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Full text of "Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten 9.1912"

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zwanglosTr Abhandlungen 

aus dem Gebiete der 

Nefven- und KeisteskranklieiteD. 


Begründet von 

Direktor Prof. Dr. Konrad Alt, 

Ucbtspringe (Altmark). 

In Rücksicht anf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die 
Bedürfnisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung 

der Herren Geheimer Medizinal>Rst Professor Dr. Anton in Halle, Prof. 
Dr. Aschaffenhnrg in Köln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger 
in Jena, Prof. Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen, 
Geh. Medizinal'Rat Prof. Dr. Goldscheider in Berlin, Professor und 
Direktor Dr. Eirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. ErOmer 
in ConradsteiOj Sanitätsrat Dr. Laquer in Frankfurt a. H., Medizinalrat 
Dr. Majser in Hildburghauson, Med.-Rat Dr. Näcke in Hubertnsbnrg, 
Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Pn^, Direktor Dr. 
H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in Ucbtspringe, Geheimrat 
Dr. Schäle in Illenau, Prof. Dr. Sch ult ze in Greifswald, Geb. Med.-Rat 
Dr. Siemens in Lauenbnrg, Geh. Med.-Rat Dr. von Strümpell in 
Leipz^ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ünverricht in Magdeburg, Prof. Dr. 
von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor 
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin 

heransgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoche, 

Freiburg i. Br. 


Band IX. 


Halle a. S. 

Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 

1912. 



Inhalt. 


Schnitze, Ernst. Der Kampf um die Rente nnd der Selbst¬ 
mord in der Rechtsprectanng des Reichsrersiche- 
rnngsamts. 

Dierlich, Nervenarzt Dr. med. Symptomatologie und 
Diiferentialdiagnose der Erkranknngen in der hinteren 
Schädelgrube mit besonderer Beräcksichtignng der 
für einen chirurgischen Eingriff zugängigen. 

Bethge, W. in Halle a. S. Der Einfluß geistiger Arbeit 
auf den Kflrper unter besonderer Berflcksichtignng 
der Ermüdungserscheinungen. 

Mngdan, Dr. Franz in Freiburg i. B. Periodizität nnd perio¬ 
dische Geistesstörungen. 

Laquer, Sanitätsrat Dr. Leop. in Frankfurt a. M. Die Heil¬ 
barkeit nervöser Unfalisfolgen. Dauernde Rente oder 
einmalige Kapitalabfindnng ? 

Laquer, Sanitätsrat Dr. B. in Wiesbaden. Die Großstadt- 
Arbeit nnd ihre Hygiene. 


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Del: Kampf Keüte' 


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Sammlung 

zwangloser Abhandlungen 

aus dem Gebiete der 

Nerven- und Geisteskrankheiten. 


Begründet von 

Direktor Prof. Dr. Konrad Alt, 

Ucbtspringe (Altmark).. 

In Rücksicht anf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die 
Bedürfiiisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung 
der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. Dr. 
Aschaffenbnrgin Köln, Geheim. Med.-Rat Prof.Dr. Binswanger in Jena, 
Professor Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen, 
Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Goldscheider in Berlin, Professor 
und Direktor Dr. Kirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. 
Kr Ürner in Gonradstein, Sanitätsrat Dr. La quer in Frankfurt a. M., 
Medizinalrat Dr. Mayser in Hildburghausen, Med.-Rat Dr. Näcke in 
'Hubertusburg, Profc Dr. Oppenheim in Berlin, Hofrat Prof. Dr. Pick 
in Prag, Direktor Dr. H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in 
üchtspringe, Geheimrat Dr. Schüle in Illenau, Prof. Dr. Schultze 
in Greifswald, Geh. Med.-Rat Dr. Siemens in Lauenbnrg, Geh. Med.-Rat 
Dr. von Strümpell in Breslau, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ünverricht 
in Magdeburg, Prof. Dr. von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil 
in Stuttgart, Direktor Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. Ziehen in Berlin 

herausgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoche, 

Freiburg i. Br. 


Band IX, Heft 1 



l)er Kampf um die Rente und der Selbstmord 

in der 

Rechtsprechung des Reichsyerslcherungsamts. 

Von 

Ernst Schnitze. 

Vor einigen Jahren (Januar 1905) habe ich im Aufträge 
des Reichsversicherungsamts einen Arbeiter Namens Jung be¬ 
obachtet, der Ausgang des Jahres 1886 eine unerhebliche 
Hoden Verletzung erlitten hatte. In meinem Gutachten kam ich 
zu dem Schluß, daß Jung völlig erwerbsunfähig sei, da er 
ausgesprochene hysterische Störungen und zahlreiche hypo¬ 
chondrische und paranoische Züge bot. Diese Störungen waren, 
wenn auch weniger erheblich, schon einige Jahre vorher von 
Max La ehr, Haus Schönow, festgestellt und vom Beichsver- 
sicherungsamt als Folge des Unfalls aufgefaßt worden. Des¬ 
halb brauchte ich in meinem Gutachten nicht zu der in den 
ünfallakten Jung vielfach angeschnittenen Frage Stellung zu 
nehmen, ob diese nervösen und psychischen Störungen auf 
einen „Kampf um die Rente“ zurückzuführen seien. 

Inzwischen hat „Die Deutsche Zuckerindustrie“ in den 
Nummern 1 und 5 des Jahrg. 1907, und zwar in ihrer Beilage 
„Zucker-Berufsgenossenschaft“ den „Schadenfall Wilhelm Jung“ 
ausführlich veröffentlicht als einen Beweis dafür, „welche 
Arbeiten, Schwierigkeiten und Kosten den Berufsgenossen¬ 
schaften in einer einzigen Sache entstehen können“. Der Fall Jung 
ist auch in der Tat ein ungewöhnlicher. Jung hat während 
19 Jahre im Instanzenzuge zehnmal die Schiedsgerichte und 

1 * 


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Ernst Schnitze, 


achtmal das Keichsversicherungsamt beschäftigt;*) die eigent- 
Hellen Unfallakten weisen die stattUebe Anzahl von 724 Blät¬ 
tern auf. Man muß es der Berufsgenossenschaft schon zugute 
halten, wenn sie in ihrem begreiflichen Arger manches harte, ja 
ungerechte Wort über den Unfallverletzten, aber auch über ihn 
günstig beurteilende Arzte sagt. 

Später hat Kollege Sc hon leid, Schöneberg bei BerHn, 
Vertrauensarzt der Zuckerberufsgenossenschaft, denselben Fall, 
wohl in Anlehnung an die ausführliche Aktenschilderung der 
eben genannten Zeitschrift, in der „Medizinischen Klinik*^ 1908, 
Nr. 31, eingehend behandelt in einem Aufsatz: „Traumatische 
Hypochondrie oder Rentenhypochondrie“. Schönfeld sieht in 
der Hypochondrie Jungs keine Folge des Unfalls. Diese Er¬ 
krankung ist seines Erachtens weder durch die Verletzung 
selbst hervorgerufen, noch hat sie sich infolge dieser Ver¬ 
letzung entwickelt; sie ist vielmehr nur als eine Folge des 
Kampfes um die Rente anzusehen und aus der Neigung zum 
QneruUeren entstanden; doch muß „ein gewisser Teil von 
Qnerulantentnm“ seines Erachtens auch schon vor dem Unfall 
in Jung gesteckt haben, wie er vorher betont. Schönfeld 
schließt seinen Aufsatz mit den Worten: „Daß aber ein solches 
Leiden, welches nur infolge der Aufregungen im Kampfe um 
eine möglichst hohe Unfallrente (zu ergänzen: entstanden ist), 
nicht als eine Folge des erlittenen Unfalls anzusehen ist, hat 
das Reichsversicherungsamt schon selbst durch rechtskräftige 
Entscheidung anerkan nt. “ 

Dieser Aufsatz war für mich die Veranlassung, mich mit 
der rechtlichen Bewertung des Kampfes um die Rente genauer 
zu beschäftigen, zumal die Redaktion der „Medizinischen 
Klinik“, eines in weiteren ärztlichen Kreisen verbreiteten 


*) Jung ruht aacb jetzt noch nicht. Die vorliegende Arbeit hatte 
ich kaum niedergeschrieben, als ich vom Reichsversichemngsamt unter der 
Übersendang von 22 Aktenstücken die Anfforderang erhielt, Jang wiederam 
za begatachten. Die Zacker-Berafsgenossenschaft hatte mithin recht, wenn 
sie ihre Mitteilang des Falles mit der vorsichtigen and resignierten Äufierang 
schloß: „Mit der letzten Entscheidang hat der Schadenfail Jang vorläafig 
sein Ende erreicht.“ 



Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechang des R.-y.-A. 5 

Blattes, in einer Fußnote darauf hinwies, daß sie später ein¬ 
schlägige Fälle bringen werde. 

Ich habe daher die im „Kompaß‘‘ veröffentlichten Ent¬ 
scheidungen des Reicbsversicherungsamts und der Landesver- 
sicberungsämter*) durchgesehen. So interessant auch die Ent¬ 
scheidungen des Reichsversicherungsamts für den Irren- und 
Nervenarzt sind, so sind sie im ganzen doch bisher nur selten 
Gegenstand psychiatrischer und neurologischer Kritik gewesen. 

Bei der Durchsicht der bisher erschienenen 2^ Bände erlebt 
man in Kürze die Geschichte eines umschriebenen Kapitels der 
Medizin. Mit der Arbeit von Oppenheim hält der Begriff 
der „traumatischen Neurose“ seinen Einzug in die Entschei¬ 
dungen, und ich war erstaunt zu sehen, wie schnell die nicht 
zuletzt von den Ärzten vielfach angefeindete Lehre hier ihr 
^ Bürgerrecht gewonnen hat. Ich sah sehr bald ein, daß es un¬ 
möglich war, eine erschöpfende Kritik der zahlreichen Ent¬ 
scheidungen vom psychiatrischen Standpunkte ans zu geben. 
Ich begnüge mich daher vorläufig damit, nur noch den Selbstmord 
in seiner Beziehung zur Unfallgesetzgebung zu besprechen, 
und zwar wieder im Anschluß an einen Sonderfall. Ein epi¬ 
leptischer Arbeiter hatte einen Unfall — übrigens im epilep¬ 
tischen Anfalle — erlitten und war hysterisch geworden. Später 
hatte er sich erhängt; es war sicher, daß er vorher psychisch 
krank gewesen war und daß eine Psychose den Selbstmord 
herbeigeführt hatte. Ich mußte ein Obergutachten darüber 
erstatten, ob der Selbstmord als eine Folge des Unfalls anzu- 
seben sei oder nicht. 

Somit zerfällt die vorliegende Arbeit in zwei Abschnitte; 
der erste erörtert den Kampf um die Rente, der zweite den 
Selbstmord im Bereiche des Unfallversicherungsgesetzes und 
in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts. Aus meinen 
Betrachtungen ergeben sich einige praktische Schlußfolgerungen, 
die ich kurz zusammenfassen werde. 

*) Die Entsoheidangen sind so zitiert, da£ das Datum den Tag au- 
gibt, an dem die betreffende Entscheidung gefällt ist; die daraaf&Igende 
römische Zahl gibt den Band, die arabische Ziffer die Seite der vom 
„Kompaß“ veröffentlichten Entscheidungen an. 



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Ernst Schnitze, 


L 

Im Interesse des Lesers scheint es mir geboten, den Fall 
Jang, Ton dem die Yorliegende Arbeit ihren Ansgang nahm, 
hier nicht weiter zu schildern. Ich werde anf ihn nur ge¬ 
legentlich znrückkommen. Ich halte es yielmehr für ersprie߬ 
licher, die mir vorliegenden wichtigsten Entscheidungen in der 
Reihenfolge ihres Erlasses in Kürze mitzuteilen und dann eine 
Kritik folgen zn lassen. 

1. Der erste Fall, bei dem meines Wissens das Reichsver¬ 
sicher nngsamt „unberechtigte Verfolgung von Entschädigungs¬ 
ansprüchen nicht als Unfallsfolge*^ anerkannte, betraf einen 
Schiffsbaner K. (17. Juni 1902, XVI, 127), der offenbar von 
Krehl, damals noch hier in Greifswald, begutachtet war. 
Dieser Gutachter nahm an, daß bei dem Kläger eine „Nerven¬ 
schwäche“ bestehe, die als mittelbare Folge der Unfälle inso¬ 
fern gelten müsse, als sie eine Folge der mit den Unfällen 
nnd ihrer Beurteilung verbundenen Erregungen anznseben sei. 
„Da der Kläger alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um eine 
Rente zu erlangen, so habe durch die mit den daraus ent¬ 
standenen Prozessen verbundenen Gesuche, Beschwerden und 
Entscheidungen das Nervensystem des Klägers gelitten.“ Das 
Schiedsgericht trat dieser Auffassung nicht bei; „die Erregung 
könne vielmehr nur durch die Verfolgung der nur ver¬ 
meintlichen, nicht bestehenden, also durch das Gesetz und die 
Unfälle nicht hervorgerufenen Ansprüche entstanden sein.“ Das 
Reichsversichenmgsamt schloß sich derselben Auffassung an, 
„deren Voraussetzungen nicht ausschließlich auf medizinischem 
Gebiete liegen, nnd die deshalb der selbständigen Prüfung des 
Gerichts zu unterziehen war“. „Es muß zagegeben werden, 
daß insbesondere in Fällen, in denen lediglich die subjektiven 
Angaben des Verunglückten über die Behinderung seiner Er- 
. werhsfähigkeit vorliegen, durch die Schwierigkeit, die Unfall¬ 
folgen festznstellen, und durch die damit verbundene Ver¬ 
zögerung der Entscheidung über die zu gewährende Unfall- 
entschädignng psychische Erregungen hervorgerufen werden 
können, welche znnächst zwar nur anf die Geltendmachung 
des Eutschädigungsanspruchs zurückzuführen sind, mittelbar 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des 7 

aber auch als Folgen des Unfalls selbst angesehen werden 
können. Wo indes die Geltendmachung der Entschädigungs¬ 
ansprüche nnr deshalb auf den Seelen- und Geisteszustand des 
Verletzten einen nachteiligen Einfluß ausübt, weil er yon der 
irrigen Vorstellung ausgeht, er müsse ohne Bücksicht auf das 
Vorhandensein oder den Grad einer durch den Unfall ver¬ 
ursachten Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter allen 
Umständen schon dafür eine Entschädigung erhalten und fort¬ 
beziehen, daß er überhaupt einen Unfall erlitten hat, kann an 
sich*^ nicht der Unfall, wenn auch nur mittelbar, für jenen 
nachteiligen Einfluß verantwortlich gemacht werden, sondern 
muß dessen Ursache der Regel nach in der Person des Ver¬ 
letzten selbst und in der Verkehrtheit seiner subjektiven Auf¬ 
fassung erblickt werden.“ 

2. Der Packer W. (20. Okt. 1902, XVI, 179) hatte durch 
einen Betriebsunfall angeblich eine [Zerreißung der Bücken¬ 
muskeln in der rechten Lendengegend erlitten und bot später 
Zeichen einer traumatischen Hysterie, welche nach den ärzt¬ 
lichen Gutachten „zwar nicht unmittelbar, aber insofern mittel¬ 
bar auf den Unfall zurückzuführen sei, als der Kampf um 
die Rente ein wesentliches Moment für die Entwicklung des 
Nervenleidens gebildet habe“. Die Gutachter nahmen einen 
ursächlichen Zusammenhang des Nervenleidens mit dem Unfall 
an, ebenso auch das Schiedsgericht. Die Berufsgenossenschaft 
bemängelte das Fehlen äußerlich wahrnehmbarer Folgen des 
Unfalls, welche die Erwerbsfähigkeit des Klägers beeinträch¬ 
tigen könnten, und führt seine Untätigkeit auf „Arbeitsscheu 
und Einbildung“ zurück. Das Beichsversicherungsamt leugnete 
ebenfalls einen Zusammenhang. „Denn nicht der Unfall als 
solcher wird in den Gutachten als wesentliches Moment für 
die ^Entstehung der Hysterie erachtet, sondern vielmehr der 
Kampf des Klägers um eine Rente. Ist aber danach im wesent¬ 
lichen nur der eingebildete, einer rechtlichen Grundlage ent¬ 
behrende Anspruch des Klägers auf eine Rente die Ursache 
für die Entstehung und Entwicklung der Hysterie, so liegt ein 
ursächlicher Zusammenhang mit dem Unfall nicht vor. Ein 
solcher wäre unbedenklich anzunehmen, wenn der Unfall an 
sich z. B. durch eine dabei erlittene Nervenreizung oder Nerven- 



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Ernst Schnltae, 


erschtttteroDg zur Entwicklung eines Nervenleidens geeignet 
gewesen wäre oder sonst der Unfall selbst und dessen Folgen 
zur Entstehung und Entwicklung eines Nervenleidens wesent¬ 
lich beigetragen hätte; ein ursächlicher Zusammenhang kann 
aber nicht schon dann angenommen werden, wenn der Unfall 
selbst als wesentliches Moment für die Entstehung des Nerven¬ 
leidens nicht in Betracht kommt, sondern wenn, obgleich von 
dem Unfall körperliche Folgen, welche die Erwerbsfähigkeit 
beeinträchtigen, nicht mehr vorhanden sind, der Verletzte sich 
nur einbildet, noch einen Anspruch auf Rente zu haben und 
dann deshalb, weil diesem eingebildeten Ansprüche die recht¬ 
liche Anerkennung versagt bleibt, durch die Bemühungen um 
Durchsetzung des vermeintlichen Anspruches ein Nervenleiden 
zur Entstehung und Entwicklung gelangt Nicht der Unfall 
und dessen Folgen sind dann die Ursache des Nervenleidens, 
sondern die Bemühungen und der Kampf um Durchsetzung 
eines vermeintlichen, aber nicht zu Recht bestehenden An¬ 
spruches auf eine Rente.“ 

3. Der Arbeiter M. (7. Nov. 1902, XYI, 198) hatte bei einem 
1890 erlittenen Unfall das Nagelglied des rechten Daumens 
verloren. 1901 stellte er einen neuen Rentenantrag, der im 
Laufe des Verfahrens vom Reichs versicherungsamt zurückge¬ 
wiesen wurde. Nach dem Gutachten ist die „Schädigung des 
Klägers nur gering und durch Gewöhnung und Anpassung 
ziemlich ausgeglichen; namentlich finden sich auch keine ana¬ 
tomischen Veränderungen an dem Danmenstnmpfe vor, welche 
auf eine Verschlimmerung des bisherigen Zustandes hin weisen, 
sondern vollkommen gute und längst abgeschlossene Heilungs- 
Vorgänge. Die bei dem Kläger zur Zeit außerdem noch be¬ 
stehenden, von ihm als Unfallfolgen angesehenen Erscheinungen 
am rechten Arm und in der rechten Hand und Schulter sind 
hysterischer Art und stehen mit dem Unfall nicht in unmittel¬ 
barem Zusammenhänge. Daß, wie der Sachverständige an¬ 
nimmt, bei dem Kläger die seit Jahren auf die Verletzung und 
ihre Folgen gerichtete Konzentration der Gedanken anslösend für 
das Auftreten der vorhandenen Störungen gewirkt haben kann, 
ist auch noch nicht geeignet, einen mittelbaren Zusammenhang 
des Leidens mit dem Unfälle herzustellen; nicht die Einwirkung 



'Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechang des K.-'V.-A. 9 

des Unfalls ist im vorliegenden Falle wesentlich für die Ent'- 
stehung des Leidens gewesen, sondern das Grübeln des Klägers 
über das Vorhandensein von Unfallsfolgen und sein Trachten, 
solche zwecks Erlangung einer Entschädigung aufzufinden und 
geltend zu machen." 

4. Der Feuermann E. (23. März 1903, XVII, 79j bezog wegen 
der Folgen einer 1899 erlittenen Kopfverletzung eine Rente 
von 50% und verlangte 1901 eine Erhöhung seiner Rente. 
Das von der Berufsgenossenschaft eingezogene Gutachten 
schätzte die Erwerbsunfähigkeit auf 80%, betonte aber, „dafi 
eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht nach* 
weisbar sei. Allerdings hätten die bei K. bestehenden Wahn¬ 
vorstellungen, die sich in der Furcht, von den Ärzten und der 
Berufsgenossenschaft um die ihm gebührende Rente gebracht 
zu werden, äußerten, zugenommen; diese Wahnideen seien 
aber keine direkte Folge der Unfallverletzung; dagegen sei 
wohl anzunehmen, daß die Existenz der Unfallversicherungs¬ 
gesetzgebung die chronische Verrücktheit, an der K. leide, zum 
Ausbruch gebracht habe.“ Die Berufsgenossenschaft lehnte 
die Rentenerhöhung ab, das Schiedsgericht bewilligte sie, da 
„der eigenartige Verfolgungswahnsinn des Klägers ohne den 
vorausgegangenen Unfall nicht denkbar sei". Das Reichsver- 
sichernngsamt wurde von beiden Parteien angerufen. Die tat¬ 
sächlich erwiesene wesentliche Verschlimmerung wird aber 
nicht als Unfallfolge aufgefaßt. Diese Verschlimmerung be¬ 
steht „in einer weiteren Ausdehnung der krankhaften Vor¬ 
stellungen des Klägers, welche nunmehr den Grad chronischer 
Verrücktheit erreicht haben. Dagegen haben die bisher allein 
als Unfallfolgen berücksichtigten Kopfbeschwerden des Klägers 
in der Zwischenzeit keinerlei Verschlimmerung erfahren; die¬ 
selben stehen auch mit jenen krankhaften Vorstellungen in 
keinem direkten Zusammenhang. Die Geisteskrankheit des 
Klägers ist vielmehr durch seine unausgesetzte Beschäftigung 
mit der Verfolgung seiner Rentenansprüche zur Entwicklung 
gebracht; seine krankhaften Vorstellungen wurzeln in dem von 
ihm immer wieder zum Ausdruck gebrachten Gedanken, daß 
^e Beklagte ihm keine ausreichende Rente gewähre und daß 
«r von ihr in jeder Beziehung verfolgt und geschädigt werde. 



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Ernst Schnitze, 


Nach dem, was sich über die bisherige Behandlung der Renten¬ 
ansprüche des Klägers seitens der Beklagten aus den Akten 
ergibt, hatte und hat der Kläger gar keinen Anlaß dazu, sich 
über das Verhalten der Beklagten zu beschweren; sie hat yiel*- 
mehr in durchaus sachlicher Weise seiue Ansprüche behandelt 
und ihm eine ausreichende Entschädigung gewährt, welche 
seinerzeit auch von dem Reichsversicherungsamt in der Rekurs¬ 
instanz für angemessen erachtet worden ist. Zu einem Kampf 
um die Rente war der Kläger also keineswegs gezwungen; 
dieser Kampf war, wenn der Kläger ihn trotzdem aufnahm, ein 
ganz unberechtigter. Die damit verknüpften Aufregungen^ 
welche schließlich zu der geistigen Erkrankung des Klägers 
führten, waren deshalb nicht eine Folge des Unfalls vom 
22. Juli 1899, sondern sie waren lediglich durch die unbe¬ 
gründeten und übermäßigen Begehrungsvorstellungen im Kläger 
in bezug auf die zu erlangende Rente verursacht.“ 

5. Die von dem 1897 erlittenen Betriebsunfall unmittelbar 
herrührenden körperlichen Verletzungen waren in demselben 
Jahre vollständig oder doch nahezu vollständig verheilt (24. Jan. 
1904, XVII, 286). Schon damals machte sich Arbeitsunlust 
und Neigung, den Unfall zur Erlangung einer Rente auszu¬ 
beuten, bemerkbar. Wenigstens trat K. nach «überstandener 
Krankheit mit sehr lebhaften und bisher nicht vorgebrachten 
Klagen hervor, für deren Vorhandensein der objektive Befund 
keinen Anhalt bot. Möglicherweise waren das bereits die An¬ 
zeichen eines hysterischen Zustandes. Diese hysterischen Be¬ 
schwerden schwanden, und K. arbeitete wie vordem. Erst vier 
Jahre später greift er auf diesen Unfall zurück, nachdem er 
inzwischen einen anderen Betriebsunfall Juli 1901 erlitten und 
für ihn vergeblich Entschädigung beansprucht hatte. Nach 
dem Gutachten ist es „sicher, daß K. in einem gewissen Grade 
Neurastheniker ist, daß er aber alle Beschwerden in gröblicher 
Weise übertreibt, nach seiner Art alles auf den Unfall schiebt 
und sich zu keiner Anstrengung, keinem Zusammennehmen 
für verpflichtet hält, sondern für alles entschädigt sein will» 
Will man jene Neurasthenie als Unfallfolge bezeichnen, so mag 
das nicht ganz von der Hand zu weisen sein. K. ist ent¬ 
schieden darauf aufmerksam gemacht worden, daß solche Be- 



Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.-V.-A. H 

schwerden, wie er sie hat, gelegentlich dazu geführt haben, 
daß ünfallrente bewilligt wurde, und nun hat er sich in den 
Gedanken verrannt, daß er nicht arbeiten könne und ihm eine 
Rente gebühre. K. hat schon mit der Baugewerks-Berufs- 
genossenschaft einen vergeblichen Prozeß um Rente geführt, 
dadurch ist dies Gefühl in ihm nur verschärft worden. Er 
wird nun Rentenquerulant, und'so ist er dann allerdings ge¬ 
schädigt, leider am meisten durch sich selber. Ein Zusammen¬ 
hang zwischen dem jetzigen Zustande des Klägers und dem 
früheren Unfall lasse sich nur insofern anerkennen, als K. sich 
durch Autosuggestion in den Gedanken, ihm geschehe Unrecht, 
hineingearbeitet habe.“ 

Das Schiedsgericht verwarf die Berufung des Bllägers. 
Dieser legte Rekurs ein unter Beifügung folgenden Gutachtens: 
„Zweifellos sei, daß die Beschwerden K.s vielfach auf Auto- 
suggestion beruhten. Die Autosuggestion gehöre aber gerade 
zu den typischen Zeichen der Neurasthenie, und wer, wie 
Professor H., überhaupt einen gewissen Grad von Neurasthenie 
zugebe, müsse auch die Übertreibungen der Beschwerden dem 
Krankheitsbilde mit hinzurechnen. Gewiß habe sich der Mann 
vielleicht in den Gedanken verrannt, daß er nicht arbeiten 
könne und daß ihm eine Rente gebühre. Allein, auch das sei 
für den Neurastheniker charakteristisch. Ein physisch und 
psychisch gesunder Mensch verrenne sich nicht in solche Ge¬ 
danken. Unbedenklich sei es auch, die Entstehung der Neur¬ 
asthenie im vorliegenden Falle auf den Unfall zurückzuführen, 
da sich vorher keinerlei neurasthenische Erscheinungen beim 
Kläger gezeigt hätten.“ 

Nach dem Sächsischen Landesversicherungsamt*) ist die 
Frage des Kausalzusammenhangs „keine medizinische, sondern 
rechtlicher Natur“. „In Wahrheit läßt sich aber jener ältere 
Unfall nicht mehr als die Ursache dieses späteren Leidens auf¬ 
fassen. Man kann freilich sagen: wenn jener Unfall nicht 
passiert wäre, würde der Kläger sich nicht haben in den Ge- 

*) ln demselben Sinne hat das sächsische Landesrersicbernngsamt die 
Torliegende Frage sehr ansfiihrlicb in seiner Entscheidnng rom 20 . Dez. 1902 
beantwortet, die Wind scheid wörtlich in seinem Buche: „Der Arzt als 
Begutachter usw.“, S. 174—180, abgedruckt hat. 



12 


Emst Schnitze, 


blanken verrennen können, daß er dafür entschädigt werden 
müsse, und würde er alsdann vielleicht nicht Neurastheniker 
geworden sein. Allein das Kausalitätsprinzip greift nicht so weit, 
daß man ein Ereignis für alle und jede Folgen verantwortlich, 
machen könnte, die in Anlehnung an das Ereignis und in 
irgendeiner Beziehung zu ihm später einmal zutage getreten 
sind. Damit käme man ins Uferlose. Von der Ursache eines 
Schadens ist zu unterscheiden die äußere Veranlassung. Hier 
bildete der Unfall vom 28. April 1897 nur den entfernten Anlaß, 
an den das krankhafte Vorstellangsvermögen des Klägers 
knüpfte, als er nach dem Scheitern seines Angriffs gegen die 
Baugewerks - Berufsgenossenschaft darauf ausging, sich auf 
anderem Wege zu helfen. Die Folgen jenes älteren Unfalls 
selbst waren längst geschwunden und hatten, auch auf seelischem 
Uebiete, nichts Krankhaftes zurückgelassen, was die Erwerbs¬ 
fähigkeit des Klägers zu mindern geeignet gewesen wäre. Man 
eieht nicht ein, wie jener Vorgang nun noch die Schuld tragen 
soll an der Entstehung eines Leidens, das in erster Linie durch 
spätere krankhafte Veränderungen der Nerven hervorgernfen 
worden ist und das nur zufällig an den Unfall vom Jahre 1897 
anknüpft, weil der Kläger ihn braucht, um mit seiner Hilfe 
einen Rentenanspruch durchzusetzen, und weil sein ganzes 
Sinnen und Trachten sich nachträglich auf den Gedanken kon¬ 
zentriert hat, er sei für jenen Unfall noch nicht hinlänglich 
entschädigt worden. Mit demselben Rechte könnte man sich 
versucht fühlen, den ablehnenden Bescheid der Baugewerks- 
Borufsgenossenschaft für die Neurasthenie verantwortlich zu 
machen, da ohne ihn das Leiden wohl ebenfalls nicht die 
schweren Formen angenommen haben würde, die Dr. W. für 
die Gegenwart feststellt. Schuldig ist nicht der Unfall vom 
28. April 1897, sondern die krankhafte Verfassung der Psyche 
des Klägers, seine von mehreren Seiten bezeugte geistige 
Minderwertigkeit, die den Gedanken, als ob ihm für jenen 
Unfall noch eine Rente gebühre, überhaupt hat entstehen und 
über ihn hat Macht gewinnen lassen.“ 

6. Das Reichsversicherungsamt betont (30. Sept. 1905, XK, 
156j, daß der Unfall, auf den der Kläger, Kohlenfahrer W., 
sein Leiden zurückführt, ein ganz geringfügiger gewesen ist; 



Kampf am die Rente nnd Selbstmord in der Rechtsprechung des R,-y.-A. 13^ 

„irgendeine ernste Erschütterung des Körpers“ ist nicht ein¬ 
getreten. Der Kläger hat seine frühere Arbeit bald wieder 
aufgenommen nnd erst am zwölften Tage nach dem Unfall sich 
leichtere Arbeit geben lassen. „Allmählich ist er dann in eine 
Art Selbstbetrachtung verfallen, und es hat sich bei ihm ein 
Zustand der Gereiztheit, der Nervosität entwickelt, der, wie 
das Gutachten des Dr. G. erkennen läßt, von Tag zu Tag sich 
verschlimmert und schließlich ganz den Charakter der Neur¬ 
asthenie angenommen hat. Indem der Kläger also glaubte,, 
durch den Unfall Schaden genommen zu haben, bildete er sich 
alle möglichen Leiden ein und empfand naturgemäß auch 
sofort dort Beschwerden, wo er meinte, solche haben zu 
müssen. Daß es sich in der Tat nur um krankhafte Ein¬ 
bildungen handelt, folgt aus dem fast völlig negativen objek¬ 
tiven Befund, der an greifbaren Zeichen bestehender Nerven¬ 
schwäche trotz wiederholter eingehender Untersuchungen nur 
eine leichte Erhöhung der KniescheibenreÜexe und leichtes 
Flattern der Augenlider bei Fuß- und Augenschluß ergeben 
hat. Der Eiläger ist, wie Professor W. ausführt, hiernach ein 
Neurastheniker, der, zur Hypochondrie neigend, gänzlich in 
Selbstbeobachtung aufgeht und alle Energie verloren hat, und 
dessen Beschwerden, für die sich irgendein greifbarer Anhalt 
nicht finden läßt, in der Hauptsache auf dauernde Auto¬ 
suggestion zurückzuführen sind. Liegt aber der Grund der 
vorhandenen Nervenschwäche nur in Einbildungen des Ver¬ 
letzten, so kann das vorhergegangene geringfügige Unfall¬ 
ereignis für den Zustand des Klägers auch dann nicht verant¬ 
wortlich gemacht werden, wenn der Kläger glaubt, sein Leiden 
auf diesen Unfall zurückführen zu müssen. Objektiv war dieser 
Unfall nicht geeignet, eine Neurasthenie hervorzurufen; dann 
aber fehlt der notwendige ursächliche Zusammenhang, wenn 
nicht der Unfall selbst, sondern bloß die Einbildung, infolge 
des Unfalls einen Körperschaden erlitten zu haben, ein Nerven¬ 
leiden zur Entstehung gelangen läßt.“ 

7. Das sächsische Landesversicherungsamt (11. März 1905, 
XIX, 261) bestritt in der Unfallsache der Weberin M. einen 
Zusammenhang zwischen einer Unterleibsverletzung und der 
Hysterie. Die Grundlage zur Entstehung der Hysterie war be- 



14 


Ernst Schnitze, 


reits vor dem Unfall geschaffen; der Gesnndheits- und Kräfte¬ 
zustand der Klägerin war schon vorher schwer beeinträchtigt, 
und sie litt bereits vorher an schweren Menstruationsstörungen 
mit krampfartigen Schmerzen. „Wenn sich dann nach dem 
Unfall in ihr die Vorstellung entwickelte, daß alle diese körper¬ 
lichen Leiden in d§m Unfälle ihren Grund hätten, wenn sie 
weiter über sonstige Störungen ihres Allgemeinbefindens ge- 
grübelt hat mit dem schließlichen Erfolge, daß sie sich ganz 
krank und elend fühlte und auch den ihr verbliebenen Rest 
von Arbeitsfähigkeit eingebüßt zu haben glaubte, so haben 
doch diese wirklichen oder vermeintlichen Beschwerden ihre 
Ursache nicht in dem Unfälle, sondern eben in ihrer Ein¬ 
bildung. Es kann, wie das Landesversicherungsamt in Über¬ 
einstimmung mit dem Reichsversicherungsamt bereits früher in 
ähnlichen Fällen ausgesprochen hat, den Berufsgenossenschaften 
nicht angesonnen werden, derartige hysterische Leidensentwick¬ 
lungen noch als Unfallfolgen anzuerkennen und zu entschädigen. 
Es ist auch mit den Sachverständigen K. und H. anzunehmen, 
daß die Klägerin, wenn sie sich von der Erfolglosigkeit ihrer Be¬ 
mühungen um eine Entschädigung für ihre auf Autosuggestion 
zurückzuführenden Leiden überzeugt, den Versuch der Arbeit 
wieder aufnimmt und in und mit der Arbeit jene Leiden verliert.“ 

Ist der Rentenanspruch gesetzlich begründet, 
erhält der Verletzte aber gar keine oder eine nicht genügend 
hohe Rente, so kann man es ihm nicht verdenken, wenn er sich 
durch Beschreiten des Instanzenweges sein Recht erkämpft; er ist 
hierzu objektiv und subjektiv berechtigt, ja vielleicht sogar, 
wird mancher sagen, verpflichtet. Wendet der Verletzte die 
gesetzlich zulässigen Mittel und Wege an, erleidet aber durch 
seinen Rechtsstreit Schaden, so muß meines Erachtens die Be¬ 
rufsgenossenschaft auch für diesen aufkommen. Man kann es 
auch ihr gewiß nicht verdenken, wenn sie die Ansprüche 
des Verletzten nicht kurzerhand freiwillig anerkennt, sondern 
auf eingehender Ermittlung des Tatbestandes und genauer 
Feststellung ihrer Verpflichtungen im Wege des Streitver¬ 
fahrens besteht. Dieses Recht steht der Berufsgenossenschaft 
zweifellos zu. Wenn sie es aber ausübt, so muß sie mit der 



Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechang des R.-Y.-A. 15 

Möglichkeit rechnen, daß durch die Aufregungen des von ihr 
•eingeleiteten Rechtsstreites der Verletzte weitere Schädigungen 
«rleiden kann, für die sie ebenfalls ■ aufkommen muß. In 
•diesem Sinne spricht sich auch eine Reichsgerichtsentscheidnng 
(IIL Zivilsenat, 19. Juni 1908, cf. III. Zivilsenat, 14. April 1908) 
aus. Diese sieht den nachteiligen Einfluß, den der über einen 
Haftpflichtanspruch geführte Rechtsstreit auf den Nervenzustand 
des Verletzten ausgeübt hat, als Unfallfolge an. Das Reichs¬ 
versicherungsamt nimmt den gleichen Standpunkt ein, wie aus 
d:er unter Nr. 1 mitgeteilten Rekursentscheidung zu entnehmen 
ist; nach dieser sind die psychischen Erregungen eine, wenn 
auch nur mittelbare Folge des Unfalls. 

Hat aber ein Arbeiter einen Unfall erlitten, der keine 
Nachwehen hinterläßt, behauptet aber dennoch wider besseres 
Wissen, durch den Unfall in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt 
zu sein und führt zur Erlangung einer Rente einen Rechts¬ 
streit, so ist es nicht mehr als billig, wenn er für die durch 
diesen Prozeß gesetzte Schädigung keine Entschädigung erhält. 
Der Anspruch auf Rente war von vornherein sowohl objektiv 
wie subjektiv unberechtigt. 

Ebenso wird auch der Arbeiter zu beurteilen sein, der ein tat¬ 
sächlich vorhandenes Leiden auf einen Unfall zurückführt, das 
ursächlich nichts mit ihm zu tun hat. Diese Fälle sind nicht 
selten. Gar zu oft und zu gern werden heutzutage Be¬ 
schwerden nachträglich auf einen lange zurückliegenden Unfall 
zurückgeführt, ohne daß nach diesem Unfall in der Zwischen¬ 
zeit irgendwelche Störungen aufgetreten wären. Daß ein 
Unfallverletzter freiwillig seinen Rentenanspruch fallen läßt, 
erlebt man nur selten. In einem derartigen Falle konnte ich 
mich nicht dem Eindruck entziehen, daß der Arbeiter, der 
ostentativ seine volle Gesundheit betonte und jede Rente 
energisch zurückwies, geistesgestört war. In der Tat legte 
flie weitere Beobachtung dar, daß er an einer leichten Hypo¬ 
manie erkrankt war.*) Jeder Arbeiter hat einmal einen Unfall 

*) Sachs hat es nar ein einziges Mal erlebt, daß ein Unfallver¬ 
letzter selbst bei der Berafsgenossenschaft eine Herabsetzung der Rente 
verlangte, weil er wieder za arbeiten anfangen wolle; „dieser Antrag ging 
allerdings von einem Epileptiker mit vorübergehenden Geistesstörungen 



16 


Ernst Schnitze, 


erlitten, und man kann es wohl verstehen, wenn anch ge¬ 
wiß nicht billigen, daß der Arbeiter sein Leiden, das mit deim 
Unfall nichts zu tun hat, anf ihn zurückführt, um eine möglichst 
geringe Einbuße zu erleiden; dieses Streben fand ich sehr oft 
bei der Pensionierung von jüngeren Bahnangestellten. Da soll 
die Paralyse ausgelöst sein durch einen Streifschuß, der den 
Rumpf einige Jahre vorher getroffen hat Die Altersdemenz 
wird auf einen Schreck zurückgeführt. Epilepsie ist verursacht 
durch eine Ohrfeige, die vor Jahr und Tag erteilt ist, ohne daß 
in der Zwischenzeit irgend etwas beobachtet ist, was auch nur 
entfernt als epileptisches Zeichen gedeutet werden könnte. In 
solchen Fällen liegt natürlich kein Anlaß vor, einen ursäch¬ 
lichen Zusammenhang anzunehmen; und wenn der Verletzte 
sich mit der ersten ablehnenden Entscheidung nicht begnügt,, 
sondern weiterstreitet und dadurch seine Gesundheit beein¬ 
trächtigt, so ist es zu verstehen, wenn die Behörde ihn allein 
für diese Folgen verantwortlich macht. Anch ich halte daher 
den in der Rekursentscheidung, 20. April 1898, XII, 97, ver¬ 
tretenen Standpunkt durchaus für richtig. Ein Arbeiter hatte 
danach eine nur unerhebliche Kopfverletzung erlitten, die 
ihn für acht Tage arbeitsunfähig machte. Dann hatteer seine 
gewohnte Arbeit bei vollem Lohne sieben Jahre mit nur ge¬ 
ringen Unterbrechungen verrichtet. Die von ihm vorge¬ 
brachten glaubhaften neurasthenischen Beschwerden wurden 
nicht als Unfallfolge anerkannt, zumal er zeitweilig dem Mi߬ 
brauch geistiger Getränke ergeben war. 

Ebenso kann ich dem Reichsversicherungsamt nur bei¬ 
treten, das in seiner Entscheidung vom 4. Jan. 1908, XXII, 7,^ 
den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Nervenleiden 
und Unfall leugnete. „Aus der Tatsache, daß der Kläger nach 
seiner eigenen Angabe nur bei dem Fall selbst einen stechenden 
Schmerz verspürt habe, der alsbald nachließ, daß er am 
nächsten Morgen keinerlei Beschwerden mehr gehabt und daff 
er dann Jahre lang seine Arbeit fortgesetzt hat, ohne auch 

aas"', ln der Zwischenzeit habe ich noch einen ganz ähnlichen Fall 
beobachten können. Der Unfallverletzte, der an Eifersachtswahn and 
Sinnestäaschangen erkrankte, verlangte am jeden Preis seine Entlassung,, 
am seine ungetreue Frau überraschen za können. 



Kampf um die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechnng des 17 

nur an den Unfall mehr zu denken, geht überzeugend hervor, 
daß der Unfall sehr unerheblich und nicht geeignet war, nach 
5/4 Jahren derartige Krankheitserscheinungen zu machen, wie 
sie dann aufgetreten sind . . Ich sehe davon ab, daß viele 
Nebennmstände die Tatsache eines Betriebsunfalles überhaupt 
in Frage stellten. Zwar hatte die mit der Begutachtung be¬ 
traute medizinische Klinik die Neurose in dem Sinne als Un¬ 
fallfolge angesprochen, daß „die schlummernde oder schon 
vorhandene Nervosität durch den Unfall verschlimmert wurde, 
wobei als Unfall natürlich nicht der unbedeutende Fall aufs 
Gesäß an sich, sondern die Beschädigung unter den heutigen 
sozialen Umständen mit ihren genugsam erörterten Folgen für 
Seelenleben und Nervensystem des Verletzten zu verstehen“ 
sei. Also soll mit anderen Worten, führt das Reichsversiche¬ 
rungsamt aus, ein unbedeutender Fall, der nach Ansicht der 
Gutachter keine Folgen hinterlassen hat, nach mehr als Jahres¬ 
frist imstande sein, lediglich dadurch eine Nervenerkrankung 
auszulösen, daß der Betroffene eine Rente wünscht und glaubt, 
einen Rentenanspruch aus jenem Fall herleiten zu können. 
Einer derartigen Beurteilung der Frage des Zusammenhangs 
zwischen Unfall und Neurose meint das Reichsversicherungs¬ 
amt — und ich glaube mit,vollem Recht — mit allem Nach¬ 
druck entgegentreten zu müssen. Nicht nur müsse der klare 
Nachweis für das Unfallereignis geführt werden, sondern „der 
Zusammenhang der Erkrankungen mit dem Unfall muß nicht 
allein auf Grund einer entfernten Möglichkeit oder Vermutung 
im Hinblick auf rein subjektive Vorgänge im Rentenbewerber, 
sondern auf Grund einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit im 
Hinblick auf eine objektive sachliche Beziehung zwischen Unfall 
und Krankheit bejaht werden können“. 

Die Entscheidung wird dann ebenfalls zuungunsten der 
Arbeiter ausfallen, wenn der Anspruch auf Rente objek¬ 
tiv zwar unberechtigt ist, subjektiv aber —'etwa in¬ 
folge einer geistigen Störung des Unfallverletzten — für g e - 
rechtfertigt erachtet wird. 

Die Sachlage wird auch dadurch nicht wesentlich ver¬ 
ändert, wenn der Anspruch auf Rente nicht aus ärztlichen, 
sondern aus rechtlichen Gründen hinfällig ist, wenn bei- 

2 



18 


Ernst Schnitze, 


spielsweise überhaupt die Existenz eines als Unfall anzu- 
sprechenden Ereignisses erfolgreich bestritten wird oder diesem 
Ereignis die bestimmten, für einen Unfall im Sinne des Ge¬ 
setzes notwendigen Merkmale fehlen. 

Ich bin bei der Besprechung der Frage, wie die Folgen 
des Kampfes um die Rente rechtlich aufzufassen sind, mit Ab¬ 
sicht von recht einfachen Fällen ausgegangen. Ich habe einmal ange¬ 
nommen, daß die Ansprüche auf Rente objektiv und subjektiv 
berechtigt waren, und dann habe ich vorausgesetzt, daß diese 
Ansprüche nicht nur den Tatsachen nach, sondern auch nach 
der inneren Überzeugung des Verletzten unberechtigt waren. 
Die Fälle aber, die uns die Praxis liefert, liegen nicht immer 
so einfach, und die Entscheidung der Frage, ob, und be¬ 
jahendenfalls, inwieweit ein Anspruch auf Rente in tatsäch¬ 
licher und persönlicher Hinsicht berechtigt ist, ist mit vielen 
und erheblichen Schwierigkeiten verbunden. 

Ich beabsichtige hier, nur einige grundsätzliche Gesichts¬ 
punkte zu erörtern. Um auf konkrete Fälle zurückzukommen, 
knüpfe ich an die oben auszugsweise wiedergegebenen Ent¬ 
scheidungen des Reichsversicherungsamts an und lege der Be¬ 
sprechung auch andere Entscheidungen zugrunde, die ich bei 
der Begutachtung Unfallverletzter kennengelernt habe. 

In einigen dieser Fälle hatte ein Unfall nachteilige Folgen 
nervöser Art gesetzt, und diese waren sogar oft genug mit 
einer Rente entschädigt. Die weitere Verschlimmerung des 
Leidens wird aber nicht mehr als eine auch 'nur mittelbare 
Folge des Unfalls aufgefaßt, sondern auf einen unbe¬ 
rechtigten Kampf um die Rente bezogen und damit dem 
Unfallverletzten selbst zur Last gelegt. 

Wie ist nun die Beweisführung des Reichsversicherungs¬ 
amts? 

Das Reichsversicherungsamt ist anscheinend der Ansicht, daß 
zwischen der Größe der Vejrl etzung und der Schwere der 
durch sie gesetzten Schädjen bestimmte Beziehungen bestehen 
müssen. Eine solche Annahme trifit aber nicht [zu für psy¬ 
chische und nervöse Störungen, die allein uns hier interessieren. 
Die durch den Unfall bedingte Verletzung braucht nicht not¬ 
wendig mit einer „Nervenreizung oder Nervenerschütterung“ 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des B.-V.-A. 19 

verbunden zu sein, um zur Entwicklung eines Nervenleidens 
geeignet zu werden. Wenn das Reichsversicherungsamt von 
einer Verletzung aussagt, sie sei objektiv nicht geeignet, eine 
Neurasthenie hervorzurufen, so übersieht es, daß bei den ün- 
faJlneurosen nicht nur die Verletzung, die vielleicht an der 
Hand der Zeugenaussagen einer objektiven Schätzung zugäng¬ 
lich sein mag, sondern auch die Person des Verletzten berück¬ 
sichtigt werden muß, und diese nicht nur ihrer ganzen Per¬ 
sönlichkeit nach, sondern auch hinsichtlich ihres Verhaltens 
grade zum kritischen Zeitpunkte des Unfalls. Andererseits stimme 
ich dem Reichsversicherungsamt (20. April 1898, XII, 97) durch¬ 
aus bei, wenn es eine Neurasthenie nicht als Unfallfolge an¬ 
sieht, weil dieser Unfall sieben Jahre vorher stattgefunden 
hatte; in der Zwischenzeit war der Arbeiter seiner Berufs¬ 
arbeit bei vollem Lohn nachgegangen. Die Annahme, daß 
durch einen Unfall eine Paralyse oder eine Gehimgeschwulst 
ausgelöst sei, setzt schon ein Trauma von einer erheblichen 
Schwere voraus. In den vorliegenden Fällen aber handelt es 
sich um vorwiegend psychogen entstandene Störungen, und bei 
ihnen spielt die mechanische Schädigung kaum eine Rolle 
gegenüber den seelischen Begleit- und Folgeerscheinungen. 
Um so größere Vorsicht ist geboten, als mehrere Unter¬ 
suchungen grade der letzten Zeit gezeigt haben, daß auch 
nach scheinbar leichten Unfällen recht schwere Verletzungen, 
die mit Frakturen und Blutungen einhergingen, auftreten können. 

So wenig es zulässig ist, die Schwere einer Neurose in 
bestimmte Beziehung zu bringen zur Schwere derVerletzung, so 
wenig darf eine ebenfalls durch den Unfall bedingte Verschlimme¬ 
rung der Neurose deshalb ausgeschlossen werden, weil unmittelbare 
Folgen derVerletzung nicht mehr nachweisbar seien, weil diese 
verheilt seien, weil am Orte der Verletzung keine weiteren 
anatomischen Schädigungen aufgetreten seien. Die Neurose ist 
weder in ihrer Entstehung noch in ihrer Entwicklung an solche 
grobsinnlichen Prozesse auf der Körperoberfläche gebunden. 
Über den Verlauf der Neurose entscheidet vielmehr die psy¬ 
chische Verfassung des Verletzten. 

Immer wieder wird bemängelt, daß den so schweren 
Krankheitsäußerungen ein so geringer (objektiver) Befund 



20 


Ernst Schnitze, 


eatspricht. Aber wir wissen doch, daß die körperliche Unter¬ 
suchung Hysterischer zu den verschiedenen Zeiten recht ver¬ 
schieden ausfallen kann, und ein bei wiederholten Unter¬ 
suchungen erhobener negativer Befund zwingt noch nicht zum 
Ausschluß der Hysterie. Bei dieser Behauptung bin ich schon 
von der nicht allgemein geteilten Auffassung ausgegangen, 
daß die Hysterie sich stets, wenn auch nicht ständig, durch 
Stigmata verrät; ich habe weiterhin - angenommen, daß die 
sensibel-sensoriellen Störungen der Hysterischen einen wenig¬ 
stens relativ-objektiven Befund darstellen, und ich habe schlie߬ 
lich vorausgesetzt, daß der Gutachter die Untersuchungs- 
technik beherrscht; leider trifft diese Annahme nicht immer 
zu; Aber bei der Neurasthenie finden wir überhaupt keine 
objektiven Zeichen. Die Annahme oder Ausschließung einer 
Hysterie darf bei dem Unfallverletzten ebensowenig von dem 
Ausfall der körperlichen Untersuchung abhängig gemacht 
werden wie bei dem Privatpatienten, der zu uns in die 
Sprechstunde kommt. Keinem Menschen wird es einfallcn, 
einen der Geisteskrankheit verdächtigen Menschen nur deshalb 
als nicht geisteskrank anzusehen, weil objektive Symptome sich 
nicht nach weisen lassen! 

Wer Gelegenheit hat, nicht durch eine Verletzung bedingte 
Neurosen längere Zeit zu beobachten, weiß, daß ihr V erlauf 
mannigfachen Schwankungen unterworfen ist, ohne daß es uns 
trotz aller angewandten Mühe immer gelingt, ihre Ursache zu ent¬ 
decken. Wir werden ein gleiches Verhalten auch bei den 
Unfallneurosen erwarten dürfen. Nur lehrt uns unsere Er¬ 
fahrung, daß hier aus so mancherlei Gründen die Prognose 
vielfach schlechter ist als bei den anderweitig verursachten 
Neurosen. Jedenfalls muß man auch bei einer leichten Neurose 
schon von vornherein mit der Möglichkeit einer Verschlimmerung 
rechnen; der Zeitpunkt ihres etwaigen Eintritts läßt sich nicht 
angeben, da im Voraus nicht zu berechnende endogene und 
exogene Faktoren ihn bestimmen. 

Also wird die Tatsache, daß überhaupt eine Verschlimme¬ 
rung der Unfallneurose eingetreten ist, noch nicht zu dem 
Schluß zwingen, daß ungewöhnliche Ereignisse diese herbeigeführt 
haben müssen. Um so weniger Veranlassung zu dieser An- 



Kampf am die Rente und Selbstmord in der Bechtsprecbnng des R.-y.>A. 21 

nähme liegt vor, als, soweit ich mir nach den amtlichen Mit¬ 
teilungen ein Urteil erlauben darf, mit der Verschlimmerung 
kein Erankheitszeichen zutage getreten ist, welches nicht auch 
sonst bei den Neurosen zu erwarten gewesen wäre. Somit 
ist die Möglichkeit nicht zu bestreiten, daß die Neurose auch 
ohne den Kampf um die Rente den gleichen Verlauf genom¬ 
men haben würde. Daß man der traumatischen Neurose die 
Beeinflussung durch den Rentenkampf nicht ansehen kann, 
erscheint auch nicht sonderlich aufTallend; denn der Kampf 
um die Rente birgt ja, worauf ich noch zurückkommen werde, 
keine grundsätzlich neuen Schädigungen in sich gegenüber den 
Beziehungen zwischen Unfallgesetzgebung und traumatischen 
Neurosen schlechtweg. 

Sodann wird darauf hingewiesen, daß die Klagen und Be¬ 
schwerden nur eingebildet waren. Einen Beweis für die 
Richtigkeit dieser Behauptung vermisse ich in den mir vorliegenden 
Mitteilungen und kann ihn bei der Natur dieses Materials auch 
wohl kaum erwarten. Dieser Beweis läßt sich aber auch kaum, 
vielleicht sogar überhaupt nicht sicher erbringen, zumal schon 
in mehreren Fällen angenommen war, daß früher tatsächlich 
eine Neurose Vorgelegen hat. Bei ihr sind die Klagen nicht 
organisch begründet; sie bestehen nur in der Vorstellung des 
Kranken. Sie sind also, wenn man absolut will, eingebildet. 
Aber diese Einbildung ist eine krankhafte und grundsätzlich 
scharf zu trennen von der bewußten Vortäuschung. Freilich 
ist die Trennung in praxi oft recht schwer; bis an Simulation 
grenzende Übertreibung und Krankheit mischen sich oft so 
eng, daß es nicht immer gelingt, sie im Krankheitsbilde aus- 
einanderzuhalten. Dieser Umstand berechtigt aber nicht, zumal 
bei einer schon erwiesenen Neurasthenie oder Hysterie, die ^Ein- 
bildungen“ des Unfallverletzten, die „irrigen Vorstellungen“, 
die „subjektive Auflassung“ (gibt es auch eine objektive Auf¬ 
fassung?) als unberechtigt hinzustellen und daraus dem Kranken 
geradezu nachteilige Schlüsse zu ziehen. Nach diesen Aus- 
Äihrungen brauche ich wohl kaum zu betonen, daß ich einem 
Arbeiter selbstverständlich nicht schon deshalb eine Rente zu¬ 
billigen würde, weil er glaubt krank zu sein, oder gar ohne 
weitere Begründung seiner Ansprüche sich bloß auf das Unfall- 



22 


Erost Schnitze, 


yersicherungsgesetz beruft, um allein für die Tatsache, daß er 
einen Unfall erlitten hat, entschädigt zu werden. Ebensowenig 
würde ich aus dem alleinigen Nachweis öiner Gesichtsfeld- 
einengnng oder Sensibilitätsstörung eine Beeinträchtigung der 
Erwerbsfähigkeit herleiten; ihren Wert erblicke ich vielmehr 
darin, daß ihr Nachweis mich zur Vorsicht in der Annahme 
von Simulation zwingt. 

Erwägungen derart, wie ich sie eben kritisiert habe, zeigen^ 
daß einer traumatischen Neurose nicht allzuviel psycholo¬ 
gisches Verständnis entgegengebracht wird, oder daß zum 
mindesten eine Neigung besteht, sie anders zu betrachten als 
die nichttraumatischen. Sonst kann ich es nicht verstehen, 
warum es dem Traumatiker zum Nachteil gereichen soll — 
und damit gehe ich zu dem Versuche über, auf positivem 
Wege die ursächliche Bedeutung des Kampfes um die Rente 
zu beweisen —, daß er sich in den Gedanken verrannt 
hat, arbeitsunfähig zu sein; daß er seit Jahren seine Gedanken 
auf seine Verletzung und ihre Folgen konzentriert hat; daß er 
in eine Art Selbstbetrachtung verfallen ist, und dergleichen 
mehr. Dieselben Auslassungen würden auch für die gewöhn¬ 
lichen Neurosen zutreflfen! Kann es denn auffallen, wenn der 
an traumatischer Neurose Leidende alle seine krankhaften 
Empfindungen und Gefühle an den Unfall ankristallisiert, der seinen 
ganzen Ideenkreis beherrscht? Diese Sonderstellung der trau¬ 
matischen Neurose würde sich nur dann rechtfertigen lassen, 
wenn dem Unfallverletzten sein Vorgehen als arglistig, als 
schuldhaft anzurechnen ist. Dieser Ansicht scheint das Reichs¬ 
versicherungsamt zu sein, wenn es sie auch nicht offen aus¬ 
spricht. Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen. Ich halta 
es mit Ho che für unerlaubt, „in den psychologischen Ge¬ 
dankengängen eine Sortierung zwischen schuldhaften und uner¬ 
laubten Gedankengängen“ vorzunehmen! Ich finde ein derartiges 
Vorgehen geradezu bedenklich bei nervösen Personen. Der Eün- 
weis darauf, daß die Unfallfolgen, soweit sie tatsächlich bestehen, 
anerkannt seien, daß die anderen aber nur auf Einbildung be¬ 
ruhen, wird ebenfalls den wirklichen Verhältnissen nicht gerecht, 
und überschätzt, wenn er sich wirklich auf ärztliche Gutachten 
stützt, unser ärztliches Wissen und Können ganz erheblich. 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-T.-A. 23 

Es kann nicht auffallen, wenn bei einem an traumatischer 
Neurose leidenden Unfallverletzten im Laufe des Rechtsstreits 
psychische Störungen überwiegen. Der in der Rekursent¬ 
scheidung Nr. 4 geschilderte Fall zeigt einen Verlauf, wie er kli¬ 
nisch durchaus zu erwarten war, wie er sich auch in anderen 
Fällen abgespielt hat. Ich lasse es dahingestellt, ob wirklich 
der Rentenkampf die Ursache von Geistesstörungen sein kann; 
ein zwingender Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme ist 
auch in dieser Entscheidung nicht enthalten. Nach ähnlichen 
Fällen, die ich zu beobachten Gelegenheit hatte, halte ich es 
für viel wahrscheinlicher, daß schon die Erhebung der „unbe¬ 
gründeten und übermäßigen“ Ansprüche ein Symptom der 
später immer deutlicher werdenden Geistesstörung war. Wird 
doch auch der abgefeimte, kriminelle „Simulant“ nicht deshalb 
schließlich blödsinnig, weil er für seine Simulation zu viel 
geistige Arbeit verbraucht hat, sondern er war vielmehr von vorn¬ 
herein geisteskrank, und die Zeichen, die für die Annahme 
einer Simulation verwertet wurden, waren die ersten Symp¬ 
tome der zum Blödsinn führenden Psychose. Die Tatsache, 
daß in dem eben erwähnten Krankheitsbilde der Paranoia der 
Unfall und seine Folgen dominierte, kann nicht beweisen, daß 
der Kampf um die Rente die Paranoia verursacht hat. Der 
Kranke entnimmt das Material für seine Wahnideen den Er¬ 
eignissen, die ihn und seine Zeit am meisten bewegen. Es ist 
auch gar nicht notwendig, daß, wenn lediglich der Unfall die 
Paranoia verursacht hat, Kopfbeschwerden, die früher allein 
als Unfallfolgen Vorlagen und auch Berücksichtigung gefunden 
haben, in einem direkten Zusammenhang mit den Wahnideen 
stehen müssen, wie das Reichs versicherungsamt meint. Es 
wäre zudem gar nicht so einfach, einen derartigen Zusammen¬ 
hang sich vorzustellen, geschweige denn ihn nachzuweisen oder 
auszuschließen. Die Behauptung, der Kläger sei zu einem 
Kampfe um die Rente gar nicht gezwungen gewesen, der 
Kampf sei ein unberechtigter gewesen, verkennt völlig den 
zwingenden Einfluß, den Wahnideen auf das Denken und 
Handeln des Paranoikers ausüben. Ebensowenig kann man, 
wie ich es in einem Falle hörte, dem Unfallverletzten daraus 
einen Vorwurf machen, daß er für die Ausführungen der In- 



24 


Ernst Schnitze, 


staozen nicht zugänglich wac, sondern störrisch immer auf 
seinen unberechtigten Forderungen bestehen blieb. Jeder siebt 
doch die Welt mit seinen Augen an! Die Unbelehrbark eit 
dieses Unfallverletzten gibt noch nicht das Recht, seine An¬ 
sprüche als unberechtigt hinzustellen; sie brauchen es *zuna 
mindesten nicht von seinem persönlichen Standpunkte aus 
zu sein. 

Unfallverletzte derart erinnern durchaus an die sogenannten 
Querulanten. Nicht zu Unrecht spricht man daher auch von 
„Rentenquerulanten“. Vor Jahren habe ich einen leicht 
schwachsinnigen, paranoischen Bauer behandelt, der viel pro¬ 
zessiert und sich damit um sein ganzes Hab und Gut ge¬ 
bracht hatte. Er gab mir aus sich unter bitteren Tränen 
mehrfach an, er werde ja glücklich sein, wenn er das Pro¬ 
zessieren nur lassen könne, das habe ihm bisher noch nichts 
eingebracht; aber er könne es 'nicht lassen, er müsse eben 
prozessieren. Manche Traumatiker, die durch ihr ewiges 
Streiten und Kämpfen mit den Unfallbehörden nur sich und 
ihrer Familie schaden, beurteilen ihre Handlungen in der 
gleichen Weise. 

Somit hält die Beweisführung des Reichsversicherungs¬ 
amts in den besprochenen Entscheidungen einer Kritik in 
ärztlicher Hinsicht nicht stand. Der zwingende Nachweis, daß 
unberechtigte Ansprüche erhoben seien und daß der Kampf 
um ihre Befriedigung und nur dieser die Schädigung des Un¬ 
fallverletzten herbeigeführt hat, ist nicht erbracht; und solange 
dieser Nachweis nicht in einwandfreier Form erbracht ist, 
halte ich ,es für bedenklich, dem Arbeiter die Rente zu ver¬ 
sagen, die der tatsächlichen Einschränkung seiner Erwerbs¬ 
fähigkeit entspricht. 

Ho che bezeichnet es ebenfalls als möglich, daß diese 
Entscheidungen dem Unfallverletzten ein Unrecht zufügen. 

Ich habe oben die Stellungnahme des Reichsversicherungs- 
ämts als bedenklich hingestellt. Ich muß aber betonen, daß 
das Reichsversicherungsamt seinen Standpunkt nicht engherzig 
vertritt. Denn in seiner Entscheidung vom 27. Februar 1905, 
XIX, 31, betont es ausdrücklich, die Tatsache einer Verschlim¬ 
merung der Unfallfolgen durch den Kampf um die Rente be- 



Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechteprechnng des K-Y.-A. 25 

Techtige dann nicht zur Ablehnung der Entschädigung für die 
hierdurch bedingte Erwerbsunfähigkeit, wenn die Erwerbs¬ 
unfähigkeit in erheblichem Grade auch durch die unmittelbaren 
ünfallfolgen verursacht worden sei. 

Spätere Bände des „Rompaß" enthalten, soviel ich gesehen 
habe, keine weiteren wichtigen Rekursentscheidungen, welche aus¬ 
drücklich Stellung zu dieser mehr theoretisch konstruierten Frage 
nehmen. Vielleicht ist daraus der Schluß berechtigt, daß das 
Reichsversicherungsamt seinen früheren Standpunkt auch jetzt 
noch für richtig hält; denn es würde ja zwecklos sein, neue 
Entscheidungen über eine grundsätzlich schon entschiedene 
Frage immer wieder von neuem zu veröffentlichen. Indes bin 
ich in meiner praktischen Tätigkeit Entscheidungen des Reichs¬ 
versicherungsamts begegnet, in denen es vermied, auf die Frage 
der Wirkung des Kampfes um die Rente einzugehen; und eine 
Berücksichtigung dieser Frage hätte um so näher gelegen, als 
sie bereits in den unteren Instanzen ausführlich besprochen 
war. Letzthin hat das Reichsversicherungsamt (8. Febr. 1909) 
es sogar dahingestellt sein lassen, ob nicht auch dann schon, 

wenn man den Schlußfolgerungen des Professor.folgen 

müßte, ein genügender Zusammenhang mit dem Unfall anzu- 
nebmen sei. Der Senat müsse sich dann allerdings in Gegen¬ 
satz zu der oben ebenfalls abgedruckten Rekursentscheidung 
.stellen. Danach macht sich auch im Reichsversiche¬ 
rungsamt, wenn auch vielleicht nur vereinzelt, ein anderer 
Standpunkt geltend. 

Im Anschluß daran möchte ich eine ältere, weniger be¬ 
kannte Rekursentscheidung mitteilen, die sich noch deutlicher 
ablehnend ausspricht (29. Sept. 1898, XII, 214). Ein Arbeiter 
hatte sich den Fuß vertreten. Da er als erwerbsfähig ange¬ 
sehen wurde, erhielt er keine Rente. Auf Veranlassung des 
Schiedsgerichts untersuchte ihn Oberarzt Dr. W. Nach dessen 
Gutachten leide Tr. an einer schweren Neurasthenie, die ihn 
wohl um etwa 50% in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtige. 
Diese sei aber keine direkte Unfallfolge und hänge nur indirekt 
mit dem Unfall zusammen; man könnte sie eher als eine Folge 
der Unfallversicherungsgesetzgebung bezeichnen, indem sicher 
der Kampf um die Rente, der Wunsch, möglichst viel heraus- 





26 


Ernst Schnitze, 


zoschlagen, der hier den Unfallverletzten geradezu zum Be^ 
trüger werden lasse, eine wesentliche Ursache des nervösen 
Leidens sei, das sich entwickelt habe. Die Schmerzen, über 
die Tr. klage, würden von ihm simuliert und könnten bei der 
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit überhaupt nicht in Betracht 
gezogen werden. Direkte Folgen des Unfalls lägen nicht mehr 
vor.“ Das Schiedsgericht wies die Berufung zurück. Das 
Reichsversicherungsamt bewilligte eine Rente von 50®/o. Es 
folgte dem Obergutachten des Oberarztes Dr. W., welcher „das- 
Leiden für eine schwere Neurasthenie erklärt und welcher 
einen wenigstens mittelbaren Zusammenhang des Leidens mit 
dem Unfall annimmt. Die Ausführungen, welche der Sachver¬ 
ständige über den Zusammenhang macht, sind dabei allerdings 
für das Reichsversicherungsamt nicht maßgebend gewesen, da 
sie in wesentlichen Punkten anfechtbar sind, vielmehr ist an¬ 
genommen, daß die Rückenverletzung mit ihren schmerzhaften 
Folgen an sich auf die Entstehung des Nervenleidens von 
Einfluß gewesen ist, wie dies bei ähnlichen Verletzungen viel¬ 
fach beobachtet ist. Die Tatsache, daß Tr. vor dem Unfall 
ein fleißiger Arbeiter gewesen ist, spricht gegen die Ansicht,, 
daß es lediglich das Streben nach einer Rente gewesen sein 
sollte, was das Nervenleiden veranlaßt hat.“ Leider erfahren 
wir nichts Genaueres über die Gründe, nach denen der Stand¬ 
punkt des Oberarztes Dr. W. dem Reichsversicherungsamt 
anfechtbar erscheint, das in späteren Entscheidungen den 
gleichen Standpunkt vertritt. 

Das Reichs versicherungsamt hat in dieser letzterwähnten 
Entscheidung die Frage, ob das durch den Kampf um die Renta 
verursachte Leiden zu entschädigen sei, bejaht, eine Frage, die 
es fünf Jahre später in zahlreichen, schnell aufeinander¬ 
folgenden Entscheidungen verneint hat. Diese Änderung des 
Standpunktes läßt daran denken, daß praktische Rücksichten 
die Rechtsprechung von ihrer früheren Richtung abgelenkt 
haben mögen. Vielleicht war die Hoffnung maßgebend, auf diesem 
Wege den zahlreichen, langwierigen Entschädigungsprozessen 
vorzubeugen. Ich will auf die Frage, ob praktischen Gesichts¬ 
punkten ein Einfluß auf die Rechtsprechung einzuräumen ist, 
nicht näher eingehen, zumal über diesen heiklen Punkt nicht 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.-A. 27 

einmal unter den Juristen volle Einigkeit herrscht; sogar die An¬ 
gehörigen jedes der beiden Heerlager, der Theoretiker und 
Praktiker, sind untereinander verschiedener Meinung. Ich 
denke jedoch nicht so sehr daran, daß die Verweigerung einer 
Entschädiguug für Nachteile, die durch einen unberechtigten 
Kampf um die Rente entstanden sind, den Unfallverletzten ab- 
schrecken soll, sein Recht durch Beschreiten des Instanzen¬ 
weges zu suchen. Ich rechne eher mit der Möglichkeit, daß 
der Arbeiter durch Ablehnung seiner Ansprüche zur Arbeit 
gezwungen werden soU, zumal dieser Gesichtspunkt auch in 
ärztlichen Gutachten deutlich zutage tritt. 

Ich halte es für sehr möglich, daß die Sachverständigen 
gehofft hatten, durch eine auf diesem Wege herbeigeführte 
Rentenkürzung oder Rentenentziehung dem Unfallverletzten am 
meisten zu nützen, indem er so zur Arbeit gezwungen wird. 
Diese Auffassung ist aber rechtlich nicht zulässig, wie die be¬ 
kannte Rekursentscheidung vom 7. März 1902, XVI, 65, ergibt 
Der Sachverständige wollte in diesem Falle durch Gewährung 
einer nicht zu hohen Rente auf die „Klägerin einen heilsamen 
Zwang zur Aufnahme und Durchführung einer Erwerbstätigkeit*^ 
ausüben. In der diesen Vorschlag ablehnenden Entscheidung 
führtdasReichsversicherungsamt u.a. aus, daß die „Vorstellung, in 
berechtigten Ansprüchen unrechtmäßig verkürzt zu werden, 
regelmäßig keineswegs günstig auf die krankhaften Vor¬ 
stellungsreihen einwirken werde‘‘. Auch später noch hat das 
Reichsversicherungsamt (7. April 1904, XVIII, 76) sich zu dem¬ 
selben Standpunkte bekannt. Wehn auch bei der Art des 
Leidens des Unfallverletzten, bei seiner Unlust und Mutlosig¬ 
keit und Neigung zu hypochondrischen Beschwerden „die Ver¬ 
richtung leichter Arbeiten aus therapeutischen Gründen wün¬ 
schenswert sein mag, so darf doch die Berücksichtigung dieses 
Gesichtspunktes nicht dahin führen, daß die Rente niedriger 
bemessen wird, als dem tatsächlichen Grade der Erwerbs¬ 
unfähigkeit des Klägers entspricht“. Auch das bayerische 
Landesversicherungsamt hat entschieden, der Heilzweck dürfe 
bei der Bemessung der Rente nicht hineingezogen werden. 

Einen Hinweis auf diese Entscheidungen halte ich auch 
deshalb für wünschenswert, weil ein entgegengesetzter Stand- 



28 


Ernst Schnitze, 


pnnkt immer und immer wieder auch heute noch in ärztlichen 
Gutachten zum Ausdruck kommt. 

Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht, daß es be¬ 
denklich ist, auf dem Wege der Rentenkürzung therapeu¬ 
tisch zu wirken. Für ebenso gefährlich halte ich es aber auch 
andererseits, bei Gewährung der Rente eine sachlich nicht ge¬ 
rechtfertigte Milde walten zu lassen. Insbesondere trifit dies 
für die Feststellung der ersten Rente zu; mit ihr wird dem 
Unfallverletzten offiziell bescheinigt, daß er in seiner Erwerbs¬ 
fähigkeit durch den Unfall tatsächlich geschädigt ist, und es 
besteht die Gefahr, daß der Antrieb zur Wiederaufnahme der 
Arbeit geschädigt oder gar vernichtet wird. 

Der Kampf um die Rente kann natürlich nur psychische 
und nervöse Beschwerden setzen. Darüber besteht kein Zweifel, 
daß auch bei den reinen, nicht durch Rentenkampf bedingten 
Unfallneurosen die Existenz der Unfallgesetzgebung, „die Tat¬ 
sache des Versichertseins“, mit ihren mittelbaren und unmittel¬ 
baren Folgen eine ausschlaggebende Rolle spielt. Schon in 
dem bloßen Wunsche nach Rente, auch wenn er tatsächlich 
gerechtfertigt ist, kann ein schädigendes Moment liegen, welches 
nur durch die Tatsache, daß es ein Unfallgesetz gibt, ermög¬ 
licht worden ist. 

Somit besteht weder klinisch noch auch ätiolo¬ 
gisch ein grundsätzlicher Unterschied der beiden 
Zustän de. 

Ich weiß sehr wohl, daß man versucht hat, die reine 
Rentenhysterie als ein besonderes Krankheitsbild herauszu¬ 
schälen im Gegensatz zu der traumatischen Hysterie. Nach 
der symptomatologiscben Seite hat man als entscheidende 
charakteristische Begleiterscheinung angesprochen das man¬ 
gelnde Krankheitsbewußtsein der Patienten und ihre Un¬ 
beeinflußbarkeit in therapeutischer Hinsicht sowie ihre große 
Erregtheit gegenüber den Ärzten, denen sie sich zur Unter¬ 
suchung stellen sollen, ihr mürrisches, unzufriedenes Wesen. 
Ich finde aber hierin nur einen quantitativen Unterschied gegen¬ 
über den Unfallneurosen. So mancher Arbeiter mit reiner 
traumatischer Hysterie läßt sich nicht behandeln, weil er ge¬ 
sehen hat, daß ihm die Behandlung doch nichts hilft. Viele 



Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-y.-A. 29 

hysterische Frauen tragen gottergeben ihr Schicksal, während 
andere Hysterische Ärzte und vor allem Kurpfuscher immer 
wieder aufsuchen. Wie viele Unfallverletzte sehen in dem 
Arzte ihren von der Berufsgenossenschaft besoldeten Feind und 
bringen ihm Mißtrauen entgegen, sofern er sie nicht in dem 
von ihnen gewünschten Sinne begutachtet? Die Empfindlich¬ 
keit der Hysterischen gegenüber Zweifeln an der Berechtigung 
ihrer Klagen ist bekannt. Somit bestehen meines Erachtens 
fließende Übergänge von der traumatischen Hysterie zur 
Rentenhysterie oder, um den nichts vorwegnehmenden Aus¬ 
druck zu gebrauchen, von den Unfallneurosen zu den Renten¬ 
neurosen. 

Ob tatsächlich die reine Rentenneurose so häufig ist, 
wie einige Autoren meinen und wie vor allem die Berufsgenossen¬ 
schaften, wohl unter dem Einfluß der Reichsversicherungsamts- 
Entscheidungen, anoehmen, muß ich nach meinen eigenen Er¬ 
fahrungen bestreiten. Derselben Ansicht ist auch W i n d - 
scheid. Ein Beweis für die Häufigkeit der Rentenneurose, 
der allen Einwänden gegenüber standhält, ist in der Tat schwer 
zu führen. Man muß verlangen, daß absolut sicher bewiesen 
wird, daß der Arbeiter zwar einen Unfall erlitten hat, daß er 
aber durch ihn nicht im mindesten geschädigt ist, daß vielmehr 
seine gesundheitliche Benachteiligung einzig und allein auf den 
Rentenkampf zurückznführen ist. Ich muß auch darauf hin- 
weisen, daß wir einer gleich verderblichen Wirkung bei 
anderen Prozessen doch recht selten begegnen; sie wäre dann 
übrigens auch rechtlich ganz belanglos. Denn der Anspruch 
beruht bei anderen Prozessen auf einem in sich abgeschlossenen 
Tatbestände, der durch die Führung der Rechtsstreitigkeiten, 
abgesehen von etwaigen Folgen des Verzuges, nicht beeinflußt 
werden kann. 

Daß für eine reine Rentenneurose eine Entschädigung 
nicht zu bewilligen ist, habe ich ja oben schon ausgeführt. 

Häufiger wird eine bereits vorhandene Neurose durch die 
mit dem Kampf um die Rente verbundenen Aufregungen und 
Anstrengungen sich verschlimmern oder doch wenigstens pro¬ 
gnostisch ungünstig beeinflußt werden. Wie man dann aber 
angeben will, wie weit die durch die Neurose herbeigeführte 



30 


Emst Schnitze, 


Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit auf den Unfall znrück- 
znführen ist, wie weit daran der Kampf nm die Rente schuld 
ist, ist mir nicht recht erfindlich, wenn auch die Berufa- 
genossenschaft und die Schiedsgerichte noch so sehr eine be¬ 
stimmte Beantwortung dieser Frage wünschen. Meine Skepsis 
ist auch nicht gewichen, nachdem ich in einzelnen Gutachten 
diesen Einfiuß in ganz bestimmten Zahlen abgeschätzt sah. 
Man soll doch nicht vergessen, daß die Abschätzung des Grades 
der Erwerbsfähigkeit in vielen Fällen traumatischer Neurosen 
mehr oder weniger Gefühlssache ist. 

Gibt man grundsätzlich zu, daß der Kampf um die Reute 
das Zentralnervensystem schädigen kann, so kann ich für diese 
Wirkung keinen wesentlichen Unterschied darin erblicken, ob 
der Kampf um die Rente berechtigt war oder nicht. 
Vom rechtlichen Standpunkte aus muß man diese Trennung vor¬ 
nehmen ; für die schädigende Wirkung des Kampfes aber ist 
der Unterschied belanglos. Ich kann daher auch dem Reichs¬ 
versicherungsamt nicht beipflichten, wenn es den Fall erörtert, 
daß „die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs nur 
deshalb auf den Seelen- und Geisteszustand des Verletzten 
einen nachteiligen Einfluß ausübt, weil er von der irrtümlichen 
Vorstellung ausgeht, er müsse ohne Rücksicht auf das Vor¬ 
handensein oder den Grad einer durch den Unfall verursachten 
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter allen Umständen 
schon dafür eine Entschädigung erhalten, daß er überhaupt 
einen Unfall erlitten hat“. 

Nur insofern besteht ein Unterschied, als naturgem^ der 
Kampf um die Rente bei dem langsamen Arbeiten der In¬ 
stanzen erst einige Zeit nach dem Unfall Schaden setzt, wäh¬ 
rend die traumatische Neurose schon eher in die Erscheinung 
treten und oft genug sich unmittelbar an den Unfall an¬ 
schließen kann. 

Wenn somit fließende Übergänge bestehen zwischen Unfall¬ 
neurosen und Rentenneurosen, wenn bei der letzteren das Recht 
auf Entschädigung zutreffend bestritten wird, so kann man 
sich nicht wundern, wenn grundsätzlich auch bei Unfall¬ 
neurosen ein Re n tenanspruch geleugnet wird. Inder 
Tat ist diese Forderung schon öfter aufgetaucht. Nicht nur 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.«A. 31 

in den Kreisen der Ärzte und Juristen begegnet man der¬ 
artigen Forderungen, sondern das gleiche Verlangen wird auch 
in den Kreisen der Arbeiter laut. 

Was mag wohl daran schuld sein? Die relative Zahl der 
Unfallneurosen überhaupt ist, wie Merzbacher und Biß 
an der Hand einer großen Statistik nachgewiesen haben, nicht 
groß im Vergleich zu der Gesamtzahl der Unfallverletzungen. 

Aber ihre absolute Zahl hat niit dem Zeitpunkte, in dem 
die Unfallversicherungsgesetze Rechtskraft erhielten, von Jahr 
zu Jahr zugenommen. An dieser Zunahme ist natürlich in 
erster Linie die Möglichkeit einer Entschädigung schuld, aber 
doch auch die zunehmend genauer gewordene Untersuchung und 
die immer mehr verbesserte Untersüchungstechnik. Die Schwere 
der Neurose und ihre schlechte Prognose ziehen die Zahlung einer 
hohen Rente für lange Zeit nach sich. Die vielfach mehr tem¬ 
peramentvoll als sachlich geführten Verhandlungen über das Wesen 
und die Pathogenese der traumatischen Neurosen haben in weiteren 
Kreisen den Eindruck hervorgerufen, als ob die traumatische 
Neurose nur der wissenschaftliche Ausdruck für eine besondere 
Art der Simulation sei. Diesen Eindruck haben die späteren 
Verhandlungen, die zu einer gewissen Einigung in den be¬ 
rufenen Kreisen geführt haben, nicht völlig zu verwischen ver¬ 
mocht. In der Tat ist das ganze Gebaren mancher Unfall¬ 
neurotiker auch derart, daß neurologisch und vor allem psy¬ 
chiatrisch nicht Vorgebildete — zu denen gehören die Laien 
— an groben Betrug denken müssen. Man kann es verstehen, 
wenn der einzelne Arbeiter verstimmt wird, der sieht, daß dem 
Verletzten eine große Rente mühelos in den Schoß fällt, ob¬ 
wohl die Verletzung nicht erheblich war. Es braucht hierbei 
nicht immer das Motiv des Neides beteiligt zu sein, sondern 
dies Gefühl kann auch von edleren Regungen, dem Bedauern 
über die vom Gesetzgeber nicht gewollte schädliche Wirkung 
des Unfallversicherungsgesetzes, diktiert sein. Jeder, der als 
Gutachter tätig ist, wird sicher zeitweilig von einem Gefühle 
des Unmuts und Grolls bis zum Ekel übermannt werden, wenn 
er die planvolle und skrupellose Ausnutzung der Unfallver- 
sicherungsgesetzgebung sieht. Dieser Mangel des Pflichtgefühls 
und das Bestreben, die Verantwortlichkeit von den eigenen auf 



32 


Ernst Schnitze, 


fremde Schultern abzuwälzen, finden sich nicht nur in Arbeiter¬ 
kreisen, sondern auch bei Gebildeten, selbst in den besten 
Ständen, wie uns die Haftpflicbtprozesse lehren. Schließ lick 
muß auch betont werden, daß die Ton den verschiedenen 
Sachverständigen angenommene Beeinträchtigung der Erwerbs- 
fahigkeit in demselben Falle großen Schwankungen unterliegen 
kann, selbst bei übereinstimmender Auffassung des klinischen 
Befundes. 

Das sind einige Gesichtspunkte, die die Neigung gefördert 
haben, die Unfallneurosen aus der Zahl der entschädigungs¬ 
berechtigten Unfallfolgen zu streichen. Ich habe gelesen, dafi 
große Privatversicherungsgesellschaften mit dem Gedanken um¬ 
gehen, ihre Statuten dahin zu ändern, daß im Falle des Ein¬ 
tritts einer traumatischen Neurose überhaupt keine Entschä¬ 
digung bewilligt wird oder höchstens eine bestimmte Maximal¬ 
rente, die etwa einem Viertel der Erwerbsfähigkeit entspricht, 
oder daß eine Entschädigung gezahlt wird nur für die Zeit, 
während deren die traumatische Neurose die Verpflegung und 
Behandlung in einem Krankenhause erfordert. Es möge dahin¬ 
gestellt bleiben, ob das seitens des Reichs bestehende Auf¬ 
sicht samt über die Privatversicherungsgesellschaften mit einer 
Streichung der Neurosen einverstanden sein wird.*) Wird aber 

*) Wenn hier und da mit einer solchen Möglichkeit gerechnet wird, 
BO handelt es sich offenbar um ein Mißverständnis, welches dadurch hervor¬ 
gerufen ist, daß in § 3 Abs. 4 Buchstabe b der neuerdings vom Kaiserlichen 
Aufsichtsamt für Privatversicherung genehmigten Bedingungen des Verbandes 
der in Deutschland arbeitenden IJnfallversicberungsgesellschaften gesagt ist: 
„(Als Unfälle gelten nicht) Erkrankungen infolge psychischer Einwirkungen“. 

Als ich diese Bestimmung las, stieg in mir sofort der Oedanke auf, 
eine echte Schreckneurose und ihre Nachwehen seien nicht mehr als Unfall¬ 
folgen aufzufassen. Eine Nachfrage bei dem Kaiserlichen Aufsichtsamt für 
Privatversicherungen belehrte mich aber eines anderen; denn dieses gab mir 
in liebenswürdiger Weise folgenden Bescheid: 

„Diese Bestimmung besagt aber nur, daß für psychische Erkrankungen 
die nicht durch einen Unfall verursacht werden, eine Entschädigungs¬ 
verpflichtung nicht besteht. Es handelt sich also nicht um einen den Ver¬ 
sicherungsschutz einschränkenden Ausschluß, sondern um die negative Ab¬ 
grenzung der unter die Versicherung fallenden Schadenereignisse gegen an 
sich schon begrifflich nicht unter die Versicherung fallende Krankheiten. 
Dies ergibt sich mit aller Deutlichkeit aus der Fassung der Bestimmung 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des 33 

eine derartige Bestimmung unter die Bedingungen aufgenommen, 
so kann der Versicherte sich nicht nachher beklagen, wenn er 

und aus ihrer Stellung innerhalb der Bedingungen, welche die begrifflich 
gegebene Abgrenzung der Versicherung und die Ausschluübestimmungen scharf 
getrennt halten.“ 

Hieraus ergibt sich also, daß eine Entschädigungspflicht für psychisch 
bedingte Erkrankungen infolge von Unfällen nach wie vor besteht, wie denn 
auch vollständige Invalidität bei Verfall in unheilbare Geistesstörung — 
eine Geistesstörung würde ja vor allen Dingen als Erkrankung infolge 
psychischer Einwirkung in Betracht kommen — ausdrücklich anerkannt wird. 

Den Leser wird es interessieren, daß von der Versicherung ausge¬ 
schlossen sind ^Unfälle infolge Geistes- oder Bewußtseinsstörung irgendwelchen 
Grades (auch infolge von Ohnmachts- und Schwindelanfällen), es sei denn, 
daß diese Störung selbst durch einen Unfall hervorgerufen war; ferner Un¬ 
fälle infolge offenbarer Trunkenheit“. 

Schließlich sei noch eine Bestimmung erwähnt, die für den Neurologen 
von großer Bedeutung ist. § 10, 2, c bestimmt: „Bei der Entschädigung 
für Nervenkrankheiten im Anschluß an einen Unfall wird nur die Hälfte 
des festgesetzten Invaliditätsgrades zugrunde gelegt.“ , 

Eine durch eine schwere Schädelverletzung entstandene traumatische 
Epilepsie ist sicher eine Nervenkrankheit. Warum aber die durch sie be¬ 
dingte Invalidität nur zur Hälfte entschädigt werden soll, ist mir nicht recht 
erfindlich. Führt diese Epilepsie im Laufe der Zeit zu einer Demenz, so 
liegt eine unheilbare Geistesstörung vor, bei der von denselben Bestimmungen 
uneingeschränkt vollständige Invalidität angenommen wird. Man wird aber 
zugeben müssen, daß zwischen traumatischer Epilepsie und traumatischer 
Demenz nur fließende Übergänge bestehen; daraus ergibt sich ohne weiteres 
die Schwierigkeit, um nicht zu sagen Unmöglichkeit der Begutachtung im 
Einzelfalle. Doch will die Bestimmung unter Nervenkrankheiten vielleicht 
nur Erkrankungen des peripheren Nervensystems verstanden wissen? Auch 
dann finde ich es nicht nur unbillig, sondern geradezu ungerecht, daß die 
Schädigung durch eine Muskellähmung, welche auf einer Durchtrennung des 
zugehörigen motorischen Nerven beruht, nur zur Hälfte entschädigt wird. 
Soll diese Sonderbestimmung nur auf Neurosen angewendet werden, also 
organisch bedingte Erkrankungen ausschließen, so vertritt sie einen Stand¬ 
punkt, zu dessen Gunsten sich gewiß nicht nur rechtliche, sondern auch 
ärztliche Gründe anfübren lassen. Aber dann muß diese Auffassung auch 
in einer Form zum Ausdruck kommen, die jegliches Mißverständnis aus- 
Bchließt. Freilich kann ich, wenn unter Nervenkrankheiten nur Neurosen 
verstanden werden, nicht das weitere Bedenken unterdrücken, daß der Un¬ 
fallverletzte, um sich schadlos zu halten, seine Beschwerden erheblich über¬ 
treibt, und bei der schon mehrfach hervorgehobenen Schwierigkeit, will¬ 
kürliche Simulation und krankhaft bedingte Übertreibung scharf zu trennen, 
eine zutreffende Beurteilung ungemein erschwert wird. 


3 



34 


Ernst Schnitze, 


bei Verfall in eine Neurose keinen Anspruch erheben kann. 
Von dieser Sachlage war er ja vorher unterrichtet, und es war 
sein freier Wüle, wenn er dennoch den Vertrag mit der Privat¬ 
versicherung schloß. 

Wie steht es aber um die Unfallversicherungsgesetz- 
gebxmg? Freilich trägt der einzelne Arbeiter nichts zu den 
Kosten bei, die durch die Unfallversicherung erwachsen, und inso¬ 
fern bat er keinen unmittelbaren, durch seine eigenen Leistungen 
bedingten Anspruch. Aber er wird nach dem Gesetz zwangs¬ 
weise versichert, also auch gegen seinen Willen. Er hat An¬ 
spruch auf Unfallrente, weil die Gefahr, der er erlegen ist, 
durch den vom Unternehmer geführten Betrieb gesetzt ist, 
dessen Nutzen der Unternehmer bezieht, dessen Schädigungen 
er auch tragen muß. Natürlich müßte auch hier das Gesetz, 
dessen jetziger Wortlaut die Ausnahmestellung für die trauma¬ 
tischen Neurosen nicht zuläßt, eine entsprechende Änderung 
erleiden. 

Dieser ebenso radikale wie einfache Vorschlag wäre an¬ 
nehmbar, wenn nachgewiesen würde, daß erstens nur das Streben 
nach Rente die Unfallneurosen zeitigt, und zweitens der Unfall¬ 
verletzte sein Begehren infolge des Fehlens einer Entschädigung 
sicher unterdrücken kann. 

Beide Voraussetzungen treffen aber nicht unbedingt zu. 

Die Pathogenese der Unfallneurosen ist doch nicht so ein¬ 
fach, daß sie mit dem Schlagwort „Begehrungsvorstellung“, bei 
aller Anerkennung ihrer Bedeutung, restlos erklärt wird. Wer 
die Literatur der Unfallneurosen kennt, weiß, daß noch eine 
Reihe von anderen Ursachen dabei beteiligt ist. Wer die Aus¬ 
führungen über die Prophylaxe der traumatischen Neurosen, 
die in ihrer Bekämpfung ungleich mehr leistet als jede The¬ 
rapie, kennt, weiß, daß eine große Zahl von Vorschlägen ge¬ 
macht ist, um der Zunahme der Unfallneurosen zu begegnen. 
Ich erwähne nur die schnellere Erledigung der Rentenent¬ 
scheidung durch Abkürzung und Vereinfachung des Verfahrens, 
die Abschaffung der Kostenlosigkeit des Berufungsverfahrens, 
die einmalige Abfindung bei unbedeutenden Verletzungen, die 
Schaffung von Arbeitsgelegenheit für Rentenempfänger, die Ge¬ 
währung von Genesungsprämien usw. In rein ärztlicher Hin- 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des K-Y.-A. 35 

sicht ist immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, daß 
der Unfallverletzte sehr bald nach der Verletzung von einem 
neurologisch und psychiatrisch vorgebildeten Arzte der Berufs- 
genossenschaft, nicht von einem Arzte einer Krankenkasse, in 
Behandlung genommen wird. Werden diese Vorschläge ver¬ 
wirklicht, so lassen sich sicher manche Schädigungen ver¬ 
meiden, die den Verfall in eine Unfallneurose erleichtern. Man 
sollte zuvor versuchen, auf diesem Wege, also durch andere Hand¬ 
habung der gesetzlichen Bestimmungen und durch Verbesserung 
des Verfahrens, das Ziel zu erreichen, als daß man zu einer so 
einschneidenden Maßregel, die traumatische Neurose schlecht¬ 
weg als Unfallfolge zu leugnen, seine Zuflucht nimmt. Die 
anderen Vorschläge haben wenigstens den einen großen und 
grundsätzlichen Vorzug, daß ihre Befolgung den Unfallver¬ 
letzten nicht benachteiligen kann; diese neue radikale Ma߬ 
nahme hat aber noch den weiteren Nachteil, daß sie einen 
Erfolg nicht sichert. 

Darüber besteht ja kein Zweifel, daß viele die gleichen und 
noch schwerere Verletzungen erleiden wie ein Versicherter, ohne 
neurotisch zu werden, vielleicht lediglich deshalb nicht, weil 
kein Anspruch auf Entschädigung besteht, weil, grob ausge¬ 
drückt, kein Interesse vorliegt, sich eine Unfallneurose zu¬ 
zulegen. Allein es wäre falsch, wollte man daraus den Schluß 
ziehen: ohne Unfallgesetz keine Unfallneurosen. Denn das 
Krankheitsbild der Unfallneurose ist schon, wenn auch nur in 
vereinzelten Fällen gegenüber der heutigen großen Zahl, be¬ 
schrieben, bevor es ein Unfallversicherungsgesetz, ja bevor es 
ein Haftpflichtgesetz gab. Vor kurzem hat Knotz über seine 
Beobachtungen aus Bosnien berichtet, die durchaus den uns 
sattsam bekannten Unfallneurosen gleichen, obwohl es dort 
kein Unfallgesetz gibt. 

Andere Ursachen spielen somit sicher ebenfalls eine große 
Rolle, darunter vor allem die persönliche Veranlagung, mag sie 
angeboren oder erworben sein. Deren Bedeutung in der Unfall¬ 
gesetzgebung werde ich unten noch genauer besprechen. 

Nun kann man mir freilich entgegnen, auch der Veranlagte 
müsse ebenso wie der Nichtveranlagte seine ganze Energie zu¬ 
sammennehmen, um einer ihn bedrohenden Neurose Herr zu 

3* 



36 


Ernst Schnitze, 


werden; auch der Kranke mit Uofallneurose könne die Arbeit 
wieder aufnehmen, wenn er nur den energischen Willen habe, 
zo arbeiten. Dieser gute Wille müsse von dem Arbeiter ver¬ 
langt werden, zumal es nicht angängig sei, die Energielosig¬ 
keit in allen Fällen als krankhaft anzusprechen. Sachs hat 
in weiterer Verfolgung dieses Gedankens darauf hingewiesen, 
daß wir den Verbrecher bestrafen, obwohl wir die Willensfrei¬ 
heit leugnen und ganz genau wissen, daß die Mehrzahl der 
Verbrecher von Haus aus entartete Naturen sind. Für beide 
Kategorien von Menschen müsse der gleiche Maßstab verlangt 
werden. 

Selbst die Möglichkeit eines derartigen Analogieschlusses 
zugegeben, so sind diese Ausführungen von Sachs nicht 
völlig einwandsfrei. Die Strafe ist eine Reaktion des Staates 
auf Handlungen, deren Mehrzahl von fast allen Seiten als un¬ 
sittlich empfunden wird. Hier aber bei den Unfallneurosen 
handelt es sich um die Zurechenbarkeit von Handlungen, für 
deren Unzulässigkeit ein tiefes Verständnis fehlt. Der Arbeiter 
sieht nichts Entehrendes darin, seine Beschwerden zu übertreiben, 
um sich eine Rente zu sichern, sowenig wie der reiche Privatver¬ 
sicherte. Der Arbeiter wird seinen Kameraden, der eine unberech¬ 
tigte Rente erstrebt, moralisch sicher anders beurteilen wie einen 
Kriminellen. Durchaus zutreffend wird bei Besprechung der Un- 
falloeurosen darauf hingewiesen, daß keine Dame sich scheut, 
Spitzen zu schmuggeln, kein Kaufmann Bedenken hat, bei der 
Selbsteinschätzung Abzüge zu machen, kein Gourmand zaudert, 
bei Erhöhung der Schaumweinsteuer mehr als zehn Flaschen 
Schaumwein unversteuert im Keller zu haben. Die Renten¬ 
sucht, die das Gesetz geschaffen hat, ist so tief in den Arbeiter¬ 
kreisen eingewurzelt, daß sie kaum, jedenfalls nicht in abseh¬ 
barer Zeit, durch eine geänderte Gesetzgebung beseitigt werden 
kann. Die Sucht wird ja geradezu als etwas Erlaubtes ange¬ 
sehen. Dann aber spielen bei und nach den Unfallverletzungen 
noch Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichts eine Rolle, 
deren Einfluß, mögen sie auch wenig intensiv sein, schon 
wegen ihrer Dauer und Nachhaltigkeit nicht unterschätzt 
werden dürfen. 

Ich habe demnach doch große Bedenken, anzunehmen, daß 



Kampf um die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.*Y.>A. 37 

der Vorschlag, Unfallneurosen nicht mehr zu entschädigen, 
'wirklich eine Besserung oder gar Heilung des sozialen Schadens 
ermöglicht. Ich möchte aber auch noch mehr bezweifeln, ob 
die hierfür notwendige Gesetzesänderung so leicht zu erreichen 
sein wird. Die Verbände, denen beim Ausscheiden der Unfall¬ 
neurosen aus den Unfallfolgen die Fürsorge für den Unfallver¬ 
letzten anheimfallen würde, werden sich jedenfalls sehr energisch 
zur Wehr setzen. Mit vollem Recht. Denn ich muß füglich 
bezweifeln, ob schon die Änderung der Gesetzeslage genügt, 
den Arbeiter, auch wenn er nervöse Beschwerden hat, zu ver¬ 
anlassen, die Arbeit wieder aufzunehmen. 

Der Nachteil, den der Kampf um die Rente setzt, ist, wie 
ich oben betont habe, dann nicht Unfallfolge, wenn der Arbeiter 
zu Unrecht behauptet, durch einen Unfall geschädigt worden 
zu sein. Aber ist dieser Beweis in dem Einzelfalle immer 
sicher erbracht? Das vorliegende Material der Entscheidungen 
dient wesentlich rechtlichen Zwecken und reicht natürlich 
nicht aus, diese Frage zu lösen; immerhin darf ich wohl 
hervorheben, daß die Beweisführung an vielen Stellen zu 
wünschen übrig läßt. Nach meinen eigenen, an einem großen 
Material gewonnenen Beobachtungen muß ich es bezweifeln; 
ich muß auch betonen, daß es meines Erachtens Fälle gibt, in 
denen es nicht oder kaum möglich ist, den Nachweis, der Ver¬ 
letzte simuliere seine Beschwerden, mit aller Sicherheit zu führen. 
Wie kann ich einem Verletzten nach weisen, daß er nicht die 
von ihm behaupteten Kopfschmerzen oder Scbwindelanfalle 
hat? Gewiß gibt es sehr viele Methoden, um nachzuweisen, 
ob diese oder andere Klagen berechtigt sind. Aber sie sind 
vielfach hinter dem grünen Tisch konstruiert und verraten 
einen Mangel an psychiatrischem Verständnis für die wahre 
Natur der Beschwerden. Sie versagen auch oft insofern, als 
ihr positiver Ausfall die Beschwerden nur wahrscheinlich macht, 
ihr negativer Ausfall sie aber nicht mit Sicherheit ausschließt. 
Es erscheint auch nicht angebracht, die Unfallverletzten, so oft 
dies auch geschieht, im Anschluß an das bekannte Sprichwort 
„Wer einmal lügt.“ sämtlich als Simulanten anzu¬ 

sehen, wenn man ihnen in einem Punkte einen Betrug nach¬ 
gewiesen hat. Ich sehe davon ab, daß ich wiederholt fand. 




38 


Ernst Schultzo, 


daß dieser angebliche Betrag durchaus zu dem Krankheitsbilde 
des Unfallverletzten gehörte, das der Sachverständige nicht 
kannte oder nicht verstand. Dann aber ist es doch sicher 
nicht berechtigt, aus einem einzigen Falle von Betrug den 
Schluß zu ziehen, alles sei erlogen, und schließlich wird dabei 
übersehen, daß nicht nur Gesunde, sondern auch Kranke lügen. 
Es würde zu weit führen, hier auf die Schwierigkeiten des Nach¬ 
weises des Bestehens gewisser häufiger Beschwerden einzugehen. 

Ich habe in vielen konkreten Fällen gesehen, daß Simu¬ 
lation zu Unrecht angenommen wurde. 

Ich will nebenbei, mehr als Kuriosum, erwähnen, daß ich 
für das Reichsversicherungsamt einmal einen Seemann begut¬ 
achtet habe, der als Simulant angesprochen wurde; es bestehe 
kein Grund für seine Schmerzen beim Gehen, kein Anlaß für 
die ungewöhnliche Gangart. Bei der körperlichen Untersuchung 
des Mannes dachte ich an einen Oberschenkelbruch; der voa 
mir hinzugezogene Chirurg untersuchte und durchleuchtete dea 
Mann und bestätigte meine Diagnose; er konnte es auch 
höchst wahrscheinlich machen, daß dieser Bruch auf den Unfall 
zurückzuführen sei. In keinem der erstatteten Vorgutachten 
war dieser Knochenbruch auch nur mit einem einzigen Wort» 
erwähnt, der in zwangloser Weise die Schmerzen und die un¬ 
gewöhnliche Gangart erklärte. 

Naturgemäß handelt es sich in den von mir begutachteten 
Fällen um Fehldiagnosen vorwiegend auf neurologischem oder 
psychiatrischem Gebiete. Einige Erfahrungen der letzten Zeit, die 
meine obigen Behauptungen stützen, will ich in Kürze an¬ 
führen. Ein Arbeiter hatte eine schwere Verletzung erlitten 
und klagte danach über Schwindelanfälle und anfallweise auf¬ 
tretende Schmerzen in der Brust- und Herzgegend. Da er 
diese Schmerzen recht verschieden lokalisierte und ein objek¬ 
tiver Befund an der Stelle der vermeintlichen Schmerzen nicht 
zu erheben war, glaubte man seinen Angaben nicht. Schon 
bei der Durchsicht der Akten, insbesondere der ärztlichen 
Zeugnisse vermutete ich, es läge ein ungewöhnlicher Fall von 
Epilepsie vor. Die Beobachtung in der Klinik bewies di» 
Richtigkeit dieser Annahme. 

Am meisten wird gesündigt bei der Hysterie. Der Unfall- 



Kampf nm die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.'Y.-A. 39 

verletzte klagt über Schmerzen oder Gefühlsstörungen in einem 
Bereich, der dem Gebiete eines bestimmten Nerven nicht ent¬ 
spricht; also ist diese Angabe des Unfallverletzten, schließt 
der Gutachter, erdichtet, obwohl er dabei ausdrücklich die 
Möglichkeit der Hysterie erörtert. Übrigens habe ich bei ähn¬ 
lichen Argumentationen mehrfach feststellen müssen, daß dem 
Gutachter auch die Anatomie nicht geläufig war. Bei der 
Prüfung aktiver Bewegungen [spannt der Unfallverletzte die 
entgegengesetzten Muskeln straff an, so daß das aktiv bewegte 
Glied, bei plötzlichem Aufhören [des ihm geleisteten Wider¬ 
standes, keine schnellenden Bewegungen macht; also bewußte 
Simulation, in Wirklichkeit Hößlinsches Symptom, dessen Nach¬ 
weis organische Lähmungen ausschließt. Hysterie wurde in 
einem Gutachten ausgeschlossen wegen des regelrechten Ver¬ 
haltens der Reflexe und der psychischen Verfassung des Un¬ 
fallverletzten; und wer die Seele des Hysterischen so genau 
kennen wollte, war ein Chirurg, der in diesem Falle einen 
Schulfall von Hysterie glatt als bewußte Simulation ange¬ 
sprochen hatte. Der Unfallverletzte kann kaum stehen, noch 
weniger gehen, ohne daß er umzufallen droht. Wird er im 
Bett geprüft, so kann er alle geforderten Bewegungen prompt, 
sicher und kräftig ausführen. Dieser scheinbare Gegensatz 
führte zur Annahme von Simulation und ließ den doch sicher 
recht nahe liegenden Gedanken, es handele sich um Astasie- 
Abasie, nicht aufkommen. Wiederholt bin ich in ärztlichen 
Gutachten einer Ausführung begegnet, die etwa so lautet; daß 
der Gang des Unfallverletzten durchaus gekünstelt und vorge¬ 
täuscht ist, braucht nicht bewiesen zu werden, das lehrt schon 
der erste Blick. Hätte der Träger dieses scharfen diagnosti¬ 
schen Blickes nur an Hysterie gedacht, so hätte er sich ge¬ 
freut über den Schulfall von hysterischer Hemiplegie, der das 
Toddsche Symptom in typischer Weise bot. Den Angaben des 
Unfallverletzten über Schmerzen wird kein Wert beigelegt; er 
sei ja doch ein hysterisches Individuum. Tun wirklich die 
psychogenen Schmerzen soviel weniger weh als die organisch 
bedingten? Kann man über die Stärke der Schmerzen eines 
anderen ein so sicheres Urteil sich erlauben? 

Das Wesen der Hysterie ist manchen Ärzten nicht hin- 



40 


Ernst Schnitze, 


reichend bekannt. Wenn ich gerade in den letzten Jahren oft 
diesen Eindruck erhalten habe, so mag das auch daran liegen, 
daß wir hier in Pommern sehr viele Fälle von Hysterie haben, 
und darunter befinden sich sehr schwere Formen, die den Ein¬ 
druck einer organischen ‘Erkrankung machen könnten. Vor 
kurzem habe ich einen Unfallverletzten vorgestellt, der früher, 
und wie ich zugeben muß, mit durchaus guten Gründen, 
als ein Fall von Pedunkulusblutung aufgefaßt wurde. Im 
letzten Jahre haben wir Hysterie bei zwei üntersuchungsge- 
fangenen beobachtet, die beide von unbeteiligter und speziali- 
stischer Seite als Paralytiker angesprochen wurden. 

Das wechselvolle, scheinbar widerspruchsvolle Verhalten 
der Hysterischen verleitet natürlich auch leicht zu einer falschen 
Diagnose; und nun noch die Suggestibilität! Reagiert der Un¬ 
fallverletzte auf eine der vielen fein erdachten und ausge¬ 
klügelten Methoden zur Entlarvung von Simulanten, so ist damit 
natürlich der Beweis des Betrugs erbracht! 

Selbstverständlich wird der Nachweis der Hysterie noch 
nicht dartun, daß der Unfallverletzte so erwerbsbeschränkt ist, 
wie er behauptet. Auch der voll erwerbsfähige Arbeiter kann 
eine große Zahl von hysterischen Zeichen haben, während 
wenige Stigmata eine erhebliche Beeinträchtigung der Arbeits¬ 
fähigkeit nicht ausschließen. Aber die hysterischen Stigmata 
sind insofern von großem Werte, als sie uns warnen müssen 
vor voreiliger und leichtfertiger Annahme der Simulation. 

Ich muß noch betonen, daß psychogene Symptome ein¬ 
mal ein organisches Leiden des Zentralnervensystems über¬ 
lagern und andererseits dessen ersten Symptome sein können, 
und daß dadurch eine weitere Fehlerquelle geschaffen wird. 

Auch hinsichtlich der Neurasthenie herrscht vielfach 
noch große Unklarheit. Ich habe schon oben darauf hingewiesen, 
daß manche Ärzte den Klagen der Unfallverletzten ihren 
Glauben versagen, weil sie keine objektiven Symptome finden, 
weil der Kranke seine Klagen maßlos übertreibt und sich ge¬ 
neigt zeigt, auf Zureden das Heer seiner Klagen zu vergrößern. 
Aber beobachten wir nicht dasselbe Verhalten auch bei solchen 
Fällen von Neurasthenie, die mit einem Unfall nichts zu tun 
haben, bei denen also von einer Einwirkung des Kampfes um 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.>A. 41 

•die Rente gar keine Rede sein kann? Was ich Ton der Hysterie 
und Neurasthenie sagte, gilt auch für Psychosen nach Un¬ 
fällen, vor allen Dingen für die leichten Formen traumatischer 
Demenz oder die Geistesstöningen vom Charakter der Katatonie, 
wie man sie ab und zu nach Kopfverletzungen beobachtet. 

Den Behörden kann man es gewiß nicht verdenken, wenn 
sie bei dem Mangel eigener fachmännischer Vorbildung sich ohne 
weiteres die unzutreffenden Gutachten der Ärzte zu eigen 
machen, und es ist zu verstehen, wenn sie den von diesen ein¬ 
genommenen Standpunkt energisch vertreten. Aber es ist nun 
doch nicht zu billigen, wenn eine Berufsgenossenschaft das 
Reichsversicherungsamt in einem bestimmten Falle bat, dem 
Unfallverletzten an außergerichtlichen Kosten den Betrag von 
10 Mark aufzuerlegen, um ihm ,,zum Bewußtsein zu bringen, 
daß die Berufsgenossenschaften und Instanzen nicht dazu da 
sind, derartige, doch geradezu frivol zu nennende und zum Teil 
beleidigende Anträge immer wieder über sich ergehen zu lassen, 
und um ferner dem Kläger zu Gemüte zu führen, daß er der¬ 
artige Anträge in Zukunft zu unterlassen hat**; denn in diesem 
Falle lagen einzelne Gutachten vor, aus denen sich ergab, daß 
der Unfallverletzte eine geistig abnorme Persönlichkeit war 
und an Wahnvorstellungen litt. Derselbe Unfallverletzte 
wurde offiziell auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft durch 
das Landratsamt auf das Ungehörige eines von ihm verfaßten 
Briefes aufmerksam gemacht; er sah offiziell sein Unrecht ein 
und schrieb kurze Zeit später einen ganz gleichen Brief. Der¬ 
selbe Unfallverletzte schließlich war wegen Beleidigung der 
Behörde angeklagt, wurde aber freigesprochen; denn der Staats¬ 
anwalt hatte entgegen der Annahme der Unfallbehörden die 
Überzeugung gewonnen, daß der Unfallverletzte wirklich krank 
und arbeitsunfähig war. Daß ein derartiges Vorgehen der Be¬ 
hörden, so begreiflich es auch vom menschlichen Standpunkte 
aus sein mag, wenig Zweck hat, daß es keinem nützt und 
den Unfallverletzten nur noch mehr schädigt, brauche ich kaum 
zu sagen. Man wäre fast versucht, von einer Schädigung 
des Unfallverletzten durch den Kampf um die Rente zu sprechen, 
den aber in diesem Falle nicht der Unfallverletzte, sondern 
die Berufsgenossenschaft führt. 



42 


Ernst Schnitze, 


Wenn ich nun auch den Unfallverletzten mehr Glauben; 
entgegenbringe als andere Sachverständige, so bin ich natür¬ 
lich doch nicht geneigt, dem zu Begutachtenden alles zu 
glauben, was er sagt, und mich in meinem Gutachten blind* 
lings seinen Wünschen unterzuordnen. Das geht aas meinen 
obigen Ausführungen hervor. 

Ich füge diese Zeilen hinzu, um mich gegen den uns 
Psychiatern und Neurologen ebenso oft wie ungerecht ge¬ 
machten Vorwurf zu schützen, wir hielten jeden rentensüch¬ 
tigen Unfallverletzten für einen kranken Menschen. Ich will 
dem Arbeiter nicht mehr zukommen lassen, als ihm zusteht, 
und glaube damit auch im Interesse der Berufsgenossenschaften 
zu handeln, da ich so einem berechtigten Kampf um die Rente- 
und der dadurch bedingten Verschlimmerung des Leidens des 
Unfallverletzten am ehesten verbeuge. 

Die Lehre von der traumatischen Neurose ist von vielen 
Seiten, berufenen und unberufenen, einer strengen Kritik unterzogen 
worden. Ich will hier nicht weiter auf sie eingehen, als es schon 
geschehen ist, möchte nur noch auf einen Punkt zurückkommen. 

Wiederholt bin ich in letzter Zeit der Warnung begegnet, 
Unfallverletzte einem Neu rologen oder Psychiater zur 
Begutachtung zuzuschicken.*) Unlängst warnte, wie ich aus 
den Akten entnahm, ein Sachverständiger davor, den Kranken, der 
einen schweren Eisenbahnunfall erlitten hatte, einem Neurologen 
zur Untersuchung zuzuweisen; er würde dann eine traumatische 
Neurose bekommen. Die Tücke des Geschickes fügte es, daß- 
in diesem Falle bereits eine Neurose in Form einer schweren 
hysterischen Hemiplegie vorlag; der der Neurologie so feind¬ 
lich gegenüberstehende Kollege hatte aber, entgegen allen 
neurologischen Erfahrungen, eine organische Erkrankung einer 
Gehirnhälfte mit aller Sicherheit angenommen und durch diese 
falsche Diagnose sicher nicht zu einem günstigen Ausgang des 
Leidens und des Entschädigungsverfahrens beigetragen. Übrigens 
habe ich mehrfach eine derartige Verwechslung organischer und 
psychogener Nervenleiden bei Gutachtern gesehen, die der trau- 


*) Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als die Diskussion Uber die 
gleiche Frage in der Ärzt. Sachv.-Ztg. geführt wurde. 


V 



Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechung des B.-Y.-A. 4S 

matisclien Neurose gegenüber sich sehr skeptisch, ja ablehueud 
verhielten. 

Ohne weiteres gebe ich zu, daß auch der Neurologe vor 
Irrtümem nicht sicher ist. Im allgemeinen wird aber der 
Neurologe bei der Beurteilung von Nervenkrankheiten weniger 
leicht einem Irrtum unterliegen als der Nichtnervenarzt. Ich 
gebe auch zu, daß einzelne Neurologen den Klagen der Unfall¬ 
verletzten zu weitgehenden Glauben beimessen, daß einzelne 
Kollegen den Zustand ihrer Klienten suggestiv, wenn auch 
unbewußt, ungünstig beeinflussen mögen. Ich betone diese 
Möglichkeit deshalb, weil wiederholt hervorgehoben worden 
ist, daß Unfallverletzte, die bei einem bestimmten Nervenarzt 
gewesen sind, ganz bestimmte Symptome bieten. Immerhin 
ist diese Beobachtung kein zwingender Beweis für die Untaug¬ 
lichkeit der angegriflenen Sachverständigen, solange nicht dio 
Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß der kritisierte Gutachter 
gerade auf die gerügten Symptome mehr achtet als andere 
Sachverständige und sie daher auch häufiger oder eher findet 

Aber diese Übelstände geben doch noch nicht das Recht, 
den Neurologen kurzerhand aus der Begutachtung Unfallver¬ 
letzter auszuschalten. Gewiß würde damit seltener die Diagnose 
einer Unfallneurose gestellt werden, und die ganze Frage der 
traumatischen Neurose würde so ungemein schnell erledigt 
sein. Aber dieses Vorgehen gleicht doch einer Vogelstrau߬ 
politik, die damit den Gegner beseitigt zu haben glaubt, dafi 
sie die Augen schließt. Ein solches Vorgehen erinnert an einen 
Richter, für den es grundsätzlich keine epileptischen Dämmerzu¬ 
stände gab, und der damit der Schwierigkeit enthoben war, im 
Einzelfall zu entscheiden, ob ein Dämmerzustand vorlag oder nicht. 

Die Fernhaltung der Neurologen schädigt aber auch die 
Unfallverletzten und die Berufss^enossenschaft. Möaren auch 
einzelne Unfallverletzte durch eine Begutachtuns, die eine 
traumatische Neurose nicht anerkennt und Rentenansp rach 
nicht ermöglicht, von ihren nervösen Nachwehen des Unfalls ge* 
heilt werden, so besteht doch die schon wiederholt auch von 
mir beobachtete Gefahr, daß der Gesundheitszustand des Un¬ 
fallverletzten durch die unzutreffende Begutachtung und die 
damit verknüpfte Benachteiligung geschädigt wird. Die Neurose 



44 


Ernst Schnitze, 


verschlimmert sich, die psychischen Symptome werden immer 
deutlicher, und die Erwerbsfähigkeit des Unfallverletzten erleidet 
immer weitere Einbuße. Also verhindert die Ausschaltung des 
Neurologen aus der Gutachtertätigkeit bei Unfallverletzten 
keineswegs die weitere Entwicklung der Neurosen und garantiert 
noch weniger ihre Heilung. Es mutet aber doch auch komisch 
an, gerade den Spezialisten von diesen Erkrankungen fem- 
halten zu wollen! Wird nicht der Knochenbruch im allge¬ 
meinen von dem Chirurgen am besten behandelt werden? Wird 
hier nicht der Chirurg oft dank seiner speziellen Ausbildung, etwa 
mit der Durchleuchtung den Grund für die Beschwerden finden, 
für die ein objektiver Befund bisher fehlte? Warum also hier 
einen anderen Grundsatz aufstellen? Wer die Unfallneurosen 
dem Neurologen entziehen will, gleicht dem Kranken, der seine 
Geschwulst dem Chirurgen nicht zeigen will, weil dieser sie 
mit Rücksicht auf ihre Bösartigkeit vielleicht operativ entfernen 
will. Ein Neurologe wird rein chirurgische oder gynäkologische 
Fälle nicht begutachten; aber ebenso muß auch betont werden, 
daß der Chirurg oder Gynäkologe für die Begutachtung von 
Unfallnearosen nicht zuständig ist. 

Das oft erwähnte Fehlen des Tropfens psychiatrischen Öls 
in der Medizin wird durch nichts deutlicher bewiesen als durch 
die Tatsache, daß der zuerst behandelnde Arzt nicht sehen an 
dem Verfall des Unfallverletzten in eine Neurose schuld ist. 
Der alleinige Hinweis auf die Schwere der Verletzung, mag er 
auch objektiv berechtigt sein, genügt in geeigneten Fällen, 
nervöse, rein psychisch bedingte Folgeerscheinungen zu zeitigen. 
So lange und so oft auch auf diesen Fehler hingewiesen ist, so 
oft wird er doch immer wieder und wieder gemacht, wovon 
auch wir uns überzeugen konnten. 

Der Standpunkt des Reichsversicherungsamts, nach dem 
die Folgen des Kampfes um eine unberechtigte Rente nicht als 
Unfallfolgen aufzufassen sind, ist zwar prinzipiell berechtigt, 
aber für die Praxis sehr bedenklich. Reine Fälle sogenannter 
Rentenkampfneurose sind selten. Oft liegt eine Unfallneurose 
vor, und dann ist es fast unmöglich, die Folgen des Unfalls 
von den Folgen des Kampfes um die Rente scharf abzugrenzen. 
Unfall- und Rentenneurose lassen sich überhaupt nicht trennen. 



Kampf uro die Rente und Selbstmord in der Recbtsprecbung des R.-V.-A. 45 

Um so mehr Vorsicht ist geboten, als tatsächlich die Begnt- 
achtaog der Verletzten, soweit das Nervensystem in Betracht 
kommt, große Schwierigkeiten zu überwinden hat und als in 
ärztlichen Kreisen falsche Ansichten noch yielfach verbreitet 
sind und Simulation zu leicht und zu oft angenommen wird. 

Nicht minder bedenklich erscheint es, traumatische Neurosen 
grundsätzlich nicht mehr als eine entschädigungsberecbtigte 
ünfallfolge anzusehen; das gleiche gilt auch für die grundsätz¬ 
liche Fernhaltung des Neurologen von der Begutachtung bei 
den Unfallnervenleiden. 


II. 

„Dem Verletzten und seinen Hinterbliebenen steht ein 
Anspruch nicht zu, wenn der Unfall vorsätzlich herbeigeführt 
ist.“ So bestimmt der erste Satz des II. Abschnittes des § 8 
des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes vom 30. Juni 1906. 
Diese Bestimmung stellt eine Ausnahme von der sonst all¬ 
gemein geltenden Rechtsregel dar und verlangt dementsprechend, 
wie das Reichsversicherungsamt (14. Juli 1896, X, 189; 27. 
Februar 1905, XIX, 32) mehrfach unzweideutig bekundet 
hat, einen strengen Beweis für die Vorsätzlichkeit des Her- 
beifübrens des Unfalls. Nach der genannten Gesetzes - Be¬ 
stimmung haben mithin im Falle des Selbstmordes die 
Hinterbliebenen einen Anspruch auf Rente nur dann, wenn 
der Selbstmord „ohne Vorsatz“ ausgeführt ist, also dann, 
wenn der Selbstmörder geistesgestört war, und zwar derart, 
daß seine freie Willensbestimmung oder Zurechnungsfähig¬ 
keit, um die heute noch allgemein übliche Ausdrucksweise an¬ 
zuwenden, aufgehoben war. Selbstverständlich aber berechtigt 
nicht der Selbstmord des geisteskranken versicherten Arbeiters 
schlechtweg zu einen; Anspruch auf Entschädigung der Hinter¬ 
bliebenen durch die Berufsgenossenschaft. Die Psychose muß 
vielmehr die, wenn auch nur mittelbare, Folge eines Betriebs¬ 
unfalles sein. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall 
und Suizid wird in diesem Falle nicht durchbrochen, da bei 
dessen Begehung von einer freiwilligen und selbständigen 
Handlung nicht mehr die Rede sein kann. Die Entscheidung 



46 


Ernst Schnitze, 


<Jer Frage übrigens, ob im einzelnen Falle der Betriebsnnfall 
die Geistesstöiung unmittelbar oder mittelbar verursacht hat, ist 
im wesentlichen eine medizinische (30. August 1906, XX, 156). 

Diesen Standpunkt hat das Beichsversicherungsamt in 
seiner Rechtsprechung (24. Sept 1888, III, 14; 2. Okt. 1888, 
III. 23) stets vertreten. Es betont (14. Juli 1896, X, 189), 
daß in der heißen Zone Schiffsleute, die in den Kessel- nnd 
Maschinenräumen beschäftigt werden, erfahrungsgemäß häufig 
Ton plötzlichem Wahnsinn befallen werden und in diesem Zu¬ 
stande über Bord springen; die Seeberufsgenossenschaft hat 
jährlich etwa £0 bis 60 solcher Fälle zu entschädigen. Ich 
begnüge mich damit, noch hinzuweisen auf eine Entscheidung 
Yom 18. Nov. 1890, Y, 30. Ein Arbeiter hatte mehrere Wochen 
hindurch nach dem Unfall anhaltend heftigste Schmerzen zu 
erleiden gehabt, und längere Zeit hindurch litt er an Schlaf¬ 
losigkeit, gegen die „sehr starke und aufregende Mittel“ ange¬ 
wandt wurden. Ungeachtet aller ärztlichen Bemühungen sehr itt 
das Leiden fort und hob die Körperkraft und Widerstands¬ 
fähigkeit immer mehr auf. Daher war die Annahme geboten, 
daß der Arbeiter, als er sich selbst das Leben nahm, nicht 
mehr im Besitze seines klaren Bewußtseins und seines freien 
Willens gewesen ist. Diese wenigstens zeitweise eingetretene 
Ti Übung des Bewußtseins war aber eine Folge .... des 
Betriebsunfalls. Mithin muß auch der von ihm in einem 
solchen Zustande der Unzurechnungsfähigkeit ausgeführte Selbst¬ 
mord als mittelbare Folge des Unfalls anerkannt werden. 

Andererseits hat das Eeicbsversicherungsamt die Berech¬ 
tigung eines Rentenanspruchs geleugnet bei dem Selbstmord 
eines Kesselheizers, der, wenn er überhaupt geisteskrank war, 
dies nur durch die allmähliche Wirkung seiner anhaltenden 
Berufstätigkeit unter ungünstigen Verhältnissen geworden sein 
konnte; es lag also kein Unfall im Sinne des Gesetzes vor, 
„der nach seinem Wesen durch ein plötzlich in die Betriebs¬ 
tätigkeit eingreifendes Ereignis dargestellt wird“ (6. Juli 1884, 
XV, 76). 

Es ist nicht notwendig, daß die Geistesstörung, die in 
ihrem Verlauf zum Selbstmord führt, ganz allein durch den 
Unfall bedingt ist, um den Hinterbliebenen eine Entsebädi- 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtspreehung des R.>y.-A. 47 

^Dg zu sichern. Ein Arbeiter war nach der durch den 
Unfall notwendig gewordenen ärztlichen Untersuchung in 
«inen Zustand seelischer Erregung geraten, der zu einer 
seine freie Willensbestimmung ausschließenden Geistesstörung 
und einem darin begangenen Selbstmord geführt hatte. Ein 
ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und Suizid wurde 
vom Reichsversicherungsamt (15. Juni 1896, X, 169) ange¬ 
nommen, obwohl zwischen beiden Ereignissen ein Zeitraum von 
l ®/4 Jahren lag. Das Reichsversicherungsamt hat in seiner 
Entscheidung vom 24. Nov. 1888 ausdrücklich hervorgehoben, 
daß Hetzereien und Lamentationen der Ehefrau des Arbeiters, 
die getäuschte Erwartung hinsichtlich seiner Rente und andere 
Umstände die Entwicklung einer auf einen Unfall zurückzu¬ 
führenden Geistesstörung begünstigt haben können, ohne daß 
hierdurch der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und 
Psychose aufgehoben wird. Ebensowenig hat das Reichsver¬ 
sicherungsamt in einem ähnlichen Falle (2. Oktober 1888, HI, 
23) dem Umstande Bedeutung beigemessen, daß die Mutter 
während der Geburt des betreffenden Selbstmörders geistes¬ 
gestört gewesen sein soll, da es, die Richtigkeit dieser Be¬ 
hauptung selbst angenommen, zur Annahme eines ursäch¬ 
lichen Zusammenhanges genügen würde, „wenn bei dem Ver¬ 
storbenen eine etwa anzunehmende erbliche Anlage infolge 
des Eintritts der Erblindung zum Ausdruck gekommen sei.“ 

In der oben (S. 15) bereits erwähnten Reichsgerichtsentschei¬ 
dung vom 19. Juni 1908 wird auf eine ältere Reichsgerichtsent¬ 
scheidung vom 8. Okt. 1906 verwiesen, die ebenfalls zu der 
vorliegenden Frage Stellung nimmt. Der Kläger hatte infolge 
eines im Betriebe der Straßenbahn erlittenen Unfalls eine 
traumatische Neurasthenie und „damit eine Schwächung der 
Widerstandskraft im Kampfe mit den uiigünstigen Bedingungen 
des Lebens“ davongetragen. Vermögenssorgen infolge der 
Herabsetzung der Arbeitskraft hatten das ohnehin geschwächte 
Nervensystem des Klägers weiter und dauernd erschüttert; 
dazu traten noch die Aufregungen des Prozesses, den der 
Kläger wegen Verlustes oder Verminderung seiner Erwerbs¬ 
fähigkeit führte. Die Beklagte ist für den schädlichen Erfolg 
dieser drei Ereignisse, die durch den Unfall und nur 



48 


Erust Scbultze, 


durch den Unfall verursacht worden sind, verantwortlich, 
zu machen. Diese Ereignisse haben zu dem unter Aus¬ 
schluß der freien Willensbestimmung begangenen Selbst¬ 
morde des ursprünglichen Klägers geführt; er war der Wider¬ 
standsfähigkeit beraubt, und in dem Gefühle, den äußeren 
Umständen gegenüber ohnmächtig zu sein, faßte er den Ent¬ 
schluß .zum Selbstmord. Das Reichsgericht spricht in Über¬ 
einstimmung mit dem Berufungsgericht den Selbstmord als 
Folge des Unfalls, wenn auch als entfernte Folge, an; „denn 
es lasse sich nicht sagen, daß der Unfall und die durch ihn 
hervorgerufene Schwächung des Nervensystems gegenüber den 
auf dieses ebenfalls nachteilig wirkenden weiteren Ereignissen 
so sehr zurückträten, daß von einer adäquaten Ursache nicht 
mehr gesprochen werden könnte.“ 

Ist nicht nur die Psychose, die den Selbstmord herbeige¬ 
führt hat, Folge eines Unfalls, sondern ist auch noch der Selbst¬ 
mord mit den Einrichtungen des Betriebes ausgeführt oder gar 
durch diese erst ermöglicht worden, so ist natürlich der An¬ 
spruch der Hinterbliebenen auf eine Entschädigung erst recht 
berechtigt. 

Es fragt sich, wie der Selbstmord rechtlich aufzufassen 
ist, wenn der Täter zwar geisteskrank, auch unzurechnungs¬ 
fähig war, wenn aber die Psychose nicht durch den 
Betrieb verursacht ist und nur durch die Mittel zum 
Selbstmord eine Beziehung zum Betriebe geschaffen 
wird. In einem solchen Palle (9. Mai 1903, XVII, 124) hatte der 
Täter — höchstwahrscheinlich gelegentlich seiner Berufstätigkeit 
— sieb öine Dynamitpatrone verschafft, die er zum Selbstmord be¬ 
nutzte. „Es gibt“, führt das Reichs versicherungsamt wörtlich aus, 
„eine unbegrenzte Anzahl von Gegenständen, die als Werk¬ 
zeuge .... zur Vernichtung des menschlichen Lebens geeignet 
sind; dadurch, daß dergleichen Gegenstände im Betriebe be¬ 
nutzt werden und während desselben den in ihm beschäftigten 
Arbeitern zugänglich werden, wird ein ausreichender Zu¬ 
sammenhang des durch sie herbeigeführten Unfalls mit dem 
Betriebe noch nicht begründet, denn der Unfall wird erst 
herbeigeführt durch die das Werkzeug zu einer unfallbringenden 
Wirkung benutzende Handlung, und daraus folgt, daß für den 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.-A. 49 

Tod des S. „ursächlich“ in dem unterstellten Falle allein oder 
doch bei weitem überwiegend die Geisteskrankheit in Be¬ 
tracht fallen würde. Nur wenn diese selbst die Folge 
eines Betriebsunfalls sein würde, würde dieser als Ursache 
des im Zustande geistiger Umnachtung ausgeführten Selbst¬ 
mordes gelten können.“ 

Das Reicbsyersicherungsamt hat diesen Standpunkt nicht 
immer eingenommen. Es (7. Januar 1895, IX, 71) hat einen 
Unfall anerkannt bei einem Bergmann, der an der Betriebs¬ 
stätte durch Sturz in einen Bremsschacht, dessen Schranke er 
selbst beseitigt hatte, zu Tode gekommen war; der alsbaldige 
tödliche Ausgang der während der Arbeit „aus irgendeinem 
Anlaß“ ausgebrochenen Geisteskrankheit ist durch die örtlichen 
Verhältnisse der ßetriebsstätte ermöglicht, mindestens aber be¬ 
günstigt. Ob außerhalb des Betriebes eine gleiche Möglichkeit 
zur Ausführung eines Selbstmordes bestanden hätte und von 
dem Bergmann benutzt worden wäre oder nicht, erachtet das 
Reichsversicberungsamt für unerheblich. Ebenso hat das Reichs¬ 
versicherungsamt (24. April 1895, IX, 134) einen ursächlichen 
Zusammenhang angenommen bei dem Selbstmorde eines melan¬ 
cholischen Bergmanns, der eine Karbonitpatrone, wie sie in 
Bergwerken zum Sprengen von Kohle benutzt werden, mit der 
linken Hand *an seinen Kopf gehalten und mit der rechten 
Hand vermittels eines Zündholzes zur Explosion gebracht hatte. 
Ein Unfall „beim Betriebe“ war auch der Selbstmord des 
geisteskranken Sandfonners, der seinen Kopf unter die Kurbel 
der Dampfmaschine geschoben hatte, wo er mit zerschmettertem 
Schädel aufgefunden wurde. Hier betont das Reichsversiche¬ 
rungsamt (30. Nov. 1899, XIII, 274) wörtlich, für die Be¬ 
gründung des Anspruchs sei nicht erforderlich, daß die Geistes¬ 
störung durch die Schädlichkeiten des Betriebes verursacht 
worden ... sei oder daß die Geistesstörung sogar auf einen 
Betriebsunfall, also ein plötzliches Ereignis, zurückzuführen sei; 
es genüge, wenn der Tod durch eine Betriebseinrichtung her¬ 
beigeführt sei, also im engsten Zusammenhänge mit dem Be¬ 
triebe und dessen Gefahren stehe. 

Das Reichsversicherungsamt verlangt für gewöhnlich den 
Nachweis, daß die Geistesstörung derart war, daß der Selbst- 

4 



50 


Ernst Schnitze, 


mörder, wie es sich einmal aasdrückt, als „Willenloser von 
den durch seinen körperlich-geistigen Zustand bedingten Emp¬ 
findungen und Antrieben in den Tod getrieben" wird (24. Sept. 
1888, m, 14). Später hat das Reichsyersichemngsamt diese 
Forderung wesentlich gemildert und schon dann einen Ent¬ 
schädigungsanspruch zuerkannt, wenn die freie Willensbe¬ 
stimmung erheblich beeinträchtigt war (3. Juli 1903, XVII, 175). 

Mit den bisher mitgeteilten Entscheidungen kann man sich 
vom psychiatrischen Standpunkte aus nur einyerstanden er¬ 
klären. Der Anspruch auf Rente muß also deu Hinterbliebenen 
eines geisteskranken Selbstmörders zugebilligt werden, wenn 
entweder die Geisteskrankheit, die zum Selbstmord geführt hat, 
Folge eines Betriebsunfalls ist, oder wenn der Selbstmord mit 
Einrichtungen des Betriebes ausgeführt ist, gleichgültig, wo¬ 
durch die Geistesstörung yerursacht worden ist. Ob gegen¬ 
über der Bewilligung yon Rente in Fällen der letztgenannten 
Art nicht rechtliche Bedenken erhoben werden können, möge 
dahingestellt bleiben. Übrigens hat das Reichsyersichemngsamt 
noch yor kurzem sich zur Frage des Selbstmordes wörtlich 
geäußert: „Im Falle eines Selbstmordes ist eine Entschädigung 
nur dann zu gewähren, wenn der Selbstmord infolge geistiger 
Gestörtheit im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit begangen 
ist, und diese letztere durch einen Betriebsunfall yerarsacht ist.“ 
Ich habe aber eine Reihe yon Entscheidungen gefunden, 
die in psychiatrischer Einsicht zu Bedenken Anlaß geben. In 
ihnen schließt das Reichsyersichemngsamt Geistesstömng 
schlechtweg oder eine die Zurechnungsfähigkeit aufhebende 
Geistesstömng aus, ohne daß seine Beweisfübmng zwingend ist 
Sehr oft und eindringlich spricht das Reichsyersichemngs¬ 
amt yon Schmerzen, die durch den Unfall yerursacht und so 
erheblich sind, daß der Verletzte, ohne seiner Herr zu sein, 
Hand an sich legt. Ich kann mich aber nicht dem Eindmck 
entziehen, daß das Reichsyersicbemngsamt die Häufigkeit der 
Auslösung einer Psychose durch Vermittlung der durch den 
Unfall bedingten Schmerzen überschätzt. Nur so ist es zu er¬ 
klären, daß das Reichsyersicbemugsamt das Vorliegen einer 
Psychose für unwahrscheinlich hält, wenn heftige Schmerzen 
nicht nachweisbar sind. In einem Falle (12. März 1894, 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des 51 

Vlil, 99) hatte der Arbeiter einen Tag nach einer Beschädigung 
-eines Knies Selbstmord verübt. Für die Annahme einer 
Geistesstörung fehle nach der mitgeteilten Entscheidung jeder 
Anhalt, „zumal da die Schmerzen des Verletzten wohl be¬ 
deutend gewesen sein mögen, aber doch nicht ganz unerträg¬ 
lich sein konnten, da sonst die Klägerin nicht erst am Nach¬ 
mittag des 5. April (am Tage des Selbstmordes) einen Arzt 
geholt haben würde, dessen Zuziehung ihrem Manne und ihr, 
wie sie wissen mußten, keine Kosten verursachte. Es ist 
hieraus auch zu schließen, daß der Verletzte und die Klägerin 
den Unfall keineswegs als so ernst angesehen haben, daß sie 
den Verlust des Beines befürchtet hätten“. Die allerdings recht 
kurze Schilderung des Tatbestandes in der Entscheidung des 
Beichsversicherungsamtes läßt aber doch die Annahme zu, daß 
die Schmerzen sich erst späterhin so gesteigert haben, daß sie 
zum Selbstmord führten; diese Möglichkeit wird bei dem Alko¬ 
holmißbrauch des Selbstmörders nur noch näher gerückt. 

Ähnlich verhielt es sich in einem zweiten Falle (3. Juli 
1903, XVII, 175). Ein Maurer hatte am 12. Juni 1902 durch 
Sturz von einem Koffer eine Kopfverletzung erlitten und sich 
am 16. Juni 1902 ertränkt. Zwar hatte der Maurer am 
14. Juni vor Zeugen über Schmerzen geklagt, am 15. Juni 
aber „seine Arbeit als Glockenläuter wie gewöhnlich ver¬ 
richtet. Dieses wäre ihm schwerlich möglich gewesen, 
wenn die Schmerzen derartig heftig gewesen wären, daß sie 
seine freie Willensbestimmung beschränkten.“ Diese Ausfüh- 
mng des Reichsversicherungsamts übersieht die Möglichkeit, 
daß die Schmerzen, wie auch in dem vorhin erwähnten Falle, 
«rst allmählich die Höhe erreicht haben können, daß dem Ver¬ 
letzten der Selbstmord als der einzige Ausweg erschien. Die 
Begründung des Reichsversicherungsamts rechnet nicht mit der 
ferneren Möglichkeit, daß auch nach Verletzungen Schmerzen 
nur zeitweilig aufzutreten brauchen. Übrigens schließt in 
diesem Falle der vernommene ärztliche Sachverständige die 
Möglichkeit aus, daß eine Geisteskrankheit in so kurzer Zeit, 
wie sie hier in Betracht kommt, also innerhalb von vier 
Tagen, entstehen könne. Es ist nicht angängig, diese Mög¬ 
lichkeit so bestimmt zu leugnen, und hier war um so größere 

4 * 



52 


Ernst Schnitze, 


Vorsicht geboten, als der Maurer bereits früher an Schwindel¬ 
anfällen gelitten hatte und dadurch in seiner Arbeitskraft be¬ 
schränkt gewesen war. 

Ist es schon schwer, das Vorhandensein von Schmerzen 
überhaupt auszuschließen, so ist es noch viel schwerer, ja un¬ 
möglich, ihre Größe zutreffend einzuschätzen. Daß auch die 
nicht organisch bedingten, sondern rein psychogenen Schmerzen 
eine solche Höhe erreichen können, daß der Kranke im Selbst¬ 
mord den einzigen Ausweg aus seinem Leiden sieht, ist nicht 
zu bestreiten und wird jeder viel beschäftigte Nervenarzt er¬ 
lebt haben. Sind aber diese Schmerzen die wenn auch nur 
mittelbare Folge eines Unfalls, so berechtigt der Selbstmord 
zum Rentenanspruch. 

Das Reichsversicherungsamt bekennt sich freilich nicht 
durchweg zu dieser Auffassung (2. März 1897, XI, 164). Die 
Angabe der Klägerin, ihr Mann sei von heftigen Schmerzen 
geplagt worden und habe vergebliche Versuche gemacht, die 
Arbeit wieder aufzunehmen und wiederholt gesagt, er könne 
sein Leiden nicht mehr ertragen, wird als glaubhaft hinge¬ 
nommen. „Diese Angaben lassen auf eine Gemütsverfassung 
des B. schließen, welche seinen Entschluß, sich selbst den Tod 
zu geben und dadurch ein für ihn qualvolles Leben zu enden, 
erklärlich erscheinen lassen, ohne daß es dazu der Annahme 
einer geistigen Störung bedürfte.“ Diese rechtliche Unter¬ 
scheidung zwischen Selbstmord aus Geistesstörung und Selbst¬ 
mord wegen starker Schmerzen erscheint mir nicht haltbar, 
ln beiden Fällen ist der Selbstmörder nicht mehr Herr seines 
Willens auf Grund krankhafter Störungen, und ob diese nun 
psychischer oder körperlicher Natur sind, sollte billigerweise 
für den Anspruch der Hinterbliebenen belanglos sein. 

Das Reichsversicherungsamt fährt dann fort: „Allerdings 
ist es wahrscheinlich, daß dieser Gemütszustand B.s wenigstens 
zum Teil durch die Folgen des Unfalls veranlaßt ist.“ Es 
kann damit also nur einen ungewöhnlichen Gemütszustand 
meinen, sonst hätte dieser nicht „veranlaßt“ werden können, 
und insofern war doch die Folge des Unfalles eine Geistes¬ 
störung, wenn auch im weitesten Sinne des Wortes. Obwohl 
nun weiterhin zugegeben wird, daß der Arbeiter „durch die 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.>y.«A. 53 

vergeblichen, weil unberechtigten Versuche, eine höhere Rente 
sn erlangen, verbittert“ gewesen sein mag, obwohl somit die 
unmittelbaren oder mittelbaren Folgen des Unfalls ein Motiv 
für den Selbstmord gewesen sein mögen, so ist „dieser Zusam¬ 
menhang zwischen dem Unfall und der Selbstentleibung . . . 
kein notwendiger“. Diesen Ausführungen kann ich nicht bei¬ 
pflichten. Wer vermittelt dem Reichsversicherungsamt die zu 
einer solchen Schlußfolgerung unbedingt notwendigen Kennt¬ 
nisse aller psychologischen Vorgänge, die sich in dem Unfall¬ 
verletzten längere Zeit vor dem Unfall und unmittelbar vorher 
abgespielt haben? Mao kann nicht verlangen, daß der Zu¬ 
sammenhang zwischen Unfall und Selbstmord als ein notwen¬ 
diger bewiesen werden muß, um den Hinterbliebenen eine 
Rente zu sichern 1 Dieser Nachweis kann selten erbracht 
werden. Er wird übrigens nicht einmal von dem Reichsver- 
aicherungsamt selber verlangt. Wenigstens hat es in einem 
Falle (24. Sept. 1888, ill, 14) das Suizid als Unfall anerkannt, 
obwohl die Berufsgenossenschaft wie das Schiedsgericht eine 
durch den Unfall bedingte Geistesstörung zwar Zugaben, aber 
übereinstimmend behaupteten, der Selbstmord sei nicht die un¬ 
vermeidliche, notwendige Folge dieser Geistesstörung gewesen 
und diese mithin belanglos. Das Reichsversicherungsamt hat 
sich auf diese ungewöhnliche Begründung der Ablehnung des 
KeLtenanspruchs nach dem vorliegenden Wortlaut der Ent¬ 
scheidung mit keinem einzigen Wort eingelassen, ihr also 
offensichtlich keine erhebliche Bedeutung beigemessen, so großen 
Raum sie auch in den Ausführungen der unteren Instanzen 
eingenommen hat. 

Das Reichsversicherungsamt hat mehrfach „aus der Art der 
Verletzung“ den Schluß gezogen, daß „eine geistige Um¬ 
nachtung“ zur Zeit des Selbstmordes nicht Vorgelegen hat. 
Es ist nicht möglich, so bestimmte Beziehungen zwischen der Art 
der Verletzung und der Schwere der Psychose allgemein fest- 
zustellen. Die Möglichkeit kann nicht scharf genug hervor¬ 
gehoben werden, daß auch eine leichte Verletzung, vor allem 
bei einem von Haus aus schon minderwertigen oder labilen 
Menschen, eine geistige Störung nach sich ziehen kann, die 
zu den lebhaftesten Affektschwankungen führt und so den 



54 Ernst Schnitze, 

Selbstmord ermöglicht. Gewiß wird eine Verletzung schlecht¬ 
weg, und vor allem eine Kopfverletzung, um so eher eine 
Psychose nach sich ziehen, je schwerer sie ist; aber man darf 
den Satz nicht umkehren und ihn verallgemeinern, besonders 
nicht, nachdem uns die Unfallgesetzgebung mit psychogenen 
Störungen noch vertrauter gemacht hat. 

Für noch bedenklicher halte ich die mehrfach wiederholte 
Behauptung des Reichsversicherungsamts, „aus der gewählten 
Todesart'' sei nicht „der Schluß zu ziehen, daß eine geistige 
Umnachtung Vorgelegen hat**. Eine für den geisteskranken 
Selbstmörder spezifische und nur von ihm angewandte Todesart 
gibt es nicht, mag er auch im Einzel falle bei seiner Tat rück¬ 
sichtsloser und energischer vergehen, mag er auch gelegentlich 
andere Mittel und Wege, insbesondere ungewöhnliche, ja grausame 
Methoden wählen oder verschiedene Möglichkeiten kombinieren, 
um zu seinem Ziele zu gelangen, als die geistesgesunden 
Selbstmörder. In einem bestimmten Falle aber zu sagen, die 
hier getroffene. Wahl der Todesart beweist einen in 
geistiger Gesundheit ausgeführten Selbstmord, halte ich für 
unmöglich und im höchsten Grade bedenklich. Ich werde 
hierbei an ein Vorkommnis erinnert, das ich vor geraumer 
Zeit in einem sensationellen Prozesse erlebt habe. Ein Mann 
war angeklagt, Kinder in der scheußlichsten Weise verstümmelt 
und zerstückelt zu haben. Der Vertreter der Anklage fragte 
einen der Obduzenten, ob er nach der Art der Schnitte ent¬ 
scheiden könne, ob der Täter bei vollem Bewußtsein diese 
Schnitte seinem Opfer zugefügt habe. Nicht genug damit, daß 
der Staatsanwalt eine solche Frage überhaupt stellte, bej ihte 
sie der Obduzent und bereicherte somit die gerichtsärztliche 
Diagnostik um eine Beweisführung, die jeder Psychiater als 
ebenso laienhaft wie unbrauchbar außer acht lassen wird. 

Wie ich schon sagte, hat das Reichs versicherungsamt mehr¬ 
fach die gewählte Todesart benutzt, um die Annahme geistiger 
Umnachtung bei dem Selbstmörder auszuschließen. Welche 
verschiedenen Todesarten kommen nun in Betracht? In dem 
einen Falle hatte sich der Arbeiter erhängt (30. Mai 1892, 
VI, 137), in einem andern ertränkt (11. Juli 1898, XU, 159), 
in einem dritten (26. Januar 1899, XIII, 45) erschossen; in 



Kampf um die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-y.-A. 55 

einem vierten Falle war der Arbeiter in einem Steinbmch, zu 
dem er nur nach Übersteigung eines Gitters gelangen konnte, 
tot aufgefunden (23. März 1901, XV, 76). Wir haben hier die 
gebräuchlichsten Mittel zur Ausführung des Selbstmordes, und 
ich möchte fragen, welche Todesart das Reichsversicherungs¬ 
amt noch als charakteristisch für geisteskranke Selbstmörder an¬ 
sieht, wenn es bei jeder dieser gewählten Methoden einen Selbst¬ 
mord in unzurechnungsfähigem Zustande ausschließt. Auch hier 
möchte ich ein ähnliches Erlebnis einschalten. Vor Jahren hatte 
ich einen Angeklagten zu begutachten, den ich für unzurechnungs¬ 
fähig hielt, da er die strafbare Handlung in einem atypischen 
Rausche begangen hatte. Das Gericht trug anfänglich Bedenken, 
sich meinem Gutachten anzuschließen, da der Angescbuldigte 
zielbewußt und logisch vorgegangen sei. Vor demselben Ge¬ 
richt hatte ich bald darauf ein Gutachten über einen ähnlichen 
Fall zu erstatten, und das Gericht hielt meinen Ausführungen 
entgegen, daß sinn- und zwecklose Handlungen nicht das Vor¬ 
liegen eines pathologischen Rausches bewiesen. Verschiedene 
Richter waren bei beiden Sitzungen beteiligt, und ich konnte 
es mir nicht versagen, sie zu fragen, wie sich denn ein im 
pathologischen Rausch befindliches Individuum benehmen solle, 
wenn es sich weder geordnet noch ungeordnet benehmen dürfe. 

Gewiß ist es in einzelnen Fällen möglich, aus der Art des 
Selbstmordes den Schluß zu ziehen, der Selbstmord sei im Zu¬ 
stande geistiger Störung ausgeführt worden, wie z. B. bei 
einem Manne, der in einen Backofen gekrochen war, von dem 
er wußte, daß er sehr bald in Gebrauch genommen werden 
würde, und sich dann erschossen hatte; bei der Sektion stellte 
es sich heraus, daß er sich überdies noch vergiftet hatte. Dieser 
Schluß ist aber immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit 
zu ziehen. Das gilt auch von folgendem, sicher nicht gewöhn¬ 
lichen Fall. Vor längerer Zeit fragte mich eines Tages ein 
mir befreundeter, aufsichtsführender Amtsrichter um Rat. In 
der Nachbarschaft seines Gerichtssitzes war die Leiche eines 
Mannes anfgeknüpft an einem Baume gefunden worden; die 
Hoden waren abgeschnitten. Ein schneidendes Instrument war 
in der Nähe der Leiche nicht zu finden. Der Amtsrichter 
schloß mit Sicherheit auf einen Mord; denn es schneide doch 



56 


Ernst Schnitze, 


keiner sich selbst die Hoden ab, und wenn das wirklich Vor¬ 
kommen könne, so sei der Eingriff so schmerzhaft, daß der 
Betreffende nicht mehr weitergehen könne, was man im vor¬ 
liegenden Falle doch annehmen müsse. Der Amtsrichter wurde 
in seiner Ansicht bestärkt durch den hinzugerufenen praktischen 
Arzt, der noch darauf hinwies, daß bei dem kräftigen Körper¬ 
bau des Verstorbenen zur Ausführung des Mordes mindestens 
drei bis vier Personen nötig gewesen seien. Eine große Auf¬ 
regung hatte sich der Bevölkerung des Ortes bemächtigt und 
war um so mehr gerechtfertigt, als der Ort ein aufstrebender 
Badeplatz war. Ich ließ mir von meinem Freunde ^einen 
genauen Fundbericht geben, aus dem ich nur das Wichtigste 
hervorhebe. Der Ast, um den die Schnur geworfen war, war 
höclistens 1 m vom Boden entfernt. Die Leiche war von 
normaler Größe. Die Schnur war mehrfach um den Hals ein¬ 
fach herumgelegt ohne Schlinge und Knoten. Zeichen eines 
voraufgegangenen Kampfes waren weder am Fundorte noch 
an der Leiche zu erkennen. Ich hielt die Möglichkeit, daß 
der Verstorbene ermordet und als Leiche aufgehängt sei, nicht 
für wahrscheinlich: die Leiche bot keine Zeichen einer Ver¬ 
letzung, und das hohe Gras war am Tatorte nur wenig nieder¬ 
getreten. Ich wies daher den Amtsrichter darauf hin, daß mir 
ein Selbstmord viel wahrscheinlicher sei als ein Mord. Der 
Richter bestritt meine Annahme unter dem Hinweis auf die 
Hoden Verletzung. Nun aber wissen wir, daß Geisteskranke 
sich selbst unter dem Einfluß von Wahnideen oder Sinnes¬ 
täuschungen die Hoden abschneiden; ebenso ist es bekannt, 
daß die Selbstverstümmelungen von den Geisteskranken kaum 
oder gar nicht schmerzhaft empfunden werden. Mit Rücksicht 
hierauf war es auch erklärlich, warum das Messer nicht in der 
Nähe der Leiche, auch nicht in Wurfnähe, gefunden war. 
Über die Art der geistigen Störung konnte ich natürlich nichts 
aussagen. Immerhin wies ich im Hinblick auf eigene Erfah¬ 
rungen und unter dem suggestiven Einfluß von einigen Zeitungs¬ 
berichten der letzten Zeit auf die Möglichkeit der Epilepsie 
hin; ich betonte die weitere Möglichkeit, daß Alkoholismus, 
vielleicht sogar mit der Epilepsie, im Spiele sei. Nun kam 
der Richter mit der Mitteilung, der Mann habe nach Schnaps 



Kampf am die Rente und Selbstmord in der Kechtsprechung des B.-V.-A. 57 

gerochen. Schließlich betonte ich noch, daß der zur Hoden- 
amputation vorgenommene Schnitt einen ganz bestimmten 
Verlauf zeigen könnte, da der Mann bei den starken 
Schwielen gerade der rechten Hand vermutlich ein Rechtser 
gewesen sein muß. Bie Sektion und die weiteren Ermittlungen 
gaben allen meinen Vermutungen Recht: Der Mann war seit 
Jahr und Tag ein Epileptiker, hatte in den letzten Tagen seines 
Lebens viel Schnaps getrunken und dann seinem Leben ein 
Ende gemacht Über die genauen psychologischen Vorgänge 
konnte natürlich nichts festgesteUt werden. 

Bei der eben kritisierten Beweisführung des Reichsver¬ 
sicherungsamts finde ich den immer wiederkehrenden Ausdruck 
„geistige Umnachtung“ recht unglücklich. Der Nichtfach¬ 
mann wird eine solche doch nur dann anzunehmen geneigt sein, 
wenn er die Psychose gewissermaßen auf Anhieb erkennt, und 
wie selten das zutrifft, selbst guten Willen des Beobachters 
vorausgesetzt, weiß der Fachmann nur zu gut. Wenn das 
Reichsversicherungsamt in einer Entscheidung wörtlich sagt: 
„Es läßt sich aber nicht nachweisen, daß X. die Tat im Zu¬ 
stande geistiger Umnachtung verübt haben muß“ und dann 
die Hinterbliebenenrente ablehnt, so scheint mir die hiermit 
gestellte Forderung, von deren Erfüllung der Rentenanspruch 
nbhängig gemacht wird, zu hoch gespannt. Hält doch das 
Reichsversicherungsamt selbst, wie ich oben schon betonte, den 
Rentenanspruch für berechtigt bei einem Zustande, in dem die 
freie Willensbestimmung erheblich beeinträchtigt war (3. Juli 
1U03, XVH, 175), und hat in einem anderen Falle „bei der 
Unmöglichkeit eines vollen und zwingenden Beweises die Un¬ 
zurechnungsfähigkeit ... für hinreichend dargetan“ erachtet 
^24. April 1895, IX, 134). In diesem letzteren Falle war von 
autoritativer Seite festgestellt worden, daß der Bergmann an 
Melancholie erkrankt war. Der Bergmann hatte sich ohne er¬ 
kennbaren Grund an einen einsamen Ort begeben, um sich hier 
mit einer Earbonitpatrone zu töten. Er hatte seinen Arbeits¬ 
genossen über den Beweggrund seines Auffahrens an jene Stelle 
unrichtige Angaben gemacht; er hatte den Schlüssel zur Schie߬ 
kiste, den er sonst stets bei sich trug, versteckt, und in seiner 
Kleidung fanden sich entgegen seiner Gewohnheit viele Streich- 



58 


Ernst Schnitze, 


holzer. Trotz der bei diesen Vorbereitungen znm Selbst¬ 
mord bewiesenen Überlegung nahm, und meiner Ansicht nach mit 
Recht, das Reichsversicherungsamt eine Unzurechnungsfähigkeit 
des Täters an, zumal jede erweisliche äußere Ursache des 
Selbstmordes fehlte. Auch in einem anderen Falle bot dem 
Reichsversicberungsamt die Tatsache, „daß der Verstorbene die 
Vorbereitung zum Selbstmord mit der hierzu nötigen Umsicht 
getroffen‘* hat, keinen Anlaß, die Unzurechnungsfähigkeit des 
Selbstmörders zu bezweifeln (2. Okt 1888, UI, 23). 

Nicht immer stellt sich die höchste Instanz anf diesen 
richtigen Standpunkt. So sagt das Sächsische Landesversiche- 
rnngsamt einmal (21. Nov. 1903, XVII, 296): „Andererseits 
trifft der Verstorbene jedoch eine Reihe von Bestimmungen, 
welche Zeugnis dafür ablegen, daß er die geistige Fähigkeit, 
klar zu denken und sich die Folgen seines Handelns vor Augen 
zu fuhren, noch nicht verloren hat. Er ordnet sein Haus, er¬ 
teilt seiner Familie Ratschläge, wie und wo sie nach seinem 
Tode am besten ihr Fortkommen zu suchen habe, und er be¬ 
schäftigt sich auch namentlich mit dem Schicksal des Schnitt¬ 
warengeschäfts, das seine Frau damals soeben übernommen 
hatte. So spricht niemand, dessen Geist umnachtet ist und der 
nicht weiß, was er will, sondern nur, wer bewußt und mit 
Vorbedacht zu Werke geht.“ Die Hinterbliebenenrente wurde 
versagt. Diese Beweisführung fordert sehr zur Kritik heraus. Vor 
allem zeigt sie das Gefährliche der Ausdrucks weise „geistige 
Umnachtung“, einer laienhaften Bezeichnung, unter der wir 
P^chiater uns nichts Rechtes vorstellen können. Wäre ein 
Selbstmord nur bei der Psychose möglich, die man als „geistige 
Umnachtung“ auffassen müßte, so wäre jener Standpunkt dis¬ 
kutabel. Wir müssen aber auch bei solchen Geisteskranken 
mit der Gefahr eines Selbstmordes rechnen, die äußerlich klar 
und geordnet sind und von dem Laien auch bei längerer und 
eingehender Unterhaltung nicht als krank erkannt werden. Mit 
allem Vorbedacht und jeder nur erdenkbareu Vorsicht bereiten 
solche Kranke den Selbstmord vor, durch dessen Ausführung 
alle überrascht werden. Das sind gerade die Kranken, bei 
denen einen Unglücksfall zu verhüten auch der besten fach¬ 
männischen Aufsicht nicht stets gelingt. Sie überlegen die 



Kampf am die Rente and Selbstmord in der Reohtsprechang des R.-Y.-A. öO' 

Folgen ihres Selbstmordes genau und treffen dementsprechend 
letztwillige Bestiaunnngen. Da es sich vorwiegend um Affekt* 
psychosen handelt, können diese Bestimmungen durchaus klar 
und sachgemäB sein, und die Neigung der Kranken, ihr Leiden, 
das sie selbst unklar als abnorm empfinden, möglichst zu dis¬ 
simulieren, erklärt es, daß ihre Auslassungen und letztwilligen 
Verfügungen keinen Hinweis auf die Psychose zu enthalten 
brauchen. 

In einer anderen Entscheidung führt das Reichsversiche- 
rnngsamt (12. Februar 1904, XVIII, 42) unter anderem aus: 
.Nach der eigenen Darstellung der Kläger hat der Verstorbene, 
nachdem er noch über die Verletzung gesprochen hatte, das 
Zimmer unter einem Vorwände verlassen, um von seinen An¬ 
gehörigen nicht an der Ausführung der Tat gehindert zu 
werden, ein Beweis, daß er sie mit Überlegung ausgeführt 
hat.“ Das Reichsversicherungsamt übersieht hierbei völlig, daß 
auch der Geisteskranke einer Überlegung fähig ist und daß 
eine Überlegung nicht das Handeln aus gesunden Motiven be¬ 
weist. Ob in dem vorliegenden Falle der Selbstmord die Tat 
eines unzurechnungsfähigen Geisteskranken gewesen ist, wage 
ich nicht zu entscheiden, da die Darstellung des Tatbestandes 
vom psychiatrischen Standpunkte aus höchst unbefriedigend 
ist; auffallen muß immerhin die Tat bei den günstigen 
äußeren Verhältnissen, zumal der Verstorbene „typischer Neur¬ 
astheniker“ war. 

Mir kommt es vor allem darauf an, gegenüber der Stellung¬ 
nahme des Reichsversicherungsamts zu betonen, daß auch der 
Geisteskranke eines umsichtig vorbereiteten und durchgeführten 
Selbstmordes fähig ist. 

ln einer nicht geringen Zahl von Entscheidungen gibt das 
Reichsversicherungsamt zwar zu, daß der Unfall eine psychische 
Störung ausgelöst haben möge, behauptet aber, daß der Selbst¬ 
mörder mit klarer, bewußter Überlegung, also nicht im Zu¬ 
stande der Unzurechnungsfähigkeit, gehandelt habe. Dann 
liegt — so etwa fährt das Reichsversicherungsamt in einer 
großen Zahl von Entscheidungen, die ich hier nicht alle an¬ 
führen will, und mit einer fast wörtlichen Übereinstimmung 
fort — die Annahme viel näher, daß der Selbstmord auf den 



60 


Ernst Schnitze, 


Mangel bestimmter geistiger und moralischer Eigenschaften, 
wie Ausdauer, Standhaftigkeit und Selbstüberwindung, ztirlick- 
zufübren sei. Es hat dem Yerstorbenen die „moralische Kraft 
gefehlt, die Widerwärtigkeiten des Lebens in ihren verschiedenen 
Formen zu ertragen“. „Dieser Mangel an moralischer 
Festigkeit entspringt jedoch ledighch einer Natur an läge des 
Täters und ist regelmäßig auch schon vor dem jetzigen Er¬ 
eignis vorhanden gewesen, welches den Entschloß zum Selbst¬ 
mord zur Reife bringt. Dieses Ereignis selbst — hier der 
Unfall mit seinen Folgen — bildet dann gewissermaßen nur die 
äußere Veranlassung, bei welcher sich die innere Charakter¬ 
eigenschaft sichtbar betätigt.“ 

Diese Auslassungen sind nach mehreren Richtungen hin 
anfechtbar. 

Ist es schon schwierig, in jedem Fall von Selbstmord eines 
der Geistesstörung Unverdächtigen einen klaren Einblick in die 
Motive des Suizids zu gewinnen, so ist es noch viel schwieriger, 
sich über die gleiche Tat bei einem geistig nicht intakten 
Menschen ein zutreffendes Urteil zu bilden. Das zur Verfügung 
stehende Material ist oft recht dürftig und nur mit Vorsicht 
zu gebrauchen. Vor allem fehlt fast immer die Kenntnis der 
geistigen Beschaffenheit des Täters, kurz bevor er zum Selbst¬ 
morde schritt. Mag dieser auch lange vorher geplant sein, so 
muß doch der Geisteszustand im kritischen Augenblick die 
größte Beachtung verlangen, wollen wir erfahren, warum die 
Entscheidung so und nicht anders ausgefallen ist. Wir sind 
mithin oft genug auf Analogieschlüsse angewiesen. Aus der 
großen Zahl gerade der in letzter Zeit ungemein angewachsenen 
Literatur über Selbstmord will ich nur eine Arbeit anführen. 
Gaupp hat bei einem Material von 124 Personen, die w^;en 
eines Selbstmordversuches in die Münchener psychiatrische 
Klinik eingeliefert waren und dort von ihm untersucht wurden, 
nur eine einzige geistig gesunde Person gefunden; alle anderen 
boten geistige Defekte. Wenn auch gewiß nicht in jedem 
Falle eine die Zurechnungsfähigkeit ausschließende Psychose 
Vorgelegen hat, so zwingt uns doch diese wichtige Mitteilung zur 
äußersten Vorsicht und macht die Annahme eines geistigen 



Kampf nm die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.>A. 61 

Defektes zur Zeit des Selbstmordes von vornherein wahrschein¬ 
licher. 

Doch ich will auf diese schon hinreichend betonten Schwierig¬ 
keiten der Begutachtung nicht weiter eingehen. Ich ziehe viel¬ 
mehr vor, hinzuweisen auf die prinzipiellen Bedenken einer 
solchen Anschauung, die die Hinterbliebenen die „Naturanlage** 
ihres Verstorbenen entgelten läßt. 

Gewiß wird der gesunde und kräftige Arbeiter auch eine 
schwere Verletzung, die er bei einem Unfall erlitten hat, über¬ 
winden. Er wird mit der Möglichkeit der Heilung rechnen; 
er weiß, daß ihm eine Rente zusteht für die Dauer der Be¬ 
schränkung der Erwerbsfähigkeit, und er wird, auch unter 
ungünstigen Verhältnissen, auf dem Arbeitsmarkt den ihm mög¬ 
lichen Verdienst suchen und finden. Ein Grund zur Verzweif¬ 
lung liegt für ihn nicht vor. Ganz anders verhält sich der leicht 
verzagte, energielose Arbeiter, der dem Kampfe mit den Mißhellig¬ 
keiten des Lebens weniger gewappnet gegenübersteht. Er über¬ 
schätzt schon sofort die Schwere seiner Verletzung und glaubt 
nicht an ihre Heilung. Er sieht sich für geraume Zeit im 
Krankenhause untergebracht und damit von den Seinigen, die 
‘ allein ihn verstehen, getrennt. Er befürchtet, oft genug grandios, 
eingreifende Operationen, ohne sich klar zu machen oder zu 
begreifen, daß ihn das Gesetz zu deren Duldung nicht zwingen 
kann, und er sieht sich und seine Familie in Hanger und Elend 
amkommen. Da erscheint es dann durchaus begreiflich und 
verständlich, wenn der Unfallverletzte in seiner verzweifelten 
und trostlosen Lage Hand an sich legt. Seine Naturanlage 
wird ihm zum Unglück; ohne sie würde der Unfall nicht die 
verhängnisvollen Folgen gezeitigt haben. Ebensowenig würde 
die Naturanlage allein ohne den Unfall das vorzeitige Lebens¬ 
ende berbeigefübrt haben, und insofern kommt meines Erachtens 
dem Unfall eine wesentliche Bedeutung in diesem Kausal¬ 
zusammenhang zu. Ob es nötig oder gar möglich ist, seinen 
prozentualen Anteil abzuschätzen, bleibe dahingestellt. Ich bin 
auf den Einwand gefaßt, daß auch andere widerwärtige Ereig¬ 
nisse zu demselben Ausgang hätten führen können. Aber das 
Reichsversicherungsamt betont bei ähnlich liegenden Fällen 
(siehe S. 65), daß die Rechtsprechung auf dem Gebiete der 



«2 


Ernst Schnitze, 


UnfallversicliernDg nicht mit Möglichkeiten, sondern mit tat¬ 
sächlichen Begebenheiten rechnen muß. 

Hier sei darauf hingewiesen, daß der Betriebsunfall gegen¬ 
über anderen widrigen Ereignissen des Lebens, die ebenfalls 
zum Selbstmord führen könnten, insofern eine Sonderstellung 
einnimmt, als bei ihm gerade der Anspruch auf Entschädigung 
gesetzlich vorgesehen ist. 

Das Beichsversichernngsamt verlangt für die Fälle, in 
denen es den Hinterbliebenen eine Entschädigung zubilligt, 
den Nachweis des Ausschlusses der freien Willensbestimmung 
beim Selbstmord und stellt hierbei strengere Anforderungen, 
als wir es nach seinen sonstigen Entscheidungen erwarten 
sollten. Zwischen dem Geisteszustand eines geistesgesunden 
und -kranken Selbstmörders bestehen trotz ihrer grundsätz¬ 
lichen Verschiedenheit fließende Übergänge. In den Grenz¬ 
fällen ist die Entscheidung abhängig von dem Gefühl und der 
persönlichen Erfahrung des einzelnen Gutachters. Hierbei darf 
nicht außer acht gelassen werden, daß auch der ausgesprochen 
Geisteskranke bei seinem Handeln sich von Erwägungen leiten 
lassen kann, denen auch der Gesunde durchaus zugänglich ist 
Der melancholische Arbeiter verzweifelt, weil er auf Grund der 
Beurteilung seiner körperlichen Verfassung sein nahes Ende 
vorausschaut und infolgedessen seine Familie in Hunger und 
Elend untergehen sieht. Diese Vorstellungen können aber 
dennoch durchaus pathologisch sein mit Rücksicht auf ihre Be¬ 
gründung und Gefühlsbetonung. Es ist daher unter keinen 
Umständen angängig, derartige, uns Gesunden verständliche 
und geläufige Erwägungen als Beweismittel dafür anzusprechen, 
daß in zweifelhaften Fällen geistige Gesundheit Vorgelegen 
haben muß. Ich habe mich nicht dem Eindruck entziehen 
können, daß auch das Reichsversicherungsamt diesem bei 
Laien so häufig anzutreffenden Irrtum unterlegen ist. 

Das Reichsversicherungsamt beurteilt Veranlagungen und 
krankhafte Zustände, die nur auf körperlichem Gebiete 
liegen, sehr viel milder. 

Bekommt der bereits tuberkulöse Arbeiter bei einer unge¬ 
wöhnlich schweren Arbeit während des Betriebes einen Blut¬ 
sturz, so liegt ein Betriebsunfall vor, wie das Reichsversiche- 



Kampf um die Rente and Selbstmord in der Bechtsprechnng des R.-y.*A. 63 

rangsamt mehrfacli entschieden hat. Es hat einer Arbeiterin 
(16. November 1895, X, 40) eine Rente zugebilligt, die in eine 
Xleisterschüssel getreten hatte; der hierdurch hervorgerufene 
Schrecken hatte den ersten hysterischen Anfall und damit auch 
die weiteren ausgelöst. „Allerdings steht auch fest, daß die 
Klägerin schon als 13- und 14jähriges Kind an vereinzelten 
hysterischen Anfällen gelitten hat, und so ist es nur zu er- 
Idären, daß der Schrecken die früher bestandene Krankheit von 
neuem in schwerer Form hervorgerufen hat.“ „Nicht darauf 
kommt es an, daß auch jeder andere Schrecken bei der schlum¬ 
mernden Krankheit ebenso schwere Anfälle hätte hervorrufen 
können, vielmehr ist entscheidend, daß das mit dem Betriebe 
im Zusammenhang stehende plötzliche Hineintreten in die 
Kleisterschüssel den Schrecken und als dessen Folge die An¬ 
fälle verursacht hat.“ Ein Zimmermann erhielt eine Rente, 
•der an Arteriosklerose litt, die „erfahrungsgemäß den damit Be¬ 
hafteten der Gefahr des Eintritts eines Schlaganfalls aussetzt“. 
Im Anschluß an eine, zwar betriebsübliche, wegen der be- 
«onderen Umstände des Falles aber nicht leichte, ihn über¬ 
anstrengende Arbeit hatte er eine Apoplexie erlitten (11. Febr. 
1899, XIII, 68). Ein diabetischer Maschinenmeister (3. Jan. 
1896, X, 72) zog sich eine an sich geringfügige Verletzung 
zu; es entstand eine Phlegmone, die zur Amputation einer 
Zehe und dann des Unterschenkels führte. Bald nach der 
Operation starb er. Der schlechte Heilungsverlauf der an sich 
geringfügigen Verletzung war durch den Diabetes „wenn nicht 
bervorgerufen, so doch mindestens begünstigt“, und es ist damit 
^ein mittelbarer, ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall 
und dem Tod“ gegeben. 

Das Reichsversicherungsamt hat den Tod an Gehimleiden 
a,ls Folge einer Kopfverletzung entschädigt trotz erheblicher 
Mitwirkung von Alkoholismns [(8. Juni 1898, XII, 156), also 
eines Leidens, das sich der Laie fast nur durch eigenes Ver¬ 
schulden entstanden denken kann. 

Im gleichen Sinne entschied das Reichsversicherungsamt 
■(12. Juli 1893, VII, 179) bei einem Alkoholisten, der nach 
•einer An sich unerheblichen und ungefährlichen Verbrühung an 
heftigen Entzündungserscheinungen mit hohem Fieber erkrankte, 



64 


Ernst Schnitze, 


dadurch in ein Delirium tremens verfiel und daun zugrunde 
ging. Das schlummernde Allgemein leiden sei nicht nur im 
zeitlichen Anschluß an die Unfallverletzung in die Erscheinung 
getreten, sondern stehe auch mit ihm in einem wahren ursäch¬ 
lichen Zusammenhänge. Ebenso nahm das Reichsversichernngs- 
amt (24. Oktober 1908, XXII, 159) einen Unfall an bei einem 
Arbeiter, der wegen einer Fingerverletzung operiert wurde, 
wenige Tage darauf in Delirium tremens verfiel und an Herz- 
lähmung starb. Daß der Verstorbene auch ohne die Verletzung 
an Delirium tremens erkrankt wäre, ließ sich nicht beweisen. 

Schließlich seien noch Entscheidungen angeführt, die Epi¬ 
leptiker betreffen. Ein epileptischer Steinbruchsarbeiter (29. Mai 
1897, XI, 240) wurde mit dem Kopf in einem Wassertümpel 
liegend tot aufgefunden. Das Reicbsversicherungsamt nahm 
mit dem Arzt an, daß er plötzlich von Krämpfen befallen 
wurde, hinstürzte und nun entweder erstickte oder gar bei 
seinem Fall so unglücklich auf einen Stein oder die harte 
Grabenkante anfschlug, daß hierdurch die Ohnmacht unmittelbar 
in den Tod übergeleitet wurde. Was auch die eigentliche 
Todesursache gewesen sein mag, die Besonderheit der Betriebs¬ 
stätte hat den Tod mittelbar veranlaßt. Ebenso hat das Reichs- 
versicherungsamt einen Unfall angenommen bei einem Arbeiter, 
der infolge eines epileptischen Anfalls mit dem Gesicht zu 
Boden fiel, und zwar in die heiße Asche neben dem Kessel 
eines Schweißofens, wodurch er sich eine Verbrennung eines 
Auges zuzog. „Wenngleich hier ein inneres Leiden des 
Verletzten die erste Ursache des Unfalles war, so muß doch 
der Umstand, daß die Arbeiter bei einem Hinfallen in den 
Betriebsräumen der Gefahr ausgesetzt sind, in Maschinenteile, 
umherliegende Materialien, Erzeugnisse oder Rückstände des 
Betriebs zu stürzen und sich daran zu verletzen, den Gefahren 
des Betriebs zugerechnet werden, die somit hier eine wesent¬ 
lich mitwirkende Ursache des Unfalls bildeten.“ (Handbuch 
der Unfallversicherung, I, 80.) 

Noch letzthin hat das Reichsvers icherungsamt (13. Dez. 
1908, XXII, 166) den Rentenanspruch anerkannt, indem es für 
wahrscheinlich hielt, „daß der verstorbene Knecht bei dem ihm 
von dem Betriebsuuternehmer aufgetragenen Heuwenden am 



Kampf am die Rente and Selbstmord in der Rechtsprechnng des R.-V.-A 65 

Rande eines Entwässerungsgrabens von epileptischen Krämpfen 
befallen und infolgedessen in den Graben gestürzt und er¬ 
trunken ist“. 

Ein epileptischer Bergmann (8. Juli 1907, XXI, 111) war 
bei einem Anfall hintenüber gefallen, auf einen eisernen Platten¬ 
belag aufgeschlagen und hatte hierbei eine schwere Schädel¬ 
verletzung erlitten, der er erlag. Der Versicherte ist einer 
Gefahr erlegen, der er durch den Betrieb ausgesetzt war, und 
der Entschädigungsanspruch besteht auch dann, wenn es sich 
um eine „Gefahr des gewöhnlichen Lebens handelt, also eine 
Gefahr, die dem Versicherten möglicherweise auch außerhalb 
des Betriebes gedroht hätte. Entscheidend ist lediglich, ob der 
Versicherte in dem einzelnen Falle derjenigen Gefahr, welcher 
er tatsächlich erlag, infolge seiner Beschäftigung in dem Be¬ 
triebe ausgesetzt gewesen ist.“ „Es ist freilich nicht ausge¬ 
schlossen, daß K. auch dann auf einen harten Boden, auf Stein¬ 
pflaster oder dergleichen aufgeschlagen wäre, wenn ihn der 
Anfall außerhalb des Betriebes betroffen hätte. Beweisen läßt 
sich dies aber nicht, denn niemand kann wissen, an welchem 
Orte und unter welchen Umständen K. den Anfall erlitten 
haben würde, wenn er nicht in dem Betriebe tätig gewesen 
wäre. Eine Feststellung dahin, daß der Anfall auch außerhalb 
des Betriebes seinen Tod herbeigeführt haben würde, läßt sich 
daher nicht treffen. 

Das Reichsversicherungsamt berücksichtigt auch Störungen 
körperlicher Art, welche nicht unbedingt krankhafter Natur 
sind; denn es betont in seiner Entscheidung vom 9. März 1896, 
X, 117, ausdrücklich die Möglichkeit, „daß, wenn auch der 
Unfall unmittelbar üble Wirkungen auf den Körper des Klägers 
nicht gehabt hat, doch die seehsche Erregung über den Unfall 
bei dem schwächlichen und frühzeitig gealterten Kläger eine 
Hypochondrie hervorgerufen hat, welche die Erwerbsfähigkeit 
des Klägers erheblich beeinträchtigt“. 

Was aber bei körperlichen Störungen billig ist, sollte auch 
bei Abweichungen auf psychischem Gebiete recht sein, mögen 
diese auch nur in ungewöhnlichen Charaktereigenschaften be¬ 
stehen. Keiner wird von einem Tuberkulösen verlangen, er 
soUe keinen Blutsturz bekommen. Nun aber fordert das Reichs- 


5 



66 


Ernst Schnitze, 


versiclierungsamt von einem willensschwachen Arbeiter, er 
müsse entgegen seiner Naturanlage mit den Widerwärtigkeiten 
des Lebens sich abznfinden wissen, der Arbeiter hätte bei 
ruhiger Überlegung die in ihm auftauchenden Befürchtungen 
überwinden müssen, und dabei hat das Reichsversichemngsamt 
(9. Oktober 1907, XXI, 139) in diesem Falle kurz vorher be¬ 
tont, daß der Arbeiter „von jeher zur Schwermut und zu 
düsterer Lebensauffassung hinneigte“. Es hat ihm also, führt 
das Reichsversicherungsamt zur Begründung seines Stand¬ 
punktes weiter aus, „an dem Maße von Willensstärke gefehlt, 
das von jedem im Leben stehenden Menschen gefordert werden 
muß“. 

Bei den bisherigen Erörterungen habe ich noch nicht die 
Möglichkeit berücksichtigt, daß es sich nicht um einen, sagen 
wir kurz, noch physiologischen Mangel an Ausdauer und 
Willensstärke handelt, sondern daß eine traumatische Neurose 
vorliegt. Eine solche wird oft genug verkannt, und mit dieser 
Möglichkeit muß ich nach meinen eigenen, oben zum Teil 
wiedergegebenen Erfahrungen rechnen. Daß aber nur sehr 
zwingende Gründe den Selbstmord eines an traumatischer 
Neurose Erkrankten als Unfall ausschließen dürfen, daß dieser 
bindende Nachweis nur in wenigen Fällen erbracht werden 
kann, liegt auf der Hand. 

Das Reichsversicherungsamt wird mit der hier kritisierten 
Auslegung des Gesetzes, das in erster Linie dem Wohle des 
Arbeiters dient, der individuellen Eigenart des einzelnen Un¬ 
fallverletzten nicht gerecht, indem es unmögliche Leistungen 
von ihm verlangt. Ebenso wie der tuberkulöse Arbeiter mit 
dem Augenblick seiner Anstellung in dem Betriebe und seiner 
Anmeldung bei der Unfallversicherung den Anspruch auf eine Ent¬ 
schädigung auch für die Unfallsfolgen erwirbt, an deren Ausgang 
die Tuberkulose wesentlich mitgewirkt hat, deren Verlauf also 
ohne die Tuberkulose ein besserer gewesen wäre, ebenso muß 
auch der Arbeiter geschützt werden können gegen Schäden, 
die sich aus der Mitwirkung des Unfalls und seiner Charakter¬ 
anlage ergeben. Wird doch jeder Arbeiter ohne weiteres ver¬ 
sichert! Damit übernimmt die Berufsgenossenscbaft, wenn sie 
keine Auslese trifft, die Verpflichtung, auch für die Folgen ein- 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.-A. 67 

zustehen, die nicht nur dem Unfall, sondern auch der persön¬ 
lichen Beschaffenheit des Verletzten zuzuschreiben sind. 
„Geistige oder körperliche Schwäche einer Person schließen 
ihre Arbeitereigenschaft nicht aus, vorausgesetzt nur, daff 
immerhin eine — wenn auch nur beschränkte — Arbeits¬ 
fähigkeit bei ihr vorhanden ist und daß tatsächlich ein Arbeite- 
Verhältnis vorliegt.“ (Handbuch der Unfallvers., I, 54.) 

Daß die Berechtigung des Kentenanspruchs nicht nur nach 
allgemeinen Grundsätzen, sondern vor allem von Fall zu Fall 
geprüft werden muß, ist eine fast selbstverständliche Forderung. 
Das Reichsversicherungsamt läßt sich zu dieser Frage in seiner 
Entscheidung vom 19. Oktober 1905, XIX, 173, ausführlich 
aus, indem es betont, daß ..jeder Schadensfall nur unter Berück¬ 
sichtigung seiner Eigenart in objektiver und subjektiver Hinsicht 
zutreffend gewürdigt werden kann“. Die „Verschiedenheit der 
körperlichen und geistigen Eigenschaften des Menschen be¬ 
dingt, daß ein und dasselbe Ereignis auf verschiedene Personen, 
ja sogar auf ein und dieselbe Person unter anderen örtlichen 
und zeitlichen Verhältnissen verschieden ein wirkt“. 1 

Um so gerechter erscheint die Forderung, mangelhafte 
Veranlagung nicht zum Nachteil des Unfallverletzten in Rech¬ 
nung zu setzen, als das Reichsversicherungsamt mehrfach 
(10. April 1907, XXI, 67; 26. November 1907, XXI, 168) bei 
der Einschätzung der Erwerbsfähigkeit die höhere Intelligenz 
des Unfallverletzten berücksichtigt, die es ihm ermögliche, 
einen Beruf zu ergreifen, der im wesentlichen geistige Arbeit 
verlange und damit ein verhältnismäßig hohes Einkommen ge¬ 
währe. 

Was ich über die Veranlagung in ihrer Beziehung zum Ver¬ 
fall in Geisteskrankheit und Neigung zum Selbstmord aus- 
geführt habe, trifft natürlich auch für die Unfallneurose zu. 
Nicht jeder erkrankt an einer solchen nach einem Unfall. 
Von Bedeutung ist hierbei ein in der Person des Ver¬ 
letzten gelegenes Etwas, das sich nicht immer darstellen 
läßt. Daß hierbei Tabak- und Alkoholmißbrauch, eine schon 
bestehende Arteriosklerose oder Nervosität eine Rolle spielen, 
darauf brauche ich kaum hinzuweisen. Uns ist hier wie auch 


5* 



68 


Ernst Schnitze, 


aoderorts aufgefalleo, wie häufig die Unfallverletzten an einer 
oft angeborenen geistigen Schwäche leiden. 

Soweit mir ein Urteil ohne Kenntnis der gesamten Akten 
zusteht, habe ich den Eindruck, als ob das Reichsversicherungs- 
amt in einzelnen Fällen zu Unrecht den Selbstmord eines 
"Willenlosen geleugnet hat. Ich halte eine größere Milde der 
Rechtsprechung in dieser Hinsicht für gerechtfertigt und lasse 
mich in dieser Ansicht nicht durch das Bedenken erschüttern, 
ein Unfallverletzter Arbeiter werde bei einer weniger strengen 
Rechtsprechung leicht zum Selbstmord greifen, um seiner Familie 
eine Entschädigung zu sichern. Der Selbsterhaltungstrieb ist 
doch eine zu tief im Menschen eingewurzelte Eigenschaft, als 
daß derartige Erwägungen zu der Vernichtung des eigenen 
Lebens führen könnten. Ich wäre dann schon eher geneigt, 
anzunehmen, der Arbeiter habe in krankhafter Weise die Lage 
seiner Person und seiner Familie zu schwarz angesehen. Ich 
bin überzeugt, daß allein die Aussicht auf die Rente für die 
Hinterbliebenen einen Gatten und Familienvater nicht zum 
Selbstmord treibt; ebensowenig wird aber auch die Verweigerung 
einer Entschädigung den Unfallverletzten abhalten, wegen seines 
ernsten Lebensüberdrusses sich das Leben zu nehmen. 

Übrigens hat auch das Reichsversicherungsamt selbst in 
einem Falle (8. Januar 1891, V, 44) Selbstmord aus Renten¬ 
sucht ausgeschlossen. „Es läßt sich füglich annehmen, daß T., 
der in den Akten als fleißiger und ordentlicher Mann geschildert 
war, gewissenhaft genug war, um lieber die Sorge für seine 
Kinder auf sich zu nehmen, als ihnen durch seinen Tod eine 
Rente zuzuwenden, welche beträchtlich hinter seinem Arbeits¬ 
verdienste zurückbleibt.“ 


III. 

Die Durchsicht der vorliegenden Arbeit lehrt, daß an 
vielen Entscheidungen des Reichsversicherungsamts vom psy¬ 
chiatrischen Standpunkte aus Kritik geübt werden muß. Schuld 
hieran sind aber weniger rechtliche als vielmehr ärztliche Ge¬ 
sichtspunkte. 



Kampf am die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-Y.-A. 69 

Freilich ist es nicht meines Amtes, auch die ersteren einer 
Kritik zu würdigen; immerhin möchte ich mit einigen Worten 
auf sie eingehen. 

Das Reicbsversicherungsamt unterscheidet bei der £r- 
örternng der Beziehungen des Unfalls zu seinen Folgen 
zwischen Ursache und äußerem Anlaß; bei den Ursachen 
trifft es noch die weitere Unterscheidung zwischen unmittel¬ 
barer und mittelbarer Ursache. Ist es schon schwer, den 
prinzipiellen Unterschied zwischen unmittelbarer und mittel¬ 
barer Ursache eiuzusehen, so ist es noch schwieriger, eine 
scharfe und grundsätzliche Unterscheidung zwischen Ursache 
und Anlaß zu treffen. Ursache sowohl wie Anlaß fallen unter 
den gemeinsamen Begriff der Bediugung; und es ist eigentlich 
Oefühlssache, zu sagen, wie beschaffen eine Bedingung sein 
muß, um nicht mehr Ursache, sondern nur noch Anlaß zu 
sein. Der Unterschied ist kein qualitativer, sondern nur ein 
quantitativer. Aber auch dieser Gesichtspunkt kann uns nicht 
über die Schwierigkeiten hinweghelfen, solange es unmöglich 
ist, das Eausalitätsverhältnis zahlenmäßig darzustellen. Das 
Reichsgericht vermeidet vielfach in seinen Entscheidungen den 
Ausdruck Anlaß, und wenn es von einer entfernteren Ursache 
oder dergleichen spricht, so meint es offenbar den Anlaß, hebt 
aber mit seiner Ausdrucks weise den nur quantitativen Unter¬ 
schied gebührend hervor. 

Ich habe es grundsätzlich möglichst vermieden, mich in 
meinen Gutachten darüber auszulassen, ob der Unfall eine 
Ursache oder nur ein äußerer Anlaß des ermittelten Krank¬ 
heitsprozesses oder seines Ablaufes ist. Wenn die gegenseitigen 
Abhängigkeitsverbältnisse nicht durchsichtig waren, habe ich 
erörtert, was voraussichtlich eingetreten wäre, wenn sich der 
Unfall nicht ereignet hätte. Kam ich dann zu dem Ergebnis, 
daß ohne den Unfall der Tod oder die Verschlimmerung des 
Leidens höchstwahrscheinlich nicht eingetreten wäre, so wurde 
von der das Gutachten einholenden Behörde der ursächliche 
Zusammenhang als erwiesen oder wahrscheinlich angesehen. 
Jeder Fall muß für sich erörtert werden. Wenn zum Beispiel 
.ein Arbeiter einige Jahre nach einem Unfall paranoisch wird, 
nachdem er in der Zwischenzeit keinerlei Störungen geboten 



70 


Ernst Schnitze, 


hat, and wenn Rentenansprüche in seinem Wahnsjstem ein» 
große Rolle spielen, läßt sich zweifellos sagen, daß diese Paranoia^ 
oder richtiger gesagt diese Form der Paranoia, ohne den Unfall 
nicht denkbar ist Ein nrsächlicher Znsammenhang wäre aber 
deshalb doch nicht ohne weiteres anznnehmen. An dem Zn- 
standekommen des paranoischen Krankheitsprozesses an sich 
kann der Unfall nnschnldig sein. Der Unfall hat aber den 
Wahnideen die Richtnng gewiesen nnd der Paranoia die be¬ 
stimmte Färbnng gegeben. Jedes andere Ereignis würde eben¬ 
falls bei dem Inhalt der Wahnideen Verwertung haben finden 
können. Anders ist der Sachverhalt, wenn zwischen Unfall und 
Ansbrach der Psychose eine Brücke durch nervöse Symptome 
geschlagen wird. Daß dann die Entscheidung nicht immer 
leicht zu treffen ist, daß dann oft genug mit der Wahrschein¬ 
lichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zu rechnen ist, daa 
habe ich ja oben erörtert. 

Wenn das Reichsversicherungsamt für bestimmte Ereignisse 
den Unfall nur als äußeren Anlaß gelten läßt, so sieht es in 
diesen Fällen vielfach die Ursache in der Person des Ver¬ 
letzten, in der krankhaften Verfassung des Klägers, seiner körper- 
liehen oder geistigen Minderwertigkeit. In tatsächlicher Hin¬ 
sicht ist dieser Behauptung nur beizupflichten. Sonst würden 
wir eben häufiger ein Suizid nach einem Unfall erleben und 
öfter Rentenquerulanten an treffen. Dieselbe Verletzung bringt 
bei den verschiedenen Personen ganz verschiedene Folgen hervor 
je nach ihrer Veranlagung, und nicht jeder wird nach einer be¬ 
stimmt gearteten Verletzung paranoisch werden. Aber diese 
Verschiedenheit der persönlichen Disposition darf dem Unfall¬ 
verletzten nicht zum Nachteil gereichen. Der Unfall ist da, 
seine Folgen sind festgestellt, und ob diese nun bei ihm dank 
seiner persönlichen Veranlagung stärker als bei seinem Mit¬ 
arbeiter aufgetreten sind, sollte für die Berechtigung des Ent¬ 
schädigungsanspruches gleichgültig sein, wenn nur ein schuld¬ 
haftes Verhalten des Verletzten bei dem Zustandekommen der 
Unfallfolgen ausgeschlossen werden kann. Hebt ja doch Fahr¬ 
lässigkeit, selbst leichtsinniges Herbeiführen des Unfalls nicht 
den Anspruch auf Rente auf! Was die Trunksucht angeht, 
so löst nur sinnlose Trunkenheit die Verbindung mit dem 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprecbung des R.-V.*A. 71 

IBetriebe. Das Reichsversicheningsamt hat entschieden, daß 
-der Unfall sich nicht beim Betriebe ereignet hat, wenn der 
T^erletzte nicht mehr imstande war, seiner Trunkenheit halber 
irgendeine Betriebstätigkeit ausznüben. »Der Zustand der 
Angetrunkenheit hätte nach der ständigen Rechtsprechung 
■des Reichsversicherungsamts allein noch nicht genügt, dem 
Verletzten die Rente deshalb zu versagen, weil die Trunken¬ 
heit den Unfall mit verursacht hat. Es müßte denn sein, 
<iaß diese so erheblich wäre, daß der Trunkene seiner Ver¬ 
nunft und Überlegung völlig beraubt wäre, daß er durch 
diesen Zustand aus der Betriebstätigkeit herausgetreten wäre.“ 

Die Besprechung ärztlicher Gesichtspunkte, die uns natur¬ 
gemäß vorwiegend interessiert, hat an vielen Stellen die Kritik 
herausgefordert. Vor allem habe ich auf Mängel hingewiesen, 
die manche Gutachten aufweisen. 

Billigerweise kann man nicht von jedem als Gutachter 
gehörten Arzte eine genaue Kenntnis der einzelnen Spezialfächer 
voraussetzen. Aber bedenklich ist es doch, daß so wenige 
Outachter die Grenzen ihres eigenen Wissens kennen und daß 
fast jeder Arzt glaubt, auch über schwierige Fälle von trauma¬ 
tischer Neurose urteilen zu dürfen, wiewohl zu deren sachge¬ 
mäßer Bewertung ein nicht geringes Maß psychiatrischen 
Fühlens und Könnens unerläßlich notwendig ist. Die Tatsache 
der mangelnden Selbsteinschätzung der Arzte erklärt die Be¬ 
obachtung, daß die Sicherheit des Auftretens des Sachver- 
«tändigen, sei es im Gutachten, sei es vor Gericht, vielfach im 
umgekehrten Verhältnis zu dem tatsächlichen Wissen steht. 
Auch mag der Umstand nicht gerade die Qualität der Gut¬ 
achten fördern, daß von einem einzelnen Arzte oft eine große 
Zahl von Gutachten in verhältnismäßig geringer Zeit erstattet 
werden muß. Ich kann einige leise Bedenken gegen manche 
Gutachten der Krankenhäuser nicht unterdrücken, deren wesent¬ 
liche Tätigkeit in der Begutachtung Unfallverletzter besteht. 
Gewiß wird hier eine große Erfahrung gerade auf diesem 
Spezialgebiete erworben; aber es besteht doch auch die Gefahr, 
daß der Fall nicht als Einzelfall gewürdigt wird. Darum halte 
ich es auch geradezu für bedenklich, nicht ganz klar liegende 
Fälle traumatischer Neurose auf Grund einer einmaligen Unter- 



72 


Ernst Schnitze, 


sachung abzufertigen, besonders dann, wenn das Gutachten zu 
der Annahme einer Simulation führt. Ich brauche mich da¬ 
nach gar nicht darüber auszulassen, welchen W ert ich den Massen- 
Nacbuntersuchungen von Rentenempfängern beimesse. Dabei 
besteht doch gerade die Gefahr, daß eine genaue körperliche 
Untersuchung unterlassen wird, die unerläßlich notwendig ist 
für die Begutachtung des Falles. Der Kollektivbegriff der 
traumatischen Neurose hat auch iusofern etwas Bedenkliches, 
als der Sachverständige sieb oft nicht die Mühe nimmt, eine 
Spezialdiagnose zu stellen oder es doch wenigstens zu versuchen. 
Freilich bedarf der Sachverständige dazu einer Kenntnis der Neu¬ 
rosen; und er darf nicht, wie in einer Entscheidung des Reichs ver- 
sicherungsamts mitgeteilt wird, Neurasthenie mit Hysterie als 
durchaus wesensgleich ansehen, und auch nicht annehmen, daß 
ein häufiger Endausgang der Neurasthenie die Demenz sei, wie 
ich es ebenfalls in einer Rekursentscheidung gelesen habe. 

Auch bei der Begutachtung der Unfallverletzten wird viel¬ 
fach der Fehler begangen, daß der Sachverständige ihnen seine 
eigenen Gedankengänge unterschiebt. Der Sachverständige ver¬ 
mutet nicht nur, daß sich iu der Seele des anderen die psy¬ 
chischen Vorgänge so abspielen, wie er glaubt, für sich an¬ 
nehmen zu können — doch nur auf Grund von Analogie¬ 
schlüssen —, sondern diese Vermutung ist für manche Gut¬ 
achter schon sehr bald eine bewiesene Tatsache. So wenigstens 
erkläre ich mir manche ärztlichen Auslassungen über die ver¬ 
derbliche Wirkung dieses bösen Kampfes um die Rente, die oft 
eine geradezu romanhafte Färbung tragen. Nicht viel anders 
steht es um die Psychologie des Selbstmordes. 

Eine Besserung dieser Verhältnisse ist nur durch eine gründ¬ 
liche psychiatrische Ausbildung der Ärzte zu erreichen. Die vor¬ 
liegenden Ausführungen sind ein weiterer Beweis für die Not¬ 
wendigkeit, die angehenden Ärzte noch mehr mit den Unfall¬ 
gesetzen und ihrer praktischen Bedeutung vertraut zu machen 
und sie immer wieder von neuem auf die ernste Verantwortung 
hinzuweisen, die sie mit der Erstattung eines Gutachtens — 
sei es auch nur ein Befundschein für 3 M. — übernehmen. 
Nicht oft und nicht eindringlich genug kann darauf hinge¬ 
wiesen werden, daß die erste Behandlung der Unfallverletzten 



Kampf um die Rente und Selbstmord in der Rechtsprechung des R.-V.-A. 73 

und ihre zweckentsprechende Beratung bei dem Auftreten der 
ersten Beschwerden geradezu den weiteren Verlauf entscheiden. 

Ich halte es nicht für richtig, daß die Unfallheilkunde von 
einem einzigen Lehrer an unseren Hochschulen gelehrt wird. 
Jeder Vertreter der verschiedenen klinischen Disziplinen soll an 
seinem Teil mitarbeiten. Uns Psychiatern würde die Aufgabe 
Zufällen, den Studierenden mit dem Wesen der traumatischen 
Neurosen vertraut zu machen und ihm ein psychologisches Ver¬ 
ständnis für diese Erankheitsformen zu eröffnen, die teilweise ein 
nicht gewolltes Ergebnis sozialer Fürsorge sind; vor allem 
können wir ihn warnen vor gar zu schneller Annahme einer 
Simulation. Gewiß werden die in den verschiedenen Kliniken 
gehörten Anschauungen über traumatische Neurose nicht über- 
einstimmen. Der kritisch veranlagte Student wird schon eine 
bestimmte Stellung nehmen. Jeder aber wird zum mindesten 
die Mahnung daraus entnehmen, daß bei der Begutachtung 
Unfallverletzter besondere Vorsicht angebracht ist. 

Schon heute wird an den meisten Hochschulen der psy¬ 
chiatrische Unterricht auch auf diese Frage ausgedehnt, und 
jeder Lehrer wird die Dankbarkeit seines Zuhörers erfahren 
haben, der so unmittelbar die große praktische Bedeutung 
psychiatrischer Denkweise erfährt. So ist es zu hoffen, daß 
bei weiterem Ausbau des Unterrichts vermeidbare Fehler von 
den Ärzten in Zukunft nicht mehr begangen werden, Fehler, 
die nur zu leicht dazu angetan sind, unsere Arbeiter oder deren 
Familien zu schädigen und die Wohlfahrtsgesetze in Verruf 
zu bringen. 



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Begründet von 

Direktor Prof. Dr. Konrad Alt, 

Uchtspringe (Altmark). 

In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Meduin und die 
Bedürfnisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung 

der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. 
Dr. Aschaffenburg in Eüln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Binswan ger 
in Jena, Prof. Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen, 
Geh. Medizinal-Rat Prof. Dr. Goldscheider in Berlin, Professor und 
Direktor Dr. Eirchboff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. Erümer 
in Gonradstein, Sanitätsrat Dr. Laquer in Frankfurt a. M., Medizinalrat 
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Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Pra^, Direktor Dr. 
H. Schlüß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in üchtspmge, Geheimrat 
Dr. Schüle in Illenau, Prof. Dr. Scbultzein Greifswald, Geh.Med.-Rat 
Dr. Siemens in Lauenburg, Geh. Med.-Rat Dr. von Strümpell in 
Wien, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Unverricht in Magdeburg, Prot Dr. 
von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor 
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin 

heransgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoche, 

Freiburg i. Br. 


Band IX, Heft 2 



Inhaltsübersicht. 


Seite 

Ä. Übersicht über die Krankheitsäußerungen der in der 

hinteren Schädelgrube gelegenen Oehirnteile . 5 

L Cerebellum. 5 

a) Anatomische Vorbemerkungen. 5 

b) Physiologische Vorbemerkungen. 6 

a) afferente Leitungsbahnen . .. 7 

1. Tractus spino-cerebellaris dorsalis. 7 

2. Tractus spino-cerebellaris ventralis .... 7 

3. Hinterstrang'Kleinhimbahn und direkte sen¬ 
sorische Eleinhirnbahn .......... 8 

4. Tractus vestibulo-cerebellaris. 8 

6. Tractus olivo-cerebellaris. 9 

ll) efferente Leitungsbahnen. 9 

1. Tractus cerebello-vestibularis.10 

2. Tractus vestibulo-spinalis . ..10 

3. Tractus vestibulo-nuclearis.11 

4. Tractus cerebello-tegmenti.11 

y) Reflexbogen .11 

1. spino-bulbär-zerebellare.11 

2. zerebello-zerebrale.12 

c) Symptomatologie.12 

1. Zerebellare Ataxie.13 

2. Drehschwindel. 14 

3. Nystagmus.15 

4. Zerebellare Hypotonie . ..16 

5. Zerebellare Parese s. Asthenie.17 

6. Adiadochokinesis.18 

7. Asynergie cer^belleuse ..18 

8. Spinale Ataxie.19 





























4 


Nie. Gierlicb, Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 


Seit« 

II. Kleinhimschenkel.20 

a) die unteren, Crura cerebelli ad meduUam . . 20 

b) die mittleren, Brachia pontis.21 

c) die oberen, Brachia conjunetiva.21 

m. Okzipitallappen.21 

IV. Corpora quadrigemina.21 

V. Pedunculus cerebri.22 

VI. Pons .23 

Vn. Medulla oblongata.25 

Vni. Geschwülste des IV. Ventrikels.26 

IX. Aifektionen der Basis.26 

B. &pexielle Symptomatologie und Differentialdiagnose der 
für einen chirurgischen Eingriff xugängigen Affektionen 

in der hinteren Schädelgruhe .28 

I. Kleinhimabszeß, Differentialdiagnose.29 

Meningitis serosa und purulenta.30 

n. Kleinhirntumoren, Differentialdiagnose.31 

a) Hydrozephalus.33 

b) Neurasthenie.34 

c) Multiple Sklerose.35 

d) Tuberkulöse und eitrige Meningitis.36 

e) Blutung und Erweichung.36 

f) Aneurysmen der Basalgefäße. 36 

III. TumorendesKleinhirnbrückenwinkels, Differential¬ 
diagnose .37 

a) Affektionen des Himstammes.38 

b) Tumoren der vorderen Schädelgrube .... 39 

IV. Meningitis chronica circumscripta (cystica) in der 

hinteren Schädelgrube.40 

C. Eröffnung der hinteren Schädelgrube und Prognose . . 40 


■V 

























Nachdem im letzten Dezennium die Chirurgie des Gehirns 
unter Horsleys Vorantritt sich bedeutend erweitert und 
namentlich auch die hintere Schädelgrube in ihre Domäne ge¬ 
zogen hat, war man allgemein bemüht, eine Verfeinerung der 
Diagnostik der diese Grube ausfüllenden Gehirnteile anzu- 
streben. Hier ist es nun, wie nicht selten in der Medizin, so 
ergangen, daß die klinische Beobachtung der exakten Forschung 
Yoraneilte, so daß manche klinisch wohlbegründete Tatsache 
der anatomisch-physiologischen Begründung noch harrt. Bei 
dem allgemeinen Interesse, welches die Erkrankungen der in der 
hinteren Schädelgrube gelegenen Organe — Kleinhirn und 
Rhombenzephalon — heute daher beanspruchen, will ich ver¬ 
suchen, Ihnen im folgenden die Symptome übersichtlich zu 
schildern, auf denen die Diagnose, besonders des so wichtigen 
ersten Beginnes der krankhaften Störung, beruht. Ich beginne 
mit dem 

Kleinhirn, 


dessen Läsionen, namentlich Tumoren und Abszesse, in erster 
Linie für einen chirurgischen Eingriff in Frage kommen. 

Morphologisch betrachtet, ist das Kleinhirn ein von 
seiner Umgebung gut abgeschlossenes Gebilde, welches dem 
Rhombenzephalon aufgelagert, die obere Partie der hinteren 
Schädelgrube ausfüUt und frontalwärts durch das straffe Ten- 
torium vom Okzipitallappen des Großhirns geschieden ist. 
Ventralwärts läuft das Kleinhirn in drei Stiele aus, durch die 
es mit dem übrigen Nervensystem in Verbindung steht. 

Anatomisch unterscheidet man eine Anzahl Lappen 
mit vielen Windungen und Furchen, die aus grauer Rinde 
und Marksubstanz bestehen und auf Querschnitten das charak¬ 
teristische Bild des Arbor vitae bilden. Im Innern liegen eine 
Anzahl grauer Kerne: der umfangreiche, vielfach gefaltete 



6 


Nie. Gierlich, 


Nacleus dentatus, der Nucleus emboliformis, globosns, tegmenti 
s. fastigii. Für unsere klinischen Zwecke kommen wir mit 
einer viel einfacheren Einteilung aus, indem wir das Eleinhim 
gliedern in ein Mittelstück, den Wurm genannt, und die 
beiden Hemisphären. 

Von diesen drei Teilen kommt nach unsem physiologischen, 
klinischen und phylogenetischen Beobachtungen dem Warm 
die weitaus größte Bedeutung zu, da er das Zentrum aller zu 
dem Kleinhirn hinziehenden und von demselben ausgehenden 
Bahnen bildet, so daß Läsionen der Hemisphären, wie schon 
Nothnagel erkannte, ohne klinische Symptome einhergehen 
können, sofern sie nicht Druck auf den Wurm ausüben. In 
der ganzen Tierreihe bis zu den höheren Wirbeltieren hinauf, 
finden wir, soweit die einzelnen Tiere ein Kleinhirn besitzen, 
nur den Wurm ausgebildet, und zwar teils in beträchtlicher 
Größe, während von den Hemisphären nur der Nucleus dentatus 
angelegt ist, den Edinger daher dem Wurm zurechnet. 

Auf den Wurm sind also beim Menschen nach unseren 
jetzigen Kenntnissen die vom Kleinhirn ausgehenden Impulse 
zu beziehen, wenn auch einige Autoren den einzelnen Klein¬ 
hirnlappen spezielle Dignität zusprechen möchten. 

Die Bestimmung der Seite, auf der die Affektion ihren 
Sitz hat, ist bei dem durch das straffe Tentorium begrenzten engen 
Raume infolge der leichten Femwirkung auf die andere Seite 
des Wurmes meist nicht möglich. Dieses Unvermögen hat 
freilich für einen chirurgischen Eingriff keine große Bedeutung, 
da meist die Schnittführung eine solche ist, daß das ganze 
Kleinhirn freigelegt wird. 

Im Wurm und speziell in der Rinde des Wurms haben 
wir also den Gipfelpunkt der durch die drei Kleinhimstiele 
zum Kleinhirn hinziehenden und von demselben ausgehenden 
Bahnen zu suchen. Der vordere Kleinhirnstiel oder Bindearm ver¬ 
mittelt die Verbindung mit dem Großhirn und endet im Nucleus 
ruber und Thalamus opticus. Der mittlere Kleinhirnstiel zieht 
zum Pons, und der hintere, das Corpus restiforme oder Strick¬ 
körper genannt, führt die Bahnen von und zur MeduUa oblon- 
gata und dem Rückenmark. 

Bevor wir uns nach diesen Vorbemerkungen zur Analyse 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 


7 


der klinischen Symptome wenden, auf denen die Diagnose der 
Kleinhimerkrankungen sich auf baut, erscheint es zweckmäßig, 
die afferenten und efferenten Bahnen kurz zu schildern, 
die der Funktion des Kleinhirns dienen. 

Wir unterscheiden da zunächst nach Bruns Vorgang 
einen Reflexbogen, der vom Rückenmark und verlängerten 
Mark zum Kleinhirn hin und von diesem wieder zum Rücken- 
mark herabzieht, den spino-bulbär-zerebellaren Reflex¬ 
bogen. 

Zu den afferenten (Bahnen dieses Reflexbogens zählt 

1. der Tractus spino-cerebellaris dorsalis, die 
Kleinhirnseitenstrangbahn. Sie zieht in den lateralen, ventralen 
Partien des Seitenstrangs zentralwärts, empfängt ihre Fasern 
aus den Zellen der Clarkeschen Säulen, die an der Basis 
des Hinterhorns liegen und vom oberen Lumbalmark bis ins 
obere Dorsalmark reichen. 

In diesem endigen die in den hinteren Wurzeln medial 
gelegenen, den Muskelsinn und das Lagegefühl speziell der 
Rumpf- und Hüftmuskeln vermittelnden Fasern. Der Tractus 
spino-cerebellaris ist ein konstanter, in der Wirbeltierreihe bis 
zu den Fischen bereits vorhandener, während freilich die um¬ 
grenzte Gruppe der als Clarke sehe Säulen bezeichneten Zellen 
erst bei höheren Wirbeltieren sich deutlich abhebt. Es handelt 
sich somit um eine phylogenetisch alte Bahn. 

2. Der zweiten afferenten Bahn, dem Tractus spino- 
cerebellaris ventralis s. Gowers, der eine ähnliche 
Ausbreitung besitzt, ist eine gleiche physiologische Bedeutung 
wie der obigen Bahn zuzuschreiben. Sie nimmt ihren Anfang 
ebenfalls aus Zellen, die an der Basis des Hinterhorns liegen, 
ohne aber einen abgegrenzten Zellkomplex zu bilden. Sie 
zieht ventralwärts von der ersten Bahn, gelangt dann im 
Bogen durch die vorderen Kleinhimstiele an ihre Endstätte, 
die Rinde des Wurms, während die erstere Bahn direkt durch 
die hinteren Kleinhirnstiele dahin gelangt. Auf diesen beiden 
Bahnen werden der Wurmrinde fortwährend Impulse zugefiihrt 
über Lage und Spannungsgrad der Muskeln und Gelenke des 
Rumpfes und der Hüfte. 

3. Ist auf Grund neuerer Untersuchungen die Annahme be- 



8 


Nie. Qierlich, 


rechtigt, daß ein Teil der in den hinteren Strängen des Rücken¬ 
marks aufsteigenden sensiblen Fasern direkt oder durch Ver¬ 
mittlung der Hinterstrangkeme im Corpus restiforme zum Wurm 
des Kleinhirns gelangen. Cohnstamm glaubt sogar, daß die 
Mehrzahl aller Hinterwurzeliasem zum Kleinhirn zieht und 
nur ein geringerer Teil in die mediale Schleife gelangt. Auch 
ans den sensiblen Hirnnerven gesellen sich direkt oder durch 
Vermittlung der Kerne Fasern diesem Zuge bei, Edingers 
direkte sensorische Kleinhirnbahn. Dieser letzte Traktus 
ist nach E ding er ein uraltes System. „Bei den Haien ist 
es das einzig nennenswert ansgebildete im Kleinhirn. Das 
ganze Zerebellum der Selachier ist im wesentlichen nur End¬ 
apparat für Teile der sensiblen Kopfnerven. Das weist darauf 
hin, daß in diesem System der Grundapparat für den Klein- 
himmechanismus liegt, daß die anderen Faserbezüge sich diesen 
erst allmählich addiert haben.“ Auf diesen Bahnen gelangen sen¬ 
sible Eindrücke von der gesamten Körperoberfläche und sen¬ 
sorische Impulse zum Kleinhirn. Eine besondere Stellung in 
diesem Traktus kommt 

4. der yestibulo-cerebellaren Bahn zu. Der aus 
dem Ganglion vestibuläre entspringende Nervus vestibularis 
sendet seine peripherwärts ziehenden Fasern zu den Ampullen, 
zum Utriculus und Sacculas. Die zentralwärts ziehenden Fasern 
verlaufen gemeinsam mit dem Nervus cochlearis, enden aber 
getrennt von diesem im Nucleus vestibularis und dem als 
Nucleus Deiters bezeichneten, mandelförmigen, dicht unter 
dem Kleinhirn gelegenen Gebilde und durch Vermittlung dieser 
Kerne, sowie direkt im Markkerne des Kleinhirns und der 
Rinde des Wurms. In diesem Nerv gelangen Erregungen aus 
den Bogengängen, die bekanntlich mit der Körperhaltung und 
Lage im Raum in enger Beziehung stehen, zum Kleinhirn. 
Es ist der Nerv des Raumsinns, und die durch ihn vermittelten 
Impulse orientieren über die Lage unseres Körpers, speziell 
des Kopfes, im Raume, der uns umgibt. Hierzu dienen auch 
zahlreiche Assoziationsfasem zwischen den Augenmuskeln und 
dem Deiters sehen Kern, die im hinteren Längsbündel ver¬ 
laufen und über die Stellung der Bulbi und den Kontraktions¬ 
zustand ihrer Muskeln Empfindungen vermitteln. 



Erkrankungen der hinteren Sch&delgrube. 


9 


5. seien noch kurz Fasern erwähnt, die ans den Oliven 
im Strickkörper zum Kleinhirn ziehen — Tractus olivo- 
cerebellaris —, über dessen Bedeutung bestimmtere An¬ 
gaben bisher nicht vorliegen. 

Wir sehen also, daß die Rinde des ELleinhimwurmes ein 
Zentmm bildet, dem vom Rückenmark und Hirnstamm durch 
die Kleinhirnseitenstrangbahn, die Go wer s sehe Bahn, die 



R.p. hintere Wurzeln; 
Gl.S. Clarkesche Säule; 
F. B. Funikulus Burdach; 

F.G, Funiculus Gell; 

T. S. C. V. Tractus spino- 
cerebellaris ventralis; 

T. S. C. d. Tractus spino- 
cerebellaris dorsalis; 

N. G. Gollscher Kern; 

N. B. Burdachscher Kern; 
O. i. Oliva inf.; 

T. 0. C. Tractus olivo- 
cerebellaris; 

H Kl. Hinterstrang-Klein- 
hirnbahn; 

S. Kl. B. Sensorische Klein¬ 

hirnbahn ; 

T. V. C. Tractus vestibulo- 

cerebellaris; 

N. D. Nucleus dentatus. 


Fig. 1. Die zum Kleinhirn aufsteigenden Bahnen. 


Hinterstrang- und direkte sensorische Kleinhirnbahn, wie 
speziell durch den N. vestibularis Erregungen zugeführt werden, 
die über den augenblicklichen Spannungsgrad der sämtlichen 
Muskeln und Gelenke, die Stellung der Glieder und des Kopfes, 
sowie über die Haltung des Körpers und Lage im Raum 
orientieren. Diese Impulse dringen zunächst nicht bis zum Be¬ 
wußtsein vor und automatisch sucht nun das Kleinhirn 
auf Grund dieser Nachrichten Stellung, Bewegung 
der Glieder, des Rumpfes, des Kopfes, der Augen 
etc. zu beeinflussen. Hierzu stehen ihm efferente 



10 


Nie. Qierlicb, 


Bahnen zur Verfügung, die zumeist auf die subkortikalen motori¬ 
schen Bahnen Einfluß gewinnen. Von der Wurmrinde ziehen 
Fibrae sagittales zu den grauen Kemlagem des Kleinhirns 
und von diesen gelangen die Erregungen durch die Kleinhim- 
stiele auf die motorischen Bahnen. So gehen: 

1. Fasern vom Nucleus tegmenti zum Nucleus Deiters — 
Tractus cerebello-vestibularis. Von diesem ziehen 
auf zwei Wegen die Fasern peripherwärts: 



F.S. Fibrae sagittales; 

N. T. Nacleus teg¬ 
menti; 

C. R. Corpus resti- 
forme; 

T. C. V. Tractus 

cerebello -vestibularis; 

m. Oculomotorius- 
kern; 

Vl. Abduzenskern; 

VIII. Nervus acusti- 
cus; 

H. L. Hinteres LSngs- 
bündel; 

N. D. Nucleus Deiters; 

T. V. S. Tractus 

vestibulo-spinalis; 

B. Bogengänge. 


Fig. 2. Die absteigenden — motorischen — Bahnen des Kleinhirns 

nach Bruce. 

2. Im Tractus vestibulospinalis. Dieser ist von 
Monakow entdeckt, von Bruce und Probst näher studiert 
und führt Fasern, die durch das Corpus restiforme das Rücken¬ 
mark erreichen und am ventralen Rande der Seitenstränge und 
in den Vordersträngen abwärts gelangen. Sie lassen sich bis 
ins Lumbalmark verfolgen und finden ihre Aufsplitterung in 
der gleichseitigen motorischen Vorderhornsäule. Mit Hilfe dieser 
Bahn gewinnt somit das Kleinhirn Einfluß auf die Muskeln 
des Rumpfes und der Extremitäten. 


■N 







Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube. 


11 


3. Eine zweite, nicht weniger wichtige Bahn geht nocb 
vom Deiters sehen Kern aus — Tractus vestibulonnclearis. 
Ihre Fasern verlaufen am Boden des 4. Ventrikels und ziehen 
nach Bruce im gleichseitigen hinteren Längsbündel teils zentral- 
wärts zum Kern des Nervus oculomotorius und trochleari» 
beider Seiten, teils peripherwärts bis hinab in die Vordersträngo 
des Rückenmarks. Sie endigen ebenfalls in der grauen Vorder- 
homsäule. Auf dieser Bahn ist das Kleinhirn in den Stand 
gesetzt, auf die Augenbewegung und Stellung der Bulbi regu¬ 
lierend einzuwirken. 

So schließt sich, wie wir sehen, ein mächtiger 
Reflexbogen, der unter der Schwelle des Bewußt¬ 
seins automatisch seine Wirkung entfaltet. Sein 
Scheitelpunkt liegt in der Rinde des Kleinhirn¬ 
wurms. yom Rückenmark und Hirnstamme fließen 
diesem durch Kleinhirnseitenstränge, Gowerssche 
Bahn, Hinterst ränge, den sensiblen Endkernen, 
der spinalen und zerebralen Nerven, und vor allem 
durch den Vestibularnerven sensible Erregungen 
zu, die über den Spannungsgrad von Muskeln und 
Gelenken, die momentane Stellung der Glieder und 
des Kopfes, sowie über die ganze Haltung und Lago 
des Körpers im Raum unterrichten. Auf Grund 
dieser ständig znfließenden Empfindung wirkt das 
Kleinhirn dann regulierend und koordinierend ein 
auf die Stellung und Bewegung der Glieder, des 
Rumpfes und des Kopfes. 

Diesem peripheren Reflexbogen ist nun ein weiterer, zen¬ 
traler übergeordnet — der cerebello-cerebrale Reflex¬ 
bogen (Bruns). Auf ihm werden dem Großhirn Nachrichten 
zuteil über die in der Wurmrinde gesammelten Empfindungen, 
die hier wahrscheinlich zu bewußten Vorstellungen umgewan¬ 
delt werden können, um dann, falls nötig, regulierend und 
kontrollierend auf die Tätigkeit des automatischen Gleichge¬ 
wichtszentrums im Kleinhirn einzuwirken. Die Bahn verläuft 
von der Wurmrinde zum Nucleus dentatus und von diesem' 
mächtigen Kemlager als 

4. dritte efferente Kleinhimbahn, dem Tractus cere- 



12 


Nie. Qierlich, 


bello-tegmenti in den vorderen Kleinbirnstielen nach totaler 
Kreuzung zur Haube, speziell zum Nucleus ruber und Thalamus 
opticus. Von diesen zwei Kernen gehen wiederum subkorti¬ 
kale motorische Bahnen zum Rückenmark im Tractus rubro- 
und thalamO'Spinalis, die bekanntlich in der Tierreihe eine 
große Bedeutung haben und auf der vom Kleinhirn anlangenden 
Impulse auf die motorischen Vorderhomsäulen des Rücken¬ 
marks einwirken können. Ob nun von der Haube noch Neu¬ 
rone dritter Ordnung in die Hirnrinde und speziell in die 
motorische gelangen, ist wohl nicht sicher, aber sehr wahr¬ 
scheinlich. Es wäre so eine Bahn vom Thalamus zum Stim- 
hirn anzunehmen. In diesem vermutet man die Zentren für 
die Rumpfmuskulatur, die also hier regulatorische Impulse 
empfangen können. Andererseits gelangen auf der gut be¬ 
kannten frontalen Brückenbahn Fasern zu den motorischen 
Ganglien der Brücke und von hier sehr wahrscheinlich durch 
den mittleren Kleinhirnschenkel hinauf zur Rinde des Wurms. 

So schließt sich ein zweiter Reflexbogen, der von 
der Kleinhirnrinde durch die vorderen Kleinhirn- 
Schenkel, Haube, Stirnhirn, frontale Brückenbahn, 
Brückenkleinhirnbahn ständige Erregungen kreisen 
lassen kann, welche die regulierende und koordi¬ 
nierende Tätigkeit des Kleinhirns auch bewußt be¬ 
einflussen können. 

Schließlich wäre es leicht verständlich, wenn vom Frontal- 
him aus die motorischen Zentren in der Zentral Windung direkt 
oder auch die Pyramidenbahn in ihrem weiteren Verlaufe von 
diesem zerebello-zerebralen Reflexbogen aus unvermittelt Im¬ 
pulse erhielten. 

Auf Grund dieser anatomisch-physiologischen Erwägungen 
bietet das Verständnis der Symptome der Kleinhirn¬ 
erkrankungen keine besondere Schwierigkeit. Wir unter¬ 
scheiden zweckmäßig allgemein anerkannte, sichere Kardinal¬ 
symptome neben einer Reihe von Krankheitserscheinungen, 
deren direkte Abhängigkeit von Kleinhirnläsionen noch nicht 
allgemein feststeht. 

Zu den Symptomen ersterer Art zählt 



Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube. 


13 


1. die zerebellare Ataxie, das klassische, typische 
Anzeichen einer Kleinhimaffektion. Sie stellt eine Eoordina- 
tionsstörung dar der groben, sogenannten Gesellschaftsbe¬ 
wegungen in den Muskeln, die der Haltung und den Be¬ 
wegungen des Körpers dienen, also hauptsächlich der Humpf¬ 
und Beinmuskeln. Das koordinierte Zusammenwirken dieser 
Muskelgruppen, soweit es Stehen und Gehen ermöglicht, ist 
gestört, während die feineren Zielbewegungen (Eniehackenver- 
snch, Ereisbeschreiben etc.) in ihrer Funktion nicht behindert 
sind. Die Kranken geraten beim Stehen und Gehen ins 
Schwanken und Taumeln wie ein Betrunkener, weshalb die 
Franzosen den Zustand Demarche de l’iyresse benennen. 
Schließen der Augen erhöht das Schwanken beim Gehen nicht, 
im Gegensatz zur Tabes. In höheren Graden macht sich das 
Hin- und Hertaumeln auch beim Sitzen geltend und schlie߬ 
lich ist Patient nicht mehr imstande, aus liegender Stellung 
sich aufzurichten. 

. Überden zerebellaren Gang haben Steward und Holmes 
genauere Studien angestellt. Sie unterscheiden zwei Kompo¬ 
nenten dieser eigentümlichen Gangstörungen, erstens ein 
Schwanken nach der kranken Seite, zweitens eine Abweichung 
der Gangrichtung nach dieser Seite. Beim Taumeln hat 
Patient die Empfindung, als ob er nach der kranken Seite ge¬ 
stoßen würde, doch gelingt ihm die Korrektur. Die Gang¬ 
richtung sucht hingegen ständig eine Abweichung nach der 
kranken Seite hin einzuschlagen, als ob Patient auf der Peri¬ 
pherie eines Kreises sich bewegte, so daß die homolaterale 
Schulter gegen das Zentrum gerichtet wäre. Doch gelangt 
dies Abweichen von der Richtung ständig zum Bewußtsein 
und wird korrigiert. Geht diese Korrektur über das Ziel 
hinaus, so kann ein Torkeln nach der gesunden Seite hin er¬ 
folgen. 

Bei medialer oder beiderseitiger Erkrankung des Klein¬ 
hirns erreicht die zerebellare Ataxie ihre größte Ausbildung. 
Bei Tumoren inmitten des Wurms fällt der Kranke am häufig¬ 
sten nach hinten (Steward, Bruns). 

Die zerebellare Ataxie beruht in erster Linie auf 
einer Störung der im Kleinhirnseitenstrang, der 



14 


Nie. Gierlich, 


<jowersschen Bahn und dem Yestibularsystem zum 
Kleinhirn hinströmenden und auf den subkorti¬ 
kalen motorischen Bahnen peripherwärts ziehenden 
Impulse. Es ist daher auch verständlich, daß nicht nur im 
Kleinhirn selbst diese Bahnen, wie wir sie oben genauer ge¬ 
schildert haben, sondern auch an anderen Stellen ihres 
Verlaufs Unterbrechung erleiden können, wodurch 
gleichfalls zerebellare Ataxie zur Beobachtung kommt. So 
finden wir bei der sogenanten hereditären Ataxie Fried¬ 
reichs, die unter anderem die zum Kleinhirn ziehenden 
Rückenmarksbahnen befällt, die typische zerebellare Ataxie. 
Desgl. können unter Umständen Erkrankungen der Medulla 
oblongata und des Pons dieselbe Erscheinung im Gefolge haben, 
wenn die afferenten und efferenten Bahnen des Kleinhirns ge¬ 
troffen sind. Besonders häufig finden wir das Symptom bei 
Affektionen der Vierhügel, was durch Läsion der nahe 
vorbeiziehenden Bindearme sich erklärt Speziell muß schlie߬ 
lich noch darauf hingewiesen werden, daß auch bei Erkran¬ 
kungen des Stirnhirns (Bruns) der Demarche de Tivresse 
in typischer Ausbildung mitunter angetroffen wird, was nach 
unseren obigen Auseinandersetzungen mit einer Störung im 
zerebello - zerebralen Refiexbogen in Zusammenhang gesetzt 
werden muß. 

2. Als zweitwichtigstes Lokalsymptom einer Kleinhim- 
erkrankung ist der Schwindel anzusprechen, der fast nie 
fehlt, durch seine Heftigkeit und oft paroxysmalen Charakter 
sowie durch sein frühzeitiges Auftreten und die Art seines 
Ablaufs sich wohl unterscheidet von den mehr unbestimm¬ 
baren Schwindelerscheinungen, wie sie bei den verschiedenen 
Neurosen, bei Großhirntumoren und überhaupt bei Schwan¬ 
kungen der Zirkulationsverhältnisse im Gehirn sich einstellen 
können. Bei Kleinhimerkrankungen handelt es sich um einen 
systematischen Schwindel, einen Drehschwindel. Bing erklärt 
sich das Phänomen folgendermaßen: „Das Labyrinth wird 
seinen Funktionen im Dienst des Raumsinnes dadurch gerecht, 
daß die hydrostatischen Verhältnisse in den nach den drei 
Hauptebenen des Raumes orientierten Bogengängen zu nervösen 
Erregungen im Vestibularis führen, diese letzteren aber via 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 15 

Naclens yestibularis und Deiteraschen Kern ins Kleinhirn 
gelangen. Besteht nun ein Widersprach zwischen dem Er¬ 
regungszustände dieses Yestibularis-Apparates und der wirk¬ 
lichen Lage des Körpers im Raume, so werden die Rezeptionen 
▼on seiten der Muskeln und Gelenke, des Auges gleichsam 
Lügen gestraft, und aus dieser Inkongruenz resultieren die 
yertiginösen Scheinbewegungen und indirekt deren quälende 
Begleiterscheinungen.“ Es ist somit der Kleinhimschwindel 
dem labyrinthären Schwindel nahe yerwandt, ja identisch. 
Neuere Beobachtungen, die Steward und Holmes an großem 
Material angestellt haben, scheinen eine genauere Definition 
der Schwindelerscheinungen und lokaldiagnostische Schlüsse 
über die befallene Seite des Kleinhirns zuzulassen. Nach den 
genannten Autoren hat man zwischen dem Gefühl der Eigen¬ 
bewegungen und dem Gefühl der Bewegung der umgebenden 
Objekte zu unterscheiden, da beide sich unter Umständen yer- 
schieden yerhalten. Bei interzerebellaren wie bei extrazere¬ 
bellaren Tumoren bewegen sich die Scheinbewegungen der 
umgebenden Objekte yon der kranken nach der gesunden Seite, 
dagegen findet die scheinbare Eigenbewegung des erkrankten 
Indiyidaums bei intrazerebellaren Tumoren gleichfalls yon der 
kranken nach der gesunden Seite, bei extrazerebellaren dagegen 
umgekehrt, yon der gesunden nach der kranken Seite hin statt 
Die Bestätigung dieser Befunde bleibt abzuwarten, sie können 
unter Umständen eine erwünschte diagnostische Handhabe zur 
Bestimmung der erkrankten Seite des Kleinhirns bilden. Doch 
wird nach meiner Ansicht die genaue Exploration dieser 
Schwindelerscheinung an der mangelhaften Intelligenz oder 
auch der ungeübten Fähigkeit der Selbstbeobachtung des Er¬ 
krankten meist scheitern. 

3. Als drittes, wohl bei keiner Kleinhimaffektion fehlendes 
Symptom ist der Nystagmus zu nennen. Er ist gleich dem 
Kleinhimschwindel bedingt durch eine Störung im Yestibular- 
system und kann auch durch eine periphere Reizung der 
Yestibularisendigungen in den Bogengängen bekanntlich zu¬ 
stande kommen. Entzündung des inneren Ohres oder Ein¬ 
spritzung kalten Wassers ins Ohr können Nystagmus heryor- 
rufen. Der Kleinhirnnystagmus ist bedingt durch die yom 



16 


Nie. Qierlich, 


Deiters sehen Kern im hinteren Längsbündel zu den Eem* 
lagern der Augenmuskeln verlaufenden Erregungen. Selten 
nur ist der Nystagmus beim Blick geradeaus zu beobachten, 
er tritt meist erst beim Seitwärtswenden der Augen ein und 
am stärksten oder zuerst, wenn der Kranke nach der dem 
Krankheitsherd entsprechenden Seite blickt. Gelegentlich soll auf 
der kranken Seite eine größere Exkursion der Augenaxen zu 
konstatieren sein. 

Diese drei Kardinalsymptome: zerebellare Ataxie, 
Drehschwindel und Nystagmus, können völlig unab> 
hängig voneinander einzeln, namentlich bei Beginn der ELlein- 
hirnläsionen, auftreten. Öfters auch kommen sie anfallsweise 
zur Beobachtung, worauf Dana, Fränkel und Hunt und 
jüngst Ziehen aufmerksam gemacht haben. Diese Vesti- 
bularanfälle sind nach Ziehen charakterisiert durch drei 
Hauptkennzeichen: 

1. Intensives Schwindelgefühl und stärkste vestibuläre 
Ataxie. 

2. Spontaner, d. h. ohne willkürliche Augenbewegungen 
eintretender Nystagmus. 

3. Intensiver Nackenkopfsebmerz. 

Zuweilen gesellen sich diesen Symptomen im Anfall sub¬ 
jektive Geräusche bei: Erbrechen, Doppelsehen, Amblyopie 
auf dem gleichen Auge und schließlich Bewußtseinsverlust und 
motorische Reizerscheinungen. Sie lassen schließen auf eine 
Läsion im Bereiche des Yestibularis-Systems und sind oft von 
Wichtigkeit bei der Diagnose der raumbeschränkenden Erkran¬ 
kungen in der hinteren Schädelgrube, speziell des Kleinhirns 
als dem Ort des zerebellaren Vestibularis-Zentrums. 

Es folgen nun eine Reihe von Krankheitssymptomen, die 
von einzelnen Autoren beobachtet und als charakteristische 
Zeichen einer Kleinhirnerkrankung aufgestellt sind, aber hier 
und da noch der Bestätigung und physiologischen Begründung 
bedürfen. Sie zeigen sich vielfach nur beim ersten Beginn 
der Erkrankung, werden bald von Nachbarsymptomen über¬ 
deckt, sind aber, da sie meist einseitig beginnen, von großer 
Wichtigkeit zur Be Stimmung der Seite der Erkrankung. 

4. Es ist hier zu nennen die zerebellare Hypotonie. 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 


17 


Sie ist zu erkennen durch die Palpation der Muskeln, durch 
die Prüfung auf Widerstandsbewegung, auf Schlaffheit der Ge¬ 
lenke bei passiven Bewegungen, so daß die Gliedmaßen in 
abnorme Stellungen zu bringen sind. Von der spinalen Hypo¬ 
tonie unterscheidet sie sich dadurch, daß sie nicht wie diese 
mit Hypo- oder Areflexie einhergeht, sondern vom Zustand der 
Reflexe völlig unabhängig ist. Sie ist ein halbseitiges homo¬ 
laterales Symptom. Steward und Holmes beschrieben zum 
Nachweis der Hypotonie das „Hypotonische Widerstandsphä¬ 
nomen“. Wird bei einem Gesunden bei passivem Widerstand 
der Gegendruck plötzlich unterbrochen, so geht die begonnene 
Bewegung noch ein Stück weiter und dann schnellt das Glied 
zurück. Bei Hypotonie der Muskulatur erfolgt ein sehr starker 
Rückschlag. Bei Hypertonie, wie sie Kleinhirnerkrankungen im 
Gefolge haben, ist die Weiterbewegung exzessiv und der Rück¬ 
schlag gleich Null. Das Ausbleiben des Rückschlags ist be¬ 
dingt durch das Fehlen des reflektorischen Muskeltonus der 
Antagonisten, der bei normalem Tonus stets eintritt. Man 
untersucht das Phänomen am besten durch Widerstand mit 
der Hand bei Beugung und Streckung der Glieder. 

Nahe verwandt der Hypotonie ist 

5. die Parese oder Asthenie, die gleichfalls ein halb¬ 
seitiges, und zwar dem Krankheitsherd homolaterales 
Symptom darstellt. Ihre Pathogenese unterliegt noch der 
Kontroverse. Ursprünglich dachte man an eine Mitbeteiligung 
der nahegelegenen Pyramidenbahn, doch sind die von dieser 
ausgehenden Paresen stets mit Hypertonien und Reflexsteige¬ 
rungen, eventuell Babinski und Spasmen der Muskeln ver¬ 
bunden, während die hemilateralen Paresen der Kleinhirnaffek¬ 
tionen mit Hypotonie und normalen Reflexen einhergehen. 
Jüngst haben Steward und Holmes, die das Symptom nie 
vermißten, bei mikroskopischer Untersuchung die Pyramiden¬ 
bahn intakt gefunden. Auch Mann hält die Parese für ein 
reines Kleinhirnsymptom. Von der zerebralen Hemiplegie ist 
sie noch besonders geschieden durch die Ausdehnung der 
Lähmung. Bei der Kleinhirnparese sind alle Muskeln und 
Muskelgruppen gleichmäßig schlaff und gelähmt, während bei 
Unterbrechung der Pyramidenbahn bekanntlich nur bestimmte 



18 


Nie. Qierlich, 


Muskelgruppen dauernd ihre Funktion einbüßen. Dieser soge¬ 
nannte Wer nicke sehe Prädilektionstypus findet sich bei den 
Paresen der Kleinhirnläsionen nicht Bruns und Oppen¬ 
heim halten die schlaffe Parese jedenfalls für ein seltenes 
Symptom und konnten es bei ihren Fällen nicht nachweisen. 
Mann bestätigt das Symptom und fahndete nach Sensibilitäts¬ 
störungen zur Erklärung desselben, vermochte solche aber 
nicht festzustellen. Es muß sich also um Erregungen handeln, 
die im Unterbewußtsein ablaufen. Als efferente Bahnen für 
diese Erregungen sind die Tractus cerebello-vestibolo- und 
rubrospinalis anzusprechen. So findet auch die Gleichseitig¬ 
keit der Parese mit der Läsion des Kleinhirns seine Erklärung, 
da die zerebello-vestibolospinale Bahn ungekreuzt verläuft, der 
Tractus cerebello-segmentalis im Bindearm zwar eine Kreuzung 
erfährt, die rubrospinale Bahn aber wieder zur andern Seite 
kreuzt und so gleichfalls durch den Tractus cerebello-rubro- 
spinalis eine Einwirkung auf die der Läsion homolaterale Seite 
zustande kommt. 

Zwei weitere Symptome hat Babinski beschrieben, 
und zwar 

6. die sogenannte Adiadochokinesis (diaöo^jj = Auf¬ 
einanderfolge), es ist dem Patienten unmöglich, rasch aufein¬ 
anderfolgende antagonistische Bewegungen auszuführen. Zur 
Prüfung fordert man den Patienten auf, schnelle Beugung und 
Streckung im Ellenbogengelenk, Pro- und Supination des 
Vorderarmes vorzunehmen. Diese schnelle Folge der Be¬ 
wegung ist Patient nicht imstande auszuführen. Das Symptom 
ist nur in den oberen Extremitäten nachzuweisen, und zwar 
auf der der Affektion homolateralen Seite; es bedeutet eine 
grobe Koordinationsstörung, die vielleicht dem zerebellaren 
Gang an die Seite zu setzen ist und durch spezielles Suchen 
aufgefunden werden muß. Auch Bruns sah das Symptom 
einmal bei einem Falle, wo er freilich den Tumor auf der 
gegenüberliegenden Seite vermutete. Oppenheim legt dem 
Symptom ebenfalls Wert bei. 

7. Von Babinski wurde ferner eine Asynergie cere- 
belleuse beschrieben; er versteht darunter die Unfähigkeit, 
die Bewegung der einzelnen Glieder resp. Gliedmaßen und 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 


19 


des Rumpfes im groben zu assoziieren. Beim Versuch zu 
gehen bewegen sich die Beine nach vom, während der Rumpf 
nach hinten drängt, beim Hintenüberbeugen im Stehen wird 
die dazu nötige Kniebeuge nicht ausgeführt, beim Aufrichten 
aus liegender Stellung werden die Beine in der Hüfte gebeugt, 
der Rumpf nicht erhoben, Babinski sah auch dieses Phä¬ 
nomen halbseitig, und zwar entsprechend dem Sitz der Läsion, 
Es dürfte sich hier doch wohl nur um einen ungewöhnlich 
hohen Grad der zerebellaren Ataxie handeln, der freilich in 
dieser Halbseitigkeit bisher nicht beobachtet wurde und sehr 
bemerkenswert erscheint. 

8. findet sich nicht selten echte spinale Ataxie, wie 
wir sie bei Tabes zu beobachten gewohnt sind (Bruns, 
Steward). Sie ist namentlich in den oberen. Extremitäten 
ausgesprochen. Beim Versuche, nach einem vorgehaltenen 
Gegenstand oder der eigenen Nase zu greifen resp. mit dem 
Zeigefinger hinzustoßen, macht Patient unsichere und aus¬ 
fahrende Bewegungen und fährt mit dem Finger am Gegen¬ 
stand vorbei. Auch beim Kniehackenversuch tritt diese Un¬ 
sicherheit hervor, doch ist der Arm meist mehr befallen 
(Bruns). Auch diese Störung ist homolateral mit der Läsion 
und ein wertvolles diagnostisches Merkmal für die erkrankte 
Hemisphäre, Da, wie wir in den physiologischen Erörte¬ 
rungen auseinandergesetzt haben, die aus den sensiblen 
spinalen und zerebralen Ganglien entspringenden Fasern direkt 
oder durch Vermittlung der Endkerne, zum Teil jedenfalls 
ins Kleinhirn gelangen, so kann das Auftreten tabischer 
Symptome bei Kleinhirnerkrankungen nicht mehr wunder¬ 
nehmen. Daß sie nicht in jedem Fall nachzuweisen sind, mag 
wohl darin seinen Grund haben, daß die Menge dieser Fasern, 
die zum Kleinhirn zieht, die, wie wir sahen, bei den Wirbel¬ 
tieren eine große Bedeutung hat, beim Menschen eine individuell 
schwankende ist. 

Die Zahl der echten Kleinhirnsymptome ist damit wohl 
-erschöpft. Babinski möchte noch Intentionstremor 
hierher gerechnet wissen, doch ist sein Vorkommen als reines 
Kleinhirnsymptom fraglich, da Tremor einerseits von Ataxie 
mitunter schwer zu trennen ist und andererseits bei der Nähe 

2 * 



20 


Nie. Gierlich, 


der Pyramidenbahnen leicht motorische Keizsymptome durch 
Fern Wirkung ausgelöst werden. 

Überblicken wir die Erkrankungen, die im Klein¬ 
hirn ihren Sitz haben können, so zeigt sich uns eine 
große Mannigfaltigkeit der Krankheitsprozesse. Es sind beob¬ 
achtet Aplasien einzelner Teile, Atrophien mit skleroti¬ 
schen Schrumpfungen, dann Hämorrhagien, Erweichungen, 
Entzündungen und Abszesse. Ferner ist das Kleinhirn 
ein Prädilektionsort aller wichtigen Tumoren: 
Sarkome, Fibrome, namentlich Gliome und Tuberkel, 
die bei genauer Beobachtung vornehmlich der initialen Symp¬ 
tome oft zu lebensrettenden chirurgischen Eingriffen Anlaß 
geben. 

Bei dem engen Raum, in den das Kleinhirn einge¬ 
zwängt ist, stellen sich hier öfter und schneller wie sonst im 
Zentralnervensystem Symptome ein, die von den benachbarten 
Organen ausgehen, die primären Symptome überlagern und 
die Diagnose betreffs des Sitzes der Erkrankung leicht in falsche 
Bahnen lenken. Es dürfte sich daher empfehlen, bevor wir 
zur Erörterung der Differentialdiagnose der für einen chirurgi¬ 
schen Eingriff in Betracht kommenden Erkrankungen des Klein¬ 
hirns übergehen, die Nachbarschaftssymptome einer 
kurzen Besprechung zu unterziehen. 

Dem Kleinhirn ventral angelagert sind die 

Klcinhirnsticlc oder Schenkel. 

Läsionen der unteren Kleinhirnschenkel, der Cor¬ 
pora restiformia, soll Bewegungsstörungen der Augäpfel, 
Zwangslage und Schwindelgefühle mit Fallrichtung nach der 
kranken Seite infolge Läsion der zerebello-vestibolospinalen Bahn 
zur Folge haben. Diese besorgt ja hauptsächlich die Koordination 
der Körperaxe und der Haltung resp. Lage im Raum. Doch 
ist infolge der Nähe der Kleinhimbasis ein leichtes Übergreifen 
auf diese nicht immer von der Hand zu weisen. Die Erkran- 
kungen der oberen Kleinhirnschenkel, der Binde¬ 
arme, bedingt dagegen choreatische Bewegungsstörungen der 
gleichseitigen Extremitäten; die in den Tractus cerebello- 
tegmenti verlaufende zerebello-rubrospinale Bahn scheint somit 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 


21 


die subkortikale Koordination der Bewegungen der einzelnen 
Glieder zu beherrschen. 

Bei Affektionen im mittleren Kleinhirnschenkel, 
der Brachia pontis, beobachtet man die Magendie- 
Hertwigsche Schiefstellung der Augenaxen, d. h. eine verti¬ 
kale Difierenz beider Bnlbi. Dann bewirken Erkrankungen 
dieser Gegend Rollbewegungen in der Längsaxe des Körpers. 
Die Richtung dieser Rollbewegungen und ihr Verhältnis zur 
Seite der Affektion wird verschieden dargestellt, weshalb die¬ 
selbe für eine Seitendiagnose bisher keine Verwendung finden 
kann. 

Von weiteren Nachbarschaftssymptomen sind durch Druck 
bedingte Einwirkungen von Geschwülsten des 

Okzipitallappens 

auf das Kleinhirn oder auch das umgekehrte Verhalten ein 
seltenes Vorkommnis, da das straffe Tentorium das Über¬ 
greifen des Druckes verhindert. Oppenheim und Bruns 
haben aber solche Fälle beobachtet. Die Hemianopsie resp. 
Seelenblindheit ist dann unschwer zu erkennen und die Prä¬ 
zision der Diagnose meist ohne Schwierigkeit. 

Weit komplizierter können sich die Verhältnisse gestalten 
und eine Klärung der Diagnose über den primären Sitz der 
Affektion erschwert sein, wenn Symptome von Läsion des 
ventral gelegenen Himstamms und der Hirnnerven im Krank¬ 
heitsbilde einen weiten Raum einnehmen. Hier kommen zu¬ 
nächst in Betracht die 

Corpora quadrigemina. « 

Ihre Erkrankung ist charakterisiert durch Augenmuskel¬ 
lähmungen nukleären j Charakters, die erst einseitig, meist aber 
bald beiderseits auftreten bei der nahen Lage der Augen- 
muskelkeme. Befallen sind gewöhnlich die Kerne des N. oculo- 
motorius und trochlearis, während der mehr kaudal gelegene 
Abduzenskem freibleibt. Auch die der Akkommodation und 
Pupillenveränderung dienenden Fasern sind selten in den Be¬ 
reich der Lähmung gezogen. Ebenso beobachtet man nur zu¬ 
weilen Behinderung der konjugierten Bewegung der Augen. 



22 


Nie. Gierlich, 


Erkrankungen der hinteren Vierhügel und Corpora geniculata 
mediales bedingt Taubheit,- ein- oder doppelseitig, solche der 
Corpora geniculata laterales homonyme Hemianopsie resp., 
falls beide Seiten befallen sind, Amblyopie ohne Stauungs¬ 
papille. Schließlich fehlen bei Erkrankung dieser Gegend nie 
ataktische Erscheinungen, so daß bei fortgeschrittenen Fällen 
die Differentialdiagnose betreffs des primären Sitzes der Er¬ 
krankung sehr erschwert sein kann. Epiphysentumoren 
machen im ganzen die gleichen Symptome. Auch Erkran¬ 
kung des 

Pedunculas cerebri 

kann zur Verwechslung mit Kleinhirnaffektionen Anlaß geben. 
Der Pedunkulus umfaßt den Fuß, die Substantia nigra und 
die Schleife. Oberhalb derselben liegt das vorhin beschriebene 
Gebiet: Roter Kern, Okulomotoriusregion und Vierhügel. Im 
Fuße ziehen die von den motorischen Zentren entspringenden 
Bahnen abwärts, welche in ihrer Mitte die Pyramidenbahn 
enthalten mit den motorischen Fasern für die Extremitäten 
und Hirnnerven. Medial von der Pyramidenbahn verläuft die 
frontale, lateral von derselben die okzipitale Brückenbahn. 
Die Beziehungen der frontalen Brückenbahn zu dem zerebello- 
zerebralen Reflexbogen wurden oben genauer erörtert. Die 
Bedeutung der Substantia nigra steht noch nicht fest; in der 
Schleife verlaufen jedenfalls sensible Bahnen. Durchzogen ist 
das ganze Gebiet von den austretenden Wurzelfäden des N. oculo- 
motorius, die ventral konvergieren. 

Das Herdsymptom des Pedunkulus ist die Hemiplegia 
alternans et n. oculomotorius (Weberscher Typus): 
Degenerative Lähmung des N. oculomotorius auf der Seite der 
AffSktion infolge Läsion des Kernlagers oder der austretenden 
Wurzelfäden mit gekreuzter, kompletter, zerebraler Hemiplegie 
(inklusive Fazialis und Hypoglossus) durch Druck auf die 
Pyramidenbahn. Von den Fasern des N. oculomotorius sind 
die des Levator palpebrae am leichtesten in der Funktion be¬ 
hindert (Ptosis). Kommt es nur zu einer Reizwirkung auf die 
Pyramidenbahn, so ist die Okulomotoriuslähmung kombiniert 
mit Tremor der anderen Seite (Benedikt scher Symptomen- 
komplex). Greift der Herd auf die Schleife über, so finden 



Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube. 23 

wir gekreuzte, sensible Störungen, auch wohl Ataxie. Erkran¬ 
kungen des 

Pons 

sind ebenfalls charakterisiert durch das Symptomenbild der 
Hemiplegia alternans, die nach dem Höhensitz der Läsion und 
dem direkt getroffenen Kernlager sich darstellt als 

a) Hemiplegia alternans et n. facialis, die häufigste 
Form (Millard-Gublersehe Lähmung), bei der der Fazialis- 
kern oder seine im Bogen peripherwärts ziehenden Wurzel¬ 
fäden direkt getroffen sind bei gleichzeitiger zerebraler Läh¬ 
mung des Hypoglossus und der Extremitäten der anderen 
Seite. In diesem Falle zeigt die Fazialislähmung nukleären 
Charakter: atrophische schlaffe Lähmung. Sitzt der Herd 
mehr frontalwärts vom Fazialiskern, so trifft er die schon ge¬ 
kreuzten Fasern des primären Neurons und bewirkt dann 
gleichfalls homolaterale Fazialislähmung, doch ohne Ea. R. und 
Degeneration der peripheren Nervenäste und Muskeln. 

b) Hemiplegia alternans et n. abducens, die dann 
zustande kommt, wenn der Herd im Abduzenszentrum oder 
im Gebiet seiner austretenden Wurzelfäden seinen Sitz hat. 
Eine homolaterale degenerative Abduzenslähmung ist gepaart 
mit gekreuzter zerebraler Lähmung des Hypoglossus und der 
Extremitäten. Sehr oft ist in diesem Falle das in der Nähe 
des Abduzenskerns gelegene Zentrum für die konjugierte Blick¬ 
richtung befallen, so daß der Blick nach der Seite des Herdes 
behindert oder aufgehoben ist und die Bulbi nach der gegen¬ 
überliegenden Seite verzogen sind. Diese assoziierte Lähmung 
des Blickes nach der Seite ist charakteristisch für Herde inner¬ 
halb des Pons; bei Tumoren, die von außen auf den Pons 
einen Druck ausüben, kommt sie nur in den seltensten Fällen 
zustande. 

c) Hemiplegia alternans et n. trigeminus. Diese 
Kombination ist selten und besteht in einer Lähmung des 
Trigeminus auf der Seite des Herdes mit gekreuzter Hemi¬ 
plegie inkl. Fazialis und Hypoglossus. Die Lähmung der 
motorischen Fasern des N. trigeminus bedingt Paralyse der 
Kaumuskeln mit Ea. R. Bei Befallensein der sensiblen Fasern 
treten zunächst Reizsymptome — Neuralgien — in den Vorder- 



24 


Nie. Gierlich, 


grund, denen dann mehr oder weniger vollständige Anästhesie 
für alle Sinnesqualitäten folgen. Einigemale betraf die An¬ 
ästhesie nur die Konjunktiva und Kornea (Bruns). 

Bei größerer Ausdehnung des Herdes kann eine Kombi¬ 
nation der verschiedenen Lähmungstypen eintreten. So kommt 
es oft zu Fazialis- oder Abduzens- oder Fazialis- und Blick¬ 
lähmung auf der Seite der Läsion bei gekreuzter, motorischer 
oder auch sensibler Lähmung. 

d) Hemiplegia alternans et n. cochlearis. Hör¬ 
störungen kommen durch Zerstörung der intrapontinen Fasern 
des Hörnerven zustande. Sind diese am Übergang vom Pons 
zur Medulla oblongata — die Grenze ist eine künstliche — 
getroffen, woselbst sie in kompakterem Zuge verlaufen, oder 
ist das Kernlager des N. cochlearis selbst (Nucleus ventralis 
tuberkulum acusticum) in den Herd einbezogen, so kommt es 
zur einseitigen Taubheit, die mit gekreuzter Lähmung der 
Extremitäten verbunden sein kann. Daß die Hörstörungen so 
selten erwähnt sind, hat wohl seinen Grund in der bei der 
Häufigkeit peripherer Ohrerkrankungen oft schwierigen Ent¬ 
scheidung, ob es sich um periphere oder zentrale Taubheit 
handelt. 

Bei Affektionen des Pons finden wir häufiger als bei denen 
des Hirnschenkels, neben oder auch ohne motorische, gekreuzte 
sensible Störungen, die durch das Befallensein der Schleifen¬ 
bahn zustande kommen. Dieselben äußern sich durch Anästhesie 
der Extremitäten der gekreuzten Seite, und zwar kann die¬ 
selbe alle Oberflächenempfindungen umfassen; oder auch nur 
Schmerz- und Temperaturgefühl sind befallen, bei normaler 
Empfindung für Berührung (dissoziierte Anästhesie). Einige¬ 
male wurde auch eine Lähmung der Tiefensensibilität mit oder 
auch ohne Beeinträchtigung der Oberflächensensibilität nach¬ 
gewiesen, was darin begründet ist, daß die Oberflächensensi¬ 
bilität (Tractus spino-thalamicus) und die Tiefensensibilität 
(Hinterstrangsystem) in der Schleife des Pons getrennten Ver¬ 
lauf haben, jedenfalls im frontalen Ende des Pons. Daher 
können sie auch isoliert getroffen sein. Im ganzen kommen 
gekreuzte, sensible Störungen weit seltener zur Beobachtung 
als motorische. In der 



Erkrankungen der hinteren Scbädelgrube. 


25 


Medulla obloiigata 

finden wir ventral die Pyramidenbabnen, die in den kaudalen 
Partien zum größten Teil zum gekreuzten Seitenstrang ziehen, 
dorsolateral von den Pyramiden liegt die Kleinhimseitenstrang- 
und Gowerssehe Bahn; zwischen den Oliven ziehen die von 
den Hinterstrangkernen in der sogenannten Schleifenkreuzung 
zur anderen Seite gelangenden Fasern für die Tiefensensibilität 
(Lage- und Muskelempfindung) und lateral von diesen die be¬ 
reits im Rückenmark gekreuzten Bahnen der Oberflächensensi¬ 
bilität (Schmerz-, Wärme-, Berührungsempfindung; letztere 
wird von einigen Autoren • auch zum Teil der ersteren Bahn 
zugesprochen). Beide sensiblen Faserzüge zusammen bilden 
die mediale oder Hauptschleife. Die dorsalen und lateralen 
Partien der Medulla oblongata enthalten die Kerne für den 
8. bis 12. Hirnnerven, deren Wurzelfäden seitwärts und ab¬ 
wärts ziehen. Von höher gelegenen Himnerven verläuft noch 
die aufsteigende Trigeminuswurzel, welche die äußeren Teile 
der Haut des Gesichts, wahrscheinlich besonders der Stirn, 
besorgen soll, in diesem Areale. Dann sind hier Zentren ge¬ 
legen für Herz- und Atmungstätigkeit, für den Brechakt und 
Schweißsekretion, für vasomotorische Innervation und Zucker¬ 
ausscheidung. 

Herdsymptome der Medulla oblongata sind in erster 
Linie charakterisiert durch Befallensein der Kernlager und 
Wurzelfäden des 8. bis 12. Gehirnnerven und der in ihrer 
Nähe gelegenen Zentren. Taubheit resp. Schwerhörigkeit, 
Schwindel, Lähmung des Pharynx, des Gaumensegels, der 
Stimmbänder, Störung der Herztätigkeit, der Atmung, Läh¬ 
mung der Zunge etc. zählen zu den gewöhnlichsten Symp¬ 
tomen. Diese kommen nur im ersten Beginne der Erkrankung 
und auch dann nicht immer einseitig vor, da die Kerne der 
Hirnnerven in dem engen Raume nahe zusammengerückt sind. 
Es tritt meist gekreuzte Hemiplegie der Extremitäten hinzu, 
so daß wir im Anfänge der Erkrankung den Symptomenkom- 
plex der Hemiplegia altemans auch hier finden, der uns dann 
wichtige diagnostische Aufschlüsse gibt. Ferner sind Stö¬ 
rungen der Sensibilität nicht selten, und zwar kommt es, da 
die Fasern der Tiefensensibilität relativ leicht bei einem Herde 



26 


Nie. Gierlich. 


am lateralen Rande der ScUeife getroffen werden, zu gekreuzten,, 
sensiblen Lähmungen. 

Die Allgemeinsymptome pflegen bei Erkrankung der Medulla 
oblongata auffallend gering zu sein. 

Geschwülste des rierten Ventrikels 

können leicht zu Fehldiagnosen fuhren. Es handelt sich meist 
um vom Ependym ausgehende Gliome oder auch um Sarkome, 
Psammome, Karzinome, die vom Plexus chorioideus herstammen. 
Sie rufen Nachbarschaftssymptome hervor — Kleinhirn, Pons, 
Medulla oblongata. Mitunter gingen sie einher mit Demenz 
und Verworrenheit, die wohl auf starken Hydrozephalus zu¬ 
rückzuführen sind. Selten ist die Diagnose sicher zu stellen. 
Häufiger als Geschwülste fand man Zystizerkenblasen, die frei 
im Ventrikel schwimmen oder durch Ependymfaden befestigt 
sind. Für ihre Diagnose gibt Bruns folgende Gesichtspunkte 
an: „1. Ein Wechsel von Perioden schwerster, allgemeiner 
zerebraler Storungen — Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, 
event. Puls- und Atemstörung — mit Perioden, in denen der 
Kranke sich relativ wohl fühlt. Der Schwindel und das Er¬ 
brechen treten besonders bei Lage Veränderung des Kopfes oder 
auch des ganzen Körpers ein; bei brüsken, passiven Dreh¬ 
ungen des Kopfes kann der Kranke wie vom Blitz getroffen 
niederfallen. 2. Leichte zerebellare Ataxie, leichter Nystagmus, 
Doppeltsehen, seltener Glykosurie. 3. Plötzlicher Exitus.“ 

Schließlich kommen noch 

AflSektionen der Basis 

in Betracht, soweit dieselben ihren Sitz in der hinteren Schädel¬ 
grube haben. Es handelt sich: 

1. Um Geschwülste, die vom Knochen ihren 
Ausgang nehmen. Meist sind es Metastasen von Karzi¬ 
nomen und Sarkomen, die sich hier entwickeln, den 7. bis 
12. Hirnnerven durch Druck schädigen und dann gegen den 
Himstamm weiter Vordringen. Vom Mittelohr können auch 
primäre Karzinome ausgehen. 

2. Um mehr oder weniger umschriebene syphi¬ 
litische oder tuberkulöse Meningitis an der ven- 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 27' 

tralen Seite des Hirnstammes, die zu ähnlichen Symp¬ 
tomen führen kann wie obige Geschwülste. Das gleiche 
Krankheitsbild der einfachen progredienten multiplen Hirn¬ 
nervenlähmung sah man einigemale auch bei zerstreuten kleinen, 
von den Häuten der Basis ausgehenden Geschwülsten (Sar¬ 
kome, Endotheliome). In allen diesen Fällen pflegen Stauungs¬ 
papille, tiefsitzender Kopfschmerz und Benommenheit zu fehlen; 
dagegen ist Druckschmerzhaftigkeit der Hinterhauptgegend meist 
sehr ausgesprochen. 

3. Um Geschwülste, die von den Nervenscheiden aus¬ 
gehen, sogenannte Neurofibrome. Sie entwickeln sich 
meist an den im Kleinhimbrückenwinkel austretenden Nerven, 
oft am N. acusticus, weshalb sie Hart mann Akustikus- 
tumoren nannte, doch sind sie auch am N. facialis, trigeminus, 
glossopharyngeus u. a. gefunden worden. Man bezeichnet sie 
daher am besten als Tumoren des Kleinhimbrückenwinkels 
nach dem Vorschläge von Henneberg und Koch, welche 
in einer umfassenden Arbeit die Literatur dieser Geschwülste 
zusammenstellten und neue Fälle hinzufügen. Diese Ge¬ 
schwülste sitzen im Winkel zwischen Pons und vorderem, 
unterem Kleinhimrande auf dem mittleren Kleinhirnschenkel. 
Charakteristisch ist für sie, daß sie den befallenen Nerven um¬ 
schneiden und durch Kompression zur Degeneration bringen, 
während die Nerven der nächsten Nachbarschaft bei dem lang¬ 
samen Wachstum zur Seite ausweichen und lange Zeit keinen 
nachweisbaren Schaden nehmen. Die ersten Symptome gehen 
also von dem zunächst befallenen Nerven aus und bleiben 
lange auf diesen lokalisiert. — Ist z. B. der Akustikus ge¬ 
troffen, so finden wir lange Zeit nur Gehörstörungen auf einer 
Seite, schließlich Taubheit bei noch guter Funktion des ihm 
so nahe anliegenden N. facialis. Geht die Geschwulst vom 
N. facialis aus, so ist Gesichtslähmung das erste Symptom mit 
Atrophie und Ea. R., bei Ausgang vom N. glossus-pharyngeus 
finden wir zunächst einseitig Geschmacksstörung, bei Ausgang 
vom N. trigeminus einseitige degenerative Atrophie der Kau¬ 
muskeln und Sensibilitätsstörungen im Gesicht etc. Bei dem 
weiteren Wachstum werden dann durch Kompression die zu¬ 
nächst gelegenen Hirnnerven geschädigt und es kommen 



28 


Nie. Qierlicb, 


schließlich die durch Druck auf den Hirnstamm und das Klein¬ 
hirn bedingten Störungen dieser Organe zur Beobachtung. Die 
Geschwülste sind mit der Umgebung nur leicht verwachsen, 
gut ausschälbar. Sie bieten daher für den chirurgischen Ein¬ 
griff die besten Chancen, und seitdem in den letzten Jahren 
die Aufmerksamkeit besonders auf sie hingelenkt ist, sind be¬ 
reits mehrere Fälle mit Erfolg operiert worden. 


Nach der Schilderung der für die Erkrankung der ein¬ 
zelnen Organe in der hinteren Schädelgrube charakteristischen 
Symptome wollen wir nun die Differentialdiagnose er¬ 
örtern und uns speziell den Affektionen zuwenden, die 
zu einem chirurgischen Eingriffe in letzter Zeit 
mit gutem Erfolg Anlaß gegeben haben. Bei der in¬ 
fausten Prognose der hier in Frage kommenden Erkrankungen 
kommt diesen natürlich eine ganz besondere Wichtigkeit zu. 
Wir wollen daher zunächst die Frage erörtern: 

Welche Erkrankungen in der hinteren Schädelgrabe sind 
der chirurgischen Behandlung zugängig? 

Da ist gleich die gewiß betrübende Tatsache festzustellen^ 
daß sämtliche Erkrankungen des Himstamms — Mittelhirn, 
Brücke, verlängertes Mark —, mag es sich um Blutungen, 
Entzündungen, Erweichung, Abszesse oder Tumoren handeln, 
bei der Nähe der lebenswichtigen Zentren für einen chirurgi¬ 
schen Eingriff heute nicht in Frage kommen. Dieser ist da¬ 
gegen mit Erfolg vorgenommen worden bei Erkrankungen 
desKleinhirns, speziell Absz essen, Zysten und Tumoren, 
sowie den im Kleinhirnbrückenwinkel locker ge¬ 
legenen Neurofibromen. Die Beschränkungen des opera¬ 
tiven Vorgehens auf die Affektionen machen es uns nur zur 
besonderen Pflicht, die Differentialdiagnose aufs ge¬ 
naueste zu ventilieren, damit ein immerhin lebensge¬ 
fährlicher Eingriff vermieden wird bei absoluter Aussichtslosig¬ 
keit. Denn andererseits ist doch nicht die Möglichkeit ganz 
von der Hand zu weisen, daß ein Tuberkel oder auch ein 
sarkomatöser Tumor in seinem Wachstum einmal einhält oder 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 29 

ein Echinokokkus abstirbt und verkalkt, so daß schließlich eine 
Heilung mit Defekt zustande kommt. 

Bei dem oben näher begründeten schnellen Übergreifeii 
der Symptome auf die Nachbarschaftsorgane kommt es zur 
exakten Diagnosenstellung besonders darauf an, den ersten 
Symptomen bei Eintritt der Erkrankung seine Auf¬ 
merksamkeit zu widmen, da nur sie auf den Ausgangs¬ 
punkt der Affektion einen sicheren Hinweis gestatten. Es ist 
somit von übergroßem Wert, daß der zunächst behandelnde 
Arzt die Schwere des Leidens erkennt und den initialen Symp¬ 
tomen seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, damit der 
Patient nicht wegen Kopfschmerz, Schwindel etc. erst lange 
vergeblich behandelt wird und erst bei bereits vorgeschrittenem 
kompliziertem Krankheitsbilde, welches den Ausgangspunkt 
verdunkelt, die Diagnose gestellt werden muß. 

Betrachten wir nun zunächst die für den 

Klciuhirnabszcß 

charakteristischen Merkmale. Kleinhirnabszesse sind relativ 
häufig. Sie kommen zustande einmal, wie auch Abszesse an 
anderen Stellen des Zentralnervensystems durch Verschleppung 
von Entzündungserregern aus offenen Wunden am Schädel, 
namentlich solchen traumatischen Ursprungs. Doch kann das 
Trauma weit zurückliegen, selbst 20 bis 30 Jahre. Ferner sind sie oft 
die Folge von metastatischer Verschleppung des Eiters bei 
Lungenabszeß, Bronchiektasien, ulzeröser Endokarditis etc. In 
den meisten Fällen jedoch liegt dem Kleinhirnabszeß eine 
Eiterung im Mittelohr zugrunde, Otitis media chronica puiu- 
lenta. Sie findet ihren Weg entweder in den Schläfenlappen 
oder durch den Processus mastoideus ins Kleinhirn. Besonders 
gefürchtet sind die Nachschübe mit Verlegung des Abflusses 
durch das perforierte Trommelfell. Die Eiterung setzt sich 
selten direkt auf Hirnhäute und Gehirn fort, gewöhnlich ge¬ 
langen die Eiterzellen durch die perivaskulären Lymphräume 
mehr oder weniger tief in die Marksubstanz, so daß der Ab¬ 
szeß im Innern des Kleinhirns abgeschlossen, meist abgekapselt 
liegt. Die Größe schwankt von der einer Erbse bis Kleinapfel. 
Die Entwicklung kann eine akute oder allmähliche sein und 



30 


Nie. Gierlich 


sich über 1 bis 2 Monate bin erstrecken. Von den Allgemein¬ 
symptomen ist der Kopfschmerz besonders bervortretend 
und auf die Hinterbauptgegend lokalisiert, oft bis 
zur Nackengegend ausstrahlend und gelegentlich mit Nacken¬ 
steifigkeit vergesellschaftet, so daß eitrige Meningitis vorge¬ 
täuscht werden kann. Ferner fehlen Erbrechen, Be¬ 
nommenheit und allgemeine Unruhe selten. Fieber 
ist dagegen nach der heutigen Annahme kein beständiges 
Symptom, nach Mazewen verläuft der Abszeß sogar oft 
mit subnormalen Temperaturen. Von den speziellen Kleinhim- 
symptomen, die oft wenig ausgesprochen sind, ist die zere¬ 
bellare Atax ie, der Drehschwindel und der Nystagmus 
in erster Linie zu nennen. Bruns hält es für charakteristisch, 
wenn Schwindel und Erbrechen bei Lageveränderung des 
Kopfes oder Körpers sich einstellt. Auch Hemiparese und 
Hemiataxie (Oppenheim) auf der Seite des Abszesses 
sind beobachtet. Das Symptom ist wichtig für die Seiten¬ 
bestimmung des Abszesses, ist aber nicht stets vorhanden und 
auch an der gekreuzten Seite beobachtet worden. Es kommen 
bei weiterer Ausdehnung des Abszesses Nachbarschafts¬ 
symptome zur Beobachtung durch Druck auf die Vierhügel, 
den Pons und die MeduUa oblongata: Augenmuskelläh¬ 
mung, assoziierte Blicklähmungen, Dysarthrie, Dys¬ 
phagie, Respirations-Störungen, Affektionen der 
Trigeminus und Fazialis und gekreuzte Hemiplegie. 
Im späteren Verlauf kann die Fazialis- und Trigeminusparese 
so sehr im Vordergrund stehen, daß ein Tnmor im Kleinhirn¬ 
brückenwinkel vorgetäuscht wird. Auffallend oft machen Ab¬ 
szesse dieser Gegend auch Stauungspapille, wohl infolge 
von Hydrozephalus. 

Die Differentialdiagnose von Meningitis serosa ist unter 
Umständen sehr schwierig und undurchführbar. In der Regel 
sind bei dieser die Herdsymptome wenig hervortretend, die 
Stauungspapille dagegen frühzeitig ausgeprägt. 

Die Diagnose eines Himabszesses hat in letzter Zeit ein 
nicht unwichtiges Hilfsmittel gewonnen in der Hirnpunktion, 
wie sieNeißer und Pollak ausgebildet haben; freilich haben 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrube. 


31 


Borchard und Krause wegen der Gefahr der Infektion der 
Meningen davor gewarnt. 

Die Lumbalpunktion, welche bei Verdacht auf Abszeß mit 
Nutzen zur Diagnosenstellung herangezogen wird, gibt Auf¬ 
schluß über den Druck im Zerebrospinalkanal, der bei Abszeß 
erhöht ist. Ferner finden sich bei Meningitis Zellvermehrung 
event. Eiterzellen in der abgeflossenen Flüssigkeit. 

Zu zweit kommen 

Tumoren des Kleinhirns 

in Betracht. Das Kleinhirn ist eine Prädilektionsstelle für 
Tumoren des Zentralnervensystems. Zumal im jugendlichen 
Alter haben ein Drittel aller Hirntumoren im Kleinhirn ihren 
Sitz. Es sind ihrer Natur nach in erster Linie Gliome und 
Tuberkel, dann auch Sarkome, Fibrome. Am leichtesten 
ausschälbar sind die Bindegewebsgeschwülste, dann auch die 
sogenannten Solitärtuberkel, da sie das Hirngewebe verdrängen, 
während das Gliom diffus in das umgebende Gewebe hinein¬ 
wächst, so daß man bei der Operation die kranke von der 
gesunden Zone nicht stets trennen kann. Was die Symptome 
der Kleinhirntumoren anbelangt, so sind die allgemeinen 
Tumorsymptome, die Kennzeichen einer raumverengenden 
Affektion im Schädel, von den speziellen Kleinhirn¬ 
symptomen zu trennen, denen sich dann die Nachbar¬ 
schaftssymptome zugesellen. 

Am einfachsten gestaltet sich die Diagnose, weim zunächst 
die für die Kleinhirnerkrankungen charakteristischen Anzeichen, 
die zerebellare Ataxie, dann Schwindel und Nystag¬ 
mus das. Krankheitsbild einleiten und der alle größeren Tumoren 
begleitende Kopfschmerz alsbald auf die richtige Fährte 
führt. Findet man außerdem Stauungspapille, so kann 
die Diagnose als gesichert gelten. 

Es bleibt dann die Aufgabe, möglichst eine Seitenbe¬ 
stimmung vorzunehmen. Man sucht nach Parese, Ataxie, 
Hyp otonie, Adiadochokinesis, Asynergiec6r6belleuse, 
Symptome, die auf homolaterale Affektionen hinweisen. 

Beim weiteren Wachstum des Tumors bilden sich nun die 
Nachbarschaftssymptome aus, vor allem gekreuzte 



32 


Nie. Gierlich, 


Hemiplegie, Lähmung des Blickes nach der kranken 
Seite, Läsion des 5. bis 12. Hirnnerven. Die Hemi¬ 
plegie zeigt den gewöhnlichen Typus, geht mit spastischen 
Symptomen, Mitbewegungen und Babinski einher. Auch Hypo- 
glossus und Fazialis sind meist auf der gekreuzten Seite ge¬ 
troffen und wir finden die hierfür charakteristischen Merkmale: 
Lähmung des Fazialis in seinen beiden unteren Ästen und 
Abweichen der Zunge bei Hervorstrecken nach der gelähmten 
Seite ohne Atrophie und Ea. R. Es können aber auch bei 
Druck auf die kaudalen Partien der Medulla oblongata die 
Kernlager dieser beiden Nerven direkt auf der Seite des 
Tumors getroffen werden, und die Lähmung derselben zeigt 
dann die bekannten Merkmale der Erkrankung des peripheren 
motorischen Neurons: Der Nervus facialis ist in allen seinen 
Ästen gelähmt mit Atrophie und Ea. R. Letztere beiden Merk¬ 
male lassen sich auch an der gelähmten Zungenhälfte nach* 
weisen. Gleich diesen beiden können nun alle Hirnnerven 
vom 5. bis 12. direkt durch Druck getroffen werden. Am 
leichtesten tritt Ptosis auf, da der Ast für den M. levator palpebrae 
auffallend leicht vulnerabel ist. Es folgen dann Lähmungen der 
anderen Äste des Nervus oculomotorius, solche des Nervus 
trochlearis und event. degenerative Lähmungen der Kaumuskeln 
der einen Seite mit sensiblem Reiz oder Lähmungserscheinungen 
im Gesicht. Oppenheim fand als erstes Anzeichen einer 
Läsion des Trigeminus homolaterale Areflexie der Kornea, 
welche als wertvolles Hilfsmittel zur Seitenbestim¬ 
mung des Tumors besondere Beachtung verdient. Einseitige 
Gehörstörungen und, wenn auch selten, Geschmackstörungen 
sind beobachtet, schließlich kann Druckempfindlichkeit 
des homolateralen Warzenfortsatzes oder der be¬ 
treffenden Hinterkopfgegend die Diagnose der befallenen 
Seite sichern. 

Die oben beschriebenen einseitigen Lähmungserscheinungen 
bestehen meist nur kurze Zeit, da die betreffenden Kernlager 
und Wurzelfäden der beiderseitigen Nerven auf engem Raum 
nahe zusammenliegen und daher bald beide unter dem 
Druck zu leiden haben. In diesem Stadium findet sich 
dann Dysarthrie, Dysphagie, Erbrechen und schließ- 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 33 

lieh Atem- und Herzstörung. Kommt der Fall erst 
im vorgeschrittenen Stadium zur Beobachtung, so ist eine 
exakte Diagnose über den Sitz des Tumors nur möglich, 
wenn die anamnestischen Erhebungen über den zeit¬ 
lichen Eintritt der Symptome genaue Auskunft geben. 
Es sind daher die Erkennung und Bewertung der initialen 
Ersekeinung von so großer Wichtigkeit. 

Zur Sicherung der Diagnose und speziell auch der Seiten- 
diagnose hat man auch bei Verdacht auf Tumoren die 6e- 
hirnpnnktion mit Nutzen herangezogen. Die mikroskopi¬ 
sche Untersuchung der im Nadelöhr zurückbleibenden Substanz 
kann dann auch über die Natur des Tumors Aufschluß geben. 
Auch die Lumbalpunktion ist als diagnostisches Hilfsmittel bei 
Verdacht auf Kleinhimtumoren verwandt worden (Quinke). 
Abfluß der Spinalflüssigkeit unter starkem Druck spricht gegen 
Meningitis. Findet man im Punktat makroskopisch eine Trü¬ 
bung , mikroskopisch Zellenreichtum, speziell polynukleäre 
Leukozyten oder gar Kokken, so weist das auf Meningitis hin. 

Oppenheim fand auch noch ein Scheppern — bruit de 
pot lölö — bei Perkussion des Schädels, besonders bei 
Tumoren der hinteren Schädelgrube mit Hydrozephalus. 

Doch auch bei eingehender Krankenbeobachtung und 
kritischer Berücksichtigung aller dieser Gesichtspunkte ist die 
Diagnose auf einen Kleinhimtumor nicht immer mit absoluter 
Gewißheit zu stellen, Veröffentlichungen der letzten Zeit zeigen 
dies zur Genüge. Es dürfte daher angebracht sein, die Affek¬ 
tionen kurz zu besprechen, welche zu differentialdiagnostischen 
Irrtümern leicht Anlaß geben können. 

Da ist 

1. der Hydrozephalus zu nennen, und zwar 

a) die Meningitis serosa, welche wohl als akute 
Form des Hydrozephalus anzusprechen ist. Hier finden sich 
alle Tumorsymptome, Kopfschmerz, Stauungspapille, Schwindel, 
Erbrechen, oft auch zerebellare Ataxie und andere auf das 
Kleinhirn hinweisende Merkmale. Es tritt uns also das Symp¬ 
tomen bild eines vorgeschrittenen Kleinhimtumors entgegen, meist 
in ziemlich schneller Entwicklung. Seitensymptome sind ge¬ 
wöhnlich (nicht aufzufinden. Manchmal spricht das plötzliche 

3 



34 


Nie. Gierlich, 


Einsetzen, oft unter Fieber, gegen den Eleinhimtumor. In 
den meisten Fällen jedoch ist bei diesem Symptomenkomplex 
eine Meningitis serosa nicht ausznschließen. 

b) Ebenso läßt der mehr chronisch verlaufende Hydro- 
cephalus acquisitus eine Differentialdiagnose mit Elein- 
hirntumor oft nicht zu. Die vorhin genannten Symptome sind 
auch hier ausgeprägt, einseitige Störungen fehlen meist Das 
ist auch begreiflich, wenn man bedenkt, daß die in den Ven¬ 
trikeln, speziell im 4. Ventrikel vermehrte Zerebrospinalflüssig¬ 
keit mehr oder weniger gleichmäßig auf beide Seiten des 
Unterwurms und des Himstamms, sowie die Kleinhirnschenkel 
drückt und daher beiderseitige Symptome veranlaßt. Wir 
finden dann dieselben Symptome, wie sie vorgeschrittene 
Tumoren des Kleinhirns zur Folge haben, die in ähnlicher 
Weise raumverengend wirken. Schnelles Einsetzen der 
Symptome, Neigung zu starken Schwankungen 
sprechen mehr für den Hydrozephalus, sind aber sehr un¬ 
sichere Kriterien, so daß bei Verdacht auf Kleinhirntumor 
Hydrocephalus acquisitus manchmal nicht ausgeschlossen werden 
kann. Ob die von Nonne beschriebenen Fälle von Pseudo- 
tumor, die nach Ausbildung aller Tumorsymptome spontan 
in Heilung übergingen, auf Hydrozephalus zurückzuführen sind, 
erscheint noch nicht sicher. Jedenfalls konnte bei der Sektion 
kein hierfür sprechendes Anzeichen aufgefunden werden. 

2. Ferner kann der neurasthenische Symptomen- 
komplex zu diagnostischen Schwierigkeiten Anlaß geben. 
Hier ist es namentlich der neben allgemein nervösen Klagen 
auftretende Kopfschmerz, welcher irreführt. Der gewöhn¬ 
liche, neurasthenische Kopfschmerz ist freilich bei einiger Auf¬ 
merksamkeit von dem Tumorkopfschmerz wohl zu unterscheiden; 
ersterer ist nicht heftig, sehr wechselnd an Stärke, wird mehr 
als Druck empfunden, der sich über die ganze Hinterhaupt¬ 
gegend verteilt, wohingegen der Tumorkopfschmerz ungemein 
stark und quälend ist, dabei anhaltend, oft zu Schmerzparoxysmen 
sich steigernd und zeitweise mit Benommenheit verbunden ist. 
Eine Augenspiegeluntersuchung kann in zweifelhaften Fällen 
hier oft die Entscheidung bringen, da bei Tumorkopfschmerz 
die Stauungspapille nicht zu fehlen pflegt. 



Erkrankangea der hinteren Schädelgrube. 


35 


Schwieriger gestaltet sich die Differentialdiagnose, wenn 
der nenrastheniscbe Symptomenkomplex auf dem Boden 
einer Infektion sich ansgebildet hat, da in diesen Fällen 
neben heftigem Kopfschmerz und Schwindelgefühlen 
auch Neuritis optica zur Beobachtung kommt. Hier [ist 
yor allem die Influenza zu nennen, auch die multiple 
Neuritis, speziell die alkoholische, kann mit diesen Symp¬ 
tomen verlaufen, desgl. Enzejphalitis satnrnina; ferner 
weist Oppenheim darauf hin’, daß auch auf Hg, As, Cu, 
Morphium, Nikotinvergiftung geachtet ;|werden muß. 
Schließlich ist bekannt, daß auch schwere Anämien Kopf¬ 
schmerz, Schwindel und Neuritis optica zur Folge haben können. 
Im allgemeinen führen die Begleitsymptome bald auf die rich¬ 
tige Fährte. So finden wir bei der multiplen Neuritis und den 
verschiedenen Intoxikationen gewöhnlich Muskelatrophien von 
charakteristischer Ausbreitung und Beschaffenheit neben anderen 
typischen Symptomen (Bleikolik, Tremor etc.). Bei Anämien 
pflegt Eisen und Ruhe bald Besserung zu bewirken. 

In allen diesen Fällen läßt die weitere Beobachtung die 
Diagnose nicht mehr zweifelhaft, indem bei den Tumoren des 
Kleinhirns die charakteristischen Anzeichen: zerebellare Ataxie, 
DrehschWindel, Nystagmus, in den Vordergrund des Krank¬ 
heitsbildes treten, dann Hypotonie, Parese und einseitige Blick¬ 
lähmung, und bald auch die Nachbarschaftssymptome sich aus¬ 
bilden, wie wir sie oben geschildert haben. 

8. Mitunter ist die multiple Ski er ose differentialdiagno¬ 
stisch von einem Tumor der hinteren Schädelgrube nicht leicht 
zu scheiden. Einmal weisen beide eine Reihe gemeinsamer 
Symptome auf, so Nystagmus, taumelnden Gang, 
Schwindel, Sprachstörung ähnlicher Art, und es kommt 
bei Tumoren des Kleinhirns durch Druck auf die Pyramiden¬ 
bahn mitunter zu Reiz ersehe in ungen, die dem Intentions¬ 
tremor der multiplen Sklerose sehr ähnlich sehen. Meist 
entscheidet die Untersuchung des Augenhintergrundes die 
Diagnose, da bei der multiplen Sklerose gewöhnlich eine bi- 
temporale Abblassung der Papille, nicht wie be|^ Tumor eine 
Stauungspapille, vorliegt Gelegentlich aber kommt auch bei 



36 


Nie. Qierlicb, 


maltipler Sklerose einmal eine Neuritis optica vor. Es sind 
dann namentlich im Kindesalter Verwechslungen vorgekommen. 

4. Es kann die tuberkulöse, selten die eitrige Menin¬ 
gitis, wenn sie sich an der Basis entwickelt, manchmal zu 
differentialdiagnostischen Schwierigkeiten führen, zumal wenn 
das Fieber zurücktritt und sie mehr eine umschriebene Aus¬ 
breitung hat. Wir finden dann Kopfschm erz, Erbrechen, 
Benommenheit und auch Neuritis optica. Das schnelle 
Einsetzen, der rasche Verlauf geben dann oft die Entscheidung 
für Meningitis. Auch die Lumbalpunktion ist wertvoll, da in 
dem durch Rundzellen getrübten Punktat sich Kokken event. 
auch Tuberkelbazillen nachweisen lassen. Immerhin kann nur 
der positive Befund die Diagnose entscheiden, da bei eitriger 
Meningitis die Flüssigkeit manchmal ungetrübt ist und bei 
tuberkulöser Meningitis von Tuberkeln frei. Meist kann jedoch 
bei genauer Anamnese die Tumordiagnose mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit gestellt werden, doch ist eine eng umschriebene, 
tuberkulöse Meningitis der hinteren Schädelgrube von einem 
hier gelegenen Solitärtuberkel manchmal nicht zu unterscheiden. 

5. Blutungen, Erweichungen im Kleinhirn, ebenso 
die zerebellare Form der Kinderlähmung, die Fried- 
reichsche Ataxie sowie auch die H6r6doataxie c6r6- 
belleuse (Marie) sind von Kleinhimtumoren neben dem Ein¬ 
setzen und Verlauf der Erkrankung durch das Fehlen der 
allgemeinen Tumorsymptome, speziell der Stauungspapille, 
nicht unschwer zu trennen. Bei Enzephalitis kann freilich 
auch eine Neuritis optica zur Ausbildung kommen. 

6. Aneurysmen der Basalgefäße können schließlich 
Symptome im Gefolge haben, welche eine Differentialdiagnose 
mit Tumor recht schwierig gestalten. Hier entwickeln sich 
die Symptome meist gleich bilateral, und es kommt bald zu 
allgemeinen Drucksymptomen. Als Hauptkennzeichen des 
Aneurysmas gilt ein deutliches, dem Herzpuls synchrones Ge¬ 
räusch im Schädel. Seine häufigste Ursache sind Trauma, 
Syphilis, Potus; es ist daher bei Männern viel häufiger als bei 
Frauen. 

Über die. Art des vorliegenden Tumors — Gliom, 
Sarkom, Tuberkel, Fibrom, Endotheliom — sind im allgemeinen 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 


37 


nur Vermntangen möglich, falls es sich nicht nm metastatische 
Tumoren handelt oder etwa ein Durchbruch nach außen er¬ 
folgt ist. 

Für einen chirurgischen Eingriff geeignet sind ferner die 

Neurofibreme des Eleinhirnbrttckenwinkels. 

Hier ist die sichere Unterscheidung eines extrazerebellaren 
Tumors von einem solchen des Himstammes von ganz be¬ 
sonderer Wichtigkeit, da letztere, wie schon erwähnt, von 
einem chirurgischen Eingriff vollständig auszuschließen sind. 
Die im Kleinhimbrückenwinkel sich entwickelnden Geschwülste 
beginnen mit einseitigen Reiz- resp. Lähmungssymp¬ 
tomen in einem bestimmten Nerven, von dessen binde¬ 
gewebiger Umhüllung die Geschwulst ihren Ausgang nimmt. 
Es kann dies der 5. bis 12. Hirnnerv sein. So kommen 
einseitig Ohrensausen, nervöse Schwerhörigkeit, 
die schließlich zu Taubheit führt, Schwindel, Vestibularis- 
anfälle, zu anderenmalen Trigeminusneuralgien, die 
allen Heilversuchen trotzen, oder auch Geschmacksstö¬ 
rungen sowie Symptome der Erkrankung des 10., 11., 

seltener auch des 12. Himnerv zur Beobachtung, die das 
Krankheitsbild eröffnen und lange Zeit vereinzelt bleiben, ohne 
daß jetzt schon eine richtige Diagnose zu stellen wäre. Die 
oben beschriebene Eigenart des anatomischen Verhaltens der 
Neurofibrome — allmähliche Zerstörung des befallenen Nerven 
durch Druck unter Beiseiteschiebung und langer Schonung der 
zunächst gelegenen Nerven — läßt das lange Beschränkt¬ 
bleiben der klinischen Symptome auf einen Nerven 
«rklärlich erscheinen. Erst allmählich leiden auch andere 
Nerven unter dem vom Tumor ausgehenden Druck. Hier 
findet man häufig die Areflexie der Kornea als erstes Symptom 
einer Läsion des N. trigeminus. Den Störungen im Gebiete 
der benachbarten Nerven (Fazialis, Vagus etc.) gesellen sich 
nun bald die charakteristischen Erscheinungen des Drucks auf 
das Kleinhirn und den Hirnstamm zu: Zerebellare Ataxie, 
Nystagmus, Schwindel, Dysarthrie, Dysphagie, Er¬ 
brechen, oft auch Bl icklähmung; bald nach diesen direkten 
Drucksymptomen folgen dann auch die allgemeinen für den 



38 


Nie. Qierlicb, 


Tumor typischen Symptome, namentlich Kopfschmerz und 
Stauungspapille. Sie können sich aber auch spät ent¬ 
wickeln, so daß die neuritischen Beschwerden mit einzelnen 
Drucksymptomen lange Zeit im Vordergrund stehen. 

Bei typischem Verlauf bietet die Diagnose des Kleinhirn- 
brückenwinkeltumors, falls nur an die Möglichkeit seiner Ent¬ 
wicklung gedacht wird, keine große Schwierigkeit. Anderer¬ 
seits können aber bald nach den ersten klinischen Erschei¬ 
nungen infolge Druck auf Kleinhirn und Himstamm die 
Nachbarschaftssymptome sowie auch die allgemeinen Him- 
drucksymptome zur Ausbildung kommen. Gelangt der Kranke 
in diesem Stadium zur ärztlichen Beobachtung, ohne daß dem 
ersten Eintritt und der Entwicklung des Krankheitsbildes be¬ 
sondere Aufmerksamkeit geschenkt worden war, so kann es 
unmöglich sein, zu einer klaren Diagnose zu gelangen, ob ein 
Tumor des Hirnstammes oder des Kleinhirnbrücken¬ 
winkels vorliegt. Differentialdiagnostisch dienen fol¬ 
gende Gesichtspunkte: 

1. Bei Tumoren des Kleinhirnbrückenwinkels 
fehlt die Blicklähmung häufig (Uthoff), was freilich 
Oppenheim nach seinen Beobachtungen nicht fand. Jeden¬ 
falls ist nach Bruns eine reine Blicklähmung, nach einer 
oder beiden Seiten, als erstes Lokalsymptom beweisend für 
den intrapontinen Sitz des Tumors. 

2. Bei intrapontinem Tumor treten oft die Hirn¬ 
druckerscheinungen, namentlich Stauungspapille, 
erst spät auf, oder sie fehlen. Das stimmt auch nicht für 
alle Fälle. Ich konnte jüngst einen Tuberkel des Hirnstamms 
beobachten und sezieren, bei dem neben Drucksymptomen auf 
die Pyramidenbahn die Stauungspapille, Kopfschmerz und Ohn¬ 
mächten die ersten kliuischen Erscheinungen darboten. 

3. Wird die Einseitigkeit der befallenen Hirn¬ 
nerven mehr für extrazerebellaren Sitz sprechen, da 
im Himstamm die Zentren sehr nahe zusammenliegen. Das 
Symptom ist gewiß wertvoll, aber bei größeren Neurofibromen 
werden auch die Nerven der andern Seite oft vom Druck ge¬ 
troffen. 

Es begegnet somit die Differentialdiagnose in vorgeschrit- 



Erkrankungen der hinteren Scbädelgmbe. 


39 


tenen Stadien bei Gescbwiilsten im Kleinbimbrückenwinkel 
manchmal unüberwindbaren Schwierigkeiten, falls es unmög¬ 
lich ist, aus genauer Beobachtung der ersten klini¬ 
schen Erscheinung auf den Sitz des Tumors seine diagno¬ 
stischen Schlüsse zu ziehen. In seltenen Fällen sichert eine 
allgemeine Neurofibromatose die Art der Erkrankung in der 
hinteren Schädelgrube. 

Noch eine differentialdiagnostische Besprechung muß Er¬ 
wähnung finden, und zwar zwischen Geschwülsten des Klein¬ 
hirnbrückenwinkels und Tumoren der vorderen Schädel¬ 
grube. 

Es ist einigemale und jüngst auch mir vorgekommen, daß 
bei Kleinhirnbrückenwinkeltumoren Druckerscheinungen 
in der vorderen Schädelgrube so sehr hervortraten, daß 
ein Tumor dieser Gegend resp. ein multiples Auftreten von 
Tumoren angenommen wurde und ich daher von einem opera¬ 
tiven Eingriff bei dem sicher vorhandenen Neurofibrom im 
Klein hirnbrücken Winkel abriet. Es stellten sich in diesen 
Fällen frühzeitig Geruchsstörungen und Optikus¬ 
atrophie ohne vorausgegangene Stauungspapille ein, ein 
sicheres Anzeichen des direkten Druckes auf den Nervus 
opticus in der vorderen Schädelgrube. Dieser Druck ging 
aber nicht, wie angenommen, von einem Tumor in der vorderen 
Schädelgrube aus, sondern war die Folge eines überaus 
hochgradigen Hydrozephalus, [der das Infundibulum er¬ 
weitert und stark vorgewölbt hatte und so Druckatrophie des 
Nervus opticus bewirkte. Der Tractus olfatorius war papier¬ 
dünn beiderseits. Solch ein starker Hydrozephalus kommt 
zustande, wenn der Tumor der hinteren Schädelgrube früh¬ 
zeitig und ziemlich plötzlich das Foramen Magendi verlegt 
und so den Abfluß des Liquor hindert. Die Störungen in der 
vorderen Scbädelgrube können dann auch homolateral mehr 
hervortreten, meist sind sie aber doppelseitig. Wenn man den 
Zusammenhang kennt, wird die diagnostische Bewertung dieser 
Symptome von Druck in der vorderen Schädelgrube keine be¬ 
sonderen Schwierigkeiten machen. 

Schließlich sind bisher bereits fünf Fälle bekannt, in 
denen die 



40 


Nie. Gierlich, 


Meningitis chronica circumscripta des Gehirns in der 
hinteren Schttdelgruhe 

zur zystenartigen Erweiterung der weichen Hirnhäute führte, 
die für eine operative Beseitigung die beste Prognose bieten. 
Das ursächliche Moment ist meist ein Trauma. Pathologisch¬ 
anatomisch handelt es sich um zirkumskripte Hy dropsien 
im Arachnoidealranm infolge von Adhäsionen, die 
den Abfluß hindern. Sie bilden sich gern an den schon nor¬ 
malen Aussackungen der weichen Hirnhäute, speziell der 
Cistema nervi acnsticofacialis, in der bei normalem Verhalten 
meist schon einige Teelöffel Liquor angehänft sind, und der 
Cistema cerebello-medullaris, die unter dem Kleinhirn gelegen 
ist. Symptomatologisch sind sie vom Tumor kaum zu unter¬ 
scheiden. Manchmal legt ein auffallender Wechsel von Ex¬ 
azerbationen der Symptome mit Remissionen die Vermutung 
einer Meningitis cystica nahe. Auch der vorübergehende Er¬ 
folg einer Hg- oder Jodtherapie spricht sehr für eine Zyste 
der weichen Häute. 

Zur 

Freilegung der hinteren Schädelgrnbe 
bedient man sich heute meist des von F. Krause angegebenen 
Verfahrens, welches die betreffenden Gebilde unterhalb des 
Tentoriums zur Anschauung bringt. Ist eine Seitendiagnose 
möglich gewesen, so führt man einen Hautschnitt, der vom 
hinteren, unteren Ende des Warzenfortsatzes im Bogen bis 
etwa 2 cm oberhalb der Protuberantia occip. ext. und dann 
wieder nach unten geht. Periost und Knochen werden in 
gleicher Ausdehnung durchtrennt und der ganze Lappen so 
nach unten geschlagen, daß noch eine Knochenspange ober¬ 
halb des Foramen occip. stehen bleibt. War eine Seitendia¬ 
gnose nicht zu stellen, so wird auf beiden Seiten in gleicher 
Weise vorgegangen. Dann schneidet man die Dura in der 
Größe des Knochenlappens ein und kann das Kleinhirn und 
seine Umgebung gut überschauen. Wegen der starken Blu¬ 
tung aus Galea und Diploe wird auf Horseleys Vorschlag 
meist zweiseitig operiert, indem man die Eröffnung der Dura 
nach 4 bis 5 Tagen der Bildung des Hautknochenlappens 
folgen läßt. 



Erkrankangen der hinteren Schädelgrnbe. 


41 


Was die Prognose der Trepanati onen der hinteren 
Schädelgrnbe anbelangt, so ist ein annähernd sicherer Über¬ 
blick kaum zu gewinnen, da viele Mißerfolge zweifelsohne 
nicht publiziert sind. Körner gibt an der Hand einer größeren 
Statistik an, daß von 55 Kleinhirnabszeßoperationen 52,8% in 
Heilung ausgingen. Der Prozentsatz der Heilungen mag nach 
anderer Erfahrung etwas hoch gegriffen sein. Betreffs der 
Prognose der Tumoroperationen im Gehirn hat der anfänglich 
etwas überschwängliche Enthusiasmus heute bei einigen Autoren 
einem zu großen Pessimismus Platz gemacht. So glaubt 
Knapp von der Operation gänzlich abraten zu müssen. Ge¬ 
wiß mit Unrecht, aus mannigfachen Erwägungen. Handelt es 
sich doch nicht nur um Heilung, sondern auch um 
Besserung eines unerträglichen Zustandes. Der Pro¬ 
zentsatz der Heilungen wird allgemein heute noch als sehr 
gering angegeben. So verzeichnet eine Statistik Oppenheims 
aus den Jahren 1903 bis 1907 von 27 Tumoroperationeh im 
Gehirn 3 Heilungen, unter ihnen 12 Tumoroperationen in der 
hinteren Schädelgrube mit einer Heilung. Dahingegen ist der 
Prozentsatz der länger andauernden Besserungen (Oppen¬ 
heim 22,2%) ein weit höherer, und es ist schließlich die Tat¬ 
sache nicht hoch genug zu bewerten, daß infolge der Operation, 

selbst wenn der Tumor nicht entfernt werden kann, die 
# ^ ^ ' 
quälenden Allgemeinsymptome gemildert werden. So läßt 

durch Beseitigung des Bürndruckes der unerträgliche Kopf¬ 
schmerz nach und infolge des Rückgangs der Stauungspapille 
schwindet die Gefahr der Erblindung. Daß die umschriebenen 
Zysten der weichen Gehirnhäute eine gute Prognose bieten, 
bedarf kaum der näheren Begründung. 

Eine besondere Gefahr besteht bei Trepanation der 
hinteren Schädelgrube darin, daß infolge Blutung und Er¬ 
schütterung Shok eintritt, der zum Exitus führt. Die Blutung 
der Galea wird durch Umstechungen nach Heidenhain wesent¬ 
lich vermindert. Zur Einschränkung der Diploeblutung sowie 
auch der Erschütterungen vermeidet man möglichst Meißel und 
Hammer und bedient sich nach Anlegung der Bohrlöcher der 
Dahlgreenschen Zange, die den Knochen durchquetscht, oder 
der Drahtsäge. In die sichtbaren Lumina der Diploegefäße 



42 


Nie. Gierlich, 


werden kleine Elfenbeinstifte eingefübrt. Meist geht man, wie 
oben schon erwähnt, zweiseitig Tor, um dem Patienten Zeit 
znr Erholung zu gewähren. 

Am besten wird der immerhin lebensgefährliche Eingriff 
dann überstanden werden, wenn eine exakte klinische 
Beobachtung eine frühzeitige Sicherung der Dia¬ 
gnose ermöglicht und der Patient dem Chirurgen zugeführt 
werden kann, bevor der Kräfteverfall weit vorge¬ 
schritten ist. Dann dürfte der Prozentsatz der Heilungen 
und Besserungen wesentlich gehoben werden, wenn auch leider 
oft infolge Natur, Ausdehnung oder Lage der Geschwulst eine 
totale Entfernung nicht angängig ist. 


Neuere Literatur. 

Die ältere Literatur findet sich in den unten zitierten Monographien von 

Bruns und Oppenheim. 

Luci ani, Das Kleinhirn in „Ergebnisse der Physiologie“. III. Jahr¬ 
gang 1904. 

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f. Anatomie und Physiol. 1903, S. 129 £F. 

Munk, Ueber die Funktionen des Kleinhirns. Sitzungsbericht 
der kgl. preuß. Akademie d. Wiss. 1906. 

Ders., Ueber die Funktionen des Kleinhirns. Dritte Mitteilung, 
Sitzungsbericht der kgl. preuß. Akad. d. Wiss. 1908, p. 294. 

Probst, Zur Anatomie und Physiologie des Kleinhirns. Arch. 
f, Physiologie 1902, Bd. 35 H. 2. 

Kohnstamm, Zur anatomischen Grundlegung der Kleinhim- 
physiologie. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 89, 
p. 240 ff. 

Horsley, Viktor, The cerebellum, its relation to spatical Orien¬ 
tation and to locomotion. London 1905, John Ball Sons and 
Danielsson. 

Ders. und Clarke, The structure and functions of the cerebellum 
examined by a new method. Brain, Part. XXI Vol. 31, 
p. 45. 

Laurie, Ueber die Augenbewegung bei Kleinhirnreizung. Neu- 
rol. Zentralblatt 1908, Nr. 3, p. 102. 

Beitzke und Bickel, Zur pathologischen Physiologie des Klein¬ 
hirns etc. Charite-Annalen Bd. 29, 1905. 

Bolk, Das Kleinhirn der Neuwelt-Affen. Morpholog. Jahrbuch 
1902, Bd. 21 H. 1. 



Erkrankungen der hinteren Schädelgrabe. 


4a 


Vinceozoui, Recherches experinaentales sur les localisations 
fonctionelles dans le cervelet de la brebis. Arch. ital. de 
Biol. T. XnX, p. 383. 

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Nenrol. Zentralbl. 1902, p. 273. 

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Babinski, De l’Asynergie ceröbelleuse. .Revue neurol. 1899. 

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Hart mann. Die Klinik der sogen. Tumoren des Akustikus. 
Zeitschr. f. Heilkunde, Wien-Leipzig 1902. 

V. Monakow, Ueber die Neurofibrome der hinteren Schädel¬ 
grube. Berl. klin. Wochenschr. 1900. 

Henneberg und Koch, Ueber zentrale Neuro-Fibromatose und 
die Gesohwtilste des Kleinhimbrückenwinkels. Arch. d. 
Psych. Bd. 36 H. 1. 

Ziehen, Ueber Tumoren der Aikustikusregion. Mediz. Klinik 
1905, Nr. 34—35. 

Gierlich, Zur Symptomatologie der Tumoren des Kleinhirns und 
des ^einhimbrückenwinkels. Deutsche med. Wochenschr. 
1908, Nr. 42. 

Becker, Operation einer Geschwulst im KleinhimbrückenwinkeL 
Deutsch. Arch. f. klin. Medizin. (Siehe hier die ältere 
Literatur.) 

Seiffert, Ueber die Geschwülste des Kleinhirns und der hin¬ 
teren Schädelgrube. Beiheft zur Med. Klinik 1907, H. 1. 

Bruns, Klinische Erfahrungen über die Funktionen des Kleinhirns. 
Wien. klin. Rundschau 1896, Nr. 49—52. 

Ders., Der heutige Stand unserer Kenntnisse der anatomischen 
Beziehungen des Kleinhirns etc. Berl. klin. Wochenschr. 
1900, Nr. 25 und 26. 

Ders., Die Geschwülste des Nervensystems. Berlin, Karger, 
H. Aufl. 1908. 

Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns. Nothnagels spez. 
Pathologie und Therapie IX. Bd., III. Abt. 



44 


Nie. Gierlich, Erkrankangen der hinteren Schädelgrabe. 


Ders., Beitrag zur Diagnostik und Therapie der Geschwülste im 
Bereiche des zentralen Nervensystems. Berlin, Karger 1907. 
Ders., Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin, Karger, 
V. Aufl. 1908. 

Bechterew, Die Funktionen der Nervenzentra. 2. Heft, Fischer, 
Jena 1909. 

Oppenheim und Cassirer, Der Hirnabszeß. Wien u. Leipzig, 
Holder, II. Aufl. 1908. 

Lewandowsky, Die Diagnose des Hirnabszesses. Med. Klinik 

1908, Nr. 27. 

Koerner, Die otitischen Erkrankungen des Hirns. HI. Aufl., 
Wiesbaden 1902 und Nachträge 1908. 

Placzek und Krause, Zur Kenntnis der umschriebenen Arach- 
nitis adhaesiva cerebralis. Berl. klin. Wochenschr. 1907, 
Nr. 29, p. 911. 

Oppenheim und Borchardt, Zur Meningitis chronica serosa 
circumscripta (cystica) des Gehirns. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift 1910, Nr. 2, p. Ö7. 

Krause, F., Zur Freilegung der hinteren Felsenbeinfläche und 
des Kleinhirns. Beitr. zur klin. Chirurgie Bd. 38, H. 3. 
Ders., Deutsche Klinik am Eingang des XX. Jahrhunderts. 
Bd. 8. 

Borchardt, Operationen in der hinteren Schädelgrube. Archiv 
f. klin. Chirurgie Bd. 81, H, p. 87. 

Hildebrand, Kleinhirnchirurgie. Deutsche med. Wochenschrift 

1909, Nr. 46. 



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Pfister, Prot Dr. B*, Freiburg i. Br. Die Anwendung von Beruhigungsmitteln 
bei Geisteskranken. Einzelpreis M. 1,20. 

WeU, Dr. Max, Stuttgart. Die operative Behandlung der Himgeschwülste. 

Einzelpreis M. 0,60. 

Laqner, Dr. Bemns, Wiesbaden. Ueber Höhenkuren für Nervenleiderde. 

Einzelpreis M. 0,60. 

W^gandt, Prof. Dr. W*, Hamburg. Der heutige Stand der Lehre vom 
läretinisraus, Einzelpreis M. 2,40. 

LIepmann, Privatdosent Dr. B*, Pankow b. Berlin. Ueber Ideenflucht. 

Einzelpreis M. 2,50. 



Carl Marhold Yerlagsbochhandlnng in Halle a. S. 


Sammlung zwangloser Abhandlungen 

aus dem Gebiete der 

Nerven- und Geisteskrankheiten. 


Band T. 


Hefk 1. 
. 2 / 8 . 
« 4/5. 
. 6 / 8 . 


Hefl 1. 
. 2 / 8 . 

. 4/5. 


Heft 1. 
« 2 . 
• 8 . 
« 4. 



Piek, Prot Dr. A.« Prag. Ueber einige bedeutsame Psyoho-Neurosen des Kindos- 
alters. Einzelpreis H. OßO. 

Determanii, Br., St. Blasien. Die Diagnose und die Allgemeinbehandlung der 
Frühzustftnde der Tabes dorsalis. Einzelpreis M. 2,50. 

Hoennleke» Dr. Emst, in Greifswald. Ueber das Wesen der Osteomalaoie und 
seine therapeutischen Gonsequenzen. Einzelpreis M. 2,>-. 

Helibronner, Dr. K«, in Utrecht. Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. 

Einzelpreis M. 8,—. 


Band VI. 

Weygandty Prof. Dr. W*, in Hamburg. Leicht abnorme Kinder. Einzelpreis M. 1,—. 
Schroeder, Dr. P., in Breslau. Ueber chronische Alkoholpsychosen. 

Einzelpreis M. 1»80. 

Stransky* Dr. Erwin, in Wien. Ueber Sprachrerwirrtheit. Einzelpreis M. 2,80. 
Weygandt, Professor Dr.W«, Hamburg. Ueber Idiotie. Einzelpreis M. 2,~, 

Bumke, Priratdozent Dr., ^eiburg i.B. Was sind Zwangs-Vorgänge f 

Einzelpreis M. 1,80. 


Band VH. 

Aschaffenbnrg, Prof. Dr. G., in Köln. Ueber die Stimmungsschwankungen der 
Epileptiker. Einzelpreis M. 1,60. 

lloell, Prof. Dr. 0., in Berlin. Die in Preussen gültigen Bestimmungen über die 
Entlassung aus den Anstalten für Geisteskranke. Einzelpreis M. 1,20. 

Nolda, Prof. Dr. med. A., in St. Moritz. Ueber Indikationen der Hochgebirgskuren 
für Nerrenkranke. Zweite Auflage. Einzelpreis M. 0,60. 

Salgd, Priyatdozent Dr. J., in Budapest. Die forensische Bedeutung der sexuellen 
Perversität Einzelpreis M. 1,20. 

Laquer, Dr. med. Leopold, in Frankfurt a. M. Der Warenhaus-Diebstahl. M. 1,—. 

Bonhoeflfer, Professor Dr. K., in Breslau. Klinische Beiträge zur Lehre von den 

Degenerationspsychosen. Einzelpreis M. 1,60. 

Toss, Dr. G. T., in Greifswald. Der Hypnotismus, sein Wesen, seine Handhabung 
und Bedeutung für den praktischen Arzt. Einzelpreis M. 1,20. 

Hoche, Prot Dr. A., in Freibarg i. B. Notwendige Beformen der Unfallver- 
sicherungsgesetze. Einzelpreis M. 0,75. 


Band Vlll. 


Heft 1. Wilmanns, Privatdoz. Dr. K«, in Heidelberg. Ueber Gefangnispsychosen. 

Einzelpreis M. 1,20. 

„ 2/4. Wieg-Wleke]itha4 Dr., Ordinarius a. d. n.-ö. Landesanstalt am Steinhof in Wien. 

Zur Klinik der Dementia praecox. Einzelpreis M. 8,^. 

„ 5. Steyerthal, Dr. A., in Kleinen. Was ist Hysterie? Eine nosologische Betrachtung. 

Einzelpreis M. 1,80. 

„ 6. Heller, Dr. phil. Theod«, in Wien. Schwachsinnigenforschung, Fürsorgeerziehung 

und Heilpädagogik. Einzelpreis M. 1,^. 

„ 7. Haymann, Dr. H.. in Freiburg i. B. Kinderaussagen. Einzelpreis M. 1,—. 

„ 8. Pick. Prot Dr. A«, in Prag. Initialerscheinungen der zerebralen Arteriosklerose 

und kritische Erörterung ihrer Pathogenese. Einzelpreis M« 0,75. 


Band IX. 

Heft 1. Schnitze. Prof Dr. E., in Ghreifswald. Der Kampf um die Bente und der Selbstmord 
in der Bechtsprechung des Beichsversicherungsamtes. Einzelpreis M, 1,80. 
i, 2. Gierlich, Dr. med. Kic., Nervenarzt, in Wiesbaden. Symptomatologie und 
Differentialdiagnose der Erkrankungen in der hinteren Schädelgrube. 

Einzelpreis M. 1,—. 



Carl Marhold Yerla^^sbuclihandlang in Halle a. S. 


Juristisch - psychiatrische Grenzfragen. 

Zwanglose Abhandlungen. 

Herauagegeben von 

Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A, Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A« Uoche, 

Halle a. 8. Freibarg i. Br. 

Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 

Lüben i. Schles. 

Abonnementspreis für 1 Band = 8 Hefte 8 Mark. 

1. Band* 

Heft 1. Schnitze, Prof. Dr. Srnst, in Greifswald. Die Stellungnahme des Reichsgerichts 
zur Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche und zur Pfleg¬ 
schaft, nebst kritischen Bemerkungen. Einzelpreis M. 1,—. 

„ 2/8. Oorres, Dr. Karl Heli^eh, Rechtsanwalt in Karlsruhe i. B. Der Wahrspruch der 
Geschworenen und seine psychologischen Grundlagen. Einzelpreis M. 2,—. 

„ 4. Endemann. Prof. Dr. jur. Frledr., in Halle a. S. Die Entmündigung wegen Trunk¬ 

sucht und das Zwangsheilungsverfahren wegen Trunkfälligkeit. Bisherige Er¬ 
fahrungen. Gesetzgeberische Vorschläge. ^ Einzelpreis M. 1,50. 

,, 6/7. Schaefer, Sanitätsrat Dr. Fr., in Lengerich i. W. Die Aufgaben der Gesetzgebung 

hinsichtlich der Trunksüchtigen nebst einer Zusammenstellung bestehender und 
vorgeschlagener Gesetze des Auslandes und Inlandes. Einzelpreis M. 8,—. 

,, 8. Hoche, Prof. Dr. A*, in Freiburg i. Br. Zur Frage der Zeugnisfähigkeit geistig 

abnormer Personen, Mit einigen Bemerkungen dazu von Prof. Dr. A. Finge rin 
Halle a. S. — Frankenburger, Justizrat Dr., in München. Aus der Praxis des 
Lebens. Einzelpreis M. 0,80. 

n. Band* 

Heft 1/2. Tortrftge, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1908. 

Heidlen, Oberlandesgerichtsrat Dr, Stuttgart: Vormundschaft oder Pflegschaft. 
— Dr. Kreuser, Medizinalrat, Winnenthal: Über Paranoia. — Dr. Wollenberg, 
Prof., Tübingen: Über das Querulieren Geisteskranker. — vonSchwab, Ministe¬ 
rialrat Dr., Stuttgart: Unterbringung geisteskranker Strafgefangener in Württem¬ 
berg. — Dr. Rob. Gaupp, Privatdozent, Heidelberg: Über moralisches Irresein 
und jugendliches Verbrechertum. —■ Dr. A. Fauser, Sanitätsrat, Stuttgart: Über 
die Bedeutung der neueren Entwicklung der Psychiatrie für die gerichtliche 
Medizin. — Dr. Wildermuth, Sanitätsrat, Stuttgart: Über die Zurechnungs¬ 
fähigkeit der Hysterischen — Dr. Daiber, Winnenthal: Statistische Erhebungen 
über die forensischen Beziehungen der württembergischen Irrenanstaltspfleglinge. 

Einzelpreis M. 2,40. 

,, 8/5. Stier, Dr. Ewald, in Berlin. Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Eine psy¬ 
chologische, psychiatrische und militärrechtliche Studie. Einzelpreis M. 3,—. 

„ 6. Mlttermaler, Prof., in Giessen. Die Reform des Verfahrens im Strafprozess. — 

Sommer, Prof., in Giessen. Die Forschungen zur Psychologie der Aussage. Vor¬ 
träge, gehalten zur Eröffnungsversammlung der Vereinigung für gerichtliche Psy¬ 
chologie und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen am 6. November 1904 zu 
Giessen. Einzelpreis M. 1,20. 

7/8. Oamerer^ Dr. med., in Winnenthal, und Landauer, Oberlandesgerichtsrat in Stutt¬ 
gart. Die Geistesschwäche als Entmündigungsgrund. Einzelpreis M. 1,20. 

jn. Band* 

Heft 1/8. Lohsing, Dr. jur. Emsty Das Geständnis in Strafsachen. Einzelpreis M. 2,50. 

„ 4. Cramer, Prof. Dr. A., in Göttingen. Ueber Gemeingefährlichkeit vom ärztlichen 

Standpunkte aus. Einzelpreis M. 0,50. 

„ 5. Slefert, Dr. Emstj in Halle a. S. Ueber die unverbesserlichen Gewohnheitsver¬ 

brecher und die Mittel der Fürsorge zu ihrer Bekämpfung. Einzelpreis M. 0,80. 

„ 6/7. Torträge, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1906. 

Kreuser, Medizinalrat Dr., Winnenthal, Schanz, Oberlandesgerichtsrat Dr., 
Stuttgart: Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetzgebung und Strafprozefl. 
— Schott, Oberarzt Dr. A., Weinsberg, Gmelin, Landesgerichtsrat Dr., Stutt¬ 
gart: Zur Psychologie der Aussage. — Krauss, Dr. Reinhold, Kennenburg, 
Teichmann, Justizministerialsekretär, Landrichter R., Stuttgart: Die Berechtigung 
der Vernichtung des kindlichen Lebens mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der 
Mutter. Einzelpreis M. 2,80. 

8. Die Zwang8-(Fär80rge-)£rziehailg* Vorträge, gehalten in der Vereinigung für 
gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen. 

Einzelpreis M. 1,50. 





Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 


Juristisch - psychiatrische Qrenzfragen. 

Zwanglose Abhandlungen. 

Abonnementspreis für 1 Band = 8 Hefte 8 Mark. 

IT. Band. 

Heft 1. Weber, Privatdozent Dr. L., u. Stolper, Prof. E>r. P., Kreisarzt in Göttingen. Die 
Beaufsichtigung der Geisteskranken ausserhalb der Anstalten. — Kfirz, Med.-Rat 
Dr., in Heidelberg. Der Fall H. als res iudicata. Einzelpreis M. 1,20» 

„ 2. Jung, Dr. C. O., Privatdozent, in Zürich. Die psychologische Diagnose des Tat¬ 

bestandes. — nberg, Oberarzt Dr., Bericht über die ersten 100 Sitzungen der 
forensisch-psychiatrischen Vereinigung in Dresden.^ ^ Einzelpreis M. 1,20. 

,, 3. Kornfeld, Geh. Med.-Rat Dr. HerrnnnUy Kgl. Gerichtsarzt in Gleiwitz. Alkoho¬ 

lismus und § 51 St. G. B. — Wnlffen, Staatsanwalt Dr., Gerhart Hauptmann's 
„Rose Bernd“ vom kriminalistischen Standpunkte. Einzelpreis M. 0,80. 

„ 4/6. Sehaefer, Dr., Oberarzt a. D. der Anstalt Friedrichsberg in Hamburg. Der mora¬ 
lische Schwachsinn. Einzelpreis M. 8,—. 

,, 7/8. Vortrage, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 
1906. Dr. Kreuser, Medizinalrat, Winnenthal u. Dr. Schmoller, Landgerichts¬ 
rat, Tübingen: Testamentserrichtung und Testierfähigkeit. — Dr. Hegler, Amts¬ 
richter u. Professor, Tübingen und Dr. Fin ckh, Privatdozent, Tübingen: Latente 
Geistesstörung bei Prozessbeteiligten — von Schwab, Ministerialdirektor, Stutt¬ 
gart: Die verminderte Zurechnungsfähigkeit im früheren württembergischen Straf¬ 
recht. Einzelpreis M. 2,40. 


y. Band. 

Heft 1. Kornfeld, Geh. Med. -Rat Dr. Hermann, Kgl. Gerichtsarzt in Gleiwitz« Psychia¬ 
trische Gutachten und richterliche Beurteilung. B. G. B. § 104, § 6. St. G. B. 
§51. Einzelpreis M. 0,60. 

,, 2/3. Bresler, Oberarzt Dr. Job., in Lüben. Greisenalter und Criminalität. 

Einzelpreis M. 1,80. 

„ 4/5. Hoppe, Dr. Hugo, Nervenarzt in Königsberg i, Pr. Der Alkohol im gegenwärtigen 
und zukünftigen Strafrecht. Einzelpreis M. 2,—• 

„ 6. Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtnm 

Hessen. Bericht über die vierte Hauptversammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach. 
Dr. Mittermaier, Professor, Giessen, Clement, Strafanstaltsdirektor, Butz¬ 
bach: Erörterung über die Einrichtung von Gefängnislehrkursen. — Dr. Mitter¬ 
maier, Professor. Giessen, Theobald, Oberstaatsanwalt, Bücking, Landgerichts¬ 
direktor, Sommer, Prof. Dr. med. et phil., Giessen. Die Tätigkeit des medi¬ 
zinischen, im besondem des psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht. 

Einzelpreis M. 1,20« 

„ 7. Gross, Dr. jur. Aljh*ed, Prag. Kriminalpsychologische Tatbestandsforschung. 

Einzelpreis M. 1,60. 

„ 8. Bresler, Oberarzt Dr. Joh«) Lüben. Die pathologische Anschuldigung, 

Einzelpreis M. 1,—. 

YL Band. 

Heft 1. Weinberg , Dr. jur. Sle^led. Ueber den Einüufi der Geschlechtsfunktionen auf 
die weibliche Kriminalität. Einzelpreis M. 1,—. 

„ 2/3. Vereinigung für gerichtliche Psychologie nnd Psychiatrie Im Grossherzo^m 
Hessen. Viertes Heft. Der Alkoholismus. Seine strafrechtlichen und sozialen 
Beziehungen. Seine Bekämpfung. Herausgegeben im Aufträge des Vorstandes 
von Prof. Dr. A. Dannemann. Einzelpreis M. 2,—. 

,, 4. Longard, Dr. Joh«, Gerichtsarzt a. D. Ueber strafrechtliche Reformbestrebungen 

im Lichte der Fürsorge. Einzelpreis M. 0,50. 

„ 5/6. Berze, Dr. Josef, Primararzt in Wien, Ueber das Verhältnis des geistigen Inven¬ 
tars zur Zurechnungs- und Geschäftsfähigkeit, Einzelpreis M. 2,80. 

,, 7. Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtum 

Hessen. Fünftes Heft. Die Fürsorge für gefährliche Geisteskranke. Hcraus- 
gegeben im Aufträge des Vorstandes von Prof. Dr. A. Dannemann. 

Einzelpreis M. 1,20. 

„ 8. Frese, Oberjustizrat Dr., in Meißen. Der Querulant und seine Entmündigung. 

Einzelpreis M. 1^. 

Vn. Band. 

Heft 1. Wilhelm, Dr. Eugen, in Straßburg i. Eis. Die rechtliche Stellung der (körper¬ 
lichen) Zwitter de lege lata und de lege ferenda. Einzelpreis M. 1,50. 

,, 2. Both, Sanitätsrat Dr. und Gorlach, Medizinalrat Dr. Der Banklehrling Karl 

Brunke aus Braunschweig.' Einzelpreis M. 0,75. 


Ileynemann’sche Buchcli iickciei (ücbr. Wolff), Iliklleu. S. 







4 



Deiii Ein flüSE 


anfHieii 


W. Bethgft^ 







Sammlnng 

zwangloser Abhandlungen 

aus dem Gebiete der 

Nerven- und Geisteskrankheiten. 


Begründet von 

Direktor Prof. Dr. Konrad Alt, 

Uchtspringe (Altmark). 

In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die 
Bedürfnisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung 

der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. 
Dr. Aschaffenburg in Köln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger 
in Jena, Prof. Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Göttingen, 
Geh. Medizinal-Rat Prof. Dr. Goldscheider in Berlin, Professor und 
Direktor Dr. Kirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. Krömer 
in Gonradstein, Sanitätsrat Dr. Laquer in Frankfurt a. M., Medizinalrat 
Dr. Mayser in Hildburghausen, Med.-Rat Dr. Näcke in Hubertusburg, 
Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Prag, Direktor Dr. 
H. Schlöß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in Uchtspringe, Geheimrat 
Dr. Schüle in Illenau, Prof. Dr. Schultze in Greifswald, Geh.Med.-Rat 
Dr. Siemens in Lauenburg, Geh. Med.-Rat Dr. von Strümpell in 
Wien, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Unverricht in Magdeburg, Prof. Dr. 
von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor 
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin, 

herausgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoche, 

Freiburg i. Br. 


Band IX, Heft 3 



Aus der Königl. Universitäts-, Psychiatrischen- und Nerven- 

Klinik zu Halle a. S. (Direktor Prof. Dr. G. Anton.) 

Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper 

unter besonderer 

Berücksichtigung der Ermüdungserscheinungen. 

Von 

W. Bethge, Halle a. S. 

Die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist ist 
schon vor langer Zeit und von den verschiedensten Philosophen 
und Psychologen in Angriff genommen. Wie wechselnd und 
mannigfaltig der Standpunkt und die Betrachtungsweise ge¬ 
wesen ist und auch späterhin sein wird, so sollen sich die 
folgenden Erörterungen nur mit einem bestimmten Gebiete 
dieses interessanten Kapitels beschäftigen, nämlich mit dem 
Einfluß der geistigen Arbeit auf die körperlichen Funktionen. 

Doch zuvor möchte ich vorausschicken, daß ich auf die 
üntersuchungsmethoden nicht näher eingehen kann. Nur wenn 
es zum Verständnis der Resultate nötig sein sollte, werde ich 
sie natürlich angeben. Ln übrigen muß ich mich darauf be¬ 
schränken, die Ergebnisse der Untersuchungen, so wie sie mir 
vorliegen, nebeneinander zu stellen, zu vergleichen und daraus 
Schlüsse zu ziehen, ohne indessen ihre Genauigkeit und ihren 
Wert feststellen zu können. Denn dies kann man nur, wenn 
man selbst Versuche anstellt, was mir leider aus Mangel an 
Zeit unmöglich war. 

Wir wissen, daß verschiedene geistige Zustände beim 
Menschen schon äußerlich sich deutlich markieren. Wir 
sprechen von einer Mimik des Denkens, wobei die Art des 
Gedankens sich im Gesichtsausdruck und in der Haltung des 

1 * 



4 


W. Betbge, 


Körpers in bestimmter Weise wiederspiegelt. Die Aufmerk¬ 
samkeit ist mit einer Anspannung der Muskeln und straffen 
Körperhaltung verbunden. Der Wille gibt sich in der Schnellig¬ 
keit der Handlung kund. Die Grefühle drücken sich meistens 
noch am deutlichsten durch gewisse körperliche Zustände aus. 
Ich brauche nur an die wutschnaubenden Züge des Zornigen, 
den eingezogenen Kopf und den geduckten Körper des Furcht¬ 
samen, die glänzenden Augen und die expansive Ausgelassen¬ 
heit des Fröhlichen, den hängenden Kopf und die herabge¬ 
zogenen Mundwinkel des Traurigen zu erinnern. Zum großen 
Teil haben wir diese Erscheinungen nach Darwinauf 
zweckmäßige Handlungen der Tiere zurückzuführen, von denen 
wir sie als phyletisches Erbteil überkommen haben. Anderer¬ 
seits müssen wir sie als zweckdienliche Einrichtungen der Natur 
betrachten, wie wir dies im folgenden an der Änderung der 
ßlutzirkulation, der Atmung usw. noch deutlicher sehen werden. 

Daß geistige Anstrengung Veränderungen in dem Zirkula¬ 
tionsapparat des Blutes hervorruft, ist schon ziemlich lange 
bekannt. ^Thanhoffer*) hatte nachgewiesen, daß die Gehirn¬ 
tätigkeit Einfluß auf den Puls hat und daß dieser durch die 
Atmung wiederum modifiziert wird. Der italienische Gelehrte 
Mosso*) konnte diese Angaben präzisieren, da es ihm ver¬ 
gönnt war, die Änderungen im Gehirnvolumen und seinen Blut¬ 
gefäßen direkt bei Personen mit Schädeldefekten zu beobachten 
und zu messen. Er zeigte, daß tiefe Inspiration eine Depression 
der Volumkurve des Pulses erzeugt, der eine starke Abnahme 
des Gehirnvolumens folgt. Nach einer forcierten Exspiration 
trat infolge der venösen Stauung eine Zunahme des Gehim- 
volumens ein, und der Puls wies trikuspidale Form auf. Beim 
Sprechen nahm ebenfalls das Gehirnvolumen zu, die plethys¬ 
mographische Kurve zeigte größere respiratorische Schwan¬ 
kungen und die Höhe der Pulsationen wurde geringer. Infolge 
einer angenehmen Erregung entstand ein reichlicherer Blutzu¬ 
fluß als bei der einfachen physischen Tätigkeit des Sprechens. 
Schließlich wies Mosso^) noch nach, daß die Änderungen des 
Blutkreislaufs im Gehirn einerseits, in den Händen und Füßen 
andererseits unabhängig voneinander sind. Während er selbst 
früher einen gewissen Antagonismus zwischen den Gefäßoerven 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


5 


des Kopfes und des übrigen Körpers angenommen hatte, mußte 
er jetzt schließen, daß die Blutgefäße des Gehirns wie die der 
Extremitäten ihre eigenen Bewegungen haben, die nach irgend¬ 
einem anderen Gesetze geregelt werden. 

In Deutschland suchte darauf Leumann^) durch einen 
Aufsatz „Die Seelentätigkeit in ihrem Verhältnis zum Blut¬ 
umlauf und Atmung** zu eingehenderer Behandlung dieses 
Themas anzuregen. Er behauptete, daß der Mensch in Puls 
und Atem angeborene innere Zeitmesser besitze, deren Wirk¬ 
samkeit sich durch die im Gehirn erfolgende Aufnahme, Wieder¬ 
gabe und Erzeugung von Intervallen verraten müsse. Außer¬ 
dem sei die Pulshöhe von maßgebendem Einfluß auf Rezep- 
tivität und Produktivität: zu besonnenen Ergründungen und 
zum bloßen künstlerischen Empfinden sei ein weit niedrigerer 
Puls erforderlich als zur zusammenfassenden Darstellung und 
zur schöpferischen Gestaltung. Leider stehen diese Thesen 
ohne jede Versuche da und haben sich auch bisher noch nicht 
bestätigen lassen. 

Weit intensiver wurde die Frage in Frankreich in Angriff ge¬ 
nommen. Hier war es hauptsächlich Bin et, der mit verschiedenen 
Mitarbeitern umfassende Untersuchungen über dieses Thema an¬ 
stellte. Zunächst stellten Bin et und Sollier^) fest, daß die 
Haltung des Kopfes einen gewissen Einfluß auf die Aufzeich¬ 
nung der Kurve ausübt, wie auch schon Mosso*) gefunden 
hatte: wenn der Kopf nämlich etwas geneigt ist, so steigt die 
Pulsationslinie, die Amplituden der Pulse werden größer und 
die respiratorischen Oszillationen deutlicher. Wenn man den 
Kapillarpuls des Gehirns mit dem der Hand vergleicht, so 
findet man folgende Unterschiede. Der Einfluß der Inspiration 
markiert sich deutlicher im Gehirnpuls als in dem der Hand. 
Bei einer tiefen Inspiration findet im Gehirn eine kurze De¬ 
pression mit kleinen Pulsationen statt, dann ein Schwanken 
mit sehr großen Pulsen und schließlich eine ziemlich lange 
Depression, während in der Hand sich das umgekehrte Bild 
zeigt. Auch die folgende Arbeit von Binet und Gonrtier^) 
sucht im wesentlichen den Einfluß der Atmung auf den Kapillar¬ 
puls klarzustellen. Hier wird auch der Erscheinung des Dikro- 
tismus ein besonderes Augenmerk zugewandt. Unter dem Ein- 



6 


W. Bethge, 


fluß der Atmung ändert sich die Form des Kapillai-pulses 
insofern, als die dikrotische Welle bei der Exspiration deut¬ 
licher wird und sich dem Gipfel der Pulsation nähert, während 
sie bei der Inspiration niedersinkt. Geistige Arbeit, in einem 
Rechenexempel und dem begleitenden Gefühl bestehend, wirkt 
auf die arterielle und kapillare Blutzirkulation, auf die Atmung 
und das Herz ein. Die Wirkung ist nicht gleich tief auf die 
einzelnen Funktionen, bei einzelnen Personen zeigt die Atmung 
größere Veränderungen, bei anderen das Herz oder das Yaso- 
motorensystem. Aber jede dieser Funktionen hat ihre eigene 
Art, sich zu ändern. In der Kapillarpulskurve finden wir eine 
Verringerung der Amplitude, die vielleicht durch eine Ver¬ 
engerung des Kapillarnetzes hervorgerufen wird, da der Druck 
in der zugehörigen Arterie steigt. Form und Volumen ändern 
sich gleichzeitig, am häufigsten tritt eine Verzögerung und 
Akzentuierung des Dikrotismus infolge der ßlutdrucksteigerung 
ein. Das Sinken des Niveaus der Kurve rührt jedenfalls von 
einer Kontraktion der Arterie her. Der Radialpuls zeigt deut¬ 
liche respiratorische Schwankungen und die Spannung in der 
Arterie wird stärker. Der Herzschlag wird gegen Ende der 
Aufgabe beschleunigt, und wahrscheinlich tritt dabei eine Her¬ 
absetzung der propulsiven Kraft ein. Die dritte Arbeit Bin et 
und Courtiers®) studiert die Wirkung der geistigen Arbeit 
auf den Kapillarpuls. Verfasser unterscheiden hier drei ver¬ 
schiedene Arten von geistiger Anstrengung. Die erste be¬ 
zeichnen sie als mäßige geistige Arbeit, sie besteht in einem 
viertelstündigen Lesen: danach zeigt sich nur eine mäßige Be¬ 
schleunigung des Pulses, die bald wieder vorübergeht und bis 
unter die Norm sinken kann. 2. Kurze intensive Arbeit, in 
der Multiplikation von Zahlen bestehend, zeigt teils Erschei¬ 
nungen der Erregung, teils die der Depression: bei ersterer 
tritt nach anfänglicher Erhebung der Kapillarpulskurve infolge 
Konzentration der Aufmerksamkeit eine reflektorische Gefä߬ 
verengerung, die mit einem Sinken der Kurve und Verkleine¬ 
rung der Pulsationen verbunden ist, ein. Diese Schwankungen 
erscheinen mehrmals wieder. Der Herzschlag wird anfangs 
verlangsamt, das Herz in seiner propulsiven Kraft aber ver¬ 
stärkt; hieran reiht sich meist eine Beschleunigung. Der 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Kbrper. 


7 


Dikrotismus des Pulses sucht anfänglich zu verschwinden, er 
tritt aber 15 Sekunden nach Beginn der Arbeit wieder auf 
und bleibt lange bestehen. Die Ursache liegt wahrscheinlich in 
einem Nachlassen des vaskulären Tonus oder des Blutdruckes. 
Die Form der Depression ist weniger charakterisiert, sie be¬ 
steht im wesentlichen in einer Verlangsamung des Herzschlages 
Gefäßerweiterung und Ansteigen der Kurve. 3. Mehrere 
Stunden dauernde geistige Arbeit führt zu einer Verlang¬ 
samung des Herzschlages und einer Verminderung der peri¬ 
pheren Blutzirkulation. 

Die beiden folgenden Arbeiten Bi net und Cour ti er s *)*'') 
stehen nur in indirektem Zusammenhang mit dem Thema, sie 
geben uns aber einen interessanten Aufschluß über die Ände¬ 
rungen der Form des Kapillarpulses zu den verschiedenen 
Tageszeiten und infolge von Gemütsbewegungen und lassen 
uns ihre etwaige Deutung erkennen. Kurz nach den Mahl¬ 
zeiten beobachteten die Verfasser nämlich eine Herzbeschleuni¬ 
gung, eine Vergrößerung der Amplitude und ein Absteigen 
der dikrotischen Welle nach der Basis der Pulskurve zu. Diese 
Erscheinungen gingen allmählich ins Gegenteil über. Dabei 
wiesen sie zugleich nach, daß die Form des Kapillarpulses 
von Herzschlag, Atmung und Temperatur unabhängig ist, und 
vielmehr durch das Gefühl des Wohlseins und der Kraft be¬ 
stimmt wird, die ein mäßiges Mahl begleiten. Ähnliche Ver¬ 
änderungen konnten sie nämlich bei einem einzelnen Indivi¬ 
duum beobachten; bei Überraschung, plötzlichem Reiz, willkür¬ 
licher Freude trat Akzentuierung des Pulsdikrotismus auf, 
während er bei Traurigkeit, intensiver geistiger Anstrengung 
und Muskelermüdung das Bestreben, zu verschwinden, zeigte. 
Die Verfasser schließen daraus, daß sich die Form des Kapillar¬ 
pulses mit der Qualität der Gefühle ändert, was einst eine 
Kl assifikation der Gefühle nach ihrer physiologischen Wirkung 
auf den Kapillarpuls erlauben dürfte. 

Endlich hätten wir noch die Änderungen des Blutdrucks 
unter dem Einfluß geistiger Arbeit zu betrachten. Die Ver¬ 
suche hierüber sind bisher gering, da er sich schwer unter dem 
schnellen Wechsel geistiger Vorgänge messen läßt. Doch 
Binet und Vaschide^^) haben auch seine Veränderungen 



8 


W. Bethge, 


unter geeigneter Anwendung des Sphygmomanometers von 
Mdsso mit graduell ansteigendem Druck zu messen gesucht. 
Sie sind dabei offenbar zu ganz guten Resultaten gelangt. Der 
Blutdruck beginnt bei ungefähr 20 mm Quecksilbergegendruck 
auf der Kurve durch flache Erhebungen sich zu zeigen, die 
allmählich an Größe zunehmen und bei ca. 80 mm ihr Optimum 
erreichen, um bei ca. 120 mm wieder zu verschwinden, weil 
hier die Quecksilbersäule das Übergewicht über den Blutdruck 
erhält. Bei geistiger Anstrengung kann aber der Blutdruck 
bis über 140 mm Quecksilber steigen, so daß ein Unterschied 
von ca. 20 mm zwischen Ruhe und geistiger Tätigkeit im Blut¬ 
druck besteht. Erhöhung des Blutdruckes und Beschleunigung 
des Herzschlages gehen meist nebeneinander her. Während 
die Form des Kapillarpulses die Qualität wiederzugeben scheint, 
scheint die Höhe des Blutdruckes mehr die Quantität der psycho¬ 
logischen Erscheinungen auszudrücken, da stark ermüdende oder 
aufregende Reize ihn nur um 10 bis 15 mm, intensive geistige 
Arbeit um 20, lebhafte Unterhaltung um 25 und heftige Er¬ 
regung um 30 mm Hg erhöhen. 

Fassen vdr die Resultate der Arbeiten Binets und seiner 
Mitarbeiter kurz zusammen, so können wir sagen: 1. Jede 
geistige Arbeit ist mit einer Beschleunigung des 
Herzschlages verbunden, die allerdings nicht so deutlich 
hervortritt wie bei der körperlichen Anstrengung. Der Be¬ 
schleunigung kann eine kurz dauernde Verlangsamung 
der Pulsschläge vorausgehen. Diese tritt auch jedes¬ 
mal bei längerer Arbeit infolge von Ermüdung ein. 
2. Bei Beginn einer geistigen Tätigkeit beobachten wir ein 
Sinken der Kapillarpulskurve, die gleichzeitig ein 
Kleinerwerden der Pulsationen zeigt. Beides rührt 
jedenfalls von einer Verengerung des Kapillarnetzes 
her. 3. Diese ruft wahrscheinlich auch den gesteigerten 
Blutdruck hervor. Die Bedeutung dieser Erscheinungen läßt 
sich bis jetzt noch nicht genau angeben, sondern nur vermuten; 
sie dienen wohl hauptsächlich dazu, das Gehirn während 
seiner Tätigkeit reichlicher mit Blut zu versorgen. 

Wenden wir uns nun den Untersuchungen des schwedi¬ 
schen Forschers Lehmann*®) zu, so zeigen diese eine recht 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


9 


eingehende Detaillierung der Bewußtseinszustände in ihren 
körperlichen Äußerungen. Ich glaube nicht, daß man selbst 
bei noch so sorgfältiger Versuchsanordnung heutzutage schon 
imstande ist, aus den Änderungen der plethysmographischen 
Kurve psychische Vorgänge abzulesen. Da sich seine Unter¬ 
suchungen hauptsächlich auf die Gefühle erstrecken, so will 
ich nür einige für uns wichtige Tatsachen erwähnen. Was 
wir schon bei Bin et gefunden haben, so wird auch von ihm 
besonders hervorgehoben, daß das jähe Sinken der Volumkurve 
des Armes durch Gedanken, durch psychische Tätigkeit ohne 
hervortretende Gefühlsbetonung verursacht wird. Er hat ferner 
gezeigt, daß der Körper sich während des Wachseins in einem 
beständigen Spannungszustand befindet, der nur vorübergehend 
durch absolute Ruhe abgelöst werden kann. Die Aufmerksam¬ 
keit hat zwei verschiedene Ausdrucksformen, je nachdem sie 
willkürlich, z. B. beim Denken, oder unwillkürlich durch einen 
äußeren plötzlichen Reiz hervorgerufen wird: das Volumen 
zeigt eine geringe Neigung zum Steigen, darauf folgen vier 
bis acht langsame Pulse, während welcher das Volumen sinkt, 
um schließlich wieder zu steigen und zur Norm zurückzu¬ 
kehren. Der Unterschied zwischen beiden Formen zeigt sich 
nur darin, daß der Puls bei willkürlicher Aufmerksamkeit im 
allgemeinen verkürzt ist, während die unwillkürliche durch 
eine Pulsverlängerung charakterisiert wird. Je mehr ein psychi¬ 
scher Zustand die Aufmerksamkeit zu fesseln und im Bewußt¬ 
sein sich Geltung zu verschaffen vermag, um so deutlicher 
treten auch seine körperlichen Äußerungen hervor. Über¬ 
haupt muß ein Reiz erst bis zum Bewußtsein durchdringen, 
ehe er organische, Reaktionen auslösen kann; denn in der 
Stickstoffoiydul-Narkose z. B. treten diese nicht ein. Im allgemeinen 
ist das Gefühl der Unlust mit Volumensenkung, Puls¬ 
verkürzung und Gefäßverengerung verbunden, während 
Lust sich durch Volumensteigerung, Puls Verlänge¬ 
rung und Gefäßerweiterung kundgibt. 

Die bisherigen Untersuchungen haben meistens am Arm 
und seinen Gefößen stattgefunden. Bonser^®) und Gley^*) 
haben gleichzeitig die Pulsveränderungen an den Karotiden 
mit beobachtet: an der Peripherie finden sie im wesentlichen 



10 


W. Bethge, 


dieselben Erscheinungen wie Bi net: Verminderung der Puls 
amplitude, Erhöhung des Blutdruckes und Beschleunigung des 
Herzschlages. Gley konnte nun außerdem am Karotidenpuls 
eine Zunahme der Amplitude und ein deutliches Hervortreten 
des Dikrotismus nachweisen, während Bons er daselbst eine 
Verminderung der dikrotischen Welle unter dem Einfluß gei¬ 
stiger Arbeit sah. Wir können auf diesen Unterschied wenig 
Wert legen, da er ja nach Bi net nicht für die geistige Tätig¬ 
keit, sondern nur für die Qualität des begleitenden Gefühls 
charakteristisch ist. Da der Radialpuls die umgekehrten Er¬ 
scheinungen zeigte, so scheint doch ein gewisser Antagonismus 
zwischen der Zirkulation des Blutes im Gehirn bei geistiger 
Tätigkeit und der des übrigen Körpers zu bestehen, nur daß 
er nicht passiver, sondern aktiver Natur ist. 

Endlich haben wir noch eine Arbeit von Martins^®) zu 
erwähnen, der die Untersuchungsergebnisse Lehmanns als 
nicht ganz einwandfrei hinstellt. Die Niveauschwankungen 
der Pulskurve ließen sich ebensogut unter der Annahme mit¬ 
wirkender Bewegungsvorgänge erklären, indem Freude unbe¬ 
wußt durch kleine unwillkürliche Muskelzuckungen ein Aus¬ 
dehnen oder Vorwärtsbewegen der Hand und d 
Steigerung herbeiführe, während das Zurückziehen der Hand 
beim Gefühl der Unlust eine Volumsenkung veranlasse. Ich 
möchte aber darauf hinweisen, daß auch bei geistiger Arbeit 
ohne Gefühlsbetonung ein Sinken der Volumkurve eintritt, so 
daß dieses nicht auf Versuchsfehler zurückgeführt werden kann. 
Dagegen konnte auch Martius das Eintreten der Pulsver¬ 
kürzung bei willkürlicher Aufmerksamkeit bestätigen, im Gegen¬ 
satz zu Meumann und Zoneff^®) und M, Kelchner*^), die 
dabei eine Puls Verlängerung sahen. 

Die bisherigen Untersucher hatten, wenn sie auch z. T. 
übereinstimmende Tatsachen feststellten, doch noch zu sehr 
mit der Methodik und der Deutung der einzelnen Kurven zu 
kämpfen, als daß sie sich mit der Begründung ihrer Ergebnisse 
und der Zusammenfassung unter einen einheitlichen Gesichts¬ 
punkt beschäftigen konnten. Erst neuere Forschungen haben 
hier einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Tatsachen 
entdecken können. Zunächst befaßte sich allerdings Berger^*) 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


11 


noch eingehend mit der Frage nach der Blutzirkulation in der 
Schädelhöhle: die Aufzeichnung der plethysmographischen Kurve 
des Gehirns allein genügt nicht, um darüber eindeutigen Auf¬ 
schluß zu geben, da eine Zunahme sowohl durch stärkereu 
arteriellen Zufluß als durch eine venöse Stauung bedingt sein 
kann. Zweckmäßig ist es daher, gleichzeitig eine Bestimmung 
des Blutdruckes oder der Stromgeschwindigkeit des Blutes in 
den Gehimgefäßen vorzunehmen, was aber nur bei Tieren 
möglich ist. Bei Menschen muß man sich mit einer gleich¬ 
zeitigen Registrierung einer Volumkurve peripherer Organe 
begnügen und zieht dann bei Beurteilung der Volumänderung 
des Gehirns diese Kurven in Betracht. An der Volumkurve 
des Gehirns unterscheidet man die pulsatorischen, die respira¬ 
torischen und die vasomotorischen Bewegungen. Für alle 
diese konnte Berger*®) durch zahlreiche Versuche an einer 
dazu geeigneten Person charakteristische Veränderungen in¬ 
folge geistiger Tätigkeit und psychischer Reize beobachten, die 
im wesentlichen mit den bisherigen Befunden sich decken. Im 
speziellen konnte er nachweisen, daß die sogen. Hering- 
Traubeschen Wellen offenbar mit der Aufmerksamkeits¬ 
schwankung im Zusammenhang stehen. Daß die Deutung 
seiner plethysmographischen Gehirnkurven eine richtige war, 
konnte Berger*®) durch spätere Untersuchungen auch an 
anderen Personen bestätigen, bei denen er die bereits von 
Lehmann*®) angewandte Methode der Berechnung der Puls¬ 
verspätung berücksichtigte. Die Pulswelle pflanzt sich mit 
einer bestimmbaren Geschwindigkeit im Gefäßsystem fort. Mit 
Hilfe der sphygmographischen und plethysmographischen Kurve 
kann man leicht eine Pulsverspätung in den peripher gelegenen 
Abschnitten gegenüber den zentralen feststellen. Eine Ände¬ 
rung der Pulsverspätung kann bedingt sein einmal durch eine 
Änderung des allgemeinen Blutdruckes, und zwar so, daß bei 
steigendem Blutdruck die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des 
Blutes größer, die Pulsverspätung geringer wird. Andererseits 
ist die Pulsverspätung abhängig von dem Gefäßtonus, indem 
mit Zunahme der Spannung der Gefäßwand eine Zunahme 
der Fortpflanzungsgeschwindigkeit stattfindet. Beide Möglich¬ 
keiten lassen sich durch gleichzeitige Feststellung des Blut- 



12 


W. Betbge, 


druckes oder der Pulsverspätung in anderen Gefäßgebieten ent¬ 
scheiden. Wird eine gleiche Änderung der Pulsverspätung, 
z B. in den Gehirn- und Armgefäßen beobachtet, so muß man 
eine gemeinsame Ursache dafür, d. h. eine allgemeine Blut¬ 
druckänderung annehmen. Nimmt aber z. B. bei geistiger 
Arbeit die Pulsverspätung an den Gehirngefäßen zu, während 
sie an den Armgefäßen gleichbleibt oder geringer wird, so 
weist dies auf eine lokale Gefäßänderung, und zwar auf eine 
Erweiterung der Hirngefäße hin, wie dies auch aus dem 
Steigen der plethysmographischen Gehimkurve und der Zu¬ 
nahme der Pulsationshöhe an den Pialgefäßen hervorgeht. Auf 
diese Weise kann man häufig noch feine Unterschiede in der 
Änderung einzelner Gefäßgebiete wahrnehmen, die einem durch 
die bloße Betrachtung der Kurven vielleicht entgehen würden 
Es fragt sich nun, wodurch diese Blutverschiebung zu¬ 
stande kommt; denn daß tatsächlich eine solche vorhanden 
sein muß, geht schon aus der Betrachtung zweier plethysmo¬ 
graphischer Kurven, z. B. der des Arms und der des Gehirns 
hervor. Bei geistiger Arbeit sinkt nämlich das Volumen des 
Arms, während das Gehirn an Volumen zunimmt. Diese plötz¬ 
liche Änderung kann nur durch eine veränderte Blutfülle der 
Organe verursacht sein, wie man dies an dem Weiterwerden 
der Pialgefäße direkt sehen kann. Auch hatte Mosso schon 
mit seiner Menschen wage festgestellt, daß bei geistiger Tätig¬ 
keit die Seite, auf der der Kopf lag, an Gewicht zunahm, und 
er führte dies auf einen vermehrten Blutzufluß zum Gehirn 
zurück. W e b e r zeigte nun aber, daß nicht allein das Ge¬ 
hirn, sondern auch die Banchorgane mit Blut überfüllt werden, 
während das Blut aus den peripheren Organen entfernt wird. 
Ein Gummisack von 8 cm Durchmesser und 15 cm Länge 
wurde in das Rektum eingeführt und mit wenig Luft aufge¬ 
blasen. Wird dieser „innere Plethysmograph“ mit einem 
Schreibhebel in Verbindung gebracht, so erhält man auf der 
Kymographiontrommel eine Kurve von dem wechselnden Druck 
in der Bauchhöhle, wie er namentlich durch die Atembe¬ 
wegungen hervorgerufen wird. Aber auch reflektorische Ein¬ 
flüsse auf den Sphinkter ani, die Blase und die Darmperistaltik 
werden sich auf dieser Kurve geltend machen. Durch vor- 



Der Einäüß geistiger Arbeit auf deu Körper. 13 ^ 

übergehende Lähmung des Darms lassen sich wohl einige 
dieser Bewegungen ausschalten, doch ganz eindeutig werden 
die Resultate auch so nicht, und so muß man ihnen gegen¬ 
über noch etwas Reserve bewahren. Durch gleichzeitige Auf¬ 
nahme einer pneumographi sehen Kurve des Bauches glaubte 
aber Weber unter Vergleichen beider Kurven einen Schluß 
ziehen zu dürfen auf die wechselnde Blutfülle der Bauch¬ 
organe. Er hat nun festgestellt, wie schon oben erwähnt, daß 
mit Abnahme der Blutmenge in den peripheren Organen meist 
eine Zunahme der Blutmenge in den inneren Organen ver¬ 
bunden ist. Und zwar führt er diese Blutverschiebung auf 
eine aktive Erweiterung der Gefäße im Splanchnikusgebiet zu¬ 
rück, während eine gleichzeitige aktive Verengerung der peri¬ 
pheren Gefäße noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen ist. 

Wie bereits früher hervorgehoben ist, so konnte man nie 
ein vollkommen gleich entgegengesetztes Verhalten der Gehirn- 
und peripheren Gefäße beobachten, und so sah sich schon 
Mosso^) gezwungen, für jedes der beiden Gefäßgebiete ein 
gesondertes Vasomotorenzentrum anzunehmen. Jetzt ist ee 
Weber®*) durch Tierversuche gelangen, mit Sicherheit ein 
eigenes Zentrum für die Gehirngefäße nachzuweisen, das zen- 
tralwärts von dem Vasomotorenzentrum in der Medulla oblon- 
gata gelegen ist. Die Lage dieses Keflexzentrums, das auch 
die gleichzeitige Gefäßinnervation der beiden Gehirnhemisphären 
vermittelt, ist bis jetzt noch nicht bekannt, doch vermutet 
V. Monacow dafür das zentrale Höhlengrau und den Thalamus 
opticus. Auf diese Weise wird die Selbständigkeit der Reaktion 
der Gehirngefäße auf psychische Reize durchaus verständlich;; 
wir haben uns jetzt nur noch nach der Zweckmäßigkeit dieser 
Blutverschiebung zu fragen. 

Bisher glaubte man, daß das Gehirn mit der reichlicheren 
Blutdurchströmung bei geistiger Tätigkeit unter günstigere 
Arbeitsbedingungen gestellt werde, wie dies z. B. beim Muskel 
der Fall ist. Doch hat sich heraüsgestellt, daß bei bestimmten 
psychischen Zuständen die Blutverteilung eine verschiedene ist. 
Bei lebhaften Bewegungsvorstellungen findet sich eine Zu¬ 
nahme der Blutmenge im Gehirn und in den äußeren Körper- 



14 


W. Bethge, 


teilen, während bei geistiger Tätigkeit das Gehirn und die 
Bauchorgane die größere Blutftille aufweisen. Lustgefühl ist 
mit einer reichlicheren Blutversorgung der gesamten Körper¬ 
oberfläche, der Extremitäten und des Gehirns verbunden, wäh¬ 
rend die Bauchorgane weniger mit Blut gefüllt sind. Gerade 
das Gegenteil tritt beim Unlustgefühl ein. Nun hat Ve rworn, 
wie wir später noch sehen werden, nachgewiesen, daß durch 
vermehrte Sauerstoffaufnahme, wie sie bei Erweiterung der 
Hirngefäße stattfindet, die Reizbarkeit der Biogenmoleküle ge¬ 
steigert wird, indem die Zersetzungsmöglichkeit eine größere 
ist. Umgekehrt tritt bei Kontraktion der Gefäße eine geringere 
Sauerstoffzufuhr ein, wodurch das Biogenmolekül vor weiterem 
Zerfall geschützt wird. Findet diese Kontraktion in den Haut¬ 
gefäßen statt, so wird eine gewisse Anästhesie oder wenigstens 
Reizmilderung herbeigeführt. Dieser Zustand ist für die gei¬ 
stige Tätigkeit insofern sehr günstig, als eine Herabsetzung 
der Empfänglichkeit für äußere Sinnesreize die Konzentration 
der Aufmerksamkeit sehr erleichtert; andererseits ermöglicht 
die größere Reizbarkeit der Gehirnzellen ein schnelleres Arbeiten. 
Ja es ist sogar behauptet worden, daß die Verengerung der 
äußeren Gefäße des Körpers der Intensität der Himtätigkeit 
nahezu entspricht [vergl. H. Frankfurter und A. Hirsch¬ 
feld t*^)]. Wir haben aber gesehen, daß sehr bald eine Kon¬ 
traktion der Gehimgefäße -infolge längerer geistiger Arbeit und 
schließlich eine vollständige Umkehr der obigen Gesetze für 
•die Blutverschiebung eintritt. Aber auch dies ist gerade eine 
zweckmäßige Einrichtung, indem im Zustande der Ermüdung 
(ähnlich auch bei Hysterie, Neurasthenie und anderen patho¬ 
logischen Zuständen) weniger Sauerstoff der Nervensubstanz 
zugeführt und damit das Biogenmolekül vor weiterer Zer¬ 
setzung bewahrt wird. Man stellt sich diese Umkehr der 
Vasomotoreninnervation nach körperlicher oder geistiger Er¬ 
müdung so vor, daß infolge der stundenlang gesteigerten Auf¬ 
merksamkeit das Zentrum, das die Impulse für die äußeren 
Gefäße in konstriktorischem Sinne weiterleitet, mehr oder 
weniger in Tätigkeit gehalten, und damit seine Aufnahme¬ 
fähigkeit für Impulse derselben Art herabgesetzt wird, so daß 
•das dilatatorisch wirkende Zentrum das Übergewicht erhält. 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


15 


Die weitere Beobachtung dieser Vorgänge wird uns schlie߬ 
lich immer mehr Einblick gewähren in das so komplizierte 
Reaktionsvermögen der Geiäße und des Herzens. 

Neben der konstanten Beschleunigung der Herzpulsation 
usw. infolge psychischer Tätigkeit findet sich regelmäßig eine 
Beschleunigung der Atmung. Binet und Courtier'^) konnten 
feststellen, daß die Anzahl der Atemzüge in der Minute um 
ein Drittel der normalen Zahl zunimmt, also bis auf 20 und 
mehr steigen kann. Dabei ändert sich die Ausdehnung des 
Brustkorbes: sie wird geringer und damit die Atmung ober¬ 
flächlicher. Indessen scheint diese Atmung durch eine stärkere 
Zwerchfelltätigkeit eine gewisse Kompensation zu erfahren, 
worauf besonders Mos so*) hingewiesen hat. Diese Beobach¬ 
tung konnten Zoneff und Meumann*®) als richtig nach- 
weisen, und sie zeigten zugleich, daß sinnliche Aufmerksam¬ 
keit von einer stärkeren Hemmung der Atmung begleitet ist 
als willkürliche. Im Gegensatz hierzu steht die beschleunigte 
Atmung bei Gemütsbewegung, bei der die einzelnen Atem¬ 
züge durch ausgiebige Bewegung des Brustkorbes tiefer werden. 
— Trotz der Oberflächlichkeit findet sich eine große Regel¬ 
mäßigkeit in den Atemzügen, die erst im Zustand der Ermü¬ 
dung unregelmäßig, d. h. abwechselnd langsamer und schneller 
werden, um schließlich in dauernde Verlangsamung überzu¬ 
gehen. Hier scheint sich nach Obigi**) die Atmung auch 
wieder zu vertiefen. Schließlich beobachtet man in der Form 
der Atmung noch eine Veränderung, indem nämlich die Atem¬ 
pause unter dem Einfluß geistiger Arbeit fortfällt. Der Über¬ 
gang von der Ruhe zur Arbeit vollzieht sich in ungefähr fünf 
Atemzügen. Inwiefern wiederum die Atmung psychische Zu¬ 
stände beeinflußt, darauf hatte schon Landmann^®) hinge¬ 
wiesen. Er machte z. B. die Beobachtung, daß die Schmerzen 
bei Neuralgien auf der Akme tiefster Inspiration nachließen. 
Und wer kennt nicht die seelische Erleichterung, die ein tiefer 
Seufzer bei verhaltenem Schmerz oder Kummer bereitet? 
Landmann erklärt diese Wirkung durch „Veränderungen, 
welche von der Lunge durch den höchsten Grad des passiven 
Druckes an der Ausdehnung des Herzens und der großen Ge- 
himblutgefäße hervorgebracht werden und sekundär mit der 



16 


W. Bethge, 

Verminderung des Blutzuflusses zu den Gehirnzentren eine 
Schwankung in der Empfindung bedingen.“ 

Die Beziehungen der geistigen Tätigkeit zum Stoffwechsel 
sind sehr schwierig festzustellen. Lavoisier und Seguin**) 
nehmen an, daß jeder geistigen Tätigkeit dieselben stofflichen 
Veränderungen zugrunde liegen wie der körperlichen, also 
Oxydationsprozesse wären: derselbe chemische Prozeß, der 
unter Umständen Wärme hervorbringe, liefere in dem tätigen 
Gehirn geistige Arbeit. Wenn wirklich Oxydations Vorgänge 
stattfinden, dann müßte sich eine Temperaturerhöhung im Ge¬ 
hirn viel leichter nachweisen lassen, als es wirklich der Fall 
ist. Zwar tritt, ähnlich wie bei der Muskeltätigkeit, vermehrter 
Zufluß des Blutes, Beschleunigung des Herzschlages und der 
Atmung bei der Tätigkeit des Gehirns ein, aber die Stofif- 
wechseländerungen wie dort, nämlich erhöhter Sauerstoffver¬ 
brauch und gesteigerte Kohlensäureausscheidung, lassen sich 
nie so deutlich, wenn überhaupt erkennen. Allerdings fand 
Hammond^O? geistige Tätigkeit die Harnmenge, die 
Menge des ausgeschiedenen Harnstoffs, des Kochsalzes, der 
Phosphor- und Schwefelsäure vermehre und daß Tee und 
Kaffee, indem sie das Nervensystem aufregten, zu gleicher 
Zeit die Stoffwechselmetamorphose der Gewebe beträchtlich 
verzögere und die Ausscheidungen verringere. In neuerer Zeit 
hat man darauf hingewiesen, daß verschiedene Geisteskrank¬ 
heiten mit Stoffwechselanomalien verbunden sind. So beob¬ 
achtete man namentlich bei der Epilepsie Vermehrung der 
Harnsäure-, Phosphorsäure- und Ammoniakausscheidung. Auch 
Mainzer*®) fand die Stickstoffausscheidung unter dem Ein¬ 
fluß geistiger Arbeit vermehrt, während die Phosphorsäureaus¬ 
scheidung verringert wurde. Wir dürfen aber annehmen, daß 
alles dies nicht bedingt ist durch eine Stoffwechseländerung 
im Gehirn selbst, sondern die Tätigkeit des Gehirns sich 
mittelbar auf den Stoffwechsel geltend macht. Selbst Voit, 
dessen Stoffwechselversuche berühmt geworden sind, konnte 
eine Vermehrung der Ausscheidung von Stoffwechselprodukten 
bei geistiger Tätigkeit nicht finden. Indessen scheint ein be¬ 
stimmtes Quantum von Sauerstoff zur Unterhaltung geistiger 
Tätigkeit und des Bewußtseins überhaupt nötig zu sein; denn 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


17 


wie leicht schwindet das Bewußtsein unter Sauerstoffmangel. 
Auch bei Seetieren hat Baglioni^ß) die Beobachtung gemacht, 
daß das Zentralnervensystem ein spezifisch größeres Sauerstoff¬ 
bedürfnis hat als die übrigen Körpergewebe und Organe. Dem¬ 
entsprechend sind bei allen diesen Tieren Mechanismen vor¬ 
handen, welche das Zentralnervensystem immer reichlich mit 
Sauerstoff versorgen. Fast überall fand er eine dem Blut¬ 
farbstoff ähnliche Substanz, die den „Sauerstoffüberträger“ 
bildet. Wir können vielleicht den Kopfschmerz und die an¬ 
dauernde Mattigkeit, die wir als konstante Symptome der 
Chlorose finden, auf diesen durch mangelnden Blutfarbstoff be¬ 
dingten Sauerstoffmangel des Körpers zurückführen. Immerhin 
ist noch nicht bewiesen, daß Gehirntätigkeit eine größere 
Sauerstoffzufuhr erfordere als in der Ruhe; das Nachlassen 
seiner Funktionen kann viel mehr durch Kohlensäureanhäufung 
als durch Mangel an Sauerstoff bedingt sein. Auch aus dem 
Atemtypus, der zwar eine Beschleunigung, aber geringere Tiefe 
aufweist, läßt sich nicht auf einen Mehrbedarf an Sauerstoff 
bei geistiger Tätigkeit schließen. Speck**) kommt daher zu 
dem Endresultat, daß die geistige Tätigkeit direkt auf den all¬ 
gemeinen Stoffwechsel keinen Einfluß ausübt. Die moleku¬ 
laren Vorgänge im Gehirn sind entweder gar keine Oxydations¬ 
prozesse oder so gering, daß sie unseren (Jntersuchungsmethoden 
nicht zugänglich sind. Wie gering der Stoffwechsel im Gehirn 
nur sein kann, zeigt sich ferner auch darin, daß bei der Ina- 
nition ein Schwund und sehr starker Zerfall der übrigen 
Körperorgane sehr bald eintritt, während Gehirn und Herz fast 
unversehrt bleiben. 

Die Frage der Wärmeentwicklung im Gehirn haben wir 
vorhin schon kurz gestreift; hier möchte ich nur noch auf 
einige Tatsachen eingehen, die Mosso*) festgestellt hat. Die 
Temperatur des Gehirns ist meist etwas höher als die der 
Aorta. Unter dem Einfluß der Asphyxie oder elektrischer 
Ströme findet eine autonome lokale Temperaturerhöhung im 
Gehirn statt. Erklärung findet diese Erscheinung durch die 
Annahme, daß im Gehirn ein Vorrat von chemischer Energie 
vorhanden ist, der mehr oder weniger rasch zur Entwicklung 
von Wärme verbraucht wird. Dieser Verbrauch erfolgt aber 

2 



18 


W. Bethge, 


nicht immer im Verhältnis zur psychischen oder motorischen 
Funktion des Gehirns. Wir müssen deshalb zwei Prozesse 
unterscheiden, einen nutritiven oder trophischen und einen 
funktionellen. Auch zu dem trophischen Vorgang steht die 
Wärmebildung nicht immer in einem bestimmten Verhältnis; 
sondern die wärmeerzeugenden Substanzen werden ohne Nutzen 
für psychische Vorgänge des Gehirns verbraucht, wenn dessen 
Lebens Verrichtungen in irgendeiner Weise gestört werden. 
„Diese organischen Konflagrationen bilden den thermischen 
Ausdruck der metabolischen Erscheinungen, welche in den 
Organen unabhängig von ihren spezifischen Funktionen er¬ 
folgen und für den Muskel bereits von Ungelino Mosso nach¬ 
gewiesen waren. Die thermischen Ei scheinungen manifestieren 
sich im Gehirn mit viel größerer Intensität als in anderen 
Organen und erfolgen leichter, wenn die Reizbarkeit des Ge¬ 
hirns erhöht ist.“ Die Temperaturerhöhung steht auch nicht 
im Zusammenhang mit dem vermehrten Blutzufluß bei gei¬ 
stiger Tätigkeit. Während des Schlafes erfolgt zwar eine Ab¬ 
nahme der Temperatur im Gehirn und Rektum, unbewußte 
Prozesse, namentlich äußere Reize, lassen aber sehr deutliche, 
plötzliche Temperatursteigerungen erkennen, die auf organische 
Konflagrationen zurückzuführen sind. Die Wiederkehr des 
Bewußtseins ist nicht von Wärmeentwicklung begleitet, und 
bei voller Tätigkeit des Gehirns finden nur minimale Tempe¬ 
raturschwankungen statt. Pidaucet*^) versuchte mit dem 
Arsonvalschen Windkalorimeter etwaige Wärmebildung im 
Kopfe zu messen. Aber auch er konnte keine Temperatur¬ 
steigerung bei geistiger Tätigkeit unter Ausschluß der Fehler¬ 
quellen finden. 

Neuere Untersuchungen über die Temperatur des Gehirns 
stammen von Berger*®), der sehr genau beobachtete und jede 
Fehlerquelle nach Möglichkeit auszuschalten suchte. Seine 
Experimente erstrecken sich auf acht Beobachtungen am Schim¬ 
pansen und sieben an Menschen. Die Reaktionen der Gehim- 
temperatur auf psychische Reize erfolgen beim Tiere schneller 
und intensiver als bei den menschlichen Versuchspersonen, 
sind aber sonst mit den an Menschen gefundenen Resultaten 
sehr gut in Einklang zu bringen. Bei kurzer psychischer In- 




Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 19 

anspnichnahine wird zwar die Gehirntemperatur wenigstens 
bei der zunächst angewandten Messungsmethode mit Queck¬ 
silberthermometern kaum in nachweisbarer Weise beeinflußt, 
doch macht sich bei längerer geistiger Arbeit eine Temperatur¬ 
erhöhung von durchschnittlich 0,01 bis 0,02® C in der Minute 
geltend. Berger stellt nun hierüber sehr schöne energetische 
Betrachtungen an, zu deren Ausführung natürlich einige Hypo¬ 
thesen herangezogen werden mußten. Interessant sind viel¬ 
leicht einige Zahlen, die er herausrechnet und die uns die 
Kleinheit der bei der geistigen Arbeit geleisteten mechanischen 
Umsetzung illustrieren. So repräsentieren die Rindenvorgänge 
bei einer achtstündigen intellektuellen Arbeit mit einmaliger 
Unterbrechung einen Energieumsatz von 3997 mkg. Die Herz¬ 
arbeit in acht Stunden erfordert 8000 mkg. Ein kräftiger 
Arbeiter leistet in acht Arbeitsstunden 201600 mkg. 

Die letzten Untersuchungen lassen uns nach den Vor¬ 
gängen in den Nervenzellen selbst fragen; zum größten Teil 
sind wir hier auf Hypothesen angewiesen, die aber durch 
Beobachtung bekannter Vorgänge in ihnen ähnlichen Zellen 
sehr an Wahrscheinlichkeit und Tatsächlichkeit gewinnen. Eine 
Tatsache steht wohl fest, daß die Ganglienzellen im Gehirn 
durch funktionelle Inanspruchnahme eine Differenzierung ihrer 
Struktur und einen feineren Ausbau ihrer Dendriten erhalten. 
Man hat dies an jungen Kaninchen beobachten können, bei 
denen man gleich nach der Geburt die Augen verband, so daß 
sie nichts sehen konnten. Der Unterschied in Form und Ge¬ 
stalt der Ganglienzellen im Sehzentrum zu den Zellen, die 
man aus dem Sehzentrum von Hunden desselben Wurfs er¬ 
halten hatte, welche man in normalem Zustande gelassen hatte, 
war schon nach wenigen Tagen in obenbezeichnetem Sinne 
sehr deutlich. Während sich also hier die Fähigkeit, zu sehen, 
erst einige Tage bis zu einer Woche mit der vollständigen 
Entwicklung der Ganglienzelle ausbildet, so ist das eben aus 
dem Ei gekrochene Hühnchen dagegen sofort imstande, ein 
vor ihm liegendes Korn zu erblicken und aufzupicken. Beim 
Menschen dauert dieser Prozeß des Blickenlernens noch viel 
länger als beim Hund. Preyer*®) hat nachgewiesen, daß das 
Kind erst im dritten Monat nach der Geburt einen Gegenstand 

2 * 



20 


W. Betbge, 


mit den Augen fixieren kann, während es natürlich schon vor¬ 
her auf Lichtunterschiede reagiert. Erst sehr viel später wird 
es in den Stand gesetzt, die Entfernung gesehener Gegen¬ 
stände richtig abzuschätzen, was ihm meist erst durch die 
Ausbildung anderer Sinnesfähigkeiten gelingt. Wir müssen 
auch hier annehmen, daß dem allmählichen Lernen eine Diffe¬ 
renzierung der entsprechenden Ganglienzellen entspricht. Das 
Kind scheint in dieser Beziehung im Nachteil zum Tier zu 
sein; aber während dem Tiere eine weitere Ausbildung seiner 
Sinnesorgane offenbar durch die schnelle Nutzbarmachung 
seiner ganzen potentiellen Fähigkeiten genommen wird, wird 
dem Menschen die Möglichkeit gebot'en, seine verborgenen 
Anlagen durch allmähliche Übung und Veränderungen der 
Bedingungen in unendlicher Verschiedenheit zu entfalten und 
auszugestalten. 

Das Gedächtnis besteht nach Yerworn in nichts anderem 
als in einer solchen Aktivitätshypertrophie der Ganglienzelle, 
die auf einen Reiz hin einen kräftigen Impuls erfährt, der 
sich dann in solcher Stärke durch das Nervensystem fortpflanzt. 
Jeder Reiz bringt in der Ganglienzelle eine dissimilatorische 
Erregung hervor, d. h. er stört das Stoffwechselgleichgewicht, 
das in der Ruhe herrscht und in Assimilation und Dissimilation 
von Stoffen besteht. Nur die dissimilatorische Erregung wird 
durch den Nerven foxtgepflanzt, keine Lähmung, Hemmung 
oder Ermüdung. Ist der Reiz vorüber, so stellt sich sofort 
wieder Stoffwechselgleichgewicht her. Wie wir bereits ge¬ 
sehen haben, ist das Lebensgetriebe der Ganglienzelle mit 
einer geradezu sklavischen Abhängigkeit vom Sauerstoff ver¬ 
bunden. Spritzt man Fröschen ein sauerstofffreies Serum in 
ihre Gefäße, so tritt Arbeitslähmung ein. Diese kann zweierlei 
Ursachen haben: entweder können sich eine Anzahl von Zer¬ 
setzungsstoffen angesammelt haben, die eine Lähmung der 
Zellfunktionen herbeiführen; man spricht dann von Ermüdung; 
oder aber der Sauerstoffvorrat der Ganglienzelle ist soweit 
herabgesetzt, daß eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr möglich ist: 
dies der Zustand der Erschöpfung. 

Die Hemmungsvorgänge beruhen nach Verworn®®) auf 
der Entwicklung eines relativen Refraktärzustandes der Gan- 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


21 


glienzelle durch Interferenz von Reizwirkungen. Die Ganglien¬ 
zelle ist nicht dauernd erregbar, nur ungefähr 18 Willens¬ 
impulse können aus ihr während einer Sekunde hervorgehen. 
Das Stadium der Unerregbarkeit heißt 'Refraktärstadium. Es 
werden nun z. B. zu einer Gruppe von Ganglienzellen, in der 
durch einen Reiz eine dissimilatorische Erregung unterhalten 
wird, von einer anderen Gruppe von Ganglienzellen, die mit 
ihr in leitender Verbindung steht, Reizimpulse entsandt, welche 
in den betroffenen Ganglienzellen so interferieren, daß die 
durch den anfänglichen Reiz unterhaltene Erregung einer Läh¬ 
mung weicht. 

• Die Hemmungserscheinungen können aber auch noch 
anders gedeutet werden. So hat Cyon®^) in seinem „Ohr¬ 
labyrinth“ sehr interessante Angaben darüber gemacht. Nach 
ihm ist das Ohrlabyrinth nicht nur das Sinnesorgan für die 
Richtungs- und Zeitempfindungen, sondern der ßogengang- 
apparat ist auch der Regulator für die Intensität und Dauer 
von Innervationen. Durch fortwährende Reize, die die End¬ 
organe sämtlicher Sinnesgebiete unbewußt erfahren, entsteht 
im Zentralnervensystem eine Aufspeicherung von Energien, 
deren Sammelstellen er Energinome nennt; die peripheren 
Organe heißen energigen, während die Hirn-, Rückenmarks¬ 
und Nervenfasern als energidrome Bahnen bezeichnet werden. 
Der Bogengangapparat wird dementsprechend Energimeter ge¬ 
nannt. Sämtliche Muskeln weisen einen Spannungszustand, 
Reflextonus auf, der verschwindet, wenn die hinteren Wurzeln 
des Rückenmarks durchschnitten werden. Die Muskeln fühlen 
sich dann weich und schlaff an. Cyon meint nun, daß die 
sensiblen Nerven durch die dauernden Reize, die sie erhalten, 
eine ständige Erregung auch in den motorischen Gebieten 
unterhalten, die den Spannungszustand in den Muskeln her- 
stellen. Ein geringer Reiz genügt daher, um eine kräftige 
Wirkung auszulösen. Wir müssen uns ferner vergegenwärtigen, 
daß bei einer Beugung des Armes nicht allein die Kontrak¬ 
tion des Muse, biceps nötig ist, sondern auch eine Entspan¬ 
nung seiner Antagonisten, so daß sie sich gegenseitig das 
Gleichgewicht halten. Diese feine Abstufung der Innervations¬ 
stärken, wie sie bei feinen Handarbeiten in noch viel höherem 



22 


W. Betbge, 


Grade erforderlich ist, soll die Aufgabe des Bogengangapparates 
sein, indem er sozusagen das Abfließeu der angesammeltem 
Reizkräfte auf die motorischen Bahnen reguliert und genau 
abmißt. Die Reizkräfte können auch zu geistiger Tätigkeit 
verwandt werden. Nicht allzu selten sehen wir denn nach 
geistiger Anstrengung eine motorische Schwäche eintreten, die 
nach obiger Hypothese sehr leicht durch den Mangel an Reiz¬ 
kräften zu erklären wäre. Sehr viele Erscheinungen lassen 
sich auf diese Art der Erklärung zurückführen, nicht zum 
wenigsten die Ermüdung und der Schlaf. 

Auch für die Blutzirkulation im Gehirn, die für die gei¬ 
stige Beschäftigung so wichtig ist, hat Cyon eine eigenartige 
Erklärung. Auf Grund seiner physiologischen Untersuchungen 
sieht er in der Hypophyse einen „Autoregulator des intra¬ 
kraniellen Blutdruckes; sie wacht über die Sicherheit des Ge¬ 
hirns und über die Erhaltung der Leistungsfähigkeit seines Lebens 
und seiner Seelenfunktion; sie erfüllt diese Aufgabe teils auf 
mechanischem Wege, indem durch erhöhten Druck im Türken¬ 
sattel ein System von Schleusen, z. B. die Schilddrüse in Be¬ 
wegung gesetzt wird, teils in chemischer Weise, indem sie 
zwei wirksame Substanzen erzeugt, welche das Herz- und Ge¬ 
fäßnervensystem im Zustande guter Leistungsfähigkeit er¬ 
halten“.®^) Wir hätten hier also ein Organ vor uns, das uns 
das Verständnis des innigen Zusammenhangs zwischen der 
Blutzirkulation im Gehirn einerseits und den Änderungen in 
der Herzinnervation und dem Gefäßnervensystem andererseits 
etwas näher bringen wird. 

Überhaupt sind es sehr anregende und interessante Ge¬ 
danken, die Cyon®*) in einem erst kürzlich erschienenen Auf¬ 
sätze über „Leib, Seele und Geist“ ausspricht. Er steht darin 
allerdings im Widerspruch mit der herrschenden Anschauung, 
doch lassen sich seine Ansichten nicht so ohne weiteres von 
der Hand weisen. Der Geist ist vollkommen zu trennen von 
der Seele, die nichts weiter als die Gehirnfunktion ist. Man 
kann nur noch von geistigen Leistungen, Vorgängen sprechen, 
nicht mehr von geistigen Funktionen. Der Geist benutzt die 
in den Ganglienzellen angehäuften Empfindungen, Eindrücke, 
Wahrnehmungen, Vorstellungen, welche man als „seelische 



Der Einünß geistiger Arbeit auf den Körper. 23 

Funktioaen“ zusammenfaßt, um sie nach den unwandelbaren 
Gesetzen des Denkens in vorteilhafter Weise für die Bildung 
von Begriffen, abstrakten Ideen, Urteilen, Schlüssen usw. zu 
verwenden. Daher findet sich die Tätigkeit des Geistes nur 
im Menschen. Man kann doch einen Vorgang, der etwas Ak¬ 
tives darstellt, nicht als die Funktion einer Zelle ansehen. 

Ein ähnlicher Gedankengang mag vielleicht auchBinet^^) 
veranlaßt haben, die geistigen Erscheinungen aus verschiedenen 
Elementen zusammengesetzt zu denken: 1. aus dem Gegen¬ 
stand des Bewußtseins, object de conscience, und 2. aus der 
Tätigkeit des Bewußtseins, acte de conscience, die hinzu¬ 
kommen muß, damit der Gegenstand überhaupt ins Bewußt¬ 
sein gelangt. Diese Tätigkeit des Geistes wird heutzutage 
von den meisten übersehen. Und trotzdem hat sie bei allem 
geistigen Geschehen den Hauptanteil. Ohne sie bleiben uns 
alle Erregungen des Nervensystems unbewußt. 

Diese Betrachtungen sind offenbar eng mit dem Wesen 
der Aufmerksamkeit verknüpft, wir nehmen nur das wahr, 
worauf unser Augenmerk, d. h. unser subjektives Bewußtsein, 
gerichtet ist. Ribot*) betrachtet daher die Aufmerksamkeit 
als einen Bewegungsvorgang unseres Bewußtseins. Mosso^) 
will sie als einen Reflexvorgang ansehen: wie wir für die 
Absonderung der Drüsen bestimmte Nerven haben, die die 
Sekretion vermehren können, so müssen auch im Gehirn be¬ 
stimmte Nervenfasern dazu bestimmt sein, das Leben in den 
Zellen dieses Organs reger zu machen und zu schüren, wenn 
sie an irgendeiner Stelle in Tätigkeit gesetzt werden, v. Kries 
glaubt das Wesen der Aufmerksamkeit in bestimmten zere¬ 
bralen Einstellungen, teils konnektiven, teils dispositiven, suchen 
zu müssen. Er vergleicht diesen Vorgang der Einstellung 
dem Mitschwingen einer Stimmgabel beim Ertönen eines 
Klanges, der einen Ton mit derselben Schwingungszahl wie 
die Stimmgabel enthält. Wie die Stimmgabel, so kann auch 
die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Töne ein und des¬ 
selben Klanges besonders eingestellt sein. Schließlich sind 
auch die „unbewußten Faktoren“ Lipps^®), die den kausalen 
psychischen Lebenszusammenhang konstruieren, nichts anderes 
als die „Einstellungen“ v. Kries’. 



24 


W. Bethge, 


Sind wir nun inostande, ein Maß für die Größe der ge¬ 
leisteten psychischen Arbeit anzugeben, wie wir es zum Bei¬ 
spiel für die physische in der Formel A = q . h haben, d. h. 
die Arbeit ist gleich dem Produkt aus der Größe der bewegten 
Last und der Länge des zurückgelegten Weges. Höfler®®) 
stellt ein ähnliches Gesetz für die geistige Arbeit auf: A 
= p . s, wobei p etwa den Spannungsfaktor, d. h. die zur 
Anstrengung nötige Aufmerksamkeit und das Interesse dafür, 
8 etwa den Zeitfaktor bedeutet, der aber noch einige Zusätze 
erhält. Er kommt hierbei zu sehr interessanten Betrachtungen: 
Vorstellungen und Gefühle sind psychische Nichtarbeiten, wäh¬ 
rend Urteile und Begehrungen als psychische Arbeiten anzu¬ 
sehen sind. Die Arbeitsleistung ist abhängig von der objek¬ 
tiven Größe des Pensums und dem subjektiven Anstrengungs¬ 
gefühl. Die Leichtigkeit der Produktion ist die Kleinheit der 
Anstrengung beim Arbeiten. Zum Schluß wirft er die Frage 
auf, ob psychische und physiologische Arbeit derart parallel 
gehen, daß, wo letztere geleistet wird, auch erstere als ge¬ 
leistet wahrgenommen werden kann und umgekehrt. Die 
Empfindungsvorgänge denkt sich niemand ohne physiologisches 
Substrat. Die Funktion der Nervensubstanz ist aber beim 
Empfinden z. B, keineswegs immer Verrichten von Arbeit, 
d. h‘ Umsatz von potentieller in kinetische Energie, sondern 
ähnlich wie beim Regenerationsprozeß des Sehpurpurs im Auge 
Vermehrung der potentiellen Energie; um so näher liegt es, 
jede Form psychischer Arbeit geradezu als die andere Seite 
eines physiologischen Arbeitsvorganges aufzufassen. Dieser 
letzte Satz gewinnt praktische Bedeutung, indem wir die Er¬ 
müdungserscheinungen nach psychischer Arbeit, z. B. auf den 
Verbrauch physischer Kräfte zurückführen müssen. 

Wir kommen nun zu dem praktischen Teil unserer Arbeit. 
Wir haben gesehen, wie unendlich kompliziert und mannig¬ 
faltig die physiologischen Vorgänge in unserem Gehirn und 
Nervensystem jedenfalls sind, wie die Funktionen unseres 
ganzen Körpers, die Blutzirkulation, die Atmung, der Stoff¬ 
wechsel und die Wärmebildung tiefgreifende Modifikationen 
durch die Gehirntätigkeit, sei es nun direkt oder indirekt, er¬ 
fahren; soviel müssen wir als wahrscheinlich annehmen, daß 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


25 


ein Übermaß geistiger Arbeit nicht ohne schädliche Folgen für 
den Körper bleiben kann. Die Art und die Grenzen dieser 
Schädlichkeiten zu bestimmen, soll jetzt unsere Aufgabe sein. 

Die ungeheure Empfindlichkeit und Plastizität der Gan¬ 
glienzellen im Kindesalter erfordert eine sorgfältige Auswahl 
der Erziehungs- und Bildungsmittel. Man hat die Entwick¬ 
lung des Kinderhirns einem Vorgang verglichen, der der Ent¬ 
zündung sehr nahe steht. Wie leicht können da Eindrücke 
und Vorstellungen, für das Kind vielleicht noch unbewußt, 
von den Erwachsenen als gleichgültig aufgefaßt, entstehen, 
die für den ganzen Charakter des späteren Menschen vielleicht 
von entscheidender Bedeutung sind. Hat doch Kraepelin 
nachgewiesen, daß die meisten Assoziationen, die unter ge¬ 
wissen Erscheinungen hervorgerufen werden können, dem 
Kindesalter entstammen, während die erst später gebildeten 
fast vollständig verschwinden! Dies ist doch ein Beweis da¬ 
für, wie tief die seelischen Eindrücke der Kindheit im Gehirn 
haften. Das Kind kennt vielleicht noch nicht einmal die Worte 
dafür, aber trotzdem nimmt eine oft hervorgerufene Empfin¬ 
dung oder Beobachtung einen dauernden Platz im Gehirn ein. 
Daher ist es von allergrößter Wichtigkeit, die Kinderseele 
von allen schädlichen Einflüssen femzuhalten. Man glaubt gar 
nicht, wie tiefe, wenn auch noch so winzige Spuren die Er¬ 
innerung an das Verhalten, die Umgangsgewohnheiten der 
Eltern untereinander und mit anderen Personen usw. im kind¬ 
lichen Gemüt hinterläßt. Schon der Nachahmungstrieb, der 
im Kinde, wie man leicht beobachten kann, sehr stark aus¬ 
gesprochen ist, kann darin Gutes, aber auch Schlechtes leisten. 
Ferner ist es notwendig, daß das Kind nicht zu früh zum 
Arbeiten angehalten wird. Das Kind lernt im Spielen. Geistige 
Anstrengung und Aufmerksamkeit würde das kleine Gehirn 
viel zu sehr belasten, als daß es ihm nützen würde. Daher 
ist es ganz verkehrt, die kleinen Kinder in Kindergärten mit 
feinen Häkelarbeiten und sauberen Klebearbeiten zu beschäf¬ 
tigen. Vielmehr müssen erst alle Sinneswerkzeuge bis zu 
einem gewissen Grade ausgebildet sein, ehe sie von der Ver¬ 
standestätigkeit in Anwendung gebracht werden dürfen. Es 
wäre nun wünschenswert, diesen Zustand der physiologischen 



26 


W. Betbge, 


Reife des Kindergehirns, wo wir ihm eine zweck- und ziel¬ 
bewußte Tätigkeit zumuten dürfen, auf das genaueste festzu¬ 
stellen. Im allgemeinen besitzen die Kinder diese Reife, wenn 
sie mit dem sechsten Jahre in die Schule gebracht werden, 
einige aber noch nicht. Für diese machen sich vielleicht im 
Anfänge noch keine Nachteile hinter den anderen Schulkindern 
bemerkbar, aber nach einigen Jahren sind sie nicht imstande, 
mit den anderen gleichen Schritt zu halten, weil eben die 
Grundlagen eines fertig ausgebildeten Gehirns fehlten, das nun¬ 
mehr durch den Schulunterricht noch mehr gelitten hat. Ich 
glaube hierin einen Grund zu sehen für so viele Enttäuschungen, 
die so manche Kinder in der Schule später bereiten, die an¬ 
fangs zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Häufig mag 
auch Krankheit, die die Kinder in ihrer körperlichen Ent¬ 
wicklung etwas aufgehalten hat, die Ursache für das geistige 
Zurückbleiben bilden. Aber für solche Kinder ist es dann 
zweckmäßig, daß sie erst später in die Schule geschickt werden. 
Hier aber gilt das Wort Senecas: Cogenda mens, ut incipiat, 
d. h. hier muß der Geist in Schranken gehalten werden, damit 
er anfange, sc. etwas Ordentliches zu leisten. Während die 
Entwicklung bisher eine freie gewesen war, so daß Arbeit, 
Ermüdung und Erholung, wenn man von diesen Dingen im 
kindlichen Alter schon sprechen darf, unbewußt sich das 
Gleichgewicht hielten, so führt jetzt der Zwang eine andere 
Ordnung herbei. Jede Arbeit ist mit Ermüdung verbunden; 
während aber früher sofort ein Ausgleich durch Erholung ge¬ 
schaffen wurde, ist jetzt dies weniger möglich, da eben der 
Geist in Schranken gehalten werden soll, um ihn zu bilden. 
Natürlich kann auch hier immer noch ein gewisses Aus¬ 
weichen durch Unaufmerksamkeit stattfinden; aber dann wird 
der Zweck der Schule nicht erreicht. Eg fragt sich nun, in¬ 
wieweit hält sich die Ermüdung in physiologischen Grenzen, 
und wann wirkt sie auf die körperliche Entwicklung schädlich 
ein. Dies ist eine eminent wichtige Frage für die Praxis des 
gesamten Schulunterrichtes. Deswegen ist sie schon unendlich 
oft in Angriff genommen worden, vollständig gelöst ist sie 
aber bisher noch nie. 

Fragen wir nach den Äußerungen und dem Wesen der 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Kürper. 27 

Ermüdung, so müssen wir vorausscliicken, daß zu jeder gei¬ 
stigen Tätigkeit zunächst einmal Aufmerksamkeit und dann 
eine gewisse freiwillige Anstrengung nötig ist, wenn wir von 
den automatischen Arbeiten absehen. Unter dieser Voraus¬ 
setzung kann geistige Arbeit entstehen, die sich ihrerseits 
wiederum aus den Faktoren der Übung und Ermüdung zu¬ 
sammensetzt. Veranschaulichen wir uns diesen Vorgang durch 
eine Kurve, wie es bereits Öhrngetan hat, so würde diese 
folgendes Aussehen erhalten: Zunächst hätten wir, im ganzen 
betrachtet, einen aufsteigenden und einen absteigenden Teil, 
die der Übung und der Ermüdung entsprechen würden. Der 
aufsteigende Ast zeigt zunächst eine kleine Senkung, die dem 
Nachlassen des „Antriebs“ zuzuschreiben ist: erst allmählich 
ist das Individuum imstande, seine Aufmerksamkeit, die zu 
Beginn der Arbeit aufs höchste gespannt war, einer länger 
dauernden Arbeit anzupassen. Die Kurve beginnt dann unter 
dem Einfluß der Übung zu steigen, aber in der Nähe des 
Höhepunktes zeigt sie bereits einige kleine Schwankungen, die 
bereits als Schwankungen der Aufmerksamkeitsspannung unter 
dem Einfluß der Ermüdung zu deuten sind. Der Höhepunkt, 
wo sich Übung und Ermüdung sozusagen das Gleichgewicht 
halten, liegt verschieden weit vom Anfang entfernt, je nach¬ 
dem die Ermüdung früher oder später das Übergewicht er¬ 
hält. Die Kurve zeigt dann in der Ermüdungsphase ziemlich 
bedeutende Schwankungen, die um so größer sind, je stärker 
der Wille ist, die unabwendlich hereinbrechende Ermüdung 
abzuwehren. Sie werden schließlich kleiner, um bei hoch¬ 
gradiger Ermüdung gänzlich zu verschwinden. Diese Schwan¬ 
kungen können auch fehlen, wenn die Ermüdung von vorn¬ 
herein sehr hochgradig war. 

Das Wesen der Ermüdung besteht, grob ausgedrückt, in 
der Abnahme der Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Sie ist immer 
physiologisch bedingt, sei es nun durch Anhäufung von Zer¬ 
fallsprodukten, die im Blute kreisen und eine Arbeitslähmung 
der Nervenzellen herbeiführen, oder durch mangelnden Sauer¬ 
stoffvorrat in den Ganglienzellen selbst, welchen Zustand wir 
Erschöpfung nennen. Nur diese beiden Erscheinungen sind 
wir berechtigt Ermüdung zu nennen; völlig davon zu trennen 



28 


W. Betbge, 


und wohl zu unterscheiden ist das Gefühl der Müdigkeit, das 
wohl mit dem Zustand der Ermüdung verknüpft sein kann, 
aber jedenfalls ganz andere Ursachen hat, da es auch ohne 
Ermüdungserscheinungen vorkommt. Die Ermüdungsstoffe in 
vitro darzustellen, hat Weichardt®®) versucht. Zunächst 
stellte er aus Muskelpreßsaft mit Reduktionsmitteln ein Er¬ 
müdungstoxin her, das er Mäusen injizierte, die dann die Er¬ 
müdungserscheinungen, wie Sopor und Atemverlangsamung, 
zeigten. Ähnliches ist schon von Mos so gefunden worden. 
Weichardt glückte es schließlich, ein aus Eiweiß abspalt¬ 
bares Toxin, dem er den Namen Kenotoxin gab, zu gewinnen 
und durch Injektion bei Tieren Ermüdung hervorzurufen. Neben¬ 
bei sei erwähnt, daß er auch ein Antikenotoxin gefunden hat, 
das die Wirkung des Kenotoxins aufzuheben vermochte. Ver¬ 
suche, die an Menschen angestellt wurden, haben allerdings 
noch ein zweifelhaftes Resultat ergeben, und so muß man erst 
weitere Nachprüfungen ab warten. Auf einzelne Besonderheiten 
der Ermüdung, insbesondere ihre Beziehungen zu anderen 
psychologischen Vorgängen, werde ich noch im Laufe der 
folgenden Untersuchungen zu sprechen kommen, die uns mit 
den verschiedenen Methoden der Ermüdungsmessung bekannt 
machen sollen. Ich werde dabei gleich die Ergebnisse mit 
berücksichtigen, zu denen sie geführt haben, um eventuell den 
Wert ihrer Brauchbarkeit für die praktische Nutzanwendung 
klarlegen zu können. 

Wir haben hier zwei Untersuchungsreihen zu unterscheiden, 
deren eine im wesentlichen gleich praktisch in der Schule 
ausfindig gemacht und erprobt worden ist, während die andere 
durch Laboratoriumsversuche und klinische Beobachtungen 
dargestellt wird und hauptsächlich in Experimenten besteht, 
deren Wert aber durchaus nicht zu unterschätzen ist; denn 
erst auf Grund von Experimenten, deren Bedeutung in der 
Abänderung der Versuchsbedingungen liegt, sind wir imstande, 
Erscheinungen, die uns wohl bekannt zu sein scheinen, in 
ihren einzelnen feineren Zügen zu erkennen und diese auf 
ihre Ursachen zurückzuführen. Erst wenn die Ermüdung so 
in ihren Einzelheiten bekannt sein wird, wird es möglich sein, 
•ein wirkliches Maß für die Ermüdung zu finden, bei dem sich 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


29 


alle Fehlerquellen ausschließen lassen. Die Ermüdung läßt 
sich auf zweierlei Art messen: einmal, indem man das Nach¬ 
lassen der psychischen Tätigkeit in Quantität und Qualität 
selbst prüft, und zweitens, indem man die Eigenschaft der Er¬ 
müdung benutzt, daß sie die sämtlichen Körperfunktionen in 
Mitleidenschaft zieht, und nun auf diesen Satz gegründet die 
Änderungen z. B. in der Muskelleistung, in der Muskelkraft, 
in der Haut- und Schmerzempfindlichkeit usw. bestimmt. 

Am meisten von allen Untersuchungen ist die Rechen¬ 
methode, das Addieren oder Multiplizieren einfacher Zahlen, 
angewandt. Aber selbst diese einfache Operation ist schon 
ein ziemlich zusammengesetzter psychischer Vorgang: zunächst 
ist das richtige Auffassen der Zahlen erforderlich, das Ge¬ 
dächtnis spielt bei dem eigentlichen Akt des Addierens oder 
Multiplizierens eine Rolle, und schließlich ist das Aussprechen 
oder Niederschreiben des Resultats wieder ein gesonderter Ge¬ 
hirnvorgang. Kraepelin^®) hat auf die Ähnlichkeit hinge¬ 
wiesen, die zwischen dem psychischen Zustand, der infolge 
Alkoholintoxikation eintritt, und dem der physiologischen Er¬ 
müdung besteht. Der Alkohol erschwert die Auffassung und 
die intellektuelle Verarbeitung der äußeren Eindrücke, er¬ 
leichtert aber die Auslösung von Bewegungen. Ebenso findet 
sich bei der Ermüdung eine bedeutende Herabsetzung der Auf- 
fassungs- und Rechenfähigkeit. Dagegen sehen wir ein Ge¬ 
ringerwerden der Denkfehler eintreten, die Resultate werden 
zum Teil in qualitativer Hinsicht besser, während die Schreib¬ 
fehler und Verbesserungen in bedeutendem Maße zunehmen 
[Rivers und Kraepelin*®)]. Es hängt dies jedenfalls mit 
einer psychomotorischen Erregung zusammen, die sich unter 
dem Einfluß der Ermüdung geltend macht. Ebenso haben sie 
gewisse qualitative Vei’änderungen im Inhalte der Assozia¬ 
tionen gemein: Zunahme der äußeren, an Klang und Gesichts¬ 
vorstellungen sich anlehnenden Assoziationen und ein häufigeres 
Auftreten ein und derselben Vorstellungen. Wer hat nicht 
schon an sich selbst, wenn er stark ermüdet war, am Schreib¬ 
tisch die Beobachtung gemacht, daß immer dieselben Worte 
und Vorstellungen wiederkehren? 

Die Rechenmethode wandte zuerst Burgerstein^^) an,. 



30 


W. Bethge, 


der vier Reihen einfacher Additions- und Multiplikationsauf¬ 
gaben zusammenstellte, deren Lösung mit den Pausen des 
Einsammelns ungefähr eine Schulstunde in Anspruch nahm. 
Die Änderung in Quantität und Qualität der Fehler in den 
-einzelnen Abschnitten sollte einen Maßstab für die Ermüdung 
abgeben. Anfangs ließ sich ein Steigen der gerechneten Auf¬ 
gaben feststellen, was der Übung zuzuschreiben ist, aber gleich¬ 
zeitig trat eine Verschlechterung in der Qualität der Leistungen 
ein, die viel hochgradiger wuchs als die Geschwindigkeit der 
Arbeit. 

Laser**) in Königsberg ließ am Anfang jeder Stunde 
eines fünfstündigen Schultages je zehn Minuten rechnen. Es 
waren meist 13- bis 14jähi’ige Knaben und Mädchen. Auch 
hier zeigte sich ein entschiedenes Anwachsen der Leistungsfähig¬ 
keit, am stärksten von der ersten zur zweiten Stunde; erst im 
letzten oder vorletzten Abschnitt war meist eine geringfügige 
Abnahme der Arbeitsgeschwindigkeit zu bemerken. Dagegen 
erfuhren die Verbesserungen und Fehler gegen Schluß des 
Versuchstages eine geringe Zunahme. Obwohl also im Durch¬ 
schnitt die praktische Arbeitsfähigkeit nicht in hohem Maße 
beeinträchtigt gewesen zu sein scheint, so bestanden doch 
überraschend große Unterschiede zwischen den Arbeitsleistungen 
der einzelnen Schüler. Die höchsten Leistungen überboten 
die geringsten vielfach um das Doppelte, ja sie stiegen sogar 
auf das Vierfache. Und gerade bei den am wenigsten arbeiten¬ 
den Kindern findet sich gegen Schluß ein erhebliches Sinken 
der Arbeitsleistung. Das weist uns darauf hin, daß wir hin¬ 
sichtlich der Ermüdbarkeit sehr individualisieren müssen. Mit 
Recht hat die Ermüdbarkeit daher Kraepelin*®) eine „Grund¬ 
eigenschaft der Persönlichkeit“ genannt. Sie steht offenbar in 
einem gewissen Gegensatz zur Übungsfähigkeit: je leichter er¬ 
müdbar eine Person ist, eine um so größere Übungsfähigkeit 
scheint sie zu besitzen. 

Richter**) in Jena gab in einer Untertertia während der 
ersten Vormittagsstunden die Lösung einfacher arithmetischer 
Aufgaben auf, die ungefähr ®/4 Stunde in Anspruch nahm. 
Der Versuch wurde am folgenden Tage in der vierten Stunde 
wiederholt. Während am ersten Tage sich eine Zunahme der 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


31 


Arbeitsgeschwindigkeit mit jedem Teilstticke gezeigt batte, die 
Fehler allerdings gegen Ende Zunahmen, war am zweiten Tage 
die Steigerung der Geschwindigkeit nur gering, während die 
Fehlerzahl bereits im zweiten Teilstück beträchtlich wuchs. 
Ein zweiter Versuch, bei dem die einzelnen Beobachtungen 
allerdings 14 Tage auseinanderliegen, zeigt nicht so deutliche 
Resultate. 

Alle diese Untersuchungen leiden an dem Mangel ge¬ 
nügender Eindeutigkeit. Die Aufgaben waren doch zu ver¬ 
schiedenartig, als daß sie einen Vergleich der einzelnen Werte 
untereinander zuließen. Auch die Zeit wurde nicht in ge¬ 
nügender Weise berücksichtigt. Kraepelin*®) schlägt daher 
das „Addieren einstelliger Zahlen“ vor, eine Methode, wie 
er sie fast immer in seinen Laboratoriumsversuchen anwendet. 
Die Anzahl der Additionen je zweier einstelliger Zahlen wäh¬ 
rend einer Minute, wobei die Resultate ganz unberücksichtigt 
gelassen werden können, soll dem Ermüdungszustand einer 
Person proportional sein. Ganz eindeutig ist auch dieses Ver¬ 
fahren nicht, es stellt aber wenigstens die besten Vergleichs¬ 
werte her. In der Praxis der Schule ist diese Methode in 
größerem Maßstabe bisher wenigstens noch nicht erprobt 
worden. Wohl sind einige Versuche damit angestellt worden, 
die aber alsbald wieder aufgegeben wurden, da sie zu keinem 
ausgesprochenen Resultate führten. Wir dürfen aber hierfür 
nicht das Verfahren an sich anschuldigen, sondern müssen den 
ungünstigen Erfolg vielmehr auf eine nicht genügende Ver¬ 
trautheit mit der Anwendung der Methode und der Berech¬ 
nung ihrer Versuchsergebnisse zurückführen. Daß sie brauch¬ 
bare Werte liefern kann, zeigen uns die Untersuchungen von 
Specht^*), der durch eine 10 Minuten lang dauernde Arbeit 
in den Kraepelinschen Rechenheften, die er jeden zweiten Tag 
durch eine P^use von 5 Minuten unterbrach, um die Übungs¬ 
fähigkeit der einzelnen Personen festzustellen, sehr gute Resul¬ 
tate erzielte. Er stellte seine Versuche an 17 Gesunden und 
6 Personen, die an traumatischer Neurose erkrankt waren, an. 
Da die Ermüdbarkeit, wie wir wissen, schon unter normalen 
Verhältnissen bei den einzelnen Menschen sehr verschieden 
ist, so mußte zunächst die „Ermüdungsbreite“ der Gesunden 



32 


W. Betbge, 


bestimmt werden. Dann zeigte sich durch vergleichende Ex¬ 
perimente an den Kranken, daß bei diesen die Ermüdbarkeit 
erheblich größer ist als bei den Gesunden. Die Unterschiede 
konnten zahlenmäßig festgelegt werden. 

In zweiter Linie benutzte man Diktate von Zahlen, Wörtern 
und Sätzen, um mit Hilfe der Fehlerzahl die Ermüdung zu 
messen. Höpfner^') in Berlin untersuchte die Fehler eines 
zweistündigen Diktats, das aus 19 Sätzen bestand, die einzeln 
vorgelesen, von den Schülern hergesagt und niedergeschrieben 
wurden. Die Anzahl der Fehler nahm natürlich gegen Ende 
zu. Aber auch qualitative Unterschiede ließen sich feststellen. 
Namentlich bewiesen die Fehler des „Ausfalls“ von Buch¬ 
staben, daß die äußeren Klangassoziationen, wie sie dem Kind 
in der Umgangssprache geläufig sind, die Fehler bestimmten. 
Auch das Schriftbild versagte bei zunehmender Ermüdung 
immer leichter. Die logischen Operationen, das Subsumieren 
unter Wortklassen resp. Regeln waren geschwächt. 

Friedrich^®) aus Würzburg kam es darauf an, den Ein¬ 
fluß der gegenwärtigen Unterrichtsdauer auf die Leistungs¬ 
fähigkeit und ferner die Wirkung von eingeschobenen Arbeits¬ 
pausen zu untersuchen. Zu diesem Zwecke ließ er zehnjährige 
Schüler einmal 12 Sätze von annähernd gleicher Buchstaben- 
und Zeichenzahl und gleicher Schwierigkeitsstufe schreiben, das 
anderemal je 5 Additions- und Multiplikationsaufgaben lösen; 
für die erstere Aufgabe stellte er 30, für die letztere 20 Minuten 
zur Verfügung. Diese Prüfungsarbeiten wurden zu Anfang 
der ersten Stunde, nach der zweiten, dritten und letzten Stunde 
geschrieben und auch am Nachmittag in entsprechender Weise 
wiederholt. Dazwischen wurden verschieden lange Pausen 
eingeschoben. Durchgehende zeigte sich eine Herabsetzung 
der Leistungsfähigkeit nach länger dauerndem Unterricht. Die 
Pausen sind von durchweg günstiger Wirkung. Eine ein¬ 
gehende Studie über den Einfluß von Arbeitspausen auf die 
geistige Leistungsfähigkeit ist von Arnberg^®) gemacht worden. 
Die Wirkung der Pause ist nicht an und für sich feststehend, 
sondern hängt wesentlich von dem Zustand ab, in welchem 
sich der Arbeitende in den verschiedenen Abschnitten seiner 
Tätigkeit befindet. Pausen von gleicher Größe wirken bei 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 33 

lange fortgesetzter Arbeit günstig, weil sie Erholung gewähren, 
dagegen bei kurzdauernder Tätigkeit ungünstig, weil sie den 
Übungsfortschritt herabsetzen und die Wirkung der „Anregung“ 
vermindern. 

Auch die Gedächtnisleistung hat man zur Messung der 
Ermüdung herangezogen. Dahin gehört das Memorieren von 
Zahlen und zusammenhanglosen Silben, wie es Ebbing¬ 
haus®'') vorgeschlagen hat. Man hat hierbei einen Maßstab 
für die Ermüdung in der Anzahl der Wiederholungen, die 
nötig sind, bis die Reihe fehlerlos eingeprägt ist. Die Übungs¬ 
fähigkeit ist aber so groß dabei, daß die Ermüdungswirkung 
nicht zum Vorschein kommt und die Resultate dadurch un¬ 
genau werden. 

Eine sehr gute Methode scheint das Aussuchen und Durch¬ 
streichen von Buchstaben in vorgelegten Texten zu sein, die 
man in mannigfacher Weise variieren kann, so daß hier der 
Übungszuwachs nicht so leicht zur Geltung gelangt. Dieses 
Verfahren wird von Ritter®^) sehr empfohlen, der es neben 
dem Diktat von Wörtern für das beste Mittel hält, um den 
Ermüdungsgrad einer Schülerklasse zu messen. Mit diesen 
Hilfsmitteln hat er folgende Tatsachen eruieren können; „Die 
Anstrengung einer Übersetzung ex tempore ist viel ermüdender 
als die bloße Mitbeteiligung an einer Schriftstellerlektüre. 2. Der 
vormittägige Unterricht in den Oberklassen der Württem- 
bergischen Gymnasien ist im allgemeinen so eingerichtet, daß 
die Ermüdung durch den Vormittagsunterricht durch die Mit¬ 
tagspause im wesentlichen wieder aufgehoben wird, daß aber 
die Ermüdung am Schluß des zwei- bis dreistündigen Nach¬ 
mittagsunterrichts meist merklich größer ist als die nach dem 
vierstündigen Vormittagsunterricht.“ 

Aus rein praktischen Gründen ist noch folgende Methode 
von Ebbinghaus®*) angegeben. Er war genötigt, ein Gut¬ 
achten darüber abzugeben, ob die Ermüdung durch den fünf¬ 
stündigen Unterricht nachteilige Folgen haben könnte und in¬ 
wiefern die zunehmende Nervosität der Schulkinder damit in 
Zusammenhang zu bringen wäre. Ebbinghaus sah sich 
nach den bisher angewandten Methoden der Ermüdungsmessung 
um: Griesbachs Methode, die wir später kennen lernen 

3 



34 


W. Bethge, 


werden, wurde verworfen, da sie kein Maß für den Grad der 
geistigen Ermüdung habe, die Rechen- und Gedächtnismethode 
geben nur Aufschluß über relativ niedere und einseitige Be¬ 
tätigungen des Geistes. Die eigentliche Intelligenztätigkeit ist 
das Kombinieren, d. h. eine größere Vielheit von unabhängig 
nebeneinander bestehenden Eindrücken zu einem sinnvollen 
Ganzen zusammenzuscbließen. Er legte daher Schülern Lese¬ 
stücke vor, in denen einzelne Silben, Laute und Worte aus¬ 
gelassen waren, die sie nun sinngemäß ergänzen mußten. Die 
Zahl der begangenen Fehler wurde als umgekehrtes Maß der 
Kombinationsgabe betrachtet, das zugleich auch die Wirkung 
der Ermüdung am deutlichsten erkennen lassen sollte. Das 
Ganze wurde als ein Versuch angesehen, und dementsprechend 
ließ sich ein definitives Urteil über die Ermüdung oder Nicht¬ 
ermüdung wenigstens in den oberen Klassen nicht abgeben, 
dagegen zeigte sich ein zunehmendes Zurückbleiben der unter¬ 
sten Klassen mit den Schülern von 10 bis 12 Jahren hinter 
dem, was man nach den Leistungen der höheren erwarten 
sollte. 

Wiermsa®*) konnte dieselbe Methode bei verschiedenen 
Schülern mit Vorteil an wenden. Doch scheint sie weniger 
ein Maß für die Ermüdung zu geben, als der Ausdruck für 
die Kombinationsfähigkeit zu sein, die aber durchaus nicht der 
psychischen Leistungsfähigkeit parallel zu gehen braucht. 

Während die bisherigen Methoden fast ausschließlich für 
die Praxis berechnet wären, werden von Kraepelin noch 
einige andere angewandt, die in Laboratoriumsversuchen aus¬ 
gezeichnete Ergebnisse liefern: es sind dies die Bestimmungen 
der einfachen und zusammengesetzten Zeit- und Assoziations¬ 
reaktionen. Über Ausführung und Deutung der Versuche findet 
man in den „Psychologischen Arbeiten“ Kraepelins 
und seiner Schüler ausführliche Angaben. Sie geben uns auch 
vor allen Dingen einen Aufschluß über die Qualität der psy¬ 
chischen Leistungen im Ermüdungszustande. 

Wir kommen nun zu den Versuchen, die die geistige Er¬ 
müdung nicht direkt, sondern indirekt messen. Griesbachs®®) 
Methode ist sehr einfach und beruht auf der Beobachtung, daß 
zwei Zirkelspitzen nur dann noch als gesondert auf der Haut 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


35 


empfanden werden, wenn sie eine bestimmte minimale Ent¬ 
fernung haben, die für die einzelnen Körperregionen ver- 
sebieden ist. Griesbach behauptet nun, daß die Gautemp- 
findlichkeit durch die Ermüdung herabgesetzt und die Tast¬ 
kreise größer werden, so daß auch die Entfernung der 
Zirkelspitzen vergrößert werden muß. Die Ergebnisse Gries¬ 
bachs zeigten eine große Übereinstimmung, so daß man auf 
diese Untersuchungsart große Hoffnungen zu setzen berechtigt 
war, da sie leicht ohne Störung der Unterrichtsbedingungen 
ausgeführt werden konnte und wenig Zeit in Anspmch nahm. 
Auch kommt der Übungseinfluß offenbar ganz in Fortfall. 
Aber auch sie gibt kein Maß für die Schwere der Ermüdung, 
da diese nicht mit der größeren Entfernung der Zirkelspitzen 
in gleichem Sinne wächst. Trotzdem konnte Griesbach 
ganz beachtenswerte Tatsachen damit feststellen. Ich will nur 
einiges hervorheben: Die Zahlen für die Entfernung der Zirkel* 
spitzen nehmen mit fortschreitender Ermüdung um das Doppelte 
bis Vierfache zu. Doch ließ sich ein verschiedener Einfluß 
der einzelnen Unterrichtsfächer nachweisen. Namentlich Mathe¬ 
matik und Latein, aber auch Französisch und Englisch setzten 
die Hautempflndlichkeit beträchtlich herab, während besonders 
die. Religionsstunden ein Nachlassen dieser Störungen erkennen 
ließen. Durch Wechsel der Arbeit könnte hiernach scheinbar 
ein günstiger Einfluß auf die Arbeitsfähigkeit ausgeübt werden. 
Weygandt®*) hat durch Versuche nachgewiesen, daß dies 
im allgemeinen nicht der Fall ist; wenn es aber vorkommt, 
so ist die Schwere der Arbeit ausschlaggebend. Günstig wirkt 
nur der Wechselantrieb, der mit einer Tätigkeitsänderung ver¬ 
bunden ist, und meist in einer leichten motorischen Erregung 
besteht. Auch dürfen wir nicht einen partiellen Ermüdungs¬ 
zustand des Gehirns annehmen, der durch einen Arbeitswechsel 
beseitigt werden könnte. Außerdem konnte Griesbach fest¬ 
stellen, daß am Morgen vor dem Unterricht eine Herabsetzung 
der Hautempfindlichkeit gegenüber den schulfreien Tagen be¬ 
stand. Er schließt daraus, daß eine ganze Reihe von Schülern 
früh nicht gehörig ausgeruht und frisch in die Schule kam. 
Interessant sind die Beziehungen, die Römer®^) zwischen 
Schlaf und geistiger Tätigkeit feststellte. Kurz nach dem 



36 


W. Bethge, 


Schlaf zeigte sich eine deutliche Müdigkeit, die sich in dem 
Fehlen des Arbeitsantriebs und den geringen absoluten Lei¬ 
stungen äußerte, aber nicht in die Symptome der Ermüdung 
überging, sondern schließlich eine Zunahme der Arbeitsleistung 
folgen ließ. Die Zeit des tiefsten Schlafes ist offenbar indivi¬ 
duell sehr verschieden. Während „Morgenarbeiter“ vor Mitter¬ 
nacht den tiefsten Schlaf haben, tritt die größte Schlaftiefe 
bei „Abendarbeitern“ erst gegen Morgen ein. Diese psycholo¬ 
gischen Verschiedenheiten verdienen gerade bei Schulkindern 
die größte Beachtung. 

Vannod®®) und Wagner®**), der sich des Eulenburg- 
schen Ästhesiometers bediente, konnten die Resultate Gries¬ 
bachs nur bestätigen. Auch Wagner fand relativ hohe 
Anfangszahlen am Morgen, namentlich bei den Schülern der 
Quarta. Es scheint gerade dieses Alter eine starke Ermüdbar¬ 
keit zu zeigen, wie schon Ebbinghaus gefunden hatte (vergl. 
oben). Gleichfalls ist der Turnunterricht den anderen LTnter- 
richtsgegenständen vollständig gleichzustellen und der Nach¬ 
mittagsunterricht ganz zu verwerfen. 

Diesem günstigen Ausfall der Untersuchungen, die alle 
für die Tauglichkeit der Griesbachschen Methode sprechen, 
stehen aber neue Prüfungen gegenüber, die ein ablehnendes 
Verhalten zeigen. Leuba®“) und besonders Bolton®^) halten 
die Griesbachsche Methode für feinere Raumschwellenunter¬ 
suchungen für ungeeignet: Das gleichzeitige Aufsetzen der 
Zirkelspitzen, der gleichmäßige Druck lassen sich nicht mit 
der Exaktheit ausführen, wie es wohl wünschenswert wäre. 
Auch ist die Größe der Raumschwelle in keiner Weise als 
Maß für die Ermüdungswirkung einer geistigen Arbeit zu ver¬ 
wenden. 

Trotzdem ist diese Methode in letzter Zeit noch einmal 
von Binet®2) angewandt worden, allerdings in etwas modifi¬ 
zierter Form: er bediente sich kleiner Pappdeckel mit je zwei 
Nadeln in verschiedener Entfernung, die den Zirkelspitzen 
Griesbachs entsprechen, aber ein schnelleres, leichteres und 
sorgfältigeres Hantieren zulassen. Auch prüfte er die Aus¬ 
sagen nicht bloß einmal, sondern öfters, indem er die Ent¬ 
fernung der Nadelspitzen beliebig oft auch in entgegengesetzter 



Der Einfluü geistiger Arbeit auf den Körper. 37 

Richtung variierte. Auf diese Weise konnte er zugleich noch 
Schlüsse auf die Aufmerksamkeit ziehen. Er fand nun auch 
etwas andere Resultate als Griesbach: 1. Die Reizschwelle 
variiert außerordentlich bei den einzelnen Personen. 2. Die 
geistige Ermüdung ruft eine Herabsetzung der Berührungs¬ 
empfindlichkeit, allerdings nur eine geringe, hervor. Sie fand 
sich aber nur bei 5% der Knaben, bei ll®/o der Mädchen. 
Wie erklärt sich diese geringe Zahl? Binet nimmt drei 
Klassen von Individuen an: 1. Kräftige Knaben, bei denen 
wohl Ermüdung eintritt, die sich aber nicht in der Herab¬ 
setzung der Empfindlichkeit äußert, oder bei denen das Ver¬ 
hältnis zwischen Ermüdung und dem Zustand der Empfind¬ 
lichkeit nicht konstant ist. Doch ist ersteres wahrscheinlicher. 
2. Individuen, bei denen sich die Ermüdung normal durch 
über drei falsche Antworten zeigt. 3. Paradoxe Subjekte, die 
nach der Anstrengung die Spitzen in geringerer Entfernung 
unterscheiden als vorher. Eine zweite Versuchsreihe ergibt 
die gleichen Resultate, die sich dahin zusammenfassen lassen, 
wenn man die Ausnahmefälle 1 und 3 unberücksichtigt läßt: 
1. Die geistige Ermüdung der Schüler zeigt sich in einer am 
Handrücken meßbaren Abnahme der Berührungsempfindlich¬ 
keit. 2. Die Herabsetzung drückt sich durch eine Verminde¬ 
rung der Antwort „doppelt“ bei der kleinen Entfernung 0,5 
bis 1,5 cm, besonders stark bei 1 cm aus. 3. Sie ist größer 
bei den Mädchen als bei den Knaben. 4. Sie ist einer Ände¬ 
rung in der Berührungsempfindlichkeit und nicht einer Ver¬ 
minderung in der Aufmerksamkeit zuzuschreiben. — Binet 
hat außerdem noch das Verhalten der Schmerzempfindungen 
im Zustande der Ermüdung geprüft und mit Hilfe des 
Sphygmometers von Blocq-Verdier die interessante Tatsache 
aufgedeckt, daß eine Steigerung des Gewichtes um ca. 1,8 kg 
nötig ist, um Schmerz hervorzurufen, während sonst schon eine 
Last von 6 bis 8 kg auf dem Rücken der vier Finger der 
Hand dazu genügt. Die Angaben sind natürlich sehr subjektiv, 
und daher ergaben sich schon bei der zweiten Untersuchung 
ungenaue Resultate. 

Auch an den Muskeln kann man sehr leicht und deutlich 
Ermüdungserscheinungen beobachten; an ihnen sind sie über- 



38 


W. Bethge, 


haupt zum erstenmale von Mos somit dem von ihm ange¬ 
gebenen Ergographen eingehend untersucht vrorden. Mit dem 
Flexor des Mittelfingers einer Hand wird mittels eines ge¬ 
eigneten Apparates alle zwei Sekunden ein Gewicht von zirka 
3 kg gehoben und wieder sinken gelassen. Die Höhepunkte 
der einzelnen Zuckungen stellen eine unter dem Einfluß der 
Ermüdung absteigende Kurve dar, welche auf einer Kymo- 
graphiontrommel aufgezeichnet werden kann und eine für jedes 
einzelne Individuum charakteristische Form hat, vorausgesetzt, 
daß immer die gleichen Yersuchsbedingungen bestehen. Werden 
diese abgeändert, z. B. das Gewicht vermehrt oder der Rhyth¬ 
mus beschleunigt oder verlangsamt, so treten auch Ände¬ 
rungen in der Arbeitsleistung ein, wie Oseretzkowsky und 
Kraepelin^^) gezeigt haben: Bei Beschleunigung von 30 auf 
60 nnd 120 Zuckungen in der Minute bessert sich die Leistung 
hauptsächlich durch Vermehrung der Hebungen. Die Gesamt¬ 
muskelleistung ist beim Heben eines Gewichtes von 4 kg er¬ 
heblich größer als bei 6 kg. Interessant ist es nun, zu sehen, 
wie geistige Arbeit die Muskelleistung beeinflußt. Mosso*) 
konnte eine starke Herabsetzung dieser an Dr. Maggiora beob¬ 
achten, wenn dieser eine anstrengende Prüfung abgehalten 
hatte. Er erklärte sich diese Erscheinung dadurch, daß die 
übermäßige Gehimtätigkeit nicht allein eine lokale Erschöp¬ 
fung bedingt, etwa durch Anhäufung von Zerfallsprodukten 
im Gehirn, sondern daß diese in den Blutkreislauf gelangen 
und nun eine allgemeine Intoxikation der Muskeln des ge¬ 
samten Körpergewebes herbeiführen. Denn auch wenn er die 
Willensanstrengung, d. h. den vom ermüdeten Gehirn aus¬ 
gehenden Reiz ausschloß, indem er den Muskel direkt durch 
elektrische Ströme reizte, konnte er eine Verminderung der 
Arbeitsleistung des Muskels wahrnehmen. 

Umgekehrt konnte Bum®®) die Beobachtung machen, dafl 
der Wille sich bei abwechselnd willkürlichen und unwillkür¬ 
lichen Kontraktionen des Muskels nicht wieder vollständig er¬ 
holt während der elektrischen Reizungen, sondern die Abnahme 
der Muskelleistung konstant bleibt. Er zieht daraus für die 
Praxis die Lehre, daß körperliche Anstrengung, so wie sie z. B. 
das deutsche Turnen darstellt, nicht geeignet sein kann, dem 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Eörper. 


39 


Geist eine Erholung zu* bieten. Selbst Kürturnen und Spiele 
verursachen eine, wenn auch nur geringe zentrale Ermüdung. 
Erholung kann daher nur durch vollkommene körperliche und 
geistige Ruhe erreicht werden. 

Diese Frage, ob das Zentralnervensystem durch körper* 
liehe, d. h. hauptsächlich Muskelermüdung, irgendwie in Mit¬ 
leidenschaft gezogen wird, hat auch Jotoiko^^) zu entscheiden 
gesucht. Vor und nach einer genügend langen Arbeit der 
rechten Hand mit dem Ergographen, wodurch also sicher Er¬ 
müdung des rechten Armes eintrat, wurde die Kraft der linken 
Hand mit dem Dynamometer gemessen. Fand sich ein Unter¬ 
schied in der Kraftleistung, so war damit bewiesen, daß die 
Ermüdung nicht auf den rechten Arm beschränkt geblieben 
war, sondern das Gehirn ebenfalls, und zwar allgemein in 
seiner Arbeitsfähigkeit geschädigt hatte. Joteiko fand nun 
drei Gruppen von Personen: 1. type dynamogöne nennt er 
solche Personen, die am besten der Ermüdung widerstehen 
(10 :18), ja sogar zu Anfang eine leichte Erhöhung der dynamo¬ 
metrischen Leistung zeigen. 2. type inhibitoire: sogleich 
nach der ersten Ermüdungskurve sinkt auch die dynamometri¬ 
sche Energie: die Ermüdung beschränkt sich also nicht auf 
eine Gehirnhälfte, sondern zeigt auch in den anderen Gehirn¬ 
zentren Hemmungserscheinungen. 3. type intermödiaire: 
zunächst besteht eine motorische Übererregbarkeit, die aber 
dann in ein beständiges Nachlassen der dynamometrischen 
Kraft übergeht. 

Den Dynamometer kann man auch in ähnlicher Weise wie 
den Ergographen anwenden, um die Ermüdung zu messen. 
Claviere®^) ließ bei ausgestrecktem Arm alle drei Sekunden 
15 mal hintereinander mit der Hand einen kräftigen Druck auf 
den Dynamometer ausüben. Die Kraftwerte stellen eine ähn¬ 
liche Kurve dar wie die Höhen der Muskelzuckungen beim 
Ergographen. Der Grad der Ermüdung läßt sich dement¬ 
sprechend ablesen. Nur schleichen sich hier viel leichter Beob¬ 
achtungsfehler durch auftretenden Schmerz, Transpiration der 
Hand, die das Festhalten erschwert, und durch ungeschickte 
Haltung des Apparates ein. Trotzdem prägte sich die Er¬ 
müdung nach einer beliebigen zweistündigen geistigen Arbeit 



40 


W. Bethge, 


in dem Nachlassen der Muskelkraft deutlich aus, während 
mittlere geistige Anstrengung keine sichtbare Schwächung der 
Muskelkraft erkennen ließ. 

Im Anschluß hieran will ich noch einige Untersuchungen 
erwähnen, die uns das Verständnis der vorherigen Beobach¬ 
tungen etwas erleichtern. Durch verschiedenfache Änderung 
der Versuchsanordnung bei den Ergographenmessungen waren 
Hoch und Kraepelinzu dem Schluß gekommen, daß die 
Ermüdung der Nervenzentren oder ihre Reizung die Zahl der 
Erhebungen in der Zuckungskurve des Muskels verändert, 
während die Höhe durch den Zustand des Muskels beeinflußt 
wird. Daß nun auch die fallenden Dynamometerwerte die zen¬ 
trale Depression anzeigen, konnte Joteiko®®) dadurch beweisen, 
daß er nach wies, daß das Sinken der Werte der Verminderung 
der Erhebungen gesetzmäßig entsprach. 

Schon oft haben wir gesehen, daß dem Nachlassen der 
einzelnen Fähigkeiten unter dem Einfluß der Ermüdung eine 
kurzdauernde Erregung vorausgeht. Man hat sich diese all¬ 
gemeine Erfahrung zunutze gemacht, indem man diese Er¬ 
regung durch künstliche Reizmittel hervorrief und dadurch die 
Ermüdungserscheinung etwas hinausschob. Wie F 6re®^) nach¬ 
gewiesen hat, sind diese wohl imstande, eine augenblickliche 
Steigerung der Leistungsfähigkeit sowohl in Quantität wie in 
Qualität herbeizuführen, aber die allgemeine Ermüdung schreitet 
trotzdem fort, ja sogar in erheblich schnellerem Tempo. Man 
benutzt dazu gewöhnlich Tee, Kaffee und Alkohol in den ver¬ 
schiedensten Formen. Dabei sind aber Unterschiede in den 
Reizantrieben dieser verschiedenen Mittel nach Hoch und 
Kraepelin®®) zu bemerken: „Während die ätherischen Öle 
eine Erleichterung der assoziativen Vorgänge und eine mäßige 
Erschwerung in der zentralen Auslösung von Bewegungs¬ 
antrieben erzeugen, erschwert der Alkohol von vornherein die 
Auffassung und die Assoziationen und ist nur mit einer vor¬ 
übergehenden motorischen Erregung verknüpft.“ Eine leichte 
zentrale motorische Erregung findet sich auch in der Ermü¬ 
dung, die nach körperlicher Arbeit eintritt, im Gegensatz zur 
geistigen Lähmung, die nach körperlicher Arbeit viel hoch¬ 
gradiger ist als nach geistiger (vergl. ßettmann^Q. Turn- 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


41 


stunden und lange Spaziergänge können daher nicht als Er¬ 
holung für geistige Arbeit betrachtet werden. 

Erwähnen möchte ich noch, daß die Ergographenkurve 
auch für einige geistig-abnorme Zustände charakteristisch ist, 
wie dies Breukink’^) zuerst untersucht hat. Die Hebungen 
halten sich auf den Ermüdungskurven von Hysterischen ziem¬ 
lich lange auf großer Höhe, um dann plötzlich abzubrechen. 
Nach einer Pause von zwei Minuten wird eine fast gleiche 
Kurve gezeichnet. Das plötzliche Aufhören ist nicht durch 
physiologische Ermüdung bedingt, sondern das Ermüdungs¬ 
gefühl wirkt bei Hysterischen derart lähmend, daß die Willens¬ 
energie plötzlich gehemmt wird. Bei Neurasthenikern bildet 
die Verbindungslinie der Spitzen der Hebungen nahezu eine 
gerade Linie. Die durchschnittliche Hebungshöhe, Anzahl der 
Hebungen und mkg Arbeit ist bei ihnen kleiner als bei Ge¬ 
sunden. 

Schließlich hat man noch die Akkomodations- und Kon¬ 
vergenzanstrengung der Augenmuskeln zur Feststellung der 
Ermüdung herangezogen. Nach geistiger Arbeit erlahmen auch 
diese ebenso gut wie die übrigen Körpermuskeln und ver¬ 
ursachen eine Störung in ihrer Funktion. Bei der Sehprüfung 
konnte daher Moore’*) besonders in quantitativer Hinsicht 
eine Verschlechterung unter dem Einfluß der Ermüdung nach 
geistiger Arbeit beobachten: Ungenauigkeit der einzelnen Ur¬ 
teile, Unregelmäßigkeit im Gang der Beurteilung und häufigeres 
Auftreten extremer Werte. 

Auch in der Pupillenreaktion, in der abnehmenden Größe 
des Gesichtsfeldes, in gewissen Abweichungen beim Farben- 
erkennen fand man Ermüdungssymptome, die aber bisher nicht 
weiter untersucht wurden (vergl. M. Offner’*). Soviel scheint 
festzustehen, daß bei geistiger Ermüdung eine Erschlaffung 
sämtlicher Augenmuskeln eintritt: die Pupille erweitert sich, 
die Linse wird abgeflacht, die Augen nehmen eine leichte 
Divergenzstellung ein (vergl. A. Binet et V. Henri’^). 

Wenn wir nun auch die Ermüdung als einen physiologi¬ 
schen Vorgang auffassen müssen, der unter günstigen Er¬ 
holungsbedingungen zur Restitutio ad integrum führt, so 



42 


W. Betbge, 


dürfen wir aber nicht außer acht lassen, daß sie auch vor¬ 
übergehende oder dauernde Schädigung des ganzen Körper¬ 
lebens veranlassen kann. Wir wissen z. B., daß eine Nacht¬ 
arbeit ohne besondere Erholung sich noch mehrere Tage in 
der Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit ungünstig 
bemerkbar macht. Daher ist es eben von der größten Wichtig¬ 
keit, daß jede einzelne Person die Grenzen ihrer Leistungs¬ 
fähigkeit und den Eintritt der Ermüdung kennt, um durch 
rechtzeitiges Aussetzen der Arbeit schädlichen Folgen zu ent¬ 
gehen. Ein objektives Maß dafür haben wir bis jetzt wenig¬ 
stens noch nicht, und das subjektive ist häufig zu unbestimmt, 
als daß man sich darauf verlassen könnte. Wohl äußert sich 
die Ermüdung zuweilen in dem Gefühl der Müdigkeit, doch 
kann dieses durch äußere Einflüsse und Gewohnheit soweit 
herabgesetzt werden, daß es leicht übersehen wird. Und dann 
treten plötzlich nach allzu langer geistiger Anstrengung die 
Erscheinungen der Erschöpfung auf, ohne daß sich Vorläufer 
gezeigt hätten. Man spricht dann gewöhnlich von Über¬ 
bürdung der Schulkinder (vergl. Kraepelin: Zur Überbür¬ 
dungsfrage). Gewiß kann eine geistige Überanstrengung in 
sehr vielen Fällen zugegeben werden, die aber meist durch 
häusliche Erziehungsfehler und Unsitten verschlimmert, anstatt 
daß sie durch eine vernunftgemäße Erholung und Lebensweise 
beseitigt oder wenigstens gemildert wird. Häufig ist es auch 
erbliche Belastung, die diesen Zustand der reizbaren Nerven¬ 
schwäche leichter hervortreten läßt. Namentlich Wilde r- 
muth^5) führt hierauf die Neurasthenie der Schulkinder zu¬ 
rück, die ebenso wie Hysterie, Chorea, Tic convulsif, Dementia 
praecox und Melancholie meist mit der Überanstrengung in 
der Schule in keinem kausalen Zusammenhang steht. Da¬ 
gegen stellt die werdende Geschlechtsreife, worauf Anton 
besonders hingewiesen hat, eine folgenschwere Krisis für das 
Nervensystem des Menschen dar. Hier kann schon eine rela¬ 
tive Überbürdung das auslösende Moment für spätere Nerven¬ 
krankheiten abgeben. Das Stiilestehen der seelischen Ent¬ 
wicklung, der Verlust der nachhaltigen Aufmerksamkeit, der 
auffallende Wechsel der Stimmungslage, die krankhafte Frage¬ 
sucht bilden häufig die ersten Symptome dieser Änderung im 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 43 

Zustand des Seelenlebens des Kindes, die schließlich zu einer 
vollständigen Charaktenimwandlung führen kann. 

Der Erwachsene scheint der Ermüdung gegenüber einen 
größeren Widerstand bieten zu können. Allerdings kommen 
auch hier in allen Berufsklassen durch geistige Überarbeitung 
Erschöpfungszustände vor, die unter dem mannigfaltigen Bilde 
der Neurasthenie und Erschöpfungspsychosen allgemein be* 
kannt sind. Nach v. Krafft-Ebing”) haben wir zwei ver¬ 
schiedene Krankheitsbilder wohl zu unterscheiden: Die Nervosi¬ 
tät ist eine meist angeborene krankhafte Veranlagung des 
zentralen Nervensystems, bei der die Reizschwelle abnorm tief 
liegt und die Hemmungsvorgänge mangelhaft ausgebildet sind. 
Durch zu frühe und unzweckmäßige Anspannung der Kräfte, 
durch die Hast und unter dem Drang des Strebertums wird 
diese Anlage nicht nur nicht an der Entwicklung gehindert 
oder wenigstens in vernünftige Bahnen gelenkt, sondern die 
einzelnen Symptome werden hochgradig verschlimmert bis zur 
Irreparabilität. Die Neurasthenie ist eine krankhafte Steige¬ 
rung und Fixierung physiologischer Vorgänge der Ermüdung, 
vielleicht eine trophische Störung der Ganglienzellen. Sie 
wird meist erworben durch geistige Überanstrengung und 
äußert sich in der Herabsetzung der Leistungsfähigkeit sämt¬ 
licher Körperorgane. Marie deManac^ine^®) stellt zwei 
Hauptgruppen von Überarbeiteten auf, die in einem gewissen 
Gegensatz zu einander stehen, und die sie folgendermaßen 
charakterisiert: Die einen Menschen sind schlaff und gleich¬ 
gültig, haben Kopfschmerzen, eine unangenehme Empfindung 
von Leerheit und Schwere im Kopf, sprechen und schreiben 
langsamer als sonst und leiden an einer Schlafsucht, die nie 
zur Erquickung führt. Bei den anderen zeigt sich eine über¬ 
triebene Erregbarkeit und Unruhe, die geringste Kleinigkeit 
regt sie auf. In ihren Schriftstücken finden sich viele Aus¬ 
lassungen und Wiederholungen von Buchstaben, Silben und 
Wörtern, sie gebrauchen viele Superlative, haben Zwangsge¬ 
danken und leiden an Kopfschmerz und Schlaflosigkeit. Wäh^ 
rend wir diesen Zustand als das Erregungsstadium der geistigen 
Überarbeitung bezeichnen dürfen, haben wir in der ersten 
Klasse Menschen des Lähmungsstadiums vor uns. Leider 



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v-Edrper ain^^rkfe. ' Ihv^de hohem Gira 
'di6\J^svhhe;:^ Imstande ist, 'Krankheiten, und Kranke 

4mit^kö$iänd6 auszuHi-settv d u ke in ßoche 

. hb#;4'l^lat^OT izdhli'eichft Bas ganke grnße 

, ; ^leek; dM^ m Efankheden\ gehört hierher. Bie Be- 

. ;sbh:weTd»h sind aher nicld nur 
; kÖrps,r.iioh^^^s^^ söferi .üachinsseo öder vergehwiädeiiy 

■sühgld ähdere' Kichtiitig gegeben isk Förcht, 

Schreck^ Angrti dbe^i nnßh^^ I \ind WillenstaGgkmk 

kdti&dh Jrtahk^^ ■;. ' : ■ 

gn lasaeh ;kin.d .sphliehH<di'hOßh 
. ' die geistige Anstrengung; indirejiti fdr die 
körpörlich«^. iSntW daff KörperXeheÄ hach diöh idehi;,.; 

Eahächät vertrsähht diei. ühei’tuäiiigß AnstVengung 
0nangeüehmö, ja-. seihet .schädliche Erseheiniingen..Min.’shh’i) 
erwähnt in goihcm Buehft «Bife Hrmhdung,“ (hö;Tatäach«\: 4^^ 
bei 25 % der i^iefter: Gjmnä&iartbn'seh^ leicht- emiAkkomoda'- 
tränskrampr dlk eintritt. Die Leichtig¬ 

keit,; de» . Atigenuauskel. -Itf.,- andatihrnde Kontrakfionr .zu ver- 
■setzen, bewirkte alJinählijch eihö Fonnverimdening; dek Auges , 
und weiterhin Kurzsichtigkeit. 0ie Anstrengung, die das 
Auge beim BetfUchteQ nufe maphoii nmß^ ,isi die 

.:gewc.bnlÜ3hrte: ürtäöhe 'diA'Kdrt’^'^btigkeit in den Bchulenfe^^ 
■Eine äbnU'#0 .Erklärung^^^, Kürtäichtigkiöh ' 

' K.hg'^T)' •,_ ■ dpr^' wotjlger Ab) uhhhsöftighh- ^ äiiSefeö; '^etbdl this&e.- 
. >Ah. Shlöi'e.hy .die Art idei“ 'BeäChHftigiing’ Ufid- die, Ahlage. des 






Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 


45 


einzelnen dafür anschnldigt. Die Kurzsichtigkeit entsteht unter 
dem Einfluß der Lese- und Schreibarbeit in der Zeit des 
Wachstums. Das kurzsichtige Auge erhält dabei einen größeren 
Längsdurchmesser. Die Formveränderung wird hervorgerufen 
durch das Wachstum der unter dem Druck der Naharbeit 
sich kontrahierenden Augenmuskeln. Die Disposition sei aber, 
und das ist das Wesentliche dabei, im Bau des Gesichts¬ 
schädels zu suchen, wie er durch Messungen an 400 Leichen 
festgestellt hat. Interessant sind einige statistische Zahlen, 
die Dr. Seggel^®) durch Untersuchung von Kadetten und 
Soldaten der bayerischen Armee gefunden hat. Danach sind 
kurzsichtig: 

1. unter den Soldaten vom Lande und aus Landschulen 

2 %, 

2. von den städtischen Lohnarbeitern, die meist aus Volks¬ 
schulen hervorgegangen sind, 4 bis 9®/o, 

3. unter den Handwerkern, Kaufleuten und Angestellten 
44 »/o, 

4. unter den Einjahrig-Freiwilligen 58®/o, 

5. und von denen, die das Gymnasium ganz durchgemacht 
haben, 63®/o. 

Wir sehen also, wie hier die höhere Bildung und damit 
die größere geistige Anstrengung auf das Sehvermögen in 
steigendem Maße schädlich eingewirkt hat. 

Auch das Stubensitzen, das leider unweigerlich mit gei¬ 
stiger Arbeit verbunden ist, überhaupt die geringe körperliche 
Bewegung haben nachteilige Wirkungen für den Körper zur 
Folge. Der Kopf wird infolge des Blutandranges bei geistiger 
Anstrengung überhitzt, die extremen Körperteile, namentlich 
Hände und Füße, erleiden Blutverlust und werden kalt. Nicht 
allein bereitet das Kaltwerden der Füße ein unangenehmes 
Gefühl, sondern die andauernde veränderte Blutverteilung 
lähmt das Vasomotorensystem und erschwert dadurch die 
Wärmeregulation, wodurch einer Erkältung Tor und Tür ge¬ 
öffnet wird. Der Körper ist nicht mehr imstande, auf Tem¬ 
peraturschwankungen in gehöriger Weise zu reagieren. So 
sehen wir denn viele Stubenarbeiter bei dem geringsten Luft¬ 
zug eine Erkältung davontragen. Und leider ist diese oft der 



46 


W. Bethge, 


Anlaß zum Ausbrucli einer schwereren Krankheit, die den 
meist an und für sich nicht kräftigen Organismus in große 
"Gefahr bringen kann. 

Auch Verdauung und Ernährung haben unter geistiger 
Anstrengung indirekt zu leiden. Die veränderte Blutzirkulation 
ruft eine leichte Störung der Funktionen der inneren Organe 
hervor, wodurch die Resorption und Verbrennung der Nähr¬ 
stoffe verzögert resp. herabgesetzt wird. Die mangelnde Körper¬ 
bewegung führt zu einer Verlangsamung der Darmperistaltik 
und damit zu habitueller Obstipation. Diese hat wiederum Kopf¬ 
schmerzen, Unbehagen und Übelkeit im Gefolge. Mit einem 
Wort drückt dies Tissot aus, wenn er sagt: L’homme qui pense 
le plus, digöre le plus mal. 

Die häufig noch ungenügend ventilierte Stubenluft vermag 
dem Körper keine Erfrischung und Erholung zu bieten. Der 
Hautreiz und der Sauerstoffwechsel sind nicht so rege wie in 
frischer Luft. Das Fehlen jeglicher körperlicher Bewegung 
läßt die Muskeln erschlaffen und macht sie kraftlos, so daß 
eine allgemeine körperliche wie psychische Trägheit eintritt. 

Schließlich ist häufig noch ein Sinken der Lebensfreude 
und der Freude an der Natur zu bemerken, das einerseits 
-durch das Stubenhocken und andererseits durch das Grübeln 
über abstrakte Ideen veranlaßt wird. Das ethische Gefühl 
wird durch philosophische Begriffe bestimmt und zuweilen in 
absurde Bahnen gelenkt, anstatt durch rein natürliches Emp¬ 
finden geleitet zu werden. Der belebende Hauch des Lebens 
in der Natur wirkt auch erfrischend auf den menschlichen 
Körper und Geist, die ja doch nur Teile von ihr sind. Ein¬ 
geschlossen in seine vier Wände wird auch der Mensch ver¬ 
trocknen wie eine Blume, die in den Keller gestellt wird. 
Das Bücherstudium allein bringt uns nicht vorwärts, sondern 
wer wirklich leben will, der muß auch täglich aus dem Quell 
des Lebens trinken, der muß vertraut sein mit der Natur und 
dort seine Erholung suchen, wo allein er sie finden kann. 

So kann geistige Arbeit ebenso wie die körperliche, in 
übermäßiger und unzweckmäßiger Weise betrieben, für den 
Körper schädliche Folgen haben. Aber im allgemeinen ist sie 
dem Gehirn ebenso zuträglich wie die Bewegung dem ganzen 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den KOrper. 


47 


Körper. Aufgabe der Zukunft wird es sein, die geistige Aus¬ 
bildung und Fortentwicklung so zu gestalten, daß auch der 
Körper zu seinem Rechte kommt und Geist und Körper harmo¬ 
nisch weiter entwickelt werden. 


Literatur. 

1. Ct. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen beiden 
Menschen und bei den Tieren. Aus dem Englischen von J. 
V. Carus. 5. Aufl. 1901. 

2. Thanhoffer. Der Einfluß der Gehirntätigkeit auf den Puls. 
Pflügers Archiv XES, 1879. 

3. A. Mosso, Die Temperatur des Gehirns. Leipzig 1894. 

4. — Die Ermüdung. Aus dem Italienischen übersetzt von J. 
Glinzer. Leipzig 1892. 

5. E. Leumann, Die Seelen tätigkeit in ihrem Verhältnis zu 
Blutumlauf und Atmung. Philosophische Studien V. 

€. A. Binet et P. Sollier, Recherches sur le pouls cerebral 
dans ses rapports avec les attitudes du corps, la respiration 
et les actes psychiques. Arch. de physiol., Oct. 1895. Ref. 
dans l’annee psych. ü, 1896. 

7 . — et J. Courtier, La circulation capillaire de la main 
dans ses rapports avec la respiration et les actes psychiques. 
Annee psychol. II, 1896. 

8. — — Effet du travail intellectuell sur la circulation capil¬ 
laire. L’annee psychol. III, 1897. 

9. — — Les changements de forme de pouls capillaire aux 
differentes heures de la journe. A. ps. III. 

10. -Influence de la vie emotionelle sur le coeur, la respi¬ 

ration et la circulation capillaire. A. ps. III. 

11. — et Vaschide, Influence du travail intellectuel, de.s 
emotions et du travail physique sur la pression' du sang. 
A. ps. III. 

12. A. Lehmann, Die körperlichen Äußerungen psychischer 
Zustände. I. Teil: Plethysmographische Untersuchungen. Über¬ 
setzung von F. Beudixen. Leipzig 1899. 

13. Prederik G. ßonser, A Studie of the Relation between 
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l’annee psych. X, 1904. 

14. E. Gley, Etudes fle psychologie physiologique et patholo- 
gique. Ref. dans l’annee psych. X, 1904. 

15. G. Martins, Über die Lehre von der Beeinflussung des 
Pulses und der Atmung durch psychische Reize. Ref. im 
Arch. f. ges. Psychol. VIII, 1906. 



48 W. Bethge, 

16. Zoneff und Meumann, Über Begleiterscheinungen psychi¬ 
scher Vorgänge in Atem ni.d Puls. Wundt, Phil. Studien 
Bd.XVIII, 1903. 

17. Mathilde Kelchner, Die Abhängigkeit der Atem- und 
Pulsveränderung vom Reiz und Gefühl. Arch. f. ges. Psych. 
II, Leipzig 1905. 

18. H. Berger, Zur Lehre von der Blutzirkulation in der 
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von Medikamenten. Jena 1901. 

19. — Uber die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände. 
I. Teil 1904, II. Teil 1907. Jena. 

20. E. Weber, Der Einfluß psychischer Vorgänge auf den 
Körper. Berlin 1910. 

21. W. Frankfurter und A. Hirschfeldt. Das Verhältnis 
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22. G. Obigi, Influenza del lavoro intellectuale prolangato et 
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psych. Vni, 1902. 

23. S. Landmann, Über die Beziehung der Atmung zur psy¬ 
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1895. 

24. Speck, Untersuchungen über die Beziehungen der geistigen 
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kologie XV, 1882. 

25. Mainzer, Stoffwechselstudien über den Einfluß geistiger 
Tätigkeit und protrahierten Wachens. Monatsschr. f. Psy¬ 
chiatrie u. Neurologie XIV, 1903. 

26. S. Baglioni, Über das Sauerstoffbedürfnis des Zentral¬ 
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V. M. Verworn, V, 1905. 

27. Pidaucet, Le travail intellectuel dans ses rolations avec 
la thermogenese. These de la faculte de Medecine de Nancy 
1899. Ref. dans l’annee psych. VII, 1901. 

28. H. Berger, Untersuchungen über die Temperatur des Ge¬ 
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29. W. Preyer, Die Seele des Kindes, Beobachtungen über die 
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30. M. Verworn: Die Mechanik des Geisteslebens. Leipzig 1907. 

31. E. V. Cyon, Das Ohrlabyrinth als Organ der matbemati- 
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32. — Leib, Seele und Geist. Versuch einer physiol. Differen¬ 
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1909. 



Der Einfluß geistiger Arbeit auf den EOrper. 49 

33. A. Binet, Etüde sor la Sensation et l’image. L’annee ps. 
1906. 

34. J. V. Kries, Über die Natur gewisser Gehirnznstände. Zeit¬ 
schrift f. Physiol. und PsychoL VIII, 1896. 

35. Tb. Lipps, Psychische Vorgänge und psychische Kausalität. 
Zeitschr. f. Psych, u. Phys. XXV, Leipzig 1901. 

36. A. Höf 1er, Psychische Arbeit. Zeitschr. f. Psych. u. Phys. 
Vm, 1896. 

37. A. Oehrn, Experimentelle Studien zur Individualpsychologie. 
Psychologische Arbeiten I, herausg. v. E. Kraepelin. Leipzig 
1890. 

38. W. Weichardt, Über Ermödungsstoffe. Stuttgart 1910. 

39. E. Kraepelin, Über die Beeinflussung einfacher psychi¬ 
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40. R. Rivers und E. Kraepelin, Über Ermüdung und Er¬ 
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41. Burgerstein, Arbeitskurve einer Schulstunde. Zeitsohr. f. 
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42. Laser, Über geistige Ermüdung beim Schulunterricht. Zeit¬ 
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43. Kraepelin, Über geistige Arbeit. Jena 1897. 

44. Richter, Unterricht und geistige Ermüdung. Eine schul- 
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46. W. Specht, Klinische Ermüdungsmessnngen. L Teil; Die 
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47. L. Höpfner, Über die geistige Ermüdung von Schulkin- 
dem. Zeitsch. f. Psych. u. Phys. VI, 1894. 

48. Friedrich, Untersuchungen über die Einflüsse der Arbeits- 
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49. E. Amberg. Über den Einfluß von Arbeitspausenlauf die 
geistige Leistungsj^igkeit. Psychol. Arb. I. 1896. 

60. Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. Leipzig 1886. 

61. C. RitteV, Ermüdungsmessungen. Zeitschr. f. Psych. und 
Phys. XXIV, 1900. 

62. Ebbinghaus, Über eine neue Methode zur Prüfung gei¬ 
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63. Th. Elsenhaus,iNachtrag zu Ebbinghaus: „Kombinations- 
methode*^ Ebenda. 

64. E. Wiermsa, Die Ebbinghanssche Kombinationsmethode. 
Ref. Ebenda XXX, 1902. 


4 



50 


W. Bethge, 


55. Griesbach, Energetik und Hygiene des Nervensystems in 
der Schule, schulhygienische Untersuchungen. 1895. 

56. W. Weygandt, Über den Einfluß des Arbeitswechsels auf 
fortlaufende geistige Arbeit. Psychol. Arb. II, 1899. 

57. E. Römer, Über einige Beziehungen zwischen Schlaf und 
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59. L. Wagner, Unterricht und Ermüdung. Ermüdungsmes¬ 
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60. J. H. Leuba, On the Validity of the Griesbach Method of 
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61. L. Bolton, Ermüdung, Raumsinn der Haut und Muskel¬ 
leistung. Psychol. Arb. IV. Leipzig 1904. 

62. A. Binet, Sur la fatigue intellectuelle scolaire. L’annee 
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63. A. Mo SSO, Über die Gesetze der Ermüdung. Untersuchungen 
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64. Oseretzkowsky und Kraepelin, Über die Beeinflus¬ 
sung der Muskelleistung durch verschiedene Arbeitsbe¬ 
dingungen. Psychol. Arb. III, 1901. 

65. A. Bum, Über periphere und zentrale Ermüdung. Vortrag. 
Wien und Leipzig 1896. 

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67. J. Claviöre, Le travail intellectuel dans ses rapports avec 
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68. Hoch und Kraepelin, Über die Wirkung der Teebestand¬ 
teile auf körperliche und geistige Arbeiten. Psych. Arb. I, 
1895. 

69. Ch. Pere, Etüde experimentale de l’influence des excitations 
agreables et des excitations desagreables sur le travail. 
L’annee psych. VII, 1901. 

70. ßettmann, Über die Beeinflussung einfacher psychischer 
Vorgänge durch körperliche und geistige Arbeit. Psycb. 
Arb. I. 

71. Breukink, Über Ermüdungskurven bei Gesunden und bei 
einigen Neurosen und Psychosen. Journ. f. Psychol. und 
Neurologie 4. 

72. J. M. Moore, Studies of Fatigue. Ref. in Zeitschr. für 
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73. M. Offner, Die geistige Ermüdung. Berlin 1910. 

74. A. Binet et V. He nri, La fatigue intellectuelle. Paris 1898. 



Der Einflafi geistiger Arbeit auf den KOrper. 


51 


75. Wildermuth, Schule und Nervenkrankheiten. Vortrag. 
Zeitschr. f. die Behandlung Schwachsinniger XXE, 1905. 

76. G. Anton, Über geistige Ermüdung der Kinder im ge¬ 
sunden und kranken Zustande. Halle 1900. 

77. V. Krafft-Ebing, Nervosität und neurasthenische Zu¬ 
stände. Wien 1896. 

78. Maria de Manaceine, Die geistige Überbürdung in der 
modernen Kultur. Leipzig 1905. 

79. H. Oppenheim, Nervenkrankheit und Lektüre. Nerven¬ 
leiden und Erziehung. Nervosität des Kindesalters. Drei 
Vorträge. Berlin 1907. 

80. D. Hack Tuke, Geist und Körper. Studien über die Wir¬ 
kung der Einbildungskraft. (Jbers. von H. Kornfeld. Jena 
1888. 

81. J. Stilling, Die Kurzsichtigkeit, ihre Entstehung und Be¬ 
deutung. Ref. in Arch. f. d. ges. Psychol. HI, 1904. 



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Leipzig, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Unr er rieht in Magdeburg, Prot. Dr. 
Ton Wagner in Wien, Nerrenarzt Dr. M. Weil in Stattgm, Direktor 
Dr. Wnlff in Oldenboig i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin 

heraasgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoch6, 

Freiburg i. Br. 


Band IX, Heft 4. 



Periodizität und periodische Oeistesstörungen. 

Von 

Dr. Franz Mugdan, Freiburg i. B. 

Der Begriff der Periodizität gehört der verhältnismäßig 
kleinen Klasse derjenigen Begriffe an, die sowohl in der Mathe¬ 
matik bezw. der mathematischen Naturwissenschaft, als auch 
in der Biologie bezw. der Medizin und ihren Untergruppen eine 
bedeutsame Bolle spielen. Es ist kein bloßer Zufall, daß die 
Klasse dieser Begriffe so eng umgrenzt ist; es hat dies viel¬ 
mehr seinen guten Grund, und zwar liegt dieser in der prinzi¬ 
piellen Verschiedenheit der mathematischen Begriffsbildung auf 
der einen, der biologischen, überhaupt naturwissenschaftlichen 
Begriffsbildung auf der anderen Seite. Beide Disziplinen, Mathe¬ 
matik und Naturwissenschaft, haben, da sie beide Seinswissen¬ 
schaften sind, das eine Gemeinsame, daß sie ihr Substrat aus 
dem Seienden, d. h. aus der objektiven Wirklichkeit zu formie¬ 
ren haben. Sie haben es zu formieren, da ja die objektive 
Wirklichkeit selbst schlechthin unerkennbar ist; sie ist, wie es 
Rickert in einer zunächst paradox, bei näherem Zusehen aber 
durchaus zweckmäßig erscheinenden Terminologie ausgedrückt 
hat,ein heterogenesKontinuumund als solchesprinzipiellirrational. 
Die Wissenschaft hat nun zwei Möglichkeiten, um dieses hete¬ 
rogene Kontinuum der wissenschaftlichen Bearbeitung zugäng¬ 
lich, also rational, zu machen; nämlich: entweder sie betont 
die Kontinuität und verzichtet auf die Heterogenität, studiert 
also ein homogenes Kontinuum — das tut die Mathematik bezw. 
die mathematische Naturwissenschaft —, oder aber sie betont 
die Heterogenität und verzichtet auf die Kontinuität, studiert 
also ein heterogenes Diskretum — das tut die experimentelle 
und beschreibende Naturwissenschaft. Beide Wissenschaften 


1* 



4 


Dr. Franz Mugdan, 


basieren also auf konträren Voraussetzungen, und daraus erhellt 
sofort, daß auch die mathematische und die naturwissenschaft¬ 
liche Begriffsbildung mit Notwendigkeit gegensätzlich sein 
müssen. Hieraus folgt des weiteren, daß ein der Mathematik 
und der Naturwissenschaft gemeinsamer Begriff, wie es die 
Periodizität ist, in beiden Wissensgebieten eine ganz rerschie- 
dene Bedeutung besitzen muß. Der mathematische Begriff der 
Periodizität besitzt gegenüber dem naturwissenschaftlichen den 
zeitlichen und auch den logischen Primat, weshalb wir uns zu¬ 
nächst mit jenem beschäftigen. 

Wir hatten gesagt, die Mathematik verwandele die hetero¬ 
gene kontinuierliche objektive Wirklichkeit, um sie mathematisch 
faßbar zu machen, in ein homogenes Kontinuum. Sie hebt 
dadurch eine Kardinaleigenschaft der Wirklichkeit, nämlich 
das Qualitative, auf und beschränkt sich somit auf das Studium 
der reinen Quantität. Daraus folgt nun sofort mit Notwendig 
keit, daß die mathematischen Begriffe aus bloßen Quantitäts¬ 
beziehungen resultieren müssen. Dieses Grundprinzip der mathe¬ 
matischen Begriffsbildung beansprucht selbstverständlich auch 
für den mathematischen Begriff der Periodizität seine Geltung. 
Das kommt jedoch nur dann klar zur Anschauung, wenn wir 
das Periodische oder, besser gesagt, die periodische Funktion 
in rein mathematischer Form definieren. Wir haben da die 
mannigfachsten, durchaus gleichberechtigten Möglichkeiten der 
Begriffsbestimmung; ob wir sagen, eine periodische Funktion 
bleibt ungeändert bei Vermehrung des Argumentes um Perioden¬ 
vielfache, oder eine periodische Funktion läßt sich in eine Fou¬ 
rier’sehe Reihe entwickeln, oder eine periodische Funktion läßt 
sich durch eine Sinuslinie darstellen — es wird damit stets 
der gleiche Begriff getroffen und die eine Definition involviert 
zugleich die anderen. Alle drei Definitionen haben das eine 
Gemeinsame, daß sie bloße Quantitätsrelationen sind; dagege^n 
besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den ersten beiden 
Begriffsbestimmungen auf der einen, der dritten auf der anderen 
Seite, wenn wir sie vom Standpunkte allgemeiner Begriffskritik 
aus untersuchen. Die beiden ersten Definitionen basieren offen¬ 
bar lediglich auf dem reinen Zahlbegriffe; es gehen in sie in¬ 
folgedessen außer rein logischen Bestandteilen lediglich solche 



Periodizität und periodische Geistesstdrungen. 


5 


nichtlogische Elemente ein, wie sie bereits für die Bildung des 
Zahlbegriffes unumgänglich notwendig sind. Die dritte Defini¬ 
tion «lagegen gibt den Begriff in geometrischer Form, sie ver¬ 
wendet also außer dem rein Mathematischen noch ein Anschau¬ 
liches, den Raum. Es ist nun für das Folgende unzweckmäßig, mit 
dem Periodizitätsbegriffe in seiner rein mathematischen Form 
zu operieren; wir brauchen vielmehr eine Umschreibung, die 
zwar, wie alle Umschreibungen des Mathematischen, etwas In¬ 
korrektes an sich hat, aber trotzdem für unsere Zwecke von 
Vorteil ist. Wir wollen dabei von dem Begriffe der periodischen 
Funktion abstrahieren und uns lediglich an das Periodische 
selbst halten. Eine umschreibende Begriffsbestimmung, wie wir 
sie jetzt zu geben beabsichtigen, kann nicht allein auf mathe¬ 
matischen Begriffen basiert werden; es muß in sie unbedingt eine 
der beiden Anschauungsformen, entweder der Raum oder die Zeit, 
einbezogen werden. Unter diese bei den vorliegenden Möglich¬ 
keiten wählen wir die letztere, definieren also Periodizität in 
der Zeit. Wir geben dann die folgende Begriffsbestimmung: 

Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der 
Periodizität zu, wenn in zeitlich gleichen Intervallen gleiche 
Ereignisse eintreten. 

In diese umschriebene Definition gehen Qualitäten, wie 
es Ereignisse doch sind, nur scheinbar ein. Was wir 
hier notgedrungen mit dem Worte „Ereignis“ bezeichnen, 
das ist in der Mathematik bezw. der mathematischen Physik 
nichts als eine reine Quantität, z. B. die Exkursionsgröße eines 
Pendels, die räumliche Lage eines Planeten in bezug auf ein 
zur Sonne fixes Kordinatensystem, die Länge einer elektrischen 
Welle oder ähnliches mehr. 

Wir werden nun im folgenden, um zu einem für die Bio¬ 
logie und ihre Untergruppen brauchbaren Periodizitätsbegriffe 
zu gelangen, so verfahren: Zunächst stellen wir den Versuch 
an, ob es möglich ist, den mathematischen Periodizitätsbegriff 
ohne jede formale oder inhaltliche Änderung auf die Biologie 
zu übertragen. Es wird sich zeigen, daß dieser Versuch not¬ 
wendigerweise scheitern muß. Sobald dieses negative Faktum 
erwiesen ist, diskutieren wir ad 1 die Frage: Welches sind 
die notwendigen Modifikationen, denen man unsere obige 



6 


Dr. Franz Magdan, 


Begriffsbestinuunug unterwerfen muß, um den allgemeinen 
Prinzipien biologischer Begriffsbildnng zu genügen? Und ad 2: 
Sind diese notwendigen Modifikationen auch hinreichend, 
um dem Periodizitatsbegriffe seine für die Biologie und speziell 
für die Neuro- und Psychopathologie zweckmäßigste Form 
zu verleihen? 

Wir versuchen also, dem eben vorgezeichneten Programme 
entsprechend, zunächst, ob die mathematische Form des Perio¬ 
dizitätsbegriffes auch für die Biologie brauchbar ist. Daß dies 
nicht der Fall sein kann, sehen wir sofort ein, wenn wir an 
unsere anfänglichen allgemeinen Erörterungen über mathe¬ 
matische und biologische Begriffsbildung denken. Wir hatten 
da gesehen, daß die Mathematik ein homogenes Kontinuum 
studiert, daß sie infolgedessen nur quantifizierbare Größen kennt, 
und daß demnach auch der Begriff des »Ereignisses“, den wir 
in unsere umschriebene Definition des Periodizitätsbegriffes 
einbezogen hatten, nichts ist als eine bloße Quantität. Die 
Biologie dagegen studiert ein heterogenes Diskretum; daraus 
resultiert aber, daß die Qualität die für ihre Begriffsbildung 
maßgebende Kategorie sein muß. Wenn wir also unsere Definition 
des Periodizitätsbegriffes zunächst formal ungeändert lassen 
können, so müssen wir doch sofort eine inhaltliche Modifikation 
vornehmen; wir müssen nämlich unter dem Begriffe „Ereignis“ 
nun nicht mehr bloß, wie in der Mathematik, eine scheinbare, 
sondern eine durchaus reale Qualität verstehen. Sobald wir 
nun aber diese erste Modifikation vorgenommen haben, drängt 
sich uns sofort mit Notwendigkeit eine zweite auf. Was sol¬ 
len wir nämlich in der Biologie unter gleichen Ereignissen 
verstehen? Die biologischen Ereignisse sind, wie wir soeben 
gesehen haben, reale Qualitäten, und von der Gleichheit — 
vorläufig natürlich noch immer der mathematischen Gleich¬ 
heit — zweier Qualitäten zu reden ist widersinnig. Wir 
sehen uns also sofort gezwungen, den Begriff der mathema¬ 
tischen Gleichheit durch etwas anderes zu ersetzen, und zwar 
wählen wir, wie die Entwickelung gelehrt hat, zweckmäßiger¬ 
weise als dieses andere das begrifflich Gleiche oder, in 
weiterer Fassung, das logisch Assoziierte. Diese logische 
Assoziierung kann nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten 



Periodizität and periodische Geistesstörungen. 


7 


vorgenommen werden, nämlich nach dem der Ähnlichkeit und 
dem der Unähnlichkeit; fassen wir diese beiden Verknüpfnngs- 
formen, einer mathematischen Analogie folgend, nnter dem Be¬ 
griffe der logischen Verwandtschaft zusammen, so hätten wir 
als erste vorläufige Bestimmung des biologischen Periodizi¬ 
tätsbegriffes die folgende: Einem Systeme von Ereignissen 
kommt die Eigenschaft der Periodizität zu, wenn in' zeitlich 
gleichen Intervallen logisch verwandte Ereignisse eintreten. 
Diese Definition deckt sich — nicht der Form, wohl aber dem 
Inhalte nach — mit der Begriffsbestimmung, die Hitz ig gegeben 
hat. Niedergelegt ist sie in seiner 1898 in der Berliner Klinischen 
Wochenschrift erschienenen Arbeit: Über die nosologische 
Auffassung und über die Therapie der periodischen* Geistes¬ 
störungen. 

Die Hitzigsche Definition hat nun einen Mangel, der wieder 
auf der Gegensätzlichkeit der mathematischen und der biologi¬ 
schen Begriffsbildung beruht. Der mathematische Begriff kann 
und muß unabhängig von jeder Eausalbeziehung gegeben werden, 
der biologische muß dagegen unbedingt eine solche enthalten, 
d. h. es muß bereits in der Begriffsbestimmung gesagt werden, 
wodurch denn die mehrfache Wiederkehr der verwandten Er¬ 
eignisse bedingt sei. Sie darf natürlich nicht bedingt sein 
durch ein in gleichen Intervallen sich wiederholendes exogenes 
Moment — wir würden dann zu Trivialitäten gelangen, wir 
müßten z. B. bei einer Frau, die zufällig eine Reihe von Kindern 
gebärt, die im Alter untereinander je um ein Jahr differieren, 
von einer periodischen Gebärtätigkeit reden u. ähnl. m. Es 
muß vielmehr die Wiederkehr der Ereignisse „endogen“ bedingt 
sein, sie muß, wie es Ho che in seiner Arbeit „Über die leichteren 
Formen des periodischen Irreseins“ formuliert hat, „ohne äußeren 
Anlaß oder doch ohne entsprechenden äußeren Anlaß erfolgen, 
aus Gründen, die lediglich in der Organisation des Betroffenen 
liegen.“ 

Die letzte Modifikation, die wir mit unserer Definition 
vorzunehmen haben, um den allgemeinen Prinzipien biologischer 
Begriffsbildung zu genügen, hat sich auf die zeitlich gleichen In¬ 
tervalle zu beziehen. Es gilt hier für den Begriff der Gleich¬ 
heit genau dasselbe, was wir bei Gelegenheit der „gleichen 



8 


Dr. Franz Mngdan, 


Ereignisse“ gesagt hatten; es kann natürlich von einer Gleich¬ 
heit der Intervalle im mathematischen Sinne nicht die Rede 
sein, da sich in der „Natur“ niemals mathematische Gleichheiten 
vorfinden können. Wir ersetzen demnach den Begriff der zeit¬ 
lichen Gleichheit durch den der Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßig¬ 
keit. Dabei müssen wir es uns versagen, an dieser Stelle den 
Begriff der Gesetzmäßigkeit näher zu bestimmen; es würde 
uns das viel zu weit in rein logische Probleme — über das 
Verhältnis der „Natur“ zur objektiven Wirklichkeit und über 
die erkenntnistheoretische Bedeutung der Naturgesetzlichkeit — 
hineinführen, und wir beschränken uns deshalb darauf, auf das 
in diesen Fragen bahnbrechende moderne Buch, auf Rickerts 
„Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ hin¬ 
zuweisen. 

Wir haben nunmehr die Klasse derjenigen Modifikationen, 
die mit unserer ursprünglichen mathematischen Definition der 
Periodizität vorgenommen werden mußten, um diese mit den 
biologischen Grundprinzipien in Einklang zu bringen, erschöpft 
und damit die folgende vorläufige Begriffsbestimmung gewonnen: 

Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der 
Periodizität zu, wenn in zeitlich gesetzmäßigen Intervallen 
logisch verwandte Ereignisse eintreten, aus Gründen, die ledig¬ 
lich in der Organisation des Betroffenen liegen, ohne daß dafür 
ein äußerer Anlaß oder doch ein entsprechender äußerer An¬ 
laß vorläge. 

Unserem Programme getreu untersuchen wir nunmehr, ob 
die eben näher präzisierten notwendigen Modifikationen 
unserer ursprünglichen Definition des Periodizitätsbegriffes 
gleichzeitig auch hinreichend sind, um der Definition die 
für die Biologie im allgemeinen, für die Medizin und ihre 
Untergruppen im besonderen zweckmäßige Form zu verleihen. 

Wir fragen da zunächst: Gibt es überhaupt in der Biologie 
Systeme von Ereignissen, die in dem eben definierten Sinne 
als periodisch zu bezeichnen sind? Diese Frage wird unbe¬ 
dingt von jedem bejaht werden. Die normale menschliche 
Physiologie liefert da Beispiele genug. Dem Schlafbedürfnis, 
dem Hungergefühl, der Körpertemperatur, der weiblichen 
Menstruation und vielen anderen Ereignissen kommt die Eigen- 



Periodizität und periodische OeistesstOrungcn. 


9 


schalt der Periodizität im oben definierten Sinne zu. Ja, es 
gibt eine Kategorie von Forschem, die behaupten, daß über¬ 
haupt alles biologische Geschehen — ganz gleich, ob es sich 
im Pflanzen- oder im Tierreiche abspielt — einer durchaus 
gesetzmäßigen Periodizität unterworfen ist, mit anderen Worten, 
daß die Periodizität das regulative Prinzip aller biologischen 
Vorgänge ist. 

Diese Lehre knüpft sich, wenn wir von Vorläufern wie 
Havelock EUis u. a. absehen, vornehmlich an zwei Namen, 
an die Fließ’ und Swobodas. Zwischen beiden hat lange 
Zeit hindurch ein Prioritätsstreit bestanden; dieser ist nun 
zweifellos zugunsten F1 i e ß ’ entschieden, ja es darf sogar als 
feststehend erachtet werden, daß Swoboda seine Gedanken 
direkt oder indirekt von Fließ übernommen hat. Wir können 
uns deshalb, speziell, da es uns an dieser Stelle natürlich nur 
auf prinzipielle, nicht aber auf besondere Fragen ankommen 
kann, lediglich auf eine Betrachtung der Fließ sehen Theorie 
beschränken. Man könnte uns nun vielleicht von vornherein 
den Einwurf machen, daß es nichts heiße als offene Türen 
einzurennen, wenn wir uns hier des näheren mit Fließ aus¬ 
einandersetzen. Dieser Einwurf wäre zweifellos insoweit be¬ 
rechtigt, als wohl ganz allgemein der Fließ sehen Theorie 
jede wissenschaftliche Bedeutung aberkannt wird. Wenn wir 
aber trotz dessen näher auf sie eingehen, so hat das seinen 
Grund darin, daß die Kritik im allgemeinen nicht die wirklichen 
Denkfehler in der Fließschen Lehre aufgedeckt, sondern sie 
meist auf falschem Gebiete gesucht hat. 

Die Fließsche Theorie basiert auf zwei voneinander 
nicht trennbaren Hauptgedanken, sie besagt erstens, daß allen 
Lebewesen eine dauernde Doppelgeschlechtigkeit, zweitens allen 
Lebensvorgängen eine zweifache Periodizität zukomme. Uns 
interessiert im Laufe unseres jetzigen Gedankenganges nur der 
zweite Teil dieser Lehre. Genauer präzisiert besagt dieser: 
Die Lebensvorgänge spielen sich, als Funktionen der Zeit be¬ 
trachtet, derart ab, daß sie sich, bei Zugrundelegung des Tages 
a,ls der Zeiteinheit, als doppelt periodische Funktionen der Zeit 
mit 23 und 28 als Grundperioden darstellen lassen. Diese Be¬ 
hauptung widerspricht nun zunächst — und damit ist sie natür- 



10 


Or. Franz Mugdan, 


lieh a priori gerichtet — den einfachsten erkenntnistheore* 
tischen Prinzipien. Es würde uns zu weit führen, wenn wir 
das hier näher auseinandersetzen wollten; wir müssen uns des¬ 
halb darauf beschränken, wieder auf die grundlegenden Er¬ 
örterungen über den Charakter biologischer Begriffe in Rickerta 
„Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ hinzu¬ 
weisen. An dieser Stelle wollen wir nur, was viel einfacher 
ist und was keine weit ausgreifenden Vorbereitungen erfordert, 
den Nachweis führen, daß die Fließsche Lehre vom mathe¬ 
matischen Standpunkte aus sofort ad absurdum zu führen ist. 
Dabei woUen wir von vornherein Eines betonen, was vielfach 
gerade von den medizinischen Kritikern Fließ’ außer acht 
gelassen worden ist, daß nämlich alle Resultate, die in Fließ’ 
Bache über den Ablauf des Lebens niedergelegt sind, durchaus 
Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben dürfen. Falsch sind 
lediglich die Schlußfolgerungen, die Fließ aus seinen Resultaten 
zieht. Zunächst ist zu konstatieren, daß die Fließsche Grund¬ 
behauptung, die Lebensvorgänge seien doppelt periodische 
Funktionen der Zeit mit 23 und 28 als Grundperioden, nur auf¬ 
gestellt werden konnte, wenn der Autor über die prinzipiellen 
Sätze der mathematischen Funktionentheorie im unklaren war.^ 
Die Funktionentheorie liefert nämlich mit ganz elementaren 
Hilfsmitteln den Beweis, daß es doppelt periodische Funktionen 
mit zwei ganzzahligen Perioden nicht geben kann, sondern daß 
sich diese stets als einfach periodische Funktionen darstellen 
lassen, deren Grundperiode der größte gemeinschaftliche Teiler 
der beiden ursprünglichen Perioden ist. In unserem Falle würden 
sich also die Lebensvorgänge, sobald sie sich als doppelt pe¬ 
riodische Funktionen der Zeit mit den Perioden 23 und 28 
darstellen lassen, auch als einfach periodische Funktionen der 
Zeit mit dem größten gemeinschaftlichen Teiler von 23 und 28 
d. h. aber mit der Einheit, als Grundperiode veranschaulichen 
lassen müssen. Diese Behauptung ist aber nichts als eine Tri¬ 
vialität, denn es ist natürlich absolut selbstverständlich, daß bei 
Zugrundelegung des Tages als Zeiteinheit sämtliche Lebens¬ 
vorgänge, als Funktionen der Zeit betrachtet, periodische Funk¬ 
tionen mit der Periode Eins sind. Wir sind also auf Grund 
prinzipieller mathematischer Sätze gezwungen, die Fließsche 



P«|riodizUilt und periodische Geistesstörungen. 


11 


Lehre a priori als trivial aazusehes. Im speziellen läßt sich 
das sofort erhärten, und zwar auf doppelte Weise. Einmal 
läßt sich nämlich zeigen, daß s ämtl ic he Zahlen unserer Zahlen¬ 
reihe sich in einfachster Weise durch 23, 28, sowie die Größen 
28—23 und 28-{-23, die Fließ als A bezw. 2 bezeichnet, 
darstellen lassen. Sodann aber ist mit Leichtigkeit der Beweis 
zu führen, daß bei Zugrundelegung zweier beliebiger anderer 
teilerfremder Zahlen als Grundperioden genau ebenso einfache 
und scheinbar gesetzmäßige Resultate sich ergeben, wie sie 
Fließ als spezifische Konsequenzen der 23- und 28-tägigen 
Perioden der Lebensvorgänge hinstellen will. Wir wollen diese 
Behauptung hier nicht im speziellen erhärten; jeder, der sich 
für derartige Dinge interessiert, kann sie mit Leichtigkeit veri¬ 
fizieren. Wir sind also zu dem Ergebnisse gekommen, daß die 
Gesetzmäßigkeiten, die Fließ aus seinen Resultaten abgelesen 
hat, gänzlich unabhängig sind von den biologischen Vorgängen 
selbst, und daß sie lediglich längst bekannte zahlentheoretische 
Merkwürdigkeiten repräsentieren. Dies gilt natürlich, wie wir 
wohl eigentlich nicht noch einmal ausdrücklich zu betonen 
brauchten, ausschließlich für diejenigen Lebensvorgänge, die 
bei Fließ als doppelt periodische Funktionen der Zeit dar¬ 
gestellt werden; es hat dagegen keine Geltung für alle die¬ 
jenigen biologischen Geschehnisse, denen von Hause aus er¬ 
fahrungsgemäß eine einfache Periodizität zukommt, wie das 
z. B. bei der weiblichen Menstruation und den mit ihr zusammen¬ 
hängenden Ereignissen der Fall ist. 

Die Fließsche Theorie hat uns also für die Frage, die 
uns überhaupt den Anlaß zur Beschäftigung mit ihr gegeben 
hat, ob nämlich unsere vorläufige Definition des Periodizitätsr 
begriffes für die Zwecke der Biologie als hinreichend betrachtet 
werden darf, kein brauchbares Material geliefert. Wir sind 
bis jetzt genau so weit wie vorher, d. h. wir wissen, daß es 
in der Biologie, speziell in der normalen menschlichen Physio¬ 
logie, eine Reihe von Ereignissen gibt, die unserer Definition 
des Periodizitätsbegriffes Genüge leisten, wir sind dagegen der 
Lösung der Frage, ob die Zahl uhd die Qualität dieser Ereignisse 
ausreicht, um den Periodizitätsbegriff vor jeder weiteren Modi¬ 
fikation zu schützen, noch nicht um einen Schritt näher ge- 



12 


Dr. Franz Mugdan, 


kommen. Ja, selbst wenn wir diese Frage bejahten, d. h. uns 
lediglich auf die Existenz echt periodischer Vorgänge in der 
normalen Physiologie stützten, so wäre damit noch gar nichts 
gewonnen für das Problem, ob unsere Definition des Periodizi¬ 
tätsbegriffes auch für die Zwecke der pathologischen Physiologie, 
im besondern der Neuropathologie und der Psychopathologie, 
als hinreichend betrachtet werden darf. Wir haben demnach 
zunächst eine Untersuchung darüber anzustellen, ob es über¬ 
haupt Systeme pathologischer Ereignisse gibt, die unsere Kri¬ 
terien der Periodizität erfüllen. Wir wollen dabei mit Absicht, 
um das Ziel unserer ganzen Untersuchung nicht allzuweit hin- 
auszurückeri, die innere Medizin beiseite lassen und uns gleich 
auf unser Spezialgebiet, die Neuro- und Psychopathologie be¬ 
schränken. Wir fragen also: Gibt es in diesen Gebieten Kate¬ 
gorien von Zuständen, die in unserem obigen Sinne als peri¬ 
odisch zu bezeichnen sind? Diese Frage ist zweifellos in be¬ 
jahendem Sinne zu beantworten, wenn auch zugegeben werden 
muß, daß die Zahl dieser Zustände verhältnismäßig klein ist. 
Der Qualität nach lassen sie sich in drei Gruppen sondern; die 
erste Gruppe ist bei systematischer Betrachtung dem Gebiete 
der Zyklojthymie, die zweite dem des manisch-depres¬ 
siven Irreseins zuzurechnen', während die dritte Gruppe, 
die die Fälle von „p eriodischem Schwanken der Hirn¬ 
funktion“ umfaßt, als ein selbständiges Krankheitsgebiet an¬ 
gesehen werden darf. 

Wir beginnen zunächst mit einer Schilderung der echt 
periodischen zyklothymisehen Zustände. Unter Zyklo¬ 
thymie versteht man bekanntlich die ihrer Intensität nach 
leichtesten Zustände pathologischer Stimmungsschwankung. 
Eine Anzahl von Autoren ordnet diese Zustände ohne 
weiteres in die Krankheitsgruppe des manisch-depressiven 
Irreseins ein, andere Autoren trennen sie von dieser ab 
und wollen sie als eine besondere Äußerungsform psycho¬ 
pathischer Konstitution aufgefaßt wissen. Für unsere Zwecke 
ist es im großen und ganzen gleichgültig, welche Stellung wir 
der Zyklothymie im Rahmen eines Systemes der Psychiatrie 
zuweisen; für uns kommt es hier im wesentlichen nur darauf 
an zu zeigen, daß es gewisse Formen von Zyklothymie gibt, 



Periodizität und periodische Geistesstörungen. 13 

di - unseren Kriterien der Periodizität genügen. Es sind dies 
Formen, die am besten zu verstehen sind, wenn man sie als 
eine ins Krankhafte gesteigerte Vergröberung der genereileu 
Tageskurve auffaßt. Auch beim normalen Individuum sind ja 
alle somatischen und psychischen Vorgänge einer Schwankung 
im Laufe des Tages unterworfen, die im allgemeinen — vor¬ 
ausgesetzt, daß keine besonderen Einwirkungen durch medika¬ 
mentöse Stoffe, wie Kaffee, Tee oder Alkohol statthaben — 
bei ein und demselben Individuum für das ganze Leben fixiert 
ist. Bei einer großen Kategorie normaler Menschen verläuft 
nun die Kurve der Stimmung und parallel mit ihr die Kupve 
der psychischen Leistungsfähigkeit so, daß sie am Morgen ein 
Minimum besitzt, in den späten Vormittagsstunden ein flaches 
Maximum erreicht, und nach einem relativen Minimum in den 
frühen Nachmittagsstunden am Spätnachmittage, bezw. am 
Abende, ihr absolutes Maximum aufweist. Sobald nun diese 
normale Tageskurve ins Pathologische vergröbert wird, so ent¬ 
steht diejenige Form der Zyklothymie, von der hier die Rede 
sein soll. Am Morgen, nach dem Erwachen, ist die Stimmung 
depressiv: die Denk- und Willenstätigkeit ist leicht gehemmt,, 
es besteht Arbeitsunlast, und oftmals können sich derartige In¬ 
dividuen nicht entschließen, überhaupt das Bett zu verlassen. 
Gegen Mittag wird die Stimmung, das subjektive Befinden und 
auch die objektive Leistungsfähigkeit ein wenig besser, um 
dann am frühen Nachmittage, vermutlich unter dem Einflüsse 
der das Niveau der psychischen Vorgänge auch beim Normalen 
herabdrückenden Verdauungstätigkeit, wieder eine gewisse Ver¬ 
schlechterung zu erfahren. Sobald nun diese störenden Ein¬ 
flüsse überwunden sind — das kann ebensowohl relativ früh 
am Nachmittage, wie erst am späten Abend der Fall sein —,. 
steigt sowohl die Kurve der Stimmung wie die der Denk- und 
Willenstätigkeit steil an; sie erreicht dabei oftmals Wert^ die 
das normale Durchschnittsmaß nicht unerheblich übersteigen, 
d. h. es tritt ein Zustand von Hypomanie — abnorm heitere 
Stimmung mit erheblicher Beschleunigung des Ideenablaufes 
und mit Beschäftigungsdrange — auf. Dieser Zustand wieder¬ 
holt sich nun Tag für Tag, zuweilen nur durch Wochen hin¬ 
durch, zuweilen aber auch während Monaten oder Jahren oder 



14 


Dr. Franz Mngdan, 


sogar während eines ganzen Lebensabschnittes. Derartige 
Formen zyklothymischer Geistesstörung gehören keineswegs zu 
den Seltenheiten; Yerf. selbst kennt aus eigener Erfahrung 
zwei Fälle, die yollkommen in das eben skizzierte Schema 
hineinpassen. Der eine dieser Fälle, ein intelligenter, jetzt 
fünfzigjähriger Mann, weist die geschilderte chärakteristische 
Störung der Seelentätigkeit während einer ununterbrochenen 
Zeitdauer von mehr als zehn Jahren auf. Bei ihm ist haupt¬ 
sächlich die depressive Phase am Vormittage äusgesprochen, 
während die expansive am Nachmittage insofern rudimentär 
ist; als hier nur etwa das normale Niveau erreicht wird und ein 
Übertritt der Kurve in das eigentliche pathologische Gebiet 
nicht stattfindet. Der Betreffende — ein höherer Eommunal- 
beamter — ist gezwungen, seine ganze Berufstätigkeit auf seine 
pathologische Seelentätigkeit hin zuzuschneiden; er ist gänzlich 
außerstande, am Vormittage auch nur die geringste psychische 
Leistung aufzubringen, und er ist infolgedessen, auf Grund eines 
ärztlichen Zeugnisses, autorisiert, seine sämtlichen Berufsge* 
schäfte am Nachmittage vorzunehmen. Der andere Fall — es 
handelt sich hier um einen jungen Mann am Ende der Puber¬ 
tätszeit — liegt gerade umgekehrt wie der erste. Die zyklo- 
thymische Störung tritt hier unter der besonderen Form der 
Dipsomanie auf, und zwar erreicht der Betreffende alltäglich 
am frühen Abende ein typisch hypomanisches Stadium, in dem 
er, trotz bester Vorsätze am Vormittage, regelmäßig zu erheb¬ 
lichen Exzessen in Baccho kommt. Eine ausgesprochene depressive 
Phase am Vormittage besteht hier nicht; der Zustand geht hier 
über das Niveau des physischen und moralischen Katers nicht 
hinaus. 

Neben den eben geschilderten Zuständen mit eintägiger 
Periode haben andere, ebenfalls echt periodische zyklothymische 
Zustände nur untergeordnete Bedeutung; Beachtung verdient 
höchstens noch diejenige Kategorie von Dipsomanischen, die 
als Quartalsäufer bekannt sind. Bei derartigen Individuen 
treten im Laufe einer sonst durchaus normalen Lebensführung 
in regelmäßigen Intervallen — sonderbarerweise nicht selten 
gerade zur Zeit des Voll- oder Neumondes — Impulse zu Alkohol¬ 
exzessen auf, denen nur schwer oder überhaupt nicht widerstanden 



Periodizität und periodische GeistessthrungeiL 


15 


'werden kann. Die Betreffenden können während dieser Zeit des 
Dranges nach dem Alkohol zu enormen Tagesmengen von Alkohol 
gelangen; der krankhafte Zustand dauert meist einige Tage, dann 
geht er durch ein Stadium schwersten moralischen Katers, der 
sich bis zur tiefen Depression steigern kann, wieder ins Normale 
über. Auch diese Formen periodischer Geistesstöruug sind 
durchaus nicht selten; ein in weiteren Kreisen bekannt gewor¬ 
denes Beispiel ist das des Dichters Fritz Reuter, bei dem die 
Dipsomanie während seiner „Festungstid" ausbrach, um während 
seines ganzen Lebens nicht mehr zu verschwinden. 

Wir wenden uns nunmehr zu der zweiten Gruppe echt 
periodischer Psychosen; diese ist, wie wir schon früher be¬ 
merkt haben, in das Gebiet des manisch-depressiven Irreseins 
«inzurangieren. Die Zustände, die wir hier im Auge haben, 
sind bekannt unter der Bezeichnung des menstruellen Irre¬ 
seins, und sie sind, wie schon der Name sagt, charakterisiert 
durch psychische Störungen, deren Ausbruch entweder kurz yor 
oder während oder schließlich auch im Anschlüsse an die 
Menstruation erfolgt. Es ist im übrigen für die Wertung 
dieser Zustände ganz gleichgültig, ob bei dem betreffenden 
Individuum die pathologischen Perioden in Zeiten geistiger 
Gesundheit oder geistiger Krankheit einsetzen, d. h. ob das 
Individuum überhaupt nur zur Zeit der Menses geistig abnorm 
ist, oder ob es dauernd geistig abnorm ist und nur zur Zeit 
der Menses qualitativ oder quantitativ anders von der Norm 
differiert wie sonst. Fälle beider Kategorien sind mehrfach 
beschrieben worden. Die Fälle der ersten Kategorie sind in 
der weitaus überwiegenden Mehrzahl Fälle von menstrueller 
Melancholie; es setzt hier regelmäßig, meist schon mehrere 
Tage vor Beginn der Periode, ein Depressionszustand ein, der 
im allgemeinen während der Dauer der eigentlichen menstruellen 
Blutung sein Maximum erreicht und dann rasch wieder zur 
Norm abklingt. Erheblich seltener sind die Fälle von menstru¬ 
eller Manie; wo sie beobachtet sind, sind sie fast stets in der 
Form der alten „Nymphomanie“ aufgetreten, d. h. sie waren 
charakterisiert durch eine zur Zeit der Menses einsetzende 
pathologische Steigerung der Erotik. Sowohl die menstruelle 
Melancholie wie die menstruelle Manie werden außerordentlich 



16 


Dr. Franz Mugdan, 


selten in Irrenanstalten beobachtet; der Grund dafür ist durch¬ 
sichtig — es werden eben Individuen, die im allgemeinen 
ps)-chisch normal und nur während der verhältnismäßig kurzen 
Zeit der Menses geistig gestört sind, nur selten in Anstalten 
verbracht, weil die kurzen und im übrigen in ihrem zeitliclien 
Beginne genau fixierten psychotischen Perioden auch inner¬ 
halb der Familie hinreichend bekämpft werden können. Da¬ 
gegen sind Fälle der zweiten Art, also solche, bei denen die 
pathologischen Perioden auf anderweitige psychische Störun¬ 
gen daraufgepfropft sind, verhältnismäßig häufig in ^iniken 
zu beobachten; wir selbst haben z. B. in der Freiburger Klinik 
über Monate hinaus einen Fall von echter Manie verfolgen 
können, bei der mit einer ans Naturgesetzliche erinnernden 
Regelmäßigkeit zur Zeit jeder Menstruation eine Depression 
zu verzeichnen war. Im übrigen bedarf wohl ^as menstruelle 
Irresein keiner weiteren Erläuterung; speziell die Frage des 
echt periodischen Verlaufes, die uns hier ja eigentlich aus¬ 
schließlich interessiert, ist so durchsichtig, daß wir uns jede 
nähere Diskussion darüber ersparen dürfen. 

Wir gehen also gleich zur Besprechung der dritten Gruppe 
periodischer Geistesstörungen über, die wir unter dem Nam^n 
eines „periodischen Schwankens der Himfunktion“ gekoip”- 
zeichnet hatten. Die Zustände, die hierher gehören, sind vor¬ 
läufig sehr wenig bekannt geworden; ihre erste eingehende 
Schilderung haben sie vor wenigen Monaten in einem Aufsatze 
von Stertz gefunden, der im 48. Bande des Archivs für Psychi¬ 
atrie veröffentlicht worden ist. Die eigenartigen Vorgänge, 
die- Stertz beschreibt, sind zu definieren als periodische Be¬ 
wußtseinsstörungen, und zwar folgen in regelmäßigem Wechsel 
immer auf Phasen relativ freien Bewußtseins solche von leichte¬ 
rer oder schwererer Benommenheit. Die Perioden der Benom¬ 
men lieit — von Stertz als „negative Phasen“ bezeichnet — 
sind charakterisiert durch eine, je nach der Intensität der Störung 
wechselnde Beeinträchtigung sämtlicher psychischer Funktionen. 
In leichteren Fällen „stocken die Kranken auf einmal in ihrer 
Erzählung, perseverieren eine Weile bei dem letzten Wort, 
nehmen ein verändertes Aussehen und Benehmen an, antworten 
nicht auf Fragen, schweigen für eine kurze Zeit entweder ganz 



Periodizität und periodische Geistesstörungen. 

oder sprechen von Dingen, die zum Thema der vorangegangenen 
Unterhaltung in keiner Beziehung stehen“. In scWereren 
Fällen sind die Patienten während der negativen Phase über¬ 
haupt nicht mehr zu fixieren, starren ausdruckslos ins Leere und 
geraten dann meist in einen Zustand deliranter Unruhe mit 
Neigung.zu konfabulatorischen sprachlichen Produktionen und ein¬ 
zelnen Halluzinationen hinein. Sehr häufig war auch in der 
negativen Phase ein Umschlagen des Affektes aus der vorherigen 
indifferenten Stimmungslage ins Depressive oder Zornige zu kon¬ 
statieren. Was uns nun hier hauptsächlich interessiert, das ist 
der zeitliche Ablauf der geschilderten Störung. Veranschaulichen 
wir uns diesen in der gewöhnlichen Weise, indem wir in einem 
Koordinatensystem als Abszisse die Zeit in Sekunden werten, als 
Ordinate die den einzelnen Zeitmomenten zugehörigen Grade 
der Bewußtseinshelligkeit eintragen, so erhalten wir eine nahe¬ 
zu reguläre Sinuslinie — der beste Beweis dafür, daß wir es 
mit einer echt periodischen Schwankung der Geistestätigkeit 
zu tun haben. Diese Feststellung genügt für unsere Zwecke; 
alle übrigen Fragen — die nach der ätiologischen Bedingtheit 
der geschilderten Bewußtseinstrübung, die nach der Art der 
von ihr befallenen Individuen etc. — brauchen hier nicht näher 
(. örtert zu werden. Soweit sie heute überhaupt eine Lösung 
oder wenigstens einen Lösungsversuch gefunden haben, sind sie 
in der oben zitierten Stertzschen Arbeit behandelt. Daß die 
Störung endogen bedingt ist — das einzige, was in diesem 
Zusammenhang von Interesse ist —, versteht sich von selbst 
und bedarf deshalb keiner besonderen Erwähnung. 

Wir hätten damit in knappen Umrissen einen Überblick 
über die wesentlichsten Repräsentanten echt periodischer Geistes¬ 
störungen gewonnen, und es erhebt sich jetzt von neuem die 
Frage, die uns überhaupt zum Studium der geschilderten Psych- 
anomalien veranlaßt hat, nämlich; Soll uns die Existenz dieser 
Zustände, ihre quantitative und ihre qualitative Ausdehnung 
genügen, um den Periodizitätsbegriff vor jeder Erweiterung zu 
schützen? Worin könnte überhaupt noch eine Erweiterung 
bestehen ? Offenbar lediglich darin, daß man davon abstrahierte, 
eine Wiederkehr der logisch verwandten Ereignisse in zeitlich 
regelmäßigen Intervallen zu fordern, daß man also kurzerhand 

2 



18 Dr. Franz lAagdan, Periodizität n. periodische Qeistesstörangen. 

die Periodizität mit der Multiplizität identifizierte. Eine Fusion 
des Periodizitäts- mit dem Multiplizitätsbegriffe, also des zeitlich 
gesetzlichen periodischen Geschehens mit dem zeitlich gesetz¬ 
losen Rezidive ist nun aber unseres Erachtens im Interesse 
einer möglichst scharfen Begriffsbestimmung als durchaus in¬ 
opportun zu bezeichnen. Eine derartige Fusion würde ja mit 
einem Schlage eine ganze Kategorie wichtiger Probleme aus 
der Welt schaffen, vor allem dieses eine: Welche integrierende 
Faktoren müssen in das zeitlich gesetzlose multiple Geschehen 
eingreifen, um die Multiplizität zur Periodizität umzugestalten? 
Dieses eine Problem, das in demselben Augenblicke auftaucht, 
wo überhaupt ein echt periodischer Lebensvorgang beobachtet 
wird, ist zweifellos nicht nur interessant, sondern auch wichtig 
genug, um die Definition des Periodischen so und nicht anders 
zu geben, wie wir es oben getan haben. 

Wir wollen nur, nachdem wir uns zu dieser Ansicht be¬ 
kannt haben, ausdrücklich noch eins betonen: Eine scharfe 
begriffliche Unterscheidung des Periodischen vom Aperiodischen 
darf natürlich niemals dazu führen, klinisch zusammengehörige 
Krankheitsbilder auseinanderzureißen, z. B. die periodischen 
Zyklothymien von den aperiodischen oder das menstruelle Irre¬ 
sein von der Gesamtheit der manisch-depressiven Psychosen 
abzutrennen. Es ist fast selbstverständlich, daß im Interesse 
einer rationellen Systematik stets der inhaltlichen Verwandt¬ 
schaft gegenüber der formalen Verschiedenheit die Priorität 
gewahrt werden muß. Unsere Begriffsbestimmungen werden 
durch diese Feststellung in keiner Weise tangiert. 

Wir rekapitulieren zum Schlüsse unserer Ausführungen 
unsere Definition des Periodizitätsbegriffes: Einem Systeme von 
Ereignissen ko mm t die Eigenschaft der Periodizität zu, wenn in 
zeitlich gesetzmäßigen Intervallen logisch verwandte Ereignisse 
eintreten, aus Gründen, die lediglich in der Organisation des 
Betroffenen liegen, ohne daß dafür ein äußerer Anlaß. oder 
doch ein entsprechender äußerer Anlaß vorläge. 



Carl Marhold Yerlagsbnchliandlang in llaile a. 


Sammlung zwangloser Abhandlungen 

aus dem Gebiete der 

Nerven- und Geisteskrankheiten. 

Begründet von Professor Dr. Konrad Alt in .üchtspringe (Altmark). 

In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die 
Bedürfnisse des praktischen Arztes 

unter ständiger Mitwirkung 

der Herren Qeheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. 
Dr. Aschaffenburg in Köln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Bin swänge r 
in Jena, Prof. Dr. B rnns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Gottingen, 
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in Conradstein, Sanitätsrat Dr. Laqner in Frankfurt a. M., Medizinalrat 
Dr. Mayser in Hildbarghauson, Med.-Rat Dr. Näcke in Hnbertnsburg, 
Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Prag, Direktor Dr. 
H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in Üchtspringe, Geheimrat 
Dr. Schäle in lllenan, Prof. Dr. Schnitze in Greifswald, Geh.Med.-Rat 
Dr. Siemens in Lanenbarg, Geh. Med.-Rat Dr. von Strümpell in 
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Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoehe, Freiburg i. Br. 

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2. Oierlich, Dr. med. Nie., Nervenarzt, in Wiesbaden. Symptoiaatologie und 
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„ 8. Bethg^ W.» Halle a. S. Der EinfluB geistiger Arbeit auf den Körper unter be> 
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ev CO 


^efrloloi^ 




Südtirol 

Arsen-Eisenquelle 

in langjähriger Erfahrung bewährt bei allen aus fehlerhafter Blut- 
zosammensetzung herrOhrendeii Krankheiten. Die Konstanz der 
Quellen ist durch dauernde Kontrolianalysen bestätigt. 

Knrzeit: April-November. 

Levicoschwachwasser. 

Levicostarkwassep. 

Den Herren Ärzten zum Gebrauch zum Vorzugspreise pro Flasche 30 Pfg. 

Durch die MineralgroBhandlungen. . — : 






Auskunft durch die Badedirektion. 

CeDico»$iid-Cirol. 




BsjrtMBsmi’sohs Buehdrueksisi (Qsbr. Wolff), Halls s, 







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Sammlung 

zwangloser Abhandlungen 

aus dem Gebiete der 

Nerven- und Geisteskrankheiten. 


Begründet von 

Direktor Prof. Dr. Konrad Alt, 

Uchtspringe (Altmark). 

In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die 
Bedürfnisse dos praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung 

der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. 
Dr. Aschaffcnburg in Köln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger 
in Jena, Prof. Dr. Bruns in Hannover, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen, 
Geh. Medizinal-Rat Prof. Dr. Goldscheider in Berlin, Professor und 
Direktor Dr. Kirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. Krömer 
in Conradstein, Sanitätsrat Dr. Laquer in Frankfurt a. M., Medizinalrat 
Dr. Mayser in Hildburghausen, Med.-Rat Dr. Näcke in Hubertusburg, 
Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Prag, Direktor Dr. 
H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in Uchtspringe, Geheimrat 
Dr. Schüle in Illenau, Prof. Dr. Sch ult ze in Greifswald, Geh. Med.-Rat 
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Leipzig, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Unverricht in Magdeburg, Prof. Dr. 
von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor 
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin 


herausgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoche, 

Freiburg i. Br. 


Band IX, Heft 5/7. 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 

Dauernde Rente oder einmalige Kapitalabfindung? 

Klinische und sozialhygieniscbe Studien 
von 

Sanitätsrat Dr. Leop. Laqaer, Nervenarzt in Frankfurt a. M. 

„Aus altruistischer Gesinnung — aus Rück¬ 
sicht auf die Minderbemittelten sind die sozialen 
Gesetze entstanden; sie nähren aber auch zu¬ 
gleich die egoistischen Empfindungen und Triebe 
der Masse; über dem gewährten Recht auf Hilfe 
vergißt der einzelne gar zu leicht die Grenzen 
•dieses Rechts und seine eigenen Pflichten gegen 
die Gesamtheit.“ 

So drückte sich der bekannte Kliniker Quincke aus, als 
er sich veranlaßt sah, im Jahre 1905 in einer deutschen 
Zeitung seine Ansichten „über den Einfluß der sozialen Gesetze 
auf den Charakter“ niederzulegen: Obwohl der Aufsatz damals 
in einer Tageszeitung, nicht in einer ärztlichen Fachzeitschrift 
erschien, machte er gerade in den weitesten Kreisen der Ärzte¬ 
schaft ein großes und berechtigtes Aufsehen. 

Es ist bezeichnend für den Anteil, den die medizinische 
Wissenschaft an der sozialen Gesetzgebung zu nehmen ge¬ 
zwungen ist, daß ein ernster Forscher — einer unserer hervor¬ 
ragendsten Hochschullehrer, sich auf den öffentlichen Markt 
des Lebens hinauswagte, um seine Ansichten zu vertreten; er 
hielt diesen Weg für den richtigeren. Mit Recht vermied er 
es, zuerst seinen Berufsgenossen davon Kenntnis zu geben und 
dann die Popularisierung den Dii minorum gentium zu über¬ 
lassen. Die Frage schien ihm hygienisch so wichtig, daß er 

1 * 



4 


Dr. Leop. Laquer, 


selber sofort weite Volkskreise für diesen Teil der Volks- 
gesundheit mobil zu machen versuchte! 

Wer als Kassenarzt oder als Vertrauensarzt in Fällen von 
funktionellen Nervenkrankheiten mit traumatischer Genese des 
öfteren tätig ist, der wird — wenigstens nach meinem rein 
persönlichen Empfinden — nie das unangenehme Gefühl los, 
daß er als Detektiv oder Büttel fungiere, um für die sozial¬ 
politischen Behörden die Kastanien aus dem Feuer zu holen. 
Er soll in gut zwei Dritteln aller Fälle als ärztlicher — Gro߬ 
inquisitor die Frage entscheiden r Sind die Krankheitserschei¬ 
nungen bei dem Mangel objektiver Symptome, den der Kranke 
oder Verletzte gewöhnlich zeigt, wirklich vorhanden, oder sind 
sie nur simuliert bezw. übertrieben?! Das sind recht unerquick¬ 
liche, oft unlösbare Aufgaben für den human denkenden Arzt, 
der ein soziales Gewissen hat und auch in dem Symptomen¬ 
gemisch von nervösen Unfallsfolgen einerseits die objektive 
Wahrheit sucht — andererseits der modernen Strömung in der 
Arbeiterfürsorge sich nicht entziehen und dem Arbeiter nicht 
unrecht tun will. 

Es wird ihm zumeist genügen müssen, wenn er bei ner¬ 
vösen ünfallsfolgen nach sorgfältiger Untersuchung jedes ein¬ 
zelnen Falles zu dem bekannten Standpunkte Boches durchge- 
drungen ist: „daß ein großer Teil der genannten Fälle 
durch die Unfallversicherungsgesetze selbst er¬ 
zeugt wird, unter der Wirkung des Gesetzes 
größtenteils nicht heilt, aber grundsätzlich heil¬ 
bar ist, wenn alle vermeidbaren seelischen Schäd¬ 
lichkeiten im Entschädigungsverfahren beseitigt, 
die Erziehung des Rentenempfängers zur Arbeit 
geregelt und die Kapitalabfindung mehr als bisher 
un Stelle der fortlaufenden Renten gesetzt werden 
können“. — Trotzdem beschleicht den erfahrenen Gutachter 
in solchen Momenten des Zweifels ein Gefühl der Bitterkeit 
und des Unwillens, wenn ihn das Rüstzeug seines Wissens und 
si iner Erfahrung im Stiche läßt, und die Intuition an ihre 
Stolle tritt. Oft fällt ihm dabei ein, wie oft er nur Arbeits¬ 
scheu und Trägheit unterstützte, als er zugunsten der Ver¬ 
letzten entschied, und wie oft er getäuscht wurde. — So 



Die Heilbarkeit nerrOser Unfallsfolgen. 


o 


äußerte ich mich selber in dem Jahrgang 1908 der Sachver- 
ständigen-Zeitung über die vorliegende Frage. 

Die strengste Objektivität ist nirgends so sehr am Platze 
als da, wo soziale Nöte die neurotischen und psychogenen 
Krankheitsbilder verwischen und es dann dem Arzte nicht immer 
leicht fällt, die Klarheit seines Blickes vor Trübung durch 
allerlei Gefühlstöne zu schützen! 

In den Anschauungen über die Eigenart der nervösen 
Unfallsfolgen hat sich im Laufe der zwei Jahrzehnte, die seit 
der ersten V eröffentlichung Oppenheims über .„Traumatisch e 
Neurosen“ vergangen sind, eine wesentliche Wandlung voll¬ 
zogen. — Nach einem langwierigen und schweren Kampf der 
Meinungen über die Frage, ob die Traumatiker der Simu¬ 
lation mehr oder minder verdächtig sind, hat sich die klinische 
Beobachtung jetzt wohl allgemein zu der Ansicht durch¬ 
gerungen, daß es fast ohne Ausnahme — Kranke sind, mit 
denen wir es da zu tun haben; eine absichtliche straf¬ 
fällige Simulation liegt nur in sehr vereinzelten Fällen vor. — 
Haftpflicht- und Unfallgesetz sind die Nährböden, auf denen 
die Keime dieser in den meisten Kulturländern verbreiteten 
funktionellen Nervenstörung erwachsen sind. 

Bekannt ist ja, daß es hier und da immer noch deutsche Ärzte 
gibt, welche die Unfalls-Neurosen überhaupt nicht als Krank¬ 
heiten, sondern sie in sehr vielen Fällen als Ausdruck niedriger 
Berechnung, als eine besondere Form der Habsucht betrachten, 
die auf einer gewissen moralischen Schwäche oder auf mangel¬ 
hafter Eniiehung beruht. Die weitaus größte Zahl erfahrener 
Beobachter ist anderer Ansicht. Ihre Voraussetzung, daß alle 
die hysterischen, hypochondrischen, neurastheni- 
schen Symp^omenkomplexe, die auf Unfälle mit oder 
ohne körperliche Verletzungen folgen können, wirklich Krank¬ 
heiten sind, lege ich meinen nachstehenden Studien zu¬ 
grunde. 

Darum will ich es unterlassen, über hunderte von charak¬ 
teristischen Fällen zu berichten, die ich als Sachverständiger 
bei Eisenbahndirektionen, Berufsgenossenschaften, Arbeiter¬ 
schiedsgerichten, Privatversicherungsgesellschaften in dreißig¬ 
jähriger neurologischer und gerichtsärztlicher Spezialpraxis 



6 


Dr. Leop. Laquer, 


gesehen habe. Sie alle etwa genau zu zählen und zu be¬ 
schreiben bezw. klinisch-statistisch zu verwerten, erschien 
mir nicht nötig: es gibt ja kaum noch einen deutschen 
Arzt, der nicht genau unterrichtet ist über dies Krankheits¬ 
bild der Unfallneurosen. Auseinandergehen die Ansichten 
der Gutachter über die Bewertung der objektiven und subjek¬ 
tiven nervösen Krankheitserscheinungen für den Grad der Er¬ 
werbsbeschränkung, — endlich über Fragen der Behandlungs¬ 
methoden und der Heilbarkeit der oben erwähnten Erkrankungs¬ 
formen. 

Angesichts der sozial-hygienischen wichtigeren Frage der 
Ver hütung und Heilung dieserUnfallsfolgen ist es ratsam, hier 
die Namengebung als nebensächlich zu behandeln: ob Renten¬ 
hysterie, Rentensucht, Rentenkampfneurose, Unfalls-Neurose, 
Neurasthenia querulatoria (Mendel) u. a. die passendste Be¬ 
zeichnung darstellt, soll unerörtert bleiben. 

Um aber über die Prognose und Therapie der ner¬ 
vösen Unfallsfolgen ins klare zu kommen, bedarf es 
weitgehender Studien des Charakters, der Lebensgewohnheiten, 
der Lebensführung, des sozialen Milieus, der Berufs- und 
Familienverhältnisse des verletzten Rentenempfängers vor und 
nach dem Unfall. Da genügen auch die sorgfältigsten neurologi¬ 
schen Krankengeschichten und statistischen Tabellen nicht mehr! 
Es drängen sich hier vielmehr andere, mannigfaltige, nicht 
eigentlich medizinische Fragen in den Vordergrund. 

Der medizinischen Wissenschaft ist es allmählich gelungen, 
der schweren, von ihr nicht vorhergesehenen, ihr .durch die 
Gesetzgebung gestellten Aufgabe: der Erkennung neuer 
klinischer Bilder der Unfallsfolgen Herr zu werden. Vielleicht 
glückt der ärztlichen Kunst auch endlich die Heilung eines 
sozialen Übels, das aus sozialer Wohltat erwuchs. 

Von diesem Gesichtspunkte aus ist der Versuch gemacht 
worden, aus meinem Beobachtungsmaterial genau untersuchte 
und auf Grund von Unfallakten begutachtete Fälle klinisch 
zu verwerten. 

Die folgenden Beobachtungen und Betrachtungen geben viel¬ 
leicht einen Hinweis auf einen gangbaren Weg zu diesem Ziele, 
von dem wir allerdings noch recht weit entfernt zu sein scheinen. 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


7 


Es kam mir dabei im wesentlichen auf katamnestische 
Nachforschungen an — über das weitere Schicksal 
von Unfallverletzten, die nervös und dadurch teil¬ 
weise oder völlig erwerbsunfähig gewesen waren 
— die längere Jahre eine Rente bezogen oder eine 
einmalige Abfindungssumme erhalten hatten, — 
und schließlich geheilt wurden. 

Ich habe in erster Reihe die sozialen Verhältnisse solcher 
Unfallneurotiker eingehend gewürdigt, die als Paradigmata 
gelten können für das Entstehen und für den weiteren Verlauf, 
besonders aber für das — Verschwinden nervöser Unfallsfolgen. 

Dabei erschien mir eine genaue Analyse des Verhält¬ 
nisses von nervösen Erscheinungen und wirtschaftlichen bezw. 
persönlichen Vorteilen, die aus dem Unfälle dem Betroffenen 
im Einzelfalle erwachsen, wertvoller als ein Versuch der Klä¬ 
rung des meist unlösbaren Widerspruchs zwischen der Zahl 
objektiver und subjektiver Symptome der Unfallsneurose. 

Denn nervöse Anlage, Charakter und soziale 
Lage des Verletzten lösen zumeist alle jene Be¬ 
gehrungsvorstellungen aus, die dem Unfälle folgen, 
die Psyche des Verletzten in unheilvoller Weise beeinflussen 
und oft genug eine Psychone urose hervorrufen. In neuester 
Zeit hat Heinr. Sachs (Breslau) in seinem Buche „Die Un¬ 
fallsneurose“ (Breslau, Preuß & Jünger, 1909) eine sehr ein¬ 
gehende und prägnante Schilderung des allgemeinen 
Krankheitsbildes gegeben: 

„ln einzelnen Fällen von Unfallsneurose hat“, sagt Sachs, 
„die Untersuchung objektiv ein völlig negatives Ergebnis: man hat 
gewöhnlich einen gut genährten, kräftigen, innerlich gesunden 
Menschen vorsich,an dem auch diegenauestePrüfungkeineStörung 
des Nervensystems erkennen läßt. In der Mehrzahl der Fälle 
findet man eine größere oder geringere Zahl derjenigen Er¬ 
scheinungen, die man als „nervöse“ zu bezeichnen sich ge¬ 
wöhnt hat. Sensibilitätsstörungen in mehr oder minder großem 
Umfange, meist in Form der Herabsetzung, seltener der Stei¬ 
gerung der Hautempfindlichkeit, Druckpunkte, Verminderung 
der Seh- oder Hörschärfe, Aufhebung des Geruchs, Einengung 
des Gesichtsfeldes, Erschlaffung der Körpermuskulatur, Stei- 



8 


Dr. Leop. Laqner, 


gerung der Sehnenreflexe, Zittern, tonische und klonische 
Muskelkränipfe, Beschleunigung des Pulses, insbesondere unter 
dem Einflüsse der Erregung. Neigung zu Kongestionen, Nach¬ 
röten der Haut, Aufhebung der Schleimhautreflexe vom Rachen, 
der Nase und den Hornhäuten, Herabsetzung der Schmerz¬ 
empfindlichkeit der knöchernen Gehörgangswände, Schmerzen 
bei Bewegungen von Gelenken, Schwindelerscheinungen der 
allerverschiedensten Art, hochgradige Kraftlosigkeit der Glied¬ 
maßen, Störungen der Atmung, Aufstoßen, Übelkeiten und Er¬ 
brechen, dazu anscheinend schwere Verstimmung; der Gesichts¬ 
ausdruck ist bald ein deprimierter, bald ein nervös gespannter, 
bald ein verdrießlicher geärgerter. Ferner besteht Neigung zu 
Tränen, wehleidiges klägliches Wesen verbundenmitleiserStimme. 
Dazu kommt eine außerordentliche Aufmerksamkeit auf die 
Form und die Vorgänge des eigenen Körpers. Alles was nicht 
ganz normal erscheint, worauf der Kranke in vielen Fällen 
erst bei der ärztlichen Untersuchung aufmerksam wird, wird 
nachher als krankhafte Erscheinung betont; kein 'Körperteil, 
keine Funktion bleibt unberücksichtigt. Ja selbst ganz nor¬ 
male physiologische Vorgänge, die auf irgendeine Weise in 
das Bewußtsein des Kranken getreten sind, werden hypochon¬ 
drisch verwertet. 

Zu diesem Gemisch neurasthenisch hysterischer und hypo¬ 
chondrischer Erscheinungen, über die von Kranken tagtäglich 
immer wieder in monotoner Weise berichtet wird, kommen in 
einzelnen Fällen, besonders wenn das Rentenfestsetzungsver¬ 
fahren etwas länger dauert, Andeutungen von Beeinträchtigungs¬ 
und Verfolgungsideen. 

Wer je in der Lage war, Akten von Berufsgenossenschaften 
zu studieren, weiß, welchen querulatorischen Inhalt diese Schrift¬ 
stücke haben, die teils von den verletzten Arbeitern selbst 
herrühren, teils von Volksanwälten aller Art angefertigt sind. 
Solche Helfershelfer tun nichts weiter, als daß sie die subjek¬ 
tiven Angaben und Beschwerden der Verletzten niederschreiben 
ohne Prüfung der Akten oder der Qualität der ratsuchenden 
Persönlichkeit. So entstehen die tausendfältigen Vorwürfe 
gegen die untersuchenden Arzte: Alle diejenigen, deren Gut¬ 
achten ungünstig ausgefallen ist — so meinen sie —, hätten 



Die Heilbarkeit nerrOser Unfallsfolgen. 


9 


sie gar nicht untersucht, „sie hätten sich gar nicht auszuziehen 
brauchen“ — „in der Klinik hätte sie nur ein junger Assistent 
gesehen, der Direktor hätte sich gar nicht darum gekümmert“, 
sie wären schlecht behandelt worden, sie hätten hungern 
müssen usw. 

„So entsteht also ein Gemisch aus einer großen Reihe von 
Einzelheiten: Hysterische Krankheitszeichen, übertriebene 
Wertschätzung jeder noch so unbedeutenden neurasthenischen 
Beschwerden, wie sie bei keinem Menschen, insbesondere in 
etwas vorgerückteren Jahren, ausbleiben, sorgfältige Selbst¬ 
beobachtung, die festsitzende und durch nichts zu erschütternde 
Idee der eigenen Leistungsunfähigkeit, die Yerstimmung in den 
verschiedenen Erscheinungsformen, Neigung zum Jammern und 
Klagen, Verdächtigungsversuche der Berufsgenossenschaften 
und Ärzte gegenüber ihrem Querulieren, endlich Täuschungs¬ 
versuche von kleinen aber offenkundigen Übertreibungen an, 
die mitunter dem Arzte entschuldbar erscheinen und sein 
Mitleid erregen —, bis zur schwersten, ganz offenkundigen 
Simulation.“ 

„Diese Erscheinungen sehen wir in der verschiedensten 
Stärke auftreten“ — meint H. Sachs —, „so daß eine voll¬ 
ständige Stufenleiter zustande kommt. Auf dem einen Ende 
sehen wir Personen, die die Folgen einer Verletzung ein wenig 
übertreiben oder bei einer bedeutungslosen Verletzung keine 
völlige Wiederherstellung zugeben und dann mit einer kleinen 
Rente durchaus zufrieden sind; auf dem anderen Ende finden 
wir die schwersten nervösen Krankheitsbilder oder die unglaub¬ 
lichsten Vortäuschungen.“ 

Für die Heilbarkeit dieserForm der Unfallsneurose 
will ich Beispiele aus meiner Erfahrung erbringen: 
sie werden von anderer Seite sich hundertfach vermehren lassen 
aus den Krankenjoumalen der Vertrauensärzte, der psychiatrischen 
und inneren Kliniken, der Unfallskrankenhäuser, Sanatorien u.a.m. 

Daß für die Frage der Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen 
verhältnismäßig wenig kasuistische Beiträge in der Literatur 
besonders in Deutschland vorliegen, und die Gutachter sich in 
ihren Publikationen immer nur auf allgemeine Eindrücke 
beschränkt haben, liegt in der Schwierigkeit katamnestischer 



10 


Dr. Leop. Laquer, 


Erhebungen überhaupt, über die ja allenthalben, besonders von 
den Kliniken Klage geführt wird. Chirurgen und Internisten 
bedauern die 'geringe wissenschaftliche Ausbeute, die ihnen 
erwächst, wenn sie Umfragen veranstalten über das weitere 
Schicksal entlassener Kranker, an denen sie Interesse haben. 

Kraepelin verdanken wir die Betonung der Wichtig¬ 
keit der Katamnesen bei verschiedenen schweren Irre¬ 
seinsformen. Die Erforschung der Endzustände vo n 
Unfallsneurosen hat aber neben der klinischen eine hohe 
sozialhygienische Bedeutung. 

Nur sehr vereinzelte der mitgeteilten Fälle von Unfalls¬ 
neurose habe ich einer persönlichen Nachuntersuchung unter¬ 
ziehen können. Ich mußte mich vielfach auf die Nachrichten 
durch dritte beschränken! Aber auch dann, wenn ich alle 
Verletzten wiedergesehen hätte, wäre die Katamnese im klini¬ 
schen Sinne unvollkommen gewesen, da ich immer wieder 
auf ihre subjektiven Angaben angewiesen war. 

Hier verweise ich auf die größeren Arbeiten von Gg. D rey- 
fnß (Die Melancholie, 1907, Verlag von G. Fischer in Jena) 
und H. Schmidt (Zeitschrift für Neurologie und Psychiatrie 
Bd. V, H. 2 1911: „Ergebnisse persönlich erhobener Katamnesen 
bei geheilten Dementia Praecox-Kranken usw.“). Beide haben 
über den Wert der persönlichen Erhebung der Katamnesen 
sich ausführlich ausgesprochen. Auch Raecke hat sich bei 
Prognose der Katatonie (Arch. f. Psych., Bd. 65, p. 50) mit den 
schriftlich erhobenen Katamnesen begnügt. 

Die von diesen psychiatrischen Beobachtern beklagten Un¬ 
vollkommenheiten katamnestischer Untersuchungs-Ergebnisse 
mußten wir bei unseren funktionellen Nervenerkrankungen erst 
recht mit in den Kauf nehmen: 

Bei der Unfallsneurose liegen die Dinge doch noch etwas 
anders, wie bei den Psychosen und Neurosen anderer Art: mir kam 
es nicht darauf an, mit möglichster Sicherheit zu erfahren, ob 
alle einzelnen klinischen Symptome der Unfallsneurose ver¬ 
schwunden sind. Da genügt es mir festgestellt zu wissen, ob die 
soziale Lage des Verletzten wirklich durch den Unfall für alle 
Zeiten sich sehr verschlechtert hatte. War die psychische 
und .somatische Insuffizienz, welche die haupt- 



Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen 


11 


sächlichste Unfallsfolge bildeten, wirklich so 
hochgradig, wie der Verletzte monate- und jahre¬ 
lang behauptet hatte? Das war für unsere Schlußfolge¬ 
rungen die entscheidende Frage! 

Zur Klärung einer über diesen Punkt noch herrschenden 
Unsicherheit war nur die Feststellung einer Heilung im 
praktischen Sinne, eine soziale Gesundung, sowie 
der Eintritt einer zufriedenen Gemütsstimmung 
mit Lust zur Arbeit maßgebend. 

„Das spätere Schicksal der in Heilstätten behandelten 
Lungenschwindsüchtigen“ hat der Oberarzt am Allgemeinen 
Krankenhause Hamburg-Eppendorf, F. Reiche, in Nr. 32 der 
Münchener medizinischen Wochenschrift (1911) besprochen. 
Auch seine Zusammenstellung beweist, daß es ihm bei der Be¬ 
urteilung der Dauererfolge von Heilstättenkuren nicht auf die 
Änderungen des Lungenbefundes ankam, sondern daß der Grad 
der Erwerbsfähigkeit als maßgebend angesehen wurde. Auch 
Reiche hat sich in seinen Nachkontrollen mit den Ergeb¬ 
nissen der behördlichen Auskünfte über behandelte Lungen- 
schwindsüchtige begnügt. 

Bei der Unfallsneurose konnten wir erst recht auf den 
Nachweis einer Heilung im wissenschaftlichen Sinne ver¬ 
zichten. Das war um so mehr erlaubt, als fast alle sogenannten 
objektiven Symptome dieser Erkrankung im Laufe der beiden 
letzten Jahrzehnte immer mehr an klinischem Werte eingebüßt 
haben. 

Von solchen Erwägungen sind auch die dänischen und 
schweizer Autoren ausgegangen, als sie den Ausgang von Un¬ 
fallsneurosen prüften und ihre Heilbarkeit in so vielen Fällen, wie 
wir später sehen werden, feststellen konnten. Die mannigfachen, 
sehr auseinandergehenden Urteile über die objektiven Symptome 
der Unfallsnenrose sind ja bekannt: das Man köpf sehe Symp¬ 
tom, die Veränderungen des Gesichtsfeldes, die Steigerung der 
Kniereflexe, das Nachröten bei Bestreichen der Oberhaut, das 
Lidflattern, selbst vielfach das Schwanken bei geschlossenen 
Augen sowie die Klopf- bezw. Druckempfindlichkeit am Kopf 
und an der Wirbelsäule sind ja von vielen Autoren genugsam 
gewürdigt worden. Sie sind wie das Gesamtbild der Unfalls- 



12 


Dr. Leop. Laquer, 


neurose von psychologisch-psychiatrischen Gesichtspunkten aus 
zu werten. Reinhard in „Bemerkungen über Unfallbegnt- 
achtung und Gutachterwesen“ (G. Fischer, Jena, 1911) kommt 
zu ähnlichen Ergebnissen. Placzek („Gutachtliche Seltsam¬ 
keiten“, pag. 20—30, Leipzig, J. A. Barth, 1911) hat sogar 
Pupillen-Anomalien und Blutdrucksteigerungen in gleichem 
Sinne gedeutet. Sachs geht darin soweit, zu behaupten, daß 
dem Arzte, mit je gröberen (Jntersnchungsmethoden er 
auskommen kann, die sichere Beurteilung des klinischen Bildes 
der Unfallsneurose um so leichter falle. 

Wer viel typische Unfallsneurosen zu sehen in der Lage 
ist, gewinnt in der Tat allmählich die sichere Überzeugung, daß 
das psychogene Moment in der Pathogenese dieser funktionellen 
Nervenkrankheit die Hauptrolle spielt und daß nur in der 
seelischen Beeinflussung des Verletzten das Heil 
zu suchen ist. 

Bei jedem einzelnen der von mir beobachteten und all¬ 
mählich zum Unfallsneurotiker Gewordenen habe ich mich be¬ 
müht, Hinweise zu geben auf die von äußern wirkenden Einflüsse, 
welche den Gemütszustand des Verletzten umgestimmt haben. 

Den nun folgenden Erörterungen über die Literatur, welche 
die Heilbarkeit der Unfallsneurosen betrifft, möchte ich einige 
kurze Bemerkungen über deren Häufigkeit vorausschicken. 

Wieder ist es Hoc he gewesen, der in seiner bekannten 
Rektoratsrede „Geisteskrankheit und Kultur“ (Freiburg 1910) 
die Häufung der Unfallsneurosen geradezu als eine Volks- 
seuche ansah. Man hat ihm vielfach widersprochen. 

So berichtete Merzbaeher im Zentralblatt für Nerven¬ 
krankheiten und Psychiatrie des Jahrgangs 1906 Seite 905 
über 1370 Unfälle, die sich bei der Süddeutschen Eisen- und 
Stahlberufsgenossenschaft ereignet und mindestens Entschä¬ 
digung erhalten hatten. Darunter fand er nur 0,9% Neurosen. 

Biß zählte im Jahrgang 1904 der Ärztlichen Sachver- 
ständigen-Zeitung unter 9000 Unfällen der Seeberufsgenossen¬ 
schaft nur 0,27 Proz.. bei der Privatbahn-Berufsgenossenschaft 
unter 15000 entschädigungsberechtigten Verletzten nur sieben 
Proz. funktioneller Nervenkrankheiten nach Unfall. 

Wimmer hatte unter 14 305 Unfällen in Dänemark 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallstolgen 


IS 


nur 0,6 Proz. Neurosen festzustellen vermocht. Bei der 
Sektion V der Rheinisch •Westfälischen Baugewerksberufs¬ 
genossenschaft in Köln kamen nach Stursberg (Neurolog. 
Zentralblatt Nr, 16 1911) in 20 Jahren (1886—1906) nur bei 
1,9 Proz. der Rentenempfänger nervöse Störungen funktioneller 
Art vor, 1,6 auf 1000 Unfälle, — nur ein Unfallneurotiker 
auf 10000 versicherte Arbeiter. 

In all diesen Statistiken, die gegen Hoch es Standpunkt 
zu sprechen scheinen, ist offenbar das wiederholt charakterisierte 
Krankheitsbild der Unfallsneurose der allgemein psycho¬ 
gen bedingte Symptomenkomplex der Psychoneurose ge¬ 
meint, während die tausendfältigen örtlichen nervösen Symp¬ 
tome, die Strümpell ursprünglich als „lokale traumati¬ 
sche Neurose“ bezeichnet wissen wollte, in jenen Zahlen 
nicht mit inbegriffen ist. Die örtlichen Mißempfindungen und 
Schwächezustände, welche die Heilung aller Unfallverletzungen 
— auch der leichtesten Distorsionen — um Monate, ja um Jahre 
verzögern, sind allen Chirurgen, ja jedem Kassenarzte zur Ge¬ 
nüge bekannt. Wenn mau sie mitzählt, gewinnt Hoches 
Stellungnahme durchaus an innerer Berechtigung. 

„Man muß schon recht alt werden, um die volle 
Heilung einer einfachen Unfallfraktur zu erleben!“ 
sagte mir einmal ein alter, weiser Chirurg. 

Nach Hartmann, Leipzig-Connewitz (Ärztl. Vereinsblatt, 
12. Sept. 1911), werden solche Beobachtungen auch im Aus¬ 
lande vielfach gemacht, z. B. von der Niederländischen Reichs¬ 
versicherungsbank: „In einem großen holländischen Kranken¬ 
hause überraschte es jeden Arzt, der den wöchentlichen 
Sitzungen im Krankenhause beiwohnte, daß die versicherten 
Kranken mit Beinbrüchen in einem gewissen Stadium der 
Heilung viel weniger gut gingen, als die nichtversicherten 
Dulder. Im allgemeinen wurde von der Art und Weise des Auf¬ 
tretens eines Patienten gemerkt, ob er versichert war oder nicht I“ 

Ehe ich über meine eigenen Fälle berichte und allgemeine 
Schlußfolgerungen daraus ziehe, möchte ich die Meinungen 
anderer Autoren anführen, die sich besonders im letzten 
Jahrzehnt über die Frage der Heilbarkeit von ner- 



14 


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Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 15 

der Gesetzgebung an, nach der an Stelle der Rente eine Ab¬ 
findung und dauernde Entlassung aus der Kontrolle der Berufs¬ 
genossenschaft Platz greifen könnte. 

Mann (Breslau) erachtet für die einzig mögliche Abhilfe 
der Übelstände, die sich durch die Verschiedenartigkeit der 
Gutachten über Notwendigkeit der Behandlung und Höhe der 
Invalidität herausgebildet haben, in der Form einer einheit¬ 
lichen oder höchstens nach einigen Abstufungen zu unter¬ 
scheidenden Abfindungssumme. 

Gaupp (Tübingen) erblickt keinerlei Nutzen in 
längeren Bade-, Land-, Gebirgs- und See-Aufenthalten bei 
schweren Unfallsneurosen; wichtiger als alle diese Behand¬ 
lungsmethoden erscheint ihm die einmalige Kapitalsabfindung, 
überhaupt die möglichst schnelle Erledigung des schädlichen 
Rentenkampfes. 

Auch Sänger (Hamburg) trat für eine möglichst früh¬ 
zeitige einmalige Abfindung ein. 

Döllken (Leipzig) hat dann auf der Versammlung Mittel¬ 
deutscher Psychiater und Neurologen in Dresden im Jahre 1906 
auf Grund eines reichen Materials aus 4 Betrieben mit 13000 
Arbeitern seine Erfahrungen in einem Vortrage mitgeteilt. Er 
macht für die häufige Verhinderung von Besserung und Hei¬ 
lung die unvollkommene Möglichkeit einer Kapitalabfindung 
verantwortlich. Es sei ja nicht zu bestreiten, meint D., daß in 
seltenen Fällen einmal ein notorischer Säufer die Abfindung 

O 

erhalte, sie vertrinken und dann der Armenpflege zur Last 
fallen könnte. D. geht von der Meinung aus, daß auf dem 
Gebiete der Unfallsneurosen nur gesetzliche Veränderungen 
erfolgreich sein könnten und soziale Mittel — nicht medizinische 
Heilfaktoren in Betracht kommen dürften, weil auch nur soziale 
Ursachen zu beseitigen wären. Um aber den sozialen Schaden, 
den die Unfallsneurosen der Industrie jahraus, jahrein durch 
Entziehung von großem Kapital zufügten, zu beseitigen, schlägt 
Döllken eine ganze Reihe von Maßregeln vor, so auch die 
Kapitalabfindung; sie sollte bis etwa 50 Proz. Erwerbsun¬ 
fähigkeit möglich sein und leicht erlangt werden können. 

Auf der Naturforscher-Versammlung in Stuttgart im Jahre 
1906 hat sich Gaupp über den Einfluß der deutschen Unfallgesetz- 



16 


Dr. Leop. Laquer, 


gebung auf den Verlauf der Nerven- und Geisteskrankheiten noch¬ 
mals ausführlich geäußert und zur Beseitigung der dabei hervor¬ 
getretenen Übelstände unter anderem ganz besonders die ein¬ 
malige Kapitalabfindung empfohlen. Er kennzeichnete den 
»nervösen Seelenzustand der modernen Zeit“, den Einfluß der 
chronischen Trunksucht auf die Energie der arbeitenden Klassen, 
die veränderten politischen Anschauungen und Stimmungen der 
Arbeiter, ihre anfänglich mißtrauische oder selbst feindliche 
Stellung gegen die soziale Gesetzgebung, ihre oft irrigen Vor¬ 
stellungen über ein vermeintliches Recht auf Rente. Als 
Übelstände im einzelnen werden genannt: die Sorge für den 
Verletzten liegt anfänglich bei den Krankenkassen, statt gleich 
bei den Berufsgenossenschaften. Das Gesetz verlangt leider 
keine genaue schriftliche Fixierung des ärztlichen Befundes 
sofort nach dem Unfall. Das Rentenfestsetzungsverfahren 
dauert zu lange. Das Gesetz selbst ist für den Arbeiter zu 
schwer verständlich. Nach erstmaliger Rentenfestsetzung ge¬ 
laugt der Verletzte nicht zur Ruhe, die häufigen Nachunter¬ 
suchungen schaden: einmalige Abfindung ist leider nur bei 
niedrigen Renten und nur auf Antrag des Verletzten möglich. 
Die Uneinigkeit der Arzte bei den in Betracht kommenden 
Fragen ist um so verhängnisvoller, als nach dem Wunsche 
des Gesetzgebers der Verletzte den wesentlichen Inhalt der 
über ihn erstatteten Gutachten erfährt. Die Ärzte urteilen im 
Gefühl der Unsicherheit und der großen Verantwortung oft zu 
milde, empfehlen Vollrente und schaden damit dem Arbeiter, 
machen ihn zum unglücklichen und untätigen Hypochonder. 
Eine Kürzung der Rente ist nur bei Nachweis wesentlicher 
Besserung zulässig; dieser Nachweis ist bei der subjektiven 
Natur der Symptome selten zu führen. Die Prognose des 
Leidens ist weniger von dem speziellen Symptomenbild, als 
von der Eigenart des Verletzten und von der Gestaltung 
des Rentenkampfes abhängig; auch wirken chronischer Alko¬ 
holismus, Milieueinflüsse oft schädlich. Sehr oft ist der Ver¬ 
lauf ein ungünstiger; bisweilen beobachtet man frühzeitiges Altem. 
Gaupp machte folgenden Vorschlag: Nach Ablauf von drei 
Jahren nach dem Unfall steht der Berufsgenossenschaft das 
Recht zu, nach Anhörung eines ärztlichen Kollegiums von 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


17 


wenigstens drei Ärzten, yon denen zwei den Verletzten schon 
früher untersucht hatten, diesen mit einmaliger Auszahlung 
eines bestimmten Kapitals abzufinden, wenn nach dem ein¬ 
stimmigen Ausspruch der Ärzte die Verletzung selbst völlig 
geheilt ist und die übrig gebliebenen Störungen im Verlauf 
der letzten zwölf Monate objektiv keine Verschlimmerung er¬ 
fahren hatten. Die einmalige Abfindung soll dann nur statt¬ 
finden, wenn nach dem Ausspruch der Ärzte die endgültige 
Erledigung der Rentenfrage im gesundheitlichen Interesse des 
Unfallkranken selbst liegt. 

Aus der Tübinger Klinik hat ferner Schaller einige 
Zahlen über ünfallneurose, Rente und Kapitalabfindung in 
seiner Dissertation von 1910 veröffentlicht. Es wurden 140 
Fälle, die von 1894—1909 wegen Unfallneurose in der Tübinger 
Nervenklinik begutachtet -wurden, einer Nachprüfung unter¬ 
zogen. Im ganzen waren 87 Fälle verwertbar, es waren davon 
57 Proz. im Gefolge von Kopfverletzungen aufgetreten. Nur 
4,6 Proz. davon sind soweit gekommen, daß ihnen die Rente 
entzogen werden konnte; teils bei langsamer Herabsetzung der 
Rente, teils bei kleiner Abfindung, teils nach langjähriger 
Pensionierung vom Postdienst, teils bei völliger Entziehung 
der Rente. 21 Personen haben sich auf verschiedentliche Ein¬ 
wirkungen hin gebessert. 39 Fälle reiner, mit organischen 
Läsionen nicht komplizierter Neurose sind gar nicht geheilt. 
In 30 Fällen war auf Entstehung und Verlauf der Neurose 
ein ungünstiger Einflüsse seitens Familie und anderer Personen 
aus der Umgebung ausgeübt worden. 

Schaller betont, daß die nervösen Unfallsfolgen mit 
sozialen Übelständen zusammenhingen und deshalb nicht mit 
medizinischen Heilfaktoren, sondern wiederum nur durch soziale 
Mittel bezw. auf dem Wege der Gesetzgebung beseitigt werden 
könnten. Wenn Kapitalabfindung an Stelle der Rente 
gesetzt werden könnte, so würde das ein Radikal¬ 
mittel zur Besserung der Vorhersage der Unfalls¬ 
neurosensein. Denn ein Zahlenvergleich zwischen Deutschland 
einerseits, Dänemark und der Schweiz andererseits, spräche in 
deutlichen Worten für den Heilwert der Kapitalabfindung. 

Friedei (Jena) hat 131 Fälle aus der Nervenabteilung 

2 



18 


Dr. Leop. Laqaer, 


der Jenenser psychiatrischen Klinik zusammengestellt nnd 1909 
in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. XXV, 
H. 3, veröffentlicht. In dieser Arbeit wurden traumatische 
Neurosen berücksichtigt, die 5 bis 20 Jahre lang zurückverfolgt 
werden konnten. Es war charakteristisch, daB bei einem 1898 
verunglückten und 1907 in Jena untersuchten Kranken nicht 
weniger als 18 ausführliche ärztliche Gutachten 
sich in den Akten fanden. 

F. kommt in seinen SchluBbetrachtungen zu der Ansicht, 
daß der Schwerpunkt in bezug auf die Heilbarkeit in der 
Regulierung der Entschädigungsfrage zu suchen sei, und läßt 
es unentschieden, ob der jetzige Modus i. e. die Gewährung 
von mehr oder minder großen Renten oder die einmalige 
Kapitalsabfindung die bessere Prognose gebe. Er glaubt, daß 
die Lösung dieser schwierigen Frage nur auf empirischem 
Wege zu lösen sei. 

Der Einfluß der Entschädigungsart auf den Verlauf der 
sogenannten Unfallsneurosen ist auch von Windscheid be* 
sprechen worden, und zwar in einem Referat, das er auf dem 
Internationalen Kongreß für Unfallheilkunde in Rom im Mai 
1909 erstattet hat: W. hat die Möglichkeit erörtert, den Ver¬ 
letzten durch eine einmalige Abfindung so zu entschädigen, „daß 
er hn Besitze einer größeren Geldsumme und dadurch in der Lage 
sei, einesteils für sich gesundheitlich zu sorgen und andererseits 
auch durch Ankauf eines größeren Geschäftes oder Erlernung 
eines anderen Erwerbszweiges sich neue Einnahmequellen zu 
verschaffen.“ Bei Privatversicherungen führe diese Abfindung 
zu einer schnellen und befriedigenden Lösung von Streitig¬ 
keiten um die Höhe der Unfallsrente: die soziale Verschieden¬ 
heit der Abzufindenden bedinge eine verschiedene Wertung 
und Verwendung der Abfindungssumme: W. fürchtet, daß von 
der großen Zahl jener Verletzten, die mit Bargeld nicht um¬ 
zugehen verstehen, der ihnen zugefallene Betrag bald wieder 
verbraucht und die erreichte Zufriedenheit sehr b^d wieder 
einer neuen Reihe von Begehrlichkeits-Vorstellungen, gewisser¬ 
maßen einer neuen „Kapitalunfallneurose“ Platz machen würde. 
Trotzdem könnte der Versuch gemacht werden, nicht nur bei 
15 Proz. Invalidität, sondern etwa bis zur Höhe von Proz. 



Die Heilbarkeit nersbser Unfallsfolgen. 


19 


die Möglichkeit der Abfindung offen zu lassen — nach freier 
Wahl des Verletzten: Voraussetzung wäre allerdings, daß nach 
Meinung der Ärzte auf eine Änderung der nervösen ünfalls- 
folgen nicht zu hoffen wäre: auch müßte die Abfindung 
unwiderruflich sein. Der Abgefundene müßte zu der 
Überlegung gelangen, daß mit diesem Ausgang des Renten- 
festsetzungs-Verfahrens seiner Begehrlichkeit eine Grenze ge¬ 
zogen sei. — Eine Prüfung der Erfahrungen mit Ab¬ 
findung scheine ihm wichtig und wert. . .. Die Frage 
harre noch ihrer Klärung. 

Von den ausländischen Autoren hat zuvörderst Nägel i 
im Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte, 1910, Nr. 2 Nach¬ 
untersuchungen von traumatischen Neurosen mitgeteilt, und 
zwar an 200 Fällen. Davon waren 73 eigene Beobachtungen. 
Er legte den Hauptwert der Nachuntersuchung auf die 
genaueste objektive Feststellung des Lohnerwerbs. Es lagen 
ihm 138 Fälle erledigter nervöser ünfallsfolgen vor. Davon 
sind 115 voll erwerbsfähig geworden. 

Nägeli bezeichnet die einmalige Erledigung der Unfalls¬ 
folgen durch Eapitalabfindung geradezu als kausale 
Therapie; wenn auch öfters, so meint Nägeli, eine bewußte 
Übertreibung mitgespielt haben mag, so wird durch die end¬ 
gültige Erledigung aller Rechtsansprüche eben derjenige Faktor 
beseitigt, der die Leute vorher nicht gesund werden ließ. 
Rückfälle oder Verschlimmerungen oder gar Entstehung von 
Psychosen nach Unfällen hat der Verfasser nicht gesehen. 
Nägeli sieht schließlich die traumatische Neurose nicht als 
die schwere Krankheit an, als die sie vielfach hingestellt zu 
werden pflegt. 

Nägeli schreibt unterm 16. Juli 1911 an den Verfasser: 

„Ich glaube Sie versichern zu können, daß in der Schweiz 
allgemein die Unfallueurosen mit Kapitalabfindung erledigt und 
damit auch geheilt werden. Ein anderes Verfahren kann nur 
ganz ausnahmsweise dann verkommen, wenn eine Versicherung 
der Sache nicht traut und Rente gibt. Im Entwurf für die 
Schweiz. Unfallversicherung, die fertiggestellt ist und vielleicht 
bald in Kraft tritt (sofern das Referendum nicht ergriffen 
wird), ist Kapitalabfindung für traumatische Neurosen ge- 



20 


Dr. Leop. Laqaer, 


setzlich festgelegt. Rein Mensch denkt an andere 
Regulierung. So erzielt man wenigstens Heilung. Es gibt 
in der Schweiz keine ungeheilte traumatische Neurose zwei 
Jahre nach Abfindung, wenigstens konnte ich nirgends bei 
der Fortsetzung meiner Untersuchungen eine finden." 

Egger (Basel) kam in einer Diskussionsbemerkung zu 
Hoch es Vortrag zu folgenden ganz ähnlichen Schlüssen wie 
N aegeli: 

1. Eine große Anzahl von Neurasthenikern, mit den 
gleichen Beschwerden wie ünfallsneurotiker, versehen ihre 
Arbeit Jahr aus, Jahr ein. 

2. Das gleiche tun Unfallsneurotiker, deren Unfall nach 
Schweizer Recht nicht haftpflichtig war. Sie sind, wie die erste 
Kategorie, gezwungen, von Zeit zu Zeit ärztlichen Rat in An¬ 
spruch zu nehmen. 

3. Von den Unfallsneurasthenikern hat selten einer die 
Arbeit wieder aufgenommen, ehe sein Fall definitiv er¬ 
ledigt war. 

4. Unfallkranke, bei denen die definitive Erledigung der 
Angelegenheit nach dem ärztlichen Gutachten auf 1 bis 2 Jahre 
zurückgestellt wurde, weil innerhalb dieser Frist eine Besse¬ 
rung des Leidens vorauszusehen war, haben nie eine Besse¬ 
rung zugegeben; im Gegenteil, sie versicherten durchweg, daß 
sich ihre Beschwerden verschlimmert hätten. 

5. Bei einer Anzahl von Kranken, welche bei uns Renten 
erhielten (unser Haftpflichtgesetz sieht diese Art der Ent¬ 
schädigung bei Eisenbahnunfällen vor), habe ich nie eine 
Besserung eintreten sehen. 

6. Bei einigen Unfallkranken, die eine große Entschädi¬ 
gungssumme erhalten hatten, sah ich nachher prompte Heilung. 

7. Unfallkranke, denen das Gericht eine kleine oder gar 
keine Entschädigung zugesprochen hatte, heilten nicht, bis sie 
alle Gerichtsinstanzen durchlaufen hatten. Wurde die erste 
Entscheidung von den obersten Instanzen bestätigt, so nahmen 
sie die Arbeit wieder auf und heilten. 

Das Unfallversicherungsgesetz übe einen erheblichen Ein¬ 
fluß auf den Ablauf der traumatischen Neurosen aus. Gewisser¬ 
maßen eine Korrektur dieser Schädigung sei 'zu erreichen durch 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 21 

rasche Erledigung der Entschädigungsirage und durch Zubilli¬ 
gung einer kleinen definitiven Entschädigungssumme. 

Von großer Bedeutung für die vorliegende Frage ist auch 
die Arbeit, welche Dr. August Wimmer aus Kopenhagen 
„Über die Prognose der traumatischen Neurose und ihrer Be¬ 
einflussung durch die Eapitalabfindung“ ;veröffentlicht hat: 
Nach dem Dänischen Unfallversicherungsgesetze vom 7. Januar 
1898 soll die einmalige Eapitalabfindung das prinzipale Ver¬ 
fahren sein. Da das Gesetz aber fordert, daß die Feststellung 
des dauernden Invaliditätsgrades spätestens ein Jahr nach dem 
Unfall geschehe, so hat man aus Gründen, die in der Natur 
der nervösen Unfallsfolgen liegen, es in Dänemark vorgezogen, 
die Eapitalabfindung in zwei Stadien vorzunehmen, 
und zwar in folgender Weise: Sobald das Vorhandensein einer 
traumatischen Neurose beim Verletzten festgestellt ist, wird 
ihm nach den zurzeit vorliegenden Verhältnissen eine vor¬ 
läufige, relative und partielle Entschädigung bewilligt. Es wird 
hierdurch ein vorläufiger Abschluß geschaffen und die ganze 
Entschädigungsfrage für geraume Zeit eingestellt. Nach Ver¬ 
lauf von 1 bis 2 Jahren wird die Sache wieder aufgenommen. 
Falls sich nun durch eine abschließende Spezialuntersuchung 
und durch Erkundigungen über die tatsächliche Arbeitsfähig¬ 
keit des Verletzten nach der ersten Abfindung eine größere 
Invalidität als die vorläufig angenommene (und zwar als eine 
wahrscheinlich bleibende) herausstellen sollte, wird dann dem 
Verletzten eine weitere definitive Kapitalentschädigung zu¬ 
erteilt. Sonst wird die Sache ohne weitere Entschädigung er¬ 
ledigt. 

In dieser Weise sind vom Jahre 1898 bis zum Jahre 1907 
im ganzen 104 Fälle von traumatischer Neurose vom Dänischen 
Arbeiterversicherungsrate behandelt worden. Etwa die Hälfte 
davon (54 = 51,9 Proz.) konnten bei der Wiederaufnahme 
der Untersuchung als geheilt angesehen und ohne weitere 
Entschädigung entlassen werden. Bei weiteren 16 Fällen war 
ebenfalls die Neurose bis zum Zeitpunkte der zweiten Ent¬ 
scheidung gänzlich gewichen oder es hatte sich die Arbeits¬ 
fähigkeit des Verletzten soweit gebessert, daß eine Grundlage 
für weitere Entschädigung nicht mehr anzunehmen war. Die 



22 


Dr. Leop. Laquer, 


Inyalidität war durchschnittlich auf 29 Proz. (etwa auf 1000 Mark) 
geschätzt worden. 

Es blieben 60 Fälle übrig, von denen Wimm e rdienait „reiner“ 
und die mit „komplizierter" traumatischer Neurose unterscheidet. 
Zu den ersteren rechnet er solche, die im rüstigen Alter ent¬ 
stehen, meist nach, einfachem Unfälle ohne organische Läsionen 
und unter dem Bilde einer traumatischen Hysterie oder Hystero- 
neurasthenie verlaufen. Zu den komplizierten Neurosen ge¬ 
hören nach W.s Annahme die Schädelverletzungen, deren 
nervöse Folgen vielleicht auf organischer Grundlage beruhen 
und in einer traumatischen Hirndegeneration oder einer zere¬ 
bralen Arteriosklerose zu suchen sind. Auch traumatische 
Neurosen bei Leuten im vorgeschrittenen Alter schließen sich 
hier eng an. Ebenso die Komplikationen der traumatischen 
Hysterie mit peripheren Nerven-, Gelenk- und Muskelverlet- 
zuugen usw. Die letztgenannten haben auch nach W.s Erfah¬ 
rung eine sehr üble Prognose. 

Bei der Frage der Heilbarkeit nervöser ünfallsfolgen steht, 
wie ich oben schon kurz erwähnte, W. immer auf dem wohl 
allseitig gebilligten Standpunkte, daß hier nur die 
praktische Heilung, d. h. die wiedergewonnene Arbeits¬ 
fähigkeit der Verletzten maßgebend sein kann. Die Fest¬ 
stellung der neurologischen Heilung, d. h. die Nachunter¬ 
suchung und ärztliche Prüfung, ob subjektive und objektive 
Nervensymptome bei dem Verletzten völlig geschwunden sind, 
seien zwar nötig, aber objektiv von einem sehr zweifelhaften 
Werte, denn es bestehe keine absolute Übereinstimmung 
zwischen Menge und Art • der neurotischen Symptome einer¬ 
seits und der tatsächlichen Arbeitsfähigkeit des Verletzten 
andererseits. Ferner sei eine solche Nachprüfung so vielen 
verschiedenartigen bewußten und unbewußten Fehlerquellen aus¬ 
gesetzt, daß ihre Bedeutung immer eine beschränkte bleiben dürfte. 

So wurden also 60 Verletzte zum zweiten Male abge¬ 
funden; die Invalidität betrug durchschnittlich 24 Proz., die 
zweite Abfindungssumme 1300 M. Das weitere Schicksal von 
16 dieser Abgefundenen konnte nicht ermittelt werden, meist 
waren sie gestorben oder hatten die Arbeit wegen des hohen 
Alters eingestellt usw. 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgeiu 


23 


Über 44 Fälle aber konnte Wimmer genau berichten; 
18 davon waren reine traumatische Neurosen. 

Im ganzen sind unter 63 Fällen reiner traumatischer 
Neurosen 59 durch die geschilderte zweimalige Kapitalabfin¬ 
dung, d. h. 93,6 Proz. als dauernd geheilt zu betrachten. 

W. meint, daß die mehrfach ausgesprochene Furcht vor 
einer sogenannten „ Abfindungshysterieals verfrüht zu be¬ 
trachten ‘ sei. 

Die 4 ungeheilten Fälle reiner Neurosen waren 
folgende; 

29jähriger Arbeiter. Unfall am 5. 7. 1904. Trauma des 
Unterleibs. Abdomineller Shok. Anfälle von Dyspnoe und Tachy¬ 
kardie; hysterische Konvulsionen; gemütliche Verstimmung. Erste 
Abfindung am 17. 11. 1904:15%. Fortbestehen der nervösen 
Symptome; leichtere Arbeit. Zweite Abfindung am 22. 2. 1906 
mit einer weiteren Entschädigung von 15%. Arbeitet jetzt (AfMril 
1909) mit einer Lohn Verminderung von 30%. 

32jähriger Straßenbahnkondukteur. Unfall am 17. 2. 1904. 
Elektrischer Stoß am rechten Auge. Augenschmerzen, Kopfschmerz, 
optische Hyperästhesie; Abschwächung der Merkfähigkeit, Gha- 
rakterveränderung (Reizbarkeit, Wutanfälle), Schlaflosigkeit, ge¬ 
mütliche Depression. Schon vor der ersten Abfindung .hatte er 
seinen Dienst wieder aufgenommen; seine Tüchtigkeit war aber 
entschieden herabgesetzt. Erste Abfindung am 16. 3. 1905 mit 
10%. Fortbestehen der Neurose. Zweite Abfindung am 15. 11. 
1906, weitere 10%. Ist später mit Pension entlassen worden, 
meint selbst nur leichtere Arbeit verrichten zu können. 

45jäbriger Arbeiter. Unfall am 6. 10. 1904. Erbränkung; 
während zehn Minuten in hoher See. Anterogiade Amnesie. Hä¬ 
moptysen. Hemihypalgesia sin. Monoplegia crural. sin. Mittel¬ 
starke Arteriosklerose. Erste Abfindung am 30. 9. 1905 mit 15%. 
Leichte Waldarbeit. Neuer Unfall am 19. 12. 1906 (Rippenbruch). 
Zweite Abfindung am 6. 7. 1907. Stigmata unverändert; Queru- 
lanz. 15% weitere Entschädigung. Im März 1909 beträgt die 
Herabminderung seines Arbeitsverdienstes 50 %. 

55 jährige Arbeiterin. Unfall am 18. 11. 1904. Hinabstürzen; 
gewaltsamer psychischer Shok. Verschiedene Kontusionen des 
Rumpfes. Ueberenergische medizinische Behandlung aus falscher 
Diagnose („Rückenmarksleiden**). Klassische Hysterie; Spon¬ 
tanbesserung, durch einen neuen Unfall (herabstürzende Mauer) 
vernichtet. Erste Abfindung am 19. 11. 1904 mit 18%. Die 
Hysterie besteht fort; komplette Arbeitsinvalidität. Zweite Ab¬ 
findung am 23. 5. 1906 mit weiteren 40%. Im März 1909 
Status ganz unverändert (die Verletzte ist jetzt 60 Jahre alt)- 



2 + 


Dr. Leop. Laquer, 


Das Fortbestehen der Neurose bei diesen Verletzten dürfte 
jedenfalls für die zwei letzten durch die erwähnten aggra¬ 
vierenden resp. fixierenden Momente hinreichend erklärt sein. 
Für das Weib ist es eben fraglich, ob ihre Neurose den 
„reinen“ Neurosen angehört, oder ob das vorgerückte Alter der 
Patientin nicht eher vom Beginn ab der Hysterie dies Ge¬ 
präge von Tenazität verliehen hat, das dem vorgeschrittenen 
Alter eigen ist. 

Von 27 Fällen komplizierter Neurose sind nur 3 geheilt. 
Für die Prognose kommt das Alter der Verletzten zur Zeit des 
Unfalls sehr wesentlich in Betracht; die 24 Neurotiker, die 
nicht geheilt waren, hatten ein mittleres Alter von 63 Jahren. 
Über die 24 Fälle ungeheilter traumatischer Neurose lautet 
das Gesamturteil Dr. W.s, daß sich durch die Kapitalab¬ 
findung heilen ließe, was eben heilbar sei. Im 
Dänischen Arbeiterversicherungsratei[sei man mit dem Resul¬ 
tate sehr zufrieden. Interessant ist auch, was W. über den 
Anteil der „Begehrungsvorstellung“ sagt: Er rät, ihre patho¬ 
genetische Bedeutung nicht zu überschätzen, hier mahnt schon 
die relative Seltenheit der traumatischen Neurosen, von der 
schon oben die Rede war, zur Vorsicht. W. hält es nicht für 
angängig, in so niedrigen Zahlen ärztliche Dokumente für die 
menschliche Habsucht zu sehen. 

W. gibt aber zu, daß die ökonomischen Sorgen der Ver¬ 
letzten nur bei Neurotikern alle jene Symptome unterhalten 
und fixieren können, die eine Invalidität bedingen. Und darum 
sei die Kapitalabfindung immer angezeigt, wo es 
sich um reine traumatische Neurosen ohne kompli¬ 
zierende organische Körperverletzungen handelt. 

Die Renten - Hysterie machte zum Gegenstand eines 
größeren Aufsatzes auch Steyerthal (Kleinen) im Band 1908 
der „Zeitschrift für Versicherungsmedizin“. 

Von großem Interesse sind die von St. beobachteten Fälle, 
in denen das Leiden auf eine Verletzung zurückzuführen war, 
ohne daß ein Pfennig dafür gezahlt wurde. Unter 
86 Fällen von Renten-Hysterie zählte St. 12 (9 männliche 
und 3 weibliche), die leer ausgingen. Bei 7 (4 männliche, 
3 \v©ibliche) von diesen war gar kein Versuch gemacht, eine 



Die Beilbarkeit nerrOeer ünfallsfolgen. 2i 

Entschädigung zu bekommen, da nach Lage der Sache keinerlei 
Aussicht dazu vorhanden war, die anderen 5 (lanter Männer) 
hatten ihre Ansprüche geltend gemacht, waren aber von der Berufs¬ 
genossenschaft bezw. vom Gerichte abgewiesen. Nun ist der 
Verlauf dieser Fälle ein verhältnismäßig günstiger gewesen. 
Unter den 7 Kranken der ersten Gruppe waren, wie oben 
bereits bemerkt, 3 Damen. Die erste hatte sich beim Springen 
eine leichte Verstauchung des Fußgelenkes zugezogen und im 
Anschluß daran eine hysterische Kontraktur des Unterschenkels 
bekommen, die zweite war durch einen Fahrstuhlschacht ge¬ 
stürzt und litt seitdem an allgemeinen hysterischen Beschwerden, 
bei der dritten endlich hatte sich nach einer großen Schnitt¬ 
wunde des Unterschenkels mit heftiger Blutung eine schlaffe 
hysterische Lähmung des verletzten Beines herausgebildet. 

Die beiden zuerst erwähnten Patientinnen sind heute 
längst gesund, die dritte aber steht ganz genau auf ihrem 
alten Standpunkte, sie hat, trotzdem nunmehr sechs Jahre 
seit der Verletzung verstrichen sind, noch nicht wieder gehen 
gelernt. 

Von den 4 Männern hatten 3 Kopfverletzungen erlitten, 
einer eine Rückenquetschung. Die Hystero-Neurasthenie, die 
sich herausbildete, ist vollkommen geheilt. Von den 12 ab¬ 
gewiesenen Männern sind heute 2, trotzdem alle frommen 
Wünsche auf Pension ausgeschlossen waren, dauernd krank 
geblieben, 8 sind gesund und 2 haben nichts wieder von sich 
hören lassen. 

Von den 29 Angehörigen der Berufsgenossenschaften — 
meist waren es ungelernte Arbeiter — waren nur 6 vollständig 
geheilt bezw. bezogen sie keine Rente mehr, einer bezog noch 
die volle Rente, die übrigen sind im Laufe besser, aber keiner 
völlig gesund geworden. Unter den Schlüssen ist der Ab¬ 
satz 3 bemerkenswert, den St. dahin formuliert: 

„Da uns keinerlei Mittel gegen die Krankheit zur Verfügung 
stehen, so ist in den ärztlichen Gutachten zum Ausdruck zu 
bringen, daß neurasthenische Beschwerden im allgemeinen kein 
Arbeitshindemis bilden, daß die Arbeit vielmehr das beste 
Heilmittel dagegen darstellt.“ 



26 


Dr. Leop. Laquer, 


Über die Wirkung von Eapitalabfindung hat sich St. nicht 
geäußert. 

Hellpach, der nach den Anschauungen Herkners, des 
bekannten Freiburger Nationalökonomen, den Mangel an Be¬ 
rufsfreudigkeitunter den Arbeitern für die Störung der Arbeiter¬ 
psyche nach dem Unfall verantwortlich macht (Neurol. Zentral¬ 
blatt 1906, Nr. 13, pag. 60), spricht sich in der Zeitschrift für 
Vers-Wissenschaft auch für die Kapitalabfindüng aus. Dem 
Verletzten werde es dann möglich, sich so lange zu erhalten, 
bis er sich ganz gesund fühle oder, wofern er dem alten Be¬ 
rufe nicht mehr gewachsen erscheine, einen neuen zu gründen. 
Dabei könnten ihm die Arbeiterorganisationen so an die Hand 
gehen, daß die von der Verwaltung und den Ärzten dagegen 
geltend gemachten Bedenken: solche Leute könnten nicht mit 
Geld umgehen und deshalb leicht verarmen, leicht zu um¬ 
gehen wären. 

„Die proletarische Unsicherheit der Existenz sei ein be¬ 
deutsamer Faktor im Rentenbegehren**, meint Hellpach, 
„die Loslösung des Arbeiters vom Arbeitsziel, Unterjochung 
des Arbeiters unter das Arbeitstempo haben die Arbeit von 
Millionen jeder Spur eines Intelligenzwertes und eines Gefühls¬ 
wertes beraubt!“ Solche Unlustvorstellungen trieben den 
Arbeiter auch zum erschöpfenden Rentenkampf, der wegfiele, 
wenn das Rentenverfahren sich abkürzen und durch 
ein Abfindungs-System ersetzen ließe. 

Reichardt (1. c.) führt u. a. aus: „Man findet in der 
Literatur wiederholt Angaben, daß durch Kapitalabfindung 
viele traumatische Neurosen rasch und völlig geheilt worden 
sind. Ich bezweifle diese Tatsache nicht, doch ist sie für 
mich nur ein Beweis dafür, daß solche traumatische Neurosen 
noch keine wirklichen Krankheitszustände waren, sondern 
(wenn nicht bewußte Simulation, die niemals ganz ausge¬ 
schlossen werden kann) gutgläubige, normalpsychologische 
hypochondrische Einbildung. Echte krankhafte Neurosen 
lassen sich durch Kapitalabfindung nicht rasch 
und völlig heilen; sie verlaufen ganz nach ihren 
eigenen, in der krankhaften Hirnanlage begrün¬ 
deten Gesetzen.“ 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfplgen. 


27 


R. meint weiter, man mache eben bei entsprechender 
Charakteranlage solche normalpsychologischen Unfalls - Hypo¬ 
chonder, „denen man für ihre Einbildungen eine langjährige 
Rente zahle“, zum krankhaften Hypochonder und Invaliden. 
Seine Unfallsneurose sei dann nur ein Kunstprodukt, er¬ 
zeugt durch unglückliche Umstände und Mißverständnisse, die 
er dann näher bezeichnet. Seine Klagen, Beschwerden, 
depressiven, fast paranoischen Gedanken, Willensschwäche, 
Energielosigkeit bestanden schon früher: „aber ihr^Inhalt ist 
durch das Unfallereignis beeinflußt bezw. verändert worden“. 

Einige noch entschiedenere Gegner jedweder Abfindung bei 
Unfallsneurosen sollen in der folgenden literarischen Übersicht 
zu Worte kommen. 

In dem Fragebogen, der von Ri gier, Zeitschrift für 
Versicherungsmedizin 1909, pag. 177, an einige hundert 
Ärzte versandt wurde und die Bekämpfung der traumatischen 
Neurose zum Gegenstand hatte, interessiert uns hier besonders 
die zweite Frage: 

2. Welche Mittel empfehlen Sie zur Bekämpfung der 
traumatischen Neurose: 

a) Halten Sie eine einmalige Kapitalabfindung an Stelle 
der fortlaufenden Renten für zweckmäßig 

b) oder empfehlen Sie andere Mittel? 

Es sind 282 Antworten eingelaufen, nicht bloß von deutschen, 
sondern auch von einzelnen ausländischen Ärzten. Zu den 
Befürwortern der einmaligen Abfindung gehören u. a.: Hoche, 
Gramer, Penzoldt, Schmidt-Rimpler, Benda, — zu 
den Gegnern: Placzek, Sonnen bürg, Pfalz u. a. 

Aus den Antworten hat R. den Eindruck gewonnen, daß 
die Kapitalabfindung stets ein zweischneidiges Schwert bleiben 
dürfte, als welches sie von vielen Seiten direkt bezeichnet wird. 
— „Auch sei zu berücksichtigen, daß man in der Schweiz 
damit schlechte Erfahrungen gemacht habe.“ 

Diese Anschauung beruht auf irrtümlichen Voraussetzungen, 
wie die Egg er sehen und Naegeli sehen Ausführungen aus 
der jüngsten Zeit ergeben. 

Als vorläufiges Ergebnis des Fragebogens bezeichnet R. 
„möglichste Ausschaltung der Begehrungs Vorstellungen, Ab- 



28 


Dr. Leop. Laquer, 


kürzung und Vereinfachung des ganzen Verfahrens und immer 
wieder den Hinweis auf das einzige Heilmittel der funktionellen 
Neurosen überhaupt, auf eine zweckmäßige Arbeit. Die ab¬ 
weichenden Anschauungen über den Wert der Abfindung er¬ 
klärt er durch die Verschiedenheit des Krankenmaterials der 
einzelnen Autoren. 

Placzek (Berlin) spricht sich in demselben Bande der 
Zeitschrift über die einmalige Kapitalabfindung dahin aus, daß 
sie ihre großen Vorzüge haben kann; es würde die Arbeit 
wieder von den Verletzten aufgenommen werden, sobald die 
Abfindungssumme ein Rentnerdasein nicht mehr gestattet, viel¬ 
leicht auch aus Lust zur Arbeit. So wirkungsvoll für die 
Psyche dieser Weg der Heilung sich auch darstellt, die 
praktische Ausführung erscheint P. aber unmöglich, denn 
gerade in dem frühen Stadium des Leidens, wo die einmalige 
Kapitalabfindung wünschenswert und erfolgreich erscheint, 
kann auch der erfahrenste Gutachter eine zuverlässige Pro¬ 
gnose nicht stellen, ein bestimmtes endgültiges^ Urteil nicht 
abgeben. Es stehen ihm keine klinischen Merkmale zu Ge¬ 
bote, um all die Kontrastvorstellungen zu übersehen, die sich 
jeglicher Heiltendenz entgegenstellen. 

Noch viel skeptischer äußert sich Rothenberg (Berlin), 
der in einem Zeitraum von 18 Jahren viele hundert Fälle von 
nervösen Unfallsfolgen beobachtete und kontrollierte; er steht 
auf dem Standpunkt, daß es schwere Fälle von traumatischer 
Neurose gibt, denen eine Kapitalabfindung nicht nur keine 
Linderung, sondern eine Steigerung ihrer Sorgen bringen 
würde: eine sorglose Zukunft könnte ihnen das Kapital, das 
ihnen durch die Abfindung zuflösse, doch nicht sichern, darum 
würden sie mit banger Sorge der Zeit entgegen sehen, wo das 
Kapital schließlich aufgehraucht wäre. Die wirklich schweren 
Fälle seien unverbesserlich, ihnen sei auf keine Weise zu 
helfen, man lasse ihnen Ruhe und ihre laufende Rente. 

Bei den Fällen von traumatischer Neurose, die sich unter 
den.Privat-Versicherten ereignen, wirken nach der Meinung R.8 
häufig schmutzige Motive mit. Da sei es nur möglich, diese 
unreine Quelle ihrer Klagen durch Geld zu verstopfen. 



Die Heilbarkeit nervbser ünfallsfolgen. 


29 


Leppmann sen. (Berlin), der wohl an einem ähnlichen 
Material aber wesentlich als forensischer Gutachter seine Er¬ 
fahrungen sammelte, hat am Schluß seines Fortbildungsvortrages 
„über die traumatischen Psychosen und Neurosen mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Unfallgesetzgebung“ im Winter¬ 
semester 1910/11 (Zeitschr. f. ärztl. Fortbildg. 1911 Nr. 22) 
als die verständigste Abgeltung traumatisch neurasthenischer 
Schäden die im neuesten Statut der Privatversicherungen festge¬ 
legte Methode bezeichnet: Danach kann 3 Jahre Rente 
gegeben werden. Wenn diese Frist verstrichen ist, 
muß Kapitalabfindung eintreten: L. erklärt, daß die 
traumatische Neurose niemals unheilbar sei, daß noch nach 
Jahren, wenn man den verletzt gewesenen Personen Ruhe 
gönnt, Besserungen Vorkommen könnten. 

Zingerle (Graz), der seine Erfahrungen in Österreich 
in der Monatsschrift f. Unf. u. Inv. (XVIIl. Jahrg. Nr. 9) veröffent¬ 
licht hat, meint sogar, daß die Eisenbahnverwaltungen in 
Österreich in Fällen von Unfalls-Neurose auch bei reichlicher 
Entschädigung und schneller Erledigung der Schadenansprüche 
immer noch große Ersparungen machen würden: Große Kosten 
würden vermieden, und man ginge in der ersten Zeit nach dem 
Unfälle den im Laufe des Verfahrens wachsenden dann über¬ 
hohen Forderungen der Verletzten aus dem Wege. Für beide 
Teile sei die rasche Abfindung gleich zweckdienlich. 

Ewald kann sich hingegen von einer einmaligen Abfindung 
statt einer dauernden Rente gar nichts versprechen; auch er be¬ 
fürchtet das Auftreten einer Abfindungs-Hysterie und meint sogar, 
daß durch die allgemeine Durchführung der Kapitalabfindung 
bei über 15 Proz. betragender Invalidität die Unterhaltungs¬ 
last der Unfallshysteriker von den Berufsgenossenschaften auf 
die Armenverbände abgeladen würde. (S. Mediz. Klinik 1908.) 

E. führt einen Fall an, wo die Rentenabfindung auf 
Grund des Haftpflichtgesetzes erfolgte, aber keinerlei Besse¬ 
rung eintrat: 

Ein 26 jähriger Hansbursche fiel 6 m tief durch eine Falltür, 
die offen und nur mit einem Brett bedeckt war. Er war 3 Tage 
bewußtlos und soll längere Zeit Blut gehustet haben. Der rechte 
Unterarm war doppelt gebrochen. Der Bruch ist schlecht verheilt 



80 


Dr. Leop. Laquer, 


und verorsacht eine erhebliche Bewegungsbehinderung der rechten 
Hand. Der Kranke litt dauernd unter Kopfschmerzen, Mattigkeit, 
Depression. Elr wurde mit 2500 M. abgefunden. Sein Zustand 
bat sich seitdem (öV2 Jahre) nicht gebessert. £r hat immer 
wieder versucht zu arbeiten, wurde auch immer wieder Mitglied 
der Ortskrankenkasse. Einmal bat er einen kurz dauernden 
Dämmerzustand gehabt. Von der Abfindungssumme besitzt er 
noch 1200 M., ein Zeichen also, daß er ein solider Mann ist. 

Zurzeit befindet sich der jetzt 32jährige Mann in einem Zu¬ 
stand dauernder Verstimmung, die sich hauptsächlich auf seine 
Arbeitsunfähigkeit und den drohenden Ruin seiner Familie kon¬ 
zentriert. Alle Versuche, ihn zu kleinen Hausarbeiten zu bewegen, 
schlugen fehl. Er versicherte, er könne es nicht, es treten sofort 
Kopfschmerzen auf. Tatsächlich bestand große Erregbarkeit des 
Herzens ohne sonstige nachweisbare Erscheinungen seitens des 
Nervensystems. Dagegen litt der Kranke unter ständiger Schlaf¬ 
losigkeit. Zur Ausführung der meisten Arbeiten war er auch 
wegen der ungenügenden Beweglichkeit der rechten Hand, die 
ein Folgezustand der schlecht verheilten Fraktur war, nicht fähig. 
Zu einer Einarbeitung der linken Hand war er nicht zu bewegen. 
Sonstige Heilversuche ließ er über sich ergeben, ohne selbst aber 
aktive Hilfe dabei zu leisten. Bei der Entlassung war sein Zu¬ 
stand unverändert, und er höchstens in der Lage, Botengänge zu 
verrichten. 

Saki (München) bat in der ärztlichen Sachverständigen- 
Zeitung (1909) bei Besprechung der Prophylaxe und Therapie 
der ünfallsneurosen hervorgehoben, daß man über ihre 
schlechte Prognose, solange noch Rechtsansprüche bestehen, 
in ärztlichen Kreisen einig sei. Saki hebt die Wichtigkeit 
jener Beobachtungen hervor, aus denen zu ersehen ist, daß 
mit Beseitigung dieser Ansprüche durch Abfindung oder durch 
Ablehnung aus rechtlichen Gründen die Krankheit zuweilen 
heile. Doch rät er von einer gesetzlichen Einführung der 
Abfindung bei staatlicher Unfallversicherung entschieden ab, 
trotz der vielfachen guten Erfolge im Auslande, weil die staat¬ 
liche Unfallversicherung in Deutschland den Zweck der Für¬ 
sorge habe. Es würde nur ein kleiner Teil der Unfalls¬ 
neurosen dadurch zur Heilung gelangen, ein großer Teil würde 
in absehbarer Zeit aus wirtschaftlicher Not der Armenpflege 
anheimfallen. Nur ein sehr geringer Prozentsatz unserer Arbeiter 
könnte sich eine sichere wirtschaftliche Existenz gründen. Es 
sei gleichgültig, ob der Kampf um die Erlangung einer Rente 



Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen. 


31 


oder eines Kapitals geführt werde- Ja es würde wahrschein' 
lieh die Simulation häufiger werden, „wenn auf Grund einer 
oder weniger Untersuchungen definitiv entschieden würde“. 
S. erwähnt noch, daß bei Entschädigungsansprüchen auf Grund 
des Haftpflichtgesetzes oder Verträgen mit Privat Versicherungen 
den Kranken jetzt allgemein geraten würde, im Interesse ihrer 
Gesundheit auf Abfindungsvorschläge einzugehen. 

Endlich hat Oppenheim (Berlin) in der neuesten Auflage 
(1908) seines bekannten Lehrbuches nur beileichtenFällen von 
traumatischer Neurose von der Möglichkeit völliger Heilung 
gesprochen: „Die Lage der Kranken, der Kampf um die Ent¬ 
schädigungs-Ansprüche, die Begehrungsvorstellungen, die Auf¬ 
hetzung durch Angehörige und "Winkelkonsulenten, die vor¬ 
zeitige Aufnahme der Arbeit in vollem Umfange, — das seien 
Momente, die den Verlauf ungünstig beeinflussen.“ 

Welche psychischen Momente auf die Unfallsneurose 
— auf schwere und leichte Erscheinungsformen der Psycho- 
neurose nach Unfällen heilsam eingewirkt haben, erschien mir 
außerordentlich wichtig. Der günstige Verlauf von ünfallsneuro- 
sen soll deshalb an einer Reihe von Krankengeschichten mit ent¬ 
sprechender Katamnese gezeigt werden. — Zumeist habe ich mich 
darauf beschränkt, die Krankengeschichten so wieder- 
zugeben, wie sie in dem betr. Gutachten enthalten 
waren: dabei hat sich manche Wiederholung und auch eine 
hier und da auffällige Verdeutschung von Fachausdrücken 
nicht vermeiden lassen. Wo es irgend anging, habe ich mich, 
um Längen in der Darstellung zu umgehen, mit einer kurzen 
Skizze des Krankheitsverlaufes begnügt. Wo und an welchen 
Organen das Trauma eingewirkt hat, ob es ein vsresentliches 
psychisches Trauma war, das den Unfall begleitete, oder ob 
dieses wirklich von einer nachweisbaren lokalen Veränderung 
organischer Art gefolgt war, erscheint in vielen Fällen neben¬ 
sächlich! Das ist ja eine längst bekannte, von keinem 
Beobachter mehr bestrittene Tatsache. Auch die Schwere 
des Traumas spielt zumeist keine Rolle für die Art der ner¬ 
vösen Folgen des Unfalls, für ihre Dauer und für ihre Heil¬ 
barkeit. 



32 


Dr. Leop. Laquer, 


Fall 1. 

Einer der ältesten von mir beobachteten Fälle von Unfalls- 
neorose betraf einen Monteur, den ich schon im Jahre 1884 — also 
vor 27 Jahren — zu behandeln und zu begutachten hatte. Cr 
stand damals im Alter von 20 Jahren und war im Juni 1883 von 
33 Meter Höhe abgestürzt; er trug eine leichte Gehirnerschütterung 
.und einen Bruch des Brustbeins sowie eine Quetschung des 7. 
und 8. Wirbels davon. Diese Knochenverletzungen heilten in 
6 Wochen ab. Zurück blieben schmerzhafte Empfindungen an 
den verletzten Stellen mit Kallusbildung am Brustbein, erhöhte 
Pulsfrequenz, allgemeine Ermüdbarkeit und verschiedentliche schmerz¬ 
hafte Sensationen in den Extremitäten usw. 

Er wurde von mir wöchentlich mehrmals galvanisiert, sollte 
versuchen, die Arbeit wieder aufzunehmen, tat es aber nur wider¬ 
willig und unregelmäßig, so daß ich nach Verlauf von drei Mo¬ 
naten, nachdem er längere Zeit eine Rente bezogen hatte, für die 
Unfall-Versicherungs-Gesellschaft ein Gutachten über ihn abgeben 
konnte, in dem ich schon damals auf die eigentümliche Gemüts¬ 
verfassung von Unfall-Neurotikern [also schon ö Jahre vor 
Publikation der grundlegenden Oppenheim’sohen Arbeit] (1884) 
hinweisen konnte: 

Wenn man bei Beurteilung des Gesamtbildes — so führte ich 
in dem Gutachten damals aus — bei vorliegender Erkrankung 
den Gemütszustand des Patienten in Betracht zieht, so wird 
der Frage, ob Patient seine Beschwerden simuliert resp. über¬ 
treibt, doch wohl eine nicht unwesentliche Rolle zufallen 
dürfen. Patient macht den Eindruck eines mit sich zer¬ 
fallenen, seit der Verletzung zum Hypochonder gewordenen 
Menschen, der keine Hoffnung auf irgendeine Besserung 
seines angeblichen Leidens und sich und seine Familie durch 
die Verletzung der völligen Vernichtung preisgegeben sieht. 
Diese Gemütsverfassung hatte ich schon in einigen derartigen 
Fällen zu beobachten Gelegenheit: Individuen, welche auf 
Grund ihrer Erziehung und ihrer angestrengten Beschäftigung 
— (auch Patient soll früher ein sehr arbeitsamer Mensch 
gewesen sein) — ihren Körper nicht zu beobachten gelernt 
haben, sind leicht geneigt, sobald ein größerer Unfall sie 
, trifft, der sie arbeitsunfähig macht, die^n gleich für 
etwas Ungeheuerliches zu halten. — Ärzte, Arbeitgeber 
usw. beschäftigen sich mit ihnen — so glauben sie, selbst 
wenn ihre Heilung längst perfekt geworden, auch aus den 
kleinsten Ueberresten der körperlichen Veränderungen Kapi¬ 
tal schlagen zu müssen. — Sie unterscheiden schließlich nicht 
mehr den kleinsten von dem größten SchmH'z. — In dieser 
mangelhaften Elritik unterstützt sie natürlich ein gewisser 



Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen. 


33 


moralischer Defekt und ihre uogenügende Erziehung. — 
Kommt zu dieser psychischen Disposition zur Übertreibung 
vorhandener körperlicher Beschwerden die Aussicht auf 
gewisse materielle Vorteile hinzu, so ist die Frage, ob wir 
es in diesen Fällen mit einer hypochondrischen Ver¬ 
stimmung oder mit einer berechneten Simulation zu 
tun haben. — Das ist eine schwierige Aufgabe für den Arzt! 

Im vorliegenden Falle möchte ich für die Annahme beider 
Faktoren plädieren und komme so dazu zu erklären, daß 
eine mehrwöchige galvanische Behandlung und genaue Be¬ 
obachtung ergeben hat: Daß eine krankhafte Veränderung 
irgendeines Organs nicht vorliegt, welche die Größe der 
vom Patient geäußerten Beschwerden uns zu erklären ge¬ 
eignet wäre. Patient ist ein Hypochonder und erweckt den 
Verdacht, daß er aus egoistischen Motiven das, was er sub¬ 
jektiv an seinem Körper wahmimmt, in beträchtlicher Weise 
übertreibt: Derselbe könnte arbeiten, wenn er mit mehr 
Energie die leichten subjektiven Beschwerden, wenn solche 
überhaupt vorhanden, nicht achtete. 

So lautete damals — im Jahre 1885 — mein Gutachten. 

Zweiundeinhalb Jahrzehnte hörte ich nichts 
Von dem Verletzten. Gegenwärtig ist er als geheilt 
anzusehen. 


Katamneso. 

Nach Berichten von Kollegen P. in 0. ist er jetzt Werk¬ 
meister in einer großen Maschinenfabrik, lebt in auskömmlichen 
Vermögens Verhältnissen, ist gut eingerichtet, macht zur Mon¬ 
tage Reisen nach auswärts im Aufträge seines Arbeitgebers. 
Er äußerte sich auf Befragen, daß er sich jetzt viel wohler 
und kräftiger fühle als vor dem Unfall. Man hatte ihm damals 
von der Unfallversicherungs - Gesellschaft eine kleine Summe 
als Abfindung angeboten, die er ausschlug. Anfangs hatte er 
vor, klagend vorzugehen, nachher hat er diese Absicht fallen 
lassen, weil ihm der Gedanke, als Faulenzer angesehen zu 
werden, zu widerwärtig war. Bei einzelnen ungewohnten Be¬ 
wegungen empfindet er noch Schmerz in Brust und Rücken. 
Etwa Vfi Jahr nach dem Unfall hatte er wieder zu arbeiten 
angefangen und bis zum heutigen Tage mit fortschreitendem 
Erfolge seine Tätigkeit ausgeübt. 


3 



34 


Dr. Leop. Laquer, 


Fall u. 

Ein Maurer aus G. stammt angeblich aus gesunder Familie, 
war nie luetisch infiziert und dem Mißbrauch geistiger Getränke 
nie ergeben. — Pat. hatte am 12. Novbr. 1891 im Alter von 
39 Jahren einen Rippenbruch imd eine Kontusion des Kopfes ohne 
äußere Verletzung des letzteren durch Fall auf eine Mauer erlitten. 
— Seitdem klagt er über Schmerzen in der Lendengegend, des 
Rückens, die nach vom ausstrahlen, beim Bücken sehr heftig sind, 
über Schwindel und Sausen im Kopfe, über mangelhaften Schlaf, 
über allgemeines Schwächegefühl, das ihn an jeder größeren Ar¬ 
beit verhindere, über Herzklopfen und Knäuelgefühl in der Herz¬ 
grube, auch über Druck auf der Brust. Von seiten des Nerven¬ 
systems ist objektiv weder eine Beeinträchtigung der Bewegungen 
noch der Empfiudungen zu konstatieren. Nur scheint eine Ver¬ 
langsamung der Schmerzleitung und auch der Einzelbewegungen 
(ruckweise Bewegungsimpulse) vorzuliegen. Ein organisches Leiden 
des Rückenmarks und des Gehirns muß ausgeschlossen werden. Es 
liegt ein alter Mittelohrkatarrh mit Schwerhörigkeit vor. Auch 
die inneren Organe: Lunge, Herz, Nieren, Unterleibsorgane zeigen 
keine Abweicliung von der Norm. Auffällig ist die gesteigerte 
Herztätigkeit (140—145 Pulse) bei Unversehrtheit der Klappen 
und RegelmäLiigkeit der Herztöne; ferner eine eigentümliche 
Steigerung der Reflexerregbarkeit der Hautgefäße (Homme auto- 
grapliique): Auf leichtes Bestreichen mit stumpfen Gegenständen 
reagiert die Haut mit Quaddelbildung und lang andauernder 
Rötung. Dem geringen körperlichen Befand gegenüber muß die 
psyc.hische Eigentümlichkeit und das seelische Verhalten des Pat. 
in den Vordergrund gestellt werden. Seine Intelligenz ist mäßig, 
seine Willenskraft ist gering. Seine Stimmung ist andauernd 
deprimiert und hypochondrisch. Er macht den Eindruck eines 
völlig „schlappenMenschen: Einzig und allein auf diesen Geistes¬ 
und Gemütszustand, den ich als hysterisch-hypochondrisch bezeichnen 
möchte, ist seine Arbeitsunfähigkeit, soiue allgemeine Schwäche, 
auch die angebliche Heftigkeit seiner Schinerzempfiudung, die er 
mit ermüdender Eintönigkeit immer wieder jammert und stöhnt, 
zurückzuführen: Jede moralische Beeinflussung macht auf die ein¬ 
seitige Gedankenrichtung des Pat. gar keinen Eindruck: Weder 
Zureden noch Strenge bringen den Pat. von seinen Lamentationen 
ab. Bei dieser Sachlage ist auch die galvan.-farad. Behandlung., 
der sich Pat. ziemlich widerwillig und mit langen Unterbrechungen 
unterzog, ohne jeden Erfolg gewesen: Möglicherweise sind im Laufe 
der Zeit gewisse Gefäßveränderungen im Hirn oder auch in anderen 
Körperteilen entstanden, wie sie bei von Natur schwächlich ange¬ 
legten Individuen infolge von Verletzungen, besonders solcher 
am Schädel, eintreten können, von verschiedenen Autoren auch 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


35 


anatomisch schon nachgewiesen worden sind. Einzelne Symp¬ 
tome seitens des Gefößsystems sprechen für eine solche Annahme. 

Bis auf weiteres erscheint Pat. arbeitsunfähig. Vielleicht ge¬ 
lingt es ihm selber, sich durch eigene Willenskraft aus diesem 
Zustande zu befreien und im Laufe der Jahre wieder leichtere 
Arbeiten zu verrichten; Bei den mangelhaften häuslichen Verhält¬ 
nissen (Pat. hat 9 Kinder, 2 davon sind nach dem Unfall ge¬ 
zeugt) halte ich dies aber für wenig wahrscheinlich: Weitere Be¬ 
handlung in Krankenhäusern oder durch Arzte dürfte ohne jeden 
Einfluß sein. 

So lautete mein Gutachten am 13. Februar 1893 etwa 
iVz Jahre nach dem Unfall. 

Katamuese. 

Im Laufe der Jahre sind dann seitens der Berufsgenossen- 
.schaft noch mehrere Versuche mit Anstaltsbehandlung gemacht 
worden; sie waren ohne Erfolg. Eine Verschlimmerung, eben¬ 
sowenig die gefürchtete Zunahme der Arteriosklerose trat nicht 
ein. Aber der Arbeitslohn war inzwischen sehr gestiegen. — 
Pat. fing spontan 1895 zu arbeiten an, erhielt anfangs 50% 
Rente; dann verdiente er jahrelang 4 M. 50 Pf. bis 5 M. täg¬ 
lich, während er vorher nur 2 M. 20 Pf. tägliche Unfallsrente 
bezogen hatte. „Er hätte es probiert, er konnte von den paar 
Mark nicht leben, es war ihm schlecht gegangen mit seiner 
Familie. Er sah, wie andere 5 M. und mehr verdienten. Da 
wollte er's auch versuchen.“ So lautete seine Erklärung. 

Jetzt im Alter von 59 Jahren beschäftigt er sich in der 
Stadtgärtnerei zu F. gegen einen Tagelohn von 3 M. 80 Pf., seine 
9 Kinder seien allmählich herangewachsen, da käme er durch. 
Als Maurer könne er nicht mehr tätig sein, denn Ohrensausen 
und Aufregung kämen immer noch hie und da vor und da 
hätte er die leichte Beschäftigung im Gärtnerberufe aufgenommen. 

Objektiv war außer gewissen frühzeitigen Alterserscheinungen 
nichts Neues nachzuweisen. Pulsfrequenz 88. — Das Aussehen 
ist ein viel besseres als in den Jahren kurz nach dem Unfall; 
die Stimmung und der Lebensmut sind die gleichen wie in 
seinen gesunden Zeiten vor der Verletzung. 

Fall 111. 

Ende Mai 1907 erlitt am 29. Mai 1907 ein Sljähriger Elek¬ 
trotechniker durch Kurzschluß einen Stromschlag bei 600 Volt in 

3* 



der HocbspannuDgsleituQg bei niedriger Periodenzahl mit Ver¬ 
brennung am kleinen Finger der rechten Hand ohne Bewußtlosig¬ 
keit. Eis trat in den nächsten Tagen eine große Erregung mit 
Zittern in den Beinen ein; er arbeitete aber bis zum Feierabend 
ruhig weiter. Dm linke Bein wurde schwächer und wurde nach- 
geschleift, bei Ermüdung traten Schmerzen ein. Schlaflosigkeit^ 
auch krampfhafte Zuckungen in den Beinen kamen hinzu; Veronal 
blieb ohne Einfluß, Krämpfe in den Waden, Bückenschmerzen,. 
Angstgefühle und profuse Schweiße; er nahm in 3 Wochen, trotz 
zweiwöchiger Bettruhe, 22 Pfund ab, er war leicht verstopft. 
Nach 4 Wochen war er vollständig geheilt. Pat. nahm im Juli 
die Arbeit wieder auf. Dauer der Krankheit im ganzen 6 Wochen. 

Ea tarn nese. 

Der Verletzte fühlt sich seit Juli 1907, wo ich ihn ge¬ 
heilt entließ, auch jetzt nach 4 Jahren noch sehr wohl und 
ist inzwischen zum Laboratorium-Assistenten aufgerückt. 

Wenn man diese erste Gruppe von Unfallsneurotikem be¬ 
trachtet, dienurUnfallsrenten bezogen, so ist die V erschieden- 
heit der Art und Weise auffällig, in der die drei Arbeiter auf 
den Unfall reagierten. Der erste, ein intelligenter Schlosser¬ 
gehilfe von reizbarem Charakter, mit dem gar nichts anzu- 
fangen war, der keinerlei ärztlicher Behandlung — keinerlei 
Zuspruch zugänglich erschien, ist erst gesund geworden, als 
sein Rentenanspruch erledigt bezw. das geringe Angebot der 
Versicherungs-Gesellschaft von ihm abgewiesen war. Obwohl 
er heute in geordneten Verhältnissen lebt und nichts mehr 
von seinen nervösen Unfallsfolgen bemerkt, ist er immer noch 
gegen die Ärzte, die z. Zt. der bestehenden Unfallsneurose ge¬ 
wagt hatten, seine hypochondrischen Stimmungen zu bekämpfen 
und ihn zur Arbeit anzuhalten. 

Die Reizbarkeit des Charakters, die dabei in Erscheinung 
tritt, die ein Arbeiter, der sich über ihn in meinem Aufträge 
erkundigte, selbst als auffällig ansah, ist also heute noch vor¬ 
handen und gibt einen Schlüssel für die Erklärung der langen 
Dauer der nervösen Unfallsfolgen. Vielleicht hat neben der Er¬ 
ledigung der Ansprüche durch eine private Unfalls -Versicherungs- 
Gesellschaft — damals gab es ja noch keine staatliche Unfalls- 
Gesetzgebung — auch die Eigenart eines Kollegen mitgewirkt, 
der zuletzt den Verletzten an seinen Unfallsfolgen behandelte 
und die Mißstimmung unterstützte. 



Die Heilbarkeit nerrOser ünfallsfolgen. 


37 


Diesem alten Falle steht gegenüber der Fall III, ein be¬ 
gabter ruhiger Elektrotechniker von sanfter Gemütsart, der Frau 
und Kinder hat, eine schwere Unfalls-Neurose durchmacht mit 
einer ausgesprochenen Schreck Wirkung und ihren Folgen, aber 
auf Grund seiner Charakter-Anlagen immer nur das Bestreben 
hat, die störenden nervösen Mißempfindungen, die ihn nach 
dem Unfälle plagen, zu überwinden und die Tätigkeit in der 
Fabrik, die ihn nötig braucht, mit voller Kraft wieder aufzu¬ 
nehmen. Es vergehen wenige Wochen, da ist die Leistungs¬ 
fähigkeit in vollem Umfange wieder hergestellt, während bei 
dem Schlossergehilfen Jahre dazu nötig waren. Der Elektro¬ 
techniker ist zufrieden und freundlich und denkt mit Dank an 
die Zeit ärztlicher Beobachtung und Bemühung zurück, wie 
■die Firma in einem Schreiben erklärt. — Der Schlosser er¬ 
innert sich noch jetzt nach 27 Jahren mit einem gewissen Groll 
■des Arztes, der ihn in seinem querulatorischen hypochondrischen 
Zirkel zu stören gesucht hatte. 

Der Fall II, ein braver, ordentlicher aber nicht sehr be¬ 
fähigter Maurer, hat jahrelang mit2 M. täglicher Rente eine Familie 
mit 6 Kindern zu ernähren gesucht, erfüllt von der hypochon¬ 
drischen Idee, „daß ihm nicht zu helfen sei“. Als aber noch 
drei weitere Bänder zur Welt kamen, wurde er, teilweise wohl auch 
angeregt durch die Tatsache, daß der Tagelohn eines Maurers 
inzwischen von 3 M. auf 4,50 M. gestiegen war, veranlaßt, 
wieder Arbeitsversuche zu machen und allmählich der Rente 
zu entsagen. Inzwischen haben wohl auch die ältesten der 9 
Kinder angefangen, mitzuverdienen und den etwas schwach 
befähigten nicht sehr willensstarken, auch körperlich nicht sehr 
rüstigen Ernährer der Familie zu entlasten. Jetzt ist er recht 
zufrieden und vergnügt bei einer weniger einträglichen, aber 
auch leichteren Tätigkeit. Inzwischen ist der Mann auch nahe¬ 
zu 60 Jahre alt geworden, hat also ein Alter erreicht, in dem 
die Arbeitsfähigkeit solcher Leute auch ohne Ünfalls-Ätiologie 
beträchtlich abzunehmen pflegt. 

An diese erste Gruppe möchte ich den Bericht über den 
Verlauf eines Unfalls anreihen, den ein leicht imbeziller Eisen¬ 
bahnbeamter erlitt, und der nach sehr langer Dauer der ner- 



38 


Dr. Lcop. Laquer, 


vösen Unfallsfolge schließlich eine Teilrehte empfing. — Auch 
er nahm im Laufe der Jahre die Arbeit wieder auf und ist 
im sozialen Sinne als geheilt zu betrachten. 

Fall IV. 

Der 43jährige Hilfsheizer war am 3. November 1894 der 
Frankfurter Poliklinik für Nervenkranke überwiesen worden. 

Die Eltern haben nicht an Nervenkrankheiten gelitten, ein 
Stiefbruder starb an Hirnentzündung; er hat 8 Kinder, die völlig 
gesund sind. Er wurde zum Militärdienst körperlich tauglich be¬ 
funden, soll aber wegen Mangel von Intelligenz bald wieder ent¬ 
lassen worden sein. Sonst war er immer gesund; er leugnete 
luetische Infektion und jegliche alkoholistische Neigung. Am 
Abend des 15. August 1894 wurde Pat. bei einem Zusammen¬ 
stoß zweier Lokomotiven, der zwischen L. und E. statthatte, mit 
dem Rücken gegen den eisernen Tender geschleudert. Große 
Kohlenstücke fielen dabei auf den Patienten. Der Zug hielt: unter 
starken Schmerzen in der rechten Seite stieg Pat. bald darauf von 
der Maschine, versuchte an den Rädern noch etwas nachzusehen ^ 
vermochte das aber nicht mehr, sondern mußte sich mit beiden 
Händen festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Da er nicht 
gehen konnte, wurde er in ein Koupee 11. Klasse getragen und 
fuhr heim; er behauptet, daß er keine deutliche Erinnerung an 
die näheren Umstände dieses Transports habe, er sah nach An¬ 
gabe seiner Umgebung sehr blaß aus. Er kam ins Krankenhaus, 
wo er bis zum 4. September verblieb. Dort klagte er über Schmerzen 
im Rücken. Er konnte nach 14 Tagen das Bett verlassen, müh¬ 
sam gehen und wurde auf dringendes Verlangen am 4. September 
zu seiner Familie entlassen. 

Als direkte Folgen des Unfalls waren entstanden: Kontusion 
der unteren Rippen rechterseits, Kontusion des rechten Vorder¬ 
armes, Hautabschürfungen am linken Unterschenkel. Diese Ver¬ 
letzungen waren aber am 3. November als abgeheilt zu betrachten 
und es waren nur nervöse Störungen („Traumatische Neurose“), 
Schmerzen in der rechten Seite, Kopfweh, Schwindel und Herz¬ 
klopfen zurückgeblieben. Bei guter Ernährung, blühender Gesichts¬ 
farbe und kräftigem Körperbau ist zunächst ein Schielen auf beiden 
Augen auffallend (Strabismus divergens), eine Erscheinung, die 
wahrscheinlich von Jugend auf auf Grund alter Hornhautflecke 
besteht. Sein Gang ist vorsichtig, etwas nach vorn geneigt, breit¬ 
beinig, durch Schmerzen ein wenig gehemmt. Es besteht eine 
geringe Muskelkraft in beiden Beinen, normale Empfindung für 
Berührung und Stiche, Pat. meint aber, daß ihm die Waden leicht 
einschliefen. Die Kniereflexe sind gesteigert, Tremor und Fuß- 



Die Heilbarkeit iicrTösor IJufallsfolgen. 


39 


klonus nicht vorhanden, Muskelatrophien, Gleichgewichtsstörungen 
fehlen. In den Armen besteht auch eine gewisse Schwäche. 
Taubes Gefühl in beiden Händen und Zittern des rechten Armes 
bei forciertem Händedruck. Die Pupillen reagieren prompt auf 
Licht und Akkomodation. Pat. klagt über leichte Ermüdbarkeit 
beim Sehen, über Kopfweh und Ohrensausen und dadurch bedingte 
Schlaflosigkeit. Die Stimmung ist sehr gedrückt — hypochondriscli- 
melancholisch, seine Intelligenz sehr mäßig. 

Sämtliche Wirbel und der 8. bis 12. rechtsseitige Rippen¬ 
bogen sind auf Druck recht empfindlich. Blase und Mastdarm 
funktionieren gut. Schon bei dieser ersten Untersuchung des 
Kranken kamen wir zu der Überzeugung, daß es sich um einen 
schweren Pall von Unfallsneurose bei imbezillärer Anlage handele. 
Trotz mehrwöchiger Behandlung verschiedenster Art schritt das 
Leiden fort; das Zittern nahm zu, Pat. klagte über beständige 
Schmerzen, die Haut wurde überall überempfindlich, auch über 
Ohrensausen wurde geklagt. Bei der letzten Untersuchung, am 
18. März 1895 zeigte der Gang auffälliges Einknicken und 
Schwanken. Die Prüfung des Fußreflexes ruft ein Zusammen¬ 
zucken des ganzen Körpers hervor. Im September 1898 unter¬ 
suchte Dr. C. die Augen, über die geklagt wurde. R. Schielen 
und alte Kurzsichtigkeit, L. volle Sehschärfe. Sonst ganz nor¬ 
maler Befund. Auftreten ruhiger und sicherer. Haltung straffer. 
Nach 7 .Tahren nahm Kopfweh und Schwindel ab, die Invalidität 
betrug damals 75%. 

Dr. K. berichtete am 25. August 1902: Körperlicher Zu¬ 
stand nicht unerheblich besser als früher. Für die Bemessung der 
Erwerbsfähigkeit kommt jetzt mehr der geistige Zustand in Be¬ 
tracht. Dieser ist nicht besser. Pat. ist nicht imstande, 
seine Gedanken kurze Zeit auf einen Gegenstand zu 
konzentrieren; schnelle Ermüdbarkeit. Seit der letzten Fo.st- 
stellung: Keine die Erwerbsfähigkeit erhöhende Be.sserung im Be¬ 
finden. 

Im Oktober 1904 war von mir kein wesentlicher neuer 
Befund zu erheben, Pat. macht aber leichte Arbeit und Boten¬ 
gänge. Das Reichsversicherungsamt entschied am 14. März 1905 
dem Gutachten entsprechend auf 45% Rente. 

Katamne se. 

Bis Herbst 1907 bekam Pat. jährlich 502 M. Unfallronle. 
Er blieb aber noch ohne geregelte Tätigkeit, dann wurde er 
bei der Bereinigung des Fußbodens des Bahnhofs angestellt; 
er hebt mit einer Beißzange die Papierschnitzel vom Boden 
auf und senkt sie in eine Tasche; er bezieht täglich außer der 
Unfallrente 2,40 M. Lohn. 



40 


Dr. Leop. Laquor, 


Am 25. August 1911 klagt Pat. noch, über viel Kopf- 
sciimeizen, Kreuzschmerzen und Herzklopfen. Der Tumult im 
Bahnhof, der durch die vielen Personen und Maschinen bedingt 
sei, mache ihm viel Sausen und Schwindel im Kopfe, so daß 
er abends, wenn er nach Hause kommt, absolute Ruhe brauchte. 
Er hat 7 Kinder, von denen das jüngste 21 Jahre alt ist. Fünf 
Kinder sind verheiratet. Er ist sozial dadurch sehr entlastet, 
seine Psyche dadurch soweit wie möglich gehoben. Ein 
Sohn. Fabrikarbeiter, ist jetzt Soldat. Die 5 Töchter sind an 
ordentliche Männer verheiratet und geht es ihnen ganz gut. 
Wenn Pat. sich aufregt, tritt immer noch leicht ein Zittern 
der Hände ein. Der Bahnhofsvorsteher berichtet auf Anfrage 
an die Behörde am 25. August 1911: 

Der Mann ist seit 4 Jahren als Bahnsteigkehrer in Fr. be¬ 
schäftigt; er versieht seinen Dienst stets zur Zufriedenheit. 
Still in sich gekehrt, in der Regel mit keinem Menschen sprechend, 
tut er seine Arbeit. Öfters kommt er zu mir und klagt über 
das Menschengewühl im Bahnhofe. Das geniert ihn und macht 
ihn ängstlich. Er ist etwas menschenscheu seit seinem 
Unfälle und wird es wohl auch bleiben. In jedem seiner 
Kameraden glaubt er einen Feind zu erblicken, obgleich keiner 
dem alten braven Manne auch nur irgend etwas zu Leid tun 
will. Man hänselt ihn hie und da, die Leute können mit ihm 
schlecht fertig worden. Wird gelacht, bezieht er dies auf sich, 
wird nichts gesprochen, oder zu viel gesprochen, ist’s ihm 
auch nicht recht. Er lebt in geordneten Verhältnissen, ist sehr 
solide und trinkt irgendwelche Alkoholika so gut wie gar nicht. 

Ein Vei'gleich zwischen einigen durch Unfall nervös 
gewordenen Arbeitern, die eine Dauerrente empfingen, 
nach einer Reihe von Jahren sehr allmählich erst erwerbs¬ 
fähig wurden —und Arbeitern, deren Unfallsneurose durch 
Kapital-Abfindung schnellstens ihr Ende erreichte, 
soll in den folgenden vier Beobachtungen zum Ausdruck kommen. 

Fall V. 

Der 36 Jahre alte frühere Porzellandreher jetzt Tagelöhner 
von den Parbenwerken zu H. erlitt am 18. November 1902 einen 
Unfall und zwar dadurch, daß ihm ein schwerer eiserner Schrauben- 



Die Heilbarkeit nervbsor Unfallsfolgen. 


41 


Schlüssel, während er im Alizarin-BAom arbeitete, ans einer Höbe 
von 5 Metern auf den Kopf fiel: Er soll danach eine geraume 
Zeit bewnfitlos gewesen sein, erbrochen und auch ein wenig aus 
der Nase geblutet haben. Er wurde ins H. Krankenhaus gebracht, 
wo ein Schädelbasis-Bruch festgestellt wurde. 

Am 29. Dezember nahm er die Arbeit wieder auf, mußte 
sie aber später des öfteren unterbrechen wegen Kopfschmerz und 
Dusel-Gefühl im Kopfe. 

Am 14. April 1903 kam er nach vierwöchiger Arbeitstmfähigkeit 
in das Katholische Schwesternhaus. 

Seine Klagen beziehen sich auf Schmerzen und Schwindel¬ 
gefühl im Kopfe, auf allgemeine Müdigkeit und Abgeschlagenheit. 
Der Schlaf sei oftmals unruhig, manchmal auch durch Schmerzen 
unterbrochen. Das Aussehen ist ein vortreifliches. Der objektive 
Befund ist ein vollkommen negativer, insbesondere bieten das 
zentrale und das periphere Nervensystem, die Ernährung der 
Muskulatur, Herz und andere innere Organe keine krankhaften Ab¬ 
weichungen von der Norm dar; Pupillen sind gleichweit von guter 
Reaktion, Sehnenreflexe lebhaft: Bei Neigung des Kopfes weit 
nach vorn und Erhebung nach oben tritt kein Schwindelgefühl auf, 
ebensowenig bei geschlossenen Augen. Blase und Mastdarm sind 
ohne Störung, Intelligenz und Gemütsstimmung sind gute. 

Danach ist anzunebmen, daß der Schädelbruch organische 
Veränderungen am Nervensystem nicht hinterlassen hat, daß es 
sich um eine traumatische Neurasthenie mit geringen funktionellen 
Nervenstörungen handelt. Diese UnfaUsfolge beeinträchtigt die 
Erwerbsfähigkeit des Verletzten jetzt noch um 20®/4). 

Die am 22. September 1905 vorgenommene Untersuchung 
durch Dr. G. ergab, daß das Aussehen und der Ernährungszustand 
des Pat. ein guter ist. Der Gesichtsausdruck ist frei, die Bewegungen 
des Körpers gehen gut von statten und selbst mehrmaliges Bücken 
kurz hintereinander wird ohne Schwindel ausgeführt. Die Reflexe 
sind nortnal. Beim Drehen mit geschlossenen Augen tritt kein 
Schwanken auf und die Zunge zittert nicht beim Herausstrecken. 
Die Herztätigkeit ist eine gleichmäßige. 

Hiernach trat seit der letzten Rentenfestsetzung im Zustande 
des Verletzten insofern eine nicht unwesentliche Besserung ein, 
als die Herztätigkeit regelmäßig wurde und die Pulsbeschleunigung 
abnahm. Ferner ist auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung und 
nach dem seitherigen Verlauf anzunehmen, daß das gute Allgemein¬ 
befinden anbalten wird. Auch ist eine Abnahme der Schmerzen 
im Laufe der Zeit und eine Angewöhnung an den Zustand anzu¬ 
nehmen, so daß der Pat. jetzt nur noch um 10 ®^ Invalide erachtet 
werden kann. 

Der Ausschuß hat daher beschlossen, dem Verletzten mit 



42 


Dr. Leop. Laquer, 


Wirkung vom 1, November 1905 bis auf weiteres an Stelle der 
seitherigen Rente eine solche von 10% im Betrage von mo¬ 
natlich 5,80 M, zu gewähren. 

Die Untersuchimg vom 28. Februar 1909 durch Dr. L. ei - 
gab folgendes: 

Der Patient arbeitet wie seit Jahren schon in einer Steingut¬ 
fabrik in P. gegen einen Stundenlohn von 45 Pf., und zwar als 
Vorarbeiter, es sei ihm dadurch möglich, sich zu schonen. Er 
gibt an, daß er drei Kinder habe, die gesund seien, das jüngste 
steht im Alter von drei Jahren. Er klagt noch immer über 
Schmerzen im rechten Obre und über schwache Sehkraft im rechten 
Auge, die er mit dem Unfall vom 13, November 1902 in Zu¬ 
sammenhang bringt. Ferner schlafe er sehr schlecht, habe Stiche 
in der Herzgegend, Neigung zur Übelkeit, ferner über Druck im 
Hinterkopf und mangelhaften Stuhlgang. Die Untersuchung hat 
für diese Beschwerden des Pat. ebensowenig irgendeinen ob¬ 
jektiven Anhaltspunkt ei’geben wie im Mai 1903 die Be¬ 
obachtung desselben im hiesigen katholischen Schwesternhausc. 
Ueber Schwindel wurde nicht mehr geklagt. Weder auf dem Ge¬ 
biete des zentralen noch des peripheren Nervensystems habe ich 
irgendein wesentliches krankhaftes Symptom nachzuweisen ver¬ 
mocht, Aussehen und Allgemeinzustand waren gute. Ihrem Vor¬ 
schläge gemäß ist eine spezialistische Untersuchung von Auge und 
Ohr durch den Augenarzt Dr. C. und Ohrenarzt Dr. A, erfolgt. 
Es geht daraus hervor, daß die Veränderungen ani Seh- und Hör¬ 
organe aus früher Kindheit herrühren und mit dem Unfall in 
keinerlei Zusammenhang stehen. 

Auch die inneren Organe, Unterleib, Herz und Lungen usw. 
bieten nichts objektiv Krankhaftes dar. 

Es sind seit dem Unfälle mehr als 6 Jahre vergangen. 
Nennenswerte organische Veränderungen haben sich nach dei' 
Kopfverletzung nicht herausgebildet. 

Schon 1903 bestand nichts weiter als eine traumatische Neur¬ 
asthenie mit geringen funktionellen Störungen. 

Tatsächlich hat der Verletzte seit Jahren schon die Arbeit 
fast ununterbrochen fortgesetzt und, soweit das ärztlicherseits fest¬ 
zustellen ist, auch gegen die gleiche Entlohnung wie jeder andre 
Arbeiter seiner Art. 

Die nervösen Beschwerden können nach meinen ärztlichen 
Erfahrungen nicht mehr als ein Arbeitshindernis angesehen werden. 
Es ist eine wesentliche Besserung zu verzeichnen. Der Verletzte 
ist wieder vollkommen arbeitsfähig. 

K a tarn n es 0 . 

Pat. arbeitet jetzt wie früher. Volle sieben Jahre hat es 
bedurft, ehe bei Bt.'zug der Uauerrento der Verletzte von seiner 



Uie Heilbarkeit nervöser Unfalisfolgon. 


43 


Unfallsneurose geheilt und völlig erwerbsfähig werden konnte. 
Irgendein wesentliches Heilverfahren trat nicht in Anwendung. 

Ähnlich verhielt es sich mit folgender Beobachtung. 

Fall VI. 

Ein Maurer aus E. erlitt am 26. August 1901 eine Schädel- 
Kontusion dadurch, daß er aus einem Stapel Rüsthölzer ein Stück 
herauszog, dabei rücklings zur Erde fiel und mit seinem Hinter¬ 
kopf etwas heftig aufschlug. Er fuhr nach Hause und wurde 
zwei Monate lang von Dr. B. an den Folgen des Unfalls behandelt. 
Dr. B. stellte Klagen über Kopfschmerz, SchwindelgefüLl und 
Mattigkeit im ganzen Körper fest. Das Aussehen des Verletzten 
war schlecht, objektiv aber nichts nachzuweisen. 

Ende Oktober wurde er zur Beobachtung in das H. Kranken¬ 
haus überwiesen. Auch dort fehlte nach Dr. S.’s Bericht für die 
Klagen des Verletzten über Kopfschmerz und Schwindel jedes ob¬ 
jektive Zeichen. Er zeigte kein Romberg’sches Phänomen; Pupillen 
und Augenmuskeln boten nichts Abnormes. Bücken konnte sich 
Pat. ohne Beschwerden. Es wurde ihm deshalb die Aufnahme 
leichter Arbeit empfohlen. 

Dr. C. fand am 4. November 1901 auch in den Augen des 
Pat. keinerlei krankhafte Veränderung. Am 8. November 1901 
klagte Pat. immer noch über Kopfschmerzen, Neigung zu Schwindel 
und Erbrechen und zu krampfähnlichen Zuständen. Vom 12. No¬ 
vember 1901 ab wurde er wiederum im Krankenbause zu H. be¬ 
obachtet. Er klagte über Hinterkopfschmerzen, Zittern, unruhigen 
Schlaf, Mangel der Potentia coeundi. Krampfanfälle waren nicht 
eingetreten, auch sonst bot Pat. nichts Krankhaftes dar und wurde 
für arbeitsfähig erklärt. 

Am 27. November 1901 fand Dr. G. etwas vermehrte Herz¬ 
tätigkeit und linksseitige Erweiterung der Blutadern am Kniege¬ 
lenk, die mit dem Unfall nicht zusammenhingen, sonst ebensowenig 
wie die anderen Beobachter des Pat. objektive Krankheitszeichen 
irgendwelcher Art. Es wurde ihm eine Schonungsrente von 50% 
und die Aufnahme einer leichten Arbeit anempfohlen. 

Am 7. Februar 1902 gab Pat. bei der Untersuchung durch 
Dr. G. an, daß er im Magazin der Bauabteilnng in den H. F. 
gegen einen Tagclobn von 2,70 M. beschäftigt wäre, aber noch 
immer an Kopfschmerzen und Schwindel leide. 

Der objektive Befund war wieder negativ, insbesondere fehlte 
jeder Anhaltspunkt für ein zentrales Leiden. Die Herztätigkeit 
aber erschien nicht mehr beschleunigt; es war nach Dr. G. An¬ 
sicht auch eine Abnahme der Schmerzen anzunehmen. Deshalb 
wurde Pat. nur noch für 40% invalide erklärt. Gegen die ent¬ 
sprechende Rentenfestsetzung erhob der Verletzte Einspruch beim 



44 


Dr. Leop. Laqucr, 


Schiedsgericht. Am 18. April 1902 wurde Pat. von Dr. L. unter¬ 
sucht. Pat. steht jetzt im 41. Lebensjahre, gibt an, daß sein 
Vater ertrunken, seine Mutter im Alter von 76 Jahren an Wasser¬ 
sucht gestorben sei. Alle seine Geschwister sind noch am Leben 
und erfreuen sich guter Gesundheit bis anf eine Schwester, die 
in ihrer Jugend unheilbar geisteskrank wurde. £r hat öfters 
wegen Gelenk-Bheumatismos und Katarrh die Arbeit anssetzen 
müssen. Elr ist verheiratet und hat vier Kinder, von denen das 
jüngste, elf Monate alt ist. 

Seine gegenwärtigen Klagen beziehen sich anf Kopfschmerzen, 
Schwindel, Herzklopfen und Aufregungszustände, die bei jeder 
größeren Anstrengung sich bemerkbar machten. Er ermüde leicht, 
habe öfters Ohrensausen, was seine Gedanken in Verwirrung bringe. 
Der Puls zeigt 88 Schläge, die Herztöne sind regelmäßig, rein 
und kräftig. Er trägt am linken Unterschenkel einen Leimver- 
baud wegen seiner Krampfadern. Er ist ein gut genährter, in¬ 
telligenter, muskelkräftiger Mensch und zeigt keine hypochondrische 
Gemütsverstimmung. 

Der objektive Befund am peripheren und zentralen Nerven¬ 
system erweist sich auch sonst als vollkommen negativ. Augen- 
und Zuugenbew'^eguugen, Sprache, Pupillen-Funktion, Reflexe sind 
völlig normal. Nirgends sind Lähmungen und Empfindungs- 
Störungen vorhanden. Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. 
Mein Gutachten gab ich dahin ab: Ich halte den Kläger nach 
dem 1. März 1902 nur noch um 30% in seiner Erwerbs¬ 
fähigkeit beschränkt. 

Kein einziger von den Aerzten, welche den Verletzten vom 
Tage des Unfalls bis heute behandelt und untersucht haben, war 
imstande, irgendein objektives Krankheitszeichen anfzufinden, 
welches seine andauernden Klagen und Schwächegefühle hätte 
erklären können. 

Weder eine äußere Wunde noch eine nennenswerte Hirner¬ 
schütterung noch ein erheblicher Bewußtseins-Verlust war mit 
dem Pall auf den. Hinterkopf verbunden, der nicht aus irgend¬ 
welcher Höhe, sondern auf gleichem Boden durch Hinstürzen bei 
Herausziehen eines Holzstückes erfolgte. Es sind ferner seit jener 
leichten Schädel - Kontusion, die dem Verletzten zu monatelanger 
Arbeitsenthaltung und Schonung, sowie zu seiner wiederholten Be¬ 
handlung im Spitale Veranlassung gab, jetzt fast drei viertel Jahr 
vergangen. Sein Aussehen ist ein gutes, seine Ernährung läßt 
nichts zu wünschen übrig. Seine Herzaktion ist eine regelmäßige 
geworden. Das alles sind Momente, welche als Zeichen einer be¬ 
deutenden Besserung aufzufassen sind und dem in der Beurteilung 
von funktionellen Störungen nach Kopfverletzungen erfahrenen 
Beobachter die Erwägung nahelegen, ob nicht die sehr unbe- 



Die Heilbarkeit nervöser Uufallsfolgcn. 


45 


stimmten Klagen des n earasthenisch gewordenen Trauma- 
tikers wesentlich übertrieben sind. 

Auch dürfte nach meiner Erfahrung Aufnahme einer geregelten 
bemfliohen Tätigkeit seitens des Verletzten ein völliges Verschwinden 
der noch vorhandenen Sensation im vorliegenden Falle zur Folge 
haben und deshalb als heilsam für ihn zu erachten sein. 

Das Schiedsgericht sprach ihm eine Rente von 30% im Ok¬ 
tober 1903 zu. 

Im Mai 1904 wurde die Rente auf 20% verkürzt. 

Bei der Festsetzung der Rente auf 10% ira April 1908 er¬ 
klärte dasselbe Schiedsgericht: 

Zweifellos hat eine schwerere Schädigung des Zentralnerven¬ 
systems oder überhaupt lebenswichtiger Organe nicht stattgefunden, 
da eine solche im Laufe der seit dem Unfälle verflossenen Zeit 
mit absoluter Sicherheit in irgendeiner Weise hätte zum Ausdruck 
kommen müssen. Was die vom Verletzten geklagten Beschwerden 
über Ohrensausen, Kopfweh und dergleichen anbelaugt, so ist hier¬ 
für objektiv nichts nachweisbar. Insbesondere ist für die bestehende 
Abnahme des Sehvermögens nicht der Unfall, sondern das Alter 
des Verletzten die Ursache, wie der Augenarzt Dr. F. in F. be¬ 
reits in seinem Gutachten vom 29. April 1905 erklärt hat; die 
vorhandene Gehörsstörung ist nach den Ausführungen des Ohren¬ 
arztes Dr. K. in P. vom 27. April 1905 nur so geringfügig, daC 
sie für das wirtschaftliche Leben nicht in Betracht kommt. 

Wenn dem Verletzten daher für die noch vorhandenen sub¬ 
jektiven Beschwerden, die nach Lage der Sache nur noch gering¬ 
fügiger Natur sein können, eine 10 %ige Rente gewährt wird, so 
ist er hiermit, wie das Schiedsgericht mit Dr. G. annimmt, aus¬ 
reichend entschädigt, zumal Pat. ständig arbeitet und einen Lohn 
von 40 Pfl für die Stunde verdient. 

Am 1 . November 1909 wurde die Rente eingestellt mit der 
Begründung: 

Bereits zur Zeit der Bewilligung der 10%igen Rente war 
der objektive Befund, gleichwie jetzt, vollkommen negativ und 
nur mit Rücksicht auf die glaubhaften subjektiven Beschwerden 
wurde dem Verletzten noch eine 10 %ige Rente bewilligt. Seit¬ 
dem sind wieder über iVz Jahre verflossen und der Unfall selbst 
liegt 8^4 Jahre zurück. Es ist dah^ mit Sicherheit anzunehmen, 
daß in diesen Zeiträumen die Beschwerden so weit geschwunden 
sind, daß durch sie die Erwerbsfähigkeit des Verletzten wesentlich 
nicht mehr beeinträchtigt wird. Diese Annahme wird auch da¬ 
durch bestätigt, daß Verletzter seit Jahren ständig einer lohn¬ 
bringenden Arbeit nachzugehen vermocht hat. Was seine Klagen 
Uber Ohrensausen usw. anbelangt, so ist bereits in der Entscheidung 
des Schiedsgerichts vom 21 . März 1908 hervorgehoben, daß nach 



46 


Dr. Leop. Laqaer, 


den Ausführungen des Ohrenarztes Dr. K. in F. vom 27. April 06 
diese Beschwerden nur so geringfügig sind, daß sie für das wirt¬ 
schaftliche Leben nicht in Betracht kommen. 

Hiernach ist die Aufhebung der Rente gerechtfertigt und, 
entsprechend dem Anträge der Genossenschaft, mit Wirkung vom 
1. November 1909 ab beschlossen worden. 

Katamnese. 

Nunmehr besteht die volle Erwerbsfähigkeit wie vor dem 
Unfall. 

Fall VII. 

Am 28. März 1906 erlitt ein Fuhrmann aus F, einen Unfall. 
Er wurde von einem Wagen, den er bei Überschreiten der Gleise 
bei Station F. lenkte, heruntergeschleudert. Die Pferde wurden 
getötet und der Wagen völlig zertrümmert. Er selbst fiel auf 
die Schienen und den mit kleinen Steinen gepflasterten Weg so, 
daß er nach dem Berichte des Dr. R. eine Gehirnerschütterung 
mit Quetschung des linken Scheitelbeins und eine Verrenkung des 
dritten und vierten Fingers davontrug. Es trat eine Bewußt¬ 
losigkeit auf, die wenige Minuten dauerte; später soll sich der 
Verletzte in seiner Wohnung auch erbrochen haben. Aerztliche 
Hilfe wurde ihm unmittelbar nac^h der Verletzung zuteil. Dr. R. 
schätzte am 19. Juli die infolge des Unfalls und der damit zu¬ 
sammenhängenden nervösen Beschwerden bei Fehlen jeden objek¬ 
tiven Befundes eingetretene Invalidität auf 25%. Pat, übertreibe 
die Beschwerden nach Ansicht des genannten Gutachters. 

Am 1. August 1906 ist Pat. von mir untersucht worden. Er 
gab an, daß er 28 Jahre alt, Witwer und nicht erblich belastet 
sei. Seine Frau ist vor 1^4 Jahren an einem Lungenleiden gestorben. 
Das Kind lebe und sei gesund. Er sei früher immer gesund ge¬ 
wesen und sei schon früher einmal am 12. Oktober 1894 verun¬ 
glückt durch Sturz von einem Baum, der einen linksseitigen Ellen¬ 
bogenbruch herbeiführte. Er bezieht für diese Unfallsfolgen eine 
Rente von 33^3%. 

Pat. klagt über Kopfschmerzen, Schwindel, Herzklopfen, un¬ 
ruhigen durch Träume iinterhroclienen Schlaf. Sein Appetit sei 
schlecht. Einen Arbeitsversuch habe er seit dem Unfall nicht 
unternommen, da sich beim,Bü ken die genannten Kopfbeschwerden 
steigern und Hitzegefühl mit Wallungen zum Kopfe sich geltend 
machte. 

Er erklärte deshalb vollkommen arbeitsunfähig zu sein. Die 
objektive Untersuchung des iilühend aussehenden, gut genährten, 
geistig frischen Mannes fördert wenig Anhaltspunkte für diese 
seine Beschwerden zutage. Er zeigt keinerlei hypochondrische 
Stimmung und Gedächtnis-Ausialle. Seine Sprache ist unversehrt, 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


47 


«beaso Pupillea-Reaktion und Bewegung der Gesichts-Muekulatur. 
Am Schädel findet sich keine Narbe oder druckschmerzhafte Stelle. 
Die Zunge ist frei beweglich und zittert nicht. Die Sinnesorgane 
funktionieren ohne jeden Mangel. Herz und Lunge sind frei von 
krankhaften Erscheinungen. Der Puls ist regelmäßig und zeigt 
88 Schläge. 

An der rechten oberen Extremität im Ellbogengelenk ist eine 
Versteifung von dem Unfälle des Jahres 1894 zurückgeblieben. 
Der Arm steht im Winkel von 120® fest und kann weder gestreckt 
noch gebeugt werden; infolgedessen ist eine leichte Abmagerung 
des zwei- und dreiköpfigen Muskels (Biceps und Triceps) eingetreten. 
Das Schultergelenk ebenso wie das Handgelenk sind frei beweg¬ 
lich. Die betreffende Muskulatur hat ihre normale Form behalten. 
Der linke Arm ist nur in beschränkter Weise gebrauchsfähig. 
An der linken oberen Extremität liegt eine ganz leichte Versteifung 
mit Beugung in den Mittelgelenken des vierten und in geringerem 
Grade auch des fünften Fingers vor. Abmagerung und Störungen 
der Empfindung und Bewegung sind in der linken oberen Extre¬ 
mität nicht vorhanden. 

Die Bewegungen in den Rumpf- und Beinmuskeln sind kräftig 
und ausgiebig, der Gang des Verletzten ist aufrecht, rasch und 
sicher bei offenen und bei geschlossenen Augen. Die Sehnenreflexe 
sind an beiden Knien nicht auffällig gesteigert. Empfiudungs- 
störungen und Zittern sind nirgends nachweisbar. Das Körper¬ 
gewicht soll seit dem Unfall um 12 Pfund abgenommen haben. 

Auf Grund der vorstehenden Feststellungen ist anzunebmen, 
daß der Verletzte am 28. März 1906 infolge des Sturzes vom 
Wagen eine leichte Hirnerschütterung erlitten hat. Eine 
wesentliche Verletzung der Schädeldecke und ein Schädelbruch 
haben dabei nicht stattgefunden. Eine Reihe von nervösen Mi߬ 
empfindungen im Kopfe, Schwindel, Kopfweh, auch das Herzklopfen, 
über die Pat. noch jetzt Klage führt, müssen als unmittelbare 
Folgen der Hirnerschütterung angesehen und als traumatisch neur- 
asthenische Sensationen gedeutet werden. Die Steifigkeit der beiden 
Finger linkerseits, die die Verrenkung zurückgelassen hat, kommt 
als wesentliches Arbeitshindernis nicht in Betracht. Dagegen be¬ 
steht ira Hinblick auf den großen Schreck, der mit dem geschil¬ 
derten Unfall verbunden war, auch nicht die Vermutung, daß 
Pat., der einen glaubwürdigen Eindruck macht, zur Uebertreibung 
neige. Seelische Eindrücke bei schweren Eisenbahnunfällen wirken 
lange nach und rufen, auch wenn körperliche Erschütterungen oder 
Verletzungen gar nicht damit verknüpft gewesen sind, nervöse 
Reiz- und Erschöpfungszustände hervor, wie wir sie in dem vor¬ 
liegenden Fall beobachten können. 

Der Verletzte ist noch um 50®/o in seiner Arb eits- 



48 


Dr. Leop. Laquor, 


ffthigkeit gegenüber seinen Leistungen vor dem Un¬ 
fall am 28. März 1906 geschädigt. Es sind seit dem schweren 
Unfall erst vier Monate vergangen. Diese Zeit reicht nicht aus^ 
um die krankhaften Störungen im Bereich des Nervensystems auch 
i)ei völliger Schonung des Körpers zum Schwinden zu bringen. 

Ich nehme sogar an, daß die Erwerbsbeschränkung von 50% 
bei dem Verletzten noch etwa ein Jahr bestehen wird, es ist aber 
notwendig, daß sich Pat. in dieser Zeit, in Rücksicht auf die 
völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit, die mit Sicherheit 
allmählich zu erwarten ist, mit leichten Arbeiten beschäftige. 

Der Verletzte empfing Ende September 1906 eine Abfindung 
von 1000 Mark. 

Katamnes e. 

San.-Rat Dr. B. in F. schreibt unterm 23. Oktober 1911 : 
In meinen Büchern finde ich einen J. R., der vom 28. März 
1906 bis 27. Juni 1906 in meiner Behandlung war und eine 
Verrenkung des linken dritten und vierten Fingers und eine 
Quetschung des linken linksseitigen Schienbeins hatte. R. ist 
wieder völlig erwerbsfähig. 

Fall VIII. 

Ein Maurer von E. schildert seinen Unfall in folgender Weise 

Am Abend des 10. Oktober 1907 sei er von P. stehend in 
einem Koupee IV. Klasse heimgefahren und zwar in einem Personen¬ 
zuge, der auf der Station M. mit einem Güterzug zusammenstieß. 
Bei der dadurch erfolgten Erschütterung des Wagens sei er um- 
gefallen und hätte sich am Kopfe und am Rumpfe verletzt und 
für kurze Zeit die Besinnung verloren. Passagiere sollen auch 
auf ihn getreten sein. Seitdem litt er an Schmerzen am Rumpfe, 
zuerst linkerseits, jetzt mehr rechterseits, und an Schwindelzu- 
.ständen. Er hätte zwar sofort den Wagen mit anderen Passa- 
gieien verlassen, sei aber genötigt gewesen, noch zwei Stunden 
an der Unfallstelle zu warten, ehe er mit anderen zurückbefördert 
worden wäre. Nach vielen Wirrnissen und Zögerungen sei er 
später mit einem D-Zug angeblich erst nachts um 2^1^ Uhr in E. 
wieder eingetroffen. Er versuchte die Arbeit morgens aufzunehmeu, 
iühlte sich aber namentlich beim Besteigen des Gerüstes unbehag¬ 
lich. Da er stärkere Schmerzen empfand, wandte er sich am 
13. Oktober an Dr. N. in E., dem er angab, daß er wegen seiner 
Beschwerden auf dem Gerüste behindert sei, den ganzen Tag zu 
arbeiten. 

Zwischen den Schulterblättern und unter den Brustwarzen 
bestehen Schmerzen und Druckschmerzhaftigkeit. Objektiv .sei 
nichts sichtbar. Die Lungen wären gesund und es wäre wahr- 



Die Heilbarkeit nervöser ünfallsfolgen. 


49 


öcheiulich, daß die Schmerzen in einigen Wochen wieder ver¬ 
schwinden würden. So lautete Dr. N.s Bericht. 

Dr. B., Nervenarzt in F., erklärte am 15. Oktober 1907 die 
Beschwerden des Verletzten für glaubwürdig. Pat. sei dadurch 
zur Zeit in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt. 

Am 15. November 1907 bescheinigt Dr. B., daß der durch 
Eisenbahnunfall Verletzte zur Zeit für seinen Beruf als völlig 
erwerbsunfähig zu betrachten sei. 

Am 2. Dezember 1907 hat dann Dr. N. ein Gutachten er¬ 
stattet. Danach hatten die Schmerzen im Rücken und an der 
linken unteren Brustseite 14 Tage nach dem Unfall nachgelassen, 
doch bestand der Schwindel im Kopfe, der anfallsweise und täg¬ 
lich auftrat und mit Hitze im Kopfe einherging, weiter fort. An¬ 
fang November gesellten sich Herzbeklemmungen mit Angstgefühl 
und Herzklopfen hinzu, was auch auf die Atmung Elinfluß ausübte. 
Diese Beklemmungen wiederholten sich täglich mehrmals und 
währten bis Ende Oktober, Dann wurden sie geringer und seltener. 
Schwindel und Schmerzen in der rechten unteren Brustseite be¬ 
stand zu Anfang Dezember noch fort. Während an den Stellen 
des Schmerzes und im Kopf objektiv nichts nachweisbar war, 
konnte bei Herzbeklemmungen in der Sprechstunde Pulsbeschleu¬ 
nigung wiederholt festgestellt werden. So waren die Pulsschläge 
in dieser Zeit 88, 96, 106 und 116 in der Minute. Seit vier 
Tagen (von Ende November an) schwankten die Pulsschläge 
zwischen 64 und 88. 

Dr. N. sah die Erkrankimg für eine typische traumatische 
Neurose an, wie sie speziell nach Eisenbahnunfällen verkommen 
Die Erwerbsunfähigkeit sei seit dem 12, Oktober 1907 eine gänz¬ 
liche (100®/o). Wie lange dieselbe dauern würde, sei ungewiß. 
Dr. N. empfahl die Unterbringung in einer Nervenheilanstalt. 

Von den subjektiven Beschwerden des Verletzten, die 
ich Anfangs Januar 1908 feststellte, sind die schon obengenannten 
Schwindelempfindungen bemerkenswert, sowie die Schmerzen am 
Rumpf, die erst in der linken unteren Rippengegend gesessen 
hätten, dann über den Nabel nach der rechten Rumpfseite gezogen 
wären. Er könnte ferner nicht ordentlich schlafen und essen; ('r 
hätte an Körpergewicht abgenommen. Aus allen diesen Gründen 
sei er arbeitsunfähig. Er hätte im Haus eine leichte Beschäftigung 
versucht, aber es wäre ihm unmöglich gewesen, sie andauernd fort¬ 
zusetzen. 

Objektiver Befund. Wesentliche seelische Störungen sind 
bei dem ziemlich intelligenten, sehr muskelkräftigen, blühend aus- 
sebenden Manne nicht zu verzeichnen. Das Gedächtnis ist gut. 
Die Stimmung nicht hypochondrisch und nicht depressiv, hie und 
da ein wenig gereizt, sobald man auf die wiederholten ärztlichen 

4 



50 


I)r Leop. Laquer, 


Uiitertiuchungeu uud Verhandlungen mit den Eisenbabubehörden 
zu sprechen kommt: „Ich will mich nicht wichtig machen, ich bin 
kein solcher, iler sich drückt. — Ich rege mich bei den Verhand¬ 
lungen immer auf, und da habe ich die Sache dem Arlmitersekretör 
liljergeben, der soll sie führen!“ Der Pat. bekommt leicht eine 
Kongestion des Kopfes, die der allgemeinen leichten Erregbarkeit 
in allen Hautgefäbgebieteu entspricht. Seine Sprache ist gut er¬ 
halten, ebenso die Bewegung der Augen-, Gesichts- und Zungen- 
inuskulatur. Die Pupillen sind beide gleichweit, reagieren lebhaft 
auf Licht und Entfernung. 

Auch die Beweglichkeit der Rumpf- und Extremitätenmuskeln 
ist gut erhalten; nicht minder die Hantempfindung an dieser Körper¬ 
stelle. Der Gang ist aufrecht und sicher. Auffällig ist das Zittern 
der Augenlider Ijei Lidschluß, während sonstige Zitterbewegungen 
nicht zu beobachten sind. 

Die Muskulatur ist überall .kräftig entwickelt. An den wieder¬ 
holt genannten Rumpfstellen, in denen P. Schmerzen empfindet, 
auch an der Wirbelsäule besteht keinerlei Druckempfindlichkeit. 

Die Sehnen-Ileflexe sind sehr lebhaft. Die Lungen weisen 
nirgends einen krankhaften Befund auf. 

Dagegen ist auffällig eine Erhöhung der Pulsfrequenz, die 
am 9. Jan. auf 140, am 10. Januar auf 120 Schläge in der Mi¬ 
nute stieg. Eine Verbreiterung der Herzgrenzen, Veränderungen, 
Geräusche etc. an den Herzklappen konnte ich nicht feststellen. 

Es sind also bei dem Pat. nur nervöse Störungen, namentlich 
eine Reizbarkeit uud Neigung zu Blutwallungen mit Erhöhung 
der Pulsfrequenz vorhanden, die der Annahme einer anatomischen 
Erkrankung des peripheren oder zentralen Nervensystems wider¬ 
sprechen. 

Der Verletzte bietet das typische Bild jenes Komplexes 
von traumatisch-hysterischen und -neurasthenischen Krankheitser¬ 
scheinungen, die sich ohne nennenswerte äußere Verletzungen nach 
Unfällen aller Art, auch nach leichten Eisenbahnunfällen entwickeln. 
Sie sind weniger als die Folgen des Schrecks und der Erschütterung 
bezw. geringen Quetschung beim Fall im Koupee, die er am 10. Ok¬ 
tober hatte, aufzufassen, sondern müssen als Rentenhysterie 
(Rentensucht) bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um eine 
Summe von krankhaften Begehrungsvorstellungen — um seelische 
Veränderungen, die in dem gesetzlichen Verfahren selbst begründet 
sind. 

Eine weitere Untersuchung und Beobachtung des Verletzten 
würde seine Aufregung vermehren und seine Begehrlichkeit uud 
Willensschwäche bezw. Arbeitsunlust steigern. 

Aus diesen Grümien möchte ich die baldige Gewährung einer 
Abfindungssumme auch ärztlicherseits befürworten. Dr. B. er- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


51 


laächtigte mich bei einer gelegentlichen Rücksprache zu der Mit¬ 
teilung, daß er im Gegensatz zu den Angaben des Verletzten vom 
23. Dezember 1907, demselben dringend geraten habe, sich mir 
der Direktion über irgend eine Abfindungssumme zu verständigen, 
da er sonst' alle halbe Jahre untersucht und noch mehr aufgeregt 
werden könnte. 

Ich erachte den genannten Weg der Erledigung der vorliegen- 
-tlen TJnfallssache für notwendig zur Beseitigung der nervösen Un¬ 
fallsfolgen und für ersprießlich zur völligen Wiederherstellung der 
Arbeitsfähigkeit des Verletzten, die mit Sicherheit zu erwarten ist. 
Den Grad seiner jetzigen Erwerbsfähigkeit würde ich auf etwa 
25®/o schätzen. Dringend widerraten möchte ich der Einweisung 
des Verletzten in irgendeine Nervenheilstätte, da dort bei Fällen 
wie dem vorliegenden unter Umstanden eine Verschlimmerung der 
Krankheitserscheinungen zu erwarten wäre. 

Der Verletzte erhielt vou der Eisenbahnbehörde 
Ende Februar 1908 eine Abfindung von 1200 Mark. 

Katamnese. 

Die Bürgermeisterei seines Heimatortes berichtete im Ok¬ 
tober 1911, daß er vollkommen arbeitsfähig sei und 5 M. pro 
Tag verdiene. Schon am 15. April 1908 hatte er die Arbeit 
wieder aufgenommen. 

Von Wichtigkeit erscheint uns ein Schreiben, das ein orts¬ 
eingesessener Nachbar des Verletzten mit Namensunterschrift 
an die betr. Eisenbahndirektion am 30. März 1908 gerichtet 
hatte: „Betreffs Eisenbahnunfall auf der Station M., bei welchem 
der Verletzte beteiligt war, möchte ich „Königl, Eisenbahn¬ 
direktion“ mitteilen, was sich der Verletzte mir und meiner 
Frau gegenüber von Anfang an äußerte. Genau Tag und Da¬ 
tum des Unfalls kann ich nicht mehr bestimmen. Es war 
Freitag Morgen, als mich der Verletzte auf den Unfall aufmerk¬ 
sam machte; er ging Freitag und Samstag arbeiten, war auch 
Sonntag bis abends 9 Uhr in der Wirtschaft. Am Montag 
ging er wieder zur Arbeit und kam mittags wieder zurück. 
Meine Frau fragte nun die Frau des Verletzten, was eigentlich 
ihrem Manne fehlte, worauf sie zur Antwort gab: „Wenn mir 
fehlen würde, tvas dem fehlt, würde ich nicht daheim bleiben.“ 
Nach zwei oder drei Tagen fuhr der Verletzte wieder nach F., 
worauf seine Frau erklärte, es wären auf der Baustelle des 
Herrn H. zwei Kollegen, welche ihn aufklärten und Anleitung 

4* 



52 


Dr. Leop Laquer, 


geben, wie er sich zu dem Unfälle verhalten solle, una eine 
Entschädigung zu bekommen, da diese auch schon bei einem 
Unfall waren und eine Entschädigung bekamen. Nach etlichen 
Tagen erklärte er meiner Frau: „ich gebe dene schon Bescheid für 
das Eisenbahn-Unglück; wolle die die Leut kaput fahren, dann solle 
die sie auch bezahlen“. Ferner erklärte mir der Verletzte auf Be¬ 
fragen: „Es könnte noch lange dauern, bis die Sache geregelt 
wäre, zwei bis drei Tausend Mark wolle er schon heraus- 
schlagenWir brachen alsdann unsere Unterhaltung gegen¬ 
seitig ab, indem der Verletzte von mir fortzog. 

Hoffentlich genügen Ihnen diese Zeilen zur besseren Auf¬ 
klärung der Sache und stehe zum direkten Beweise vorstehen¬ 
dem, sowie meine Frau jederzeit gerne zur Verfügung“. 

Solchen Denunziationen, die der Mißgunst von übelwollenden 
Nachbarn in kleinen Städten und Dörfern entsprungen sind, be¬ 
gegnet man nicht so selten in den Akten der neurotischen 
Rentenempfänger. 

Auf der andern Seite ist es bekannt, wie schwer es Berufs¬ 
genossenschaften upd andern Versicherungsträgern fällt, wahr¬ 
heitsgetreue Berichte über den Charakter, die Arbeitslust und 
Arbeitsfähigkeit eines Unfallsneurotikers von Ortsbehörden und 
auch von Ortsärzten zu erlangen. In einem andern, mir be¬ 
kannt gewordenen Falle ersuchte der Arzt die Berufsgenossen¬ 
schaft auf das dringendste, von der Bitte um Erstattung 
eines Gutachtens über die Arbeitsfähigkeit eines Verletzten ab¬ 
zusehen, da die Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse 
seine Existenz vernichten könnte. 

Die eben geschilderten Unfälle waren zwei Arbeitern 
nicht im Betrieb begegnet, wo sie unter das Unfallver¬ 
sicherungs-Gesetz gehört hätten, sondern auf der Eisenbahn, 
die haftpflichtig war. 

Sie sind schnell abgefunden worden und rasch geheilt. 

Wenn man den Verlauf ihrer nervösen Unfallsfolgen mit 
dem jener beiden Arbeiter vergleicht (Fall V und VI), die 
durch allmähliche Rentenverkürzung und bei weitgehender 
Nachsicht der Arbeitgeber unter mehrmaliger Anrufung von 
Schiedsgerichten geheilt worden waren, so wird man ohne- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallstolgen. 


53 


'weiteres sagen: Es gibt Fälle von ünfallsnenrosen, in 
denen Abfindung in wenigen Monaten Heilung 
bringt. Unter den gleichen individuellen und äußeren Um¬ 
ständen würden die Verletzten bei Bezug einer Dauer¬ 
rente mehr Jahre zurHeilung gebraucht haben, als 
hier Monate nötig gewesen waren. Solche Beispiele 
könnte ich hunderte ans Akten der Berufsgenossenschaften her¬ 
beiziehen. Die abgefundenen beiden Arbeiter haben ihre beruf¬ 
liche Tätigkeit, auch nachdem sie die Barsumme erhalten hatten, 
in gleicher Weise wie vor dem Unfall betrieben. Ein Rückgang 
in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten. 

So werden sich auch in Deutschland viele Arbeiter finden, 
die in gleicher Weise auf die Abfindung nach Unfallsneurosen 
reagieren, wie in Dänemark und in der Schweiz. 

Es folgen nunmehr die Krankengeschichten von zwei ledigen 
Frauenspersonen, die bei je einem Unfall einen großen Schreck 
erlitten, und deren Krankheit durch Abfindung zur raschen 
Abheilung gelangte. 


Fall IX. 

Ein lediges Fräulein, angehende Klavierlehrerin, von 33 Jahren, 
uihr am 28. Januar 1907 in einem Koupee III. Klasse im Schnellzuge 
von F. nach G. Auf der Station G. gab es plötzlich einen so starken 
Stoß, daß alle Insassen des gefüllten Koupees aufflogen. Man hörte 
rufen: „Sofort alles aussteigen!“ Die mitfahrenden Herren sprachen 
von einer „Explosion“. Es war abends 9 Uhr. Patientin stand 
auch auf, schnellte aber wieder zurück und stieg als letzte aus 
dem Wagen aus. Sie mußte daun die Unfallsstelle umgehen und 
eine Böschung hinaufklettern, um den Hilfszug zu benützen. Sie 
geriet durch die Angst der anderen, die von allen möglichen 
Schauergeschichten, die passiert waren, erzählten, mehr in Erregung, 
als durch den körperlichen Shok, der bei dem Zusammenstoß ein¬ 
getreten war. 

Sie wollte ihre Angehörigen, eine gut bürgerliche höhere Be- 
aratenfamilie, deren Ernährer nicht mehr lebte, benachrichtigen; 
aber sie war allmählich in eine solche Aufregung geraten, daß sie 
dazu unfähig war. Von irgendwelchen Verletzungen anderer hatte 
sie selber nichts gesehen. Als sie gegen 1 Uhr durch einen Hilfs¬ 
zug nach Hause befördert wurde, geriet sie wieder in einen Zu¬ 
stand der Angst und bekam so heftiges allgemeines Zittern, daß 
•es allen Mitfahrenden auffiel. 



54 


Dr. Leop. Laquer, 


Zu Hause angelangt, hat sie zwar erst ein Stündchen von 
all’ den Schrecknissen ihrer Familie erzählt, aber als sie sich von^ 
Stuhle erhob, schlotterten die Knie, sie knickte ein und konnte 
kaum stehen und geben. Sie schlief zwar in der folgenden 
Nacht, aber am andern Tage war es ihr unmöglich, Klavier¬ 
stunden zu geben, weil „alles an ihr flog“. — Nach 10 Tagen 
bekam ihre Schwester eine Blinddarmentzündung und mußte 
operiert werden, was sie wieder sehr aufregte. Ein Bruder, der 
Student war, erkrankte an Influenza und Ohrenentzündung etwa 
um die gleiche Zeit. 

In den dem Unfall folgenden vier Wochen war sie leicht 
verstimmt und weinerlich, saß in den Ecken herum, konnte sich 
nicht beschäftigen; aber auch die Familie, namentlich die Mutter, 
hatte wegen der Erkrankung der Geschwister keine Zeit, sich um 
sie zu kümmern. Als ihre Geschwister wieder hergestellt waren, 
wurde der nervöse Zustand der Verletzten noch schlimmer. E.s 
traten sehr heftige Nackenschraerzen, sowie allgemeine nervöse 
Unruhe im ganzen Körper auf. Sie sehnte sich anfangs nach Bett¬ 
ruhe, die ihr verordnet war, aber sie hielt es im Bett nicht ans, 
stand immer wieder auf und lief in der Stadt herum. Dabei war 
sie menschenscheu, machte Umwege, um ihren Bekannten nicht zu 
begegnen und- nicht nach ihrem Befinden gefragt zu werden. 

Ebenso wie die früheren Beobachter habe ich einen ob¬ 
jektiven körperlichen Befund nicht festzustellen vermocht; Es 
fehlen Lähmungen und Empfindungsstörungen im Gebiete der 
Hirn- und Rückenmarksnerven. Die Pupillen sind gleichweit uuti 
von guter Reaktion; die Sehnenreflexe sind sehr gesteigert, beim 
Beklopfen der Sehnen fährt der ganze Körper der Patientin zu¬ 
sammen. Sie ist mäßig ernährt, zeigt eine geringe Muskelentwicklung, 
etwas Blutarmut. Herz und Lunge sind frei von krankhaften 
Symptomen; der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. Die 
Patientin war an den Untersuchungstagen etwas unruhig; sie war 
flattrig, auch in ihrem Blick, verlor den Faden bei der Unter¬ 
haltung, schien leicht abwesend und zerfahren zu sein und be¬ 
nahm sich scheu und zurückhaltend gegen den Arzt. 

Die Mutter berichtete, daß sie zu Hause gar keine Ausdauer 
hätte, beim Handarbeiten und Klavierspielen sofort Schmerzen in 
den Armen bekäme, sich auch nichts zutraue. Jede ernste Be¬ 
schäftigung flele ihr schwer, sie sei auch in der Unterhaltung 
mit den Angehörigen zerstreut, ablenkbar und flatterhaft. Ebenso 
fehle es ihr an jeder Lebensfreude, so daß sie zu Hause sich absolut 
nicht in irgendeiner Weise nützlich machen könne. Eis mangelt 
ihr das Interesse an Bekannten und Verwandten; auch soll mit¬ 
unter eine Gedächtnisschwäche ihrer Umgebung aufgefallen sein. 
Sie sei sehr sensibel, könne nichts Trauriges und Unangenehmes hören. 



Die Heilbarkeit nervöser l'ufallsfolgen. 55 

weint dann leicht und läuft unruhig hin und her. Sie habe 
immer noch ziehende Schmerzen in den Armen, Spannungs- und 
Klammergefühle mitunter in den Beinen, häufig sei es ihr, als 
wenn durch die Muskeln Saiten gezogen würden, die vibrierten. 

Pestzustellen war ferner, daß die Patientin schon frühei> 
kränklich und auf erblicher Basis nervös veranlagt gewesen ist, und 
daß sie in Folge dessen ein Examen, das sie vorhatte, nicht 
machen konnte und sich auf die Erteilung von wenigen 
Klavierstunden beschränken mußte. 

Andererseits ist sicher, daß der Unfall vom 28. Januar 1907 
eine bedeutende Steigerung der Nervosität herbeigeführt und ihre 
Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigt hat. 

Als Folge des Eisenbahnunfalles ist eine hochgradige Unfalls¬ 
neurose aufgetreten, die unter den Erscheinungen hysterischer 
Willensschwäche und Ueberempfindlichkeit mit motorischen Reiz- 
erscheintmgen, Schlaflosigkeit einhergegangen ist. 

Der Aufenthalt in drei Anstalten, obwohl er monatelang 
gedauert hat, ist auf die krankhaiten Symptome ohne jeden Einfluß 
gewesen. Wenn auch anzunehmen ist, daß einige unvorsichtige 
ärztlicfie Aeußerungen unmittelbar nach dem Unfall, dann die 
schweren Erkrankungen in der Familie und endlich eine ungünstige 
Beeinflussung durch einen neuropathischen Kranken in einem der 
drei Sanatorien, die sie zu Heilzwecken aufsuchte, schädigend und 
verzögernd auf den Verlauf der nervösen Erkrankung eingewirkt 
haben, so muß doch festgehalten werden, daß ein großer Teil der 
erwerbshemmenden Krankheitserscheinungen mit dem Unfall im 
direkten Zusammenhang steht. 

Nur von einem Zusammenleben mit verständigen, ruhigen 
Menschen, leichter Tätigkeit in fremder Familie — die eigene 
ist ein unzweckmäßiges Milieu —, nicht im weiteren Sana¬ 
torienaufenthalt kann ein guter Einfluß auf die Krankheit erhoift 
werden. Voraussetzung ist dabei, daß die Patientin sich nicht 
mehr untätig ihren Stimmungen und hysterischen Neigung zur 
Willenlosigkeit und hypochondrischen Grübeleien überläßt. Dann 
ist eine Heilung bezw. eine Wiederkehr ihrer früheren Leistungs¬ 
fähigkeit, wie sie vor dem Unfall bestanden hat, möglich, sogar 
wahrscheinlich. Aber dazu werden nach meiner Ansicht 2 bis 3 
Jahre der Ruhe und Schonung notwendig sein. 

Der dermalige Zustand einer sehr beschränkten beruflichen 
Leistungsfähigkeit wird nicht dauei-nd sein, aber ich möchte von 
einer viele Jahre sich hinziebenden Rentenzahlung, die eine wiederholte 
ärztliche Nachuntersuchung in diesem Falle notwendig machen wird, 
dringend abraten. Dagegen empfehle ich auch hier eine einmalige 
größere Kapitalabfindung. Sie ist gerade bei diesen Formen von 
nervösen Unfallsfolgen am Platze; denn die Zusicherung einer festen 



56 


l)r. Leop Laquer, 


Reute bestärkt die Uuiall.sbysteriker mänulichen und weiblichen 
Geschlechtes in ihrem Krankheitsgefühle und spornt sie in keiner 
Weise zu einer Selbständigkeit, zur Selbstbeherrschung, zur Ueber- 
windung von Launen und Mißempfindungen an. 

Wenn dagegen die Patienten selber oder deren Angehörige 
durch ein größeres Kajutal in den Stand gesetzt werden, sich ent¬ 
weder die Grundlagen zu einem Berufe zu schaffen oder sich das 
Leben sorgloser einzurichten, so ist eine Mittätigkeit der in Betracht 
kommenden Kranken nicht ausgeschlossen und kann sehr segens¬ 
reich auf ihre nervösen Zustände einwirken. 

Endlich muß der mit der Kapitalabfindiing gegebenen Verkürzung 
des Verfahrens bei Rentenfestsetzangen und der Beschleunigung der 
Feststellung von Unfallsentschädigungen ärztlicherseits eine heilsame 
Beeinflussung der nervösen Unfallsfolgen zugesprochen werden. 

Pat. empfing 16 000 Mark als Abfindung. 

Katamnese. 

Seit d Jahren ist die Pat. nunmehr im Haushalt eines ihr 
nahestehenden kranken, nicht mehr tätigen Arztes als Stütze 
der Hausfrau und Gesellschafterin des Genannten beschäftigt; 
sie macht sich als Vorleserin sehr nützlich und ist teilweise 
recht arbeitsfreudig. Ihre Stimmung ist aber immer noch eine 
schwankende, hysterische Züge sind aber seltener geworden; 
am auffälligsten und schlimmsten ist ihre Nervosität, wenn sie 
mit den Angehörigen bes. mit der sehr nervösen Mutter wieder 
gelegentlich zusammenkommt. 

Mit der Abfindung sind von ihr eine Reihe von Sorgen 
gewichen, die in materiellen Nöten ihren Grund hatten. Die 
ihre Genesung hemmende Idee, nichts mehr zum Unterhalt der 
Familie mit beitragen zu können, hatte die von jeher vorhan¬ 
denen neuropathischen Zustände bis zur vollen Untätigkeit 
gesteigert. Sie ist jetzt weggefallen. 

Die oben erwähnten Krankheiten in der Familie hatten 
auf ihren Gemütszustand besonders niederdrückend gewirkt. 


Fall X. 

Die zweite 25jährige nicht belastete ledige Dame war früher 
nie erheblich krank oder nervös gewesen. Sie war immer eine 
tatkräftige Person und galt für die Stütze der Familie. Sie batte 
früher mit der Mutter eine Pension geleitet, dann in einem Kur- 
Hötel als Hausdame eine sehr große selbständige Tätigkeit ent- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


57 


faltet. Dort hatte sie besonders einige Schwerkranke in ausge¬ 
zeichneter Weise gepflegt. — Nunmehr beabsichtigte sie, sich wieder 
eine neue Stellung zu suchen und fuhr zu diesem Zwecke nach M. 

Auf der Rückreise befand sie sich in der Nacht vom 23. zum 
24. Oktober 08 in dem Eisenbahnzuge, der bei H. mit einem 
Güterzuge zusammenstieß. Sie schildert den Unfall, den sie dabei 
erlitt, in folgender Weise: Sie hatte sich in einem Abteil III. Klases 
auf einer Bank ausgestreckt und war in einen leichten Halbschlaf 
verfallen. Da entstand ein gewaltiges Krachen, das sie erweckte. 
Durch einen Ruck des Wagens fuhr sie in die Höhe und fiel dann 
gegen die hölzerne Wand. Andere Mitreisende waren zu Boden 
gefallen und schrien voller Schrecken; andere liefen angstvoll um¬ 
her. Man versuchte die Türen und Fenster zu öffnen, was aber 
auch starken Männern nicht gelang. Pat. aber faßte Mut, zog 
sich in die Höhe und stieß oben am Gepäcknetz 
schwebend mit beiden Füßen wider die Tür ihres 
Wagens, so daß diese aufsprang und sie dann mit den 
anderen den Wagen verlassen konnte. Der Zug war 
inzwischen zum Stehen gekommen, es war stockfinstere Nacht; sie 
begab sich an den vorderen Teil des Zuges, wo die Schlafwagen 
standen, sah dort trotz mangelhafter Laternenbeleuchtung die 
Trümmer der ineinander gefahrenen Wagen, hörte das Schreien 
der Leute und das Wimmern der Verletzten, die in den Schlaf¬ 
wagen eingekeilt waren. Sie erfuhr auch, daß mehrere Personen 
getötet seien und kam mit diesen Nachrichten zu ihren Mitreisen¬ 
den zurück, die nicht gewagt hatten, die Abteile zu verlassen. 
Unter ihnen befand sich das Hausfräulein einer Familie aus F.; 
letztere hatte im Schlafwagen gesessen. Die um ihre Herrschaft 
besorgte Dame war vom Schrecken wie gelähmt und mußte von 
Pat, an den zertrümmerten Wagen geführt werden, da sie sich 
unter jeder Bedingung nach der Familie umsehen wollte. Als sie 
sich der Unfallstätte näherten, sahen sie bereits Verwundete und 
Tote heraustragen, hatten auch den grausigen Anblick der Leiche 
des Herrn der Familie, dessen Schädel und Gesicht vollständig 
plattgedrückt war. 

Unter diesen schaurigen Eindrücken vergingen eine Reibe 
schrecken voller Stunden. Pat. zitterte und bebte am ganzen Körper, 
um so mehr, als auch starke Kälte eingetreten war. Ein Hilfs¬ 
zug brachte sie mit großer Verspätung nach F. Erst am Morgen 
des nächsten Tages traf sie zu Hause ein. Sie zeigte sofort die 
heftigsten Aufregungszustände, lachte und weinte abwechselnd, 
wenn sie die grausigen Erlebnisse zu schildern versuchte. 

Mittags um 1 Uhr sah sie ihr Arzt zum ersten Male; er 
fand sie in großer Erregung, ihre Stimmung wechselte in krank¬ 
hafter Weise: bald lachte sie, bald weinte sie. Vor Schwindel 



58 


Dr. Leop. Laquer, 


und Schmerzen in der Brust war ihr das Aufstehen sowie jede 
Tätigkeit unmöglich; sie mußte bis zum Tage meiner Untersuchung 
ständig die Bettruhe innehaiten; zeitweilig nur konnte sie das 
Bett verlassen und einige Stunden auf dem Sofa verbringen. Ihr 
seelisches und körperliches Befinden schwankte zwar, doch herrschte 
ziuneist depressive Stimmung vor. 

So oft man auf den Eisenbahnunfall zu sprechen kam, 
zitterte ihr ganzer Körper, die Zähne klapperten, sie stockte dann 
hie und da in der Erzählung und stierte in eine Ecke. Ihr 
Appetit und Schlaf waren sehr mangelhaft; sie konnte nicht allein 
sein; große Angst befiel sie, wenn sie allein gelassen wurde, be¬ 
sonders wenn sie im Dunkeln war. Oft fing sie dann laut an zu 
schreien und es trat heftiger Schweißausbruch ein. Ihre Gesichts¬ 
farbe veränderte sich leicht; sie war bald kreidebleich, bald tiefrot 
im Gesicht. Jegliche Unterhaltung strengte sie an; im Bett und 
nur von ihren nächsten Angehörigen umgeben, fühlte sie sich am 
wohlsten. In ihrer Ernährung war sie etwas zurückgegangen. 
Die Menses waren 10 Tage zu früh gleich nach dem Unfall ein¬ 
getreten und waren damals und auch später noch sehr kopiös. 

Körperlich war am Tage nach dem Unfall außer einer 
Schmerzhaftigkeit und einer leichten Schwellung der 6. und 7. 
Rippe links sowie einer starken Herzerregung und einzelnen Druck¬ 
punkten an den Wirbeln kein wesentlicher Befund zu erheben. 

Dieser Zustand wurde ärztlicherseits als eine direkte Folge 
des Unfalls angesehen. Der Hausarzt gab folgende» Gutachten 
ab: Bedeutender Nervenshok mit Zittern durch den ganzen 
Körper, bebender Sprache, starkem Kopfschmerz, Verwirrung der 
Gedanken neben einer Fraktur der 5. und 6. linken Rippe in der 
vorderen Axillarlinie. Dieser Zustand hatte sich, abgesehen von 
der Heilung der Rippenfraktur, bisher nicht wesentlich geändert. 

Am 16. Dezbr. 1908, also 3 Monate nach dem Unfälle, konnte 
ich folgenden Befund erheben: Pat. lag zu Bette. Sie klagte noch 
immer über Kopf- und Rückenschmerzen, sowie über solche in der 
linken Seite, die 5. und 6. Rippe sind noch immer etwas druck¬ 
schmerzhaft und in der AxiUarlinie leicht Verdickt. Die Schmerzen 
strahlen nicht nur nach beiden Schultern aus, sondern wandern 
auch in der Form vager Neuralgien in anderen Körperteilen, in 
den oberen und unteren Extremitäten usf. herum. Die Patientin 
hat wenig Appetit, der Schlaf ist noch sehr unregelmäßig, der 
Stuhlgang aber wieder geregelt. 

Solange unsere erste Untersuchung dauerte, durchschüttelte 
den ganzen Körper der Patientin ein heftiges Zittern, die Zähne 
klapperten und sie war nicht imstande, über die Einzelheiten des 
Unfalls und über ihre Beschwerden in zusammenhängender Form 
Auskunft zu geben. Sie befand sich also immer noch in einem 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


59 


Zustand großer Erregung und ängstlicher Hemmung ihrer (ife- 
danken. 

Ihre Allgemeinernährung war eine mäßige, Haut und Schleim¬ 
häute ziemlich blaß, Augen- und Gesichtsmuskeln funktionierten 
gut, Pupillen waren beide gleich weit und von guter Reaktion, 
die Artikulation ungestört. Lähmungen der Gliedmaßen und 
Störungen der HautempAndung fehlten, über Parästhesien wurde 
nicht geklagt. Die Kniereflexe erschienen lebhaft. Die Men¬ 
struation und Blasenfunktion verliefen ohne Besonderheiten. Die 
Ovarialgegend ist nicht überempfindlich. Der Urin war frei von 
Eiweiß und Zucker. 

Nachdem wir in der Untersuchung eine etwa i /2 8tündige 
Pause gemacht und uns zur Beratung zurückgezogen hatten, war 
die Patientin inzwischen ein wenig ruhiger geworden und konnte sich 
etwas freier und leichter äußern. So war es uns dann weiter noch 
möglich festzustellen, daß Gedächtnis, Auffassung, Reproduktion 
und Urteilsbildung durch den Unfall nicht beeinträchtigt worden 
waren, daß zwar tiefe Depression, aber keinerlei hypochondrische 
Uebertreibung der Beschwerden bestand; ein Verdacht auf 
Simulation war nicht anzunehmen. Wir kamen zu dem Schluß, 
daß die Pat. von dem Eisenbahn Unfall vom 24. Oktober 08 einen 
leichten Bruch der 5. und 6. Rippe und eine schwere traumatische 
Hysterie davongetragen hat. 

Da die Verletzte bis kurz vor dem Unfall vollkommen arbeits¬ 
fähig gewesen ist und nie ein wesentliches Leiden zeigte, so ist 
mit Gewißheit anzunehmen — so äußerte ich mich gemeinsam mit 
ihrem Hausarzte —, daß die Knochenverletzung durch den Anprall 
gegen die Wand des Wagens, die Hysterie aber durch den Schreck 
beim Anblick der Trümmer, der verwundeten und getöteten Menschen 
entstanden ist. Die Emotion war um so schwerer, als sie nach 
Erwachen aus dem Schlaf eingesetzt hatte. 

Die Pat. ist infolge des geschilderten Nervenleidens jetzt als 
völlig erwerbsunfähig anzusehen. Sie kann dem Haushalt bezw. 
der Führung einer Pension oder eines Hötels, die ihren Lebens¬ 
beruf ausmachen und zur Unterstützung und Erhaltung ihrer 
Familie dringend nötig sind, sich nicht widmen. Es kann noch 
viele Monate, ein Jahr und länger dauern, ehe die Verletzte dieser 
ihrer früheren Tätigkeit wiedergegeben sein wird; doch ist das 
Leiden besserungs- bezw. heilungsfühig. 

Dringend möchte ich davon abraten, daß die Patientin in 
eine Heilanstalt gebracht werde, denn ich fürchte, daß bei der Art 
der Erkrankung und der Individualität der Verletzten eher ein 
verschlimmernder als ein bessernder Einfluß von der Anstaltsbehand¬ 
lung zu erwarten sein dürfte. Die Mntter, die sie pflegt, ist eine 
ruhige vernünftige Frau, die sich sehr gut zur Pflege der Kranken 



GO 


Dr. Leop. Laquer, 


eignet und günstig d. h. beruhigend auf ihre Stimmung zu wirken 
vermag. Ferner ist für die äußere Ruhe der Kranken aufs beste 
gesorgt, da das Haus, in dem die aus vier Personen bestehende 
Familie wohnt, in einem großen Garten liegt und das Bad S. an 
sich im Winter, wo keine Kur gehalten wird, ein außerordentlich 
stiller Ort ist. Wenn irgendwo, so kann die Patientin gerade 
unter diesen sozialen und örtlichen Verhältnissen völlige Heilung 
ihres Leidens erreichen. 

Was aber die Verstimmung der Verletzten aufrecht erhält 
und fördert, ist die auf traumatisch-hysterischer Grundlage sich 
von Tag zu Tag mehr entwickelnde Sorge um ihre eigene Existenz 
und um die ihrer Angehörigen, deren Stütze sie bisher gewesen ist. 
Zwei Brüder sind ebenfalls durch Unfälle im Erwerb 
in erheblichem Grade beschränkt. 

Der von der Eisenbahndirektion bereits ausgesprochenen Ab¬ 
sicht, daß im Interesse der Verletzten eine baldige Regelung der 
Entschädigungsansprüche und zwar möglichst in Form einer Ab¬ 
findung angestrebt werden solle, schließe ich mich an. Meine gut¬ 
achtlichen Erfahrungen haben mich überzeugt, daß in solchen Fällen 
die Abkürzung des Rentenverfahrens und die Beseitigung der 
Sorgen um die Zukunft das Auf tauchen und Anwachsen krankhaft 
übertriebener „Begehrungsvorstellungen“ am ehesten verhindert, 
während die Bestimmung und Festsetzung einer Rente mit 
aufregenden Untersuchungen, gerichtlichen Verhandlungen usw. 
die Heilungsaussichten wesentlich verschlechtert, immer wieder 
Rückfälle auslöst, — ja oft zu unheilbaren Dauerzuständen nervöser 
Natur führt. 

Es ist dabei zu berücksichtigen, daß der Unfall der Pat. 
gerade in einen Abschnitt ihres Lebens fiel, der ohnedies eine Tieit 
des Zweifels und der schweren Sorge um das weitere Schicksal 
ihrer Familienangehörigen gewesen ist; denn die bisherige aus¬ 
sichtsvolle Erwerbsquelle war ihrer Mutter durch den Verkauf des 
Hauses, wo sie bisher mit großem Erfolge eine Pension betrieben 
hatte, abgeschnitten worden. 

Pat. empfing darauf 12000 Mark. 

Katamnese. 

Zwei Jahre nach dieser Begutachtung berichtete der Haus¬ 
arzt, daß die Verletzte sich von dem Eisenbahnunfall ganz gut 
erholt habe. Sie habe einen Winter unmittelbar nach dem 
Unfall bei Verwandten am Rhein zugebracht, sei dann wieder 
arbeitsfähig geworden, so daß sie im zweiten Jahre nach dem 
Unfall in einem Badeorte wieder einer Kurpension vorstehen 



Die Heilbarkeit nervöser Uiifallsfolgen. 


ßl 


konnte und sich durch häusliche Arbeit betätigte. Sie bildet 
sich jetzt zur Sängerin ebenfalls mit gutem Erfolge aus. 

Wenn auch in dem letzten Falle eine früher gesunde, 
jugendkräftige leistungsfähige Person in Frage kam, während 
in dem anderen Falle eine psychopathische Hysterika den Un¬ 
fall erlitt, so hat doch in beiden Fällen der Unfall weniger 
körperliche Folgen ausgelöst, als soziale Mißver¬ 
hältnisse geschaffen; denn beidemal stand in der Tat das 
weitere Schicksal einer unverheirateten Frauensperson in Frage, 
die für die Familie, die ohnehin ihr knappes Auskommen hatte, 
selbst nicht mehr mit erwerben konnte, ja den anderen zur 
Last zu fallen drohte. 

Hier war es nicht nur eine Sache des ärztlichen Mitleids, 
sondern eine ärztliche Berücksichtigung realer Verhältnisse, wenn 
man die Psyche der Patientin als durch den Unfall geschädigt 
ansah und in diesem Sinne das Bestehen einer Unfallsneurose 
im weitesten Sinne des Wortes anzunehmen berechtigt war. 

Etwas anders steht es mit einer größeren Reihe von mehr 
oder minder begüterten Kaufleuten, die eine relativ große Ab¬ 
findungssumme erhalten haben. Bei ihnen war zur Vermei¬ 
dung des Prozesses und seiner schlimmen Folgen für die Psyche 
der Verletzten eine Abfindung mit Kapital für den ein¬ 
zigen Ausweg angesehen worden, um möglichst bald 
die ünfallsneurose, die schon Tausende an Kur¬ 
kosten nutzlos verschlungen hatte, aus der Welt 
zu schaffen. 


Fall XI. 

Ara 31. Mai 1909 abends befand sich ein 38jähriger Frucht¬ 
händler auf der Reise. Während der Zug auf einer Station hielt, 
soll eine Maschine derart auf den Zug aufgefabren sein, daß die 
Fahrgäste von den Sitzen geschleudert wurden. Der betr. Patient 
schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wagenwand, gleichzeitig 
sollen ihm einige im Gepäcknetz untergebrachte Gepäckstücke auf 
den Kopf gefallen sein. 

Kurz darauf klagte er über Unwohlsein, später trat Erbrechen 
ein; als er zu Hause ankam, ging er sogleich zu Bett. Das Er- 
l^rechen ließ jedoch nicht nach; der Arzt mußte in der Nacht noch 
gerufen werden. Dieser stellte am 2. Juni 09 folgendes ärztliches 



62 


Dr. Leop. Laquer, 


Zeugnis aus; X. leidet an einer mitteischweren Gehirnerschütterung, 
die, nach seinen Angaben zu schließen, dadurch entstanden ist, 
daß ihm bei einem Eisenbahnunfall schwere Gepäckstücke auf den 
Kopf fielen. 

Es handelte sich nach den Erhebungen der Eisenbahnverwal¬ 
tung bei dem Unfall um eine kleine und leichte Verwundung der 
Haut über dem Auge, die wahrscheinlich durch ein herunter¬ 
fallendes Gepäckstück bei einem kleinen Ruck des Wagens beim 
Bremsen veranlaßt worden war. 

Am 19. Juli 09 begab sich Patient in eine Anstalt. Ueber 
die dort gemachten Beobachtunjgen heißt es u. a.: 

Patient stammt aus einer gesunden Familie, behauptet vor 
dem Unfall immer gesund, auch Soldat gewesen zu sein. Er gab 
weiter an, daß er gleich nach dem Unfall vergeblich zu arbeiten 
versucht habe. 

Bei seiner Ankunft war er in hohem Grade erregt; sein Ge¬ 
sichtsausdruck war angstvoll und gespannt. Er klagte über starke 
Kopfschmerzen, die im Hinterkopf nach vorn und die Stirn aus¬ 
strahlten und die so arg seien, daß er seinen Hut keine 10 Minuten 
auf dem Kopf behalten könnte. Weiterhin bestand heftiger 
Schwindel, der es ihm unmöglich machte, sich zu bücken. Er sei 
aufgeregt und ängstlich, wenn man etwas zu ihm sage, über¬ 
empfindlich gegen alle Geräusche. Ferner habe er Neigung zu 
heftigem Schwitzen und ein Gefühl von Taubsein in den Fingern. 
Der Appetit sei mangelhaft, der Schlaf sehr schlecht, beim Ein¬ 
schlafen schrecke er heftig zusammen. Außerdem bestehe dauernd 
starke Müdigkeit in allen Gliedern. 

Weder bei der Aufnahme noch später bei häufig wiederholten 
Untersuchungen waren wesentliche krankhafte Veränderungen ob¬ 
jektiver Art aufzufinden. 

Patient erschien als ein untermittelgroßer, dabei aber sehr 
kräftig gebauter Mann von gesundem Aussehen und gutem Er¬ 
nährungszustände. Linke Pupille war eine Spur breiter als die 
rechte, die Reaktion auf Lichteinfall beiderseits vollkommen. Beim 
Ausstrecken der Arme imd Spreizen der Finger trat Zittern ein, 
rechts mehr als links. Beim Stehen mit geschlossenen Augen 
schwankt der Kranke, anfangs mehr, dann weniger. Bei Prüfung 
der Kniesehnenreflexe zuckte der Kranke lebhaft mit dem ganzen 
Körper zusammen, ebenso bei Prüfung der Berührungsempfindlich¬ 
keit am Rumpf, während sie am Unterschenkel herabgesetzt zu 
sein erscheint (?). 

Patient brachte in der Anstalt jeden Tag etwas neues Krank¬ 
haftes vor. Gegen die einzelnen Beschwerden erschienen die an¬ 
gewandten Behandlungsmethoden fast machtlos. Berichtete er aus¬ 
nahmsweise mal, daß es ihm besser gehe, so pflegte er dieses 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


63 


sofort einzuschränken, indem er über die eine oder andere nervöse 
Empfindung, meist Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit klagte. 

Diese Beschwerden waren außerdem noch vergesellschaftet 
mit einer seelischen Hyperästhesie,, d. h. der Kranke empfindet 
seine Beschwerden psychisch viel stärker als körperlich. Seine 
Schilderungen machen daher den Eindruck des Uebertriebenen. 
Jeder unangenehme Eindruck verstärkt die subjektiven Beschwerden. 
Nach einem solchen schrieb er einmal an seine Frau einen recht 
konfusen Brief, in dem er u. a. Selbstmordgedanken äußerte. 
Dabei konnte er zu anderen Zeiten ganz aufgeräumt sein. War 
ein Arzt in seiner Nähe, so machte er immer einen scheuen un¬ 
sicheren Eindruck. 

Er hat infolge des Unfalls eine leichte Gehirnerschütterung 
erlitten. Ein organisches Leiden ist auszuschließen. Die Form 
seiner nervösen Beschwerden, die Art, wie er seine Klagen an¬ 
bringt, die Neigung zur Uebertreibung, die Zunahme körperlicher 
Symptome während der Untersuchung und die gereizte hypochon¬ 
drische Stimmung, die stets eintritt, sobald von seiner Krankheit 
die Rede ist, sprechen dafür, daß Patient an einer traumatischen 
Hysterie leidet. Es war durch die Behandlung eine wesentliche 
Besserung herbeigeführt worden, die Erwerbsfähigkeit wurde 
schließlich auf 66^8 % geschätzt und eine völlige Wiederher¬ 
stellung für möglich gehalten. 

Am 10. Februar 1910 bescheinigte Professor Dr. S., daß Patient 
an einer traumatisch bedingten Psycho-Neurose leidet. Trotz der 
vorausgegangenen Anstaltsbebandlung war der Befund am 13. Januar 
1910 noch so, daß Prof. S. eine weitere spezialärztliche Behandlung 
außerhalb der Heimat für erforderlich hielt. Dabei erschien ihm, 
um rasches Eintreten von Heimweh zu verhindern und wegen der 
sich manchmal steigernden Aengstlichkeit des Patienten Begleitung 
durch seine Frau angebracht. 

Am 19. Januar 1910 trat Patient in Beobachtung und Behand¬ 
lung von Dr. H., Nervenarzt zu W. Dieser führte die bestehende 
Nervenkrankheit auf die Kopfverletzung in der Eisenbahn zurück 
und sah sie auch für Hysterie an; er hielt damals den Verletzten 
für völlig erwerbsunfähig. Seine hauptsä(*-hliebsten Klagen waren 
bei Dr. H. andauernder Kopfdruck, links stärker als rechts, Flim¬ 
mern vor den Augen, wenn er etwas scharf ansehen will, andauern¬ 
des Gefühl von Angst und Unruhe, Unfähigkeit seine Gedanken 
zu konzentrieren und längere Zeit zu lesen o<ler zu schreiben. Es 
herrschen ferner anhaltend trübe Gemütsstimmung und der Gedanke 
vor, daß er seine Familie nicht mehr ernähren könne und daß 
er körperlich und wirtschaftlich zugrnn'le gehen müßte. Auch 
treten Selbstmordideen auf bei großer Uebeiempfindlichkeit gegen 
'Geräusche und Schreckhaftigkeit, an Schwindelempfindungen und 



64 


Dr. Leop. Laquer, 


unruhigem Schlafe, Kälte der Füße und großer körperlicher Er¬ 
müdbarkeit. 

Die körperliche Untersuchung ergab normale Pupillenfunktioi., 
einen mittleren Grad von Einengung des linken Gesichtsfeldes, 
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit besonders der linken 
Körperhälfte, Quaddelbildung bei Nadelstichen, Ueberempfindlichkeit 
des behaarten Schädels bei Klopfen. Bei Fuß- und Augenschiuß 
tritt starkes Schwanken ein, Vermehrung der Gesichtsröte und 
Schwindelgefühl beim Bücken. Der Puls schwankt zwischen 64 
und 92. Sonst war kein objektiver Befund zu erheben. 

Dr. H. gewann im Laufe der Behandlung den Eindruck, 
daß Patient unter seinen nervösen Beschwerden tatsäch¬ 
lich schwer leidet, allen Lebensmut verloren hat und außerstande 
ist, sich irgendwie ernsthaft zu beschäftigen. Alle Versuche des 
Arztes, den Patienten zu einer, wenn auch nur kurz dauernden 
Beschäftigung zu bewegen, scheiterten daran, daß er jedesmal nach 
höchstens 10—15 Minuten wegen enorm sich steigernder Kopf¬ 
schmerzen aufhören zu müssen erklärte. In der Tat wurde dabei 
sein Kopf immer dunkelrot. 

Der Schlaf war trotz vielfacher Mittel andauernd mangelhaft, 
währte höchstens 4—5 Stunden. Nachts stand er häufig auf, war 
meist aufgeregt, sah schwarze Gestalten etc. 

Dr. H. hielt eine organische Veränderung des Hirns für aus¬ 
geschlossen, nahm aber als Unfallsfolge „Hysterie“ an. Er hielt den 
Patienten für arbeitsunfähig, eine Besserung der Krankheit aber 
für möglich. 

Am 2. Juni 1910 stellte Dr. H. eine Besserung des Patienten 
fest, empfahl aber zur weiteren Förderung seines Befindens einen 
Aufenthalt in waldiger Höhenlage. Patient hielt sich dann 4 
Wochen in Luzern auf, kehrte am 9. August zurück und trat am 
27. August 1911 in meine Beobachtung und Behandlung. 

Aus der Auskunft einer Behörde war zu ersehen, daß die 
Aussagen des Patienten mit gewisser Vorsicht aufzu¬ 
nehmen sein dürften. 

Bei der eigenen Untersuchung erschien die Anamnese ohne Be¬ 
lang. Pat. fügte zur Schilderung des Unfalles noch hinzu, daß der 
Koffer, der ihm aus dem Gepäcknetz auf den Kopf fiel, mit einigen 
Flaschen Wein gefüllt und deswegen sehr schwer gewesen sei. Blutung 
aus Nase und Ohr sei nicht eingetreten, dagegen habe sich eine 
kurze Bewußtlosigkeit an die Verletzung angeschlossen. 

Jetzt sei wieder eine Verschlimmerung seiner nervösen 
Be.schwerden eingetreten, seitdem er von der Schweiz in seine 
Heimat zurückgekehrt wäre: Kopfdruck, Angstgefühle und große 
Ermüdbarkeit belästigten ihn derart, daß er vollständig arbeits- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


65 


unfähig sei und allen Lebensmut verloren habe. Er hätte sein 
Geschäft, das sich auf den Ein- und Verkauf von Getreide und 
von Mühlenfabrikaten erstreckte, vollständig aufgeben müssen, 
weil es die Frau allein nicht fahren konnte. Er habe für nichts 
Sinn, blättere nach Angaben seiner Frau stumpfsinnig den ganzen 
Tag in einem Buche, schlafe sehr unruhig, müsse nachts oft wegen 
der Unruhe das Bett verlassen und im Zimmer auf- und abgehen. 
Wenn er 10 Min. laBlg wirklich etwas lese oder sich kurze Zeit mit 
seinen Geschäftsbüchern beschäftige, bekomme er Flimmern vor den 
Augen und Schwindelempfindung. Er könne seine Gedanken nicht auf 
die Arbeit konzentrieren und lebe fortwährend in der Angst, seine 
Familie nicht mehr ernähren zu können. Die Klage über kalte 
Füße, große Ueberempfindlichkeit gegen Geräusche und eine ge¬ 
wisse Schreckhaftigkeit halten ebenfalls noch an. 

Der objektive Befund war ein sehr geringer: Patient ist ein 
wohlgenährter, untersetzter Mann mit starker Muskulatur und gutem 
Fettpolster und zeigt ein auftällend gerötetes Gesicht. Der Schädel 
ist auf Beklopfen etwas überempfindlich. Sein Gang auf der 
Straße ist ein ungemein rascher, seine Haltung ist eine aufrechte 
und stramme; bei geschlossenen Augen tritt leichtes Schwanken 
ein, beim Bücken nach vom wird die Gesichtsröte etwas dunkler 
und es tritt leichtes Schwindelgefühl auf. 

Weder in der Funktion der Pupillen noch in den sprachlichen 
Aeußerungen und in der Beweglichkeit der Gesichtsmuskulatur 
ist irgendeine krankhafte Abweichung von der Norm zu bemerken. 
Ebensowenig habe ich Lähmungserscheinungen der Muskel an den 
Gliedmaßen und an dem Rumpfe, noch halbseitige Empfindungs- 
Störungen festzustellen vermocht. Eine Spur von Zittern tritt ein, 
wenn Patient bei ausgestrecktem Arm die Finger spreizt. 

Bei der Prüfung der Hautempfindung machen alle Angaben 
des Patienten, daß er gar keine Empfindung, weder für leichte 
Pinselstriche noch für Nadelstiche, für Warm und Kalt habe, den Ein¬ 
druck offenkundiger und absichtlicher Uebertreibung. 

Im übrigen bestehen noch weitere subjektiv wechselnde und 
schwankende Beschwerden, wie sie vielfach vorher schon ge¬ 
schildert sind. 

Meine endgültigen gutachtlichen Schlüsse lauteten: 

Patient ist am 31. Mai 1909 bei einer Eisenbabnfahrt verletzt 
worden: Durch Anschlägen des Kopfes an die Hinterwand des 
Wagens bezw. durch Verletzung des Scheitels, auf den von oben 
her ein Koffer gefallen sein soll, hat sich eine mittelschwere Ge¬ 
hirnerschütterung entwickelt. Ein Schädelbruch ist nicht entstan¬ 
den. Blutungen aus Nase und Ohr haben gefehlt, nur eine kleine 
blutende aber unbedeutende Hautwunde, sowie eine in der Nacht 
nach dem Unfall aufgetretene Brechneigung waren die Zeichen dc.r 



66 


Dr. Leop. Laquer, 


stattgehabten Kopfverletzung mit Hirnerschütterung. Die näheren 
Umstände bei dem Unfall, auch die Dauer der Bewußtlosigkeit, die 
Patient erwähnt, konnten durch das Fahrpersonal oder durch ein¬ 
wandsfreie Zeugen nicht mit Sicherheit festgestellt werden. 

Dagegen ist unmittelbar nach dem mehrfach in den Akten 
geschilderten Eisenbahn-Unfall ein Nervenleiden entstanden, das 
sowohl von Professor S. wie von Dr. M. und Dr. H. als eine 
Psycho-Neurose mit wesentlich hysterischen Symp¬ 
tomen-Komplexen angesehen wurde. 

Ein wesentlicher objektiver Befund ist während der ganzen 
Dauer der Erkrankung, also innerhalb von IV 2 Jahren, nicht er- 
Jioben worden. 

Es erübrigt sich eine wiederholte Aufzählung all der Kopf- 
Sensationen, über die der Patient zu klagen hat. Wesentlich er¬ 
scheinen jetzt nur die Angstzustände, die nervöse Unruhe, 
Schlaflosigkeit sowie angebliche Selbstmordgedanken, auch die 
geistige Ermüdbarkeit und die mangelhafte Fähigkeit, sich zu 
sammeln und bei der Arbeit auszuhalten, die den Patienten, wie 
er angibt, arbeitsunfähig machen. 

Alle Gutachter ohne Ausnahme sind einig in der Auffassung 
<les vorliegenden Krankheitsbildes. Der Verletzte erscheint ihnen 
allen’als ein Mann, der an einer Unfallsneuro^e leidet. Ich muß 
mich darin ihnen anschließen. 

Nicht übereinstimmend lauten die Ansichten der bisherigen 
Beobachter über die Bewertung der Unfallsfolgen. 

Da müssen nicht bloß die Neigung zur Uebertreibung, die alle 
hysterische Personen in der gleichen Weise wie Patient darbieten, 
in Betracht gezogen werden, sondern auch die gegenwärtig immer 
mehr zur Geltung kommende ärztliche wissenschaftliche Anschau¬ 
ung über die Natur derartiger nervösen Unfallsfolgen. 

Nach meiner Eri'ahrung gilt es für mich als sicher, daß zahl¬ 
lose Kranke mit schwersten hysterisch-neurasthenischenBeschwerden, 
die unter den peinlichsten körperlichen Empfindungen Jahrzehnte 
lang zu leiden haben, trotzdem vollkommen ihre Pflicht tun und 
mit Ueberwindung der Klagen ihrem Berufe nachgehen und ihre 
Familie ernähren. Es ist für mich darum zweifellos, daß auch 
Patient, ein körperlich sehr kräftiger Mensch, der immer gesund 
war und seiner Militärpflicht genügt hat, sehr wohl in der Lage 
ist, trotz seiner Beschwerden, mindestens die Hälfte seines früheren 
Einkommens zu verdienen, sei es, daß es jährlich nur 1400 Mark 
betrug, wie die Steuerbehörde angibt, sei es, daß er sich selber 
5000 Mark aus seinen Büchern herausrechnen will. 

Aus den bisherigen Beobachtungen ergibt sich ferner keinerlei 
Anhaltspunkt, daß bei dem Patienten sich infolge des Unfalls 
eine Gefäßverkalkung im Gehirn früher ausbilden könnte als bei 



Oie Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


67 


Jedem andern kräftigen und nicht belasteten Menschen, wenn er 
nicht Trinker oder Syphilitiker war. Die vasomotorische Erregbar¬ 
keit des Kopfes beim Bücken und beim Versuchen geistig zu 
arbeiten ist eine häufige Erscheinung bei Unfallshysterikern; sie 
ist rein psychisch bedingt und funktioneller Natur. Ich sehe 
jsie sehr häufig bei jugendlichen Neurasthenikern, ohne daß sie 
auch nach Jahr und Tag zur Ausbildung einer Hirn Verkalkung 
führt. 

Endlich machen die Selbstmordideen, die der Patient weniger 
Tor dem Arzt wie vor seinen Angehörigen vorbringt, nicht den 
Eindruck, als ob es sich hierbei um eine ernstere melancholische 
Depression handelt. Die Klopfempfindlichkeit, das Schwanken 
bei Augenschluß und Erhöhung der Pulsfrequenz sind ebenfalls 
nicht als ungekünstelt und einwandsfrei aufzufassen, sie stellen 
sich leicht ein, wenn Verletzte, wie in diesem Falle, häufig daraufhin 
untersucht werden. 

Aus allen diesen Gründen lautet mein Gutachten dahin, daß Pat. 
jetzt nur noch um höchstens 50 % seiner Erwerbsfähig¬ 
keit geschädigt ist. Den wissenschaftlichen Erfahrungen gemäß 
und nach dem persönlichen Eindruck, den Patient auf den Gut¬ 
achter bei seinen wiederholten Besuchen gemacht hat, wird er nur 
noch etwa 3 Jahre lang in diesem G rade beeinträch tigt 
sein. 

Irgendein Anhaltspunkt für Abkürzung seines Lebens durch 
den Unfall und seine Folgen ist nicht anzunehmen. 

Endlich komme ich auch hier nach Erwägung aller ärztlichen 
und sozialen Momente zu der Ansicht, daß die Heilung der Psycho- 
Neurose bei Patient um so eher eintreten wird, je schneller die 
Verhandlungen über das Rentenfestsetzungsverfahren zum Abschluß 
kommen. 

Patient wird, wie so viele Rentenhysteriker, die von mir 
untersucht, und dann durch ein Kapital abgefunden worden sind — 
ohne daß ein Rentenprozeß geführt wurde —, nachdem er sein 
Geld erhalten hat, sehr bald die Arbeit wieder aufnehmen und von 
seiner Unfallhysterie genesen. 

Patient empfing darauf 30 000 Mark als Abfindung! 

Katamnese. 

Der Bürgermeister des Heimatsortes teilte im Juni 1911 
auf offizielle Anfrage mit, daß der Verletzte, nachdem er 
abgefunden war, den Fruchthandel und zwar mindestens 
in dem früheren Umfange wie vor seinem Unfall betreibt. 



6a 


Dr. Leop. Laquer, 


Fall XII. 

Ein 40 Jahre alter Eaufmano, der bei einem Eisenbahn¬ 
unfall keine äußerlichen körperlichen Verletzungen dayontrug, 
erlitt einen großen, wesentlich durch den Anblick einer des Kopfes 
beraubten Leiche hervorgerufenen Schreck, als er eben seinen 
Wagen verlassen hatte. Es war das im Jahre 1907; er wurde 
dann in verschiedenen Nervenanstalten beobachtet und trat im 
April 1908 in meine Beobachtung. Als nervöse Unfallsfolgen 
bestanden noch Stimmungswechsel, Arbeitsunlust, allgemeine Er¬ 
müdbarkeit, Schlafmangel, Zittern und Taubheit der Hände, 
zeitweilige Steigerung der Pulsfrequenz bis auf 120 Schläge, 
Spuren von Eiweiß und Zucker, endlich auffälb'ge Schlängelung der 
Temporales, die die verschiedenen Beobachter zu der Annahme eines 
Atheroma praecox veranlaßten. Auch hier fehlten sonstige objek¬ 
tive Befunde vollkommen. 

Es handelte sich um einen außerordentlich regsamen, intelli¬ 
genten Mann, dessen Nervensystem infolge von Spekulations- 
Geschäften schon vor dem Unfall eine reizbare Schwäche aufwies, 
wie sie vielen Kaufleuten, die solchem Berufe nachgeben, 
eigentümlich ist; im vorliegenden Falle kamen noch häusliche 
emotionelle Momente hinzu, welche die Heilung der Unfallsfolgen 
verzögerten. 

Er verlangte eine Entschädigung von Million von der 
Eisenbahnbehörde, da er nachwies, daß er kurz vor dem Unfall 
die Vertretung einer großen auswärtigen Firma zu erhalten im 
Begriffe stand, die ihm voraussichtlich jährlich eine Einnahme Von 
20 — 25000 Mark eingebracht hätte. 

Von den Gutachtern war 60% Invalidität angenommen worden. 

Pat. empfing als Abfindung 140000 Mark. 

Katamnese. 

Eine neue Regelung widriger familiärer Verhältnisse erfolgte 
seinerseits unmittelbar nach Auszahlung der Vergleichs¬ 
summe. Die dadurch geschaffenen neuen Zustände im Leben 
des Verletzten verbunden mit einem Ortswechsel hoben seine 
Stimmung in erheblichem Grade. Jedenfalls hat Pat. schon 
seit einigen Jahren seinen kaufmännischen Betrieb zusammen mit 
seinem Bruder wieder aufgenommen, klagt zwar noch über 
Nervosität, ist aber in sozialem Sinne als geheilt anzusehen. — 
Da er auf grund seiner kaufmännischen Tätigkeit besonders 
wegen des spekulativen Geschäfts an der Börse den gleichen 
Gemütserregungen ausgesetzt ist, wie vor dem Unfall, werden 
seine nervösen Klagen kaum je verschwinden. 



69 


Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen. 

Fall XIII. 

Ein 26jähr. Verkäufer, ohne erbliche Belastung, ein schmaler, 
-wenig muskulöser, mangelhaft ernährter Mann, hat sich stets guter 
Gesundheit erfreut, leugnet eine luetische Infektion und jeden 
Mißbrauch von Alkohol. Pat. batte am 1. Okt. 1904 einen Eisen¬ 
bahnunfall dadurch erlitten, daß beim Zusammenstoß eines Schnell¬ 
zuges mit einem Eilgüterzug der Wagen, in dem er saß, zur Ent¬ 
gleisung kam. Pat. stand gerade am Fenster, als der Güterzug 
sich seinem Eoupee zu nähern schien. Da er ein Krachen hörte, 
geriet er in Angst, öffnete die gegenseitige Tür und sprang zum 
Wagen hinaus. Der Zusammenstoß hatte nur unwesentlichen Ma¬ 
terialschaden verursacht. Pat. wurde dann mit anderen Insassen, 
die nach ihm in aller Ruhe ausgestiegen waren, im Packwagen 
weiter befördert. 

Aeußere Verletzungen hatte er nicht erlitten, aber der Schrecken, 
der ihn befiel, war recht groß gewesen: Starke Kopf- und Rücken- 
scbmerzen sowie ein Zittern in den Beinen, namentlich in den. 
Unterschenkeln waren sofort eingetreten. Den folgenden Tag, der 
auf einen Sonntag fiel, brachte er im Bette zu, nahm dann aber 
gleich die Arbeit wieder auf. Trotzdem er sich in seinem geschäft¬ 
lichen Berufe schonen konnte und nur einen halben Tag zu arbeiten 
brauchte, wurde sein Schlaf unruhig; es trat nach geistiger und 
köiperlicher Arbeit leicht Ermüdung ein und der Appetit nahm ab. 

Acht Tage nach dem Unfall hatte er eine schwere Gemüts¬ 
erschütterung, als seine Schwester, die im jugendlichen Alter stand, 
in wenigen Tagen einer Lungenentzündung erlag. 

Die schon genannten Beschwerden hielten Monate lang mit 
vielen Schwankungen an; der Verletzte war oft sehr verstimmt, 
arbeitete aber weiter fort, weil die Weihnachtszeit die Anspannung 
aller seiner Kräfte erforderte. 

Erst im Januar 1905 konnte er meinem Rate folgen und zur 
Erholung einige Wochen im Süden zubringen, wodurch eine Besse¬ 
rung seines Allgemeinbefindens erreicht wurde. Als er die Arbeit 
■wieder aufnahm, war die Stimmung eine sehr gedrückte, die Er¬ 
müdbarkeit eine sehr große; das Zittern der Hände und der Er¬ 
nährungszustand wechselten: Auch Solbäder in N. brachten ihm 
im Frühjahr 1905 wenig Erleichterung. 

Traumatische Hysterie leichteren Grades mit neurasthenischeii 
Erschöpfungserscbeinungen war angenommen und die Erwerbs- 
beschränkung auf 33*/3 ®/o geschätzt worden. 

Da eine Vereinbarung auf gütlichem Wege zwischen der Eisen¬ 
bahnverwaltung und dem Anwalt des Verletzten erstrebt und ein 
gerichtliches Verfahren auf meinen Rat vermieden werden sollte, 
.sprach ich mich in meinem Gutachten für die Gewährung einer 



70 


Dr. Leop. Laquer, 


größeren Abfindungssumme aus; „denn auch hier würde wie bei 
vielen Unfällen nach meinen Erfahrungen die Beendigung des 
Zweifels über die Art der Entschädigung auf den Gemütszustand 
des Verletzten von heilsamstem Einfluß sein.“ 

Patient erhielt eine Abfindung von 5000 Mark, 
nachdem ein Kuraufenthalt an der Riviera vorausgegangen war, 
der 1740 Mark gekostet hatte. Der betreffende Arzt hatte ihn als 
geheilt entlassen. 


Katamnese. 

Patient hatte ein Einkommen von 2700 Mark und sollte 
einen Posten als Geschäftsführer in einem Zweiggeschäft be¬ 
kommen, als der Unfall sich ereignete. 

Im Frühjahr 1906, bald nachdem er in den Besitz des 
Kapitals gekommen war, begründete er mit einem andern zu¬ 
sammen in einer größeren Stadt ein Damen-Mäntelgeschäft. 

Es mag 'dahingestellt bleiben, ob die Sehnsucht nach 
Selbständigkeit eine jener Begehrungsvorstellungen war, die die 
Heilung der Schreckneurose verzögerte. Jedenfalls waren alle 
nervösen Störungen nach der Abfindung so weit zurückgegangen, 
daß er den Mut fand, sich selbständig an einem neuen größeren 
kaufmännischen Unternehmen zu beteiligen. 

Fall XIV. 

Ein 65jäbriger Händler erlitt am 16. September 1907 
einen Eisenbahn-Unfall, indem er in seinem Wagen sitzend über 
das Geleise fuhr und von einem Güterzuge angefahreu bezw. aus 
dem Wagen geschleudert wurde; das Gefährt ging in Trümmer. 

Der behandelnde Arzt Dr. F. von S. gab an, daß der Ver¬ 
letzte über Schwindel und Unvermögen zu geistiger Tätigkeit klage- 
und namentlich behaupte, nicht mehr iin Wagen fahren zu können: 
Sein Gehör habe sehr gelitten, sei aber in letzter Zeit wieder 
etwas besser geworden. Dr. P. glaubt, daß Pat. eine unbedeutende 
Gehirnerschütterung davongetragen habe und schließt dies aus dem 
von ihm behaupteten Umstande, daß er kimz nach dem Unfälle 
ohnmächtig gewesen sei. Der Bahnwärter, der die Schranke an der 
Unfallstelle zu bedienen hatte und der nach dem Unfälle sofort 
zur Stelle war, die.sen sogar mit ansah, bestreitet diese Ohnmacht. 
Erbrechen hat der Verletzte nicht gehabt und objektiv ließ sich 
auch nichts nachweisen. Puls und Sehnenreflexe seien in Ordnung 
und die Pupillen reagierten gut. 

Bei negativem objektivem Befund waren am ll.Febiuar 1908- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen 71 

als Unfallsfolgen noch vorhanden: Schmerzen, Sausen und Summen 
im Kopf und Schlafmangel. Von der Schwerhörigkeit, über die 
sich Pat. beschwerte, war nach ohrenärztlicher Untersuchung aii- 
zunehmen, daß sie größtenteils schon vor dem Unfälle be¬ 
standen hatfe. 

Die genannten Beschwerden 1 äugen zweifellos bis zu einem 
gewissen Grade mit dem Unfall zusammen, der zwar zu sehr ge¬ 
ringen äußeien Verletzungen, auch nach Aussage Dr. F.’s nur zu 
einer unbedeutenden Hirnerschtitterung führte, aber doch wohl — 
nach Art der begleitenden Umstände — zu einem sehr heftigen 
Schrecken Anlaß gegeben hatte. 

Solche nervöse Folgezustände gelangen nach Unfällen bei 
Leuten, die schon in höherem Lebensalter stehen und Altersver¬ 
änderungen im Zentralnervensystem, Blutgefäßen, Hirnnerven etc. 
zeigen, nicht selten zur Beobachtung. 

Pat. ist nach Aussage der Ortsbehörde und des Ohrenarztes 
zur Uebertreibung geneigt. Das ist bei Abmessung der durch 
den Unfall bedingten Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen. 

Der Pat. ist darum nach meiner Ansicht infolge der geschil¬ 
derten Beschwerden etwa um ein Drittel in seiner Erwerbefähig¬ 
keit beschränkt: ob diese Behinderung bei dem vorgerückten Alter 
desselben sich jemals ausgleichen wird, erscheint mir zweifelhaft. 
Der ärztlichen Voraussicht entzieht sich die Beantwortung der 
Frage, wie lange Pat. erwerbsfähig geblieben wäre, 
wenn er keinen Unfall erlitten hätte: Hat die Schwerhörig¬ 
keit auch vor dem Unfall bestanden, was nach Lage des Ohren¬ 
befundes walirscheinlich ist, so hätte sie vermutlich auch ohne 
den Unfall Fortschritte gemacht, und wenn auch langsamer, zur 
allmählichen Ertaubung des Pat. geführt. 

Ich emplelile auch bei diesem Unfälle eine einmalige Kapitals- 
Abfindung, da bei einem streitigen Verfahren vor Gericht all die 
Beschwerden im Laufe langwieriger Verhandlungen und Unter¬ 
suchungen wegen des Alters des Verletzten einen immer höheren 
Grad annehmen dürften. 

Der Verletzte erhielt 6500 Mark. 

Katamnese. 

Die Ortsbehörde schreibt: „Pat. steht im Alter von 69 Jahren. 
Sein Handelsgeschäft hat er an seine beiden erwachsenen 
Söhne abgegeben. Soweit hier festgestellt werden konnte, ar¬ 
beitet er selbst nicht mehr, wenn er auch ab und zu mal mit 
den Söhnen Uber Land fährt. Br lebt im Haushalt des ältesten 
Sohnes und dürfte seinen Lebensunterhalt im übrigen aus den 
Zinsen vorhandenen Kapitalvermögens bestreiten. Seine Ver- 



72 


I)r. Leop. Laquer, 


hältnisse sind geordnete. — Ob er sein Geschäft s. Z. nur mit 
Rücksicht auf die Unfallfolgen abgegeben hat. vermögen wir 
nicht zu beurteilen.“ 

Der Arzt schreibt: „Auf Ihre w. Anfrage vom 23. d. M. 
erlaube ich mir, Ihnen folgenden Bericht zu erstatten: Pat. 
versieht sein Geschäft als Viehhändler trotz seiner 69 J. noch 
mit größtem Eifer; man merkt ihm keine Krankheit mehr an; 
er hat mich auch nicht mehr konsultiert. Auf Befragen erklärte 
er mir, er spüre noch ab und zu Schmerzen im Hinterkopfe, 
sein Gehör sei schlecht (war schon vor dem Unfälle der Fall), 
auch leide er an Schwindel. Auf alle Fälle hat die 
Kapitalsabfindung sehr heilsam gewirkt.“ 

Fall XY. 

Der 41 jährige Kaufmann X. ist seit 20 Jahren etwa als 
Reisender angestellt, und ist verpflichtet, nahezu 11 Monate im 
Jahre auf der Reise tätig zu sein. — Seine 6 Kinder sind gesund. 
Er war nie dem Trünke ergeben, nie syphilitisch, ohne Belastung. 

Schon im März 1904 hatte er meinen Rat eingeholt wegen 
Aufgeregtheit, Schreckhaftigkeit, Kribbeln und Stechen im Kopf, 
in der Stirn und in den Augen, besonders nach angestrengter 
Tätigkeit. Er bot damals keinerlei wesentlichen objektiven Befund 
dar, insbe.sondere waren Pupillenfunktion, Sehnenreflex, Herz und 
Lunge normal befunden worden. Auch die Urinuntersuchung hatte 
weder Eiweiß noch Zucker ergeben. Nach geeigneter medikamentöser 
Behandlung und nach einem mehrwöchigen Kuraufenthalt in K. 
sind damals die genannten Beschwerden allmählich wieder be¬ 
seitigt worden. 

Am 16. April 1908 fuhr Pat. in einem Eilzuge von N. nach 
C. Plötzlich spürte er ein lautes Krachen, wie wenn der Zug 
gegen eine harte Mauer gestoßen wäre. Er wurde von seinem 
Sitze weggeschleudert und ging, da der Zug bald Stillstand, eiligst 
zur. Koupeetüre hinaus, weil er in der Furcht lebte, es könnte ein 
Unglück eingetreten sein. Der Zug hielt in C. Er war beim Aus¬ 
steigen wie abwesend. Dabei erblickte er ein Mädchen, das laut 
schrie und aus einer Stirnwunde blutete. Wie in der Benommen¬ 
heit hatte er seinen Koffer aus dem Wagen mitgenommen, suchte 
ihn dann längere Zeit, obwohl er auf dem Perron stand. Sein 
Schirm und sein Hut waren stark beschädigt — auch das hatte 
er nicht l>emerkt. Erst allmählich sammelte er sich wieder und 
fühlte jetzt auch Schmerzen im linken Ellbogen und linken Knie, 
die Verletzungen zeigten. Ein Gefühl der Schwere und des „Ge* 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


73 


schwoUeuseins“ machte dich in der Herzgegend geltend. Er ging 
ins Hotel, wo er immer zn wohnen pflegte. Dort flel den Hotel¬ 
angestellten, die ihn kannten, sein verstörtes Wesen und leichen¬ 
blasses Aussehen auf. Er ließ sich darauf in der Verbandstation 
des C.er Bahnhofs die Wunden an Arm und Bein verbinden und 
fuhr nach einem etwa vierstündigen Aufenthalt in C., wo er zwar 
geschäftlich tätig sein wollte, sich dazu aber nunmehr wegen Auf¬ 
regung und Wundschmerzen unfähig fühlte, nach F. zurück. 

Am nächsten Tage ließ er sich seinen Hausarzt rufen, 
der ihm auch ein Zeugnis ausstellte. Danach waren als Spuren 
der erlittenen Verletzungen noch vorhanden; eine leichte, zehn¬ 
pfennigstückgroße Hautabschürfung am linken Ellbogen und eine 
Schmerzhaftigkeit am linken Oberarm bis zur Schulter, ferner eine 
leichte Schwellung und Schmerzhaftigkeit der äußeren Seite des 
linken Oberschenkels, des linken Knies, das einen traumatischen 
Bluterguß zeigte. Es wurde über Herzklopfen und Kopfschmerzen 
geklagt, die Dr. S. mit Wahrscheinlichkeit auf die psychische Er¬ 
regung beim Unfall zurückführte. Dr. S. nahm an, daß durch die 
Verletzungen eine Erwerbsunfähigkeit von 8 Tagen bedingt sei; 
weitere Folgen wären voraussichtlich ausgeschlossen. 

Pat. war 8 Tage bettlägerig, hütete noch eine weitere Woche 
das Zimmer und machte dann einen Versuch, seine Reisetätigkeit 
wieder aufzunehmen. Dieser mißlang aber vollkommen; er wollte 
nach L. und C. reisen, aber sowohl beim Aussteigen aus dem Zuge 
wie beim Besuch der Kundschaft überfiel ihn eine Angst und eine 
Unruhe mit Zittern, so daß er sich genötigt sah, seine Tour schon 
nach zwei Tagen wieder abzubrechen. So ist er viele Monate ar¬ 
beitsunfähig geblieben -- trotz beruhigender Arzneimittel und 
völliger Enthaltung von geschäftlicher Tätigkeit. 

Meine eigene Untersuchung ergab folgendes: Der Patient 
i^t ein mittelgroßer, etwas blasser, aber sonst gut genährter 
Mensch. Er weist in seiner Stimmung und in seiner Intelligenz, 
Auffassung uni Ausdrucksweise keinerlei krankhafte Abweichungen 
auf, insbesondere sind hypochondrische und depressive Aeußerungen 
nicht auffällig. 

Er klagt weder über Kopfschmerz noch über Schwindel noch 
über irgendwelche Sehstörungen. Die Pupillen sind beide 
gleich weit, von guter Reaktion auf Licht und Konvergenz. Seine 
•subjektiven Beschwerden bestehen namentlich in einer ständigen 
Unruhe im Körper, die sich außerordentlich steigert, wenn er sich 
mit jemandem länger unterhält. Er hat nachts Angstgefühle, die 
ihn häufig im Schlafe stören: „Wie wenn das Bett umfiele, wie 
wenn er sich zum Fenster hinausstürzen müßte!“ 

Nach der geringsten körperlichen Arbeit fühlt er sich erschlafft; 
eine Mattigkeit und ein Kribbeln überfällt dann den ganzen Körper. 



74 


l)r. Leop. Laqiier, 


An den Gesichts- und Zuiigeninuskeln, ebenso an den Glied¬ 
maßen und am Rumpfe fehlen Lähn.ungen der Bewegung, die 
Hautemphndung ist überall gut erhalten. Die Sehnenreflexe sind 
lebhaft. Bei offenen und geschlossenen Augen tritt kein Schwanken 
ein. Der Gang ist aufrecht und gerade. Blasen- und Mastdarm¬ 
funktion sind nicht gestört; der Urin ist eiweiß- und zuckerfrei. 
Weder am Herzen, das keine Verbreiterung, keine Geräusche und 
keine Unregelmäßigkeit der Schlagfolge zeigt, noch an den Lungen 
und Unterleibsorganen konnte ich krankhafte Störungen nachweisen. 
Die oben von dem Hausarzte Dr. S. beschriebenen Hautverletzungen 
sind ohne Narbenbildung völlig ausgeheilt. 

Demnach sind bei dem Patient von dem Unfall, den er am 
16. April erlitten hat, nur eine Reihe nervöser Störungen zurück¬ 
geblieben, während körperliche Schäden nicht zu verzeichnen sind. 
Anhaltspunkte für ein Leiden des Gehirns, des Rückenmarks oder 
der peripheren Nerven sind nicht nachweisbar. 

Darum ist es sehr wahrscheinlich, daß die neurasthenischen 
Beschwerden, Angst, Unruhe und Zittern, die er beschreibt, und die 
Eisenbahnunfällen in ähnlicher Art nicht selten zu folgen pflegen, 
ihm die Ausübung seines Berufes als Geschäfts- bezw. Provisions¬ 
reisender bisher unmöglich gemacht haben. 

Der Pat. ist seit dem Unfall bisher vollkommen arbeitsunfähig 
gewesen. Ich halte es für zweckmäßig, daß er wiederum die Kur¬ 
anstalt von Dr. A. in K. für 4 bis 5 Wochen aufsucht, um die 
nervösen Angstzustände dort zur Heilung bringen zu lassen, und 
daß er dann seine Tätigkeit wieder aufnehme, wenn auch nur 
allmählich und nicht in vollem Umfange. 

Pat. war wie viele seiner Berufskollegen seit Jahren, auch im 
Jahre 1904, in leichtem Grade neurasthenisch, was ihn aber nicht 
abgehalten hat, zwei Jahrzehnte lang fast ohne Unterbrechung 
seine angestrengte Reisetätigkeit fortznführen. Der mit Schreck 
verbundene Unfall vom 16 April, hat die nervösen Beschwerden 
des Pat. so gesteigert, daß von da ab eine volle Erwerbsunfähig¬ 
keit erwuchs. — 

Es erscheint mir notwendig und billig, daß dem Verletzten 
zu seiner Wiederherstellung die Kosten des vorgescblagenen Aufent¬ 
haltes in K. von der Direktion erstattet werden. 

Ich nehme an, daß nach Beendigung dieser Kur nur noch eine 
Arbeitsunfähigkeit von 50% für eine beschränkte Zeit übrig 
bleiben wird. 

Sowohl meine zahlreichen Begutachtungen als auch die Ergeb¬ 
nisse anderer ärztlicher Facbkollegen bringen mich auch hier zu 
der Ueberzeugung, daß in diesem wie in analogen Fällen die ein¬ 
malige Kapitalabfindung das be.sto Mittel ist, um rein nervöse Un- 
falhsfolgen zu heilen. ICs wäre ev. als Basis dafür: volle Erwerbs- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgeii. 75 

Unfähigkeit vom 16. April 1908 bis zum 30. Juni 1908, dann viel¬ 
leicht eine Erwerbsbeschränkung von 50% bis 1. September 1908, 
den betreffenden Verhandlungen mit dem Pat. zugrunde zu legen. 

Pat. empfing nach beendigtem Kuraufenthalt 7000 M. 

Katamnese. 

Der Verletzte war völlig wiederhergestellt, reiste etwa 
2 Jahre lang in gleicher Weise wie vor dem Unfall und ver¬ 
diente zuletzt 15—18000 M. jährlich. Anfangs April 1910 
wurden ihm beide Beine in den Hüftgelenken und am Unter¬ 
schenkel bei einem neuen Eisenbahnunfall gebrochen. 

Die Brüche führten zu schwerenDifformitäten und Schmerzen 
in den Beinen. Die Lokomotion ist jetzt sehr erschwert, nur 
an Stöcken möglich. Eine schwere traumatische Neurasthenie 
kompliziert auch jetzt die organisch bedingten Unfallsfolgen 
in erheblichem Grade. 


Fall XVL 

Der 32jährige Geschäftsreisende für eine Gbroßhandlung in B. 
ist namentlich in Süd Westdeutschland und m der Schweiz tätig. 
Patient ist mütterlicherseits nervös sehr belastet, ist ein sehr leb¬ 
hafter, intelligenter, muskelkräftiger Mensch mit reichlichem 
Fettpolster; er ist ein starker Raucher. Als ich ihn im 
September 1897 in Behandlung nahm, klagte er über Zittern 
nervöse Erregbarkeit und Neigung zu unruhigem Schlaf, die 
damals schon 2—3 Jahre lang bestanden hatten. Er hatte am 25. Juli 
bis 16. August 1897 schon eine Kaltwasserkur in B. durchgemacht. 
Die hauptsächlichsten, auch objektiv sehr auffälligen Beschwerden, 
die ich damals nachweisen konnte, äußerten sich in einer eigen¬ 
artigen tiefen und relativ häufigen unregelmäßigen 
Respiration bei völlig normalem Befunde von Her/ und Lungen 
sowie bei negativem Ergebnis der Urinuntersuchung Auch die 
Prüfung des Zentral-Nervensystems förderte keinerlei sonstige 
krankhafte Erscheinungen zutage. Sein Gang war ein sicherer; 
bei geschlossenen Augen trat weder im Gehen noch im Stehen 
ein Schwanken ein. 

Gegen die in der Zeit der ersten Behandlung nachweisbaren 
schon genannten nervösen Atembeschwerden, die ich als „hysterische“ 
ansah, ei wiesen sich die angewandten Mittel erfolgreich. Die 
eigenartigen und quälenden Erscheinungen verloren sich bald und 
kehrten nicht wieder. 

In den folgenden Jahren sah ich den Patienten öfters, beson- 



7G 


Dr. Leop. Ljquer, 


ders dann, wenn er von längeren und anstrengenden Reisetouren 
zurückkehrte und etwas erschöpft war. Es bezogen sich seine 
subjektiven Beschwerden fast immer nur auf seine Herzaktion:, 
er äußerte wiederholt die hypochondrische Angst, herzkrank zu 
sein und an einem Herzschlag zugrunde zu gehen, insbesondere 
dann, wenn er von solchen Dingen in der Zeitung gelesen hatte 
oder Freunde und Bekannte von ihm daran erkrankt oder gar ge¬ 
storben waren. 

Am Ende Februar 1901 ließ mich Pat. wieder kommen und 
erzählte mir, daß er am 16. Januar 1901 auf der Eisenbahn einen 
Unfall erlitten: Es sei ihm bei Gelegenheit einer Entgleisung 
zwar kein körperlicher Schaden, aber durch Herausspringen aus 
einem entgleisten Wagen ein solcher ‘Schrecken zugefügt worden, 
daß er bald den E. Schnellzug (in M.) verlassen und einen Personen¬ 
zug bis D. benutzen mußte. Er sei dort wie gelähmt angekommen 
und habe sofort den Nervenarzt Prof. Dr. H. befragt. Auf seinen 
Rat sei er nach mehrtägiger Bettruhe im Hotel nach F. bezw. W. 
abgereist, ohne die Arbeit wieder aufzunehmen, denn die Angst¬ 
zustände wären so hochgradig geworden, daß es ihm kaum mög¬ 
lich gewesen wäre, längere Fahrten mit der Eisenbahn zu machen. 

Als ich ihn am 27. Februar \md 20. März 1901 sah, war er 
erregter als sonst, das Herz zeigte unruhigere Aktion; mir schien 
es danach glaubhaft, daß er an einer hochgradigen Eisenbadinangst 
und angeblich gezwungen wäre, sehr oft zu seiner Beruhigung 
während der Eisenbahnfahrt seine Ehefrau mitzunehmen. Jedes 
Ueberschreiten einer Kurve, Schütteln des.,^ Wagens, schnelles 
Rangieren bringe ihn in ein heftiges Zittern mit Angstschweiß, 
er bekomme dann die Zwangsidee, sich aus dem Wagen stürzen 
zu müssen. Er benutze darum zumeist, besonders wenn er allein 
fahre. Expreß- imd Luxuszüge, in denen er sich am sichersten 
fühle. Ich hatte zufällig Gelegenheit, mit ihm im März 1901 
das gleiche Koupee benutzen zu müssen auf einer kurzen Fahrt am 
Abend zwischen W. und F. und war Augenzeuge aller dieser Er¬ 
scheinungen, an deren Realität ich übrigens zu zweifeln keinen 
Anlaß batte! 

Diese subjektiven Erscheinungen von krankhafter Angst haben 
sich also bis zum Tag des Gutachtens noch nicht verloren, objektiv war 
aber niemals ein wesentlicher Befund zu erbeben. Doch zeigten 
sich in den letzten 2 Jahren die Herz t ön e bei meiner Unter¬ 
suchung mitunter von höherer Frequenz, sie waren 
dumpfer und schwächer als in den Zeiten vor dem Unfall. 
Das war auch der einzige objektive Befund, der in den Jahren 
1901—1903 nach dem Vorfall festgestellt werden konnte! 

Aus diesen Tatsachen ergibt sich, daß der Pat. schon vor 
dem Unfall neurasthenisch und leicht hypochondrisch 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallstolgen. 


77 


gewesen ist. Einzelne Symptome seiner nervösen Erscheinungen 
zeigten in den letzten beiden Jahren aber eine entschiedene Ver¬ 
schlimmerung. Diese hängt wahrscheinlich mit dem Schrecken^ 
den er bei dem Eisenbahn Unfall vom 16. Januar 1901 erlitten 
hat, in direktem ursächlichen Zusammenhang. Mir ist 
wenigstens keine innere oder äußere Ursache bekannt, die für jene 
Verschlimmerung verantwortlich zu machen wäre. Jedenfalls muß 
die^Angst bei Eisenbahnfahrten“, über die Pat. früher nie 
zu yagen hatte, als unmittelbare Folge der am 16. Januar 1901 
stattgehabten Entgleisung angesehen werden. Die Erwerbsfthigkeit 
des Pat. ist nur insoweit beeinträchtigt, als ihm höhere Kosten auf 
seinen Reisen erwachsen, da er, solange die Eisenbahnangst besteht, 
häufig gezwungen ist, teuerere Eisenbahnzüge zu benutzen. • 

Pat. hat infolge dieser gesteigerten krankhaften Erscheinungen 
noch häufiger als sonst Aerzte konsultiert, Massage gebraucht und 
Nervenheilstätten mehrmals besucht. Er soll auf meinen Rat sich 
auch im kommenden Frühjahr wieder einer längeren Kor unter¬ 
ziehen. 

Ueber die Höhe der entstandenen oder noch anfzuwendenden 
Kosten vermag ich ein Urteil nicht abzugeben. 

Pat. empfing als Ersatz der Kurkosten und als 
Abfindung 1600 Mark. 

Katamnese. 

Pat. reist jetzt mit der gleichen neurasthenischen Hast und 
Aufregung wie vor dem Unfall, die Unfalls - Neurose darf 
als geheilt gelten. 

Fall XVII. 

Ein 48jäbriger Kaufmann erlitt am 13. Mai 1900 einen Unfall 
auf der Straßenbahn, als ein Anhängewagen mit einem Motorwagen 
zosammenstieß. Patient erhielt einen heftigen Stoß gegen den 
Hinterkopf, der ihm für eine kurze Zeit die Besinnung raubte, 
Kopfschmerzen hervorrief und dreiwöchige Bettruhe nötig machte. 
Zeichen eines Schädelbruches lagen nicht vor. Wegen der Kopf¬ 
schmerzen und zunehmender Vergeßlichkeit wurden verschiedene 
Badekuren verordnet. Auch Sehstörungen wurden geklagt, ohne 
daß eine wiederholte augenärztliche Untersuchung einen objektiven 
Befund ergab. Seine geschäftliche Leistungsfähigkeit sollte sehr 
abgenommen haben. & gab schließlich die bisherige Tätigkeit 
im Dezember 1903 ganz auf und verzog nach D. 

Im Januar 1905 wurde er von Professor R. und mir begut¬ 
achtet in einem Haftpfiichtprozeß gegen die Straßenbahn mit 
folgendem Ergebnis; 

Pat. machte einen sehr frischen Eindruck, zeigte eine gesunde 



78 


Dr. Leop. Laquer, 


Gesichtsfarbe, sehr reichliche Ernährung mit der von jeher be¬ 
stehenden Neigung zum Fettansatz an allen Körperteilen. 

Pat. hat vier gesunde Kinder, von denen das jüngste 10 
Jahre alt ist. Er hat seit einem Jahr sein hiesiges Geschäft auf¬ 
gelöst, nach seinen Angaben infolge seines Gesundheitszustandes, 
denn er sei nicht mehr imstande gewesen, einem Geschäft vor¬ 
zustehen, entweder er oder das Geschäft wäre zugrunde gegangen, 
wenn er es nicht getan hätte. Er lebe nunmehr in D. und gehe 
zu seinen Schwägern stundenweise (2—3 Stunden etwa) vormittags 
und nachmittags ins Geschäft, um das große Personal dieser Firma 
zu beaufsichtigen. Er könne sich diese seine Tätigkeit ganz nach 
seiner Bequemlichkeit einrichten; er sei nicht zum Erscheinen ver¬ 
pflichtet und mit irgendwelchen, besondere geistige Kraft erfordern¬ 
den Arbeiten nicht betraut. 

Er klagte über Kopfschmerz namentlich in der Stirn, der 
öfters auch nach dem Scheitel hin ausstrahlte. Eine allgemeine 
Mattigkeit befalle ihn oft; ebenso stellte sich nicht selten ein 
„Dusel“ im Kopf ein, auch ein Gefühl, wie wenn er ein Brett vor 
dem Kopfe habe. Mitunter fange er an zu denken, er habe dann 
die Empfindung, als wenn es nicht mehr weiter ginge. (Er ist 
während der Untersuchung kurze Zeit weinerlich gestimmt.) Nicht 
selten seien Angstgefühle beim Oeffnen des Fensters und beim 
Ti eppeusteigen; auch fürchte er oft geisteskrank zu werden. Das 
Iniiscblafen falle ihm schwer; er träume viel und wache zu früh 
auf. Der Appetit sei mäßig, Stuhlgang normal. Die Beschwerden 
belunderten seine Arbeitskraft in erheblichem Maße. 

Der von uns erhobene objektive Befund war ein völlig nega¬ 
tiver. Es ist für ein zentrales oder peripheres Nervenleiden irgend 
ein Krankheitszeichen nicht auffindbar. Die Kniereflexe sind ge¬ 
steigert, Pupillen dagegen völlig normal. Auch die inneren Organe 
erwiesen sich als völlig frei von krankhafter Störung. 

Auch die seelischen Krankheitserscheinungeu des Klägers, 
die Angstzustande und Ermüdungserscheinungen sowie die subjek¬ 
tiven Beschwerden wie Schmerz und Eingenommensein, sind die 
gleichen geblieben. Das Aussehen des Patienten, Gang, Haltung, 
Sprache, Sicherheit in der Darstellung der Erlebnisse verraten 
nichts von einer schweren funktionellen Nervenerkrankung. Da¬ 
gegen gibt er selber wohl eine wesentliche Besserung des Allge¬ 
meinbefindens. 

In Uebereinstimmung mit diesen Erhebungen der beiden Gut¬ 
achter steht das oben genau wiedergegebene Urteil des Augen¬ 
arztes Dr. R. Auch die schriftlichen Feststellungen von Dr. R. über 
den gegenwärtigen Zustand des Klägers decken sich mit unserem 
Befunde. Es ist jedenfalls seit 2 Jahren eine weitere Besserung 
in dem Befinden des Pat. eingetreten und eine vollkommene Wieder- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


79 


lierstellung des Nervenleidens auf Grund unserer ärztlichen Er¬ 
fahrungen im Laufe der Zeit mit Sicherheit zu erwarten! 

Wir geben unser Gutachten dahin ab:- 

„Der Kläger hat am 13. Mai 1900 eine leichte Hirn- 
■erschütterung durch den Zusammenstoß zweier Straßenbahnwagen 
in der Stadt F. erlitten. Er ist dadurch vom 13. Mai 1900 
bis etwa Mitte August 1900 völlig arbeitsunfäHg geworden. 

Er leidet jetzt noch in geringem Grade an den Folgen jenes 
Unfalls und zwar an Kopfschmerzen, Angstzuständen, Zerstreutheit 
und leichten sonstigen nervösen Erschöpfungserscheinungen (Trau¬ 
matische Neurasthenie), die seine Arbeitsfähigkeit gegen früher 
um etwa 20 % herabsetzen.“ 

Pat. empfing im Vergleichswege 20 000 Mark. 

Katamnese. 

Pat. beteiligte sich bald darauf an einem großen kauf¬ 
männischen Unternehmen und war darin im ganzen 3 Jahre 
als „stiller Teilhaber“ im Büro tätig. — Jetzt hat er einen sehr 
arbeitsreichen Posten als Vorsteher der Damen - Konfektions- 
Abteilung in einem großen Warenhause inne, den er voll¬ 
kommen ohne jede Störung und mit voller Kraft ausfüllt. 

Fall XYIII. 

Ein Metzgermeister von 34 Jahren, der vier gesunde Kinder 
hat und selbst aus gesunder Familie stammt, ist Soldat gewesen 
und treibt seit zwei Jahren eine kleine Metzgerei und Viehhandel; 
dem Trünke war er nie ergeben. Pat. saß am 10. Oktober 1907, 
abends nach 8 Uhr, in einem Wagen vierter Klasse vornübergebeugt, 
indem er die Ellbogen auf die Knie stützte. Auf der Strecke erhielt 
der Wagen plötzlich einen so starken Stoß, daß Patient erschreckt 
aufspringen wollte und dabei zu Boden stürzte. Er erhob sich 
und fiel bei einem weiteren Stoß mit dem Rücken gegen die Holz¬ 
wand des Sitzes. Einige Minuten später verließ er den Wagen und 
bekam Schwindel. Nach einer Stunde ging er auf einen neufor¬ 
mierten Zug; in dem Krankenwagen wurde er ärztlich untersucht. 
Dabei sei es ihm schlecht geworden, auch verspürte er da schon 
Schmerzen im Kreuz und im Steißbein. Erst gegen 5 Uhr morgens 
kam er wieder zuhause an. Die Schmerzen vermehrten sich und 
es trat Schlaflosigkeit hinzu. Am zweiten Tag nach dem Unfall 
trat er in ärztliche Behandlung. 

Als zwei Wochen vergangen waren, unternahm er einen Arbeits¬ 
versuch, der ohne Erfolg war, da er beim Heben und Bücken 
Schmerzen im Rücken und in der linken Brustseite bezw. Schwindel 
bekam. Später wechselten diese Beschwerden: zeitweilig trat 



Dr. Leop. Laquer, 


8<t 

Besserung ein (auch am Untersuchuugstage fühlte er sioh freier); 
Wetterwechsel beeinflußt sein Befinden. 

Die gegenwärtigen Beschwerden des Verletzten bestehen im 
wesentlichen in Schwindelempfindungen, in zumeist unruhigem 
Schlafe, in Kopfschmerzen sowie in Schmerzgefühlen im Kreuzbein, 
die beim Setzen und beim Aufstehen, beim Bücken, auch beim 
Besteigen von Pferd und Wagen sich geltend machen. Auch 
habe er zeitweilig Beklemmungszustände beim Atmen. — Wenn 
er längere Zeit gesessen habe, werde er steif im Kreuze. — End¬ 
lich glaube er seit dem Unfälle um 6—8 Pfund an Körpergewicht 
abgenommen zu haben. 

Pat., der ein muskelkräftiger Mann von blühendem Aussehen 
ist, bringt seine Erzählungen über Gesundheits- und Familien¬ 
verhältnisse zuerst in weinerlicher Stimmung vor und vergießt 
Tränen. Später beruhigt er sich zwar, sein Gesichtsausdruck aber 
bleibt ängstlich uud zeigt von einer dauernden hypochondrischen 
Mißstimmung. Er befürchtet nicht wieder wie fiüher tätig sein 
zu können. Die Beantwortung einiger ihm vorgelegten einfacher 
Fragen aus der Geographie und Geschichte sowie die Lösung 
einiger Rechenexempel geht nicht sehr prompt von statten, während 
er versichert, früher auch beim Militär ein sehr flotter Rechner 
gewesen zu sein. In seiner Auffassung, in seinem Gedächtnis und 
Urteil und in der Art seines sprachlichen Ausdrucks ist eine ge¬ 
wisse Hemmung zu bemerken. 

Bei der einmaligen Untersuchung ist nicht mit Sicherheit zu 
entscheiden, ob diese geistigen Veränderungen nur eine Folge 
von Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit sind, die erst seit dem 
Unfall einsetzten, oder ob sie auf einer leichten Beschränktheit und 
Verlangsamung der Denk Vorgänge und Mängeln der Schulkenntnisse 
beruhen, die von jeher bestanden haben. — Objektive Hirnsymp¬ 
tome fehlen. 

Bei Augenschluß zittern die Augenlider, beim Herausstrecken 
zittert auch die Zunge, die sonst nach allen Seiten hin gut be¬ 
weglich ist. — Am Rumpf und an den Gliedmaßen findet sich 
nicht wesentlich Krankhaftes vor. Nur in der Mitte des Kreuz¬ 
beins findet sich eine Stelle, die auf Druck sehr empfindlich ist; 
mit dieser Schmerzhaftigkeit hängt es zusammen, daß der Verletzte 
sich bei gewissen Bewegungen des Rumpfes, beim An- und Aus¬ 
ziehen der Stiefel und Strümpfe, beim Aufrichten im Bett, beim 
Aufstehen vom Stuhl, auch beim Gehen nach längerem Sitzen 
schont. Eine Schwellung der Weichteile und der ELnochen am 
Kreuzbein war nicht auffindbar. Die Mastdarm- und Blasenfunk¬ 
tion war ungestört; der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. Der 
Puls war kräftig und regelmäßig, das Herz wies ebensowenig 
wie die Lungen uud Unterleibsorgane irgendwelche krankhafte 
Störung auf. 



Die Heilbarkeit nerrOser Ünfallsfolgen. 81 

Es hat sich sonach bei dem Patienten infolge des Eisenbabn- 
unfalles, den er am 10. Oktober des vergangenen Jahres erlitten 
hat, eine Reihe nervöser Erscheinungen entwickelt, die sich wesent¬ 
lich aus folgendem zusammensetzen: depressiv hypochondrischer 
Verstimmung und einer gewissen psychischen Hemmung und mit 
Zerstreutheit sowie Schwindel, Kopfschmerzen, Angstzuständen und 
leichter Beklemmung beim Atmen und Rückenschmerzen. 

In den 5 Monaten, die seit dem Eisenbahnunfall vergangen 
sind, haben sich Anzeichen irgendeiner organischen Erkrankung 
des Nervensystems nicht herausgebildet. Der Unfall ist mit einem 
besonders starken Schrecken nicht verbunden gewesen. Die Symp¬ 
tome einer Erschütterung des Gehirns oder Rückenmarkes haben 
gefehlt. 

Danach ist anzunehmen, daß es sich auch in dem vorliegenden 
Falle um das bekannte Krankheitsbild handelt, welches sich nach 
Unfällen aller Art entwickelt und aus hysterisch-hypochondrischen 
Erscheinungen zusammensetzt. Nur scheint bei dem Patienten die 
Verstimmung und die Angst um seine Existenz besonders stark 
hervorzutreten, da seine geschäftliche Tätigkeit erst vor 2 Jahren 
in E. begonnen hatte und nach Lage der Verhältnisse auch nicht 
fest begründet zu sein schien. 

Es bleibe dahingestellt, ob eine gewisse Willensschwäche des 
Verletzten und seine soziale Lage die Entstehung der Unfalls¬ 
hysterie befördert haben. — Jedenfalls müssen die krankhaften Er¬ 
scheinungen als heilbare Unfallsfolgen angesehen werden, da sie 
psychogen und nicht organisch bedingt sind und einen körperlich 
außerordentlich kräftigen jungen Mann betroffen haben. Zu ihrer 
Beseitigung und zur vollen Wiederherstellung des Verletzten möchte 
ich nicht eine weitere ärztliche Behandlung, sondern die Gewährung 
einer einmaligen Kapitalsabfindung in Vorschlag bringen, die sich 
nach der Höhe des bisherigen Einkommens des Pat. richten wird 
und so bemessen sein muß, daß er nach etwa 1—2 Jahren in die 
Lage gebracht werde, mit einer gewissen Schonung seiner bis¬ 
herigen Tätigkeit nachzugehen. 

Der Verletzte ist meiner Ansicht nach jetzt um etwa 50 bis 
60 % invalide. Die allmähliche Aufnahme seiner Tätigkeit kann 
nur heilsam auf seinen Gemütszustand einwirken. 

Je schneller die Erledigung der Entschädigungsfrage erfolgen 
wird, desto eher ist eine Besserung beziehungsweise Heilung der 
Unfallsfolgen auch in diesem Falle zu erwarten. 

Er erhielt auf dem Wege des Vergleichs 7500 Mark 
und wurde sofort wieder arbeitsfähig. 

Eatamnese. 

Der Hausarzt schrieb mir im Dezember 1910 über das 


6 



Dr. Leop. Laquer. 


Befinden des vorstehenden Patienten . . „Teile Ihnen mit, 
daß Patient völlig erwerbsfähig ist und ich ihn niemals mehr 
ärztlich zu behandeln brauchte, obwohl ich nach wie vor Arzt 
in seiner Familie bin. Im Frühjahr d. J. klagte er gelegentlich 
der Behandlung seiner Kinder noch über zuweilen auftretende 
Kurzatmigkeit, die er aber schon vor dem Unfall bisweilen 
bekommen haben will.“ Ein objektiver Befund war nicht zu 
erheben. 

Nunmehr handelt es sich darum, aus den Verlaufsarteu 
der Unfallsneurosen bei einigen kleinen Leuten zu beweisen, 
in welcher Weise hier die Kapitalsabfindung heilsam auf die 
Nervosität in dieser sozialen Schicht wirken kann. Außerdem 
wird aus den katamnestischen Erhebungen, die erfolgt sind, 
ersichtlich sein, daß die gerade von den Organen der Gesetz¬ 
gebung geltend gemachten und schon von Hellpach er¬ 
wähnten Einwände, daß kleine Leute, Arbeiter usw. 
nicht mit größeren Geldsummen umzugehen wissen, 
durch die Tatsachen widerlegt werden. 

Die Verletzten haben vielfach aus der Kapitalabfindung 
einen für ihr weiteres Fortkommen erheblichen Nutzen ge¬ 
zogen, der auch für die Kräftigung ihres Nervensystems und 
für ihre Lebensfreude von hohem Werte war. 

Fall XIX. 

Ein 48jähriger Spengler hatte in E. am Morgen des 21. Januar 
1908, als dichter Nebel herrschte, beim Ueberschreiten der Gleise 
der Bahn einen Schrecken dadurch erlitten, daß er bei noch ge¬ 
öffneter Schranke einen Zug herankommen sah. Nur durch Zuruf 
des Schrankenwärters gelang es ihm, hinter die andere Schranke 
zu kommen, die sich sogleich hinter ihm schloß als der Zug den 
üebergang passierte. Gleich darauf hatte er einen Geldbetrag 
in Empfang zu nehmen, da soll er sehr bleich ausgesehen und 
beim Unterschreiben der Quittung stark gezittert haben, .so daß 
er mehrmals die Feder eintauchen mußte, ehe ihm die Unterschrift 
zur Quittung gelang. Auf dem Heimwege begegnete ihm sein 
Arzt, dem er sofort mitteilte, welchen Schrecken er eben erlitten 
hätte. Er riet ihm, die Sache gleich anzumelden und sich dann 
ins Bett zu legen, um schlimme Folgen zu verhüten. Patient hat 
dann drei Wochen lang Zimmer und Bett gehütet. 

Der Arzt hat dann am 2. Mäi'z bescheinigt, „daß Patient am 



Die Heilbarkeit nervOser ünfallsfolgen. 33 

21. Januar 1908 beim Ueberschreiten der Bahngleise einen Unfall 
mit starker nervöser Aufregung und anhaltendem Schwindelgefühi 
erlitten habe und infolgedessen ca. 3 Wochen lang erwerbsun¬ 
fähig gewesen sei; aber die Krankheit war auch am 3. März nicht 
völlig gehoben, vielmehr klagte Pat. noch immer über Aufregung 
und Schwindelgefühle, so daß er keine Leiter besteigen könne. 
Pat. müsse bis auf weiteres alsjum 50 % erwerbsunfähig betrachtet 
werden.“ 

Pat. gibt an, daß er wegen Kopfweh, Schwindel' und sehr 
beschleunigter Herztätigkeit, ferner wegen eines -Gefühls von 
Zerschlagenheit, das sich in allen Gliedmaßen geltend mache, auch 
infolge von Zittern und Beben;, das idurch^den ganzenTKörper 
ging, auch jetzt noch nicht imstande sei, in vollem Maße seine 
Arbeit zu tun, beschäftige zu seiner Unterstützung jetzt zwei 
Gehilfen, während er früher mit einem ausgekommen sei, da er 
selber eifrig mitgearbeitet habe. „Er gehe jetzt nur ab und zu.“ 

Was den gegenwärtigen Zustand betrifft, so ist zu bemerken: 
Der Patient ist 35 Jahre alt, Spengler und Installateur zu P. Er 
ist seit 8 Jahren verheiratet und hat drei gesunde Kinder, von 
denen das jüngste ein Jahr alt ist. Seine Mutter lebt noch — 
sein Vater starb im Alter von 77 Jahren. Seine Geschwister er¬ 
freuen sich der besten Gesundheit. — Er ist immer gesund gewesen 
und ist auf Reklamation seines Vaters vom Militärdienst befreit 
worden. Er hat nie Syphilis überstanden und war niemals dem 
Alkoholmißbrauch ergeben. 

Jetzt hat der muskelkräftige, blühend aussehende Mann noch 
über Kopfschmerz und Schwindel, namentlich beim Besteigen der 
Leiter zu klagen. Sein Schlaf soll unregelmäßig sein. Er sei 
außerordentlich leicht erregbar, so daß er oft „nicht wisse, was 
er tue“. Auch befalle ihn häufig große Angst ohne jeden Grund 
— besonders in Neubauten, wenn er Balkenanlagen zu über¬ 
schreiten hätte. Das Arbeiten auf Dächern sei ihm erschwert, ott 
fast unmöglich, wegen seiner Angst und Schwindelgefühle. 

Objektiv fand ich gar keine seelische und nur sehr gering¬ 
fügige körperliche Störungen. Auffassung, Gedächtnis, sprachlicher 
Ausdruck und Gemütsstimmung sind ungestört. Bei Prüfung der 
Pupillenfunktion zeigt sich ein Unterschied zwischen dem rechten 
und dem linken Auge. Es besteht von Kindheit auf noch ein 
weißer Fleck auf der linken Hornhaut, sowie eine Verziehung der 
Pupille, die lichtstarr ist. Angeblich sei das Sehvermögen da¬ 
durch in keiner Weise gestört. Ophthalmologischer Befund negativ. 

Auch in den übrigen Sinnesnerven findet sich keine Ab¬ 
weichung von der Norm. Die Bewegung der Zungen- und Ge¬ 
sichtsmuskulatur vollzieht sich in richtiger Weise. Beim Beugen 
des Kopfes und Oberkörpers nach vorn und unten tritt keine auf¬ 
fällige Rötung des Gesichts und kein Schwanken auf. 


6* 



84 


Dr. Leop. Laqaer, 


Weder am Rumpfe noch an den Gliedmaßen finden sich Läh¬ 
mungen der Bewegung und der Hautempfindung, nirgends Muskel- 
abmagerung. Er schwankt nicht — weder beim Stehen noch beim 
Geben mit offenen und geschlossenen Augen. Die Sehnenreflexe 
am Knie sind lebhaft. Blase und Mastdarm funktionieren ohne 
Störung. Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. 

Am Herzen, an der Lunge und an den Unterleibsorganen 
konnte ich nichts Krankhaftes auffinden. 

Eis bestehen bei dem Pat. jetzt nur noch geringfügige sub¬ 
jektive Beschwerden: Angst, Kopfweh, Schwindel und Erregbarkeit, 
die die Arbeitsfähigkeit angeblich namentlich bei Benutzung der 
Leiter imd auf Dächern beeinträchtigen. Objektiv ist jetzt nichts 
nachweisbar. 

Eis ist möglich, daß Pat. infolge des Schreckens, den er am 
21. Januar a. c. erlitt, in den ersten drei Wochen danach arbeits¬ 
unfähig war, dann bis zu Ende März etwa um die Hälfte seiner 
Arbeitsfähigkeit geschädigt war, auch später noch nicht mit aller 
Frische an die Arbeit ging. 

Jetzt kann ich aber in den subjektiven neurasthenisch- 
hysterischen Beschwerden, von denen Pat. berichtet, eine wesent¬ 
liche Arbeitshinderung nicht mehr erblicken. — Er bat auch seit 
Anfang März a. c. ärztliche Behandlung nicht mehr nacbgesucht — 
sie wohl auch nicht mehr nötig gehabt. 

Man muß in Betracht ziehen, daß im vorliegenden Falle der 
Schreck überfahren zu werden, einen Mann getroffen hat, der, wie 
er selber betont, gewöhnt sei, furchtlos an gefährlichen Stellen 
seine Arbeit zu verrichten, der auch, wie die Eisenbahn beamten 
aussagen, auf. den Zuruf, sich zu eilen, mit nicht allzu großer 
Schnelligkeit reagierte, da er ja nahe der Barriere war. 

Von der allgemein verbreiteten Rentensucht ist er aber auch 
nicht frei geblieben. Ich bin überzeugt, daß jede Spur von Arbeits¬ 
hemmnis, Angst und Erregung verschwinden wird, sobald die 
Königliche Eisenbahndirektion sich bereit finden wird, eine kleine 
Abfindung zu zahlen. 

Er bekam als Abfindung 5000 Mark. 

Katamnese. 

Die Ortsbehörde berichtet am 5. August 1911, daß er 
noch nicht völlig arbeitsfähig sei. Größere Arbeiten und auf 
Dächern könne er nicht ausführen, da er sehr nervös sei. Er 
mache nur kleinere Arbeiten, besorge die nötigen Wege und 
beaufsichtige seine Arbeiter. 

Der Arzt schreibt: Der \’erletzte muß wieder völlig arbeits¬ 
fähig sein. Er habe ihn seitdem nur noch einmal au Influenza 



Die Heilbarkeit uerfOser Unfallsfolgen. 85 

behandelt. Ich sehe ihn wieder per Rad nach seiner Arbeit 
gehen. 

Fall XX. 

Der Lagerverwalter an einer Kohlen-Großbandlung, ein 46- 
jähriger Mann, saß in einem Abteil 3. Klasse, als der Zug auf 
einen Güterzug aufstieß. Er flog mit dem Hinterkopf gegen die 
Wand des Wagens, es folgte angeblich kurz andauernde Bewußt¬ 
losigkeit , er mußte an der Unfallstelle eine Stunde auf Rück¬ 
beförderung warten. Eine äußere Verletzung hatte er nicht davon¬ 
getragen. In der Nacht um 12 Uhr kam er erst heim, in der 
Nacht erbrach er einigemal, war schlaflos und sehr erregt. Nach 
zwei Tagen schon ging er wieder ins Geschäft. Im Dezember 
setzte er wegen Nervosität drei Monate aus. Eine Hirnerschütierung 
wurde vom behandelnden Arzte nicht angenommen, sonst war kein 
wesentlicher neurologischer Befund zu erheben. Dagegen war eine 
gewisse pastöse Konstitution wohl als Folge von übermäßigem 
Genuß von Bier und Wein und gelegentlicher Kognaks vorhanden. 

bestand keine neuropatbische Belastung, aber erregte Herzaktion 
mit leichtem Herzgeräusch, etwas vergrößerte Leber, leichte Zucker¬ 
ausscheidung war von mir gefunden worden. 20% Invalidität schien 
ausreichend, besonders, da vom Hausarzte langjährige rheumatische 
und Herzbeschwerden schon vor dem Unfall beobachtet worden 
waren. 

Pat. erhielt eine Abfindungssumme von 800 Mark. 

Katamnese. 

Nach dem Bericht der Ortsbehörde gab er an, daß er seit 
dem Unfall seinen früheren Posten nicht mehr versehen könnte 
und jetzt nur auf dem Büro beschäftigt würde — zur Kontrolle 
des Personals. Er lebe in ganz geordneten Verhältnissen. 

Nach privaten Erkundigungen bei den Arbeitgebern ergab 
sich aber, daß seine Leistungen durch den Unfall eine Einbuße 
nicht erfahren hätten. Er wäre schon vor dem Unfall wegen 
Rheumatismus nicht voll arbeitsfähig und nicht mehr fähig 
gewesen, den Dienst im Lager bei Wind und Wetter auszu¬ 
üben. Aus diesem Grunde sei ihm die Büroarbeit seinerzeit ohne 
Rücksic ht auf de n Eisenbahnunfall übertragen worden. 

Fall XXI. 

Ein 27 jähriger Opernsänger fuhr nach Beendigung der Saison 
einer kleinen Provinzbühne am 16. April in einem Zuge von C. 
nach C, Bei der Ankunft in C. fuhr sein Zug nachmittags um 



86 


Dr. Leop. Laquer, 


3 Uhr plötzlich auf eioen Prellbock auf; er wurde wider die Wand 
in eine Ecke geschleudert. Der linke Arm schmerzte und zitterte. 
Eine Bewußtlosigkeit trat nicht ein. Da er die Sache für unerheblich 
hielt, meldete er den Unfall nicht an, obwohl der Gepäckträger, 
den er sich auf dem Bahnhof nahm, ihm dazu geraten hatte. 
Zwei Stunden später fuhr er von C. in seine Heimat P. zurück. 
Da er aber im linken Arm andauernd Schmerzen empfand, begab 
er sich am 21. April zu einem Spezialarzt für Hautkrankheiten. 
Nach einem Atteste, das dieser Arzt am 26. August ausstellte, 
klagte Pat. über Schmerzen im linken Arm, die Dr. F. auf eine 
Sehnenzerrung zurückführte; er hatte zu ihrer Beseitigung Ruhe 
und Umschläge empfohlen. Allmählich traten aber allgemeine nervöse 
Störungen zu der örtlichen Verletzung hinzu. Pat. suchte dann einen 
Nervenarzt Dr. B. auf, der, wie er am 27. August 1908 bescheinigte, 
die Schmerzen im linken Arm, die noch bestanden, mit der Sehnen¬ 
zerrung der Muskelquetscbung und daran anschließender „Nerven¬ 
entzündung** in Zusammenhang brachte. Dr. B. erklärte den Pat. 
für vollständig erwerbsunfähig und meinte in dem genannten Attest: 
es sei vorläufig nicht abzusehen, wann diese ElrwerbsunfÜhigkeit 
behoben sein würde. Inzwischen hatte Pat. den Unfall auch auf 
der Versicherungsgesellschaft gemeldet, bei der er gegen Unfälle 
versichert war. Er war sehr nervös und klagte über Herzklopfen. 

Die gegenwärtigen Klagen des Pat. bestehen namentlich in 
Zittern und Herzklopfen, in Ermüdung beim Singen, in Klagen 
über Tremolieren der Stimme. Er sei durch diese Beschwerden 
und durch seine allgemeine leichte Ermüdbarkeit seit dem April 
unfähig gewesen. Stunden zu nehmen und Klavier zu spielen, so 
naß er sich nicht selbst begleiten und darum wenig studieren 
konnte. Die elektrische Behandlung hätte ihn sehr angegriffen. 
Eine Anstellung wagte er für diesen Winter nicht anzunehmen. 

Bei der Untersuchung konnte ich feststellen, daß Patient ein 
schmaler, kaum mittelgroßer, blasser Mensch ist, der sich in einem 
sehr mäßigen Ernährungszustände befindet. Er behauptet, seit 
dem Unfall um 6 Pfund abgenommen zu haben. Seine Stimme 
klingt etwas heiser. 

Sonst konnte ich in geistiger und körperlicher Hinsicht keinerlei 
krankhafte Erscheinungen bei Pat. auf finden. Ich hebe besonders 
hervor, daß der bei dem angeblichen Unfall verletzte linke Arm 
(der Verletzte ist Linkser) auf Druck nirgends schmerzhaft ist, 
daß die Muskulatur nirgends Abmagerung, Lähmung oder Empfin¬ 
dungslosigkeit zeigt. Ferner sind auch anderweitige Lähmungs¬ 
erscheinungen und Empfindungsstöruugen im Gebiete der Rumpf¬ 
und Extremitäten-Muskulatur nicht vorhanden. Die Reflexe am 
Knie und an der Achillessehue sind sehr lebhaft. Nie tritt 



Dio Heilbarkeit nervöser Uofallsfolgen. 


87 


Schwanken bei geschlossenen Augen ein, Blase und Mastdarm 
funktionieren gut, der Gang i8t*normal. 

Auch das Herz sowie die^Lungen und Unterleibsorgane sind 
frei von krankhaften Symptomen. 

Nachträglich möchte ichlnoch bemerken, daß mit dem Unfall 
Bewußtseinsstörung oder somatische Kommotionssymptome nicht 
verbunden waren. 

Auf Grund dieses {Befundes^’hat Patient bei dem angeblichen 
Eisenbahnunfall vom 16. April d, Js. keine wesentliche äußere Ver¬ 
letzung erlitten. Die von den Aerzten Dr. P. und Dr. B. fest¬ 
gestellte Zerrung und Quetschung der Muskeln und die sogenannte 
Nervenentzündung muß jetzt als abgeheilt angesehen werden. 
Wesentliche Herzstörungen nervöser Art fanden sich nicht mehr. 
Es ist möglich, daß Pat. noch etwas ermüdbar und bei Gesang¬ 
studien nicht ausdauernd ist. Inwieweit seine Stimme etwa unter 
dem Unfall gelitten haben mag, wage ich nicht zu beurteilen. 
Eventuell wäre die Zuziehung eines Kehlkopfspezialisten in Er¬ 
wägung zu ziehen. 

Nach meiner Ueberzeugung^besteht bei dem Pat. jetzt nur 
noch eine ganz leichte Nervosität, die mit dem Unfall Zusammen¬ 
hängen dürfte. Da der Verletzte zu jenen jungen Bühnenkünstlern 
gehört, die besonders im Anfange^ihrer Tätigkeit im Sommer ge¬ 
wöhnlich ohne Engagement sind, so hat er durch die nervösen 
Störungen und die Schmerzen im linken Arm eine erhebliche Er¬ 
werbsbeschränkung nicht zu verzeichnen. Dagegen ist zuzugeben 
daß er wegen seiner Linkshändigkeit nicht den linken Arm ge¬ 
brauchen konnte und dadurch in Üebungen am Klavier und anderen 
Hantierungen gehindert war. Ob wirklich seine Rolle als Postillon 
von Lonjumeau, auf die er Wert legt, durch die Armschmerzen 
beeinträchtigt^ist, „weil er mit der Peitsche njicht knallen 
kann“, möchte ich bezweifeln. 

Es ist auch möglich, daß bei traumatisch-hysterischen Unfalls¬ 
folgen die Stärke und Sicherheit der Stimmgebung leidet und bei 
solchen Personen leicht ein Tremolieren eintritt, das ihre Bühnen- 
leistuogen beeinträchtigt. Jedenfalls kann der Patient als völlig 
erwerbsunfähig nicht bezeichnet werden. Es wird ihm sicher ge¬ 
lingen , wie auch [im vorigen^j^ Jahre [ein Engagement an einer 
kleinen oder mittelgroßen Opernbühne zu bekommen, wenn er 
sich ernstlich darum bemüht. 

Wenn ich eine ungefähre Schätzung der Erwerbsunfähigkeit 
nach Graden^mir erlaube, so war Pat. in den ersten vier Monaten 
nach dem Unfall um 50 % geschädigt, jetzt dürfte die Schädigung 
nur noch höchstens 26 ®/o betragen. Ich glaube, daß dem Pat. 
ein d|auernder Schaden aus dem angeblichen Unfall nicht er¬ 
wachsen wird. 



88 


Dr. Leop. Laqner, 


Der Verletzte erhielt zwei Abfindungen von je 
2000 Mark. 

Eatamnese. 

Als Opernsänger ist er nicht mehr tätig, dagegen in einem 
kaufmännischen Geschäfte; er fühlt sich ziemlich wohl, singt 
noch in Privatzirkeln. — Inwieweit die Unterbrechung der 
Bühnentätigkeit in der allgemeinen Lage der Anstellungsver¬ 
hältnisse Bühnenangehöriger oder in persönlichen Mißerfolgen 
des Verletzten begründet ist, steht dahin. 

Fall XXII. 

Eine 47jährige Witwe, die von einer kleinen Pension und 
von Zimmervermietungen lebt und mir seit dem Jahre 1895 ärztlich 
bekannt ist, seit Jahren schon an Akroparästhesie leidet, erlitt 
im Jahre 1896 einen Unfall auf der Straäenbahn: Die Deichsel 
eines Postwagens stieß mit dem Wagen der Straßenbahn zusammen 
und traf den Rücken der Patientin in der Brust- und Lenden¬ 
gegend. Sie war arbeitsunfähig und mußte vier Wochen das Bett 
hüten. — Es waren Rüokenschmerzen und eine Magenverstimmung 
vorhanden. Bei dem geringsten Anlaß trat allgemeines Zittern 
auf. Kopfschmerzen, Angstzustände und Schlafstörungen plagten 
sie, da kurz nach dem Unfall familiäre Sorgen wegen der Aus¬ 
stattung ihrer Tochter sich zu den nervösen Unfallsfolgen hinzn- 
gesellten. 

So nahm die Pat. innerhalb von drei Monaten 50 Pfund ab, 
trotzdem Kuren in Kreuznach und in Wiesbaden angewendet worden 
waren. Ein objektiver Befund war nicht zu erheben. 

Neben Ersatz der Kurkosten wurde eine Abfin¬ 
dung von 2000 Mark gezahlt. 

Eatamnese. 

Die allgemeinen nervösen Beschwerden und der Eräfte- 
zustand hoben sich bald darauf. Jetzt ist die Verletzte eine 
arbeitsfreudige leistungsfähige Frau trotz ihrer 63 Jahre. Sie ist 
sehr korpulent geworden. Die Akroparästhesie besteht noch fort. 

Fall XXIII. 

Ein 45jäbriger KeUner behauptet früher niemals krank gewesen 
zu sein. Er leugnet eine luetische Infektion und erklärt auf Be¬ 
fragen, daß er abgesehen von den gewöhnlichen Mengen, die in 
seinem Berufe getrunken zu werden pflegen, einem übermäßigen 
Alkoholgenusse niemals ergeben gewesen sei. Er ist verheiratet; 



Die Heilbarkeit nerrOser ünfallsfolgen. 


89 


ein Kind sei ihm im Alter von 3 Jahren an Miliartuberkulose 
gestorbeo. Am 28. Dezember 1907 sei er auf der Fahrt von D. 
nach L. beim Einfahren des Zuges in L. durch ein plötzliches 
Anrücken des Wagens, in dem er saß, während er aufrecht stand, 
zuerst mit dem Kopfe gegen eine Ecke geschleudert worden, dann 
sei er zu Falle gekommen, über Kisten auf die rechte Körperseite 
und den Kopf gestürzt, so daß er schließlich auf dem Kopfe stond. (?) 
Der Zug hielt bald darauf, er stieg aus; auf dem Perron notierte 
er zuerst die Namen von vier Zeugen, die mit ihm im gleichen 
Abteil gesessen hatten. Dann ging er zum Stationsvorsteher und 
meldete den Unfall. Eine Stunde später begab er sich auf einen 
andern Bahnhof und fuhr nach D. zurück. Der folgende Tag war 
ein Sonntag. Am 30. Dezember erst suchte er den Rat des Arztes 
D. auf, der bei der ärztlichen Untersuchung folgendes feststellte: 

Patient klagte über Kopfschmerzen und Schwindel, sowie über 
Schmerzen in der rechten Hüfte, rechten Brustseite und Oberarm. 
-Das rechte Hüftgelenk war auf Druck empfindlich und in den darüber 
gelegenen Hautpartien war eine etwa 2^/3 cm breite und 7 cm lange 
blaurötlich verfärbte, blutunterlaufene Stelle sichtbar, die auf Druck 
sehr schmerzhaft war. Ebenso war das Hüftgelenk selbst sowie 
der rechte Oberarmknochen auf Druck und bei Bewegung schmerz- 
empfindlich. Ebenso die drei untersten Rippen. E!s bestand dort 
aber keine Schwellung. Nach Angabe des Verletzten hat eine 
Blutung aus dem After bei dem Sturze stattgefunden. Dr. D. 
nimmt an, daß Hämorrhoidalknoten geplatzt sind und daß seine 
Angaben, daß er an starken Kopfschmerzen und leichtem Schwindel 
leide, ärztlicherseits glaubhaft seien. Dr. D. kam zti dem Schlüsse, 
daß eine starke Prellung (Kontusion) des rechten Hüftgelenkes 
und des rechten Oberarmknochens, sowie der drei untersten Rippen 
rechterseits zwischen hinterer Axillar- und Papillarlinie stattgefun¬ 
den habe und daß der Verletzte voraussichtlich etwa 8 Tage 
arbeitsunfähig sein werde. 

Als Pat. bei mir erschien, gab er an, daß er inzwischen auch 
einen Bronchialkatarrh durchgemacht habe. Er klagt über an¬ 
dauernde Schmerzen in der rechten Hüfte und in der rechtsseitigen 
unteren Rippengegend, wo sich oft ein Brennen und Knebeln ent¬ 
wickele, das bis in die Wirbelsäule ausstrahle und ihn verhindere, 
in der Nacht auf der rechten Seite zu liegen. Auch der rechte 
Arm sei immer noch nicht brauchbar wegen Schmerzhaftigkeit der 
Bewegungen im rechten Schultergelenk. Im Kopfe habe er oft 
Schwindelempfindungen, er leide an Vergeßlichkeit und Angst¬ 
gefühlen, sei leicht schreckhaft und leicht ermüdbar. Diese Be¬ 
schwerden seien erst infolge des Unfalls bei ihm aufgetreten. Er 
hinkt beim Gehen und behauptet, daß er deshalb und wegen der 
Schwerbeweglichkeit im rechten Arm für seinen Kellnerbernf völlig 
unbrauchbar sei. 



Dr. Leop. Laqucr, 


[)n 


Pat. ist ein sehr korpulenter und muskelkräftiger Mann mit 
leicht kongestioniertem gedunsenem Gesicht. Etwas langsam und 
bedächtig ini Sprechen, von mäßiger Intelligenz. Er zeigt aber 
keinerlei Artikulations-Störungen, hört und sieht gut, seine Pupillen 
sind beide gleichweit, reagieren prompt. Die Bewegungen der 
Augen- und Gesichtsmuskulatur sind prompt, ebenso die Zungen- 
beweguugen. Auch am Rumpfe und an den Gliedmaßen finden 
sich weder Lähmungen noch Störungen der Hautempfindung. 
Nirgends besteht Zittern. Die Sehnenreflexe am Knie sind normal. 
Schwanken bei offenen oder geschlossenen Augen ist weder beim 
Gehen noch beim Stehen nachweisbar. Doch schont der Verletzte 
!)eim Gehen etwas das rechte Bein. Am rechten Hüftgelenk findet 
sich eine leichte Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen und 
auch die rechtsseitigen Rippen sind auf Druck noch ein wenig 
schmerzhaft, doch liegt diesen Krankheitserscheinungen jetzt weder 
eine Schwellung noch eine Blutung in den betreffenden Hautpartien 
zugrunde, noch war eine Verdickung '1er Rippen bezw. des Hüft¬ 
gelenks, nocli irgendeine entsprechende Muskelaffektion nachweis¬ 
bar. lieber subjektive Taubheitsgofühle hatte der Patient nicht 
zu klagen. Auch die Punktion der Blase und des Mastdarms gab 
ihm zu Beschwerden keinen Anlaß Die Herztöne waren regel¬ 
mäßig, rein und kräftig, die Herzaktiou etwas beschleunigt. Puls 92. 
Der Urin war frei von Eiweiß und Zucker. 

Pat. hatte also am 28. Dezember 1907 beim Sturz im Eisen¬ 
bahnwagen eine ganz geringe (Quetschung der rechten Rumpfseite, 
des rechten Armes und Beins erlitten. Eine wesentliche Hirn- 
erschütt'erang hat nicht stattgefimden. Auch der Schreck scheint 
kein großer gewesen zu sein, da er in der I^age war, einige 
Minuten nach dem Unfall seine Zeugen zu notieren und eine 
Stunde später von L. nach F. zu reisen (7 Stunden). Nie sind 
Erbrechen und Bewußtlosigkeit aufgetreten. Der erste Arzt Dr. D., 
der ihn zwei Tage nach dem Unfall untersuchte, hat die Unfalls- 
folgon für unwesentlich gehalten, da er annahra, daß der Verletzte 
nach 8 Tagen wieder hergestellt sein werde. 

Trotzdem hat Pat. in den Monaten Januar und Februar eine 
Tätigkeit nicht aufgenommen und keinen Arbeitsversuch gemacht. 
Er übertreibt nach meiner Ansicht seine Beschwerden und liest^ 
dieselben teilweise aus einem mitgebrachteu Notizbuche ab. Die objek¬ 
tiven Krankheitserscheinungen (Muskelschmerzen?) sind am 4. März 
1908 so geringfügig, daß sie als ein wesentliches Arbeitshinderuis 
nicht mehr angesehen werden können. Der Grad seiner Erwerbs- 
beschränkuug beträgt höchstens 25% und es ist mit Sicherheit 
eine volle Wiederherstellung in 1 — 2 Monaten zu erwarten. 

De r V e r 1 e t z t e w u r d e a m 19. A u g us t m i t 12 000 Mark 
a bge fund en. 



Die Heilbarkeit nerröeer Untallsfolgen. 


91 


Eatamnese. 

Nach der Abfindung war Patient dann Portier in einem 
naittelgroßen Hotel und hat jetzt ein Zigarrengeschäft erworben, 
das gut geht, und in dem er selbst mit Eifer und Ausdauer 
tätig ist. 

Fall XXIY. 

Ein 59jähriger, in 32jäbrigem Dienste ergrauter, und sehr ge¬ 
schätzter Eiseubahnbeamter erleidet einen Unfall in demselben 
Zuge, wo sich der Fall XII ereignet hatte, er wird nur ein wenig 
geschüttelt, steigt aus, hat den oben erwähnten schreckenerregenden 
Anblick nicht, fährt weiter in anderem Wagen, erledigt noch seine 
Privatgeschäfte, geht dann noch in den Dienst, später nimmt er 
Urlaub. Das hat er in den letzten Jahren nicht selten getan, weil 
er schon lange ein nervöser, verärgerter Mensch war, der seine 
Pflicht tat, es aber nicht überwinden konnte, daß er vor 8 Jahren 
nicht zum Assistenten befördert wurde, weil er über 50 Jahre 
alt war. Er hielt das für eine Zurücksetzung, machte eine Ein¬ 
gabe nach der andern, ging bis an die höchste Stelle. Reiner 
konnte ihm helfen, da traf ihn der Eisenbahn-Shok. 

Ein blasses Aussehen soll bald nachher Bekannten aufgefallen 
sein. — Die Beschwerden waren die bekannten neurasthenischen 
Erscheinungen: Schlaflosigkeit, Ermüdbarkeit etc. — Die Aerzte 
fanden zumeist nichts Objektives, außer atheromatischen Störungen, 
die auch schon vor dem Unfall festzustellen wai'en. Darauf war 
wohl auch ein geringer Eiweiß- und Zucker-Befund zurück¬ 
zuführen. Aber ein Arzt bescheinigte seine Dienstunfäbigkeit wegen 
Unfalls-Neurose. — Viele längere Urlaube hatten ihn schon vor 
dem Unfall veranlaßt, sich in N. ein Häuschen zu bauen, auf dem 
eine Hypothek von 8000 Mark ruhte, seine Familie dort wohnen 
zu lassen und seine Pensionierung zu betreiben. Er erhob gleich¬ 
zeitig Anspruch auf gesetzliche Unfallsrente. 

Eatamnese. 

Der Verletzte erhielt eine Abfindung von 8000 
Mark und ist jetzt pensioniert; er wäre auch ohne den Unfall 
in den Ruhestand getreten; er lebt aber jetzt sorglos in seinem 
eigenen Häuschen, treibt Gartenpflege und ist frei von nervösen 
Beschwerden. 


Fall XXV. 


Ein Lokomotivführer aus N. gab an, daß er am 13. September 
1906 einen Eisenbahnunfall erlitten habe, daß er aber jetzt ganz 



92 


Dr. Leop. Laquer, 


gesund und bereit sei, seinen vollen Dienst als Lokomotivführer 
in gleicher Weise wieder zu übernehmen, wie er das vor dem 
Unfall mit vollen Kräften und ohne daß er sich jemals einer 
strafbaren Verfehlung schuldig gemacht habe, 14 Jahre lang 
getan habe. 

Die Untersuchung des 40 Jahre alten Mannes, dessen Aus¬ 
sehen ein gesundes und kräftiges ist, ergab keinen objektiven 
Anhaltspunkt dafür, daß sein Nervensystem, seine Gemütsverfassung 
noch jetzt durch den erlittenen Unfall krankhaft beeinflußt sind. 
Gedächtnis, Auffassung, Sprach- und Ausdrucksvermögen waren 
normal. Bei Besprechung seines Unfalls, seiner Krankheit, seiner 
Familien Verhältnisse wies er eine durchaus gleichmäßige und keine 
gereizte zu querulatorischer Behandlung der Dinge oder zu Ueber- 
treibungen geneigte Stimmung auf. — Lähmungserscheinungen im 
Gebiete des zentralen und peripheren Nervensystems fanden sich 
nirgends vor. Alle Muskeln waren gut beweglich, die Hauteinpfin- 
dung ungestört, Blase und Mastdarm funktionierten gut. — Der 
Gang war sicher bei offenen und geschlossenen Augen, die Sehnen¬ 
reflexe am Knie waren lebhaft. 

Auch an den inneren Organen, an Lunge und Herz war der 
objektive Befund frei von jeder krankhaften Abweichung. 

Gegenüber dem gegenwärtigen objektiv und subjektiv durchaus 
normalen Gesundheitszustand des Verletzten enthalten die Personal¬ 
akten über den bisherigen Verlauf der krankhaften Folgen des 
Unfalls, den er erlitten hat, eine Reihe von Feststellungen, 
die die weitere Frage der Direktion berechtigt erscheinen lassen, 
ob der Verletzte, wie der Bahnarzt Dr. G. am 10. Dezember 1907 
meinte, seine sämtlichen Beschwerden simuliert hat. 
— Die unmittelbare Folge des Eisenbahnnnfalls war nach Bericht 
des Dr. G. neben Hautwunden eine leichte Hirnerschütterung. 
Anfangs Oktober 1906 erklärte ihn Dr. G. wieder für dienstfähig. — 

Nach einer neuntägigen Beobachtung im St. V. H. zu L. war 
Dr. H. der Ansicht, daß Pat. eine Schwere Nervenzerrüttung (trau¬ 
matische Neurose) als psychischen Insult von dem Eisenbahnzu- 
sammenstoß bei N. davongetragen habe: „Vielleicht hätten eine 
.schon vorbestehende chronische Nierenreizung“ (es waren Spuren 
von Eiweiß im Urin nachgewiesen!) und unangenehme Familien- 
verhältnisse (Pat. lebt von der Frau geschieden) prädisponierend 
eingewirkt, jedenfalls hat der Unfall in seiner, wenn auch nur 
sekundenlangen, höchsten seelischen Aufregung die Hauptschuld 
an der schweren Erkrankung.“ — Pat. sei wenigstens auf ein 
Jahr völlig arbeitsunfähig. — Eine weitere Einweisung in die 
Nervenanstalt, die ärztlich empfohlen war, lehnte Patient ab. 

Im März 1907 wurde von Dr. K. in W. eine traumatische 
Hysterie festgestellt, welche durch jenen Unfall hervorgerufen 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


9:5 


worden sei. Die Diagnose wurde unterstützt durch die gleichzeitig 
entstandene Schwachsichtigkeit ohne Befund und durch den Nad)- 
weis der hochgradig konzentrischen Gesichtsfeldeinengung. Dr. K. 
erklärte den Pat. für dienstunfähig voraussichtlich auf mehrere Mo¬ 
nate, während der Bahnarzt Dr. G. 4 Wochen vorher erklärt 
hatte, daß eine Simulation vorliege, da nur subjektive S 3 'mptome 
vorhanden seien und das Verhalten des Verletzten in unbeobachteten 
Zeiten seinen sonst vorgebrachten Klagen durchaus widersprach, 
auch die Prüfung von Hören und Sehen den Verdacht auf Simu¬ 
lation erweckte. 

Am 4. Dezember 1907 hat nun Dr. K. gutachtlich mitgeteilt, 
daß die Angaben über Sehschärfe und Gesichtsfeld nicht der Wahr¬ 
heit entsprochen hatten. 

Auch Dr. G. kam am 10. Dezember 1907 zu dem Ergebnis, 
daß Pat. seine sämtlichen Beschwerden simuliert und von dem 
Unfall im September 1906 nachteilige Folgen nicht davongetragen bat. 

Ed ist für den Gutachter, der den Kranken früher nicht kannte, 
sehr schwierig, nunmehr, nachdem IV 2 Jahre seit dem Unfälle 
verflossen sind und krankhafte Unfallsfolgen nicht mehr bestehen, 
festzustellen, ob der Pat. seine sämtlichen Beschwerden simuliert 
hat. — Die tatsächlichen Feststellungen von Dr. G. und Dr. K., 
die sich auf eigene genaue Beobachtungen am Verletzten stützen 
(gesnndheitsgemäßes Verhalten des Pat. in unbewachten Augen¬ 
blicken und falsche Angaben über Sehschärfe und Gesichtsfeld) 
sind sichere Beweise dafür, daß Pat. einen großen Teil seiner Be¬ 
schwerden übertrieben oder vorgetäuscht hat. Aus dem jetzigen 
Befunde läßt sich gar kein sicherer Anhaltspunkt dafür auffinden, 
wie hochgradig seine üebertreibungen waren. Nach ihren in den 
Akten befindlichen Darstellungen ist anzunebmen, daß bei dem 
Pat. in vielen Punkten eine Simulation von Krankheitserscheinungen 
Vorgelegen hat. 

In milderem Lichte erscheint dieses sein Verhalten, wenn man 
berücksichtigt, daß es sich um eine traumatische Hysterie 
handelt, wie sowohl Dr. H. wie Dr. K. angegeben haben. Denn 
die Uebertreibung einzelner Krankheitszeicben ist bei der Hysterie 
nicht selten; sie muß nach der Meinung erfahrener Beobachter in 
manchen Fällen direkt als hysterisches Krankheitssymptom aufgefaßt 
werden. Die hysterische Willensschwäche des ILranken ist zudem 
gesteigert worden durch die unglückseligen Familienverbältnisse, 
in denen er lebte und die seine materielle Lage wegen der Alimen¬ 
tation seiner geschiedenen Frau verschlechterten und seine Arbeits- 
anlust förderten. Er schreibt übrigens die jetzt erfolgte vollkom¬ 
mene Heilung der Sehstörung einer Schutzbrille zu, die er auf 
Anordnung von Dr. K. seit dessen erster Untersuchung getragen 
habe; endlich versichert er wiederholt, dnß er seinen Dienst nicht 



94 


Dt. Leop. Laqaer, 


angetreten habe, weil ihm Dr.'H. gesagt haben soll, er würde znm 
Wiedereintritt in den Fahrdienst von seiner Vorgesetzten Behörde 
rechtzeitig eine Aufforderung erhalten. Ob diese Angabe richtig 
ist, kann ich nicht entscheiden. 

Ich gebe auf die Anfrage vom 12. Januar 1908 mein Gut¬ 
achten* dahin ab: 

1. Daß Pat. jetzt von den Unfallsfolgen wieder hergestellt 
und völlig gesund ist; es dürfte sich aber empfehlen, ihn wegen 
der Labilität seines Nervensystems nicht gleich auf den verant¬ 
wortungsvollen Posten eines Lokomotivführers zu stellen, sondern 
ihn entsprechend seinen Fertigkeiten und Kenntnissen anderweitig 
zu beschäftigen. 2. Daß Pat. zwar eine große Reihe seiner Be¬ 
schwerden im Bereiche des Nervensystems und Sehorgans simuliert 
hat, daß aber die Uebertreibung und Vortäuschung von Krankheits¬ 
erscheinungen traumatischen Hysterikern eigentümlich sein kann. 

• 

Eatamnese. 

Auf Grund dieses Gutachtens wurde der Verletzte im 
April 1908 wieder an einem Orte auswärts im Rangierdienst 
als Lokomotivführer angestellt, wo er trotz mancher seelischen 
Erregungen, die in seiner Ehescheidungssache liegen, seinen 
Dienst zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten versieht. Auch 
sein außerdienstliches Verhalten hat zuletzt zu Klagen keinen 
Anlaß gegeben. 

Wenn ich noch einmal das zusammenfassen will, wasimLaufe 
der drei Jahrzehnte, wo ich als Gutachter tätig bin, nicht bloß in 
den oben kurz skizzierten charakteristischen Fällen von Unfalls¬ 
neurosen, sondern fast immer da, wo nervöse Unfalls¬ 
folgen sich besserten oder gar ausheilten, als psychothera¬ 
peutisches Agens in Betracht kam, so wird es gut sein, unter 
den Unfallverletzten eine Scheidung zwischen einzelnen Gruppen 
in sozialer Hinsicht vorzunehmen. 

Sehr wesentlich von den anderen unterscheiden sich 
Unfallverletzte Arbeiter, denen nur die gesetzliche 
Rente und nur bei geringerem Grade von Invalidität früher 
bei 15, jetzt bei 20 Proz., eine einmalige Abfindung zusteht. 

Wie sehr es hier auf endogene Momente, auf die geistige 
Begabung des Arbeiters, auf seine Charakter-Eigenschaften, 
seine Gemütslage ankommt, beweisen die Fälle II und IV. 
Der erste, ein mäßig begabter, körperlich nicht sehr rüstiger 



Die Heilbarkeit nervöser ünfallsfolgen. 


95 


Arbeiter, wird durch den „Zwang der Not“, wie Ho che 
es in seinem Referate schon so vortrefflich ausgedrückt hat, 
veranlaßt, nach jahrelangem Nichtstun die Arbeit wieder auf¬ 
zunehmen'; die wachsende Kinderzahl, die Besserung auf dem 
Arbeitsmarkt und die Aussicht, einen erhöhten Lohn zu be¬ 
kommen, der das Doppelte des Rentenbetrages beträgt, drängen 
die durch den Unfall gesetzten Begehrungsvorstellungen in den 
Hintergrund und führen zur Wiederaufnahme der von Jugend 
auf erlernten Beschäftigung. Sobald sich der Neurotiker 
wieder einige Jahre an die Arbeit gewöhnt und trotz nervöser 
Beschwerden und zunehmender Altersbeschwerden (Atheroma 
praecox) jahrelang durchgeführt hat, vertauscht er den Maurer¬ 
beruf mit dem Gewerbe eines Tagelöhners in einer städtischen 
Gärtnerei, die ihm eine Seßhaftigkeit und eine regelmäßige, 
ruhigere Tätigkeit ermöglicht. Hierbei wird er unterstützt 
durch seine Familie, die aus neun Köpfen besteht. Der pater 
familias ist nicht mehr ihr einziger Ernährer, die Kinder sind 
allmählich herangewachsen und erleichtern ihm den Brot¬ 
erwerb, so daß er auf die höheren Löhne vor Eintritt des 
Greisenalters und damit auf eine angestrengtere, seinen 
alternden Körper weniger erschöpfende Arbeit’ verzichten kann. 

Ähnlich steht es bei dem Fall IV, wo ebenfalls eine reich¬ 
liche Kinderzahl vorhanden ist. Hier wird allmählich die 
Lücke ausgefüllt, die durch die geistige Invalidität des Vaters 
entstanden ist. Der geistig sehr schwach veranlagte Vater, 
dem nicht die Kraft inne wohnte, den Segen der Arbeit zu 
erkennen und leichte Mißempfindungen im Laufe der Zeit zu 
unterdrücken, bequemt sich erst allmählich zur Aufnahme 
einer leichten gewinnbringenden Tätigkeit, da die Töchter sich 
verheiratet haben und er sich gezwungen sieht, mit 50 Proz. 
Unfallsrente wieder selber Hand ans Werk zu legen. 

ln Fall II und IX konnte ich durch eigene Zugeständnisse 
der Verletzten und durch persönliche Nachforschungen bei 
Arbeitgebern nachweisen, wie die lange Dauer und endliche 
Hei’ung der nervösen Unfallsfolgen zustande gekommen war. 
Die Mitarbeit der Familienmitglieder wirkt bald hemmend 
bald fördernd auf den Verlauf. 

Aber bei vielen ländlichen Arbeiterfamilien,- die in Groß- 



96 


Dr. Leopold Laqaer, 


Städten in Arbeit stehen, ist nach meinen Erfahrungen die 
Tatsache bemerkenswert, daß sie, wenn ihnen ein Unfall be¬ 
gegnet, besonders in vorgerücktem Lebensalter, eine Be¬ 
schäftigung in der Landwirtschaft, besonders auf eigenem 
Grund und Boden, der Tätigkeit als Handwerker oder Tagelöhner 
in der Großstadt vorziehen. Sie begnügen sich dann mit einem 
kleinen Einkommen, das ihnen aus dieser Tätigkeit erwächst. 
Dazu tritt die Teilrente, die ihnen für ihre nervösen Unfalls¬ 
folgen bewilligt ist, und die Unterstützung durch die Kinder 
und Frau, die durch Mitarbeit zum Familienunterhalt mit bei¬ 
tragen. So sind sie von der äußeren Not befreit und scheinen 
dabei auf dem Lande mehr „Arbeitsfreude“ zu empfinden, als 
wenn sie fern von der Familie den Tag oder die Woche über 
ihre industrielle Arbeit leisten müssen. 

Die Herkner-Hellpachsehen Ausführungen über die 
Beziehungen des Mangels an Arbeitsfreude zu den Unfalls¬ 
neurosen der Arbeiter erfahren durch solche Fälle eine ent¬ 
schiedene Bestätigung. 

Die nervösen Unfallsfolgen in Fall V und VI, wo die 
obligate Form der allmählichen Rentenverkürzung zur An¬ 
wendung kam, der Verletzte aber mit einer gewissen Schonung 
und Nachsicht seitens der Arbeitgeber fast ununterbrochen 
weiter arbeitet, haben sieben bezw. acht Jahre zu 
ihrer Heilung gebraucht. 

Hier war von vornherein durch wiederholte Untersuchung 
vorauszusehen, daß nichts als eine Unfallsneurose vorlag. 
Wieviel hätte der Gesundheit und der Arbeitskraft des Ver¬ 
letzten genützt werden können, wenn nach dänischem Muster 
zwei entsprechende Abfindungen im ersten und zweiten Jahre 
nach dem Unfall zur Auszahlung gelangt wären? Der schon 
erwähnte Vergleich mit den abgefundenen Arbeitern unter 
Vll und VIH scheint mir beweisend zu sein. 

Zwei geistig hochstehende Arbeiter haben wir in den 
Fällen I und IH vor uns. 

Beide Verletzte sind relativ schneU geheilt. 

Aber die Art, vor allem die Dauer ihrer nervösen Unfalls¬ 
folgen unterscheiden sich sehr wesentlich voneinander durch 
die Sinuesa^ ihrer Träger: Hier war es wohl Sache des Tem- 



Die Heilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


97 


peraments und der Gemütsanlage, daß der erste, ein „Sangu¬ 
iniker*', dem freundlichen Zuspruch des (Arztes ganz unzu¬ 
gänglich war, erst nach mehr als Jahresfrist aus besonderen 
oben angeführten Gründen sich zur Arbeit bequemte, der andere 
ein „Phlegmatiker**, schon nach sechs Wochen in altgewohnter 
regelmäßiger Weise seine Pflicht tat. 

Eine Besserung der sozialen Lage, die vor dem 
Unfall schon gefährdet war, nach dem Unfall aber ganz erheblich 
verschlechtert erschien, und vom Verletzten auf Grund seiner 
Mißstimmung besonders ungünstig beurteilt wurde, hat bei der 
Heilung durch Kapitalabfindung im Fall VII und VUI 
mitgewirkt. Unglückliche Familienereignisse und Unsicherheit 
der Existenz hatten schon Vorgelegen, ehe der Unfall kam. Die 
Kapitalabfindung brachte eine Beseitigung sorgenvoller Ge¬ 
danken und damit eine wesentliche Besserung bezw. Aufhebung 
der reizbaren Schwäche. 

Im Falle IX war eine hysterische Konstitution schon vor 
dem Trauma vorhanden, im Fall X fiel dieses Moment nicht in 
die Wagschale, aber ein erheblicher Schreck mußte als die aus¬ 
lösende Ursache der hysteriformen Unfallsfolgen angesehen 
werden. 

Die Abfindungssummen, die in den Beobachtungen XI bis 
XVin gezahlt wurden, erreichten zum Teil eine recht beträcht¬ 
liche Höhe, z. B. im Fall XI und XII: Hier wirft sich auch 
für den wohlwollendsten Beurteiler der festgestellten Unfalls¬ 
folgen die Frage auf, ob nicht die „Begehrungs-Vor¬ 
stellungen** im Laufe der Unfallsneurose schon mehr zu einer 
„Bereicherungs-Idee“ ausgewachsen waren. „In solchen 
Fällen“ — so meinte einmal der Beauftragte einer Eisenbahn¬ 
verwaltung — „müßte der Eintritt einer traumatischen Neurose 
dem hohen Gewinne eines Lotterieloses gleichgesetzt werden.“ 
Dieser Laienstandpunkt enthält ein Körnchen Wahrheit, wie 
der Verlauf der Beobachtungen IX bis XVI zu beweisen 
scheint. 

Aber wir dürfen nicht vergessen, daß solche Bereicherungs- 
Ideen, wie Gramer in der Diskussion zu Hoch es Vortrag 
in Baden-Baden 1907 bemerkt hat, ganz normale Vorgänge in der 
Psyche auch der Besten unseres Volkes sind: Bei jedem Büffet, 

7 



98 


Dr. Leop. Laquer, 


daa auf Kongressen den Teilnehmern kostenlos zur Verfügung ge¬ 
stellt wird, sagt C r a m e r, kann man das Auftreten der Begehrungs- 
Vorstellungen bei einem nicht geringen Teil der Festgäste trotz 
ihrer akademischen Grade und Titel in akutester Weise sich 
entwickeln sehen! 

Ho che hat gelegentlich auch andere Begehrungs-Vor¬ 
stellungen, z. B. den Hang zu Zollhinterziehungen bei Ver¬ 
gnügungsreisenden als Beweis dafür angeführt, wie leicht anch 
in den höchsten Gesellschaftsklassen solche Entgleisungen Vor¬ 
kommen. Hier wird gewiß keinem einfallen, jeden Schreck 
bei einer Zollrevision auf Auslandsreisen als — Eisenbahnun¬ 
fall aufzufassen und damit — Begehrungs-Vorstellungen in Zu¬ 
sammenhang zu bringen 1 ? — 

Bei allen ärztlichen Beobachtungen, wo Verletzte aus 
besseren Ständen auf Eisenbahnfahrten Unfälle erleiden, 
dann nervös erkranken und schließlich durch Abfindung über¬ 
raschend schnell geheilt werden, wird es immer schwer sein, 
zu entscheiden, ob einfache, ganz natürliche — Gewinnsucht 
mit im Spiele war, oder ob die Summe von arbeitshemmenden 
Sensationen, über die Klage geführt wird, schon unter den 
Begriff der — Krankheit fallen. 

Hartmann berichtet (1. c.) von einem Fall, wo einem 
Herrn eine Eisenplatte auf den Kopf gefallen war. Seitdem 
batte er fast unerträgliche Kopfschmerzen. Sie hielten solange 
an und machten ihn arbeitsunfähig, bis er sich mit seiner 
Unfallversicherung auf eine Abfindung von 100000 Mark ge¬ 
einigt hatte. Von dem Augenblicke an war er wieder arbeits¬ 
fähig, spielte eine große Rolle im öffentlichen Leben, ganz 
speziell im — Versicherungswesen! 

Der Gutachter ist besonders übel daran, wenn in den 
Akten sich nicht bloß hausärztliche Atteste befinden, die un¬ 
mittelbar oder einige Tage nach dem Unfall abgegeben sind, 
sondern auch lang ausgedehnte und vielfach begründete Krank¬ 
heitsschilderungen aus Sanatorien, Universitätskliniken in den 
Akten mehrfach vertreten sind, die voller Widersprüche er¬ 
scheinen. Da ist nicht immer die unzulängliche Untersuchung 
des Kranken und die fehlende Kenntnis der Lehre von den 
nervösen Unfallsfolgen schuld an der mangelhaften Unter- 



Die Heilbarkeit nervbser ünfallsfolgen. 


99 


Scheidung zwischen realen und übertriebenen Symptomen- 
gruppen; da besteht kein Mangel in der ärztlichen Vorbildung, 
wie er von vielen Arzteorganisationen und klinischen Lehrern 
beklagt zu werden pflegt. Einer großen Reihe von den leider 
meist in nicht immer zugänglichen Akten vergrabenen Tat¬ 
sachen liegen ganz andere Momente zugrunde. 

Haftpflichtprozesse und das Rentenfestsetzungsverfahren 
bei der sozialen Versicherung haben eine Nachgiebigkeit und 
ein falsches Entgegenkommen bei vielen Ärzten, auch bei 
klinischen Lehrern und Anstaltsleitern gezeitigt, welche die Fest- 
steUung des wahren Sachverhalts außerordentlich erschweren 
und die Gutachter bei endgültiger Beurteilung der Unfalls¬ 
neurosen und bei Bewertung des Invaliditätsgrades in eine 
heikle Lage zu bringen pflegen. 

Geradezu ein Dogma in der Volksseele, ein Gemeingut der 
Masse ist die Meinung geworden, daß jeder Unfall dem Ver¬ 
letzten ein Recht auf eine möglichst hohe Entschädi¬ 
gung gewährt, Ganz allgemein ist der Gedanke verbreitet, wie 
Sachs sehr richtig bemerkt, „daß jede Einschränkung der Ent¬ 
schädigung ein Unrecht der Berufsgenossenschaft (bezw. der Un¬ 
fall Versicherungsgesellschaft), eine schwere Benachteiligung des 
Arbeitenden Volkes (bezw. des Versicherten) sei, daß genug 
Geld vorhanden sei und die Mitglieder der Berufsgenossen¬ 
schaften, die Arbeitgeber bezw. die Versicherungsgesellschaften 
„nur nicht zahlen wollten“. Auf der einen Seite der arme, 
geschädigte, schmerz- und notleidende Verletzte, auf der anderen 
Seite die in der Berufs-Genossenschaft zusammengefaßten 
reichen Fabrikanten oder die reiche, hohe Dividende be¬ 
zahlende Versicherungsgesellschaft. Die Versicherten sind 
dann oft der Meinung, „daß sie von dem vielen eingezahlten 
Gelde auch einmal selber etwas Wiedersehen wollten“. 

Den Eisenbahnverwaltungen gegenüber stehen Unfalls¬ 
neurotiker nicht so selten auf einem ähnlichen Standpunkte. 
Sie meinen, daß die Bereicherung des einzelnen auf Kosten 
der Gesamtheit der Eisenbahn gegenüber durchaus erlaubt sei, 
da diese öflfentlichen Verkehrsinstitute jahraus jahrein ihre 
Rechnungen mit beträchtlichen Überschüssen abschließen. Ja, 
manche Leute, die viel unterwegs sein müssen und die Eisen- 

7 * 



100 


Dr. Lcup. LuqiiLT, 


bahn benutzen, leben vielfach in dem Glauben, daß sie auf 
dem Wege der Aggravation ihre Geschäfts- (Reise-) Unkosten 
durch eine einträgliche Unfallsneurose wieder herausbekommen 
könnten und dürften! Erst jüngst bin ich in der Praxis der 
Meinung begegnet, daß ein mit fünfzehntausend Mark Rente 
abgefundener Neurotiker, bei dem die Herzneurose zur Renten¬ 
quelle wurde, mir auf meinen Vorschlag, er solle doch zu reisen 
versuchen, allen Ernstes erwiderte: Er möchte gern wieder zu 
reisen versuchen, „aber die Eisenbahn erlaube es ihm nicht“ 1 

Gerade in der Psyche jener Unfallsverletzten, deren Neu¬ 
rose ich in den Beobachtungen XI bis XVHI zu schildern ver¬ 
sucht habe, mag noch mitunter eine gewisse Angst vor ver¬ 
meintlichen schwereren späteren Folgen des Unfalls zu über¬ 
triebener hypochondrischer, grüblerischer Selbstbeobachtung ge¬ 
führt haben. Diese verschiedenen feineren, psychologischen 
Zusammenhänge sind nicht in jedem Falle von Unfallsneurose 
der besseren Stände zu enträtseln und leider nicht immer zu 
beweisen. 

Egger hat schon, wie ich oben erwähnt habe, davon ge¬ 
sprochen, daß viele Menschen mit den gleichen neurastheni- 
schen Erscheinungen, wie sie nach Unfällen auftreten, jahre¬ 
lang ihrem Berufe ohne Unterbrechung, ohne daß sie sich eine 
größere Ausspannung gönnen können, fortsetzen. 

Ja, ich gehe noch weiter und möchte sagen, daß eine 
ganze Reihe von nervösen Unfallsfolgen nichts weiter dar¬ 
stellt als jene Nervosität, welche die „Alltags-Neurose“ 
ausmacht. 

Die Verstimmungen des Alltags, die gelegentliche Schlaf¬ 
losigkeit, der Kopfdruck, die allgemeinen oder örtlichen Er¬ 
müdungsgefühle, die manchmal schon im kräftigen Mannes¬ 
alter — häufiger natürlich in vorgerückteren Jahren — dem 
Rentner und Berufsmenschen, dem Kopfarbeiter oder dem Ver¬ 
treter der geistigen und körperlichen Arbeit, dem öffentlichen 
und Privatbeamten usw. zeitweilig das Leben verbittern, können 
ja ohne weiteres als eine funktionelle Nervenkrankheit gedeutet 
werden. Da ist der Übergang von Gesundheit in Krankheit 
ein sehr fließender; wenn also ein Unfall passiert, so braucht 
der durch die Schwankungen der Geschäftslage sehr leicht ans 



Die Heilbarkeit nervtfser Untallsfolgen. 


101 


dem Gleichgewicht kommende Fabrikant oder Kaufmann eich nur 
zu erinnern, wie es ihm zumute ist, wenn einmal bis zwei¬ 
mal und auch öfter in der Woche schwere, wichtige Über¬ 
legungen oder gar schicksalsschwere Entscheidungen bei großen 
Kursverlusten oder Konkurs und Arbeiter-Streiks seinen Geist 
erfüllen. Aus der Alltags-hat sich dann sehr schnell 
die Unfallsneurose entwickelt. Wo eine neuropathische 
Anlage, eine konstitutionelle Nervosität, die Summe von neur- 
asthenischen Erscheinungen bei früher Arterien-Verkalkung 
sich geltend machen, oder Stoffwechsel-Anomalien der ver- 
schiedentlichsten Art vorhanden sind, vollzieht sich dieses 
psychische Geschehen sehr rasch. Fettsucht, Plethora, Gicht, 
Alkohol- und Nikotin-Mißbrauch begleiten so viele Menschen 
auf ihrer Lebensreise: sie erleichtern diesen Übergang von der 
gesunden zur krankhaften Gemütsverfassung. 

Im Falle XU, XV, XVI und XVU, wo es mir zufällig 
möglich gewesen war, über die Gesundheitszustände der Ver¬ 
letzten vor dem Unfall eigene und ganz einwandfreie Beob¬ 
achtungen anzustellen, tritt dieser Zusammenhang zwischen 
der Nervosität des Alltags und der der Unfallsfolgen besonders 
deutlich in Erscheinung. 

Im Falle XIV sprach auf der einen Seite die Auskunft 
der Ortsbehörde für das in den betreffenden Kreisen sehr ver¬ 
breitete Streben nach Bereicherung durch den Unfall; auf der 
anderen Seite konnte aus der körperlichen Untersuchung mit 
Sicherheit geschlossen werden, daß Alltagsbeschwerden vom 
Verletzten als nervöse Unfallsfolgen gedeutet wurden; sie 
hatten schon eine Reihe von Jahren vor dem Unfall bestanden, 
ohne daß sie dem alten Mann bei der täglichen Ausübung eines 
schweren Kleinhandels auf dem Laude irgendwie hinderlich 
gewesen waren. 

Bei der Begutachtung von Unfallsneurosen begegnet man 
ja hier und da auch einer sehr verständnisvollen Objektivität 
seitens der behandelnden Kollegen bezw. der Hausärzte. 
Manche versagen ihre Mitwirkung nicht, wenn es sich darum 
handelt, den Verletzten zur Wiederaufnahme der Arbeit und 
zur Beschränkung auf ein vernünftiges Maß der Entschädigungs¬ 
ansprüche anzuspornen. Es gelingt dann aber auch nach 



102 Dr. Leop. Laquer, 

kollegialer Verständigung ungemein rasch, der ünfallsneurose 
Herr zu werden. 

Aber leider kommt das nach meiner Erfahrung gar zu 
selten vor; recht oft werden alle Erkrankungen, die vor dem 
Unfälle da waren, von dem Patienten oder von dessen Familie 
selber verschwiegen oder wenn sie dem Gutachter zufällig be¬ 
kannt werden, verweigern die Ärzte das Zeugnis. Der Verletzte 
selber hat ja kein Interesse daran, dem Gutachter vollen und 
klaren Aufschluß zu geben über die Labilität seines Nervensystems,, 
die schon vor dem Unfälle ärztliche Hilfe nötig machte. Im Fall 
XV z. B. waren mehrfache Kuren in Marienbad und Carlsbad 
vorausgegangen; der hochgradige Fettansatz, der noch zur Zeit 
der Unfallsneurose bestand, verriet die Wirkungslosigkeit der 
Euren. Das gab den Gutachtern einen Hinweis auf krankhafte 
Zustände, die mit dem Trauma nichts zu tun hatten und in 
der Konstitution des Vorletzten begründet waren. Aus allen 
diesen Gründen wäre es angezeigt, von der Einrichtung dea 
ärztlichen Schiedsgerichts mehr als bisher Gebrauch zu 
machen, wie es bei Privatversicberungen besteht. 

„Die Verschiedenheit in der individuellen psychischen 
Reaktion auf irgendeine körperliche Erkrankung“ (Reinhard) 
spielt auch eine wichtige Rolle in den Einflüssen, die ein 
Unfall auf die Psyche des Einzelnen ausübt. R. (1. c.) be¬ 
zweifelt. ob man entschädigen müsse, etwas, was viel mehr eine 
Folge von „Charakter und Persönlichkeitsveranlagung, als 
Unfallsfolge!“ Es würdeii gelegentlich ganz gesunde Menschen 
zu Hypochondern. Solche Episoden im Lebensgange zahlloser 
Individuen von mehr minder kurzer Dauer dürften ärztlicherseits 
nicht als Krankheiten angesehen werden, die ein Recht auf 
Gelderwerb verleihen. 

Wenn man die Beobachtungen unter XEX bis XXIII wieder 
in eine soziale Gruppe einreihen wollte, so würde man die 
Überschrift „Kleine Leute“ wählen. Da lag nicht ein, 
materieller Notstand der Familie, auch nicht — mit einer Aus¬ 
nahme — eine vielleicht auffällige Bereicherungstendenz vor. 
Man ergriff nur die günstige Gelegenheit des plötzlichen Ein¬ 
tritts nervöser Unfallsfolgen, um bares Geld zu erringen, das 
in jenen Kreisen nicht allzu reichlich fließt, und es best- 



Die Keilbarkeit nervöser Unfallsfolgen. 


103 


möglichst zu verwenden. Bei einigen von diesen verletzten 
Personen—auch bei anderen Gruppen meines Beobachtungsmate¬ 
rials — trat die im Volke noch vielfach verbreitete Idee in Erschei¬ 
nung: Dem Unfallverletzten gehörte ein — „Schnierzens- 
geld" für den Schreck, den er ausgestanden, für alle die 
Mißempfindungen, für den Schwindel, für die Kopfschmerzen 
usw., und wenn sie auch nur einige Tage oder mehrere 
Wochen angehalten hätten. Sobald Zahlung erfolgt war, war 
die Krankheit sogleich beendet. 

Besonders auffällig waren diese Verhältnisse im Falle XX, 
wo die Angaben des Patienten über die durch den Unfall not¬ 
wendig gewordene Änderung in seiner geschäftlichen Stellung 
von den Arbeitgebern nicht bestätigt wurden. Hier lagen 
übrigens noch deutliche alkoholistische körperliche Merkmale 
vor, die von jeher bestanden hatten, die aber für die Hart¬ 
näckigkeit der nervösen Unfallsfolgen in Betracht gezogen 
werden mußten. 

Auf die Bedeutung des Alkoholismus für die Nervosität 
bei Unfällen komme ich später bei einer Beobachtung von 
komplizierter Unfallsneurose noch zurück. 

Die Heilung bei XXI, XXII und XXIII wurde durch die 
Auszahlung der Abfindungssumme wesentlich beschleunigt; im 
ersten Falle war aus äußeren Gründen ein Fortkommen im 
künstlerischen Berufe erschwert und ein Berufswechsel ge¬ 
boten. 

Der verletzte Kellner (XXHl) benutzte seine Unfallsneurose 
zur Begründung eines neuen, viel leichteren und einträglicheren 
Berufes mit Hilfe der Abfindung. Dies wirkte natürlich auch 
günstig auf seine Lebenslust und auf seine Gemütsstimmung; 
die neue kaufmännische Beschäftigung als Verkäufer im eigenen 
Ladengeschäft entzog den Verletzten auch allen alkoholischen 
Gefahren des Kellnerberufes. 

Der Fall XXII zeigt sehr deutlich die Gleichheit der 
arteriosklerotischen Erscheinungen und der neurasthenischen 
Unfallsfolgen bei alten verärgerten und erschöpften Eisenbahn- 
Beamten. Sie sind klinisch oft nicht zu trennen. Wenn der 
Zeitpunkt des Ruhebedtirfnisses von solchen Beamten mit 
einem Unfall, und sei er an sich auch noch so unbedeutend. 



104 


Dr. Leop. Laquer. 


zusammenfällt, so werden Rentenansprüche geltend gemacht 
Anerkennung des Unfalls seitens der Verwaltung hat außer 
einer höheren Bewertung der Pension i66*/g Proz. ihres Ge¬ 
halts) auch Ersatz der noch erwachsenden Kosten des Heil¬ 
verfahrens (Badekuren u. a.) nach dem Gesetz vom 2. Juni 
1902 im Gefolge. 

Hier in Fall XXIV konnten gewisse drückende finanzielle 
Verpflichtungen durch die Abfindungssumme gelöst und eine 
Beruhigung des Gemüts erzielt werden. 

Der Verlauf der Unfallsneurose im Falle XXV zeigt deut¬ 
lich, wie weit die Aggravation des Verletzten gehen kann, 
wenn nervöse Uufallsfolgen mit schweren Familiensorgen (Ehe¬ 
scheidung!) verquickt sind. 

Ho che (1. c.) erklärt i. J. 1904 in seinen Schlußsätzen 
unter 4., daß die Reform der Unfallsversicherungsgesetze not¬ 
wendig und unaufschiebbar sei und sich auf Grund der Er¬ 
fahrungen der Ärzte über das Zustandekommen nervöser Un¬ 
fallsfolgen u. a. auch erstrecken müsse: 

a) auf eine Beseitigung aller vermeidbaren seelischen 
Schädlichkeiten im Entschädigungsverfahren, 

b) Regelung der Erziehung zur Arbeit, 

c) auf eine Ausdehnung der einmaligen Kapitalabfindung 
an Stelle des fortlaufenden Rentenbezuges. 

Weitaus die meisten ruhig denkenden Beurteiler dieser 
Frage hatten, wie ich oben nachzuweisen versucht habe, den 
Standpunkt H.'s gebilligt. 

Die Reichsversicherungsordnung ist inzwischen Ge¬ 
setz geworden, — aber den Rat von Ho che und anderen ärzt¬ 
lichen Autoritäten hat man in dieser Frage, wie in vielen anderen 
ärztlichen Dingen, so auch in Sachen der nervösen Unfalls¬ 
folgen in keiner Weise beachtet. Hier waren gewiß keine 
Standesinteressen, keine wirtschaftlichen Vorteile der Ärzte im 
Spiele. Maßgebend war für Ho che und alle, die seine An¬ 
sicht teilen, nur die Gesundheit des deutschen Volkes 
und eine gerechte Anwendung sozialpolitischer 
Gesetze. 

Die gesetzgebenden Körperschaften haben bei Neuordnung 



Die Heilbarkeit nerrOser Hnfailsfoigen. 


105 


der sozialpolitischen Dinge auch die bekannte Warnung Posa* 
dowskys vor Begünstigung der zunehmenden Rentensucht 
nicht berücksichtigt. Sie haben z. B. nicht bedacht, daß nach 
Meinung aller Juristen und Mediziner die mangelhafte Fassung 
des § 3a vom Haftpflichtgesetze vom 7. Juni 1871 bezw. vom 
16. Aug. 1896, die Hauptschuld trägt an dem Anwachsen 
der Begehrungs Vorstellungen im ganzen deutschen Volke: „Im 
Falle einer Körperverletzung ist Schadenersatz zu leisten durch 
Ersatz der Heilungskosten und des Yermögensnachteils, den 
der Verletzte durch eine infolge der Verletzung eingetretene 
zeitweise oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung 
der Erwerbsfähigkeit erleidet.“ 

Bei Beratung des Gesetzes überden Verkehr mit Kraft¬ 
fahrzeugen (Automobilgesetz vom 3. Mai 1909) hat man darin 
mehr Einsicht bewiesen und ist der Gefahr der Rentensucht 
im Gesetz entgegengetreten. 

Da ist eine Grenze der Schadenersatzhöhe bei Körper¬ 
verletzung durch Automobile vorgesehen. Denn der Ersatz¬ 
pflichtige haftet (nach § 12 Abs. 1) im Falle der Verletzung 
eines Menschen nur bis zu einem Kapitalbetrage von fünfzig¬ 
tausend Mark oder bis zu einem Rentenbetrage von jährlich 
dreitausend Mark! Zur Beschränkung der psychogenen Mo¬ 
mente bei Entstehung nervöser Unfallsfolgen dürfte diese ge¬ 
setzliche Maßnahme von bester Wirkung sein! Ist es doch 
vorgekommen, daß nach dem Haftpflichtgesetz in einem mir be¬ 
kannten Zivilprozesse ein querulierender Landarzt mit mitt¬ 
lerer Praxis wegen Unfallsneurose mit einer Jahresrente von 
zwölf tau send Mark abschloß. — Ein gleichsinniger kauf¬ 
männischer Sachverständiger ging sogar mit einer lebensläng¬ 
lichen Jahresrente von einundzwanzigtausend Mark als 
Sieger aus längerem Rentenkampf mit einer Eisenbahndirektion 
hervor. Zufälligkeiten im Berufe sollen in dem Jahre vor dem 
Unfall ihre Einnahmen so kolossal gesteigert haben. Als der 
letztgenannte Unfallsueurotiker, nachdem er den Prozeß ge¬ 
wonnen hatte, noch 3000 Mark jährliche Kurkosten wegen 
seiner traumatischen nervösen Herzerkrankung verlangte, wurde 
er abgewiesen. 

Die lange Dauer von solchen Haftpflichtpro- 



106 


Dr. Leop. Laqner, 


zesseo, die oft unermeßliche Höhe der ursprünglichen 
Forderungen, der Mangel an Objektivität und die 
schon erwähnte Nachgiebigkeit seitens vieler Ärzte, 
die Widersprüche in ihren Gutachten, die Unklar¬ 
heiten über die dem Unfall vorangegangenen Krank- 
heiten und die konstitutionelle Nervosität, sowie 
Charakter-Anomallen bilden die ätiologischen Mo¬ 
mente bei Schädigung der Psyche Unfallverletzter. 
Sie züchten Unfallsneurotiker in großen Massen. 

Die richterlichen Entscheidungen in diesen Prozessen sind oft 
so merkwürdig, daß sie manchenUnfallverletzten zur Nachahmung 
von Überforderungen anreizen! Schwerverletzte Arbeiter, die 
nach dem Unfall redlich und ehrlich zu arbeiten sich bemühten, 
erhalten oft eine kleine Rente; schlappe, querulierende jammer¬ 
volle Existenzen verstehen es dagegen, eine Dauerrente durch 
den Wechsel der Ärzte und die Widersprüche in ihren Befunden 
allmählich herauszupressen. Das sind traurige Tatsachen, die in 
der Gesetzgebung und in der Justizpflege nicht berücksichtigt 
und von den Ärzten nur selten in Betracht gezogen werden. 
Rieger und Reichard (1. c.) sehen sie als schreiende Unge¬ 
rechtigkeit, als „Prämie auf das Gewinsel“ an. 

Großes Aufsehen machte jüngst die üble Kritik von 
Friedensburg, eines langjährigen richterlichen ordentlichen 
Mitglieds des Reichsversicherungsamts, die er jüngst an der 
Recht sprechenden, jener höchst sozialpolitischen richterlichen 
Instanz geübt: F. spricht in der „Zeitschrift für Politik“ von 
dem übergroßen Wohlwollen jenes Gerichts, von dem blinden 
Wohltätigkeitssinn unserer Zeit und von den Verheerungen, 
welche die Rentensucht im Volkscharakter angerichtet. Als 
Beispiel führt er gerade die Zunahme der Unfallsneurose an. 

Zu den Fällen, in denen der Träger der Unfallsneurose 
nicht versichert war, aber eine leichte nervöse Belastung zeigte, 
gehörte ein von mir behandelter lediger, 36jähriger Rechts¬ 
anwalt von sehr ruhigem Temperament, der im August 1895 
bei einer Hochtour in Steiermark eine Hinterkopfwunde durch 
Herabfallen eines Felssteines von etwa zehn Pfund davontrug. 
Trotz starker Blutung, die sofort eintrat, ging er noch sechs 
Stunden bergabwärts, erst am zweiten Tage trat eine Über- 



Die Heilbarkeit nervOser Unfallsfolgen. 


107 


empfindlichkeit gegen Geräusche, eine gefühlte Eingenommen¬ 
heit im Kopfe, ein schmerzhaftes Druckgeftihl in den Ohren 
und eine Schwere in den Augen ein. Sonst machten sich noch 
Erscheinungen allgemeiner Müdigkeit und Erschlaffung gel¬ 
tend. Objektive Symptome des zentralen und peripheren 
Nervensystems fehlten vollkommen. In den ersten Wochen 
nach dem Unfall bis etwa Mitte Oktober wurde er mit Gal¬ 
vanisation des Kopfes mehr zu suggestiven Zwecken behandelt. 
Diese Methode, verbunden mit ärztlichem Zuspruch, brachte 
wesentliche Milderung der Krankheitserscheinungen. Aber es 
dauerte doch zwei Jahre, ehe der Verletzte von allen Kopf- 
Sensationen befreit war. Jetzt nach 16 Jahren ist festzu¬ 
stellen, daß er vollkommen gesund geblieben ist. Er erklärte 
mir jüngst übrigens mit Bestimmtheit, daß er auch, wenn er zu 
Ansprüchen berechtigt gewesen wäre, sie nie geltend gemacht 
haben würde. 

ln der Einleitung habe ich schon darauf aufmerksam ge¬ 
macht, daß örtliche Verletzungen mit allerlei arbeitshemmenden 
örtlichen Mißempfindungen in den letzten Jahrzehnten unge¬ 
wöhnlich langsam oder gar nicht heilten. 

Solche nervösen Unfallsfolgen habe ich in meiner vor¬ 
stehenden Arbeit nicht berücksichtigt. Wir wissen ja aus 
vielen Beobachtungen, namentlich aus den bekannten Arbeiten 
von Lauenstein und Nonne (Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1905, 
Nr. 9), mit wie schweren körperlichen Verstümmelungen Un¬ 
fallverletzte, die nicht versichert waren, ohne jede Einschrän¬ 
kung ihrer Erwerbsfähigkeit noch jahrzehntelang weitergearbeitet 
haben. 

Ganz erhebliche Schwierigkeiten für Heilung nervöser Un¬ 
fallsfolgen bietet die geistige Minderwertigkeit der Unfallver¬ 
letzten, die schon vor dem Unfall da war und die dann zu 
allerhand posttraumatischen depressiven und hypochondrischen 
Angstzuständen führt, wie Fall IV dartut. Auch der Alko¬ 
holismus, sei es, daß er schon vor dem Unfall bestanden 
hat, oder aber während der Unfallsneurose durch den Müßig¬ 
gang der vorher an regelmäßige Arbeit gewöhnten Traumatiker 
erzeugt wird. 

ln allen solchen Fällen, wo man über die früheren Er- 



108 


Dr. Leop. Laquer, 


krankungen, über die intellektnelle Leistungsfähigkeit, über 
Lebensgewohnheiten and über den Charakter des Verletzten 
vor dem Unfall im Unklaren gelassen wird, ist der Arzt ge¬ 
zwungen, dem Unfall die Hanptschuld an der Nervosität zu¬ 
zuschieben und tappt über sonstige mitwirkende Ursache im 
Dunkeln. Besonders ist es der Alkoholi smus mit seinen ner¬ 
vösen Herzstörungen, der als eine häufige Komplikation von 
Unfallsfolgen auftritt, obwohl er lange vor dem Unfall den Ver¬ 
letzten neurasthenisch gemacht hatte, was aber nachher objektiv 
oft schwer zu beweisen ist. Er verschuldet nach meinen Er¬ 
fahrungen viele Widersprüche in den Begutachtungen vonUnfalls- 
neurotikem. Unter mannigfachen Fällen von seelischer Trinker¬ 
degeneration, die eine Unfallsneurose mit oder ohne schwere 
organische Veränderungen begleitet, möchte ich nur einen charak¬ 
teristischen Fall von einseitiger traumatischer Erblindung 
erwähnen, der im Laufe des Jahres 1910 von mir begutachtet 
worden ist. 

Einzelheiten aus einem Ehescheidungsprozeß, der gleich¬ 
zeitig mitdem langjährigenRentenfestsetzungsverfahren schwebte, 
wurden zufällig von mir bei Feststellung der Anamnese aufge- 
funden und boten einen Schlüssel für die Analyse hartnäckiger 
nervöser Erscheinungen. Den Begutachtern, die für das Schieds¬ 
gericht tätig waren, waren die Ehescheidungsakten völlig 
unbekannt geblieben. Die Heilung war hier natürlich unmög¬ 
lich, wie ja überhaupt die nervösen Unfallsfolgen, die mit irgend¬ 
welchen alkoholistischen Erscheinungen verknüpft sind, die 
denkbar ungünstigsten Objekte für die Behandlung darbieten. 

Fall XXVI. 

Ein Werkzeugmacher hat am 30. September 1903 im Betriebe 
einer Fabrik in F. eine Verletzung des rechten Auges durch ein 
Stück Messing erlitten und ist im E. Spital bis zum 31. Oktober 
1903 und dann noch ambulant vom Augenarzt Dr. P. in F. be¬ 
handelt worden. 

Nach dem Berichte vom 9. Februar 1904 hatte das rechte 
Auge durch Linsenverletzung die Sehkraft veidoren und Pat. war 
um 40 % in seiner Erwerbsfähigkeit geschädigt; auf dem linken 
Auge bestand Vs der normalen Sehschärfe. 

Dieselben Befunde am Auge erhob Dr. P. am 7. Februar 1905. 



Die Heilbarkeit nerTöser Unfallffolgcn. 

Daneben bestanden aber noch nervöse Erscheinungen, so daß eine 
Erhöhung der Rente auf 50 % von Dr. F. vorgeschlagen wurde. 
Das Schiedsgericht nahm am 26. April 1904 eine Erhöhung der 
Rente auf 66*/t % an. — Wegen Gewöhnung imd Anpassung an 
die Unfallsfolgen befürwortete Dr. P. am 10. April 1905 die Her¬ 
absetzung der Rente auf 45—50%. 

Patient hatte seinen Beruf inzwischen aufgegeben, weil ihn. 
der Betrieb, besonders das Geräusch der Maschinen nervös gemacht 
hätte; die Herabsetzung der Rente auf 45 % wurde von ihm be¬ 
anstandet. Daher wurde im Juli 1905 eine Beobachtung im Kranken¬ 
haus zu F. angeordnet; es wurden dort Kopfschmerzen, Flimmern 
vor dem Auge, Schwindelanfklle bei Augenschlufi, allgemeine Reiz¬ 
barkeit, übertriebene Neigung zu blinzeln festgestellt. Dagegen 
waren objektiv nur die von Dr. P. schon beschriebenen Augen¬ 
veränderungen nachzuweisen. Sonst wurden Zeichen einer orga¬ 
nischen Erkrankung am Nervensystem nicht festgestellt. Insgesamt 
wurde die Beschränkung der Erwerbsfähigkeit als Folge des Unfalls 
auf 50 % festgesetzt und demgemäß vom Schiedsgericht erkannt. 

Am 2. Mai 1910 berichtete der Augenarzt Dr. G., daß der 
Verletzte durch sein Augen- und Nervenleiden noch immer um 
40% geschädigt sei. —- Nach Bericht der V. W. vom 5. April 
1911 ist die Ek'werbsfkhigkeit des Verletzten ungefähr ^/s geringer 
als bei normaler Sehkraft. 

Nach dem Gutachten des Augenarztes Dr. G. vom 10. Juni 
1911 ist eine Einbuße der Erwerbsfähigkeit um SSVs % anzu¬ 
nehmen, soweit der Augenbefund allein in Betracht kommt.' Die 
Rente wurde von 40 % auf 33*/8 % herabgesetzt, weü Gewöhnung 
an den Zustand eingetreten sei, wie der ärztliche Befand und die 
regelmäßige Arbeitstätigkeit ebenso wie sein hoher Arbeitsverdienst 
erweisen. 

Als Patient am 7. Juli und 10. Juli 1911 in meiner Sprech¬ 
stunde zur Untersuchung erschien, gab er an, daß er 42 Jahre 
alt sei und von seiner Frau geschieden wäre. Er sei sehr nervös, 
er wäre am 30. April 1911 von den V. W. wegen Veränderungen 
im Betriebe entlassen worden, konnte dann 3 Wochen keine Arbeit 
finden und habe zuletzt bei R. W. & Cie. bis zum 10. Mai in 
Arbeit gestanden. Seitdem sei er krank und arbeitsunfähig, er 
l)efinde sich in Behandlung von Dr. A. 

Patient klagt hauptsächlich über andauerndes Angstgefühl und 
Zittern, über Kopfschmerzen, Augenzucken und Unsicherheit beim 
Sehen. Er leugnet jeglichen Mißbrauch v on Alkohol, er 
trinke nur seinen Schoppen einem anständigen Menschen ge¬ 

zieme“. Zeitweilig trete morgens Erbrechen auf. — Er sei jetzt wieder 
arbeitslos, da ihn die letzte Firma wegen seiner Elrkrankung ent¬ 
lassen hätte und müsse sich wieder Arbeit suchen. 



110 


Dr. Leop. Laquer, 


Nach dem Grande seiner Ehescheidung befragt, gibt er au, 
daß seine Nervosität dabei eine Rolle gespielt habe, verweigert 
dem Arzte die Einsicht des ergangenen Urteils, weil es auf dem 
Gerichte läge. 

Patient zeigt ein ziemlich gerötetes, gedunsenes Gesicht, sehr 
starke Fettentwicklung am ganzen Körper, namentlich am Leibe. 
Am Auge befindet sich linkerseits die schon wiederholt beschrie¬ 
bene Veränderung, zeitweilig tritt starkes krampfhaftes Augen- 
blinzeln ein. 

Abgesehen von einer gewissen allgemeinen Uebererregbarkeit 
der Affekte sind Veränderungen der Psyche, der Sprache, der Ge¬ 
sichtsmuskulatur nicht nachweisbar; die Zunge zittert stark beim 
Herausstrecken. Lähmungen der Muskulatur, des Rumpfes und der 
Gliedmaßen fehlen, ebenso auch Gefühlsstörungen. D age ge n zittern 
A rme und Hände in hohem Grade beim Aus strecken. — Die 
Sehnenreflexe am Knie sind lebhaft; bei geschlossenen Augen tritt 
kein Schwanken weder beim Gehen noch beim Stehen ein. Blase 
und Mastdarm funktionieren gut. Herztöne sind regelmäßig und 
kräftig, der Puls weist 80 Schläge auf, die Leber scheint nicht 
vergrößert, Herz nicht verbreitert, Urin frei von Eiweiß und 
Zucker. 

Nach Lage der Akten und dem Ergebnis meiner Untersuchung 
liegen bei dem Pat. neben der Erblindung des linken Auges noch 
vi i-schiedene Zeichen allgemeiner Nervosität vor: dazu rechne ich 
.Aiigenblinzeln, die seelische Uebererregbarkeit, das starke Zittern 
der Zunge und der oberen Gliedmaßen. Diese rechtfertigen zu¬ 
sammen mit der von Dr. G. beschriebenen und bewerteten links¬ 
seitigen Sehstörung eine Invalidität von 40 ®/o. 

Der Sachverständige muß aber dahingestellt sein lassen, ob 
das auffällige Händezittern und die Neigung zu affektiver Erregung 
nur Folge des Unfalls ist oder ob diese Nervosität mit dem lang¬ 
jährigen Alkohol-Mißbrauch zusammenhängt, der sich aus den Fest¬ 
stellungen im Urteil der Zivilkammer des Königl. Landgerichts zu 
F. vom 19. Februar 1903 ergibt, der also schon vor dem 
Unfall bei dem Verletzten vorhanden war. 

Bei solcher mit organischen Zerstörungen sowie mit 
Alkoholismus komplizierter Nervosität wird jeglicher Heil- 
versuch machtlos sein. Eine Heilung wird bei einmaliger 
Abfindung ebensowenig eintreten wie bei Dauerrente und 
allmählicher Rentenentziehung, die hier nur immer neue 
Untersuchungen, neue Schiedsgerichtsentscheidungen nötig 
machten. — Da nimmt die Rentenfestsetzung bei kompli¬ 
zierten wie bei reinen Unfallsneurosen den obligaten Verlauf. 



Die Heilbarkeit nervOser ünfallsfolgen. 


111 


— „In den Jahren mit gerader Jahreszahl wird die Rente 
beraufgesetzt, in ungeraden Jahren heruntergesetzt h sagte 
-einmal scherzhaft ein alter richterlicher Kenner der Unfalls' 
neurose. Gutachter und Richter wechseln und mit ihnen die 
Meinung über den Grad der Invalidität, bes. da die Seßhaftig- 
keit, namentlich ungelernter Arbeiter heutzutage sehr schwankt. 

In dem neuen umfassenden Gesetz der Reichsversiche- 
rungsordnung findet sich nur eine sehr geringe Zahl von 
Neuerungen, die vielleicht zur Einschränkung der nervösen Un- 
fallsfolgen dienen können. So wird der § 843 der RVO., der den 
Genossenschaften die Beschaffung von Arbeitsgelegenheit für 
Unfallverletzte ermöglicht, sich als vorteilhaft erweisen. Die 
Erfahrungen der Heilstätten für Nervenkranke bezw. Unfalls- 
verletzte sprechen dagegen, daß ein hoher Prozentsatz von 
Unfallsneurotikern von dieser in einzelnen Fällen gewiß recht 
heilsamen Arbeitsgelegenheit wird Gebrauch machen wollen. 
Darauf näher einzugehen liegt nicht im Rahmen der Aufgabe, 
die ich mir gestellt habe. 

Ob der § 616, der besagt, daß ein Verletzter, wenn die 
Unfallrente 20 Proz. der Vollrente oder weniger beträgt, mit 
einem entsprechenden Kapital abgefunden werden kann, zur 
Abkürzung des Verlaufs nervöser Unfallsfolgen beitragen wird, 
erscheint, mir noch zweifelhaft. Früher konnte eine Abfindung 
erst bei 15 Proz. erfolgen. Aber diejenigen Formen von Un- 
fallsneurose, die ich in meinen vorstehenden Ausführungen im 
Auge hatte, bedingten gewöhnlich eine viel höhere Invalidität 
als 20 Proz. Sie dauerten in einzelnen Fällen, die ich beob¬ 
achten konnte, und bei vielen anderen Kranken, deren Be¬ 
schreibung sich für meinen Aufsatz nicht eignete, jahrelang, 
ehe es bei besonders günstigen äußeren Umständen gelang, 
die Leute zur Arbeit anzuhalten und die Dauerrente allmählich 
so zu verkürzen, daß nur noch eine Invalidität von 20 Proz. 
nachzuweisen und damit die Möglichkeit einer Abfindung ge¬ 
geben war. Ob die Initiative der Genossenschaft in dieser 
Frage eine Erleichterung der Kapitalabfindung und darum 
-einen Fortschritt für die Heilung der Unfallsneurose bedeutet, 
ist jetzt noch nicht zu übersehen. Eine Verschlechterung 
geradezu liegt nach Magen (briefliche Mitteilung) in 



112 


Dr. Leop. Laqaer, 


der Einschiebong eines Einspruchsverfahrens in den bisherigen 
Rechtsgang. Zuerst wollte die Regierung die erste Entschei¬ 
dung von der Versicherungsbehörde fällen lassen, weil bei 
dem bisherigen Verfahren die Genossenschaft Richter und 
Leistungspflichtiger zu gleicher Zeit ist Dem Sträuben der 
Genossenschaften haben Regierung und Reichstag nachgegeben 
und der Rechtsgang wird demnach folgender sein: 

1. Wie bisher, nach der Untersuchung des Unfalls durch 
die Polizei, Entscheidung durch die Genossenschaft. 

2. Bei Einspruch des Verletzten ein Einspruchs verfahren, 
das bei dem Versicherungsträger beantragt wird. Hier hat 
das Versicherungsamt event. mitzuwirken, indem es das 
Gutachten eines bis dahin noch nicht gehörten Arztes ver¬ 
schaffen soll oder kann. Den Bescheid erteilt wieder der 
Versicherungsträger. 

3. Das Oberversicherungsamt entsprechend dem jetzigen 
Schiedsgericht und 

4. das Reichs versicherungsamt (resp. die Landesversiche- 
mngsärnter) unbedingt als Revisionsinstanz und bedingt als 
Rekursinstanz, letzteres soll heißen, daß grundsätzlich ein Rekurs 
ans Reichsversicherungsamt zulässig ist, daß aber eine ge¬ 
wisse Einschränkung der rekursfähigen Sachen durch das Gesetz 
bestimmt ist. 

Die Veränderung resp. Entziehung von Teilrenten unter¬ 
liegt in erster Instanz allerdings der Untersuchung des Ver¬ 
sicherungsamts. Auch hat das Versicherungsamt unter Bei¬ 
ziehung von Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein 
Gutachten abzugeben, aber dieses entscheidet nicht, sondern 
es entscheidet wiederum der Versicherungsträger in dem¬ 
selben Gange wie vorher. 

Es kann nicht zweifelhaft sein, daß hier eine Verlänge¬ 
rung und schon deswegen eine Verschlechterung gerade 
in bezug auf die Entstehung und Verschlimmerung von 
Unfallsneurosen vorliegt. 

Auch scheint noch folgendes für die Heilbarkeit dieser 
Krankheit nicht ohne Bedeutung zu sein: Der Rentennach- 
sucLer hat das Recht, sich Einsicht in die Verhandlung resp. 
Abschriften der Gutachten zu verschaffen, also auch der ärzt-^ 



Die HcilbarkeHb nervöser Uivfallsfolgen. 


113 


liehen Gutachten, die bekanntlich nicht imnaer gleich sind. 
Das Versicherungsamt hat, wenn sein Gutachten nicht ein¬ 
stimmig zustande gekommen ist, d. h. der Vorsitzende anderer 
Ansicht ist als der Beisitzer, die verschiedenen Ansichten dar- 
znlegen, also auch diese Verschiedenheit wird dem Renten- 
nachsucher bekannt werden. Eine Fixierung der renten¬ 
hysterischen Ideen dürfte dadurch nur noch häufiger werden, 
als bei dem alten Verfahren. 

Daß in den ersten zwei Jahren in der Regel vorläufige 
Renten bestimmt werden, die jederzeit abgeändert werden 
können, und erst nach Ablauf auf eine Dauerrente entschieden 
werden muß, ist ja an sich berechtigt, wird aber die Zahl und 
die Intensität der nervösen Unfallsfolgen eher steigern als 
herabsetzen. 

Magen kommt zu dem Schluß, daß die neue Ordnung 
der Dinge in der RV0. vom juristischen Standpunkt 
aus verbessert, in medizinischer bezw. sozialhygie- 
niseber Hinsicht verschlechtert hat. 

Zu meinen Auseinandersetzungen über die Bedeutung der 
Kapitalabfindung für die Heilbarkeit der nervösen 
Unfallsfolgen hatte Hoches Referat von 1907 die An¬ 
regung gegeben. Ich habe mich bemüht, alle Momente her¬ 
vorzuheben, die für und wider die Kapi tal-Abfindung als 
Heilmittel sprechen. 

Ehe ich noch einmal die zu ziehenden Schlüsse zusammen¬ 
fasse, will ich einen Fall von Hirntumor mitteilen, der an¬ 
fangs als traumatische Hysterie gedeutet und dement¬ 
sprechend behandelt, auch wesentlich gebessert und abgefunden 
wurde. Zwei Wochen nach Erledigung der Ansprüche er¬ 
krankte der Verletzte aber unter schwereren organischen Hirn¬ 
symptomen, denen er drei Jahre nach dem Unfall erlag. 

Es folgen die betr. beiden wesentlichen Gutachten, die den 
Akten der Eisenbahndirektion entnommen sind und die wich¬ 
tigsten Punkte aus dem Krankheitsverlauf enthalten. 

Fall XXVII. 

Der p. A. Sch. hat nach einem Atteste des praktischen Arztes 
Dr, R. in H. durch Herabfallen einer Ei.senbahnschranke am 

8 



][14 t)r. Leopold Leqaer, 

31. Oktober 1905, nachmittags, folgende äußere Verletzungen er¬ 
litten: Eine kleine Wunde über dem linken Auge und auf denn 
Nasenrücken sowie starke Hautabschürfung auf der ganzen rechten 
Gesichtshälfte. — Am Abend war Dr. R. zu dem Patienten ge¬ 
rufen worden, der vor dem Unfall stets gesund gewesen war. Er 
hatte nach der Schilderung seiner Ehefrau aber einen Krampf- 
Anfall gehabt, war zwar bei Bewußtsein, aber bei seinen Ant¬ 
worten fiel dem untersuchenden Arzte eine gewisse Trägheit und 
Schwerbesinnlichkeit auf, die nicht den Eindruck des Gemachten 
und Simulierten bot. Er klagte üb.r Schmerzen am Kopf und 
allgemeine Müdigkeit. Vorher, und zwar gleich nach dem Unfall, 
war Erbrechen aufgetreten. Der Puls war verlangsamt und ge¬ 
spannt. Dr. R. stellte danach die Diagnose auf „Schädelbruch“. 
— In den nächsten Tagen wiederholten sich die Anfälle häufig. 
Der Verletzte wurde aufgeregt, unruhig, vollkommen schlaflos und 
delirierte zuweilen. Pupillendifferenz und verschiedenartige Pupillen- 
Reaktion war nicht festzustellen. Sch. lag ungefähr 4 Wochen 
zu Bett, während der Bettruhe klagte er über Schwindelgefühl 
bei Erheben des Kopfes. — Die Kopfschmerzen verließen ihn nie. 
Eine Röntgenaufnahme des Schädels fiel negativ aus. Kopfschmerzen 
und Schwindel dauerten jedoch an. Dr. R. ließ ihn einen Ver¬ 
such mit leichter Arbeit machen, den er mit einem erneuten An¬ 
fall, der am gleichen Abend eintrat, zu büßen batte. Nach Dr. R.s 
Ansicht war Sch. Anfang April 1907 — zur Zeit der Aus¬ 
stellung des Attestes — außerstande, die geringste Arbeit 
zu verrichten. Er erklärte eine Schätzung der Erwerbsfähigkeit 
des Sch. erst vornehmen zu können, wenn ersichtlich wäre, wie 
der verordnete Landaufenthalt dem Verletzten bekommen sei. 

Am 11. März 1907 ist der Adolph Sch. auf Veranlas¬ 
sung seines Arztes Dr. R. zum erstenmale in meiner Sprech¬ 
stunde zu F. gewesen; er hat sich dann auf meinen Wunsch 
wiederholt und zwar am 15. und 22. März sowie am 5. und 30. April 
bei mir vorgestellt. Sch. steht im 38. Lebensjahr, gibt an, daß 
er früher nie krank, nie syphilitisch und dem Alkoholmißbrauch 
nicht ergeben war. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, von 
denen das jüngste 2 Jahre alt ist. Er ist militäruntauglich ge¬ 
worden infolge mangelhaften Sehvermögens und wegen Nabelbruchs. 
Er erzählte den Vorgang, der seine Verletzung herbeiführte, etwa 
folgendermaßen: Beim Versuche auf dem Rade unter der auf¬ 
gezogenen Barriere hindurchzu fahren, sei er von dieser am Kopfe 
getroflfen und vom Rade herunter geworfen worden. Er wurde 
sofort bewußtlos und blieb es eine Zeitlang; er wurde dann ver¬ 
bunden und ging nach seiner Wohnung, wo zweimal Erbrechen 
und im Laufe des Nachmittags (der Unfall war um llVz Uhr 
passiert) 5—6 Anfälle eintraten, die mit Bewußtlosigkeit verbun¬ 
den waren, und in denen er mit der Hand um sich geschlagen 
haben solL 



Die Heilbarkeit nervOser tlnfallsfolgen. 115 

Eine Woche nach dem Unfall habe er einen mehrtägigen 
Arbeitsversuch gemacht, doch traten dadurch wieder Anfälle auf, 
die ihn nötigten die Arbeit auszusetzen. 

Die Durchleuchtung des Schädels ergab normale Verhältnisse. 

Sch. klagte über Kopfschmerzen, die manchmal fast den ganzen 
Tag andauern und namentlich nach geistiger Arbeit sich steigern, 
auch mitunter Bettruhe nötig machten; sein Gedächtnis soll nach¬ 
gelassen haben. Er sei völlig arbeitsunfähig. Anfälle seien seit 
Ende des Jahres 1906 nicht mehr aufgetreten. Dagegen litte er 
an Schwindel besonders bei schnellen Wendungen des Kopfes nach 
oben und nach der Seite. Der Schlaf habe sich wesentlich ge¬ 
bessert, sei aber immer noch nicht so gut, wie vor dem Unfall. 

Die Untersuchung durch den Frankfurter Augenarzt Dr. B. 
ergab bei einer Myopie (Kurzsichtigkeit) von 8 Dioptrieen und bei¬ 
nahe normaler Sehschärfe weder an den inneren noch an den 
äußeren Augenmuskeln ebensowenig am Augenhintergrunde irgend 
welche krankhafte Veränderung, die mit der Verletzung, die Sch. 
am 3. Oktober 1906 erlitten hatte, in Zusammenhang gebracht 
werden konnte. 

Aus dem objektiven Befund, den ich im März und April in 
den genannten Tagen erheben konnte, hebe ich hervor, daß bei 
guter Stimmung des Patienten ein erheblicher Ausfall in intellek¬ 
tueller Beziehung nicht zu ermitteln war, vor allem das Gedächtnis 
für alle Vorgänge, die sich auf seine Krankheit bezogen, unversehrt 
erschien. — Die Auffassung des Gehörten, der sprachliche Aus¬ 
druck hatten weder in sensorischer noch in motorischer Beziehung 
gelitten; Gesichts- und Zungenbewegungen waren beiderseits frei 
geblieben. Der Schädel zeigte nirgends Auftreibungen, war auf 
Druck und Beklopfen nirgends schmerzhaft, die Bewegungen des 
Rumpfes, der Arme und Beine waren überall korrekt und sicher; 
die Hautempfindung zeigte nirgends eine Abstumpfung für Be¬ 
rührung, Schmerz, Temperaturunterschiede usw. 

Abmagerung der Muskulatur fehlt allenthalben. — Die Sehnen- 
refleze am Knie waren schwach, meist nur mittels des sog. 
Je ndranikschen Handgriffs auszulösen; rechterseitserschienen 
sie stärker als links, doch war die Differenz eine wechselnde. — 
Bei geschlossenen Augen trat weder im Gehen noch im Stehen ein 
Schwanken ein. Der Gang war auch sonst ohne bemerkenswerte 
Mängel, fest und sicher. Blase und Mastdarm funktionierten gut. 

Der letzte Befund vom 30. April 1907 nach dreiwöchigem 
Landaufenthalt ergab zwar im ganzen das gleiche Bild wie vorher, 
doch waren die subjektiven Beschwerden geringer, die Sehnen¬ 
reflexe immer noch different, aber ein wenig kräftiger. Sch. sah 
viel besser aus und wollte auf Rat von Dr. R. seine Tätigkeit, 
wenn auch in beschränktem Umfange, wieder aufnebmen. 


8* 



116 


t>r. Leop. Laqaer, 


Nach diesen Feststellungen hat der p. Sch. am 31. Oktober 
1906 eine Kopfverletzung durch eine Barrierenstange erlitten, die 
zu einer Gehirnerschütterung geführt hat. Da Blutungen und 
langdauernde Bewußtlosigkeit fehlten, lag ein Schädelbruch nicht 
vor. 

Es sind von dieser Unfallverletzung Kopfschmerzen zurück¬ 
geblieben, die so heftig waren, daß er bisher als arbeitsunfähig 
angesehen werden mußte, da derartige nervöse Folgen nach Hirn¬ 
erschütterungen 6 Monate und auch noch länger andauern und 
jegliche geistige und körperliche Arbeit hemmen. Ich schätze 
ihn jetzt noch um 50 % invalide. Es ist nach meinen eigenen 
und sonstigen wissenschaftlichen Erfahrungen anznnehmen, daß 
er etwa im Laufe eines weiteren halben Jahres genesen sein 
wird. 

Für irgendeine Erkrankung des Hirns, des Rückenmarks 
oder der peripheren Nerven fehlt jeder sichere Anhaltspunkt: 
Auffällig ist aber das Verhalten der Reflexe am Knie; es 
ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die abnorme Schwäche der 
Erregbarkeit und die Ungleichheit der Reflexe schon vor datm 
Unfall bestanden hat. — Sie könnte auch mit der Hirnerschütterung 
in Zusammenhang ste.hen: Jedenfalls kommt dieses Sy mp tom 
auch im Beginn schwerer Krankheit des Zentral¬ 
nervensystems vor. — Sonst besteht bis jetzt keine krank¬ 
hafte Erscheinung, die auf eine solche Möglichkeit hinwiese. 

Es erscheint darum billig und ärztlich begründet, dem p. Sch. 
für die Zeit vom 31. Oktober 06 bis zum 1. Mai 07 den vollen 
EiTsatz für den erlittenen Schaden zu gewähren, ihm ferner etwa 
bis 1. Nov. 07 eine Unfallrente von 60 % zu zahlen, dann eine 
nochmalige spezialärztliche Untersuchung anzuordnen. 

Wenn im kommenden Herbste eine weitere Besserung, oder 
wenigstens keine Verschlechterung, kein sicheres Symptom eines 
organischen Nervenleidens eingetreten sein sollte, empfiehlt es 
sich, ihm eine entsprechende Abfindungssumme zu zahlen: Denn 
neurasthenische und hysterische Krankheitserscheinungen nach 
Unfällen pflegen um so eher zu schwinden, je rascher das Renten- 
Festsetzungs-Verfahren seinen Abschluß findet. 

Im Herbst 1909 empfing Sch. eine einmalige Abfin- 
dung von 10 000 Mark. — Einige Wochen später aber setzten 
wieder Ohnmachtsanfälle ein. Pat. brach ohne Krämpfe ohnmächtig 
zusammen: Die Bewußtlosigkeit dauerte immer nur einige Minuten: 
ein Arzt hatte die Attacken nie gesehen: einen epileptischen 
Charakter hatten sie nach den Schilderungen von 
Augenzeugen nicht. 

Am 21. Januar 09 wurde Pat. im städt. Krankenhause zu 



Oie Heilbarkeit nerrttaer Unfallsfolgen. 


117 


H. aufgenommen. Dort ergab sich folgender Befand: Der blasse 
Kranke liegt bei der ersten Untersuchung teiluahmlos in ruhiger 
ßtickenlage im Bette. Die Augen sind geschlossen. Die linke 
Nasolabialfalte ist etwas verstrichen. 

Auf Anrufen reagiert er und klagte über heftige Kopfschmerzen. 
Die Zunge wird gerade herausgestreckt. Die Fatellarreflexe sind 
nicht auslösbar. Sensibilitätsstörungen sind nicht vorhanden. Der 
Puls ist auffallend langsam ohne die Zeichen eines Druckpulses. 
Die Organe der Brust- und Bauchhöhle zeigen keine pathologische 
Aenderungen. Der Urin ist frei von Zucker und Eiweiß. In den 
nächsten Tagen wiu*de die Fazialislähmung deutlicher, die Lid¬ 
spalten links weiter, auch trat eine deutliche wahrnehmbare Ver¬ 
minderung der rohen Kraft des linken Armes und der linken 
Hand auf. Eine Punktion des Wirbelkanals ergab wasserhelle 
Zerebrospinalflüssigkeit, die unter erhöhtem Druck stand und in 
der von pathologischen Bestandteilen etwas alter Blutfarbstoff 
nachweisbar war. 

Bis zum 27. I. verschlimmerte sich der Zustand. Der Kranke 
ist zuletzt völlig bewußtlos, reagiert nicht mehr auf Anrufen und 
läßt Stuhl und Urin unter sich. Es besteht Nackenstarre. Die 
Qualität des Pulses ist sehr verschieden; am 24. I. ist ein deutlicher 
Druckpuls von 56 Schlägen vorhanden, am 27. I. sind es 70 
Schläge, viel weniger voll und hart. 

Am 1. II. kehrt das Bewußtsein wieder; eine am 2. II. durch 
den Augenarzt Dr. A. vorgenommene Augenuntersuchung läßt vom 
Augenhintergrunde keine deutlichen Veränderungen nachweisen. 
Die Hirusymptome nahmen nach vorübergehenden Delirien in der 
ersten Februarwoche ab; die Fazialislähmung schwindet, es tritt 
jedoch so ernste Herzschwäche auf, daß am 9. II. der Tod als 
nahe bevorstehend erschien. 

Der Kranke erholte sich aber wieder. Nach Schwinden aller 
Hirnsymptome, nachdem noch ein geringes Verstreichen der rechten 
Nasolabialfalte und eine Protusio bulbi beobachtet war, und nach 
Kräftigung des Pulses, konnte derselbe am 23. 11. das Bett ver¬ 
lassen. Er nahm wieder an allem teU, war vollständig orientiert, 
aß mit Appetit und fühlte sich auch subjektiv ganz wohl. 

Doch schon am 27. H. klagte er wieder über starken Kopf¬ 
schmerz, der Puls wird wieder langsam und voll, er verfällt von 
neuem in Teilnahmlosigkeit, die schon am 2. HL so tief ist, daß 
er gar nicht mehr reagiert. Am 6. IH. erliegt der Patient einer 
Atmungslähmung. Am 27. II. wai' noch im Institut für ex¬ 
perimentelle Therapie zu F. die Wassermannsche Syphilisreaktion 
des Blutes negativ ausgefallen. 

Die klinische Diagnose der Blrkrankung wurde auf „apoplektische 
Hirnerscheinungen*^ gestellt auf Grund der vorübergehenden 



118 


Dr. Leop. Laquer, 


Lähmungen und des in der Zerebrospinalflüssigkeit gefundenen 
alten Blutfarbstoffes: die Ursache derselben mußte fraglich bleiben. 
Am 8. III. wurde durch den pathologischen Anatomen Herrn Dr. 
Sch. aus P. die Sektion ausgeführt. 

Da die inneren Organe des Körpers bis auf hypostatische 
Veränderungen in beiden unteren Lungenlappen keine pathologische 
Veränderungen aufweisen, so sei hier nur das Protokoll über die 
Kopfsektion angeführt; 

„Nach Entfernung der Schädeldecke zeigt sich die Dura 
überall prall gespannt, die Venen stark mit Blut gefüllt (flüssig). 
Schädeldach ziemlich dünn, Dicke 1—4 mm; auf der Höhe des 
Scheitels, seitlich d. sitt. sagitt. je eine etwa 2-Centstückgroße 
durchscheinende Stelle, d. des r. foss. fylo entsprechende Partie 
des Schädeldaches, ebenfalls durchscheinend dünn, kaum 1 mm stark. 
Verletzungen oder Spuren früherer Fraktionen finden sich nicht. 

Der Längsblutleiter enthält 1 Teelöffel dunkeles, dünnflüssiges 
Blut. Beim Abziehen r. Dura zeigt sich diese auf der Höhe des 
Scheitelhirns, rechts, dicht neben der Längsincisia mit einer 3 mm 
stark großen Fläche der Hirnrinde verwachsen, beim Lösen der 
Verwachsungen reißt das markig-hämorrhagische Gewebe ein, kleinere 
Partikel derselben bleiben vor der Dura hängen; im übrigen 
zeigt die Dura keinen besonderen Befund. 

Die von den weichen Hirnhäuten bedeckte Hirnoberfläche 
zeigt links normale Ausbildung der Gyri und Sulci, rechts sind die¬ 
selben besonders auf der Höhe des Scheitelhirns verstrichen, ein 
kleiner apfelgroßer Bezirk rechts neben dem Inzisus - wölbt die 
Oberfläche erkennbar nach außen und ebenso nach innen in den 
Schaltraum des Inzisus hinein. Auf dem Schnitt zeigen die linke 
Hirnbälfte, sowie die hintere Hälfte der rechten gelinge Durch¬ 
feuchtung, überall gut abgesetzte Rinde, einzelne nicht verlaufende 
Blutpunkte. Kleinhirn und Medulla ebenfalls ohne Befund. 

Die vordere Hälfte der rechten Hemisphäre enthält 
einen kleinapfelgroßen markigen weichen Tumor, 
der auf der Scheitelfläche von zahlreichen Blutungen durchsetzt 
ist, nach oben zu ist er nicht von Rinde bedeckt sowie haftet 
unmittelbar der Dura an, nach innen und unten hat er das Mark¬ 
lager neben und über den Seitenventrikel verdrängt und ist nur 
noch durch eine dünne Wand von Marksubstauz von dem Seiten¬ 
ventrikel getrennt: Dieser selbst ist erweitert, sein Inhalt leicht 
rot verfärbt, ebenso die Wandung brauneinbiburt, Reste alter 
Hämogien. Der Tumor selbst läßt sich von der Umgebung nicht 
abgrenzen. Die weichen Hirnhäute, die Gefäße sowie die Nerven 
der Basis zeigen keine Besonderheiten. 

M ikroskopischer Befund: 

Der Tumor besitzt ein gleichmäßige.^ von zahlreichen kleinen 



Die Heilbarkeit nervOser ünfallsfolgen. 


119 


und größeren Blutungen durchsetztes Gewebe; dasselbe besteht 
ausschließlich aus großkörnigen randen bis zylindrischen Zellen 
mit schmalen Protoplasmasäumen, sie liegen ohne erkennbares Stroma 
dicht nebeneinander und sind nur hier und da von hirschweibartig 
gegabelten Bluträumen oder von großen unregelmäßig gestalteten 
Blutungen durchsetzt. Die zentralen Portionen des Tumors sind 
erweicht, nekrotisch und demgemäß die Zellen hier schlecht färbbar, 
z. T. nur noch als Datriusmasse nachweisbar. 

Diagnose: 

Kleinzelliges Rundzellensarkom der Stirnrinde. Pat. ist also 
an einem Sarkom der rechten Hirnbälfte, welches frische und ältere 
Blutungen enthielt, gestorben. Die Geschwulst saß auf der Höhe 
des Scheitels dort, wo ihn der Angabe nach der Schlagbaum ge¬ 
troffen. 

Die klinische Diagnose: apoplektische Hirnerschütterungen, 
würde durch die nachgewiesenen älteren und frischen Blutungen 
gerechtfertigt und bestätigt. 

Die Krankenhausdirektion kam zu dem Schluß: 

Fragen .wir nun, steht der Tod in ursächlichem Zusammen¬ 
hang mit dem Unfälle vom 31. X. 06, so steht fest: 1. daß Pat. 
bis zum Unfall den Eindruck eines ganz gesunden und voll arbeits¬ 
fähigen Mannes machte; 2. daß er seit dem Unfall auf längere 
oder kürzere Zeit die Arbeit aussetzen mußte wegen zeitweise auf¬ 
tretenden heftigen Kopfschmerzen und Obnmachtsanfällen, und 3. 
daß die Sektion für diese Krankheitserscheinungen eine anatomische 
Ursache, die Hirngeschwulst mit frischen und alten Blutungen 
ergeben hat. 

Es bliebe also nur die Frage zu beantworten: Kann durch 
den angegebenen Unfall die Geschwulst entstanden sein? 

Diese Frage ist in Uebereinstimmung mit ; Autoritäten J auf 
dem Gebiete der Geschwulstlehre zu bejahen. 

U. A. kommt Prof. R. Z. in der ärztlichen Sachverständigen¬ 
zeitung (1898 Nr. 19/20) zu dem Resultat, daß man auf Grund 
theoretischer Erwägungen und der bisherigen tatsächlichen Be¬ 
funde dem Trauma eine gewisse Rolle bei der Größe der Neu¬ 
bildungen zuerkennen müßte. — 

Der Schluß des Krankenhausberichts von Dr. S. lautet wörtlich; 

„Die Möglichkeit einer traumatischen Aetiologie 
der Hirngeschwulst muß im Prinzip zugegeben werden.* 

Katamn ese: 

Der Witwe'und ^zwei unmündigen Kindern des Verletzten 
wurde, nachdem der Tod als Unfallsfolge anerkannt war, für 
Lebenszeit eine den Einkommensverhältnissen des Verstorbenen 



120 


Dr. Leop. Laquer, 


entsprechende Rente bewilligt. Das entsprach den Bestimmungen 
des Haftpflichtgesetzes für den Todesfall! 

Es ist also mehreren Ärzten ein diagnostischer Irrtum 
in gleicher Weise begegnet: aber die irrtümliche Diagnose 
hat dem Kranken, der unrettbar verloren war — Operation 
des Tumors war ausgeschlossen — nicht nur nichts geschadet, 
sondern noch bei Lebzeiten sogar eine Vermehrung seines Kapital- 
Vermögens um 10000 Mark gebracht. — Die ärztliche wohl¬ 
wollende Beurteilung seiner Todesursache bezw. des Zusammen¬ 
hangs eines Schädeltraumas mit Geschwulstbildung im Gehirn 
schützte dann nach seinem Tode seino Familie vor Kummer 
und Sorgen. 

Er hätte bei Rentengewährung nicht mehr erlangen können 

So gibt es vereinzelte Fälle von traumatisch-nervösen Zu¬ 
ständen, deren Verlauf gegen die allzu rasche Beendigung des 
Rentenfestsetzungsverfahrens und damit gegen die Abfindung 
überhaupt zu sprechen scheint. Solche Erfahrungen müssen 
nur offen und ehrlich mitgeteilt werden. Ein Eingeständnis 
unsrer Irrtümer fördert die Erkenntnis der Wahrheit. Das 
ist besonders wichtig bei der Diagnostik der Hirn- und 
Rückenmarkstumoren; der operativen Technik zuliebe wird da 
mancher lehrreiche Fall unterdrückt. 

Wenngleich in dem letzten Fall das Gesetz die Familie 
des früher einmal Abgefundenen vor Not zu schützen ver¬ 
mochte, so hat doch sein Unwille, den er über Wiederauf¬ 
treten schwerer Krankheitssymptome gleich nach Erledi¬ 
gung seiner Ansprüche äußerte, und die Vorwürfe, die er dem Gut¬ 
achter machte, im Moment etwas bedenklicher machen müssen. 

Trotzdem dürfte ein vereinzeltes Ereignis: Überlagerung 
der Symptome einer Hirngeschwulst durch hysterische Er¬ 
scheinungen nichts an dem Ergebnis meiner Darlegungen ändern. 
Auch die oben erwähnte recht vereinzelte Beobachtung Ewald’s 
kann meine Überzeugung von dem großen Heilwerte der 
Kapitalabfindung nicht erschüttern. 

Die glänzenden Erfahrungen Schweizer und 
Dänischer Forscher, die sie bei genauer Nachprü¬ 
fung nervös gewordener Unfallverletzter machen 
konnten, decken sich mit der von mir wie von 



Die Heilbarkeit nervUser Unfallsfolgen. 


121 


anderen Autoren festgestellten Tatsache, daß die 
U n f a 11 n e ur o s en auch in Deutschland in allen 
Schichten der Bevölkerung auftreten, aber in sehr 
vielen Fällen heilbar sind. 

Die nervösen Nachkrankheiten'des Mtihlheimer Eisenbahn¬ 
unglücks, die Th. Becker bei Soldaten eines Regiments in Nr. 29 
der Münch, m. W. 1910 beschrieben hat, führten ebenfalls zu 
dem Schlüsse, daß Rentenhysterie und Begehrungsvorstdlungen 
hier nicht in Betracht kommen, weil die sozialen Motive dazu 
nicht gegeben seien. B. findet sie in „der Geringfügigkeit 
der Militär-Rente einerseits und der Höhe der Löhne in den 
Zechen und Hütten des Heimatslandes der Patienten andrerseits“. 
Auch Nonne hat auf Grund reicher Erfahrungen im Arztl. 
Verein zu Hamburg in einem Vortrag am 7. Juni 1910 neuerdings 
wieder die Befriedigung der Ansprüche geradezu als 
kausale Therapie bei reinen Unfalls-Neurosen be¬ 
zeichnet und deren Prognose günstiger beurteilen zu müssen 
geglaubt, als das früher der Fall war. Auf Grund des Akten¬ 
studiums der zahlreichen Oberbegutachtungen, die N. alljährlich 
vorliegen, hat er den Eindruck, als ob nach den allgemein 
und gleichmäßig sich aufdrängenden Erfahrungen allmählich 
bei den Gutachtern eine „Schwenkung nach rechts“ — sich zu 
vollziehen beginnt: Er meint mit Recht, daß die Einhaltung 
dieser Richtung unter den ärztlichen Sachverständigen im 
Interesse der Verletzten auch weiterhin sehr zu wünschen wäre. — 

Eine Heilung nervöser Unfallsfolgen ist also 
auch nach der heutigen Lage der sozialen Gesetz¬ 
gebung in manchen Fällen ganz gut möglich. 

Aber die lange Dauer und schwere Heilbarkeit 
dieser krankhaften Zustände liegt nicht immer in 
der Schwere des Traumas — in der Art dieser Krank¬ 
heit —, sondern in vielen Momenten, die mit der sozialen 
Lage der Verletzten, mit dem schleppenden Gange der Renten¬ 
festsetzung und mit der Verschiedenartigkeit und den Wider¬ 
sprüchen in der Bewertung der Erwerbsbeschränkung seitens 
der Arzte und der entscheidenden Instanzen Zusammenhängen. 
Das glaube ich im vorstehenden bewiesen zu haben. 

Auf dem Wege der bestehenden Haftpflicht- 



122 


Dr. Leop. Laquer, 


gesetze und des BGB. (§ 843) ist die Heilung nervöser 
Unfallsfolgen durch Abfindung viel leichter und viel 
rascher zu erreichen. Das zeigen die tausendfältigen Er¬ 
fahrungen der privaten ünfallversicherungsgesellschaften und 
der Eisenbahndirektionen im ganzen Deutschen Reiche! 

Aber auch diese haftpflichtigen Gesellschaften und Be¬ 
hörden sollten unter Berücksichtigung der ärztlichen Literatui 
über ünfallsneurose die Rentengewährung bei dieser Krank¬ 
heit noch mehr als bisher einschränken. Vor allem sollten 
die obligaten langjährigen Heilversuche in An¬ 
stalten und Badeorten möglichst abgekürzt werden. 

Denn es ist gar nicht selten, daß vier bis fünf Anstalten 
ihre Beobachtungen zu den Akten geben. Gewöhnlich Anden 
sie immer dieselben Krankheitserscheinungen, aber der Grad 
der von den ärztlichen Leitern der Anstalten angenommenen 
Invalidität schwankt in weiten Grenzen: die Patienten erfahren 
•das sehr bald. — Die Folge ist die zunehmende Steigerung 
ihrer hypochondrischen Vorstellungen und damit das Anwachsen 
ihrer Ansprüche und Begehrungsvorstellungen. 

Oft sind die ersten Begutachter erstaunt, wenn sie nach 
Jahr und Tag durch Zufall erfahren, was aus ihrem Pflege¬ 
befohlenen geworden ist. Sie wollen es gar nicht glauben, 
wieviel die Reute oder die AbAndung schließlich nach Aus¬ 
gang des Prozesses oder des Verfahrens betragen hat. Das 
habe ich gar nicht selten erlebt! 

Um allen Ärzten, die jemals Atteste bei Unfällen ausge¬ 
stellt haben — die Leichtigkeit, mit der es vielfach geschieht, 
ist ja bekannt —, einen Einblick zu gewähren in den weiteren 
Verlauf der nervösen Unfallsfolgen, da sind zahlreiche und 
umfangreiche Nachforschungen auf dem von mir versuchten 
Wege anzustellen. Die Endausgäoge der Erkrankung komnqen 
jetzt gar zu selten zur Kenntnis früherer Beobachter. 

Man sollte sich nicht wie bisher auf allgemein gehaltene 
anonyme Anzeigen seitens Unbeteiligter, wie ich sie oben 
erwähnte, und auf den Zufall verlassen. Bekannt ist die vor 
20 Jahren in einem medizinischen Archiv erfolgte Veröffent 
lichung (ich habe die Arbeit leider nicht mehr aufAnden können) 
eines Kreisarztes im Rheinland: Er war in einen Ort eben neu 



l)io Heilbarkeit nervöser Untallsiolgeii 


123 


versetzt, und begegnete eines Tages als Jagdgenosse einem 
früheren Eisenbabnbeamten, der eben drei Stunden lang auf 
dem „Anstand“ verbracht hatte. Der Kollege, der gleich¬ 
zeitig Vertrauensarzt der Eisenhahn ist, erfährt bei dieser Ge¬ 
legenheit, daß der Mann, der im kräftigsten Alter stand, eine 
hohe Unfallrente schon seit Jahren als Ganzinvalide be¬ 
zieht, aber auch als Gast der Jagdpächter und der Wirt¬ 
schaften im Orte gern gesehen ist! — Die Feststellung der 
Genesung von seinen nervösen Unfallsfolgen und die Ent¬ 
ziehung der Rente war das Ergebnis der bald darauf erfolgten 
ärztlichen Enthüllungen! — Wieviel sich widersprechende 
Gutachten mögen über diesen traumatischen Nimrod abgegeben 
worden sein?? 

Die ungeheuren Summen, die auf dom Wege des Zivil¬ 
prozesses erstritten werden, oder die z. B. die Eisenbahn¬ 
behörden zur Vermeidung jahrelang dauernder Rechtsstreitig¬ 
keiten schließlich im Vergleichswego zahlen, sind allbekannt! 
Es gibt sogar schon „Unfall-Amateure“ — die immer wieder 
Unfälle, und zwar im Bereiche verschiedener Eisenbahnver¬ 
waltungen zu erleiden pflegen — nie ohne Neurose! — 

Aggravation der Beschwerden, Maßlosigkeit in der For¬ 
derung von kostspieligen Kuren (Placzek, 1. c.) ist eine 
schlimme Seite der Anwendung des alten Haftpflichtgesetzes. 
Solche traurige Begehrungsvorstellungen bilden heutzutage 
beinahe eine soziale Gefahr! 

Die Schlauheit gewisser Unfallsneurotiker im Ausnützen 
von rechtlichen Schlichen, ihre querulatorische Art, ärztliche 
Aussagen zu verdrehen und zu ihrem Vorteile zu gebrauchen, 
ist schwer zu erkennen und mit wissenschaftlichen Gründen zu 
bekämpfen. 

Darum muß die Entwicklung einer Unfallsneurose schon 
im statu nascendi von den Ärzten unterdrückt oder wenigstens 
das Anwachsen der Flut von neurasthenischen und hypo¬ 
chondrischen Klagen nach Möglichkeit eingedämmt werden. 
Wenn immer wieder durch Unfälle und Unfallsbeschwerden 
beträchtliche Geldsummen herausgedrückt werden können, so 
ist es doch wohl auch eine sozialhygienische Pflicht der Ärzte, 
diesem Anreiz zu unberechtigten Bereicheiungsideen zu begegnen. 



124 


Dr. Leop. Laquer, 


Hat also der Arzt rechtzeitig erkannt, daß in dem Krank¬ 
heitsbilde die Neigung zur Übertreibung eine große Rolle zu 
spielen anfängt, dann erachte ich es für seine Aufgabe, ohne 
Rücksicht auf den Patienten seiner vollen Überzeugung Aus¬ 
druck zu geben und die Begehrungs-Vorstellungen nach Mög¬ 
lichkeit zu bekämpfen. Nicht schnelle, gar zu entgegenkom¬ 
mende Zeugniserteilung, sondern rascheste Erledigung der 
Unfallsansprücbe ist bei Unfallsneurosen die Hauptaufgabe 
ärztlicher Diplomatie. 

Einzelne Vorkommnisse namentlich unvorhergesehener 
diagnostischer Irrtümer im Verlaufe von funktionellen Unfalls- 
folgen machen aber das Einhalten einer längeren Frist bei 
Abfindungen zur Notwendigkeit. 

Darum habe ich mich im großen und ganzen den Gaupp- 
schen Vorschlägen angeschlossen. Mit mehrgliedrigen ärzt¬ 
lichen Schiedsgerichten, die ja auch in den Versicherungs¬ 
bedingungen der Privat-Versicherungsgesellschaften vorgesehen 
sind und dort sehr erfolgreich wirken, habe ich selbst die 
besten Erfahrungen gemacht. Daß Hausärzte und Vorgut¬ 
achter dabei gehört werden müssen, liegt in der Natur der 
Sache. 

Um die Möglichkeit von Nachforderungen zu verhüten 
und nicht Abfindungshysteriker zu züchten, sind gewisse 
Kautelen in den Verträgen mit den Unfallsneurotikem er¬ 
forderlich. 

Jedermann, der einen Prozeß geführt hat, weiß es und 
hat es gewiß schon am eigenen Leibe gespürt, wie gut die 
Erledigung einer streitigen Angelegenheit auf das Gemüt eines 
Menschen zu wirken vermag. Ob der Prozeß gewonnen oder 
aber verloren ist, — der Ausgang des Rechtsstreites in letzter 
Instanz befreit die Seele eines jeden von schwerer Last, die 
oft genug gerade so schwere Erscheinungen am Nervensystem 
hervorruft, wie eine Unfallsneurose. „Der normale Mensch 
vor Gericht** ist eine psychopathologische Erscheinung, der 
Iloche in dem Handbuche der gerichtlichen Psychiatrie, Seite 
419 ff. (2. Aufl., 1909), ein besonderes Kapitel gewidmet hat. 
Dabei betont er immer wieder die Notwendigkeit der gerichtlichen 



Die Heilbarkeit nerrOaer Unfallsfol^ii. 


\2fy 


Würdigung derartiger ganz normaler Eigentümlich¬ 
keiten des Seelenlebens. 

Nirgends ist sie so notwendig als bei all den nervösen 
Unfallsfolgen die sich jahrelang vor dem Forum der Ver¬ 
trauensärzte, Schiedsgerichte, des Reichsversicherungsamts, vor 
allen möglichen juridischen und administrativen Instanzen hin¬ 
schleppen, bis endlich ein endgültiger Bescheid den Klagen 
ein Ende macht. Ans einem querulatorischen Weichling wird 
in wenig Wochen ein ruhiger verständiger Mensch, wenn er 
es schon vor dem Unfall war.*) 

Die von mir beobachteten Heilungen von Unfallsneurosen 
berechtigen mich, im Anschluß an anderweitige Erfahrungen 
einige Schlüsse zu ziehen, die ich in sechs Sätzen zu¬ 
sammengefaßt habe, und die am Ende meiner Arbeit wieder¬ 
gegeben sind. 

Es sei nochmals betont, daß es mir, wie so manchem 
praktischen Arzte, an der nötigen Zeit und auch mitunter an 
der nötigen Stimmung gebricht, um alle wichtigen Erfah¬ 
rungen der Praxis in die richtige literarische Form zu bringen 
und den Berufsgenossen zugänglich zu machen. Ich könnte 
sonst die verwertete Zahl von geheilten Unfallsneurosen um 
das Drei- und Vierfache vermehren. — 

Je älter der praktische Arzt wird, desto häußger wird sein 
Bedauern, daß er den größten Teil seiner wichtigen beruflichen 
Erlebnisse für sich behalten muß oder nur wenige aus dem 
gesetzlichen Grunde der ärztlichen Schweigepflicht verraten darf. 

Zu den mitgeteilten Tatsachen gesellen sich bei mir noch 
mannigfache allgemeine Eindrücke über die Heilbar¬ 
keit von Unfallsneurosen, die auch andere Gutachter teilen. 
Sie unterstützen die Anschauungen, die das oben von mir 
verwertete Gutachtenmaterial ergibt, nach allen Richtungen. 

*) Anm. bei der Korrektur: Auch in zwei Urteilen des Reichsgerichts 
(Jur. Woch. 1909 S. 137 und 1910 S. 717) komnit eine Auslegung des 
§ 843 des BOB., der ja eine Kapitalabfindung statt Rente zulaßt, zum Aus¬ 
druck. Sie entspricht dem von mir eingenommenen Standpunkte, und er¬ 
blickt in der vom Gutachter geforderten endgültigen Austragung der 
Unfallssache durch Abfindung die im Gesetz erstrebte «Wiederherstellung 
des früheren Zustandes“ (Schadenersatz). 



126 


Dr. Leop. Laquer, 


Man wird mir entgegnen, daß meine Auseinandersetzungen 
und Schlußfolgerungen über — Abfindung vielleicht nur 
eine akademische, keine praktische Bedeutung haben können, 
da Haftpflichtgesetz und Reichsversicherung „leges latae“ sind. 
Es besteht ja kaum die Aussicht, daß in absehbarer Zeit 
eine gesetzliche Änderung kommen wird, welche die ärztlichen 
Gesichtspunkte bei Beurteilung von nervösen ünfallsfolgen in 
foro zur Geltung bringen könnte, auch wenn mein Standpunkt 
allgemeine Billigung fände. 

Das mag richtig sein, vielleicht werden die da nach uns 
kommen es erst besser machen können!? Aber schon jetzt 
haben es alle Praktiker in der Hand, durch rechtzeitige Be¬ 
einflussung Unfallverletzter und streng objektives Verhalten 
n Unfalls-Begutachtung einem großen sozialen Übel, der 
Bereicherung durch Unfälle — ein er A usnü tzung 
von gesetzlichen Wohlfahrtseinrichtungen Einhalt 
zu tun. 

Wir Ärzte sind nicht dazu da, unseren Patien¬ 
ten für nervöse Beschwerden wirtschaftliche Vor¬ 
teile und Bequemlichkeiten des Daseins zu ver¬ 
schaffen, sondern ihre Krankheiten zu heilen. 

Wenn wir maßvolle Ansprüche Unfall-Verletzter durch Emp¬ 
fehlung der Kapitalsabfindung unterstützen, so erscheinen wir 
als Krankenheiler, ohne die Pflicht gegen die Gesamtheit außer 
acht zu lassen und unseren Pflegebefohlenen wehe zu tun. 

Von solchen Gefühlen für die Volksgesundheit und für 
die Stärkung unseres öffentlichen Ansehens, das durch falsche 
Rücksichten auf egoistische Triebe einzelner bei Unfallsbegut- 
achtung seitens mancher Berufsgenossen geschmälert wird, waren 
die klinischen und sozialhygienischen Darstellungen getragen, 
die nunmehr mit folgenden Sätzen ihren Abschluß finden sollen; 

1. Die allxu rasche Oeivährung einer Dauer-Rente an Un- 
faUsneurotiker und ihr langjähriger Bezug ist ihrer 
Heilung fast immer hinderlich. 

2. Wiederholte Heüversuche und langansgedehnte Beob¬ 
achtungen in Klinilcen und sonstigen Heilanstalten 
steigern die Beschwerden bei Unfallsneurosen und 
hemmen ihre rasche Genesung. 



Die Heilbarkeit nerrOser Unfallsfolgfen. 


127 


3. Eine genatie Nachprüfung der Oesundheits- bexw. 
Erwerbsverhältnisse von nervös gewordenen Unfalls- 
verletzten, die eine größere oder geringere Abfindung 
erhalten hatten, ergibt ihre völlige Oesundung in wirt¬ 
schaftlicher Beziehung. Eine Kapitalszahlung hilft 
den Kranken in rascher und ausgiebiger IVeise über 
die nervösen Unfallsfolgen hinweg. 

4. Zur Verhütung des Anreizes zu 'unberechtigten Be¬ 
reicherungsideen in weiten Kreisen der Bei'Ölkerung 
darf die Entschädigungssumme nicht zu hoch bemessen 
werden. 

ö. Um die Folgen von diagnostischen Irrtümem mög¬ 
lichst einzuschränken, sollten bei Unfallsneurosen etwa 
5 Jahre lang nicht zu kleine Teilrenten zum Zwecke 
der Schonung gezahlt werden. Dann aber ist der 
Anspruch durch einmalige Kapitalabfindung schnell 
und endgültig zu erledigen. 

6. Wenn die Kapitalabfindung — event. in zwei Bäten 
— in Aussicht genommen ist, empfiehlt es sich, die 
letzte Untersuchung und Entscheidung durch ein 
mehrgliedriges ärztliches Schiedsgericht vornehmen zu 
lassen, dem mindestens einer der behandelnden Aerxte 
des Verletzten angehören muß. 



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Direktor Prof. Dr. Eonrad Alt, 

Uchtspringe (Altniark). 

In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und die 
Bedürfnisse des praktischen Arztes unter ständiger Mitwirkung 

der Herren Geheimer Medizinal-Rat Professor Dr. Anton in Halle, Prof. 
Dr. Aschaffenburg in Köln, Geheim. Med.-Rat Prof. Dr. Binswanger 
in Jena, Prof. Dr. Bruns in Hannorer, Geh. Rat Dr. Gramer in Güttingen, 
Geh. Medizinal-Rat Prof. Dr. Goldscbeider in Berlin, Professor und 
Direktor Dr. Kirchhoff in Schleswig, Geh. Med.-Rat Dr. KrOmer 
in Conradstein, Sanitätsrat Dr. Laquer in Frankfurt a. M., Medizinalrat 
Dr. Mayser in Hildbur^bauson, Med.-Rat Dr. Näcke in Hubertusburg, 
Prof. Dr. Oppenheim in Berlin, Prof. Dr. Pick in Prag, Direktor Dr. 
H. Schloß in Wien, Oberarzt Dr. Schmidt in Uchtspringe, Geheimrat 
Dr. Schäle in Illenau, Prof. Dr. Schult ze in Greifswald, Geh.Med.-I^t 
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von Wagner in Wien, Nervenarzt Dr. M. Weil in Stuttgart, Direktor 
Dr. Wulff in Oldenburg i. Gr., Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Ziehen in Berlin 

herausgegeben von 

Prof. Dr. A. Hoche, 

Freiburg i. Br. 


Band IX, Heft 8. 




Die Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 

Von ~ 

San.-Rat Dr. B. Laquer, Wiesbaden, 

Der Gegensatz zwischen Individualismus und Kollekti- 
yismns kommt auch in der modernen Hygiene zum Durch¬ 
bruch; der Einzelforschung, welche auf eine Beobachtung, auf 
einen seltenen Fall sich beschränkt, welche für ein Symptom 
ein Mittel zu finden sich bemüht, stehen die .Bestrebungen 
und Forschungen gegenüber, welche das Massenelend, die 
Eollektivkrankheit zu beseitigen suchen; „dem größtmöglich¬ 
sten Glück der größten Zahl‘‘, das Graf Posado wsky im 
Reichstage seinerzeit als ideale Forderung hinstellte, entspricht 
die relativ stärkste hygienische Wohlfahrt der Massen. Man 
nennt das „soziale Hygiene**. Sie operiert mit großen Zahlen; 
ihre Angriffspunkte bilden die 600000 ansteckenden Lungen¬ 
kranken, welche es in Deutschland gibt, die 750000 Ge¬ 
schlechtskranken, die 300000 Alkoholkranken, die 25 000 Kinder, 
welche allein an Brechdurchfall in den Städten über 15000 
Einwohnern in Deutschland jährlich sterben, die 50000 an 
Krebs Leidenden. Als Quittung für ihre bisherigen Leistungen 
präsentiert diese Yolkshygiene eine dem Gedächtnis leicht 
einzuprägende Zahl, daß nämlich vor fünfzig Jahren in 
Deutschland drei vom Hundert, jetzt kaum noch zwei vom 
Hundert jährlich sterben, daß vor fünfzehn Jahren von tausend 
Deutschen überhaupt drei an Lungentuberkulose starben, 
jetzt nur:noch zwei. — Diese Hygiene zeigt Städte und Flüsse 
saniert, sie bewacht unsere Grenzen gegen die Seuchen, sie 
weist auf die zwei Millionen Mark hin, welche täglich für 

1 * 



4 


B. Laquer, 


die Sicherung von zwei Dritteln unseres Volkes gegen 
Krankheit, Unfall und Invalidität ausgezahlt werden; sie rechnet 
uns vor, daß in 7500 Krankenhäusern 400000 Betten stehen, 
welche jährlich von über zwei Millionen Kranken belegt 
werden, daß tausend Millionen Mark Kapital in diesen An¬ 
stalten investiert sind und daß hundertfünfzig Millionen Mark 
in ihnen jährlich ausgegeben werden, sowie daß in diesen An¬ 
stalten fUnfzigtausend Menschen als Kranken-Schwestern, 
Wärter, Pfleger, Diakonissinnen tätig sind, das sind mediko- 
ökonomische Zahlen, die eine gewaltige Sprache sprechen! 

In diesen Massenkämpfen um die Gesundheit unseres 
Volkes gibt es nun Gebiete, in denen vom Einzelangriff aus¬ 
gegangen, in denen nicht nur der Träger der Krankheit aufs 
Korn genommen wird, sondern seine ihn gefährdende Umwelt; 
diese Gebiete beschäftigen sich vorwiegend mit der soziologi'- 
sehen Erkennung und Behandlung der sogen. Kultur- und im 
speziellen der Nerven-Aufbrauch-Krankheiten. 

Gerade die Großstädte stellen ja an die Nervenkraft ihrer 
Bewohner außerordentliche Ansprüche, und die Großstadtarbeit 
und ihr anti-hygienisches Milieu in seinen vielen Verzweigungen 
zu erörtern, ist lohnend genug. 

Der umfangreiche Stoff wird übersichtlicher durch seine 
Zerlegung in drei Teile; 

1. die hygienischen oder normalen Arbeitsbedingungen des 
großstädtischen Gehimarbeiters, 

2. die Folgen der Großstadtarbeit, d. h. ihre Schäden, also 
das pathologische Moment, 

3. die Mittel und Wege, diese Schäden zu verhüten oder 
zu heilen, also die Prophylaxe und die Therapie. 

Letzteres kann man im weiteren bezw. im engeren Sinne 
wohl auch als die Fürsorge für Kopfarbeiter oder als kauf¬ 
männische Sozialpolitik bezeichnen. Diese Dreiteilung 
ist natürlich nur eine dispositive. In der Ausführung selbst 
werden, schon um die Wiederholungen zu vermeiden, diese 
drei Reihen sich öfters begegnen und miteinander verflechten. 
Non zuvor ein kurzer geschichtlicher Rückblick: 

Als ich im vorigen Jahre in der alten norwegischen 
Handelsstadt Bergen das Hansahaus an der „Deutschen 



Groflstadt'Arbeit und ihre Hygiene. 


5 


Brücke“ besuchte — es ist noch in seiner ursprünglichen Gestalt 
wie vor 500 Jahren erhalten —, da fielen mir in den Räumen 
kleine, in die dicken Wände eingebaute Gelasse auf, deren 
Holztüren nach unten gingen, von einer Größe etwa wie man 
solche Schlafstellen in einem „Asyl für Obdachlose“ sehen 
kann. In diesen licht* und luftlosen Kojen nächtigten die 
Lehrlinge und die jungen Leute der deutschen Hansakauf¬ 
mannschaft. Die Kontorränme trugen Steinfliesen, ihre Fenster 
waren durch Butzenscheiben gegen Lichteinfail geschützt, und 
auch sonst führten die Bergener Hansamänner gemäß der ge¬ 
bundenen Art, in welcher der Einzelne im Mittelalter nach den 
Kegeln der Gemeinschaft zu leben verpflichtet war, ein fast 
mönchisch hartes Dasein. Im Frühherbst dieses Jahres 
hatte ich fünfzehn Breitegrade südlicher im „Fondaco dei 
Tedeschi“ in Venedig die gleichen unhygienischen Eindrücke. 
Der Satz „Stadtluft macht frei“, galt damals nur für die 
Rechte des freien Kaufmanns, aber nicht für die des lernenden. 
Die sogen. „Bergener Spiele“, das sind Aufnahmegebräuche, 
bei denen die Hansa-Aspiranten ins kalte Wasser geworfen, 
und, um die Ohnmächtigen wieder zu beleben, mit Weiden¬ 
ruten gebürstet wurden, erinnern an die schlimmsten Formen 
des mittelalterlichen Pennalismus.*) Nur das Reiseleben des 
Mittelalters brachte Abwechslung in den Frohndienst, aller¬ 
dings auch neue Gefahren. „Koplude — Loplude“ („Kaufleute — 
Laufleute“) hieß es damals. Der Kaufmann war der Reisende**) 
schlechtweg; darum war ein Kaufmann — Marco Polo — der 
erste Forschungsreisende. Jeder Kaufmann aber, der auf Reisen 
giug, machte vorher sein Testament. Diese Sitte hat sich ja 
noch bis zu den Meßfahrten des neunzehnten Jahrhunderts 
erhalten. Zu den hygienischen Unvollkommenheiten des Ver¬ 
kehrs,***) der Straßen und der Wirtshäuser gesellten sich die 

*) Georg V. d. Ropp, Kauftnannsleben zur Zeit der Hansa. Bl. d. 
Hansischen Geschichts-Vereins. Leipzig 1907. 

**) „Gesund“ heißt ursprünglich „wegfertig“ von senden — gehen, 
reisen; Gesinde = Reisegefolge. 

***) Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahr¬ 
hundert. Berlin 1903. Kap. I: Eine Reise durch Deutschland vor hun¬ 
dert .fahren. 



5 B. Laqaer, 

großen Seuchen der damaligen Zeit, welche jahrzehntelang 
die Bevölkerung dezimierten. Die an sich einzig dastehenden 
Badeformen des Mittelalters sowie das selbstverständlich nie¬ 
mals einwandfreie Trink- und Nutzwasser verbreiteten die an¬ 
steckenden Krankheiten wie Feuerherde; denn nicht daß man 
oft badete und noch dazu gemeinsam, sondern wie das Wasser 
beschaffen war, entschied. Eine blühende Handelsstadt wie 
z. B. Frankfurt am Main schwankte innerhalb hundertfünfzig 
Jahren, vom Jahre 1355 bis 1499, in seiner Einwohnerzahl 
nur zwischen 7600 und 7800! Wäre damals die Einwohner¬ 
zahl nach der prozentualen Zunahme der letzten fünfzig Jahre ge¬ 
stiegen, so hätte die Zahl statt 7800 150 000 betragen müssen.*) 
In einer Patrizierfamilie derselben Zeit überlebten von 65 
lebend geborenen Kindern nur 18 ihre Väter, und nur 12 ge¬ 
langten zur Verheiratung. Die Zahl der Lahmen, der Blinden, 
der Tauben, Geisteskranken, von den Aussätzigen zu ge- 
schweigen, war in den deutschen Handelsstädten eine ver¬ 
hältnismäßig weit größere und in die Augen fallendere als 
jetzt. Wenn auch Telephon und Telegraph, Zeitungen, Sensa¬ 
tionsprozesse, Börsenkurse und Politik, die Sucht nach raschem 
Gewinn und die ganze Unrastdes großstädtischen Treibens fehlten, 
wenn auch die Lebenshaltung so bescheiden war, daß vor dem 
Ende des 15. und des 16. Jahrhunderts Glasfenster nur in 
Palästen und Holzsärge nur bei den Vornehmen verwandt 
wurden, so lagen doch auch im Leben des mittelalterlichen 
Menschen die schroffsten Wechselfölle des Seelenlebens neben¬ 
einander. Überfluß und Mangel, Völlerei und Darben, Genüß 
und Entsagung führten auch damals schon zu jenen seelischen 
Massenerkrankungen, über welche die Chroniken berichten. 

Der Anblick blutiger Greuelszenen, Belagerungen, Hin¬ 
richtungen, Bürgerzwiste, Aberglaube und grausamer Strafvoll¬ 
zug erschütterten die Gemüter aufs tiefste. 

Karl Bücher, der Leipziger Na.tionalökonom, ein vor¬ 
züglicher Kenner und Erforscher dieser Verhältnisse, schließt 
seine Betrachtungen mit den Worten: „das ruhige Behagen 

*) Karl Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft. V. Auflage. 
Tübingen 1906. Kap. Xf. Die soziale Gliederung einer mittelalterlichen 
Stadt. 



Großstadt-Arbeit nnd ihre Hygiene. 


7 


einer in festen Linien sich bewegenden, stetigen Entwicklung 
war dem Mittelalter fremd“. 

Starke Sparen dieser, das Nervenleben der erwerbenden 
Schichten zerrüttenden Zustände sind bis zu den Napoleonischen 
Zeiten gerade in dem von schweren Krisen heimgesuchten 
Handelsstande bis ins 19. Jahrhundert hinein haften geblieben. 
Wer diese Anschauungen sich sinnfällig gestalten will, der 
studiere die 175jährige Geschichte des Breslauer Bankhauses 
Eichborn & Co*) In gleicher Richtung liegen die Schilde¬ 
rungen Ehrenberg’s in seinem Werke: Die großen Vermögen,**) 
sowie in dem bislang erschienenen Band 1 der Geschichte der 
Unternehmungen der Gebrüder Siemen s.***) Die neue Zeit 
dämmert an, — wir schreiben das Jahr 1788, — ein Justus 
Möser klagt aber schon in seinen „patriotischen Phantasien“: 
„Vordem arbeitete ein Jeder für seinen Nachruhm, jetzt für 
den Tag, den ihm der Himmel gibt. Unbekümmert um Tadel 
und Ruhm späterer Zeiten, genießt er, was er findet, verzehrt 
er, was er hat, und dient, um genießen und verzehren zu 
können. Der Glanz des kurzen Tages hat mehr Neigung für 
ihn als der größte Dank des späteren Jahrhunderts und das 
Glück, mit Sechsen fahren zu können, dünkt ihm köstlicher 
als die Ehre eines marmornen Denkmals.“ 

Nun zur Gegenwart: 

Das Zeitalter der rastlosen Arbeit, in dem wir leben, hat 
diejenigen, welche für das Wohl des Staates und seiner Be¬ 
wohner sorgen, bald ihr Augenmerk auf die normalen Grund¬ 
lagen der Arbeitsmethoden hingeleitet. Während aber die 
Regelung der gesundheitlichen Bedingungen der körper¬ 
lichen Arbeit — von britischen Vorbildern ausgehend — 
Fabriken und Technik mit gerechtfertigten Schranken umgibt 
(das erste Arbeiterschutzgesetz wurde 1802 für Baumwolle und 
Manufaktur erlassen, und in ihm eine mehr als zwölfstündige 
Kinderarbeit verboteni), ist die Hygiene der geistigen Arbeit 
erst ein Erzeugnis des letzten Viertels des vergangenen Jahr- 

*) K. Moritz Eichborn, Das Soll and Haben von Eichborn & Co. 
Breslau 1903. 

*♦) Jena 1902. 

**♦) Jena 1906. 



8 


B. Laquer, 


hunderts. Eigentlich hat auch hier das 1880 von Nordamerika, 
dem Lande der Kontraste, ausgehende Werk des Nervenarztes 
Beard:*) „Die Nervenschwäche (Neurasthenie)“, die An¬ 
regung zu Forschungen gegeben. Einen Augenblick wollen 
wir bei dem Unterschied zwischen körperlicher und geistiger 
Arbeit verweilen. Jeder Spaziergang, jede Muskelanstrengung, 
jedes Heben eines Gewichtes bedeuten in letzter Linie Gehim- 
tätigkeit, da ja die Muskeln von ihm aus in Tätigkeit gesetzt 
werden. Andrerseits ist auch das Schreiben eines Briefes mit 
Muskeltätigkeit verknüpft; ferner gibt es zwischen den 
beiden Gebieten liegende Tätigkeiten, wie z. B. das Schleifen 
einer Linse, die Bedienung eines Dampfhammers, die Steue¬ 
rung eines Autos, welche gewiß mehr von dem Kopf als von 
den Händen ressortieren. 

Was beide Arbeitsmethoden unterscheidet, ist folgendes: 

Muskelarbeit ist meßbar. Der Marschierende, der Schwim¬ 
mer, der Bergsteiger zersetzen meßbare Quantitäten Sauer¬ 
stoff. Wenn man sich die von dem Berliner Physiologen 
Zuntz erfundene Gasuhr auf den Rücken schnallt und durch 
dieselbe atmet, so kann man an dem Zeiger ihre Sauerstoff¬ 
verbrennung während irgendeines Training ablesen. — Alle 
Versuche hingegen, die geistige Anstrengung experimentell zu 
messen, sind bislang gescheitert. Unser Gehirn umfaßt 2 Proz. 
des Gesamtkörpergewichts; die Zeiger-Ausschläge aber unseres 
auf- und niedergehenden Gehirn-Stoffwechsels weist uns noch 
keine Uhr auf; die Gehirn-Arbeitskurven sind eben im Ver¬ 
hältnis zu der feinen Nervenmechanik unsichtbar. Und 
ferner, angenommen wir besäßen eine solche Uhr; ein Mensch, 
welcher sich in ein dunkles Zimmer einschließt mit dem 
Vorsatz, ganz unbeschäftigt zu sein, kann sich unwillkürlich 
mehr anstrengen und vielleicht in stärkerem Maße sein Ge¬ 
hirn abnutzen, als wenn er sich an den Schreibtisch setzt, 
mit dem Bestreben, alle Geisteskräfte anzuspannen**). Auf einen 
zweiten psychologischen Unterschied zwischen geistiger und 

*) Leipzig 1889. 

**) Die Untersuchungen von Lehmann (Kopenhagen) über den 
Stoffwechsel während geistiger Arbeit sind noch nicht allseitig anerkannt 
worden. 



G roßstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


9 


körperlicher Arbeit möchte ich unter Anführung eines viel¬ 
leicht trivial erscheinenden Beispiels aufmerksam machen. 

Wir alle haben gewiß schon einmal einen wichtigen 
Brief schreiben, eine schwierige Rechnung ausführen wollen. 
Da ertönt von der Straße her Musik und zwingt uns 
zu einer ärgerlichen Pause. Von Arnold Böcklin erzählt 
sein Biograph G. Floerke,*) er habe einstmals in seinem 
Atelier an der Farbe eines Frauenkleides intensiv gearbeitet. 
Da erklang aus dem Nebenzimmer, wo sein Schwiegersohn 
Bruckmann arbeitete, die Marseillaise. Da rief Böeklin 
zornig: „Da hat mir der Bruckmann glücklich meine Farben- 
nüance weggepfiffen!“ Als der allerdings ungewöhnlich sensi¬ 
tive Künstler in Zürich einen Bekannten zu Grabe geleitete, 
und die Musikanten, vermutlich weil sie nichts anderes zu 
blasen wußten, fünfmal hintereinander den Böcklin sehr unsym¬ 
pathischen Cbopinschen Trauermarsch spielten, blieb ihm die 
Melodie tagelang im Ohre; er konnte kanm arbeiten. 

Andererseits werden wir beim Marsch, beim Schlittschuh¬ 
laufen durch Musik eher angefeuert als gestört. Worin liegt der 
Unterschied? Der schon oben erwähnte, auch diese Dinge tief 
schürfende Volkswirt Karl Bücher hat auf den Rhythmus**) 
hingewiesen, auf den Auftakt, welcher — von den Natur¬ 
völkern ausgehend und zu den Sklaven übergehend — die 
reine Muskelarbeit begleitet. Auf griechischen Reliefs sieht 
man Töpfer unter Flötenspiel des Werkmeisters ihre Ar¬ 
beit verrichten. Der Schmied, der Schlosser, der Klempner 
lassen den Hammer im gleichen Takt auf das Metall nieder¬ 
fallen. Der geldzahlende Bankbeamte streut in einem durch 
Übung gewonnenen Gleichmaß die Goldstücke auf das Zahl¬ 
brett. Jede körperliche Arbeit hat ihre eigene Musik. Der 
Steuermann im „Fliegenden Holländer“ singt sie. Die Müller¬ 
lieder und die Niggersongs, auch „Old Plantations Songs“, 
d. h. Pflanzer-Farmerlieder, genannt, haben diesen Rhythmus 
der Arbeit, ln Ägypten, in den gewaltigen Ruinen von 
Karnak, hörte ich beim Heben eines Obelisken Zwiegespräche 
zwischen den Arbeitern singen — ebenfalls Arbeitslieder, wie 

*) Zehn Jahre mit Arnold Böcklin. 2. Aufl. Mönchen 1902. 

**) K. Bücher, Arbeit nnd Rhythmus. III. Aufl. Leipzig 1903. 



10 


B. Laquer, 


sie dort seit Jahrtausenden üblich sind. „Im Anfang war der 
Rhythmus“, sagte einstmals H. v. Bülow. Und Schiller: „Wenn 
gute Reden sie begleiten, dann geht die Arbeit munter fort!“ 
Den Muskelbewegungen schmiegen sich von Urzeiten her 
Arbeitsgesänge an, verstärken und erleichtern sie. Anders 
bei der geistigen Arbeit. Hier wirkt Musik störend und die 
Gedankenreihen unterbrechend. Das Addieren von Zahlen, 
das Schreiben von Briefen wird von Nebengeräuschen und 
sonstigen unsere Sinnesorgane betreffenden Einwirkungen be¬ 
einträchtigt. Darum, weil geistige Arbeit zur äußersten Kon¬ 
zentration, zur Einengung der Gedanken zwingt, weil sie 
andere Mitbewegungen und Mitschwingungen ausschließt, weil 
sie also im Gegensatz zur körperlichen Tätigkeit ohne Rhythmus 
ist, darum nennt man sie monoton und einförmig; darum 
führt sie zu einer ihr eigentümlichen Ermüdung und Er¬ 
schöpfung. 

Eines aber ist körperlicher und geistiger Arbeit gemeinsam 
und folgt ihnen wie der Schatten; hierin unterscheidet sich 
auch die Arbeit unseres Organismus von der Arbeit der Ma¬ 
schine. Körperliche und geistige Tätigkeiten können ohne 
Ruhepausen nicht vor sich gehen. Muskeln, Magen, 
Nieren, Leber schaffen nicht ohne stundenlange Pausen; 
die Erholungen von Herz und Lunge im Zustande der Er¬ 
schlaffung sind kurz und häufig. Das Nervensystem hingegen 
muß dauernd ausruhen, es bedarf der allerlängsten Zeit zur 
Erneuerung seiner Mittel. Bei diesem Begriff der Kraftpause 
haben wir nach Kraepelin*) zu unterscheiden: den objek¬ 
tiven Zustand der Ermüdung und den subjektiven Zustand 
der Müdigkeit. 

Ermüdung nennen wir den Zustand unseres Körpers, 
bei welchem Muskeln und Nerven durch die vorausgegangene 
Arbeit derart verändert sind, daß sie ihre Aufgaben entweder 
gar nicht mehr oder nicht mehr so gut erfüllen können, als im 
nicht ermüdeten Zustande. Unter Müdigkeit verstehen wir 
nach Kraepelin dagegen ein subjektives Gefühl, welches 
wir durch Energiö eventuell überwinden können, während das 

*) Kraepelin, Ober geistige Arbeit, Jena 1903, und Zur Hygiene 
der Arbeit, Jona 1896. 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


11 


ihr zugrundeliegende Quantum der Ermüdung als solches natür¬ 
lich dabei rapide anwächst. Ein Vergleich mag dies verdeut¬ 
lichen: Wenn beim Radfahren das öl der Kugellager abnimmt, 
so vergrößert sich die Reibung und die Leistungsfähigkeit der 
Kurbeln nimmt ab, ohne daß uns dies zum Bewußtsein kommt 
Das ist Ermüdung. — Kommt uns diese Ermüdung aber als 
ein deutliches Klappern der Maschine zum Bewußtsein, so ist 
das Müdigkeit. Oder auch die Ermüdung werden wir viel¬ 
leicht einmal durch eine chemische, die Nervenabnutzung dar¬ 
stellende Formel ausdrücken können; Müdigkeit aber ist und 
bleibt eine Nervenstimmung. Natürlich gibt es auch Über¬ 
gänge. Wir alle kennen nervöse Menschen, welche sich abends 
weniger müde fühlen als morgens, trotzdem ihre Leistungs¬ 
fähigkeit an sich abgenommen, also die objektive Ermüdung zu- 
genommen hat. Und umgekehrt fühlen sich solche Kranke nach 
gut durchschlafener Nacht gerade morgens müde. 

Der Ermüdung steht gegenüber die Erholung, d. h. derjenige 
Vorgang, bei welchem die verbrauchten Kräfte ersetzt, die schäd¬ 
lichen Zersetzungsprodukte der Nervenarbeit entfernt werden. 
Nabrungszufuhr und Ruhe wirken hier am meisten. Vor allem 
aber der Schlaf. Wenn es auch nur eine Legende ist, daß in 
China Leute durch Schlaflosigkeit, anstatt durch Henkershand, 
zu Tode gebracht werden, so können doch sowohl Tiere als 
Menschen viel länger hungern als nicht schlafen. Wir ver¬ 
schlafen ein Drittel unseres Lebens; unsere Hausgenossen, 
die Hunde, zwei Drittel. Entzieht man letzteren, besonders 
wenn sie jung sind, den Schlaf, so sterben sie nach 4 bis 
6 Tagen. Wir schlafen wahrscheinlich nur mit einer Gehirn¬ 
hälfte — mit der linken — oder wenigstens — wie Bunge*) 
nach Man asseine annimmt: die linke Hemisphäre, mit welcher 
wir vorherrschend tätig sind, versinkt in tieferen Schlaf als 
die rechte. 

Die erste Bedingung eines guten Schlafes ist Fortfall 
aller Sinnes-,' Denk- und Phantasiereizo. Die oben erwähnte, 
als „Schlafzentrum** (s. v. v.) supponierte linke Gehirnhälfte 

*) Bunge, Lehrb. d. Physiologie des Menschen. 18. Vorl.: Der 
Schlaf. Leipzig 1911. 



12 


B. Laquer, 


wird im Schlaf vorübergehend anämisch. Damit hängt zu¬ 
sammen, daß die Mehrzahl der Menschen auf der rechten 
Seite schläft. Rein mechanisch wird nämlich dadurch die 
hochliegende linke schlafende Gehirnhälfte vom Blut entleert, 
und das Herz arbeitet, wenn wir nicht auf der linken, auf der 
Herzseite, schlafen, ruhiger. Die Dauer des Schlafes, weiche 
der einzelne Mensch benötigt, ist individuell verschieden. 
Friedrich der Große brauchte nicht länger als vier bis 
sechs Stunden. Von Napoleon erzählt H. Taine,*) daß 
er Aktenstücke während der Nacht aufgearbeitet und mit 
Randbemerkungen versehen, zu denen andere eine Woche ge¬ 
braucht hätten; er konnte 18 Stunden hintereinander arbeiten; 
Feldmarscball Moltke hatte einen langen und festen Schlaf 
nötig; nur einmal während des ganzen Feldzuges 1870/71 
schlief er nur zwei Stunden; das war in der Nacht vor Sedan, 
als die Rechtsschwenkung der französischen Armee nach 
Belgien gemeldet wurde und die „Einkesselung^* des Feindes 
vorbereitet werden mußte.**) 

Besonders begnadete Menschen vermögen ihre Nerven zu 
kommandieren; ihnen genügt irgendeine Ruhelage, ja schon 
das Ausstrecken der Beine im Lehnstuhl, um einen kurzen 
Schlaf zu erzielen, aus welchem sie erfrischt wieder aufwachen. 
R. Sommer hat Ruhehallen für die Großstädte, für Weltaus¬ 
stellungen vorgeschlagen; im Orient dienen die Moscheen solch 
profanen Zwecken. 

Zur Beruhigung der „Schlechtschläfer“ wäre gleich folgendes 
zu sagen: 

Es gibt gerade - in den Großstädten Menschen, welche tags¬ 
über in ihrem Beruf Außerordentliches leisten, ganze Nächte 
schlecht schlafen und dennoch ihre Arbeit so gut leisten 
wie andere Menschen. Nun bedeutet erstens ausgestrecktes 
Liegen für Ermüdete auch Nervenauffrischung, w'enn auch mit 
offenen Augen, und zweitens ist die Energie-Bilanz solcher 
„Schlechtschläfer“ eben eine andere; sie machen mit geöffneten 
Sinnen gewissermaßen ihre Abschreibungen von dem Eraft- 

*) Hyppolite Taine: Les Origines de la France contemporaine. 
Bd. III. Leipzig 1909. 

**) Verdy du Vernois. Im großen Hauptquartier 1870/71. Berlin 1895. 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


13 


Verlust des Tages. Ihre Aktiva und Passiva schwanken in 
engeren Grenzen.*) 

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen bedarf es keiner 
katalogartigen Aufzählung aller normalen Bedingungen geistiger 
Arbeit. Gewisse instinktive, durch unsere Sinne übermittelte 
Erfahrungen über den nötigen Luftraum und über Belichtung, 
Lüftung, Staubfreiheit der Arbeitsräume, über die notwendige 
Temperatur im Winter, über Sitzgelegenheiten in Waren¬ 
häusern und offenen Läden setze ich als bekannt voraus. 
Daß in New York die Wolkenkratzer bis zur Höhe von 
vierzig Stockwerken gebaut werden, bat nicht nur seine 
Ursache in der so schmalen halbinselförmigen Lage der 
Stadt und in dem Riesenpreis des Baugrundes in der Nähe 
der Börse, der Banken und des Hafens, sondern auch in 
dem Umstande, daß die Bewohner der höheren Stock¬ 
werke die Staub-,' Kohlen- und Rußteile der engen Straßen 
weniger spüren. Offene „Roof-Theater“, d. h. Dachtheater, 
habe ich im Hochsommer in New York selbst besucht und mich 
an der guten Luft erfrischt. Rubner**) rechnete für Berlin 
aus: jeder Einwohner verbraucht im Durchschnitt täglich vier 
Kilo Kohlen; da der Kubikmeter ihrer Großstadtluft 
0,14 mgr Ruß enthält, jeder Atemzug aber einen halben Liter 
Luft passieren läßt, so werden in 24 Stunden durch die Lungen 
2 g Ruß aufgenommen. Demgegenüber ist der Rußgehalt der 
Londoner Atmosphäre trotz der berühmten Nebel um 10 Proz. 
geringer; höher dagegen um 25 Proz. in Dresden, um 50 Proz. 
in Chemnitz, am höchsten in Köln und Magdeburg. Nicht¬ 
raucher und Alkoholenthaltsame, welche ihre Schleimhäute gut 
konservieren, spüren schon auf dem Bahnhof Savignyplatz in 
Berlin die bessere und reinere Vorstadtluft. Im Monat De¬ 
zember gab es im Durchschnitt der Jahre 1893 bis 1900 in 
Berlin 41 Sonnenscheinstunden, in Potsdam 54. Die Heilige 
keit Berlins an nicht nebligen Tagen ist um das 500 fache 
größer gegenüber den Tagen, wo die Großstadtnebel die Luft 


*) Jendrassik, Die Neurasthenie. Volkmanns klin. Vorträge, 
N. F. 476/427, 1906. 

**) M. Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 9. Aufl. Leipzig 1907. 



14 


B. Laqaer, 


Terdankeln. Skarbina hat diesen GroQstadtnebel gemalt, 
Zola und W. Bölsche haben ihn beschrieben. Ich sah ein« 
mal an einem Angnsttage von einer Anhöhe im Westep Lon¬ 
dons die Sonne untergehen; das war aber keine runde Scheibe, 
sondern eine dunkelgelbliche Tunke mit hellem Rand vojl gelb¬ 
lichen Flecken. Nur der Umstand, daß in London und Paris 
die Seewinde alle Nacht die Stadt auslttftan, gibt einen ge¬ 
wissen Ersatz für den Rußgehalt, welchen der Tag erzeugt 

Hier wäre auch, da wir von Großstadtluft sprechen, der 
Gartenstadtbewegung zu gedenken als eines sozialhygienischen 
Protestes gegen die „Steinschluchtenund gegen die „Asphalt¬ 
alleen“, in denen die Großstädter leben. In Berliner Einzimmer¬ 
wohnungen Übertritt die Sterblichkeit die normale um das 
Achtfache. Durch Hinausverlegung der Industrie aufs Land 
sollen ästhetische, herz- und augeerfreuende Heimstätten den 
arbeitenden Schichten zugänglich gemacht werden. In Eng¬ 
land ist diese Bewegung entstanden. Die ersten Architekten 
Londons haben Gartenstadtanlagen, z. B. Bourneville und 
Letchworth, entworfen; mit bescheidenen Mitteln wurden 
reizvolle Wirkungen erzielt. Auch bei uns haben die Be¬ 
strebungen Boden gefunden; Kampfmeyer ist ihr Vorkämpfer; 
der Münchener Eunstschriftsteller von Berlepsch-Vallendas 
hat die Fragen an Ort und Stelle studiert und in seinem 
Werke „Englische Arbeiterhäuser“*) darüber berichtet. Wie 
aber auch in der Großstadt selbst die Architektur als sozial¬ 
hygienische Hilfskraft für die Pflege der öffentlichen Hygiene 
und für die „Mühseligen und Beladenen“ verwendet werden 
kann, das zeigt das Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus, 
eine Idealanlage im Stil einer vornehmen und reinlichen deut¬ 
schen Barockstadt. Mit Recht wird darauf hingewiesen, von 
welchem unschätzbaren Einfluß auf die Pflege und die Ge¬ 
sundung erkrankter Kopfarbeiter es ist, ob das Krankenhaus 
nach seinem Aussehen sich als ein finsteres Gefängnis, oder 
ob es sich unter Umständen durch sein menschenfreundliches, 

♦) Englische Arbeiterhäaser. 1907. Stuttgart. Englische Gartenstädte. 
1910. Stuttgart. S.a. Eine Studienreise nach engl. Gartenstädten. Berlin 1911. 

**) Krankheit und soziale Lage. Herausg. von Moße und Tugend- 
reich. München 1912. 



Grottstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


15 


gewinnendes Äußeres als ein erwünschter Zufluchtsort für im 
Lebenskampf Zusammenbrechendo darstellt. In solchen ver¬ 
streuten Mustergebäuden, durch Gras- und Blumenatilagen 
miteinander verbunden, liegt ein heimlich verborgener, hygieni¬ 
scher Reiz, der unter Umständen rascher wirkt und besser als 
Arznei und Arzt. 

Außer dem Schlaf gibt es in der Tagesarbeit des Kopf¬ 
arbeiters eine längere Erholungspause zwischen Vor- und Nach¬ 
mittag. In dieser ladet der Abgespannte seinen Nervenakku- 
mnlator nicht durch Ruhe, sondern durch Zufuhr chemischer 
Spannkräfte in Form der Nahrung. Hier erhebt sich eine rein 
praktische Frage. Wie steht es sozialhygienisch um die eng¬ 
lische Tischzeit? Unser statistisches Amt, speziell die Ab¬ 
teilung für Arbeiterstatistik hat im Jahre 1903 über die Arbeits¬ 
zeit der Gehilfen und Lehrlinge sowie der Hilfsarbeiter in den¬ 
jenigen kaufmännischen Betrieben, die nicht mit offenen Ver¬ 
kaufsständen verbunden sind, Erhebungen angestellt. Diese 
etwa 180 Quartseiten im Druck umfassende Erhebung*) ergab 
widersprechende Anschauungen zwischen Arbeitgebern und 
Arbeitnehmern. Die Handelskammern einerseits und die kauf¬ 
männischen Verbände andererseits stimmen in ihren Forderungen 
und Vorschlägen nicht überein. In Großstädten, wo die Mittags¬ 
wege nach Hause oder zur Speisewirtschaft weit und von der Wit¬ 
terung beeinflußt sind, wo die innere Ruhe zur Einnahme und zur 
Verdauung einer ausführlichen Mittagsmahlzeit fehlt, wo auch 
die oben geschilderte Helligkeit der Mittagstunden z. B. für 
Warenprüfungen wahrgenommen werden muß, wo die Gedanken¬ 
gänge von Entwürfen, von großzügigen Kontorarbeiten nicht 
unterbrochen werden dürfen, ist die englische Tischzeit ein 
dringendes Bedürfnis. Die angelsächsischen Länder sowie 
unsere Seestädte sind damit vorangegangen. Die vermeintlichen 
kleinen Nachteile, z. B. daß die Hausfrauen doppelt für den Vater 
und für die Kinder kochen und anrichten müssen, sind leicht 
zu beseitigen. Dagegen halte ich folgende Voraussetzungen 
für wichtig: Eine allgemeine, daß alle Engros-Geschäfte in der 
Annahme der englischen Tischzeit gemeinsam vorangehen 
müssen, und folgende spezielle Bedingungen: 


*) Berlin, C. Hoymann. 1904. 



16 


B. Laquer, 


1. Nicht nur die englische Tischzeit, sondern schon das 
erste Frühstück muß unseren angelsächsischen Vettern nach¬ 
gebildet werden. Kopfarbeiter dürfen in den Morgenstunden, 
in welchen der Magen ausgeruht und zu einer reichlichen 
Mahlzeit bereit ist, sich nicht mit dem noch vielfach üblichen 
Kaffee und Weißbrot begnügen, sondern eine weit ausgiebigere 
Mahlzeit, enthaltend Zucker (in Form von Marmelade, Honig), 
Fette, Salate, Obst, Milch, Eier genießen und zwar, was auch 
wichtig ist, mit englischem Phlegma; dann wird sich von 
selbst die Fähigkeit einstellen, stundenlang durchzuarbeiten 
und sich mit einem kurzen Imbiß zwischen 1 und 2 Uhr zu 
begnügen. 

2. Die großen Bank- und Geschäftshäuser müßten es als 
eine sozialhygienische Pflicht ansehen, für alle ihre Angestellte 
eine gemeinsame Kantine, geräumig, luftig und mit Licht ver¬ 
sehen, herzustellen, in welcher zum Selbstkostenpreise ein 
warmes und ein kaltes Gericht gereicht werden. Dabei daif 
kein Trinkzwang bestehen, und Ruheräume event. auch ein 
Rauchzimmer müssen vorhanden sein, in welchem die zweite 
halbe Stunde (die erste halbe Stunde ist für die Nahrungs- 
zufuhr nötig) verbracht wird. Die alkoholfreien Getränke müssen 
ebenfalls in schmackhafter und billiger Form vorhanden sein, 
etwa wie sie die Eisenbahnwerkstätten ihren Beamten zu 3, 4 
und 5 Pf. darbieten. Solche Kantinen habe ich im Verwal¬ 
tungsgebäude der Hamburg-Amerika-Linie an der Alster, bei 

Wertheim“ in Berlin sowie in der „Deutschen Bank“ gesehen. 
Natürlich müssen gerade in den Großstädten die staatlichen 
Zentralverwaltungen dem guten Beispiel folgen. 

Ein drittes, die englische Tischzeit ergänzendes Moment 
ist natürlich die genaue Innehaltung der Mittagspause seitens 
der Angestellten und des Geschäftsschlusses seitens des Unter¬ 
nehmers. Ich bin auch überzeugt, daß die Provinz sich bald 
daran gewöhnen wird, ihre „Ordres“ frühzeitig zu geben und 
die Verspätung zu vermeiden. Sonst entstehen Verhältnisse 
wie in Nordamerika, wo es Frühstücksräume mit sog. „fünf 
Minuten-Lunch“ gibt. 

Eine vierte Forderung ist die Erziehung der Angestellten 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


17 


zum vernünftigen, hygienischen Gebrauch der Stunden von 5 
und 6 Uhr nachmittags ab. 

Ein vorbildliches Beispiel aus dem Auslande:*) 

Die Verkehrsanstalten Australiens sind in jenem kühnen 
sozialpolitischen Geiste geleitet, der das ganze dortige Wirt¬ 
schaftsleben beherrscht, so die Post und die Eisenbahn. Wie 
an Sonntagen keine Hand sich rührt, falls es nicht dringende 
Not befiehlt, so bewegen sich auch keine Güterzüge auf den 
Eisenbahnen, nur die Versorgung der Städte mit der notwen¬ 
digsten Milch bedingt für den Umkreis der Städte einen be¬ 
schränkten Verkehr. Wo alles Geschäftsleben ruht, ist natürlich 
auch kein Bedürfnis, an Sonntagen die Schalter der Post¬ 
anstalten geöffnet zu halten, und an Werktagen können sie um 
6 Uhr schließen, da die großen Banken um 4 Uhr, die meisten 
Handelsbureaus um 5 Uhr, die Verkaufsläden um 6 Uhr ihre 
Tätigkeit einstellen. 

Wer kennt nicht das Bild, das sich uns spät Abends an den 
deutschen Postscbaltem darbietet? Bleiche Ladenangestellte 
bringen Stöße von Paketen, kleine Geschäftsleute und müde 
Heimarbeiter drängen sich mit ihren Sendungen, langsam bewegt 
sich die Reihe vorwärts, um von den Postbeamten, die des Tages 
langer, einförmiger Dienst müde und mürrisch gemacht hat, um¬ 
ständlich abgefertigt zu werden. In Australien hat man mit der 
Begleitadresse aufgeräumt. Ein Zettel, welcher Gewichtsangabe, 
Frankierung und Absenderadresse aufnimmt, ist dem Paket 
selbst aufzukleben und dieses wird wie ein Brief der Post¬ 
anstalt an vertraut; in fliegender Eile kann der Träger sein 
Geschäft erledigen, und den abendlichen Heimweg antreten. 
Nie hört man eine Klage über den Paketpostdienst. 

Auch das sog. „fair weakend“ Londons, d. h. die Möglich¬ 
keit durch den Schluß sämtlicher Fabriken, Warenhäuser und 
Läden Samstag Mittag vierzig Stunden fern von der Großstadt 
auf dem Land, an der See verbringen zu können, ist hier zu 
erwähnen; Wochenendzüge fahren ohne Zwischenaufenthalt 
zu den Erholungsorten; die großen sportlich • nationalen 

*) A. Manes, Ins Land der sozialen Wunder, Berlin 1910, und 
R. Schachner, Australien in Politik, Wirtschaft und Kultur, Jena 1910. 



IH 


B. Laqner, 


Veranstaltungen finden Samstag-Nachmittag statt. Einige Ber¬ 
liner Großbanken schließen Samstag nachm. 1 Uhr. 

Wie steht es, da wir nun einmal den Überseeweg 
in unseren Betrachtungen angetreten, mit der Ernährungsfrage 
in den Tropen, welche für die Kopfarbeiter von so großer Be¬ 
deutung ist. Die Arbeitsfähigkeit der Europäer sowohl als 
der Eingeborenen erfährt im heißen Klima eine Herabsetzung. 
Wenn nämlich die Außentemperatur, in welcher man tags¬ 
über zu leben und zu arbeiten hat, erheblich steigt, und 
insbesondere wenn die hohe Luftfeuchtigkeit unserer Haupt¬ 
transpiration, also dem Regulator unserer Wärmewirtschaft 
entgegen wirkt, so bemüht sich der Körper, seine eigene Tempe¬ 
ratur in sich selbst herabzusetzen, um der Überhitzung, der 
Wärmestauung entgegenzuarbeiten. Er bewegt sich weniger 
und nimmt geringere Nahrung zu sich, um eben im eigenen 
Körper weniger Wärme zu erzeugen. Aber diese instinktive 
Abneigung gegen die Nahrungszufuhr sinkt bei dem monate¬ 
langen Aufenthalt in den Tropen unter die zur Erhaltung des 
Körpers notwendige Norm. Es entwickelt sich eine Art von 
Unterernährung und damit sowohl eine Empfänglichkeit für 
ansteckende Krankheiten (Malaria usw.) als auch eine gesteigerte 
seelische Reizbarkeit, welche sich als Tropenerregung oder sog. 
Tropenkoller äußert. Hierbei spielen natürlich sowohl der 
Alkoholkonsum als auch die überwertigen, erregenden Ein¬ 
drücke mit, welche das koloniale Leben und Treiben für 
Jüngere und für Neulinge mit sich bringt. Zur Zeit ist man 
bemüht, einerseits zahlenmäßig das Maß dieser Stoffwechsel¬ 
anomalien wissenschaftlich zu ergründen, und andererseits 
mit Hilfe der technisch so vorgeschrittenen Kältemaschinen 
in den tropischen Geschäfts- und Aufenthaltsräumen für eine 
Abkühlung der Zimmertemperatur, also für eine Verminderung 
der Wärmestauung zu sorgen, gerade so wie wir hier unsere 
Zimmer im Winter heizen. Die Ergebnisse dieser Forschungen*) 
können unter Umständen der Akklimatisation gerade der Kopf¬ 
arbeiter in den Tropen zu Hilfe kommen. 

In England, Amerika und Australien sind ja auch die 

*) K. B. Ranke, Münchener mediz. Wochenschrift 1907, 8. 1435 
nnd F. Daeubler, Deatsche mediz. Wochenschrift 1912, 8. 666. 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


19 


Gastwirtschaften sonntäglich geschlossen. In Schweden und 
Norwegen dürfen die ßranntweinschenken Sonntags nur von 
11—1 Uhr offen gehalten werden.*) Wie anders sieht es bei 
uns aus? 

In Berlin wurden im Jahre 1905 pro Kopf 215 Liter 
Bier, 9'/, Liter Wein und 12 Liter Branntwein, bez. auf die 
über 15 Jahre alten männlichen Erwachsenen (das sind doch 
die eig. Konsumenten) mal SVs berechnet = 715 Liter Bier, 
30 Liter Wein und 40 Liter Branntwein pro Kopf und Jahr 
getrunken; in Geldwert 153 Mill. Mark für Bier, 25 Millionen 
Mark für Wein und 27 Millionen Mark für Schnaps. Insgesamt 
205 Millionen Mark, mit Trinkgeldern 225 Millionen. — Da das 
Einkommen jedes Berliner Einwohners, Kinder, Frauen und Säug¬ 
linge eingeschlossen, 700 M. beträgt, so vertrinkt (im Durchschnitt) 
jeder Berliner Einwohner 100 M., d. i. den 7ten Teil seines 
Einkommens, nämlich 75 M. für Bier, 12 M. für Wein und 
13 M. für Branntwein; jeder Bewohner Deutschlands vertrinkt 
im Durchschnitt nur 47,10 Mk. Der Etat der gesamten Stadt 
Berlin betrug 1902/03 112^/4 Mill. Mark, d. h. gerade nur die 
Hälfte der genannten für Alkoholika ausgegebenen Summe. 
Die Zahl der Schankstätten in Berlin betrug 1905 16000, d. h. 
auf 128 Einwohner kam eine Schankstätte. Da nur 25000 
bewohnte Grundstücke vorhanden sind, so kam auf jedes 
zweite Grundstück eine Kneipe. Die „Große Friedrichstraße“ 
enthält mehr Kneipen als Häuser. „Aschinger“ verschänkt 
jährlich b'/i Mill. Liter Bier, d. h. ungefähr den 80. Teil des Ge¬ 
samtkonsums. In den „Rheinischen Weinstuben“ werden täglich 
300 Flaschen Rotwein, 500 Flaschen Moselwein und 300 Flaschen 
Sekt getrunken; im „Kaiserkeller“ beinahe das Doppelte.**) 

Der englischen Tischzeit entspricht w. o. e. als notwendige 
Gegenforderung, daß die freie Zeit von dem Kopfarbeiter in 
hygienischer Hinsicht vernünftig und nutzbringend ausgefüllt 
wird. Hier kommt abgesehen von den Fortbildungsschulen, 

*) B. Laquer, Temperenz und Trunksucht in den Verein. Staaten, 
— und: Gothenburger System und Alkoholismus, in „Grenzfr. d. Nerven- 
und Seelenlebens“ Nr. 32und53, 1905 undl907, J. P. Bergmann, Wiesbaden. 

**) M. Hirscbfeld, Die Gargel von Berlin. Großstadt-Dokumente, 
Bd. 41, 1905. 


2* 



20 


B. Laqaer, 


Ton Volksbibliotheken und Lesehallen, welche z. B. in den 
Vereinigten Staaten ihre Filialen in den öffentlichen Parks, 
ja sogar anf den o. e. Dachgärten errichten, welche also die 
Konsumenten aufsuchen — „drüben“ kommen auf jeden Ein¬ 
wohner 2 entliehene Bücher, in Deutschland 18 Bücher — 
all das in Betracht, was man als Sport bezeichnet; die 
Wertschätzung dieses Nerven- und Muskel-Training bedarf 
aber einiger Einschränkungen. Es ist nicht zweckmäßig, 
unmittelbar an geistige Anstrengungen, sportliche, körperlich 
ermüdende Mnskeltätigkeiten anzuknüpfen. Ebenso wie der 
körperlich Erschöpfte nicht im Stande ist, sofort geistige Arbeit 
zu leisten, so soll auch der geistig Abgenutzte nicht sofort 
irgend ein Training beginnen. Die dazu notwendige WiUens- 
anstrengung und Aufmerksamkeit, all’ das Zusammenwirken von 
Gehimteilen, welche beim Sport die Grundlage aller Leistungen 
bildet, nutzen den erschöpften Kopfarbeiter ab; anstatt dos 
erhofften Vorteils entwickelt sich eine weitere Ermüdung 
des Gehirns. Aus dem gleichen Grunde ist ja der Stundenplan, 
welcher in Schulen die Turnstunde in die Mitte der Unter¬ 
richtsstunden verlegt, falsch. 

Am wohltätigsten wirken die Freiluftsports: Radfahren, 
Schwimmen, Rudern, Bergsteigen, Lawn-Tennis, Schlittschuh¬ 
laufen, Schneeschuhlaufen, weil sie die Muskulatur, die At- 
mungs- und Zirkulationsorgane, das Nervensystem und die 
Sinneswerkzeuge gleich günstig beeinflussen; je gleichmäßiger 
diese Beeinflussung geschieht, desto günstiger wird der Ge¬ 
samtorganismus beeinflußt. Oft sündigen auch Kopfarbeiter 
dadurch, daß sie jenseits der 40 er Jahre noch einmal ver¬ 
suchen, schwerere gymnastische Übungen z. B. Zimmergymnastik 
anzufangen. Wir Ärzte setzen die gute Wirkung der Zimmer- 
turn-Übungen z. B. des „Müllems“ aber — nur für jüngere 
Leute — mehr auf die Rechnung des damit verbundenen 
morgendlichen oder abendlichen Luftbades, als auf die der 
Muskelübung. Von großer Bedeutung für den Sport ist es 
auch, den Alkoholgenuß dabei ganz fern zu halten, weil der¬ 
selbe die Möglichkeit der Überanstrengung des Herzmuskels 
vergrößert, und weil er über die Müdigkeitsgefühle, welche 
als „Warner“ wirken, hinwegtäuscht. Grade die Unter- 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


21 


suchungen von Durig*) über die Beeinträchtigung der 
Leistungen von Bergsteigern durch AlkoholgenuB ergaben um 
20°/o geringere Leistungen bei größerem Energieverbrauch. 
Der Alkohol ist, wenn auch ein Teil der Energie des zuge¬ 
führten Alkohols eine Ersparung an Nahrungsmitteln bewirken 
kann, für die Versuchsperson nicht als Nahrungsmittel ver¬ 
wertbar, da die Mengen, die zwecks Erzeugung einer einiger¬ 
maßen bemerl^enswerten Arbeit genossen werden müßten, so 
groß sind, daß sie bei längere Zeit fortgesetzter Zufuhr unbe¬ 
dingt zu schweren Störungen im Organismus führen.**) Mit 
Hilfe der Energie, die den gewöhnlichen Nahrungsmitteln ent¬ 
stammt, wird dieselbe Arbeitsleistung in kürzerer Zeit und bei 
geringerem Verbrauche geleistet, als bei Zusatz von Alkohol 
zur Nahrung. Die beste Stärkung des durch Sport Ermüdeten 
ist gute Schokolade oder — im Hochgebirge — stark ge¬ 
süßter Tee. 

In den angelsächsischen Ländern, in welchen unsere mili¬ 
tärische Erziehung fehlt — die Römer nannten das Heer Exer- 
citus d. h. Übung —, spielt der Sport als Stählung des Körpers 
eine ungeheure Rolle. In alten Puritaner-Zeiten war der Sport 
als triebhafter Lebensgenuß schlecht beleumundet. Heute gilt 
„athletische Auszeichnung" dem Engländer als Lebensideal. 
Gewiß hilft sportive Ausbildung Widerstände zu überwinden, 
den Charakter zu bilden; sie steigert das Daseinsgefühl, sie 
lenkt zuweilen von Kneipe und vom Sexual-Verkehr ab; dort 
jedoch, wo der Sport zum Mittelpunkt der Volks-Kultur auf¬ 
rückt, ist er kulturfeindlich. Die Berliner Sechs-Tage-Rennen 
sind an Roheit nur den — Stiergefechten vergleichbar. In 
England werden pro Jahr 650 Millionen M. für Sport ausge¬ 
geben. Ja, ein Großkaufmann, welcher in seinem überseeischen 
Haus Angestellte verschiedener Nationen beschäftigt, meinte 
kürzlich, daß die Engländer im Geschäftsleben deshalb immer 
unbrauchbarer würden, weil die Sportneigung das Interesse an 
der Berufsarbeit überwuchere. Und v. Schulze- Gaevernitz 
hat derartige Betrachtungen in seinem jüngsten Werke „Briti- 

*) A. Durig, Pflügers Arch. f. Physiologie, Bd. 113. 

**) Robert Heßen, Alkohol und Sport, Preuß. Jahrbuch 1893. 



22 


B Laqucr, 


scher Imperialismus und englischer FreihandeP'"^) unter dem 
Titel „Kapitalistische Erschlaflfung“ ausführlich erörtert. 

Wie hoch der Sport neuerdings auch von unseren Ver¬ 
waltungsbehörden eingeschätzt wird, dafür gibt es ein Zeugnis; 
das Statist. Jahrb. f. d. Deutsche Reich widmet dem Turnen, 
dem Rudersport, den Volks- und Jugendspielen eine eigene 
Abteilung. 

Es gibt nach diesem Jahrbuch*) bei uns etwa 828574 
Mitglieder von Turnvereinen; nur die Hälfte davon beteiligen 
sich wirklich am Turnen; von 40000 Mitgliedern Deutscher 
Rudervereinen beteiligten sich 1905 nur 4653 aktiv an Rennen! 

Zu den hygienischen Mißständen des Kopfarbeiters gehört 
natürlich auch die fortgesetzt wachsende Differenzierung der 
Arbeit. Das Arbeitsfeld jedes Einzelnen wird immer enger, 
immer monotoner. Die Arbeitsgeschicklichkeiten werden tech¬ 
nisch in ihre Atome aufgelöst und bilden eine Art Baustoff 
für das Werk des Unternehmers, welcher erst die verschieden¬ 
artigen Tätigkeitsfragmente zu einem organischen Ganzen zn- 
sammenfaßt. Im engen Kreise des Berufslebens verengert sich 
der Sinn oft bis zur völligen Stumpfheit; der Einzelarbeiter ist 
oft nur ein wesenloser Teilfunktionär eines Riesenbetriebes, und 
wir fragen uns, ob wir für den Verlust an Lebensfülle und 
Schaffensfreude in unserem Wirkungskreise genügend ent¬ 
schädigt sind durch die Varietäten der Kultur, d. h. ob das 
Leben zwar genußreicher, aber ob es nicht auch freudenarmer 
geworden. Daher die Aufforderung des Staatssekr. Delbrück, 
die alte Arbeitsgemeinschaft durch die Kameradschaft zu ersetzen. 
Der materielle Lohn, den wir erhalten, ist doch nicht das einzige 
Entgelt, nicht der alleinige Maßstab unserer Arbeitsgröße. Es 
bilden sich auch immer neue Berufe. Im Jahre 1882 hatten 
wir 6000, im Jahre 1895 10000, jetzt existieren über 15000 
Einzelberufe. Der englische Humorist Jerome beginnt eins 
seiner Bücher über uns mit den Worten: „Deutschland 
ist ein Land, welches in zwei Hälften zerfällt, von denen die 
eine Hälfte die andere fortwährend examiniert.Natürlich ist 

*) Leipzig 1903; vgl auch K. Peters, England und die Engländer, 
Berlin 1912. 

♦*) Jahrgang 1908. 



Großstadt-Arbeit uod ihre Hygiene. 


23 


es die Aufgabe des Einzelnen, aus einem Teilmenschen sich 
zu einem Vollmenschen zu entwickeln, und was der Beruf durch 
Eintönigkeit an dem Nervensystem verdirbt, in den Mußestunden 
durch harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten wieder zu er¬ 
setzen. Dabei spielt eine große Rolle, was wir an körperlichen 
und geistigen Anlagen unversehrt aus Haus und Schule mitge¬ 
bracht. Die Gebürtigkeit aus kleinen Verhältnissen und Städten 
oder vom flachen Lande her ist eine solche glänzende Mitgabe. 
Kant war ein Sattlersohn, Luther der Sohn eines Bergmannes. 
Für diejenigen, welche eine zunehmende Neuropathisierung 
durch Handel und Industrie fürchten, mögen auch die Gesetze 
der Anpassung hier erwähnt werden. Wenn wir unsere Ur¬ 
großeltern plötzlich auf den Potsdamerplatz in Berlin versetzten, 
sie würden hilflos dastehen, ja unter der Wucht der Eindrücke 
zusammenbrechen. Wenn wir in einen großen Maschinensaal 
eintreten, so verstehen wir unser eigenes Wort kaum, während 
die Arbeiter und die Werkmeister ihre Gehörorgane dem Sausen 
der Räder, dem Gestampfe der Dampfhämmer längst angepaßt 
haben. Daß die Militärtauglichheit der großstädtischen Kopf- 
und Handarbeiter im Verhältnis zu denen des flachen Landes 
wesentlich geringer ist, ist wohl auch bedeutungsvoll.*) 

Auf eine andere Konsequenz haben die Volkswirte auf¬ 
merksam gemacht. Unsere Gesamtsterblichkeit ist herunter¬ 
gegangen; es bleiben p. a. 350000 Menschen mehr am Leben 
als früher. Wodurch? Der Tod wird schrittweise zurück¬ 
geworfen! Durch Vermeidung von Seuchen und durch Ver¬ 
meidung von Notstandsjahren. Die Sterblichkeit ist aber in 
den Städten geringer als auf dem Lande, und zwar infolge 
von Differenzen im Altersaufbau; es kommen die kräftigsten, 
risikofreisten Menschen vom Lande her in die Stadt. 

Hingegen nimmt mit zunehmendem Wohlstand und ver¬ 
besserter Kultur die eheliche Fruchtbarkeit ab — selbst in 
der Oberschicht der Handarbeiter. Also die in den Gro߬ 
städten günstigeren wirtschaftlichen Verhältnisse regen zwar 
zum Heiraten an, aber nicht zur Kindererzeugung; so sind die 

*) E. Well man, Abstammung, Beruf und Heeresersatz. Leipzig 1907, 
und J. Kaup, Ernährung und Lebenskraft der ländlichen Bevblkernng. 
Berlin 1911. 



24 


B. Laquer, 


Juden, früher wegen ihres Kinderreichtums bekannt, in Gefahr 
in Deutschland wenigstens auszusterben.*) 

Die Arbeitsteilung ist zwar ein das Nervenleben be¬ 
lastendes Moment; sie bietet aber auch zugleich eine ent¬ 
lastende Seite dar. Auch der Kopfarbeiter muß das Maschinen¬ 
prinzip in seinen engen Bereich aufnehmen und das technische 
Können sich völlig zu eigen machen. Es verschwinden z. B. 
in den modernen Kontorbetrieben mehr und mehr die Zu¬ 
fälligkeiten in der Ausführung geistiger Prozesse. Die Maschine 
wird frei von der zufälligen Veranlagung bestimmter Persön¬ 
lichkeiten (welche einstens wegen ihrer besonders feinen 
Zunge, ihrer empfindsamen Nerven, ihrer klaren Augen und 
offenen Ohren hoch geschätzt wurden) und ebenso von der 
naturveranlagten Zufälligkeit der Ausführung, die solange be¬ 
stehen bleibt, als lebendige Menschen, durch deren Adern 
warmes Blut fließt, die Funktionen ausüben. 

Auf der allgemeinen Ausstellung für Bureaubedarf, welche 
vor Jahren in Berlin stattfand, konnte man ja derartige tech¬ 
nische, die geistige Arbeit unterstützende, ja sie ersetzende 
Mittel beobachten. Der auf dem Schreibtisch befestigte Blei¬ 
stift verändert seinen Platz nicht, er ist eben „zentriert** und 
nicht zerstreut; der amerikanische Additionsapparat arbeitet 
rascher und sicherer als das Gehirn, welches ihn erfunden 
hat. Er hat keine Nerven, er irrt sich nicht. Bankdirektoren 
erzählten mir, daß wenn ein Beamter in Zusammenrechnung 
der sogen. „Provisionen** sich irrt, der die Rechnung kon¬ 
trollierende zweite Beamte mit großer Wahrscheinlichkeit den 
Fehler übersieht. Diese Wahrscheinlichkeit des Irrtums ist 
fast gleich Null, wenn zwei Beamte unabhängig voneinander 
an zwei Rechenmaschinen die Addition ausführen. Automatisch 
arbeitet auch die Handnummeriermascbine und automatisch 
verm^ das moderne Warenhaus mit der Lohnauszahlungs- 
mascbine seine 3000 Angestellten abzufertigen. Alles was im 
modernen Kontor maschinelle Ordnung und Technik heißt, be¬ 
deutet Hygiene des Gehirns, denn sie entlasten die Gehirne 
der Angestellten. 

*) F. Theilhaber, Die Zukunft der .Juden. München, 1911. 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


25 


Gemäß dem Vorhergesagten neigen die Krankheiten 
der Kopfarbeiter nach bestimmter Richtung hin. Auch hier 
ei^bt die Statistik Belege. Nach der oben erwähnten £r> 
hebnng worden in den Jahren 1901, 1902, 1903 von den zirka 
8—10000 kaufmännisch beschäftigten Iditgliedern der Leipziger 
Ortskrankenkasse zwischen % und ^jj aller Mitglieder erwerbs¬ 
unfähig, und zwar erkrankten in erster Linie Verdaunngs- 
organe, sodann das Nervensystem, die Lungen, die Augen und 
die Ohren. Auch bei einer Hamburger kaufmännischen Kranken¬ 
kasse, welche noch dazu als eingetragene Hilfskasse in der 
Lage ist, ca. 8 Prozent ihrer Aufnahmegesuche abzulehnen, 
also eine Art Auslese zu halten, erkrankten die Mitglieder in der 
gleichen Reihenfolge. Umfangreiche Statistiken, nicht sowohl 
über die Krankheitsgefährdung, sondern auch über die Sterb¬ 
lichkeitsziffer der Kopfarbeiter, haben England und die Schweiz 
geliefert.*) Wenn man die Normalsterblichkeit auf 100 setzt, 
so weisen die Geistlichen die Zahl 53 auf. Die Lehrer 69, 
die Anwälte 82, die Ladeninhaber 86, das Kontorpersonal 91, 
die Handelsreisenden 96, die Ärzte 97, die Gastwirte haben 
166. In der Schweiz, wo eine andere Berechnungsart und 
auch eine andere Umwelt (wenige Großstädte!) mitwirken, 
weisen die Geistlichen die Zahl 97 auf, die Anwälte 127, der 
Handel 131. 

Nun gibt es auch noch Zahlen, aus denen für eine be¬ 
stimmte Krankheit die Unterschiede der Anwartschaft zwischen 
Kopf- und Handarbeitern hervortreten. So haben die Möglich¬ 
keit an Tuberkulose zu erkranken in England die Geistlichen 
35, die Ärzte 55, der Handel 90, die Buchdrucker 190. In 
der Schweiz die Landwirte 54, die Geistlichen 121, der Handel 
176, die Schlosser 259. Die Unterschiede hängen mit Rassen- 
nnd Volksernährungsfragen zusammen, ferner damit, daß in 
England, einem Industriestaat das beste und kräftigste 
Menschenmaterial an dem Handel sich beteiligt. In der 
Schweiz, einem Agrarstaat, widmen sich die wmiiger Wider¬ 
standsfähigen dem Handel. Auch für Unfälle gibt es eine 
englische Statistik: Lehrer und Geistliche haben die Zahl 15 

*) Pr. Prinzing, Handbuch der mediz. Statistik. Jena, 1906. 



26 


B. Laquer, 


Kontorpersonal 37, die Handlaogsreiseoden, welche die Eisen¬ 
bahn oft benutzen, 82, die Bergleute 241. 

Das, was zur Gesunderhaltung der Kopfarbeiter gerade im 
Handelsstande führt oder führen soll, faßt man auch als kauf¬ 
männische Sozialpolitik zusammen. Dieselbe ist jetzt bei uns 
auf gutem Wege, vor allem aus politischen Gründen. Man 
will Kopf- und Handarbeiter, und dies mit vollem- Recht, 
nicht in eine einzige proletarisierte Schicht zusammenfallen 
lassen. Bei der drohenden Atomisierung des Volkes, bei der 
zunehmenden Zersiebung aller Schichten ist dieses Scheidungs¬ 
bedürfnis berechtigt; es beruht aber sowohl seitens der Re¬ 
gierung als auch seitens der kaufmännischen Verbände auf 
dem Selbsterhaltungstrieb und nicht auf Standesdünkel. Nur 
selbständige große geschlossene einheitliche Organisationen, 
hinter denen Hunderttausende stehen, vermögen heute auf die 
Parlamente und die Parteien zu wirken. Natürlich liegt auch 
die Gefahr der Überspannung von Forderungen vor. So wünscht 
man Handelsinspektoren zur Beseitigung der hygienischen Mi߬ 
stände, wie sie für Gewerbe und Fabriken seit 1892 existieren. 
Die Einrichtung, die in England 15 Jahre besteht, hat sich 
dort nicht besonders bewährt. Ich verweise auf die Kritik, 
welche van der Borght,*) früher Direktor unseres Statisti¬ 
schen Amts, und Vogelstein*) gegen die zunehmende Burean- 
kratisierung des Handelsstandes gerichtet haben. Es würde 
zu weit führen, die Bestrebungen zur Einführung einer Ver¬ 
sicherung gegen Invalidität sowie einer solchen für Witwen 
und Waisen, wie sie gesetzlich io Österreich seit 1906 be¬ 
steht, hier vom ärztlichen Standpunkte zu besprechen. Jeden¬ 
falls haben die Kopfarbeiter, wenn sie ihre Wünsche auf 
hygienischen Grundlagen aufbauen, bei der ganzen Richtung 
unserer Zentralverwaltungen die denkbar größte Aussicht auf 
Erfolg.**) Der Kopfarbeiter ist ja speziell im Handel zum 

*) Th. Vogelstein, Der Stil des amerikanischen Qesch&fts- 
lebens. SUdd. Mon.-Hefte 1909/10. 

**) Auf dieser Betrachtung beruht auch der große ideelle und 
materielle Erfolg, den der Wiesbadener Qroßkaufmann Jos. Baum mit 
seiner Propaganda für Erri(ditung von kaufmännischen Erholungsheimen 
innerhalb kürzester Zeit erreichte. 



Großstadt*Arbeit und ihre Hygieiie. 


27 


Unterschied von dem Handarbeiter individualistisch geartet, 
weil er mit dem Geschäft seines Prinzipals trotz der oben 
erwähnten Arbeitsteilung immer noch inniger verwachsen ist 
als der Fabrikarbeiter, und weil die Handlungsangestellten 
eine größere Möglichkeit haben, selbständig zu werden, als der 
Vorarbeiter oder der Werkmeister oder der Ingenieur. Anderer¬ 
seits ist es interessant, daß gerade jene Großbetriebe, denen 
man vorwirft, daß sie den Zwischenhandel des Einzelkaufmanns 
ausgeschaltet haben, nämlich die Warenhäuser, in sozial¬ 
hygienischer Rücksicht mit bestem Beispiel vorangehen, ebenso 
wie die Konsumvereine und die Großbanken. Diese Großbetriebe 
führen zwar zur Bildung einer umfangreichen Bureaukratie, 
andererseits fühlen sie aber die sittliche Verpflichtung, die Für¬ 
sorge für ihre Angestellten besser auszugestalten als der Klein¬ 
betrieb. Man überschätzt beiläufig diese Ausschaltung des 
Detail Verkehrs gewaltig, also z. B. den Umsatz der Waren¬ 
häuser; die 200 deutschen Warenhäuser setzten nur 300 Millionen 
Mark um, das ist Proz. der 20 Milliarden, welche 1904 
der gesamte deutsche Einzelhandel umschlug. Von den schon o. e. 
Kantinen der Warenhäuser ist nur Gutes zu berichten. Kein 
Angestellter darf mehr als eine Flasche Bier zu Mittag trinken, 
was durch Marken kontrolliert wird. Aber auch die für die 
Angestellten und für die Käufer bestimmten Speisehäuser 
haben keinen Alkoholzwang; wohl aber ist das Rauchen ver¬ 
boten und die billigen Limonaden unterstützen die Antialkohol¬ 
bewegung. Dennoch setzte das Wertheim-Restaurant 1905 
34 Millionen Mark um. Die tägliche Arbeitszeit bei „Wert- 
heim*^ ist seit dem 1. Januar 1907 um Stunde verkürzt 
worden; sie beträgt zurzeit 9 Stunden. Die Mittagspause für 
entfernt Wohnende umfaßt 2^|^ Stunden, die für zweites 
Frühstück und Vesper je 18 Minuten. Der jährliche Urlaub 
beträgt 4 bis 20 Tage bei weiterlaufendem Gehalt; bei 
schwereren Krankheiten werden Zuschüsse zu Badereisen ge¬ 
währt; schwächliche Angestellte dürfen nicht überanstrengt 
werden; für die Verkäuferinnen gibt es Sitzgelegenheiten; 
Glasfenster schützen die Kassiererinnen gegen den 'nZug‘'. Die 
Angestellten haben Preisermäßigung für gewisse Theater; bil¬ 
lige Sommerfrischen werden ihnen nachgewiesen. Dazu kommen 



28 


B. Laquer, 


dor pünktliche 8 Uhr-Schluß abends, die volle Sonntagsruhe, 
der Wegfall von Lehrlings-Züchterei. In allen diesen Dingen 
prägt sich natürlich nicht nur das gute Herz der Unternehmer, 
sondern das wohlerwogene Interesse an der Hochhaltung der 
Gesundheit und der Arbeitsfreudigkeit ihrer 30C0 Angestellten 
und die Rücksicht auf die größere Öffentlichkeit des Betriebes 
aus. Die gesamten Gehälter der letzteren betrugen im Jahre 
1905 6^/2 Millionen Mark. 

In Nordamerika gibt es in Warenhäusern sog. „sozialpoli¬ 
tische Sekretäre“, meistens Frauen. Sie überwachen den Speise¬ 
saal, sie gründen Yerkäuferinnen-Ferienheime, sie geben Rat¬ 
schläge für zweckmäßige Toiletten, sie gründen Sparkassen, 
geben künstlerische und literarische Anregungen für die Muße¬ 
zeit, kurz, sie sorgen für die Erholung und Lebenslust der 
Angestellten. 

Zu den hier aus dem großen Gebiet der Hygiene der Kopf¬ 
arbeiter herausgenommenen Mosaiksteinen gehört auch noch 
ein wichtiges Moment: Was zieht jährlich Hunderttausende in 
die großen Städte? In erster Linie die Aussicht auf wirt¬ 
schaftliche Erfolge, sodann die naiv-phantastische Erwartung 
ungekannter Genüsse, welche die Kleinstadt nicht bietet. Zum 
dritten das Freiheitsbedürfnis. In der Großstadt fällt ferner 
die Kontrolle über die freie Zeit seitens des Arbeitgebers und 
seitens der Familie fort. Endlich ein individuelles und ein zu¬ 
gleich demokratisches Empfinden: civis romanus sum, d. h. ich 
wohne mit Millionen zusammen in Berlin, in Paris, in London 
— „im Mittelpunkt der Ereignisse!“ Und wie wird nun der 
einzelne Stein, der in diese Großstadtmühle kommt, bearbeitet? 
Wie reagiert das Nervensystem des Provinzialen auf die Gro߬ 
stadt? Alle die technischen, zur Tempo-Beschleunigung, zur 
Überwindung von Raum und Zeit führenden Erfindungen 
kommen vor allem in der Großstadt zur Geltung. Jeder Gang 
auf der Straße stimuliert: ich bekenne zum Beispiel, daß ich, 
obzwar öfters nach Berlin reisend, jedesmal von neuem über 
den Straßendamm zu gehen lernen muß; die Mannigfaltigkeit 
der Eindrücke schärft das Verstandesvermögen, während sie 
allerdings das Gemütsleben abstumpft. Die sachliche Auf¬ 
fassung von Dingen und Menschen überwiegt, der Verkehr mit 



Großstadt-Arbeit und ihre Hygiene. 


29 


dem Nachbar, die gemütliche Aussprache mit dem Freunde, 
der Spielraum der Entschlüsse, alles das fällt fort. Pünktlich¬ 
keit, Zeiteinteilung, dazu nivelliertes Empfinden, Eühlbleiben 
UDQ jeden Preis, rasches Erfassen und rasches Vergessen sind 
an die Stelle naiverer und feinerer Gefühle getreten. Und 
so wächst ein Geschlecht heran „mit Taschenuhren, Gummi¬ 
schuhen und elektrischem Licht, ein Geschlecht, das in seiner 
Kindheit die Jahreszeiten nur im Anschauungsunterricht durch¬ 
nimmt“.*) Und von der Großstadt gehen derartige, unser 
Nervenleben beeinflussende Gewohnheiten auch weiter ins 
Land hinaus. Das großstädtische Konfektionshaus schreibt die 
Kleidermode auf dem Lande vor, wie der großstädtische Tingel¬ 
tangel die Gassenhauer angibt, die in den Dorfstraßen ge¬ 
sungen werden. In letzter Linie wird von den modernen 
Kulturpsychologen alles dies nicht nur auf die Großstadt, son¬ 
dern auf den Einfluß der Geldwirtschaft, in deren Zeitalter 
wir leben, zurückgeführt. Es geht uns wie dem gestiefelten 
Kater, welcher sich große Stiefel anzieht, um lange Wege 
zurücklegen zu können, aber unsere Glieder sind noch nicht 
in die Stiefel hineingewachsen, d. h. die technischen Errungen¬ 
schaften sind rascher als unsere Anpassungsfähigkeit; die alten 
Formen sind wurzellocker geworden, die neuen haben sich 
noch nicht befestigt. „Eine riesige, reißende Strömung trägt 
uns dahin; wozu sich abmühen, die Tiefe und Schnelligkeit 
dieser Strömung zu messen?“ (Taine.) Aber die Klagen über 
die gute, alte Zeit, und daß das Behagen geschwunden und 
die Zufriedenheit und das Gleichgewicht verloren gegangen, 
sind ein Erbteil unseres Geschlechtes. Hans Delbrück hat 
einmal**) durch den Lauf der Weltgeschichte hindurch aus 
jedem Jahrhundert die Zeichen und Wunder, d. h. die schrift¬ 
lichen Zeugnisse derjenigen gesammelt, welche das Vergangene 
zu Ungunsten der Gegenwart lobten. Er kam schließlich im 
Wandel der Zeiten beim alten Nestor an, der erzählt, was 
in seiner Jugend für Menschen gelebt und wie sie gewesen — 


*) W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahrli. 
2. Aufl, 1910. 

**) Preuß. Jahrb. 1891. 



30 B. Laqucr, Großstadt-Arbeit und ihro Hygiene. 

dagegen aber heute „wie heute die Sterblichen sind“, oi yi 
ßQlDXoi flVf! 

Das also mag uns Trost gewähren in dem Zeitalter der 
„Reizsamkeit“, in welchem wir nach Karl Lamprecht’s Auf¬ 
fassung leben. 

Auch unsere eigene Darlegung ist von der Vergangenheit 
ausgegangen; sie entrollte Ausschnitte aus der Sozialpolitik 
alter Zeiten und kehrt nun zum Schluß wieder zur Vergangen¬ 
heit zurück. Der griechische Ausdruck für Arbeit — novot; — 
Pein — bedeutet Mühe. In dem lateinischen Wort „labor“ 
steckt ebenfalls das Wort: „Last“. In dem deutschen Worte 
Arbeit hängt die Vorsilbe „Arb“ nach Jakob Grimm mit 
der slavischen Wurzel „Rab“ zusammen, welche wir in dem 
„Robbot“ des Ostens kennen; wie kurz und scharf klingt 
„business“, wieviel „harte“ Konsonanten enthält das Wort: 
Pflicht! Dennoch werden wir nicht fehl gehen anzunehmen, 
daß die Arbeit viel mehr und viel bedeutendere Kulturwerte 
geschaffen, als sie seelische Werte vernichtet hat. Und wer 
selbst diese Wirkung nicht anerkennt, wird jedenfalls das Wort 
beherzigen dürfen: 

„Nur die Arbeit führt uns hinweg aus düsterem Lebens¬ 
verneinen, 

Sie gibt der Stunde einen Zweck, hat auch das Leben 
— keinen.“ 




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• 5. Laquer, Dr. Bemas, Wiesbaden. Ueber HOhenkuren fOr Nervenieidende. 

Einzelpreis M. 0,60. 

, 6/7. WejrgMdt, Prof. Dr. W., Hamburg. Der heutige Stand der Lehre vom 
Kretinismus. Einzelpreis M. 3,40. 

• 8. LIepmaaa, Privatdozent Dr. H«, Pankow b. Berlin. Ueber Ideenüuoht. 

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Hell 1. Piek, Prof. Dr. A., Prag. Ueber einige bedeutsame Psyoho-Nenroseii des Kindes¬ 
alters. Einzelpreis H. 0,80. 

M 8/8. DetennaBD, Dr., St. Blasien. Die Diagnose und die Allgemeinbehandlung der 
FrtthzustAnde der Tabes dorsalis. Einzelpreis M. 2,50. 

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seine therapeutischen CJonsequenzen. Einzelpreis M. 2,—. 

« 6/8. Hellbronner, Dr. K., in Utrecht. Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. 

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• 8/8. Schroeder, Dr. P., in Breslau. Ueber chronische Alkoholpsyehosen. 

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« 4^. Straaskr, Dr. Erwla, in Wien. Uebor Sprachverwirrtheit. Einzelpreis M. 8,80. 

« 6/7. Wejgaadt, Professor Dr.W., Hamburg. Ueber Idiotie. Einzelpreis M. 8,—. 

n 6. Bamke, Privatdozent Dr., Freibarg i. B. Was sind Zwangs-Yorginget 

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Heft 1. Aschaffeaburg. Prof. Dr. 0., in Köln. Ueber die Stimmungsschwankungen der 
Epileptiker. Kiozelpreis M. 1,60. 

« 8. Hoell, Prof Dr. C., in Berlin. Die in Preussen gültigen Bestimmungen Ober die 

Entlassung aus den Anstalten für Geisteskranke Einzelpreis 1,20 

» 3. Nolda, Prof. Dr. med. A«, in St. Moritz. Ueber Indikationen der Ilocbgobirgskuren 

fOr Nervenkranke. Zweite Auflage. Einzelpreis M. 0.50 

« 4. Salgd, Privatdozent Dr. J., in Budapest. Die forensische Bedeutung dei sexueUeu 

Perversität Einzelpreis M. 1,20 

« 5. Laqner, Dr. med. Leopold, in Frankfurt a. M. Der Warenhaus-Diebstahl. M. 1,—. 

„ 6. Bonhoeffer, Professor Dr. K., in Breslau. Klinische Beiträge zur Lehre von den 

Degenerationspsychosen. Einzelpreis M. 1,60. 

9 7. Toib, Dr. G« V., in Grehbwald. Der Hsrpnotismus, sein Wesen, seine Handhabung 

und Bedeutung für den praktischen Arzt. Einzelpreis M. 1,20. 

« 8. Hoehe, Prot £&. A., in Freiburg i. B. Notwendige Beformen der Unfallvei- 

sicherungsgesetze. Einzelpreis M. 0,75. 


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,, 2/4. Wiog-WIckenthal, Dr., Ordinarins a. d. n.-ü. Landesanstalt am Steinhof in Wien. 

Zur Klinik der Dementia praecox. Einzelpreis M 3,—. 

,t Stoyerthal, Dr. A., in Kleinen. Was ist Hysterie? Eine nosologische Betrachtung. 

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„ 6 . Heller, Dr. phil. Theod., in Wien. Schwachsinnigenforsohung, FOrsorgeerziebuug 

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„ 7. Haymauu, Dr. H., in Freiburg i. B. Kinderaaszagen. Kinzetprois M. 1,—. 

„ 8. Piek, Prof. Dr. A«, in Prag. Initialerecheinnngen der zerebralen Arterloskloroso 

und kritische Erörterung ihrer Pathogenese. Einzelpreis M, 0,75. 

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in der Bechtsprechung des Beichzversioherungzamtes. Einzelpreis M. 1,80. 

,, 8. Glerllch, Dr. med. Ile., Nervenarzt, in Wiesbaden. Symptomatologie nnd 
Differentialdiagnoze der Erkrankungen in der hinteren bchädelgrube. 

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sonderer BerOoksiohtigung der Ermüdungserscheinungen. Einzelpreis M. 1,20. 

„ 4. Mugdan, Dr. Franz, Freibarg i. B Periodizität und periodische Geistesstörungen. 

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,1 8. Laqner, Sanitätsrat Dr. B«, Wiesbaden. Die Grossstadt-Arbeit und ihre Hygiene, 

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