie sie gesetzlich io Österreich seit 1906 be¬
steht, hier vom ärztlichen Standpunkte zu besprechen. Jeden¬
falls haben die Kopfarbeiter, wenn sie ihre Wünsche auf
hygienischen Grundlagen aufbauen, bei der ganzen Richtung
unserer Zentralverwaltungen die denkbar größte Aussicht auf
Erfolg.**) Der Kopfarbeiter ist ja speziell im Handel zum
*) Th. Vogelstein, Der Stil des amerikanischen Qesch&fts-
lebens. SUdd. Mon.-Hefte 1909/10.
**) Auf dieser Betrachtung beruht auch der große ideelle und
materielle Erfolg, den der Wiesbadener Qroßkaufmann Jos. Baum mit
seiner Propaganda für Erri(ditung von kaufmännischen Erholungsheimen
innerhalb kürzester Zeit erreichte.
Großstadt*Arbeit und ihre Hygieiie.
27
Unterschied von dem Handarbeiter individualistisch geartet,
weil er mit dem Geschäft seines Prinzipals trotz der oben
erwähnten Arbeitsteilung immer noch inniger verwachsen ist
als der Fabrikarbeiter, und weil die Handlungsangestellten
eine größere Möglichkeit haben, selbständig zu werden, als der
Vorarbeiter oder der Werkmeister oder der Ingenieur. Anderer¬
seits ist es interessant, daß gerade jene Großbetriebe, denen
man vorwirft, daß sie den Zwischenhandel des Einzelkaufmanns
ausgeschaltet haben, nämlich die Warenhäuser, in sozial¬
hygienischer Rücksicht mit bestem Beispiel vorangehen, ebenso
wie die Konsumvereine und die Großbanken. Diese Großbetriebe
führen zwar zur Bildung einer umfangreichen Bureaukratie,
andererseits fühlen sie aber die sittliche Verpflichtung, die Für¬
sorge für ihre Angestellten besser auszugestalten als der Klein¬
betrieb. Man überschätzt beiläufig diese Ausschaltung des
Detail Verkehrs gewaltig, also z. B. den Umsatz der Waren¬
häuser; die 200 deutschen Warenhäuser setzten nur 300 Millionen
Mark um, das ist Proz. der 20 Milliarden, welche 1904
der gesamte deutsche Einzelhandel umschlug. Von den schon o. e.
Kantinen der Warenhäuser ist nur Gutes zu berichten. Kein
Angestellter darf mehr als eine Flasche Bier zu Mittag trinken,
was durch Marken kontrolliert wird. Aber auch die für die
Angestellten und für die Käufer bestimmten Speisehäuser
haben keinen Alkoholzwang; wohl aber ist das Rauchen ver¬
boten und die billigen Limonaden unterstützen die Antialkohol¬
bewegung. Dennoch setzte das Wertheim-Restaurant 1905
34 Millionen Mark um. Die tägliche Arbeitszeit bei „Wert-
heim*^ ist seit dem 1. Januar 1907 um Stunde verkürzt
worden; sie beträgt zurzeit 9 Stunden. Die Mittagspause für
entfernt Wohnende umfaßt 2^|^ Stunden, die für zweites
Frühstück und Vesper je 18 Minuten. Der jährliche Urlaub
beträgt 4 bis 20 Tage bei weiterlaufendem Gehalt; bei
schwereren Krankheiten werden Zuschüsse zu Badereisen ge¬
währt; schwächliche Angestellte dürfen nicht überanstrengt
werden; für die Verkäuferinnen gibt es Sitzgelegenheiten;
Glasfenster schützen die Kassiererinnen gegen den 'nZug‘'. Die
Angestellten haben Preisermäßigung für gewisse Theater; bil¬
lige Sommerfrischen werden ihnen nachgewiesen. Dazu kommen
28
B. Laquer,
dor pünktliche 8 Uhr-Schluß abends, die volle Sonntagsruhe,
der Wegfall von Lehrlings-Züchterei. In allen diesen Dingen
prägt sich natürlich nicht nur das gute Herz der Unternehmer,
sondern das wohlerwogene Interesse an der Hochhaltung der
Gesundheit und der Arbeitsfreudigkeit ihrer 30C0 Angestellten
und die Rücksicht auf die größere Öffentlichkeit des Betriebes
aus. Die gesamten Gehälter der letzteren betrugen im Jahre
1905 6^/2 Millionen Mark.
In Nordamerika gibt es in Warenhäusern sog. „sozialpoli¬
tische Sekretäre“, meistens Frauen. Sie überwachen den Speise¬
saal, sie gründen Yerkäuferinnen-Ferienheime, sie geben Rat¬
schläge für zweckmäßige Toiletten, sie gründen Sparkassen,
geben künstlerische und literarische Anregungen für die Muße¬
zeit, kurz, sie sorgen für die Erholung und Lebenslust der
Angestellten.
Zu den hier aus dem großen Gebiet der Hygiene der Kopf¬
arbeiter herausgenommenen Mosaiksteinen gehört auch noch
ein wichtiges Moment: Was zieht jährlich Hunderttausende in
die großen Städte? In erster Linie die Aussicht auf wirt¬
schaftliche Erfolge, sodann die naiv-phantastische Erwartung
ungekannter Genüsse, welche die Kleinstadt nicht bietet. Zum
dritten das Freiheitsbedürfnis. In der Großstadt fällt ferner
die Kontrolle über die freie Zeit seitens des Arbeitgebers und
seitens der Familie fort. Endlich ein individuelles und ein zu¬
gleich demokratisches Empfinden: civis romanus sum, d. h. ich
wohne mit Millionen zusammen in Berlin, in Paris, in London
— „im Mittelpunkt der Ereignisse!“ Und wie wird nun der
einzelne Stein, der in diese Großstadtmühle kommt, bearbeitet?
Wie reagiert das Nervensystem des Provinzialen auf die Gro߬
stadt? Alle die technischen, zur Tempo-Beschleunigung, zur
Überwindung von Raum und Zeit führenden Erfindungen
kommen vor allem in der Großstadt zur Geltung. Jeder Gang
auf der Straße stimuliert: ich bekenne zum Beispiel, daß ich,
obzwar öfters nach Berlin reisend, jedesmal von neuem über
den Straßendamm zu gehen lernen muß; die Mannigfaltigkeit
der Eindrücke schärft das Verstandesvermögen, während sie
allerdings das Gemütsleben abstumpft. Die sachliche Auf¬
fassung von Dingen und Menschen überwiegt, der Verkehr mit
Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene.
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dem Nachbar, die gemütliche Aussprache mit dem Freunde,
der Spielraum der Entschlüsse, alles das fällt fort. Pünktlich¬
keit, Zeiteinteilung, dazu nivelliertes Empfinden, Eühlbleiben
UDQ jeden Preis, rasches Erfassen und rasches Vergessen sind
an die Stelle naiverer und feinerer Gefühle getreten. Und
so wächst ein Geschlecht heran „mit Taschenuhren, Gummi¬
schuhen und elektrischem Licht, ein Geschlecht, das in seiner
Kindheit die Jahreszeiten nur im Anschauungsunterricht durch¬
nimmt“.*) Und von der Großstadt gehen derartige, unser
Nervenleben beeinflussende Gewohnheiten auch weiter ins
Land hinaus. Das großstädtische Konfektionshaus schreibt die
Kleidermode auf dem Lande vor, wie der großstädtische Tingel¬
tangel die Gassenhauer angibt, die in den Dorfstraßen ge¬
sungen werden. In letzter Linie wird von den modernen
Kulturpsychologen alles dies nicht nur auf die Großstadt, son¬
dern auf den Einfluß der Geldwirtschaft, in deren Zeitalter
wir leben, zurückgeführt. Es geht uns wie dem gestiefelten
Kater, welcher sich große Stiefel anzieht, um lange Wege
zurücklegen zu können, aber unsere Glieder sind noch nicht
in die Stiefel hineingewachsen, d. h. die technischen Errungen¬
schaften sind rascher als unsere Anpassungsfähigkeit; die alten
Formen sind wurzellocker geworden, die neuen haben sich
noch nicht befestigt. „Eine riesige, reißende Strömung trägt
uns dahin; wozu sich abmühen, die Tiefe und Schnelligkeit
dieser Strömung zu messen?“ (Taine.) Aber die Klagen über
die gute, alte Zeit, und daß das Behagen geschwunden und
die Zufriedenheit und das Gleichgewicht verloren gegangen,
sind ein Erbteil unseres Geschlechtes. Hans Delbrück hat
einmal**) durch den Lauf der Weltgeschichte hindurch aus
jedem Jahrhundert die Zeichen und Wunder, d. h. die schrift¬
lichen Zeugnisse derjenigen gesammelt, welche das Vergangene
zu Ungunsten der Gegenwart lobten. Er kam schließlich im
Wandel der Zeiten beim alten Nestor an, der erzählt, was
in seiner Jugend für Menschen gelebt und wie sie gewesen —
*) W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahrli.
2. Aufl, 1910.
**) Preuß. Jahrb. 1891.
30 B. Laqucr, Großstadt-Arbeit und ihro Hygiene.
dagegen aber heute „wie heute die Sterblichen sind“, oi yi
ßQlDXoi flVf!
Das also mag uns Trost gewähren in dem Zeitalter der
„Reizsamkeit“, in welchem wir nach Karl Lamprecht’s Auf¬
fassung leben.
Auch unsere eigene Darlegung ist von der Vergangenheit
ausgegangen; sie entrollte Ausschnitte aus der Sozialpolitik
alter Zeiten und kehrt nun zum Schluß wieder zur Vergangen¬
heit zurück. Der griechische Ausdruck für Arbeit — novot; —
Pein — bedeutet Mühe. In dem lateinischen Wort „labor“
steckt ebenfalls das Wort: „Last“. In dem deutschen Worte
Arbeit hängt die Vorsilbe „Arb“ nach Jakob Grimm mit
der slavischen Wurzel „Rab“ zusammen, welche wir in dem
„Robbot“ des Ostens kennen; wie kurz und scharf klingt
„business“, wieviel „harte“ Konsonanten enthält das Wort:
Pflicht! Dennoch werden wir nicht fehl gehen anzunehmen,
daß die Arbeit viel mehr und viel bedeutendere Kulturwerte
geschaffen, als sie seelische Werte vernichtet hat. Und wer
selbst diese Wirkung nicht anerkennt, wird jedenfalls das Wort
beherzigen dürfen:
„Nur die Arbeit führt uns hinweg aus düsterem Lebens¬
verneinen,
Sie gibt der Stunde einen Zweck, hat auch das Leben
— keinen.“
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S.
Sammlung zwangloser Abhandlungen
aus dem Gebiete der
Nerven- und Geisteskrankheiten.
In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die
Bedürfnisse des praktischen Arztes.
Begründet von Professor Dr. Konrad Alt in Uchtspringo (Altraark).
Herausgegeben von
Geh. Hof rat Prof. Dr. med. A, Hochc, Freiburg i. ßr.
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Weibes. Zehnte Auflage. Mit Bildnis des Yerfassers. Einzelpreis M. 1,60.
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