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Full text of "Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher vorträge"

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| 


Ana, 


Zammlung sb- = Fr 


gemeinverftändliher  - 7 


wiſſenſchaftlicher Vorträge 


herausgegeben von 


Rud. Birdom und Fr. v. Holkendorff. 


— — — — 


XX. Serie. 
Heft 457—480. 


GH 


— — — — — — — — — — — — — — —— ⸗ 


— 


Lerlin SW., 1885.76, 


Berlag von Carl Habel, 


(©. 6. Tüdertigsche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Withelm-E traße 33. 


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— 6, Alu 5 


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‚40 410. 
1,6471. 


‚7® 473. 
j 96 474. 


9 0 478. 
! 


. Frensberg, Schlaf und Traum 
. Bihed, F., Giacomo Keoparbi 





Inhalts: Derzeihniß der XX. Serie. 


Wasmansdorf, E., Die Trauer um bie Tobten bei 
ben verſchiedenen Völfern . 
Pilgrim, 8, Galilei ne 
Goetz, W., Die Nialsfaga, ein Epos und das ger- 
manifche Heidenthum in feinen Ausflängen im Norden 


. Schumann, 8, Marco Polo, ein Weltreifender des 


XI. Sahrhunderts . 


- Hebel, H., Die Stellung Friebrichs bes Großen zur 


Humanität im Kriege 

Engelborn, €. Die Pflege ber Irren ſonſt und jekt 
Röſch, W., Der Dichter Horatius und feine Beit . 
Hoffmann, F., Der Einfluß der Natur auf bie Kultur- 
entwidlung der Menfchen . . 
Czekelius, Fr., Ein Bild aus der Zeit ber Begen- 
reformation in Siebenbürgen .. .. 


v. Zittel, 8. A., Das Wunderland am Yellomftone . 
Eyifenhardt, Fr., Aus dem gejelligen Leben bes 
XVIL Sabrhunderts . 

Gerland, E. Das Shermometer . . 

Tredbe, Th , Das getitliche Schaufpiel in Süditalien . 
Hofmann, 8. B., Das Blei bei den Völkern bes 
AlterthHums . 

Grünbaum, M., Miſchſprachen und Sprachmiſchungen 
Nagel, A., Die Liebe der Blumen. Mit 10 Holz— 
ſchnitten .. 

Treichler, J. J., Politiſch⸗ Handlungen der Stadt 


” 


Seite 


1—44 
45—88 


89 —120 
121—152 
153—184 
185—216 
217—256 


257 - 292 


298—832 


. 838364 


365 —396 
897 —428 


. 429468 


469 616 
617- 664 


565612 
613—660 


661696 


. 697132 


sun: wre TI 7 DT en 


Heft Seite 

20 © 476/77. Alsberg, M., Die Anfänge der Eifentultur . . . 788804 

7 ©48. Dondorff, Katfer Otto IL . 2 2 2 2 2 2.2.2 806-844 
22. 8479 Dames, ®., Die Glactalbildungen der norbdeutfchen 

Ziefebene . -. . . » 8465—888 

„3 © 480. Sommer, Hugo, Diepofitive philoſophie Auguſt Gomte’s 889 —986 


SH bitte zu beachten, daß die Seiten der Hefte eine doppelte Pagi⸗ 
nirung haben, oben bie Seitenzahl des einzelnen Heftes, unten — und 
zwar eingeflammert — bie fortlaufende Seitenzahl des Sahrganges. 





S ammlun, u | 
gemeinberftänblidier J | 
wiffenfd aftliher Vorträge, | 
berandgegeben von 


Aud. Virchow und Fr. von Holgendorff. 


— — — — — — — — — — — 


XX. Serie. 


(Heft 457 — 480 umfaflend.) 





— — —— — — — 


ö— — — 2 


——— — — — — — — — —— — —— 


Die Trauer um die Todten 
bei den verſchiedenen Völkern. 


Von 


Dr. €. Wasmansdorff. 


SH 


C 
Berlin SW. 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


| (€. 6. Tüderity'sche Beriagsbuchhandlung.) 
| 33. Wilhelm - Gtraße 38. 
5 | 8 


Do — — — — 2 


— — — — — — — —— — — — — — — — — — 
— — 






DE Ss wird gebeten, die anderen Seiten des nmiolaaes zu beaditen. u Diefelben 
.- anhalten das Przsramm der neuen XX. Serie (1885) der Sammlung, jowie das 

det uenen XI amprammpen 5* der Reit-Sragen. Genaue —— 
der früheren * efte, uaqh ien und Jahr hegängen“ und nach „Wiffenfchaften 
derduri, Au durch jede Endhandlung gratis zu beziehen. 


Einiad ung zum Abonnement! 


Die Jury ber „Internationalen Ausftellung F 
&\ von Ge enftänben für den häuslichen und A. ® 
\ gewerblichen „oebatf zu Amfterdam 1869" size s 
| diefen Vorträgen die ICE 2 
Goldene Medaille 

zuerkannt. 





Bon der XX. Kerie (Jahrgang 1885) der 
Sanmlung gemeinverftändlicher 
wiſſeunſchaftlicher Borfräge, 


herausgegeben von 


Rud. Virchow und Sr. v. Holbendorff. 


Heft 457 — 480 umfalfend Cim Abonnement jedes Heft nur 50 Pfennige) 
find erfchienen: 


Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Xobten bei ben 
verichiedenen Völkern. 
„ 458 Pilgrim (Ravensburg), Galilei. 


Borbehaltliih etwaiger Abänderungen werden fodaun nad uud nad and. 
gegeben werden: 


Gränbaum (Münden), Miſchſprachen und Eprachmiichungen. 

Schumann (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender des XII. Jahrhunderts. 

Hetzel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrich d. Großen zur Humanität im Kriege. 

Engelborn (Maulbronn), Die Pflege der Irren jonft und jet. 

Zſchech Hamburg‘, Giacomo Leopardi. 

Hoffmann (Gera), Der Einfluß der Natur auf die Kulturentwicklung der Menſchen. 

Czekelius (Hermannftadt), Ein Bild aus der Zeit der Gegenreformation in 
Stebenbärgen. 

Frensberg (Saargemünd), Schlaf und Traum. 

Goetz (Waldenburg b. Bafel), Die Nialsfaga, cin Epos und das germanifche 
Heidenthum in feinen Anklängen im Norden. 

Kronecker (Berlin), Die Arbeit des Herzens und deren Quellen. 

Möſch (Heilbronn), Der Dichter Horatiud und feine Zeit. 

Dames (Berlin), Geologie der norddentichen Ebene. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 

Gerland (Kaflel), Thermometer. 

Trede (Neapel), Das geiftliche Schaufptel in Säbditalien. 

Virchow (Berlin), Ueber Städtereinigung. 

Eyſſenhardt (Hamburg), And dem gejelligen Leben des XVII. Jahrhunderte. 

Zreichler (Züri), Politiihe Wandlungen der Stadt Zürid. 

Sommer (Blanfenburg), Die pofitive Philojophie von A. Comte. 


IX 


Die Txaner um die Todten 


bei den verſchiedenen Völkern. 


Dr. €. Masmanzdorfl. 


SP 





c 
Serlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(©. 6. Lüherity'sche Verlagsbachhandlung.) 
33. Wilhelm - Straße 83. 


Das Recht ber Veberfegung in frembe Sprachen wirb vorbehalten. 


en — — — — — — 


Die Trauer um die Todten und ihre Aeußerungen, mit deren 
Darſtellung fich die nachfolgenden Zeilen beſchäftigen, find in 
erfter Linie ein Ausfluß der Liebe, welche fich dem theuren 
Entſchlafenen gegenüber noch einmal bethätigen und in Worten 
und Handlungen dem Gefühl, welches die Bruſt erfüllt, Aus⸗ 
druck geben will. Neben der Liebe aber verlangt am Grabe 
auch der Glaube ſein Recht. Von jeher iſt unter allen Lebens⸗ 
ereignifjen neben der Geburt und Eheſchließung in die engſte 
Beziehung zur Religion der Tod gefebt. Wie man durch reli» 
gtöje Weihung das neugeborene Kind in den Schuß der Gott» 
beit zu ftellen und dadurch vor Unglüd zu bewahren, wie man 
für den Ehebund die göttlihe Gunft zu erwerben fuchte, fo 
ehrte man auch die Todten durch feierliche Beftattung, deren 
Art von den BVorftellungen über den Aufenthaltdort der Ver⸗ 
ftorbenen abhängig ift, und glaubte durch gemifje, von dem 
religiöfen Anfchauungen bejtimmte Geremonien auf das Fünftige 
Geſchick derjelben einwirken zu können. Neligiöfe Vorſtellungen 
aber haben auch auf die Trauer nicht unerheblichen Einfluß 
ausgeübt, und dies ift der Punkt, welchen wir in nnjerer Dar- 
fellung beſonders zu berüdfichtigen gedenfen. Mit geringen 
Ausnahmen ftimmen die Völker der Erde darin überein, daß 
der Zod ald ein Uebel zu betrachten und daher alle, die von 
ihm weggerafft werden, zu beflagen feien. Als den natürlichften 
Ausdrud des Schmerzed gab die Natur dem Menfchen die 


Thränen. 
XL 4517. 1* (3) 


4 


„Der Thränen Gabe, fie verföhnt den grimmiten Schmerz; 

fie fließen glücklich, wenn's im Innern beilend ſchmilzt“. 

Aber vielfach hat die Trauer um die VBerftorbenen fich mit 
den Thränen nicht begnügt, jondern, um zu einem vollgenügen- 
den Ausdruck zu fommen, noch zu andern Mitteln gegriffen. 

Laut und maßlos find meilt die Schmerzausbrüche der 
Wilden, die, mögen fie von Trauer oder Freude lebhaft bewegt 
werden, um jo zügellofer ihren Empfindungen ſich bingeben, je 
mehr ed ihnen an einem Halt und an Selbftbeherrihung ge» 
bricht. Freilich darf man auch nicht vergeffen, daß die ercen- 
triichen, langdauernden, zuweilen zu beitimmten Zeiten wieder« 
bolten Kamentationen nicht nur da8 befümmerte Herz erleichtern, 
fondern zugleich die Verftorbenen ehren und die Geifter der» 
ſelben freundlich ſtimmen ſollen. Denn bei aller Verſchiedenheit 
der religiöſen Anſchauungen der Naturvölker iſt doch der Glaube 
ihnen allen gemeinſam, daß die Geiſter der Abgeſchiedenen auf 
das Leben der Hinterbliebenen einzuwirken und ihnen Gutes 
oder, wenn ſie vernachlaͤſſigt werden, Schlimmes zu bereiten im 
Stande ſind. Furcht vor der Rache der Verſtorbenen beherrſcht 
die Amerikaner, Neger und Südſeeinſulaner in gleicher Weiſe 
und läßt fie die größte Sorgfalt auf die jenen zu erweiſenden 
Ehren verwenden; und zu diejen gehören die Todtenklagen?). 

Den Negern, welche faft allgemein Krankheit und Tod als 
dad Werk der Zauberer betrachten, giebt der Todesfall Anlaß 
zur Bezeugung des wildeften Schmerzes; aber in einer bejon- 
derd für fie charakteriftiichen Weiſe jchlägt ehr jchnell Diele 
Stimmung in die entgegengejeßte, in die der größten Aus 
gelafjenbeit um, jo dab „ihre Leichenfeierlichfeiten meift große 
Luftbarkfeiten für fie find und fie dieſe oft auf ganz ähnliche 
Art und mit derfelben Miene begehen, wie ihre Sreudenfefte*?). 
— „Sobald ein Mitglied der Familie, befonderd ein Ehemann 

(4) 





5 


geftorben ift, jo treten die Weiber vor die Thür der Hütte, 
erheben ein entjeßliched Gejchrei, zerraufen fid) dad Haar und 
zerfeen fi das Geſicht. Oft laufen die trauernden Weiber 
wie wüthend durch die Dörfer, wobei fie meiftend mit weiber 
Farbe beftridhen find. Bei dem erjten Ertönen des Klages 
gejchreis erheben alle übrigen Weiber, die dafjelbe hören, ein 
ähnliches Wehllagen, ohne daß fie noch wiffen, wer der Ber- 
ftorbene und weldye die Trauernden find. Wenn man dieſes 
erfährt, jo eilen die Freunde und Bekannten des DVerftorbenen 
in dad GSterbehaud und wehklagen 24 Stunden lang, ohne 
etwas zu Sich zu nehmen. Bei dem Zode von Königen wird 
das Wehklagen 3 Tage lang fortgefet. Man wiederholt dies 
jelben Geſchreis, diejelben Zerraufungen und Zerfegungen bei 
der Beerdigung der Berftorbenen. Gleich nach derjelben aber 
fehren die Zrauernden in dad Sterbehaud zurüd, wo fie Tage 
lang frefjen, faufen und tanzen, als wenn fie bei einer Hochzeit⸗ 
und nicht bei einer Zodtenfeier gegenwärtig wären” ®). 

Dr. Güßfeld, der Leiter der 1873 nach der Loangoküſte 
geſandten Erpedition, befchreibt ald Augenzeuge „die erichüttern- 
den Scenen, welde ſich unmittelbar nad dem Tode des Mam⸗ 
boma von Ienga, ded Dolmetjcherd und erften Negerd jener 
Erpedition, zutrugen. „Das ganze Dorf war in Aufruhr, um 
die Hütte herum, in welcher der Leichnam lag, tanzten Männer 
wie Weiber, jeder für fih, mit wilden Klagetönen und ergreifen» 
den Geftifulationen. Manche krochen auf Händen und Füßen 
im Staube umber und wälzten fi auf dem Erdboden. In 
der Hütte, aus der einige Seitenwände herausgenommen waren, 
war dad Gedränge und Wehklagen noch ftärker; auf allen Ge⸗ 
fihtern lag Trauer, Beftürzung und Furcht vor der im Hinter 
grunde Iauernden Anklage der Zauberei”*). 


In Amerika finden fi einige Stänme, welde das Weh- 
($) 


6 


Magen um die Geftorbenen auf die Frauen bejchränten, wie 
auch den Germanen nad Zacitu8®) „um Todte zu trauern für 
die Weiber, für die Männer aber ihrer zu gedenfen als an⸗ 
ftändig galt”. Bei den Cheppewyand geziemt fi dad Weinen 
zur Trauer nur für die Weiber;*) die Natchez halten es für 
unmänulidh bei dem Zode ihrer Frauen und Kinder Thränen 
zu vergießen und in das Heulen der Weiber einzuftimmen”), 
und bei den Orinokeſen figen, während die Weiber jammern 
und in Klageliedern dad Lob des Zodten fingen, die Männer 
ſtill und niedergefchlagen und unterbrechen ihr Schweigen bio8 
bisweilen durch Seufzer®). — Sm Allgemeinen aber betheiligen 
fih aud die Männer, wenn fchon in geringerem Grade als 
die Frauen, an den Todtenklagen, die nicht felten zu den grau⸗ 
famften Peinigungen und Berftümmelungen gefteigert werden. 
Die Eskimo und die ihnen zunähft wohnenden Kolufchen 
Schlagen fich jelbft Wunden; mehrere SIndianerftämme Nord- 
amerikas, wie die Mandan, die Schwarzfüße, die Berg und 
Diberindianer, und mande Stämme am Miffouri baden fid 
ein Fingerglied ab?); in Südamerika begegnen wir diejer Sitte, 
welche auch die Hottentotten Tennent®), bei den Yaro und 
Charrua, die ſich außerdem noch große Rohriplitter durch das 
Fleiſch ftoßen!!). Die Tehueltfchen, der füdlichfte Stamm der 
Patagonier, ftechen ſich bei der Beileidöbezeugung mit fcharfen 
Dornen in Arme und Beine, fodaß fie biuten!?), und die 
Galifornier verwunden fidy bei dem Tode von Anverwandten 
oder Bekannten den Kopf mit ſcharfen Steinen12). — 
Während die Auftralier in ber Trauer fih die Naſenſpitze 
ragen und fchneiden, um durch den Reiz Thränen zu erregen! *), 
gefallen ſich in Selbitpeinigungen aller Art bejonderd die Voölker 
dr Südſee. — Auf Rotuma zerfleiiht man fih Stirn und 


Wange mit einem Haifihzahne ſticht fi mit Speeren und bie 
(6) 


— — — — — —— 





7 


Weiber ſchneiden fich den Heinen Finger ab!) Das letztere 
thun beide Gejchlechter auf den Tongainſeln, wo bei dem Tode 
eines Häuptlings ganz entſetzliche Duälereien flattfinden. Die 
feidtragenden Weiber, deren Augen vom unaufbörlidhen Weinen 
geichwollen und deren Wangen durch die zahlreichen Schläge, 
die fie fich jelbft verjehten, aufgelaufen find, ſchlagen fih Die 
Druft-bram und blau, „Beim Tode des Königs Finau woll« 
ten die Häuptlinge und Metabulen hinter teinem der Selbft- 
peiniger zurüdbleiben. Wie verrüdt fprangen fie in den von 
den Zufchauern gebildeten Kreid, brachen in die Mäglichften 
Audrufungen and und zerfeßten fih mit fdharfen Steinen, 
Meflern oder Mufcheln den Körper oder zerichlugen fih den 
Kopf dergeftalt, dab dad Blut in Strömen floß. Einige ver- 
jegten fidy mit den Streitkolben ſolche Schläge auf den Hinter 
ſchädel, daß fie eine Zeit lang irrfinnig waren und ganz ver- 
wirrt jprachen?®), Auch auf den Marianen artet, wenn ein 
Bornehmer geftorben ift, der Schmerz in wahre Berjerfermuth 
aus; man zerichlägt, zerreißt, vernichtet alles und zündet wohl 
gar dad eigne Haus anı?), 

Auf den Hamatiihen (Sandwidy) Inſeln kommt es vor, 
da fidy die Trauernden 2 Borderzähne mit einem Steine felbit 
ansfchlagen oder durch andere ausfchlagen laffen, was früher 
beim Xode des Königs „alle treuen Untertbanen” defjelben 
thaten 18). — Bon den einen Zweig der indogermaniſchen Voͤlker⸗ 
familie bildenden Scythen berichtet Herobot!?), daß fie, wenn 
der König geftorben war, ſich ein Stückchen vom Ohr abfchnitten, 
in die Arme Schnitte madıten, Stirn und Nafe zerfraßten und 
fi durch die linke Hand einen Pfeil fließen. — 

Dieje „Marterſymbolik“, weldye in ihrer vollen Ausbildung 
der wilden Stufe angehört, ragt audy noch in dad Leben höher 


entwidelter Völker hinein. Verwundungen und Riyungen zum 
M 


8 


Zeichen der Trauer kommen, wie im Verlauf diefer Darftellung 
fih zeigen wird, auch bei den Semiten vor, und. ald letzter 
Ausläufer diefer barbarifchen Sitte ericheint das Zerfleiichen der 
Wangen und der Bruft, was im Altertbum weit verbreitet „un« 
ter den Frauen in Mittel- und Unteritalten fowie auf Corfica 
bet dem Zobe und den Beltattungen von Blutöverwandten” 
noch zu Anfang diejed Jahrhunderts in Gebrauch war? 9). 

Denn Wuttke der Meinung iſt, daB „durch die Äußere, 
freiwillig übernommene Dual der Seelenſchmerz gewifjermaßen 
abgefauft oder erjeßt” werden fol, da „man fidh leichter be» 
ruhige, wenn fich der natürliche geiftige Schmerz in den jelbft- 
geichaffenen Leiden concentrirt, und wenn ber Menſch in diejen 
äußern Dualen fi) und andern einen fichtbaren Beweis giebt, 
wie groß fein Schmerz um den Berftorbenen fei“21), jo dürfte 
dieſe Erklärung nicht überall zutreffen. Da dad Gemeinjame 
aller diefer Gebräuche dad Vergießen von Blut ift, jo fcheint 
die Vorftellung, nad) weldyer dad Blut der Sitz der Seele ift, . 
mit im Spiele zu fein, wie auch ſchon Varro auf den religiöjen 
Grund diejer Sitte hinmweift, wenn er jagt, dab die Frauen bei 
der Zrauer und dem Leicyenbegängniß deöwegen ſich zu zer⸗ 
fleifchen pflegten, ut sanguine ostenso inferis satisfaciant??). 

Die Betrachtung der Traueräußerungen der Kultumölfer 
beginnen wir mit den Chinejen. — Ueberaus langwierig, pein- 
li und bis ins Kleinfte vorgejchrieben find die Beitimmungen 
über die Trauergebräuche entſprechend der durch das Geſetz auf 
die ganze Lebensführung des Volkes wie der einzelnen aus⸗ 
geübten Bevormundung?®); ihren Grund aber haben fie in dem 
religiöfen Charakter, welchen das Zamilienleben der Chinefen 
trägt, und im Ahnencultus. 

„Die Zamilie, ald die Einigung von Mann und Weib, ift 


das Abbild bed göttlichen Lebens, das in der fortgejeßten Eini- 
(8) 


9 


gung von Urkraft und Urftoff verläuft, eine menfchliche Wieder- 
bolung der allgemeinften koſsmiſchen Erſcheinung des Göttlichen, 
wie fie in Himmel und Erde dargeftellt ift." „Was der Him⸗ 
mel für die Welt ift, das ift der Vater für feine Kinder; er 
ift im eigentlichiten Sinne der Bertreter defjelben den Kindern 
gegenüber.. Daher ift die Liebe der Kinder gegen die Eltern 
die höchfte und heiligfte Pflicht und die Pietät erſtreckt fich über 
da8 Grab hinaus?*). „Die Trauer”, jagt der die äußern 
Sitten und Berhaltungsregeln enthaltende Lify, „Dauert 3 Sahre, 
aber ein tugendhafter Sohn bewahrt fein Lebelang den Eltern 
ein liebended Andenken und betrauert fie immerfort“?5). 

Dazu fommt ald zweites Moment der Ahnencultus, der 
uralten Urfprungd noch heute faft die einzige lebendige Aeuße⸗ 
rung der chinefiichen Gotteöverehrung ausmacht. Wie in andern 
Raturreligionen, der Sonne und dem Monde, der erfte Cultus 
geweiht wurde, jo verehrten die Chinejen Himmel und Erbe, 
ald die umfafjendften Allgemeinheiten der Eridyeinungdwelt. 
„Die Bergöttlihung diejer umfaflenden Mächte fchlob aber 
feinesmegd aus, daB nicht auch bejondere Erſcheinungen am 
Himmel und auf Erden, wie Sonne und Sterne, Berge umd 
Bäume ald untergeordnete göttliche Weſen verehrt werden konn⸗ 
ten; befonder8 aber wurden dieſen untergeordneten Geiftern auch 
die Seelen verftorbener Menfchen zugezählt, welche ald Schutz⸗ 
geifter der Yamilien, der Häufer, Gemeinden, Städte, aud) be⸗ 
jonderer Xhätigfeiten, wie des Aderbaued verehrt wurden; daher 
ichreibt fih der Ahnencultud, der urſprünglich als eigentlicher 
Cultus göttlicher Weſen im vollen Sinne gemeint war.“?) An 
ihm aber ſowie an der Verehrung des Himmels hielt das Volk 
um fo zäber feit, je weniger ed für jein veligidjes Leben Be⸗ 
friedigung fand und finden konnte in dem herrichenden philo- 


ſophiſchen Syfteme, welches ald den Urgrund alle Seins das 
(9) 


10 


Urwefen oder Urwirkliche (Tai⸗ky) Tennt, in welchem der Philo- 
ſoph Tſchuhi die fuperordinirte Einheit von Yang und Be, 
Kraft und Stoff, Bewegung und Ruhe ſah7). „So tft dem 
die Trauer um die veritorbenen Eltern und die Gedächtnißfeier 
für Ddiefelbe unter der Form des Ahnencultus ein förmlicher 
gottesdienftlicher Alt und die Ahnenhalle in jedem größern 
Haufe vertritt ganz die Stelle der Hauskapellen“28). — 

Die eigentliche Trauer bejchreibt Andrei folgendermaßen: 

„Die in grader Linie von dem Entichlafenen Abftammen- 
ben find in weiße weite Gewänder gehüllt und mit gleichfarbigen 
Binden um die Häupter verjehen, fißen weinend um den Leich- 
nam, und die Frauen unterhalten ein Xrauergeheul.... Man 
miethbet auch Perſonen, weldhe die Trauer recht fichtbar dars 
ftellen, zu dem Ende fich weiß Heiden und den Zodten laut 
beweinen und jorgt dafür, dab Priefter mit Cymbeln und an- 
dern Snftrumenten vor dem Trauerhauſe Muflt machen“ 29). 

G. Spieß erzählt?°), dag man in Xientfin durch Klages 
lieder die Seele Sterbender zu veranlaffen fucht noch länger in 
ihrem Körper zu verweilen. 

Dieſer Braud gewinnt an Intereſſe, da wir die gleiche 
BVorftellung audy bei den Nömern finden. Dem Properz er» 
icheint im Traum die verftorbenen Cynthia und jagt ihm unter 
anderm: 

at mihi non oculos quisgquam inclamavit euntes: unum 
impetrassem te revocante diem. 

Und Ovid klagt aus der Berbannung im Hinblid auf die 
Sterbeitunde: 

nec dominse lacrimis in nostra cadentibus ora 
accedent Animae tempora parva meae? 

Mit diefer ihrer Ueberzeugung von der Madıt der am 
Sterbelager erhobenen Wehklage find diefe beiden Dichter der 


(10) 


u rg ———— — — —— — — — — — — — 


11 


Volksmeinung entſchieden näher gekommen, als der ältere Plinius, 
nach deſſen Anficht die Furcht vor der Beſtattung Scheintodter 
der Grund iſt, weshalb am Sterbebette die Todten von Zeit 
zu Zeit bejammert werden?1). — In gewiſſer Verwandtſchaft 
mit dem eben Beſprochenen ſteht auch der auf den Hawaiiſchen 
(Sandwich⸗) Inſeln herrſchende Gebrauch, „daß, ſobald ein 
Mann erkrankt iſt, ſeine Weiber und weibliche Verwandte ſich 
um ſein Lager verſammeln, laut über ſeinen Zuſtand jammern, 
fich die Haare ausraufen und dad Geſicht zerfleiſchen, in der 
Hoffnung ihm dadurch Erleichterung und oft ſogar Heilung zu 
verichaffen” 22), 

Bon den alten Aegyptern berichten Herodot und Diodor? ?), 
daß, wenn ein Todedfall eingetreten war, die weiblichen Ans» 
gehörigen den Kopf oder aud das Antlit mit Koth beftrichen, 
unter Zurüdlaffung des Todten in feiner Wohnung mit offener 
Bruft in den Straßen der Stadt umber eilten, fich heftig 
Ichlugen, die Haare zerrauften und ein lauted Jammern erhoben, 
während die Männer gleichfalld die Bruft entblößten und fich 
ſchlugen. — Hiermit vergleihe man die Schilderungen der 
jeßigen Zraueräußerungen am Nil, wie fie 3. B. Döbel und 
Brugfh?*) entwerfen, und man wird jehen, daß weder die 
Jahrhunderte noch die Einführung des Sölam eine Veränderung 
hervorgebracht haben. 

Letzterer beichreibt dad „traurige Schaufpiel einer Todten⸗ 
klage“, das er van einem Nilbote aus beobachtete, mit folgenden 
Worten: „Schon von Ferne hören die Reijenden das gellende, 
durchdringende Geichrei der Weiber des Dorfes, welche über 
ein eben geftorbenes Mitglied befjelben die Zodtenklage auf 
dem Wege am Ufer anftellen. Die einen ftürzen fih in une 
bändigem Schmerze zur Erde, werfen den Staub in die Luft 
und bebeden den Kopf und das Geficht mit feuchten Nil» 


u) 


12 


Ihlamm. Die andern tauchen die Hände in ein thönernes Ge— 
fäß mit Indigoflüffigkeit, fchlagen fie dann mit nicht geringer 
Heftigfeit gegen die Baden oft jo lange, daß das Blut anfängt 
zu rinnen. Dann faflen fie fi wie zum Ringeltanz bei den 
Händen und jpringen wie wahnfinnig auf und nieder.“ Dem 
Zeichenzuge folgt tanzend und heulend die Wittwe und ruft bier 
wie in Arabien?) dem dahingefhiedenen Gatten oder Sohne 
die uns feltfam Mingenden Worte nah: „o du Kameel meineß 
Haufes”, um unter dem Bilde diefed dem Drient nützlichſten 
Thiered die Sorge ded Mannes für das Haus audzudrüden?®). 
Wie leichte Srregbarkeit des Gemüthes, Zugänglichkeit für 
äußere Eindrüde und Leidenjchaftlichfeit einen Grundzug im 
dem Charakter der femitiichen Wölfer bilden, jo waren auch 
ihre Zrauerceremonien von demjelben Geifte wilder Leidenſchaft 
gelragen. Weun von der Sommergluth dad Naturleben erftarb, 
wurde im Morgenlande und bejonders in Byblus der Tod des 
Adonid, ded jugendlichen Buhlen der Baaltid (Venud), deren 
tiefen Schmerz dad erite Lied Biond ergreifend auemalt, mit 
großem Pomp gefeiert. Klagend und weinend faßen die Weiber 
im Heiligthume, trauernd um den Tod des Adonis meilten fie 
an den Wegen. Sie jchnitten fih dad Haar ab, zerrifien die 
Brüfte und riefen: Ailanu, Ailanı! (wehe und) und SPrieiter 
mit zerrifjenen Gewändern und gejchorenen Bärten trugen daß 
gewajchene und gefulbte Holzbild des Gottes umber??). Das 
Ceremoniell diejer gotteödienftlichen Trauerfeier entſprach ſicher⸗ 
‚lich den bei Tod und Begräbniß berrichenden Gebräuchen der 
Phönicier. 
In der prachtvollen, und poetiſchen Schilderung von dem 
Hal der einft jo reihen und ftolzen Stadt Tyrus bei dem 
Propheten Hejekiel?®) heißt ed: „Und es fteigen aus ihren 
Schiffen alle die dad Ruder führen, die Seeleute, alle Schiffer 


(13) 


13 


des Meeres; and Land treten fie und Ichreien laut über Dich 
und Magen bitterli und werfen Staub auf ihre Häupter und 
wälzen fi) in Ajche. Sie jcheren ſich deinetwegen kahl und 
gürten Sadtudy um und weinen über Dich mit betrübter Seele 
und bitterer Trauer. Sie heben in ihrem Jammer ein Klages 
lied über di an und Magen über dich: wer ift wie Tyrus, wie 
die Zerftörte inmitten ded Meeres?“ Ueber den Untergang 
Ninived, welchen Nahum in prophetiſcher Begeifterung als 
gegenwärtig ſchaut und bejchreibt, „jeufzen die Mägde wie Tau- 
ben und jchlagen an die Bruft“29) und in Moab ift zu der 
Zeit, wo das gedrohte göttliche Strafgericht fih an dieſen 
Bolfe vollzieht, „jeglihed Haupt Slate und jeglicher Bart ge- 
ſchoren; auf allen Händen Ritungen und an den Hüften Sad: 
tu; auf allen Dächern Moabs und in jeinen Straßen lauter 
Klage). — 

Bei den Arabern, für die wir in den Kodtenflagen der von 
Rückert überſetzten Hamäja einheimifche Zeugniſſe befiten, ftreus 
ten fich, wenn ein Todesfall eingetreten war, die Anverwandten 
unter Weinent!) Staub ind Antlit und zerfleifchten fidy die 
Bruft und die Wangen*?). Unverjchleiert erichienen die Frauen 
und wehllagten um den Geftorbenen?). In der Klage deren 
feierliche Formel war: „jei nicht ferne““), antwortete eine 
Klagende der andern, fo daB dadurch die Klagen unterbrochen 
wurden. Es klagten mehrere Weiber zufammen und die haupts 
leidende Frau ward von den andern unterftübt. Sie ftanden 
bei dem Todten, fchlugen fih das Geliht und zerriſſen das 
Bniengewand während der Klage, zu welcher vor dem Islam 
auch Klagefrauen gedungen wurden‘ >). 

Alle in obigen Schilderungen der Propheten erwähnten 
Zrauergebräuche kehren bei dem jüdilchen Volke wieder; doc 


darf man in ihnen deswegen nicht blos Mebertragungen eigener 
(13) 








14 


Sitten auf fremde Völker finden. Es ift ja natürlich, dab das 
allgemeine menjchliche Befühl des Schmerzed um den Berluit 
geliebter Perſonen wie uberall in ähnlicher, jo beſonders bet 
den Voͤlkern in gleicher und übereinitimmender Weile ſich Außert, 
weldye durch ihre Abftammung zufammengehören und in viel- 
fadyer Berührung mit einander geblieben find. Und fo grund» 
fäglich verichieden der Hebräer Gotteserkeuntniß und bildlofe 
Verehrung Jahves von dem üppigen und wollüftigen Natur- 
dienft der heidniſchen Semiten ift, „ihre Erkenntniß über Zu- 
ftand und Leben in einer andern Welt gebt weder an Map 
noch an Reinheit über die hinaus, weldye wir bei den joge- 
nannten Heiden finden**®), 

Eine freudeleere und troftlofe Eriftenz führen die Todten, 
die Rephaim d. i. die fraftloien Schatten in dem alle aufs 
nehmenden Scheol*?); bewußt- und empfindungslod ſetzen fie 
ihr Dajein fort, aber das Leben ift entſchwunden. Niemand 
preift im Lande der Finfternig Gott und gedenfet jeiner*®). 
„Es tft für den Baum Hoffnung”, ruft wehmüthig Hiob*?), 
„wird er abgehauen, fo grünet er wieder und feine Sprößlinge 
nehmen nicht ab. Altert in der Erde feine Wurzel und ftirbt 
im Boden fein Stamm, vom Dufte ded Waſſers fproffet ee, 
auf und treibet Aefte wie neugepflanzet; aber ftirbt der Menſch, 
fo ltegt er da, verfcheidet der Menjch, wo ift er?" Darum gilt 
die Todtenklage zum Theil den Zodten felbft und ihrem be 
klagenswerthen Looſe. „Ueber einen Todten lage, denn dad 
Licht ift ihm entichwunden.” Der gewöhnliche Klageruf jcheint 
nach mehreren Stellen: „o weh, mein Bruder”50), gemwejen zu 
fein, womit Kamphaufen das noch bei den heutigen Aegyptern 
übliche: „ach, Schade um ihn“ vergleicht?1). Andere fehen hierin 
und in den dem Elias wie Elifa nachgerufenen Worten: „Mein 


Bater, mein Bater, Wagen Tiraeld und feine Reiter“ die Bruch⸗ 
(16) 


15 


Rüde größerer Trauerlieder“?). Doch fei dem, wie e8 wolle, 
gewiß ift, daß die hebrätiche Lyrik, obgleich ihrer Hauptbeſtim⸗ 
mung nach dem Heiligen geweiht, auch das übrige Leben zu 
verjchönern nicht verihmähte und daß, wie die ftammpermandten 
Araber die Todten durch ein Trauergedicht zu beweinen und 
zu preifen pflegten®®), jo gleichfalld hier berühmte Männer nad) 
ihrem Zobe im Liede gefeiert wurden. Vom Propheten Jere⸗ 
miad ift ed überliefert, daß er Klagelieder auf den König Soflad 
dichtetes“) und von David befiten wir außer der Türzeren 
Klage um Abner, „der gefallen ift, wie man vor tüdijchen Buben 
falt"55) das rührende Trauerlied auf den Tod Sauld und 
Sonathans5 ®), 

Athmen dieje Lieder des Töniglichen Sängers den tiefen 
Schmerz des Lebenden um bie Todten, jo liegt andererfeitd dem 
ganzen Leichengepränge nicht minder ald dem lauten Klage 
gejchrei, mit welchem bald nah dem Tode die Angehörigen, 
berbeigeeilten Freunde und beſonders die Frauen dad Sterbe⸗ 
haus erfüllten?”), Die Abfiht zu Grunde, dem Todten möglichft 
viel Ehre anzuthun, wozu fi} bei manchen die Eitelleit und 
Scheu, hinter andern nicht zurüdzubleiben, gejellen mochte; fo 


. fordert in naiver Offenheit Sejus Sirach auf zu trauern „der 


ũblen Nachrede wegen”’®). Daß der Klagegefang mufikaliſche 
Begleitung hatte, fteht für die neuteftamentliche Zeit feft durch 
das Zeugniß des Matthäus, der Ylötenbläjer erwähnt; für die 
ältere Zeit kann ed gefolgert werden aus den Worten des 
Seremind: „Mein Herz ertönt über Moab gleich Flöten und 
mein Herz ertönt über die Leute von Kir⸗Heres gleich Flöten" 5). 
Alt ift die Sitte Klageweiber zu dingens). Das Ber 
legende und Anftöbige, das unftreitig für unſer Gefühl bierin 
liegt, mildert fi, wenn wir bedenken, daß neben dem durch 


gemiethele Perſonen erhobenen Jammer auch dad Klagen der 
(a5) 


16 


Anverwandten ertönt, und der Braudy verliert feinen unverftänd» 
lichen Charakter, wenn wir und erinnern, daß die Thränen viel« 
fach als eine Ehre gelten, die man dem Zodten fchulde, und 
daß dieje um jo größer ift, je mehr derjelben fließen. 

Ueber die Audbreitung diejer Sitte jei folgended bemerkt. 
Bereinzelt finden ſich Klageweiber bei wilden Bölferfchaften, 
wie bei den Natchez am unteren Miffiffippi und in Nord» 
carolina®1). Bei den Turfmanen oder Türfmen‘?), wilden und 
nomadifirenden Wüftenftämmen im turanifchen Zieflande, ftim- 
men im Zelt des Berftorbenen ein Fahr lang ohne Ausnahme 
in der Stunde, in weldyer der Betrauerte den Geift aufgab, 
Klageweiber die üblichen Klagelieder an, an denen auch die an⸗ 
weienden Hamilienglieder tbeilnehmen müſſen. Lebtere ſetzen 
dabei ihre Tageöbeichäftigung fort. Sogar in der nächſten Um- 
gebung des Zelted pflegen die Weiber mit einzujtimmen und 
auf klägliche Weife zu fchreien und zu meinen, ohne ſich jedoch 
dadurd in ihren Arbeiten ftören zu laffen. — Im Alterthum 
treffen wir bei den Egpptern, Semiten, Griechen, Römern, für 
die fie fi wenigftend bis zu den punifchen Kriegen nachweijen 
laflen, und bei den Etrußfern für Geld gemiethete Klageweiber®®). 
Seht befteht dieſe Cinrihtung trog Muhammeds Verbot‘ *) 
außer in Medinas?) im ganzen muhammedaniichen Drient®®). 
Unter den dhriftlichen Voͤlkern hat fie fi nur in wenigen Ge⸗ 
genden erhalten; abgejehen davon, daB im Morgenlande dem 
Beiſpiel der Allahverehrer öfters auch die Chriften folgen, pflegt 
in Abpifinien den bald nady dem Tode zum Grabe unter: 
nommenen feierlihen Zug ein Haufe gemietheter Weiber unter 
fürchterlichem Geheul zu jchliepen®”), und während man in der 
griechiſch⸗katholiſchen Kirche fich ehemald befonderd in den von 
der Hauptftadt entfernt liegenden Provinzen gedungener Klage» 


weiber bediente®®), werden auf den griechiſchen Inſeln und 
(16) 


17 


dur ganz Hella, ſowie auf Sardinien, wo fie fogar deu 
alten Namen prefiche und piagnoni bewahrt haben, auf Eor- 
fica, Irland und bei den Wlachen®?) noch jebt Frauen ge 
miethet, um den SKlagegefang bei ber Leiche anzuflimmen; in 
Theilen der Schweiz ift die Leidfrau bei den 2 üblichen Nachts 
wachen Borbeterin von je 9 abzufprechenden NRojenfränzen, die 
zufammen einen fogenannten Pfalter ausmahen. Den Tag 
über verwandelt fie fi) in das altjüdiſche Klageweib, durchgeht 
in einer befonderen auf Koften des Sterbehaufes ihr gemachten 
Trauertracht den Ort und ruft dad Ableben und die Begräbniß- 
ftunde des Betreffenden mit fader Stimme in Gaffen und 
Häujern aus? °). 

Nach diefer Abjchweifung zu den Hebräern zurüdtehrend 
heben wir von den Traueräußerungen noch hervor: das Zers 
reißen des Kleides, das zum ftändigen Zeichen der Trauer um 
Blutöverwandte wurde, dad Beſtreuen ded Hauptes mit Afche 
oder Staub, dad Schlagen auf Bruft, Haupt und Hüften und 
das Zerraufen des Haare871). Seltener fam es wohl vor, daß 
man fi) an die Erde legte und in Aſche mwälzte”?). Sogar 
bis zu Selbftverlegungen fchritt der Fanatismus des Schmerzed 
fort; man machte fich Schnitte am Leibe und ritzte fich wund, 
eine Sitte, die jo feſt im Volke wurzelte, dab dad dagegen er- 
lafſene Verbot??) fie nicht unterdrüden konnte, wie neben an» 
deren Stellen ded alten Zeftamentes die Neueinjchärfung deſſel⸗ 
ben von Seiten des Deuteronomikers bemeift?*). 

In Bezug auf das au im übrigen Altertfum und nod 
beut im Orient übliche Zerreißen des Gewandes die Notiz, daB 
es geichieht, indem man mit einem Mefjer einen Schnitt in’s 
Oberkleid macht und ed dann handbreit aufreißt; man beob- 
adytet dabei den Unterfchied, dab der Riß beim Tode der Sattin, 


Kinder und Gejchwifter auf der rechten, beim Ableben der Eltern 
xx. 657. 2 m 





18 


aber auf der linken Seite und am Ober⸗ wie Unterlleib ge⸗ 
macht wird? >), 

Wie dem Griechen die Todtenllage eine dem Berftorbenen 
zufommende Ehre (yEoag Savorzwv)?$s) ift, jo will aud ber 
Römer nicht unbeweint in das Reid, der Schatten hinabfteigen. 
Ovid fchreibt Hagend der Gattin aus Tomi, daß niemand an 
feinem Sterbebette weinen und er unbellagt im fremden Lande 
ruhen werde?7); bei demfelben Dichter wird Alcyone, die Gattin 
des beim Schiffbruch ertrunfenen Ceyr, durch eine Zraumgeftalt 
aufgefordert den Gemahl nicht, ohne ihn zu beweinen, in den 
nichtigen Tartarus zu fenden?®) und Zibull wünjcht der Nemefis, 
die reicheren Liebhabern den Borzug gab, daß, wenn der Tod 
ihr nahe, niemand fie beflagen möge? ?). 

Daber wurde ebenjo in Rom von den um das GSterbebett 
verjammelten Verwandten die Wehklage (conclamatio) erhoben, 
wie fie auch in Griechenland ſchon im der älteften Zeit geregelt 
war®). Am Lager ded gefallenen Hector ftimmten Sänger 
Zrauerlieder an, welche durch die MWehruföflagen der Andromadhe, 
Hecuba und Helena unterbrohen wurdens1). Während der 
Zage der Auöftellung der Leiche wurden fie ftetd erneuert. Daß 
man auch in fpäterer Zeit einen gejangeöfundigen Mann zur 
Leitung der Trauergefänge, für die, wie ſchon bemerft, häufig 
Klagefrauen gemiethet wurden, binzuzuziehen pflegte, erjehen 
wir aus Luciand Schrift „über die Trauer“8s2). In Sparta 
mußten bei dem Tode eined Königd außer den Spartiaten eine 
beftimmte Anzahl Periöfen fich an den Zrauerfeierlichleiten bes 
theiligen und zufammen mit den Heloten und Frauen unermeß⸗ 
liches Geſchrei erheben®?), 

Zu den Klagen geſellten fich lebhafte Geberden. Im Ueber⸗ 
maß des Schmerzes um Patroclus liegt Achill das Haupt mit 
Staub bedeckt und das Haupthaar von den lieben Händen zer- 

(18) 


19 


tauft lang Hingeftredt im Staube?*); Briſeis wirft fi), wäh. 
tend fie den Bufen, die zarte Wange und das jchöne Antlig 
zerfleifcht, mit lautem Geſchrei auf die Keiche des Getödteten® >); 
ber greife Priamus wälzt fi aus Trauer um Hector, deſſen 
Zod ihm jchmerzlicher ift ald der Berluft der anderen Söhne, 
jämmerlich klagend auf dem Düngerhaufen®®), und bei der 
Leichenfeier des Pallas jehen wir, wie der vom Alter gebeugte 
Achted, Bruft und Gefiht von den Nägeln entftellt, von dem 
Sreunden, die ihn im Zuge führen, ficy losreißt und von dem 
Schmerz über den Tod ded Kampfgenofjen und Gefährten übers 
mannt fid) an den Boden wirfts!). — Auch die zunehmende 
Gelittung der jpäteren Zeit bat die wilden und rohen Außs 
brüche des Schmerzes eben fo wenig unterdrüden können, als 
e8 die von Seiten der Gefehgeber gegen died Unweſen ge- 
richteten Verordnungen vermochten. Am rüdfichtölojeften ging 
Charondad vor, der dad Trauern überhaupt unterjagte®®); 
Solon verbot dad übertriebene Gepränge der Zrauerceremonien, 
namentlich die auöjchweifenden Schmerzgeberden der Weiber? ?). 
Bon hier wurden dann dieje Anordnungen in dad Zwölftefolges 
gejeß übernommen, wojelbft es heißt: mulieres genas ne rm 
dunto neve lessum funeris ergo habento?°), 

Aber mögen dieſe gejeglichen Beitimmungen auch augen» 
blidlih die zu großen Mißbräuche, welde Eitelfeit und die 
Sudt ſich hervorzuthun mit der Todtenklage trieb, eingefchräuft 
haben, von durdgreifender Wirkung find fie nicht gewejen und 
fonnten e8 nicht fein. Denn aus dem Schmerzgefühl geboren, 
durch Ueberlieferung und Sitte gemifjermaßen geheiligt und ale 
nothwendig gefordert waren jene Traueräußerungen zu eng mit 
dem Volksleben verwachſen. Ihr Fortbeſtehen beweijen denn 
auch zahlreiche Stellen griechiſcher und roͤmiſcher Schriftſtellerꝰ 1). 


So werden z. B. die von Cicero im 3. Buch der Tusculanen 
2* (19) 


20 


erwähnten, „mannigfaltigen und verabfcheuenswerthen Arten zu 
trauern”: pedores, muliebres lacerationes genarum, pectoris, 
feminum, capitis percussiones??) für das 2. Jahrhundert un- 
jerer Zeitrechnung durch die ſchon erwähnte Schrift Lucians 
„über die Trauer” bezeugt, in welder die Mablofigkeit der 
Schmerzausbrüche fcharf gegeibelt wird), und auch Plutardh 
lobt ausdrüdlich feine Frau, daß fie beim Tode ihrer Tochter 
derartiges unterlafjen habe? *). 
Indem wir und nun zu den Muhammedanern und Chriften 
wenden, wollen wir, ohne in die Detaild einzutreten, nur* die 
principielle Stellung beider Religionen zur Todtenklage Tenn- 
zeichnen; die hier wie dort herwortretende, jede Trauer aud- 
fließende Denkart Tann erft am Schluß diefer Betrachtung 
beleuchtet werden. | 
Im JIslam wie im Chriftenthum bat der Zod feine Schrecken 
verloren dur; die Glaubendgewißheit, dab aus ihm ein neueß, 
ſchoͤneres Leben erblübt. Dort haben wir die Hoffnung auf die 
Freuden des Paradiejes, bier die feite Meberzeugung, dab die 
Gemeinichaft mit dem Herrn über das Grab hinaus befteht. 
Darum haben die lauten und wilden Traueräußerungen feine 
Berechtigung meh. Muhammed verbot zu fchreien und zu 
heulen, dad Geficht zu zerichlagen und die Gemwänder zu zer- 
reißen; denn das feien Eingebungen des Boſen?*). Die Kirchen- 
väter aber haben die letdenichaftlichen Ausbrüche ded Schmerzes 
ald hoffnungsloſe, heidniſche Sitten auf's Nachdrüdlichite be⸗ 
fampft?®). | 
Aber eine mäßige Trauer galt ald ein der Natur zu zahlen- 
der Tribut und ald vereinbar mit dem Glauben. „Wegen 
eined Unglüdsfalled vergoffene Thränen“, ſagte Muhammed, 
„find Balfam für dad Herz und aus Gnade herabgefandt”, und 


ald Berwunderung fid, darüber erhob, daß er um den Tod 
(30) 


21 


feined im Kampfe gefallenen Betterd Oſchaffar in fo viele 
Thränen ausbreche, da doch der Zod ber Schlüffel zum Para» 
biefe jei, erwiderte ex: „ad, es find Thränen ber Freundſchaft 
um den Berluft des Freundes97). Aehnlich nennt Ambrofius 
bie Zähren „Zeichen eines pietätövollen Sinnes“ (indices pieta- 
tis)?®), und unter Berufung auf bie Patriarchen und dad Bor» 
bild Jeſu, der um Lazarus geweint habe, bat die Kirche um 
den Tod geliebter Perfonen zu Magen als ein Recht der Natur 
anerfannt, das der Ergebung in den göttlichen Willen, welche 
am Grabe, ald dem Prüfftein des Glaubens, dem Jünger Jeſu 
geziemt, nicht widerjpridht??). 

Bevor wir zur Beſchreibung der noch übrigen Zrauer- 
gebräuche übergehen, müfjen wir diejenige Borftellung betrachten, 
nady welcher, entgegen dem Satze, dab reicher Thränenerguß 
den Berftorbenen ehrt und erfreut, dem Todten nachgeweinte 
Zähren feine Ruhe im Grabe ftören und ihn des Genuffes der 
himmlischen Seligleit berauben. 

Por allen war dieſer Glaube den germantichen Völkern 
eigen. In der Edda bittet der begrabene Helgi jeine Gemahlin 
Sigrän, „die jehrenden Tropfen” zu ftillen, da ihm jeder der» 
felben blutig auf die Bruft falle! 09), ein Gedanke, weldyer in 
einem fchwediichen Volksliede wiederfehrt, wo Chrifteld Thränen 
bad Herz des beftatteten Bräutigamd mit Blut anfüllen!01). 
Wenn der „todtmunde" Nibelunge Wolfhart feinen Oheim 
Hildebrand beauftragt, ihn nicht zu beweinen!9?), fo ift er offen- 
bar aud von diefem Glauben befeelt, deſſen Spur wir auch 
wohl in der Nachricht des Tacitus finden dürfen, dab die Ger- 
manen „Klagen und Thränen um die DBerftorbenen fchnell 
ftillen"103), Wie dann der dur) Bürger's Bearbeitung all» 
gemein befannt gewordenen Zeonorenfage tieffter Grund ift, daß 


man den Todten nicht zu heftig nachtranern foll, jo bieten ein 
a) 


22 


weitered Zeugniß diefer Anichauung die zahlreichen Sagen und 
Märchen, in welchen geitorbene Kinder mit den vollgemeinten 
Thränenkrüglein ihrer Mutter erfcheinen und fie bitten, mit dem 
Meinen aufzuhören, da fie fonft feine Ruhe finden Tönnten. 
Eine Mutter, welche beim Garbenfchneiden ihrem Kinde bitter- 
ih nachweint, erblicht plößlich daffelbe auf einer Garbe liegen; 
aber fein furzes, nur bis auf die Bruft reichended Kinderhemdchen 
ift durch der Mutter Thränen völlig durchnäßt. — Die Groß» 
mutter ded Thomas Kantipratenfid ſah im Traum, während fie 
noch ihres Erftgeborenen Tod beweinte, viele Fünglinge jubelnd 
des Weges einherziehen, während ihr Sohn weit zurüd mit 
ſchwerem Schritte nachſchlich. Auf die Anfrage der Mutter 
wies er auf fein von Thränen ſchweres Kleid und ſprach: Das 
find Deine Xhränen, deren ®ewicht meinen Gang fo jehr hemmt! 0*). 
Berbrämt mit katholiſch⸗kirchlichen Vorftellungen tritt und dieſe 
Erzählung bei Rofignoli entgegen, der gemäb der Tendenz 
feiner Schrift fie benußt, um auf den Segen hinzuweiſen, welchen 
Meſſen, Gebete und Almojen für die Seelenrube der Berftor- 
benen haben. Eine Mutter — fo lefen wir bei ihm 105) — meinte 
jehr über den Tod ihres Sohnes, jo da man auf fie anwenden 
fonnte den 2. Berd aus dem eriten Klageliede des Jeremias, 
aber in ihrem übermäßigen Schmerze vergab fie dem Sohne 
durch Gebete, Almofen, Abtötungen und Seelenmefjen zu helfen. 
Da ſah fie einft eine wunderbare Erſcheinung. Sie erblidte 
eine Anzahl Sünglinge, die ſich einer prächtigen Stadt näherten. 
Ihr Sohn war der lebte und fchleppte fi) mühfam einher, | 
denn feine Kleider waren durchnäßt und befchwerten ihn ficht» 
lich. Ergriffen rief die Mutter: „Mein Kind, warum bleibft 
Du hinter diefer glänzenden Schaar zurüd? ich möchte Dich 
an der Spibe Deiner Gefährten ſehen.“ Das Kind ermiderte 


fenfzend: „Ah Mutter, Deine nublojen Thränen, die Du über 
(23) 


23 


meinen Tod vergieheft, halten mich zurüd. Höre auf, Dich 
einem jo unfrudhtbaren, blinden Schmerze hinzugeben, fei guten 
Muthes, und wenn Du mid wirklich liebft, wenn Du mir den 
Himmel öffnen willft, jo wende mir die Verdienfte guter Werke 
zu, laß heilige Meflen für mich leſen, bete felbft und gieb 
Almojen für mid. So kannſt Du mir Deine mütterliche Lebe 
bewetjen, jo wirft Du mid aus dieſem Leidendorte befreien 
und in die ewige Seligkeit einführen, wo ich unendlich glüd- 
licher fein werde, ald auf Erden.” 

Weit entfernt jedoch, ſpezielles Eigenthum der Germanen 
zu fein, findet fi) vielmehr, wie Ad. Kuhn gezeigt hat1!9®), 
diefer Glaube aud bei den Perjern und Indern. Nach dem 
Zend-Avefta verwehren die Zähren der Hinterbliebenen dem an 
der Todtenbrücke Anlommenden den Eingang in den Himmel, 
und das indilche Geſetzbuch Jäjnavalkya verbietet dad Weinen, 
weil der Sntichlafene wider Willen die Thränen, welche die 
Berwandten vergießen, genießen muB, wodurch er nah Kuhn's 
Vermuthung unrein und fo zum Cintritt in Jama's Reich un⸗ 
fähig wird. 

Wie aber Helgi die Thränen der Sigrän als frifches Blut 
in jeinem Herzen empfindet, fo fühlt diejelbe nady dem von 
Räckert überjebten indiſchen Gedichte Raghuvanſa der Ber: 
ftorbene als brennendes Feuer auf feiner Bruſt: 

Denn der Angehörigen ftetes Weinen 
brennt den Hingefchiedenen, alfo lehrt man!"N. 

War mithin diefer Glaube jenen drei indogermaniichen 
Stämmen jeit der Urzeit, wo fie noch nicht getrennt lebten, 
gemeinjam, fo liegt die Vermuthung nahe, daß wir ihm auch 
noch bei andern Völkern diefer Nafje begegnen werden. Und 
in der That führen, wie ich glaube, einige, wenn auch nur 
ſchwache Spuren dahin, daß er auch den Siaven, Griechen und 

(23) 


24 


Römern nicht ganz entſchwunden oder überhaupt unbelannt 
geweſen ift. 

In einem jerbifchen Vollöliedet 08) fragt eine Mutter jeb- 
weden Morgen am Grabe ihres einzigen Sohnes, ob ihn die 
Erde oder die Ahornblätter drüden. Aber aus der Tiefe haucht 
ed leiſe: 

Nicht die Erd’ iſt's, die mich drückt, o Mutter, 
nicht die Ahomblätter meiner Wohnung. 

Was mich quält, der Schmerz iſt's, der Geliebten! 
Wenn fie jeufzt, fo bangt der Seel im Himmel; 
aber wenn fie ſich verſchwoͤrt verzweifelnd, 

bebt die Erde und der Leib erzittert. 

Nach wendifhem Glauben raubt man dem Todten die Ruhe, 
wenn man auf feinen Sarg eine Thräne fallen läpt10?). 

Was die Griechen betrifft, jo begründet Charondad das 
ſchon erwähnte Verbot der Trauer um Todte mit dem Hinweis, 
daß ed eine Undanfbarkeit gegen die Untertrdiichen fei, um die 
Geitorbenen übermäßig zu klagen!10), und bei Lucian macht 
der wieder zum Leben erwachte Sohn jeinem maßlos trauernden 
Bater deswegen mit den Worten Vorwürfe: „DO Unglüdfeliger, 
was bereiteft Du mir Mnannehmlichkeiten (nämlich durch das 
Fammern)171)9“ In demfelben Sinne ruft Statins dem um 
den Verluſt eines Lieblingsſtlaven gewaltig trauernden Flavius 
Urſus zu: 

„Quid caram crucias tam saevis luctibus umbram“? 
und an einer andern Stelle dieſes Dichters fagt die im Sterben 
liegende Priscilla zum Gemahl: 

„Parce precor lacrimis, nec saevo concute planctu 

pectora nec crucia fugientem coniugis umbram ''?)*; 
während Zibull zwar von der Delia beweint werden will, ihr 
jedoch durch ſtärkere Trauerausbrüche jeine Manen zu verlegen 
unterfagt!12). 

(34) 


25 


Mit der Betrachtung der Klagen um die Verftorbenen ift 
erit eine Seite der Trauergebräuche erichöpft; eine zweite bleibt 
noh zu behandeln. Die Ausbrüche des Schmerzed find ihrer 
Ratur nach auf eine beftimmte, verhältnißmäßig kurze Zeit 
beichräntt, auch der wildefte Schmerz tobt fi aus, und gerade 
je heftiger und ftürmifcher die Aeußerungen defjelben find, um 
jo jchneller folgt die Abſpannung. Aber in der Seele des Leid- 
ragenden — und zwar je tiefer und wahrer der Schmerz ift, 
um jo länger und intenfiver — bleibt ein Gefühl des Ver⸗ 
laffenfeing und ein wehmüthiged Gedenken an den auf immer 
Entriffenen. 

„Doc, weinen werd’ ich bis bie Thränen mir verfiegen, 

Dann bleibt noch in der Bruft Dein ftilles Weh mir liegen ).“ 

Diefe Stimmung, welche je.nach der religiöfen Ueberzeugung 
ktoftlofer oder hoffnungdreicher fich geftaltet, kann natürlich auf 
dad Verhalten und die Lebensweiſe des Trauernden nicht ohne 
Einfluß bleiben. Bon dem Berluft des Angehörigen nieder: 
. gedrückt meidet er Fefte und Freuden, entfernt den Schmud, 
den er fonft zu tragen gewohnt ift, verzichtet auf mancherlet, 
das, viefleiht an und für fich bedeutungdlos, ihm für feinen 
Gemüthszuftand unangemeffen zu fein fcheint, und fondert ſich 
auf eine jchon äußerlich erfennbare Weiſe von feiner Umgebung 
ab. Aus diefer Duelle ftammen jene, die äußere Trauer regeln- 
den Gebräuche, weldye, obſchon urjprünglid aus natürlichen 
Regungen der fchmerzbewegten Bruft hervorgewachſen, allmählich 
zu bloß Tonventionellen Zeichen der Trauer wurden und, weil 
der Mode unterworfen, nach Zeiten und Bölfern wechſeln. 

Zwei Geſichtspunkte find demuach bier feftzuftellen: einmal 
nämlich ift der Urſprung foldher, zu bloßen Geremonien herab⸗ 
geiuntenen Gebräuche auf unmittelbare, von der Natur ein» 


gegebene Schmerzäußerungen zurüdzuführen; zweitens aber ift 
(35) 


26 


auch der Gegenſatz gegen die gewohhte Kleidung und Lebens⸗ 
weije ein leitendes Motiv gewefen. Lugentum mos est prioris 
habitus immutatio!15), 

Diefe beiden Sätze bewähren ſich und fogleih, wenn wir 
auf die Beitimmungen näher eingehen, welde die Haartracdht 
und Kleidung der Trauernden regeln. 

Daß BVerzmeifelnde fi) dad Haar ausraufen, werden wir 
bei Völkern mit leidenfchaftlicher Geberdenipracdhe in der Natur 
begründet finden, wenn wir bedenfen, dab Haupthaar und Bart 
vielfach ald der vorzüglichite Schmud des Manned angelehen 
werden. Aus diefer, und durchaus veritändlichen Schmerz» 
äußerung wurde aber ein lediglich Fonventionelle Zeichen, als 
man anfing, fihb Haar und Bart zum Ausdrud der Trauer 
abzufcheeren oder abzuſchneiden. Diejen Uebergang fünnen wir 
in den homeriſchen Gedichten verfolgen. Während in der Ilias 
Achill „dad Haar, mit den lieben Händen es zerraufend, entftellt“ 
und Helena wie Andromade um den todten Hector die Haare 
fih zerraufen!1®), lefen wir in der Odyſſee, dab die Trauernden 
das Haupthaar ſich jchoren!27). Hehn, weldyer hierauf aufs 
merkſam macht, jcheint mir jedoch mit der Bemerkung fehl- 
zugreifen, daß zur Zeit, als diefe Sitte auflam, „das Haar nicht 
mehr der Stolz ded Mannes war"118), Denn ald „Würde 
verleihenden Schmud ded reifen männlichen und des Greijen- 
alters“ wurde Haupthaar und Bart keineswegs nur in der ältern 
Zeit betradhtet!19). Außerhalb Griechenlands begegnet uns diejer 
Brauch bei den Semiten!?0), Perjern!21) und vielen Voͤlker⸗ 
Ichaften Afrikas, Amerikas und der Südſeen22). Den höchſten 
Grad der Beräußerlichung erreicht dieſe Sitte, wenn fie felbft 
auf Xhiere übertragen wird. „Bei dem Tode des großen 
Mongolen» Khans der goldenen Horde folten die Trauerzeichen 


überall hervortreten, jo daß felbft Die Schafe gefchorenwurden“ 122), 
(26) 


27 


Als der Neiterführer Mafiftiud bei Plataeae gefallen war, 
ſchnitten Mardonius und das ganze Heer nicht nur fidh felbft, 
ſondern andy den Pferden und Laftthieren die Haare ab1?*). 
Perfiihdem Vorbilde folgte Alerander der Große, ald er dem 
todten Hephaeftion zu Ehren Pferde und Mauleſel jcheeren ließ! *®). 
Nach dem Tode des Pelopidas fchoren die TheflalierihrePferbei2*), 
wie ſchon der in Pherae berrichende Admet wegen feiner für 
ihn geftorbenen Gattin Alceftid ten Roſſen die Mähnen batte 
abjchneiden lafjen!?”). — Umgekehrt pflegen die Völker, welche 
für gewoͤhnlich mit geſchorenem Haupte geben, zur Zeit der 
Trauer dad Haar wachſen zu laffen, wie unter den wilden 
Stämmen die Matpuri122) und die Sova! 29). Bon den Aegyptern 
erwähnt Herodot!3°), daß fie, mährend fie jonft fich fchoren, 
bei Zodesfällen im Gegenſatz zu den übrigen Menſchen Haupte 
haar und Bart wachſen ließen. Nach andern Nachrichten jedoch 
fchoren fie fich bei dem Tode des Apis:!212). — Als in vielen 
griechiichen Staaten durch Alerander den Großen ed gebräuchlich 
zu werden anfing, den Bart zu jcheeren, pflegten die Männer, 
wie fie e8 heute noch thun!3?), in der Trauerzeit den Bart lang 
wachſen zu lafjen. Bei den Hellenen, ſagt Plutarch, fchoren 
fi, fo oft ein Unglüdöfall eintrat, die Weiber, die Männer 
aber lieben dad Haar wachen, weil jene dad Haar lang zu 
tragen, dieſe ſich zu fcheeren gewohnt find!33), — Sn Rom 
trugen während der erften Jahrhunderte der Republik Alle langes 
Haupthaar und lange, dad Kinn und die Baden volllommen 
beichattende Bärte; als aber im Sahre 300 v. Chr. die eriten 
Burbiere aus Sieilten dahin gelommen waren, bürgerte fi) 
nach und nad) und, wie es fcheint, auch nur bei den Vornehmen 
die Mode ein, mit kurzgejchnittenem Haupthaar und rafirt ein⸗ 
berzugehen!?+). In Folge defjen fam e8 denn auch bier vor, 


dag man Haupthaar und Bart zum Kennzeichen der Trauer 
(a7) 





28 


wachen ließ, wie Gäfar auf die Nachricht von der Niederlage 
des Titurius, Auguftud bei der Kunde von der Vernichtung 
der Legionen ded Varus und Caligula nad) dem Tode der 
Drufilla135), 

Gegenwärtig fommt dieje Art der Trauerbezeugung, ab» 
gefehen von wilden Böllerichaften, noch vor bei den Perfern, 
welche 8 Tage lang nad dem Tode Haar und Bart wachſen 
laffen!3°), und bei dem zopftragenden Volk der Chinefen; als 
die regierende Kaiferin am 6. Yebruar 1842 geftorben war, 
durften der herkömmlichen Trauer gemäß die Officianten 100 
Zage lang ihren Kopf nicht fcheeren?! 37), und bei den auf Java 
lebenden Chinejen it ed, wenn ein Reicher feinen Geift auf- 
gegeben hat, jämmtlichen Söhnen verboten, ficy zu rafiren, fo 
lange die Leiche über der Erde fteht!??), 

Im Gegenja zur Haartracht unterliegt die Kleidung auch 
gegenwärtig noch für die Trauerzeit faft allgemein einem Wechſel. 
Mögen wir die Bekleidung „den älteften äfthetifchen Regungen 
des menſchlichen Geſchlechts129) oder andern Bemweggründen 
verdanfen, jedenfall hat fie ſchon früh nicht allein zur Ver⸗ 
hüllung des Körpers, fondern auch zum Schmude und Putze 
gedient. Wie aber beſonders die Frauen es lieben, durch praͤch⸗ 
tige Gewänder und Schmudjachen aller Art ihrer Erfcyeinung 
einen erhöhten Reiz zu geben, fo entfernen fie in den Tagen 
des Leided aus ihrem Anzuge alles Blängende und Koftbare, 
als einen läftigen Zeugen ihres früheren Glückes. 

Die Weiber der Tamanachier legen die Korallen, Perlen- 
und Mujchelichnüre ab140), Andromade riß voll Trauer über 
Hector’d Tod und die ihm zugefügte Entehrung vom Haupte 
den glänzenden Schmud und warf ihn weit von fih1*1). Bei 
Livius fagt M. Porciud Gato!42): „Was thun die Frauen 


ander8 in der Trauer, als dab fie den Purpur und den Gold⸗ 
(28) 


29 


ſchmuck ablegen’. Sn Rom erichienen die Beamten bei der 
Beftattung ohne die Infignien ihres Amtes, die fasces, den 
latus clavus und den goldenen Ring!*?), und in China werden 
jelbft die goldenen oder filbernen Rodinöpfe durch gläferne oder 
kryſtallene erjegt!**). 

Was nun die Trauertracht felbft betrifft, fo unterjcheidet 
fie fich theild durch den Stoff, theild durch die Farbe von der 
gewöhnlichen. Damit ihr alle Pracht fehlt, verwendet man zu 
ihr vielfady grobe und gewöhnliche Stoffe. Das hebräiihe Sad: 
tuch war ein grobed, härened Gewand!+5); die Chineſen Fleideten 
fih anfangs in grobe Sadleinwand, ſpäter in gemeine, baum⸗ 
wollene Zeuge!4%); auch bei und wird nur Wolle, nicht die 
glänzende Seide zum Trauergewande benußt. 

Sn der Wahl der Farbe, die auf unwilllürlicher, gefühld- 
mäßiger Deutung beruht, die ihr untergelegt wird, berricht bei 
den verjchiedenen Völkern Verichiedenheit. Die beiden verbrei- 
tetften Leidfarben find Schwarz und Weiß. In Schwarz, dad 
bei den Eingeborenen von Nordamerika in großer Allgemeinheit 
das Zeichen der Trauer ift!4?), trauerten die alten Aegypter, 
welche nach Serviud den Brauch, Kleider von diejer Farbe für 
die Tranerzeit anzulegen, aufgebracht haben! 48), die Hebräert+?), 
die Araber, welche fid, jedoch fpäter bimmelblauer Gewänder 
zur Trauer bedienten! 50), die Griechen! 1) und die Römer!>?), 

Römischen Einfluffe ift ed wohl zuzuſchreiben, daß trotz 
des entichiedenen Widerſpruchs der Kirchenväter!53) Schwarz die 
Leidfarbe faft aller chriftlichen Wöller geworden ifl. — Die 
ſymboliſche Deutung liegt nahe, wie das Licht ein Bild der 
Freunde, fo ift die Finfterniß ein Bild des Unheild und des 
Todes. Dunkel und jchwarz tft die Nacht und dad Reich der 
Zodten, welches ein weitwerbreiteter Glaube in den Weften ver- 
legt, wo die Sonne täglich hinabfinkt. 


(29) 


30 


Neben Schwarz ift Weiß, das uns vertrauter iſt als Sym⸗ 
bol der Reinheit, Unſchuld und Freude, in weiter Ausdeh⸗ 
nung auch ein Kennzeichen der Trauer. „Die weiße Tracht“, 
fagt Nohholz!5*), „bezeichnet den Völkern urfprünglich ein 
feierliched Snölebentreten und ein unergründlidyes Geheimniß 
des Wiederverſchwindens: Geburt und Tod, Freude und Leid. 
Den rein natürlihen Grund, der in diefer Farbenwahl urſprüng⸗ 
lich gelegen bat, ſah ſchon Klopftod ein und hat ihn in der 
Dde „an die Freunde” erklärt: 

„Do nichts Schreckliches hat der Geftorbene, nicht den Verweften jehen 
wir, ſeh'n nicht Gebein, 

ftumme Geftalt nur erblicken wir, bleiche. SIft denn des Maied Blume 
nicht auch und die Lilie weiß?" 

In einem großen Theile Afiend, in China, Anam, Siam! 55) 
und in Sapant36) ift Weiß die Leidfarbe; in dem zulebt genannten 
Lande dient jedoch auch Blau zum Zeichen der Trauer; denn 
Zfabella L. Bird’57) berichtet von dem Begräbniß eined japa⸗ 
nefiihen Buddhiften, bei weldyem die ZTrauerverfammlung in 
weiße und blaue, weite Gemänder gefleidet war und die Wittwe 
ein ichönes, blaues Seidenfleid mit einem Aermelmantel aus 
weiben Krepp und einem jcharladhrothen, goldgeftidten Gürtel 
trug. Auch bei den heutigen Parſen in Bombay folgen die 
Trauernden in weiber Kleidung der Teiche, welche von ſechs, bis 
auf ihre Schwarzen Schuhe ganz in Schneeweiß gehüllten Männern 
getragen wird158). Es bemalen fich ferner weiß zur Trauer die 
Omahaws in Nordamerika und die Auftralier, letztere entweder 
in mannichfaltiger Zeihnung am ganzen Körper oder nur mit 
einem Strich, der über Stirn, Nafe und Bade geht!5°). — 
In einigen Orten Griechenlands trauerte man ebenfalld in 
weißem Gewande, wie in Argos:0), während in Gambreion, 


einer Stadt an der Meinafiatifchen Küfte, ed den Männern frei- 
(30) 


31 


ftand, Dunkle oder weiße Kleider anzulegen!®!). Die Klagefrauen 
find noch heute gewöhnlich weiß gelleidet!®?). Auch in der 
römischen Kaiferzeit fommt ed vor, daß die Frauen in weißen 
Gewändern trauern!62). — Auch für die deutichen Stämme 
muß eine Zeit beftanden haben, in welcher die weiße Farbe dad Ab- 
zeichen der Trauer war; denn einmal deutet fie im Vollsaber⸗ 
glauben faft immer auf den Zod hHin!s*), und zweitens hat 
fi) die weiße Zrauertradht in abgelegenen Gebirgäthälern der 
Schweiz wie in Ortſchaften von Graubünden, Vorarlberg, Appen- 
zell u. a. v. O. bis jett erhalten!65); audy auf der Rügenjchen 
Halbinjel Mönchgut gehört zur tiefften Trauer ein weißes Kopf- 
tuh?s®). Daß ferner die alten Slaven Weib als Leidfarbe 
kannten, zeigen die weißen Tücher, welche noch jet die kaſſu⸗ 
biſchen und ferbiihen Weiber während der Trauer tragen und 
ganz um ſich jchlagen, jo daß die übrige Kleidung damit be- 
bedt wirdis7); und in der Laufitz heißt ed, daß Smertniba 
d. i. die Todesgöttin in weißem Anzug in den Dörfern umber- 
ſchweifen168). Ald lebten Nachklang diefer Beziehung der weißen 
Farbe betten wir, deren herrichended Feſt- wie Trauerkleid für 
alle Stände längft das jchwarze Gewand geworden iſt, den 
Zodten in Weib und wählen zu Grabblumen weiß blühende 
Pflanzen. — 

Bon den übrigen Trauerfarben erwähne ich noch Blau und 
Gelb. Außer, wie ſchon erwähnt, in Sapan gilt erftered als 
Zeichen der Trauer bei den Zürfen! 69) und in Aegypten, wo 
im weiblichen ZTrauergefolge die Verwandten und Hausgenoſſen 
des Berftorbenen durdy einen in der Regel blauen, um den 
Kopf gebundenen Streifen von Leinen, Baumwollenzeug oder 
Mouffelin und durch ein blaugefärbtes Tuch kenntlich find170); 
auch im katholiſchen Dberdeutichland ift Blau die kirchlich vor⸗ 


geichriebene, weibliche Trauertracht; die Frauen kommen daber 
(31) 


32 


zum Begräbnifje mindeftend in blauen Echürzen!?ı). — Gelb 
endlich, das auf des Lebend Ende und dad Verwellken der 
Blätter bindeutet, war, wie es fcheint, die Xeidfarbe der alten 
Selten; denn in der Bretagne, wo faft alle Druidengebräuce 
noch fo lebendig find, wie im Mittelalter und Alterthyum, wer⸗ 
den gelbe Wachskerzen zu beiden Seiten des unter dad Leichen- 
zelt gelegten Todten angezündet, und gelbe Hauben tragen die 
dem Leichenzuge ſich anſchließenden Frauen!??). Gegenwärtig 
dient Gelb in einigen afiatiichen Reichen zur Bezeichnung der 
ZTrauer!?3). — 

Htermit find die wichtigſten Krauergebräuche erſchöpft. Es 
bleibt zum Schluß nur noch diejenige Anjchauung über das 
Weſen des Todes zu betrachten, welche denfelben nicht als ein 
Hebel auffaßt, vor weldyem dem Menſchen grauen muß, und 
defien Opfer zu beklagen find, ſondern welche in ihm eine Er 
löſung von den unfer Leben umringenden Uebeln fieht und 
demgemäß die Geftorbenen als die allen Sorgen und Mühen 
Sntrüdten glüdlich preift. Bekannt find die Worte des Euri⸗ 
pides174): 

Wir ſollten bei dem Neugeborenen trauernd uns 
verſammeln ob der Leiden, welche ihn bedrohn, 
doch den Geſtorbenen, aller Noth Entronnenen, 
glückſelig preiſend froͤhlich bringen aus dem Haus. 

Dieſe Lebensauffafſung, welche in der griechiſchen und roͤmi⸗ 
ſchen Literatur in mannigfachen Formen fi ausfpricht1”5), bat 
ung hier zu beichäftigen, joweit fie in dad Denken und Leben 
ganzer Voͤlkerſchaften und Religiondgemeinichaften übergegangen 
ift. — 

Bon dem thrafiihen Stamm der Trauſen berichtet Hero- 
dot176), daß fie „im Hinblid auf die vielen Leiden und 


Schmerzen ded menfclichen Dafeind die neugeborenen Kinder 
(23) 


83 


mit Klagen begrübten, die Geftorbenen dagegen mit Luſt und 
Freude unter die Erde brachten, da dieſe von allem Uebel er- 
[öft in aller Glückſeligkeit fortlebten, und wegen eben dieſer 
Sitte ertheilt ihnen Valerius Maximus177) den Ruhm der 
Weisheit, da fie ohne die Vorichrift der Gelehrten „die wahre 
Beichaffenheit unferer Lage" durchſchaut hätten. Ohne Trauer 
und Klage beftatteten nach eben dieſem Gewährsmannı?®) auch 
die Maffitier ihre Zodten. 

Einen befonderd günftigen Boden für eine derartige Auf- 
fafjung des Lebens und des Todes bilden, wie es fcheint, Die- 
jenigen Zeiten, in welchen neuentftandene Religionen die Ges 
müther mächtig erregen und die Hoffnung auf daß felige und 
freudenreidyhe Xeben, welches fie den Gläubigen verheißen, in 
den Bordergrund ftellen und neu beleben. Ich denfe an den 
Islam und das Chriſtenthum. — 

Im Koran wird das irdiſche Leben bezeichnet ald ein „zer 
brechlicheö Geräth“, ald ein „Scherz und Spiel", ald ein „Bor: 
rath von Täuſchungen“, „deflen Verjorgung gering zu achten 
fei gegen die des zufünftigen“, welches allein „wahres Leben” 
und eine „Wohnung von fefter Dauer“ tft1?79). „Dort werden 
die Gläubigen in den von Waflerbähen durchffrömten Gärten 
geſchmückt mit goldenen Armbändern und bekleidet mit grünen 
Gewändern von- feiner Seide auf weichen Polftern ruben, aller 
denkbaren Genüſſe tbeilhaftig". Darum fteigen auch zu den 
Frommen in der Sterbeitunde oder beim Verlaſſen ded Grabes 
Engel herab und ſprechen: „Fürchtet euch nicht und ſeid nicht 
traurig, jondern freut euch des Paradiefes, das euch verheißen 
it” 180), 

Steht es aber jo um dad Diefjeitd und Senfeits, liegt in 
diefem der Schwerpunft, nach welchem jened gravitirt, fo kann 


es und nicht wundern, wenn Stimmen laut werden, welde die 
ax. 47. 3 (33) 


34 


Klage um die Todten mißbilligen und ganz entfernt willen 
wollen. 

Eine ſolche Denkart offenbart die von Rüdert in der Ha- 
mäja mitgetheilte fromme Anecdote!°1), „Als Dmar Ben 
Achattab den Mutammin die Todtenflagen über feinen Bruder 
Mälet vortragen hörte, ſprach er zu ihm; Sch wollte, du hätteft 
meinen eigenen Bruder Seid mit jolcher Todtenklage bejungen, 
wie Deinen Bruder! Allein jener (der inzwiſchen ein guter 
Moslem geworden war) antwortete: Wenn ich wüßte, daß mein 
Bruder (mit defjen Belehrung zum Islam es Tein rechter Ernft 
geweien war) an den Ort (des Paradieſes) hingelangt wäre, 
wohin Dein Bruder gelangt ift, fo würde ih ihn gar nicht 
beflagen"”. 

Damit ftimmt der von Baftian!22) angeführte Ausſpruch 
des im Sahre 762 n. Chr. geitorbenen Safi Bekr Ben Ab- 
dallahb EI Moferi: Wenn die Seele (des Geftorbenen) jprechen 
önnte, jo würde fie dies Heulen verbieten. Sie eilt zum Grabe 
in der Hoffnung dort frohe Botfchaft zu finden. Diefelbe An⸗ 
ſchauung kehrt in der Erzählung von 1001 Nadıt wieder! 2°), 
wo „Nbdallah von der See unwillig die Freundichaft mit Ab- 
dallah vom Lande abbricht, al8 er hört, dab die Bewohner des 
Landes ficy nicht freuen und fingen, wenn einer ftirbt, jondern 
trauern und weinen und ihre Kleider zerreiben.” Denn, fügt 
er binzu, da ihr doch jeder ein Pfand Gottes ſeid, wie Tann 
es euch nicht recht fein, wenn Gott jein Pfand zurüdnimmt, 
wie könnt ihr darum weinen? — 

Praktiſch bewähren diefe Ueberzeugung die Araber und 
Türken, die ed „als einen ftrafbaren Mangel von Ergebung in 
den goͤttlichen Willen betrachten, wenn Männer beim Tode von 
Plutöverwandten und Freunden weinen; darum bezeugen fie 

(%) 


85 


auch den Anverwandten von jüngft Verftorbenen Tein Beileid, 
jondern fegnen fie vielmehr"1%«), 

Audy dem ältern Chriftenthume war diefe Anſchauung keines⸗ 
wegs fremd. Ihm galt ja der Tod ald der Eingang zum himm⸗ 
lichen Leben, als der wahre Geburtätag der Gläubigen, an 
bem fie, wie Petrus Chrufologus! ss) fagt, „zwar nicht auf der 
Erde vom Fleiſche geboren würden, wohl aber von ber Erde in 
ben Himmel, von ber Arbeit zur Ruhe, von den Berfuchungen 
zum inneren $rieden, von den Qualen zu den nicht flüchtigen, 
ſondern feften, dauernden und ewigen Freuden und vom Gefpdtt 
der Welt zur Krone und zum Ruhme“. „Wenn das irdiſche 
Zelthaus zerftört ift, dann wußte man von Gott ein Gebäude 
bereitet, ein wicht mit Händen gemadhtes Haus, ein ewiges im 
Himmel"1°®), 

Da droben lebten dann die Heiligen mit dem Herm ver⸗ 
einigt ein feliged Leben in ewigem Frieden. Und im Vergleich 
mit diefem ewigen und volllommenen Frieden erſchien ihnen 
das Leben auf diefer Erde hoͤchft elend und traurig187) und 
eingedent bes apoftoliichen Wortes!8°), daB Sterben ein Ges 
winn fei, fehnten fie ſich auch wohl nady dem Ende diejer Pilger- 
fahrt und der Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit. „Die 
Erde wurde ein Sammerthal und Heimweh nach einer andern 
Belt dad vorherrfchendfte Gefühl der edelften Gemüther" 139), 
eine Borftellung von dem Verhältniß dieſes Lebens zum zu- 
fünftigen, die noch nachllingt, wenn wir mit Luther in der Er⸗ 
Härung der 7. Bitte des 3. Hauptftüdes Gott bitten, daß er 
und „mit Gnaden von diefem Sammerthal zu fi) nehme in 
den Himmel“. 

Bon diefem Glauben reden als gewichtige Zeugen zu und 
auch die chriftlichen Grabfteine, die fchon durch die Bezeichnung 


ded Zobeötages, den ald einen’ Unglüddtag heidniſche Grab⸗ 
5* (85) 


36 


ichriften nicht angeben, und durdy die für Sterben gewählten 
Ausdrüde wie „ruhen“, „vollendet werden“ u. a. die Ueber 
zeugung derer erfennen laffen, die fie fehten!?°). Noch deut⸗ 
licher aber wird fie, wenn wir dort leſen, daß der Tod die 
Mühen und Beichwerden des Lebens endet, von der Sünde 
befreit und den Zugang zum Himmel eröffnet!91). 

Als Conſequenz diefer Glaubendüberzeugung ergab es fidh, 
daß die Chriften die Klagen um die Todten aufzuheben juchten. 
Die angejehenften Kirchenväter, wie Tertullian, Cyprian, Chry⸗ 
joftomus, Hieronymus u. a. mihbilligten jede Art von Trauer 
und forderten von den echten Chriften, daß fie ſich bei dem 
Tode der ihrigen freuen follten'?2), „Denn ift ed nicht finn- 
108”, ſchreibt 3.8. Chryſoſtomus192) einer jungen Wittwe, 
„den Himmel zwar für viel befjer ald die Erde zu halten, aber 
doch diejenigen, weldye von hier dorthin gegangen find, zu bes 
weinen? Darum muß man über diejenigen, welche in den 
fihern Hafen eingelaufen find, nicht trauern, ſondern fogar ſich 
freuen.” 

Diefe Auficht wurde gewiſſermaßen officiel von der Kirche 
beftätigt durch die Aufnahme, weldye der die Trauer fchlechthin 
verbietende Beichluß des Concils zu Toledo in die Sammlung 
des kanoniſchen Rechts fand!9*). 

Daß aber dieſer Forderung überall nachgekommen iſt, und 
nie das Gefühl der Wehmuth und des Schmerzes in die Seele 
des Ueberlebenden ſich eingedrängt hat, iſt weder an fich wahr- 
ſcheinlich, noch erweislich; denn zu weinen um den Tod eines 
theuren Angehörigen ift in dem menſchlichen Gemüth tief bes 
gründe. „Wie kann es gefchehen", ruft Auguftin ausı95), 
daß der Tod der Menſchen, deren Xeben und durch den Troft 
der Freundſchaft ergößte, und feinen Kummer verurfadjen ſollte“. 


Nicht blos dieſer Kirchenlehrer hat feine Mutter, nicht blos 
(86) 


37 


Ambrofins feinen Bruder betrauert, ſondern auch die oben Ge⸗ 
nannten haben an anderen Stellen ihrer Schriften eine maß⸗ 
volle Trauer um den Berluft Angehöriger ald mit dem dhrift- 
lihen Glauben vereinbar geftattet!?*). Und aus den Grab- 
ihriften bat 3. Ritter!97) in der citirten Abhandlung den Nach⸗ 
weis geliefert, dab auch an den Gräbern der Chriften ed nicht 
gänzlich an Klagen gefehlt hat, in welchen die Ueberlebenden 
theils fich felbft, theils die Verftorbenen beweinen, ja daß jogar 
bittere Borwürfe gegen das Geſchick und Gott, durch die zärt- 
lich geliebte Perjonen dabingerafft feien, wenn auch nur jelten, 
jefbft bier von den Zurüdgebliebenen audgeftoßen werden. — 
Denn aljo Dryander!?°) jagt, daß „an den Chriftengräbern es 
feine andern Gedanken giebt, als den einer feligen Unſterblich⸗ 
feit, und daß bier überall nur die eine Hoffnung iſt: der Todes⸗ 
tag ift der Geburtötag für eine felige Ewigkeit‘, jo bat er 
offenbar durch feinen Eifer, ded älteren Chriftenthbums Sitten 
zu verherrlichen, fi) zu einer Behauptung hinreißen laſſen, die 
in diefer Unbedingtheit von den vorhandenen Urkunden nicht 
beftätigt wird. 


Anmerkungen. 

1) 3. ©. Müller: Geſchichte der amerikaniſchen Urreligion, ©. 73. 
Waitz: Anthropologie der Naturvölfer 1, 325; II, 194; III, 196. 

2) Waig: Anthropolegie II, 203. 

3) Meinerd: Allgemeine Eritifche Geſchichte der Religion. Hannover 
1807. II, 705. 

4) Deutihe Rundſchau. 1878. Heft IV, ©. 112. 

5) Germania, &. 27. 

6) Waiß a. a. D. III, 196. 

7) Andrei: Die Todtengebräuche ber verſchiedenen Völker der Vor⸗ 
ıud Seßtzeit. Leipzig 1846. ©. 234. 

(87) 


38 


8) Andrei a. a. D., ©. 237. 

9) Waig a. a. O. III, 330. 309, 59. 196. 

10) Peſchel: Voͤlkerkunde. ©. 495. 

11) Waitz a. a. O. III, 483 f. 

12) Watt a. a. O. III, 506. Gartenlaube 1879, Heft 7, ©. 427. 

13) Meiners a. a. O. J, 15. 

14) Baltian: Der Menſch in ver Geſchichte, II, 327. 

15) Waiß-Gerland, Anthropologie V?, 200. 

16) W. Sonntag: Die Xodtenbeftattung. Halle 1878. ©. 86. 

17) Waig-Gerland a. a. O. V°, 151. 

18) Andrei a. a. D., ©. 263. Deutſche Rundidau 1879. Heft 
x, ©. 141. 

19) Herodot IV, 71. 

20) Meiners a. a. DO. IL, 712. 

21) Wuttke: Geſchichte des Heidenthums. Breslau 1852. I, 189 f. 

22) Bei Servius zur Aeneis III, 67: „Damit fie Blut zeigen 
und dadurch den Todten Genüge leiſten.“ — 

23) Wuttke a. a. O. II, 149. 

24) Wuttke a. a. O. II, 141. Pfleiderer: Die Religion, ihr 
Weſen und ihre Geſchichte. Leipzig 1869. II, 181. i 

25) Wuttle a. a. DO. II, 143. 

26) Pfleiderer a. a. DO. II, 173. Spieß: Entwicklungsgeſchichte 
ber Borftellungen vom Zuftande nach dem Tode. Jena 1877. ©. 200 ff. 

27) Pfleiderer a. a. O. II, 172ff. Spieß a. a. O. 200. 202. 

28) Pfleiderer a. a. O. II, 182. 

29) Andre a. a. D. 32. 33. 

30) ©. Spieß: Die preufifhe Erpedition nad Oſtaſien während 
ber Sabre 1860-1862. S. 263. 

31) Properz V, 7, 23 f.: „Aber mir rief niemand bie brechenden 
Augen an: einen Tag hätte ich durch dein Zurückrufen erlangt.“ Ovid 
tristien 1. II, 3, 41f.: „Und nidt wirb dur die auf mein Antliß 
riefelnden Thränen der Gattin meinem Leben eine kurze Spanne Zeit 
hinzugefügt werden?” Servius zur Aeneis VI, 218. Vgl. Kirchmann: 
de funeribus Romanorum. Brunsvigae 1661. Ic. 13, 

32) Sonntag a. a. O., S. %. 

33) Herobot II, 85. Diodor ©. I, 72. 91. 

34) Döbel bei Klemm: Das Morgenland. Leipzig 1849. ©. 140f. 
Brugſch: Aus dem Orient. Berlin 1864. ©. 61. 

35) W. Sonntag a. a. D., ©. 57. 

(38) 


39 


36) Brugſch a. a. O., S. 4. Socin in Bäbelers: Egypten I, 169. 

37) ęucian: de Syria des $ 6. Duncker: Geſchichte des Alterthums. 
4. Aufl. ©. 275. Preller: Griechiſche Mythologie I, 272. 

38) Hejel., c. 27, 29—32 (nad) de Wette). 

39) Nahum 2, 8. 

40) Jeremias 48, 37. 38; vergl. Jeſaias 15, 2. 3. 

41) Hamäfa überfeßt von Br. Rüdert. Stuttgart 1846. T. IJ. 
Nr. 272; 274; 277, 287, 5. 296 u. 8. 

42) Sreytag: Einleitung in das Studium der arabiſchen Sprade. 
Bomn 1861. ©, 218f. Hamdfa Nr. 259, 2; 312, 3; 336. 382, 1. 

43) Ham, I, 305, 3; 335, 2; 336, 2. 

44) Ham. I, 36, 3; 297, 1; 300, 1; 340, 3; 352, Im. 6. 

45) Freytag a. a. O. ©. 218. Klagefrauen; Ham. I, 274, 6; 
324, 1. — ©. 25. — Zerreißen bed Gewandes: Dam. I, 259, 2; 
366, 1. — 

46) Spieß a. a. O. ©. 417. 

47) Herrmann Schulg: Altteftamentliche Theologie. Frankfurt a. M. 
1869. I, 396 ff. II, 165. Spieß a. a. D. 424. 

48) Palm 6, 6; 30, 10, | 

49) Hiob, C. 14, 7-10. C.7, 9f. 

50) 1. Kön. 13, 30; Serem. 22, 18; 34, 5. 

51) Kamphauſen in Riehm’s Bibel⸗Lex., S. 160. 

52) 2. Kön. 2, 12; 2. Kon. 13, 14. Sonntag 1. c., ©. 200. 

53) Freytag J. ©. 220. Dunder: Geſchichte des Alterthums, 
©. 248. 

54) 2. Chron. 35, 25. 

55) 2. Sam. 3, 34. 

56) 2. Sam. 1, 19—27, Irrthümlich verfteht Peſchel (Völker 
Imde, ©. 202) 2. Sam. (= 2. Kön. nad dem LXX) 1, 18 von ber 
Hebung im Bogenſchießen, die David für den Stamm Juda angeordnet 
babe; gemeint ift die Einübung bed nah v. 22 „Bogen“ genannten 
Zranerliebes. 

57) Matthäus V, 38f. Lucas VIII, 52. 

58) Seins Sirach 38, 18. Vgl. Kamphaufen a. a. D., ©. 160. 

59) Matthäus 9, 23. Seremias 48, 36. Bol. Jeſaias 16, 11. 

60) Jeremias 9, 16 f. 

61) Andrei, a. a. O. 234. Waitz a. a. DO. III, 196, 

62) Bambery: Reife in Mittelafien, ©. 259. 

63) Egypter. Dunder: Geſchichte des Altertbums I, 59. Araber. 

(89) 


40 


Freitag a. a. DO, ©.219. Griechen. Beder: Charikles II, ©. 180. 
Römer. Marquardt und Mommfen: Handbuch der römischen Alter- 
thümer VIL!, ©. 34 f. m. Anm. 

64) Kamphauſen a. a. O., ©. 161. 

65) Klemm a. a. O. ©. 141. 

66) Andrei a.a. D., ©. 355. 

67) Andrei a. a. D., ©. 356. 369. 

68) Andrei a. a. O., ©. 361. 

69) Baltian: Der Menſch in der Gejchichte II, 327. Wachémuth: 
Das alte Griechenland im neuen. Bonn 1864. ©. 112f. Arthur 
und Albert Schott: Walachiſche Märchen, S. 302. 

70) Rochholtz: Deutſcher Glaube und Brauch im Spiegel heidni⸗ 
ſcher Vorzeit I, 195. 

71) 1. Moſes 37, 29, 34; 3. Mofes 10, 6. 2. Sammelis 3, 
31; 13, 31. 2. Samuelis 1, 2. Klageliever 2, 10. Hiob 1, 20, 
Amos 8, 10. Seremias 16, 6. 

712) 2. Samuelis 3, 31; Serem. 6, 26. 

73) 3. Mofes 19, 28. 

74) Deuteron 14, 1. Jeſaias 3, 24 nebft Hikig 3. d. St. Sere- 
mias 16, 6; 41, 5. 

75) Klemm 1. c. ©.139. Andreä 1. c. ©. 287. 

76) 3.23, 9; Od. 4, 197. Db. 11, 54, 72. 

77) Ovid trist. III, 3, 40. 46. 

758) Ovid metam. 11, 670. 

79) Zibull II, 4, 43. 

80) Beder u. Marquardt: Handbuch der römijchen Alterthümer V, 
1 ©. 352. — Buhl und SKoner: Leben der Griechen und Römer. 
©. 338. 733. 

81) SI. 24, 719 ff. 

82) Lucian: de luctu $ 20. 

83) Herod. VI, 58. 

84) 31.18, 24 ff. 

85) 31.19, 282 ff. 

86) Ilias 22, 424 f. 24, 639f. 

87) Vergil Aeneis 11, 85 ff. 

88) Beder: Charikles IL, 177. 

89) Plutarch Solon C. 12 u. 21. 

90) Eicero: de legibus II, 23, 59; 25, 64: „Die rauen follen 
fih die Wangen nicht zerfleifhen, noch die Totenklage auftimmen.“ 


(40) 


41 


91) Kirchmann: de funeribus Romanorum II, c. 11 u. 12. 

92) Cicero: Tusculanae disputationes III, 26, 62: „Schmutz, 
das von den Frauen geübte Zerfleifchen der Wangen, der Bruft und der 
Schenkel und das Schlagen an den Kopf.” 

93) Luctan: de luctu $ 12. 19 

94) Plutarch: consolatio ad uxorem, c. 4. 

95) Wafh. Irving. Leben Muhammeds, ©. 160. 205. 

96) Andrei a. a. O., ©. 332. 

97) Irving: Leben Muhammeds, ©. 205. 159. 

98) Bei Auguftin: Denkwürdigkeiten aus der chriſtlichen Archäo- 
logie IX, 571. 

99) Auguftin a. a. D. IX, 571f. 

100) Edda, überjeßt von H. v. Wolzogen, ©. 260 f. 

101) Rochholz: Deutfher Glaube und Brauch I, 207. 

102) Nibelungenlied. Abenteuer 38, Str. 2239. 

103) Tacitus: Germania, ©. 27. 

104) Rochholz: Deutſcher Glaube und Braud I, 207. 

105) Rifignoli: Erbarmt eudy der armen Seelen im Fegfener. 
Paderborn. 3. Aufl. 1881. ©. 209. 

106) Zeitjhrift für deutihe Mythologie und Sittenfunde I (1853) 
©. 62. 

107) Rochholz a. a. D., ©. 208. 

108) Talvj: Volkslieder der Serben. Halle und Leipzig 1835. 
I, 67, vgl. ©. 274. 

109) Bedenftedt: Wendiſche Sagen, Märchen und aberglänbifcge 
Gebräuche. Graz 1880. ©. 450. 

110) Beder: Charikles II, 177. 

111) Lucian: de luctu 8 16. 

112) Statius: Silvae II, 6, 96f.: „Was quälit du den theueren 
Schatten durch jo wilde lage?” V, 1, 179 f.: „Uuterlaß, ich bitte, 
das Weinen, ſchlage nicht heftig deine Bruft und quäle nicht den ent- 
fliebenden Schatten.” 

113) Zibul I, 1, 67f. 

114) Rüdert: Hamaſa, Nr. 274, 4. 

115) Servins zur Aeneis XI, 93: „Es ift die Sitte ber Trauernden 
die Kleidung zu ändern.“ Plutarch quaestiones Romanae 14. 

116) Jlias 18, 27. 22, 406. 24, 710f. 

117) Odyffee 24, 46. 4, 197f. 10, 567. 


118) Hehn: Kulturpflanzen und Hausthiere, ©. 460. 
XX. 457. 3** (41) 


42 


119) Becker: Charikles II, 380 ff., 387 ff. 

120) Phönicier. Heſekiel 27, 31. Lucian: de dea Syria, c. 6. 
Araber. Freytag: Einleitung, S. 219. Hebräer. Amos 8, 10. Je⸗ 
ſaias 22, 12. Jeremias 7, 29; 16, 6. 

121) Curtius: de rebus gestis Alexandri M.X, 5. Herodot 
IX, 24. 

122) Afrika. Waitz II, 194. Amerika. Wait III, 196. 387. 
Sübdſee. Wait-Gerland V?, 153. Sonntag a. a. DO. 85. 89. 

123) Baftian: Der Menjch in der Geſchichte II, 328. 

124) Herodot IX, 24. 

125) Plutarch: Pelopidas, C. 34. Alexander, C. 72. 

126) Plutarch: Pelopidas, ©. 33. 

127) Euripides: Alceftis B. 428 f. 

128) Andres a.a. D., ©. 238. 

129) Waiß a. a. O. III, 196. 

130) Herodot II, 36. III, 12. | 

131) Lucian: de dea Syria $6. de sacrificüs $ 15. 

132) Wachsmuth a. a. D., ©. 124. 

133) Plutarch: Quaestiones Romanae 14. Becker: Charifles II, 
201. 389 f. 

134) Plinius: Naturalis historie VII, 59, 211. Guhlu. Koner: 
Das Leben der Griechen und Römer, ©. 587. 

135) Sueton: Zulius Cäfar, C. 67. Auguftus, C. 23. Galigula, 
C. 24. 

136) Meiner a. a. D. II, 702. 

137) Andreä a. a. D. 49. 

138) Zeitfchrift der deutſchen Morgenländifchen Geſellſchaft IX, 816. 

139) Peſchel: Vöolkerkunde, ©. 181. 

140) Andrea a. a. O., ©. 238. 

141) Zlias 22, 468 ff. cf. V. 406. 

142) Livius IX, 7. 

143) Tacitus Annalen III, 4. Livius IX, 7. Marquardt und 
Mommfen a. a. DO. VII! 346. Die fasces, ein Ruthenbündel aus 
dem ein Beil bervorragte, waren das Symbol der Herrichergemalt, 
während ber latus clavus, ein der Tunica eingewebter breiter Purpur- 
faum, das Abzeichen des Senatorenftanded war. 

144) Andrei a. a. O. ©. 47. 

145) ©. Baur zu Pjalm 30, 12. 

146) Meinerd a. a. D. II, 704. 

(42) 


43 


147) Waitz a. a. O. I, 365. 

148) Servius zur Aeneis XI, 287. 

149) Kamphaufen in Riehms Handwörterbud des biblifchen Alter- 
tbums. ©. 836 423. Hitzig zu Jeſaias 20, 2. 

150) $reytag a. a. D., ©. 219. 

151) @uripides: Helena, V. 1088. Iphigenia A., V. 1439. 
Plutarch: Pericles, C. 38. In den homeriſchen Gedichten wird bie 
ſchwarze Trauerkleidung noch nicht erwähnt, wenn man nicht eine Hin⸗ 
deutung auf fie darin finden will, daß Thetis im Kummer um Adhill, 
dem vor Troja zu fallen beftimmt if, mit jchwarzem Gewande be- 
Meibet in die Goͤtterverſammlung geht. Ilias 24, 94. 

152) Suvenal IX, 245. Ovid. Metamorphojen VIII, 448. 
Properz V, 7, 28. V. Kirhmann a. a. O. II, C. 17. 

153) Auguftin: Denfwürbigfeiten IX, 573. 

154) Rochholz a. a. O. J, 133. 

155) Waitz a. a. O. I, 365. 

156) Andrei a. a. O., ©. 70. 

157) 3. L. Bird: Unbetretene Reifepfade in Sapan I, 222. 

158) I. Jolly: Eine Reife nad Oftindien. Deutſche Rundſchau. 
1884. Heft 7 (April), ©. 46. 

159) Waitz a. a. O. I, 365. 

160) Plutarch: Quaestiones Romanae 26. 

161) Schömann: Griechiſche Alterthümer II, ©. 546. 

162) Wachſsmuth a. a. O., ©. 113. 

163) Plutarch: Quaest. R. 26. Herodian IV, 2, 3. 

164) Wuttke: Der deutiche Volksaberglaube der Gegenwart $ 285 
und 325. 

165) Rochholz a. a. ©. I, 138. 

166) Tribüne, Feuilleton v. 2. Auguft 1881. 

167) Schwend: Die Mythologie der Slawen, ©. 305. 

168) Schwend a. a. D., ©. 274. 

169) Waitz a. a. D. I, 365. 

170) Bäbdeler: Egypten. 1877. ©. 169. 

171) Rochholz a. a. O. J, 198. 

172) Edermann: Mythologie I, 41f. 

173) Waitz a. a. O. I, 365. 

174) Euripides: Fragmenta ed Nauck, No. 452. 

175) $riedländer: Darftelungen aus der römifchen Sittengefchichte 
II, 651. 

(43) 





44 


— —— — — — 


176) Herodot V, 4. 

177) Valerius Maximus II, 6. 

178) Valerius Maximus II, 6. | 

179) Koran über]. ». Ullmann. Sure 3, ©. 52; 6, ©.95; 29, 
©. 343; 57, ©. 473; 29 ©. 343; 40 ©. 406. 

180) Koran. Sure 18, ©. 243; 22, ©. 280; 35, ©. 375. 

Sure 3, ©.53; 4, ©. 56 u. öfter. 

181) Hamäfa I zu Nr. 258, ©. 293. 

182) Baftian: Der Menſch LI, 328. 

183) 1001 Naht, arabifche Erzählungen. Deutih von Xler. 
König, Bd. VI. cf. Tylor: Anfänge der Cultur II, 105. 

184) Meiners 1. c. 11, 699f. 

185) Petr. Chrysol. serm. 129. 

186) II. Cor. V, 1. 

187) Augustin de civ. Dei 19, 20. confess. 9, 10, 24. 

188) Phil. I, 21, 23. OD. Cor. V, 8. . 

189) Haſe: Kirchengeſchichte. U. 3. ©. 76. 

190) 3. Ritter: de compositione titulorum christianorum se- 
pulcraliam in corpore inscriptionum Graecarum editorum. Pro» 
gramm des Kgl. Soachimth. Gymn. 1877. ©. 11. 24f. 

191) 3. Ritter a. a. O., ©. 28—30. 

192) Auguftin a. a. O. IX, 570. 

193) Chrysostomus ed Dübner I, 194. 

194) Auguftin a. a. D. IX, 571. 

195) Auguitin: de civitate Dei XIX, 8. 

196) Auguitin: Confeffiones IX, 12, 29 u. 33. Auguftin a. a. O. 
IX, 571. 

197) 3. Ritter a. a. O. 26 ff. 

198) Dryander: „Ein Bejuh in den römifchen Katakomben“ in 
„Deutich » evangeliihe Blätter” von Beyſchlag und Walters. Jahr⸗ 
gang II, Heft 2. 


(44) 


Drud von Behr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


Bon dem neuen XIV. Iahrgange (1835) von: 


Deutſche 


reif. 
. N Sa Kennkniß Ar, 
8 gode In Verbindung mit "a, * 


Prof. Dr. v. Aluckhohn, Redacteur A, Lamımers, 
Prof. Dr. 3. 8. Meyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


berandgegeben von 
Franz non Holtzendorff. 


(Heft 209 — 224 umfalfend (im Abonnement jedes Heft nur 75 Pfemige) 
find ausgegeben: 


Heft 209. uf Berta) Deutihland und fein Reichskanzler gegenüber dem 
eifte unjerer Zeit. 


.» 310. Zittel (Karlsruhe), Die Revifion der Lutherbibel. 


Serner werden nad) und nach, vorbehaltlich etwaiger Abänderungen im Ein: 
jeluen, folgende Beiträge veröffentlicht werden: 


Zhun, Freiburg i. Baden), Bilder aus der ruffifchen Revolution (Fürſt Krapotkin, 
Stepkanowitih Scheljäbom). 

v. Waltershauſen (Göttingen), Die Zukunft des Deutſchthums in den Vereinigten 
Staates von Amerika. 

&g (Berlin), Klaus Groth und die plattdeutiche Dichtung. 
önborn (Bredlau), Das höhere Unterrichtöwejen in der Gegenwart. 

(Wettingen), Das Referendum in der Schweiz. 

Natel (Diiuuchen), Die praftiiche Bedeutung der Handelsgeographie. 

» chet, F., Nationalitäten und Spracenverbältniffe in Defterreidh. 

Finfelnburg (Bonn), Die Cholera-Dnarantaine. 

v. Holtzend (Münden), Staatsmoral und Privatmoral. 

Sud ( —3— Volkswirthſchaftslehre und Ethik. 

Haushofer finden), Kleinhandel und Großinduſtrie. 

Staudinger (Worms), Die evangelifdhe Freiheit wider ten Materialismus bes 
Bekenntnißglaubens. 

dv. Orelli (Zũrich), Der internationale Schuß des Urheberrechts. 
d, (Mainz), Das rüdfällige Verbrecherthum. 

ner (Berlin), Neber den Zufall. 
vÄan Swinderen (Groningen), Proftitution und Mädchenhandel. 
Siewert (Kiel), Die Lage unferer Eeeleute. 


III 








„ Mit diefen beiden Sammelwerten, welde ſich gegenjeitig er: 
ganzen (denn Borträge und Abhandlungen, welche von der „Sammlung“ and 
geihloffen find, bilden bet den „Zeitfragen“ das Hauptmotiv), dürfte eine bisher 
tief empfumdene Rüde wirklich ausgefüllt werben. 

Die Sammlung bietet einem Sedem die Möglichkeit, ich über die verfchiedenften 
Grgenftände des Wiſſens Aufllärung zu verihaffen und ift uch micderum fo recht 
geeignet, den Familien, Vereinen ıc. durch Borlefung und Beſprechung des Ge: 
leſenen reihen Stoff zu angenehmer und zugleich bildender Unterhaltung zu liefern. 

 berfelben werben afle beionders hervortretenden wifjenihaftlichen Jutereſſen unſerer 

Zeit at. ale: Bioarapbien berühmter Männer. Schildernnarn 


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ulturgeijhichtlihe Gemälde, phyſikaliſche, aſtronomiſche, chemiſche, 
botaniſche, zoologiſche, nhnfiologiiäie, arzneiwiffenihuaftlihe Bor: 
träge: und erforderlihen Falls durh Abbildungen erläutert. Nein politifche 
und kirchliche Partei-Fragen der Gegenwart bleiben ausgeſchloſſen (ſ. Zeitfragen). 


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umfajfend), find nad) wie vor zum Subjcriptionspreid Serie I & 13,50 Mark brodh., 
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Het 25 —30; 31 —36; 37 —42; 43—48. — Serie IIL: Heft 49-54; 55—60; 
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Heft 97 — 102; 103— 108; 109—114; 115-120. — Serie VI.: Heft 121-126; 
127—132; 133-138; 139—144. — Serie VIL: Heft 145 - 150; 151 - 156; 157— 
162; 163—168. — Serie VII: Heft 169 - 174; 175—180; 181— 186; 187—192. 
— Serie IX.: Heft 193-198; 199 - 204; 205—210; 211-216. — Serie X.: 
Heft 217— 222; 223— 228; 229-- 234; 235— 240. — Serie XL: Heft 241-246; 
247—252; 253 258; 259-264. — Serie XIL: Heft 265-270; 271-276; 277 — 
282; 283-288. — Serie XIIL: Heft 289-294; 295—306 (6 Mark); 307 - 312. 
— Serie XIV.: Heft 313- 318; 319-330 (6 Mart); 331—336. — Serie XV.: 
Heft 337—342;, 343—348; 349354; 355—360. — Serie XVI.: Heft 361—372 
(6 Mark); 373—378; 379-384. — Serie XVIL: Heft 385—390; 391—396; 
397—402; 403—408. — Serie XVIO.: Heft 409—414; 415—420; 421—426; 
427 —432. 

Die Zeitfragen find ganz beſonders dazu angethan, dk, die Gegenwart beſon⸗ 
ders berübrenden &ntereffen in einer den Tag Überdauernden Form ung in allgemein 
verftändficher Weiſe vor Augen zu führen und geben fomit Gelegenheit, ſich über die 
brennendften Tagesfragen ein erſchöpfendes Verſtändniß zu verſchaffen. Diejelben 
nehmen fih die großen Angelegenbeiten der Gegenwart, die Streit: 
fragen der Schule und des Unterrichts weſens, der Arbeiterbewegung, 
der Kirche, der Riteratur und Kunft, des Staated und der aus: 
wärtigen Politik zc. ıc. zum Gegenftande ihrer Betrachtung. 

Die Jahrgänge I- XIII, Heft 1— 208 umfafjend, find complet brod). à 12 Marf, 
eleg. geb. in Halbfrangband a 14 Mark nad; wie vor füuflih. Bon den früheren 
Jahrgängen I— XII können je vier Hefte auf einmal nad) folgendem Modus für 
3 Markt bezogen werden: 

Jahrgang .: Heft 1—4;5—8;9 — 12; 13— 16.— Jahrgang IL.: Heft 17— 20; 
21-24; 25—28,; 29-32. — Sahrgang II: Heft 33—36; 37—40; 41--44; 
45-48. — Jahrgang IV.: Heft 49-52; 53-56; 57-- 60; 61-64. — Jahr⸗ 
gang V.: Heft 65-68; 69-72; 73-76; 77-80. — Jahrgang VI.: Heft 81 
—84; 85—88; 89-92; 93-96. — yanrgan VIL: Het 97—104 (6 Mar; 
106-108; 109—112. — Ighrgang III. Heft 113-116, 117- 120; 121—128 
(6 Mark). — Jahrgang IX.: Heft 129 - 132; 133—140 (6 Marh); 141- 144. — 
Jahrgang X.: Heft 145— 148; 149— 152; 153— 156; 157 — 160. — Sahre= 

ang XI.: Heft 161—164; 165—168: 169— 172; 173— 176. — Jahrgang * 
Det 177-180; 181—184; 185—138; 189—192. 


Proſpekte, enthaltend zwei Verzeichnifſe der bisher erfhienenen Hefte der 
Sammlung und Beitfragen, welche aud apart zu ten beigeiebten Preifen 
fäuflich find, und zwar 


2 Nach Serien und Jahrgängen geordnet, 
2) Nach den Wiffenfchaften geordnet, 


(cd wird bei den sub 2 verzeichneten Heften, bei weldhen die vollftändigen Titel 
angegeben find, auf die innerhalb der einzelnen Materien gewährten günftigen 
Bezugsbedingungen aufmerffan gemacht) find Durch jede Buchhandlung zu beziehen. 


Bu DBeitellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. "ug 
Abonnement bei jeder Buchhandlung. 
Berlin SW., 33 Wilhelmftraße 33. 


Earl Babel. 
(&. G. Lũderitz'ſche Verlagsbuchhandlung.) 








Sammlung - -—_, 
gemeinverftändlicher J 
+. ran 944 9— 
wiſſenſchaftlicher Vorträge, 


herausgegeben vvr —⸗ 


Aud. Virchow und Fr. von Holtzendorff. 


— — —. — — — 





XX. Gerie, 


(Heft 457 — 480 umfaffend.) 


“ Seft 458. 


Galilei. 


Bon 


Zudmig Pilgrim. 


GH 


Berlin SW. 1885. 


Berlag von Carl Habel. 
(EC. 8. Tüberity'sche Berisgsbucphendiang.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


3 


D 


> &8 wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zn beachten. u Diefelben 


ilten, das Programm der neuen XX. Serie (18 7 der Aammlung, fowte das 
e 


Jahrganges (1885) der Keit⸗Fragen. Genaue Inhalts-Berzeichniffe 


fr Kir — und Jahrgängen“ und nad „Millfenfchaften“ 


uchhandlung gratis zu beziehen. 


Einladung zum Abonnement! 


Die Zury der „Snternationalen Ausftellung 

a von Gegenftänden für den häudlihen und A & 

\ gewerblichen Bedarf zu Amfterdam 1869" ugs: 

- bat diefen Vorträgen die Owen 2.3 

Goldene Medaille 
zuerlannt. 





Bon der XX. Serie (Bahrgang 1885) der 
Sammlung gemeinverjländlicher 


wiffenfdafflider Borfräge, 


herausgegeben von 


Rud. Virchow und Sr. non Holtzendorff. 


Heft 457 —480 umfalfend (im Abonnement fees Heft nur 50 Yfenige) 
find erſchienen: 


Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die XTodten bei den 
dverjchtedenen Voölkern. 
„ 458. Pilgrim (Ravensburg), Galilei. 


Borbehaltlih etwaiger Abänderungen werden jodann nad) und nad) and: 
gegeben werden: 


Gränbanm (Münden), Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 

Schumann (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender des XIII. Jahrhunderts. 

Seel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrich d. Großen zur Oumanität im Kriege. 

Engelhorn (Maulbronn), Die Pflege der Irren fonft und jet. 

Zſchech (Hamburg), Giacomo Leopardi. 

Hoffmann (Gera), Der Einfluß der Natur auf die Kulturentwidiung der Menfchen. 

Czekelius (Hermannftadt), Ein Bild aus der Zeit der Gegenreformation in 
Siebenbürgen. 

Frensberg (Saargemänd), Schlaf und Traum. 

Goetz (Waldenburg b. Bafel), Die Nialsfaga, ein Epos und dad germaniſche 
Heidenthum in feinen Anklängen im Norden. 

Kronecker (Berlin), Die Arbeit des Herzens und deren Quellen. 

Möſch (Heilbronn), Der Dichter Horatius und feine Zeit. 

Dames (Berlin), Geologie der norddeutihen Ebene. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 

@erland (Kaflel), Thermometer. 

Trede (Neapel), Das geiftlihe Schauspiel in Süpditalien. 

Virchow (Berlin), Ueber Städtereinigung. 

Enfienhardt (Hamburg), Aus dem gejelligen Leben des XVII. Sahrhunderts. 

Zreichler (Züri), Politiihe Wandlungen der Stadt Zürid. 

Sommer (Blanfenburg), Die pofttive Philojopbie von A. Comte. 


IB 


© 


Galilei. 


Ludwig Pilgrim. 


t Behelung des neuen Iahrganges 1885 bitte fich dieſes Beftelzettels bedienen zu wollen. 


Hierdurch beitelle ich: 


Erxempl. Sammlung gemeinverfiändfiher wiſſenſchaftlicher 
Boriräge, herausgegeben von R. Virchow und Sr. u. Holkendorff, 
Jahrgang 1885, 24 Hefte (à 50 Pfennige) umfaſſend. 


„tum: Wohnung: Name: 


Einladung zum Abonnement! 


Die Zury der „Internationalen Ausftellung 

& von Gegenftänden für den häuslichen und? An & 

\ gewerblichen Bedarf zu Amfterdam 1869" F—— 

: bat diefen Vorträgen die wien RL 

Goldene Medaille 
zuerkannt. 





Bon der XX. Serie (Sahrgang 1885) der 
Sammlung gemeinverfländlicher 
wiſſeuſchaftlicher Borfräge, 


herausgegeben von 
Rud. Virchow und Sr. non Holkendorff. 
Heft 457— 480 umfallend (im Abonnement jedes Heft nur 50 Dfennige) 
find erichtenen: 


Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Todten bei den 
verfchiedenen Bölkern. 
„ 458. Pilgrim (Navensburg), Galilei. 


Borbehaltlih etwaiger Abäuderungen werden fodann nad) und nad and: 
gegeben werden: 


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Zur Zeſtellnug des nenen Jahrganges 1885 bitte ſich diefes Beftellgettels bedienen zu vet 
Bücher -Veftellzettel. in 


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—R 2 


An die Buchhandlung von 








© 


Galilei. 


Bon 


Endwig Pilgrim. 


CH 


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v 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(C. ©. Kaderity'sche Beriagsbuh handlung.) 
8. Bildelm-Gtraße 33. 


[® 


Das Recht der Meberfegung in fremde Spraden wirb vorbehalten. 


Von Italien ging die Bewegung aus, welche beftimmt war 
die Finfterniß des Mittelalterd zu durchbrechen. Der göttliche 
Dante war ed, ber durch feine unfterblichen Werke die Blicke 
wieder auf das Alterthum hinlenkte. Petrarka's Geift hauchte 
den Dichtern des alten Roms wieder neues Leben ein. 

Der Fall von Konftantinopel im Jahre 1453 bewirkt, daß 
viele griechiiche Gelehrte nach Stalien wandern, wojelbft fie den 
Dhilofophen des alten Hellad Eingang und Anerkennung ver: 
ſchaffen. Mit dem Verftändniß für das klaſſiſche Alterthum 
wächft aud der Sinn, ja die Begeifterung für die von ihm 
hinterlaffenen Werke. Eifrig beichäftigt fieht man die Jünger 
ber Kunft, die Meberrefte ber Vergangenheit dem Boden zu 
entreißen, dem Boden, der fie verborgen hielt bis zu einer Zeit, 
bie ihrer würdig fein würde Die gewaltigen, ja faft über- 
menſchlichen Heroen der Kunft treten auf und hinterlaffen ber 
Menichheit Werke, die noch heute mit der ganzen Macht 
ihöpferiicher Genialität den mit Staunen und Bewunderung 
erfüllten Betrachter zu fich emporheben. 

Die Kirhe vermag dem Andrang folder Zitanen Teinen 
Widerftand zu leiften. Wir jehen, daB der Geiſt des Alterthums 
auch an dem römifchen Hofe mehr und mehr Eingang findet. 
Unter Leo X. gleicht Rom mehr der heidnifchen Kaiſerſtadt als 
der Stadt, in der von dem Stuhle Petri aus der Menichheit 


IX 458. 1* (47) 


4 


Einfachheit der Sitten und Weltentſagung geprebigt wird. Die 
frommen Seelen de3 ganzen Abendlandes müſſen beiftenern, 
um dem päpſtlichen Stuble einen Glanz zu verleihen, der dem 
Prunke und der Ueppigkeit der Beherrſcher des alten Roms 
faum nachſteht. Die Strafe für die VBerwilderung ded Klerus 
ließ nicht lange auf ſich warten. 

Luther nimmt in Rom wahr, wie man fidh über bie 
dummen Deutichen luftig macht, deren Gewiflen ald Geldquelle 
benutt wird. Im Sabre 1517 legt der heldenmüthige deutſche 
Mönd den Grundftein der Reformation, indem er die 95 Säße 
an die Schloßfirche zu Wittenberg anichlägt. 

Während ſich die Menjchheit mehr und mehr von Dem Joche 
eined Klerus befreit, dem ed nur um die eigene Macht und 
Herrlichkeit zu thum war, während in Deutichland die Reformation 
an Boden gewinnt und die Macht der Päpfte ihrem Untergange 
nabe fcheint, entfteht der von dem Spanier Ignaz von Loyola 
1540 geftiftete Sefuitenorden. Der Papft Paul II. fieht den 
Orden, der fi) ihm bedingungslos zu Füßen wirft, als eine 
Hilfe vom Himmel an. 

Der Stifter des Ordens verband mit glühender Phantafie 
und religiöfer Begeilterung ein bedeutendes Organifationstalent 
und war wohlbefannt mit den Schwachheiten ber Menſchen. 
Auch die Ausnugung diefer Schwächen jollte eine Stübe des 
Syſtems werden, als deſſen Ziel fich die Weltherrfchaft der Päpfte 
oder bie Herrichaft des Drdens durch die Päpfte allmählid, heraus» 
bildete. Zählte auch die Geſellſchaft Jeſu unter ihren Mitgliedern 
mandhe, deren Edelmuth und Opferwilligkeit oder deren wifjen- 
ichaftlihe Tüchtigkeit uufere volle Anerkennung verdient, fo 
verlor die Leitung des Drdend das angegebene Ziel doc, niemals 
aus den Augen. Bald machte ſich der Einfluß der Sefuiten geltend. 
Am 21. Juli 1542 verlündigte eine papftlihe Bulle die Er- 


(48) 





5 


richtung eines oberften Inquifitionsgerichtähofs in Rom nad 
dem Mufter des ſpaniſchen Offiziums, jchauerlichen Angedentens. 
Die Macht ded Gerichtähofs wuchs zuſehends, alle Staaten 
 Staliend nahmen das Snftitut auf. Schon im Jahr 1543 er- 
folgte die Beftimmung, daß ohne die Bewilligung ber Inquifi» 
tion Fein Buch gedrudt werden dürfe. Nicht lange ließen die 
Opfer der Inquifition auf fi warten. Im Sabre 1550 wurde 
Sanino da Faenza zum Tode verurtheilt und Domenico bella 
Bafabianca verbrannt. Diele follten ihnen nachfolgen. Wenn 
auch manche, ihre Meberzeugung nicht aufgebend, den Scheiter- 
haufen bejtiegen, manche in den Kerfern der Inquiſition ſchmach⸗ 
teten und andere, von Laufchern und Spähern umgeben, ihre 
Gedanken in fich verichließen mußten, fo erreichte die Snquifition 
dennody nicht daß Ziel, die gefammte Menfchheit an ein ſtarres 
Dogmenſyſtem anzuketten. 

Während in Italien auf allen jebititändigen Geiftern das 
Joch der Suquifition laftete, während alle Anftrengungen ge: 
macht wurden die Wiſſenſchaft wieder zum Monopol des Klerus 
zu machen, wurde am 18. Februar 1564 Galileo Galilei zu 
Piſa geboren; an demjelben Tage, an dem Michelangelo Buo⸗ 
narottt aus dem Kreiſe der Lebenden fchied. Galilei ftammt 
and einer angejehenen florentinijchen Familie aus der verjchie- 
dene Männer hervorgegangen waren, die ſich um die Republik 
Florenz Verdienfte erworben hatten. Vincenzio Galilet, der 
Bater des großen Aftronomen wird noch heute in der Geſchichte 
der Muſik als der erfte erwähnt, der einzelne Scenen für Solo« 
gefang mit Begleitung eined einzelnen Inftrumentes komponirte. 
Dadurdy wurde er zum Borläufer der Dratorien- und Opern⸗ 
Komponiften. — Seine Abhandlungen über theoretische Mufit 
waren von Einfluß auf die muflfaliihe Welt feiner Zeit. 


Auch auf anderen Gebieten war Bincenzo Galilei erfahren. 
(49) 


6 


Sn der griechifchen und lateintihen Literatur war er zu Haufe 
und in der Geometrie bewandert. Sn feinen Schriften ſpricht 
fih ein unabhängiger Geift aus, der gegen den herrjchenden 
Autoritaͤtskultus ankämpft. 

So reich der Vater Galileo's am geiſtigen Gaben war, jo 
arm war er an irdiichen Gütern. Um für fi) und die Seinigen 
den nöthigen Unterhalt zu erwerben, widmet er ſich daher dem 
Handelöftande. Wir finden ihn im Jahre 1564 in Pila, wos 
jelbft er Handelögefchäfte betrieb, ald ihm von feiner Gattin, 
Julia, ein Sohn, der in der Folge jo berühmt gewordene Ge 
lehrte, gejchentt wurde. Bald nad der Geburt des Sohned 
fehrten die Eltern nad) Florenz zurüd. Schon frühe äußerten 
fih bei dem jungen Galileo befondere Anlagen für die Wiffen- 
fchaft, in der er fo Großes zu leiften beftimmt war. In feinen 
Mußeftunden finden wir ihn damit beichäftigt, aus den ein- 
fachften Gegenftänden, die ihm zufällig in die Hände kamen, 
Mafchinenmodelle zu fonftruiren. Vincenzio unterließ es nicht, 
feinem Sohne eine gediegene, feinem Stande gemäße Erziehung 
zu Theil werden zu laflen. In den alten Sprachen wurde 
Galileo in einer von einem Profeffor Borghini gehaltenen 
Schule unterrichtet. Zu gleicher Zeit ertheilte ihm fein Vater 
Unterriht in der Mufil. Auch hier zeigte Galileo Talent und 
brachte e8 bald zu einer bedeutenden Fertigkeit im Lautenfpiel. 

Nachdem Galileo feine humaniftifchen Studien vollendet 
hatte und auch in der Beredtſamkeit unterrichtet worden war, 
murbe ihm von einem Möndye des Kloſters Ballombrofo Unter- 
richt in der fcholaftifchen Dialektik ertheilt, in welcher bie Klofter- 
lehrer jehr bewandert waren. — Auberdem lernte er Zeichnen 
und Perſpektive. Die Väter des Stiftes Vallombroſo wollten 


den talentvollen Füngling für ihren Orden gewinnen. ®altleo’s 
(50) 


7 


Bater war aber damit nicht einverftanden und entfernte ihn aus 
dem Klofter, ein Augenübel vorjchügend. 

Urſprünglich follte fih Salileo dem Tuchhandel widmen, 
der damals viel Geld nach Florenz brachte. Der Handel ſollte 
der verarmten Familie der Galilei wieder aufhelfen. Vincenzio 
Galilei änderte jedoch feine Abfichten, als er bei feinem Sohne 
hervorragende Begabung für die Wiffenfchaften wahrnahm. Da 
der Erwerb nicht aus dem Auge gelaffen werden durfte, jo 
wurde beſchloſſen Galileo Mediziner werden zu lafien. Für 
dieſen Beruf, mit dem damald bedeutende Cinuahmen ver- 
bunden waren, entichteb fich der lernbegierige Süngling nicht 
aus Neigung, jondern um den Wuͤnſchen feines Vaters zu ent- 
Iprechen. In feinem achtzehnten Lebensjahre bezog Galileo Die Uni⸗ 
verfität Pifa. — Anfangs widmete fi} der junge Student mit 
Eifer den medizinifhen Studien, doch bald genügte ihm dieſe 
Wiſſenſchaft nit mehr, nachdem er ihre damals unficheren 
Grundlagen erkannt hatte. Dies hatte zur Folge, daß er ſich 
eingehender mit der Philofopbie beichäftigte. — Die Lehrer der 
Philoſophie an der Untverfität Piſa gehörten faft ausſchließlich 
der Icholaftifchen Richtung an; fie legten ihren Unterfuchungen 
und Betrachtungen die Bibel und die Schriften des Ariftoteles 
zu Grunde und fuchten deren Inhalt zu erläutern und ald noth⸗ 
wendig zu rechtfertigen. Ein einziger, Jacopo Mazzont von 
Selena, hatte Kenntnib von den Schriften der andern Philo⸗ 
ſophen des Alterthums. 

Der vorwärts drängende Geift des eifrigen Studenten 
widerftrebte dem ftarren Sefthalten eines veralteten Standpunkts. 
— Der junge Philofoph entdedt unklare Stellen im Ariftoteles, 
e3 gelingt ihm, Fehler aufzudeden und falſche Säte zu wider: 
legen. Dieb beitimmt ihn die peripatetifche oder Ariftoteliiche 


Philoſophie zu verlaffen und fi dem Studium der übrigen 
(1) 


8 


Weiſen ded Alterthums zu widmen. — Vornehmlich beichäftigt 
ihn Plate. — 

Dald fühlt fi) Galilei ſtark genug in öffentlichen Dispu⸗ 
tationen manche peripatetiiche Anficht anzugreifen. Daß er fidh 
Dadurch nicht die Gewogenheit der Mehrzahl der Lehrer erwarb, 
darf und nicht Wunder nehmen in einer Zeit, da man den 
Ariſtoteles, wie die Bibel, für unfehlbar hielt, und alle philo⸗ 
ſophiſchen Spefulationen darauf ftüßte. 

Die ſcharfe Beobachtungsgabe Galilei’8 für Naturerfchei- 
nungen wird durch folgende Erzählung jeined Schüler8 und 
Biographen Biviani gelennzeichnet: Im feinem 20. Xebensjahre 
finden wir ihn im Dome zu Piſa; — ed ift nicht die Andacht, 
bie feine Gedanken bewegt, feine ganze Aufmerkſamkeit wird 
von einer Hängelampe, die zufällig in Schwingungen geratbhen 
war, in Auſpruch geuommen. Indem er die Zahlen feiner Puld- 
ſchläge während der einzelnen Schwingungen vergleicht, entdeckt 
er die Unveränberlichleit der Schwingungddauer eines Pendels. 

Obwohl Galilei in den meiften Wifjenichaften umfafjende 
Kenntniffe aufzuweifen hatte, war ihm doch bi8 zu feinem 
zwanzigften Lebensjahre die Geometrie fremd geblieben. Da 
ereignete ed fihh, daB der toskaniſche Hof auf einige Zeit nad 
Piſa kam. Unter dem Gefolge befand fidh der Pagenhofmeiiter 
Ricci, ein tüchtiger Mathematiker und Freund der Familie Galilei. 
Nicht Selten ſehen wir Galilei bei Ricci. — Eined Tages beiuchte 
er feinen Gönner, als diejer den Pagen Unterricht ertheilte. 
Laufchend bleibt Galilei an der Thür ftehen; was er vernimmt 
zieht ihn dermaßen an, daß er feine heimlichen Bejuche wiederholt 
und fih .von da an hauptfächli mit Mathematik beichäftigt. 
Endlich gefteht Galilei feinem Lehrer den heimlich geuoſſenen 


Unterricht ein und bittet denjelben um weitere Förderung in der 
(53) 


9 


von ihm mit Begeifterung aufgenommenen Wiſſenſchaft. Ricci 
läßt fi dazu bewegen. — Als Bincenzio Galilei erfuhr, daß 
fein Sohn auf Koften des Hippofrate8 und Galenus ſich dem 
Studium des Euklides widmete, bot er alle8 auf, denfelben von 
diefem Studium, das er für wenig nubbringend hielt, abzu- 
bringen. Doch ein Geift wie derjenige unſeres Galilei läßt fi 
nicht bewegen, das Arbeitsfeld zu verlafjen, auf dem er beftimmt 
war, fo berrliche Früchte für das Wiſſen der gefammten Menſch⸗ 
heit zu erzielen. 

Er erreicht es, daß fein Vater ihm die Erlaubniß ertbeilt, 
fih ausſchließlich der Mathematik und Naturwiſſenſchaft widmen 
zu dürfen, obwohl es dieſem nicht leicht wurde bei ſeiner 
großen Familie, den Sohn lange ftudiren zu laſſen. Auch war 
eine Bewerbung um eine der 40 Freijtellen an der Univerfität 
ohne Erfolg geblieben. Letzteres war wohl dem Neide und der 
Mißgunſt derjenigen zuzujchreiben, die in dem hochbegabten 
Studenten einen überlegenen Gegner ſahen. Nach 4 jährigem 
Studium mußte Galilei die Univerfität verlaffen, ohne den 
Doktorgrad erwerben zu fönnen. Diefer Zitel wurde ihm erft 
dann von dem Großherzog verliehen, ald man ihm eine Pros 
feffue an der Univerſitat Pifa übertrug. Zu Haufe angelangt 
jebt Galilei feine Studien for. In verhältnipmäßig kurzer 
Zeit gelingt ed ihm, fidy das ganze mathematijche Wiſſen feines 
Zeitalterd anzueignen. Bald eröffnet der junge Gelehrte einen 
lebhaften Briefwechſel mit den hervorragendften Mathematikern 
Italiens, unter denen ſich der Marchefe Guidobaldo dal Monte 
und der Sefuitenpater Clavius von Bamberg beſonders aus⸗ 
zeichneten. 

Dem erfteren ift es zu verdbanfen, daß dem 25 jährigen 
Galilei im Sommer 1589 eine Profeflur für Matbhematit an 


der Aniverfität Piſa anf die Dauer von 3 Jahren übertragen 
(5% 


10 


wurde. Sn bdiejer Zeit beichäftigt ſich Galilei vornehmlich mit 
der Unterfuhung mechanifcher Probleme und mit ber Anftellung 
von phyſikaliſchen Verſuchen. Während bet anderen Lehrern 
der Phyſik fi) alles um die Lehren des Ariftoteled drehte, 
machte Galilei auf die Unrichtigfeit der meiſten phyſikaliſchen 
Sätze dieſes Philofophen aufmerkfam. 

Um die widerjprechenden Ariftoteliichen Profeſſoren zu über⸗ 
zeugen, entichloß ſich Galilei, öffentlich Verſuche anzuftellen. 
Groß war dad Erftaunen nnd der innere Groll der hochgelahrten 
Herrn, die nur gewohnt waren mit logiichen Spibfindigfeiten 
zu fämpfen, als fie ſich durch den Augenfchein überführt fahen. 

Damald ſchon legt Salilei Zeugniß ab von der Schöpfer- 
fraft jeined Genius, indem er die nach ihm benannten allge 
ſetze aufftelt und die Wurfbewegung erklärt. Durch dieje Ent⸗ 
deckungen und Betrachtungen wird Galilei zum Ausgangspunkt 
einer neuen Aera der Naturwiſſenſchaften. Seine Unterſuchungen 
führen ihn zu dem Ausſpruch: „Wer die Bewegung nicht 
veriteht, erfennt die Natur nicht.“ 

Zu diefer Zeit lebte ein Prinz Giovannt dei Medici, der fich den 
Wiſſenſchaften und Künften widmete. Da e8 einem fo hohen Herrn 
nicht an Schmeidhlern fehlt, fo darf es und nicht auffallen, daß man 
ihm keinen Mangel an Eitelkeit nachjagen konnte. Dieſer Prinz 
hatte eine Baggermaſchine entworfen, mittelft welcher der Hafen 
von Livorno von Schlamm befreit werden folltee Der Grob» 
berzog Ferdinand wollte die Majchine nicht ausführen laffen, 
ehe Galilei fein Gutachten abgegeben hätte. — Der erfahrene 
Phyſiker wies nach, dab die Mafchine ungenügend und erfolglos 
jet. Der ganze Grol des gekränkten und von ben Feinden 
Galilei's aufgeftachelten Erfinderd wendet fi} nun gegen ben 
Sachverſtändigen, der nach feiner Meberzeugung geurtheilt hatte. 
Mittelft verjchiedener Intriguen erreichen es die Gegner Galilet’s, 


(54) 


11 


dab nach Ablauf der drei Fahre fein Lehrauftrag nicht mehr 
beftätigt wurbe. Der feined Amtes verluftige Gelehrte wendet 
fih daher an feinen großmüthigen Beichüger, den Marchefe 
Guidabaldo dal Monte, damit diefer die Bewerbung Galilei’s 
um den erledigten Lehrituhl für Mathematik an der Univerfität 
Padua unterftüße. 

Am 2. Zuli 1591 ftarb Galilei’d Vater, fo daß die ganze 
Fürforge für die zablreihe Familie dem pflichttreuen Sohn 
anheimfiel. Galilei begtebt fich nad) Venedig und erreicht eß, 
dat ihm die erwähnte Profeffur in Padua übertragen wird. Im 
Dezember 1592 tritt er fein neued Amt an und hält vor einer 
großen Berfammlung feine Snauguralrede. Der florentiniiche 


‚ Gelehrte entfaltet in feiner neuen Stellung eine außerordentlich 


vieljeitige Lehrthätigfeit und thut fi auf verſchiedenen Gebielen 
als Schriftiteller hervor. Cr jchreibt eine Aufſehen erregende 
Abhandlung über Feſtungsbau. Auch verfaßt er mehrere 
Schriften über Aftronomie und Gnomonik. Sein eingehendes 
Studium der Aftronomie führt ihn dazu, die vielfach ange 
griffene Anficht der Pythagoräer und des Kopernikus über die 
Stellung und die Bewegung der Erde für zutreffender zu halten, 
als die des Ariftoteled und Ptolemäus. 

Kopernitus nahm an, die Sonne ftehe ſtill und die Pla- 
neten, zu denen auch die Erde gehört, bewegen fich um diejelbe, 
während fi die Erde in täglicher Umdrehung um ihre eigene 
Achſe bewegt und der Mond die Erde umkreiſt. Ptolemäus 
dagegen ging davon aus, daß die Erde till ftehe, während ſich 
der Mond, die Sonne und die Planeten um dieſelbe bewegen. 
In fpäterer Zeit dachte man fich jedes diejer Geftirne an einem 
befonderen fugelförmigen Kryſtallhimmel angeheftet. Ein weiterer 
Kryſtallhimmel wurde zum Träger ſämmtlicher Kirfterne augerjehen. 
Zerner wurde angenommen, das Ganze werde durch das Primum 


12 


Mobile täglich um die Erde gedreht. Sehr jchön giebt Galilei feinen 
Standpunkt in einem Schreiben an Johannes Kepler zu erfennen, 
in weldyem er dem dentichen Aftronomen für die Zufendung eineß 
feiner Werfe dankt. Er fagt darin: „Sch preife mich glüdlich, 
in dem Sudyen nach Wahrheit einen jo großen Bundesgenoffen 
wie Di und mithin einen gleichen Freund der Wahrheit jelbft 
zu befiben. Es ift wirklich erbärmlich, daß e8 jo wenige giebt, 
die nad) dem Wahren ftreben und die von ber verkehrten Mes 
thode zu pbilofophiren abgehen möchten; aber es ift hier nicht 
am Plate, die Sämmerlichleit unjerer Zeit zu beflagen, fondern 
Dir zu Deinen berrlihen Erforſchungen, welche die Wahrheit 
befräftigen, Glüd zu wünſchen. Ich werbe Dein Werk getroft 
bed Audgangs lefen, überzeugt, viel Bortreffliched darin zu 
finden. Sch will ed um fo lieber thun, als ich ſchon feit vielen 
Sahren Anhänger der Kopernilaniihen Meinung bin und mir 
diejelbe die Urſachen vieler Naturerfcheinungen aufllärt, welche 
bei der allgemein angenommenen Hypotheſe ganz unbegreiflich 
find. Ich babe zur Widerlegung der lebteren viele Beweis 
gründe gefammelt, doch wage ich ed nicht, fie an's Licht der 
Deftentlichkeit zu bringen, aus Furcht das Schickſal unjeres 
Meifterd Kopernitus zu theilen, der, wenngleich er ſich bei einigen 
einen unfterblihen Ruhm erworben bat, dennoch bei unendlich 
vielen (denn fo groß iſt die Zahl der Thoren) ein Gegenftand 
der Lächerlichleit und des Spottes geworden tft. Wahrlich, 
ich würde ed wagen, meine Spekulationen zn veröffentlichen, 
wenn ed mehr foldhe, wie Du bilt, gäbe. Da dies aber nicht 
der Fall ift, fo ſpare ich ed mir auf.“ 

Sn feiner Antwort rieth ihm Kepler, feine Arbeiten in 
Deutichland zu veröffentlichen. 

Nachdem Galilei fein Amt ſechs Jahre laug verjehen hatte, 


während welcher Zeit er den Proportionalzirfel und das Thermo» 
(56) 


13 


meter erfand, wurde ihm feine Profeffur auf die Dauer von 
weiteren 6 Jahren verliehen und fein Gehalt von 180 auf 320 
Fiorint (640 Mark) erhöht. Galilei forgte nicht nur für den 
Unterhalt feiner Mutter und Gefchwifter, jondern übernahm auch 
die Audftattung feiner Schweftern Birginia und via, als die 
eine ſich mit Benedetto Landucct, die andere mit Taddeo Ga⸗ 
letti vermählte. Auch unterftüßte er feinen Bruder Michelangelo, 
als diefer in den Dienft eines polnischen Grafen ging. 

Galilei's Ruf verbreitete fich immer wetter, von aller Herrn 
Ländern Tamen lernbegierige Sünglinge herbei, um fich bei dem 
berühmteften Lehrer jeiner Zeit zu unterrichten. Sn der Na⸗ 
tionalbibliothek zu Florenz findet man noch jeht ein von Galilei’s 
eigener Hand geſchriebenes Verzeichniß ber Koftichüler, die er 
in den Sabren 1602—1609 bei ſich beherbergt hatte. Bon Galilet 
fann man nicht jagen, daß er ein trodener grübelnder Gelehrter 
gewejen. Im Gegentheil, er liebte fröhliche Gefellfhaft und 
Scherz, ja er war es zumelft, der den heiteren Ton angab. 
Seine Balanzen brachte er oft auf den Villen der venetianifchen 
Edelleute zu, wo er ftet3 ein gern gejebener Gaft war, und 
jeder fich glücklich jchäßte, dem es vergönnt war, die Beredt⸗ 
ſamkeit Galilei's zu genießen. Auch verftand er es, durch jeine 
muſikaliſche Begabung fih zum angenehmen Gejellichafter zu 
machen. Sowohl die heitere, ald auch die ernite Dichtlunft 
waren ihm nicht fremd, wie aus verjchiedenen komiſchen Ge» 
dichten und aus feinen Randbemerkungen zu Torquato Taſſo's 
Gerusalemme liberata zu erjeben ift. Auch in der Malerei war 
er nicht unerfahren. 

Unterdefien nahte bie Zeit, in der Galilei den Schleier 
lüften jollte, der das Weſen des Weltalld den Augen der Men« 
ſchen verbarg. Das Inftrument mit dem er dad Dunkel durdy 


brady, war das Fernrohr. Wie er zur Anwendung und Her⸗ 
(7) 





14 


ftellung deſſelben gelangte, geht aus einem Schreiben an feinen 
Schwager Landucci hervor: „Ihr müßt alfo wiffen, daß vor 
ungefähr zwei Monaten ſich bier das Gerücht verbreitete, es jet in 
Flandern dem Grafen Moriz ein mit ſolcher Kunftfertigleit ber» 
geftellte8 Augengla8 überreicht worden, daß dasſelbe die ent- 
fernteften Gegenftände ald ganz nahe erjcheinen ließ, wie man 
denn auf eine Diftanz von zwei Miglien einen Menſchen genau 
erfennen könne.“ 

„Diejer Erfolg dünkte mich dermaßen wunderbar, dab er 
mich veranlaßte darüber nachzufinnen, und indem ed mir fchien, 
derjelbe ftüßte fich auf die Perjpeftivlehre, dachte ich über die 
Art der Berfertigung nad), weldye mir endlich jo volllommen 
gelang, daß ich ein Augenglad zu Stande brachte, welche den 
Ruf des flandrifchen noch weit übertrifft.” Bald verbreitet fih 
die Nachricht von der Herftellung des Fernrohrs in Venedig. 
Galilei wird von der Signoria aufgefordert, das Snftrument 
vorzuzeigen und begiebt fid) am 23. Auguft 1609 nach Venedig. 
Bon dem Glodentyurm von S. Marco aus labt Galilei die 
Senatoren und Edelleute der Stadt durch fein Fernrohr in’s 
Weite jehen. Wie groß mag ihr Erftaunen gewefen jein, als 
fie durch dad Fernrohr Schiffe wahrnahmen, die man erft zwei 
Stunden jpäter erfannte, wenn fie dem Hafen mit vollen Se» 
geln zuftenerten. Die ganze Stadt kam durch diefed Ereigniß 
in Aufregung, alles drängte ſich während zweier Tage zu dem 
Thurm. 

Galilei überreichte dem Senat fein Fernrohr ald Geſchenk. 
In dankbarer Anerkennung feiner Berdienfte verlieh die Republif 
ihrem Profeflor deu Lehrftuhl für Mathematik an der Univerfität 
Padua auf Kebendzeit mit einer Erhöhung feines biöherigen 
Gehaltes von 520 auf 1000 Fiorint (2000 ME.). Galilei kehrte 
nah Padua zurüd. Dort fam ihm der Gedanke, der allein 


(68) 


15 


binreichte, feinem Namen Unfterblichleit zu verleihen, der Ge⸗ 
danfe, das Fernrohr yegen den Himmel zu richten. Es war 
natürlich, daß er zuerft den Mond in’d Auge faßte. Wie muß 
er überrajcht geweſen fein, ald er auf deſſen Oberfläche Uneben- 
beiten, Berge und Thäler erkannte, der herricheuden Anficht 
wideriprechend, ver Mond wäre volllommen glatt. Die Mildy- 
ftraße Löfte fi) dem fpähenden Forjcher in unzählige Sterne auf. 
Als er fein Fernrohr auf den Jupiter richtete, entdedte er drei 
Monde, welche diejen: Planeten umfreijen und ſechs Tage jpäter 
den vierten. 

Galilei, nicht eingedent der fchlechten Behandlung, welche 
ibm von Seiten der Mediceifhen Fürftenfamilie zu Theil ger 
worden war, giebt den entdedten Zupiter-Zrabanten den Namen: 
Medicei'ſche Sterne.” Died hatte übrigens noch andere Be⸗ 
weggründe. Der vielbeichäftigte Profeflor ging damald mit dem 
Gedanken um, wenn möglich feine Stellung in Padua mit einer 
anderen zu vertaujchen, die feine Zeit weniger in Auſpruch 
nehmen würde. Neben feiner biöherigen Thätigfeit war es ihm 
nicht moͤglich die großen Pläne, welche er in Bezug auf bie 
Riffenfchaft gefaßt hatte, zur Vollendung zu führen. 

Der Durdforiher des Himmeldraumes that feine Ent- 
deckungen der Mitwelt fund in einer Schrift, dem „Sternenboten, ” 
weldye anfangs März 1610 iu Venedig erſchien. Kepler jagt 
von diejem Werke: „Salilei habe darin Zeugniß von der Goͤtt⸗ 
lichleit feines Genius abgelegt." Bon der hohen Bedeutung des 
Werkes für die Aftronomie überzeugt, veranftaltete Kepler eiuen 
Abdrud davon in Prag. Das Werk, welches nicht im Einklang 
ftand mit der peripatetiichen Philofophie, fand viele Gegner. Der 
yeripatetijche Fanatismus ging jo weit, daß einige behaupteten, 
die von Galilei Tonftruirten Fernrohre zeigten Dinge, die gar 
wicht eriftirten. Andere weigerten ſich burch das Teleſkop zu 


(59) 


16 


bliden. Gejare Cremonino und Librt leugneten die Entdedungen 
Galilei's a priori. Als letzterer im Dezember 1610 ftarb und 
noch auf dem Sterbebette gegen die „Albernheiten" Galilei's 
proteftirte, äußerte der beletdigte Aftronom, — daB jener ftarre 
Gegner feiner „Albernbeiten” diefelben, da er fie niemald von 
der Erde jehen modyte, vielleicht jebt bei feinem Durchgange 
zum Himmel ſchauen würde. 

An Kepler findet Galilei einen Freund, der ihn verſteht und 
dem gegenüber er ſich offen ausſprechen kann, er ſchreibt dem 
deutſchen Aftronomen: „Du biſt der Erſte und beinahe der 
Einzige, der ſelbſt ſchon nach einer flüchtigen Unterſuchung der 
Dinge, vermöge Deiner unabhängigen Denkungsart und Deines 
erhabenen Geiſtes meinen Angaben vollkommen Glauben bei⸗ 
mißt. Kümmern wir uns nicht um die Schmahungen des 
großen Haufens; denn gegen Jupiter ſtreiten auch Giganten, 
geſchweige alſo Pygmäen vergebens. Jupiter ſteht am Himmel, 
mögen ihn die Sykophanten anbellen, wie fie wollen. Was ift 
zu thun? Wollen wir ed mit Demokrit oder mit Heraflit halten.” 

„Sch denke, mein Kepler, wir ladyen über die auögezeichnete 
Dummheit des Pöbeld. Was fagft Du zu dem eriten Philo- 
fophen der hiefigen Fakultät, denen ich taufendmal aus freien 
Stüden meine Arbeiten zu zeigen anbot, und die mit der trägen 
Hartnädigfeit einer vollgegefjenen Schlange niemald weder Pla- 
neten noch Mond noch Fernrohr jehen wollten. Diefe Gattung 
Leute glaubt, die Philofophie fei irgend ein Buch, etwa wie die 
Aeneide oder Ddyfjee, und man müfje die Wahrheit nicht im 
Weltraum, nicht in der Natur ſuchen, fondern in der Ber- 
gleihung der Zerte." Im April 1610 finden wir Galilei in 
Piſa, wojelbit er dem Großherzog Eofimo V und vielen anderen 
bedeutenden SPerjönlichkeiten die neu entdedten Wunder bed 
Himmels vor Augen führt. Bei diejer Gelegenheit knüpft Ga- 


(60) 


17 


Kilei die Unterhandlungen an, die ihn zu einer Stellung führen 
jollten, in der er ungeftört den Wiffenfchaften leben könnte. Cr 
erreicht ed, daß er zum erften Mathematiker des Großherzogs, 
ſowie der Univerfität Piſa ernannt wird, ohne Verpflichtung in 
Pila zu wohnen oder dort Vorlefungen zn halten. Als Gehalt 
wurden ihm 1000 Scudi angefeßt, während fein Einkommen in 
Padua fi einfchließlich der Einnahmen durch Koftichüler u. f. w. 
auf dad Doppelte belief. 

Galilei verläßt Padua, die Stadt, in der er 18 Sabre lang 
ſo erfolgreich gewirkt hatte. Zugleich verläßt er den freien Staat, 
in welchem er alö freier Gelehrter lebte, um fortan ein Fürften- 
diener zu werden. Sein Schüler und Freund Sagredo fchreibt 
ihm: „Hier in Benedig hattet Ihr jenen zu befehlen, welche 
jelbft gebieten, und Niemanden zu dienen ald Euch ſelbſt.“ Sa- 
gredo ahnt die Gefahren, welche Galilei’8 warteten in einem 
Staate, der fich widerftandslos dem römiſchen Einfluß überlieh. 
Die ftolze Republit, in der ein Fra Paolo Sarpi ungeftraft fein 
Haupt gegen die römifche Hierarchie erheben Tonnte, hätte Galilei 
nicht der Inquifition ausgeliefert, wie es fpäter in Florenz ges 
ſchah. Zunähft konnte Galilei feinen Tauſch nicht beflagen. 
Mit Eifer febte er feine Beobachtungen und Studien fort. 
Dabei entdedte er die Sichelgeftalt ded Planeten Venus, womit 
er dem Kopernilaniichen Syſtem eine bebentende Stübe ver 
ſchafft. Schon in Padua hatte Galilei die Sonnenfleden ent- 
det, und fie dem Pater Sarpi auf weißem Papier, auf dem er 
dad Sonnenbild des Fernrohr's auffing, gezeigt. Auch hatte ex 
Ihon damals die Arendrehung der Sonne nachgewiefen. 

Wir haben gejehen, daß die Zahl der Gegner Galilei’3 viel 
größer war, als die Zahl jeiner Berehrer. Sowohl um den Einfluß 
feiner Widerfacher entgegenzutreten, ald auch mit der Abficht, 
feinen Entdedungen bei maßgebenden Perjönlichleiten Anerkennung 

XX. 458, 2 (61) 


18 


zu verfchaffen, entſchließt ſich Galilei nah Rom zu reifen. Rache 
dem feine Abreife durch Krankheit verzögert worden war, bes 
giebt er fih im März 1611 nad Rom, mit trefflichen Fern⸗ 
tohren ausgerüftet. Großes Auffehen erregt der florentinijche 
Aftronom bei den Gelehrten Roms. Bon allen Seiten wird 
er hochgeehrt. Der Cardinal del Monte jchreibt an den Große 
berzog Sofimo II. „Wenn wir nod in jener alten römiſchen 
Republik lebten, fo glaube ich fidher, man hätte ihm eine Säule 
auf dem Gapitol errichtet, um die Vorzüglichkeit jeined Werthes 
zu ehren.” Die von dem Fürſten Cefi vor ſechs Jahren gegründete 
Accademia dei Lincei ernennt den berühmten Gaft zum Mitgliebe. 

Ze mehr dad Anfehen Galilei’8 wuchs und feine Ent- 
dedungen Anerfennung fanden, um jo größer wurde die Er- 
bitterung der Ariftoteliter, welche zufehends an Boden verloren. 
Was fie hauptſächlich aufbrachte, waren die fichtbaren Beweis» 
gründe, gegen weldye ihre Sophiftif feine Macht hatte Sm 
ihrer Verzweiflung riefen fie die Autorität der heiligen Schrift 
zu Hülfe, un die wanfende Autorität des Ariftoteles zu ftüßen. 
Ein junger fanatiiher Mönch, Sitio, war der Erfte, welcher in 
einer Anfangd 1611 in Venedig herausgegebenen Schrift — 
die gegen den Sternenboten gerichtet war — behauptet, die Eriftenz 
der Supitermonde fei mit der heiligen Schrift nicht vereinbar. 
Um dem Werk wirkſame Unterftübung zu verjchaffen, widmete 
ed der Verfaſſer dem Feinde Galilei's, Giovanni dei Medici. 
Der grobe Aftronom lächelte über den blinden Eifer des Sitio. 
Biel gefährlicher waren ihm die geheimen Umtriebe, welche in 
Florenz felbft vor fich gingen. In dem Palaft des Erzbiſchofs 
Marzimedici wurden unter dem Vorfitze dieſes Prälaten Be- 
rathungen gepflogen, wie der unbequeme Gelehrte und jein 
revolutionäre Syftem am beften zu verderben ſeien. 

Fa man ging fchon jo weit, einen Prediger aufzufordern, 
von der Kanzel herab gegen Galilei, die Damals gefährlichite 

(63) 


19 


aller Anklagen zu Ichleudern: „Er greife mit feiner Lehre die 
Bibel an.” Der dazu aufgeforderte Priefter lehnte jedoch, die 
unlauteren Beweggründe durchicjauend, den Antrag ab. 

Der gefeierte Aftronom hatte feine Ahnung von der gegen 
ihn gerichteten Verſchwörung. Erft ein Brief des ihm befreun- 
deten Malerd Eigoli wedt ihn aus dem Gefühle der Sicherheit, 
in das ihn die Erfolge feiner NRömerreije eingewiegt hatten. 
Galilei beeilt fich nicht, Schritte zu thun. Erſt einige Monate 
fpäter wendet er ſich an den ihm wohlmollenden Cardinal Eontt 
mit der Bitte um Aufklärung, in wie weit die Kopernitanijche 
Lehre der heiligen Schrift widerſpreche. Conti antwortet ihm: 
dag die Sabungen der heiligen Schrift dem Ariſtoteliſchen 
Princip von der Unveränberlichleit des Himmels eher entgegen, 
ald beiftimmend wären. Dagegen meint der vorfichtige Kleriker, 
dab wie Lehre ded Kopernikus der heiligen Schrift wider- 
fpreche, wenn man nicht zu einem Modus der Audlegung greife, 
der nur im Nothfall anzumenden jei. 

Unter den Gegnern Galilei's macht ſich ſchon damals der 
Pater Lorini bemerkbar, dem ed vorbehalten war, Galilet bei 
der Inquifition zu denunziren. Dem angefeindeten Gelehrten 
blieben die Umtriebe Lorini's und Ahnlicher Ehrenmänner nicht 


fremd. In einem Briefe an den Zürften Ceſi ſchreibt Galilei: 


„Sch danfe Euch und allen meinen Freunden vielmald für ihre 
Fürforge zu meiner Sicherheit gegen alle Bosheit, weldye auch 
bier nicht abläßt, Ränke zu ſchmieden.“ 

Unterdefjen läßt Galilei's Eifer für die Wiſſenſchaft nicht 
nad, die Srucht feiner Arbeit ift eine Abhandlung über die 
Bewegungdlehre ſchwimmender Körper. Auch in diefer Schrift 
tritt der Neformator der Phyſik ald Gegner ded Ariftoteled auf, 
was den Peripatetitern Gelegenheit giebt, fich durch Widerſpruch 
lächerlich zu machen. 


Su bderielben Zeit beichäftigt Galilei ein Streit mit dem 
2* (63) 


20 


Jeſuitenpater Scheiner, Profeffor an der Univerfität Ingolftadt; 
der fich die Priorität der Entdedung der Sonnenfleden vindi⸗ 
zirte. Galilei widerlegt Scheiner und verfaßt die Schrift: 
„Geſchichte und Erklärung der Sonnenfleden,” herausgegeben 
bon der Accademia dei Lincei. 

Dieſes Werk, in dem Galilei unnmwunden für die Koperni« 
kaniſche Weltanſchauung Partei ergreift, erregt allgemeines Aufſehen. 
In den mabgebenden Kreijen ftößt die Schrift zunächft nicht auf 
Widerftand. Die Cardinäle Maffeo Barberini (der nachmalige 
Papft Urban VII.) und Federigo Borromeo ſprechen Dank und 
Anerfennung für das zugefandte Wert aus; ebenſo Battifta 
Aguchia, der fpäter Selretär des Papftes Gregor XV. wurde. 
Diefer jagt: „Die Lehre werde, obwohl fie theild ihrer Neuheit 
und Merkwürdigkeit wegen, theils aus Neid und Eigenſinn 
feitend derjenigen, weldye von Anfang her dad Gegentheil be 
haupteten, viele Feinde zähle, dennoch mit der Zeit Anerkennung 
finden.” Als Galilei's Schüler Caftelli eine Profefiur in Pifa 
erhielt, wurde Demjelben verboten, in jeinen Vorträgen auf die 
doppelte Erdbewegung einzugehen, oder fie auch nur gelegentlich 
als wahrſcheinlich zu bezeichnen. 

Im Dezember 1613 befand fi der Hof in Pifa. Als 
eined Tages Pater Caſtelli und andere Profefioren zur groß« 
berzoglichen Zafel gezogen waren, drehte ſich die Unterhaltung 
um die Mediceiichen Sterne. Nach der Mahlzeit lenkte die 
Großherzogin Wittwe, Chriftine, das Geipräh auf das 
Kopernifanifhe Syſtem und feinen Widerſpruch gegen die 
heilige Schrift. Caſtelli vertheidigte auch vom theologiſchen 
Standpunft aud die neue Anjchauung bed Weltiyftems. 

Die Mittbeilung diefer Unterredung veranlaßte Galilei, 
feinem Schüler und Freunde Gaftelli in einem ausführlichen 
Schreiben die Webereinftimmung der heiligen Schrift mit ber 


Copernikaniſchen Weltanſchauung auseinander zu ſetzen. Diejes 
(64) 


21 


Schreiben jollte den Ausgangspunkt zu dem Inquiſitionsprozeß 
Galilei's bilden. 

Der Bertheidiger des Kopernikus drüdt darin feine Ent» 
rüftung darüber aus, daß man die heilige Schrift in eine 
wiſſenſchaftliche Diskuſſion verflehtee Er erkennt ald guter 
Katholik vollftend an, dab die heilige Schrift niemals lügen 
oder irren könne; doch, meint er, daſſelbe gelte nicht auch 
von allen ihren Auslegern. Er weift darauf bin, daß eine 
wörtlide Auslegung oft zu argen Kebereien führen würde, .. . 
weiter jagt er, weil die heilige Schrift eine andere ald dem 
Wortlaute entiprehende Auslegung erfordert, fo fei ihr im 
mathematiſchen Dingen der lebte Plab anzumeilen. Bon dem 
Grundſatze ausgehend, die Bibel und die Natur feien beide un. 
umftößliche Wahrheiten, ſchließt Galilei, es fei Aufgabe ber 
weilen QAudleger, die Webereinftimmung der Ausfprüde ber 
Bibel mit unumftößliden Naturmahrbeiten herauszufinden. 
Gegenüber der erftarrten Scholaftit ruft Galilei aus: „Wer 
wird dem menfchliden Verſtande Grenzen ziehen wollen; 
wer die Verfiherung abgeben, alles, was in der Welt ergründet 
werden Tann, jei bereits erkannt.“ 

Galilei betont, dad Hereinbeziehen von Bibelftellen in einen 
wifienichaftlichen Streit ſei ein Ausfluchtömittel der Gegner, 
bie, ihre Schwadhheit fühlend, fidy binter ein unangreifbares 
Bollwerk verichanzen. 

Saftelli war über diefe ausführliche Begründung der Lehre 
des Kopernikus und über die fchlagende Widerlegung aller 
Gegner derfelben dermaßen erfreut, daß er fich um deren weitere 
Berbreitung mittelft Gopien eifrig bemühte. Under nahmen 
die Gegner die Schrift anf. — Sie ſuchten in derjelben An⸗ 
haltspunkte für eine Denunziation bei dem SInquifitiondgericht 
zu finden. 

Die in Florenz gegen Galilei gebildete Liga, fand in dem 


(68) 


22 


Dominilaner-Mönd, Caccini das geeignete Werkzeug, den ein« 
fluhßreichen Philojophen öffentlich anzugreifen. Am 4. Sonntage 
im Advent 1614 hielt der genannte Pater in der Kirche St. 
Maria Novella vor einem Publitum, dad der Mehrzahl nach 
den ungebildeten Ständen angehörte, eine Predigt, der er dad 
10. Capitel des Buches Joſua und das erfte der Apoftelgeichichte 
zu Örunde legte. Er begann mit den Worten: „Ihr galileiichen 
Männer, was ftehet ihr und fchauet gen Himmel.” Hieran 
ſchloß fidy eine Sapuzinade, in der namentlich den Mathematifern 
Icharf zugejeßt wurde. Behauptungen, wie: die Mathematif 
jet eine Teufelskunſt, ſei Urfprung aller Seberei, die Mathes 
matiker ſeien aus allen chriftliden Staaten zu verbannen 
u. ſ. w. wurden von dem frommen Denker, der wohl nicht 
ohne Grund ein Feind der Mathematit war,. zur Erbauung 
ber Gemeinde aufgeftellt. 

Galilei wollte in Berbindung mit andern Männern der 
Wiſſenſchaft Beichwerde führen; allein Fürſt Gefi, defien Rath 
er einholte, rieth ihm davon ab. Sa, er ermahnte ihn fogar, 
in Bezug auf die Kopernilanifche Lehre -vorfichtig zu fein; da 
der Kardinal Bellarmin, eine der erften Autoritäten aus dem Je⸗ 
ſuitenlager und einflußreiches Mitglied ded Collegium, fidy gegen 
Set geäußert, dab er jene Meinung für ketzeriſch halte und daß 
dad Princip der doppelten Erdbewegung ohne Zweifel mit der 
heiligen Schrift in Widerſpruch ftehe. 

Das zweifelhafte Verdienft, die Galilei'ſche Angelegenheit vor 
das Snquifittond-Tribunal gebracht zu baben, fällt dem Pater 
Lorrini, einem Drdendgenofjen und Freund Caccini's zu. Anfangs 
Februar 1615 fandte er im Geheimen eine Copie des Schreibeng 
Galilei's an Caſtelli nebft einer hinterliftig abgefabten Denungiation 
an den Sardinal von St. Gecil, den Präfidenten der Congregation 
des Inder. In diefer Denunziation wird Galilei nicht direkt ange⸗ 
griffen, dagegen werden die Galileiften vieler Kepereien geziehen, 

(66) 


23 


— — — — 


auch wird der Mathematikerfeind Pater Caccini als über dieſe 
Angelegenheit beſonders gut unterrichtet, angeführt. 

Zunächſt ſucht das heilige Offizium das Original des 
Schreibens an Caſtelli auf geſchickte Weiſe zu erlangen. Dies 
gelang ihm jedoch nicht, da Galilei durch manche Erfahrung ſehr 
vorfichtig geworden war. Auf päpftlichen Befehl wird der würdige 
Pater Saccini zum Zeugenverhör vorgeladen. Für diefen bomirten 
und fauatiſchen Menichen konnte e8 Teinen größeren Genuß geben, 
ald das ganze Gift, dad er gegen den großen Philojophen hegte, 
audznfpeien. Caccini präjentirt ſich als Horcher. Doch muß 
er es vernehmen, daß ſeine Ausſagen von denen, die er belauſcht 
hatte, Lügen geſtraft werden. 

Galilei wußte nichts von der geheimen Prozedur gegen ihn 
und fein Syſtem; dagegen hatte er erfahren, daß die Domini⸗ 
kaner fich feines Briefes an Gaftelli bedienen wollten, um die 
Berdammung der Lehre des Kopernikus zu erwirten, und daß 
biejelben allerlei Verleumdungen gegen ihn ausftreuten. Während 
die Inquifition im Stillen arbeitet, erhält Galilei fortwährend 
beruhigende Nachrichten von Rom. Der Sardinal Bellarmin, 
der ald Beifiter des Tribunals von dem Gang der Verhand- 
lungen gegen Galilei wiffen mußte, machte demjelben Mit- 
tbeilungen, die dem Sachverhalt geradezu widerfpradhen. Man 
batte die Abficht, alles, bi8 zur Verkündigung ded Verbot der 
Kopernifaniichen Lehre zu verheimlichen, damit man fidh nicht 
ber mit Recht gefürchteten Vertheidigung ded großen Mathe⸗ 
matikers ausſetzte, der auch in der Philofophie und in der 
Theologie überlegen ſchien. Galilet jagt jelbft in einem Briefe, 
er babe mehr Jahre auf Philofophie, als Monate auf Mathe⸗ 
matif verwandt. 

Bedrohliche Gerüchte erreichen das Ohr des Vertheidigers der 
Kopernikaniſchen Lehre, doch kann er nichts Beftimmted erfahren. 


Um alle Berläumdungen und Sntriguen wirffam befämpfen zu 
(67) 


24 


können, entichließt ſich Galilei, nad) Rom zu reifen, wofelbft er 
Mitte Dezember 1615 ankommt. Seinem Freunde, dem Staatd» 
jefretär Picchena in Florenz, fchreibt er von Rom aus: ... er 
ſähe alle Tage mehr, wie gut und müblich fein Gedanke war, 
fih nach Rom zu begeben; denn er ſei auf viele Kallftride ge- 
fommen, die man ihm gelegt, daß ed ganz unmöglidy geweien 
wäre, nicht in dem einen oder dem aubern gefangen zu 
werden. Galilei jpricht feine Zuverficht aus, die Nebe jeiner 
Feinde zu zerreißen.. 

Nach langem Bemühen und mit Aufbietung der ganzen 
Kraft feines gewaltigen Geifted gelang ed ihm, ſich von allen 
Berläumdungen frei zu maden; er fämpfte nit nur für 
feine Perfon und für feine Ehre. Aud für die Wiſſeunſchaft 
trat er auf den Kampfplag. Er ftellte ſich die große Aufgabe, 
die Lehre des Kopernikus vor dem drohenden Verbote zu ſchützen. 
— Ge mehr Erfolge Galilei aufzuweiſen hatte, um fo eifriger ars 
beitete die Inquiſition. Die Sachverſtändigen des heiligen 
Dffiziumd werden zufammen berufen, um die Säbe zu begute 
achten, daß die Sonne das Centrum der Welt und ohne ört« 
liche Bewegung jet, daB dagegen die Erde fidh bewege. Das 
Ergebniß ihrer Berathung war, daß fie erllärten, die genannten 
Säbe ſeien thöricht und abjurd in der Philoſophie und formell 
ketzeriſch, zum mindeften irrig im Glauben. Es wurde bes 
ſchloſſen, der Kardinal Bellarmin follte Galilei zu fi rufen 
laffen und denjelben ermahnen, die erwähnte Meinung aufzu- 
geben. Im Falle fi Galilei mweigern würde zu. gehorchen, 
io fei ihm vor Notar und Zeugen der Befehl zu ertheilen, daß 
er ſich ganz und gar enthalte, eine ſolche Lehre und Meinung 
zu lehren, zu vertheidigen und zu beiprechen, wenn er ſich aber 
dabei nicht beruhigte, jo fet er einzukerkern. 

Darauf hin wurde Galilei ermahnt, die bis dahin von 
ihn feftgehaltene Meinung, das Kopernikaniſche Syſtem ent- 


(68) 


25 


ſpreche der Wirklichkeit, aufzugeben. Galilei, dem der Ruf 
eines guten Katholiken ebenio theuer war, als der eines 
guten Aftronomen, fügte fi) der Entfcheidung der kirchlichen 
Autorität. 

Zu derfelben Zeit wurde im Namen des Papftes Paul V. 
das Verbot aller Schriften befannt gemacht, weldhe dad Ko⸗ 
pernikaniſche Syſtem als thatſächlich lehrten. Dagegen wurde 
ed niemald unterfagt, dieſes Syſtem ald Hypotheſe, welche bei 
der Berechnung der Bewegungen am Himmel gute Dienſte 
leiftet, zu erörtern. 

Salilei war in Folge des päpftlichen Verbotes keineswegs 
niedergejchlagen, noch drei Monate lang verweilte er in Rom. 
Unterdefjen hatten die Feinde des großen Aftronomen das Ge- 
rücht verbreitet, er hätte widerrufen und abſchwoͤren müſſen. 
Zur wirkſamen Widerlegung foldyer Berläumdungen läßt fich 
Galilei vor feiner Abreife von dem Kardinal Bellarmin ein 
Zeugniß außditellen, in welchem beftätigt wird, dab er niemals 
widerrufen oder abgejchworen bat. 

Sn feiner Heimath wieder angelangt, zog er fi} von ber 
Deffentlichleit zurüd nnd lebte ftill in der Billa Segni in Bellos⸗ 
guardo bei Florenz, wo er fid) wieder den Wiflenjchaften wid» 
mete. Wenn er auch verſprochen hatte, die Lehre des Koperni- 
tus nicht mehr feftzuhalten, jo war er doch in feinem Innern 
nicht von deren Unrichtigfeit überzeugt. 

Bir dürfen wohl mit Recht annehmen, daß er zunächſt 
bemüht war, fidy als guter Katholik dem Urtheil der kirchlichen 
Borgefegten zu unterwerfen. Hätte es ſich um einen Glaubens- 
artifel gehandelt, jo wäre ihm dieſes bei feiner ftreng kirchlichen 
Gefinnung wohl gelungen. Anders jedoch verhält es fich im 
Sachen des Glaubens ald in Sachen der Mathematif und Natur⸗ 
wifſenſchaft. Der Mare Geift des großen Forſchers hatte ſich 
in die Weltanihanung des Kopernitus hinein gelebt, noch ehe 


(69) 


26 


— — — — 


er feine Beobachtungen mit dem Fernrohr anſtellte. Faſt zur 
abfoluten Gemißheit wird ihm die Bewegung der Erde, als er 
findet, daß alle Entdedungen, weldye er feinem Fernrohr ver⸗ 
dankt, mit der genannten Anichauung im Einklang ftehen. Se 
mehr Galilet fi in feine aftronomifhen Studien vertieft, um 
fo mehr drängt fidh ihm die Wahrheit der verdammten Lehre auf. 
Einen unmiderleglichen Beweis findet er allerdings nicht. Erſt 
nachdem die aftronomilchen Snftrumente bedeutend vervolllommnet 
waren, entdedte 1728 Bradley die Aberration der Firiterne und 
und 1838 Beffel eine Firfternparallelare, welche Entdedungen 
feinen Zweifel an der Richtigkeit der Kopernilanifchen An⸗ 
fchauung mehr zulafjen. 

In einigen Heineren Abhandlungen ſucht er diejelbe zu ver⸗ 
theidigen, wobei er jedoch ſtets Sätze einftreut, welche die Wirs 
fung feiner Beweisführungen ſcheinbar wieder aufheben, 3. D. 
fagt er, man möge die angeftelte Betrachtung ald eine Phan« 
tafte oder ald ein Märchen anjehen. 

In einen wiflenfchaftlichen Streit mit dem Sefuitenpater 
Graſſi verwidelt, fieht fich Galilei veranlaht, diefem auf fein 
Pamphlet: „die aftronomiiche und philojophiiche Wage" in einer 
ausführlichen VBertheidigungsichrift: „SI Saggiatore”, oder „die 
Soldwage” zu antworten. 

Nach vielen Widerwärtigkeiten und Bejchwerden gelang ed 
ibm, die Druderlaubniß für feine Schrift zu erhalten, nachdem 
vorher alle Stellen, welche wie eine Bertbeidigung des Koper- 
nifanifchen Syſtems ausſahen, geftrichen oder durch eingefchobene 
Bemerkungen abgefchwächt waren. Galilei verleugnet feine innerfte 
Veberzeugung, indem er jagt: „Sch bin vollkommen überzeugt, daß, 
wenn wir andern Katholiken es nicht der höchſten Weisheit verdankten, 
aus unſerem Irrthum geriſſen und in unferer Blindheit erleuchtet 
worden zu fein, wir den Danf für eine ſolche Wohlthat wohl niemals 


den Beweidgründen und Erfahrungen eined Tycho de Brahe zu 
(70) 


27 


Ichulden gehabt hätten." Weiter weift er nad: daß die Ko⸗ 
yernitaniiche Lehre, welche er als frommer Katholil für ganz 
ih unrichtig erachtet und vollftändig leugnet, in vorzüglicher 
Uebereinftimmung mit den teleffopiihen Entdedungen ftebe. 
Schließlich ſagt er: „Die Kopernikaniſche Theorie ift durch die 
geiftliche Autorität verdammt, die Ptolemäifche unbaltbar, man 
muß daher nad) einer neuen ſuchen.“ Während der Drudlegung 
des „Saggiatore” ftarb Papſt Gregor XV., der vor zwei Jah⸗ 
ren dem 1621 geftorbenen Paul V. nachgefolgt war. An feiner 
Statt wurde Maffeo Barberini als Papft Urban VIII. eingefeht 
— ein Mann von eijerner Energie und unbeugfamer Willens- 
fraft, ein mächtiger Vertheidiger der Autorität der Kirche und 
zugleich ein Freund von Wiflenfchaft und Kunft. Seiner her- 
vorragenden Eigenschaften war er fih wohl bewußt und in Folge 
defjen nicht frei von Eitelkeit. Widerfprud konnte er nidyt vers 
fragen. 

Galilei, eingedent des hoben @eiftes Urban's VIII., dachte 
wieder an die Möglichkeit der Aufhebung des Verbots der von 
ihm vertbeidigten Lehre. Sobald es die Umftände erlaubten, 
begab.er fi nad Rom. Das Nefultat feiner Reije entſprach 
jedoch nicht den gehegten Erwartungen. 

Su den ſechs Audienzen, die Galilei bei Urban hatte, zeigte 
fi) der Papft dem Gelehrten gegenüber äußerſt wohlmollend, 
aber von der Kopernilaniichen Lehre wollte er nichts hören, im 
Gegentheil, er ſucht Galilei von der Unrichtigkeit derjelben zu 
überzeugen. 

Die Autorität der Kirche ging dem Papfte über Alled, und 
nie hätte er der Wiflenichaft zur Liebe diejer Autorität Eintrag 
geichehen laſſen. Er erwog nicht, daß ftarres Feithalten an 
einem Fehler der Autorität in der Folge mehr jchadet, als das 
Eingeftehen deſſelben. 


Galilei, der fah, daß Urban bei aller Gewogenheit gegen 
a 


28 


feine Perſon nicht zu bewegen fei, das Verbot aufzuheben, ver» 
läßt Rom, nadydem er zwei Monate lang dort für die Wahrheit 
gefämpft hatte. Sobald die Erinnerungen an die Gunfte 
bezeugungen Urban’d VIII. gegen Galilei etwas verblaßt waren, 
tauchen die Gegner des florentinijchen Altronomen wieder auf. 
Der angegriffene Gelehrte glaubt unter dem Schube der Zu- 
neigung des Papſtes fich wieder freier bewegen zu dürfen und 
rechnet darauf, daß dad Verbot der Kopernilantichen Lehre nicht 
jo ftreng gehandhabt werben würde. 

Mit Aufbietung der ganzen Kraft feined gewaltigen Geiftes, 
mit Anwendung der ganzen Schärfe feines durchdringenden Ver⸗ 
ftandes, geftüßt auf die Refultate feiner faft fünfzigjährigen Beob» 
achtungen und Erperimente geht Galilei daran, ein ausführliches 
Wert „Dialoge über die beiden widtigften Weltiyfteme” and- 
zuarbeiten. Mehrere Sabre jeben wir ihn mit dem Werl be- 
Ichäftigt, von dem er hofft, daB ed zur Freigebung der Lehre des 
Kopernifus beitragen werde. 

Mit dem vollendeten Werk begtebt er fi nad Rom, wo» 
felbft er gleich am erften Tage nad) feiner Ankunft eine Audienz 
bei Urban VIII. hatte, der fidy ihm fehr gewogen zeigte. Bes 
reitwilligft ertheilt man ihm die Erlaubniß zur Drudlegung 
ſeines Werkes. Nur legte man ihm auf, daB Anfang und 
Schluß des Werkes nad einem Entwurf der Genjurbehörde aus⸗ 
gearbeitet würden. Mit fcheelem Auge jehen die Sefuiten die 
Erfolge Galilei's. Wir ſehen fie raftlo8 bemüht, das Anſehn 
ded großen Aftronomen zu untergraben. Kaum war Galilei 
nach Florenz zurüdgelehrt, als ihn die erjchütternde Nachricht 
von dem unerwarteten Hinfcheiden feines einflußreichen Goͤnners, 
des Fürſten Eefi, erreihte.e Die Accademia dei Lincei, deren 
Gründer Cefi war, löfte fich in Folge deffen auf, ihrer mächtige 
ften Stütze beraubt. 

Auf jede Weife wird verfucht, die Drudiegung der Dialoge 


(73) 


29 


zu bintertreiben, fo daß fi) der Verfafſer genötbigt fieht, dad . 
Berk nicht in Rom, fondern in Florenz bruden zu laffen. Nach 
vielem Drängen und unabläffigem Bemühen erreichen ed bie 
Freunde Galilei's, unter denen der toskaniſche Geſandte Nicco- 
lini beſonders hervorzuheben ift, daß die Druderlaubniß für 
Florenz ertheilt wird. Immer noch fehlen Anfang und Schluß 
des Werkes. — Foͤrmlich an den Haaren gezogen entfchlieht fidh 
ber päpftlihe Bücher-Senfor NRiccardi, den Entwurf zu über 
jenden, nachdem 14 Monate feit Borlegung ded Werkes ver- 
ſtrichen waren. Endlich am 22. Februar 1632 überreicht Galilei 
das erfte gedrudte Sremplar feines Werkes dem Großherzog 
Ferdinand IL, dem es gewidmet war. 

Die Dialoge finden allmählich Verbreitung in Stalien und 
zwingen die @eilter eine enticheidende Stellung dafür oder da- 
gegen einzunehmen. Die wahren Freunde der Wiſſenſchaft be⸗ 
grüßen dad Wert mit Freude, während die Sejuiten mit Er⸗ 
bitterung wahrnehmen, daß ihnen der Vorrang auf wifjenichaft« 
lihem Gebiete ftreitig gemacht wird. Reformen auf dieſem 
Gebiete erfcheinen ihnen nicht minder gefährlich als folche auf 
religiöfem Gebiete. 

Galilei, der fi Feiner Schuld bewußt war, hielt fi vor 
Berfolgungen volllommen ficher, er freut ſich der Erfolge feines 
Werkes und ahnt nicht, daß feine Widerfacher ohne Unterlaß 
Ränkte Ichmieden. 

Zunähft greifen fie anf binterliitige Weile die Eitelkeit 
des Papſtes an, indem fie ihm vorjpiegeln, daß unter der Per- 
fon des Simpliciud, der in den Dialogen das Ptolemäijche 
Syftem vertritt, niemand andered als Urban VILL jelbit ge 
meint fei. Bon dba an tritt Urban auf die Seite der Gegner 
Galilei’. Nun wird ed den Sefuiten nicht mehr ſchwer dem 
Yapft die fefte Meinung beizubringen, die Dialoge feien eine 


eminente Gefahr für die Kirche. Urban wird aufs Höchfte 
(73) 





30 


gereizt durch den Gedanken, Galilei habe die Cenforen, ſowie 
auch feine Heiligkeit felbijt mit der Erlangung der Druderlaub- 
niß auf das Echnöbefte überliftet. Das gekränkte Majeftäts- 
gefühl, die feite Abficht, die Intereſſen der Kirche und die 
Autorität der Bibel zu beſchirmen, die Crbitterung über die 
angebliche Verfchlagenheit Galileiis und der Unmuth, verjelben 
zum Dpfer gefallen zu fein, Died find die Beweggründe, 
welche Urban VIII. zu dem verhängnißvollen Schritt drängten, 
den Inquiſitionsprozeß gegen Galilei anzuftrengen. Zunaͤchſt 
arbeitet die Inquiſition im Stillen. Cine Spezial-Sommilfion 
wird eingejeßt, deren Aufgabe es tft, eine Handhabe ausfindig 
zu machen, mittelft welcher der Inquifitionsprozeß mit einem 
Schein von Redyt ind Merk geſetzt werben könnte. — Zu Mit- 
gliedern diefer Kommilfion wählte man nur folche, die dem 
Verfaſſer der Dialoge nichts weniger als geneigt waren. 

Bet Galilei macht das Gefühl der Freude über die Cr» 
folge feines Werkes bald einer Bangigleit Platz. Unheil 
Ihwangere Wolfen ziehen ſich zufammen und nehmen drohende 
Geſtalt an, und der Gemitterfturm tft bereit, über dem Haupte 
des Vorkämpfers für die Wiffenichaft loszubrechen. Der 
erfte Blibftrahl traf fein Werk, die Dialoge; der Berleger 
Landini erhielt die Meijung, feine weiteren Sremplare zu ver« 
faufen und den noch vorhandenen Vorrath abzuliefern. Alle 
Verſuche Galilei's fi) zu vertheidigen, führen zu nichts. Ber- 
gebens wendet er fi an feinen Fürften. Umfonft bietet er 
fi) an, er wolle auf jede Gnade verzichten, wenn er nicht im 
Stande jei, handgreiflich nachzuweiſen, daß feine Gefinnung 
immer fromm und aufrichtig gewejen und ed noch immer jet, daß 
alle Anfchuldigung gegen ihn auf böswilliger Berleumdung ihm 
wohlbefannter, bo&hafter und neidijcher Verfolger beruhte. Er: 
foiglo8 bemüht fih der edle und aufopfernde Freund Galilei’s, 


der todfaniiche Geſandte Niccolini, bei dem Papfte, den 
(74) 


31 


drohenden Prozeß aufzuhalten. Urban erwidert kalt: „Sm 
dieſen Sachen des heiligen Offiziums thut man nichts anderes, 
als urtheilen und dann zum Widerruf vorladen.” 

Galilei war fidy feiner Schuld bewußt, von einem gerechten 
Richter hatte er nichts zu fürchten. Er gab daher die Hoff- 
nung nicht auf, die Nebe feiner Feinde zu zerreiben. 

Anders dachten feine Gegner. Dielen war es nit um 
ein gerechte Urtheil zu thun, fondern um die Zugrundes 
richtung eined Mannes der Wiflfenichaft, der mit dem Sefui- 
tismus nicht Hand in Hand ging. Die Anklage wurde geftüßt 
auf ein Altenftüd ohne Unterfchrift, vom 26. Febr. 1616, wel» 
ches niemals ald rechtögültiges Inftrument hätte benußt werden 
Tonnen. Sn diefem Scriftitüd war gefagt, Galilei habe ver- 
ſprochen, Die Kopernifanifhe Meinung ganz und gar aufzugeben 
und biejelbe weder in irgend einer Weile feftzuhnlten, noch 
zu lehren oder zu vertheidigen durch Wort oder Schrift. 

Die neuen Forſchungen von Wohlwill, Reuſch und Gebler 
haben unwiderleglich dargethban, daB dieſes Aftenftüd nicht das 
Protokoll einer Verhandlung war. Dagegen fcheint daffelbe 
ein Entwurf zu einer Verhandlung geweſen zu fein, der viel« 
leicht mit der Abficht (abgefabt und) aufbewahrt wırde, um in 
Ipäteren Zeiten benußt zu werden. 

Die ein Blisftrahl trifft Galilei die Borladung von dem 
Inquifitor von Florenz, der ihm eröffnet, er habe im Lauf des» 
jelben Monatd in Rom vor dem General-Kommiffär des heiligen 
Dffiziums zu erſcheinen. Der Cindrud, den diefer Befehl 
anf Galilei macht, ift ein jo übermältigender, daß er ſich willen- 
108 fügt und bereitwilligft zu gehorchen verſpricht. 

Auf dieſes Ereigniß, welches den ohnehin ſchon leidenden 
Gelehrten jählings überraſchte, trat eine tiefe Niedergeſchlagen⸗ 
heit bei demſelben ein. Galilei hatte Gegner erwartet und war 
bereit ihnen Rede zu ſtehen, nicht aber, daß es ſeinen Feinden 

(75) 


32 


gelingen würde, den Vorgeſetzten die Meinung beizubringen, 
fein Wert jet des Kichted nicht werth. Mit tiefem Kummer 
erfüllt ihn die Vorladung, ein Berfahren, das nach feiner 
Anficht wur gegen ſchwere Miffethäter angewandt wurde. Nie 
hätte er gedacht, dab die Früchte feiner vieljährigen Studien, 
die feinen Namen einen fo guten Klang bei den Gelehrten der 
ganzen Welt verliehen, daß diefe Früchte zur Anfchuldigung 
jeined guten Rufes benugt werden würden. 

„Dies Fränft mich fo fehr”, fchreibt er im einem Briefe, 
„DaB ed mich die Zeit verwünſchen macht, welche ich auf dieſe 
Studien verwandt, durch die ich ftrebte und hoffte, mich einiger⸗ 
maßen von der großen Heerftraße abzutrennen, auf welcher die 
Gelehrten gemeiniglich einherwandeln.“ 

„Sch bereue nicht nur, der Welt einen Theil meiner Schrif- 
ten übergeben zu haben, fondern verjpüre Luft, die mir noch in 
Händen gebliebenen zu unterdrüden, indem ich fie den Flam⸗ 
men überliefere, fo ganz das fehnfüchtige Verlangen meiner 
Feinde befriedigend, denen meine Gedanken gar jo unbequem 
find.” Galilei bietet Alled auf, fi der übernommenen Ber- 
pflichtung, in Nom zu erfcheinen, zu entziehen. Er jchreibt in 
einem Briefe, den er dem toskaniſchen Gefandten Niccolini zur 
Beförderung an einen Cardinal überjendet: 

„Wenn weder mein hohes Alter, noch meine vielen Törper- 
lichen Leiden, noch die tiefe Bekümmerniß, welde mich erfüllt, 
noch die Langwierigkeit einer Reife unter den gegenwärtig hoͤchſt 
ungünftigen Verhältnifjen (die Peſt war nämlich im Lande aud⸗ 
gebrochen) von diefem hohen und heiligen Tribunal als hiu⸗ 
reichend erachtet werden, eine Dispenfation oder mindeſtens 
einen Aufichub zu erhalten, jo werde ich dieje Reiſe antreten, 
den Gehorfam höher achtend ald das Leben.” Cr erreicht nur 
eine Verſchiebung des Termind. Nachdem aber die Frift ver 


ftrichen, find alle Mittel, die Galilei anwendet, um einen weites 
(76) 


33 


ren Aufichub zu erlangen ohne Erfolg. Es ergeht der Befehl: 
Gefangen und in Eifen fol Galilei nad Rom gebracht wer: 
den, wenn er der Vorladung nicht ungefäumt nachkommt. 

Damit es nicht zu diefen äußerſten Maßregeln fomme, lieh 
ber Großherzog Ferdinand II. Galilei fagen, er nehme auf. 
richtigen Antheil und bedaure außer Stande zu fein, ihm die 
Reife zu eriparen, aber es fei endlich nothwendig, der oberen 
Behörde zu gehorcdhen. 

Ferdinand ftellt feinem erften Mathematiker Sänfte und 
Führer zur Verfügung und wollte genehmigen, dab Galilei im 
Haufe des Gejandten wohne. — War died alled, was der Groß- 
herzog für den von ihm hochgeachteten Gelehrten thun konnte? 
Lag ed nicht in feiner Macht den“greilen Vertheidiger der Ko» 
pernikaniſchen Weltanſchauung vor der Gewaltthat der Kurie zu 
hüten? — Wohl hätte er als Fürft die Macht beſeſſen, wenn er 
als Menſch nur frei gewefen wäre. Allein Ferdinand war zu 
einem Knechte Romd erzogen, und auch ald Mann noch blieb 
er Knecht von Rom. 

Galilei tritt feine Reife an und erriht Nom am 
13. Februar 1633, nachdem er an der Grenze bed Kirchen- 
ſtaates eine 20 tägige Quarantäne überftanden hatte. Zur 
nächft ereignet fick nicht8 von Bedeutung, jo daß Galilet 
wieder einige Zuverficht und Hoffnung gewinnt, feine Angelegen- 
heit werde einen günftigen Verlauf nehmen, und die Wahrheit 
den Sieg über die Lüge davontragen. Er gedenkt früherer 
Zeiten, da es ihm gelang, alle Lügengelpinnfte feiner Feinde zu 
zerftören. Sa, er freut fi fogar auf die Gelegenheit, mit uns 
widerleglicher Logik alle Behauptungen der Gegner vernichten 
zu Tönnen. — Wie ift er enttäufcht, als ihm Niccolini mittheilt, 
er babe vor dem heiligen Offizium zum Berhör zu erfcheinen, 
und ibn dabei ermahnt, von jeder Vertheidigung abzuftehen. — 
Wie beugt ihn der Rath, den ihm Niccolini als aufrichtiger 


Zx. 458, 8 (71) 


34 


Freund ertheilt, der Rath: fi dem zu unterwerfen, was ihm 
zu glauben vorgeichrieben werde. Galilei war darauf gefaßt, 
einen Kampf mit Gründen gegen Gründe audzufechten, ftaft 
defjen hört er auf al’ feine Vertheidigung die fchauerlichen 
Worte: Der Keber wird verbrannt. Gebeugten Sinnes betritt 
er die Schwelle ded Inquifitionspalaftes. Gebrochen ift der 
hohe Geiſt ded Bahnbrecherd der Wiflenfchaft, als er’die im 
Verhör geftellten Fragen beantwortet. Stets leitet ihn der 
Gedanke, durch Beipflihtung und Unterwerfung die Verhand⸗ 
lung möglihft abzukürzen. 

Nach dem Berhöre muß Galilei im Palafte der Inquifition 
bleiben, wojelbft ihm einige Zimmer eingeräumt waren. — Zum 
zweiten Mal jehen wir ihn vor feinen Riten. Wir hören 
ihn traurige Belenntniffe ablegen. Er erflärt ſich bereit feinen 
Dialogen noch einen oder zwei Geſprächstage hinzuzufügen, die 
dazu dienen follen, die Lehre des Kopernikus auf's Wirkſamſte 
zu widerlegen. „Der barmberzige Gott würde es ihm fchon 
eingeben,” fügt er hinzu. 

Die Llein Steht Galilei neben dem Philoſophen und 
Mathematiter Giordano Bruno, der zu Anfang befjelben 
Sahrhunderts feften Schritte den Scheiterhaufen beftieg, und 
nicht vor der Gluth der Flammen zurüdbebte, ald e8 galt, für 
feine Ueberzeugung einzuftehen! 

Sndeflen naht unaufhaltiam die Stunde, welche den Ur⸗ 
theilöiprud hören follte, der beftimmt war, den greifen Philo- 
fophen zu verderben und in ihm der Wiflenichaft eine Schmach 
anzutbun, die mit Flammenſchrift in dem Buche der Geſchichte 
verzeichnet ift. 

Um Galilei mit einem Schein von Recht verurtheilen zu 
fönnen, mußte ihm nachgewielen werden, daß er „nach der Ent- 
ſcheidung der Kongregation” an der Kopernikaniſchen Lehre feſt⸗ 


gehalten babe. 
(18) 





35 « 


Es wurde daher beichloffen, Galilei unter Androhung der 
Zortur dem Eramen der wahren Ueberzeugung zu unterwerfen 
und, fall8 er dabei bliebe, die Kopernitaniiche Gefinnung zu 
verleugnen, zu weiterem Verfahren in die Kolterfammer abzu- 
führen. 

Am 22. Suni 1633 erfcheint Galilei zum leiten Verhoͤre. 
Vergebend betheuert er, nach dem Berhot nicht. mehr an der 
Kopernilanifchen Lehre feftgehalten zu haben. — Man ſchenkt 
feinen Bekenntniſſen keinen Glauben und weift ihn darauf hin, 
daß aus feinen Werken hervorgehe, er habe auch nach dem Ver 
bote an der verdbammten Lehre noch feftgehalten. Man droht 
ibm mit der Zortur, wenn er die Wahrheit nicht bekennen 
würde, Mit der Stimme der Verzweiflung ruft der geängftigte 
Greis aus: Ich halte nicht, noch habe ich diefe Meinung fefte 
gehalten, nachdem mir befohlen war, fie aufzugeben. Die 
Henkersknechte der Inquifition ftehen bereit. Auf einen Wint 
führen fie den unglüdlichen Gelehrten in die Folterfammer — 
dort wird er gefeflelt und entlleivet. Die Marterwerkzeuge 
find bereit, ihre die Menfchheit entwürbigende Beftimmung zu 
erfüllen. Kalt fteht der Richter ihm gegenüber, ftarr und fühl- 
los nach ertbeilter Weifung bandelnd. Nochmals fordert er 
Galilei anf, feine Meberzeugung zu befennen. Angefichts ber 
Tortur gefteht Galilei zu, an der verbammten Lehre feitgehalten 
zu haben. Seht war das heilige Offizium im Beſitze des 
Rechtögrundes, der zur Verurtheilung führen jollte. 

Nach den Grundjäben der römifchen Kirdye hätte Galilei 
nie als Keber verurtheilt werden können, denn der Beſchluß ber 
Eongregation vom Jahre 1616 in Bezug auf dad Kopernifanijche 
Syftem war fein unfehlbarer im kirchlichen Sinne. Das heilige 
Offizium überjchritt daher feine Competenz weit, indem es 
Galilei als Ketzer verurtheilte. 

Am folgenden Tage wird Galilei in die Kirche des Do⸗ 

8° (79) 


36 


minifanerflofterd Sopra la Minerva geführt. Im Chor der 
Kirche find die hochwürdigen Herren verjammelt, die Zeugen 
fein follen der Demüthigung der Wiſſenſchaft. Wie manches 
böhnifche Gefiht mag aus ihrer Mitte auf den gebrochenen 
Greis geblidt haben, als er eintrat. „Seht, das ift der Dann, 
der es wagte, den Patres der Gejellihaft Jeſu entgegen zu 
treten. Wehe dem, der ſich mit ihnen verfeindet!“ Auf den 
Fußſpitzen erheben fich die hintenftehenden und gaffen. 

Was helfen dir deine Beweisgründe, o Galilei, wad nützt 
die Schärfe deines Verſtandes gegen die Macht ded Ordens, 
der Mittel weiß, dich zu verderben! Das Urtheil wird 
verlefen: „Du Galileo Galilei haft dich diefem heiligen Offizium 
der Härefie (Keberei) ſehr verdächtig gemacht d. b. du haft 
Lehren geglaubt und feftgehalten, welcde der heiligen Schrift 
widerjprehen. — In Folge dejjen biſt du in alle Zenfuren und 
Strafen verfallen, weldhe durch die heiligen Canones und andere. 
Gonftitutioned gegen derartig Fehlende beftimmt und über fie 
verhängt find.“ 

„Don diefen allen wollen wir dich freifprechen, fobald du 
mit aufrichtigem Herzen und nicht erheucheltem Glauben ab- 
ſchwoͤrſt, verfluchft und verwünfcheft die genannten Irrthümer 
und Kebereien und jeden andern Irrthum, weldyer der Tatho- 
lichen apoftoliichen Kirche zumwiderläuft, nach der Formel, wie 
fie dir von uns wird vorgelegt werden.“ 

„Damit aber diefer dein ſchwerer und verderblicher Irrthum 
nicht ganz ungeſtraft bleibe und du in Zukunft vorſichtiger ver⸗ 
fahreſt, auch Anderen zum Beiſpiel dieneſt, ſo beſtimmen wir, 
daß das Buch: „Dialoge über die beiden wichtigſten Welt⸗ 
ſyſteme“ durch eine öffentliche Verordnung verboten fei. — Dich 
aber verurtheilen wir zum fürmlichen Kerker bei diefem heiligen 
Dffizium für eine nad) unferem Ermefjen zu beftimmende Zeit.” 

Nach Anhörung diefes Richterſpruchs mußte Galilei demüthig 


(80) 


37 


nieend vor der ganzen Berfammlung eine entwürbigende Ab- 
Ihwörung jprehen. Er muß die Worte fagen: „So bin id 
demnady ald der Härefie ſchwer verdächtig erachtet worden, d. h. 
feftgehalten und geglaubt zu haben, bat die Sonne das Centrum 
der Welt und unbemweglih, und dab die Erde nicht Centrum 
ber Welt ſei und fich bewege.” 

„Da ih nun Euren Sminenzen und jedem FTatholifchen 
Ehriften diefen Verdacht benehmen möchte, fo ſchwoͤre ich ab, 
verwünfche und verfluche ich die genannten Irrthümer und 
Kebereien." 

„Auch ſchwöre ich, fürderhin weder mündlich noch ſchriftlich 
etwas zu jagen oder zu behaupten, wegen deſſen ein ähnlicher 
Verdacht gegen mich entitehen Tönnte, fondern, wenn ich einen 
Keber oder der Keberei Verdächtigen antreffen jollte, werde ich 
ihn dieſem heiligen Offizium anzeigen.” 

Mit zitternder Hand ſetzt der DVerurtheilte unter das Ab» 
Ihwörungsdofument die Worte: 

„Ih Balileo Galilei habe wie oben mit eigener Hand 
abgeichworen.” 

Erhebt fidy der Tiefgebeugte nicht, richtet er ſich nicht auf 
mit unnahbarer Majeftät und jchleudert in die Verfammlung 
die Worte: „E pur’ si muove?“ Sein, er bleibt ftumm, ein 
gebrochener Mann, tiefed Weh im Herzen. 8 fcheint ihm, 
als habe er umfonft gelebt, als fei fein Xeben voller Mühe und 
Arbeit vergeblich gewejen. Wir aber vernehmen die Worte: 
„Und fie bewegt ſich doch.“ 

Die Wiffenfchaft ruft fie laut und immer lauter. — Shre 
Zünger verkünden fie an allen Orten. Die Erde |pottet der 
Menſchlein, die befchließen wollen, daß fie ſich nicht bewegt. — 
Sie durchläuft ihre Bahn nad) ewigem Geſetz und geht ihren 
Weg wie vor Alters. Die Sonne jendet ihre Strahlen ben 


Planeten, die fie umkreiſen. Ihr Licht gehet aus in ben un⸗ 
(81) 


38 


endlichen Raum. Andere Sonnen ded Weltalld erjcheinen als 
glänzende Sterne und ſenden auch der Erde den Lichtgruß zu, 
unendliche Räume burchmefienb. 

Wie Hein erjcheint der Menſch im umermeßlichen Weltall, 
wie furz die Spanne der Zeil, die wir ein Menfchenleben nennen! 

Galilei war nicht mehr weit von dem Ende feines Lebens⸗ 
weges entfernt und dennoch ftand ihm uoch viel Betrübnih 
bevor. Der Papft ſprach zwar Gnade über ihn aus, er follte 
nicht in den. Kerfer kommen, zu dem er verurtheilt war; aber 
bie Freiheit nach der er fidy jo jehr fehnte, wurde ihm nicht mehr 
zu Theil, fo lange er noch unter den Lebenden weilte. 

Am Abend des 24. Iuni holte Niccolint feinen unglüds 
lichen Freund ab und bringt ihn nach der Villa des Groß—⸗ 
berzogd von Toskana, mohin er vorläufig verbannt war. 
Niccolint will dem Schwergekränkten Zroft zuiprechen, aber 
umfonft. — Schweigend verjchließt Galilei den tiefen Kummer 
in fein Inneres. 

Er jehnt fich fort, weit hinweg von dem Orte, wo er fo 
viel erduldet, wo er fo viel erlitten. Es wird ihm gewährt, im 
Haufe des Erzbiſchofs Ascanio Piccolomini von Siena als 
Verbannter zu verweilen. Später wird ihm geitattet, eine Billa 
bet Arcetri in der Nähe von Florenz ald Verbannungdort zu 
bewohnen. 

Jetzt regt ed fi) wieder unter den Ariftotelilern. — Im 
zchllofen Schriften und Schriftchen greifen fie die großen 
Zodten Kopernicuß und Kepler an, und fallen über den zum 
Schweigen verurtbeilten Galilei her. in draftifches Beiſpiel 
ift eine dem Gardinal Barberint gewidmete Schrift des Scipione 
Chtaramonti; darin finden ſich folgende Säte aufgeftellt: 

„Die Thiere, welche ſich bewegen, haben Glieder umd 
Muskeln. — Die Erde hat feine Glieder und Muskeln, alio 
bewegt fie fih nit. Engel find ed, welche Saturn, Jupiter, 


(82) 


39 


die Sonne u. |. w. in Umlauf bringen. Wenn bie Erde reift, 
fo muß fie alfo in ihrem Mittelpunfte einen Engel haben, der 
fie in Bewegung verſetzt, aber dort wohnen nur Zeufel und 
e8 wäre demnach ein Teufel, welcher der Erde ihre Bewegung 
verleihen würde.“ 

Galilei mußte zu allem ſchweigen, aber es fanden fich 
muthige Männer, welche nicht nur derartige Albernheiten ge- 
bührendermaßen zurückwieſen, fondern audy auf der Bahn der 
neuen Weltanfhauung rüftig fortichritten. Sn feinem Eril 
ſucht Galilei Troft in der Wiflenfhaft. Mit faft jugendlichen 
Eifer arbeitet der fiebzigjährige Mann an feinem großartigen 
Wert über „die Lehre von der Bewegung der Körper und von 
dem Zuſammenhang ihrer Theile.” 

Beſonders glücklich fühlt er fich in der Geſellſchaft feiner 
beiden Töchter Livia und Poliffenna, die ald Nonnen in einem 
benachbarten Klofter lebten. Poliſſenna oder Maria Belefte, wie 
fie nach ihrem SKlofternamen bie, war im tiefe Melancholie 
verfallen, während ihr Vater in Nom weilte. Die andauernde 
Beforgnig und Angft um das bedrohte Leben ihred Vaters, 
hatten ihre Geſundheit fo untergraben, daß ihre Tage gezählt 
[hienen. Nur ein Fahr lang war es ihr noch vergönnt, bem 
geliebten Vater zu ſehen; erft 33 Sahre alt, erlag fie einer 
tafch verlaufenden Abzehrung. — Als der befümmerte Bater vondem 
Sterbebette feiner Tochter in feine Wohnung zurüdkehrte, findet 
er dort den Abgejandten der Inquifition, der ihm den Befehl 
mittbeilt, künftighin davon abzuftehben, um die Erlaubniß zu 
einer Rückkehr nach Florenz nachſuchen zu laffen, fonft werde 
man ihn nad Rom zurüdbringen und zwar in den wirklichen 
Kerker des heiligen Offiziums. 

Galilei fchreibt über diefen Borfall an feinen Freund, den 
berühmten Rechtögelehrten Diodatt in Parid: 

„+ Aud diefen nnd anderen Vorfällen, welche bier zu be» 

(883) 





40 


richten zu weit führen möchte, erfieht man, daß die Wuth meiner 
jo mächtigen Verfolger fortwährend noch zunimmt. Diefelben 
haben endlich von jelbit fich mir offenbaren wollen, indem, ald vor 
etwa zwei Monaten ein mir theurer Freund in Rom mit dem ' 
Pater Chriftof Griemberger, Mathematifer am dortigen Colle- 
gium, über meine Angelegenheit zu fprechen kam, dieſer Jeſuit 
meinem Freunde genau folgende Worte fagte: „„Wenn fidh 
Galilei die Gewogenheit der Väter dieſes Collegiums zu erhalten 
gewußt hätte, jo würde er ruhmvoll vor der Welt daftehen; 
er wäre von al’ feinem Unglüd verfchont geblieben und hätte 
ganz nach feinem Belieben über jegliche Dinge jchreiben Tönnen, 
felbft über die Bewegung der Erde."" Daraus erfeht ihr, ſehr 
verehrter Herr, daß ed nicht diefe oder jene Meinung ift, welche 
mir all dieſe Widermwärtigkeiten bereitet hat und noch bereitet, — 
jondern die Ungnade der Jeſuiten.“ 

Vergebens wandten fidy gelehrte und angejehbene Männer 
aus eigenen Antriebe an Mitglieder des heiligen Offiziums, um 
für Galilei Befreiung zu erwirfen. Der Gefangene von Arcetri, 
der davon hörte, Schreibt an einen derfelben: „Ich erhoffe mir, 
wie gejagt, keinerlei Crleichterung und zwar, weil ich feine 
Dergehen begangen habe. Sc, dürfte erwarten, VBerzeihung und 
Begnadigung zu erlangen, wenn ich gefehlt hätte, denn Fehler 
- find es, weldye den Zürften zur Ausübung von Gnade umd 
Milde Anlaß geben können, während es fi gegenüber einem 
unschuldig Verurtheilten geziemt, die ganze Strenge aufrecht zu 
erhalten, um zu zeigen, daB man dem Rechte gemäß vor« 
gegangen jet.” 

Im Sabre 1636 vollendete Galilei fein unfterbliches Wert 
„Unterfuchungen und mathematiſche Beweiſe über zwei neue 
zur Mechanik und zur Lehre der Bewegung gehörigen Wiflen- 


ſchaften“, welches unter dem abgefürzten Namen „Dialoge 
(84) 


41 


über die neuen Wiſſenſchaften“ bekannt iſt. Daſſelbe wurde 
1638 bei den Elzevieren in Leyden gedruckt. 

Wenn auch der Körper der Macht des Alters unter⸗ 
liegt, jo läßt doch der raſtloſe Geiſt des großen Forſchers 
nicht ab, die Geheimniſſe der Natur zu entſchleiern. Noch 
als 73jähriger Greis entdeckt er die Schwankung der Mond⸗ 
kugel. Aber die Augen, die fo tief in das Weltall geblickt, 
werden matt und leidend. Noch in demfelben Jahre, in 
dem er feine letzte aftronomiſche Eutdedung gemacht, erblindet 
er erft auf dem einen und nicht lange nachher auch auf dem 
andern Auge. Er theilt Died traurige Ereigniß feinem Freunde 
Diodati mit, indem er jchreibt: „... aber ach, verehrter Herr, 
Galilei, euer Freund und ergebener Diener, ift feit einem Monat 
völlig und unheilbar blind, fo zwar, daß diefer Himmel, diefe 
Erde, dieſes Weltall, weldye ich mit meinen merkwürdigen Bes 
obadytungen und Maren Darlegungen hundert, ja taufendfach 
über die von den Gelehrten aller früheren Jahrhunderte ange 
nommenen Grenzen erweitert babe, nun für mich auf einen 
jo engen Raum zufammen geichrumpft find, daß derjelbe nicht 
über jenen binausreicht, den mein Körper einnimmt. . .* 

Die Kraft feines Geiftes tit nody ungeihwädt. Sobald es 
ihm feine förperlichen Leiden geftatten, jehen wir ihn mit wifien- 
ſchaftlicher Betrachtung beichäftigt, umgeben von feinem Sohne 
Bincenzio und feinem Schüler Biviant, welche bemüht find, die 
Reſultate feiner Spekulationen für die Nachwelt aufzuzeichnen. 

Galilei fühlt fein Ende herannahen. Noch vieles be- 
wert ihn, was er der Menfchheit mittheilen möchte. Cr 
läßt feinen talentvollen Schüler Toricelli an fein Kranfen- 
lager kommen, mit dem er fortwährend in willenfchaftliche 
Geipräche vertieft if. Nur noch drei Monate lang konnte 


Toricelli mit feinem unvergleichlichen Lehrer verkehren. — Am 
XX. 438, zee (85) 





42 


8. Januar 1642 fchlug die Stunde, in der Galilei aus dem 
Kreiſe der Lebenden ſchied. 

Kaum war er zur Ruhe eingegangen, ald fih Stimmen 
erhoben, die audriefen: „Der Keber verdient fein chriftliched 
Begräbniß.“ Die Schüler und Freunde des großen Todten 
wollten ihm ein prächtiged Grabdenkmal an dem Begräbnikort 
der Familie der Galilei in der Kirche St. Croce jegen. Aber 
von Rom aud wurde Died vereitelt. Der ſchwache Fürft 
Ferdinand IL ließ ed geichehen, daß man Galilei in einer ab⸗ 
gelegenen Seitentapelle beijehte. 

War man in Rom wirkli der Anficht, dab man das 
Gedächtniß Galilei's audtilgen könnte, wenn man feinen fterbs 
lichen Meberreften die gebührende Ehre verfagte? — Der große 
Altronom bedurfte feiner Denkmäler von Stein. Mit uns 
auslöfchliher Schrift hatte ber Schöpfer der neueren Phyſik 
feinen Namen in die Tafeln der Geſchichte eingezeichnet und 
als Dulder, wenn aud nicht ald Märtyrer, für die Wiffenichaft 
wird er ftetd ein Mahner für alle fein, welche Gewalt haben. 
Als einen Helden, der fein Leben einfebt für die Vertheidigung 
feiner Meberzeugung, können wir ihn aber nicht bewundern, fo 
hoch wir feine Verdienfte um die Wiſſenſchaft auch jchäßen. 
Doch war ed nicht die Furcht vor den Machtmitteln des In⸗ 
quifitiondgerichts allen, welche ihn bewog, fich demüthig zu 
fügen; audy fein Glaube an die göttliche Autorität der kirchlichen 
Behörden trug viel dazu bei, ihn wanfend zu mahen. Wäre 
Galilei ftandhaft geblieben, jo hätte fein Leben vielleicht auf 
dem Scheiterhaufen ein vorzeitiged Ende gefunden, oder er wäre 
doch ficherlich in den Kerkern der Snauifition bald zu Grunde 
gegangen. Sein Mangel an Standhaftigkeit hatte aber für 
die Willenichaft Folgen von unfchätbarer Bedeutung; denn das 
wichtigfte jeiner Werke, die Dialoge über die neuen Wiljen- 
ichaften, welches die Grundlage der neneren Phyſik bildet, hat 


(86) 


43 


— — — — 


er erſt nach ſeiner Abſchwoͤrung geſchrieben. Während Galilei's 
Leiſtungen auf dem Gebiete der Aftronomie weit hinter den⸗ 
jenigen jeined großen Zeitgenofjen Kepler zurüdftehen, wird er 
biefem zum mindeften ebenbürtig, indem er die Pforten der 
neuen Wiſſenſchaften auffchließt, welche vor ihm ber Menfchheit 
verfchloffen waren. 

Saft hundert Jahre ruhten die Gebeine des großen Floren- 
tinerd in dem unjcheinbaren Grabe, ehe man ed wagte, fie 
ihrer beicheidenen Ruheſtätte zu 'entreißen und in dem Mauſo⸗ 
leum zu verfenten, das Viviani feinem unvergehlichen Lehrer 
geftiftet hatte. 

Bon der Ruheftätte des Todten fingt Byron: 


Staub liegt in Santa Croce's Heiligthum, 
Der es noch heil'ger macht — — 

Seine Ruhſtatt nahm 
Alfieri dort und Angelo's Gebein rn 
Und Galilei's fternenheller Sram . 
Dort kehrte Machianell zum Staub, von dem er Fam. 


In dem Iahre, das Galilei jcheiben ſah, erblidte Iſaak 
Newton das Licht der Welt. Er war ed, der dad von Galilei 
begonnene Werl zur Vollendung führen follte. — Ihm war es 
vorbehalten, alle Erjcheinungen, die Galilei im einzelnen beobachtet 
und erflärt hatte, auf ein einziges Geſetz zurüdzuführen, auf 
dad Geſetz der allgemeinen Gravitation, dem die Bewegungen 
der Geftirne, wie auch die Bewegung ded vom Winde forte 
geführten Staublornd unterworfen find. 

Die ganze civilifirte Welt ſchließt fich der Kopernikaniſchen 
Meinung an, umd noch immer ftehen Galilei's Dialoge auf 
bem Inder der verbotenen Bücher. Noch im Jahre 1819 fehen 
wir das genannte Werk verdammt, damit eine derartige Meinung 
nicht zum Schaben der Tatholiichen Wahrheit weiter um fid, 
greife. Erſt 1822 wird beſchloſſen, daB die Drudlegung umd 


(87) 


44 


Veröffentlichung von Werfen, weldhe über die Bewegung der 
Erde und dad Stilfftehen der Sonne nad der gemeinfamen 
Meinung der modernen Aftronomen handeln, in Rom zu ge- 
ftatten jei. Aber nody bis zum Sahre 1835 dauerte es, bis 
Balilei’8 Wert aud dem Inder der verbotenen Bücher ver- 
ſchwunden war. | 

So lange hat der Kampf um die Freiheit der Wiflenfchaft 
gewährt. Mancher wadere Streiter unterlag in der Hibe des 
Gefechts, doch Andere traten in die gelichteten Reihen, die un- 
aufhaltfam vorwärts ftürmten, begeiftert durch den Schlachtruf: 


„Die Wahrheit fiegt.“ 


Literatur. 


Gebler, Karl v., Galileo Galilei und die römifche Kurie. Stuttg. 1876. 

— —, Die Alten des Galilei'ſchen Prozefis. Stuttg. 1877. 

Nelli, Gio. Batifta Elemente de, Vita e commercio letterario di 
Galileo Galilei, Loſanna 1793. 

Wohlwill, Dr. Enil, Publikationen über Galilei in der Zeitfchrift für 
Mathematik u. Phyſik. 


(88) 


Drud von Gebr. Unger in Berlin BW., Schönebergerfiz. 17a. 


Bon dem neuen XIV. Iahrgange (1885) von: 





. y 


BEN Sfreif- 3, S 


X Kenntniß 7 495 
gun A e 
RC j j Go Ie Ä 


12 
In Berbindung mit rd 7 


Prof. Dr. v. Aluckhohn, Redacteur A. Lammers, 
Prof. Dr. 3.8. Meyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


herausgegeben von 
Franz non KHolkendorff. 


(deſt 209224 umfalfend, im Abonnement jedes Heft nur 75 Pfennige) 
find ausgegeben: 


deit 209. Preuß (Berlin), Dentihland und fein Reichskanzler gegenüber denl 
Geiſte unferer Zeit. 
» 210. Zittel (Karlörube), Die Revifion der Lutherbibel. 


Ferner werden nach und nach, vorbehaltlich etwaiger Abänderungen im Ein- 
jelnen, folgende Beiträge veröffentlicht werden: 


Zhum (Breiburg t. Baden), Bilder aus der rujfifchen Revolution (Fürft Krapotlin, 
Stephanowitih Sceljäbom). 
v. Waltershauſen (Göttingen), Die Zukunft des Deutſchthums in den Vereinigten 
Staaten von Amerika. 
Eggers (Berlin), Klaus Groth und die plattdeutfche Dichtung. 
nborn (Breslau), Dad höhere Unterrichtöwejen in der Gegenwart. 
Wettingen), Das Referendum in der Schweiz. 
atel (München), Die praftiihe Bedeutung der Handelögeographie. 
d Surafcher. F., Nationalitäten und Spradenverhältniffe in Defterreich. 
Finfeluburg (Bonn), Die Cholera:Quarantaine. 
v. Holgendorff (Münden), Staatsmotal und Privatmoral. 
I Münden), Volkswirthſchaftslehre und Ethik. 
Haushofer (Münden), Kleinhandel und GroBinduftrie. 
Staudinger (Worms), Die evangeltiche Freiheit wider den Materialiomus des 
Bekenntnißglanbens. 
v, Orelli —8 Der internationale Schutz des Urheberrechts. 
d (Mainz), Das rückfällige Verbrecherthum. 
er (Berlin), Weber den Zufall, - 
van Stwinderen (Dremingen). Profiitution und Mädchenhandel. 
wert (Kiel), Die Lage unjerer Seeleute. 


„ Mit diefen beiden Sammelwerken, welche fi gegenfeitig er- 
ganzen (denn Vorträge und Abhandlungen, welde von der „ Sammlung” aus: 
geichloffen find, bilden bei den „Zeitfragen“ das Hauptmotiv), dürfte eine bisher 
tief empfundene Lüde wirklich ausgefüllt werden. u 

Die Sammlung bietet einem Zeden die Möglichkeit, ſich über die verſchiedenſten 
Begenftände des Wiſſens Aufklärung zu verihaffen und ift auch wiederum fo recht 
Pgnet, den Familien, Bereinen ıc. durch Vorleſung und Beſprechung des Ge⸗ 
ejenen reichen Etoff zu angenehmer und zugleich bildender Unterhaltung zu liefern. 

derielben"werden alle beſonders hervortretenden wiſſenſchaftlichen Intereflen unferer 
berüdfichtigt, als: Biographien berühmter Männer, Schilderungen 





grober hiſtoriſcher Seelgnilie, volkswirthſchaftliche Abhandlungen, 
ulturgelhichtliche Gemälde, phyſikaliſche, Arte gemilae, 
votaniſche, zoologiſche, —A arzneiwiſſenſchaftliche Vor— 
träge: und erforderlichen Falls durch Abbildungen erläutert. Rein politiſche 
und firchliche Partei⸗Fragen der Gegenwart bleiben ausgeſchlofſen (ſ. Zeitfragen). 

Die früheren Serien I-XIX (Jahrgang 1866—1884, Heft 1— 456 
umfajjend), find nad wie vor zum Subjeriptionspreis Serie [& 13,50 Mark broch., 
15,50 Mark eleg. in Halbfranzband gebunden; Serie II—XIX a 12 Mar! broch., 
à 14 Mark eleg. in Halbfranzband gebunden durch jede Buchhandlung zu beziehen. 
Bon den fräberen Serien I— VIII find je 6 Hefte für 3 Mark nad) folgendem 
Modus zu beziehen: 

Serie I.: Heft: 1—6; 7—12; 13—18 (4 M. 50 Pf); 19-24. — Serie IL: 
Heft 25-30; 31-36; 37—42; 43—48. — Serie IIL: Heft 49—54; 55—60; 
61—66; 67—72.— Serie IV.: Heft 73—78; 79—84; 85—90; 91 — 96.-- Serie V.: 
Heft 97—102%; 103—108; 109—114; 115—120. — &erie YI.: Heft 121—126; 
127—132; 133— 138; 139—144. — Serie VII.: Heft 145—150; 151— 1656; 157 — 
162: 168-168. — @erie VIIL.: Heft 189—174; 175—180; 181—186; 187—192. 
— Serie IX.: Heft 193—198 ,199 — 204; 205—210; 211—216. — Serie X.: 
Heft 217—222; 223— 228; 229—234; 235—240. — Serie XI.: Heft 241— 246; 
247—252; 253—258; 259—264. — Serie XH.: Heft 265—270; 271— 276; 277— 
282: 283—288. — Serie XIH.: Heft 289—294; 295—306 (6 Mark); 307—312. 
— &erie XIV.: Heft 313-318: 319330 (6 Mard); 331—336. — Serie XY.: 
Heft 337— 342; 343 —348; 349—354; 355—360. — Serie XVI.: Heft 361—37 
(6 Mar); 373—378; 379—384. — Serie XVIL: Heft 386—390; 391—396 ; 
397-402; 403—408. — Serie XVII: Heft 409414; 415—420; 421 - 426; 
427 —432. 


Die Zeitfragen find ganz bejonders daza angethan, die, die Gegenwart bejon- 
ders berührenden Interefſen in einer den wag überdauernden Form und in allgemein 
verftändlicher Weile vor Augen zu führen un geben ſomit Gelegenheit, ſich über dte 
brennendften Tageöfragen ein erichöpfendes Verftändnig zu verfchaffen. Diefelben 
nehmen fih die großen Angelegenheiten der Gegenwart, die Streit: 
fragen der Schule und des Unterrichtsweſens, der Arbeiterbewegung, 
ber Kirche, der Literatur und Kunf, ded Staates und der aus— 
wärtigen Politik zc. ıc. zum Gegenftande ihrer Betrachtung. 

Die Sahrgänge I- XIII, Heft 1—208 umfafjend, find complet brod). & 12 Mart 
eleg. geb. In Satbfrangband à 14 Mark nadı wie vor käuflich. Bon den früheren 
Sahrgängen I— XII fünnen je vier Hefte auf einmal nad folgendem Modus für 
3 Mark bezogen werden: 

Jahrgang I.: Heft 1—4;5—8;9—12;13— 16. — Jahrgang II.: Heft 17— 20; 
21-24; 25—28; 29—32. — Sahrgang ILL: Heit 33—36; 37-40; 41-44; 
45—48. — Jahrgang IV.: Heft 49-52; 53—56; 57—60; 61—64. — Jahr⸗ 
gang V.: Heft 66—68; 69-72; 73-76; 77—80. — Jahtgang VL: Heft 81 
—84; 85—88; 89-92; 93-96. — Jahrgang VIL: Heft 97—104 (6 Mart); 
105—108; 109—112. — Sahrgang YIIL: Heft 113—116; 117—120; 121—128 
$ Mark). — Sahrgang IX.: Heft 129—132; 133-140; (6 Mar) 141 —144. — 

abrgang .. Heft 145—148; 149 — 162; 153—156; 157 — 160. — Jahre 
ang XI.: Heft 161—164; 165— 168; 169-172; 173—176. — Jahrgang : 
eft 177—180; 181—184; 185—188 ; 189—192. 

Proſpekte, enthaltend zwei Werzeichniffe der biöher erſchienenen Hefte der 
Sammlung und Beitfragen, weiche auch apart zu den beigejchten Preiſen 
käuflich find, und zwar 

1) Nach Serien und Jahrgängen geordnet, 

2) Fe den RE geordnet, 
(e8 wird bei den sub 2 verzeichneten Heften, bei welchen die nolftändigen Titel 
angegeben find, auf die innerhalb der einzelnen Materien gewährten günftigen 
Bezugdbedingungen aufmerkſam gemacht) find durd jede Buchhandlung zu beziehen. 


WEB Deitellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. "ug 
Abonnement bei jeder Buchhandlung. 
Berlin SW., 33 MWithelmftraße 33. 


Carl Habel. 
(C. ©. Lũderitz'ſche Verlagsbuchhandlung.) 


& 


d 


er 





enthalten dag Arsgramm der neuen XX. Gerie (I 
—— XIV. Jahrganges (1885) der Reit-Sragen. Genaue Inhalts-Me 





Sammlung 
gemeinveritändlicer 
wiffenfhafttiher Vorträge, 
| beransgeheben von u ; 
Aud. Virchow und Fr. von Holtzendorff. 





XX. Grrie. 
(Heft 457 — 480 umfafjend.) 


BL 2 ZN u Zr 


Heft 459. 


Die Nialsſaga ein Epos 


und 


das germaniſche Heidenthum in feinen Austlängen im Norden. 
Bon 
Ar. Wilhelm Goetz 


GH 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 
(€. ©. Züderity'sche Beriegsbuuhandtung.) 
38. Bükeim-Eiraße 38. 


8 


— 


Es wird gebeten, die anderen Seiten des umjdtagen zu beachten. M Dieſelben 
885) der Aammlung, ſowie das 
fie, und) „Serien und Ichrgängen“ und nad —I ———— 
n e 66 
And ch jede Anhhandlung gratis zu bezichen. ” 










Einladung zum Abonnement! 


Die Jury der „Internationalen Ausſtellung 
von Ge enftänden für den häudlichen und 
u newerbffchen Bedarf zu Amfterdam 1869" 
hat diefen Vorträgen die 
Goldene Medaille 
zuerfannt. 








Bon ber XX. Herie (Jahrgang 1885) der 
Sanmlung gemeinverftändlicher 


wiffenfHaftliher Borfräge, 


berandgegeben von 


And, VLBirchow und Sr, v. Holtzendorff. 
Heft 457 — 480 umfalfend Cim Abonnement jedes Heft nn 50 Pfennige) 


And erſchienen: 


Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Xobten bei den 
verſchiedenen Bölkern. 

„ 458. Pilgrim (Ravensburg), Galilei. | 
„ 459. Goe (Waldenburg b. Bafel), Die Nialsjaga, ein Epos und das 
germantfhhe Heidenthum in feinen Ausklängen im Norden. 

„ 450. Schumann (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender des XIII. Zahr- 

bunderts. 


Vorbehaltlich etwaiger Abänberungen werden ſodann nad nud nad aus. 
gegeben werben: 


Gräubaum (Münden), Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 

Seel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrichs d. Großen zur Humanität im Kriege. 

Engelhorn (Maulbroun), Die Pflege der Irren fonft und jeßt. 

Zſchech (Hamburg), Giacomo Leopardi. 

Hoffmanunm (era), Der Einfluß der Natur auf die Rulturcntwidiung ber Menſchen. 

Ezelelins (Hermannftadt), Ein Bild aus der Zeit der Gegenreformation im 
Siebenbürgen. 

Frensberg (Saargemänd), Schlaf und Traum. 

Kroneder (Berlin), Die Arbeit ded Herzens und deren Quellen. 

Aöfch (Hellbroun), Der Dichter Horatiud und fetne Zeit. 

Dames (Berlin), Geologie der norddeutſchen Ebene. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Diderot?. 

@erland (Kafiel), Thermometer. 

Zrede (Neapel), Das geiftlihe Schauspiel in Säbditalten. 

Virchow (Berlin), Ueber Stäbtereinigung. 

Eyfiendardt (Hamburg), Aus dem gejelltgen Leben des XVII. Jahrhunderts. 

Zreichler (Zurich), Politiihe Wandlungen der Stadt Zürid. 

Sommer (Blankenburg), Die pofitive Philoſophie von A. Comte. 

Dondorff (Berlin), Kaiſer Otto III. 


( 


Die 
Hinlsfaga ein Epos 


das germanifhe Heidenthum 


in feinen Ausklängen im Norden. 


Bortrag 
von 


Wilhelm GBork, 
Dr. phil. 


GP 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Garl Habel. 


(©. 6. Zührrity'sche Berlagsbacpandlung.) 
83. Wilhelm⸗Straße 33. 








Das Recht der Meberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Sine ber intereflanteften isländiſchen Sagas, ja bie Königin 
berielben tft die Nialsſaga, die in Dänemark nad) der Wieder- 
gabe von Lefolii zum Volksbuche geworben ift und die uns in 
der dentichen Ueberſetzung von I. Clauffen!) vorliegt. Die 
rafch, „ohne Schnörkel und Nebenbauten," vorwärts fchreitende 
Erzählung knüpft vielfah an bekannte Geſchehniſſe und Perfonen 
ber nordifchen Gejchichte an. Wer fie aber niedergefchrieben unb 
ihr ihre jeßige proſaiſche Geftalt gegeben hat, davon wiſſen wir 
ebenfo wenig wie von den Geltaltern der übrigen altnordiichen 
Sagen, welche und überkommen find; fie ſcheint zu ber gleichen 
Zeit ihre lebte Faſſung erhalten zu haben wie die mittelhoch- 
deutfchen Epen, da8 „Nibelungenlied” und die „Gubrun.“ 

Mit lebterer Dichtung, in deren Mittelpunkt der deutjche 
Volksſtamm der Friefen fteht und die uns in das Harlingerland 
im Norden von Dfifriedland führt, hat die Nialdjaga vorzugs⸗ 
weife einen Berührungspunft, indem auch fie ber Epoche der 
Normannenzüge angehört, jenem jüngften Alte ber Bölfer- 
wanderüng, weldyer wie eine Springfluth gegen die Küften von 
Europa ſchlug, heerend die füdlichen wie die nördlichen Lande. 

Wie nun die Hauptbegebenheiten unjerer Saga auf hifto- 
riſcher Wahrheit beruhen, fo Tann auch fein Zweifel darüber 
walten, daß das ganze Bild, welches fie ums von der Denf- 


und Lebensweiſe der altisländiichen Geſellſchaft übermittelt, ber 
xx. 459. 1? (91) 


4 


Wirklichkeit voll entipriht. Der Culturhiſtoriker findet eine 
Fülle von merkwürdigen Sitten und Gebräuden, der Rechts⸗ 
forfcher infonderheit fühlt fich angezogen durch die Darftellung 
der rechtlichen Verhaͤltniſſe überhaupt ſowie befonderd der eigen- 
artigen Ting⸗Gebräuche. Gewiß iſt die Nialdfaga eine der 
wichtigeren Urkunden für die germaniſche Rechtögeichichte, ba 
fie Zeugniß davon ablegt, wie ſich in der erften Hälfte bes 
Mittelalters dad Recht bei den germanifcdhen Stämmen des 
Nordens und ſpeciell auf Island entwidelt bat. 

Die Helden, weldye und das Lebensbild vor Augen führt, 
gehörigen zu dem mächtigen Herrenftande des Nordens, den 
Bauern (Bonden), hinter weldhen die große Menge der ab» 
hängigen Leute, Hinterfaffen oder Pächter und Sklaven ?), ftand 
und bei denen auch freie Männer, fchuldige und umjchuldige, 
Schub und Unterkunft fanden. 

Für die Freifaffen war Zreiheit und Selbitftändigfeit des 
Lebens Föftlichfte® Gut; Ehre, Ruhm und Anſehen deſſen höchftes 
Ziel. Und ſchon aus „Hawasmal," einer uralten iöländifchen 
Sammlung poetifcher Sprüche, weldhe man Odin felbft zufchrieb, 
erfennen wir die Werthſchätzung des großen Namens: 

„Vieh ftirbt Hin, 

Deine Verwandten fterben, 

Stirbft auch ſelbſt; 

Aber Ruhm ſtirbt nimmer, 
Erwarbſt du edlen. 

Vieh ſtirbt hin, 

Deine Verwandten fterben, 

Stirbft auch felbft; 

Eines weiß ich, das nimmer ftirbt: 
Das Nachloos des Todten.“ 

Hand in Hand mit diefer Auffaffung ging die Hochſchätzung 
von Geld und Gut; diefes war dad gewaltige Mittel, welches 

(99) 


5 


ben islaͤndiſchen Großen es möglich machte, ſowohl Männer ge 
nug zu unterhalten, um ihre hervorragende Stellung zu bes 
- baupten, als auch fidh überhaupt mit dem Glanze zu umgeben, 
ben biefe benöthigte. Den Reichen zierte die Tugend der Frei 
gebigfeit, „die Milde,“ von der Konrad von Würzburg, ben 
echt germanifchen Zug achtend, fo ſchoͤn fingt: | 

„Milde ift, merkt alle das, 

Hoher Ehren Spiegelglas: 

Mild if hoͤchſte Tugend auf der Erben.” 

Die ureigentliche Duelle des Anfehens und der Ehre blieb 
immerhin den Männern Mutb und Kühnbeit, redenhafte Kraft 
und Gewandtheit im blutigen Waffenipiel, Dieje Eigenſchaften 
balfen ihnen, Gut und Ruhm zu gewinnen auf ihren Wikinger 
zügen bis nach Barberige (Gardaland Rußland); fie ermöglichten 
ed, jeden Schädiger ihrer Ehre zu züchtigen und den Wider 
jaher zu fchreden durch die Forderung zum Holmgang, einem 
Zweikampfe auf einer Meinen Inſel (Holm), welche feine Aud⸗ 
flucht bot. Als ſolche war vor allen Samjd bei ben. Nord⸗ 
maͤnnern beliebt, an der Stelle, wo ber große und der kleine 
Belt zufammentreffen. 

Und in der „Geſchichte von Gunnlaug Schlangenzunge” ®) 
wird und von einem Holmgang erzählt, ber wirklich bedeutend 
it und und an eine Unfitte erinnert, welche unferer Zeit noch 
anbaftet: 

— — ‚Hermund hielt ben Schild vor Gunnlaug, feinen 
Bruder, und Sverting, der Sohn Hafı-Björns, vor Hrafn. 
Man hatte ausgemacht, daß der, welder verwundet würde, fein 
Leben mit drei Mark erkaufen ſollte. Hrafn hatte den erften 
Schlag, weil er gefordert worden war; er hieb von oben in 
Sunnlaugs Schild, fo. daß dad Schwert fofort unterhalb des 
Griffes entzwei fprang, da ber Schlag mit aller Wucht gefallen 

(0 


6 


war. Die Spite des Schwertes jedoch prallte von dem Schilde 
ab und traf Gunnlaug an die eine Bade, fo daß er eine ganz 
leichte Berwundung davon trug. Da eilten bie Bäter beider 
fogleih hinzu nnd viele andere Männer. Gunnlaug ſprach: 
Ich erkläre hiermit Hrafn für befiegt, da er feine Waffe mehr 
bat! Aber icy erfläre, daB du befiegt bift, entgegnete Hrafn, 
da du verwundet bift! Da wurde Gunnlaug jehr wild und 
zornig und fagte, die Sache ſei noch nicht abgemadt. Sein 
Pater Illugi aber erflärte, für diedmal folle in dieſer Sache 
nicht8 mehr geichehen. Das wäre mein Wunfch, verſetzte Gunn⸗ 
laug, dab ich mich mit Hrafn ein anderes Mal träfe, wo bu, 
Bater, nicht fo nahe bei der Hand wäreft, um und zu trennen! 
Damit gingen fie außeinander, und die Männer zerftreuten fich 
in ihre Zelt. Am anderen Zage in der gelehgebenden Ver⸗ 
fammlung wurde das zum Gefe erhoben, daß von da an aller 
Zweikampf abgefchafft fein follte, und zwar geichah das nad 
dem Vorſchlage aller verftändigen Männer, die dabei anweſend 
waren; und in der That waren die weileften Männer des ganzen 
Landes dba verfammelt. Das ift der lebte Zweifampf, der auf 
Island ftattgefunden hat, ald Hrafn und Gunnlaug zujammen 
fampften.” — 

Das geſchah im Sommer 1006). 

Gold oder Goldeswerth, durch Gewalt oder Lift errungen, 
bringt aber wie den Nibelungen fo audy den Helden der Nials⸗ 
faga In Wahrheit lauter Unheil; ein Erbgut und ein Goldring 
geben den erften Anftoß zu den raſch ſich folgenden Verwicke⸗ 
lungen: 

„Hier ift ein Goldring, den ich dir geben will!” fagte 
Gunhilde, die norwegiſche Königsmutter, und ftreifte denjelben 
auf Ruts, des flarfen Söländers, Arm. Darauf jchlang fie 
ihre Arme um feinen Hals, küßte ihn und ſprach: „Habe ich 


(9) 


7 


di) jo in meiner Gewalt, wie ich ed glaube, fo lege ich bir 
biermit das Geſchick auf, daß du kein Glück findeft an der 
Seite des Weibes, an welches bu denkſt.“ 

Leiteten doch vom Golde, dem jo leidenfchaftlich geliebten, 
die Germanen den Urſprung des Böfen beri In der Zeit ber 
Unſchuld umd Liebe war fremd die Gier des Goldes. Und es 
ft eine uralt germanifche Anjchauung, die der große Tragifer 
feinen Romeo in den Mund legt, da diefer bei dem Apotheter 
in Mantua Gift kanft: 

„Hier iſt dein Golb, ein jchlimmeres Gift für Seelen, 
Das in der argen Welt mehr Morb verübt, 

Als alle beine ſchwerverponten Zränte. 

Du kaufteſt Gift von mix, ich nicht von bir.“ 

Die auri sacra fames! 

Goldringe („daB rothe Schlangengold,* d. h. das Gold, 
welches in Geftalt von Spangen am Arm getragen wurbe, „die 
Höhen des Armfeuerd,” d. b. die gewundenen, cifelirten Gold⸗ 
fangen) find von fonderlicher Bedeutung auch in der „Beichichte 
von Gunnlaug Schlangenzunge ,” in der „Sage von Fridthjofr 
dem Berwegenen“ 5), in der „Hovardb Isfjordings⸗Sage“ ©). 

Unter den Helden unſerer Saga ericheint im Bordergrunde 
Gunnar. „Er war von hohem Wuchs, ftart und tüchtig im 
Baffenhandwert wie fein anderer, ſowohl im Schwert- wie im 
Speerfampf, bejonderd aber im Gebrauch des Bogend; denn 
er verfehlte niemals das erwählte Ziel. Außerdem zeichnete er 
fih vor allen in Leibesäbungen aus, er ſchwamm wie ein Sees 
hund; kurz, in keiner Art von Uebungen, weldye dem Manne 
geziemten, Tonnte fidy jemand mit ihm zu meflen wagen, und 
feinen ſah man ald ihm ebenbürtig an. Er hatte ein freund« 
liches und angenehmes Aeußere, war blond, hatte belle blaue 


Augen umd eine gerade, etwas aufgeworfene Naſe, und fein 
(95) 





8 


‚Haar fiel ſchwer und voll ‚über die Schultern und hatte eine 
Ihöne Farbe Auch war er von feinen nud einnehmenben 
Sitten, fchnel zur That, mildthätig, fanftmüthig und. von 
zubiger Sinnesart, treu gegen feine Freunde, aber eigen in 
ihrer Wahl. Dazu war er au Gütern reich gejegnet.” 

Wir. wiederholen: Unter ben Helden unferer Saga ericheimf 
im; Bordergrunde Gunnar; benn bie vollenbetften Heldenſagen 
feiern nicht einen Helden und feine Thaten ausſchließlich, 
fondern fie ftellen uns eine Welt voll Helden und Heldenthum 
vor Augen, fo, daß es in diefen Epen erfter Ordnung nicht ges 
ftattet ift, nach einer Hauptperſon zu fragen. 

Nial ift gleichfalls ein body) angefehener Mann. Das wird 
er durch feine Klugheit; denn diefe ift ebenjo unentbehrlich wie 
bie Kraft für den, welcher feine Selbftftändigkeit bewahren will; 
ohne fie kaun niemand ſich eine bedeutende Stellung fichern 
in einer Gemeinſchaft, im welcher alle gleich hoch ftehen und 
gleiche Macht befiten. 

Die Klugheit ift die Duelle der Sittenlehre bei den heid- 
niſchen Bewohnern ded Nordens („Hamwasmal*); fie macht es 
ihnen zur heiligen Pflicht, Wort und Eid getreu zu halten und 
dem Gejehe des Landed und dem Spruche des Gerichted zu 
gehorchen. 

Da Gunnar fi einer Gejebeöverlebung fchuldig macht, 
muß er fallen. Und er verlebte das Geſetz gegen Niald Rath. 
Gunnar und Nial ritten mit einander, und biejer fprady: „Halte 
jetzt ben Vergleich mit deinen Feinden, mein Freund; bu haft 
zwei Männer aus demjelben Geſchlechte erichlagen; erinnere dich, 
wenn bu dieſen Vergleich bridft, wird ed dein Tod fein. 
Fährft du aber fort — er follte außer Landes gehen und drei 
Winter hindurch fortbleiben —, dann wird Dir dieſe Fahrt ins 


Ausland mehr Ehre eintragen als vordem deine Bilingerfahrt 
6) 


9 


ins Oftland?), wie jeher du auch durch fie an Ehre gewannft. 
Kchrft bu zurüd, dann wird dein Ruhm und dein Anſehen 
jo groß fein, daß kein Mann ed wagt, dich auf den Fuß zu 
teten, und du wirft ein hohes Alter erreihen.” Gunnar ere 
Härte, er beabficdhtige nicht, den eingegangenen Vergleich zu 
brechen. 

Was geſchah aber? 

Da Gunnar zu Schiffe gehen wollte, ftolperte fein Pferd, 
fo daß er von ihm fprang. Dabei jah er zufällig zum Berg» 
bang und zu dem Hofe am Ende des Berghanges binauf. 
„Schön ift der Berghang,“ riefer aus, „und nie ſah ich ihn fo 
herrlich, gelb werden die Saatenfelder und zur Ernte reif, und 
gemäht ift das Heu auf der Fenz. Ich reite heim." — 

So ward Gunnar friedloß, verluftig der Wonne und Weide. 

Die Kraft nübt nichts ohne Klugheit; aber ebenjo wenig 
nüßt Klugheit ohne Kraft. Das leßtere erjehen wir aus Nials 
Geſchick. So lange diefer und Gunnar durch unerjchütterliche 
Freundſchaft verbunden bleiben, find fie unüberwindbar. Wie 
aber Gunnar fällt, weil er aufgehört, Nials Mugen Rathichlägen 
zu folgen, fo fällt auch Nial, weil ihm Gunnard Träftiger 
Freundesarm fehlt. 

Dort, wo die Ehre des Lebens hoͤchſtes Ziel, Freiheit und 
Selbftftändigkeit fein theuerfted Kleinod ift, dort wird die Rache 
zur eriten Forderung bed Lebens an den Mann. Unjere Saga 
theilt mit dem Nibelungenlied das Leid, welches zu Anfang 
diefer Dichtung fo einfach prophezeit wird: 

Durch stn eines sterben starp vil maneger muoter kint. 

- Und aber die Rachſucht der Weiber Aberbietet auf Island 
diejenige der Männer, gang im Gegenfabe zu ben Frauen in 
der Gudrun,“ welche dreimal die Männerleidenſchaft bändigen 


und, nach dem altengliichen Ausdrucke, ald Friedensweberinnen 
N) 


10 


auftreten. Doch fehlt e8 in den altnorbijchen Geſchichten, denen 
moderne Sentimentalität fo fern liegt, nicht an ergreifenden 
Zügen vol &rhabenheit und echter Weiblichkeit. Da Nials 
Gattin fi aus dem brennenden Haufe retten joll mit ber 
Feinde Erlaubniß, entgegnete fie: „Sung wurde ih Nial an⸗ 
getraut, und ich habe ihm gelobt, Wohl und Wehe mit ihm zu 
theilen.“ Und fie beide gingen zu ihrer Ruhe ein. 

Sobald fremde Gewalt oder Lift einen Eingriff gethan hat in 
feine Machtftellung und fein Eigen, muß ber iöländijche Baner 
ſofort Sühne für den erlittenen Schaden ſuchen, und dieſe findet 
er, indem er Wiedervergeltung übt. Im älterer Zeit war ed 
ſchimpflich für die, welche Rache üben tonnten, Wehrgeld an- 
zunehmen, und es fonnte daher die Annahme defjelben jederzeit 
verweigert werden, wie benn Nial den Flammentod ſucht mit 
ben Worten: „Ich bin jet ein alter Mann, fo daß ich nicht 
geeignet bin, meine Söhne zu rächen; mit Schande aber will 
ich nicht leben.” — 

Untere Erzählung zeigt zuerft ein unjcheinbared Samen- 
forn; dieſes keimt aber, und böfe Früchte trägt die böfe Saat. 
Nachdem der erite Anftoß gegeben tft, durch welden die Macht 
der Vergeltung in Thätigfeit tritt — an die Sohlen bed Rache⸗ 
übenden heftet fi wieder die Rache —, folgen die Begeben- 
heiten Schlag auf Schlag, umd jeder Schritt vorwärts verleiht 
dem Boͤſen mehr und mehr Macht, und lauter und gewaltiger 
wird bie Sorderung der Sühne — 

Rutd Ehe mit Unne Mördstochter iſt eine unglüdliche. 
Indeſſen ladet er durch diefen Mißſtand in den Augen bes 
Nordländers feine Schuld auf fi; denn er befindet fidh im 
Banne eined Zanberd. Freilich bat er fih, um das ihm in 
Norwegen zugefallene Erbe zu erhalten, in Frau Gunhilde's 


Macht gegeben; aber dieſes Verhältniß hatte für den heidniſchen 
(98) 


11 


Nordmann nichts Anſtoͤßiges. Dagegen iſt Moͤrds Verfahren, 
die Scheidung Unne's von Rut zu Wege zu bringen, wenn 
auch gefehli fo doch nicht ehrenhaft; und eben jo wenig ift 
ed ehrenhaft von Rut gehandelt, dab er die Mitgift Unne's 
zurückbehalten will. Aber Gunnar, der Iehteren Better, nimmt 
fih der Geſchiedenen an: 

Kurze Zeit, nachdem Mörd feine Sache gegen Rut ver 
Ioren hatte, wurde er Trank und ftarb. Er hatte wenig Ehre 
davon, daß er mit Aut, der ihn zum Holmgang gefordert, nicht 
fämpfen mochte. Seine Tochter Inne mar noch nicht wieder 
verbeirathet und die einzige Erbin ihres Vaters. Sie aber 
war verichwenderiih und nicht umfichtig im der Verwaltung 
ihres Gutes, und das baare Geld ſchwand ihr unter den Händen 
dahin, jo daß fie endlih nichts beſaß als ihr Land und das 
Vieh. Daher machte fie fit auf den Weg zu ihrem Better 
Gunnar auf Hlidarende (Ende des Berghangs). Diefer empfing 
fie freundlih, und fie blieb dort über Naht. Am folgenden 


Tage ſaßen fie vor dem Haufe im ernften Gefipräh, und Unne 


Magte ihm ihre Noth, daB fie ded Geldes ſehr bedürftig fei. 
„Ich will dir von meinen Zinfen laſſen, fo viel du brauchſt,“ 
jagte er. „Bon deinem Gelde will ich nicht zehren,“ erwiberte 
fie. „Wie willft du es denn gehalten haben?“ fragte er. Sie 
entgegnete: „Ich will, dab du Rut wegen meines Gutes (der 
Mitgift, welche Rut nad dem Weggange Unne’s, feiner Fran, 
zurüdbehalten) belangft.” „Es find Feine Ausfichten vorhanden, 
daß ich Erfolg haben werde,” ſprach er, „ba dein verftorbener 
Vater die Forderung nicht durchjeßen konnte, wiewohl er ein 
geſetzeskundiger Mann war; ich aber fenne nur wenig vom 
Geſetz.“ Denn in Bezug auf die Rechtspflege hatte Island die 
Eigentyämlichkeit, daß dad Geſetz eine Menge von Beflimmungen 

E (9) 


12 


barüber enthielt, wie man bei ber Anhängigmachung und der 
Durhführung einer Sadhe auf dem Ting vorzugehen habe. 

Derjenige, welcher auch nur von einer der überlommenen 
Beftimmungen abwich, gab ſich dadurdy feinem Gegner gegen« 
über jofort eine Blöße, jo daß er feine Sade verlor. Nun 
aber war es ein ſchwieriges Ding, alle Beftimmungen des Ge⸗ 
jeßes für jede Art von Klagen zu kennen, zumal da die Isländer 
noch nicht dad ganze Geſetz gefammelt und niedergefchrieben 
hatten, wie es fpäter in dem Geſetzbuch geichah, welches, Graa⸗ 
gaaſen“ (die graue Gand) bie. Auf Gunnard Einwendung 
antwortete Unne: „Mehr durdy Gewalt und Trotz als durch 
Geſetz und Recht gewann Rut die Sache, und ich habe Feinen 
Better, der die Sache übernehmen mag, falld dir dazu der 
Muth fehlt." „Nicht der Muth mangelt mir,” ſprach Gunnar, 
„aber ich weiß nicht, wie ich es anzufangen babe." „Dann 
fahre du zu Nial auf Bergthorſhvol und rede mit ihm,” ver 
jeßte fie, „er wird dir guten Rath geben können, zumal er 
bein Freund iſt.“ „Allerdings,“ erwiderte Gunnar, „er pflegt 
mir guten Rath zu geben wie auch jedem anderen." So über⸗ 
nahm Gunnar denn jchlieglidh ihre Sache. 

„Das bat alles Weibes Rath gethan.“ Ä 

Und durch die Lift, die Nial ihn üben lehrt, zwingt Gunnar 
Nut zur Herausgabe von Unne's Mitgift. 

Bei der Gelegenheit zeigt fih Gunnar aud als einen 
Skjald, ald einen Dichter, der zugleich jeine ſpottenden Lieber 
fingt, wie uns foldhe zumal in der „Geſchichte von Gunnlaug 
Scylangenzunge" und in der „Hovard Jsfjordings⸗Sage“ er 
halten find: 

„Verachtet ift bei uns der Mann, 


Der nicht die Zunge brauchen Tann!“ 
Hovard Jofjordings⸗Sage. 


(100) 


13 


Nial Hatte alled vorgeſchaut. So entrann Gunnar, der 
in nicht8 von den. ihm gegebenen Rathichlägen abwich, feinen Ber» 
folgern, weldye durch den Traum Höskulds auf feine Spur ge 
tommen: In der Nacht erwachte Höskuld auf Höstuldftad, Ruts 
Bruder, wedte alle jeine Hausgenoſſen und fagte: „Ich will 
euch einen Traum) erzählen, den ich gehabt habe. Mir fchien, 
ich fah einen großen Bären aus meinem Hofe hinausgehen — 
der verfleidete Gunnar hatte auf dem Wege nad Ruts Hofe 
auch Höskuld heimgeſucht —, zwei unge folgten ibm, fie 
wandten fid) nad) Rutitad und gingen dort hinein. Nun frage. 
ih euch, ob ihr an jenem großen Mann, der geftern Abend 
unfer Saft war, etwas Befonderes gefehen habt." Ein Mann 
antwortete, er babe einen Goldihmud und ein Stückchen rothes 
Zuch unter dem Aermel bed Mannes hervorlugen fehen; außer- 
dem habe verjelbe einen goldenen Ring .am Finger getragen, 
„Daun war der Bär Gunnars von Hlidarende Schuögeift!" 
rief Hoͤskuld, denn die heidniſchen Nordländer glaubten, jeder 
Mann babe feinen Schußgeift (Fylgja), der in Geftalt eines 
Thiered vor ihm hergehe oder ihm nachfolge?). „Seht auf 
nach Rutſtad!“ befahl Höskuld. 

Doch Gunnar hatte ſich in der Nacht davongeſchlichen. 

Der norwegiſche Glaube aber, einem jeden Menſchen gebe 
fi fein Schutzgeiſt in Geftalt eines ſolchen Thieres zu erkennen, 
das zu feiner eigenen Sinnedart am nädhiten ftimmt, findet 
fiy auch bei ben nordamerilanifchen Indianern. Der Manitto 
wird dem Menſchen im Traume verlieben und bat ihm nun 
überall beizuftehen. Der eine befommt jo die Eule, der.andere 
den Büffel zum Begleiter; der Wilde ift ftolz darauf und hält 
fich für ſtark und mädtig?!°). 


Ebenſo treten die warnenden wiſſenden Thiere auch als 
(101) 


14 


Rächer des Mordes auf, indem fie die Mörder verfolgen und 
der Strafe überliefern. 
„Und lautlos fteht die Schaar zuhauf: 

ba Hattern die Adler vom Baume auf. 

Auf der Zungfrau Schultern ſitzen fie traut 

und reden den Schnabel und fchreien laut. 

Die Sungfrau ſpricht: „Gen Nord, gen Nord! 

bie Adler fhreim um Mord, um Mord!) 

Menden wir und nunmehr zu Nial, nach dem unfere Saga 
den Namen trägt, ohne daB er der Hauptheld derſelben tft, 
wie denn, wie ſchon gefagt, nur einen Haupthelden die Nials- 
faga fo. weniz kennt, als die Ilias oder dad Nibelungenlied. 
Sin Gunnar, ein Nial, ein Starphedin, ein Kaare, ein Floſe, 
fie alle fordern ein jeder eiu fonderliches Interefje, und diejes 
jeweilig ganz und gar. 

Nial Thorgeirfohn war reich an Gut, mild und von edler 
Sinnesart; er war fo geſetzeskundig, daB er darin feinesgleichen 
nicht. fand, dazu klug und beſaß die Gabe des zweiten Gefichts, 
die nach dem Bollöglauben in manchen einförmigen Gegenden, 
Gebirgsthälern (3. B. in dem Steinthale bei Straßburg), in 
Stland und befonderd in Hochſchottland, auf einfamen Snieln, 
in Weftfalen heimiſch und in gewiſſen Familien erblicy fein 
pl. Er gab gute Rathidhläge und gab fie gern, und was er 
vorjchlug, nahm ein gutes Ende. Bon Ausjehen war er freund⸗ 
lich; aber eins fehlte ihm, und das war damals kein geringes 
Ding für einen Mann: er hatte feinen Bart, des freien Mannes 
Zeichen. 

Alle Theile laden Schuld auf fi; die Nothwendigkeit der 
Sühne tritt ein. 

Die Rache kommt über Gunnar durch feine Gattin Halgjerbe; 


die „välentinne“ aber ift Ruts Verwandte. 
(109) 


15 


„Sieb mir zwei Loden von deinem Haar,” fagte der von 
feinen Feinden. im Haufe Bbelagerte Gunnar zu feinem Weibe, 
da ihm die Bogenjehne unbrauchbar geworden, „nnd flicht du 
mir eine Bogenfehne daraus, Mutter,” zu Ranveig. „Hängt 
etwas davon ab?” fragte Halgierde. „Mein Leben hängt davon 
ab,” rief er; „Tann ich nur meinen Bogen gebrauchen, jo werben 
fie mir niemald nahe kommen.“ „Dann werde ich dir bie 
Ohrfeige gedenken, die du mir gabft," fagte fie, „mir ift es 
gleichgültig, ob du dich längere oder Türzere Zeit wehrft. 
„Ein jeder bat dad Seine, wodurd er fich einen Namen er⸗ 
wirbt,” entgegnete Gunnar, „ich werde dich nicht lange bitten.” 

Und den Vorgang in unferer Saga bat ein Volkslied zum 
Borwurfe genommen, welches auf der färingiichen Inſel Syderoͤ 
aufgezeichnet ward. Es heißt Gunnars kuädi: 


Das Gunnarlied. 


Gunnar, der Kämpe, ſchoß — ba fprang 
ihm an feinem Bogen der Strang. 


Halgerd, zeige nun wie du mid, liebt, 
bamit daß du eine Locke mir giebft. 


Melde mir, warum ich miſſen ſollt 
Haar meines Haupts, das fo lang und gold? 


War's mir doch immer die größte Zier, 
wozu begehrft du's? Gag’ es mir! 


Zeinde folgen; zu ihrem Empfang 
gieb es, jonft wird es mein Untergang. 


Gieb mir zum Bogen des Hanptes Haar; 
wachſend nahet ſich ſchon bie Gefahr. 


— Nun denn, nach allem was mir wiberfuhr, 
flebft du umſonſt um ein Loͤckchen nur. 


(108) 


16 


Noch nicht hab’ ich's verſchmerzt genug, 

wie deine Hand auf die Wauge mich ſchlug. 
Halgerd, jo foll man durch alle Lande 

lang des gedenken zu deiner Schande — 
Bitterlich weinet die Mutter: „Mein Haar, 
nimm es und rette dich aus der Gefahr!“ 
Niemals: — Eh falle dem Feinde mein Haupt, 
ehe man dich eines Härchens beraubt. 

In der Folge wird die Tochter Halgjerde's, Thorgjerde 
Slumstohter, mit Thraen, Gunnard Oheim, verbeiratbet, 
Mutter des Höskuld; und diefe beiden Männer werden das 
Mittel zur Vergeltung an Nial. So kommt durch das Ge⸗ 
fchlecht, welches Unrecht erlitten bat, die Rache über die, welche 
ed übten. 

Der Macht der Vergeltung gegenüber nützt Nials Klugheit 
für fi allein nichts; denn ihm gebt jegliche Kraft zu mann« 
bafter That ab; er iſt ja auch bartlos. Wohl hat er ftarfe 
Söhne; doch an ihnen findet er keinen Rüdhalt; denn deren 
Kraft fehlt Bejonnenheit, ohne welche bie Kraft zur Unbändig- 
feit und Wildheit wird. Die Bejonnenheit einzig bewirkt, daß 
die Kraft ſich durch Klugheit leiten läßt; aber Nials Söhne — 
vor allen Starphebin (der jcharfe, ſchneidige Hedin), „der einem 
Joͤtun gleicht und das Unglüd zum Begleiter zu haben jcheint” 
— geben zu feiner Zeit der Klugheit ihres Baterd Gehör. So 
geichieht ed, daß fie felbft, „tumb“ genug, mit feinen Feinden, 
wie mit Unne's Sohn, dem falihen Mörd, Hand in Hand 
gehen und fi) gebrauchen laſſen, deren Zwede zu fördern. 
Nun wird Nials ganze Klugheit machtlos; ja jeine beften Rath- 
ſchlaͤge dienen fogar dazu, feinen eigenen und jeined Haujeß 
Untergang zu beichleunigen. Ex fieht die Gefahr, welche ihm 
und feinem Haufe droht und kann fie nicht wenden; er weiß, 

(104) 


17. 


Daß nad) Gunnars Tode der Unfriede ihn und fein Haus ver- 
nichten wird, und ihm bleibt feine Zeit, den Schritt feiner 
. Söhne zu hindern, durch welchen fie den Unfrieden weden. 

In unferer eigenen Seele gereinigt erkennen wir, wie Nial 
erliegen muß dem großen gigantiihen Schiefal, 

„welches den Menſchen erhebt, 
wenn ed den Menſchen zermalmt“. 

Der Zag war gelommen, an weldyem fi unter Floſe's 
Anführung Niald Feinde deffen Hofe nahten, entichloffen, jedes 
Mittel anzuwenden, um feine Söhne zumal aus- der Welt zu 
“Schaffen. Und nun iſt es grade ein Rath Nials, der den Fein 
den ben Sieg in die Hände fpielt: 

„&8 wird. ihnen noch jchwerer werden, uns _angugreifen, 
wenn wir in dad Haud gehen”, fagte Nial, „und das wollen 
wir thun; unjer Haug ift eben fo ſtark wie das auf Hlidarende, 
und doch ging es nur langſam mit dem Angriff auf Gunnar, 
obwohl er allein war”. „Seine Gegner waren wohldenkende 
Männer”, entgegnete Starphedin, „fie wollten lieber wieder 
abziehen, als ihn verbrennen. Aber diefe werden uns fofort 
mit euer heimjuchen, wenn fle in anderer Weile Teinen Erfolg 
haben. Sie meinen, und darin haben fie recht, es werde ihr 
Tod fein, wenn wir ihnen entgehen. Ich aber fpüre keine Luft, 


mich wie ein Fuchs in feiner Höhle räuchern zu laſſen“. „Seht 


wollen meine Söhne mir Ratichläge geben," ſprach Nial; „ale 
ihr jünger waret, befolgtet ihr meine Ratichläge, und damals 
gelang euch alles wohl". „Labt und nad unſeres Waters 
Willen thun”, fagte Helge, „dad frommt und am meiften“. 
„Deiten bin: ich doch nicht zu ficher”, äußerte Skarphebin, „ihm 
ift nun der Tod beſchieden; aber ich kann ſchon meinem Bater 
darin zu Willen fein, mich mit ihm verbrennen zu laflen; ich 


fürchte den Tod nicht”. Darauf wandte er fih an Kaare und 
X. 459, 2 (105) 


2 
x 


18 


ſprach: „Laßt uns bei einander bleiben, Säwager, und und 
nicht von einander trennen.” 

Und wie der treue Freundesbund wiſchen Hagen und 
Volker, der fich durch „der Nibelungen Noth“ hinzieht, in un⸗ 
ſere Herzen einen Tropfen milder Verſöhnung ausgießt mit 
dem ſchrecklichen Manne, der uns ſonſt ſchier ungeheuer er⸗ 
ſcheinen würde, ſo fordert auch der unheimliche Skarphedin 
während des letzten Zuſammenſeins mit Kaace, ehe die mord⸗ 
brenneriſchen Feinde ihn vergewaltigen, unſere Hochachtung, un⸗ 
ſere Hingabe. 

Und aber mit Vorliebe ift er gezeichnet, gleichwie Hagen im 


- zweiten Theile ded Nibelungenliedes. 


Die Nialsfippe theilt der Nibelungen Noth: dö qualte man 
mit fiure den helden dä den Iip. | 

Wie ergreifend ift nicht die Situation vor dem Ausgange 
der Helden auf Bergthorjhvol! 

Die Nialdfaga endigt aber nicht mit dem Tode des Helden, 
der im Untergange am größten daftehbt. Bevor Nial nicht ge⸗ 
rächt wurde, ift feine. Sage nicht zu Ende; es folgt noch eine 
Menge von blutigen Thaten. Noch waltet „Die verderbliche 
Schuld, die nicht den Boden berührt, jondern mit weichen Füßen 
auf ben Häuptern der Menfchen fchreitet und unverjehens fich 


einſtellt“ (Ilias XIX, 90-138). 


Doch dad nordiſche Heidenthum und feine Bergötterung 
von Ehre und Perfönlichkeit herrſcht in der Folge nicht mehr 
mit feiner Eiſenhand über jenem Geſchlechte. Eine andere Macht 
ift auf den Plan getreten und führt einen anderen Geift mit 
fih. Es ift das Chriftentbum, welches im Jahre 1000 n. Chr. 
auf dem Alting, der Landsgemeinde, rechtögiltig angenommen 
ward. Und das Gintreten des Chrifterthums giebt den Aus⸗ 
Hängen ber altisländifchen Sagen einen gar eigenen Schmelz; 
jo der Hovard Isfjordings-Sage, Die ausgeht mit einem n Kirchen. 


(106) 


19 


bau, zu dem Hovarb von Norwegen daß Holz gebracht, nachdem 
er, in ähnlicher Lage wie ehedem der Frankenkoͤnig Chlodovech, 
zuvor dad Gelübde gethan, den chriftlichen Glauben annehmen 
zu wollen, fo ee Sieger bliebe im Kampfe mit Thorbjörn. 

Auch die herzensharten Isländer follten inne werden . ber 
Wahrheit: „Im Anfang war dad Wort, und dad Wort war ‚bei 
Gott, und Gott war das Wort.” 

Das Chriftentbum bewirkt Niald Berberrlihung im Tode. 
Sn der Todesſtuude befiehlt dieſer feine Seele in Gottes 
Hand, und fein Audfeben nah dem Tode erſcheint allen 
als ein Wunder. Als man Starphedins Leiche gefunden, fand 
man, daß ein Kreuz in die Haut zwilchen den Schultern und 
ein anderes auf der Bruſt eingebrannt war; und man war der 
Meinung, daB er ed felbit gethan habe. Alle äußerten, es ſehe 
beffer bei dem todten Skarphedin aus, als fie erwartet hätten, 
und feiner ſchrak vor ihm zurüd.. 

Nial rief feinen vertrauteften Sklaven zu fi und fagte zu 
ihm: „Sebt magft du wohl acht geben, wohin wir uns legen 
und wie wir und bereiten; denn ich gedenke mich nicht von der 
Stelle zu rühren, wie ſehr ich aud durch Rauch und Hibe ge- 
peinigt werde. Dann weißt du fpäter, wo unjere Gebeine zu 
finden find.” Er befahl ihm nun, die frifche Haut eined Ochſen, 
den fie vor kurzem gejchlachtet hatten, zu nehmen und über ihn 
und feine Gattin hinzubreiten, wenn fie ficy niedergelegt hätten. 
Alsdann legten fih Nial und feine Gattin Bergthora auf das 
Lager. „Unfer Bater geht frühzeitig zur Ruhe”, ſprach Stars 
phedin, als er fie fich niederlegen ſah; „aber es Täßt fi ja 
benfen; denn er tft ein alter Mann.” Nial aber und Bergthora 
zeichneten fi} mit dem Kreuze und befahlen ihre Seele in Gottes 
Hände. Das waren die lebten Worte, die man von ihnen vernahm. 

Nial wollte nicht nach heidniſchem Brauche feinen Leib 
durch dad Feuer verzehren laffen. Wie fehr aber die Germanen 

2° (107) 








a — — — — — — — 


20 


an dieſer heidniſchen Beftattungsweiſe feſthielten, geht aus dem 
Kapitular von Paderborn (785) hervor, in welchem Karl der 
Große die Todesſtrafe auf dieſelbe ſetzte. 

Während das klaſſiſche und das barbariſche Alterthum beide 
Durch ein ähnliches Dogma ihres Religionsſyſtems darauf ges 
leitet wurden, in der Einäſcherung des Leichnamd dad Mittel 
zu ſehen zur Crnenerung und Berfchönerung aller leiblichen 


und geijtigen Qualitäten, meint der moderne Menſch in der 


Reichenverbrennung eine Geſammtvernichtung des Körperd wahr- 
nehmen zu follen und fträubt ſich dagegen, wie ſchon den Chriften 
zur Zeit der Antonine die Leichenverbrennung ein Hinderniß 
ber körperlichen Auferftehung jchien. 

Daß aber Starphedin, „der große, hähliche Mann mit den 
bleichen Zügen, der jo unjelig und jchredlich dareinſchaut“, nicht 
etwa ein heimlicher Chriſt war, geht aus den Worten hervor, 
welche er dem Wiking Thorkel Haak entgegen ſchleuderte: „Du 


hätteſt, ehe du hierher kamſt, deine Zähne reinigen ſollen von 


dem Pferdefleiſch, welches du nach heidniichem Brauch abeft, 


bevor du zum Ting ritteft, fo daß ſogar deine Sklaven daran 


Aergerniß nahmen“. 

Vor der Einführung des Chriſtenthums aßen die Germanen 
mit Vorliebe Pferdefleiſch, und Neubekehrten blieb nichts An⸗ 
ſtößiger an den Heiden, als daß dieſe dem Pferdeſchlachten und 
dem Genuſſe des Pferdefleiſches nicht entſagten. Ja, den Thü- 
ringern wurde noch zur Zeit des Bonifatius Verbot des Pferde⸗ 
fleiſcheſſens eingeſchärft. — 

Der grimme Kaare, der Schwager der Nialjühne, war einzig 
aus dem brennenden Haufe entkommen. 

In feiner Bruft lebt noch zu ſehr der alte heidnijche Geift; 
das Werk der Rache geht noch eine Weile jeinen Gang. Zahlreich 
fallen die Opfer im Inlande und im Audlande; zwölf der Mord» 


brenner fallen in der Briansſchlacht auf Srland um das Sahr 1014. 
(108) 





21 


Nun aber greift das Chriftentbum wirkſamer ein; nur 
diefe8 vermag den wilden Geiſt der Blutrache zu fefleln. 

„Sein Wort, erzählt man, wandert hin von Thal zu Thal, 

Erweichet harte Herzen, leget Hand in Hanb 

Und Fauet auf verjöhnter Erd' ein Friedensreich“. 

(Tegner, Frithjofs⸗Sage.) 

Auch die Herwarafage leiht der neuen Zeit ihren Schmelz: 

„Mich dünkt, es kam mir lange ſchon 

bie jeltene Mär zu Ohren, 

im Südland fei ein Gottesſohn 

zum Heile der Welt geboren. 

Mir ift, als hört ich's vom Süden fern 

wie Taubenfittiche raufchen: 

einft wird auch der Nord wohl milderem Herrn 
und milderer Lehre lauſchen“ 

Und der Geiftesrichtung einer anderen Zeit nachfolgend un⸗ 
ternehmen ſowohl Floſe, der Mordbrenner, wie auch der Blut» 
rächer Kaare eine Wallfahrt nad Rom, um Vergebung ihrer 
Sünden zu empfangen. Als fie fi in der Folge wieder auf 
Island begegnen, da zeigen beide, daß nunmehr ein anderer 
Geift bei ihnen eingezogen iſt. Die Berföhnung kommt zu 
Stande und wird durd die Ehe Kaare’8 mit Hildegunne, ber 
Baje Floſe's, befiegelt. Das Weib, welches am heftigften Blut. 
race forderte, beirathet nun den Mann, der ehedem das Ziel 
ihrer heißen Radfucht war: 

Als Flofe auf den Südinfeln (Hebriden) die Zeitung von 
‚ver Briansſchlacht erfundet, wollte er nicht länger verweilen; 
er jegelte ſüdwärts über da8 Meer und vollendete feine Walls 
fahrt zu Fuß, bis er die Romaburg erreidhte. Dort genoß er 
ſolches Anfehen, daß er vom Papfte ſelbſt Abjolution empfing; 
jedod mußte er viel Geld dafür zahlen. Er zog beimmärts 
auf dem öftlichen Wege (zu Lande) und fam unterwegs zu vielen 


mädtigen Männern, weilte auf ihren Burgen und genoß viel 
(100) 








22 


Ehre bei ihnen. Den Winter über war er in Norwegen bei 
dem Jarl Erich; mancher Mann that ihm viel Ehre an, und 
beim Abſchied empfing er vom Jarl eine Menge Mehl!?). Im 
Frühling jegelte er nach Island; er kam and Land im Hornefjord 
und ritt von da nad) Svinefjeld. So hatte er denn nun alles 
ausgeführt, mozu er verbunden geweſen war, hatte die Bußen 
gezahlt und mar die beftimmte Zeit im Auslande gewelen. 
Kaare Sölmundfohn gedachte auch, nad) Romaburg zu wall« 
fahrten. Er fuhr über dad Meer in demjelben Sommer wie 
Floſe, trat feine Wallfahrt in der Normandie an und erreichte 
fein Ziel. Nachdem er Abjolution empfangen hatte, z0g er 
zurüd auf dem weitlichen Wege (zur See). In ber Normandie 
nahm er fein Schiff und fegelte norbwärtd nach Dover in Eng» 
land, und von dort fuhr er weftlich vorbei an Bretland (dem 
heutigen Wales) und allen ſchottiſchen Fijorden. Als er nad 
Kataned (Caithnes), der Nordoftipite von Schottland, kam, 
übergab er das Schiff an Kolben und David den Weißen von 
den (in den i8ländifchen Sagen vielgenannten) Drkneyinjeln!®) 
und blieb felbft bet dem Bauer Skjegge im folgenden Winter. 
Im nächſten Sommer wollte er nach Island fahren. Skjegge 
gab ihm ein Schiff, und er gewann eine Beſatzung von acht⸗ 
zehn Mann für dafjelbe; es wurde aber ſchon jpät an der 
Jahreszeit, ehe fie fertig wurden. Dennoch ftachen fie in See. 
Sie hatten eine lange Ueberfahrt nach Island; doch erteichten 
fie endlich ISngolfshöndet*); hier zerichellte das Schiff, aber die 
Mannichaft rettete ih. Es erhob fich ein ſchweres Unmetter,. 
und als die Männer Kaare fragten, wozu fie ihre Zuflucht 
nehmen follten, verjebte diefer, ed jei wohl am beiten, nach 
Spinefjeld zu geben, welches nicht weit entfernt landeinwaͤrts 
lag. „Wir wollen doch verfuchen,“ meinte er, „wie brav fid 
Floſe gegen uns benehmen wird“. Denn Flofe war in demfelben 


Sahre im Frühling zu Haufe angelommen. Sie gingen alſo 
(110) . 


23 


nad) Spinefjeld hinauf, während da8 Unwetter noch rafte. 
Floſe befand fi im Wohnranm. Er erfannte Kaare fogleich, 
ald diejer eintrat, ſprang auf und empfing ihn, küßte ihn berz- 
lich und räumte ihm einen Plab ein im Hochfitz, dem Plabe 
des Hausherren. Er bat Kaare, den Winter über bei ihm zu 
bleiben, und Kaare nahm das Anerbieten an. Sie föhnten ſich 
gänzlich aus, und als gerade Helga Nialstochter in bemjelben 
Winter, in welchem Kaare bei feiner Heimfahrt ſich auf Kataned 
aufgehalten hatte, geftorben war, gab Floſe ihm feine Bruderd- 
tochter Hildegunne zum Weibe, welche mit Hoͤskuld dem Goden 
von Hvidened verheirathet geweſen war. 

Diefe Ausföhnung des tiefen Hafjeß, die unfere Saga in 
erhebender Einfachheit an das Ende ftellt, tft ein Abichluß, der 
und an denjenigen ber „Gudrun“ erinnert und der Saga bie 
Vollendung des Epos zutheilt. Und wieder fallen uns Worte 
der Gudrun ein, da wir Bedenken erheben möchten, ob Hildes 
gunne ohne Seufzen als Gattin bei Kaare weilen werde, ge 
denfend lieber Todten. Es find die ſchönen: „Das eben joll 
dein Dienft bei ihr fein, zn forgen, daß fie nicht fenfzen dürfe.“ 

Wie erhaben und fänftigend ift nicht der Schluß der Nials⸗ 
faga! Wir empfinden warn den Frieden, den er athmet. 

Immerhin aber müffen wir audy bedenken, daß wie die 
Männer jo nicht minder die Frauen die ftroßende Kraftfülle 
und unbändige Leidenfchaft der Zeit der „Voͤlkerausbreitung“ 
in ih tragen. - Dies ermeift und infonderheit die Epiſode, 
welcher wir an diefer Stelle Raum geben, um uns noch einmal 
in die Mitte der Gejchehniffe zu verfeben. Die Erzählung des 
Zwifchenfalls von größter Bedeutung — bei allem Unheil lautet 
bie Frage: ol est la femme — trägt die Ueberſchrift „Das 
Gaſtmahl auf Bergthorſhvol“ und erinnert und an die äventiure 
im Ribelungenliede: „wie die küniginnen ein ander schulten“. 


Bunnar und Nial hatten die Sitte, einander wechſelweiſe 
(111) 


24 


Winter um Winter — man zählte damald nad Wintern und 
Nächten, nicht nach Sahren und Zagen — zu einem Gaſtmahl 
einzuladen, und im erften Winter nach Gunnard Vermählung 
mit Halgjerde war an dieſen das Gaftgebot von Nial ergangen. 
Der Geladene zog dahin mit feiner Gemahlin, und Nial nahm 
fie beide freundlich auf. Bet ihrer Ankunft waren Helge Niald- 
fohn und feine Gattin Thorhalle nicht zu Haufe; fie erſchienen 
aber bald nachher. Da fabte Bergtbora, die Hausfrau, Thor⸗ 
halle an der Hand und führte fie zur Duerbanf, wo die Franen 
ihren Sig hatten. „Du wirft vor diejer Frau zur Seite rüden“, 
fagte Bergthora zu Halgjerde. „Nicht weiche ich von der Stelle“, 
erwiderte Halgjerde, „ich will nicht ein Aſchenbrödel fein, das 
‚man in die.&de jagt.“ „Hier habe ich zu beſtimmen“, fagte 
Bergthora, und Thorhalle ließ fi nieder. Nah dem Mahle 
ging Bergthora um den Tiſch herum mit Waffer, um die Hände 
zu neßen!5). Als fie zu Halgjerde kam, ergriff dieſe ihre Hand 
und ſprach: „Du und Nial find ganz für einander geichaffen; 
du haft knotige Nägel, und er ift bartlod." „Wahr ift es,“ 
verjeßte Bergthora, „aber keiner von uns legt ed dem andern 
zur Laſt. Dein Eheherr Thorvald war nicht bartlod, und den⸗ 
noch fiel er durdy deine Ränke.“ Halgjerde wandte ih nad 
ber Seite, wo Gunnar faß und rief: „Nur wenig frommt «8 
mir, dem trefflichften Dann auf Island anzugehören, wenn du 
ſolche Worte ungerächt läffefl, Gunnar". Da fprang Gunnar 
auf vom Tiſch umd fagte: „Sch will heim; wenn du zanfen 
willſt, magft du ed mit deinen Hausgenoſſen thun und nicht 
im Haufe ded fremden Mannes. Biel Ehre habe ich Nial zu 
verdanfen und will nicht deinen Saunen ein Spielball fein.“ 
Sie rüfteten ſich fogleih zur Heimfahrt. Beim Abſchiede fagte 
Halgjerde: „Erinnere did, Bergthora, daß wir hiermit nicht 
geichieden find.” „Am jchlimmften wird es für dich fein, 
entgegnete Bergthora. Gunnar mifchte fich nicht hinein; er zog 
(113) 





25 


heim mit Halgjerde und bielt fi, den ganzen Winter zu Haufe. 
„von zweier vrouwen bägen wart vil manic helt verlorn.“ 

Und an der Stelle eind: während andere Epen inmitten 
der Haft der Gejchehnille einer Idylle Raum geben, hat unfere 
Nialsſaga nichts dergleichen; in den übrigen Sagas das finnige 
üf dem brete zabelen unter Männern und Frauen, bier das 
graufige Spiel bed Pferbefampfes. 

Wir Tönnen nicht umbin, dad bedeutende Bild deflelben 
wiederzugeben: 

Skarphedin führte Gunnars braunes Pferd vor — die Gegen» 
partei hatte ein rothes —, während der Befiter ed übernahm, das 
Thier zu reizen. Gr trug einen rothen Rod und hatte ſich mit 
einem breiten Gürtel gegürtet, in der Hand aber führte er den langen 
Stab, der dazu diente, die Pferde vorwärts zu treiben. Diefe 
flürmten auf einander ein und biffen ſich lange, jo daß es des 
Antrieb nicht bedurfte und das Schaufpiel Iuftig war. Da 
machten Thorgejr Starkadſohn und Kol Egilfohn von der Gegen« 
partei mit einander ab, wenn die Pferde das nächte Mal auf 
einander losiprengten, wollten fie ihr Pferd jo leiten, daß Gunnar 
dabei zu Falle fomme. In demfelben Augenblid rannten die 
Pferde wieder auf einander zu. Thorgejr und. Kol liefen daher 
ihrem Pferde zur Seite, zugleich aber trieb auch Gunnar dad 
jeinige vorwärts. Die Thiere prallten an einander und zwar fo 
gewalfam, daB Thorgejrd und Kold Pferd fich überſchlug, fie jelbft 
umriß und auf fie fiel. Sie fprangen ſogleich empor und 
drangen auf Gunnar ein, diejer aber erfabte Kol und fchleuderte 
ihn zur Erbe, fo daß er befinnungslos dalag. Thorgejr fchlug 
nah Gunnars Pferd und ſchlug ihm ein Auge and, Gunnar 
aber verſetzte ihm einen Streich mit dem Stabe, jo daß es ihm 
erging wie Kol. Darauf hieß er Kulſkjäg das Pferd tödten; 
beun verftümmelt folle es nicht leben. Inzwiſchen war Thorgefr 


wieder auf die Beine gelommen, hatte jeine Waffen ergriffen 
(113) 


26 


und wollte fih auf Gunnar ftürzen. Daran wurde er freilich 
gehindert, aber ed erhob fi} ein großes Gedränge. . . 
Doch unfer Auge weilt wieder auf dem Ausgange der Saga: 
Man erzählt, Floſe habe fein Ende gefunden, als er einft 
in feinen alten Tagen ind Ausland fahren wollte, um fi} Bau⸗ 
holz zu holen. Er hielt fi einen Winter über in Norwegen 
auf. Im folgenden Sommer wurde er fpät fertig, und man 
redete davon, daß ſein Schiff ſchlecht ſei. „Es tft gut genug 
für einen alten Mann, der bald fterben wird,” äußerte er und 
belud es und ftach in die See. Man bat aber feitdem niemals 
etwa von dem Schiffevernommen. Und damit ſchließt die Nialsſaga. 
Mit einer Erinnerung an die Fahrten der Normannen!®), 
die. „dem Wege der Schwäne" gen Süden folgten, wohin es 
von jeher den nordiihen Many mächtig zog, endigt unjere 
Saga. Hlofed Ausgang aber ericheint und ald ein Nach» 
Hang an die hochpoetiiche Art von Todtenbeitattung, wie fie bei 
den Germanen, welche ihre Site an der See hatten, bräuchlich 
geweien. Der Zodte ward im vollen Waffenſchmucke an Bord 
eines „Meerdrachen” gebracht und in fiender Stellung mit dem 
Rüden an den Maft gelehnt. Rings um ihn häufte man, was 
von Beſitz ihm das Liebfte im Leben gewejen. Dann zog man 
dad Segel auf, fehte dad Schiff in Brand und lieh es in die 
Wogen hinaustreiben. Soritt der Wiking mitrechter Prachtzu Odin. 
Und im Hinblid auf die Art der Todtenbeftattung hat ber 
Ausdrud Abjegeln, den man für Sterben gebraucht, einen tieferen 
Grund als den der bloß willfürlich parodirenden Volksrede. 
Ein Stüd „Seelönig” war in Floſe verblieben; am lebten 
Ende trieb ed ihn mieder hinaus auf die große, heilige Salziee. 
Die Nialdfaga hat ihren Ausgang genommen. Zum Bes 
ichluffe unjered Vortrages ſei es und aber nody geftattet, einen 
Einblick in die fchon berührte Herwarajaga ald eines Ausklanges 


germanifchen Heidenthums zu gewinnen, eine Dichtung, welde 
(114) 





27 


und ebenfalld mit jcharfer Ausprägung des fittlichen Moments 
die Leiden und den Untergang eines ganzen Geſchlechtes zeigt. 
Diefe Sage beginnt — mir benußen 8. Freytags treffliche Um⸗ 
dichtung — mit einem an die Nibelungen erinnernden Zuge: 
Der König von Gardaland (Dftland), Swafurlami, über- 

raſcht anf beutelofer Jagd zwei Zwerge: 

... aus dem Buſche treten zwei Zwerge in das Licht: 

auf eines Jeden Naden ruht eines Kränterbunds Gewicht. 

Und wie gebeugt die Zwerge nahn mit ihrer Xaft, 

ſpürt ihn Keiner eher, als bis des Königs Fauſt ihn faßt. 


„Sine Waffe fodr' ih, ein Schwert wundervoll, 
das man ald das befte im Norden rühmen ſoll: 
Das Heft und die Scheide ſei von Golde ganz, 
und Gehen? und Schwertgurt glitere von goldgem Glanz 
Zerbeißen joll es mühlos den härteften Stahl 
und Panzerhemd und Schildrand und Felsgeftein zumal. 
Nie ſolls roften dürfen, und wer's fchwingt im Krieg 
oder auch im Zweilampf, immer folge ihm der Sieg! 
Bis finft die nähfte Sonne, fei das Werk vollbradt: 
ſchwoͤrt mirs zu, dann laß’ ich euch ledig meiner Macht!" 
Und beide denn gelobens mit allerhoͤchſſtem Schwur: 
er läßt fie los, und einfam fteht er auf weiter Waldesflur. 
Der Wald raunt im Mondlicht, als flüftert er im Traum, 
nur Odins dunkler Vogel krächzt herab vom dürren Baum. 
Das Schwert „Tyrfing” wird dem Könige zur Stunde 
überreicht; doch der Uebergabe folgt der Fluch: 

„Ein Menjhenopfer fordert das Schwert, 

fo oft es feiner Scheid' entfährt. 

Drei Neidingswerke werben vollbracht 

durch diefes Schwertes Unheilsmacht. 

Wens bettet zuerft in Todesruh, 


ber, Swafurlami, der bift dul 
(115) 





28 


Neit beim nun, Held, aus unferm Wald 
und die Götter in Walhall grüße bald!“ 

Und nicht lange darnad fällt Swafurlani in der Schlacht 
durch den Berferfer Arngrim. Des Getöbteten Tochter führt 
der Sieger heim; der Ehe entiprießt Angantyr, der im Holm» 
gang auf der däniſchen Injel Samſö troß Tyrfing, ne Vaters 
beſtem Geſchenke“, erliegt. 

Angantyrs Tochter iſt Herwara. 

Um ſie wirbt in der Folge Fürſt Höfund; er thut dies auf eines grei⸗ 
ſen Helden Rath — „ein Schneeberg blickt auf junges Gefilde nieder“: 

„Die ſchönſten Fürſtentöchter, vergleichbar find 

fie mit Herwara nimmer, Angantyrs Kind: 

in ihr ſcheint Freya müde von Himmelsſiegen 

auf unſre Erde leuchtend herabgeſtiegen. 

Beſungen hats manch rühmlicher Skaldenſang, 

wie ſie des Vaters Geiſt in dem Hügel zwang 

ihr Tyrfing auszuliefern, den Preis der Schwerter: 
kein Weib iſt deiner würdiger rings und werther. 
Entſagt nun hat ſie männlichem Waffentrutz; 

fie weilt daheim in zärtlichem Mutterſchutz. 

In Bjartmard Saale figt fie im Sungfraunfleibe 
und wirft ber Helden Thaten in weiche Seide." — 

Angantyr und Heidref find die Söhne Höfunds und Her. 
wara’d. Der jüngere muß, da er durch das fluchbeladene Schwert 
zum Brudermörder geworden, Baterhaud und Vaterland meiden. 

Während aber der Ariebloje in der Fremde weilet, legt 
fi die Mutter auf das Sterbebett. Und nun bricht's durch 
das ungebändigte Nielenleben der altnordiihen Welt jo zart 
und licht, wie durch Feljen ein Sonnenftrahl. 

Trauer waltet in Höfunds Gaun, 
ftille ift e8 in Höfunde Saal: 
Männer weinen und holde Fraun 


vor dem büfteren Burgportal. 
(116) 


29 


Im Gemade die Fürftin ruht 
auf ber bitteren Lagerftatt 
bald in jagender Fiebergluth 
bald ergeben und tobesmatt. 


Höfund neben ihr hütend fit, 
wenn es nachtet und wenn es tagt; 
Ihlaflos ift ihm das Aug’ erhitzt: 
ach, er hofft, wo die Welt verzagt! 


Da aus laftendem Todeskampf 

hebt Herwara fich jäh empor: 

„Hörit du ferne das Roßgeſtampf? 
Zliegend naht es des Schloſſes Thor!“ 


Angftvoll ftarrt er fie an verftört, 
bie erglüht wie in höherm Licht: 
was die Sterbende ahnend hört, 
hört der liebende Lauſcher nicht. 


„Wer da fagt wie der Wirbelwind 
Hilfe heijchend an deinem Thron, 
Weißt du's? Unjer verbanntes Kind 
ift es, unſer geliebter Sohn! 

Dank den Göltern in Walhalls Saal: 
darf ihn ſchaun, eh ich jcheiden muß, 
barf ihn fegnen zum legten Mal, 
küſſen, ad) mit dem leßten Kuß! 
Ad, die Mutter, die ihn gebar, 
fann ja nimmer zur Ruhe gehn, 

eb ihr brechendes Augenpaar 

noch ihr einziges Kind gejehn! 


u: (mb Gi Gelb GE — —— mi 


gernber Ihallts nun wie Rofjeshuf 
(ſcharf wohl Taujchte der Mutter Obr): 
117) 


(118) 


30 


bald tönt fchmetternder Hörnerruf 
braußen vor dem verjchlofinen Thor. 


Roffewiehern und fefter Tritt, 

vieler Männer Zujammenlauf: 

und num nahts mit gedämpftem Schritt, 
und die Thüre, die thut fi auf. 


Heidrek wankt zu der Thür herein 
angftuoll zweifelnd und tief erblaßt, 
halt in Reue und Herzendpein 
feinem Bater das Knie umfaßt. 


Und die Thräne des Vaters fällt 
auf den Snieenden Tiebeswarm, 

und er richtet ihn auf und hält 
feft und ficher ihn in dem Arm. 


Bor der Mutter in heißem Schmerz 
kniet der Sohn an der Lageritatt, 

und fie drückt ihn and Mutterherz, 

fieht fih nicht an dem Helden ſatt. 
„Sohn, ftets hab’ ich des Tags gedacht, 
da zerjchmetternd und traf der Schlag: 
mir ein Seufzer war jede Nacht, 

eine Thräne mir jeder Tag. 

Wohl dein Vater verbarg jein Web, 
body ihn deckte das Zrauerfleid: 

blieb er ftare wie der firne Schnee, 

jaß im Herzen ihm tief das Leid. 

Sept ift alles, ja alles gut! 

Bald umfächelt mich Foltwangs !7) Luft, 
und mit Hoffnung und frohem Muth 
fteig’ ich gem in die Hügelgruft. 


GE CE si Gm GE GE — — 


Und nun nehmt in die Arme mich — 
rubig ebbt mir des Lebens Fluth, 


31 


doch von ferne mir womiglich 
leuchtet nimmer geahnte Glut. 

Sinte, Leben und Lebens Notb! 
Troſt ifts, enblih zur Ruhe gehn! 

D wie herrlich doch ift ber Tod! 
O wie berrlih das Wiederfehn!“ 


Kalt ftarrt draußen der Wald ergraut, 

wie die Ylüthe im Froſt verdirbt; 

beide Könige weinen laut, 

denn die Mutter, die Mutter ftirbt. — — 


Die Dichtung bat in dem hoben Liede der Mutterliebe | 
ihren Höhepunlt erreiht. Und mit diefem Ausblid in das Als 
gemein Menicyliche hat unſer Vortrag ein Ende. 


— 





Anmerkungen. 

1) Die Nialsſaga. Nach ber däniſchen Wiedergabe von H. Lefolii. 
Ueberſetzt von J. Claufſen. Leipzig. Verlag von J. A. Barth. 1878. 
Broch. 3,60 Mt. 

2) Daß die Sklaverei im alten Norden überhaupt beftanden, be- 
zeugen faft alle norbiichen Sagen. 

3) Aus dem isländiihen Urterte übertragen von Eugen Kölbing. 

Heilbronn. Verlag von Gebr. Henninger. 1878. 

4) Einen. Holmgang fhildert auch die Herwaraſaga. Siehe 
„Yerwara. Bon 8. Freytag. Berlin 1883. Berlag von R. Dam- 
köhler.“ 

5) Aus dem altisländiſchen Urtexte überſetzt von Willibald Leo. 
Heilbronn. Verlag von Gebr. Henninger. 1879. 

6) Aus dem altisländiſchen Urterte überſetzt von Willibald Leo. 
Heilbronn. Verlag von Gebr. Henninger. 1878. — Siehe Freybe, 
Chriftoforus (Leipzig, Dörffling u. Franke. 1882), ©. 110, über 

brytta, 

7) Defters ift Thor in der Edda auf Oftfahrten begriffen. Auf 
diefen Reifen belämpfte und erſchlug er die Rieſen. Es deutet Died auf 
den alten, damals noch unverfhollenen Zuſammenhang germantfcher 

(119) 





32 


Völker mit Afien. Das fara i austrveg fehrt wie bei Thor fo bei 
anderen Helden in der Edda wieder, 3. B. wird der Stamm ber Skil—⸗ 
finger austrüdlich in jene Oftgegend geſetzt. Jötunheim, die Rieſenwelt, 
war da gelegen. Freybe, Chriftoforus, (Leipzig, Dörffling u. Franke. 
1882), ©. 22 ff. 

8) Faſt in allen Sagen wird) yon wunberbaren Träumen, bie in 
Erfüllung gingen, erzählt. 

9) Bergl. „Die Gedichte von Gunnlaug Schlangenzunge”, 2. Kap. 

10) Rochholz, Deuticher Glaube und Brauch im Spiegel der heid- 
nifchen Borzeit I, ©. 103. 

11) Herwara, ©. 72. — Legende von St. Meinrads Raben. 

12) Bon der Einfuhr von Mehl und Holz (Bauholz) nah Js⸗ 
land ift in unferer Sage öfters die Rede. Doch hatte damals Island 
größere Wälder, wie denn zur Friedlofigfeit Berurtheilte Waldgänger 
genannt wurden, weil fie nur noch in menjchenverlaffenen Wäldern noth- 
bürftige Zuflucht finden konnten. In der Folge verfchwanden die Wäl- 
ber, weldye ehedem einen warmen Mantel um die Snjel warfen, von 
dem jetzt kaum die Segen in Unterbufch und Zwergbirten zu jehen find 
(Dablmann). 

13) Bergl. Die Sage von Fridthjofr dem Verwegenen, 5. Kap. 
(Heilbronn, Gebr. Henninger. 1879). 

14) Die erfte bebeutendere Anfiedelung auf Island fand 874 unter 
Ingolf ftatt, nach dem die Halbinfel Ingolfshönde benannt worden ift. 
Vergl. Die Hovard 3efjordings-Sage, 3. Kap. (Heilbronn, Gebr. 
Henninger. 1878). 

15) Wafferfannen, Wafchbeden, Handtuch waren Koftbarkeiten, die 
nur wenige Leute im Norden fi) anzufchaffen im Stande waren. “Das 
ſechszehnte Sahrhundert erft brachte hierin Wandel, indem ed die er- 
wähnten Güter zugänglicher machte. Sie fcheinen in folgender Reihen- 
folge Eingang gefunden zu haben: zuerſt das Handtuch, dann has Waſch⸗ 
becken und zulett die Wafferfanne. Lund, Das tägliche Leben in Skan⸗ 
‚dinavien (Kopenhagen, Höft und Sohn. 1882). 

16) Sm Berlaufe der Erzählung vernehmen wir auch, Daß Gunnars 
Bruder nah Millagaard (Konftantinopel) gezogen und Anführer bes 
Darägerheeres, der Leibwache der griechiſchen Kaiſer, ward. 

17) Foͤllwangr, Freyja's Saal, in den die Seelen edler Frauen 
aufgenommen wurden. 


(120) . 
Druck von Behr. Unger in Berlin, Schönebergerftz. 17a. 


| 


Bon dem nenen XIV. Iahrgange (1885) von: 


Deutſche 


N Sfreil- %,, — 


ur Kenninih lo 
N N — 


gr In Verbindung mit — / 


Prof. Dr. u. Alnıkhohn, Redacteur A, Lammers, 
Prof. Dr. 3.8. Meyer und Prof. Dr. Yanl Schmidt 


herausgegeben von 
Stanz non KHolbendorff. 


Heft 209 — 224 umfafend (im Abonnement jedes Heft nur 75 Pfennige) 
find ausgegeben: - 


Heit 209. ren (Berlin), Deutihland und fein Reichskanzler gegenüber dem 
Geiſte unjerer Zeit. 
„ 310. Bittel (Karlsruhe), Die Reviflon der Rutherbibel. 
211. Thun, (Sreiburg ti. Baden), Bilder aus ter ruffiichen Revolntion (Zürft 
Krapotlin, Stephanowitih, Scheljäbom). 


Berner werden nad) und nach, vorbehaltlich etwaiger Ubänderungen im Ein: 

zeinen, folgende Beiträge veröffentlicht werben: 

Sartorins v. Waltershauſen (Göttingen), Die Zukunft des Deutſchthums in 
den Bereinigten Staaten von Amerika. 

Eggers (Berlin), Klaus Groth und die plattdeutiche Dichtung. 

Schönborn (Breslau), Das höhere Unterrichtsweſen in der Gegenwart. 

Herzog (Wettingen), Das Referendum in der Schweiz. 

Natzel (Münden), Die praftiibe Bedeutung ber Handeldgeographie. 

v. Juraſchek, F., Nationalitäten und Spracenverbältnifie In Defterreidh. 

Finkeluburg (Bonn), Die Cholera:-Duarantaine. 

v. Solgendorif (Münden), Staatämoral und Privatmoral. 

Jodl (Münden), Bollöwirtbichaftälehre und Ethik. 

Saushofer (Münden), Kleinhandel und Gropindnftrie. 

Standinger (Worms), Die evangelifche Freiheit wider den Materialismus des 
Belenntnißglaubens. 

v. Orelli (Zürich), Der internationale Schuß des Urheberrechts. 

Fuld, (Mainz), Das rückfaͤllige Verbrecherthum. 

Kirchner (Berlin), Ueber den Zufall. 

van Swinderen (Groningen), Proftitution und Mädchenhandel. 

Siewert (Kiel), Die age unjerer Eceleute. 

Pohl (Mödling), Zufus von Liebig und die landwirthſchaftliche Lehre. 

Sende (Gera), Schm. und Volkswirthſchaft. 

Dieyer, J. B. (Bonn), Ueber den Religiond:Uinterricht in der Schule. 





un 


f 


In den früheren Serien erſchienen: 


Literar-:Siftorifches. 
(24 Hefte, wenn auf einmal bezogen, a 50 Pf. = 12 Mark.) 


Boretins, Friedrich der Große in feinen Schriften. NM)... . 80 
Gorrodi, Rob. Burna und Peter Hebel. Eine literarbiitoriiche Parallele. 182) 80 
Diercks, Tie ſchoͤne Fiteratur der Epanier. (372) . - 2 2 2 2 2202.79 
—, Poetiſche Turniere. (447). . 2 2 2 2 2 22.60 
Eyffenhardt, Die Homeriſche Dichtung. (299) 7 
Geiger, Die Satiriker des XVI. Sahrhuntertd. (295). . . . . 75 
Gende, Die englifhen Mirakelipiele und Moralitäten als Vorläufer des engl. 
Dramas. (305). . . . . 60 
Sagen, Der Roman von Seönig Apollonius von Tyrus in 1 feinen verfchiebenen 
Bearbeitungen. (30%). . . . 60 
Selbig, Die Sage vom Ewigen Suben? , ihie —8 Wandiung und Sort: 
bildung. (196). . . . . .. .M.l.— 
Hertz, Die Nibelungenfage. (282). .. . 76 
Solle, Die Prometheusjage mit beienderer Vecichidiur ie Bearbeitung 
durch Aeſchylos. (321) . . . . 60 
v. Holtzendorff, Englands Preffe. ). er 
Martin, Göthe in Straßburg. (135) . . - . 60 


Reifgner, Horaz, Perfius, Zuvenal: die Hauptvertreter der töm. Satire. (445) 80 
Hemenyi, Zonrnale und Zonrnaliften d. franzöf. Nevoluttondgeit Gꝛo/ nn M.1.20 


Nemy, Göthe's Erſcheinen in Weimar. (265) . . . . 60 
NMibbeck, Sophokles und feine Tragüdien. 2. Aufl. (83) . 2022.60 
Sarrazin, Das franzöflibe Drama in unſerem Jahrhundert. (429). . . . 80 
Schmidt, Stiller und Rouffean. (256). . . . EM 1.— 


Speyer, Ueber dad Komijche und defien Verwendung in ber Poefie. (278) M. 1.— 
Strider, Göthe und Kranffurt a. M. Die Begiebungen des Dichters zu 


feiner Baterftadt. (261) . . . . .. .M.1.— 
Trofien, Leſfing's Nathan der Weife. 263) . .. . 60 
Weniger, Das alerandrinifhe Mujeum. inc Stin aus dem aecrtn 

Leben des Alterthume. (231). . - - .» . . 75 


WE Deitellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. "ug 


Bertin SW., 33 Wilhelmftraße 33. 
Earl Babel. 
(C.G.Lũderitz'ſche Verlagsbuchhaudlung.) 





Verlag von Joh. Amıbr. Barth in Leipzig. 


Die Hialsfaga. 


Nach der dänischen Wiedergabe von H. Lefolü. 
Ueberſetzt von 
3. Elansfen. 


8. 1878. 30 Seiten. broch. ftatt ME. 3,60 ermäf. Preis ME. 2.— 
gebunden DIE. 2, 50. 





öö— —— 82 
Sammlung 


gemeinverſtandlicher 
wiffenfhaftliger Vorträge, 


754) 
Berandgegeben von 


Aud. Virchow und Fr. non Holgendorfl. 


— — — —— — — —— nn — — — 0 h— — 


XX. Serie. 
(Deft 457 — 480 umfaffend.) 


— — 


Heft 460. 


Marco Dolo, 


ein Weltreifender des XIII. Sahrhunderts. 


Bon 


Dr. &. Schumann. 


SP 


Serlin SW., 1885. 


Berlag von Earl Habel. 


(C. 6. Yüderity'sche Verlagsbuchhandluug.) 
33. Wilhelm⸗Sitraße 88. 


ge 


a“ 


up 55 wird gebeten, die anderen Seiten des ne es zu beachten. mg Diefelben 
he near das NArogramm der uenen XX. Serie (18 3) der Aammiung, jowie das 
Er. a a der Heitsragen. enane Inhalts-Merzeichniffe 
zn ye rien uud Jah ee en, und nah „Wiffenichaften“ 

uch jede > dadhandlung gratis zu bezieh 


Das Recht der Meberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Weiche Geſtalt die orientaliſche Frage, jener Proteus der 
Politik, annehmen mag, immer liegt ihr der eine Gedanke zu 
Grunde, welche ber europäifchen Culturmächte die direkte oder 
indirekte Herrſchaft über diefen oder jenen Theil des aftatifchen 
Sontinentes ausüben fol. Bisher waren hauptfächlich zwei 
Nationen im Wettlampf um die Ausbeutung defielben oder in 
der Vorbereitung dazu beihäftigt. Don dem breiten Befitftande 
des afiatifchen Südrandes aus drang England zugleih nad 
Welten, Norden und Dften vor, theils fich unmittelbar weiter 
Flächen bemächtigend, theils bemüht, die Wege ihres Exportes 
nach feinem Nuben zu leiten. Vom Norden und Weſten ber 
zogen die Örenztruppen des weißen Szaren immer engere Kreiſe 
gegen den gewaltigen chinefilchen Nachbarn. Neuerdingd bat 
ih auch Frankreich, wenn jchon feit mehr ald einem Jahr- 
hundert in Oftafien anfälfig, an diefen Beltrebungen einer 
erpanfiven Colonialpolitik betheiligt und ift dabei, wad Rußland 
gegenwärtig forgfältig vermieden hat, mit China in einen 
wenigftend offtciöfen Conflift gefommen. Auf der anderen Seite 
machen fich bei den Chinefen diametral entgegenwirlende Be» 
firebungen bemerkbar. Schon fahren ihre Dampferflottillen 
nicht mehr allein, den deutjchen Kleinverkehr fo wejentlidy bes 
einträchtigend, von einen Küftenort zum anderen, jondern er⸗ 


reihen bereitd San Francisco, ja in London fogar ziehen 
XX. 460. | 1* (123) 


4 


chinefiiche Agenturen jenen Vortheil aus dem Handel, der früher 
ausſchließlich den weißen Völkern zu gute kam. 

In dieſer Zeit erſcheint es wohl nicht unpaſſend, den Blick 
nach dem fernen Often hinzulenken. Freilich wollen wir nicht 
weiter die Aufmerkſamkeit auf die Begebenheiten der Gegen» 
wart leiten, fondern wir wollen im Folgenden ein Bild dieſer 
Gegenden zu einer anderen Zeit ſchildern, die aber nicht weniger 
intereffant if. Wir wollen und mit den Erzählungen eines 
Reiſenden befaffen, welcher gegen dad Ende des 13. Jahrhunderts 
nahezu die ganze damals befannte Erde durdhitreifte, der alfo 
in diefem Sinne ein Weltreifender in des Wortes voller Bes 
deutung genannt werben muß: mit den Mittheilungen Marco 
Polos des großen Sohned Benedigd. Um feine Wanderungen 
genau zu verftehen, ziemt ed fich wohl, zuvörderft ein Bild der 
Zeit zu entwerfen, in der er lebte. 

I. 

Wie verichieden iſt das Geficht, welches damals die Erde 
zeigte von dem, das fie heute darbietet. Während ich joeben 
erwähnte, wie der größte Theil Afiend der mittelbaren oder 
unmittelbaren Botmäßigkeit Europas unterworfen ift, war es 
damald gerade umgelehtt. Der Mittelpunft einer umfang« 
reihen Weltherrichaft, des größten Reiches, weldhe je die Sonne 
beleuchtet hat, lag in Aſien. Temutſchin (d. h. das beite Eifen, 
Temurtſchi ber Schmied) mar e8 nach mannigfachen Schickſalsfällen 
endlich gelungen, die kriegeriſchen Zataren-Stämme nördlich der 
Büfte Schasmo unter einem Geſetze zu vereinigen; auf dem Kurultat 
(d. b. der Reichſstag) vom Jahre 1206, der an den Duellen des 
Onon ftatthatte, wurde er zum Tſchingiz⸗Chan oder dem Chan 
der Mächtigen auögerufen. Die ungezäblten, wilden Heerichaaren 
der Mongolenhorden unter feiner Leitung hatten wie eine 


zügelloje Fluthwelle von den centralaftatifhen Steppen aus, bie 
(124) 


5 


ſchon mandye derartige Ueberſchwemmung erzeugt hatte, ganz Weſt⸗ 
afien überſchemmt. Nachdem der wilde Eroberer Nordchina 
unterworfen hatte, trug er feine ftet3 vom @lüde gefolgten 
Waffen nady den glänzenden Gulturftaaten des Islams. Trotz⸗ 
dem, daß hierdie Kriege oft entjehliche Verheerungen angerichtet 
batten, waren doch die Segnungen der Lehre Zoroafters und 
die Spuren der durdy Alerander audgeftreuten hellenifchen Eultur 
nicht verwiſcht: die Fanatiker arabiichen Stammes, ja fogar die 
Türken hatten fi den Einflüffen der Eultur nicht entziehen 
konnen und dad Chalifat in Bagdad, das perfifche Reich und 
da8 der Chowaredmier am Aralfee waren in blühendem Zu⸗ 
ftande. Wiffenichaft und Kunft wurden gepflegt, Aderbau und 
Gewerbe bradyten den Ländern Reichthum und Glück. Da brady 
diefer Sturm herein, fchlimmer als jedes Unwetter, das fich bis⸗ 
ber entladen und vernichtete den leiten Reft von Afiens ſchoͤner 
Geftalt: in ihm liegt der Kern zu dem gegenwärtigen Glende und 
bis anf den heutigen Tag hat fich Afien noch nicht davon erholt. 
Bis zum Jahre 1227 war der riefige Keldzug vollendet und der 
Menfchenwürger Tehrte in feine Steppen mit Beute beladen aus 
einer entuölferten Wüfte, die mit Trümmern und Leichen befät 
war, zurüd. Seinen Ruhm follte er nicht lange genießen — 
kurze Zeit nach feiner Rüdkunft fiarb er. 

Bas er begonnen, fehten feine Nachfolger in berjelben 
barbariichen Weiſe fort. Sie überfchritten die Grenzen Europas, 
Ungarn wurde vernichtet, fo dab nur 3 Städte übrig blieben, 
Rußland unterjocht. Batu durchzog in 6 Sahren im beifptellojen 
Siegeslaufe 90 Längenfreije, den 4. Theil bed Erdumfangs; 
nun gehörte der ganze nördliche Gürtel der Erde vom großen 
Dcean bis zur Oder, vom nörblidden Eismeer bi an dad 
adriatifche Meer dem mongoliihen Stamme Mit weldy un» 
finniger Graufamleit gemordet wurbe, erfennt man daraus, daß 
(128) 








6 


im Rathe der Chane der Vorſchlag gemacht wurde, man ſolle 
die ganze Bevölkerung des nordchinefiichen Reiches, welche nad) 
Millionen zählte, vertilgen: um Weideplätze für die Heerden 
darand zu machen. Niemald war dad Chriftentfum, war ganz 
Europa in größerer Gefahr ald jet. Da wurden innere Unruhen 
in dem mächtig angejchwollenen Reiche zum Retter, Batu ver- 
ließ nad) dem Siege bei Liegnitz im April 1241 Dentichland, das 
dem Steger nur Mühe umd geringe Beute verſprach. Im Süden 
zerichellte der Anfturm der Wüftenfühne an der Tapferfeit der 
Mamelufenheere und fo war die Welt vor den Unholden 
gerettet. 

Der beginnende Zerfall des einheitlichen Reiches wurde be= 
fördert dadurd, daß Kubilai-Chan feinen Sit von der alten 
Hauptftadt Karaloron weiter nah Diten verlegte. Nordchina 
gehörte bereitö den Mongolen, in deffen Hauptitadt Yen⸗-King, 
das heutige Peking, richtete er den Königsfi ein und nannte 
ihn Känbaligh. Hierher werden wir durch Marco Polo geführt, 
dieſe Stadt jchildert er in feiner ganzen imponirenden Größe. 

Für die Erweiterungen in der Kemmtnib der Erdoberfläche 
ift die Pertode der mongoliichen Herrſchaft nicht ohne den er» 
heblichſten Einfluß geweſen. Die Uneinigfeit der europäiſchen 
Zürften war es ja, die einem ungehemmten Fortſchritt der Steppen⸗ 
fühne möglich gemacht hatte. Jetzt jandten fie nach den Sihen 
derjelben ihre Gefandten und fo begegneten ſich in dem ärm» 
lichen Städtchen Karaloron, das nicht die Größe von St. Denis, 
einem Bororte von Paris hatte, aber der Mittelpunft der Welt 
war, die Vertreter aller Potentaten, der weltlihen wie ber 
geiftlihen. Sndifferent gegen die Feinheiten der verfchledenen 
Neligionen, waren fie gegen alle tolerant. Wir willen, dab 
die Neftorianifchen Chriften auf mandye der mongolifchen Zürften 


einen großen Einfluß ausgeübt haben, einer von diejen joll for 
(136) 


7 


gar im Geheimen Ehrift geworben fein; fie ließen buch bie 
Bubdhiften und durch die Muhamedaner für ſich öffentliche 
Gebete verrichten. Den Franken in Paldftina, den Byzantiuern, 
den Armentern erſchienen fie als eine von Gott gefandte Hilfe 
gegen die immer mächtiger andrängenden ſeldſchuckiſchen Türken⸗ 
fürften, und fo entwidelte fih ein lebhafter Verkehr zwiſchen 
dem Abend» und Morgenlande. Indem jenes ungeheure Gebiet 
in einer Hand war, wurde ein verhaͤltnißmäßig ficherer Weg 
. exöffnet, der bi8 in das Herz von Afien führte. Da nun bie 
Mongolenfürften den Handel weiter begünftigten, jo daB bie 
Genuejen das cadpifche Meer mit großen Schiffen befuhren, 
wurde auch ein georbneter Neberlandverfehr nad; und nad ent» 
widelt; man konnte auf diefer Heerftraße, wenn man zahlreich 
genug war, um fich gegen etwa umberftreifende Räuberbanden 
zu jchüten, mit größerer Zuverficht reifen, als im Innern vo 
Europa und viel ficherer als heut in nicht wenigen Theilen diefer 
Route. Auf diefem Wege jehen wir denn in der Mitte des 
XIH. Jahrhunderts wiederholt Gefandte des Papftes ziehen, 
um in Verhandlungen mit den Mongolenfürften zu treten. Der 
erfte von diefen war Plano Garpin, der 1246 die Sira Ordu 
das goldene Zelt, einen Zagemarih von Karakoron erreichte 
Ihm folgte 1248 oder 49 Lonfumel; der intereflantefte von 
dieſen erften Botjchaftern aber war Rubruf, der im Auftrage 
Louis des Heiligen 1253 mit dem Mangu-Chan in Verbindung 
trat. Sein fchlichter und der Wahrheit entfprechender Bericht 
ift und heut noch eine reiche Duelle für die Beurtbeilung der 
Berhältniffe jener bewegten Zeit. Er fand um den Mittelpumft 
der Weltherrichaft zahlloje europäifche und afiatiiche Abenteurer. 
Menſchen aus aller Herren Länder maren im Dienfte der Gewalt» 
haber; in fo lebhafter Verbindung war man mit jener Gegend, 


fo alltäglich wurde der Verkehr, dab man an ber Sorbonne in 
(137) 


8 


Paris einen Lehrftuhl für mongoliſche Sprache errichten wollte, 
Unter ganz ähnlichen Umftänden treffen wir den Helben unferer 
gegenwärtigen Darftellung mit feinen Berwandten, deren Reiſe 
beichreibung wir nun kurz verfuchen wollen. Wir Tönnen bieß 
auf Grund der 3. Th. wörtliden Wiedergabe ihrer eignen Er 
zählung. Der Bericht erfolgte nad) dem Diktat Marco Polo’s 
ſelbſt. Ein Pifaner Ruſticiano fchrieb die Mittheilungen im 
Gefängniſſe von Genua 1298 nieder. 

In Venedig lebten zwei Brüder Maffeo und Nicolai Polo 
als Kaufleute. Diefe gingen um bad Sahre 1254 mit ihren 
Paaren nad Conftantinopel. Bon hier aus beichloffen fie, 
mit Edelfteinen nady den Ländern an der Wolga zu handeln; 
fie kreuzten das fchwarze Meer und ftiegen in Soldata oder 
Sodaͤk weitlih von Caffa and Land. Ohne Aufenthalt er 
reichten fie daB Ziel ihrer Reife und ſetzten bei Barku 
Chan in deifen Hauptilädten Sarat und Bolgara ihre werth⸗ 
vollen Steine gegen reihlihen Gewinn ab. Ein Krieg, der 
zwiichen ihm und feinem Better Hulagu um dad Jahr 1260 
ausbrach, verhinderte fie, wieder zurüdzufehren; fie mußten oſt⸗ 
wärts durchzudringen verſuchen und kamen folcyergeftalt nad 
Bokhara. Der dortige Zürft fchlug ihnen vor, den Groß-Chan 
aufzufuchen; dies wäre um jo leichter ald von Hulagu eine 
Geſandtſchaft nach der Metropole aufbräche. So reiften fie 
denn ab und erreichten nach Sahresfrift den Hof. Der Groß- 
Chan nahın fie fehr ehrenvoll und gaftfreunblidy auf, erfundigte 
fi) bet ihnen nad) den Fürften des Weftend; er fragte, wie fie 
ihre Herrſchaft ausübten, im welcher Weife fie Recht ſprachen, 
wie fie Kriege führten u. f. w. Dann forjchte er fie aus über 
ben Papft und bie Kirche: Fragen, die fie umſtändlich in tatariſcher 
Sprache beantworteten, weil fie im Laufe ber Zeit diejed Idioms 
völlig mächtig geworden waren. Es war ber große Kubilai⸗ 


(138) 


9 


Chan, wahrſcheinlich einer der tüchtigſten mongoliſchen Fürſten. 
Er entſchloß fich, an ben Papft unter der Führung eines feiner 
Barone eine Geſandtſchaft zu jchiden, an der fie Theil nehmen 
folten. Der Name des Mongolen war Cogatal. Kubilai bat 
den Papft, ihm hundert Männer zu fenden, die wohlbewanbert 
wären in allen Wiſſenſchaften; die im Stande wären, den chriſt⸗ 
lichen Glauben ald das befte Gefet zu beweilen und darzuthun, daß 
bie anderen Religionen eitel und nichtig wären; dann würde er 
und alle die Seinen ſich zum Chriſtenthum befennen. Außerdem 
verlangte er etwas Del von der Lampe, die am heiligen ®rabe 
brannte. Man darf diefed Verlangen und das daran geknüpfte 
Berjprechen nicht zu ernft nehmen, denn wie er nad den 
hriftlichen Heiligthümern fich begierig zeigte, fo nahm er fpäter 
gar keinen Anftand, fi) von Geylon einen Zahn Buddhas auszu⸗ 
bitten, der ibm auch übermittelt wurde. 

Kurz nachdem die Abreije erfolgt war, wurde ber mongo- 
liſche Zührer Trank, die beiden Brüder mußten alfo allein die 
Reife fortjeßen, die fie im April 1269 in Acre glüdlich beendeten. 
Die Srledigung ihrer Angelegenheit zog ſich, da der Papſt ge⸗ 
ftorben war, längere Zeit hin. Sie benubten die Frift, um 
nad) Benebig zu gehen. Hier fand Nicolo Polo feinen Sohn 
Marco Polo, der nad der Abreiſe ded Vaters geboren war, 
als einen 15jährigen Knaben vor. Beide Venetianer reiften 
mit demfelben ohne langen Berzug ab, gingen nad) Jeruſalem, 
um das verfprochene Del mit Hülfe ded Legaten zu Acre, ber 
mittlerweile ald Gregor X. den päpftlichen Stuhl beitiegen hatte, 
zu holen. Bon einigen Mönden, die bejondere Vollmachten 
erlangt hatten, begleitet, ſetzten fie ihre Reiſe fort. Ihre Bes 
gleiter verließen fie aber bald in Folge des lauten Kriegd 
getümmels, übergaben ihre Vollmachten den 3 Benetianern und 
diefe allein reiften Sommer und Winter, bis fie Kubilai- Chan 


(139) 


10 


in Kaipingfu oder Shang⸗tu, d. h. Oberhof, feiner Sommer- 
refidenz antrafen. 

Marco Polo, ebenfo wohl aufgenommen wie feine Ber- 
wandten, zeigte fi als ein tücdhtiger und gewandter Menſch. 
In wenigen Iahren war er völlig vertraut mit Sprade, Sitten 
und Gewohnheiten feines Bejchügerd, der ihn bald ald außer 
ordentlichen Geſandten nach allen Enden feines weiten Reiches 
ſchickte. Beſonders wurde er ihm gewogen, weil er außer für die 
geihäftlichen Dinge auch ein offene8 Auge für die Bejonder- 
beiten der Gegenden, ihrer Bewohner und der Produkte hatte und 
dies geſchickt mitzutheilen verftand. Siebzehn Fahre verblieb er 
im Dieufte ded Kaiſers. Er wurde mit den jchwierigfteıt Auf- 
trägen betraut und entledigte fich derjelben ſtets auf das beite. 
So geſchah ed, daß er nach und nad) die höchſten Chrenftellen 
gewann, daß er jogar Gouverneur einer der größten und reichften 
Provinzen auf die übliche Zeit von 3 Jahren wurde. Auf dieje 
Weiſe durchftreifte er in befonderen Miffionen ganz China vom 
Norden bid zum Süden; er nahm Theil an der Eroberung der 
Länder füdli vom Hoangho und iſt nad) eigner Angabe be- 
bülflich geweien, eine mehrere Jahre lang belagerte Stadt zu 
beichießen und endlidy zur Uebergabe zu zwingen. Aber auch 
die Grenzen dieſes gewaltigen Reiches überfchritt er. Nach 
eigener Erfahrung ſchildert er die Staaten von Hinterindien; 
wir gehen wohl aber nicht fehl, wenn wir vermuthen, daß er 
auch nad) den indiſchen Inſeln, vielleicht fogar nach Vorder⸗ 
indien in Staatsgeſchäften gekommen iſt. Mittlerweile hatten 
die drei Venetianer große Schätze erworben und dachten daran, 
ihre Heimath wieder aufzuſuchen. Sie erwogen ganz richtig, 
daß ſie vielleicht nach dem Tode ihres Beſchützers große Gefahr 
für ihr Eigenthum, ihre Freiheit, ja vielleicht für ihr Leben 


liefen. Trotzdem ſie ihn aber wiederholt um die Erlaubniß zur 
(130) 


11 


Rückkehr angingen, hatte er für ihre Bitten nur taube Obren. 
— Da geihah ed, dab die Frau Argun Chang, des Herrſchers von 
Perfien, ftarb. Dieſe hatte vor ihrem Tode ihren Gemahl ge» 
beten, zu ihrer Nachfolgerin nur eine Prinzeifin and ihrer 
mongoliſchen Verwandtichaft zu wählen. Cr fchidte deshalb 
drei Geſandte an Kubilai's Hof, welche für Argun eine wür« 
dige Prinzeifin ausſuchen follten. Die Wahl fiel auf die 
17jährige Cocatihin. Marco Polo war um dieſe Zeit aus 
Sndien zurüdgefommen; als nun bie drei Perſer wahr⸗ 
nahmen, dab er und feine Verwandten nicht blod Lateiner, 
fondern auch jonft gemandte Leute waren, fo erjuchten fie den 
Chan, dab er dieſe ihnen zur Begleitung geben mödte. Zu⸗ 
gleich machten fie den Vorſchlag, daß man an Stelle ded er- 
müdenden Landweges für die Prinzeifin die Seereije wählen 
jollte. Nach einigem Widerftreben ftimmte Kubilat diefem 
Plane zu. Gr berief die Polo8 vor fi, gab ihnen 2 goldene 
Zafeln, die ihnen durch alle Befißungen freien Verkehr, Unter: 
halt und Geleit verjchafften. Dann erhielten fie Botichaften 
an die Könige von Frankreich, England, Spanien. Es wurden 
13 Schiffe audgerüftet, jeded mit 4 Maften und 12 Segeln 
verjehen. Proviant für 2 Jahre wurde eingenommen und mit 
großem Gefolge die Abreife angetreten. Nah 3 Monaten 
famen fie nach Sava, weitere 18 Monate braudyten fie, um die 
indiihe See zu kreuzen. Mittlerweile war Argun geftorben, 
bafür empfing Ghazan, fein Sohn, die jenem zugebachte Gemahlin. 
Nachdem ſich die Männer ihrer Botſchaft entledigt „hatten, er« 
hielten fie von Kaikhatu, dem Nachfolger Argun’d, 4 goldene 
Zafeln, die ihnen die gleichen Yreiheiten gewährten wie die 
Freipäffe Kubilai's; außerdem wurden ihnen 200 Reiter zur 
Sicherheit ald Begleitung gegeben; über Trebiſonde gelangten 


(181) 


12 


fie nach Konftantinopel, Negroponte und Venedig, wo fie im 
Sabre 1295 anfamen. 

Der erite Biograph der Poli Ramufio erzählt, daß fie das⸗ 
felbe Geſchick hatten, wie Ulyſſes: fie wurden nach ihren 20jäh⸗ 
rigen Irrfahrten nicht wieder erfannt. SIedermann ihrer Ver⸗ 
wandtichaft hielt fie längft für geflorben und das Erkennen war 
um fo jchwieriger, ald der fo lange Verkehr mit den Aflaten 
fie in Manieren, Ausjehen und Sprache den Mongolen nahezu 
gleich gemacht hatte, felbft ihre venetianische Mutteriprache hatten 
fie faft ganz verlernt. Ihr Haus in dem Biertel Giovanno 
Chryſoſtomo fanden fie in den Händen eined entfernten Ver⸗ 
wandten, der ihnen den Eintritt in ihr Eigentbum wegen ihres 
wenig Vertrauen erwedenden Ausfehens verwehrte. Bei einer 
Zufammenfunft mit ihren Angehörigen entwidelten fie aber einen 
ſolchen Reichthum am Kleidungen, daß man ſchon günftiger ge» 
ftimmt wurde; dann holte der junge Marco die alten abge- 
tragenen Pelzgewänder: fie fingen alle drei an, die Näthe und 
Beſätze zu zerichneiden und entnahmen ihnen die größten Schäße 
von edlen Gefteinen, in die fie ihr Gold und Silber eingetaufcht 
hatten, weil fie fich bewußt waren, daß man ſolche Schäbe auf 
der jahrelangen Reiſe nur bejchwerlich befördern Fonnte. Be⸗ 
ftürzt und erftaunt über den Reichthum, zögerten nun bie An» 
verwandten nicht länger, für da8 fie anzuerlennen, was fie in 
ber That waren: die Häupter der Familie Ca Polo, die ihren 
alten Etammfib in dem SPalafte von Giovanno Chryjoftomo 
gehabt hatten. Kaum war die Sache in Benedig ruchbar ges 
worden, fo beeilte fich Jung und Alt, fie zu begrüßen und fidh 
von ihnen die Wunderdinge des fernen Orients erzählen zu 
laſſen. Da fie nun immer von den Millionen |prachen, welche 
der Kaiſer ald Einkünfte des Staated bezog, von den unge- 


beuren Reichthümern der Bürger, von ber großen Zahl der 
(133) 


13 


Dewohner in den Städten, fo erhielt Marco den Spottnamen 
Meſſer Marco Milliont, und das Haud, in dem er wohnte, 
war felbft Jahrhunderte nach feinem Tode ald der Millionenhof 
befannt. Wie e8 ihnen bei dem großen Vermögen zulam, nahmen 
fie nun an den Staatsgeſchäften Theil. Ald 1298 drei Sahre 
nad) ihrer Anfunft ein Seelampf zwifchen Venedig und Genua 
ausbrady, rüftete Marco Polo auf eigene Koften eine Galeere 
aud und betheiligte fich perjönlich an der Schlacht bei Gurzola. 
Das Kriegsglück war aber dem Gegner günftig; die Flotte von 
Benedig murde gefchlagen und Marco gefangen nach Genua 
geführt. Hier wurde fein Ruf bald ebenfo befannt, wie in feiner 
Baterftadt und der Zuſpruch bei ihm nahm fein Ende. Im 
Gefängnifje während der Zeit von Dftober 1298 bis Auguft 1299 
entftand nun dad Bud) über feine Neife, dad er wahricheinlich in 
altfranzöfiicher Sprache oder einem lombardo⸗franzöfiſchen Dia- 
lefte dem Rufticiano oder Ruftichello aus Piſa diktirtee In dem 
zulebtgenannten Monat Tehrte er nach erfolgtem Friedensſchluſſe 
nad) Veuedig zurüd, beirathete und lebte noch bis 1324; jein 
Zeftament, das er ein Jahr zuvor niedergefchrieben hatte, tft 
als ein höchſt intereffantes Dokument heute noch erhalten. 
LU. 

Das wäre in großen Zügen fein Leben, wie er und dad» 
jelbe theilweiſe felbft mitgetheilt hat. Wir wollen nun daran 
geben, nod einige der intereflanteren Kapitel feines ziemlich 
umfangreichen Werkes genauer Tennen zu lernen. Bisher haben 
wir nur den kurzen Abriß feiner Reife erfahren. Dieje füllt 
das erfte Bud; aus; das Folgende behandelt die Berichte über 
die Gegenden, die er auf feiner Reife bis Shang-tu durch⸗ 
wanderte; dad Dritte befpricht die Ortichaften, die er in feinen 
Dienftreifen im Innern von Afien Tennen lernte; das Vierte 
giebt uns Aufichlüffe über Iapan, den Ardipel und bie 


(188) 


14 


indifchen Küften; während das Lebte eine aphoriftiiche, ungenane 
und auch unintereffante Zufammenftelung der Kriege und 
Wirren im Mongoliihen Reiche felbft enthält. 

Wir wollen und an die wirhtigften Abjchnitte allein halten 
und deßhalb zuerjt von dem Chane felbft Iprehen. Kubilat» 
Chan, der vierte der Mongolenkaifer, findet in Marco Polo 
einen vollendeten Zobredner. Der Großherr der Fürften, wie 
er genannt wurde, erjcheint ihm als der mädhtigfte der Könige, 
welche feit Adanı regiert haben: was feine Armeen, feine Be- 
fitungen und Reichthümer anbetrifft. Cr ift ein Mann von 
mittlerer Größe, mit feinen Zügen, von ftattlicher Haltung. 
Trotz feiner zweifellos hervorragenden geiftigen Eigenjchaften 
war er doch derjenige Fürft, welcher der Einheit des Reiches 
den jchwerften Stoß verſetzte. Wie erwähnt, verlegte er näm⸗ 
ih die Hauptitadt nah Oſten. Die Stadt Ien-Sing war 
bereit8 durch Zichingiz erobert worden. Hier war der nngebeure 
Palaſt, welcher noch heute fteht. Er nimmt mit dem Garten ein 
Duadrat ein in der Mitte der Riefenftadt, welches A chineſiſche 
Meilen im Umfang bat. Die Nefidenz ſelbſt bat eine Halle, 
die 6000 Perfonen umfaßt, das Dad, ift zinnoberroth und gelb 
gemalt, auch fonft prangen die äußeren Säulen in ſchimmern⸗ 
den Farben, die gejhüpt werden von einem unvergänglichen 
Lackfirniß, fo daß alle Theile glänzen wie Kryftall. Im Innern 
ftrogt fie von Gold und Silber. Sie wird umgeben von einem 
riefigen Park, in dem Hiriche, Rehe, Gazellen weiden; auch ein 
großer Teich liegt darin, mit den glänzendften Goldfiſchen er» 
füllt; er war fünftlidy gegraben, die ausgehobene Erde wurde 
zu einen Berg aufgethürmt, der 1 Meile im Umfang hat und 
bededt ift mit immergrünen Bäumen: wo ein ſchöner Baum 
irgend an einer Stelle ded Reiches gefunden wird, dann forgt 


man dafür, daß er mit den Wurzeln und der Exde ausgehoben 
(184) 


15 

wird, um dahin verpflanzt zu werden. Diefer Berg eriftirt 
heute noch. Die Gänge find beftreut mit gepulvertem Lazur- 
fteine, auf der Spibe endlich befindet fich wieder ein grüner 
Palaſt. Die Stadt felbft entiprady dieſen Dimenfionen, Sie 
war 24 Meilen (bier find wahrjcheinlich altfranzoͤſiſche Meilen 
gemeint, nicht wie jpäter chinefiiche Li) im Umfang; umgeben von 
einer Mauer, die am Grunde 33 m breit war und eine Höhe von 
16 m hatte; die obere Breite war 5 m, heut zu Tage befteht diejes 
riefige Mauerwerk noch, wenn auch nicht mehr in der ganzen Länge, 
oben ift es gepflaftert nnd bildet jo eine eigenartige Promenade, 
die am die Ueberlieferungen der Mauerwerle von Theben und 
Babylon erinnert. 

Nur nody eine Stadt hat Ähnliche Dimenfionen unter den 
vielen großen Städten, deren Einwohner nach Hunderttaufenden 
zählen, d. i. Kinfay. Man bat lange darüber nachgedacht, welcher 
Ort darunter zu verftehen jei, bi8 man fand, daß er, wie Died fo 
häufig in Oſtafien, zumal in den mongolifhen Staaten gefchieht, 
feinen Namen gewedjelt hat. Hente heit er Hangsticheusfu 
und ift noch einer der wichtigften Häfen des unteren Vang⸗Tſe⸗ 
Kiang. Kinfay ift das dhinefifche Kingsze, d. h. Hauptftadt, fie 
war nämlich der Hauptort ded Reiches der Sung, ſüdlich vom 
Yang-Zje-Kiang, dad Kubilai eroberte. Hierher ward Marco 
Polo oftmald gefandt, um die Einkünfte diefer Provinz zu kon⸗ 
trolieren; er erzählt daher nach eigner Beobachtung. Die Stadt 
hatte 100 Meilen (chineſiſche li = 785 m) im Umfang; über die 
zahllofen größeren und Heineren Kanäle führten 12 000 Brüden. 
Mebr ald 100 000 Häujer waren bewohnt. Ueber ſämmtliche Be⸗ 
wohner wurden forgfältige Standesamtöregifter geführt. Im 
Snnern bed Häujermeeres lag ein See, 30 Meilen im Umfang, 
um den die größten und ſchonſten Paläfte aufgeführt waren. 
Darin befanden ſich 2 Inſeln mit weitläufigen Gebäuden, in 


(135) 


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ihrer Ausflattung würdig als Paläfte eines Kaiſers zu dienen; 
bier wurden die Kamilien- und öffentlichen Zefte gefeiert und 
man fand verjchiedened Geſchirr, Deden und Servietten dazu 
vor. Wir haben alfo große Hoteld und Bergnügungdorte 
por und, ganz wie heutzutage bei und. Da nun in Europa 
ein ſolcher Gebrauch damals nicht geläufig war, fo machte das 
auf Marco einen nicht geringen Eindrud. 

Segen Feuersgefahr, den ſchlimmſten Feind ber chinefifchen 
Holzbauten, find die umfangreichiten Maßregeln vorbereitet. Sig» 
nale werden über die Stadt gegeben und die polizeilichen Schub. 
mannſchaften müfjen zur Belämpfung berbeieilen. Alle Straßen 
find mit Steinen und Ziegeln gepflaftert, Daneben laufen Reit⸗ 
wege für die Kouriere ded Kaiſers. 3000 große Badeanftalten, 
die theilweiſe 100 Leute zugleich faffen, befördern die Reinlichkeit 
der Bewohner. Die Kanäle, welche längd ber rechtswinklig fid) 
chneidenden Straßen hinlaufen, führen alle Unfauberfeit fort, 
jo daß die Luft ausgezeichnet rein ift. 10 große Marktpläbe, 
welche Ranm genug für die freie Bewegung von je 50000 
Menſchen gewähren, dienen ald Sammelpläße für die Lebens⸗ 
mittel der Stadt. Umgeben werden die freien Pläße von 
Markthallen, in denen die Werkftätten der Handwerker aufge 
ſchlagen find. Die Bewohner find heitere, friedliche Leute, Feinde 
des Waffenhandwerks und der Soldaten. Sie behandeln ihre 
Staunen, die durch ihre Schönheit und ihren Geift in ganz 
Shina befannt find, mit Hochachtung; eine Unehrerbietigkeit 
gegen fie wird fireng beftraft. Auf dem See bewegen fich neben 
den Laftfähnen zahllofe Bergnügungsbote und Luftfahrten in 
ihnen find fehr beliebt; ebenſo belufligt man fi auf Land» 
parthien, indem die Familien in großen Wagen aus ber Stadt 
heraus in bejondere Vergnügungsorte fahren und dort den Tag 
zubringen. Die Einkünfte, die der Kaifer auß diejer Stadt 

(186) 


17 


und ber reichen Provinz bezog, waren ganz fabelhafte für die da» 
malige Zeit; fie betrugen 9545833 £ oder ungefähr 190 9116660 Mt. 

Der Aufwand, den der Weltherricher machte, war ganz 
eines orientalifchen Kürften würdig. Seine Ehrenwache beftand 
aus 12000 Reiten, die feinen Hofftaat ausmachen; bei den 
großen Zeftlichleiten müfjen diefe die gleiche Kleidung tragen, . 
wie er — nur nicht fo Eoftbar und da 13 ſolche. Hoffeite ftatt 
finden, jo werden diefen Hofftaaten jährlich 13 Garnituren aus 
den Toitbarften Stoffen übergeben; das größte Zeit fand am 
26. September ftatt, an dem Geburtstage bed Kaiſers; da 
liefen Glückwünſche und Geſchenke aud allen Theilen ded Reiches 
in der Katferftabt ein. Das zweite Hauptfeft war am Neujahr, 
eine Konceifion offenbar an die ugterjochten Chineſen. Alles tft 
dann in Weiß gefleidet, wie noch heute; man beſchenkt fid, mit 
weiß gefärbten Dingen und gratulirt fich gegenfeitig. An diejem 
Zag wurden dem Kaiſer an 100000 weiße Pferde aus dem 
ganzen Gebiete, das unter feinem Ecepter ftand, zugeſchickt. 

Der Kailer war ein großer Sagdliebhaber und die Monate 
Dezember bis Februar waren hauptfächlidy diefer noblen Paſſion 
gewidmet. Freilich war der Apparat dazu auch im größten 
Style. Die Meute war unter der Aufficht zweier hoher Hof 
beamten; jeder von dieſen fommandirte 10000 Männer, bie 
eine Partei rotb, die andere blau gekleidet. Died waren die 
eigentlichen Säger. 2000 von jeder Gruppe führte eine bis 
mehrere große Doggen. Zog der Kaifer zum Sagen aus, jo 
wurde die eine Abtheilung rechts, die andere links auögejendet 
und nun ein Raum von mehr ald einer Tagereije Ausdehnung 
radial abgetrieben, fo daß täglich Taufende von Thieren in 
den heut noch ungemein wildreichen Nevieren der Mandichurei 
zur Strede gebracht wurden. Gejagt wurde auf verjchiedene 


Weile: neben dem Verfahren der eigentlichen Hebe bediente man 
xXX. 460, 2 (137) 


18 


fich der Sagdleoparden, der Luchſe, ja fogar abgerichtete Tiger 
werden erwähnt. Marco Polo nennt fie Löwen, indem er 
aber zugleih die rotbgelbe Farbe und die jchwarzen Längs- 
ftreifen angiebt, wiflen wir, daß wir ed mit feinem anderen 
Thiere, als mit jener gewaltigen Kate zu thun haben, die ganz 
und gar nicht der Tropenwelt allein angehört, fondern die ganz 
Alten bis Süd⸗Sibirien durdhftreift und welche 3. B. in ber 
Breite von Hamburg noch heut zu den gefährlichften Feinden 
der ziemlich ohnmächtigen chineſiſch⸗ruſfiſchen Grenzbevoͤlkerung 
gehoͤrt. Es giebt kaum einen grelleren Gegenſatz, als den, daß 
ein Thier, welches in den Jungeln von Indien den Elephanten 
bekämpft, in tauſend Meilen weiterer Entfernung im Schnee 
den Spuren des Rennthieres folgt. 

Neben diefen vierfüßigen Iagdgebülfen find befonderd die 
beflügelten Fänger zu erwähnen: von den Mleineren Yalfen, 
welche die Wachteln erlegen, finden wir fie biß zu den größeren 
Edelfalfen, welche auf Reiher und Gazellen ftoßen; ja fogar 
die größten Formen wurden gezähmt, welche den Kampf mit 
dem Wolfe flegreich ausfechten. Die Itrengiten Jagdgeſetze 
waren gegeben, um dad Wild auf diefen ungeheuren Ebenen zu 
Ichonen. 

Einen großen Eindind machten auf Marco Polo die Geld» 
verhältniſſe des Reiches. Große Münzen bat China bekanntlich 
heute noch nicht. Man bezahlt in abgewogenem Silber und 
Golde: der Kleinverkehr wird durch ein Brouzegeld, Keſch oder 
Tſchin genannt, vermittelt, von äußerft geringem Werth (1000 Keſch 
find etwa = 4 M.) Dafür ift China die Erfinderin der ges 
fhriebenen Werthe ded Wechſels und auch des Papiergelbes. 
Sn Europa war damald vom Papiergelde feine Rede und fo 
madıte ed auf ihn, wie auf den etwa 50 Fahre jpäter daB 
Land durchftreifenden arabiſchen Reiſenden Ibn Batüt& einen 


(138) 


19 


ungeheuren Eindrud, als fie bier gedrucktes Papier der Münze 
gleich gejebt fanden. Pauthier giebt nah den chineſiſchen 
Annalen an, daB der Betrag, welchen Knubilai während 
34 Jahren feiner Regierung an Papiergeld verausgabte, 
249 65420 Unzen Silber = 124 827 144 2 betrug. Im 
der Gejchidlichleit der Erzeugung von Geld hätte alſo jelbft 
. Sohn Lam in ben Finanzminiftern bed. Kubilat feine Meifter 
gefunden. Aus dem Baſt des Maulbeerbaumes wurde ein 
Schwarzes Papier bergeftellt, au dem man Appoints im Werthe 
von 10, 20, 50, 100 u. ſ. f. bis 2000 Keſch machte. Diele 
Noten hatten Zwangskours, Keiner durfte bei Todesſtrafe fich 
weigern, fie anzunehmen. Falſchmünzer wurden mit der gleichen 
Strafe bedroht. Da nun im ganzen Reiche anſtandslos eine 
einzige Münze courfirte, fo imponirte diefer Umftand ben 
Polo's, die an die damals in Europa herrſchenden hoͤchſt pre⸗ 
faren Gelbverhältniffe gewöhnt waren, gewaltig. Beſonders 
intereffant war ed ihm, wie dem erwähnten Araber, daß man eine 
befchädigte Note ohne Entgelt (oder wie Marco Polo angiebt, 
mit 3 p&t. Berluft) in der Münze gegen eine neue umtaujchen 
konnte. Deßhalb, jagt Marco Polo fehr naiv, hat der Chan 
die größten Schäße in der Welt und Tann fierjeden Augen 
blid vermehren, denn das Papier koſtet doch faft nichtd. Die 
Klagen der damaligen Zeit klingen dafür auch aus den Annalen 
der chinefiichen Geichichtsichreiber noch heut an unjer Ohr, wie 
die unfinnige Vermehrung des Papiergeldes den Kredit herunter« 
drückte. Sit es doch ſpäter unter der Ming-Dynaltie, welche 
neben dem Papier Hartgeld im Kourſe beließ und mit Papier 
zahlte, während fie klingende Münze forderte, jo weit gefommen, 
daß 1000 Kelch Papier 3 Keſch Metall galten. 

Ein freundlicheres Geſicht als. diefe -Tatalen Geldzuftände 


zeigt uns aber diejenige Seite der damaligen Staatöverwaltung, 
2 (139) 


20 


die wir gegenwärtig Socialpolitit zu nennen pflegen. Der 
Katfer ſchickte überall bin feine Gefandten, um Bericht zu er- 
halten über den Stand der Saaten, über die Crgebniffe der 
Ernten. Waren in einem Diftrift Unglüdöfälle bereingebrochen, 
welche Mangel befürchten lieben, jo wurden diefem die Steuern 
erlaffen, ja man verjah die Bewohner mit Korn für den Unter- 
halt wie für die Saat. Hatten die Landlente Berlufte in ihrem 
Viehbeftande, jo jorgte man für unentgeltlichen Erſatz. Wurde. 
das Getreide durch die Speculation zu theuer, fo faufte mar auch 
große Raſſen in anderen Gegenden auf und gab ed aus den Kaifer: 
lichen Vorrathshäuſern zu billigeren Preifen, zuweilen zu dem 
vierten Theile des Tagespreiſes, ab: auf dieſe Weile legte der 
Kaifer den Kornwucher lahm, zu dem die menjchenfreundlichen 
Chinefen immer eine bejondere Anlage zeigten und noch zeigen. 
Geradezu erftaunlih war die öffentliche Armenpflege. Es 
wurden Lilten aufgeftellt, in welchen die bürftigen Familien 
nach der Zahl der Seelen, wie wir fagen würden — der 
Mäuler, wie bie praftiicher gefinnten Chinejen jagten, ein« 
getragen waren. Jede Familie lieh der Kaifer mit der nöthigen 
Menge Getreide für dad ganze Jahr veriehben. Die Hungrigen 
wurden in öffentlichen Bäckereien mit frifhem Brote geſpeiſt und 
in Peling betrug die Zahl der ausgegebenen Brote täglich 30 000. 
Auch Kleider wurden den Bedürftigen verabfolgt. Die Mittel 
dazu gewann man aus einer Naturalabgabe von Wolle, Seide 
und Hanf; die Handwerker mußten dann zu diefem Zwede in be- 
ftimmter Zeit öffentliche Arbeit leiften. Diefe Mildthätigfeit 
war eine Folge des Webertrittd der Mongolen zur chinefiichen 
Religion, denn vorher gaben fie auf eine Bitte um ein Almofen 
die Antwort: gehe Deiner Wege, denn wenn Gott Did liebte, 
wie mich; jo würde ee für Dich geforgt haben. 


China ift ftetd ausgezeichnet geweſen durch feine Com⸗ 
(140) 


21 


munilationen. Kubilai in klarer Erkenntniß für die Wichtige 
feit der Straßen, vervollflommnete fie noch und trug für eine 
vorzüglihe Pofteinrichtung Sorge. Bon der Hauptftadt aus 
entfaltete fich dieſes vieladrige Straßennetz. Alle 25 li (dji- 
nefiiche Meile = 785 m) weit befand fi ein Yam oder Pferde 
poſthaus: einem Hotel ähnlich mit Zimmern, in denen man 
Betten und alle Bequemlichkeiten antraf; dort waren audy Pferde 
zu finden, oft bis zu 300 an der Zahl. In Zwilchenräumen 
von ungefähr 3 lı befanden ſich andere Stationen, die ſich meift 
nach den Dörfern auf dem Wege richteten. Hier wohnten bie 
Eilboten. Jeder von diejen trug einen Gürtel, der mit Schellen 
behangen war, jo dab man ihn im Laufe jchon von weiten 
vernahm. Kam der Bote an, fo ftand fchon der nächſte bereit, 
nahm den Papierftreifen, der die Sendung enthielt in Empfang 
und trabte weiter. So geſchah ed, daß Räume, weldhe 10 Tage⸗ 
reifen entfernt waren, in einem Tage und einer Nacht durchmeſſen 
wurden. Ein Schreiber in jeder Station notirte die Ankunft und 
den Abgang der Boten und durch befondere Beamten wurden dieje 
Liften jeden Monat vifitirt, jo daB die Säumigen zur Strafe 
gezogen werden Tonnten. In bejonder8 dringenden Fällen bes 
diente man fich noch berittener Erprefien, die in vollem Galopp 
die Briefe beförderten und die Gejchwindigfeit tft wirklich merk⸗ 
würdig, fett Marco Polo emphatiſch Hinzu. Wie früher Die 
zuffiichen Couriere müflen fie den Leib und die Bruft feit 
umgürten; fie tragen eine filberne Faltentafel, weldye ihnen die 
Ermächtigung giebt, jedes Pferd, das ihnen begegnet, im Falle 
eines zugeftoßenen Unglücks zu requiriten. Die ganze Ein- 
richtung erforderte aber vom Kaiſer nur geringe Koften, weil 
die ummohnenden Bölfer die Beamten und Pferde gegen Steuer: 
befreiung hergeben mußten; nur in ben Wüfteneien beftritt der 
Fiskus den Aufwand. 


(141) 


22 


Die Seiten der Strafen find in abgemeffenen Entfernungen 
mit Bäumen bepflanzt, jo daß Niemand bei Tag und bei Nadıt 
den Weg verlieren kann; felbit in unbewohnten Gegenden finden 
fe fi zun Troſte und zur Beichirmung der Reiſenden. Marco 
Polo fegt hinzu: und dies that der Chan um fo lieber, als ihm 
die Aftrologen gejagt haben, wer Bäume pflanzt lebt lange. 
In den unfruchtbaren Wüften aber nahmen Steinfäulen deren 
Stelle ein. 

In jo vielen Dingen mutben und die Schilderungen unfered 
Reijenden an wie die Beichreibungen eines cultivierten euro» 
päiichen Landes der Gegenwart und um feine Erzählungen zu 
würdigen, müſſen wir und immer wieder bemühen, und in jene 
Berhältniffe zurüczuverfegen, welche damals in Europa herrichten. 
Die vorzüglihen Straßen, die großen Millionenftädte mit ihrem 
bewegten und genußreichen Leben in allen Ständen, dad Papier» 
geld find Errungenſchaften der neueren z. Th. der neuften Zeit 
bi8 in unjer Sahrhundert: davon kannte ein Marco Polo in feiner 
Heimat) nichts. Ganz befonderd aber müfjen wir von diefem 
Geſichtspunkte aud die Verwendung eines Produktes betrachten, das 
freilich bei und eine ganz andere Tragweite hat ald in China, wo fie 
Ihon Jahrtauſende alt ift, es ift der Gebrauch der Steinfohle als 
Brennmaterial. Er erzählt died mit folgenden Worten: „Sn 
ganz Kathay (d. i. der Name für das nördliche China) findet 
fih eine Art ſchwarzer Steine, welche ſich wie Adern in den 
Bergen dahinziehen, die fie ald Feuermaterial verwenden und 
dieje halten das Feuer befjer ald das Holz, denn wenn man am 
Abend mit ihnen das Feuer unterhält, fo findet man ed noch 
am Morgen, und. fie find jo gut, dab man durch die ganze 
Provinz nichtd anderes brennt.” 

Wir würden leicht im Stande fein fönnen, die Zahl der 


interefjanten Schilderungen über China und Ieine Verhältniſſe 
(142) 


23 


um Bieled zu vermehren. Wir müſſen aber noch einen Blick 
auf die füdlicher gelegenen Diftricte des Reiches werfen, die er 
zu wiederholten Malen durchzog. Zunächft fallen und die Berichte 
über die großen Ströme auf, die er genau bejchreibt, deren 
überwältigende Größe ihn zu dem Ausfipruche bewog, daß fie 
die bedentendften der Erde feien, eine ganz richtige Bemerkung, 
da man die großen Waſſeradern Amerifa’3 ja nicht Fannte. Die 
Wichtigkeit derſelben für den Handel entging ihm keineswegs; 
er deutet vielmehr auf die ausgedehnte Benutung der Wafler- 
ftraßen hin und bewundert den regen Verkehr in den Flußhäfen, 
welcher mit dem von größeren Seehandelsorten wetteifert. Die 
hauptjächlichften Städte der Küften und des Sunenlandes werden 
dann von ihm bejchrieben und ihre Eigenthümlichkeiten in Handel 
und Wandel, in natürlihen und technifchen Erzeugnifjen um« 
ftändlih behamdelt. Wenn auch die angegebenen Namen oft 
beim erften Anblide entjtellt erjcheinen, jo tft e8 doch den For» 
ſchern der neueren Zeit, beſonders dem äußerſt verdienftvollen 
Pauthier faft ftet3 gelungen, fie ihrer befremdlichen Hülle zu 
entlleiden und auf den wahren Auddrud zurüdzuführen. Im 
dritten Buche finden wir, wie erwähnt, eine Bejchreibung der 
öftlichen und Südlichen Gebiete Afiens, fo weit fie außerhalb 
China’8 liegen. Was die Diftricte anbetrifft, die er ſelbſt durch» 
reifte, alfo Java, Vorderindien und Perfien, fo find feine An» 
gaben recht beherzigendwerih und bilden gewiffermaßen die 
Unterlage für die fpäter ſich entwidelnden Neijebefchreibungen 
chriftlicher Drientfahrer. Er jchildert die Tropennatur, die koſt⸗ 
baren Produkte derfelben, die Bewohner mit geſchickter Darftel- 
kıng. Bejonderd genau gebt er auf Ceylon ein, jene Inſel, 
welche ſich damald bei allen Nationen einer hervorragenden 
Beachtung erfreute. Der in vollendeter Schönheit aus dem 
üppigen Grün der Urwälder fidh erhebende Berg, jebt der 


(143) 


24 


Adamspif genannt, feſſelte das Häuptinterefje. Die Buddhiften 
verehrten auf ihm die Neliquien Gautama⸗Buddha's, die Mu« 
hammebdaner bad Grab Adam's und die Chriften fuchten dort 
bad Paradies; allen diefen Glaubenöbefenntniffen wird er durch 
die Crwälmung der Heiligthümer gereht. Was Marco Polo 
fernerbin von der Geographie Afrita’8 berichtet, hat er ohne 
Zweifel arabifchen Quellen entnommen, die wieder Durch indilche 
Mythen ftarf beeinflußt worden find; das gilt von feinen Erzäh— 
lungen über Madagascar und Zanzibar, in denen der Vogel 
Rok und die unwiderftehlihen Strömungen ded Meeres, welche 
die Schiffe unaufhaltfam nach dem Südmeere der Dämmerung 
führen, aus dem ed feine Wiederkehr mehr giebt, ihre herfümm- 
liche Würdigung finden. Viel wichtiger aber in jenem Buche 
ift ed und nur darauf ſei noch hingewiefen, daß er ber erfte Euros - 
päer ift, welcher und Kunde bringt von dem fernen Inſelreich des 
Sonnenaufgangd Zipangu, dad wir heute Japan nennen. Weldhen 
Werth man gerade diefer Mittheilung beimeffen muß, werden wir 
aus dem Schluß unfered Vortrages ermeſſen. Er ſchildert das Land 
in den verführerifchften Farben. Er jagt: „die Menge des Goldes, 
welches die Bewohner haben, ift unendlich; fie finden ed, auf 
ihren eignen Inſeln und ed darf nichts ausgeführt werden. 
Mebrigens beſuchen das Land nur einige Kaufleute, weil e8 vom 
‚Seftlande zu weit entfernt ift und daher fommt ed, daß ihr 
Gold über alle Maßen häufig if. Der Kaifer hat einen Palaft, 
der ganz mit feinem Golde gededt ift, wie in Italien ‘die Kirchen 
mit Bleidächern verjehen werben, fo dab man kaum feinen Werth 
ſchätzen kaun. Außerdem find das Pflafter, vie Dielen, ganz 
aus Gold gemacht, wie aus lieben, die 2 Singer did find; 
ebenjo find die Henfter golden. Ste haben audy Perlen in 
Ueberfluß, von rofenrother Zarbe, aber jhön groß, rund und 


ganz jo wertbuoll wie weiße". Diefe Vorftellungen von den 
(144) 


25 


unermeßlichen NReichthümern Japans waren im Oſten ganz 
allgemein verbreitet; auch arabifche Berichte erzählen und 
Daoon, dab die Bewohner fogar die Haldöbänder von Hunden 
und Affen aus diefem edlen Metalle berftellten. Dieje Angaben 
von dem Reichthume werden und durch die jpäteren Berichte der 
Portugiefen und Holländer wenigitend theilweife beftätigt. 

Die Frage ift nun eifrig Discutirt worden, was hat man denn 
von den Angaben Marco Polo's zu halten, find diefelben vertrauend» 
würdig als auf ber Wahrheit beruhend? Sie ift in verfchiedenem 
Sinne beantwortet worden. Schon oben bemerften wir, daß 
er den Namen Mefler Marco Milliont führte. In unbedingt 
günftigem Sinne erhielt er ihn ficher nicht; man ſah ihn offen» 
bar für einen übertreibenden Erzähler an, ja man bat fidh nicht 
entblödet, feine ganzen Schilderungen und feine Würden ald 
ein Werk der Fantafie hinzuftellen, dem nur wenige Körncden 
Wahrheit zn Grunde lägen, ähnlich dem, das von jenem Ritter 
von Maundenille zufammengefabelt worden tft. Heutzutage hat 
fich freilich dieſes Urtheil jehr zu Gunften Marco Polo's abgellärt. 
Wir find im Stande, viele feiner Angaben durch ganz andere 
Quellen, befonderd durch arabifche, zu controlliren und finden, 
daB der ſpätere Reiſende Ibu Batütä, welcher die Welt von der 
Straße von Gibraltar bid nad) den aflatifchen Snjeln, von 
Timbuktu bis Peking durchftreift hat, fie zum großen Theil be- 
ftätigt. Seine gefchichtlichen Thatfahen werden und von einem 
perfiichen Hiſtoriker Raſchid⸗ud⸗din gemwährleiftet. Auch die hrift« 
lichen Miſſionäre, welche damals ihre Thätigkeit bis nach dem 
fernften Oſten ausdehnten, berichten und viele der Einzelheiten 
in ganz entiprechender Weiſe. Wir müffen unbedingt die That⸗ 
fache ausſprechen, daß Marco Polo immer bona fide berichtet, 
daß er fein wifjentlicher Schwindler ift. 

Etwas anderes ift es zu fragen, ob die Angaben alle 


(145) 


26. 


objektive Wahrheit befiten. Daß Irrthümer in dem umfang 
reichen Werke nicht ausgefchloffen fein werben, gebt aus ber 
Art der Entſtehung hervor. Cr biltirte aus dem Kopfe 
und wir wiflen nicht einmal, ob auf Grund von Notizen; 
deßwegen tft ed nicht zu verwundern, daB manche geichichtliche, 
Zahlenangaben und dergl. mangelhaft find; wir können aber eber 
darüber erftaunt fein, daß dieje Irrthümer nicht öfter ſich wieder⸗ 
holen. Man hat ferner, um das Bertrauen in feine Mit- 
theilungen zu erjchüttern, angegeben, daß viele der interefjanteften 
Züge aus den chinefiſchen Gewohnheiten nicht erwähnt werden. 
So jchweigt er. über die Anwendung bed Thees, er erwähnt 
feine Silbe von der Berunftaltung der Füße bei den Frauen, 
wir erfahren nichts‘ über die fo wichtigen Erfindungen des 
Schießpulvers und des Stereotypdrudes. Einiges von diefem 
mag er bei der. beften Kenntniß der Angelegenheiten vergeffen 
haben, wie den Budydrud. Das Pulver wurde hauptfächlich nur 
zu Feuerwerken verwendet, denn Kubilai beſchoß die belagerten 
Städte ganz beftimmt nicht mit Kanonen; im Gegentheil erzählt 
und Marco Polo, daB er behülflid war zur Heritellung von 
mechanijchen Schleudermafchinen. Andere ſolcher Details können 
ihm auch wirklich verborgen geblieben oder der Erwähnung nicht 
wichtig genug erfchienen fein. Died läßt ſich auch aus feiner 
Stellung heraus ſehr leicht erklären. Er war ein Diener der 
erobernden Nation und wird gewiß bei feiner hohen Stellung - 
faft ausſchließlich im Kreiſe der Tataren verkehrt haben. Die 
natürliche Abneigung der Unterjochten gegen die Sieger hielt 
biefe von den familiären Beziehungen mit jenen fern. Aufs 
fallend bleibt es jedenfalld, daB unſer Neifender den Thee nir- 
gends erwähnt, troßdem dab er lange Zeit in ben Provinzen 
fich aufbielt, welche dieſes beliebte und lange vor ihm gebrauchte 


Genußmittel bejfonderd cultiviren. Wir koͤnnen uns dies nur 
(146) 


27 


dadurch erflären, daß die Tataren wohl Freunde beraufchender 
Getränke waren, dem fanfteren Thee aber gerade deöhalb wenig 
Geſchmack abgemonnen haben mögen. alt doch bei ihnen die 
Böllerei und ber übermäßige Genuß jener für fein Lafter. In 
diefem Sinne liegt es auch, daB er und mit den verfchiedeniten 
Spirituofen und Weinen befaunt madıt. So erzählt er nicht 
nur von dem Traubenjaft der in Schanat in vorzüglicher Güte 
gewonnen und über das ganze Land auögeführt wurde, ſondern 
er weift auch darauf bin, daß in der Stadt Kinfay der Wein 
von auswärts importirt wurde; indeß fchäßte man ihn bier 
nicht jo hoch wie das Getränk, weldyed man aus Reid in einer 
ſolchen VBortrefflichkeit berftellte, daß ed ein alter Moͤnch, der 
offenbar Sachverftändiger darin war, mit dem beften Weine 
aud Aurerre verglich und es nur durch den Geruch davon unters 
ſcheiden konnte. Wir kennen diefen Wein, ‚den man nicht etwa 
mit Arrak verwechjeln darf, heute genauer. &r führt iu China 
den Namen Shamfu und wird durdh eine eigenthümliche Art 
von Gährung, die durch einen Schimmelpilz eingeleitet wird, 
bergeftellt. Bon dem Arrat unterfcheidet er fid) dadurch, daß 
er nicht wie diefer und unfer Spiritus abdeftillirt wird, fondern 
daß man ihn von dem vergohrenen Reife abpreßt. Man genieht 
ihn warm, nachdem man ihn mit Gewürzen und wohlriechenden 
Subftanzen parfümirt hat. Ich habe ihm felbft gefoftet, nach⸗ 
dem er von einem Japaner, der fidy gegenwärtig in Deutfchland 
aufhält, hergeftellt worden war, und kann dem oben erwähnten 
Urtheile nur beipflicdyten; mich erinnerte er am meiften an alten 
Ungarwein, nur fand ich aud, daß der Geruch ein wenig 
ftörend wirkte. 
. ID. 

Zum Schluß ſei es endlich noch geftattet, einen Blick auf die’ 

Bedeutung des anferordentlichen Mannes und feined Buches für 


(147) 


28 


feine und die fpätere Zeit und für die Wiffenichaft zu werfen. 
Wir müſſen num fagen, daß feine Einwirkung zupörderft nicht 
jo groß war, wie wir wohl vorausfeßen sollten. Freilich wurde 
jein Werk bald in die verfchiedenften Sprachen überlett, fo daß 
heute noch die Frage, weldyes wohl die urfprünglide Mundart 
war, in ber es gefchrieben wurde, controvers ift; troß alledem 
ift aber die Zahl der befannten älteren Handichriften bis zum 
Ende des XIV. Jahrhunderts nicht bedeutend, Yule zählt 
deren 77 auf. Man hat behauptet, daß ganz Italien in wenigen 
Monaten voll von dem Ruhme feined großen Sohnes gewejen jei. 
Das ſcheint nun auch nicht ganz richtig. Andere z. Th. viel 
weniger widjtige Schriften waren bei weitem häufiger, fo Fennt 
man heute nody von der Reife des Ddorid von Pordenone, 
eined Möndhes, welcher ebenfall8 Eüd- und Dftaften befucht.. 
93 Manuferipte aud der älteren Zeit; ja felbft die unfinnigen 
Lügen des Nitterd Maundeville waren viel mehr verbreitet 
ald Marco Polo’3 Schrift. Bon berühmten Werfen feiner Zeit- 
genofjen gar nicht zu reden, fo giebt es 500 Handichriften von 
Dante's göttliher Comödie. Es iſt merkwürdig genug, daß 
diefer Mann den Marco Polo gar nicht gefannt zu haben 
fcheint, denn während er fonft die verichiedenften Dinge 
aus der wirklichen, oberirdifchen und unterirdifchen Welt 
erzählt, ift von China und feinen Wundern niemald die Rede. 
Auch Marino Sanudo, defjen große Karte 1320 erichien, hat 
von Kathay feine Andeutung; weſentlichen Einfluß übte fein 
Buch in der Kartographie erfichtlich erft fpäter. In großer 
Ausdehnung ſehen wir die Berwerthung ſeiner Länder- 
beichreibung erft auf der fjogenannten Catalaniſchen Karte, 
welche heute in der Bibliothef von Parid aufbewahrt wird, 
die im Sabre 1375 entftand. Hier finden wir überhaupt erft 


eine annähernd richtige Vorſtellung von der Bertheilung bes 
(148) 


29 


Zeftlandes und Waffers in Oftaflen, zum erften Male er- 
fcheint Sumatra, von Marco Polo Jaua genannt auf der 
Karte. Später wurde der Autor namentlih durch die gebrudte 
Berbreitung allgemein befannt und war bis zur Zeit der großen 
Entdeckungen einer der beliebtejten Schriftfteller, der von anderen 
fleißig benußt und auögeichrieben wurde. 

Stalien bat ihm in früherer und ſelbſt noch in neueſter 
Zeit andermeitige Berdienfte zugeichrieben, die ihm beitimmt 
nicht zulommen; jo meinte man früher, daß er den Kompaß 
und das Sciebpulver in Europa befannt gemacht hat: leere 
Santafieen, die auf nicht? gegründet vor ‚der kritiſchen Prü⸗ 
fung zerftoben. Anderd ift ed mit dem Gedanken geweſen, 
dak wir Europäer ihm mittelbar die Buchdruderfunft ver» 
danken ſollen. Es wird erzählt, daß er chinefiiche Bücher mit 
nad Stalien gebracht habe. Beftimmte Cinwendungen laflen 
fi) dagegen nicht machen, wenn auch eben jo wenig pofitive 
Angaben darüber vorliegen. Nun wird weiter mitgetheilt, 
daß im Anfang des XV. Jahrhunderts die Republik Venedig 
einen Mann mit Namen Panfilo Gaftaldi aus Zeltre angeftellt 
habe, der die damaligen Stempel aus Muranoglad, welche dazu 
bienten, Initialen in den Dokumenten einzuprägen, bejeitigte 
und fie durch bewegliche Typen aus Holz und Metall. erjehte. 
Der Gedanke dazu ſei ihm bei der Betrachtung jener chineſiſchen 
Bücher gefommen. Auf diefe Weife habe er bereitd 1426 ganze 
Seiten in Venedig gedrudt. Weiter fährt der Bericht fort, jet 
ein gewiller Fauſt aus Main; mit dem Gaftaldi befannt ges . 
worden und habe ſich längere Zeit in dem Skriptorium zu 
Seltre aufgehalten. Der Engländer Curzon, welcher dieje Er» 
findung des Buchdruckes befannt machte, fagt, die Achnlichfeit 
mit den chineſiſchen Drucken fei dadurch noch frappanter, daß 


auch Saftaldi nur die eine Seite des Papiers bedrudte und die 
(149) 


30 


unbefchriebenen beim Heften einander zufehrte, oftmald auch zu« 
ſammenklebte. Die Druderfchwärze war ihm nicht befannt, er. 
benußte vielmehr eine dünne Farbe, ganz ähnlid wie die 
Chinejen ihre Tuſche zum Drud verwenden. Nationalliebe 
verbreitete diefe Mitthetlung weit in Norditalien und man jehte 
dem vermeintlichen Erfinder ein Denkmal mit der Inſchrift: 
„Dem Panftlo Gaftaldi, dem berühmten Erfinder der beweg- 
lichen Lettern erweift Italien diefe Ehrenbezengung, die ihm zu 
lange vorenthalten blieb.” Caftaldi bat noch heute fein Denk⸗ 
mal, nachdem längft nachgemiefen ift, daß Curzons Unterſuchung 
ein reines Produkt der Einbildungdfraft war; indeß was thut 
ed, ob ein Mann mehr die unbeftreitbare Ehre Gutenberg3 als 
Erfinder der großartigften Entdedung aller Zeiten anfechtet. 

Bon Marco Polo's Berdienften um die Förderung prafttfcher 
Sntereffen wollen wir nicht weiter reden; feine Werthichäßung 
ift vielmehr zunächlt im eminenten Sinne idealer Natur. Ihm 
verbantt die Menſchheit den erſten Aufichluß über einen unges 
beuren Raum der bewohnten Erde. Zum Theil hatten wir bis 
in die neuefte Zeit feine genauere Kunde von den Ländern, die 
er durchreiſte, die Pälfe über ben Pamir, Südchina und feine 
Berbindung mit Birma Tannten wir nur dur ihn. Geine 
Beichreibung wurde die Grundlage von ziemlich erträglichen 
Kartenbildern und wo fie zu fehr entftellt waren, lag bie 
Schuld nidt an ibm. So finden wir fein Zipangu 
1500 Meilen weit von der Küfte Chinas angegeben; während 
‚er aber chinefiſche li darunter verftand, verwechſelte fie ber 
Kartenzeichner mit italienischen Miglien, ſodaß der große Irr⸗ 
thum zu Wege kam, daß fie 20—30° öftlidy von dem aflatijchen 
Seitlande lagen, ein Fehler, der 14—24° beträgt. Gerade dieſe 
Täuſchung über die Konfiguration der Erde wurde aber ber 


Keim für jene enorme Bereicherung bed Wiſſens, welche wir 
(150) 


31 


Chriftoph Columbus verdanken. Ob diefer Heros der Menſchheit 
Marco Polo's Wert gelannt, wird vielfach bezweifelt; obgleich 
man glaubt, daß er von ihm wußte. Wichtiger aber ald Marco 
Polo's Werke war direkt für ihn ein Brief des Florentiners 
Zoscanelli. Diefer hatte fchon 1474, zu einer Zeit ald Colon 
ein Knabe von 15 Sahren war, an ben Domberm Fernando 
Martinez unter Affonjo V. von Portugal ein Gutachten über 
einen weftlihen Seeweg nad; Indien in Begleitung einer von 
ihm gezeichneten Karte gegeben. Er wies darauf hin, daß dieſer 
Weg nad) Zipangu und den reichen Häfen Kinſai und Zaitun 
viel kürzer fein müffe, als der Seeweg um Afrifa herum; er 
berechnete den meftlichen Abftand von Liffabon bi8 Zipangu _ 
auf 100-110 °, verlegte aljo die Infel in die Gegend bes 
heutigen St. Francisco in Californien. Die Fahrt jollte um fo 
leichter fein, als auf der Mitte des Weges jene myftiiche Infel 
Antiglia gelegen war, die ald Zwiſchenſtation jo günftig erfchien. 
Es ftebt feit, dat Columbus zwiſchen 1479 und 1482 von dieſer 
Urkunde Nachricht erhielt und daß er fi) von Zoscanelli felbit 
eine Abjchrift des Briefed und eine Kopie der Karte verichaffte. 
Die lebtere begleitete ihn auf feiner Fahrt, Die faft genau nad 
den Borichrifter des Alorentinerd gemacht wurde. Columbus 
bat damals ebenfo wenig, wie feine Landsleute daran gezweifelt, 
dab ihn fein Glück nad) Zipangu geführt habe, denn noch am 
Ende feiner zweiten Reife ließ er eine Urkunde aufnehmen und 
feine Mannichaft unter Androhung von Peitichenhieben für jeden 
ſpäteren Widerſpruch jchwören, daß fie das heutige Cuba für einen 
Theil Chinas hielten. Wer aber bat vor dem XVI. Jahr⸗ 
hundert das Land Zipangu befannt gemacht? Kein anderer als 
Marco Polo und jo fehen wir dieſen größten Reijenden des 
Mittelalters als eine jener bewegenden Kräfte in die Weltge- 
ſchichte eingreifen, welche gewaltig dahin trieben, daß eine 
’ (151) 


. 


32 


neue Welt gefunden wurde und mit ihr eine neue Zeit ent» 
ftand. Mag man über feine Bedeutung hadern wie man wi, 
mag man ihn binter jorgfältigeren und gewiffenhafteren Bes 
Ichreibern, wie Rubruf, fein Zeitgenoffe war, feen; dieſes eine 
Moment allein reiht ihn entfchieden unter die Zahl der bedeu⸗ 
tendften Männer aller Zeiten. 


Anmerkung. 

"Für diejenigen, welche fi) genauer über Marco Polo unterrichten 
wollen, mögen folgende Angaben dienen. Cine gute und den Anforde- 
rungen der Gegenwart entjprechende deutiche Ueberſetzung giebt e8 nicht; 
ältere find ziemlich zahlreih, und es war die erfte gedruckte Ausgabe 
feiner Werke überhaupt bie deutjche Uebertragung, die 1477 zu Wien 
erſchien. Die lebte ift von Burd mit Zufägen von Neumann 1846 
in Leipzig herausgegeben. ine eıngehendere Würdigung ber Bebeutung 
und aud eine ausführlichere Beichreibung der Reifen Marco Polo’s 
findet man in Richtbofen’3 epochemachendem Werke über China, I. Band. 
Bon franzöfifcheu Bearbeitungen ift vor allen Pauthier, le livre de 
Marc Pol, Paris 1865, 2 Bände, zu erwähuen. Nach der Einleitung 
ift die altfranzöfifche Ausgabe, welche der erwähnte Forſcher veröffentlicht 
und umfangreich wiſſenſchaftlich erläutert bat, duch Marco Polo jelbft 
revidirt und verbefjert worden; fie’ift aljo dem urjprünglichen Original, 
das nicht mehr bekannt ift, faft gleich zu ſetzen. Pautbier ſchließt aus 
diefer Einleitung, daß das Wert Marco Polo's in jener Sprache ver- 
faßt worden fein ſoll — eine Argumentation, die nichts Zwingendes 
bat, weil, wie an Ort und Stelle zu leſen ift, die Copie für einen 
Franzoſen beftimmt war und deshalb das Original wahrjcheinlich in 
das Sranzöfiihe übertragen wurde. In anderen Hinfihten wegen feiner 
Bollftändigkeit in den mehr gemeinverftändlich gehaltenen Erläuterungen 
ift das Wert Youle's „The Book of Ser Marco Polo“, London 
1874, II. ed., 2 Bände, außerordentli zu empfehlen. Cs ift eine 
englifche Ueberfegung und bat in den umfangreichen Commentaren eine 
geoße Zahl vortreffliher uud inftructiver Abbildungen. 

(152) 
Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 172, 


Bon dem neuen XIV. Inhraange (1885) von: 


Deutſche 


Wolteit. N 


Keunt 
N N ya a der Gm, "7 


In Verbindung mit Un 7 


© 
Prof. Dr. u. Aluckhohn, Nedacteur A. Lammers, 
Prof. Dr. 3.8. Meyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


heransgegeben von 


Stanz von KHolbendorff. 
(Heft 209—224 umfalfend, im Abonnement jedes Heft nur 75 Yfennige) 


find audgegeben: 


Heft 209. Preuf;z (Berlin), Deutſchland und fein Reichtkanzler gegenüber dem 
Geiſte unferer Zeit. 
„ 210. Zittel (Karlörube), Die Revifion der Lutherbibel. 
„ 313. Thun (Sreiburg i. Baden), Bilder aus der rufſiſchen Nevolntion (Fürft 
Krapotlin, Stepbanowitih, Scheljäbom). 


Ferner werden nach und nach, vorbehaltlich etwaiger Abänderungen im Ein- 

seinen, folgende Beiträge veröffentlicht werden: 

Sartorins v. Waltershauſen (Göttingen), Die Zukunft des Deutſchthums in 
den Vereinigten Staaten von Amerika. 

Eggers (Berlin), Klaus Groth und die plattdeutſche Dichtung. 

Schönborn (Breslau), Das höhere Unterrichtsweſen in der Gegenwart. 

Serzog (Wettingen), Das Referendum in der Schweiz. 

Hatel (Dründen), Die praktiſche Bedeutung der Handelsgeographie. 

v. Juraſchek, F., Nationalitäten und Spradenverhältnifie in Defterreich. 

Finkelnuburg (Bonn), Die Eholera-Quarantaine. 

v. Splgendorff (Münden), Etaatdmoral und Privatmoral. 

Jodl (Münden), Volkswirthſchaftslehre und Ethik. 

Sanshofer (Münden), Kleinhandel und Großinduſtrie. 

Staudinger (Worms), Die evangeliihe Zreiheit wider den Materialiomus des 
Bekenntnißglaubens. 

v. Orelli (Zürtdy), Der internationale Schutz des Urheberrechts. 

Fuld (Mainz), Das rückfällige Verbrecherthum. 

Kirchner (Berlin), Ueber den Zufall. 

vÄn Swinderen (Groningen), Profitution und Mäpdchenhandel. 

Siewert (Kiel), Die Rage unferer Seeleute. 

Pohl (Mödling), Iuftus von Liebig und die landwirthſchaftliche Lehre. 

Jende (Gera), Säule und Volkswirthſchaft. 

Meyer, 3. B. (Bonn), Ueber den Religiond-Unterriht in der Schule. 





In den früheren Zahrgängen der „Sammlung“ erjchienen: 


Geographie. 
(19 Hefte, wenn anf cinınal bezogen à 50 Pf. = 9,50 M.) 
Da an, Meriko. 2. Aufl. (EM). 2200 ern 75 
oguslawsti, Die Tiefjee und ihre Boden: und ZemperaturBerhältnifie. 
v. It einer Tiefenkarte der Oceane der Eide und ſechs Diagrammen im 


(BIO/ IIII..... .. ... M. 1.80 

—5 olg, Land und Leute in Wefiafrika. (257)......... M. 1.— 

er, Sinnen: und Seelenichen des Menſchen unter den Tropen. (204) 75 

tat und Morgen unter den Tropen. (240). . -. 2.2200. . m. 1.— 

9 Hochftetter Der Ural. (181) > 2 20 1.— 
Sordan, Die geograpbiihen Nefultate der von ©. Rohlfs mibehe 

Expedition in die libyſche Wüſte. Mit einer Karte. (218)..... 1.20 


Kögler, Tirol ald Gebirgstand. Streiflichter auf Vergangenheit und Gegen. 
wart. (BEA) 20 


Koner, Weber die neueften Entdedungen in Afrika. (69.70)... .. M. 1.20 
Meyer, U. B., Die Minahaffa uf 6 GSelebed. (262). - - >: 2 0 20. 60 
Reumayr, Zur Geſchichte des öſtlichen Mittelmeerbedens (392) . . . . . 


Sadebeck, Entwidelungdgang der Gratmefinngs- Arbeiten und gegenwärtiger 
Stand der europälihen Gradmeſſung. Diit einer Weberfichts: Karte der 
dentſchen Brgdmeſunge 8:-Arbeiten. (258) . - - 22 ..... M. 1.40 

v. Seebach, Central: Amerifa und der interoceantihe Kanal. Mit einer 


Karte von Central⸗Amerika. (183) . 2 0 2 0 0 een t. L— 
Trentlein, Die Durdquerungen Afrika's. (Mit einer Karte.) (433/434) .2.— 
Wagner, Die Veränderungen der Karte von Europa. (127)... 22. . 60 
Wattenbach, Algier. 2 Abz. (36). » > 2 2 > M. 1 — 


Gefchichte. 
(23 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 60 Pf. = 11,50 Marf.) 
Beheim⸗Schwarzbach, Die Befiedelung von Oſtdeutſchland durch Die 
zweite germaniſche Völkerwanderung. (393/394) . . 2: 2 2220. 1.20 
Bergan, Dad Ordenshaupthaug Darienburg im Preußen. (133) . 60 
Bluntſchli, Die Gründung der amerikaniſchen Union von 1787. 2. Aufl. Lo 60 
Doeid, „ Heinrich J. u. Otfo J. A323). 2 2 2m 22er. 60 


Denicke, Bon der deutſchen Hanſa. (456). 80 
Doudorff, Die Normannen und ihre Bedeutung für das europäifche Kultur: 
leben im Mittelalter. (225). - > 200 m m ern en 75 
fielen, Dad Barianiihe Schlachtfeld im SKreife Beckum. Mit einer 
Karte: (OO) ren a. 1.- 
finer, Unjere Kaiferfage. (440) . — 
eydenreich, Livius und die roͤmiſche HPlebs. (Ein Bild römifcher Örfätäre 
fhhreibung.) (ION). 2 2 2 one rennen M. 1.- 
Iſaac, Amy Kobsart und Graf Reicefter. (Ein Criminalfall des X VI. Jahr-⸗ 
hundert.) (BB) 2 2220er 30 
zum, Ein Tag aus dem Reben des Königs Darind. (178). . »...:.7 
hmann, Pomnern zur Zeit Ottos von Bamberg. (299) . .. 2... 75 
v. Xöher, Sapern 1 in der Geſchichte. (307). - . 2: 0 202 rn M. 1.- 
Müller, Prof., Dr., A., Die Beherrſcher der "Gläubigen. (406) . M. ı — 
Schreiber, Die Reformation in Pommern. (351)... .-- 2... M. 1.— 
Schroeder, Die niederländiihen Kolonien in Norddeutichland 3 3. dee 
Mittelalterd. Mit einer Karte. (347) -» 2: 2 200 ... M. Ve 
Gender Das alte Rom ald Großſtadt und Weltftadt. (302)... ... 75 
Kaifer Friedrich I. Barbarofſa's Tod und Grab. (330). . M. 1.— 
— Aus dem »Reiche des Tantalus und Kröſus. Mitt einer Karte und 
einer "eithograpbie. (1A) > ne M. 1.80 
Zweiten, Die Zeit Ludwig XIV. (121). . - 2 220er 60 


Winckler, Krönnng Karld des Großen zum römiſchen Kaiſer. (323)... . 75 


Sammlung 
gemeinverftänhlicher 
wiffenfhaftlider nortgäge, 

Geransgejcbe von ——— 


Hud. Virchow und Ar. von Golgendorff. 


.- 
wor 


XX. Kerie. 


(Heft 457 — 480 umfaſſend.) 


wu 


Heft 461. 





vw. 


Die 
Atellung Friedrichs des Großen 


zur 


Humanität im Ariege. 
Bon 


4. Hebel. 


GH 


Berlin SW., 1835. 


Verlag von Carl Habel 
(©. ©. Tüderity'sche Verlagsburppendlang.) 
38. Wilhelm⸗Straße 38. 


8 


V 





Jar 


Es wird gebeten, die anderen Seiten des Umfchlages zu beadyten. "ug Genaue 
Pte Werzeihnife der früheren Hefte, nad „Berien und Iahrgängen“ und 
na „Watffenfchaften‘‘ geordnet, find durch jede Kuchhandlung gratis zu beziehen. 


Einiad ung zum Abonnement! 


Die Jury der „Internationalen Ausjtellung 

& von Gegenftänden für den häuslichen und 4 

A gewerblichen Bedarf zu Amiterdam 1869" BB— 

| hat diefen Borträgen die WIEN £ 

Goldene Medaille 
zuerfannt. 


Bon der XX. Serie (Jahrgang 1885) der 
Sanmlung gemeinverjtändlicher 
wiffenfhaftlider Borfräge, 
berandgegeben von 
Nud. Birdom und Fr. v. Holgendorff. 


Heft 457 — 480 umfalfend Cim Abonnement jedes Heft nur 50 Pfennige) 
find bis jetzt erſchienen: 
Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Todten bei den 
verichiedenen Völkern. 
„ 458. gi grim (Ravensburg), Galilei. 
o 





„ 459. eg (Waldenburg Bafel), Die Nialdfaga, cin Epos und das 
ermaniſche Heidentbum in seinen Audklängen im Norden 
„ 460. Sgumann (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender des XIII. Jahr⸗ 


461. Seel einerndorh— Die Stellung Friedrichs des Großen zur Humanität 
im 
„462. Engelloru (Maulbronn), Die Pflege der Seren fonft und feßt. 


— — —— —— — — nn — — —— —— — 


Bon dem neuen XIV. F. Iahrgange (1885) von: 





2 
ge In Verbindung mit Ur 


Prof, Dr. ge Aluckhohn, NRedacteur A. Lammersg, 
Prof. Dr. 3.8. Meyer und Prof. Dr. YBaul Schmidt 


ögegeben von 
Stan; "on Holtendorff. 
(Heft 209 — 224 unfalfend (im Abonnement jedes Heft nur 75 Yfennige) 


And bis jeßt ausgegeben: 


Heft 209. up (Berlin), Deutichland und fein Reichöfanzier gegenüber dem 
5 unſerer Zeit. 
210. itten Gatruve) Die Revifton der Lutherbibel. 
„ 2. „Greiburg i. Baden), — — der ruſſiſchen Revolution (Fürſt 


Krapottin Stephanowitſch, Scheljäb 
„212. Sartorius v. Waltershaufen —8 en), ‚pie Zufunft des Deutſch⸗ 
thums in den Vereinigten Staaten von Amerifa. 


a 


Die 
Stellung Friedrichs des Großen 


Humanität im Kriege. 


Bortrag, 


gehalten im Lette-Verein zu Berlin zum 172. Geburtstage 
Friedrichs des Großen. | 


Bon 


t. Hebel, 
Prediger in Heinersborf bei Müncheberg (Mar). 





— — A -— — no 
— — 


Berliu SW., 1885. 


Berlag von Barl Habel. 


(©. 6. Lüderity'sche Beriagsbuchhendlung.) 
3. Wiſheim⸗Straße 33. 


| 


Das Recht der Meberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





Fan 18. FZahrhundert gewann die Humanität einen mädı- 
tigen Aufihwung, und einer ihrer herrlichſten Förderer tft 
Friedridy der Große, einzig darin bejonders, daß er als König 
und Schriftfteler, mit Wort und That, im Krieg und Frieden 
für fie ſtritt. Ihm, dem erften Diener des Staats, lag vor 
Allem das Staatswohl am Herzen, und indem er die Führer⸗ 
ſchaft in Deutichland als den Beruf Preußens erfannte, fuchte 
er bie bazu nothwendige geiftige und materielle Machtftellung 
zu erringen. Darum mußte er, obwohl feiner ganzen Natur 
nach dem Kriege abhold, doc blutige Kriege führen; aber er 
that es mit aller Humanität, die der Kriegszweck irgend zuließ 
und bie feinen Feinden gegenüber ftatthaft war. Seine Ab⸗ 
neigung gegen den Krieg ſprach er befonders im feiner Jugend⸗ 
zeit aus; Ipäter, als er feine Machtftelung fich bereits erfämpft 
batte, befang er die Kriegskunſt; und in feinen alten Tagen, 
als er mit unpraktiſchen Humaniften in Streit gerieth, verthei- 
digte er ben Krieg als nothwendig und heilſam; ein ewiger 
Friede dagegen galt im ftetd für ein Hirngeipinft. Aber auch 
tn diefer durch Charakter, Denkweiſe und Verhältniffe bedingten 
Entwidelung des koͤniglichen Kriegd » Schriftftellerd blieb doch 
immer, ebenfo wie in feiner Kriegführung, die Humanttät der 
durch dad Ganze ſich hindurchziehende rothe Faden. 


xx. 461. 1* (155) 


4 


I. 

Die erfte Periode, im welcher Friedri dem Kriege ent» 
ſchieden abgeneigt war, umfaßt feine 14 jugendlihen Manned- 
jahre bi8 zum Ende des öfterreichifchen Erbfolgefriegs, von 
1734—1748. 

Der deutſche Kaifer Karl VI war mit dem franzöftfchen 
Könige Louis XV über die Bejehung des polnifchen Throned 
in einen Krieg gerathen, in welchem Friedrich Wilhelm I mit 
10000 Mann den Kaifer im weftlihen Deutichland unterftüßte. 
Der Kronprinz, 22 Sahre alt, begleitete feinen Vater auf diefem 
unbedeutenden Feldzuge 1734 an den Rhein und empfing bier 
die eriten Kriegseindrüde, die er fofort auf dem Kriegsſchau⸗ 
plaße in feinen erften „Verſen“ ausprägte. Friedrich fchilderte 
in ihnen den Hof der Kriegdlafter und mahnte die Menichen- 
brüder eindringlich vom Kriegdmorde ab. 

„Diefer Hof voll Uebermuth, 
Nur die Kämpfe wünſchet er, 
Glühend ift fein Rachedurſt, 
Blut fließt unter feinem Tritt; 
Hochmuth und Anmaplichkeit 
Säen Xodesjchreden aus... 
Sein Wort ruft das Blutbad auf, 
Stürzet feine Höflinge 
Hin in finitern Ruthanfall. 
Jene Helfer, blutdürftig, 
Ohne Sinn in ihrer Wuth, 
Statt der Luſt das Leben weih'n, 
Rechnen feinen Raub zum Ruhm. 
Schauberhaft, fich fättigen, 
Großer Gott, an Bruderblut! 
Sterbliche, das Lebenslicht 
Gab der Eine Vater uns. 

(156) 


ö 





Ad, wie fehr doch irret ihr, 
Wenn ihr eure Hänte leiht, 
Eure Gaben und Bernunft, 
Zu Gemetel, Mord und Gräuel!“ 


Ganz beſonders wichtig für dieſe erfte Periode Friedrichs ift 
der von ihm gleihfalld noch ald Kronprinz 1739 f. geichriebene, 
aber erft 1741 von dem Könige anonym veröffentlichte „Anti« 
machiavell“. Eine fpätere, verbeflerte Ausgabe erhielt den Zitel: 
„Biderlegung des Fürften von Machiavell.” Hier heißt e8:?) 
„Die Ruhe Europas gründet fich bejonderd auf die Erhaltung 
eines weifen Gleichgewichts. Die Welt würde ſehr glüdlich 
fein, wenn ed feine andern Mittel als dad der Unterhandlung 
gäbe, um die Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten und den Frie⸗ 
den. unter den Nationen wiederberzuftellen.. Man würde die 
Vernunftgründe anftatt der Waffen anwenden, und man würde 
fi} unter einander beftreiten, anftatt fich unter einander abzu- 
würgen. Eine ärgerliche Nothwendigkeit verpflichtet die Zürften, 
zu einem weit graujameren, traurigeren und gehäffigeren Wege 
ihre Zuflucht zu nehmen. Es giebt Gelegenheiten, wo man mit 
den Waffen die Freiheit der Völker, Die man ungerechter Weife 
unterdrücken will, vertbeidigen muß; wo man mit Gewalt er- 
langen muß, was die Unbilligfeit der Menſchen der Milde ver- 
weigert, und wo die Herricher, die geborenen Schiedärichter in 
ihren Streitigleiten, diefe nur wegräumen können, indem fie 
ihre Kräfte mit einander meſſen und ihre Sache dem Loos der 
Schlachten anheimgeben. Im folhen Fällen wird das Paradoron 
wahr, daß ein guter Krieg einen guten Frieden giebt und be- 
feftigt.. Die Leidenfchaften und der Ehrgeiz der Bürften ver- 
dunkeln ihnen oft die Augen und malen ihnen mit vortheilhaften 
Barben die gewaltthätigften Handlungen. Der Krieg iſt ein 


(157) 





6 


Zufluchtsmittel in der Außerften Noth; daher darf man fidy 
feiner nur mit Borfiht und in verzweifelten Sällen bedienen, und 
muß wohl unterfuchen, cb man durdy ein Blendwerk von Stolz 
oder durch einen haltbaren und unumgänglicden Grund dazu 
getrieben wird. Die Bertheidigungäfriege find ohne Widerſpruch 
die gerechteſten. Es giebt (auch) Intereſſenkriege, welche die 
Könige zu führen verpflichtet find, um felbft Die Rechte aufredht 
zu erhalten, die man ihnen ftreitig macht; da es feine Tribus 
nale über den Königen giebt, fo klagen fie mit den Waffen in 
der Hand, und die Kämpfe entſcheiden über die Kraft ihrer 
Gründe. Es giebt (ferner) ebenjo gerechte Angriffskriege: Dies 
find Vorfichtd. Kriege, und die Fürften thun weile daran, fie zu 
unternehmen, wenn die übermäßige Größe der größten Mächte 
nahe daran jcheint, über ihre Ufer zu treten. Die Bündniffe 
können ebenfalls die Fürften nöthigen, in die Kriege ihrer Ber- 
bündeten miteinzutreten. Alle Kriege alfo, welche nad) einer 
firengen Prüfung unternommen werden, um Ujurpatoren zurüd» 
zutreiben, um gejeglihe Nechte aufrecht zu erhalten, um die 
Sreibeit der Welt zu ſchützen und um die Unterbrüdung und 
Gewalttbhätigfeit der Chrgeizigen zu vermeiden, find überein» 
ftimmend mit der Gerechtigkeit und Billigkeit. Die Herricer, 
welche dergleichen unternehmen, find unjchuldig an allem ver- 
goffenen Blut, weil fie fidy in der Nothwendigkeit befinten, fo 
zu handeln, und weil uuter joldyen Umftänden der Krieg ein 
geringered Unglüd ift als der Friede. . Aber ein Herricher muß 
tbun was er kann, um ihn zu vermeiden. Der Krieg ift jo 
frudtbar an Unglüdöfällen, fein Ausgang ift jo wenig gewiß, 
und feine Folgen Tind fo verderblidh für ein Land, daß die 
Fürften ed fi gar nicht genug überlegen können, bevor fie ihn 


unternehmen. Ich ſpreche nicht von ter Ungerechtigkeit nnd von 
(158) 


7 


den Sewaltthätigleiten, welche fie gegen ihre Nachbarn begeben, 
fondern ich bejchränfe mich auf all’ das Unglüd, welches geradezu 
auf ihre eigenen Unterthanen zurüdfält. Ich bin überzeugt, 
dat, wenn die Monarchen wahrhaft das Gemälde des Volks⸗ 
elends fähen, welches eine bloße Kriegserklärung nach fidy zieht, 
jo würden fie nicht unempfindlich dagegen fein. Aber fie haben 
feine hinreichend lebhafte Einbildungskraft, um ih in natür- 
liher Größe Uebel vorzuftellen, vor weldhen ihr Stand fie . 
fihertt.. Man müßte einem Herrfcher, den das Feuer feines 
Chrgeized zum Kriege treibt, al’ die traurigen Folgen vor Augen 
ftellen, die er für feine Unterthbanen hat: dieſe Ausbebungen, 
welche die ganze Tugend des Landes fortnehmen, dieſe Auf» 
lagen, welche die Völker zu Boden drüden, dieje anftedlenden 
Krankheiten der Armeen, diefe moͤrderiſchen Belagerungen, dieſe 
noch graufameren Schlachten, diefe Verwundeten, weldye der 
Berluft mancher Glieder der einzigen Werkzeuge zu ihrer Lebens⸗ 
erhaltung beraubt, und diefe Waifen, welchen das feindliche 
Sifen Die geraubt bat, welche dem Fürften ihr Blut verkauften, 
jo viele dem Staat nübliche vor der Zeit weggemähte Männer. 
Es gab nie einen Tyrannen, weldyer faltblätig ſolche Grauſam⸗ 
feiten beging. Die Fürften, weldye ungerechte Kriege führen, 
find granfamer als fie. Sie opfern dem Ungeftüm ihrer Zei- 
denichaften das Glück, die Gejundheit und das Leben einer un« 
endlichen Zahl von Menſchen, welche ihre Pflicht wäre zu 
Ihügen, anftatt fie jo Teichtfinnig preiözugeben. Die Herrfcher, 
welche ihre Unterthanen als ihre Sklaven anfehen, feten Fe 
ohne Mitleid auf's Spiel und fehen fie ohne Bedauern um- 
fommen; aber die Fürften, welche die Menſchen als ihres Gleichen 
betrachten, koͤnnen nicht geizig genug fein mit dem Leben ihrer 


(159) 





8 


Unterthanen, weldhe fie in mancher Nüdficht ald ihre Herren 
anſehen jollen.“ 

Es ift bier bereitd die ganze humane Anfchauung des 
großen Königs über den Krieg in ihren Grundzügen ausgeprägt: 
die Schreden ded Krieges überhaupt, inäbejondere aber die 
menjchenfreundliche Rüdficht auf die eigenen Unterthanen follen 
den Herrſcher von jedem ungerechten, aber nicht von einem ge⸗ 
rechten, nothwendigen Kriege abhalten. Im Antimachiavell hatte 
der Kronprinz ſeine Königskriege im Voraus gerechtfertigt. 

Der erſte ſchleſiſche Krieg ward von Friedrich auf Grund 
alter Anſprüche als ein gerechter Intereſſen⸗Krieg gegen die 
junge, von allen Seiten hartbedrängte Kaiſerin Maria Tereſia 
im December 1740 eröffnet. Der fiegreiche König gewann an 
der Spibe feined trefflichen Heeres Schlefien um fo leichter, als 
die Truppen gute Manndzucht hielten und — damals ein un» 
erhörter Fall — Alles baar bezahlten. Die öfterreihiichen Be⸗ 
wohner riefen jogar nicht felten preußifche Hufaren zum Schuß 
gegen ihre eigenen beim Abmaridy - plündernden kaiſerlichen 
Truppen herbei. Insbeſondere lag dem Könige die Pflege der 
Berwimdeten am Herzen. An Schwerin ſchrieb er am 10. Ja⸗ 
nuar 1741: „Tragt Sorge für die Bleffirten, ed find meine 
Kinder! — und gab große Summen zu ihrer Verpflegung 
ber. Und behufs ärztlicher Behandlung und Lazarethpflege der 
Kriegögefangenen fchlob er am 9. Suli 1741 das „Gartel von 
Grottkau“ ab. In einem Feldbriefe au Jordan endlih vom 
24. Zuni 1742 ftelt er die Schonung feiner Preußen über die 
völlige Eroberung Böhmens:?) „Wir haben die Defterreicher 
(in Böhmen) geichlagen und würden fie daraus vertrieben haben, 
wenn ich nicht die Erhaltung preußifchen Bluts dem eitlen 


Ruhme vorgezogen hätte, eine unglüdliche Frau und ein rui⸗ 
(160) 


9 


nirtes Land zu überwältigen." — Der Sonderfriede von Breslau - 
verbürgte dem Könige feine Groberung. 

In einem gleichzeitigen Briefe an Boltaire vom 18. Juni 
rechtfertigte er dieſen Krieg mit der Nothwendigkeit und ſeiner 
perſönlichen Friedensliebe folgendermaßen:!) 

„Des Friedens Palmen enden die Kriegesſchrecken nun; 

Am ruh'gen Oelbaum hängen wir die Waffen auf. 

Bereits vernimmt man nicht mehr den blutdürſt'gen Ton 

Der furchtbarn Trommel und der ſchmetternden Trompet'; 

Und diefe Felder, die der Ruhm, übend bie Muth, 

Mit Menichenblut, mit Todten und mit Mord befleckt, 

Liefern, bebaut mit Sorgfalt, in drei Monaten 

Das glüdlih% und überreiche Bild 

Bon einem durch's Geſetz regierten Land. 

D Friede, jel’ger Friede, mad) auf Erden gut 

Die Nebel alle die Zerfiörungsfrieg ihr bringt! 

Und deine Stirn, mit neuentfproßtem Blumenſchmuck 

Heitrer als je, erweije reichlidy deine Gunft! 

Do wie auch fei Die Hoffnung auf die du dich ftüßft, 

Bedenke, daß du nichts gethan, 

Wenn du nicht bannſt zwei Ungeheuer aus der Welt, 

Den Ehrgeiz und den Eigennutz.“ 

„Halten Sie mid nicht für graufam, fährt der König fort, 
fondern für vernünftig genug, um ein Uebel nur dann zu wählen, 
wenn man ein fchlimmeres vermeiden muß. Seder Menſch, 
der fidy entichließt, fih einen Zahn ausreißen zu laffen, wenn 
er angefreſſen ift, wird eine Schlacht Tiefern, wenn er einen 
Krieg beendigen will, Im einer ſolchen Lage Blut vergießen, 
beißt wahrhaft, es fparen; es ift ein Aderlaß, den man feinem 
Feinde im Delirtum anthut und der ihm feinen gefunden Ber: 
ftand wiedergiebt.“ 


Auch in einem andern Briefe an Voltaire, Rheinsberg, den 
(161) 


10 


13. October 1742, beflagt der König die Uebel des rühmlichen 
Krieges.’). 

„Die Uebel, die die Welt bedecken, Elage ich, 

Die Bande, bie die Zwietracht fünftlich bat geloͤſ't; 

Die preuß'ſchen Adler haben ihren Blitz gehemmt 

Beim Sanustempel, den geöffnet meine Hand. 

O ſchmähet nicht, mein Freund, den unerſchrocknen Muth, 

Den meine Zapfern fegen wider Kriegeöfturm! 

Der Eigennutz wirft auf die edlen Krieger nicht; 

Sie fordern nichts, denn ihre Liebe ift der Ruhm, 

Der Preis für ihre Mühen ftehet nur im Sieg.” 

Der König, weldher wiederholt die Erfahrung gemadıt 
hatte, dab ein jeder aufftrebende Staat wie Preußen eine frie 
densfichere Stellung fich erfämpfen müßte, konnte, jo ſehr er 
auch den Krieg nur als Mittel zum Zrieden betrachtete, einen 
ewigen Frieden dody nur für eine lächerliche Utopie halten. So 
ſchrieb er am 12. April 1742 an Boltaire:°) „Der Abbe von 
St. Pierre, welcher mid fo ſehr auszeichnet, daB erimich mit 
feiner Correſpondenz beehrt, hat mir ein fchöned Werk geſchickt 
über die Art und Weile, den Frieden in Europa berzuftellen 
und ihn auf immer feftzuftellen. Die Sache ift jehr ausführ« 
bar; e8 fehlt zu ihrem Gelingen nur die Einwilligung Europa's 
und einige undere ähnliche Kleinigfeiten.“ Und 3 Tage |päter 
ipöttelt er in einem Briefe an Sordan:’) „Der Abbe von 
St. Pierre macht fih anheiſchig, dad Interefle der Fürſten 
Europa's eben fo leicht zurecht zu machen, wie Sie Ihre Berje 
machen. Dies große Werk ftößt fi) an nichts als an der Ein⸗ 
willigung der dabei intereffirten Theile. Sie fennen dieje Vi⸗ 
fionen von Sciebögeriht und ſolche gleichbedeutenden Narr⸗ 
beiten.” Noch einmal fchreibt er am 25. Zuli hierüber an 
Boltaire:®) „So lange ald das platoniſche Schiebögericht des 


(63) 


11 


Abbe von St. Bierre nicht ftatt haben wirb, bleibt den Koͤnigen 
zur Beendigung ihrer Streitigkeiten kein anderes Hülfsmittel, als 
Gewaltmittel zu brauchen. Die Unglüdöfälle und NRöthe, welche 
daraus entipringen, find wie die Krankheiten des menſchlichen 
Körperd. Der lebte Krieg muß alfo wie ein Kleiner Fieberan⸗ 
fall betrachtet werden, der Europa ergriffen und es faft fofort 
verlaffen bat.” 

Den zweiten jchlefifhen Krieg begann Yriedrich 1744, um, 
wie fein Manifeft erklärte, dem deutſchen Reiche die Freiheit, 
dem Kaifer feine Würde, Europa den Frieden ficher zw ftellen. 
Sein Schreiben „an tie Gzarin” Elifabetb von 1745 ift ein 
politiſches Document dafür, daß er den Krieg mit feinen 
Schrecken nicht. liebte und Friedensvermittlungen in ihrer Be- 
deutung wohl zu jchäten wußte. Er führte diefen neuen noth» 
wendigen Krieg durch drei blutige Siege in kurzer Zeit zu Ende 
und nöthigte die Defterreicher und Sachſen noch 1745 zum 
Dreddener Frieden. 

Unmittelbar nad dem Friedensſchluß begann der König 
„Die Geſchichte meiner Zeit” und erflärte fi) in der Vorrede 
von 1746 folgendermaßen:?) „Ich beobachte, daß alle Nationen 
tapferer' find, wenn fie für ihre Herde fämpfen, ald wenn fie 
ihre Nachbarn angreifen. Der Krieg, welcher ſich in Echlefien ent- 
zündet (der öfterreihifche Erbfolgekrieg) wird anftedend und 
erreicht eine höhere Stufe von Bösartigleit in dem Maße als 
er wählt. Was dabei am traurigften ft, das ift die ſchauder⸗ 
bafte Vergießung von Menſchenblut: Europa gleicht einer 
Schlächterei, überall find blutige Schlachten; man follte meinen, 
daß die Könige beichloffen haben, die Erde zu entvöllern. Wenn 
man die übermäßigen Ausgaben berechnet, welche der Krieg 
gekoftet hat; mie jehr das Volk durch Auflagen bedrüdt ift, um 


(168) 


12 


bieje großen Summen zufjammenzubringen; und beſonders, daB 
diefe Croberungen auf Koften des Bluts fo vieler taujend 
Menſchen erfauft find: wer follte da nicht bewegt werden bei 
dem Anblid fo vieler Elenden, melde die Opfer biejer traurigen 
Streitigkeiten find?!“ 
Und am Ende dieſes Erbfolgetrieges, in welchem die beiden 
ſchlefiſchen Kriege die biutigften Epifoden waren, klagte er in 
einer Dde vom Jahre 1748:10) 

„Seborne Erdengötter, Menfchenrichter ihr, 

Stolze Beherrfcher diefer trübjeligen Welt, 

Wenn drohend euer Arm des Blitzſtrahls Waffe faßt, 

Wenn ihr in Eijen euer Volk gefefjelt habt, 

Mäpigt die Härte einer willfürlichen Macht! 

Es find ja eure Kinder, habt ein Vaterherz! 

Die Schwerter, eingejentt in ihr unglücklich Herz, 

Sind roth von eurem eignen Blut. 

Verabſcheut diefe innern Kriege immerdar! 

Der grauſe Ehrgeiz zündet dieſe Fackel an, 

Ruinen macht ihr aus der ganzen großen Welt, 

Die Erde wandelt ſich zu einem weiten Grab. 

Welch' Trauerſchauſpiel breitet dies Theater auß! 

Europa, ihren Kindern harte Stiefmutter, 

Waffnet den mächtigen Arm erftaunter Aſia, 

Um preiszugeben ſie dem Tod.“ 

Und in ſeinem Begleitſchreiben an Voltaire vom 13. Fe⸗ 
bruar 1749 äußerte der Philoſoph von Sansſouci: „Erſtaunen 
Sie nicht über meine Ode auf den (gegenwärtigen) Krieg; ed 
find, ich verfichere Sie, meine Gefühle. Untericheiden Sie den 
Staatsmann vom Philofophen, und wiflen Sie, dab man den 
Krieg aus Staatsrüdfichten führen, daß man Politifer aus 
Pflicht, und Philofoph aus Neigung fein Tann.” 

Hiermit ſchließt die erfte Periode Friedrich's, in welcher er 

(164) 


13 


den Krteg aus politifchem Pflichtgefühl, aber mit philoſophiſcher 
Abneigung in hoher Humanität geführt und demgemäß beur« 
theilt hatte. 

IL. 


In dem zweiten Lebensabfchnitte des Königs, der etwa die 
folgenden 20 Sabre, von 17481768, umfaßt, galt es, feinen 
zahlreichen und mächtigen Feinden gegenüber da8 Gewonnene 
durch energifche und kunſtvolle Kriegführung zu behaupten. Der 
König fühlte dies jehr wohl, bevor er noch in den gewaltigen 
Kampf um’d Dafein eintrat, und jo verfaßte er bereitd im Jahre 
1749 in Sangfouci forgfam fein großes Gedicht, „die Krieges 
Tunft,” von welchem ich einige Verſe, die feinen humanen 
Standpunkt für den Krieg befunden, hier folgen laffe' !). 

„Wohlthaärger Fried! Und du, glücklicher Genius, 
Die ihr von Himmeldhähen über Preußen wacht, 
Lenket von unfern Feldern, Städten, Grenzen ab 
Die blutige Verheerung, mörberifche Wuth, 

Ruchloſe Geißeln der unſel'gen Sterblichen! 

Wenn diefer Wunſch erbört im Schickſalstempel wird, 
. Bewilligt, daß auf immer dieſes blüh'nde Reich 

In eurem Schute ſchmecke die erjehnte Ruh! 

Daß Themis auf dem Richterſtuhl in Sicherheit 
Das Unrecht firafe und verlegte Unſchuld räch', — 
Das, in den Händen haliend Delzweig uud Aegid 
Minerva auf dem Throne vorſteh' unjerm Rath! 
Wenn aber eines Feinde ehrgeiziger Stolz 

Die hehren Bande dieſes jel'gen Friedens bricht, 
Dann, Kön’ge, Völker, waffnet euch, und eure Sad’ 
Schüße der Himmel und räch' die Gerechtigkeit!“ 

Im 4. Geſange folgt eine Schilderung der unmenjchlichen 
Kriegführung. 


(165) 


14 


„Und ein graufamer Sturm folgt auf ben andern fchnell. 
Seht, wie zurüd man den Soldaten halten muß! 

Die Tiger, Löwen find weit menſchlicher als er, 

Wenn wütbhend er verfolgt den Kämpfer, ber ihn flieht. 
Wenn ihr nicht Ienket feine ftörrjhe Grauſamkeit, 
Gierig nad Plünderung, hitzig und ohne Zucht, 
Gerifien durch die Wuth zum Yrevel-Uebermaß, 

Dann feht ihr ihn befledt mit Morb und Miffethat. 
Jeglicher General, der plündert, der verbeert, 

Der Robheiten erlaubt, zuläßt bes Blutbads Graus, 
Eroberte er felbft die größten Länderei'n, 

Befleckt in feiner Hand flieht er den LXorbeerzweig. 

Des Weltalld Stimme hebt vereint fich gegen ihn, 
Bergefiend feine That, flucht's feiner Tyrannei.“ 

Und zum Beweiſe folgt die Schilderung der graufen Er⸗ 
ftürmung Magdeburgd durch Zily. So mahnt denn Friedrich 
im 6. Gefange zur größtmöglichen Humanttät im traurigen Kriege. 

‚Am andern Tag, o Gott, haut auf dem Schlachtfeld an 

Die Sterbenden, die traurigen Begräbnifie, 

Und unter diefen Bächen des feindlichen Bluts 

Seht fließen eurer beften Freunde Lebenablut, 

Seht in dem Grabe dieſe Krieger hochgemuth, 

Die eurer Ehrſucht unglückliche Opfer find; 

Berweint die Eltern, trauervoll die Gattinnen, 

Die bei eurem Triumph verfluchen euern Stol;. 

Ad, eb’ ihr mit Verbrechen eure Hand befledkt, 

She ihr euch mit ungerechten Ehren ſchmückt, 

Lat ftürzen immerhin die grauſen Denkmale, 

Gefebt nicht eurem Werk, nein, euren Srrungen! 

Mer wollt‘ um tiefen Preie gewinnen feinen Ruf? 

Als Vater führt wohlthätig euere Armee, 

Ihr Leben ift des Staats, ihr Glück das unjrige, 

Geizig mit ihrem Blut opfert das eurige, 

So lange Mars erlaubt, muß ed gefchonet fein. 

(166) 


15 


Doch wenn das Wohl des Staats fie rufet zur Gefahr, 

Wem zwiſchen eigenen und Feinde Fahnen muß 

Des Kriegs Geſchick entfchieden werden unverweilt: 

Dam ſchwanket nidt, dann fuchet feine Auswege, 

Bereitet euch, greift an, ihr Leben opfert hin! 

Sie offenbaren fo die riegerifhe Glut 

Und fie erleiden jo einen hochherz'gen Tod. — 

Sehet zu Fontenay Louis, gleichmüth'gen Sinne, 

Bei feinem Kriegsgläd mild, Hilft den Befiegten er 

Als ein wohlthätiger Gott, der ihnen Beiftand leiht. 

Die Hand, die fie entwaffnet, küſſen weinend fie; 

Sie unterwarf fein Muth, entzüdet feine Huld; 

Inmitten aller Wuth findet die Güte Raum, 

Wenn ein Held bat geflegt, verzeihet nun ein Gott." — 

Mit faft ganz Europa verbündet wollte Maria Terefla 
dem Preußenkoͤnige nit nur Schlefien wieder entreiben, ſon⸗ 
dern ihn ſogar wieder zu einem Kurfüriten von Brandenburg 
erniedrigen. So mußte denn Friedrich feinen übermächtigen 
und barbariichen Feinden gegenüber den fiebenjährigen Krieg 
nicht nur mit der höchften Genialität führen, fondern auch die 
Humanität zu feinem Leidwejen öfter zurücktreten laffen. 

Zu feiner Vertheidigung rüdte er mit 70,000 Mann 1756 in 
Sadjen ein; an der Befefligung. Zorgau’d mußten Bürger und 
Bauern mitarbeiten, Dreöden wurde dazegen äußerft höflich 
behandelt. Und in Böhmen gewann fi Schwerin von den 
Landleuten den Namen eines Vaters und Beſchützers ihrer 
Habe. Nach der erbiiterten Schlacht bei Lobofig — die Schwer: 
verwundeten follen mit Kolben und Bajonet getödtet worden 
fein —, ſchrieb Friedrich ald Steger an Schwerin: „Nie haben 
meine Truppen folhe Wunder der Zapferkeit gethan, feit ich 
die Ehre babe, fie zu fommandiren." Nun mußte auch die im 
Lager von Pirna eingeſchloſſene hungernde ſächſiſche Armee von 


(167) 


16 


18,000 Mann Ffapituliren. Die Offiziere wurben gegen ihr 
Ehrenwort, in dieſem Kriege nicht mehr gegen Preußen zu 
dienen, freigelaffen; aber Maria Terefia und Louis XV. ents 
banden fie ihres Verſprechens. Die Mannichaften wurden, zus 
erft als eigene Negimenter, fodann unter den preußifchen Truppen, 
gegen ihr Naterland zu dienen gezwungen; allein fie riffen 
maffenbaft nad Polen aus. — Der böhmijche Feldzug von 
1757 Eoftete dem Könige wohl 50,000 Mann, und bereits über: 
ihwemmte das franzöfiide Heer von mehr ald 100,000 Mann, 
deſſen Noblefie den Zug gegen den „Eleinen Marquis von 
Brandenburg” als eine Luftpartie betrachtete, das nordweftliche 
Deutichland, während in Oftpreußen gegen 100,000 Ruſſen 
unter ſchrecklichen Gräueln und Vermüftungen vordrangen. Mit 
den Franzofen vereinte ſich die „eilende Reichsarmee“, die der 
fundige Seßer der kaiſerlichen Kundmachung ald „elende Reichs⸗ 
armee“ ausgeſchrieben; und Friedrich ftempelte audy bei Roßbach 
diefe Reichsarmee fofort zur „Reißausarmee“, und fchlug die 
Franzofen völlig in ein-einhalbftundigem Kampfe. Der König, 
nach dem Siege auf dem Schlachhtfelde umbergehend, tröftete 
die verwundeten franzöfiichen Dffiziere und übernachtete hernach 
in einer Gefindeftube des Schloffed, weil alle herrfchaftlichen 
Zimmer bereit8 mit gefangenen Offizieren befebt waren. Als 
fodann bie Kriegsgefangenen ihn baten, ihre unverfiegelten 
Briefe durchzulaſſen, erwiderte er ihnen: „Sch kann mich nicht 
daran gewöhnen, Sie ald meine Feinde zu betrachten, und babe 
fein Mißtrauen gegen Sie; alfo verfiegeln Sie Ihre Briefe, 
und die Antworten follen Sie uneröffnet empfangen.” — Die 
Defterreicher jchlug Ariedrihd Genie mit feiner „Potödamer 
Wachtparade“ enticheidend bei Leuthen, und als auf dem minter- 
lichen, Teichenbededten Schladhtfelde Nachts das ganze Heer 


(168) 


17 


fang: num danket alle Gott, — da ſprach auch der König: „dad 
bat ein Höherer gethan“. Die Franzofen, unter dem Grafen 
v. Clermont, einem geiftlidhen Würdenträger, der wie ein Pre 
diger friegte und wie ein Krieger predigte1?), wurden zurüd- 
gedrängt, und die Ruſſen in der blutigen zwölfitüundigen Schlacht 
bei Zorndorf 1758 völlig geichlagen: von ihren 50,000 Dann 
wurden an 20,000 niedergemadht, denn Gnade ward auf Befehl 
des über ihre Unthaten erbitterten Königs nicht gewährt. — 
In dem für Friedrich fchwerften Kriegsjahr 1759 entiprady den 
Unfällen die fchonungdlofe Kriegführung: die Preußen beban- 
delten Anfangs Medlenburg allerdings auf’8 Härtefte, aber die 
Nuffen und Defterreicher beftrebten fich ihren Erklärungen gemäß, 
den Preußen nur Luft und Erde zu laſſen. Auch das Jahr 
1760 brachte dem Könige ſchwere Verlufte, bejonderd bei Torgau, 
jeinem Lande Brandſchatzung, Plünderung, Verheerung und alle 
Kriegäichreden. In den lebten Kriegdjahren kam es bei der 
Erihöpfung aller Theile nicht mehr zu fo bintigen Schlachten, 
und der Friede von Hubertöburg ftellte den Befitzſtand, wie er 
vor dem Kriege gewejen war, wieder ber. — Die Schlachten 
dieſes Krieges waren ungemein mörbderifch, theild wegen ber 
gegenjeitigen @rbitterung, theils aus taktiichen Gründen. Im 
der verluftuollften Schlacht bei Kunerädorf verlor Friedrich von 
jeiner Infanterie faft den zweiten, von feiner Kavallerie faft 
den vierten Mann, während felbft heutzutage durchſchnittlich 
faum der zehnte Dann außer Gefecht gefeht wird. Diele, viele 
Zaufend Berwundeter famen aus Mangel an Pflege und 
Aerzten elend um, obgleih das preußiſche Lazarethwefen für 
jene Zeit gut eingerichtet war, und Friedrichs Fürſorge für feine 
franfen und verwundeten Krieger mit jedem Yeldzuge wuchs. 
Er befahl 1756, nur im hoͤchſten Nothfall den Soldaten Arme 


xX. 661. 2 (169) 


18 


und Beine abzunehmen und ließ nad dem Kampfe bei Prag 
1757 „eitiifime Feldſcheers, Krankenwärter und 24 Weiber” als 
Eazarethperjonal nach Dresden kommen. Aebnlich Ichrieb er 
1758 dem Kommandanten von Gofel, wie „die Bürgerweiber 
die Bleffirten mitwarten follten”; und die den Preußen von den 
„barmberzigen Brüden” in Breslau gewährte freiwillige 
Krankenpflege erlannte er dankbar an. 

Auch ließ er die eigenen und die feindlihen Verwundeten 
ftetö auf gleihe Weife behandeln, zu welchem Zwede er 3. B. 
auf dem Schlachtfelde von Zorgau jelbft umberriti. Bei 
Sapitnlationen wurde für die zurüdbleibenden kranken Soldaten 
befondere Fürſorge vom Könige getragen, und jelbft nad) dem 
Abzuge von Prag für die untransportabeln VBerwundeten eine 
Bereinbarung mit Bromn getroffen. Namentlidy aber ſchloß 
Friedrich Conventionen in Betreff der Krankenpflege ab. Der 
Brandenburger Vertrag vom 7. Sept. 1759 zwilchen Preußen 
und Frankreich fehte feft: von beiden Seiten jollen gleichmäßig 
hie Verwundeten beforgt, auch die Kranfen nicht zu Gefangenen 
gemacht werden, fondern in den neutralen Holpitälern bleiben, 
ebenfalld die erforderlichen Commiſſäre, Aerzte, Apotheker, 
Krankenpfleger und Prediger. Nach einer Mebereinfunft mit 
Defterreicy jollten aucd die Bäder von Warmbrunn und Landeck, 
Teplitz und Karlsbad für die feindlichen Kranfen neutral fein. 
Mit Rußland ſchloß Friedrich 1759 zu Bütow einen dem Grott- 
fauer gleichen Traktat. So bewies der König, nunmehr der 
Rationalheld, durch die That eine Humanität im Kriege, wie 
fie bis dahin in folder Hochherzigkeit und Weisheit noch nicht 
geübt worden war. 

Aber ebenjo madıte er, obwohl überall im Kriege perjön- 


lidy eingreifend, eö dennoch möglich, feine Humanität auch durch 
(170) 


19 


die Feder audzuftrömen. Auf's Schmerzlichite empfand er die 
Gräuel des langen Eriftenzlampfes. In einem Briefe an den 
Prinzen Heinrih vom 1. September 1758 klagt er:1?) „Sch 
kann Ihnen eine Idee von all’ den Barbareien geben, welde 
dieje infamen Ruſſen begehen; die Haare fträuben fidh mir auf 
dem Kopfe. Ste erwürgen Frauen und Kinder, fie verftimmeln 
die Glieder der Unglüdlichen, die fie ergreifen; fie plündern, fie 
brennen, kurz, e8 find Abfcheulichkeiten, welche ein fühlendes 
Herz nur mit der graufamften Bitterkeit erträgt." An Boltaire 
richtet er am 11. April 1759 die unwilligen Worte:!“) „Es 
\cheint, daß man in diefem Kriege vergeflen bat, was gutes 
Berfahren und Wohlanftändigleit find. Die gefittetften Na⸗ 
tionen führen den Krieg wie wilde Beftien. Ich jchäme mid) 
der Menichheit. Die große Maſſe bleibt, wie die Natur fie 
gemadht hat, nichtswürdige Thiere.“ Cbendemfelben fchreibt er 
am 2. Suli:15) „Sc liebe den Frieden ganz ebenfo jehr als 
Sie ihn wünfchen, aber ih will ihn gut, dauerhaft und ehren⸗ 
vol. Der Menſch wird, troß der Philofophiefchulen, die nichts? 
würdigfte Beftie des Weltalld bleiben; der Aberglaube, das 
Snterefje, die Rache, die Undanfbarfeit werden bi an’d Ende 
der Jahrhunderte blutige und tragiiche Auftritte hervorbringen, 
weil die Leidenfchaften umd ſehr jelten die Vernunft uns bes 
berrihen. &8 wird immer ‚Kriege, Proceſſe, Verwüftungen, 
Seuchen, Erdbeben, Banferote geben.“ Dem Marquis d’Ar« 
gend fchreibt er am 6. März 1760:16) „Wenn man die Men- 
ihen erregt, wenn man fie in Wuth ſetzt, fo hören fie auf, 
Menihen zu jein und werden wilde Beitien. Das ift das 
wahre Uebel, welches der Krieg bereitet. Er verderbt die Sitten 
und führt den Menichen wieder zu einem wilden Zuftand zurüd, 


indem er feinen viehifchen Leidenfchaften den Zügel fchießen 
2° (171) 


20 " 


läßt. Sch feufze nach dem Frieden, aber der Friede feufzt nicht 
nah mir. Diejer Krieg giebt in nichts dem bdreibigjährigen 
nach: diejelben Sraufamfeiten, diefelben Verwüftungen und. über 
das Alles die unermehliche Menge von Kanonen, weldye faft 
alle Regeln der Kriegsfunft verändert.” 

Trotzdem verfannte Friedrich nicht die höhere Bedeutung 
de Krieges: das Vaterland zu retten. So preift er 1760 in 
der „Ode an Still," nachdem er den Zweikampf gebrandmarkt, 
den Kampf für's Vaterland! ?), 

„Bewundernswerth ift unfrer Helden Tapferkeit. 

So ift der Ehrenpunkt: rein, einfach und wahrhaftig, 

Fruchtbar an großer That, gehorfam feiner Pflicht, 

Nützlich dem Vaterland und milde in der Macht. 

Trotz bieten lehrt der Staat jeglicher Kriegögefahr, 

Des Baterlandes Retter ift ein Grdengott; 

Durch die gewalt’ge Kraft des tugenbhaften Sinne 

Giebt er für die Erzeuger gern das Leben hin. — 
III. 

Hatte Friedrich jeit feiner Thronbefteigung ſich von der 
Nothwendigkeit feiner Kriege überzeugen müſſen, fo hatte er 
nun zugleich die unermeßlichen Vortheile derjelben für feinen 
Staat, der ihm Alles war, auf's Herrlichſte erfahren. Zwar 
wurde er in feinem lebten achtzehnjährigen Lebensabſchnitt, von 
1768 bi8 1786, feinem humanen Standpunkte in Betreff des 
Kriegeg durchaus nicht untreu; aber eö blieb ihm doch das 
Schwert der zur Zeit befte Hüter des Rechts und der Wohl- 
fahrt der Völker, und er war nunmehr bejonders darauf bedacht, 
die Humanität im Kriege durch Verträge audzuprägen. In den 
auf den langen Krieg folgenden Friedendjahren war jein eifrigftes 
Beitreben, den europäilchen Frieden zu erhalten und die burdh 


den Krieg feinem Volke gejchlagenen Wunden wieder zu heilen. 
(179) 


21 


Sn diefer Beziehung fjchrieb er am 25. November 1769 an 
Boltaire18): „Sch befchränfe meine Bemühungen darauf, die 
Herren Verbündeten zur Bereinigung und zum Zrieden zu er 
mahnen; ich wünfchte, dab Europa im Frieden und Sedermann 
zufrieden wäre. Ich glaube, daß ich dieje Gefühle von dem 
feligen Abbe von St. Pierre geerbt habe, und es wird mir 
wie ihm begegnen lönnen, der einzige meiner Secte zu bleiben.“ 

Aber zugleih wacte er, die Hand am Schwert, ſcharf 
darüber, daß das Recht der deutfchen Staaten von dem 
neidifchen Defterreich nicht gemaltthätig verleht werde. Als 
der länderjühtige Kaifer Sofef II. auf rund ganz unbalt= 
barer Anſprüche 1778 einen Theil Bayerns bejegte, rüdte ein 
preußiſches Heer fofort in Böhmen ein. Zwar kam ed nicht zu 
eigentlichen Schlachten, e8 war dieſer einjährige Bayeriſche Erb» 
folgekrieg vielmehr zum Theil nur eine bewaffnete Unterhandlung, 
aber er hatte doch den Erfolg, daB Defterreich im Arieden zu 
Zeihen 1779 feinen Anſprüchen entſagte. Doch biermit glaubte 
der König noc nicht Alles gethan zu haben. Anderweitigen 
Bergrößerungsplänen und Webergriffen Defterreichd gegemüber 
begründete er 1785 den deutſchen Yürftenbund, der unter 
Dreufend Führung dad in Deutichland beitehende Staaten» 
fuftem und die Reichsverfaſſung nöthigenfalld mit gemeinfamer 
Waffengewalt aufrecht erhalten ſollte. Der Zürftenbund, ein 
Borbeugungsmittel gegen den drohenden Krieg, hatte feinen 
Zwed erfüllt, ald die Kriegsgefahr von Seiten Defterreichd be 
feitigt, und Friedrich, feine Seele, geftorben war; es war die 
legte große Friedensthat des großen Königs, die er im Interefle 
der Menſchheit und Menſchlichkeit — für Beides hatte er nur 


das Eine Wort humanite — in feinem 74jährigen Leben voll« 
(173) 





2 
brachte. Einen möglichft allgemeinen Friedensſtand anzubahnen, 
war bis zuleßt jein Lebenszweck. 

Das trat auch deutlich hervor in dem Neutralitätd-Vertrage 
Preußens mit Rußland, vom 8. Mat 1781, deſſen dritter Artikel 
lautete: „Sm der mehr oder weniger entfernten Epoche des 
Friedend zwiſchen den friegführenden Mächten werden der 
König von Preußen und die Kaiferin von Rußland fich ber 
fireben, in allen Seefriegen allgemein annehmen zu laffen das 
Spitem der Neutralität und die durch die gegenwärtige Acte 
feftgeftellten Principien, welche dazu dienen, die Bafis eines 
allgemeinen See⸗Geſetzbuches zu bilden.” 

Noh kurz vor feinem Lebensende offenbarte der große 
König die Humanität als fein Lebenäprincip in dem 1785 
zwilchen Preußen und der nordamerifanifchen Union geichloffenen 
Bertrage, welcher nicht nur die neuen Grundſätze über Seebeute 
anerkannte, ſondern auch die Behandlung der Nichtfämpfer und 
der Kriegsgefangenen völferrechtlich feſtſtellte. Artilel 23. 

Artilel 23 deffelben lautete: „Wenn ein Krieg zwiſchen den 
eontrahirenden Theilen ausbricht, jo follen die Kaufleute noch 
9 Monate in dem gegnerijchen Staate bleiben dürfen. Die Grauen 
und Kinder, die Gelehrten, Landbauer, Künftler, Gewerbetreibenden 
und Fiicher, die nicht bewaffnet find und unbefeftigte Orte be- 
wohnen, und überhanpt Alle, deren Beruf auf die Erhaltung 
und den gemeinen Nuten des Menjchengejchlechtd abzielt, follen 
durchaus nicht beläftigt werden; ihre Güter follen nicht zerftört 
noch ihre Zelder verwüftet werden; und wenn etwas von ihrem 
Eigenthum für die feindlidhe Armee genommen werden muß, jo 
fol es angemefjen bezahlt werden. Alle Handelsſchiffe dürfen 
frei und unbeläftigt verkehren, und feiner der contrahirenden 
Theile darf einem bemaffneten Privatfahrzeuge eine Vollmacht 


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23 


geben, weldye dieſes berechtigen würde, ſolche Handelsichiffe zu 
nehmen oder zu zerftören oder ihren Handel zu unterbrechen“. 
Nah S 24 endlich follten die Kriegögefangenen eben jo gut 
wie die eigenen Soldaten behandelt werden. 

Wie Friedrih als König im Kriege und in Friedensver⸗ 
trägen die Humantität mit allen Kräften förderte, jo hielt er fie 
auch als Schriftfteller bis an fein Lebendende body. Aber 
durch lange und fchwere Erfahrungen von aller jugendlichen 
Gefühlsihwärmerei befreit, galt ihm nun noch mehr als fonft 
der Krieg nicht nur ald eine in der menfclichen Natur be: 
gründete unvermeidliche Nothwendigkeit, fondern er machte auch 
die Heilfamfeit defjelben für den Einzelnen, den Staat, daß 
Baterland, das Menſchengeſchlecht geltend. 

Dies geſchah befonders in feinem Streite mit dem franzöfiichen 
Encyclopädiſten, welche eine rein tbeoretiiche, überipannte 
Humanität verfündeten, und zwar zuert und vornämlich in 
feiner „Prüfung des Verſuchs über die Borurtbeile” 19) vom 
Sahr 1770, deflen Verfaffer aus dem Kreiſe des Barond von 
Holbach ſtammte. Friedrichs Beurtheilung der übertriebenen 
Nrtheile des &ncyelopädiften über den Krieg ift folgende: „Der 
Berfaffer beflagt fih, daß der Ehrgeiz des Herrſchers unauf- 
hörlich neue verderbliche Kriege entzünde, daß Sold=Henfer, ein 
zierlihe8 Beimort, mit dem er die Krieger beehrt, allein Be 
lohnungen genießen. Er klagt die Herricher an, die Schlädhter 
ihrer Bölker zu jein und fie im Kriege abwürgen zu laffen, um 
ihre Langeweile zu beluftigen. Ohne Zweifel find ungerechte 
Kriege vorgelommen, ift Blut vergoffen worden, dad man 
hätte jparen müffen und fünnen. Died hindert indeß nicht, 
dat e8 nicht mehrere Fälle giebt, mo die Kriege nothwendig, 
„unvermeidlich und gerecht find. Ein Fürft muß jeine Ber: 


(175) 


24 


bündeten vertheidigen, wenn fie angegriffen werden. Seiue 
eigene Erhaltung nötbigt ihn, das Gleichgewicht der Macht 
unter den Mächten Europa’3 mit den Waffen aufrecht zu er- 
halten. Es ift jeine Pflicht, feine Untertbanen gegen die Ein 
brüche der Feinde zu vertheidigen; er ift jehr berechtigt, feine 
Rechte zu erhalten, Erbfolgen, die man ihm ftreitig macht oder 
andere ähnliche Dinge, indem er die Ungerechtigkeit, die man 
ibm anthut, mit Gewalt zurüdweifl. Welchen Schiebörichter 
haben die Herriher? Da fie alfo ihre Sache vor kein Tribunal 
bringen fünnen, das mächtig genug ift, um das Urtheil über 
fie zu fällen und vollziehen zu laſſen, fo treten fie im die 
Rechte der Natur zurüd, und es tft dann Sache der Gewalt, 
darüber zu enticheiden. Die Könige find nicht die einzigen, 
welche Krieg führen; die Kepublifen haben es jederzeit ebenfo 
gemacht. Ihr declamirt gegen den Krieg. Er ift an und für 
fi traurig; aber er iſt ein Webel wie die anderen Geißeln des 
Himmeld, die man ald nothwendig in der Ordnung dieſes 
Weltalls ertragen muß, weil fie fich periodiſch ereignen und 
weil bis jebt fein Sahrhundert fi bat rühmen fünnen, davon 
frei geblieben zu fein. Wenn ihr einen beftändigen Yrieden 
begründen wollt, jo verfügt euch in eine ideale Welt, wo 
Dein und Mein unbefannt find, wo bie Fürſten, ibre 
Minifter und ihre Unterthanen alle ohne Leidenichaften find 
und wo der Vernunft allgemein gefolgt fwird; oder gejellet 
euhh den SProjelten des feligen Abbe von St. Pierre zu; 
oder — Habt die Dinge ihren Lauf geben!.. Mit 
weicher jchmählihen Beratung behandelt der Verfaſſer 
nicht die Kriegsleute! Aber vergebend verſucht fein philoſo⸗ 
phiſcher Stolz, ihr Verdienſt zu erniedrigen; die Nothwendigkeit, 
fi zu vertbeidigen, wird ihren Werth immer fühlen laflen. 


(176) 


25 





— — 


Werden wir ed aber leiden, daß ein verbrauntes Hirn das edelfte 
Amt fchmähe, das, feine Mitbürger zu vertheidigen? O Scipio, 
der du Rom aus den Händen Hannibald retteteit; Gufſtav, 
großer Buftav, du Beſchützer der deutfchen Freiheit; Türenne, 
du Schild und Schwert bed Baterlanded; Marlborougb, defjen 
Arm Europa im Gleichgewicht hielt; Eugen, du Stübe, Kraft 
und Ruhm Oeſterreichs; Moritz, du letter Held Frankreichs: 
befreiet euch, hochherzige Schatten, aud den Kerkern des Todes 
und den Banden bed Grabe! Mit welchem Erftaunen werdet 
ihr nicht hören, wie man in diefem Sahrhundert von Paradoren 
eure Arbeiten jchmäht und diefe Thaten, welche euch mit Recht 
die Unfterblichleit eingetragen! Ihr aber, die ihr den Schritten 
diefer wahren Helden folgt, fahrt fort, ihren Zugenden nad. 
zuabmen! Unmwürdiger Declamator, muß man did) lehren, daß 
die Künfte im Frieden nur unter dem Schub der Waffen ge 
pflegt werden? Haft du nicht geliehen, dab, während der un- 
erichrodene Soldat an den Grenzen wacht, der Bauer darauf 
wartet, die Frucht feiner Arbeiten zu pflüden? Weißt du nicht, 
Daß, während der Krieger zu Lande und Wafjer dem Tode fidh 
ausſetzt, der Handeldmann fortfährt, jein Geichäft blühend zu 
machen? Bift du albern genug, nicht bemerkt zu haben, daß, 
wäbrend diefe Generäle und Dffiziere, die deine Feder jo un⸗ 
würdig behandelt, fich den bärteften Strapazen preisgaben, du 
rnhig die Poflen, die Unverjchämtheiten, die Dummheiten über. 
legteft, die du und auftiſcheft? Wird man in unjerm Jahr 
hundert bemweijen müflen, dab ohne kräftige Soldaten, welche 
die Königreiche vertheidigen, diefe die Beute des erſten Ein⸗ 
dringlingd werden würden? Warum denn müheft du dich, diefe 
wahren Säulen des Staats zu beichimpfen, diejes Militär, das 
in den Augen eined Volkes, welches ihm die größte Erfennt- 


(177) 





26 


lichkeit jchuldig ift, To achtungswerth ift? Wie! Dieje uner- 
Ichrodenen Bertbeidiger, welche ſich opfern, die Schlachtopfer 
des Daterlandes, du beneideft ihnen die Ehren und Aus: 
zeichnungen, deren fie fich mit einem fo gerechten Grunde er- 
freuen?! Sie haben fie mit ihrem Blute bezahlt und mit 
Gefahr ihrer Ruhe, ihrer Gejundheit und ihres Lebens haben 
fie fie erhalten... Ein wahrer Philojoph würde unterſucht haben, 
ob dieſe zahlreichen, während des Kriedend unterhaltenen Armeen, 
ob diefe Kriege, jo koſtbar wie fie es heute find, mehr oder 
weniger vortbeilhaft find, ald der ehemalige Gebrauch, in der 
Eile Bauern zu bewaffnen, wenn ein Nachbar zu fürchten 
ichien, diefe Miliz durch Raub und Erprefiung zu erhalten, 
ohne ihr regelmäßigen Sold anzumeifen und fie im Frieden ab- 
zudanfen. Der einzige Bortheil, welchen die Früheren hatten, 
beftand darin, dat das Militär ihnen in Friedendzeiten nichts 
foftete; wenn aber die Lärmglode ericholl, wurde jeder Bürger 
Soldat, ftatt daß jebt, wo die Stände getrennt find, der Bauer, 
der Handwerfer ihre Arbeiten ohne Unterbredhung fortjeßen, 
während der Theil der Bürger, der beftimmt ift, die anderen 
zu vertbeidigen, fich feines Dienftes entledigt. Wenn unfere 
großen Armeen, die bei ihren Yeldzügen auf Koften des Staats 
unterhalten werden, koſtbar find, fo folgt daraus wenigftens 
der Vortheil, dab die Kriege nur hoͤchſtens 8—10 Jahre dauern 
fönnen, und dab dann die Grichöpfung der Hülfdquellen die 
Herrſcher nöthigt, fich friedfertiger zu zeigen, als fie aus 
Neigung fein würden. Es folgt alfo aus unfern modernen 
Gebräuchen, dab unjere Kriege kürzer find ald die der Früheren, 
weniger verderblich für die Provinzen, die ihnen ald Schauplak 
dienen, und daB wir den großen Koften, welche fie mit fidh 


(178) 


__ 2T__ 
bringen, bie kurzen Friedenszeiten verdanken, die wir genießen 
und welche die Srihöpfung der Mächte wahrfcheinlich länger 
maden wird”. 

Sich gleidy bleibend, erklärte Friedrich auch jebt den Krieg 
für eine in der Natur des Menſchengeſchlechts begründete un- 
vermeiblihe Nothwendigkeit. Er fchreibt am 1. November 1772 
an Boltaire 2°): „Wenn id) die Geſchichte durchgehe, jo ſehe 
ih, daß keine 10 Jahre verfließen, ohne dab ed einige Kriege 
giebt. Diejed Wechielfieber kann verfhoben, aber nie geheilt 
werden. Man muß den Grund davon in der dem Menichen 
natürlichen Unruhe ſuchen. Wenn nicht der Eine Unruhen 
erregt, jo ift’8 der Andere, und ein Funke verurfacht oft einen 
allgemeinen Brand”. 

Ganz ähnlich heißt ed in 3 Briefen an Denfelben aus 
dem Jahr 1774. Zuerft am 4. Sanuar!?!) „Sch geftehe 
Shnen, dab ic eben jo gern gegen dad viertägige Kieber wie 
gegen den Krieg declamiren würde; es ift verlorene Zeit.” 
Dann am 16. Februar: ??) „Ich würde ebenjo gern gegen das 
Scharlachfieber declamiren wie gegen ben Krieg. Man wird 
ebenjowenig das eine hindern, jeine Verheerungen anzurichten, 
ald den andern, die Nationen zu beunruhigen. Es hat Kriege 
gegeben, fo lange die Welt Welt ift und es wird fie geben 
lange nachdem Sie und ich unſern Zribut der Natur bezahlt 
haben werden.“ Endlid am 30. Suli:?°) „Ihr Geift wird 
Ihnen ohne Zweifel jagen, daß ed ebenfo viel ift, gegen den 
Schnee und Hagel zu declamiren, wie gegen den Krieg; daß ed 
notbwendige Uebel find, und dab ed eines Philojophen nicht 
würdig ift, unnüße Sachen zu unternehmen. Man verlangt 
von einem Arzt, dab er das Fieber heile und nicht, daB er eine 


(179) 


8 
Satire auf dafjelbe made. Habt ihr Heilmittel, jo gebt fie 
und; habt ihr Feine, jo habt Geduld mit unferen Leiden!“ 

So verjpottet Friedrih denn auch den nchclopäbdiften 
gegenüber den beitändigen Frieden. In dem „Zodtengeipräd) 
zwiichen dem Prinzen Eugen, Herm Marlborougb und dem 
Fürften von Lichtenftein" ?*) aus dem Sahre 1773 jagt 

Lichtenftein: „Diefe Republik der Encyclopädiften wird einen 
dauernden Srieden erhalten und fich ohne Armee fchüten. 

Eugen. Es jcheint mir, daß diejer beftändige Friede eine 
Bifion eined gewiſſen Abbe von St. Pierre war, weldyer zu 
meiner Zeit nicht ſchlecht geichmäht worden ift. 

Lichtenftein. Sie haben ihn alſo aus der Vergeſſenheit 
zurüdgerufen, denn fie affectiren Alle einen heiligen Schauder 
gegen den Krieg. 

Eugn. Man muß geitehen, daß der Krieg ein Uebel ift, 
aber dab man ibn nicht würde verhindern können, weil ein 
Tribunal fehlt, um die Streitſachen der Herricher zu richten. 

Lichtenftein. Diefe Herren behaupten, daß ihr nur Anführer 
von NRäubern gewejen feid, denen ein Tyrann befoldete Henfer 
anvertraut bat, um in feinem Namen alle möglichen Berbrechen 
und Scheuflichkeiten an unfchuldigen Völkern zu begeben. 

Marlborougb. Aber warum dieje Erbitterung gegen daß 
ebelfte Geichäft, unter deffen Schub die Andern fi) in Frieden 
üben koͤnnen? 

Lichtenftein. Da fie Alle in der Kriegskunft jehr unwiſſend 
find, fo glauben fie diefe Kunft verächtlicdy zu machen, indem 
fie fie erniedrigen”. 

Marlborough's Frage: Wozu haben und fo viel Arbeiten, 


jo viel Sorgen, fo viel Mühen gedient? beantwortet zum 
(180) 


29 


Scluffe Eugen mit dem Ausruf: Gitelfeit der itelleiten, 
Eitelkeit des Ruhms! 

Das war von jeher die Herzensmeinung des Koͤnigs, der 

ſchon am 9. October 1757 an Voltaire fchrieb:?>) 
„Ich verachte den eitlen Ruhm, 
Bin ih Dichter und Herrſcher gleich.” 

Boltaire’3 bitterer Artikel „Krieg" im Wörterbuch drängte 
den König zu mehreren Grwiderungen; zuerftam9. October 17732 ®) 
„Ich babe den Artikel Krieg gelefen und geſeufzt. Wie kann 
ein Zürft die Truppen zum Ruhm führen, ohne den ehren- 
vollen Titel eines Räuberhauptmanns zu verdienen, weil ihm 
nur ein Haufe von Zaullenzern folge, die Die Nothwendigkeit 
verpflichtet, feile Schinder zu werden, um unter ihm das an⸗ 
ftändige Gewerbe von Straßenräubern zu treiben? Haben Sie 
vergeilen, dab der Krieg eine Geißel ift, welche, indem fie alle 
Verbrechen vereinigt, zu ihnen noch alle mögliden binzufügt? 
Es giebt geredyte Kriege, obwohl Sie feine zugeben; diejenigen, 
welche die eigene Vertheidigung fordert, find unbeftreitbar von 
diefer Art. Ich bin bis jegt nur ein Halb⸗Quaker; ment id) 
wie William Penn jein werde, werde ich wie Andere gegen diefe 
privilegirten Mörder declamiren, welche die Welt verwüften.“ 

Und beim Ausbruch des nordamerifaniihen Unabhängig: 
feitöfrieges erklärt er demjelben am 19. März 1776:37) „Ich 
bleibe neutral, lieber damit beichäftigt, zu lernen, ob die Ko⸗ 
Ionie Penn’s fortfahren wird, ihre friedlichen Tugenden zu 
üben, oder ob fie, mögen fie nody jo ſehr Quaker jein, ihre 
Sreiheit werden vertheidigen und für ihre Herde kämpfen wollen. 
Wenn died geichieht, wie es den Anfchein hat, jo werden Sie 
genöthigt fein, einzuräumen, dab ed Fälle giebt, wo der Krieg 


(181) 


30 


nothwendig wird, weil die menfchlichften von allen Völkern ihn 
unternehmen.“ | 

Das Geſuch ded Markgrafen von Anſpach um freie Paflage 
feiner für den Krieg der Engländer nady Nordamerifa verkauften 
Truppen durch Preußen fchlug der König in dem Briefe vom 
24. Dftober 1777 unwillig ab 23): „Ich geſtehe Eurer Hohelt, 
dat ich niemals an den gegenwärtigen Krieg in Amerika dente, 
ohne betroffen zu werden von der Gier einiger Zürften Deutſch⸗ 
lands, ihre Truppen in einem Streite zu opfern, der fie nichts 
angeht. Mein Erftaunen wächſt jogar, wenn ich aus der früheren 
Geſchichte dieſes weiſen und allgemeinen Widerwillend unfrer 
Vorfahren gedenke, das deutfche Blut für die Vertheidigung 
fremder Rechte zu verjchwenden, was jelbit ald Geſetz in das‘ 
germantiche Recht überging.” 

„Die Briefe über die Baterlandöliebe" vom Sahre 1779 
endlich lehren und ebenfalld die höchſte Bedeutung des Krieges 
als Baterlandsvertheidigung und als völkerrechtliche Hülfsleiſtung. 
„Die civilifirten Völker, weldye der Gejellichaftävertrag ver- 
einigt, find fich gegenſeitig Hülfgleiftungen fchuldig; ihr eigenes 
Intereſſe will e8, dad allgemeine Wohl fordert ed. Ihr wollt, 
daß der Staat euch vertheidige; fo tragt dazu bei mit eurem 
Gelde, beffer noch mit eurer Perjon! Das Baterland hat das 
Recht, zu fordern, daß wir uns für daffelbe opfern.“ 

Schiller's jchöne Wort: 

„Drum fol der Sänger mit dem König gehen, 

Sie beide wohnen auf der Menjchheit Höhen" — 
findet feine erhabenfte Anwendung auf Friedrich den Großen. 
In ihm gingen der Herrfcher und der Dichter eng verjchwiftert 


mit einander Hand in Hand; er war gleicherweije ein Sänger 
(183) 


— — — 


31 


und ein König von Gottes Guaden, denn beide thronten in 
in ibm auf den Höhen ächter Menichlichlet. Cr war ein 
Dichter, der die Humanität, das Sdeal des Jahrhunderts, in 
feinen Schriften verberrlichte, und ein König, der eben biefe 
Humanität in feinen Thaten verwirflichte. Friedrich der Ein⸗ 
zige ift ein Geiftesfürft, der einzig daſteht im göttlichen Reiche 
der Humanität, ald ein Held des Schwerte und der Feder 
fiegreich kaͤmpfend auch für die Humanität im Kriege. 


Anmerkungen. 


1) Oeuvres de Frederic le Grand par Preuss. Berlin 1846. 
Vers faits dans la campagne dn Rhin en 1734. T. 11 p. 6668. 

2) L’Antimachiavel ou examen du prince de Machiavel und 
Röfutation du prince de Machiavel, chap. 26. Das Citat ift aus 
beiden Arbeiten zufammengeftellt. T. 8 p. 158—162, 294—298. 

3) à Jordan, camp de Kuttenberg. T. 17 p. 236. 

4) & Voltaire, au camp de Kuttenberg. T. 22 p. 96. 

5) & Voltaire, Remüsberg. T. 22 p. 115. 

6) à Voltaire. T. 22 p. 90. 

7) & Jordan. T. 17 p. 180. 

8) a Voltaire. T. 22 p. 109. 

9) Histoire de mon temps. Avant-propos. T. 2 p. XVIILs. 

10) La guerre presente, Ode. T. 10 p. 27—30. à Voltaire, 
Potsd. T. 22 p. 182. 

11) Art de la guerre. Chant. 1. 4. 6. T. 10 p. 226. 254». 
2685. 274. 


(183) 








32 


12) &r wurde von Friedrid (1758) folgendermaßen befungen: 


Moitié plumet, moitie rabat, Halb Federhut und Stola halb, 


Aussiproprea l’un commeäl’autre, Zu beiden Dingen gleich geſchickt, 
Clermont sebat comme unapötre, Schlägt Clermont fi apoftelgleidh, 
Et sert son dieu comme il se bat. Und dienet Gott wie er fi ſchlaͤgt. 

13) Au prince Henri. T. 26 p. 184. 

14) a Voltaire, Bolkenhayn. T. 23 p. 35. 

15) a Voltaire, Reich-Hennersdorf. T. 23 p. 53s. 

16) Au marquis d’Argens. T. 19 p. 131. 

17) a Stille. T. 10 p. 1348. 

18) a Voltaire, Potsd. T. 23 p. 144. “ 

19) Examen de l’essai sur les prejuges. T. 9 p. 139. 142. 
143. 144. 145— 147. 1508. 

20—23) a Voltaire. T. 23 p. 222. 270. 274. 285. 

24) Dialogue des morts entre le prince Eugene, Monsieur 
Marlborough et le prince de Lichtenstein. T. 14 p. 254. 255. 
257. 259. | 

25) Au Sieur Voltaire. T. 14 p. 115. 

26) a Voltaire, Potsd. T. 23 p. 257—259. 

27) a Voltaire, Potsd. T. 23 p. 372. 

28) Zuerft in Kapp, Soldatenhandel deutfcher Fürften nach Amerika. 
2.9. Berl. 1874. ©. 259, vgl. ©. 161 f. 

29) Lettres sur ’amour de la patrie. T. 9 p. 215. 238. 242. 


(184) 





Dru@ von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfr. 1. 


In den früheren Serien erſchienen: 
Gefchichte. 
(23 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 50 Pf. = 11,50 Marf.) 
Beheim⸗Schwarzbach, Die Belledelung von Dftdentihland durch bi 


zweite germanifche Völkerwanderung, (393/394). - 2 2 0 2 nen M. 1.20 
Bergau, Das Orbenshaupthaus Marienburg in Preußen. (133)... . . 60 
Bluntichli, Die Gründung der amerifanifhen Union von 1787. 2. Aufl. (54) 60 
Boeſch, Heinrich J. u. Otio J. (a8323.. 60 
Denicke, Bon der deutſchen Hanſa. (466. 02 0 nn. 80 
D „Die Normannen und ihre Dedeutnng für dad europäiſche Kultur 

leben im Mittelalter. (225) - >: 200 nn 75 

elen, Das Bartantihe Schlachtfeld im Kreiſe Bedum. Mit einer 
arte. (200). 20er M. 1.— 

anfzuer, Unjere Kaiferiage. 0)» oe M. 1.— 

endenreich, Livius und die römiiche Plebd. (Ein Bild römiſcher Geſchichts— 

fhreibung.) (401). » 0...» EEE LE . 32. M. 1.— 
Kane, Amy Robsart und Graf Reicefter. (Ein Eriminalfall des XVI. Jahr⸗ 

hundert.) (389). 0 nn ee 80 

ufti, Ein Tag aus dem Leben des Königs Dariud. (1789)... 2 2.. 75 

mann, Pommern zur Zeit Ottos von Bamberg. (299) . ...... 75 
v. Zöher, Cypern in der Geſchichte. (307)... » 0 nn. M. 1.— 
älter, Prof., Dr., A., Die Beherrſcher der Gläubigen. (406) . M. 1.— 
eiber, Die Reformation in Pommern. (361). 2... _. M. 1.— 


Schroeder, Die niederläudiihen Kolonien in Norddeutſchland 3. 3. des 
Mittelalters. Mit einer Karte. (34T) 2... 20 irren M. 1 
Schulze, Das alte Rom als Großſtadt und Weltſtadt. (302)...... 75 
Sepp, Kaiſer Friedrich I. Barbarofſfa's Tod und Grab. (330). ... M. 1.— 
Start, Aus dem Meike ded Tantalus und KArdius. Mit einer Karte und 
einer Lithographie. (147/48)... » 20 en en nnne M. 1.80 
Zweiten, Die Zeit Ludwig XIV. (121)... 2200 nenn 60 
Windler, Krönung Karl des Großen zum römiſchen Kaiſer. (323)... . . 75 
EEE) EEE 


Lehrbuch der allgemeinen Geſchichte 
mm Gebrauch für höhere Schranftalten und zum Selbffiudinm. 
Bon Dr. Earl Wolf. 

Theil L.: Alte ar 3. Aufl; II: Mittlere Geſchichte, 4. Aufl.; III: Aeuere 
Geſchichte, 3. Aufl. à Theil 2 Mark 60 Pf. 


Wolf, Tahellen zur allgeneinen Geſchichte. 2. Aufl. 1 Mark 60 Pf. 


— Heberfiht zur vaterländiſchen Geſchichte mit Karte des brandenburg-preußi- 
(hen Staates. 2. Aufl. 1 Mark 60Pf., ohne Karte 80Pf. (Die Karte befonders ı M.) 


. Die unmittelbaren Theile 


bed ehemaligen 


römiſch-dentſchen Kaiſerreiches 


ach ihrer 
früheren und gegenwärtigen Verbindung. 
Bon Dr. Carl Wolf. 
Preis broch. 8 Mark 60 Pf.; geb. in Halbfr. 10 Mark 60 Pf. 


Karte der mitteleuropäifchen Staaten 
nach ihren geihichtlichen Beitandtheilen 
des ehemaligen römijch-deutfchen Kaiferreiches, 


entworfen und gezeichnet von 














. Earl Wolf. 
1 Blatt im Rahmen lang 0,75 m, breit 0,63 m, Maßſtab 1: 1850 000. 
— BSreis 8 Darf, — 


Auf Leinwand gezogen, ladirt und mit Stäben verjehen (zum Anhängen) 16 M. 


_ 


In demjelben Verlage erjhien ſoeben: 


Ale Militair - Mufik 


und 


die militairmufifalijche Organiſation 


eine 
Kriegsheeres. 


Hinterlajjene Denkſchrift 


von 


Milhelm Wieprecht, 


weil. Director der Mufit ded gefammten Königl. Preuß. Garde- Corps. 


Nebſt Anhang: Bericht Wieprecht's über den Sieg der Muſik der 
preußiichen Garde bei dem internationalen Wettfampf der Europätfchen 
Militairmufit auf der Pariſer Weltausftelung 1867. 


Preis: 80 Pfennig. 


Die nachfolgende Denkſchrift ſtammt aus der Hinterlaſſenſchaft 
des bekannten ehemaligen Directors der geſammten Muſik des 
preußiſchen Garde-Corps, W. Wieprecht, geſt. 4. Auguſt 1872 zu 
Berlin. Es war jeine legte Arbeit. Er übergab diejelbe nicht lange 
vor jeinem Tode dem Schriftiteller Hrn. Friedrich Bücker, welcher 
einige Sabre vorher die Biographie Wieprecht's für das „Daheim“ 
geichrieben hatte, mit der Bitte um dereinſtige Veröffentlihung, 
wenn dieſer einen geeigneten Zeitpunkt dafür als paſſend erachte, 
und zwar chne jede Einihränfung. Als ee gelund der Denk⸗ 
ichrift erzählte er Hrn. Büder, daB diejelbe die Löſung eines Ver— 
Iprechens fei, welches er dem Kaijer Napoleon IIl. von Frankreich 
nad) dem Siege der Muſik der preußiichen Garde in Paris gegeben, 
als der Kaijer ihm den Drden der Ehrenlegion überreicht und ihn 
ur Tafel gezogen. Er verjprah dem Kaifer, über die Zwecke und 

rganijation einer Heeresmuſik eine ausführliche Denkichrift zu ver- 
faflen, löfte auch das Verſprechen und beabfichtigte, das Schriftitüd 
in Paris perfönlid) zu überreihen. Mehrfache Krankheit aber und 
dienftliche Angelegenheiten verhinderten die Reife, und endlicd; machte 
der u naonie Krieg die Ausführung des Planes überhaupt 
unmöglich. 

In gleiher Weije findet ſich diefe Denkſchrift auch in einem 
Briefe Wieprecht's an Hrn. Prof. Terdinand Sieber erwähnt. 

Hr. Büder glaubt nun mit der Veröffentlihung nicht länger 
zögern zu jollen und die Verlagshandlung Tommt feinem Anerbieten 
gern nad), da die Gedanken des berühmten Reorganiſators der 
preußifhen Militairmufif über eine Gentralifation derjelben ꝛc. bei 
allen Heeren und Militairmujiffreunden das größte Intereſſe 
erregen werden und die eingehendfte Beachtung verdienen. 


ö— — 





Sammlung 
gemeinverſtändlicher 
wiffenfhaftliger Vorträge, 


herausgegeben von: u Tre) 


Aud. Virchow und Fre von Belgendorfl 





XX. Serie. 
(Heft 457 — 480 umfafſend.) 


Un NIT 4 


Heft 462. 


Rie Pflege Der Irren 
fonft und jebt. 


Bon 
Dr. &. Engelhorn. 


GH 


Berlin SW., 1835. 


Berlag von Earl Habel 


(©. ©. Züderity'sche Verlagsbuhhandlung,) 
3% Wilhelm⸗Straße 33. 


8 


| GEK——— —— —— — — — — 0 





mg» Es wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. U GBenane 
alts-Merzeichniffe der rüheren Kefte, nad) „Herten und Iahrgängen“ und 
Fo YBiffenfihaften‘‘ georänet, Aud urch jede Buchhandlung gratis zu beziehen. 


In demjelben Verlage find folgende Werke erfchienen: 
Praktiſche 


muſikaliſche Compoſitionslehre 


in Aufgaben. 


Mit zahlreihen, ausichlieklih in den Tert gedrucdten Mufter-, Mebungs- und 
Erläuterungs- Beiſpielen nach den Werken ber erjten Meifter ſyſtematiſch⸗ 
methodiſch dargeſtellt 


von 
Ludwig Bußler. 


Grfter Band: Lehre uom Tonſatz Oreiß brach. 12 Marf; y in Halbfr. 

4 Mark). — I. Harmonielehre in 54 Aufgaben (Preis broch. A Marl). 
I Contrapunft. a) Der ftrenge Sb in der mufifalifchen Sompojitions- 
lehre in 52 Aufgaben (Brei brod. 4 Markt. — b) Eontrapuntt und Fuge 

im freien (modernen) Tonſatz in 38 Aufgaben (Preis broch. 4 Mark). 
Zgweiten naeh Srsie meh ton (Preis broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
1 M — I. Mu Nratiige „gormenledre in 38 Aufg aben (Preis broch. 

nta 


4 Mu — DD. Inſtrum ion und Orcheſterſatz in 18 Aufgaben (Preis 
broch. 8 Marf). 


In Halbfranz und in Schulband gebundene Exemplare ſtets vorräthig. 


Geſchichte Der Muſik. 


Sechs Vortraͤge 
üb 


die fortschreitende Entwirkelung der Musik in der Geschichte 


von 
Ludwig Bußler. 


Er ter Dortrag: Bie Mufik des Allerihums. — Zweiter Vortrag: Muflk des 
elalterg bis Balefirina und Laffus. — Dritter Vortrag: Die Mufik der 
Heu Ai Be aleftrina bis Badı. — Vierter ‚Bortrag: Aie ®per bis Gluck. 
ortrag: Die Inftirumental- Mufk. Haydn und Moyart. — 

Sedtter Vortrag: eethouen, feine Reitgenoffen und Nachfolger. 


Preis: Eleg. broch. 3 Mark; geb. in Orig. engl. Leinen-Band 4 Marf. 


Ppartiturſtudium. 


Modulation der klaſſiſchen Meiſter 


an zahleichen Beiſpielen von 


Bad, Mozart, Beethoven, Wagner n. A. 


erlaͤutert von 


Zudwig Bußler. 
Preis: Eleg. broch. 8 Mark; geb. in Orig. engl. Leinen 9,50 Mark. 














6. 


Aie Aflege der Irren 


ſonſt und jet. 


II I I BL SLAIB LAST: 


Bortrag 


bon 


Dr. E. Engelhorn. 


GP 





0 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(&. 6. Tüderity'sche Verlagsbuchtandlung.) 
33. Biljelm-Etraße 39. 








Das Recht der Meberfeung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





Die Zunahme ber geiftigen Erkrankungen in unjerer Zeit 
Zeit ift theild eine fcheinbare, theild eine wirkliche; ſcheinbar 
dadurch, daß die Fürforge für die Geifteöfranfen im Laufe 
der Fahre eine andere geworden iſt und fi auf eine viel 
größere Zahl von Leidenden dadurch erftredt, daß die für die 
Hellzwede auf diefem Gebiete errichteten Anftalten zahlreicher 
und beſſer und für Angehörige aller Stände leichter zugänglich 
geworden find. Dadurch hat fidh die öffentliche Aufmerkſamkeit 
mehr auf diefe Krankheiten gerichtet und die Zahl der Kranken 
mußte Thon deshalb größer erſcheinen. Daß aber auch eine 
wirkliche Vermehrung der Geifterfranfheiten in unjeren Tagen 
beobachtet wird, dafür ſprechen nur zu dentlich die Zahlen aller 
ftatiftiichen Erhebungen, weldye bei uns ſowohl als bei andern 
Bölfern über dad Auftreten pſychiſcher Störungen angeftellt 
worden find. 

Wenn wir daher die Zahl der Geiftesfrankheiten ald in der 
Zunahme begriffen betrachten dürfen, jo haben wir wohl fchon - 
durch diefe Thatſache ein gewiſſes Recht, das Jntereſſe für dieſe 
Krankheiten in weiteren Kreiſen vorauszufegen und darauf zu 
rechnen, daß die Art und Weile der Behandlung, die man 
früher diefen Kranken angedeihen ließ, und die Mittel, die wir 
heute zur Bekämpfung diefer Leiden befiben, einer allgemeinen 
Beachtung fich erfreuen dürfen. 

Wie jeder Gegenftand durch die Betrachtung feiner gejchicht- 

xx. 463. 1* 


(187) 


4 


lichen Entwidelung am Klarften erfcheint, jo dürfte es auch zum 
Berftändniß der geiftigen Störungen nicht unvortheilhaft fein, 
die Art und Weiſe kennen zu lernen, mit welder man im Laufe 
der Sahrhunderte diefen unglüdlichiten Weſen der menfchlichen 
Gejellichaften entgegen gelommen ift und wir werden dabei 
Gelegenheit haben, wahrzunehmen, daß umferem Sahrhundert, 
dem man jo gerne eine übertriebene und falſche Humanität zum 
Borwurfe macht, der unbeftreitbare Ruhm gebührt, in die Be⸗ 
handlung der Geifteöfranfheiten eine erfreuliche Klarheit gebracht 
und dabei die vorzüglichften Früchte echter Menichenliebe gezeitigt 
zu haben. 

* Unfere Kenntniß über das Borlommen geiftiger Störungen 
reicht jo weit ald die Kenntniß von der Geichichte des menſch⸗ 
lichen Geiſtes überhaupt und in den Schilderungen der früheften 
Zeiten, welche und überliefert find, in den Anfängen der menſch⸗ 
lihen Kultur fehlt es nicht am gelegentlichen Mittheilungen, 
welche das Auftreten von Geiſteskrankheiten unzweifelhaft be» 
weifen. So willen wir 3. B. von Saul, daß er an Anfällen 
von Wuth und geiftiger Verwirrung litt, in welcher „der Geiſt 
des Herrn von ihm mich“ und wobei er durch David's Harfen- 
fpiel Troft und Linderung fand; ber König Nebucadbnezar war 
von einer tiefen Berftimmung ded Gemüthes gequält, fo daß er, 
wie ed im 4. Sapitel ded Propheten Daniel beißt, Graß aß 
wie Ochſen und fein Bart lag unter dem Thau des Himmels 
und ward naß, bis fein Haar wuchs jo groß wie Adlersfedern und 
feine Nägel wie Vogelllauen.* Unjchwer erfennen wir in dieſer 
Schilderung bie auch heute beobachteten Zuftände von Melandyoli» 
ſchen, welche unbefümmert umihr Aeußeres von ihren inneren Qualen 
gepeinigt, planlos umberirren, den Berlehr mit Menſchen meidend, 
fi ihrer Trübfal überlaffend und allerlei Verkehrtheiten fi hin» 
gebend und wie wir audy heute ſolche Zuftände häufig in Bene» 

(188) 


5 


fung übergehen ſehen, fo heißt es auch von Nebucadnezar: „Nach 
biefer Zeit hub ich meine Augen auf gen Himmel und kam 
wieder zur Vernunft.“ Wie befannt bie Zuftände geiftiger 
Störung im alten Teftament waren, beweift audy der Umftand, 


daß David and Furcht vor dem Könige Aſchiſch ſich wahnfinnig 


ftellte, indem er Speichel in jeinen Bart laufen lieb und die Thüren 
des Haufe bemalte, jo daß der König unwillig audrief: „Was 
habt Ihr mir für einen wahnfinnigen Menſchen ind Haus ge⸗ 
bracht, habe ich nicht felbft Wahnfinnige genug?“ 

Auch in der griechiſchen Sage kennen wir klaſſiſche Beifpiele 
von Geiſteskraukheiten: Heracles litt an Wuthanfällen, in welchen 
er jeiner jelbft nicht mächtig Gewaltthaten beging, an welde 
ihm nachher jegliche Erinnerung fehlte, Ajar wird als tobjüchtig 
geichildert und endet durch Selbftmord, Dedipus, welcher fich die 
Augen ausftiht und Drefted, welcher, von den Eumeniden ver- 
folgt, die verlorene Ruhe feines Gemüthes nirgends findet, find 
vorzüglich ald Melancholiker gekennzeichnet und jelbft das Aufs 
treten epidemifcher Geiſteskrankheiten ift nicht ohne Beilpiel im 
grauen Alterthbum: fo willen wir von ben Stythen, welche fich 
in Weiber verwandelt glaubten und weibliche Kleider trugen 
und von den Töchtern des Proteus, welche die Ehe verichmähten 
und in der Wildniß umberirrten, tbierähnliche Laute ausfſtoßend. 

So bekannt ſolche Erſcheinungen waren, fo wenig wußte 
man, was man mit denfelben anfangen follte: überall ſah man 
nur dämoniſche Einflüffe, man fürdhtete fich vor ſolchen Kranken 
oder man verehrte fie ala Heilige und Götter und die ſchoͤpferiſche 
Phantaſie der Dichter verarbeitete fie zu dem viel geftaltigen Bil« 
dern, unter denen die menſchliche Seele fidh offenbart. 

Später jehen wir, bat fich die Priefter der armen Kranken 
annehmen, daß fie in den Tempeln der Götter zu Opfer und 


Gebet angehalten werden, mit dunfeln Drafeliprüdhen von einem 
(189) 


6 


Healigthum zum andern getrieben, mit religtölen Geremonien, 
Zauberjprüden und Beſchoͤrungen mehr gepeinigt als beruhigt 
und getröftet werden. 

Bon einer Behandlung der Geifterfranfheiten ift noch 
feine Rede und konnte auch feine fein, da über dad Weſen 
derjelben die gräßlichiten Irrthümer berrichten zu einer Zeit, da 
die Kenntniß der Naturwiffenichaften, dieje fruchtbarfte Grund» 
Inge alles ärztlihen Wiſſens, noch volllommen fehlte. 

Erft mit Hippocrates, welcher um dad Sahr 460 v. Chr. 
durch feine genialen Forſchungen auf dem gefanmten Gebiete 
der Medicin einer neuen Hera Bahn brach, follte auch im die 
Anſchauungen über Geiſteskrankheiten ein förderlicher Umfchywung 
kommen. Er entwand die Behandlung der Irren den Prieftern 
und indem er Mar ftellte, daß Geiſteskranheiten Krankheiten bed 
Gehirns find, legte er die Grundlage zu einer methodiichen 
Therapie. Er kannte und befchrieb die meiften Formen der 
geiftigen Störungen und wenn feine Schilderungen auch noch 
reich waren an Irrthümern über viele Einzelnheiten, fo zeigte 
fi in denjelben doc, Elar und deutlid) der Geift eines nüchteruen 
und objectiven Zorfchers, welche alle Zweige der Naturwiſſen⸗ 
ſchaften gleichmäßig beherrichte. Seine Behandlung der Irren 
war dementiprechend in erjter Linie eine mediciniſch⸗diätatiſche 
und bei der genauen Kenntniß, welche er von den mit den 
Geiftesfranfheiten verbundenen koͤrperlichen Störungen hatte, im 
Sanzen eine jehr erfolgreihe. Daneben kannte er die Grund» 
jäte einen humanen pſychiſchen Regiments und kämpfte ſchen 
damals gegen die Anwendung äußeren Zwanges. 

In feinen Bahnen wandelte eine Reihe von bedentenben 
Nachfolgern, welche die hippokratiſche Lehre in der fruchtbarften 
Weiſe vervolllommneten, unter ihnen namentlich Die roͤmiſchen 


Yerzte Aretäus und Galenus, welche um das 1. und 2. Jahr⸗ 
(190) 


7 


bundert nach Chriſtus lebten. Mit den Fortichritten der natur⸗ 
wiffenjchaftlichen Lehren gewann auch unfere Wiſſenſchaft an 
Vertiefung und die Grundſätze, weldye die Aerzte der damaligen 
Zeit leiteten, waren fehr ähnlich unferen modernen Anfchauungen, 
ohne daß man jedoch auf die wichtigfte Conſequenz auf die Be» 
handlung der Irren innerhalb geichlofjener Anftalten gekommen 
wäre. 

Diefed vielverfpredhende Aufleben der piychiatriichen Wiſſen⸗ 
haft endete mit Coelius Aurelianus, einem Zeitgenoffen Trajand 
und Hadriand, weldyer in jeiner ganzen Auffaffung ſchärfer und 
präcijer tft ald alle feine Vorgänger. 

Mit dem Untergang des alten römtichen Reiches, mit dem 
Zerfall feiner hoben Eultur war auch der BWiljenichaft ihre 
Stüße geraubt, welche in den Zeiten ber Völkerwanderung feine 
erfreulichen Blüthen mehr trieb. Wie allen andern Zweigen des 
Wiſſens ging ed audy der Heillunde und ihr Schickſal war, in 
den Klöftern begraben zu werden, in zunftmäßigen Schulen ein 
fümmerliched Dafein zu friften. Verloren ging, was dad Genie 
hodhbebeutender Aerzte Griechenlands und Roms zu Tage gefoͤr⸗ 
dert und die fchon zu herrlicher Entwidelnng gelangte Lehre 
von den geiftigen Erkrankungen ging unter der zerfeßenden Ar- 
beit unmwiljender Mönche jämmerlich zu Grunde. Se weiter wir 
in dad Mittelalter hineinbliden, deſto mehr trat an die Stelle 
wifienfchaftlicher Forſchung abergläubiger Fanatismus, Gaufelei 
betrogener Betrüger und finfterer Myſticismus. Und was war 
das 2008 der Unglüdlichen, welche in dieſer Zeit geiſteskrank 
wurden? Der ärztlihe Stand, deifen Willen jo fchnell in 
Irrthum und Aberglauben verwandelt war, wurde von Prieftern 
verdrängt, welche allein die Ausübung der Heilkunde fi an- 
maßten. Die Seifteötranten wurden für Beſeſſene gehalten und 


in blindem Fanatismus wurde der Teufeld- und Herenjpud mit 
a) 


8 


Folter und Scheiterhaufen befämpft, nicht ohne daß mit Fräftigen 
religiöjen Crorcismen, die den böjen Damon austreiben follten, 
die Qualen der bejammernswerthen Hirnkranken vorher aufs 
Aeußerfte geiteigert wurden. Unzählig ift die Menge der Heren- 
procefje, unzählig die Maffe der Kranken, welche darin ihren 
Tod fanden. So follen z. B. im Kurfürftentyum Trier binnen 
weniger Sahre 6500 Bezauberte und Behexte hingerichtet worden 
fein. Bir ftaunen über diefe große Zahl von Geiſteskranken, 
welchen wir im Mittelalter begegnen, begreifen aber das rapide 
Umfichgreifen diefer Krankheiten in einer Zeit, in der die äußeren 
Bedingungen zur Genefung fo ungünftig waren als möglih. Nur 
wenige, deren Wahn für die Kirche nichts Verletzendes hatten, 
fanden Aufnahme in den SKlöftern, wo fie, nur den aller 
roheſten Mißhandlungen entriffen, unter adcetiicher Strenge ein 
Leben vol Sammer und Elend führten und wo ihre zermarterte 
Seele unter ercentriihen Bubübungen nicht die Wohlthat der 
Ruhe empfand, deren fie jo bedürftig' war. Noch übler 
waren die Tobſüchtigen daran: fie wurden ald Verbrecher bes 
handelt, in finftere Kerker geworfen, wo fie mit Ketten beladen, 
des Lichte8 und der nöthigften Nahrung entbehrend, in Schmuß 
und Elend einem qualvollen Untergang preiögegeben waren. — 
Sahrhunderte lang war died das Schidfal der Irren umd ald zur 
Zeit der Reformation die mediciniſche Wiſſenſchaft anfing, fid, von 
den Fefſeln los zu maden, in die fie jo lange geſchlagen war, 
da dauerte ed noch lange, bis die Erkenntniß unferer Lehre jo» 
weit gefördert wurde, daß fie für unjeren armen Kranfen einen 
Nutzen gebradht hätte und man zweifelt mit Recht darüber, ob 
es für einen Geiſteskranken jener Zeit ein größeres Unglüd war, 
als Beſeſſener auf dem Scheiterhaufen zu fterben oder im die 
Hände der damaligen Aerzte zu fallen, weldye ohne. jegliche 
Kenntni von ihrem Zuftande den Wahn des Unglüdlichen 


(193) 





9 


mit den lächerlichften Mitteln und Proceduren auszutreiben 
ſuchten. So wurde eine Frau, welde eine Schlange im Leibe 
zu baben glaubte, mit einem Brechmittel behandelt und in dad 
Erbrechen eine Eidechſe hineinpracticirt. Einen Kranken, 
welcher auf Grund von allerlei peinlichen krankhaften Empfin⸗ 
dungen glaubte, nur mittelſt Feuer ſeine natürliche Wärme 
wieder erlangen zu koͤnnen, ließ ein Arzt des 16. Jahrhunderts 
in einen Pelz nähen und dieſen anzünden. 

Erſt allmälig machte ſich wieder eine mediciniſche Auffaſſung 
der Geifteötranfheiten Bahn, indem der Weg naturwiſſenſchaft⸗ 
licher Forſchung wieder betreten wurde und fi das wiſſen⸗ 
Ihaftliche Denken immer mehr von dem Aberglauben befreite, 
in welchem ed nur zu lange feitgehalten war. Aber die wiche 
tigfte Erkenntniß, die den Griechen und Römern wie wir fahen 
Ihon befannt geweſen war, nämlid die von der Heilbarfeit 
des Geiſteskranken, blieb noch lange verfchloffen und fo kam 
ed, daß jeder, Staat und Familie, Arzt und Prieſter, ſeine 
Pflicht erfüllt glaubte, wenn der Geiſteskranke durch die Ver⸗ 
bringung in einen fihern Kerker unſchädlich gemacht wurde. 
Lange noch, bid in die lebten Jahrzehnte ded 18. Jahrhunderts 
wurden die Srren wie Sträflinge behandelt und noch fchlimmer 
als dieje, da man fie für unbeilbar und fo für eine drüdende 
Laft der menſchlichen Geſellſchaft hielt, deren man fich auf Die 
graufamfte Art entledigen zu dürfen glaubte. In ngland 
wurde zuerit eine auf humane Principien gegründete Anftalt 
errichtet in ber Mitte des vorigen Sahrhundertd, aber ihre 
Einrichtungen waren primitiv und mangelhaft und die troßdem 
jehr günftigen Erfolge der Behandlung waren nicht im Stande, 
eine tiefer greifende Reformation in der Irrenbehandlung wach 
zu rufen. Dieje bereitete fih erft auf dem Wege wiſſenſchaft⸗ 


licher Forſchung vor und nahdem die Kenntniß, daB Geilted- 
(199) 


10 


franfheiten Krankheiten des Gehirns find, in vielen Ländern 
Europad wieder durchdrang und dad Weſen ber einzelnen 
Störungen anfing, beffer gebeilt zu werden, da war ed iu 
Frankreich am Anfang unferes Sahrhundertd Pinel's unfterb- 
liche8 Verdienft, den Irren die Ketten abzunehmen, fie nad 
den Grundjägen ächter Nädjitenliebe zu behandeln. Lange blieb 
Deutichland noch zurüd und erft allmälig arbeitete es ſich Durch 
alle möglichen metaphufiichen und piychologiichen Irrwege aus 
der Anfchauung heraus, daß die geiltigen Störungen nur auß 
der Sünde entftehen, und zu einer Zeit, da England, Frankreich 
und Belgien fich jchon der beiten Erfolge in der Irrenbehand⸗ 
lung rühmen konnten, lehrte und wirkte in Deutichland der 
burch feine philojophiichen Kenntniffe und die Strenge feines 
Charakters gleich audgezeichnete Heintoth, der KHauptvertreter 
der Lehre, daB die Seele nur durch die Sünde erkfranfen, nur 
durch die Vernunft geheilt werden koͤnne und in der flarren 
Weiſe feiner moraliſchen Anforderungen an die Kranken ging 
er jo weit, daß unter feinen Heilmitteln noch Ruthenſtreiche 
und Züchtigungen eine große Rolle fpielen, während der Arznei⸗ 
ihat bei ihm feine Verwendung fand. Aber nidyt lange mehr 
follte Deutichland, welches fonft gewöhnt ift, unter den Bor» 
fämpfern für neue Errungenſchaften des Wiſſens an der Spike 
der Nationen zu ftehen, das verichloffen bleiben, deſſen Früchte 
andere Völker längft reichlich genojien. Auch in unferem Vater⸗ 
lande brach fich Die naturwifienfchaftliche Anfchauung der Geifted« 
franfheiten Bahn und wenn wir audy fpät erft den richtigen 
Weg betraten, fo gebührt Deutichland doch das Verdienſt zu 
der allmälig erreichten Vertiefung der piychtatriichen Wiſſenſchaft 
die hervorragendften Beiträge geliefert zu haben. 

Was find nun die großen Vorzüge, deren die moderne 


Piychiatrie fi rühmen darf? In kurzen Worten ift dieſe 
(1%) 


11 


Frage dahin zu beantworten: eine auf der Grundlage der ge 
fammten Naturwiſſenſchaft und Medicin aufgebaute Wiſſenſchaft 
md eine von dem Geifte Ächter Humanität durchdrungene Aus⸗ 
übung derjelben. 

Wollen wir und im Einzelnen von der Richtigkeit dieſer 
Worte überzeugen, fo werden mir da8 am mühelofeften thun, 
wenn wir einen Gang durch eine nach den erwähnten Grund» 
ſätzen eingerichtete Irrenanftalt unternehmen, wobei wir Ge⸗ 
legenheit haben werden, dad wichtigite Heilmittel in der Behande 
lung von Geifteöfrankheiten Tennen zu leriten. 

Nicht fern von einer mittelgroßen Stadt, and weldyer die 
wichtigften Lebensbedürfniſſe leicht zu beziehen find, treffen wir 
in lieblichfter Gegend ein fchloBähnliches Gebäude, welches 
inmitten eined großen Gartens gelegen, von einer hohen Mauer 
umgeben if. Wir dürfen jedoch dafjelbe nicht in der Wirk 
lichkeit ſuchen, da die Vorzüge der beften Anftalten in nach⸗ 
folgender -Schilderung in einer einzigen vereinigt angenommen 
werden. Wir nahen dem großen Thore, weldyes auf unfer 
Klingeln von einem würdigen Pförtner geöffnet wird und bes 
treten die vor dem Haufe befindlichen Anlagen. So lange der 
Hrörtner und bei dem Direftor anmeldet, haben wir Zeit und 
diefelben etwas näher anzufehen; wir befinden und vor einem 
runden mit präcdtigen Zierpflanzen umgebenen Balfin, in 
defien Mitte ein zierliher Epringbrunnen plätjchert, über der 
Waflerfläche jcheint eine große Seeipinne ihr Rieſennetz ausge⸗ 
breitet zu haben und erft bei näherer Betradhtung finden wir, 
daB daſſelbe ans folidem Eifen gefchmiedet ift, den Lebensmüden 
den Plan zu vereiteln, feinen Dualen in der Xiefe des Waſſers 
ein Ende zu maden. Ringsumher find reizende Baumgruppen 
und Geftränder und wo wir von außen eine Table und 
unfreundlihe Mauer gejehen haben, finden mir nichts ala 


(195) 


12 


lieblihe8 Grün, welches den in die Ferne fchweifenden Blick 
nicht beengt und das Gefühl der Abgefchloffenheit nicht aufs 
fommen läßt. Gerade vor und liegt die lange, einfach gegliederte 
Façade des Mittelbaud, an deren Fenſter üppige Blumen und 
Sclingpflanzen wuchern, getragen von den eijernen Stäben 
der Schußgitter, ohne welche eine Srrenanftalt nicht wohl fein 
fann.!) Während diefe jo im Sommer den mannigfaltigiten 
Pflanzen zur Stüße dienen, erfreuen fie im Winter durch die 
zierlihen Arabeöfen, in weldyen fie kühn in die Höhe ftreben, 
das Auge mehr, ald daß fie an den Zweck erinnern, weldyem 
fie dienen. So ſehen wir, wie überall der den Kranken uner- 
trägliche Gedanfe ded Zwangs und der Gefangenſchaft durch 
freundliche Bilder und Ausblide fern gehalten wird. Wir 
durchichreiten das große Portal und befinden und in einer bunte 
bemalten Borbhalle, an welche ein langer Corridor ſich anjchließt 
und geben an den zahlreichen Thüren vorüber, welche zu den 
Kanzleien der Berwaltungsbeamten und Aerzte führen, indem 
wir ſchon jo einen Begriff von der Großartigkeit des geichäft- 
liyen Betriebed der Anjtalt befommen und gelangen in ein 
geräumiged Wartezimmer. Lange Reihen von ungeduldig 
Harrenden fiten bier oft nach Ankunft der Bahnzüge, um auf 
den vielbejchäftigten Direktor zu warten, der ihnen Erlaubniß 
zum Beſuche theurer Angehöriger oder wenigitens Auskunft über 
deren Befinden ertbheilen fol. Mandyer gebt getröftet von 
dannen, mancher faum glaubend an die jpärliyen Hoffnungen, 
die ihm in ferne Zeiten gerüdt find. Doc uns führt nur ein 
warmes Intereſſe an der Srrenheillunde überhaupt her und fo 
fönnen wir ohne Bangen den Direktor begrüßen, der und zur 
näheren Befichtigung der Anftalt auf's freundlichite auffordert, 
Indem wir ihm folgen, gelangen wir an eine hallenartige Er» 


weiterung des Corridors, in welcher links und rechts große, 
(196) 


13 


ſchalterähnliche Fenfter angebracht find. Bor diefen warten 
eine große Anzahl von Mädchen mit Körben und Gaffeebretten, 
weldye von dem Schalter zur rechten ber mit zahllojen Weden 
gefüllt und mit blendend weißen Kännchen und Zaffen beftellt 
werden. Würden wir nit an dem ſchwarzen Anzug und dem 
weißen Hänbchen und Schürzen die Wärterinuen erfennen, fo 
würde e8 und faum auffallen, dab unter ihnen auch noch einige 
Kranke ſich befinden; denn die wenigften laffen in ihrem 
Aeußern erlennen, was in ihrer Seele fich bewegt. Nur eine 
Geftalt fällt und auf, ein junges Mädchen mit tiefernitem 
Blick, audnehmend einfach aber pünktlich gekleidet, es iſt die 
Tochter eined vornehmen Hauſes, die im Kampf mit den lebten 
Ueberbleibfeln einer jchweren melandholifchen Verſtimmung ihres 
Gemüths fich noch mit einer Trankhaften Borliebe zu den 
niedrigften Dienften herandrängt und wie wenig fle noch ges 
fichert ift vor jchwereren Ausbrüchen ihres Leidens, ſehen wir 
an der Aufmerkjamkeit, mit welchen die neben ihr ftehende 
Wärterin keinen Blid von ihr läßt. Das Frühftück iſt gefaßt 
und die eigenthümlich zuſammengeſetzte Schaar von Mädchen 
geht mit demjelben auf ihre Abtheilungen. Bon der andern 
Seite fommen nun eine Anzahl von Männern, endloje Brode 
in mächtige Körbe faffend und in riefige Henkelkrüge Moft und 
Bein audfüllend. Auch bier find Wärter und Kranke, welche 
bei der Arbeit behilflich find, ſeltſam gemiſcht und während die 
meiften, nur mit fich und ihrer Arbeit beichäftigt, nichts Aufe 
fallende8 bdarbieten, erbliden wir dod die eine und andere 
Erſcheinung, die unjere Aufmerkſamkeit feilelt; uns zunächft 
fieht ein junger Mann in Sträflingölleidern von unheimlichem 
Ausfehen und finfter brütenden Mienen: wir hören, daß er 
wegen Batermordes zu lebendlänglichem Zuchthaus verurtheilt 


worden ift und erft, als ſich in der Gefangenſchaft herausftellte, 
(197) 


14 


daß er feine That in einem Anfall von geiltiger Störung be» 
gangen, wurde er in die Anftalt eingeliefert, wo er fleißig und 
geordnet arbeitet, aber durch fein finfteres Weſen und beitän- 
diged Schweigen einen neuen Ausbruch) von Wuth befürchten 
läßt; bat er- doch auch ſchon mehrmals feine Wärter ſchwer 
bedroht und thätlich angegriffen. Ein anderer fällt uns durch 
fein feined Benehmen und feine freundliche Zuvorkommenheit 
auf: ed iſt ein junger Gelehrter, weldyer in der Reconvaledcenz 
begriffen, geiftige Anftrengungen noch vermeiden muß unb in 
der froben Hoffnung baldiger Genefung und in dem Gefühl 
wiederlehrender Clafticität des @eiftes willig allerlei häuslichen 
Arbeiten zum Nuben feiner Mitkranken ſich unterzieht. 

Wir betreten die geräumige Küche, in deren Mitte ein 
mächtiger Herd fteht, ringd an den Wänden ift eine Reihe 
großer Keſſel von einem armdiden Dampfrobr mit Wärme 
geipeift, in weldhen für ca. 800 bungrige Magen Fleiſch und 
Kartoffel gejotten werben, während ledere Braten in großen 
Schüſſeln auf dem Herde fchmorend einen prächtigen Duft 
verbreiten. An die Küche grenzt eine große Speifelammer, in 
welcher an einem Tiſch eine Anzahl von Frauen und Mädchen 
fitzt mit Kartoffelichälen und Gemüfepuben befchäftigt und ein 
fröhliches Lied dazu fingend. Auch dieje beftehen meift aus 
Kranken, welche zur Bereitung ded Mittagsmahles das Shrige 
beitragen. Ein junges Mädchen, dad Haar mit einer Roſe 
geſchmückt, die im Ganzen einfache Kleidung mit allerlei Bändern 
und Blumen geziert, tritt aus der Reihe der Arbeitenden und 
der frohe Geſang verftummt, ald fie fi vor dem Direltor 
feierlich verneigt und ihm graciös die Hand küffend mit ſchel⸗ 
milhem Zone fragt: „Aber jet werden Sie mir meine Ent» 
laſſung gewiß gewähren?" „So lange Sie noch ſolche Albern- 
beiten machen, tft gar feine Rede davon“ ift die kurze und 


(198) 





15 


beitimmte Antwort des Direltord, der wohl weiß, daß das fonft 
fittfame und bejcheidene junge Mädchen, die Tochter einer ein- 
fachen Beamtenfamilie, noch nicht als genefen betrachtet werden 
kann, fo lange nicht die letzte Spur von Gefalljuht und Co⸗ 
quetterie aus ihrem Benehmen verſchwunden iſt. Derartige 
Zudringlichkeiten find vielmehr die deutlichen Vorboten einer 
neuen allmälig fidh zur vollftändigen Tobſucht fteigernden Auf⸗ 
regung, woran dad Mädchen in regelmäßig wiederlehrenden 
Zwifchenräumen ſchon feit mehreren Jahren leidet. — — 

Wir verlaffen durch eine kleine Hinterthüre anf einige 
Augenblidle das Haupthaus, um das hinter der Küche gelegene 
Keſſel- und Waſchhaus zu betreten und betrachten die 3 riefigen 
Dampflefjel, aus welchen dad ganze Haus, Zimmer, Corridor 
und Nebengelaffe wie Badezimmer, Spüllüche und @arderobe 
mit einer wohlthuenden gleichmäßigen Wärme durdftrömt wird, 
und unterlaffen ed nicht, die Waſchküche mit ihren vorzüglichen 
Einrichtungen, durch Dampfkraft getriebene Waſch⸗ und Wind. 
mafchinen u. dgl. mehr zu befichtigen, mit Staunen über die 
Geſchwindigkeit und Mühelofigkeit, mit welcher bier zahllofe 
Stüde gewaſchen und getrocknet werden. 

Haben wir fo einen Einblid in den vielgeftaltigen Mecha⸗ 
nidömud erhalten, weldyer zum Betrieb einer ſolchen Anftalt 
gehört und haben wir ung überzengt, wie diejenigen, zu derem 
Nutz und Frommen die Anftalt da iſt, mit in denjelben da 
und dort nad, Kräften eingreifen, fo werden wir diefe Anſchanung 
noch vervolllommnen, wenn wir und zunächft auf die Kranken⸗ 
abtbeiluugen felbft begeben. Wir beginnen im oberften Stockwerk 
und gelangen in einen langen Gorridor, der und durch jeinen 
glänzenden, tadellos reinen Parquetboden und durch feine freund» 
liche Helle auffällt, die ihm durch eine ftattlihe Reihe nach 
Dften gelegener Fenfter gefpendet wird. Die Wände find ein- 

| (199) 





16 


fach aber geihmadvoll tapeziert und ba und dort befindet fich 
ein Geftell mit Blumen, welche an Fenſtern und Wänden empor⸗ 
ranken. Einige Herren gehen in ein ernſtes Geſpräch vertieft 
auf und ab und bezeugen nur durch eine höfliche Verbeugung, 
daß fie von ums flüchtig Notiz genommen. Cine Thüre zur 
linken führt und in ein großes Geſellſchaftszimmer, welches 
mit allen Bequemlipjfeiten eines Wohnzimmerd verſehen ift. 
Der große Tiſch in der Mitte bient dem gemeinjchaftlichen 
Mittagsmahl, an welhem die Herren der ruhigen Abtheilung 
Theil nehmen. Einige von ihnen fihen jet an den kleineren 
in zierlichen Fenſterniſchen befindlidyen Tiſchchen mit Karten⸗, 
Schady oder ähnlihen Spielen beſchäftigt. Ein älterer Herr 
fitzt behaglich in einem Lehnftuhl und lieft mit Aufmerkſamkeit 
die „Norddeutihe Allgemeine.” Stören wir ihn in feiner 
Lectüre, während welcher allein er feine Leiden vergißt, fo über- 
ſchüttet er und mit zahllojen Klagen über die tägliche Zunahme 
feiner mannigfaltigen Befchwerden und der Direktor macht feinen 
Verſuch ihm zu beweifen, daß diefe nur in feiner Cinbildung 
beftehben. Denn felbft Die Betrachtung der zunehmenden Rundung 
feines jovialen Gefichtes im gegenüberliegenden Spiegel über- 
zeugt ihn nit von der Unrichtigfeit feiner hypochondriſchen 
Borftellungen. — 

Mir verabfchieden und von diefer Geſellſchaft und finden 
im Nebenzimmer 2 junge Herren mit Billardfpielen beichäftigt. 
Ohne fie weiter zu ftören, gehen wir in einige Wohnzimmer 
für einzelne Herten, welche durch ihre geichmadvolle Einrichtung 
einen wohlthuenden &indrud auf und. machen. In einem der» 
felben finden wir einen jungen Mann von 16 Sahren, einen 
ächten Sohn unferer Zeit. In Gemüffen und Leidenichaften 
feinem Alter weit voraus bat er kaum die Kenntniffe eines 
12jährigen Symnaflaften und mit mehr Mühe ald Erfolg ftudiert 


(300) 


= 





17 


er den Julius CAfar, in welchem ex feit mehreren Wochen nur 
wenige Sapitel vollendet. in ſeltſames Gemiſch von Schwer» 
muth und Schwachfinn, von Selbftüberihäbung und Niederge- 
ſchlagenheit hat ihn in fo jungen Jahren nad) einem nnglüd- 
lihen Selbjtmordverfuh in die Anftalt gebradt. — Eine 
barmlofere Geſtalt treffen wir in dem nächften Zimmer: es tft 
ein Architeft, welcher fett 15 Jahren der Anftalt angehört und 
durch eine eigenthümliche Scheu vor hellen und glänzenden 
Gegenftänden fich auszeichnet. So buldet er nur dunfle Bor 
hänge, Bettüberwürfe u. ſ. f. in jeinem Zimmer, deffen Feniter 
mit einem jchwarzen Tuche verhängt iſt. Seine Tagesbeichäf- 
tigung beftebt darin, daB er einen großen Bogen Zeichnungd« 
papier mit Douche ſchwärzt und er befitt ſchon eine anjehnliche 
Sammlung folder Kunftwerle, welde er und mit großem 
Wohlgefallen vorzeigt. — 

Aus diefer ruhigen Abthetlung, in welcher, wie wir ge 
ſehen, banptfächlic Kranke höherer Stände verpflegt werden, 
gelangen wir, wenn wir eine Treppe tiefer geben, in eine weitere 
Abtheilung, in welcher die ruhigen und halbruhigen Kranken 
der ärmeren Stände untergebradyt find. In der inneren Ein- 
richtung berricht bier eine größere Einfachheit; an Stelle der 
einzelnen Zimmer befinden fi große Gefellichaftsräume und 
gemeinjchaftlihe Schlaffäle, in welchen wir eine mufterhafte 
Reinlichleit und Ordnung bewundern. Ebenſo find aud die 
Kranken in ihrem Aenhern pünktlich) und geordnet und jedes 
Dawiderbandeln gegen die firengen Hausregeln findet rafch eine 
wirffame Rüge durch die aufmerkſamen Wärter. An der langen 
Tafel des gemeinichaftlichen Speiſeſaals figt eine Anzahl von 
Kranfen beim Beipern, welches ihnen nach gethaner Arbeit ge 
reicht wird. Mehrere Stunden jchon waren fie in dem Garten 
beiäftigt und in fleipiger Srabarbeit förderten fie die Reu- 


xx. 462, 2 (201) 


ur 





18 


anlage eines großen Spielplates, welcher im kommenden Frühe 
jahr eingeweiht werden fol. Andere machen ſich bei den Feld⸗ 
geichäften nüßlic, beim Blumen und Gemüjebau, in Den 
Werkſtätten der Schloffer und Schreiner, für welde es daß 
ganze Jahr über felten an Beichäftigung fehlt. Wären bie 
Leute nicht durch diefe wohlthätigen Zerftreuungen angenehm 
ermüdet und ohne anderen Sinn als für die ihnen gejpendete 
körperliche Erquidung, jo Tönnten wir auch bier manche Ver⸗ 
kehrtheit hören, welche wir in der ruhigen und geordneten Ges 
ſellſchaft ſchwerlich vermuthen würden. 

Gleich in der äußeren und inneren Einrichtung aber ver⸗ 
ſchieden durch ihre Bewohner iſt die nächſte Abtheilung, die 


wir betreten. Hier finden wir ſchon unruhigere Geiſter und 


manchen, dem durch ben finnlojen Ablauf feiner verworrenen 
Gedanken die Beherrihung über ſich felbft mehr oder weniger 
fehlt und ed wird ſchon jchwerer, Die äußere Ordnung, melde 
auch bier in wohlthuendfter Weiſe berricht, immer gleich voll» 
ftändig aufrecht zu erhalten. Defter muß ein ungeftümer Aus⸗ 
bruch von zeritörendem Bewegungsdrang durch ploͤtzliche, meift 
nur vorübergehende Sjolirung des einen oder andern in die 
auf diefer Abtheilung vorhandenen Abjonderungdzellen abges 
Ihnitten werden und unbelümmert um einen derartigen Auftritt, 
der fih eben vor unfern Augen abipielt, fommt ein anderer 
Kranker plögli auf und zu und überfchüttet und mit Vor⸗ 
würfen darüber, daß er allmälig ſyſtematiſch vergiftet werde. 
Denn Ichon feit Fahren leibet er an dem Wahn, daß alle feine 
Speifen zum Zwede feiner allmäligen Vernichtung mit gefund- 
heitöfchädlichen Stoffen vermifcht werden. Hier treffen wir auch 
viele von den an firirtem Größenwahn leidenden, jene Könige 
und FZürften, Bismarck's und Napoleons, Staatsmänner und 


Weltbeglüder, welche unter den Inſaſſen einer Srrenanftalt 
(202) | 


19 


nie fehlen. Zroß einzelner lebhafterer Scenen herrſcht doch 
auch hier im Ganzen eine äußere Ruhe, welche mit der inneren 
Verkehrtheit der meiften hier verpflegten Kranken in eigenthüms 
lichem Gegenfahe fteht und welche nur erreiht werden kann 
durch eine dem Zuftande der Einzelnen angepaßte und von 
ärztlidher Seite fireng geregelte Disziplin. | 

Theilmeife ift dieje auch noch durchzuführen in der Abthei⸗ 
lung, welche wir jebt betreten und in welder die lärmendften 
und gefährlichften Kranfen untergebracht find neben foldyen, 
welche durch völlige VBerblödung und gänzliche Stumpfheit nicht 
mehr im Stande find, tn den biöher befuchten Abtheilungen 
ohne zu große Störungen für ihre Nebenkranken ſich zu halten. 
Anh hier wird noch möglihft auf Gemeinfchaftlichleit des 
Wohnens und Schlafens gefehen, was ſich audy bei den Auf- 
geregteften mitunter erreichen läßt, während andere, im Ver⸗ 
hältniß zur Geſammtzahl nur wenige, einer bleibenden Iſolirung 
bedürfen. Diefen Zweden entipredyend treffen wir auch hier 
noch größere Wohnräume und Schiaffäle, melde ſich durch eine 
auf gröberen Infulten fpottende Dauerhaftigfeit der Tiſche, 
Bänke und Stühle auszeichnen; die Zenfter wie überall von 
außen vergiitert, find von zolldidem auch bei Träftigen Kauft« 
ſchlägen unzerbrechlichen Glas. Bon dem Wohnzimmer aus 
gelangt man in einen großen, mit feften, hoben Wänden ver- 
jehenen Hof, in welchem die Kranken bei guter Witterung 
frifche Luft genießen können. Außerdem finden wir eine Reibe 
von Sjolirzellen, deren wir eine als Mufter näher betrachten. 
Die fchwere, eichene Thüre gebt nach außen auf und ift mit 
einem doppelten Schloß verichließbar. Der Boden und die 
Wände find mit eichenem Holze getäfelt, die Holztafeln felbft 
find der größeren Feſtigkeit wegen in Asphalt eingelaflen, fo 


daB eine Bildung von Spalten und Fugen zur vollftändigen 
2° (208) 


20 


Unmöglichleit wird. Der Ofen ift in einen Mantel eingemauert 
und mit einer finnreichen Ventilationseinrichtung verjeben, jo 
daB die Luft der Zelle, auch ohne daß ein Fenſter geöffnet wird, 
in lürzefter Zeit fich erneuert; dieſe jelbft find in folder Höhe 
angebracht, daß fie der Kranfe nicht erreichen fann und werden 
mittelft in der Dede laufender Leitungsichnüre vom Corridor 
aud geöffnet und geſchloſſen. 

In einer folden Zelle ift auch. der Tobfüchtigfte volllommen 
ficher untergebradyt, wenn es freilich mitunter nothwendig wird, 
daß man den unrubigften Kranken Kleider und Bettftätte noch 
gänzlich entzieht und ihnen aus einem Haufen Seegraßd ein 
primitived Lager bereitet. Durch die Möglichkeit einer voll» 
fändigen NReinhaltung und die Unmöglichkeit einer Zerftörung, 
der Zelle von Seiten der Kranken hat fie auch einen weientlichen 
Borzug vor dem Polfterzellen,?) welche nur jelten noch angewandt 
werden. 

Mittelft jo eingerichteier Zellen läßt fi einer der wich⸗ 
tigften Srundfäße der modernen Piychiatrie verwirklichen, nämlich 
die möglichfte Vermeidung äußeren Zwanged. Die früheren 
Zwangdmittel, beitehbend in Zwangsjacken, Zwangsitühlen? 
Zwangäbetten u. ſ. f., verjchwinden immer mehr aus den gut 
geleiteten Anftalten und je mehr man eine möglichſt weitgehende 
äußere Freiheit für die Kranken anftrebt, defto mehr hat man 
gelernt, die Iſolirung einzelner Kranken auf wenige Ausnahms⸗ 
fälle zu beſchränken. So finden wir au bier, daß nur eine 
ganz Feine Anzahl in dem Sfolirzellen untergebracht ift, während 
die andern die Wohlthaten eined gemeinjchaftlichen Zuſammen⸗ 
lebend in zwedmäßiger Umgebung genießen. 

Das einzige Mittel Äußeren Zwanges, welche auch von 
eifrigen Anhängern der Zwangsloſigkeit angewandt wird, ift die 
Zwangsfütterung oder milder audgedrüdt, die künftlihe Er⸗ 

(204) 


21 


nährung folder Kranker, welche meift im Zolge melancholiſcher 
Bahnvorftelungen dauernd die Nahrung verweigern. So 
treffen wir auch bier in einer der Zellen einen alten Herrn, 
welcher in dem traurigen Bahn, von Gott verftoßen und des 
Eſſens nicht würdig zu fein, feit mehreren Jahren feine Nahrung 
mehr freiwillig zu fi) nimmt und dem uuter dem entjehlichften 
Widerſtreben und den lauteften Wehllagen 3 mal täglich durch 
eine in den Magen eingeführte Röhre, an welcher oben ein 
Trichter fidh befindet, die Nahrung eingeflößt wird, So ſehr 
‘die dabei angewandte Nöthigung dem Grundfaße der Zwangs⸗ 
lofigfeit wideripricht, fo wird man auf benfelben doch nicht ver⸗ 
zichten in der Weberlegung, dab man wohl faum berechtigt 
ift, einen Mitmenjchen verhungern zu laffen, wenn man jein 
Zeben auf gewaltjame Weife erhalten Tann. Namentli gilt 
Died von heilbaren Kranken, aber auch bei unheilbaren Tönnen 
wir nicht wiffen, ob der bemitleidendwerthe Kranke nicht noch 
dazu auserſehen ift, feinen Mitmenjchen zum Segen zu werben 
und wenn es nur dadurch wäre, daß er fie in der Ausübung 
der Nächitenliebe und Geduld übt. — — | 

Wir verlaffen diefe traurigen Räume und ihre Bewohner 
nicht ohne zu bedenken, daß wir von den ruhigen Kranfen, 
welche wir im Gefühl ihrer wiederkehrenden Genejung zu einer 
geordneten Thätigkeit fich drängen ſehen, mancher noch vor 
Kurzem zu den lärmendften Kranken diejer Abtheilung gehört 
bat und daß mandjer, der jegt unter der Macht finnlojer Ver⸗ 
worrenheit den tolliten Verkehrtheiten ſich hingiebt, in wenigen 
Monaten vielleiht mit Ernft und Würde den fchwierigften Ge⸗ 
Ihäften feines Berufes wieder vorfteht, während andere freilich — 
bei den Erfolgen der modernen PYſychiatrie glüdlicher Weiſe die 
wenigeren — einer bleibenden Umnachtung ihres Geiftes und 


einer allmäligen Verblödung entgegengehen. 
2 (205) 


22 


Haben wir fo gefehen, wie die einzelnen Kranken je nach 
den individuellen Zuftänden, weldye fie darbieten, in einer Ab- 
theilung untergebracht find, welche den geiftigen Zebendäußerungen 
entfpricht, deren fie fähig find und daß hierin ein fehr wejent- 
liche8 Moment der Anftaltsbehandluug befteht, jo erübrigt uns 
noch, und noch einige jpezielle Mittel der Behandlung und 
und Unterhaltung der Irren näher zu betraddten. Wir be» 
ſchäftigen und nicht näher mit der eigentlichen ärztlichen Thätig« 
feit, zu deren reichlichiter Entfaltung mannigfache Gelegenheit 
geboten tft und die neben einer gewifjenhaften Beobadytung 
theild in dem perfünlichen Einfluffe befteht, den der Arzt auf 
den Kranfen audzuüben vermag theils in der Anordnung Der 
erforderlichen Mittel, welche, wie wir ſehen werden, nicht immer 
aus dem Arzneifchaße der modernen Medizin entnommen find, 
fondern fehr häufig aus der Maffe der moralifhen und allges 
mein menichlichen Einwirkungen, über weldye der Irrenarzt, 
obne den läftigen Sittenprediger zu machen, innerhalb einer 
Anftalt zu verfügen hat. | 

Hierher gehört in erfter Linie eine dem Juftande ber ein- 
zelnen Kranken genau angepaßte Pflege der Religion. Um ung 
hiervon ein Bild zu machen, betreten wir die anjehnlidhe Kirche 
der Anftalt, in welcher ein regelmäßiger Gotteödienit abgehalten 
wird. Diefer unterjiheidet fih im feiner äußern Form nicht 
von jedem andern und nur der Inhalt der Predigt muß mehr 
dem religiöfen Bedürfniß der Einzelnen entſprechen und es 
gehört ein liebevolles Eingehen auf die Intereffen der Kranken 
dazu, wenn nicht der eine oder der andere durch unabfichtliche 
Anzüglichkeiten fich verlegt fühlen fol. Died wird am Leich⸗ 
teften dadurch erreicht, daß mehr die verföhnlichen Seiten der 
Ariftlichen Lehre in Betracht gezogen werden, während Bes 


Iprechungen von Hölle und Verdammniß, welche im Wahne fo 
(206) 


23 


vieler Melancholiker eine große Rolle Tpielen, gar nicht oder 
flüchtig berührt werden. Mit dem Abhalten des Gotteödienftes 
it jedoch die Thätigleit des Anftaltögeiftlichen keineswegs er» 
Ihöpft, vielmehr befteht der fchwierigere Theil jeined Amtes in 
der bei den Geifteöfrankheiten jo außerordentlih wichtigen 
Seeljorge. Diejer Anforderung wird in der Weiſe genügt, daß 
der Geiftliche bei regelmäßigen, unter ber Leitung der Aerzte 
vorzunehmenden Beſuchen mit dem Krankheitäzuftande der Cin- 
zelnen möglichft auf dem Laufenden bleibt und dabei fich be= 
Iehren läßt, wie weit der Zuftand des Kranken ein Eingehen 
auf religiöfe Fragen geftattet und e8 genügen meift kurze An- 
deutungen, daB bei dem einen vielleicht die Faſſungskraft dafür 
noch nicht wiedergefehrt ift, bei dem andern der mohlgemeinte 
Zroft des Geiftlichen vielleiht nur die Duelle neuer Aufre- 
gungen und Zweifel werden könnte. Wenn auf dieſe Weife 
auch manche einer direlten Einwirkung nicht zugänglich find, 
jo bleibt doch für den Anftaltögeiftlichen ein großes, jegensreiches 
Geld der Thätigkeit übrig, melde um fo nubbringender jein 
wird, je vorfichtiger er in der Audwahl der einzelnen Kranken 
zu Werke geht und von dem Grundfabe fidy leiten läßt, lieber 
einmal zu wenig zu thun, ald da, wo ein eigentliched religiöfed 
Bedürfniß fehlt, durch zu großen Eifer Schaden zu ftiften. 
So jehen wir, daß dem geiftlihen Stande, welcdyer in früheren 
Jahrhunderten die Geiftestrankheiten als feine Domäne betrach⸗ 
tete, die ihm gebührende Stellung in der Behandlung der 
Seren zugetheilt ift, in welcher er ärztliches Können auf's 
erfolgreichfte zu unterftüßen im Stande ift. — 

Bon der Kirche and gelangen wir in die Bibliothek und 
lemen in ihr ein ebenfalld jehr wichtiges Mittel in der Behand» 
Iung der Geifteöfranfen Tennen. Die richtige Auswahl der 
Lectüre ift oft ebenfo ſchwierig, ald wenn fie gelingt, von großem 

(207) 


24 


Bortheil für den Kranlen und ed theilen fi in dieſe Arbeit 
außer den Aerzten der Geiſtliche und der Lehrer der Anftalt, 
welcher zugleich als Bibliothefar angeftellt if. Im dieſer Eigen» 
haft waltet er über eine Anzahl von mehreren taufend Bänden, 
unter denen die MHajfiihe und die moderne Litteratur je nad) 
bem ihr gebührenden Werthe vertreten iſt. 

Die Haupttbätigfeit des Lehrers befteht jedoch im Abhalten 


regelmäßiger Unterrihtöftunden, welche jeden Tag ftattfiuden 


und an denen ftets eine große Mehrzahl der Kranken mehr 
oder weniger warmen Antheil zu nehmen im Stande ift. Die 
Begenftände des Unterrichts find hauptſäͤchlich Litteratur, Ges 
Ichichte, Geographie und Naturwiffenichaften und die Behand⸗ 
Inng des Stoffes ift natürlich Feine ftreng ſachgemäße, ſondern 
beſteht in freier Befprehung einzelner in ſich abgejchloffener 
Themata. Gleichzeitig werden die Stunden zu Ausführungen 
benußt über die bedeutendften Tages-Ereigniſſe, über techniſche 
und andere Erfindungen u. ſ. f. und man. kann oft mit Ver⸗ 
gnügen beobadyten, wie den Beichreibungen des Xelephon, des 
Phonograpben u. dgl. die geſpannteſte Aufmerkſamkeit entgegen» 
gebracht wird. Am beliebteften und bejuchteften “jedoch iſt der 
Unterricht in der Muſik, weldye je nad) den vorhandenen mufis 
Taliichen Kräften gepflegt wird. Zum Zuftandefommen eines 
guten Chorgefanges fehlt ed nie an den nothwendigen Glementen, 
während die höheren Leitungen in der Bocal»- und Inftrumental- 
mufit je nad) der Befähigung der jeweiligen Inſaſſen ſehr 
Ihwantender Natur find. Fehlt es an befleren Kräften unter 


den Kranken felbft, jo werden fie dur Zuziehung gefunden 


Künftler und Dilettanten erfegt und ſchon mandyed erhabene 
Tonwerk durchbraufte eine aufmerkſam laufchende Menge bes 
geifternd, dem großen Geſellſchaftsſaal der Anftalt, welden wir 


neben der Bibliothef antreffen. 
(208) 


25 


In diefem werden auch andere Genüſſe gepflegt, weldhe zur 
Zerfireuung und Erheiterung der Kranken dienen. Theater 
aufführungen mit oder ohne Mitwirkung von Kranken, Vorträge 
und deflamatorijche Recitationen, Schauftellungen aller Art wie 
die Produktion von Schattenbildern, magiſchen Künften u. ſ. f. 
Außer zu dieſen natürlih mehr auſsnahmsweiſe gewährten 
Unterhaltungen dient der große Saal noch zu regelmäßigen 
gefelligen Vereinigungen der Kranken, welche unter der Betheilt« 
gung der Anftaltöbenmten und fonftiger Freunde und Gönner 
der Auftalt ftatifinden. Im Sommer finden diefe Vereinigungen 
entweder im Garten ftatt oder ed wird im Anſchluß an einen 
Spaziergang oder größeren Ausflug die Geſelligkeit außerhalb 
der Anitalt felbit gepflegt. | 

Mehr der Merkwürdigkeit halber fügen wir bei, daß in den 
beiten englijchen und amerikaniſchen Anftalten auch regelmäßige 
Zanzunterhaltungen abgehalten werden, während man fidy im 
Deutichland für die⸗Nützlichkeit der im Auslande fehr gepriejenen 
Irrenbälle bis jet nicht fehr begeiftert hat. 

Haben wir jo die Räume der-Anftalt durchwandelt und 
gejehen, wie die einzelnen Einrichtungen dem Wohle der Kranten 
dienen, jo bleibt und nur noch ein kurzer Gang durdy den Garten 
übrig. Diefer beftehbt aud einer großen parfähnlichen Anlage 
mit herrlichen Baumgruppen und fchattigen Wandelgängen. Auch 
eine bededte Beranda zum Aufenthalt im Freien bei weniger 
günftigem Wetter und zum Schuß gegen die Sonne iſt vor« 
handen, Heine Häuschen auf bufchigen Hügeln, trauliche Lauben 
und allerlei laufchige Plätzchen. Zunächft dem Hauptgebäude ift 
eine Kegelbahn, welche fich einer ehr bedeutenden Frequenz 
erfreut, vor ihr einige nicht ebenjo reichlich benußte Zurmgeräthe. 
An dieſe ſchließt ein großer. freier Plab au, auf welchem Groquet, 


Lawn⸗Tennis und ähnliche Spiele getrieben werden. Von einer 
(309) 


26 


befonderen Umzäunung umgeben, finden wir von üppigem Ger 
ſträuch umwachſen einen Fleinen Teich mit ſehr einladenden Ein- 
richtungen zum Bade. An dad Ende der gefhmadvollen Garten- 
anlagen reihen fidh die Gemüfegärten, ſowie die zum Betrieb 
der Defonomie gehörigen Gebäude und die weithin fidh erftreden- 
den Ländereien, die als das Feld der Thätigfeit der Kranten 
unſere Beachtung verdienen. 

Hätten wir nicht fchon fo lange verweilt, jo könnten wir 
und nody mit diefem oder jenem Kranken unterhalten, den wir im 
arten begegnen; aber auch jo fchon haben wir einen genügen» 
den Einblid in das Anftaltäleben gewonnen, um und zu über 
zeugen, daß eine fo eingerichtete Anftalt dasjenige in der That 
ift, was einer der bedeutendften Irrenärzte unferer Zeit von ihr 
ausſagt, das wichtigfte Heilmittel gegen geiftige Erkrankung. 
„Nur in ihr”, fagt v. Krafft-Ebing, „findet der Kranke thun⸗ 
lihiten Schuß vor Gefahren, er kann ſich bier gehen lafjen, 
ohne moralifirt, corrigirt, belehrt zu werden; er findet Schonung 
und Wohlwollen, ein größeres Maaß von Freiheit, ald ihm in 
familiärer Pflege geboten werden Fönnte, einen ausgiebigen 
Heilapparat, daneben Zerftreuung und Ablenkung, foweit er 
derjelben fähig iſt.“ 

Damit find allerdings die Aufgaben erfüllt, weldye bei 
Behandlung von Geiſteskranken in Betracht fommen und wir 
brauchen nur noch darauf hinzuweifen, daß ed nur ganz aus» 
nahmsweiſe Fälle von Geiftesftörungen giebt, welche fidy für Die 
Behandlung in gefchloflenen Anftalten nicht eignen. Vielmehr 
gilt es ald unumftößlihe Regel, daß weitaus die größte Zahl 
von pſychiſchen Störungen nur in der Anftalt mit Erfolg ber 
handelt werden kann und es ift die übereinftimmende Erfahrung 
aller Arftaltsärzte, daB die Heilung um fo fchneller und um jo 
fiherer erfolgt, je kürzere Zeit nach Ausbruch des Leidend der 


(810) 





27 


Kranke in die Anftalt verbracht wird. Wer fi in der vor 
ftehenden Schilderung mit den ſegensreichen Ginrichtungen einer 
folhen Anftalt befannt gemacht bat, der wird gewiß die Scheu 
vor derſelben verlieren, die vielfach im Yublitum noch herrſcht 
und ed mit uns ald ein Unrecht empfinden, daß man die Heil- 
anftalten für die Bedauernswertheſten aller Kranken mit deſpectir⸗ 
lihen Namen wie „Narrenhand" u. dgl. belegt. Gerade durch 
die Ummwälzung in der Behandlung der Irren, welche fi im 
Laufe diefed Sahrhundertd vollzogen, dürfen wir ed als eine 
Errungenſchaft unferer Zeit betrachten, dab die Srrenanftalten 
ihren grauenerregenden Charakter verloren haben und daß fie 
zu Stätten ächter Nächitenliebe geworden find, in welcher die 
wahre Menichenfreundlichkeit ihre hoͤchſten Triumphe feiert. 

Wenn wir das Beitehen gut eingerichteter Irrenanftalten 
als eine große Wohlthat empfinden und wenn wir und fragen, 
wem wir diefe Wohlthat verdanken, jo fommen wir auf eine 
weitere wichtige Frage der Srrenpflege, die wir nur furz noch 
berühren wollen, nämlidy auf die Fürſorge ded Staates für die 
Geifteskranken. Ohne ihn wären wir niemal3 in den Befib fo 
gut eingerichteter und gut geleiteter Anftalten gefommen, wie fie 
jetzt in allen Ländern, wenn auch nicht überall in genügender 
Menge, den hilfefuchenden Kranken zu Gebote ftehen. Wohl 
bat es früher jchon zwedmäßige Privat-Srrenanftalten gegeben, 
die unter der erprobten Leitung verdienter Irrenärzte ftanden, 
aber allen Bedürfniffen zu genügen waren diejelben nicht im 
Stande und die großen Anforderungen, welche die piychiatrijche 
Wiſſenſchaft an die Einrichtungen der Anftalten geftellt, konnte 
nur der Staat erfüllen. 

Mit der Herftellung und Beauffichtigung dieler Anftalten 
waren aber die Pflichten nicht erichöpft, die die geiftige Erkran⸗ 


fung feiner Bürger dem Staate auferlegte, fondern es galt noch 
(311) 





28 


eine ganze Reihe weiterer Maßregeln zum Schube der Geiſtes⸗ 
franten zu treffen. So finden wir denn auch in den Gejeh- 
gebungen aller Länder unter fi zwar verichiebene, bezüglich 
ihres Zweckes aber unter fich übereinftinmende Beftimmungen, 
welche dahin abzielen, denjenigen, welche nicht im Befite ihrer 
normalen Geiftesfräfte fih befinden, ihre Rechte zu wahren, 
andererjeitd die Geſellſchaft vor folchen zu ſchützen, welche in 
Solge krankhafter Vorgänge ihres Geiftedlebend Die öffentliche 
Sitte und Sicherheit bedrohen. Die erfteren Beitimmungen 
beziehen fi) auf die Bedingungen, unter welchen die Aufnahme 
der Geiſteskranken in die Anftalten zu erfolgen hat und welche 
nicht nur die berechtigten Intereſſen der Kranken und jeiner 
Angehörigen zu wahren ſuchen, jondern auch die Möglichkeit 
abichneiden, daß ein mißliebig gewordener Angehöriger unter 
dem Titel „geiſteskrank“ durch die Verbringung in eine Anitalt 
aud dem Wege geichafft wird, wenn nicht wirklich eine krank⸗ 
bafte Störung bei ihm vorhanden tft. In gleicher Weile wer⸗ 
den die Rechte des Geiſteskranken ftaatlid wahrgenommen 
durch die civilrechtlichen Beftimmungen, welche fih auf das 
Entmündigungdverfahren von geifteöfranfen Perjonen beziehen. 

Der Schuß aber, welchen der Staat der Geſellſchaft vor 
den Webergriffen Geijteöfranfer in die Rechte ded Cinzelnen 
oder des Stanted gewährt, wird durch die Beitimmung erreicht, 
daß diejenigen Geilteöfranten zwangsweiſe in eine Irrenanftalt 
zu verbringen find, weldye der öffentlichen Sicherheit gefähr« 
lich werden oder in Aergerniß erregender Weile die herrichenden 
Begriffe von Anftand und Sitte verlegen. 

Endlich ift e8 aber auch noch die Strafrechtöpflege, weldye 
ipecielle Bedürfniffe von Geiftesfranfen zu berüdjichtigen hat. 
Einmal gewährt fie denfelben dadurch Schub, dab fie Ber 


bredyen, die an Geifteöfranfen verübt werben, mit befonderd 
(212) 


29 


harten Strafen belegt und den Mißbrauch, der in felbftfüchtiger 
oder verbredherticher Abfiht mit dem hbilflofen Zuſtande dieſer 
Kranken getrieben wird, aufs ftrengfte ahndet. 

Auf der anderen Seite gewährt fie demjenigen, der unter 
der Macht geftörter Geiftesthätigkeit zu einem Verbrechen ge 
trieben wird, Befreiung von der Strafe. Diefer lehtere Punkt 
ift e8, welcher erfahrungsgemäß häufig zu Meinungsverſchieden⸗ 
heiten zwtiichen den erfennenden Gerichten einerjeitd und den 
fachverftändigen Aerzten andererfeitd Beranlafjung giebt. Erft 
por Kurzem ift von einem hervorragenden Sriminaliften Staliens 
Öffentlih das Bedauern darüber audgedrüdt worden, daß bie 
Strafrechtöpflege immer „piuchiatrifcher” zu werden drohe. Wir 
Eönnen diejed Bedauern unmöglich theilen. Wir begreifen zwar, 
daß ein fchweres Berbrehen im den Augen der Menge vielfach) 
nicht gejühnt erfcheint, wenn die Beftrafung des Thäters auf 
Grund des Gutachtens eined Sacwverftändigen nicht erfolgt in 
Fällen, bei weldyen die öffentliche Meinung ihr verdammendes 
Urtheil ſchon geſprochen. Aber der Richter jollte doch frei ſein 
von derartigen Borurtbeilen und im ernften Streben nad) Wahr- 
heit und Gerechtigkeit follte er ſich gerne unterſtützen laffen durch 
den Ausſpruch dedjenigen, den feine willenfchaftliche Forſchung 
in befonderer Weiſe befähigt, den ftrittigen Fragen eine andere 
Seite abzugemwinnen, ald derjenige, der ſich mit den Störungen 
bed Geifteö nicht von Berufs wegen beihäftigt. Auch von all- 
gemein menfchlicher Seite betrachtet, ift es gewiß eine viel ver» 
föhnlichere Borftellung,, wenn wir bedenken dab die Scheußlich⸗ 
feit dieſes oder jenes Berbrechens nur der krankhaften Thätigkeit 
eined entarteten Gehirns ihren Urjprung verdankt, ald wenn 
wir eine moraliſche Berirrung als Urſache defjelben anzunehmen 
genöthigt wären. Wir fjehen daher keinen Grund eim, ber 


Pfychiatrie ihre Stellung in der Strafrechtöpflege zu beichränten, 
12) 


30 


Sondern hegen nur den Wunfch, daß das Wejen geiftiger Störungen 
auch dem Stande der Richter immer mehr verftändlidh werden 
möge, damit nicht eine mangelnde Webereinftimmung bed Arzt 
lichen und bes richterlichen Urtbheild zu wirklichen oder ſchein⸗ 
baren Uingerechtigfeiten Beranlafjung gebe. 

Zu diefem Zwecke ift es freilich nothwendig, daß auch Die 
Ausbildung der Aerzte in der piychiatriichen Wiflenichaft eine 
allgemeinere und gründlidyere werde, als dies biöher der Fall 
geweſen ift. Noch find nicht alle deutichen Hochſchulen im 
Befite eined Lehrituhls für Irrenheillunde und noch ift dem 
deingenden Wunſche erfahrener Sachmänner, die Pſychiatrie zu 
einem obligatoriichen Gegenftande der ärztlichen Prüfung zu 
machen, nicht‘ willfahrt worden. Damit kommen wir anf 
weitere Pflichten, die dem Staate gegenüber den Geifteöfranfen 
obliegen. 

Wir verfennen nicht die Schwierigfeiten, die der kliniſche 
Unterricht in der Piychiatrie mit fich bringt und find weit entfernt, 
die bis jebt beftehenden Einrichtungen auf deutſchen Hochſchulen 
nicht mehr für verbeſſerungsfähig zu halten. Das wichtigfte Lehr⸗ 
mittel für den angehenden Arzt muß ja doch die praftiiche Vor⸗ 
führung beitimmter Krankheitsfälle jein. Schon in Törperlichen 
Krankheiten gehört außerordentlich viel Takt und Zartgefühl des 
Hinifchen Xehrerd dazu, wenn died ohne Verlegung berechtigter 
Interefjen des Kranken gejhehen fol. Dan denke fi einen 
Schwerkranken, der fern von geliebten Angehörigen die legten 
Stunden ſeines Lebens verbringt, umgeben von wißbegierigen 
Jüngern der Wiſſenſchaft, die ohne tieferes Mitgefühl für die 
Nöthen eines Sterbenden in Talter Objectivität die Temperatur 
des Kranken mefjen, die Pulsichläge zählen, die Athemzüge 
verfolgen. Wie wenig Tann hier den Bebürfniffen Rechnung 


getragen werden, die der in Furcht und Bangen ſchwebende 
(214) 





31 


Kranke aufs Tieffte empfindet. Und doch find ed nur körperliche 
Krankheitderfcheinungen, die mit den Augen wahrgenommen, 
mit dem Ohre erlauſcht, mit der taftenden Hand verfolgt wer« 
den können. Wie anders geftaltet fi die Vorftellung eines 
pſychiſch Kranken, wenn die gleihe Schaar von Sünglingen in 
die Tiefen des franfen Gemüthes binabfteigen ſoll und dort mit 
feinfühligen Sinnen erlaufchen, was dad Herz des Aermften 
bewegt, wenn fie eindringen fol in die rätbfelvollen Vorgänge 
krankhafter Vorftellungen und Gedanken, die der Kranke faum 
fich felbit geftebt, am denen wir nicht rühren dürfen, ohne die 
Bunde von Neuen aufzureißen, die eine liebevolle und jchonende 
Behandlung kaum geheilt. In dieſer Rüdficht, die wir dem 
Kranken ſchuldig find, findet die Unterweilung der Lernenden 
eine jachgemäbe Begrenzung und wir müflen nah Mitteln 
ſuchen, einen Erſatz für dad zu finden, was die Hochſchule nicht 
nicht jedem bieten kann. Dieſen finden wir nur in der länger 
fortgejegten Beobachtung von Kranken in einer Anftalt. Diefe 
Beobadytung muß um fo länger fein, ald der Berlauf der 
Geiſteskrankheiten ein außerordentlich langfamer, durd Monate 
und Jahre fich binziehender iſt. Deshalb follte jedem jungen 
Arzte Gelegenheit geboten fein, nach vollendeten willenichaft- 
lichen Studien durch längere Thätigfeit in einer Srrenanftalt 


fich in der praktiſchen Piychiatrie Diejenigen Kenntniſſe und 


Erfahrungen zu verfchaffen, die er fi auf der Hochſchule nicht 
erwerben fann und zum Mindeften ſollte die Anftellung als 
Gerichtdarzt von einer ſolchen Probezeit abhängig gemacht wers 
den, damit nicht augenfällige Unerfahrenheit ihrer einzelnen 
Bertreter die ganze Wiſſenſchaft in ihrem Anſehen fchädige. 
Erft mit der Vervolllommnung des pfſychiatriſchen Unter 
richt wird die Irrenheilkunde ihre Gleihberechtigung mit den 


übrigen Zweigen der Medicin erlangt haben. Dann wird die 
(215) 


32. 


Kenntniß der geiftigen Störungen ſich mehr und mehr vertiefen 
und in immer weitere Kreife dringend wird das Studium der 
Krankheits urſachen eine der vornehmften Aufgaben der Irren⸗ 
heilkunde ihrer Vollendung nahe bringen, die Mittel zu Ver⸗ 
hütung der geiftigen Erkrankungen dem Berftändnif zu eröffnen. 
Dann werden die ernften Mahnrufe der Irrenärzte, welde 
heute auf die Grundſätze der Sugenderziehung oft noch ver: 
geblidy einen Einfluß erftreben, nicht mehr nutzlos verballen, 
und was die Pfychiatrie unferer an humanen Beftrebungen fo 
reichen Kultur verdankt, dad wird fie ihr vol heimbezahlen, 
indem fie dem baftigen Irren und Sagen, das auf Koften der 
geiftigen Gefundheit der ganzen Nation unfere unter erjchwerten 
Lebensbedingungen kämpfende und raftlos ftrebende Jugend unftät 
umbertreibt, ein vernünftiges Ziel ftedt. | 


Anmerkungen. 


1) Trotz vielfacder Verſuche der Neuzeit, auf diefes Schutmittel zu 
verzichten, genügen doch reichliche traurige Srfahrungen, um auch jet 
noch an diefer Einrichtung feftzuhalten. 

2) In neuefter Zeit ift man wieder beftrebt, Polfterzellen mit un. 
zerftörbarem Material herzuftellen. Ob man damit einem wirklichen 
Bebürfniß entgegenkommt, bleibt immerhin fraglich. 


— — 


(216) 


Drud von Behr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


Sn den früheren Serien erſchienen: 


Medizin, Sefundheitslchre und Verwandtes. 


(32 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 50 Pf. = 16 Marl. Auch 24 Hefte und 
mebr diefer Kategorie nad Auswahl (wenn auf einmal bezogen) & 50 Pf.) 


Ackermann, Weber die Urſachen epidemiicher Krankheiten. (177)... . . 75 

Alsberg, Die gelunte Wohnung. (40T) © 2: 22 2 ro rennen 

Baer, Die Trunkſucht in ihrer Bedeutung für die Geſundheit und die &e- 
{undheitspflege. (369). 2000 60 


Bohn, Bedeutung und Werth der Schugpodenimpfung. 2. Aufl. (34)... 75 
Bollinger, Ueber Zwerg: und Rieſenwuchs. Mit 3 Holzichnitten. (455) .. 80 


* Der Ay. (BE) > ne 76 
era, Ueber das Ohr und das Hören. Mit 9 Holzichnitten. (169) M. ı 20 
— dh Deber Geifteöftörungen und Geifteskranke. (155) . - .... 
Spree, A. v., Sehen und Schorgan. Mit 5 Holzicdnitten. 2. Aufl. (27) M. 1. — 
ananund, Ueber die Geftalt des Gehörorganes bei Thieren u. Dienichen. (130) 60 
Möller, Ueber den Alkohol. (41) 2. Auflage: » 2: >: 22:00 een 80 
Meelſen, Unjere Freunde unter den nicderen Pilzen. (428) . . 2.2. . 60 
Pelman, Ueber die Grenzen zwiſchen pinchiicher Selundaeli und @eifted- 
ſtörung. (AA). 2 2 75 
Perls, cher die Bedeutung der pathologifchen Anatomie und der patholo: 
„uurihen Inſtitute. (1877)5. 60 


Ueber den Parafitismus in der organifhen Natur. 2. vermehrte 

* —— 1) nee 1.— 
shain, Die Hetlkünftler des alten Romd und ihre bürgerliche 

v Stellung. (BEE) > ren 75 

Nofenftein, Ueber Aberglauben u. Myſticismus t. d. Medizin. 2. Aufl. (11) 75 
Kidinger, Die willlürlihen Berunftaltungen d. menjchlichen Körperd. Mit 





15 Holzſchnitten. (215). 2 0000 nn M. 1.40 
immer, Die erſten Anfänge der Heilkunde und die Medichn im alten 
oe (BE) rn ne . . M. 1.— 
Die Brille. (395/ 3966.. 1.60 
u elmann, Die öffentliche x, Geiundheitöpftege im alten Rom. (357). . . 60 
, Die Entwidelung der altgriehifchen Heilkunde. (418) . 2.20 .. 60 
—, ‚ Das Brot und defien diätetiſcher Werth. (446) » . 2 200.“ ... 7 
Birchom, Neber Hoipitäler uud Razarette. (73) rer ne 60 
—, Ueber dad Rüdenmart. Mit 8 Holzichnitten. (120)... 2.2000. 80 
—, Beber bie Heilkräfte des Organismus. (221). ee 80 
Der Arztlihe Beruf. (100): > 2 2 0 mern 75 
Bol, ° Meber die Anwendung ber ſchmerzſtillenden Drittel im Allgemeinen 
und des Chloroformsd im Beſonderen. 2. Aufl. (32). ....... 75 
Wernich, Ueber gute und ſchlechte Luft. (344). - - - : 2er. 80 
v. Wittich, Döyfiognomit und Phrenologie. (98) . -. - 20... .. 60 
Wolffberg, Ueber die Impfung. (4877....... M.1.— 
% % 
Um den Kaiferfiuhl. Elippenmons. 
Ein Roman Aus den früheften Tagen deutfcher 
aus dem dreißigjährigen Kriege Erhebung. 
von Roman 
Wilhelm Ienfen. von 
Zwei Bände. Anguſt Heſſe. 


Sieg. broſch. 12 M., eleg. geb, in Orig. | Drei Bände. Eleg. broſch. 15 M., eleg. 
engl. Leinen 14 M. 40 Pf. geb. in Orig. engl. Leinen 18 M. 


Phyfiologie. 
(24 Hefte, wenu auf einmal bezogen à 50 Pf. = 13 Mark). 
‚Breögen, Das menihlihe Stimm- u. Sprad: Organ. Mit 14 S0laien, 


er en M. 1.— 
gi, Der Kreislauf des Blutes. Mit Sanidnitten. (149) . 22200 75 
— , Ueber dad Weſen der Muötelarbeit. (273) . - - 2 22000 75 
gop e⸗Seyler, Ueber die Quellen der ebenpiräfte 2. Aufl. (138). . . . 60 
enien, Träumen und Denken. 2. Aufl. (139) . 2.2: 2 2 0en ne. 76 
—, Thun und Handeln. (304). . 2 2 2 2 2020. nenn 75 
Kollmann, Slementared Reben. (23). > 22 0 ern. 75 
Zeyden, E., Ueber die Sinnedwahrnehmuugen. 2. Aufl. (69)... ... 60 
Maguns, Gchör und Sprache. (EN) 2 220 rn 15 
Leber uologifeie Unterfuhungen des Farbenfinned. (420). . . . . . 80 
G. Herm., Ueber Sinnestäufchnngen. 2. Aufl. (NM... 2... 75 
ie "Entftehung unjerer Bewegungen. (69). - 2222 e00ne. 60 
_ _. Das Sehen uud der Blid. (402)... 2 2 20 . .. 80 
—, Stimm: und Sprachbildung. 2. Aufl. (128). 222 enee 
—, Die Bedeutung des Athınungd-Prozeffes für das Leben des thierijchen 
Drganidmus. I ren 
Kagel, Der Sarbenfinn. Mit ı „es aut (79......... .. 60 
wegen, Ueber Empfindungen. (I) - - 20er nn 75 
war, Ueber das Fleiſch ale Nehrungemiktl. (216). » 2 2.2. M. 1.— 
Schmid t, Ueber die allmälige Entwidelung des finnlichen Unterfheldungs- 
vermögend d. Menſchheit. (286) 2 2 2 2 20er ne 
Strümpell, Die zeitlihe Aufeinanderfolge der Gedanken. (143). . 7% 
Virchow, Ueber Nahrungs: und Genußmittel. 2. Aufl. (48)... ..- 80 
Eiendt, Sinneöwahrnehmungen und Sinnestäufhungen. (166) . . - .- . 60 
v. Wittich, Weber die Schnelligkeit unferes Empfinden und Wolleus. (60) 60 
Wolff, Die Mechanik des Riechend. (289) . . .. . en nn 75 


In den Beit- und Streitfragen erſchienen: 
VBermifchtes. 


(25 dert wenn auf einmal bezogen & 75 Pf. = 18,75 M. Auch 16 Heite und 
mebr diefer Kategorie nad Auswahl (wenn auf einmal bezogen) à 75 Bf. 
—— de Geheimmittel⸗ und unſittiichteite Induftrie in der Lages. 
reſſe .. 1.— 
ohl⸗ u liebithater in unferen Großſtädten. (61 ) — 
Dangehi, Die Verfälſchung des Bieres. Ein Wort an dad Reichöfangler- 


Amt. (100/101) . . 1.80 
Engel, Aus tem Pllanerſtzete Zulia. Kulturgeſchichtliche Steeiftiäter 
aus der Geaenwart. (146) 1.20 


Gätfchenberger, Nihilismus, Peiimismud und Beitfäment (169) .. 1 
ee Ueber die Fremdwörter im Deutihen. (106 
orwicz, Weſen und Aufgabe der Philofopbie, ibre Bedeutung für ve 
Gegenwart und ihre Ansfihten für die Zukunft. (78) . . 
Kirchner, Der Spiritidmus, die Narrheit unjeres Zeitalter, asejıen) . 2.— 
Kleinwächter, Zur Phüofophie der Mode. (129) . 1.— 
Laas, Zur Franenfrage. (184) . . ne. 80 
Zammers, Umwandlung der Schenken. (195) . . — 80 
Mannhardt, Die prakiiihen Zolgen des Aberglaubend, mit Sefonberer 
ea laueg der Provinz Preußen. (97/98). . . 
Meyer Fichte, Laſſalle und der Socialismus. (110/11). . 1.60 
Rippolb, DK egenwärtige Wiederbelebung des Herenglaubens. Mit 
einem "iteraritch ch⸗kritiſchen Anhang über die Quellen and Bearbeitungen 


4 Hexenprozeſſe. (57/58) 2.— 

eiderer, Der moderne Deifimisn 8. (54 /56) . 1.80 

8ler, Die matertaliftiihe und idealtftiiche Weitanſchanung. (13), . 1.40 
shwerin ’ Die Zulafjung ber Frauen zur Ausübung | des ärztlichen Be 

rufes. (131) . . 

Sommer, Die Religion deB Heffimismus. ( 199). een . 1.20 

Wittmeyer, Ueber die Leichenverbrennung. (ä). 00. . 1.20 


2,2 


d 





m — — — — — 2 


Sammlung 
gemeinverſtändlicher 


wiſſenſchaftlichet Vorträge, 


Herausgegeben dd 
Aud. Virchow und Fr, ‚von Beitenterf 


ln U — — — 0 00 OT 0. — - 


XX. Serie, 


(Heft 457 — 480 umfafiend.) 


Geft 463. 


Rer Ridyfer Horatius 


und feine Zeit. 


Bon 
Prof. W. Roeſch. 


Gh 


Berlin SW., 1885. 


| ' Verlag von Earl Habel. 


| (€. 8. Lüderitg'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wildelm-Btraße 33. 


8% ? 


Be Es wird gebeten, die anderen an des a zu beachten. ug Genaue 
halts-Merzeihuife der früheren 6 erien nnd Jahrgängen“ und 
neh „Wiffenfaften“ geordnet, And —* var Auhhandlung gratis 3m beziehen, 








In demfelben Verlage erichienen: 


SOPHOKLES’ TRAGÖDIEN. 


ERKLÄRT 
VON 


C. SCHMELZER, 


GYMNASIALDIRECTOR IN HAMM. 


ERSTER BAND: KOENIG OEDIPUS. 
ZWEITER BAND: AJAX. 


In möglichst rascher Aufeinanderfolge werden sodann aus- 
gegeben werden: 


Bd. III. Antigone. — Bd. IV. Electra. — Bd. V. Oedipus auf 
Kolonos. — Bd. VI. Philoctet. — Bd. VL. Trachinierinnen. 


Meber Band I. König Oedipus fagen: 
Die National:Zeitung In Nr. 172 vom 12. März: 


Eine urue Sophokles-Ausgabe. 


Wenn wir es fonft der Fachprefſſe überlaſſen müſſen, Schulbücher zur Anzeige 
zu bringen, fo möchten wir in Betreff des ſoeben erjchtenenen erften Bandes ber 
Sophokleiſchen Tragoödien. erflärt von C. Schmelzer, Gymnaflaldireftor in Hamm, 
eine Ausnahme machen, weil diefes für die Schule beflimmte Buch nad) zwei 
Richtungen bin einen erfrenitchen Fortſchritt zeigt, bezüglich des Inhalts ſowohl 
ald der Ausftattung. Mit Recht weift Schmelzer in der Einleitung darauf him, 
daß die Achtung vor dem Studium der Alten tin wiflenichaftlihen Kreifen mit 
den Fortſchritten der Sprachwiſſenſchaft nicht zugenommen habe, jondern zurück⸗ 
gegangen fei. 

Es ift eine Ausnahme, wenn ein dad Gymnafium verlaffender Schäler, der 
nicht Philologe werben will, die Schriftfteller, welche er in der Prima gelejen, 
nicht verkauft, eine Seltenheit, wenn ein Nichtphilologe auf der Univerfität fich 
einmal in ein philologiſches Kolleg verirrt. Wer trägt Daran die Schuld? Ohne 
Zweifel in erfter Linie die Art, wie vielfah anf unferen Schulen die Alten er- 
Härt werden. Kein Geringerer als F. A. Wolf hat einmal gejagt, es jet an ber 
Zeit, dab die Heyne'ſche Art, die Klaffiler der Griechen und Hömer zu erflären, 
einer popnlär-äfthetiichen Erflärungdweije weiche. Wie weit aber find audy heute 
noch mandye Philologen von einer ſolchen Art der Interpretation entfernt! Schon 
Ludwig Notre beflagt mit Recht in feinen pädagogiſchen Skizzen das Eindrillen 
und Abrichten auf die jogenannten rednerifchen und poetiſchen Figuren, deren 
Nanıen allein ſchon im Staude find, den ſchönſten Dichter dem Schüler gu ver 
Iciden und ungenteßbar zu machen. Wer nennt fie alle, die Synekdoche, Hendiadys, 


(3 


Der Vichter Horatins 


und ſeine Zeit. 


LT SL IL GIG GL 


Bortrag 


von 
Vıllalır 
D. Roſch, 


Profeſſor in Heilbronn. 


SP 





Serlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel, 


(€. 8. Lüdrritg'sche Berlagsbuchhendiung.) 
33. Vilhelm⸗Straße 33. 


Das Recht der Meberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





„Auguſteiſches/ und „perikleiſches Zeitalter" find ſprich— 
wörtlihe Benennungen geworden, mit denen wir eine Zeit der 
Blüthe und ded Glanzes in Kunft und Wiſſenſchaft bezeichnen, 
wie fie ſich im griechiichen und römischen Volk darftellte. Freilich 
unter fidh find beide, daS perikleiſche und das augufteifche, wieder 
fo verjchieden, wie dad Natürliche von dem Gemadhten, wie ber 
friiche, faft- und duftreiche Frühlingdtag von dem fonnig er- 
hellten, aber der lebendigen Schöpfungstraft entbehrenden Herbft« 
tag. Doch dürfen wir auch von dem angufteilchen Zeitalter 
keineswegs geringichäbig denken. Das nationale Leben Roms 
hatte feinen Höhepunkt erreicht, die ftäbtifche Vollkraft eines 
Gemeinwefene, das unerreicht in der Gefchichte bafteht an 
politifchen, rechtlichen und militäriichen Schöpfungen und Gr- 
folgen, hatte ſich ausgelebt, ed war nunmehr ein gänzlicher 
Umſchwung eingetreten, dad Stadtregiment war umgeformt 
zum Staat, der Reichögedanfe war übermächtig geworden und 
es war mothwendig dab, wie die Länder der Welt, fo 
auch die Bürger des Reichs und die Bürger der Stadt Rom 
einem Herm gehordten. Eine foldhe Zeit des Umfchwungs 
und des Nebergangs in der Geſchichte ift aber ganz bejonders 
reich an mannigfaltigem Leben. Und in diefem Leben fteht 
unfer Dichter mitten inne. Seine Geburt fällt in die Zeit, 
da noch, nicht bloß dem Namen nad, Senat und Voll von 
Rom die Geichide der Welt von den Säulen ded Herkules bis 
zum Kaukaſus und Euphrat in feinen Händen lenkte, fein Tod 
nur einige Sabre vor Ehriftt Geburt, da ſchon fängft, über 

X. 463. 


1* (219) 





' — — 


zwanzig Jahre, die Alleinherrſchaft ſich befeſtigt hatte. Er 
ſelbſt iſt mitten hinein getaucht in die Wogen der Stürme der 
Bürgerkriege, welche die zwanzig Jahre von 50 bis 30 vor 
Chriftus erfüllen; die Gegenſätze zwiſchen altrömiſchem Weſen 
und griechiſcher Bildung, zwiſchen den friedlichen Zuſtänden 
des Landmanns und dem unermeßlichen Lärm der Weltſtadt hat 
er perjönlich erfahren und durchgelebt. Und das Alles Ipiegelt 
fih wieder in feinen Gedichten, darum ift er der lebensvollite 
der römiſchen Dichter, welche uns erhalten find, und eben darum 
auch unferm modernen Geſchmack noch am meilten zufagend, 
und von jeher war ed Horaz, in welchem man die roͤmiſche 
Doefie verkörpert dachte. Zwar iſt ihm voraudgegangen ala 
Lyriker und Nachahmer der Griechen Catull, ein Zeitgenoffe von 
Gicero, zwar tft der größte Epiker Birgil fein Zeitgenofle, 
der an Wohllaut der Spradye und an Feinheit ded Versbaues 
unerreicht blieb, zwar ftehen ald Iyrifche Dichter neben ihm 
Tibull, Properz, Ovid. Aber von Catull it uns zu wenig 
erhalten und in dem Wenigen zu wenig von allgemein menſch⸗ 
lihem Gehalt; Virgil's epiiche Mufe ericheint uns gegen Homer 
zu wenig original; Tibull und Properz find theild zu ſehr im 
Geleiſe alerandrinifcher Gelehrjamteit feftgefahren, theils zu ein- 
jeitig in ihren Liebeselegien; Ovid ift zwar ein vieljeitiger Dichter 
und ein Versmacher von virtuofer Fertigkeit, aber ohne tieferen 
Gehalt, wo er Eigenes giebt, ja frivol und fchlüpfrig, und in 
feinen erzählenden Sachen ohne Begeifterung. Dagegen in Horaz 
finden wir alled was die Zeit und die damalige Welt, wie das 
einzelne Individuum bewegt, wiedergegeben, wir ſehen in fein 
innered wie in fein äußeres Leben hinein, wie von einer Warte 
auf beherrfchender Höhe in die Falten und Schluchten der Land⸗ 
Ichaft, und ed ift ebenfo anziehend, wie er die Welt um fich 


darftellt als wie er fein eigenes Bild und Weſen zu erfennen giebt. 
(22V) 


5 


Geben wir nun zunächit einen kurzen Abriß feines Lebens, 
fo bemerken wir daß er, wie fein berühmter Zeitgenoffe Birgit, 
wie Dvid und SProperz fein geborener Römer, db. h. fein 
roͤmiſches Stadtfind war, fondern aus dem apulifchen Städtchen 
Venufia, wo fein Bater ein Gütchen befaß, gebürtig und von 
geringer Herkunft. Sein Vater gehörte dem Stande ber Frei- 
gelafjenen an und betrieb dad Gejchäft eined untergeordneten 
Kaffenbeamten. Sein Geburtötag ift der 8. Dezember 65 v. Chr., 
geftorben ift er im Alter von 57 Sahren am 27. November des 
Sahres 8. Bon feiner Kindheit erfahren wir aus einzelnen 
Andeutungen, daß er in der ländlichen Idylle ſeines Geburts⸗ 
orted gern in Flur und Hain fchweifte, und feine in fpäteren 
Jahren fo oft und fo herzlich bezeugte Freude an der Natur 
und am Landleben bekräftigt diefen Zug. Aber allzulange 
durfte er fich der Ländlichen Ungebundenheit nicht freuen, fein 
Bater 303 bald mit ihm nah Rom. So erzählt er felbft:*) 


Alles dan? ich dem Vater, der arm auf magerem Gütlein 

Nicht in des Flavius Schule mich jchidlen wollte, zu welcher 

Die großmächtigen Buben großmächtiger Senturionen, 

Ueber ben linten Arm die Tafel gehängt und das Käſtchen, 
Gingen, an Schulgeld je drei Grofchen des Monats erlegend; 
Sondern er führte den Knaben nah Rom hin, dab er die Künite 
Lernte, wie fie die Herrn vom Senat und vom Stande der Ritter 
Lafjen die ihrigen lernen. Wer Kleidung und Dienergefolg' ihm 
Unter der Menge bes Volkes bemerkte, mochte im Wahn fein, 
Daß ben Aufwand der Väter reichliches Erbe beftreite. 

Er ging felber zugleich als unbeftechlichiter Wächter 

Hin zu den Lehrern mit mir, er bewahrte dem Knaben Die Keufchheit, 
Welche der Tugend frühefter Schmud, er hielt mir bie Hände 
Rein von fündiger That und ben Namen von jchimpflicher Nachred'. 


Zur weiteren Audbildung begab er fi dann nach Athen, 


welches die hohe Schule für die vornehme Jugend Roms war. 
" (321) 


6 


Aus der friedlichen Beichäftigung mit der Wilfenfchaft und dem 
heiteren Studentenleben riß ihn die Furie ded Krieges heraus, 
Brutus, der Säfarmörder, warb unter den Studenten Athens 
Freiheitäfämpfer gegen Antoniud und Detavian. Auch Horaz 
trat in ihre Reihen ein, erwarb fidh den ehrenvollen Rang eines 
Kriegdtribund und begleitete zwei Jahre den Brutus auf feinen 
Zügen in Griechenland und Afien bis zur Schladht bei Philippi 
im Jahre 42, welche den Triumpirn ben Sieg in die Hand 
gab. Hiemit war die militäriiche Laufbahn unſeres Dichters 
zu Ende, er entkam fliehbend aus der Schlacht und kehrte 
amneitirt nah Rom zurüd. 
Auch dieje Erlebniffe erfahren wir von ihm jelbft, wenn er 
einem Freunde zuruft:?) 
Du ſah'ſt Philippi's Tag und die rafche Flucht 
Mit mir, des Schildlein leider verloren ging, 
Als Mannesmuth hinſank und unfre 
Helden den blutigen Boden küßten. 
Und ausführlicher in den Briefen:?) 
Sa, ih dank ed dem Glück, daß Rom mid) erzog und mich lehrte, 
Welches Verderben gebracht den Achäern der Zorn bed Achilles. 
Mehr noch fchenkte Athen in der Kunft und höheren Bildung, 
Daß es zur Luft mir wurde von Krummem Gerades zu fcheiden 
Und in dem Hain der Akademie zu forfchen nach Wahrheit. 
Aber dem lieblichen Ort entführten mich grimmige Zeiten 
Und mid Frieblichen riß der Parteien Wuth zu den Waffen, 
Denen vor Cäſar Auguftus Arm zu beftehen verjagt war. 
Als mich fodann der Tag bei Philippi nach Haufe entlaffen, 
Klägli die Flügel geftußt, inzwifchen verluftig des Gütchens, 
Das ih vom Vater ererbt, da trieb mid die Armuth, die breifte, 
Daß ih aufs Dichten mid) legte. 
Die lebten Worte wollen nicht fagen, daB er um's Geld 
dichtete, denn Honorare waren damald von Seiten der Bud)» 
händler und Berleger nicht üblich (wie ed ja heutzutage noch 


(222) 


7 


manchmal, zumal lyriſchen Dichtern widerfahren fol), nur von 
Seiten eined Goͤnners Tonnte man Geſchenke für Dichtwerke 
befommen. Horaz ment alfo nur ſoviel damit: Die Noth 
feßte midy weg über die Bedenken, weldhe einen jungen Mann 
ohne Anhang nnd Empfehlung zurüdhalten, offen bervorzutreten 
und nöthigenfalld anzuftoßen; ich mußte mich auf eigene Yauft 
geltend machen. Zu feinem Erwerb machte er die Dichtkunft 
nicht, vielmehr Taufte er fich Die Stelle eines Schreibers, d. h. 
eine8 untergeordneten Beamten in der Kanzlei eined Quäſtors 
oder Finanzdirektors; er wollte nicht zu den Glücksrittern, 
Abentenrern, Schmarotern zählen, von denen er und fo er- 
göbliche und komiſche Bilder malt, er wollte einen ordentlichen 
Stand und Beruf haben. Die Mußeftunden, welche ihm diefer 
übrig ließ, füllte er dann mit Dichten aus. Seine früheften 
-Dichtungen ftehen in der Sammlung der Satiren und Epoden. 
Bald fanden feine Berje Beachtung, man lobte die Gewandheit, 
womit Spradye und Metrum behandelt war, man ergößte fich 
an dem heiteren Ton und den derben Späßen, man ftaunte 
über die Kühnheit feines Auftretens und über die Feinheit feiner 
Beobachtung, man war ergriffen von dem patriotiihen Ernft 
feiner Gefinnung. Die gleichen Beftrebungen führten ihn bald 
mit anderen Dichtern, Virallxcchd Varius zuſammen, welchen 
beiden er in wenigen, aber von der echteften Freundichaft biktirten 
Berjen ein Denkmal gefebt hat: 

— — zwei Seelen, wie reblicher ſolche 

Niemals die Erde trug, und mir wie Peinem verbunden.*) 

Dieje aber, dem litterariich-äfthetiichen Kreis, welcher ſich 
um den römijchen Ritter Mäcenas, einen vertrauten Rathgeber 
bes Auguftus, jammelte, angehörig, empfahlen ihn diefem ſprich⸗ 
wörtlich gewordenen Gönner aller fchöngeiftigen Beftrebungen, 


dem anerlannten Meifter der feinen Bildung und Gefellichaft. 
" (393) 


8 


Sa, kein Zufall — fagt ers) — bat dich mir geſchenkt, ber eble Virgilius 
Hatte und Barlus dir, was an mir fie fanden, berichtet. 

Als ich vor dir erjchien, da ftammelt ich wenige Worte, 

Denn die verlegene Scheu verbot mir Mehres zu fagen. 

Nicht mit erlauchtem Geſchlecht werjucht ich zu prahlen, und daß ich 
Auf andalufifchen. Roß weitreichende Güter umreite, 

Sondern id ſprach wie e8 war. Du erwiberft nad deiner Gewohnheit 
Wenig. Ich geh. Neun Monate fpäter läßt du mich rufen, 

Nimmſt in der Deinigen Kreife mich auf. Das ift mir ein Großes, 
Dir zu gefallen, der ftreng das Niebrige fcheidet vom Edlen, 

Nicht durch hohe Geburt, durch Reinheit des Lebens und Herzens. 

Hiermit war nun allerdings, wie wir fagen, fein &lüd 
gemacht, er hatte einen Kreis von bochgebildeten Männern der 
feinen Gefellichaft, gleichftrebende Genoffen gefunden, welche die 
neue helleniſche Bildung hoch hielten und deren Einbürgerung 
und Audbreitung auf römifchem Boden zu ihrer Aufgabe machten. 
Denn nur von dorther, dad war dem Horaz Ariom, hatte Rom 
feine höhere Bildung zu empfangen, wie er in den bekannten 
Verſen fagt:°) 

Hellas bat, das beflegte, den Sieger erobert, dem rohen 
Latium Künfte gebracht und Geſchmack. 

Die Gunft feines hoben Freundes erlaubte ihm bald feine 
amtlihen Sorgen auf bie leichte Achſel zu nehmen und fich ber 
vollen Muße zu freuen, wie er das jo köſtlich in der 6. Satire 
des 1. Buches ſchildert: 


— — — Bohin mir beliebet, 

Schlendri ich einfam herum, erfrage was Korn und Gemüfe 

Koften, ducchichweife bes Abends den Markt und wag’ in des Circus 
Mich, des verrufenen, Hallen, betrachte die Gaukler und Tehre 

Heim zu ber Schüffel voll Erbjen und Lauch und gebadenen Kuchen. 
Bloß drei Burſche bedienen den Tiſch, die fteinerne Platte 

Trägt zwei Becher mit Schöpfer, daneben fteht ein gemeiner 


Miſchkrug, Opfergeräthe von Thon, kampaniſche Waare. 
(334) j 


9 


Und dann leg' ich mich nieder, beruhigt, daß ich am Morgen 

Frühe heraus nicht muß, zum Markt und zur Boͤrſe zu laufen, 

Liege herum bis zehn, fpaziere dann ober ich leſe, 

Schreibe auch wohl, was mir Spaß macht, falbe mit Del mich und turme. 
Bin ic) ermübet und treibt die ftechende Sonne, die Bäber 
Aufzufuchen, verlaß’ ich das Spiel auf dem ftaubigen Marsfeld. 
Drauf ein mäßiger Imbiß, nur foviel daß nicht der Magen 

Kuurrend verwünfce den Tag, dann pfleg’ ich ber häuslichen Ruhe, 
Diefed nenn’ ich ein Leben befreit vom läftigen Ehrgeiz. 

Vollends aber ift das Maß feiner Wünſche erfüllt, fein Herz 
freudigen Dankes vol, als etwa 5 bis 6 Jahre nady feiner 
Aufnahme in die Tafelrunde des Mäcenas der hohe Gönner 
ihm ein eigen &ütchen, das vielgefeierte Sabinum, fchentte. 
Diefes — ruft er aus?) — war einft mein fehnlichfter Wunſch, ein 

befcheidenes Stückchen 
Ader, ein Garten dabei und beim Haus ein lebendiger Brunnquell, 
Drüber hinaus noch ein wenige Wald. Nun haben's die Götter 
Reicher und befjer gefügt. Wohl mir! So fleh ich denn eins nur, 
Daß bu, Mercurius, mir das Beſchiedene gnädig erhalteft. 

An einer andern Stelle?) nennt er ſich „reih an Schäben 
ein armer Mann": 

Mein Elar ftrömender Bach, wenige Morgen Wald 
Und mein immer getreu lohnendes Saatgefild’ 
Sind ein feliger Los als es der Reiche Fennt, 

Der mit Afrika's Fluren prablt. 


und: 
— — — Reiter will 
Sch nichts vom Himmel, reichre Gabe fordre 
Ich vom hohen Freunde nicht, 
Durch mein Sabiner Gütchen überglüdlich.?) 
Bon nun an brachte der Dichter feine Zeit in angenehmer 
Abwechslung bald in Rom im Verkehr mit Mäcenad umd 


feinen Bertranten, bald anf dem gepriefenen Landgut zu, ohne 
(335) 


10 


fih in irgend eine dauernde Lebensftellung binden zu laſſen. 
Durch Mäcenad wurde er auch dem Auguftus befannt, weldyer 
ihn an feinen Hof ziehen und an feine Perfon feffeln wollte, 
er bot ihm bie Stelle eined Geheimfchreiberd an. Uber der 
Dichter wagte ed auch gegen foldhe hohe Gunft feine Unab⸗ 
hängigkeit zu behaupten und lehnte dantend ab. Es gereicht 
beiden gleich jehr zum Ruhme, daß dadurch doch Feine gereizte 
Stimmung, feine Spannung nnd Entfremdung entftand, fie 
blieben in perjönlidem und fchriftlidem Verkehr, und ind 
befondere für Horaz ift ed um fo unverfänglicher und vorwurfs⸗ 
freier, wenn er in feinen Oden auf Auguſtus ben Regenten, 
nicht den perjönlichen Gönner preif. Mit Mäcenas blieb er 
beinahe im buchitäblichen Sinne bis zum Tode vereint, er 
überlebte denjelben nur ganz kurze Zeit, ſodaß erfüllt wurde, 
was er dem Freunde gegenüber gelobt: 

Du Hälfte meines Sch, wenn ein früheres 

Geſchick dich riefe, könnt' ich, Die andere, 

Noch fäumen, halb an Werth, ein halbes 

Leben noch tragen? Cr trifft uns beide, 

Der eine Zag. Sch Lüge dir nicht, es ift 

Mein Sahnenihwur: im nämlichen Schritt und Tritt 

Solg’ ich dem Vormann und wir wandeln, 

Treue Genofien, die legte Reife.10) 

Es bleibt noch nadyzutragen, da Horaz nie verbeirathet 
war, ob ed befondere traurige Erfahrungen waren, welche ihn 
davon abhielten, oder die allgemeinen Zuftände der Frauenmelt, 
oder feine mehr zur Freundichaft und zur Geſelligkeit ald zum 
Familienleben geneigte Natur, erfahren wir nicht. 

Was daß Aeußere unfered Dichterd betrifft, jo wiffen wir, 
daß er von Heinem Wuchje war nnd in jpäteren Sahren wohl» 
beleibt, er hatte ſchwarze Gluthaugen und ſchwarzes Haar, 
welches in früheren Sahren in dichten Loden die Stim um- 
(236) 





11 


rahmte, aber früh ergeaute. Seine Gefundheit war feine feite, 
Nervenleiden und Gichtfchmerzen haben ihn öfter heimgeſucht 
und vielfach geplagt. Dem Temperament nach war er ſanguiniſch, 
raſch und feurig, bewegt und reizbar, ja zornmüthig, aber auch 
leicht wieder verjöhnt. Seine Begabung war eine vieljeitige: 
mit offenem hellem Auge fchaute er in die Welt um ihn ber, 
ein ſcharfer Berftand ließ ihn frühzeitig die Zeichen der Zeit, 
die Zuftände der Gefellichaft, das Treiben der Menichen durch⸗ 
Ihauen. Mit derjelben Klarheit erkannte er fein dichteriſches 
Bermögen und die Grenzen defjelben: weniger eine überquellende 
Dhantafie ift e8 und erhabener Schwung der Gedanfen, was 
ihm die Muſe verliehen, ald ein freundliches Gemüth voll edler 
Empfindungen, ein liebenswürdiger Humor, neben tiefem 
fittlihem Ernſt ein heiterer Sinn, offen für die Freuden des 
Lebens und für das Spiel des Scherzed, ein feiner Geift voll 
Geſchmack für das Angemefjene und Schidlidhe im Leben wie 
für die Formen der Kunft und den Wohllaut der Dichtung. 
Nicht dem folgen Fluge des Schwand vergleicht er fich, fondern 
„dem Bienlein ähnlich geartet”, jagt er:11) 

Das um Tiburs Ichattigen Hain am feuchten 

Ufer ſchwebt und duftigen Thymian jammelt, 

Form' ich mühſam nur und befcheibenen Fluges 

Kleine Geſänge. 

Ehe wir nun des Dichters Schaffen und Schöpfungen des 
näheren betradyten, wollen wir einen Blid werfen auf das 
damalige Rom.!?) Wie die Stadt felbft zur Weltftadt geworden 
war, einer Stadt der Herrichaft und Triumphe, der Denkmäler, 
Zempel und Paläfte, jo war auch das Leben in derjelben das 
Treiben einer Weltftadt, ein Kärmen und Wogen, ein Rennen 
und Sagen, dad wiederholt dem Dichter Seufzen und Klagen 


andpreßt, wenn er z. B. ausruft: 
(297) 





12 


O mein Land! warn werd’ ich dich Schauen? Wann wird mir vergönnt fein, 
Nun aus Schriften der Alten und nun aus Träumen der Muße 
Süßes Bergeffen der Welt und ihrer Beichwerden zu faugen?ı3) 

Und ein andereömal: 
Willſt du, daß ich in dem Lärm, der bei Nacht wie bei Tage fi austobt, 
Dichte und folge dem fchmalen Pfade der Sänger? Ich jollte 
Mitten im Stürmen und Drängen der Hauptitadt finden die Stimmung, 
Worte zu fügen zum Lieb, dad die Klänge der Xeier begleiten? 

Dem joll ih Bürge fein, den leſen hören und alles 

Liegen lafjen und ftehn, der Liegt erfrantt am Quirinus, 

Jener am Aventin, fie beide wollen befucht fein. 

Nicht wahr, recht anitänd’ge Entfernungen? Aber vielleidht find 

Offen die Gaffen und leer, daß dem Sinnenden nichts in ben Weg kommt? 
Sa, wo. Efel und Karren zur Eile treibet der Bauberr, 

Bald einen riefigen Balken, bald mächtge Quader der Krahnen 

Hebt; bald ringt ſich ein Leichenconduft durch maſſiges Fuhrwerk; 

Hier raft wüthend ein Hund, dort ftürzt ein kotiges Schwein ber! 

Da geh einer nun bin und erfinne wohlllingende Verſe!10) 

Wie die Schäbe der Welt, fo ftrömten auch die Bewohner 
der jämmtlichen Provinzen, der unterthänigen und verbündeten 
Länder in die Stadt zufammen. Hierher kamen nicht bloß 
Gefangene und Sklaven aus allen Himmelögegenden, hierher 
wendeten fidy aus Stalien und aud den Provinzen aufftrebende 
Geifter, Anerlennung und Lohn juchende Talente, nicht minder 
aber auch abenteuerndes Volk, dad irgendwie Unterhalt und 
Glück bier zu finden hoffte. Wie aber verhielt es fidy mit der 
einheimiſchen Bevoͤlkerung und befonderd mit den höheren 
Klafien, den höchſten Ständen? Wir ftehen in der Zeit, da 
die fchon länger vorbereitete Monarchie zur Thatjache geworden 
war, die Macht, die einft beim Senatus Popuhisque Romanus 
geweſen, lag jebt fattiih im der Hand des Cäſar, er war 
der Bertreter des fouveränen Volks und als folder eine 


geheiligte Perfon, er war Inhaber der bewaffneten Macht, 
(228) 


13 


weiche in den Unteribanenländern die Herrfchaft aufrecht hielt, 
er der Borfibende und Leiter des Senats. Die republifantichen 
Sormen dauerten fort, aber fie waren zur bloßen Form geworben, 
ihre8 Inhalts entleert. Der Kaifer war ed, von deflen Gunft 
oder Abgunft Werth» oder Geringſchätzung, Nuten oder Nachtheil, 
die Crlangung oder der Berluft von Macht und Ehren abbing. 
Trotzdem, und vielleicht eben darum, war das Standes» 
bemwußtfein, der Hochmuth und Stolz auf ben Beſitz alter 
Meberlieferungen von Rang und Würde größer ald je. Wenn 
ihon der Vollbürger von Rom, da8 eigentliche römijche Stadt» 
find mit Geringfchätung herabſah auf die Fremden, zumal die 
Ausländer, troßdem daß das roͤmiſche Blut allmählich durch 
bie vielen Freigelafienen und unzählige Zugewanderte ftarf 
entfärbt war, fo ragte der Stand der Senatoren wie 
Grafen und Fürſten über die Menge, und Auguftus war Eng 
genug, diefen Standesgeift durch vielfache Nüdfichten und 
Shrenerweilungen zu ſchonen und zu hegen. Immer noch war 
dad Confulat mit feinen Abzeichen, der Purpurtoga, den zwölf 
Amtöhoten mit den Stäbebündeln, dad erjehnte Ziel des Ehr⸗ 
geized, die Ahmenbilder, welche die Empfangsjäle der Großen 
ſchmückten, das unvergleichliche Prä eines vornehmen Haufe. 
Aber nicht bloß dieſe idealen Vorzüge waren ed, welde den 
Senatorenftand audzeichneten, ed gehörte auch ein großartiges 
Vermögen dazu, um benjelben würdig zu repräfentiren; mer 
nicht weiter ald eine Million nad, unferem Geld zu verzehren 
hatte, galt für einen mäßig Begüterten. Ald Männer bes 
Geldes fanden neben den Senatoren die Ritter, längſt ſchon 
nur noch traditionelle Inhaber dieſes Namens: nur wenige 
hielten noch an dem Brauch, jährlih einmal zur Mufterung 
vor dem Imperator in vollem Ritterſchmuck auf’8 Kapitol zu 


reiten. Während aber die Senatoren eigentliy nur von ihren 
(229) 


14 


Revenüen lebten oder leben follten, von den großartigen Land⸗ 
gütern (Latifundien), welche allmählich mit ihren Stlavenherden 
den freien Bauernftand nicht bloß in Italien, fondern auch in 
den Nachbarländern, Sizilien, Afrika ganz verbrängten, war der 
Nitterftand derjenige, welcher das Geld umtrieb. Großhandel 
und Börfe, die Pachtung von Zöllen und Steuern, Altien- 
geſellſchaften und Lieferungen waren ihre Beichäftigumg und die 
Duelle ihrer Reichthümer. Ein unabhängiger Bürgerftand von 
fozialer und vollends von politifcher Bedeutung eriftirte neben 
diefen priviligirten Ständen nicht, e8 war die Menge überhaupt, 
weldye zum Theil, wie meiftend die Freigelaffenen und Fremden, 
Gewerbe und Kleinhandel trieb; der echte Römer aber trieb von 
jeher feinerlei Hantirung, fie galt als ſchmutzig, nur bie 
Beihäftigung mit deu Waffen und Aderbau war eined freien 
Manned würdig. Alled andere war für die Sklaven, und deren 
waren num auch in den reichen und vornehmen Häufern uns 
zählbare Schaaren. Ein kleiner, beicheiden für ſich lebender 
Mann wie Horaz hatte bei Tiſch zu feiner Bedienung drei 
Sklaven (j. oben ©. 8 u. ). Kein Wunder, daß jo auch unter den 
Unbemittelten die Zahl derer in Rom, welche feine eigentliche 
lohnbringende Arbeit thaten, Legion war. Yür diefe forgte die 
Staatskaſſe mit Getreideauötheilungen zu fpottbilligen Preifen, 
und ihren Antheil an dem Genußleben der Hauptftabt lieferten 
die Spiele: panem und circenses, „wohlfeiles Brod und Spiele“ 
war bie Zofung der Menge. 

Je mehr aber einerjeitö durch bie Erfahrungen ber Bürger: 
friege und nady deren Beendigung durch die veränderte Staats⸗ 
form vielen Höberftehenden das öffentliche Leben, früher das 
Hauptfeld der männlichen Thätigfeit, entwertbet und entleidet 
war, andererjeitd durch die Verbreitung griechiſcher Bildung 
und feiner Sitte, ſowie durch die ungeheuren Reichthümer, 


(330) 


15 

weldye die Mittel dazu boten, alles was zum Schmud bes 
Lebens gehört ungemein an Werthſchätzung genommen hatte, 
um fo mehr warf fi dad Intereffe und das Streben auf 
andere Gebiete. So wurde Unterhaltung und Genuß neben 
Geld und Befit der Inhalt und Zwed des Lebens. Genüffe 
und Unterhaltung aber waren bald materieller bald mehr geiftiger 
Natur. Bon dem materiellen Treiben der Zeit tft auf allen 
Blättern unſeres Dichterd die Rede, das Jagen nach Bei und 
Geld, die Habgier und Genußſucht, der Luxus der Bauten und 
der Mahlzeiten bilden neben dem eitlen Trachten nach Außerer 
Ehre einen ſtets wiederlehrenden Stoff feiner Klagen umd feines 
Spotted. Der Schauluft dienten die öffentlichen Spiele, Hechter: 
fämpfe, Wagenrennen im Circus, Aufführungen im Theater. 
Wie wenig dad lebtere fi auf der Höhe des Geſchmacks befand, 
davon entwirft Horaz ein gelungenes Bild:13) 


Auf vier Stunden und mehr wird niedergelaffen der Vorhang, 
Während zu Fuß und zu Roß Gewappnete über die Bühne 
Sagen und Könige man mit gefefjelten Händen dahinfchleppt, 
Kutſchen und Laftfuhrwerk, Kriegswagen und mächtige Schiffe, 
Schimmerndes Elfenbein und die Beute eroberter Städte. 

Lebte Demokritud noch, er müßte lachen zu jehen, 

Wie das Zwittergeihöpf die Giraffe oder ein weißer 
Prachtelephant anzieht die Augen ber gaffenden Menge, 

Würde noch aufmerkjamer das Volk als die Spiele betrachten, 
Weil ihm jened zur Schau mehr böte als irgend ein Spieler. 
Aber der Dichter, dad wär ihm ein Thor, der Märchen den tauben 
Ohren des Ejels erzählt. Denn welche Stimme vermöchte 

Zu übertönen den Lärm der unfre Theater erfüllet? 

Aerger branjet der Wald nicht im Sturm und die Brandung des Meeres 
Als das Getöf im Theater, wo Spiele man ſchaut und der Künfte 
Werk' und die Schätze ber Fremde: erjcheint mit ſolchen beladen 


Auf der Bühne der Held, dann klatſcht in die Linke die Rechte. 
(281) 


16 


„Dat er geiprocdhen bereits?" Kein Wort. „Was alſo beklatſcht man?“ 
Ad! den prächtigen Stoff, die veildenfarbige Wolle! 

Der gejellige Verkehr war ein außerordentlich belebter, man 
traf fi im Theater und im Circus, auf den Öffentlichen Plaͤtzen 
und in den Hallen, auf dem Marsfeld und ganz befonders In 
ben Bädern, welche in den Nachmittagsſtunden vor der Haupt- 
mahlzeit der allgemeine Sammelplah der Männerwelt waren. 
Aber den Mittelpunkt der Gejelligfeit bildeten die Gaftmähler. 
Die Hauptmahlzeit, etwa um drei Uhr Nachmittags beginnend, 
wenn die Geſchäfte des früh begonnenen Tages beendigt waren, 
vereinigte nicht bloß die Angehörigen des Hauſes, jondern auch 
Freunde und Belannte, eingeladene und ftehende Bäfte zu behag⸗ 
licher Unterhaltung. Das Geſpräch drehte fi) hauptſächlich um 
die Neuigkeiten ded Tages: Creigniffe der Stadt, Nachrichten, 
die aus dem weiten römijchen Neich einliefen, wurde mitgetheilt, 
pikante Geſchichten von bekannten Perfönlichkeiten der Geſellſchaft 

„erzählt, die Aufführungen im Theater und in ben Spielen und 
die Helden und Sieger in denfelben wurden beiprochen und 
fritifirt. Aber auch geiftige Anregung und Genüſſe wurden 
geboten, Borträge von Gelehrten und Dichtern, muftfaltiche 
und theatraliiche Aufführungen. Denn auch die tdealeren DBe- 
ftrebungen fanden eifrige Pflege. Die Litteratur, indbejondere 
die Poefie, wurde Mode, einer der böchftgeftellten Männer 
feiner Zeit, Afinius Pollio, war felbft vielfeitiger Dichter, um 
den Minifter Meſſalla jammelte fich ein Kreis von Schöngeiftern 
und Poeten, darımter Zibull, ein anderer um Mäcenas, in 
welchem außer Horaz der Lyrifer Properz, der Epiker Birgil, 
der Zragifer Varius hervorragten. Auguftus felbft war ein 
eifriger Verehrer der Dichtlunft, namentlich des Dramas. Kein 
Wunder, daB durch foldhe Gunft und Theilnahme auch die Zahl 
der Dichter jeglicher Art ungemein zunahm. So fagt Horaz:1°) 


(232) 


17 


Wie bat das Volt ſich verändert, wie glühen alle von einem 
Eifer Verſe zu machen! So Knaben wie würdige Väter 
Giehft du befränzt um die Wette bei Tiſch Gedichte verlefen. 
Alle zumal, jo Laien wie Kenner, machen in Berjen. 

Wie leicht fichs freilich manche Dichterlinge machten, zeigt 

ein Beilpiel aus den Satiren. Da lommt einer ber: 
— — — 68 gilt eine Wette! 
Nimm du ein Blatt Papier, id auch eins, laß uns beftimmen 
Drt und Stunde, fowie Preisrichter: wir wollen doch jehen, 
Welcher von beiden verfteht mehr hinzufchreiben in furzem! 17) 

Bald ballten De Säle der Bibliothefen, die Hallen des 
Marktes wie die Bäder wieder von Borlefungen in allen 
Zonarten. 

Diejeß Treiben der Hauptftadt hatte Horaz mit feinem 
feinen und jcharfen Auge ſchon früher mit angefjehen, zurüd- 
gelehrt aber aus feinem Feldzug und um viele Erfahrungen 
reicher fand er bald durch feinen Berfehr in den höheren Kreiſen 
noch mehr Gelegenheit zu vielfeitigen Studien. Und dieſes 
bunte Bilderfpiel fpiegelt fih nun hauptjächlih in feinen 
Satiren, welde neben den Epoden feine früheiten Gedichte 
enthalten. Mit dem Wort „Satire” dürfen wir namlich nicht 
bloß die gewöhnliche Bedentung „Spottgedicht” verbinden. Das 
ift eben nur ein Theil, wenn auch der überwiegende, der horazi- 
ſchen Satire. Es find eher, was wir Bilder und Skizzen 
nennen würden aus dem Leben ber Gegenwart, den fittlichen, 
gejellichaftlichen und litterarifchen Zuftänden der Zeit, mobei der 
Blick des Dichterd gern auf einzelne Vorgänge, Beifpiele hin- 
gerichtet ift, um durch Lachen zugleich zu ergößen und zu be» 
lehren. Denn, fagt er,1®) fo bat mich mein Vater gewöhnt, 
Daß ich die Lafter, mir Beifpiele merfend, vermeide. 

Wenn er die Mahnung mir gab, jparjam und mäßig zu leben, 


Bern mid) begnügend mit dem, was er mir ſorglich erworben, 
XX. 463, 2 (233) 





18 


Hieß ed: „Sieheft du nicht, was Barrus doch für ein elend 

Leben führt, der verarmte? Das lehrt Dich das Erbe des Vaters 
Nicht zu vergeuden.“ Bezweckt' er mich von fehimpflicher Liebichaft 
Abzufchreden, jo warnte er: „Gleiche doch nicht dem Scetanus!“ 
Früh ſchon gab er mir goldene Regeln fürs Leben, und hieß er 
Diefes mi) thun — „da baft du ein Beifpiel, alfo zu handeln“, 
Sprad er und nannt’ aus der Zahl der erlefenen Richter mir einen, 
Oder verbot er etwas — „wie kannſt du zweifeln, ob ſolches 
NUnehr bringe und Schaden? Du fiehft wie garftige Nachred’ 

Den und jenen verfolgt.” 

So giebt und Horaz in den Satiren bald einen launigen 
Bericht von einer Reife, die er in Gejellihaft des Mäcenas und 
feiner Freunde machte; bald fchildert er feufzend Die Leiden und 
Dlagen ded hauptftädtiichen Lebens mit all den Feſſeln, welche 
Höflichkeit und Sitte anlegt; bald preift er im Tone ber aufs 
richtigften Freude und Sehnſucht die Beichäftigungen und Unter- 
bhaltungen, den ftillen Frieden des Landlebens; bald fertigt er 
im ftolzen Bewußtlein der eigenen Würdigfeit feine litterariichen 
und perjönlichen Gegner ab, welche ihm, dem Emporkoͤmmling, 
die Freundfchaft des Mäcenad und feine rafchen Erfolge nit 
gönnen; bald erzählt er gemüthlich, wie fein Vater um die Er⸗ 
ziehung bed Sohnes fich bemüht und einen braven Menichen 
aus ihm gemacht habe. Bald geihelt er den eitlen Wahn feiner 
Zeitgenofjen, weldye niemals Ruhe finden mit ihren Begierden 
und Wünſchen, oder etfert mit beibendem Spott gegen die Thor» 
beiten der Lebemänner, zumal gegen den unfinnigen Zafellurud, 
ſchalkhaft dabei verratbend, wie bis ins kleine Detail er mit 
diefen Herrlichleiten vertraut war, aber eben ferne davon, auf» 
zugehen in foldhen niederen Genüffen; bald erzählt ex ſpaſſige 
Sabeln von der Hafelmaus und dem Wiefel, von dem Hirich und 
dem Pferd, von der Stadtmaus und der Landmaus; bald ftellt 


er ftadtbelannte Typen von abfonderlichen Leuten auf, bärbeißige 
(234) 


19 


Suriften, herumgehend, weldyen fie verichlingen, Lieberliche junge 
Herren, Die zum Spott der Leute geworben find, zerlumpte 
Philoſophen, die den Sittenprediger machen; bald befchwört er 
gar die Schatten der Unterwelt, um durch ihren Mund fund 
zu thun Die geheimen Schlidhe und Schledhtigkeiten, wie man 
zu Dermögen und Reichthümern gelange burch glüdlihe Erb⸗ 
ſchaften. 

In dieſelbe Gattung beſchreibender und lehrhafter Gedichte wie 
die Satiren gehören die Epiſteln, welche aber aus der ſpäteren 
Zeit des Dichters ſtammen und vor jenen die gefeiltere Form 
und einen gedankenvolleren Inhalt voraus haben. Es ſind 
theils wirkliche Briefe in gebundener Form, eigentliche Gelegenheits⸗ 
gedichte, mitunter ausgezeichnet durch den feinen Takt, womit 
ſchwierige perſoͤnliche und geſellſchaftliche Fragen behandelt ſind; 
aber meiſt find ed nur an beſtimmte Perſonen adreifirte allge⸗ 
meine Betrachtungen namentlicy moralifchen Inhalts. Mit un» 
ermädlichem &ifer weift der DBerfaffer von immer neuen Ges 
fichtspunkten hin auf daB eine, was noth thut, eine Gemüths⸗ 
verfafjung, welche in fich felbft, im inneren Werth des Menſchen, 
in edler Geiftesbildung und Streben nach perjönlicher Leidenſchaft⸗ 
lofigkeit den Srieden und dad Glück der Seele findet. Aber es tft 
nie der trodene Predigerton, in welchem das vorgetragen wird, 
ftetö beleben folche Betrachtungen und ernfte Anweifungen zur 
Lebensführung wirkſame Beiſpiele, ſchelmiſche Bemerkungen, wobei 
er mit liebenswürdigem Humor auch fidh felber nicht fchont, geift« 
volleBilder, feine Winke, epigrammatijch zugeſpitzte Schlüfle, ſodaß 
man immer den Dichter fieht, der durch das Spiel der Phantafie 
auch trodenen Materien Reiz und Anmuth zu verleihen weiß. 
Die zweite Hälfte dieſer Epifteln befhäftigt fich ausſchließlich 
mit litterarifchen Dingen und enthält Betrachtungen und Urtheife 


über die Entwidelung der griechiſchen und römischen Poefie und 
g* (235) 


20 


die Unterfchiede Beider, durchweg mit Wärme dei Grundfak 
vertretend und durchführend, daß die römifche Litteratur auf die 
echten Mufter der Haffiichen Griechenzeit zurüdgehen und von 
ihnen namentlich die Vollendung der feinen Form zu lernen 
hat. Der lebte Brief ift geradezu befannt unter dem Titel 
„über die Dichtkunſt“. 

Ein Beilpiel von dem feinen Takt im Verkehr mit Hoch» 
geftellten giebt der Brief (I, 9) an den Prinzen Tiberius Nero, 
den ſpäteren Kaiſer: 

Wirklich, Septimius einzig allein muß wiſſen, wie hoch Du, 

Claudius, denkeft von mir. Denn da er mit Bitten mir anliegt, 

Daß ich ihn Dir ſoll loben und Dir empfehlen als würdig 

Neros, deſſen Geſchmack, was edel iſt, um ſich verſammelt, 

Weil er vermeint, ich zähle bei Dir als näherer Hausfreund, 

Weiß er mehr als ich ſelber von mir und meinem Vermögen. 
Mancherlei wendet' ich vor, mich loszumachen mit Anſtand, 

Aber ich ſcheute den Schein mich ärmer zu ſtellen als wahr ſei, 
Heuchlerifch meinen Befig zu verleugnen aus ſelbſtiſcher Ruͤckficht. 

Alfo aus Furt vor der größeren Schuld und dem fchlimmeren Vorwurf, 
Werb' ich nun mit um den Preis der keckeſten Stirne. Doch lobit Du’s, 
Daß ich dem Wunſche des Freundes willfahrend die Scheu über Bord warf, 
Schreibe den Deinen ihn zu und eracht' ihn tüchtig und bieber. 

Die heitere Laune jpricht fich in den Worten an den Rechts⸗ 
gelehrten Torquatus aus (I, 5): 

Fort mit dem Hoffen und Streben, dem eitlen, nach Schäben der Erbe, 
Sort mit des Moſchus Prozeß! DWergönnt doch Kaiferd Geburtstag 
Morgen und auszufchlafen, jo dürfen wir ohne Gefährdung 

Traulich plaubernd die Nacht, die ſommerlich lange, genießen. 

Der Wi, mit welchem er die Schulphilojophie verſpottet, 

in I, 1a E.: 
Kurz, der Weife folgt gleich nach Suppiter, er ift ber Reiche, 
Er ift Freiherr, geehrt und ſchön, der Könige König, 
Auch vollftändig gefund, wenn er nicht vom Schnupfen geplagt ift. 
(236) 


21 


Mit wel gemüthvoller Wärme ift nicht das Landleben 
gepriejen in den Verſen: 


— — — 5 lob' mir die Fluren, 

Lob’ mir den Bad) und den Hain und die moosüberwachienen Selen. 
Kennft du wohl einen Drt, da ſich beffer und glücklicher lebte? 

Wo ift lauer der Winter, wo Iabet und ſchützet die Luft mehr 

Gegen den Hundstagshite, die Pfeile der fengenden Sonne? 

Wo ift der Schlummer fo ungeftört von der neidifchen Sorge? 

Duftet und glänzet der Raſen nicht feiner ald bunte Moſaik? 

Strömt durch bleierne Röhren der Stadt ein reinered Waffer 

Als in dem Bad fanft murmelnd mit zitternden Wellen dahinfliegt? 9) 

Shrem Charakter ald lehrhafte Dichtungen entiprechend 
find dieſe Epifteln eine wahre Fundgrube von Sentenzen, von 
denen nur einige der befannteiten erwähnt jeien: 

— — — (68 wedjelt 

Mohl das Klima, doch nicht dad Gemüth, wer über das Meer fährt. 
Treibet nur aus die Natur, doch wißt, daß fie immer zurüdfehrt. 
Was die Yürften verjhulden, das müflen die Völker entgelten. 
Drinnen fowohl in der Stadt wie dranfen wird vieles gefündigt. 
Wir find Nullen, zu nichts ald Brod zu verzehren geſchaffen. 

Friſch and Werk, ift Halb ſchon gethan, drum raſch Dich eutjchloffen! 
Iſt das Gefäß nicht rein, wird zu Eſſig, wad man hineingieft. 
Fliehe die Luft! Mit Schmerzen erfauft kann nimmer fie nüßen. 
Meiftre des Herzend Gelüſt': wenn dir's nicht dienet, jo herrſcht es. 
Lange bewahrt das Gefäß den Geruch, der das neue erfüllt hat. 

Doch aus diefen Dichtungen, Satiren und Cpifteln, welde 
ex jelbft als der Profa näherftehende Sermonen, d. h. Plau- 
dereien bezeichnet, lernen wir nicht den ganzen Horaz fennen. 
Diejenige Gattung, welche ihm hauptjächlich feine Stellung in 
der römifchen Litteratur anweiſt, find feine Iyriichen Gedichte, 
gewöhnlich Dden genannt.?%) Diefed Wort ift aber bier nicht 
in dem engeren Sinne, wie ed jebt gewöhnlich gebraucht wird, 
zu verfteben, nämlich folche Gedichte, welche eine ungewöhnliche 

(237) 





22 


Degeilterung athmen, die Seele zu etwas Hohem, Weihevollem 
emporheben, alfjo dem Hymnus und Dithyrambus naheftehend. 
Sn diefem Sinne find die wenigften Gedichte von Horaz eigent« 
liche Dden, denn, wie bereitö bemerkt, bezeichnet er fich felbit als 
einen Dichter von kleinem Flug, fein eigentliche Gebiet ift das 
kleine Lied des feinen Gedankens. Auf diefe Schöpfungen 
gründet er auch felbft vorzugsweife fein Verdienſt und die 
Hoffnung feiner Unfterblichfeit in der berühmten Dde:?1) 

Länger dauernd ald Erz fhuf ich ein Denkmal mir, 

Majeftätifcher als der Pyramiden Bau, 

Das Fein Regen zernagt, nahender Stürme Wuth 

Nicht zn ftürgen vermag, noch der Sahrhunderte 

Unabjehbare Reih' oder der Zeiten Flucht. 

Nicht ganz werd’ ich vergehn, über das Grab hinaus 

Dauert Manches von mir, jpät in der Enkel Mund 

Wächſt mein Name, dieweil mit der veitalijchen 

Zungfrau zum Kapitol wandelt der Pontifex. 

Wo der Aufidus brauft und in Apuliens 

Duellenarmem Gebiet Daunus geherriht, von dort — 

Wird man fingen dereinft — ftieg er empor im Flug, 

Der Roms Laute zuerft zu des Äolifchen 

Derfes Magen gefügt. Nimm in Empfang den Preis, 

Den mein Streben verdient, winde den belphifchen 

Zorber mir um das Haupt, Göttin Melpomene! 

Aeoliſch nennt er feine Lieder, weil er, wie vor ihm jchon 
zum Theil Gatul, im Gegenjat zu ber Mode gewordenen 
Richtung der alerandriniichen Poefie, diejer Nachblüte der klaffi⸗ 
ſchen Griechenkunſt, auf die echten Haffiihen Mufter, Die griechi- 
ſchen Lyriker des 7. Sahrhundertd v. Chr., welche in der äoliſchen 
Landſchaft Kleinafiend blühten, hauptſächlich Alläos und Sappho 
zurüdgeht und von ihnen die Kunftform der Berje entlehnt. 
Es find alſo frei gewählte, nachgeahmte, nicht naturgegebene 
Formen der eigenen Sprache, in denen Horaz dichtet, und ein 

(23%) 


23 


ganz wejentliche8 Stüd feiner Kunft ift eben das Formen und 
Feilen am ſprachlichen Stoff. Schon in dieſer Hinficht werden 
wir Horaz, wie ed fich bei den lehrhaften Gattungen ber Satire 
und Epiftel von ſelbſt verfteht, auch als Lyriker nicht unter die 
naiven Dichter zu rechnen haben, um diejen von Schiller anf- 
geftellten Gegenjah zu gebrauchen, ſondern unter die jentimen- 
talen, jentimental nicht in dem gewöhnlichen Sinne, daß er 
ein Dichter der Gefühlsſeligkeit, Gefühlsſchwärmerei ift, vielmehr 
ein folcher, der nicht in der unmittelbaren Hingebung an jeine 
Stoffe dichtet, jondern fo, „daß die Stimmung, in weldye er 
jelbft verjeßt ift und und verfeßt, durch die Neflerion auf Die 
&indrüde, welche er erfährt, hindurchgegangen ift." Und daflelbe 
werden wir auch bei eingehenderer Betrachtung feiner Poeflen 
beftätigt finden in der Art, wie er feine Stoffe behandelt. 

Fragen wir nun: welchen Kreis von Stoffen hat Horaz in 
feinen Igrifchen Gedichten umjpannt? fo koͤnnen wir an das 
Ubland’iche anfnüpfen „Sie fingen von Lenz und Liebe, von 
jeliger goldener Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von Treu' 
und Heiligkeit,“ und unterjcheiden Naturlieder, Lieder der Liebe, 
Freundſchaft und Gejelligfeit, Lieder, welche dad Menfchenleben 
überhaupt, jeine Bedingungen und Geftaltungen, und endlich 
joldye, welche göttliche Dinge betreffen. 

Was erftens die-Naturlieder betrifft, fo finden wir, wie 
bereitö wiederholt erwähnt, zahlreiche Stellen und ganze Ge⸗ 
dichte, in denen Horaz ben Hain und den Bach befingt, wo er 
aus dem Staub und Lärm und Rauch der Stadt fidh hinaus 
lehnt in die freie Klur, in den Lenz und fein Grün, in die 
Stile und Einſamkeit des Landlebend. Er befchreibt das 
Kommen des Frühlingd, das Singen der Vögel, dad Raufchen 
des Windes, er befingt Duellen und Bäume Es fehlen aud 
nicht großartige Naturbilder: der von Schnee glänzende Berg 


(289) 


24 


Soralte, die winterliche Landſchaft im thrakiſchen Bergland mit 
den ſchnee⸗ und eiäbededten Gipfeln und Hängen, mit den er» 
ftarrten Waſſern. Kurz, der Dichter bat ein Auge für bie 
Schönheit der Natur, aber er hat kein eigentliches Herz für fie. 
Was ihn wohlthuend anmuthet, dad find wohl angebaute frucht⸗ 
bare Gefilde mit angenehmer Abwechslung des Tandichaftlichen 
Bildes, es ift dad Behagen an dem ftillen friedlichen Leben, 
an den einfachen gejunden Berhältniffen der in Arbeit und 
Genuß in näherem Verkehr mit der Natur ftehenden Menſchen, 
furz, ed ift mehr dad Idylliſche als dad Romantiihe und im 
gewöhnlichen Sinn Sentimentale, was den Charakter feiner 
Naturdichtung ausmacht. Der moderne Dichter leiht der Natur 
eine Seele, jo daß fie mit ihm empfindet, feufzt, Hagt oder 
jubelt, es ift ein fentimentales fi Zufammenfühlen mit dem 
Leben in der Natur oder ein Untertauchen der 'einzelnen Seele 
in den allumfaffenden Schoß derfelben. Der antike Menſch 
Ichaut die Natur plaftiich an, .umd was er von Leben in ihr 
ahnt, das wird mythologifch geftaltet, ed find Geifter und 
Götter, Beftalten wie Nymphen, Faunen, Satyrn, die Reprä- 
fentanten der belebten Natur. 

Eined der befannteften und bezeichnendften folcyer Lieder 
von Horaz tft die Dde an die Duelle Bandufia, welche er auf 
feinem Gut hatte:?°) ' 

O banduſiſcher Duell, glänzender als Kroftall, 
Du Jüßrabenden Weins, blumiger Opfer werth! 
Dir fällt morgen ein Böcklein, 

Dem auf jchwellender Stirn des Horn 
Srftlingsiproffen auf Kampf deuten und Liebeswerf. 
Doch umfonft — mit des Bluts purpurner Welle färbt 

Dein eiskaltes Gewäfler 
Bald der munteren Herde Sproß. 


Di mag nimmer des Glut fprühenden Sirius 
(240) 


25 


Zornblick treffen, bei dir findet erquickende 
Raft die weibende Herde 
Und vom Pfluge gelöst der Stier. 
Dich auch preifet die Welt unter den Duellen einft, 
Weil ich finge, wie hochragend die Eiche fteht 
Ob zerflüfteter Felswand, 
Welcher geſchwätzig dein Naß entquillt. 

Anderer Art find die Frühlingälieder: 

Eifiger Winter, du mweichft, hold wehen des Lenzes laue Lüfte u. f. w.?*) 
und; 

Weg ift der Schnee, ſchon Tehret das Grad auf ten Wieſen, den Bäumen 
Wieder das grünende Laub u. ſ. w.?*) 

Sn beiden Ipringt der Dichter von der Freude der Gegen⸗ 
wart ab zu dem Gedanken an die Kürze des Lebens, der dunkle 
Schatten des Todes drängt fi unhbeimlih hinein in bie 
Sarbenpracht ded hellen Tages. Dies ift der elegiiche Ton, der 
jo vielfach bei unjerem Dichter durch all die Luft des Lebens 
durchflingt, der ernfte Hintergrund, weldyer niemald im &enuffe 
des Augenblick verfinfen läßt. Daneben finden wir aber auch 
ein neckiſches Clement, wie ed zu dieſen Spufgeftalten von 
Nymphen, Faunen u. ſ. w. ftimmt, wenn er der leichtichwebenden 
Göttin des Liebreizes und ihren anmuthuollen Gefpielinnen 
gegenüberftellt den plumpen Vulkan, wie er die Efje der Cyklopen 
Ihürt im Schweiße jeined glühenden Angeſichts. Mehr fatiriich 
wird die Sronie, wenn gr einer Föftlichen Idylle, weldye bis 
in einzelfte die Freuden ded Landmanns ausmalt, die eigent« 
liche Spite abbricht durch den Heine'ſchen Schluß: 

So ſprach der Wuchrer Alfius 
Und z0g fein Geld in Monats Mitte ein, 
Um es am erften wieber auszuleihn.?°) 
Zu den Naturliedern Tönnen andy die Wanderlieder geſtellt 


werben. Deren finden fi eigentlich bei Horaz feine, das 
(21) 


26 


Wandern ift jo recht eigentlich ein germaniſcher Zug, „den der 
Sübländer nicht kenut. Doch ein Lied läht fich hierher ziehen, 25) 
welches auf den erften Anblick himmelweit von ſolchem Zufammen- 
bang ab zu Tiegen fcheint, das bekannte Integer vitae, 
welches, im Anfang dieſes Jahrhunderts mit einer ernften 
horalartigen Melodie verfeben, feinem urfprünglich beitern, 
ſcherzenden Tone ganz entfremdet worden ift. Der Dichter, 
jo mögen wir dad Lied auddeuten, im Begriff eine Seife 
nach Apulien zu machen, giebt auf eine launige Warnung bes 
Ariftius, welcher ihm Angft macht vor den rauhen Gegenden, 
wo räuberifches Soldatenvol! und wilde Thiere haufen, eine 
ebenjo launige Erwiderung: Sch fürdyte mich vor feinem Räuber, 
feinem wilden Thier, wer wird einem harmlojen Dichter, der 
in ſeines Herzend Einfalt und Unfchuld fein Liebchen befingt, 
etwas anhaben? Streif' ich ja auch hier in meinem Sabiners 
wald, von feinem Unthier angefochten, ficher in Liebeögedanten, 
fie begleiten mich hin ans Ende der Welt, treue Lieb’ im Herzen. 
Dieſes Gedicht hat und bereit hinühergeführt in das 
Kapitel der Liebeslieder. Deren hat Horaz eine reiche Aus⸗ 
wahl von mannigfaltiger Art, und wir fönnen denen nicht ganz 
Unrecht geben, welche unjern Dichter eine verlichte Natur genannt 
haben. Klagt er doch felbft, daß er, bereitd den Fünfzigern 
nabe, noch immer nicht aus dem Bereich der Pfeile des ge- 
flügelten Knaben entrüdt fei. Um jedoch eine etwas deutlichere 
Borftellung von diefer Seite ſeines Weſens zu bekommen, 
müſſen wir eine kleine Abſchweifung in das Gebiet der Sitten⸗ 
ſchilderung machen und einen Blick auf das Frauenleben ſeiner 
Zeit werfen, womit wir dad oben über die allgemeinen Zeitver⸗ 
hältnifje Geſagte ergänzen. 
Die damalige Welt kannte, wie noch .jebt großentheild die 


romaniichen Völker, das nicht, was die deutſche Sungfran tft 
(343) 





27 


in den gebildeten Ständen. Das Mädchen hat nit Raum 
und Gelegenheit, in freiem gejelligen Verkehr mit dem männ- 
lihen Geſchlecht fich zu bewegen. In früher Sugend, ſchon 
zwijchen 12 und 15 Sahren, durch Verabredung zwilchen ben 
Eltern verheiratbet, wird dad Mädchen ohne Zwilchenftufe und 
Hebergangdzeit, — auch die Seligleit des Brautftandes giebt es 
nit — plößlich zur gebietenden Yrau, das weibliche Herz mit 
feiner reichen und warmen Gefühlöwelt erwacht eigentlich erſt 
in der Che, und nur zu oft geräth ed, da es bei Schließung 
derjelben gar nicht in Frage kam, auf Irrwege. Es war eine 
Klage der Zeit, die vielen unglüdlichen, die vielen anfgelöften, 
geichiedenen Chen, und gar zu viele fchmerzlihe Erfahrungen 
mit dem weiblichen Geſchlecht hatten den Erfolg, daß die Luft, 
fih zu verhbeirathen, bei den Männern der höheren Stände 
bedenftich abnahm, jo daß Anguſtus mit Gefeben und Prämien 
gegen die überhandnehmende Ehelofigkeit einjchreiten mußte. 
So ſehr es und mun befremden mag, daß Horaz, ber mit 
großem Eifer und fittlihem Craft die fittenverbefjernden An» 
ordnungen und Abfichten des Kaiferd empfahl und anprieß, 
nicht felbft auch in die Ehe getreten ift, jo können wir es Doch 
leicht begreifen. Aus den vornehmen Kreijen, in denen er vers 
fehrte, Tonnte er, der Sohn aus dem Volle, nicht wohl eine 
Gattin wählen, eine gewöhnliche bürgerliche Che aber mit einer 
Tochter der mittleren Stände war für einen Mann von feiner 
gefelljchaftlichen Stellung und feinen Lebensgewohnheiten nicht 
wohl zu denken. Kehren wir von dieſer gelegentlichen Be⸗ 
merkung zur Sache zurüd, jo konnte e8, in Srmangelung des 
freieren Verkehrs zwifchen jungen Männern und Jungfrauen 
der höheren Stände, zu einer Zeit, wo die einfache alte Sitte 


gelockert war und die häusliche Zucht gegenüber ben Ver—⸗ 


führungen der Geſellſchaft und den Genüflen der Hauptftadt 
(943) 


28 


nicht mehr ausreichte, ohne von tieferen fittlichen Grundjäben 
und ernfter religiöfer Gefinnung getragen zu fein, nicht anders 
fein, als dab die junge Männerwelt das Bedürfniß des Herzens 
auf andere Weife zu befriedigen firebte und in anderen Kreijen 
Erſatz ſuchte. Died waren die fogenannten Libertinen, den 
griechiichen Hetären entiprechend, wa8 wir emanzipirte Damen 
der Hulbwelt nennen würden, meift Töchter aus dem Stand 
der Freigelaffenen, lebendluftige Mädchen, durch Schönheit und 
Geſchmack audgezeichnet, anmuthiger Rede, gefelliger Künfte, 
befonder8 der Mufik kundig, welche, nicht von den Gefehen 
ber ftrengen Sitte eingefchränft, einen Kreis von Verehrern und 
Liebhabern um ficy jammelten, denen fie, wenn ed gut ging, 
aus wirklicher Herzensneigung, vielfach aber, worüber die Dichter 
fi) genug beklagen, gegen materielle Segenleiftungen ihre Gunft 
ſchenkten. Zu dauernden Verbindungen, welche einer wirklichen 
Ehe glihen, mag ed mit ſolchen Perjönlichkeiten felten gelommen 
fein. Sn diejfen Reihen nun haben wir auch die Mädchennamen 
zu juchen, weldye und in den horaziſchen Gedichten begegnen. 
Wenn aber deren Zahl faft erichredend groß erfjcheint, ein 
ganzed Dubend, fo müſſen wir fhon den Dichter dagegen in 
Schuß nehmen, daB er eine Art Don Juan geweſen ei. 
Erſtens nämlich find diefe Namen Feine Cigennamen, jondern 
meift was wir Kojenamen oder Gerevidnamen nennen würden, 
3 B. die Süße, die Junge, die Blonde, die.Grüne, das 
Sternchen, dad Plappermäulcyen, oder auch dad Wölflein, und 
da mögen mehrere, je nach der Situation und der Stimmung 
des Dichterd derjelben Perfon zulommen. Und zweitend willen 
wir nicht, wieviele diefer Gedichte nicht in der Nachahmung der 
griehiichen Vorbilder ſoweit gehen, daß die ganze Situation 
fowohl als die Perfon rein fingirt ift. 

Mebrigend laſſen ſich zweierlei Arten von Liebeögedichten 

(244) 


29 


bei Horaz ohne Zwang untericheiden. In den einen ſpricht 
fih eine heiße, wilde Leidenfchaft aus, welche Ihn durchichüttert, 
ihn verzehrt, elend macht, von Sinnen bringt: deren find 
wenige, wohl aus feiner früheiten Zeit. Die meiften find bloße 
Zändeleien, man merkt es dem leichten fcherzenden Ton wohl 
an, daß der Dichter fein Herz nicht ganz gefangen gab, er ift 
volllommen Herr feiner Gefühle, er beherrſcht den Stoff, ohne 
von bemjelben beherricht zu fein. Eines dieſer reizenden ſpie⸗ 
lenden Liedchen ift folgendes:27) 
Warum fliehft du mich, Kind, ſcheu wie das junge Reh? 
Das im wilden Gebirg nach der geängfteten 
Mutter ſucht und erſchrickt, wenn 
Nur ein Lüftchen im Wald’ fich regt; 
Gehn durchs zitternde Laub nur des erwachenden 
Frühlings Schauer dahin, rafchelt im Brombeerftraudh 
Nur die grüne Lazerte, 
Gleich erbeben ihm Herz und Knie. 
Glaub’, ich folge dir ja nicht wie ein Tiger nad) 
Oder ein grimmiger Leu, der dich zerreißen will! 
Lauf doch, reif für des Mannes 
Kuß, nicht ewig der Mutter nad! 

Eine tiefere und dauerndere Neigung ift es, welche der 
Wechſelgeſang zwiſchen dem Dichter und der Geliebten andeutet, 
der zu den vollendetiten Gedichten gehört, welche wir aus dem 
Alterthum haben. 

Er: 

Als ich dir noch im Herzen lag 
Und fein trauterer Sreund zärtlich die Arme dir 
Um den blendenden Naden jchlang, 
Lebt’ ich feliger als Perfiens Könige, 
Sie: 
Als ich dir noch allein gefiel 
Und vor Chloe noch nicht Lydias Reiz erblich, 
(245) 


30 


Sing mein Name von Mund zu Mund, 
Tauſcht ih mit Jlia felbft, Latiums Ahnfrau, nicht. 


Seht beherrſcht mich die Thrakerin 

Chloe, Tieblicher fingt Feine zum GSaitenfpiel. 
Freudig will ich den Tod beftehn, 

Wenn der Süßen ein Gott längeres Leben fchenft. 

Sie: 

Mich bat Salais, Thuriums 

Sohn, entzündet und giebt Liebe um Liebe mir. 
Zweimal duld' ich des Todes Pein, 

Denn dem Knaben ein Gott längeres Leben ſchenkt. 


Mie? wenn wieder die alte Lieb' 

Kehrt und wieder ins Joch zwingt bie Gejchiebenen ? 
Wenn ftatt Chloe, der blonden Maid, 

Lydia wieder ind Pförthen Ihlüpft? 

Sie: 

Schön ift jener wie Phöbus zwar, 

Du noch leichter als Kork, jäher in Zorn geftürmt 
Als der Hadria wilde Glut: 

Do im Leben und Tod will ich die Deine fein.?*) 

Bon derjenigen Gattung von Liebesliedern aber, welche 
gerade in unjerer Poefie am zahlreichiten vertreten ift und ihre 
fhönfte Blüthe, die eigentlich jentimentalen Xieder, in denen die 
zarte Neigung des Herzens, bie innige und Teufche Verehrung 
bes weiblichen Ideals ſich ausſpricht, davon finden wir bei 
Horaz, wie überhaupt bei den Alten, nicht. 

War ed aber, wie wir gefehen haben, Horaz verjagt, 
ein dbauernded Band der Liebe zu Tnüpfen, fo ift er um jo 
glüdlicher durch die Freundſchaft, von welcher und tiefe innige 


Kundgebungen in feinen Gedichten entgegentreten. Vor allem 
(246) 


31 


feinen Mäcenas befingt er in allen Tonarten. Ihm iſt die erfte 
Dbe gewidmet: 

Du, uralten Geſchlechts fürſtlicher Ahnen Sproß, 

O Mäcmas, mein Hort, du meine füße Zier! 


Reiheſt du mich in den Chor lyriſcher Sänger ein, 
O dann heb' ich das Haupt hoch zu den Sternen auf, 
- Und ebenfo die Briefe beginnt er mit der Anrede: 
Du, den mein erfte® Lied befang 
Und dem mein letztes gelten ſoll! 

Ohne ihn ift ihm das Leben verhaßt, mit ihm will er 
„ver Schwächliche in alle Fährlichkeit des Krieges fi wagen”; 
ihm will er „tühnen Muthes folgen zum leßten Erdenwintel, 
dem die Sonne ſcheint;“ von ihm will er auch bei der lebten 
Reife ind unbelannte Reich ded Todes fich nicht trennen. 

Ebenſo innig und herzlich iſt er mit Virgil und Varius, 
diefen lauteren Seelen, verbunden. Wie ergreifend tft der Schluß 
der Ode an Septimins??) mit dem allbefannten ille terrarum 
angulus („freundlich lacht mir vor allen jenes Fleckchen Erde“): 

Dorthin, ad, zu jenen beglückten Höhen 

Ruft ed dich mir nad, mit ber Freundſchaft Zähre 

Wirft du dort einft deines geliebten Sängers 
Aſche benetzen. 

Mit welcher aufrichtigen Freude begrüßt er in der Ode an 
Pompejus?0o) den Freund feiner Jugend, den Waffengefährten 
feiner republikaniſchen Kriegözüge! wie großherzig und wie 
freimütbig klingt nach befeftigter Alleinberrfchaft des damals 
befriegten Gegners ein ſolches Bekenntniß herzlichen Zufammeh- 
fühlens mit dem einftigen Parteigenoffen, wie harmlod gemüth- 
lich der Scherz, wenn der Dichter dem Freunde unter feinem 
Zorber, den er im friedlichen Muſendienſt gewonnen, Rube 

(97) 


— — — — — m — — — — — — — 





32 


und Behagen anbietet und die für ihn anfgehobenen Kränze 
ibm windet! 

Lieder der Liebe und Freundſchaft find ftet in naher 
Berührung mit Trink und Weinliedern. Auch Horaz tft 
ein Dichter des Weins, Bachus ift der Bott, den er wiederholt 
befingt, in feinem Dienfte fteht der Dichter; die Erwärmung 
und Anregung, melde die Geifter ded Weins den Gefühlen 
und Gedanken zubringen, ift ja eine verwandte Stimmung mit 
der Erhebung und Begeifterung, der Entzüdung, in welcher 
ber Dichter feine Werke ſchafft. Und wenn ſchon Horaz fein 
ſolcher naiver Dichter der unmittelbaren Eingebung ift, wenn 
er ſorgſam feine Lieder formt, wie er felber jagt, jo will er es 
doch nicht Wort haben, daß er nicht auch in der Begeifterung 
finge: da8 wollen eben die vielen mythologifchen Beziehungen 
befagen, in welde er fich mit Apollo und Merkur, Bachus, 
Muſen und Grazien bringt. 

Ein’ prächtiged Weinlied ift Die Dde an den Weinfrug:31) 

Du trauter Weinkrug, welcher dem gleichen. Sahr 
Mit mir entflammt, da Manlius Conſul war — 
Ob Scherz, ob Zant, ob Liebeswahnfinn 
Oder gefälligen Schlaf du bergeft: 
Mes Geiſtes Kind dein Föftlicher Inhalt jet, 
Des Anbruchs würdig bift du am guten Tag: 
Heb' dich herab, Corvin gebeut uns 
Heute den milden herborzubolen. 
Zrieft auch fein Mund von Sprüchen des Sokrates, 
Nicht wird er drum dich allzugeftreng verſchmähn; 
Ward doch auch manchmal warın beim Becher, 
Sagt man, des alten Cato Tugend. 
Du giebft durch fanften Zwang dem erlahmten Geift 
Die Schwingen wieder, öffneft, wenn Bacchus ſcherzt 
Und fchwärmet, weifer Männer Herzen, 
Führeft ans Licht verborgne Pläne. 
(248) 





33 


— — — — 


Mit Hoffnung ftärfft du wieder das bange Herz 
Und leiheit Kraft und Stärke dem ſchwachen Mann, 
Froh deiner ſcheut er nicht gefrönter 
Könige Zorn noch dad Schwert des Kriegers. 
Dich laffe Bachus, Venus, der holde Gaft 
Mit fammt der Grazien reizendem Schwefterbund 
Beim hellen SKerzenfcheine fließen, 
Bis die Geſtirne verſcheucht das Frühroth! 

Freilich, wüſtes Gelage, lärmendes Zoben beim Wein, 
Händel und Streit, Ausbrüche roher Sinnlichkeit flieht und 
beichwört der Dichter; aber am Zreudentage jubelnd den Bedyer 
zu beben, wenn ed gilt, das Siegedfeft zu feiern, oder dem 
Freund die forgenvolle Stirn zu glätten, wenn herbes Geſchick, 
Liebeskummer, firenge Pflicht und harte Mühe ihm den Sinn 
umdüftern, da8 heißt er gut und preift ed an, die Wiederfehr 
eine8 bedeutſamen Tages im Freundeskreiſe, Geburtätag, Wieder⸗ 
geneſung, Errettung aus Todesgefahr, auch einen herrlichen 
Sommertag im Freien feiert er beim vollen Becher. 

Wenden wir uns von dieſem beſchränkteren Kreis der indi⸗ 
viduellen Empfindungen und ihrem Ausdruck im Liede zu dem 
reiferen der allgemein menſchlichen Beziehungen, ſo finden 
wir eine Menge Oden, welche, ähnlich den Epiſteln, das menſch— 
liche Geſchick, Menſchenglück und Menſchenleid behandeln, in 
denen der Dichter ſeine Welt⸗ und Lebens⸗Anſchauung ausſpricht. 
Worin liegt für den Menſchen das Glück? Das iſt die Frage, 
welche er immer wieder ſich vorlegt und anderen zuruft. Nichts 
anzuſtaunen, von nichts ſich ganz hinreißen und ſo einnehmen 
zu laſſen, daß die Freiheit des Gemüts verloren geht, das iſt 
die wahre Weidheit. „Bedenke die Kürze ded Lebend und ſuch' 
es auszukaufen, wappne dich gegen die Wedhjelfälle des Ge- 
ſchicks, dad unberechenbar und unentrinnbar tft, mit Gleichmuth 
in allen Lebenslagen; ſtrebe nicht nach hohen Dingen, halte 


xx. 463. 3 (249) 


34 


Map und lerne dich beſcheiden.“ Es tft wahr, ed tft bad eine 
ziemlich flache Philofophie, mag fie bald mehr ftoifch, bald mehr 
epikureiſch gefärbt und begründet fein, und wir vermiffen eins 
bauptjächlich, die Begeifterung für männliche That. Aber das 
ift eben der Fluch der Zeit und das Verhängniß, weldyed ber 
Dichter ſelbſt in feinem Xebendgang erfahren hatte, und eben 
diefer elegifche Ton der Refignation giebt feinen moralifchen Bes 
trachtungen und feiner Spruchweisheit etwas Gemüthvolles und 
Ergreifended; zugleid aber kommt eben foldyen Gedichten ab- 
ftrafteren Inhalts, welche leicht des poetifchen Dufts entbehren, 
die Tunftvolle Form der Verſe und Strophen bejonderd zu 
ftatten, weldye auch weniger ſchwungvolle Ergüfle in eine weihe⸗ 
vollere Atmofphäre erhebt. Hören wir einige der jchönften und 
bezeichuendften Strophen: | 
Umſonſt dem Kriegafpiel bleibft du, dem blut’gen, fern, 
Umfonft des Meeres rafendem Wogenfchwall, 
Umſonſt entflieheft du des Südwinds 
Giftigem Haude zur Zeit des Herbftes: 
Sort mußt du, fort von Welt und Haus und Weib! 
(II, 14, 13—16. 21.) 
Und: 
Wohlweislich Hüllt der kommenden Zeiten Lauf 
In undurchdringlich Dunkel der Gott und ein 
Und lacht, wenn mehr als recht die Menjchen- 
Kinder ſich Angiten. (DI, 29, 29 -- 32.) 
Darum: 
Freu’ dich Herz! das Heute genießend laß das 
Morgen fein und mildere, ruhig lächelnd, 
Was dic kränkt: volllommen Beglüdte giebt3 ja 
Nirgend auf Erben. (DI, 16, 25—28.) 
Oder: 
Was morgen ſein wird, forſche du nicht! Gewinn 


Sei jeder Tag dir, welchen das Glück beſchert! 
(350) 


35 


Verſchmahe nicht der füßen Liebe 
Spiel, o Knab’, und die Reigentänze! 
(I, 9, 13—16.) 
Aber auch: 
Ein Herz voll Gleihmuth mitten im Mißgeſchick, 
In guter Zeit gleich ferne vom Uebermaß 
Unbändig toller Luft, mein Lieber, 
Sude zu wahren: du mußt ja fterben! 
(II, 3, 14.) 
Dder: 
Wer die goldne Mitte erwählte, der bleibt 
Sicher wie dem Schmuße ber dumpfen Hütte 
Gerne, jo des Hofes beneidetem Prunf, zu- 
friedenen Sinnes. (I, 10, 5—8.) 
Und: 
Glücklich lebt mit Wenigem, wen auf ſchlichtem 
Tiſche blinkt des Hauſes ererbtes Salzfaß, 
Wem ben ſanften Schlummer nicht Angft verſcheucht noch 
Schmutzige Habgier. (II, 16, 13—16.) 
Indeſſen hat doch dieje Lebensklugheit, welche eingebent des 
Wandels der menichlichen Dinge dad Morgen Morgen fein läßt, 
und fich „in ihren eigenen Werth einhüllt”, den Dichter nicht 
blind gemacht gegen die hoben Aufgaben der ftaatlichen und 
gejellfchaftlichen Ordnung. Mit klarem Geifte hat er nach feiner 
jugendlichen Zreiheitichwärmerei erkannt, was die Zeichen der 
Zeit find, erfannt, daß die alte Zeit der Republik zur Rüſte 
gegangen tft, daß das aufgewühlte Meer der Leidenjchaften, die 
Hab» und Herrſchgier der Großen, die Genußſucht und der 
Egoismus der Gejellichaft, die entfeffelte Wuth der Parteien, das 
verwilderte Geſchlecht der Bürgerfriege nit mehr im Stande 
find, das Schiff des Staates ficher zu lenken. Friede! Friede! 
üt fein Loſungswort, und dieſen Zrieden kann nur der eine, 
dem bie Borfehung die Herrichaft und die Obmacht über alle 
8* (351) 


36 


Feinde gegeben hat, gewährleiſten. Von dieſem Gefichtspunkt 
aus find die politiſchen Gedichte, welche namentlich vom 
3. Buch der Oden einen großen Teil füllen, zu verſtehen, in 
denen der Dichter ſeinem Geſchlecht den Spiegel der eigenen 
Entartung und die Vorbilder aus der Väter Zeit vorhält, Die 
Zugenden der Genügjamfeit und Beionnenheit, der Redlichkeit 
und Treue, der Mannhaftigleit und Seftigkeit, das edle Ma 
und die Wertihätung der höheren Güter predigt und anpreift, 
in denen er Schließlich die Perſon des Kaiſers befingt, weldyer 
der Welt den Frieden wieder gegeben, welcher die mit Abſcheu 
von der verruchten biutgetränften Erde abgewendeten Götter 
wieder verjöhnt durch feine Sorge für die Herftellung der alten 
Kulte und Kultuöftätten, feine Bemühungen um Emenernng der 
firengen Zucht, um Heilighaltung und Hebung des Yamtlien- 
lebens, welcher den roͤmiſchen Waffen wieder würdige Ziele ges 
geben und durch Träftiges Einfchreiten in Oft und Weft, gegen 
orientalifche Sultane und barbarijhe Bergvölker den Römer: 
namen auf dem weiten orbis Romanus wieder zu Ehren ge- 
bracht bat. 

So, indem er den Auguftus ald den Nattonalbelden fetert, 
dem die Welt Frieden und Wohlfahrt verdankt, it ber Dichter 
gefichert gegen den Verdacht der Fürftenfchmeichelet, es ift jeine 
aufrichtige Heberzeugung, welche ex in reicher, ernfter Erfahrung 
gewonnen, und welche audzufprechen er um fo weniger fid) 
Icheuen darf, als er, wie ſchon oben bemerft, perjönlich fidy von 
kaiſerlicher Gunſt und Gnade ferne gehalten hat. Wenn und 
die Form, in welder dieſe Kaiſeroden auftreten, anftöbig ift, 
die göttlichen Attribute, welche dem Cäſar beigelegt, die 
mythologiſchen Beziehungen, in welche er gebracht wird, fo 
dürfen wir das nicht mit unferem modernen chriſtlichen Mapftab 


meſſen. Wir müſſen erftend dem rhetorifchen Charakter des 
(952) 


37 


römifchen Naturells und der römiichen Poefte jo manches, was 
und Mebertreibung ſcheint, zu gute halten, zweitens und erinnern, 
daß eben das mythologiiche Element eigentlich zum poetiichen 
Apparat ber Alten gehört und jo unwilllürlich auch in der Auf- 
faflung einer hervorragenden gejchichtlichen Perſoͤnlichkeit bie 
Borftelung von Heroen oder Halbgöttern, Göttern felbft herein- 
greift. Endli war der Kaiſer bereit durch Sitte und Gefeh 
eine geheiligte Perſon und wurde mit göttlichen Ehren, Gebeten, 
Opfern und Tempeln gefeiert. 
Die fchönfte von den Kaiſeroden ift folgende: 


Sproß aus himmlifhem Stamm, du des Quirittenvolks 

Hort, o Outer! Zu lang weileft bu fern von uns: 

Bald verfpracheft dem Rath würdiger Väter du 
Miederzufehren, o komm zurüd! 

Nun, o trefflicher Kürft, leuchte dem Vaterland! 

Denn wenn bel wie der Lenz über dem Volle bein 

Antlig ftrahlet, jo geht fchöner der Tag dahin, 
Glänzt uns heller der Sonne Lid. 

Siehe: wie für den Sohn, welchen des neidijchen 

Süpdwinds ftürmifcher Hauch länger ſchon als ein Jahr 

Sm unwirthlichen Meer weit in der Fern gebannt, 
Bon der Heimat, der lieben, trennt, 

Stets die Mutter in Angft flebt und Gelübde thut 

Und vom budtigen Strand nimmer das Ange läßt — 

So von Sorgen und aufrihtigem Schmerz erfüllt 
Fragt nad Cäſar das Vaterland. 

Denn nun wandelt der Stier fiher das Feld entlang, 

Ceres nähret die Flur fegnend mit voller Hand, 

Durch das friedliche Meer fliegen die Schiffe hin, 
Und die Treue erſchrickt vor Schuld. 

Kein unreines Gelüſt' fchändet das Teujche Haus, 

Recht und Sitte bezwang fündigen Frevels Muth, 

In dem Bilde des Kinds ehrt man das treue Weib, 
Raſch folgt Strafe der Sünde Spur. 


(358 


38 


Wer, da Cäſar und lebt, fürchtet den Parther nod), 

Wer die Schthen des Nords oder die graufame Brut, 

Die Germania zeugt? welchen befümmert jeßt 
Nod des wilden Hiberiens Krieg? 

Nun beichließet den Tag jeder auf eignem Gut, 

An dem einfamen Baum zieht er der Rebe Schoß 

Rankend auf, und vergnügt kehrt er zum Wein und ruft 
Di ale Gott zu der Götter Tiſch, 

Schickt Gebete zu dir, fpendet den Weiheguß 

Dir vom Löftlichen Wein, weihet dein heilig Bild 

Zu den Laren und denft deiner, wie Griechenland 
Seines Kaftor und Herkules??). 


Sreilih unjrem religiöfen Gefühl Tann ſolche Poefie und 
ſolche Religiofität nicht zufagen. Aber von wahrhaft religiöfer 
Gefinung war eben in diefen Zeiten überhaupt nichts vorhanden. 
Der alte Götterglaube war in den Herzen der Gebildeten dahin, 
aber bie Wärme des Gemüths und die Kraft ded Willens hatte 
die an die Stelle defielben getretene Philofophie nicht zu er- 
neuern vermodt. Man bewegte fi zwiſchen den Ertremen: 
auf der einen Seite eine aufgellärte Theorie obne Gemüth und 
Märme, auf der andern phantafievolle Götter- Geftalten und 
Geſchichten, aber ohne fittliden Gehalt. Beides miteinander 
in eine lebendige Wechſelwirkung zu bringen haben wenige ver- 
judt. Unter den wenigen ift Horaz: er fühlt e8 und verlangt 
ed ald eine Art Bürgerpflicht, den beimifchen, in den Schuß 
und die Pflege des Staates geftellten Gottheiten nach herkömm⸗ 
licher Weife Ehrfurcht zu bezeugen, die heiligen Stätten und 
Bilder derjelben aufzufuchen, zu ſchmücken und zu verehren, ihre 
Namen und ihre Thaten zu preifen, die vergängliche Welt und 
ihr Leben mit dem himmliſchen Widerfchein, der Sdealgeftalten 
eined naiven, von Schönheit und Harmonie erfüllten Zeitalters 


zu umgeben und zu erleuchten. Ebenſo aber mahnt er auch an 
(254) 





39 





die Reinheit des Herzend, Die Tugenden der Seele, welche allein 
dem Dienft der Götter den rechten Werth verleihen, ohne weldye 
kann Niemand Gott gefallen. Horaz hat verfchiedene eigentlich 
religtöfe Dden, an einzelne Götter gerichtet, welche zum Theil 
für die Zwecke des Kultus beftimmt waren, wie das Subelgedicht 
bei der Säcularfeier Roms im J. 17. Unter diefen Gottheiten 
find es vornehmlich Apollo, Merkur und Diana, welche mit 
wirflich religiöjer Ehrfurcht behandelt find. Am perfönlichften 
ericheint die Frömmigkeit des Dichterd in einer Dde an Apollo, 
wo er den Gott bittet, dab er ihm nicht Reichtum und Schäbe 
verleihen, fondern die Gnade gewähren möge, das beicheidene 
Theil, das ihm geworden, in gutem Frieden zu genießen, ein reines 
Herz, den guten Ruf und den Zroft der Dichtung fidh zu er» 
halten. 33) 

Eine Art von religiöfer Stimmung ift e8 auch, in welcher 
der Dichter mit den Mufen, den Göttinnen der Dichtkunft ver: 
kehrt. Meiſt ift es wohl nur bildlich geiprochen, wenn er fie 
anredet, bald alle zufammen, bald die eine oder andere mit 
ihrem befonderen Namen, e8 find ihm Fiktionen für die dichte: 
riſche Stimmung, die ihn ergreift. Aber doch iſt e8 auch wieder 
mehr ald bloße Redefigur, ed verleiht dem Lied wirklich eine 
höhere Weihe, wenn ed in den Dienft himmliſcher Mächte ge- 
ftelt wird, und wer möchte ed leugnen, dab eine Art frommer 
Gefinnung durchklingt, wenn Horaz in der Dde an Melpomene3*) 
im Gefühl feiner erhabenen Miſſion in der Geſchichte des 
römiſchen Geiſtes, ebenfo dankbar als ſelbſtbewußt feine Gaben 
und Künfte wie feine Erfolge der Göttin zu Füßen legt, welcher 
er alles verdanti? 

Wem bein Auge, Melpomene, 
Ginmal bei der Geburt freundlich gelächelt hat, 


Dem wird nimmer der eitle Ruhm 
(255) 


40 


Als Hauftlämpfer zu Theil, noch wird ein feuriges 
Roß ihn auf der olumpifchen 

Rennbahn tragen zum Sieg, nicht in des Lorbers Schmud 
Wird er zum Kapitol ald Kriegs— 

Held aufziehn im Triumph, weil er vermeffener 
Könige Trotz in den Staub gelegt. 

Nein, der murmelnde Bach, welcher durchs Blachfeld rinnt, 
Und der fchattigen Haine Grün 

Wird zum Meifter des Liebs ihn, bes äoliſchen, weihn. 
Ha! mid, würdigt die Sugend Roms, 

Roms, der FZürftin der Welt, in der gepriefenen 
Sänger Chöre mich einzureihn, 

Und ſchon naget der Neid ftumpferen Zahns an mir. 
O pierifche Göttin, die 

Süße Töne hernorlocdt aus der Saiten Gold, 
Die des Meeres Bewohnern felbft 

Kann, den ftummen, des Schwans rührenden Sang verleihn, 
Dein, dein Onadengefchen? nur ifts, 

Daß mit Fingern auf mich, wer da vorübergeht, 
Als Roms lyriſchen Sänger weift. 

AN mein Lied und mein Ruhm, werd’ ich gerühmt, ijt dein. 


Anmerkungen. 

1) Sat. I, 6, 71—84. 2) Od. UI, 7, 9—12. 3) Epift. II, 
2, 41-52. 4) Sat. 1,5,41f. 5) Sat. I, 6, 54-64. 6) 
Epift. I, 1,56 fe 7) Sat. II, 6, 1 fe 8) Od. III, 16, 28—32. 
9) Od. II, 18, 11—14. 10) Od. II, 17, 5—12. 1h Od. IV, 
2, 27—32. 12) In diefem Abſchnitt ift die Schrift benützt: Detto, 
Horaz und feine Zeit. 13) Sat. II, 6, 60 ff. 14) Epift. II, 2, 
79 f.; 85 f.; 67—76. 15) Epift. IL, 1, 189-205. 16) Epift. 
I, 1,108 f. 17) Sat. I, 4 14—16. 18) Sat. I, 4, 105—112, 
121 bis 26. 19) Epiſt. I, 10, 6f.; 14—21. 20) In dieſem Ab- 
ſchnitt ift benußt: E. Rofenberg, Die Lyrik des Horaz, 21) Od. IL, 
30. 22) Od. III, 13. 23) Od. I, 4. 243Od. IV, 7. 25) Epob. 2. 
26) Od. J, 22. Vgl. Roſenberg, Lyrik des Horaz. 27) Od. J, 23. 
28) Od. III, 9. 29) Od. I, 6. 30) Od. 11,7. 31) ©. III, 21- 
32) Od. IV, 5. 33) Od. I, 31, 17—20. 34) Od. IV, 3. 


Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17a. 


Profopopdie und Onomatopdie, mit welchem wir wie blöde Schäfchen ‘gefüttert 
wurden, während wir lajen, wie ber greife Priamus vor den Füßen des fardht- 
baren Achill niederfallend in rührender Bitte das Herz des zürnenden Helden er 
weit, oder wie Orpheus zu den Schatten der Unterwelt binabfteigt und durch 
feinen Gefang die verlorene Gattin wiedergewinnt! Und nun erft die Wort: 
Haubereien, dad Bariantenugefafel, die Konjelturenjagden und die grammatiſchang⸗ 
tomifchen Viveſektionen an den herrlichen Klafjfifern, worüber das Hinweiſen auf 
den Gedaukenkern und die Anleitung, das logiſche Band zwiſchen ben einzelnen 
Gedanken zn finden, firenge und gewiffe Rechenſchaft über den organifchen Zu: 
ſammenhang der Theile und die Gliederung derfelben zu einem lebendigen Ganzen 
vergefien wird. 

Dem gegenüber bat Schmelzer, dem man anf jeder Seite bes Kommentars 
den wirklich praktiſchen Schulmann änmerft, Die populär-äſthetiſche Erklärungs: 
weile angewandt, und wir find überzeugt, daß die Primaner an der Hand eines 
jolden Kommentars den Dichter Tieb gewinnen und von ihm aud etwas in das 
Leben mit hineinnehmen werden. Bis jebt liegt der esfte Band vor, welcher den 
„König Dedipnd” enthält; der Zortjepung jeben wir mit Spannung entgegen. 

Ein ebenſo uneingefchränftes Lob verdient die Andftattung ded Buches, mit 
weldher bie Berlagshandlung von Karl Habel (Küterig’jche Verlagsbuchhandlung) 
NH ein wirkliches Verdienſt um die Augen unſerer Schuljugend erworben hat. 
In den meiften Klaffiferaudgaben mit Kommentar ift der legtere in einer Schrift 
gedrndt, die man ald Angenpulver bezeichnen muß. Wie viel Kurzfichtigkeit mag 
einem folchen Drud zuzufchreiben fein, während man fie auf die „Weberbürbung” 
zurückführt! In dem Schmelzer'ihen Sophokles find Text und Anmerkungen in 
einem fo fchönen, deutlichen, großen Drnd vorhanden, daß ed ein Vergnügen ge: 
währt, diefed Buch zu leſen. Möchte im Intereſſe unferer Schuljugend eine gleiche 
Ausftattung die Regel bei allen Schulbüchern werden! Dr. 2. 


Die Deutſche Hochſchule in Nr. 113 vom 5. März: 


Die Art und Weiſe, in welder Echmelzer den griechiſchen Dichter zu com⸗ 
mentiren beabfichtigt, verdient volle Billigung; es wäre zu wünſchen, daß dieſe 
populär-äfthetiihe Erklaͤrungsweiſe in nujeren Gymnaſien fi einbürgerte — es 
wäre damit auch die Frage, ob das Griechiſche aus dem Lehrplan verſchwinden 
jolle, ein für allemal erledigt. 


Sn demfelben Berlage erjchienen folgende das Unterrichtömaterial 
von Eerta bi8 Prima enthaltenden Geſchichtswerke: 


Lehrbuch Der allgemeinen Geſchichte 


sum Gebrauch für höhere Schranfalten und zum Selbſiſtudium. 
Von Dr. Carl Wolf. 


zheil I.: Alte Geſchichte, 3. Aufl.; Theil II: Mittlere Geſchichte, 4. Aufl; 
Theil III.: Neuere Geſchichte, 3. Aufl. à Theil 2 Mark 60 Pf. 


Wolf, Tabellen zur allgemeinen Gefchichte. 2. Aufl. 1 Mark 60 Pf. 


— Aeberſicht zur naterländifchen Gedichte mit Karte des brandenburg-preußi- 
ſchen Staates. 2. Aufl. 1 Mark 60Pf., ohne Karte 80 Pf. (Die Karte befonders 1M.) 


In demjelben Verlage erfchienen: 


=S Gedichte SD 


Hermann Kletke. 





Dritte, reich vermehrte, 
mit dem Bildniß des Dichterd verjehene Gejammt- Ausgabe. 
Eleg. geb. in Orig»Band mit reicher Goldverzierung und Goldiänitt 8 Mark. 


Klippenmoos. 


Aus den früheſten Tagen deutſcher Erhebung. 


Roman 
von 


Auguſt Heſſe. 


Drei Bände, eleg. broſch. 15 Mark, eleg. geb. 18 Mark. 





— — — — — — — — — — 


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Roman 
von 


Wilhelm Jeuſen. 


Zwei Bände eleg. broſch. 12 Mark, el. geb. 14 Mark 40 Pfennige. 











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I. IL, III. Sammlung, 
Zufammen brod. 10 Marf. 
Erſte Sammlung: & Gebirg uud Thal. Drei Novellen. 5 Mark 40 Pf. 


Zweite Sanıminng: Jura und Genferfee. Zwei Novellen: 4 Marl 60 Pf. 
Dritte Sammlung: — Su u Hodland. Dr Dre Novellen 4 Marf € 60 Br. 


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von 


Nobert Nlerander. 
Elegant gebunden mit Goldſchnitt 2 Mark 80 Pf. 








— — — — — — nn 


— —— 


Sammlung 
gemeinverftändlicher —.. 
wiffenfhaftlider Vorträge, 





herausgegeben von 


Nud. Virchow und Fr. von Holtzeudorff. 
| 


— — — — — — — — nn — — 


XX. Serie. 
(Heft 457 — 480 umfafſſend.) 


nn LUN — 8 — 


Heft 464. 


Der Einfluß der Natur 
auf die Rulturentwiclung der Menfchen. | 


Bon 
Dr. F. Hoffmann. 


GP 


Berlin SW., 1885. 
Berlag von Carl Habel. | 


(C. 8. Tüderity'sche Beriagsbnchhandlung.) 
33. BWildelm-E trage 33. 


— —e—— 


— —— — —— — — —— — — — — — — — — —— — — — 
- — e— — — —— — —— — — — —. 
—— — — 


AI Es wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. WE Dieſelben 
“ enthalten das Programm der neuen XX. Serie (1885) der Sammlung, ſowie dad 
des nenen . Jahrganges 488 der Zeitfragen. Genane Inhalts-Merzeicniffe 
der frhheren Hefte, nad) „Aerien und Jahrgängen“ uud nach „Willen haften‘ 


un 


Einladung zum Abonnement! 


Die Jury der „Internationalen Ausftellung 
A von Gegenftänden für ben häuslichen und 8 
. gewerblichen Bedarf zu Amſterdam 1869" fe 

. bat diefen Reanträgen bir a 
Goldene 
zuerkannt. 








Bon der XX. Herie (Jahrgang 1885) der 
Sanımlung gemeinverjtändlidyer 


wiffenfhaftliher Borträge, 


herausgegeben von 


Rud. Virchow und Sr. v. Holbendorff. 


Heft 457 — 480 umfaend Cim Abonnement jedes Heft mu 50 Pfennige) 
find erſchienen: 
Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Todten bei den 
verichiedenen Bölfern. 
„ 458. Pilgrim (Ravensburg), Galilei. 
„ 459. Goetz (Waldenburg b. Bajel), Die Nialdjaga, ein Epos nnd das 
germanifche Heidentbum In feinen Ausklängen im Norden. 
„460. Schumann (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender des XII. Jahr⸗ 
hunderts. 
„ 461. Hetzel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrichs des Großen zur Humanität 
im Kriege. 
„ 462. Engelborn (Mauibronn), Die Pflege der Seren ſonſt und jept. 
„463 Röoõſch (Hellbronn), Der Dichter Horatius und feine Zeit. 
„ 464. Hoffmann (Sera), Der Einfluß der Natur auf die Kulturentwidlung 
der Menſchen. 
„ 465. Gzelelins (Hermannftadt), Ein Bild aus der Zeit der Gegen: 
reformation in Siebenbürgen. 
Borbehaltlid etwaiger Abänderungen werden fodann nad) uud nah ans: 
gegeben werben: 
Sräanbaum (Münden), Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 
Zſchech (Hamburg), Giacomo Leoparbi. 
Frensberg (Saargemänd), Schlaf nnd Traum. 
Krronecker (Berlin), Die Arbeit bes Herzens und deren Quellen. 
Dames (Berlin), Geologie der norbdentichen Ebene. 
Münz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 
Gerland (Kaflel), Thermometer. 
Trede (Neapel), Das geiftlihe Schauſpiel in Süditalien. 
Virchow (Berlin), Ueber Städtereinigung. 
Eyfienhardt (Hamburg), Aus dem gejeligen Leben des XVII. Jahrhunderts. 
Treichler (Zürich), Politiihe Wandlungen der Stadt Zürid. 
Sommer (Blankenbnrg), Die pofitive Philofophie von A. Comte. 
Dondorff (Berlin), Kaiſer Otto III. 


V—— BEA SG L GING 


Der Einfluß der Natur 


anf die 


Nultureutwidlung der Meufhen 


III IDG GL GL I GG GL GTAIGN 


Bortrag, gehalten am 20. Januar 1879 


bon 


Dr. 6. Hoffmann, 


Oberlehrer in Gera. 


GP 





U 
Berlin SW., 1885, 


Berlag von Carl Habel 


(C. ©. Tüderity'sche Berlogsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 38. 


Das Recht der Ueberſetzung in frembe Sprachen wird vorbehalten. 


Der Inhalt dieſes Vortrags!) ſteht im engften Zufammen- 
bange und dient gewiffermaßen zur Crgänzung des Vortrages, 
welchen ich vor zwei Jahren an diefer Stelle zu halten die Ehre 
hatte (abgedrudt in der XV. Serie, Heft 348 dieſer Sammlung 
unter dem Titel: „Aus der Kulturgefchichte Europa’s; Pflanzen 
and Haudthiere”). An der Geidichte der Ginführung der 
wichtigſten Kulturpflanzen und Hausthiere nad Europa wurde 
nämlich damals gezeigt, welchen bedeutenden und nachhaltigen 
Einfluß der Menſch auf die Geftalt und den Charalter nicht 
nur dieſes Erbdtheild, fondern überhaupt aller Länder bisher 
ausgeübt hat und noch heute ausübt. Wir fahen, wie unter 
der Hand des Menſchen dad Ausfehen mancher Länder fich 
gänzlich änderte, fo daß z. B. Italien gegenwärtig ein Land mit 
immergrünen Pflanzen und Bäumen iſt, während dies früher nicht 
ber Fall war; wir fahen, wie an anderen Stellen der Erde auß 
grauenvoller Wildniß blühende Gärten entftanden und wie felbft 
die undurchdringlichſten Wälder unter den Streichen der Art 
fallen mußten, um Pla zu machen für die nüblichen Körner, 
den edlen Obftbaum, die herrliche Rebe und die lieblichen Blumen. 
Schädliche Thiere andererfeit3 wurden entweder völlig ausge⸗ 
tottet oder in unbewohnte und unwirthliche Gegenden verdrängt, 
wie 3. D. der Löwe in Griechenland, das Elenthier und der 
Auerochs in Europa, da8 Flußpferd und Krokodil in Aegypten. 
Wo find in Deutichland jebt noch Wölfe und Bären? Und 
Doch waren fie im 17. Sahıhundert hier fo zahlreih, dab Kur- 


XX. 464. 1* (259) 


4 


fürft Sohann Georg I. von Sachſen in den Wäldern feines 
Landes nicht weniger als 20 Bären und 3500 Wölfe erlegte! — 
Dafür wurden aber die nützlichen Hausthiere, vor allen Roß 
und Rind, überall eingeführt und wurden ganz befonderd Träger 
der Kultur, indem fie dem Menfchen die Bebauung und Urbare 
machung ded Bodens erleichterten. So fonnte der Menſch 
traurige Wüfteneien in blühende Fruchtgefilde umwandeln und 
jelbft den Fargften Boden zu Schöpfungen zwingen, die ohne 
feine Thätigkeit unmöglich waren. 

Und weiter! Ströme und Bäche kämpfen vergebend gegen 
das wohlverwahrte Ufer, und die ſchäumende Meereöwelle hindern 
fefte Dämme, fruchtbare Land wegzuführen. Allenthalben, wo 
der Menſch ficy angeftedelt hat, wandelt der Fuß auf gebabnten 
Wegen: über gähnende Tiefen führen fefte Brüden, breite Heer» 
ftraßen über fteile Gebirge und durch drohende Felsmaſſen, meilen- 
lange Zunnel mitten dur den Leib der Berge; Kanfle ver- 
binden Flüſſe oder umgehen ficher gefährliche Untiefen, Strom 
Ichnellen, Wirbel und Waflerfälle; felbft durch das wilde Meer 
bahnt fi} der Menſch feinen Weg. 

Herner dürfen wir den Einfluß nicht unerwähnt laſſen, 
welchen der Menfch jelbft auf das Klima ausgeübt bat. Unfer 
Deutichland 3. B. ift im klimatiſcher Beziehung ganz verfchieden 
von dem, welches Zacituß feiner Zeit vorfand, und in Aegypten 
regnet ed mehr, ſeitdem Mehemed Alt Bäume in großer Anzahl 
bat anpflanzen laffen. 

Wir können alle diefe Einflüffe nicht beifer zufammenfaflen 
als mit den Worten Schillerd, welche er in feinem Zell?) den 
edlen Stauffacher fagen läßt: 

— „Wir haben diefen Boden uns erichaffen; 
„Dur unfrer Hände Fleiß den alten Bald, 


„Der jonft der Bären wilde Wohnung war, 
(260) 


5 

„Zu einem Sit für Menfchen umgewandelt; 

„Die Brut des Drachen haben wir getötet, 

„Der aus den Sümpfen giftgeichwollen ftieg; 

„Die Nebeldecke haben wir zerriffen, 

„Die ewig grau in diefe Wildnig hing, 

„Den harten Feld gefprengt, über den Abgrund 

„Den Wanderer den fihern Steg geleitet; 

„Unfer ift durch taufendjährigen Befik 

„Der Boden.” 
Aber jo fehr wir audy ein Recht haben, auf Grund aller jener 
Einflüffe in das ftolze Wort des Sophofles einzujtimmen: 
„Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ift gewaltiger als der Menſch!“ 
fo dürfen wir doch auch nicht vergeffen, was wir der „Mutter“ 
Natur zu danken ſchuldig find; denn wir find ebenfo gut ihre 
Kinder wie die Blumen ded Felded und die Bäume des Waldes: 
von der Erde rührt unjer Leib ber, von ihr ftammen unfere 
Nahrungsmittel, von ihr ſchöpfen unfere Lungen die Luft, kurz, 
fie ift die Duelle unſeres Lebens und unferer Kraft. Es wäre 
daher im höchſten Grade wunderbar, wenn fie durch ihre Er» 
zeugniffe und Formen, durh Klima und Atmojphäre nit auch 
auf den Menfchen einen nachhaltigen und beftimmenden Einfluß 
ausgeübt hätte und nod übte, und wenn ſich diejer Einfluß 
nicht in den Erjcheinungen, Formen und Charakteren des Lebens 
wiederjpiegelte. 

Und in der That läßt fi dieſer Einfluß nach verfchiedenen 
Seiten hin deutlich nachweiſen. Es wird dies freilich bier nur im ' 
Allgemeinen möglich fein, zumal da die Bedingungen, welche ald 
wirkſam angejehen werden müſſen, äußert zahlreich find und 
fich in allen Rändern der Welt mit der größten Verſchiedenheit 
miſchen und durchdringen; aber auch jo gewinnen wir einen 
weiten Weberblid und einen tiefen Einblid in die Gejchichte der 
Entwidlung der Menſchheit und ihrer Kultur. 


(261) 


I. Klima, 


Wenn irgendwo, fo gilt befonders in klimatiſcher Beziehumg 
der Sa, daß Uebermaß und Einförmigfeit ſchädlich find, daB 
dagegen eine nach beftimmten Regeln erfolgende Abwechslung 
dad Wünſchenswerthe if. Wir werben das im Ginzelnen bes 
ftätigt finden. 

a) Tropenflima. 

MWährend alfo die Phantafie des Bewohnerd gemäßigter 
Zonen dad Paradies gewöhnlich in die Tropenzone verlegt und 
meint, bier müßte fi die Kultur der Menſchen am frühften 
und leichteften und mithin auch am höchiten entwidelt haben, 
fo ftimmt die. Wirklichkeit Teineswegs mit diefen Bermuthungen 
überein, denn nirgends hat fich bier die Gefittung der Menjchen 
über eine gewifle niedrige Stufe erhoben. Wir haben diefes 
Mibverhältni unzweifelhaft zunächft der übermäßigen Hiße zu⸗ 
zufchreiben, dann aber vor allem dem Umftande, daß eine weſent⸗ 
lihe Eigenſchaft des Tropenklimas feine verhältnigmäßige Ein» 
förmigfeit ift, da ja bier der Jahreszeitenunterſchied faft ganz 

abgeht. Diefe Eigenjchaft trägt aber ficherlicdy nicht am wenigften 
bei zu jener hochgradigen Erfchlaffung, weldye den Einfluß des 
Tropenklimas charafterifirt und welcher ſich auch der Europäer 
auf die Dauer nicht erwehren kann. 

Ift aber der Bewohner der Tropen von Natur jchon ſchlaff 
und träge, fo wird er in feiner Trägheit noch beftärft durch die 
Wohlfeilheit der Nahrungsmittel, weldhe die Natur ja bier in 
überjchwenglicher Fülle dem Menſchen bietet. So läßt fi 
3.2. der Schaft der Sagopalme?) faft vollftändig in Nahrung 
verwandeln und gewährt leicht bid zu 900 Pfund Sago. Wird 
dieſer Sago ald Mehl verbaden, fo giebt er 1800 Heine Kuchen, 


von weldhen 5 Stud täglich für einen Mann ausreichen; dem- 
(363) 


7 


nach gewährt eine Sagopalme 360 Tagesrationen, zu deren 
Gewinnung zwei Männer nicht länger al8 je 5 Tage brauchten 
und bei deren Zubereitung zwei rauen ebenfalls etwa 
5 Tage zu fchaffen haben würden. Mithin genügt die Arbeit 
eined Tages, um für 18 Tage ausreichend Nahrung zu fchaffen. 
Und was ift die Folge davon? Die Sagoefjer find die ärmften 
Menſchen, gerade bei ihnen findet man die denfbar jchlechtefte 
Art von Obdad und die dürftigfte Bekleidung und fie ftehen 
auf der tiefften Stufe der Geſittung. 

Und wie der Werth der Dinge bier ein geringer ift, jo 
and) der Werth der Menſchen. Was fchadet ed, dab plößliche 
Epidemien mit furdtbarer Gewalt über die Bewohner herein- 
brechen und entſetzlich unter ihnen aufräumen, was ſchadet es, 
daß felbft der Hunger graufam unter ihnen wüthet, weil fie es 
nicht für der Mühe werth halten, ſich in guten Zeiten Hilfd- 
mittel für böfe Zeitläufte zu jammeln: dee Menſch ftirbt bier 
ohne Bedauern, und neue Geſchlechter — aufiprießend wie das 
Grad der Wiefe, über welche joeben die Senfe binging — er- 
ſetzen jchnell die Dahingerafften. 

Wie aljo der Menſch hier durch den Einflub des Klimas 
förperlich verkommt, weil es ihn durch Einförmigkeit, allzu» 
reichliche Fruchtbarkeit, Mebermwuchern des Lebens und Schnellig« 
feit des Todes in feiner natürlihen Sorglofigfett und Trägheit 
beftärtt, fo kann er fih auch geiftig nicht emporichwingen; 
denn bazu fehlen ihm alle Triebfedern. Und als religidfes 
Weſen Tann er fi nur fiillichweigend vor ber übermächtigen 
Natur beugen und fidh ihren gewaltigen Zornesausbrüchen, ihrem 
ungeftümen Lebenddrange, ihrer unwandelbaren Regelmäßigfeit 
gegenüber nur als Slave betrachten; er muß fie in allen ihren 
Erſcheinungen verehren, fet es In den mächtigen Sonnenftrahlen, 


die ihm den Tod bringen Tönnen, fei ed in den Wollen, deren 
(363) 


8 


furchtbarer Bliy und fchredliche Donnerftimme ihn erichredt, fei 
ed im dunflen Walde, wo die gefürchteten NRaubihiere und 
Schlangen haufen, ja fei es in diefen Ungeheuern felbft; denn 
alles, was ihn umgiebt, dringt mit furchtbarer, unmwiberftehlicher 
Gewalt über ihn herein, alled droht ihm den Untergang. Daher 
erflärt ſich von felbft die reißend jchnelle Annahme des Buddhis⸗ 
mus von Seiten der Inder; denn was kann e8 für den geplagten, 
unter dem Drude des Dafeins chmachtenden Tropenbewohner 
Wünſchenswertheres geben ald die Nirwana, die völlige Auflöfung 
des Menjchen nach dem Tode als Kohn für die höchſte Ueber⸗ 
wältigung der Sinnlichkeit! 

Am ähnlichften den Tropen durch Abwechslungslofigkeit und Ein⸗ 
förmigfeit und daher auch durch die Wirkungen derfelben find die 
winterlojen Seellimate z. B. in Süd⸗Afrika und Auftralien, 
die wir denn auch bier mitbehandeln wollen. In jenen Ländern 
mit verfiegenden Flüffen und glühend heiten Winden, voll Steppen 
und Wüften ohne Fruchtbarkeit, wo der Menſch keine Veränderung 
erwarten darf, wo fein Winter feine Nerven erfriicht und fein 
Frühling kommt, um ihm neue Hoffnung zu bringen, da Tonnte 
er fih auch nicht zu höherer Gefittung aufſchwingen. Kaft nadt, 
höchftens mit einem Schurz belleidet, ziehen die Auftralier einzeln 
oder in Keinen Abiheilungen, jagend und flichend, Wurzeln, eß⸗ 
bare Würmer und Mufcheln fammelnd, ruhelos wie der Emu, 
durch die fchattenlofen Wälder und Steppen, zum Theil noch 
Menfchenfreffer, ohne Heimath, ohne ftaatliche Ordnung, ja jelbft 
ohne jede Art von Wohnungen, befangen in einem dumpfen 
Dämonen» und Geipenfterglauben, und alle Berjude, fie aus 
diefem Zuftande Äußerfter Roheit zu einem jeßhaften Leben und 
zum Chriftentyum zu befehren, find geicheitert. Wohl aber hat 
fie der Verkehr mit zuchtlofen Deportirten an Lafter gewöhnt, weldye 
fie vorher nicht gefannt hatten. In Folge defjen hat zwiichen ihnen 


(264) 


9 


und den Fremden ſich ein ſo unverſöhnlicher gegenſeitiger Haß ge⸗ 
bildet, daß auch in Zukunft alle menſchenfreundlichen Beſtrebungen 
einzelner beſſer geſinnter Europäer vergeblich ſein werden. So 
iſt es begreiflich, daß ihre Zahl dort, wo fie in nähere Berührung 
mit den Weißen kommen, fortwährend abnimmt, und es ift 
ſchwerlich die Zeit nody fern, wo fie einem gänzlichen Erlöſchen 
verfallen *). 
b) Polarklima. 

Den geraden Gegenſatz, was die Heberfülle der Erjcheinungen 
und des Lebens betrifft, in Bezug auf die Einförmigfeit aber 
dad Seitenbild zu den Tropen bildet die Polarzone. Wenn auch 
wirflich nach dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft tiefgehende 
Wirkungen der ftrengen Kälte der Polarzone auf dad Innerſte 
des menſchlichen Organismus geleugnet werden müffen und bie 
früher angenommene beeinträchtigende Wirkung auf die Körper« 
größe nicht mehr behauptet werden kann 5), fo bleiben doch noch 
Faktoren genug übrig, weldye einer höheren Kultur bindernd in 
den Weg zu treten im Stande find. Zunaͤchſt hindert dad rauhe 
Klima eine reichere Entfaltung ded Pflanzenwuchjes und ver 
mindert daher die Zahl der von Pflanzen fich nährenden Thiere: 
- beides ſchränkt natürlich die Criftenzmöglichfeit ded Menfchen 
bedeutend ein, jo daß 3. B. von den 10000 Bewohnern Grön- 
lands ohne die Thierwelt des Meere kaum 1000 würden in 
diefem Lande audzudauern vermögen, während dad Land bei der 
Ausdehnung feines Areald eine weit größere Bewohnerzahl müßte 
ernähren koͤnnen. 

Außer dem Mangel an Begetation machen bejonderd hobe 
Eisberge ein tiefere Eindringen in dad Innere der Sontinente 
und Snfeln zur Unmöglichkeit, und jo drängen fich die Ein- 
wohner mit ihren Hütten aus Holz, wenn nicht gar aus Eis, 
am Geftade des Meeres zufammen; denn bier erreicht fie wenig» 


. (365) 


10 


ftiend im Sommer noch einige warme Luft, und die Meered- 
ftrömungen führen Wafler aus den Tropen heran, fo dab bier 
die Strenge ded Klimas einigermahßen gemildert if. Trotzdem 
bleibt der Kampf mit den rauhen Naturgewalten nody furdhtbar 
hart, man kann jagen, die Nordländer müflen dem rauhen 
Klima jeden Tag ihres Lebens abringen. Der 25. Theil der 
Bevölkerung Jsôlands erfriert, fommt in Schneeftürmen um oder 
ertrintt beim Fiſchen; eben fo viele fterben an Atmungdbeichwerden, 
welche ebenfalls durch das Klima bedingt find. Und wie oft 
wüthen bier verheerende Hungerönöthe, zumal während des 
langen, finjteren Winter, wo die Sonne auf Wochen und 
Monate ihre belebenden Strahlen gänzlich verbirgt und nur 
zeitweife dad Polarlicht als dürftigen Erfaß ſendet. Wie hätte 
der Geift der Grönländer, Eskimos und Kamtichadalen nicht 
unter dem Einfluffe eines jo troftlofen Klimas leiden follen? 
Der Kampf ums Dafein nimmt fie ganz in Anfpruch und ers 
ftidt jedes höhere Streben, die Gefahren, welde fie von allen 
Seiten umringen, find zu zahlreih und zu mannigfaltig, als 
dat fie ihrer könnten Herr werden, jo wurden fie gegen alles 
Höhere abgeftumpft. Iſt die Ausbeute an Fiſchen und See⸗ 
bunden einmal reichlich audgefallen, fo zieht ſich die Familie 
zurüd in das finftere Zoch, welches ihr zur Wohnung dient, 
und verbringt bier in dumpfem Genuß die lange, bange Winters 
nacht. 
e) Die gemäßigten Zonen. 

Wenn aljo weder die Völker der Tropen noch der Polar 
zone, und zwar infolge der Einförmigkeit des Klimas, fich zu 
höherer Kultur haben entwideln können, jo kommen wir zu 
dem berechtigten Schluffe, daß im Allgemeinen die beiden ge= 
mäßigten Zonen vorwiegend die fulturelle Entwicklung der 
Menſchheit begünftigt haben. Wie günftig geftalten ſich bier 


(286) 


11 


aber auch die klimatiſchen Berhältniffel Hier herrſcht ein regel⸗ 
mäßiger Wechjel von Kälte und Wärme, die Gegenfähe find 
möglichft verwiſcht oder durch Webergangsperioden vermittelt. 
Während eines Jahres wandert der Dienfch 'gleichfam durch ver⸗ 
Ichiedene Klimate: im Sommer, wo die Erde fich reich uud 
herrlich mit Blumen ſchmückt und durch ihren Duft Die Atmofphäre 
mit Wohlgerüchen erfüllt, Tann er die Natur der Tropen bes 
wundern; im Winter aber, wo dad Grün erftorben, der Boden 
mit Schnee bededt ift, hat er das Klima der Polarzone vor 
Augen; doch feind von beiden wird ihm läftig. Er erfreut fich 
an ihrer Schönheit, ohne daß ihm die Natur den fchredlichen 
und niederdrüdenden Anblid gewährt, ten fie in den entjeglichen 
Wirbelftürmen der Tropen oder den Echneeorlanen der Polar» 
zone jo oft annimmt. Weit entfernt alfo, ihn in feiner Ents 
widlung zu hemmen, wirkt der Wechfel der Sahredzeiten und 
Klimate auf Körper und Geift erfriichend und anregend, wie 
eine Reije. 

Das Wichtigfte aber ift, daß der Menſch in den gemäßigten 
Zonen unaufhörlid zur Arbeit angetrieben wird. Wohl ift die 
Natur auch bier freigebig, aber nur mit Maß, nur für gewiffe 
Gegenleiftungen, nur bei richtiger und einfichtövoller Benutzung 
ihrer Erjheinungen. Da aber diefer beftändige Kampf die 
menjchlichen Kräfte nicht überfteigt, fondern in den meiften 
Fällen zum glüdlichen Siege führt, fo gewinnt hier der Menſch 
an Einfiht und Weisheit, an Frohftnn und Lebensluſt. So 
haben ſich denn infolge der günftigen Berhältniffe an ten ver 
ſchiedenſten Punkten der gemäßigten Zone zahlreiche frohe und 
glückliche Völker angehäuft troß aller Kriege und Mebeleien, 
welche jo oft ihre Zahl dezimirt haben, und benußen mit 
ametjenartiger Betriebfamleit alled, mas Land und Fluß und 


Meer nur immer Brauchbares bervorbringen. Sa, die Voͤlker 
(367) 


12 


der gemäßigten Zone find die Hauptträger und Stüßen 
der Kulturentwidelung der ganzen Menſchheit! 


D. OÖberflächenformen. 

Obwohl fi und im Vorhergehenden dad Verhältnig zwilchen 
Urſache und Wirkung ganz Har und natürlich darzuftellen fchien, 
jo find doch die Regeln keineswegs jo feft, daß fie nicht in 
mancher Hinficht durchbrochen oder gar aufgehoben würben. 
Befonders find ed die Ungleichheiten der Erdoberfläche, welche 
innerhalb der einzelnen Zonen die klimatiſchen Verhältniſſe 
mannigfach verändern und damit natürlid) auch die Kulturs 
bedingungen derjelben modifiztren. 

a) Hochebenen. 

So heben zuerft die Hochebenen das oben im Allgemeinen 
Geſagte theilweiſe wieder auf; denn fie erheben fich meift als 
jelbftändige Bergiyfteme thurmartig aus ihrer Umgebung und 
befiten in Folge deflen au ein Klima, welches ſtets kälter 
und gewöhnlidh trodener tft, als dasjenige der ume 
liegenden Gegenden. 

So find die Hochebenen innerhalb der gemäßigten Zonen 
im Allgemeinen der Kulturentwidelung nicht günftig; denn eritend 
bieten fie dem Verkehr jchwer zu überwindende Hinderniffe dar, 
und ferner erlauben fie wegen der Unfruchtbarkeit ded Bodens, 
der Heftigfeit des ſcharf über diejelben hinfegenden Windes und 
der Schneeanhäufungen entweder nur eine jchwache oder gar 
feine Befledelung. 

So ftehben die Thäler des rheiniſchen Schiefergebirges 
in einem merkwürdigen Gegenfabe zu der Hochebene. In diejen 
Thälern drängt ſich meift aller Verkehr zufammen, befonders 
lebhaft im Rhein⸗Thale, welches jeit den älteften Zeiten bie 


(268) 


13 


befuchtefte Verlehräftraße zwiichen dem Süden und Norden 
Dentfchlands geweſen iſt. Hier liegen zahlreiche kleinere und 
größere Ortichaften nahe bei einander; auf hohen Felswänden 
und auf Inſeln im Strome zeigen ſich die Weberrefte zahl- 
reicher Burgen; Gärten und Weinberge fteigen von den am 
Ufer ded Fluſſes lang dabingeftredten Ortichaften bis an den 
Rand der Hochebene; die Bevölkerung, im Verkehr mit den 
Reiſenden aller Nationen Europas gebildet, ift aufgewedt, munter, 
leichtlebig, den Stimmungen ded Augenblid8 folgend. Verlaſſen 
wir aber dad Thal und fteigen zur Hochebene felbft hinan, jo 
empfängt und eine andere Welt. Den jchärfiten Gegenfah bilden 
Weſterwald und Eifel. Rauhes Klima und unfruchtbarer Boden 
laffen nur knappe Ernten gewinnen, jo daß die Kartoffel die 
Hauptfrucdht der Felder ift, die zwilchen weiten Wäldern eingeftreut 
liegen. Die fpärliche Bevölferung, welche außer vom Aderbau 
noch vom Waldertrag und bier und da von etwas Bergbau lebt, 
wohnt in Heinen Dörfern, die, obwohl oft nur wenige Meilen 
von dem braufenden Zreiben der Rheinftraße entfernt, dennoch 
wie weltabgeichteden ericheinen; erſt in der Gegenwart erjchließen 
Schienenftränge auch diefe einfamen Gebiete und begaben fie mit 
mannigfaden Induſtrien. 

Aehnlich ift ed in den Ardennen. Diefe wären, entfprechend 
der Gleichartigkeit der das Gebirge aufbauenden Schiefermaffen, 
eine Hochebene von höchfter Einförmigkeit, wenn nicht die Flüffe 
durdy Eingrabung von Thälern manchen Wechſel hervorgerufen 
hätten. Sind jedoch ſchon diefe Thäler meiftend eng und felfig 
und ohne rechten Raum für Anfiedelungen, ſo ſchreckt das eigent- 
liche Plateau geradezu ab durch weite Wälder, ärmlichen Boden 
nnd rauhes Klima. Daher ift die Bevölkerung bier, wie in 
der benachbarten Eifel, jehr dünn und beginnt erft jebt durch 


Eiſenbahnen an den Segnungen bed großen Verkehrs theilzu- 
(269) 


14 


nehmen. (Vergleiche Guthe, Lehrbuch der Geographie, ITS, ©. 
577 und 580). 

In der Tropenzone dagegen ftellt fi das Verhältnig 
wejentlidy anderd, und zwar für die Kulturentwidelung günftig. 
Denn da bier durch die Höhe der Platenur das Klima ders 
jelben bedeutend gemildert ift und tm Holge deffen demjenigen 
der gemäßigten Zone gleich kommt, fo find hier auch die Hinder- 
niffe, weldhe der Kultur in den Tropen fonft entgegenftehen, 
befeitigt. 

So entiprechen in Abeflinien die Landſchaften zwilchen 
1800 und 2400 m, meldhe mit dem Namen Woina-Degad bes 
zeichnet werden, mit einer mittlern Temperatur von 14—15° 
Gelfiuß der tierra templada Mexikos. Hier gedeiht neben 
immergrünen Wäldern Wein, und die Dattel fteigt bid 2400 m 
hinauf. Weiter nad) oben, in dem eigentlichen Degad, finden 
wir unfere europäiichen Kulturpflanzen: Gerfte, Hafer, Klee, und 
ihre Bewohner zeichnen fich durch Intelligenz, Tapferkeit, Kenut⸗ 
niffe und Gefittung vor allen übrigen Afrifanern aus. 

Achnlid) war ed in Mittel-Amerifa, wo fich unter dem 
Einfluß des gemäßigten Hochebenenflimad der Anden, von 
Mexiko bis zum Xiticacafee, zur Zeit der Entdedung durch die 
Europäer eine reiche Kultur entwidelt hatte. Zuerit entwidelte 
fih auf der Hochebene von Anahuac bis zum Nicaraguafee eine 
höhere Kultur bei den Mayavölkern. Gewaltige Bauwerke, 
namentlich große Pyramidentempel und großartige Städteruinen 
(Palenque, nicht fern von der Grenze Mexikos gegen Guatemala; 
Urmal, ſüdlich von Meriva auf Yufatän) zeugen von ihrer 
hoben Kunftfertigkeit. 

Dann wanderten von Norden ber die Tolteken ein und 
bildeten die Kultur der Mayavölfer in hohem Grade weiter, 
bi8 fie ums Sahr 1000 durch Dürre und Peſt beinahe gänzlich 

(270) 


15 


aufgerieben wurde. Nun wanderten die Azteken ein und er- 
bauten im Sabre 1325 die Stadt Tenochtitlan, ſpäter Mexiko 
genannt, und gründeten hier ein Reich, welches in Anbetracht 
der Größe und Macht vollitändig den Despotien des 
Morgenlandes vergleihbar if. Die jeher zahlreihe Be 
völferung des Landes war im Beflß einer Hieroglyphenſchrift 
und zeigte viel Gejchid für Bildhauerei, Malerei und mechanijche 
Künfte. Beſonders eifrig wurden Aders und Gartenbau be 
trieben, wie wir denn bier die erften botanischen Gärten an« 
treffen. Bieleiht würde die Kultur dieſes Volkes noch einen 
höheren Grad der Außbildung haben erlangen können, ald ihn 
die Epanier antrafen, wenn nicht die gänzliche Unbefanntichaft 
mit dem Eijen hinderlid) gewefen wäre. Aber audy jo ſchon 
waren fie erftaunlidy weit vorgefchritten, und die Spanier mußten 
nicht Wunder genug von der Pracht und Herrlichkeit zu erzählen, 
welche fie dort antrafen. 

Ein Gradmefjer ihrer Kultur iſt bejonderd das genau ge⸗ 
ordnete Staatsweſen der Aztefen, wie es einzig in der Geſchichte 
dafteht. Alles Land war im Befitze des Staates und zerfiel 
der Nutznießung nad) in drei große Theile: Sonnenland, von 
deſſen Ertrage die Tempel erbaut wurden und die Prielter ihren 
Unterhalt zogen; Imcaland für Hofftaat und Regierung; der 
dritte Theil war dem Volke zur Benubung gegeben und in fo 
viele Aderloofe getheilt, ald Samtilien da waren. So war fein 
geborner Armer im Lande und Müfftggang wurde ſchwer be= 
ftraft! Die Bergleute, Metallichmelzer, Handwerler arbeiteten 
nur für den Staat, waren alſo gewillermaßen Beamte; der 
gemeine Mann jorgte für feine Bedürfnifie rückfichtlich der 
Wohnung, Kleidung u. |. mw. ſelbſt. Die Gemeinjamteit alles 
Eigenthums machte eö aber leicht, 3. B. ausgedehnte Bewäfjerungd- 


anlagen im regenlojen Küftenlande oder große Heerftraßen anzulegen. 
(am) 


16 


So hatte fi alfo bier in Folge des günftigen Hochlands⸗ 
Himas ein Staat von geradezu bewundernswerther Entwidlung 
gebildet und erregt noch heute unjer Erftaunen. Die Eroberung 
durch ein fo einfeitiges und fanatiſches Volt wie die Spanier 
bat freilich jener eigenthümlich amerikanifchen Kultur raſch den 
Tod gebradht; aber wenn fi) audy in ben genannten Gebieten 
die alte Kultur nicht erhalten bat und die einheimifchen Sprachen 
der ſpaniſchen vielfach weichen mußten, jo haben ſich doch die 
Voͤlker jelbit noch erhalten und bilden in Mexiko, Gentral- 
Amerika, in Peru und Bolivia den beften Theil der Bevoͤlke⸗ 
rung ®). 

b) Berge’). 

Wie die Hochebenen, jo durchbrechen natürlid auch bie 
Berge und Gebirge jene über das Klima im Allgemeinen aufs 
geftellten Regeln. Anders wirkt zunächſt die Süd⸗ oder 
Sonnenjeite, anders die Winter- oder Nordfeite auf die 
Bewohnbarkeit derjelben und damit jelbftverftändlich auf Die 
Kultur. So fteigen auf der von Licht und Wärme gleichlam 
überſchwemmten Südſeite der Alpen die Höfe und Aeder in der 
Negel beträchtli höher hinauf und Itegen viel dichter als im 
verhältnismäßig jchattigeren und darum Tälteren Norden. Wein⸗ 
und Obftbau fuchen mit Vorliebe jene Lage, und dementiprechend 
it auch der Südabhang der Alpen dichter bevölfert als der 
Nordabhang. Weit ungünftiger als jelbit auf der Nordſeite 
der Alpen geftalten fich diefe Verhältniffe in der Danphine. 
In ihren finfteren und traurigen Thälern fieht der Bergbewohner 
nichts als eingeftürzte Felsmaſſen und unfruchtbare Abhänge, 
und der Boden liefert nur mit Widerftreben magere Ernten 
von Gerfte und Kartoffeln. Und nun erft der Winter! Bon 
der Sonne, die ihren Kauf hinter den im Süden aufgethürmten 


hoben Bergen vollendet, jehen die Bewohner meilt nur einen 
(273) 


17 


bleichen Widerfchein auf den entfernten Gipfeln: und dieſer 
traurige Zuftand dauert 3. B. in dem Dorfe Andteur über drei 
Monate! Macht ſchon Died die geringe Dichtigkeit ber Bevölke⸗ 
zung in folhen Gegenden und ihre jebige niedrige Kulturftufe 
erflärlich, jo gefchieht Dies noch mehr durch andere ungünftige 
Umftände. Dem Mangel an Licht Scheint man ed hauptfächlich 
azufchreiben zu müffen, daß in der Dauphind, wie in allen gleich 
ungäünftig gelegenen Hochthälern der Schweiz, der Pyrenäen, 
Neu⸗Granadas u. a. ein bedeutender Progentfaß der Bewohner 
blödfinnig oder mit einem Kropf behaftet ift. 

Hemmend wirft ferner auf die Entwidlung der Gebirgd- 
bewohner die Armutb an Hilfäquellen. Mit der Höhe 
nimmt natürlich audy die Wärme und damit wiederum die 
Menge des nuhbaren Landes ab, ein Umftand, der felbftver- 
ſtaͤndlich eine Erſchwerung des Verkehrs und Austauſches be 
wirft. Abgejehen davon, dab died nun auf die Dichtigfeit der 
Bevölferung ungünftig einwirken muß, erklärt e8 auch die 
Beobachtung, daß fidh bei den Gebirgsvölfern ein gewiſſer 
Wandertrieb geltend macht und bei einigen jogar eine unge- 
wöhnliche Bedeutung für da8 ganze Leben bed Volkes erlangt 
hat. Während nämlich einerjeitd die Armuth und Cinfeitigfeit 
der Hilfsmittel troß aller Schwierigkeiten ein Bedürfnig nach 
Austaufch mit anderen Landfchaften hervorruft, Tann das Gebirge 
anbererfeitö doch nur eine beichränfte Anzahl von Menſchen er- 
nähren; mithin müffen die übrigen hinaus in die Fremde, um 
entweder fi als ländliche Arbeiter zu verdingen oder irgend ein 
Handwerf, und fet ed felbit dad des Krieged, zu treiben, ober 
die feltenen Pflanzen ihrer Thäler, merkwürdige Mineralien, 
jelbftgefertigte Schniereien und dergleichen zu verlaufen. Hier 
bei kommt ihnen die harte Erziehung bes Gebirges oft zu ftatten 


und verleiht ihnen ein Webergewidht über ihre flachländilchen 
xX. 464. 2 (973) 


18 


Nebenbubler. Sehr oft ift diefes Auswandern auch nur ein zeit« 
weiliged. Die meiften übernehmen die oft bejchwerlichen Arbeiten der 
Fremde nur aus Liebe zur Heimath, nur in der beftimmten Voraus- 
ficht, mit dem ſauer Erworbenen möglichft bald wieder zuden Ihrigen 
zurüdkehren zu können, ja fie kehren alljährlich beim Anbruch 
des Winterd in dad alte Neft zurüd. Wir braudjen wohl nur 
die Schweizer, Tyroler, Graubündner, Harzer, Savoyarden und 
Slovaken zu nennen, um unjere Behauptungen binlänglidy zu 
ftüßen 8). 

Doch nicht lauter ungünftige Einflüffe übt das Gebirge 
auf feine Bewohner aus, fondern auch günftige, bejonders 
fräftigende Wirkungen haben wir zu verzeichnen. Das Gebirge 
mutbet feinem Bewohner bedeutende Anftrengungen zu: er kann 
feinen Schritt thun, ohne aufwärts oder abwärts zu fteigen, und 
fo wird fein Körper geftählt, ohne daß er’ed will und weiß, 
und andrerjeit3 werden auch feinem Geifte beftändig jchwierige 
Aufgaben geftellt. Der Hirt, Jäger und Holzfäler bat täglich 
und ftündlich Gelegenheit zur Bethätigung feines Muthes und 
feiner Ausdauer, in nicht geringerem Maße der Aderbauer. Sft 
doch an vielen Stellen.der Boden fo fteil, daß er nur mit der 
Hand urbar gemacht werden Tann; und wie oft trägt ein einziger 
Regenguß die fruchtbare Erde wieder in die Tiefe, fo baß der 
Bauer gezwungen ilt, diefelbe auf den Schultern wieder hinauf 
zufchaffen. Da aber troßdem die erhöhte Arbeit die Armuth des 
Bodens und die Ungunſt des Klimas kaum auszugleichen vermag, 
jo haben fich befonders in Gebirgäländern überall Hausinduftrien 
eingebürgert und find oft zu hoher Blüthe gelangt: Uhrmacherei 
im Schwarzwald und Jura, Spitenflöppelei im Erzgebirge, Ab⸗ 
richten von Singvögeln und Scyniberei im Harz und Thüringer 
Wald, Metallarbeiten bei den Kaukaſus- und Schanvölkern, 
Weberei bei ben Kaſchmiris. So fehr dies aber auch von dem 


(274) 


19 


praftiihen Sinn und der Tüchtigfeit der Bergbewohner zeugt, 
jo liegt Doch darin gerade ein Moment, welches der Kulturent- 
widlung nicht günftig if. Denn während die Beſchränkung auf 
das Leben im Innern des Haufed, wie fie der harte Winter zur 
Folge hat, den finnigepoetifchen Zug der Gebirgävölfer wedt und 
nährt, führt He zugleich zu einem einfeitigen Streben nad) Be⸗ 
wahrung alter Eitte und zu jener faft Tranfhaften Heimatböliebe, 
welche eine charakteriftifche Eigenfchaft aller GSebirgsbemohner bildet. 

Wie plöglich und unmwiderftehlicy den Bergbewohner diefer 
Trieb zum Baterlande ergreift, daS zeigt und am beften die erfte 
Strophe des befannten Bolföliedes: 

„zu Straßburg auf der Schanz', 

„Da ging mein Xrauern an, 

„Das Alphorn hört ich drüben wohl anftinmen, 
„Ins Baterland mußt' ich hinüberſchwimmen: 
„Das ging nicht an! 

In den flachen Ländern erinnert er ſich mit Rührung an 
die hohen Gipfel ſeines Gehurtslandes in ihrer großartigen 
Schönheit, wo die Bruſt viel reinere Luft athmet, erinnert er 
fih an die fchmalen, lieblichen Wiefen-am Rande der Abgründe, 
an die fchäumenden Seen, die grauen, bemooften Klippen, an 
die weißen Scyneefelder und die himmelhohen Seljenipigen, die 
fo wunderbar im Abendroth oder im eriten Morgenfonnenftrahl 
leuchten und glänzen, und mit unbefiegbarer Gewalt treibt es 
ihn zurüd in fein bejchränftes Thal. 

Rechnen wir nun zu dem allen noch die trennende und 
ſcheidende Wirkung, welche dad Gebirge auf die Völker in 
feinem Innern ausübt — man braudt nur an die Zerfplitterung 
der Stantenbildung in Griechenland, der Schweiz, im Himalaja» 
Gebiet, in Afghaniftan zu denken, um dieſe Wirkung zu erfennen; 


ja felbft Deutichland, obwohl nur von Mittelgebirgen durchzogen, 
| 2 0m) 


20 


mußte einft in diefer Reihe genannt werden, bi die hohe Ent⸗ 
widlung der Verkehrsmittel viel von diejen Unterſchieden be- 
feitigt hat — jo begreift man leicht, warum die Bewohner 5. B. 
des Raufafus, der Pyrenäen und vor allem ber Alpen, die dody 


fo kräftig, ausbauernd und muthig find und jo viel Tapferkeit 


entwidelten, wenn ed galt, ihr Vaterland zu vertheidigen, 
niemald dauernde Eroberungen in den benachbarten Gegenden 
gemadyt haben: nach jedem Siege kehrten fie in ihre beſchränkte 
Heimath zurüd und zerftreuten fich in ihre einfamen Thäler, 
um in Ruhe und Frieden ihr durch Gewohnheit lieb gewordene 
Leben fortzufegen. 

Wenn aljo dem Gebirge auch mande günftige Ein— 
flüſſe zugeftanden werden müffen, jo fünnen wir dody 
zujammenfajjend mit vollem Rechte Jagen, daB aud 
diejed im Allgemeinen die Kulturentwidlung feiner Be— 
wohner nicht jJonderlich befördert, weil ed einerfeitd den 
Verkehr hindert und andrerſeits der Zerjplitterung der Bewohner 
Vorſchub leiftet; günftige Folgen des Gebirgslebens für ein Volk 
erwacdhien nur da, wo Aderbau und Hirtenleben nahe beifammen 
liegen oder doch innig verbunden find, wie in den meiften Ge- 
birgen Europas. 

e) Ebenen. 

Daß auch die Ebenen, d. h. jene ausgedehnten, viele 
Zaufende von Quadratmeilen bededenden Ylächen, welche wir 
unter dem Namen von Steppen und Wüften in allen Erd» 
tbeilen finden, der Kulturentwidlung ihrer Bewohner jo wenig 
entgegenfommen, liegt hauptſächlich an der Armuth ihrer Hilfs- 
quellen, welche vorwiegend auf ihrer Zrodenheit beruht, und 
femer an der Einförmigfeit und Unbegrenztbeit ihrer Räume. 
„Die Armuth der Hilfäquellen,” jagt Ratzel,“) „läbt jened den 


männlichen Zugenden im barbarijhen Sinne, d. h. den kriege⸗ 
(376) 


21 


rifchen, Ihädliche Hebermaß der Kultur nicht auflommen, fondern 
erjchwert vielmehr die Befeftigung des Eigenthumsbegriffs und 
verewigt die Zwiftigfeiten der Stämme. Die Räubernatur ift 
"den Steppenvölfern, man möchte faft fagen, angeboren und tritt 
im Kleinen und Großen hervor; ja auch jelbft in ihren größten 
geſchichtlichen Aktionen verleugnet fie fi nicht. Vom Islam in 
der Entjtehung fügt Kremer: Es war ein Geichäft zum Betrieb 
des Raubes und der Plünderung en gros wider alle Anders- 
gläubigen gegen Vertheilung des Arbeitögewinnes, und Sprenger: 
die einzige Erwerbsquelle, welche allen Muslimen offenftand, 
war Raub. Sie wählten fie, und der Islam wurde zur Religion 
der Aggreifion.“ 

„Die Schwierigfeit des Anbaus,“ ſagt Nabel weiter, „liegt 
in dieſen Gegenden hauptſächlich in der Waſſerarmuth, welche 
einmal fchwer und immer nur in beichränfttem Maße durch 
Kanalanlagen zu beheben ift und niemals ganz abhängig gemacht 
werden fann von der unberechenbaren Ungleichmäßigfeit der 
Niederfchläge, während auf der andern Seite auch die forgfältigite 
Kultur auf diefer fchmalen, von Natur bejtändigem Schwanfen 
ausgeſetzten Bafis immer unficher bleibt." Durch diefe Unficher- 
heit des Aderbauesd ift auch der Vermehrung der Bevölkerung 
eine beftimmte Grenze gefeht, und die Mühfeligfeit deffelben 
verichärfte unzweifelhaft den Gegenfaß zwiſchen Aderbauern und 
Nomaden; denn während jene durch die harte Arbeit unter- 
nehmungslos wurden und fidy leicht unterdrüden ließen, erzeugte 
dad Nomadenleben dad Gefühl der Unabhängigkeit, Selbftver- 
trauen, Kühnheit und in Verbindung damit zugleich die Noth⸗ 
wenbigkeit des Zufammenhaltes und einer feften Organijation. 
Diefer Gegenfab mußte naturgemäß jene dauernden Reibungen 
und jenen beftändigen Widerftreit der unverſoͤhnlichen Gegen- 
fäße herbeiführen, welche der Kultur fo hinderlich find. 


(377) 





22 


Drüdte jo die Trodenheit und der auf ihr berubende 
bald haiden-, bald wiejenartige, ftet3 aber niedrige Pflanzen- 
wuchs, welcher den Wald und in weiten Eritredungen fogar 
jeden Baumwuchs ausſchließt, der Steppe und Wüſte den 
Charakter höchſter Einförmigkeit auf, fo wird diefer noch ver- 
Ihärft durdy die Gleich und Einförmigkeit der Bodengeftalt, 
welche einerjeitd Verdumpfung und Erichlaffung erzeugten, 
andrerjeitö aber in Berbindung mit der Unbegrenztheit der 
Räume Ruhelofigfeit und Unftätigfeit hervorbrachten, denn das 
durch wurden die Steppen zum Zummelplaß rafte und heimath⸗ 
Iofer Völker und in ihnen die Bölferwanderung in Permanenz 
erklärt. „Um nicht weiter zu geben, ald an die Pforten unfers 
Erdtheils, erinnern wir an die Flachländer Südofteuropad an 
der untern Donau und an den Nordzuflüſſen des Schwarzen 
Meered. In diefen Flachländern drängte, foweit die Geſchichte 
geht, beitändig ein Volk das andere, und alle drängten weſt⸗ 
und ſüdwärts. Co dürfen wir wohl zuerft annehmen, daß die 
Scythen die Kimmerter vor fih ber fchoben, fo famen dann die 
Sarmaten nach den Scythen, die Avaren nad) den Sarmaten, 
die Hunnen nad) den Avaren, die Tataren nad) den Hunnen, 
die Türfen nad) den Tataren.“ — Noch heutzutage jpielt fi 
der fteppenhafte Zug im Leben der Völker, welche jene Gegenden 
bewohnen, fort, und der Staat, ber dafelbft erwachſen ift, Ruß⸗ 
land, verleugnet nicht ganz jenen nichteuropäifchen Charalter. 
Alle Steppenvölfer fonnten wohl erobernd die Welt durchziehen, 
aber zu einer höheren Kultur hat e8 keins von ihnen gebradit, 
denn niemand wird behaupten wollen, daß Rußland an ber 
Spite der Civiliſation marſchirt. 

Bei den Wüften fommt als ungünftiged Moment zu den 
erwähnten noch hinzu ihre Unwegſamkeit, wodurch fie für Natur» 


völfer ohne ausgebildete Beförderungdmittel unüberjchreitbare 
(878) 


23 


Grenzen bilden. So trennt die Sahara die zwei Raflen Afrikas 
noch immer, und füblih von der Kalahari»Wüfte finden wir 
andere Völkerſtämme als nördlich von ihr. 

Denn aljo die Steppen und Wüften lediglich den Eroberungs⸗ 
trieb bei ihren Bewohnern erweden und unterftüben, ja wenn 
fie fogar bindernd und trennend für den Verkehr wirken, jo 
fönnen aud fie natürlich nicht als Stätten höherer kultureller. 
Entwidlung betrachtet werden. 

| d) Das Wafler. 

Wenn ſchon der feite und ftarre Theil der Erdoberfläche 
fo tiefgebende Wirkungen auf die Menſchen ausübt, wie viel 
mehr muß dies bei dem flüffigen und veränderlicdhen Elemente 
der Fall fein! 

Der Blid auf dad immer bewegte, ſtets veränderliche und 
doch immer jo jhöne Meer regt zunächſt Sinn und Einbildungd- 
Traft nach den verichiedenften Richtungen an. Faſt für alle 
Menſchen hat daher, Die Bewegung der Meereömogen eine eigen- 
thümliche Anziehungskraft, und bejonders wilde Völker, die ja 
Natureindrüden fo leicht zugänglich find, unterliegen dieſer Ber 
zauberung überall und unbedingt. Darum ift auf den Südjee- 
Snieln, die noch von folden rohen Naturvölfern bewohnt werden, 
nur der Strand bevölkert. Die fleinen Antillen und die zer- 
ftreuten Inſeln im Atlantifhden Dzean, jowie die Inſeln 
. Mauritius und Reunion im indilchen Meer find fait ſämmtlich 
nur an ihren Küften bewohnt, dad Innere dagegen blieb lange 
Zeit faft unbefannt, obwohl die Kolonijten, weldye meiftensd aus 
kaͤlteren Gegenden gelommen waren, Doc, vielleicht ein Intereffe 
hätten haben follen, in den hoben Thälern und auf den Abhängen 
der Berge ein Klima 'zu fuchen, welches dem ihrer Heimath 
fehr ähnlich war. Bon dem Gefallen an dem flüffigen Elemente 


zum Benupen oder vielmehr Betreten defjelben tft aber nur ein 
279) 


24 


Schritt, den freilich manche Völker auffallend ſpät ‘oder überhaupt 
nicht gewagt haben, wie z. B. alle Südafrikaner, fei es aus ange 
borner Trägheit und geiftiger Befchränftheit, ſei ed, weil ein reiches 
Hinterlaud fie reichliche Früchte, wenn auch mühevoll, fo doch 
fiher gefahrlofer ernten ließ, fei es endlich, dab die Küften der 
Häfen entbehrten oder mit Klippen und Sandbänken umjäumt 
und darum der ganzen Wuth der Wogen und Stürme aus- 
gejegt waren und dab in Folge deffen den Anwohnern die Luft 
verging, fi) den Gefahren und Mühſalen audzufehen. 

Wo dagegen die Küften von verhältnißmäßig ruhigem 
Waſſer befpült und mit zahlreichen Ginjchnitten verſehen 
waren, fo daß die Schiffe überall leicht und jchnell vor dem 
Stürmen Zuflucht und Schub fanden, und wo ferner zu diefen 
günftigen Verhältuiffen noch die Nachbarſchaft einer oder vieler 
Sufeln fich gejellte, die mit ihren verfehwimmenden Umriffen 
die Neugier reizten und dadurch eine faſt magiſche Anziehungs- 
fraft auf den Befchauer ausübten: da haben fi die Bewohner 
bald dem inneren Zriebe überlaffen, welcher fie auf die Woge 
binauslodte, da bat ſich faft in demjelben Maße, wie bei den 
Bewohnern der Ebenen, die Liebe zum Raum und damit zum 
Reifen entwidelt und ift damit jenen Völkern eine der glüdlidy 
ften Bedingungen für die Kulturentwidelung erwachſen. So 
war die Juſel Cypern den Phöniciern gleichſam die Brüde zum 
Meere, die Infeln des ägäifchen Meeres lockten Griehen und 
Kleinafiaten auf die See hinaus, die Inſel Elba bildete einen 
Ruhepunkt auf dem Wege von Italien nad) Korfita und Spanien, 
Großbritannien war dad nächſte Ziel der gegenüberwohnenden 
Völker. So bot die Seefahrt den Völkern überall unbeichränfte 
Möglichkeit der Ausbreitung, und gerade von Natur Kleine Ger 
biete erlaugten dadurch Wirkungskreiſe, welde in feinem 


annähernden Berhältniffe zu ihrer eigenen Ausdehnung ſtau⸗ 
(230) 


25 


den. An fich unbedeutende Völker und Länder haben ſich durdy 
die Seefahrt fogar den Weg zur Weltherrichaft geöffnet,1°) 
man denke nur an die Phönicter, Karthager, Venezianer, 
Genuejen, Portugiefen, Niederländer und ngländer; das 
britiſche Weltreich enthält fiebzigmal fo viel Duadratmeilen 
und fiebenmal fo viel Einwohner ald das Mutterland. Und 
wenn auch foldye Herrichaft über fremde und beſonders ent» 
ferntere Geftade meift nicht von allzulanger Dauer war, fo 
bietet dagegen der ausgedehnte Handel, der mit der Seeherr⸗ 
fchaft unzertrennbar verbunden tft, Reichthümer, welche nicht 
ebenfo leicht vergeben, jondern für die Entwidlung der 
materiellen, wie beſonders der geiftigen Kultur des Volkes von 
um fo längerer Wirfung fein können. 

&8 bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß auch die Seen 
an diefer die Kultur befördernden Wirkung theilnehmen, ja es 
tommt bei ihnen noch al8 befonderd günftig der Umftand hinzu, 
ba fie auch eine vereinigende und zujammenfallende Wirkung 
auf die Anwohner ausüben. Die Seen „halten die Einzelbilder 
zulammen, aus weldyen eine Landſchaftsbild fich zufammenjeßt, 
indem ihr ruhiger Spiegel einen ruhigen und beruhigenden 
Mittelpunft demjelben verleiht”. So konnte Sohannes v. Müller 
mit Recht behaupten, dab ohne den Viermwaldftätterfee die Eid» 
genoffenfchaft nicht entftanden wäre. 

Die Flüſſe endlich bilden eine nothwendige Ergänzung 
der Meere und Seen, indem fie einerjeitd die Bewohner leicht 
ind Meer hinaus und andrerjeitS die Seevölker wieder ind 
Innere der Länder führen. Die Bedeutung eines reichen und 
mit dem Meere in offener Verbindung ftehenden Flußnetzes für 
den inneren und Äußeren Handelöverfehr hat man audy überall 
erfannt, und Völker, welche wie Holland und England zu ben 


erften Handeld- und Verkehrsmächten gehören, verdanken diefen 
(381) 


26 


ihren Borrang mit in erfter Linie ber günftigen Ausftattung 
ihrer Länder mit fchiffbaren Flüſſen und der Eugen Ausnußung 
dieſes Schatzes. 

Außerdem tritt bei den Flüſſen die völkerverbindende Wir⸗ 
kung nicht minder ſcharf hervor, beſonders wo fie und ihre 
Thäler als Verkehrsſtraßen größere Bedeutung haben. So find 
in Europa die Ufer faft jedes größeren Fluſſes faſt ununter⸗ 
brochen von Häuſern, Gärten und Ackerfeldern begrenzt, und 
am Zuſammenfluß des Haupiſtromes mit den Nebenflüſſen find 
Städte und Dörfer erbaut. Seine und Loire, Themſe, Rhein, 
Elbe, Dder, Donau find im Grunde nur lange fortlaufende 
Straßen einer unermeßlichen Stadt, welche fi von der Duelle 
bis zur Mündung erftredt. Leicht werden daher in der Phan⸗ 
tafie der Bölfer die Ströme und Flüffe zu ehrwürdigen, jagen» 
ummobenen Befigthümern, ja felbit Heiligthümern, wie 3. 2. 
der Rhein. 

„Wie das hiftorifche Leben, jagt Nabel, von den Quellen 
zur Mündung ded Stromes wädlt, in dem Maße, wie feine 
Nebenflüffe ihm immer neue Waffermafjen zuführen und feine 
Bahnen erweitern, dad hat der größte Dichter der Natur in 
Mahomets Gefang mit einem fo binreißenden dithyrambijchen 
Accent der Welt: und Naturfreude verfündet, daß jeded neue 
Wort vergebens wäre: 

Bäche fchmiegen 

Sich gejellig an. Nun tritt er 

In die Ebne filberprangend 

Und die Ebne prangt mit ihm. 

Und die Zlüffe von der Ebne 

Und die Bäche von den Bergen 
Jauchzen ihm und rufen: Bruder! — 
Nimm die Brüder von der Ebne, 


Nimm die Brüder von den Bergen 
(283) 


27 


Mit, zu deinem Vater mit! — 
Und nun fohwillt er 

Herrlider; ein ganz Geſchlechte 
Trägt den Fürften hoch empor, 
Und im rollenden Triumphe 
Giebt er Ländern Namen, Städte 
Werden unter feinem Fuß. 

— — — Gaulend 

Wehen über feinem Haupte 
Zaufend Flaggen durch die Lüfte, 
Zeugen jeiner Herrlichkeit. 

Und fo trägt er feine Brüder, 
Seine Schäße, feine Kinder, 
Dem erwartenden Erzeuger 
Freudebraufend an das Herz. 

So dürfen Meere und Flüffe zulammen einem Herzen vere 
glichen werden, das mit feinem flüffigen Leben die Starrheit 
der Erde lebenfpendend durchtränkt.“ 

Troß alle dem wäre e8 ein Irrthum zu glauben, dab daß 
Leben auf und am Waſſer unbedingt der Kulturentwidelung 
günstiger jet als das Landleben; denn auch ein reined Seeleben 
macht einfeitig. Seefahrer find trotig und unerjchroden; denn 
fie begegnen dem Tode unter taufend Seftalten, und die Kämpfe 
mit den Stürmen find zu fchredlih, als daß fie vor Menſchen 
zittern follten; Seefahrer befiten ferner Beharrlichfeit und Kalt 
blütigfeit, weil die Gefahren in jedem Augenblide drohen fünnen 
und man zum Siege über die Natur nicht den Muth der Bes 
geifterung, ſondern Weberlegung und Ausdauer nöthig hat. 
Darum find aber auch ihre Ideen einförmig und nüchtern; fie 
befiten wohl Kraft und Zähigkeit, aber jelten Anmuth und 
Milde; endlicy tritt als der Kultur feindlich bei allen eine ge- 
wiſſe Beweglichkeit und Unftätigkeit hervor, welche fie ald Söhne 
bed Dzeand gleichſam als einen Reflex der ewig beweglichen 

(288) 


28 


Woge zu bewahren pflegen. Nur wo fidy diefe Eigenichaften 
durch Berührung mit anderen, nichtefeefahrenden Bevälferungen 
abjchleifen und mildern, nur da kann für die Kultur Eripieb- 


liches fich geftalten. 





Zuſammenfaſſung. Wie alſo klimatiſch die gemäßigten 
Zonen für die Kulturentwickelung der Menſchen am günſtigſten 
waren, ſo find es in Bezug auf die Oberflächenformen der Erde 
offenbar die Länder, in welchen wohl bewäſſerte Thäler mit 
Bergen oder Hügeln abwechſeln, wo alſo die Landſchaft zwar 
ſchön iſt, aber einerſeits der Einförmigkeit der Tiefebenen, 
andrerſeits aber auch der wilden Pracht und Einſamkeit jener 
Hochgebirgäthäler entbehrt; es find die Länder, welche von 
Strömen und Flüffen, den Lebendadern der Kultur, durchs 
floffen und jo dem Verkehr geöffnet find, Länder endlich mit 
vielgeftalteten Küftenumriffen, welche bhinaudfchauen auf das 
Meer, anf benachbarte Snfeln und Snjelreihe. Denn nur in 
ſolchen Tann ſich einerjeits der Aderbau erfreulich entwideln, 
während andrerjeitd fich gegen die benachbarten Häfen der 
Handel richtet, um die Erzeugniffe des Sulanded mit fremden 
Produkten zu vertaufchen; nur bier bleiben die Bewohner vor 
den Einfeitigfeiten nur einer Lebensweiſe, des Land» oder Sees 
lebend, bewahrt; denn bier treten fortwährend die jeßhaften, 
rubigen und fo regelmäßig lebenden Aderbauer mit den beweg« 
lihen, abenteuerliebenden Anwohnern des Meered zujammen, 
bier fchleifen fi die Gegenjäte ab, beftändig milchen und 
durchdringen fich Ideen mit Ideen, kurz, bier vereinigen fi 
die großen Intereſſen der Menjchheit und zeitigen als herliche 
Früchte Kultur und Civiliſation. 


(284) 


II. Die Metall: und Mineralfchäßge der Erde, 


Eine wichtige Rolle in der Kulturgefchichte der Menichheit 
ipielte ferner da8 Borfommen der Metalle, beſonders von Gold, 
Silber, Erz, Kupfer und Eifen, ſowie die im Innern der Erde 
aufgefpeicherten Vorräthe von Edelfteinen, Marmor, Gips, Salz, 
Steintoblen u. a. Es würde den Rahmen diejes Vortrages 
weit überjchreiten, wenn wir näher auf die Tulturgefchichtliche 
Bedeutung der Edelmetalle, des menſchlichen Schmudes, der 
werthvollen Mineralien, namentlidy der Steinfohlen und des 
Salzes, vor Allem aber des Eifend, eingehen wollten. Nur 
wenige Bemerkungen wollen wir hier und geftatten. 

Kalifornien war vor vierzig Jahren nody jo gut wie unbes 
fannt; die Stadt San Franzidfo zählte im Sahre 1845 etwa 
30 weiße Bewohner, im Jahre 1850 aber ſchon 15000, im 
Fahre 1860 ſechs und ſechzig Tauſend, im Sahre 1880 
aber zweihundert und fünfzig Zaufend Einwohner, fie tft alfo 
durch ihre reichen Goldlager einer der großen Mittelpunfte 
menfchlicher Arbeit geworden; denn nach dem Abnehmen der 
Minenerträge haben fich viele Goldgräber zu dem ficherer 
Iobnenden Aderban gewandt und aus der ehemaligen Cinöde 
blühende Fruchtgefilde gejchaffen. 

Wem verdantt England feine Herrihaft auf dem Welt 
marfte anderd, ald feinen ungeheuren Schäten an Steinkohlen? 
Und welch reiche Blüthe des Handeld und der Snduftrie hat in 
Deutſchland die Kohle hervorgerufen! Durch das rhetnifch- 
weitfäliiche Kohlenbeden ift Rheinland Weftfalen die induftriell 
am mächtigften entwidelte Provinz des deutſchen Reiched gewor⸗ 
den, Namen wie Eſſen, Dortmund, Bodyum, Oberhaujen, Hamm 


u. a. ftrahlen in hellem Lichte, im Aachener Kohlenrevier jehen 
. (285) 


30 


wir eine hochentwidelte Snduftrie in Eifen, Blei, Zink, in Web- 
waaren aller Art, Papier, Glas u. ſ. w. erblüben, wie ſich auch 
die Saargegend durd Eiſen- und Glashütten, Thonmaaren, 
chemiſche Produkte und dergleichen eine angefehene Stellung 
erworben hat. Endlich erinnern wir noch an Oberfchlefien, Sachſen 
u. a., deren Bedeutung ebenfalld lediglich auf der Kohle beruht: 
Wenn irgend ein Land, fo ift Deutichland durch feine Koblen- 
ſchätze befähigt und beftimmt, der englifchen Weltmacht erfolg» 
reiche Konkurrenz zu machen. 

Was fol ih nun über das Eifen fagen? Es ift das 
nüblichfte und ohne Frage unentbehrlichſte aller Metalle, feine 
tulturgefchichtliche Bedeutung reicht daher in die älteften Zeiten 
hinauf und fteigert fi) noch heute von Tag zu Tage; denn täglich 
dehnt fich das weltumfaſſende Eifenbahnneb, deffen Länge ſchon 
jebt etwa 45 000 Meilen oder 334 000 Kilometer, d. h. mehr 
beträgt, als der achtfacdhe Umfang der Erde, weiter aud und ver- 
breitet überallbin Kultur und Givilifation. 

Genug, wo die Mineral» und befonderd die Metallichäbe 
nicht zu Mißbrauch und Ausfchweifung geführt haben, da haben 
fie überall höchft fegenbringend gewirkt, ja, wir Tönnen im 
Allgemeinen fagen, daß fi ohne fie die Kultur der Menſchen 
ſchwerlich zu ihrer heutigen Höhe entwidelt haben dürfte. 





IV. Die Thier⸗ und Pflanzenwelt. 


Auch über die Zulturhiftorifche Bedeutung ber Thier- und 
Pflanzenwelt!) können wir nur wenige zerftreute Bemerkungen 
anfügen. 

Ohne Rind und Roß war eine intenfivere, den gefteigerten 
Anforderungen genügende Bebauung des Ackers unmöglich. In⸗ 


folge des Mangels an ſolchen nutzbaren Thieren fehlte in Amerika 
(286) 


31 


bei den Ureinwohnern die Moͤglichkeit der Entwicklung von 
Hirten⸗ und Ackerbauvölkern; nur wenige ackerbautreibende 
Nationen und daneben Jäger fanden ſich daher bei der Ent- 
dedung vor. Durch die Einführung unferer Herdenthiere hat 
fi aber dad Ausfehen ded Landes vollitändig geändert, es iſt 
durdy diefe in Wahrheit der Kultur gewonnen worden. — Das 
Renthier allein macht die Polarzonen bewohnbar, indem es 
dem Menjchen alle Bebürfniffe befriedigt; in Nordamerika hat 
man ed zu zähmen uidht verftanden, und daraus erflärt fich der 
Gegenfag der Armuth, Noth und Wildheit der Eskimos und 
nördlihden Indianerſtämme gegenüber dem behaglicheren und 
friedlicheren Dafein der Polarvölker der alten Welt. — Was wäre 
- der Sohn der weiten pfadlojen Sandwüſten und öden Steppen, 
der Araber, ohne jein Kamel! Und feitdem ed durch den Ein- 
brudy der Araber über ganz Nordafrika bis füdlich zum Niger 
verbreitet worden ift, hat eine neue Periode in der Gefchichte 
auch dieſes Erdtheild begonnen. — Aehnliche Bedeutung hat ber 
Elephant für den Indier, dad Lama für den Südamerifaner. 
— Im Norden als Zugtbier bei Winterfchlittenreifen geradezu 
unentbehrlih, ift der Hund überhaupt in allen Zonen dem 
Menſchen ein freundlicher Begleiter, ein nüblicher Gehilfe bei 
Jagdzügen und ein treuer Wächter des Hauſes. — Selbſt 
manche wilde Thiere find für Volkerverkehr, geographiiche 
Entdedungen und geihichtliche Berhältniffe von hoher Bedeutung 
geworden, wir nennen nur die Pelzthiere und den Clephanten; 
nicht minder verdient endlich der ozeanifche Fiſchfang erwähnt 
zu werden. 

Ebenfo wie durch Vorfommen oder Fehlen der Thierwelt 
ift die menſchliche Geſellſchaft auch durch die verjchiedene, bald 
reichere, bald ärmere Entwidlung der Pflanzenwelt an ben 
verichiedenften Stellen der Erde aufs mannigfadhite gefördert 


(287) 


32 


oder gehemmt worden. Das reiche Vorkommen und üppige 
Wachsthum unjerer Getreidearten rief die alten Kulturftaaten 
in Mejopotamien hervor; der Anbau des Reis hat das chinefiſche 
Bolt von den Bergen in die weiten Ebenen des chineftichen 
Zieflanded geführt und dort eine ungeheure Bevölkerung fich 
anfammeln laffen. Der gänzliche Mangel an nugbaren Gewächlen 
hielt die Rothhäute Nordamerilad fowie die Urbevölkerung 
Auftraliend auf der Stufe des Jagd» und Sammellebend zurüd, 
und den thatkräftigen Einwohnern Neufeelands mußte es wie 
eine Erlöſung erfcheinen, ald ihnen dur die Ginführung 
europätfcher Kulturpflanzen die Möglichkeit zu höherer Ent- 
widlung gegeben wurde. — Wer möchte ferner nicht die faft 
geometrijch regelmäßigen Formen der Cypreſſe, Pinie und Palme 
in der Maffiichen Formenſtrenge der antiten Poefie oder die übers 
wältigende Fülle und den ungeheuren Sormenreihthum des 
indischen Waldes in der Maplofigkeit der religiöfen Vor⸗ 
ftelungen der Indier wiedererfennen! Und die gothiſche Bau⸗ 
kunſt bat ihre Formen im Einzelnen fidher dem hochſtämmigen 
deutſchen Laubwalde entlehnt. — Wie hätte fich im ſolchen Län⸗ 
dern, wie die Sahara ober Gentralaften, welche, durch Boden 
bildung und Elimatiiche Verhältniſſe gezwungen, fidy ſpröde der 
Einführung neuer Formen widerfepten und daher auf ihre ein« 
förmige und ärmliche Vegetation beſchränkt bleiben mußten, die 
Kultur höher entwideln können; wie viel reicher konnte fich 
dagegen das induftriellee commerzielle und geiftige Leben in 
einem Lande, wie 3. B. Europa, entfalten, welches im Stande 
war, neben feiner eigenthümlichen Pflanzenwelt auch die Gaben 
der Fremde aufzunehmen! Denn wie die Kulturpflanzen von 
Dften nach Weiten, von Süden nad) Norden gewanbert find, fo 
auch die Kultur in jeder Geftalt. Aus Afien ftammen unfere 
Baum⸗ und Feldfrüchte, eben- daher auch unjere Märchen und 


(288) 


33 


Sagen, unſere religiöfen Syfteme, alle grundlegenden Erfin- 
dungen und Anfänge techniicher Künfte Griechenland und 
Stalien aber, welche uns dieſe Errungenjchaften übermachten, 
fügten noch hinzu edlere Sitte, tieferes Denken, ideale Kunft, 
humane Zwede und die höheren Formen politiſcher und foctaler 
Gemeinſchaft. 

Damit ſoll natürlich nicht gefagt fein, daß in Betreff der 
Thier- und Pflanzenwelt, abweichend von den übrigen Punkten, 
das tulturfördernde Moment in dem Reichthum an Gaben liegt, 
— denn ſonſt müßte ja die Tropenzone bei ihrem unendlichen 
Meberfluß die Entwidlung des Menſchen am beften unter: 
ftügen, während in Wirklichkeit dad Gegentheil der Fall ift, — 
Sondern das fit die günftigfte Erdftelle, wo der Menich unter 
Zufammenwirfung der anderen günftigen Bedingungen, wie 
Klima, Bodenbeichaffenheit und Bewaͤſſerung, durch eine gewiſſe 
Mannigfaltigkeit der Thier- und Pflanzenformen in den Stand 
geſetzt ift, fi vermittelft feiner Arbeit in Aderbau und Vieh⸗ 
zucht aus feiner örtlichen Beſchränktheit herauszureißen und fich 
eine Unabhängigkeit von den Zufällen der Natur zu verichaffen. 


Trotz der Richtigkeit und Unanfechtbarkeit des gefundenen 
Reſultats, daß nämlich alles, was den Menfchen mit den 
Menihen in innige Berührung ſetzte, fördernd auf feine 
Kulturentwidlung wirkte, dagegen alled, was ihn einfeitig 
machte und abjonderte, feine Entwidlung erichwerte, wäre e8 
doch ein großer Irrthum, zu glauben, daß unfere heutige 
Kultur lediglich ein Prodult der äußeren Bedingungen ſei. 
Im Gegentheil! Es kam überall auch darauf an, dab das 
rehte Volk an die rechte Stelle gelangte: nur wo fi} zum 
begünftigten Lande der begabte Menjchenichlag fand, nur da 


wurde die Kultur wirklich gefördert. So haben vor den 
xX. 464, 8 (289) 


34 


Griechen zahlreihe Barbarenftämme lange Zeit die Balkan 
halbinfel und die Küfte von Sleinaften bewohnt, ohne eine 
nennendwerthe Kultur hervorzubringen, und an dem flumpfen 
Geiſte der Türken gehen alle Einwirkungen der einft und noch 
immer fo reichen Natur der Mittelmeerländer ſpurlos vorüber. 
Die äußeren Bedingungen fonnten wohl den Fortſchritt erleich- 
tern, aber die Benubung der Vortheile und Grleichterungen 
war die eigenfte That der Menichen! 

Allerdings haben die Naturverhältniffe lange Zeit faft wie 
ein Berhängniß auf dem Entwillungsgange der menſchlichen 
Geſittung gelaftet, die Kulturgejchichte darf daher den Wohnort 
der einzelnen Völker und die natürliche Audftattung defjelben 
keineswegs unbeachtet laſſen: aber jene Herrſchaft wurde mit 
jedem Fortſchritt der Kultur loderer, injofern ed dem Menſchen 
gelang, ſich mehr und mehr dem Einfluß zu entziehen, die 
Naturgewalten ſich zu unterwerfen und den Wohnort ſchließlich 
in ein Produkt feiner Thätigkeit und Kunft zu verwandeln. 
Durch den ftetd ſich fteigernden Verkehr und Audtaufch der 
Ideen kamen die Fortjchritte des einzelnen Volkes der ganzen 
Menſchheit zu gute, und feitdem die Erde, welche man bi3 
dahin ohne Grenzen glaubte, Dank den Entdedungen eines 
Kopernifus und Kepler fih im einen Heinen Planeten verwandelt 
hat, find die Bewohner defjelben einerjeitd zum Bewußtſein 
ihrer Kraft gelangt und haben fich die Herrſchaft über den 
Erdball immer mehr angeeignet, amdererjeitd aber tft audy das 
Bewußſein der Einheit ded Menſchengeſchlechts erwacht und 
läßt die Menjchheit mehr und mehr ald eine große Familie 
fi fühlen. Nicht am wenigften bat hierzu die Benußung 
zweier Kräfte beigetragen, welche die moderne Zeit jo eifrig 
pflegt: des Dampfed und der Gleftrizität. Denn obwohl faum 


ein halbes Sahrhundert vergangen ift, feitdem im März des 
(390) 


II | 
. 35 


Sahres 1829 der erſte Schienenweg zwilchen Liverpool und 
Mandhefter mit Dampffraft befahren wurde, giebt ed vermöge 
der ungeahnten Ausdehnung des Eiſenbahnnetzes heute Teine 
Entfernung mehr, und gleichzeitig verfündigt das Wort bes 
Menichen, von den Flügeln der Elektrizität mit einer Schnellig- 
keit, welche jelbft die ded Sonnenlichtes übertrifft, von Ort zu 
Drt getragen, die Wahrheit deifen, was Columbus an bie 
Königin Iſabella jchrieb: 

„Die Erde ift nicht gar groß, viel Heiner, als dad Boll 
es wähnt!” 


(291) 


Anmerkungen. 


1) Die Herausgabe diejed Vortrags, der ſchon im Jahre 1879 ge- 
halten worden war, ift veranlaßt durch das Erſcheinen des Werkes von 
Ratzel, Anthropo-Geographie oder Grundzüge der Anwendung der Ert- 
tunde auf die Geſchichte. Stuttgart 1882. Die einzelnen Abjchnitte 
find mit Ratzel verglichen und theilweife in Einklang gebracht worden. 

2) 1I, 2. 

3) Nach Peichel, Probleme zur Länder und Voͤlkerkunde. 

4) Bergl. Guthe-Wagner, Lehrbuch der Geographie. 5, Aufl. I, 
©. 185, $ 50. 

5) Vergl. Ratzel, a. a. O. ©. 309 f. 

6) Guthe-Wagner, a. a. D. ©. 282/3. 

7) Diefes Kapitel ift bei Ratzel, S. 181—209, fo vortrefflid be 
handelt, daß ich mich mehrfach auch im Wortlaut feinen Auseinander⸗ 
fegungen habe anjchliegen zu müſſen geglaubt. 

8) Weitere Bemerkungen und Beijpiele bei Ratel, S. 201. 

9) A. aD. ©. 219 ff. 

10) Bergl. Ratel, a. a. O. ©. 229—295. 

11) Bergl. Guthe- Wagner, a. a. O. ©. 109—128, 


(292) 
Drud von Gebr. Unger in Berlin, Echönebergerfir. 17a 


Bon dem neuen XIV. Jahrgange (1885) von: 





gr In Verbindung mit 0 
Prof. Dr. v. Klnkhohn, Redacteur A. Kammers, 
Prof. Dr. J. B. Meyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


herausgegeben von 


Stanz non Holtzendorff. 


Heft 209 — 224 umfafend Cim Abonnement jedes Heft nur 75 Pfennige) 
find auögegeben: 
Heft 209. Preuf; (Berlin), Deutihland und fein Reichskanzler gegenhber dem 
Geifte unferer Zeit. 
„ 210. BZittel (Karlörube), Die Reviſion der utherbibel. 
„ 211. Thun, (Zreiburg i. Baden), Bilder aus der ruffifhen Revolution (Fürſt 
Krapotkin, Stephanowitih, Scheljäbow). 
„ 212. Sartorius v. Waltershauſen (Goͤttingen), Die Zukunft des Deutſch⸗ 
thums in den Vereinigten Staaten von Amerika. 
„ 213/214. Staudinger (Worms), Die evangeliſche Freiheit wider ten 
Materialismus des Bekenntnißglaubens. 
„ 215. Eggers (Berlin), Klaus Groth und die plattdeutſche Dichtung. 


Ferner werden nad und nach, vorbehaltlich etwaiger Abänderungen im Ein: 
zelnen, folgende Beiträge veröffentlicht werben: 


Schöuborn (Bredlan), Das höhere Unterrichtöwejen in der Gegenwart. 
Herzog (Wettingen), Dad Referendum in der Schweiz. 

Matzel (Münden), Die praftiihe Bedentung ber Handelsgeographie. 

v. Surafchet, F., Nationalitäten und Sprachenverbältniffe in Defterreidh. 
Finkeluburg (Bonn), Die Cholera-Quarantaine. 

v. Holtzendorff (Münden), Stantsmoral und Privatınoral. 

Jodl (München), Volkswirthſchaftslehre und Ethik. 

Saushofer (Münden), Kleinbandel und Großinduſtrie. 

v. Orelli (Zürich), Der internationale Schuß des Urheberrechts. 

Fuld (Mainz), Das rüdfällige Verbrecherthum. 

Kirchner (Berlin), Weber ben Zufall. 

vÄn Swinderen (Groningen), Proftitution und Mäbchenhandel. 
&iewert (Kiel), Die Lage unferer Seeleute. 

Pohl (Mödling), Suftus von Liebig und die Iandwirthichaftliche Lehre. 
ende (Gera), Schule und Volkswirthſchaft. 

Meyer, 3 B. (Bonn), Ueber den Religions-Unterricht In der Schule. 


EL LAG LGLEÖBÖG BGG 


In den früheren Jahrgängen erſchienen: 
SKulturgefchichte und Alterthumswifieniche 


(60 Hefte, wenn auf einmal bezogen A 50 Pf. = 30 M. Aud 24 Hefte und 


mehr diefer Kategorie, nach Auswahl (wenn auf einmal) & 50 Pf.) 
Angerftein, W., Volkstänze im deutichen Mittelalter. 2. Aufl. (68) . 
De Er. Die Entitehung der deutichen Bu A (412). . 2 20. 
Der Rhein, der Deutichen Lieblingaftrom. (250) . 
—8 —** civiliſatotiſche Miſſion d. Europäer unter d. wilden Völkern. (364) 


Dochier Die Sintflut nnd die ölutfagen bes Altertgumß, 2. Aufl (137) 75 


Die Orakel. (160) . 
re Zanz bei den Griechen. . . oo. 
a, Die alten Höhlenbewohner. (168) 

y, Die Alpen im Lichte verichiedener Zeitalter. (974) 
riedel, Aud der Vorzeit der Fiſcherei. (441/442). 
melin, Chriftenfclaverei u. Renegatenthum unter den Völkern d. Isiam. (190) 
An ter. h twidelungephafen des religtöfen eebend Im helleniſchen 

erthum 
Sagen, Ueber elementare Ereigniffe im Aiterthum. (454) . nn 
— Staat und Kirche vor 800 Jahren. (2923.... 
eyer, Die Ausbildung der Priefterberrichaft und die Inquiſition. (280) 
ann, Aus der Kulturgefhichte Europa's. [Pflanzen u. Thiere.] (348). 
oamann, Die Anfiedelung ded Chriftenthums in Rom. (198). - 
v. Huber: Ziebenan, Das deutfche Zunftwefen im Mittelalter. (312) 
—, Das deutſche Haus zur Zeit der Renaiffance. (386) - - - 2... 
Jordan, Die Kaiferpaläfte in Rom. 2. Ab. (65). - » - 2 02.0. 
eller, Die cypriſchen Alterthumsfunde. (363) 
Kinkel, Sualiige Zuftände in der Mitte be GR kzehnten Jahrhunderts. (865) 
Manuhardt, Iytta. (239) 


. L.— 


75 
60 
75 
60 


. 1.20 
60 


> 


Marggrafi, Die Borfahren er Eifenbahnen und Dampfmagen, Mit 20 i! so 


den Tert gedrudten Abbiltungen. (435/436) . 
Mehlis, Der Rhein und der Strom der Sultur in Kelten: und Römer: 
zeit. Mit einer Karte ded Rheinthalee, (259) 


1. 
—, Der Rhein und der Strom der Cultur im Mittelalter. wit einer so 


Karte des Rheinthales [um 1300]. (286/87) . . 
—, Der Rhein und der Strom der Gultur in der Neuzeit. (328) . . 
Meyer, J. B., Volkobildung und Wifenſchaft in Deutſchland während der 
legten Zahrhunderte. 3. Aufl. (14) . 


.1— 
.1L.— 


Meyer, Dr. &., Die römtfchen Katakomben. (387/388). . 1.20 
ibur. Cine römifhe Studie. (413/414). . 1.40 
Möller Meber dad Salz in feiner tulturgefchichtlichen "und naturwiffen- 
ſchafülchen Bedeutung. (206) 
Nippold, Aegyptens Stellung in der Religions: u. Raltargefcicte 2. (es 60 
ai en, Pompeji. 2. Aufl. (37). 75 
83 ——— und Nachwirkung germanifcher M —5 (354) . 60 
Pr eimter, Ueber den Einfluß ded Klimas auf vn — er 2. Aufl 0) 75 
nbrüggen, Land und Leute der Urichweiz. 2. 75 
—, Die wel; in den Wandelungen der Neuzeit. an‘ . 75 
Seterfen, Tas Zwölfgätterfuften der Griechen und Römer nad feiner Be: 
deutung, künſtleriſchen Darttelung und hiſtoriſchen Entwidelung. (99) . 60 
tenhauer, Die Gifte ald bezaubernde Macht in d. Hand d. ealen. (209) 1.— 
oe au, Das Bücherwefen im Mittelalter, (377) . 75 
ehr Stellung und Leben der deutihen Frau im Mittelatter. “ (398) . 35 
v. Sr hain, Die Reichöpoft ber en Kailer. (339). . . - 60 
Saalfeld, Küche und Keller in Alt:Rom. 4m) — 
S pe an aan der Jronie in Fuitnrgef ichtlicher und äfthetifcher 
eziehung 32/3 .1. 
Schrader, Die ältefte Zeittheifung des indogermantfchen Volkes. ee) 1L.— 
Stern, Die Eocialiften der Reformationdzeit. (421) 75 
Stricker, Die Amazonen in Sage und Berhiäte, 2. auf en) 75 
—. Die Geuerzeuge. (199) . 75 
Virhom Ueber Hünen räber und Daslbauten. w. .. . 25 
‚ Die Urbevölferung uropasd. (193) . . .L— 
x Das rotbe Kreuz im weißen Selbe. an) o 


Keihbrabt, Naturforſchung und Herenglaube. 2. Aufl. (4 6) .. 
ernher, Die Armen: und Krantenpf ege der geiftlichen rRitterorden in 
* Zelt, (213) . 


3 
BL... Dinar... wr En 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 
wiſſenſchaftlicher Vorträge, 


herausgegeben von 
4 


Nud. Virchow und Fr. von Gelgenberf. 








— ⸗ 


XX. Serie. 


(Heft 457 — 480 umfaffend.) 


Ein Bild aus der Zeit 


der 
Gegenzeformation in Siebenbürgen, 


Bon 


Sriedrich Czekelius. 


oc a 
| 


Gh 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 8. Tübrrity'sche Berlagshuchhandlung.) 
33. Wilhelm-E&traße 33. 


© 0 


IE TI — — — e ü — AN) 


Per ebeten, die anderen Seiten des uni ed im beadhten. ug Genane 
alts-2 nife der früheren Hefte erien und Iahrgängen“ und 
nad —— — geordnet, ind Au pr 3 Buchendlung gratis zu beziehen. 








Sn demfelben Verlage find folgende Werfe erjchienen: 


Araktifche 
mufikalifche Compoſitionslehre 


in Nufgaben. 


Mit zahlreiden, ausſchließlich in den Text gedrudten Muifter-, Uebungs- unb 
Crläuterungs-Beifpielen nad) ben Werfen ber erften Meiſter fyfteinatifch- 
methodiſch dargeitellt 


von 


Ludwig Bußler. 


Erſter Banb: a nom Tonfak (Preis broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Mark). — I Harmontelehre in 54 Aufgaben. 2. Aufl. (Breis broch. 4 Mar). 
— DH. Eontrapunft. a) Der ftrenge Sag in der muſikaliſchen Compoſitions⸗ 
Iehre in 52 Aufgaben (Preis broch. 4 art). — b) Eontrapunft und Fuge 
im freien (modernen) Tonſatz in 38 Aufgaben (Preis broch. 4 Marf). 


Zweiter Band: Freie Tompofition (Preis broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Mark). — I. Mufifaliide Formenlehre in 33 Aufgaben (Preis broch. 
4 Mark). — II. Snitrumentation und Orchefterfag in 18 Aufgaben (Preis 
broch. 8 Marf). 


In Yalbfranz und im Schulbond gebundene Gremplare ſtets vorräthig. 


Ppartiturſtudium. 


Modulation der klaſſiſchen Meiſter 


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Bad, Mozart, Beethoven, Wagner u. A. 
erläutert von 


Zudwig Bußler. 
Preis: Eleg. brod. 8 Mark; geb. in Drig. engl. Zeinen 9,50 Marf. 


Geſchichte der Muſik. 


Sechs Vorträge 
über 


die fortfchreitende Entwirkelung der Muſik in der Geſchichte 


von 
Ludwig Bußler. 


Griter Bortrag: Die Mufik des Alterthums. — Zweiter Bortrag: Mufk des 
Mittelalters big Balefirinn und Laffus. — Dritter Vortrag: He Auſik der 
Aenzeit ou Balehring bis Bad. — Bierter Vortrag: Die ®per bis Gluck. 
— Fünfter Vortrag: Aie Infirumental- Mufk. Haydn nud Mozart. — 
Sechſter Bortrag: Krethoven, feine Beitgenofen und Nachfolger. 


Preis: Eleg. brod. 3 Mark; geb. in Drig. engl. Leinen-Band 4 Marl. 


9 


Nenn 


80 


Ein Bild aus der Zeit 


der 


Gegenreformation in Siebenbürgen. 


EIG I I IL GL GIG GL BGE 


Bortrag, 
gehalten am 24. November 1883 in Hermannftadt 


von 


Friedrich Siekeling. 


GP 





C 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(©. 8. Tüderity'sche Verlagsbuhhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


Das Recht ber Heberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Die jüngft verrauichten Fefttage haben und Allen neben 
dem Bilde Lutherd, dem die Feier galt, auch die Größe und 
Bedeutung jeined Reformationswerkes für Kirche und Schule 
für dad religiöfe Bewußtjein und die Kortentwidelung der 
Wiſſenſchaft, für das deutiche Volk und feine Sprache vor die 
Augen geführt und unfere Herzen geichwellt in dem Gedanken, 
dab auch wir Theil haben an dem Segen, der von jenem 
Manne, der aus jenem Werke bernorging. 

Und zwar hat fein Werk bier in der Mitte unferer Vor⸗ 
fahren nicht nur einen wohlbereiteten Boden und empfängliche 
Herzen gefunden, jondern der Zeiten und Berhältniffe Gunft 
haben es hier gehütet umd geſchützt, wie nirgend fonft, daß es 
in beinahe unangefocdhtener Weiſe fich entwideln konnte, wähs 
rend fonft in Europa, in Spanien, in ben Niederlanden, in 
Deutihland Ströme Blutes feiner Bekenner floffen, bis es fih — 
und da nicht allerorten, — fichern Beitand erfämpfte. Und 
während nach blutigem Kriege in Deutjchland im Augöburger 
Neligionsfrieden die Neligionsfreiheit auf Die unmittelbaren 
Reichsſtände bejchränft und bezüglich der Unterthanen der Grund» 
fat ausgefprochen wurde, „deilen das Reich, deſſen Religion,“ 
während in diefem Frieden durch den fogenannten geiftlichen 
Vorbehalt die Keime zu den jpätern furcdhtbaren Religionskriegen 
gelegt wurden, ſprach der Medtajcher Landtag des Jahres 1554 
den Ichönen Grundſatz aus: „daß der chriftlihe Glaube einer 
jei und die Söhne ded Landes nur in Beziehung auf Geremonten 
und die Berwaltung der Sacramente von einander abwichen;“ 
der Tordaer Landtag ded Jahres 1568, der VBälärhelyer des 


xx. 465. 1* (295) 


4 


Jahres 1571 Sprachen volle Gedanfen- und Religionzfreiheit aus, - 
„denn der Glaube fei Gotted Geſchenk“ und „darum foll Gottes 
Wort überall frei können verfündigt werden und wegen ſeines 
Bekenntniſſes fol Niemand verfolgt werden, weder Prediger 
noch Hörer." Und am Ausgange des Sahrhunderts 1595 bat 
der Landtag noch einmal die Nechtögleichheit und Kreiheit der 
vier recipirten Religionen, der calvinijchen, der evangeliichen 
A.B., der römiſch⸗katholiſchen und arianifchen Lehre audge- 
proben. So war Stebenbürgen der Hort religiöfer Freiheit 
geworden und im Schuhe von Staatöverträgen und Friedens⸗ 
ſchlüſſen wuchs und gedieh im deutſchen Volle der Siebenbürger 
Sachſen Luthers Werk in Freud und Leid, in der Noth der 
ZTürfeneinfälle und des Bürgerkrieged. Auch das 17. Sabre 
hundert fichert bet allen bedeutendern und gewichtigern Veran⸗ 
laffungen dem proteftantifhen Belenntniß feinen Beftand. Im 
weitphälifchen Frieden 1648 wird derjelbe gewährleiftet und in 
die Regelung der Berhältniffe der europäiſchen Staaten auf- 
genommen und, ald Siebenbürgen dauernd unter bie Fittige 
des Haujed Habsburg kommt, fichert Kaiſer Leopold I. im 
Leopoldinifchem Diplom 1691 die kirchliche Autonomie der evan- 
geliichen Kirche in Siebenbürgen in feierlicher Form. 

Aber jchon in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts, 
nod unter der Regierung einheimijcher Fürften, find Verſuche 
jener Reaktion bemerklich, die in Defterreich, und Frankreich 
befonders, jo erfolgreich und jo graufam die Fahne des Katho» 
licismus jchwingt, deren Ziel Wiedergewinnung der Proteftanten 
‚und Unterwerfung derfelben unter das römijche Joch, die aber- 
malige Knechtung der Geiſter und Eroberung der Weltherrfchaft, 
deren hauptlächlichfte Bannertrager die Jeſuiten find. Bon 
Stephan Bathori in das Land gerufen, gründen fie Schulen 
und Academien zu Klaufenburg, werden die VBormünder des 


jungen Fürften Sigismund und zeigen aldbald durdy ihr agrejfives 
(396) 


5 


Borgeben den proteftantifchen Landitänden, welche Gefahr von 
ihnen der Sache der proteftantifchen Freiheit droht. Schon 1588 
werden fie aber vom Landtag geächtet und da fie durch Alphons 
Carillo, ded jungen Fürften Beichtvater, ihre Thätigleit wieder 
beginnen, wird 1603 von der aufgeregten Bevölferung Klaufen- 
burgs ihr Collegium von Grund aus zerftört. 

Nach Hermannftadt waren fie zuerft mit den Truppen des 
faiferlichen Generald Bafta 1602 gelommen, und fo gewaltjam 
war die Herrichaft der durch den Krieg verwilderten Soldaten, 
daB der Jeſuit Phinrietti wagen Tonnte, auf dem großen Ringe 
vor den Augen der erjchredten Bürgerfchaft öffentlich. proteftan- 
tische Schriften zu verbrennen. 1607 werden fie zum zweiten 
und 1610 zum dritten Male verbannt, aber nody bevor das 
Jahrhundert zu Ende geht, Tommen fie 1688 abermald unter 
dem Schute der Fatjerlichen Fahnen und nun zu dauernden 
Aufenthalte nach Siebenbürgen — auch nach Hermannitadt. 

Dem 18. Sahrhundert gehört ihre Hauptthätigfeit an und 
die Erfolge und Errungenſchaften, die der Katholicismus auf 
Sachſenboden erreicht, verdankt er hauptſächlich ihrer Thaͤtigkeit 
im 18. Jahrhundert. Wenn es aber erhebend war dad Ent- 
fteben des großen Neformationdwerked in unferer Erinnerung 
zu weden, entbehrt ed gewiß auch nicht fruchtbarer Anregung, 
den Kampf der Freiheit mit dem Gewiſſenszwang zu betradjten 
und und des ftandhaften Ausharrend der Väter bei aller An- 
fechtung zu freuen. 

So wi id) denn auf Grund einer reichen und gerade in 
den lebteren Sahren in hervorragender Weile zu Tage getretenen 
Litteratur verfuchen, ein Blatt aus dem Firchlichen Leben Sieben» 
bürgend im 18. Sahrhundert und zwar „die Berjuche, die fächfi- 
ſche Nation in den Schooß ber katholiſchen Kirche zurüdzuführen,“ 
aufzurollen. 

Wohl find unfere Väter nicht ohne Beſorgniß geweien 


(237) 


6 


wegen der von ihnen fo bochgehaltenen Religiondfreiheit, als 
mit dem Ende bed 17. Jahrhunderts endlich dauerndere und 
größere Gewähr materieller und perfönlicher Sicherheit bietende Ver⸗ 
bältnifje dem fchwergeprüften Vaterlande mit der Befitergreifung 
beflelben durch Leopold I. heranzudämmern ſchienen. War doch 
jeit dem Beginn der Reformation gerade das haböburgifche 
Herrſcherhaus der Mittelpunkt des Wiederftandes, den die alte 
Kirche der neuen leiftete, die außerordentlich thätige, vor feinem 
Mittel zurücichredende Stübe derer, die dad römiſche Joch den 
befreiten Bölfern aufs Neue auf den Naden legen wollten. 
Deshalb begann audy die Fatholifche Minderheit im Lande ſchon 
mit dem Einmarſch des Generald Baraffa ihr Haupt zu erheben. 
Dem Heere folgte und an feine Ferſen beftete fich die katholiſche 
Propaganda; die Klaujenburger und Weißenburger Reformirten 
mubten Kirchen abtreten, und „tonnten audy”, wie G. Hermann!) 
Ichreibt, „die katholiſchen Geiftlichen ihren Wunſch, die Unfathos 
liihen völlig zu verdrängen und ihre Religion zur Herrichaft 
zu erheben, noch nicht realifiren, jo jebten fie doch alle 
Spannfedern in Bewegung, um die bei der Reformation ein» 
gegangenen und jetzt in weltlichen Händen befindlichen bijchöf- 
lihen und Kirchengüter wieder an ſich zu reißen, die Proteftanten 
aus ihren Aemtern zu verdrängen und wo immer eine Stelle 
offen wurde, Katholifen unterzubringen.“ 

Deshalb waren die zwei erjten Artikel des Leopoldiniichen 
Diplomes, nad) deren erftem „die vier recipirten Religionen in 
Kraft verbleiben und feine Neuerungen eingeführt werden ſollten,“ 
nad) deren zweiten „in den biäherigen Schenkungen, Privilegien, 
Gütern, jeder Stand und Perfon ohne Unterichied ungefräntt 
erhalten werden follte,” für die Proteftanten und die Sadjjen 
in8befondere von der höchften Wichtigkeit. 

Andrerjeitö befreite aber die kaiſerliche Herrichaft die Sachſen 


von den Bebrüdungen des Adels, dem auch der Fürft angehört 
(298) 


7 


batte, fie ſchien ihnen in der Necdhtöcontinuitat der Krone be» 
gründet, fie war allein im Stande, da8 Anfehn und den Frieden 
des Landes gegen die Türken zu ſchützen und fie gab den Sachſen 
den ftamın- und fprachverwandten Herriher. Deshalb ftellten 
fie jih von allem Anfang, troß der Gefahren, die für fie daraus 
erwuchſen und für ihre Kirche noch erwachlen konnten, auf die 
Seite des Kaiſers und harren aus in diefer Stellung troß der 
Drangfale, die ihren Städten und Dörfern ebenjo von Seite 
der Tatferlichen, al8 von Seite der aufftändiichen Truppen zu 
Theil werden, troß des ſchmachvollen Todes ihres Vorkämpfers 
Sachs v. Hartenel?) und troß der rauhen, gejebeöverachtenden 
Willfürherrichaft der kaiſerlichen Generale und Sommandirenden. 

In den wirrvollen Zeiten der Zökölyifchen und Rakotzyiſchen 
Unruhen, wo die Kriegdfurie Sahre lang durdy das Land tobte 
und die Generale Leopold und Sofef3 I. bejonderd in den 
ſächfiſchen Städten ihre Hauptquartiere auffchlugen und ihre 
Stützpunkte fanden, begann die Tatholifche Propaganda nur leife 
und gleichſam verjuchäweile ihr Haupt zu erheben. Der Ge- 
danke aber, dad ganze Land der römiichen Kirche wieder zu 
gewinnen, war von allem Anfang in Wien vorhanden. Schon 
1686 waren mit dem General Garaffg die Iejuiten nach Hermann- 
ftadbt gelommen und hatten auf des Generald Befehl „die 
Schneiderlaube“ ald Garniſonskirche erhalten — die erfte katho⸗ 
liche Kirche in Hermannitadt nad) der Reformation. Als fie 
10 Jahre fpäter auf des Kaiſers Befehl feierlich zur Gründung 
eined Collegiums in Hermannftadt eingeführt werden, fchreibt 
P. Schreyer: „Wir find in diefer hinlänglich hübſchen Stadt 
von den lutheriſchen Sachſen mit überaus großer Freundlichkeit 
aufgenommen worden, wiſſen aber nidjt, ob dieje Zuvorkommen⸗ 
beit mehr dem kaiſerlichen Befehl, oder ihrer Neigung gegen 
und zuzufchreiben. Wir wollen und übrigens Mühe geben, 
dieſe Sachſen, die dem Kaifer fo ergeben feinen, für 


(299) 


8 


und zu gewinnen und hoffen auf eine reidhlidhe Ernte 
im Weinberge ded Herrn.“ 

Allein nody war Siebenbürgen ein viel zu umftrittenes 
Befitzthum, ald dab man es hätte wagen Tönnen, ihrem Bes 
fehrungeifer freie Hand zu laffen. Wenige Sahre vorher hatte 
Saraffa dem Jeſuiten P. Kollonich, der mit der Schneiderlaube 
nicht zufrieden, eine „der vielen Kirchen” Hermannftadtd ver- 
Iangte, geichrieben: „Wenn es dem P. Kollonih und den 
übrigen Ordensgenoſſen in ber Hermannftädter Kapelle zu enge 
tft, To möge er mit ihnen nach Rom in ben Lateran, Batican 
oder zu St. Peter ziehen." Er Tannte eben die Wichtigfeit 
und die Empfindlichkeit und den Argwohn der Sachſen in Bezug 
auf ihre Religionäfreiheit, den bie eben ftattgefundenen Ver⸗ 
folgungen in Ungarn rechtfertigten. In einem Memorandum an 
Kaifer Leopold aus dem Sahre 1690 jchreibt er: „Die evan⸗ 
geliiche Religion der Sachſen in Stebenbürgen ift auf feine 
Weile zu berühren, ja fogar audy der geringfte Schein zu ver» 
meiden, weniger, daß man diefelbe anfechten, oder darin etwas 
mutiren wolle, zu argwöhnen Anlaß und Urjadye. geben könnte. 
Denn in diefem Stüd ift das Boll, befonders die Sachſen, in 
welchen Robur Zranfilvaniä ganz allein befteht, fo eifrig, dab 
fie, um ihre Religion zu vindiciren, Alles auf die Spitze feßen; 
anbei auch fo argwöhniſch — —, daß fie feiner Verführung, 
die man auch mit 1000 Eiden befräftigt, glauben, fondern jeden 
Schritt, den fie vermuthen, daß er dem Religionsweſen zu nabe 
treten möchte, vor verdächtig halten und ſich darüber allarmiren 
thun. Gleichwie nun ein fo beitändiges Mibtrauen die Liebe, 
die ein Unterthan gegen feinem Herren tragen ſoll, feine Wurzel 
faffen läßt: alſo tft folhem Diffidenz durch ein Verhalten, 
welches die Siebenbürger überhaupt, dab fie in der Religion 
feine Gewalt und im Gewiſſen feinen Zwang zu befürchten 


baben, zu tilgen.” Erſt mit dem Regierungdantritt Karls VI, 
(00) 


9 


als nach dem Szathmarer und Utrechter Frieden auch für dieje 
Lande rubigere und friedlichere Zeiten eingetreten waren, bes 
ginnt unter dem Drud der Taiferlichen Commandirenden auch 
im Sadjjenlande eine Gegenreformatton, die, wenn fie auch 
nicht, wie gleichzeitig in Ungarn, „die Studenten aud den refor⸗ 
mirten Collegien verjagt und den Proteftanten nicht einmal 
Privatandachten auf dem freien Felde erlaubet, vielmehr das 
gemeine Bolt mit Gewalt zur katholiſchen Religion «zwingt, * 
dennoch bald allenthalben in den fächfifchen Städten fremde 
Elemente anfammelt, katholiſche Kirchen und Schulen entftehen, 
Mönchs⸗ und Nonnenklöfter aufbauen läßt, die alle Künfte der 
Berführung, alle Kodungen der Staatöbegünftigung und Bes 
förderung jpielen läßt um Profelyten zu machen, die Gonvertirte 
und Fremde in alle öffentlichen Aemter und Angelegenheiten der 
Sachſen hineindrängt, und bei allen Enticheidungen nicht das 
Recht und die Sadye, jondern die Confeffion das erſte Wort 
führen läßt und die bis zum Ende bes Sahrhundertd ihren 
demoralifirenden Einfluß übt und viel, wenn nicht alles, dazu 
beigetragen bat, daß bis heute Proteftanten und Katholiken in 
ſächfiſchen Städten, felbft wenn fie demjelben Volke angehören, 
fih fremd gegenüberftehen. Im Sachſenvolk jelbit haben, Gott 
jet Dant, diefe Verſuche das Gegentheil von dem erlangt, was 
fie erftrebt. “Der Kampf felbft entbehrt des heldenhaften, roman- 
tiſchen Gepräges, es ift ein Kampf, in dem die Angegriffenen 
die Kauft im Sade machen müſſen —, aber fie führen ihn mit 
dankenswerther, zäher Ausdauer, dem Zeinde faum Schritt für 
Schritt Raum gebend — und wenn auch fein glorreiher Sieg 
ihre Ausdauer Trönt, fondern eine geänderte Weltanjchauung 
und der am Ende des Sahrhundertö mit brennender Fackel einher» 
fchreitende Zeitgeift den Angriffen ein Ziel jebt, jo ift das Volt 
doch ald einig und ungeiheilt beifammen geblieben und hat fidh 
in dem alten Glauben der Väter die alte Freiheit, die deutjche 


(301) 


10 


Sprache und Nationalität und feine heiligften Güter in das 
neue Sahrhundert und bis auf unfre Tage gerettet. — 

Nachdem im März 1714 der Raftätter Frieden gefchloffen 
war, wurde am 14. Februar 1716 in Georgius Martonfi Baron 
v. Karozfalva der erfte Fatholifhe Biſchof von Siebenbürgen 
feierlich inftallirt und ihm mit einer flagranten Rechtöverlebung 
an den Reformirten, denen man unter Affiftenz ded Generald 
Steinville die von ihnen feit 120 Sahren bejefjene Kathedral- 
firche fortnahm, Karlsburg zur Refidenz angewiefen. Bald bes 
durfte man allenthalben in proteftantiichen Orten, zuerft für die 
Garnijonen, dann für die Mönche und Nonnen, dann für die 
tatholiichen Einwohner Kirchen, Klöfter, Schulen, Buchdrudereien 
u. |. w. und wo die Magiltrate dem Verlangen nicht, oder nicht 
in der gewünjchten Bereitwilligfeit und Oppulenz nachkamen, 
folgte dem motivirten Anfuchen der militärijche Befehl, Drohuns 
gen und Gewalt. 

Zuerit trat die Frage der Abtretung von Kirchen für den 
fatholiichen Gottesdienſt in den ſächfiſchen Städten noch unter 
dem Commando des General Steinville 1616 an Hermannftadt 
und Kronftadt heran. Es ift bezeichnend, daß dieje Abtretungen 
nicht an die Jeſuiten, fondern an die Branciöfaner erfolgen. 
Man bütete fi Mißtrauen zu ſäen — aber Sejuiten nahmen 
die Confecrationen vor, waren die Feftredner und behielten bie 
ihnen fchon früher zum gottesdienftlichen Gebraudy angewiejenen 
Baulichfeiten. Je mehr und je freiwilliger übrigend bier wie 
dort gegeben wird, defto begehrlicher werden Die Empfangenden, 
und die Magiftrate beeilen fidy ebenjo durch freiwillige Geſchenke 
an die Commandirenden, wie durch die größte Zuporlommens 
feit und Bereitwilligfeit fich Gunſt und Wohlwollen der Hoch⸗ 
mögenden und durch fie vielleicht der Krone zu erwerben. In 
Hermannftadt wird die verlangte Abtretung der Kirche und des 


Klofterd für die Franciskaner, an welchem bis dahin zwei evan⸗ 
(803) 


11 


gelifche Prediger dienten, wenigſtens damit zu motiviren gefucht, 
daß für höher geftellte Perſonen katholiſcher Religion, insbeſondere 
des Militärs feine geeignete Begräbnißftelle vorhanden fei. Die 
Kirche und dad daran ftoßende Haus wurde am 16. Februar 
1716 den Sranciöfanern unter ber audbrüdlihen Bedingung 
übergeben, deutjche DOrdendglieder in das Klofter einzuführen. — 
Wenigftend nach einer Richtung eine Dedung; — doch fie blieb 
auf dem Papier. 

In Kronjtadt bat Steinville am 1. December 1716 um die 
Johanneskirche und erklärte, die Bereitwilligkeit des Magiftrates 
ald ein bejonder8 Merfmal ded feiner Perfon wiederfahrenen 
Wohlwollens anerfennen zu wollen. Aber der mit diefem Auf- 
trag betraute Commandant von Kronftadt, Zige, drohte die 
Kirche mit gewaffneter Hand einzunehmen, fal8 fie ihm wicht 
fogleich aufgemacht würde. Bor die ohne Weigerung übergebene 
Kirche wurde eine Militärwache geftellt. Als aber der über- 
rumpelte Magiftrat ftatt der Johanneskirche die Kloſterkirche 
anbot, wurde auch dieje angenommen und den Francidcanern 
übergeben. Die Peftzeit der Jahre 1718—1720 unterbrach bie 
Fortführung diejer Angelegenheit. Um fo nachdrüdlicher führte 
fie vom Fahre 1721 an Steinville8 frommer Nachfolger Damian 
Graf von Virmont. An alle fähfiichen Stäbte, in denen die 
Katholiten noch feine Kirchen hatten, nad) Biſtritz, Mediaſch, 
Schäßburg wurde die Aufforderung geſchickt, dafür zu jorgen, 
dab diefem Mangel abgeholfen, oder von den über Bedürfnik 
vorhandenen evangelilchen Kirchen eine abgetreten werde. Die 
Durdführung und Berichterftattung in diejen Angelegenheiten 
wird haufig untergeordneten Militärperfonen aufgetragen und 
den an ihre Autonomie und Selbftitändigfeit gewohnten Magir 
ftraten in einer Weiſe begegnet, wie man deſſen höchſtens nach 
dem Einmarſche der Feinde in der Fürftenzeit fich verjah. 


Am 12. October 1721 hatte der Sommandirende dem zum 
(803) 


12 


Conflur in Hermannftadt anweſenden Mediaſcher Bürgermeiiter 
Andr. Hann aufgetragen, weil doch mehr Kirchen in Mediaſch wären, 
ald die Einwohner von Nötben hätten, eine „für die Religion 
des Landesfürften” einzuräumen. Noch vor dem Ablauf des 
Monats bringt er den Antrag der Mediafcher, die Nikolauskirche 
auf dem Zefifh abtreten zu wollen, aber Virmont, von dem 
den Sachjen übelgefinnten Gubernator Kornid, dem Haupt der 
katholiſchen Partei, falfch berichtet, fährt die Deputation mit 
diejen Worten an: „Er könne nicht glauben, daß ein Medwilcher 
Magiftrat und Sommunität fo dumm fein follten und Ihr k. k. 
Majeftät mit einem folchen Capellerle abzuſtecken gedächten.“ 
Sie follten in drei Tagen fich bedenfen und das Klofter cediren, 
Am 1. November cediren fie Klofter und daranftoßendes Prediger- 
haus — wie fie fchreiben „auf Shro Excellenz vorbeichebene 
freundlichite Anfuchung und väterliched Einrathen.“ 

Das Geſchenk beitand aud der Spitalskirche, zwei Kapellen, 
dem ftodhohen Klofter mit 24 Zimmern außer dem großen 
Refektorium, Kellern, Scheunen und Stallungen, der Prediger- 
wohnung, einem großen Garten und einem Stadtthurme und 
wurde den Srancisfanern am 16. November 1721 übergeben. 
Die Schäßburger wurden erft zwei Jahre fpäter vom Grafen 
Königdegg freundlich aufgefordert, deögleihen zu thun. Sie 
offeriren „die Nonnenkirch und ein daneben liegendes, von ihnen 
zu Taufendes Privathaus. Wenige Wochen jpäter theilt ihnen 
General Langlet zu ihrem Entjeben mit, fie hätten 3 Kirchen 
zur Auswahl angeboten und als fie wagen, diejen Irrthum zu 
corrigiren, wird ihnen unter Drohungen gejagt, die Nonnenfirche 
jei fein Bethaus, fondern ein Mehl-Magazin; man wolle nicht 
fo undriftli jein, ihnen ihre Haupflirhe auf der Burg zu 
nehmen, aber die Spitalgfirche in der Stadt fei gerade gut 
gelegen. Dieſe Kirche war die einzige in der untern Stabt 
außerhalb der Burg! Die Schäßburger remonftriren. Sie bieten 


(304) 


13 


ipäter ein Haus in der Stadt, Zanglet verlangt deren drei. Er 
bittet, er droht, er giebt harte Worte, da aber die Schäßburger 
fejt bleiben und die Sache fidy ſehr in die Länge gezogen, wird 
endlih ihr Dffert mit einigen rweiterungen angenommen, 
Königdegg war ein Freund der Sachſen. In einem Projekt 
„die fiebenbürgiich jächftiche Nation vor dem vor Augen haben» 
den Untergang zu retten und zu redintegriren,” ſpricht er den 
Gedanken aus, man folle diefe Nation, deren Gebiet mandjes 
deutiche Herzogthum überrage, von den übrigen Nationen des 
Landes gänzlich fepartren, felbftftändig ftellen und durch deutiche 
Einwanderung ftärfen. 

In Hermannftadt flanden damals zwilchen dem großen und 
dem Kleinen Ring eine Anzahl Häufer mit Zunftlauben und andern 
Berfaufsballen — unter andern da, wo jebt der Thurm der 
katholiſchen Kirche fteht, die Stadtapothefe — daneben war eine 
freie Gaffe zur Verbindung der beiden Plätze. Dieje Lauben und 
Hallen trugen den Zünften und der Stadt ein nicht undedeutended 
Sinfommen. Auch das ftädtiſche Waghaus und die den Jeſuiten 
eingeräumte Schneiderlaube war dort. Da nun Hermannftadt 
jhon früher den Franciöfanern unentgeltlid! Gotteshaus und 
Klofter abgetreten hatte, Tonnte man ihnen nicht wohl nody eine 
Kirche abverlangen. Aber unter dem „frommen“ Birmont wehte 
in Siebenbürgen eine zu günftige Luft, als daß Die Sefuiten 
nicht hätten verfuchen jollen, jeht ihre alten von Garaffa jo 
energifch zurückgewieſenen Plänen wieder aufzunehmen. Sie 
Ichritten deshalb beim Magiftrat um Zuweiſung des Platzes von 
der Stabdtapothefe bi zu ihrem Wohnhaus — dem jehigen 
fatholifhen Stadtpfarrhof — zum Aufbau einer Kirche ein. 
Der Pla enthielt auch ihr bisheriged Oratorium. Am 20. Auguft 
1721 erichien Virmont felbft zur Unterftüßung des Gefuched in 
der Communität, bad denn auch bewilligt wurde. Bis zum 
Ausbau der Kirche im Jahre 1732 gab ed jedod noch eine 


(305) 


14 


Menge Nörgeleien und Berfuche, mehr zu erlangen als gegeben 
war, obgleidy ſchon das Uebergebene das ftädtifche Einkommen 
bedeutend fchmälerte.e Die Jeſuiten follten dafür ihre Schule 
localität über der Stadtapothefe abtreten. Sie gaben diefelbe 
jedoch 1726 nur unter der Bedingung heraus, daß ihnen die 
Stadt dafür dad Schulleriihe Haus zu Schulzweden überließ. 
Und kaum hatten fie fi) damit von der Nachgiebigfeit der 
Commune überzeugt, verlangten und erhielten fie ihr neues 
Schulhaus zufammt der Stadtapothefe zum Thurmbau. Bis 
zum Ausbau ihrer Kirche verlangten fie interimiftiicy die Ein« 
räumung der an die große evangeliiche Kirche angebauten „Neuen 
Kirche” und waren kaum mit der interimiftiichen Einrichtung 
der Goldichmiedlaube zufrieden zu ftellen. Im dem neugebauten 
Haufe richteten fie einen convictus nobilium und ein Knaben⸗ 
feminar — die Anfänge des jebigen Staatsgymnaſiums — ein. 
Unter- ihrer Führung kamen 1733 die Urfulinerrinnen nad 
Hermannftadt. Ihr jetziges Klofter und ihre Kirche hatten feit 
der Reformation theild ftädtifchen, theils confeſſionellen Zwecken 
gedient und war troß der Gegenbemühungen der Communttät 
und des Magiftrates, Die fich gegen die Hereinberufung der 
Nonnen fträubten, „auf hoͤhern Befehl“ ſchon 1728 den Jeſuiten 
übergeben worden. 

Virmont konnte übrigens ſeine Schöpfungen nicht genießen. 
Er war ſchon 1722 geftorben. Schon 11 Sahre nad) jeinem 
Tode — die Sefuitenfirche fteht eben im Schmude ihrer Neuheit 
da, frönt der Commandirende Graf Wallis diele Außerlich ficht- 
bare Katholifirung unferer Stadt, indem er 1733 auf eigene 
Koften auf den Hauptplatz der alten evangeliihen Sadjenftadt 
dad große Sandfteinbild des böhmifchen Heiligen Johann Nepos 
muk ftellt! Deijelben Nepomuk, der auf Betreiben der Jeſuiten 
am 19. März 1729 heilig gejprochen worden und der in Böhmen 


da8 Symbol des Unterganged der politifchen und religiöfen 
(806) 


15 
Sreiheit des Landes ift. Auch hier war er wohl ein äußeres 
Zeichen für die flegreichen Beftrebungen der Feinde der Nefor- 
mation und für bie Ketten, mit denen die alte Freiheit gebunden 
wurde. Oder follte er eine Sühne fein für das Blut, das 
30 Jahre früher an derjelben Stelle für dad Sachſenrecht ge⸗ 
floffen — das Blut Sachs v. Hartenecks! 

Ein anderer Angriff erfolgte auf die Zehnten der evan- 
gelifchen Geiftlichen, einen mächtigen Factor deutjchsevangelijcher 
Cultur in Siebenbürgen, den in andere Hände zu bringen fid 
die Mißgunſt der anderöiprachigen Sompatrioten mit den Inter: 
eſſen der fürftlichen Kammer und der katholiſchen Propaganda 
verbanden. 

Bon jeher war diejer Zehnten ald eine Grundlaſt, die auf 
dem den Sachſen ald freies Eigenthum zugewieſenen Boden 
ruhte, von der Gemeinde nur ihrem Pfarrer und zwar Anfangs 
überall im vollen Betrage geleiftet worden. Er war audh ftetd 
ein Angriffsobject für den Biſchof und als mit Statiliud 1542 
und Paul Bornemiffa 1556 das Tatholiihe Bisthum in Gieben- 
bürgen erloſch, Güter und Einkünfte derfelben fäcularifirt wur⸗ 
den und der fächfilche Zehnten nur dadurch der Säcularifation 
entging, daß er eben niemald zu den Einkünften des Biſchofs 
gehörte, für die fürftliche Kammer der Nattonalfürften und den 
Adel der Eomitate. Die Gewohnheit, einzelne Theile des Zehn 
tens im Comitate an den Abel, auf Sahjenboden an mächtige 
Perfönlichkeiten und politiſche Körperſchaften zu verpadhten, be- 
ſonders als nach der Säcularifation Verpachtungen früher biſchöf— 
licher Einkünfte von Seiten der Kammer als Anerkennung für 
politiſche Verdienſte galten, führte unter der Regierung der von 
Jeſuiten geleiteten Bathoris zunächſt zur zwangsweiſen Ver⸗ 
pachtung je einer Quarte des vollen Zehntens und unter Gabriel 
Bathori 1612* zur unentgeldlichen Ueberlaſſung dieſer Quarte 
an die fürſtliche Kammer — den Fiscus. Man mußte froh 


(307) 


16 


fein, der Bedrängniß des Fürften noch 3 Duarten zu verdanfen, 
denn er hatte ein Jahr früher den Pfarrern nur 1 Duarte ges 
laffen mit den Worten: „Wenn bisher der Fürft mit 1 Duarte 
ausgekommen, Tann der Pfarrer noch eher damit auskommen.“ — 

Diefer rechtliche Stand der Angelegenheit fam denn auch 
in da8 Geſetz der Aprobaten, blieb die Norm in der Fürftenzeit 
und wurde durch dad Leopoldiniihe Diplom 1691 und 1693 
von Leopold I. übernommen und feierlichſt janctionirt. Die 
Zehntberechtigung der fächflichen Pfarrer fteht demnady beim 
Vebergang des Lande an dad Haus Haböburg fo, daB der 
Zehnt jelbft ald eine Grundlaft erfcheint, die nicht an der Perfon 
des Zehntgeberd haftet, weßhalb denn auch die ſpäter einges 
wanderten und Grund und Eigenthum erwerbenden, der griechiſchen 
Kirhe angehörenden Romänen und Katholiken den fächfiichen 
evangelifchen Geiftlichen den Zehnten leiften; daß der Verzehn- 
tung mit Ausnahme der Haud- und Baumgärten alled unters 
Itegt, was angebaut wird, dazu Lämmer und Bienen; daß im 
Hermannftädter, Leichlircher, Schenker, Koſsder, Kaidder, Medi- 
aſcher und Biftriter Sapitel eine Duarte dem Fiſcus und drei 
den Pfarrern, im Broojer und Burzenländer Capitel der ganze 
Zehnten den Pfarrern, auf Gomitatäboden dagegen nur eine 
Duarte dem Pfarrer, die drei fäcularifirten Duarten dagegen dem 
Fiscus und durdy Pachtung dem Adel zukomme. Ebenſo fteht 
ed mit zwei Duarten des Kleinjchelfer Capiteld und noch einiger 
Gemeinden. Dieje feierlidy gewährleiftete Rechtölage, die unter 
fo jchweren, fortwährend fich erneuernden Kämpfen erftritten 
worden war und geradezu den Fortbeſtand der deutichen Eultur 
und der evangelifch-jächfiichen Kirche im Lande bedingte, follte 
nun, da man des Kampfed müde, unter gelichertere Verhält- 
niffe zu kommen hoffte, nody viel gefährlichere Angriffe zu be» 
fteben haben als bisher. Denn nun vereinigte fi), wie oben 
gejagt, dad Interefje der katholiſchen Propaganda mit dem der 


(308) 


17 


Landesfinanzen und mit jenem feindlichen Geiſt im Lande, dem 
. der troß aller Stürme, bie über daffelbe hingefahren, immer 
noch verbältnifmäßig blühende Zuftand des freien deutſchen 
Gemeinwejend ein Dom im Auge war. Ein Geift, der nicht 
weniger von alten Zeiten her die indigenen nicht deutichiprachigen 
Landeskinder, als die eingewanderten. katholiſchen Sendlinge der 
neuen Herrſchermacht bejeelte. Schon am 5. September 1699 
verordnet ein Tönigliches Nefcript, die jogenannten fünf Punkte, 
dab Katholiken, nicht akatholiſchen Predigern, fondern katholiſchen 
Beiftlichen ihre Zehntquarte zu geben hätten. Diefe Verordnung 
fonnte ſich nur auf Gebiete außerhalb des Sachfenlandes bes 
ziehen, da Anderögläubige, jeten es nun Romäner oder Katho- 
fifen, bier nur von evangeliihen Sachſen Grund und Boden 
erworben haben konnten und die darauf haftenden Kaften und 
Servitute natürlich miterwarben. Es erfchien dad auch allen 
um fo natürlicher, als ja and) die politiiche Gewalt, die Kammer 
mit ihrer Duarte, durch eine Aenderung dieſes Verhältniſſes 
gelitten hätte und von feiner Seite kommen deshalb Klagen, 
bis durdy dieje Verordnung Hoffnungen und Auöfichten gewedt 
werden und die nun zahlreich einlaufenden Klagen Gelegenheit 
zu einem bedeutendern Angriff geben. Kaiſer Zeopold giebt zwar 
1703 die Beruhigung, daß dieſes Reſcript fi auf die ſaächfiſchen 
Zehnten nicht beziehe, aber fchon am 12. Detober 1731 erhielt 
der Superintendent 2. Graffiud in Folge häufigen Streites über 
die Zehntleiftung von Katholifchen an Nichtkatholiiche, den Auf- 
trag, alle Zehntprivilegien vor dem forum productionale vor- 
zulegen. — Das forum productionale war ein Gerichtöhof zur 
Wahrung der Anſprüche, Güter, Regalien und Einkünfte der 
Krone, teren Eigenthum zwar dem Lande zufteht, deren Ertrag 
aber in die fürftliche Kammer fließt und der Verwendung bed 
Fürſten überlaffen if. Diefe Fiscalgüter waren in der wirr- 
vollen FZürftenzeit vielfach verfchleudert worden und jollten da⸗ 


xX. 465. 2 (309) 


18 


durch wieder hereingebracht werden, daß der vom Fiscal-Director 
angefochtene Beſitz durch Vorweiſung (Production) der Befitz⸗ 
urkunde vor dem forum productionale erhärtet werde. Mits 
glieder dieſes Gerichtähofes waren die fürſtlichen Näthe, Ober- 
beamten der Comitate der Sedler und Sachſen und die Gerichtö- 
tafelbeifiger. Im Berlaufe der Zehntprocefle wurden die ſächfi⸗ 
Ihen Beifiter entfernt. Ald Epochaljahr, von dem an jeder 
Gitirte feinen Befib durch Production der Beſitzurkunde bewetjen 
mußte, galt dad Jahr 1657. Das Unrecht, wornach dem Be- 
Hagten der Beweis zugeichoben wurde, wurde dadurch gemildert, 
dat ein verhältnißmäßig ſpätes Epochaljahr angenommen wurde 
und dad der Fiscal-Director nur von erwiefenem Fiscalgut die 
Production fordern durfte. 

Da nun der ſächfiſche Zehnten niemals Fiscalgut gewejen, 
da die Berechtigung zum Zehntbezug aus dem Andreanum dem 
Aprobatal-e und Compilatargejeß und zahlreichen andern Urkun⸗ 
den leicht zu erweilen war und weit über das Sahr 1657 hinaus- 
ging, ließ man zwar auf die Remonftration ded Superintenden- 
ten, daß eine ſolche Production unvereinbar fei mit dem Leopol⸗ 
diniſchen Diplom, die Sache auf fich beruhen, aber es erfolgte 
gleichzeitig ein um fo gefährlicherer, wenn auch gleich unbe- 
rechtigter Angriff auf den Burzenländer Zehnten, den biefes 
Gapitel, da er im Jahre 1612 intact geblieben war, auch ganz 
behalten hatte. 1737, danu 1747 vor dad Productionalforum 
gefordert, ergreift dad Capitel eine große Angft, denn „die 
meiften Mitglieder feien dort katholiſch“ und der natürliche Be⸗ 
Ihüßer der Nation — jebt der katholiihe Comes Waldhütter, 
wollte ihnen nicht einmal zu ihrer Vertheidigung den Andreani- 
ſchen Kreibrief herausgeben. Allerdings hätten fie deflen auch 
nicht bedurft. Sie dedten ängſtlich jene Stellen der Urkunde, 
welche in die Grenzen ded Sachſenlandes dad Burzenland nicht 


einbeziehen, weil ed damals noch ein desertum war, mit weißem 
(810) 


19 


Papier zu, ftatt zu zeigen, wann und wo daſſelbe in allen 
Rechten und Freiheiten mit dem Sachſenland vereinigt worden. 
Sie ſuchten and der Urkunde zu beweilen, was nicht darin ftand 
und ftehen Tonnte, dab die terra Sebus der Urfunde auf das 
Burgenland hinweiſe und Ichädigten und verwirrten dadurch in 
ihrer Angft und Unkenntniß ihre gerechte Sache. Sie führten 
„nicht ohne Ungeſchick“, von allen Ratbgebern verlaffen, diefelbe 
fo, daß am 26. September 1752 der Protonotar dad Urtheil 
verfünden Tonnte, daß binfort „im Burzenländer Gapitel der 
Ziscnd drei Duarten, das Gapitel nur eine zu beziehen habe.“ 
Der von beiden Parteien an den Hof ergriffene Recurd batte 
durch die Thätigfeit des um fein Volk jo hoch verdienten Sam. 
v. Brudenthal den Erfolg, daß Maria Therefla zwar eine neue 
Unterfuhung durd das Gubernium anorbnete, ald aber bier im 
Berlauf der nächften 8 Sabre die Wahrheit fi, allmählid Bahn 
brach, wußte der Fiscus, Durch alle Mittel, die ihm die damalige 
Drocebordnung tu die Hand gab und durch ſolche, deren An- 
denfen nirgend aufbewahrt wurde, ed dahin zu bringen, daß 
das Urtheil im Jahre 1770 beftätigt wurde. Trotz der „uns 
unterbrocdhnen Kette vergebliher Berfuche der Sachfälligen, zu 
ihrem Recht zu gelangen, ift es fo geblieben bis zur Ablöjung 
der Zehnten und diefe jelbft erfolgte auf dieſe ungerechte Baſis. 
Bezeichnend ift aber unter der Fülle faljher Gründe in der 
Motivirung ded Urtheild jener, der da jagt, der Zehnten ſei 
Katholiken, nicht Evangelifchen gegeben, „die Pfarrer feien von 
der Tatholiichen Kirche abgefallen und hätten dadurch auch den 
Zehnten verloren?! — Die ganze rechtlihe Entwicklung der 
Neformation wurde rund weg geläugnet. Es tft eine Motivirung, 
“wie fie einft Leopold in Ungarn angewendet, in Siebenbürgen 
nie gewagt und wie fie bei dem Gerechtigkeitsſinne der großen 
Kaiferin nur durch Unkenntniß derjelben zu erklären ift. 

Vom Fahre 1699 an war der fächfiiche Fiscalzehnten an 

9% 


(su) 


20 


die jächfiihe Nation verpachtet und zwar betrug der jährliche 
Pacht von 111 Gemeinden im Jahre 1742 5000 fl. baar und 
3000 Kübel Getreide. Bom Fahre 1769 an wurde der Pacht 
nit mehr erneuert und die neuen Fidcaldecimatoren ſuchten 
fofort den Zehnten auf Gegenftände auszudehnen, die bis dahin 
der Berzehntung nicht unterworfen geweſen. Schafe, Ziegen, 
Schweine, Bienen und Gartenfrüchte und der jogenannte „Beine 
Zehnten“ wurden angeſprochen, ein Anjpruch der, im Snterefle 
des Fißcus erhoben, viel boͤſes Blut machte und endlich zum 
Droceffe führte. Das geſchah in demielben Sahre 1770, im 
welchem der Sprudy gegen das Burzenland in Nedtäfraft gejebt 
und den dortigen Pfarrern für immer drei Viertel ihres bis. 
berigen Einfommend entzogen worden. 

In demfelben Sabre lud der Fiscus, wohl kühn gemacht 
durch diejen Erfolg, „den geſammten evangelifchen Klerus des 
Sachſenlandes“ vor, er möge fich über das Recht zum Bezuge 
von drei Zehntquarten ausweiſen, „da den Pfarrern nad 
ungrijhem Reichsgeſetz Decret. III. Vladisl. II. art. 50) nur 
eine Duarte gebühre."” Ein Geſetz für Ungarn vor der Refor⸗ 
mation angewendet auf den evangelifch-fächfiichen Klerus Sieben- 
bürgend! Die producirten Urkunden, die biftgriiche Entwidlung 
der Frage, die Allen befannte Sadjlage, dad klarſte Recht wurde 
nicht erkannt, das Unrecht hinter den Sab verftedt, der ſächfiſche 
Klerus habe von dem Bathoriſchen Vergleich vom Sahre 1612 
an manchen Drten feinen oder einen gegentheiligen Gebrauch 
gemacht und 1774 das Urtheil geſprochen der Fiscus habe fortan 
von „allen fächfiichen Orten auf dem Königsboden“ drei Duarten 
zu beziehen. in Urtheil, deſſen Vollzug geradezu einem 
Todesurtheil der Gultur und Bildung des jächliichen Volkes 
gleich zu ftellen gewejen wäre. — An der Spite bed Klerus 
fteht aber Gottlob jebt in dem Superintendenten G. I. Haner 


ein Mann, der nicht ermüdet fih dem Unheil entgegenzuftemmen. 
(312) 


21 


So gebt denn der Proce mit vielen Koften umd vieler Aufs 
tegung weiter bi8 zum Sahre 1789, beinahe zwei Sahrzehute, 
wo die Enticheidung aus Sojefs II. Kanzlei herabgelangt, „daß 
der ſächfiſche Klerus in dem vorgehabten Genuſſe der in Frage 
ftehenden Zehnten bloß aus Gnade belaffen werde.“ Wie lange 
mitunter dieſe Proceſſe dauerten, zeigt der Brooſer Proceß, der 
1772 in suspenso blieb und endlid, 1827, günftig entichieden 
wurde. 

Auch das Recht auf den Bezug von Zehnten von Tatholiichen 
Grundbefigern wird unter Maria Therefia mit Erfolg beftritten 
und Pater Pettauer erwirkt eine Verordnung, daß vom Befſitz 
von Eheleuten verjhiedner Confeffion der Zehnten zwiſchen den 
Dfarrern beider Confeffionen getheilt werde. Pater Adrian 
Simon in Mühlbach iſt freilich damit nicht zufrieden und läßt 
ſolchen Zehnten geradezu ganz in feine Scheune führen. Der 
Gewinn aud den Ftöcalquarten des Zehnten der evangeliſch⸗ 
fächfiichen Pfarrer wird nur zum Theil zu Staatözweden vers 
wendet. Schon ſeit Keopold dient ein großer Theil deſſelben 
zur Förderung und zum Glanze der wiedererftehenden Kirche! 
Die Stolzenburger, Bekoktner, Birthelmer, Lechniger Duarte 
bezieht das katholiſche Seminar und der von Jeſuiten geleitete 
convictus nobilium in Klaufenburg, auh das Karlöburger 
Seminar, das Therefianiiche Waiſenhaus in Hermannftadt, ein» 
zelne katholiſche Pfarreien find im Befig fächfticher Zehntquarten, 
während die evangelifchsjächftiche Kirche keinerlei Staatöfubvention 
bezieht und während zur jelben Zeit die evangeliſchen Gymnaſien 
faft gar keine Dotation beſaßen; die Lehrer erhielten zum Theil 
Gehalte von 4 oder 6 ungriichen Gulden jährlih, oder — gar 
nichts. — 

An der Spibe der Nation, im Rathe ber Städte ſaßen 
zum Theil Männer, die dem Glaubenöwechiel, der focialen 
Stellung ihrer Gefreundeten, bei eigner Unkenntniß und Ges 


(813) 


22 


finnungdloftgleit Amt und Würde verdanften. In diefen Kreifen 
berrichte oft eine Aengftlichleit und Widerftandslofigfeit, die 
die Erhaltung von Volksthum, Sprache und Glauben uns nur 
dem zähen Volkscharakter zufchreiben läßt. 

Menn aber die Behörden, die Magiftrate und Communi⸗ 
täten um ihre Loyalität und Anhänglichfeit an das erlauchte 
Kaiſerhaus zu beweiſen bid an die Grenze des im Gewillen zu 
verantwortenden ſich willfährig zeigten, wenn fie der brutalen 
Ausführung eined in der Zeit und an dem Hof nicht unnatür= 
lihen Wunſches, nichts andered enigegenzufeßen wußten als 
reiche, aber vergebliche Geſchenke an Generale und Adfutanten, 
oder andere Dränger, Bitten, Repräjentationen und Deputationen, 
die felten mehr als eine Verſchleppung der Angelegenheiten er« 
zielten, jo wuchs einerjeit3 dadurdy der Muth der katholiſchen 
Partei, ihr Auftreten wurde immer agreifiver, andererjeitd brach 
fih der Unmutb der Bevölferung über die ungewohnten Erſchei⸗ 
nungen, Anforderungen und Angriffe auf Markt und Straßen 
Bahn, Pasquille und Störungen der öffentlichen Proceffionen 
find die Antwort, wenn der P. Landſchuſter von einer auf dem 
feinen Ring über Mannedgröße erhobenen Kanzel fidy erlaubt, 
mit unfläthigen Reden gegen die Proteftanten, ihre Kirchen und 
Praädikanten Iodzuziehn, oder wenn die Patres zur Rettung der 
Seelen und Leiber zu verichtedenen Malen das Aſylrecht der 
Kirhen und Klöfter für zum Tode verurtheilte Verbrecher in 
Ausübung bringen. 

Häufiger Streit ergiebt ſich aus der Nichtbeachtung der 
ungewohnten katholiſchen Feiertage von Eeiten der Proteitanten, 
beſonders wenn diefe Feiertage durch Procelfionen und öffentliche 
Aufzüge auf den Straßen ihren Pomp entfalten und mit Markt⸗ 
tagen oder Sahrmärkten collidiren. Die Marktbeſucher und die 
fi ihrer annehmenden Magiftrate müflen gewöhnlich der mili« 
tärtichen Macht weichen. Gejetlich wird aber erft 1751 „Allen, 


(314) 


23 


auch denen, die nicht zur katholiſchen Kirche gehörten, verboten 
an Tatholifchen Feiertagen zu arbeiten.” — 

Alle dieſe glänzenden Aufzüge, dieje Entfaltung, die Augen 
und die Sinne reizenden Pompes, diefe anſpruchsvolle Sicher: 
heit des Auftretens follte auf die Gemüther der Menge wirken, 
ſollte der urtheilsloſen Maffe den Reichtum, die Macht und 
dad Glück der berrfchenden Staatskirche in Iodendem Lichte 
zeigen, — doch fie verfehlte bei dem nüchternen, von proteftan« 
tiſcher Schlichtheit und Einfachheit durchdrungnen Sinn unſeres 
Volkes ihren Zweck und erregte nur Spott und Grimm. Man 
mußte, um etwas zu erreichen, fich an die Führer, an die 
Intelligenz des Volkes halten, die zogen dann in Stadt und 
Land den gemeinen Mann wohl nach fich. Was gleichzeitig bei 
ben Romaͤnen fo leicht gelungen war, daß durch den Uebertritt 
des Biſchofs Athanaflud ein großer Theil ded Volles dem Katho⸗ 
liciomus gewonnen wurde, das erfirebte man auch bier. Aber 
wenn ſchon dort, wo die griechiſch⸗orientaliſche Kirche, nicht zu 
den recipirten Religionen gehörend, nur in gebuldeter und be» 
jonderd von den Reformirten oft angegriffener Stellung, fid 
an bie mächtigite, die meiften Vortheile verjprechende, anerkannte 
Kirche anjchloß, wenn ſchon dort eine beinahe heldenhafte Aus- 
dauer den größern Theil bed weniger gebildeten Volkes in der 
Trene an den alten, von den Bätern ererbten Glauben erhält, 
mußten den Sachſen gegenüber viel gewundenere Wege betreten, 
ber Belehrungdeifer mit viel größerer Borficht angewendet und 
and der Räckkehr in den Schoß der Tatholiichen Kirche viel 
größere Bortheile verfprochen und in Ausficht geftellt werden. 

Wenn die Landedverfaffung im Gubernium und bei den 
Landesftellen die Parität der recipirten Belenntniffe forderte, 
berubigte man fidh damit, dab bisnoch das Bekenntniß bei den 
Sachſen faft immer mit der Nationalität zufammenftel und daß 


ja doch die interne Verwaltung der einzelnen Landeötheile in 
(316) 


24 


den ſtädtiſchen Magiftraten und Communttäten in den Händen 
derer blieb, von denen die Kirche nichts zu befürchten hatte, da 
fie ihre Söhne waren. Im Sahre 1713 forderte der Comes 
bei der Wahl ded Bürgermeifterd Hofmann und des Stuhl 
richters Schmiedt die Hermannftädter Communität auf, daß fie 
„vornehmlich auf ſolche Perjonen. ihre reflectiones richten möge, 
welche Gott von Herzen fürchten, es mit der erfaunt — und 
befannten evangeliichen Religion aufrichtig meinen und zuläng- 
lihe Capacität, wie auch beharrli gute Sntentiones haben 
mögen." Zwanzig Sahre fpäter finden wir aber ſchon die Con» 
vertiten Abrahami v. Ehrenburg, Stefan Waldhütter von Adlers⸗ 
haufen, Beft, den Katholiken Ablfeld u. a. m. im Magiftrat 
und theilmeife in den höchſten Stellen. Schon 1727 wird bie 
energiiche Vornahme der Aemterparität in den Jächfiichen Städten 
befohlen und 1734 verlangt Pater Gallop „mit Vorbewußt 
feiner Ercellenz ded Herrn Commandirenden Wallis bei der vor» 
zunehmenden Election unter andern nun zu creirenden Hundert. 
männern auch Fatholifche Bürger einzunehmen.” Während fidh 
dieſes Eindrängen fremder Elemente in die ftädtiichen Verwal⸗ 
tungen in Hermannftadt in ftilleree Wetje vollzog, waren in 
Kronftadt diejelben Erſcheinungen von heftigen Kämpfen begleitet 
und fonnten nicht ohne Anwendung brutaler Gewalt in Scene 
gejept werden. Als fremde Glemente mußten aber im Sachſen⸗ 
lande die Katholifen erjcheinen in einer Zeit, wo, wie Georg 
Hermann fchreibt, „die Tatholifhe Gemeinde nur aus dem 
Kriegsvolk und aus abgedankten Soldaten, die hier figen blieben, 
beftand, Landeskinder aber nur noch jelten empfänglicy waren für 
die Bleudwerle, die der Prunk in ihrem Gottesdienſte mit fich 
führte.“ Im Hermannftadt wurden, wie Pater Delpini jchreibt, 
„in den Sahren 1712—1760 — aljo in beinahe 50 Jahren — 
zwar 4500 Kinder katholiſch getauft, aber in der Bürgerichaft 
nicht mehr als zwei gezählt, die von katholiſchen Eltern gebürtig 
(216) 


25 


wären, indem die übrigen Tatholifchen Bürger, freilich -audy nur 
47 lauter Ausländer find, die das Bürgerredht erfauft haben.“ 
Als man ſich in Kronftadt — nicht nur weil er ein Gonvertit 
war — fondern weil feine Perfönlichleit und bisherige Lebens⸗ 
führung aller Vertrauenswürdigkeit entbehrte, fträubte, Sohann 
Drautb zum Stadthannen zu wählen, wurde dem Gewählten 
Balentin Zartler vom General Tige eine Wache vor dad Haus 
geftellt und „den Senatoren Unterofficiers“, jedem Mitglied der 
wählenden Sommunität aber 2—4 Mann Gemeine ald Grecution 
jo lange ins Quartier gelegt, bis man fich entichloß, „den 
Johann Drauth zum Stadthannen anzunehmen.” Erft feine 
Einſetzung und Tartlers Verzichtleiftung befreite diefen vom 
Hausarreft, jene von der Einquartierung. 

Die Einfehung des Drauth war aber nur der Anfang einer 
Menge von Schwierigkeiten, die von unruhigen Strebern, abge: 
dankten Subalternoffizieren, unbefähigten Gaftwirtben, Pofte 
meiftern und andern, die fein anderes Verdienft hatten, als daß 
fie entweder fatholijch geworben, oder von Geburt gewefen, dem 
Magiftente gemacht wurden. Bald wurde verfudht, fie durch 
ihre Gönner in erledigte Amtöftellen einzudrängen, bald ver» 
ſuchte man fie durch Privilegien, Schanfgerechtigfeiten u. dgl. 
von ihren Wünſchen abzubringen. Die leitenden Gewalten 
tänfchten ſich keineswegs über die Werthlofigfeit und Unfähig- 
feit diefer Perjönlichleiten, — aber man rechnete auf das Bei⸗ 
ipiel, das die durch den Religionswechſel erlangten Vortheile 
geben möchte und auf die Nachkommen der Gemwonnenen. Den 
ſaͤchſiſchen Patriciern gab man den Adel und fuchte ihnen auber 
andern Chrenbezeugungen die erften Stellen in der Nation zu 
verfhaffen. So wurde Stefan Waldhüter von Adlershaufen, 
nachdem er 1739 übergetreten, im folgenden Iahr Taiferlicher 
Rath und „auf hohe Necommandation" Bürgermeifter von 
Hermannftadt, ſchon 1745 Comes der Nation. Die Erlangung 


(317) 


26 


des Adels war übrigens in diefer neu gewonnenen Provinz nicht 
ſchwer und nicht nothwendig mit der Religiondänderung ver. 
bunden, gewöhnlich lag darin nur ein Anſpruch auf die Loyalität 
und Anhänglichfeit des Ausgezeichneten an das Kaiſerhaus. 

Als im Jahre 1740 Karl VL. ftarb, war im der erwähn. 
ten Weife allenthalben in der fächhfiichen Nation der Samen 
ausgeſtreut für die Zurücführung derjelben in den Schoß der 
alleinfeligmachenden Kirche. Allein die Halme waren, Dant 
der zähen Natur unferes Volkes nur ſpärlich emporgeſchoſſen, 
wad umfomehr zu bewundern ift, ald die vorbhergegangenen 
wilden Zeiten, die Verarmung ded Volkes und die nun unter 
den Fittigen der Kathol. allgewaltigen Kailerl. Armee einzie- 
henden Segnungen ded Yriedend, das erichlaffte Volt um fo eher 
in die geöffneten Arme der Staatäfirche hätte führen können 
als innerhalb des proteftantifchen Clerus Cinmüthigfeit, beſon⸗ 
dere geiſtige Capacität und moraliiche Stärke auch nicht alleut- 
halben zu finden war. 

Die Kaiſerin Maria Therefia hatte in ihrem großen Herzen 
und bei ihrem vielumfaflenden männlichen Geiſt die befondere 
Schwäche einer blinden Ergebenheit gegen ihre Kirche und 
deren Diener die Sejuiten. Es war natürlich, dab unter ihrem 
Schuß „im Weinberge des Herrn“ noch eifriger gearbeitet wurde 
als bisher. Und wenn ed in Siebenbürgen nicht mit derjelben 
NRüdfichtölofigkeit, ja Grauſamkeit gejchah, wie anderwärtd in 
Ungarn und in Defterreih, fo lag das in der glüdlichen Reli⸗ 
giondverfaffung des Landes und deren Zuſammenhang mit ben 
politiichen Verhältniffen desfelben und darin, dab die Kajerin 
innerhalb der Nation ihr Vertrauen dem Manne jchenfte, deſſen 
Wahlſpruch war fidem genusque servabo — Samuel von 
Brukenthal. 

Schon als 1730 Comes Teutſch geſtorben war, hatte man 


verſucht, in dieſe Stellung einen Katholiken zu bringen, um ſo 
(318) 


27. 


einerſeits eine katholiſche Gubernialrathäftelle zu gewinnen, an⸗ 
dererſeits an die Spibe der Nation ein Haupt zu ftellen, durch 
defien Fügſamkeit die Intereſſen der Kathol. Kirche innerhalb 
der Nation follten gewahrt werben. Gegen den gewählten 
Simon von Baußnern wurde vom Hof unter andern nichtigen 
Sinwänden ausdrüdlich der erhoben, „daß man zu diefer Stelle 
einen Katholifen erhoben willen möchte; wogegen die Univer- 
fität remonftrirte, daB kaum der tanfendfte Theil der Nation 
dieſem Bekenntniß angehöre und das Kathol. Bekenntniß des 
Comes dem leopoldinifchen Diplom zumiderlaufe. Nur die 
großen Berdienfte Bausnern’d während der Rakotziſchen Unruhen 
und wohl mehr noch der Mangel einer geeigneten Perjönlich- 
feit bewirkten feine Beftätigung — nad) breifähriger Unterhand- 
Iung. Als nad einem Jahrzehnt Bausznern ftarb und M. von 
Rofenfeld von der Communität an erfter Stelle zum Comes 
gewählt worden war, wurde diejer zurüdgewielen und Stefan 
von Adleröhaujen, dem man es wohl nahe gelegt hatte, wa8 man 
von ihm wüuͤnſchte, denn er war 3 Sabre früher katholiſch gewor⸗ 
den, am 25. Februar 1745 zum Comed ernannt. Don der 
Perſon Herbertäheimd — auch eined Gonvertiten und Tatholijch- 
ſächfiſchen Gubernialrathes — mar man abgegangen, weil wie 
&. Hermann jchreibt: „die Sefutten fich von Adleröhaufen mehr 
verſprachen,“ deſſen biegjamer, biöweilen an Furchtſamkeit gren⸗ 
zender Charakter fie vermuthen ließ, daß er ſich eher ihren Grund 
ſätzen und Zumuthungen anzuſchmiegen wiſſen werde. 

Als Adlershauſen nach vielen Schenkungen an katholiſche 
Stiftungen im Jahre 1861 an der „Schlafſucht“ geſtorben und in 
der neuen katholiſchen Kirche Hermannftadt3 feierlich beigeſetzt 
worden, wurde jogar die Sandidation zweier Evangeliſchen und 
zweier Katholiichen mit einem von convertirtem Hoflanzler Graf 
Betlen inipirirten böchft leidenſchaftlichen Reſkript zurückgewieſen 


— ja als mah fich fügte und drei evangeliſche und drei katho⸗ 
(319) 


28 


liſche Sandidaten einfandte, blieb die Stelle doch fieben Sahre 
unbeſetzt, bid man fidy für den evangeliihen Sam. von Bausz⸗ 
nern entichloß, einen kranken Mann, an deſſen vergeblich ange⸗ 
boffter Convertirung der Jeſuit Pettauer arbeitete. Biſchof 
Bajitai fchreibt über diefe Angelegenheit der Kailerin: „Ich 
werde zwar gern und mit allem Fleiße trachten den Samuel 
von Baußnern der Wahrheit des fatholiichen Glaubens zu über- 
führen, indem fein Beijpiel zu deifen allfeitiger Annahme nicht 
wenig helfen würde. Allein wie feit und unbeweglid er in 
feinem Vorhaben fei, bezeuget die gefaßte und nicht weniger 
als zweideutige Art, in welcher er fich darüber dem P. Pettauer 
gegenüber geäußert hat." Nach jechsjähriger Amtöthätigkeit 
quiescirt, wurde die Stelle doch erft nach feinem, im Sahre 
1780 erfolgten Zode, unter dem Einfluß der ultramontanen 
Partei mit dem Convertiten Cloo8 von Kronenthal — gegen 
Mich. Brukenthal beſetzt, — der weder im Borfchlag der Come 
munität noch im Gubernium, aber eben ein Neubelehrter war, 
und der jeine Stelle behielt, bis er mit feinem Bruder 
Michael, wegen Gelderpreffung in Unterfuhung kam und ſus⸗ 
pendirt wurde. Die Geſchichte dieſes Bruderpaars ift typiſch 
für die Art und Weiſe, wie Projelyten gemacht und die Profeliten- 
macherei gefördert wurde. Joh. Cloos, der Sohn eines evan⸗ 
geliihen Predigers in Kronftadt wird, aus Deutichland heim⸗ 
gelehrt an der Schule angeftelt. Durch feine Ehe kommt er 
in die Familie der Gonvertiten Engetter und Schobel und nach⸗ 
dem er in einer durch feine Schuld und Rohheit höchſt unglüde 
lichen Che das Erbtbeil feiner Gattin vergeudet, fie in ein 
frübes Grab und fi) um feine Stellung gebracht, jucht er in 
Wien beim Militair unterzulommen. Cr wird Leutnant, fein 
Bruder Michael Fähnrich und nachdem beide die Religion ges 
wechjelt, wird der Stadt Kronftadt befohlen, fie im Magiftrate 


anzuftellen, wo Zohan immer „auf Recommandation und Befehl 
(8%0) 


29 


bed Hofes" oder des Gnberniums, ‚von Stufe zu Stufe fteigt, 
den Adel und endlih die erfte Stelle in der Nation erhält... 
Cloos war wenigftend nicht ohne Talente, — es ericheint aber 
beinahe unglaublih, wenn man hört, welche Leute fonft noch 
für ihren Religionswechſel mit öffentlichen Aemtern belohnt, 
oder, wie Hermann fchreibt, welche intelleftuelle und moraliiche 
Gebrechen „mit Weihwaſſer abgewiſcht wurden.” Da ift ein 
des Diebftahls überwiejener, unfähiger Dorfprediger, Joh. Zart« 
ler, da ein verdorbener Goldihmied M. Engetter, da ein Lands⸗ 
fnecht, der fi nad einem an Abenteuern und Schwindeleien 
reichen Leben in kaiſerlich und preußiſchen Kriegädienften in den 
Schoß der katholiſchen Kirche rettet, Bartholomäus Groß, da 
ein bantrotirter Communitätd-Bormund, der nicht Rechnung 
legen kann, da find ed die Senatoren A. Zartler und Seewald, 
die wegen bedeutender Abgänge in den Contributiondgeldern, 
die fie für fich verwendet, zur Verantwortung gezogen, zu deren 
Erftattung verpflichtet werden, und ihre weitere Anftellung und 
Beförderung im Meligiondmechjel finden. Da find nod eine 
Menge ähnlicher problematiicher Eriftenzen, wie in den Magier 
firaten, fo in allen Aemtern, wie in Kronftadt, jo in Hermann- 
ftadt und den übrigen Sacjenftädten, die auf diefem Wege 
Auskommen und Anjehn fuhen und finden. „Se ftumpffinniger, 
je befjer, war die Loſung der Sejuiten, jchreibt &. Hermann. 
„Der war ihr Mann, der ſich in der Verzweiflung, fein Glüd 
in ordentlihen Wegen zu finden, ihnen in die Arme warf, 
Denkungsart und Handlungdweife mit der ihrigen verfettete 
und Muth und Selbitjuht genug befaß, die Augen vor ihrer 
Gehaltlofigkeit zu verſchließen.“ — 

Und dennoch blieb dad, wad man erreichte, wohl weit hinter 
dem, was man erftrebte, zurüd. Bon einen Mebertritt in Maj- 
fen, oder Betheiligung der eigentlichen d. i. bäuerlichen oder 
zünftigen Bevölkerung des Sachſenlandes ift feine Rede. In 


(321) 


30 


einer 50 jährigen Thätigfeit weift das Ordenshaus in Karld- 
burg im Kanzen 521 Befehrungsfälle, davon 324 lutheriſche, 
wohl zumeiit ächfiiche Seelen nach. — 

Mährend aber jo die Fatholifche Kirche — denn auch die 
Bilchöfe, befonderd Klobuficky und Bajitat, betheiligten ſich eifrig 
dabei — ungefcheut mit aller Unterftüßung des Staates Pros 
jelyten machte, während befonders in Ungam „Katholifirungd« 
vereine entitanden, die, mit reichlichen Geldmitteln audgeftattet, 
das Geſchäft des Seelenfchacherd trieben” ergingen ſcharfe Be⸗ 
fehle gegen die Rückkehr, ja auch nur gegen den einfachen Ueber⸗ 
tritt in die evangelifche Kirche. Apoftaten nannte man Solche 
und behandelte fie als Verbrecher und zwar bezeichnete und 
beftrafte man das Berbrehen — da man feine andere gejeb- 
lihe Bafis fand — als Brudy ded Homagialeided, ald Hoch⸗ 
verrath. Güterentziebung, ehrlos Erklärung für Adlige, öffent 
liche Stockſchläge für die Nicht-Adligen waren die Strafe für 
Apoftafie.e Schon unter Karl VL, 1725, war der Uebertritt 
in die evangelifche Kirche verboten, aber man führte diefe Ver⸗ 
ordnung in ziemlich milder Weile aud. in Nittmeifter, der 
fein Kind in Schellenberg hatte evangeliſch taufen lafjen, wurde 
mit einer Strafe von 50 Dufaten blos gefchredt, er fam mit 
einem Dulaten davon. Aber hinfort durfte fich fein evangeli- 
ſcher Geiftlicher beifommen lafjen, irgend eine firchliche Funktion 
an einer Militairperfon vorzunehmen. Biel ftrenger wurde auf 
Grund neuer Berordnungen unter Maria Therefia dieje Bor- 
Schriften gehandhabt. Außer den Gefeben gegen Apoftafie fam unter 
Maria Therefia eine Fluth von Befehlen, die alle „die Zurüdoräns 
gung der Alatholiichen zum Zwede hatten”. So fam 1751 
eine ftrenge Verordnung, nach weldyer bei Verantwortung der 
Magiftrate verboten wurde, fatholiiche Kinder in evangelifche 
Schulen geben zu lafien. In den Städten hatten überall die 


Zejuiten für katholiſche, deutſche Schulen höheren und niedern 
(323) 


31 


Grades geſorgt. In Hermannftadt entitand jetzt durch die Muni⸗ 
fizenz der Kaiſerin „die Normalhauptſchule“ mit deutſcher Unter⸗ 
richtsſprache und Germaniſirungs⸗Tendenzen. 

| Eine andere tiefgreifende Verordnung war dad Verbot für 
alle Bewohner des Kandes an katholiſchen Feiertagen zu arbeis 
ten. Als 1764 in Hermannftadtt am „Allerheiligen Tage 
Gewaltömaßregeln gegen die angewendet wurden, weldye durch 
„Arbeitsruhe“ nicht mitfeiern wollten, blieben wiederholte Pad» 
quille gegen Jeſuiten „und im Verdachte ded Papismus ftehende 
Senatoren und Bürger" nicht aud. Im Folge deſſen konnten 
fi die Hermannftädter noch einmal an einem Autodafe dieſer 
Schriften auf dem großen Ringe erfreuen. In Kronftadt gingen 
am Sofefitage Patrouillen von Haus zu Haus, die Arbeit 
zu verhindern. Dawider bandelnde Bürger wurden zur Haupt- 
wache geführt. Der Stadtrichter Georg Rehter wollte am 
Georgi Tage — der auch gefeiert werden mußte — feinen 
Namenstag unter den blühenden Bäumen jeined Bienengartend 
feiern und fchidte feinen „Kuchelwagen“ voraus. Der Pater 
Superior der Franziskaner findet aber barin eine Störung des Feier. 
tages, läßt den Wagen in dad Klofter führen, und giebt ihn ſammt 
den Pferden erft 3 Zage fpäter auf Requifition von Hermann⸗ 
ftadt heraus. Für die Kirchlichleit und den Kirchenbeſuch katho⸗ 
liicher Dienftboten find die Herrichaften verantwortlich und der 
eontrolirende Pater Henter, den der Volkswitz in Henger ver» 
wandelt fühlt fein Müthchen an Herren und Knechten, jo dab 
bald dienende Perſonen Tatholifcher Confeſſion ihre Noth haben 
Dienfte zu erhalten. 

Die veratorifche Ausführung aller diefer Maßregeln erregte 
natürlich in allen Kreifen gerechten Widerwillen, aber darum 
fümmerte man fich wenig. 

Konnte man die Sachſen nicht gewinnen, follten fie we⸗ 


nigftend ihre Herren erfennen und ihre Macht fühlen lernen. 
(323) 


32 


Es ift empörend zu lefen, in welch' hochfahrender und rüdfichts- 
lofer Weiſe das Militair mit Bürgern und Senatoren fpricht und 
amtlich verkehrt, welche Unterthänigfeit Militärperfonen ſich gegen- 
über verlangen, wie wegen Mangel an Willfährigkeit, wegen etwas 
zu leidenichaftlicher Bertheidigung des Hausrechtes Stadtpfarrer 
und Senatoren mit Haudarreft oder Arretirung und Haft auf 
dem Rathhauſe oder der Hauptwache bedroht und beftraft wer- 
den und in dem ohnehin zaghaften Gemüth des Untertbanen 
dad Gefühl der eignen Würde und des perfönlichen Rechtes 
unterdrüdt wird. An folchen des jelbftftändigen Urtheils beraub- 
ten, muthloſen und verjhüchterten Menfchen machen dann die 
Jeſuiten ihre Verfudye und treten deßhalb unter dem Schutze 
der kaiſerlichen Waffen mit ähnlicher Ueberhebung den Akatho— 
(ifen gegenüber; wie ihre friegeriihen Schußbherren. Sn alle 
Verhältniſſe drängen fie fi ein, alled wiffen und alles benüt- 
zen fie für ihre Zwede, zugleich find fie auch bier bei und in 
der Wahl ihrer Mittel nichts weniger als wählerifch. 

Ein großer Erfolg für die Ausbreitung des Katholicismus 
in Hermannftadt war aud die Gründung des therefianiichen 
Waiſenhauſes durch den Pater Delpini. Diefer Delpini war 
ein Mann „der mit allen ihm zu Gebot ftehenden geiftigen und 
materiellen Kräften die Schädigung der Nichtlatholifen raftlos 
verfolgte." „Seine dem Hofe zugejendeten Promemoria und 
Aufzeichnungen für feine privaten Zwede behandeln,” fo fchreibt 
ein fatholifcher Gewährdmann W. Schmidt, „bald die Einzie- 
bung der Sieben-Fichtergüter, bald die Belehrung der Unitarier, 
bald inventirt er den Nachlaß Berftorbener, oder er beichäftigt 
ſich mit den Legaten zu Gunften des Hermannftädter evangliichen 
Gymnafiums und anderer frommer Stiftungen“ oder mit Kron- 
ftädter Angelegenheiten — kurz, wo fein Gedanke feine Mit: 
wirkung vermuthen würde,” da finden wir ihn. 


So war denn aud das auf ftädtilhem Grunde vor dem 
(834) 


33 


Bürgerihore für 42 Salzburger und Ober-Oeftreichiiche evan⸗ 
geliichen Emigranten aufgebante Gebäude, da es fidy für dies 
jelben als Landbauern nicht praktiſch erwied, der Stadt für 
12 000 Gulden verkauft worden. Das Aerar hatte nämlich 
einen Theil der Baukoſten getragen, während 23 000 fl. die Emi⸗ 
granten und 6000 fl. die Stadt an Spann» und Taglöhner- 
arbeit beigeftellt hatten. Bis die Stadt jedoch mit dem Aerar 
unterhandelte, gab Delpini durch den Sefuiten und Waiſenhaus⸗ 
infpeftor Parhammer in Wien ein Memorandam ein, in wel- 
chem er, auf ein von Adlershauſen zu Wailenhauszweden ge» 
ftiftete8 Capital von 6000 fl. hinweiſend, um die Zumeljung ber 
Gebäude zu diefem Zwede bat, betonend „die Nüblichteit diefes 
zur Beförderung der katholiſchen Kirche unter den Sachſen ein- 
zig nothwendigen Werkes." Die Kaiferin ging gern auf diejen 
ihrem religidjen Gefühl hochwillkommenen Gedanken ein und 
1767, wenige Monate nad Abfafjung des Memorandumd, mußte 
das Trandmigrantengebäude an Delpini übergeben werden. lim 
die Cafſa diejes Wailenhaufed zu ftärfen, wurden die für Ches 
dispenſe von Alatholifchen zu zahlenden Zaren diefem Haufe 
zugewendet, was nicht unbeutend war, da jchon, hei Verwand⸗ 
Ihaft im vierten Grade, — auf Dörfern gewiß ein nicht feltner 
Fall, — Bauern und Tagelöhner 25 fl., Bürger 75, Edelleute 
und Wohlpoſſeffionirte 150 fl, Magnaten 500 fl. zahlten. „Für 
den gemeinen Mann, der zur Erwirkung des Heirathöpatentes 
eine eigne Reiſe zum Superintendenten und von da zum Gu⸗ 
bernium machen mußte,” ſchreibt Herman „waren dieje Anſtal⸗ 
ten abgefehen von den Zaren, am drüdendften, um fo mehr, da 
in fleinen Orten faft fein Paar gefunden wurde, das nicht 
wentgitend im vierten Grade verwandt geweſen und folglich 
dieſen läftigen Zaren, die eine zweite Steuer ausmachten, unter 
legen wäre.” Bald gelang es der weitern, rüdfichtölofen Thätig⸗ 
feit Delpinis, in der er fich nicht entblödete, den Magiftrat des 


Unterjchleif38 anzuflagen und ſogar den Gubernialrath Samuel 
xx, 465, 3 (835) 


34 


v. Brufenthal verläumderiich anzugreifen wagte, nicht nur Grund 
und Boden der Anftalt in ganz ungerechter Weiſe auszudehnen 
und zu erweitern, jondern bi8 zum Jahre 1770 ein Patent zu 
erwirken, bad dem Inftitute eime ganz unerhörte, privilegirte 
Stellung auf Sachſenboden gab. Die Watjenkinder follten von 
ſächfiſchen Meiftern ohne Rüdfiht Auf Herfommen, Religion 
und Nation in die Lehre und Zunft aufgenommen werben, das 
Haus follte der Jurisdiction der Stadt entzogen und mit allen 
feinen Handwerkern (d. i. den in den Häufern wohnenden) ledig» 
lich einer Gubernialcommtifion unterftehen. Damit war zugleich 
eine wejentliche Schädigung der Zünfte und eine Ausnahmäftellung 
in der Steuerleiitung gewährt. Die vergebliche Vorftellung, die 
biergegen an deu Hof ging, haben Delpini und Biſchof Bajitai 
in einer Weiſe gloffirt, die die perfide Kampfesweiſe der Gegner 
der Nation Tennzeichnet und zugleich die Hoffnungen Delpinis 
und feiner Partei offenbart. „Es ift wahr,” fchreibt Delpint 
„wenn dieſes Weiſenhaus nur 50 Jahr in feinen dermaligen 
Freiheiten Beitand haben wird, daß, menfchlicherweis zu urtheilen, 
die fächfiichen Städte, ihre Zünfte, die Hermannftadt felbft katho⸗ 
liſch und mit.guten Profeifioniften verjehen, folglich das Luther⸗ 
thum zu Boden geworfen werde," oder Bajitai „die Waiſen, die 
aus dieſem Haufe austreten, werden größtentheild Sächfinnen 
heirathen und von 10 zu 20 Jahren wenigftend mit 100 Fami⸗ 
Iten die fächfiiche Nation vernehmen.” Zu gleicher Zeit werden 
ebenfo viel, wenn nicht mehrere von den Audgetretenen abitammen. 
Sodann wird das Beifpiel von jo viel Tatholtichen Sachſen un- 
gemein viel wirken und die fatholtiche Religion wird in der ganzen 
jächfiichen Nation ohne Zwang und Gewalt wieberhergeftellt 
werben.” An anerder Stelle hieß ed: „Man bemühet ſich von 
Seiten der Nation mit ungegründeten Klagen und Beſchwer⸗ 
nifjen, das Werk zu vereiteln. Es haben Eure Majeftät aller» 
gnädigft beftimmt, alle erzogenen Kinder im Waiſenhaus follen 
fähig fein, des Bürgerrechts in allen fiebenhürgiichen Städten. 


(836) 


35 


Die ungarifchen Städte weigern fi nicht und nehmen an 
Kinder, die ſowohl von deutfchen als jächftichen Eltern abftammen, 
allein die fächfiiche Nation widerjebt fi und will fogar zur 
zunftmäßtgen Srlernung der Profejfion Tein Kinder des Waiſen⸗ 
hauſes zulafjen, weldye von ungariihen oder walachiſchen Eltern 
herftammen und ſchützet vor puritatem Nationis. Allergnädigfte 
Frau! dieſer iſt der allgemeine Dedmantel, nicht die Nation, 
fondern die Sect aufrecht zu halten.” Die Vorftellungen der 
Nationsuniverfität, die Erklärungen Brudenthals, der von Del 
pini der Kaiferin ald Berläumder dargeftellt wurde, nützten nicht®, 
aber man tröftete fi) wohl über die Sonderftellung des Waijen- 
hauſes mit dem Gedanken, daß die fanguiniichen Hoffnungen 
auf den in wenigen Iahren zu gewärtigenden mafjenhaften Ueber» 
tritt der Sachſen zum Katholicismus und auf die beabfichtigte 
gleich raſche Entnationalifirung derjelben durdy die Verquidung 
mit andern Elementen, ald eine arge Täufchung fih ergab. - 
Keine Thatfache berechtigt zu der Vermuthung, ald habe man einen 
ftilen Grol im DVerborgenen gegen das Waiſenhaus genährt. 

Endlich erfolgte in der berühmten päpftlichen Bulle Domi- 
nus ac redemptor noster die Aufhebung ded Jeſuitenordens und 
auch die Kaiferin konnte fie nun nicht mehr jchüben. Im Sep⸗ 
tember 1773 erfolgte die Publication der Aufhebungsacte auch 
in Siebenbürgen. Ihre Beftrebungen waren allerdingd damit 
nicht aus dem Lande verſchwunden, jondern mit ihnen felbft in 
in veränderter Stellung geblieben — immerhin war aber auch 
dieſe Aufhebung einer jener gewaltigen Windftöße,. die dem 
Sturm vorangehen, der hier "dad Erwachen einer neuen Zeit 
anzeigte. 

Die Nation und Confeifion auch außerhalb des Jeſuiten⸗ 
ordens der Gegner nicht ermangelte und, was biejelbe zu kräfti⸗ 
gen ſchien, zu verhindern gejucht wurde, zeigt deutlich unter 
anderm auch dad Vorgehen des Biſchofs Bajitai gegen diejelbe. 


Sm Sabre 1764 hatte Brufenthal .mit mehreren hervorragenden 
3° (m) 


86 


Männern der Nation den Plan gefaßt, inmitten der Nation, in 
Hermannftadt eine evangelifche Univerfität zu gründen. Man 
gedachte die Koften, die auf 1 Mil. fl. veranfchlagt waren, 
hauptſächlich aus dem drei an den Fiscus verlorenen Duarten ded 
Burzenländer Zehntend zu deden. Die Beweggründe mögen 
wohl hauptſächlich darin zu fuchen fein, dab ein ſolches hervor» 
ragendes wiſſenſchaftliches Snftitut das geiftige Leben der Nation 
bedeutend heben, das proteftantiiche Bewußtſein ftärten und bie 
Berbindung mit dem proteitantiichen Ausland Durch Hereinberufung 
und Heranziehung fremder Gelehrter noch fefter knüpfen mußte, 
als ed das Hinausziehn der jächfifchen Sugend that. Zudem 
Scheint man im jener Zeit mit deu von deutichen Univerfitäten 
Heimgelehrten allerlei ſchlechte Erfahrungen gemacht zu haben. 
Ein Theil kam nad einem wüſten Leben unvorbereitet nach 
Haufe und fhädigte im Amt die Würde des Standes, andere 
batten fiy — es ift dad eine Erfahrung aus Brukenthal's eigener 
Zugend, — dem dem Geift der Nation wiederitrebenden Pietid« 
mus in Halle hingegeben, noch andere waren in Wien in die 
Schlingen des Katholicismus gefallen. Alle dieſe Gefahren zu 
meiden, lies man die Söhne befjerer Häufer nicht gern auf 
Univerfitäten. Der junge Heidendorf erwirbt feine juriftiiche 
Fachbildung durdy theure Privatlehrer, während er in Hermann- 
ftadt prakticirt. Ebenſo erwirbt fidy einer der- geiftigften Män- 
ner der Nation, ©. M. Hermann feine Gelehrjamkeit zu Haufe. 
Ein voltswirtbichaftlicher Grundjaß jener Zeit, das viele Geld, 
welches mit ſächſiſchen Studenten in das Ausland gehe, im Land 
und in der Nation zu erhalten, wird befonderd der Kaiferin 
gegenüber geltend gemacht. Schon find alle Vorbereitungen 
und Beipredyungen im Hermannftädter Capitel berathen, ſchon 
bat ein gnädiges Hofrefeript Erhebungen in diefer Sache ange 
ordnet, als eine Gegenvorftellung Bajttais dad ganze Unterneh» 
men vereitelt. 


Nach mandyerlei Klagen über die geringe Yörderung ber 
(838) 


37 


Sache des Katholicidmus, in welchen er freimäthig gefteht, daß 
„unfere allerguädigfte Monarchin und höchſt dero allerdurch⸗ 
lauchtigfte Borfahren freilich zu folcdyem Ende, audy mit Hintan- 
fetung der Geſetze jehr viel geiban habe," .... daß aber 
bei Durchführung ihrer Befehle für die Alatholifchen fein Vor⸗ 
wand ſei, den man unterlaflen, oder nicht zu Nuten machen 
würde, um die „heilſamen“ Befehle ſchlecht oder gar nicht zu 
vollziehn; in welchen er allerlei Rechte und Schupmaßregeln der 
Sachſen, fo das Zehntrecht, ald Grundredt, jo die Bürgerrecht. 
taren und anderes angreift, fchreibt er über die Univerfität: 
„Was aber der wahren Religion den größten und vielleicht ge= 
fährlichften Stoß verſetzen wird, ift unwiberjprechlich die vor⸗ 
geichlagene Untverfität von Hermannftadt. Sch geftehe es, dab 
mid) der Name allein entjeget! Denn ich jehe voraus den un⸗ 
ermehlichen und verachtungdvollen Abgrund, in welcden die 
armen fatholiichen Schulen durch die herrlichften Bortheile und 
den darand entftehenden Hochmuth ihrer Borfteher geftürzt, ja 
gänzlich verſenkt werden. ... . Ich fehe die äußerſte Halsftarrig: 
feit, in weldye die Akatholifchen dadurch überhaupt verfallen 
werden und bin vollflommen der Meinung, daß binfüro zur 
Aufnahme des wahren Glaubens alle menſchliche Mühe fruchts 
108 angewendet wird. Wenn aber auch feine diejer Folgen zu bes 
fürdhten wäre, jo kann idy keineswegs begreifen, wie man einer 
Monarchin, die vermöge ihrer Gottieligleit und großen Religiond- 
eiferö die Bewunderung der ganzen fatholiichen Welt erworben 
hat, ohne diefe und zugleich ihr zartes Gewiſſen verlegen zu 
wollen, rathen koͤnne, eine faliche und von der Tatholiichen Kirche 
hochverdammte Lehre nicht allein mit fo vielem Glanze - auf» 
gehen zu lafien, fondern derjelben alle Hülfe zu leiten und alle 
Vorzüge zu eribeilen? Es wäre ohnmaßgeblich rathjamer, eine 
katholiſche Univerfität auf die vorgefhlagene Art zu ftiften und 
daran für gewiſſe Wiſſenſchaften auch fremden Lehrern Pla zu 
‚geben, fo daB auch die fähflichen Tünglinge dieje Tatholtfche 
(229) 


38 


Univerfität befuchen Tönnten, ba derlet Wiflenfchaft mit ber 
Religionslehre nichts gemein haben und auch Katholiten die 
Univerfitäten zu Halle, Jena, Leiden zu beiuchen Tein Bedenken 
tragen.” — Seine Borftelungen haben den Erfolg, dab der 
Gedanke, — wir können jest jagen — zum Segen der Nation 
fallen gelaffen wurbe. 

Ald die Kaiſerin nad einer langen in vielen anderen Be⸗ 
ziehungen auch für die Sachſen jegendreichen Regierung 1780 
ftarb, trat mit Sofef II. dee Sohn einer neuen Zeit, deren 
veränderte Anfchauungen feinen gewaltigen Geiſt nur allzu- 
ſtürmiſch in Befig genommen, an ihre Stelle. Schon jett Aufe 
bebung des Sefuitenordend hatte die Strenge in der Durchfüh⸗ 
rung der dießbezüglichen Vorſchriften nachgelaſſen; die Geſetze 
über die Zenſur, die Büchereinfuhr, den Aufbau evangeliſcher 
Kirchen wurden in für die Evangeliſchen günſtigerer Weiſe ge⸗ 
handhabt. 

Was ſpeciell in dieſem Jahrhundert die ſächfiſchen Pfarrer 
gelitten, welche Anforderungen an ihre. Leiſtungsfähigkeit in Zu⸗ 
fuhren und Abgaben und Steuern geftellt wurden; — wie au⸗ 
dererjeitö ihre Führung und Haltung in bdiejer Zeit der Be- 
drängnib durchaus nicht jeden Tadels entbehrt, fondern Zwietradht 
und Hoffahrt den Stand oft verunehrt und Synoden und 
Superindenten von Scharfius bid Haner mit wachem Auge 
dieſe wilden Schößlinge beichneiden müflen, — bad ift ein 
anderes Blatt aud ber Geſchichte unſeres Innerlebens in dieſer 
Zeit. 
Das aber trod alledem das Volk als joldyed treu blieb — 
das ift ein ehrendes Zeichen für die eigentlichen Führer dedfelben, 
für das Volk jelbft und feine gute deutſche Art und für die 
Wahrheit der Sache, der das Volk die Treue hielt und die 
nicht zu Schanden wurde. 

Unter Joſef IL, dem Autor des Zoleranzpatentes, fehlte 
Beftrebungen, die auf kirchliche Bedrüdung abzielten, der Boden. 


(830) 


- — —— 


39 


Wie aber ein eingepflanztes Reis, wenn es einmal gut Wurzel 
gefaßt hat, wähft und im Wachsthum das Beſtreben zeigt fich 
nach allen Seiten audzubehnen, fo tft auch die katholiſche Kirche 
in unferer Mitte ungefährdet größer geworden, und es bat bis 
auf den heutigen Tag der Erpanfiondtrieb dieſer Kirche feine 
Verſuche nicht eingeftellt, dody find Gewinn und Berluft auf 
beiden Setten vereinzelte Erfcheinungen. Ein friedliches Neben- 
einander, im Sinne Luthers, der feine ftreitende Kirche ſchuf, 
ift eingetreten und die ſächfiſche Nation als folche ift eine ge= 
blieben in Sprache und Denken, in Glauben und Willen. 
Aundere Fragen und andere Kämpfe bewegen die Geifter 
unſerer Zeit. Und bier aber ift aus dem fo oft bedrohten, fo 
vielfach beftürmten Reformationswerk, ein feſtes Bollwerk auch 
in andern Kämpfen und Nöthen geworden. Wie ed die deutfche 
Sprache und die deutihe Wiſſenſchaft im großen Deutichland 
begründete, erhält es jet bier noch deutſche Sprache, deutſche 
Wiſſenſchaft. Was wollen wir fürdhten in diefer „feften Burg,“ 
die, Sabrhunderte lang berannt, noch feine Breſche zeigt, die 
auch wohl für eine Belagerung ausgerüftet, in der Treue und 
Zähigkeit ihrer Beſatzung die Fahne hoch hält: 


„fidem genusque servabo!“ 


Hadmort. 


Auf Anregung von hochachtbarer Seite verſuche ich diefen Vortrag 
einem größeren Lejerkreife zuzuführen, ald einen Gruß aus dem fernen 
Karpatbenlande, deſſen deutſche Söhne damals wie heute die freundliche 
Theilnahme ihrer Sprad- und Glaubensgenofjen kräftigt und ehrt. 

Der Vortrag felbft wurde in einem Cyklus von „Luthervorträgen,“ 
als ein Theil unferer „Kutherfeier" gehalten und behandelt bie Ver⸗ 
fuche, die Sachſen in den Schoß der Tatholifchen Kirche zurüdzuführen. 

Aus der reichen Literatur, die demſelben zu Grunde liegt, führe ich, 
um Gitate im Xert zu vermeiden, hier das Wichtigfte an: 1. Das alte und 
dad neue Kronftadt von ©. ». Hermann, bearbeitet von Oskar v. Meltzl; 
2. Die politiſche Refon_g,;ung in Siebenbürgen zur Zeit Sofef II. 


dem (881) 
um der’ — 


40 


und 2eopold II. von Dr. F. v. Zieglauer; 3. Dr. ©. D. Teutſch: 
das Zehntrecht ber enangelifchen: Landeskirche; 4. Ungarn unter Maria 
Therefia und Sofeph II. von Dr. Franz Krones; 5. Die Stiftung 
des Tatholiihen Thereſianiſchen Waiſenhauſes von W. Schmidt; 6. 
Zur Geſchichte der Jeſuiten in Hermannftadt von demjelben Archiv 
d. Vereins f. Siebenb. Landeskunde n. F. VI. 2; 7. Sefuiten in 
Karlaburg von demjelben U. d. V. f. S. L. n. F. VIL 2; 8. 
Beiträge zur Kirchengefh. Siebenb. ımter Karl VI. v. K. Kabriting 
Archiv ıc. n. 8. I. 2; 9. Bilder aus der innern Geſch. Hermannftabts 
im XVII. Jahrhundert von 8. Fabritius A. n. F. VL 1; 10. 
Der innere und äußere Rath Hermannftadis im XVII Sahrhundert 
von Heinrich Herbert A.n. 5. XVIIL 3; 11. Aktenmäßige Beiträge 
zur Geſch. Siebenb. im XVIII. Jahrh. von ©. D. Teutfh A. n. F. 
XI. 3; 12. Altenmäßige Beiträge ıc. von ©. Seivertb A. n. $. 
XII. 2; 13. Heidendorf: Selbftbiographie von Dr. R. Theil, beion- 
ders A. n. F. XVII. I. u. a. m. 


Anmerkungen. 


1) Georg Michael Gottlieb von Hermann, geboren am 29. Sep- 
tember 1737 in Kronftabt, entftammte einer dortigen Patricierfamilie. 
Nach einem kampfreichen, im ſtädtiſchen Dienfte hingebrachten, oft gerade 
burdy die Repräfentanten der Gegenreformation verbitterten Xeben, jtarb 
der hochbegabte, tiefgebildete Mann am 31. Zuli 1807. Er hinterließ 
ein in ben Sahren 1801—1802 gefchriebenes Außerft werthvolles, lange 
unveröffentlich gebliebened Wert „das alte und neue Kronftadt” befien 
1. Band die Geſchichte Siebenbürgens „von bem Uebergang Siebenbürgens 
unter das Haus Habsburg bis zum Tode der Kaiferin Königin Maria 
Therefia (1688— 1780)" enthält. 

Die Herausgabe des Werkes bat nun in forgfältigfter Weife begon- 
nen Dr. Oskar v. Melzel und der erfte Band erfchien 1883. Hermann- 
ftadt bei Franz Michaelis, 

2) Der Sachſengraf Zabanius Sachs v. Hartened wurde 1703 
auf Befehl des Comandirenden Rabutin auf dem großen Ring zu Her- 
mannftabt äffentlih enthauptet. — F. v. Zieglauer, Sachs v. Hartenet 
Graf der jähfiihen Nation und die Parteilämpfe feiner Zeit 1691 bis 
1703. 

—— — — 
(332) Ang a. 
—drme von Gebr. Unger in Berlir 17a. 


In demjelben Verlage find erjchienen: 


I Der Kindergarten. | 1 
Handbud) 
der — *— Erziehungsmethode, Hpielgaben und Sefeäftigungn. 


Nah Fröbel's Schriften 


und den Schriften der Frau B. v. Marenholg- Bülow 
bearbettet von 


Hermann Goldammer. 
Mit Beiträgen von B. v. Marenholg-Bülom. 











J. Theil: Die doeeſchen Spielgaben. Dit 60 Tafeln Abbild.) Vierte Auf- 
lage 5 M. 60 Pf. geb. in Orig.- Band 


I. Theil: Bie Befhäftigungen des Aindergurteng (Mit 60 Tafeln Abbild.) 
Dritte Auflage 4 M. 20 Pf., geb. in Orig.-Band 5 M. 60 Pf. 


IH. Theil: Symnafifhe Spiele und Bildungsmittel für Kinder von 3—8Sahren 
Für Haus und Kindergarten. 3 M. 60 Pf., geb. in Orig.-Band 4M. 80 Bf. 


IV. Theil: Die ſprachlichen Bildun er für Kinder von 3—8 Sahren. Für 
Haus und Kindergarten. 8 geb. in Orig.-Band AM. 80 Bf. 


Auch in ei inal- engl. Leinen-Bänden ebunden (und zwar Theil L/IL. und 
ir fu IL/IV. aujammen) pro Einband 1 Mt. 50 Br, / 


20 Jam Theil bildet ein abgeſchloſſenes Ganzes und if einzeln käufid. Um 
Dafielbe franzöftihe Ausgabe: Möthode Froebel. Le Jardin d’enfants etc. 


2° Edition. 2 Bände in 1 Band brod. 10 M.; in Drig. engl. Leinen 
geb. 1M.50 Pf. — 


Dalebe englijche Ausgabe: The Kindergarten etc. 2 Bände in 1 Band 
brod 10 M.; in Orig. engl. Xeinen geb. 11 M. 50 Bf. 


Ans Buch nom Finde, 


Das Kind in den drei erften Lebensjahren. 


Seine Entwidelung, Pflege und Erziehung. 
Ein Buch für Frauen und Mütter 
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Hermann Goldammer. 
Preis broch. 6 M.; elegant in Driginal- Leinen gebunden 7M. 50 Bi. 


Sriedricd Ziroebel | Kinderlieder 


ber Begründer der von 
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Sein Leben und Wirken Gefamt- Ausgabe 
bargefteht non tt dem Bildniß des Dichters. 
Hermann Goldammer. mit dem Bildniß bes Dichter 
Preis 2M.; geb. in er— Leinen 3M. 4. Eleg. cart. 4 M. 
‚ die am: 
um der — NA ⸗ 


Sa demfelben Berlage erihien: 
Hufere vier Evangelien, erflärt und kritiſch geprüft von Dr. theol, Mori 
Schwalb, Prediger an der St. Martini-Kirche in Bremen. Preis eleg. broſch. 
6 Mark 50 f., gebunden in engl. Leinen mit rotbem Schnitt 8 Marl. 
Bibeltunde des Nennen Teftamentes. Für die oberen Klaflen von Gym⸗ 
naften und anderen höheren Kehranftalten, ſowie zum Selbftunterridht bearbeitet 
von Dr. Ednard Krähe, ordentl. Kehrer am Briebrihüßerberichen Symnafium 
zu Berlin. Preis broſch. 4 Mark, gebunden in Halbfr. 5 Mark 50 Pf. 
Der Seinitenorden nad feiner Pegagun und Doctrin, Wirkſamkeit und Ge⸗ 
ſchichte charakteriſtrt von Johannes Huber, zn Münden. Preis eleg. broſch. 
9 Mark; eleg. geb. in Halbfranzband 11 Mark. 


In den früheren Jahrgängen ber „Deutſchen Zeit: und Streitfragen“ 


erſchienen: 
Kirche, Neligion und Verwandtes. 
(45 Hefte, wenn auf einmal bezogen, à 75 Pf. = 33,75 M. Auch 16 Hefte und 
mehr dieler Kategorie nad) Auswahl (wenn auf einmal bezogen) à 75 Pf.) 
Amort d. 3., Bibliihe und profane Wunderthäter. (139/40) . 1. 
Baumgarten, Der Proteftantismus als politijches Princip im dentfäen 
...... 1— 
—, Anti: Kiiefotb oder die gefährlichfte Neichsfeindihaft au einem Beiipiel 
aufge et. | 7) ER 1.20 
Blun mil Kom und die Dentihen. (7/8) - - - 2200 nen. Fr 1.80 
miiche Weltherrſchaft und —8 Freiheit. II. Der Zeinitenorden 
und dad deutſche Reich. 
Braafch, Iſt ein Zufammenwirlen der verſchiedenen Richtungen innerhalb 


„_ unferer_evangelifdj-proteftantifhen Kirche möglih? (104)... . . . 1.— 
Dehn, Die katholiihen Gejellenvereine tn Deutiehland. (170) . . Fr 1.20 
Gareis, Irrlehren über den Kulturkampf. (85/66). oo 2.2... M. 1.80 
Graue, Der Mangel an Theologen und der oiffen chaftliche Werth bes then 
ae Studtumd. (68) . 2 2 00er ern. . 1.40 
arwinismus und Sittlichleit. (124/25). » 2» - 2020 ne. 1.60 
Grimm, Die Lehre Über Buddha und das — v. Jeſus Chriftns. Fr 80 
— , Die Rutherbibel und ihre Te ertee Mei on. (A). 2 20000 M. 1 
aupt, Die Begründung der paͤpſtlichen ae biedfeitö der Alpen. 1 [L. 
De Der re Petri — kein Bellen. (34) . 2 2 . 
olgendorff, Der Priefter-Gölibat. (63) - - » 22020 0. Fr ı_ 
Sönes Die eformbewegung des Brahmoſomadſch In Indien ald Schranfe 
des Miffionswe end. (ED) en 
De Die kirchlich-politiſche Wirkfamkeit des Jeſniten-Ordens. (23/24) M. 1.80 
alifcher, Benedikt Spinoza's Stellung zum Sudentpum und beiften 
tbum. (193/19) > 0 0 ren . . 2.— 
Baba ag r, Zur Reform des Religiond-Unterrichte. (79)........ Fr 1.— 
Mangel eined allgemeinen Moralpringipe in unjerer Zeit. (92) M. 1.40 
— Der Zwed des Dafeind im Hinblid auf die Mehrung des Selbſtmordes. 
(EVD) 2 ee ren M. 1.60 
Sradolfer, 3., Die altchriftlihe Moral und ber moderne Zeitgeift. (29) M. 1.— 
Zammers, Sonntagsfeier in Deutihland. (166) . 2 2 2 2er n ne 80 
zangı Das Leben Jeſu und die Kirche der Aufunft. (1) ne. M. 1.— 
ie Religion im Zeitalter Darwin’d. (3)... - 220000. M. 1.20 


v. Liliencron, Meder den & orgelang in der evangelifchen Kirche. (144) M. 1.20 
Hippold ‚ Religion und Kirchenpolitif Friedrich's des Großen. (126) . 80 
—, Urfprang, Umfang, Hemmnifje nnd Ausfichten der altkatholiichen Be: 

megumg [43 VE M. 1.20 
a ler, Die religidfen Ainfhauungen Sriedr. Sröbeld. (185). . . M. 1.— 

midt, as trennt die „beiden Richtungen” in der evangel. Kirher (132) 80 
—, Gewalt oder Geift? Gin feſtliches Bedenken über die Zukunft von 

Luther's Kirche. (188) . 80 
Schramm, Daß Heer d. Seligmacher od. d. Heilsarmee i in England. (178) m. 1— 
v. * ulte, Die neuneren katholiſchen Orden und Songte ationen bejonbers 

eutſchland, ſtatiſtiſch, kanoniſtiſch, publtciftiich beleuchtet. (5) . m. .1— 


— in eher Kirchen rafen. (MM). 0 2 .. .. FR Pa .1— 
Zrächfel Der Katholicismus feit der Reformatin. >: ..... M. 1.20 
Trede, di 


ie Propaganda fide in Rom . 2 2 ee 80 
Waſſerſchleben, Das Landeöhereliche Kirhenregiment: 0). » » : + M. L.— 
Zittel, Der proteftantiihe Gotteödtenft in unferer Zeit. (82) . ....M. L— 
* Ein deutfhes Katferwort. (112). 0 0 0 0 0 0 more M. 1— 













Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlider Vorträge, 


herausgegeben von / \ 


Aud. Virchow und Ar. von Holtzendorff. 








XX. Serie, 


(Heft 457 — 480 umfafjend.) 








nu 


Heft 466. 


Arhlaf und Traum, 


Bon 








Dr. Stensherg. 


Gib 


Berlin SW., 1885. 


Verlag von Carl Habel. 


(C. 8. Tüderity'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 









DB” Cd wird gebeten, die amberen Seiten des mfhlages zu beachten. ui Dielelben 
enthalten das vegramm der nenen XX. Serie (1885) der Aammlung, jowte das 
he nenen ng —— en uch der Arktfengen. Genaue Inhalts-Merzeichniffe 

her [eh eren rien und Iahrgängen“ und nad Wilfenfhaftene: 
geo find eh — Suhhandlung gratis zu beziehen. 


Einladung zum Abonnement! 


Die Jury der „Internationalen Ausftellung 

\ von Gegenftänden für den häuslichen und 

A gewerblichen Bedarf zu Amfterdam 1869" (esse 

5 hat diefen Vorträgen die En 8 

Goldene Medaille 
zuerkannt. 








Bon der XX. Serie (Jahrgang 1885) der 
Sammlung gemeinverftändlicher 
wiffeufhaftliher Borfräge, 


berandgegeben von 


Rud. Virchow und Sr. non Holkendorff. 


Deft 457— 480 umfalfend (im Abonnement jedes Heft nur 50 Pfemige) 
find erfchienen: 
Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Todten bei den 
. verichtedenen Völkern. 
„ 458. Pilgrim (Ravensburg), Galilei. 


„ 459. Goetz —— b. Baſel), Die ——— ein Epos und das 
germaniſche Heidenthum in ſeinen Ausklängen im Norden. 


„ 460. au (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifeuder des XIII. Jahr⸗ 
underts. 


„ 451. Hetzel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrichs d. Großen zur Onmanität 
im Kriege. 


„ 462. Engelhorn (Maulbronn), Die Pflege der Irren fonft und jetzt. 
„ 463. Röoöſch (Heilbronn), Der Dichter Horatius und feine Zeit. 


„ 464. So an (Gera), Der Einfluß der Natur auf die Kulturentwidlung 
der Menſchen. 


„ 465. Czekelius (Hermannftadt), Ein Bild aus der Zeit der Gegenrefor⸗ 
mation in Siebenbürgen. 


„ 466. Freusberg (Saargemänd), Schlaf und Traum, 
„ 467. Zſchech (Hamburg), Giacomo Leopardi. 
„ 468. 2. Zittel (Münden), Das Wunderland am Yellowftone. 
Borbehaltlih etwaiger Abänderungen werden ſodann nad und nad) aus: 
gegeben werden: 


Gränbaum (Münden), Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 
Krouecker (Berlin), Die Arbeit ded Herzend und deren Quellen. 
Dames (Berlin), Geologie der norddentfchen Ebene. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 

Gerland (Kaflel), Thermometer. 

Trede (Neapel), Das geiftlihe Schaufptel in Süpditalien. 
Virchow (Berlin), Weber Städtereinigung. 

Eyfſenhardt (Hamburg), Aus dem gejelligen Leben ded XVII. Jahrhunderts. 
Hofmann (Graz), Das Blei bei den Völkern des Alterthums. 
Treichler (Zürich), Politiſche Wandlungen der Stadt Zürid. 
Ragel (Berlin), Die Liebe der Blumen. Mit 10 Holzichnitten. 
Sommer (Blantenburg), Die pofitive Philojophie von A. Comte. 
Alsberg (Kafiel), Die Anfänge der Eijenkultur. 

Dondorff (Berlin), Katfer Otto IIL 





6) 


Arhlaf und Traum, 





Bortrag, gehalten im April 1883 


bon 


Dr. £reusberg, 
Direktor der Srrenanftalt bei Saargemünb,. 


LP 





Q 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Karl Habel 


(€. ®. Züderity'sche Verlagsbuchhandluug.) 
33. Wilhelm⸗Straße 88. 


Einladung zum Abonnem 


Die Zury der „Internationalen Ausftellung 

\ von Gegenftänden für den häuslichen und 

gewerblichen Bedarf zu Amfterdam 1869" 

i hat diefen Vorträgen die £ 

Goldene Medaille 
zuerkannt. 





Bon der XX. Serie (Jahrgang 1885) der dr 
Sammlung gemeinverjtändliche 
wiffenfhaftliher Bort 


berandgegeben von 


Nud. Virchow und Sr. non Holkend 


Heft 457480 umfaffend (im Abomnement jedes Heft mı 
find erſchienen: 
Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um dic 
verſchiedenen Völkern. 
J 468. Pilgrim (Ravensburg), Galilei. 


„459 Goetz ——Ax b. Baſel), Die Riauaßa 
germäniſche Heidenthum in feinen Ausklängen im ? 

„ 450. Schumann (Berlin), Marco Polo, ein Weltreiſen 
hunderts. 


„ 451. Hetzel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrichs d. Gr 
im Kriege. 


„ 462. Engelhorn (Maulbronn), Die Pflege der Irren 
„ 463. Röſch (Heilbronn), Der Dichter Horatiud und ſei 


„ 484 Hoffmann (Gera), Der Einfluß der Natur auf i 
der Menſchen. 


„ 465. Czekelius (Hermannftadt), Ein Bild aus der 
mation in Siebenbürgen. 


„ 466. Freusberg (Saargemänd), Schlaf und Traum. 
„ 467. Zſchech (Hamburg), Giacomo Leopardi. 
„ 468 9». Zittel (Münden), Das Wunderland am Del 


Vorbehaltlich etwaiger Abänderungen werden jobanı 
gegeben werden: 


Gränbaum (Münden), Miſchſprachen und Sprachmiſchur 
Kronecker (Berlin), Die Arbeit ded Herzens und deren % 
Dames (Berlin), Geologie der norddeutſchen Ebene. 
Münz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 

Gerland (Kaflel), Thermometer. 

Zrede (Neapel), Das geiftlihe Schaufpiel in Süditalien. 
Virchow (Berlin), Ueber Städtereinigung. 

EHyfienhardt (Hamburg), Aus dem gejelligen Leben dee 
Sofmaun (Graz), Das Blei bei deu Völkern des Alte: 
Zreicdhler (Züri), Politiſche Wandlungen ber Stadt : 
Hagel (Berlin), Die Liebe der Blumen. Mit 10 Hol: 
Sommer (Blanfenburg), Die pofittve Philofophie von 
Alsberg (Kafſel), Die Anfänge der Eiſenkultur. 
Dondorff (Berlin), Kaiſer Otto IIL 








ber Gegenſtand, wie 

rechnen ? 
ich die Frage: Worin 
erelfe für populäre 

2 

sgefprocdhen, daß ich mein 
behandeln und ed auf das 
der geficherten beobachten» 
‚td vorandjeht, was außer 
‚liebt, was nicht aus ihre 


bier fein von piychologiichen 
Seele im Schlaf und Traum, 
sten, nicht von al den Vor⸗ 
: Seele von den Fefleln des 
ı Philojophen mit dem Sphlaf, 
eined Hineinragens der Geiſter⸗ 
.e dom naiven VBollöglauben mit 
1.1) 
eelenlebend ift Gegenſtand natur 
infofern es fih um Beobachtung 
ihre Zuſammenhanges und ihrer 
n Erfahrung, methodiichen Prüfung 
selt, das als Frage an die Natur 


ı fan zwiſchen naturwiflenichaftlicher 
r Kenntain hea Seelenlebend füglich 


‚Itreit "srheiten, pofitive 
1* (385) 


Das Recht ber Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Wie fann nur ein ſolch alltäglicher Gegenftand, wie 
Schlaf und Traum, auf unſer Intereſſe rechnen? 

Statt der Antwort verallgemeinere ich die Frage: Worin 
liegt wohl das allgemeine Intereſſe für populäre 
Kunde von der Natur begründet? 

Damit habe ich zugleich ſchon ausgeſprochen, daß ich mein 
Thema als, ein naturwillenichaftliches behandeln und es auf das 
phyfiſche Gebiet beichränfen will, das der geficherten beobachten» 
den Forſchung zugänglich ift, die Nichts vorausfeßt, was außer 
ihrem Bereiche liegt, und Nichts fchliebt, was nicht aus ihre 
felbft verftanden werden Tann. 

Nicht aber wird die Rede bier fein von piychologiicdhen 
Theorien über das Bewußtſein der Seele im Schlaf und Traum, 
nicht vom Problem des Unbewußten, nit von all den Bor- 
ftellungen einer Losloͤſung der Seele von den Fefleln des 
Körpers, die von ſpekulirenden Philofophen mit dem Schlaf, 
noh von den BVorftellungen eined Hineinragend der @eifter- 
welt und myſtiſcher Kräfte, die vom naiven Volksglauben mit 
dem Traum verbunden werden.?) 

Die Erforfhung des Seelenlebend ift Gegenftand natur 
wiflenfchaftlicher Forſchung, inſofern es fi um Beobachtung 
natürliher Ericheinungen, ihres Zuſammenhanges und ihrer 
Geſetze vermittelft der ficheren Erfahrung, methodiichen Prüfung 
und des Experiments handelt, das als Frage an die Natur 
gerichtet wird.?) 

Bis zu diejen Grenzen kann zwiſchen naturwiſſenſchaftlicher 
und philoſophiſcher ernſter Kenntniß des Seelenlebens füglich 
ein Unterſchied und Widerſtreit nicht ſein. Wahrheiten, pofitive 


xXX. 466. 1* (335) 


Das Necht ber Meberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


N. kann nur ein ſolch alltäglicher Gegenftand, wie 
Schlaf und Traum, auf unfer Interefſſe rechnen? 

Statt der Antwort verallgemeinere ich die Frage: Worin 
Liegt wohl das allgemeine SIntereffe für populäre 
Kunde von der Natur begründet? 

Damit babe ich zugleich ſchon ausgeſprochen, daß ich mein 
Thema al3. ein naturwillenichaftliches behandeln umd es auf das 
phyfiſche Gebiet beichränfen will, das der geficherten beobachten⸗ 
den Forſchung zugänglich tft, die Nichts vorausjebt, was außer 
ihrem Bereiche Iiegt, und Nichts ſchließt, was nicht aus ihr 
felbft verftanden werden kann. 

Nicht aber wird die Rede bier fein von pſychologiſchen 
Theorien über das Bewußtſein der Seele im Schlaf und Traum, 
nicht vom Problem des Unbewußten, nicht von al den Bor- 
ftelungen einer Loslöfung der Seele von den Feſſeln des 
Körperd, die von ſpekulirenden Philofophen mit dem Schlaf, 
noh von den Borftellungen eines Hineinragend der Geiſter⸗ 
welt und myſtiſcher Kräfte, die vom naiven Volksglauben mit 
dem Traum verbunden werden.!) 

Die Erforſchung des Seelenlebend ift Gegenftand natur 
wiflenjchaftlicher Forſchung, infofern es fih um Beobadjtung 
natürlicher Grfcheinungen, ihres Zuſammenhanges und ihrer 

Geſetze vermittelft der ficheren Erfahrung, methodischen Prüfung 
und des Experiments handelt, das als Frage an die Natur 
gerichtet wirb.?) 

Bis zu diefen Grenzen kann zwiichen naturwifjenjchaftlidher 
und philofophifcher ernfter Kenntniß des Seelenlebens füglich 
ein Unterjchted und Widerftreit nicht fein. Wahrheiten, pofitive 


xx. 466. 1 (335) 


38 


Univerfität bejuchen Tönnten, da derlei Wiflenfchaft mit der 
Religionslehre nichts gemein haben und auch Katholilen die 
Univerfitäten zu Halle, Sena, Leiden zu beiuchen fein Bedenken 
tragen.” — Seine Borftellungen haben den Erfolg, daß der 
Gedanke, — wir können jebt jagen — zum Segen der Nation 
fallen gelaffen wurbe. 

Ald die Kaiſerin nach einer langen in vielen anderen Be⸗ 
ziehungen auch für die Sachſen jegensreichen Regierung 1780 
ftarb, trat mit Sofef II. der Sohn einer neuen Zeit, deren 
veränderte Anſchauungen jeinen gewaltigen eilt nur allzu» 
ſtürmiſch in Befiß genommen, an ihre Stelle. Schon jeit Auf- 
bebung des Sejuitenordend hatte die Strenge in der Durdyfüh- 
rung der dießbezüglichen Borfchriften nachgelaflen; die Geſetze 
über die Zenfur, die Büchereinfuhr, den Aufbau evangeliicher 
Kirchen wurden in für die Evangeliſchen günftigerer Weile ges 
bandhabt. 

Mas fpectel in dieſem Jahrhundert die jächfiihen Pfarrer 
gelitten, welche Anforderungen an ihre. Zeiftungdfähigfeit In Zu« 
fuhren und Abgaben und Steuern geftellt wurden; — wie an⸗ 
dererjeitö ihre Führung und Haltung in dieſer Zeit der Ber 
drängniß durchaus nicht jeden Tadels entbehrt, ſondern Zwietracht 
und Hoffahrt den Stand oft verunehrt und Synoden und 
Superindenten von Scharfiud bid Haner mit wachen Ange 
diefe wilden Schößlinge beichneiden müſſen, — das iſt ein 
anderes Blatt aus der Gefchichte unjeres Iunerlebend in biefer 
Zeit. 
Das aber troß alledem das Volf als foldyes treu blieb — 
das ift ein ehrended Zeichen für die eigentlichen Führer desjelben, 
für dad Wolf jelbft und feine gute deutſche Art und für die 
Mahrheit der Sache, der das Volk die Treue bielt und die 
nicht zu Schanden wurde. 

Unter Sofef D., dem Autor des Zoleranzpatentes, fehlte 


Beftrebungen, die auf kirchliche Bedrückung abzielten, der Boden. 
(830) 


39 


Wie aber ein eingepflanzted Reis, wenn ed einmal gut Wurzel 
gefaßt hat, wächſt und im Wachsthum das Beftreben zeigt ſich 
nad) allen Seiten audzudehnen, jo tft auch die katholiſche Kirche 
in unſerer Mitte ungefährdet größer geworden, und es hat biß 
auf den heutigen Tag der Erpanfiondtrieb dieſer Kirche feine 
Verſuche nicht eingeftellt, doch find Gewinn und Berluft auf 
beiden Seiten vereinzelte Erfcheinungen. Ein friedliches Neben» 
einander, im Sinne Luthers, der feine ftreitende Kirche fchuf, 
tft eingetreten und die ſaͤchfiſche Nation als folche ift eine ges 
blieben in Sprache und Denken, in Glauben und Wiſſen. 

Andere Fragen und andere Kämpfe bewegen die Geifter 
unferer Zeit. Und bier aber ift aus dem fo oft bedrohten, fo 
vielfach beitärmten Reformationswerk, ein fefted Bollwerk auch 
in andern Kämpfen und Nöthen geworden. Wie ed die deutfche 
Sprache und die deutihe Wiflenfchaft im großen Deutjchland 
begründete, erhält es jet bier noch deutiche Sprache, deutiche 
Wiſſenſchaft. Was wollen wir fürchten in diefer „feften Burg,“ 
die, Jahrhunderte lang beramnt, noch feine Breiche zeigt, die 
auch wohl für eine Belagerung audgerüftet, in der Treue und 
Zähigkeit ihrer Beſatzung die Fahne hoch hält: 


„fidem genusque servabo!“ 


Hadmort. 


Auf Anregung von hochachtbarer Seite verfuche ich diefen Vortrag 
einem größeren Lejerfreife zuzuführen, ald einen Gruß aus dem fernen 
Karpathenlande, defjen deutſche Söhne damals wie heute die freundliche 
Theilnahme ihrer Sprach⸗ und Glaubensgenofjen kräftigt und ehrt. 

Der Vortrag felbft wurde in einem Cyklus von „Luthervorträgen,“ 
als ein Theil unferer „Lutberfeier” gehalten und behandelt die Der- 
fuche, die Sachen in den Schoß der katholiſchen Kirche zurückzuführen. 

Aus der reichen Literatur, die demjelben zu Grunde liegt, führe ich, 
um Gitate im Text zu vermeiden, hier das Widhtigfte an: 1. Das alte und 
das neue Kronftadt vun O. 2, Hermann, bearbeitet von Oskar v. Melgl; 
2. Die politifche Refort Leinung in Siebenbürgen zur Zeit Sofef IL. 


dem 81) 
um der ’ — 


30 


einer 50 jährigen Thätigkeit weift dad Ordenshaus in Karlö- 
burg im Kanzen 521 Bekehrungsfälle, davon 324 lutheriſche, 
wohl zumeift ſächſiſche Seelen nah. — 

Während aber fo die katholiſche Kirche — denn auch die 
Biſchöfe, befonderd Klobuficky und Bajitat, betheiligten ſich eifrig 
dabei — ungejcheut mit aller Unterftüßung des Staates Pros 
jelyten machte, während befonders in Ungam „SKatholifirungds 
vereine entitanden, die, mit reichlichen Geldmitteln außgeftattet, 
dad Geſchäft des Seelenſchachers trieben” ergingen fcharfe Be⸗ 
fehle gegen die Rückkehr, ja audy nur gegen den einfachen Ueber» 
tritt in die enangeliiche Kirche. Apojtaten nannte man Solche 
und behandelte fie als Verbrecher und zwar bezeichnete und 
beitrafte man das Berbrechen — da mau feine andere gejeh- 
lihe Bafis fand — als Bruch des Homagialeides, ald Hody- 
verratb. Güterentziehung, ehrlos Erklärung für Adlige, öffent: 
lihe Stodihläge für die Nicht-Adligen waren die Strafe für 
Apoftafiee Schon unter Karl VI, 1725, war der Webertritt 
in die evangeliiche Kirche verboten, aber man führte dieſe Ver⸗ 
ordnung im ziemlich milder Weile aus. Ein Rittmeifter, der 
fein Kind in Schellenberg hatte evangeliich taufen lafjen, wurde 
mit einer Strafe von 50 Dufaten blos gejchredt, er fam mit 
einem Dufaten davon. Aber hinfort durfte fich fein ewangeli- 
icher Geiſtlicher beikommen laſſen, irgend eine kirchliche Funktion 
an einer Militairperjon vorzunehmen. Biel ftrenger wurde auf 
Grund neuer Verordnungen unter Maria Therefia dieſe Vor—⸗ 
Ichriften gehandhabt. Außer den Geſetzen gegen Apoftafie fam unter 
Maria Therefia eine Fluth von Befehlen, die alle „Die Zurückdrän⸗ 
gung der Alatboliichen zum Zwede hatten”. So fam 1751 
eine ftrenge Verordnung, nach welcher bei Berantwortung der 
Magiftrate verboten wurde, Fatholifche Kinder in evangelifche 
Scyulen geben zu lafien. In den Städten hatten überall die 


Sefuiten für fatholifche, deutſche Schulen höheren nnd niedern 
(822) 





3l 


Grades gejorgt. In Hermannftadt entitand jet durch die Muni⸗ 
figenz der Kaiſerin „die Normalhauptichule" mit deuticher Untere 
richtsſprache und GermanifirungdsTendenzen. 

Eine andere tiefgreifende Verordnung war das Verbot für 
alle Bewohner des Landes an Fatholiichen Feiertagen zu arbei- 
ten. Als 1764 in Hermannftadt am „Allerheiligen Tage 
Gewaltömahregeln gegen die angewendet wurben, welche durdy 
„Arbeitsruhe* nicht mitfeiern wollten, blieben wiederholte Pas» 
quille gegen Sejuiten „und im Verdachte des Papismus ftehende 
Senatoren und Bürger“ nidt aus. Im Folge deſſen fonnten 
fidy die Hermannftädter noch einmal an einem Autobafe diejer 
Schriften auf dem großen Ringe erfreuen. In Kronftadt gingen 
am Sofefitage Patrouillen von Haus zu Haus, die Arbeit 
zu verhindern. Dawider handelnde Bürger wurden zur Haupt: 
wache geführt. Der Stadtrichter Georg Rehter wollte am 
Georgi» Tage — der audy gefeiert werden mußte — feinen 
Namendtag unter den blühenden Bäumen feines Bienengartens 
feiern und ſchickte feinen „Kuchelwagen“ voraus. Der Pater 
Superior der Franziskaner findet aber darin eine Störung des Feier. 
tages, läßt den Wagen in dad Klofter führen, und giebt ihn fammt 
den Pferden erft 8 Zage |päter auf Requifition von Hermann« 
ftadt heraus. Für die Kirchlichfeit und den Kirchenbejuch katho⸗ 
liicher Dienftboten find die Herrfchaften verantwortlidy und der 
eontrolivende Pater Henter, den der Volkswitz in Henger ver- 
wandelt fühlt jein Mütbchen an Herren und Knechten, jo daß 
bald dienende Perfonen katholiſcher Eonfeffion ihre Noth haben 
Dienfte zu erhalten. 

Die veratorifche Ausführung aller diefer Maßregeln erregte 
natürlich in allen Kreifen gerechten Widerwillen, aber darum 
fümmerte man ſich wenig. 

Konnte man die Sachſen nicht gewinnen, follten fie we- 


nigftend ihre Herren erkennen und ihre Macht fühlen lernen. 
(833) 


32 


Es ift empörend zu lefen, in welch” hochfahrender und rüdfichts- 
Iofer Weiſe dad Militair mit Bürgern und Senatoren fpricht und 
amtlich verfehrt, welche Unterthänigkeit Milttärperfonen fich gegen» 
über verlangen, wie wegen Mangel an Willfährigfeit, wegen etwas 
zu leidenichaftlicher Bertheidigung des Hausrechted Stadtpfarrer 
und Senatoren mit Hausarreft oder Arretirung und Haft auf 
dem Rathhauſe oder der Hauptwadye bedroht und beftraft wer- 
den und in dem ohnehin zaghaften Gemüth des Unterthanen 
das Gefühl der eignen Würde und des perfönlichen Rechtes 
unterdrüdt wird. An foldhen des felbitftändigen Urtheils beraub⸗ 
ten, mutblojen und verſchüchterten Menſchen machen dann die 
Jeſuiten ihre Verſuche und treten deßhalb unter dem Schube 
der Faiferlihen Waffen mit ähnlicher Meberhebung den Atatho- 
(tfen gegenüber; wie ihre Friegeriichen Schußherren. Sn alle 
Perbältniffe drängen fie fich ein, alles willen und alles benütr 
zen fie für ihre Zwede, zugleich find fie auch bier bei und in 
der Wahl ihrer Mittel nichts weniger als wähleriich. 

Ein großer Erfolg für die Ausbreitung des Katholicismus 
in Hermannftadt war auch die Gründung des therefianifchen 
Waiſenhauſes durch den Pater Delpini. Diefer Delpini war 
ein Mann „der mit allen ihm zu Gebot ftehenden geiftigen und 
materiellen Kräften die Schädigung der Nichtkatholifen raftlos 
verfolgte.” „Seine dem Hofe zugejendeten Promemoria und 
Aufzeichnungen für feine privaten Zwede behandeln," fo jchreibt 
ein katholiſcher Gewährsmann W. Schmidt, „bald die Einzie- 
bung der Steben-Richtergüter, bald die Belehrung der Unitarier, 
bald inventirt er den Nachlaß Berftorbener, oder er beichäftigt 
fich mit den Legaten zu Gunften des Hermannftädter evangliichen 
Gymnafiums und anderer frommer Stiftungen“ oder mit Kron- 
ftädter Angelegenheiten — kurz, wo fein Gedanke feine Mit: 
wirkung vermuthen würde," da finden wir ihn. 


So war denn audy das auf ftädtiihem Grunde vor dem 
(334) 


— 83 
Bürgerthore für 42 Salzburger und Ober-Deftreidhiiche evan⸗ 
geliichen Emigranten aufgebaute Gebäude, da es ſich für die 
jelben ald Landbauern nicht praftiich erwied, der Stadt für 
12 000 Gulden verkauft worden. Das Aerar hatte nämlich 
einen Theil der Baukoſten getragen, während 23 000 fl. die Emi⸗ 
granten und 6000 fl. die Stadt an Spann- und Taglöhner- 
arbeit beigeftellt hatten. Bis die Stadt jedody mit dem Aerar 
unterhandelte, gab Delpini durch. den Sejutten und Waiſeuhaus⸗ 
inipeftor Parhammer in Wien ein Memorandam ein, in wel- 
chem er, auf ein von Adleröhanjen zu Wailenhauszweden ges 
ftiftete8 Capital von 6000 fl. hinweiſend, um die Zuweiſung der 
Gebäude zu diefem Zwede bat, betonend „die Nützlichkeit dieſes 
zur Beförderung der Tatholifchen Kirche unter den Sachſen ein- 
zig nothwendigen Werfed." Die Kaijerin ging gern auf biefen 
ihrem religiöfen Gefühl hochwillkommenen Gedanken ein und 
1767, wenige Monate nad Abfafjung des Memorandums, mußte 
das Zrandmigrantengebäude an Delpini übergeben werden. Um 
die Caſſa diefes Waiſenhauſes zu ftärken, wurden die für Ches 
dispenſe von Afatholifchen zu zahlenden Zaren dieſem Hauje 
äugewendet, was nicht unbeutend war, da fchon, bei Berwand» 
ſchaft im vierten Grade, — auf Dörfern gewiß ein nicht feltner 
Fall, — Bauern und Tagelöhner 25 fl., Bürger 75, Edelleute 
und Wohlpoffeifionirte 150 fl, Magnaten 500 fl. zahlten. Für 
den gemeinen Mann, der zur Erwirkung des Heiratbspatented 
eine eigne Reife zum Superintendenten und von da zum Gu⸗ 
bernium machen mußte,” ſchreibt Herman „waren dieje Anftal- 
ten abgefehen von den Zaren, am drüdendften, um jo mehr, da 
in feinen Orten faft fein Paar gefunden wurde, das nicht 
wenigftend im vierten Grade verwandt geweſen und folglich 
diejen läftigen Zaren, die eine zweite Steuer ausmachten, unters 
legen wäre." Bald gelang es der weitern, rüdfichtölojen Thätig- 
feit Delpinis, in der er fich nicht entblödete, den Magiftrat des 


Unterſchleifs anzuflagen und jogar den Gubernialrath Samuel 
X, 465, 8 (825) 


34 


v. Brufenthal verläumbderiich anzugreifen wagte, nicht nur Grund 
und Boden der Anftalt in ganz ungerechter Weiſe auszudehnen 
und zu erweitern, fondern bi8 zum Jahre 1770 ein Patent zu 
erwirfen, bad dem Inftitute eine ganz unerhörte, privilegirte 
Stellung auf Sachfenboden gab. Die Watfenkinder follten von 
ſächfiſchen Meiftern ohne Rüdfidit Auf Herfommen, Religion 
und Nation in die Lehre und Zunft aufgenommen werden, dad 
Haus jollte der Jurisdiction der Stadt entzogen und mit allen 
feinen Handwerkern (d. i. den in den Häufern wohnenden) ledig» 
lich einer Gubernialcommijfion unterftehen. Damit war zugleich 
eine wejentliche Schädigung der Zünfte und eine Ausnahmöftellung 
in der Steuedleiftung gewährt. Die vergebliche Vorftellung, die 
biergegen an deu Hof ging, haben Delpini und Biſchof Bajitat 
in einer Weije gloffirt, die die perfide Kampfesweiſe der Gegner 
der Nation Tennzeichnet und zugleih die Hoffnungen Delpints 
und feiner Partei offenbart. „Es ift wahr,“ ſchreibt Delpint 
„wenn dieſes Weiſenhaus nur 50 Jahr in feinen dermaligen 
Freiheiten Beitand haben wird, daß, menſchlicherweis zu urtheilen, 
die jächfiichen Städte, ihre Zünfte, die Hermannftadt ſelbſt katho⸗ 
liſch und mit.guten Profeffioniften verjehen, folglich das Luther. 
thum zu Boden geworfen werde," oder Bajttat „die Waifen, die 
aus diefem Hauſe austreten, werben größtentheild Säcdhfinnen 
beirathen und von 10 zu 20 Jahren wenigftend mit 100 Fami⸗ 
lien die ſächſiſche Nation vernehmen." Zu gleicher Zeit werden 
ebenfo viel, wenn nicht mehrere von den Audgetretenen abftanmen. 
Sodann wird das Beifpiel von fo viel Tatholiihen Sachſen un⸗ 
gemein viel wirken und die katholiſche Religion wird in der ganzen 
ſächfiſchen Nation ohne Zwang und Gewalt wieberbergeftellt 
werden.” An amerder Stelle hieß ed: „Man bemühet fidh von 
Seiten der Nation mit ungegründeten Klagen uud Beſchwer⸗ 
nifien, dad Werk zu vereiteln. Es haben Eure Majeftät aller» 
guädigft beftimmt, alle erzogenen Kinder im Waiſenhaus follen 
fähig fein, des Bürgerrechts in allen fiebenhürgifchen Städten. 


(836) 


35 


Die ungarijhen Städte weigern fi) nit und nehmen am 
Kinder, die ſowohl von deutichen als fächfifchen Eltern abftanımen, 
allein die ſächſiſche Nation widerſetzt fich und will fogar zur 
zunftmäßigen Erlermung der Profeifion fein Kinder des Waiſen⸗ 
baufes zulafjen, welche won ungarifchen oder walachifchen Eltern 
berftammen und ſchützet vor puritatem Nationis. Allerguädigfte 
Gran! dieſer iſt der allgemeine Deckmantel, nicht die Nation, 
jondern die Sect aufrecht zu halten." Die BVorftellungen der 
Nationsuniverfität, die Erklärungen Bruckenthals, der von Dels 
pini der Kaiſerin als Verläumder dargeftellt wurde, nübten nichtß, 
aber man tröftete fich wohl über die Sonderftellung des Waiſen⸗ 
hauſes mit dem Gedanken, daß die fanguiniichen Hoffnungen 
auf den in wenigen Jahren zu gewärtigenden mafjenhaften Ueber 
tritt der Sachſen zum Katholicismus und auf die beabfichtigte 
glei raſche Entnationalifirung derfelben durch die Verquidung 
mit andern &lementen, ald eine arge Täuſchung fi ergab. 
Keine Thatjache berechtigt zu der Bermuthung, ald habe man einen 
ftilen Groll im DVerborgenen gegen dad Waiſenhaus genährt. 

Endlich erfolgte in der berühmten päpftlicden Bulle Domi⸗ 
nus ac redemptor noster die Aufhebung des Jeſuitenordens und 
auch die Kaiſerin konnte fie num nicht mehr ſchützen. Im Sep⸗ 
tember 1773 erfolgte die Publication der Aufhebungsacte auch 
in Siebenbürgen. Ihre Beitrebungen waren allerdings damit 
nicht aus dem Lande verſchwunden, jondern mit ihnen felbft in 
in veränderter Stellung geblieben — immerhin war aber auch 
dieje Aufhebung einer jener gewaltigen Windftöße, die bem 
Sturm vorangehen, der bier "dad Erwachen einer neuen Zeit 
anzeigte. 

Wie Nation und Gonfeifton auch außerhalb des Jeſuiten⸗ 
orbend der Gegner nicht ermangelte und, was diefelbe zu kraͤfti⸗ 
gen ſchien, zu verhindern gejucht wurde, zeigt deutlich unter 
anderm auc dad Vorgehen des Biſchofs Bajitai gegen Diejelbe. 


Sm Jahre 1764 hatte Brukenthal .mit mehreren hervorragenden 
ze (m) 


36 


Männern der Nation den Plan gefaßt, inmitten der Nation, in 
Hermannftadt eine evangeliſche Univerfität zu gründen. Man 
gedachte die Koften, die auf 1 Mill. fl. veranfchlagt waren, 
hauptjächlich aus den drei an den Fiscus verlorenen Quarten des 
Burzenländer Zehntend zu decken. Die Beweggründe mögen 
wohl hauptſächlich darin zu juchen fein, daß ein ſolches hervor» 
ragendes wiffenfchaftliches Snftitut das geiftige Leben der Nation 
bedeutend heben, das proteftantifche Bewußtſein ftärfen und die 
Verbindung mit dem proteftantifchen Ausland durch Hereinberufung 
und Heranziehung fremder Gelehrter noch fefter knüpfen mußte, 
als ed das Hinausziehn der ſächfiſchen Jugend that. Zudem 
fcheint man im jener Zeit mit den von beutichen Univerfitäten 
Heimgefehrten allerlei jchlechte Erfahrungen gemacht zu haben. 
Ein Theil fam nach einem wüften Leben unvorbereitet nad 
Haufe und jchädigte im Amt die Würde ded Standes, andere 
batten ſich — es ift dad eine Erfahrung aus Brukenthal's eigener 
Jugend, — dem dem Geiſt der Nation wiederftrebenden Pietid- 
mud in Halle hingegeben, noch andere waren in Wien in bie 
Schlingen des Katholicismus gefallen. Alle diefe Gefahren zu 
meiden, ließ man die Söhne beiferer Häufer nicht gern auf 
Univerfitäten. Der junge Heidendorf erwirbt feine juriftiiche 
Fachbildung durch theure Privatlehrer, während er in Hermann⸗ 
ftabt prakticirt. Ebenſo erwirbt ficy einer der- geiftigften Män⸗ 
ner der Nation, G. M. Hermann feine Gelehriamkeit zu Haufe. 
Ein voltswirthichaftliher Grundſatz jener Zeit, das viele Geld, 
welches mit ſächfiſchen Studenten in das Ausland gehe, im Land 
und in der Nation zu erhalten, wird befonderd der Kaiſerin 
gegenüber geltend gemacht. Schon find alle Vorbereitungen 
und Beiprehungen im Hermannftäbter Gapitel berathen, jchon 
bat ein gnädiges Hofrefeript Erhebungen in diefer Sache ange 
orbnet, als eine Gegenvorftellung Bajitaid das ganze Unterneh» 
men vereitelt. 


Nach manderlei Klagen über die geringe Förderung der 
(838) 


37 


Sache ded Katholicidmus, in welchen er freimüthig gefteht, dab 
„unfere allergnädigfte Monarchin und hoͤchſt dero allerdurch⸗ 
lauchtigfte Borfahren freilich zu folchem Ende, auch mit Hintan⸗ 
ſetzung der Geſetze jehr viel geihban habe," ...... daß aber 
bei Durchführung ihrer Befehle für die Aatholiichen kein Bor: 
wand ſei, den man mmterlaffen, oder nicht zu Nuten machen 
würde, um die „heilſamen“ Befehle ſchlecht oder gar nicht zu 
volziehn; in welchen er allerlei Rechte und Schutzmaßregeln der 
Sachſen, jo dad Zehntrecht, ald Grundrecht, jo die Bürgerrecht» 
taren und andere angreift, fchreibt er über die Univerfität: 
„Was aber der wahren Neligion den größten und vielleicht ge⸗ 
fährlichften Stoß verjeben wird, ift unwiderſprechlich die vor» 
geichlagene Untverfität von Hermannftadt. Ich geftehe es, daß 
mich der Name allein entfeget! Denn ich jehe voraus den un» 
ermehlihen und verachtungsvollen Abgrund, in welden bie 
armen katholischen Schulen durdy die berrlichften Vortheile und 
den daraus entftehenden Hochmuth ihrer Vorfteher geftürzt, ja 
gänzlich verſenkt werden. . . . Ich fehe die äußerfte Haldftarrig- 
feit, in welche die Akatholiſchen dadurch überhaupt verfallen 
werden und bin volllommen der Meinung, daß binfüro zur 
Aufnahme des wahren Glaubens alle menichlihe Mühe frucht- 
los angewendet wird. Wenn aber auch feine dieſer Folgen zu bes 
fürchten wäre, jo fann ich keineswegs begreifen, wie man einer 
Monarchin, die vermöge ihrer Gottjeligfeit und großen Religions» 
eiferd die Bewunderung der ganzen fatholiihen Welt erworben 
hat, ohne diefe und zugleich ihr zarted Gewiſſen verlehen zu 
wollen, rathen Tönne, eine faljcye und von der katholiſchen Kirche 
hocyverdammte Lehre nicht allein mit jo vielem Glanze auf: 
gehen zu laffen, fondern derjelben alle Hülfe zu leiten und alle 
Vorzüge zu ertbeilen? Es wäre ohnmaßgeblich rathjamer, eine 
katholiſche Univerfität auf die vorgefchlagene Art zu ftiften und 
daran für gewifje Wiſſenſchaften auch fremden Lehrern Platz zu 
‚geben, fo daß auch die ſächfiſchen Sünglinge dieje Tathofifche 


(329) 


38 


Univerfität beſuchen Tönnten, da derlei Wifjenichaft mit der 
Religionslehre nichts gemein haben und auch Katholiken bie 
Univerfitäten zu Halle, Iena, Leiden zu beiuchen fein Bedenten 
tragen.” — Seine Vorftellungen haben den Erfolg, daß der 
Gedanke, — wir können jebt jagen — zum Segen ber Nation 
fallen gelaffen wurde. 

Als die Kaijerin nach einer langen in vielen anderen De» 
ziehungen auch für die Sachjen fegendreichen Regierumg 1780 
ftarb, trat mit Joſef II. dee Sohn einer neuen Zeit, deren 
veränderte Anfchanungen feinen gewaltigen Geiſt nur allzu- 
ſtürmiſch in Befi genommen, an ihre Stelle. Schon jett Auf 
bebung des Sejuitenorbend hatte die Strenge in der Durdyfüh- 
rung ber bdießbezüglichen Vorſchriften nachgelafien; die Geſetze 
über die Zenſur, die Büchereinfuhr, den Aufbau evangeliſcher 
Kirchen wurden in für die Evangeliſchen günftigerer Weile ge- 
bandhabt. 

Was fpectel in diefem Sahrhundert die fächflichen Pfarrer 
gelitten, welche Anforderungen an ihre. Leiftungsfähigkeit in Zus 
fuhren und Abgaben und Steuern geitellt wurden; — wie ante 
bererjeitö ihre Führung und Haltung in dieſer Zeit der Be 
draͤngniß durchaus nicht jeden Tadels entbehrt, fondern Zwietradht 
und Hoffahrt den Stand oft verunehrt und Synoden und 
Superindenten von Scharfius bid Haner mit wachen Auge 
dieſe wilden Schößlinge beichneiden müſſen, — dad ilt ein 
anderes Blatt aus der Gefchichte unſeres Innerlebens in dieſer 
Zeit. 
Das aber troß alledem das Volk als ſolches treu blieb — 
das ift ein ehrendes Zeichen für die eigentlichen Führer desfelben, 
für das Volk jelbft und feine gute deutihe Art und für die 
Wahrheit der Sache, der das Boll die Treue hielt und die 
nicht zu Schanden wurde. 

Unter Joſef D., dem Autor ded Xoleranzpatentes, fehlte 


Beſtrebungen, die auf kirchliche Bedrüdung abzielten, der Boden. 
(830) 


39 


Wie aber ein eingepflanzted Reid, wenn ed einmal gut Wurzel 
gefaßt hat, wähft und im Wachsthum das Beftreben zeigt fich 
nach allen Seiten auszudehnen, fo tft auch die katholifche Kirche 
in unferer Mitte ungefährdet größer geworden, und es hat bi 
auf den heutigen Tag der Erpanfiondtrieb diefer Kirche feine 
Verſuche nicht eingeftellt, doch find Gewinn und Berluft auf 
beiden Seiten vereinzelte Erfcheinungen. Ein friedliches Neben⸗ 
einander, im Sinne Luthers, der feine ftreitende Kirche fchuf, 
tft eingetreten und die fächfiiche Nation als ſolche ift eine ges 
blieben in Sprade und Denken, in Glauben und Wilfen. 

Andere ragen und andere Kämpfe bewegen die Geifter 
unferer Zeit. Und bier aber ift aus dem fo oft bedrohten, fo 
vielfach beitürmten Reformationswerk, ein fefted Bollwerk auch 
in andern Kämpfen und Nöthen geworden. Wie ed bie deutiche 
Sprache und die deutſche Wiſſenſchaft im großen Deutichland 
begründete, erhält es jet bier noch deutjche Sprache, deutiche 
Wiſſenſchaft. Was wollen wir fürchten in diefer „feften Burg,” 
die, Sahrhunderte lang berannt, noch feine Breſche zeigt, die 
auch wohl für eine Belagerung audgerüftet, in der Treue und 
Zähigfeit ihrer Beſatzung die Fahne hoch hält: 


„fidem genusque servabo!“ 


Hadymort. 


Auf Anregung von hochachtbarer Seite verfuche ich diefen Vortrag 
einem größeren Leferfreife zuzuführen, als einen Gruß aus dem fernen 
Karpathenlande, deſſen deutiche Söhne damals wie heute die freundliche 
Theilnahme ihrer Sprach⸗ und Glaubensgenoſſen kräftigt und ehrt. 

Der Vortrag felbft wurde in einem Cyklus von „Lutherborträgen,” 
als ein Theil unjerer „LZutherfeier” gehalten und behandelt die Ver⸗ 
fuche, die Sachen in den Schoß der katholiſchen Kirche zurückzuführen. 

Aus der reichen Literatur, die demjelben zu Grunde liegt, führe ich, 
um Gitate im Text zu vermeiden, hier das Widhtigfte an: 1. Das alte und 
das neue Kronftadt vun &. vn, Hermann, bearbeitet von Oskar v. Melgl; 
2. Die politifche Reforı _nennilt8 in Siebenbürgen zur Zeit Joſef IL. 


dem (831) 
am der’ — 





40 


und 2eopold II. von Dr. F. v. Zieglauer; 3. Dr. ©. D. Teutſch: 
das Zehntrecht der evangelifchen Landeskirche; 4. Ungarn unter Maria 
Therefia nnd Sofeph II. von Dr. Franz Krones; 5. Die Stiftung 
bes Tatholiichen Xherefianifchen Waijenhaufes von W. Schmidt; 6. 
Zur Geſchichte der Jeſuiten in Hermannftadt von bemfelben Ardiv 
d. Vereins f. Siebenb. Landeskunde n. F. VI. 2; 7. Sefuiten in 
Karlöbnrg von demjelben U. d. V. f. ©. 8%. n. F. VIL 2; 8. 
Beiträge zur Kirchengeſch. Stebenb. unter Karl VI. v. K. Fabritius 
Archiv ıc.n. 8. 1 2; 9. Bilder aus der innern Geſch. Hermannftabts 
im XVII. Sahrhundert von 8. Fabritius A. n. F. VL 1; 10. 
Der innere und äußere Rath Hermannftadts im XVII. Sahrbundert 
von Heinrih Herbert A.n. F. XVII. 3; 11. Altenmäßige Beiträge 
zur Geſch. Siebenb. im XVII. Jahrh. von ©. D. Teutſch A. n. $. 
XI. 3; 12. Altenmäßige Beiträge ꝛc. von ©. Seivertb A. n. F. 
XIII. 2; 13, Heidendorf: Selbftbiographie von Dr. R. Theil, befon- 
derd 9A. n. F. XVIO. 1. n. a. m. 


Anmerkungen. 


1) Georg Michael Gottlieb von Hermann, geboren am 29. Sep- 
tember 1737 in Kronftabt, entitammte einer dortigen Patricierfamilie. 
Nach einem kampfreichen, im ftädtichen Dienfte hingebradhten, oft gerade 
durch die Repräfentanten der Gegenreformation verbitterten Xeben, ftarb 
der hochbegabte, tiefgebildete Mann am 31. Zuli 1807. Gr Hinterließ 
ein in ben Sahren 1801—1802 gejchriebenes Außerft werthvolles, lange 
unveröffentlich gebliebenes Wert „das alte und nene Kronſtadt“ befien 
1. Band die Geſchichte Siebenbürgend „von dem Uebergang Siebenbürgen 
unter das Haus Habsburg bis zum Tode ber Kaiferin Königin Maria 
Therefia (1688— 1780)” enthält. 

Die Herausgabe des Werkes bat nun in forgfältigfter Weife begon- 
nen Dr. Oskar v. Melzel und der erfte Band erjchien 1883. Hermann. 
ftabt bei Franz Michaelis, 

2) Der Sachſengraf Zabaniug Sachs v. Hartenet wurde 1703 
auf Befehl des Gomandirenten Rabutin auf dem großen Ring zu Her 
mannftadt öffentlich enthauptet. — F. v. Zieglauer, Sachs v. Hartenel 
Graf der fähfiichen Nation und die Parteilimpfe feiner Zeit 1691 bis 
1703, 

m 
(332) ang a. 
Brad von @ebr. Unger in Berlir 17a. 





In demjelben Verlage find erjhienen: 


| Der Kindergarten. | 


SSLHND u ie 


Handbud 
dert Fröbel'ſchen Erziehungsmethode, Gpielgaben und Beihäftigungen. 


Nah Fröbel's Schriften 
und den Schriften der Frau B. v. Mareıholt - Bülow 
bearbeitet von 


Hermann Goldammer. 
Mit Beiträgen von 8. v. Marenholg- Bülow. 








I. Theil: Bie Sröbel’fchen Hpielgaben. (Dit 60 Tafeln Abbild.) Vierte Auf- 
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Kirche, Neligion und Verwandtes. 


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Braaſch, Iſt ein Zufarmenmirfen ber verichiedenen Richtungen innerhalb 

© ee! evangelifchproteftantiichen Kirche möglih? (104)... .. - M. 1.— 


bh, Die katholiſchen Gefellenvereine tu Deuti@land. (170) . 3. 1.20 
—R Irrlehren über den Kulturkampf. (65/66).. .. . 1.80 
ae Der Mangel an Theologen und der wiſſenſchaftliche Werth bei 44 
_gion Studiums. (68) . 200 rer 140 
arwinismus und Sittlichleit. (124/25). - 2-22 n ne 


Grimm, Die Lehre über Buddha und das Doom v. Zeius Ghriftus. oo "2 
—, Die Rutherbibel und ihre Tertes:Revifton. (40) . » » 2... . M.1 
aupt, Die Begründung ber päpftlichen act esteite der Alpen. (158) ” 
Dei Der Felien Petri — kein Felſen. (3. M. 1 
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Sönes Me Reformbewegung des Brahmoſomadſch in Indien ald Schranfe 
des Milfiondwefend. (88) . - 2 00 00 rer ne 80 
Se te kirchlich-politiſche Wirkſamkeit des Jefniten-Ordens. (23/24) M. 1.80 
alifcher, „enebitt Spinoza’d Stellung zum Judenthum und beiten 


tbum. (193/194) . . 2.— 
Ri ner —5* Reform des Religiond-Unterrichts. (79) ren Fr 1.— 
—5 — eines allgemeinen Moralprinzips in unſerer Zeit. (92) M. 1.40 

_, ' Der Zwed des Dafeind im Hinblid auf die Mehrung des Selbſtmordes. 
(167/88) en M. 1.60 
Kradolfer, 3., Die altchriſtliche Moral und der moderne Zeitgeift. (29) M. 1.— 
Zammers, Sonntagefeier in ‚Deutihland. (166) 2 2 ern 80 
zangı Das Leben Jeſu und die Kirche der a aft, 1) une. M. 1.— 
ie Religion im Zeitalter Darwin’d. (Bi)... - 2 ven n 0. M. 1.20 


v. Lilieneron, Deber den Chorgelang in der evangelifchen Kirche. (144) M. 1.20 
Hippold, Religion und Kirchenpolitik Friedrich's des Großen. (126) . . 80 
—, — — Hemmniſfſe und Ausſichten der altkatholiſchen Be 

wegung. (BI) 2000 nee 1. 
< meidler, Die religiöfen Anſchauungen Friedr. Sröbele. (185)... M. 1— 

midt, Mas trennt die „beiden Richtungen” in der evangel. Kirche? (132) 80 
—, Gewalt oder Geift? Gin feftlihes Bedenken über die Zukunft von 

Luther's Kirche. (158). 2 0 0 ne 80 
Schramm, Das Heer d. Seligmacher od. d. Heilsarmee i in England. (178) N. 1.— 
v. * ulte, Die neueren katholiſchen Orden und Congregationen beſonders 

entſchland, ſtatiſtiſch, kanoniſtiſch, publiciſtiſch beleuchtet. (B).. M. 1.— 


— —48* Kirchenſirafen. (14). ... ... DR PR M. 1.— 
Zrächfel Der Katholicismus feit der Reformation. : 2... M. 1.20 
Trede, Hie Propaganda fide in Rom . 22.0... 80 
Baflerichleben, Das Landeöherrliche Kicchenregiment- — —9 or... M. 1— 
tttel, Der proteftantifche Gottesdienft in unjerer Zeit. (62) -. . . . M. 1.— 
* Ein deutfhes Kaiſerwort. (112). - 20 00 0 een en. M. 1.— 


— — — — 





Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftliger Vorträge, 


heranögegeben von , \ 
Aud. Virchow und Ar. von Holtzendorff. 


— 


XX. er. 


(Heft 457 — 480 umfaſſend.) 


— 





Heft 466. 


Achlaf und Traum. 


Von 


Dr. Freusberg. 


Gb 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(©. ©. Xuderitysthe Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33, 


8 


AN) 


IB SS wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. Wu Diejelben 
enthalten das Aregramm der neuen XX. Serie (1885) der Sammlung, jowie das 
deö neuen XIV. Jahrganges g1855) der Beitfragen. Genane Inhalts Uerzeichniſſe 
der gie Hefte, nach „Kerien und Iahrgängen“ und nad "Wiffenihaften“ 
geo ‚And duch jede Buchhandlung gratis zu bezichen. 


ger 








Einladung zum Abonnement! 


Die Jury der „Internationalen Ausftellung 

A don Gegenjtänden für den häuslichen und | 

a gewerblichen Bedarf zu Amfterdam 1869" (ii 

5 hat diefen Vorträgen die * 

Goldene Medaille 
zuerkannt. 








Von der XX. Serie (Jahrgang 1885) der 
Sammlung gemeinverjtändlicher 
wiſſeuſchaftlicher Borfräge, 


herausgegeben von 


ud. Virchow und Sr. non Holtzendorff. 
deft 457—480 umfufend (im Abommenent jebes Heft une 50 Pfemige) 


find erjchienen: 

Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Todten bei den 
_ verichtedenen Völkern. 
„ 458. Pilgrim (Ravensburg), Galilei. 


„ 459 Goeß (Waldenburg b. Bafel), Die Nialsſaga, ein Epos nnd das 
germaniiche Hetdenthum im feinen Ausklängen im Norden. 


„ 460. mans (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender des XII. Zahr- 
underts. 


„ 461. Hetzel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrichs d. Großen zur Humanität 
im Kriege. 


„ 462. Engelhorn (Maulbronn), Die Pflege der Irren ſonſt und jetzt. 
„ 463. RMoöſch (Heilbronn), Der Dichter Horatins und feine Zeit. 


„ 464 Soffmann (Gera), Der Einfluß der Natur auf die Kulturentwidiung 
der Menjchen. 


„ 465. Czekelins (Hermannftadt), Ein Bild aus ber Zeit der &egentefor- 
mation in Siebenbürgen. 


„ 466. Freusberg (Saargemänd), Schlaf und Traum. 
„ 467. Zſchech (Hamburg), Glacomo Leopardi. 
„ 468. ©. Zittel (München), Das Wunderland am Yellowftone. 
Borbehaltlih etwaiger Abänderungen werden fodann nah und nad) and: 
gegeben werden: 
Grünbaum (Münden), Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 
Kronecker (Berlin), Die Arbeit ded Herzens und deren Quellen. 
Dames (Berliu), Geologie der norddentſchen Ebene. 
Munz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 
@erland (KRaffel), Thermometer. 
Trede (Neapel), Das geiftlihe Schaufptel in Süditalien. 
Virchow (Berlin), Weber Städtereinigung. 
Eyfienhardt (Hamburg), Aus dem gejelligen Leben des XVII. Jahrhunderts. 
Hofmann (Graz), Das Blei bei den Böllern des Alterthums. 
Treichler (Züri), Politiſche Wandlungen der Stadt Zürtd. 
Nagel (Berlin), Die Liebe der Blumen. Mit 10 Holzichnitten. 
Sommer (Blantenburg), Die pofittve Philofophie von U. Comte. 
Alsberg (Kafjel), Die Anfänge der Eiſenknltur. 
Dondorff (Berlin), Kaifer Dtto IIL 


© 


Arhlaf und Traum. 


Bortrag, gehalten im April 1883 


Dr. drensberg, 
Direktor der Srrenanftalt bei Saargemünd. 


GP 





C 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel 


(6. 6. Yüderity'sche Brelagsbuchhandlnng.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


Das Recht ber Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Wie kann nur ein ſolch alltäglicher Gegenftand, wie 
Schlaf und Traum, auf unſer Intereſſe rechnen? 

Statt der Antwort verallgemeinere ich die Frage: Worin 
Liegt wohl das allgemeine Intereſſe für populäre 
Kunde von der Natur begründet? 

Damit babe ich zugleich ſchon ausgefprochen, daß ich mein 
Thema als ein naturwiffenjchaftliches behandeln und es auf das 
phyfiſche Gebiet beichränfen will, das der geficherten beobachten» 
den Forſchung zugänglich ift, die Nichts vorausjeßt, was außer 
ihrem Bereiche liegt, und Nichts fchließt, was nicht aus ihr 
felbjt verftanden werden Tann. 

Nicht aber wird die Rede hier fein von pinchologifchen 
Theorien über dad Bewußtſein der Seele im Schlaf und Traum, 
nicht vom Problem des Unbemußten, nit von al den Bor- 
ftellungen einer Losloͤſung der Seele von den Fefleln des 
Körperd, die von ſpekulirenden Philofophen mit dem Schlaf, 
noch von den Borftellungen eined Hineinragend der @eifter- 
welt und myſtiſcher Kräfte, die vom naiven Volksglauben mit 
dem Traum verbunden werden.!) 

Die Erforſchung des Seelenlebend ift Gegenftand natur- 
wiflenfchaftlicher Forſchung, inſofern es fih um Beobachtung 
natürlicher Erſcheinungen, ihres Zuſammenhanges und ihrer 
Geſetze vermittelſt der ſficheren Erfahrung, methodiſchen Prüfung 
und des Experiments handelt, dad als Frage an die Natur 
gerichtet wird.?) 

Bis zu diefen Grenzen kann zwiſchen naturwiljenichaftlicher 
und pbilofophifcher ernfter Kenntniß des Seelenlebend füglich 
ein linterfchied und Widerftreit nicht fein. Wahrheiten, pofitive 


XX. 466. 1? (335) 


4 


Nefultate, mögen, wenn auf getrennten Wegen erforſcht, wohl 
einen verjchiedenen Ausdrud finden, können fich aber nie in fid 
wideriprehen. — Erſt an der Grenze des den Sinnen und 
objeftiv Wahrnehmbaren und Darftellbaren trennen fi die 
Gebiete der Naturwiſſenſchaft und Philoſophie. Zu einem vollen 
Erfaſſen des Seelenlebend, zu einem ganzen Berftändniß des 
legten Grundes der jeeliichen Erjcheinungen gelangt die Natur- 
wiflenfchaft, ihrer Begrenzung gemäß, nicht; nie läßt fi 
mechantfch begreifen, was das Bewußtſein ift.®) 

Die echte Naturwiffenichaft Tennt ihre Grenzen und be 
ſcheidet fih im ihrem Gebiet, wenn auch nicht jeder Jünger 
der Naturforfchung der Verſuchung widerftebt, die Grenzen 
pbilofophirend zu überichreiten und fich mit Philojophen um die 
Wette fruchtlos müht, die Welträthfel zu Iöjen, die jenfeitö der 
Erfaßbarfeit durch unſern an das materielle Gehirn gebundenen 
Geiſt liegen. 

Doch wir wollen diefe Elippenreichen Grenzen meiden, bis 
an die hinan uns freilih die Beiprechung der Bewußtieind- 
zuflände des Schlafes und Traumes führt. 

Worin, frug ich, liegt das Intereſſe, liegt die Anziehungs⸗ 
kraft der Naturericheinungen? Man Tann fich8 leicht machen 
und jagen, die Natur ift und das Nächitliegende. Genau ge⸗ 
nommen wird aber die Nähe, die Häufigkeit, die Geläufigfeit 
einer Erfcheinung nur erleichtern, nie aber erzeugen die interefje- 
volle Naturbeobadhtung; nur Kräfte und Cigenichaften wirfen 
in der Natur und für den Geift gilt dafjelbe. 

So wenig in der Phyſik die Körper durch ihre zufällige 
Nähe als ſolche fich beeinfluffen, ſondern vielmehr durch ihre 
Kräfte, jo wenig begründet die Sinnfälligkeit eines Gegen⸗ 
ftandes und feine Wahrnehmung allein die Aufmerkſamkeit des 
Geiſtes. Wie viele Dinge ſehen wir und beachten fie nicht! 
Es muß noch etwas Beſonderes binzufommen: die Erregung 
unſeres Gefühld durch das Schöne und Großartige in der 


(836) 


5 


Natur, die Erregung der Einbildungsfraft dur das Ueber⸗ 
rajchende, Ungekannte, geheimnißvoll Erjcheinende, das find die 
Reize für die Erwedung der Aufmerkſamkeit, für das Intereffe. 
Und nicht minder iſts die gelungene Auffindung des inneren 


⸗ 


Zuſammenhangs der Dinge, die Klarlegung deſſen, was geheim⸗ 


nißvoll erſchien, die gewonnene Beherrſchung des Verſtändniſſes. 
Der Menſchengeiſt iſt eben ſo gerichtet, daß dem Gefühl die 
Reflexion über die Urſachen ſich ſtets beigeſellt und die Reflexion 
in fich das Gefühl der Befriedigung — gleich dem Genuß der 
gethanen Arbeit — trägt. In dieſen zwei Richtungen, die 
untrennbar fich ergänzen, liegt das Intereſſante der Natur⸗ 
betrachtung: nämlidy darin, daß eine Erſcheinung unſerm 
Fühlen Eindruck macht, Bewunderung weckt — und 
darin, daß der prüfende Verſtand die Naturerſcheinung 
erklärt und beherrſcht. | 

Die Empfänglichleit für den Reiz der Natur ift ja 
individuell verjchieden; fie ift der Verfeinerung fähig durch die 
intime Beichäftigung mit der Natur, durch die Kunde von ihr 
und ihren Gefehen; fie ift aber von Haus aus dem Menfchengeift 
eingepflanzt. Wie wäre der Menſch ohne die fundamentale Em» 
pfänglichleit für die Erjcheinungen und das geſetzmäßige Walten 
in der Natur zum Heren der Schöpfung geworden und hätte 
von der eriten einfachften Eriftenz emporklimmen können zu der 
feit Jahrtauſenden erreichten Stufe der Kultur, von der aus er 
fih faft in Gegenſatz zu der Natur ftellt, deren begnadeter 
Sproffe er iſt. Das hoͤchſt entwickelte Thier weiß Nicht von 
einer Natur;.ed kennt nur durch Inftinkt und Erinnerung, was 
ihm Nahrung, wad ihm angenehm, was ihm fchädlidh; das 
Thier bat fein Auge für die Wunder der Schöpfung, inmitten 
deren ed lebt. Wie früh dagegen knüpft fich ſchon für das 
Kind, noch bevor es fih ausdrüden Tann, freudiges Staunen 
an jede neue Wahrnehmung, mit dem Trieb, Segliched zu 
faffen und mit Hand und Lippen zu taften: als .erfte Ein- 

(837) 


6 


übungen des Borftellungsvermögens. Größer geworden belebt 
das Kind mit blübender Phantaſie die Natur, jchreibt Thier 
und Blume menſchliches Fühlen zu — und fragt daneben in 
Tindlicher Verftandsübung im Tage hundertmal: Warum? 
‘ Gerade. jo der Menid in frühen Kulturperioden: er bevölkert 
den Sternenhimmel mit Bildern, Baum und Bady mit Lebe» 
weſen, perjonifizirt die Naturfräfte als Gottheiten; zugleich ſpürt 
er nicht minder früh der Gefehmäßigkeit in der Natur, im 
Sternenlauf, im XThierleben nah. Es giebt kaum etwas 
Sntereffanteres, ald der Naturkunde der älteften Kulturperioden 
nachzugehen und zu .verfolgen, wie fie fih in der Wort» und 
Schriftiprade, in Sagen und Gebräuhen audgeprägt und 
erhalten bat. — Wenn fodann mehr und mehr das ges 
ſchulte Geifteöleben ſich ausbildet in der fortfchreitenden Kultur 
der Völker, wie in der Entwidelung des einzelnen Menſchen, 
wenn Berftändniß und Reflexion in allen Lebendbeziehungen 
überwiegt und die Phantafie nur in der Poefle noch ihre 
Stätte findet, auch dann bleibt ein geſundes Gemüth treu und 
warm empfänglich für die ewigen Reize der Mutter Natur. 
MWahrer Bildung entipringt die edle reine Freude am 
Großartig- Erhabenen in der Natur, in der, vers 
bunden mit ber Befriedigung des Erkennens, der 
Reiz der Naturforfchung liegt. . - 

Dadurch ift auch die Aufgabe der populären Natur« 
darſtellung beftimmt. Herz und Geift "muß fie Nahrung 
geben, muß bewundernd verjtehen lernen. Vom Uebel ift fie 
— ihrer Aufgabe untreu —, wenn fie dem Affen des Gemüths, 
der Neugier und Unterhaltungsjucht dienend, durch Oberflächlich- 
keit Wiſſensdünkel großzieht, reiner bewundernder Naturfreunde 
weder entftanımend, noch ihr Freunde erwerbend. 

Doc es ift Zeit, daß wir und unferem Thema zuwenden 
und deſſen Intereſſe in den beiden bezeichneten Richtungen 


nachgeben. 
(338) 


Der Schlaf. 


Wenn man nach bed Tages Arbeit fich zur Ruhe legt, ift 
und dag ganz felbitverftändlich, und Niemand denkt daran, 
Bedeutungsvolles darin zu ſehen. Wie wäre auch das Keben 
eine Mühfal, des unbefangenen Genuffes baar, wenn man fi 
jeden Augenblides Dedeutung ſtets gegenwärtig halten follte. 
Das macht den Schlaf ja gerade willlommen, daß in feinen 
Armen und Erholung erwartet von dem Kampf und den Mühen 
des Tages, ſobald er an und herangetreten. 

Treten wir aber einmal wachen Auges und prüfend dem 
Schlafe näher, jo lohnt er unſere Aufmerkſamkeit und enthüllt 
fh als nicht wenig Intereffant. Der Schlaf ift eine Unter- 
brechung unſeres bewußten Seind. Ohne Bewußtſein 
iſt kein volles Menſchſein; nur im Wachen wirkt der Menſch 
und bethaͤtigt ſeine geiftige Kraft. Ein Drittel bis ein Viertel 
ſeiner Lebenszeit — der Eine mehr, der Andere weniger — iſt 
der Geiſt, auch des Gewaltigſten, in den Banden des Schlafes 
brach gelegt. Und ob der Eine ſich nady dem Schlafe jehnt, 
der ihm den Schmerz der Seele und des Leibes abbürden foll, 
— ob der Andere in nimmermüdem Schlafenddrang ſich gegen 
den Schlaf wehrt und mit Willensftärle die müden Augen 
offen und die Kräfte in Spannung erhält — umſonſt! Der 
Willkür entrüdt ift die von des Leibes Natur geforderte 
Bewußtfeinspaufe. Wenn freilich durch Törperliche Neizmittel 
und durd Aufregung umd durch ftählernen Willen der Schlaf 
in feinem Eintritt verzögert, in feiner Dauer abgekürzt werden 
faun, jo iſt das doch auch wieder eine Beftätigung der Rechte 
der Natur; nicht ungeftraft, vielmehr aufreibend für die Kräfte 
des Körpers und des Geiſtes, rächt fi) die Enthaltung von 
Schlaf. In Schlaf findet der himmelftürmende Geift feinen 
Meiſter, der ihn aljo hinweiſt darauf, daß des Geiſtes Kraft 
im Leiblichen wurzelt. 


(839) 


8 


Und endlich ift diefe unmwillfürliche Umterbredyung des be 
wußten Lebens eine regelmäßige, periodiiche. 

Die Periodizität ift ein wunderbares, allbeherrichendes 
Prinzip in der Natur. Müßig wäre ed und auszummlen, wie 
ein ewiger Tag und ewiger Frühling und leuchten Tönnte in 
immergrünen Gefilden. Die fidhtbare Natur ift einfach nicht 
denkbar als bleibender Zuftand; fie ift ihrem Weſen nach eine 
fortlaufende Kette periodifcher Entwidelungen und Veränderungen, 
von Kommen und Gehen, von Thätigkeit und Ruhe, von Keimen 
und Reifen. In immer gleihem Kreije und gleicher Spur wieders 
holt fi alles Gefchehen in der Natur. Auf den Sommer 
folgt der erftarrende Winter, auf den Tag die dunkle Nacht, wie 
der Schlaf dem Wachen. Genau folgt ihrem Kreidlauf die 
Pflanzenwelt. Bon de8 Sommerd Fruchtbarkeit ermüdet 
und welt fchläft fie im Winter neuem Auferftehen entgegen. 
Und tft dann auch die jonnige Zeit wiedergelehrt, da neuer 
Saft in den alten Bäumen fteigt und alle Keime erwachen und 
Iprießen, und folang dann die Sommerzeit hindurch die uner⸗ 
meßliche Arbeit von der Vegetation geleiitet wird, aus den vier 
Elementen lebende Pflanzemiubftanz zu bilden — aud dann 
legt dem ftürmijchen Wachſsthumsdrang die Nacht Zügel an. 
Denn nur unter dem Einfluß von Licht und Wärme bildet aus 
den in Wafler, Luft und Erde ausgeſuchten Beftandtheilen die 
Pflanze wachſend Pflanzenſubſtanz. Vorzeitig verdorrt und ver- 
fengt die ungemäßigte Sonnenglut dad Grün. Dad Dunkel der 
Nacht und fühlender Thau find daher, dem Schlafe gleich, die 
nothwendige Labung der Pflanze. Und ald wenn ed wahr 
wäre, was finnige Poeſiie in Flora's Kinder an menjchlichem 
Sinn hineingelegt, ſenkt glei” müden Gliedern jo mande 
Pflanze Abends die der Sonne zuftrebenden Blätter, fchließt fo 
manche Blume wie zum Schlaf ihren Kelch, um wieder als 
ftrahlended Auge dem Morgen entgegenzuleucdhten. — Und tft 


dann mit wendender Sonne dad Sahredleben der Pflanze 
(840) 


9 


erfüllt, fo fchlummert im Samenforn die wunderbare Geftaltungd« 
kraft, bis des Frühlings Morgenruf erſchallt. 

Wir kennen zum guten Theil die weſentlichen inneren Vor⸗ 
gänge des Pflanzenwachsſthums, können fie aus Eigenthümlich⸗ 
fetten des anatomiſchen Baues, aus phuftlaliichen Eigenichaften 
und chemiichen Kräften der Pflanzenjubftanz den Grundzügen 
nach verftiehen. Wir fehen aber zugleih, wie überall bie 
treibende Kraft der Sonnenftrahblen es ift, die dad Spiel 
ber Lebenskräfte der Pflanze auslöft, wie umgelehrt das Fehlen 
der Sonne die Pflanzenwelt ruhen und gleichfam fchlafen 
madıt.*) 

Auch in die Thiermelt greift die Perlodizität der Sonnene . 
fraft unmittelbar herrichend ein. Durch den wärmenden Sonnen 
ftrahl dem Ei entlodt, führt die Raupe ihr unerjättlichpflangen- 
vertilgenbes Xeben, bis die beftimmte Zeit gekommen, da fie fidh 
einpuppt; aus ftarrem Schlaf entfliegt nach gemeſſener Zeit der 
häßlichen Yuppe der farbenpräcdtige Schmetterling. Schlangen 
und Amphibien verfriechen ſich in Erdhöhlen zu langem Schlaf, 
bet und vor Nahen der Winterkälte, unter dem Aequator vor 
der Zeit der Sonnengluth. Sie verjchlafen die Zeit, in der fie 
nicht Nahrung finden; diefe merkwürdige Zmwedmäßigfeit dedt 
fih mit der Eigenſchaft ihrer Gonftitution, daß ihre Blut⸗ 
temperatur abhängig iſt von der umgebenden Temperatur, alfo 
von den Sahreszeiten, und ihr waces Leben nur in der 
Mitte zwilchen Hite und Kälte ded Blutes blüht. Dafür ift 
für fie auch, fo lange ihre wache Zeit währt, Tag und Nacht 
faft gleichgültig. Auch Thiere höherer Ordnung, Hamiter, 
Maulthiere, fallen in Winterjchlaf, indem die Bluttemperatur 
und alle Lebensvorgänge auf das geringfte Maaß fallen, in der 
Zeit gerade, da fie feine Nahrung finden würden. 

Nicht minder fteht die heißblütige, bewegliche Vogelwelt 
unter dem Zwang des Schlafed zu gleihem Maaß, als Licht 
und Nahrung vertheilt ift in der Natur, in der fie leben; im 


(341) 


10 


furzen dämmernden Sommernädten unterbrechen fie nur kurze 
Zeit ihr Iuftig veged und lautes Treiben, im Winter entjpricht 
der längeren Nacht der längere Schlaf zu ihrem Wohl, denn 
die Ruhe des Schlafed jebt den Stoffwechſel, dad Nahrungs» 
bedürfniß herab in der fargen Winterzeit. Nicht anders iſts für 
die ganze Thiermwelt, die finfende und aufgehende Sonne giebt 
da8 Zeichen zum Schlaf und Wachen; und aud für den 
Menſchen, der ſich überall von der direkten Herrſchaft der 
Naturgemalt zu emanzipiren ftrebt, bleibt doch die Nacht die 
Zeit des Schlafed. ine gemeinjame Urſache, das periodiiche 
Sernbleiben des leuchtenden und belebenden Sonnenlichted, regelt 
alſo die Periodizität der Thätigfeit und Ruhe, des Schlafend 
und Wachend in der Natur. 

Diefe Gemeinſamkeit und Gleichzeitigfeit in der Thier⸗ und 
Pflanzenwelt erzeugt die wunderbare Harmonie, in der en. 
jo zauberijcher Reiz der Natur liegt. Wen ergriffe es nicht, 
wenn er in rubigem Sternenlidht und in nächtlicher Waldes» 
ftile den Schlaf der Natur belaufcht, wenn nur das Säujeln 
des Windes in den Blättern, dem Athem des Schlafenden 
gleich, Leben verräth: ob8 den Einen mit Angft und Grauen, 
den Anderen mit ahnungdvollem Sehnen nad einer Welt bed 
ewigen Friedens packt, das ift im Grunde die gleiche Ueber» 
wältigung durch das Großartige ded Eindrudd. Wenn man 
im Licht und Getriebe des wachenden Tages der Natur nadı= 
gebt, nimmt bald dieſes, bald jenes Schöne, nehmen die Einzel⸗ 
beiten, die und aufftoßen, das Snterefje in Anſpruch. Das 
großartig Harmoniſche der Natur tritt mächtiger und ftimmungs« 
voller an unſer Gemüth heran gerade in ihrem Schlaf, wenn 
Ruhe und Schatten über der geheimnißvollen Werfitatt lagert. 

Durch diefe Harmonie ift der Schlaf auch bildfam zum 
Objekt künftlerifcher Darftellung. An fich wäre die Darftellung 
des Schlafes und des Schlafenden ja inhaltleer und ausdrudd- 


108, es ſei denn, dab ein Traum den Schlaf bemwente, de 
(342) 


11 


Schlafenden Züge verflärte. Der Dichter, der Maler, wenn er 
den regungslojen Schlaf zum Vorwurf bat, geftaltet aus har» 
montichen Zügen ein Stimmungsbild, jchildernd die Harmonie in 
ber Ruhe der lebloſen und belebten Natur und der Menſchenwelt. 


Der Schlaf iſt die geſetzmäßige periodiſche Unterbrechung 
des Bewußtſeins. So charakterifirt man ihn gewoͤhnlich bloß 
im Hinblid auf den Menichen. Aber aud) das Thier ſahen wir 
ſchlafen, auch das Thier niedriger Drdnung. Aljo müfjen wir 
naturwiffenichaftlich richtiger jagen: der Schlaf ift eine Unter 
brechung der wachen Gehirnthätigfeit, eine Paufe in der kon⸗ 
tinuirlichen thätigen Verbindung ded lebenden Wejend mit der 
Außenwelt. Aber wir beobachten ferner, dab im Schlaf nit 
nur das Gehirn ruht, fondern alle Lebensvorgänge find 
im Schlaf herabgeſetzt, Puld und Athmung zeigen das 
durh ihre DBerlangjamung.’) Es find gewifle Theile des 
Nervenfyftemd (gelegen im verlängerten Mark), die dieſen 
Funktionen vorftehen. Alfo auch dieſe Nervencentren find mit 
bem Gehirn zufammen im Schlafzuftand. NReflerbewegungen 
nennen wir gewifle, ohne Zuthun des Bewußtſeins auf äußere 
Reize bin eintretende Bewegungen. Wenn fi die Augen 
ſchließen durch bleudendes Licht oder bei Einfliegen eines Sand» 
fornd, wenn wir bei ftehenden Dünften nießen, bei unerwarteter 
Berührung zufammenfahren und unwillfürlich ausmweichende Be» 
wegungen machen, jo find das Reflexe. Das Vermögen jolcher- 
geitalt auf &indrüde der Empfindungd und Sinneönerven 
zu reagiren, kommt dem gejammten centralen Nervenſyſtem, 
d. b. außer dem Gehirn auch dem Rückenmark, zu. Nun fehen 
wir, wenn auch beim Einichlafen die Neflere noch vorhanden 
find und ſelbſt gefteigert fein Fönnen, daß in tiefem Schlaf das 
Neflervermögen ſehr herabgeſetzt ift. Im künſtlichen Schlaf durch 
Chloroform, Luftgas u. ſ. w. find fie-ganz aufgehoben, und nicht 
bloß in der Aufhebung der Schmerzempfindung, fondern auch weſent⸗ 


(348) 


12 


lich in der Ausſchließung ftörender unwillfürlichereflerbewegungen 
Ikegt der große Segen und bie Unentbehrlichkeit der künftlichen 
Betäubungd- und Schhlafmittel bei chirurgtichen Operationen. — 
Alfo nicht bloß das Gehirn, fondern die gefammten nervöſen 
Apparate erfahren im Schlaf eine Zuftandöveränderung. Und 
da alle Körpervorgänge in letter Inftanz vom Nervenſyſtem 
abhängen nnd regulirt werden, Tann man, was auch die Stoff 
wechlelunterfuchungen) lehren, noch weitergehen und jagen: der 
ganze Körper ift am Schlafzuftand betheiligt. Und ift es auch 
Jedermann aud Crfahrung befannt, das nach angeftrengten 
Fußtouren die müden Glieder fih in der Ruhe ded MWachend 
nie jo erholen und Träftigen als in felbit kurzem Sant ber 
„die Glieder löft.“ 

Sleihwohl hat es feine Begründung, wenn man unter 
Schlaf gemeinhin nur die Unterbrehung der Geiſtes⸗ 
thätigkeit, der machen Gehirnthätigkeit verfteht. Iſt doch Die 
Gehirnthätigkeit gleichſam die Blüthe unferes Lebensprozeſſes, 
die Gebieterin, zu deren Dienft die gefammte wunderbare 
Maſchinerie ded Körpers ja faft nur da zu fein jcheint. Wie 
das Gehirn der feinfte und Tomplizirtefte Theil des Nerven« 
ſyſtems, fo ift das perlodifche Ausruhen, die Zuftanddänderung 
die wir Schlaf nennen in der Gehirnthätigkeit am meiſten aus⸗ 
geprägt und dem Gehirn vor allen Organen wohl aud) am 
meiften Bedürfniß. 

Worin beftebt nun die Zuftandböändernng des 
Gehirns und Nerveniyftems, die wir ald Schlaf kennen? 
Der Schlaf ift das Produft dreier Faktoren; nennen wir fie 
furz: der Rube, ber Srmüdung und der Gewöhnung. 
— Bor einigen Sahren bildete ein junger Menſch Gegenftand 
eingehender Beobachtungen, ®) der taub und blind war und nun 
dazu durch Krankheit bed Gefühldfinnd beraubt wurde. Um 
diefen war Ruhe, für ihn eriftirte all das nicht, was ung wach 


hält, nicht Aug und Ohr, nicht die taftende Hand, nicht dad 
(344) 


13 


geiprochene Wort. &r war in faft beftändigem Halbichlaf. 
Alſo da8 Fernbleiben der Eindrüde der Außenwelt und 
das Fernbleiben all der inneren Erregungen, Gedanken und 
Empfindungen, die durch die Pforten bed Geifted, durch Aug 
und Ohr und alle Sinne in uns eintreten, das ift zu verftehen 
unter der Ruhe ald Borbedingung ded Schlafed. Die Thätig- 
des Gehirns und Nervenſyſtems befteht in gewiflen unfichtbar 
feinen Zuftandsveränderungen, grob vergleichbar mit dem, was 
am Musfelfleich der Glieder fichtbar ift, das hart fich zufammen« 
ztebt bet jeder Bewegung und wieder weich wird. Wie bie 
Erregung der zu den Muskeln gehenden Nerven dieje in den 
Zuftand der Zufammenziehung verjeht, jo erhält die Erregung 
ber Nerven des Auged, ded Ohres, des Hautgefühled u. |. w. 
im Gehirn den Zuftand der Spannung und Anregung, in dem 
eben das Wachſein befteht, und umgekehrt in voller Ruhe der 
Umgebung löft fih der Zuftand der Spannung, in der das 
Gehirn Tags über durch alles dad, wad an körperlichen und 
geiftigen Eindrüden an und berantritt, gehalten wurde Mit 
der Thätigleit des Gehirns, worunter alfo nicht bloß geiftige 
Anftrengung, jondern überhaupt der Zuftand ded Wachend ver- 
ftanden ift, ift verbunden ein ftärkferer Blutandrang. Durch zu 
ſtarke geiftige Anftrengung kann befanntlic, diefer Blutandrang 
zum Gehirn fi) krankhaft feitieben. Cr gilt ald Urfache von 
Schlaflofigkeit, denn im gefunden Schlaf, in der Ruhe des 
Gehirns ftrömt dem Gehirn weniger Blut zu, als im 
Wachen. Nebenbei bemerkt, ergiebt ſich daraus, daß das Schlafen 
nach dem Eſſen naturwidrig tft, da nad dem Eſſen das Blut 
zum Kopfe drängt. 

Wenn nur die Abhaltung Äußerer Eindrüde den Schlaf⸗ 
zuftand des Gehirns herbeiführte, jo wäre e8 — menſchen⸗ 
unwürdig zwar — trägen Geiftern ja jehr leicht gemacht, fich in 
ihr ftilles Kämmerlein zurüdziehend, des Tages Mühe zu ver- 
ſchlafen. Aber das Gehirn ift feine Machine, die fill fteht, 


(345) 


14 


wenn kein Dampf fie treibt. Es gehört vielmehr zum Schlaf 
zweitens die Ermüdung des Gehlrnd. Die Ermüdung ift 
Berbraudh der vorhandenen Kraft, die in der lebenden 
Subftanz der Organe ihre Duelle hat. So ift es beim Muskel, 
fo beim Gehim und Nerenivftem; fie alle find in fteter Er- 
neuerung ihrer Subſtanz, die in der Thätigkeit abgenüht wird 
und aud dem Blut ftet3 neue Nahrung aufnimmt und fi 
regenerirt. Mit der Anftrengung wächſt daher ber Verbrauch der 
Drgane und geiftige Anftrengung macht Hunger gleich der koͤrper⸗ 
lichen. Nach mufllaliihem Genuß 3. B. regt fidh befanntlich 
auch der Magen. So läuft die Ermüdung des Gehirns und die 
Bedeutung des Schlafes hinaus auf die Frage des Stoff: 
wechſels des Gehirns. Das Gehirn und Nervenſyſtem und der 
ganze Organismus verbraudyt in der Spannung und Thätigfeit 
des Tages mehr Kraft und Stoff, als in der gleichen Zeit fidh 
neu anbildet, im Schlaf erholen und ergänzen fich die raftenden 
Drgane aus dem Nahrungäftrom ded Blutes.) Darauf kann 
ich nicht näher eingehen. - Doch folgende Frage jcheint mir 
intereffant. Wäre ed nicht denkbar, dab, da doch das Blut die 
Organe beitändig ernährt, die Herftellung der auf die Thätig- 
feit verbrauchten Kraft mit dem Verbrauch jelbit gleichen Schritt 
bielte? daß aljo bei geeigneter Ernährung der Organismus 
die Erholungspauſen des Schlafes nicht nötbhig hätte? und wie 
eine Mafchine Tag und Naht wach und thätig fein Fönnte? 
Darauf ift zu jagen, daß die Natur viel weifer die Organismen 
außftattet, als der Menſch die kunftreichſten Mafchinen ein- 
richtet, die nur gerade fo viel leiften, als die treibende Kraft 
jeden Augenblid vermag. Die Natur verleiht eben ihren Kin« 
dern dad Bermögen, einen Borrath an Kraft in der Ruhe aufzu⸗ 
Ipeihern. Alle Körperorgane funktioniren im Allgemeinen mit 
einem Ueberſchuß von Spannfraft über das zur momentanen und 
alltäglichen Leiftung nöthige Kraftmaafz. Die Inanſpruchnahme 

(346) 


15 


diefer Reſerve an Kraft heißt Anftrengung , ihr Berbraud 
Heberanftrengung. Wie der Körper ein Maaß von Kraft befigt, 
dad ihn Hunger und Anftrengung und Krankheit eine geraume 
"Zeit ohne entjprechende Ernährung widerftehen läßt, jo befigt 
dad Gehirn eine Summe Spannkraft, die feine Thätigkeit bis 
zu einem gewillen Grade unabhängig macht von den Feſſeln 
und augenblidlichen Bebürfniffen des Körpers und ihn in dem 
Stand feßt, ſich mit gleicher Friſche anzupaffen, wie verſchiedenes 
der Tag von und verlangen mag. Dies ift die Bedeutung bed 
Schlafes, dat diefer Vorrath von Spannkraft des Körpers und 
Geiſtes ftetd neu gejammelt wird, ohne die der Wille ohnmächtig 
und der Geiſt Sklave des Augenblidd und der Nahrung wäre.) 
In unfihtbar und unwägbar feinen Veränderungen der 
Subftanz der Organe und zumal des Gehirns aljo befteht die 
Grmüdung, befteht das Schlafbedürfniß, der natürliche Schlaf. 
Auf gleich feinen und unerforjchbaren chemifchen Berände- 
rungen beruht die Ihlafmahende Wirkung gewiiler 
Arzneimittel, durch die gleichjam dad flammende Lebensfeuer 
gedämpft wird, zu ftill unter der Aſche glimmender Gluth. 
Unendlich ſegensvoll find diefe künftlichen Schlafmittel für 
den 2eidenden, dem Schmerz den Schlaf ſcheucht; aber ein 
Doppelgefiht bat dies verführerifche Geſchenk der Natur, ver: 
hängnißvoll ift ſein Mißbrauch. Toͤdtlich ift das Uebermaaß 
der Beruhigungsmittel, ihr gewohnheitsmäßiger Gebrauch ſtumpft 
ihre Wirkung ab und verkehrt fie ind Gegentheil, jo daß das 
an fie gewöhnte Nervenfyftem ihrer ald Reizmittel zur Belebung 
bedarf und fie nicht mehr entbehren kann. Hart tft die Ent» 
wöhnung, qualvoll dad Siechthum, entfelich die geiftige Ver⸗ 
heerung beim gewohnheitämäßigen Gebraud von Morphium, 
von Haſchiſch, von Alkohol u. f. w. 
Es tft daraus Mar, daß der künftliche Schlaf nie ganz 


daſſelbe und nie gleich träftigend fein kann, ald der natürliche 
—8 


16 


Schlaf, der der natürlichen Ermüdung folgt und diefe feine 
eigene Urſache aufhebt und in Erquidung umkehrt. 

Intereffant ift, wie auch durch abfichtlihe Ermüdung eins. 
zelner Sinne Schlaf erzeugt werden Tann. Nur der Wechſel 
der Wahrnehmungen regt und an, Einförmigfeit einer Sinnes⸗ 
erregung iſt ermüdend, langmeilig, einfchläfernd. Unwillkürlich 
gähnt Mancher beim langen Anſehen eines Pendels, eines 
Mühlrades oder Ähnlichen gleichmäßigen Bewegung. Ein altes 
Schlafmittel ift, auf ein tönended Blechgefäß Waſſer anhaltend 
und gleihmäßig tröpfeln zu laſſen. Fernes Waflerraufchen ladet 
angenehm zum Schlaf ein, und monotones Sprechen macht jchläfrig. 
Nicht minder ift einjchläfernd, wenn vor dem geiftigen Auge 
der gleiche inhaltloje Gedanke immerfort und langweilig vorbei» 
zieht nnd dad Zählen von 1 bis 100 und immer wieder von 
1 bi8 100 ift manchmal ein ganz gutes Schlafmittelchen. 

Hier überall ift e8 eine einfeitige Ermüdung, die künſtlich 
bewirkt wird und den Schlaf bringt. Es gehört dahin auch im 
gewifler Beziehung der magnetifche Schlaf.?) Durch immer 
wiederholte8 Herumfahren und Streichen vor dem Geficht und 
längs ber Glieder, durch Vorhalten eined glänzenden Knopfes 
zum flarren Anſchauung — Disponirte können mit Erfolg auch 
bie eigene Naſenſpitze zum Gegenftand diejer innigen Befich- 
tigung wählen — verſenken die Magnetifeure disponirte Men» 
Ichen in diefen wunderlichen Schlafzuftand, ber and Krankhafte 
ſtreift. 

Es handelt fich hier um Einſchläferung durch partielle Er⸗ 
müdung, doch komplizirt durch die nervöſe Dispofition ber 
Betreffenden und oft durch die Gefangennahme der Einbildungs⸗ 
kraft und Aufmerkſamkeit der an beſondere geheimnißvolle Kräfte 
Glaubenden. | 

Dei ſolchen Magnetifirten, anfcheinend tief und bewußtlos 
doch mit offenen Augen Scylafenden, bleiben nämlid die Sinne 
(zwar nur in nebelhafter Weiſe) und die Fähigkeit zu komplizir⸗ 


(348) 


17 


ten Bewegungen erhalten und verbinden fi mit einem auto» 
matiſchen Nachahmungszwang, der im Grunde eins ift mit dem 
fhon erwähnten Neflervermögen. Bekannt ift ja, wie 5.8. 
der Aublid eines Gähnenden vefleftoriih unwiderftehlich 
gähnen machen kann, Es treiben herumziehende Magnetifeure 
mit dem magnetiihen Schlaf in theaterhaften Produktionen 
Ihmählichen Humbug und weden den Glauben, daß bie 
Magnetifirten hellſehend und den Feſſeln der Naturgeſetze 


entrückt ſeien, unter ihrem geheimnißvollen Bann ſtehen. Das 


tft nichts als ein auf Täufchung berechnetes geſchicktes Spiel. 
Wenn 3. B. Magnetifirte anfcheinend dem Kommandowort des 
Magnetifeurs gehorchen, jo find ed in Wirklichkeit deſſen eigene 
Bewegungen, die fie nachahmen. Zugleich tft der magnetifche 
Schlaf oder Hypnofe von allerlei nerudjen Zuftänden, Muskel» 
ſtarre, Sinnedtäufchungen begleitet, die das Magnetifiren zu 
einer für nervöje Perfonen jehr bedenklichen Prozedur machen. 

Nah dem Fernbleiben der äußeren Anregungen und nad 
der Ermüdung kommt beim Schlaf nod ein dritter Faktor in 
Betracht, die Gewöhnung. 

Daß der Eine lange in den Tag hineinſchläft, der andere 
nach kurzem Schlaf zu neuer Thätigkeit geſtärkt iſt, iſt größten- 
theils Gewohnheitsſache, menngleich allerdings nicht jede Kon» 
flitution mit den bekannten 7 Stunden Schlaf ald Regel genug 
bat. Im Allgemeinen bedarf der Törperlich Arbeitende vielleicht 
weniger Schlaf als der geiftig Angeftrengte. Daß der Menſch 
fich gewöhnen kann, die Nacht zum Zag zu machen, dab er auch 
durch Gewohnheit fi) zum Sklaven des Mittagsichlafes macht, 
ift jo häufig, wie daß er fih an Störungen gewöhnt, die ihn 
eigentlih wach halten jollten; den Müller ftört das Klappern 
der Mühle nicht, und wer viel reift, jchläft in der Eiſenbahn 
vortrefflih. Das Aufbören folder gewohnten Geraͤuſche und 
Srichütterungen vermag fogar aus leichtem Schlaf zu weden. 


Das kennt man am beften in den Kinderftuben, in denen man 
xXX, 466. 2 (349) 


18 


bem jungen Erdenbürger die erfte fchlechte Gewohnheit, die an 
Schlummerlied und Wiegengang angquält; wehe, wenn man 
einmal zu früh damit aufbört und durch das Aufhören des 
monotonen Einlullens dad einfchlafende Kind wedt zu unaus⸗ 
bleiblihem Schreien. 

Es ift jedoch in einem noch anderen Sinn, daß ich bie 
Gewöhnung al8 einen wichtigen Faktor beim Schlaf anſpreche. 
Nämlich, wenn der Schlaf der Ermüdung allein entftammte, fo 
müßte er mit zunehmender Ermüdung allmälig eintreten. Aber 
tbatjächlich tritt er beim Gejunden ſehr raſch nad) vollem Wachen 
ein, jelbft wenn man fich gar nicht bejonders ermüdet hat. 

Es ift die Uebung, die Gewöhnung eine fundamentale 
Eigenſchaft des Nervenſyſtems. Site ift dad mechanifche Vor⸗ 
bild deffen, was in der Sphäre des Geiftes dad Erinnerungs⸗ 
vermögen. Was find al die feinen Bewegungen, die ſchließlich 
wie von felbft geſchehen, wie Schreiben, Striden, Klavier 
ipielen, was find fie anderd als Hebung, gleichlam Gedächtniß 
der Finger? Auf was beruht dad Gleichmaaß des militäriichen 
Schritte, des Tanzes, des Taktes in der Mufil, ald auf dem 
von Haus aus dem Nervenſyſtem imnewohnenden und fidh uns» 
willkürlich bethätigenden Zeitgedächtniß und Gewöhnung? In 
jeder Richtung iſt das Nervenſyſtem der Gewöhnung und 
Uebung fähig; der Nichtgewöhnung geradezu unfähig akkommo⸗ 
dirt es ſich ſelbſt an naturwidrige Dinge. So iſt es dem 
Raucher gar nicht einerlei, wann er raucht; nur in der ange⸗ 
wöhnten Stunde iſt fein Nervenſyſtem in der richtigen Ver⸗ 
faffung, den Genuß zu würdigen. 

In diefer nur angedeuteten Richtung liegt die Erklärung 
für die Fähigkeit ohne Ermüdung zu fchlafen, die Unabhängige 
feit des Schlafed vom Maaß der Crmüdung. Der Schlaf 
ift Bethätigung der Gigenfchaft des Nervenfvftens, 
die je nahdem, Gewöhnung, Hebung, Takt, Gedädt- 
nis heißt. Der Schlaf tft der Taktichlag für das Getriebe 


(850) 


19 


der Menſchen, und indem unter gleichem mächtigen Taltichlag 
gleichzeitig Menſch und Thierwelt und unbelebie Natur fteht 
und fchläft, werben wir wiederum zurüdgeführt auf die Harmonte 
der Welt und Weſen in ihrem Schlaf und Wachen. 


Der Traum. 


Die harmoniſche Ruhe, in die die Natur in nächtlichen 
Schlafe finkt, tft nicht abfolut, fie ift gerade der Tummelplat 
gewifjer Kräfte und Weſen unbeimlicher Art. Regellod tanzen 
als Srrlichter die brennbaren Gasblaſen des Sumpfbodend, Gift 
pilze ſchießen über Nacht auf, geheimnißvoll funfeln Leuchtkäfer 
und phosphoredcirt das Meer von kleinen Leuchtthieren, lautlos 
huſcht die Eule und flattert in abenteuerlichem Zidzad bie 
Fledermaus. Unheimlich, überrafchend, contraftirend mit der 
frieblihen Ruhe der Natur find fie in Verbindung mit ber 
Unzuverläjfigleit des Auges im Dämmerlicht, die Duelle der 
Spul- und Gefpenfterfurdt. 

Sie find das Vorbild ded Traumes; in ihrer Abſonder⸗ 
lichfeit und Scheu des Tageslichts, im ihrer jcheinbaren Ent. 
rudung aus der Naturordnung, ähneln fie den Zraumgebilden 
des fchlafenden Gehirns. Und wie fie, und mehr noch, reizt der 
Traum die wache Phantafte. Aus eimer höheren Welt fcheinen 
ben berüdten Sinnen die Träume zu fommen, und unermeß⸗ 
licher Aberglaube baut fi aus ihnen auf. Eine traurige Ge⸗ 
ichichte der Menjchheit wäre es, die und aufzeichnete, wie religiöfe 
Schwärmer, tyranniſche Bolköführer, wahnfinnige Verbrecher unter 
dem Einfluß ded Traumglaubend und Traum⸗Aberglaubens aller 
Vernunft entgegen fanatifch die Drdnung der Geſellſchaft durch⸗ 
brachen. Noch nicht gelungen ift ed der aufgeflärten Bildung 
unferer Zeit, den Glauben an Zraummwahrjagungen zu vertilgen. 
Ind wenn die Dichtung aller Zeiten den Traum ald ein Ein- 
greifen einer höheren Schickſalsmacht in dad Menjchenleben und 


als einen beftimmenden Faktor für ihrer Helden Geſchicke ver- 
2* (851) 


20 


werthet, jo tit da8 im runde die gleiche Verklärung des Traum⸗ 
glaubend, eine Berklärung auch in dem Sinne, als jo klare 
Träume, wie die Dichtung fie fingirt, in der Wahrheit nicht 
leicht vorlommen. 

Näher ald an diefes culturgefchichtliche Intereffe des Traumes 
anzufnüpfen läge mir den Lejer einzuführen in jene abenteuer. 
lichen Gebiete gigantifcher Traumphantafie, vor dem uns faft 
der Verftand ſtill fteht, das Sutereffe aber mit der Kenntniß 

wächſt. 

Ich habe dabei im Auge die wunderbare Ueberreizung der 
Phantafie, in die die Orientalen fich durch den Genuß des 
türfifchen Hanf verſetzen; ſchlaftrunken ſchwelgen fie in einem 
Meer glüdjeligen Schauens 10). Ic Tönnte viel wunderbare 
Geſchichten erzählen von Nachtwandeln und Helliehen. Sch 
müßte dabei aber auch bemerken, dab, je wunderjamer ſolche 
Geſchichten Tlingen, fie um fo unglaubbafter und über» 
triebener find, wenn freilich gar wunderlicher Dinge ein krankes 
Nervenſyſtem fähig iſt; und Tranfhaft find ja jeme überreizten 
vifionären Zuftände. Eben darum gehe ich nicht auf fie ein 
und noch weniger auf eine Parallele zwiichen Traum und Wahn: 
finn. Sch denfe, nicht bloß jene frankhaften Verwandten bes 
Zraumes, fondern ſchon unjer natürlicher gewöhnlicher Traum 
ift und nicht wenig intereffant durch feine wunderbaren Vor⸗ 
ipiegelungen, durch feine nediiche Vermengung von Wahrheit 
und Wünichen, von Ernft und Gankelſpiel. 

Beifpiele finden fi in der eigenen Erinnerung. 


Und nicht minder ift intereffant jein Urjprung und Ent- 
ftehben. Der Traum ift ausſchließlich eine Thätigleit des Ge⸗ 
hirns; Nichts enthält der Traum, was nicht natürlich fich ver 
ftehen Iiebe, feine andere Kräfte fchalten im Traum, als 
im wadhenden Gehirn. 

Keine Vorftellung ift im Geifte enthalten, die nicht irgend 


(353) 


21 


einmal durch bie Pforten des Geiftes, vor allem Aug und Obr, 
eingetreten wäre. Abſtrakte, überfinnlihde Vorftellungen find 
dem Unerfahrenen verftändlih und mittheilbar zu machen nur 
duch Bilder und DBergleihe aus der Törperlichen Welt der 
Sinne. Auf diefe Elemente geht auch der Traum zurüd, feine 
Borftelungen tragen dad unmittelbare plaftiiche Gepräge ber 
Sinnedwahrnehmung. 

Alles Wahrgenommene läßt eben im Gehirn jeine Spur 
als Erinnerung zurüd, die zu irgend einer Zeit einmal wieder 
vor dem Bewußtſein auftaucht oder geweckt werden Tann. 

Haft unentwirrbar fein ift das Faſernetz und der anatomifche 
Anfbau des Gehirnd, ein Bild davon, wie fidh im Geiſt die 
Fäden der Erinnerung verfchlingen und verbinden zu einem 
Labyrinth, das im Einzelnen zwar unaufllärlich unjerm befchränf- 
tem Berftändnif ift, aber der beftimmten Ordnung und Fügung 
nicht entbehrt. Nicht einmal wenn ein Gedanke blikartig uns 
erleuchtet, uns jelbft überrafchend, noch auch wenn läftigen 
Mosquitos gleich ftörende Gedanken bei der Arbeit und verfolgen 
und wir fie nicht los werben Tönnen, nicht einmal foldye an« 
ſcheinend aus der Tiefe des Unbewußten unvermittelt auffteigende 
Geifteöblajen bilden und erheben fick anderd aus ihrer Brut⸗ 
ftätte im Gehirn, als wenn irgendwie, anbeachtet, und oft une 
auffindbar, eine natürliche Urſache fie erwedt oder ihre Bahn 
geglättet bat. Nach beftimmten natürlichen Gefeen, 3. B. nad 
den Beziehungen der Achnlichkeit, Gleichzeitigleit, des Gegen⸗ 
ſatzes, der Cauſalität u. f. w. erweden ſich gegenjeitig bie 
ichlummernden Erinnerungen und Borftellungen wie im bewußten 
Wachen und Nachdenken, fo auch im Zraum. 

Nur ſcheinbar ift die Emancipation des Traumes von den 
Geſetzen des Geiftes. Man meint wohl Dinge im Traum erlebt 
zu haben, von denen man feine Ahnung hatte, fremdartig und 
ungefehen. Aber plaudert nicht aud ein Kind Dinge und ganze 
Geſchichten, daß man flaunt und fragt: wie kommt das Kind 


(853) 


22 


dazu! Was ed Niemand gelehrt, hat es irgend einmal unbeachtet 
und zufällig aufgeichnappt umd bat ed unverftanden behalten 
und mit feiner Phantafle verändert. — 

Es fällt uns die lodere Zügung, die ungereimte Verbindung 
ber Traumporftellungen auf. Als ob man im Wachen immer 
fo verſtändig wäre, ald man fein möchte und zu fein vermeint! 
Fahren und nit auch in voller Nüchternheit und Klarheit, 
jelbft beim ernſthaften Nachdenken, zuweilen abſurde, anfcheinend 
unvermittelte Einfälle durch den Kopf? Iſt nicht überhaupt das 
aufmerffame Nachdenken eine eingeübte Kunft, ein Triumph der 
Geiftesbildung über die natürliche Zerftreutheit, über die Inan⸗ 
ſpruchnahme des Gehirns durch jeden nächften beften Eindrud? 

Anderjeit3 giebt ed ganz verftändige Träume Wem ift ed 
noch nicht palfirt, dag fi} die Ereignifie ded Tages im Traum 
jo fortipannen, wie fie fich wirflih nachher entwidelten oder 
entwideln konnten, oder daß man glaubt etwad gejagt, gethan 
zu haben, und bat ed nur geträumt!t1) 

Der Traum des Gereiften ift inhaltlich im Allgemeinen ein 
anderer, mehr reflectirender, als der mehr plaftiiche und phantafie⸗ 
beflügelte Traum der Sugend; auch fo fptegelt fih alfo im 
Traum die Denkweiſe des Wachenden, 

Die finnlihe Unmittelbarkeit und Körperlichleit der Traum» 
vorftellungen aber hat ihre Analogie im Geiftesleben phantaſie⸗ 
voller Dichternaturen. 

Wir fehen aljo, dab der Traum mit denjelben Elementen 
und mit denjelben Kräften, mit Vorftellungen und deren natür⸗ 
licher gejeumäßiger Reproduction arbeitet, die auch im Wachen 
thätig find. 

Aber das Bewußtſein des Traumes ift ein anderes ald 
das des Wachend, und hierin liegt dad Bejondere bed Traumes 
und der Weg zu feiner Erflärung. 


Das Traumbewußtfein acceptirt Eritillos einen inne» 
(854) 


28 


- ren Zufammenhang feiner gleichzeitigen Vorftellungen; 
ihm feblt der einheitliche Mittelpunkt und dad verbindende und 
fichtende Intereſſe. Eine urſächliche oder zeitliche Folge und 
Beziehung jcheint dem Träumenden da vorhanden zu fein, wo 
feine iſt. Der Wachende verfcheucht die ihm unmwillfürlich kom⸗ 
menden Einfälle, die feinen bewußten Gedankengang Treuzen, 
der Träumende verwebt bie Fäden ſich Freuzender, fidh fremder 
Borftelungsreihen planlos zum buntgemufterten geſchmackloſen 
Zeppih. Allee Maaß der Größe und der Zeit ift dem Träu- 
menden entrüdt. Er Tennt nie Wahrfcheinlichkett, jondern nur 
unmittelbare Gewißheit des augenbliclichen Traumbildes. 

Im Traumbewußtſein bleiben ferner die Träume nicht haften. 
Dad Wirkliche wird aus dem Wachen in den Traum, nidt 
aber ebenfo deutlich da8 Beträumte aus dem Traum in das 
wache Bewußtſein hinübergenommen. Ein Traum, den man 
fih nicht gleich nah dem Erwachen aus feinen Umriffen wieder 
zufammenlonftruirt, tft für die fpätere Erinnerung verloren 
und wa8 im Traum und feflelte, ängftigte, entzüdte, ift nach 
dem Erwachen aldbald und fremd, unverftändli und gleich 
giltig. Die Träume des erften und natürlich tiefften Schlafes 
werden faft immer vergeſſen, falls man’ nicht erweckt wird, fo 
lang fie no im Gehirn nachklingen. Was wir Morgens noch 
willen, find die Träume des dem Erwachen allmählig entgegen- 
gehenden Morgenfchlafes, der begreiflicherweife die bevorzugte 
Zeit des Zraumlebens, dieſes Mittelgliedes zwilchen Schlaf und 
Wachen if. Die fehlende Erinnerung des Traumes iſt jo an- 
erkannt, daß man ftreiten Tonnte, ob es überhaupt einen traum⸗ 
Iofen Schlaf giebt, der mir fiher, aber jelten ſcheint.12) 

Es fehlt und auch für diefe Schwächen des Traumbewußt⸗ 
jeind, für da8 Fehlen der Kritil und der Erinnerung 
nicht an Analogien im Wachen. 

Der findliche Geift entbehrt gerade fo der Kritik, ſtoͤßt fich 


(855) 


24 


nicht an den Unmöglichleiten der Märchen, an den Uebertreibun- 
gen des Strumelpeter, fabulirt im Koloffalen — ähnlich wie der 
Träumende. Auch der Erwachſene läßt fih noch in einer leicht- 
gläubigen Stunde in ben April ſchicken und was ift die Faſt⸗ 
nacht als ein Heft des grotesken Unfinns, beftenfalls durch Wit 
und Eleganz verbrämt. — Anderfeitd fehen wir, daß, was nicht 
mit Aufmerkſamkeit erfaßt ift, nicht im bewußten Gedächtniß 
haftet — und gerade die bewußte Aufmerkſamkeit fehlt ja dem 
Traum. 

Durch diefe Vorbilder im Wachen weift fi) das Traum⸗ 
bewußtjein aus lediglich als eine geringermerthige Geiftesthätig. 
feit, der e8 an Ordnung und verftandeömäßiger Prüfung gebricht. 

Im Traum ift alfo nicht etwas Neues vorhanden, was im 
Wachen nicht eriftirt, fondern es fehlt nur die Vervollkommnung, 
die die wache, vernünftige Geiftesthätigkeit beſitzt, fie beherrſcht 
und zügelt. 

Im Wachen koͤnnen wir die Gedanken auf Beſtimmtes 
richten, im Traum tummeln fich die Borftellungen ungebunden. 
Das wache Denken bewegt ſich in Begriffen und Erfahrung, im 
Traum werden lebendig deren Wurzeln und Glieder, innere 
Sinnederregungen, die nur in die Außenwelt projichrt werden. 

Das wahe Bewußtfein hat zur Verfügung ſeines Denkens 
den ganzen Schag gejammelter Borftellungen Srfahrungen 
und Crinnerungen und darauf beruhend das Vermögen ber 
gegenjeitigen Berichtigung und verflandesmäßigen Verbindung 
der Borftelungen. Im Zraum aber fchiehen einzelne Bor» 
ftellungen auf, fügen ſich Ketten von Borftellungen zufammen 
und gruppiren fi, ohne durch ben Gejammtgeiftesinhalt der 
vorhandenen Bildungsftufe regulirt umd corrigirt zu werben. 

Im Traum erklingen nur einzelne Taften und Accorde und 
Takte aud dem SInftrument, dem bad wache Bewußtſein Melodie 


und Harmonie entlodt. 
(856) 


25 


Drei Urſachen find ed, bie die Saiten bed fchlafenden 
Gehirns ertönen laffen, Träume erzeugend. Träume entftehen 

1. nad) dem Gele der Nachbilder, 

2. durch Nervenreize, Die vom eigenen Körper ausgehen, 

3. durdy Erregungen von Sinneönerven. 

Erftens nah dem Geſetz der Nahbilder Man 
kennt die Erſcheinung, daß das von ber Sonne geblendete 
Ange beim Abwenden und Schließen einen jchwarzen Fleck fieht 
und daß, wenn man bei Betrachtung greller Gegenftände bie 
Angen jchließt, die Umriffe des gejehenen Gegenftandes vor 
den Augen in abwechſelnd gleicher und contraftirender Färbung 
eriheinen. So hat das Auge nad) Ermüdung durch jattes 
Roth beim Augenſchluß einen grünen Schein, dem Roth folgt. 
Das find die Nachbilder, beruhend auf dem Nachklingen einer 
ftarfen Reizung in der nervöſen Subftanz. | 

Wir kennen ferner dad Nachklingen von Tönen und Melodien 
nach ermüdendem Anhören von Mufil. 

So Mlingen aud im Traum Bilder und Vorftellungen, die 
am Zag und lebhaft beicäftigten, nad. Vergleichbar jenen 
Leuchtfarben, Subftanzen, die Tags über dem Licht ausgeſetzt, 
Nachts Licht ausftrahlen, verfinten die ſtark erregten Gehirns 
theile nicht unmittelbar in Ruhe, fondern bleiben einzeln in 
Erregung, wenn Schlaf das Gehirn umfangen fol. Aber nicht 
bloß die gleiche Vorftelung, fondern wie die complementäre 
Farbe im Auge, erheben fih im Schlaf audy Bilder und Träume, 
die durch die entgegengejebte Stimmung gefärbt find. Der 
Bekümmerte träumt fo oft tröftliche freudige Träume, und der 
Slüdliche ift nicht vor bangen Träumen ficher. 

Zweitend verurfahen Zuftände ded Körpers Traum⸗ 
zuftände. Wie im Wachen dad Befinden bed Körperd freubige 
oder gedrüdte Stimmung erzeugt, jo färben fie auch den Traum 
tofig oder ſchwarz. Man fagt, daß der Traum des Fliegen 


(357) 


26 


entftehe durch befonders leichte Athmung. Sicher tft, daß er- 
fchwerte Athmung "bange räume von Hinderniffen und von 
athemlofen lieben vor Gefahr und Feinden, daß eine ſchwere 
Abendmahlzeit Angitträume mit Alpdrüden und Furcht erzeugen. 
Häufig find ſchwere Träume unter den Vorboten von Krank 
beiten. — Ebenfo wirken vom Blut aus traumerregend alle 
Nervengifte und geiftigen Getränke, deren Natur auch den Cha- 
rafter der Träume beftimmt. Es find anjcheinend bejonders die 
von Körperzuftänden aus erwedten Träume, die dad Sprechen 
im Traum oder andere Bewegungen, 3. B. Aufiteben, mit fi 
bringen, ohne dab barum der Traum bezw. Schlaf bejonders 
tief zu fein braucht. — Auch die Träume der Hausthiere gehören 
wohl wejentlich dahin. 

Drittens erweden die im Schlaf einwirlenden Nerven» 
erregungen und Empfindungen, die nicht ſtark genug find, 
und zu weden, Vorftellungen im Traum, die mit der Empfin- 
dung eine Beziehung haben. Ein alter Luftzug, der die Glieder 
trifft, erwedt die Traumvorftellung, daß man fn kaltes Waſſer 
gefallen, unbequeme Lage macht und träumen von Ballen aus 
der Höhe, dad Geräufch der Uhr wird im Träumen zur Mufit, 
Anreden ded Träumenden wird für diefen zu einem Dialog, 
Berührung zu einem Streit u. f. w. 

Auf diefen 3 Wegen findet die Erregung ded Gehirns, oder 
vielmehr einzelner Plätze und Inſeln des fchlafenden Gehirns 1°) 
ftatt, in der der Traum beftebt. Die jo entitandenen Traum⸗ 
vorftelnngen haben zunächft noch eine Beziehung zu dem Aus⸗ 
gangspuntt, je nachdem Ohr oder Gefühl erregt waren. Aber 
an dad, was man im Traum zuerft fieht oder hört oder fühlt, 
ſchließt fich eine ganze Gedichte; der Schmerz einer Bunde 
wird im Traum zum Biß eined Thieres, eines Hundes, daraus 
werden viele Hunde, Löwen, Ungethüme, eine Jagdgeſchichte 


mit Jagdgeſellſchaft, Schießen, Donner, Krieg und Brand. Die 
(258) 


27 


Weitläufigkeit und dad Gewirr der Traumbilder erklärt fih um 
io eher, als gleichzeitig jene drei Faktoren, Körperzuftände und 
Nervenerregungen nnd Grmübung des Gehirns, je für fid 
Träume probduciren Tönnen, die fich verjchmelzen. 

Durch die Entftehung aus Förperlichen Empfindungen, die dem 
wachen Bemwußtjein als Unbehagen, ald Berührung des eigenen 
Körperd erfcheinen würde, erflärt fich, das die Träume immer 
jubjectiv find. Die eigene Perfon ift immer im Traum im 
Vordergrund, geniehend, leidend, handelnd; um die eigene Perjon 
dreht fih Alles im Traum, unbetheiligter Zuſchauer iſt man 
wohl niemals. 

Wenn man mitten aus dem Traum erwacht, was wohl 
Immer in Affekt, meift in Angft und Noth, . eintritt, fo tft es 
nicht der Inhalt des Traumes, der und wedt, ſondern wir er- 
wachen, weil der Törperliche Reiz, der den Schlaf erzeugt, jo 
ftar? wurde, daf er den Schlaf unterbridht. Aus der Förperlichen 
fortbeftehenden Urſache des Träumens erflärt fich ferner, daß ähn⸗ 
liche Träume fich wiederholen, und daß ein durch Erwachen ab» 
gebrochener Traum nach dem Wiedereinſchlafen fortgejponnen 
werden kann. 

Ungeorbnet find die Vorſtellungen des Traumes, fich zu 
Bildern gruppirend ohne höhere leitende Idee und zuſammen⸗ 
wirlende Gemeinſamkeit. Man hat die eigenthümliche Beobach⸗ 
tung gemadjt, dab die Augen im Schlaf ihr Zujammengehen 
verloren haben.10) Oft bewegen fit) im Schlaf die Augen, 
das eine nad) rechts, dad andere nach oben, nach links und 
unten, die Augen, Die doch im Wachen ftetd gemeinfam fih auf 
dafjelbe Ziel des Blickes richten, die im Wachen gar nicht anders 
konnen. 

Der Schlaf loͤft das Zuſammenwirken dieſer Zwillings⸗ 
organe zur gemeinſamen Thätigkeit — fo löft er da8 Vermögen 
bed Gehirns zu finnvoller Zufammenfaflung feiner Fähigkeiten, 


die einzeln erhalten und im Traume thätig find. 
. (859) 


28 


Nur in diefer zufammenfafjenden, beberrichenden Fähigkeit 
des Gehirns ift das Bewußtſein möglidh; was aber daß 
Bewußtſein ift, willen wir darum noch nicht und müflen und 
beicheiben. 

Nur feinen Gejehen im Wachen und Traum koͤnnen wir 
nachgehen, ſein Weſen bleibt uns ewig verhüllt. 


29 


Anmerkungen. 


1) Interefſante und reichhaltige Mittheilungen über philoſophiſche 
Spekulationen binfichtlich des Seelenlebens im Schlaf und Traum, fowie 
über allerlei Volksglauben enthält: Radeftock, Schlaf und Traum, Leipzig 
1879. — Bergl. auch Siebe, Das Traumleben der Seele, dieſe 
Sammlung Heft 279, XII. Serie, 1877. 

2) Sür den diefen Fragen ferner ftehenden Leſer muß ich wohl 
etwas näher auf bie Wege ber naturmiffenfchaftlichen Beobachtung und 
Erforſchung pſychiſcher Vorgänge eingehen. Die Phyfiologie Iehrt uns 
kennen die Vorgänge bei Srregung der Sinnesorgane und die Eigen- 
jchaften bes Gentralnervenjufteme, worunter von fundamentaler Wichtig. 
feit bie ift, daß die Erregung von jenfibeln und Sinneönerven bie Thätig- 
feit anderer nernöfer Apparate in gefegmäßiger Weile erregend ober 
hemmend beeinflußt; ferner die Bedingungen ber Sunktionsfähigfeit des 
Gehirns und Nervenſyſtems. Die Pfſychophyſik erforfcht die Gefehe der 
elementaren pſychiſchen Vorgänge mittelft Zeitmeffung und Rechnung, 
bie Abhängigkeit der piychiichen Wahrnehmung und Combination von 
Zuftänden des Gehirns (Ruhe, Ermüdung u. ſ. w.). Dieje Wiffen- 
ſchaften bedürfen des Experimentes d. h. der künſtlichen Herftellung ein- 
facher Bedingungen zur Prüfung von Urfadhe und Wirkung Ob bei 
feinen Unterfuchungen der Phyfiologe zu Viviſektionen fchreiten muß, ob 
im der Pfiychophufit den Bedingungen beifpielsweife nachgeforſcht wird, 
unter denen -faljche Urtheile über Sinneseinvrüde durch deren raſche Folge, 
Wechſel oder Sombination entftehen, ober unter denen beim Schlafenden 
and Sinneserregungen Traumvorftellungen erweckt werben —: ob ferner 
in ber Pharmakologie die Wirkungsweife und die fpecifiichen Eigenfchaften 
eines narkotiſchen Mitteld auf die Gehimthätigfeit und das Nervenſyſtem 
beim Menihen und Thiere ftudirt wird; — ſtets handelt es ſich beim 
Erperiment darum, beitimmte complictrte Erſcheinungen, bier ſpeciell in 
piychiſchem Gebiet, zu zerglievern, ihre Elemente rein und unabhängig, 
von Nebeneinflüfien darzuftellen. Andere Wege der naturwifjenichaftlichen 
Erforſchung des Seelenlebens bieten die geiftige Entwidlung des Kindes, 
die Beobachtung der Geiftesfähigkeiten der Thiere, die vergleichende 
Anthropologie, ferner die Pathologie des Gehirns und die Geiftesftörun. 
gen, und jchlieglich eine Tritifch geleuterte Selbftbeobachtung. 

3) Die berühmte Rede du Bois Reymond's (1872) „Ueber bie 
Grenzen des Naturerkennens“, (und die fpätere: Die fieben Welträthjel) 
präcifirte zuerft fcharf dieſes Verhältnig. Bergl. auch Samt: Die natur“ 
wifſenſchaftliche Methode in ber Piuchiatrie, Berlin 1874. 

(861) 


= 


30 


4) Dat au Nachts gewiffe Stoffwechjelvorgänge (mit Ausnahme 
der an das Chlorophyll gebimdenen) in der lebenden Pflanze vor fi 
gehen, darauf kommt es bier jo wenig an wie darauf, daß unter künſt⸗ 
lichen Bedingungen, im Xreibhaus und im elektriſchen Licht, die Pflanze 
auch außerhalb der natürlihen Wachsthumszeit gedeiht; denn es handelt 
fi bier nur um das Princip der Periobicität in allgemeinen Zügen. 

5) Die Athmungsfrequenz ſinkt im Schlaf von 20 auf 15 in ber 
Minute, die Pulsfrequenz von 70 auf 60 (Martin). Die Athenzüge 
werben im Schlaf tiefer; im Schlaf wird mehr Koblenfäure abgegeben 
und mehr Sauerftoff aufgenommen ald im Wachen. Bon ber in 
24 Stunden ausgeathmeten Kohlenfäuremenge kommen nach Pettenkofer 
und Voit 58°/, auf die 12 Tages und 42°/, auf die 10 Nachtflunden, 
während von dem aufgenommenen Sauerftoff 33°/, auf den Tag, 67°/, auf 
die Nacht fallen. Die Wärmeerzeugung ift vermindert, bie Eigenwärme in 
der zweiten Hälfte der Nacht am niebrigften innerhalb 24 Stunden; auch 
die Fähigkeit die Cigenwärme zu behaupten ſcheint Nachts herabgejeßt 
und baber eine gefteigerte Dispofition zu Erkältungen vorhanden zu fein. 

6) Strümpell, Archiv für die geſ. Phyfiologie XV. und Wiener 
Mer. Ztg. 1877. Dem Unglüdlichen mangelten alle Sinnes- und Mustel- 
empfindungen, unb nur durch das rechte Auge und linke Ohr ftand er 
noch mit der Außenwelt in Verbindung. Verſchloß man dieſe Organe, 
fo fchlief er ein. — 

Ueberhaupt fchlafen geiftig unthätige Menjchen bei äußerer Ruhe 
zuweilen ein. Henkel bewies dafjelbe bei Fröſchen umd Voeln (Archiv 
für die geſ. Phyſiol. XIV.). 

7) Vergl. Anm. 5. Betreffs des näheren Geſchehens entwickelte 
Preyer (Ueber die Urſachen des Schlafes. Stuttgart 1877) die Theorie, 
daß im wachen und thätigen Zuſtande der Organe leicht oxydable „Er⸗ 
müdungsftoffe“ ſich bilden; indem dieſe den Sauerftoff an ſich reißen, 
entbehren ihn die Gewebe, fpeciell das Gehirn, und fo trete Schlaf ein, 
während defien diefe Stoffe orybirt und entfernt werben. Unter dieſe 
Grmübungsftoffe rechnet er beſonders Mildyfäure; darauf beruht bie 
nicht bewährte Empfehlung diefer ald Schlafmittel. — Tief durchdacht 
und geiftreich ift die Theorie Pflügerd über das Leben und den Schlaf. 
(Ueber die phufiol. Verbrennung in den lebenden Organismen. Arch. f. 
die gef. Phyfiol. X. 1875.) Die Leiftungen der Organe werben durch 
die Diffociation der Iebendigen Materte, durch den Webergang potentieller 
Energie in intramoleluläre Wärme der neugebilbeten Kohlenſäuremoleküle 
bedingt, die durch ihre „Erplofionen” fortwährend neuen Anftop zu 
Vibrationen und Beränderungen der Atome geben. Das reichlihe Vor⸗ 
handenſein intramolefularen disponibeln Sauerftoff3 tft Daher die Grund⸗ 

(362) 


31 


bedingung für die Organthätigkeit, beim Gehirn für das Wachen. Im 
Wachen und Thätigkeit ſinkt durch Mehrverbrauch bie Sauerſtoffſpannung 
unter ein zur Aktivität nöthiges mittleres Maaß (Ermüdung, ein Maaß, 
das bei genügendem Reiz zur Thätigkeit immerhin noch ausreicht), im 
Schlaf erſetzen die lebendigen Moleküle ihren Verluft an Sauerftoff wie 
au oxydirbarer Subftanz. 

8) Diefe Frage beſpricht auch u. U. Loge: Mediziniſche Piychologie 
S. 467, und Wundt, Phyſiol. Piychol. II. 460. Die von mir gegebene 
Antwort ift meines Wiſſens neu; fie fteht in beiter Uebereinftimmung 
mit der Pflügerfchen Theorie, ift indeß bevor mir dieſe befannt war, 
gegeben. Es ftimmt mit andern Thatfachen der Phyfiologie und mit 
der Erfahrung überein, daß Ermüdung der Organe und Schlaf nicht 
der Ausdruck ift für den Verbrauch der vorher vorhandenen Kraft, jon- 
dern für das Herabgehen auf ein gewifjes mittleres Maaß. Diefes 
Maaß ift offenbar für das Gehim und Nervenſyftem nicht ein kon⸗ 
ftantes, fondern von äußern Reizen und von Gewöhnung und individuellen 
Verſchiedenheiten abhaängiges. 

9) Erſcheinungen und Deutung deſſen was Mesmer (1775) als 
tbierifchen Magnetismus ausgab und was neuerdings Hypnotismus ges 
wöhnlich genannt wird, find fett allen Zeiten Gegenitand bes Volksaber⸗ 
glaubens an geheimnißvolle Kräfte einzelner Perfonen geweien. Seit 
unter der geihidten Mache Mesmer's (Mesmerismus) die Sache tn ber 
Medicin und im Publicum weitgehende Wellen jchlug, wußten periodiſch 
und mit immer neuen Arrangements verfchiedene geichicte Magnetifeure 
die Aufmerkfamfeit auf fih und die Sache zu lenken, (Gſcheidlen, bie 
Erſcheinungen des jogenannten thierijhen Magnetismus, Augsb. Allg. 
Ztg. 1880, 94 ff.), zulegt 1880 Hanfen; beffen befannte Produktionen 
gaben den Anftoß zu erakt wifjenfchaftlicher Prüfung der Erſcheinungen 
und ihrer Entftehung durch Heidenhain (der thierijhe Magnetismus 
1880), Weinhold (Hypnotifhe Verſuche 1880), Rieger (Der Hypnotis- 
mus 1884), Zamburini (Oypnotismus 1885) u. A., nachdem Preyer 
1878 (Die Kataplerie und ber thieriſche Hypnotismus) die analogen 
Erſcheinungen bei Thieren unterfuht. Das Hypnotifiren ift feine fpe- 
eifijche Fähigkeit und Kraft, nur das Geſchick dazu ift individuell ver- 
ſchieden, wie auch die Empfänglichfeit der zu Hypnotifirenden. Bei ber 
Complicirtheit der in Betracht kommenden Berhältniffe ift unfer Wiſſen 
über dieje Erſcheinungen immerhin ein Iüdenhaftes, aber Die Grundzüge 
der Erklärung ftehen feft, und alle muftifchen Deutungen, an denen es 
auch nicht gefehlt, fint gegenftanbalos. 

10) Freusberg: Die Sinnestäufchungen im Hanfraufh. Ztſchr. f. 
Pſychiatrie, 34. Br. 


(363) 


32 


11) Dies ift auch ein Erflärungdgrund für prophetifche Träume. 
Es werden überrafchende Uebereinftimmung von Träumen mit ber fid 
erft gleichzeitig oder fpäter entwidelnden Wirflichkeit 3. B. Todes und 
Unglüdsfällen glaubwürdig erzählt. — Eindrüde, Nachrichten, auch Be 
fürdätungen, denen man vielleicht in ber Stimmung und der Thatigkeit 
des Tages Tein Gewicht beilegte, werden ba im Traum reprobucirt unb 
plaſtiſch ausgeſchmückt und weitergebildet. Geſchieht dieſe Weiterbildung 
in einer Weiſe, die mit wirklichem Geſchehen Berührungspunkte und 
Achnlichkeit bat, jo wird ber Traum leichter behalten und wird dann, 
was nur ein überrafchender Zufall ift, für eine Prophezeihung genommen, 
Wie viel häufiger find daneben barode und deshalb nicht in der Erinne⸗ 
rung haftende Zulimftsträume. — Ueber prophetiiche Tränme |. Siebeck, 
Das Traumleben der Seele, diefe Sammlung Heft 279. 

12) Strümpell: Die Natur und Entftehung der Träume, Leipzig 
1874. — Beim Culturmenſchen werben felten die Bedingungen voll» 
ftändig fehlen, die wir als traumerzeugende Tennen lernen werben. 

13) Binz: Ueber den Traum, Bonn 1878, betont bie inſelweiſe 
Erregung des Gehirns im Traum. 

Mehr über die Entftehung der Träume, mit Literaturangabe, ſ. bei 
Radeftock's und Strümpell's citirten Schriften und Wundt, phyfiologiſche 
Pſychologie. 

14) Witkowsky und Rählmann: Arch. f. Pſychiatrie XI. Nener- 
dings bat auch Witkowsky die Bewegungserſcheinungen an den Augen 
und Pupillen in nähere Beziehung zum Träumen gebracht (Neurol. 
Gtrbl. 1884, ©. 512.) in gleicher Weiſe, wie es in biefem im April 
1883 gehaltenen Vortrag geſchieht. — 


Druck von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17a. 


Bon dem neuen XIV. Iahrgange (1885) von: 





N fen ut Kenninih de. 
«\ 


2) 
gs In Verbindung mit U 

Prof. Dr. v. Aluckhohn, Redacteur A. Lammerz, 
Prof. Dr. 3.6. Meyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


herausgegeben von 
Franz von Holtzendorff. 
Heft 209— 224 umfalfend (im Abonnement jedes Heft ını 75 Pfennige) 


find ausgegeben: 
Heft 209. Preufß; (Berlin), Deutihland und fein Reichöfanzler gegenhber dem 
Geiſte umjerer Zeit. 
. 210. Zittel (Karlsruhe), Die Reviſion der Lutherbibel. 
„ 211. Thun, (Breiburg t. Baden), Bilder aus der ruffiihen Revolution (Fürft 
Krapotkin, Stephanowitih, Sceljäbow). 
„ 212. Sartorius v. Waltershaufen (Göttingen), Die Zukunft des Deutſch⸗ 
thums in den Vereinigten Staaten von Amerika. 
„ 213/214. Staudinger (Worms), Die evangeliiche Freiheit wider den 
Materialismus des Bekenntnißglaubens. 
„ 215. Eggers (Berlin), Kland Groth und die plattdeutiche Dichtung. 
„ 216. Schönborn (Breslau), Das höhere Unterrichtöwejen in der Gegenwart, 
„ 217. Serzog (Wettingen), Dad Referendum in der Schweiz. 


Herner werden nad) und nach, vorbehaltlich etwaiger Abänderungen im Ein: 
zelnen, folgende Beiträge veröffentlicht werden: 
Hatel (Münden), Die praktifhe Bedeutung der Handeldgeographte. 
v. Surafchet, F., Nationalitäten und Spracdenverbältnifie in Oeſterreich. 
Finkelnburg (Bonn), Die Cholera-Duarantaine. 
v. HSolgendorff (Münden), Staatömoral und Privatmoral. 
Jodl (Münden), Volkswirthſchaftslehre und Ethik. 
Haushofer (Münden), Kleinhandel und Großinduſtrie. 
v. Orelli (Züri), Der internationale Schuß des Urheberrechts. 
Fuld (Mainz), Das rüdfällige Verbrecherthum. 
Kirchner (Berlin), Ueber den Zufall. 
van Swinderen (Groningen), Proftitnution und Mädchenhandel. 
Stewert (Kiel), Die Lage unjerer Seeleute. 
Pohl (Mödling), Juſtus von Liebig und die landwirthſchaftliche Lehre. 
Sende (Sera), Schnie und Bollöwirtbichaft. 
Meyer, 3. B. (Bonn), Ueber den Religions⸗Unterricht in der Schule. 
Beil (Münden), Die Zahnheillunde und der Werth der Zähne für die Volke: 


geiundheitäpflege. 





In den früheren Serien der ‚Sammlung ’’ eriäienen: 


Phyfiologie. 


(24 Hefte, wenn auf einmal bezogen à 50 Pf. = 12 Mark) 
Bresgen, Das menſchliche Stimm: u. SprachOrgan. Mit 14Holzſchn. 


(331). .................. M. 1.— 
Fick, Der Kreislauf des Blutes. Mit Holzſchnitten. (149) ...... 75 
—, Ueber dad Weſen der Mustelarbeit. (273)... .. . eine. 75 
Hoppe⸗Seyler, Weber die Quellen der Lebenskräfte. 2. Aufl. (138). . . . 60 
Jenſen, Träumen und Denken. 2. Aufl. (139) . 2.222000. 75 
—, Thun und Handeln. (304). 2 2 2 000 nr ern 75 
Kollmann, Slementared Leben. (423). - 2222er nee 75 
Leyden, E. Ueber die Siuneswahrnehmungen. 2. Aufl. (63)... ... 60 
Magnus, Gehör und Sprache. (BI). - . ver nnen ... 7 
—, Ueber ethnologiſche Unterfuchungen des Farbenfinned. (420)... .. » 80 
Meyer, ©. Herm., Ueber Sinnestänfhungen. 2. Aufl. (DD)... 2... 7% 
—, Die Entftehbung unferer Bewegungen. (59). - 0... ve... 60 
—, Dad Sehen und ver Blil. (402)... 2: 2:2 rer rennen 80 

—, Stimm: und Spradbildung. 2. Anfl. (128). -.. 2.2. 60 
—, Die Bedeutung des AthmnungsProzefſes Für das Leben des wienſcher 

Organismus. (448x.ææ 60 
Nagel, Der Farbenſinn. Mit 1 Holzſchnitt. (7ä59....... .... 60 
Preyer, Ueber Empfindungen. 2. Abz. (39)). . 75 
Salkowski, Ueber das Fleiſch als Nahrungsmittel. (216). . . . . . M. 1.— 
Schmidt, Ueber die allmälige Entwidelnng des ſinnlichen Unteriheidungs: 

vermögensd d. Menſchheit. (285) - - 2220 rennen 60 
Strämpell, Die zeitliche Aufeinanderfolge der Gedanken. (143). . . . . 75 
Virchow, Weber Nahrungs: und Genußmittel. 2. Aufl. (48)... .. . 80 
Wendt, Sinneswahrnehmungen und Sinnestänfchungen. (166) . . . . . 60 
v. Wittich, Ueber die Schnelligkeit unfered Empfindens und Wollend, (50) 60 
Wolff, Die Mechanik des Riechens. (289) - - » . 75 


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— — — — 








Gincomo Leopardi, 


Bortrag, 


gehalten am 3. Mai 1884 im Verein der Lehrer an ben höheren 
Staatöichulen in Hamburg 


von 


Dr. 4 Iſcheqh, 


Profefſor am Realgymnaflum des Johanneums in Hamburg. 


GH 





L 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel, 


(C. 6. Lüdrritg'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Rilhelm-E traße 33. 


Das Recht ber Ueberjegung tn fremde Spracden wird vorbehalten. 


Zweien ausgezeichneten Gelehrten Deutſchlands hat es 
Giacomo Leopardi zu verdanken, daß fein Name im Norden 
ber Alpen oft und viel genannt worden ift: Niebuhr und 
Bunſen, ihm perjönlidy befreundet, haben auf die ungewoͤhn⸗ 
lihe Begabung, die fie in den philologifchen Studien feiner 
Sugendzeit erkannten, in Briefen und Werken mehrfach bin- 
gewiefen, und von beiden ift befannt, daß fie bemüht geweſen 
find, ihm nicht bloß in Italien, fondern fogar in ihrem Bater- 
lande eine Anftellung zu verſchaffen, damit er für feine Gelehr⸗ 
ſamkeit das geeignete Feld zu geregelter Wirkſamkeit fände. 

Mehr noch haben feine Dichtungen wegen ihres ernften 
Inhalts, ihrer muftergiltigen Form und des hohen Schwunges 
der Sprache bei und Auflang gefunden, und wieder ift es das 
Berbienft zweier ausgezeichneten Literaten, daß diejer Antheil 
ein bleibender in Deutichland fein wird. Beide, Guftav 
Brandes und Paul Heyje haben durch treffliche Uebertragun⸗ 
gen Leopardi's Poefleen bei und eingebürgert, und namentlich 
der leßtere ift mit gewohnter Meifterfchaft dem Driginale gerecht 
geworben. 

Die jchwermüthige Stimmung aber, welche dem jungen, 
frühnerftorbenen Dichter die wehmuthuollen Klagen über die 
Leiden und die Ziellofigkeit des irdiſchen Dajeins eingab, mußte 
diejenigen beſonders anziehen, die jelbft, auf dem Grunde pelfi- 
miftifher Weltanſchauung ftehend, in dem Weſen der Dinge 
nur die Täuſchung und das Uebel erkennen. Sie haben Xeo- 


XX. 467. 1* (367) 


4 


pardi zu dem Ihrigen gemacht und fich feines Beiſpiels be» 
dient, weil ihm das, wad ihnen als Denkern unumſtößlich 
erſcheint, im dichteriicher Form und Sprache, fo tief ergreifend 
zu äußern vergönnt war, und fo iſt Leopardi noch von einer 
dritten Seite ber, durh Schopenhauer und von Hart» 
mann, in Deutichland eingeführt worden. 

Drei mächtige Antriebe alfo lagen vor, um deren willen 
Leopardi's literariſche Erjcheinung den Gebildeten der deutſchen 
Nation anziehend geworden iſt: fein Lebend- und Entwicklungs⸗ 
gang, inbeiondere der Kreis. und die Art feiner gelehrten Stu- 
bien, ferner die herrliche Schönheit feiner Dichtungen, aus⸗ 
geprägt in den bezaubernden Rhythmen der edlen und wohl» 
flingenden Sprache feines Volles, dazu der tiefe Weltſchmerz, 
der in dem erften jeinen Urfprung hat und in den Liedern, wie 
in feinen Dialogen zu vollem Erguffe gelangt. 

Bei aller Bewunderung, weldye ibm durch feine Lands⸗ 
leute gezollt wird, bat Leopardi dennoch gerade in Stalien 
eine Beurtbeilung erfahren, die man einem wahrhaft großen 
Manne niemals wünfchen möchte, 

Einmal tragen die meiſten Veröffentlihungen über ihn zu 
ſehr die Farbe der Parteiftelung an der Stine: haben ihn 
die Klerifalen überall verdächtigt, feine Aufrichtigkeit in Zweifel 
gezogen und namentlich das Verhältniß zu feiner Kamille zum 
Gegenſtand unliebjamer Erörterungen gemacht, fo haben ihn 
die Anhänger einer freieren Richtung dagegen in den Himmel 
erhoben, manche Seiten an ihm bei weitem überichäßt, und bet 
dem trüben Schickſale des Dichters hat ed nicht an bittern Vor» 
würfen gegen die gefehlt, welchen man die Hauptihuld daran 
beimefjen zu müflen glaubte. Weil man aber zur Begründung 
diefer Meinungen und Behauptungen nöthig fand, in das kleinſte 
Detail binabzufteigen, jo erfolgte meiſtens eine Behandlungs: 


(368) 


5 


weije, die durch Streit und Widerftreit dem Kleinen und Ein» 
zelnen eine ihm nicht gebührende Wichtigkeit beilegt und den 
reinen Genuß, wie ihn die Daritellung von dem Leben und 
der Wirkſamkeit eined bedeutenden Mannes gewähren kann und 
fol, beeinträchtigt. Wir Deutfche nehmen dem großen Dich» 
ter gegenüber eine günftigere Stellung ein: deun uns erfcheinen 
jene Gegenſätze aus der Kerne mehr ald Elemente feiner Um» 
gebnug, weldye auf die Entwidlung feiner Perjönlichkeit be» 
flimmenden Einfluß gehabt haben und deren eigenartige Rich 
tung erflärlih machen, und weil wir felbft au den Partei« 
meinungen, welche heute ftrenge verurtheilend über ihn zu Ge⸗ 
richt fiben oder mit Bewunderung preifend laut das Wort 
führen, nicht ummittelbaren Antbeil zu nehmen brandyen, des⸗ 
halb wird unjer Urtheil überall leivenichaftölofer ausfallen können, 
und der aus feinen Erlebnijfen, feinem Dichten und Denten 
gezogene geiftige Gewinn wird und durch Feine außerhalb bes 
Gegenftandes liegenden Nebenrüdfichten getrübt. 

Leopardi’s Frühefte Kindheit gehört der Zeit napoleontfcher 
Fremdherrſchaft in Stalien an, während feine reifer werbende 
Jugend ihre Eindrüde in der darauf folgenden Periode der 
Reftanration empfängt, und aus den Berichten über die letztere 
erfahren wir, welcher Zwieſpalt der Gefinnungen durch den 
raſchen Wechſel der politiichen Creigniffe in das Innere der 
Samilien felbft eingeführt war. Zu Recanati in den päpftlichen 
Marten — wo er am 29. Juni 1798 geboren war — hatte 
das gräflicde Geſchlecht, welchem der Dichter angehört, feinen 
altererbten Zamilienbefis; in den unruhigen Zeiten franzöfiichen 
Hebergewichtes jedoch waren die Dermögensverbältniffe in arge 
Zerrütiung gerathen, jo dat Graf Monaldo, der Vater, fein 
ganzes Leben hindurch von finanziellen Schwierigkeiten bebrängt, 


fih mande Einſchränkungen auferlegen mußte. Died binderte 
(369) 


6 


ihn jedoch nicht, feinen Kindern eine gelehrte, ihrem Stande. 
angemefjene Bildung zu Theil werben zu laflen. War er für 
diefen Zweck hauptfächlich auf die Mitwirkung der Geiftlichlett 
feines. Ortes angemwiefen, fo erklärt e8 zugleich die Nähe von 
Loreto, daß die Richtung dabei eine im ftrengften Sinne kirch⸗ 
fihe war, wie denn überhaupt in diefen Gegenden die Sejuiten 
bafür forgten, dab fi die Gemüther der Bevölkerung al8bald 
wieder dem Papfte und der Kirche zumandten. Aus den zwi⸗ 
ſchen Giacomo, dem älteften Sohne, und den Eltern und Ges 
ichwiftern gewechſelten Briefen gewinnen wir den klarſten Ein- 
blid in das Leben und den Berfehr im Haufe. Bon jeder 
Berührung mit der Außenwelt abgeſchloſſen, lebt die Familie ſtill 
für fich, ſtrenge Andachtsübungen und fromme Werke nehmen 
den Haupttheil der Tagesordnung ein, die Priefter aus dem 
Drte und der Nachbarſchaft bilden den einzigen Umgang. Die 
Mutter führt dad Regiment. Bon dem Wunſche geleitet, das 
Gut jchuldenfrei zu machen, befolgt fie ein eiſernes Sparjam- 
keitsſyftem, vor allem fühlt fie die Verpflichtung, die Kinder in 
faft Möfterliher Einſamleit zu halten, weil fie damit jeder Ge⸗ 
fahr für ihre Seelen, beſonders dem fchäblichen Zugange libes 
raler Ideen vorzubeugen meint. Diejem überwiegenden @in- 
fluffe feiner Gattin fügt fih auch Graf Monaldo. Allen ums» 
flürzenden Tendenzen abgeneigt, ſucht er feine Kinder in ber 
tiefften Ergebenheit gegen die Kirche zu erziehen, und fein Lieb» 
lingswunſch iſt der, den älteften Sohn den geiftlichen Stand 
wählen zu fehen. Dem entiprechend herrſcht im Haufe feier 
lihe Andachtöftille, aber Niemand fühlt ſich innerlich „befriedigt. 
Die ödefte Langeweile erfaßt die Gemüther: wagen andy bie 
Kinder nicht, fi offen gegen die mißtrauiſche Meberwachung 
feitens der Mutter aufzulehnen, fo empfinden fie doch bie Härte 
derjelben, und dieſe Empfindſamkeit wird der herrichende Zug 


(870) 


7 


in den jüngeren Gliedern der Familie. Ohne Anregung von 
außen, ohne feftes Lebensziel verläuft ihnen die Iugend, weil 
der abelftolzge Bater es verichmäht, fie für eine beftimmte Lauf» 
bahn vorbereiten zu laflen, in der eintönigften Weiſe. Alle 
werden von dem Gefühl tiefften Unglüds gequält und wünjchen 
in den Briefen den Tod als Erlöjung herbei. Die anderen 
freilich ergeben fich fpäterhin in ihr Schickſal und verfallen der 
Ihlimmften Bigotterie, — nicht unwahrſcheinlich, dab bei diefem 
Ausgange das Beiſpiel des Alteften Bruders auf die jüngeren 
Geſchwiſter den enticheidenden Ruͤckſchlag übte. Ihm allein 
gelingt es, aus dem ewigen Einerlei erzwungener Froͤmmigkeit 
fich loozumachen, allerdings giebt er dann mit firenger Conſe⸗ 
quenz jeden Zuſammenhang mit der Kirche auf, verzichtet auf 
jeden Anhalt, den ihm ihre Lehren bieten könnten, und verliert 
fih im Die Tiefen einer troft- und hoffnungsloſen Weltanſchauung. 
Mit dem Bater und den Geſchwiſtern verbindet ihn die innigſte 
Liebe, aber während ihn bie letzteren unummwunden zum Ber 
trauten ihrer geheimften Gedanten machen, fühlt er doch den Ab⸗ 
ftand feiner eigenen Meberzeugungen von denen des Vaters allzu- 
jebr, und da er ſich hierüber nicht zu äußern wagt, jo bildet fich 
zwifchen beiden jene innere Entfremdung, die zwar nicht zu 
offnem Bruche führt, die aber den Sohn verichloffen macht, dem 
Bater dagegen beftimmt, feinem Wunſche, in die Welt zu treten, 
möglichft lange zu wiberftreben. Dies die eigentliche Sachlage 
in dem Mißverhältuiffe zwiſchen beiden. 

So fällt dem gefftigen Zwange, unter dem die Jugend 
Giacomo's verläuft, der nächfte Anibeil an der büfteren Richtung 
zu, die der Ideengang feiner Dichtung fpäterhin genommen 
bat. Dazu kam noch ein anderer nicht minder wichtiger Um⸗ 
fand. Hatte ihn die Natur mit allen Gaben des Geiftes reich- 
lich, ja glänzend andgeftattet, jo hatte fie ihm ftiefmütterlich 


(871) 


8 


doch nur einen mißgeformten, ſchwächlichen und reizbaren Körper 
verliehen, und die angeftrengten Studien jeit den früheften Kin⸗ 
deriahren mögen jeine Entwidlung noch mehr beeinträchtigt 
haben, . oda Leiden und Gebrechlichkeit ihm jede Lebensfreude 
raubten und ihn zuletzt zwangen, audy jede geiftige Anjpannung 
zu vermeiden. . _ 

Unter dem laftenden Drude diefer äußeren Umftände blieb 
dem hochbegabten Dichter jene Harmonie verjagt, nach der 
lebenöfrobe Menſchen im Beftbe eines gefunden Körperß ringen, 
nur der Gedanke arbeitet einfeitig in ihm, das Gefühl des 
Schmerzeö beherricht feine Seele. Wo Andere in Genuß und 
Verkehr fi die Kraft zu neuer Tchätigkeit gewinnen, fühlt 
fi) der Arme zurüdgeftoßen und vereinfamt, wo er jelbft von 
heißer Liebesglut entbrannte, fam man ihm böchftens mit Be⸗ 
dauern und Mitleid entgegen: jo gefellt fich zu den körperlichen 
Leiden die Bitterfeit ded Gemüthes, und aus den natürlichen 
Bedingungen feiner Eriftenz entipringt der Weltſchmerz, der 
eben deöwegen bei ihm wahrer und ergreifender ift als bei 
den Romantitern. 

Mit dem zwanzigften Jahre erhielt er zum erften Male 
die Erlaubniß, das vÄterlidhe Haus auf längere Stunden zu 
verlaffen; es war damals, als er den Beſuch Pietro Giordani's1) 
erwartete und empfing. Zum erften Male konnte fi des Dich: 
terd Seele einem theilnehmenden Freunde öffnen. Bon dieſer 
Begegnung ber datirt dann freilich die Partei der Frommen 
Leopardi'8 Abwendung von der Religion. Selbftder Vater hat 
nicht Anftand genommen, diefen Vorwurf öffentlich gegen @ior- 
dani audzufprechen; ohne jedes Bedenken wiederholt ihn neuer 
dings Alfred von Reumont in feinem Leben Gino Capponi's. 
Demgegenüber wird von Anderen (wie Montefredini) ?) geltend 
gemacht, dab die Abneigung durch das, was er im Elternhauſe 

(873) 


9 


täglich ſah, bereitö in Leopardi vorhanden war, und wolle man 
auf eines Anderen Einfluß beftimmter hinweiſen, jo habe die 
Leltüre Alfieris ihn darin beftärkt. Feſtfteht, dab der Süngling 
ba8 Jahr nach jenem Beſuche einen Plan entworfen, aus dem 
väterlichen Haufe zu entfliehen, und daß er nur durch die An⸗ 
Hänglichleit an die Seinen abgehalten wurde, den Beichluß zur 
Ausführung zu bringen, und ebenfo feſt ftebt es, dat bie fort 
geſetzte Ueberwachung, ſowie alle Bemühungen, ihn zur ftrengen 
Bläubigkeit zurückzurufen, völlig vergeblich blieben. 

Endlich, im November 1822, fenden ihn die Eltern zu dem 
möütterlihen Dbeim, dem Marcheſe Carlo Antici, na Nom. 
Aber dieſer erſte Verſuch, ihn in die große Welt einzuführen, 
mißlingt, weil dad Leben in ber päpftlichen Hauptitadt nur jehr 
wenig Anziehendes für ihm bietet.” Im dem Haufe des Onkels 
berrichen diejelben frommen Neigungen wie daheim in-Recanatt, 
und in ben gelehrten Kreilen beichäftigt man fich allein mit 
antiquarifchen Dingen. Nur die Liebendwürdigkeit der Deutichen, 
mit denen er in Rom zufammentrifft, gewinnt jein Herz, be: 
ſonders Niebuhr begegnet ihm mit Freumdlichleit und empfiehlt 
ihn bet feinem Abſchiede an feinen Nachfolger Bunjen. 

Nach fünfmonatlicher Abweſenheit kehrt Leopardi in die Het- 
math zurüd, unbefriedigt von dem, was er geſehen und erlebt hat, 
aber auch das Vaterhaus ift ihm verhaßt; jelbft fein Briefwechfel 
unterliegt einer ftrengen häuslichen Cenſur. 

Lange jedoch vermag er dies unthätige Leben nicht zu er 
tragen, und ſo unterhandelt er, ohne Wiſſen feiner Eltern, mit 
dem Buchhändler Stella in Mailand, fucht durch literariiche Leiftun⸗ 
gen eine unabhängige Stellung zu gewinnen. Mühſam gelingt 
ihm Died eine Zeit lang. Seine Kränklichkeit, vermehrt durch 
übermäßige Anftrengungen, nöthigt ihn, den Aufenthalt mehrfach 
zu wechſeln, bald lebt er in Bologna, bald in Matland und 


(373) 


10 


bald wieder in Bologna, zeitweije kehrt er zu feinen Eltern 
zurück, um dann wieder durch das Gefühl der Langenweile fort 
getrieben zu werden. Mit dem Frühjahr 1827 begiebt er fich 
nad Florenz, dem damaligen Mittelpunfte ernfter wiſſenſchaft⸗ 
licher Studien und regen !iterariichen Schaffens, in dem Kreiſe 
von Gelehrten und Literaten, der fih um Bieufleur gebildet, 
findet er Zutritt und liefert Beiträge für das Drgan befjelben, 
die in jener Zeit berühmte italienische Anthologie. Die refignirte 
Stimmung, welche dort in Bezug auf die politiichen Zuftände 
berrfcht, theilt fh auch ihm mit und nimmt bei ihm ben 
ſchmerzlichen Grundton an, der einmal feine Seele erfüllte. Ge⸗ 
ſchätzt und geachtet ward er von vielen, von wenigen Freunden 
. geliebt und verehrt, aber auch an jolchen fehlte es nicht, die, wie 
Tommaſeo, fih in religidjes und polttiicher Hinficht auf ganz 
anderem Boden fühlend, jelbft vor der Deffentlichkeit abiprechend 
über ihn urtbeilten. Nach einem erträglichen Winter, den er 
(1827 zu 1828) in dem milden Klima: Pifas angenehm ver» 
lebte, begann eine neue Reihe Törperlicher Leiden, nur jelten 
unterbrochen; feine Freunde Golletta, Tommaflni und vor allen 
Bunjen bemühten fich mit Eifer, ihm dad Leben zu erleichtern. 
1831 veranftaltet er eine nene Ausgabe jeiner Gedichte, in dem 
Widmungsbriefe an feine Freunde nimmt er, von Todesahnungen 
erfüllt, mit ergreifenden Worten Abſchied. In Rom erlangt er 
dann 1832 von jeinem Vater ein beicheidenes Monatögeld, daB 
ihm, ſoviel jet durch Piergili’s neuefte Veröffentlichungen bes 
fannt wird, bis zu feinem Ende regelmäßig gezahlt worden ift. 
1833 entichließt er fi, dem Rathe feines Arztes folgend, Flo⸗ 
renz mit Neapel. zu vertaufchen. Dorthin kommt er in De 
gleitung eines Mannes, deſſen Name von da ab mit feinem 
Schickſale unzertrennlich verfnäpft if. In der That fcheint es 
fchwer begreiflich, wie es möglich mar, daß Leopardi fih an einen 
(974) 


11 

Mann von fo mäßigen Fähigkeiten und jo zweifelhaften Charak⸗ 
ter wie Ranieri anſchließen konnte. Wenn auch nicht er- 
wiefen ift, daß Ranieri unehrenhaft gegen ihn gehandelt, jo hat 
er doch nicht umterlaflen, die eigenen Gefälligkeiten gegen den 
todtfranten Dichter laut genug zu rühmen, und hat es verftan- 
den, die Gebrechlichkeit feines Freundes dahin auszunutzen, daß 
er fih durch die Schilderung ihres beiderjeitigen Berhältnifies 
in übelberufener Weiſe einen Namen machte durch fein Werk: 
sette annı di sodalizio. Außerdem hat er gerade nicht wenig 
Dazu beigetragen, dab die Zänkereien über Leopardi's Aufrichtig- 
keit einen fo Heinlichen Charakter annahmen. &benfo ift die 
von Sefuitenvätern eifrigft vertheidigte Behauptung, Leopardi 
babe angefichts des Todes fich mit der Kirche ausgeſoͤhnt (2. 
ftarb den 14. Juni 1837 zu ReapeD), durch Ranieri's mehr ald 
zweidentigen Bericht an Graf Monaldo angeregt worden, und 
erft als die Patres merkten, daß fie mit der frommen Fabel 
in der eigenen Familie des DBerftorbenen, geichweige denn bei 
dem gelehrten Publikum, Teinen Glauben fanden, haben fie Die 
jelbe fallen laffen und den eigenen Irrthum mit Verwechſelung 
zu entichuldigen verſucht. Diejenigen aber, weldye eines Man⸗ 
ned Werth nicht nach dem Maße ftreng dogmatticher Gläubig⸗ 
feit abichäben, ehren das Andenken des zu früh dahingeſchiedenen 
Dichterd und trauern um das herbe Mißgeichid, das ihm, dem 
hochbegabten, edel angelegten Menſchen, ſolche Zülle der ſchwer⸗ 
- ten Leiden auferlegte, während fie ihm germ zugeftehen, daß er 
zu dem Streben nad) den höchften Zielen wohl berechtigt war. 
Das fchönfte Denkmal ift ihm, unferem Ermeflen nad, durch 
Bunſen gelebt worden, der in feinem Werte „Gott in der Ge- 
Iichte" über ihn fagt: „Sriede jet Deinem Andenken, Du 

‚hoher Genius, der Du mit leivendem Körper und im tiefen 

Drude ded häuslichen umd öffentlichen Unglüds über dieje 


(875) 





12 


dunkle Erbe gezogen bift! Ewige Ehre Deinem Namen für 
die Ströme göttliher Begeifterung und Liebe, weldde Du 
bei diefem jchweren Pilgerzuge in lieblichen Schwanentönen 
audgegoffen haft! ‚Deiner Gebieterin‘ getreu haft Du ge= 
lebt, und Deinem Genius getreu bift Du geftorben, une 
vergängliche Sehnſucht zurüdlafiend Deinen Freunden!“ 

Gewiß ift ed von Wichtigkeit, auch des Dichters Studien- 
und Entwicklungsgang'des Näheren zu betrachten, weilfich daraus 
entnehmen läßt, woran er feinen Geſchmack gebildet und welchen 
Vorbildern er nachgeftrebt bat; auf der andern Seite beant- 
wortet fi dann die Frage um fo leichter, wie es ihm allmählich 
gelungen tft, jelbitftändig feinen Weg zu nehmen. Geradezu er» 
ftaunli ift e8, welche Zülle der Gelehrſamkeit fidy Leopardi 
Ihon in frühelter Iugend angeeignet hat, und für fein Alter. 
find feine Leiftungen ganz ungewöhnliche, aber zu einer eigent- 
lichen Reife des Urtheild, zu klarer Herrichaft über feinen Gegen- 
ftand und zu planmäbiger Darftellung deſſelben tft er nirgends 
vorgedrungen. An feinen Ueberſetzungen und Commen» 
taren tritt und mehr die Sprachlenntniß im Einzelnen, fein 
Sammelfleiß entgegen, und wenn ihn gerade deutſche Gelehrte 
deöwegen jchäben, fo ift er doch der bahnbrechenden beutichen 
Gelehrjamkeit, die im Anfange des Jahrhunderts der philolo⸗ 
giſchen Wiſſenſchaft neue Gebiete erjchlob, völlig fremd ge» 
blieben. 

Nicht leicht wird ed gelingen, einen beſtimmten Zufammen» 
bang in feinen Studien nachzuweiſen, dennoch bewegen fich 
diefeim Allgemeinen auf vier verfhiedenen Gebieten: der Ein» 
fluß feiner moͤnchiſchen Erziehung läßt fi in ben Diökurfen 
über Kirchenbiftoriler und kirchliche Gegenftände wiedererfennen, 
felbft der Stil trägt die Spuren einer gewiſſen Breite an fidh 


(376) 


13 


und in ben frübeften Arbeiten bliden oft noch fireng kirchliche 
Anſchauungen durd. 

Die Schrift über die volkdihümlichen Irrthümer ber Alten 
(sopra gli errori popolari degli antichi), bie er im Sabre 1815, 
alfo 17 Jahre alt, gejchrieben und die der Bonner Philologe 
Sinner (1834) als ein opus admirandae lectionis et erudi- 
tionis zu preifen wußte, behandelt die irrigen Vorftellungen ber 
Alten in Bezug auf die Götter, die Orakel, die Zauberei, bie 
Deutungen der Vorzeichen, der Träume und nächtlichen Er⸗ 
ſcheinungen, fie jchließt mit einer hochtönenden Berherrlichung 
des katholiſchen Glaubens: „Liebenswertheſte aller Religionen! 

Wohl iſt ed angenehm, mit Dir ſchließen zu können, um bie 
zu erfreuen, denen Du jeden Tag Wohlthaten erzeigſt, an⸗ 
genehm iſt es, mit der feſten, zuverfichtlichen Ueberzeugung 
ſchliehßen zu können, daß der kein Philoſoph iſt, ber 
Dir nicht folgt und Dich nicht achtet, und daß wer Dir 
folgt und Dich achtet ein Philoſoph ſein muß. Ich wage 
ſogar zu behaupten, daß der kein Herz hat, der die ſüßen 
Wallungen einer zärtlichen Liebe nicht empfindet, der das 
Entzücken nicht kennt, in dad ihn die innig ergreifende Be⸗ 
trachtung verſenkt, der Dich nicht mit Leidenſchaft liebt, der 
ſich nicht zu dem unausſprechlichen Gegenſtande hingeriſſen 
fühlt, den Du uns lehreſt. Da Du erſchienſt in der Nacht 
der Unwiſſenheit, — denn das war das Zeitalter des Auguſtus 
— haſt Du den Irrthum mit Deinem Blitze getroffen, haft 
der Vernunft und der Wahrheit einen Sitz errichtet, den ſie 
niemals verlieren werden. Du wirſt ewig leben, und der 
Irrthum niemals bei Dir beſtehen können. Wenn er über 
und hereinbrechen wird, wenn er ung, die finftere Hand über 
unfere Augen breitend, in die dunklen Abgründe, welche bie 
Unwiffenheit vor unjeren Füßen öffnet, hinabzuftürzen droht, 
(an) 


14 


dann werden wir und zu Dir zurüchwenden und werden bie 
Wahrheit unter Deinem Mantel finden. Der Irrthum wird 
entweichen, wie der Gebirgswolf, verfolgt vom Hirten, und 
Deine Hand wird und vor Unheil bewahren!“ 

Wer möchte in dem Berfaffer diefer jchwülftigen Zeilen 
den Dichter Leopardi vermuibhen, den Abtrünnigen, Ungläubigen, 
den nicht die Gebete des zärtlichen Vaters, nicht die Ver⸗ 
weilungen der firengen Mutter in den Schooß der Kirche 
zurüdzuführen vermochten? Welche Wandlung muß in feinem 
Gemũthe vor ſich gegangen jein, die den feines Glaubens jo 
fiheren Süngling zu troftlofer Verzweiflung getrieben hat! 

Eine zweite Reihe von gelehrten Arbeiten befaßt ſich mit alt- 
griech iſchen Dichtungen hauptjächlich mit ſolchen einer päteren 
Zeit, von deren poetiſchem Werthe Leopardi felbft einen etwas 
übertriebenen Begriff hatte Seine Studien blieben hier überall 
an der grammatifchen und rhetoriichen Seite haften, unermüd« 
lich vertiefte er fih in die Einzelheiten, commentirte und illuſtrirte 
mit einer Fülle von Namen und Daten, überſetzte mit unfäglichem 
Fleiße, ohne zu rechter Schäßung des Autors zu gelangen. So 
in feinem Diskurſe über den Idyllendichter Moschug ergeht er 
fih in Bewunderung über die Feinheiten diefes Poeten und 
ftellt ihn weit über feine Borgänger Theokrit und Bion, als 
deren gefünftelten Nachahmer fchärfere Krititer ihn längft er- 
kannt haben. In gleicher Weiſe beichäftigte ex fich neben Horaz 
mit den Rhetorikern der römiſchen Kaiſerzeit und handelte 
unter anderem über die von Angelo Mat aufgefundenen Bruch⸗ 
ſtücke des Fronto mit einer Bewunderung, die ihrer geringen 
Bedeutung nicht eniiprechend ift. 

Dem Urtheil, welches Montefredini in Webereinftimmung 
mit anderen, aud mit deutichen Kritifern, in Bezug auf diefe 
gelehrten Iugendarbeiten ausipricht, wird man unbedingt bei» 

(878) 


15 


treten können: jo ſtaunenswerth auch feine Beleſenheit und fein 
Sammeleifer ift, jo jehr in einzelnen Bemerkungen fein Scharf. 
finn überrajcht, jo wenig verdienen wegen der in ihnen herrichen- 
den unreifen Methode diefe Leitungen die übermäßigen Lob⸗ 
fprüde, womit diefelben von den Herausgebern (Giordani, 
Cugnoni, Piergili) nad des Dichters Tode vor das Publikum 
gebracht worden find, und es wäre weife gehandelt, wenn man 
endlidy den von mehreren Seiten ausgeſprochenen Rath beberzigen 
wollte, mit diejen Publikationen aufzuhören. Leopardi's Haupt 
bedeutung tft vielmehr allein anf dem Gebiete der Dichtkunſt 
zu ſuchen. 

Mit Recht darf man fragen, welches bier feine Vor: 
bilder gewejen find. Die Antwort bezeichnet zugleich den vierten 
noch übrigen Gegenftand feiner Lektüre und feiner Studien, den» 
fenigen jedenfalld, dem er für die Ausbildung feines Geſchmackes, 
für die Handhabung der Form und Sprache und die poetifche 
Richtung am meiften verdankt, bis es ihm gelang, die tiefen 
&mpfindungen feiner Seele auf die ihm eigene Weife zum And- 
drude zu bringen. 

Unter den italieniſchen Dichtern begeifterte er fidy am meiften 
für Alfieri, fpäter ftudirte er auf Giordani's Empfehlung die 
trecentisti, vor allen Dante und Petrarka. Alfieri’8 Ironie, 
mit der fih fein Tyrannenhaß, fein Freiheitsftolz und die Ver⸗ 
adhtung gegen die Mattherzigkeit feiner Landsleute ausſpricht, ift 
gemildert audy auf ihm übergegangen, aber während bei jenem 
der Schmerz um fein Vaterland fich in beißender Satire Luft 
macht, nimmt er bei ihm ben Ton verzweifelnder Refignation 
an. Der Name Danted wird nie ohne das Gefühl hoͤchfter 
Ehrfurcht von Leopardi genannt: das herbe Unglüd des Floren⸗ 
tiners, fein fittlider Zorn über die Gebrechen feiner Zeit er- 


(379) 


16 


weden verwandte Klänge der Trauer über das eigene Elend 
und die Nichtigleit menfchlihen Dafeind in feiner Bruft. 

In Leopardi's frübeften Dichtertfchen Produktionen, in jeinem 
canto all’ Italia, sul monumento di Dante, ad Angelo Mai, ver- 
räth fich durch das ſchwungvolle Pathos das Vorbild Petrarka's. 
Petrarka felbft mit feiner rhetoriſchen Schwärmerei für die alt- 
römiiche Republik hat nichts Modernes an fidh, bei ihm tft der 
Patriottsmns bloße Fiktion und Phrafe, nicht auf dem Boden 
der Gegenwart bewegt er fi, wie Dante, vielmehr haftet er 
mit einer Art Selbfttäufchung an der Vergangenheit, als wären 
diefe Reminidcenzen aud dem klaſſiſchen Alterthyume das Ber- 
mächtniß einer felbft durchlebten groben Zeit, und als hätte das 
italieniiche Volk daran einen größeren Anſpruch als die übrigen 
gebildeten Nationen Europad. Gerade diefe Art des Patriotismus, 
wie ihn Petrarfa aufgebracht, feine Nachahmer fortgepflanzt und 
die nach Stalien eingedrungene franzöfiihe Revolution mit 
phrafenhaftem Pompe weiter entwidelt hat, lebt im der Mehr⸗ 
zahl der Italiener noch heute fort, und ebenfo tönt auch im 
Leopardi’8 Gefängen die rhetorifche Klage um die Vernichtung 
ded alten Römerreiches lauter ald der erwedende Aufruf zur 
Erhebung in der Gegenwart. Darum ift es wichtig, Leopardi 
in feinen früheften Gefängen kennen zu lernen: die beiden Can⸗ 
zonen „An Stalien” und „Ueber ein Dante» Monument” er- 
ichienen in Rom 1818 mit einer Widmung an Bincenzo Monti, 
den Dichter des Ariftodemo und der Basvilliana. Das erftere 
der beiden Gedichte, lange Zeit das Entzüden der modernen 
Staltener, zerfällt feinem Gebantengange nad in zwei Theile: 
der Poet ſchaut Stalien vor ſich ald ein entehrted, dienendes 
Weib, al’ der Ruhmeszeichen beraubt, mit denen fie einit als 
Beherricherin der Welt gefchmüdt war. Die Söhne dieler 
föniglichen Frau kämpfen, der großen Vergangenheit uneingedenf, 


(880) 


17 


nn 


für die Sade fremder Voller. Das bringt dem Dichter die 
Erinnerung alter Zeiten zurüd, und er verjebt fi in die 
Gegenwart der Perjerfriege: muthvoll haben die tapferen Schaaren 
der Hellenen das von den Barbaren drohende Sklavenjoch ab» 
gewehrt, Iant ertönt in den Thermopylen der Schlachtenlärm, und 
in der Ferne verflingt der Hufichlag der zum Hellespont ent- 


fliebenden Perſerroſſe. Der Sänger Simonides fingt den ge⸗ 


fallenen Helden, wie den überlebenden freien Bürgern Griechen- 
lands den Siegeshymnus. 


O patria mia, vedo le mura e gli archi 
E le colonne e i simulacri e l’erme 
Torri degli avi nostri, 
Ma la gloria non vedo, 


Non vedo il lauro e il ferro ond’ eran carchi 


I nostri padri antichi. Or fatta inerme, 
Nuda la fronte e nudo il petto mostri. 
Oimè quante ferite, 

Che lividor, che sangue! oh qual ti veggio, 
Formosissima donna! Io chiedo al cielo 
E al mondo: dite, dite, 

Chi la ridusse a tale? E questo & peggio, 
Che di catene ha carche ambe le braccia; 
Si che sparte le chiome e senza velo 

Siede in terra negletta e sconsolata, 
Nascondendo la faccia 

Tra le ginocchia, e piange. 

Piangi, ch& ben hai donde, Italia mia, 

Le genti a vincer nata 

E nella fausta sorte e nella ria. 


Se fosser gli occhi tuoi due fonti vive, 
Mai non potrebbe il pianto 
Adeguarsi al tuo danno ed allo scorno; 
Ch? fosti donna, or sei povera ancella. 
Chi di te parla o scrive, 


2 


(381) 


In diefer Canzone vermag ſich der Dichter wenigitens zur 
Begeifterung wieder empor zu richten, in der Vergangenheit des 
Griechenvolfeß erblidt er dad, was feinem Vaterlande fehlt, und 
der Glaube an die Möglichkeit, daß die alten Bürgertugenden 
in dem herabgekommenen Gejchlechte wieder aufleben Tönnten, 
ift doch nicht völlig erlofchen. Um wieviel troftiofer Klingt ſchon 
dad nur um zwei Jahre ſpäter verfaßte Gedicht an Angelo Mai, 


18 


— 


Che, rimembrando il tuo passato vanto, 
Non dica: gia fu grande, or non € quella? 
Perche, perch&? dov’ & la forza antica, 
Dove l’armi e il valore e la costanza ? 

Chi ti discinse il brando? 

Chi ti tradi? qual arte o qual fatica 

O qual tanta possanza 

Valse a spogliarti il manto e l’auree bende? 
Come cadesti o quando 

Da tanta altezza in cosi basso loco? 
Nessun pugna per te? non ti difende 
Nessun de’ tuoi? L’armi, qua l’armi: io solo 
Combatterö, procomberö sol io. 

Dammi, o ciel, che sia foco 

Agli italici petti il sangue mio. 


als er Ciceros Bücher vom Staate entdeckt hatte.) 


(383) 


„Wirſt du nicht müde, kühner Staler, 
Die Ahnen aus den Grüften 
Zu weden, daß fie mächt'ge Reden führen 
Mit diefer todten Zeit, da rings in Lüften 


Der Trägheit Nebel jchwebt? Und wie berühren 


Jetzt unfer Ohr fo oft und inhaltichwer 
Die Stimmen unjrer Alten, 

Die fo lang verftummt? Warum erftehen 
Sie alle wieder? Früchte plößlich tragen 
Die Blätter. Staub’ge Klöfter geben ber, 
Was fie verwahrt gehalten, 

Und die verſcholl'nen, heil’gen Worte geben 


19 


Don Neuem um. Krönt das Geſchick dein Wagen, 
Du waderer Staler? Wie oder wird 
Ein Mannesmuth vom Scidfal nicht beirrt? 

Die Bücher der Vorfahren kommen and Tageslicht, Sage 
und Ueberlieferung erzählen - noch von threr Tüchtigkeit, ihren 
Verbienften um dad Vaterland, die Namen der Dichter umd 
ihre Lieder leben noch fort im Munde des Volkes, aber haben 
die Bücher der Alten, die Ruhmesthaten der Helden, die Lieder 
der Sänger Kraft genug, die Lebenden zu neuer Thatkraft zu 
erweden? Alles regt in dem Dichter Zweifel an, daß diefe 
Hoffnung fi erfülle. Und lohnt ed wirklich, das tief geſunkene 
Bolt an den Glanz der Väter zu erinnern? Ach, ihre Verdienſte 
haben und groß gemacht, aber indem fie und bereicherten, find wir 
nicht zugleich in Wahrheit ärmer geworden? Ded Columbus 
Entdedungsfahrten haben wohl die Kenutniß neuer Welttbeile 
erichloffen, aber indem die Menſchen nun, über die wahre Geſtalt 
der Erbe belehrt, dad unbekannte Land auf der Karte mit Augen 
ſchauen, find fie um ihren Tindlichen Glauben gebracht worden, 
jo viele ſchoͤne Bilder, die fie mit fühner Erfindungdgabe fich er- 
dichtet, find ihrer Phantafte durch die Aufklärung jet geraubt: 

Wo find die holden Träume nun von jener 
Geheimen Zufluchtsſtätte 
Uns unbefannter Siedler, von dem Drt, 
Wo über Tag die Sterne ruhn, dem Bette 
Der jungen Eos und dem Ruheport, 
Wo Nachts verborgen jchläft das Weltgeftirn? 
Mit Eins find fie geſchwunden; 
Nun zeigt ein Meines Blatt das Bild ter Welt. 
Nun gleicht ſich Alles, und die Forſchung weitet 
Das Nichts nur aus. Dich fcheucht von unfrer Stirn 
Die Wahrheit, faum gefunden, 
O holde Phantafie! Das Denken hält 


Sid fern von dir auf immer und beftreitet 
2° (383) 


20 


Die Macht dir mehr und mehr, die wunderfame, 
Daß jeder Troſt nun ſchwand in unferm Grame. 

Die Schickſale der Dichter lehren und nur, daB auch der 
Ruhm ein eitler Schatten ift, und wenn all das trübe Leid 
Taſſo's an des Betrachterd Seele vorüberzieht, fo lautet das 
Refultat doch nur: 

„Mer der Menfchen Elend ganz 
Begriff, erjehnt den Tod nur, feinen Kranz.” 

Wohl ſprechen fie zu und, die Zeugen vergangener Größe, 
laut und vernehmlich genug, und er, der zuerft es unternahm, 
fein Volk daran zu mahnen, Bittorio Alfieri, ungehört verflang 
fein Wort, und nicht vermochte er, die Trägen aus dem Schlafe 
aufzurufen: 

„In Inirfchender Verachtung lebt er Hin 
Sein fledienlofes Leben, 
Und Tod bewahrt ihn, Schlimm’red noch zu fchauen. 
Nein, mein Vittorio, günftig deinem Streben 
War weder Zeit noh Ort. In biefen Gauen 
Kann Hochſinn fürder nicht gedeihn. Im Häfen 
Ruhn träge wir, ergeben 
In Mittelmäßigkeit. Der Pöbel ftieg 
Empor, der Weije ſank; Nichts wird bewundert, 
Platt ward die Welt. — Da die LXebend’gen fchlafen, 
Erweck zu neuem eben 
Die Todten, hoher Forſcherl! Hilf zum Sieg 
Den alten Helden, daß dies Kothjahrhundert 
Empor fi raffe und Begeiftrung trinte 
Zu edler That, wo nicht, in Scham verſinke!“ 

Mit einem Zweifel klingt das Gedicht aud, und nicht die 
Hoffnung Ift ed, die dem Sänger wächſt, nur die Heberzeugung, 
dab alles eitel, daß Leiden der Menſchen letztes Theil ift, und 
er, der die Welt erſchuf, bat fie nicht zur Luft geichaffen, 
fondern zu gegenfeitiger Zerftörung gab er fie den Menſchen 


(384) 


21 


und ben &lementen bin, nicht das Leben, nur der Tod ift 
Wohlthat. Man erftaunt, wie fchnell in dem Süngling die 
finftere Weltanſchauung zur Reife fommt. Mit Riefenjchritten 
eilt er von Gonjequenz zu Conſequenz. Wohl führen feine 
Oden ald Titel noch den Namen eined Römerhelden oder einer 
Sriechenfrau, allein die eignen Gefühle und Gedanken find es, 
die jene Seele Dichtend ihnen in den Mund legt. So in dem 
jüngeren Brutus; fo in der Sappho: 
„Du fanfte Nacht und du, verjchämter Etrahl 

Des fpäten Monde, und du dort überm Felſen 

Aufglänzend aus des Waldes ftummen Wipfeln, 

Du Tagesbote, die ihr meinen Augen u. |. w.“ 


So ändert ſich der Zon feiner Kieder: man fönnte jagen, 
Leopardi's Lyrik, anfangs objectiv an die edlen Namen und 
Thaten der Vorzeit angelnüpft, wird mehr und mehr ſubjektiv, aus 
der Umgebung entlehnt fie den Anlaß, welcher feine Phantafie zu 
düſtren Bildern treibt, fonft giebt fie und die trübe Stimmung 
feined eigenen Herzend. Dies drüdt fich ſchon in den Ueber» 
Ihhriften aus: „die erfte Liebe", die „Blauamfel, (il passero 
solitario), „am Abend des Feſttages“, an den „Mond“, der 
„Traum“. AU die Ideale, die fein Herz bewegen, Heldenruhm, 
die Liebe, Freundfchaft, die Freude an der Natur und an dem 
Seften froher Menichen — nur den Schatten, nur die Schwäche 
offenbaren fie dem verbitterten Gemüthe des Sängers, ihm ent» 
Ichwindet aller Frobfinn, weil er den Damon fchaut, der allen 
Glanz zerftört. Auch er möchte einftimmen in den Jubel der 
Greatur über die Schönheit der Schöpfung, auch er möchte fich 
mit den Zröhlichen freuen, aber zu der Lebendfreude, zu dem 
Jauchzen der im Tanze dahinſchwebenden Paare, zu der Kiebed- 
Inft nnd Inbrunft gefellt fich bei ihm der grübelnde Gedanke: 
auf den hellen, glänzenden Tag folgt die düftere, ſchwarze Nacht, 


(385) 


22 


auf die feierlihe Sonntagäftille in der Natur der vernichtende 
Sturm, auf die Freude des Feſtes die Crmattung und die Sorgen 
des Lebens, und für alle Qualen, welche Notb und Elend der 
Bruft ded armen Sterblichen bereiten, bleibt als einzige Erlöjung 
der Tod. 

Das ift das Ergebniß einer Jugend, die der Dichter mit 
ſchwachem, fiechem Körper verlebt hat, und jo fpricht er es aus 
zu einer Zeit, wo ihm das nahe Ende feiner Tage ſchon nicht 
zweifelhaft war, in der Canzone le ricordanze („Sugenderinnes 
rungen”); Paul Heyſe hat fie in die rührende Novelle Nerina 


verflochten. 
„O, al’ ihr Hoffnungen, du holder Trug 
Der Zugendtage! Immer kehrt die Seele 
Zu euch zurüd. Denn wie die Zeit auch eilt, 
Wie fih Gedanken und Gefühle wandeln, 
Niemals vergeff ih eucb! Trugbilder, weiß ich 
Sind Ruhm und Ehre; Glück und Wonne nur 
Ein eitler Wunſch; das unfrucdhtbare Reben 
Ein nuglos Elend. Dennoch, ob auch leer 
AM meine Sabre, dunkel und verötet 
Mein fterblih Dafein, raubt das Glück — wohl ſeh' ich 
Es ein — mir wenig nur. Doch ach, jo oft ich 
An euch, ihr Sugendhoffnungen, gedenke, 
An das, was einft fo Hold mir vorgejchwebt, 
Und dann mein jammervoll armjelig Leben 
Erwaͤg', und daß von fo viel fchöner Hoffnung 
Der Tod allein mir heut! noch übrig bleibt: 
Krampft fih mein Herz zufammen und mir ift, 
Als gab es keinen Troſt für ſolch ein Schiefal. 
Und wenn nun dieſer oft erſehnte Tod 
Mir nahe tritt und ich am letzten Ziel 
All meines Unglücks ſtehe, wenn die Erde 
Ein fremdes Thal mir wird und meinem Blick 


Die Zukunft ſchwindet: euer dann gewiß 
(386) 


23 


Werd’ ich gedenken, euer Bild wird mid 

Dem letzten Seufzer koften, bitter mahnend, 
Daß ich umfonft gelebt, und in die Süße 

Des Ihidjalvollen Tags mir Wermuth träufeln. 


O, ſchon im erften ftürmijchen Jugenddrang 

Der Freuden, Aengſten und Begierden rief ic 
Den Tod jo mandes Mal und Fonnte lang’ 
Drau’ an der Quelle fitend drüber brüten, 

Ob ich nicht beffer thäte, Schmerz ımb Hoffnung 
In ihrer Fluth zu ftilen. Dann durch fchleichend 
Siechthum geriffen an den Rand des Grabes, 
Meint ich um meine jchöne Tugend, um 

Der armen Tage Slor, der ſchon fo früh 
Dinwellt, und manchen Abend, wenn ich traurig 
Auf meinem Bette, dem vertrauten, faß 

Und bei dem trüben Lämpchen dichtete, 

Klagt’ ich im Einklang mit der nächt'gen Stille 
Um meinen flücht'gen Geift und fang mir felbft, 
Als ſchwänd' ich fcheidend hin, das Todtenlied!“ 

Hat in Leopardi anfangs noch das mitfühlende Herz mit 
dem denfenden Berftande gerungen, zuletzt behält vieler die 
Oberhand; der vorher nur momentane, vorübergehende Schmerz 
wird das dauernde, einzig bleibende Gefühl feiner Seele. Und 
hierin beruht der Unterjchied zwiſchen Heine und Leopardi. 
Heine malt die Schönheit, die Liebe, die Andacht, das Träumen, 
aber mit berber Satire und mit beifendem Spotte zerftört er 
die entzückenden Bilder, die noch eben das Herz des Leſers und 
Hörerd bezauberten, vernichtet oft nur durch einen geringen Bei» 
fat die ergreifenditen Situationen und läßt dem, den er noch 
eben beglüdte, die fchmerzlichfte Enttäufchung zurüd. Bei Leo» 
pardi dagegen bleibt der Leſer niemald im Unflaren über jene 
Auffafſung des Lebens, darum erweden feine Klagen Dad aufs 
richtigfte Mitgefühl. Heine hat den Peſſimismus erft mit muth⸗ 


(387) 


BR. 
williger Satire ſcherzend in feine Dichtung bineingetragen, bis 
der furchtbare Ernft feiner langen Leiden ihm die Herrſchaft in 
feinem Gemüthe und Denken verjchaffte. Leopardi's elegijcher 
Peifimismus liegt in der Anlage feined Gemüthes von vorn- 
berein vor, die traurige Dede feiner Umgebung, die Hoffnungs- 
Iofigfeit der politiſchen Zuftände haben ihn auferzogen, und die 
unbefriedigte Sehnfudht, der Mangel einer wahren Gegenliebe 
bat ihn in feinem Herzen gereift und befeftigt. 

Diefelbe Steigerung läßt fi) in der Liebe als Element 
der leopardifchen Dichtung verfolgen. Welchen hoben Begriff 
er in früher Zeit von der Tugend und Schönheit des Weibes 
bat, Ipricht er im dem Hochzeitögedicht für feine Schweiter Pao⸗ 
Iina (1824) aus: 

„Sin Sporn zu edlen Thaten 
Iſt Liebe, recht erkannt, und hohes Streben 
Erweckt die Schönheit,” 
und was er von den Frauen Italiens verlangt, fagt er in dem⸗ 
felben Gedichte: 
„Biel hofft von euch, ihr rauen, 
Das Baterland; und nicht zu Schimpf und Schaden 
Der Menfhenjöhne warb dem fanften Strahl 
Aus Euren Augen Macht, wohin fie jchauen, 
Zu bänd’gen Feu'r und Schwert. Ihr lenkt zumal 
Den Weiſen wie den Starken Hug am Faden, 
Und was die Sonn’ umfreijet, neigt fich euch.“ 

Zum Schluß greift er in dad Alterthum zurüd und hält 
der Schweiter die Gattinnen der Spartaner und bie keuſche 
Birginta ald Mufter vor. Auch bier alfo haben die Haffiichen 
Reminiscenzen ihren Autheil. ine Reihe von Dichtungen 
aber, welche die eigene Liebe Leopardi eingegeben, gehört dem 
Jahre 1831 an: es find nicht Liebeslieder im gewöhnlichen 


Sinne, wie fie die Minnefänger, die arkadiſchen Poeten oder 
(288) 


25 


die modernen Dichter gefchaffen haben, nicht Ergüſſe von Liebes» 
leid und luft, von Schwärmerei, von Sehnſucht und Entzüden, 
vielmehr Liebeselegieen: die einen voll Zrauer um die verlorene 
Zugendliebe, die Erinnerung daran wedt mildernde Empfin- 
dungen, aber entſchwunden bleibt die Seligfeit; die andern fingen 
von einem Wiedererwachen der Gefühle, dies find die einzigen, 
die das Leben nody ertragbar machen. Dffenbar knüpft er bier 
an wirkliche Erlebniſſe an, fo in dem Gedicht „Die erfte Liebe”, 
jo in dem anderen, welche die „Auferftehung” betitelt ift. Das 
erftere bezieht fich auf die Schwärmerei für ein junges Land- 
mädchen feines Heimathsortes, dad einem frühen Tod zum Opfer 
fiel, und flieht mit der Liebesgeſchichte im Zufammenbange, 
welche der erwähnten Novelle von Paul Heyfe, „Nerina”, zu 
Grunde liegt: 

„Roh Hat ih Dich, o Liebe, nicht gefanut, 

Und achtzehn Sommer lebt’ ich bis zum Tage, 

Wo id mit Thränen Deine Macht empfand. 


Entwerthet war mir wie mit einem Schlage 
Jedwede Luft, die heil'ge Morgenfrühe, 
Der Sterne Glanz, d bes Srühlinge Bluͤthenhage 


Und ı noch n wird ) biefe 2 Flamme fortgenährt, 

Noch lebt das jchöne Bild in meiner Seele, 

Und ob fie nur ein Xraumglüdt mir gewährt — 
Sie bleibt der Troſt, den ich allein erwähle!“ 

Das zweite Gedicht läßt den Gegenftand kaum erratben, 
man vermuthet, daß Leoparbi in Florenz für eine Dame in 
Lebe entbrannte, aber die Umftände waren folche, daß der Dichter 
fih, im Hinblid auf feinen Tiechen Körper, nicht zu erflären 
wagte: 

„Und doch aufs New ergeb’ ich mich 
Dem alten Zeug mit Willen. 
(389) 


Es ftaunt das Herz im Stillen, 
Wie Iaut ed pocht in mir. 


Dir, o mein Herz, verdankt’ ich ja 
Dies letzte Lebendregen, 

Der ſchönen Flamme Segen 

Und jeden Troſt nur dir." 

Beide Male ericheint die Liebe als derjenige Trieb, dem er 
am meiften Gewalt über fein Herz zuichreibt, wie ein Stern 
in der Nacht bed Leidens leuchtet fie ihm und erhält ihm den 
Muth, zu leben. Das Jahr vor feinem Tode ift die Elegie 
gebichtet: „Liebe und Tod”. 

„Ale Zwillinge des Schickſals Schooß entjproffen, 
Sind Lieb’ und Tod Genoſſen. 

Nichts Schön’red ward hienieden 

Der Erbe, nichts der Sternenwelt befchieben.* 

Im weiteren Gedankengange zeigt der Dichter, wie fich der 

Tod der Liebe zugejellen will: 
„Se mehr voll Liebesgluth, 
Se weifer ift ein Herz, je ftolzer achtet's 
Gering des Lebens Wehe, 
Kein Machtgebot, o Liebe, 
Befeuert jo wie deins zu jedem Wagniß. 
Entflammt ja deine Nähe 
Ein jebes Herz mit Muth, 
Belebt den finfenden und pflegt zu Thaten, 
Nicht nur zu müß'gem Brüten, wie fle pflegen, 
Die Geifter zu erregen.” 

Ja, die Todesſehnſucht entfteht mit der Liebe im Herzen 
des Zünglingd, denn wer wahrhaft liebt tft auch entichloffen, 
entweder den ermählten Gegenftand zu befigen oder zu fterben. 
Und unglüdlid, Liebende wählen freiwillig den Tod als Erlöfer 
von ihrer Pein. Als folchen ruft ihn dann der Dichter herbei, 


und wenn er fomme, wolle er ihn aufrechten Haupted erwarten. 
(890) 


27 


Auch von der philojophtichen Seite hat Leoparbi die Liebe 
zu erfaffen geſucht in dem Gedichte „an die Geliebte" („alla 
donna amata“), jedody die Gedanken find unklar und jchweifen 
in die Leere, ed fcheint fait, ald wenn bie Idee der Liebe ihm 
ald die einzig tröftende, Halt nebende vorſchwebe und ihm die 
Zuverficht des Lebend in einer zukünftigen, befjeren Welt vers 
bürge. Dies Eine fei bier noch bemerkt, dab bie Liebe in Leo⸗ 
pardi's poetifchem Peffimismus doch nicht die niedere Stelle 
einnimmt, wie in dem Syſteme Schopenhauer’8 oder von Hart- 
mann’d, wo fie nur ald ein trügerifcher Snftinkt angejehen wird, 
als Raturtrieb, dazu da, die Gattung fortzupflanzen, und dem, 
um nicht abgewiefen zu werden, der eitle Schein ber Liebe auf- 
geprägt jet. 

Das Bild der Entwidlung in Leopardi's Dichtung ift 
hiermit gegeben. Drei Gruppen jeiner Poefleen darf man unter- 
ſcheiden: in ber eriten leben die Eriyunerungen um dad Alter 
thum fort, die zweite wird man als Mebergang zu einer eigenen 
Dichtungsweiſe bezeichnen Tönnen, der Inhalt feines eigenen 
Lebens wird ber Gegenſtand, die Anhänglichleit an eine ruhig 
verträumte Tugend, die Erkenntniß der Nichtigkeit des Dafeing, 
die Leere in der Gegenwart und Zukunft; und zulebt erjcheint 
ber pure Peſſimismus, die Freundſchaft, die Natur täufchen nur 
noch auf Momente dad Gemüth, die Liebe hält am längften 
aus im Widerftand, der Gedanke gewinnt die Herrihaft und 
erſchaut nur noch die Werthlofigkeit auch diefer Güter, und die 
Enttänfchung führt zur Troflofigkeit und zur Todesſehnſucht. 
Mehr und mehr werden die Gefänge Selbftbefenntniffe, die der 
Ziefe feiner Bruft entftrömen, und je mehr fie died werden, 
defto ergreifender wirken die Töne feiner Leier. An den Wun⸗ 
dern der Natur in ihrer Erbabenheit und Lieblichfeit, an den 
wechſelnden Sreuden bed Lebens nad ben Mühen und Sorgen, 


(891 ) 


28 


an der Grohartigfeit menjchlihen Strebend und Schaffens hat 
fich auch jein Herz entzückt, ja oft erfchließen Natur und Menſchen⸗ 
dafein feiner Betrachtungsweife ganz bejondere Reize, aber immer 
wieder zeigt ihm die Umgebung nur die tiefften Schatten; weil 
er im eigenen Bufen nur Schmerz und Kummer trägt, jo bat 
fih auch fein Bli gewöhnt, draußen nur das Elend zu fchauen, 
fein Ohr, nur den Sammer zu vernehmen, und fein Mund, das 
allgemeine Leiden zu verfünden. 

Erſcheint in Leoparbi’8 Poefieen noch der Kampf zwilchen 
Empfindung und Reflerion des Dichters, fo zeigen feine Dia= 
logen die. nadten Conjequenzen feiner peſſimiſtiſchen Betrach⸗ 
tungen, der Widerftand hört auf, der Gedanke triumphirt voll» 
ftändig. Nur dad Gefühl für Freundfchaft und Mitleid mit 
Anderen verratben noch biöweilen die Theilnahme feined Herzens. 
Auf den elegifchen Dichter Leopardi folgt bier der unerbittliche 
Richter. 

Dad Syſtem des Peſſimismus, wie er ed in jeinen 
Geſprächen und zwar in der edelften, rubigften und Harften 
Sprache der Proja entwidelt hat, bier näher darzulegen, nach⸗ 
dem es in feiner Dichtung nachgewieſen ift, ift nicht meine Ab⸗ 
Richt. Diele Geſpräche führen nur eben die trüben Gedanken, 
die auch in feinen Poefieen vorherrichen, auf ihre Gründe zurück. 
Nur auf zwei Punkte ſoll hier noch eingegangen werden: auf 
die von ihm jelbit gegebene Ableitung feiner Weltanſchauung 
und auf das Motiv, das ihn felbft von der Vollziehung ber 
legten Gonfequenz, von dem Selbftmorde, abgehalten haben foll. 
Leopardi ſelbſt war bemüht, zu beweiſen, daß nicht die körper⸗ 
lihen Gebrechen in feinem Geifte das Gefühl des Schmerzes 
zur Herrichaft gebracht hätten, daß vielmehr Alles, was er in 
der Natur, dem Leben ber Menſchen und in ber Gelchichte des 
Menſchengeſchlechts beobachtet, ihm die Erkenntniß von dem 


(392) 


29 


allgemeinen Leiden beftätigt habe: den religiöjen Vorftellungen 
der Bölfer, den Betrachtungen und Sclüffen der erufteften 
Denter, dem erhabenften Schöpfungen der Poefie liege diefelbe 
Idee zu Grunde, fie lafle ſich wie ber rothe Faden in allen 
verfolgen. Glücklich fühlte er ficdy in dem Gedanken, nicht ein 
befonderer Zielpunft für das Unglüd zu fein, vielmehr nur ein 
Heiner Theil des allgemeinen Wehed, dem Jeder fo bald als 
möglich zu entrinnen fuchen müfle, der zu diefem Bewußtſein 
gelangt ſei. Die Slorifitation des Todes war für ihn die noth- 
wendige Folge diejer Betrachtungsweiſe des Dafeind. In dem 
Dialoge „Plotinus und Porphyrius“ jebt er das Motiv auß- 
einander, dad ihn beftimmt habe, die mühevolle Erdenleben fo 
lange zu ertragen: nur die Rüdfiht auf die Seinen fei es 
gewefen, die den Entichluß, freiwillig zu fterben, in ihm nicht 
habe zur Ausführung kommen laſſen. Wer aber fid, jelbft töbtet, 
ohne an den Schmerz zu denken, den er den Angehörigen bereitet, 
der begehe einen Alt niedriger Selbftliebe, wodurdy er ſich ent» 
ehre. Died Raiſonnement enthält aber doch nur einen Schein« 
grund, denn wenn die Anhänglichleit an die Seinen nichts 
weiter fein kann ald eine der vielen Zäufchungen für den Men- 
jhen und ber Tod wirklich das einzige Gut, jo genügt jene 
Begründung doch nicht, um ihn abzuhalten, den an die Hand 
gegebenen Weg zu dem lebterenzumählen. Daß fie auch für Leopardi 
nicht genügte, darf man nad) jeiner ganzen Dentweije annehmen. 
Ein unbezwinglicher natürlicher Widerwille gegen das Sterben 
lebte auch in feiner Bruft, wie in der jedes Menfchen, das hat 
er bewiejen zur Zeit, wo er mit todtkrankem Störper der an⸗ 
ftedenden Cholera zu entfliehen fuchte, und fie eben war es, 
die ihn, wie vorher den ihm befreundeten Dichter Platen, 
aus Neapel binaudtrieb in die Umgebung der Stadt; umd 


da er im Begriff war, von neuem zu flüchten, ereilte ihn 
(393) 


30 


der unerbittliche Zod, für ihn in Wahrheit ein Exlöfer von 
langen und furchtbaren Leiden. 

Und jenes Andere, dab die Entwidlung der Menichheit 
eine Beitätigung liefern fol, daß Alles auf Täuſchung beruht 
und der Peifimismud in den Religionen, den Säben der Philo- 
fophen und den Dichtungen den Grundgedanken bildet. Richtig 
ift es wohl, daß die Menfchheit von jeher für das eigene Weh 
die lebhaftefte Empfindung ſich bewahrte, dab die Denker dem 
Räthſel des Lebend gegenüber mit ernſter Refignation den Tod 
als Erlöfung betrachteten, daB in den Liedern und den religiöfen 
Anfhauungen zu allen Zeiten die Klage über die Hinfälligfeit 
des Edlen und Schönen auf ber Erde durchllingt; richtig iſt es 
wohl, daß der Peſſimismus der Epopoe und der Tragödie der 
Griechen zu Grunde liegt, daB Sokrates und Platon den Tod 
als Befreier preifen, und daB nicht bloß die Lehre Buddha's, 
fondern auch das Evangelium ded Neuen Teſtaments die Erde 
als ein Jammerthal anfieht, und darum ließe es fi) theoretiſch 
wohl begründen, daß Leopardi's Weltanfchauung ſich aus der 
allgemeinen Erfenntniß von der Nichtigfeit menjchlichen Dafeins, 
ohne NRüdfiht auf Die eigene Gebrechlichleit, gebildet haben 
fönne, praktiſch aber liegt es und doch näher, diefe aus zwei 
Duellen feiner individuellen und menſchlichen Natur abzuleiten, 
nämlidy aus den furdhtbaren, endlojen Leiden jeines Körpers, die 
auch jeine Seele beeinfluffen, und aus der Häglichen Wirklichkeit, 
aus der feine neue große Hoffnung den Audgang anzudeuten ſchien, 
und darum ‚werden wir Deutjche und in unferem Urtheile über 
Leopardi’8 Weltſchmerz und feine Urfachen lieber der Auffaffung 
von Guſtav Brandedt) und Paul Heyſe anjchließen, wonach Anlage 
und Umgebung für feine trübfinnige Weltanfchauung beftimmend 
gewejen find. Daß es für die Menfchheit doch auch edle Güter 
giebt, nach denen zu ringen ein ebled Ziel ift, das hat auch er 


(394) 


2 


empfunden, nur die Erreichung war ihm in ausſichtsloſe Ferne 
entrüct, und daher kam es, daß nur Töne der Klage feinem 
liederreichen Munde entftrömten. Und ihm vor allen war ein 
höchfted Gut verliehen, mit dem die Götter nur wenige Sterb» 
liche begaben, ihm ſchenkte die Gottheit „Melodie und Rebe, 
die tieffte Fülle feiner Noth zu Klagen”; er wie fein unglüdlicher 
Landsmann, der Sänger des befreiten Serufalem, haben die 
Menichheit mit ihrem Geſange beglücdt, und wenn dieje auch nicht 
dem Gedankengange ihres kranken Herzens zu folgen geneigt ift, 
fo bleibt ihrem Namen und ihrem Andenken doch die Unfterb- 
lichkeit gewiß. 


Anmerkungen. 


1) Pietro Giordani, geb. 1774 zu Piacenza, trat auf kurze Zeit 
in den Benedictinerorden (1797— 1800), Profeffor an ber Univerfität, 
dann Secretär an der Accademia di belle arti in Bologna, lebte 
ſpäter als Literat in Mailand, ftarb 1848. Berühmt als Verf. von 
Grabinſchriften und Redner, Anhänger der klaſfiſchen Richtung, „tutti i 
suol scritti sono dettati con attica puritä di stile e venustä di lingua 
inarrivabile.* 

2) Fr. Montefredini, la vita e le opere di Giacomo Leopardi, 
Milano, Fratelli Dumolard, 1881. | 

3) Diele wie die folgenden poetifchen Stüde find ber Ueberfegung 
von Panl Heyſe entlehnt. Giacomo Leoparbi, deutſch von P. Heyſe. 
In zwei Theilen. Berlin, W. Herk, 1878. 

4) Giacomo Leoparbi’s Dichtungen, deutfch von Guſtav Brandes. 
Mit einer Einleitung über das Leben und Wirken des Dichters. Han- 
nover, &. Rümpler, 1869. 


(395) 


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La — Die —X en Brũder. 
„IV. Beitpeibat; ndromadje; Die Prozeß⸗ 


In den fräberen Serien der Sammlung wiff. Borträge erfchienen: 


Literar⸗Hiftoriſches. 
(24 Hefte, wenn auf einmal bezogen, à 50 Pf. = 12 Mark.) 


Boretins, Sriedrich der Große in jeinen Schriften. (114) -. »- 2... 80 
Eorrodi, Rob. Burnd u. Peter Hebel. Eine Iiieran-biftorifäe Parallele. (182) 80 
Dierdß, Die ſchöne Kiteratur dev Spanier. (372)  - 2 2 2 2 00. 75 
, Doetifhe Turniere. (MT) 00 En. 60 
Cöfienharbt, Die Homeriſche Dichtung. (229) rn. 75 
Geiger, Die Satirifer des XVL Jahr underls. (295 ) ren. 75 
Benee, Die Fgziſchen Mirakelſpiele und Moralitäten als Vorlänfer des engl. 
amas. (Od) en 
Sagen, Der Roman von König Apollonius von Tyrus in feinen verjchiedenen 
Bearbeitungen. (303). 2 2200 0 en. 
Selbig, Die a vom „Ewigen Suden*, ihre poetifche Wandlung und sort. 
bilbun [0 11) ee .. . . . . . ... . 5. . 1.- 
eg, Die Nibelungenfage- (232). > 2 2 2 nr er nenne ur 
en Die Prometbeusjage mit befonderer Berhfiätigung ihrer Bearbeitung 
durch Aeſchylos. (321) . - 2 2 202. nn. 60 
v. Solßendorff, Onglande Prefſe. (95) 60 
Martin, Goethe In Straßburg. (135) - © 2 2 2 2 0 nen ne. 60 
reinen, Horaz, Perſins, Juvenal: die Hauptvertreter der röm. Satire. (445) 80 


emenyt, Tonrnale und Fournaliften Der franzoͤſ. Revolutionszeit. (340/841) 1.20 


en Goethe's Erſcheinen in Weimar. 

Nibbeck, Sophofled und feine Tragödien. 2. Aufl. (83) 

Sarrazin, Das franzöftikhe Drama iu „uferem Shhrpunbert 

Spe Ueber dad Komiſche und deſſen Verwendung in der Poefie. 
Shiten, Goethe und Frankfurt a. M. 


Schiller und Roufleau 


— Vaterſtadt. (261) -». . . » 
Trofien, reege Nathan der Weile. 


. ® 


(263 


(265) 


(276) 
Die ‚Degiehungen des Dichters u 


75 


Das alerandriniihe Mufenm. ine Skizze aus dem "gelehrten 


Leben des Alterthumd. (231) 


In den früheren Serien der „Sammlung ‘’ eriienen: 
Viographien und Werwandtes, 


(49 Hefte wenn anf einmal bezogen & 50 Pf. = 24,50 Marl. Auch 24 Heite uud 
mehr diefer Kategorie nad Auswahl (menn auf einmal bezogen) a 50 Pf. 


Alberti, Heinrich Peftalogg. 2. Aufl. (IM). . 2220. Deren 60 
Arnold, Sappbo. (118) 2 2200 onen en 60 
von Belle, —8 von Oranien, der Befreier der Niederlande. (26) . . 76 
nern ardt, Lord Palmerfion. (10T). 2 2 2 2er ne 60 
Alerander v. Humboldt und der Geiſt zweier Jahrhunderte. (89) 75 

80 


Bo er, Heinrich ber Löwe. (349). © 2 0 een 
— — 2 Friedrich der Zweite. (383). » 2200. ern 60 
Enfien enh uhardt, Hadrian und Klorud. (397) . 2 u 2 . 60 
Ernst, Peter von Eorneliud. (217). 2200000. „.. 
Derfter, 8, Zohann Kepler. (146. ren. 60 
oboefe, Gottfried von Boutllon. (326). . » 2 2:2 22er ne 75 
gurigend Mohammed. (20) 2: 2 0er. M. 1.— 
ein, Albrecht Dürer. 2. Mufl. AO). 2200000. ve. 
Sau, Sonfucius, der Weile Chinas. (338) . . . 22.00. "....6 
v. Hellwald, Sebafttan Sabot. (124). 2 20 no nen 76 
enfe, Johann Hus und die Synode von Konftanz. 2. Aufl. (81) .. . 75 
erbft, Kant als Naturforicher, Phtlofoph und Menſch. (362) . .... 80 
ine Minden Herzlieb. (297) . 2 2 0 0 rer ne m. 1l.— 
el, Zeanne d'Arc. (22T) oo 2 rn nee 1.— 

net Saviguy und Feuerbach, die Koryphäen der deutſchen — 
a (378s58. en .1.— 

v. — Richard Cobden. 3. Aufl. (1). nenne 


—, John Howard und die Peſtſperre gegen Ende des achtzehnten Fahr: 
hunderts, (ET) rn 
Sopf, Donifag, von Montferrat, der Eroberer von Konftantinopel und der 
Troubadour Rambaut von Kaqueirad. DE). one 75 
v. Kluckhohn, Luiſe, Königin von Preußen. Mit dem Sidniß ber Königin 
in Lichtdrud. (223) > 200 ne 1 
dafjelbe, Prachtausgabe auf Velin mit Ortg.-Photographie der Rinigin 


broch. M. 4,50; elegant geb. in roth Keinen... . 20. . 

— Blüder. (313/14). a M. 1.20 
—, Der General von Scharnhorfi. (461).. 80 

ler, Wallenftein. (180). - - 22.2. onen 75 
Rugler, Kaifer Heinrich IV. (374) 2 2 2 2 m een 80 
Siffauer, Albrecht von Haller und jeine Bedeutung für die deutſche Kultur. (189) 75 
Miaenf, Franz von Sidingen. 270908. . 75 
Malmftsn, Karl von Rinne. (329). 2 22 2er rer ne 80 
Maurenbrecher, Don Carlos 2. Aufl. (90)... 22200. M. 1.— 


Meyer, U. x Gerächtnißrede auf Cool. (386) . - 2-2 22000. 60 
ante er, 3. B., Arthur Schopenhauer ald Menſch und Denker. (145) . . 80 
eyer, William Harvey, der Neformator der Phyfiologie. (337) . . . 60 

60 


Haumann, Ludwig van Beethoven. (MT). 2 2200er. 
Henmaun, Hugo Grotius 1583—1645. (449) . . 2-22 200m. 60 
Haab, Leonarto da Vinci ald Naturforſcher. 350) rer 80 
aichter, Die Piceolomint. (201). 2 2 2 22er. 75 
Sind Columbus und feine Weltanfhauung. (308) . - . «20202. . 60 
malt Luther's Entwidlung vom Mönch zum Neformator. (438) 60 

rk, Joh. Sonim Winkelmann, fein Bildungdgaug und feine bleibende 
Glenn) 2. Aufl. (2) 2 000 ren M. 1.— 
Steru, Milton und Crommel. 02 1) PER 75 
zolin, Michael Servet. (254) - » > 200 ern n. M. 1.— 
Zweiten, Machiavelli. (AO) . 200 one 60 
Winckler, Gregor VII. und die Normannen. (234)... . 2.00. 75 
Zichofte, Heinrich Zicholfe. 3. Aufl. (12) ..... ren M. 1.— 


WEB DBeitellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. "ug 
Berlin SW., 33 Wilbelmftraße 33. 
Carl Kabel. 


(8. ©. Lüderib’iche Verlagsbuchhandlung.) 


2 
RN 


— — — — 77,8 


Sammlung 
gemeinverſtändlicher 


wiſſenſchaftlicher Porträge, 


herausgegeben vo 


Mud. Virchow und Fr. vol Holgendorff, ; 


xx. Seriie.— 


(Heft 457 — 480 umfaflend.) 


————7? SL 


Heft 468, 
Das Wunderland am Yellowflone. 


Bon 


A. A. von Zittel. 


Gbh 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 8. Lüderity’sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm-S traße 33. 


& 8 


Ba —— ——— — — — 


DB Ss wirb gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. A 





In den früheren Zahrgängen der „Sammlung ‘’’ erichienen: 


Geographie. 
(19 Hefte, wenn auf einmal bezogen à 50 Pf. -= 9,50 M.) 
Da tan, Mexiko. 2. Aufl. (62). © 2 eo 15 


oguslawski, Die iefiee und ihre Boden: und Zemperatur-Berhältnifie. 
> it einer Ztefenfarte der Dceane der Erde und ſechs Diagrammen gm 
) 


(Z10/ 3) . . .... „80 

Wuhhole, end und Leute in Weſtafrika. (257). » » - >» 20.20. M. 1.— 

Das Sinnen und Seelenleben des Menſchen unter den Tropen. (204) 75 

takt und Morgen unter den Tropen. (240). . - 2 222000 M. 1— 

v. "Hodhftetter, Der Ural. (LE) 2 0 ee ren M. 1.— 
Jordan, Die gengraphiihen Nejultate der von G. Rohlfs geführten 

Erpedition in die libyiche Wäfte. Mit einer Karte. (218)... .. M. 1.20 


Kögler, Tirol als Gebirgsland. Streiflichter auf Vergangenheit und Gegen- 


wart. (BEA) 2 2200 60 
Koner, Ueber die neueften Entdedungen in Afrika. (69/70)... . . M. 1.20 
Meyer, U. B., Die Minahaffa auf Gelebed. (262). -. -. - 2220. 60 
Neumayr, Zur Geſchichte des öftlichen Mittelmeerbedend (392) . . . . .» 60 


Sadeb , Entwieelun sgang der Gratmefinngd-Arbeiten und gegenwärtiger 
Stand der europäiſchen Gradmeſſung. Mit einer Weberichts- Karte der 
40 


dentihen Gradmefjungs:Arbeiten. (258). - » 22 22000 M. 1. 
v. Seebad, Central: Amerika und der interoceantidhe Kanal. Mit einer 
Karte von Central-Amerika. (183) © » 2 >: 220 een ne M. 1.— 
zreufiein, Die Durdquerungen Afrika's. (Mit einer Karte) (433/434) .2.— 
—AF Die a ar der warte von Europa. (127). 2 20.0. 60 
ubady, Algier. 2 Abz. (35). - 2 020er. M. 1.— 
Geſchichte. 


(23 Hefte, wenn auf einmal bezogen à 50 Pf. = 11,50 Marf.) 
Beheim: award, Die Beſiedelung von Oftdentichland durch gie 
er 


zweite germaniſche wanderung. (393/394). - - 2 2. 2 20. 1.20 
DBergau Da ‚Debenshaupthane Marienburg in Preußen. (133)... .. 60 
Blnntfchli, Gründung der amerikaniſchen Union von 1787. 2. Anfl. (64) 60 
—8 u. Ottol. (4822)... ... 60 

Bon der deutſchen Hanſa. (456) . 80 
Dondorff, Die Normannen und ihre Bedeutung für das europäifche Kultur: 

leben im Mittelalter. (225). 2 00 00 ren 75 
fielen, Das Varianiſche Schlachtfeld im Kreife Beckum. Mit einer 

Karte. (200). 22 en M. ⁊ 

—— Unſere Kaiferiage. MO) een M. 

e „Livius und die önife Diebe. (Ein Bild römifcher Gefpihte. 

dr AO) en M. 1.- 


Iſaac, Amy Robsart und Graf Leiceſter. (Ein Criminalfall des XVI. Jahr⸗ 
hunderts.) (389). 2 2000. 


dem Ein Tag aus dem Leben des Königs Darius. (178). . 2. 22... 75 
Amann, Pommern zur Zeit Ottod von Bamberg. (299) ....... 75 
Zöher, Sapeın in der Geſchichte. (307). 2. 2»: 0222 M. 1.- 
Müller, Prof., Dr., A., Die Beherridher der Glaͤnbigen. (406) . M. 1.— 
Schreiber, Die Reformation in Pommern. (351). - - 2-2 20... M. 1.— 

Schroeder, Die niederländiihen Kolonien in Norddeutihland 3. 3. des 
Veittelalterd. Mit einer Karte. (37T) 2 2 20er M. 1.— 
Schulze, Das alte Rom als Großftadt und Weltſtadt. (302)...... 75 
Sepp, Kalfer Friedrich I. Barbarofia's Tod und Grab. (330). . . .M. ı.— 

Start, Aus dem Reiche des Tantalud und Kröjus. Mit einer Karte und 
„ner en a (18). > 2 0 ern M. 1.80 
Die Zeit 4 Xıv. (121)3.. 60 


er, Krönung Karls des Großen zum römiichen Kailer. (323). . . . 75 


Das 


Wunderland am Hellowflone. 





Bortrag 


von 


. 
* ri 


&. A. non Jittel, 
Profeſſor in München. 


GH 





Ö 
Serlin SW., 1885, 


Berlag von Carl Habel 


(€. 8. Lüderityische Verlagubuchbandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


Das Recht der Ueberfegung in fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


Im Gegenſatz zu Europa, dem meiſt gegliederten und in 
ſeinem geologiſchen Aufbau mannichfaltigften aller Continente, 
zeichnet fich Nord⸗Amerika durch eine Einfachheit aus, die ſich 
zuweilen bis zur Einförmigkeit ſteigert. In der neuen Welt iſt 
die Gejchichte der Urzeit im grober Yractur, in Europa in zier- 
licher mit Schnörfeln und Arabesfen überladener Miniaturjchrift 
aufgezeichnet. Mit jener Einfachheit verbindet Amerika freilich 
nicht ſelten eine erhabene Großartigfeit des Naturcharakters. 
Wo haben wir z.B. in Europa einen Waflerfall, der dem 
Niagara glei) Fame? Was bedeuten unjere Alpenfeen gegenüber 
den Süßwaſſermeeren Nordamerikas? Wo finden wir in Europa 
eine Ebene, die ſich mit den unermeßlichen Prärieen des ameri- 
Tanifchen Weftend vergleichen ließe; wo einen Strom der an 
grandiofer Schönheit den Columbiafluß überträfe? Auch den 
abenteuerlichen Landichaften in den Badslandd von Montana und 
Wyoming, dem Götterhain von Colorado, den phantaftijch ges 
gliederten Terraſſen der Felswülten von Arizona und gar den 
in die Ebene eingeichnittenen Riefenfchluchten ded Gran Canon 
in Colorado haben wir in Europa nichts Ebenbürtiges zur 
Seite zu ftellen. 

Unter den Naturwundern Nord» Amerifa’3 nimmt der Nas 
tional-Part am Vellowſtone die erfte Stelle ein. Ihn meint 
man zunächit, wenn vom Wunderlande ded Weſtens die Rede 
ift; auf ihn blidt jeder Bürger der vereinigten Staaten mit 
Stolz. Merkwürdigerweiſe ift derſelbe erft jeit 15 Jahren bes 
fannt. Allerdings hatte jchon im Beginn dieſes Jahrhunderts 
ein Trapper Namens Colter, weldyer zum Gefolge der denk⸗ 


IX. 468. 1 (399) 





4 


würdigen Grpedition Clarke's nach dem ftillen Ocean gehörte 
märcdenhafte Gerüchte über einen Landftrid im Zelfengebirge 
verbreitet, wo Seen voll brennenden Peches, heite Duellen und 
aus dem Boden aufipribende Springbrunnen zu jehen feien. 
Colter hatte fi wahrfcheinlich im Jahre 1806 von Clarke ge⸗ 
trennt, war auf dem Heimmeg von Indianern ergriffen worden 
und endlich auf wunderbare Weile der Gefangenfchaft und dem 
Tode entronnen. 1810 lebte er in Miffouri, wo er fo uner- 
hörte Dinge von dem Wunderland im Weiten erzählte, daß 
er mit dem Makel eines unverbefferlichen Lügners behaftet ftarb. 

Erft nady einem halben Sahrhundert follte der Mann ges 
rechtfertigt werden. Im Jahre 1860 hörte Oberft Raynold's, 
welcher im Felſengebirge mit topographiichen Aufnahmen bes 
Ihäftigt war, jeltiame Gerüchte über das Duellgebiet des. 
Yellowftonefluffet. Es gäbe dort neben heißen Quellen und 
dampfenden Seen ganze verfteinertte Wälder und, was noch 
wunderbarer fei, die Büſche trügen Früchte and nußgroßen 
Edelſteinen und jogar Landthiere und Vögel finden fi dort 
in einer Weije verfteinert, ald ob fie lebendig jeien. Raynold's 
ichentte diefen Fabeln natürtich feinen Glauben; als jedody im 
Jahre 1869 die Goldſucher Cool und Falſom den oberen 
Yellowftone beſuchten und nach ihrer Rückkehr von herrlichen 
Wafjerfällen, von einem großen See, ven heißen Quellen, von 
Scwefelablagerungen und von Geyfirn erzählten, wurde die 
öffentliche Aufmerffamleit ſo jehr erregt, daB General Waſhburn 
eine Expedition dahin ausrüſtete. Was er dort jah und fand, 
übertraf die weitgehendften Erwartungen. Die Nachricht von 
bem neu entdedten Wunderland durchflog die Union wie ein 
Lauffeuer, Sebermann wollte Genaueres darüber willen und 
die öffentliche Meinung bezeichnete den damaligen Director der 
geologifchen und geographifchen Survey, Profeffor Hayden, als 
den geeignetften Mann zur Unterfuchung des merkwürdigen Ges 
(400) 


5 


biete, Von ber Bundesregierung mit einem Stabe junger 
Gelehrter dahin geſchickt, ſandte Hayden ſchon im Spätherbft 
1871 ausführlide Berichte nah Wafhington die in allen Zels 
fungen wiederholt wurden. Auf Hayden's Anregung kam im 
Dezember 1871 ein Antrag im Haufe der Repräfentanten zur 
Berathung, wonach da8 Duellgebiet des Yellowftonefluffes zum 
Stantdeigenthbum erflärt und gegen jede Anftedelung gefchüßt 
werden jolle. Der fragliche Landftrich hat einen Umfang von 
3575 englifchen Quadratmeilen, entipridht ſomit in ber &röße 
ziemlich genau dem SKreife Niederbayern. Da bderjelbe wegen 
feiner geringen Fruchtbarkeit, feiner gebirgigen Bejchaffenheit, 
jeined rauhen Klima’3, feiner Armuth an nüblichen Mineralien 
nur geringen nationalölonomilchen Werth befibt, da fi darin 
erit wenige Squatterd niedergelaffen hatten und auch die ein. 
zigen Eigenthümer des Landes, die Indianer, feine Anfprüche 
erhoben, jo erhielt der Antrag im Mär; 1872 Geſetzeskraft. 
Das Wunderland am Yellowftone wurde für alle Zeiten zum 
Staatdeigentyum erklärt und ala Nationalpark dem Volke der 
Bereinigten Staaten zum Vergnügen und zur Erholung ges 
wibmet. " 
Durh diefen Beſchluß find zunächſt die ausgedehnten 
Wälder des Parkes vor Berwüftung durch Speculanten geſchützt; 
aber audy der heilfräftigen Duellen follte fidy Niemand im 
egoiftifchem Intereſſe bemächtigen dürfen; feine gewinnfüchtige 
Geſellſchaft follte ihre Hand auf die Naturwunder legen, um fie 
zur Audbentung der Beſucher des Parfed zu mißbraudien; 
feinem Gaftwirth, Jagd⸗ oder Filchereipächter, Pferbeverleiber, 
Führer n. |. w. follte es geftattet fein, irgend welche Erpreſſungen 
zu verüben. Im urjprünglihen Naturzuftand follte das Ganze 
der Nation erhalten bleiben, unbeläftigt follte fich der Reiſende 
daran erfreuen; Arme und Reiche follten gleichmäßig Erfriſchung 
und Genefung in der Töftlichen Luft und in den heilfräftigen 


(401) 


6 


Thermen ſuchen dürfen. Der Regierung fiel die Obliegenheit 
zu, einen Superintendenten zu beitellen, welcher darüber zu 
wachen hat, daß der Nationalpark vor unbefugter Beſitznahme 
geſchützt bleibt, welcher für Herftellung von Wegen, Brüden 
und fonftigen Derbeflerungen einen beſtimmten Jahreszuſchuß 
zu verwenden, die Erlaubniß zur Errichtung von Gafthäufern 
und Badeanftalten zu ertheilen und die Preife aller für den 
Fremdenverkehr beftimmter Einrichtungen zu beauffichtigen bat. 

Denn dad genannte Geſetz den Nationalpark in wirkiamer 
Weile vor Privatipeculation ſchützte, jo hatte ed auf ber 
andern Seite doch auch den Nachtbeil, daß derjelbe nur für 
jene Zahl Bevorzugter zugänglich blieb, welchen genügende 
Mittel, Kräfte und Zeit zur Berfügung fanden, um die Bes 
jhwerden und Koften einer ſolchen Reiſe auf fich zu nehmen; 
denn wenige fahrbare Straßen führten an feine Grenzen; im 
Innern felbft find die von der Regierung angelegten Wege 
und Brüden fpärlih und zum Theil in jchlechtem Zuftanbe. 
Feder Reiſende mußte fih bis in bie neuefte Zeit Wagen, 
Pferde, Zelt und Proviant felbft mitbringen; zur Benußung der 
warmen Quellen gab es im ganzen Park nur zwei elende 
Bretterbuden. Erft im Sommer 1883 find mandherlei Ber- 
-befjerungen eingetreten. Die Nortbern-Pacific-efellichaft hat 
eine Zweigbahn bis an die Nordgrenze des Parkes erbaut und 
ein nnternehmender Dann, Herr Rufus Hatdh, hat die Erlaubniß 
zur Errichtung von 12 großen Hoteld erhalten, wovon eines 
bei nnjerem Beſuche vollendet und eröffnet war. 

Der Yellowftone- Part nimmt dad nordweftlihe Ed von 
Wyoming ein. Er hat die Geftalt eines regelmäßigen Rechte 
edles, deflen Seiten 55 und 65 engliihe Meilen oder 88 zu 
94 km lang find. Im Süden und Werften greift er mit 
ſchmalen Streifen nah Montana und Idaho über. Er liegt 


jo recht im Herzen der Rody Mountaind, Durch feine ſüdweſt⸗ 
(403) 


7 


liche Ede zieht die Hauptlette des Seljengebirges, an welcher fich 
die Waſſeradern fcheiden und theils dem pacifiſchen, theils dem 
atlantiichen Ocean zueilen. in vorgefchobener Gebirgäzug, die 
Dellowitonelette, bildet im Dften einen natürliden Grenzwall 
gegen die trodene Hochebene von Wyoming, im Weiten fchließt 
die Galatinkette den Part gegen Idaho ab. Zwilchen den 
beiden Hauptfetten erheben fich Telbfiftändige Berggruppen von 
nahezu gleicher Höhe. Obwohl alle Hauptgipfel im Yellowftone- 
Part 10—11 000 engl. Fuß erreichen und zum Theil mit ewigem 
Schnee bededt find, jo machen fie Doch einen wenig imponirenden 
&indrud, denn ber Park jelbft ift ein Hochplateau mit einer 
mittleren @levation von nahezu 8000 Fuß, deſſen niedrigfter 
Punkt noch immer 5860 Fuß über dem Meereöipiegel liegt. 

Man Tann nicht behaupten, daß die Bezeichnung Park für 
dies urwüchfige, faft unbewohnte und zum größten Theil bemaldete 
Hodland fonderlich glüdlich gemählt ſei; doch zeichnet es fich 
vor anderen Theilen der meift fterilen und waflerarmen Rody 
Mountains durch auffallenden Reichthum an Duellen, Zlüfien 
und Seen aus und auch die Vegetation entfaltet eine für das 
Felſengebirge ungewöhnliche Ueppigkeit. Leider ift der Beſtand 
der jchönen Wälder troß aller Geſetze ſchwer gefährdet, denn 
aus fräflicher Sorglofigleit gehören Waldbrände auch bier, wie 
im ganzen Weften zu den alltäglichen Vorkommniſſen. 

Die landſchaftlich ſchönſten Theile der öftlichen Hälfte des 
Parkes habe ich leider nicht felbft gefehen, doch gewährt darüber 
ein von Profeſſor Hayden veröffentlichtes Werk!) allen nur 
wünfchenswertben Aufſchluß. Den Glanzpunft bildet Bier 
offenbar der Yellowftone-See und das Thal des gleichnamigen 
Fluſſes. Erfterer iſt unter allen Hochgebirgdfeen Nord⸗Amerikas 
der größte; er hat einen Umfang von 240 qkm. Seine Geftalt 
gleicht einer ausgebreiteten menſchlichen Hand, beren Finger fich 
nad Süden ausftreden. Obwohl in einer Höhe von 7780 Fuß 


(408) 


8 


gelegen, find feine Ufer doch dicht bewaldet. Sein klares Waſſer 
enthält zahllofe Forellen, die aber leider meift mit langen, im 
Fleiſche ſteckenden Eingeweidewürmern behaftet find. Man bringt 
die Anweſenheit dieſer Parafiten in Verbindung mit den heißen 
Quellen und will beobachtet haben, daß die Jufection ſtets da 
auftritt, wo fi heißes Waſſer mit den Klüffen oder Seen 
miſcht. Am Yellowftonefee ſprudeln einzelne Thermen jo dicht 
am Ufer hervor, daß ein Angler, ohne ſich von der Stelle zu 
bewegen, die Forelle herausziehen und fofort im heißen Wafſer 
abkochen Tann. 

Im Dften treten wildzerrifiene graue Yeldwände nahe 
an den See heran und fpiegeln fih in der grünen Waller 
fluth; im Süden, Norden und Weften find die Ufer mehr ab- 
geflacht, die feltfam geformten Buchten von dunklem Fichtenwald 
beichattet. | 

Drei andere Feine Seen liegen jenjeitö der continentalen 
Wafjericheide zwiſchen hoben Bergen verftedt und außerdem giebt 
es eine Anzahl meift in breiten Hochthälern gelegene Weiber, 
die ſich häufig in Zorfmooren verlieren. Unter den Wafleradern 
nimmt der Yellowftoneflug an Breite und Waflerreihihum die 
erite Stelle ein; außerdem wird der Park vom Garbiner- und 
Madifonfluß durdhftrömt, wovon der letztere die zwei Arme des 
Fireholefluffes und den Gibbon River aufnimmt. Im Süden 
führen der Levid Fort und der Snake River ihr Wafler dem 
ftilen Ocean zu. 

Der Große Canon, d. h. die Strede, wo der Vellowſtone⸗ 
fluß das Waſhburne⸗Gebirge durchbricht, gehört zu den berühmteften 
Landichaften Nord-Amerifad. Nachdem derfelbe den großen See 
verlaffen, eilt er durch einen hügeligen, mit Wieſen und Wald 
bedeckten Thalkeſſel, bis er an hohen, von beiden Seiten fih 
zufammen ſchließenden Felswänden Widerftand finde. Nun 
verengt fich fein Bett auf ein Viertel der urfprünglichen Breite 

(404) 


9 


und in einer engen, felfigen Schlucht bahnt er fich feinen Weg 
durch dad harte Geftein; es bilden fich Stromſchnellen, und 
nachdem er zuvor einige Stufen überichritten, ftürzt er mit 
donnerndem Braujen eine 112 Fuß hohe ſenkrechte Wand herab. 
Tief unten in der Schlucht ſammelt fi dad Waſſer, raft etwa 
tauſend Schritt weiter und gelangt nun an eine zweite 300 Zuß 
hohe Felswand. Hier fcheint der Fluß einen Augenblid Halt 
zu machen, al3 ob er fich vor dem gewaltigen Sprunge ſcheute, 
dann aber ftürmt er vorwärtd und fällt als hellblinkender 
Süberftreifen herab in die graufige Ziefe, wo er zur weißen 
Dampfwolke zerftäubt. Mehr ald 1800 Fuß hohe Wände ber 
grenzen beiderjeitd die nach oben ſich audbreitende Schlucht. 
Ste beftehen aus vulkaniſchem Geftein (Trachyt, Rhyolith nad 
Baſalt), das, in verfchiedenem Grabe der Berwitterung anheim 
gefallen, die feltjamften Formationen bildet. 

Shre Gipfel find mit Fichten bewachlen, die fteilen, zum 
Theil ſenkrechten Gehänge vegetationdlos, und nur die Schutt- 
balden an ber Bafis mit ſpärlichem Buſchwerk bedeckt. Im 
phantaftiihen Geftalten treten einzelne Glieder aus ben tief 
zerrifienen Thalwänden hervor; man fieht Felsgebilde, welche 
Burgruinen, zerfallenen Feſtungen, gothiſchen Domen gleichen, 
oder auch als ifolirte Thürme und Nadeln frei in die Lüfte 
ragen. Und al diefe grotesfen Bauwerke einer unbemwußt 
Ichaffenden Naturkraft leuchten in foldyer Farbenpracht, als ob, 
wie ein entbufiaftiicher Beobachter fchreibt, ein Negenbogen vom 
Himmel gefallen wäre und jeine Farben über die Felswände 
ergofjen hätte. Schwefelgelb, Orange und Ziegelroth find die 
berrfchenden Töne, denen fich andere Farben in allen denkbaren 
Abftufungen beimiſchen. 

Während das Hauptihal des Yellowftone vullanifche Ge⸗ 
fteine durchbricht, ift der öftliche Arm faft ganz in geichichtete 
Ablagerungen ven. jungtertiärem Alter eingeſchnitten. Er fließt 


(408) 


10 


durch ein freundliches Wiefenthal und zeigt nicht weit von der 
Ginmündung in den Hauptarm auf der linfen Seite ein geologiſches 
Phänomen, das nicht wenig zu den fabelhaften Gerüchten über 
dad Wunderland beigetragen bat. Hier fieht man nämlich bie 
horizontalen Schichten an einem 2000 Zuß hoben Gehänge eutblößt 
und die Oberfläche beflelben überjäet von Tümmern verfiejelten 
Holzed. Das würde dem Geologen an und für ſich nicht beſonders 
auffallen, denn verfteinertes Holz gehört keineswegs zu den feltenen 
Borlommniffen; verkiefelte Baumſtämme finden ſich 3. B. in 
großer Menge am Kyffhäuſer, zu Adersbach in Mähren und an 
vielen anderen Orten. Sa, bei Cairo und in ber libyichen 
Hüfte bilden Iofe umherliegende Stämme und Trümmer förmlidhe 
verfteinerte Wälder. Aber an keiner Stelle der alten Welt fiebt 
man an einer Feldwand in verjchiedenem Niveau etwa 20 ver 
fteinerte Wälder übereinander und zwar die Baumftämme no 
aufrecht mit ihren Wurzeln und Zweigen in den Felſen ein- 
gebettet. Die Holzitructur ift im der Regel wohl erhalten und 
nicht jelten findet man im Inneren von hohlen Coniferen oder 
Laubholzftämmen prächtige Drujen von Amethuft oder bunt⸗ 
farbigem Quarz. Auch Kugeln und vielgeftaltige Kuollen von 
Achat und Dpal liegen auf dem Boden umber und haben wahr- 
Iheinlih zu jenen Fabeln Veranlaffung gegeben, von demen 
Dberft Raynolds im Jahre 1860 hörte. Blätter und Zweige 
von Linden, Eichen, Erlen, Lorbeer, Magnolien, Aralien und 
Nadelhölzern find in Menge in den weicheren Scieferjchichten, 
weldye die Sandfteine und Conglomerate mit den verfteinerten 
Wäldern trennen, gefunden worden. 

Abgeſehen von diefen Tertiärgebilden und von einem 
Ichmalen, aus Granit und älteren Sedimentärgefteinen zuſammen⸗ 
gefetzten Saum an der Nordgrenze des Parkes, ift ber Boden 
allenthalben aus vulkaniſchem Material zufammengefebt. Obwohl 
die Beichaffenheit der trachytiichen und baſaltiſchen Gebirgsarten 


(406) 


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auf ein verhältnipmäßig junges Alter hinweift, fo giebt ed body 
heutzutage im PYellowſtone⸗Park keinen einzigen thätigen Vulkan 
mebr, wohl aber ftellen zahllofe, über dad ganze Gebiet zer 
ftreute heiße Quellen, Geyfir, Solfataren, Dampfausftrömnngen 
und Schlammpulkane gewiſſermaßen die lebten Zudungen der 
im &rlöfchen begriffenen Yeuerberge bar. 

Die Beſichtigung der Geyfirregion im Bellowftone-Part 
bildete einen der intereffanteften Punkte in Dem reichen Programm, 
welches Herr Henry Billard, der Präfident der Northern Pacific 
Bahn zur Eröffnungöfeier diefer wichtigen Linie im Herbſt 
1883 aufgeftelt hatte. Am 21. September führte und ein 
Ertrazug von Livingftone durch das Paradiesthal an den Fuß 
der Ziunoberberge. Wir brachten die Nacht in unferen behag- 
tihen Palaftwagen im freien Felde zu. Am andern Morgen 
fahen wir eine Anzahl Fuhrwerke, in Staubwolfen gehüllt, von 
den benachbarten Höhen herablommen. Bald hatte fi bie 
Geſellſchaft in verjchiedenen, zum heil ziemlich primitiven 
Fahrzengen vertheilt und num ging ed zuerſt an einer fteinigen, 
mit Moränenfchutt bededien Halde vorüber nach Gardiner City, 
einem jener wenige Monate alten aus Blodhäufern, Breiter 
Hütten und Zelten beftehenden Städtchen bes fernen Welten, 
worin fich die Eultur des Oſtens mit all ihren Auswüchſen und 
die urjprüngliche Roheit der Wildniß die Hand reichen. Uniere 
Kutſcher lenkten ihre vier bis ſechs Nferde mit bewunderungs⸗ 
würdiger Sicherheit, aber mauchmal wurde und doch angft und 
bange, wenn wir im Galopp einen ftellen Hügel herabjauften 
oder wenn fih an einer fcharfen Eurve der Wagen dermaßen 
auf die Seite neigte, dab jämmtliche Inſaſſen ihr Körpergewicht 
nad) der entgegengefeßten Richtung verlegen mußten, um das 
Gefährt aufrecht zu erhalten. Daß dieſe Vorfichtsmaßregel 
übrigens nicht immer den erwünſchten Erfolg hat, zeigte und 


ein zertrümmerter Omnibus neben der Straße, ber einige Tage 
(407) 


12 


vorher verunglüdt war. Doch auch diefe Fahrt ging vorüber. 
Die leichten Nebelwolten, weldye am frühen Morgen den Himmel 
vorübergehend verfchletert hatten, verfchwanden; die Sonne ſtrahlte 
in vollem Glanze, ald wir von der Höhe bed legten Hügeld 
in den weiten Kefjel von Mammuth bot ſprings berabichauten. 

Links fchlängelt fih etwa 1000 Fuß tiefer der Garbiner- 
Fluß an einer impofanten Gebirgswand bin. Zahllofe Schluchten 
wahre Modelle zur Grläuterung der Vorgänge bei der Thal⸗ 
bildung, find in das graue Geftein eingefchnitten, deſſen gefaltete 
Schichten wie ein aufgeichlagened Buch vor unjern Augen liegen. 
Rechts erheben fi) bewaldete Gehänge und auch gegen Süben 
Ichließen gerundete Berge den Thalkeſſel ab. Auf eine Strede 
von 6 km lehnen fi weithin fichtbar weiße Hügel an das bes 
waldete Gebirge an, haarfcharf durch ihre grelle Karbe von dem 
dunfeln Hintergrund geichteden. Etwa 200 Schritt Davon ent- 
fernt ftebt in der Thalfohle der einzige, bis jest vollendete 
Safthof des Yellomwftone-Parks, ein bhübicher vierftödiger Holz⸗ 
bau im Schweizer Berandaftyl mit circa 300 Zimmern; jelbft- 
verftändlich mit Telegraph, elektriſchem Licht und allem in den 
befferen amerifanijchen Hoteld üblichen Luxus auögeftattet. Ganz 
nabe beim Gafthaus nimmt der Boden durch fein zerriebenen 
Kalkftaub eine ſchneeweiße Färbung an, dann folgt eine ziemlich 
ausgedehnte Terraffe, zu welcher man über etwa ſechs bis acht 
niedrige Stufen gelangt. Hier ift das Geftein etwas fefter, 
bald aus dünnen parallelen Blättern, bald aus verticalen Röhren 
und Stäbchen zufammengefeht, weldye die Struktur von Holz 
täufchend nachahmen. Eine gewaltige, 47 Zub hohe und an 
ihrer Bafis 20 Fuß dicke, oben etwas verjchmälerte ftumpfconijche 
Säule erhebt fich wie ein riefiger Zuderhut inmitten des unterften 
Dlateaus; ihr Aufbau aus überhängenden Schalen von feſtem 
Kalktuff zeigt, dab fie ihren Urjprung einer ehemaligen Duelle 
verdankt, welche neben ihrer Deffuung reichlich Kalk abjehte und 


(408) 


13 


fi) nad) und nad, über ihre Umgebung erhob. Jetzt riejelt 
fein Waffertropfen mehr am Liberty Cap herab, und auch die 
unterfte Zerraffe enthält nur wenige Tümpel, worin ſich das 
von den höher gelegenen Duellen berabfließende Waſſer fammelt. 

Als phantaftiicher Wunderbau fteigt hinter der erſten Terraſſe 
der eigentliche Duellhügel etwa 800—400 Fuß an der Berglehne 
empor. Wie von genialer Künftlerhband geformt, folgt hier 
Stufe auf Stufe übereinander, Teine der anderen vollftändig 
gleichend und doch alle von einem gewiſſen einheitlichen Gepräge. 
Jede Stufe beitebt der Hauptſache nach aus zahlreichen an« 
einandergereibten jeichten Wannen, deren Umfang durch den Ab» 
fland der nädjften dahinter auffteigenden Staffel bedingt wird, 
Indem dieje Beden bald halbkreisförmig vorjpringen, bald zurüd: 
weichen, bald fich berühren oder durch Einjchnitte getrennt find 
und indem fidh ihre and weißem Kalttuff von traubig fchaliger, 
einem Zuderguß nicht unähnliher Struktur beftehenden Außen- 
wände in der Mitte wölben und an ihrer Bafis häufig durch 
einen Säulenwald von zierlichen Stalaftiten geftüßt werden, 
erhält der ganze Aufbau eine bewunderungswürdige Mannich⸗ 
faltigkeit. Bier Hauptterraffen, zu denen man über die joeben 
geichilderten Stufen emporklimmt, lafjen ſich ſchon von Weiten 
untericheiden. Auf den ebenen Plateauflächen der beiden mittleren 
ſprudeln vorzugsweiſe die heißen Quellen hervor. Spalten ver⸗ 
binden fie mit jenen unterirdifchen Regionen, wo fie ihre hohe 
Zemperatur erlangen und beim Auffteigen durch Tallige Schichten 
beladen fie fi mit aufgelöftem Tohlenfauren Kalk. Wo eine 
Duelle an die Oberfläche tritt, befindet fich auf der weißen Zuff- 
ebene ein Beden von meift rundlicher oder ovaler Form, deſſen 
Durchmefjer zuweilen 30—40 Fuß beträgt. Zitternde, filber« 
weiße Dampfwollken erheben ſich aus der azurblauen oder licht: 
grünen Kryftallfluth, deren herrliche Färbung und Klarheit jeder 
Beichreibung fpottet. Im Innern find dieſe Beden mit ben 


(409) 


14 


reizendften plaftiichen Gebilden ausgelleidet. Da giebt es feine 
einförmigen Flächen; Alles ift wie auf einem unterjeeildhen 
Korallenriff gerundet und verziert. Weber moosförmigen Rajen 
erheben ſich Blumenkohl ähnliche Auswüchje oder ſeltſame Bau⸗ 
werte aus Stalaltiten. Ueber der Ausflußfpalte befindet fich 
dad Waſſer meift in wallender Bewegung; der Ueberfluß rinnt 
über den niedrigen Rand und füllt fomohl eine Anzahl auf der 
Terraſſe befindlicher flacher Becken ald auch jene halbkreisförmigen 
Wannen auf den Stufen ded Außenrandes, die nicht durch 
eigene Duellen geſpeiſt werden. Während das heiße Waſſer, 
dad mit einer Xemperatur von 70—74° C. aus der Spalte 
hervorquillt, theild in Kaskaden, theild in ſchmalen Silberftreifen 
von Stufe zu Stufe herabfinkt, jchafft ed dort natürliche Bäder 
von jeder beliebigen Temperatur und gelangt jo abgekühlt am 
Zub des Zuffberged an, dab man ed dort ungefchent trinken 
fann. Gleichzeitig binterläßt es bet der Verbunftung nicht allein 
Niederichläge von kohlenſaurem Kalt, welche den Wunderbau 
beftändig vergrößern, ſondern auch geringe Mengen von andern 
metalliihen Subftanzen, namentlich Verbindungen von Eifen, 
Magnefium, Natrium und Kiefelerde, die im Verein mit bunt- 
gefärbten Conferven intenfive fchwefelgelbe, ſcharlachrothe und 
braunrothe Farbenmiſchungen hervorrufen. Weber die heilkräftigen 
Wirkungen ber Mammuth-Quellen liegen erft wenige Erfahrungen 
vor. Sie enthalten in 1000 Gramm Flüßigfeit etwa 1 Gramm 
fefter Beitandtheile und zwar hauptfächlich fchwefelfaures Natron 
(35,5 p&t.), Kochſalz (13,4 pCt.), Eohlenfauren Kalk (24,8 pCt.), 
ſchwefelſauren Kalt (13,5 p&t.) und Heine Mengen von SKiefel- 
erde, Magnefia und anderen Eubftanzen. Der Gehalt an gelöften 
Salzen ift im Vergleich zu den meilten Thermen Europas ein 
ungewöhnlich hoher. Da die heißen Duellen überdied iu einer 
Höhe von 6300 Fuß über dem Meereöfpiegel zum Vorſchein 


fommen und zwar in einem waldigen Gebirgäland, das wegen 
(410) 


15 





feiner nervenftärfenden Luft berühmt ift, fo Lann den Mammuth⸗ 
hot-springs eine große Zukunft ald Babde- und Kurort prophezeit 
werden. 

Etwa die Hälfte unferer Reifegejellichaft ( Darunter Herr von 
Sifendecher, der damalige deutſche Gefandte in Wafhington, Carl 
Schurz, Profeſſor Hoffmann und Georg von Bunjen aus Berlin, 
Profeſſor Bryce aus Drford, Oberft von Zylander aus München) 
. traten ua kurzem Aufenthalt zu Pferde die Ereurfion ins 
Geyfirgebiet an; die zweite Abtheilung folgte den andern Morgen 
zu Wagen. Auf unjern Tleinen, aber ausdauernden Ponies 
ritten wir an den heißen Ouellen vorüber, ſahen das oberfte 
Plateau des Tuffberges, eine mit leeren Fraterartigen Vertiefungen 
und fegelförmigen Tuffhügeln außgeftattete Ebene, in welche von 
allen Seiten der Wald einzudringen verfuht. Die Mehrzahl 
der Quellen ift bier längft verfiegt, nur hin und wieder ift nody 
ein vereinfamter Weiher mit warmem Waſſer gefüllt und bann 
meift umgeben von abgeftorbenen, an ihrer Baſis verfteinerten 
Daumen. Ein unfäglidy fteiller Weg windet fi an dem Berge 
gehänge empor. Erſt nad) einer Stunde erreicht man das um 
1000 Fuß höher gelegene Hochplateau des Yellowftone-Parfes 
nnd zwar zunächft eim breites flaches mit Gefteinsfchutt bebedites 
Gebirgsthal, in welchem der Gardiner⸗Fluß in mäanbrijchen 
Windungen träge dahinſchleicht. Rechts bededt ein Birkenwald, 
der Ende September bereits jein goldiged Herbitgewand angelegt 
batte, den Fuß der dunklen Bergfette, auf dem linfen Thalge- 
hänge ftiegen ſchwarze NRauchwolfen aus einem brennenden 
Zannenwald empor. 

Etwa zwei Stunden reitet man durch eine wenig bemerlens- 
werthe Hügellandichhaft; hat man jedoch am Ende einer Wald» 
ſchlucht einen Leinen See erreicht, worin Bieber jchnurgerade 
Damme Tunftreich angelegt haben, jo ſieht man links eine hohe 


Felswand an den See herantreten, die Schon von Weiten im 
(411) 


16 


Sonnenliht gligert. Die Straße ift mit ſchwarzem, glasartigem 
Geftein bededt und nähert man fich dem felfigen Vorſprung, 
fo erfennt man, dab er aus mindeftend 100 Fuß hohen, verti⸗ 
falen Obfidianjäulen von ziemlich regelmäßig fünffeitiger Geftalt 
zujammengefebt ift. Ueber den funkelnden Glasſäulen ruht eine 
faft ebenjo hohe, horizontal gefchichtete Maſſe deflelben Gefteins, 
dad in braunrothen oder gelben Streifen eine Menge erbien- 
bis nußgroßer, Tugeliger Concretionen umjchließt. Die Obfidian« 
faulen am Bieberjee gehören zu den geologiihen Wundern des 
Yellowſtone-Parkes, denn dieſes in vulkaniſchen Gegenden viel- 
verbreitete Geftein zeigt äußerft jelten prismatiſche Abfonderung. 

Während wir am See vorüber ritten, erhob fidh ein Schwarm 
wilder Enten, über denen body in der Luft ein beuteluftiger 
Adler Ereifte. In den Wäldern huſchten zierliche, der Länge nah 
gelbgeftreifte Badhörndyen (Tamias) über umgeftürzte Baum» 
ftämme; vom Wapitibirich oder Elf, vom Büffel und Bergfchaf 
fahen wir hin und wieder Geweihe oder Schädel am Boden liegen; 
von den ſcheuen Antilopen und dem Grizzlybär dagegen, weldye 
fih jebt nur noch in den entlegenften Bergſchluchten aufhalten, 
erzählten und unjere Führer mandherlei Sagdabenteuer; wir 
jelbft hatten feine Gelegenheit, fie zu jehen. Die Sonne ftand 
ſchon ziemlich tief, ald wir mit Staub bebedt den Gibbonfluß 
und einige an feinem Ufer aufgeichlagene Leinwandzelte, unfer 
Nachtquartier, erreichten. Es war gerade noch Zeit genug zu 
einem Bad in dem klaren Talten Flußwaſſer. Dei einem Abend» 
effen von zweifelhafter Güte erfete Thee die bier gänzlich ver⸗ 
pönten geiftigen Getränfe; nach demfelben gruppirten wir und 
eine Weile um ein großed Feuer und juchten dann unfere Zelte 
auf, wo dünne, auf den Boden gebreitete Matraten zum Nadht« 
lager dienten. Am andern Morgen wurden wir durch empfind- 
liche Kälte aufgewedt, gegen die wir und durch die mitgebrachten 


Wolldecken nur unvollkommen zu ſchützen vermocdhten. Die 
(413) 


17 


Wiejen ringdum waren mit didem Reif überzogen, bie ruhigen 
Stellen des Flußes mit Eiskruſten bededt und unſer Waſch⸗ 
wafjer feftgefroren. Alles juchte die noch wenig wirffamen 
Somnenftrahlen auf, um die erftarrten Glieder zu erwärmen, 
unfere armen Pferde zitterten vor Froſt und ließen fi nur 
widerjtrebend die Sättel auflegen. Die Zemperaturbifferenz 
zwiichen den heißen Mittagsftunden des vorigen Tages betrug 
mindeftes 25° C. und dabei war die Luft von jo außerordent- 
licher Trockenheit, daB den meiften von uns die Haut im Geficht 
und an den Händen aufgefprungen war. Im Allgemeinen gilt 
übrigend das Klima des Vellowftone-Parkes für minder troden 
als im übrigen Feljengebirg. Es regnet im Sommer ziemlich 
viel und im Winter folen große Maſſen Schnee fallen. Gegen 
Ende Auguft oder Mitte September beginnen die erften Schnees 
geftöber, denen freilich wieder Tage folgen, wo dad Thermo» 
meter Nachmittags bis auf 23° C. fteigt, um in der Nacht auf 
5 oder 6° unter Null zu fallen. Wir waren in ungewöhnlichen 
Maaße vom Wetter begünftigt, denn in der Regel beginnt der 
Winter ſchon Mitte September und endet erft im Juni. Es 
tft ein Hochgebirgäflima, verfchärft durch die continentale Lage. 

Etwa 15 Minuten vom Zeltlager entfernt bildet das Norris 
Genfir-Beden eine rings von Wald umgebene unregelmäßig ges 
formte Einſenkung, deren Böſchungen und Sohle mit weißem 
Kiefelfinter bedeckt find. Wie aus hundert Efjen fteigen Dampfr 
wolfen allenthalben aus diefem gewaltigen Hexenkeſſel auf und 
auch die Abhänge fowie dad angrenzende Plateau find mit 
Dampfquellen und Geyfirn beſetzt. Dicht an der Straße ent- 
weicht aus einem Loch im fteinigen Boden ein heißer Gadftrom 
mit ziſchendem Geräufch und ſpritzt von Zeit zu Zeit einen Strahl 
fochenden Waſſers aus. Etwas weiter fteigt eine mächtige weiße 
Dampfwolfe mindeftend 150 Fuß body in die Luft; fie kommt 


aus einer trichterförmigen Vertiefung mit einem jo gewaltigen 
IX. 468. | 2 (413) 


18 


Brauſen, Stampfen und Brüllen hervor, als ob eine Dampf» 
mafchine und ein Pochwerk in der Tiefe verſteckt ſeien. Den 
Bänmen in der Umgebung find die Wipfel verfengt und das 
vullaniiche Trachyt-Geftein, aus welchem die Dampfquellen her⸗ 
vorkommen, ift in Porzellanerde und Sand umgewandelt. Aus 
Klüften und Löchern bed weißen Kiefelfinters, welcher den Rand 
und ben Boden des Keſſels in diden Kruften überzieht, dringen 
da und dort mit Schwefelwaflerftoff imprägnirte Dämpfe hervor 
und überfleiden ihre Umgebung mit gelben Kryftallen; find diefe 
Solfataren mit heißen Duellen vereint, jo erhält das Wafler 
durch fein vertheilten Schwefel eine intenfiv grüne Färbung. 
Das Centrum der vullaniſchen Thätigkeit liegt in der Einſenkung 
jelbft. Da kocht und dampft es überall aus dem heißen Boden 
hervor; nur mit äußerſter VBorficht darf man auf dem unficheren, 
Ichwanfenden Untergrunde vorwärts fchreiten, denn unverjehend 
bridyt die dünne Krufte durch und der Fuß finkt in beißen 
Schlamm oder Waffer; zumellen fprigt auch plölic aus einem 
Loch ein Waflerftrahl hervor und übergießt den feden Eindring- 
ling mit heißer Flüſſigkeit. In den größeren Traterartigen Ver⸗ 
tiefungen befindet fi) Wafler in wallender Bewegung, einzelne 
find auch mit braunem, brodelndem Schlamm erfüllt, der von 
Zeit zu Zeit burdy Dämpfe in die Höhe geichleudert wird. Trotz 
der Gefahr widerfieht man jchwer der Verſuchung, fi) auf den 
Kraterboden zu wagen, denn eine Gruppe vom rundlichen, mit 
tiefblanem Waſſer erfüllten Beden leuchten wie Saphire aus 
der weiben Fläche hervor. Einige derjelben verdanken ruhig 
auöfließenden Quellen ihren Urjprung, die meiften davon find 
aber echte Geyfir und in der Regel ſchon durch eine gewiſſe 
Unruhe ihres Waſſerſpiegels kenntlich. Gehören die Geyfir des 
Norrisbedend auch nicht zu den bebeutenderen des Yellowftones 
Parkes, jo find fie dafür in um fo regerer Thätigkeit. Der 


fleißigfte unter allen ift der fogenannte „Eleine Minutenmann ”, 
(414) ' 


19 


dbefien Waſſer alle 40—60 Sekunden in ftürmijdhe Bewegung 
geräth. Zwei bid dreimal wallt ed auf und nieder, ‚um jchließlich 
als bläuliche Garbe etwa 25—30 Fuß in die Höhe zu fteigen. 
, Wenige Sekunden nur dauert die Erjcheinung, dann finkt Alles 
zufammen und die vorher fo aufgeregte Waſſerfläche liegt fo 
rubig da, als ob nichts geichehen fei. Die heißen Quellen und 
Geyfir im Norrisbeden enthalten vorzugsweiſe Kochſalz, Kiefel- 
erde uud ſchwefelſaures Natron. Am bemerfendwertheften tft der 
hohe Gehalt an Kiefelerde, welche mehr als den dritten Theil 
des gefammten feften Rüdftandes bildet. Im Gegenfag zu ben 
Kallabjägen von Mammuth hot springs beftehen die Sinter- 
Ablagerungen im Norriöbeden faft ganz ans waflerhaltiger; 
amorpher Kiejelerde, der uur Heine Mengen von Eijen, Thon⸗ 
erde, Kalt und Schwefel beigemengt find. Aeußerlich freilich 
läßt fich der ſchneeweiße, meift blätterige oder pulverige Kieſel⸗ 
finter faum von dem Kalktuff der Mammuthquellen unterfcheiden. 

Al wir am zweiten Tage tin früher Morgenftunde am 
Norrisbeden vorbeiritten, jcheuten die-Pferde vor den gewaltigen 
Dampffäulen, die in der falten Luft doppelte Dimenfionen er» 
langt hatten. Der eigentliche Keffel lag im Nebel verhüllt; 
nur der Minntenmanu war filhtbar und, wie immer, in raftlojer 
Thätigkeit. Durch waldiged Hügelland führt der Weg zum Elf. 
park, eine weite, keſſelartige Waldwiefe. Auch bier brechen heiße 
DOnellen hervor und am üblichen Ende zeigt ein Wegweiſer ben 
Pfad jeitwärtd nad) den „Zarbentöpfen”. Aufwirbelnde Dampf- 
wolken bezeichnen die Stelle, wo mehr ald hundert heiße Quellen 
und Schlammgenfir auf dem grünen Wiejengrunde vertheilt find. 
Eine wunderbare Farbenpracht entfaltet fich vor dem eritaunten 
Bid: wicht nur dad kryſtallklare Waſſer der heißen Duellen 
leuchtet in jmaragdgrünem oder azurblauem Scheine, jondern 
auch die mit zähem, kochendem Schlamm erfüllten Beden zeigen 


in ihrer gurgeluden, von heißen Dämpfen durchwühlten Mafje alle 
2* (416) 


20 


nur benfbaren Schattirungen von Weiß, Gelb, Drange, Purpur, 
Biolet, Blau, Grün und Braun. 

Hinter dem Elkpark erreicht man von Nenem ben Gibbon⸗ 
fluß. Zwiſchen ſchroffen Felswänden aus vulkaniſchem Geſtein 
windet fich der Weg in einem engen Thal den Gehängen ent⸗ 
lang und mehrmals müfjen die Pferde das fteinige Flußbett 
nicht ohne Gefahr für den Reiter durchwaten. An den Ufern 
brechen auch bier heiße, fchwefelhaltige Duellen hervor und 
jenden dampfende Bäche in den Talten Fluß, wobei fie zugleidy 
ihre Sinterhügel mit flammendem Roth, Braun und Gelb über- 
ziehen. Hat man durch Erflimmen eines hoben Waldplateans 
eine Schleife des Fluſſes abgekürzt, jo erreicht man benjelben an 
einer Stelle wieder, wo er tief unten in einer romantiſchen 
Felsichlucht einen prächtigen Waflerfall bildet; dann geht es 
bergauf, bergab zwei Stunden lang durch duftenden Tannen⸗ 
wald bis zum unteren Geyfir-Beden an ber Bereinigung der 
beiven Arme des Firehole⸗Fluſſes. Ein einfames Blockhaus 
gewährte und nach dem anftrengenden Ritt erjehntes Obdach 
und ein beſcheidenes Mittagsmahl. Bon unferem fchattigen 
Lagerplatz überfchauten wir einen Theil der mit heißen Duellen 
und Geyfirn überjäeten Niederung, deren Auddehnung gegen 
100 qkm beträgt. Bemaldete Hügel erheben fih darin, nur 
der centrale Theil bildet eine baumlofe, mit weißem Kiejelfinter 
und Sümpfen bededte Fläche. Nahezu 700 heiße Quellen und 
Genfire erwähnt Herr A. C. Peale in feinem trefflidhen Bericht 
bes Hayden’ichen Werkes; mindeftend ebenfoviele find erlojchen 
oder hauchen nur noch heiße Dünfte aus, welche bie krater⸗ 
förmigen Spalten mit gliternden Schwefelkryſtallen ſchmücken. 
Die eine Schneelandichaft erjcheint der Thalboden, dody kommen 
von allen Seiten dampfende Bäche aus meift auf Hügeln ge- 
legenen Duellen herab. 

Blaue, ſcharf umgrenzte Wafferbeden unterbrechen die Ein» 


(416) . 


21 


fürmigfeit der weißen Sinterabfäße, welche weithin jede Begetation 
vernichtet haben. Wohin der Blid fi wendet, überall treten 
ihm Symptome der unterirdifchen Kräfte entgegen. Doch bie 
Menge der Eindbrüde verwiſcht ihre Wirkung und nur bei ben 
auffallendften Erſcheinungen verweilt der bereits etwas über 
fättigte Reifende länger. Bon den zahlreichen abſeits gelegenen 
zum Theil ungewöhnlich großartigen Geyſirn und heißen Quellen 
des unteren Firehole-Bedend werden nur wenige beſucht, Dagegen 
erregt der dicht am Wege befindliche Brunnen⸗Geyfir“ durch 
bie tiefblane Faͤrbung feines Waſſers, durch die malerifche Form 
feined Stnterbedensd und durdy feine weithin fichtbaren Eruptionen 
Die allgemeine Aufmerkſamkeit. Etwa ſechsmal in 24 Stunden 
geräth die blaue Fluth in heftige Erregung; faft zehn Minuten 
lang maden die gejammten Dämpfe vergebliche Berfuche, die 
Waſſermafſe herauszuſchleudern, bei jedem Ruck wird fie etwas 
höher gehoben, bis endlicdy eine Reihe raſch aufeinanderfolgender 
Stöße den Biderftand überwindet und den blauen See für 
einige Minuten in einen großartigen, von Dampfwolken ein⸗ 
gebüllten Springbrummen verwandelt. 

Etwa zweihundert Scyritt davon entfernt liegt auf dem bes 
waldeten Plateau deſſelben Hügeld einer der merfwürdigften 
Schlammgeyfir des Yellowftone-Parkd, der. fogenannte große 
Sarbentopf. In einem ovalen vertieften Keffel von 40 zu 60 Fuß 
Durchmeſſer kocht ein zäher Brei der feinften Porzellanerde; 
die eine Hälfte tft ſchneeweiß, die andere durch einen ſchwachen 
Zufag von Eifen und Kupfer zart rofenroth gefärbt. Obwohl 
aufiteigende Dämpfe den Schlamm beftändig durcharbeiten und 
bald ba, bald dort in die Höhe fchlendern, obwohl unausgeſetzt 
große Gasblaſen mit eigenthümlichem Geräufche plaben, fo 
findet doch feine Miſchung der rofigen und weißen Maffe ftatt. 
Sa, ringsherum ift die Oberfläche des Plateaus bededt mit 


(417) 





22 


ebenfo ſcharf geichiedenen, drei bis fünf Fuß hohen, mehr oder 
weniger erhärteten Schlammfegeln, von denen einzelne aus einer 
trichterförmigen Bertiefung von Zeit zu Zeit durch Eruptionen 
Ströme zähfläffigen Breied an die Oberfläche befördern. Es 
find Miniaturs Modelle von Bullanen, wie man fie fid nicht 
ſchöner denken Tann. 

Unfer Weg folgte dem füblichen Arm des Firehole⸗Flußes 
bi8 zu einer Stelle, wo jenfeitö ein weithin leuchtended, 14 km 
langes, nach allen Seiten janft abfallendes Sinterplateau unfere 
Aufmerkſamlkeit feffelte. Ungewoͤhnlich breite Bäche blauen Waſſers 
fommen von der Höhe herab und bilden, ehe fie fidy mit dem 
Fluffe vermifchen, an den fteilen Sinterfelfen des Ufers dampfende 
Maflerfälle. Oben ‘auf dem Rüden des flachen Hügels liegen 
vier tiefblaue Seeen, wovon ber größte einen Durchmeller von 
250 bis 350 Fuß befitt. Dies ift die herrlichſte unter allen 
heißen Quellen des Yellowftoneparls und wahricheinlich der 
ganzen Welt. Eine weiße Dampfwolle verhüllt fie bei Fühlen 
Wetter. Bei unjerem Bejuche in der heiheften Nachmittagsftunde 
eined fonnigen Herbſttages lag der wunderbar blaue, gegen den 
Rand jmaragdgrüne See in volliter Klarheit vor unferen Augen. 
Sede Heine, vom Luftzug oder von auffteigenden Gafen erregte 
Welle jchillerte in allen Farben des Regenbogens und zur Er⸗ 
böhung der Farbenpracht haben die zahllofen Rinnfale, welche 
vom faum erhöhten Rande der Prismaquelle ausftrahlen, ihre 
Umgebung durch Ausfcheidung eifenhaltiger Stoffe intenfiv braum, 
roth oder gelb gefärbt. 

Das Bild diefed heißen Seees ift von unbefchreiblicher 
Schönheit, „Doch das größte Wunder des Yellowftone-Parked, — 
jo jchreibt ein DBerichterfiatter der in St. Louis erfcheinenden 
weltlichen Poft (von 9. Sept. 1883) — finden wir einige Schritte 
tiefer. Wir ftehen plößlih an einem Abgrunde; zwanzig Fuß 


tiefer wogt ein zweiter gewaltiger See von unregelmäßigem Umfang. 
(418) 


23 


Zerriffen, gejchichtet, llippenartig ftürzen fich die Umfaffungswände 
hinab zur Wafferflaͤche, theilmeife überhängend und ben wildeften 
Schlund bildend. Darin wogt das tiefblaue Waſſer, eine Fläche 
von einem halben Ader groß. — Zrob der Gefahr hinabzu- 
flürzen, lafjen wir und nicht abhalten, fo nahe wie möglich heran 
zutreten um biejed unvergleichliche Naturwunder ganz im ber 
Nähe zu beichanen. Leichte Dampfwolfen flattern beitändig 
über der tiefblauen Fläche. Nahe dem Mittelpuntt erhebt ſich 
plötlicy eine gewaltige helle Dampflugel mit dumpfem Poltern 
and der Tiefe und verwandelt fi in eine Wolle während fie 
das Wafler fußhoch emporjchlendert. Dann ft wieder einige 
Secunden Pauſe und das Waſſer liegt ruhig und glatt, bis 
wieder eine womöglich größere Dampflugel feine Tiefe aufwühlt. 
Dieſes Schaufpiel wiederholt fich in immer kleineren Zwiſchenräu⸗ 
men, bis endlich der See in ein wildes Wogen geräth. Er erreicht 
faft den Rand des Schlundes; gewaltige fchaumgefrönte Wellen 
erheben ihre gligernden Häupter und ſchießen zifchend und 
brülßend bin und her, bis fie ohnmächtig zurüdfallen in den 
Schlund. Aber neue Wogenungeheuer treten an ihre Stelle 
immer wilder wird ber Aufruhr, immer höher züngeln bie 
Wogenſchlangen, immer dichter wird die Dampfwolfe, immer 
heftiger das Brüllen und Donnern in der Tiefe: da mit einem 
Male fcheint der ganze See in einer gewaltigen Wafferfäule 
empor zu fleigen und ein gefchloffener Wafferftrahl von 25 Fuß 
Dide fährt bi8 zu 300 Fuß in die Höhe, die Dampfwolte fteigt 
bi8 zu 1000 Fuß und mehr. Ziſchen, Klatichen, Brüllen, Donnern 
dies find bie Toͤne, die die Luft erfüllen; es ift unmöglich, das 
eigene Wort zu hören; die Erde bebt unter dem Fuße, gewal- 
tige Entladungen gleich dem Gehräll der ſchwerſten Geſchütze 
hbertönen ben fürchterlichen Lärm der Tiefe, Steine fliegen 
hoch empor, Strahl auf Strahl fchießt in die dDampferfüllte 
Höhe, einer den andern überholend. Allmählig fintt die 
(419) 


24 


kolloſſale Wafferfäule niedriger; der Lärm läßt nach; der Donner 
wird ſchwächer und ebenſo plöblih, wie fle fich erhoben, ver⸗ 
ichwindet die Waflermaffe in dem Schlunde, ber num faft troden 
daliegt. Nur die Dampfwolte in der Höhe und dad Donnern 
in der Tiefe geben uod; Kunde von dem furdhtbar großartigen 
Scyaufpiel, das foehen ftattgefunden bat. Auch der nahe Fluß 
legt Zeugniß dafür ab. Seine fühle Fluth ift um 68 Zoll 
angefhwollen und in einen dampfenden, heißen Strom von 
300 Fuß Breite verwandelt — jo groß war die Waſſermaſſe 
bie der gewaltigfte Geyſir der befannten Welt geipieen hat — 
der „Exelſior“. 

Erft feit etwa fünf Jahren ift es befannt geworben, daß 
die große Duelle ein wirklicher Geyfir ifl. Profeſſor Hayden 
und feine Gehülfen mußten noch nichts davon. Erſt Oberfi 
Norris entdedte dieſen Geyfir im Sabre 1878. Auf ſechs Meilen 
Entfernung hörte er dad furchtbare Getöfe, ſah die himmelhohe 
Dampfiäule und eilte mit der vollen Schnelligkeit feines Rofſes 
herbei, um nocd gerade das Ende des Ausbruchs anftaunen 
zu Tönnen. Seitdem ift die Gewalt des Geyfirs in fortwäh- 
rendem Zunehmen und macht täglidy einen Ausbruch.” Uns war 
es leider nicht vergönnt, einer Eruption des Excelſior beizumohnen, 
ber prächtige Waflerfpiegel war bei unferer Anweſenheit ruhig, 
nur in ber Mitte des Beckens kochte und wallte e8 mit einem 
dumpfen, dem fernen Meereöbraufen vergleichbaren Geräufc. 

Gegen 5 Uhr Nachmittags erreichten wir das obere Geyſir⸗ 
been und bamit das Endziel unferes Ausfluges. Auf eine 
Strede von 34 km find die beiben Ufer des Firehole Flußes 
von Geyſirn, Dampfquellen, und Thermen begleitet. Die kalte 
weiße Farbe des Kiefelfinters fticht grell gegen das dunkle Grün 
der Tannenwälder und gegen die blauen Berge im Hintergrumde 
ab. Hier erzeugen bie heißen Duellen und Geyſire die ſelt⸗ 
famften ®ebilde, aber die Kegel, Wannen, Krater und Tuffhügel 


(430) 


25 


find zu Bein, um den Character diefer mehr unbeimlichen als 
ſchoͤnen Landjchaft wefentlich zu beeinfluffen. 

Die erfte Ueberraſchung beim Eintritt ind obere Genfire 
beden bietet ein jonderbar geformter Sinterhügel auf einer mit 
beißen Quellen reichlich bejebten Ebene. Es ift der Grotto 
Geyſix. Der ftumpfe, gerundete etwa 15 Fuß hohe Hügel zeigt 
mehrere faft mannshohe Niſchen, die mit Spalten in Verbindung 
ftehben. Im Innern derjelben brauft und kollert ed unheimlich, 
und nach unregelmäßigen, mehrftündigen Zwifchenräumen ſpritzen 
aus allen Niſchen feinzeriheilte Wafferbüfchel aus, welche den 
ganzen Kegel in eine gligernde Wolle von Dampf und Wafler- 
ftrablen einhüllen. :Smmer neue heiße Quellen und Geyfire 
tonımen anf beiden Flußufern in Sicht. Der „Giant ober 
Rieſen⸗Geyfir“ erhebt fich ald fteiler, abgeftubter, auf einer Seite 
durchgebrochener Kegel; jeine trichterförmige Vertiefung ift mit 
aufe und abmallendem Waſſer erfüllt. Alle 4 Tage foll er 
unter gewaltigem &eräufche eine gewaltige Waflerfäule 150 bis 
200 Fuß in die Höhe treiben. Während der Eruption ihres 
Meifterd veritummen eine Anzahl umliegender Dampfquellen, 
welche jonft durch Lärm und Puften die Aufmerkfamkeit auf fich 
ziehen. 

Den bemerkenswertheſten Sinterbau bat fich der Caſtle 
Geyfir errichtet. Hier fteht der einer zerfallenen Burgruine 
gleichende Sinterlegel auf einer ausgedehnten etwa 100 Fuß 
langen Xeraffe. Seine Eruptionen dauern falt eine Stunde 
und wiederholen fich meift zweimal im Tage. Im geringer 
Entfernung umſchließt ein 6 Zoll hoher Rand den himmelblauen 
„Ihönen Brunnen“, welcher, überfließend den weißen Boden mit 
farbigen Niederfchlägen ſchmückt. Es ift unmöglich, die Durch⸗ 
fichtigkeit diejes merkwürdigen Wafjerd mit Worten zu Ichildern. 
Dan muß die blauen und grünen Quellen gejeben haben, um 
ſich eine richtige Vorftellung von ihrer Klarheit zu machen. Als 


(431) 


26 


ich davorſtand und bewundernd in die Kryftallfiuty hinabſchaute, 
zeichnete fi der Schatten von Rob und Heiter auf den fchräg 
einfallenden weißen Sinterfellen in einer Schärfe ab, als ob 
überhaupt Fein lichtbrechende8 Medium dazwilchen läge. 

Ein kurzer Ritt durch eine fumpfige Niederung bringt uns ins 
Gentrum des oberen Geylirbedens, wo auf einer etwas erhöhten 
Zerraffe 25 in weitem Halbbogen aufgeftellte und mit je einem 
Bett, Waſchtiſch und Stuhl ausgeftattete Leinwandzelte verhält» 
mäßig gutes Obdach gewähren. Auch für einfache, aber aus⸗ 
reichende Verpflegung ift in einem großen Wirthſchaftszelt geforgt. 
Den jüdlichen Abſchluß des Thales bildet ein ſanft anfteigender 
Hügel, auf deſſen Abhang ſich der „Old faithful* einen umfang- 
reichen, aber niedrigen Kegel aus Kiefelfinter errichtet bat. 
Die Ichaligen, geichichteten Abjäbe fteigen treppenfärmig an, 
auf den breiten terrafjenartigen Stufen ſammelt ſich in feichten 
Bertiefungen Waſſer von verjchtedener Temperatur; die Sinter⸗ 
felien find weiß oder lichtgrau, ihre Oberfläche rauh, mit viels 
fach gewundenen Furchen oder Tleinen, traubigen und Tnolligen 
Unebenheiten bededt. Die Eruptionsftelle ift durch eine An⸗ 
bäufung plumper, wollfadähnlicher Sinterfeljen bezeichnet, welche 
eine Flaffende Spalte von 4 Fuß Länge und 2 Zub Breite um«- 
ſchließen. Man kann dicht herantreteten und in den Höllen- 
rachen hinabſchauen, denn der „alte Getreue" ift im Zuftandb 
der Ruhe ohne jede Tücke. Mit nie fehlender Pünktlichkeit 
erfüllt er aber feine Pflicht als Wächter des Thales, indem er 
regelmäßig alle 60-64 Minuten durch eine prachtvlle Ernption 
die Stunde verfündet. Dabei füllt fi zuerft die Spalte von 
von unten her mit heißem Waſſer; ftarfe Dampfwollken, gemiſcht 
mit einigen Waflerftrahlen, fteigen empor; man vernimmt ein 
dumpfes unterirdifhed Grollen und nun erfolgt eim ſtaͤrkerer 


Stoß, welcher einen domförmigen Waflerberg etwa 10 bis 15 
(423) 


27 


Fuß emporhebt. Nah 2 oder 3 ernenten Berfuchderuptionen 
fleigt mit einem Schlag ein riefiger, in dicke Dampfwollen ge 
hüllter Strahl etwa 120-140 Fuß in die Höhe, immer neue 
raſch auf einanderfolgende Stöße halten die weiße, in ber 
Mitte etwas bläuliche Wafferfäule in gleicher Höhe; fie breitet 
fih weit aus und glänzt im Sonnenfdhein in allen Regenbogen⸗ 
farben. Ungefähr 5 Minuten dauert die zanberhafte Erjcheinung, 
dann fällt das blinkende Phantom in ſich zufammen; einige 
Aufwallungen noch und die Eruption ift zu Ende. Die Dampf- 
wollten zerſtreuen fich, das praffelnde, niedergefallene Wafler 
riejelt die vielen Treppen bes Sinterbergeö herab, füllt dort 
die flachen Beden und wenn der Beſchauer jebt tiefergriffen 
von dem majeftätiichen Schaufpiele an die Krateripalte heran» 
tritt gähnt fie ihm ftumm und leer entgegen. 

Wer an einem glüdlichen Tage im oberen Genfirbeden weilt, 
bat Gelegenheit, während der einftündigen Nuhepaufen des Old 
faithful einige andere Ausbrüche zu fehen; denn jenfeits des 
Flußes dehnt fi ein großes weißes Sinterplateau aus, auf 
welchem mindeftend ein Dutzend Genfire und eine Menge heißer 
Duellen bervorfommen. Gegen Norden ſchaut die weiße Ruine 
des Castle Geysir gerade noch aus den dunfeln Baummwipfeln 
hervor und ihm gegenüber auf dem rechten Ufer des Firehole⸗ 
Fluſſes find der Grobe und der Splendid Geyfir in beftändiger 
Thätigkeit. In mehrftündigen, etwas unregelmäßigen Intervallen 
erfolgen ihre Eruptionen. Der große Geyfir hat fidy Teinen 
Sinterfegel erbaut; feine Deffuung nimmt vielmehr die Mitte 
eines flachen, in den ebenen Boden eingejenkten Bedens ein 
und ift ringsum von Tiffenförmigen Sinterfeljen umgeben. Die 
Ausbrũche kündigen fich durch unterirdiiches Gepolter und durch 
Entwidllung einer mädtigen Dampfwolle an;. dann folgen 
verticale Wafferftrahlen, jeder etwas höher ald der unmittelbar 
vorhergehende anfteigend, bis endlich die Säule 200 Sub body 


(438) 


28 


in die Lüfte ragt und die rollenden und wirbelnden Dämpfe einen 
Woltenberg von doppelter Höhe darauf thürmen. 

Die Eruptionen ded Splendid und Grand Geyſir koͤnnen 
vom Zeltlager beobachtet werden; fie dauern zumellen eine halbe 
Stunde, jo daB bei den erften Symptomen die anweſenden 
Säfte zu Fuß oder zu Pferd von allen Seiten herbei etlen, um 
dad Mirakel zu bewundern. Cine Wanderung über das Geyſtr⸗ 
feld am Yeuerhöhlenfluß bietet eine Sammlung der merkwür⸗ 
digften Sinterbildungen, deren groteöfe Mannichfaltigkeit auch 
die Tühnften Erwartungen übertrifft. Da ipribt 3.3. ein fcharfer, 
Ihmaler Wafleritrahl thurmhoch aus einem Krater auf, der 
einem großen Bienentorb tänfchend Ähnlich fieht; da ragt ber 
mit grüner, wallender Ylüffigkeit erfüllte Punſchbowlgeyſir als 
eine niedrige Riefenfchüfjel etwa 14 Fuß hoch über die Sinter- 
ebene hervor, dort erheben ſich mehrere ſtumpfe zu einer Gruppe 
vereinte Hügel und fenden dide Dampfwolken in die Luft. 

Nicht weniger ald 440 Thermen, darunter 47 Geyſire ver- 
zeichnet die Karte des Hayden' ſchen Werkes im oberen Firehole⸗ 
Beden. Die Sinterablagerungen find bier mächtiger, die Geyſir⸗ 
thätigfeit großartiger, ald in irgend einem anderen Theile des 
Parkes. Doch mit dem oberen Genfirbeden ift der Reich⸗ 
thum an Raturwundern im Yellowftonepart noch nicht erichäpft. 
Zwei weitere Gebiete am Shofhones und Heart-See enthalten 
zahlreiche heiße Springquellen und aud) in der Umgebung bed 
großen See's finden fich Schlammtöpfe, Solfataren und heiße 
Quellen in Hülle und. Fülle. Im Ganzen find bis jeht im 
Yellowftonepart ca. 3000 heiße Duellen und 71 Genfir bekannt. 
Ueberall, wo die letzteren auftreten, enthält das heiße Wafler 
anſehnliche Mengen von Kiefelfäure, Kochſalz und jchwefeljauren 
- Berbindungen. Es befitt einen ſchwach alkaliichen Geſchmack 
und erregt beim Wachen die Empfindung, ald ob Seife darin 
gelöft ſei. Die fpärlichen bis jebt veröffentlichten Analyfen bes 


(44) 








29 


weilen, daß die Quellen im Norrisbecken mit jenen im oberen 
und unteren Genfirbeden zwar der Hauptſache nad) über» 
einftimmen, daß aber faft jede Duelle wieder ihre befondere 
Miſchung aufweifl. Die Temperatur ded Geyfirwaflerd ift eine 
ungemein hohe. Cie ſchwankt zwiſchen 80 und 95°C. und 
überfteigt zumeilen den Siedepunkt, der in jenem hochgelegenen 
Gebirgsland auf 93° C. berabrüdt. Mehrfach wurde beobachtet 
bat die Temperatur des Genfirwaflerd unmittelbar vor einer 
Eruption an der Oberfläche fteigt und ebenfo, daß fie fich nad 
der Tiefe zu faft überall erhöht. Am Gianteß Genfir fand 
man in 18m Tiefe überhibtes Wafler vou nicht weniger ald 
121°. " 

Die hohe Temperatur und die Verbreitung der Geyſire 
laflen feinen Zweifel, dab das ganze Phänomen mit dem Vulka⸗ 
nismus in Zufammenbang ſteht und daß die Erbikung des 
Waſſers durch vnlkaniſche Gefteine erfolgt, welche in mäßiger 
Ziefe noch einen Theil ihrer Slutbige bewahrt haben. Dampf: 
quellen, Solfataren, Geyfire und Quellen mit jehr heißem Waſſer 
find nicht wie die gewöhnlichen Thermen über die ganze Erd⸗ 
oberfläche vertheilt, jondern an vulkaniſche Diftricte gebunden. 
Die Kenntniß eruptiver Springquellen ftammt aus Joland, von 
wo fie auch ihren Namen Geyfir erhalten haben; erſt päter 
fand man fie auf den Azoren, in Nenfeeland, in Californien 
und auf dem Hochplatenu von Tibet. Weberall wiederholen ſich 
die haracteriftiihen Erjcheinumgen in überrafchender Gleichfoͤrmig⸗ 
feit; doch giebt es nur 3 Gebiete: Idland, Neu-Seeland und 
den Dellowftonepart, wo das Genfirphänomen zur vollen Ent⸗ 
faltung gelangte. Der große Geyſtr und der Strofr auf Island 
halten den Vergleich mit dem Ercelfior und Giant aus, audı 
Neufeeland hat Springgquellen von bemerkenswerther Schönheit, 
aber an Zahl und Mannichfaltigkeit der Genfire und Thermen 
werden beide vom Vellowftone- Park weit übertroffen. Er ift 


(435) 


30 


unbeftritten das erfte und wahrfcheinlich auch das ältefte Geyfir- 
gebiet der Welt. Im Island liegen die heißen Quellen in un- 
mittelbarer Nähe noch jeht thätiger Vulkane; in Neu-Seeland 
haben zwar die Ausbrüche von Lavaftrömen aufgehört, aber 
einzelne Berge fenden noch Dampfwollen aus wohlerhaltenen 
Kroaten aud. Im Vellowſtone⸗Park tft die eigentliche vulkaniſche 
Thätigkeit längſt erftorben, die Krater und Aufichüttungstegel 
find alle dur Erofion oder Verwitterung bis zur Unfenntlich- 
feit verwiſcht. Ihre Ausbrüche fanden in Einer früheren Erd» 
periode ftatt und nachden fie ihre Hauptaction eingeftellt, gingen 
während der Eiszeit Gletjcher über fie hinweg und vernichteten 
die letzten Regungen ihrer erfterbenden Kraft. Freilich beweifen 
die zahliofen Dampfquellen und Geyſire, daß auch dort die Er⸗ 
ftarrung nur eine oberflählidhe ift und daß die in den Boden ein» 
dringenden Gemäffer in Berührung mit ben in gewiffer Tiefe 
nod) immer glühenden Geiteinen ſich erhigen, und zum Theil 
in Dampf umgewandelt in Spalten wieder in die Höhe fteigen. 
Im Gegenfa zu den gewöhnlichen, ruhig ausfließenden Thermen 
erfolgt bei den Geyfirn der Austritt in periodiſch wiederlehrenden 
gewaltfamen Eruptionen. Zum Berftändniß diejes Phänomens 
muß man fidy vergegenwärtigen, daß dad an der vullanifchen 
Gluth erhigte Waſſer durch die darüber laftende Waſſerſäule 
unter einem Drud von vielen Atmoiphären fteht und darum 
ohne zu verdampfen eine meit über den Siedepunkt gelegene 
Temperatur annehmen kann. Steigt es in die Höhe und gelangt 
ed in Regionen von geringerem Drude, jo muß fid} eine pro⸗ 
portionale Menge Waller in Dampf verwandeln. Da aber 
gleichzeitig an der Ausmündungdftelle eine Abkühlung eintritt 
und das FTältere und darum jchwerere Waller nach der Ziefe 
zu dringen ftrebt, fo giebt es bei jedem Geyfir eine beftimmte 
Zone, wo der überhipte auffteigende Strom dem fühleren ab» 


fteigenden begegnet. Dort entwidelt fi eine große Menge 
(436) 


31 


Dampf und indem diefer die darüber befindliche Waflerfäule zu 
heben fucht, jchafft er bei jedem Stoß momentan einen leeren 
Raum und dadurch eine Aufhebung des hohen Drudes. Sofort 
verdampft wieder ein Theil des überhitzten Waſſers. Die An» 
fammlung des geipannten Dampfed wird ſchließlich fo groß, 
dab nach einer Reihe miblungener Verſuche die ganze darüber 
befindliche Waſſermaſſe in die Höhe gejchleudert, die Nöhre 
geräumt und der Dampf audgetrieben wird. Seder Eruption 
folgt eine Erſchlaffung und da die Wiederholung des Ausbruches 
von der fpeciellen Beichaffenheit ber Duellipalte abhängt, jo 
führt gewiſſermaßen jeder Geyſir jeine Sondereriftenz und tft 
von eigenthümlichen Bedingungen abhängig. Das ift der Grund, 
warum fi das im Großen und Ganzen ziemlich gleichartige 
Phänomen doh an jeder einzelnen Duelle wieder in anberer 
Weiſe abipielt. 

Verſuchen wir jeßt den mächtigen Eindruck, welchen das 
Wunderland in jedem Beſucher hervorruft, zufammen zu faffen, 
jo müſſen wir zugeben, daß dort wenig von der wonnigen Ruhe 
zu verjpüren tft, die und an dem blumenreichen Geſtaden Staliend 
umfängt, denn Anmuth und Lieblichleit find dieſer Landichaft 
fremd. Aber auch die Erfurcht gebietende Erhabenheit de 
Hochgebirges, wo fi Schneegipfel an Felögrat, Gleticher an 
Karrenfeld reiht, tritt und im Yellowftonepart nur felten ent» 
gegen. Hier find ed vor Allem die Aeußerungen einer im Schooße 
der Erde liegenden Naturkraft, welche prächtig und jchredhaft 
zugleich das Gemüth mit Erftaunen und Bewunderung erfüllen. 
Wohnt jenen pradytvoll gefärbten Kryſtallfluten in ihren ſchnee⸗ 
igen Wannen auch ein unbeſchreiblich beftridender Reiz inne, 
jo nahen wir und denjelben doch nur mit einem Gefühle des 
Bangend, denn jeder Augenblid kann das gleißneriihe Zauber- 
bild in einen Schauplatz des Schredend und wilden Aufruhrs 
verwandeln. In folhen Momenten glaubt man ſich den Natur- 


(427) 


32 


gewalten, welche einft in ferner Urzeit die Entwidlung der Erde 
beitimmten, näher gerüdt und gerade durch Die Berbindung 
einer ernften, vom nordifhen Hauch durchwehten Gebirgsnatur 
mit den Aeußerungen ded in der Tiefe geichäftigen Urfeuers er. 
hält dad Wunderland am Yellowftone feinen eigenartigen 
Stempel aufgedrüdt. Aber in jenen Geyfirn und heißen Duellen 
ruhen nicht nur unheimliche, fondern auch jegendreiche Kräfte, 
welhe nur auf ihre Erwedung und Verwerthung zum Wohle 
der Menfchheit harren. Und wenn einftend, wie nicht zu be= 
zweifeln, neben den Reiſenden, welche im Bellowitone - Part 
lediglich Naturgenuß und Belehrung fuchen, auch Zaufende von 
Kranken dort Genefung finden, dann wird er, feine eigentliche 
Beitimmung erfüllend, feinen Namen Wunderland in zwiefacher 
Hinficht rechtfertigen. 


Aumerkung. 


1) 12% Annual Report of the U, S. Geological and Graphical 
Survey of the Territories, part II. Washington 1883, 


(428) 
Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17a. 


Kulturgefchichte und Alterthumswiſſenſchaft. 


(60 Hefte, wenn auf einmal bezogen à 50 Pf. = 30 M. Auch 24 Hefte und 
mehr diejer Kategorie, nah Auswahl (wenn auf einmal) & 50 Pf.) 


Angerftein, W., Vollötänze im deutichen Mittelalter. 2. Aufl. (68) . 75 


8 Die Entitehung der deutichen Bu Ge (412). » 2» 2.2. 1.— 
Der Rhein, ber Deutihen Lieblingöftrom. (250) 75 
Deder, die eiuififatorifche Million d. Enropäer unter d. wilden Bölfern. (364) 75 
Die ie Sintflut und die ölutfagen des Alterthume. 2. Aufl (187) 75 
Die Dralel. (150) . . 0. . 60 
—* ‚ 7% Tanz bei den Ericchen. . . en 75 
aas, Die alten Höhlenbewohner. (168) .. 60 
ey, Die Alpen im Richte verichiedener Zeitalter. " (974) 2.20. .1- 
edel, Aus der Vorzeit der Ziicherei. (441/442). . 1.20 
melin Ghriftenfelaverei u. Renegatenthum unter den Vdlkern d. Joiam. (190) 60 
Grave ‚, Die Entwidelungsphalen des religtöfen ebene im beilenifchen 
Altertbum. (370). rn. 60 
agen, Ueber elementare "Ereigniffe im Aiterthum. (454) . ... . 1—- 
aupt, Staat und Kirche vor 800 Jahren. 2) . 76 


, Die Ausbildung der Priefterherrichaft uud die Inqul tion. (280) . 1.- 
—5 — Aus der Kulturgeſchichte Europa's. [Pflanzen u. Thiere.] (348). . 1.- 


Die ——— des Chriſtenthums in Rom. (198). . 76 
v. ber, ıber-Siebenan, Das deutſche Zunftwefen im Deittelatter. ein) . 76 
—, Daß deutfche Haus du Zeit der Renaifiance. (386) . . 60 
dan, Die Kaiſerpaläfte in Rom. 2. Äbz. (65). 22 0.0. 60 
eller, Die cypriſchen Alterthumsfunde. (363) . 60 
Rintel, Snaliide Zuftände in der Mitte des adtyehuten Jahrhunderts. (365) 75 
Manubharb t, Rlytia. (239) . 1.— 
Mar ff, Die Vorfahren der Eifenbahnen "und Dampfwagen. Mit 20 in 
den Tert gedrudten Abbildungen. (435/436) . . 1.60 
er Der Rhein und der Strom der Eultur in Kelten: und Römer: 
Dit einer Karte des Rheinthales. (259) -. - - 2. 2... 1.40 
—, Der Rhein und der Strom der Eultur im Mittelalter. mit einer 
Karte des Rheintbaled [um 1300). (286/87) . . . 1.60 
—, Der Rhein und der Strom der Bultur in der Neuzeit. (328) . . 1.- 
„J. B., Volksbildung und Difſenſchaft m Dentihland währen) de 
„gehten Saprhunderte. 3. Aufl. (14) . .. . 1.- 
Weyer, Dr. &., Die römifchen Katafomben. (387/388) . 2000... 1200 
—, Tibur. Eine römifhe Studie. (413/414). 1.40 
Möller, Ueber das Salz in feiner fulturgefchtchtlichen "und naturwiflen: 
ſchaftlichen Bedeutung. (206) 75 
Fr pold, Aegyptens Sierung in de Retigiond: u Rulturgeiciäte 2m. en 60 
iffen, —* 2. Aufl. 76 
—28— Bedentung und —E germaniſcher M thologie. (354) . . 60 
mer, Ueber den Einfluß des Klimas auf den guſchen. 2. Aufl. (80) 75 
enbrüggen, Land und Reute der Urichweiz. 23. Aufl. (6) 75 
—, Die wel; in den Wandelungen der Neuzeit. 637 75 
eterfen, Das Zwölfgötterſyftem der Griechen und Römer nach feiner Be: 


deutung, künſtleriſchen Darftellung und biftoriichen Entwidelung. (99) . 60 
ner, Die Gifte ald bezaubernte Macht in d. Hand d. Lalen. (209) 1.— 
55 Das Bücherweſen im Mittelalter. (377) . 75 
a und Leben der deutichen Frau im Mittelalter. (399) . 9 

Hain, Die Reichöpoft der römifchen Kaiſer. (339). . . . . 60 


South Kühe und Keller in Alt-Rom. (417) 1.— 
ler, Das Reih der Sronie in Kuiturgefpictlicer und. äfthetifcher 
eztebung. (332/333). . . 1.80 


Schrader, Die ältefte Zeittheilung des indogermaniſchen Voites. (ao) .1.— 
Stern, Die Eocialiften der Reformationdzeit. (421) . . 7 
Strider, Die Umazonen in Sage und Veſchichte. 2. Aufl. en ... 


—, Die Fenerzenge. (199) . 0. 
Virchow, Ueber Hünengräber und Dfohlbauten. mw ..78 
—, Die Urbevölkerung Europas. (193) . Pin, 
Wolg Das r rothe Rum im weißen Felde. a) . 2.8 


Dead! Raturforihung und Herenglaube. 2. Aufl. (46) . 75 

ie Armen: und Krantenpfege der geiftlichen Ritterorben in 
früherer Zeit, (213) .. .1.— 

Binder, Die —f8 Reichäkleinodien. (154) er nen 75 


In den früheren Jahrgängen der „Zeitfragen“ erſchienen: 
Gefchichte und Politik. 


(20 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 75 Pf. = 15 Mark. Auch 16 Hefte diefer 
Kategorie nah Answahl (wenn auf einmal bezogen) & 76 Pf.) 


Charifles, Türkiſche Skizzen in Briefen an’cine Freundin 1876. (83/84) M. 1.60 
Fiſcher, Deutihlands öffentlihe Meinung in der Reformationdzeit und a, 


der Gegenmart. (46) » >: 220 Er ne 1.— 
Bantier, Das bentige Belgien. (141) ©. 2: 22 ren ne 80 
Gierke, Das alte und das nene deutihe Rei. (35) » 22.00. 1.— 


Goergens, Der Islam und die moderne Kultur. Ein Beitrag zur een 
der orientalifhen Srage. (119)... >». 2: 2 ern ne . 1.20 
ergenhahn, Königthum und Berfaflung. (154). - 2 2200. 80 
eyer, Sanofia und Venedig. Feſtſchrift aut Sanoffa-Feier. (80). . .M. 1. - 

v. Sagemann, Die Stellung der Niederdeutichen (Blaamen) in Belgien (TE/M. 1.— 


Kleinfhmidt, Die Säkularifation von 1803. (107)... > 2200.20 80 
Löher, F. v., Das neue Italien. (157). 2 2 2 nennen M. 1.— 
Miluer, Schwäbiſche Koloniſten in Ungarn. (112)....236 80 
Oncken, Das deutjche Reich im Jahre 1872. Zeit —2 — Skiz pen I: (22) M. 1.60 
—, Pa deutjche Reich im Jahre 1872. Zeit hichtt. Skizzen It. (27/28) . M1.80 
ul, aypien in bandeläpolitijcher diufht t. (192) 2 22000 M. 1. 
eiberer, Edmund, (Kiel), Kosmopolitismus ind Patriotismns. (36) M. 1.— 
hof, zeutlce Urtheile über Amerika. (156). - » “220000 M. 1.— 
röer, Die Deutichen in Oefterreich, Ungarn und ihre Bedeutung für die 
Egeoerei (123)3........ 80 
Wernich, Ueber Ausbreitung und Bedeutung der neuen Tulturbeſtrebungen 
tn Japan. (03)J)..... 80 
Vermiſchtes. 


(25 AAN wenn auf einmal bezogen & 75 Pf. = 18,755 M. Auch 16 Hefte uud 
mehr diefer Kategorie nad Auswahl (wenn auf einmal bezogen) & 75 Bf. 


Beta, 9, Die Geheimmittel- und Unfttlichkeits: Snbuftrie In der wagel- 


refe. (11). 1.- 

—, Wohl» und Vebeithäter in unferen Großftädten. (81) 1.— 
Dannehl, a ralf@ung des Biered. Ein Wort an das Keichskanzler 

mt. (100 1.80 
Engel, Aus dem Pflanzerſtaate Zulia. Kulturgeſchichtliche Streiftiäter 

aus der Gegenwart. (146) . 1.20 


Gätſchenberger, Rihilismus, Deifimismus und Meltihmerz. (152) .. 1- 
Fe Weber die Fremdwörter tm Deutichen. (106) 
orwicez, Weſen und Aufgabe der Philoſophie, ihre Bedeutung für. J 

Gegenwart und ihre Ausfichten für die Zukunft. (78 1.40 

Kirchner, Der Spiritismug, die Narrheit unferes Zeitalter ase/1en) . 2.— 

Kleinwächter, Zur Philoſophie der Mode. (129 ). 1.— 

Zaas, Zur Srauenfrage. (184) . . . nn. 80 

Zammers, Umwandlung der Echenien. (195) . .— 80 

Mannhardt, Die praktiichen Folgen des Hberglaubend, "mit befonberer 
ug der groning Preußen. (97/98). . 

Meyer, 3. Fichte, Kaffalle und der Socialismus. (19/11). . 1.60 

Nippold, De ige Wiederbelebung des derenglaubens. Mit 
einem literarifch-fritifchen Aubang über die Quellen u und Bearbeitungen 


der Hexenprozeſſe. (57/58) . . er 2.— 
Er eiderer, Der moderne Heffimismus. 54 /55) . 1.80 
ent Die materialiſtiſche und idealiſtiſche Beitanfdauun;. us). . 1.40 


chwerin, Die Sulaflung der Frauen zur Auehbung | des ärztlichen De 


< rufes. un, ni . 1.- 
ommer e Religion "des Peffimismus. 199) . een. . 1.20 
Wittmeyer, Ueber die Leichenverbrennung. 19. rn. 1.20 


WE Beltellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. . 


Berlin SW., 33 Wilhelmftraße 33, 
Carl Kabel. 
(C. ©. Lüderitz'ſche Verlagsbuchhaudlung.) 








Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlider Vorträge, 


— — 
— — 


herausgegeben von 


Aud. Virchow und Ir. von Holtzeudorff. 





X 
...7 
XX. Serie. 
° Be 


(Heft 457 — 480 umfafiend.) 





Heft 469. 


Aus dem gefelligen Leben 


jiebenzehnten Jahrhunderts. 
| Bon 
Stanz Eyſſenhardt. 


Berlin SW., 18885. 


Verlag von Carl Habel. 


(C. 6. Tüderity'sche Brrlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Stra 





d IN) 


BB 53 wird gebeten, die anderen Seiten des Umjchlages zu beachten. A 


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73. 


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16) 


Aus dem gelelligen Leben 


hehengehnten Jahrhunderte. 


EIER NS SIT I GI DI 


Bon 


Stanz €y ſſen hardt. 


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Berlin SW., 1885. 
Berlag von Carl Habel. 
(€. 6. Tüderitz'sche Breringsbuchhandlung.) 
33. Wilpelm-Gtraße 3. 


Das Recht der Leberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





Die Lebensgewohnheiten der Völker ändern ſich nicht mit 
einem Scylage, jondern die Vergangenheit ragt mit hundert 
Fäden in die Gegenwart hinein. Wenn ein Souverän nie 
allein iſt, ſondern ſtets mindeftens von einem Hofmanne bes 
gleitet wird, fo ift dies das lebte Ueberbleibjel antiker und 
mittelalterliher Sitte Chbenfowenig wie im Alteriyum war im 
Mittelalter ein vornehmer Mann jemals auf feine eigene Ge⸗ 
jellichaft angewiejen. Die großen Adelöpaläfte wie fie 5. B. 
Rom und Florenz aufweifen, haben nur unter der Vorausſetzung 
einen Sinn, dab man fi die Herrenfamilie ſtets von einer 
anfehnlichen, nicht eigentlich Dienerjchaft zu nennenden Zahl 
von Menſchen umgeben denkt, welche in verfchiedenen Ab» 
ftufungen ärmere Verwandte, hülfreiche, mitipeilende Freunde, 
und auf mannigfache Weile, theils direct theild indirect, bes 
zahlte Diener umfaßte. Diefe ganze Lebendgemeinfchaft bie 
und heißt — fo weit fie noch beftebt — aud) heute familia, 
und im Spaniſchen zum Beifpiel bedeutet familiar ebenſowohl 
einen Knecht wie einen genauen Freund. Der Unterſchied des 
Standes hat im Süden ebenfowenig im Mittelalter wie im 
Alterthum die Vertraulichkeit auögefchloffen. 

. Mit der zahreichen Umgebung flimmte die ganze Art des 
Lebens überein: was unjere moderne, und beſonders die nor- 
bifche, Welt in ihren kleinen, abgejchloffenen Wohnräumen com- 
fort nennt, war dem romaniſchen Süden unbefannt und ift es 
ihm zum heil nody heute — was der Engländer unter privacy 
verfteht, widerjprach jener ftetd in Begleitung, faft öffentlich) 
lebenden Welt und ihren Sitten vollftändig. Die Heiligkeit 


xx. 48, 1* (481) 








4 


und lUnbetretbarfeit des Schlafzimmers einer Dame ift ben 
romaniſchen Böllern unverftändlich: eine Stalienerin begreift 
noch immer nicht, dat man einer Fran einen Vorwurf daraus 
machen Tann, bei leichter Krankheit auch im Bette die Freumde 
des Hauſes zu |prechen, und ſich durch harmlojes Plaudern die 
Zeit vertreiben zu laljen. 

Freilich fit heute der Inhaber eines Palaftes nicht mehr 
wie im fiebenzehnten Sahrhundert von einer zahlreichen Um⸗ 
gebung umringt da, und holt fi) aus derſelben durch einen 
Wink den heraus, mit welchem er fi) unterhalten will — aber 
er lebt doch noch ſehr häufig mit einem, nordiſcher Vereinze⸗ 
ung gegenüber, zahlreichen Kreile von Freunden und Belannten 
zujammen, die fein Haus beleben und ihm die Zeit vertreiben 
helfen. Denn nody ift ein Weberreft der Furcht vor dem Allein 
fein geblieben, weldye bis in's vorige Iahrhundert die Welt, 
um die ed fich bier handelt, beherricht hat. Vieles haben die 
veränderten VBerbältniffe umgewandelt, und beſonders die Zeitun⸗ 
gen erjeen häufig den Umgang, den man früher nicht entbehren 
wollte. Wenn die Cardinäle, die ja formell Fürften find, nie 
ohne einen jogenannten gentiluomo ausgehen, ſo fangen fie 
heut zu Tage ſelbſt dem Römer, fo gewöhnt er auch an bie 
Sache ift, an, den Gedanken unerträglichen Zwanged und orga⸗ 
nifirter Zangenweile zu erweden. Vollends würde feine Frau 
in unferer Zeit den offiziellen Begleiter ertragen, der in bem 
Italien des achtzehnten Jahrhunderts eine fo große Rolle fpielte, 
unter dem Namen des patito oder cavaliere servente burd) 
unzählige Reifebejhreibungen gehetzt wurde, und für fo viele 
moraliſche Erpectorationen über die angebliche Verderbtheit ſüd⸗ 
lichen Samilienlebens dad Thema abgegeben hat, während er 
im Grunde nichts weiter war als der Ausdruck der ftet3 noth» 
wenbigen Begleitung, bad wandelnde Hinderniß der gefürchtet» 


ften Unbequemlichfeit, der Einſamkeit: natürlich founte er auch 
(433) 


5 


zum Liebhaber werden, aber im Wefentlichen ift er nichtd we- 
niger als gleichbedeutend damit. 

Der ftrenge Unterjhied zwiſchen Gentleman und Nicht 
Gentleman, wie ihn der Norden feftgeftellt hat und fefthält, ift 
dem Süden noch heute fremd, und war befonberd noch bis in's 
vorige Jahrhundert ganz unbelannt: beide Endpunkte der fo» 
cialen Stufenfolge, waren durch viele Zwiſchenglieder getrennt, 
und gingen ineinander über. Wenn der Connetable der Maria 
Mancini bei ihrer Ankunft in Rom ein Zimmer im Salafte 
Colonna mit den Worten zeigte: „Hier wohnte Shr Großvater, 
ald er noch der Kammerdiener meined Großvaterd war,“ fo 
hatte ihre Antwort: „ich weiß nicht, was mein Großvater 
war, aber das weiß ich, daß alle meine Schweftern ſich beſſer 
verheirathet haben als ich" — nur in der Zeit einen Sinn, in 
welcher man Kammerdiener eined Colonna fein Tonnte, ohne 
aufzuhören ein Edelmann zu fein. 

Die deutlichfte Vorftellung von jener ganzen Art zu leben 
gewähren die Paläfte Italiens mit ihren weiten Höfen, breiten 
Treppen und dem Ueberfluſſe großer Zimmer, der heut zu Tage 
oft nur als Laft empfunden wird, und den nordifhen Ausländern 
wie Montaigne?)) ſchon im ſechszehnten Jahrhundert befremd- 
lich erſchien. Im Innern ſind ſie allerdings vielfach baulich 
verändert worden. Beſonders iſt die Haupttreppe immer mehr 
zum Decorationsſtück herabgeſunken: fie iſt für Die modernen 
Berhältniffe gewiffermaben zu öffentlich, bleibt der Dienerjchaft 
oder den Beſuchern überlaffen, und wird in vielen Paläften für 
den internen Verkehr der Familie durch kleine Treppenanlagen 
erfett, die je nach Bedürfni einzelne Theile verfchiedener Stod- 
werte mit einander verbinden. Nechnet man hierzu noch die 
auch häufig vorlommende Kombination zweier Zimmer in zwei 
Stockwerken (am häufigften natürlid Mezzanin und Haupt: 
ſtockwerk) zu einem Raume, dur Wegnahme der Zwiſchendecke?), 


jo befommt man dad Bild eines Haufes, welches fehr wefent- 
(483) 





_ 6 

liche Abweichungen von dem uriprünglichen Grundriſſe zeigt. 
Sp ſucht man allmählich behaglicdhe und bequeme Räume zu ge 
winnen, und der Palaft, der dazu gebaut war, Schaaren von 
Dienern und in irgend einem Abhängigfeitöverhältniß ftehenden 
Leuten zu beherbergen, und diefelben auf den Steinbänten des 
Hofes, den Treppenftufen und den Bänfen der weiten Bor» 
zimmer herumlungern zu jehen, zerfällt nun in fleinere Com⸗ 
plere von Zimmern, die zegeneinander mehr oder weniger ab» 
gefchlofjen find. Sa man fängt an, die Höfe der Paläfte ab- 
zufperren: der Portier des Palaftes Farnefe in Rom läßt, offen» 
bar im Auftrage des franzöfifchen Botjchafters, Niemand mehr 
durch das Portal, und man muß fi damit begnügen die 
Façade zu bewundern: fein Römer dürfte fich der Slliberalität 
Ihuldig machen, die Hallen Michel Angelo’8 für feine Be, 
wunderer aus der ganzen Welt zu jchließen. | 

Man würde jehr im Irrthum fein, wenn man glauben 
wollte, die Sitten einer Zeit vorzugsweife aud den gleichzeitigen 
Nomanen Tennen lernen zu Tönnen. Aus der Entfernung ges 
fehen haben derartige Dichtungen einen unendlich einförmigen 
Charakter: fie verfolgen gewiffe im Zeitgeſchmack liegende Ten» 
denzen, variiren das jedeömalige Modeihema, nach allen nur 
denkbaren Richtungen, und fümmern ſich um das wirkliche Leben, 
was ja freilidy für die Gegenwart fehr viel weniger intereffant 
iſt als für die Nachwelt, faft gar nicht. Ob edelfühlende 
Räuber, unverftandene Sungfrauen, ſchuldloſes Hirtenleben oder 
jocialpolitifch perorirende Staatsmänner auf der romanhaften 
Zagedordnung ftehen — es werden nur Zuftände dargeftellt, die 
ebenſo bejchaffen find wie die Helden der Erzählung, denen 
Walter Scott droht, fie, wenn fie felbftändig haudeln oder 
denken wollen, in das Nichts zurüdzufchleudern, aus weldyem er 
fie bervorgezogen hat. 

Wenn man daher für die Kenntniß dieſer Zuftände ehr 


viel mehr aud den Denkwürdigkeiten lernt, welche jelbft-erlebted 
(434) 


7 


barftellen, fo liegt eine Schwierigkeit darin, daß Memoiren meift 
nur vom Standpunkte derjenigen gefchrieben find, weldye be» 
flimmend oder herrſchend auf andere Lebenäkreife wirkten. "Saint 
Simon und Grammont find gewiß unjhäpbar nad) jeder Rich⸗ 
tung, aber fie thronten hoch über einem ſehr wejentlichen Theile 
derjenigen, mit welchen fie zujammen lebten, und die fie als 
nnentbehrliche Ausfüllung der weiten Lüde anjahen, welche 
zwilchen ihnen und dem wirklichen Volke beftand. 

Sn unſeren Zeiten demokratiſcher Bereinzelung und, wenig» 
ftend fcheinbarer, ſocialer Gleichheit verfteht man nicht, wie man 
fich während des Nachwirkend fendaler Lebensgewohuheiten darein 
finden Tonnte, die Unterhaltung weniger aus dem berechtigten 
Widerftreit gleichitehender Smdivibualitäten und ihrer Aeuße⸗ 
rungen als vielmehr von beſtimmten, dazu beſonders geeigneten 
Perfonen herzunehmen. Jener Kreis, der einen mittelalterlichen 
— denn in diefem Sinne dauerte im Süden Europa’ das 
Mittelalter lange über die Reformation und Gegenreformation 
hinaus — Granden umgab, hatte wie im Altertbum in Rom 
regelmäßig einen oder mehrere Spaßmacher in fi, welche für 
die Beluftigung der Herren und feiner Familie mehr oder we⸗ 
niger häufig und mit mehr oder weniger Wit zu forgen hatten. 
Diefe Leute ſahen dad Leben ganz anders an als der body 
geftellte Memotrenfchreiber, und erft ihre Berichte würden eine 
wahre und vollftändige Schilderung der Sitten jener Zeiten er- 
möglichen. 

Es liegt in der Natur der Sache, daf man von Leuten 
dieſes Schlages nicht viele literartiche Aeußerungen befitzt, aber 
wir haben wenigftend die Memoiren eines Haudnarren aus 
dem fiebenzehnten Sahrhundert, welche für die Kenntniß der 
gejellichaftlichen Zuftände der Zeit von außerordentlichem Suter 
eife find. Um dies zu verftiehen muß man fich den Lebenslauf 


dieſes Mannes vergegenwärtigen, ben wir im Folgenden in all» 
(485) 








8 


gemeinen Zügen jchildern, indem wir aus feiner Erzählung be» 
ſonders charakteriftiiche Stellen hervorheben. 

@fteban, oder wie er fi) mit dem ihm gewöhnlich ge= 
gebenen Diminutiv nennt, Eftebanillo Gonzalez war im Jahre 
16458) ſeines unruhigen Xebens müde geworden. Dies tft die 
einzige genaue Sahreangabe, welche einen Schluß auf fein Ge⸗ 
burtöjahr erlaubt: er wird alſo wohl im Anfang des fieben- 
zehnten Jahrhunderts geboren jein. Sein Vater ftammte aus 
Salvatierra in Galizien, und erzählte dem Sohne, er (der 
Sohn) jei in Spanien geboren, aber in Rom getauft. Was 
feinen Vater bewog nad Rom überzufiedeln, theilt Efitebanillo 
nicht mit. Obgleich der Vater von adeliger Abfunft zu jein 
behauptete, brachte er den Sohn bei einem Barbier in die Lehre. 
Eftebanillo hielt e8 bier ebenfowenig aus wie in der Schule, 
welche er vorher bejucht hatte, lief fort, und begann nun im 
Alter von dreizehn Sahren fein langes Wanderleben. Zuerft 
ging er nach Xoreto, wo er fid, mit den andern Bettlern füt- 
tern ließ, dann nad) Piſa, endlid, nad Siena. Hier machte er 
die Belanntichaft von zwei Leuten, die zufammen von faljchem 
Spiel lebten, lernte ihre Künfte, entlief ihnen aber bald wieder, 
und ging nach Livorno, von wo er auf einer der Galeeren des 
Großherzogs von Toscana nad Meifina fuhr. Hier war er 
erft Diener eined Koched, dann eines Fähndrichs. Sein Herr 
diente unter Manuel Filibert von Savoyen, der mit einer Flotte 
von dreißig Galeeren auf Türkiſche Piraten Jagd machte. 
Eftebanillo war bier als Koch beichäftigt, und kam endlich mit 
der Flotte nach Palermo. Nachdem er dort mehrere ähnliche 
Stellungen inne gehabt hatte, fuhr er nach Neapel, befuchte 
jeinen Vater, konnte e8 aber bei dem zweiten Barbier, bei dem 
er num in die Lehre gebracht wurde, wiederum nicht aushalten, 
entlief nach Neapel, und wurde in dem Holpial von Santiago 
be los Eſpañoles ald angeblich geprüfter und approbirter Bars 
bier und Chirurg beichäftig. Nachdem er dort allerhand 


(436) 


9 


ſchlechte Streiche verübt hatte, ließ er fi von einem jeiner 
früheren Herren, dem er zufällig begegnete, anwerben, ging mit 
demjelben nach der Lombardei, defertirte aber mit mehreren 
anderen, als befannt wurde, dab die Compagnie jeined Herren 
Drdre hatte, nach den Niederlanden zu marjchiren. Nah Rom 
entkommen hörte er, dab fein Bater nach Palermo gereift war, 
um eine kleine Erbſchaft in Empfang zu nehmen. Seine 
Schweftern empfingen ihn fehr kalt, und thaten alles, um ihn 
bald 108 zu werden. Er ging wieder nad) Neapel, fand noch 
einmal Beichäftigung in dem Hofpital, verließ es aber zum 
zweiten Male, ald er hörte, dab fein Vater in Palermo ge- 
ſtorben war. Die geringe Hinterlaffenichaft hatte er jchnell 
durchgebracdht, dann fand er eine Stelle als Silberbiener im 
Hofhalte des Vicekönigs, aus der er jedoch bald wegen Unehr⸗ 
lichfeit entlaffen wurde. Dann war er Gerichtediener, Dieb, 
wurde and Palermo verbannt, ging nad) Neapel, war wiederum 
Mitglied einer Dieböbande, half einem Werbeoffizier bei feinem 
Geſchäfte, und benubte endlich eine günftige Schiffägelegenheit, 
um aud der Stadt fortzulommen, in der e8 wegen feiner zahl» 
reichen ſchlechten Streiche und vielen Schulden zu heiß für ihn 
geworden war. 

Bon Barcelona, wo er landete, ging er erft nah Saragoffa, 
dann nadı Madrid, wo er wieder Bedienter war, dann durch⸗ 
ftreifte er einen bedeutenden Theil Spantend und Portugal’s 
im Kleide eines Pilgerd und in Geſellſchaft ähnlichen Gelichterd 
wie er ſelbſt. Manchmal legte er dieje Kleidung ab, und trieb 
Haufirbhandel, dann war er wieder einfach Tagelöhner oder 
Bettler, bis er in Sevilla anfing, feinen natürlichen Verftand 
auf die Unterhaltung zuzufpigen, durch die er ſich fpäter forte 
zubelfen wußte. 

„Sch traf“ erzählt er*) „eines Tages einen Wafjerträger, 
deffen ehrwürbiger Bart mir jo viel Vertrauen einflößte, daß 
ich ihn fragte, wie ich ed machen könne, dab ich lebte, ohne daß 


(437) 


10 


mir die Gerichtödiener alle Tage in meine Hände fähen, ob» 
gleich fie mir doch gar nicht die Zukunft weiſſagen wollten. Er 
fagte mir, der Wein Anbalufiend jet zwar fehr gut, aber das 
Land fo heiß, daß man viel Waller trinfen müfje, zum Waſſer⸗ 
träger aber fei Seder tauglich, auch ohne geprüft zu fein oder 
etwas gelernt zu haben. Ich kaufte einen Krug und zwei Gläſer. 
Den Krug füllte ich aud dem Brunnen eines Portugieſen, deffen 
Waſſer ungewöhnlich Talt war. Sch bezahlte jedes Mal zwei 
Maravedis) dafür und verkaufte dad Waſſer für zwei Realen.*) 
Die andern Waflerträger holten ihr Wafjer weit ber, und ih 
behauptete watürlich, mein Wafler komme eben daher. Wenn 
die Leute mich fragten, warum denn mein Waſſer fälter jet, fo 
jette ich ihnen auseinander, dab ich immer einen Krug tn 
Schnee ftehen hätte, während ich den andern zum Berkaufe 
berumtrüge. Auf dieſe Weiſe verfaufte ich an einem Tage mehr 
ats die andern in einer Woche, und hatte lange nicht fo viel 
Anftrengung wie fie. Abends ging ich in's Theater und bie 
Herren benutzten meine Schlauheit und Gewandtheit zu ihren 
Zweden. Man ſchickte mich zu den Damen, jcheinbar um ihnen 
ein Glas Waffer, in Wahrheit aber, um Liebeöbotichaften zu 
überbringen. Herren wie Damen tranten mein Waller, Damit 
ich ihre Aufträge audrichtete, und bezahlten mir dad Glas zehn- 
mal höher als es werth war. 

Sndefjen ift e8 nicht immer Sommer, das Waſſer, welches 
ich verkaufte, befam außerdem den Leuten fchlecht, und die 
meiften meiner Kunden fingen an über Xeibweh zu klagen. 
Deshalb begann ich einen Handel mit Seife, Pillen und Zahn 
pulver. Zuerſt nahm ich gewöhnliche Seife, zerichahte fie, 
milchte fie mit etwas Bohnenmehl und Lavendelöl, und gab fie 
für Bolognefer Seife aus. Berner Tochte ich Heilmurz in Wein 
und Gummi, ließ die Miſchung im Ofen trodnen, und verlaufte 
fie als Moscauer Pillen. Endlih jammelte ich am Ufer bed 


Guadalquivir Bimftein, zerrieb ihn, vermilchte ihn mit einem 
(438) 


11 


Stoffe, der ihm eine röthliche Zarbe gab, und nannte ihn Le— 
vantiniſches Eorallenpulver. Meine Waaren pried ich mit allen 
möglichen Marktfchreiereien an und machte gute Geſchäfte. Am 
meiften halfen mir dabei die fremden Namen, mit denen ich 
meinen Kram ausftaffirt hatte, denn wer etwad in Spanien gut 
verfaufen will, muß fchwören, dab ed aus Dänemark oder der 
Schweiz oder Gott weiß wo ſonſt ber gefommen ift: was im 
Spanien jelbit wächſt, rührt fein echter Spanier an.” 

Dur diefen Haufirhandel wurde Eftebanillo mit einer 
Schanipielertruppe befannt, deren weibliche Mitglieder fich feinen 
Bimfteinwaaren bejonders geneigt zeigten. Aber auch bier blieb 
er nur kurze Zeit, da er die Theaterprinzeifin, in deren Dienft 
er getreten war, beftahl. Er lieh fi ald Soldat anwerben, 
bejertirte, diente auf einer Galeere, entlief wieder und war 
wiederum abiwechjelnd Haufirer und Zagelöhner. Nacd aller» 
band Diebftählen und anderen Gaunereien ſchiffte er fih auf 
einem Fahrzeuge ein, weldye8 von Malaga nah Saint Malo 
in der Bretagne fuhr, ließ fich dort zum Kriege gegen England 
anwerben, defertirte, jobald er dad Handgeld befommen hatte, 
und kam nach drei Tagen nad) Zand’), „einem Hafenplatz“ in 
der Normandie. Hier wurde er zuerft ald angeblicher Englifcher 
Spion ſchlecht behandelt und feftgejeßt, entlam dann aber nad) 
Rouen, und verwandte hier die gewonnene Lebenderfahrung 
und was er an Kenntniffen bejaß, in folgender Weije, die be» 
zeugt, daß er auf der Stufenleiter der Gaunerei wieder etwas 
höher gefommen war. | 

„Sn dem Gafthofe, in welchem ich wohnte, verjchaffte ich 
mir etwas Aſche, ſteckte fie in ein zufammengefalteted Papier 
and bewahrte fie anf der Bruft auf. Dann ging ich an bie 
Börfe und machte mich an einen Kreis portugieflicher Kaufleute 
heran. Sch redete fie mit der größten Demuth und Beſcheiden⸗ 
beit an. Da meine Familie von der portugiefiſchen Grenze 
ftammte, fo fprach ich geläufig portugiefilch, und meine Behaup⸗ 


(439) 














12 


— a 


tung, ich jet ihr Landsmann, fand leicht Glauben. Sch bat fie 
un Unterftühung, damit ich nach Vienne gelangen könnte, wo 
ih behauptete Schulden eintreiben zu wollen. Meine Armuth 
ertlärte ich damit, dab ich aus Portugal hätte entfliehen müſſen, 
weil mein Vater aus Gründen, die die Herren fidy leicht (wie 
ich fagte) denken Tonnten, verbrannt worden war. Die Aljche 
meines Daterd, die ich meinem Herzen zunächſt trug, zeigte ich 
dabei vor. Mit traurigen Mienen und Thränen in den Augen 
brachte man mid in das Haus Desfenigen unter ihnen, welcher 
der reichfte zu fein ſchien. Sie baten mich, ihnen bie Alche des 
Märtyrerd zu geben, da fie dieſelbe unter fi} vertheilen wollten. 
Dabei küßten fie das Papier, in welchem ich fie aufbewahrte. 
Ich gab ihnen zu verftehen, daB ich mid nur fehr ungern davon 
trennte, jagte jedoch, ihnen zu Liebe wolle ich darauf verzichten, 
nur müßten fie mir ein wenig davon laffen: hatte ich doch in 
der Meerenge von Gibraltar unjer Schiff dadurch aus einem 
Ihredlihen Sturme gerettet, dab ich etwas von ber Aſche in 
das Meer ftreute. 

Ale fingen an zu feufzen und fagten unter Thränen zu 
der Alche meines Vaters: „Der Gott Iſraels möge Dir Gnabe 
gewähren, denn Du haft die Märtyrerfrone verdient." Dann 
vertheilten fie die Aſche unter einander, gingen wieder mit mir 
nad der Börfe und ließen bei ihren Stammesgenofjen einen 
Handſchuh für mich herumgeben, in welchem fich zulebt fünfs 
undzwanzig Ducaten®) vorfanden, die mir außgehändigt wurden. 
Darauf gaben fie mir einen Empfehlungdbrief an einen ihrer 
Gorreipondenten, der in Paris Geſchäfte machte, und. baten ihn, 
mir weiterhin auf meiner Reife behülflidy zu fein. Außerdem 
ermahnten fie mich, niemald den Tod meined Baterd zu ver 
geſſen und ſtets des Glückes eingedenf zu fein, daß ich fein 
Sohn ſei. Wie freute ich mich, fo gut mit Leuten gefahren 
zu fein, die fonft nur Andere betrügen und fid) niemals jelbft 
betrügen lafjen! 


(440) 


13 


Auf der Reife nach Paris lebte ich wie ein großer Herr. 
In Paris kaufte ich ein Paar ſpaniſche Fliegen und andere 
Dinge, die zu meiner Beihäftigung als Chirurg gehörten. 
Dann ging ich in einen Gafthof im Faubourg Saint Germain, 
der einem ſpaniſchen Zlüchtling mit Namen Granados gehörte. 
Abends febte ich mir zwei Pflafter an ben Hals, ber natürlich 
in der Nacht fehr anſchwoll. Am näcften Morgen ging ich 
mit meinem diden und gut eingewidelten Halfe in den Palaft 
des ſpaniſchen Gejandten, Marquis von Miravel, Ich fagte, 
ich ſei and Galizien nad) Paris gereift, um meinen Kopf heilen 
zu laffen, und der Almofenier des Gefandten gab mir dreiviertel 
Scudo zur Begrüßung und wöchentlih einen Scudo?) bis zur 
Genefung. Auf meinen Empfehlungsbrief befam ich eine andere, 
recht anjehnliche, Unterftübung.” 

Bald war das Geld verjubelt und Eftebantllo lebte wieder 
theils al8 Diener, theild vom Haufirhandel. Nachdem er feinen 
Krani, der hauptſächlich aus Nadeln beftand, [08 geworden war — 
in feiner halb ſchwülſtigen, halb fcherzhaften Sprache fagte er: 
„Ohne ein Strauß zu fein, hatte ich meine fammtlichen ſpitzen 
Waaren verzehrt” — traf er auf einen Werbeoffizier. „Der 
Sergeant fragte mid,” erzählte er10), „ob ih Soldat werden 
und dem allerhriftlichften Könige dienen wollte. "Da ich fo 
hungrig war, daß ich felbft einem Mamelufen gedient hätte, um 
mich nur fatt eſſen zu können, jo antwortete ich: ja. Er führte 
mich zu feinem Hauptmann, der mir einen viertel Scudo Hand» 
geld gab und mid in jeine Compagnie einreihte. Er nannte 
mich, da er ſah, daß ich meine Kameraden bei Tiſch fortwährend 
durch meine Einfälle erheiterte, Herr von Frohſinn. Wir 
marjchirten dur den Dauphine und überall wurde getrunfen, 
jo daß es fortwährend hieß: abu, Monsieur de la Fortuna; 
abu, Monsieur de la Esperanza“ (Eftebanillo meint a Vous. .). 
Bald defertirte er wieder, ließ fich in Livorno abermals mit 


acht Dufaten Handgeld anwerben, wurde nad) viermonatlichem 
(441) 





14 


Dienft „ald Mein von Körper und nicht groß von Tugend“ ent- 
laffen und ging über Viterbo nah Rom. Seine Schweftern 
ließen ihn aus dem Haufe werfen; ein Haus, welches fein Vater 
binterlaffen hatte (und welches wahrſcheinlich nicht ihm allein 
gehörte) taufchte er heimlich gegen eine Anzahl Bilder um, bie 
er in Neapel verfaufte. Als der Erlös verſchwendet war, lieh 
er fich wieder anwerben und fuhr mit der Ylotte, welche der 
Marquis von Sampolataro und der Marquis von Santo Luchito 
commandirten, nad) Spanien. Dort erftadh er in der Betrunken⸗ 
heit einen Soldaten und ſuchte in einem Klofter in Barcelona 
Schub, wo damald der Bruder Philipps IV., Don Fernando, 
Sardinal-Erzbiihof von Zoledo, gewöhnlihd der Cardinal⸗ 
Snfant genannt, Bizefönig war. Aber ed half ihm nichts, 
jein Hauptmann, der ihm Sold ſchuldig war, ließ ihn feftnehmen 
und ihm den Prozeß madjen. 

„Wie nichts und ohne fi im mindeften daran zu Tehren, 
ob ed mir recht war oder nicht, verurtbeilten fie mich”, jo 
erzählt erı1), „eine Predigt auf der Leiter zu hören, die Leute 
unten mit den Haden zu jegnen und mich von den Winden bin- 
und herwehen zu laffen. Der Notar, welcher mir diefe Nachricht 
überbradhte, war jo freundlich, nicht einmal ein Trinkgeld dafür 
zu verlangen. Sch war ziemlich traurig, bejonberd weil mir 
der Gefängnikwärter nur den Rath gab, mich mit Gott zu ver- 
föhnen, ohne mir Gelegenheit zu verichaffen, meinen Frieden mit 
Bacchus zu machen. Um meinem Spitnamen feine Schande 
zu machen, probirte id), ob der Schritt, der mir bevorftand, 
ſich mit Vergnügen und Leichtigkeit thun ließe; aber als ich 
meine Hand um den Hals legte, mußte ich mir jagen: wenn 
das, was die Hand thut, die doch von weichen Fleiſche ift, 
fhon fo fchmerzhaft ift, wie foll es erit mit dem Stride fein, 
der doch aus hartem Graje1?) gemacht ift? Deshalb Eniete 


ich nieder, bat den Himmel um Gnade umd verſprach, wenn id) 
(442) - 


15 


dieſes Mal davon käme, Buße für meine Sünden zu thun und 
ein beffered Leben anzufangen.” 

„Sn der ganzen Stadt verbreitete fi) das Gerücht und 
viele Freunde famen, um mich noch einmal zu jehen. Die meiften 
ſagten mir, ich hätte jet den Weg zu gehen, dem fie auch ein- 
mal einfchlagen müßten, nur daß ich ihnen voraus eilte. Einige 
Eingeborene fagten, e8 ſei ein Sammer, daß ich wegen einer 
ſolchen Kleinigkeit fterben folle; Andere dagegen meinten, ich 
fehe wie ein Erzichuft aus. Endlich Fam auch ein Sranziöfaner- - 
mönch, der vor Eifer am ganzen Leibe fchwibte, und fragte 
eilig: „Wo tft der Verurtheilte?“ Ich erwiderte: „Vater, ich 
bin e8, obgleich ich nicht jo ausſehe.“ Er jagte: „Mein Sohn, 
jett ift e8 Zeit, am Deine Seligfeit zu benfen, Deine Sünden 
zu beichten und Gott um Berzeihung zu bitten." „Nein,“ ants 
wortete ich, „Vater, ich beichte immer nur während der Faften- 
zeit. Soll ih aber einmal mein Vergehen mit bem Leben 
bezahlen, weil dad menfcliche Geſetz es fo will, fo giebt es fein 
göttliches oder menjchliches Geſetz, welches befagt: du follft nicht 
effen noch trinken. Deswegen und um nicht gegen Gottes 
Gefeß zu verftoßen, erſuche ih Ew. Chrwürden, fich dafür zu 
bemühen, dab ich etwas zu efjen und zu trinken befomme, und 
nachher wollen wir von heiligen Sachen reden.“ 

Der Möndy war offenbar nicht fehr zufrieden mit der Art, 
wie ich meine Lage auffaßte, nahm ein kleines Srucifir aus ber 
Taſche und fing an, mir von dem verlorenen Schafe und dem 
reuigen Schächer vorzuerzählen. Dabei jchrie er jo, daß das 
ganze Gefängniß wiederhallte, und meinte jo, daß meine Zelle 
überf[chwemmt wurde. Da ich ſah, dab ed doch nichts half, 
Iniete ich, obgleich ich vierundzwanzig Stunden nichtd gegeffen 
hatte, nieder und beichtete meine Sünden. Nachdem ich abfol« 
virt war, ſtand ich auf und empfand das größte Mitleid mit 
den armen Leuten, die ja, um mich zu jehen, einen Feiertag 


machen und nichts verdienen würden. 
(443) 


16 


Diefe und andere Erwägungen beftimmten mid, eine in 
meinem Namen abgefahte Bittfchrift. den Marquis von Eſte, 
weldher die Gavallerie befehligte, übergeben zu laſſen. Es wurde 
darin andgeführt, ich ſei ein Edelmann und beanſpruche daher, 
enthauptet ftatt gehenkt zu werben. Ich glaubte nämlich, der 
Marquis würde fi nady der Wahrheit meiner Behauptungen 
ertumdigen laffen und während Antwort aus Rom oder Sal« 
vatierra käme, würde ich Gelegenheit finden, mit einer Feile 
meine Ketten oder mit einem Dietrich die Thüre meines Gefäng- 
niffes unſchädlich zu machen. Aber Alles war vergeblich; der 
Marquis antwortete, er wünſche lediglich, daß ich hingerichtet 
würde, und ftellte die Todesart mit der größten Höflichkeit ganz 
in mein Belieben. Ich war ihm unendlich. dankbar, nahm 
einen Stein und ſchlug damit als reuiger Sünder fortwährend 
auf meine Bruft, wobei ich mid jedoch wohl hütete, mir den 
geringften Schaden zuzufügen. 

Ganz jhlimm wurde mir jedoch erit zu Mutbe, als idy 
die Glode der Brüberfchaft hörte, welche die zum Tode Ber 
urtbeilten auf ihrem letzten Gange zu begleiten pflegt. Da 
traten Don Francidco de Peralta und Joſeph Gomez, der Eine 
Secretair, der Andere Barbier feiner Hoheit des Carbinal- 
Infanten, in mein Gefängniß ein, um mir ihr Beileid ans⸗ 
zubrüden. Aber mein Kummer war fchon vorbei; denn ber 
Kerfermeifter hatte mir zwei Pfund Brod und einen Krug Wein 
gebracht. Sch machte alſo, ftatt zu jammern, alle möglichen 
Witze und zwar zum großen Erftaunen meiner beiden Bejucher, 
die durchaus nicht begreifen konnten, daß mir der Tod fo leicht 
wurde. Ich ſetzte ihnen auseinander, dab mein Schmerz nur 
jo lange gedauert habe wie mein Durft und daß, fo wie ich 
genug Wein hätte, meine ganze Traurigkeit verjchwinde. Sa, 
ich fei vergnügt darüber, nun der Welt ber Gerichtödiener und 
Advocaten für immer zu entgehen; wollten fie mir jedoch eine 
Gunſt erweilen, jo bäte ich fie um Folgerided: „Sch babe,“ 


(444) 


17 


ſagte ich, „einige Sünden begangen, deren Abjolution ſich Seine 
“Heiligkeit der Papft vorbehalten bat. Ich bitte die Herren 
alfo dringend, bei dem General einen Aufichub von drei Monaten 
für mich zu erlangen, damit ich nach Rom reifen und jene Sün- 
den beichten Tann. Als edeler Salizier ſchwoͤre ich, nach Ablauf 
diejer Frift zurüd zu kommen und mich hinrichten zu laſſen.“ 

Sogleich begaben fich die Beiden zwar nicht zu dem General, _ 
jondern zu feiner Hoheit bem Vizekoͤnig und biefelben hatten bie 
Gnade, dad Todesurtheil in eine zehnjährige Galeerenftrafe 
umzuwandeln. Seine Hoheit hatte von meinen Bertheidigern 
jo viel von meinem Wit und meiner guten Laune gehört, daß 
mir geitattet wurde, ihm zum Dank für Die erwiefene Gnade 
die Füße zu küſſen. Dabei gefiel ich ihm mit meinen Scherzen 
jo gut, daß er mid, zum Granden von Spanien machte, indem 
ee mir befahl, mein Haupt zu bededen. So wäre ich fein 
Haudnarr geworden und hätte jo viel zu trinfen befommen ala 
ih wollte, wenn mid; nicht die Prügel, Die feine Pagen mir 
vergünftigten, und meine große Borliebe für den Soldatenftand 
Davon abgehalten hätten, eine jo ehrenvolle und einträgliche 
Stelle anzutreten. Die Galeerenftrafe war. mir audy erlaffen 
worden: fo verließ ich aljo als freier Mann den Palaft und 
ließ mir zwei Aderläffe geben, um mich von dem ausgeftandenen 
Schreden zu erholen. Natürlich war darauf mein näcfter Gang 
in eine Schänfe, um durch Wein das verlorene Blut zu erfegen.“ 

Dbgleih nun völlig zum Buffone geworden, nahm er doch, 
da er feinen für ihn geeigneten .Hern fand, wiederum Dienfte 
als Soldat, deiertirte aber und trieb fi in Mailand herum, 
indem er feinen Lebendunterhalt auf die ſchmutzigſte Weiſe 
gewann. Dann war er halb Koch, halb Soldat, kam nad) Tirol, 
dem Elſaß und Burgund und endlich, jedody mit einem andern 
Herm, nad Baiern. Wie er fih halb ald Schalt, halb als 
. Dieb forthalf, geht aus folgender Schilderung 13) hervor. 


„Wir waren im Haufe eines reichen Mannes einquartirt, 
xXxX.469. ' 2 (445) 


18 


den feine Diener als begütert darftellten, der aber jelbit arm 
zu fein behauptete. Ich war der einzige, der fich mit ihm ver 
ftändigen konnte, da ich lateiniſch mit ihm ſprach, während er 
fein Wort Spanifch verftand. Sch jebte ihm mit ernfter Miene 
audeinander, daß mein Herr ein jehr vornehmer Mann und ich 
fein Fourier, Majordomo und Koh ſei. Zuerſt verlangte id) 
die übertriebenfte Menge Proviaut für die Dienerichaft, und als 
fih der Deutiche ganz entjebt befreuzigte und jagte: „Wenn jo 
viel für die Dienerfchaft verlangt wird, fo giebt es ja in unferem 
ganzen Dorfe nicht genug für den Herren,” erwiderte ich: „mein 
Herr ift ſo edelmüthig, dab ed ihm mehr darauf anfommt, dab 
feine Dienerichaft wohl verfehen tft, als daß er felbft Weberfluß 
bat. Er ift ganz zufrieden, wenn er ein Züllfel mit Ei 
befommt." Cr kannte das Gericht nicht und fragte wie es 
gemacht würde. Sch fagte, er folle ein Ei, eine junge Taube, 
zwei Wagenladungen Kohlen, einen Schuhflider mit Ahle und 
Pfriem und einen Xodtengräber mit feiner Schaufel herlommen 
laſſen; dann wollte ich ihm zeigen, wie es gemacht würde. 
Ganz voll von Angft und Staunen ging unfer Wirth fort und 
ließ das DVerlangte berbeibringen. Sch öffnete die Taube mit 
meinem Mefler, that das Ei hinein, nachdem ich die Eingemweide 
berausgenommen hatte, und fagte: „jebt wird diefe Taube in 
ein Rebhuhn geitedt, dad Rebhuhn in eine Henne, die Henne 
in einen Capaun, der Capaun in einen Zafan, der Falan in 
eine junge’ Ziege, die Ziege in einen Hammel, der Hammel in 
ein Kalb und das Kalb in eine Kuh. Natürlich muß Alles 
vorher gewafchen, gerupft oder enthäutet und gejpidt fein, nur 
die Kuh behält ihr Fell. Dann kommt der Schufter und näht 
dad Ganze zujammen und der Zodtengräber macht eine tiefe 
Grube. Unten kommt die eine Wagenladung Kohlen hinein, 
darauf wird die Kuh mit ihrem Inhalte gelegt und auf die 
Kuh kommt die zweite Ladung Kohlen. Endlich werden bie 
Kohlen angezündet und dad Ganze ſchmort vier Stunden, nicht 


(446) 


19 _ 


mehr, noch weniger. Ich fage Shnen, das giebt das jchönfte 
Bericht von der Welt. Die alten Kaiſer aben ed am Kroͤnungs⸗ 
tage.” 

- Der arme Mann war völlig verfteinert und glaubte mir 
Alles aufs Wort. Indeſſen verftändigten wir und Beide: ich 
redete meinem Herren vor, unfer Duartiergeber ſei ſehr arm und 
dieſer zeigte fich gegen mid) außerordentlich erfenntlih. Aber 
die Sache Tam heraus, mein Gapitän kam mit einem Stode 
bewaffnet in die Küche hinunter und Elopfte mir ben Staub fo 
gründlih aus, daß er vier Tage lang wegen Stranfheit feines 
Koches nur kaltes Fleisch effen konnte.“ 

Nach verfchiedenen Wechlelfällen geriet) Eſtebanillo in den 
Niederlanden in Gefangenfchaft und wurde endlich vor den Gou⸗ 
verneur von Maeſtricht, Herzog von Bouillon, geführt, der 
gerade bei Ziihe ſaß und ihn fragte, wie viel er für feine Frei⸗ 
lafjung bezahlen wolle. „Herr,“ erwiderte1®) er, „ich bin fein 
Soldat fondern ein Cavalier, der auf Abenteuer ausgeht. Unter 
Spaniern heiße ich Eftebanillo Gonzalez, unter den Franzoſen 
Monfteur de la Alegreza. Mein Stand ift ein Schelm zu fein 
und meine Kunft ift der Spaß; dieſer Stand und diefe Kunft 
haben ihre Privilegien und ihnen gu Folge bin ich frei und 
darf nicht gefangen gehalten werden. Wenn Seder von den 
Soldaten, die mich gefangen genommen haben, für feinen An⸗ 
theil einen guten Streich und Ew. Ercellenz für fi) vier Späße 
haben will, fo bin ich bereit, midy damit loszufaufen, und die 
Herren werben ſämmtlich zufrieden fein; wo nicht, fo kommen 
fie noch jdhlechter weg und das beſte Geſchaͤft mache ich felbft; 
denn, nachdem ich offenbart habe, wer ich bin, habe ich ein un⸗ 
beftreitbared Recht, in diefem Haufe bier zu leben, da es das 
vornehmfte Haus der Stadt iſt; bin ich aber erft einmal darin, 
fo werben die Herren ja jehen, wie der Wein abnehmen und 
endlich der fchredlichfte Durft alle Bewohner deflelben binraffen 


wird. “ 
2? (447) 





20 


Der Herzog hoͤrte mich mit Vergnügen an, alle ſeine Gäfte 
lachten und man gab mir zu eſſen. Es wurde mir jo viel zu- 
getrunfen, daß ich, wenn ich nicht ein guter und geübter Schiffer 
geweien wäre, in diejem Meere von Wein meinen Untergang 
gefunden hätte. Nach Tiſch gab mir der Herzog meine Freiheit 
und jchenkte mir zwei Doublonen 5) als Reijegeld. 

Auf dem Wege traf Eitebanillo den Capitän Bernabs 
Bisconti, den er mit jo gutem Erfolge erheiterte, daß er ihn 
ebenfall3 bejchentte, in jeinem Wagen mit fahren ließ und mit 
dem Manne befannt machte, in deflen Kreifen er fi von nun 
an bewegte und den er auch in der Widmung feines Buches 
als feinen Herren bezeichnete, den Grafen — denn dad war er 
damald noch — Ottavio Piccolomini, Taiferlichen General in 
den Niederlanden. 

„Der Graf,” erzählt!‘) Eftebanillo, „hatte von meinen 
Sigenfchaften erfahren und freute fi) Iemand zu haben, mit 
dem er fi manchmal amüfiren Tonnte, da er nicht bloß immer 
an Gewinnung von Schlachten und Eroberung von Zeitungen 
denfen mochte. Da es gerade Zeit zu jpeilen war, jo wurde 
eine Mahlzeit aufgetragen, wie fie ſich für einen ſolchen Daun 
geziemte. Er lud mid, ein, mit ihm zu |peilen, und ein Diener 
fegte mir einen Stuhl an den Tiſch, aber, was ich noch niemals 
gejehen hatte, rüdwärts, das heißt mit der Lehne gegen bie 
Tafel gerichtet. Als ich den Stuhl umdrehen wollte, fagte der- 
Selbe Diener, das dürfe ich nicht, denn er habe mir dad gegeben, 
wad mir zufomme. Mir lag weniger an einem bequemen St 
als an ordentlichen Loslegen und jo machte ich denn, jo jchlecht 
ih auch im Sattel ſaß, trotzdem eine ordentliche Reife bei Tiſche 
durch. 

Nach der Zafel fing dad Trinken an und zulegt blieb ich 
mit Sr. Ercellenz und dem Hauptmann, der mid ihm vor« 
geftellt hatte, allein. Die Herren jchlugen mir vor, ein Spielchen 


zu machen. Seder legte eine handvoll Goldſtücke auf den Tiſch 
(448) 


21 


und ich, der ich Tein Geld hatte, feßte Hiebe ein, bie jo und 
jo viel gelten folten. Nun hätte ich freilich als Chrift diefes 
Spiel eigentlich überhaupt nicht fpielen bürfen, denn ich konnte 
nur gewinnen und fie nur verlieren, da ich, wenn ich verlor, 
Prügel gewann — Prügel aber babe ich mir immer, wenn es 
darauf ankam, zwanzig für einen Heller geben laſſen — und 
wenn bie Herren gewannen, fo litt ihre Börfe, ebenfo wie 
ihnen ihre Singer von dem Prügeln wehe thun mußten. Seine 
Sreellenz ließ mich — wohl aus Großmuth — ſechs Goldftüde 
gewinnen, der Hauptmann dagegen gewann von mir dreißig, 
die er fih auf meinem Rücken zu meiner eigenen Zufriedenheit, 
wie zu allgemeiner Freude durd die Pagen audzahlen lieh. 

Nachdem das Spiel beendet war, fragte ich den Diener, 
welcher mir den Stuhl gegeben hatte, warum er ihn- verkehrt 
bingefebt habe. Er antwortete: „den- Edelleuten, welche unfer 
Herr einladet, wird der Stuhl gerade hingefebt, den Narren, 
die mit bei Tiſche fitzen, verkehrt." Ich dachte bei mir felbft: 
„mein Vergnügen ift meine Ehre; was hilft’3 mir, wenn mein 
Bater Brod heißt, und ich muß hungern?“ 

Ottavio hatte den Spaßmacher bald vergeſſen, denn er reifte 
noch an demjelben Abend nach Brüffel ab,. und Eſtebanillo war 
ſehr erftaunt, fich plößli ganz verlaffen und ohne irgend 
welche Anweijung über fein weitered Schidjal zu finden. Da 
gab ihm der Marquis Matte Geld, um feinem Patron nach⸗ 
zureiſen. Er fand ihn in Brüffel, und begleitete ihn in feinem 
Gefolge und in feiner Livrde nad) Wien, wo er der Kaijerin 
Maria die Hand füllen durfte, und. Durch Die von derjelben ers 
theilte Erlaubniß, feinen Hut, weil er ſehr Hein war, aufzuſetzen, 
jo ftolz wurde, daß er den thätlichen Spott der Pagen beraud- 
forderte, und auf feine Klagen feine andere Antwort zu hören 
befam als etwa: „das tft der Nachtiſch für die Mahlzeit der 
Hofnarren.* | 


Seinen Herren fand er dann in Flandern, Turz vor ber 
(449) 





22 


Schlacht von Thionville wieder, nach welcher ihn der Kaiſer in 
Anerkennung feiner guten Dienfte zum Herzog von Amalfi 
machte, ein Titel, welchen von Ottavio's Familie zuerft Antonio 
Piccolomini, Nepot des Papftes Pius II., von Raimondo Orfint, 
Fürften von Salerno, geerbt hatte, und der fpäter mit Ditabto, 
ber befanntlich nie einen Sohn gehabt hat, erlofchen ift: fein 
Mitglied der Familie Piccolomini ſcheint Luft gehabt zu haben, 
den Titel zu führen, den der Verräther befledt hatte. 

„Da ich den Sieg", erzählt1?) Eftebanillo”, „für ganz ficher 
hielt, fo bat ich den Grafen, mich als Counrier mit der Sieges⸗ 
nachricht nach Wien zu ſchicken. Er aber antwortete mir: 
Señor Eftebanillo, Em. Gnaden find zum Courier ſehr brauch⸗ 
bar, für eine Schlacht jeboh allzu feige. Da ich nun doch 
weiß, daß Diefelben nicht Tämpfen, fondern fi ebenſo furchtſam 
benehmen werben, wie in der Schlacht von Nördlingen, jo jehen 
Sie fi} auch bier auf einen Hügel, und ſehen Sie fih die 
Sade mit an. Sollte Gott mir den Sieg gewähren, jo eilen 
Sie mit der Meldung fort: ich weiß, daß dieſer Dienft Ihnen 
mehr eintragen wird, als wenn Sie fi) damit aufhalten wollten, 
auf dem Schlacdhtfelde zu plündern. 

Ich folgte, um .meine Reife nicht durch einen ber unbe- 
rechenbaren Zufälle des Krieges verhindert zu ſehen, diejem 
Rathe, ſuchte mir eine Anhöhe aus, etwa zwei jpanijchei®) 
Meilen von beiden Heeren entfernt, und ſah zu, wie mein Her 
Wunder ber Tapferkeit verrichtete, und den Feind befiegte. 
Darauf verließ ich meinen Standort, um die Siegesbotſchaft 
zu überbringen. Als icy aber auf dem Wege einen von unjeren 
Martetendern traf, that ich, als wäre ich bei dem erften Zus 
fammenftoß beider Armeen zugegen gewejen, und tranf fo viel 
auf da8 Wohl meines Herren, daß ich nach einer BViertelftunde 
viel mehr Luft zu ſchlafen veripürte, als danach, die Poft zu 
reiten. Da wurde plößlid eine Kanone gelöft, und wenn es 


auch nur ein Freudenſchuß wegen des erfochtenen Sieges war, 
(450) 


23 


jo erſchrak ich doch fo entſetzlich, daß ich vom Pferde fiel, und 
mid) dabei etwas verlehte, jo daß Blut zu fließen begann. Im 
meiner Angft glaubte ich, eine Kugel habe mich getroffen, und 
fing an, laut nad einem Priefter zu ſchreien. Der Marletender 
und einige andere Leute kamen herbei, ich ſagte ihnen, eine 
Kanonenkugel habe mir das Bein zerichmettert, und wurde, da 
die Leute es fjelber glaubten, aufgehoben, anf den Wagen des 
Marfetenderd gelegt und in die Stadt gefahren. 

Man brachte mich in ein gutes Wirthähand, und legte mich 
ind Bett. Ein Chirurg war micht gleich zu finden, da alle 
Aerzte mit den verwunbeten Soldaten beichäftigt waren. Endlich 
nad vier Stunden, ald ich Schon ganz feft fchlief, kam ein 
Wundarzt mit einem halben Dutzend Gehülfen herein, die mid, 
da fie gehört hatten, ich jei ein Lieblingödiener des flegreichen 
Feldheren, mit großer Sorgfalt zu behandeln gedachten. Kaum 
im Zimmer, framten fie ihre Sachen, Meſſer und fonftigen 
Infteumente aus und ließen Charpie zurecht maden und Salben 
vorbereiten. Als alles fertig war, lie der Chirurg mich wecken, 
um dad Bein zu befichtigen. Nach langer Mühe gelang es, 
mid; au8 meinem Schlafe aufzuftören, ich ſetzte mich aufrecht 
in meinem Bette bin, und war fehr wenig erbaut, als ich fo 
viele Raben mit ihren anatomiichen Werkzeugen zu meiner Zer» 
legung bereit ſah. Ich entblößte das Bein, der Arzt nahm ein 
Licht, feßte feine große Brille auf und beſah die Wunde. Als 
er aber nur eine Feine Schramme bemerkte, fagte er: „Sie 
wollen mid) .wohl zum Beften haben, da Sie midy fommen 
laffen, um Ihre eingebildeten Wunden zu heilen?” Ic, erwies 
derte: „möchten Sie mich in den Zuſtand verfeßen, in welchem 
ih mich befand, als ih Sie rufen ließ: dann würden Sie ein- 
jehen, dab die Wunde, wenn fie auch nur eingebildet war, mir 
dennoch damals eine wirkliche Wunde zu fein ſchien. Damit 
Sie jedoch nicht umfonft gefommen find, fo nehmen Ste dieſes 


(451) 


24 


Goldſtück, und erzählen Sie nicht weiter, was fidy hier ereignet 
bat." Lachend verließen alle mein Zimmer. 

Ottavio wollte ſich über die Sache todtlachen, Eſtebanillo 
aber ließ fi), durch feine vielfachen Gourierreiien angegriffen, 
am Hofe des Cardinalinfanten in Brüflel häuslich nieder: „obs 
gleich ich Teine beſtimmte Stelle bekleidete”, erzählt 19) er, „jo 
empfing ich doch alle Zage meine Razion und alle Stunden 
irgend einen Vortheil. Da ich jebt aus dem Spaßmacher einer 
Ercellenz der einer Königlichen Hoheit geworben war, fo nahm 
ich ein gewichtiges Weſen an, wie es fidh für eine fo erhabene 
Stellung ſchickte. Wie andre Leute Hunde, Affen oder jonft 
welche Thiere gerne haben, fo hatte Seine Hoheit eine lebhafte 
Zuneigung zu mir, und bethätigte diefelbe dadurch, daß er mir 
viele ſchoͤne und kofibare Kleider machen ließ. Ging er auf die 
Jagd, jo mußte ich mitreiten; fuhr er fpazieren, um fich von 
feinen Regierungsforgen zu erholen, und feinen Unterthanen die 
Freude feines Aublids zu gönnen, fo ſaß ich neben ihm dm 
Wagen. Bet dieſem Leben befand ich mich jo wohl wie ber 
Fiſch im Waller. Zreilich fehlte es nicht an Leuten, die mir 
mein Glück mißgöunten, und mich aus meiner Stellung zu ver- 
drängen juchten. Dabei vergaßen meine Nebenbubler ganz, daß 
fie nur ebenjo wigig und unterhaltend zu fein brauchten, wie 
id, um diejelben Bortheile zu erndten. 

Aber der Haß, der mir auf allen Wegen entgegengebradjt 
wurde, machte mich Hug. Ich ſuchte möglichit viel Geld zu- 
fammenzufcharren, um für bie Zukunft geſichert zu fein. Des⸗ 
halb fertigte ich eine Lifte aller Fürften, Herzöge, Grafen und 
Barone ded Landes an, fchrieb die Wohnung neben die Namen 
derjelben, und beſuchte fie allmählich fümmtlidy, aber, wohl ges 
merkt, immer nur, wenn fie bei Zafel faßen. Das ift Die befte 
Zeit, wenn einer etwas haben will; denn große Herren find 
Morgens beim Aufitehen gewöhnlich übelgelaunt und Abends 


haben fie den Aerger über die Geſchäfte und die Gläubiger nod) 
(452) 


25 


in ih. Und wirkli fand ich bei meinen Beſuchen foldhe Frei⸗ 
gebigfeit, daß mir Flandern als das fchönfte Land von ganz 
Europa erſchien. War ih einmal ſchlechter Laune oder traurig 
geftimmt, fo bejuchte ich Niemand, da es ja nicht mein Amt 
war, midy von andern erheitern zu laffen, fondern jelber-Andere 
zu erheitern.” 

Der Cardinal:Infant ftarb, wie Mademoijelle von Mont» 
penfier meint,2°) an Gift, weil die Abficht befand, ihn mit 
Sranzöliicher Hülfe und ald Tünftigen Gemahl diefer Dame, der 
Tochter des Herzogd Gaſton von Drleand, zum Herrfcher der 
Niederlande und diefe unabhängig von Spanien zu machen. 
Er war erit zweiunddreibig Sahre alt geworden, und erfreute 
fih, wie auch aus Eftebanillo’8 Erzählung hervorgeht, in den 
Niederlanden wie in Spanien der größten Beliebtheit... Nach 
feinem Tode erreichte es Eftebanillo, dab Ottavio Piccolomint, 
den er nun wieder „feinen Herren“ nenut, ihn zu ſich nad 
Deutfchland beichied. „Ich kam in Wien an”, erzählt?!) er, 
„und ftellte mich ſogleich Ihren Kaiſerlichen Majeftäten vor. 
Ehe ich in den Audienzfaal trat, hatte mir der Kaifer verbieten 
lafjen, den Namen des Cardinalinfanten audzufprechen, weil es 
die Kaiſerin nicht ertragen Tonnte, an ihren verjtorbenen Bruder 
erinnert zu werden. Die Majeitäten freuten ſich ſehr darüber, 
mich zu fehen und zu hören, und befahlen, mich nach meiner 
langen Reife — denn ich war nody in feinen Gaſthof gegangen 
— zu teftauriren. Dann kühte ich dem Marquid von Gaftel- 
Rodrigo, der als Gefandter Seiner Tatholiihen Majeftät im 
Wien lebte, die Hand. Er nahm mich in feinen Schuß, und 
ich verlebte einige Tage in feinem Haufe fo angenehm, daß idy 
meine Stellung nicht mit der eined Statthalterd einer reichen 
Provinz vertaujcht hätte. 

Jetzt hörte ich, daß mein Herr auf der Reife nah Wien 
fei. Ich ging ihm entgegen, warf mich vor ihm nieder, und 
bat ibn um Verzeihung dafür, daß ich drei Jahre lang in an- 


(453) 


26 


deren Dienften geftanden hatte. Meine Entſchuldigung war, 
baß ich krank war, ald er aus Flandern abreifte, und daß id} 
Diener eines Urenkels Carls ded Fünften gewejen war. Eeine 
Excellenz ließ mich aufftehen und mein Haupt bededen, und 
fagte, er fet nicht würdig, einen Mann in feinem Dienfte zu 
haben, weldyer zum Gefolge eined fo großen Fürften gehört 
babe. 

Als Seine Excellenz jeinen Palaft betrat, ordnete er an, 
dab ich alle unter mir haben und gut einrichten follte, was 
zum Küchendepartement gehörte. Wie alle Leute, die nichts 
find und etwad werden, nahm ich den Knüppel ordentlich in die 
Hand, und wurde Tyrann und abfjoluter Herrſcher in Küche, 
Keller, und Spetjefammer. So wurden alle im Hauje meine 
Feinde. So lange mein Herr in Wien war, ging die Sache, 
und ich befam viele Geſchenke außerhalb des Hauſes und lebte 
im Haufe berrlih und in renden — als er aber abreifen 
mußte, um dad Commando der Tatjerlichen Armee zu übernehmen, 
fielen meine Feinde über mich ber, prügelten mid, und warfen 
mich auf die Straße. 

Darauf nahm ich die Poſt und ritt meinem Herren nad). 
Nach einigen Tagen traf ich ihn in Mähren in einem Drte mit 
Namen Helbrunn an. Sch beichwerte mid) bitter über die Be 
handlung, die ich erfahren hatte. Er verſprach mir Genugthuung 
zu verjchaffen, aber die Folge war bloß, daß jene im Haufe und 
ich mit meinen Prügeln draußen blieb. 

Als der Erzherzog Leopold zu uns ftieß, gab ihm mein 
Herr ein großes Gaftmahl, bei welchem zu feinen Ehren nad 
deuticher Art getrunfen wurde. Was mich anbetrifft, jo trank 
ih nach Arten aller Sprachen, die bet der Babyloniſchen Ver 
wirrung geiprochen wurden, und fiel denn auch nach allen möge 
lichen menfchlichen Arten zu Boden, um endlich einznfchlafen. 

 Banz früh am nächſten Morgen marſchirten wir gegen bie 
Schwediſche Armee, welche die Feftung Brieg belagerte. Die 


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27 


Schweden hoben bei Annäherung unſeres Heeres die Belagerung 
auf und ftedten Neiße22), welches fie ebenfalls aufgaben, in 
Drand. Der Erzherzog hatte von meinen vorzüglichen Eigen» 
ſchaften gehört, und ſchickte mich mit den guten Nachrichten als 
Courier nah Wien. 

Ich flieg, nachdem ich fo fchnell wie möglich geritten war, 
im Schloßhofe in Wien ab, und händigte dem Grafen Buchhain 
meine Depeichen ein. Der ganze Hof nahm mid mit Vergnügen 
auf, und alle bejchenften mich, da ich nicht nur dukch meine 
heitere Laune und meine Scherze zur Erheiterung beitrug, ſondern 
auch gute Nuchrichten überbrachte. Seine Kaiſerliche Majeftät 
machte mir eine koſtbare goldene Kette zum Geſchenle und ließ 
mich mit Taiferlichen Depefchen zur Armee zurüdyeben. 

Sp biente ich während ded ganzen Feldzuges als Courier. 
Aber nit immer hatte ich ernfte und wichtige Geſchäfte zu be⸗ 
forgen, manchmal war auch noch etwas Zeit zu Scherz und 
Luftigleit übrig. Wir belagerten eine Stadt mit Namen Slogan, 
an der Grenze von Polen und Pommern (sic). Mein Herr 
bejuchte häufig die Laufgräben. Eines Morgend nahm er mid, 
um meinen Muth — den er im Mebrigen genugfam kannte — 
auf die Probe zu ftellen, mit fih dorthin, um mid, wie er 
fagte, zu einem tapferen Krieger zu machen. Wir überichritten 
bie Oder, welde mitten durch die von uns belagerte Feftung 
fließt, und näherten und den Mauern, von wo aus der Feind 
uns eine große Anzahl Pillen entgegenjchidte, die mehr gepfeffert 
als gezudert waren. 

Ih fagte meinem Herren, dieje Art Frühſtück gefalle mir 
durchaus nicht, und bat ihn, mich zurüd ind Quartier gehen zu 
Infjen, da ich mit Vergnügen auf den Ruhm verzichte, der hier 
zu gewinnen jei. Er erwiderte mir, ich folle ruhig bleiben, da 
ih auf diefe Weile Ehre und guten Namen gewinne. „Ich 
verfichere Em. Ercellenz”, fagte ich, „daß mir an der Ehre nicht 


(455) 


28 


das mindefte liegt. Sch will nichts verdienen als Geld, und das 
in Ruhe und Frieden.” 

In diefem Augenblide fchlug eine Kanonenkugel dicht bei 
uns ein. Im erften Augenblide nahm ich mid) noch zufanımen, 
weil mein Herr neben mir ftand, dann aber, als ich fah, wie 
ein Soldat tödtlich getroffen niederfiel, Tief ich fort fo ſchnell ich 
nur konnte, und kam ganz außer Athem in unferem Quartier 
an. Dort froh id auf den Boden, und verftedte mich im 
Stroh. Nach einer Stunde Tam der Herzog an, und fragte 
nach mir. Ein Page fagte, ich ftede im Stroh wie eine Mifpel, 
die reif werden fol. Er ließ mich berunterfommen und fagte: 
„Schurke, wie Tönnt Ihr jo feige jein, in meiner und der ganzen 
Armee Gegenwart davonzulaufen?" „Herr“, erwiederte ich, „wer 
bat denn Em. Ercellenz gejagt, daß ich muthig bin, und wann 
babe ich midy jemals weniger feige benommen al8 heute? Wenn 
Ew. Ercellenz mid deöwegen aud Flandern zu ficy entbieten 
ließen, damit ich als Soldat dienen follte, jo find diefelben von 
meinen Cigenichaften nur mangelhaft unterrichtet: denn wie es 
Erzpriefter unter den Prieftern giebt, jo bin ich das Erzhuhn 
unter allen Hühnern.” 

Der Herzog fing an zu lachen, und fein Zorn war ver« 
geſſen. | 

Nach acht Tagen war unfer Heer gezwungen die Belagerung 
aufzuheben, weil der Feind mit überlegenen Kräften zum Entſatz 
beranrüdte. Seine Hoheit der Erzherzog jandte mid mit Des 
peſchen an den König und die Köntgin von Polen ab. Ich ritt 
die Poft in Gefellichaft eines Kammerdieners des Großherzog 
von Toscana, welcher die Nachricht von der glüdlichen Geburt 
eined Thronerben zu überbringen hatte, und fo freigebig gegen 
mid war, daB er während der ganzen Reiſe für mich mit be» 
zahlte. 

Am Polniſchen Hofe angefommen übergab ich Seiner Ma- 
jeftät fogleicdy meine Depejchen. Da mid, der König nicht fannte, 


(456) 


29 


und nicht wußte, wes Standes ich jei, jo behandelte er mid 
mit der größten Höflichkeit, und befahl mir, ich ſolle mich aus⸗ 
ruhen, bis er mid, mit der Antwort abfertigen Tönne. 

Daranf begab ich mich zur Königin, welde aus dem 
Schreiben ihres Bruders des Erzherzogs eriah, wer ich war. 
Sogleich befahl fie mir, mic zu bededen, ließ mich beichenfen 
und ihren Leuten den Auftrag geben, fih des Herrn Gefandten 
anzunehmen. Als der König nun auch vernahm, wer ich eigent- 
lich war, lobte er mich wegen des unverbrüchlichen Ernftes, mit 
welcdyem ich meinen Auftrag bei ihm ausgerichtet hatte. 

Nach drei Tagen wurde ich mit einem Geſchenk von drei» 
hundert Ducaten entlaffen. Die Königin gab mir unter andern 
Briefen einen an ihren Bruder gerichteten mit, worin fie ihn 
bat, zu veranlaffen, daß ich, wenn ich etwa einmal al8 Courier 
nad den Niederlanden gehen follte, ihr Spiten unb eine nad 
Franzöfiſcher Mode gelleidvete Puppe mitbrächte, damit ihre 
Schneider danach ihre Kleider anfertigen Tönnten, ba ihr bie 
Polniſche Mode nicht gefiel. 

Durch Deutſchland konnte ich der feindlichen Truppen wegen 
nicht zurücteilen, ich ging aljo über Ungarn. In Wien gab 
mir der Marquis von Caftel-Rodrigo ebenfalls Depefchen für 
die Armee. Dann ging ich über Prag nad) Dresden, wo id 
erfuhr, daß das Kaiſerliche Heer in Verfolgung der Schweden 
auf Leipzig marjchire. Ich reifte jo fchnell weiter, daß ich vier» 
undzwanzig Stunden fpäter, eine Meile vor Leipzig, beide Heere 
in Schlachtordnung aufgeftellt vor mir fah. 

Aber bier ging ed mir ſchlecht. Als mein Pferd die Trom- 
peten und Trommeln hörte, wollte es den Marſch der Bataillone 
mitmachen. Ich dagegen hatte nicht die geringfte Luft, mich in 
den Bereich ded Feuers zu begeben, und wollte mich möglichſt 
Ichnell aus der Nähe der Truppen entfernen. Sp waren wir 
beide ganz verſchiedener Meinung. Als ich hin und her über» 
legte, was ich thun follte, fam ein Bataillon der Katferlichen 


(457) 


30 





auf mid zu. Man erzählte mir, die Schlacht jet im Begriffe 
verloren zu werden, weil die Gavallerie des linken Flügels ge⸗ 
Ichlagen fei. Da ich Courier war, fo glaubten fie, ich müßte 
alles wiffen, und fragten mich, wohin fie flüchten fönnten. Ich 
antwortete ihnen, das follten fie nur meine Sorge fein laffen. 

Sch führte fie, indem ich vor Angft mehr todt als lebendig 
war, fo fchnell als möglich fort, und quartierte fie mit Anbrudy 
der Nacht in einem Dorfe ein, welches zwanzig Meilen von 
dem Schlachtfelde entfernt war: ich bin überzeugt, daß, wenn 
ich fo Schnell im Angreifen wie im $ortlaufen wäre, mir jchon 
viele Lorbeeren hätten zufallen müffen. Meine Escorte beftand 
aus mehr ald zweitaufend Mann, jo dad mein Verdienft, eine 
jo große Zahl Soldaten gerettet zu haben, nicht gering war. 

Sn dem Dorfe waren zablreihe Marketender, welche mit 
einem großen Wagenpark zu unferer Armee ftoßen wollten, ohne 
eine Ahnung von ber Niederlage derjelben zu haben. Ich hielt 
alſo mit den meinen einen Kriegdratb, und lieb mich ald Spion 
abſchicken, um die Gelegenheit eined Angriffes anszukundſchaften. 
Nach einer Biertelftunde, in welcher ich ihre Anzahl und alles 
andere nothwendige in Erfahrung gebracht hatte, fam ich zurüd, 
und griff mit den Soldaten, die mich begleiteten, die Marke⸗ 
tender mit großem Muthe an. 

Die unfrigen nahmen dad Dorf mit Sturm. Die Dunkel⸗ 
heit der Nacht erhöhte die Verwirrung, und überall hörte man 
das Gefchrei der Marketender, die ſich plöblich angegriffen ſahen, 
die Angftrufe ihrer Weiber ımd Kinder, und das Krachen der 
gewaltfam aufgebrochenen Kiften und Kaften. Jedes Faß Wein, 
jeder Koffer mit irgend weldhen Sachen hatte einen ernften An» 
griff zu beftehen. Bon Mitleid war keine Rede, denn weil die 
Soldaten feit überzeugt find, dab die Marfetender fie betrügen, 
und ihnen al ihr Geld abnehmen, jo war jeder Soldat zu 
einem Nero geworben. 

Da idy die Sieger zu diefer glänzenden Waffenthat geführt 


(458) 





31 


hatte, jo wollte ich auch meinen Antheil an der Beute haben. 
SH vertraute alfo mein Pferd einem Soldaten, ber ſich für 
meinen Freund ausgab, zur Bewadhung an, um mir unter ben 
Pferden der Marketender ein noch befjered als meind war, aus⸗ 
aufuchen. Den Mantelfad mit den Depejchen nahm ich unter 
den linfen Arm, zog den Degen und griff die Wagencolonne ber 
Marketender an. Sch fand aber nichts ald Jammer und 
Schreien, und mußte unverrichteter Sache wieder abziehen. 

Nun ging ich zu der Stelle zurüd, wo ich mein Pferd in 
ber Obhut bed Freundes gelaflen hatte; aber beide waren ver- 
ſchwunden. Es blieb mir nichts weiter übrig als mit meinem 
Mantelfade zu Fuß der Flucht unferer Truppen zu folgen. 

Ein Oberft, den ich unterwegs antraf, fragte mich, wie es 
fomme, daß ich zu Fuß gehe. Ich erwiderte ihm, daB eine 
Kanonenkugel in der Schlaht dad Pferd unter mir getödtet 
babe. „Run, Eftebanillo”, fagte er, „danu kannſt Du von 
Glück jagen, daß die Kugel Dich felber nicht mitgenommen hat. 
Es ift ein Wunder an Dir gefchehen! Künftig mußt Du nun 
aber auch ein guter Chrift fein.“ 

Ich marſchirte in aller Gemädhlichkeit, bis ich nad) Prag 
kam, wo ich feine Hoheit den Erzherzog Leopold und meinen 
Herren fand. Sie waren damit beichäftigt, die Ueberbleibjel des 
Heered zu ſammeln. Seine Hoheit fragte mich, wie es mir in 
Polen gegangen jei. Ich machte eine glühende Beichreibung 
von ber guten Aufnahme, die ich gefunden hatte. Dann wünfchte 
er zu wiſſen, warum ich zu Fuß anfam. Ich febte ihm aus⸗ 
einander, dab ich bei der Armee anlangte, als die Schladht 
ſchon begonnen hatte. Da ich ſah, daß Seine Hoheit in Ges 
fahr waren, jo hätte ih mid auf ein Scharmühel mit dem 
Zeinde eingelafjen, aber den kürzeren gezogen, und mich flüchten 
müfjen. Mein Pferd fei zuleht fo ermüdet gemefen, daß ich es 
hätte liegen lafien müſſen, und ſei dann zu Zuße weiter ge= 
gangen. 

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32 


Der Erzherzog glaubte alles, was ich ihm erzählte, da er 
nichts von der Marketenderfchlacht wußte. Er las die Briefe, 
welche ich ihm überbradhte, und ſchenkte mir zur Belohnung 
meiner Dienite Geld, um mir ein andered Pferd kaufen zu 
fönnen. 

Darauf begab ich mich zum Herzoge von Amalfi, dem ich 
diejelbe Geſchichte erzählte, obgleich ich nicht erwarten fonnte, 
daß er mir, bei der Kenntniß, die er von meinem Muthe bes 
aß, Glauben ſchenken würde. 

Am nächſten Tage ſchickte mich feine Hoheit mit einer Des 
peſche an Seine Kaiferlihe Majeftät nach Wien. Außerdem 
follte ich eine andere Depeiche an die Flandriſchen Stände über- 
bringen. Als Reifegeld händigte er mir dreihundert (Spas 
nifhe) Thaler ein. Ich verabichiedete mich bei meinem Herrn, 
der mir eine Depejche an Don Francidco de Melo mitgab. 

Sch ritt Poft nad) Wien, und gab meine Depeſchen in 
Wien ab. Bon der Schlacht erzählte ich MWunderdinge, und 
tifehte den Leuten die fabelhafteiten Lügen auf.“ 

Nach verichtedenen Sourierritten fommt Eftebanillo wieder 
nah Polen. „Die Königin, weldyer ih meine Depeichen, bie 
Spitzen und die Puppe überbrachte, behandelte mich mit der 
Freundlichkeit, die ich bei Kaifern und Königen ſtets in höherem 
Grade gefunden habe, als bei gewiſſen anderen Leuten, die fich 
Hoheit nennen lafjen. Die vornehmen Polen überhäuften mid, 
als fie fahen, wie gnädig die Königin gegen mich gefinnt war, 
mit Geſchenken, und füllten meinen Leib mit Wein an. Sehr 
zu Statten fam mir dabei meine Kenntniß des Latein, weil ich 
mich jonft mit Niemand hätte verftändlich machen können. Pol 
nisch ift ſehr Schwer und die Herren Polen kennen unjere2®) 
Sprache gar nicht: höchſtens gebrauchen fie den Ausdrud Herr⸗ 
lichkeit, wenn fie mit einem fprechen, nach Italienifcher Sitte, 
weil in Polen viele Stalieniiche Kaufleute leben. 

Ihre Majeftäten reiften nad Lithauen ab, wo fie nad) den 


(460) 





33 


Reichsgefetzen ein Jahr, im Berhältniffe zu zwei Jahren Auf» 
enthalt in Polen, zubringen müſſen. Litthauen iſt ein ſehr 
kaltes Land mit ungeheueren Waldungen und der größte Wald ift 
der von Biala,Bere?*), in welhem Seine Majeftät an einem 
einzigen Tage ſechs Büffel erlegte. Die Büffel diejer Wälder 
And ftark behaart und fo wild, daß ihr bloßer Anblid Schreden 
einflößt. 

Wo Ihre Majeftäten für die Nacht einkehrten, wurden fie 
von dem Herren ded Orts nach Polnticher Sitte mit einem Ban- 
quet bewirthet. Dabei wurde jo große Pracht entwidelt, daß 
ih gar nicht begreifen konnte, wie ein- Land fo viele reiche und 
freigiebige Herren bervorbringen und ernähren konnte. 

Nach den großen Jagden in diefer Gegend reiften wir nach 
Groden 2°), einer Stadt in Lithauen. Dort erkrankte ich in 
Solge der vielen Banquete, die ich mitgemacht hatte. Als ich 
midy wieder beſſer fühlte, erjuchte ich Ihre Majeftäten mich nach 
Deutichland zu beurlauben. Sie geftatteten mir auf dad gnä⸗ 
digfte abzureifen, gaben mir einen Königlichen Paß für Ihr 
ganzes Königreich und einen Empfehlungebrief an Ihre Majeftät 
die Kailerin, ſowie Depeichen für den Erzherzog. Außerdem 
beichenften fie mich mit ſechshundert Scudi umd zwei reichen 
Polniſchen Anzügen, ſowie mit einem zweilpännigen Wagen: 
der Herr Geſandte ſollte bequem teilen, und weder von der 
Sonne noch vom Winde zu leiden haben. Ta, ed wurde mir 
fogar ein Dolmetſcher mitgegeben, der mich biß an die Grenze 
bringen follte. Drei vornehme Herren vom Hofe beſchenkten 
mich außerdem jeder mit einem Pferde,“ 

Nun reift er über Krakau nach Wien und empfängt wieder 
Empfehlungäbriefe am Kaiferlichen Hofe. Mit diefen und Geld 
wohl verjehben gebt er nad) Italien, wo er bei allen möglichen 
Fürften und vornehmen Leute feine Narrenrolle fpielt, und ſich 
überall gut bezahlen läßt. 


Offenbar trieb ihn ein unwiderftehlicher Drang immer 
Xxx. 469. 3 (481) 


34 


wieder nah Nom zurüd. „Sch fam”, erzählt er?®), „in der 
Hauptſtadt der Chriftenheit an, die ich immer für meine wahre 
Heimath gehalten habe, weil ich in ihr aufgewachien bin. Ich 
begab mich fogleicy nach meinem Haufe, welches ich im Beſitze 
eines Mannes fand, der ed von meinem Nachfolger gelauft 
hatte. Ich erfundigte mich, wohin meine Schweftern gegangen 
feien, und erfuhr, dab fie in’8 andere Leben verreift waren. 
Ihr Tod war mir ſchmerzlich, denn ich hatte ald Bruder an 
ihnen handeln und den Aerger, den ich ihnen früher verurfacht 
hatte, wieder gut machen wollen. Sch erfundigte mich, ob fie 
mir etwas hinterlaffen hätten, erfuhr aber, daB fe verheirathet 
geweien waren und Kinder hatten. So mußte idy mid in Ge⸗ 
duld fügen und auf Trauerkleider verzichten. 

Eined Morgens bejuchte ich den Cardinal Mattei??”), wels 
chen ich am Kaiferlichen Hofe gekannt hatte, wo ex apoftolifcher 
Nuntius geweien war. Er nahm mid) freundlich auf und be» 
ſchenkte mich. | 

Ebenſo gut behandelte mid) der Marquis Mattei, welcher 
damals die Zruppen Seiner Heiligkeit befehligte.2°) Ich Hatte 
ihn gefannt und Gutes von ihm erfahren, ald er in den Nieder» 
landen Oberft in der Kaiſerlichen Armee war."??) 

Nun erzählt Sftebanillo, wie ihn der Marquis an dem 
Morgen, wo er ihn befuchte, mit „nach einem Garten nahm, 
den er außerhalb Rom's beſaß und welcher „das Schiffchen“ 
beißt.” Bon den beiden Billen der Mattet, kann die auf dem 
Palatin gelegene (die jpätere Billa Mils) bier nicht in Betracht 
fommen, ſondern nur die von Ciriaco Mattei, Herzog von Giove, 
im Jahre 1582 erbaute Billa auf dem Cälius. Freilich liegt 
fie ebenfowenig außerhalb der Mauern Roms wie fie die Na- 
vicella heißt. Aber der Gonftantinsbogen, durch welchen hin» 
duch Eftebanillo gehen mußte, wenn er den Marqnis Mattei 
aus feinem Palaſte bei Santa Catarina de’ Funari nad der 


Billa begleitete, konnte ihm wie ein Stadtthor, und das Trüm- 
(463) 


— 8 
merfeld, welches man von der Villa aus überblickt, im Gegen⸗ 
ſatz zu der engen und winkeligen Gegend, wo ſeine Patrone 
wohnten, als außerſtädtiſch erſcheinen. Den Namen Napi- 
cella gab er der Villa aus Verwechſelung mit der Piazza della 
Navicella bei dem Eingange derſelben vor der Kirche Santa 
Maria in Domnica, die auch S. Maria della Navicella von 
der Marmorcopie eines antiken Schiffes heißt, welche Leo X 
bier einſt hatte aufftellen laſſen.?0) 

Sehr unbeſcheiden fährt nun Eſtebanillo fort, die unver⸗ 
gleichliche Schönheit der Villa Cälimontana zu loben: er hätte 
doch willen ſollen, daß er wie alle andern Südländer gar feine 
Berechtigung zum Naturgenuß hatte, und zu einer Zeit, wo dad 
Gefühl dafür noch gar nicht entdedt war (das ift ja erft im 
vorigen Jahrhundert geichehen) fi nicht berauönehmen durfte 
unfere heutige Bewunderung zu theilen. „Dieje Villa,” jagt 
er, „itt, abgejehen davon, dab fie an Schönheit ein Wunderwerf 
der Natur ift, eine der berühmteften in Europa. Der Marquid 
gab bier ein Banquet, was mit den Gaftmählern verglicyen 
werden mußte, welche einft die alten Kaiſer in Rom gaben. 
Da der Marquid Diener aud allen Nationen hatte, die aus 
Flandern und Deutjchland mit ihm gegangen waren, und da an 
diefem Tage ſchwer geladen wurde, jo entitanden zwilchen ben 
Dienern bed Marquid und denen feiner Gäſte förmliche Schlach- 
ten, ohne daß fich Jemand die Mühe nahm, die Kämpfer zu 
trennen, da jeder wußte, in welchem Zuftande fih alle befanden. 

Auch ich war jehr voll von Wein, z0g, ohne recht zu willen, 
was ich that, den Degen, ftürzte mich mitten in das Gewühl, 
und bieb nad) rechts und links um mich. Zuerſt waren die 
Kämpfer etwas verblüfft, dann aber fielen fie ſämmtlich über 
mich ber, und einer gab mir einen fo kräftigen Schlag, daß mir 
ein rother Strom aud dem Munde ftürzte Das ganze La⸗ 
capengefindel lief davon, da fie glaubten ich jet todt. 

Sch ſelbſt glaubte auch, meine letzte Stunde jei gefommen 

. 5* 


(463) 


36 


und fchrie laut, ich wolle beichten. Zufällig befand fidh ein 
Arzt da. Diefer fühlte meinen Puls, der fehr jchnell ging, 
fümmerte ſich aber nicht um die Urſache meines Leidend, fon- 
dern trug bem Gärtner auf, jo ſchnell ald möglich einen Priefter 
zu bolen; denn er behauptete, ich hätte nur noch wenige Stun- 
den zu leben. 

Der gute Gärtner beeilte fi) mir den Caplan des Marquis 
zu bringen. Als ich ihm jagte, der Arzt babe mid) aufgegeben, 
fing er laut an zu lachen, und nahm mir den Hut vom Kopfe, 
um meine Wunde zu befidytigen. Mein Kopf war nicht einmal 
biutig, und hatte uur eine Tleine Beule befommen. Darauf 
fagte er zu dem Gärtner: „wenn der gute Mann, der jo ſchwer 
verwundet ift, jedes Mal in ähnlichen Fällen beichten will, fo 
muß er überhaupt niemald ohne Gaplan ausgehen. Seine 
Krankheit ift durch Schlaf zu heilen. Bringt ihm in ein Zim« 
mer, wo er audfchlafen fann. Ich bürge für feine Geneſung.“ 

Der Sapelan ging fort, und gab den Herrn Nachricht 
von meinem Zuftande. Der Gärtner brachte mid) in ein Zim- 
mer, wo ih mid) in’d Bett legte, um am nächſten Morgen 
friſch und gejund aufzuwachen. Sch dankte dem Gärtner für 
die Freumblichfeit, womit er mich gepflegt hatte, und kehrte nadı 
Rom zurüd. Dort tbeilten mir einige alte Freunde mit, die 
Shirren hätten Wind von meiner Ankunft befommen, und woll- 
ten mich alter Sünden wegen feitnehmen. Ic machte alfo, 
daß ich fo jchnell ald möglich nah Ripa Grande kam und 
Ichiffte mich auf einer Neapolitanifchen Felude ein, die im Be- 
griffe war, abzufegeln.” 

Bon Neapel gebt er dann wieder nah Spanien, Tommt 
nach den Niederlanden und will ſich endlich in Neapel, für 
weldye Stadt er immer eine große DBorliebe zeigt, zur Nube . 
ſetzen. Welche Pläne er für die Zukunft hatte, fiebt man aus 
ber Schilderung der Audienz, welche ihm der König von Spa- 
nien in Saragoſſa gewährte.31) 

(464) 


87 


„Ich zitterte vor Angft, da ich glaubte, "der Anblid eines 
jo mächtigen Souveraind würde mid) volftändig vernichten. Ich 
überreichte ihm die Papiere, aus welchen er meine Dienfte als 
Courier erjehen fonnte, fowie den Empfehlungsbrief der Katjerin 
Maria, und Zeugniffe darüber, dab ich im Dienfte des Cardi⸗ 
nal-Infanten Don Fernando geitanden hatte, und bat zur Be- 
lohnung um die Erlaubniß in Neapel ein Geſellſchafts⸗ und 
Spielhaus 3?) halten zu dürfen. Seine Majeftät gewährten 
mir nicht allein dieſe Bitte, jondern gaben mir auch einen Em- 
pfehlungsbrief an ben Bicefönig von Neapel, Admiral von Ga- 
ftilien, worin demfelben aufgetragen wurde, mich in jeder Hin- 
fiht zu beſchützen und zu begünftigen.” 

Mit der Andentung der Abficht, ein derartiges Stabliffement 
zu eröffnen, ſchließt Eftebanillo die Denkwürdigkeiten jeined 
Lebens. 

Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Histoire 
d’Estevanille Gonzalez von Leſage mit der eigentlichen Lebens⸗ 
beichreibung Eftebanillo’8 nicht viel mehr ald den und die, 
nämlich darin vorkommenden, Namen gemeinjam bat. Lejage 
lagt felbft in der Vorrede, er habe aus den relaciones de la 
vida del escudero Marcos de Obregon, und aus choses ... 
que j’ai tirdes tant de mon propre fonds que de plusieurs 
auteurs castillans Erweiterungen hinzugefügt und Vieles unter- 
drückt. Das Ganze ift lediglich ein überall ber zuſammen ge» 
borgter Roman, der ebenjowenig ein Bild von dem Leben des 
ftebenzehnten Jahrhunderts giebt, wie Gil Blas dem Spaniichen 
Leben etwa mehr ähnelt ald eine Photographie einem Oel⸗ 
gemälde. 


(465) 





38 


Anmerkungen. 


— 


1) Voyages (Rome & Paris 1774) I. 302: Les palais ont 
force suite de mambres les uns après les autres. Vous enfiles 
trois ou quattre salles, avant que vous soyes & la maistresse. En 
certeins lieus ol M. de Montaigne disna en cerimonie, les buffets 
ne sont pas oü on disne, mais en un’autre premiere salle et va- 
t-on vous y querir & boire, quand vous en demandes; et lä est 
en parade la veselle d’ arjant. 

2) Die Römer nennen dies mit einem eigenen Ausdrucke sfondato. 

3) Vol. II. 291. — Ich citire nach der Madrider Ausgabe von 
1778, der einzigen älteren, die mir zugänglid iſt. Ticknor (überfegt 
von Zulius) II. 223 kennt fle nicht, fondern führt nur die Drude Ant- 
werpen 1646, Madrid 1652 und 1795 an. Die von mir gebrauchte 
leidet zwar an vielen Drudfehlern, fcheint aber, der Orthographie nad), 
ein Abdrud der Originalausgabe zu fein. Sn Rivadeneyra’d Biblioteca, 
befteht die Sammlung der Novelistas posteriores a Cervantes aus 
zwei Bänden: auf tem Titel des erften (Madrid 1864) fteht die Be- 
zeichnung Tomo primero nicht; biejer erfte Band wird bezeichnet als 
Colleccion revisada y precedida de una noticia critico-bibliografica, 
por Don Cayetano Rosell, welcher bibliographifche Notizen über die 
Ausgaben beigegeben hat, die feinen Texten zu Grunde liegen. Auf tem 
Titel ded zweiten Bandes dagegen ift fein Heraudgeber genannt, ſondern 
nur ein bosquejo historico sopre la novela Espaüola von D. Eujta- 
quio Fernandez de Navarrete beigefügt. Die Orthographie ift mobern, 
die Ausgabe, welche zu Grunde liegt, nicht angegeben; Correctheit darf 
man nicht erwarten: 3. B. heit die Römifche Familie Mattei ©. 326a 
Matey und ©. 352a Matei. — Mit der Ausgabe der Werke Quevedo's 
ift e8 in der Biblioteca de autores Espanoles ähnlich gegangen. 

4) I. 170. | 

5) Der vierunddreißigfte Theil eines Real. 

6) Ein Real ift der vierte Theil eines Franc. 

7) Es könnte hiermit Saint Malo de la Lande gemeint fein, wenn 
man dahin (denn zu Schiffe jcheint er nicht gereift zu fein) in 3 Tagen 
gelangen Fönnte. 

8) Zu etwa 5 France. 

9) Zu etwa 10 France. 

10) I, 219. 
(466) 


39 


11) I. 233, 

12) esparto: ein hartes Gras, aus dem man Schubjohlen, Stride 
und Ähnliches in Spanien macht: die Sciffsfeile der Homerifchen Grie- 
chen waren wohl aus demſelben Stoffe verfertigt. Uebrigens werden 
große Duantitäten davon nach Deutſchland eingeführt: meines Wiſſens 
bienen fie bei und jedoch nur zum Reinigen der Weinfäffer. 

13) 1. 261. 

14) L. 318. 

15) Etwa vier und eine halbe Mark. 

16) I. 321. 

17) 1.4. 

18) Zu etwa einer Stunde. 

19) II. 21. 

20) Memoires (ed. Chöruel) I. 61: „la reine m’a dit qu'elle 
avoit trouve dans la cassette du roi apres sa mort des memoires 
où elle avoit vu que mon mariage &toit resolu avec le prince; elle 
ne me dit que cela: c’dtoit assez pour juger que si les Espagnols 
en „voient &u la moindre lumiere, ils s’en seroient defaits de 
quelque maniere que ce püt ätre. 

21) II. 90. 

22) Die bei Eftebanillo meift verftümmelten Deutfchen Ortsnamen 
habe ich ftillſchweigend verbefiert. 

23) la nuestra (lengua) nennt Eitebanillo Spanifch und Italienifch 
in ganz richtigem Gefühle zufanımen. 

24) Wahrſcheinlich ift Bialyftod oder Bjelak gemeint, welche Ge⸗ 
gend früher zu Lithauen im weiteren Sinne gerechnet wurde, 

25) Es ift Grodno gemeint. 

26) II. 175. 

27) Sn ber. mir vorliegenden Ausgabe wird immer Matey ge 
ſchrieben. — Der Cardinal Caspar Mattei ftarb im Jahre 1650 und 
ift in St. Cäcilia begraben. 

28) Vielleicht ein Irrthum; wenigftend war dieſer Mattei Faijer- 
licher Gefandter am päpftlichen Hofe. 

29) Er verlor in den Niederlanden ein Auge. 

30) Bunjen und Platner, Beihreibung Rom's II. S. 494. 

31) 11. 257. 

32) una casa de conversacion y juego de naypes. 


(467) 


—— — — — — — — — — — — — — +. — — — 


Druck von Gebr. Unger in Berlin, Swonebergerſir. 1. 





In demſelben Verlage find folgende Werke erſchienen: 


Praktiſche 
muſikaliſche Compoſitionslehre 


in Aufgaben. 


Mit zahlreihen, ausſchließlich in den Text gedruckten Mufter-, Uebungs⸗ und 
ed — a ben — 5 — der erſten Meiſter ſyſtematiſch⸗ 
methodiſch dargeſtellt 


von 


Zudwig Bußler. 


Erfter Band: Lehre vom —8 eis broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Mar). — L Harmontielehre in ufgaben. 2. Aufl. GBreis roh. 4 Marf). 
— D. &ontrapunft. a) Der firenge Saß in ber mufitalifhen Sompofitions- 
fehre in 52 Aufgaben Chreid brodh, 4 art). — b) Eontrapunft und Fuge 
im freien (modernen) Tonſatz in Aufgaben (Preis broch. 4 Mark). 

Zweiter Band: Ireie Compefition (Preis broch 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Mark). — I. Muſikaliſche Sormentehre in 33 Aufgaben (Preis broch. 
: a RE Snitrumentation und Orcheſterſatz in 18 Aufgaben (Preis 
tod. . 


In galbfrumz und tu Sculband gebundene Exemplare fets uorräthig. 


Partiturſtudium. 


Modulation der klaſſiſchen Meiſter 


an zahlreichen Beiſpielen von 
Band, Mozart, Keethoven, Manner un. A. - 
erläutert von 
Ludwig Bußler. 


Preis: Eleg. broch. 8 Mark; geb. in Orig. engl. Leinen 9,50 Mark. 


Geſchichte der Muſik. 


Sechs Vortraͤge 
über 


| 
die fortſchreitende Entwickelung der Mufik in der Geſchichte 


bon 


Ludwig Bußler. 


Erfter Bortrag: Wie Mufik des Alterthums. — Zweiter Bortrag: Muflk des 
et bis alefirina und Pa — Dr Bortrag: Be ek der 
Henzeit von Halehrina bis Bad. — Vierter Bortrag: Bie @per bis Gluck. 
— $ünfter ortrag: Bie Infirumental- Mufik. * du und Aozart. — 
Sechſter Vortrag: Keethoven, feine Zeitgenoſſen und Hachfolger. 


Preis: Eleg. broch. 3 Mark; geb. in Orig. engl. Leinen-Band 4 Mark. 








In bemjelhen Verlage erſchienen: 


Klippenmoos. 


Aus den früheſten Cagen deutſcher Erhebung. 
| Roman von Auguft Seffe. 


Drei Bände, eleg. broſch. 15 Mark, eleg. geb. in Orig.-Leinen 18 Mark. 


Um den Kaijerftubl. 


Ein Roman aus dem dreißigjährigen Kriege 


von 
Wilhelm Teufen, | 
Zwei Bände eleg. broſch. 12 Mark, eleg. geb. in Leinen 14 Mark 40 Pfennige. 


Novellen aus der. romaniſchen Schweiz. 


Von 
Nobert Schweichel. 


I. IL, III. Sammlung, 


Zufammen brod. 10 Marf. 
Erfte ——— In 6. Thal. Drei Novellen. Bro. 5 Mi. 40 Pf. 





inen 6 ME 
Zweite Samminng: nd Geuferfee. Zwei Novellen Brody. 4 Mt. 60 Pf. 
geb. in Leine Mt. 80 Pf. % ’ 


Dritte Sammlun and. Drei Novellen. Broch. 4 Marl 60 Pf., 
geb. in Fa b ut 80 Dr f. 


Cuiſe, Königin von Preußen. 
Zur Erinnerung an ihren hundertjährigen Geburtstag (10. Maͤrz 1876) 
von 
Auguft Aluckhohn. 
A. Ausgabe auf gewohnlichem Papier mit dem Bildniß der Königin, Te in 
dem neuen Drudverfahren von 3. Albert in Münden; broch. 1 Mar 


geb. in Leinen 2 Marl 80 Pf. 


B. Pracht⸗Ausgabe in ar. 8° auf Belinpapier mit der O inal. Photographie der 
Konten: Be. 4 Mark 50 Pf.; ei. in Keinen geb. 6 vi so pe 


Gedichte 


Hermann Kletke, 








Dritte, reich vermehrte, 
mit dem Bildniß des Dichterd verfehene Gefammt- Audgabe. 
Eleg. geb. in Orig.Vand mit reicher Golbverzierung und Goldſchnitt 8 Marl. 











Sammlung 
gemeinverftändlicher 
wiffenfhaftlider vorträge, 


herausgegeben von 
Nud. Virchow und Br. von Holtzendorff. 





— — _ — 
N 


54 Serie. — 


et 


Berlin SW. 1885 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. Luderits'sche Verlanshugpandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


IK —— —— — — — — — 





— —— 


Berlin SW., 1886. 


Berlag von Carl Habel. 


(©. 8. Lüderity'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm-E traße 33. 





Das Recht der Meberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





Der verbreitetfte unter allen phyfikaliſchen Apparaten ift 
unftreitig dad Thermometer. Wer in jeßiger Zeit auch nur 
halbwegs auf Bildung Anſpruch macht, befigt nicht nur das 
Inſtrumentchen, fondern er beobachtet audy damit, beides wird 
durch die Einfachheit feiner Herftellung, welche nur wenig Koften 
verurfacht und durch bie Einfachheit feiner Behandlung, welche 
feinerlei Uebung im Beobachten erfordert, weſentlich erleichtert. 
Kiffenichaftlihe Snftitute, in welchen erperimentelle Arbeiten 
ausgeführt werden jollen, fönnen dad Thermometer vollends 
nicht entbehren. Muß es Doch bei allen foldyen Unterfuchungen, 
mögen fie nun in das Gebiet der Phyfik oter Chemie, der 
Meteorologie oder der Geographie, der Botanik, der Zoologie 
oder der medicinifchen Disciplinen fallen, in erfter Linie gefragt 
werden und kann dabei, wenn man ed nicht zu richtigen Ant» 
worten zwingt, die mühſam erlangten Refultate langwieriger 
Arbeiten gänzlich unbraudhbar machen. Hätte die moderne 
erperimentelle Naturwiſſenſchaft nicht für die Zuverläffigkfeit jener 
Antworten gejorgt, als fie ihre Arbeiten begann, fo_hätte fie 
ihre jetige Höhe nie erreicht, und dadurch iſt das Thermometer 
unter allen Mebapparaten der Phyſik mohl derjenige geworden, 
welcher am genaueften unterſucht und in feinem Weſen erkannt 
worden ift. 

Es hat ein eigenthümliched Intereſſe, zu verfolgen, wie es 
von den erften rohen Anfängen allmählich zu feiner jeßigen 
Vollendung gebracht worden if. Es muß aber auch jedem, der 
ſich jemald die Mühe nahm, das Initrumentchen und feine 
Wirkung eingehender zu betrachten, die Frage aufgeftiegen fein, 


xx. 470. (471) 


4 


wie es doch möglich ift, mit ihm Wärme zu mefjen, ba es ja 
nur die Ausdehnung eined Körpers beobachten läßt. Die Lehr: 
bücher der Phyfik pflegen diefe Frage nicht aufzuwerfen, ge= 
fchweige denn zu beammworten, ebenjomwentg gehen fie auf bie 
Geſchichte des TIhermometerd ein. Auch ein dritter Punkt von 
vorwiegend praktiſcher Bedeutung, die Möglichkeit der Prüfung 
der Thermometer, wird jelten dort berührt und doch liebe fid 
durch Berüdfichtigung defjelben eine Fülle von Beobadytungen 
Ipeciel für die Meteorologie verwendbar machen, welche jebt 
ganz verloren geben, weil fie nicht zu paſſenden Stunden und 
namentlicy nicht mit richtigen Thermometern, d. h. mit ſolchen 
deren Nejultate mit denen anderer übereinftimmen, angeftellt 
werden. Nun ift ed nicht gar jchwer ein Thermometer in ent- 
Iprechender Weiſe zu berichtigen; man muß eben nur darauf 
aufmerffam gemacht worden jein, daß dies nöthig und Die 
Anleitung erhalten haben, wie ed zu machen jei. 

Diefe drei Fragen Jollen im Folgenden ausführlich behambelt 
werden. Am zwanglofeften umd einfachften gelangen wir zu 
ihrer Beantwortung, wenn wir die Geſchichte der Entwidlung 
des Thermometerd von feiner Erfindung an beginnend bis auf 
die neueite Zeit vorführen uud an paflender Stelle dad Erforder« 
lihe hinzufügen. 

Nichts beweilt jo jchlagend, wie ſehr den Naturwilien- 
ſchaften gejchichtlicher Sinn nody immer mangelt, ald daß troß 
der abfichließenden Arbeiten von Wohlwmill 1) und Burdhardt ?) 
man immer nodj nicht einfehen will, daß nicht der Holländer Drebbel, 
fondern daß Salilet dad Thermometer erfunden bat.3) Betrachten 
wir zunächſt die hierfür fprechenden Zeugniffe! Als folche treten 
uns in eriter Linie die Briefe entgegen, weldye ein Galilei be- 
freundeter venetianijcher Edelmann, Namend Sagredo, mit ihm 
wechſelte. Am 9. Mat 1613 jchreibt Sagredo an den Freund: 
„Das Inftrument zur Meffung der Wärme, weldyed von Ihnen 


erfunden tft“ u. f. w.*) und unter dem Datum des 15. März, 
(473) 





5 


noch präcifer: „Da, wie Sie mir fchreiben, und ih auch zu⸗ 
verfichtlich glaube, Sie der erfte Berfertiger und Grfinder (ded 
Infſtrumentes zur ZQemperaturbeftimmung) geweien find, fo 
glaube ich, daß die Inftrumente, weldhe von Ihnen und Ihren 
vortrefflichen Künftlern gemacht worden find, weit Die meinen 
übertreffen” u. |. w.°) Bon den Antworten auf diefe Briefe 
iſt wohl Reine .erhalten, wenn nicht ein in Galilei’d Werken, 
welche 1744 in Padua erfchienen, befindliches Fragment das 
Concept eines ſolchen iſt. Das ift aber nicht unwahrfcheinlich, 
da in demfelben der Hergang im Thermometer zu erflären ver» 
ſucht wird.) Wenn nun auch diefe Briefe noch nicht aud« 
reichen, die Priorität Galilei’d gegenüber Drebbel aufrecht zu 
erhalten, fo wahren fie ihm dieſelbe doch vor einem anderen 
Freunde Sagrebo’d, dem man die Erfindung des Thermometers 
auch zugefchrieben bat, vor dem damaligen Profeffor der Ana» 
tomie in Padua, Sanctoriud. Diefer hat übrigend, obwohl er 
dad Thermometer, zuerft zu willenichaftlichen Zwecken, fo 3. 2. 
zur Beſtimmung der Körpertemperatur von Fieberfranfen ver- 
wendete, jelbft niemald Anipruch auf feine Erfindung gemacht, 
erft jpätere Zeiten find für ihm eingetreten. Das Fahr, in 
weldyem der große Florentiner das Thermometer zuerft herſtellte, 
ift aus diefem Briefwechſel nicht zu beftimmen, wohl aber er 
giebt es fich aus Viviani's Biographie Galilei’. Der Lieblings⸗ 
ſchüler des Entdederd der Pendelgeſetze nennt dafür das Jahr 
1593 und damit ftimmt audy die Bemerkung, weldye der Pater 
Gaftelli in einem an den Kardinal Ceſarini gerichteten Schreiben 
macht, überein, daß bereit im Sabre 1603 Galilei den thermo⸗ 
metrifhen Verſuch feinen Zuhörern vorgeführt habe. Die Be- 
chreibung der bierzu angewendeten Apparate paßt genau auf 
diejenigen, welche als von Balilei herrührend nody im Museo 
di Galilei in Florenz aufbewahrt werden.) in Glasgefäß 
von der Größe eined Hühnereied mit einem ungefähr zwei Spannen 


langem Rohr von der Weite eined Strohhalmes, wird das 
(478) 


——— — — — — on —— nn —. 


Drud von Gebr. Unger in Berlin, Scönebergerftr. 1. 


In demfelben Verlage find folgende Werke erſchienen: 


Praktiſche 
muſikaliſche Compoſitionslehre 


in Aufgaben. 


Mit zahlreichen, ausſchließlich in den Text gedruckten Mufter-, Hebungs « und 
nah. Seen * den W Werken ber erſten Meifter ſyſtematiſch⸗ 
methodiſch dargeſtellt 
von 


Zudwig Bußler. 


Erſter Band: Lehre nom Tounſt pre eis broch. 12 Mark; geb. Ay albfr. 
14 Mard). — L Harmontelehre in fgaben. 2. Aufl. Bu eis roch art). 
— I. Eontrapunft. a) Der ftrenge Sa Yan in ber main den Gempoftion: 
lehre in 52 Aufgaben Creis broch. 4 unkt und Fuge 

im freien (modernen) Tonſatz in 33 autcnken ı Rei Gr . 4 Mark). 


Zweiter Band: Ireie Tompofittion (Preis broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Mat). — I. Mufitaltfee ‚Sormenledre in Aufgaben (Preis bro 
4 Mark). — DO. Snitrumentation und Orcheiterfa in 18 Aufgaben (Pre 8 
brod. 8 Marf). 


In Haldfranz uud in Saulband gebnudene Exemplure Nets vorrätiig. 


Partiturſtudium. 


Modulation der klaſſiſchen Meiſter 


an zahlreichen Beiſpielen von 
Bar, Mozart, Beethoven, Wagner u. A. 
erlaͤutert von 
Ludwig Bußler. 


Preis: Eleg. broch. 8 Mark; geb. in Orig. engl. Leinen 9,50 Marl. 


Geſchichte Der Muſik. 


Sechs Vortraͤge 
über 


die fortſchreitende Entwicklung der Auf in der Gef bite 


Sudıwig Buffer. 


= er Bortrag: Air ai des Alterthunp. — Bweiter Bortrag: Mufik des 
elalters big ring und Laffus. — Dritter Vortrag: Die Mufik der 
An eit non Yale Beni bis Gsd. — Bierter Bortrag: Bie Oper bis Blink. 
nfter Bortrag: Ale Infirumental- Mufk. Haydn und Mozart. — 
Sedlter Bortrag: eethouen, feine Zeitgenoſſen und Nachfolger. 


Preis: Eleg. brod. 3 Mark; geb. in Orig. engl. Leinen-Band 4 Marl. 


In demjelben Verlage erſchienen: 


Alippenmoos, 
Aus den früheften Tagen deuticher Erhebung. 
| Roman von Auguft Seffe. 
Drei Bände, eleg. broſch. 15 Mark, eleg. geb. tn Orig.-Reinen 18 Marf. 


Um den Kaijerftubl. 


Ein Roman aus dem ‚Preibigjährigen Kriege 


Wilhelm Jeuſen. 
Zuwei Bände eleg. broſch. 12 Mark, eleg. geb. in Leinen 14 Mark 40 Pfennige. 


Novellen aus der. romaniſchen Schweiz. 
Nobert iqhel. 


I. IL, III. Sammlung, 


Zufammen brod. 10 Marf. 


Erſte Sammlung: und Thal. Drei Novellen. Brod. 5 ME. 40 Pf. 
M geb. in ua 62 6 irn u 9 


Zweite —— : Sure m — ** Zwei Novellen: Brod. 4 ME. 60 Pf. 


Dritte Sammlun Tan Drei Novellen. Brod. 4 Marl 60 Pf., 
geb. in —X b 4 . ’ 


Cuiſe, Königin von Preußen. 
Zur Erinnerung an ihren hundertjährigen Geburtstag (10. März 1876) 
von 
YHuguft Kluckhohn. 
— a a en Ba SEO Sa JE 
geb. in Leinen 2 Mark 80 Pf. 


B. Pracht⸗Ausgabe in ar. 8° auf Belinpapier mit der Ortginal- Dit rapbie ber 
Königin; Bro. 4 Mark 50 Pf.; ei, in einen ae op 


Gedichte 


Hermann Kletke. 





Dritte, reich vermehrte, 
mit dem Bildniß des Dichterd verjehene Gefammt- Ausgabe. 
Eleg. geb. in Orig.-Band mit reicher Goldverzierung und Goldiäuitt 8 Mark. 





— — — — — 
Sammlung 
gemeinverſtändlicher 


wiſſenſchaftlicher Porträge, 
herausgegeben von 


NMud. Virchow und Fr. von Holgendorff. 


Po — — —— — 


N 


XX. Serie. en 





Heft Lo 


GH 


Berlin SW. 12455 


Berlag von Carl Habel. 
(C. 6. Luderity'sche Berlansbuhhandlung.) 
35. Wilhelm⸗Etraße 33. - 


6 


AS — — — — — — — 





xoOF 


7 — —— 


16) 


Ans Ihermometer, 


— — — — — — — — —— — — — — 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(©. 8. Lüderitz'sche Berlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 83. 











Das Recht der Meberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 





Der verbreitetfte unter allen phuflfaliichen Apparaten ift 
unftreitig dad Thermometer. Wer in jeßiger Zeit auch nur 
halbwegs auf Bildung Anfprud macht, befigt nicht nur das 
Fuftrumentchen, fondern er beobachtet audy damit, beides wird 
durch die Einfachheit feiner Herftellung, welche nur wenig Koften 
verurfacht und durch bie Einfachheit feiner Behandlung, welche 
feinerlei Uebung im Beobachten erfordert, weientlich erleichtert. 
Kiffenichaftliye Snftitute, in welchen erperimentelle Arbeiten 
ausgeführt werden jollen, fünnen dad Xhermometer vollends 
nicht entbehren. Muß e8 Doch bei allen foldyen Unterfuchungen, 
mögen fie nun in das Gebiet der Phyſik oter Chemie, der 
Meteorologie oder der Geographie, der Botanik, der Zoologie 
oder der medicinifhen Disciplinen fallen, in erfter Linie gefragt 
werden und kann dabei, wenn man ed nicht zu richtigen Ant- 
worten zwingt, die mühſam erlangten Reiultate langwieriger 
Arbeiten gänzlich unbrauhbar machen. Hätte die moderne 
erperimentelle Naturwifjenichaft nicht für die Zuverläffigfeit jener 
Antworten gejorgt, als fie ihre Arbeiten begann, fo_hätte fie 
ihre jeßige Höhe nie erreicht, und dadurch ift das Thermometer 
unter allen Meßapparaten der Phyſik wohl derjenige geworden, 
welcher am genaueften unterſucht und in feinem Weſen erkannt 
worden ift. 

Es bat ein eigenthümliched Intereſſe, zu verfolgen, wie es 
von den erften rohen Anfängen allmählich zu feiner jeßigen 
Vollendung gebracht worden if. Es muß aber auch jedem, der 
fit) jemald die Mühe nahm, das SInftrumentchen und feine 
Wirkung eingehender zu betrachten, die Frage aufgeftiegen fein, 


xx. 470. 471) 





4 


wie es doc möglich ift, mit ihm Wärme zu mefjen, da ed ja 
nur die Ausdehnung eines Körpers beobachten läßt. Die Lehr⸗ 
bücher der Phyſfik pflegen diefe Frage nicht aufzumerfen, ge= 
jchweige denn zu beamworten, ebenjowenig geben fie auf die 
Geſchichte des Thermometerd ein. Auch ein dritter Punkt von 
vorwiegend praktiſcher Bedeutung, die Möglichkeit der Prüfung 
der Thermometer, wird jelten dort berührt und doch ließe fidh 
durch Berüdfichtigung defjelben eine Fülle von Beobachtungen 
jpeciel für die Meteorologie verwendbar maden, melde jetzt 
ganz verloren gehen, weil fie nicht zu paſſenden Stunden und 
namentlich nicht mit richtigen Thermometern, d. h. mit jolcyen 
deren Nefultate mit denen anderer übereinftimmen, angeftellt 
werden. Nun ift ed nicht gar jchwer ein Thermometer in ent⸗ 
Iprechender Weile zu berichtigen; man muß eben nur darauf 
aufmerffam gemacht worden jein, daB Died nöthig und die 
Anleitung erhalten haben, wie es gu machen jei. 

Diefe drei Fragen jollen im Folgenden ausführlich behandelt 
werden. Am zwanglojeften und einfachſten gelangen wir zu 
ihrer Beantwortung, wenn wir die Geſchichte der Entwidlung 
bed Thermometerd von feiner Erfindung an beginnend bis auf 
bie neueite Zeit vorführen uud an pafjender Stelle dad Erforder« 
liche hinzufügen. 

Nichts beweilt jo jchlagend, wie fehr den Naturwiflen- 
Ihaften gefchichtlicher Sinn noch immer mangelt, ald da trotz 
der abſchließenden Arbeiten von Wohlwill!) und Burdhardt ?) 
man immer nody nicht einfehen will, daß nicht der Holländer Drebbel, 
fondern daß Galilei da8 Thermometer erfunden bat.?) Betrachten 
wir zunächft die hierfür fprechenden Zeugniffe! Als folche treten 
uns in eriter Linie die Briefe entgegen, welche ein Galilei be⸗ 
freundeter venetianiicher Edelmann, Namend Sagredo, mit ihm 
wechſelte. Am 9. Mai 1613 jchreibt Sagredo an dem Freund: 
„Das Inftrument zur Meffung der Wärme, welches von Ihnen 


erfunden ift“ u. |. w.*) und unter dem Datum des 15. März, 
(473) 


5 


noch praͤciſer: „Da, wie Sie mir jchreiben, und ich aud) zu- 
verfichtlidh glaube, Sie der erſte Verfertiger und Grfinder (des 
Inſtrumentes zur Qemperaturbeftimmung) gewejen find, fo 
glaube ich, daß die Snftrumente, weldye von Ihnen und Ihren 
vortrefflihen Künftlern gemacht worden find, weit die meinen 
übertreffen” u. }. w.?) Bon den Antworten auf diefe Briefe 
it wohl Feine erhalten, wenn nicht ein in Galilei’8 Werfen, 
mweldye 1744 in Padua erfchienen, befindliched Fragment das 
Concept eines ſolchen tft. Das ift aber nicht unwahrſcheinlich, 
da in demjelben der Hergang im Thermometer zu erflären ver» 
Sucht wird.*) Wenn nun aud diefe Briefe noch nicht aud« 
reichen, die Priorität Galilet’d gegenüber Drebbel aufrecht zu 
erbalten, fo wahren fie ihm diefelbe doch vor einem anderen 
Freunde Sagrebo’d, dem man die Erfindung des Thermometers 
auch zugefchrieben bat, vor dem damaligen Profeffor der Ana» 
tomie in Padua, Sanctorius, Diefer hat übrigend, obwohl er 
dad Thermometer, zuerft zu wiſſenſchaftlichen Zwecken, jo 3. 2. 
zur Beftimmung. der Körpertemperatur von Fieberfranfen ver- 
wendete, jelbft niemald Anſpruch auf feine Erfindung gemacht, 
erft fpätere Zeiten find für ihn eingetreten. Dad Jahr, in 
weldyem der große Florentiner das Thermometer zuerft herftellte, 
ift aus dieſem Briefwechſel nicht zu beftimmen, wohl aber er⸗ 
giebt ed fidh aus Viviani's Biographie Galilei's. Der Lieblingd« 
ſchüler des Entdederd der Pendelgejebe nennt dafür das Jahr 
1593 und damit ftimmt audy die Bemerkung, welche der Pater 
Caſtelli in einem an den Kardinal Ceſarini gerichteten Schreiben 
macht, überein, daß bereitd im Jahre 1603 Galilei den thermo- 
metriſchen Verſuch feinen Zuhörern vorgeführt habe. Die Be: 
chreibung der bierzu angewendeten Apparate paßt genau auf 
diejenigen, welche als von Galilei herrührend noch im Museo 
di Galilei in $lorenz aufbewahrt werden.?) Ein Gladgefäß 
von der Größe eines Hühnereied mit einem ungefähr zwei Spannen 


langem Rohr von der Weite eines Strohhalmes, wird das 
(473) 


6 


Rohr nach unten in ein Gefäß mit Mafjer getaucht, nachdem 
die Luft in ihm durch Erwärmen mit den Händen verdünnt 
worden ift. Die beim Abfühlen erfolgende Zufammenziehung 
der Luft, läßt Wafler in das Rohr fteigen, welches dann durch 
abwechſelndes Steigen und Fallen ein Erwärnen oter Erkalten 
der Luft im Gefäße zu erkennen giebt. 

Wenn man nun aud, wie ed auch wirklich geſchehen, an 
der Zuverläffigkeit des von Biviani abgeftatteten Berichtes 
zweifeln wollte, fo it doch die Thatjache, dak Caſtelli bereits 
1603 den thermometriichen Verſuch geſehen hat, vollftändig ges 
nügend, um die Anjprüche, welche für Drebbel erhoben werden, 
zurüdzuweifen. Um diejen bat fidh ein eigenthümliched Gewebe 
von Sagen gebildet, weldye man in unbegreiflicher Weije immer 
wiederholen hört. Dazu wollen wir nicht die fonderbare Behaup⸗ 
tung rechnen, welche Dalence®) in die Wilfenjchaft eingebürgert 
bat, daß Drebbel ein Bauer aud Allmaar gewefen fei. Sonderbar 
in hohem Grade! Denn diefer Bauer fannte feinen Ariftoteles 
fo gut, wie der geichultefte Gelehrte, war Erzieher der Söhne 
Katfer Zerdinan? II. und verbradte ten Abend feines Lebens 
am Hofe ded Königd Jakob II. von Enyland und wenn er 
feine Bücher in holländiiher Sprache ſchrieb, fo folgt daraus 
noch nicht, daß er des Lateiniſchen nicht mächtig war. Wohl 
aber find in das Gebiet der Sage die Werke zu verweiſen, 
welche Drebbel hinterlaſſen haben ſoll und welche in ſeiner an 
den Dr. Kiefler?) in London verheiratheten Tochter eine be⸗ 
geifterte Berfündigerin fanden. Erzählte diejelbe doch Leibnizen, 
dab ihr Bater in einem Taucherſchiffe große Streden unter 
dem Waſſer der Themfe zurüdgelegt und die dabei zum Athmen 
nötbige Luft mittelit einer von ihm erfundenen Quinteſſenz 
hervorgebracht babe, verbrennenden Alkohol, wie Leibniz nad) 
dem Stande der Chemie feiner Zeit vermutbete. Ebenſo follte 
der Wundermann dad Mikroflop, das Thermometer und fo 


manches Andere erfunden haben. . 
(474) 











7 


Da nun aber daB Buch, in welchem der betreffende Apparat 
zuerft beichrieben ift, 1604 erſchien, 10) jo jebt dad Datum bes 
obenerwähnten Briefes von Caſtelli die Priorität Galileis außer 
Zweifel. Hinzu kommt noch, daB Drebbel gar nicht einmal 
ein Thermometer bat konfteuiren wollen, als er den Hals einer 
mit Luft gefüllten Retorte unter Wafler tauchte, die Luft durch 
Erwärmen in Blaſen zum Theil daraus entweichen ließ und 
nun beobadytete, daß nach dem Erkalten das Waller in die 
Netorte ftieg. Dieſer Verſuch follte nur zeigen, daß die Luft 
durch die Wärme ausgedehnt wird, ber Gedanken aber, dieſe 
Ausdehnung, wie es Porta bereit3 1603 verjucht hatte, zu meſſen 
oder gar zur Beurtheilung von Temperaturen zu benußen, wird 
nicht ausgeſprochen. Eher ift es möglich, dab Drebbel in jei- 
nem Apparate, der das Waſſer fortwährend bald einjchlürfte, 
bald wieder herausgab, ein Perpetuum mobile gejehen bat. 

Um volle Aufklärung zu geben, bat Wohlmill!!) zum 
Veberfluß in feiner bereits erwähnten Arbeit gezeigt, wie die 
Sage, dab Drebbel das Thermometer erfunden habe, in die 
Literatur gelommen ift. Sm Sabre 1624 hatte ein franzöfiicher 
Phyfiker, der Pater Leurechon, unter dem Xitel Recreations 
mathematiques ein Buch herausgegeben, weldyes dem Wiſſens⸗ 
bedürfniß feiner Zeit entgegenfam, indem e8 die Errungenjchaften 
der Phyſik und Mathematik in Korm von Aufgaben und deren 
Auflöfung brachte. Das Buch fand denn au foldhen Anklang, 
daß es fehr bald in das Holländiſche, Deutiche, Engliiche und 
Lateinifche überſetzt wurde. Die deutſche Ueberſetzung, melche 
1636 Schwenter unter dem Titel: Mathematiſche Erquiditunden 
herausgab, ebenfo wohl wie die engliihe und holländiſche 
Ihließen fi dem Original auch in den das Thermometer be⸗ 
handelnden Abjchnitten eng an, die lateinifche dagegen thut dies 
nicht. Nicht etwa, daß ihr Urheber der „lutheriiche Theologus 
und ErbsPriefter zu Lorich“ Kafpar End, ein Mann, ber fi 
vielfach compilatoriſch mit Bücherfchreiben beichäftigte, dem 


(475) 


8 


franzöftichen Original, zu deffen Benutzung er fich freilich nirgends 
befennt, neue Gedanken oder Verfuche zugefügt hätte, er über 
jet aber die Ueberſchrift eines Abfchnittes in Leurechons Bud: 
„Du thermomötre ou instrument pour mesurer les degrez de 
chaleur ou de froidure qui sont en l'air“ fo, daß fie in deut- 
ſcher Ueberſetzung lauten: „Bon dem Thermometer oder dem 
Drebbel’ihen Suftrumente, mit deffen Hülfe die Grade der 
Wärme und der Kälte, welche in der Luft find, erforicht werden.” 
Sp tritt in diefem Buche zum erften Male Drebbel als Er- 
finder des Thermometers auf und ed läbt fich nachweilen, dab 
aus ihm die irrthümliche Behauptung zunähft in Dalencé's 
erwähnte Schrift überging, von da aber immer welter verbreitet 
worden it. 
Leider ift ed, wie wir bereitd ſahen, nody nicht gelungen, 
richtige Anſchauungen über die Erfindung des Thermometers 
zur allgemeinen Anerkennung zu bringen und namentlich ſcheint 
ed noch lange dauern zu ſollen, bi8- Drebbel’8 Aniprüche end⸗ 
gültig bejettigt find. Völlig zurüdgewieien wurden dagegen bie 
Anſprüche zweier anderen Phyſiker, die freilich auf ganz un« 
fiherer Bafis ruhten, die Anfprüche bed Engländerd Robert 
Fludd und des Deutichen Dtto von Gueride. Da wohl jet 
niemand mehr fie für Erfinder des Thermometerd hält, fo tft 
ed nicht nöthig auf ihre Anſprüche näher einzugehen und wir 
dürfen Wohlwill's und Burdhardt’3 Reſultat zu dem unfrigen 
machen, daß Balilei und nur Galilei das Thermometer er- 
funden bat. 
Hiermit ftimmt denn auch überein, dab alle Thermometer 
ipäteren Zeit auf das Galilei'ſche zurüdgeführt werden 
müſſen, ſogar dasjenige, welches jet noch unter dem Namen 
des beigiihen oder Drebbel'ſchen Thermometerd bekannt ift. 
Dasjenige was Schwenter1?) nach Leurechon mittheilt, zeigte 
allerdings infofern eine Abweichung von Galilei's Apparat, als 
das ftrohhalmtide unter der Kugel befindliche Rohr herum 


(476) 


9 


gebogen und zu einer kleineren Kugel aufgeblafen war, weiche 
zur Aufnahme der Sperrflüffigleit diente. Dieje Anordnung 
gewährte den Bortheil, daß das Imftrumentchen vor einem mit 
einer Stala verjehenen Brett befeftigt und auf diefen der Stand 
der Flüffigkeit abgelefen werben konnte. „Schon vor 1636 ver- 
ftand man,” wie und Schwenter?2) mittheilt, „Die Kugel und 
Nöhre dergeftalt zuſammen zu pafjen, daB die flüjfige Materie 
vom Sommer zum Winter die ganze Röhre durchlief." Daß 
man ed bier troß diejer Abänderung und ber Zufügung ber 
Stala mit dem Galilei'ſchen Thermometer zu thun bat, be» 
weilen aber die Aufgaben, die Schwenter nach Zeurechon dem 
Thermometer zuweiſt. „So man nun," fagt er,i*) „dieſe 
verenderung durch zahl vnd grad abtheilet, zum Erempel in 
8 theil mit den Philoſophis, oder in 4 mit den Medicis, jolcher 
theil jeden wider in 8 theil, befommet man 64 grad, vnd durd) 
diß Mittel können fie nit allein vnterſcheiden, in welchen grad 
das Wafler Morgens, Abends vnd zu Mittag, ja zu jeder ftund, 
auff oder abfteigt, ſondern audy vmb wieviel grad ein Tag fälter 
oder wärmer ald der ander: Man kan vergleihen die gröfte 
Hit vnd Kälte eined Jahrs mit dem andern. Man kan willen 
vmb wieviel Grad eine Kammer oder ander Gemach wärmer 
als dad ander. Dadurch fan man ein Gemadh, in einerley Kälte 
oder Wärme erhalten und gefchiehet, wann das Waſſer alleweil 
in einem grad bleibet. Man kan letzlich vrtheilen von vnter⸗ 
ſchiedlicher Hib der Fieber und andern Krandheiten.” Wenn 
wir hieraus zunächſt zu entnehmen haben, daß man wegen der 
anzubringenden Skala ſchon damals in Meinungsverjchiedenheiten 
gerathen war, jo erinnern diefe Borjchriften jo ſehr an Sanctorius 
Beftrebungen, dab man beide wohl in Berbindung bringen 
und fo dad Snftrument der Grquidftunden auf Galilei zurüd» 
führen darf. Uebrigens hörte Died belgiſche Thermometer auch 
ſehr bald auf, ald Wärmemeffer verwendet zu werden. Viel⸗ 


mehr benutte man es jpäter — und benußt ed audy wohl nod) 
(477) 


10 


— als Barometer, wa ganz gut geht, wenn man ed in einem 
Raume, deſſen Temperatur immer gleichmäßig bleibt aufbängt. 

Dieje doppelte Berwendbarfeit ded Apparated that aber 
feiner Brauchbarkeit als Thermometer nur zu ſehr Abbrud. 
Hing dod die Ausdehnung der abgeiperrten Zuft keineswegs 
allein von der Temperatur, fondern ebenfo von ber Abnahme 
des Barometerfianded ab und umgekehrt. in Steigen der 
Zlüffigkeit in dem engen Rohre konnte demnach ebenjo Ab» 
tühlung, wie fteigended Barometer bedeuten. Diefem Webel- 
ftande mußte alſo vor allen Dingen abgeholfen werden, wenn 
ber Apparat wirklich) den Zwed erfüllen jollte, den man von 
ihm verlangte. Das gelang dem franzöftichen Arzte Sean Rey !®) 
einfach dadurch, dab er den Galilei'ſchen Apparat umfehrte und 
anftatt durch die Ausdehnung der Luft die Aenderungen der 
Temperaturen angeben zu laſſen, er hierzu nunmehr die Aus—⸗ 
dehnung des Waſſers benußte, welches die Kugel füllend noch 
in die Röhre reichte. Er machte aljo dad Waſſer zur thermo- 
metriihen Subſtanz. Am 1. Sanuar 1632 theilte er feinen 
Borichlag an den eifrigen Bermittler der wiljenfchaftlichen Cor⸗ 
reipondenz;, weldye. damals die Zeitichriften erjeßte, an den Pater 
Merienne mit und Rey verdankt mau demnady die Korm bed 
Thermometerd, weldyes fpäter den Namen des Florentiner Ther⸗ 
mometerd erhielt. 

Einſtweilen freilich fehlte demjelben noch die für die Beob- 
achtungen nothwendige Zuverläffigkeit.. Da Rey das Rohr 
oben nicht Ichließen wollte, jo mußte mit der Zeit die Flüffig- 
feit verdampfen und ihr Stand dadurd) immer niedriger werden. 
Hereinfallender Staub aber mußte die Oberfläche beichmugen 
und die Ablefung unficyer machen. Die Idee, beiden Unzuträg- 
lichkeiten dadurch abzuhbelfen, daß man das Rohr oben unter 
Ausſchluß der Luft ſchloß, wurde erft viel fpäter im Schooße 
der berühmten Accademia del Cimento gefaßt, zu welchen für 
dad Jahrzehnt 1657—1667 1°) unter dem Schuhe des Prinzen 


(478) 


11 


Leopold von Medieci die Schüler Galilei's behufs Ausführung 
erperimenteller Arbeiten zufammengetreten waren, und zwar ges 
börte jene Idee, wie die Akademiker nicht anderd wußten, dem 
Bruder Leopolds, dem regierenden Großherzog Ferdinand II. 
von Zodlana, welchem die Wiſſenſchaft noch mandye andere 
Ihöne Erfindung verdanft. Yerdinand erreichte den Iuftleeren 
Verſchluß des Apparate einfach dadurch, daB er die in ihm 
befindliche Flüſſigkeit fo lange fleden ließ, bis ihr Dampf alle 
über ihr vorhanden gewejene Luft mitgeriffen hatte und dann 
das Rohr mit der Lötbrohrflamme zuſchmolz. Eine zugefügte 
Stala aber machte dad Inſtrument für die Beobachtungen 
brauchbar. 

Die Aufgabe, eine folde Skala zu erhalten, beichäftigte in 
nächfter Zeit alle welche ſich mit ber Bervolllommnung bes 
Thermometerd abgaben. Obwohl man fie in ähnlidyer Weile, 
wie bei Maaß und Gewicht, durdy Anfertigung eines Urthermo⸗ 
meterd, eined mit zwedmäßiger Theilung ſelbſtändig verjehenen 
Snftrumentes, mit dem man alle andern verglich, hätte erhalten 
fönnen, fo fchlug man doch, wie wir aus Leurechon geiehen 
haben, von vornherein den rationelleren Weg ein, zwei unter 
allen Umftänden unveränderliche Temperaturen aufzuluchen, beide 
auf dem Thermomelerrohre zu verzeichnen und den Raum zwi⸗ 
chen beiden in eine beftimmte Anzahl gleicher Theile zu theilen. 
Die Mitzliever der Accademia del Cimento folgten zunädhft 
dem Beifpiel der Philoſophen und der Mediciner, indem fie 
ebenfall8 die Winterfälte und Sommerwärme ald feite Punfte 
annahmen und den Raum zwijchen beiden in 8x 10-80 oder 
4x10-=40 Theile theilten, im erften Falle aber nody etwa 
20, im zweiten etwa 10 diejer Theile unter den ald Winter- 
Lälte bezeichneten Punkt trugen. Dabei entging es ihnen nicht, 
wie fehr der Werth dieſer Eintheilung von der präcijen Be⸗ 
flimmuug der Temperatur, welche ald Winterlälte oder Sommer: 
wärme gelten follte, abhing. Sie fuchten die frühere Definition 


(419) 


12 


verbefjern, indem fie jene als Temperatur des Schneed oder 
Eiſes bei ftärkftem Froſte, dieſe als diejenige feftfeßten, welche 
man im Körper von Kühen und Hirfchen beobachtet. Daß der 
Schmelzpunkt des Eijes ſtets diefelbe Temperatur hatte, fanden 
fie ebenfall3 und beitimmten ihn auf 134 Brad?) der von den 
Medicinern übernommenen Skala. Endlich benubten fie eine 
dritte Skala, welche bei der Sommerwärme die Zahl 400, im 
frierenden Waſſer 140 zeigte- Bedenken wir nun aber, wie 
wenig conjtant die zu Grunde liegenden Temperaturen waren, 
fo wird man fi der Anficht faum erwehren können, daß die 
Thermometer der Florentiner Akademie einen Vergleich mit den 
unfrigen nicht aushalten dürften und dafür fprechen auch bie 
bitteren Klagen, welche der Haller Profeflor Ehriftian Wolff 
über einige Thermometer führte, die er aus Florenz erhalten 
batte. 

Ein glüdliher Zufall bat und indeffen in den Stand ge 
fett, die Wärmemefjer der Accademia del Cimento auf ihre 
Güte zu prüfen. 1829 fand Antinori unter alten Glasſachen 
in einem Magazine in Zlorenz eine Auzahl derjelben wieder auf 
und übergab fie Libri zur Prüfung. Das Reſultat war ein für 
die Akademiker überraichend günftiges. Der Schmelzpunft ded 
Eifes lag in der That auf 134 und als die von ihnen aus ſechszehn⸗ 
jährigen Beobachtungen ermittelte mittlere Sahreötemperatur von 
Florenz durch Vergleihung der alten und neuen Thermometer 
nad) Graden der lebteren audgedrüdt wurden, ergab fidy der 
nämlidye Werth, wie der aus den Beobachtungen im Obſerva⸗ 
torium der frommen Schule in Florenz während der Jahre 
1820 — 30 abgeleitete. Die Uebereinftimmung war jo groß, daB 
Libri daraus fchlieben zu dürfen glaubte, daß in den lehten 
zweihundert Sahren dad Klima von Florenz ſich nicht geändert 
babe!®), Da ed unmöglich, ift, jo gut ftimmende Thermometer 
mittelft der oben angegebenen viel zu wenig conftanten Tem⸗ 


peraturen zu erhalten, jo müflen die Akademiker beim Auftragen 
(480) 


13 


ibrer Skalen fih nothwendig noch eined anderen Hülfsmittels 
bedient haben und dies kam kein anderes geweſen fein, als die 
Vergleihung ihrer Thermometer mit einem einzigen Original» 
apparat. Wolff's Klagen aber meint Zambert!?) jo erflären 
zu müffen, daß damals, wie auch nody lange nachher, e8 haupt⸗ 
fächlich Staliener waren, welche fi mit der Verferligung von 
Zhermometern und Barometern abgaben und Dieje von Stadt 
zu Stadt zum Verkauf audboten. Sole und nicht von der 
Alademie verfertigte werde Wolff erhalten haben; dieje jeien 
natürlich entfernt nicht mit der Sorgfalt und dem Zeitaufwand, 
welche eine genaue Vergleichung erfordert, hergeſtellt gewefen, 
wie ed die Thermometer der Akademie ohne Zweifel waren, 

Wenn nun aud die Mitglieder der Accademia del Cimento 
die Temperatur des Schmelzpunktes des Eiſes beftimmt haben, 
ſo haben fie doch noch keinen Unterfchied zwifchen der Unver⸗ 
änberlichkeit feiner Zemperatur und ihrer Sonnenwärme und 
Winterlälte gemacht, an eine conftante Temperatur ftellten fie 
alfo noch Feine hohen Forderungen und dody machte erft die 
Benutzung joldyer die Herftellung übereinftimmender Thermo» 
meter an verjchiedenen Orten möglid). 

Daß man died bald genug richtig erfannte, beweift dad Suchen 
nach einer ſolchen, wovon wir die Folgezeit erfüllt fehen. 1688 
glaubte fie Dalence gefunden zu haben ?°) in der Kälte der Luft, 
wenn ed anfängt zu frieren und in der Wärme der Butter beim 
Beginne des Schmelzend. Den Raum zwilchen beiden wollte er 
in 20 Theile theilen und von dem mittleren Punkte der ge: 
mäßigten Wärme 10 Grad nach oben und ebenfo viele nach unten 
zählen. Aber audy Dalence war mit feinen Anforderungen an 
eine conftante Temperatur leicht zufriedengeftellt, denn ſonſt hätte 
er nicht anheim geben können, an Stelle der oberen Temperatur 
auch die tiefer, verjchloffener Keller, an Stelle der untern die 
einer Mifchung von Kochſalz und geftoßenem Eife zu nehmen. 


Um diefelbe Zeit begann man die conftante Temperatur 
(481) 


14 


des ftedenden Waſſers zu vermuthen. Es ift Newton immer 
hoch angerechnet worden, daß er diejelbe bereitd 1686 and 
geiprochen, während Halley erit 1692. Renaldini 1694 und 
Amontond gar erft 1702 zu derjelben Anſicht gekommen jeien. 
Es will mir fcheinen, ald gebühre der Ruhm, den Siedepunft 
als feiten Punkt ver Thermometeritala erkannt zu haben, keinen 
der genannten Forſcher; da es ja feinem derſelben aufflel, daß 
die Temperatur des Siedepunftd mit dem Barometerftand ſich 
nicht unbeträchtlich ändert, fo konnten fie audy den wahren Werth 
ihres Ausfpruches nicht beurtheilen. Nicht fie, ſondein ver 
Forfcher, weldyer zuerft die Abhängigkeit des Siedepunktes vom 
Barometerftaud gezeigt hat, hat demnach als der erfte die Con⸗ 
ftanz des Siedepunftes gefunden und ed hat fidy gefügt, daß 
dies auch zugleich der Künftler war, weldyer zuerft gut über- 
einftimmende Thermometer unter Zugrandelegung zweier fefter 
Punkte lieferte. Es war der Amfterdamer Thermometerverfertiger 
Fahrenheit, welcher im Sabre 1686 in Danzig dad Licht der 
Welt erblickt hatte. 

Hauptſächlich durdy jene Entdedung tft Fahrenheit?!) der 
große Reformator in der Kunft, Thermometer zu verfertigen, 
geworden. Seit dem Jahre 1714 bat er über zwei wirklich 
unveränderliche Xemperaturen als Stüßpunfte feiner Skala zu 
verfügen gehabt. Er Hatte feine Kunjt bis zum Sahre 1724 
geheim gehalten, da aber jchien ihm der Zeitpunft gefommen, 
fein Verfahren in den Schriften der Königlichen Geſellſchaft in 
London auseinander zu feben. Er durfte es ruhig wagen, denn 
Inſtrumente von fo vortrefflidyer Arbeit, wie die beiden noch im 
phyfikaliſchen Kabinet der Univerfität Leiden vorhandenen, ur⸗ 
ſprünglich für 'sSGraveſande verfertigten, weldye feinen Namen 
tragen, machte ihm im damaliger Zeit fiher Niemand nady. 
Bon ihm gelieferte Thermometer befriedigten denn auch den 
oben erwähnten Wolff in hohem Grade und wenn audy Fahren. 


beit felbft befennt, daß er durch Amontond’ Arbeit auf die Con⸗ 
(482) 





15 


ftanz des Siedepunftes aufmerkſam gemacht worden fet, fo ge: 
bührt ihm deshalb nicht minder dad große Verdienſt, zuerit eine 
äufriedenftellende Definition eined feiten Punktes gegeben zu 
haben. 

Daß er nad) und nad) durdy das praftifche Bedürfnig darauf 
geführt ward, beweiſen jeine Arbeiten ganz Har. Bei feinen 
eriten Thermometern ging er von zwei feiten Punkten aus, der 
Temperatur einer Miſchung von gefloßenem Eid, Wafler und 
Salmiat und derjenigen ded gefunden menſchlichen Körpers, 
welche leßtere er dadurch erhielt, daß er dad Thermometer einem 
jolden lange genug in den Mund oder die Achlelhöhle ftedte. 
Den Zwiſchenraum zwiſchen beiden Punkten theilte er in 180 
gleiche Theile, jebte aber in die Mitte O, jo dab er 90 Grade 
bis zum oberen und ebenfoviele bid zum unteren feften Punkt 
erhielt. Später, wohl feit 1714 theilte er diefen Zwiſchenraum 
in 24 gleiche Theile, zählte diefe aber nun von der Temperatur 
der Kältemiihung aus, die demnach die Bezeichnung O erhielt. 
Weil jedoch diefe Grade etwas groß ausfielen, fo theilte er 
einen jeben nochmals in vier Theile, welche Unterabtheilungen 
er nun mit ganzen Zahlen bezeichnete und jo eine Skala zwiſchen 
den feiten Punkten von O bi8 96 reichend erhielt. Lambert 
Ipricht die Anſicht aus, dieſe Bezeichnung habe Yahrenheit auf 
Boerhave’d Anrathen angenommen, während Boerhave den 
Aftronomen Römer ald Erfinder der von O bid 24 gehenden 
Stala bezeichnet. Des lehteren Mitibeilung wird die glaub 
würdigere jein, da Fahrenheit in der That Römer in Kopenhagen 
befucht bat. Wir aber fönnen und nur wundern, wie man in 
damaliger Zeit derartige untergeordnete Einrichtungen zu großen 
Srfindungen aufbaufchen mochte, und erfehen daraus, wie wenig 
die damalige Zeit noch wußte, worauf e8 eigentlich bei der Ber» 
fertigung der Thermometer anfommt. Der gleihmäßige Gang, 
welchen Fahrenheit's Thermometer zeigten, bemwied vor Allem 
feine tiefere Einſicht. Er bat wahrfcheinlich ſchon früh denjelben 


(483) 


16 


dadurch erreicht, dab er den Schmelzpunft des Eiſes bei 32° 
ald Controle bei Altoholthermometern benußte, bei den ſpäter 
von ihm angefertigten Duedfilberthermometern aber auch den 
Siedepunft, der auf feiner Sfala die Bezeichnung 212° trug. 
Obwohl nun nach Fahrenheit noch eine Menge Vorſchläge 
zur Herftellung anderer Skalen gemacht wurden, jo haben fid 
doch nur noch zwei behaupten fönnen, die Skala von Reaumur und 
von Celfius. Das Thermometer, welches jegt Reaumur’s3 Namen 
trägt, hat den Schmelzpunft des Eiſes mit O, den Siedepunft ded 
Waſſers mit 80 bezeichnet, dasjenige, was nach Celſius genannt 
wird, bei gleicher Bezeichnung des Schmelzpunfted den Siede- 
punft mit 100. Beide Snftrumente werden aber mit Unrecht 
nah Reaumur und Gelfiu genannt, genau genommen müßten 
diefe Namen durch diejenigen Deluc’8 und Strömer’d erjegt werden. 
Ehe wir died eingehender nachweiſen, fei nur kurz erwähnt, 
daß beide Sfalen neben der Fahrenheit’ichen in Geitung find. 
Während England und Amerika Fahrenheit treu blieben, find 
die Franzofen zu Celfius, die Deutjhen zu Reaumur über- 
gegangen. In wiflenichaftlihen Schriften aber wendet man 
meift der Bequemlichfeit der Gentefimal-Rechnung wegen das 
bunderttheilige Thermometer an. Wenn nun Marwell??) mit 
Recht bemerkt, dab irgendwelde Bortheile, weldye die nad 
Réaumur genaunte Skala vor der hunderttheiligen biete, nicht 
vorhanden find, fo gilt daffelbe auch von der Fahrenheit’ichen. 
Aus der Nichteinführung der hunderttheiligen Skala erwächft 
und Deutihen deshalb fein größerer Bormurf, wie den Eng- 
ändern. Doch find wir berechtigt, darauf aufmerkſam zu machen, 
dat in wiſſenſchaftlichen Arbeiten, welche in Deutſchland ver- 
faßt werden, ſtets die hunderttheilige Stala angewendet wird, 
in England dagegen — und Maxwell's Bud, ift ein Beweis 
dafür — nicht. Es wäre ja fchön, wenn man zu Gunften der 


bunderttheiligen die anderen Skalen verbieten fünnte Dazu 
(484) 


17 


könnte doch nur die Gefebgebung helfen, für dieſe aber fehlt 
jeder Anlaß einzugreifen. Die beiden anderen Skalen werden 
aljo neben der humderttheiligen gewiß noch lange in Anwendung 
bleiben, um jo mehr muß aber die Wiſſenſchaft auf ausſchließ⸗ 
liche Anwendung diejer dringen. 

Sie iſt eingeführt worben, ald das Duedfilberthermometer 
das Altoholthbermometer fo ziemlich verbrängt hatte. Das war 
im Sahre 1742, in weldyem Gelfiud den Vorfchlag, das Roͤhren⸗ 
ftüd zwiſchen dem Schmelzpunft des Eiſes und Siedepunkt des 
Waſſers in 100 gleiche Theile zu theilen, machte, geichehen. 
Celfius wollte indeffen den Schmelzpunkt mit 100 und den 
Siedepunkt mit O bezeichnen. Die jet angewandte Benennung 
beider ift erft acht Jahre Ipäter von Strömer vorgelchlagen, 
deſſen Stala mithin, nicht aber die Celfius'ſche noch im Ge⸗ 
brauch iſt.?2) 

Die thermometriſchen Arbeiten Reaumur’3 bezogen ſich nur 
auf dad Alkoholthermometer, nicht auf das mit Duedfilber ge- 
füllte.2*) Um fie zum richtigen Verftändniß zu bringen, ift es 
daher nöthig, zumächit eingehender zu betrachten, wie e3 kam, 
daß ber Alkohol durch dad Queckfilber als thermometriiche Sub- 
ftanz erjeßt wurde. 

Nachdem Halley?°) 1688 fich als der erfte, wenn auch in 
bedingter Weiſe für das Füllen der Thermometer mit Duedfilber 
ausgeſprochen hatte, jo war es wieder Fahrenheit, welcher ed 
zuerft in die Praris einführte; feine beiden oben erwähnten, 
noch vorhandenen Thermometer find Duedfilberthermometer. 
Nach Muſſchenbroek wandte er zuerft 1709, nah van Swinden 
um 1720 das QDuedfilber als thermometriihe Subftanz an, 
vielleicht von Boerhave dazu aufgefordert?*). Fahrenheit's eigene 
Publikationen fcheinen in der Zeitbeftimmung van Swinden 
Recht zu geben. 1714, erzählt er uns, habe er Amontond’ Er- 
yerimente über die Gonftanz des Siedepunktes Tennen gelernt; 


da er nun aber, wie wir aus anderweitigen Duellen willen, von 
xX, 470, 2 (485) 





18 


1710 bi8 1714 auf Reifen war und damals noch Altoholther- 
mometer verfertigte, dann durch andere Gejchäfte jehr in Ans 
ſpruch genommen, erft nad} geraumer Zeit dazu kam, dieje Ent⸗ 
dedung zu verfolgen, indem er die Sdee fahte, den Alkohol durch 
Duedfilber zu erfeben, jo Tann das Duedfilberthermometer wohl 
faum lange vor 1720 conftruirt worden fein. - 

Eine beträchtliche Schwierigkeit ftand der Einführung des 
Duedfilbersd in dem Mangel bequemer Reinigungsmethoden ents 
gegen. Man war faft allein auf die mühſame Deftillation an- 
gewiefen und wenn auch ſchon Rayınund Zul ein bequemered 
Berfahren angegeben hatte, nämlidy dad Duedfilber mit Eifig 
und Salz zu waſchen und durch Leder zu drüden, jo muß dies 
doch nur wenig bekannt und angewendet worden jein.?27) - Mes 
nigſtens fcheiterten Verſuche zur Herftellung Iuftfreier Barometer, 
welche Papin 1684 in London ausführen wollte, an der zu ge 
ringen Reinheit ded von der Royal Society dazu gelieferten 
Duedfilberd, ohne daß der große Erperimentator, der fidy doch 
fonft fo leicht nicht abjchreden ließ, fich dazu angeſchickt hätte, 
es zu reinigen.?®) | 

Diefe Schwierigkeiten hatte Fahrenheit überwunden, das 
Duedfilber der beiden von ihm berrührenden Thermometer ift 
. auch jett nody völlig rein. Man wird annehmen müfjen, daß 
er ed deftillirt bat. Ebenſowenig war für ihn die geringere 
Ausdehnung ded Duedfllberd im Vergleich zu der des Alkohole 
ein Hinderniß. Er gab dem Thermometer ein verhältnigmäßig 
großes Gefäß, welches das Duedfilber enthielt, jo daß auch bei 
geringer Ausdehnung recht viel Duedfilber in das ziemlich enge 
Rohr getrieben wurde und erreichte durch Anbringen einer 
mwunderfchön getbeilten Skala, daß die Ablefung an feinen Ther- 
mometern nichtö zu wünjchen übrig ließ. 

Den Bortheil der größeren Ausdehnung des Alkohols glaubte 
nun der berühmte Zoologe Alyhonfe de Réaumur und nad ihm 
der durch feine für größeres Publikum beftimmten Schriften ber 


(486) 


19 


kannte Abt Nolet zu hoch achten zu müflen, als daß fie den 
böberen Siedepunkt des Duecfilberd dafür hätten eintaufchen 
mögen. Reaumur unternahm deshalb eine eingehende Unter⸗ 
ſuchung, deren Rejultate er 1730 in den Memoiren der Alademie 
der Willenichaften in Paris veröffentlichte. Zunächft fuchte er 
die Ausdehnung des Altohold zu beftimmen und da er fand, 
daß ein Volumen von 1000 Einheiten bei der Temperatur des 
Schmelzpunktes des Eijes fih durch Erwärmen bis zum Siebe: 
punft des Waſſers auf 1080 außdehnte, fo glaubte er den Ab- 
ftand zwijchen beiden Temperaturen auf dem Thermometerrohr 
in 80 gleiche Theile theilen zu müflen. Die Schwierigfeit, daß 
der Siedepunkt des Weingeiftes fo viel niedriger Iiegt, wie der 
des Waſſers, hatte er dadurch umgangen, daß er nicht reinen 
Meingeift, jondern mit + Waſſer verbünnten verwendet hatte. 
Den Eispunkt beftimmte er alddann, indem er dad Thermometer 
in ein Gefäß mit Waſſer tauchte, welches mit einer Kältemiſchung 
mgeben war und den Stand des Apparates im Momente bed 
Zrierend bezeichnete, den Siedepunkt aber durch Eintauchen in 
ein Gefäß mit fledendem Wafler und Bezeichnung des Punftes, 
bi8 zu welchem der Alkohol geftiegen war.??) Réaumur's auf 
anderem Gebiete mit Recht hochgefeierter Namen ift gewiß zum 
großen Theil daran Schuld geweien, daß diefe völlig unzu⸗ 
reichenden Beftimmungen viel mehr Eingang fanden, wie die 
Refultate der jorgfältig durchdachten Arbeiten Fahrenheit's. 
Vielleicht trug dazu auch eine gewiſſe Ermüdung bei, weldye 
ſich nad) dem gewaltigen Fortichreiten der Naturwiffenichaften 
im 17. Sahrhundert nun der Gemüther bemädhtigt hatte. Die 
Temperatur des von Reaumur angenommenen Eispunktes kann 
unter Umſtänden bis auf — 10° heruntergehen und ald man 
ipäter nach Roͤaumur's Angabe den Siedepunkt beftimmte, fand 
man ihn auf dem 64,3. Grade einer Skala, auf weldyer der 
wirkliche Siedepunkt mit 80 bezeichnet war. Es half nicht viel, 


dab Du Greft 1757 den Siedepunkt zu beftimmen fuchte, indem 
2° (487) 


20 


er vorher dag Thermometer mit erweitertem Ende des Rohres 
Iuftdicht abſchloß, aber Luft darin lie. Der Drud der Luft 
erhöhte dann freilich den Siedepunkt des Alkohols und ließ den 
des Waflerd genauer finden.°0). Aber befriedigen konnten auch 
dieje Reſultate nicht, ſolche verdankte man erft der Wiederein- 
führung des Duedfilbers. 

Diefelbe auf's Neue durchgeſetzt zu haben, wird ſtets das 
große Verdienft Deluc’8 bleiben. Seine Gründe wirkten jo über- 
zeugend, dab ein Liebhaber der Phyfik, dem er fie auseinander⸗ 
geſetzt hatte, begeiftert ausrief ?1): „Es ift gewiß, diefed Mineral 
bat und die Natur zur Berfertigung der Thermometer gegeben!” 
Die Meberlegungen Deluc’8 aber find die folgenden: Soll mit 
einem Thermometer die Temperatur eine Körperd beftinmt 
werden, jo muB dafjelbe auf diefe Temperatur gebradyt werden, 
wozu der Körper Wärme hergeben muß. Es muß alfo ab» 
füblend auf ihn wirken und in um fo höheren Grade, je mehr 
Wärme die thermometriiche Subftanz zu einer beftimmten Zen 
peraturerhöhung braudt. Würde man zwei Thermometer an⸗ 
wenden, welche gleiche Raummengen Alkohol und Queckfilber 
enthielten, jo würde hierzu der Alkohol anderthalb mal fo viel 
Wärme nötbig haben, wie das Duedfilber.3?) Diefes würde 
alfo unter fonft gleichen Umftänden genauere Refultate geben 
tönnen, wie jened. Bleibt die Temperatur, weldye beobachtet 
werden foll, nicht lange conftant, jo wird die Subftanz vorzu« 
ziehen fein, welche der Wärme erlaubt, ſich möglichit raſch in 
ihr audzubreiten, fie am beiten leitet. Dieſes ift wieder dad 
Duedfilber. Soldyen wichtigen Vortheilen gegenüber find die 
Nachtheile, um derentwillen Réaumur es nicht wählte, entweder 
völlig gehoben oder nicht mehr in's Gewicht fallend. Es iſt 
jet viel leichter, gleichmäßig reines Duedffilber, wie Iuft- und 
wafferfreien Alkohol berzuftellen. Die Vervollkommnung bed 
Milchglafed, auf welche man heut zu Tage meiſt die Stala auf 
trägt, erlaubt den Stand des undurchfichtigen Queckfilbers im 


(488) 


21 


durchfallenden wie im auffallenden Licht viel ſchärfer zu beob» 
achten wie den ded Alkohols, auch wenn man ihn, wie es ge- 
wöhnlih geſchah, mit Grünſpahn färbte. Die geringere Aus- 
dehnung aber hat ſowohl dadurd, als durch Anwendung von 
Röhren, weldhe im Verhäaͤltniß zu der Größe ded Gefähes jehr 
eng wird, aufgehört ein Nachtheil zu fein. 

Eine weitere große Bequemlichkeit, Die das Duedfilber- 
tbermometer im Gegenjab zum Alkoholthermometer hat, lernte 
man erit jpäter kennen, ald man ed unternahm, auf dad lehtere 
die Bortheile des eriteren zu übertragen. Um died zu erreichen, 
mülje man verfuchen, meint der Oberlaplan Johann Friedrich 
Lu 32) in Gunzenhauſen, der fidy vielfach mit der Verfertigung 
von Thermometern abgab, die Angaben des Alkoholthermometers 
durch möglichft genaues Vergleichen mit dem Oueckfilberthermo⸗ 
meter auf die an diefem gemachten Ablefungen zurüdzuführen 
und giebt genau an, wie Died zu bewerfitelligen ſei. Es tft 
nun richtig, daß man auf diefe Weile auch die Alkoholthermo⸗ 
meter volllommen brauchbar machen kann. Wäre dies nicht der 
Ball, jo hätte Libri nicht die Webereinftimmung der Apparate 
der Accademia del Cimento mit modernen nachweiſen Tönnen, 
jo hätte nidyt Munde +) 1783 ein von Brander verfertigtes 
Thermometer noch im Jahre 1839 brauchbar finden Fönnen 
und wenn ſich derjelbe Forſcher ein 1766 von dem näm- 
lichen Künftler verfertigtes Alkoholthermometer als zu träge 
zeigte, jo dürfte der Grund dafür nicht in der Unbrauchbarkeit 
des Altohold zu fuchen fein, wie man ſich, da beide Apparate 
im phyfikaliſchen Kabinet der Univerfität Heidelberg noch vor» 
handen find, leicht überzeugen fann.?5) Die Bergleichung beider 
Thermometer ergab nun aber, daB auf das Alkoholthermometer, 
um mit einem in gleih große Grade getheilten Duedfilber- 
thermometer gleihen Schritt halten zu follen, ungleihe Grabe 


aufgetragen werden müflen nnd dieſe Unbequemlichkeit mußte 
(489) 


22 


über furz oder lang zur Kolge haben, daß man eine Anwendung, 
wo diejelbe nicht durch beftimmte Zwecke gefordert wurde, aufgab. 

Wenn man aber die Stala des Altoholthermometerd nicht 
in gleiche Theile theilen darf, dann drängt ſich fofort die Frage 
auf, ob denn dies hinſichtlich des Duedfilberthermometerd erlaubt 
fei. Deluc bejahte diefelbe, indem er behauptete, daß die Aen⸗ 
derungen ded Volumens des Duedfilberd die richtigften Ideen 
von den Aenderungen der Wärme geben. Ehe wir die Gründe 
für jeine Anficht auseinanderjegen können, müſſen wir und zu- 
nächſt mit den Mitteln befannt machen, von welchen man 
glaubte, daß fie die Wärme felbft und nicht nur die Ausdehnung 
der thermometriichen Subſtanz meſſen ließen. 

Soll Etwas mehbar fein, jo muß es ſich in gleiche Theile 
zerlegen und aus folchen zufammenfegen lafjen und das jcheint 
mit der Wärme möglih. Wenn fie audy für unfere Sinne und 
"Snftrumente nur durdy Vermittlung von Körpern wahrnehmbar 
wird, jo Tann man Wärme offenbar dadurdy halbiren, dab man 
den Körper, welcher davon eine gewiſſe Menge enthält, mit 
einem ihm gleichen zufammenbringt, welcher weniger befikt. 
Alddann wird von dem wärmeren auf den Fälteren ſoviel Wärme 
übergehen, bis beide gleich viel enthalten, was man daran et» 
fennt, daß ihre Temperaturen gleich geworden find. Erwärmt 
man z. B. 1 kg Waſſer von 10° auf 40° und miſcht ed dann 
mit 1 kg Wafler von 10°, fo wird die Hälfte der Märme, 
weldye nöthig war, um die Temperatur des eriten Kilogramm 
um 30° zu erhöhen, dazu verwendet werden, die Temperatur 
des zweiten auf 25° zu bringen, wobet die des erften um 15° 
finkt. Anftatt des Waſſers könnte man zu derartigen Verjuchen 
einen beliebigen anderen, der nothwendigen Mifchung wegen 
freilich zunächſt nur flüffigen Körper nehmen und wenn man 
weiter anftatt gleicher, verfchiedene Gewichtsmengen miſchte, jo 
könnte man eine Theilung einer beliebigen Wärmemenge nad) 


dem Verhaͤltniß erhalten, umgefehrt aber durdy Zufügung von 
(490) 





23 


Slüffigfeit von höherer Temperatur einer gegebenen Flüſſigkeits⸗ 
menge eine beftimmie Menge Wärme zuführen. Dazu bedarf 
ed nur der Feftiebung der Wärmeeinheit oder Calorie. Man 
hat zur Herftellung derfelben, weil immer rein und im flüffigen 
Zuftand zu haben, Waſſer benugt und diejenige Wärmemenge 
als Einheit feftgefebt, weldye nöthig ift, um 1 kg reinen Wafjerd 
von ber Temperatur von O° auf die von 1° der hunderttheiligen 
Stala zu bringen. Behalten wir die obige Weije zu fchließen 
bei, jo würde 3.8. diejelbe Anzahl Calorien nötbig fein, um 
1 kg Wafler von 0° auf 2° zu erwärmen, ald man bedarf, um 
die Temperatur von 2 kg Wafjer um 1° zu erhöhen. 

Sind diefe Schlüffe richtig, dann find wir ja leicht im 
Stande, uns zu überzeugen, ob die Ausdehnung unſerer Ther- 
mometerflüffigfeiten jo erfolgt, daß fie ein Maß der angeführten 
Wärmemenge tft und demnach zu prüfen, ob wir berechtigt find, 
den Raum zwilchen dem Eispunkt und dem Siedepunkt, wie es 
beim Quedfilberthbermometer gefchieht, in gleiche Theile zu theilen. 
Man hat eben nur möthig, zwei bekannte Gewichtsmengen 
Waſſer von gemeflenen Temperaturen zu vermifchen und aus der 
Temperatur der Milchung die bei der Eintheilung in gleiche 
Theile nöthige Correktion zu beftimmen. 

Den erften derartigen Vorſchlag machte der bereitö erwähnte 
Renaldini im Sahre 1694.36) Er wollte auf einem Weingeift- 
thermometer in der Weiſe die Eintheilung anbringen, daß er 
dafjelbe der Reihe nady in 12 Gefähe tauchte, von denen daß 
erfte 11 Theile Falten auf 1 Theil kochenden Waſſers enthielt, 
das zweite 10 Theile Falten auf 2 Theile fochenden Waſſers ꝛc. 
Freilich beabfichtigte der italienifche Phyfiler weniger die Sehler 
wegzuichaffen, die von der ungleichmäßigen Ausdehnung bed 
Weingeiftes herrühren, als vielmehr den Einfluß der Luft ſchad⸗ 
108 zu machen, weldye er beim Schließen feines Thermometer. 
rohres immer noch in feinem Apparate behielt. Dieje übe, wie 
er meinte, einen Widerftand gegen die fich ausdehnende Flüſfig⸗ 


(491) 


BER 

feit aus und hindere fie, fich richtig zu ftelen. Seinen Vorſchlag 
nahmen Später Ze Sage, Boerhave, Krafft und Richmann auf 
und namentlidy des lebteren Arbeiten galten lange als maß» 
gebend, um jo mehr, ald fie durch Verſuche von Nollet beftätigt 
wurden. Wenn nun der Umftand, dab Richmann mit dem 
Duedfilber, Nollet mit dem Weingeiftthermometer gearbeitet 
hatte, für das erhaltene Refultat zu fprechen ſchien, jo war es 
gerade der nämliche Umftand, welcher Deluc gegen dieje Refultate 
mißtrauiſch machte. War ihm doch aus vielfadhen eigenen Er- 
perimenten belannt, dab der Gang eines Weingeiſtthermometers 
mit dem des Duedfilberthermometerd nicht übereinftimmt, wie hätte 
num der Gang beider mit dem der Wärme übereinftimmen Fönnen! 

In der That war auch die Hebereinftimmung nicht jo groß, 
als behauptet worden war, denn Richmann's Thermometer hatte 
immer tiefer geftanben, ald ed die aus feinen Beobachtungen 
abgeleitete Regel?) erforderte, was er freilich durch die Wärme⸗ 
verlufte, welche durch die Wärmeabgabe an die Luft und an das 
Gefäb während ded Verſuches hervorgerufen wurden, erklären zu 
fönnen glaubte Bei Nollet's Crperimenten aber waren bie 
Zemperaturunterjchiede nicht groß genug, als da eine merkliche 
Abweichung der Angabe ded Thermometerd von der wirklichen 
Wärme hätte ftatt finden können. Angeregt durch Le Sage's 
Meberlegungen ftellte nıım Deluc ebenfalls Verſuche an mit Ther⸗ 
mometern, in welchen fich verichiedene Yluffigleiten befanden. 
Er brachte in ein mit warmem Waſſer gefülltes kupfernes Gefäß 
kaltes Waſſer, berechnete die Temperatur der Miſchung nad 
Richmanns Borgang und verglich damit die Angaben feiner 
Thermometer. Diejelben ftimmten nicht überein, jondern das 
Duedfilber ftand ftetd ein Elein wenig zu niedrig. Dies fchrieb 
Deluc der Abkühlung in Folge bes Verlufted der an das Gefäß 
abgegebenen Wärme zu. Als er num den Einfluß berfelben fo 
genau wie möglidy burd einen anderen Verſuch beftimmte und 
die Angaben des Duedfilberthermometerd danach corrigirte, 


(492) 


25 


immten fie mit den von ihm berechneten Temperaturen überein. 
Die oben erwähnte, aus dieſen Verſuchen gezogene Zolgerung 
Deluc’d, daß das Duedfilberibermometer den Gang der Wärme 
angebe, jeßen nun wie alle die Arbeiten, auf welche fie fi 
gründet, voraus, daß immer die nämlihe Wärmemenge nöthig 
ift, um eine beftimmte Menge Wafler um ein und diejelbe An- 
zahl Grade zu erhitzen, wie body die Anfangstemperatur des 
Waſſers auch geweſen ſein mag, ſo daß alſo beiſpielsweiſe, wenn 
man als Calorie diejenige Wäärmemenge nimmt, welche die Tem⸗ 
peratur eines Kilogrammes Waſſer von 0° auf 1° der hundert⸗ 
theiligen Skala erhöht, dieſelbe Wärmemenge die Temperatur 
eines Kilogrammes Waſſer von 20° auf 21° oder von 70° auf 
71° oder von 99° auf 100° bringen würde. Als aber Regnault 
die Prüfung der Richtigkeit diefer Annahme zum Gegenftand 
einer erperimentellen Unterfuchung machte, fand er fie feineswegs 
beitätigt. Er fand vielmehr, dab die Wärmemenge, welche die 
Temperatur von 1 kg Waffer um 1° erhöht, bei verichiedenen 
Temperaturen eine verjchiedene ift. Betrug fie bei 0° 1 Calorie, 
jo ergab fie ſich bei 99° zu 1,013 Galorien. Um alſo 1 kg 
Waſſer von 0° auf eine Temperatur von 50° zu bringen, tft 
eine geringere Wärmemenge nöthig, ald ed von da auf 100° zu 
erhiten und es ift fomit die Mifchungstemperatur von 1 kg 
Waſſer von 0° und von einem anderen von 100° nicht 50°, 
fondern etwad weniger. Die Arbeiten Deluc’8 hatten alfo nur 
ein fcheinbar richtige Maß der Wärme geichaffen, welches 
deöhalb gute Nejultate gab, weil der Unterichied der Wärme⸗ 
mengen, weldje die Temperatur des Wafjerd um 1° erhöhen, 
in dem Sntervall von O—100° doch nur gering und weil bie 
Ausdehnung ded Duedfilberd der zugeführten Wärmemenge 
nabezu proportional if. Aber genau ift dies nicht ber Fall und 
wollte man mit aller wiſſenſchaftlichen Schärfe vorgehen, To 
mußte man nach anderen Mitteln, die die Wärmemengen genau 
zu meſſen geftatteten, fuchen. 


(493) 





26 


Ein folhes war zu Deluc’d Zeiten ‚längft gefunden. Am 
28. Juni 1702 hatte Amontond der Akademie der Willenjchaften 
in Parid den Borjchlag zu einem neuen Thermometer gemacht, 
welches beitimmt war, die Unvolllommenbeiten des Weingeift- 
tbermometerd corrigiren zu lafjjen.?°) Obgleich fein Vorſchlag 
an dad Galilet’jche Inftrument anfnüpfte, jo hatte er doch einen 
Apparat zum Gegenftande, welcher weitaus zwedentiprechender 
war, wie der von Sagredo und Sanctoriud benubte. Die Luft 
befand fich in einer etwa 34 Zoll weiten Kugel, aus welcher 
unten eine fich bald in jenfrechter Richtung nach oben Trümmende 
Röhre von 4 Linie im Durchmefjer trat. Bon dem unteren 
Ende der Kugel bi8 zum oberen Ende der Röhre hatte diefelbe 
eine Länge von 46, bis zur unteren Krümmung von 48 Zoll. 
Die Kugel war mit Luft, die Röhre mit Duedfilber gefüllt umd 
die verichtedenen Höhenunterfchiede des Duediilberniveaus, vers 
mehrt um den jedesmaligen Barometerftand, gaben den Drud 
und das Volumen der Luft und da der Verſuch damit begann, 
die8 Volumen bei der Temperatur bed fiedenden Waflerd zu 
beobachten, jo würde es leicht fein, wie Amontons fagt, „mit 
Hülfe diefer Thermometer die Temperatur aller Klimate der 
Erde zu beftimmen und für jedes Klima Weingeiftthermometer 
zu conftruiren, welche mit diefen neuen Luftthermometern verglichen 
werden konnten.“ Amontond bedauert, daß er feinen Apparat 
noch nicht angegeben hatte, als der Minifter Golbert eine große 
Menge Thermometer berftellen laſſen und diefe nach verjchiedenen 
Theilen der Erde Ichiden wollte, um dort zu Beobachtungen zu 
dienen. Dann wäre die Ausführung diejed Planes, meint er, 
wohl nicht unterblieben, wie e8 wirklich geſchah, da man eine 
genügende Webereinftimmung der vorhandenen Thermometer zu 
erreichen nicht hoffen durfte. 

Amontond’ Erfindung fand zunächft freilich wenig Anklang. 
Er konnte ed nicht erreichen, dab der damalige Afttonom ber 


Alademie, La Hire, das von ihm lange gebraudte Thermometer 
(494) 


27 


mit dem neuen verglih. „Zwar wurbe”, um Lambert's?9) ge- 
rechten Zorn nicht ungehört verklingen zu laffen, „ein Amon» 
tonsfches (Thermometer) auf die Parifer Sternwarte geftellt, 
man hängte es aber jo gleich in einem andern Saale auf, ge: 
rade, als wenn alle Vergleichung jorgfältig vermieden werden 
ſollte. Diefe Vergleihung ging erft einige Sahre nad) Amon 
tond’ Tode vor, und zwar fo nachläffig als ed immer jeyn Tonnte. 
Nemlich Amontond’ Thermometer führte eine verftändliche Sprache. 
Und dad war eben, was 2a Hire dem feinigen nicht geben 
wollte, oder ſchon deöwegen für überflüjfig hielt, weil er an 
demjelben glaubte zween feite Puncte, nemlich den von der 
Temperatur im Keller der Sternwarte, und den von der Kälte 
ber Luft in dem offenen Saale der Sternwarte zur Zeit, wenn 
ed auf dem Felde frieret, bemerkt zu haben. Eine Bemerkung, 
die er alle Jahre aufs Neue der Akademie vorlas, wenn er von 
feinen Wetterbeobachtungen Bericht erſtatte(te). Das war nun 
eben nicht das Mittel, die Wiffenfchaften mit vereinigten Kräften 
zu erweitern." 

So war denn auch Zambert der erfte, welcher Amontong’ 
Ideen Gerechtigkeit widerfahren ließ, indem er in feiner nach 
feinem am 25. September 1777 erfolgten Tode erjchienenen 
Pyrometrie ſich rückhaltslos für Amontond’ Thermometer aud- 
ſprach und nur die Skala deffelben in zweckmäßiger Weije ver- 
befierte. Zwar konnte audy er bei den Thermometerverfertigern 
und dem von ihnen faufenden Publikum zunächſt noch nicht 
durchdringen. Wie diefe dachten, erjehen wir aus der folgenden, 
Luz entnommenen Stelle: „Gegenmwärtige Einwendungen“, jagt 
er40), „die ich wider des feel. Hr. Baurath Lamberts Luft- 
thermometer gemacht, hätte ich gerne unterdrüdt, indem ich die 
Alche dieſes Gelehrten von erftem Range verehre, wenn ich nicht 
der Wahrheit mehr jchuldig zu jeyn, geglaubt hätte. Ich reiße 
nicht gerne ein, wenn ich nicht etwas befjered dagegen aufbauen 


kann. — Und doc mußte ich dieſes gegenwärtig thun. Noch 
(495) 


—28 
weniger begehre ich auf den Ruinen eines andern, und am we⸗ 
nigſten eines ſolchen Mannes, deſſen Ruhm unerſchüttert bleibt, 
wenn er gleich, wie es allen Sterblichen begegnet, in Kleinig⸗ 
feiten fehlt, Trophäen zu erbauen.” Diefe Trophäen waren auf 
De Luc's Arbeiten gegründet, deren geringere Zuverläffigleit wir 
bereitö audeinandergejegt haben. Ste liegen längft in Trümmern, 
während Amonton's und Lambert’8 Ideen noch jebt fruchtbar 
find. Hat fie doch erft vor Kurzem Marmwellt1) wieder zur 
Aufftelung des wichtigen Begriffes des abjoluten Nullpuntts 
benugt, mit dem wir und nunmehr kurz zu beichäftigen haben. 
Bereits Amontond hatte der Parijer Akademie den folgenden 
Gedantengang vorgelegt. Eine jede Kuftmenge muß, wenn fie 
vor Zerftreuung bewahrt werden fol, einem beftimmten Drude 
ausgeſetzt fein, welchem fie vermöge ihrer Klafticität Widerftand 
leiftet. Wächſt der Drud von Außen, während ſonft alles gleich 
bleibt, fo muß der Raum, den die Luftmenge einnimmt, fi 
verringern, nimmt dagegen der Drud von Innen zu, jo muß 
er den äußeren zurüdtreiben, diefen Raum vergrößern. Diele 
Zunahme ded Drudes von Iunen mit erfolgender Ausdehnung 
fann nun nur durdy Zuführung von Wärme hervorgerufen wer- 
den und ed wird die Auddehnung der Zuft bei gleichem Drude 
ein Maaß der Wärme fein, vorausgeſetzt, daß ihre Dichtigkeit 
die nämliche bleibt. Läßt man num den Drud, welchem eine 
Luftmenge audgefebt ift, ungeändert, und läßt den Grad der 
Wärme bis auf Nichts, alſo bis zum Eintreten von abjoluter 
Kälte abnehmen, fo wird der von ber Luft eingenommene Raum 
auch zu Null werden, oder wenn er nit gunz zu Null wird, 
fo fann er doch dafür angejehen werden, weil er jedenfalls fo 
flein wird, daB er gegen den anfangs eingenommenen Raum 
vernadläffigt werden Tann. „In der abjoluten Kälte fällt alfo 
die Luft jo dicht zufammen, bis fich ihre Theilchen durchaus 
berühren, oder bis fie, fo zu reden, waflerdicht wird.” +2) 


Bon diejen Ideen Amontond’ ausgehend, ſuchte nun Lam⸗ 
(496) 





29 


bert eine Thermometerjlalga zu conftruiren, deren Nullpunkt mit 
der abfoluten Kälte zufammenfällt, er juchte, wie dies die heutige 
mechaniſche Wärmetheorie durchgeführt hat, die abfoluten Tem⸗ 
peraturen anftatt der comventionellen einzuführen. Cr fand, 
dab fih die Raumeinheit der Luft beim Erwärmen um 1° um 
0,370 ausdehnt, fo daß, wenn man den Raum, den die Luft 
einnimmt, wenn fie von der abjoluten Kälte oder vom abjoluten 
Nullpunkt, um den jebt gebräuchlichen Ausdrud anzuwenden, 
bi zum Schmelzpunft des Eifed erwärmt wird, in 1000 gleiche 
Theile theilt, dieſe Luft bei weiterer Erwärmung bis zum Giedes 
punkt 1370 Raumtheile einnimmt. Heute nimmt man ftatt der 
Zahl 0,370 die genauere 0,3667. Dieje Theile find nun die 
Grade des Luftthermometerd, was fomit dienen kann, um die 
Wärme zu meljen, und berechnet man die Temperatur bed ab« 
ſoluten Nullpunlts, indem man von dem Nullpunkt der 100theis 
ligen Stala abwärts gebt, jo findet man — 448. 1000 = 
— 270,3°, wofür jet — 273,3° angenommen wird. 

Auf diefe Erfindung Tönne ſich Amontond’, meint Lambert, 
viel zu Gute halten, doch habe fie vielleicht deswegen, weil fie 
zu ſchön und fehr wahr ift, nur Ungläubige vor fih gefunden. 
Jetzt iſt dad. nicht mehr der Fall, um jo mehr aber tft ed auch 
an der Zeit, den Urheber dieſer jo wichtigen Ueberlegung aus 
dem unverdienten Dunfel hervorzuzieben. 

Die neuere Gastheorie feßt nun voraus, daß die Gas—⸗ 
theilchen wicht mehr den Cohäſionskräften, jondern lediglich den 
von ber Wärme bedingten Antrieben unterliegen. Iſt das der 
Fall, jo hatte Gay Luffac ganz recht, wenn er die Folgerung 
Lambert's aufrecht erhielt, dat die Angaben des Luftthermometers 
der zugeführten Wärmemenge proportional jeien und daß dem⸗ 
nach die Skala der wirklichen Wärme die des Zuftthermometerd 
fei. Dann müßten aber auch alle Gasthermometer, fie möchten 
nun mit einem Gafe gefüllt jein, mit welchem fie wollten, in 
diefelben Temperaturverhältniffe gebracht, denfelben Gang zeigen. 


(497) 


30 , 


Als aber Regnault in folder Weile Thermometer, welche mit 
Luft, mit Wafferftoff und Kohlenfäure. gefüllt waren, den nam- 
lichen Temperaturen ausfeßte, To fand er nicht genau dieſelben 
Reſultate und mußte daraus den Schluß ziehen, daß audy bei 
den Gaſen die zwifchen den Molekülen vorhandenen Cohäfions⸗ 
fräfte nicht völlig gleich Nul fein fünnen. Es ift nun aber 
nicht ſchwer, die Angaben des einen Gasdthermometerd auf ein 
andere zu übertragen und jo find die Luftthermometer doch 
diejenigen, welche am beften unter fi flimmen. In Fällen, in 
denen ed nidyt auf die äußerſte Genauigkeit anfommt, darf man 
die Ablefungen des Luftthermometerd den zugeführten Wärme 
mengen proportional jeßen. 

Bon diefem Gefichtöpunft aus hat die Rechnung von Lo⸗ 
renz*®) in Kopenhagen Werth, weldye die Wärmemenge be— 
ftimmt, die nöthig ift, um fo viele Atome einer permanenten 
Zuftart zu erwärmen, ald in einem Milligramm Waſſerſtoff ent- 
halten find. Dody wollen wir bereits bier darauf aufmerkſam 
machen, dab bei ſolchen Verfuchen, bei denen die hoͤchſte Ges 
nauigfeit erreicht werden fol, auch der Einfluß der Ausdehnung 
bes Glaſes berüdfichtigt werden muß. 

Hat man nun bei der Bergleichung ber Luftthermometer 
doch noch auf die mangelnde Proportionalität der zugeführten 
Wärmemenge und der Ausdehnung Rüdficht zu nehmen, dann 
liegen ja für dafjelbe die Sachen gar nicht viel anders, wie für 
dad Duedfilberthbermometer auch. Die Abweichungen ded Queck⸗ 
fllber8 von dem Geſetze, dab die zugeführte Wärmemenge der 
Auddehnung proportional ift, find allerdingd wohl größer wie 
die ber Luft, aber dadurch wird die Anbringung der Correcturen 
durchaus nicht erichwert. Und die Sache vereinfacht fich noch 
ganz beträchtlich, wenn man bedenkt, daß nur einmal eine ge 
naue Bergleichung des Duedfilberd mit dem Luftthermometer 
vorzunehmen tft, daß aber dann eine babei ermittelte Tabelle 
für alle Quedfilberthermometer gleichmäßig gilt. Eine ſolche 


(498) 


3l 


Zabelle verdanken wir 3.3. Rednagel**) und es ergiebt diefelbe, 
daß die größte Abweichung, die bei 50° erfolgen muß, da bie 
Punkte O und 100 bei beiden Thermometern übereinitimmen 
müfſen, nicht die Größe von 0,2° C. überfchreitet. Es ift dies 
von großer Bedeutung, da dad Duedfilberthermometer, welches 
an Bequemlicyleit von feinem andern übertroffen wird, bei den 
gewöhnlichen Temperaturen mit dem Luftthermometer hinreichend 
genau übereinftimmt. 

Die mechaniſche Wärmetheorie giebt nun aber Mittel au 
die Hand, auf theoretiihem Wege die wirklichen Wärmemengen 
zu beitimmen, welche den Angaben eines Luftthermometerd ent- 
fprehen. Sir William Thomjon*?) war der erfte, welcher 
darauf hinwies, daß man eine „abfolute Thermometerflala” er- 
halten, fönne, wenn man die Grade jo wählte, daß bie Wärmes 
mengen, weldye die Temperatur des Apparate um 1° erhöhten, 
immer die nämliche wäre. Bei dem Luftthermometer werden 
die Grade bei höheren Temperaturen einer werden, allgemein 
aber würde, da befanntlih eine jede Wärmeeinheit eine be⸗ 
ftinnmte mechaniſche Wirkung ausüben kann, „eine Wärmeeinheit 
bei ihrem Webergang von einem Körper A bei der Temperatur 
T° dieſer Stala auf einen Körper B von der Temperatur (T— 17° 
den nämlichen mechaniſchen Effekt geben, welches auch der Werth 
von T ift.” 46) Für die Berechnung einer folden Skala haben 
nun Sochmann und Weinftein?”) Formeln aufgeftelt. Der 
lettere Forſcher hat für das Luftthermometer berechnet, um wies 
viel die Angabe defjelben von ber abjoluten Skala zwilchen 0° 
und 100° abweicht. Dieje Abweichung erreidht ihren höchften 
Werth bei 50°, nämlich 0,015 der hundertibeiligen Skala. Die- 
jelben Rechnungen für ein mit Kohlenjäure gefüllte Thermo- 
meter ergaben ald größte Abweichung 0,053. Leider befigen 
die erperimentellen Daten, auf denen diefe Rechnung aufgebaut 
tft, noch nicht die wünfchendwerthe Genauigkeit, fo daß die Zu- 


(499) 


32 


verläffigkeit der Rechnung 0,01° des hunderttheiligen Thermo» 
meters noch nicht überfteigt. 

Immerhin wird man bis zu Ablefungen von 0,01° da zu 
gehen haben, wo die größte Genauigkeit wünſchenswerth ift und 
ed liegt jomit dad Bedürfnig vor, Thermometer zu conftruiren, 
welche Hundertftelgrade abzulefen geftatten. Dazu muß, wie 
wir bereits ſahen, das Rohr möglichit eng bei möglichft ges 
räumigem Gefäße fein, dann aber dafür geforgt werden, daß 
man den feinen Duedfilberfaden gut ſehen Tann. Died wird 
in Deutihland in ſehr volllommener Weile dadurch erreicht, 
dag man die Skala auf einem Beinglasftreifen anbringt, welcher 
hinter dem Thermometerrohr angebracht und mit ihm in ein 
weitered Rohr eingeichloffen wird. Bei weniger feinen Ther⸗ 
mometern wird anftatt des Beinglasftreifend eine Bapierrolle 


hinter dad Thermometerrohr in die Umhüllungsröhre gefchoben, 


bei den ganz billigen ift fie auf ein Bretichen, auf welchem das 
Thermometerrohr, durch Klammern feitgehalten und durch feine 
umgebogene in das Holz des Brettchens hineinragende Spitze 
vor dem Berjchieben bewahrt wird, angebracht. Nicht ganz jo 
gut leſen fi die Thermometer ab, deren Skala auf das Rohr 
jelbft eingerigt ift, wie man es bei den feinen franzöfiichen 
Thermometern findet. Wenn auch die Striche mittelft einge» 
riebenen Graphitpulvers geſchwärzt werden und durch einge- 
Ichmolzened Email ein heller Hintergrund bergeftellt wird, fo 
ericheinen die Striche meift gefrümmt und ihre Bezeichnung zu 
Mein, alle8 Dinge, die dem Ungeübten hinderlicy find, während 
der Forſcher daraus gewiſſe Vortheile ziehen Tann. Um bei 
großer Empfindlichkeit das Ableſen zu erleichtern, giebt man audy 
wohl dem Rohre einen bandförmigen Querſchnitt und bringt 
dann bie Skala vor oder hinter der breiten Seite bed Fadens 
an. Neuerdings bat man dadurdy, daß man die vordere Seite 
des Umhüllungsrohres prismatiſch geftaltete oder die LZinjen- 
wirkung einer in daſſelbe gebrachten Zlüffigfeit benußte, die 


(800) 


33 


Stala in der auf die Are des Rohres ſenkrechten Richtung ver 
größert und jo ihr Ablejen erleichtert.“ ®) 

Wer indefjen jemald Gelegenheit hatte, ein empfindliches 
Geißler'ſches Thermometer zu betrachten, der wird zugeben, daß 
eine fchärfere Ablefung, wenn überhaupt möglih, dann nicht 
Bedürfniß if. Der Uebelftand, den die große Empfindlichkeit 
mit fich bringt, dab das Rohr unverhältnißmäßig lang wird, 
ift freilich nicht zu vermeiden; man kann deshalb nur für geringe 
Zemperaturdifferenzen ein ſolches Thermometer berftellen. Bet 
einem joldyen Thermometer von Geißler ift z. B. die Länge 
eines der Grade 22 mm, jeder Grad aber in 10X 5 = 50 Theile 
getheilt, jo dab man bequem 0,01° ablefen kann, je nachdem 
das Quedfilber auf einem oder zwiſchen zwei Theilitrichen fteht. 
Det Medicinalthermometern, die O,1° beobachten laffen müfjen, 
würde das bejonderd unbequem fein, da ed nun aber gerade 
bei diejen wünſchenswerth ift, nach Bedürfniß die Richtigkeit des 
Nullpunktes und Siedepunftes beftimmen zu fönnen, fo hat man 
dad Thermometerrohr in dem Umhüllungscylinder mehrmals 
hin⸗ und bergewunden, oder man hat in demfelbem zwei Er- 
weiterungen zwilchen dem Nullpunkt und den Graden der Blut 
wärme und zwiſchen diefen und dem Siedepunkt angebracht, 
welche das Duedfilber erft anfüllen muß, ehe es in dem engen 
Theil des Rohres weiter fteigen Tann, und dadurch die direlte 
Prüfung ded Eis⸗ und Siedepunftes des Thermometerd möglich 
gemadht.*?) 

Daß nun bei fo empfindlichen Thermometern geringe Uns 
genauigkeiten ber Skala ober im Kaliber der Röhre die Richtigkeit 
der Ablefungen in nicht zu vernadjläffigender Weiſe beeinfluffen 
werden, liegt auf der Hand. Es find deshalb fowohl beim 
Berfertigen, als auch beim Benuben ber Apparate eine Anzahl 
Vorfichtsmaßregeln zu beobachten, weldye kurz anzuführen wir 
nicht unterlaffen wollen. 

Schon die Auswahl des Rohres erfordert große Sorgfalt. 


xx, 470. 83 (501) 


34 


Nur ſolche Rohre find brauchbar, weldhe auf ihrer ganzen Länge 
genau diejelbe Weite behalten. Daß dies der Fall ift, davon 
muß man ſich vorher dadurch überzeugen, daß man einen Furzen 
Dnedfilberfaden in das Rohr bringt, feine Länge genau mißt, 
ihn dann nach und nad) durch das Rohr hindurchbemegt und 
immer wieder mißt. Iſt er an allen Stellen gleich lang, jo ift 
das Rohr cylindriſch, andernfalls nicht und muß alfo verworfen 
werden. Um ihn hindurdy gehen zu laffen, bat man nur das 
Rohr ein wenig zu neigen; man Tann aber auch an bad eine 
Ende einen Meinen Kautſchukballon befeftigen, mit jeiner Hülfe 
Luft hinter dem Kaden in dad Rohr treiben und ihn fo fort» 
ſchieben. Hat fi) das Rohr nun ald cylindrifch bewährt, fo 
wird auf der einen Seite ein cylindriiched weiteres Röhrenſtück 
als Gefäß angemolzen, welches einfeitig geſchloſſen ift, auf der 
andern ein weited Gefäß, welches ald Trichter zum Cinbringen 
ded Quedfilberd dienen fol. Im dieſes wird forgfältig gerei- 
nigtes und getrodneted Duedfilber gegoſſen und darauf mittelft 
einer Lampe das cylindrifche Gefäß erhibt. Die fich ausdehnende 
Luft ſteigt dann in Blädchen durch dad Duedfilber empor, im 
Gefäß wird fomit die Luft verdünnt und bei der nun folgenden 
Abkühlung preßt der Luftdrud das Duedfilber durch das enge 
Rohr in das Gefäh hinein. Iſt diefed genügend gefüllt, jo wird 
ber Trichter abgebrochen, das cylindrifche Gefäh dagegen fo lange 
erhigt, bis das Quedfilber in's Kochen geräth und nunmehr mit 
einer Lötrohrflamme das Rohr zugefhmolzen. Der Raum ober» 
halb des Duedfilberd war damn nur mit Duedfilberdampf ans 
gefüllt. Bei der Abkühlung auf die gewöhnliche Temperatur 
ichlägt fich derjelbe faft. vollftändig nieder und Iäbt über bem 
Duedfilber einen leeren Raum zurüd. 

Sehr oft kommt man nun aber in die Rage, das Kaliber 
eine3 fertigen Xhermometerd unterjuchen zu müſſen und wenn 
es fich ald nicht ganz gleichmäßig zeigt, mit Hülfe einer Gor- 
rectiondtabelle auf ein gleichmäßiged Kaliber zu reduciren. Die 

(502) 





35 


genanefte Methode, diefe Kalibrirung durchzuführen, rührt wohl 
von Beſſel ber. A. v. Dettingen bat fie dann verbeflert und 
freilich mittelft ziemlich weitläufiger Rechnungen zu einem hohen 
Grad von Vollkommenheit gebradht.5°) 

Bar dad Duedfilber gut gereinigt und getrodnet, fo feht 
es niemald an der Röhrenwand Schmubränder an, feine Ober- 
fläche bleibt unter allen Umftänden blank. Es ift jebt durchaus 
nicht ſchwer, reines und trodenes Queckſilber zu erhalten. Ver⸗ 
unreinigungen dur Staub ıc. enifernt man jehr leicht, wenn 
man ed durch einen and Papier zufammengebrehten tütenartigen 
Trichter laufen läßt und da fonftige Verunreinigungen nur in 
anderen Metallen, Kupfer, Zink ꝛc. beſtehen Tönnen, fo hat man 
das Duedfilber nur mit einer Säure in Berührung zu bringen, 
welcher jene Metalle eher ald Duedfilber auflöft. Dazu fchüttelt 
man ed am beiten mit verdünnter Salpeterfäure jo lange, bi8 
ed gänzlich in Heine Tröpfchen zerfchlagen wird, wälcht ed dann 
mit viel Wafler aus und trodnet ed endlich. An der Luft darf 
man ed aber nicht zu ſtark erhißen, weil es jonft orydirt, das 
Oxyd aber fih im Quedfilber ald Berunreinigung auflöft. 
Man bringt ed deshalb am Beften mit concentrirter Schwefel» 
fäure, welde dad Wafler auch aus der Luft begierig auffaugt, 
unter die Glocke der Zuftpumpe, pumpt aus und läßt es längere 
Zeit darunter fteben. Auch Tann man ed, und namentlich ift 
bad zwedmäßig, wenn man vorübergehend reines Duedfilber 
braucht, wie bei jo vielen Arbeiten im chemiichen Laboratorium, 
in eine Flaſche, im welcher fi unten ein gläferner Hahn bes 
findet, unter Schwefelfäure bringen und kann dann unten aus 
berjelben ftetd reines Duedfilber abzapfen, während man da8 
gebrauchte oben wieder hineingießt. Die Legirungen des Queck⸗ 
filberö mit anderen Metallen begeben fih nämlich, da fie leichter 
find, in den oberen Theil des flüffigen Metalles, verbinden fich 
dort nach und nach mit der Schwefeljäure und löſen ſich in der» 


jelben auf. 
3" (503) 


36 


Iſt nun in der vorhin audeinandergejehten Weile das 
Duedfilber in das Thermometer gebracht und diefes zugefchmolzen, 
fo bleibt es am beften ein paar Monate ruhig liegen, ehe ed 
mit einer Skala verjehen wird. Sollen Beingla8 und Papiers 
ſtalen angewendet werden, fo wird an das Gefäß noch das 
weitere Rohr angeichmolzen, welches das Thermometerrohr 
mantelartig umgiebt, in dies die Skala hineingeftect und das 
weite Rohr dann oben mit einer Meifingfaffung verfittet oder 
direft zugeblafen. Ein im Rohr angebrachtes Knie giebt der 
Stala einen feiten Stüßpunft, fo daß diejelbe nicht mehr ver- 
[hoben werben Tann. 

Um die Skala anzubringen, muß man zunächft beftimmen, 
wie weit das Duedfilber beim Schmelzpunft des Eiſes und dem 
Siedepunkt des Waſſers die Röhre erfüllt. Der zwiichen beiden 
Punkten befindlihe Raum muß dann in adhtzig, hundert oder 
bundertundachtzig Theile geiheilt werden, je nachdem man beab« 
fihtigt, ein Thermometer nach Réaumur, nad) Celſius oder nach 
Sahrenheit berzuftellen. Es geichieht das jebt, wie ſich von 
jelbit verfteht, mit der Theilmaſchine. Die Zeftftellung der 
Punkte aber muß unter Einhaltung gewifler Vorfichtämaßregeln 
geichehen. Sind fie dann bezeichnet, jo müflen fie von Zeit zu 
Zeit controlirt werden und daß dies hinfichtlich des Eispunktes 
jo vielfach verjäumt wird, das ift eben der Grund, weshalb bie 
Thermometer, mit denen fo viele ihre Wetterbeobachtungen an- 
ftellen, meift fo jchlecht miteinander geben. Beitimmt man aber 
den Nullpunft und zieht die Anzahl Grade, oder, was häufiger 
der Fall fein wird, den Bruchtheil des Grades, um welchen 
berjelbe zu body liegt, von der beobachteten Temperatur ab, zählt 
fie dagegen hinzu, wenn der Eispunft unter dem Nullpunkt des 
Thermometerd liegt, jo werden nunmehr die Beobachtungen, 
wenn nicht wirkliche Verſchiedenheiten vorlagen, vortrefflic 
ftiimmen. Nichts ift aber leichter, als die Beftimmung des Eis⸗ 


punktes eines gewöhnlichen Thermometerd und man follte im ber 
(504) 


87 


That die geringe Mühe, weldhe fie madıt, im Hinblid auf den 
Nuten, den fie gewährt, nicht fcheuen. Hat man doch nur bei 
einer Kälte von einigen Graden einen Eimer Schnee oder ge 
ftoßened &i8 in ein Zimmer zu ftellen, deflen Temperatur einige 
Grade über dem Eispunkte liegt, das Thermometer in das Eis 
zu fteden und zu warten, bis es die Temperatur des Eiſes an⸗ 
genommen hat, um dann diefe fi als Schmelzpunkt zu merken. 
Ob die gewünſchte Temperatur erreicht fei, erfennt man daran, 
daB der Stand des Thermometers längere Zeit hindurch un⸗ 
geändert bleibt. Um dies zu erreichen, thut man gut, einen 
hölzernen Eimer zu wählen, weil in einem gut leitenden Blech» 
eimer das Eis zu raſch fchmilzt. 

Für genauere Beltimmungen benutzt man einen doppel- 
wandigen, aus Zinkblech verfertigten Apparat, deſſen Innerer 
cylindriſcher Raum nad) unten kegelfoͤrmig zuläuft und bier mit 
einem Hahme abgeichloffen tft. Der äußere Raum wirb mit 
Watte loſe vollgepfropft, in den inneren geſtoßenes Eis geftampft, 
welches auf dem fiebförmig durdjlöchertem Boden des cylindri- 
ihen Raumes aufliegt. Durch dies Sieb fließt das Schmelz« 
wafler ab und kann mittelft des Hahnes von Zeit zu Zeit ab» 
gelaffen werden. Es ift died nötbhig, weil der Eispunkt zu hoch 
fommen würde, wenn dad Gefäß des Thermometerd mit dem 
Schmelzwaſſer in Berührung käme; deufelben Effekt würde ed 
aber haben, wenn der Hahn nicht gefchloffen gehalten würde, weil 
alsdann durch die eindringende wärmere Luft fich ſehr bald 
Schmelzkanäle bis zum Thermometer bilden und feine Tempes 
ratur erhöhen würden. Auch zur Beitimmung des Siedepunktes 
bedarf es eines bejonderen Apparates, der, von Cavendiſh an⸗ 
gegeben, zuerft von der Kommilfion, welche die Königliche Ge⸗ 
ſellſchaft der MWiffenichaften in London zur Unterfuchung ber 
feften Punkte der Thermometer gegen 1780 eingefeht hatte und 
zu welcher auch De Luc gehörte, zu zahlreicheren Verſuchen ge- 
braucht wurde.51) Es befteht dies Gefäß aus einem Cylinder 


- (508) 


38 


von Blech, weldes mit einem genau paflenden mittelft Lein⸗ 
wand noch gedichteten Deckel bededt wird und zur Aufnahme 
des Waſſers beftimmt ift. Zwei Handhaben laſſen es leicht an's 
Feuer feen und davon wieder wegnehmen. Der Dedel bat 
zwei Durchbohrungen, in welche Blechröhrchen eingelötet find. 
In das weitere wird mittelft eines durchbohrten und dann 
durchichnittenen Korked das Thermometer geftedt. Das engere 
wird mit einem ganz dünnen Zinkplättchen belegt, weldyes den 
Dampf bei dem geringften Meberdrude entweichen läßt. Ein 
folcher darf ja unter feinen Umftänden eintreten, da er fofort 
eine Erhöhung der Temperatur bewirken würde. Bet den neueren 
zu demfelben Zwede dienenden Apparaten bat man deshalb 
diejen Punkt dadurch verbeffert, daß man den cylindriichen Raum, 
in dem dad Wafler in das Sieden gebracht wird, jehr abgekürzt, 
auf ihm ein viel engeres Rohr zur Aufnahme des Thermometerd 
aufgejett, diefed aber dann wieder mit einem weiten Mantel 
umgeben bat, deſſen Durchmefler gleich dem des Siedegefähßes 
ift, jo daß der in dieſem weiteren äuberem Rohre enthaltene 
Dampf den im engeren inneren befindlichen wie ein wärmes 
dichter Mantel einjchließt und feine Abkühlung hindert. Beide 
find aber mit einem feit fchließenden gemeinfchaftliden Dedel 
bededt, in welchen das Thermometer nach Cavendiſh's Vorgang 
bineingeftedt wird. Aus dem inneren Rohr gelangt der Dampf 
aud einer Reihe von Löchern, welche unter dem Dedel angebracht 
find, in das umgebende Gefäß und entweicht durch ein kurzes, 
oberhalb des Siedegefäßes angebrachte Rohr in dad Freie. 
Um ficher zu fein, dab in den Gefäßen fein höherer Drud, wie 
der der Atmoſphäre ftatt findet, ift dem Ausſtrömungsrohre 
gegenüber, aber in berjelben Höhe, ein Manometer angejept, 
ein Uförmig gebogened Glasrohr, deifen eined Ende offen, fein 
anderes mittelit eined horizontalen Stüdes in den umgebenden 
Mantel eingelittet ift. Ein wenig in died Rohr gebrachted Waſſer 
läßt dann dadurdy, daß es in beiden Schenkeln nicht gleich hoch 


(506) 


39 


fteht, beobachten, wenn Weberdrud vorhanden if. Dabei ift 
ferner darauf zu achten, dab dad Gefäß des Thermometers fich 
nicht im Waſſer befindet, weil dort ja immer Ueberdruck, alſo 
zu hohe Temperatur berrichen muß. Denn ohne einen foldhen 
fönnte der Dampf nicht außer dem Luftbrud auch dem Drud 
des auf ihm laftenden Waſſers widerftehen und um aufzufteigen, 
die Theilchen defjelben von einander ober vom Gefäße trennen. 
Daraus folgt auch fofort, daß man das Kochgefäß nicht aus 
Glas, fondern aus Metall, am beften aus Kupfer nimmt, da 
bie Kraft, mit der dad Waſſer an der Gefäßwand haftet, von 
deren Reinheit abhängt, wenn fie aus Glas befteht, während 
fie bei Metallen unter allen Umftänden diejelbe bleibt. Ebenſo 
muß das angewandte Waſſer ganz rein jein. 

Hat man ein Thermometer durch genaue Prüfung feines 
Siedepunftes und Eispunktes berichtigt, fo Tann man nunmehr 
mit feiner Hülfe die an anderen Thermometern anzubringende 
Correction finden, auch wenn ihre Skala nicht bis zum Siede⸗ 
punkt oder Eispunkt reicht, wenn man beide Thermometer in 
ein großes Gefäß mit Waſſer ſetzt, das durch einen Rührer in 
Bewegung und fo feiner ganzen Ausdehnung nach auf derfelben 
Temperatur gebalten werden Tann und die Temperatur bed 
Waſſers im Gefäße durch Zufeben von heißem Wafler nach und 
nah die verichiedenften Werthe annehmen läßt. Die gleich⸗ 
zeitigen Stände beider Thermometer entiprechen dann denjelben 
Temperaturen. 

&8 ergeben fich nun aber etwad abweichende Refultate, je 
nachdem man dad Thermometer, mit deſſen Hülfe man 5.8. 
die Temperatur von erwärmtem Waſſer beftimmen will, bis genau 
unter den Punkt, auf welchem es ſich einftellt, einjenft oder 
einen Theil des Fadens herausragen läßt. Will man alfo mit 
der größten Genauigkeit beobachten, jo muß man entweder dad 
Thermometer foweit einfenfen, daß man ed nody gerade beobachten 


fann, ober man muß durch eine Heine Rechnung den Fehler 
(5,7) 


40 


corrigiren.°?) Die Möglichkeit diefer Correctur beruht auf ber 
Beobachtung, dab die verfchiedeue Ausdehnung des Glaſes, aus 
welchem das Thermometerrohr befteht, die veränderte Stellung 
bei beruorragendem und eingetauchtem Rohre bewirkt. Diele 
Ausdehnung muß aljo befannt fein. 

Biel bedeutender ift der Einfluß der Ausdehnung des Glaſes 
auf Die Lage der feften Punkte. Es jcheint in Folge davon, 
als ob wir gar nicht berechtigt wären, jene Punkte feit zu nennen. 
Denn nach jeder beträchtlihen Erwärmung haben fie ihre Lage 
geändert und geben nur langfam wieder in diejelbe zurüd. 
Deshalb muß man, wie wir fahen, ein neu verfertigtes Ther⸗ 
mometer Monate lang liegen lafjen, ehe man den Eispunkt und 
Siedepunkt beitimmen darf. Namentlid der erfte gebt während 
biejer Zeit nicht unbedeutend in die Höhe, ja dies Steigen bed» 
jelben hört eigentlich nie anf, wird aber fo langfam, daß man 
es nach jener Zeit füglich vernachläffigen Tann. Hierüber hat 
ſchon 1827 Egen Beobachtungen angeftellt, ſpäter hat der bes 
rühmte englifche Forſcher Joule“?) zwanzig Jahre lang bie 
Aenderungen des Eispunktes beobadhtet. Wie er am 16. April 
1867 der literarifchen und philoſophiſchen Gejellichaft zu Man- 
chefter mittheilte, hat er feit April 1844 alljährlich den Eispunkt 
zweier Thermometer genau beftimmt, welde im Winter von 
1843 auf 1844 von Dancer verfertigt waren. Dad eine det» 
jelben war jo empfindlich, daß dreizehn feiner Theilftriche einem 
Grade Fahrenheit entiprachen. Sn biefen 24 Jahren war der 
Eispuntt um 0,91° Fahrenheit geftiegen, anfangs rafcher, dann 
immer langfamer und ſchien nun endlich eine feite Lage ange» 
nommen zu haben. Ginge nun diefe Erhöhung des Eispunktes 
jtetig fort, jo brauchte man nur von Zeit zu Zeit eine Des 
ftimmung befjelben zu machen, um immer genauer Ablejungen 
fiher zu fein. Eine ftärkere Erwärmung, 3. B. bei einer Be 
ftimmung des Siedepunktes, drüdt aber den Eispunkt immer 
wieder herab, ja Despretz hat bereitd 1837 gefunden, daß bie 


(508) 








41 


Zemperaturänderungen des Sommerd und Winterd genügen, 
um eine Verſchiebung des Eispunkted um 0,04° der hundert» 
theiligen Skala zu bewirlen.°*) Diefer unangenehmen Thatſache 
gegenüber werden wir vor allen Dingen zu unterfudhen haben, 
worin der Grund diefer Veränderlichkeit liegt, um und alsdann 
nach Mitteln umzufehen, welche den Eispunkt und Siedepunkt 
zu wirklich feften Punkten zu machen geeignet find. 

De la Rive und Marcet®°) waren wohl die erften, welche 
am Ende der zwanziger Sabre unferes Jahrhunderts in der 
Srhöhung des Eispunktes eine Wirkung des Luftdruckes jahen. 
Die damit vorausgeſetzte Glafticität des Glaſes wied Rubdberg °®) 
in der That nad, indem er durch den Drud des Fingers auf 
dad durch einen ſchlechten Wärmeleiter geſchützte Gefäß das 
Duedfilber fteigen und fallen machte. Mit diefer Beobachtung 
ftimmte denn auch die weitere überein, daß Inftleere Thermo» 
meter die Erhöhung des Eispunktes in auffallenderer Weile zeigen. 
als folche, welche noch Luft enthalten. Wenn es hiernach den 
Anichein batte, als werde die Erhöhung ded Eispunktes durch 
Bermebrung des äußeren Druded bewirkt, jo lieb ſich mit diefer 
Anficht nicht die oben bereit erwähnte von &gen:?) und 
Despretz gefundene Thatjache vereinigen, daß der Eispunft bei 
jeder Erwärmung ſinkt und fpäter wieder in feine frühere Lage 
zurückkehrt. Vielmehr forderte diefe die Annahme, daB eine 
elaftifche Nachwirkung der Moleküle ded Glajed, aus weldyem 
das Gefäß befteht, Urfache ber Schwankungen des Eispunktes 
if. Sept ift man wohl allgemein der Anfiht°®), daß beide 
Wirkungen ftattfinden in folder Weiſe, dab bei neuen Iuftleeren 
Thermometern ber Luftdrud ein langſames Steigen ded Null» 
punftes bewirkt, jede Erwärmung aber dad Gefäß rajch wieder 
ausdehnt und dieſes bei alddann folgender Abkühlung langſam 
wieder auf fein frühere Volumen zurüdgeht. 

Die weitere Frage, welche Nullpunttsbeftimmung man ald 


die richtige annehmen und feinen Beobachtungen zu Grunde legen 
(509) 


42 


ſoll, bat Pernet 59) dahin entjchieden, dat man den Nullpunkt 
als den richtigen annehmen muß, melden man fogleidy nach 
Erwärmung des Thermometerd auf 100° C. erhält. Um mittelft 
Duedfilberthermometer, ohne fie einzeln mit dem Lufttbermo- 
meter zu vergleichen, übereinftimmende Refultate zu erhalten, 
braucht man dann nur den jedeömaligen Nullpunkt zu beftimmen 
und fann nun nad) einer einfachen Formel die gejuchte Tempe⸗ 
ratur beredynen. Für Beobachtungen der Lufttemperaturen hat 
man indefjen joldye eingehende Unterfuchungen nicht nötbig, für 
fie genügt es, vielleicht einmal im Jahre in der Weife wie 
oben angegeben wurde, den Eispunkt zu beftimmen und die 
abgelefenen Xemperaturen jedeömal auf feinen Stand zu res 
duciren. 

Da die Schwankungen ber feſten Punkte vom Glaſe ab» 
hängen, jo erfcheint ed nicht unmöglich, Glasjorten herzuftellen, 
bei denen fie entweder gar nidht vorhanden oder doch von fo 
geringem Betrage find, daß man fie nicht zu berüdfichtigen 
braucht. In der That konnte Regnault 0) Thermometer aus 
Kryſtallglas berftellen, bei denen nach Erwärmung auf 100° 
der Eispunft nur um ein Geringed herabgedrücdt wurde, wenn 
er Gefäße, die bedeutendere Verminderungen zeigte, durch neue 
erjeßte. Seitend der Normal⸗Aichungs⸗Kommiſſion in Berlin 
ift man deshalb eifrig bemüht geweien®ı) mit Uuterftügung 
des glastechnifchen Laboratoriumd in Jena, welches unter der 
Leitung von Abbe und Schott fteht, Glasforten ausfindig zu 
machen, die mit Sicherheit dad von Regnault nur dur Pro- 
bieren erhaltene Refultat ergeben. Es hat fi dabei gezeigt, 
dab die Nahwirkungserjcheinungen von dem Gehalte an Kali 
und Natron im Glaſe abhängen,. jo zwar, daß ein Glas, welches 
beide in gleichen Mengen enthielt, ſehr ſtarke Deprelfionen des 
Eispunftes zeigte, daB dagegen Bläfer, welche neben Kiejelfäure 
und Kalt Natron allein oder Kali allein enthielten, nur ganz 
geringe Depreffionen erkennen ließen. Diefe Unterfuchungen 


(510) 


43 


baben fomit den Weg gezeigt, der eingefchlagen werden muß, 
um Thermometer zu erhalten, die die genaneften Rejultate er- 
geben, ohne jener fortgejegten, mühſamen und zeitraubenden 
Gontrollverjuche zu bedürfen. 

Sp haben wir den langen Weg durchlaufen, auf welchem 
dad Thermometer von dem rohen Apparate Balilei’3 zu dem 
feinen Meßwerkzeuge geworden ift, welches mit der größten 
Genauigkeit die Wärme wirflid zu meſſen geftattet. Wenn 
Dabei im Gegenſatze zu fait allen andern Apparaten die fort 
ſchreitende Bervolllommnung feine Geftalt und Einrichtung wenig 
änderte, jo ift gerade dadurch dad Thermometer ein einziged 
Beiſpiel dafür geworden, wie durch ſyſtematiſches und eingehende 
Studium aller die Angaben eined Inſtrumentes beeinfluffenden 
Erſcheinungen eine Zuverläffigfeit erreicht werden Tann, nad) 
der man bei jo vielen anderen noch vergeblich ſucht. 


Anmerkungen. 


1) E. Wohlwill. Zur Geſchichte der Erfindung und Verbreitung 
bes Thermometers. Poggendorffs Annalen CXXIV. ©. 163. 

2) Fr. Burckhardt. Die Erfindung des Ihermometerd und feine 
Geftaltung im 17. Jahrhundert. Bajel 1867. 

3) So von Freeden in Scott’3 Meteorologie. Internationale 
wifſenſchaftliche Bibliothet. Bd. LXI. ©. 16 und Krebs in Grund» 
riß der Phyſik für böbere realiftijche Lehranftalten. Leipzig 1882. 
©. 446. Letzterer mildert allerdings feine Behanptung durd ein „ſoll“, 
während ber erftere Drebbel das Thermometer um 1700 erfinden läßt, 
welcher doch bereit 1634 ftarb. 

4) Burckhardt. a. a. O. ©. 14. 


(511) 








44 


5) Ebendaſelbſt. ©. 16. 

6) Ehendafelbft. S. 19. Poggendorff in Gefchichte der Phyfſik, 
Leipzig 1879, ©. 255, irrt denmach, wenn er fagt: „Im Galileis 
Merken, jo wie fie durch den Drud auf uns gekommen find, ift freilich 
nicht vom Thermometer die Rede” und ebenfo Heller, Geſchichte ber 
Phyfik, Stuttgart 1882, I. Bb., S. 382, wo er die nämliche Behaup⸗ 
tung vertritt, während ©. 389 das im Terte erwähnte Manufceipt an⸗ 
führt. Auch Rofenberger, Geſchichte der Phyſik, 2. Theil, Braun- 
ſchweig 1884, ©. 18 bat den nämlichen Srrthum. 

7) Siehe meine Arbeit im Bericht über bie wiffenjchaftlicyen 
Apparate auf der Londoner internationalen Ausftelung im Jahre 1876, 
herausgegeben von A. W. Hoffmann. Braunſchweig 1878. I. Xheil. 
©. 70. 

8) D. Traittez des thermometres. Amſterdam 1688, vergl. 
Wohlwill a. a. D., ©. 163. Muffchenbroet nennt ihn (Introductio 
in philosophiam naturalem, II, p. 625) einen „civis Alcmariensis“. 

9) So fhreibt Leibnit; Monconys nennt ihn in Voyages, 
Suite de la II. partie, p. 75 Keiffer. Siehe den von mir berant- 
gegebenen Briefwechfel Keibnizens und Huygens' mit Papier. Berlin 1881. 
©. 204. 


10) Siehe Burckhardt in Poggendorffs Annalen CXXXIU, 
©. 631, wo bie irrthümliche Annahme ber oben citirten Schrift bes 
Verfafſers, Drebbel habe die Schrift De Elementis nicht früher, wie 
1606 veröffentlicht und ſei vielleicht von Porta beeinflußt geweien, corri» 
girt wird. Nach Heller, Geſchichte der Phyſik, I, ©. 390 ift Drebbel 
bes.Lateinifchen nicht mächtig geweien und hat feine gelehrte, wohl aber 
eine ungewöhnliche naturwiffenichaftliche Bildung befeffen, ald ob Beides 
im 16. Iahrhundert jemals getrennt geweſen wäre. 

11) Siehe Wohlwill a. a. O. ©. 171 ff. 

12) Deliciae physico-mathematicae oder Mathematifhe und 
Philofophifhe rquidftunden, durch M. Danielem Schwenterum, 
Nümberg 1636. ©. 455. 

13) Siehe Lambert, Pprometrie oder vom Maaße bes Feuers 
und ber Wärme. Berlin 1779. ©. 16. Da ſich Schwenter in dem 
Abfchnitte über die Thermometer insbeſondere auf LXeurechon beruft, fo 
darf man die Zeitbeftimmung 1636 bis zum Sahre 1624 hinausrücken. 

14) Schwenter a. a. D., ©. 456. 

15) Burdhardt a. a. D., ©. 37. 

16) Nah Burckhardts von Gallazzi und Antinori entnommener 
Darftellung (a. a.D., ©. 22) fcheint es durchaus unwahrſcheinlich, daß 
die Akademie „gleichſam an Rom verkauft fei, weil biefes darauf beftand, 

(512) 


45 


nur unter Bedingung der Auflöfung der Akademie dem Fürften Leopold 
den begehrten Kardinalshut verleihen zu wollen,” wie wir bei Poggen- 
dorff, Geſchichte der Phyfif, ©. 351 und ähnlich bei Rofenberger, 
Geſchichte der Phyſik, II, ©. 162 leſen. Vielmehr blieb au der Kar- 
binal Medici der erklärte Beſchützer ausgezeichneter Talente, machte in 
Rom den VBerfolgungen der Anhänger Galilei's ein Ende, führte feine 
literarifche Correfpondenz fort, unter andern aud die mit dem prote 
ftantifchen Chriftinan Huygens, während Galilei mit den Generalftaaten 
begonnene Unterhandlungen fortzufeßen nicht gewagt hatte. Vergl. meine 
Geſchichte der Pendeluhr in Wiedemanns Annalen IV, ©. 604. Die 
Akademie ging wahrfcheinlic an ben Streitigfeiten, welche zwifchen ihren 
Mitgliedern ausgebrochen waren, zu Grunde. 

17) Saggi di nat. esp. 1841, p. 168, Tentam. II. 129. Id 
eitire noch Burckhardt, ©. 41. 

18) Libri in Poggendorffd Annalen XXI, ©. 325 aus Annales 
de Chemie et de Physique. T. XLV. p. 354. Gegen Libri's Be 
weis traten übrigens Schouw (ſ. Mahlmann in Doves Repertorium IX. 
©. 639) und Arago (Annuaire du Bureau de Longitudes 1834) 
mit der Behauptung auf, daß in Zoscana feit ber Mitte des 17. Jahr⸗ 
hunderts die Sommer fühler und die Winter wärmer geworden feien, 
ohne jedoch and Libri's Zahlen den vollftändigen Gegenbeweis liefern 
zu Iönnen. 

19) Lambert, Pyrometrie ©. 19. 

20) Ehbenbafelbft S. 50. 

21) Fahrenheit, Philosophical Transactions No. 382. Vol. 
33. p. 78. Vergl. van Swinden, Dissertation sur la comparaison 
des thermometres. Amfterdam, ©. 48 ff. und Lambert a. a. D. 
©. 60 ff. 

22) Marwell, Theorie der Wärme, deutſch von Auerbach. Bres⸗ 
Ian 1877. ©. 34. 

23) Vergl. Poggendorff in Poggendorffs Annalen CLVIIL 
©. 352. 

24) Deluc, Recherches sur les modifications de l’Atmo- 
sphere. Geneve 1772. p. 336. Bergl. van Swinden a. 0.0. $ 31. 
©. 35. 

25) Halley, Philosophical Transactions 1693. No. 197. 
p. 650 ff. Vergl. Burckhardt a.a.D., ©. 47 und Poggendorff, 
Geſchichte der Phyſik. ©. 509. Letzterer ſpricht die Anfiht aus, Halley 
habe das Duedfilber nit als thermometrifhe Subftanz empfohlen. 
Sndefjen dürfte Burckhardt's Anficht die richtigere fein, daß er dies, aller- 
dings in bedingter Weife, hat. 

(618) 


46 


26) Musschenbroek, Introductio in philosophiam natura- 
lem II, p. 627. Ban Swinden a.a.D., ©. 47. Boerhave fchreibt 
in feiner Elementis Chemiae, p. 94: Dies fehr elegante Quedfilber- 
tbermometer, welches mir nach meiner Angabe ber erfindungsreiche D. ©. 
Fahrenheit verfertigte. Vergl. van Swinden, ©. 48. 

27) Kopp, Geihichte der Chemie, IV. Braunſchweig 1847. 
©. 173. 

28) Siehe dieſe Vorträge, Heft 416, ©. 13. 

29) Reaumur, Memoires de l’Academie de Sciences 1730. 
Vergl. Deluc a. a. 0. I ©, 359 ff. Lambert a. a. D. nimmt als den 
einen feiten Punkt auch die Temperatur des frierenden Wafjerd, den er 
aber durch Einhaltung gewiffer Vorſichtsmaßregeln bei feiner Beftimmung 
viel conftanter macht. 

30) Du Crest, Recueil de pieces sur les Thermometres et 
Baromètres par l’Auteur d’un Thermomètre universel. Bäle 1757. 
Bergl. Deluc a.a.0.1 ©. 315. . 

31) Deluc a. a. O. L ©. 330, Anmerkung. 

32) Das ſpecifiſche Gewicht des Duedfilbers ift 13,598, feine 
fpecifiiche Wärme nad) Regnault zwifchen 10—15° des hunderttheiligen 
Thermometerd 0,0283. 1 ccm braucht aljo 13,598 - 0,0283 = 0,3848 
Märmeeinheiten nur um 1° erwärmt zu werben. Diejelbe Rechnung er- 
giebt für Alkohol vom ſpecifiſchen Gewicht 0,959 unb ber jpecififchen 
Wärme 0,6017 die Zahl 0,5770. Der Quotient beider Zahlen ift 1,526. 

33) Luz, Volftändige und auf Erfahrung gegründete Beichreibung 
von allen jowohl bisher bekannten, als auch einigen neuen Barometern. 
Nebft einem Anhang feine Thermometer betreffend. Nürnberg und 
Leipzig 1784. Anhang ©. 36. 

34) Gehlers phyſikaliſches Wörterbuch, neu bearbeitet, Leipzig 
1839, Bb. IX, ©. 842. 

35) Nach freundlicher brieflicher Mittheilung des Herrn. Profeſſor 
Quincke in Heidelberg. 

36) Renaldini, Naturalis philosophia. Patavii 1694. T. III. 
p. 276. Bergl. Deluc I. ©. 286. 

37) Die bekannte Richmann'ſche Regel, welche befagt, daß die 
Wärme einer Miſchung von zwei Waffermengen von verfchiedenen Tempe⸗ 
raturen, welche in einem Gefäße von bekannter Wärme und Gewicht 
hergerichtet wird, gleich ift der Summe ber Probukte der Wärmen der 
Somponenten ihrer Mafien, und daß das Thermometer biefe Wärme 
anzeigen würde, wenn man ben Effekt ber Berührung mit der Luft 
berüdfichtigte. 

(514) 


47 


38) Histoire de l’Academie royale des Sciences. Annee 
MDCCH. Paris MDCCIV. p. 155 ff. 

39) Lambert, Pyrometrie ©. 29. 

40) Luz, a. a. O. Anhang ©. 47. 

41) Maxwell, a. a. O. ©. 44. 

42) Lambert, a. a. O. S. 29. Dieſer Idee gegenüber ift das 
Verdienſt Newtons den Eispunkt zuerſt mit Null bezeichnet zu haben, 
recht gering, vergl. hierüber auch Lambert a. a. D. ©. 59. Wenn Egen 
(Poggendorffs Annalen XI, ©. 278) es Newton ale Verdienſt an- 
rechnet, zuerft die Temperatur des fehmelgenden Schnees ale Fixpunkt 
gefunden zu haben, fo ift das eine unrichtige Webertreibung, wie ſolche 
zu Newtons Gunften die Gefchichte der Phyſik mehrfach zu rügen hat. 

43) Poggenborffs Annaln CXLVII, ©. 341. 

44) PDoggendorffs Annaln CXXIII, ©. 115. 

45) W. Thomson, Philosophical Magazine XXXIII, 1848. 

. 316. 
p 46) ... that a unit of heat descending from a body A at the 
temperature T° of this scale to a body B at the temperature 
(T — 1°) would give the same mechanical effect, whatever be the 
number T. 

47T) Sohmann in Schlömild’3 Zeitjchrift für Mathematik und 
Phyfik V, S. 24-39 und 96-131. Weinſtein, Inaugural-Differ- 
tation, Berlin 1881 und Metronomiſche Beiträge der Kaiſerlichen Nor⸗ 
mal-Aichungs-Kommiffion. 1881. Nr. 3. ©. 65—91. Bergl. Wiebe 
mann, Beiblätter zu den Annalen der. Phyfik und Chemie V. ©. 775. 

48) Bodenheimer, Deutfches Reichspatent Nr. 13208. Reſt, 
Deutiches Reichepatent Nr. 24435. 

49) Alt, Eberhardt und Säger, Deutfches Reichspatent Nr. 
28214. Schlöjfer, Deutſches Reichöpatent Nr. 21062. 

50) A. v. Dettingen. Ueber die Correction der Thermometer, 
insbeſondere über Befjeld Kalibrirungsmethode. Snaugural-Differtation. 
Dorpat 1865. 

51) Philosophical Transactione LXVII. PBergl. auch Luz. 
©. 26. 

52) Die Sormeln, welde Regnault (Memoires de l’Academie 
des sciences XXI, p. 225) und Kopp (Annalen ber Chemie und Phar- 
macie XCIV, ©. 262) gegeben haben, geben zu hohe, die von Holk- 
mann (Handwörterbucdh der Chemie VII, ©. 363) giebt zu Heine Werthe. 
Brauchbarer find die von Moufjon (Poggendorffs Annalen CXXXIII, 
S. 315) und die von Wüllner (mitgetheilt von Landolt in Unterjuchungen 

(515) 


48 


über die Dampftenfionen homologer Verbindungen. Akademiſches Pro- 
gramm. Bonn 1868) entwickelten. 

53) Egen, Poggendorffs Annalen XI, ©. 347. Joule, Memoirs 
of the Literary and Philosophical Society of Manchester, III. Ser. 
3. Vol. London 1868. 

54) Despretz, Observations sur le deplacement et sur les 
oscillations du zero du thermomttre à mercure. Annales de Ohi- 
mie et de Physique. I. S. T. LXIV. p. 312. 

55) Siehe Munde in Gehlerd phyſikaliſchem Wörterbud. IX. 
©. 921. 

56) Poggendorffs Annalen XL, ©. 46. 

57) Poggendorffs Annalen XI, ©. 353 md XI, ©. 33. 

58) Pernet, Beiträge zur Thermometrie. Carls Repertorium XI. 
©. 270. Wiebe, Ueber den Einfluß der Zufammenfeßung des Glaſes 
auf die Nahwirkungserjcheinungen bei Thermometern. Sitzungsberichte 
ber Königl. Preuß. Akademie der Wifjenfchaften zu Berlin XXXVL 
17. Suli 1884. ©. 844. 

59) Bernet, a. a. O. ©. 307. Die im Text erwähnte Formel 
heißt: 

c—-Y)t? 
T=t-c+ ( m 
wo T die gefuchte, t die beobadhtete Temperatur, c bie vor ber Beob- 
achtung gefundene Lage des Nullpunktes, y die Lage defielben nad) vor- 
angegangener Erwärmung auf 100° bedeutet, welche Beitimmung nur 
in größeren Intervallen nöthig ift. | 
60) Poggendorffs Annalen LXV, ©. 362. 
61) Wiebe, a. a. O., ©. 848. 





(516) 


Drad von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17a, 








JO 


iffenfanft ihre egttägt. 
herauſsgegeben poit 
ud. Virchow u und — Holdenborff. 
— — Nor... — 
XX. Serie, — 


(Heft 457 - 480 umfaflen®.) 


.—_. 10,8 -· ö 


Heft 471. 


Das geiftlihe Schauſpiel in Vüditalien. 


Bon 


Ch. Trede. 


GH 


KSerlin SW., 1885. 


Berlag von Gar! Habel. 


(C. ©. Lüderitg'sche Verlagsbuchhandluug.) 
33. Wilhelm-Etraße 38. 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 
| 
| 
| 
8 


——— — 


DU 58 wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. "WE 


In demfelben Berlage erjchien: 


Unſere vier Evangelien, 


erklärt und kritiſch geprüft 
von 


Dr. theol. Mori Schwalb, 


Brediger an der St. Martini-Kirche in Bremen. 


I. Das Evangelium des Matthäus. II. Tas Evangelium des 
Lucas. III. Tas Evangelium des Marcus. IV. Das Evangelium 
des Sohannes. 


Breis: Elegant brodirt 6 Mack 50 Af. 
Gebunden in engl. Leinen mit rothem Achnitt 8 Mark. 


Ueber das Werk äußern fidj: 


Die „Voſſiſche Zeitung‘ in Nr. 289 v. 25. Zuni 1885: Wir begrüßen 
in diefem Unternepmen eine echt proteftantiihe Arbeit, ein Befolgen des Gebotes 
„Korfbet in der Schrift“, das doch aber nicht heißt: „Binder Euch ſklaviſch an 
die Schrift“. Man könnte die Arbeit anch als ein Zeichen Des gefunden Rüd: 
ſchlags anſehen gegen die Beftrebungen, and allen in den Evangelien erhaltınen 
Erzählungen ein „Leben Jeſu“ zufammenzurenfen, may die Kritik gegen mandye 
evangeliihe Erzählung noch ſo bereinigt Einwendungen erbeben. Die allegortiche 
Erklärung, die k zeitweilig freilich übertrieben worden war, tft wieder in ihr 
Recht eingefeht; fie war die Erkiärungsmweife der älteften Kirde. Die Erzählung 
von der Verwandlung des Waflers in Wein 3. B., die auf der Hochzeit zu Kana 
vorgenommen worden fein fol, führt bei jedem Verſuch, einen geidhictliben Kern 
berauszuichälen, zu großen Beriegenheiten. Bon tem Wunder feibft abgeiehen, ift 
die Menge des durh das Wunder entftandenen Weines, etwa 600 Riter, unter 
den obwaltenten Umftänden unglaublih groß, und die Worte Zefu zu Maria 
„Weib, was habe ich mit dir zu ichaffen“, find, wie viel man daran auch deuten 
mag, von befremdender Schroffbeit. Ganz anders ftellt fi die Sadje, wenn man 
mit Schwalb in Maria die Perionification Israels fiebt, des Volkes, aus deflen 
Scope ter Weltheiland hervorgegangen iſt. Es gebrah an Wein, denn das 
Hochzeitsmahl lid zunächſt dem glaubend: und freudenleeren Religionsweſen der 
vordriftliden Zeit. Die fteinernen, an die Gefetzestafeln und überhaupt an die 
ftarren Formen des Indenthums erinnernden Gefäße will Zeind nicht zerbrechen 
und aud nicht unbenußt laſſen, er läßt fie füllen bi8 obenan. ine ſolche alle: 

oriihe Deutung bat mehr für fih, ale was frätere, nah Thatfachen fchreiente 
eiten als wirktihen Thatbeftand in diefer Erzählung haben finden wollen, und 
Zejn an Maria gerichtete Worte verlieren fo, als Abwehr des Alten durdy den 
neuen religidjen Geiſt, die Schärfe, die ihnen biiebe, wenn ſie ald von Perfon zu 
Derion aeinrochen anaelehen wärden. “in vielen ähnlichen Källen Iaflen Ach anf 


IS 


Das geifllihe Ichanfpiel 


in Süditalien. 


Bon 


Ch. rede 
(Neapel). 


GP 








v 
Serlin SW., 1885. 
Berlag von Carl Habel. 
(©. 8. Züderity'sche Verlagabachhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33, 


Das Recht ber Ueberfekung in fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


Im Jahre 1452, als auf ganz Deutſchland „Schmach und 
Schmerz“ innerer Fehden laftete und der Türke mordbrennend 
die Oſtgrenzen befjelben heimſuchte, unternahm Friedrich III, 
Kaifer des römifchen Neiches deuticher Nation, eine Vergnügungs- 
reife nach Italien und beſuchte den Hof des prachtliebenden 
Königs Alfonfo I. in Neapel. Bon diefem Beſuch erzählt ein 
Chronift große Dinge und erwähnt als bejondere Merfwürdig- 
keit, dab Alfonfo feinem Bafte zu Ehren in der Kirche 
St. Chiara ein Paſſionsſchauſpiel aufführen ließ, wobei 
aber nicht klar ausgeiprocdhen wird, ob dies ein wirkliches Drama 
oder ein pantomimifched Schaufpiel war. — Diejer Chroniften- 
Bericht ift der erite, welcher dad Norhandenjein geiftlicher 
Schauſpiele in Süditalten meldet. Wir erfahren ferner, dab 
Alfonso ſich die Aufführung ritterlicher und „chriftliher” Schau⸗ 
fpiele angelegen fein ließ, ſowie, dab er für die letzteren fidh 
Florenz zum Mufter nahm, wo die geiftlichen Schaufpiele — 
Myſteria — zur Medicäer-Zeit ihre Glanzperiode erlebten. 
Keinedwegs aber hat Florenz, da8 „Athen am Arno” jenen das 
Leben gegeben, ihre Wurzeln liegen in den ftilen Thälern Um⸗ 
briend!). Inmitten frommer Brüderfchaften, aus gemüthvollen, 
in der Volksſprache gedichteten Liedern der lebteren, Lauda ges 
nannt, bat fi) das geiftlihe Drama vom 14. Iahrhundert an 
naturwüchfig heraudgebildet, und von dort aus ſich im ganz 
Stalien verbreitet. In Sübditalien trat daſſelbe erft dann auf, 
als es in Deutichland bereits abftarb und fand dort, — am 
fpäteften auf Sicilien — eine jo Hebevolle Pflege und jo viel- 


feitige Ausgeftaltung, wie in feinem anderen Lande Europa's. 
xx 411. , 1? (519) 


4 


Was heutzutage von dieſem an Zweigen und Blüthen einft fo 
reihen Baum noch vorhanden ift, findet im Lande felbft wenig 
Beachtung, theilweiſe ſogar Mißachtung, genügt aber volls 
fommen, und die einitige Blüthenpracht Har zu vergegenwärtigen. 


I. Dürre Zweige und grüne Reiſer. 


Die Kirche St. Giovanni, neben der Piazza Carbonara?) 
in Neapel, ift ein durch Anhängſel mancherlei Art unregelmäßiger 
Bau. Bei Befichtigung der Anbauten kamen wir zu einem 
ziemlidy dunflen Gewölbe, und fanden erftaunt fi, als wir 
im Bordergrunde befjelben zwei in Lebensgröße aus Holz roh 
geſchnitzte Thiergeitalten erblidten, zur Linfen einen Eſel, zur 
Rechten eine Kuh, welche mit Staub bededt, und melancholiſch, 
zugleich aber äußerft gutmüthig anjchauten. Auf unfere erftaunte 
Frage erhielten wir von dem uftoden die Antwort, daß beide 
Figuren im hohen Grade „antif” jeien und in alten Zeiten all» 
jährlich zur Darftellung der Weihnachtögefchichte gedient hätten. 
Zugleich erfuchte man uns, etwas weiter in das Geheimniß jenes 
düſteren Raumes einzudringen. Da zeigten ſich manche arg 
beftäubte und beſchädigte Requifiten für die Weihnachtsbühne, 
welche einft in dieſer Kirche die flaunende Menge erfreute. Da 
ſahen wir freundliche Engel mit zerrifienen Gewändern und 
zerbrochenen Alügeln, fowie eine große durch überklebtes Stab» 
wer? bergeftellte Betlehemd-Höhle, die ſicherlich einft jehr ſchön 
war, nun aber alle Farben eingebüßt hatte. Der Cuſtode bes 
bauptete, daB in mandyen alten Kirchen der Stadt, etwa auf dem 
Boden, fidy dergleichen „antife" Dinge fänden, einft geichäßte 
Snventarienftücde, jebt aber dem Würmerfraße überlaffen. — 

Eine Reliquie des Weihnachtsſpiels hatten wir gejehen, 
einen Dürren Zweig von einem Baum, ber einft feine Aeſte 
über manches Land erftredte. 

Eine andere Reliquie haben wir entdeckt, aber nicht in fin» 


(520) 


5 


fteren Gewölben, ſondern mitten im hbeiteren, jonnbeglänzten 
Menjchenleben des Südens, nicht einen trodenen Zweig, ſondern 
einen frifehgrünenden Wurzelichößling, den der Baum des Weihe 
nachtsſpiels, ald er abzufterben begann, zur lebenövollen Er⸗ 
innerung hinterließ. Man bejuhe um die Weihnachtäzeit, 
welche auch im Süden eine „felige” und „fröbliche” tft, die 
Kirchen des Südens. Finden wir dort nur felten das einft all- 
gemein verbreitete Weihnachts-Spiel, das Hirtendrama, einft 
von fchlichten Perſonen unterer Stände dargeftellt, jo mangelt 
ein Drama dennoch Teineswegd. Figuren erleben heute die 
frühere Action lebender Perfonen. — Faft jede Kirche ded Sü- 
dend bietet alsdann der jchauluftigen Andacht und andächtigen 
Schauluſt ein figürliches Schaufpiel, fle verwandelt fich dann, 
wie ehedem, in ein Theater, wenn audy die Bühne nicht mehr, 
wie einft, fi) vor dem Hochaltar, fondern in einer Seitentapelle 
oder einem fonftigen Nebenraum befindet. „Il Presepio“, die 
Krippe, nennt das Bolt jened Zigurendrama, und diefer 
Name erinnert daran, dab einft jede Kirche eine wirkliche Krippe 
auf eine improvifirte Bühne ftellte, wo das Weihnachtsſpiel vor 
fi ging. Als das letztere faft überall aufhörte, blieb die Krippe, 
dieſe wollte das Volk nicht entbehren, um die lebtere aber 
gruppirten fi im Laufe der Zeit immer mehr Scenen und für 
Died gefammte Figurendrama blieb der Name: Krippe. Soll 
dies figürliche Drama, — oder fagen wir Figurentableau — 
volftändig fein, jo gehört dazu eine ſich um die Betlehemshoͤhle 
gruppirende Apenniniſche Berglandichaft mit malerifcher Zern- 
fiht, in derjelben eine Gruppe von Hirten, welchen ein Engel 
die Meiftasbotichaft bringt, eine andere, welche den Hirtenzug 
nach Betlehem vor Augen führt, und eine dritte, welche bie 
Ankunft der heiligen drei Könige nebft Gefolge zeigt. Dies 
waren bie wichtigiten Theile, reſp. Acte, des einftigen, allgemein 
verbreiteten Weihnachtöfpiels. Innerhalb diefed breiten Rahmens 
bewegen fi nun unfere Darftellungen je nad) Geihmad, nad 


(521) 


6 


Raum, fowie nad den Mitteln der betreffenden Kirchen, wobei 
natürlich Wetteifer und Brodneid ebenfowenig audgefchloffen 
dind, als bei dem uralten Weihnachtsſpiel. Die präcdhtigften und 
kunſtvollſten Prefepien ziehen das größte Yubliftum an, Eintritts« 
geld wird ebenjowenig gezahlt, als bei den mittelalterigen geift» 
lien Schaufpielen, nur ein Austrittögelb wird erwartet und 
beim Fortgehen willig in's Käftlein gelegt. Auch inſofern tft 
man von ber mittelalterigen Naivetät nicht gewichen, als die 
Handlung jened Figurendrama's nicht im fernen, unbelannten 
Lande ſpielt, fondern bier im Süden, weshalb das Hirtenvolt 
die biefige, zum heil noch jebt in den Thälern und auf den 
Bergen confervirte Tracht trägt. Nicht Künftler waren es, 
welche einft in den Kirchen im Weihnachtöjpiel agirten, und 
nicht Künftlerhände find es, welche heutzutage die Figuren und 
fonftigen Requifiten für unfer Preſepien⸗Drama liefern, aber 
eine feite Zradition hat fich in Neapel und Palermo gebildet, 
wo bei weitem die meiften jener Dinge hergeftellt werden. Sind 
bie DVerfertiger auch Feine Künftler, jo liefern fie doch prächtige 
Figuren, lebenswahr und lebensvoll, und zahlreiche Präfepien 
bat Verfaſſer bei feinen Weihnachtswanderungen geichaut, die 
ihm das Wort des Dichters ind Gedächtniß riefen: „Er goß 
auch Lieb und Glauben mit in die Form hinein”. — Wie im 
Mittelalter bei den geiftlihen Schaufpielen fid) zum Heiligen 
oft genug das Burleske gejellte, jo find aud die Figuren⸗Ta⸗ 
bleau’8 der Prefepien in den Kirchen von diefer Miſchung nicht 
frei. Unter den zahlreichen figürlichen Scenen mangelt jelten 
eine aud dem bäuerlichen Leben des Südens gegriffene, welche 
mit ergoͤtzlichem Humor eine Wirthshausgruppe darftellt. Die 
zahlreichen Wanderer, welche man über die Berge kommen fieht, 
find zum Theil ſchon im Vordergrunte der Bühne angelangt, 
und fiten auf hölzernen Stühlen am hölzernen Tiſch, fich er- 
quidend an Makaroni und dunklem Wein, den der Wirth in 
befannter pompejanifcher Flaſche (langer Hals mit zwiebels 
(529) 


7 


förmigem Bauche) kredenzt. Bauern, Priefter, Hirten, Mäöndhe, 
Männer, Weiber, Kinder halten dort Raſt, während allerlei 
Feder⸗ und Rüſſelvieh dafelbit fein Weſen treibt und fahrende 
Sänger mit Guitarre und Mandoline den Ohrenſchmaus bieten. 
Daß Prieiter und Mönche in diefer Wirthshansſcene komiſche 
Figuren bilden, verbietet die Kirche nicht, daß innerhalb ihres 
heiligen Raumes eine Wirthshausſcene dargeftellt wird, fchadet 
. ihr ebenfowenig, als dad befannte Ejeld- und Rarrenfeft 
im Mittelalter). Wie bereits im 14. Sahrhundert das geift- 
lie Drama aud dem engen Kirchenraum hinaus in's Freie 
trat, jo tft unſer figürliches Weihnachts⸗Schauſpiel, il Pre- 
sepio, längft in die Häufer gedrungen, fo daß man ruhig be- 
baupten kann: Es giebt im jüdlichen Stalien feinen Palaft und 
feine Hütte, in der fich dieſe Reliquie des uralten Weihnachts: 
ſpiels nicht fände. Der Prachtſaal eines Fürften wird alljährlich 
zue Bühne, angefüllt mit erwähnten Yigurenfcenen und iu ber 
Hütte des Armen mangelt dann eine fchlichte Krippe ebenfo- 
wenig, wie tagtäglich die brennende Lampe vor dem Bilde der 
Madonna. Cinzig in feiner Art ift ein Prefepio im Klofter 
St. Martino in Neapel, weldyes in. Hinficht lebensvoller Dar⸗ 
ftelung, Gruppirung, Bollftändigkeit, Größe nnd Figurenzahl 
Borzügliches leiftet. Im den Abruzzen richtet man die Figuren 
vielfach jo ein, daB fie fidy leicht verſetzen laſſen, was ein 
größerer Knabe unter entiprechendem Vortrage zu beforgen 
pflegt; in Galabrien bildet die „Krippe“ vielfach ein bewegliches, 
förmliched Puppen-Theater. In Palermo heißt noch hente eine 
Straße: Via de Bambinai, Straße der Bambino-Berfertiger, 
weil feit undenklichen Zeiten bajelbft die „Künftler" wohnen, 
welche den Bambino (Jeſuskind) für die Krippen aus Wachs 
u. |. w. berftellen. 

Aelter als das Weihnachtsdrama ift das Paſſionsſchau⸗ 
ſpiel. Als dieſes nach und nach aus den meiſten Kirchen ver⸗ 
ſchwand, blieb in letzteren eine Reliquie deſſelben zurück, welche 


(538) 


8 


das Volk des Südens fi ſchwerlich entreißen laffen wird, und 
an der e8 mit eben ſolcher Liebe hängt, wie an feinen Prefepien. 
Wir meinen die jogenannten Sepoleri, Gräber, figürliche Dar⸗ 
ftellungen aus dem Schlußalt der Paſfionsgeſchichte. Alle 
Gegenftände, deren einft die Schaubühne innerhalb der Kirchen- 
mauern für ihr theils ftummes, theild redendes Paſſionsſchau⸗ 
fpiel bedurfte, findet die andächtige Menge daſelbſt während der 
ftillen Woche bid auf dem heutigen Tag, und Verfaſſer hat im . 
Laufe der Jahre feiner Beobachtung bemerkt, dab man jebt 
immer mehr darauf ausgeht, theatraliſchen Effekt zu erzielen. 
Wo ed der Raum erlaubt und die Mittel geftatten, wird der 
Salvarienberg mit den 3 Gefreuzigten, fowie mit anderen oft 
lebendgroßen Figuren ſceniſch dargeitellt*). Zu diefem ftummen 
Schauspiel wallfahrtet an gewillen Tagen die andächtige und 
Ichauluftige Menge ebenfo, wie fie früher zu dem durch Per» 
onen dargeftellten Scenen wallfahrtete. In Neapel, Palermo 
und anderen großen Städten ift an zwei Tagen der ftillen 
Woche der Wagenverkehr in den Hauptitraßen unterjagt, ein 
Verbot, welches an jene Sabrhunderte (das 16., 17. und 18.) 
erinnert, in denen die Sitte herrichte, daß ſceniſche Darftellungen 
aus der Pafliondgeichicdhte auf mächtigen Karren durch Die 
Straßen gefahren wurden. Als das Paffionsichaufpiel ſich aus 
vielen Kirchen des Südens entfernte, und ſich im Freien weit 
großartiger entfaltete, wurden überall bei den Städten Cal⸗ 
parienberge errichtet, welche bis auf den heutigen Tag an ver: 
gangene Zeiten erinnern. In Sicilien hat noch jeßt jede Stadt 
vor den Thoren ihren Galvarienberg, in Neapel heißt ein ans» 
ſehnliches Stadtquartier: Monte Calvario, ein Name, welcher 
und jagt, welchem Zweck jened weite jet mit Häufern bedeckte 
Duartier in früherer Zeit diente Wie jehr das Bolt an foldhen 
Reliquien hängt, haben wir auf Iſchia beobachte. Das Erd 
beben vom Suli 1883 hatte den dortigen Galvarienberg arg 


zerftört, aber fein Monat verging, da hatte man Alles wieder 
(5%) 


9 


einigermaßen in Stand gejebt, und dies in einer Zeit, ald man 
dafelbft in Zelten, Laubbütten oder unter freiem Himmel 
campirte. 

Die früher in den Kirchen bes Südens, ſowie unter freiem 
Himmel allgemein üblichen geiftlihen Schaufpiele, jtumme und 
tedende, entlehnten ihren Stoff nit nur aus der bibliichen 
Geſchichte, jondern auch aus der Heiligenlegende. Als diefe 
Aufführungen an den meiſten Stellen den Kirchenraum ver» 
ließen, haben auch fie eine Erinnerung in demfelben hinter» 
laſſen. Als ſolche Reliquien find die beweglichen, lebensgroßen 
und meift lebensvollen, bunt befleideten, durch theatralifchen 
Affekt ſich auszeichnenden Figuren zu betrachten, deren ficht- 
bare, bemalte Theile entweder aus Wachs, oder einer anderen 
geeigneten Maffe gebildet find. Weder im nördlichen, noch im 
mittleren Stalten kennt man dieſe Produkte des in feiner Art 
ſehr geſchickkten Handwerks, im füdlichen Italien dagegen finden 
fie fih in allen Kirchen, in manchen dubenbweife, zum Xheil 
binter Glas. Nur hervorragende Kirchen, ald 3. B. der Dom 
in Neapel, halten fih frei von folden „Reliquien“, wurden 
doch auch in den Domen nur jelten oder gar nicht Heiligen» 
Ihaufpiele aufgeführt. Manche diejer Figuren fommen nur an 
demjenigen Tage zum Borfchein, an welchem früher Scenen aus 
dem Leben des betreffenden Heiligen zur Darftellung gelangten, 
nämlich an dem Ehrentage defjelben, und dann bilden fie einen 
Erfatz für das einftige Schaufpiel. Am Feſt des heil. Rochus 
waren wir in Fratta maggiore, einer ber vielen Städte Cam⸗ 
paniens, und fahen in der Kirche eine buntbemalte lebensgroße 
Figur dieſes Schubheiligen. 

Man jah ihn im fchreitender Stellung, mit Pilgertafhe und 
Pilgerftab, neben ihm befand ſich ein Hund, Andeutung einer 
Landichaft bildete den Hintergrund. Da hatten wir daB Leben 
bes Heiligen, wie e8 mittelalterliche Legende und Dramatit dar» 


ftellte, des erbarmungsvollen Wunderthäters, der mit feinem 
(535) 


10 


Hunde Stalien durdywanderte und in einem Peſtjahr Kranke ges 
fund machte. Wie einit das Leben der Madonna dem geift- 
lichen Schaufpiel in hervorragender Weife Stoff verlieh, fo if 
ihre lebensgroße, meift tbeatralifchsaffektirte Figur bunt koſtü⸗ 
mirt, in den Kirchen, die am häufigften fich zeigende Neliquie 
früherer Schaufpiele und eine Erinnerung an letztere. So oft 
wir an unzähligen Stellen ihre Figur in der verjchiedenften 
Stellung und Faſſung erblichten, war ed uns, als jähen wir das 
Fragment eined Drama’d vor und. In der Pafftondzeit kommt 
ihre fchwarzgefleidete, mit dem neapolitanifchen Schleier ver« 
ebene Figur als die Mater dolorosa zum Vorſchein, in 
Geſtalt einer trauernden meapolitaniichen Matrone, im ihrer 
mit Ringen reichlich verjehenen Hand das Spitzentuch, welches 
nach uralten Brauch einer foldhen bei feierlichen Gelegen- 
beiten niemals fehlt. Im Monat Mai, welcher jeit hundert 
Zahren der Maria geweiht ift, fehen wir das Schaufpiel 
ihrer bimmlifchen Erhöhung vor und, wenn fie unter einem 
purpurnen Thronhimmel majeftätiih mit der Krone ver 
jeben, zur Seite des Chores im Hauptichiff dafteht, wo die 
Schaaren der Gläubigen ihr Blumenkränze zu Füßen legen. 
Deim Zeit der Fiſcher in Sorrento jahen wir die Schubpatronin 
der genannten Zunft, die Madonna del Soccorio, mit der Keule 
in der Hand, zu ihren Füßen ein von ihr befiegtes fchau« 
derhaftes Ungethüm, ein lebendes Bild, oder richtiger Figuren- 
tableau, eine Reliquie aus einer früheren dramatiſchen Pro» 
ceifton, welche die Stege der großen Königin ſceniſch darſtellte. 
Wäre die allbefannte Gefchichte von Lourdes vor einigen Jahr⸗ 
hunderten, oder auch im vorigen Sahrhundert gejchehen, Io 
wäre fie fidherlih in einem Drama verwerthet worden. Ein 
Anſatz dazu iſt im einer großen Kirche Neapels vorhanden, 
wo man eine prächtige Feljengrotte und in derjelben die Bäuerin, 
fowie die Madonna erblidt, eine mit großem Geſchick durch 


lebensgroße Figuren dargeftellte Scene. Diefelbe Scene, noch 
(53%) 


11 


theatraliſcher und mit umfangreicher Scenerie dargeſtellt, fanden 
wir im Garten des Kloſters der barmherzigen Schweſtern in 
Neapel. 

Wenn das mittelalterige Schauſpiel Himmel und Erde den 
Zufhauer vor Augen führte, fo ward dabei die Unterwelt 
mit ihren Bewohnern nicht vergefjen. In diefer Hinficht müffen 
wir eine Reliquie erwähnen, welche wir ebenfalld nur in dem 
nad) tbentralifcher Darftelung fo bdurftigen Süden gefunden 
haben. In zahlreichen Kirchen fahen wir figürliche Darftellungen 
.von Scenen and dem Purgatorio (#egfeuer), robe Machwerfe 
faft immer. Aus den rothen Flammen ragen nadte Menſchen, 
die Hände flehend emporftredend, und biöweilen wird diefe figüre 
liye Scene durch die Madonna delle Grazie vervollſtändigt, 
weldhe den Flehenden hülfreich ihre Hand entgegenftredti. Sn 
einiger Hinficht erinnern diefe Scenen auch am jene früher bes 
liebten, ebenjo großartigen als graufigen öffentlichen Schanfpiele, 
weldhe den Triumph des Todes zum Gegenjtande hatten. Solche 
ſtummen Scenen, dramatilche Procejlionen, wurden vor Jahr⸗ 
hunderten in Neapel und Sicilten dargeftellt, wo die Jeſuiten 
in ſolchen Schaufpielen dad Menjchenmöglicye leifteten und bie 
Herrſchaft der Spanier diefelben beförderte.°) 


II. Das PBroceffions- Drama. 


Im mittleren und nördlichen Italien find die Proceffionen 
an ben meiften Stellen verfchwunden, im jüdlichen Italien das 
gegen, Sicilien eingeſchloſſen, floriren fie heutzutage mehr, als 
vor 20 Sahren, nehmen an Zahl und Pracht zu und behaupten 
ihren uralten Charakter. Jede feftlidhe Proceifion ift ein 
Scdaufpiel, wobei died Wort nicht nur im allgemeinen Sinn 
einer Schauftellung, fondern im ſpeciellen Sinn einer drama 
tifhen Handlung, einer scena muta (ftummen Scene) genommen 


fein will. Ecenen von echt bramatifchen Charakter waren e3, 
(527) 


12 


weldye die Zeit der Renaiffance bei feierlichen Gelegenheiten 
barzuftellen liebte, wir meinen die fogenannten trionfi®), von 
denen wir aud Florenz, Rom, Mailand, Neapel Beichreibungen 
befigen. Gewiſſermaßen hiftoriihe Schaufpiele waren ed, wenn 
man 3. DB. den Triumph des Cäfar oder des Auguftus vors 
führte. Diefen trionfi entiprehen die heutigen Feſtpro—⸗ 
ceffiomen ded Südens an den Ehrentagen der Heiligen. Welt 
liche Schaufpiele bedürfen der Theaterzettel, welche und mit dem 
Inhalt der erfteren, der Rollenvertheilung und anderen willend- 
werthen Dingen befannt machen. Solche Zettel, oder befjer 
Niefenplacate, fehlen dem geiftlichen Feſtſchauſpiel nicht, und 
biefelben dienen zugleich als eine Art Commentar, weldyer unjere 
oben ausgeiprochene Behauptung von der Grundidee diefer Pro- 
ceiftion beftätigen. Der Heilige felbft befindet fich (um mit ſolchem 
theatraliſchen Feftprogramm zu reden) im Eimpireo (Himmelreid)), 
im Corte celestiale (bimmlifcher Hofftaat), wo er Taumaturga 
(Wunderthäter), ald der Divus Heros (der vergöttlichte Held), 
als Schubherr waltet. Seine Rolle wird in der Procejfion von 
ber lebensvoll gebildeten und entſprechend befleideten lebens» 
großen Statue geipielt, dem Volke fällt die Rolle der Elienten 
zu, welche ihre Bittichriften (jo jagt der Zettel) dem Santo 
darreihen. Wie im fait allen geiftlichen Dramen des Mittel 
alter8 einer auftritt, der den erläuternden Prologos fpricht, fo 
fehlt dafjelbe auch jenem Proceffionddrama nicht, wir meinen 
den Panegyricud ded Kanzelrednerd.”) Das gefammte Schau: 
ipiel aber mit allen feinen Haupt und Nebenrollen hat zu 
feinem Gegenftand und Inhalt den Triumph des betreffenden 
Santo. Sogar der die dramatische Handlung erläuternde und 
begleitende Chor fehlt nicht, er wird gebildet von fchleiertragen- 
ben Weibern, deren eintöniger Lobgeſang mit jchmetternder 
Trompeten- und Poſaunen⸗Muſik abwechſelt. Died Drama tft 
in Hinfiht feiner Idee und feiner Hauptbeftandtheile überall 
— in Sampanien, Calabrien, Sicilien — dafjelbe, der Unter- 
(628) 


13 


ſchied beiteht nur in dem größeren oder geringeren Pomp 
und in der größeren oder Fleineren Zahl von Neben-Scenen, 
welche fih um die Haupticenen leicht und natürlich gruppiren. 
Der ein naives Schaufpiel diefer Art jehen will, begebe fich 
nad Capri, um den Triumph der St. Coftanzo zu fchauen, 
oder nah Iſchia, wo man im Sabre 1885 ald Zeichen 
neuer Lebensfreude der heiligen Reſtituta das alte, vielgerühmte 
Procelfionsdrama aufgeführt hat, oder nad) Soccavo, einem 
Städthen am Zub bed berühmten Klofterberges Camaldoli, 
um dort St. Pietro und St. Paolo an ihrem Chrentage, 
mit der Schärpe eined Generals geſchmückt, agiren zu fehen, 
oder nach Sichlien, wo in der Proceifion vielfach der Xorbeer 
eine Rolle fpielt und fleinen Mädchen die Rolle von Engeln 
anvertraut wird. Großartiger wird das Schaufpiel, wenn ber 
betreffende Santo in weitem Umfang Ruhm und Anhänger 
befitt. Dies gilt z. B. vom St. Mätthäus, dem Schußpatron 
der Stadt Salerno, mehr nody von St. Nicolaus in Bari, zu 
defien Zriumpbichaufpiel die Frommen eine Reife von zehn, 
zwanzig Meilen nicht ſcheuen. Unübertroffen fteht Sicilien da, 
wo, wie im gelammten Süden, jede Stadt und jeded Städtchen, 
mit reichſtem Wechſel der Scenerie und Ausftattung alljährlich 
jenes Schaufpiel aufführt und die Begeifterung impofante Dinge 
leiſtet. Wir wollen nur Catania, der prächtigen, oft heimge- 
ſuchten Stadt am Fuß des Aetna, fowie Palermo erwähnen. — 
Eine großartigere Scenerie, ald Catania mit feinen Paläften 
und feinem Aetna im Hintergrunde bietet, kann fich die heilige 
Agatha für das Schaufpiel, welches die Cataneſen alljährlich im 
Februar diefer ihrer hochgefeierten Schußpatronin zu Ehren und 
fich felbft zur andächtigen Freude aufführen, nicht wünſchen. 
St. Agatha, deren berühmter Schleier das Palladium der 
Stabt bildet, deren Rolle auch hier von ihrer auf einem 
Triumphwagen gefahrenen Statue gefpielt wird, erſcheint ald 
die Königin in ihrem Neid. Dargeftellt wird, wie man in 


(539) 


14 


Sieilien von allen folden Schaufpielen jagt, ihr Viaggio, d. h. 
Reife, d. 5b. ihr Triumphzug. Dbenan aber ſteht in Gicilien 
das Zriumphdrama der St. Rolalia in Palermo. Kein rös 
miſcher Triumphator hatte je einen Triumphwagen aufzuweifen, 
wie den, auf weldem ihre Niejenftatue, von etwa 40 weißen 
Ochſen gezogen, daher fommt. In der That handelt es fih um 
ein unvergleichliche8 Schaufpiel, wenn wir der fceniichen Pracht 
unzähliger Zriumphbogen, der großartigen Beleuchtung, bes 
grandiofen Feuerwerks gedenken und in einem Meer von Lidht 
die mit Gold gefticten Gemwänder der Heiligen in einer Weife 
ſchimmern fehen, daß wir es leicht erflären können, weshalb das 
Bolt diefe ihm überirdifch vorkommende Erſcheinung ald den 
„goldenen Berg” bezeichnet. Dom Lichtmeer ummwallt wird fie 
der frommen Schauluft ded Publicums, welches unbewußt eine 
Role ald Mitipieler in diefem Drama übernimmt, zu einer 
Himmeld-Grjcheinung, und kehrt, wenn die lehten Wunder bes 
Feuerwerks den thentralifchen Schlußeffeft herbeigeführt haben, 
dem Auge entichwindend, gleihfam „ad verticem summi 
Olympi“, zum Gipfel des erhabenen Olymp, zurüd®). 

Ein ſolches ZTriumphichaufpiel wird in diefem feinem Cha- 
rafter durchaus nicht geichädigt, wenn die Rolle des betreffenden 
Santo lebteren bisweilen in feiner vollen Menſchlichkeit zur 
Erſcheinung kommen läßt. So war 3.3. der heilige Antonius 
von Padua, in Neapel biß heute hoch geehrt, bei Lebzeiten ein 
Bettelmönd, und als ſolcher erfcheint und agirt er, wenn bie 
mit dem Gewande des DBettelmönches bekleidete Statue in 
lebendvoller Weiſe jeine Rolle fpielt, den Kapuzinern und 
Franziskanern gleich die Häufer betritt, in die weiten Höfe 
hineingetragen wird, und dort, wie einem armen frate gebührend, 
Gaben empfängt, die man in feine Pilgertafche, oder in feine 
nach hinten niederhängende banfchige Kapuze ſteckt. Eine 
eigenthümlih dramatifhe Wendung wird der Procefflon zu 


Theil, wenn zwei Heilige verabredetermaßen einander begegnen 
(530) 


5 

und begrüßen, wie dies alljährlich bei Neapel zwilchen der Marta 
und ihrer legendenhaften Mutter, der St. Anna ftattfindet, ſo⸗ 
wie auf Sicilien zwilhen St. Sebaftian und St. Rochus, 
welcher bei der Begegnung einander durch Berneigung gegen 
feitige Achtung bezeigen, oder wenn, wie wir in Sampanien an 
mehreren Stellen, 3. B. in Capua und Nocera beobadıteten, 
ein Santo dem anderen für fürzere Zeit einen Beju ch abitattet. 
Mit einem folhen Beſuch ift auch die Proceffion des St. Ja⸗ 
nuarins, bed hochberühmten Patrond von Neapel, verbunden, 
welcher alljährlich kurze Zeit in der Kirche der heiligen Clara 
weilt, die ſchon lange Zeit vor jenem ded Amtes einer Schuß« 
heiligen wartete, deren Glanzftern aber vor dem Sonnenfdein 
deö genannten Taumaturga erbleichen mußte. 

Wie fehr die Maſſe ded Volles an jenem Schaufpiel des 
Trionfo hängt, zeigte fi zur Zeit der Cholera 1884. Während 
man im mittleren und nördlichen Stalien dem aus bygieinifchen 
Gründen erfolgten Proceffiond-Verbot ruhig Folge leiftete, er 
regte dafjelbe im Süden an zahlreichen Stellen wilden Aufruhr, 
wobei da8 Bolt, im Widerftand gegen die bewaffnete Gewalt, 
in die Kirhe drang und die Statue jeined Heiligen im 
tumultuöfen Triumph von dannen trug. Gridütternde Schaus 
Ipiele bot Neapel um die Mitte September genannten Jahres, 
als der „Triumph ded Todes“ zur fürdhterlichen Wirklichkeit 
geworden war, und das arme Boll, von Scenen bed Graufens 
umgeben, menſchlicher Hilfe mißtrauend, zu feiner „großen 
Mutter" feine Zufluht nahm. Da ſah man die lebendgroße 
Statue der Mater dolorosa fich durdy die Straßen bewegen, 
vor, neben, hinter derjelben ihre geängiteten, in zerriffene Ge«- 
wänder gefleideten Kinder, die an der Mutter Seite fi) geborgen 
wähnten vor dem Senjenhieb des fürdhterlihen Knochenmannes, 
und die mit ihrem aufgelöften Haar, ihren Dornenfränzen auf 
bem Haupt, Angefiht und Bruft fich fchlagend, ein lebendes 


(531) 


16 


Bild aus düfterer Zeit des Mittelalter darboten, als das Mi- 
serere der Flagellantenzüge in Stadt und Land ertönten. 

An der Spite der „Coelites“ (der Himmlifchen), de 
„Corte celeste“ fteht die Regina Coeli, die Königin des Him⸗ 
mels, die Madonna, die Berwalterin aller himmliſchen Gnaden⸗ 
Ihäte, für ihre Verehrer der Morgenitern und Abendſtern, bes 
grüßt mit dem Worte: Grub Dir, Gnadenreidhe, oder mit 
Liedern wie jened: Ave, maris stella, jet gegrüßt, Stern bed 
Meeres! Im Eultus des Südens, wo immer nody im großen 
Ganzen die Kirche ein naiv gläubiges Volk beherrſcht und be= 
friedigt, nimmt die Himmels-Königin eine centrale Stellung 
ein, welche auf dramatifche Weife in den Proceffionen zur Er- 
ſcheinung gelangt. Berühmt war in Neapel zur Griechenzeit 
das Schauspiel des Fadellaufd zu Ehren der Parthenope, aber 
was iſt jener im Bergleih mit dem ‚pomphaften Drama, in 
welchem der Madonna die Hauptrolle zufällt? Bejuchen wir am 
zweiten Oftertage das freundliche, weinreiche Städtchen Marano 
in Campanien. Bier Wochen hindurch wird dafelbft in einer 
Kirche von kunſtgeübten Händen an der Herftellung des Trinmph- 
farrend der Himmeld-Sönigin gearbeitet, und’ derjelbe mit einer 
großen Anzahl von Figuren, meift allegorifcher Art, verjeben. 
Bon ſechs weißen Ochſen gezogen tritt am Feſttage dies then- 
traliſche Feftgerüft ins Freie, ohne daß man fofort die Madonna 
erblidte. Sie fteigt erit, wenn jener im Sonnenfcein ftrahlende 
Prachtkarren die Kirche verlafjen hat, langſam durch eine Bor 
richtung gehoben, auf einem auf jener Karrenbühne befindlichen, 
fünftlich gebildeten Felſen hervor, langjam, majeftätifch, biö fie 
endlich in ihrer vollen Pracht und Schöne fi den Taufenden 
zeigt, welche von nah und fern berbeiftrömen, um dies Schaur 
ipiel zu jehen und in dem num folgenden dramma del trionfo 
mitzuwirten. — Ein ähnlidies Schaufpiel mit größerem Pomp 
und umfangreidherer fcenifcher Ausſtattung bietet um die Pfingft« 
zeit aljährlih die Stadt St. Giugliano. Genien des römifchen 


(832) 


17 


Heidentbums und die Eyangeliften bes Chriftenthums, Delphine 
der Venus und allegorifche, der Bibel entlehnte Geftalten bilden 
anf dem Folofjalen Zriumphlarren den Hofftaat der Himmels⸗ 
koͤnigin, maleriſche Trachten der Prieſter und Brüderjchaften, 
ſowie der als geflügelte Engel gekleideten Mädchenſchaar erhoͤhen 
den theatraliſchen Effect. Welche Scene dieſem trionfo einge⸗ 
flochten wird, werden wir ſpäter ſehen. — Durchwandern wir 
den Süden Italiens, ſo ſchauen wir überall ähnliche Scenen, 
die aus dem tiefen Bedürfniß des am Sinnlichen klebenden 
Volkes, welches ſein Heiliges und feine Heiligen vor Augen 
haben und in Action begriffen jehen will, hervorgegangen find. 
Die fpanifche Herrichaft brachte ein Uebermaß von Prunf und 
Pracht in den Marienkultus, und mehr, al8 anderswo, bat fih 
dDiefer Charakter in dem abgefchloffenen Sicilien bis zum 
heutigen Tage erhalten. ine ſpäter zu behandelnde Art des 
geiftlichen Schaufpiels führt und wieder zur Madonna zurüd?). 

Haben wir joeben tm Allgemeinen den dramatiichen Cha- 
rakter der Proceifionen erkannt, fo treten uns jebt foldye von 
befonderer Art entgegen, in denen wir den Begriff des Drama’d 
in größerer Crweiterung vor uns erbliden. Drei Zälle find 
möglih: 1. Außer und neben-der dramatiſchen Pro— 
cejfton werden theatraliſche Scenen, um den Effect der erfteren 
zu erhöhen, bargeftellt, oder 2. die Proceflion befteht aus 
fcenifhen Gruppen, welde fich fortbewegen, reip. unterwegs 
wiederholen, oder 3. die Proceffion ſelbſt ift die ſeeniſche 
Darftellung einer Begebenheit. Bon allen brei Arten 
zeigt ums der Süden folden Reichthum, daB wir nur bei ben 
Hauptfachen verweilen dürfen. — Stets handelt es ſich bier um 
ftumme Scenen, wie feither. 

Außer und neben der Proceſſion dramatiſche Scenen zur 
Aufführung zu bringen, war einft in Spanien allgemeine Sitte. 
Es handelte fi dabei um dad Frohnleichnamsfeſt, an wel- 
chem nad) katholiſcher Satzung durdy Entwidelung ‚grobarligen 


xX, 471. (688) 


18 


Pompes die Siegeöherrlichfeit der Kirche vor allen Dingen in 
der Proceifion fich barftellen jol. Zur Erhöhung des Glanzes 
ber lebteren geſchah die Aufführung der unter dem Namen 
Autos sacramentales befannten Schaufpiele, in denen die dra⸗ 
matiſche Dichtung der Spanier jo Großes geleiftet bat. "Ein 
Salderon, ein Zope de Vega bat auf diefem Felde unvergäng- 
lihe Lorbeeren gepflüdt. — Diefe Frohnleichnamsſchau⸗ 
jpiele wurden unter der ſpaniſchen Herrichaft in ben Süden 
Staltend importirt, faßten aber bier feinen feften Fuß. Der 
ſpaniſche Vicelönig, Peter von Zoledo, wollte Neapel auch mit 
der Inquiſition und dem Scaufpiel der ſpaniſchen Autodafé's 
beglüden, jcheiterte aber mit feiner Bemühung an dem %elfen 
des einmütbigen Volkswiderſtandes, und nur für kurze Zeit 
hielten fich in genannter Stadt die von demjelben importirten 
Stierfampfichaufpiele. Weshalb es den ſpaniſchen Autos sacra- 
mentales nicht beſſer erging, als lebteren, erhellt leicht aus dem 
Charakter derfelben. Sie waren dem Bolfe allzu — — ſpa⸗ 
nifh. Die Allegorie bat in denfelben eine Herrichaft, welche 
jene Dramen dem Volke durchaus unverftändlich machte. Länder 
und Geifteöfräfte, Tugenden und Lafter, Jahreszeiten und Irr⸗ 
lehren, bibliihe und mythologiſche Perfonen treten in jenen 
Dramen auf der Bühne auf, und fordern vom Yublicum ein 
gereiftes Denten. Das Volt in Süpditalien aber will im Schau- 
fpiel nicht denken, es will ſehen und fi an Geftalten von 
Fleiſch und Blut erfreuen. In großartigen ftummen Schau- 
ipielen, bei der äußere Pracht die Sinne feflelt, bat man fi 
auf Sicilien bis heute auch allegorifche Perſonen gefallen 
laffen, aber von Autos sacramentales beim Frohnleichnamsfeft 
ift dort Feine Spur mehr vorhanden. Eine leiſe Erinnerung 
an diejelben entdecten wir vor Sahren in der Stadt Torre del 
Greco am Fuß des Veſuv, wo am genannten Feſt neben ber 
pomphaften, farbenbunten Proceffion ein Schaufpiel geboten 
wird, welches fich ſchwer beichreiben Yäßt und ſchwerlich irgendwo 


(534) 


19 


jeineögleihen hat. Jene früheren Pleinen Schaubühnen (Altäre 
genannt) neben den von der Proceifion zu palfirenden Straßen, 
beftimmt für die Darftellung biblifcher Scenen, find längft in 
phantaftiiche, farbenprächtige, mit Ziguren und Emblemen an- 
gefüllte Prachtbauten, großartige Tempel, Thürme, Paläfte ver- 
wandelt, die in ihrer nächtlihen Beleuchtung einen märdhen- 
haften Effect ausüben. Im verfloffenen Jahre zählten wir ihrer 
ſechzig. Die Darftellung biblifcher Scenen tft faft gänzlich ver- 
ſchwunden, und fanden wir im vorigen Sahr vor einem jener 
„Altäre” nur eine einzige diefer Art, nämlich die befannte 
Scene: Das Saftmahl des Belfazar!®), eine lebensvolle 
aus Vebendgroßen Figuren gebildete Gruppe, in der fi) die Ge⸗ 
ftalt Daniel's, welcher auf die geheimnißvolle Wandinfchrift 
binweift, auszeichnete. Als in Torre del Greco die einft üb» 
lihe Darftellung bibliſcher Scenen aufbörte, fanden lebtere eine 
Herberge in den Kirchen, wo die Kunft der Blumen⸗Moſaik⸗ 
Malerei geradezu Staunenswerthes in Xeppichbildern leiftet, 
welche ganz allein aus fein zerichnittenen Blumenblättern her- 
geftellt werden. — In Scanno, einem Städtchen der Abruzzen, 
dauern die Frohnleichnamsſchauſpiele in Geftalt von lebenden _ 
Bildern noch heute fort. Jene Prachtbühnen an der Straße 
beißen dort feltfamerweife Sepolert, und auf denjelben fieht man 
3. B. das Opfer Abrahams, die Verlobung der Maria u. |. w. 

Faffen wir ferner diejenigen Proceiftonen ind Auge, in 
denen fich bewegliche Gruppen, lebende Bilder in meift größerer 
Anzabl befinden, jo iſt dies Die ältefte Form des geiftlichen 
Schauſpiels, in weldyer dafjelbe in Stetlien auftritt. Im ber 
älteften Zeit handelte es fich dort um lebende Bilder aus der 
Paſſionsgeſchichte, erft Ipäter traten hinzu die sacri testamenti, 
d. h. Scenen aus dem alten und neuen Zaftament, endlich 
lebende Bilder aus der Heiligen » Legende. — In Sicilien er- 
hielten ſolche Proceſſionsſchauſpiele den Namen: Dimustranzi, 


und die fcenifchen Gruppen wurden Misteri genannt, fei es, 
2° (535) 


20 


daß lebende Perjonen agirten, ſei es, daß man fich mit lebens» 
großen Figuren begnügte12). Sm vorigen Iahrhundert, von 
Jeſuiten und Dominikanern begünftigt, erreichte diefe Art geift« 
lichen Schaufpiel8 den Gipfelpunft ihrer glanguollen Entwidelung 
und fand fi im faft allen großen und kleinen Städten der 
Inſel. Eine große Zahl von Einzelberichten auß dem acht⸗ 
zehnten Sahrhundert ift vorhanden, Referate, welche den Zu- 
ſchauern zugleih ald Commentar dienten. Wer diefe Referate 
lteft, muß über mancherlei ftaunen. Selbſt in kleineren Städten 
zählte die Zahl der Mitipieler nach hunderten, überjchritt fogar 
die taufend. Man ftaunt über die Menge, Großartigkeit und 
Künftlichkeit fcenifcher Vorrichtungen, ſowie über die Gegenftände, 
deren Darftellung ermöglicht wurde, nicht minder über Die 
Koften der Requifiten und Koftüme. — Da gab e8 gigantiſche 
Walfiſche für die Sonad-Scene, Klöfter und Paläfte, gegen 
Saracenenwuth von einem Heiligen geihügt, Bethlehemsgrotten 
und Pilatuspaläfte, fowie umbegreiflihde Majchinerien, um bei 
der Weltichöpfung effectvo zu wirken. Da batte man Bors 
richtungen erfunden, um hunderte von Marterfcenen der ſchauder⸗ 
volliten Art, Hinrichtungen eingeichloffen, in voller Natürlichkeit 
barzuftellen. -Wir wundern uns über das Gemiſch von Heiden» 
thum und Chriftenthbum, Mythologie und Bibel, mehr aber noch 
über die endlofe Menge allegoriicher Geftalten, deren Mafjen- 
baftigfeit an die Autos sacramentales der Spanier erinnert. — 
Als Perſonen traten auf 3. B.: Tod, Peſt, Hunger, Krieg, 
Allmacht, Sahredzeiten, Härefie, Göhendienft, Weisheit, Rath, 
die Slemente, die zwölf Glaubensartifel, Emigfeit, Himmel und 
Erde, Tugenden und Lafter aller Art, der göttliche Zorn, das 
Erdbeben u. |. w. Bon Anfang unfered Iahrhunderts an hat 
die Zahl dieſer Procejfionsdramen bedeutend abgenommen, 
fih aber doch an manchen Orten bis in die neuefte Zeit er» 
halten, namentlich in folchen, welche abjeit8 von der Heerſtraße 
liegen. — In Deutſchland wandert man alle zehn Jahre nad 


(536) 


21 


Oberammergau, in Sicilien nah Nicofia, um das großartige 
Paſſionsſchaufpiel dajelbit zu fehen, welches aber bort ſel⸗ 
tener, al8 in Oberammergau zur Aufführung gelangt. Nicofia, 
eine einfame, hoch gelegene Bergftadt von 15000 Einwohnern, 
unweit der Straße, weldye von Termini nad) Xeonforte führt, 
ift eine von den vier Städten Siciliens, welche zur Normannen⸗ 
zeit deutſche (lombardiſche) Eolonien aufnahmen, die in Hinficht 
der Sprache bis heute ihren Urſprung nicht ganz verleugnen. 
Seit unvordenklihen Zeiten hatte diefe Stadt ihre Paffions- 
proceljion, weldye nah und nah in ganz Sicilien hohen 
Ruf erlangte und bis in die Gegenwart bewahrte. Bei der 
legten Aufführung wirkten an Ießterer über taufend Perfonen 
mit, Tauter Einwohner von Nicofia, welche auf eigene Koften 
ſich das erforderliche Koſtüm verichafften. Die Direction befand 
fih in der Hand eines eiftlichen. Am frühen Morgen bes 
Sharfreitag begamm die gigantische Proceffion, welche an bes 
ftimmten Stellen anhielt, wo jedesmal die vorher wohl einftu« 
dirte Bildung der Gruppen (lebenden Bilder) geihah. Man 
ſah zehn Gruppen aus der Paſſionsgeſchichte, dazu mehrere aus 
der vorhergehenden Lebensperiode Chriftt, jowie einige aus dem 
alten Teftament. Bei manchem Zableau wurden bis zu hundert 
Perfonen verwendet. Pradtvol war das Koftüm hoher Per- 
fonen, eine8 David, Salomo, Herodes, Pilatus, und über zehn 
Stunden dauerte ed, ehe die Proceffion nad ihrem Rundgang 
auf der weiten piazza der Stadt arflangte. Dort erfolgte der 
erft- jebt dargeitellte Schlußact der Paſſion, die Srenzigung. 
Gedrudte Referate und mündliche Berichte reden einmüthig von 
dem tiefen Eindruck, welden das Schaufpiel auf die unabjeh- 
baren Maſſen der Zufchauer machte, von denen übrigens nidht, 
wie in Oberammergau, Cintrittögeld verlangt wurde. Einige 
andere Städte Siciliend baben alljährlich in der ftillen Woche 


eine ähnliche Proceffion, aber feine der leßteren wagt ed, den 
(587) 


22 


Kreuzigungsdact darzuftellen, als Ergänzung benubt man eine 
Figur oder Bild. 

Sn der Stadt Neapel waren ſolche Schaufpiele lange Zeit 
hindurch Sitte und hatten an jeden Sharfreitag-Abend einen 
großartigen Charakter, find aber ſchon lange bajelbft außer Ge» 
braud) gelommen. Dagegen beftehen fie in zahlreichen Städten, 
theild in Campanien, theild in Calabrien, bis auf den heutigen 
Zag, feftgebalten von der Liebe des Volkes. Auf dem Feftlande 
aber haben fie nirgends den großartigen, pomphaften Charakter, 
welcher ihnen in Sicilien eignet, und die fcenifchen Gruppen 
befteben mit wenigen Ausnahmen aus Figuren, die man auf 
Bahren trägt. — Sehr oft flieht man in der begleitenden Pro- 
cejfion nur die ihren todten auf einer Zodtenbahre getragenen 
Sohn begleitende Mater addolorata (Schmerzendmutter), wobei 
und jener uralte Zug der Paffionsdramen entgegentritt, daß 
Marta die Hauptrolle ſpielt. Oft aber treten andere Misteri 
(Gruppen) hinzu, ſowie irdijche und himmliſche Weſen mancherlei 
Art. Dumpfer Trommelton, ein Trauermarſch, des Miserere 
der Priefter fehlen nie. So viele Schaufpiele dieſer Art wir 
auch gejehen, ftet3 überzeugten wir und von der tiefen Andacht 
bes Publicums, unter dem laute Rufe und Thränen bei diejer 
Gelegenheit gewöhnli find. Es mag auffallend erjcheinen, 
dag SProcejfionen zur Darftelung der Oſtergeſchichte äußerſt 
jelten vorfommen, jedoch laßt fich dieſe Ericheinung leicht ers 
Hören. Tiefe, gemüthlihe Cindrüde empfängt dad Volk nur 
heim Paffionsichaufpiel, und darum wird leßtered bevorzugt. — 
Nur Selten wird die Form des Procejfionsdrama’s zur Dars 
ftelung von Scenen aud der Heiligenlegende benubt, und 
fteht in dieſer Hinficht Sieilien wiederum obenan. Wir er- 
wähnen in diejer Hinficht nur eine jeit Mitte des vorigen Jahre 
hunderts in St. Giuliano alljährlidy wiederholende Pracht» Pro» 
ceifion zu Ehren der Madonna. Genannte Stabt, reichlich 
5000 Einwohner zählend, liegt auf der einfamen Höhe bed im 


(338) 


23 


Alterthum vielgenaunten Berges Eryrx, einft hochberühmt durch 
einen Tempel der Benus. Während von lehterem nur wenige 
Trümmer vorhanden find, ift die Tradition bed antikrömiſchen 
Eultus daſelbſt ebenjo wenig erftorben, als die der Venus 
heiligen Zaubenfchaaren, welche noch immer jene heilige Höhe 
Iuftig umflattern. Wie die dortigen Einwohner den Gultus 
ihrer Madonna auffalfen, zeigt die alljährliche Procelfion, zum 
Theil aus prachtvoll koftümirten Reitergruppen (Supiter, Mars 
u. ſ. w.) beftehbend, fowie aus einer Menge allegoriſcher 
Geftalten, in deren Mitte die Madonna fiy bald im diejer, bald 
in jener Geftalt zeigt. Beliebt ift es, fle als die den Holo- 
ferne8 befiegende Judith darzuftelen. Bon diejen recht doc⸗ 
trinären Schaufpielen hat ein jedes feinen gedrudten Sommentar, 
und die Erfinder jener Allegorien haben wir in den Reiben des 
Clerus zu fuchen. 

Faflen wir endlich diejenigen Procejfionen ind Auge, welche 
nicht vereinzelte Gruppen bringen, fondern, welche jede in ihrer 
Zotalität, Darftellungen von Ereigniſſen find, ſeien leh« 
tere nun hiſtoriſcher, oder legendenhafter, oder rein fingirter 
Art. Zunächſt begegnet und bier ein Pafſions⸗Schauſpiel 
höchft eigenthümlicher und ergreifender Art, ergreifender als 
3. B. ein äußerft trodened und lehrhaft gejchriebenes Paffiond« 
Schauſpiel von Hugo Grotius. An mehreren Orten des feft- 
ländiichen Südens wird unter freiem Himmel die Kreuztragung 
Chriftt und fein Gang nad Golgatha in vollfter Natürlichkeit 
und mit derbftem Realismus dargeftellt. Ein robuftr Mann, 
von römijchen Sriegern oder von „Juden“ begleitet, barfuß, an 
Striden gehalten, ſchleppt ein großes, ſchweres, hölzerned Kreuz. 
Diefer Zug bewegt fi auf der Landftraße, wo fidh dafjelbe 
wiederholt, wad und die Evangeliſten von jenen Weibern ers 
zählen, welche die Zeugen der Kreuztragung Chrifti waren. Bon 
einer Kirche ausgehend bewegt fich diejer langjame Zug gewöhn- 
lich zum Galvarienberge vor der betreffenden Stadt, wo er fi 


(539) 


24 





auflöft. Diefe dramatifche Charfreitagd-Proceifion geſchieht auch 
in Xorricella Peligna, einer Leinen Stadt der Abruzzen!?). 
Außer Chriftus erblidt man dort in dem Zuge auch die beiden 
Schächer, von benen jeder ein ſchweres Kreuz fortfchleppt. In 
Borgia, einer Heinen Stadt Calabriens, gefchieht diefe Proceifion 
in Berbindung mit andern Scenen aus der Leidensgeſchichte 
und fol im vorigen Jahre die Zahl der Zufchauer fidy auf 
10.000 belaufen haben. Sn der Hauptlicdhe von Gaftellamare 
in Campanien bildet eine Procefflon in der Kirche den Keichen- 
zug Chriftt. 

Hieran ſchließt ſich ein Dfterjpiel höchft naiver Art. So 
oft wir daſſelbe ſahen und unwillkürlich von der Freude und 
Theilnahme der Bollsmafjen mit hingeriffen wurden, kam und 
jenes Verslein ind Gedächtniß, mit welchem der Prolog eines 
uralten Dfterjpield beginnt: „Wir wollen euch geben ein Oſter⸗ 
Ipiel, das iſt gar koͤſtlich und koſtet nicht viel“. Dies ftumme 
Schauſpiel geftaltet fily an den vielen Orten, wo e8 zur Auf⸗ 
führung gelangt, in Sampanten, Salabrien, Sicilien, jedes Mal 
zu einem großartigen Vollksfeſte und geht dabei natürlich in ein 
äußerft lärmvolles Scaufpiel über. Dafjelbe trägt an ver 
ſchiedenen Orten verjchiedene Namen, L’Affrontata, L’Incontro, 
La Richiesta, La Giunta, lauter Namen, weldye auf die Grunde 
idee dieſes Opferfpield, das Suchen, dad Finden und das Be⸗ 
gegnen hinweiſen. Im der That giebt ed in ganz Sübitalien 
unter allen geiftlihen Schaufpielen keines, weldyes eine ſolche 
Popularität befähe ald das genannte. Der auferftandene Chriſtus, 
ald Statue in einer Proceffion getragen, fucht feine trauernbe 
Mutter, die von einer andern Seite, gleichfalls ald Statue, 
daherfommt. ine dritte Proceffion bringt den Sohannes, dem 
meiftend die Rolle zufällt, der In Trauerkleider gehüllten Mutter 
die Freudenkunde der Ofterbotfchaft zu bringen. Cr begiebt fi) 
zu ihr, hält vor ihr ftil, das Volk weiß ja, was er fagt, aber 
die Madonnenftatue bleibt unbeweglich, die arme Mutter kann 

(540) 





25 


es nicht glauben, was er ihr fagt. Er kehrt zu Chriftus zurüd, 
biefer geht der Mutter entgegen, auch dieje kommt näher und 
endlih — endlich ſehen ſich Mutter und Sohn wieder! Vor⸗ 
ſtehendes bezeichnet nur das dürftige Gerippe unferes Dfterfpiels. 
Der Leſer erkennt leicht, welche Abwechſelung und Erweiterung 
möglich ift, wie viel Raum dem Ertemporiren gelaffen if. An 
vielen Orten tritt Magdalena, dieſe im mittelalterigen Schau 
ipiel fo beliebte Geftalt, hinzu, anderswo muß St. Petrus bie 
Rolle eines Boten übernehmen, in Forio auf Iſchia ein Engel, 
auf Sicilien treten noch (von lebenden Perfonen dargeftellt) 
bie von dem Auferftandenen gebändigten Bewohner der Unter 
welt, der Tod, fowie fchredenerregende Dämonen hinzu, aud) 
wohl St. Michael, der fie an einer Kette daherführt. Der 
Schluß aber ift derjelbe überall: Der Madonna entfällt das 
Zrauerfleid, Bomben» und Flintenſchüſſe begrüßen den Moment 
des Wiederjehend, aud dem Gewande der Madonna aber fteigt 
eine Schaar derjenigen Vögel auf, die meift der Venus heilig 
waren: Tauben, begrüßt von tojendem Zubel. Die leidenjchaft- 
liche Aufregung, mit welcher das Volt die Bewegung der Statuen 
verfolgt, ift jedesmal eine unbefchreiblich große. — Große 
Theilnahme findet alljährlich die am Vorabend ded 15. Auguft 
in dem hochgelegenen Dorf Vomero bei Neapel, ftattfindende 
Procelfion, weldhe die Grabtragung der Madonna vor Augen 
führt. Vorher wird fie (ald Statue), einem lieblichen Mädchen 
ähnlich, auf einem Paradebett, von Genten bewacht, ausgeſtellt, 
dann folgt unter Fackelgeleit und Grabgejang die Grabespro⸗ 
ceiffton!2). — In Gafteltermini auf Sicilien ftelen Handwerker 
jedes Jahr am 3. Mai einen Reiterzug des Kaiferd Conftantin 
dar, der mit ber koſtbaren Kreuzes⸗Reliquie heimkehrt, in Avola, 
einer Küftenftadt ſüdlich von Syrakus, wiederholt fich eine Pros 
ceifion kleiner Echiffe zur Grinnerung an den Schub, welchen 
der dortige Schubheilige, St. Conrad, der Stadt gegen die 


Saracenen angebeihen ließ. 
(541) 


26 


II. Andere ftumme Scenen. 


Ehe wir unfere Darftellung der pantomimifchen Echaufpiele, 
welche im Gebiet des geiftlichen Drama's fo ſehr prävaliren, 
ſchließen, erübrigt noch eine Nachlefe. ine Reihe von ftummen 
Scenen gryuppirt fi) zunächſt um Weihnachten und Oftern. 

Sn zahlreihen Kirchen wird um zwölf Uhr in der hei«- 
ligen Nacht der verfammelten Menge ein Wiegenförblein ges 
zeigt, der Priefter hebt dad Tüchlein ab und fiehe, — da liegt 
dad neugeborene Jeſuskindlein in Geftalt einer Puppe, die man 
zum Preſepio trägt, während die Verſammelten, welche jedesmal 
bichtgedrängt die Kirche füllen, ein Ninna-Nonna (Großmütter⸗ 
hend MWiegenlied) anftimmen. Sn Calabrien hört man dabei 
nicht felten die Schalmei der Hirten, oder fieht gar den Weih- 
nachtöftern. Sene Hirten aber, welche jede Jahr von den 
Bergen um die Weihnachtözeit in die Städte niederfteigen, jene 
Zampognari im Schafpelz, an den Füßen Sandalen, fieht man 
zur genannten Zeit zu vielen hunderten 3. B. in Neapel, wo 
ihre uralten Weifen vor den Madonnenbildern ertönen. Unfere Zam- 
pognari (Schalmeibläfer) gehören auch zu den lebenden Bildern. — 

Die ftille Woche bringt eine größere Anzahl ftummer 
Scenen. An vielen Orten Siciliens ift bis heutigen Tages eine 
Scene üblich, welche wir auf dem Feſtlande nirgends gefunden 
haben: der Einzug Chriiti in Jeruſalem, welcher im Freien in 
derb realiftiicher Weiſe dargeftellt wird. Die betreffende Stadt 
wird al8 Serufalem gedacht und der Einzug geichieht fo, daB 
einer der jüngeren Ortögeiftlichen, entiprechend gekleidet, eine 
Eſelin befteigt, welche erſt ein einziges Mal ein Füllen bes 
fommen hat. Die Apoftel, mit Balmen- oder Delzweigen ver 
jehen, reiten entweder voran, oder folgen nebft der Volksmenge 
nad, aus deſſen Mitte das Hoflanna ertönt. — Faſt alle 
größeren Kirhen — eine in jedem Orte — haben am Grün« 


donnerftag die Fußwaſchung, in Palermo ftellt ſogar eine der 
(542) 


"27 


vielen Brüderſchaften in einer Kirche die Einſetzung des Abend» 
mahls dar. — Am Charfreitag tft an vielen Stellen die Dis- 
cesa, wie das Volk jagt, d. b. die Abnahme vom Kreuz, wobei 
ein großed Grucifir durch Ausziehen der Nägel u. |. w. vom 
Kreuz gelöft wird, woran fi dann eine der vielen Grabes- 
Porecſſionen (fiehe oben Abth. II) anjchließt. Eben jo häufig, 
auch in den Abruzzen üblich, findet fich die Wächterfcene am 
Grabe. Die Wächter hörten wir einft als „Giudei* bezeichnen 
obgleich fie ziemlidy römijch koſtümirt waren. 

Bon eimem „Pfingftipiel® ift weder in alter, noch im 
neuer Zeit die Rede. Das Pfingfifeit heißt im Neapolitani» 
jhen: Dad Blumenoftern. Für geiftlihe Spiele war dann 
niemald Zeit, wegen großer Wallfahrten, die noch heutzutage 
ftattfinden. In einer Straße Neapel ſah Verfaſſer im lebten 
Auguft eine ftumme Scene aus dem Leben des St. Camillus. 
Seine lebenövolle Statue ftand zwiſchen Krankenbetten in einer 
Niiche im Freien. 

Der Ehrentag des bi. Sojeph, 19. März, ift für den ge 
fammten Eüden Staliend immer noch ber große Almojentag 
aber auf dem Feſtlande find ehemalig ſceniſche Darftellungen 
unjeres Wiſſens gänzlich verfchwunden. Sn Sicilien dagegen ift 
ed ziemlich allgemein noch heute Sitte, einen alten Mann am 
genannten Tage ald St. Joſeph zu koſtümiren, ein Waiſenmädchen 
als Maria und einen Wailentnaben ald Jeſuskind. Alte Kirchen» 
bilder find für das Koftüm maßgebend. Die heilige Familie 
wird an einigen Stellen Eiciliend in der Kirche, an anderen 
in Privathäufern geipeift und befchenft. 

Schließlich mei merfwürdige Beilpiele dramatiſcher Zänze, 
die fi an den Eultus anjchließen. 

Daß im Mittelalter ih der Zanz wie eine Art Drama in 
den Eultus bineindrängte, ift unzweifelhaft. Der Senat in Piſa 
verbot zur Zeit der Republik das ballare (Tanzen) und tambu- 


rare in der Kirche, in Madrid wurde die Frohnleichnams⸗Pro⸗ 
(643) 


28 


ceſſion von Xänzen begleitet, auch wurden in Spanten in den 
Kirchen fogenannte Todtentänze aufgeführt, in denen man bie 
Macht ded Todes darftellte.e Den rajenden Reigen der wilden 
Zänze zu Ehren des heil. Johannes in Deutſchland Tönnte man 
auch bier anführen. 

Lebende Bilder aus den Zeiten der Mänaden und Korye 
banten haben wir mandjesmal in der grotta di Posilipo geſchaut, 
wenn fich dort nady Ende der Tirdhlichen Function am Vigilien⸗ 
abend vor dem 8. September die Bolfdmafjen alljährlich im 
wildem Subel drängten, und zum dämonijchen Ton der Hand- 
trommel die Tarantella, deren dramatiicher Charakter befannt 
ift, zu Ehren der „großen Mutter” getanzt ward. — Stumm 
nennen wir dieje nächtlichen Scenen deshalb, weil der Dialog 
fehlt, im Uebrigen find fie jo laut, wie einft die antikroͤmiſchen 
Fefte zu Ehren der Gered oder ber Kybele. Daffelbe gilt von 
einem Feitichaufpiel zu Ehren des St. Paulinus in der uralten 
kampaniſchen Stadt Nola!*). Ein ftummes (tojended) Schaus 
ipiel ift es, welches vielleicht in Indien, aber nirgends in 
Europa, feineögleihen bat. Vom St. Paulinus geht die Sage, 
daß er, von Afrika nad Nola heimkehrend und an ber fam- 
paniſchen Küfte landend, von den Nolanern feierlich empfangen 
wurde, welde ihm Heine Blumenthürmchen tanzend entgegen 
brachten. Died legendenhafte Ereigniß wird jährlih im Juni 
por etwa 20 000 Zufchauern, welche alle Straßen, Pläbe, Bal⸗ 
one, Dächer Nola’s füllen, dargeftellt. Aus jenen Thürm⸗ 
hen find aber Thürme geworden, jo bob, dab fie über bie 
Häufer weit emporragen, Prachtobelisken find ed, acht an der 
Zahl, aus leichtem Gerüft gefügt, welches prachtuoll mit Säulen, 
Statuen, Ornamenten umfleidet und auf der Spitze mit einem 
Heiligen verjehen iſt. Jeder dieſer flimmernden, ſchimmernden 
Thürme (Lilien geheißen) wird von vierzig Männern getragen, 
und jene acht führen vor dem mit der Büſte des St. Paulinus 
beſetzten Schiff eine Art Tanz auf. Die Thürme drehen, neigen 


(644) 


29 


fih, bilden mit einander Kinien, alle nach dem Zacte wilder 
Zarantela-Mufil, unter Frachendem Feuerwerk und dem orlans 
haft tofenden Jubel der Feſtgenoſſen. Im zweiten Act führen 
die 320 Träger Reigentänze, denen der alten Griechen ähnlich, 
zu Ehren des Heiligen auf, und als wir diefer Ecene ftumm 
beiwohnten, als wir ſahen, wie die Maſſen von der Tanzwuth 
ergriffen wurden, war ed und, als jähen wir die dem Bromios 
(tojenden Bacchus) buldigenden Mänaden, als fähen wir ein 
lebendes Bild aus dem uripided, in deſſen Bacckhantinnen der 
Chor fingt: Folgen wir jubelnd der füßeften Noth, Bromios 
holdeftem Göttergebot, im wild aufjauchzendem Neigen!®), 


IV. Das Drama. 


Die Ueberfchrift meint das dramma parlante, da8 Dialog» 
gifirte Drama. Pantomimiſche Darftellungen waren die ältefte 
Form der geiftlichen Schaufpiele im gefammten Süden Italiens, 
ebendiejelben wurden in allen Sahrhunderten bevorzugt und died 
gilt bis auf den heutigen Tag. In diefer Thatfache haben wir 
ohne Zweifel ein Erbe bes römijchen Lebens zu erkennen. 
Auguftud war e8, welder den Pantomimus auf die Bühne 
brachte und allbefannt ift es, mit weldher Vorliebe man während 
ter Kaiferzeit ſolche Darftellungen der Schaubühne pflegte. — 
Dbige Behauptung will aber nicht dahin verftanden fein, als 
hätte man das dialogifirte Drama vernadhläffigt. Die Production 
geiftlicher Dramen war im 16., 17., 18. Sahrhundert eine ers 
ftaunlich fruchtbare und hat bis auf den heutigen Tag in Süd» 
ttalien nicht aufgehört. Wir kennen jowohl in Neapel, ald in 
Palermo Buchhandlungen, welche geiftliche Dramen früherer Zeit 
immer wieber druden, weil unter dem Volk beftändige Nachfrage 
berricht, dazu kommen Dramen, weldye unjerer Gegenwart ihre 
Entftehung verdanken. Manche werden auf Beftellung gearbeitet, 
wobei die Mufe bier einen Seminar-Profefjor, dort einen 
Studenten oder Schulmeifter mit ihrer Snipiration beehrt, nicht 


(545) 





30 


jelten kommt audy über einen Priefter, oder irgend einen Privat« 
manu didhterifche Begeifterung, und er hebt an zu „fingen und 
zu fagen” von diefem, oder jenem Heiligen. Die Literatur 
diefer Art ift einer anftändigen Sündfluth nicht unähnlid, 
wovon wir und in den Zimmern und an den Karren und 
Bänfen füdliher Antiquare überzeugt haben. Die Verfafſer 
geiftlicher Dramen der Neuzeit machen keineswegs immer auf 
Originalität Anſpruch und verfehmähen es nicht, ſich innig an 
alte Vorbilder anzuſchließen. Kürzlich legte und ein Antiquar 
einen hübſchen Berg geiftlicher Schaufpiele des 16. und 17, Jahr⸗ 
bundert3 vor, darunter auch Manuſcripte mit allerliebften Feder⸗ 
zeichnungen verſehen. „Seht, mein Herr, dies Alles ift antik, 
molto antico”. — So ſprach ber Alte. — Nach diefen „antilen" 
Borbildern alio arbeiten die Dramaturgen der Gegenwart, die 
fi vorzugäweile im Gebiet Sampaniens finden. Die Erzeug⸗ 
niffe diefer Mufe find, um ſpaniſch zu reden: Comedias divinas 
y humanas, denn irdiſche und himmliſche, engelhafte und infer- 
naliihe Weſen, Perjonen der Geſchichte und Sage treten darin 
auf. — Was die Aufführung folder Dramen betrifft, jo begeg- 
net und eine bewundernswerthe Mannigfaltigkeit. Alte und 
neue Dramen werden aufgeführt, im Freien, jelten in Kirchen, 
in Theatern, in lebteren bald in Puppen, bald — und zwar 
gewöhnlich — von lebenden Perfonen, DOrtdangehörigen, hoͤchſt 
jelten von Berufsichanipielern. In Campanien, in Calabrien, in 
Sicilien find und gewiſſe Gentren bekannt, wo die Aufführung 
mannigfaltiger geiftliher Dramen durch die Ortsangehörigen 
das beliebtefte Vollövergnügen darbietet. Nur wenige Stunden 
von Neapel entfernt liegt, von Rebenguirlanden umkränzt, das 
Städtlein Arzano, wo wir nicht nur geiftlihe Schaufpiele ſahen, 
fondern auch Zeuge eines der feltfamften Acte waren, den wir 
je gejehen. Es wurden nämlidy die Rollen vertheilt, — doch 
nein, nicht vertheilt, fondern verfteigert, öffentlich verfteigert 
und an den Meiftbietenden vergeben! Da kam 3.3. der heil. 


(546) 


31 


Michael, d. h. ſeine Rolle, zum Aufgebot. Das iſt eine Rolle, 
iu der ein Tüngling prunken kann. — Da kamen Tobias ſowie 
verjchiedene Heilige zum Aufgebot, und junge Leute boten zehn, 
zwanzig, dreizig Lire für ſolche Rolle. — Auch ein Schaufpiel, 
wenn auch Fein befonders geiftlichesie). — Die Bezeichnung 
der dialogifirten Dramen Sübditaliend ift in den verfchiedenen 
Gegenden verjchieden. Auf dem Zeftlande hört man im Volle, 
oder lieft auf Maueranſchlägen 3. B. Rappresentazione sacra, 
oder Dramma sacro, oder Tragedia sacra, oder Spettacolo 
sacro. In Salabrien findet fih der Ausdrud: Funzione, in 
Sicilien außer leßterem: Atto, oder Auto (Handlung, ar das 
Spanifche erinnernd), biöweilen auch Dittu, Dialectwort von 
dire (jprechen) oder jocu (Spiel). Ein Paſſionsſchauſpiel heißt 
in Neapel: La passione, in Sicilien aber Mortoriöo, d. h. 
Leichenbegängniß, ein Weihnachtöfptel wird bajelbft meift als 
Pastorale (Hirtenfpiel) bezeichnet. — Was die Production geift« 
licher Dramen betrifft, fo fcheint ſich Süditalien heutzutage in 
einer ähnlichen Periode zu befinden, wie Deutichland im 16. und 
zum Theil im 17. Sahrhundert, als Rectoren, Schulmeifter und 
Paftoren zu Dichterlingen wurden und ſich in Dramen zu ver 
ewigen trachteten, die nicht nur „Luftig und fruchtbar” zu lejen 
waren, fondern auch (meift von Schülern) aufgeführt wurden. — 
In den Priefterfeminaren Süditaliend namentlich in Pozzuoli 
ift die Aufführung geiftlich-weltlicher Dramen nicht felten. Unſere 
nachfolgende Darftelung nimmt von folchen Leiftungen priefter- 
lichsjeminariftifcher Pädagogik keine Notiz. 

Den Hebergang vom pantomimijchen zum „Iprechenden“ 
Drama haben wir und fo zu denken, da zur ſtummen Scene 
das Wort erläuternd, oder wenigftens begleitend hinzutrat. Dieje 
Art ded Dramas ift in ganz Süditalien im hohen Grade volls⸗ 
thümlich, und reiht ſich regelmäßig in den Charfreitags⸗Cultus 
ein. Zu den figürlidden Scenen in den Kirchen, zu den Pro⸗ 


cejfionsdramen in und außerhalb derjelben tritt das lebendige 
(547) 


82 


Wort geiftlicher Redner, die mander um ihre vollsthümliche 
Art beneiden möchte, und die in Verbindung mit den ftummen 
Scenen oft große Wirfung erzielen. — In der Hauptlirche auf 
der Inſel Procida, ftehen etwa zehn Yigurengruppen aus der 
Paffionsgeichichte im Hauptichiff am Charfreitag, und kommt 
der Kanzelredner im Berlauf feines Vortrages zu einer neuen 
Paſſionsſcene, jo wird die entiprechende Figurengruppe auf einer 
Bahre fortgetragen, biß bei der Schlußfcene nur noch der todte 
Chriftus nachbleibt. In einer Heinen Stadt Sampaniens fahen 
wir eine Proceffion mit den „Müfterien” der Palfion (Gruppen) 
unterwegs oft anhalten, wobei ein Gapuziner eine ihm nach⸗ 
getragene Kanzel beftieg und in wahrhaft vollöthümlicher Weiſe 
die eine und die andere Gruppe erläuterte. In einem Tleinen 
Drte bei Meffina ift ed, wie und ein Freund berichtet, Sitte, 
daß am Charfteitag ein junger Priefter die Paffiondgejchichte 
vorlieft, wobei auf der neben ihm (in der Kirche) befindlichen 
Bühne von wohlkoftümirten Perfonen die entiprechenden Scenen 
nach und nad in lebenden Bildern dargejtellt werden. 

Vol dramatiichen Lebens und injofern eine Hinleitung zum 
dramma parlante find viele volfötbümliche, noch heute bei 
manchen Proceſſionen üblihen Wechlelgefänge, ebenfo die Lieder 
der blinden Paffiondfänger, die man noch jegt in der ftillen 
Woche auf manden Straßen Neapel fieht, wo fie ftetd zu 
zweien auftreten und die einzelnen Perfonen der Paſſionsgeſchichte 
in ihren rührenden Recitativen reden laſſen!7). In vielen 
Kirchen Neapeld wird am Charfreitag gefeiert: La desolazione 
(die Bereinfamung der Maria), wobei drei Stimmen die Ge» 
fühle und Geiprähe der Maria, der M. Magdelena und des 
Johannes in ergreifender Weile fingen. — Auf Sicilien finden 
in zablreihen Kirchen am heiligen Abend vor dem Presepio 
Dialoge von Kindern ftatt, die Findlicher reden, ald jene Meinen 
Mädchen, welche in der Kirche St. Maria Araceli zu Rom fo» 


genannte Predigten halten, die von dogmatiſcher Weisheititrogen. 
(548) 


33 


Eine dritte Heberleitung finden wir in Heinen „Iprechenden“ 
Scenen, welche fi in die ftummen dramatiſchen Proceffionen 
hineindräugen. — Sn biefer Hinfiht iſt in ganz Sübditalien, 
aljo in Campanien, in Salabrien, in Sicilien, Teine Scene fo 
häufig und jo beliebt, als eine Engelfcene, genannt: I Volo, 
ber Flug, oder il Völo d’angelo, der Engelöflug!°). Es find 
das Scenen, wie fie fein geiftliched Drama des Nordens jemals 
producirte, Scenen von fo origineller Art, daß wir felbft erft 
dann den und gewordenen Berichten glaubten, als wir das 
Wunder mit eigenen Augen fchauten. Hoc über ben Plab 
eines Staͤdtchens jpannt fich ein Seil, etwa ein folched, wie es 
Seiltänzer benuben. — Auf demfelben wird, vermöze nöthiger 
Einrichtung, ein ald Engel koſtümirtes Mädchen entlang gezogen, 
deflen Beftimmung ift, der Madonna oder einem Heiligen bet 
einer dramatifchen Proceifion einen Himmelsgruß zu bringen. 
— So fahen wir ed 3.3. im Campaniſchen St. Giuliano bei 
der früher erwähnten Procejfion der Madonna, auf dem Ochjen- 
Zriumpfwagen!®), fo, und noch origineller, in der Stadt Dita» 
jano nördlich am Veſuv, wo eine Reihe von Engelöfnaben ge- 
meinfchaftlich an einem ftattlichen Gerüft in fchwebender Stellung 
Dingen und bei Ankunft des heiligen Michael (Statue) diejen 
mit ſehr menjchlichsverftimmten Pofaunen und ebenfo ſchlechten 
Verſen begrüßten, eine Scene, die vom Zubel der Menfchen- 
maffen bejaudhzt wurde. In Paftene, einer Fleinen Stadt bei 
Benevent, kommt beim Feſt ded St. Joſeph zur Statue ded 
leßteren ein mit dem Schwert bewaffneter Engel (auf dem Tau) 
geflogen, und hat eine längere Unterredung mit einigen Teufeln, 
die unter Pulverdampf den Himmeldboten erwarten. — Der 
Engel, — es ift St. Michael — fteht dem Hohne Luciferd und 
feiner fatantichen Gefellen muthig Rede, worauf den Worten 
ein Schwertlampf folgt, in welchem Lucibello (Zucifer) zum 
Jubel des Volles unterliegt. — Wir haben nicht erfahren 


xx. i. 8 (549) 


34 


Tönnen, warum dies hochbeliebte Schaufptel gerade am St. Jo⸗ 
ſephstage aufgeführt wird. 

Keime des dramma parlante haben wir im Borftehenden 
genannt, aus denen nach und nad) ein an Zweigen und Früchten 
reiher Baum erwuchs. 

Kirchen, Klöfter, freie Pläbe, Straßen, Theater wurden 
die Schaupläße des Dramas. Damit ift aber keineswegs ge⸗ 
fagt, dab man fid mit gefhloffenen Schaubühnen ſofort allzu« 
viel Mühe gab. Die pantomimifchen Darftelungen fanden und 
finden ja meift im $reien ftatt, und noch heute giebt es auf 
Sicilien „redende" Schaufpiele, bei denen von feiner Bühne 
die Rede tft. 

Alfo im Freien. Stoff für ein echt vollsthümliches Drama, 
bei dem zum Theil aus dem Stegreif geipielt und gejprochen 
wird, bietet zuerft die heilige Geſchichte. — Im zahlreichen Orten 
Siciliens ſieht man die heilige Familie auf der Reife. Auf der 
Straße kommen dann Sofeph und Maria, beide in Ueberein- 
ftimmung mit alten Kirdhenbildern koſtümirt, baher, lebtere 
führt bad Sefuskindlein an der Hand. Biel Volks bat fidh 
verjammelt, um Zeuge zu jein, wie fie unterwegs angefallen 
werden und wie ein ngel fie beſchützt. Der Dialog 
‚bei diefer Gelegenheit, fowie bei ihrem Eintritt in die Stadt, 
wo fie Quartier fuchen, ift berfömmlich, wobei indeß mancherlei 
ertemporirt wird. — Das Stäbtlein Scich in der Nähe der 
Sädfüfte Sieiliend bat alljährlich das geiftlich-weltlihe Schau- 
ſpiel einer Schlacht zwiſchen Türken und Chriften, wobei eben- 
falls das freie Beld als Bühne benubt wird. Die Sage geht, 
dab auf Dortigem Gefilde der Normannenlönig Roger die Türken 
Ichlug, ald die Madonna feinen Mannen erichien, wie einft die 
Dioskuren den Römern. Dort, wo man die Madonna fchaute, 
fteht zur Grinnerung eine Kapelle, und umweit derjelben führt 
man jenes Bolksichaufpiel auf, wobei Schiffer, Handwerker, Ar- 
beiter u. |. w. mitwirken. Die beiden Heerſchaaren, Chriften 


(550) 


85 


und Zürfen, find wohl Toftümirt, König Roger und der Sultan 
tragen entfprechende Uniform. Der Dialog zwilchen den lebten 
beiden wird zum Theil ertemporirt, wobei derbe Schimpfrebden 
nicht fehlen. Die Schlacht beginnt, und alsbald trägt eine Pro» 
ceſſion die prächtig gefleidete Madonnenftatue herbei, vor welcher 
die Türken davon laufen. — Hier möchten wir jchlieblich eine 
Schauſpiels gedenken, welches früher um die Weihnachtägeit 3.2. 
in Florenz üblich war, dort aber Schon ſeit Sahrhunderten ver⸗ 
ſchwunden tft, und heutzutage fich nur in wenigen Orten Si» 
ciliens findet. Am Abend vor Weihnacht, anderöwo am lebten 
Zahres: Abend, fährt man die lebensgroße Puppe eines ab» 
Iheuliy”häßlihen alten Weibes unter Geheul und mißtöniger 
Muſik im Orte umber. Sene Here beißt: La Vecchia dı Na- 
tale, d. h. die Weihnachtsalte. Dffenbar ift letztere diefelbe, wie 
jene halb gutmütbige, halb bösartige Weihnachtöfee, genannt 
Befuna (von Epiphania), weldhe in Nord» und Mittelitalien 
den Kindern Gaben bringt. In ihr aber birgt ſich die römiiche 
Gottheit der Neujahrsgaben, die Strenun, welche fidy, wie alle 
beibnifchen Götter, bei Verbreitung ded Chriftenthbums, in einen 
Dämon wandelte In Sielien ſchreit man beim Herumfahren 
jener Herenpuppe noch jet: La vecchia Strina! 

In den Kirchen des Feftlanded wird, fo weit unfere 
Kunde reicht, fein Dramma parlante mehr aufgeführt, in Si⸗ 
eilien dagegen ward biefe Sitte bis 1860 hin ziemlich allgemein 
beibehalten und noch heutzutage giebt e8 Kirchen, die außer dem 
ſtummen audy das redende Schaufpiel pflegen. Seltfam: Schon 
Papſt Innocenz III. war ed, der im 13. Jahrhundert die Auf⸗ 
führung von Schaufpielen in den Kirchen verbot, aber wohl fein 
Gebot ift fchlechter befolgt, als dieſes, am allerjchlechteften aber 
in Sicilien. Dort erfolgt am heiligen Abend in einigen Kirchen 
immer noch die Aufführung ded uralten Paftorale, oder Hirten- 
ipiels, dort reden Hirten und Engel, Gärtuer und Jäger, bis⸗ 


weilen auch eine Zigeunerin, welche dad Schidjal des Neu⸗ 
. 8° (551) 


36 


geborenen jeiner Mutter vorberjagt. Anderswo treten zwei 
Chöre auf, den einen bilden die Hirten, den anderen die heiligen 
drei Könige nebft Gefolge. In jeltenen Fällen geichteht in der 
Kirche auch die Aufführung eines meift nur kurzen Palfions- 
Schauſpiels. — 

' Bühnen verfchiedener Art, jeten ed ftehende, feien ed eigens 
momentan errichtete, zu benugen, ift in Campanien, Galabrien 
und Sicilien heutzutage allgemeine Sitte. 

Auf der Bühne eined Puppentheaters?0) in Neapel, 
bem allbefannten, Ende 1885 demolirten Teatro Sebeto an 
der Moloftraße, wird in der Woche vor Oftern allabenblidy 
zweimal ein Paſſionsdrama aufgeführt, unſeres Wiſſens 
ein Unicum in unferen Tagen. Seht ift dies Theater vers 
legte. Das Yublicum, welches bei jeder Borftellung das 
Theater vollftändig füllt, befteht durchweg aus ſolchen, welde 
man „Lazzaroni” zu nennen pflegt und zahlt wenige Soldi Ein- 
trittögeld. Jenes Drama zählt fünf Acte und führt die ge 
Sammte Paſfionsgeſchichte bis zur Grablegung theild in „reden- 
den”, theils in ftummen Scenen, meift im genauen Anfchluß 
an dad Bibelwort vor Augen. Es finden fidy jedoch auch mandye 
Zufäße, ſowie eigenthümliche, oft originelle aus der Erfindung 
des Berfafferd ftammende Züge. Derb realiftifch ift die Scene 
der Erhängung des Judas. Ein Baum, unter welchem Judas 
einen Monolog hält, neigt bemfelben langfam, rudmeije einen 
Aft nieder, und kaum ift der Selbftmord geichehen, jo wechſelt 
bie Scene, den Mörder umgiebt die feuerfprühende, von Dä- 
monen erfüllte Hölle — Stumm ift die Golgathaſcene, die 
Leiber der Gekreuzigten zuden, Chriftu wendet fein Haupt dem 
Schäder zu. Etumm (von Mufif begleitet) ift die Scene der 
Fußwaſchung. Ein Sünger nach dem anderen fteht auf, ſetzt 
feinen Fuß ind Beden und hebt dann den Zuß, den der Hei- 
land küßt. Zulegt kommt Judas, ſetzt troßig den Fuß hinein, 


wagt aber nicht, den Kuß zu empfangen, jondern eilt davon. — 
(852) 


37 


Chriſtus Ipriht in bem Drama nie, und ift weit Meiner, ale 
die Jünger, vielleicht nach dem Prophetenwort: „Er hatte feine 
Geſtalt noch Schöne." — Es mag dem eier feltiam klingen, 
wenn ich fage, da in biefem Pnppen-Drama ergreifende Scenen 
vorkommen, dennoch ift bies buchftäbliche Wahrheit. Iene armen 
Lazzaroni folgen in tiefer Stille der Handlung und entblößen 
jedesmal das Haupt, wenn Chriftus auf der Bühne erjcheint. 
Manch liebe Mal bat Berfaffer dieſem Schaufpiel beigewohnt, 
bat beobachtet, wie jedes Sahr genau diejelben Worte und Wen- 
dungen wiederbringt, bat aber von dem „Director“ diefer Bühne 
nicht erfahren können, wer jened Drama verfaßt hat. „Died 
Drama ift anti,” — das war Alles, was ich erfuhr. 

Eine Bühne im Freien, am Feſt eines Schuhheiligen, 
auf der Piazza vor der Kirche aufgefchlagen, als Schauſpieler 
die Honoratioren des Drtes auftretend, — jo wird ed in den 
meiften Fällen verhalten. Das Schaufpiel ift dann nur ein 
Theil des großen Volfäfeftes, in welchem Geiftliched und Welt» 
liches in jchönfter Harmonie fi zu einem Ganzen vereinigt. 
Die Heiligenlegende ift es, welche heutzutage in dem meiften 
Fällen den Stoff für ſolche Feftfchaufpiele hergiebt, denen jedesmal 
viele Zaufende beiwohnen, welche die weite Piazza, ſowie Thüren, 
Fenſter, Balkone, Dächer, Terraffen und Loggien anfüllen. 
Dabei ift nicht außer Acht zu laffen, dab fih das Feltfpiel an 
den Cultus anfchließt, 3. B. an die Meſſe, oder an die Pro- 
cejfion und in der Vollsanſchauung zum Cultus gehört. „Wann 
beginnt die Vorſtellung?“ So fragten wir auf foldhem Feſtplatz 
vor der aufgeichlagenen Bühne einen fchliten Bauer. Die 
Antwort lautete: „Die heilige Function beginnt um 24 Uhr“ 
(d. h. um Sonnenuntergang) ?!). Wenn Verfaſſer ih nun dem 
Lejer ald Führer entbietet, jo freut er fih, daß ibm nur bie 
Rolle des letzteren zufällt, alfo nicht etwa die Rolle eines Bühnen- 
kritikers. Wir wollen bier nit unterfuchen, ob jene Dramen 
dem Begriff eines Dramas entiprechen. Auf Gottes Erde wachen 


(553) 


38 


viele Pflanzen, einige fchauen recht wunderlich drein, unb doch 
Tann man feine Freude daran haben. Jene Dramen bereiten 
ben Zaufenden, welde fie Schauen, naive Freude, warum follten 
wir jo altklug, jo blafirt fein, und unfere Mitfreude verjagen? 
— Auf nad Orta, einem kampaniſchen Städtlein! Im wunder 
Ihönen Monat Mat finden wir dort auf baumreicher Piazza 
die farbenbunte Bühne aufgeichlagen, auf weldyer eine „Ira- 
gedia“ in drei Acten, betitelt: Et. Salvabore, alljährlich auf- 
geführt wird. Es handelt fi um Scenen aus dem Leben eines 
fpanifhen Mönche, um bie Mirakel, welche er verrichtet, um 
den Zugendgrad, den er durch die von ihm gepriefenen Büßungen 
erlangt, um die Bewunderung, welche ihm zu Theil wird. Der 
Helb unferer Tragödie hält oft fehr lange Neden, bisweilen 
fommen wir fogar in Verſuchung, am feiner von ihm aus 
geiprochenen Demuth zu zweifeln, wir aber erinnern und, daß 
wir keine Theaters NRecenfenten find, und geben befriedigt von 
dannen, nachdem wir in der Schlußfcene die Apotheoſe des 
Helden geſchaut. — Faft zur felbigen Zeit feiert die Stadt 
Secondigliano in Campanien ihre beiden Schußheiligen, das 
Brüberpaar St. Coſimo und Damiano, mit einer fünfaktigen 
Tragödie, welche im ähnlichen Styl und Geifte abgefaßt iſt, wie 
die obige. Genannte Brüder waren Aerzte, und werden vom 
nieberen Bolfe Campaniens bei gewiſſen Krankheiten angerufen. 
Auf der Bühne ift die Zahl ihrer Wunderheilungen groß, lange 
Reden werden uns nicht erjpart. Am berühmtelten in ganz 
Campanien ift das Feſt ded St. Antimo, von dem eine fleißige 
Stadt Campaniens ihren Namen trägt. Um die Pfingftzeit 
wird dort an mehreren Zagen oft vor 10 000 Zuſchauern aufs 
geführt: „La Tragedia di St. Antimo.“ Auch bier treten 
Honoratioren der Stadt ald Schaufpieler auf, und vor einem 
Jahre hatte Verfaſſer die Ehre, als eingeladener Gaft dieſem 
Schauspiel beizuwohnen. Lebtered übertrifft durch padende Scenen 
bedeutend die beiden obgenannten, die Schlußfcene aber ift mehr 


(554) 





39 


als padend, fie ift raffinirt. St. Antimo’d Enthauptung ges 
ſchieht nämlich auf der Bühne, man fieht im Hintergrunde der⸗ 
jelben, wie fi ein weißes Haupt auf den Blod legt, man fieht, 
wie der Henker das Beil jchwingt, — das Haupt fällt, Blut 
ftröme fließen. Kaum ift dies gefchehen, da jchwebt auf einem 
vom Thurm zur Bühne reihenden Strid eine Engelgruppe 
(Huppen) nieder, und begiebt fi mit dem abgeſchlagenen 
Haupte zum Thurme zurüd, wobei die Gloden läuten, Trom⸗ 
peten fchmettern und Kanonen donnern. — Die einzelnen Scenen 
ipielen in Rom, wo Antimud einen Beamten heilt und den» 
jelben durch einen jehr gelehrten Vortrag befehrt, dann aber 
mit dem polternden und fanatiſchen Richter Priscus dadurch im 
Conflict geräth, daß er, den Tempel des Gotted Silvanus an- 
zündet. Die Figur des Sifinius ift, wohl ohne Abſicht, nad 
dem Leben gezeichnet, er ift ein falbadernder, häßlicher Priefter, 
der von den zwei Frauen der Tragödie gar fchöne Dinge zu 
reden weiß. Originell ift die in diefem Drama auftretende 
komiſche Figur, eine Art Yulcinella. Yabrieius ift im Ges 
heimen ein Chrift, fürchtet aber, dies öffentlich zu geftehen, 
ihämt fich indeß feiner Zeigheit durchaus nicht und trägt die 
jelbe zum Ergöben des Bublicums zur Schau. — Wenn jener 
Sifinius falbadert, oder wenn St. Antimo wie ein Profeflor 
der Dogmatik redet, jo erregt Fabricius durch jein Mienenipiel, 
feine dummen ragen, feine Crelamationen und Bemerkungen 
allgemeines Gelächter. — Unfer (unbelannter) Tragddiendichter 
nahm ſich in diefer Hinficht offenbar die mittelalterigen My: 
fterien zum Mufter, in denen befanntlich die Tomifche Figur 
felten fehlt. Bald ift es ber Teufel in der Satyrmasfe, bald 
der Stultus, fpäter Hans Pfriem; das geiftliche Drama im 
Spanien bat feinen Gracioſo, am meiften aber leiftete man in 
diefer Hinfiht in Frankreich. — Vorhin ſchon erwähnten wir 
die Stadt Arzano, gleichfalld in Campanien; vielleicht giebt es 
heutzutage feinen Ort in der Chriftenheit, welcher fo eifrig in 


(655) 


40 


der Aufführung geiftlicder Schaufpiele wäre, als diefer. Bor 
allen Dingen liebt man dort biblifche Stoffe, verſchmäht aber 
auch die Legende nicht. Niemals ift man dort auf den Ge⸗ 
danfen gekommen, irgend ein leichtes Luſtſpiel aufzuführen, alſo 
dasjenige zu gründen, was wir unter Liebhabertheater verftehen. 
Lebtered ift überhaupt in Süditalien ebenjo unbelannt, wie 
öffentliche Zanzjalond und Biergärten. Arzano hat ein reiches 
Repertoir und bietet auf feiner bei der Kirche im April er- 
richteten Dühne, einen allbeliebten Wechſel von comedias di- 
vinas y humanas. &8 find kurze Scenen aus ber biblijchen 
Geſchichte, z. B. der fromme Tobias. Cain und Abel, fowie 
Abrahams Opfer. Auf das Coftüm wird mehr Fleiß verwendet, 
al8 auf den Dialog, und wir ſehen 3. B. den Erzvater Abraham 
mit dem [chönften Turban und weiten Beduinen⸗Mantel geziert. 
Biöweilen wird auch Moſes vor Pharao aufgeführt, wobei der 
erftere leife an den Marquis Poſa und der leptere, „ein ftolzer 
König, an Land und Siegen reich,* ſehr an Philipp IL, „io 
finfter und fo bleich,“ erinnert. — Der Dramendichter, welcher, 
wie wir erfuhren, feine Dichtungen auf Beftellung lieferte (ge 
druckt find fie nicht), thäte wohl, wenn er die biblifche Geſchichte 
recht jorgfältig ftudirte. 

Diefe Bemerkung gilt audy von einem Drama, welches all» 
jährliy am Tage St. Pietro und Paolo, 29. Juni, in Soccavo, 
einer Meinen Stadt bei Neapel, unter gewaltigem Zulauf auf» 
geführt wird. Dieſes recht arme Städtchen verwenbet jährlich 
anfehnliche Koften auf die Erbauung einer bunt außsftaffirten 
Bühne, fowie auf dad Engagement von Schaufpielern auß dem 
benachbarten Neapel. Soccavo ift das einzige uns befannte 
Beiipiel, daß man ein geiftliches Schaufpiel auf öffentliche Koften 
durch Bühnenmitglieder darftellen läßt. Die Kinder des Städt- 
leins willen die8 Drama ungefähr auswendig, wie wir und 
überzeugten, die Aufführung jchließt fi an die Veſper an und 


geihieht bei Beleuchtung. Das Schaufpiel, -betitelt: „Leben 
(556) 


41 


md Tod St. Pauli,” bringt vom Leben bed letzteren fehr wenig, 
denn berjelbe begegnet und nur im Gefaängniß, wo er längere 
Monologe und gelegentlih dem ihn beiuchenden Kater Nero 
dogmatiſche Vorträge hält. Der Verfaſſer hat nicht das leifefte 
BDerftändni für die hiſtoriſche Geftalt eined Paulus, diefer ift 
bem Berfafler ein santo wie alle anderen, die Geftalten eines 
Paulus, eined Antimo, eine Salvatore find nach einem und 
demjelben Leiften gearbeitet. Die Hauptperfon jener Tragedia 
ift nicht Paulus, fondern der im Kaifermantel wild agirende, 
zulebt von Wahnfinn gepadte Kaiſer Nero. Die Schlubfcene 
zeigt und die Apotheofe ded Paulus, der im bengalifcher Be⸗ 
leuchtung, von Engeln umgeben, dafteht und von einem Feuer: 
wert geehrt wird, welches die Senfter klirren und die Wände 
zittern macht ??). 

Auf einer für diefen Zweck eigens errichteten Bühne ein 
dialogifirted Paſſionsſchauſpiel alljährlich darzuftellen, war 
auf Sieilten Bid 1860 allgemeine Sitte. Die einzelnen Rollen 
wurden ſtets von Privatperjonen übernommen, die Koften durch 
eine Collecte beftritten und vielfah in Hinficht der fcenifchen 
Ausrüftung, des Coſtüms ebenfo Großartiges geleiftet, wie man 
died bei den pantomimiichen Darftellungen gewohnt war. Bei 
Errichtung der Bühne auf öffentlichem Pla benubte man vielfach 
auch angrenzende Gebäude, um 3. B. die Scenen vor dem 
Palaft des Pilatus in großartiger Weile vorzuführen. Es tft 
noch nicht lange ber, dab man auf einem der Theater Palermos 
ein Paffionsſchauſpiel aufführte. — Nah allen und gewordenen 
Nachrichten ward bei dieſen Schaufpielen faft immer ein Drama 
aus dem vorigen Sahrhundert benußt, welches fidy meift an die 
bibliſche Erzählung anſchließt. Leider war ed und bisher nicht 
möglich, in den Beſitz eines Exemplares zu gelangen. 

Ber um die Weihnacdhtözeit die Städte Campaniens be⸗ 
fucht, wird an den Strabeneden große, farbige Theaterzettel er⸗ 


blicken, anf denen zu lejen fteht: La Nascita del Verbo uma- 
(657) 


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nato (die Geburt des menichgeworbenen Wortes). — Biswellen 
heißt ed: Il vero lume fra l’ombra (da8 wahre Licht in ber 
Zinfterniß), bisweilen: La Cantata dei Pastori (der Hirten- 
gefang). Wie auch der Titel lauten mag, es it immer ein und 
dafjelbe Drama, welches auf über hundert Bühnen in ganz 
Campanien alljährlich) aufgeführt wird, in Neapel auf allen 
Bolkstheatern und dann in der heiligen Nacht zweimal, erfte 
Borftelung um 12 Uhr, die zweite um 2 Uhr. Der Volks⸗ 
zulauf ift in der Nacht der Art, dab man fürchten muß, er« 
drüdt zu werden, weöhalb man wohlthut, eine Borftellung vor, 
oder nach Weihnacht zu wählen. Kein Bühnenfpiel ift beim 
Bolfe Sampaniens fo beliebt, als diejes, und wären Dichter 
Krönungen noch Sitte, fo würde man fidher dad Haupt des Ber 
fafferd Dr. Cafimir Ruggiero Ugone??) mit dem Lorbeer be= 
franzen. Das genannte Weihnachtöfpiel ift voll Leben und 
Friſche, im Mebrigen ein Unicum, welches in nordiihen Landen 
dem Bann der Polizei verfallen würde. — Der Prolog madıt 
und mit der Idee ded Dramas bekannt. In demfelben tritt 
anf der Fürft der Finſterniß, Pluto genannt, der von der bevor» 
ftehenden Geburt des Meifiad Kunde erhalten und bejchlieht, 
ben Plan des Himmeld zu nichte zu machen. Er ruft feine Ge 
fellen, „Surien” genannt: Asmodeo, Belfegor, Aftarotte, Belzebu, 
und diefe ftellen fich dem Gebieter zur Verfügung. Das Drama 
ift in 3 Acte getheilt. Perſonen find Maria und Joſeph, auf 
der Reiſe nady Betlehem begriffen, der Engel Gabriel, welcher 
bald als Reifender, bald als Hirte, bald als Sibylle auftritt, 
und den zwei obgenannten bei den beftändigen Nachſtellungen 
des fatanifchen Pluto Schuß gewährt. Der Hauptteufel, Bel⸗ 
fegor, hüllt ſich in verichiedene Geftalten, er ift bald „Dämon“, 
bald Räuber, bald Wirth, bald Satyr, aber ftet3 der Todfeind 
Maria’d. Dazu agiren alte und junge Hirten und Säger, fowie 
endlich Razullo. Dr. Cafimir Ugone kennt fein Publicum, 


und um demfelben, ald Gegenſatz gegen ernfte Ecenen, ergoͤtz⸗ 
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lihe Unterhaltung zu bieten, führt er und in Razzullo einen 
neapolitanifchen Bagabunden vor, einen verfommenen Schreiber, 
ber auf feiner Irrfahrt in die Hirtengegend von Betlehem ge- 
fommen fft, und dort mit dem echt neapolitaniichen Ruf: 
„Mamma mia!“ in eine Hirtenhütte hineingeräth. Er ſpricht 
den echten, buffanesfen, neapolitanifchen Dialect, geräth nicht 
nur mit den Hirten, jondern auch mit den „Zurien”, ſowie mit 
Joſeph und Maria zujammen, denen er wiederholt aus der 
Noth hilft. Er fährt fie rechtzeitig in einem Boot über den 
Sordan, er hilft einen von Pluto gejendeten Drachen befiegen 
und zeigt der Maria endlich als Bergeort eine Höhle, wofür er 
aber von dem ald Gaftwirth verkleideten Belfegor fürchterliche 
Schläge erhält. Dr. Ugone war ficherlich in der Literatur geift- 
licher Dramen bewandert und wußte, daB feine Vorweſer e8 
liebten, burleske Scenen den ernften gegenüber zu ftellen. Kürzlich 
lafen wir ein Florentiner Drama: Der Kindermord zu Betlehem, 
in welchem die mit ihren Kindlein nad Jeruſalem befohlenen 
Mütter mit einander wort- und handgemein werben, indem fie 
gegenfeitig mit giftigen Stichelreden auf ihre Kinder herfahren, 
eine Scene, wie man fie auf italienifchen Straßen hundertfad 
erleben kann. Razzullo ift ein echter neapolitanijcher Lazzarone, 
gutmüthig, Schlau, voll Humor, immer hungrig und immer mit 
feinem 2008 zufrieden. Unſer Drama bietet raſchen Scenen- 
wechſel, bis zuletzt Belfegor die Betlehemd-Grotte ftürmt, aber 
fiehe da — fie Öffnet fih, man erblidt die Krippe mit dem 
Kinde und Satanas fährt verzweifelt in den Hoͤllenſchlund hinab. 
Dann kommen die Hirten gezogen, dad Kindlein zu ehren, jeder 
bringt eine Gabe und Razzullo erllärt zum Schluß: „Seht 
kehre ich in meine Heimath zurüd, und werde meinen Landö- 
leuten jagen, daB fie feine Goͤtzen, als die Sonne, fowie Caftor 
und Pollur mehr anbeten. Denn mitten in der Finfterniß tft 
bad Licht erſchienen.“ 


(859) 


Anmerkung. 





1) Sm Sabre 1260 riefen die entjeglichen Bürgerfriege Italiens 
in Umbrien jene merkwürdige religiöje Bewegung hervor, welde in den 
Procefiionen der Geißler ihren Ausdruck fanden. Lebtere biegen Fla- 
gellanti, Verberotori, Battuti, fpäter von ihren Liedern auch Laudeſi. 
Als jene Proceifionen aufhörten, ſchloß man fi zu Brüderſchaften zu- 
fammen, die Lauden geftalteten fi) zu Wechjelgefüngen, bald trat der 
Dialog hinzu, indem z. B. Chriftus, Sohannes, Maria ıc. Worte in 
den Mund gelezt wurden. Zwiſchen den Brüderfchaften zeigte ſich Wett- 
eifer, einzelne Zaudendichter, 3. B. da Todi, zeichneten fih aus, und fo 
entitanden einfahe Tramen, die fi) aber an ben Cultus anfchlofien. 
Schon früh hatte man Coftüme, ſceniſche Apparate, und die Fleinen 
Dramen, deren eine ziemliche Anzahl publicirt ift, zeigen Wärme und 
Leben. — Ein foldhed Lauden-Drama bie Divozione, Frömmigkeit. — 
Bol Kraft ift eine Divozione del Venerdi santo (Charfreitag), bie 
mit der Geißelung beginnt. — Es find dies Scenen, welche die Predigt 
bes Sharfreitag unterbrachen. Siehe auch: Klein, Gefchichte des Dramas. 
— Jenes Laudendrama gelangte nad Florenz und fand dort großartige 
ftumme Procellionsichaufpiele vor, mit denen man St. Sohannes, ben 
Stadt-Schußheiligen, ehrt. Dort fanden fi aber auch Dichter, wie 
Belcari, Lorenzo, Mebici, Yulci, welde jene Laudendramen zu größeren 
Dramen funftvoller geftalteten, wobei großartige fcenijche Ausftattung 
nicht fehlte. Als Carl VII. im Sahre 1414 nad Florenz kam, ehrte 
man ihn mit der Aufführung eines Marien-Schaujpiels. 

2) Die Piazza Carbonara, unweit der Porta Sapuana, früher 
weiter ausgedehnt, als jetzt, ift berühmt durch eigenthümliche Schaufpiele. 
Außer Nitterfpielen, welche im ganzen Mittelalter Neapel Glanz ver- 
lieben, wurden dafelbft auch folche aufgeführt, weldhe ben Römiſchen 
Oladiatorenfpielen nicht unähnlich waren. Bon ihnen berichtet Petrarca 
in feinen Briefen an ben Gardinal Colonna mit Graufen und Abfchen. 
Er nennt e8 ein infernalifhes Schaufpiel. — Solche und andere Schau- 
jpiele, Aufzüge u. |. w. waren ficherlich für die Pflege des geiftlichen Schau⸗ 
jpield ein Hinderniß. Jene Kampfipiele des Mittelalters haben in Neapel 
eine feltfame Reliquie hinterlaffen, das Schaufpiel der Steinwurf-Kämpfe, 

(560) 


45 


welches in Schlachtlinien von hunderten der Straßenjungen, Lumpen⸗ 
fammler, heutzutage oft aufgeführt wird, zur Gefahr der Theilnehmer 
und der Paflanten. 

3) Die Kirche des Mittelalters duldete lange Zeit hindurch ein felt- 
james „geiftliches” Scaufpiel, daß nämlich ein mit Biſchofohut und 
Gewand bekleideter Knabe die Yunctionen des Biſchofs nachahmte und 
fogar der Menge die apoftolifcye Benediction ertheilte. Wir würden dies 
eine Berhöhnung nennen, aber der Kirche that es keinen Schaden. Si⸗ 
eilien ift dasjenige Land, welches dieſes Schanfpiel, genannt Piscopello, 
db. b. der Heine Bifchof, am längften fefthielt, troß kirchlicher Verbote. 
Sicilien wird auch die geiftlihen Schaufpiele noch lange bewahren, wenn 
fie vom Feftlande auch vielleicht — nah 100 Fahren? — verfchwinden 
jollten. 

4) Die Sepolcri in den Kirchen find oft wie Schaubühnen geftaltet. 
Man fieht z. B. Pilatus, Maria, Nicodemus, Sohannes, lauter lebens. 
volle, beitens koſtümirte Siguren in Lebensgröße. Nimmt man dazu 
die in Abthl. III zu erwähnenden Wächter, jo ift das Drama vollftändig. 
In einer Kirche Neapels ſah ih den Golgathahügel in gewaltiger 
Dimenfion, dabei und darauf Gruppen der Paſſion, jogar dad Abend» 
Mahl. 

5) Bor reihlih 60 Jahren no ward auf dem Friedhof spiritu 
santo in Rom das jüngfte Gericht aufgeführt, wobei die in den Flammen 
des Fegefeuers ſchmachtenden Seelen figüirlih au fjehen waren. So be 
richtet ein Franzoſe Thomas, in feinem Bud: Un an & Rome 1823. 
Aehnliche Aufführungen geſchahen an zahlreichen anderen Stellen, wobei 
nie die Fegefeuerfcene fehlte. — PVillabianca, ficilianifcher Chronift, er⸗ 
zählt graufige Dinge von einer Triumpfproceſſion des Todes, gejchehen 
in Palermo 1563, Bafari ebenjo von einer wandernden Schauftellung 
in Florenz. 

6) Siehe Burkhardt, Cultur der Renaifjance. 

7) Den Prologos für das wandernde Feitichaufpiel finden wir auf 
Sicilien fehr oft bei den Volksſängern, weldye vorher auf Straßen und 
Dläken das Lob des Santo befannt machen, oft in bramatifcher Be⸗ 
wegung. — Was wir Kanzel (cancelli, Chorſchranken) nennen, nennt 
man in Sübitalien Pulpito. Pulpitum war der vorberite Theil des 
roͤmiſchen Profceniums. Diele Leiftungen von Xobreden auf dieſem Pul- 
pitum find von fehr theatralifcher Natur, erreichen aber ihren Zwed voll. 
fommen. 

8) Das Proceſſionsſchauſpiel zu Ehren Johannes des Täufers in 
Florenz, wie e8 zur Zeit ber Medicher aufgeführt wurde, fteht umerreicht 
an Glanz und Pracht da. Zur Zeit der fpanifchen Vicelönige kam es 


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nad Neapel und bilbete dort das non plus ultra aller Schaufpiele. 
Verfafſer fand Eürzlich eine Reihe von Beridhien. — Diefe Schaufpiele 
find jet ſpurlos verfchwunden, der Cultus des genannten Santo in 
Neapel beinah vergeflen. 

9) Als ein höchft eigenthümliches, pomphaftes Schaufpiel, welches 
jedesmal die Kirche in ein Theater verwandelt, erwähnen wir noch bie 
Krönung der Madonna, d. h. eines durch Mirakel befonders angefehenen 
Bildes, oder einer Statue. Der Vatikan fendet das goldene Diadem 
durch einen Prälaten. Bor zwei Sahren war ein foldhes, aud mit 
gigantifcher Proceffion verbundenes, Schaufpiel in Neapel. In der 
Nationalbibliothet zu Neapel laſen wir fürzli Relationen über foldye 
Schaufpiele im vorigen Sahrhundert, wo Unglaublidhes in fcenifcher 
Pracht geleiftet wurde, auch der koͤnigl. Hof eine Rolle fpielte. 

10) Diefen Gegenftand behandelt ein jpanifches Sronleihnams-Feft- 
ſchauſpiel. 

11) Beim obgenannten Johannesfeſt in Florenz erblickte man in 
der Proceifion Riefenkarren mit entfprechenben fcenifchen Einrichtungen. 
Bon Zeit zu Zeit hielten fie an und dann führte man auf berjelben eine 
biblifche Scene auf. Jede Karre hieß: Edifizio, d. 5. Gebäude. Man 
hatte im Sahre 1454 beim Sohannesfeft im Ganzen 22 Gebäude, bie 
Procejfion dauerte 10 Stunden, bargeftellt ward z. B. der Engelskampf 
gegen Zucifer, Schöpfung ber eriten Menſchen u. ſ. w. Der Zug ber 
heiligen drei Könige hatte 200 Pferde! 

12) de Nino, Usi abruzzesi, bat ſchätzenswerthe Beilräge zur 
Kenntniß feiner Abruzzenheimath geliefert, es fehlt ihm aber jedes Ber 
ftandnig für den Sinn und Werth uralter heiliger Bräuche und feine 
Aufzeichnungen verlegten den Leſer durch ipöttifche Bemerkungen. Wenn 
bie Tagesprefſe jolche Bräuche erwähnt, jo hat fie dafür faft nur Achſel⸗ 
zuden und Spott. Das „Volk“ lieft feine Zeitungen. 

13) Eine Ähnliche dramatifche Procejfion war bis vor Kurzem in 
Meifinn. Mean ſah auf einem Riejenkarren ein Prachtgebäude, darin 
die tobte Madonna, auf der Spike aber Gottvater, der die Seele ber 
Madonna (nämlich ein Tleines Mädchen) in der Hand hielt. Siehe 
Poliorama pittoresco, 1839, wo aud Abbildung. — Zur Kenntniß 
Siciliens leiften tie Nuove Effemeridi, ſowie einzelne Monographien, 
bie im Staube öffentlicher Bibliotheken Tiegen, werthvolle Beiträge. 

14) Hierüber ausführlich ein Artikel des Verfafſers: „Die Lilien 
des St. Paulinus,” in ber allgem. ev.-Iuth. Kirchenzeitung. 1888. 

15) Zu Ehren ihrer Diadonna führen die Fifcher und Taucher von 
St. Lucia (Neapel) alljährlih ein Schaufpiel im Waſſer auf, Schwimm- 

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und Taucher-Wettlänpfe, zur Crinnerung an das im Waffer angeblich 
gefundene Bild. Vorher geht eine Proceifion mit Neptun ıc. 

16) Sn Galabrien ift es gewöhnli, daß gewifle Ehrenleiftungen 
bei Proceffionen an den Meiftbietenden bei öffentlicher BVerfteigerung in 
der Kirche vergeben werben. 


17) Nach dem Bericht eines Freundes herrfcht in den albanefifchen 
Solonien Salabriens eine ähnlihe Sitte. In der Gegend von Pescara 
ift berühmt der blinde Sänger Mungià, man fhildert ihn als einen 
Homer. 

18) Der Dialect Siciliens jagt: La volata d’angilu. 

19) Hierüber ausführlih Artikel des Verfaffers: Daheim. 1884. 

20) Das ganze Sahr hindurch werben auf diefem Theater Ritter- 
jhaufpiele aufgeführt, auch ift das Theater von allen in Neapel das 
einzige, welches hiſtoriſche Schaufpiele (3. B. Conradin) bietet. Die 
Leiſtungen find vorzüglich in ihrer Art. 

21) Die Kirche und das Volk rechnen immer noch nady der alt- 
italienifchen Zeiteintheilung. Die Zeit von einem Sonnenuntergang zum 
andern zerfällt in 24 Theile oder Stunden. Das niedere Bolt kennt 
unjere Uhr nicht. 

22) Die Schauſpiele St. Antimo und Salvatore find gebrudt, 
ebenjo das nachher genannte Weihnachtsſpiel. Andere, 3. B. das Leben 
Pauli, eriftiren nur im Manufeript. Wir haben in unferer Daritellung 
teineswegs alle und befannten Dramen erwähnt. In Averfa wird all- 
jährlih St. Georg aufgeführt. Dies ift eine freundliche Stadt Cam⸗ 
paniend, am derjelben Stelle, wo dad antike Atella lag. Die Mutter 
rõmiſcher Volkspofſen, Fabulae Atellanae genannt. Bor Jahrhunderten 
bat Averja eine Maſſe geiftlicher Dramen probucitt. 

23) Wer diefer Mann tft, wann er Iebte, ob er noch lebt, weiß 
Berfaffer nicht. „Des Königs Namen meldet Fein Lied, kein Helden- 
buch.” Ich vermuthe, daß fein Drama nicht in neuer Zeit verfaßt ift. 
Der Raum verftattet uns nicht, aus dieſem, fowie aus anderen Dramen 
Stellen zu citiren. Sie find alle in Profa gefchrieben. — Jenes Weih- 
nachtsdrama jahen wir einige Male aud auf einer größeren Bühne 
Neapels, wo der Engel Gabriel bei jeder Gelegenheit von oben nieber- 
ftieg und die Hölle einen möglichft großen Ların machte. Anflatt einer 
fomifchen Figur, des Razzullo nämlich, traten zwei dieſer Art auf und 
die beiteren Scenen wurden ſehr verlängert, oft fogar von jenen beiden 
ertemporirt, ganz wie in den Bolfspofien der Römer. Eine neapoli- 
taniſche BVolfsbühne, die fogenannte Arena Napoletana an der Molo» 
ſtraße ift neuerdings verſchwunden. — Zu den „geiſtlichen“ Schaufpielen 
könnten wir auch die Aufzüge bei Leichenbegängniffen rechnen, ſtumme 

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48 


Scenen zwar, aber doch jehr ſprechend. Noch zu Anfımg diefes Jahr⸗ 
hunderts waren fogar die Aufzüge bei Hinrichtungen ein Schauſpiel, bei 
dem — ſeltſam zu jagen — die komiſche Figur nicht fehlte, nämlich ein 
Stanbartenträger auf einem mageren Roß, deſſen Knochen man zählte, 
der Reiter mit einer Rieſenfeder verfehen, weshalb das Volk ihn ſcherzend: 
Il Pennone (die große Feder) nannte. 

Nach dem Bericht eined Freundes in Spanien wird in Madrid 
alljährlich am Charfreitag auf der Bühne ein Paſſionsſchauſpiel auf. 
geführt. 


Druck von Behr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17a. 


ebenfo einleuchtende und annchmbare Weile Schwierigkeiten Heben, welche beſtehen 
bleiben, wenn man fih an den Buchftaben halten will, und man muß gewifie 
Erklärungdverfude, um nicht zu janen Erliärer-Kapriolen, kennen, um zu würdigen, 
was auf tiefem Felde geleiitet worden ift. Weber einzelne Punkte fünnte man 
mit dem Berfafler rechten, an einigen Stellen, wie bei Grttärung des Gleichniffes 
von den klugen und den thörichten Jungfrauen, möchte man größere Ausführlich 
feit wünfcen, in jedem Yale haben wir mit einem Bude zu thun, das als die 
Frucht gründlicher, ehrlicher und nußenbringender Arbeit anzufehen ift. 

Der „Schwäbiiche Merkur“ in Nr. 146 v. 24. Zunt 1885: Dieied Buch 
des freifinntgen Predigers in Bremen ift nicht für foldye, die Erbaunng ſuchen, 
jontern für auftlärungfudende Leſer, die kein Arg daran finden, daß die Bücher 
ber heiligen Schrift wie andere jchriftliche Urkunden geprüft und auf die Glaub⸗ 
würdigfeit ihrer Beftandteile angeſehen und unterjuht werden. Der Berfafler 
nimmt dadurch für fih ein, dab er vollkommen freimütig ih ausipridht und nicht 
etwa den Verſuch macht, durch erbaulide Zuthaten die bitter ſchmeckende Wahr: 
heit, die er darreichen will, anmutender und einjchmeichelnder zu maden. Was 
die kritiſche Grundlage feiner Ausführungen betrifft, To ift ed eine jelbftffändige 
Aneignung der neueren Evangelienkitif, an weldyer die Tübinger Schule einen 
fo hervorragenden Zeil hat, und die troß des fortdauernden Streites über Einzel 
beiten doch im Großen und Ganzen zu feftflehendeu Graebnifien gelangt ift. 
Nun will aber dad Buch von Schwalb nicht etwa dieſe kritiſchen Unteriuhungen 
popularifiren, wie man dies ja auch ſchon verjuct bat, fondern jeine Eigentün: 
lichleit befteht darin, daB es eine fortdauernde Erklärung ded ganzen Tertes in 
jeinem logiſchen Znſammenhang gibt. Der Xert wird zu diefem Behuf in feine 
natürlichen Abſchnitte gelegt und deren Inhalt — ſowohl die Erzählung, ald die 
Reden Jeſu — kritiſch geprüft, wobei beſonders auf die Verſchiedenheit der 
evangel. Berichte aufmerfiam gemacht, aber auch die innere Staubwärdigeit der 
berichteten Borgänge und Reden unterfudt wird. Es geichieht dies in einer 
furzgefaßten, allgemein verfiändlichen Darftelung, welche ſich bemüht, das Ber: 
Kandnis der Schrift dadurch Ah fürdern, daB das Ungeſchichtliche aufgezeigt, das 
* vom Unächten das Bleibende vom VBergänglichen und Beralteten andge- 

ieden wird. 

Der „ Evangeliich-proteftantifche Kirchenbote für Elſaßz⸗Lothringen“ 
in Nr. 42 vom 17. Dttober 1885: Der VBerfaffer will in en eine 
Erklärung der dunklen Stellen des ganzen Textes in feinem logiichen Zuſammen⸗ 
bang geben und damit eine Eritiihe Prüfung der darin enthaltenen Erzählungen 
fomohl ald der Reden und Ausſprüche Jeſu verbinden. Weberall fol das Geſchicht⸗ 
liche von dem Krdichteten, das Aechte vom Unächten, dad Bleibende vom Ber: 
alteten gejchieden werden... . „Durch feine geliebten hochverehrten Lehrer“ 
&. Auberlen, E. Neuß, R. Rothe, und dur die Schriften nom Auguftin, Calvin, 
Bengel, De Wette, Strauß und Baur „in dad Verſtändniß der weuteftamentlidhen 
Schriften eingeführt,“ wie Dr. Schwalb im „Vorwort“ dantend anerfennnt, geht 
der Berfaffer durchaus feine eigenen Wege, und kommt zu Neiultaten, die von 
denjenigen jener Meifter gar verichieden find. „Schwache im Glauben“ werden 
an Bielem, namentlih an der allegoriihen Auslegungsweiſe Anftoß nehmen und 
ſchwerlich des Verfafſers Abficht anerfennen wollen, „unire eines ncuen religiöfen 
Anfihwungs jo ſehr bedürftigen Zeitgenoffen den Quellen des Lichtes und der 
Kraft um einen Schritt näher zu bringen.“ Und doch wird Letzteres der Fall fein 
bei deuen die mit ernflem Sinn das Buch von Dr. Schwalb ftudiren und von 
dem Beftreben erfült find, Jeſum darum fennen zu lernen, „um durd) ihn ter 
befreienden, befeligenten Wahrbeit näher zu fommen.” Solche Leſer werden vieles 
aus dem Bude lernen und ſchließlich, bei allen die Perfon des Herrn betreffenden 
und widerftrebenden Anfichten, das empfinden, was vie von Dr. Schwalb angeführten 
Worte Schiller's, ohne ed zu wollen, augdrüden: 

„Nicht forſchen will ich, wer du biſt. Ih will 

Nur dich von dir; nichts frag’ ich nach den Andern. 

Daß deine Seele wie dein Urſprung rein, 

Hat mir dein erufter Blid verbürgt und befchworen. 
Deere. Kragt man 

Woher der Sonne Himmeldfeuer flamme? 

Die ale Weit verflärt, erflärt ſich felbit. 

Ihr Richt bezeugt, daß Ne vom Lichte ſtamme.“ 

Die „Zandes:Zeitung für Elfaf:Xothringen‘‘ in Nr. 170 v. 23. Zult 


1885: Eine ganz hervorragende Seiftung, die Frucht eines Iangjäbri en Studiums 
IR Nicke noiftnaflo im Kofkon otolftoen Einno NKod Martoa kritiſche NMrheit- mie niele 


Vorgänger aud ter Terfafier auf tiefem Arbeitäfelde haben mag — und mandıe 
darnnter tragen gewictige, autorative Namen — er hat fi ron ihnen durch eigene 
Grifted: und Herzendarbeit unabhängig gemacht. in gewöhnlicher Kommentar: 
Erklärung dunkler Redeformen und ESätze mit den landläufigen wiſſenſchaftlichen 
Anmerkungen kann nad) dem eben Angedeuteten das vorliegende Werk nicht fein 
— es ift eine Erklärung des ganzen Textes in feinem logiſchen Zufammenhang. 
eine kritiſche Prüfung Des ganzen Inhalts, der tarin gegebenen Erzählungen 
fowohl als der Reben und Ausſprüche Jeſu. Möge die edle Abfidht des Ver- 
fafjerd, in unfere des religiöfen Aufihwungs fo fehr bebärftige Zeit, uns durch 
fein Wert neue Quellen des Licht und Der Kraft zuzuführen, ya erfüllen! 

Der „Fränkiſche Sinrier‘‘ im Unterhaltungeblatt Nr. 19 v. 10. Mai 1885: 
An der Hand eines Geiſtlichen, dem über dem Studium der Dogmatik ſich dic 
Augen für Kritik nicht geträbt haben und der eine unbefangene Hr die Schön: 
En der Btanbendquellen ebenfo empfänglicye wie für den orientaliihen Bilder: 

nn der „Bier Evangelifien” anfmerfiame Auffaffung überall berbäligt, führt das 
Buch durdy die vielumftrittenen Berichte über Leben und Wirken des Stifterd Der 
Hanptreligton der abendländiichen Völker. 

Die „Breslauer Zeitung‘ in Nr. 510 vom 24. Inli 1885: Ein Bud, 
frei von allem gelehrten Ballaft, geiftvol und feflelnd gefchricben, durchweg Far 
und bündig. Rückhaltlos giebt der Verf. das Ergebniß ſeiner Korihung, auch wo 
er ficher jein kann, anznftoßen. Wo er überzeugt ift, ed mit Ungefhidtiidem zu 
thbun zu baben, da jeßt er den Schlüſſel der allegoriihen Erklärung an, nit 
willkürlich, ſondern fo, daß er fi in das allegorifirende Denken der Edhriftfteller 
hinein verjeßen will. Dieje Methode hat ihre gute Beredhtigung; freilich fommt 
fe in dem Buche im Mebermaße zur Anwendung. Das hindert jedoch nit, daß 
der Leſer auch ta, wo die allegoriihe Erklärung zu fein geironnen ift, oder nicht 
bingebört, mandyerlei Anregung empfange. Dann unt wann läßt der Verf. ganz 
interefiante Echlaglihter auf die Gegenwart in Form kurzer Pemerkungen fallen. 

Die „Bofener Zeitung’ in Nr. 397 nom 10. Juni 1885: Seit Schleier⸗ 
machers theologiiher Wirkjamteit ald Prediger und Univerfitätslebrer, namentlich 
fett der Herausgabe feiner Schrift: „Der hriftlihe Glaube nah den Grundſfätzen 
der evangelifchen Kirche“ ... . beionters aber feit der Zeröffentlichung (1835) des 
„Leben Sen durch David Friedrich Strauß ift in die theologiiche Weitanſchauung 
nicht nur bei den proteftantiihen Theologen, jondern auch und zwar in verftärftem 
Maße bei deu Laien ein friiched Leben gedrungen. 

Dem einfidhtöpollen Theologen unferer Zeit, dem Laien von höherer Bildung, 
welcher durch geiftige Anlage und die Stimmung feines Gemüths nicht in der 
Lage war, die umeingeichränfte philoiophiihe Weltanſhauung an Stelle der 
theologiſchen zu ſetzen, genügte die ftrenge „Bibelgläubigkeit“ nicht mehr, weil fie 
mit den Anforderungen der Vernunft nicht in allın Stücken in Einklang zu bringen 
war. Sein Gemäth verlangte aber ftatt des reinen fühlen Aethers der Deitofopbie, 
einen feften, warmen, lebensſprießenden Boten für fein religiöſes Empfluden und 
Denken, den er in der Bibel, namentlid aber in den Evangelien fand. Seit 
Schleiermacher bat eine lange Reihe begakter Theologen daran gearbeitet, dem 
für das religiöfe Bedürfnig in der Bibel aufgefpeicherten Stoff, ohne fidy durch 
„Autoritäten“ beirren zu lafien, mit den geiftigen Anforderungen der moderuen 
Kultur und mit der durch diche bedingten neueren Weltunfbanung in Einklang zu 
bringen. Tie Forſchungen diefer Theologen waren vor Allem darauf dam 
fowohl über die Perſon des Etifterd Der chriſtlichen Religion das fiher Gedicht: 
liche, ald audy in Bezug auf die Dogmen dad der Vernunft nit offenbamider: 
fireitende dem religiöjen Bedürfniß zu übermitteln, 

Der Berfaffer der oben genannten Schrift ift beftrebt, in biefer Richtung 
weiter und zwar mit Erfolg zu arbeiten. Er giebt „eine Erklärung des ganzen 
Textes (der vier Evangelien) in feinem logijchen Zufanımenhang und eine Eritiiche 
Prüfung jeined ganzen Inhalts, der darin gegebenen Erzählungen fowohl als ber 
Reden und Ausiprüche Jeſu“. Zu den Gıgüblungen wird überall das Geſchicht⸗ 
lihe, fo weit ed vorhanden tft, von dem Ungeicichtlichen, in den Worten Jeſu 
das Echte vom Unechten, in beiten Beftandtheilen das Schöne vom Unſchönen, 
das Gute vom Schlechten, Das Bleibende vom Beralteten geichieden. Eine mög: 
Ih genaue Kenntnig des geſchichtlichen Chriftus iſt für deu Verfafler, ſowie 
für alle Dielmigen, die an feinen Etandpuntt beranreichen, der Hauptzweck, den 
man beim Leſen der Evangelien zu erftrchen bat. DaB der Berfafler in der 
nd eined Stoffes fietd Eritiich verfährt, obne dem Hyperkritizismus zu 
verfallen, ergiebt die Lektüre feines Werkes. 


ůö—— 000000... 48P 
x 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlider Vorträge, 


herausgegeben von — 
Nud. Virchow und ar von dolsendorſ. 


— - + —— ra W nn Ku 


XX. Gerie. 


(Heft 457 — 480 umfaflen».) 


——— — zw zo 


Heft 472. 


Das Blei 
bei den Völkern des Alterthums. 


Bon 


8. 8. Hofmann. 


EP 


Serlin SW., 1885. 


DBerlag von Carl Habel. 


(C. &. Tüderitg'sche Beriagsbuchhandinng.) 
33. RWilhelm-T traße 83. 


° 3 


d RO 








WE SE wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beadhten. “ug 


In demfelben Verlage wird demnächſt erfcheinen: 


Die chemiſche Natur der Mineralien. 
Syſtematiſche Zufammenftellung 


von 


C. 3. Rammelsherg, 


Doctor und Brofeflor, Director des II. Chemiſchen Inftituts, Mitglied der Alademie 
Diflenfchaften zu Berlin. 


Dreid ca. 3 Mark ord. 


Die Kenntniß der chemiſchen Natur der Mineralien ift nicht bloß für den 
Mineralogen und Geologen, fondern aud für den Chemiker eine Noth⸗ 
wendigkeit. Dieje, gleih Allen, welche heut zu Tage fih mit Chemie und 
Mineralogie beihäftigen, haben Das Bedürfnig, ſich zunächſt eine Weberficht über 
die chemiſche Natur der wichtigften Mineralien zu verjhaffen und „ymen vorzugs⸗ 
weile fol das vorliegende Werk gewidmet fein. 





Sn den früheren Serien der „ Sammlung” erjcienen: 


Mineralogie nnd Geologie. 


(37 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 50 Pf. = 18,50 M. Auch 24 Hefte und mehr 
diefer Kategorie nad) Auswahl (menn auf einmal bezogen) A 50 Pf.) 


Berendt, Geognoſtiſche Blicke in Alt» Preußens Urzeit. (1412) . 2... 60 
Braun, Alex., Die Eiszeit der Erde. 2. vermehrte Aufl. (94). . . M.1.— 
Darkundı Die Skandinaviſche Halbinfel. Eine geolagiidhe Skizze. a). 75 
jerulf, Die Eiszeit. Mit 6 Holzihnitten. (293,94)... 0... 1.6 
— , Eintge Chronometer der Geologie. Mit 12 olafäintiten. (352/53) WM. 1. so 
Klee eld, Der Diamant. Mit 17 Holzſchnitten. (24)... 2... M. 
— , Die Edelſteine. Mit 6 Holajchnitten. (2777)7. u” 
— , Die Halbedelfteine. (334). - » 2 2 00 en ren. 80 
Laſaulx, Der Streit über die Entſtehung des Bafaltee. (78) re. 60 
artens, Purpur und Perlen. Mit Holzſchnitten. (214) . . M. 1.20 
ARD, Erdbeben und Bulfane Mit einer Kupfertafel. (202) . . M. 1.20 
Noe gerath, Sa Der Laacher See und feine vulkaniſchen Umgebungen. (104) 60 
—, Der Torf. (2308.. 75 
Hammelöberg, Ueber die Meteoriten und ihre Beziehung zur Erde. (151) 60 
— , Die Gewinnung von Gold und Silber. (379) . . . 2: 202000. 60 
vom Nath, Der Veſnp Eine geologiſche Skizze. Mit 1 Pithograpbie und 
1 Kreidezgeihnnng. (185). oo 2 0 0er .. M. 1.60 
—, Ueber den Granit. Mit 2 lithograpbirten Tafeln. (300/301). . . M. 1.60 
— Ueber das Gold. (324/325) - eo 2 nennen M. 1.20 
Renich, Ueber Vulkauismus. Nach dem Mannſcript des Verfaflerd aus dem 
Norwegiſchen übertragen von M. Otto Herrmann. (424) . ...» M. 1.— 
Roemer, Ueber die älteſten Formen des organiſchen Lebens auf der Erde. 
2 Abz. (OD). on 60 
8 Ueber die Steinloblen. 2 Abz. (19). 75 
ie geologifhe Bildung der norddentihen Ebene. (111) 2. Aufl... @ 75 
‚ Siußwafler, Meerwafler, Steinfal.. (306). . . » 2. 222000 .. 75 
—, Ueber die Eröbeben. (390). - > - 2 2 0 0 m er ren ne 80 
unge, Der Bernftein in Of: Preußen. Mit 1 Titelbild und 10 in ben 
Text einaedrudten Holzihnitten. 2 Abz. (55/86). » . - 22.0. M. 1.60 
v. Seebach, Der Builan von Santorin nah einem Beſuche im März und 
April er ejhtidert. Mit einem Holzichnitt. 2. Aufl. (38)... ... 80 


Ueber die Wellen des Meeres und ihre geologiſche Bebentubn. (153). 60 
nhrig, Ueber das Vorkommen und die Entftehung des roölß, —8 mM. 1.— 
er, Der Graphit und feine wichtigften Anwendungen. (160). . . . . 60 
Zaddach, Die ältere Tertiärzeit. Ein Bild aus der Himitelnagsgefärläte 
der Erde. 2. Abz. (B6) oe oo 00 er rerree 60 
Hr Die Umwandelungsproceffe im Mineralreih. (136). .. .... - 60 
tttel, Die Kreide. Mit 4 Holzſchnitten. (251). 2-2 2 2 80 








6) 


Yas BRlei 


bei den Dölfern des Alterthums. 


Karl 
8. 8. Hofmann, 
o. 3. Profeffor der Univerfität zu Graz. 


SPP 





Ü 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel 


(€. 8. Lüderitg'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 38. 


Das Recht der Meberjehung im fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


(Eine unabfehbare Meihe von Sahrtaufenden, welche troß 
des eifrigen Bemühens zahlreicher Sorfcher in faum mehr als 
bämmernden Umriflen vor unferem geiltigen Blicke erftehen, 
verlebte die Menſchheit die Kindheitöftufe ihrer Bildung ohne 
Kenntniß der Metalle. Begenftände aud dem Thierreihe und 
der Pflanzenwelt: Mufcheln, Zähne und Federn oder Blumen 
und Ichönfarbige Früchte entiprachen damals — wie noch jebt 
bei manchen „wilden" Stämmen — dem in dad menſchliche 
Gemüth tief eingepflanzten Verlangen nad Schmud; während 
Stein und Holz dad Material abgab für Waffen und die erften 
einfachen Geräthe. 

As Fpäte Zeugen jener weit zurüdliegenden Kultur-&poche 
vagen in hiſtoriſche Zeiten einzelne Erſcheinungen herein. Lange 
nachdem ſchon Bronzegeräthe gebräuchlich find bedient fich der 
aztelifche Priefter des geſchärften Zlintiteind bei feinen grauen» 
haften Feindesopfern; in einem aus Papyrus geflochtenen Boote 
treibt der Zeitgenofje der Rameſſiden den Nil hinab; in Kähnen, 
welche aus Thierfellen zujammengenäht find, unternimmt der 
Britanne noch zu Cäſars Zeit feine gefahrvolle Fahrt nach dem 
gegenüberliegenden %eftlande. 

Der Zeitpunkt, in welchem der Menſch die Metalle kennen 
lernt und ſich nutzbar macht, bezeichnet einen wichtigen Abfchnitt 
in feiner Entwidelung. Nicht alle auf einmal erfcheinen fie am 
Horizonte der Gulturgefchichte. Erſt wird er mit den in ber 
Natur gediegen vorlommenden Metallen, welche durch ihren 


Glanz fich feinen kindlichen Sinnen aufdrängen, befannt: Gold, 
xx. 472. 1* (567) 


4 


Silber, Kupfer dienen ihm ald Schmud und ald Tauſchmittel; 
aus leterem verfertigt er auch feine Waffen. Später lernt er 
die leicht auöbringbaren Metalle, Zinn und Blei, endlich auch 
Eiſen gewinnen, nachdem fchon viel früher ihn ein glüdliches 
Ungefähr gelehrt hat, die kulturhiſtoriſch wichtigfte Legirung — die 
Bronze, berzuftellen. Und jelkft die lebten Jahrhunderte fügen 
neue Metalle hinzu, jeine gefteigerten Bedürfniſſe zu be» 
friedigen. 

Nur felten gedenkt felbit der Gebildete, indem er ſich eines 
metallenen Gegenftanded bedient, der Vorgeſchichte ded Stoffes, 
aus dem das Geräthe hergeitellt ift. 

Sei ed mir geftattet in den folgenden Blättern zu zeigen, 
welche Verwendung eines der unanjehnlihften Metalle — das 
Blei — bei den Völkern der alten Welt gefunden hat. 

Die meilten Metalle haben nicht zu allen Zeiten die gleiche 
tehnifche Bedeutung gehabt. Neue ausgiebigere Crzlager, 
oder verbefjerte Verfahren, durch welche ein Metall aus feinen 
Erzen leichter umd billiger zu gewinnen iſt, beftimmen feine 
audgebreitetere Anwendung, und andere Metalle oder fonft ver» 
wendete Stoffe werden durdy dafjelbe zum Theil verdrängt. 
Selbft vor den Augen der Mitlebenden vollzieht ſich ja noch 
immer der gleiche Hergang — Zink erjebt in vielen Fällen die 
Stelle, weldye im vorigen Sahrhundert Blei, Zinn und Weiß- 
blech einnahm, und der eiſerne Leviathan Löft den hölzernen 
Dftindiafahrer ab. 

Die Kenntniß des Bleies reicht jo weit zurüd, als überhaupt 
fchriftliche Denkmäler und Kunde geben von dem Bildungdgrade 
unjeres Geſchlechtes. Das Blei findet fich zwar in der Natur 
nur felten in gediegenem Zuftande, und dann immer nur in 
jehr geringer Menge; fein meiſt verbreiteted und reichhaltigftes 
Erz aber — der Bleiglanzg — geftattet, wie nur wenige Erze, 


eine leichte Gewinnung ded Metalld. 
(568) 


5 


Einft, jo erzählt Poſidonius (bei Strabo) ſei in Turdetanien 
— der Gegend um bad heutige Sevilla — durd; einen Wald⸗ 
brand das Stiber und Gold in der Erde gefchmolzen und durch 
das Sieden am die Oberfläche gelangt, „denn die ganzen Ges 
birge dafelbft enthielten den Goldftoff aufgeipeichert”. No 
gegenwärtig lebt unter den nomadifhen Türken die Sage, ihre 
Boreltern ſeien in einem der Thäler des Altat ringdum von 
eifenhaltigen Gebirgen eingeichloffen gewejen, bis durch eine 
Feuersbrunſt das Sifengeftein ſchmolz, und ihnen fo der Verkehr 
mit der übrigen Welt eröffnet ward. 

Wenn wir in diefen Sagen mehr ald einen bloßen Verſuch 
erblicken dürften zu erklären, wie die Menſchen auf die Spur 
geleitet worden find, aus Erzen Metalle zu gewinnen, fo koͤnnten 
wir wohl annehmen, dab fie auf Ähnliche Art auch zuerft zur 
Kenntniß des Bleies gelangt feten. 

Drei der älteften Völker, — Repräſentanten dreier ganz 
verfchiedener Stämme — die Aegypter, Inder und Hebräer 
erwähnen in ihren älteften fchriftlichen Denkmälern des Bleies. 

In den Zributliften und Beuteverzeichniffen des größten 
der Pharaonen, Thutmes TIL, welcher vor mehr ald 3 Sahr« 
taufenden dad Volk im Nilthal beherrſcht und jeine fiegenden 
Waffen weit nach Aſien getragen hat, lefen wir von erbeutetem 
oder abaeliefertem Blei. Bon Zuneb im Lande Naharain 
(Mefopotamien) bringen feine Heere Blei heim; dad Land Zahi, 
von phöntzifchen Stämmen bewohnt, die Ruthen, ein Völker⸗ 
bund an ber kanaganitiſchen Küfte, welde fpäter von ben 
Hebräern befeßt worden ift, müflen unter andern Tributgegen⸗ 
ftänden auch Blei liefern. 

Sm Tempel .Ramfes II. zu Medinet-Aba jieht man ſolche 
Bleiziegel oder vielmehr Iängliche Platten mit abgerundeten 
Winkeln dargeftellt; auf ihnen lieft man in Hieroglyphenſchrift 
das Wort taht eingefchrieben, das fich mit geringer Lautänderung 


(669) 


48 


Scenen zwar, aber doch jehr ſprechend. Noch zu Anfang diefes Jahr⸗ 
hunderts waren fogar die Aufzüge bei Hinrichtungen ein Schaufpiel, bei 
dem — ſeltſam zu jagen — die komiſche Figur nicht fehlte, namlich ein 
Standartenträger auf einem mageren Ro, deſſen Knoden man zählte, 
der Reiter mit einer NRiejenfeder verfehen, weshalb das Volk ihn ſcherzend: 
Il Pennone (die große Feder) nannte. 

Nah dem Bericht eined Freundes in Spanien wird in Mabrid 
alljährlich am Charfreitag auf ber Bühne ein Paffionsihaufpiel auf- 
geführt. 


(564) 
Drud von Behr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17 a. 





ebenſo einleudhtende und annchmbare Weile Schwierigkeiten heben, welche beſtehen 
bleiben, wenn man ſich an den Budftaben halten will, nnd man muß gewifle 
Erklärungsverſuche, um nicht zu jaren Erliärer-Kapriolen, fennen, um zu würdigen, 
was auf tiefem Felde geleiftet worden ift. Weber einzelne Punkte könnte man 
mit dem Berfafler rechten, au einigen Stellen, wie bei Erklärnng des Gleichniſſes 
von den Flugen und den thörichten Jungfrauen, möchte man größere Ausführlich: 
feit wünſchen, in jedem alle haben wir mit einem Bude zu thun, das als die 
Frucht gründlicher, ehrlicher und nußenbringender Arbeit anzufehen ift. 

Der „ Schwäbiiche Merkur“ in Pr. 146 v. 24. Juni 1885: Dieied Buch 
des freifinnigen Predigers in Bremen ift nidyt für foldhe, die Erbauung Inden, 


jontern für aufflärungjuhende Lejer, die fein Arg daran finden, He; die Bücher 


der heiligen Schrift wie andere jchriftlihe Urkunden geprüft und auf tie Glaub⸗ 
würdigfeit ihrer Beſtandteile angejehen nnd unterfuht werden. Der Verfaſſer 
nimmt dadurch für fi ein, daß er volllommen freimütig ſich ansipricdht und nicht 
etwa den Berfuh macht, durch erbaulidhe Zutbaten die bitter ſchmeckeude Wahr: 
beit, die er darreihen will, anmutender und einjchmeichelnder zu maden. Was 
die kritiihe Grundlage feiner Ausführungen betrifft, fo ift ed eine jelbftftändige 
Aneignung der neneren Evangelitenkritit, an welcher die Tübinger Schule einen 
fo hervorragenden Zeil hat, und die troß des foridanernden Streites über Einzel: 
heiten doh im Großen nnd Ganzen zu feftfiehendeu CErgebniffen gelangt ift. 
Nun will aber das Buch von Schwalb nicht etwa diefe kritiichen Unterludungen 
popularifiren, wie man died ja auch ſchon verjuct bat, jondern feine Eigentüm:- 
lichkeit befteht darin, daB es eine fortdaucınde Erklärung des ganzen Tertes in 
feinem logiſchen Zufammenhang gibt. Der Text wird gu btefem Behuf tn feine 
natürlihen Abſchnitte gelegt und deren Inhalt — fowohl die Erzählung, als die 
Reden Zen — kritiſch geprüft, wobei befonderd auf die Verſchiedenheit ber 
evangel. Berichte aufmerkiam gemacht, aber auch die innere Glaubwürdigkeit der 
berichteten Borgänge und Reden unterfuht wird. Es geichteht dies im einer 
furzgefaßten, allgemein verfiändlichen Darftelung, melde ji bemüht, das Ber 
ſtändnis der Schrift dadurd) Rh fürdern, daB das Ungeſchichtliche amfgezeigt, das 
5* om Unächten das Bleibende vom Vergänglidhen und Beralteten andge- 
ieden wird. 

Der „Evangeliicheproteftantifche Kirchenbote für Elfaf- Lothringen‘ 
in Nr. 42 vom 17. Dttober 1885: Der Verfafjer will in diefem —— eine 
Erklärung der dunklen Stellen des ganzen Textes in feinem logiſchen Zuſammen⸗ 
part geben und damit eine kritiihe Prüfung der darin enthaltenen Erzählungen 
owohl als der Reden und Ausiprüde Jeſu verbinden. Weberall foll das Geſchicht 
lie von dem Crdichteten, das Aechte vom Unächten, das Bleibende vom Ver: 
alteten gefchieden werden... . „Durch feine geliebten bochverehrten Lehrer“ 
&. Anberlen, E. Reuß, R. Rothe, und durch die Schriften nom Auguftin, Calvin, 
Bengel, De Wette, Strauß und Baur „in das Verftändniß der neuteitamentlichen 
Schriften eingeführt,” wie Dr. Schwalb im „Vorwort“ dantend anerfennnt, geht 
der VBerfafler durchaus jeine eigenen Wege, und kommt zu Neiultaten, die von 
denjenigen jener Meifter gar verjchteden find. „Schwahe im Glauben" werden 
an Bielem, namentli an der allegoriihen Auslegungsweile Anftoß nehmen und 
ſchwerlich des DVerfafferd Abſicht anerkennen wollen, „unjre eines neuen religidjen 
Aufihwungs fo ſehr bedürftigen Zeitgenoffen den Quellen des Lichtes und der 
Kraft nm einen Schritt näher zu bringen.“ Und doch wird Letzteres der Fall fein 
bei deuen die mit ernftem Sinn dad Bad) von Dr. Schwalb ftudiren und von 
dem Beitreben erfüllt find, Jeſum darum fennen zu lernen, „um durch ihn ter 
befreienten, befeligencen Wahrheit näher zu kommen.“ Solche Leſer werden vieles 
ans den Bude lernen und ſchließlich, bei allen die Perfon des Herrn betreffenden 
und widerftrebenden Anfichten, das empfinden, was Lie von Dr. Schwalb angeführten 
Worte Schiller'3, ohne ed zu wollen, auddräden: 

„Nicht forſchen will ich, wer du biſt. Ih will 
Nur did von dir; nichts frag’ ich nad den Andern. 
Daß deine Seele wie dein Urſprung rein, 
Hat mir dein erufter Blid verbürgt und beichworen. 
.ö ragt man 
Woher der Sonne Himmeldfeuer flamme? 
Die alle Welt verklärt, erflärt ſich felbft. 
Ihr Licht bezeugt, DaB ſte vom Lichte ſtamme.“ 
Die „Randessfeitung für Elfaf-Xothringen‘! in Nr. 170 v. 23. Zuli 
1886: Eine ganz hernorragende Leiftung, Die Frucht eined langjährigen Studiums 


IR Hiala nalliun ala I iuma KA Mausar Bulssl ib. wmta aiala 


Vorgänger auch der Verfaſſer auf tiefem Arbeitäfelde haben mag — und mande 
darunter tragen gewichtige, autorative Namen — er bat fi) ron ihnen durch eigene 
Grifted- und Herzensarbeit unabhängig gemadit. Ein gewöhnlider Kommentar: 
Erklärung dunfler Redeformen und Sähe mit den landläufigen wiſſenſchaftlichen 
Anmerkungen Tann nad) dem eben Angedenteten das vorliegende Werk nicht jein 
— es ift eine Erklärung des ganzen Tertes in feinem logiſchen Zuſammenhang. 
eine Kritiihe Prüfung ded ganzen Inhalts, der darin gegebenen Erzählungen 
jowohl als der Reden und Ausſprüche Jeſu. Möge die edle Abſficht des Ber: 
fafjerd, im unfere des religiöjen Aufſchwungs fo ſehr bedürftige Zeit, une durd) 
fein Werk neue Quellen des Lichts und der Kraft zuzuführen, fich erfüllen! 

Der „Fränkiſche Kurier“ im Unterhaltungeblatt Nr. 19 v. 10. Mai 1886: 
An der Hand eines Weiftliihen, dem über dem Studium der Dogmatik fi dic 
Augen für Kritik nicht getrübt haben und der eine unbefangene Mir die Schön⸗ 
Ha der Slaubensquellen ebenfo empfängliche wie für den orientalifchen Bilder: 

nn der „Bier Evangeliften“ aufmerfiame Auffafjung überall bethättigt, führt das 
Buch durch die vielumftrittenen Berichte über Leben und Wirken des Stifters der 
Hauptreligion der abendländiſchen Völker. 

Die „Breslauer Zeitung’ in Nr. 510 vom 24. Auli 1885: Ein Bud, 
frei von altem gelehrten Ballaft, geiftvoll und fefjelnd geichricben, durchweg klar 
nnd bündig. KRüdhaltios giebt der Verf. das Ergebniß feiner Forichung, auch wo 
ex fidher jein Fann, anzuftoßen. Wo er überzeugt tft, es mit Ungeſchichtiichem zu 
thun zu haben, da ſetzt er den Ecdlüffel der allegorifchen Erklärung an, nicht 
willkürlich, jondern fo, daß er fi in Das allegorifirende Denken der Schriftſtellet 
hinein verjegen will. Diefe Methode hat ihre gute Berechtigung; freilich kommt 
fie in dem Bude im Uebermaße zur Anwendung. Das hindert ſebdoch nicht, daß 
ber Leſer audy da, wo die allegoriihe Erklärung zu fein geiponnen ift, oder nicht 
bingebört, mandyerlet Anregung empfange. Dann unt wann läßt der Berf. ganz 
interefjante Echlaglichter auf die Gegenwart in Form kurzer Remerkungen fallen. 

Die „Poſener Zeitung“ in Nr. 397 vom 10. Juni 1885: Seit Scleier⸗ 
machers theologijcher Wirkjantteit ald Prediger und Univerfitätsiebrer, namentlid 
jeit der Herausgabe feiner Schrift: „Der chriſtliche Glaube nach den Srundfägen 
der evangeliſchen Kirche“ ... . beionderd aber feit der Veröffentlichung (1885) bed 
„Leben Sera duch David Friedrih Strauß ift in die theologiſche Weltanfhanung 
nicht nur bei den proteftantiichen Theologen, ſondern auch und zwar in verftärktem 
Mape bei den Laien ein friiches Leben gedrungen. 

Dem einſichtsvollen Theotogen unjerer Zeit, dem Laien von höherer Bildung, 
weldher dur geiftige Anlage und die Stimmung feines Gemüths nicht in der 
Lage war, die uneingeſchränkte philofophiihe Weltanfbauung an Stelle bet 
theologiſchen zu feßen, genügte bie ftrenge „Bibelgläubigfeit“ nicht mehr, weil fic 
mit den Anforderungen der Bernunft nicht in allen Stüden in Einklang zu bringen 
war. Sein Gemäth verlangte aber ftatt des reinen fühlen Aethers der Philoſophie, 
einen feften, warmen, lebendfpriegenden Boten für fein religiöſes Empfinden umd 
Denken, den er in der Bibel, namentlich aber in den Evangeiien fand. Seit 
Schleiermacher bat eine lange Reihe begabter Theologen daran gearbeitet, dem 
für dad reiglöle Bedürfniß in der Bibel aufgefpeiherten Stoff, ohne ſich durd 
„Autoritäten“ beirren zu laffen, mit den geiftigen Anforderungen der modernen 
Kultur und mit der durch dieje bedingten neueren Weltanfbaunng in Einklang zu 
bringen. Die Beriäungen diefer Theologen waren vor Allem darauf FH 
ſowohl über die Perjon des Etifterd der chriſtlichen Neligton das fiher Geſchicht⸗ 
liche, als audy in Bezug auf die Dogmen dad der Vernunft nicht offenbanWider⸗ 
ftreitende dem religiöfen Bedürfniß zu übermitteln. 

Der Berfaffer der oben genannten Echrift ift beftrebt, in diefer Richtung 
weiter und zwar mit Erfolg zu arbeiten. Er giebt „eine Erflärung des ganzen 
Textes (der vier Evangelien) in feinem logiſchen Zuſammenhang und eine Fritilche 
Prüfung feines ganzen Zepau, der darin gegebenen Erzählungen ſowohl als der 
Reden und —2 Jeſu“. In den —A wird überall das Geſchicht⸗ 
liche, ſo weit ed vorhanden iſt, von dem Ungeſchichtlichen, in den Worten Jeſu 
bad Echte vom Unehten, in beiden Beftandtheilen das Echöne vom Unichönen, 
das Gute vom Schlechten, das Bleibende vom Beralteten geichteden. Cine mög‘ 
lichft genaue Kenntniß des geſchicht lichen Chriftus tft für dem Berfafler, ſowie 
für alle Diejenigen, die an feinen Standpunkt beranreihen, der Hanptzwed, ben 
man beim Leſen der Evangelien zu erftrchen bat. Daß der Verfaſſer in der 
nung eines Stoffes ftets Eritifch verfährt, ohne dem Hyperkritizismus zu 
verfallen, ergiebt die Lekiüre jeines Werkes. 


— —— 1492 


8 x 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 
wiffenfhaftlider Vorträge, 


— — — 


herausgegeben von ⸗ | 


AHud. VBirchow und ’ Br. von welbendorf. | 


-— — — —“«⸗ —E led Kal 9 Ze BE 2 in Ge 


XX. Serie. 


(Heft 457 — 480 ınnfaflend.) 


NEL EI TEILS LI LIL LEN 


Heft 472. 


Das Blei 
bei den Völkern des Blterihums. 


"Bon 


RB. 8. Hofmann. 


EP 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(€. 8. Tüderity'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilgeln-Etrabe 33. 


RO 





Bu 55 wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. u 





In demfelben Berlage wird demnächſt erfcheinen: 


Die chemiſche Natur ver Mineralien. 
Syſtematiſche Zufammenftellung 


von 


C. 3. Rammelsberg, 


Doctor und Brofeffor, Divector bes II. Chemtichen Sr en Mitglied der Akademie 
der Wiffenichaften zu Berlin. 


Preis ca. 3 Mark ord. 


Die Kenntniß der chemiſchen Natur der Mineralien tft nicht bloß für den 
Mineralogen und Geologen, fundern audy für den Chemiker eine Noth⸗ 
wendigfeit. Dieje, gleich Allen, welche heut zu Tage fih mit Chemie und 
Mineralogie beihhäftigen, haben das Bedürfniß, ſich zunächſt eine Ueberficht über 
die hemiiche Natur der widhtigften Mineralien zu verjchaffen und „yunen vorzuge- 
weile jol das vorliegende Werk gewidmet fein. 





In den früheren Serien der „Sammlung“ erjchienen: 


Mineralogie und Geologie. 
(37 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 60 Pf. = 18,50 M. Auch 24 Hefte und mehr 
biefer Kategorie nady Auswahl (wenn auf einmal bezogen) A 50 Pf.) 


Berendt, Gengnoftiihe Blicke in Alt: Preußen Urzeit. (112) . -.... 60 
Braun, Aler., Die Eidzeit der Erde. 2. vermehrte Aufl. (9)... M. 1.- 
artung, Die Standinavifhe Halbinjel. Eine grologiice Skizze. (283 75 


stjerulf, Die Eiszeit. Mit 6 Holzſchnitten. (293,94). . 0...» . t. 1.60 

Einige SChronometer der Geologie. Dit 12 olafäniiten. (352/53) WM. 1.60 
Rlee ed, Der Diamant. Mit 17 Holzinitten. (241) . ..- 2.20. M. 1 

ie Edelſteine. Mit 6 Holaichnitten. (277) » . - 2200200. 30 

—, Die Halbedelfteine. (234). . - - -- 0er nenne 80 

v. Lafauir, Der Streit über die Entſtehung des Baſaltes. (78) oe... 60 

v. Martens, Purpur und Perlen. Mit Holzſchnitten. (214) . . M. 1.20 


Mh, Erdbeben und Bulfane. Mit einer Kupfertafel. (202). . . . M. 1.20 
Roeggerath, Jac.., Der Laacher See und feine vulkaniſchen Umgebungen. (104) 60 
75 


er Torf. (2308. 
Nammeisberg, Ueber die Meteoriten und ihre Beziehung zur Erde. (151) 60 
— , Die Gewinnung von Gold und Silber. (379) . . . 2 en 0n cn. 60 
vom Nath, Der Befun. Eine genlogifhe Skizze. Mit ı Fitbographie 

1 Kreidezeihnung. (185). © 2 2 00 or een ne M. 
—, Ueber den it it 3 lithographirten Tafeln. (300/301). . . M. n ‚60 
— Ueber das Gold. (324/325) » » u 0 nr nenne M. 1.20 
Nenich, Ueber Bulfanismusd. Nach dem Manufcript des Verfaſſers aus dem 
Norwegiſchen übertragen von M. Otto Herrmann. (424)... . M. 1.— 


Noemer, Weber die älteften Formen des organiihen Lebens auf der Erde. 


2 Abz. (DD): 220 0 

or Ueber die Steintoblen. 2 Ab. (19). 2 202000 75 

ie geologtihe Bildung der norbdeutichen Ebene. (111) 2. Aufl... @ 75 

—, Zlußwafler, Meerwafler, Steinfalz. (306). -. ». . - 2220020. 75 

— ‚ Ueber die Erdbeben. (3 9050..... 80 
Runge, Der Bernftein in Oft: Preußen. Mit 1 Titelbild und 10 in den 

Text eingedrudten Holzichnitten. 2 Abz. (55/56). » 2-2... M. 1.60 
v. Seebach, Der Vulkan von Santorin nad einem Beſuche im März und 

April 1866 gel@iibert. Mit einem Holzichnitt. 2. Aufl. (38)... .. - 80 

‚ Meber die Wellen des Meeres und ihre geologiiche Bedeutung. (153). 60 


uh 3— Ueber dad Vorkommen und die Entſtehung des Erdöols. (438). M.1.— 
Der Graphit und feine widhtigften Anwendungen. (160). . . . . 60 

Bad a, Die Ältere Tertiärzeit. Ein Bild aus der Entwidelungsgefchichte 
der Erde. 2. Abz. (BE) > 2 00 nee 60 
er Die Ummwandelungöprocefie im Mineralreih. (136)... ..-. .» 60 
ittel, Die Kreide. Mit 4 Holzſchnitten. (OB). 2 2 2 oem 80 


6) 


Yas „lei 


bei den Dölfern des Alterthums. 


Bon 


Karl 
8. 8. Hofmann, 
o. d. Brofeffor der Univerfität zu Graz. 


GP 





Ü 
Berlin SW., 1885. 


Verlag von Carl Habel 


(C. 8. Lüderitg’sche Berlagsbuchhandlang.) 
33. Wühelm-Straße 33. 


Das Recht der Heberfehung m fremde Sprachen wird vorbehalten. 


(Sine unabfehbare Reihe von Sahrtaufenden, welche troß 
bed eifrigen Bemühens zahlreicher Forfcher in faum mehr als 
bämmernden Umriffen vor unjerem geiftigen Blide erftehen, 
verlebte die Menfchheit die Kindheitäftufe ihrer Bildung ohne 
Kenntniß der Metalle. Gegenftände aus dem Thierreiche und 
der Pflanzenwelt: Muſcheln, Zähne und Federn oder Blumen 
und jchönfarbige Früchte entſprachen damals — wie nody jetzt 
bei manchen „wilden Stämmen — dem in dad menſchliche 
Semüth tief eingepflanzten Verlangen nah Schmud; während 
Stein ımd Holz dad Material abgab für Waffen und die erften 
einfachen Geräthe. 

Als fpäte Zeugen jener weit zurüdliegenden Kultur-Epoche 
ragen in biftorijche Zeiten einzelne Erſcheinungen herein. Lange 
nachdem ſchon Bronzegeräthe gebräuchlich find bedient fich der 
azteliſche Prieſter des gejchärften Flintſteins bei feinen grauen- 
baften Feindesopfern; in einem aus Papyrud geflocdhtenen Boote 
treibt der Zeitgenofje der Rameſſiden den Nil hinab; in Kähnen, 
welche aud Thierfellen zufammengenäht find, unternimmt der 
Britanne noch zu Cäſars Zeit feine gefahrvolle Fahrt nach dem 
gegenüberliegenden %eftlande. 

Der Zeitpunkt, in welchem der Menſch die Metalle kennen 
lernt und ſich nußbar macht, bezeichnet einen wichtigen Abfchnitt 
in feiner Entwidelung. Nicht alle auf einmal erjcheinen fie am 
Horizonte der Culturgeſchichte. Erſt wird er mit den in ber 
Natur gediegen vorlommenden Metallen, weldye durch ihren 
Glanz ſich feinen kindlichen Sinnen aufdrängen, befannt: Gold, 


xx. 472. 1* (567) 


46 


nad Reapel und bildete dort das non plus ultra aller Schaufpiele. 
Derfaffer fand fürzlich eine Reihe von Berichten. — Diefe Schaufpiele 
find jegt fpurlos verfchwunden, der Cultus des genannten Santo in 
Neapel beinah vergeffen. 

9) Als ein hoͤchſt eigenthümliches, pomphaftes Schaufpiel, welches 
jedesmal die Kirche in ein Theater verwandelt, erwähnen wir nodh bie 
Krönung der Madonna, d. h. eines durch Mirakel beſonders angejehenen 
Bildes, ober einer Statue. Der Vatikan fendet das goldene Diadem 
durch einen Prälaten. Bor zwei Jahren war ein folches, auch mit 
gigantifcher Proceſſion verbundenes, Schaufpiel in Neapel. Sn der 
Nationalbibliothet zn Neapel laſen wir kürzlich Relationen über foldhe 
Scaufpiele im vorigen Sahrhundert, wo Unglaublidhes in fcenifcher 
Pracht geleiftet wurde, auch der königl. Hof eine Rolle fpielte. 

10) Diefen Gegenftand behandelt ein ſpaniſches Fronleichnams⸗Feft⸗ 
ſchauſpiel. 

11) Beim obgenannten Sohannesfeft in Florenz erblickte man in 
ber Proceffion Riefenkarren mit entfprechenden fcenifchen Einrichtungen. 
Bon Zeit zu Zeit hielten fie an und dann führte man auf derſelben eine 
biblifche Scene auf. Sebe Karre hieß: Edifizio, d. h. Gebäude. Man 
hatte im Sahre 1454 beim Johannesfeſt im Ganzen 22 Gebäude, die 
Proceifion dauerte 10 Stunden, dargeftellt ward z. B. ber Engelsfampf 
gegen Lucifer, Schöpfung ber erſten Menſchen u. ſ. w. Der Zug ber 
heiligen drei Könige hatte 200 Pferde! 

12) de Nino, Usi abruzzesi, hat fchäßenswerthe Beiträge zur 
Kenntniß feiner Abruzzenheimath geliefert, es fehlt ihm aber jedes Ver⸗ 
ftändniß für den Sinn und Werth uralter heiliger Bräuche und feine 
Aufzeichnungen verlegten ben Leer durch Ipöttifche Bemerkungen. Wenn 
bie Tageöprefje jolhe Bräuche erwähnt, fo hat fie dafür faft nur Achſel⸗ 
zuden und Spott. Das „Voll“ lieſt Feine Zeitungen. 

13) Eine ähnliche dramatifche Procejfion war bis vor Kurzem in 
Meifin. Man jah auf einem Rieſenkarren ein Prachtgebäude, darin 
bie todte Madonna, auf der Spitze aber Gottvater, der die Seele ber 
Madonna (nämlih ein kleines Mädchen) in ber Hand hielt. Siehe 
Poliorama pittoresco, 1839, wo aud Abbildung. — Zur Kenntniß 
Siciliens leiften fie Nuove Effemeridi, jowie einzelne Monographien, 
bie im Staube öffentlicher Bibliotheken liegen, werthvolle Beiträge. 

14) Hierüber ausführlich ein Artikel des Verfafſers: „Die Lilien 
des St. Paulinus,” in der allgem. ev.-Iuth. Kirchenzeitung. 1883. 

15) Zu Ehren ihrer Madonna führen die Fiſcher und Kaucher von 
St. Lucia (Neapel) alljährlid ein Schauſpiel im Waffer anf, Schwimm- 


(563) 


47 


und Zaucher-Wettlämpfe, zur Erinnerung an dad im Waffer angeblich 
gefundene Bild. Vorher geht eine Proceifion mit Neptun ıc. 

16) Sn Galabrien ift es gewöhnlih, daß gewifle Ehrenleiftungen 
bei Proceffionen an den Meiftbietenden bei öffentlicher Berfteigerung in 
der Kirche vergeben werben. 


17) Nah dem Bericht eines Freundes herrſcht in den albaneſiſchen 
Colonien Salabriens eine ähnlide Sitte. In ber Gegend von Pescara 
ift berühmt der blinde Sänger Mungià, man fchildert ihn ald einen 
Homer. 

18) Der Dialect Sieiliens fagt: La volata d’angilu. 

19) Hierüber ausführlih Artifel des Verfaſſers: Daheim. 1884. 

20) Das ganze Fahr hindurch werden auf diefem Theater Ritter 
fchaufpiele aufgeführt, auch ift das Theater von allen in Neapel das 
einzige, welches hiſtoriſche Schaufpiele (3. B. Conradin) bietet. Die 
Leiftungen find vorzüglich in ihrer Art. 

21) Die Kirche und das Volk rechnen immer noch nach der alt« 
italtenifchen Zeiteintheilung. Die Zeit von einem Sonnenuntergang zum 
andern zerfällt in 24 Theile oder Stunden. Das niebere Volk Tennt 
unjere Uhr nicht. 

22) Die Schaufpiele St. Antimo und Salvatore find gedrudt, 
ebenjo dad nachher genannte Weihnachtsſpiel. Andere, 3. B. das Leben 
Pauli, eriftiren nur im Manufcript. Wir haben in unferer Darftellung 
keineswegs alle uns bekannten Dramen erwähnt. Im Averfa wird all» 
jährlih St. Georg aufgeführt. Dies ift eine freundliche Stadt Cam⸗ 
paniens, an berfelben Stelle, wo das antike Atella lag. Die Mutter 
römijher Bolkspoffen, Fabulae Atellanae genannt. Bor Jahrhunderten 
hat Averja eine Maffe geiftlicher Dramen producitt. 

23) Wer diefr Mann ift, wann er lebte, ob er noch lebt, weiß 
Berfaffer nicht. „Des Königs Namen meldet Fein Lied, Fein Helden- 
buch.” Sch vermuthe, daß fein Drama nicht in neuer Zeit verfaßt ift. 
Der Raum verftattet uns nicht, aus dieſem, fowie aus anderen Dramen 
Stellen zu citiren. Sie find alle in Profa gefchrieben. — Jenes Weih- 
nachtsdrama jahen wir einige Male auch auf einer größeren Bühne 
Neapels, wo der Engel Gabriel bei jeder Gelegenheit von oben nieder 
ftieg und die Hölle einen möglichft großen Lärm machte. Anftatt einer 
tomifchen Figur, des Razzullo nämlich, traten zwei dieſer Art auf und 
die beiteren Scenen wurben ſehr verlängert, oft jogar von jenen beiden 
ertemporirt, ganz wie in ben Volkspoſſen der Römer. ine neapoli. 
tanifche Volksbühne, die fogenannte Arena Napoletana an der Molo» 
ſtraße ift neuerdings verjchwunden. — Zu den „geiftlihen” Schaufpielen 
koͤnnten wir auch die Aufzüge bei Leichenbegängnifien rechnen, ftumme 

(568) 


48 


Scenen zwar, aber doch jehr ſprechend. Noch zu Anfang dieſes Jahr⸗ 
hunderts waren fogar die Aufzüge bei Dinrichtungen ein Scaufpiel, bei 
dem — feltjam zu jagen — die komiſche Figur nicht fehlte, nämlich ein 
Standartenträger auf einem mageren Roß, deſſen Knochen man zählte, 
der Reiter mit einer Riefenfeder verfehen, weshalb das Volk ihn fcherzend: 
Il Pennone (die große Feder) nannte. 

Nah dem Bericht eines Freundes in Spanien wird in Madrid 
alljährlich am Charfreitag auf der Bühne ein Paffionsihaufpiel auf 
geführt. 


(564) 
Drad von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17 a. 


ebenfo einleuchtende und annchmbare Weiſe Schwierigkeiten Geben, weldhe beſtehen 
bleiben, wenn man fih an den Buchſtaben halten will, und man muß gewiffe 
Erklärungsverſuche, um nicht zu janen Erfiärer-Kapriolen, kennen, um zu würdigen, 
was auf tiefem Felde geleiftet worden ift. Weber einzelne Punkte fünnte man 
mit dem Berfafier rechten, an einigen Stellen, wie bei Erfiärung des Gleichnifies 
von den klugen und den thörichten Zungfrauen, möchte man größere Ausführlich: 
feit wünſchen, in jedem Falle haben wir mit einem Buche zu thun, das als die 
Frucht grändlicher, ehrlicher und nußenbringender Arbeit anzujehen ift. 

Der „Schwäbiſche Merkur“ in Nr. 146 v. 24. Zuni 1885: Dieied Buch 
des freifinnigen Predigers in Bremen ift nicht für foldhe, die Erbauung fudhen, 
jontern für aufflärungfuchende Leſer, die fein Arg daran finden, va die Bücher 
der heiligen Schrift wie andere jchriftliche Urkunden geprüft nnd auf die Glaub- 
würdigkeit ihrer Beftandteile angejehen und unterfucht werden. Der Verfaſſer 
nimmt dadurch für fi ein, daß er vollfommen freimätig fih ausſpricht und nicht 
etwa den Verſuch macht, durch erbauliche Zutbaten die bitter ſchmeckende Wahr: 
beit, die er darreichen will, anmutender nnd einfchmeichelnder zu maden. Was 
die kritiſche Grundlage feiner Ausführungen betrifft, To ift es eine fjelbftfkändige 
Aneignung der neueren Evangelienfritit, an welcher die Tübinger Schule einen 
fo hervorragenden Zeil hat, und die troß des foridanernden Streites über Einzel: 
heiten do im Großen und Ganzen zu feftftebendeu Ergebnifien gelangt ift. 
Nun will aber dad Bud von Echwalb nicht etwa dieje kritiſchen Anterindmngen 
poputarifiren, wie man dies ja auch ſchon verfucht bat, jondern feine Eigentüm- 
lichkeit befteht darin, daB ed eine fortdauernde Erklärung bed ganzen Tertes In 
feinem logiſchen Infammenhang gibt. Der Tert wird zu diefem Behuf im feine 
natürlichen Abſchnitte gelegt und deren Inhalt — ſowohl die Erzählung, als die 
Reden Jeſu — kritiſch geprüft, wobei beſonders auf die Verſchiedenheit der 
evangel. Berichte aufmerliam gemadht, aber auch die innere Glaubwürdigkeit der 
berichteten Borgänge und Reden unterfuht wird. Es geichteht dies im einer 
furzgefaßten, allgemein verftändlihen Darftellung, welde fih bemüht, das Ber: 

ändnis der Schrift dadurch Ah fürdern, daß dad Ungeſchichtliche aufgezeigt, das 
h he vom Unädhten das Bleibende vom Vergänglichen und Beralteten andge- 
eden wird. 

Der „ Evangeliidhproteftantifche Stircheunbote für Elſaß⸗Lothringen“ 
in Nr. 42 vom 17. Öttober 1885: Der Verfafier will in diefem Kommentar eine 
Erklärung der dunklen Stellen des ganzen Textes in feinem logiſchen Zufammen: 
one geben und damit eime Eritiihe Prüfung der darin enthaltenen Erzählungen 
owohl als der Reden und Ausiprüche Zeju verbinden. Weberall fol das Geſchicht⸗ 
lie von dem Erdichteten, das Aechte vom Unächten, das Bleibende vom Ber: 
alteten gefchieden werden... . „Durch feine geliebten hochverehrten Lehrer“ 
C. Anberlen, E. Neuß, R. Rothe, und dur die Schriften von Auguftin, Galvin, 
Bengel, De Wette, Strauß und Baur „in das Verftändniß der neuteitamentliichen 
Schriften eingeführt,“ wie Dr. Schwalb im „Vorwort“ dankend anerkennnt, geht 
der Berfaffer durchaus jeine eigenen Wege, und kommt zu Neiultaten, die von 
denjenigen jener Meifter gar verichteden find. „Schwache im Glauben“ werden 
an Bielem, namentlid an der allegoriſchen Auslegungsweiſe Anftoß nehmen und 
ſchwerlich des Verfaſſers Abficht anerkennen wollen, „unfre eines neuen religiöfen 
Aufihwangs fo ſehr bedürftigen Zeitgenofjien den Quellen des Lichted und der 
Kraft um einen Schritt näher zu bringen.” Und doch wird Leptereö der Fall jein 
bei deuen die mit ernftem Sinn dad Buch von Dr. Schwalb ftudiren und von 
dem Bestreben erfüllt find, Sejum darum fennen zu lernen, „um durch ihn ter 
befreienden, beieligenten Wahrheit näher zu kommen.“ Solche Leſer werden vieles 
aus dem Bude lernen nnd ſchließlich, bei allen die Perfon des Herrn betreffenden 
und widerftrebenden Anfichten, das empfinden, was die von Dr. Schwalb angeführten 
Worte Schiller’d, ohne es zu wollen, ausdrüden: 

„Nicht forſchen will ich, wer du bil. Ich will 
Nur dich von dir; nichts frag’ ih nady den Andern. 
Daß deine Seele wie dein Urjprung rein, 
Hat mir dein erufter Blid verbürgt und beſchworen. 
Deere een. Fragt man 
Woher der Sonne Himmeldfener flamme? 
Die ale Weit verflärt, erflärt ſich felbft. 
Shr Richt bezeugt, daß fie vom Lichte ſtamme.“ 
Die „Landes:geitung für Elfad-Xothringen‘’ in Nr. 170 v. 23. Juli 


1885: Eine ganz hervorragende Keiftung, die Frtucht eines langiäbri en Studiumd 
3 Nislo noiftnalle im hoften cholften Sinno Koa Mnartoäa Pritiiche Mrheit: mie niele 


Vorgänger aud ter Terfafler auf tiefem Arbeitöfelde haben non — und mande 
darunter tragen gewictige, autorative Namen — er hat ſich von Ihnen durch eigene 
Grifted: und Herzensarbeit unabhängig gemacht. Ein gewöhnlider Kommentar: 
Erklärung dunkler Redeformen und Sätze mit den landläufigen wiſſenſchaftlichen 
Anmerkungen fann nach dem eben Uingedeuteten das vorliegende Werk nidıt ſein 
— es ift eine Erklärung des ganzen Textes in feinem logiihen Zuſammenhang,. 
eine Eritiihe Prüfung des ganzen Inhalts, der Tarin gegebenen Erzählungen 
fowohl als ber Reden und Ausſprüche Jeſu. Möge die edle Abfidıt des Ber: 
fafſers, in unjere des religiöjen Auffhwunge fo fehr bedürftige Zeit, und durch 
fein Wer? neue Quellen des Lichts und der Kraft zuzuführen, ſich erfüllen! 

Der „Fränkiſche Siurier’‘ im Unterhaltungeblatt Nr. 19 v. 10. Mai 1885: 
An der Hand eines Geiftiihen, dem über dem Studium der Dogmatik ſich Die 
Augen für Kritit nicht geträbt haben und der eine unbefangene Mir die Schön⸗ 
Hal der Glaubensquellen ebenjo empfängliche wie für den orientaliihen Bilder: 

nn der „Bier Evangeliften”“ anfmerfiame Auffafjung überall bethätigt, führt das 
Buch durch die vielumftrittenen Berichte über Kıben und Wirken des Stifters Der 
Hauptreligton der abendländiichen Völker. 

Die „Breslauer Zeitung‘ in Nr. 510 vom 24. Juli 1886: Ein Buch, 
frei von allem gelehrteu Ballaft, geiftuol und feflelnd geſchrieben, durchweg Mar 
und bündig. Nüdhaltlos giebt der Berf. das Ergebniß feiner Forſchung, auch wo 
er fidher fein kann, anzuftopen. Wo er überzeugt tft, ed mit Ungeſchichtiichem zu 
tbun zu haben, ba feht er den Schlüſſel der allegoriihen Erklärung an, nicht 
willfürlich, fondern fo, daß er fi in Das allegorifirende Denken der Edhriftfteller 
binein verjeßen will. Dieje Methode bat ihre gute Berechtigung; freilich, fommt 
fie in dem Buche im Webermaße zur Anwendung. Das hindert jedoch nit, daß 
der eier audy ta, wo die allegorifche Erklärung zu fein geiponnen ift, oder nicht 
bingehört, mandyerlet Anregung empfange. Daun und wann läßt der Verf. ganz 
intereflante Echlaglichter auf die Gegenwart in Zorm kurzer Femerkungen fallen. 

Die „Poſener Zeitung“ in Nr. 397 vom 10. Zuni 1886: Seit Scleier⸗ 
machers theologiſcher Wirkjanteit als Prediger und Univerfitätdlebrer, namentlich 
fett der Herausgabe jeiner Schrift: „Der uriftlihe Glaube nah den Grundfätzen 
der evangelifhen Kirde“ ... . beionters aber feit der Weröffentiichung (1835) des 
„Leben Lern durch David Friedrich Strauß iſt in Die theologiiche Weltanichannng 
nicht nur bei den proteftantiichen Theologen, jondern audy und zwar in veritärttem 
Pape bei den Laien ein friiches Leben gedrungen. 

Dem einſichtsvollen Theologen unjerer Zeit, dem Laien von höherer Bildung, 
welcher durch geiftige Anlage und die Stimmung feines Gemüths nicht in der 
Lage war, die uneingelhränfte philofophiihe Weltanſchauung an Stelle der 
theologifchen zu jeßen, genügte die ftrenge „Bibelglänbigkeit* nicht mehr, weil fic 
mit den Anforderungen der Vernunft nicht in allen Etüden in Einklang zu bringen 
war. Sein Gemüth verlangte aber ftatt des reinen fühlen Aethers der Philofopbie, 
einen feften, warmen, lebensipriependen Boten für fein reliyiöjed Empfinden und 
Denken, den er in der Bibel, namentlich aber in den Evangetien fant. Seit 
Schleiermacher hat eine lange Reihe begabter Theologen daran gearbeitet, dem 
für das religiöle Bedürfnig in der Bibel aufgeipeiherten Stoff, ohne ih durch 
„Autoritäten“ beirren zu lafien, mit den geiftigen Anforderungen der modernen 
Kultur und mit der durch dieſe bedingten neueren Weltaunfbannng in Einklang zu 
bringen. Tie Korfchungen diefer Theologen waren vor Allem darauf denn, 
fowohl über die Perjon des Etifterd der chriſtlichen Religion das fiher Geſchicht⸗ 
liche, ald auch in Bezug auf die Dogmen dad der Vernunft nicht offenbawßider: 
ftreitende dem religiöjen Bedürfniß zu übermitteln. 

Der Berfaffer der oben genannten Echrift iſt beftrebt, in dieſer Richtung 
weiter und zwar mit Erfolg zu arbeiten. Cr giebt „eine Erflärung des ganzen 
Textes (der vier Evangelien) in feinem logiſchen Zufammenbang und eine Eritiidhe 
Prüfung feines ganzen Inhaltd, der darin gegebenen Erzählungen ſowohl als der 
Reden und Ausipriche Jeſu“. In den Erzählungen wird überall Das Geſchicht⸗ 
liche, fo weit ed vorhanden iſt, von dem Ungeſchichtlichen, in den Worten Sein 
dad Echte vom Unechten, in beiten Beftandtbeilen das Schöne vom Unſchoͤnen, 
dad Gute vom Schlechten, dad Bleibende vom Beralteten geihieden. Eine mög. 
lihft genane Kenntnig des geſchicht lichen Chriftus iſt für den Verfafler, ſowie 
für alle Diejenigen, bie an feinen Standpunkt beranreihen, der Hauptzwed, dem 
man beim Leſen der &vangelien zu erftrcben bat. Daß der Berfafler in der 
— eines Stoffes ſtets kritiſch verfährt, ohne dem Hyperkritizismus zu 
verfallen, ergiebt die Lekiüre feines Werkes. 


öůÿ— —— 1.582 


8 x 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 
wiffenfhaftliher Vorträge, 

herausgegeben von — — 


Aud. Virchow und Fr. von Holtzendorff. 


—⸗ - — - sr re Ey us Zu , 


XX. Serie. 
(Heft 457 — 480 umtfaflen».) 


EI — —— INT IM NE 


Heft 472. 


Das Blei 
bei den Dölkern des Alterthums. 


Bon 


RB. 8. Hofmann. 


GP 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. Tüberity'sche Berlagsbuchhandiung.) 
33. Bilhelm-E traße 38. 


08 





& 


De 53 wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. mg 


In demfelben Berlage wird demnächſt erjcheinen: 


Die chemiſche Natur der Mineralien. 
Syſtematiſche Zufammenftellung 


bon 


G. 3. Bammelsberg, 


Doctor und Brofeffor, Director des II. Chemiſchen Sn ituts, Mitglied der Akademie 
r Wiſſenſchaften zu Berlin 


Preis ca. 3 Mark ord. 


Die Kenntniß der chemiſchen Natur der Mineralien ift nicht bloß für den 
Mineralogen und Geologen, fondern auch für den Chemiker eine Noth⸗ 
wendigfeit. Dieje, gleih Allen, weldhe heut zu Tage fi mit Chemie und 
Mineralogie beihäftigen, haben das Bedürfniß, fich zunächſt cine Ueberſicht fiber 
die chemiſche Natur der wichtigften ‘Mineralien zu verichaffen und „yncn vorzugs⸗ 
weile jol das vorliegende Werk gewidmet fein. 


In den früheren Serien der „Sammlung” erfchienen: 


Mineralogie und Geologie. 
(37 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 50 Pf. = 18,50 M. Auch 24 Hefte und mehr 
diefer Kategorie nady Auswahl (wenn auf einmal bezogen) & 50 Pf.) 


Zerendt, Geognoftiihe Blicke in Alt-Preußend Urzeit. (112)... 0. . 60 
Braun, Aler., Die Eiszeit der Erde. 2. vermehrte Aufl. (94). . . m. L.— 
Sartun, Die Standinaviiche Halbinjel. Eine gralogtice Skizze. (283 75 
1 60 


jerulf, Die Eiszeit. Mit 6 Holzichnitten. (293,94)... 0... . 
Einige Chronometer der Geologie. Mit 12 Oele. (352/53) M.1. 60 
Kleefeld, Der Diamant. Mit 17 Holzſchnitten. (24) . 2... 2.0. M. 1 
‚Die Edelſteine. Mit 6 Holzſchnitten. (277—7).. "50 
—, Die Halbedelfteine. (234). - - - - 00er. 80 
v Zafaulg, Der Streit über die Entftehung des Bajfalted. 78) ..... 60 
v. Martens, Purpur und Perlen. Mit Holzſchnitten. (214) . . M. 1.20 
Möhl, Erdbeben und Vulkane. Mit einer Kupfertafel. (202)....M. 1.30 
a Sa Der Laacher See und feine vulkaniſchen Umgebungen. (104) 60 
er Torf. (230. 
Nammeilsberg, Ueber die Meteoriten und ihre Beziehnng zur Erde. (151) 60 
— , Die Gewinnung von Gold und Silber. (379) . . 22m. 80 
vom Hath, Der ! end. Eine geologische Skizze. Mit ı Lithographie und 
1 Kreidezgeihnung. (185). - 2 2 0 0 00er ee M. 1. 
—, Ueber den Granit. Mit 2 lithograpbirten Tafeln. (300/301). . . M. 1.60 
—, Ueber dad Gold. (324/325) - 2 2 mn rennen M. 1.20 
Renich, Ueber Bulfanismusd. Nach dem Manuſcript des Berfaflers aus dem 
Norwegiichen übertragen von M. Otto Herrmann. (424) . ... M. 1.— 
TE Weber die älteften Formen des organiſchen Lebens auf der Erde. 
2 925.. 60 
Rottz Sieber hie Steintohlen. 2 Ab}. (1)... - 220er 75 
ie AHar Bildung der norddentihen Ebene. (111) 2. Aufl... @ 75 
—, Slußwafler, Meerwafler, Steinfalz. (306). - - » - 1 75 
— eber die Erdbeben. BO). one 80 
unge, Der Bernftein in Oft: Prengen. Mit 1 Titelbild und 10 in ben 
Text einnedrudten Holzichnitten. 2 Abz. (55/66). - » 2 220. M. 1.60 
v. Seebach, Der Vulkan von Santorin nad einem Beſuche im März und 
April 1866 gelhüibent. Mit einem Holzichnitt. 2. Aufl. (38)... ..- 80 
‚ Meber die Wellen des Meeres und ihre neologiihe Bedeutung. (153). 60 


" lig, Ueber das Vorkommen und die Entftehung des Sredlß, u M. 1. F 
0 


Er We Der Graphit und ‚jeine widhtigften Anwendungen. (160). . - » . 

bbach, Die Ältere Tertiärzeit. Ein Bild aus der hi felnanögefihlähte 
Se Erde. 2. Abz. (6): 220er 60 

Ser Die Ummwandelnngsprocefie im Mineralreih. (136)... ...-.. 60 
ittel, Die Kreide. Mit 4 Holzſchnitten. (251)... » 2.2: 2 2 een 80 








6 


Yas lei 


bei den Dölfern des Alterthums. 


Karl 
8. 8. Hofmann, 
o. d. Profeſſor ber Univerfität zu Graz. 


GP 





Ü 
Berlin SW., 1885. 


VBerlag von Carl Habel 


(C. 8. Lüberity’sche Berlogsbuchhandlung.) 
83. Wilhelm⸗Straße 38. 


Daß Recht der Heberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


(ine unabjehbare Reihe von Jahrtauſenden, welde trob 
bed eifrigen Bemühens zahlreicher Zorfcher in kaum mehr als 
dämmernden Umriffen vor unſerem geiftigen Blicke erſtehen, 
verlebte die Menjchheit die Kindheitöftufe ihrer Bildung ohne 
Kenntniß der Metalle. Gegenftände aus dem Xhierreiche und 
der Pflanzenwelt: Mufcheln, Zähne und Federn oder Blumen 
und jchönfarbige Früchte entiprachen damals — wie noch jebt 
bei manchen „wilden! Stämmen — dem in das menſchliche 
Gemüth tief eingepflanzten Verlangen nah Schmuck; während 
Stein und Holz dad Material abgab für Waffen und die erften 
einfachen Geräthe. 

Als ſpäte Zeugen jener weit zurüdliegenden Kultur-Epoche 
ragen in biftorifche Zeiten einzelne Erſcheinungen herein. Lange 
nachdem ſchon Bronzegeräthe gebräuchlich find bedient ſich der 
aztelifche Prieiter des gejchärften Flintſteins bei feinen grauen 
haften Feindedopfern; in einem aus Papyrus geflocdhtenen Boote 
treibt der Zeitgenoffe der Rameſfiden den Nil hinab; in Kähnen, 
welche aud Thierfellen zujammengenäht find, unternimmt der 
Britanne noch zu Cäſars Zeit feine gefahrvolle Fahrt nach dem 
gegenüberliegenden Feſtlande. 

Der Zeitpunkt, in welchem der Menich die Metalle kennen 
lernt, und fich nutzbar macht, bezeichnet einen wichtigen Abſchnitt 
in ſeiner Entwickelung. Nicht alle auf einmal erſcheinen fie am 
Horizonte der Culturgeſchichte. Erſt wird er mit den in der 
Natur gediegen vorkommenden Metallen, welche durch ihren 
Glanz fich ſeinen kindlichen Sinnen aufdrängen, befannt: Gold, 


xx. 472, 1 (567) 


48 


Scenen zwar, aber doch jehr ſprechend. Noch zu Anfang diefes Jahr⸗ 
hundert waren fogar die Aufzüge bei Hinrichtungen ein Schaufpiel, bei 
dem — feltfam zu jagen — die komiſche Figur nicht fehlte, nämlich ein 
Standartenträger auf einem mageren Roß, deflen Knochen man zählte, 
der Reiter mit einer Riejenfeder nerjehen, weshalb das Volk ihn fcherzend: 
Il Pennone (die große Feder) nannte. 

Nah dem Bericht eined Freundes in Spanien wird in Mabrid 
alljährlich am Charfreitag auf der Bühne ein Paffionsfchaufpiel auf 
geführt. 


(564) 
Druck von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17 a. 


ebenjo einleuchtende und annchmbare Weile Schwierigfeiten heben, welche beſtehen 
bleiben, wenn man fih an den Buchſtaben halten will, und man muß gewifle 
Erklärungsverſuche, um nicht zu janen Erkiärer-Kaprioien, kennen, um zu würdigen, 
was auf dieſem Felde geleiftet worden ift. Weber einzelne Punkte könnte man 
mit dem Verfaſſer rechten, an einigen Stellen, wie bei Erklärung des Gleichnifſes 
von den Mugen und den thörichten Fungfrauen, möchte man größere Ausführlich: 
feit wänjchen, in jedem alle haben wir mit einem Buche zu thun, das als die 
Frucht gründlicher, ehrlicher und nußenbringender Arbeit anzufeben ift. 

Der „Schwäbiſche Merkur‘‘ in Sr. 146 v. 24. Juni 1885: Dieied Bud 
des freifinnigen Predigers in Bremen ift nicht für folde, die Erbauung fuchen, 
ſondern für auftlärungfucende Leier, die kein Arg daran finden, daß die Bücher 
der heiligen Schrift wie andere fchriftliche Urkunden geprüft und auf die Glaub- 
würdigfeit ihrer Beftandteite angejehen und unterfudht werden. Der Berfailer 
nimmt dadurd für ich ein, dab er vollfommen freimätig ih ausipridht und nicht 
etwa den Verſuch macht, durch erbaulicdhe Zuthaten die bitter ſchmeckende Wahr: 
heit, die er darreihen will, anmutender und einichmeichelnder zn maden. Was 
die kritiſche Grundlage jeiner Ausführungen betrifft, To ift es eine jelbftfländige 
Anelgnung der neueren Evangeltenkritit, an welder die Tübinger Schule einen 
fo hervorragenden Zeil hat, und die troß des fortdauernden Streites über Einzel: 
beiten doh im Großen und Ganzen zu feftlebendeu Crgebniffen gelangt ift. 
Nun will aber das Buch von Schwalb nicht etwa dieje kritiſchen Unterſuchungen 
popularifiren, wie man Died ja aud ſchon verjudt bat, fondern feine Eigentüm: 
lichfeit befteht darin, daB es eine fortdaucrnde Erklärung ded ganzen Terted in 
feinem logiſchen Znſammenhang gibt. Der Tert wird zu diefem Behuf in feine 
natürlihen Abſchnitte nelegt und deren Inhalt — ſowohl die Erzählung, als die 
Reden Jeſu — kritiſch geprüft, wobei bejunderd auf die Verſchiedenheit ber 
evangel. Berichte aufmerkſam gemadyt, aber auch die innere Olaubwärbigteit der 
berichteten Borgänge und Reden unterfuht wird. Es geſchieht dies in einer 
furzgefaßten, allgemein verftändlihen Darftelung, welche fih bemüht, das Ber: 
Ränduie der Schrift dadurch di fürdern, daB das Ungefchichtliche aufgezeigt, das 
* vom Unächten das Bleibende vom Bergänglien und Beralteten ausge⸗ 

eden wird. 

Der „Evangeliichproteftantifche Kirchenbote für Elſaßz⸗ Lothringen“ 
in Nr. 42 vom 17. Dttober 1885: Der Berfafjer will in diefem Kommentar eine 
Erklärung der dunklen Stellen des ganzen Tertes in feinem logiſchen Zufammen- 
dan geben und damit eine kritiſche Prüfung der darin enthaltenen Erzählungen 
owohl als der Reden und Ausiprüce Feju verbinden. Weberall fol das Geſchicht⸗ 
lihe von dem Grdichteten, das echte vom Unächten, das Bleibende vom Ber: 
alteten gefchieden werden ..... „Durch feine geliebten hochverehrten Lehrer” 
G. Auberlen, E. Reuß, R. Rothe, und durd die Schriften non Auguftin, Calvin, 
Bengel, De Wette, Strauß und Baur „in das Verſtändniß der neuteftamentlichen 
Schriften eingeführt,“ wie Dr. Schwalb im „Vorwort“ dantend anerkennnt, geht 
der Verfaſſer durchaus feine eigenen Wege, und kommt zu Nefultaten, die von 
denjenigen jener Meifter gar verfchieden find. „Schwache im Glauben” werden 
an Bielem, namentli am der allegoriichen Auslegungsweiſe Anſtoß nehmen und 
ſchwerlich des Verfafſers Abficht anerkennen wollen, „unire eines ncuen religiöfen 
Anfihwungs fo ſehr bedürftigen Zeitgenofjen den Quellen des Lichtes und der 
Kraft um einen Schritt näher zu bringen.” Und doch wird Reptereö der Fall fein 
bei deuen die mit ernflem Sinn das Buch von Dr. Schwalb ftudiren und von 
dem Beftreben erfüllt find, Jeſum darum fennen zu lernen, „um durch ihn ter 
befreienten, befeligencen Wahrbeit näher zu kommen.“ Solche Leſer werden vieles 
aus dem Buche lernen und ſchließlich, bei allen die Perfon des Herrn betreffenden 
und widerftrebenden Anftchten, das empfinden, was die von Dr. Schwalb angeführten 
Worte Schiller’, ohne ed zu wollen, ausdrüden: 

„Nicht forſchen will ich, wer du bit. Sch will 
Nur did von dir; nichts frag’ ich nach den Andern. 
Daß deine Seele wie dein Urſprung rein, 
Hat mir dein ernfter Blick verbürgt und beichworen. 
Dee ne er... Fragt man 
Woher der Sonne Himmelsfeuer flamme? 
Die alle Weit verflärt, erflärt fidy felbft. 
Ihr Richt bezeugt, daß fe vom Lichte ſtamme.“ 
Die „Raudessfeitung für Elfah:Xothringen‘‘ in Nr. 170 v. 28. Zuli 


1885: Eine ganz herporragende Kelftung, die Frucht eines langjährigen Studiums 
— — Se. im eſten, edelſten Sinne des Wortes kritiſche Arbeit; wie viele 


Dorgänger aud ter Terfafier auf tiefem Wrbeitefelde haben mag — und mandıe 
darunter tragen gewictige, autorative Namen — er bat fidy von ihnen durch eigene 
Geiſtes- und Herzendarbeit unabhängig gemacht. Ein gemöhnlider Kommentar: 
Erklärung dunkler Redeformen und Sätze mit den landläufigen wifſenſchaftlichen 
Anmerkungen fann nad) dem eben Angedeuteten das vorliegende Werk nicht fein 
— es ift eine Erklärung des ganzen Textes in jeinem logeichen Zujammenbhang. 
eine Eritiihe Prüfung ded ganzen Inhalts, der tarin gegebenen Erzählungen 
fowohl als der Reden und Ausſprüche Jeſu. Möge die edle Abfidit des Ber: 
fafiers, tm unfere tes religiöfen Aufſchwungs fo ſehr bedürftige Zeit, und durch 
jein Wer? neue Quellen des Lichts und der Kraft zuzuführen, ſich erfüllen! 

Der „Fränkiſche Kurier““ im Unterhaltungeblatt Nr. 19 v. 10. Mai 1885: 
Un der Hand eines Weiftiihen, dem über dem Studium der Dogmatik fi dic 
Augen für Kritik nicht geträbt haben und der eine unbefangene ir die Schön⸗ 
Ha der Blanbendquellen ebenſo empfänglicdhe wie für den orientaliidhen Bilder 

un der „Bier Evangeliften“ aufmerfiame Auffaffung überall betbätigt, führt das 
Buch durch die vielumftrittenen Berichte über Leben und Wirken des Stifterd ber 
Hauptreligton der abendländiſchen Völker. 

Die „Breslauer Zeitung‘ in Nr. 510 vom 24. Qult 1885: Ein Bud, 
frei von allem gelehrten Ballaft, geiftuol und feflelnd geichrichen, durchweg klar 
und bündig. Ruͤckhaltlos giebt der Verf. das Ergebnif feiner Forſchung, auch wo 
er fihher jein kann, anzuftoßen. Wo er überzeugt ift, ed mit Ungefhichtiidem zn 
thun zu haben, da feßt er den Schlüfſel der allegoriidhen Erklärung an, nicht 
wilfürlich, jondern fo, dag er fih in das allegorifirende Deuten der Schriftfteller 
hinein verjeßen will. Dieſe Methode hat ihre gute Berechtigung; freilich kommt 
fie in dem Buche im Uebermaße zur Anwendung. Das hindert jedoch nicht, daß 
der Feier auch da, wo die allegorifhe Erklärung zu fein geiponnen ift, oder nicht 
bingebört, manderlei Anregung empfange. Tann und wann läßt der Verf. ganz 
intereffante Schlaglichter auf die Begenwart in Form furzer Bemerkungen fallen. 

Die „Poſener Zeitung‘‘ in Nr. 397 vom 10. Juni 1885: Seit Edhleier: 
machers theologiſcher Wirkjanteit ald Prediger und Univerfitätsiehrer, namentlid) 
fett der Herausgabe feiner Schrift: „Der hriftlihe Glaube nach den Grundſätzen 
der evangelifchen Kircke“ ... . beionters aber feit der Veröffentlichung (1835) des 
„Leben Jefſu“ durch David Friedrich Etrauß iſt in die theologtihe Weltaufchanung 
nicht nur bei den proteftantiichen Theologen, jondern audy und zwar in verſtärktem 
Maße bei den Laien ein friihed Leben gedrungen. 

Dem einfidhtsvollen Theologen unferer Zeit, dem Raten von höherer Bildung, 
welcher durch geiftige Anlage und die Stimmung feines Gemüths nicht im der 
Lage war, bie uneingefchränfte philoſophiſche Weltanfdauung an Stelle der 
theologiſchen zn jeßen, genügte die ftrenge „Bibelgläubigkeit“ nicht mehr, weil fic 
mit den Anforderungen der Vernunft nicht in allen Stüden in Einklang zu bringen 
war. Sein Gemätb verlangte aber ftatt des reinen fühlen Aethers der ilofopbie, 
einen feften, warmen, lebensiprießenden Boden für fein religiöſes Empfinden und 
Denken, den er in der Bibel, namentlich aber in den Evangelien fand. Seit 
Schleiermacher hat eine lange Reihe begabter Theologen daran gearbeitet, dem 
für das religiöle Bedürfnig in der Bibel aufgejpeicherten Stoff, ohne fi durch 
„Autoritäten“ beirren zu laffen, wit dem geiftigen Anforderungen der modernen 
Kultur und mit der durch dieſe bedingten neueren Weltanſchanung in Einklang zu 
bringen. Tie Korfchungen dieler Theologen waren vor Allem darauf gerichtet, 
fowohl über die Perſon des Etifterd Der chriſtlichen Religion das fiher Geſchicht⸗ 
liche, ald audy in Bezug auf die Dogmen das der Vernunft nicht offeabamMBider: 
ftreitende dem religiöien Bedürfniß zu übermitteln, 

Der Berfaffer der oben genannten Schrift ift beftrebt, in diefer Richtung 
weiter und zwar mit Erfolg zu arbeiten. Er giebt „eine Erklärung Des ganın 
Textes (der vier Evangelien) in feinem logijchen Zufammenbang und eine Eritiiche 
Prüfung feines ganzen Inhalts, der darin gegebenen Erzählungen fowohl als ber 
Reden und Auelpriche Jeſu“. In den Eizaͤhlnngen wird überall das Geſchicht⸗ 
liche, jo weit es vorhanden ift, von dem ÜUngeſchichtlichen, in den Worten Jeſu 
das Echte vom Unechten, in beiten Beftandtheilen das Schöne vom Unichönen, 
das Gute vom Schlechten, dad Bleibende vom Beralteten gejchieden. Cine mög: 
lift genaue Kenntniß des geſchichtlichen Chriftus ift für den Verfaſſer, ſowie 
für alle Diejenigen, die an feinen Etantpunft heranreichen, der Hauptzweck, den 
man beim Leſen der Evangelien zu erftrchen bat. DaB der Berfafler in der 
— eines Stoffes ftets kritiſch verfährt, ohne dem Hyperkritizismus zu 
verfallen, ergiebt die Lekiüre feines Werkes. 


— 000000000000. 582 


5 x 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlider Vorträge, 


herausgegeben von y „7 


Nud. Virchow und Br. von Boitzendorff. 


— * - +. - -S4r- >»: — ’ 


XX. Serie. 


(Heft 457 — 480 umfaffen®.) 


AI ELLI I GL LS GL LG TG N 


Heft 472. 


Das Blei 
bei den Dölkern des Alterthums. 


‚Bon 


8. 8. Hofmann. 


EP 


Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. Tüderity'sche Berlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 38. 


8 8 


⸗ RO 








DB SS wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. ug 


In demfelben Berlage wird demnächft erſcheinen: 


Die ıhemifrhe Batur der Mineralien. 
Syſtematiſche Zufammenftelung 


von 


C. 3. Rammelsberg, 


Doctor und Brofeflor, Director des II. Chemiſchen Inftitutß, Mitglied der Akademie 
r Wiffenfchaften zu Berlin. 


Preid ca. 3 Mark ord. 

Die Kenntniß der chemiſchen Natur der Mineralien ift nicht bloß für den 
Mineralogen und Geologen, fondern aud für den Chemiker eine Noth⸗ 
wendigfeit. Dieje, gleih Allen, welche heut zu Tage fih mit Chemie und 
Mineralogie beihhäftigen, haben das Bedürfniß, ſich zunächſt eine Ucherficht über 
die chemiſche Natur der wichtigften Mineralien zu verfhaffen und „ynen vorzugs⸗ 
weile fol das vorliegende Werk gewidmet fein. 


In den früheren Serien der „Sammlung* erſchienen: 


Mineralogie und Geologie. 


(37 Hefte, wenn auf einmal bezogen & 50 Pf. = 18,50M. Auch 24 Hefte und mehr 
diejer Kategorie nad) Auswahl (wenn anf einmal bezogen) & 50 Pf.) 


Berendt, Geognofiihe Blicke in Alt-Preußens Urzeit. (142)... .. . 60 
Braun, Mler., Die Eiszeit der Erde. 2. vermehrte Aufl. (94). M. 1.— 
gerkund: Die Standinapiihe Halbinfel. Eine gealogliche Skizze. ass) - 75 
jerulf, Die Eiszeit. Mit 6 Holzſchnitten. (293,94). . 0... . . 1.60 
— , Einige Chronometer der Geologie. Mit 12 otsfäniiten. (352/53) 3. 1.60 
Klee Id, Der Diamant. Mit 17 Holzſchnitten. (241) 2-20 .. M. 
— , Die Edelfteine. Mit 6 Holafchnitten. (277) ». >» 200 en nen no 
—, Die Halbedelfteine. (239. - - - - - 0000er. 80 
v. Lafauir, Der Streit über die Entſtehung des Baſaltes. (78). ran 60 
v. Martens, Purpur und Perlen. Mit Holzſchnitten. (214) . . M. 1.20 
Möhl, Erdbeben und Vulkane. Mit einer Kupfertafel. (202) . . M. 1.20 
Noeggerath, Jac., Der Laacher See und ſeine vnlkaniſchen Umgebungen. (104) 60 
er Torf. (230) 2 22 0 75 
Hammelsberg, Ueber die Meteoriten und ibre Beziehung zur Erde. (151) 60 
—, Die Gewinnung von Gold und Silber. (379) . » 200m. 60 
vom Nath, Der Befun. Eine geologische Skizze. Mit ı Lithographie nnd 
1 Kreidezeichnung. (185). > 0 00 00 een M. 1. 
—, Ueber den Granit. Mit 2 lithographirten Tafeln. (300/301). . . M. 1.60 
— Ueber das Gold. (324/325) - 2 2 220er ne M. 1.20 
Nenich, Veber Bulfanismusd. Nah dem Manuſcript des Berfaflere aus dem 
Norwegiichen übertragen von M. Otto Herrmann. (424)... . M. 1.— 
Roemer, er die Älteften Formen des organtihen Lebens auf der Erte. 
Abz. ( 7) EEE 60 
Rotg Ueber die Steinkohlen. 2 Abz. (1). ern 75 
ie geologiſche Bildung der —X— Ebene. (111) 2.Uufl...@ 7 
—, Zlußwafler, Meerwafier, Steinfal.. (300l0J.. 75 
—, ‚ Weber die Erdbeben. 370). 2 0er ne 80 
Runge, Der Bernftein in Oft: Preußen. Mit 1 Titelbild und 10 in den 
Tert eingedrudten Holzſchnitten. 2 Abs. (55/56). - - - 2 2000 M. 1.60 
v. Seebad, Der Bulfan von Santorin nad einem Beſuche im März und 
April 1888 gelhüibent, Mit einem Holzſchnitt. 2. Aufl. (38)... ... 80 
‚ Ueber die Wellen des Meeres und ihre geologiſche Bedeutung. (153). 60 


n jlig, Ueber dad Bortommen und die Entftehung des — (438). M1— 
—X Der Graphit und ſeine wichtigſten Anwendungen. (160). . . . . 0 
ddach, Die ältere Tertiärzeit. Ein Bild aus der Entwickelungsgeſchichte 
3 Erde. 2. Abz. (BE) 0000 60 
rk , Die Ummwandelungöprocefie im Mineralreich. (136)... .... - 60 
tttel, Die Kreide. Mit 4 Holzſchnitten. (251). . 2.222000 80 


6) 


Yas Blei 


bei den Dölfern des Alterthums. 


Karl 
8. 8. Hofmann, 
o. d. Profeffor ber Univerfität zu Graz. 


GP 





Ü 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel 


(C. 6. Lüderitg’sche Derlagsbuchhandiung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


Das Recht der Ueberfehung Im fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


(Eine unabfehbare Reihe von SIahrtaufenden, welche trob 
bes eifrigen Bemühens zahlreicher Korfcher in kaum mehr als 
bämmernden Umriſſen vor unferem geiftigen Blicke erftehen, 
verlebte die Menjchheit die Kindheitäftufe ihrer Bildung ohne 
Kenntniß der Metalle. Gegenftände aus dem Thierreiche und 
der Pflanzenwelt: Mujcheln, Zähne und Federn oder Blumen 
und ſchoͤnfarbige Früchte entiprachen damals — wie noch jeht 
bei manchen „wilden" Stämmen — dem in das menſchliche 
SGemüth tief eingepflanzten Berlangen nah Schmuck; während 
Stein und Holz dad Material abgab für Waffen und die erften 
einfachen Geraͤthe. 

Als ſpaͤte Zeugen jener weit zurüdliegenden Kultur⸗Epoche 
vagen in hiftoriiche Zeiten einzelne Erſcheinungen herein. Lange 
nachdem ſchon Bronzegeräthe gebräuchlich find bedient fich der 
aztekiſche Priefter des gejchärften Flintſteins bei feinen grauen» 
haften Feindedopfern; in einem aus Papyrus geflocdhtenen Boote 
treibt der Zeitgenoffe der Rameſſiden den Nil hinab, in Kähnen, 
welche aus Thierfellen zufammengenäht find, unternimmt der 
Britanne noch zu Cäſars Zeit feine gefahrvolle Fahrt nach dem 
gegenüberliegenden %eftlande. 

Der Zeitpunkt, in weldhem der Menich die Metalle kennen 
lernt. und fi) nutzbar macht, bezeichnet einen wichtigen Abfchnitt 
in feiner Entwidelung. Nicht alle auf einmal erfcheinen fie am 
Horizonte der Culturgeſchichte. Erſt wird er mit den in ber 
Natur gediegen vorkommenden Metallen, welche durch ihren 
Glanz fich feinen kindlichen Sinnen aufdrängen, bekannt: Gold, 


xx. 172. 1” (567) 


4 


Silber, Kupfer dienen ihm ald Schmud und ald Tauſchmittel; 
aus lehterem verfertigt er audy feine Waffen. Später lernt er 
die leicht ausbringbaren Metalle, Zinn und Blei, endlich auch 
Eiſen gewinnen, nachdem ſchon viel früher ihn ein glüdliches 
Ungefähr gelehrt hat, die kulturhiftoriſch wichtigfte Legierung — bie 
Bronze, berzuftellen. Und fjelkft die legten Jahrhunderte fügen 
neue Metalle hinzu, jeine gefteigerten Bedürfniffe zu be» 
friedigen. 

Nur felten gedenkt felbft der Gebildete, indem er fidy eines 
metallenen Gegenſtandes bedient, der Vorgeſchichte des Stoffes, 
aus dem das Geräthe hergeitellt ift. 

Sei ed mir geftattet in den folgenden Blättern zu zeigen, 
welche Verwendung eines der unanjehnlidhften Metalle — das 
Blei — bei den Böllern der alten Welt gefunden bat. 

Die meiften Metalle haben nidyt zu allen Zeiten die gleiche 
tehnijche Bedeutung gehabt. Neue ausgiebigere Crzlager, 
oder verbefferte Verfahren, durdy welde ein Metall aud feinen 
Erzen leiter und billiger zu gewinnen ift, beftimmen feine 
audgebreitetere Anwendung, und andere Metalle oder fonft vers 
wendete Stoffe werden durch daſſelbe zum Theil verdrängt. 
Selbft vor den Augen der Mitlebenden vollzieht fi ja noch 
immer der gleihe Hergang — Zink erſetzt in vielen Fällen die 
Stelle, welche im vorigen Sahrhundert Blei, Zinn und Weiß 
bleh einnahm, und der eilerne Leviathan loͤſt den hölzernen 
Ditindiafahrer ab. 

Die Kenntniß ded Bleies reicht jo weit zurüd, als überhaupt 
ſchriftliche Denkmäler und Kunde geben von dem Bildungsgrade 
unjeres Geſchlechtes. Das Blei findet fich zwar in der Natur 
nur felten in gediegenem Zuftande, und dann immer nur in 
ſehr geringer Menge; fein meiſt verbreiteted und reichhaltigftes 
Erz aber — der Bleiglanz — geftattet, wie nur wenige Erze, 
eine leichte Gewinnung ded Metalls. 


(568) 


5 


Einft, jo erzählt Pofidonius (bei Strabo) jei in Turdetanien 
— ber Gegend um das heutige Sevilla — durch einen Walde 
brand das Silber und Gold in der Erde gefchmolzen und durch 
da8 Sieden am die Oberfläche gelangt, „denn die ganzen Ge- 
birge daſelbſt enthielten den Goldſtoff aufgeſpeichert“. Noch 
gegenwärtig lebt unter den nomadiſchen Türken die Sage, ihre 
Voreltern ſeien in einem der Thäler des Altar ringsum von 
eifenhaltigen Gebirgen eingefchloffen geweſen, bis durch eine 
Geueröbrunft dad Eiſengeſtein ſchmolz, und ihnen fo der Verkehr 
mit der übrigen Welt eröffnet ward. 

Wenn wir in diefen Sagen mehr als einen bloßen Verſuch 
erbliden dürften zu erklären, wie. die Menſchen auf die Spur 
geleitet worden find, aus Erzen Metalle zu gewinnen, fo könnten 
wir wohl annehmen, dab fie auf ähnliche Art auch zuerft zur 
Kenntniß ded Bleies gelangt feien. 

Drei der Älteften Völker, — Repräfentanten dreier ganz 
verfchiedener Stämme — die Xegypter, Inder und Hebräer 
erwähnen tn ihren älteften jchriftlichen Dentmälern bed Bleies. 

In den Zributliften und Beuteverzeichniffen ded größten 
der Pharaonen, Thutmes III., welcher vor mehr ald 3 Zahrs 
taufenden das Bolt im Nilthal beherrfcht und feine fiegenden 
Waffen weit nach Afien getragen bat, lefen wir von erbeutetem 
oder abgeliefertem Blei. Bon Tuneb im Lande Naharain 
(Mefopotamien) bringen jeine Heere Blei heim; dad Land Zah, 
von phöniziichen Stämmen bewohnt, die Ruthen, ein Voͤlker⸗ 
bund an der kanaanitiſchen Küfte, welche jpäter von ben 
Hebräern beſetzt worden ift, müſſen unter andern Zributgegen- 
ftänden auch Blei liefern. 

Sm Tempel Ramſes IH. zu Medinet-Aba fieht man jolde 
Bleiziegel oder vielmehr längliche Platten mit abgerundeten 
Winkeln dargeftellt; auf ihnen lieft man in Hieroglyphenſchrift 
das Wort taht eingejchrieben, das fich mit geringer Lautänderung 


(569) 


6 


im der Bedeutung für „Blei“ noch im Koptiſchen, dieſer jimaften 
Entwidelungdftufe der ägyptiſchen Sprade, erhalten bat. Diele 
' Siegel oder Platten fcheinen nad) Lepfius ein ſehr mähiges 
Gewicht (20 Ten d. h. etwa 1,8 kg) gehabt zu haben. Eine 
DBleiplatte von der Größe der bedrudten Fläche diefer Seite 
darf nur 24 mm did fein, um dad eben angeführte Gewicht zu 
haben. Auffällig ift die geringe Menge bed in dem Liften an- 
geführten Bleied. Auf einer Imfchrift zu Karuak werden im 
Ganzen etwa 196 kg erwähnt; und dies fcheint eine der größten 
nambaft gemadyten Mengen überhaupt zu fein. Schon daraus 
Könnte man fchließen, daß es bei dem Aegyptern nicht jene 
mannigfadhe Verwendung gefunden hat, in der e8 bei den 
Griechen und Römern ftand. In ber That befiten jelbit große 
ägyptiihe Mufeen Europas nur wenig Bleigegenftände. So 
bat eines der reichiten: das Berliner, eine Anzahl (8) aus 
bünnem Bleiblech gefertigter Schilder (daS größte 14 cm lang 
und 9 cm body), weldye ſymboliſche Darftellungen tragen 3. 2. 
das myſtiſche Auge, die geflügelte Sonnenſcheibe, einen Käfer 
mit außgebreiteten Flügeln (dad Symbol der Wiedererftehung zu 
neuem Leben), eine geflügelte Frauengeftalt u. |. w. Sie alle 
find wohl auf der Bruft von Mumien gefunden worben (Pectorale). 
Außerdem wird im dortigen Mujeum eine Beine bodende Kate 
(14 cm hoch) aufbewahrt, die ald Amulet dient. Fr. Rofit 
theilte mir gütigft mit, dag das Turiner Mufeum zwei Sperber 
mit ausgebreiteten Slügeln, aus einer dünnen Platte gejchnitten, 
befite. Einer davon — eine beiondere Seltenheit — iſt mit 
einer dünnen Zinnfolie überzogen. Schiaparelli in Florenz 
fuchte im dortigen ägyptiſchen Mufeum vergebens nach ähnlichen 
Begenftänden. Dieje fämmtlichen Objekte Tönnen, ja dürften 
jogar einer ziemlich jpäten Epoche angehören. 

Die älteften Urkunden, welche uns Einblid in dad frübefte 


Leben der Inder gewähren, find die Veden. Sn ber älteften 
(570) 


7 


dieſer Sammlungen — im Rigveda — wird noch nirgendd des 
Bleies Erwähnung gethan. Dagegen ericheint diefes Metall 
(stsa) im Altharvaveda genannt. Es diente zu Amuletten und 
in Geftalt von Gewichten, beim Weben die Fäden damit zu 
fpannen. In fpäterer Zeit fand es in der Medizin Anwendung, 
unter anderem jonderbarer Weiſe als ein die Verdauung bes 
förderndes Mittel Auch ward ed von Zauberern benußt, woher 
eines. feiner 16 Namen (jogtshta) herrührt. Werner gebrauchte 
man es zum Reinigen des GSilberd (daher fein Name täracud- 
dbikara), und ftellte daraus fchon frühzeitig Mennige dar, mit 
welcher die verheiratheten Frauen Indiens ihre Stirnen bes 
malten. 

Die ich fchon erwähnte, wiffen wir aus Thutmes’ ILL, 
Tributliſten, daB die Völker am öftlichen Geftade bed Mittel 
meered bereit vor der Ankunft der Hebräer in Kanaan im 
Defibe des Bleies geweſen find, wie denn auch die phöriclichen 
Kauffabrer fchon in früher Zeit ihre Anker mit Blei zu bes 
ſchweren pflegten. So wird e8 und auch nicht überzafchen, daß 
in den beiligen Büchern der Suden das Blei (ophereth) Er⸗ 
wähnung findet, und feine Eigenfchaften den Propheten zu Tühnen 
Bildern Anlaß geben. 

Im Lobliede, welches Moſes nad) dem Untergange des nach⸗ 
ſetzenden Agyptifchen Heereö dem Herrn anftimmt, heit ed: „ba 
ließeft Du Deinen Wind blafen, und das Meer bededie fie, 
und ſanken unter, wie Blei in den mächtigen Waflern” (2. Mof. 
15, 10). — Seremiah läßt und vermutben, daß ihm das 
Neinigen von Edelmetallen dur Zufammenfchmelzgen mit Blei 
wohl befannt war. Indem er die Verderbniß feines Volkes 
betrachtet, bricht er in die teoftlofen Worte aus: „Sch habe Dich 
zum Schmelzer gefebt unter mein Boll, dad fo hart ift, daß 
Du ihre Weſen erfahren und prüfen ſollft. Der Blafebalg ift 


verbraunt, das Blei verichwindet; das Schmelzen iſt umjonft, 
(m) 


8 


denn dad Böje ift nit davon geichieden. Darum heißen fie 
auch ein verworfenes Silber; denn der Herr hat fie verworfen”. 
Noch gewaltiger mußte Ezechiel’8 Bild die Gemüther feines 
Bolfes ergreifen. Sein Gott fpricht im Zorne zu dem Propheten: 
„Die man Silber, Erz, Eifen, Blei und Zinn zufammen thut 
im Dfen, dab man ein Feuer darunter aufblaje und zerjchmelze 
ed, alfo will ich euch aud in meinem Zorn und Grimme zu« 
ſammenthun, einlegen und ſchmelzen. Wie das Silber zerjchmilzt 
im Ofen, jo jolt ihr auch darinnen zerichmelzen und erfahren, 
daß ich, der Herr, meinen Grimm über euch ausgeſchüttet habe.” 
_ Hiob wünscht, feine Reden möchten mit einem eijernen Griffel 
auf Blei geichrieben werden. 

Auch andere Völker Vorderafiend machten frühzeitig vom 
Dlei Gebrauch; wenigftend erzählt Herodot, Königin Nitokris 
habe die beiden Theile Babylond durch Weberbrüdung des 
Euphrat vereinigt; die Brüde hätte fie aud Quadern gebaut 
und diefe „mit Eijen und Blei verbunden“. Yür ihre riefigen 
Badfteinbanten, 3. B. die medifche Mauer, die Ringmauern der 
Städte wendeten dagegen die Meder, Babylonier, Perjer u. 9. 
al8 Mörtel Asphalt an. Diefe Angabe, vielfady von den 
helleniſchen Schriftftellern gemacht, iſt durch Layard's Unter⸗ 
ſuchung der Ruinen von Ninive und Babylon und Vaux's 
Audgrabungen von Perſepolis beftätigt worden. 

Umfaffendere Kunde, als wir in diejen ſpärlichen Nachrichten 
erhalten, liefern uns die Werke der beiden Eaffiichen Völker des 
Alterthbums, der Hellenen und Römer. Zahlreicher find aud) 
die Veberrefte, welche Zeugenichaft ablegen von der mannigfachen 
Berwendung, die dad Blei bei ihnen gefunden hat. 

Die Griechen gewannen ihr Blei, wie yon der berühmte 
Philologe Boeckh nachgewieſen bat, aus den Silberbergwerten. 
Mehrere griechiiche Inſeln werden und ausdrüdlich genannt, auf 


denen man ed barftellte: jo Rhodus, das metallreihe Cypern, 
(573) 


9 


die Gruben von Siphnos (Siphanto), wo man altes Treibherb« 
material und Bleiplatten fand und noch heute auf Bleierze trifft. 
Die wicdhtigften und ausgedehnteften Bergwerke aber waren die 
bem attiichen Staate gehörigen in Laurion. Shre erfte Aus- 
beutung ijt von den Alten bis auf den fagenhaften König 
Kekrops zurüdgeführt worden; doch ift aus der Seltenheit des 
Silberd zu Solon's Zeiten zu fchließen, daß thatſaͤchlich ein 
lebhafter Betrieb der Werke damals nod) nicht beitanden bat. 
Ein Sahrhundert fpäter ift derjelbe fo ertragreich, daß aus dem 
Einfürften des Bergwerks auf Themiſtokles Rath eine anſehn⸗ 
liche Flotte gebaut wird. „Außer der glüdlihen Lage des Landes, 
ber Sreiheit der Verfafjung und der geiftigen Ueberlegenheit der 
Einwohner hat vielleicht fein einzelner Umftand zur Blüthe des 
Staates mehr beigetragen, als diefe Bergwerke“ (Boedh). Ein 
Zerrain von 20 000 ha war durch 2000 Schächte und geneigte 
Stollen unterminirt. Nach Cordella's neuelten Berechnungen 
haben die Alten bei einer 300jährigen Thätigfeit 2 100000 To. 
MWerfblei erzeugt, entiprechend einem totalen Erzwerth von 
4 Billionen Francs. — Auf die reihe Ausbeute von Blei 
dürften wir jchon aus der Sinanzoperation ſchließen, welche 
Pythokles, ein Zeitgenofje des berühmten Redners Demofthenes, 
dem Staate empfahl. Athen follte den Alleinhandel mit den 
Hüttenproduften an fi} ziehen und dann den Preis des Bleies, 
um den die Privaten ed verfauften, auf da8 Dreifache erhöhen. 
Aus einer foldhen Spekulation fonnte der Staat natürli nur 
dann eine nennenöwerthe Revenue beziehen, wenn die Erzeugung 
bed Bleies jehr bedeutend war. 

Mochte Griechenland an der Menge des felbiterzeugten 
Bleies Genüge finden, — Rom, ald Herrin der Welt, deckte 
ihren Bedarf durch die Produktion aller Länder, von denen 
überhaupt Blei zu beziehen war. Strabo — ein Geograph 


aus der Zeit des Auguftus — nennt zwar Italien reih an 
(578) 


10 


allen Metallen; bei Iglefiad in Sardinien find auch Bleigruben 
erhalten, welche Spuren römifcher (vielleicht fogar noch kartha⸗ 
gifcher) Bearbeitung aufweiſen; doch iſt nach Plinius’ Zeugniß 
die Hauptmaffe des Bleies, welches für die Leitungsröhren bes 
nötbigt ward, aud anderen Provinzen — aus Spanien, Gallien 
und England bezogen worden. Beſonders reich jcheint das 
erftere und leßtere der genannten Länder an diefem Metall ges 
weien zu fein, und zwar in erfterem obenan der cantabriſche 
Diftrift. Schon vor der Eroberung dur die Römer trieben 
bier die Karthager in ausgedehnten Maße den Bergbau und 
noch heut fieht man 3. B. bei Conſtantine die karthagiſchen 
Bleigruben. Haddrubal ließ die Silberbergwerke bei Neu⸗ 
Karthago (Karthagena) mit großem Cifer bearbeiten; ob dabei 
auf die Gewinnung des unedleren Metall Rüdficht genommen 
ward, ift und allerdings unbefannt. Zur Zelt des Titus hatten 
diefe Bergwerfe einen Umfang von 400 Stadien (ca. 63 km); 
ed arbeiteten in ihnen 40000 Menſchen und fchafften dem 
roͤmiſchen Volle täglich 25 000 Dradymen (beinahe 20 000 ME.) 
Reinerträgnid. In diefen Werfen gewann man das Blei neben 
Silber, wie denn bei Karthagena Blöde ſolchen alten Bleies 
gefunden worden find. Bei Caftulo (jet Cazlona) brach da⸗ 
gegen Bleierz, das auch Silber enthielt, jedoch in fo geringer 
Menge, daß ed die Alten nicht lohnend fanden, das lebtere ab⸗ 
zuſcheiden (Strabo). Bei Barcelona fand man dide Kuchen 
von Dleiglätte römifcher Kabrilation, bei Almeria die alten 
Schmelzöfen. Bei Rio Tinto in Andalufien find alte Halden 
von Bleifhladen, ohne daß man aber angeben Tann, woher die 
dort verhütteten Erze gebracht waren. Außerdem ift bei Slipia, 
Sifapon und in Lufitanien Dlei gewonnen worden. Auf 
den Ichwunghaften Betrieb der Bielbergwerke, ſowie auf dem 
großen Verbrauch des Metalled dürfen wir aus der Höhe des 
Pachtſchillings und einen Schluß erlauben. Die Santarifchen 


(674) 


11 


Bergwerle in der fpanitchen Provinz Baetica find früher ge= 
wöhnli um 200000 Denare (174020 Mark), fpäter um 
255 000 Denare (221 870 Mark) verpacdhtet worden — nad) 
Plinind irriger Anficht: weil fie dazwifchen gerubt hätten und 
dadurch ergiebiger geworden feien, da man fidh vorftellte, die 
Erze wüchſen in ben Bergen nad. In derfelben Provinz ift 
dad antonifche Bergwerk fogar um 40 Millionen Sefterzen, 
d. h. 8701 000 ME. verpachtet geweien. 

Der Mittelpunft der galiichen Bleigewerke fcheint Lars 
gentiere (Dep. Ardece) geweien zu fein. Roͤmiſche Gruben 
beftanden audy bei Macot (Dep. Savoie), Bialas (Dep. Lozäre), 
L'Argentière (Dep. Hautes Alpes), St. Girons (Dep. 
Argiere). Pontgibaud (Puy de Döme) und St. Avold 
(Mofelle). 

Dei Epreur, Lillebonne und Chälon fund man Blöde 
feinen Bleied mit den Namen ded Nero, Hadrian und 
Septimind Severus; die wahrjdeinli aus kaiſerlichen 
Gießereien ftammen. Die einen wogen 43,5 kg, die andern 
70,9 kg. 

Während aber dad Erz In Spanien und Gallien müuhjam 
gegraben werden mußte, ſoll es in Britannien nahe unter der 
Oberfläche ded Bodens in folder Menge gelegen haben, daß 
(nah Plintus’ Angabe) ein beichränfendes Gelb feftitellte, wie 
viel Erz jährlich gegraben werden durfte. 

Als Spuren ihrer Thätigfeit binterließen die Römer in 
England Bleiöfen und Blerbarren mit Inichriften von Britan« 
nicuß bis Verus; die zahlreichiten fand man in Somerjetihire 
an den Mendighills, im Weit-Riding von Vorkihire und in 
Derbyjſhire. 

Auch in Deutſchland find Bleiwerke im Lahn⸗ und Sieg⸗ 
thale von Römern betrieben worden. Am Tranzberg bei 
Cull find Bleiſchlackenhalden, in denen man römifche Ziegel, 


(375) 


12 


Geräthe und eine Münze von Claudius Gothicud vorges 
funden hat. | 

Ueber die Art, wie man die Erze gemann, geben die Berg. 
werke von Zaurion den beiten Auffhluß. Die von den Römern 
betriebenen Baue unterjchieden ſich (wenigſtens fo weit es fich 
um Silber» und DBleierze handelt) nicht wejentlidd von ben 
dortigen. Man grub Schächte, von den Griechen Phreata d. h. 
Brunnen genannt und Stollen (hypösnomoi). Man wird diefe, 
wie in den ſpaniſchen Bergwerken, zum Theil gezimmert haben. 
Meberdied grub man große Höhlen, ald deren Stüßen man 
Säulen und „Bergfeften” (hormoi oder mesokrinets) ftehen 
ließ. Die legteren dienten zugleidy ald Scheiden der Gruben» 
antheile. Da fie Erz enthielten, reizten fie die Habgier; darum 
war das gemwinnlüchtige Abgraben der Bergfeften unter Todes⸗ 
ftrafe verboten. Die Bentilation war nur in fehr unzulänglicher 
Weiſe durch Wetterzüge (Psychagögia) hergeſtellt. Der Klage 
über die fchlechte Luft der Gruben begegnen wir wiederholt in 
den antiken Schriften. Weber die Art der Herausichaffung des 
Waſſers und der Erze iſt nichtd genaueres bekannt. Webrigens 
find die Arbeiter in den laurinifchen Werfen nicht in bejondere 
Ziefen gedrungen (20—120 m tief). 

Die zu Tage geförderten Erze find in fteinernen Mörjern 
mit eijernen Keulen gepocht worden, um fie vom tauben Gefteine 
zu befreien. Die fo zerfleinerten bat man dann auf Eieben 
(Salax) gewaſchen. Ausgedehnte Schladenhalden in der Nähe 
von Laurion zeugen dafür, daß die Erze glei an den Gruben 
verichmolzen worden find. 

Zur Gewinnung ded Metalled verwendeten die Alten vor 
Allem (wie ed noch heut der Fall ift) filberhaltigen Bleiglanz, 
den fie gewöhnlich Molybdaena, gelegentlidy auch Galena nennen 
— Auddrüde, die indeß aud für ganz verſchiedene fünftliche 
Bleipräparate, der lebtere vor Allem für Glätte, von ihnen ge⸗ 

(376) 


13 


braucht werden. Waren die Erze fehr filberarm, fo erſchienen 
fie ihnen als reine Bleierze, welche, wie wir heut durch chemijche 
Analyſen willen, überhaupt ſehr felten find. 

Ueber das Berfahren, Blei aus feinen filberhaltigen Erzen 
zu gewinnen ift und nur eine dürftige und nod dazu ſehr un« 
klare Nachricht bei Plinins erhalten. Ste lautet wörtlich: 

„Des Bleies Urſprung ift ein doppelter, entweder entitammt 
ed eigenen (Tilberfreien) Bleierzen und dieje liefern dann nichts 
anderes; oder es entiteht zufammen mit Silber und wird aus 
den gemijchten Erzen geſchmolzen. Was von diefen zuerft aud 
ben Schmelzöfen abfließt heißt stannum (Werfblei); da8 zweite 
ift Silber; ald dritter Autheil der verwendeten Erze bleibt im 
Dfen Galena (Dleiglätte und Ofenbruch) zurüd. Diefe neuer» 
lid verſchmolzen giebt Blei”. Plinius jcheint in diefer fachlich 
dunfeln Stelle jagen zu wollen, man babe durd Schmelzen 
zuerſt „Werk“ d. h. eine Legirung von Blei und Eilber erhalten, 
biefed ‚Werk“ ſei auf Treibbeerden (die damals einfachen Stein- 
keſſeln glichen) zum zweitenmal ausgeſchmolzen worden, wobei 
dad Blei durch Aufnahme von Saueritoff der Luft in Bleiglätte 
überging und das Silber rein abfloß. Die Glätte fei dann 
noch einmal, offenbar mit Kohle, geſchmolzen worden und lieferte, 
indem fie den Sauerftoff an die Kohle abgab, metalliiches Blei. In 
der That find Bleiheerde in England und Frankreich aufge» 
funden worden; andererſeits ſah Prof. Landerer auf Siphnoß 
entdedte Bleiplatten, denen Scherben von ZTreibheerbmaterial 
anhingen. Er ſchloß daraus, dab auf jener Sufel gleichfalls 
filberhaltige Bleierze zunächft auf Werfblei verarbeitet wurden. 
Nach feinen Unterfuhungen ſchmolzen die Athener zu Laurion 
den Bleiglanz (d. h. Schwefelblei) mit Eijen, welches dem Erze 
den Schwefel entzog; dad filberhaltige Blei iſt vom Silber 
durch Zreibarbeit gefchieden worden, und die fich dabei bildende 
Slätte fand zum Theil unmittelbar zu Xöpferglafuren Ber» 


(577) 


14 


wendung, zum größeren Theil gewann man aus ihr Durch 
Schmelzen mit Holzkohle dad metalliſche Blei, 

Zu Arles sur-Tech (Dep. Pyr6öndes orientales) in- ben 
Ruinen einer roͤmiſchen Werkftätte ift ein antiker Schmelzofen 
gefunden worden. Er gleicht einem riefigen Schmelztiegel von 
3,2 m Tiefe und 2,50 m oberer Weite; feine etwa 14 cm dicken 
Wandungen beitehen aus einem feuerfeften Gemiſch von Ziegels 
mehl und Thon. Der Ofen war ganz in die Erbe eingefenft. 
Man füllte abwechſelnd eine Schicht Holz und eine Schicht Grz 
ein und zündete dann daß eritere an. Das gefchmolzene Werkblei 
floß jammt der Schlade durdy eine geneigte Rinne am Boden 
bed Schmelztiegeld8 ab und in eine fhüfjelförmige Vorlage hin⸗ 
ein, aus welder ed, nachdem die Schladen abgeichöpft waren, 
zu weiterer Scheidung der beiden Metalle (Blei und Silber) 
auf Ziegel gefüllt ward, deren man eine große Zahl in ber 
Nähe vorgefunden hat. Bei vielen derjelben war die Innen⸗ 
fläche noch ganz mit Glätte überzogen. And ein aus Sandftein 
bergeftellter Zreibherd tft in England ausgegraben worden. 

Die Britten verfuhren in noch primitiverer Weiſe, indem 
fie die Erze in einfachen Exrdgruben ausſchmolzen; dad Metall 
floß durch einen engen Kanal nach einer zweiten tiefer gelegenen 
Grube ab, in weldher e8 von den Schlacken getrennt "ward. 
Solcher Schladenherde hat man mehrere in England gefunden; 
die Schladen waren zum Theil noch mit Holzkohle vermengt. 

Der Schmelzprogeb war bei den alten Völkern fo unvoll- 
fommen, dab nah Strabo’3 Bericht, die Schladen von Laurion 
in fpäterer Zeit noch einmal mit Bortheil zur Gewinnung von 
Silber ausgeichmolzen wurden. Und die heute verarbeiteten 
Schladen enthalten tm Durdichnitt noch 10 pCt. Blei. — 
Schlacken von Arles (in den Pyreneen) enthielten 10—15 p&t. 
Blei. 

Die Römer, ſelbſt der Augufteiichen Zeit, bejaben in der 


(578) 


15 
Trennung der Metalle noch jo wenig techniſche Fertigkeit, daß 
fie Bleterze, die mäßige Mengen Silber enthielten, nur auf Blei 
zu verarbeiten lohnend fanden. Ich fand in antiken Bleiſorten 
0,024 p&t. Silber. 

Das Blei brachte man in Ziegelform, weldye — wie bereitd 
erwähnt — Kaiſernamen und zwar in erhabener Schrift auf- 
weifen. Einige der gefundenen Blöde find 10 em lang, 5 cm 
breit und etwas über 1 om did. Man benannte die Waare 
nad) den Hüttenwerlen. So führt Plinius ſpaniſche Sorten an, 
die unter dem Namen ovetaniſches, Taprariih und oleaftriiches 
Blei in den Handel kamen, die fich in nichts von einander unter» 
fchleden, „wenn dad Metall nur ordentlih von Schladen ge⸗ 
reinigt war”. 

Daß der Preis der Waare zu verjchiedenen Zeiten jehr 
ſchwankend war, verfteht fi) wohl von jelbft. So mußte damals, 
als die Athener auf Pitholles Rath den Bleiverkauf in Staats» 
regie übernehmen jollten, der Preis wohl bejonderd niedrig er⸗ 
ſcheinen. Die Privatbefiger verkauften nämlich Dad Handeld- 
talent, das etwas über 36 kg hatte, um 2 Drachmen, d. b. um 
157 Mk., alſo das Kilogramm zu 44 Pf. Nach einer Bau- 
rechnung aber, die und aud dem Jahre 407 v. Chr. vom Tempel 
der Athene Polias erhalten tft, Eoftete zur Zeit ded Baues das 
Talent Blei 5 Dracdhmen = 3,93 ME. d. b. das Kilogramm 11 Pf. 
— alſo beinahe dreimal foviel. In Rom war zur Zeit des 
älteren Plinius der Preis 19 Pf. für ein Kilogramm. 

Auf der Kenntniß der harakteriftiihen Eigenſchaften 
eined Körper beruht deſſen geeignete techniſche Verwendung. 
Am Blei waren feine Schwere, Weichheit und Zähigleit und 
jeine leichte Schmelzbarfeit beſonders ſinnfällig. Welch’ jchönen, 
treffenden Dergleichen begegnen wir in der Ilias: Iphidamas 


fchleudert jeinen Speer gegen Agamemnon, aber die Lanze 
(579) 


16 


„Traf auf Silber zuvor, und wie Blei verbog ſich die Spike” 
(XII, 237). 
Iris taucht in die Tiefen ded Meeres, wie eine Bleikugel, 
welche an der Angelfchnur hängt. Sie fprang binab 
„— — — in das Dunkel der See; laut ftöhnte die Meerfluth, 
Und in den Abgrund fuhr fie, wie Blei an der Angel, hinunter, 


- Das wohl über dem Horne des ländlichen Stieres befeftigt, 
Sinkt, rohſchlingenden Fiſchen des Meers das Verderben zu bringen.’ 


Auch ſonſt finden ſich Aeußerungen; welche auf die Eigen⸗ 
ſchaften unſeres Metalls Bezug haben, in den alten Schrift⸗ 
ftellern nicht felten. Im Tempel des Apollo zu Delphi ift eine 
bleierne Zahnzange aufbewahrt worden, durch welche nach der 
Bemerkung des Arztes Crafiltratus angedeutet werden follte, 
dag man nur folde Zähne zu ziehen habe, deren Entfernung 
ohne Anwendung ftärferer Inſtrumente möglich ſei. — Plinius 
erzählt von einer Kraftprobe. Er ſah einen gewiſſen Athanatus 
mit einem bleiernen Harniſch, welcher 164 kg wog, bekleidet 
und mit ebenfo ſchweren Cothurnen beſchuht auf der Bühne 
umbergehen. Diefe Erzählung bringt und eine Anecdote in 
Erinnerung, welche die maliciöjen Zeitgenoffen über Die Magerfeit 
des Philetad, eines LXehrerd des Ptolemaeus Philadelphus ver« 
breiteten. Sie behaupteten, er trüge bleierne Sohlen an den 
Schuhen, damit er nicht vom Winde umgeworfen werbe. 

In unverfennbarer Anfpielung auf eine Eigenfchaft des Bleies, 
nennen wir, den lateinifchen Ausdruck beibehaltend, einen ſchwer⸗ 
fälligen, läftigen Menjchen: einen „plumpen Kerl” (homo plumb.). 

Bon Septimulejus wird berichtet, er habe den abgejchnittenen 
Kopf feines Freundes, des berühmten Volksführers C. Grachus 
an Opimius verkauft — nachdem er den Mund vorher mit 
Blei auögefüllt, um den Kopf fchwerer zu machen; Opimius 
zahlte ihm aus dem Staatsſchatze jo viel Gold, ald daB 
Haupt des erjchlagenen Gegners wog. 


(580) 


17 


Noch hebt Plinins ald beionderd merfwürbig hervor, daß 
man tu einem Bleikeſſel Waffer kochen Tönne, ohne baß er 
fchmilzt; fobald aber eine Heine Münze oder ein Steinden bin» 
eingeworfen wird, werde ein Loch durchgebrannt. 

Die Unaujehnlichleit des Bleies, deifen bläutich graue Farbe 
unichön ift, deſſen Metallglanz ſehr bald unter einem feinen 
Drydüberzuge fich verbirgt, feine große Weichheit und Zerftörbarfeit 
machen es ald Material für größere Kunftwerle wenig geeignet. 
Ganz vereinzelt nur findet man antike Gegenftände, welche dem 
Schoͤnheitsbedürfniß entiprecden, und ſelbſt diefe gehören mehr 
dem Kunfthandwerf, ald der ftrengen Runft an. Wenn es auch 
nicht felten zu einen figuralen Darftelungen .diente, jo machen 
diefe meift jo wenig Anſpruch auf Kunſtwerth, als etwa die Blei« 
foldaten unferer Knaben. Hierher rechne ich verichiedene Weihe. 
ſigürchen und die figuralen Dekorationen von Flächen 3. B. von 
Gefäßen, ſowie Heine Platten mit Darftellungen im Basrelief. 

Sn den Sammlungen fiebt man nidyt ganz jelten etwa 
10 cm hohe, nadte Srauenfigürden, die ganz flach gearbeitet 
find; um die ganze Geftalt geht ein Streifen, in welchem fie, 
wie in einer Niſche mit bogenfürmigem Abſchluß ſtehe. Es 
find unzweifelhaft Benudbilder in Kapellhen. Die Deutung 
bed Streifend wird durch ein Wandgemälde des Neapolitaniichen 
Muſenms unterftüßt, welched eine Scene aus der „Iphigenie 
bei den Tauriern” darftellt. 

Anher den gefefjelten Freunden fieht man auch das Dianen- 
bild, um welches ein ſolches „Zempeldhen” angebracht ift — 
von dem Ausſehen eined NRundbogenfenfterd. Dieſe Bleifiguren 
hatten ungefähr die gleiche Bedeutung mit den Heiligenbildern, 
welche heutigen Tages von Ballfahrern als Andenken von einem 
Gnadenorte heimgebradyt werden, — Der berühmte griechiiche 
Satyriler Lucian erwähnt ausdrücklich, ed feien an vielbefuchten 
Ballfahrtöorten, wie zu Paphos und Hierapolid Feine Götter 


xx. 472. 2 (581) 


18 


bilder an die abziehenden Pilger vertheilt worden; ja Die 
Phöntzier — echte Krämer — treiben mit kleinen Idolen Handel, 
Dad diefer auch anderwärtd recht ſchwunghaft war, erfahren wir 
aus der Apoftelgefchichte (19, 23), Wit vieler Lebendigfeit 
wird und erzählt, wie fih die Soldfchmiede zu Epheſus, welche 
filberne Xempeldyen der Diana anfertigten, gegen Paulus wegen 
Gewerböftörung zujfammenrotteten, weil er lehrte, es gebe feine 
Götter, welhe von Händen gemadt find; „ihr Handel müfle 
dahin gerathen, daß er nichtö gelte”. 

Jene unanfehnlichen Sdole hatten eine große culturelle 
Wichtigkeit; an ihre Berbreitung knüpfte fich die Verbreitung 
bed Venusdienfted. So hat einft — wie Moverd dem Athenäus 
nacherzählt — ein griechifcher Kaufmann den Eult der paphiſchen 
Göttin dadurch nad) Naukratis verpflanzt, daß er ein ſpaunen⸗ 
langes Bild der Venus von Cypern, die ihn auf der Seefahrt 
als Patäke beſchützte, in einem Tempel aufgeſtellt hatte. 

Noch tiefer in ihrer Ausführung ſtehen ganz kleine Figürchen 
von Reitern, welche von älteren Archäologen (Caylus) für 
Kinderipielzeug gehalten worden find, möglicher, ja wahrjchein- 
licher Weife aber Botingegenftände waren. 

An diefe Weihebilder dürften fich ihrer Bedeutung nad 
Bleiplatten eng anſchließen, welche Darftellungen aus dem 
Mithras-Culiud, in Ylachrelief audgeführt, zeigen. Das Pefter 
Nationalmuſeum bewahrt zwei foldye Platten von 7—9I cm Höbe 
und Breite, die bis auf unbedeutende Detaild ganz gleich find. 
— Dekorirte Bleigefäße find jehr felten. Eines der fchöniten 
dürfte den Lejern aus Dverbed’3 meilterhaftem Werke über 
Pompeji, in weldyem es abgebildet ift (Bd. II. ©. 232, N. 327), 
befannt ſein. 

Für ähnliche Gegenftände, wie bie biöher erwähnten, ift 
das Blei faft ganz außer Gebraudy gelommen und durch andre 
Stoffe 3. B. Papier, Haufenblaje, bleihaltiges Zinn für Wall 


(582) 


19 


fahrtöbilder, Wachs für Votivgegenſtände — das übrigens auch 
bei den Alten zu dieſem Zwecke gebräudlih war — erſetzt 
worden. Wenn ed auch noch zu Anfang dieſes Sahrhunderts 
ausnamsweiſe zur Herftellung größerer Werle, 3. B. der ber 
rühmten Donner’ichen Brunnenfiguren in Wien verwendet worden 
tft, fo bat man doch dieſes Material in neuerer Zeit ald un« 
brauchbar aufgegeben, da’ einzelne Theile, 3. B. ausgeftredte 
Gliedmaßen wegen der großen Schwere des Bleies fich ſenkten und 
bogen. 
I. 

Weitaus wichtiger, ald zur Herftellung von Kunftgegenftänden, 
war die Rolle, weldhe dad Blei bei den Alten auf techniſchem 
Gebiete jpielte, und die es zum Theil noch bis in unfere Zeit 
bewahrt hat. 

Durdy feine Zähigkeit eignet es fich als Träftiged Binde: 
mittel, gleihlam als Kitt, dem man mehr zutrauen konnte, ald 
gemöhnlidem Mörtel. Bei Steinbauten goß man bafjelbe 
entweder im die Fugen zwilchen die Steine, oder man trieb in 
die Duadern, welche durch Bronzes oder Eiſenklammern zu⸗ 
fammengehalten werden jollten, Köcher, in die man zur Bes 
feitigung der Klammern Blei füllte. Diefe Art ift offenbar jehr 
alt, denn jchon Herodot fpielt, wie wir gehört haben, bei dem 
Brücdenbau der Königin Nitocrid auf Diefelbe an. Bei den 
meiften Ausgrabungen größerer römiicher Bauwerke trifft man 
auf Bleituchen, die zwifchen den Steinen liegen; andrerjeits ift 
in dem berühmten Manfoleum zu Halicarnab der große Stein, 
weldyer den Gingang der Grablammer verſchloß auf feiner 
Unterlage in der Weiſe befeftigt, dab Bronzezapfen deffelben in 
Bronzdillen der leßteren pafjen, welche beide in die Steine mit 
Blei gefittet waren. 

Auf dem gleichen Prinzipe beruht auch die Verwendung 
diefes Metalls bei großen Marmor: und Bronzewerken. Bet 

: 2 (583) 





A 


eriteren wurden die zujammengehörenden Marmerftüde durch 
Nägel zufammengehalten, weiche in Löcher berfelben mit Blei 
eingelaſſen warm; bei größeren Bronzewerlen waren dagegen 
die Lücken, die beim Zufammenpaflen der Sußftüde übrig ge 
blieben find, mit Dlei vergoſſen. 

Die gleiche Verwendung eritredte fich aber auch auf land⸗ 
wirtbichaftliche Geräthe und deren hölzerne Beitandftüde. — 
Cato 3. B. empfiehlt die Säule der Delmühle — einer Vor 
rihtung zum Zerquetichen der Dliven — zuerit mit dem zähen 
Weidenholze zu verfeilen und dann noch Blei einzugießen, damit 

fie nicht wadlig werde. Dieje Art dad Blei ald Bindemittel 
zu verwenden ift befanntlich heut zu Rage aufgegeben. 

Man benubte Bleiftreifen in ſolchen Fällen, in denen man 
heut Eijenreifen oder Drabt verwendet. Unter den Arbeiten, 
welche nach Gato’3 Anweifung, vor der Weinleſe zu beforgen 
And, gehört aud „die Zäfler mit Blei zu feltigen oder mit 
Sifenreifen zu umſpannen“. Bor Allem waren es die großen 
irdenen Weinfäſſer (dolis) die man, um fie baltbarer zu machen, 
mit Bleireifen umgab, Andererfeitd nietete man auch zerbrochene 
Gefäbe mit Blei. Verſchiedene Bruchſtücke folder Gefähe, an 
beyen mag die Technik noch ſehen kann, werden in den Samm⸗ 
lungen aufbewahrt. Mehrere Stellen find durchbohrt und in 
bie Köcher Bleinägel eingepabt, die dann an der Innen- und 
Außenfeite der Scherbe durch halbeylindriiche Bleiſtreifen ver⸗ 
bunden werden, wodurd eine Art Netzwerk entfteht. Doc find 
folshe Gefäße jelten — nit ald ob fie überhaupt felten aufs 
gefunden worden wären, ſondern weil die Zandleute, wie Save» 
doni angiebt, wenn fie auf ſolche ftoßen, fie zeritören, um das 
Diei zu gewinnen. Diele Amphoren und lonftigen Thongefchirre 
waren au fidh ohne bejonderen Werth, jo dab gefchloffen werden 
darf, es jei ganz gewöhnlich geweſen, zeriprungene Töpferwaare 


mit einem ſolchen Bleigeflecht zu umgeben, wie man ed bei und 
(584) 


21 


mit Eifendrabt thut. In dem Bruchftück einer Satura bed 
Barro fagt Iemand „Warum läht Du denn dad Wafler In 
Deinem Haus umberrinnen? Wenn Du durchſtoßene Häfen haft 
— haft Du denn fein Blei?“ 

Endlich befeftigte man auch Dedel von Gefaͤhen, die bes 
fonderd Dicht fehließen follten, 3. B. Medicamentenbüchſen wit 
einem Bleiring oder ganzen Bleikappen. 

Eines Fundes, welcher befonderd die Aufmerkſamkeit der 
rauen beaniprnuchen dürfte, muB ich bier Erwähnung thun — 
ein Stückchen unanjehnlicher Bleidraht, der aber durch feine 
Zähigkeit und leichte Biegſamkeit ſich für den Zweck vorzüglich 
eignete, welchen ibm Scliemann, der unermübliche unb 
glädliche Entdeder reiher Schäte frühhellenifcher Cultur, zus 
Ichreibt, und der ihn unter dem Schulte der 3. Stadt auf 
Hifjarlik gefunden bat. Der Drabt bat, jo vermuthet Schlie⸗ 
mann, zum Yelthalten von Loden gedient. Die Hand, bie 
ihn einft verftändnißvoll bog, das umlodte Haupt — fie find 
long in Afche zerfallen, und felbft dieje haben Jahrtauſende 
verweht. Der elende Draht hat ſich erhalten; in ihm haben 
wir die präbiftorifhe Ahnfrau unferer Haarnadeln vor und. 
Heut verfertigt man, wie männiglich befannt, diefe für ben 
funftvollen Haarbau unentbehrliden Stützen nur noch aus 
Eiſendraht. 

Sn anderen Fällen iſt ed vor Allem die Schwere unſeres 
Metalles geweſen, durch die ihm gewiffermaßen naturgemäß feine 
technifche Rolle zugewieſen war. 

Des Ichönen Bildes habe ich bereit3 gedadıt, in welchem 
Homer die untertauchende Iris mit dem in die Ziefe eilenden 
Blei einer audgeworfenen Angelfchnwe vergleicht. Beim Fiſch⸗ 
fange fand es alfo ſchon fehr frühe feine Berwendnng. Aelian 
ſchildert mit humoriftiſchem Seitenblid auf menſchliche Ber 
baltuniffe den Yang des Skarus, eined delifaten Mittelmeer 


(585) 


22 


ftiches, von dem die Alten fabelten, daB er wiederkäne. Man 
band ein Weibchen an einen Faden, ber mit einem cylindrifchen 
3 Zoll langen Bleiſtück beſchwert war, und zog den Fiſch bis 
über die aufgeitellten Reuſen. Dann, wenn die Männchen in 
ihrer verhängnißvollen Verliebtheit jo weit gefolgt waren, ließ 
der Siicher dad Blei in die Reuſen finfen und mit hinein warb 
dad Weibchen jammt feinem ganzen verblendeten Gefolge ges 
riſſen. 

Frühzeitig muß der Anwohner der Mittelmeergeſtade bei 
ſeiner Schifffahrt längs den klippenreichen Küſten und zwiſchen 
ben vielen Inſeln das Bedürfniß empfunden haben, den Meeres⸗ 
grund zu prüfen, um den ihm drohenden Untiefen auszuweichen. 
Wie oft müfjen Hd Scenen wiederholt haben, wie fie in Paulus’ 
gefahrnoller Schifffahrt mit fo lebendigen Farben das 27. Kapitel 
ber Apoitelgefchichte fchildert. „Da aber die vierzehnte Nacht 
fam und wir in Adria fuhren um die Mitternacht, wähnten die 
Sciffleute, fie kämen etwa an ein Land. Und fie warfen das 
Senkblei aus und fanden zwanzig Klafter tief, und über ein 
wenig von dannen fenkten fie abermal und fanden fünfzehn 
Klafter. Da fürchteten fie fi, fie würden an harte Derter an« 
ftoßen, und warfen hinten vom Schiff vier Anker, und wünfchten, 
dab ed Tag würde.” — Daß die Phönizier und wohl auch 
andere feefahrende Völker die Anker mit Blei befchwerten, tft 
ſchon angedeutet worden. 

Hier zum Schuhe ded Lebens verwendet muß ed auf 
einer andern Seite zum „Spender bittrer Schmerzen” werden. 

Die erite in die Ferne wirkende Waffe, welche fich dem 
Menſchen auf der unterften Stufe jeiner Givilifation gleichſam 
von jelbft darbot, — eine Waffe, zu der nach Berichten von 
Reiſenden, jogar die anthropoiden Affen greifen, iſt wohl ber 
Stein geweſen. Im Berlaufe der Zeiten machte man die Er⸗ 


fahrung, daß derfelbe aud einer geſchwungenen Schleife mit 
(586) 


23 


größerer Wucht und Schnelligkeit fliege, ald wenn er aus freier 
Hand geworfen wird. — Dat die Hebräer — und dies ailt 
auch von andern Bölfern VBorderafiend — fih um die Zeit ver 
Einführung des Königthums der Schleuder als Waffe bedienten; 
wie die Fertigfeit in ihrer Handhabung dem nachmaligen Zuden- 
fönige zum Sieg über den herausfordernden Goliath verhalf, 
ift Sedermann von Knabenjahren ber befannt. Bald mußte 
man gewahr werden, dab die Wirkung um jo größer fei, wenn 
der geichleuderte Körper bei paffender Größe und Geftalt eine 
größere Schwere beſaß. Der nächſte Schritt war daher, an 
Stelle des Kiejeld jened Metall zu verwenden, das gerade durch 
dieje Eigenſchaft befonders auffiel. Das Schleuderblet — der 
Borläufer unferer Projektile — war damit dem Pfeil und Wurf- 
ſpieß als wichtige Kriegäwaffe zugejellt. — Daß ed bei den 
Periern ein halbes Jahrtauſend vor Beginn unferer Zeitrechnung 
im Gebraudye war, erfahren wir aus Xenophon’d Schilderung 
ded Rückzuges (Anabafid), auf welchem er die 10000 Griechen 
aus Perfien heimführte. Im den Dörfern um Lariſſa umd 
Meipila (Niniveh), erzählt er, fanden die fouragirenden Hellenen 
viel Blei vor, dad zum Schleudern beftimmt war. — In vor» 
züglihem Rufe aber ftanden die Rhodiihen und Balearifchen 
Schleuderer; die erfteren bildeten bei den Hellenen, die andern 
im römifchen Heere gewiffermaßen dad Chor der Scharffchüben. 
Das Schleuderblei (molybdis) jcheinen die Griechen von den 
afiatifchen Volkern überfommen zu haben; von den Griechen 
entlehnten es wieder die Römer uud nannten ed Schleudereichel 
(glans missilis). Der Name ift recht bezeichnend. Das Pro« 
jeftil gleicht nicht felten einer Eichel, hat aber oft beide Enden 
ſpitz ausgezogen (aculei); ed mißt in der Länge 3—6 cm; ber 
Durchmeffer in der Mitte des fpindelförmigen Körpers beträgt 
1,50—2, felten 3 cm. Schleuderbleie von mittlerem Kaliber 


wiegen etwa 60 g. Sie wurden in Formen von Sanditein ges 
(587) 


24 


geffen, in weichen gleich eine größere Zahl Aushöhlungen au« 
gebracht war, welche fid an den Enden der verzweigten Buß 
fanäle befanden, fo dab bei der Herausuahme die Gkındes, 
mie die Beeren einer Traube an den einzelnen Stielen hingen. 
Au der Seite mancher Schleudereihel fieht man ausgetretenes 
Blei; was beweilt, daß die Form aus zwei Tafeln beftand, bie 
vor dem Guß aufeinandergepaßt, nad dem Guß auseinander 
genommen wurden. 

Die roͤmiſchen Eicheln findet man jeltener als die griechiichen 
und dann meift, wie Mommpjen zuerft bervorbob, in der Näbde 
von Städten, welche ermwiejenermaßen harte Belagerungen zu 
überjtehen hatten. Sie gehören vor allem den lebten anderthalb 
Jahrhunderten vor Beginn unferer Zeitrechnung an. Diefe 
römifchen Glandes find meift unbejchrieben oder weifen die Zahl 
der Legion, welcher der Schleuderer angehörte. Die mit einer 
Aufſchrift verſehenen Echleuderbleie find häufiger griechtichen 
Urſprungs. Dieſe Art ift wahricheinlich in Thonformen, welche 
vertiefte (eingedrüdte) Schriftzeichen hatten, gegoflen, jo daß die 
Schrift auf den Eicheln jelbit erhöht if. Solche Aufichriften 
find gewöhnlid, Spottworte an die Adreſſe ded Empfängers ges 
richtet, etwa „Da haſt's“ oder „Sei mir gegrüßt*. Nicht felten 
tragen fie — eine leicht verftändliche Anjpielung — das Bild 
bed Blitzes. 

Man warf die Eicheln aud ledernen Schleudern; ihre 
Tragkraft dürfte kaum gemau zu beftimmen jein. Zenophon 
erwähnt nur, daß die Bleikugeln feiner Rhodier doppelt joweit 
flogen, al8 die aus freier Hand geichleuderten, die Hohlhand 
ausfüllenden Steine der Perier. 

Wenn römijche Dichter fagen, dab die Schleuderbleie im 
Fluge durch die Luft jchmelzen oder rothglühend werden, fo 
fann das nur poetifche Uebertreibung fein. Man benützte fie 


im Kriege nicht felten — eine feltfiame Art von Brieftauben — 
(388) 


25 


um auf fie eingerigte Nachrichten nad) Orten gelangen zu laffen, 
die fonft unzugänglich waren, unb mehr als einmal geichah es, 
daß verrätherifche Mittheilungen auf Diefe Weife aus ein- 
geſchloſſenen Städten den Belagerern zugefendet worden find. 

Ich kann von dem Gegenftande nicht fcheiden, ohne einiger 
Berje aus Ovid's Metamorphofen (II. 727) zu gedenfen. Ins 
bem ber Dichter das leidenichaftliche Erglühn der Liebesſehnſucht, 
won weldyer Mercure für Herje erfaßt wird, fchildern will, ge 
braudyt er das Dilb: 

Staunend ob ber Geftalt entbrennt, noch ſchwebend in Lüften, 

Jupiters Sohn in Lieb’, ald wenn balenriihe Schleudern 
Schnellen das Blei; dies fliegt umd entzündet, während des Fluges 
Erſt empfangend die Gluth, die ihm fehlte, unter den Wolken. 

Um den Leſer nicht zu ermüden, ſei nur kurz angedeutet, baß 
man dad Blei gelegentlih auch noch anderen Kriegszwecken 
bienftbar machte. Scipio Aemilianud räth zum Beifpiel bei der 
Belagerung einer Stadt, die Furten des Fluſſes mit blei- 
bejchwerten Brettern, in welche Nägel geichlagen waren, zu bes 
legen, damit die Belagerten nicht hinüberfommen und das Lager 
überfallen könnten. Belagerte drüden den an ihrer Mauer 
arbeitenden Sturmbod mit Bleiblöden hinab. 

Wegen jeiner Schwere benußten auch die Panfratiaften 
(Ringfämpfer) das Blei. Sie flodhten Bleiknöpfe in ihre 
Caestus (Riemen, mit denen Hand und Arm ummunden war), 
mm den geführten Fauſtſchlag wuchtiger zu machen. 

Auch die Juſtiz wollte bei ihrer jegendreichen Thätigfeit 
der vortbeilhaften Eigenichaften des Bleies nicht entrathen. — 
Nur mit Widerftreben erwähne ich eined Gebrauchd, von deffen 
Schilderung ſich dad Menjchengefühl empört abwendet. Die 
Bleigeibel (plumbatae) befland aus mehreren Schnüren, an 
deren jedem Ende eine Dleikugel hing. In ber Leidensgeſchichte 
ber erften Chriſten Tehrt der Bericht häufig wieder, dab man fie 


(569) 


26 


mit ſolchen Bleigeibeln hieb, bis fie den Geift aufgaben. Wem 
fielen nicht Plinius' grollende Worte ein, die leider mehr als 
eine hohle rhetorifche Phrafe find: „was Die Erde dem Men» 
ichen bietet, er wendet ed zum Webeln. Gold und Silber dient 
ihm zur Goreuption der Ehrlichkeit und Unſchuld; Eifen, Erz 
und Dlei zur Vernichtung oder Bereitung der fcheußlichften 
Dualen.” Aber auch die regelmäßige Nechtöpflege fpäterer Zeit 
ſchien diefed Juſtizapparates ſchwer entbehren zu können, wie 
man aus verichiedenen Stellen des Theodoftanijchen Goder ent« 
nehmen mag; die Strafe der „plumbatae“ jdeint erſt unter 
Gonftantin — wenigftend für das römiſche Reich — aufgehört 
zu haben. Denn noch heut foll es einen europätihen Staat 
geben, in weldhem die Handhabung eines folchen mehrſchwänzigen 
Correctiv⸗Mittels unentbehrlich erfcheint. 

Noch eine andere Rolle wied man dem Blei in der Strafs 
juftiz an. Wie im Mittelalter, ja bid in die Neuzeit hinein, 
ſchwere Ketten, denen etwa noch Kugeln angehängt waren, bie 
Kerkeritrafe verfchärfen jollten, jo wurden in der römijchen 
Kaijerzeit bisweilen Sträflinge, ringsum mit bleiernen Banden 
umwunden, für Zebenddauer in die Bergwerke geichafft. — 

Nur weil das Blei den alten Völkern gleichſam ald die 
Berförperung der Schwere erſchien, konnten fie fidy verleitet 
fühlen, ein Metall zur Anfertigung von Gewichten zu benugen, 
das durch feine übrigen Eigenſchaften fi) für dieſen Zwed fo 
ichlecht eignet. Die meilten größern Diufeen beherbergen eine 
Reihe folder Gewichte, die nicht felten fechdedige Stüde, ge 
wöhnlich aber einfadye Parallelepipede find, auf welchen bie 
Zahlenbezeichnungen durch Striche oder Punkte angedeutet werden. 
Bor allem ift die Anzahl der erhaltenen griechijchen Bleigewichte 
groß. Sie haben außer den Sufchriften gewöhnlich noch Dar 
ftellungen in Relief, welche — gleich Wappen — ihre Herkunft 
verratben , jo 3. DB. weift ein Doppelbeil oder eine Traube auf 


(590) 


27 


Tenedos, die Amphora gehört Chios an, die Schildkroͤte ift das 
Zeichen für Aegina. — Biel feltener find bleierne Laufergewichte. 
In der reihen Sammlung des Herrn Trau, Theehändlers in 
Wien, befindet fi eine Bronze-Büfte ded Kaiſers Titus. Sie 
ift im Erz fo dünn, ald wäre fie aud Blech getrieben, und ift 
vollſtändig mit Blei audgegoffen. Cin Bronzering auf dem 
Scheitel des Kopfes läßt keinen Zweifel darüber, daß fie als 
Laufergewicht gedient bat. 

Noch manchen andern Bedürfniffen hat man dad Blei gerade 
jeiner Schwere wegen nutzbar gemacht. Die antiten Bronzegüſſe 
waren oft nicht fo ſtark gearbeitet wie die modernen, daher aud) 
nicht fo ſchwer. Man goß daher die untern Partien namentlich 
von Golofjalftatuen mit Blei aus, um ihnen größere Etabilität 
zu geben. Das faiferliche Antikenfabinet in Wien z. B. befit 
einen ſolchen mit Blei audgegefjenen Fuß. Seine Sohle ift 
38 cm lany, der Rift 10cm hoch und der Umfang über dem 
Knöchel 35 cm. Das Erz iſt nur 5, ftellenweile gar nur 2mm 
did. Ein vierfantiger Eifenftift (14cm im Geviert), der ins 
Blei eingelafjen ift, verband offenbar den Fuß mit dem Unters 
ſchenkel der Statue. 

Nur ald Euriofität will ich erwähnen, wie die Alten im 
Würfelipiel „dem Glücke nachhalfeu“. Eine Stelle bei Ariftoteled 
wenigftend fcheint darauf zu deuten. Er führt als Beifpiel an, 
daß ein „gebleiter” Würfel ſtets die leichtere Seite dem Werfen» 
den zumwendet; dieſe wird wohl damit die höchften Pointen ges 
wiejen haben. 

Beimeitem die größten Mengen an Blei verbrauchten Die 
Römer zu ihren zablreihen und weit verzweigten Waſſer⸗ 
leitungen. Die Bertheilung des Waſſers innerhalb der umfang» 
reichen Regionen der ewigen Stadt erfolgte durch ein gemaltiges 
Netz von Bleiröhren. Es giebt auch faft faum einen etwas 


bedeutenderen Ort, den Römer gegründet und einige Zeit be» 
(891) 


28 


wohnt haben, in deffen Nähe man nicht bie Zeugen ihres Be 
dürfnifſes nach gutem Waffer ausgegraben hätte Sie hießen 
„Fistulae* ein Gegenſatz zu „Tubuli“, den thönernen Röhren. 
Man ftellte fie ans Bleiplatten ber, weldhe um einen Kern ge 
bogen wurden. Die Ränder hämmerte man aufeinander und 
verlötbete fie dann äußetlich; der Durchſchnitt zeigt darum feinen 
reinen Kreis, fondern wo die beiden Plattenränder an einander 
gepabt find, befteht eine Leifte; faft ausnahmslos ift die Nath, 
nicht bloß angedeutet, fondern fie ift aucd im Verlaufe der 
Jahrhunderte Maffend geworden. Die Platten, welche für Lei⸗ 
tungsröbren dienten, follten nicht fürzer, als 10 römifdhe Fuß, 
d. b. faft 3m lang gegofjen werden. Die Röhren hatten, wie 
ſich erwarten läßt, feltgeftellte Dimenfionen (moduli), die zu 
verichiedenen Zeiten auf Grund einer verfchiedenen Einheit bes 
flimmt, und nad ihrem beftimmten Galiber benannt waren, 
Ein Rohr 3. B. von etwas mehr ald 2cm Weite bie „QAui- 
naria“; eine „Sexagenaria“ hatte 16 cm Lichte. Frontinus, 
welcher zur Zeit ded Nerva (96—98 n. Chr.) die wichtige und 
mit 100000 Seſterzen (faft 22000 ME.) dotirte Stelle eines 
Curator aquarum innehatte, hinterließ und ein wichtiges Büch⸗ 
fein über die Wafferwerfe Noms. Aus diefem erfahren mir, 
dat zu Frontinus’ Zeit 17 verfchledene Kaliber — 8 andere 
waren außer Gebrauch gelommen — in den äffentlidyen Regiſtern 
(commentarü) eingetragen und durch des Kaiſers Majeftät 
approbirt (confirmati) waren. Die Feltitellung der Röhren» 
weite war fchon darum jehr wichtig, bamit man beim Zumeifen 
des Waſſers an jeder beliebigen Stelle der Keitung beftimmen 
fönne, wieviel Waſſer des Tages abgegeben wird. War daß 
Rohr enger, jo war der Empfänger natürlich betrogen. — Die 
Nöhren des ſchwächſten Calibers hatten 2,2 cm Weite, bie 
bidften maßen in der Lichte 228 mm! Bet foldyer Weite müflen 


Röhrenbräche fein ſeltenes Ereigniß gewefen fein, und Frontinus 
(592) 


239 


giebt in der That auch Auweiſungen, was in ſolchen Fällen zu 
geihehen hat, damit in der Zufuhr des Waſſers feine Unter⸗ 
brehung eintrete. — Um die Möhren zu einem Strange zu 
vereinigen, ſchob mau das Ende des einen Rohres in das ges 
fröpfte Ende des andern und dichtete die Stelle mit Kitt ganz 
ähnlich, wie e8 bei und mit den Basleitungsröhren geichieht. 

Auch mit Infchriften find die Röhren nicht Selten verjehen. 
Da die Inſchrift wahrfcheinlich mit beweglichen Buchftaben in 
die Formen eingepreßt wurde, jo mußte fie auf der Zafel, aus 
der dad Rohr gefertigt ward, erhaben erjcheinen. Aus der Sn» 
iyrift erfährt man, unter welhen Conſulen oder Kaifern bie 
Reitung angelegt worden iſt oder weldhe Stadimagiftrate damals 
gerade im Amie waren. Zuwellen ift der Name einer Privats 
perſon oder einer Gejellichaft zu leſen, auf deren Koften bas 
Werk ausgeführt ward. Wieder in andern Fällen jagt und das 
Rohr, aus welcher Fabrik ed hervorgegangen ift, 3.8. „ex offi- 
cina Martini plumbarii*. — Auch bie öffentlihen Waſſer⸗ 
rejervoire oder wenigftend einzelne derjelben waren mit Blei» 
platten audgefüttert (castella plumbea). Ueberhaupt benußte 
man das Dleibleh auch fonft zum Ausfleiden, 3.2. des Iunern 
von Holzfärgen und die vieredigen „bleiernen Kufen“, in welche 
nad) der Schilderung des berühmten Defonomen Solumella beim 
Preſſen der Dliven das Del ablief, dürften mit Bleiplatten aus 
geichlagene Holzkäften gewefen fein. 

Der Architekt Vitruvius, ein Zeitgenoffe des Cäfar, macht 
in einfichtövoller Weiſe auf die Schädlichleit ded Bleies aufs 
merlfam. &r erflärt, Waſſer, dad dur Thonröhren geleitet 
worden, ſchmecke wicht allein befjer, ſondern fei auch gefünder 
als das durch Dleiröhren geführte, „denn da fcheine fich Blei» 
weiß zu bilden und dieſes dem menjchlichen Organismus jchädlich 
zu ſein.“ Gleichwohl wendete man fie an und ließ ſich davon 


jelbit dort nicht abhalten, wo die chemiſche Wirkung des Mineral« 
(593) 


30 


waſſers fie im kürzeſter Zeit zerftören mußte. Pauſanias, ber 
Zopograph Griechenlands, macht die intereffante Angabe, es gebe 
in der Nähe von Puteoli ein heißes Waſſer, weldyes die Blei⸗ 
töhren, durch die es läuft, in wenigen Jahren zernagt. Es war 
wohl heißes Schmefelwafler. Bei jo audgebreiteter Verwendung 
der Bleiröhren wird ed und nicht wundern, daß die Herftellung 
derfelben einen mächtigen Geſchäftszweig bildete, in weldyem, 
beſonders zur Zeit der Kaifer, zum Theil fehr anjehnliche Vers 
mögen inveftirt waren, 

Trotz der von Einzelnen ganz richtig erfannten Gefährlich« 
keit des Materiald fertigte man doch daraus Kefjel zum Ein- 
fochen des Moſtes (sapa), Schüffeln zum Anmachen von Brotteig; 
man hatte ſogar bleierne Fäſſer! Man betradytete Salben 
und Pflafter ald viel wirkſamer, wenn fie in Bleigefähen gekocht 
worden find, und bewahrte befonderd mwohlriechende Salben in 
folhen auf, weil nad Theophraſt's Erklärung „dad Blei kalt 
und dicht fei, und weder den Gerud der Salben heraus laffe, 
noch geftatte, DaB irgend etwas eindringe." 

Die große Weichheit bed Metalle, da8 den Cindrud 
jelbft eines Yingernageld jchon aufnimmt und anderfeitö leicht 
abfärbt, machte e8 zum Schreibmateriale geeignet. Mit Blei 
320g man auf Pergament und Papyrus Linien und hatte dazu 
dünne Bleifcheiben „Linirrädchen” (Kyklomolybdos), die man 
fo handhabte wie unjere Frauen das fogenannte Schneiderrädchen 
beim Borzeichnen der Kleiderjchnitte.e Auf „dieſes gerundete 
Blei, den befchriebenen Seiten ein Führer” jpielt die griechiiche 
Anthologie in mehreren Epigrammen an, und der Kenner römis 
ſcher Poefie wird wohl an Catull's reizended Spottgedicht auf 
den groben Suffenud erinnert, in welchem der „membrana de- 
recta plumbo* Erwähnung geſchieht. — Anderſeits dienten 
mehr oder weniger dünne Bleiplatten Dazu, auf denſelben die 
Schriftzeihen mit Metallgriffeln einzurigen. Eoldye Blei⸗ 


(694) 


31 


büder wurden, wie wir aus Plinius erfahren, in älteften Zeiten 
für öffentliche Aufzeichnungen benübt. Dem Paufaniad zeigte 
man an der Hippofrene eine ſtark zerftörte Bleitafel, auf welcher 
Hefind’8 Lehrgedicht „Werke und Tage” ſoll eingefchrieben ge« 
wejen fein. Die Richtigkeit ähnlicher Angaben wird durdy einen 
Fund A. Cesnola's beftätigt — eine nach Art der antifen 
Bücher zujammengerollte Bleiplatte, die in der That bes 
ſchrieben ift. 

Die größte Zahl befchriebener Bleitafeln gehört einer bes 
ſondern Gattung an, deren unheimliche Bedeutung ihr Name 
„Katadeömen, Fluchtafeln“ verräth. Indem man fie in die Grabs 
fammer oder in den Sarg einfymuggelte, hoffte man den Todten 
noch im jenjeitigen Leben mit feiner Rache zu erreichen. Die 
unfromme Bitte iſt darum immer an die unterirdiichen Gott» 
beiten gerichtet. Die meiften erhaltenen Fluchtafeln rühren, wenn 
ich nicht irre, von Frauen her; ob megen einer unverföhnlichern 
Rachſucht oder größern Abergläubigkeit des ſchwachen Geichlechteß, 
ob vielleiht aus beiden Gründen zugleich, wage ich nicht zu 
enticheiden. Doch auh Männer verfchmähten das feige Mittel 
nicht. Bis in dad Zimmer des Sterbenden mußte fih der Haß 
Zutritt zu verichaffen. Zacitus erzählt, daB man im Kranfen- 
gemadhe bed Germanicus Menſchenknochen, halbverbrannte Zeichens 
theile, an den Wänden Beichwörungsformeln, Berwünfchungen 
und den Namen des Kranfen „auf bleiernen Tafeln eingegraben“ 
fand, „wodurch man Seelen den unterirdiihen Mächten zu 
weihen wähnt”. Der Verdacht, dieſes alled veranftaltet zu 
haben, richtete fich gegen Germanicus' Todfeind Pifo, deſſen 
Abgelandte auf den Tod ded Fürſten lauerten. 

Eine zweite Art von Katadeömen fcheinen in dem Heilig- 
thümern der unterirdijhen Mächte niedergelegt worben zu fein. 
Eine anjehnliche Zahl folcher Täfelhen fand man in der klein⸗ 


(595) 





82 


afintitchen Seeftadt Knidos, die durch ihren Venuskultus un 
Prariteled’ wundervolles Benusbild berühmt war. 

Die Beranlafjungen zu diefen Ausbrüchen des Grolls find 
jehr verſchieden. Da verwünſcht eine heißblütige Griechin Je⸗ 
manden, der ihr Gewänder veruntreut hat. Eine Ehefrau ver 
flucht eine Klatſchſchweſter, die ihr nachgeſagt hat, fie wolle 
ihren eigenen Gatten durch Gift aus der Welt ſchaffen. Auf 
einer andern Tafel leſen wir gleich drei Verfluchungen gegen 
Perſonen, von welchen die Beſchädigte mit einem leichtern Ge⸗ 
wicht betrogen worden iſt und gegen einen unbekannten Dieb 
ihres Armbandes. Proſodion, die Frau des Nakon verflucht 
jenes Frauenzimmer, das ihren Gatten verleitet hat, Weib und 
Kinder zu verlaſſen. Ein andermal wird der Fluch geſchleudert 
gegen Jemand, der ein Trinkhorn geſtohlen, dann wieder gegen 
den unerkannten Geſellen, welcher den Fluchenden geknebelt und 
durchgebläut hat. 

Die groͤßeren von dieſen Täfelchen find etwas ſchmäler 
und zugleich etwas länger, als die bedruckte Fläche dieſer Seite. 

Endlich giebt es noch Sufchriften auf Blei, melde — wenn 
ich jo jagen darf — als Ueberreite des Orakelarchives von Do» 
dona gelten dürfen. &8 find zum Theil nur einen Millimeter 
bide Bleiplätthen. Die meiften find von Karapanos und 
Foucart zuerft publicirt. Die entzifferten Täfelchen — einige 
40 an Zahl — beziehen fidy auf ſehr verfchiedene Gegenflände. 
Anfragen politifchen Inhalts, Friedendgarantien betreffend, An⸗ 
fragen wegen geftohlener Kopfliffen und Matrazen, Anfragen 
von Kranken, durch welcherlet Opfer fie ihre Geſundheit erfaufen 
tönnten, von Gefchäftsleuten, ob ihre Unternehmungen glücken 
werden, von einem mißtrauiichen Lyſianus, ob Nyla von ihm 
in der Hoffuung jet — dieſe und Ähnliche Anfragen werden dem 
Gotte von Dodona vorgelegt. Im lebtern Falle wenigftens gab 


der Kronide eine beruhigende Antwort. — 
(596) 


33 


Ein Sahrhundert lang bat unter den Numismatifern und 
Archäologen ein willenfchaftlider Streit darüber geherricht, ob 
dad Blei je als Münzmetall gedient habe. Daß bei plattirten 
Münzen dad Innere, die jogenannte Seele bisweilen aus Blei 
beftand, daß dieſe Art Fälſchung bei den Griechen in jehr frühe 
Zeiten hinaufreicht, ift ficher; heut läßt fich aber wohl auch nicht 
mehr zweifeln, daß es zeitweilig wahre, gangbare Bleimünzen 
gegeben hat, 

Hier wären die zahlreichen bleiernen Münzen numidiſcher 
Könige zu nennen; an fie fließen fi in Aegypten gefundene 
römijhe Münzen des 2. oder 3. Sahrhundertd n. Chr. Dazu 
fommt der wichtige Fund von Lyon. Dieje Meinen Bleiftüde, 
deren reichfte Sammlung Etienne Recamier befigt, wären 
nah Lenormant's Darlegung in den Städten an der Saöne 
und Rhöne in Umlauf gewejen. Man Tann annehmen, dab ihr 
Curs ein localer war und dab ihnen lediglich die Bedeutung 
unferd Papiergeldes oder vielleicht richtiger von jemen Heinen 
Noten zufam, weldye eine Zeit lang in verjchiedenen italieniichen 
Städten, von localen Banken ausgegeben, nur örtliche Geltung 
hatten. 

Biel ausgiebigern Gebrauch machten die claffiichen Völker 
vom Blei zur Anfertigung von Marken, die man unter dem 
Namen „Tesserse* zuſammenfaßt,. Die Zahl der erhaltenen 
Piombi diejer Art, bejonderd ſolcher römijchen Urfprungs beläuft 
fich in die Taujende, auch die griechiichen find aus der Zeit ber 
mafebonifchen und römiichen Herrichaft, jelten and älterer Zeit. 
Troß der Weichheit des Metalld find viele jehr wohl erhalten, 
meift mit einer Orydichicht bekleidet, die ihnen wie auch andern 
Bleianticaglien dag Ausſehen giebt, ald läge ein dünner Ueber» 
zug von eingetrodnetem Brodteig auf ihnen. Diele derfelben 
geben noch heut, was ihre Bedentung betrifft, Dem Archäologen 


ſchwer lösbare Räthſel auf. 
xx, 472. 8 (597) 


34 


In den Städten Italiens beftanden Collegien und gilden- 
artige Sodalitien, welche neben der Wahrung bejonderer Suter- 
eſſen auch, den Cultus der municipalen Gottheiten pflegten, und 
deren Mitglieder fich an verfchiedenen Feſtlichkeiten gemeinfam 
beteiligten. Sie feierten Spiele, Aufzüge und gaben Banquette. 
Garucci, der fi) mit der Deutung der Tesserae fehr eingehend 
beichäftigt hat, ſpricht nun die Vermuthung aus, viele diefer 
Marken ſeien eben von jenen municipalen &ollegien für ihre 
Mitglieder angefertigt. Die Marke ficherte dem Üeberbringer 
den unentgeltlichen Zutritt zu den Unterhaltungsorten, fie öffnete 
ihm vielleicht bei den Schaufpielen einen rejervirten befjeren 
Platz. — Ferner find Legate bekannt, durch welche den Gollegien 
Geld zu Baftmählern, die am Geburtötage des Legatard zu 
feinem Andenken gefeiert werden jollten, und für Salböl ver 
macht werden. Eine beitimmte Marke berechtigte zur Theilnahme 
an ben erfteren, auf eine andere bin ward dem Vorweiſenden 
in den öffentlichen Bädern Salböl unentgeltlich verabreicht, d. h. 
beideö wurde aus den Legaten beftritten. 

Die meiften Tefjeren zeigen Embleme, weldye auf Spiele ' 
im Circus und Amphitheater oder auf Vorftellungen im Theater 
deuten. Aurigen, befränzte Pferde, die fieben Delphine, die 
Zrompeter, weldhe das Zeichen zum Beginn bed Wettlampfes 
gaben, und ähnliche Darftellungen beziehen fich auf Wagen- und 
Hferderennen im Circus; Abbildungen von Sladiatoren oder 
ihren Helmen, von Siegeöfränzen, von verfchiedenen Thieren: 
Hirfchen, Slephanten, Stieren, Löwen, Bären u. |. w. gemahnen 
an bie fchauerlichen Spiele des Amphitheaterd; die Maske dient 
als Symbol des Schauſpieles; bisweilen ift der Zuſchauerraum 
abgebildet und die Zahl des Cuneus und der Sitzreihe ans 
gegeben, für welde die Eintrittsmarke gelten mochte. 

Andere Tesserae haben unverfennbaren Bezug auf Triumph⸗ 
zuge oder Apotheojen von Kaiſern. Diefe leßteren werden durch 


(898) 


35 


das Bild ded Mercur oder eined Genius mit brenmender Fadel, 
oder durch einen Adler angedeutet, welcher von einem Cypreſſen⸗ 
franz umgeben iſt. Einzelne Tesserae mit Katferbildern find 
vielleicht Einladungsmarken für die Zriumphfeierlichleiten ge⸗ 
wejen. Wahrjcheinlich find auch ſolche medatllenartige Bleiſtücke 
an dad Volk ald „Denkpfennige“ vertheilt worden. 

Eine Anzahl von Tesserae hat nady ihren Darftellungen 
oder: abgefürzten Injchriften einen deutlichen Bezug auf religiöfe 
Fefte und Verfammlungen, 3. B. Sacra Lanuvina, Invenalis, 
die Saturnalien, geheime Zufammenfünfte zur eier der Ifis, 
u. ſ. w. Alle die erwähnten Marfen find gewöhnlich rund, flach 
oft nur auf einer Seite mit einem Gepräge verjehen. Diefes 
ift entiprechend ihrer Beſtimmung meiſt ganz roh; doch zeigen 
einige jehr fein ausgeführte Köpfe oder figurale Darftellungen. 
Einzelne fcheinen geprägt zu fein, die meiften waren gegoflen. 
Man befigt noch die Gußformen, die aus einem Gipoltnähnlichen 
Stein gefertigt find. — 

Eine andere Art von Tesserae find Heine vieredige, mit 
Zahlen oder Buchſtaben verjehenen Täfelhyen. Sie waren wohl 
Etiketten an Weinamphoren oder an Büchſen, in denen bie 
Bücherrollen aufbewahrt wurden u. ſ. w. Einzelne find durch⸗ 
löchert, indem fie entweder angenagelt oder den Gegenftänden 
angehangen waren. 

Tesserae, welche Namen von Brivatleuten tragen, hatten 
in manchen Fällen die Beftimmung, dad Andenken des Bauherrn 
der Nachwelt zu erhalten. Im der vieredigen Fußplatte (Plinthe) 
einer großen Granitfäule in der Nähe des Forum Trajani zu 
Rom fand man eine Hählung, gerade jo groß, daß eine Blei⸗ 
marke, die auf beiden Seiten wie eine Münze geprägt war, 
darin Platz hatte. Nachdem die Tessera hineingelegt war, ftellte 


man die Säule auf die Plinthe. — Aehnlicher Bleimedaillen, 
8* (59) 


36 


in Höhlungen von Säulen eingelegt, fand man mehrere. Sie 
waren, wie es jcheint, feit Trajan Mode geworden. 

Bon diefen Marken verfchteben find jene „Piombi“, die 
ald Boletten dienten. In Höhlungen von Marmorblöden ein⸗ 
gelaffen und mit SKaiferbildniffen geprägt, mochten fie dazu 
dienen, foldye Blöde als zollfrei oder für faijerlihe Bauten be» 
ftimmt, zu bezeichnen. Im vorigen Sahrhundert ließ ein gewiſſer 
Lecchini, Steinmeh in Rom, aus der berühmten Billa des Ha⸗ 
drian zu Tibur ein großed Fragment gelben Marmord bringen. 
Als diejed vor jeiner Werkſtatt abgeladen wurde, bemerlte er, 
wie ein Stüd davon abſprang. Er hob ed auf und fand, daß 
es vordem mit feinem Kalkkitt an dem Blod befeftigt geweſen, 
und in einer Aushöhlung Blei enthielt, auf welchem Hadrians 
Kopf nebft einer halbverwifchten Inſchrift geprägt war. 

Boletten anderer Art jammelte Salinad auf Eicilien. 
Sie tragen griechiſche Aufjchriften, Monogramme oder Zeichen, 
und beftehen aus zwei fleinen runden, durch einen ſchmalen 
Streifen verbundenen Platten, von denen (an einzelnen Exem⸗ 
plaren) die eine mit cinem Meinen Zapfen verjehen iſt, der in 
die entiprechende Höhlung der andern paßt. Man bog die 
Streifen zufammen und drüdte die beiden Plättchen auf ein- 
ander. Da Sicilien durch feine Tuchfabrifation jehr berühmt 
war, jo Tann faum ein Zweifel beftehen, daß diefe Bleie (piombi 
mercantili) Fabrifmarfen find, melde den Stoffen angehängt 
wurden, ganz in derfelben Art, wie es noch jebt geichieht. Die 
Annahme findet eine Stüße in dem häufigen Borlommen 
mehrerer (bis zu 10 Stüd) ganz gleicher Eremplare, die offen» 
bar beitimmt waren, Producte ein und derfelben Fabrik zu bes 
zeichnen. Webrigens find piombi mercantili nicht bloß auf 
Sieilien beſchränkt. Das Univerfitätgmujenm zu Athen befitt 
eine Sammlung von griechifchen, darunter jelbft attiſche Stüde. 


Bei Gelegenheit der Piombi wäre auch der Amulette zu 
(600) 


37 


gebenten, welde auf Schnüre gezogen um den Hals getragen 
wurden. 

Statt unferes Siegelwachſes wendete man jehr häufig einen 
ſehr feinen Thon an; in andern Fällen aber auch Blei, dem dad 
Siegel aufgedrüdt war. Stüde, welche deutlih die Spur ber 
burchgezogenen Fäden, die im Berlauf der Sahrhunderte heraus⸗ 
gemodert find, zeigen, beftbt man noch. — Griechiſche Magiftrate 
und Privatperfonen fügten amtlichen Schriftftüden nicht ihre 
Ramensfertigung, fondern den Abdrud ihres Siegelringes bei. 
Eine ſolche Heine Bleiteſſera konnte auch als Legitimirung gelten, 
eima wie heut zu Tage eine mitgegebene Bifitenfarte; wenn man 
feine® Freundes Siegel kannte, jo brauchte man nur die vor⸗ 
gewiejene Beglaubigungs-Tessera zu dergleichen. Aus foldyem 
Gebrauch erflärt Dumont die Häufigkeit gewifler griechticher 
piombi. Hterher gehören auch winzige abgeftempelte Bleiftüdchen, 
welche die Bedeutung von Aichungsmarken haben, die an Ge⸗ 
wichten und Maßen angebracht waren. 

Endlic fand das Blei im metallifchen Zuftande auch unter 
den Heilmitteln einen Platz. — So wurden nad) Operationen 
von Atrefien, um dad Verkleben und Wiederverwachſen der 
Wundflächen zu hindern, nach dem Betipiele des renomirten 
römijchen Arztes Celſus, Bleiftreifen in die Wunde eingelegt. 
Das fogenaunte Meberbein (Ganglion) zertheilte man dur; Drud 
mit einer Bleiplatte. 

Nach der Anfchauung der Griehen und ihrer Schüler — 
der Römer, beftanden die Körper aus ihren Qualitäten. Das 
Dlei dachten fie fih als „Falt und durchaus feucht”. Sie 
Ichrieben ihm daher eine abkühlende Wirkung zu. Da es jehr 
viel feuchtes Weſen habe, das darin durch Kälte verdichtet jet, 
fo müffe es bei Annäherung des Feuers rafch flüffig werben, 
d. b. Schmelzen. Wenn man eine Flüffigkett in einem Bleimörfer 


mit einem Bleikolben reibt, fo werde fie kühler, denn es trete 
(001) 


38 





(nach Galen's Ausbrud) „etwas von einem Saft aus dem Bleie” 
und diefer bedinge die Kühle. Wenn heute die Laien von ber 
„Fühlenden Wirkung” des Bleizuderd ſprechen, jo ahnen fie wohl 
nicht, daß der Ausdrud nicht blob auf die Empfindung gebt, 
\ondern vielmehr der Weberreft einer vor mehr ald zwei Jahr⸗ 
taufenden aufgeftellten naturphilofophiichen Hypotheſe if. Aler. 
v. Humboldt macht die feine Bemerkung: „Die dogmatiſchen 
Anfichten der vorigen Jahrhunderte leben fort in den Vor⸗ 
urtheilen des Volkes ... Sie erhalten fie auch ald ein läftiges 
Erbtheil in den Sprachen, die fie Durch ſymboliſirende Kunfte 
wörter und geiftloje Formen verunftalten.” 

Die Alten fchrieben dem Blei auch fonft noch mancherlei 
jeltiame Kräfte zu. Wenn Sranatbäume feine Blüthen anfehen 
wollten, fo follte man um den Stamm einen Bleireifen legen 
damit fie fruchtbar werden. Man empfahl Bleiblecdye auf dem 
Unterleib aufzulegen, um fich vor lüfternen Träumen zu bes 
wahren. Solches thaten vor allem bie fich ausbildenden Athleten, 
denen eine ftrenge Askeſe in Diejer Richtung vorgefchrieben war. 
Bon Nero wird erzählt, er babe fi Bleibleh auf die Bruft 
gelegt in der Abficht, feine Stimme zu bewahren, auf die er 
befanntlich jehr viel fich einbilbete. 

II. 

Neben ber metalliichen Form, in weldyer das Blei, wie wir 
gejehen haben, jo mannigfadye Verwendung gefunden bat, hatten 
auch feine Legirungen und chemifchen Verbindungen für das 
antite Leben eine nicht geringe Bedeutung, die ihnen zum Theil 
auch jebt noch geblieben ift. | 

Dem Erz (Bronze) ift häufig Blei zugeſetzt worden, theils 
um das eritere leichtflüffiger und für den Guß tauglicher zu 
machen, theils (bei Münzen) um, wie Hultich vermuthet, „Das 
Einfchmelzen und damit den Berluft der Prägeloften für den 


Staat zu verhüten”. — Su der That enthalten bie Münzen 
(603) 


39 


der vömifchen Republik bis Auguſtus (neben Zinn) zwiſchen 
4 und 29 pCt. Blei. In der Kaiferzeit beginnt der abfichtliche 
Dieiznfag erft wieder unter Marcus Aurelins (161— 180), 
ausnahmsweiſe wohl auch unter Trajan (98-117), und hört 
mit den Byzantinern wieder auf (eiwa um 400 n. Ehr.). Auch 
jonftige roͤmiſche Bronzen, 3. B. Spiegel, Schnallen, Nadeln, 
Statuen, jelbft Schwertllingen find zum Theil recht bleihaltig 
(618 zu 24 p&t.). Uebrigens fcheint man Kupfer durch Zuſatz 
von Dlei, dad man zum Theil wieder abtrieb, gereinigt zu 
haben, wie denn in England gefundene Kupferblöde, bie aus 
römischen Gießereien ftammen, Blei enthalten. Das campanifche 
Erz, das zu den vorzüglichften gezählt wurde, jcheint auch in 
diefer Weile gereinigt worden zu jein, und nicht (wie man aus 
einer undentlichen Stelle des Plinius vermutbhen könnte) eine 
Legirung mit Blei erfahren zu haben. Später fälfchte man alle 
Bronze in ſolchem Mabe, bat im 3. Sahrhundert n. Chr. unter 
Tacitus Auguftus auf den Bleizuſatz Confiscationsſtrafe ge> 
jet war. Natürlich konnte ed nur durch Verrath der Arbeiter 
an den Tag kommen, da feine Chemie mit ihren analoflichen 
Methoden beftand, durch welche die Unehrlichleit wäre entlarvt 
worden. 

Griechiſche Münzen aud dem 4. Jahrhundert v. Chr., welche 
Bibra analyfirt hat, enthalten dad Blei nur als eine zufällige 
Berunreinigung ; in den fpäteren Tahrhunderten ift ed auch dem 
griechiichen Erze abfichtlich zugejeßt worden. — Aegyptiſche 
Bronzen find rei an Blei, doch find foldhe, deren Herftellung 
mit Sicherheit in jene Zeiten verlegt werden kann, da Aegypten 
von einheimiihen Pharaonen regiert worden ift, kaum unterjucht. 
Die analyfirten gehören alle der Lagidenzeit an. 

Der Bruch jehr bleihältiger Bronzen ift grau oder roth⸗ 
grau; auf dem Schnitte ericheinen fie mehr oder minder lichtgelb. 


Auf die Farbe hat auch der Zinngehalt offenbaren Einfluß. 
(608) 


40 


Legirungen von Blei und Zinn dienten — und dienen bis 
heut — zum 2öthen. Plinius führt zwei Arten berfelben an: 
die eine — stannum tertiarrum — aus 2 Theilen Blei und 
1 Theil Zinn beftehend ift zum Löthen und Dichten der Blei⸗ 
röhren in Anwendung gelommen; in der anderen — stannum 
argentarium — dem Loth für Bronze und Stiber waren beide 
Metalle zu gleichen Theilen zufammengefchmolzen. Diefe letztere 
Legirung fft betrügeriicher Weile ftatt reinen Zinns verkauft 
worden, und zwar 10 roͤmiſche Pfund (3,27 kg) um 60 Denare 
(92,24 ME.), während e8 nur 434 Denar (37,88 ME.) werth war. 

Blei oder Bleiglanz diente zum Reinigen von Gold und 
Silber. Diefer Prozeß des „Abtreibens“, wie er noch heute bei 
Ausbringung filberhaltiger Bleierze in Gebraudy fteht, war ſchon 
in den ägyptiſchen Goldbergwerken üblih. Wo das Silber aus 
bleihältigen Erzen gewonnen wurde, wie in Laurion, war natürs 
ih ein folcher Zufchlag überflüffig. 

Bon den chemiichen Verbindungen des Bleied waren den 
Alten Bleiglätte, Mennige, Bleiweiß und Schwefelblei bekannt. 

Die Glätte (lithargyrum) ftellte man aus Bleiblech bar, 
dad am der Luft geglüht wurde, oder erhielt fie ald Neben» 
produft bei der Reinigung der Edelmetalle, wo fie fih an den 
Seiten der Treibheerde anlegte. Plinius nennt diefe Art „Spuma 
argenti* (Silberihaum). Man unterjchied mehrere Arten durch 
bejondere Namen als Goldglätte (chrysitis), Silberglätte 
(argyritis) und Bleiglätte (molybditis), über weldye bei den 
alten Schriftftellern einige Verwirrung befteht. Plinius fagt: 
alle drei entitehen, wenn das audgeichmolzene Dlei aus dem 
obern Ziegel in dem untern abfließt. Dabei war das glühende 
Blei der orydirenden Wirkung der Luft ausgejeht. Die Glätte 
wurde mit Gifeniyateln von der Oberfläche des gefchmolzenen 
Dleied abgenommen, noch einmal für fi) der Wirfung der 


Flamme ausgeſetzt, dann, nachdem fie erfaltet war, in Stüde 
(604) 


41 


zerichlagen und vor dem Luftitrom des Geblaͤſes geglüht, d. h. 
vollends alles Blei orydirt. Man wuſch fie dann in Wein, 
Eifig oder kochendem Wafler und bemwahrte die für Arzneien 
beftimmte in Bleibehältern. Für die befte Glätte galt die attifche; 
ihr am nächften kam die fpanifche; doch wurde zu Dioscoride's 
Zeit auch in Campanien und Sicilien Glätte dargeftellt. Nach 
Plinius wäre die gefuchtefte, die von Zephyrium, einer Stadt 
in Gilicten (Kleinafien) geweſen. 

Die Giftigkeit diefes Körperd war den Alten befannt. — 
Er ift zum Bereiten von Salben verwendet worden, meldye 
„zum Erweichen und Kühlen von Gejchwüren" dienten. Be- 
fondere Verwendung fand Glätte bei Hautkrankheiten und bös- 
artigen, frebfigen Gejchwüren, deren Bernarbung befördert werden 
ſollte. Sogar gegen Ruhr bediente man fich des Präparates. 
Sie war ein weientliher Beftandtheil der Pflafter, welche man 
in Bleikeſſeln gekocht haben fol. 

Auch einen techniichen Gebrauch machte man von ihr; dem 
griechifchen Gläfern ift fie zum Theil in jehr beträchtlicher Menge 
zugelegt worden. 

&ine gleiche ärztliche Verwendung fand die Molybdaena, 
welche von unferen Hüttenleuten „Herd” genannt wird, — 
Mergel des Treibherdes, der von Glätte ganz durchſetzt if. Die 
Molybdaena mußte gelb wie Schwefel, und leicht zerreiblich 
fein, follte feine erdigen Theile, d. h. Kies, Sand u. |. w. ent- 
halten und follte mit Del gekocht, Xederfarbe annehmen. 

Was Dioscorided in feiner Heilmittellehre „gebranntes Blei“ 
nennt, darf mit dem wahren gebrannten Blei, d. h. mit Glätte 
nicht verwechjelt werden. Die Bereitungdart läßt darüber feinen 
Zweifel, dab ed Schwefelblei war. Man ſchmolz nämlich 
geftoßenen Schwefel und dünne Blättchen (Folie) oder Feilipäne 
von Blei, die jchichtweife in einen Irdenen Ziegel eingetragen 


waren, zufammen und rührte fo lange mit Eiſenſpateln, bis 
(605) 


42 


man eine matte, graufchwarzge Maſſe hatte, welche dem Blei 
nicht mehr ähnlich ſah und fich leicht pulvern lieh. Manche 
fetten Eijen zu, wodann neben Schwefelblei nody Schmwefeleifen 
eutftehen mußte. Das Präparat fand in der Medizin eine ähn- 
liche Anwendung wie die Glätte, gegen unreine Wunden, zur 
Bejeitigung „wilden Fleiſches“ (muchernder Granulationen), „um 
die Höhlen in den Gefchwüren zu füllen” und fie zur Vernar⸗ 
bung zu führen. Es bildet auch einen Beftandtheil verichtedener 
Augenmittel. 

Theophraft, ein Schüler ded Ariftoteles, bat und in 
feinem wichtigen Buche über die Steine eine Schilderung der 
Methode hinterlaffen, nad) welcher in feiner Zeit dad Bleiweiß 
(von den Griechen „psimmythion“, von den Römern „cerussa“ 
genannt) gewonnen wurde. Blei in der Größe eined Ziegeld 
wurde über fcharfem Eifig auf ein Rohrgeflecht in irdene Fäſſer 
getban. Sobald ſich eine dide Krufte angejeßt hatte, was ges 
wöhnlidy nadı 10 Tagen gefchehen war, öffnete man die Fäſſer, 
ichabte diefe Rinde ab, ftellte das Blei wieder ein; das wieder« 
holt man fo oft, bis leßtered ganz zerfreffen war. Daß Abge⸗ 
ichabte ift mit Wafler in einem Moͤrſer zerrieben und collirt 
worden; das feinpulverige Bleiweiß jebte fi zulebt am Boden 
ab. Theophraſt unterläßt zu bemerken, daß man die Gefäße in 
Mift einjenten muß. Galen ftellte das Bleiweiß aus Glätte 
dar, welche er in Eſſig gelöft durch vierzig Tage während bes 
Hochſommers im Mift eingegraben ftehen ließ. 

Es ift alfo diefelbe Methode, welche noch heut unter dem 
Namen der „bolländifchen” im Gebrauche fteht. 

Das berühmtefte Bleiweiß lieferten die Rhodier; es fam in 
Form Meiner Kugeln in Handel. Auch zu Korinth und in 
Puteoli bildete feine Fabrikation einen Gewerbszweig. 

Die giftige Wirkung des Bleiweißes ift von den Alten jehr 
gefürchtet worden. Es hatte eine Ähnliche, obgleich beſchränktere 


(606) 


43 


tberapeutifche Verwendung, wie die Glätte. — Galen löfte e8 in 
Eifig auf, um ein milder wirkendes Augenmittel zu haben, als 
der weiße oder blaue Bitriol war, ohne zu ahnen, daß dabei ein 
neuer Körper — Bleizuder — entftand. Dieſen lebtern kannten 
die Alten als Berfüßungsmittel für Wein nicht; dagegen wen- 
beten fie bei beginnender Verderbniß Mennige an, die bei ihrer 
Bereitungdart gewiß unverändertes Bleioxyd enthielt und jo 
Anlaf gab, da fich in dem bereitd in Eifiggährung übergehen- 
den Weine Bleizuder bilden mußte. — Mit Gyps und flüjfigem 
Pech gemiſcht diente das Bleiweiß ald Anftrich für Eijentheile, 
um fie vor Roſt zu bewahren. 

Dem Bleiweiß fam unter den Bleipräparaten die Mennige 
(sandaracha, minium) an Wichtigkeit gleih. „Wird Bleiweiß 
im Ofen geglüht, fo ändert e8 die Farbe und wird zn Mennige,” 
fagt der Architekt Vitruvius. So bereitet, ſei fie beſſer als 
die natürliche. Dieſe Bereitungsart fol durd Zufall gefunden 
worden fein, als bei einer Feuersbrunſt im Pyräus das Blei» 
weis in Xonnen verbrannte. Zu Plinius' Zeit galt ald die 
beite Mennige diefer Art die afiatiiche, welche ihrer lebhaften 
Sarbe wegen „purpurea“ bie. Das römiiche Pfund (327 Er.) 
foftete 1,30 ME, während die gewöhnliche Mennige für 43 Pf. 
zu haben war. Diodcorides hält dad Probult aus Bleiweiß 
nicht für Mennige. Es hatte aud) den bejondern Namen San» 
dyr. In diefen Irrthum verfiel er, weil die Mennige gewöhns- 
lich durch Nöften von Bleiglätte gewonnen wurde. 

„Die Farbe muß flammrotbh fein,“ berichtet Pliniud. Se 
röther, je zerreiblicher die Mennige war, defto höher ſchaͤtzte 
man fie. 

Natürliche Mennige ſoll von Pontus (ans der Nähe des 
Flufſes Hypanis) ſowie aus den ſpaniſchen Gold- und Silber: 
gruben gefommen jein. Uebrigens verwechlelten die Alten häufig 


diefen Körper mit Zinnober nnd theilen Eigenſchaften des einen 
(607) 


44 


dem Andern zu. Auch kann man die Bermuthung nidyt ab» 
weilen, daß mande angeblich natürliche Mennige thatſächlich 
eine fünftliche war, indem fie durch die Hitze, welche beim Fener⸗ 
legen in den Stollen berrjchte, fich kann gebildet haben. Zudem 
befteht bei Plinius und Dioscorides in Bezug der Namen eine 
faum zu entwirrende Confufion. 

Die von Spanien fommenden Schiffe brachten neben anderer 
Fracht (Getreide, Wein, Wachs, Pech u. |. w.) auch Mennige nach 
den Häfen von Buteoli und Oftia. Anderſeits wurde fie von 
den Emporiern am rotben Meer nach Oftindien audgeführt. 

In der Medizin ftand diefe Bleiverbindung der Glätte und 
dem Bleiweiß nach; um fo wichtiger und bedeutungdvoller war 
fie ald Farbe. Mit Mennige wurde an beftimmten Fefttagen 
das Antlitz ded Jupiter am Capitol angetündt; der triumphirende 
Feldberr erichien beim Feftzuge mit Mennige bemalt, fogar die 
beim Zriumphmale gebrauchten Salben waren damit gefärbt. 

Plinius behauptet, die Mennige jpüre die Feuchtigkeit der 
Wand, eigne fih darum zu der Wandmalerei weniger als 
Zinnober; um die Farbe zu jchühen, überziehe man die Bild- 
fläche, nachdem die Farben troden geworden, mit einer Schichte 
von geichmolzenem Wachs. Thatſächlich ift bei den pompejani⸗ 
chen Bildern, ſoweit man fie geprüft hat, viel häufiger Mennige 
und nur felten Zinnober verwendet worden. 

Die alter Aegyptier jcheinen bei den Malereien, mit welchen 
fie ihre Grablammern ausſchmückten, fidy nie des Bleiweißes 
und der Mennige bedient zu haben. Die rothe Farbe ift Oder, 
die weiße Gyps oder fein gepulverter weißer Glasfluß. 

Eine wunberliche Verwendung ber zuleßt beiprochenen Blei» 
verbindung möchte ich nicht unermähnt lafjen. Bei einem Feſt⸗ 
ipiele, welched Gordianus J. veranftaltete, erichienen einmal 300 
mit Mennige gefärbte Strange im Amphitheater. 


Menmige und Bleiweiß nahmen in der Kosmetik eine wich⸗ 
(808) 


45 


tige Stelle ein. Beſonders lebtered ftand bei den antiken Damen 
in hohem Anjehn: ed diente ald weiße Schminke oder als rouge. 
Im lebten Falle war es mit einem Pflanzenfafte, gewöhnlich 
von Anchusa tinctoria, gefärbt. anderer berichtet, daß in 
griechiichen Krauengräbern häufig Schminke gefunden wird, die 
aus Bleiweiß befteht, da8 mit verjchiedenen Stoffen rofa gefärbt 
war. Im Mufeum zu Neapel bewahrt man ein Büchächen, 
durch deſſen mattgewordenes Glas die Schminke roſenroth durch» 
ſchimmert. 

Der Gebrauch dieſer Verſchönerungsmittel muß bei den 
Frauen der alten Welt noch viel ausgebreiteter geweſen ſein, als 
er es jetzt iſt. Die Schriftſteller jener Jahrhunderte werden 
nicht müde, dieſe Frauenſchwachheit zu verſpotten. Dieſe Frucht⸗ 
loſigkeit der verſuchten Taäuſchung iſt dad oft variirte Thema ver⸗ 
ſchiedener Epigramme der griechiſchen Anthologie. 

„Glätte Du nur mit Schminke die fleiſchverlafſenen Wangen; 

Immer, Laodike, lacht Deiner wie billig die Welt.“ 
ſagt Makedonios einer verwellten Schönheit und der Spoͤtter 
Lukianos ruft einer geputzten Alten zu: 

„— — — Was rafeft Du! Nimmer geſchieht es, 
Daß durd Pinſel nd Schmink Helabe Helena wird.” 

Aber auch junge Mädchen umd Frauen verjchmähten dieſe 
erborgten Reize nicht. Wir belaufen in Plautus Luftipiel 
„Das Hausgeſpenſt“, ein intimes Geſpräch zwiſchen Scapha 
und der Philemation. 

Philemation: Gieb mir das Bleiweiß! 

Scapha: Wozu denn Bleiweiß? 

Nachdem er e8 nicht geben will, fährt Philemation fort: 

So gieb mir die Purpurfcminte. 

Scapha: Nein ich gebe fie nicht. Sei Hug! 
Ein Meifterwerichen pfuſcheft Du mit Tinten auf? 
Nein, ſolch Gefidytchen rühre mir keine Farbe an; 


Kein Weiß, kein rouge noch jonft'ge andre Schmirerei. 
(609) 


46 


Ein Bild von feltener Innigkeit bat Zenophon in feiner 
„Haushaltungskunft” ausgemalt. Iſchomachos erzählt dem 
Sofrates, wie es ihm gelungen jet, feine junge Fran von der 
thörichten Mode des Schminfend abzubringen. „Sch ſah ein- 
mal” fagte er „dab fie fi) mit viel Bleiweiß ſchminkte, um 
noch weißer zu erjcheinen, als fie war, und mit viel Anchuſa, 
um vöther ald in Wirklichkeit auszuſehen; daß fie auch hohe 
Schuhe anbatte, um größer zu erjcheinen, als fie gewachſen 
war. Sag. mir, liebes Weib, ſprach ich zu ihr, in weldem 
Halle würdeft du mich für einen liebewerthern Genofjen unjrer 
Defisthümer halten, wenn ich Dir das wirklich vorhandene vor» 
- zeigen würde und weder prahlie, als ob ich mehr bejähe, noch 
etwad von meinem Vermögen verheimlichte; oder wenn id) 
verfuchen würde, Dich zu täufchen, indem ich Dir vorſchwatzte, 
ich befite mehr, ala ber Kal ift, und Dir falihes Silber, 
hölzerne (vergoldete) Halöfetten und Purpurgewänder, die 
nicht Farbe haften, als echt vorwiefe. Sie unterbrach mich fo» 
gleich: o ſtill doch! mögeft Du mir nicht jo werden; idy könnte 
Did ja, wenn Du jo wäreft, nit von Herzen lieb haben. 
Nun fuhr ich fort, und haben wir und, liebe Frau nicht auch 
zur Körpergemeinfchaft vereinigt? Man fagt fo, erwiberte fie. 
Sn weldem Falle nun, ſprach ich, würde ih Dir mit Rüdficht 
auf dieſe liebenswürdiger erfcheinen, wenn ich verjuchte meinen 
eigenen Körper fo zu pflegen, daß er gefund und kräftig gebiehe 
und dadurd in Wirklichkeit gut gefärbt wäre, oder wenn id, 
mit Mennige beftrihen und die Augen mit Schminke unter- 
malt, mich jehn ließe, mich Dir gejellte, Dich täufchend und 
Mennige ftatt meiner eigenen Haut Dich jehn und berühren 
ließe. Mir, rief fie, wäre ed gar nicht angenehmer die Men⸗ 
nige zu berühren, als Dich jelbft, noch die Farbe der Schminke 
zu fehn, als Deine eigene, nod) audy die untermalten Augen, 
anftatt fo, wie fie find, von Geſundheit ſtrahlend. — Run fo 


(610) 


47 


glaub’ mir mein Weibchen, fagte Iſchomachos, daß auch ich 
weder an der Farbe von Bleiweiß noch von Anchufa mehr Ges 
fallen finde, ald an Deiner eigenen." Cr ftellt ihr dann vor, 
dab man mit ſolchen Mitteln vielleicht einen Fremden irreführen 
fönne, daß aber bei beftändigem innigem Zufammenleben die 
Täuſchung ſchwinden müfle; dad Bad, die Thräne wäſcht den 
Betrug weg. Die junge Frau läßt fich überzeugen, daB wie 
jeded Geſchöpf in feiner eigenen Geftalt fidy gefällt, jo „halte 
auch der Menſch den reinen unentitellten Menfchenleib für den 
ſchönſten“. 


”* * 
u 


Indem der Menſch die Dinge um ſich feinen Bedürfniffen 
dienftbar macht, iſt er jelbft durch die ihnen inmohnenden 
Eigenfchaften und Kräfte gebunden, ift ihm gleichjam von Natur 
vorgefchrieben, in welcher Weiſe er fie verwenden darf. — Den 
Umftand, daß das Blei in einer feiner loderftien Verbindungen, 
aus der ed ſchon durch mäßige Wärme freigemacht wird, un: 
mittelbar an der Oberflähe der Erde fih fand, mußte die 
Menſchen frühzeitig zu feiner Kenntniß führen. Die Concurrenz 
von Eigenſchaften, wie fie fich bei feinem andern Metalle in 
ähnlicher Weije vereinigt finden: fein hohes ſpecifiſches Gewicht 
und fein niedriger Schmelzpuntt, feine Schwere, feine Weichheit 
bei großer Zäbigkeit, die Häufigkeit feines Vorfommend neben 
feinem unanfehnlihen, zum Schmude ungeeigneten Aeubern 
beftimmte die verfchiedenen Arten feiner Berwendung. Der 
Kreid der lebtern hat fich im Laufe der Jahrtauſende zum Theil 
verengert, in andern Richtungen erweitert, und manche Anwen: 
dung, die ed noch heut findet, erinnert an die altehriwürdigen 
Anfänge menſchlicher Kultur. 


(611) 





48 


Anmerkung. 


(Zu ©.6) Die Angaben über die Bleiobjecte des ägyptifchen Muſeums 
zu Berlin verdanke ich der Liebenswürdigfeit des befannten Aegyptologen 
und bortigen Directoriald-Aififtenten Dr. &. Stern, der mid zugleich 
darauf aufmerkjam machte, dat oben erwähntes Kätchen das einzige aus 
biejem Metall gefertigte Amulet jei, das ihm bekannt geworden. 


(613) 


Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


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Natur und der Gewerbe. (288) . . 75 
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Die gasfärmigen Körper und die heutige Vorſtellung vom Befen der 
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_——__19/ 





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— — ——— — — — — —— — — — — 


\ . 

* r 

XX. Serie . ‘ 
ul 


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J 
















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Heft 473. 


Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 


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8 


⸗⸗— — Xö — 





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Mittelalters bis Paleſtrina und Laffus. — Dritter Vortrag: Ale Mufik der 
Nenzeit von Haleftrina bis Bad. — Bierter Vortrag: Die ®per bis Gluck. 
— Künfter Vortrag: Bie Inftiumental- Alufik. gu dn und Moyart. — 
Sechfter Vortrag: Keethoven, feine Reitgenoffen und Nachfolger. 


Preis: Eleg. broch. 3 Mark; geb. in Drig. engl. Leinen-Band 4 Marl. 


en 


Miſchſprathen und Sprahmifdungen. 


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Von 


; a , 
A. Grünbaum. 


EP 


U 
Berlin SW., 1885. 
Berlag von Earl 9 abel. 
(€. ®. Tüderity'sche Verlagsbachhandlung.) 
33. Wilhelm⸗SEtraße 33. 


Das Recht der Ueberfegung in fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


„Selbft in den alltäglichſften Verrichtungen des bürger— 
lichen Lebens konnen wir es nicht vermeiden, die Schuldner 
vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigften 
Perioden der Menſchheit ſteuern zu unſerer Cultur, wie die 
enilegenften Welttheile zu unſerem Luxus. Die Kleider, die wir 
tragen, die Würze an unjeren Speifen und ber Preis, um den 
wir fie faufen, viele unferer fräftigften Heilmittel und eben fo 
viele neue Werkzeuge unfered Verderbens — eben fie nicht 
einen Columbus voraus, der America entdedte, einen Vasco 
de Sama, der Africa umſchiffte?“ 

Dieſe Stelle aus Schiller’8 akademiſcher Antrittärede (Mas 
beißt und zu weldem Ende ftudirt man Univerjalgefchichte?) 
erinnert gleichzeitig daran, daß audy viele Benennungen der 
Dinge, die wir tagtäglich gebrauchen, fremden Urfprunges find, 
daß alfo audy viele und jehr befannte und geläufige Ausdrücke 
aus den fernften Welttheilen und Eulturperioden ftammen. Bei 
manchen fremdländijchen Wörtern macht fidy aber auch zugleich 
ein Unterjchied bemerkbar zwifchen dem 18. und dem 19. Jahr⸗ 
hundert, zwifchen der Zeit, in welcher jene Rede gehalten wurde 
und der Sebtzeit. Das was Horaz in einer befannten Stelle 
fagt, daß ähnlich den Blättern an den Bäumen ſtets neue 
Wörter entftehen und alte vergehen (Multa renascentur quae 
iam cecidere, cadentque Quae nunc sunt in honore voca- 
bula) — das paßt ganz befonderd auf die Fremdwörter. Die 
Fremdwörter find gleichſam bie ftetd neu geprägten Denfmünzen 
jeder Zeitperiode und um eine Zeit zu charakterifiren braucht 
man nur die in derfelben curfirenden Fremdwörter zujammen zu 
ftellen. 


XX. 478. 1° (615) 


4 


Jene Zeit nun war die Zeit der Segel- und Marktſchiffe, 
ber Leinreiter, der Chauffeen, der Diligencen und Eilwagen 
(von Börne in feiner „Monographie der Poftfchnede” verewigt), 
der Nachtwächter, der „Schwager” und Poftillone mit den lang⸗ 
gezogenen Pofthorntönen, der langen Pfeifen, die man mit 
Zunder, Stahl und Stein in Brand fehte, der frankirten oder 
unfranfirten aber immer zugefiegelten langen Freundſchafts⸗ 
epifteln mit den Belenntniffen ſchöner Seelen, der zierlich ges 
Ichnörkelten in endlejen Spiralen fich windenden Perioden des 
Canzleiſtils, Der Iebenslänglichen Romane, der langen Geldboͤrſen, 
ber Lichticheeren, Gänjelielfedern und Reichskammergerichts⸗ 
proceffe. Sean Paul wünfcht ein Mal einem Freunde, fo lange 
zu leben wie ein deutſcher Reichölammergerichtöproch. Wan 
lebte aber überhaupt jehr lange, jehr lange und jehr langſam. 
Das Ruhige, Gemädliche und Gemüthliche jener Zeit Ipiegelt 
fih ab in den Worten jened Frankfurter Bürgers: 

Nichte Schön’res weiß ih mir an Sonn- und Feiertagen, 
Als ein Geſpräch von Krieg und Kriegsgeſchrei, 

Wenn hinten weit in der Xürkei 
Die Völker auf einander jchlagen u. ſ. w. 

Es war eine idylliſch⸗patriarchaliſche Zeit, jene Zeit bes 
Joſeph und Benjamin (wie Berthold Auerbach ein Mal Joſeph II. 
und Benjamin Franklin nennt); aud) gab ed damals nody ftille, 
traulichdämmrige, heimiſche und heimliche Pläbchen und Plauder- 
ftübchen; das Geſchrei des Markted und der Börfe, das be= 
täubende Gerafjel der Mafchiuen, dad Geflingel des Mono» 
und Bimetallismus mit feinen lärmenden Debatten und Inter⸗ 
pellationen übertönte nody nicht Alles; die Publicität und ber 
Journalismus gudten noch nicht durch jedes Fenſter und jedes 
Schlüſſelloch. Auch das Auftreten der Mufe war nicht von ben 
Pojaunenftößen der Neclame, ihr Erit nicht von Flourish and 


Trumpets begleitet — von ihr heißt es: 
(616) 


5 


Die Mufe ſchweigt, mit jungfräulichen Wangen, 
Erröthen im verfhämten Angeficht, 
Tritt fie vor dich, ihr Urtheil zu empfangen... . 


Die Deviſe der Eilmagen war „Eile mit Weile“ und bie 
Diligence hieß fo wie lacus a non lucendo. Bon den Gil 
bahnen fagt ein Franzoſe: Man reift nicht, man kommt immer 
nur an. Eigentlich aber fommt man auch nicht an, man wird 
da und dorthin erpedirt, mit aller erdenfbaren Gefchwindigfeit 
und mit nur 5, oder 10, oder 20, oder 25 Minuten Aufenthalt. 
Nur Schnell! ift das Loſungswort der Zeit — Marihall Vor—⸗ 
wärtd commandirt. Ein getreued Abbild, gewillermaßen eine 
Momentanphotographie der Jetztzeit mit ihren Blitztrains und 
Rapid Transits (wie man in America die ſ. g. Hochbahnen 
nenut) ift dad Fournal, mit feinen Xelegrammen, Annoncen und 
Feuilletons. Die Zeitung ift das Miniaturbild der Zeit, deren 
Signatur darin befteht, daß Niemand Zeit zu irgend Etwas 
bat, außer allenfalld zu einer Poſtkarte. — Nous nous embras- 
serons Dimanche, je n’en ai pas le temps maintenant fagt 
in „les faux bonshommes“ der junge Maun zu feinem neuen 
Schwiegerpapa; er bat eben Teine Zeit zu einer Umarmung — 
er muß auf die Börde. 

„Arm in Arm mit dir — ſo fordere ich das 19. Jahr⸗ 
bundert in die Schranken“ jagt die Börfe zum Journalismus; 
beide .yarakterifiren die moderne Zeit. Aber auch fonft bat Alles 
ein journaliftiſches Gepräge; die langweiligen Dedicationdepiiteln 
3.B., bie ein würdiged Pendant zu der Allongeperücde bildeten, 
welche dem Titel gegenüber dad Haupt des Verfafjerd zierte — 
fie find jebt verſchwunden, wie gleichzeitig auch die langweiligen 
franzöfifchen Redensarten, mit denen man die Rede ſchmückte; 
dafür findet man mehr dad Knappe, Pointirte, Präciſe, Vor⸗ 
wärtäftrebende, Stilettartige des franzöfifchen und engliichen 
Stils. 


Diefe Veränderung der Schreibweije hat auch die Ein⸗ 
ein 


— —— — — 


Anmerkung. 


(3u ©.6) Die Angaben über die Bleiobjecte ded ägyptiichen Muſeums 
zu Berlin verdanke ich der Liebenswürdigkeit des befannten Aegyptologen 
und bortigen Directorials.Ajfiftenten Dr. &. Stern, der mich zugleich 
darauf aufmerkjam machte, dat oben erwähntes Kätchen das einzige aus 
biefem Metall gefertigte Amulet jet, das ihm bekannt geworben. 


(61%) 


Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


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olinge, Klimaänderungen in biftoriichen Zeiten. (359) . 80 
ammeläberg, Ueber die Mittel, Licht und Wärme zu erzeugen. 2. Aufl. (23) 75 
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der Farben, jowie ihrer Beziehungen zu einander nebft praftticher Cinleitung 
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beſonders der Mineralien und Hüttenprodulte, 
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C. F. Rammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerfität u. Gewerbe⸗Akademie, Mitglied der Atademie der Wiffenfchaften zu Berlin ꝛc 


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Leitfaden 
für die yualitafine chemiſche Analuſe 


für Anfänger bearbeitet von 


. F. Aammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerſitaͤt u. Bewerber Aladenıie, Mitglied der Akademie der Wiffenjchaften zu Berlin ıc. 


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Elemente der Eiryfinllogenphie 
für Chemiter 


C. F. Aammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerfität m Gewerbe-Alademie, Mitglied der A ademie der Wiffenſchaften zu Berlin ıc. 


Mit 151 Yolzſchnitten. 
Eleg. broch. 5 Mk.; geb. in Schulband 5 ME. 30 Pf. 


Lehrbuch der chemifchen Metallurgie. 


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&. %. Rammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerſität u. Gewerbe⸗Akademie, Mitglied der Atademie der Wiffenfchaften zu Berlin ı< 


Ameite umpenrbeitete Auflage. 
Preis eleg. brod. 6 ME. 


Lehrhuch der Atöchiometrie 


und der allgemeinen theoretiſchen Chemie. 


Von 


C. F. Rammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerſitaͤt u. Bewerbe⸗Akademie, Mitglied ber Akademie der Wifſenſchaften zu Berlin ⁊c. 


Preis brodirt 4 ME. 


— 














Sammlung 
gemeinveritändlicher 


wiffenfhaftlider Yarträge; 


berauögegeben von — 


Nud. Virchow und Fr. von Bolgendorft, 
vr I 


N 
xx. Serie N... 
— 
(Heft 457 — 480 umfafſend.) 


—— 


Heft 473. 


Miſchſprathen und Sprachmiſchnugen. 


Von 


M. Grnbaum. 


GP 


Berlin SW., 1886, 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. Tüderitg’sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm traße 33. 





Du SS wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. A 


In demfelben Verlage find folgende Werke erfhienen: 


Praktiſche 
muſikaliſche Compoſitionslehre | 


in Aufgaßen. Ä 


Mit zahlreichen, ausfchlieklich in den Text gedrudten Mufter-, Uebungs - und | 
Erläuterungs-Beifpielen nach den Werken der erften Meifter jyftematifch- 
methodiſch dargeftellt 
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Ludwig Bußler. 

Erfter Band: Lehre nom Tonfah (Preid broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Mark). — I. Harmonielehre in 54 Aufgaben. 2. Aufl. (Brets broch. 4 Mar). 
— I. EContrapunft. a) Der ftrenge Saß tin der mufilalifchen ECompofitiong- 
lehre in 52 Aufgaben (Preis broc. 4 Markt). — b) Eontrapunft und Fuge 
im freien (modernen) Zonjat in 38 Aufgaben (Preis brod. 4 Mark). 

Zweiter Band: Sreie Tompofltion (Preis broch. 12 Mark; geb. in Halbfr. 
14 Markt). — I. Muſikaliſche Formenlehre in 33 Aufgaben (Preis broch. 
4 Mark). — II. Sujtrumentation und Orcheiterfat in 18 Aufgaben (Preis 
broch. 8 Mark). 


In Halbfranz und in sHulband gebundene Gremplare Rets vorrätig. 


Partiturſtudium. 


Modulation der klaſſiſchen Meiſter 


an zahlreichen Beiſpielen von 


Bad, Mozart, Beethoven, Waguner u. A. 
erläutert von 


Ludwig Bußler. 
Preis: Eleg. brod. 8 Mark; geb. in Drig. engl. Leinen 9,50 Marf. 


Gefchichte der Muſik. 


Sechs Porträge 


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die fortſchrettende Entwickelung der ZMufik in der Geſchichte 
von 
Ludwig Bußler. 
Eriter Bortrag: Die Mufik des Alterthums. — Zweiter Bortrag: Mufik dey 
Mittelalters bis Baleftrina und Laffus. — Dritter Bortrag: Die Mufik der 
Hegel non Aaleirine bis Bad. — Vierter Bortrag: Die Oper bis Gluck. 
— Sünfter Bortrag: Bie Iuftinmental- Muflk. 20 dn und Mozart. — 
Sechfter Vortrag: Keethoven, feine Reitgenofen und Nachfolger. 


Preis: Eleg. broch. 3 Mark; geb. in Drig. engl. Leinen-Band 4 Marl. 


_ — — 


S) 1 . 
e Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 
lag, 
A. Gränbaum, 


GP 





Ü 
Berlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(€. 6. Züderity'sche Verlagabachhandlung.) 
33. Wilhelm⸗Etraße 33. 


Das Recht der Ueberfegung in fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


‚Set in den alltäglichiten Verrichtungen des bürger⸗ 
lihen Lebens Tönnen wir es nicht vermeiden, die Schuldner 
vergangener Sahrhunderte zu werden; die ungleichartigften 
Perioden der Menfchheit fteuern zu unjerer Gultur, wie bie 
entlegenften Welttbeile zu unferem Lurus. Die Kleider, die wir 
tragen, die Würze an unferen Speilen und ber Preis, um den 
wir fie faufen, viele unferer Eräftigften Heilmittel und eben fo 
viele neue Werkzeuge unfered Verderbens — ſetzen fie nicht 
einen Columbus voraus, der America entdedte, einen Vasco 
de Gama, der Africa umſchiffte?“ 

Diefe Stelle aud Schiller’8 alademijcher Antrittärede (Was 
heißt und zu welchem Ende ftudirt man Univerjalgefchichte?) 
erinnert gleichzeitig daran, daB aud viele Benennungen ber 
Dinge, die wir tagtäglich gebrauchen, fremden Urfprunges find, 
dab alfo auch viele und ſehr befanunte und geläufige Ausbrüde 
aus den fernften Welttheilen und Eulturperioden ftammen. Bei 
manchen fremdländijchen Wörtern macht fidy aber auch zugleich 
ein Unterichied bemerkbar zwijchen dem 18. und dem 19. Jahr⸗ 
hundert, zwifchen der Zeit, in welcher jene Rede gehalten wurde 
und der Sebtzeit. Das was Horaz in einer befannten Stelle 
fagt, dat ähnlich den Blättern an den Bäumen ſtets neue 
Mörter entftehben und alte vergehen (Multa renascentur quae 
iam cecidere, cadentque Quae nunc sunt in honore voca- 
bula) — das paßt ganz bejonderd auf die Fremdwörter. Die 
Sremdwörter find gleichlam die ftetd neu geprägten Denfmünzen 
jeder Zeitperiode und um eine Zeit zu charakterifiren braucht 
man nur die in derjelben curfirenden Fremdwörter zujammen zu 
ftellen. 


xx, 478. 1° (615) 


4 


Jene Zeit nun war die Zeit der Segel- und Marktſchiffe, 
ber Zeinreiter, der Chaufjeen, der Diligencen und Eilwagen 
(von Börne in feiner „Monographie der Poſtſchnecke“ verewigt), 
der Nachtwächter, der „Schwager” und Poftillone mit den lang» 
gezogenen Pofthorntönen, der langen Pfeifen, die man mit 
Zunder, Stahl und Stein in Brand febte, der franlirten oder 
unfranfirten aber immer zugefiegelten langen Freundſchafts⸗ 
epifteln mit den Belenntniffen ſchöner Seelen, der zierlidy ges 
Ichnörtlelten in endlejen Spiralen fiy windenden Perioden des 
Canzleiſtils, der Iebendlänglichen Romane, der langen Geldboͤrſen, 
der Lichticheeren, Gänfelielfedern und Reichskammergerichts⸗ 
procefie. Sean Paul wünjcht ein Mal einem Yreunde, fo lange 
zu leben wie ein bdeuticher Reichskammergerichtsproceß. Man 
lebte aber überhaupt jehr lange, jehr lange und jehr langfam. 
Das Ruhige, Gemädlihe und Gemüthliche jemer Zeit fpiegelt 
fich ab in den Worten jened Frankfurter Bürgers: 

Nichts Schön’res weiß ih mir an Sonn- und Feiertagen, 
Als ein Geſpräch von Krieg und Kriegsgejchrei, 

Wenn hinten weit in der Türkei 
Die Völker auf einander jchlagen u. f. w. 


Es war eine idyllifch » patriarchaltiche Zeit, jene Zeit des 
Joſeph und Benjamin (wie Berthold Auerba ein Mal Sofeph II. 
und Benjamin Franklin nennt); auch gab ed damald nody ftille, 
traulichdämmrige, heimijche und heimliche Pläbchen und Plauder- 
ftübchen; das Geſchrei des Marktes und der Börfe, das bes 
täubende Gerafjel der Maſchinen, das Geklingel des Mono 
und Bimetallismud mit feinen lärmenden Debatten und Inter⸗ 
yellationen übertönte noch uicht Alles; die Yublicität und der 
Journalismus gudten noch nicht durch jeded Fenfter und jedes 
Schlüſſelloch. Auch dad Auftreten der Mufe war nicht von den 
Poſaunenſtoͤßen der Reclame, ihr Erit nicht von Flourish and 


Trumpets begleitet — von ihr heißt ed: 
(616) 


5 


Die Mufe ſchweigt, mit fungfräulichen Wangen, 
Erröthen im verſchämten Angeficht, 
Zritt fie vor dich, ihr Urtheil zu empfangen... . 


Die Devife der Eilmagen war „Eile mit Weile" und bie 
Diligence hieß jo wie lucus a non Iucendo. Bon den Eiſen⸗ 
bahnen fagt ein Franzoſe: Man reift nicht, man kommt immer 
nur an. Eigentlich aber fommt man aud nicht an, man wirb 
da und dorthin erpedirt, mit aller erdenkbaren Geſchwindigkeit 
und mit nur 5, oder 10, oder 20, oder 25 Minuten Aufenthalt. 
Nur Schnell! ift das Loſungswort der Zeit — Marſchall Bor« 
wärtd commandirt. Gin getreued Abbild, gewifjermaßen eine 
Momentanphotographie der Sehtzeit mit ihren Blibtraind und 
Rapid Transits (wie man in America die |. g. Hochbahnen 
nennt) ift das Sournal, mit feinen Telegrammen, Annoncen und 
Feuilletond. Die Zeitung ift dad Miniaturbild der Zeit, deren 
Signatur darin befteht, dab Niemand Zeit zu irgend Etwas 
bat, außer allenfalld zu einer Poſtkarte. — Nous nous embras- 
serons Dimanche, je n’en ai pas le temps maintenant jagt 
in „les faux bonshommes“ der junge Mann zu feinem neuen 
Schwiegerpapa; er bat eben feine Zeit zu einer Umarmung — 
er muß auf die Börfe. 

„Arm in Arm mit dir — So fordere ich das 19. Jahr⸗ 
hundert in die Schranken“ jagt die Börfe zum Journalismud; 
beide .dyarakterifiren die moderne Zeit. Aber auch font hat Alles 
ein journaliftifched Gepräge; die langweiligen Dedicatiougepiiteln 
3. B., die ein würdiged Pendant zu der Allongeperüde bildeten, 
welche dem Titel gegenüber dad Haupt des Verfaſſers zierte — 
fie find jetzt verſchwunden, wie gleichzeitig auch die langweiligen 
franzöfifchen Nedensarten, mit denen man bie Rede ſchmückte; 
dafür findet man mehr das Knappe, Pointirte, Präciſe, Vor⸗ 
wöärtöftrebende, Stilettartige des franzöfifchen und engliſchen 
Stils. 


Diefe Veränderung der Schreibweije hat auch bie Ein⸗ 
in 


6 


führung mancher fremden Ausdrücke begünftigt; andererjeits 
haben fi in Folge des weitaus lebhafteren Verkehrs zwiſchen 
den einzelnen Ländern und Welttheilen viele fremde Wörter ein« 
gebürgerft, von denen man in früherer Zeit Nichts wußte; dazu 
fommen die vielen neuen Entdedungen und Erfindungen, bie 
faft alle fremdländifche Benennungen haben, wie audy faft alle, 
im Dienfte der Schnelligkeit ftehend, den Gang der Dinge bes 
flügeln; Mercur regiert die Stunde. 

Die Fremdwörter ftehen alfo in Zufammenhang mit dem 
jeweiligen Modus vivendi, oder — um ein verwandted Fremds 
wort zu gebrauchen — fie find der Mode unterworfen. In der 
That zeigt die immer bleibende und doch ſtets wechjelnde Mode 
(im engeren Sinn), wie die Wörter aus den verfchiedenften 
Zändern — bien étonnés de se trouver ensemble — fi} auf 
kleinem Raum zufammenfinden, weniger neben» als nachein⸗ 
ander, wie fie kommen und geben. Da ift die ruffiiche Kaza⸗ 
baifa, die ſpaniſche Mantille, der mauriiche Burnus, der per- 
fiide Schäl oder Shawl!), der türkiſche Bajchlif, die indifche 
Boa. Dazu kommt eine franzöfifche Mode, die Schon Louiſens 
Bater in „Sabale und Xiebe” erwähnt (Kidebari), die aber jebt 
wieder en vogue ift, nur daß fie den etwas feineren Namen 
Zournure trägt. Wer kennt alle die Namen? Nicht einmal die 
Putzmacherin — zu Deutſch Marchande de modes oder Mascha- 
mode — 2) oder die Inhaberin eines Sonfectiondgefchäftes. Und 
das, wa8 von der Garderobe gilt — welches Wort zwar ein 
Fremdwort, aber doch germaniichen Urjprungs iſt — das gilt 
audy von der Toilette und dem Gegenſatz derjelben, dem Negligd 
wie nicht minder von den allerintimften Dingen, von der ges 
müthlichen Bifitenfarte mit ihrem p. f. v., p. p. c., vom frau» 
lichen Billet-doux, Rendez-vous und Téête-à-téêto bid zu dem 
eben jo vertraulichen Boudoir und der Gardinenpredigt, deren 
erfted Wort romanijchen Urjprungs ift, während das zweite aus 
bem Kirchenlatein ftammt. Daß ferner Thee, Kaffee und Choto⸗ 


(618) 


7 


lade Fremdwoͤrter find, liegt in der Natur ber Dinge, aber auch 
bie Tafje, in ber fie ſervirt werden, bat eine fremblänbiiche 
Benennung; ba3 urfprüngliche Wort ift ein perfilch -arabifces, 
bad aber — wie Spiegel nachweift —?) unter etwas ver 
fhiedener Form bereitö im Avefta ald Benennung eines Opfer- 
geräthed vorkommt. Daß auf einer Weinkarte viele fremde 
Wörter vorfommen, ift ebenfalls ſehr natürlich; daſſelbe gilt 
aber auch von der Speifefarte, welches Wort felbft aus zwei 
Fremdwörtern beftehbt. Ich rede nicht von der höheren Speife- 
farte, dem Menu (zu Deutſch Küchenzettel), deffen Inhalt nur 
einem Nachkommen bed berühmten Batel ober einer hochgebildeten 
Beltalin der Küche verftändlih ift — aud die gewöhnliche 
bürgerliche Speiſekarte ftrogt von fremden Ausdrüden, objchon 
die Speifen jelbft aus heimiſchem Boden ſtammen, wie beifpield- 
weife das Boeuf & la mode, gewoͤhnlich Büffelmod aus⸗ 
geiprohen. So ift namentlih das Studium eined Wiener 
Speijezetteld ein eben jo angenehmes wie linguiſtiſch interefjantes 
Studium. Der Norddentiche, der nad Wien kommt und da 
a la carte jpeift, findet hier ihm ganz fremde Fremdwörter: 
das ungarische Gulaſchfleiſch, Paprika und Kukuruz, den ſlaviſchen 
Kren, die italieniichen Fiſolen und Rifibiſi (Risi e pisi, Reis 
und Crbfen) fowie das italienifchdeutfche Ribifelftrudel. Letzteres 
Wort wird er gar nicht wagen auszufprechen, er wird nur — 
geipannter Erwartung vol — mit dem Yinger darauf deuten 
und zum Garçon oder Marqueur jagen: Bringen Sie mir daß! 

Ein Fremdwort aber — und zwar ein ſolches, das ein 
naher Verwandter des Boeuf & la mode ift — kommt auf 
allen Speifelarten vor — Roaſtbeef. Es ift diejed eine enli⸗ 
narifche Erinnerung an die Schladht von Haftingd, welcher Heine 
in feinem Gedichte von König Harald und Edith Schwanenhals 
(Edith Swaneshals in einer von Thierry angeführten Urkunde) 
ein poetiſches Denkmal errichtet hat. Noaftbeef ift eine vox 


hybrida oder ein Zwitterwort, deffen eine Hälfte germaniichen, 
(619) 


8 


die andere romanischen Urfprungd ift, und erinnert jo nicht nur 
an die zwei Hauptbeſtandtheile der englifchen Sprache, ſondern 
auch an die Begriffsiphäre, in welcher jede der beiden Sprachen 
die vorherrichende if. _ So lange nämlih der Ochs im Stalle 
oder auf der Weide ift oder auf dem Ader den Pfing zieht, 
heißt er mit einem germaniſchen Worte Ox; ift er aber aus dem 
Naturzuftande heraus in ein anderes Dafein befördert worden, 
ift er der Culturmiſfion des franzöfiichen Kochs anheimgegeben 
und präientirt er fi in diefer Metamorphofe den Ladies und 
Gentlemen, fo ift es kein Dch8 mehr, er beißt jept mit einem 
franzöfiihen Namen Beef (weldyedg Wort, gewiffermaßen ein 
Abftractum, keinen Plural bat). Das ift auch vom äfthetiichen 
Standpunkt aus fehr hübſch; man wird jo in feiner Welle daran 
erinnert, daß dad, was jebt Einen ſo reizend anlädelt, vor 
Kurzem noch ein Ochs war — eine in mehrfacher Beziehung 
unangenehme Erinnerung — und fo haben denn auch die Fran⸗ 
zojen, ftatt Boeuf röti zu fagen, den Ausdrud Rossbif.*) Der: 
jelbe Unterſchied beiteht zwiichen Kalb und „Kälberned", Calf 
und Veal (altfranzöfifdy veel, wovon auch velin), ebenfo beim 
Schafe (Sheep — Mutton), beim Schweine (Swine-—-Porc) und 
bei vielen anderen Dingen. Dad Concrete, Naturwüchfige, Primi⸗ 
tive und Heimiſche bat eine angelſächfiſche, aljo germaniſche 
Denennung, wie 3. DB. Alles was auf dad Heim (Home), daB 
Haus, die Yeuerjeite (Fireside) und auf den Ader Bezug hat, 
und jo auch — mit Ausnahme bes Herbfted (Autumn) — bie 
Sahreszeiten. °) 

Die engliſche Sprache ift entichieden eine Mifchiprache; wie 
übrigens 3. Grimm bemerft®), ift der große Borzug der eng» 
liſchen Sprache vor allen übrigen zumeift eben dieſer Bermäh- 
lunz der beiden edeliten Spracdyen, der germanischen und roma⸗ 
nifchen, zuzuſchreiben. 

Roaſtbeef und Beeffteak find aber keineswegs die einzigen 


englifhen Wörter in der deutfchen Sprache; es haben fidy außer: 
(630) 





9 


dem in neuerer Zeit noch viele andere Wörter eingebürgert, 
wozu in der jüngften Zeit ſich noch Strife, Interviewen und 
Statingsrinc binzugefellten; daneben beftehen noch einige, früher 
ungebräuchliche, Ausdrüde die allem Anfchein nach Nachbildungen 
engliicher Ausdrüde find, ſo z. B. planen, geplant (für projectiren), 
unterjhäben, verfrüht, Yußnote, und eben fo wie ftarten und 
ftoppen englifchen Uriprungs find, fo haben ſowohl in ber 
deutſchen wie in der franzöfifhen Sprache ſehr viele engliiche 
Wörter Aufnahme gefunden, die fi} auf den Sport, auf die 
Eiſenbahn und auf die Schifffahrt beziehen. Darunter ift audh 
ein Wort, das culinariſche und zugleich nautiſche Bedeutung bat, 
das Wort Coq, wie auf den franzöfiihen Schiffen der Schiffs⸗ 
koch heißt. Littr& memt, ed ſei dafjelbe — wie viele andere 
maritime Auddrüde — ein deutſches Wort (Koch), es iſt aber 
vielmehr das engliihe Cook. Das Stop der engliihen See⸗ 
fchiffe hört man auf allen Gewäfjlern, auf ben rheinifchen Dampf» 
Ichiffen fowohl wie auf dem Nil”) und ebenfo ruft man in 
America dem Kuticher zu, wenn er halten foll, „Stop Driver!“®) 

I. Grimm fagt ferner: „Die engliſche Spradye darf mit 
vollem Recht eine Weltipradhe heiten und fcheint glei dem 
engliihen Volk auserjehen, künftig noch in höherem Mabe an 
allen Enden der Erde zu walten.” Das Stop Driver erinnert 
jedenfalld daran, dab die engliſche Spradye eine weithin herr» 
chende ift; von ihr gilt, was Carl V. von feinem Reiche fagte, 
daß in ihm die Sonne nicht untergehe; fie wird ebenjowohl 
auf der weitlichen Hemiiphäre geiprochen, wie im Lande bes 
fernen Oftens, im Lande einer der älteften Sprachen — in Indien. 

Zwifchen einer der in Indien geiprochenen Sprachen und 
ber englifhen Sprade bat fi num — allerdingd in jehr be 
fchränttem Maße — eine eigenthümliche Mifchung gebildet, von 
der bier zunächſt die Rebe fein joll. 

The Slang Dictionary tft der Zitel eines 1864 zu London 
in dritter Auflage erichienemen Buches, in welchem aljo die im 


(631) 


10 


Slang und Cant — unter lebterem verfteht der Verfaſſer 
ipeciell die Gaunerſprache — gebräudlichen Wörter angeführt 
und erklärt werden. Die 3. Auflage untericheidet fi) von den 
beiden früheren darin, daß in derfelben auch Anglo - Indian 
words angeführt werben, db. h. Ausdrücke, welche engliiche Sol» 
daten und Seeleute aus Indien mit nad Enyland gebracht 
haben und audh in der Umgangsſprache gebraudhen. Diele 
Wörter werden nun bier mitgetheilt, aber bloß mit der Bes 
zeichnung A. I. oder Anglo-Indian, ohne nähere Angaben über 
die urjprüngliche Schreibweije, Bedeutung und Herkunft. 
Diefe Wörter gehören aljo dem Hinduftant an, das die in 
Indien am Meiiten, namentli von der mohamedanifchen Bes 
völferung, geiprochene Sprade if. Das Idiom wird — wie 
Stafelpear in feiner Grammar of the Hindustani Language 
(p. 1) bemerft — Urda oder Urdü zabän, d. h. Lagerſprache 
genannt; e8 heißt aber auch — mit einem urſprünglich perfiſchen 
Wort — rekhta, scattered, wegen der Menge der darin zer⸗ 
ftreut vorfommenden Wörter aus den verjchiedenften Sprachen. 
Die Benennung mit „Sprache des Lagers“ (Urdu fommt auch 
im Perfiihen und Türkiſchen vor, davon ital. Orda, ruſſ. orda, 
franz., engliſch und deutſch Horde, letzteres mit verächtlichem 
Nebenbegriff, wie das bei entlehnten Wörtern gewöhnlich ift), 
ift aber auch injofern eine paflende, ald dad Idiom an ein Lager 
erinnert, in dem Soldaten (wie z.B. in „Wallenfteind Lager”) 
aus den verjchiedenften Gegenden „zufammengeblajen umd zus 
jammengejchneit” find. (Der Urfprung dieſer Benennung ift 
vun allerdingd ein ganz anderer.) Dad Hinduftani fit eben 
dehhalb eine eben fo originelle wie intereffante Deifchiprache, 
mit eigenthümlichen ſprachlichen Erjcheinungen, wie fie z. B. das 
Wort Dev bietet. Das befannte Sansfritwort für „Gott“ iſt 
Dewa, im Perfiichen aber bedeutet Div oder Dev (im Zend 
Daeva) Teufel. Im Hinduftani bedeutet daſſelbe Wort ſowohl 


Gott als auch Teufel, je nachdem e8 ein urjprünglich indifches 
(623) 


11 


oder perfilches Wort if. Dafjelbe ift bei den Ableitungen der 
all; divanah als urfprünglich perfiiches Wort bedeutet wahn- 
finnig, von einem div befeffen; devadat als urfprüngliches 
Sanskritwort bedeutet von den Göttern (oder den Göttern) ge— 
geben. Ferner hat dad Wort Maskabar die Bedeutung „ber 
legte Tag des Monats“, zufammengejeht aus den portugiefiichen 
Wörtern Mes = Monat und acabar = beendigen (Shakespear, 
a Dictionary Hindustani and English 3. ed. p. 1549). Acabar 
(franz. achever, engl. to achieve, von chef) ift von Cabo 
(caput) gebildet und läßt fi fo auf dad Sanskritwort Kapala, 
im Hinduftani Kapäl, Kapär = Hirnſchale, Kopf (griech. Kephale) 
zurüdführen. Mes, un», mensis ftammt von dem Sanöfrit« 
wort Mäs, Mond — eigentlich Mteffender (der Zeit) — Masa, 
Monat, perfiich und Hinduftant Mah. Es find das aljo Wörter, 
die mit veränderter Form in ihre urjprüngliche Heimath zurüds 
ehren, wie es denn bei Sremdwörtern überhaupt öfter vor» 
fommt, daß man von einem Anddrude fagen Tann: „Fremd 
fehrt er heim ind Baterhaus.” 

Da nun aub die in der englifhen Umgangsſprache ge⸗ 
bräudylichen Hinduftaniwörter in mehr als einer Beziehung inter- 
efjant find, jo führe ich einige derfelben — e8 find überhaupt 
nicht viele — bier an, wie fie im erwähnten Slang-Dictionary, 
da8 durchaus die alphabetiiche Ordnung befolgt — vorlommen, 
aber mit Beifügung einzelner Bemerkungen mit Bezug auf deren 
Herkunft und urſprüngliche Bedeutung. 

„Ayah, a lady's-maid or nurse. Anglo-Indian.*“ Im 
Hinduftant ift Anga „a kind of nurse“ (Shakespear s. v.); 
es liegt alfo näher anzunehmen, Ayah fei das ſpaniſche Aya, 
ober das ital. Aja, Kindeswärterin, wie man ähnlidy in Deutjch- 
land Bonne und Gouvernante jagt, und wie in Italien die 
deutſche Gouvernante Fraile (Fräulein) genannt wird. 

„Bazaar, shop, counter; in Hindu and Gipsy a market.“ 
Diejed Wort gehört keineswegs dem „Slang“ an. Es ift bad 


(633) 


12 


befannte perfiiche und türfifche Bäzär, wovon das neugriechifcdhe 
Mredapı, TIolagı, ungarifdy vAsar, deutſch und franzoͤfiſch 
Bazar. Dem Slang eigenthümlidy wäre allenfalls nur die mobi» 
fizirte Bedentung „Shop, counter.“ 

„Burrah, great. Burrah saib, great man. A. 1° Das 
Hinduftaniwort für „groß“ ift nicht burrah, dad „bad“ bedeutet, 
fondern bara. Saib — aus dem Nanıen Tippo Saib befannt — 
ift dad arabifche Sähib, in der Bedeutung Genoffe, Herr, Ber 
fiber, da8 aber in Perfien und Indien ald Titel und in der 
Anrede im Sinne von „Herr" gebraucht wird. 

„Choops, & corruption of Uhooprao, keep silence. — 
Anglo-Indian.“ Das Hinduftani bat für „Still!“ die Aus» 
drüde Chup und Ohup-rahu (Skakespear, Gramm. p. 90). 

„Chull, make haste! An abbreviation of the Hindostanee 
Chullo, signifying „go along!“ Das entjprechende Wort im 
Hinduftani ift „chal“ = going. 

„Cusbmawaunee, never mind! Sailors and soldiers who 
have been ın India frequently say: „Uushmawaunee, If we 
cannot get arrack, we must drink pawnee.“ Anglo-Indian. 

Cushmawaanee iſt die jedenfall ſehr entftellte Form irgend 
eined hindoftanijchen Ausdruds; Pawnee iſt das Hinduftantwort 
päut für „Wafjer*, das auch im der Zigeunerfpracdhe gebräuch⸗ 
lich iſt. 

„Gurrawaun, a coachman, a native Indian corruption 
of the English word coachman. Anglo-Indian.* Das Bort 
ift aber keineswegs die Entftellung des Worted Coachman, mit 
welchem ed ja auch durchaus Feine Aehnlichkeit hat, ed iſt viel. 
mehr das Hinduftaniwort Gäriwän = coachman, zufanmengefebt 
aus gari= car, coach und wän = possessing bei Shafefpear. 
Beides Sanskritwörter. Das perfiſche bän bedeutet ähnlich 
Hüter, wie in Dar-bän, Thorhäter (wovon vielleicht das Wort 
Trabant). 


„Hakem, a medical man. A. I“ Hakim oder Hekim 
(64) 


13 


ift Die befannte neuarabiſche und türkifche Denennung des Arztes. 
Das Wort bezeichnet urſprünglich den Gelehrten, Weiſen, Wifſen⸗ 
den — wie es denn auch in der Bedeutung Allweiſe, Allwiffend 
eine der 99 Denennungen Gottes ift — und wird alfo in ähn⸗ 
licher Weife, wie Doctor in der deutfchen Bollöiprache und im 
Holländiihen, vom Arzte gebraucht. 

„Haramzadeh, a very general Indian term of contempt, 
signifying base-born. A. I.“ Haram-zadah oder -zadeh ift 
ein periihes — aud im Türkifchen gebräuchliche — Wort, 
zuſammengeſetzt aus dem arabiſchen haräam = illegitim, verboten 
und dem perſiſchen Zadeh, Kind, Sohn (eig. geboren, wie 
töknon, natas) mit der Bedeutung illegitimes Kind, Baftard, 
aber auch ald Schimpfwort überhaupt gebraucht. Das arabifche 
Wort liegt auch dem „Harem“ — neugriechiſch Kapgıuı — zu 
Grunde, das perfiihe dem Namen der Scheherzade (Stadts 
geboren) in 1001 Nacht fowie dem Worte Mirza, abgefürzt aus 
Emirzadeh, Sohn eined Prinzen, eines Koͤnigs oder fonft einer 
bornehmen Perſon. 

„Hurkaru, a messenger. Anglo-Indian.“ Im Hinduftant 
bedeutet Harkära einen Boten (a messenger, a running foot- 
man) und ift zufammengefegt aus den perfiichen Wörtern har, 
Jeder und kara, Geſchäft. 

„Jow, be off, be gone immediately! Ifthe word Jehanum 
be added, it forms a peremptory order to go to the place 
unmentionable to ears polite. Our word „Jericho“ to go 
to, is probably derived from Jehanum. Anglo-Indian.“. Jow 
ift wahrſcheinlich jai bau, dad „du wirft gehen" bedeutet. Das 
Wort Jericho in der Redensart „Go to Jericho!“ bezeichnet 
— nad) einer in Nares’ Glossary audgefprochenen Bermuthung — 
einen Drt der Verborgenheit oder der Verbannung mit Bezug 
auf die Stelle 2 Sam. 10, 5: „Bleibet in Jericho bis daß euer 
Bart gewachſen“ — alſo eine Redensart, die, wie viele andere, 


von der großen Bibelfeftigleit der Engländer zeugt. Vielleicht 
(625) 





14 


aber bezieht ſich dieſe Redeweiſe auf die Zerftörung Jerichos 
(3of. 6, 24 ff.) und entjpricht jo dem Deutichen „wo der Pfeffer 
wädft” (Cayenne). Keinenfallö aber fteht Jericho mit Jeha- 
num in Zuſammenhang. Lebtered ift vielmehr das arabiſche 
Dschahannam = Hölle, das hebräiſche Gehinnom in der jpäteren 
(talmudifchen) Bedeutung ded Wortes, dad Mohamed aus bem 
Späthebräifchen entlehnte, ſyriſch Gehano, wovon Gehenna, 

„Juwaub, literally, in Hindostanee, an answer; but in 
Anglo-Indian Slang signifying a refusal. If an officer asks 
for leave and is refused, he is said to be juwaubed; if a 
gentleman unsuccessfully proposes for the hand of a lady, 
he is said to have got the Jawaub. Anglo-Indian.“ Diejes 
Juwaub ift dad arabifche Dschawäb = Antwort. 

„Kubber, news, Anglo-Indian." Es ift dieſes das ara- 
biſche Chubr, Kunde, Chabar, Neuigfeit, letzteres aud) im Tür⸗ 
tiichen und davon neugriehilh Kaufe, Kauncoı, Neuigfeit. 

„Moonshee, a learned man, teacher, or professor. Anglo- 
Indian.“ Das arabifhe Munschi bedeutet Secretär, Autor, 
Schriftfteller u. |. w. Die in Indien lebenden Europäer ges 
brauchen aber — wie Shaleöpear u. d. W. bemerft — Munschi 
im Sinne von tutor, a teacher of Persian or Hindustani, a 
Language-master. 

„Nabob, an Eastern prince, a retired Indian official — 
hence a Slang term for a capitalist.“ Bei dieſem Worte fehlt 
der Zuſatz „Anglo- Indian“, obſchon daſſelbe allerdingd aus 
Indien ftammt. Das urjprüngliche Wort tft dad arabijche Narb, 
(neugriechiſch Nalrıng), Statthalter, Gouverneur, Stellvertreter; 
der Plural defjelben, Nuwäb oder Nawäb wird? — mie dad 
auch bei einigen anderen Wörtern der Fall it — im Zürfiichen 
und Hinduftani ald Singular gebraucht. Auch Europäer, die 
in Indien leben, gebrauchen Nawäb in diefem Sinne ?). Da nun 
aber die Gouverneure indilcher Provinzen ſich gewöhnlich große 


Neichthümer erwerben, fo tft au im Deutſchen Nabob, im 
(636) 


15 


Sranzöfiihen Nabab die Bezeichnung eined Mannes mit fürft« 
lichem Reichthum. 

„Salaam, a compliment or Salutation. Anglo-Indian.“ 
Saläm äleikum (im Singular aleika), Friede über euch, ift die 
befannte Begrüßungöformel der Araber, die in der, Regel aber 
nur Mohammedanern gegenüber gebraucht wird. Bon diefem 
Saläm (zuweilen mit dem — ajfimilirten — Artikel As-saläm) 
aleikum wird Salam aud für „Gruß“ gebraucht. 1°) Diefer 
Friedendgruß hat übrigens einen Friegeriichen Urfprung. In der 
Büfte — jagt Earl Ritter!!) — iſt Feder ein Feind, und daher 
hat der Gruß „Friede ſei mit euch!" feine volle Bedeutung. 
Das Wort bat aber außerdem noch die Bedeutung Wohlbefinden, 
Heil (engliſch hail, das ebenfalls als Gruß und Wunſch gebraudyt 
wird, to hail bedeutet grüßen). Die türkiiche und neuarabiſche 
Form defjelben ift Selam, wovon das auch im Deutidyen ges 
braͤuchliche Selam. Selamlik heißt im Zürfifhen das Em⸗ 
yfangde oder Begrüßungszimmer, wie andere Verbindungen des 
Worted Selam „dad Gewehr präfentiren“ bedeuten. Im Ara- 
biichen bedeutet dad vom Hauptwort gebildete Zeitwort „grüßen“ 
und entipricht fo dem „ſalutiren“ (salutare), eine Salve geben, 
vom lateinijchen Salas; infofern ift audy die im Dictionary of 
Slang gegebene Erklärung von Salaam als „salutation“ eine 
ganz wörtlihe. Bon dem arabiſchen Worte ftammt zunächft das 
ipanifche Zalema, Zalama und Zalameria, alle mit der Beben: 
tung demüthige Höflichleitäbezeugung. Bon Salam alaıkum 
ftammt das italienifche Salamalecca, Salamalecche, franzöflich 
Salamalec, tiefe Berbeugung; diefelbe Wanderung und zugleich 
Wandlung der Bedeutung findet fich auch bei dem Hebräiſchen 
Ausdrud, der noch jebt unter Juden allgemein üblich ift. Bei 
Bernd (die deutiche Sprache in dem Großherzogthum Pojen, 
©. 274) heißt ed unter Scholem: „den Juden nachgebraucht, 


für Gruß, Berneigung, Diener. Mad) einen Scholem! Bon 
(627) 





16 


der jüdilchen Begrüßung Scholem alechem, Friede fei mit euch!“ 
Scholem tft die vulgär-jüdifche Ausſprache des Wortes Schalom. 

„Schroff, a banker, treasurer, or confidential clerk. 
Anglo-Indian.* Es ift dieſes wahrſcheinlich das arabiſche, auch 
im Hinduſtani gebräuchliche Saraf, nengriechiſch Sapaypns (aus 
dem Türkiſchen), welches Wechsler, Banquier, bedeutet. 

„Soor, an abusive term. Hindostanee, a pig. Anglo- 
Indian.“ Suar, Suari — vom Sandfritwort cukara — bedeutet, 
nach Shakeſpear, im Hinduftani „a hog, a sow.“ 

„Vakeel, a barrister. Anglo-Indian.“ Im Hinduftani 
bat Wakil die Bedeutung: agent, attorney, counsellor at law 
u. ſ. w. Wakil — Türkiſch Wekil, wovon neugriechiich Bexiäng — 
ift ein arabiſches Wort, entiprechend den im Deutichen gebrauch⸗ 
ten Fremdwörtern: Agent, Procurator, Advocat, Deputirter, Deles 
girter, Bicar, Lieutenant, d. b. Statthalter, luogotenente, arabiſch 
Katm makäm, wovon Kaimakam — alſo überhaupt Jemand, 
dem eine Sache übertragen und anvertraut wird. So ift auch 
Mutawakkil (ala Allah), der auf ®ott vertrauende, Beiname 
eines Khalifen, wie Waktl — gleichfam der Allverwalter, dem 
Alle vertrauen — einer der 99 — oder 100 — Namen 
Gottes ift. 

Einige Analogien zu den bier angeführten Wörtern finden 
fi) in einem vor Kurzem (1884) erfchienenen Buche von C 
Billate: „Parifismen, Sammlung der eigenartigen Ansdrucks⸗ 
weiſen des Pariſer Argot." Im diefem Bude werden and) 
Ausdrüde angeführt, welche franzöfiiche Soldaten aud Algier 
mit zurückgebracht und in gewöhnlicher Rede gebrauchen. Es 
find dad die Wörter: Bezef für „Biel“, Caoudji für Kaffee, 
Chouis-chouis (schu-is-schu-ia) für „fo fo, ganz gemädlicy“ 
und Smalah = $amilie, Hauöhalt, Kind und Kegel. Bezzef 
ift ein fpeziell im Dialekte von Algier gebräuchliche Wort — 
eigentlidy ein mit einer Präpofition verbundened Hauptwort — 


das fowohl „viel“ wie auch „ſehr“ bedeutet1?). Das arabijche 
(628) 


17 


Wort für Kaffee ift Kahwe, Caoudji ift wahrſcheinlich das falſch 
verfiandene Kahwedschi = Kaffeewirth. Chouia-chouia, richtiger 
Schuwajja-schuwajja, ift bei Berggren!3), Humbert!+) und 
Dozy!5) die Ueberſetzung von Peu & peu, tout doucement. 
Dad einfache Schuwajja, ein Diminutiv von Schai = Sadıe, 
bedeutet „Eleine Sache, wenig“. Smalah, richtiger Zmalah oder 
Zamalah, bedeutet zunächſt Umgebung, d. b. die Zelte, welche 
die Schutzwache eines arabifcheu Häuptlingd bilden, das Wort 
wird aber auch zur Bezeichnung der Samilien gebraucht, die fich 
an einem Drte angefiedelt haben16). Erwähnenswerth ift auch, 
wad in den „Pariſismen“ unter „Fantasia“ bemerft wird: 
„Kantasia (Art Turnier der arabijchen Reiter) mehr lärmende 
als ernftgemeinte Kundgebung.“ Fantasia bedeutet im Neu- 
arabiſchen Glanz oder Pracht; felbft ein Samilienfeft, eine Soiree 
mit Mufit und Tanz, heißt Fantasia, wie Wehftein in feinem 
„Markt in Damaskus” ſagt17). Hier ift alfo ein abendländiſches 
Wort in veränderter Bedeutung aud dem Drient zurückgekehrt. 
Zu den aus Algier ftammenden Wörtern fönnte man auch das 
befannte Razzia rechnen, dad ebenfalld arabijchen Urſprungs ift. 
Im Nenarabifchen bedeutet Gäziah „feindlicher Angriff, Hand» 
ftreih”, vom Zeitwort gaza — überfallen, wovon auch das 
ſpaniſche und portugieftifche Gazua, Gazia für Kriegdzug. Die 
%orm Razzia hat darin ihren Urjprung, daß die Ausſprache des 
erften Buchftabend (Gain) eine zwiſchen G und R fchwanfende 
ift 18), 

Welcher Art die Fremdwörter find, die in einer Sprache 
Aufnahme gefunden, und ob es deren viele ober wenige find — 
dad hängt von der Geſchichte, dem Eulturzuftande und der gen» 
graphifchen Lage eined Landed ab. So hat 3.3. die ruffiiche 
Sprache dem Türkiſchen, Perfiichen und Arabifchen, ſowie aus 
allen europäiichen Sprachen Wörter entlehnt, unter den lebteren 
find viele Firchlichereligiöfe Ausdrüde aus dem Neugriedjiichen, 
fowie auf die Schifffahrt bezügliche aus dem Holländilchen. Cine 


xX. 478, 2 (629) 





18 


Sprade, die ebenfalld jehr viele fremde Wörter aufgenommen 
bat, tft die ſyriſche Sprade, namentlich find die in derjelben 
vorfommenden griechiichen Ausbrüde ſehr zahlreih, wie denn 
fogar einzelne Partileln — die in den anderen Sprachen ges 
wöhnlich aus einheimifchen Wörtern beftehen — griechiichen Ur» 
ſprungs find. 

Ein merkwürdiged Beilpiel von Sprachmiſchung bieten die 
zahlreichen arabiſchen Wörter im Spanifchen. Die meiften diejer 
Wörter ftammen aud der Zeit her, ald die Araber im Befibe 
bed größten Theild von Andalus (mie Spanien bei den ara⸗ 
biſchen Autoren heißt) waren und audy die arabildhe Sprache 
die ſpaniſche Volksſprache — eine ſpaniſche Literatur gab es 
damals nicht, was eben die Aufnahme arabiſcher Wörter fehr 
begünjtigte — faft ganz verdrängt hatte. 

So haben ſich denn auch in einzelnen ſpaniſchen Provinzen 
arabiiche Ausdrüde erhalten, die in der Schriftiprache nicht vor 
fommen, wie aud in den Coplas ded Erzpriefterd von Hita 
und noch im Don Duijote Maurinnen vorkommen, weldye die 
eine und die andere arabiiche (magrebiniiche) Nedendart im 
Munde führen, wie in legterem Buche audy fonft auf den ara- 
bilchen Urfprung einzelner ſpaniſcher Wörter hingewieſen wird; 
dafjelbe geichieht in den Sıete Partidas del Rey Don Alfonso 
el Sabio. 

Der Einfluß des Arabiſchen beſchränkt fich aber nicht auf 
einzelne Wörter; abgejehen von ſpaniſchen Spridywörtern, die 
allem Anſcheine nach arabifchen Urfprunges find, jo läßt fich 
daffelbe audy von ſprichwörtlichen Redensarten mit Wahrfjchein- 
lichleit annehmen. Für dad müßige Hinundhergehen hat man 
im Spanifchen die Redeweiſe: Andar de ceca en meca. Ceca 
hieß die berühmte Mofchee in Cordoba, Meca ift Mekka, der 
berühmte Wallfahrtöort — die Redensart ift alfo arabifchen 
Urſprunges. “Derjelbe Gleichklang zweier Wörter zeigt fidy in der 


Redensart Fulano y zutano, in demfelben Sinne gebraucht, wie 
(630) 


19 


das deutſche Herr So und fo (un tel), Fulano ift dad arabifche 
Fulän, da8 dajjelbe ausdrüdt. Aehnlich dem Fulano y zutano 
jagt man im Perfifchen und Zürfifchen Fulän u-Behemän, wo 
dad zweite Wort genau diefelbe Bedeutung hat wie dad erftere, 
im Türkiſchen noch außerdem Fulän (filän) fislän; letzteres be 
deutet Unterrod, ift aljo nur des Gleichllanges wegen da. Dem 
arabiichen fulän entipricht das hebräiihe P’loni (wie denn 
Geſenius u. d. W. — Thesaurus, p. 1104 — aud das ſpaniſche 
Fulano anführt), aber auch bei diefem Worte findet ſich ein 
ähnlicher Gleichklang in P’loni almoni, das gleichzeitig von 
Gejeniud angeführt wird. Es Tiegt nun nahe, anzunehmen, daß 
auch Fulano y zutano urjprünglich eine volksthümliche Nedensart 
der Araber oder Mauren gewejen, und daß zutano dad arabifche 
scheitän (Satan, Zeufel) ſei, dad jo dem fulano in ber Form 
affimilirt wurde. 

Manche arabiichepantiche Wörter finden ſich auch in anderen 
Sprachen, von diefen unterfcheidet ſich aber das fpantiche Wort 
iniofern, ald e8 der Form und Bedeutung nad dem urſprüng⸗ 
lihen Worte näher fteht, daß es mehr ald eine Bedeutung 
defjelben beibehalten oder von demfelben weitere Ableitungen 
gebildet hat. Ein Wort diefer Art ift das ſpaniſche Mezquino 
— altipaniiy Mesquino — welches Wort — wie Geſenius 
unter dem entiprechenden hebräifchen Worte (Thesaurus, p. 954) 
bemerft — im Stalienifchen ald Meschino, im Sranzöfiihen als 
mesquin vorfommt. Andere Formen und Bedeutungen werden 
bei Diez (Et. W.-B. DI, 274, 3. Aufl.) angeführt. Es ift dieſes 
das arabiiche miskin = niedrig, demüthig, arın, dürftig, im Neu» 
arabiichen bedeutet dafjelbe „guter Sterl, Bonhomme’. Das 
ipanifche mesquino hat die Bedeutungen arm, dürftig, elend, 
gering; daneben beftehen die abgeleiteten Formen: mezquindad, 
mezquinito, mezquinamente. Aud im Italieniſchen eriftiren 
mehrere Ableitungen des Wortes meschino; man darf aber wohl 


annehmen, daß daffelbe nicht dem Spaniſchen, jondern direct 
2° (631) 


20 


dem Arabiichen entlehnt jei und — ebenfo wie noch manches 
andere Wort — aus der Zeit der Araberherrichaft in Sieilieu 
herftamme. 

Dad Wort Minaret, da8 im Deutichen, Franzoͤſiſchen, Eng⸗ 
liſchen und Ruffiichen nur in einer fpeztiellen Bedeutung ges 
braucht wird, ift arabiſchen Urſprungs. Das arabiſche Manär 
oder Manäre (vom Zeitworte när, leuchten) bezeichnet einen Ort 
wo Licht (Nür) oder Feuer (När) tft, dann Leuchter, Leucht⸗ 
thurm, Thurm überhaupt, Minaret. Das türkiſche Minäre (neu⸗ 
griehifh Mivages) wird ausfchließlich in letzterer Bedeutung 
gebraucht. Im Spaniſchen Heißt nun ein Leuchtthurm, oder 
eine Erhöhung, auf weldher Fadeln brennen, Almenar und Al- 
menara, welches lebtere auch einen großen Leuchter (hebräiſch 
Menorah) bezeichnet. Alminar ift das fpaniiche Wort für Mi- 
naret und bezeichnet alſo — wie ed in Dominguez’ Diccio- 
nario nacional heißt — den Thurm an der Mofchee — Torre 
de las mesquitas — von deſſen Spite aus der Muezzin — 
Almuedano, arabiſch muaddin — die Gläubigen zum Gebete 
ruft. Mesquita oder Mezquita ift das ſpaniſche Wort für 
Moſchee, das aljo, ebenfo wie das italieniiche Meschita, dem 
urjprünglichen arabifchen Worte — Mesdschid oder Masdschid 
— ber Form nach näher flieht ald Mofchee, Mosquée und 
Mosque. 

Das Wort Alcohol hat im Spaniſchen neben der befannten 
Bedeutung auch die von Antimonium und ift fo die Benennung 
des pulverifirten Antimonium (Stibium), dad zum Färben der 
Augenwimpern dient; lebterered wird durch das Zeitwort al- 
coholar ausgedrüdt, daneben noch die Formen alcoholador und 
alcoholera, lebtered das zur Aufbewahrung dienende Gefäß. 
Wie verbreitet der Gebrauch diefer Augenſchminke war, erfieht 
man aus einer jehr intereffanten Stelle, die in Pellicer’s Aus⸗ 
gabe des Don Quijote (Parte II, Cap. 69, Tomo IV, p. 342) 


in einer Note angeführt wird, welche von der Mode zur Zeit 
(633) 


21 


der Reyes Catolicos handelt. Hier heißt es unter Anderem 
von den Frauen (Donzellas): ... Sie färben die Augen mit 
Alcohol und bemühen fich, fchöner zu ericheinen, als Gott fie 
erichaffen (alcoholanse los ojos, trabajando porque parescan 
mejores en hermosura de lo que Dios los criö). 

Diejer Alcohol entipricht dem arabifchen Kohl, Collyrium, 
das ſowohl zum Färben der Augenwimpern wie auch ald Augen» 
heilmittel dient, wie denn Kabhäl Augenarzt bedeutet. Außer 
dem Zeitworte kahal eriftiren auch davon gebildete Hauptwoͤrter 
zur Benennung ded dabei gebrauchten Suftruments, ſowie der 
Büchſe zur Aufbewahrung. 

Dem Acohol und alcoholar analog find die ſpaniſchen Aus⸗ 
drüde Alheüa und alheüar. Erſteres ift Hinnä, die arabtiche 
Bezeichnung einer Pflanze (Lawsonia inermis, Cyperblume), 
aus deren Blättern der unter dem Namen Henna befannte Färbe⸗ 
ftoff bereitet wird, welcher ebenfalls als kosmetiſches Mittel dient. 
Den häufigen Gebraudy defjelben bei den Mauren in Spanien 
erfieht man aus einer Stelle der — 1566 erlafjenen — Geſetze 
(Capitulos) für die Moriscos, die von Pedraza mitgetheilt 
werden1?), und wojelbft es heit, daB die Frauen weber das 
Geficht, noch andere Theile des Körperd mit Henna färben 
dürfen — que las Moriscas no se alheüen la cara ni otras 
partes 2), 

Auch Algebra ift bekanntlich ein arabiſches Wort, der ur: 
ſprüngliche Kunftausdrud ift Aldschabr w'almukäbala, d. h. 
Miederherftelung und Gegenüberftellung (oder Außdgleichung). 
Das dazu gehörige Zeitwort dschabara (oder dschabar) bedeutet: 
Einen verrenkten oder gebrochenen Knochen wieder einrichten; 
derjenige, welcher dieſe Kunft verfteht und ausübt, heißt Mu- 
dschabbir (Bone-setter bei E. W. Lane). Auch im Spantjchen 
tft Algebra, neben der gewöhnlichen Bedeutung, aud die Be- 
nennung der Kunft, verrentte Knochen wieder einzurichten; Al- 


gebrista bezeichnet ſowohl denjenigen, welcher Algebra verfteht 
(683) 





22 


ald auch den, der verrenkte Knochen einrichtet (ossium com- 
pactor), 

Wie bei diefen Wörtern, jo haben auch jonft arabiſch⸗ 
ſpaniſche Wörter den arabifchen Artikel beibehalten — man fünnte 
lagen, aus Dankbarkeit gegen diejenigen, von denen dad Wort 
und zugleich die damit bezeichnete Sache herſtammt. Das ilt 
3. B. der Zall bei dem Worte Acequia, das einen zur Des 
wäfjerung der Felder dienenden Canal bezeichnet, vom arabiichen 
As-säkijah, dad diefelbe Bedeutung hat, aber auch jede zu dieſem 
Zwecke dienende hydrauliſche Maſchine bezeihnet?'). Aehnlich 
in Bedeutung und Urſprung ift das ſpaniſche Anoria — im 
Franzöfiihen und Engliſchen Noria — Schöpfrad, hydrauliſche 
Maſchine zur Bewäſſerung der Felder und der dazu gehörige 
Brunnen, vom Arabiichen An-na’ura, das diejelbe Bedeutung 
bat. Im Neuarabifchen??) — das bei dieſen Bergleichungen 
bejonderd in Betracht kommt — wird ſowohl das KHauptwort 
wie auch das davon gebildete Adjectiv figürlich auch im Sinne 
von Scyelmenftreih, jchlau, gebraudht. In ähnlicher. Ueber- 
tragung wird im Spanifhen Noria (Covarruviad hat die ur⸗ 
Iprünglichere Form Anoria) gebraudt, zur Bezeichnung einer 
langweiligen Arbeit, bei der wenig herauskommt. Bet Co» 
varruviad (Tesoro de la 1. Toscana) wird unter Anoria eine 
darauf bezügliche fprichwörtlihe Redensart angeführt. Alle das 
beweift die häufige Anwendung dieſer Majchinen. Beide Wörter ' 
— die zuweilen neben einander vorlommen??) — erinnern 
jedenfalls an die großen Verdienſte, welche fi) die Araber um 
die ſpaniſche Agricultur erworben haben. 

Denjelben Urfprung wie Acequia bat — wie Amari bes 
merkt — das ficilianiiche sicchis, italieniſch secchio, secchia, 
für Eimer, wie auch eine Duelle in der Nähe Palermoß, 
Sicchiaria genannt, nach Amari's Vermuthung ihren Namen 
von früher dort befindlichen hydrauliſchen Mafchinen hat?*). Im 
Palermo heißt ferner dad Schöpftad senia, weldyed Wort nad 


(63%) 


23 


Amari ebenfalld arabiſchen Uriprungs ift — das arabiſche sania 
= großer Schöpfeimer, vom Zeitwort sand, bewäflern. 

Auch bei denjenigen Wörtern, die nicht urjprünglich arabijch 
find, infofern ald die Araber dad Wort zugleich mit der Sache 
von Anderen erhielten, haben die Spanier, die Wort und Sache 
von den Arabern empfingen, die arabiiche Form und den aras 
biihen Artikel beibehalten. So heißt 3.3. derjenige, weldyer 
den Theriak zubereitet, ſowie der Apothefer überhaupt Atriaquero, 
von dem Worte Atriaca, welche Form bei Eovarruviad, Towie 
bei einem jüdiſch⸗ſpaniſchen Lericograpben 25) angeführt wird, 
ftatt des jest üblichen Triaca. Atriaca iſt das arabiſche at- 
tirjäk, welches Wort von den arabifchen Zericographen als ein 
urfprünglich griechiiches erflärt wird?). Ebenſo heißt der Zuder 
Azucar, vom arabiihen as-sukkar — das arabifirte perfiiche 
(urjprünglich indiſche) schakar oder schakkar. Die arabilche 
Form des ſpaniſchen Worted erinnert jedenfall daran, daß zu⸗ 
meift den Arabern die Verbreitung, ſowie die Zubereitung des 
Zuderd zuzuſchreiben ift, wie das von Garl Ritter 27) dargelegt 
wird. Auch Albeitar, das ſpaniſche Wort für Thierarzt, ift 
nad) Covarruviad dad arabilche Albeitär, lebteres ift aber das 
griechiiche Hippiatros?®). 

Das eine und das andere arabiſche Wort hat in der fpa- 
niſchen Volksſprache eine Veränderung der Form erlitten. Das 
ift 3.38. der Fall bei dem fpanifchen Albricias, portugieftich 
Alvigaras, welches Wort ſowohl „Frohe Botſchaft“ bedeutet, wie 
auch Belohnung für die Weberbringung einer joldyen. Das 
ſpaniſche Wort wird von Covarruvias, dad portugieſiſche von 
Soufa 29) für das arabifche Bischära erflärt, welches ebenfalls 
beide Bedeutungen vereinigt. Dominguez, weldyer die beiden 
Bedeutungen des ſpaniſchen Worted angiebt (im Diccionario 
der Alademie wird nur eine angegeben), führt zugleich mehrere 
Sprichwörter an, in denen Albricias als Ausruf gebraucht wird. 


Die doppelte Bedeutung des Wortes erinnert übrigens an das 
(635) 


24 


beutiche Botenbrod, das ebenfalls — wie aus Friſch (I, 122c) 
und Schmeller (I, 308) zu erjehen — beide Bedeutungen hat. 

Andere ſpaniſche Wörter jcheinen Nachbildungen arabiſcher 
Börter zu fein, fo 3.8. Estancia — italienifch Stanza — das 
zunähft Wohnung, Haus, dann aber auch Strophe, Stanze 
(Sitanzel bei Schmeller II, 772) bedeutet. Diefe Wörter fcheinen 
Ueberſetzung des arabtichen Bait zu fein, das ebenfalls Wohnung, 
Haud, Zimmer, dann aud) Vers, Strophe, Gouplet bedeutet. 

Wie die erwähnten, jo gehören noch zahlreiche amdere 
arabiſch⸗ſpaniſche Wörter dem Culturleben an. Alle dieſe Aud- 
brüde aber finden fidh auch auf der weftlichen Hemilphäre, im 
ſpaniſchen Amerika, wieder. 

Db bei einer Sprache der Ausdrud „Sprachmiſchung“ oder 
„Meiichiprache" anzuwenden fei, hängt von dem Miſchungs⸗ 
verhältniffe ab; ift das fremde Element beſonders ftarf vertreten, 
jo paßt wohl der Ausdrud „Miſchſprache“. Das Beifpiel einer 
jochen bietet die Sprache, weldye Schmeller in der Abhandlung 
„Ueber die jogenannten Gimbern der VIL. und XIH. Communen 
auf den Venediſchen Alpen und ihre Spradhe” 30) beſprochen 
bat; in Verbindung damit fteht ein von Schmeller verfaßteß, 
von Bergmann herausgegebened „Cimbriſches Wörterbuch”, wie 
aud) ein Specimen diefed Idioms in Firmenich's „Völlerftimmen” 
(III, 433), ebenfalls von Schmeller mitgetheilt. 

Die Durkdringung der beiden Spradyelemente — des 
Stalienifchen und ded Deutichen — zeigt ſich namentlich in ber 
Amalgamirung derfelben in einem Worte, in dem daß italieniſche 
Wort eine dentiche Endung erhält, jowie in der Weberjehung 
italienifcher Ausdrüde. Ein Beifpiel des erfteren ift die Redensart 
der ma creschert — der ma calart — für der Mond nimmt zu 
— nimmt ab (Cimbr. W.⸗B., ©. 134). Sp fommen in der 
von Schmeller (S. 134) mitgetheilten Parabel vom verlorenen 
Sohne, neben parabola, degno, dalungo, compassiun, anca, 
noch mehrere Mifchwörter vor: 3.3. partiart, risolvärt, pen- 

(636) 


25 


sart u.m.a. Aehnliche Sprachmifchungen finden fi übrigens 
auch in einigen der 26 Ueberſetzungen bderjelben Parabel, im 
Stalder’8 „Landediprachen der Schweiz”. ine Nachbildung 
des Stalieniichen findet fih in dem — in der Einleitung zum 
cimbrifchen W.⸗B. angeführten — Spricdywort: Bear ghöt leise, 
ghät bait, iede dink bil de sain zait — Wer geht leije, gebt 
weit, jedes Ding will (die) feine Zeit. Der erfte Satz ift das 
(abgekürzte) italienijche Sprihwort: Chi va piano, va sano e 
chi va sano, va lontano. „Leije” ift die Ueberſetzung von 
piano, wie auch der Artikel im zweiten Satze dem il suo tempo 
entipricht; ebenfo heißt ed im der erwähnten Parabel: „der sain 
vater“ (il suo padre), wie dieje Ausdrucksweiſe auch ſonſt vor- 
fommt (Abhandl., S. 678). Dem JItalieniſchen nachgebildet find 
ferner die Ausdrücke: ich pin mich gapaichtet — mi sono 
confessato — ich han zo machen, italieniſch fard, aus ho mit 
dem Infinitiv fare (daf., S. 694), siget sich, si vede für man 
fiebt u. a. m. Bemerkenswerth ift namentlich die Ueberfegung 
der Snterjection lasso! mit Müdar! (daf., ©. 702, W.⸗B. s. v.) 
Das italtenifche lasso, müde, unglüdlich, wird interjectionell ge» 
braucht in der Nedendart Me lasso! und Ahi lasso! Letzteres 
tft in mehrere Sprachen übergegangen: franzöſiſch Helas (altfr. 
ha las, prov. ai las), englijch alas und alack, holländiſch helaas; 
man hätte aljo im Gimbrifchen ebenfalld eine Herübernahme 
des italieniſchen Wortes erwarten jollen, ftatt einer — nicht ganz 
zutreffenden — Ueberſetzung defjelben. 

Viele der im cimbrifhen Wörterbuche angeführten Wörter 
italtenifchen Urſprungs, die aber zumeift germanifirt find, ge- 
hören nicht der italieniſchen Schriftiprache, jondern einzelnen 
Dialekten an; manche berühren fidy mit deutſchen Wörtern. 
Dahin gehören: Beder für Metzger, Fondeg Kaufladen, vom 
paduaniſchen Beccaro, Fondego; Stival, Stivel für Stiefel; Roft, 
Gebratenes, brescianiich für arrosto, Kalamar, Dintenfaß (auch 


bei Zrifch I, 1620). In Zingerle’8 lucerniſchem Woͤrterbuche 
(637) 








26 


werden u.%. angeführt: Mostaz Geſicht, von Mostaccio, Matz 
Blumenitrauß, von Mazzetto u. a. m. 

Die bei fremden Wörtern jo haufig vorfommenden Abs 
Ihleifungen und Verkürzungen haben oft zur Folge, daß ur» 
prünglic ganz verichiedene Wörter ähnlich lauten. Viele der 
englifchen Puns und der franzöflichen Calembourgs beruhen auf 
dieſem lautlichen Gleichklang etymologiſch verfchiedener Wörter ?1) 
und fo findet fi auch ein Wortſpiel, dad auf der doppelten Be- 
deutung von schainen, jcheinen und „nachtmahlen” (wie man 
in Defterreich jagt), cenare, beruht, in folgender Stelle in 
Schmeller's Abhandlung (S. 625): 

„Soliloquium eines, vom Abendſchmaus heimfehrenden, 
Sleghers, während er über einen Steg ging, mit dem Bollmonde : 

Du mano, schainst; anch’ ich han gaschaint, 

Du mano, pist vol; anch’ ich pin vol, 

Du mano, ghöst; ich öch ghea — 

Un interdeme ist ar gavallet in ’z bazzar, umrumme är ist 
gabeest trunkhen.* 

Die Amalgamirung verjchiedener Sprachelemente findet na⸗ 
mentlich da ftatt, wo die Sprachen in einem verwandtichaftlichen 
Verhältniß zu einander ftehen. Das ift nun der Fall in Amerika, 
wojelbft in der That jomohl Sprachmiſchungen ald auch Mifch- 
ſprachen vorfommen, jo daß aus der engliihen Sprahe — an 
und für fi) eine Miſchſprache — neue Mifchungen hervorgehen. 
&8 liegt in der Natur der Sadje, daß in der in Nordamerila 
geſprochenen Spradye Wörter indianifchen, ſpaniſchen und fran- 
zöftfchen Urjprungs vorfommen — wenn audy vorherrichend nur 
in einzelnen Staaten der Union. Charakteriftiich find aber na⸗ 
mentlich die Wörter holländifchen und deutfchen Urjprungs, die 
zugleich mit der Sache, die fie bezeichnen, in der Sprache Auf- 
nahme gefunden. Zu den erfteren gehören: Knicker oder Nicker, 
Schnellkügelchen — auch oft Marbles genannt, zu Deutfd: 
Klicker, Kluder, Schuffer, auch Märbel; Cruller, eine Art zu⸗ 


(638) 


27 


fammengerollte8 Badwerf; Noodles, Noodlejees, Nudeln; Oly- 
cook, Oelkuchen; Paaseggs, Oftereier; Pinxter, Pfingften, oder 
vielmehr Whitsunday; Pinky (hol. pink), der Kleinfinger, be» 
jonders in der Kinderjprache vorfommend; Stoops (holl. stoep), 
Stufen zur Haudthüre, an Sommerabenden zuweilen ald Sitze 
dienend. Dazu kommt nody dad Zeitwort to snoop (boll. snoep, 
Schnupp, bei Schmeller II, 578) für nafchen. Zu diefen — vor» 
herrſchend gemüthlichen — Ausdrüden, gefellen fidy die deutichen 
Wörter und Dinge: Meerihaum für Tabaföpfeife (auch in Eng⸗ 
land gebräuchlich), Kindergarten; Kriss-Kringle, Chriftlindl; 
Santaklaus für St. Nicolaus®?); Kool-Slaa, Kohlialat, Sauer» 
fraut, und Lager, d. b. Lagerbier, ein Wort, dad mit der Sache 
jelbft von Tag zu Tag größere Verbreitung findet, wie übrigens 
auch Schenk-beer in Webster’s Dictionary angeführt wird. 
Ohne allen Vergleich zahlreicher find aber die englifchen 
Ausdrüde, weldye die in Amerika lebenden Deutichen auch in 
deutfcher Rede gebraudhen. Es ift natürlih, daß man Alles, 
was im täglichen Leben unzählige Mal vorfommt, auch mit dem 
einheimijchen Namen benennt, namentlid Dinge, die jpeziftich 
amerifanifch find, wie Bar-keeper, Basement (dad englijche 
oder engländilche Down stairs), Mantel-piece, Dry-good-store 
(Store ift da8 amerikaniſche Wort für dad englilche Shop), wozu 
dann viele juriftiiche und politiiche Ausdrüde fommen, wie 
Mortgage, Plate-form, Quorum und unzählige andere Wörter. 
In derjelben Weife gebrauchen nicht nur die in Frankreich 
lebenden Deutjchen franzöftihe Auddrüde, fondern auch in 
Deutihland gebraudt man für dieſelben Dinge franzöfliche 
Wörter, mit denen die in Amerika gebräuchlichen mehr oder 
weniger übereinftimmen, wie Season für Saiſon, Retail für 
Detail, Committee für Comite, Merchant-Taylor für Marchand- 
tallleur, während andere etwas verjchieden find; ſo jagt man 
in Amerifa Editor für Nedacteur, Office für Bureau, Bureau 


(ftatt des engländijchen Chest of drawers) für Commode. Andere 
(639) 


28 


dort gebräuchliche Ausdrüde find germanischen Urfprunges, wie 
Whole-sale ftatt En gros, Boarding-house ftatt Penflon, Side- 
walk ftatt Trottoir, Waiter ftatt Marqueur, welches Wort noch 
zudem an To wait, aljo daran erinnert, daß man troß bed 
„Right away, Sir! — All right, Sir!“ doch nody lange warten 
muß, bi8 das Berlangte fommt®®),. 

Mit bejonderer Vorliebe werden aber in deuticher Rede 
emphatifche Wörter gebraucht, wie das — eigentlich unüberjeg- 
bare — Loafer für Bagabund, Blower für Blagueur, Show 
für Parade oder Etalage, Upstart und Shoddy für Parvenu. 
Zu den emphatiſchen Ausdrüden gehört aud) Baas (oder Boos) 
für Herr, Meiſter. Diefed Wort gehört blo8 der amerikaniſchen 
Umgangsipracdhe an, kommt aber — Boss geichrieben — auch 
zuweilen in den Zeitungen vor, daneben aud ein Zeitwort to 
boss. Es ift diejed das holländiiche — auch in deutichen Volks⸗ 
ſprachen vorlommende — Wort Baas, das ebenfalld emphatiſch 
gebraucht wird, wie 3.3. in den Redendarten: Den Baas spelen, 
den ‚Herrn |pielen, Hij is een baas in het zingen, er tft ein 
Meifter im Singen. 

Beſonders aber find es zwei Lieblingdauddrüde, die in 
deuticher Rede jehr oft vorkommen — die einander entgegen« 
gejegten Adjective smart und green (grün). Smart wird in 
der Umgangsſprache ftatt des englifchen clever gebraudht, alſo 
auch für „geichidt, gelehrt, talentvoll”, vorherrſchend aber bes 
deutet e8 Flug, gewihigt, erfahren und bildet jo den Gegenſatz 
zu green, deifen Synonym, verdant, mehr in der Schriftiprache 
vorkommt. So hört man denn auch in deutfcher Rede: „Sa, 
damals war ich noch grün,” d. h. damals hatte ich noch feine 
Erfahrung, jebt freilich bin ich smart. „Ad, wie find Sie 
noch fo grün!" wird in demjelben Sinne gebraudit. Das von 
green gebildete Hauptwort ift Greenhorn; im engliſchen Slang 
Greenlander, im Holländifchen Groentje (oe = u audzufprechen), 
wie auch im Niederdeutihen — bei Dähnert, Richey und 


(640) 


29 


Schambach — Groenschnabel dem deutſchen Gelbichnabel ent« 
Ipriht. Greenhorn ift im englifcheamerilanifhen Sprachgebrauch 
ein Epitheton ornans des Deutfchen, der deutiche Eingewanderte 
ift eo ipso ein Greenhorn. Denn Amerika, jpeziell New⸗York, 
ift die Hochichule der Smartness, und fo blidt der eingeborene 
Yankee mit derjelben fouveränen Geringſchätzung auf den „Dutch- 
man“ herab, wie ein bemoofted Haupt auf den Fuchs, oder 
vielmehr wie ein alter Fuchs auf Einen, der e8 erft werden 
wid; denn der Yankee ift eo ipso smart oder wide-awake, 
welches lettere ebenfalls ein oft gehörter Lieblingdausdrud ift. 

Das holländtiche Groentje bezeichnet auch den eben erft 
Ausgefchifften; in diefem Sinne wird auch „grün” gebraucht, 
und drüdt jo eine gute Eigenjchaft aus — namentlid, mit Bezug 
auf Dienftmädchen. Amerilanerinnen treten nie in einen Dienft, 
bei dem häusliche Arbeit verlangt wird, jeded Dienſtmädchen 
ift alfo entweder eine Deutiche oder eine „Eiriſche“ (d. h. Ir⸗ 
länderin — Irish); „grün” tft nun eine foldhe, die man frifch 
bei ihrer Ankunft, nachdem fie faum da8 Land betreten, in 
Dienft genommen, wenn alfo die erftere direct aus Deutſchland, 
bie leßtere von Green Erin, der Smaragd-Inſel (Esmerald 
Isle), kommt. Aber, ach! dieſes hoffnungsvolle Grün verwelkt 
ſehr raſch. Schon nad) wenigen Wochen klagt die deutſche Haus⸗ 
frau: „Ah, ich bin fo excited, ich ärgere mich fortwährend 
über diefe chamber-maid — oder nurse, oder laundress — (da 
im Haufe felbft gewaichen wird); als fie in’d Haus kam, war 
fte ganz grün, jeßt aber ift fie independent,” d. h. fie ift nicht 
mehr fo dienftwillig wie früher. 

Außer unzähligen Wörtern werden aber auch engliiche 
Redensarten — namentlid) in bumoriftiihem Sinne — in 
deutfcher Rede angewandt, wie 3. B. I second the motion, idy 
bin mit dem Vorgeſchlagenen einverftanden; Help yourself, 
Bitte, bedienen Ste fich! (bei Tiiche gebraucht); Go ahead im 
Sinne des füddentichen „Schick' Dich!" (das genau dem franz. 


(641) 


30 


Depeche-toi entfpridht, übrigens au im „Gang nach dem 
Eijenhammer" im Sinne von „Sid anfdiden“ vorkommt); 
First rate and a half, um eine Sache als eine vorzügliche zu 
bezeichnen, oder — in gleihem Sinne — A number One; 
letzteres iſt eine von der Elaffification der Schiffe hergenommene 
Ausdrucksweiſe, die auch in England gebraucht wird, zuweilen 
mit dem — ſcherzhaften — Zuſatze copper-bottomed. 

Aehnlich wie in der Sprade der Cimbern, kommen hier 
ſowohl Nachbildungen, wie auch Germanifirungen engliſcher Aus- 
drücke vor, indem das engliſche Wort wie ein deutſches flectirt 
wird. So hört man ſehr oft: Kommen Sie einige Zeit (any 
time), halb nach 9 (half past nine), 10 Jahre zurüd (ten years 
ago), er fühlt beſſer (he feels better), id) hab’ meinen Meind 
aufgemacht (I made up my mind), ich kann's nicht helfen (I 
can't help it), er tft gut ab (well off, in guten Vermögens 
umftänden), er ift eine Million Dollar werth, er eignet fünf 
Häufer (er bejißt, he owns), er belangt zur Benevolent Society 
(he belongs). Die Nadbildung wie die Germanifirung findet 
namentlich da ftatt, wo der engliiche Ausdrud an einen deutichen 
anklingt, fo jagt man Gleichniß für Likeness (Bild, bejonderd 
von Photographien gebraucht), dafjelbe gefchieht mit den Zeit- 
wörtern. To fix (ein ſpezifiſch amerifanifcher Ausdrud für „in 
Ordnung bringen” — in der Schriftipradhe: to put in order, 
to adjust, to prepare), to mix, to settle (die Sadye tft ge 
jettelt, auch: er bat ſich angefettelt), to prize (fih nad dem 
Preis einer Waare erfundigen), to rent, auch das Hauptwort 
rent, für miethben und Miethe, to beat im Sinne von über- 
winden, übertreffen, to treat, traftiren — bafjelbe findet aber 
auch bei vielen anderen Wörtern ftatt. So hört man alfo: Er 
bat ihn geboten (übertroffen, befiegt), fie war jchön gedreßt (to 
dress), er bat ein Kalt gefeticdht (he has caught a cold), er 
bat mid) geräft (gefteigert — to raise) und viele ähnliche Aus- 


drüde. Manche derjelben berühren fidy mit mundartlichen oder 
(643) 


31 


älteren deutſchen Ausdrücken, fo wird z. B. im Mhd. „eigen“ 
(ahd. eigan) für „haben, beſitzen“ gebraucht, Gleichniß wird 
von Friſch (I, 352) mit Simulacrum überſetzt, „ein Häusle ge⸗ 
fixt“ findet fich bei Tobler (S. 177), auch „werth“ im Sinne 
von worth, kommt in einer Urkunde bet v. Schmid (Schwäbiſches 
W.⸗B., 528) vor: Jeder foll verfteuern, was er werth ift. 

Dieje „gemirte" Sprache gehört vorberrichend der Bolfs- 
ſprache an, oder vielmehr, fie ift die Sprache derjenigen, die 
weder die deutjche, noch die englifche Kiteratur kennen, und die 
jedenfalls erſtere Sprache immer nur gehört, nie gelefen haben. 
Der Gebrauch diefer Fufionsſprache fteht alfo im umgekehrten 
Verhältniß zur Sprache und Literaturfenntni, von Leuten, die 
von der engliihen Sprache fehr wenig verftehen, hört man 
auch: Millnerin für Milliner (Putzmacherin), ſchmale Bilder 
für small bills, Zumpenzuder für Lump-sugar, Altermann für 
Alderman, janft für soft, langſam für lonesome, particklich für 
particular, Mietung für Meeting, er kann's erfordern für he 
can afford it und Aehnliches. 

Nachbildungen des Engliſchen in franzöfiicher Sprache 
kommen in Canada vor, wie z. B. als Inſchrift an einem Hauſe: 
Boissons de toute description, alſo das engliſche Drinks of 
every description — wofür man übrigens in Amerika jagt: 
All kinds (sorts) of drink. 

Die Miſchung engliicher und deuticher Sprachelemente findet 
fich im beſonders entichiedener, durchgreifender und allgemeiner 
Weile in dem Idiom, das man Pennsylvania-Dutch nennt, 
d. h. in der Sprache der in Penniyldanien lebenden Deutfchen. 
Daß diejed Idiom mehr Einheit, Prägnanz und Gejchlofjenheit 
dDarbietet, alö die anderswo vorfommende Sprachmiſchung, hat 
darin feinen Grund, daß dafjelbe innerhalb großer Maſſenein⸗ 
wanderungen entitand. Es waren Zaufende von Pfälzern, die 
fi) gegen Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahunderts im 


Pennſylvanien anfiebelten, denen dann Einwanderer aud dem 
(643) 


32 


Elſaß, Würtemberg, Baden, Heſſen und Weftphalen folgten. 
&8 waren dad zumeift Landleute, die aljo die jüddentichen Dia⸗ 
lette jpradyen, wie denn audy dad Pennsylvania-Dutch Spuren 
der Einwirkung der verjchiedenen Mundarten trägt. 

Auch diefe Sprache tft eine bloß geiprochene; da wo fie als 
Schriftipracdhe auftritt, gefchieht e8 in humoriftiiher — alfo in 
bewußter und abfichtlicher Weile. Ich gebe in der Beilage ein 
Specimen derjelben aus einer pennſylvaniſchen Zeitung, d. h. 
aus dem Feuilleton und den Annoncen derfelben. 

Beiſpiele von Sprachmiſchungen ſowie einer Mifchiprache 
bietet auch die hebräiſche Sprache und die jüdiſche Literatur. 
Das Nomadenleben des Patriarchen Jakob war die Beranlaffung, 
daß ſchon in der Genefid (31, 47) ein zweiipradhiger Ortsname 
vorkommt; dafjelbe wiederholt fidy nun bei feinen Nachkommen 
und fo finden fi} jchon im Alten Teftament aramäifche, phöni- 
zifche, aſſyriſche, ägyptiſche, indiſche, perfiihe und griechifche 
Wörter und Gigennamen. Dad Leben ded jüdiichen Volkes ift 
ein Nomaden⸗ und Wanderleben und zu vielen Abjchnitten der 
jüdifchen Geſchichte würde als Meberjchrift die Benennung paffen, 
weldye dad zweite Bud Mofid bat — „Exodus.“ Auf allen 
— zumeift erzwungenen — Wanderungen aber war ed die 
Thora, die Sprache derjelben, die heilige Sprache und die Er» 
innerung an da8 heilige Land, weldhe die Juden überall hin 
begleiteten. Die Juden lebten in allen Ländern zerftreut, aber 
die hebräiſche Sprache, zugleich die Sprache der Ziturgie, bildete 
dad Band der Einheit, fie war auch die Schriftiprahe — und 
das um jo mehr, als die jüdijche Literatur eine vorherrichend 
religiöfe iſt während die Sprache bed Landes, in dem man 
lebte, die Umgangsiprahe war. Sm Talmud fommen viele 
bebräijche Wörter in anderen Formen und in anderen Bedeu⸗ 
tungen vor, ald im Alten Teftament, daneben aber aud, Wörter 
aus dem Aramäifchen, das einen Hauptbeftandtheil ded tal: 
mudiſchen Sdiomd bildet, und das felbft eine große Anzahl 


(644) 


83 


fremder Wörter aufgenommen, außerdem aber griechiſche, latei⸗ 
niſche, perfiiche und arabiiche Ausdrüde. 

Größeren Umfang bat aber noch die Sprachmiichung im 
den Commentaren und Wörterbüchern zur Bibel und zum Tal⸗ 
mud. Da die Sommentatoren und Lericograpben in den vers 
Ichiedenften Ländern lebten, alle aber die in Bibel und Talmud 
porfommenden Wörter in die der Landesſprache überjegten, um 
die beigefügte hebrätiche Erklärung verftändlicher zu machen; jo 
finden fih bier arabijche, perfiiche, türkiſche, neugriechiſche, fran« 
zöftiche, italienifche, ſpaniſche, provenzalifche und ſlaviſche Wörter, 
und jo enthalten dieje jüdiichen Schriften gar manches fonft 
verjchollene Wort der Volksſprache oder früherer Jahrhunderte. 
Andere im Mittelalter von Suden verfaßte Schriften find in 
arabiiher Sprache, aber in hebräiſcher Schrift gejchrieben; zu- 
weilen vereinigt Ein Wort beide Clemente, indem dem hebrät« 
ſchen Worte der arabijche Artikel vorgejegt wird, ebenjo werden 
im arabiichen Zerte Stellen aus der Bibel und dem Talmud 
in der hebräifchen Originaliprache angeführt. Dazu kommt, daß 
die arabıfhe Spradye viele griechiſche Kunftausdrüde aufe 
genommen hat; dieje griechtichen Wörter finden fi ſowohl in 
den arabifchsjüdifchen Schriften wie in den jpäteren hebräiſchen 
Ueberfegungen derjelben. 

Die deutiche Sprache ift in allen dieſen Schriften nur 
ichwach vertreten®*), dagegen bat fi) aus der Amalgamirung 
des Hebräifchen mit dem Deutichen eine eigenthümliche Mijch« 
iprache gebildet, gewiflermaßen ein weſtöftliches Idiom — die 
jüdifchdeutfche Sprache. Einen Hauptbeitaudtheil dieſes Idioms 
bildet das Hebräifche, und zwar find es zumeift die hebräiſchen 
Worte in der Bedeutung wie fie im Zalmud vorlommen, das 
neben viele im Zalmud vorfommende aramätiche Wörter. Es 
find das feine fremden Wörter, ed find vielmehr traute und 
liebe Belannte, erinnerungdreich wie Klänge aud der Kinderzeit, 


es find uralte, ureigene, heimiſche und anheimelnde Klänge, bes 
xx. 473. 8 (645) 


34 


deutungsvolle Loſungsworte. Hebräiſch find nun alle emphatt- 
ſchen Ausdrüde und ganz bejonderd diejenigen, die der Religion 
und dem inneren, dem Gefühlöleben, angehören. Das jüdiſche 
Leben früherer Zeit war ein tiefgemüthlicheö, weil zugleich ein 
beſchränktes. Die Außenwelt ftand dem Tuben feindlich gegen- 
über, feine Welt war die Religion mit ihren, zum Theil jehr 
finnigen, Ceremonien, das Studium der hebräiſchen Schriften, 
die vorherrichend tröftlichen, erbaulichen und erhebenden Inhalts 
waren, dad Familienleben, das felbft wiederum mit der Religion 
in innigem Zufammenhange ftand. ‚Die Erzählungen Leopold 
Kompertd und indbefondere die A. Bernftein’d, die das jüdilche 
Leben getreulfich abjpiegeln, reflectiren zugleid) das Gemüthliche 
defjelben, und denjelben Charakter hat auch die jüdifchdeutjche 
Sprache und Viteratur. So find ed denn aud) die dem Gemüths- 
leben angehörenden hebräifchen Wörter, die in dieſer Sprache 
und Literatur bejonderd häufig vorfommen. 

In diefe Kategorie gehören nun auch die von Dr. Abel in 
einem Bortrage dieſer Sammlung (VII, 158. 159) angeführten 
bebräijchen Wörter ahav, chesed, racham, chen. Dieſe Ausd- 
drüde fommen, wie im Alten Teftament jo auch im Zalmnd und 
in der jüdifchen Liturgie jehr häufig vor und fo auch im Jüdiſch⸗ 
deutichen. Der von Dr. Abel (S. 58) angeführte Vers Deut. 6, 5 
ift der zweite Vers in dem dreimal täglicdy wiederholten Haupte 
gebete, alſo ein jehr befannter. Andere dajelbft angeführte Bibel 
verje gehören zu den in der jüdifchdeutichen Umgangsipracdhe 
eurfirenden Redendarten, was man jeßt „geflügelte Worte” nennt. 
Dieſe geflügelten Worte fommen in der jüdiihen Sprache und 
Literatur häufiger vor als in irgend einer anderen; ſchon aus 
den zwei Erzählungen A. Bernftein’3 iſt zu erjehen, wie bei 
jeder Gelegenheit allbefannte biblifche oder talmudiſche Säbe 
in die Rede eingeflochten werben. Außer den angeführten 
Wörtern fommen aber im Südifchdeutichen weitere Bildungen 


und Modificationen vor, zumeift nad talmudiihem Sprady- 
(646) 


35 


— — — — — 


gebrauch, jo namentlich bei dem in vielen Ableitungen vor: 
fommenden racham. Ein von diefem racham gebildeted Haupt⸗ 
wort ift das talmudifche Rachmanuth, von Burtorf (col. 2239) 
mit misericordia, benignitas überfeßt; diefes Wort, Rachmonus 
ausgeiprochen, wird in der Bedeutung Mitleid, Erbarmen, zum 
Erbarmen im Südifchdeutichen fehr haufig gebraucht und fommt 
jo au in den Erzählungen Bernflein’3*°) mehrmals vor. Ein 
andere Wort deffelben Namens ift dad chaldäiſche Rachmana, 
der Allerbarmer, Crbarmungsvolle, die im Talmud gewöhnliche 
Benennung Gottes, die ald Rachmän auch im Arabiſchen Aufs 
nahme gefunden und neben dem ſynonymen Rachim in ber 
Eingangsformel aller Koranfapitel fowie aller arabiſchen Bücher 
(auh im Namen Abd-er-Rahman) vorfommt. Im Jüdiſch⸗ 
deutichen figurirt diefed Wort in einer au8 dem Talmud ftammen- 
den Redeweiſe für „Gott behüte!”, wie racham aud) in anderen 
emphatiſchen Ausrufungen vorfommt, jo 3.98. in „Gott ſoll ſich 
merachem jein!“ d. h. Gott fol fich erbarmen oder „derbarmen”, 
wie man im Jüdiſchdeutſchen — nach mittelhochd. und mund» 
artlichem Sprahgebrauh — fagt. Das häufige Borlommen 
diefer und vieler anderen Ableitungen des Worted racham ge⸗ 
hört mit zur Leidendgefchichte des jüdiichen Volkes. 

Die Wörter Chesed und chanan, dad zu Chen gehörige 
Zeitwort, find ebenfalls jehr befannt und fommen fo auch bei 
Bernftein vor, in den Sätzen: &8 ift ein Chesed (Gnade) von 
Gott, wenn Gott mich chonen ift (mich begnadet) und ähn- 
lichen. Das ebenfalls fehr befannte Hauptwort Chen kommt, 
wie in der Redensart „der Chen von Jossef”, d. h. die Anmuth 
Joſephs, fprichwörtlich, fo auch in dem Spricdyworte vor: „Chen 
geht über Schön”, d. h. Anmuth ift mehr ald Schönheit, wie 
davon auch als vox hybrida das Adjectiv chentig — anmutbig, 
lieblich, graziöss — gebraucht wird. Auch dad eigentliche Wort 
für Lieben, Liebe, ahav, ahavah ift ein oft gebrauchtes in den 


verfchtedenften Verbindungen vorkommendes. in anderes he⸗ 
zu (617) 


36 


brätiches Wort für lieben, begehren, Luft haben, nämlich chaschak 
und dad davon gebildete Hauptwort Cheschek kommen eben⸗ 
falls im Jüdiſchdeutſchen vor; für „Ich habe Feine Luft dazu* 
fagt man Ich hab’ fein Cheschek und ebenjo wird Chaschuka 
(gewiffermaßen ald Part. pass. des Zeitworted) im Sinne von 
Allerliebite, Geliebte — aber mit geringichäßiger Nebenbedeutung 
— gebraucht. 36) 

Mehrere der erwähnten hebräifchen Wörter kommen in 
Sätzen vor, die in die Sphäre der Religion gehören; im Jüdiſch⸗ 
deutſchen werden nun alle zu diejem Gebiete gehörenden Begriffe, 
die in den europäiſchen Sprachen zumeift durch griechiſche und 
Inteinifche Wörter bezeichnet werden, durch die urfprünglichen 
hebräiihen Wörter auögedrüdt, jo 3.3. die Ausdrüde für Reli⸗ 
gton, Engel, Satan, Teufel, Paradied, Gehenna, Sabbath, 
Pfingiten, Opfer, Priefter, Altar, Meſfias, Projelyt — für dieſe 
und andere Ausdrüde gebraucht das Jüdiſchdeutſche das urjprüng- 
liche bebrätfche Wort, von welchem das griechiſch⸗lateiniſche feinen 
Uriprung bat. 

Andere in dad religiöje Gebiet gehörige Begriffe werben 
durch deutſche Wörter audgedrüdt, das ift 3. B. der Fall bei 
der „Judenſchule.“ Das griechiiche Synagoge im Neuen Zeita- 
ment (Matth. 4, 23. 6, 2. 5 und oft), das auch die fyrifche 
Berfion mit Verfammlungsort wiedergiebt, wird von Kuther mit 
„Schule“ überſetzt und letzteres tft auch das im Jüdiſchdeutſchen 
gebräuchliche Wort für Synagoge. „Schule“ ift die Ueberſetzung 
des hebräifch-talmudiichen Kneseth, Verſammlung, wovon das 
arabifche Kants, Kanise in der Bedeutung Eynagoge, letzteres 
auch für Kirche. Das mhd. Schuole wird in Ziemann’d WB. 
mit „Zufammentunft” erflärt. Im Holländiichen bedeutet Scholen 
fi truppmeife verfammeln, wie School audy die Bedeutung 
Schaar, Haufe, Trupp bat. In demfelben Sinne ift School of 
fishes ein in England, provinziel in America allgemein ges 
braucdhter Ausdrud, wie wahrjcheinlich auch Shoal, to shoal, 


(648) 


37 


Berfammlung, fid verfammeln hierher gehört. Scuola tft auch 
das in Italien für Synagoge gebräuchliche Wort, und in dem⸗ 
felben Sinne gebrauchten ſchon im alter Zeit die franzöfifchen 
Suden das Wort Ecole (escole), wie aus Du Cange zu erjehen 
(III, 120 ed. Henjchel), woſelbſt nody Urkunden aus dem 12. und 
13. Sahrhundert angeführt werden, in denen Schola in der 
Bedeutung Synagoge vorfommt. Daß nun auch im Polniſchen 
die Judenſchule szkola zydowska heißt, ftammt wahrjcheinlich 
vom Sprachgebrauch der dortigen Juden ber. 

„Sr ißt die Schul’ mit fammt dem Almemor auf“ ift eine 
jüdiſchdeutſche Redendart. Lebtered Wort kommt audy in Heine’s 
NRomanzero (Prinzeffin Sabbath) vor: 

Stolz auffladern aud die Kerzen 

Auf der Brüftung des Almemor. 
Es ift dieſes das arabifche Almimbar (Minbar), Kanzel, das 
al8 Benennung einer Erhöhung inmitten der Synagoge bei den 
fpanifchen und franzöfiichen Suden im Gebraudy war, wie aus 
der Stelle eined Zalmudceommentard aus dem 12. Sahrhundert 37) 
erfichtlich ift. Das Wort ift and den romanifchen Ländern in 
das Füdifchdeutiche übergegangen, weldye Wanderung auch bei 
anderen Wörtern vorfommt, fo 3.8. benſchen für jegnen (franz. 
benir, provenzaliich benezir, ſpaniſch bendecir, altipan. bendicir, 
portugiefii benzer); Milgram für Granatapfel, altſpaniſch und 
prov. Milgrana; Barjen geſchickt, Virtuos vom altipanifchen 
Barragan, Held, tapferer, ftarfer Mann u. a. m. 

In das Gebiet der Religion gehört auch dad Lernen, 
worunter man im Südifchdeutfchen dad Studium der Bibel und 
ber talmudiſchen Schriften verfteht. Welche wichtige Rolle dieſes 
„Lernen“ ſpielt, ift wiederum aus den Erzählungen Bernitein’s 
erfichtlih, in denen auch mehrere hierher gehörige Ausdrücke 
vorfommen. Die Kinderfchule wird mit einem hebräiſchen Worte 
Cheder, d. h. Zimmer, Stube, genannt. Die höhere, d. h. die 


Talmudichule, heit mit einem talmudiſchen Ausdrud Bes (Beth) 
(649) 


38 


hamid-rasch, das arabijchstürfifche Medrese, Schule; der Schüler 
heißt Talmid (vom hebr. lamad, Lernen), das arabijch-türfifche 
Telmtd, wie denn überhaupt viele der im Jüdiſchdeutſchen ge» 
bräuchlichen Wörter auch im Arabifchen vorfommen. Auf diefe 
Weiſe berührt fich aud) das eine und das andere jüdifchdeutjche 
Wort mit dem Neugriechiichen. Der Mebger, Fleiſchhauer heißt 
im Talmud Kazzab, vom hebräiſchen Kazab hauen, zerichneiden, 
daffelbe Wort (nur etwas verſchieden ausgeſprochen) eriftirt auch 
im Jüdiſchdeutſchen für Mebger. Es entipricht diefed dem nen⸗ 
griechifchen Worte für Mebger, Xaoarıng vom arabifchstürfifchen 
Kassäb. 
| Die zum „Lernen“ gehörigen Zeitwörter find, wie dad Wort 
lernen felbit, deutic oder romaniſch; jo z.B. Knellen im Einne 
von Einpaufen, das als jüdiichdeutiches Wort auch in Grimm's 
Wörterbuch angeführt wird, tornen für wiederholen und fo 
mehrere. 

Ueberhaupt finden fi im Jüdiſchdeutſchen jehr viele Fremd» 
wörter aus der deutſchen Sprache, d. h. jebt fremd gewordene 
Wörter ded Altdeutjchen 3°) und zwar iſt e8 wiederum die Pietät 
und Gemüthlichkeit, welcher das Fortbeſtehen diejer Ausdrüde 
zugufchreiben ift, von denen viele an und für fi den Charakter 
des Gemüthlichen haben. Während das vrientaliiche Saläam 
alaikum die gewöhnliche Bewilllommnungsformel der Männer 
ift, begrüßt man die Frauen mit dem altdeutichen Sottwillfomm 
(Schmeller I, 961) wie fie jelbft auch mit diefem Worte den 
Anfommenden begrüßen ??). So waren nod) zu Anfang diefed 
Sahrhundertd auch die altdeutichen Berwandtennamen im Ge⸗ 
brauch; ſtatt Vater, Mutter, Tante, Großvater, Großmutter fagte 
man Xetti, Memme, Mümele, Harrle, Zrable, Ausdrüde, die 
jeßt nur noch in der deutſchen Volksſprache vorkommen (Schmeller 
I, 171, 1599, 1153, 804); daneben beftanden die altdeutjchen 
Perjonen-, namentlicdy Frauennamen, darunter mehrere derjenigen, 


die von Weinhold +0) ald Namen von Züdinnen aus dem 13. 
(650) 


39 





— 


und 14. Jahrhunderte angeführt werden. Es geſchah alſo aus 
Pietät gegen die Vorfahren, daß man die von ihnen gebrauchten 
Ausdrücke und Namen beibehielt, welches Fortleben des Alten 
allerdings auch durch das Abgeſchloſſenſein von der Außenwelt 
ſehr begünſtigt ward. 

So wie durch die aus Spanien vertriebenen Juden die 
ſpaniſche Sprache nach dem Orient verpflanzt wurde, wo fie noch 
jetzt von den dortigen Juden geſprochen wird, ſo iſt in gleicher 
Weiſe das Jüdiſchdeutſche die Sprache der Juden in den ſlavi⸗ 
ſchen Ländern und in Ungarn. In diefem Sdiome haben fid) 
fogar mande altdeutjche Wörter erhalten, die das in Deutſchland 
geiprochene Jüdiſchdeutſche nicht Tennt, während andere berartige 
Wörter beiden Idiomen gemeinſchaftlich find. 

Hierher gehört auch das, was Dr. Abel (S. 42, N.) mit 
Bezug auf dad engliiche like, das nhd. lichen, gelichen jagt, 
dab es im Neuhochdentichen ſich nur mundartlich erhalten (wie 
3. B. auch bei Schmeller I, 1423 „gleihen” im Sinne von to 
like angeführt wird), und daß man auch im Polniſchjudendeutſch 
— das viele Züge des Altfränfiichen bewahrt — fage: das ift 
fehr gleich für „das ift wahr und treffend und gefällt mir.“ 
Dieſes „gleich“ kommt nun aber im Jüdiſchdeutſchen überhaupt 
— auch in Deutichland — fehr häufig vor, wie auch der Gegen- 
fa deffelben „ungleih“" und deffen Synonyme „Frumm, um: 
gewendt.“ „Gleich“ bedeutet „ähnlich, paflend, angemefjen”, 
wovon „ungleich“ das Gegentheil auddrüdt.*1) So wird aud 
bei Schmeller (S. 1422) „gleich“ für „eben, gerade” und „un⸗ 
gleich“ in der Bedeutung „unpallend, ungeziemend, uman« 
a gemefjen” angeführt. „Sleichreden” bedeutet im Jüdiſchdeutſchen 
/ Etwas Witziges ſagen, ein „Gleichredner“ iſt Einer, der ſtets 

einen paſſenden Wit bei der Sand hat*?). Ein „gleich Woͤrtche“ 
— welcher Ausdrud aud bei Bernftein vorflommt+®) — ift die 
wihige und zutreffende Auslegung und Anwendung einer Dibel- 
ſtelle. Wit beruht auf Aehnlichkeit und fo wird „gleich” für 


(651) 


40 


„witzig“ gebraucht, wie ja „gleich“ und „Ahnlih” and ſonſt 
verwandte Begriffe find. 

Daß diefes „gleich“ ein Lieblingsausdrud ift, mag wohl 
anch darin feinen Grund haben, daß, wie in der biblijchen, jo 
auch ganz befonderd in der talmudiichen Literatur dad Maschal 
oder Gleichniß eine fehr hervorragende Rolle fpielt. „Womit ift 
dieſes zu vergleichen?“ ift eine ftehende Redensart der talmubi- 
ſchen Homiletit oder Hagada, was in den füdiichdeutichen 
Üeberfegungen derſelben mit „Zu was tft da8 gleich?“ wieder. 
gegeben wird. 

Die Aehnlichkeit zwifchen dem engliichen like, to like und 
bem beutfchen „gleich, gleichen“ hat übrigens, wie bei anderen 
Wörtern, fo auch bier eine Amalgamirung in der amerikaniſch⸗ 
deutichen Sprachweife bewirkt, indem „gleichen” im Sinne von 
„gefallen gebraudyt wird. Sehr häufig hört man „Wie gleichen 
Sie die Country?" für „Wie gefällt Ihnen das Land?*, „Sch 
gleidye das nicht” für „dad gefällt mir nicht”, „ich gleiche nicht 
zu tanzen” für „ich tanze nicht gerne” und ähnlidie Redens⸗ 
arten. 

Noch im vorigen Jahrhundert war Deutichland ein Wander» 
ziel vieler polnischer Juden; diefem Umftande ift es wohl zuzu⸗ 
ſchreiben, daB aud in dem in Deutichland geiprochenen Tüdijch- 
deutſch einzelne Wörter polnifchen Urfprunges vorfommen. So 
3. B. Schubez für Schaube, Kaftan der polniſchen Juden, 
polniſch Szuba; chodsche für „obſchon“, polniſch choc, daß 
auch in der Zigeuneripradye vorfommt (Pott’8 Zig. I, 315); 
prost in der Nedendart „ein profter (d. h. einfacher, gerader, 
anfrichtiger) Mann“; Parrach für Grind, Krätze, chappen für 
erbaichen, jchnell wegnehmen (polniiy chapa:). Die beiden 
legten Wörter werden auch in einem Auffage in Aufrecht-Kuhn’s 
Zeitichrift (I, 416. 421) als in beutichen, namentlich weft- 
preußifchen, Munbarten gebräuchlich angeführt. 

Im Zalmub kommen, wie bemerkt, viele griechifche Wörter 


(653) 


41 


por; einige derfelben haben ſich — aus dem Talmud herſtammend 
— aud im SFüdifchdeutjchen erhalten, wie 3. B. Epitropos für 
Bormund, Epicur ald Appellativum für Freidenfer und Kate- 
goros, Kategor in der aramäijchen Form des griechiichen Wortes. 
Lebtered, das im Neuen Teftament im Sinne von Ankläger öfter 
vorkommt, lautet in der ſyriſchen Verfion Kategrono und Katre- 
gono, das dazu gehörige Zeitwort ift Katreg. In demjelben 
Sinne fagt man im Südifchdeutfhen — nad talmudiichem 
Sprachgebrauch — „mekatreg fein” = Semanden anlagen, zu 
feinen Ungunften fpredhen. Ein griechiſch-aramäiſches Wort ift 
auch in der jüdilchdeutichen Redensart enthalten „a Parzef wie 
a Schunre*, d. h. ein Geſicht wie eine Kabe, von einen häß⸗ 
lichen Menfchen gebraucht. Parzef ift das aramäifche Parzufo, 
und dieſes ift das griechiiche Prösopon, Geficht. Außerdem 
fommen im SZüdifch-deutichen viele — wiederum aus dem Tal» 
mud flammende — ſyriſche Wörter vor. Die fyriiche Bibel: 
überjegung heißt befanntlich Peschito; dafjelbe Wort — peschite 
audgeiprodhen ++) — ift ein im Südifchdeutihen — nad tal- 
mudiihen Sprachgebrauch — jehr oft vorfommender Auddrud 
in der Bedeutung: Das ift einfach, Har, das verfteht ſich von 
jelbft. Perfiihen Urfprungs tft die Benennung bed ſ. g. Para« 
Diedapfeld mit Ethrog, das Esrog ausgeſprochen wird. 

&8 ließen ſich noch mehrere andere Beifpiele von Milch: 
fprachen und Sprahmifchungen anführen, allein ich fürchte, all- 
bereit8 die Grenzen eines Vortrags überfchritten zu haben. 


Das Folgende ift einer Zeitung entnommen, die in Doyleftaun, Penn. 

(d. b. Doyleftown in Bennjylvanien) erjcheint, oder vielmehr erfchien, denn 

wahrjcheinlich hat fie jeßt zu erjcheinen aufgehört; der Titel derjelben lautet: 

„Der Morgenitern, und Budd- und Montgommery Cauntries Berichter.” 

Hier heißt es alfo Caunties ftatt Counties und Zaun ftatt Town — 

bie Wörter alfo jo gefchrieben, wie fie ausgeſprochen werden; ebenfo: 
(653) 


42 


Waſchington, Taunſchip, Hilltaun (für Wafhington, Townſhip, Hilltown) 
und viele Ähnliche Germanifirungen der Schreibweife. Davon aber ab⸗ 
gefehen ift die Zeitung in gutem Hochdeutich geichrieben; nur zuweilen 
entſchlüpft dem Redacteur ein Anglictsmus, wie z. B. „Wir denken viel 
von Neutaun (we think a great deal of Newton wir halten große 
Stüde auf N.) oder Niegelweg ftatt Eifenbahn; wo aber eine vox 
hybrida vorkommt, wird fie mit Gänfjefühchen bezeichnet, wie 3. B.: 
Mie die Lady Snizwizzel „gedreßt” ift, jo möchte auch Mrd. Zimpel 
gedreßt fein — wobei aber natürlich abfichtlih dieſes Miſchwort ge- 
braucht wird. 

Sn den Annoncen — oder Advertifements — kommen "natürlich 
unzählige engliihe Wörter vor, auch Sätze wie „die Property ift ge- 
fenzt.* Daſſelbe ift nun auch bei den außerhalb Penniylvanien er- 
jcheinenden deutjchen Zeitungen der Fall, nur werben in dieſen die eng- 
liihen Wörter nach englifher Orthographie gejchrieben, während im 
„Morgenftern” wie die geographifchen Benennungen jo auch die Haupt. 
und Zeitwörter der Ausſprache gemäß gefchrieben find, alfo: Hupps für 
Hoops, Schtorfieper für Storekeeper, Budftohr für Bookstore, ge. 
ſchartert für chartered. Mebrigens ift‘, je nad) der Individualität der 
Advertiſers oder Annoncirenten, bie Schreibweile ſehr wechjelnd. Die- 
jelbe Ausdrucks- und Schreibweije finden fi übrigens auch in der zu 
Harrisburg erfcheinenden „PBenniylvanifchen Staatszeitung“ und in anderen 
Blättern. 

Bei den Advertifements im „Morgenftern” kommt es aber oft vor, 
daß der Anfündigende am Schluffe der Annonce plöglid — als humo⸗ 
riftiihe Captatio benevolentiae — in das Pennsylvania-Dutch über. 
geht, aljo gleichzeitig auc einen Sprung aus dem Hochdeutſchen in die 
Volksſprache macht, wie z. B.: „..... man glaubt gar nicht, daß ſo 
gute und prachtvolle Kleider fo wohlfeil verkauft werden können. Sagt 
ber Bit (Peter) am anderen Tage: „Wann fei Lebtag Leut mich geplihft 
han (von to please, mir gefallen haben, mid; zufrieten geftellt), warens 
die zweh Deutjhe, ih mehn der Blum und Tau in der Marktſtrohs, 
No. 202. Do hab id mir von denne a Suht (suite) faft, un nau 
(now) fühl ich fo ftolz wie a General.” „Wu war's?“ fchreit der Däv 
(David), „Ei, No. 202, Marktftrohe, Philadelphia”. „Well, loß der 
Stiem raus (let the steam out), do muß ich anne, un das heut nod). 
Hallo, verfahft numme nit Alles. Sch will ab noch a Biffel eppes.“ 
Ein anderer Schluß lautet: „So ruft denn bei und an (call on us), 
wir ftehen da mit aufgerollten Hemdärmeln und find determt (deter- 
mined, entjchloffen), Bissnes zu thun.“ Darauf folgt ein Berslein: 
„Drum kommt und ſeht unſre Saden, So fchön, fo neu, fo billig und 

(654) 


43 


gut, Kommt, wir wollen einen Bärgen (bargain) machen, der euch of 
kohrs am Beſten fuht (which, of course, will suit you the best.)” 
So wird ferner erzählt, wie Semand mit Bezug auf einen Wein-, 
Brändi⸗ und Liquörftohr gefagt habe: „Do will ih die Krummenoth 
friege, wenn do nit Trinke verfahft wert, dag ehm das Herz im Leib 
lacht. Do hab ih a Kalb Gläſel voll zu mir geichafft, das is nunter 
geriticht wie Del, un ich bin ufgejhumpt (to jump, gumpen bei Schmeller 
I, 914) wie a junger Herſch. Noch Geld frogen fie do gar nit, gebt 
ihne numme a kleh Biffel un’ fie jen geſätisfeit“ (satisfied). Ein anderer 
Schluß ift: „Sch geb nir ums Geld made (to make money), Alles 
was ich' will is: Bißneß thun. So fommt anihau (anyhow), id triht 
(treat) wie a Gentleman.” Die Ueberſchrift lautet: Alleweil kumm id. 
Eine andere Annonce mit der Ueberſchrift: „Guten Morgen, meine 
Sreundel” und mit der Anpreijung eines „Flintenſtohr“ jchliegt mit den 
Berjen: „Un bot dei Flint nit recht geichoffe, dann geh zum Wurflein, 
Ioß fie filfe (to fix), Sa bei dem Fannft du fie mache loffe, Er ift e 
Mebichter vun die Bikſe.“ 

Wie die americanijch-englijchen, jo Gaben auch die deutſchen Zeitungen 
fein befonderes Feuilleton „unter dem Strih*, und jo fteht aud in 
diejer Zeitung auf einer Spalte neben ben politifhen Nachrichten, alſo 
neben dem Hochdeutjchen, in pennfyloanifcher Mundart, der folgende Brief: 


Ein Xeben gerettet durch die Lieb in ber Wildniß. 

Raujender Dingerich vunem a 8565): Ich Penn dich net perjönlich, 
aber deine Zeitung lees ich ſchon von Kind uf, und unfer ganze Noch. 
barſchaft ſteht alle Mittwoch‘) uf dem großen Zehen und wart mit 
großen Schmerzen uf der Morgenftern. Ich hab ſchon fo viel gelejen 
von annern Leut un nau?T) heut mögen annere Leut ah mol Eppes *) 
leſen von mir. 

Ford allererft dät ich gern die Mäd wiſſe loſſe daß ich als noch *) 
ledig bin und im Sinn hab bald wieder mich mit fie einzuloffe..... 
Sch bin juft in meine befte Jahre, hab mein wilder Hafer gejaet?) und 
mei nädfte Soht’!) joll ſauber Stoff fein. Sechemal war ich ver- 
jprochen zu heirafpeln — viermol bin ich wieder ausgebädt 5?) un zwei 
Mol fin mein Mäd ausgebädt. Ehne von den Mäd tft ausgebädt, weil 
ein Buchpedler’?) der Weg kumma id un verfprocde bot fie zwei Tag 
eher zu beirathen dab ich ’*), die anner i8 ausgebädt weil jie geftorbe 
tft, jell5®) war ihr nit zu verdenken. In Illinois war ich inem a 
Inſching fein Tochter‘®) in Lieb geborzelt ). Nau die Mäd vun der 
Inſchenkrick?s), vom Hekfefop 5) un vum Krubsberg lachen nielleicht über 
mid, aber loß mich euch jagen ihr Mäd, ich will euch verzähle wie jo. 
Sch hab mich in der Wildniß verlore gehatt und mein fchöner brauchbarer 

(655) 








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Körper hät bald zum Supper for Wildfagen un Bären herhalte müffe 
— es war ſchon dunkelſchwarze Nat — über meim Kopf ben die Eule 
ihre Nachtlieder gebrummt, die Geier hen in den Bäume geflattert, uf 
einer Seite ben die Woͤlf uf ber anner Seit hen die Pänter gebrüllt 
un binner mir ben die Raffelichlangen®®) getanzt un die Musfieters 
ben prowirt®') an Sampmieting zu ftarten®?) uf meiner Nabe. Des 
werd mei lebte Nacht fei in der hölzerne Welt, hab id) gedenkt, un war 
juft räddy°®) zu verzweiflen, do hab ich vun Weiten an Licht erblidt. 
Sch bin druf zu, un find, daß es ein Inſching Hütt war*t). Ein alter 
Inſching un fein Tochter waren juft dran ein Pafjum zu broten*s) for 
ihr Supper. Wie der Alt mich erblict, bot er mir an paar faliche 
feurige Auge hingeworfe*s) un geht nodhy*T) feine Inſtrumente for mid) 
zu ſkalpire. Wie der Alt mir der Buckel gedreht hat, hab ich der Tochter 
mein freundlichfte Blick bingefchmifle, fie gebt mir der Wink, ich reich 
ihr die Hand, un eh der Alt mit dem Tomahawk zurüdfumme id, ware 
mir zwehs®) ſchun jo befannt, wie zweh Zwilling in der Schodel*®); 
die Tochter fpringt uf der Alt zu un wispert ihm Eppes ind Ohr, der 
Alt bot dann gleich der Kopp genudt?%), loßt fein Tomahawk falle un 
reiht mir die Hand. Nau waren mir drei bald die befte Freund. Sch 
hab mit Supper geflen un geplaudert daß wann”!) der alt Inſching 
mein Onfel wär. Darnad hab ich ihm mei Bottel gewe’?), er bot 
fleißig getrunfe un is bald eingefhlohfe un ich hab zu der Tochter 
getänd 7°) mit aller Plefihr. Do wor mir net getrumwelt?*) mit Lichter, 
Schockelſtühl's) un Carpets im Parlor, net gebattert?®) von Hupps 7”) 
oder 17 Unterröd, Teitläcing'e) um jeidne Drefjes?*). Die Inſching 
Tochter hot a ganz annere Dreß angehat un dort hen mir im Binnerfte 
Ed von der Hutt unjer Pla genumme uf e'me Haufen Bären- Büffel- 
un Paſſum⸗Häut, un fell hot mein Leben geret.*°) 

Nau Mäd, paßt uf, ich hab jeit jellemol nir gehat, aber ſobald 
daß mei neue Hoffe fertig fin Zum idy. Eddy. 


Anmerkungen. 


1) Das perfifhe Schäl ift eines der vielen Wörter, deren urjprüng- 
liche Bedeutung eine viel umfafjendere ift, als die bed entlehnten Wortes 
(Shawl), wie aud im Orient der Gebrauch des Kaſchemirſhawls fich 
auf weitere Kreife erftredt als im Abendlande. Sn einem perfijchen 
Gedichte zum Lobe Kaſchemir's (bei Wilken, Institut. ad fund. 1. pers. 
p. 211) beißt es: Fröhlich ſcherzend figen die Bewohner Kaſchemir's auf 
jeidnen Zeppichen. Alle find in Schäls gekleidet, die Vornehmen wie bie 
Geringen. 

(856) 


45 


2) Bei Firmenich (Germanien's Völkerftämmen III, 407) findet fi 
„Maschandmodladen“, Bei Schmeller (I, 1035. 1654 2. A.) heißt es, 
daß Marchande des modes nicht felten wie Mechante mode aus- 
gejprochen werde. 

3) Die heiligen Schriften der Parfen, II, LXIX. 

4) Aud) „Beefsteak“ — deſſen zweites Wort ebenfalld ein ger- 
manifches ift — heißt franzoͤfiſch Bifteck, bei Cherubini (Vocab. Mila- 
nese-Italiano) Biffstecch und Bistecch, neuarabiſch (bei M. Hartmann, 
Arabiſcher Sprachführer ©. 124) Biftek und Biftak. 

5) Statt Autumn gebraucht man in America das Wort, Fall“. Diefer 
poetijche, vom Fallen der Blätter bergenommene, Ausbrud, der übrigens 
auch einen hübfchen Gegenfat zum „Spring“ bildet, ift nun ebenfalls 
germanijchen Urjprunge. 

6) Urjprung der Sprache, Sonderabdruck ©. 50, Fleinere Schriften 
I, 293. 

7) Bor Kurzem bie es in einem Reiſeberichte der Münchener 
Allgemeinen Zeitung: Die Mafhine wurde geftoppt. So hört man auch 
oft von den Deutjchen in America: Die Inschein (Engine, Maſchine) ift 
geitoppt. Wie bei vielen anderen Wörtern begünftigte wohl auch hier 
die Aehnlichkeit mit dem deutſchen „Stopfen” den Gebraud des eng- 
lichen Wortes. Uebrigens wird auch bei Kittre stopper und „Stop!“ 
angeführt, Teßteres auch in den ruffiichen Wörterbüchern. 

8) Driver ift das in America gebräuchliche Wort ftatt Coachman, 
eben jo fagt man Stage (Abfürzung von Stage-coach) ftatt des in 
England gebraudten Bus (Omnibus), Car ftatt Waggon oder Wagon, 
Depot jtatt Station-house, Railroad ftatt Railway. Die Deutichen 
in Pennfylvanien Jagen — in Heberjegung des letzteren Wortes — „Riegel- 
weg“ ftatt Eijenbahn. 

9) So 3. B. im Journal asiatique, 1843, Nov. p. 365 ff. 

10) As-saläm tft — mit vorgefeßter VBerbindungspartifel — bie 
gewöhnliche Schlußformel der Briefe. Dieſes W’as-saläm wird nun 
auch in der Umgangsipradhe im Sinne von „Genug davon! Und damit 
basta!“ gebraucht, ebenfo Assaläm alaikum in ironiſchem Sinne für 
„Bedankte mich recht ſchön“, ähnlich dem franzöftjchen ironifchen Je vous 
baise les mains, oder je suis votre serviteur. 

11) Angeführt bei Krieg, Schriften zur allgemeinen Erdkunde, 
©. 263. 

12) Caussin de Perceval, Grammaire arabe vulgaire, 3. ed. 
p. 128, Humbert Guide de la convers. arabe p. 262, Delaporte, 
Guide de la conversation fr. arabe 3. ed. p. 41. 56. 79 ff., Dozy, 
Supplement aux dictionn. arabes I, 614, 

(657) 








46 


13) Guide frangais-arabe vulgaire, p. 627. 

14) Guide de la convers. arabe, p. 266. 

15) Supplement I, 807b. 

16) Dozy 1. c. I, 603», 

17) Zeitjchrift der D. M. G. XI, 484, auch bei Dozy II, 283*. 

18) Sm Journal asiatique findet fi irgendwo — ich erinnere 
mich nicht in welchem Sahrgange — eine längere Abhandlung über bie 
Ausſprache dieſes Gain (von ©. de Tafſy, wenn ich nicht irre). Die 

ewöhnliche Anficht ift, daß baffelbe wie ein R grasseye auszujprechen 
* in Shakeſpear's Hinduſtani-Dictionary heißt es (p. 1233), 
daffelbe werde ähnlich wie das R in Northumberland audgeiprocdhen, was 
wohl daſſelbe tft. 

19) Historia eccles. de la gran ciudad de Granada, pt. IV, 
cap. 84, fol. 2398, 

20) Sn einer Beichreitung Palermo's bei einem arabiſchen Autor 
aus dem 12. Sahrhundert, die Amari (Journ. asiat. 1845, Dec. 
p. 519 ff.) mittheilt, erzählt derſelbe (p. 522), daß die chriftlichen Damen, 
weldhe während feiner Anweſenheit in Palermo am Weihnachtsfeſte die 
Hauptlirche bejuchten, in ihrer Toilette durdhaus die Mode der Mob 
lemifchen Frauen nahahmten. Neben den Schmucgegenftänden umd 
Parfums wird nun auch der Gebrauch de Henna erwähnt. 

21) Das zum arabiihen Sakijah gehörige Zeitwort ift sakä, 
Tränten, in gleicher Weife ift vom hebräiſchen Zeitwort schakah, 
Tränfen, das Hauptwort Schoketh, Tränfrinne, gebildet, und dieſes wird 
in den betreffenden Bibelftellen (Gen. 24, 20. 30, 38) von einem jüdiſch⸗ 
arabifchen Meberjeger (dem ſ. g. Arabs —— mit Sakijah überſetzt. 
(Ebenſo im Wörterbuche Abulwälid’s p. 743, 3. 17), 

22) Cherbonneau im Journal asiat. 1855, Dec. p. 552. 

23) So z. B. in einer Stelle des Buches über Agricultur von 
Ibn Awwam in De Sacy’s Chrestomathie arabe (I, 226), wofelbft 
in der Note auch ber arabifche Urfprung von Agequia und Anoria 
erwähnt wird. 

24) Journal asiatique 1845, Janvier p. 114. 

25) Nämlich in dem hebräiſch⸗(talmudiſch⸗) ſpaniſchen Glossar bed 
David Cohen de Lara. 

26) Dschawäliki ed. Sachau p. 63, Lane WB. s. v. I, 1, 304°. 

27) „Ueber tie geographiiche Verbreitung des Zuckerrohrs“ in ben 
Abhandlungen der Berliner Akademie der voilfeniaften 1839, ©. 359.376. 

28) Sachau zu Dschawäliki, Anmerlungen p. 15 zu ©. 29 des 
Textes. Nah E. W. Lane s. v. (I, 217°) ift Baitar ein echt ara⸗ 
biſches Wort vom Zeitw. batara, Ichneiden. 

29) Vestigios da lingua arabica em Portugal p- 54. 

30) Sn den Abhandlungen der I. Claſſe der Akad. der Wiſſenſch. 
II. Th. III. Abth. 

31) Auch im Stalienifhen begünftigt die Abjchleifung und Ber- 
kürzung der urfprünglichen Wörter mandyes Bisticcio oder Wortipiel, 
fo 3.8. 87, 77, 22, d.i. „OÖ tanta sete!* „Se tanta sete, vin’ti do“ 
(vintido venezianiſch für venti due). 

32) So auch bei Schmeller I, 5722 und in Grimm's WB. V, 
1035 (u. Klaus). 


(658) 


47 


33) Sm Londoner Punch war ein Mal ald Grabfchrift eines 
Waiters zu lejen: „Coming, Sir, coming!“ 

34) einem bei Brodhaus (1882) erfchienenen Buche „Jüdiſch⸗ 
deutſche Chreſtomathie“ habe ich aus einigen Dritten lexicaliſchen und 
exegetiſchen Inhalts — darunter zwei ganz unbekannte Handichriften — 
Auszüge gegeben, in denen jehr viele, jeßt verjchollene, mittelhochdeutſche 
Wörter und Wortformen vorfommen, ſowie auch aus den romanijchen 


Spraden. 

35) Vögele der Maggid (ed. 1870) p. 21, Mendel Gibbor p. 37 
und an anderen Stellen. 

36) Das Zeitwort chaschak, fo wie das Hauptwort Cheschek 
fommt — wie aus Gesen. Thes. p. 536 zu erjehen — öfter in ber 
Bibel vor, die Participialforın Chaschuka ift eine ſpezifiſch jüdiſch⸗ 
deutfche, die weder in der Bibel nob im Talmud vorflommt. Gin im 
Zalmud fehr oft vorfommender Ausdruck ift Chibbah für Liebe, Wohl- 
wollen, Chabib für Geliebter, Sreund, von dem hebräifchen, nur ein Mal 
vorfommenden, Zeitwort chabab, im Arabifchen (chabba) das gewoͤhn⸗ 
lihe Wort für „lieben” (cf. Ges. thes. p. 437). Dieſes Chibbah fommt 
nun auch in den jüdiichdeufchen Schriften häufig vor. 

37) Cf. Wagenseil Sotah p. 1133. 

33) In der erwähnten Chreitomathie kommen jehr viele dieſer Wörter 
vor, darunter auch, in den Bibelüberfegungen (S. 98. 99), das oben 
erwähnte „Botenbrod”, als Ueberſetzung des hebräiichen basser, besura, 
en Wr oben angeführten arabijchen Bischara, vom Zeitwort baschara, 
entſpricht. 

39) 8° Gott's Willkumm in L. Komperts „Dorfgeher“ (Ed. 1866, 
S. 7. 9. 11) und in anderen Erzählungen deſſelben, in Moſenthal's 
„Jephtha's Tochter” (in der Sammlung von Paul Heyſe und Leiftner 
©. 32) „Godelkum“; diejed entfpricht dem „Gotlkum“ in Schöpfs tiro- 
liſchem Spioliton (unter „Gott“, ©. 202). 

40) Die deutichen Frauen in dem Mittelalter, 2. A. I, 27. 

41) „Ungleich* für „unpaffend, ungeziemend“ fommt audy in der 
erwähnten Chreftomathie (S. 564) vor, und zwar in einer Stelle des 
„Jüdiſchen Theriak“, einer Gegenſchrift gegen den „Abgeitreiften Schlangen» 
balg” von S. Brenz. 

42) Zu einem foldyen „Sleichredner" ſagte ein Mal Semand, er 
möge doch Etwas „gleich reden”, worauf Sener: „Krieg die Kränk!“ 
(eine in Sranffurt und Umgegend ſehr gemöhnlidye Berwünigung). „Sol 
das gleich fein?" „Nein, e8 braucht nicht gleich zu jein, meinetwegen 
erft in einem Jahr.“ 

43) Mendel Gibbor, ©. 13. 14. 17. 22 und jonft nod). 

44) Bei Moſenthal (a. a. D. ©. 18) „pschide*; Mojenthal kannte 
dieſes judifchdeutiche Wort — wie nody viele andere jüdiſchdeutſche Aus- 
drüde — nur vom Hörenjagen; er wußte nur, in weldem Sinne ohn- 
gefähr taffelbe in der Rede gebraucht wird, der Urfprung und die eigent- 
lie Bedeutung defjelben war ihm unbefannt. 

45) Löb tft der Name des Retacteurs; Dingerich ift nach Kehrein 
dafjelbe, was „der Ding“ bet Schmeller (I, 520), Weinhold (Beitrag zu 
einem ſchleſ. WB.) führt die Rebensart an: a Dingrih is a Lögejäd 
(Lügenjad?). „Raufen” babe ich nirgends gefunden. 


(659) 


8 _ 


46) Der „Morgenftern” ift — ober war — ein Weekly, ein 

wochennich ein Mal erſcheinendes Blatt. 
47) now. 48) Etwas. 49) im 

30 l have sowed my wild oats, ich habe bie wilden ugenbjahre 
audgetobt 
51) Saat. 52) to back out, zurüdtreten. 
2 Bookpeddler. 54) als ich (than I). 
55) Selbiges (Schmeller II, 259. 263). 

56) in die Tochter eines Fndianers (Indian). 

57) fallen in love. 

58) Indian creek, eine Drtöbenennung. 

59) Herentopf, wahricheinlic bie —*8 eines Orisnamens. 

60) Klapperſchlange — rattle-snake. 

61) Die Mosfitos haben probirt. - 

62) to start a Camp - meeting, letzteres ift der befannte Name 
(ir die unter freiem Himmel gehaltene Berfammlung zu religidjen Zwecken, 
bet den Mormonen: Wood-meeting. 

63) I was just ready. 64) an Indian hut. 

65) ein Possum zu braten. Possum ift die in America übliche 
Abkurung von n Opossum (Benteltbier). 

66) ... Augen (Blide) zugemorfen. 

67) nad). 68) wir wei 69) Wiege, Schaufel. 

70) den Kopf genidt. 71) als wenn, als ob. 

72) meine —* (Bouteille, Bottle) gegeben. 

73) to tend. 

74) troubled. 

75) Scyaufelftühle, Rocking-chairs. 

76) not bothered. 

77) Hoops. 

. 78) tight lacing. 
79) feidene Kleider (Dress). 
80) gerettet. 


Wer den pfälzer Dialekt kennt, wird in dem Obigen viele Wortformen 
und Redewendungen als alte Belannte begrüßen; nur zuweilen entſchlũpft 
bem Schreiber bed Briefes — dem auch die Schriftiprace nicht fremb 
tft — eine hochdeutſche Form oder Schreibweife. Neben der pfälzer 
macht fidh aber auch der Einfluß ber ſchweizer (elemanifhen) Mundart 
bemerkbar; dahin gehört „daß” für „als“ (Tobler S. 131, Hunziker Aar⸗ 
gauer Woͤrterbuch ©. 46), „der“ als Accufativ statt „den“ (Stalder, 
be Fanbealpragen der Schweiz, ©. 80); „ben" für „haben“ (Stalber 
daf. ©. 123 

Das Shecimen bes Pennsylvania-Dutch bei Firmenich (TII, 445 ff.) 

iebt durchaus fein getreues Bild dieſes Idioms, auch kommen allzuviel 
— Woörter darin vor, wie auch einzelne Wörter unrichtig er⸗ 
rt werden. 


(660) 


Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. 17a. 


In demfelben Verlage find erſchienen: 


Der Kindergarten, 


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I. Theil: Die Befhäftigungen des Kindergartens. (Mit 60 Tafeln Abbild.) 
Dierte Auflage 4 M. 20 Pf., geb. in Drig.-Band 5 M. 60 Pf. 


III. Theil: Gymnaſtiſche Spiele und Bildungsmittel für Kinder von 3—8 Jahren. 
Für Haus und Kindergarten. 3 M. 60 Pf., geb. in Drig.-Band 4 M. 80 Pf. 


IV. Xheil: Die ſprachlichen Bildungsmittel für Kinder von 3-8 Jahren. Ir 
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b) Für 2 Violinen. Preis a Heft 2 M. 
c) Yür Violine mit Begleitung des Pianoforte. Preis 
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Bas Werk iſt bereits in der „Uenen Aullak'ſchen Akademie dee Tonkunf“ 
und im „Stern’fhen Eonferuatorinm‘ zu Berlin als Lehrſtoff eingeführt. 





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In den früheren Serien der „Sammlung“ erſchienen: 


Sprachwiſſenſchaft. 
(15 Hefte, wenn anf einmal bezogen à 50 Pf. = 7,50 Mark.) 

bel, Weber d. Begriff der Kiebe in einigen alten u. neuen Spracdhen. 158/159) 1.20 
Bezold, Ueber Keilinfhriften. (425) . >» 2 2 2 Er nne 60 
Brugfch, Veb. Bildung n. Entwidi. d. Schrift. M.e. Taf.i. Steindr. 2. Abz. (64) 75 
Danuehl, Weber niederdeutihe Sprache und Literatur. (219/220). . . . 1.20 
Devantier, Ueber die Lantverihiebung und das Verhältniß des Hochdeutſchen 

zum Niederdeutihen. Mit einem Holzſchnitt. (376). - 2.2. ch — 
Ebers, Weber d. hieroglyph. Schriftſyſtem. Mit vielen Holzſchn. 2. Aufl. (131) 80 


Lefmann, Weber deutſche Rechtſchreibung. (129) . 20 nn. 60 
Meyer, ©. Herm., Stimm: und Spradhbildung. 2. Aufl. (128). . . 60 
Ofthoff, Das phyſiologiſche und pfychologiihe Moment in der ſprachlichen 
Kormenbildung. (327) . > > 2 2 Er rennen er ch — 
—, Schriftſprache und Volksmundart. (41.77. nenne 30 
Noeſch, Ueber das Weſen nnd die Geſchichte der Spradhe. (172). -» .» . 60 


Schrader, Thier: und Pflanzengeographie im Kichte der Sprachforſchung. (427) 60 
WER Beitellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. "ugf 


Brrlin SW., 33 Wilhelmftraße 33. 
Carl Babel. 
(C.G.Lũderitz'ſche Verlagsbuchhandlung.) 













Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlidher Vorträge, 
herausgegeben von 


Nud. Virchow und ir von  Bolgendorft- 


XX. Serie. N 
(Heft 437 — 480 urhfaffend). 5 1:1) | 


N 
N 


un 
















R7 
N. 


Heft 474. 


Die Liebe der Blumen, 


Bon 


Dr. A. Nagel. 


Mit 10 Holzſchnitten. 


GH 


Berlin SW., 1886. 


Berlag von Earl Habel. 


(C. 5. Yüderitg'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm- Straße 33. | 


IB SS wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. “ug 


Einladung zum Abonnement! 


Die Jury der „Internationalen Ausftellung 
a von Gegenftänden für den häuslichen und 
A gewerblichen Bedarf zu Amfterdam 1869“ 
| hat dieſen Vorträgen, die 
Goldene Medaille 
zuerfannt. 








Bon der XX. Serie (Jahrgang 1885) der 
Sammlung gemeinmverjländlicher 


wiffenfhafllider Borfräge, 


herausgegeben von 


Rud. Birdiom und Sr. v. Holtzendorff. 


Heft 457 — 480 umſaſſend (im Abonnement jedes Heft nur 50 Yfennige) 
fiud erfchienen: 
Heft 457. Wasmansdorff (Berlin), Die Trauer um die Todten bet den 
verjchtedenen Völkern. 
„ 458. Pilgrim (Ravensburg), Galtlei. 
„ 459. Goetz (Waldenburg b. Baſel), Die Nialdfaga, ein Epos und das 
germanifche Heidenthum in feinen Ausklängen im Norden. 
„ 460. ehumannı (Berlin), Marco Polo, ein Weltreifender ded XIII. Sahr- 
underts. 
„ 461. Debel (Heinersdorf), Die Stellung Friedrichs des Großen zur Humanität 
im Kriege. 
„ 462. Engelhorn (Maulbronn), Die Pflege der Irren fonft und jegt. 
„ 463. Möſch (Heilbronn), Der Dichter Horatiud und feine Zeit. 
„ 464. Hoffmann (Gera), Der Einfluß der Natur auf die Kulturentwidiung 
der Menſchen. 
„ 465. Czekelins (Hermannftadt), Ein Bild aus der Zeit der Gegen: 
reformation in Siebenbürgen. 
466. Frensberg (Saargemünd), Schlaf und Traum. 
467. Zſchech (Hamburg), Giacomo Feopardi. 
468. dv. Bittel (München), Das Wunderland am Bellowftone. 
469. ufienhardt (Hamburg), Aus dem gejeligen Leben des XVIL Jahr- 
underts. 
470. Gerland (Kafſel), Das Thermometer. 
471. Trede (Neapel), Das geiftiihe Schanſpiel in Süditalien. 
472. Hofmann (Graz), Das Blei bei den Völkern des Alterthums. 
473. Grünbaum (München), Miſchſprachen und Sprachmiſchungen. 
474. Nagel (Berlin), Die Liebe der Blumen. Mit 10 Holzſchnitten. 


Vorbehaltlich etwaiger Abänderungen werden jodann nad nud nad au: 
gegeben werden: 


Kronecker (Berlin), Die Arbeit des Herzend und deren Quellen. 
Dames (Berlin), Geologie der norddentidhen Ebene. 

Miünz (Wien), Leben und Wirken Diderots. 

Virchow (Berlin), neber Städtereinigung. 

Zreichler (Züri), Politiſche Wandlungen der Stadt Zürich. 
Sommer (Blankenburg), Die pofitive Philofophie von A. Comte. 
Alsberg (Kafje), Die Anfänge der Eitenkultur. 

Dondorff (Berlin), Kaifer Otto III. 


De —— 


Die Liebe der Blumen. 


Bon 


Alrser ww: ( Blu a 4 
Dr. A. Hagel. 


Mit 10 Holzſchnitten. 


GH 





v 
KSerlin SW., 1885. 


Berlag von Carl Habel. 


(€. ©. Zührrity'sche Berlagsbuhhendlung.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


Das Recht der Ueberfegung in frembe Sprachen wirb vorbehalten. 


Wie Alles fih zum Ganzen webt!.. 


Seit Sabrtaufenden erfreut fich die Menſchheit am Anblid 
der farbenprangenden Kinder Floras, hat fie diefer Zuneigung 
im Liede den innigften Ausdrud verliehen; bot doch das Ent- 
falten, Blühen und Vergehen der Blumen ein fprechendes Abbild 
des eigenen menjchlichen Lebens. Bezeichnen nicht die friichen 
Kränze, mit denen die glüdlicdhe Sakuntala fih ſchmückt und die 
wellenden Veilchen der armen Ophelia beſſer ala Worte die Ende 
punkte auf der großen Skala unferer Empfindungen? — 
Bei aller Verehrung für den jährlich fich erneuenden Schmud 
der Erde indes kam das Altertum wie das Mittelalter über 
das bloße Anfchauen der blühenden Gewächſe kaum hinaus. 
Soweit fie nubbringend waren oder ſchienen, wurden fie beach» 
tet, im Uebrigen ließ man ſich an ihrer Schönheit genügen. Eine 
botaniſche Wiſſenſchaft datirt erft au8 dem Beginn der Neu⸗ 
zeit; ſpeziell das Kapitel, welches den Gegenftand diefer Skizze 
bildet, und das noch weit davon entfernt ift, ausgebaut zu fein, 
gehört erft den Iehten zwanzig Jahren an. Es behandelt, kurz 
ausgedrüdt: die Befrudtung der Blüthen durch Beihilfe 
der Inſekten. Sch hätte alfo dieſen oder einen Ähnlichen Titel 
als Aufjchrift wählen können, zog es aber vor, dem Beiſpiel 
Dodel⸗Port's („SMuftrirtes Pflanzenleben“) folgend, dafür den 


xx, 474. 1? (663) 


4 


Ausdrud „Liebe der Blumen” zu feßen, der den Kern der Sadıe 
volllommen trifft. 

Zwar ift e8 ohne Zweifel ein ungeheuer Weg von den erften 
Spuren der Entwidelung der beiden Geichlechter, vom Ber 
ſchmelzen zweier einfachen Algenfäden bis zu Romeo's und Julia's 
Umarmung, aber er ift ftetig und feine Kluft unterbricht ihn. 
Hier wie dort im Grunde: 

Nothing but love, 
Take it for all in all 
eine befannte Stelle „Hamlet’8° vartirend. 

Eine ansführlide Rechtfertigung des gewählten Titels 
würde bier zu weit abführen, ich verweiſe in dieſer Beziehung 
auf das oben genannte Werl. Noch bemerfe ich, daB ber Aus: 
drud „Blumen“ bier im landläufigen Sinne gebraudt ift, alfo 
alle mehr oder weniger durch Farbe, Duft u. |. w. ausgezeichnete 
Blüthen begreift; die Blüthen der Nadel⸗ der meiften Laub⸗ 
hölger, der Graͤſer find ganz ausgefchloffen. Bevor wir unjerm 
Thema näher treten, haben wir und über einige allgemeine 
botaniſche Ausdrüde zu verftändigen, jelbitredend uns auf dad 
Nothwendigfte dabei beſchränkend. 

Zerlegen wir 3. B. eine ber leicht erreichbaren Blüthen 
einer Hahnenfußart (etwa Ranunculus Ficaria), jo zeigt bie 
gelbe aus 5—10 Blumenblättern beftehende Blüthe, umgeben 
von dem grün gefärbten dreiblättrigen Kelche im Innern einen 
Kreid zahlreicher fadenförmiger Gebilde am obern Ende Tolbig 
verbict, die Staubfäden mit den Staubbeuteln (Antheren), 
welche den die Befruchtung bewirkenden Blüthenftaub oder Pollen 
erzeugen. 

Die Mitte nimmt eine Gruppe dichtgedrängt aufgewachſener 
anderögeftalteter Organe, die Griffel, ein, an ihren Spigen 
mit der Narbe (Stigma) verjehen, welche zur Aufnahme des 


(064) 


5 


Pollens beftimmt if. Das untere Ende der Griffel wirb von 
den Fruchtknoten gebildet, worin, nad erfolgter Beftäubung 
der Narbe durch den Pollen, die im Innern angewachienen 
Samentnojpen befruditet werden und fi) zum Samen aus⸗ 
bilden. Am Grunde jedes Blüthenblattes finden wir bier eine 
kleine Schuppe angeheftet, welche ein bonigführendes Grübchen, 
dad Nectartum, bededt; derartige Honigbehälter finden fich in 
den mannigfachften Formen bei den verfchiebenften blühenden 





Figur 1. 


Gewächſen audgebildet, ihre Bedeutung für diefelben wird weiter 
unten erörtert. — Cine wie die obige zufammengejebte Blüthe 
nennt man eine Zwitterblüthe, die Staubgefäße repräfentiren 
die männlichen, die Griffel mit den Narben die weiblidhen 
Organe. Blüthen, welche nur die eine Art der genannten Ge⸗ 
bilde enthalten, find aljo rein männlidy oder weiblih. Sehr 
verfchteden in ihrer Form find bei den einzelnen Pflanzenfamilien 
namentlich die Narben auögebildet; Fig. 1 zeigt vier verjchieden 
geftaltete (vergr.), I ift die der Erle, II des Weizend, ILL der 
Weide und IV der Teichroſe. Wie man flieht, find I und U 


(665) 





6 


troß bedeutender Unterfchiede in der allgemeinen Anlage nody 
miteinander vergleichbar, ebenjo III gegen IV. Dagegen iſt der 
Abitand des erften vom zweiten Paar ein außerordentlicher. 
Wir kommen hierauf noch einmal zurüd. 

Einer höchſt wichtigen Erſcheinung im Leben der Blüthe 
müfjen wir bier erwähnen, der Dichogamie. Man begreift 
unter diefem Namen die Thatſache, daß bei Zwitterblüthen die 
Entwidelung von Antheren und Narben nicht gleichzeitig, 





Figur 2. 


vielmehr in zwei Perioden erfolgt, und zwar reifen bei den 
meiften Blüthen zuerft die Staubbeutel, fpäter die Narben. 
Da eine folhe Blume im früheften Stadium einer rein männ- 
lichen, gar nicht mit Narben verfehenen Blüthe gleicht, io bes 
zeichnet man diefen Fall der Entwidelung ald Proteranpdrie; 
der feltenere, dad frühere Reifen der Narbe wird Protero⸗ 
gynie genannt. Die Fig. 2 ftellt eine proterandriidhe Blume, 
eine Nelfe, dar, in I ift fie rein männlich, in II rein weiblich. 
Die Erflärung diefer Einrichtung ift erft von Darwin gegeben 
worden, der als der Begründer der Lehre von der Befrudtung der 


(666) 


7 


Blüthen durch Infeltenvermittelung angejehen werben muß, trotz 
der weit früheren Beobachtungen eines deutichen Botanikers 
Konrad Sprengel. Darwin folgerte aus zahlreichen forg- 
fältig angeftellten Verſuchen: „daß Fein organifches Weſen ſich 
eine unbegrenzte Zahl von Generationen hindurch durch Selbft- 
befruchtung zu erhalten vermag, fondern daß gelegentliche, wenn 
auch oft erft nach langen Zeiträumen erfolgende Kreuzung 
mit getrennten Individuen unerläßliche Bedingung für bauernde 
Sorterhaltung tft." (Ueber den Urfprung der Arten ꝛc.) Bei 
gleichzeitig fich entwidelnden Antheren und Narben — fofern 
nicht, wie bei der unten zu befchreibenden Veronica Chamaedrys, 
die gegemjeitige Stellung der Organe eine Selbitbefrudytung ver» 
hindert — liegt die Gefahr nahe, daß der Pollen die Narbe 
berjelben Blüthe befruchtet. Bei einer Einrichtung aber, wo die 
Narben noch nit empfängnibfähig find, wenn die Antheren 
bereit8 ihre Reife erlangt haben, ſchadet Beftäubung nicht, da der 
Pollen in diefem Yale unwirkſam bleibt. In dem jpätern 
Stadium der Narbenteife find dann die Antheren bereitö ver- 
welt und unwirkſam, die Narbe dagegen bereit, den von ber 
ſuchenden, nach Honig ſpürenden Inſekten aus füngern, noch 
männlichen Blüthen derfelben Gattung verfchleppten Pollenftanb 
aufzunehmen. Entiprechend erflärt fich der Nuten der Dichogamie, 
Degünftigung der Kreuzung, bei proterogynen Pflanzen. — Alle 
diejenigen blühenden Gewächfe, welche, zum Zwecke der Beftäu- 
bung ihrer Narben mit Blüthenftaub eines andern Individuums 
berjelben Gattung, der Bermittelung der Inſekten als unbe: 
wußter Berichlepper und Ueberträger des Pollend bedürfen, wer- 
den als Snfeltenblüthler oder entomopbile Pflanzen zu- 
lanrmengefaßt; die, welche, wie die Nadelhölzer, viele Laube 
bäume, die Gräſer, ihren Pollen durch den Wind fortführen und 


auf die Narben anderer Sndividuen verftänben laflen, heiten 
(07) 


8 


Biudblüthler oder anemophile Pflanzen. Ich verweile noch 
einmal auf Fig. 1, I und II (Erle und Weizen) find die Narben 
von Wind», III und IV (Weide, Teichroſe) von Infeltenblüthlern. 
Es ift jebt verftändlich, warum I und IL, namentlich dad letere, 
eine verzweigte, federartige Narbe befiten, diefe Form bietet 
offenbar dem ftäubenden Pollen zahlreiche Anhaftepläße bar, die 
Narbenäfte des Weizend wirken geradezu als ein feined Sieb, 
dad die Luft durchläßt, die Pollenkörner zurüdhält. Bet III 
und IV dagegen, die darauf eingerichtet find, daB der haarige 
Körper von Inſekten mitgebradhten Pollen darauf abftreift, 
würde eine derartige Berzweigung der Narbe nicht am Plate 
jein. Auch der Blüthenftaub ift in feiner phyfikaliſchen Bejchaffen- 
heit verjchieden, je nachdem er wind- oderinfettenblüthigen Pflanzen 
entftammt: während die erfteren ſtets trodnen, leicht verſtäuben⸗ 
den Pollen führen, den fchon ein mäßiger Wind fortzuführen im 
Stande ift, befiben die andern meiſtens einen etwas Flebrigen 
Pollen, der zwar durch dad Haarkleid eines Inſektes von den 
Antheren abgeftreift, aber nicht vom Winde transportirt wer- 
den kann. 

Mikroſkopiſch unterfucht erweilt fi der Blüthenſtaub ver- 
Ichiedenfter Pflanzen als ein Haufwerk mehr oder weniger runder 
Körner — bei der einen Art glatte Kugeln bildend, bei andern 
mit Stacheln befebt. Eins aber haben fie in ihrem Weſen ge 
mein: jedes Pollenkorn ftellt eine fogenannte Zelle, d. h. das 
einfachft gebaute Lebewejen, ein organtiches Individuum dar. 
Aus Zellen, in Form, Größe und phyſikaliſcher Beichaffenheit 
höcft mannigfach varlirend, bauen die Pflanzen ihren Leib auf, 
vom niedern Moofe bid zur Eöniglichen Eiche. Gelangt eine 
ſolche Pollen-Zelle (Korn) einer beftimmten Pflanze auf die 
reife Narbe einer Blüthe eben derfelben Pflanzengattung, fo 
geftaltet ficy der weitere Verlauf bis zur Befruchtung im Großen 


(668) 


9 


und Ganzen folgendermaßen. Die empfängnikfähige Narbe jon« 
dert auf ihrer aus zahlreichen zarten Zellen (Bapillen) beftehen- 
den Oberfläche eine klebrige Yeuchtigkeit ab, die einmal die 
Pollentörner feftzubalten dient, dann aber auch deren Entwicke⸗ 
lung beichleunigt. Diefelbe äußert ih darin, dak das Plasma, 
der eigentliche lebendige Leib des Pollenkorns — wie aller andern 
Zellformen — an befondern, oft beftimmt gelennzeichneten Stellen 
der Wandung des Korned einen, zuweilen mehrere Pollenfchläuche 
hervortreibt, die, durch den Körper des Griffelö wurzelartig hinab⸗ 
wachſend, in der Tiefe zu den Samenknoſpen (Eichen) gelangen 
und in dieſen auf eine noch ziemlich dunkle Art und Weiſe die 
als Befruchtung bezeichnete Veränderung bewirken, beſtimmt, die 
erfte Anlage einer neuen Pflanze zu bilden. Es ift faum nöthig, 
zu bemerfen, daß, bei der Kleinheit der in Rede ftehenden Objekte, 
dieſe Thatſachen erft erkannt werden konnten, ald die Botanik, 
aus ber niedern Sphäre einer bloß Haffificirenden Disciplin — zu 
welcher die blinden Nachbeter Einne’3 fie gemadyt hatten — durch 
die ausgedehntere Anwendung mifroffopifcher Unterfucdhungen zu 
dem Range einer wirklichen Wiſſenſchaft fich erhob. 

Die Befruchtung ift der Schlußalt im Blumenleben; zu 
zeigen, wie der in den oben angeführten Worten Darwin’d be⸗ 
tonte Nuten der Kreuzung verjchiedener Individuen berjelben 
Gattung durch befondere, oft complicirte und fo zu fagen „ſinn⸗ 
reiche” Ginrichtungen der Blüthen auf der einen Seite und ber 
Anpaffung von fie bejuchenden, den Pollen übertragenden In⸗ 
fetten auf der andern zu Stande Tommt, tft der Zwed der unten 
folgenden Schilderungen. — Ich habe oben neben Darwin’s 
Namen, des größten Forſchers auf dieſem Gebiete — in Deutſch⸗ 
land nimmt den erften Platz der vor nicht langer Zeit verftor- 
bene Herm. Müller, in Stalien Delpino ein — eines 
Landdmannd Konrad Sprengel Grwähnung getban. Die 


(669) 


10 


Beobachtungen dieſes merkwürdigen Mannes find niedergelegt 
in feinem jebt ziemlidy jelten gewordenen Werke „Das entdedte 
Geheimniß der Natur im Baue und der Befruchtung der Blu- 
men“, Berlin 1793. Die dürftigen Nachrichten über Sprengel’8 
Derjönlichkeit zeigen ihn und ald einen Mann von Scharffim, 
grübleriich veranlagt, dabei ftrenggläubig in religiöfen Dingen. 
Sein Werk, eine jo große Menge intereffanten Materiald es 
auch bot, blieb faft gänzlich unbeachtet und gerieth bald im 
völlige Vergeffenheit. Erſt Darwin entriß ed dem Dunkel und 
ließ ihm die gebührende Würdigung angedeihen, ficherlich nicht 
das kleinſte Blatt in dem Kranze, der das Haupt des großen 
britiihen Gelehrten ziert! Dem ansgeiprocdhenen Spinfinne 
unfere8 Sprengel Tonnte die innige Wechfelbeziehung zwiſchen 
Blüthen und Inſekten auf die Dauer nicht entgehen. Er unter- 
nimmt ed auf Grund feiner Beobadytungen, die Einrichtung 
vieler Blüthen als mit dem regelmäßigen Beiuche beitimmter 
Injelten zufammenhängend zu erllären. So dad Auftreten füßen 
Saftes in vielen Blumen und das Beſtehen befonderer Borrich« 
tungen zum Schutze deflelben vor Regen durch Härchen, Schup⸗ 
pen ıc., „damit die Inſekten denjelben rein und unverdorben ges 
nießen fünnen”. Sprengel findet auch, daß die zum Honigjaft 
leitenden Stellen der Blüthe durch befondere Färbung von dem 
übrigen Theil derſelben fih abheben — „Saftmale" — und 
ſchließt fo ganz richtig, daß, wenn ein Theil einer Blüthe durch 
abweichende Farbe den auf der Blume befindlichen Inſekten als 
Wegweiſer zum Honigbebälter diene, jo müfle die Farbe der 
gefammten Blüthe überhaupt den Zweck haben, Inſekten her⸗ 
beizuloden. Wie mau bemerkt, faßte bis hierher Sprengel die 
Blumen nur ald zum Nuten der Inſekten beftehende Schöpfungen 
auf, ſpaͤter gelangt er zu der Einfidht, daß vielen Blumenarten 
der befruchtende Blütbenftaub nur durch Bermittelung von In⸗ 


(670) 





11 


ſekten mitgetheilt werden kann, daß alſo die betreffenden Blumen 
aus dem Beſuche einen entſchiedenen Nutzen ziehen. Auch kannte 
Sprengel bereits die Erſcheinung der Dichogamie. Zur völligen 
Klarheit Hinfichtli der Deutung feiner Beobachtungen kam er 
indes nicht, es hinderten ihn daran zwei Umſtände. Einmal 
die von ihm, wie von den Botanifern jener Zeit überhaupt ge 
machte falſche Vorausſetzung, dat jede Pflanze, jo wie wir fie 
jeben, von Anfang her „erichaffen“ ſei, alfo eine abjolute Un« 
veränderlichleit der Art, eine Annahme, die den Begriff der 
Anpaſſung von Blume und bejuchendem Inſekt natürlidy gar⸗ 
nicht aufkommen läßt, fodann das Meberjehen der Vortheile, 
welche die Kreuzung für die Pflanze bat. Zwar bemerkt er 
einmal, „daB die Natur ed nicht zu wollen ſcheine, daß Pflanzen 
mit eigenen Pollen ſich befruchten,” im Grunde aber huldigte 
er der Anficht, dab Selbftbefruchtung die Regel fei. Daß im 
diefem Falle die Beſuche der Inſekten für die Blumen nublos 
jein würden, lettere nur als Nahrungßlieferer der erfteren in 
Betracht kämen, liegt auf der Hand. Hier war die ſchwache 
Stelle in Sprengel’8 Lehre und fie war wohl die Urſache, daß 
mit der faſchen Deutung feiner jchönen Beobachtungen unver- 
dienter Weife auch dieje jelbft in Vergeſſenheit gerieten. So» 
viel über Konrad Sprengel. Indem wir nun zur Betrachtung 
einiger intereflanten und leicht zugänglichen Blumenarten über- 
gehen, nehmen wir ald Geleitſpruch die im Cingange citirten 
Worte Darmwin’d über die Kreuzung mit auf den Weg, alles 
ſonſt Nöthige an Drt und Stelle erläuternd. 

Unfer erftes Unterfuchungsobjelt fol die Schlüffelblume 
(Primula officinalis), der lieblichite unter den Boten ded Yrüh- 
lingd, fein. Jedermann ift die zierliche, man möchte jagen ele- 
gante Pflanze befannt, ihrem äußern Anſehen nach; nur wenig 


verbreitet indeß tft die Kenntnis — wenigitend in Deutſch⸗ 
(671) 


12 


land —, daß die Primel in zwei ſich wejentlich unterfcheiden- 
den Blütbenformen vorfommt. Die Differenz iſt diefe: die eine 
Form, Big. 3 I, befitt einen bis nahe an die Deffnung der 
Blumenkrone reichenden Griffel, während ihre fünf Antheren 
etwa in der halben Höhe des Griffeld an der engiten Stelle 
der Blüthenröhre angeheftet find; dagegen bat II einen ſehr 








Figur 3. 


furzen Griffel und die Staubbeutel um etwa die halbe Höhe 
des Griffeld über demfelben angewachlen, ein, wie ſich zeigen 
wird, fehr bedeutfamer Unterjchied, der in England au dem 
Auge ded gemeinen Mannes nicht entgangen tft: Die beiden 
Blütbenformen werden dert, nad) Darwin, volksthümlich als 
thrum-eyed und pin-eyed unterjdhieden. Man pflegt beide 


Formen als lang- und furzgrifflige zu bezeichnen. Außer- 
(672) 


13 


dem zeigt fich eine Differenz in der Größe der Pollenkoͤrner; 
die ig. 3 ftellt zwei zu I und IL gehörige Pollenförner in drei« 
hundertfacher Vergrößerung dar; wir fehen, daß die zur lang⸗ 
griffligen Form gehörigen einen etwa nur $ vom Durdjmefier 
bed zur Turzgriffligen Form gehörenden langen Durchmefler be» 
figen. Bir wollen nun fehen, wie die befchriebene Einrichtung 
dem Zwede der Kreuzung dient, der, von Darwin als legitim 
bezeichneten Art der Befruchtung, durch welche der meifte und 
feäftigfte Same erzengt wird. 

Sorgfältig angeftellte zahlreiche Verſuche haben bargethan, 
daß für unfere Primel die befte Art der Beftänbung diejenige 
ift, welche durch MWebertragung des Pollens der Tanggriffligen 
Blüthenform auf die Narbe einer Turzgriffligen Blüthe und 
umgekehrt zu Stande fommt. Im Fig. 3 deuten die von I nad) 
II und II nad I gezogenen Linien den Vorgang an. Welches 
find num in der Natur die Vermittler dieſes Altes? Zur Ueber⸗ 
tragung durch den Wind eignet fidy der Pollen der Primel nicht, 
auch wäre es jchwer, fich zu denken, dab auf diefe Weiſe, welche 
dem Zufall freied Spiel läßt, in der genannten Art eine Kreus 
zung der mit Ianggriffligen Blüthen bejebten Cremplare mit 
furzgriffligen Blüthenſtöcken erfolgen ſollte. Vielmehr jehen wir 
mit Nothwendigkeit und auf die Bermittelung fliegender Inſekten 
angewiejen. Bienen, Hummeln und Schmetterlinge gehören in 
der That zu den eifrigiten Beſuchern unferer Blume. Ihre 
langen Saugrüffel befähigen fie, den im Grunde der Blüthe 
verborgenen Nectar fich anzueignen. Da auf einem mit Primeln 
beftandenen Terrain Stöde beider Blüthenformen fi in nahezu 
gleicher Anzahl finden, fo werden die genannten Bejucher in der 
Regel die legitime Betäubung zu Stande bringen. Man kann 
thatjächlich bei ihnen an zwei verjchteden hoch gelegenen Stellen 
ihres NRüfjeld vorwiegend viel Pollenftaub bemerken, an den 


(673) 


14 


Punkten nämlid, weldhe den Siben der Antheren in beiden 
Blüthenformen entiprehen. Kommt aljo eine Hummel von einem 
Stode Zurzgriffliger Blüthen, und bie ihr zunäcdft gelegene 
Primel ift von der langgriffligen Art, fo ftreift fie beim Honig» 
ſuchen in leßterer bei der Enge des Blumenſchlundes nothwendiger- 
weile einen Theil ded an ihr haftenden Pollend auf der heraus» 
ragenden langgriffligen Narbe ab und erzeugt jo legitime Be- 
frudytung. Natürlich wird es fich auch oft genug ereignen, daB 
Inſekten Blütben gleicher Form nacheinander befuchen oder 
daß die Narben der Turzgriffligen Blüthen durch Herabfallen 
des eigenen Pollend aud ben höher gelegenen Antheren beitäubt 
werben, aljo in illegitimer Weiſe — aber died wird dadurch 
unschädlich gemacht, daß in diefem Halle der Pollen weit weniger 
energifch und fo viel langjamer wirkt, dab e8 ſeltſam zugehen 
müßte, wenn nicht inzwilchen erneute Inſektenbeſuche fremden, 
wirkſameren Pollen auf die Narbe bräcten. Der Concurrenz 
mit diefem ift aber der eigene Blüthenftaub nicht gewachfen und 
die vortheilbafte Fremdbefruchtung kommt auch in diefem Falle 
zu Stande. Die verfchiedene Größe der Pollenkörner in beiden 
Formen ift ebenfalld von Bedeutung. Es leuchtet ein, daß, um 
den langen Griffel mit feinem Keimichlauche zu durchwachſen, 
ein Pollentorn mehr Inhalt und demnach auch ein größered 
Bolumen befiten muß ald ein ſolches, deſſen Schlaudy nur die 
Länge bed kurzen Griffel zu durchmeſſen hat, um zum Frucht⸗ 
Inoten zu gelangen. Daher find die in Turzgriffligen Blüthen 
erzeugten Pollenförner, als für Die Narbe der lang griffligen 
Form beitimmt, die größern, die andern die Eleinern. 
Primula officinalis tft nicht die einzige Pflanze, weldye bie 
beiprocdhene Einrichtung zeigt, da8 Lungenkraut (Pulmonaria 
off.), der gro Bblüthige Lein (Linum grandifiorum) weifen fie 
ebenfoll3 auf, man Tennzeichnet fie kurz ald Dimorpbie. 


(674) 


15 


Auch begnügt ſich die Natur nicht hiermit, fie jchreitet bei 
verjchiedenen Pflanzen bi8 zur Trimorphie vor. So zeigen 
der gemeine Weiderich (Lythrum salicaria), der zierlicdhe 
Sauerflee (Oxalis gracilis) drei verjchiedene Blüthenformen: 
eine langgrifflige, in welder die Narbe die höchfte Stelle 
einnimmt, die Staubbeutel zur Hälfte eine mittlere, zur 
andern Hälfte die niederfte Stellung innehaben, eine mitt- 
lere, bei der die Narbe die Mittel-, die Antheren die höchſte 
und tiefite Lage behaupten und endlich eine Turzgrifflige, die 
Narbe alfo am tiefften, die Antheren in mittlerer und 
böchfter Höhe gelegen. Auch bier bat fich gezeigt, dab die 
wirkſamſte Befruchtung erfolgt, wenn nicht Blüthen derfelben 
Form, auch felbft von verſchiedenen Stöden ſich befruchten; viel» 
mehr bringt diejenige Art der Beftäubung den kräftigften Samen 
hervor, welche mit Antberen und Narben vorgenommen werden, 
die in den drei Blüthenformen die gleiche Höhe einnehmen: 
Belegung einer langgriffligen Narbe mit Pollen, der den obern 
Antberen entweder der kurz» oder mittelgriffligen Form 
entitammt, zweitens Beitäubung einer mittelgriffligen Narbe 
mit Pollen aud den Antheren der Mittelftelung in lang» 
oder Turzgriffeligen Blüthen, drittens Beftäubung der kurz⸗ 
griffeligen Narbe mit dem Blüthenftaub der zu unterft fiben- 
den Staubbeutel aus der mittel» oder langgriffeligen Blüthe. 
Man pflegt diefe Art von Pflanzen nad) Darwin als hetero» 
ftyle zu bezeichnen. Die Ericheinung ward bereitö 1794 von 
Perjoon entdect, aber erft von Darwin richtig gedeutet. 

Wir wenden und einer andern Wiejenblume zu, der ſchoͤn 
dunkelblau, zuweilen auch roja oder weiß blühenden Salbei 
(Salvia pratensis). Sie gehört der Yamilie der Lippen⸗ 
blüthler (Labiaten) an, deren Andjehen im Großen und 
Ganzen ja aus zahlreichen Beiſpielen (Taubneſſel, Brunelle, 


(675) 





16 


Thymian u. a. m.) Jedem befannt if. Charakteriftiich ift die 
Differenzirung der Blumenkrone in einen obern helmartig ges 
wölbten Theil, die Oberlippe und einen untern, mehr horizontal 
geitredten, die Unterlippe (Fig. 4). Die erftere verbirgt bei 
Salbei den größten Theil des Befruchtungsapparates, der das 
Leben diejer Blume jo anziehend für und macht. Wie die 
Zeichnung angiebt, befindet fidy in der Oberlippe, deren Krüm⸗ 
mung genau angepaßt, der Griffel, fein hervorragendes Ende 
mit der Narbe ift mit st bezeichnet. Um die im Innern ver- 


co 


T 


co 





Figur 4. 
borgenen Staubgefähe fidhtbar zu machen, ift die Blüthe als 
durchfichtig gedacht gezeichnet. Die Staubgefäße, das für und 
MWichtigfte, find im einer zweiten Abbildung noch einmal ver 
größert, bejonderd gezeichnet, und zwar etwas jchräg von vorm 
ber betrachtet. Sie beftehen aus zwei langen, vorne gekrümmten 
f adenartigen Gebilden, den Gonnectiven co, an deren Spiben 
die Antheren a befeftigt find. Zwei Stüben, die bier jehr 
furzen Staubfäden oder Filamente f, f, dienen zur Befeftigung 
der Vorrichtung an zwei ſymmetriſch gelegenen Stellen der 
Innenwand der Blumenkrone (ungefähr bei p). Der untere 
Theil eo der Connective trägt 2 bei b verwachiene Gebilde, 
die als im Laufe der Zeiten überflüfflg und daher fteril ger 


(676) 


17 


wordene Antheren betrachtet werden; bei andern Labiaten find 
fie dagegen volllommen funktionsfähig. Diefe untere Partie 
bat die Geftalt einer Heinen Platte, welche den hontgfuchenden 
Injelten den &intritt in den Schlund der Blumenkrone ver- 
wehrt. Das Ganze ift, wie man fleht, eine Hebelvorrichtung 
und zwar eine doppelarmige, die beiden Drehpunkte find die 
Berwahlungsftellen der Filamente mit den Gonnectiven. Wird 
der untere Theil des Apparates b zurüdgeftoßen (in die Ebene 
ber Zeichnung hinein), jo ſchnellen natürlich die langen Hebel- 
arme mit den Antheren heftig hervor. Denken wir und ein 
kraͤftiges rüffelbewehrtes Inſekt, etwa eine Hummel, auf der, 
einen bequemen Ankerplatz bietenden Unterlippe angeflogen 
fitend. Sie ftedt, nach Honig fuchend, den Rüſſel in den 
Eingang des Blumenfchlundes und trifft dabei unvermeid- 
lih auf den geſchilderten plattenförmigen Theil b der Hebel. 
anlage. Dadurch bewirkt fie nothmendig ein Hervorjchnellen 
ber Connective, weldye durch ihre Krümmung im Stande find, 
mit den Staubbeuteln bi8 auf den dicht bepelzten Rüden der 
Hummel zu reihen und dort einen Theil ihres Pollens ab⸗ 
auftreifen, der in den Haaren des Inſekts haften bleibt. Erinnern 
wir uns nun an dad Eingangs über die Didyogamie Gefagte, 
an die Bedeutung der Worte Proterandrie und Proterogynie. 
Die Salvien find audgejprochen proterandrifch, ihre Antheren 
reifen vor der Narbe. Big. 4 zeigt die Blüthe im männlichen 
Zuftand; wie man fieht, befindet fich in diefem erſten Stabium 
die gabelig geftaltete Narbe iu einer ſolchen Höhe, daß nicht 
daran. zu benfen ift, fie werde etwa yon dem Rüden eined auf 
derfelben Blüthe mit Pollen eingeftäubten Inſekts berührt und 
jo mit eignem Blüthenftaub belegt werden. Sollte aber durch 
einen Zufall eigner Pollen auf die Narbe gelangen, jo bleibt 


dieſer bei der Unreife des letztern Organes wirkungslos, wird jeden- 
xx. 41. 2 (677) 


18 


falls durch ſpäter hinzulommenden fremden Pollen unjchäblidy 
gemadht, die Kreuzung getrennter Blüthen ift alfo gefichert. 
Die punktirte Linie st’ zeigt nun, weldye Lage der Griffel mit 
der Narbe im zweiten (weiblien) Stabium der Blüthe 
einnimmt, wenn die Antheren verjelben bereitö verwelft find. 
Es iſt klar, daß eine foldhe reife Narbe unvermeidlich den bes 
baarten Rüden eines größeren Inſektes, das auf den nod 
jüngeren Blüthen eined anderen Salviaftodes mit Pollen ein- 





Figur 5.*) 
geftäubt worden, fürmlidy durchpflügen und fich dadurch mit 
fremden Pollen behaften muß. Dad Anhaften der Pollen» 
körner ift noch durch die um diefe Zeit fi} abfondernde Narben- 
feuchtigfeit gefichert. 
Es ift noch hervorzuheben, daB die SProterandrie bei 


) Figur 5 zeigt (nad) Dodel-Port) den befprochenen Vorgang bei 
Salvia Sclarea (Musfateller Salbei), einer nahen bei uns nicht ein: 
heimifchen Verwandten von S. pratensis. Das befuchende Inſekt ift die 
violette Holzbiene (Xylocopa violacea). In Figur 4 ift die Senkung 
der Connective burch bie punftirte Linie a’ angedeutet. Sie läkt fid 
durch Einführen eines fpigen Bleiftiftes in die Blüthe nachahmen. 

(678) 


19 


Salvia nicht nur die Selbftbefrucdhtung einer einzelnen Blüthe, 
fondern auch in ſehr wirkſamer Weile die Befruchtung ber 
Blüthen eines und deſſelben Stodes untereinander ver- 
hindert. Die unterften Bläthen eines Stockes befinden fidy 
naturgemäß als die älteiten im weiblichen Zuftande und werden 
von Hummeln und Bienen, den hauptläcdhlichen Beſuchern, ftets 
zuerft aufgefuht. Dabet hinterlaffen fie den etwa mitgebrachten 
Pollen dort. Sie fteigen nun dem Honig nachgehend zu immer 
jüngeren, noch männlichen Blüthen auf, die ihnen neuen Pollen 
aufbeften, der beim nächften Stode zur Verwendung Tommt. 
Der Hebelapparat ſpringt übrigend nad) dem Aufbören des 
durch den Inſektenrüſſel ausgeübten Druckes in feine erfte Lage 
zurüd und Tann fo öfter feinem Zwede dienen. 

Noch fei bemerkt, daß in den, neben der großblumigen 
Wiefenfalbei ſich findenden Tleinblumigen Pflanzen berjelben 
Gattung die Hebelvorrichtung verfümmert ift und fein Blüthen- 
ftaub erzeugt wird; fie werden von denjelben Inſekten wie die 
großblumigen aufgefucht und mit deren Pollen befruchtet. — 
Ich habe oben die Bienen- und Hummelarten ald die vor» 
wiegenden Beſucher reſp. Befruchter der Salvia genannt; 
analoge Beobachtungen für andere Blumen reſp. andere Injelten 
haben zu dem allgemeinen Begriffe der Anpaſſung geführt. 
Anpaffung — im Darwin'ſchen Sinne — bezeichnet eine Summe 
von zwedmäßigen Abänderungen früherer Zuftände, wie 
fie im Laufe einer außerordentli großen Zahl von Gene- 
rationen Plab greifen konnten. Ungeheuere Zeiträume und jehr 
Feine, fih allmählich ſummirende Veränderungen — darin liegt 
der Schlüffel zu der wunderbaren gegenfeitigen Anpafjung be 
ftimmter Inſekten an beftimmte Blumen. Denen wir und in 
eine um viele Sahrhunderttaufende zurüdliegende Zeit verjeßt, 


fo müßte und der Anblid der damald eriftirenden blühenden 
2 (679) 


20 


Gewächſe höchſt fremdartig anmuthen. Zur Umgeftaltung im 
den heutigen Zuftand haben nun — von Elimatifchen und Jonftigen 
Urſachen abgejehen — die Inſekten auf's Wirkſamſte beigetragen. 
Es fallt nicht fchwer dies einzujehen, fobald man fi nur 
immer vor Augen führt, daß auch die unfcheinbarften Bartationen 
im unendlichen Laufe der Zeiten zu merkbaren, endlichen, und 
für die verhältnigmäßig erft furze Zeit beftehende Exiſtenz des 
Menſchengeſchlechtes auch dauernd jcheinenden Umbildungen 
führen mußten. Darwin’d Selectiondtheorie ftüßt fich auf 
die, feit lange an zahllofen Beifpielen erhärtete Thatjache, daß 
unter einer gewiflen Anzahl von Gejhhöpfen — Thieren ober 
Pflanzen — nicht zwei völlig einander gleichen. Dieje 
Abweichungen Tönnen höchſt gering fein, aber vorhanden find 
fie immer. Die genannte Lehre führt nun aus, daß unter den 
gleichzeitig lebenden Individuen einer Gattung diejenigen bie 
meifte Ausficht haben am Leben erhalten zu bleiben, die Con- 
eurrenz ihrer Mitbewerber zu ertragen und fich fortzupflanzen, 
welche den widrigen Einflüffen am energiicheften zu widerftehn, 
die günftigen am beften audzunüßen vermögen. Diejenigen 
Blumen irgend einer Art, welche durch etwas augenfälligere 
Färbung oder Größe, oder durch einen reichlicheren Gehalt an 
Honig oder Pollen auf eine oder mehrere Inſektenarten be» 
ſonders einzuwirken vermocdhten, mußten auch am reichlichften 
befuccht werden und hatten durch den Vortheil der Kreuzung 
die größten Chancen, ihre vortheilhaften Eigenthümlichkeiten 
einer zahlreihen Nachkommenſchaft zu vererben. Unter dieſer 
mußte die gefteigerte Concurrenz in der Anlodung von Kreuzungs⸗ 
vermittlern die nützlichen nody geringen Abänderungen weiter 
vervollfommmen und fo fort, bis nad) ungezählten Generationen 
eine bedeutende Umgeftaltung des Urtypus rejultirte.e So ift 
in der Ausbildung des nüblichen Hebelapparated der Fortjchritt 


(680) 


21 


bei Salvia Sclarea gegen die andern Salvien unverkennbar. 
Bienen und Hummeln find die unbewußten Züchter ber 
Salvia⸗Arten geweſen; der Größe ihreß Kopfed, der Länge ihres 
Rüſſels entiprechen die Dimenfionen der Blüthen. 

Und num da8 Gegenftüd der Sache. Die einmal von 
Iangrüffeligen Sufelten zu deren Gunften hervorgebrachte Form 
ber Salviablüthen hat nicht verfehlt, ihrerſeits allmählich um⸗ 
züchtend auf die Geftalt ihrer Befucher zu wirken, infofern, als 
unter Hummel» und Bienenarten die größten und mit den 
längften und zugleich Träftigften Saugorganen bewaffneten durch 
reichlichere Nahrung vorzugsweiſe befähigt waren, fich forte 
zupflanzen. 

Das bier über Anpaffung Gejagte gilt — mutatis mutan- 
dis — für alle Inſektenblüthler. 

Das Ehrenpreis, auch Männertreu genannt, (Vero- 
nica Chamaedrys) eine, namentlich auf Graſsplaͤtzen jehr häufig 
wachſende, Heine, ſchön blaue Blume erjcheint auf den erften 
Blick viel zu einfach gebaut, um einer beitimmten Inſektenart 
angepaßt zu fein, und doc ift Dem fo. Die Fig. 6 zeigt die 
Blüthe (vergr.) annähernd in der Stellung, die fie an der 
Pflanze einnimmt, nahezu fentredht, das unterfte Blumenblatt 
um ein Geringed nad vorne geneigt. Die Staubfäden find 
am Grunde verdünnt, während fie nach den Staubbeuteln a, a 
au fich Tenlenartig verdiden, und ſtark nad) beiden Seiten bin 
andeinander geipreizt find. Der Griffel liegt in der Mittellinie 
der Blüthe, etwad nach außen gefrümmt (st.). 

Narbe und Antheren reifen bier gleichzeitig, daher er- 
icheint eine möglichft große Entfernung zwiſchen denfelben zur 
Verhütung der Selbitbefruchtung geboten. Der Bejudyer, dem 
dad Ehrenpreis fi nun ganz vortrefflidy angepaßt hat, ift eine 
fleine Schwebfliege (Ascıa podagrica), befannt durch ihren 


(681) 





22 


zterlichen, wejpenähnlichen Bau und bie auffallende Gewohnheit, 
jefundenlang auf einem Zlede ſchwirrend zu verharren, um dann 
plöglich eine Strede weit fortzufchießen und wieder ſtill zu ftehn. 
Ih wühte feine beffere Bejchreibung der hübſchen Wechſel—⸗ 
beziehung zwiſchen Inſekt und Blume, ald die eines fo aud 
gezeichneten Beobadhterd wie Herm. Müller. Seine Schilde: 
rung ſei daher bier wörtlich aufgeführt. 

„Selbft jchön gefärbt und mit ausgeſprochenem Farbenfinne 
verjehen, fchwebt eine ſolche Schwebfliege vor der farbenprädy 





Figur 6. 


tigen Blume felundenlang an einer und derjelben Stelle, an- 
icheinend am Anblick derjelben fich weidend, ſchießt dann plöß- 
lich vorwärts und ſetzt fich auf das unterfte Blumenblatt, wobei 
fie den über die Mittellinie defielben frei bervorftehenden 
Griffel, der feinem Hintergrunde gleich gefärbt, völlig über- 
fiebt und die Narbe mit der Baudhfeite ihres Hinterleibes trifft, 
rüct dann mit ein paar Schritten bis zu der (durch den weißen 
Ring inmitten der himmelblauen Fläche und der noch dunkler 
blauen nad) der Mitte zuſammenlaufenden Linien) jo ſcharf fi 
abhebenden Blüthenmitte vor und verfucht, mit den Vorderbeinen 


am Blütheneingang felbft Halt zu gewinnen, um ben furzen 
(683) 


23 


Nüffel in das kurze honighaltige Blumenröhrchen zu fteden. 
Wie der Griffel, jo find auch die Staubgefäße, die rechts und 
links über den beiden jeitlihen Blumenblättern divergirend ber- 
vorſtehen, jo weit fie über dem weißen Ringe liegen weiß, fo 
weit fie über der himmelblauen Fläche liegen, hHimmelblau 
gefärbt und dadurch der Wahrnehmung der Schwebfliege ent- 
zogen. Indem diefelbe nun mit den beiden Borderbeinen im 
Blütheneingange felbit feften Halt ſucht, fchlägt fie ficy die bei- 
den Staubgefäße, die aus verbünnter, audwärtd gebogener Bafid 
fich allmählich keulig verdiden, ohne ed zu willen und zu wollen 
unter der Bauchſeite ihred Hinterleibed zufammen, die fidh ba- 
durd reichlich mit Blüthenftaub behaftel. Auf jeder folgenden 
Blüthe wird daher von diefer Meinen Schwebfliege ſowohl Bes 
legung mit dem von vorher beſuchten Blüthen mitgebrachten 
Pollen, ald Behaftung der Bauchleite mit neuem Pollen be- 
wirft”. 

Außer diejer Schwebfliege beſuchen noch größere Aliegen- 
und Bienenarten die Veronica Ohamaedrys, jowohl ded Honigs 
ald des Polens wegen, die von diefen bewirkte Kreuzung ift 
aber eine unregelmäßigere, zufälligere; nur der Schwebfliege 
ericheint der Beſtäubungsmechanismus völlig angepaßt. Ein 
ähnlicher findet fich übrigens noch bet dem befannten Hexen⸗ 
traut (Circaea lutetiana). 

Wir haben, namentlich im lebten Beifpiel, dad Anziehende 
der Farben auf beftimmte Snfeften, ein gewiſſes Wohlgefallen 
berjelben an der bunten Färbung der Blüthen betont und wollen 
einen Augenblid bei diefer Seite unfered Gegenftanded ver- 
weilen. Die farbenfreudigften unter den Injelten find Bienen, 
Hummeln, Schwehfliegen und Schmetterlinge, und eö iſt inter- 
eſſant zu ſehen, in welchem Grade die einzelnen Farben an- 
ziehend auf diefe Blüthenbefucher einwirken. Am meiften fcheint, 


24 


- Bienen und Hummeln wenigitend, Gelb und Weiß zu be 
bagen, die Schmetterlinge lieben außerdem noch das intenfive 
Roth mandyer Orchis- und Dianthus-Arten. Blau und Violett 
Dagegen, jo leuchtend fie unjern Augen erjcheinen mögen, ziehen 
die Aufmerkſamkeit der Inſekten weit weniger auf fih. Sir 
3. Lubbod hat died für Bienen durch direfte Verſuche be- 
wiejen, in denen er Honig auf Gladplatten auögebreitet den 
Bienen von verichiedenfarbigen Paptierunterlagen bot. Do 
wird die geringere Tauglichkeit von Blau und Biolett auf ver- 
ſchiedene Weiſe durch die Pflanze erhöht. Das Leberblümdhen 
(Hepatica triloba) treibt feine blauen Blüthenfeldye bevor es 
Laubblätter entwidelt, und zu einer Sahredzeit (April), wo nur 
wenige anderöblühende Pflanzen die Inſekten anloden. Oder 
die Blüthen werden durch ihre Größe auffallender gemacht 
(Salvia, Campanula), oder endlidh, fie ftehen zu Trauben ver 
einigt wie bei Veronica und wirken durch mafjenhaftes Auf- 
treten an einer Stelle. Wie fehr das Entitehen recht zahl⸗ 
reicher, wenn auch an fich unfcheinbarer Blüthen auf den 
Inſektenbeſuch von Einfluß ift, zeigen recht fchön die Weiden, 
weldye an jonnigen Fruͤhlingstagen von Honig⸗ und Pollenſuchern 
wimmeln. 

Daß übrigens der Satz „Gelb und Weiß behagen den 
Inſekten mehr als Blau und Violett" nicht jo zu deuten tft, 
als brächten diefe Farben bei den Jnſekten die von uns mit 
jenen Namen belegten Gefichtdempfindungen hervor — braucht 
wohl kaum ausdrüdlich hervorgehoben zu werben. Welcher 
Art aber audy Farbe fein mag, die in der BVorftellung biejer 
Weſen zu Stande kommt, fie muß ihnen angenehm jein, da 
fie ein fo audgezeichneted Anlodungsmittel abgiebt. 

Orchis mascula (männl. Kuabenkfraut), im Mai und 
Juni die leuchtende Zierde der idylliichen Waldwieſen Mittel- 


(684) 


25 


deutſchlands, tft eins der fchönften Beiſpiele für die Beftäubung 
dur Inſekten und eine, jeit Darwin’8 berühmten Unter- 
juchungen, geradezu „Hafftiche" Pflanze. Sie gebört den 
Orchideen, einer der größten Pflanzenfamilien an, von welcher 
bereit8 über 3000 Arten beichrieben find. Ihr Berbreitungs- 
freis umfaßt, mit Ausnahme der älteren Zonen, die ganze 
Erde. Sm Gebiete des deutichen Reiches werden 21 Arten 
aufgezählt, zu den befannteiten gehören Orchis, Gymnadenia 
und Oypripedium (Frauenſchuh), das lebte ift ſchon feltner, am 
bäufigften noch auf den Waldwiefen Thüringend. O. mascula 
trägt ihre purpurrothen Blüthen, wie die übrigen, zu Aehren 
auf einem Schafte vereinigt, d. h. die Blüthen fiben ohne den 
vermittelnden Blüthenftiel unmittelbar am Stengel. Was 
auf den erften Blid einem Stieldyen ähnelt ift der, hier eigen» 
thümlich fchraubig gedrehte Fruchtknoten (f in Fig. 7 D. 
Machen wir und jet mit dem Baue der Orchiöblüthe näher 
befannt. Er ift gegen den der bisherigen Beilpiele gehalten 
ſehr complicirt und am beiten durch eigene Zergliederung der 
friihen Blüthe oder einer ihr ähnlichen, wie der von O. macu- 
lata, Tennen zu lernen. Ich will an der Hand der Zeichnung 
Fig. 7 — Darwin’d Wert über die Drehideen entnommen — 
dad Nothwendigfte zu erläutern verjuchen. I ftellt die ver- 
größerte Blüthe von der Seite her betrachtet dar; fie ift etwas 
fchräg gegen die Symmetrieebene, deren Lage aus der Vorder⸗ 
anfidyt II der Blüthe klar ift, aufgefchnitten, um die Lage der 
Narbe st und der Antheren a zeigen zu können; bie Stronen- 
und Kelchblätter find ebenfalld entfernt. Man fieht, daß das 
vordere Blumenblatt in eine breite, dreifach gelappte Yläche 
fidy verbreitert (II D) die den Beſuchern ald Auflugplab dient; 
biefer Theil 1 wird Lippe ober Zabellum genannt. I zeigt 
daffelbe in der Mitte durchſchnitten. Nach unten zu ift das 


(685) 





26 





Figur 7. 


(686) 





a 
Labellum in den hornartig gefrümmten, hohlen Theil ausgezogen 
(n), der ald Sporn oder Nektarium bezeichnet wird, in Webers 
einftimmung mit der Benennung dieſes Theild bei andern Orchis⸗ 
arten, wo er Honig abjondert. O. mascula führt Dagegen 
feinen freien Nektar, wie Herm. Müller nachgewiefen bat, die 
bejuchenden Snjelten bohren aber die zarte innere faftreiche 
Membran des Spornd an, und fo ift die Benennung Nektarium 
bier ebenfalld ganz am Plate. Die Lage der beiden, in der 
Mitte faft zufammenfließenden Narben erhellt aus I und Ist 
beutlich, ebenjo Stellung und Befeftigungsweije des die Pollen- 
maflen oder Poilinien tragenden Apparate ar. Diejelben 
Itegen (1I) in zwei ziemlich weit auseinander geftellten Fächern, 
die der Länge nad) geöffnet find. III zeigt die Pollenmaſſen 
(p) frei von ihren Behältern bedeutend vergrößert. Es find 
feulenförmige Gebilde aus Pollenmaffe, die dadurdy zu Stande 
kommen, daB eine große Anzahl feilförmiger, durdy jehr elaftifche 
feine Fäden untereinander verbundener Päckchen von Pollenkörnern 
aneinander gefügt find; die zufammenfließenden Fädchen bilden 
in ihrer Gefammtheit den elaftiichen Stiel oder das Stöckchen c. 
Am untern Ende trägt dafjelbe ein, für den zu bejchreibenden 
Befruchtungdvorgang jehr wichtiges Gebilde, den Klebballen d, 
der aus einem Fleinen ovalen Hautſcheibchen und einer unter 
demjelben angehefteten runden klebrigen Mafje beſteht. Jedes 
der beiden Pollinien befitt feinen eignen Klebballen. Faſſen 
wir das, diefelben umhüllende tafchenartige Gebilde, das Roſtel⸗ 
lum oder Schnäbelden r näher in's Auge. I und II zeigen 
das Roftellum ald einen rundlichen, vorne ewas zugejpihten, 
über die beiden Narben hinmegragenden Fortſatz, der die Kleb- 
maſſen vollkommen einhüllt; IV giebt die Anordnung im Durch: 
fchnitt. Beide Ballen ftehn mit der äußern Haut des Roſtel⸗ 


lums nur an ihrer bintern Seite dur eine dünne Membran 
(687) 


28 


in Zufammenhang; im Uebrigen liegen fie völlig frei, von einer 
dad Roſtellum erfüllenden Flüſſigkeit umgeben. Die Bes 
ftimmung der lebtern wird unten erflärt werden. Das Roſtell 
zeigt nun die Eigenthümlichkeit, jobald die Pollinien ihre Reife 
erlangt haben, bei der leifeften Berührung längs einer beftimm- 
ten Linie der Duere nach aufzureißen, ſodaß beim Niederdrüden 
der dadurch entftandenen Lippe oder Taſche die Klebballen frei 
zu liegen kommen. Man Tann diefen Verſuch leicht an einer 
reifen Blüthe in der Art anftellen, daß man einen zugeipihten 





Figur 8. 


Bleijtift in den Eingang ded Nektariums drüdt, es klebt dann 
beim Heraudziehen ein Pollinium oder auch beide in der Weiſe 
feft, wie Fig. 8, obere Zeichnung dies verfinnlidt. Ein Expe⸗ 
riment wie dieſes ahmt die Funktion eines rüffelbewehrten Su- 
jektentopfes jehr gut nah. Wir Tönnten nun weiter verfuchen, 
mit diefem aufrechtſtehenden feftfitenden Pollinium die Des 
fruchtung der Narbe einer zweiten Blüthe vorzunehmen, aber 
man fieht ein, dab, bliebe das Pollininum in feiner urjprüng- 
lichen aufrechten Stellung, es keineswegs die tiefer fißenden 
Narben, fondern die pollinienhaltigen Taſchen der andern Blüthe 


berühren würde, eine Befruchtung ſonach nicht möglich wäre. 
(688) 


29 


Hier greift nun eine überrafchende Eigenthümlichleit — a beau- 
tiful contrivance nennt es Darwin — der Pollinien hülfreich 
ein. Beobachten wir nämlich das auf die Bleiftiftipibe gebrachte 
Pollinium, jo bemerken wir, dab es nur einen Augenbiid 
lang jeine ſenkrechte Stellung behält, bald aber mehr und mehr 
fih nad vorne frümmt, bis e8, nad) ca. 30 Sekunden, die 
in der unlern Figur gezeichnete Lage angenommen hat. Bet 
diejer Lage trifft das Pollinium, wie man fi) leicht überzeugt, 
eine zweite Narbe mit Sicherheit. Es Tommt, nach Darwin, 
diefer ſeltſame Borgang höchft wahrſcheinlich hauptfächlich zu 
Stande durch eine Zufammenziehung des Meinen, bereits auf 
geführten Hautjcheibchend über den Klebmaſſen. Noch müffen 
einige wichtige Punkte in der Ginrichtung des Roſtellums her- 
vorgehoben werden. Macht man den befchriebenen Verſuch, fo 
fann man ſich von dem außerordentlich feften Anhaften des 
Polliniumd am eingeführten Gegenftande leicht überzeugen. In 
der That hat Darwin gezeigt, daß der Klebſtoff der Ballen, 
an die Luft gebracht, wie ein jchnell erhärtender Kitt wirft; 
ber Nuten davon ift Far: ein langjames Erhärten Tönnte 
ſehr leicht ein Abfallen des Polliniums vom Inſektenkopfe, oder 
eine Berjchiebung in eine falfche Kage zur Folge haben, jo daß 
die Narbe verfehlt werden müßte. Seht leuchtet auch ein, daß 
die oben erwähnte Umfpülung der Klebballen im Roftellum 
durch eine Flüffigkeit eine unumgänglich nothwendige Einrich⸗ 
tung tft, ohne welche die Pollinten nach kurzer Zeit ſchon nicht 
mehr fich anzuheften vermöchten, alfo nutzlos jein würden. Dies 
hieße aber auf die Dauer die Eriftenz der gefammten Gattung 
in Frage ftellen. Ein weiteres Mittel zur Erhaltung der Kleb- 
fraft der Ballen ift die Elafticität der durch den Querriß des 
Roſtellums geichaffenen Lippe: jobald der Drud des Rüſfſels 
reſp. der Bleiftiftipite aufhört, fpringt fie in Die erfte Lage 


(689) 


30 


zurüd und dedt die Ballen wieder. Endlich fällt noch die 
Zujammenjeßung der Pollenmafje aus vielen Päckchen von 
Dollenförnern, verbunden durch elaftifche Fädchen ſehr in's Ge⸗ 
wicht. Da nämlich die Narben nicht in einem ſolchen Grade 
klebrig find, der das Abreißen der geſammten Pollenmaſſe 
vom Stöckchen geſtatten würde, fo trennen ſich immer mır 
einige Päckchen vom Gros los, die aber zur Befruchtung bin- 
reichen. Dadurch wird erreicht, daß ein und daffelbe Pollinium 
zahlreichen Narben dienen Tann. Infolge dieſes allmählichen 
Verbrauches trifft man zuweilen Inſekten an, welchen zum Theil 
ganz, zum Theil halb geleerte Stöddhen anhaften. Auch die, 
oben auf 30 Sekunden angegebene Zeit, welche zur Krümmung 
des Stödchend c erforderlich ift, hat Bedeutung. Sie ent- 
Ipricht durchfchnittlich der Minimaldauer des Aufenthaltes auf 
einem Blüthenftode plus der Dauer ded Fluges, der das Inſekt 
nach einer nenen Pflanze führt, jo daB es dort mit ſchon ges 
krümmten Polinien anlangt. Direkte Beobachtungen hierüber 
bat der ſchon mehrfady genannte ausgezeichnete Botaniker Herm. 
Müller an mehreren Hummelarten angeftellt, welche neben 
Schmetterlingen verfhiedener Gattungen, fowte einer Schnepfen- 
fliege (Eimpis livida) zu den eifrigften Bejuchern der Orchis 
gehören. 

Der Befruchtungsvorgang tft nach dem oben Gefagten Klar. 
Das anfliegende Inſekt läßt fih auf dem, einen bequemen 
Ruheplatz bietenden Labellum nieder und ftedt feinen Rüſſel 
in das Nektarium. Hierbei drüdt ed mit dem Kopfe auf das 
gereifte Roftelum, welches, wie ſchon befchrieben, der Duere nad) 
aufreißt, und heftet fich die Klebballen mit ihren Pollinien an, 
entweder direft auf den Kopf oder, wie bei der Schnepfenfliege 
3. B. auf Die großen kugeligen Augen. Es tritt die Beugung 


(690) 


3l 


der Pollinienftöcdkchen ein und beim Befuch neuer Blüthen hinter- 
laſſen diefe ein Theil ihres Polens auf den Narben. 

Der gegebenen Beichreibung entiprechen audy die Vorgänge 
bei Orchis maculata, O. Morio, O. fusca und O. latifolia. 
Dagegen bat O. pyramidalis fi ganz ausſchließlich Schmetter- 
lingen angepaßt; die beiden Pollinten ftehn hier auf einer, 
jattelförmig geftalteten Klebfcheibe, welche, den dünnen Rüſſel 
umfaſſend, fich daran feftkittet und darauf eine Ähnliche Krüm⸗ 
mung ihrer Pollinten ausführt wie die obige. Fig. 9 ftellt den 





Figur-9. 


(vergr.) Kopf eined Schmetterling8 dar, deffen Rüffel mit fieben 
Pollinienpaaren behaftet ift. 

Wie wichtig für faft alle Orchisarten die Kreuzung und, 
als fie vermittelnd, der Beſuch der Inſekten ift, erhellt aus der 
Thatfache, daß der eigene Pollen eine Blüthe nicht nur un⸗ 
befruchtet läßt, ſondern gradezu als Gift auf diejelbe wirft. 
So behandelte Narben fchrumpfen, welfen und fallen ſchließlich 
ab, wie dies Fri Müller durch eingehende Verſuche bewies, 
während andere, nicht fo behandelte Narben defjelben Stodes 
volltommen gejund biieben. Wer über die Orchideen ſich ein- 
gehend zu unterrichten wünſcht, ſei auf Darwin’s klaſſiſches 
Wert über dieje Pflanzenfamilie verwiejen. 


(691) 





32 


Ein ſehr jeltiames, weniger jchön als bizarr zu nennended 
Gewächs mag die Reihe unjerer Beiſpiele abjchließen. Es ift 
der gefledte Aronsitab (Arum maculatum), eine Giftpflanze, 
der Araceen-Familie angehörend, die in den Tropen zigantifche 
Bertreter befitt. Sie Tann und ald ein gutes Beijpiel der von 
Herm. Müller als Kefjelfallblumen bezeichneten Blüthenein- 
richtungen dienen. Was auf den erſten Blid man ald Blüthe 
zu bezeichnen geneigt jein wird, eine tütenförmige, weißlich ge- 
färbte Hülle, unten gefchloffen, oben offen und in eine Spibe 
ausgezogen, ftellt fich bei näherer Unterjuchung als ein ums 
gewandeltes, auffallend vergrößerte Hochblatt heraus d. h. 
al8 jener Gattung von Laubblättern angehörig, weldhe in der 
Blüthenregion des Stengeld ald Tragblätter der blüthentragenden 
Zweige auftreten. Die Zeichnung Fig. 10 ftellt diefe Hülle oder 
Spatha aufgefchnitten dar. Der untere Theil bid etwa zum 
Punkte K ift durch Uebereinandergreifen der Blattränder feit 
geichloffen, von da ab aufwärts ift die Spatha fahnenartig auße 
gebreitet und verfieht durch ihre helle Färbung phyfiologiſch den 
Dienft einer echten Blüthenkrone. Auffallend hebt ſich von ber 
hellen Hülle ein ſeltſames dunkel ſchwarzrothes feuliges Gebilbe 
ab, das der Pflanze den Namen verichaffte, es ift die, bie 
Blüthen tragende Verlängerung des Stengeld, kurz als Kolben 
bezeichnet. Demjelben abwärtd folgend ftoßen wir zuerft auf 
eine &ruppe von Fäden a’, die von der tragenden Are nad) 
allen Seiten fi bis zur Spatha hin erftreden und eine Art 
von Neb- oder Gitterwerk repräjentiren; fie werden als ver- 
tümmerte funttiondunfähige Antheren betrachtet. Etwas weiter 
unten fiten dicht aneinander gedrängt bie zahlreichen Staub- 
gefähe a, dem Grunde zunächft fchließlich die nicht minder zahl- 
reihen Narben st. Die Staubbeutel befinden fih alſo über 


den Narben, der von ihnen erzeugte Pollen ift ein lodered 
(692) 


83 


mehliged Pulver, und es fcheint bei einer foldhen Anordnung 
Selbftbefruchtung unvermeidlich durch den herabfallenden Pollen 
erfolgen zu müffen. Allein dem ift nicht fo. Arum ift pro» 
terogyn, die Narben find empfängnikfähig, wenn die Antheren 
beifelben Exemplars noch unreif find. Der lodere trodene 
Pollen ruht nad) dem Herausfallen aus den Antheren auf dem 





Figur 10. 


Grunde der dicht gejchlofjenen Tüte jo geihügt, daß nur ein 
außerft heftiger Wind vielleicht ihn entführen Bönnte, anes 
mopbil ift demnach Arum maculatum nicht. Welches find 


xX, 474. 3 (698) 





34 


nun bier die Narbenbeftäuber? Eine Art winziger Müden 
(Psychoda phalsenoides) wird durch die helle Spatha, jowie 
den, für menſchliche Riechorgane jehr widerlichen Geruch 
der Pflanze herbeigelodt. Einen bequemen Anflugplab bietet 
ihnen das freiheraudragende Kolbenende, an dem fie, dem Geruche 
folgend, abwärts Triehen. So gelangen fie zwiſchen den 
Fäden a! hindurch über Antheren und Narben hinweg auf den 
Grund der Hülle, der ihnen einen willflommenen warmen 
Schlupfwinkel bietet, und laffen dabei, wenn fie jchon von 
anderen Arumblütben kommen, den Pollen derjelben auf den 
Narben. Nah Müdenart verfuhen die Piychoden nun dem 
einfallenden Lichte entgegen wieder aufwärtd zu fliegen, ftoben 
aber dabei unvermeidlich gegen die ftrahlig ausgebreiteten Fäden 
a’, bie zwar den abwärts kriechen den Thieren fein Hinderniß 
waren, den empor fliegenden aber ſich ald höchſt wirkfameß 
Kerfergitter entgegenftellen. So hat die Pflanze ihre kleinen 
Säfte eingelerfert; eine Entihädigung für die unwilllonmene 
Haft wird den Müden indeß geboten: im der zweiten Periode 
der Blüthenentwidelung laffen die befruchteten Narben aus 
ihrer Mitte je ein Honigtröpfchen auötreten. Endlich find bie 
Antheren gereift und ftreuen ihren Pollen in den Grund der 
Spatha, den „Keflel”; die kleinen Gefangenen, darin umber- 
friechend, bepudern ſich über und über damit. Biöher waren . 
bie den Verſchluß bildenden Fäden fteif, in der leßten Periode 
jedody erichlaffen fie mehr und mehr, jenten fih am Kolben 
herab und öffnen dadurch den Müden den Ausweg aus ihrem 
Gefängniß. Die Entlaffenen verichleppen den ihnen anhaftenden 
Blüthenftaub auf ein andered Exemplar und ed ſpielt ſich der 
Vorgang aufs Neue ab. 

Wir haben in dem Beftäubungdvorgange bei der lebt 


genannten Pflanze einen bemerkenswerthen Gegenjab zu d 
(694) 


35 


vorhergehenden Beifpielen zu Tonftatiren. Dort fahen wir einen 
in jeder Beziehung feinfinnigen und intelligenten Befucher: 
freiß bei den Pflanzen das Liebeöwert der Beftäubung vermitteln 
— bier werden die dazu tauglihen fehr niedrig ftehenden 
Inſekten durch für die höheren abftoßende Düfte angezogen. 
Auch fteht der ganze Beftäubungämehanidmus augenicheinlich 
bier auf einer weit tieferen Stufe. Der Eindrud, den wir von 
Arum maculatum und jeinem 2iebeö-2eben empfangen, wirft 
nicht frei und erhebend, wie ed bei der Orchis der Fall war; 
bizarr für dad Auge, abftoßend für die Naſe, voR unangenehmen 
Thieren aufgeſucht — es ift fein Wunder, daß die Pflanze in 
der myſtiſchen Botanik des Mittelalterd eine jo große Rolle 
ſpielte! 

Wir kommen zum Schluſſe. Einige allgemeinere Be⸗ 
merkungen mögen bier noch Platz finden. Wenn den Botanikern 
vergangener Sahrhunderte die Blumen, ihre Karben, ihr Duft 
nur ald Gebilde eined nach Willkür geftaltenden Blumenfchöpferd 
erichienen, fo treten fie und jetzt ald durchaus nothwendige 
Einrichtungen entgegen, deren Verſchwinden bei einer beftimmten 
Pflanzenart, ebenſo wie dad dauernde Auöbleiben der ans 
gepaßten Inſekten, dad Ausfterben eben dieſer Art zur Folge 
haben müßte. 

Armutb an Suielten fordert in gebirgigen Gegenden 
mit Nothwendigkeit größeren Aufwand in der Intenfität der 
Zarben bei den Blüthen, um defto ficherer Befucher anzuloden, 
und die leuchtenden, ſchon von Weiten bemerkbaren Blüthen 
der Alpenblumen beftätigen die Richtigkeit dieſes Schluſſes. 
Für windblüthige Pflanzen ift eine ind Auge fallende Blüthen- 
bülle nutzlos, und in der That finden farbenprächtige Gorollen 
fih bier niemalß. 


Barum beginnt das Geisblatt erjt nad Cinbrudy ber 
5* (695) 





86 


Dämmerung jene ſüßen Düfte zu verhauchen, weshalb duftet 
ed nicht auh im Sonnenſchein? Nun, feinen langröhrigen 
Blüthen bat eine mit ausgeſprochenem Geruchsfinne begabte 
große Nachtfalterart vorzugsweiſe ſich angepaßt, ihr langer 
Rüſſel fichert ihren Vertretern eine reichliche Ausbeute an Honig, 
während ihr Leib und die Flügel, mit Pollen behaftet, un: 
bewußt die Beſtäubung der Narbe vollbringen. 

Man hat wohl verjudyt, einen durcdhgreifenden Unterjcyied 
zwilden Anorganifhem und Organiſchem in dem Um 
ftande zu finden, dab in dem Reiche des erfteren niemald ein 
Luxus Plab greife, der in der organiichen Natur doch offenbar 
fo vielfah herrſche. In Goͤthe's Geſprächen mit Eckermann 
finden fich manche, eine ſolche Auffaſſung vertretende Stellen. 
Seit Darwin wiſſen wir, uud ich glaube dies in meiner Skizze 
gezeigt zu haben, daß eine ſolche Anficht durchaus irrig ift, der 
Sarbenjchmelz der Blumen wie der prächtige Federſchmuck tro- 
piiher Vogelarten fie repräjentiren nur Cinrichtungen, un» 
entbehrlich für das Beftehen der Gattung. 


Die Zeihnungen der zehn Holzichnitte find den Werken von Darwin, 
Dodel⸗Port, Herm. Müller und Reinke entnommen. 


(696) 
Dtuck von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerftr- 17a. 


Bon dem neuen XIV. Iahrgange (1885) von: 





N IR T 
> gr In Verbindung mit Wr 


Prof. Dr. v. Aluckhohn, Nedacteur A. Lammers, 
Prof. Dr. 3. 8. Meyer und Prof. Dr. Aaul Schmidt 


herausgegeben von 


Stanz non Holtzendorff. 
(Heft 209-224 umfalend, im Abonnement jedes Heft nur 75 Pfennige) 


find ausgegeben: 
Heft 209. Preuf;z (Berlin), Dentihland und fein Reichskanzler gegenüber dem 
Geifte unjerer Zeit. 
„ 210. Zittel (Karlöruhe), Die Revifion der Lutherbibel. 
„ 2311. Thun (Breiburg t. Baden), Bilder aud der rujfiichen Revolution (Fürſt 
Krapotlin, Stephanowitſch, Scheljäbow). 
„212. Sartorius v. Waltershauſen (Göttingen), Die Zukunft des Deutſch⸗ 
thums in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


„ 214/15. Staudinger (Worms), Die evangeliſche Freiheit wider den Mate 
rialismus des Bekenntnißglaubens. 


„ 215. Eggers (Berlin), Klaus Groth und die plattdeutſche Dichtung. 
„ 216. Schönborn (Bredlau), Das höhere Unterrichtöwejen in Der Gegenwart. 
„ 217. Herzog (Wettingen), Das Refereudum in der Schweiz. 


218. Sanshofer (Münden), Das Deutihe Kleingewerbe in jeinem Eriftenz- 
fampfe gegen die Großinduftrie. 


219. Wohl (Mödling), Zuftus von Liebig und die landwirthſchaftliche Lehre. 
„ 220. Fuld (Mainz), Das rüdfälige Verbrecherthum. 
„ 221. ©. d. Lage, Dad höhere Maädchenſchulweſen Frankreichs feit der Republik. 


Ferner werden nach und nad), vorbehaltlich etwaiger Abänderungen im Ein: 
zelnen, folgende Beiträge veröffentlicht werden: 


Hagel (Münden), Die praktiihe Bedeutung der Handelögeographie. 
v. Surafchet, F., Nationalitäten und Spradenverhältniffe iu Defterreich. 
Fintelnburg (Bonn), Die Cholera-Quarantaiue. 

v. Holtzendorff (Münden), Staatsmoral nnd Privatmoral. 

Jodl (Münden), Volkswirthſchaftslehre und Ethik. 

v. Orelli (Züri), Der internationale Schub des Urheberrechts. 
SKtirchner (Berlin), Weber den Zufall. 

vÄn Swinderen (Groningen), Proftitution und Mädchenhandel. 
Siewert (Kiel), Die Lage unjerer Seelente. 

Sende (Sera), Echule und Volkswirthſchaft. 

Meyer, 3. B. (Bonn), Ueber den Religiond-Unterridht in der Schule. 


Keil (Münden), Die Zahnheillunde und der Werth der Zähne für die Volks— 
gejundheitöpflege. 


V—— —esz? r ELLE 


In demjelben Verlage erſchienen: 


#lippenmoos, 


Aus den früheften Tagen deutfcher Erhebung. 


Roman von YAuguft Heſſe. 
Drei Bände, eleg. brofch. 15 Mark, eleg. geb. in Orig.-Leinen 18 Mark. 


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Erſte Sammlung; In Gebirg und Thal. Drei Novellen. Brod. 5 Mk. 40 Pf, 
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Kuife, Königin von nn Preußen. 
Sur Erinnerung an ihren hundertjährigen Geburtstag (10. März 1876) 
von 


Auguſt Kluckhohn. 


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dem neuen Drudverfahren von 3. Albert in München; brod. 1 Mart 80 Pf.; 
geb. in Xeinen 2 Mark so Pf. 

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Eleg. geb. in Drig.:Band mit reicher Goldverzierung und Goldſchnitt 8 Marl. 








Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlider Vorträge, 


J 

| 

| 

beraudgegeben von 
| Ru. Birchow und Fr. von Holgenberft. 
| 


——— Zu 
FR Mi 
XX. Strie. 


(Heft 457 - 480 umfaffend.)“ _ 
— 


DEN. 


Heft 475. 


Von 


Dr. J. J. Treichler, 


ord. Profefſor des Rechtes an der zürcheriſchen Hochſchule. 


GH 


Berlin SW., 1S86. 


Berlag von Carl Yabel. 


(C. 8. Lüderity'sche Berlagsbuhhandteng.) 
33. Wilhelm⸗Straße 33. 


| 
Dolitifche Wandlungen der Stadt Züri, | 
| 


— — — — — — —— — — — RO— 





— nenn 
DE CE wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. ug 


zu 





In demfelben Verlage erjchienen: 


Handbuch ves VPölkerrechts. 


Auf Grundlage Europäiſcher Staatspraxis 
unter Mitwirkung von 


Geh. Rath Prof. Dr. u. Bulmerineg, Dr. E. Caratheodoryg, Geh. Rath Prof. 
Dr. Bambadı, Prof. Dr. Gareis, Geh. Rath Prof. Dr. Geffcken, Leg. Rath 
Dr. Gehner, Prof. Dr. Lammafdh, Prof. Dr. Lueder, Prof. Dr. Meilt, 
Dr. W. ». Melle, Prof. Dr. Rivier, Prof. Dr. Atörk 


berandgegeben vou 


Dr. Stanz v. Holbendorff, 


Profeſſor der Rechte. 
Erfter Baud. Eleg. brofch. 16 ME., eleg. geb. 18 Mt. 


Handbuch des deutſchen Strafrechts. 


In Einzelbeiträgen von 
Geh. Ober⸗Poſtrath nnd Prof. Dr. DVPambach, Prof. Dr. Aochow, Strafanftalts 
Director Ekert, Prof. Dr. Engelmaun, Prof. Dr. Geyer, Prof. Dr. Heinze, 
Prof. Dr. Paul Hinſchius, Prof. Dr. u. Holgendorff, Prof. Dr. John, Amts: 
rihter Dr. Paul Rayſer, Prof. Dr. v. Arafft-Ebiug, Prof. Dr. Liman, Prof. 
Dr. Merkel, Oberlandeöger.- Rath Menes, Kammerger.Rath Achaper, General: 
Staatsanwalt Dr. v. Schwarze, Prof. Dr. Akrzeczka, Prof. Dr. Teichmann, 

Prof. Dr. Mahlberg, 


herausgegeben von 


Dr. $r. v. Holtzendorff, 


Band I. 1871. broch. 5,50 ME.; geb. 7,50 ME. 
Band II. 1871. brod. 9 ME.; geb. 11 ME. 
1. Halbband. 1872. broch. 4 Mk.; 2. Halbband 1874. 
broch. 16 ME.; in 1 Band geb. 22 Mt. 
Alphabetifches Eachregifter 


nebft einem Gongruenzregifter zu den 3 Bänden von Bezirkögerichtärath 
r gruenzteg Dr. Ernſt Bezold. 


1874. broch. 2 Mk., geb. 3,60 ME. 


Band IV. Ergänzungen zum Deutjchen Strafrecht. 
1877. brod. 17 Mk., geb. 19 ME. 


Bandbud; des deutſchen Strafprozeßrechts. 
In Einzelbeiträgen von 


Prof. Dr. Bochow, Staatsanwalt Prof. Dr. Suds, Prof. Dr. A. Geyer, 
Dr. Inlins Glafer, Prof. Dr. Sr. u. Holgendorff, Prof. Dr. Hugo Meyer, 
Oberlandesgerihtd:Rath Menes, General-Staatsanwalt Dr. v. Schwärze, Prif- 

Dr. Mlimaun, 


herausgegeben von 


Dr. Sr. u. Holtzendorff. 


1. Band. 1879. brod). 12,60 ME; geb. 14,60 Mt. 
2. Band. 1879. broch. 16 Mk.; geb. 18 ME. 





Band 11. 





Politilche Wandlungen 
Stadt Zirich. 


' Bortrag, 
gehalten auf dem Rathhauſe in Zürich den 10. Januar 1884 


von 


Dr ° %, 3. Treichler, 
ordentlichem Profefior des Rechtes an ber zürcherifchen Hochichule. 








GH 








v 
Berlin SW., 1885. 


Verlag von Carl Habel 


(C. 6. Küderity'sche Verlagsbuchhandluug.) | 
83. Bilhelm-Straße 38. 


Das Recht ber Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Groß und mannigfach find die Wandlungen, welche die 
Stadt Zürich ſeit einem Jahrhuudert in ihrem Aeußern durch⸗ 
gemacht hat. Noch vor fünfzig Jahren war ſie mit Mauern, 
Waͤllen und Gräben umgeben und in ſtolzer Abgeſchlofſenheit 
vom Lande lag ſie da; heute bezeichnet keine Mauer, kein 
Thurm, kein Thor mehr den Umkreis der Stadt; bis weit in 
das Land hinaus ſcheint fie jetzt ihr Gebiet vergrößert zu haben. 

Aber größer noch und überrafchender find die Wandlungen, 
welche die Stadt innerhalb deſſelben Zeitraums in politifcher 
Beziehung durchgemacht. No im Sahre 1798 war die Stadt 
ſouverän und die Landſchaft ihr umterthan; jebt ift die Stadt 
zwar noch Hauptftadt des Kantons, aber im Uebrigen eine ein- 
fache Gemeinde, ohne alle und jede Vorrechte. 

Wie ift das gelommen? Wie war dad möglich? 

Forſchen wir genauer nad, fo entdeden wir bald, daß die 
äußere Umwandlung der Stadt mit der innern auf das Genauefte 
zufammenhängt, ja jogar durch diefe bedingt ift; wir finden im 
Weitern, Daß die politiiche Wandlung der Stadt nur das Enb- 
ergebniß ded Kampfes ift, der feit Sahrhunderten auf diefem 
Ichönen Fled Erde um die Macht oder Herrjchaft geführt wurde, 

Diefen Kampf um die Macht, foweit er fi) als einen 
Kampf um die Rehtögleichheit darftellt, und feinen Einfluß 
auf die rechtliche Stellung der Stadt wollen wir nun etwas 
näher betrachten. Zwar nicht im Einzelnen, jondern nur im 
großen Ganzen. Wir wollen und die einzelnen Phafen dieſes 
Kampfed in ihrem Zufammenhang vergegenwärtigen und dem 
rothen Faden nachgehen, der fich durch die verſchiedenen Auf- 
züge unſeres Dramas hindurchzieht. 


xx. 475. 1* (699) 








4 


Dabet müljen wir, wie mir fcheint, vier Alte unter 
ſcheiden: im erften kämpfen die Patrizier gegen die Aebtiffin, 
im zweiten die Handwerker gegen die Patrizier, im britten die 
Bauern gegen die „Herren und Burger“ der Stadt, im vierten 
Die Niedergelaffenen gegen die Bürger in der Gemeinde. 


L Die Aebtiffin und die Gefchlechter. 


Ald Stadt, als befeftigter Ort, erſcheint Zürich ſchon in 
einer Urfunde von 929. Damals ftand die Stadt unter einem 
monarchiſchen Regiment. Ein Reichsvogt übte Namens des Kaijerd 
die Neichögewalt, namentlich den Blutbann, die Aebtilfin am 
Srauenmünfter durch ihre Beamten die örtliche oder ftädtifche 
Polizeigewalt und die niedere Gerichtöbarteit. 

Die Abtei zum Yrauenmünfter tft bekanntlich durch einen 
Enkel Karl's des Großen, durch Ludwig den Deutſchen geftiftet 
worden. Derſelbe beſaß in Zürich außer dem Kaſtrum noch 
ausgedehnte Liegenſchaften. Auf dieſen ſtand ein kleines Frauen⸗ 
- Hofter. Dieſem Kloſter ſchenkte der König im Jahre 853 feinen 
ganzen Hof in Zürih mit dem Forſt am Albid und dem Ländchen 
Urt und verlieh ihm volle ReichBunmittelbarkeit. Dann übergab 
er die Stiftung feiner Tochter Hildegard. Eine Königstochter 
war fomit die erfte Aebtiſſin. Ihr folgte im Amte ihre Schwefter 
Bertha. Unter diefen Töniglichen VBorfteherinnen nahm das 
Klofter rafch einen ungeahnten Aufichwung. Bald fiedelten ſich 
Handelöleute und Handwerker um daffelbe an. Schon Hildegard 
begann mit ihren reichen Mitteln den Bau einer Kirche und 
Bertha vollendete ihn. 

Die Abtei bildete nun mehrere Sahrhunderte hindurdy dem 
geiftigen und in gewiſſem Sinne auch den rechtlichen Mittels 
punkt Zürichs. Ihre Rechte und ihre Befipungen hatten fich im 
Laufe der Zeit noch vermehrt. Ein ſehr großer Theil des flädti- 
ſchen Bodens gehörte ihr. Sie beſaß den Zoll, dad Markt⸗ und 
dad Münzrecht; fie forgte für Maß und Gewichte. Die Aebtijfin 

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ernannte den Schultheiben, den Vorfitzer des ftädtiichen Gerichtes 
für Schuldfachen und Frevel. Zur Beratbung und zur Hands 
babung ihrer Rechte verfammelte die Aebtiffin von Alters ber 
ihre Minifterialen um fi. Gewiß regierte die Aebtiſſin milde 
(Staunen üben überhaupt nur milde Herrfchaft), allein fie regierte 
immerhin in ihrem Intereffe. Bon Standpunkt des hiſtoriſchen 
Rechtes war fie hierzu berechtigt. Nun waren aber die ver» 
fıhiedenen Elemente der Stadt im Laufe der Zeit zu Einem 
Semeinwejen zujammen gewachſen und in Folge deſſen fühlten 
fi aud die Räthe der Aebtilfin immer mehr ald Bertreter der 
Bürgerichaft, denn ald Vertreter der Abtei. Schliehlich, wahre 
ſcheinlich ſchon um die Mitte des 12. Sahrhunderd, machte fich 
der Rath von der Aebtiifin unabhängig. Der Rath wird nun 
von der Bürgerichaft beftellt, und die Gemeinde fchmört bei 
diejer Gelegenheit, den Nuben und Ehre der Stadt zu fördern 
und Schaden von ihr abzuwenden. 

Zeeztzt tritt Mar und bewußt dem Privat » Interefie der 
ebtiffin dad allgemeine Intereſſe der neuen Bürgerfchaft gegen⸗ 
über; die Bürgerihaft bat zur Wahrung deſſelben ein eigenes 
Drgan, den ftäbtilchen Rath. 

Die erfte Stufe zu einem freien Gemeinwejen ift 
ertlommen, erflommen durch die, weldye der Aebtilfin im 
Range am nächften fanden, durch die jogenannten Geſchlechter 
oder Patrizier. Anfänglich war die Thätigfeit des Rathes 
noch vielfad, gehemmt durd die wohlerworbenen Rechte der 
Aebtifſin einerfeit3 und durch die Gewalt des Reichsvogtes 
anderſeits. Bon 1173— 1218 führten die Herzoge von Zähringen 
mit voller Tailerlicher Autorität die Herrichaft über Zürich, felbft 
förmliche Geſetze erliehen fie für die Stadt. Schon drohte die 
Reichsvogtei, fih im ihren ftarfen Händen in Landeshoheit zu 
verwandeln. Zürich ift auf dem Punkte, Theil eines Zähringi- 
ſchen Fürſtenthums zu werden. Da ftirbt 1218 Herzog Berchtold V. 
ohne Nachkommen; nun nimmt der König die Reichsvogtei 


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wieder an das Reich zurüd und es gelingt jpäter dem ftädtifchen 
Rathe, die urkundliche Zuficherung zu erhalten, daß diefelbe in 
Zukunft auch beim Reiche behalten und nicht mehr veräußert 
werben folle (1262). Die Reichsvögte werden jeht nur nody 
für eine beftimmte Zeit gewählt und zu joldyen auch in ber 
Stadt verbürgerte Ritter ernamnt.. 

Zürich iſt nun in Wirklichkeit, nicht bloß dem Namen 
nah, eine freie Reichsftadt. in Rath von zwölf Mit 
gliedern, aus Rittern und Bürgern beftehend, ift ihr Mittels 
punkt. Nach vier Monaten tritt derfelbe ab und iſt erft nady 
einem Sahr wieder wählbar. Sn wichtigen Angelegenheiten 
wird der Rath durch eine größere Anzahl Bürger (100-200) 
verftärkt. Nur Sachen von hödhfter Wichtigkeit, wie die Wahl 
eined Schirmherr und die Entſcheidung darüber, wer als recht⸗ 
mäßiger König anzuerfennen jet, ftehen der ganzen Gemeinde 
zu. Noch befiten wir einen Zeugen jened umfidhtigen und zus 
gleich urkräftigen freiheitlichen Geiftes, mit welchem die Räthe 
und Burger des 12. und 13. Sahrhundertd für eine feite Rechts⸗ 
ordnung im Sunern der Stadt und für Anerlennung und Wahr 
rung ihrer Freiheiten nach Außen wirkten. Ic) meine den alten 
NRichtebrief, dad erite Geſetzbuch der Stadt Zürich. 

Der Stern der Aebtilfin aber neigt fich jeit 1218 ab- 
wärts. Zwar fteht fie noch Iängere Zeit hindurdy in hohen Ehren; 
1234 begrüßt König Heinrih fie jogar als Fürftin. Gegen 
Ende des 13. Sahrhundert Taufchten Grafen und Freiberren an 
ihrem Hofe den Sängern und Dichten, die fie um ſich ver- 
fammelte. Willig läßt no im Anfang des 14. Jahrhunderts 
der ftädtiiche Rath ihr den Vortritt, wenn er einem Kaifer oder 
König zu deflen Empfang entgegenzieht; ſelbſt der allmächtige 
Bürgermeifter Brun nimmt feinen Anftand, urkundlich auszu⸗ 
iprechen, daß er feine Berfafjung mit „Gunft und Willen" der 
Aebtiffin erlaffen und fie erfucht habe, zu Urkunde befjen ihr 
Siegel an diejelbe zu der Stabt Siegel zu hängen; und ed 


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verlegt ihn nicht, daß die Aebtiffin dies thut unter Berufung 
auf dad „Recht ihres Fürftenamtes", mit der Erklärung, „daß 
fie den ehrbaren beicheidenen Lüten, unſern lieben. Burgern, 
dem Meifter und dem Rathe und allen Burgern in Zürid, 
mit dieſem Briefe erlaubt babe und ewiglid erlaube, alle 
ihre Gerichte, ihre Zünfte und Cinungen zu bejeßen und zu 
entſetzen“, — allein troß alledem beſitzt die Aebtiffin längft Teine 
wahre Macht mehr über die Stadt. Durch Genehmigung des 
geichworenen Briefed erlaubt fie bloß, was fie nicht verhin⸗ 
dern Tann. 

Die Stadt fteht faktiſch bereit3 über der Abtei, der Rath 
über der Aebtiffin. Längft ſchon gingen die freiheitsftolzen 
Nitter und Bürger darauf aus, die Fürftin unter ihre Herr 
haft zu beugen und fie ſcheuten zu dem Ende auch offenbare 
Ufurpation nicht. So fehädigte der Rath 1241 dad Münzrecht 
der Aebtiffin durch Zulaffung fremder Münzen, und der König 
mußte eine ernſte Mahnung erlaffen, die Aebtilfin in diefem 
und in allen ihren übrigen Rechten und Gewohnheiten unge-. 
fräntt zu lafjen. 

Etwa hundert Sahre fpäter mifcht fi der Rath jogar in 
die innere Verwaltung der reichdunmittelbaren Abtei. 1397. 
jet er die verfchwenderiiche Aebtiffin Beatrir von Wohlhuſen 
förmlich unter Bormundichaft, zwingt fie jchließlich, die Abtei 
zu verlafjen und eidlich zu veriprechen, diejelbe gegen den 
Willen des Bürgermeifterd und Raths nicht wieder zu betreten. 
Früher hatte der Rath das Münzrecht von der Aebtijfin gepach⸗ 
tet; 1417 fängt er an, audy ohne Verleihung eigene Münzen zu 
Ihlagen und der Kaiſer beftätigt dad Recht, ald hätte ed von 
jeher beflanden. „Ald nun”, jagt der berühmte Verfaffer der 
Geſchichte der Abtei Züri, „zum äußern Verfall mehr und 
mehr auch der innere, Firchliche fich gejellte, Audgelafienheit und 
Deppigkeit an bie Stelle Möfterliher Cingezogenbeit getreten 


waren, ging die alte Stiftung ihrem Untergang vollends ent- 
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gegen. Die Reformation fand nur nody den Schatten der 
einftigen fürftlichen Abtei, als fie 1524 zur Auflöfung der 
jelben fchritt.* 


II. Die Geſchlechter und die Handwerker. 


Den Geſchlechtern gebührt der Ruhm, die Macht ber 
Aebtiffin über die Stadt gebrochen, die Selbftregierung tn 
ftädtifchen Angelegenheiten erfämpft und dadurch den Grund» 
ftefn zu einem freien und blühenden Gemeinwejen gelegt zu 
haben. 

Allein nad) kaum 200 Jahren werden auch fie aus dem 
ausſchießlichen Beſitz der Gewalt von einem Niedrigeren ver- 
drängt und gezwungen, die Herrſchaft mit ihm zu tbeilen. 

Nach dem gefchworenen Brief und der Urkunde, wodurd) 
Kaifer Ludwig denfelben beftätigte, hat das damalige Regiment 
feinen Sturz durch argen Gewaltmißbrauch herbeigeführt. Der 
Katfer legt den Bürgern, die „in der Statt der Gerichte ge 
waltig warend“, zur Laſt, daß fie „arm Lüt ſmächlich bieltend 
mit iren Worten, jo ſy ir notturft vor inen fuchtend, daß fie 
Edel und ander Erwürdig lüt trudtend an iren lähen und an 
andern iren Güetern, dab fie Nieman nit richteten, dann wenn 
es inen zu willen flund, daB file der burgern ihr gülte im 
namenb und die mit wieder reite Tuntent und fich in vil ftuden 
alfo bieltend, dab ſy mifjetatend von heimlichen eide und pünts 
niffen wegen, die ſy zuſammen gefworen und getan hattend.” 

Eine Miffethat aber nennt weder der geſchworene noch der 
faiferliche Brief, die Miffethat nämlich, daß dieſes ariftofratifche 
Regiment den aufitrebenden, zahlreichen Handwerkerftand ge 
waltſam damieder zu halten fuchte. 

Eiferfüchtig wacten Räthe und Bürger darüber, daß 
Niemand unter den Handwerlern eine Zunft oder Meifterfchaft 
oder Gejellichaft werbe. „Wenn aber Einer das thäte”, fagt 
der NRichtebrief, „fo fol man ihm fein beftes Haus niederreißen 

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und ſoll er überdem der Stadt in 10 Marl Buße verfallen 
fein. Hat er aber fein Haus in der Stadt, fo foll ee 5 Sabre 
lang aus der Stadt verwiejen jein und überall nicht mehr 
zurüdkehren, wenn er nicht vorher 50 Mark Silber Buße 
bezablt bat.” 

Die Handwerker, urfprünglich größtentheild Hörige, galten 
nicht ald würdig im Rathe zu fihen oder am Gerichte des 
Reichsvogtes Theil zu nehmen; fie „durften auch nicht im ber 
Gemeinde der Bürger erjcheinen. Dagegen mußten fie, wie 
dieſe, an den Laften des ftädtiichen Gemeinweſens beitragen, an 
den Fehden der Stadt Theil nehmen und die nöthigen Gelber 
berbeiichaffen helfen. Kein Zweifel, daß nunmehr die Hand» 
werler unter dem ariftofratifchen Regiment der Patrizter 
Ichlimmer fi befanden, als unter dem monarchifchen der 
Aebtijfin; daß fie diefen Drud um fo widerwilliger ertrugen, 
je mebr fi durch ihren Fleiß Bildung und Wohlftand unter 
ihnen mehrte und je mehr ihre Zahl zunahm. Nun hörten fie 
gar, wie ed in einigen Städten den Handwerlern gelungen jet, 
fih einen Antheil an der Regierung zu erfämpfen, jo 1330 zu 
Speyer und Magdeburg, 1331 zu Mainz und Straßburg. Sebt 
warteten fie nur noch auf eine paflende Gelegenheit und einen 
entichlofjenen Führer, um aus ihrer paffiven Stellung heraus» 
zutreten. Die Gelegenheit verjchaffte ihnen die Mibregierung 
des Nathes, und der Führer fand fich in einem Mitgliede des⸗ 
felben, in dem Ritter Rudolf Brun. Wir kennen den Ver⸗ 
lauf diefer Bewegung. Eine außerordentlich verfammelte Ges 
meinde wählte Brun am 7. Suni 1336 auf Lebenszeit zum 
Bürgermeifter; ſchon am 16. Juli defjelben Sahres wurde die 
von Brun audgearbeitete Berfaffung von ber Bürgerichaft, zu 
weldyer jebt auch die Handwerker gehörten, angenonımen und 
feierlich befchworen. 

Wir Tennen auch bie Grundzüge dieſes erften „geichworenen 
Briefe“. 


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Was der Nichtebrief noch mit ſchwerer Strafe bedrohte, 
das iſt nunmehr eine Tonftitutionelle Einrichtung. Die Ber 
faffung felbft theilt die Handwerker nach den einzelnen Berufd- 
arten in 13 Korporationen oder Zünfte, damit fie in denjelben 
ihre politifchen Rechte ausüben und ihre befondern Handwerks⸗ 
Angelegenheiten chlichten. 

Zede Zunft wählt einen Zunftmeifter auf eine Amtödauer 
von 6 Monaten. Diefer ift nicht bloß erfter Vorſteher ber 
Zunft, er ift während feiner Amtödauer auch Mitglied ber 
Regierung. 

Allen Brun wollte kein ausſchließliches Handwerker 
Regiment. Iſt er doch felber ein Patrizier und offenbar 
unter Mitwirkung von Patriziern zn feinem Amte gewählt wor» 
den. Die Geſchlechter jollen auch weiterhin eine bevorrechtete 
Stellung einnehmen. Daher vereinigt Brun fie ebenfalls zu 
einer Korporation, aber diefe nennt er nicht Zunft, fondern 
Konftafel, und diefe Konftafel hat für fi allein mehr zu 
bedeuten, als alle 13 Zünfte zufammen genommen. 

Aus der Konftafel allein werden die Räthe im engern 
Sinne genommen, im Ganzen 18, ſechs Ritter und fieben 
Burger, weldye mit dem Bürgermeifter und den 13 Zunft 
meiftern je ein halbes Jahr lang die Regierung bilden. Die 
Konftafel allein führt das Stadtbanner; die Zunft hat nur ein 
Zunftbanner. Der Bürgermeifter felber gehört zur Konftafel 
und gilt ald Haupt derjelben. Nur aus den vier in der Ders 
faffung zum Voraus bezeichneten Patriziern durfte beim Tode 
Brun's der Bürgermeifter ernannt werden. 

Die alten Gefchlechter haben ferner vor den’ Handwerkern 
ihre einheitliche Organijation voraus. Nur in einer Beziehung 
fteht die Konftafel hinter den Zünften zurüd: jede Zunft wählt 
thren Vertreter im Rathe ſelbſt; die Raͤthe ber Konftafel wählt 
der Bürgermeifter in Verbindung mit zwei Rittern und vier 
Burgern, welche er zu dieſem Zweck halbjährlich aus dem ab⸗ 

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gehenden Rathe bezeichnet. Aber auch diefe Eimichtung lag, 
einftweilen wenigftens, im Snierefle der Konftafel, denn es war 
ihr dadurch die Möglichkeit benommen, durch reaktionäre Wahlen 
die neue Drdnung der Dinge und dadurch ihre eigene Stellung 
zu gefährden. 

Die Geſchlechter waren aljo immer noch bevor» 
rechtet. Wußten fie fi) nur einigermaßen in die Zeit zu 
Ihiden, jo konnten fie noch lange einen enticheidenden Einfluß 
in den ftädtiichen Angelegenheiten üben. 

Anfänglich ſchien fich alle8 gut anzulaflen. Die neue Ber- 
faffung wurde alljeitig anerfannt. Audy. die. entfehten Räthe 
ſchwuren, nicht gegen dieſelbe zu unternehmen. Allein wir 
wiflen, wie fie ihren Schwur gehalten. Unterftüßt von ihren 
Freunden und vom benadybarten Adel, befehden fie Zürich von 
Rapperswyl aus Sahre lang, ſchließen endlich Frieden und 
bredyen auch diejen Friedensvertrag wieder treulos; zuletzt ver- 
fuchen fie fogar in blutiger Mordnacht ihr Heil (1350). 

Was hat's ihnen gefrommt? Daß ihre Reihen durch die 
Beile der Metzger und durdy die Hand des Henkers fidh 
lichteten und daß fi) Zürich auf ewig mit der jungen demo» 
kratiſchen Eidgenoſſenſchaft verband. 

Trotz der Mordnacht taftete Brun die Vorrechte der Kon⸗ 
ſtafel nicht an; allein ſchon 13 Jahre nach ſeinem Tode wurde 
die Verfaſſung im demokratiſchen Sinne geändert. 

Die Veranlaſſung hierzu gab eine Gewaltthäͤtigkeit zweier 
Söhne Brun’s, von denen der eine Probft am Großmänfter 
war. Diejelben hatten den Schultheihßen Gundoldingen von 
Luzern bei Wollishofen gefangen genommen, ald er vom Markt 
in Zürich heimkehrte (1370). Ein Xheil der Räthe, mit den 
beiden Brun befreundet, beobachtete eine zweideutige Haltung. 
Da trat am folgenden Tage die empörte Bürgergemeinde im 
Großmünfter zujammen und forderte beförderliche Freilaſſung 


des Schultheißen und Beftrafung des Friedensbruched. Zugleich 
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faßte fie die allgemeine Schlußnahme: Wenn die Räthe, d. 5. 
bie von der Konftafel gewählten Mitglieder der Regierung, 
fäumig ſeien, fo mögen die Zunftmeifter zufammentreten und 
mit den Räthen, die zu ihnen halten, bad Nöthige verfügen 
und die Gemeinde veripricht, die Zunftmeiſter bei ihrer Schluß. 
nahme zu ſchützen. Diele Beftimmung wurde dann 1373 in 
die Berfaffung aufgenommen; zugleich wurde die Gewalt bed 
Bürgermeifterd gemindert und die Wahl ber Räthe and der 
Konftafel der ganzen abtretenden Regierung übertragen. Es 
nehmen aljo jebt auch die Zunftmeifter an der Wahl der Rätbe 
im engeren Sinne Theil. 

Schon 20 Jahre fpäter (1393) wurden die Rechte der 
Konftafel weiter beichräntt und wieder ift ein arger Gewalt 
mißbrauch hierzu die Veranlaſſung. 

Bürgermeifter Schön hatte nämlich mit Zuflimmung der 
Mehrheit des Rathes, entgegen den Abmahnungen ber eid⸗ 
genöffiihen Boten, mit Umgehung ded Großen Rathes und 
der Gemeinde ein verrätherifhes Bündniß mit Defterreid 
geichloffen, „darauf berechnet, die Stadt Züri von der Eid⸗ 
genoflenichaft zu trennen, fogar wieder die Eidgenoffen auf 
Seite Defterreich’8 hinüber zu ziehen“. 

Darüber große Aufregung in der Stadt. Auf Begehren 
der eidgenölfiichen Boten beruft der Heine Rath den großen 
Rath, diefer die Gemeinde ein. Bürgermeifter Schön und feine 
Mithelfer werden verbannt und die Beitimmungen bed ge 
ichwornen Briefe auf’8 Neue durdhgejehen. 

Der Große Rath ift nun nad) der Verfaſſung von 1398 
die höchfte Behörde. Was er beichließt, dad foll der Rath, 
d. h. die Regierung, nicht mehr ändern. Dieje befteht wie biöher 
aus 27 Mitgliedern, dem Bürgermeliter, den 13 Rätben im 
engeren Sinne (beide nunmehr vom Großen Rathe gewählt) 
und aud den 13 Zunftmeiftern.. Die Konftafel hat zwar bei 


der Beftellung des Rathes Anſpruch auf Vertretung; aber eine 
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beftimmte Zahl Räthe ift ihr nicht mehr garantirt. Es Tönnen 
und follen jest, nad) dem Wortlaut der Verfaffung, NRäthe im 
engeren Sinne auch aud den Zünften und den Handwerkern 
gewählt werden. Damit ift den Handwerkern die Mehrheit in 
der Regierung gefichert und zugleich der Zutritt zur höchften 
Würde eröffnet. 

Schon 1415 befteigt ein Zunftmeifter, Jakob ®lentner, den 
Bürgermeifterftuhl. Bon den 17 Bürgermeiftern des 15. Jahr⸗ 
hunderts gehoͤren nur noch 8 der Konſtafel an. Nach der Ver⸗ 
faſſung von 1393 hing es ganz vom Großen Rathe ab, ob die 
Konſtafel im Kleinen Rathe ſtark oder ſchwach vertreten ſein 
ſolle. Kein Wunder, daß jetzt die Patrizier anfingen, ſich um 
die Gunft der Handwerker zu bewerben, und einzelne fich ſogar 
in die Zünfte aufnehmen liefen, um dadurch in denfelben zu 

+ Einfluß, vielleicht gar zur Zunftmeifterftelle zu gelangen. 

Aber ed treten nun auch die Zunftmeifter immer ent» 
ichloffener und fefter auf und fuchen den Einflub der Konitafel 
mehr und mehr zurüdzudrängen. In $olge deſſen entipinnt ſich 
zwilchen Beiden ein heftiger Kampf, der faft ein Sahrbundert 
hindurch dauert und fchließlich zu blutiger Kataftrophe führt. 

1415 bejchließen die Zunftmeifter, „dab die von der Kon» 
ftafel inen nie in ihr Zunft langind oder Jemand darus 
zübind; wenn es geichehen follte, jo wollen fie einander ſchirmen“. 

1424 verordnnen die Zunftmeifter, dab zu dem, was fie vor 
die Räthe und Burger, d. b. den Großen Rath bringen, und 
worüber fie fi vorher geeinigt, ein Jeder der Ihrigen uns 
bedingt ftehen folle; wenn Einer das nicht thue, jo wollen fie 
ihn fo firafen, dat ſich Andere in Zukunft davor hüten. 

1441 ertennt der Große Rath auf Anregung der Zunft« 
meifter, daB inskünftig Keiner von der Konftafel oder den 
Zünften in den Großen Rath gewählt werden jolle, bevor die . 
Zunftmeifter fidy darüber unterredet hätten. 

Fa fogar über die Räthe juchten fich jetzt die Zunftmeifter 


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allmälig zu erheben, indem fie den Artikel der Berfaffung, wo» 
nad fie, wenn die Räthe ſäumig find, auch allein gültig be— 
ichließen können, ganz ungebührlich anwenden. Beſonders fhroff 
wurde der Gegenſatz zwifchen der Konftafel und den Zunft» 
‚ meiltern unter Waldmann. Auf feinen Antrag einigte fi 
das Zunftmeifterfollegium dahin, dab die Konftafel nicht mehr 
ala ſechs Räthe im Kleinen und nicht mehr als 18 Mitglieder 
im Großen Rathe haben ſolle. Die übrigen Räthe follen ans 
den Zünften genommen werben. Femer foll fein Glied der 
Konftafel in eine Zunft aufgenommen oder zum Zunftmeifter 
gewählt werben. Beides warb ihm vom „hörnenen Rathe“ als 
todeöwürbigeö Verbrechen angerechnet. Davon, dab Waldmann 
die Rechte ded Landvolkes angetaftet, ift im Todesurtheil feine 
Rede. 

So fällt denn der Held von Murten durch das Schwert 
des Henkers als ein Opfer des Kampfes zwiſchen der Konftafel 
und der Zunftpartei. Ihm folgen noch ſechs Zunftmeiſter in 
den Tod; vier, darunter der 80jährige Obriftzunftmeifter Widmer, 
wurden enthauptet, zwei eingemauert, andere an Ehre und Gut 
beftraft. 

„Das den Konftafelberren verhaßte Inſtitut der Zunft» 
meifter”, jagt Bluntſchli in feiner Gefchichte der Republik 
Zürich I. 77, „jollte für immer gedemüthigt und der ganze 
Körper, auf den vomehmlih Waldmann fidy geftübt hatte, ver- 
nichtet werden.” 

Und weldyes, frage ich auch hier wieder, war der Erfolg 
dieſer blutigen Politik? 

Gelangen jetzt die alten Geſchlechter der Konftafel wieder 
zur Herrichaft? 

Nein! Schon wenige Wochen nad) der Hinrichtung Walb- 
mann's wurde die durch Aufruhr geftürzte Zunftverfaffung wieder 
bergeftellt. Durch den ‚Seihwornen-Brief von 1498 wurbe die 
Gewalt der Zunftmeifter noch mehr verftärtt. Ein befonderes 


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Kollegium von drei Obriftzunftmeiftern fol die Zünfte bei ihren 
Rechten und Gewohnheiten jchirmen, Stadt und Land vor 
Gewalt und Beichwerde behüten und darüber wachen, dat Arm 
und Reich gleiches Recht gehalten werde. Die drei Obrift- 
zunftmeifter bilden mit den beiden Bürgermeiftern einen geheimen 
Rath, der bei plößlicher Gefahr von fi aus die nöthigen 
Anftalten trifft, dann aber an den Großen Rath berichten foll. 
Der erfte Obriftzunftmeifter ift von Amtöwegen der Stell- 
vertreter des Bürgermeifters. 

Und die Konftafel? Ein Vorrecht ift ihr geblieben. Während 
jede andere Zunft bloß drei Mitglieder im Kleinen und zwölf 
im Großen Rathe bat, bat die Konftafel ſechs Mitglieder im 
Kleinen .und achtzehn im Großen Rathe; genau jo viel, als ihr 
die Zunftmeifter ſchon unter Waldmann zugeftanden hatten. 

Umfonft hatten ein Goͤldli und Andere ihre Hände mit 
Blut befledt. 

Auch dieſes Vorrecht wurde der SKonftafel bald nad) 
ber für kurze Zeit entzogen. Bon Räthen der Konftafel ging 
bauptjächlich die Oppofition gegen die Politik Zwingli's aus; 
im Interefje feines Reformationswerkes glaubte Zwingli, dieſen 
Widerftand möglichft brechen zu follen. Am 28. Suni 1529 
beſchloß der Große Rath „us etwas Urſachen“, dab die Kon⸗ 
ftafel in Bejegung der Räthe und Zwölfer gehalten werden 
folle, wie jede andere Zunft. „Sie mögen auch jebt,” jagt ber 
Beſchluß wörtlih, „wie eine andere Zunft ihre Räth und 
Zunftmeifter bejegen“. 

Seht blieb der Konftafel ald einzige Auszeichnung nur noch 
da8 Stadibanner! Mit welcher Begeifterung mögen da bie 
Konftafelherren nad, diefer Demüthigung im Oktober 1531 mit - 
Zwingli nach Kappel gezogen fein! — 

Kurz nah Zwingli's Tode wurde der Beſchluß vom 
28. Suni 1529 wieder aufgehoben. „Ungern nur”, fagt Hot 


tinger, „hatten dazu die entichtedenen Reformfreunde ihre Ein⸗ 
a) 


16 


willigung gegeben und fie mußten bisweilen die jpöttelnde 
Aeußerung hören: „„Dem Rüden““ fei fein Halsband mun 
wieder abgenommen”. 

Bon da an blieb die Konftafel bis 1798 im ungejchmälerten 
Befite ihrer geringen Vorrechte; auch der geſchworne Brief von 
1713 minderte diefelben nicht. 


III. Die „Herren und Burger“ von Zürich und die Bauern. 


Nach vier Richtungen namentlich hat das Eintreten des 
Handwerkerftandes in das Regiment der Stadt enticheidend umd 
rühmlich gewirkt. 

Die Handwerker haben erftend die Macht der Patrizier 
gebrochen und dem Sonderintereife der letzteren gegenüber das 
allgemeine Intereffe des geſammten ftädtifchen Gemeinweſens 
zur Geltung und Anerkennung gebracht. 

Im Handwerkerſtande beſonders hatte zweitens der Bund 
Zürichs mit den Eidgenoſſen feine Wurzel und ſeine Kraft. 
Die Konftafel dagegen neigte fich längere Zeit hindurdy mehr 
Defterreich zu. 

Im Handwerker und Bürgerftande fand brittend das 
Reformationswerk Zwingli’3 feinen fruchtbaren Boden und 
leine feftefte Stüße; die Konftafel in ihrer Mehrheit folgte der 
Neuerung nur unwillig, und ungejcheut wurde nach dem Tode 
Zwingli's in den Zujammentünften auf der Konftafel von Wieder- 
berftellung der alten Zujtände geſprochen. 

Endlich ift viertend au die Erwerbung der Land— 
fhaft zu einem nicht geringen Theile dem Fleiße umd der 
Sparfamfeit der Handwerker und der Umficht ihrer Führer 
zu verdanlen. 

Aber auch dem bürgerlichen Regimente erwädhft frühzeitig 
ein Gegner. Noch ift der Kampf der Handwerker mil den 
Patriziern nicht beendigt, jo beginnt ſchon der Kampf ber 


Bauern gegen die „Herren und Burger" der Stadt. 
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Geſchickt hatte die Stadt im Sahre 1400 — ed waren 
damald bereitö die Handwerker in der Regierung in der Mehr: 
heit, — die ſchlechte Finanzlage ded Königs Wenzel benutzt, 
um für ihren Rath das Recht zu erwerben, den Reichsvogt 
aus ihrer Mitte zu beftellen. Loder nur hing fie noch mit dem 
Reiche zufjammen und bereits fühlte fich die Stadt ald fouveräner 
Staat. 

Noch beſaß fie auherhalb ihrer Mauern nur ein kleines 
Gebiet. Nun aber fängt die Stadt an, daſſelbe raſch zu 
vermehren, nicht durch Waffengewalt, denn dadurch wären 
Handel und Gewerbe geftört worden, ſondern auf pri vat⸗ 
rehtlihem Wege, indem fie verfchuldeten Landesherren ihre 
Herrichaftörechte entweder geradezu ablauft, oder fich diejelben 
gegen ein Darlehen verpfänden läßt. Dadurch Tam fie in 
den Beſitz der Herrfhaft und da der Borger dad Pfand in der 
Regel nicht mehr löfen Tonnte, jo blieb die Stadt im Beſitze. 
Den fo erworbenen Herrſchaften jebte fie einen Vogt und 
ließ fid) von denſelben buldigen. So eifrig wurden die Er- 
werbungen betrieben, daß die Herrichaft der Stadt fi ſchon zu 
Waldınann’d Zeiten über den größten Theil ded Kantons erftredte. 

Unter fidy ftanden diefe Herrichaften und Vogteien in feiner 
rechtlichen Verbindung; jede hatte ihre bejonderen Rechte und 
Freiheiten und die Stadt hatte bei der Erwerbung veriprechen 
müffen, die Leute dabei zu ſchützen; allein fein Theil wurde von 
der Stabt als freies und gleichberedytigtes Glied angenommen. 

Die Stadt machte eben alle diefe &ebietderwerbungen nur 
in ihrem Snterefje; ihre Sicherheit, ihre Macht und ihr Einfluß 
follten dadurdy erhöht und ihr Wohlftand gehoben werden. 
Diefen Zweck glaubte die Stadt am beiten dadurch zu er 
reichen, daß fie die Landichaft als Unterthbanenland behandelte. 

An ihrer Berechtigung hierzu zweifelten die „Herren und 
Burger" von Zürich nit im Geringften; fie hatten ja, wie fie 
den Baneın wiederholt fagten, ihre Herrichaften u. Bogteien 

xx. 475. (713) 


18 


nicht mit Gewalt erworben, fondern treu und redlich erkauft. 
Aber war denn ihr Titel beffer ald der der Aebtiffin, die Land 
und Leute direft aus des Königs Hand empfangen hatte? Und 
indem die Stadt fidh ein Unterthanenland ſchuf, verleugnete 
fie nicht das Prinzip der Freiheit, durch das fie groß geworden? 
Berfuchte fie nicht etwas, was auf die Dauer unmöglich Beftanb 
haben konnte? Hatten die Patrizier die Herrichaft der Aebtiſſin, 
die Handwerker die Herrichaft der Patrizier abgeworfen, warum 
iollten die Bauern nicht auch die Herrfchaft der Städter abs 
werfen, fobald fie fih hierzu ſtark genug fühlten? 

Und wie gefährlich für die Stadt, wenn ein ſolcher Verſuch 
in einem Momente gemacht wurde, wo ihr aud von Außen 
Gefahr drohte! Wie ftart und mächtig mußte dagegen die Stadt 
werden, wenn fie fich mit den neuen Landeötheilen zu einem 
einheitlichen, freien Gemeinweſen verband! 

Allein foldye Betrachtungen lagen nicht im Geifte der das 
maligen Zeit. Nicht nur Zürich, ſondern auch andere Städte 
hatten Unterthanenländer. Nicht nur Waldmann, fondern auch 
Zwingli jah in der Stadt den natürlidhen und rechtmäßigen 
Herrn der Landſchaft; ftand doch die leßtere an Bildung und 
Wohlſtand tief unter der Stadt. 

Und in der That, was der Aebtiffin und den Patriziern 
mißlungen war, die Heritellung eined bleibenden Unterthanen⸗ 
verhaͤltniſſes — das ſchien lange Zeit den Handwerkern voll⸗ 
ftändig gelingen zu wollen. 

Noch vor hundert Fahren ſchien dad Regiment der Stadt 
feljenfeft zu ftehen. Nicht nur war ed der Landfchaft nicht 
gelungen, der Stadt auf die Dauer neue Rechte abzuringen; fie 
hatte auch vielfach alte Rechte und Freiheiten eingebüßt und war 
jest oͤkonomiſch fat vollftändig abhängig von der Stabt. 

Einft genoß jeder Theil der Landſchaft, bevor er an bie 
Stadt kam, in größerem oder geringerem Umfange Handels- 
und Geweppefreiheit; jetzt ift der Handel ein ausſchließliches 


(714) 


19 


Vorrecht der Stadtbürger. Der Zabrifant auf dem Lande muß 
den Robftoff von Bürgen in der Stadt Taufen und fein 
Arbeitsprodukt wieder an Stadtbürger verfaufen, natürlich zu 
dem Preife, den diefer Heine Kreis von Käufern zu zahlen für 
gut findet. Alles bei empfindlicher Strafe und Berluft des 
Gewerbes. 

Gewiffe Handwerke und Gewerbe, wie 3. B. da8 Handwerk 
der Buchbinder, der Gold-, Silber⸗ und Kupferfchmiebe dürfen 
auf der Landichaft entweder gar nicht oder nur an gewillen 
Drten ausgeübt werden. Selbſt dem vielfady begünftigten 
Winterthur gegenüber erflärte der Rath rundweg, daß er die 
Seidenfabrifation als ein ausſchließliches Privilegium für die 
Stadt Zürih in Anfprud nehme. Mit Mühe nur errang 
Winterthur dad Recht zur Erridytung einer eigenen Buchdruckerei. 

Kein Handwerker oder Krämer vom Lande darf in ber 
Stadt feinen Beruf ausüben oder feine Waare bdafelbft ver- 
kaufen; fonft wird er beftraft und feine Waare unter Umftänden 
konfiszirt. 

Einſt war jede Vogtei unter ihren eigenen Führern aus» 
gezogen und noch im Kappelerfriege hörte man auf fie auch im 
Kriegsrathe; jet befinden fi alle höheren Offiziersſtellen 
in den Händen von Stadtbürgern. 

Einft beftand ein großer Theil der Geiſtlichen aus Bürgern 
der Landichaft; ja die Reformation, jagt Hottinger, wurde 
bauptfähli mit Beihülfe ſolcher durchgeſetzt; jebt ift der 
Zutritt zu geiftlichen Aemtern den Landbürgern wenigftens 
faktiſch unmöglich gemacht. 

Einft, und zwar ebenfalls noch zur Reformationdzeit, konnte 
jeder Zandbürger, der fi) in der Stadt niederlieh, gegen eine 
Gebühr von drei Gulden das ftädtifche Bürgerrecht erwerben; 
jet ift auch dieſes fett mehr als hundert Jahren den Land» 
leuten abjolut verjchloffen. 


Indeß hatte e8 die Stadt nicht ohne Widerftand von Seiten 
2” (715) 


20 


der Landichaft jo weit gebracht. Sch erinnere bloß an die Er» 
hebung der lebtern im Sabre 1489, an die Unruhen in Töß 
und in ber Herrichaft Grüningen im Sahre 1525; an die 
Sorderungen der Landichaft nach dem unglüdlichen Audgange 
des Kappelerkrieges; an die Steuerverweigerung der Herrichaft 
Wädensweil im Iahre 1646; aber feit die Stadt die lebtere 
mit Kriegsmacht überzogen, diefelbe wichtiger Freiheitärechte zur 
Strafe beraubt und fieben Rädelsführer aufs Schaffot geſchickt 
hatte, berrfchte im ganzen Lande volllommene Ruhe und jelbft 
der Ausbruch der franzöflichen Revolntion vermochte nicht die- 
felbe zu ftören. 

Mebrigens hatte bis jebt noch Fein Theil der Landichaft 
auf Recdhtögleichheit mit der Stadt Anſpruch zu machen gewagt. 
Um fo größer war daher dad Erftaunen meiner „guädigen 
Herren”, ald fie vernahmen, daß am 19. November 1794 Aus— 
ſchüſſe aus verjchiedenen Gemeinden in Meilen eine Denkichrift 
an die Regierung beichloffen hätten, betitelt „ein Wort zur 
Beherzigung an bie theuern Landeöväter", eine Denkſchrift, 
in welcher verlangt wurde: Erwerbsfreiheit, Studienfreiheit, 
Zutritt zu allen Militärftellen, gerechtere Bertheilung der Steuern, 
Anlööbarfeit der Grundzinſe und Zehnten, Befeitigung der lebten 
Spuren der Leibeigenfchaft, endlich die Erlaſſung einer ein- 
beitlihen Berfafjung für Stadt und and, mit voller 
Rechtsgleichheit. 

„Väter des Vaterlandes“, ruft das Memorial, „ſchließt 
doch Freiheit und Gleichheit nicht im düſtre Mauern, ſondern 
verpflanzt fie uneigennüßig und großmüthig bi8 an die äußerften 
Grenzen Eures Gebietes, damit Kriede, Ruhe und Eintracht 
ewig auf Eurem Lande wohnen“. 

Und zur Unterftügung ihrer Begehren wagen die Bittfteller 
fich auf dad unveräußerliche Menfchenrecht zu berufen und fogar 
von Berdienften der Landſchaft um die. Stadt zu fpreden. 
„Wer half, fragen fie, im 14. und 15. Sahrhundert der Stadt 


(716) 


21 


Züri jo muthig ihre Freiheit vertheidigen, die von der Rach⸗ 
ſucht des gekränkten Adels, den Intriguen ded Haufes Defter- 
zei und der Macht Karld von Burgund zernichtet werden 
follte? Woher kam der fchnelle Sukkurs, der den Ritter Maneß 
und fein Meines Heer bei Tätwyl rettete, ald der feige Brun die 
Flucht nahm? Gründete fidh nicht auf diefen glüdlichen Steg 
die ſchwankende bedrohte Freiheit der Stadt? Wer Ichlug ferner 
mit Waldmann für Zürich in den burgundiichen Kriegen? Und 
wie treu hielt fidy die Landſchaft in den Fehden der Eidgenoffen 
an Züri!“ 

Noch war der Wortlaut ded Memorials nicht definitiv feft⸗ 
geftellt, fo ließ der geheime Rath die Verfaſſer defjelben, den 
„Hafner Neeracher und den Arzt Pfenninger in Stäfa, 
gerhaften. Der Rath der Zweihundert verbannte fodann „in 
Gnaden“, wie dad Urtheil fagt, den Neeracher auf 6, den 
Dfenninger auf 4 Jahre aus der Eidgenoffenfchaft, verurtheilte 
ferner über 50 Perfonen wegen Berbreitung ded Memoriald zu 
größern oder geringern Strafen. Dad Memorial aber warb 
vernichtet. 

Sm Eril, fern von der Heimat, ſtarb der, der die Entel 
jener Handwerker, weldye die Patrizier aus ihrer ausfchliehlichen 
Herrichaft verdrängt, zum eriten Mal um Rechtsgleichheit zu 
bitten wagte. 

Mit ihrer Berufung auf dad unveräußerlide Menſchenrecht 
abgewiefen,- ſuchen nun die Stäfner ihr Heil im hiſtoriſchen 
Rechte. 

Sie forſchen in den Gemeindearchiven der Landſchaft nach 
alten Dokumenten für ihre verlorenen Rechte und Freiheiten und 
finden fie. 

Da ift erftend der Spruchbrief der fieben Drte der 
Eidgenofjenihaft vom Jahr 1489 (9. Mat) zwifchen der ganzen 
Gemeinde in der Stadt und der ganzen Gemeinde vor der 
Stadt Zürich, d. b. der Landichaft, „wonach jeder dad Seinige 


(117) 








22 


zu Marlte fahren, treiben, tragen, kaufen und verlaufen kann, 
wo und wie er ed für gut findet”; wonach die Stadt fein Salz. 
monopol einführen und von den Bürgern der Landſchaft eine 
Kopfe und Bermögenäfteuer bloß erheben darf, wenn auch bie 
Bürger der Stadt in gleicher Weife befteuert werden; wonach 
am Zürichfee zwei oder drei . Kirchgemeinden zur Beratbhung 
gemeinfamer Angelegenheiten ſich zuſammenthun und diejelben 
den Eidgenofjen in Zürich durch Ausfchüffe vortragen dürfen. 

Da ift zweitend der ſog. Kappelerbrief vom 9. Dezem⸗ 
ber 1531, wodurdy die Stadt der Landichaft zufichert, daß fie 
feinen Krieg mehr anfangen und fein Bündniß mehr eingehen 
wolle ohne deren Willen und Willen und dab fie diefelbe auch 
in anderen bejonderd wichtigen Angelegenheiten berathen werde. 

In regelrecht verfammelter Hofgemeinde beichloffen nun die 
Stäfner am 16. Mai 1795 nad Verleſung diefer Urkunden: 
ed jolle ein Ausſchuß der angejehenften Männer vor M. ©. 
Herren treten und, ed find das die eigenen Worte ded Be- 
Ichluffes, „mit Hochachtung und gebührendem Reſpekt Auffchluß 
über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Urkunden verlangen“; 
im Mebrigen wollen fie Alle für Einen und Einer für Alle 
ftehen; ohne Einwilligung der Gemeinde fol Keiner einer Bor 
ladung Folge leiften; denn man gedachte nöthigenfalld die fieben 
Drte, die Garanten des Spruchbriefed, als unpartetiichen Richter 
zwiſchen ſich und der Stadt anzurufen. 

Der weitere Berlauf der Bewegung ift bekannt. Der Rath 
behandelte ein ſolches Vorgehen ald Verſuch zur Empörung 
und mahnte Bern fofort zum eidgendifiichen Aufjehen. Als die 
Borgeladenen ihr Erjcheinen unter Berufung auf einen unpar⸗ 
teiiſchen Richter ablehnten, die Gemeinde Stäfa auf, die Auf 
forderung, von ihren Beichlüffen abzuftehen, einmüthig ante 
wortete: „Wir bleiben bei Brief und Siegeln und weichen 
nicht von unfern Hofbeichlüffen“, fchritt Die Regierung zu 
Gewalt. 

(118) 


23 


„In einer Zeit, wo ohnehin Mangel ftattfand”, jagt S. 
3. Hottinger, „wurde der Gemeinde Stäfa alle Zufuhr von 
Zebensmitteln abgefchnitten, alle Armenunterftübung entzogen, 
der Spital verichloffen, ihre in der Stadt niedergelafienen 
Bürger, Dienftboten, zum Theil jogar Kranke zurüdgeichidt, 
auch Winterthur und Stein aufgefordert, ebenfo allen Verkehr 
mit ihr abzubrechen“. 

Sonntags den 5. Juli 1795 während des Morgengottes⸗ 
dienſtes befehte jodann General Steiner mit 1700 Mann 
Truppen die Gemeinde und entwaffnete fie An Gegenwehr 
dachte Niemand. Hatten doch Führer der Bewegung noch vor 
zwei Tagen in einem Memorial an die fieben Orte erklärt: 
„Ale und jede Waffen, die wir zu gebrauchen gedenken, find 
unsere Dokumente“. 

Jetzt fand der Rath der Zweihundert audy den Zeitpunkt 
für geeignet, um ſich in einer Proflamation über die Bedeutung 
diefer Dokumente zu erklären. 

Der Waldmanniſche Spruchbrief, fagt der Rath, jet zur 
Zeit eined offenbaren Aufruhrs zu Stadt und Land mit einer 
unordentlihen Gemeindegewalt errichtet, vom den eidgenöffilchen 
Gelandten im Drange der Umftände, um ärgereö Uebel zu ver- 
hüten, vermittelt und in nächſter Zeitfolge von den redlichen, 
auf ihre Freiheit nicht weniger aufmerfjamen Borvätern felbft 
fo beſchaffen gefunden worden, daß fie fidy fcheuten, das An⸗ 
denken an jene Zeit aufzufriichen. 

Und doch hatte der Große Rath den Seegemeinden noch 
im Sahr 1525 eine amtliche Abjchrift dieſes Briefes vertheilt 
und doch hatte die Regierung bdenjelben noch im Jahr 1549 
der Gemeinde Horgen vorlefen lafien, um von ihr zu ver- 
nehmen, in welchen Punkten fie nad) Anficht der Gemeinde dem 
Briefe zuwider gehandelt haben jollte. 

Der Kappelerbrief, behauptet die Proflamation weiter, jet 


eigentlich nur auf die damaligen Zeiten, Perfonen, Sitten und 
(719) 





24 


Umftände gerichtet geweien und babe mit feiner Ausübung und 
treuen Grftattung von beiden Seiten wirklich, feine Endſchaft 
erreicht. 

Und doch hatte der Brief nur deshalb fein Ende erreicht, 
weil meine „gnädigen Herren und Oberen“, wie aud einem 
amtlichen Aftenflüd hervorgeht, allmählig fanden, „es fei wider 
die Freiheiten der Stadt, erfauften Unterthanen Rechenichaft zu 
geben”. (1614). 

Während das Recht hier im Saale bei Berathung dieſer 
Proflamation durch Eigennnb verdunfelt war, ftrahlte e8 um fo 
heller in den fonft düftern Kerkermauern des Mellenberg. 

In jenem Thurme ſaß der greife Sedelmeifter Bodmer 
von Stäfa wegen jeiner Theilnahme an der Bewegung und die 
Geiftliden am Großmünfter bereiteten ihn in hohem Auftrage 
zum Tode vor. Allein ed will ihnen nicht gelingen, den Ge⸗ 
fangenen von irgend weldyer Schuld zu überzeugen. 

„Er jei”, fagte Bodmer, „ed der Gemeinde ſchuldig ge 
wejen, ſich der Sache anzunehmen bei der Ueberzeugung, die er 
von der Rechtmäßigkeit ihres Begehrend gehabt; eine leber- 
zeugung, die ihm noch von Niemandem umgeltoßen worden fei”. 

Die Geiftlihen eröffnen ihm, daß er wahrfcheinlich in 
Bälde fterben müſſe; aber auch damit erjchüttern fie ihn nicht. 
„Sr äußert”, fährt der Bericht der Geiftlichen fort, „jeine Ge⸗ 
finnung mit fteigender Wärme und dringt aufs Stärfite in 
und, daß wir e8 einmal für befannt annehmen, er. fei jeiner 
Sache gewiß; aud wenn er ſterben müffe, werde er mit dem 
vollen Bemußtfein, das Schidfal nicht verdient zu haben, in 
den Tod gehen und es dem ewigen Richter anbeimftellen, jein 
Recht audzuführen". 

Aber noch ift es Bodmer unmöglich, an feine Hinrichtung 
zu glauben. „Wenn er auch biöweilen den Todesgedanken 
Raum gibt”, fo berichten die Geiftlichen an die Regierung, „Io 


unterbricht er ſich doch bald wieder und pflegt auszurufen: 
(730) 


25 


„Rein ich hoffe, ich hoffe doch, ed werde nicht geichehen, es 
werde in Zürich, wo man jelbit den ftrafbarften Miffethäter 
nicht ohne ſchweres Bedenken binrichtet, da werde kein un 
Ichuldiged Blut vergoffen werden“. 

Und in der That, es wurde auch fein unfchuldig Blut ver- 
gofjen, Dank der Fürſprache des edlen Joh. Caſpar Lavater. 
Zwar erklärte der Rath der Zweihundert einftimmig, Bodmer 
habe durch jein Verbrechen den Zod verdient; „dennoch aber”, 
jagt das Urtheil wörtlich, „Jo er aud befonderer Gnade dahin 
verurtheilt jein, daß er Morgend um 8 Uhr (mach vorangegans 
genem Läuten der drei Zeichen) auf dem Filchmarft fein Urtheil 
anhören, hernach vorwärts gebunden auf den Richtplab geführt, 
dafelbft auf den Nabenftein Enten, durch den Scharfrichter das 
Schwert über ihn geſchwungen und er nad) Anzeige feiner Bes 
gnadigung durch den Herrn Reichdvogt zu lebenslänglicher Ge⸗ 
fangenichaft in das Zuchthaud gebracht werden folle; in der 
beftimmten Meinung, daß niemald eine Bittjchrift für feine 208» 
laffung angenommen und fein Hab und Gut an die Kriegd» 
koſten auf Gnade hin konfiszirt werde". 

Noch folgten über 200 weitere Strafurtbeile; auch die Ge⸗ 
meinde Stäfa als foldhe wurde um 60.000 fl. gebüßt. 

Jetzt wähnte man die Ruhe auf der Landſchaft für lange 
Zeit befeftigt zu haben; man rühmte ſich fogar in amtlichen 
Altenftüden des wohlthätigen Erfolges der angewendeten Strenge. 

Da urplötzlich ändert fi die Szene. Eine franzöſiſche 
Kriegsmacht nähert ſich der Schweiz. Franzöſiſche Truppen 
bejeten Ende Dezember 1797 das Bisthum Bafel. Am 13. Ja- 
nuar 1798 verlangt Bafelland Vereinigung der Landbürger mit 
den Stadtbürgern mit gleichen Rechten und #reiheiten. Am 
20. Januar erflärt der Große Rath von Bafelftadt, daß er Diele 
Forderung einhellig angenommen habe. Am 24. Januar bricht 
die Revolution im Waadtlande aus; am 27. Januar rüden die 
Franzoſen auch dort ein; im Thurgau und Zoggenburg er- 


(721) 














26 


richtet man Sreiheitäbäume. — Es beginnt überall, es beginnt 
auch im Kanton Zürich wieder unruhig zu werden. Am See 
finden neue Verfammlungen ftatt; es werden auf's Neue Aus- 
ſchüſſe beftellt. 

Jetzt — am 29. Sanuar 1798 — proflamirt der Rath, der 
Zweihundert der Stadt Zürich einflimmig einevolllommene Amneftie, 
beichließt Rüderftattung der Bußen und Kriegskofſten und ber 
fonfiszirten Güter; er amerbietet fich ferner zur Beförderung der 
jo nöthigen Eintracht zwiſchen Stadt und Land allen Herr- 
Ihaften oder Gemeinden der Landſchaft auf Berlangen aud 
die Waldmanniſchen und Kappelerbriefe zurüdzugeben; ja er 
beauftragt jeßt jogar den geheimen Rath, jchleunigft zu beratben, 
„auf was für Art und Weije die genoffenen alten Rechte und 
Freiheiten der Landichaft neuerdingd befeftigt und derjelben auch 
neue Rechte und Freiheiten ertheilt werden können“. Rod 
mehr: M. ©. Herren und Oberen erflären ſich ſchon jetzt bes 
reit, „diefe neuen Rechte zu Handen ber fämmtlidhen Hen- 
Ichaften und Vogteien durch bejondere Suftrumente feierlich zu 
verbriefen und deren genaue Befolgung bei der jedesmaligen 
Huldigung durdy die Dber- und Landvögte eidlich zugufichern”. 

Zu ſpät; ihr Wort findet fein Vertrauen mehr; denn wer 
bürgt der Landichaft dafür, daß ber Rath nicht fpäter, fobald 
die Gefahr vorüber, die Berufung auf diefe Briefe ebenfalls als 
todeswürdiges Verbrechen verfolgen werde? 

Mit Mühe nur, durch Bitten und Flehen, bringt die Re 
gierung im ganzen Lande zwei Bataillone zufammen, um dem 
von den Franzofen bedrohten Bern Hülfe zu leiften. 

Dagegen verfammeln. ih am 3. Februar 1798 in der 
Kirche zu Wädensweil die Ausſchüſſe von 70 Gemeinden und 
verlangen: 

„Enge Bereinigung der Stadtbürger mit den Landbürgern 
zu Einem Körper mit gleichen Rechten und gleichen Freiheiten“. 


(722) 


— — 

In dieſer höchſt bedenklichen Lage des Vaterlandes ent⸗ 
ſchließt fich der Rath der Zweihundert auch zu dieſem Zugeſtändniß. 

Unterm 5. Februar 1798 proklamirt er mit ausdrücklicher 
Zuftimmmung feiner „guten löblichen Bürgerſchaft“ förmlich und 
feierlih: „daß eine durchaus vollfommene Freiheit und 
Gleichheit aller und jeder politifchen und bürgerlichen 
Rechte zwiichen den Einwohnern der Stadt und des 
Landes und der Munizipalftädte feftgejebt fein jolle*. 

Schon am 21. Februar tagt auf dem Rüden ein Landes⸗ 
ausichuß von 176 Abgeordneten, zu 4 aus Landbürgern, zu + 
aus Stadtbürgern beftehend, zur Berathung einer neuen Ver⸗ 
faſſung. 

An der Stelle der jouveränen Stadt ſteht nunmehr der 
fouveräne Kanton. 

Aber kaum erftanden, geht derfelbe für kurze Zeit unter in 
der einen und untheilbaren helvetiſchen Republik, und es 
beginnt nun die Stadt ihr Leben als bloße Gemeinde. 

Auch nad) dem Sturze der Helvetik erlangt fie ihre vers 
Iorene Souveränität nicht wieder; diefe ift für immer dahin. 

Dagegen gelangte die Stadt durch die Napoleoniſche 
Mediationdverfaflung wenipftend in eine bevorredhtete 
Stellung gegenüber der Landſchaft. 

Zwar erflärt diefe VBerfaffung ausdrücklich, es gebe in der 
Schweiz feine Vorrechte ded Ortes und der Geburt; allein 
nichtödeftoweniger garantirt fie der Stadt + fämmtlicher Mit» 
glieder ded großen Rathes und begünftigt diefelbe auch durch 
dag indirelte Wahlſyfſtem. Schon in der erjten Sitzung des 
Großen Rathes zeigte es fich, da die Ariftofraten über minde 
ftend 100 entichloffene Stimmen, ihre Gegner bloß über 80 
bi8 90 verfügten. 

Natürlich) waren die Ariftofraten ihren Gegnern auch an 
Geichäftstüchtigkeit, Reichthum und Anſehen weit überlegen ; 
natürlidy fcheuten fich dieſe Ariftofraten auch nicht, ihr Ueber⸗ 

(733) 





28 


gewicht im Snierefje der Stadt rüdfichtölod auszubeuten. So 
bejeßten fie den Regierungsrath mit 20 Stabibürgern und 5 
Landbürgern (4 Landbürger mußten nach der Verfaſſung ge 
wählt werden). 

Und mit weldy’ gewaltiger Macht hatte die Verfaſſung dieſe 
zu */, aud Stadtbürgern beftehende Regierung audgerüftet! 
Nicht nur waren alle wichtigen Wahlen in ihren Händen; aud 
alle Vorſchläge zu Gefehen, Verordnungen und andern Sous 
veränttätärechten gingen einzig und allein von ihr aus. Der 
Große Rath hatte blos das Recht der unbedingten Annahme 
oder unbedingten Verwerfung; nicht das Geringfte konnte er 
ändern. 

Auf der Landichaft waren Zaujende erbittert, daß die vor 
fünf Jahren feierlich proflamirte Rechtögleichheit nicht meht 
gelten ſollte. Als nun gleich beim eriten Auftreten des neuen 
Negimented den Gemeinden noch dad Recht verjagt wurde, 
ihre Zunftrichter, Lehrer und Geiftlihen zu wählen; als man 
ihnen für die letzteren nicht einmal ein Vorſchlagsrecht geitattete; 
als die verfaffungsmäßig zugeficherte Loskäuflichkeit des Zehnten 
durch drüdende Beſtimmungen faft unmöglich gemacht wurde 
und ebrerbietige Vorſtellungen fein Gehör fanden, ;‚vermweigerten 
viele Gemeinden, mandye tumultuarifch, den Huldigungseid. 

Doch wäre die Ruhe durch Milderung ded harten Zehnten: 
loskaufsgeſetzes leicht berzuftellen gewejen. Allein die Regierung 
fand es nicht für nöthig, dem Großen Rathe von den Beſchwerden 
der Landichaft Kenntniß zu geben; fie zog vor, ſich vorerft deö 
Beiltandes ded Landammannd der Schweiz zu verjichern umd 
dann von ſich aus fofort zur Gewalt zu fchreiten. 

So kam ed denn am 28. März 1804 auf der Boden 
zum blutigen Kampf. Wieder füllen ſich die Gefängnifie; noch 
einmal raucht das Blut von drei Landbürgern auf dem Schaffot 
und einer ftirbt durch Pulver und Blei. 

Mannhaft geben alle in den Tod. „Ich muß fterben, aber 


(134) 


29 


unſchuldig; der Feind hat mich gerichtet”, ſagte Schneebeli beim 
Abſchied von den Seinigen. 

Nun Stille auf der Landſchaft; Stille fogar, ald nach dem 
Sturze Napoleond der Große Rath die Medintiondverfaffung 
von ſich aus durch eine andere erjeßte, welche der Stadt noch 
größere Vorrechte einräumte, 

Zwar ftellte die Berfajjung von 1814 das Unterthanen- 
verhältniß nicht wieder her (an der Feſtigkeit einiger damaliger: 
Staatslenker fcheiterten diedfallfige Gelüfte eines Theild der 
ftädtiichen Bürgerfchaft); zwar ficherte diejelbe allen Bürgern 
bed Kantond auch für die Zukunft die gleiche Freiheit mit Bezug 
auf Gewinn und Erwerb zu; allein fie garantirt jetzt der Stadt 
130 Stellen im Großen Rathe, den Landbürgern blo8 80. Es 
fommt alfo in der Stadt fchon auf ungefähr 100 Seelen ein 
Kantondrath, auf der Landjchaft erft auf ungefähr 2200. Somit 
ift die hoͤchſte Gewalt und damit auch die Regierung durchaus 
wieder in Händen der Stadt. 

Sh öffne den Staatöfalender von 1825 und fehe, daß 
das Verhältniß der Stadtbürger zu den Landbürgern ift im 
Regierungsratbe wie 20:5; im Obergericht wie 12:2; im 
Erziehungdrathe wie 14:1; im Kirchenrathe wie 18:0; im 
Stabsperfonal wie 20:2; bei den Dberamtmännern wie 8:3. 
Bon den bezeichneten 105 Stellen haben aljo die Stadtbürger 
92; die Zandbürger blos 13 inne. 

Nun finden wir unter jenen 92 Stadtbürgern auch einige ent« 
ſchieden fortfchrittlich gefinnte Männer, fo einen Paulus Uſteri, einen 
2. Meyer von Kuonau, einen J. 3. Hottinger; allein in wichtigen 
und enticheidenden Fragen vermögen jte nicht durchzudringen. 
Die große Mehrheit der Behörden glaubt ihr Mandat von der 
Stadt und nicht vom ganzen Kanton zu haben und daher in 
allen Dingen vorerft das Intereſſe der Stadt berüdfichtigen zu 
müflen. 

Und damit der Landſchaft ihr untergeordnete Verhältniß 


(725) 


30 


zur Stadt wieder recht Mar werde, jo haufen jebt in den ehemald 
Iandvögtlichen Schlöffern die von der Regierung faft ausſchließlich 
aus Stadtbürgern beftellten Dberamtmänner mit beinahe un- 
beſchränkter Gewalt in Berwaltungd- und Rechtsſachen. 

Dennoch murrt die Landſchaft nicht, obgleich fie weder bie 
alten Landvögte noch die Zuficherung vollkommener Rechte 
gleichheit vom 5. Februar 1798 vergeſſen bat. | 

Doch Hört fie mit fteigendem Iutereffe, wie in der Stadt 
jelbjt ein Häuflein jüngerer, willenjchaftlich gebildeter Männer 
der Regierung eine immer rüdfichtslofere Oppoſition macht; wie 
dieſe Männer, zwar nicht auf Gleichftellung der Landſchaft mit 
der Stadt, aber doch auf Freiheit der Preſſe, Trennung der 
Gewalten, Reform der Berwaltung und Nechtöpflege, Hebung 
der Volföbildung dringen und felbft an den Perjonen einzelner 
Negenten fo ſcharfe Kritik üben, daß dieſe bereits ein unheimliches 
Grauen beichleicht. 

Da fürzt in Parid im Suli 1830 das abfolute Regiment 
Karld X., des Unterdrüders der freien Prefje. Auf's Neue gebt 
eine freiheitliche Bewegung elektriich durch die Völker. Es erhebt 
ſich aud die Landichaft ded Kantons Zürih. Aus allen Thetlen 
derjelben, jelbft aus dem bisher fo ruhigen Winterthur, ftrömen 
fie am 22. November 1830 nach Ufter und verlangen da in 
impofanter, felbitbewußter Bollöverfammlung Anerkennung ber 
Grundjäge der Nechtögleichheit und Volksſouveränität, Revifion 
der Berfaffung durdy einen new zu wählenden Großen Rath zu 
3 aus Landbürgern, zu 4 aud Stadtbürgern beftehend. 

Schon drei Tage Ipäter entipricht der Große Rath dem De 
gehren und zwar einftimmig; fo allgemein ift jet das Gefühl der 
Unbaltbarkeit der bisherigen Zuftände. 

Bereitd im März 1831 tritt die neue Verfaſſung in Kraft, 
in Kraft durch den Willen ded gefammten Zürcheriſchen Volkes. 


Mit dem erdrüdenden Mehr von 40 503 Stimmen gegen 1702 
(736) " 


31 


batte fie die Aktivbürgerjchaft, mit 1791 gegen blos 138 Stimmen 
jelbft die Stadt angenommen. 

Aljeitig anerkannt ift jeßt der Grundſatz der Volksſou⸗ 
veränität und der Gleichheit aller Bürger vor dem 
Geſetze; getrennt find nunmehr die Gewalten und gemwährleiftet 
das Petitionsrecht, die perjönliche Freiheit, die Prebfreiheit, die 
Niederlafjungöfreiheit, und im Princip audy die Handeld- und 
Gewerbefreibeit. 

Zwar gewährt die Berfaffung den Stabtbürgern noch einen 
Drittbeil ſämmtlicher Stellen im Großen Rathe, aber ſchon im 
Fahr 1838 wird auch dieſes Vorrecht ohne irgend welchen 
ernftlihen Widerftand von Seiten der Stadtbürger aufgehoben! 
Im Fahr 1798 bejebte die Stadt diejen Rathſaal noch ganz; 
von 1814—1831 zu 2; von 1831—1838 zu 4; jebt blos noch 
im Berhältniß ihrer Bevölkerung, vielleicht zu 7%. 

Der Sieg der „ Bauern” ift womöglich noch volljtändiger 
ald der der Handwerker über die Konftafel. 

Auch auf ihren Sieg folgt, wie auf denjenigen der Patrizier 
über Die Aebtijfin, den der Handwerker über die Patrizier, ein 
neuer Aufihwung in unjerm Gemeinwefen; denn nun finden die 
Bertreter der Landichaft auch hochbegabte Führer in den Reiben 
der liberalen Städter. 

Unter ihren wudhtigen Schlägen fallen Zortur, Pranger 
und Galgen, dieſe Ueberbleibfel barbariſcher Strafjuftiz; es fallen 
die Thore, Mauern und Wälle der Stadt und damit auch die 
Verſuchung der Stabtbürger, der Landfchaft hinter denjelben 
Trotz zu bieten. Es fallen die alten Zunfteinrichtungen und die 
Zölle; es fällt felbft das uralte Chorherrenftift zum Großmünfter. 

Allein diefe Männer verftehen nicht blos niederzureißen, 
fondern auch aufzubauen. Sch erinnere blos an die gänzliche 
Umpgeftaltung der Civil- und Strafrechtöpflege; an das Mare 
Strafgeſetzbuch, durch welches ſie der Willkür des Richters eine 
Schranke geſetzt; an das ſchöne Straßennetz, womit fie die 


a) 





. 





- un 


32 


verjchiedeneu Gegenden ded Kantons verbanden; an den Kranz 
von Bildungsanftalten, von der allgemeinen Volköfchule bis zur 
Hochſchule, mit welcher fie in unglaublich kurzer Zeit das Land 
geſchmückt; an die Reform ded Finanz-, des Gefundheitd-, und 
Armenweſens. 

Selbft die Kirche glaubten fie reformiren zu ſollen. 

Aber man verfucht nicht ungeftraft, das Werk eines Sahr- 
hunderts in einem Sahrzehnt zu thun. 

Jene jchöpferifche Regierung fiel, wie einft diejenige Wald» 
mannd, durch einen allgemeinen Bolldaufftand; allein ihre 
Werke blieben beitehen und an die Grundfäulen der VBerfaffung 
wagte Niemand Hand anzulegen. 


IV. Die Niedergelaflenen und die Bürger. 


Noch bleibt mir übrig, mit ein paar Worten den vierten 
Akt unfered Dramas zu charakterifiren: den Kampf der Nieder 
gelaffenen gegen die Bürger. Diefer Kampf ſpielt in allen 
Gemeinden ded Kantons, aber in der Stadt nimmt er ein eigen- 
thümliches Gepräge an. 

Im Anfang der dreihiger Jahre gli Zürich faft einer von 
der LZandichaft eroberten Stadt. Mit Unwillen nur ſah der 
größte Theil der Stabtbürger, wie dad Bauernregiment in 
wilder Haft Thore, Mauern und Wälle niederrik und wie von 
Zag zu Tag fich das Aenbere Zürichs änderte. Sie fürdhteten, 
ihre altehrwürdige Stadt werde zum bloßen Dorfe herabfinfen. 

Nun ftrömten gar nody von allen Seiten die Angehörigen 
der Landſchaft nach Zürich, um fich in der Stadt oder vor ber 
Stadt niederzulaffen und den Bürgern auf allen Gebieten, 
namentlidy aber in Handel und Gewerbe eine mörderiiche Kom 
furrenz zu machen. Dad war für manchen ehrenwerthen Stäbter 
eine jchwere Zeit. 

Aber man glaubte fi) in der Stabt wenigftend mit 


Einem tröften zu können: Die ganze Gemeindeverwaltung lag 
(728) 


83 


noch ganz und ausſchließlich, ſowohl rechtlich als faktiſch in dem 
Händen der Stadtbürger; auf dem Stadthauſe wenigitend 
flatterte die Stadtfahne noch intalt. Die Niedergelafienen waren 
von jeder Theilnahme an der Gemeindeverwaltung ausgeichloffen. 

Zwar war das unter der Helvetit und tbeilweife auch unter 
der Mediationdverfafjung anderd gewejen; 1814 aber hatte man 
den Niedergelaffenen ihre Rechte wieder entzogen und die Ver⸗ 
faflung von 1831 fanktionirte einfach dad Beſtehende. 

Allein war das nicht eine arge Inkonſequenz? Sind denn 
die Gemeindeangelegenheiten eine Privatangelegenheit ihrer Bür- 
ger? Ruht nit auf den Gemeinden der Staat? Haben 
nicht die Niedergelafjenen an guten Schulen, guten Straßen, 
an einer guten Gemeindepolizei dasſelbe Intereſſe wie die Bürger? 
Müflen fie nicht wie dieſe alle Gemeindelaften mittragen? 
Beruht nicht der Wohlitand vieler Gemeinden auf dem Zuzuge 
der Niedergelaffenen? Und wenn, wad Niemand lengnen wird, 
die Theilnahme an der Gemeindeverwaltung eine vortreffliche 
politiſche Schule ift, wie kann denn die Verfafiung die Nieder- 
gelafjenen von derfelben ausſchließen? Kann man da Angefichts 
ſolcher Beſchränkungen nody von wahrer Riederlafjungsfreiheit 
Iprechen? j 

Nein, ed ift ganz Mar: 

Nach demjelben Prinzipe, nach welchem die Aebtilfin den Ge⸗ 
ſchlechtern die Selbftverwaltung ihrer ftädtifchen Angelegenheiten 
nicht verwehren konnte, nach demjelben Prinzipe, nad) welchem die 
Geſchlechter ihre Herrichaft mit den Handwerkern, die Städter 
die Herrichaft mit den Kandbürgern theilen mußten, nach dem⸗ 
jelben Prinzipe müſſen jegt die Bürger — diefe alten Gejchlechter 
in den Gemeinden — ihre Herrfchaft mit den Niedergelafjenen 
tbeilen. 

Und fo geſchah es aud. Gegenwärtig find die jchweize- 
riſchen Niedergelafjenen den Bürgern in Gemeindeſachen faft 
durchweg gleichgeftellt. 


xx. 475. 8 (1729) 


84 


Zuerft brady fi dad Prinzip Bahn auf dem Gebiet der 
Schule; etwas früher auf dem Lande, etwas ſpäter in der Stadt, 
die in diefer Beziehung in Folge eined befonderen Geſetzes noch 
eine bevorzugte Stellung hatte. 

Noch in den fünfziger Jahren hatten die Niedergelafjenen 
zum ſtädtiſchen Schulweſen rein nichts zu fagen. Die ftädttijchen 
Schulen waren ihren Kindern zwar nicht veriähloffen, aber wenn 
fie das hohe Schulgeld von 12 bi8 20 Franken für einen Primar: 
ichüler nicht bezahlen konnten oder bezahlen wollten, jo mochten 
fie ihre Kinder in die von mildthätiger Hand geftiftete Armen: 
Schule zum Brunnenthurm ſchicken. Cine Knabenjetundarfchule 
gab es nicht. 

Endlich verlangten die Niedergelaffenen, im Schulmefen tn 
der Stadt nicht jchlechtern Rechtes zu fein, als im jeder Land» 
gemeinde. 

Die Forderung war jelbftverftändfich nicht abzuweifen, zumal 
die Niedergelafienen bereitd in der Stadt die Mehrheit bildeten. 
Aber gerade dad war der Stein ded Anſtoßes bei einem Theile 
der Bürgerichaft. Wie, die Bürgerſchaft follte durch Herftellung 
einer einheitlichen Schulgemeinde in die Minderheit ſich begeben? 

Unmöglid! 

„War ed da,” fagte man allen Ernftes und tiefbefümmert, 
„nicht eine Pflicht der Behörde gegen die vorangegangene und bie 
fommenbe Generation, wenizftend die hergebrachten bürger: 
lichen Schulen gegen die Fluftuationen einer fo zahlreichen, allen 
Zufälligkeiten preisgegebenen Gemeindeverſamlung ficherzuftellen?* 

Daher verlangten die, welche jo ſprachen, einen doppelten 
Schulorganismus für die Stadt Zürich: Bürgerlihe Schulen 
unter einer bürgerlihen Behörde, Gemeindefchulen unter einer 
bejonderen Gemeindejchulpflege. 

Do fliegt auch hier und zwar unter der Bürgerichaft 
elbft ſchließlich der Einheitd- und Solidaritätsgedanfe: Nur 
Eine ſtädtiſche Schulgemeinde; nur-Eine Stadtjhul- 


(730) 


35 


pflegesnur&inSchulfond. Sa die neue, nunmehr aus Bürgern 
und Niedergelafjenen beftehende Schulgemeinde geht nody einen 
Schritt weiter: Einftimmig beichließt fie 1860 auf Antrag der 
neuen Stadtichulpflege, daß in Zukunft in Zürich wie in allen andern 
Gemeinden des Kantond nur noch Eine, die Kinder aller Volks⸗ 
Haffen umfaljende Primarjchule befteben ſoll; daher feien die 
beiden Schulanftalten, in welche die Primarjchule der Stadt 
Zürich bis anhin zerfiel, nämlich die ftädtiiche Knaben⸗ und 
Mädchenihule und die fogenannte Gemeindejchule im Brunnen- 
thurm in Eine Primarjchule verfchmolzen! 

Jetzt iſt Die lebte Pofition, weldye die Stadtbürger noch 
inne gehabt, genommen. Die rein bürgerlihe Fahne 
auf dem Stadthaufe ift verjhwunden. Sn der Gemeinde. 
verfammlung find die Niedergelaffenen mit mehr ald taujend 
Stimmen in der Mehrheit, obgleich gegenwärtig jeder aufrecht 
ftehende Schweizerbürger nach zehnjähriger Niederlaflung in der 
Stadt fogar ohne Einkauf dad Stadtbürgerrecht erwerben kann. 
Die ftädtiichen Behörden fühlen fih nun ald Wertreter der 
geſammten fchweizeriichen Einwohnerfchaft Zürichs. 

Beginnt!nun der Niedergang der Stadt? 

Geht jebt des Dichterd Spruch in Erfüllung? 

„Wo rohe Kräfte finnlos walten, 

Da kann fih fein Gebild geftalten: 
Mo fi die Völker jelbit befrein, 

Da Tann die Wohlfahrt nicht gebeih'n.” 

Nein. Auch diesmal wieder bezeichnet dad intreten eines 
neuen Vokskreiſes in das öffentliche Leben die Zeit eined neuen 
Aufſchwunges. Jetzt reifen die Bürger — noch find fie in den 
ftädtiichen Behörden in der Mehrheit und werden ed wohl 
noch lange fein, — im fröhlichen Berein mit den Niedergelafjenen 
das lebte Thor, den letzten Thurm noch ein, und Zürich erhebt 
fidy im Glanze der Neuzeit, wie eine Roſe unter den Schweizer: 


ftädten. 
gt 0 


36 





Seht gilt ein anderer Spruch deifelben Dichters, das Wort, 
das der Freiherr von Attinghaufen ſprach, ald er von Stauffacdyer 
hörte, im Rütli babe der Landmann nur geichworen: 

„Hat fi der Landmann folder That vermogen, 
Aus eignem Mittel, ohne Hilf! der Edlen, 

Hat er der eignen Kraft joviel vertraut — 

Sa, dann bedarf ed unferer nicht mehr, 
Getröftet fönnen wir zu Grabe fteigen, 

Es lebt nad) und — durch andre Kräfte will 
Das Herrlihe der Menſchheit fich erhalten. 

Aus diefem Haupte, wo der Apfel lag, 

Wird Euch die neue bei're Freiheit grünen; 
Das Alte ftürzt; es ändert fich die Zeit, 
Und neues Xeben blüht aus den Ruinen.“ 


(782) 


Drud von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerfir. 17a, . 


In demjelben Berlage erichienen: 


LTehrbuch des infernafimnalen Privaktrechts, 
mit bejonderer Berüdfihtigung der englifchen Gerichtspraris 
von 


John Meſtlake. 
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Fr. v. Holtzendorff. 
Eleg. brod. 8 Mk.; gebunden in Briginal-Leinen 9,50 ME. 


Tehrbuch ver Römiſchen Rechtsgeſchichte 
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Deutiche Ausgabe. 
Mit Rückſichtnahme auf das deutſche Univerfitätäftudium bejorgt von 
Fr. dv. Holtendorff. 
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Das Verbrechen Des Mordes und die Todesſtrafe. 
Kriminalpolitiihe und pſychologiſche Unterſuchungen. 


Heraudgegeben auf Grundlage üffentliker in Berlin und in München gebaltener 
Untverfitätd-Borträge von 


sr. v. KHolkendorff. 
Elegant brod. 8 ME. ; gebunden in Halbfranzband 10 ME. 
Die Prinripien der Politik, 
Einleitung in die ſtaatswifſenſchaftliche Betrachtung der Gegenwart. 
on 


Dr. Fr. v. Holtzendorff. 
Zweite durchgehends verbeſſerte und ergänzte Auflage. 
Elegant broch. = Mk.; gebunden in Keinen 8,40 ME. 


Engliſche Verfaſſungsmitande. 


Malter Kagehot. 
Mi Genehmigung d. Verf. in's Deutſche übertragen. Mit einem Vorwort verſehen von 
Fr. v. Holtzendorff. 
Elegant brochirt 4,60 ME. 


Der Jeſuitenorden 
nach jeiner Verfafjung, Doctrin, Wirkſamkeit und Geſchichte harakterifirt von 
Johannes Huher, 
meiland Profeffor und Doctor der Bhilofophie an der Untverfität zu München. 


Elegant brod. 9 Mk.; elegant gebunden in Balbfranzband ı1 ME. 


Materialien der deutſchen Reichsverfaſſung. 


Sammlung ſämmilicher auf die Se ihre Entitehung und Geltung 
bezäglihen Urkunden und Verhandlungen, einſchließlich insbeſondere derjenigen des 
eonftituirenden norddeutſchen Reichstages 1867. 
Auf Veranlaffung und Plangebung von Prof. Dr. Sr. n. Holgendorff 
herausgegeben von 


Dr. €. Kezold. 
gr. Ker.-8. Bd. 1. 10 Mk.; geb. in Halbfranz 12 ME. Bd. IT. 10 ME.; geb. in 
Balbfranz 12 MP. Bd. III. 16 ME.; geb. in Halbfranz ı8 ME. Alphab. Spredy- 
und Sachregifter zu Bd. I/II. 4 ME; geb. in Halbfranz 5,60 ME. 


— 








m — nn 








Sn den früheren Sahrgängen der „Zeitfragen“ erſchienen: 


Nechts⸗ und Staatswifſenſchaft. 
(16 Hefte, wenn auf einmal bezogen a 75 Pf. = 12 Mark) 


v. Bar, Das Deutihe Reihögeriht. (60). » 2 2 2 2 02 nen m. 1.40 
Baron, Angriffe auf dad Erbredt. (85) . 1.— 
Baumgarten, Der Kampf um daß Reicheeivilftanbegefeh i in der raten 
proteftantiichen Kirche. (75) . . 1.20 
Ed, Die neue dentiche Gi tprogeß: ‚Ordnung. (26) .. 3% 1.— 
grande, Die Nachfolge in Braunſchweig ald Frage des Rechtes, (207) M. 1.40 
areis, Der Stlavenhandel, das Völferreht u. d. dentiche Recht. (208) M. 1.— 
Geyer, Ueber die den unfchuldig Angeklagten oder Verurtheitten gebührente 
Entihädigung. (169). .. M. 1.— 
Hergenhahn, Das — im deutſchen Etrafredit. (105) .. M. 1.— 
v. Holtzendorff, J. C. Bluntſchli und ſeine Verdienſte um die State: 
wiſſenſchaften. Mit dem Bildniß Bluntſchli's. (161). M. 
sten, Der Sengnibzwang im Strafverfahren | in gefetätlicer ei, 


Sammers, Belämpfun ag der Truntindt. “(149) . .. 80 
Dient pe ar Eine Metamorphoje im dentſchen Strafrecht. (102) . . 80 
Eigentum und Erbredt. (96). . .. 80 

FI: er, Das eheliche Güterrecht Deutichlande i in Vergangenheit, Gegenwert 
und Zuflunft. (59). . . M. 1.— 
Stammler, Daß römiiche Recht in Deniſchland. a3) .... M. 1.40 
Zachariae, Dad moderne Schöffengericht. (12) .. ne MR. 120 


Sn den früheren Ecrien der „ Sammlung“ erſchienen: 


Nechts: und Staatswiſſenſchaft. 


8 Hefte, wenn auf einmal bezogen à 50 Pf. = 14 Mar. ) 
Auch 24 Hefte und mehr diejer Kategorie rs Auswahl (wenn auf einmal bezogen) 
a 50 ) 





Bamberger, Zur dentihen Münzgeſetzgebung. (161) . nen co 
Baron, Das Heirathen in alten und neuen Geſetzen. ce). 22.2. dB 
Banmeifter, Ucher Aniurien. (343) . 

Bluntſchli, Die Bedeutung und die Fortſchritte des modernen Völterreäts. 


2. Aufl. 0) EEE M. 1.— 
—, Die nattonale Staatenbildung und der moderne deutſche Staat. 2. uf. 
(105) oo. 75 
Cramer, Despotismus und Voliskraft. Eine Goethe‘ ide Sonfeifion.. (207) 75 
ee Die Geſchichte der Givilehe. 2. Aufl. (116 75 
ei Die IE otabivermaltung der City von London. as) . 1 
RN ine Wanderung durch Selönditihe Oefängnifie. 2. Aufl. ey . 60 
Solgendorft, Die britifchen Eolonien. (119). . >22 22.680 
—, Eroberungen und Eroberungsrecht. (1) -» > 2 2 2 2 nee. 75 
—, Die Pindiofogie des Morded. (232) . re M. 1— 
—, Die Auslieferung. der Berbreder und das Ahylrecht. Goe/ .. M. 140 
—, Die Idee des ewigen Völkerfriedens. (403/404) . . .. MW. 1.20 
Kohn, Ueber die Todesſtrafe. 2. Aufl. (36). . M. 1.— 


Kühns, Ueber den Uriprung und dad Weſen des Feudalisinus. 6h 75 
Mittermaier, Das Volksgericht in Geftalt der Echwur: und en 


fl. (18) 75 
Onden, Ariftoteled und feine Lehre vom Staat. (103) 2.68 
Ofenbrüggen, Die Ehre im Epiegel der Zeit. (152). . 0... .. 68 
Sande elitzſch, Soriale Rechte und Pflichten. (8). . .. 9% 
Seuffert, Das Antorreht an literariihen Erzeugnifien. (186) . 0 
Stammler, Ucber die Stellung der Srauen im alten bene Red (ass) 75 
Wilutzky, Der Sachſenſpiegel. (356). . .» - .. 
Birth, Die foctale Frage. (156) . . 0. so 
Zelle, Wailenkinder und Waijenpflege in Berlin. 2. Aufl. 
—, Reform der Vormundſchaftsgeſetzgebung. Staatd- oder Selbnbiilfe (101) 60 


BE DBeitellungen nimmt jede Buchhandlung entgegen. "ug 
Berlin SW., 33 Wilhelmftraße 33. 
Earl Babel. 


(C. G. Lũderitz'ſche Verlagsbuchhandlung.) 


Sammlung 
gemeinverftändlicher 


wiffenfhaftlidher Vorträge, 


heraudgegeben von 


Nud. Virchow und Br. von Holgendorff. 


Pl > 


— — — — — — — — 


xx. Ser.“ - 


(Heft 457 — 480 umfaflend) nn 








— — — — 


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—X — 
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— 
— — 


Heft 476/477. 


Die Anfünge der Eifenkultur, 


Bon 


Morit Alsberg. 


CH 


Berlin SW., 1856. 


Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. Tüderity'sche Verlagsbuchhandlung.) 
33. Wilhelm⸗SEtraße 33. 


ßñß —— 


J 
muB Ca wirb gebeten, die anderen Seiten des Umfchlages zu beachten. A 


AO 





Su demfelben Verlage ift ſoeben erichienen: 


Die chemiſche Datur ver Mineralien. 


Spftematifch zufammengeftellt 


von 


C. 3. Rammelsherg, 
Doctor und Brofeflor, Director des II. Chemiſchen SInftituts, Mitglied der Akademie 
er Miffenfchaften zu Berlin. 
ein, broch. 3 Marf ord. 


Die Kenntniß der chemiſchen Natur der Minerallen ift nicht bloß für den 
Mineralogen und Gevlogen, jondern and für den Chemiker eine Notk- 
wendigkeit. Dieje, gleich Allen, welche bent zu Tage ſich mit mie und 
Mineralogie beichäftigen, haben das Bedürfniß, —X — eine Ueberſicht Aber 
die hemiihe Natur der wichtigften Diineralien zu Derihaffen und Shnen vorzugd: 
weife fol dad vorliegende Werk gewidmet fein. 








In demfelben Berlage erjchienen ferner: 


Grundriß der Chemie 


gemäß den neueren Anfichten. 
Don 


C. %. Rammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerfität u. Gewerbe-Alademte, Mitglied der Akademie ber Wiffenſchaften zu Berlin x. 


Fünfte nerhefferte Auflage. 
Sieg. brod. 6 ME. 60 Pf.; geb. in Halbfranz 8 ME. 60 Pf.; geb. in Schulband 
TME 10 Pf. 


— — — — — 


Leitfaden 
für die quantitatiue chemiſche Analuſe 


beſonders der Mineralien und Hüttenprodukte, 
durch Beiſpiele erläutert von 


C. F. Rammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerfität u. Gewerbe⸗Akademie, Mitglied der Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin ec 


Aritte umgearbeitete Auflage. 
Eleg. brodh. 5 Mf.; geb. 5 ME. 40 Pf. 


Leitfaden 
für die yunlitotine chemiſche Anulyfe 


für Anfänger bearbeitet von 
C. F. Rammelsber 


Dr. u. Prof. an der Univerfitaͤt u. Gewerbe: Akademie, Mitglied der : ademie der Wiffenfchaften zu Berlin x. 
Sichente Auflage. 
leg. broch. 8 ME.; geb. 8 ME. 80 Pf. 


Elxrmentre ber t Aryftallographie 


Chemike 
Von 


C. — Rammelsberg, 
Dr. u. Prof. an der Univerfität u. Gewerbe kademie, Mitglied der Akademie der Wifſenſchaften zu Berlin ıc- 


Kit 151 Holsfchnitten. 
Eleg. broch. 5 ME.; geb. in Schulband 5 Mi. 30 Pf. 


Die 


Anfänge der Eifenkaltur. 


EI II GE LI LI BET DT BL BI DD BT 


Bon 


Korik Alsberg. 


Gh 





v 
Serlin SW., 1885. 
Berlag von Carl Habel 
(©. 6. Tüderity'sche Verlagsbuchhandlaug.) 
33. m⸗Straße 88. 





Das Recht ber Ueberſetzung in frembe Sprachen wirb vorbehalten. 


Wenn es wahr iſt, was Niemand bezweifelt, daß die 
Benutzung von Werkzeugen und mechaniſchen Hilfsmitteln eines 
der hauptſächlichſften Merkmale darſtellt, wodurch ſich der Menſch 
vom Thier unterſcheidet, ſo muß die erfte Verwendung von 
Metallen zur Herſtellung von Geräthen und Waffen als eines 
der wichtigſten Ereigniſſe in der Geſchichte der menſchlichen 
Kulturentwickelung betrachtet werden. Im Gegenſatz zu jenem 
ungezählte Jahrtauſende umfaſſenden Zeitraum, während deſſen 
durch die Unvollkommenheit der aus Stein, Knochen, Horn und 
Holz beſtehenden Werkzeuge und Geräthſchaften dem auf niederer 
Bildungsitufe befindlichen Menſchen der Kampf um's Dafein 
außerordentlich erjchwert wurde — im Gegentheil hierzu bat 
die Benubung von Metallen zu den befagten Zwecken die Ueber 
legenheit des Menſchen über die Thierwelt erft völlig gefichert. 
Diejelbe bezeichnet auch injofern einen Wendepunft in der Ge- 
Ihicyte der Menfchheit, als die aus dem Metallgebraudy hervor⸗ 
gehende größere Freiheit und Selbititändigleit des Menichen- 
geſchlechts allmählig politiſches Bewußtſein heranreifen ließ und 
auf diefe Weile den Anſtoß gab zur Errichtung von Denke 
mälern — dazu beitimmt, bie Erinnerung an bedeutjame Er⸗ 
eigniffe auf kommende Generationen zu vererben — jowie zu 
jenen Aufzeichnungen, welche für die hiftorifche Sorjchung von 
größter Wichtigkeit find. Da aber die joeben erwähnten Hülfs- 
mittel der Geſchichtsſchreibuug einem Kulturzuftande ihre Ent» 


XX. 476. 477. 1° cas») 


4 


ftehung verdanken, welcher erft nad) der Einführung der Metalle 
fi allmählig entwidelte, fo darf es nicht verwundern, daß wir 
über Urfprung und Verbreitung ber metallurgiichen Kenntnifle 
nur wenige und jehr unvollftändige hiftoriiche Zeugniffe befiten- 
Trotzdem ericheint es wohl möglich über die Umftände, unter 
benen ſich die Einführung der Metalle bei verſchiedenen Völkern 
und in verfchiedenen Ländern vollzogen hat, Genauered zu er 
fahren — lebtered um fo mehr, ald Sagen und dichterifche 
Meberlieferungen, ferner die aus Iprachlichen Bezeichnungen zu 
ziehbenden Schlüffe, jowie vor Allem die in den Gräbern und 
Zrümmerftätten der Borzeit erhaltenen Metallobjefte, die Refte 
uralter Bergwerke und Iuduftrieanlagen u. |. w. dem Urgefchichtd« 
forſcher behufs Löjung des in Rede ftehenden Problems wich—⸗ 
tiges Material bieten. — Im Nachfolgenden wollen wir ver 
ſuchen, den Einfluß, welchen fpeziell das Eifen in vor- und früh—⸗ 
geichichtlicher Zeit auf den Entwicklungsgang der Menjchheit 
audgeübt hat, in feinen Hauptumriffen darzulegen. 

Dad von allen Metallen das in der Natur bier und da in 
gediegenem Zuftande vorfommende und nicht felten im Sande 
der Zlüffe auftretende Gold wohl zuerft die Aufmerkſamkeit 
des vorgefchichtlichen Menfchen auf fich lenkte, tft in hohem 
Grade wahrſcheinlich. Andererſeits unterliegt es aber Teinem 
Zweifel, dab nicht die wegen ihrer Schönheit und ihres feltenen 
Vorkommens fchon in frühefter Zeit geſchätzten Edelmetalle, 
fondern vielmehr die Hartmetalle — indbefondere Eiſen und 
Kupfer, fowie Die Legirung bed leßtgenannten Metalld mit 
Zinn: die Bronze — vermöge jener Gigenfchaften, welche fie zu 
jchneidenden Werkzeugen geeignet machen und indem fie ben 
Anforderungen Eriegerifcher und friedlicher Bejchäftigungen ent« 
Iprachen, im Leben des vorgefchichtlichen Menfchen eine bervor- 


tagende Rolle geipielt haben. Mit der Bezwingung des Eijend 
(T36) 








5 


— jener Subftanz, welde ald Material für Schienenwege, 
Magen, Schiffe, zahlloſe Maſchinen und Utenfilien noch heute 
die Grundlage unferer gefammten modernen Kultur bildete — 
fowie mit der Crfindung der Bronze war es möglich geworden, 
den Widerftand der Feſtigkeit zu brechen, war die Aufgabe 
maffive Bauten zu errihten, zur Grleichterung des Verkehrs 
Straßen berzuftellen und den Betrieb zahlreicher Gewerbe und 
Snduftrien durch Herftelung geeigneter Werkzeuge und Gerätbe 
zu fördern, außerordentlicdy erleichtert. — Was ferner die Frage 
anlangt, welchem von den beiden joeben erwähnten Nubmetallen, 
dem Kupfer reip. der Bronze — oder dem Eiſen in der Ge⸗ 
ſchichte der menſchlichen Kultur das Anciennetätdrecht zulomme, 
fo waren ed ſtandinaviſche Forſcher, welche fich ſtützend auf die 
Thatſache, daB in Gräbern aus vorgefchichtlicher Zeit Bronze 
häufig, Eiſen dagegen relativ felten angetroffen wird und daß 
an Fundftätten, deren hohes Alter durch anderweitige Umftände 
bezeugt wird, die Bronzeartifel in der Regel vorherrichen, zu⸗ 
erft die Anficht ausiprachen, daB dem Gebrauche des Eiſens 
derjenige der Bronze voraudgegangen jei und daß dementjprechend 
von den erften Kulturanfängen des Menjchengeichlechtö zur 
geichichtlichen Epoche vorwärtäichreitend Steinzeit, Bronzezeit 
und Eiſenzeit unterjchleden werden müſſe. Wenn nun aud 
freilich gegen die foeben erwähnten Anjchauungen während der 
lebten Sahre vielfach Einwände erhoben wurden und obwohl 
von deutſchen Forſchern wiederholt darauf hingewieſen wurde, 
daß in ſolchen Kändern in welchen Kupfer jelten oder gar nicht, 
Dagegen Eijenerze in allgemeiner Verbreitung angetroffen werden, 
von den Bewohnern wohl zuerft Eifen hergeftellt worden jet — 
troß dieſer Einwände zählt die Lehre von der Bronzezeit d. h. 
einer bejonderen Kulturepoche, innerhalb deren Die Legirung von 
Kupfer und Zinn ald einziged Nutzmetall im Gebrauche gewejen 


(187) 





6 


fein fol, in den Kreiſen der Urgeichichtöforjcher und Archäologen 
immer noch zahlreiche Anhänger. Bei der Beurtheilung diefer 
Derbältniffe wird aber häufig überjeben, daß Cijenfunde fi 
bier und da — wenn aud nur in vereinzelten Fällen — er- 
halten haben aus Zeiten, in welcher die Bronze noch nicht 
nachgewiejen werden kann und daß auch in foldyen Fällen, wo 
in Gräbern, Trümmerftätten und an jonftigen Fundorten Eifen 
fehlt, Bronze dagegen angetroffen wird, die urjprüngliche Abe 
wefenheit des zuerft genannten Metalls in den betr. Kofalitäten 
keineswegs ohne Weitered angenommen werden darf, daß viels 
mehr nur unter beſonders günftigen Umftänden das leicht orydir- 
bare Eifen der Zerftörung durch Roft und Bodenfeuchtigkeit ent- 
gehen konnte. Zu erwägen ift ferner, daß auch da, wo das 
Eiſen in Gräbern von vornherein gefehlt bat, diefer Umftand 
für den Nichtgebrauch dieſes Metalle in der betr. Kulturepoche 
an und für fi) feinen Beweis liefert, dab vielmehr die größere 
Koftipieligfeit und Werthſchätzung der Bronze in vor- und frühe 
geihichtliher Zeit in vielen Fällen dazu geführt haben mag, 
diefelbe mit Ausfchluß von Eiſenobjekten den Todten mit in's 
Grab zu geben. Endlich find ed — und dies ift ein Punkt, 
der nicht genug hervorgehoben werden kann — vor Allem 
metallurgijche Gründe, weldhe die obenerwähnte Theo» 
rie von einer dem Gebrauche des Eijend vorangehenden 
Bronzezeit in hohem Grade zweifelhaft erſcheinen 
laſſen. ragen wir nämlich, wie wir und die erfte Darftellung 
der Bronze vorzuitellen haben, fo ift zwar die Möglichkeit, daß 
ein zufäliges Zufammenjchmelzen von Kupfer und Zinnerzen 
zur Erfindung der Bronze geführt habe, nicht ausgeſchloſſen; 
andererjeitö - deutet aber das Sunebalten eines beftimmten 
Miſchungsverhältniſſes, wie es fich bei der überwiegenden 


Mehrzahl der prähiftorifchen Bronzen mit Sicherheit nachweilen 
(738) 


7 


läbt, darauf hin, daß die Kenntniß und Ausichmelzung des 
metallifhen Kupferd und Zinned der Herftellung der Legirung 
voraudgegangen iſt. Praktiſch Läuft aljo die Enticheidung der 
Frage, ob Bronze oder Eiſen zuerft zur Herftellung von Geraͤth⸗ 
ichaften und Waffen benußt wurde, darauf hinaus, ob Kupfer 
oder Eifen am Früheften befannt war. Was lehteren Punkt 
anlangt, welcher, wie oben bemerkt, durch hiſtoriſche Beweis⸗ 
mittel nicht entjchieben werden fann, fo hebt Bed!) hervor, daB 
feineswegd, wie man irrthümlicherweife häufig annimmt, tech⸗ 
nifhe Gründe für die Priorität des Kupfers fprechen. Aller- 
dings wird dieſes Metall häufig in gediegenem Zuftande ;ange- 
troffen, aber doch nur an wenigen Orten (wie 3. B. am Oberen 
See in Nordamerila) in ſolchen Maſſen, dab man daſſelbe 
direkt zu Werkzeugen verarbeiten kann. Yür die Gewinnung im 
Großen kam vielmehr, wie dies noch heutzutage der Fall ift, 
auch in vor⸗ und frühgeſchichtlicher Zeit lediglich die Darftellung 
des Metalles aus feinen Erzen in Betracht, wobei wir mit 
ziemlicher Sicherheit vorausjegen dürfen, daß ſowohl Kupfer 
wie Eijen in der Vorzeit aus ihren orydilchen Erzen (die heut- 
zutage vielfady Verwendung findenden Schwefelerze ftellen der 
Bearbeitung größere Schwierigkeiten entgegen ald die Oxyderze) 
dargeftellt wurden. — Dies nur beiläufig. Um auf die Frage 
zurüdzulommen, ob die Darftellung des Kupferd ober diejenige 
des Eiſens älteren Urſprungs ift, fo find 2 Punkte in diefer 
Streitfrage von herporragender Wichtigkeit, nämlidy 1. die That» 
fache, daB Kupfererze weit weniger verbreitet find ald &ijenerze 
(ein Umftand der durch die auffallendere Färbung der zuerft 
erwähnten Subitanzen keineswegs auögeglichen wird) jowie 2. 
die Thatjache, dab die Gewinnung des Eiſens aus feinen Erzen 
aus ſogleich zu erwähnenden Gründen für den vorgeſchichtlichen 


Menſchen eine weniger fchwierige Aufgabe war al8 diejenige 
(739) 


8 


des Kupferd aus den Kupfererzen. Während man nänlich, um 
dad zulegt erwähnte Metall aus feinen Erzen abzujcheiden, 
legtere bis über den Schmelzpunft ded Kupfers (1100° ©.) hin- 
aus erbiten muß, befitt das Eiſen, defien Schmelzpunft aller- 
dings noch etwad höher als derjenige des Kupferd gelegen ift, 
bie wichtige Eigenſchaft, ſchon vor dem Schmelzen in einen 
wachdartigen Zuftand überzugehen, tn weldem die einzelnen 
Theilchen leicht zu einem Klumpen zufammenfleben, und wird es 
auf diefe Weile möglich, ſchon bei verhältnigmäßig niedriger 
Zemperatur (ca. 700° C.) das Eiſen als eine lofe zuſammen⸗ 
bängende, ſchwammartige Maffe, die fich aber durch wiederholtes 
Glühen und Ausfchmieden wie unfer Stabeiſen zu jedem bes 
ltebigen Zwede verarbeiten läßt, and feinen Erzen abzujcheiden. 
Daß aber gerade der joeben erwähnte Punkt, nämlich die Ge⸗ 
winnung des Eiſens beiniedriger Temperatur für die Ent- 
ſcheidung der Prioritätäfrage von höcdjfter Bedeutung ift, unterliegt 
wie ſchon bemerkt, feinem Zweifel. Speziell in der Erreichung 
hoher Schmelztemperaturen lag für die in ihren Hülfsmitteln 
beichränften Metallurgen des Altertbumd und der vorgeſchicht⸗ 
lichen Zeit die größte Schwierigleit — eine Schwierigleit, die 
heutzutage nur durch zweckentſprechende Konftruftion des Schmelz. 
apparatd, gute Qualität des Brennmateriald und geeignete 
Rindzuführung überwunden wird. 

Aus dem Gefagten dürfte wohl zur Genüge hervorgehen, 
daß die metallurgifchen Thatfachen der Theorie von einer dem 
Gebrauche des Eiſens vorangehenden Bronzezeit keinedwegs 
das Wort reden. Während einerſeits angenommen werden muß, 
daß in jenen vereinzelten Lokalitäten, wo gediegenes Kupfer in 
größerer Menge fich vorfand, diefes Material ald erſtes Nutz⸗ 
metall verwendet wurde, fo tft ed andererjeitö doch wahrfcheinlidy 


— wir fagen: wahrſcheinlich; denn eine endgültige Ent- 
(140) 


9 


ſcheidung dieſer Frage muB der Zukunft vorbehalten bleiben — 
daß der vorgeſchichtliche Menſch Eiſen im Allgemeinen 
früher als Bronze darftellte. Zu letzterem Schluffe führt 
auch die Erwägung, daß die Heritellung von Bronzegeräthen 
und Waffen, infofern ald fie Die Kenntniß des Kupferausbringens, 
des Zinnfchmelzens und der Kunft zu formen und zu gießen be- 
dingt, einen Kulturzuftand vorausjebt, höher als derjenige, 
welchen die Gewinnung unb Verarbeitung des Eiſens erheiicht, 
und daB die Erfindung der Legirung bereitö einen bedeutenden 
Fortſchritt in der Metallurgie darftellt. Auch liegt ed auf der 
Hand, daß wegen des feltenen Borfommens der Zinnerze, reſp. 
der Entfernung der Bezugdquellen von den Kulturcentren der 
alten Welt die Bronze erft zu einer Zeit, wo bereit3 ein aus⸗ 
gedehnter Handelöverkehr eriftirte, eine allgemeine Verbreitung 
und Verwendung finden konnte. — Um auf die Gewinnung 
des Eiſens zurüdzufommen, jo barf nicht überjehen werden, daß 
dieſes Metall, wie es mit den befchränkten Hülfsmitteln bes 
vors und frühgefchichtlichen Menichen durch einfadhe Reduktion 
des Etienfteined hergeftelli wurde, im Anfang noch nurein und 
unvolllomnen war, daß, ob ein bärtered (ftahlartiges) oder 
weichered (unjerm Schmiedeeifen ähnliches) Produkt fiel, zum 
Theil von ber Natur der Erze, zum Theil auch von Zufällig- 
Teiten abhängig war und baß die Technik des Eiſenguſſes — 
bei allen Metallen ift die Kunft des Schmieden als 
der einfachere Prozeß derjenigen des Gießens voraus— 
gegangen — nicht nur in prähbiftoriicher Zeit, fondern, wie 
es fcheint, während des ganzen Alterthums, ja bis gegen den 
Schluß des Mittelalter unbelannt geblieben tft. — Bezeugt 
wird das hohe Alter der Eifeninduftrie durch eine Anzahl anderer 
Umftände, die mir bei Betrachtung der Verwendung des Eiſens 
bet verfchiedenen Voͤlkern und in verſchiedenen Ländern zu er 


(741) 











10 


wähnen Gelegenheit haben werben. Für den Augenblid jei 
bier nur bemerkt, daß die meiften alten Völkern den Urfprung 
oder die Entdedung ded Metalle einem Gott oder einem gott⸗ 
lichen Weſen — die Egypter dem Dfiris, die Römer dem Vul⸗ 
fan, die Germanen dem Odin, die Griechen dem Kadmos, dem 
Prometheus, den Kabiren u. |. w. — zufchrieben und daß auch 
Diejenigen Angaben, welche in dad Gewand der Geſchichte ger 
kleidet ericheinen, wie 3. B. diejenige der pariichen Marmor- 
hronit — wonach phrygiſche Daktylen das Eiſen im Jahre 
1432 v. Chr. entdeckt hätten — und die Mittheilung der chine⸗ 
fiichen Annalen — derzufolge das Eifen in China um 2940 v. Chr. 
erfunden wäre — in das Gebiet der Sage zu verweilen find. 

Eine Frage, die wir nicht unerörtert laffen dürfen, tft die, 
ob nicht die Eifentmduftrie in vor: und frübgejchichtlicher Zeit 
von der Derarbeitung des Meteoreijend ihren Ausgang ges 
nommen hat. Was dieſen Punkt anlangt, jo liegt es nahe 
daran zu benfen, daß jene Meteoreiſenklumpen, welche von Zeit 
zu Zeit aus dem Weltenraum auf unfere Erde niederfallen, zu- 
erft die Aufmerkſamkeit des prähiftoriichen Menſchen erregten 
und von demfelben zu techntichen Zweden benubt worden jeien 
— eine Vermuthung zu deren Gunften die Thatſache angeführt 
worden ift, daß Meteoreilen fich zu einer harten, allerdings 
zugleich jpröden Maffe ausjchmieden läßt, jowie der Umftand, 
daß daſſelbe noch jeßt von einzelnen Bölfern (jo 3. B. von den 
Bewohnern des Tolukathales in Merilo) zu Werkzeugen 
und Geräthen verarbeitet wird. Andererfeitd darf aber nicht 
überjehen werden, daß die Seltenheit des Meteoreiſens — 
deffen größere, mit den dem vorgefchichtlichen Menſchen zu Ge⸗ 
bote ftehenden Hülfsmitteln nicht zu zertheilende Blöde für die 
Berwendung nicht in Betracht kommen — und die Mangel» 


baftigfeit des and diefem Material zu gewinnenden Produktes 
(743) 





11 


die Annahme von der Berarbeitung der aus dem Weltenraum 
ftammenden Eijenmaflen in fern entlegener Zeit keineswegs 
unterftüßen. Auch wäre jelbft, wenn die gelegentlihe Auf. 
findung eines Meteoriten zu dem Berjudy einer Verarbeitung 
geführt haben follte, doch immer noch jened andere Berfahren 
— nämlich die Ausjchmelzung der Eiſenerze — aufzufinden ge» 
wefen, deſſen Kenntnib allein zu einer metallurgifchen Induſtrie 
führen fonnte. Immerhin tft die mohlbeglaubigte Thatſache, 
daß die Natur der Meteoriten Ichon vor Sahrtaufenden erkannt 
wurde, injofern von Wichtigkeit, als dieſelbe zu dem auderen 
Umftänden, weldye da8 hohe Alter der Eifeninduftrie bezeugen, 
noch einen weiteren Beweis hinzugejelt. Wenn z. B. der Be- 
wohner ded alten Egyptend das Eiſen ald Baaenepe (koptiich 
beniye) d. i. Metall ded Himmels, der Hellene bdafjelbe als 
osönpos — ein Wort, welches urſprünglich wohl die nämliche 
Bedeutung hatte — bezeichnet, jo erhellt daraus, daB er fich 
ber Identität des Meteoreifend und der aus den Eifenerzen ge⸗ 
wonnenen Subftanz fehr wohl bewußt war nnd damit ift zugleich 
erwielen, daß dieje Völker zur Zeit, wo die bejagten Bezeich⸗ 
nungen gebildet wurden, mit ber Gewinnung reſp. Verarbeitung 
bes Metalled bereitö vertraut waeen. 

Unfere Anficht, daß nicht etwa, wie vielfach angenommen 
wird, der Gebrauch der Bronze demjenigen ded Eifend voraus» 
gegangen jet, fondern daß vielmehr beide Subftanzen von gleich 
hohem Alter feien, wenn nicht gar die Darftelung und Ver⸗ 
wendung ded Eifend für älter ald diejenige der Bronze gelten 
muß — diefe Anficht haben wir im Vorhergehenden zum Theil 
damit motivirt, dab wir auf die im Verhältniß zur Ausſchmel⸗ 
zung der Kupfererze einfache Gewinnung des Eijend and feinen 
Erzen aufmerkſam machten. Was diefen Punkt anlangt, fo 
find die Erfahrungen, welche wir über die Eijeninduftrie 


(748) 








12 


ber Neger befiten, infofern von höchſtem Sntereffe, als fie 
zeigen, wie Völker, welche im Uebrigen noch auf ſehr niedriger 
Kulturftufe ftehen und in ihren technijchen Hülfömitteln außer⸗ 
ordentlich beichräntt find, doch bereits das Nutzen [pendende 
Metall aus feinen Erzen zu gewiunen verftehen. Audy geftattet 
die bei den afrifaniichen Stämmen fi gegenwärtig findende 
Eifeninduftrie ſchon deshalb einen Rückſchluß auf die in vor» 
und frühgejchichtlicher Zeit fallende Entwidlung der Metallurgie 
bei den Voͤlkern Europas und Aftend, weil jene Einflüffe, denen 
die zulebterwähnten Erdtheile „ihre kulturelle Entwidlung ver 
daufen, auf die Bevölkerung des dunklen Continents entweder 
gar feine oder nur eine oberflädhliche und vorübergehende Ein- 
wirkung ausgeübt haben und weil wir aus den übereinftimmenden 
Berichten von älteren und neueren Beobachtern und Reiſenden 
ſchließen müffen, daß die &ijen-Gewinnung und »Bearbeitung, 
wie fie von den Anwohnern des Zambefe, von Kaffern und 
Hottentoten, von Aſhanti's und Guineanegern, von den Bam» 
barra’8 und Maruzzi’d, fowie von vielen anderen afrilanijchen 
Stämmen betrieben wird, eine auf afrilantihem Boden autochthon 
entftandene Induſtrie ift und daß diejelbe in Folge der Iſo⸗ 
lirung dieſes Erdtheils und der für fremde Kultureinflüffe wenig 
zugänglichen Natur des Negerd Iahrtaufende hindurch ihren 
urfprünglichen Charakter bewahrt bat. Ebenfo wie bei den 
prähiftoriichen Völkern Aftend und Europad die Außjchmelzung 
der Erze ald Ausgangspunkt aller metallurgijchen Operationen 
zu betrachten ift, fo beginnt nah den Schilderungen Schwein- 
furth’3 die Metallinduftrie der centralafrikaniſchen Völker mit 
ber Herftellung jener ihöneren Schmelzöfen, in deren unterem 
Theil 4 ſich diametral gegenüberftehende, zur Aufnahme von 
Düfen beftimmte Köcher fich befinden, durch welche mit Hülfe 
von höchſt primitiven Gebläfevorrihtungen dem Boden des 


(744) 





13 


Dfend ein ftarfer Luftzug zugeführt werben kann. Der Ofen 
wird bis zu $ mit den aus dem Holze der Mimofe hergeftellten 
Kohlen gefüllt, auf lebtere wird der zerfleinerte Eifenftein ge- 
Ihüttet und dann dad Feuer von unten angezündet. Nach Vers 
lauf von etwa 40 Stunden beginnt die Schmelzung. Schlade 
und reduzirted, unvollftändig gekohltes und halbgeſchmolzenes 
Eiſen finfen in den am Boden bed Ofens befindlichen Herd 
hinab, wo da8 ftahlartige Eifen fi zu einem Klumpen (Luppe) 
zujammenballt, der durch eines der Formloöcher herausgezogen 
und jpäter durch wiederholte Hämmern mit Steinen und Er» 
biten am Feuer ded Schmiedeofend von der beigemengten 
Schlade gereinigt wird. Dad Produkt ift ein zur weiteren 
Berarbeitung mwohlgeeigneted Eiſen. — So viel über die Ted) 
nit der Eiſenſchmelzung, wie fie zufolge den Berichten der 
Afrikareifenden mit unwefentlidhen Abweichungen bei den meiften 
eifenproduzirenden Negerftimmen Central» und Südafrikas ſich 
wiederholt. Wir haben bdiefelbe eingehender bejchrieben, weil 
dieſes Berfahren auch bei anderen Bölfern in vor« und früh» 
gefchichtlicher Zeit vielfach in Anwendung fam. Auch fei bier 
noch darauf hingewieſen, daß während die Eifen-Gewinnung und 
sBerarbeitung von afrikanischen Eingeborenen ſchon vor Jahr⸗ 
taufenden ausgeübt wurde — (da8 hohe Alter der afrilanijchen 
&ifeninduftrie wird durch gewiſſe im Nacdhfolgenden zu erwäh- 
nende bildliche Darftellungen in den egyptiichen Königsgräbern 
bezeugt) — Kupfer im Allgemeinen in Afrika nur ſehr jelten 
verarbeitet wird und daß von den afrifaniichen Naturvöltern 
fein Einziges bis jet weit genug fortgefchritten ift, um kiefiges 
Kupfererz verhütten zu können. — Das wad wir joeben über dad 
Alter der afrikanischen Eijengewinnung und Berarbeitung be» 
merkten, gilt befonderd für die nordafrilaniichen Gebiete, vor 
Allem für die Provinzen Kordofan und Darfur, welche zweifeld- 


(745) 


14 





obne auf die Metallfultur de alten Egyptens einen wichtigen 
Einfluß ausgeübt haben. In diefen Gebieten bat z. B. Ruſſegger 
auf einer Fläche von 400 bi8 500 Duadratflaftern nicht weniger 
als 350 theils offene, theild verbrodyene Schächte — die Webers 
bleibjel eined Sahrtaufende alten Bergbaus — angetroffen unb 
wirb dafelbft noch heute faft in jedem Dorfe Eiſen geichmolzen. 
Auch unterfcheidet fih, wie wir beiläufig bemerken, die Eiſen⸗ 
Ichmelzung Kordofand und Darfurd von derfenigen, wie fie in 
Gentrals und Südafrika betrieben wird, im Wefentlichen nur 
dadurch, dat nicht wie in den zulebt genannten Gegenden Defen 
aus Thon Eonftruirt werden, fondern daB die Schmelzung des 
im Sudan und den angrenzenden Gebieten verbreiteten Rafene 
eiſenſteins, welcher zur Herftellung eined graupigen, von Schladen 
mehr oder weniger durchfebten, aber in Folge jeined Gehalts 
au Phosphorfäure wenig kaltbrüchigen Eiſens dient, dafelbft in 
Schmelzgruben vorgenommen wird.?) 

Soviel über die Eiſen-Gewinnung und =Berarbeitung der 
Negerftämme Afrikas — eine Induftrie, die, wie ſchon bemerft, 
für die Entjcheidung der und befchäftigenden Frage in fofern 
von Bedeutung ift, als fle zeigt, wie Völker, welche fich noch 
auf jehr niedriger Kulturftufe befinden und denen die Bronze 
völlig fremd ift, mit Hülfe eines einfachen Schmelzverfahrens 
die in den von ihnen bewohnten Ländern ſich findenden Eiſen⸗ 
erze zur Heritellung ded Metalle zu benutzen und Letzteres zu 
bearbeiten verftehen. — Werfen wir einen Blid hinüber nad 
dem amerikaniſchen Sontinent, wo befanntlidy von den ſpani⸗ 
chen Sntdedern in Peru und Mexiko eine alte hochentwidelte 
Kunft der Metall-Gewinnung und »-Berarbeitung angetroffen wurde, 
jo bat fich die Alterthumsforſchung bezüglidy der Frage, ob das 
Eifen bereit8 vor der europätjchen Snvafion in Amerika befannt 


gewejen fei, bis vor Kurzem durchaus ablehmend verhalten. 
(148) 





15 


Noch auf dem im September 1877 zu Conſtanz abgehaltenen 
Congreß der dentichen Anthropologen äußerte Rudolf Virchow: 
„Ich darf wohl daran erinnern, daß bis zu dieſem Augenblide aus 
ganz Amerika keine Beobadytung befannt ift, welche darthäte, daß 
die amerifanifchen Voͤlker zur Zeit der Entdedung ihres Landes 
Eifen bearbeitet hätten.” — Gegen diefe Anfchauung ift jedoch 
neuerdings Hoftmann (Bergl. Bed a. a. D.) aufgetreten, indem er 
einerfeitd zeigt, wie in Folge der durch die fpanifche Befitergret- 
fung bewirften plößlichen und abfoluten Vernichtung der eins 
heimifchen Kultur über die Urzuftände der amerifanifchen Be⸗ 
völferung ſich leicht irrige Anfichten verbreiten konnten und 
indem er amdererjeit3 aus dem Beichreibnngen und Berichten 
von Reiſenden des 16. und 17. Sahrhunderts eine Anzahl von 
Beobachtungen zufammenftellt, welche es wahrfcheinlich machen, 
daß von den Völkern Nord» und Sübdamerifad einzelne mit dem 
Eiſen und feiner Verarbeitung vertraut waren, ehe fie noch mit 
europäifcher Kultur in Berührung kamen. So bediente man 
fih, wie Joſé de Acofta berichtet, in Paraguay zur Zeit, als 
die erften Europäer died Land betraten, an Stelle des Geldes 
ftempelförmiger Eifenftüdchen; jo entdedte Amerigo Bespucci 
an der La Plata-Mündung einen Stamm, mweldyer eijerne Pfeil« 
ipigen verwendete, umd weiter im Innern des Landes ftieß ber 
Gouverneur Jaime Rasquin in 1559 auf eine Bevölferung, 
die mit Meffern, Aerten und Wurfipeeren aus Eifen verjehen 
war und auch den Griff der Holzichwerter mit Eiſendraht ver- 
ziert hatte. So läßt ferner auch dad Buch, worin Fernando 
Columbus die Reifen feines berühmten Vaters nad) deffen Tode 
fchildert, ferner die Berichte von Juan Perez, Juan de la 
Bodega y Duadra, Cool, Behring u. A. feinen Zweifel 
darüber beftehen, daß in verfhiedenen Gebieten Nord- 


und Südamerifad, fowie auch der Infel Guadeloupe 
(747) 


16 


zur Zeit, ald die Entdeder dajelbft landeten, Eiſen 
bereits belannt und in Gebraud war, womit jedod 
keineswegs gejagt fein foll, daß in dem mit gebie- 
genem Kupfer bejonderd reich audgeftatteten Nord- 
amerila die Verwendung des Eiſens an Häufigkeit 
und Bedeutung derjenigen bed Kupfers gleichge- 
fommen wäre. Als einen weiteren Beleg für feine Anficht, 
daß das Eiſen ſchon vor der Entdedung des Eolumbus in 
ber neuen Welt bekannt geweſen fei, führt Hoftmann an, 
dat nordamerilanifche Archäologen etjerne Geräthe und dergl. 
in alten Grabftätten, in Felöipalten, unter alten Baummurzeln 
und am anderen Orten aufgefunden haben, wobei freilich ent- 
iprechend der bis vor Kurzem allgemein verbreiteten Anficht, 
daß den Eingeborenen Amerikas das Eifen erft durch die einger 
wanderten Europäer zugeführt worden fei, das Alter diefer Funde 
in den meiften Fällen beftritten wurde. — Was fpeziell die Be 
wohner Mexikos und Perud anlangt, jo macht ed die hohe Ent- 
wicklung der Metallurgte — die große Geſchicklichkeit, welche die 
auf hoher Kulturftufe befindliche Bevölferung diefer Länder in 
der Bearbeitung des Kupfers, Goldes und Silbers an den Tag 
legte — von vornherein unmwahrjcheinlih, daß diefen Völkern 
die eminent praftiiche Bedeutung des Eiſens entgangen fein 
follte, und andererjeit3 laffen die von der Infa- Bevölkerung 
Perus und den Aztelen Mexikos binterlaffenen Architeftur- und 
Skulpturwerke — Bauten und Kunftwerle, weldye zum großen 
Theil aus den bärteften Gefteinen, wie: Grünftein, rothem Por- 
phyr, Bafalt, Syenit, Granit und dergl. bergeftellt find — mit 
Sicherheit darauf ſchließen, Daß zur Herftellung dieſer Schöpfungen, 
welde und noch heute durch ihre Großartigkeit in Erftaumen 
leben, ftählerne Werkzeuge verwendet worden find.®) 


Menden wir uns, nachdem wir im Borbergehenden den 
(743) 


17 


— — — — 


Gebrauch des Eiſens bei den afrikaniſchen Negerftämmen und 
ben autochthonen Voölkern Amerikas beſprochen haben, zu ber 
Eiſen⸗Gewinnung und ⸗Verarbeitung bei den Kulturvölkern der 
alten Welt, jo ift e8 zunächft Egypten, welches in feinen Grab» 
fanmern, Tempel» und Palaftbauten und in den in diefen Bau⸗ 
lichleiten aufgefundenen bildlichen Darftellungen und bierogly« 
phiſchen Aufzeichnungen der Nachwelt ein höchft wichtiges Material 
für die Beurtheilung der früheften Kulturzuftände des Pharaonen- 
landes, jowie insbeſondere auch für die Kenntniß der bafelbft in 
vor⸗ und frühgeichichtlicher Zeit heimiſchen Metalllultur hinter: 
laffen bat. Daß der quarzhaltige Granit, der fefte Porphyr 
und Bafalt, aus dem die wohlbehauenen und kunſtvoll zufammen- 
gefügten Blöde der foeben erwähnten Bauten zum größten Theile 
beiteben, nur mit Hülfe von eijernen Werkzeugen bearbeitet 
werden konnte — dieſe Thatſache würden wir auch dann als 
zweifelloß feſtſtehend betrachten dürfen, wenn die Verwendung 
des Eiſens bei der Erbauung der Pyramiden von Herodot nicht 
ausdrüdlich erwähnt würde. Wie außerorbentlich alt die Eifen- 
fultur in Egypten tft — hierauf dürfen wir wohl daraus 
fchließen, daß bereitd der jechfte König nad Menes (der Re⸗ 
gterungsantritt des zuleßtgenannten Herrſchers hat nach Lepſius 
um bad Jahr 3892 v. Chr. ftattgefunden) den Namen My⸗ 
bempes d. h. Eifenfreund führt und daß bereits die aus der 
Zeit der 4. Dynaftie (um 3000 v. Chr.) flammenden bildlichen 
Darftellungen der Gräberbauten die eiferne Pflugſchar des Ader- 
bauers, die eiferne Säge des Holzarbeiterd, den Wetzſtahl des 
Fleiſchers, eiferne Werkzeuge, welche zum Schiffbau dienten und 
dergl. deutlich erfennen laſſen. Auch find durch eine günftige 
Fügung des Zufalld einzelne eiſerne Geräthe aus altegyptiicher 
Zeit bis auf den heutigen Tag erhalten worden, fo 3. B. jened 
Bruchſtück eined eifernen Werkzeugs, welches von I. R. Hill 


XX. 476. 477, 2 (749) 


18 


beim Zoßiprengen einiger Steinlagen der Cheopd- Pyramide in 
einer inneren Steinfuge aufgefunden wurde und von dem nidht 
bezweifelt werden Tann, dab ed beim Bau der bejagten Pyra⸗ 
mide in dieſe Fuge gefallen und dort verloren gegangen ift, 
fowie jene eiferne Sidyel, die von Belzoni unter den Füßen 
einer Sphinr zu Kalnak audgegraben wurde. — Was ferner die 
Duellen anlangt, aus denen die Bewohner des vor- und früb- 
geichichtlichen Egyptens ihr Eifen bezogen, fo laſſen die im ery⸗ 
thraͤiſchen Gebirge, jowie auf der Sinaihalbinfel erhaltenen Refte 
uralter Eifenbergwerfe darauf fchließen, daß ein Theil Des im 
unteren Niltbal während jener fernentlegenen Epoche Verwen⸗ 
dung findenden Nubmetalld von dorther importirt wurde. Die 
beiden Hauptquellen für das Elfen des alten Egyptens haben 
wir jedoch anderswo zu juchen und zwar find im der älteren 
Epoche der egyptiſchen Geichichte, wo ſich der Handel des Pha- 
raonenlandes ausſchließlich nach Süden zu bewegte, fowohl Eifen 
wie Gold dem unteren Nilthal vom metallreihhen Sudan aus 
zugeführt worden. Dieje im Altertyum als „Aethiopien* bes 
zeichneten Gebiete — weldye wir als einen der älteften Site 
der Eiſenkultur zu betrachten haben — haben, wie bereitö an- 
gedeutet wurde, auf die frühelte Metalllultur des Pharaonen⸗ 
landes einen bedeutenden Einfluß ausgeübt, wie daraus hervor 
geht, daB der Prozeß der Eijenfchmelzung im alten Egypten, 
wie wir ihn aus den bildlichen Darftellungen der Grabftätten 
und Zempelbauten Tennen, der noch heutzutage in den Provinzen 
Kordofan und Dafur üblihen Methode der Eijengewinnung 
(Bergl. oben) aufd Genauefte entipricht und dab auch zur Aus⸗ 
führung des Schmelzprozeſſes von den Egyptern ätbiopifche 
Sklaven verwendet wurden. (Auf einem den Pyramiden ent 
nommenen gegenwärtig im Muſeum zu Florenz befindlichen 
Stein iſt ein durch feinen runden Kopf und die abftehenden 


(750) 


19 


Ohren ald Neger charakterifirter jugendlicher Sklave dargeftellt, 
wie er einen Blafebalg tritt, durch welchen unter Bermittelung 
eine Bambusrohred der Wind einer flachen Grube zugeführt 
wird, im welcher die Schmelzung des Eiſenerzes vor fich geht.) 
— Andererjeitö laſſen ebenſowohl viele der foeben bezeichneten 
bildlichen Darftellungen, wie die archäologifchen Funde des 
Pharaonenlanded und die in verjchiedenen Theilen des altegyp⸗ 
tiſchen Reiches ſich findenden, auf eine uralte Ausbeutung hin⸗ 
deutenden Kupferbergwerfe und die in der Nähe derjelben befindlichen 
Kupferichladenhalden erkennen, dab neben dem Eiſen dad Kupfer 
als Nutzmetall eine fehr wichtige Rolle ſpielte. Dagegen ift 
Bronze allem Anſchein nach zur Zeit der 4. Dynalftie 
in Egypten nody nicht bekannt geweſen, fondern erft 
unter der 12. oder gar erit unter der 18. Dynaftie durch 
den Handel dorthin eingeführt worden. Während diefes 
fpäteren Abſchnitts der Geſchichte Egyptens ging auch mit der 
Eijenkultur in diefem Lande infofern eine Veränderung vor fich, 
ald dieſes Metall nunmehr nicht länger aus den ſüdlich angren- 
zenden nordafrifanijchen Gebieten, fondern vielmehr von Norden 
ber importirt wurde, wozu bie zwijchen dem Pharaonenreich 
und den aftatiichen Kulturftanten in jener Zeit beftebenden Han 
belsbeziehungen, fowie die Croberungdzüge der eguptijchen Herr⸗ 
fcher erheblich beigetragen haben. Freilich Icheint gerade während 
des ſpäteren Abfchnitted der egyptiſchen Geſchichte die Einfuhr 
der Bronze diejenige des Eifend dermaßen übertroffen zu haben, 
daß das egyptiſche Reich zu einer Zeit geradezu mit aflatijchen 
Bronzeartiteln überfluthet wurde. Trotzdem dürfen wir jedoch 
mit Sicherheit annehmen, daB, wenn auch unter den |päteren 
egyptifchen Dynaftien der maflenhafte Smport von Bronzewaaren 
den Gebrauch des Eiſens einigermaßen einichränfte, das zuletzt 


erwähnte Metall body niemals völlig verdrängt wurde, jondern 
2° (751) 


20 


vielmehr, wie bie mehrfach erwähnten bildlichen Darftellungen 
beweijen, für gewiſſe Zwede fortwährend im Gebrauche biieb.*) 

Menden wir und von dem alten Egypten nach Aflen und 
zwar zunächft zu den auf dem fruchtbaren Boden des Zweiſtrom⸗ 
landes begründeten Reichen, fo haben die innerhalb ber letzten 
40 Jahre in den Zrümmerftätten Babyloniend und Affyriens 
gemachten Ausgrabungen und Zorjchungen neben thren fonftigen 
Ergebniſſen für die Wiffenfchaft auch über die vor- und früh» 
gefchichtliche Eifenkultur dieſer Länder wichtige Aufichlüffe geliefert. 
Hier im Mündungsgebtet des Euphrat und Zigrid waren bereitd 
um's Fahr 4000 der vordriftlichen Aera die Sumerier und 
weiter nördlich im der mejopotamifchen Steppe die Aflader an⸗ 
ſäßig — zwei Stämme, welche nad F. Hommel's linguiftifchen 
Unterfuchungen über die auf den älteften Dentmälern Chaldäa’s 
fih findenden Injchriften der großen altaiiichen Völkerfamilie 
zuzurechnen und ebenſowohl ald Erfinder der Keilfchrift, wie 
als erſte Begründer der altbabyloniichen Kultur zu betrachten 
find. Schon um 3000 v. Chr. fehen wir jedoch eingewanderte 
ſemitiſche Stämme volftändig im Beſitz dieſer Gebiete, und 
bereit3 unter den alten Herrijdern von Elam und Babylon 
werben zahlreiche und großartige Bauten errichtet und Toftbare 
Sötterbilder bergeftelt — ein Umftand, der auf eine ſchon in 
jener Zeit hochentwidelte Metallurgie jchlieben läßzt. Als um’s 
Jahr 850 v. Chr. Salmanafjar II. Babylon in Abhängigkeit 
von Affyrien bringt, wird das aſſyriſche Volk der Erbe jener 
auf fumerosalladiicher Grundlage entwidelten Kultur — einer 
Kultur, welche das ganze weftliche Alien, Egypten und Hellas 
beeinflußt und es bewirkt hat, daß nicht nur die femitifchen 
Nachbarvoͤlker, fondern auch Perſer und fpäter Griechen das 
Maß und Gewicht, ja felbft das Münzſyſtem Babylond au- 
nahmen. — Was jpeziell den Gebrauch des Eiſens in den baby» 


(759) 


21 


loniſch⸗aſſyriſchen Reichen anlangt, jo wird dieſes Metall in den 
älteiten Triimmerftätten des füdlichen Mejopotamien’s, wo Kupfer 
und Bronze fich häufig finden, im Ganzen nur felten angetroffen 
— eine Thatfadhe, für die wir den Grund einerjeitö in ber 
leichten Zerftörbarfeit des Eiſens, andererfeitd wohl darin zu 
judyen haben, daß letzteres ald dad geringere und wenig werth⸗ 
volle Metall in den Paläften, deren Trümmer biöher unterjucht 
wurden, nur wenig zur Verwendung fam. Andererſeits bezeugen 
die und erhaltenen Keilinfchriften, daß Eifen unter der affyrifchen 
Herrichaft allgemein im Gebrauche war und dab auch die durch 
Manntgfaltigfeit der Form und Tunftuolle Arbeit fich auszeich⸗ 
nenden afiuriihen Schwerter, die Streitfolben, Streitwagen 
und dergl. aus diefem Material bergeftellt wurden. Die von 
dem Propheten Jeſaias erwähnte Triegeriiche Meberlegenheit des 
afiyriichen Heeres beruhte im Wefentlichen auf der Güle der 
Eifenwaffen, womit Zußvoll, Bogenſchützen und Lanzenreiter bei 
biefem Volt ausgerüftet waren. Während die Aflyrer die zur 
Herftellung des Schmiedeeifend dienenden Erze wohl aus den ihr Ge⸗ 
biet im Nordoften begrenzenden Gebirgen bezogen, ift e8 wahrfchein« 
li, dab fie den Stahl für ihre Schwerter von den nördlich 
vom Zaurus anfäfligen Mofchern, Zibarenern und Chalybern 
importirten. Bemerkenswerth ift ferner, dab in den aus ber 
Zeit der erften aſſyriſchen Herricher datirenden Tributliften nur 
Eijen und Silber namhaft gemacht wird und daß erft, nachdem 
das Reich Affur fi nad; Süden weiter ausgedehnt hatte und 
dadurch mit dem Reichtum und ber hochentwidelten Metalle 
induftrte von Babylon, Damaskus und den phoͤniciſchen Städten 
in Berührung gefonmen war, Kupfer und Bronze öfterd ges 
nannt werden. Bon den auf affyriihem Gebiete unternommenen 
Ausgrabungen find übrigens diejenigen, welche Victor Place 
in Khorfabad gemacht hat, für und deshalb von Snterefje, weil 


(758) 


22 


fie darauf Schließen lafien, daß bie Könige von Afiyrien große 
Borräthe von Eifen anhäuften, um diefelben gelegentlich zu 
Baus oder Kriegözweden zu benuben. Neben eifernen Pferde- 
gebiffen, Stangen von Eifen, eifernen Spiten von Enterhalen 
oder Schifferftangen, eifernen Schuhen von Brüdenpfählen und 
vielen anderen Eijenartifeln wurben dafelbft auch Rohluppen 
angetroffen, welche ihrer Form nach den im weſtlichen Europa 
fi findenden, einer Doppelpyramide ähnelnden vorrömijchen 
Eifenluppen (Zunde von Monzenheim im Elſaß) entiprechen. 
Auch wird die oben ausgeſprochene Anficht, daß fchon in den 
babylonifch-affyriichen Reichen Eifen das alltägliche und gewoͤhn⸗ 
liche Metall darftellte, dadurch beftätigt, daß bei der letzten 
Plünderung Niniveh’8 der Feind das Eiſen zurüdließ und nur 
die übrigen Metallvorräthe Fortichleppte. 

Um über die vor» und frühgeſchichtliche Eiſenkultur Weſt⸗ 
aftend noch einige Angaben zu machen, fo unterliegt e8 feinem 
Zweifel, daß die drei Völker, die bier vorzüglich in Betracht 
fommen, nämlih: 1. die Söraeliten, 2. die Phönicier, 3. die 
Hethiter — lebtere ein Volk, über deſſen geichichtliche und Fulturs 
hiftorifche Bedeutung erft neuere Forſchungen und Aufflärung 
verichafft haben — ſchon in fehr früher Zeit mit dem Gebraude 
der Metalle, indbefondere mit dem des Eiſens befannt waren. 
Auch ift e8 leicht erflärlich, daß gerade in foldyen Städten, Die 
wie Karchemis (daB heutige Dicherabis) und Damaskus für den 
bie ſyriſche Wüfte durchziehenden Karamanenverlehr geeignete 
Raftorte darftellten, die Metalltultur ſchon fehr frühzeitig zu 
hoher Blüthe gelangte. Bezüglich der zuletzt erwähnten Stadt, 
welche den Ruhm ihrer Stahlinduftrie durch das ganze Alter 
thum und Mittelalter hindurch aufrecht erhalten bat, wiffen wir 
aus egyptiſchen Aufzeichnungen, daß der Pharao Thutmofid IIL 


(1590 v. Chr.) bei der Groberung derſelben große Mengen 
(754) 


23 


Metal — namentlih Eifenwaaren erbeutete. Auch muß fchon 
vor Thutmofis und wentgftend ein halbes Jahrtauſend vor der 
&inwanberung der Juden nad Kanaan in dieſen Gegenden eine 
hochentwickelte Eiſenkultur beftanden haben, wie daraus hervor- 
geht, daß nach einer egyptiſchen Snfchrift bie Netenu — ein 
Bolt, welches nördlich von den Hethitern wahrjcheinlich bis zum 
Libanon und bis in die Nähe von Damaskus anfähig war — 
dem befagten egyptiichen Könige außer rohem Eiſen kunftvoll 
gearbeitete eiſerne Rüſtungen, eiſerne Streitwagen, eiferne 
Schwerter, Helme und bergl. ald Tribut entrichteten. — Was 
die Hethiter (audy Chititer oder Cheta genannt) felbft anlangt 
— welche in der heiligen Schrift als die Bewohner des füdlich 
von Hamah gelegenen Hebron, in den egyptiſchen und aſſyriſchen 
Snichriften als ein nicht unbedeutendes Boll, das bi zum 
Euphrat hin anfäßig war, bezeichnet werden — fo unterliegt es 
feinem Zweifel, daB biefelben mehrere Sahrhunderte vor der 
Zeritörung Trojad und dem Einzuge der Iuden in Kanaan mit 
ihrer bereit8 erwähnten Hauptitadt Karchemis im weftlichen 
Aſien eine bedeutende Rolle geipielt haben und dat ebenfo wie 
fie ald die Hauptträger jener durd) ganz Vorderafien verbreiteten, 
auf archaiſtiſch-babyloniſcher Kunft beruhenden alterthümlichen 
Kultur — der nämlidyen Kultur, weldye Dr. H. Schliemann 
in Ilios aufgededt hat — zu betrachten find, fo auch ihre hoch» 
entwicelte Metallinduftrie diejenige der Phönicter und Hebräer 
erheblich beeinflußt hat. — Bezüglich der 12 Stämme Iſraels 
dürfen wir wohl annehmen, dad diejelben fchon in ihren urjprüng- 
lichen Wohnfiten den Gebrauch des Eifend gekannt haben; auch 
erhellt auß zahlreichen Stellen der heiligen Schrift, dab fie den 
Betrieb der ſchon vor ihrer Einwanderung nad) Kanaan dalelbft 
heimiſchen Sifeninduftrie in diefem Lande auf das Eifrigſte fort- 
fetten, °) daB dementiprechend dad Schmiedehandwerf bei ihnen 


(755) 


24 


in hohem Anſehen ftand, daß die in Paläftina befindlichen Eiſen⸗ 
bergwerfe von ihnen audgebeutet wurden und daß bei ihrer 
Bewaffnung neben Bogen und Pfeil, Schleuder und Spieß das 
aus Stahl gefchmiedete Schwert eine wichtige Rolle fpielte. 
Das Material für Lebteres fcheinen fie jedody von auswärts 
importiert zu haben, da hier nicht näher zu erörternde Gründe 
e8 wahrjcheinlich machen, dat in Tubal-Kain, „dem Meifter in 
allerlei Erz und Eiſenwerk“, der Hinweis auf ein noͤrdliches 
Boll, von dem die Hebräer ihren Stahl bezogen, enthalten 
iſt. Wahrjcheinlid waren die am jchwarzen Meer anfähigen 
Chalyber die Stahllieferanten Iäraeld, wenn nicht gar ange- 
nommen werden muß, daB zwiſchen dem zuerftgenannten Bolfe 
und den Söraeliten eine Stammesverwandtichaft beftand. Was 
leßtere Frage anlangt, jo erhält die Annahme, dab in Nord» 
armenten eine durch Eifeninduftrie hervorragende ſemitiſche An⸗ 
fiedelung beftand, dadurch eine Stübe, daß von den ſemitiſchen 
Stämmen Kleinaflens die Lyder durch ihre Metalltultur, welde 
bekanntlich diejenige Griechenlands bi8 zu gewifjem Grade beein- 
flußt hat, eine hohe Bedeutung erlangt haben. — Died nur 
beiläufig. Wenn auch, wie zuvor bemerkt, die Hebräer im 
- Schmieden, XZreiben und Schweißen des Eifend, ferner im 
Schlagen und. Bernieten von Eifenbleh (nur die Kunft des 
Eiſenguſſes ift ihnen wie überhaupt allen Bölfern des Alter- 
thums unbefannt geblieben) ed zu hoher Geſchicklichkeit gebradt 
haben, fo find fie doch in der Bearbeitung des Kupferd und 
der Herftellung der Bronze hinter ihren Nachbarn, den Phös 
niztern, weit zurüdgeblieben, wie unter Anderem daraus hervor 
geht, daß König Salomo die für den Tempel beftimmten Ge⸗ 
fäße, Schaufeln, Becken und bergl. von Hiram aud Tyrus ans 
fertigen ließ. — Was letzteres Volk anlangt, jo Kft ed allgemein 
befannt, daß die Phönicter durch ihren ausgebreiteten Handel 


(756) 


25 


(einen Handel, der allein im Stande war, bem von ihnen bes 
wohnten ſchmalen Küftenftreifen am Oftrande ded Mittelmeeres 
eine weltgejchichtliche Bedentung zu verleihen und beffen Ente 
widlung dadurch gefördert wurde, daß die Afien mit Egypten 
und Arabien verbindende Straße durch dieſes Gebiet führte) 
auf die Kulturentwidlung der Mittelmeervoͤlker einen ganz außer⸗ 
ordentlichen Einfluß ausgeübt haben. Wenn fie vielleicht auch 
nicht al8 die Erfinder der Bronze zu betradhten find — neuere 
Forſchungen laſſen vermuihen, daß der gemeinihafts- 
lihe Ausgangdpunft der egyptifchen und babylo» 
niſchen Bronzefultur und fomit indirekt auch der Aus— 
gaugspunft der durch egyptiſche und babyloniſche Kunſt 
wejentlich beeinflußten phöniciſchen Bronzeinduftrie 
im Südoften Afiens zu ſuchen ift — fo unterliegt ed doch 
feinem Zweifel, daB fie durch die Förderung von Supfererzen 
aus den von ihnen an geeigneten Punkten (3.3. auf der Inſel 
Cypern) angelegten Bergwerken, ferner durch Herbeiſchaffung 
des Zinns von den fernen Caſſiteriden (brittiſchen Inſeln) und 
durch Errichtung zahlreicher Handelsſtationen an allen Mittel⸗ 
meerküſten die Haupt-Bermittler und Verbreiter der weſtaſiatiſchen 
und jüdeuropäifchen Bronzefultur gewejen find. Auch darf nicht 
überfehen werden, daß zur Zeit, wo die Phönicier zuerft ihren 
Handel über die Mittelmeerländer und bi8 über die Säulen des 
Herkules hinaus ausdehnten, bie Bölfer Europad durchgehend 
noch auf niedriger Bildungaftufe — ähnlich derjenigen, die wir 
gegenwärtig bei den Eingeborenenftämmen Afrikas und der Süd⸗ 
fee beobachten — ſich befanden und daß fie, wenn auch bereits 
im Befiße eines für Zwede des täglichen Gebrauchs fich eignenden 
Eiſens doch die ihnen von den phöniciichen Händlern. zugeführte 
Bronze gegen die Naturprodufte ihrer reip. Länder um fo lieber 
eintaufchten, als diefe Legirung durch ihren an das Gold erin- 


(757) 


26 


nernden Glanz von vornherein den Sinn der Naturvöller ge 
fangen nahm und auch vermöge ihrer Verarbeitung zu Schmud 
und Zierath und der Eigenfchaft, daß fie nicht durch Roft zer⸗ 
ftört wird, vor dem Eifen Manches voraus bat. Unterliegt es 
aber einerjeit8 feinem Zweifel, daß die außerordentliche Verbrei- 
tung der Bronze im Altertbum zum großen Theil dem kom⸗ 
merziellen Genie der Phöntzier zuzufchreiben iſt, jo fehlt es 
andererſeits nicht an Belegen dafür, daß dieſes Boll auch Eijen 
zu den mannigfaltigften Zweden verwendete und die Wichtigkeit 
deſſelben wohl zu jchäten wußte. Hierfür ſprechen 3. B. phoni⸗ 
ziſche Mythen, welche die Darſtellung des Eiſens als eine der 
größten Wohlthaten den Göttern zuſchreiben. (Phylon von 
Byblos erzählt aus den Aufzeichnungen des Sanchuntaton, 
daß Chryjor, einer der erften Nachlommen der Götter, bie 
Bearbeitung des Eifend erfand und dag Gott EI — der Kronos 
der Griechen — eine Sichel und eine Lanze aus Eiſen berftellte, 
womit er feinen Vater angriff und aus dem Lande trieb.) So 
erhellt ferner audy aus Ezedhiel(XX VII, 12), daß der Handel mit 
Eifen und Stahl — letterer Artikel gelangte wahrſcheinlich aus 
dem Lande der bereitd erwähnten Chalyber, aus Weftarabien, 
vielleicht auch aus Indien auf die phönizifchen Märkte — zu 
Tyrus ein fehr bedeutender war. 

Wir haben im DVorhergehenden die Eifentultur bei den 
Völfern von bamosfemitischer Abftammung — (nur von den 
Hetbitern laffen die und überlieferten Eigennamen ihrer Fürften 
darauf fchließen, daß ihre Abftammung eine von derjenigen ber 
zuvorerwähnten Völker weſentlich verjchiedene war) — in ihren 
Hauptumriffen dargelegt und wollen, ehe wir die Verwendung 
des Eiſens im vor⸗ und frühgefchichtlidhen Europa ind Auge 
faffen, den Gebraudy .diejed Metalles bei den arifchen und turani« 
Ihen Bölfern Aftend einer Betrachtung unterziehen. — Was 


(758) 


27 


zunächſt den indiſchen Zweig der ariſchen BVöllerfamilie anlangt. 
jo geftatten die Hymnen des Rigpeda — das ältefte und erhal- 
tene Religonsbuch der Inder — und das einer Ipätern Periode 
angehörende Heldengedicht Mahabharata — in welchem die 
Kämpfe der Arier um den Befib des Pendschab geſchildert 
werden — neben ihrer hervorragenden Bedeutung für das Stu⸗ 
dium der indogermanifchen Spraden wichtige Schlüffe bezüglich 
der Metalltultur in den von den Artern Aftend bewohnten Ländern. 
Auc würde, wenn es ſich beftätigen follte, dab das Sanskrit 
wort ayas (ftammverwandt mit dem gothiſchen aız, dem lateie 
niſchen aes u. |. w.) von vornherein als Bezeichnung für Eiſen 
gebraucht wurde — eine Anficht, welche allerdings von hervor» 
tragenden Sprachgelehrten beitritten wird — hieraus zu folgern 
ſein, daß biefes Metall den Artern bereits in ihren urjprüng» 
lihen Wohnfigen und ehe noch die Spaltung ber arijchen Völler- 
familie in ihre verjchtedenen Zmeige fich vollzogen hatte, befannt 
geweien ift. Wie dem auch fet, der Umstand, dab Eifen in den 
- Beben häufig und wie ein ganz gewöhnlicher Gegenftand erwähnt 
wird, daß in denjelben von Panzern aus Eiſen, von eifernen 
Lanzen- und Pfeilipiben, eifernen Keulen u. vergl. die Rede ift, 
zufammengehalten mit der allgemeineren Verbreitung der Eijen- 
erze in Indien läßt mit Sicherheit darauf fchließen, daß die 
ariichen Inder zur Zeit der Abfaflung der foeben erwähnten 
Geſänge ſchon im Befite einer hochentwidelten Eiſenkultur 
waren. Und felbft wenn au, wie O. Schrader behauptet, 
die biöherige Vorftellung von dem hohen Alter der Veden 
— Sowie überhaupt des Sanskrit und gend — eine irr- 
thümliche wäre, fo fehlt e8 doch nicht am anderweitigen That⸗ 
fadhen, weldye ben uralten Gebrauch bes Eiſens in Indien — 
diefed Metall war wahrſcheinlich fchon der dravidiſchen Urbevoͤl⸗ 


kerung befaunt — über allen Zweifel erheben. So muß vor 
| (759) 


28 


Allem hervorgehoben werden, daB in den zahlreich vorhandenen 
megalithiichen Steindentmälern und Grabhügeln Indiens, die 
zum Theil Zeichen hohen Alterd aufweilen, nach Pearje und 
Elliot vorzugsmeife Eiſen (dafjelbe konnte ſich in den bei der 
präbiftoriichen Bevölkerung Indiens vielfach zur Zodtenbeftat« 
tung verwendeten Steinkiften befjer erhalten al8 unter anderen 
Umftänden) und nur jelten Bronze angetroffen wird, daß nad 
den Zeugniffen griechiicher und römiſcher Schriftfteller indifches 
Eifen und indiſcher Stahl ſchon in fehr früher Zeit nach Weft- 
aften ausgeführt murden und dab die Mittheilungen des Peri- 
pluss) auf einen ſchon in vor⸗ und frühgefchichtlicher Zeit zwiſchen 
Sndien einerjeitd, den Küften Arabiend und des rothen Meeres 
andererjeitö betriebenen Handel hindeuten, bei dem die Sufel 
Dioscorides (Socotra) und der Hafen Adula (Aden) bie Haupts 
ftapelpläße und indilcher Stahl einen der wichtigften Handeld« 
artifel bildete. Zu bemerken ift ferner, dab auch das Vorhanden⸗ 
fein alterthümlicher eiferner Denfmäler in Indien (maffive Eifen- 
fänle zu Laht bei Delht) und alter indischer Legenden, in demen 
dad Eiſen eine wichtige Rolle Spielt (fo tft 3.3. die befannte 
Erzählung vom Magnetberg aus der indijchen Legende in die 
Märchen von 1001 Nacht übergegangen), ſowie dad Vorkommen 
ausgedehnter präbiftoriicher Eifenichladenhalden in verichiedenen 
Gegenden Indiend ebenfalls zu Gunften ded hohen Alter8 der 
indiichen Eifenkultur ſpricht. Andererjeitd darf nicht überfeben 
werden, daß das im Vergleich zu der foeben erwähnten DBers 
breitung der Eifenerze in Indien verhältnißmäßig jeltene Vor⸗ 
fommen von Kupfer in dieſem Lande und die durch die Schrifte 
fteller des Alterthums wohlbeglaubigte Thatfache, daß die Inder 
dieſes Metall ebenfomohl wie das ihnen gänzlich fehlende Zinn 
(dad Banka⸗Zinn Hinterindiend war im Altertbume völlig unbe⸗ 
fannt) von arabijchen und phönizifchen Kaufleuten bezogen haben, 


(760) 


29 


die Annahme einer der Eiſenkultur Indiens voran» 
gehenden Kupfer- oder gar Bronzeperiode im hödften 
Grade unwahrſcheinlich mahen. Um bier fogleich einige 
Bemerkungen über die Eiſenkultur bei den übrigen arifchen 
Voͤlkern Afiens anzulnüpfen, jo fcheint diejelbe in den nördlich 
von Indien gelegenen Bergländern ebenfalls ſchon in ſehr früher 
Zeit heimiſch geweſen zu fein. Der von Plinius megen feiner 
Borzüglichkeit gepriefene „feriihe Stahl" kam wahrfcheinlih aus 
dem Berglande Ferghana (dem heutigen Khokand), über deffen 
Eifenreihtbum und Eifeninduftrie der Grieche Nearchos und 
Die alten arabiichen Geographen berichten; auch werden die Be⸗ 
wohner des benachbarten Khotan in den chineflichen Annalen 
als tüchtige Eijenarbeiter geſchildert. Ebenfo wie wir im 
Vorhergehenden die Nigvedasöymnen und dag Buch Mahabha- 
rata ald eine wichtige Duelle für die Erforſchung der altindifchen 
Metallurgie bezeichneten, liefert und die befannte Zend-Avesta 
— dieje Sammlung der heiligen Schriften der Perſer, deren 
hohes Alter allerdings in der jüngſten Zeit vielfach angezmweifelt 
wird — intereffante Auffchlüffe über die bei leßterem Volke in 
vor⸗ und frühgefchichtlicher Zeit fich findende Metallkultur. Hier⸗ 
nach unterliegt e8 Teinem Zweifel, daß Eijen bei dem alten 
Zend⸗Volke das verbreitetite und wichtigſte Metall 
war und daß andererjeitd „Erz“ (Bronze) — die Zegirung wird 
im Bendidad, dem erften und wichtigften Buche der Zend-A vesta 
nur ein einzige Mal erwähnt, Eifen und Blei dagegen jehr 
häufig angeführt und an einer Stelle geradezu als die „geringiten 
Metalle" bezeichnet — von der ariſchen Bevoͤlkerung des irani⸗ 
ſchen Plateaus nicht felbft dargeftellt, jondern nur als fertiges 
Produkt durdy dem Handel bezogen wurde. Auch bürfen wir 
wohl mit Beftimmtheit annehmen, daß die hohe Stellung, 
welche die Perjer als die Berfertiger vorzüglicher Stahljchwerter 


(761) 


30 


während ded ganzen Alterthums behauptet haben (noch bis auf 
den heutigen Zag bat fih im oitiranifchen Hochlande eine alter- 
thümliche Eifeninduftrie erhalten und erfreuen fich die Echwert- 
feger von Khoraſſan eines bedeutenden Rufs) einerjeitö der 
großen Verbreitung von Eijenerzen in diefen Gebieten zuzu 
fchreiben ift, andererfeitd dem Umfiande, dat die ehedem Indien 
mit Babylon verbindende Handelöftrabe quer durch dad perfifche 
Hochland führte und daß fomit der berühmte indiſche Stahl 
feinen Weg leicht nach Perfien finden fonnte, wo er dann auch 
vielfach verarbeitet wurde. — Bezüglich der das weftliche Afien 
bewohnenden Arier, welche im Norden Kleinafiens allerdings 
mehr oder weniger mit jemitifchen Clementen durchſetzt find 
oder dody wenigftend in unmittelbarer Nachbarichaft ſemi⸗ 
tifcher Stämme angetroffen werden, fei bier noch bemerkt, daß 
diejenigen arifchen Völker, welche zwiichen dem hoben Taurus, 
der Bergwand des Kaukaſus und dem Pontus Eurinus (Schwarzes 
Meer) fich niederließen, nämlih: Baltrier, Parther, Meder 
(Kurthen) und Armenier entweder die Kunſt der Eifen-Gewinnung 
und »Bearbeitung aus ihrer Urheimath in diefe Wohnfige mit 
gebradht oder diejelbe bei ihrer Anfiedelung dafelbft vorgefunden 
und fi) angeeignet haben. Für dad hohe Alter der Eifenin- 
duftrie in den bezeichneten Gebieten befigen wir nämlidy direlte 
Beweiſe. So hat nad den chinefiihen Annalen der König 
von Kanghiu (Samarland) im Sabre 713 v. Chr. Tribut von 
Eıfenarbeiten — vorzugsweile beftehend aus Eifenpanzern umd 
eilernen Schloͤſſern — entrichtet; fo wird ferner aud in den 
Zributliften der aſſyriſchen Könige das Eifen der Meder aufge 
führt. — Als ein geradezu klaffiſches Gebiet für Metallurgie 
ift aber Armenien zu bezeichnen, da innerhalb deſſelben die im 
Altertbum durch ihre Eifeninduftrie berühmten, jchon zuvor 


erwähnten Moſcher, Zibarener und Chalpber anfäßig waren. 
(763) 


31 


Was ſpeziell das zuletzt erwähnte Volk anlangt, von dem es 
allerdings nicht unwahrſcheinlich iſt, daß es einem nach Armenien 
verſprengten ſemitiſchen Stamm darſtellt, ſo bezeichnet Aeſchylos 
die Heimath der Chalyber als das „Mutterland des Eiſens“; 
Xenophon berichtet, daß der ganze Stamm von Eiſenbereitung 
lebte. Auch bedarf es nur eines Hinweiſes auf das Wort zadvıy 
(die griechiſche Bezeichnung für Stahl), um jofort zu erlennen, 
welchen Einfluß dieſes Volt auf die Metallkultur von Hellas 
ausgeübt haben muß. 

Was die Turaniſchen Völker Aliens anlangt, denen 
Sprachforſcher und Ethnologen ein ganz bejonder8 hohes Alter 
zuzufchreiben geneigt find — (vergl. dad, was oben über die 
Sumero-Aflader als Urbevölferung Babyloniend gejagt wurde) 
— ſo bildet der Kultus der unterirdijchen metallipendenden Goͤtter, 
jowie ein hohes Interefje für die Gewinnung und Verarbeitung 
der Metalle einen Grundzug aller Stämme turanijcher Ab» 
ftammung, was zum Theil wohl darauf beruht, daß die ges 
meinfchaftlihe Heimath der Turanier — dad Altaigebirge — 
dad reichſte Erzgebiet der ganzen alten Welt ift. Charafteriftifch 
für die Bedeutung der Metallgewinnung bei diejen Bölfern ift 
auch der Umftand, daB ſowohl Zürken wie Mongolen ihre 
Wiege und ihr Paradied in ein unbefanntes Thal im Altat 
verjeßen, dad rings von eijenreichen Bergen umfcloffen war 
und aud dem fie fich nur mit Hülfe eined Schmiedefeuerd einen 
Ausweg bahnen fonnten und daß das Zeit der Entdedung des 
Eifend noch jet alljährli bei den Mongolen gefeiert wird. 
Bei Finnen, LKivländern und Eſthen, ſowie bei allen Völkern 
des Wralgebirges, welche diefer auch ald Ural-Altaijche Voͤlker⸗ 
familie bezeichneten ethnifchen Gruppe angehören, treffen wir 
Schmiedefunft und Weberei ald die erften Gewerbe. Auch er- 


wähnen die Sagen des zuerft bezeichneten Volkes wieder: 
(763) 


32 


holt Gold und Eiſen, während Kupfer nicht genammt wird. 
Griechiſche Schriftfteller berichten ausdrüdlich, daß die Skythen 
(unter diefem Namen wurden von den Hellenen die zahlreichen 
Stämme von theild mongolijcher, theils tartarifcher Abkunft, for 
wie auch die Mifchvölfer von Mongolen und Tartaren zufammen- 
gefaßt) ich das Eijen felbft darftellten; nach Herodot beteten 
fie ſogar ein altes eifernes Schwert als Gott an. — Für daB 
hohe Alter der Eifengewinnung in Nordafien ſprechen auch die 
„Tſchudenſchürfe“ — jene primitiven Eijenbergwerfe, welche 
von den Ruffen den Borfahren der Tartaren zugefchrieben werden 
und deren Bearbeitung nach der Verkieſelung der in ihnen anf- 
gefundenen Knochen (Hefte verunglüdter Arbeiter) und Leiter- 
Iproffen zu urtbeilen, um Sahrtaufende zurüddatirt. Anderer» 
ſeits ift das feltene Borfommen des Eiſens in den „Zichuden- 
gräbern“ — weldye im Ganzen eine überrafchende Aehnlichkeit 
mit den prähbiftoriichen Gräbern Norddeutſchlands aufwetien — 
zum Theil der Zeritörung durch Roft, zum Theil dem Umftande 
zuzufchreiben, daß Eiſen als das gewöhnliche und wenig ges 
ſchätzte Metall den Zodten in der Regel nicht mit in's Grab 
gegeben wurde. Erwähnt fei bier auch, daB jene Tartaren, 
welche die zwifchen Senifet und Irtiſch anſäßige tichudtiche Be» 
völferung verdrängten, zur Zeit ihres Einfalles in diefe Länder 
ebenfall8 ſchon mit der Eifengewinnung vertraut waren und das 
ber von den Ruſſen ald Kusnetzki Tatari d. h. „Schmiebe- 
tartaren“ bezeichnet werden. Beftätigt wird die im Vorher⸗ 
gehenden aufgeftellte Behauptung von der allgemeinen Ver—⸗ 
breitung der Eiſenkultur bei der turanifchen Böllerfamilie in 
vor⸗ und frühgeichichtlicher Zeit endlich nech durch Betrachtung 
der heutigen Metallinduftrie bei den dieſer Gruppe angehörenden 
Stämmen und Bölfern. Wenn wir bei vielen diefer Stämme 


eine ähnliche primitive Methode der Eifengewinnung finden, 
(764) 


33 


wie wir fie bei den Negern Darfurs und Kordofand (vergl. 
oben) kennen gelernt haben, wenn wir willen, daß jeit Menſchen⸗ 
gedenken die Bauern Dauriend fih felbit ihr Eilen Ichmelzen 
und daß noch heutzutage jeder Takute fein großes Meſſer aus 
Stahl felbit zu fertigen verfteht, wenn wir ferner jehen, daß 
Völker, die im Uebrigen noch auf fehr niedriger Kulturftufe 
fteben, wie Zungujen und Buräten, ed in der Heritellung von 
Zaufchirungen bereit zu einer hohen Geſchicklichkeit gebracht 
haben — wenn wir alles diefed in Erwägung ziehen, fo liegt 
gewiß der Schluß nahe, daß die in Central» und Nordafien 
hochgeſchätzte Eiſenkultur von jehr hohem Alter ift und daß 
diejelbe ald eine autochthone (an Ort und Stelle entftandene) 
Induftrie bezeichnet werden muß. 


I. 


Wir haben im VBorhergehenden die Verwendung des Eiſens 
bei den wichtigften Völkern Afrikas, Amerikas und Afiens kennen 
gelernt und wenden und nunmehr zu der vor- und frühgefchicht- 
fihen Eijenkultur unſeres eigenen Erdtheils, wobei wir ent» 
ſprechend der Reihenfolge, in welder die Bölfer Europas in 
die Gefchichte eintreten, zunächſt den Gebrauch dieſes Nutz⸗ 
metall8 bei der Bevölkerung des alten Griechenlands einer Be⸗ 
trachtung unterziehen. 

Meber die frühefte Metalllultur von Hellad haben die von 
Dr. 9. Schliemann zu Mylkenae gemachten Ausgrabungen 
wichtige Auffchlüffe geliefert und zwar beruht nah Johannes 
Ranke (vergl. Gorreipondenzblatt der Deutihen Gefell- 
ichaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgejchichte. Jahr⸗ 
gang 1884 No. 9 p. 84) bie Bedeutung der daſelbſt ge- 
machten Funde vor Allem darauf, daß fie erfenuen lafien, wie 


eine hohe afintiiche Kultur den damald noch uncivilifirten grie: 
XX. 476. 477, 8 (765) 


34 


chiſchen Stämmen zugeführt wurde und wie leßtere „von An» 
fang an auß der Steinzeit in eine Metallzeit ein- 
traten, die fowohl Bronze (Kupfer) als Eiſen fannte.* 
Lebterem Schluß werden wir unjere Zuftimmung nicht verjagen 
dürfen, wenn wir bedenfen, daß einerſeits unter den von Schlie⸗ 
mann zu Mykenae ausdgegrabenen Objekten Eijenartifel nicht 
gänzlich fehlen (der verdienituolle Forſcher erwähnt ausdrüdlich 
eiferne Mefjer, jowie einige eijerne Schlüffel von fonderbarer 
Zorm) und daß andererfeitd das jeltene Vorkommen des Eijend 
unter den bejagten Yundobjelten zum Theil auf die mehrfach 
erwähnte Zerftörung dieſes Metalles durch Roft zurüdzuführen, 
zum Theil auch dem Umſtande zuzufcreiben fein mag, daß 
daffelbe wegen jeiner niedrigen Werthſchätzung wohl für zu ge 
ring gehalten wurde, um es in den Schatfammern der Fürften 
aufzubewahren oder ed den Todten mit in's Grab zu geben. 
Auch darf bei der Beurtheilung der früheften Metallkultur 
Griechenlands nicht unberüdfichtigt bleiben, daß bei den zu 
Dlympia unternommenen Audgrabungen fjelbft in den 
tiefften der unterfuhten Schichten Eiſenſachen fid 
fanden”) und daß zugleidy das Zuſammenvorkommen diefer Objekte 
mit den Gebilden einer archaiftiichen, nicht von außen eingeführten 
griechiſchen Kunft — mit jenen rohe Thierfiguren und Menſchen⸗ 
bilder aufweijenden Thongefäßen, welche neben Altären ringsum 
und zum Theil unter den Tempeln auögehoben wurden uud bie 
nah Sophus Müller) „binfihtlih des Formenſinnes, 
der Tünftleriichen Begabung und Geichidlichkeit in keiner Weife 
über den älteften figürlihen Gebilden barbarifcher Vöoölker 
fteben" — wohl ebenfalld einen Schluß auf das hohe Alter 
der Eifenkultur in Hellad geftattet. — Um auf jene ardyäolo- 
Hifchen Forfchungen zurüdzulommen, die wie die Mylenaefunde 


das Borhandenjein einer aus Afien eingeführten, auf babyloniſch⸗ 
(166) 


35 


egyptiſcher Kuuftrichtung bafirten, vorhomeriſchen Kultur in 
Griechenland erkennen laſſen, fo unterliegt ed feinem Zweifel, 
dad im Wejentlichen die Phönizter die Vermittler diefer Kultur 
geweſen find und daß der Handelsverkehr biefes Volkes und 
die von demfelben zuerft auf den aegaeifchen Inſeln, fpäter in 
Hellas ſelbſt gegründeten Kolonien auf die Religion und civilis 
ſatoriſche Entwidelung der Griechen einen bedeutenden Einfluß 
ausgeübt haben. Ebenfo wie wir den in Hellas ald Erfinder 
vieler technifcher Künfte verehrten Kadmos als die perjonifi- 
zirte Darftellung ded von dem afiatifhen Handelsvolke auf 
Griechenland audgeübten Kultureinfluffes betrachten müffen — 
ebenfo erfennen wir in der auf dem Stier nad; Welten reitenden 
Europa die phöniziihe Göttin Aftarte und in zahlreichen 
griechiſchen Göttern und Heroen Geſtalten der phöniziichen 
Sage wieder. — Faſſen wir ferner jene Schlüffe in's Auge, 
die fi) aus den in der griechiichen Litteratur enthaltenen Mit- 
theilungen über die vor» und frühgeichichtlihe Metallkultur 
Griechenlands ergeben, jo bilden Homer's Dichtungen eine der 
wichtigften Quellen für die Erforfchung diefer Verhältniſſe. 
Hier ift zunächft zu bemerken, daB nach der Anficht derer, welche 
die Frage nach den im vor» und frühgejchichtlichen Hellas ver- 
wendeten Metallen bisher vom techniſchen Standpunkte aus ge- 
prüft haben, unter dem xaAxog der Iliad und Odyſſee in der 
Regel nicht Erz (Bronze), jondern Kupfer zu veritehen ift, wo⸗ 
bei noch befonderd hervorgehoben werden muß, daß bie Griechen 
ebenfowenig wie die Egypter, Babylonier, Phönizter und Juden 
einen bejonderen Ausdrud für Bronze im Gegenjab zum Kupfer 
beſeſſen haben. Auch fei hier eingejchaltet, dab die im der grie= 
chiſchen Litteratur enthaltenen Beichreibungen metallurgifcher 
Prozeduren ed über allen Zweifel erheben, daß in Griedhen- 


land ebenfo wie anderwärtd der Prozeß des Metall 
3° (167) 


36 


treibende (Schmied end) demjenigen des Metallgiebens 
vorausgegangen tft und daß die in den homeriſchen Dich⸗ 
tungen beichriebenen Metalllunftwerfe wie 3. B. der berühmte 
Schild des Achilles Produkte der Schmiedelunft — der Metall 
guß war wahrſcheinlich zu Homer's Zeit in Griechenland 
noch nicht befannt — geweien find. — Wenn ferner aud dem 
Umftand, dab Eifen (Sıdnoos) in den Dichtungen Homer’s 
bei Weitem nicht jo häufig genannt wird, wie Kupfer oder 
Bronze (xaAxog), hier und da der Schluß gezogen wurde, daß 
während der bomeriichen Zeit Kupfer und Bronze allgemein 
verbreitet gewejen jeien, Eiſen dagegen nur jelten Verwendung 
gefunden habe, jo iſt dieſe Anjchauung als eine durchaus irr⸗ 
tbümliche zu bezeichnen. Eine genauere Prüfung der homerifchen 
Geſänge läßt vielmehr feinen Zweifel darüber beftehen, daß 
&ijen zu Homer’d Zeit weder etwad Seltenes nod 
etwad Ungewöhnlidhes, jondern vielmehr das an 
Werth hinter Kupfer uud Bronze weit zurüdftehende, 
gemeinfte und verbreitetfte Metall, weldedvon jedem 
Landmann für ſein Adergeräthb benubt wurde, ge— 
weſen if. So wird 3. DB. von dem Eiſenklumpen, weldyen 
Achilles ald Kampfpreis ausſetzt (vergl. Stiad XIII., 833 ff), 
beionderd bemerkt, daß er dem Manne, der ihn gewinnt, wenn 
fein Befibthum an Land audy noch jo groß fei, zu feinem Eijen- 
bedarf für Hirten und Adergeräthe auf 5 Jahre ausreichen 
würde. Auch ergiebt fi aus der an die foeben bezeichnete 
Stelle fi) anfnüpfenden Bemerfung, „dab der glüdliche Gewinner 
dieſes Eiſenklumpens nicht zur Stadt zu gehen brauche, um 
dort Eifengeräth einzufaufen” die weitere Folgerung, dab er 
auf dem Lande die Gelegenheit hatte, fich fein Eifengeräth her- 
ftelen zu lafjen reſp. jelbit herzuftellen, daß aljo in den Ort⸗ 
fhaften und auf den Gütern und Stammfigen der Bornehmen 
(768) 


37 


und Fürften — von einer zu dem Palafte des Odyſſeus ge⸗ 
börigen Schmiede tft in der Odyſſee die Rede — ſich bejondere 
Eifenichmieden befinden mußten. Nehmen wir ferner noch hin- 
zu, daß in den homeriſchen Gefängen das blaujchimmernde 
Eifen (unter xvavog ift nicht wie Gladftone annimmt, Bronze, 
fondern blauer Stahl zu verftehen), Kleinere Handbeile und 
Aexte aud Eifen mehrfad erwähnt werben, ba fprichwörtliche 
Ausdrüde wie: „Das Eifen zieht den Mann an“ öfter wieder: 
ehren und ziehen wir ferner nody in Erwägung, daß Homer, 
wie Ernft Curtius bemerkt, als Zonier für Praht und Glanz 
wohl eine bejondere Vorliebe befaß, daß er ald Dichter über- 
haupt mit reichen Farben malte und Dementiprechend die werth⸗ 
volleren Kupfer» und Brongegeräthichaften und Waffen häufiger 
ald das unfcheinbare, im Werthe niedrig ftehende Eifen zu er- 
wähnen ſich veranlaßt fehen mußte — wenn wir alles dieſes 
in Betracht ziehen, jo dürfte die im Vorhergehenden audge- 
ſprochene Anſicht von der allgemeinen Verbreitung und Ver⸗ 
wendung des Eifend im homeriſchen Griechenland wohl ald 
binlänglich motivirt erjcheinen. Was ferner eine weitere Duelle 
für unfere Kenntniß der vor» und frühgefchichtlichen hellenifchen 
Eiſenkultur — nämlich die Gedichte Heſiod's — anlangt, fo 
dürfen wir diefelben bier ſchon aus dem Grunde nicht unere 
wähnt laffen, weil die Anhänger der Theorie von einer dem 
Gebrauche ded Eiſens vorangehenden Bronzeperiode fidh häufig 
auf die in der Theogonie dieſes Dichterd enthaltene Erzählung 
von den verfchiedenen Weltzeitaltern berufen. Wenn jedoch 
Heliod dem Eiſen dad Erz (Bronze) vorandgehen läßt, jo be⸗ 
ruht dies auf der größeren Werthſchätzung der Bronze (man 
ft im Allgemeinen geneigt einem bejonderd geſchätzten Gegen- 
ftande ein höheres Alter zuzuſchreiben) ſowie darauf, daß ebenjo 


wie während ber homerifchen Aera auch noch zu der Zeit, wo 
(769) 


38 


Heftiod lebte, Kupfer und Bronze ald die Metalle der Heroen 
betrachtet wurden. Auch trägt die von Heſiod gegebene Dar» 
ftellung ‚der Weltzeitalter einen jo unverfennbaren theologiſch⸗ 
Ipefulativen Charakter, daß es ganz umd gar unzuläffig ift, auf 
diefelbe eine Eintheilung der Metallzeit in verjchtedene Perioden 
zu begründen. Im Uebrigen werden die Schlüffe, die wir im 
Borhergehenden aus den homeriichen Geſängen bezüglich der 
Eiſenkultur des vor- und frühgejchichtlichen Hellad gezogen haben, 
auch durch die Dichtungen Heſiod's beitätigt, wie daraus her» 
vorgeht, daß der befagte Dichter das Schmelzen ded Eiſens aus 
den Erzen kennt, dab er die allgemeine Verwendung dieſes 
Metalled beim Aderbau, die eiferne Sichel und Senje, das 
eiferne Schwert und die in oder vor der Ortſchaft gelegene 
Eifenfchmiede — die zur Winterzeit, wenn die Zeldarbeit ruht, 
auch als Herberge benugt wird — ſchildert und daß er mit 
dem Stahl, der von ihm ald @dauas d. h. das Unbezwingliche 
bezeichnet wird, wohl vertraut tft. Während die Griechen etwa 
bi8 zum 7. Jahrhundert der vordhriftlichen Aera injofern noch 
von fremden Völkern abhängig waren, ald einerjeitd der Berg⸗ 
bau und die Gewinnung ber Edelmetalle im eigenen Lande bis 
dahin in den Händen fremder — vorwiegend phönizifcher — 
Koloniften fidy befanden und als fie andererfeits ihren Bedarf 
an Gold, Silber, Kupfer und Erz meiſt in Form fertiger Ge 
räthe aus dem Ausland bezogen — im Gegenſatz hierzu lafjen 
die Dichtungen Homerd und Hejiods fowie die Mitthei⸗ 
lungen jpäter lebender Schriftfteller feinen Zweifel darüber be- 
ftehen, dab die Griechen der homerifchen Zeit und der 
auf Homer folgenden Kulturepode den Stahl nidt 
allein fanunten, fandern ihn auch ald ein Produkt ein- 
heimiſcher Induftrie anjehen. Auch erleidet die im Vor⸗ 


hergehenden enthaltene Anſchauung nur injofern eine Ein« 
(770) 





39 


ſchränkung, als gewiffe, durch gute Qualität fich auszeichnende 
Stahljorten und Eiſenwaaren — unter diefen vor Allem das 
zuvorerwähnte chalybiſche Fabrikat, durch welches die gewöhn- 
liche Bezeichnung für Stahl (xaAvı) in die griechifche Sprache 
eingeführt wurde, ferner andy in Lydien und Miletos gefertigte 
Gifenartifel, ſowie wahrfcheinlidh auch gewiſſe thraciiche Eifen- 
waaren — von audwärtd importirt wurden, wa8 um jo be- 
greiflicher iſt, als gerade die zur Herftellung der feineren Stahl» 
und Eiſenſorten geeigneten Erze in Griechenland felbft nicht 
vorfommen. Auch wollen wir bei Beiprechung des in dad vor« 
und frühgefchichtliche Hellas eingeführten Eijens nicht nnerwähnt 
lafien, daB ſpeziell das norbweftliche Kleinafien auf die alt« 
helleniſche Eifentultur einen bedeutenden Einfluß ausgeübt zu 
haben fcheint. Verſchiedene Umftände — fo vor Allem die auf- 
fallende Nebereinftimmung zwiſchen den geographiichen Bezeich- 
nungen Nordphrygiens und denjenigen der Inſel Ereta (ſowohl 
in Phrygien wie anf Greta findet fi ein Berg Ida; auch 
wiederholen fich die Namen verfchiedener Ortichaften in den be= 
fagten Gebieten) — diefe und andere Umftände machen es 
nämlich wahrfcheinlich, daß die bezeichnete Inſel in fehr früher 
Zeit vom nordweftlichen Kleinafien aus durch ein metallfundiges 
Bolt Tolonifirt wurde und daß auf diefe Weiſe der Dienft der 
mythiſchen Daktylen und Kureten — weldye urfprünglich viel« 
leicht nichts andere waren ald Genoffenichaften von Metall- 
arbeitern — und die an diefen Dienft fich knüpfenden religiöfen 
Gebräuche nach Creta gebradht wurden. Auch bedarf es feiner 
weiteren Auseinanderfeßung, daB durch eine derartige Ein- 
wanderung eines eijenjchmiedenden Volkes, deſſen Einfluß fidy 
zweifeldohne auch auf das griechiiche Feſtland erftredte, die in 
Griechenland autochtbone Eifeninduftrie einen mächtigen Anftoß 


erhalten mußte. — Um über die Sige der Eijenkultur im vor- 
” (m) 


40 


md frühgelchichtlichen Hellas nody ein paar Worte zu fagen, fo 
find auf der von Homer als Drt der Eifengewinnung bezeidh- 
neten Fleinen Inſel Taphos — der Dichter läht den Taphier⸗ 
fönig Menthes nad) Eypern ziehen, um daſelbſt Eifen gegen 
Kupfer einzutaufchen — fo viel befannt bis jebt noch feine 
Spuren von ehemaliger Eifenerz-Förberung oder -Berhüttung 
nachgewieſen worden; dagegen läht die gegenüberliegende Küfte 
von Alarnanien allerdings erkennen, daß dafelbit jchon in jehr 
früher Zeit Eifen gewonnen und verarbeitet wurde. Als einer 
der wichtigften Mittelpunfte der altgriechifchen Eifeninduftrie 
ift ferner die Inſel Euboea zu bezeichnen, welche der Metall- 
gewinnung ihren urſprünglichen Namen: „Challis" verdankt. 
Auch DBoeotien war, wie aus den Hefiodiſchen Dichtungen 
hervorgeht, im Befitz einer fehr alten Eifeninduftrie und einer 
Schmiedelunft, die freilich ſpäter in Verfall gerieth, fo dab im 
Ipäthellenifcher Zeit böotiſche Arbeit mit plumper gefchmadlofer 
Arbeit faft identiih war. Uralt und einheimifh war jedenfalls 
auch die Eijengewinnung in Arkadien, wo im Taygetosgebirge 
Eijenerze reichlich vorhanden find, und ebenfo fehlte es in 
Lafonien nicht an Erzen, welde wahrſcheinlich ſchon in ſehr 
früher Zeit zur Gewinnung des Nubmetalled verwendet wurden. 
Für lettere Annahme ſpricht einerfeitd die uralte Sitte der 
Lakedämonier, eiferne Ringe zu tragen, andererjeitd der Um⸗ 
ftand, daß bereit3 im 9. Sahrhumdert v. Chr. Lykurg Eilen- 
geld als gefetliches Zahlungmittel einführt. Was Attila an⸗ 
langt, wo — beiläufig bemerft — die berühmten Laurion« 
Silberbergwerfe wahrſcheinlich ſchon im frühgefchichtlicher Zeit 
von phöniciihen Unternehmern andgebeutet wurden, jo trat 
Athen mit feiner fteigenden Entwidelung etwa feit dem 6. Jahr⸗ 
hundert an die Stelle von Chalkis (Euboen), wobei jedoch zu 


bemerfen ift, daß die eigentliche Metallarbeit von Metölen und 
(773) j 


41 


Sklaven verrichtet wurde. Letzteres beruht darauf, daß die freien 
Athener die Handwerkdarbeit verachteten und daher höchftens ala 
Großunternehmer (fowohl ber Vater des Sophofled wie der- 
jenige des Demofthenes joll eine Mefjerfabrik bejeffen haben) 
auftraten. — Was endlich die Technik der Eijendarftellung im 
vor⸗ und frühgeichichtlichen Hellas anlangt, fo tft unjere Kenntniß 
in diefer Beziehung mangelhaft, da die griechiſchen Schriftiteller 
hierüber wenig berichten, was wiederum jeinen Grund darin hat, 
daß, wie überall im Alterthum, fo auch in Griechenland der 
Schmelz. und Schmiebeproceß fern von den größeren Städten 
vorgenommen wurde und, wie joeben erwähnt, ein wenig ge« 
achteted Gewerbe war. Indeſſen willen wir doch aud einer 
Schrift von Theophraft, dab die Griehen — wenn aud 
nicht gerade im früheften Stadium ihrer Geſchichte — bereits 
die Steinkohlen fannten und nicht nur bei der Schmiebe- 
arbeit benußten, fondern fogar zu verkoaken verftan- 
Den.?) Auch geht aus einer anderen Stelle ded nämlichen 
Werkes hervor, daß die atheniſchen Eiſenſchmiede jogar ſchon 
verzinnte8 Eiſen (Weißblech) darftellten. — Um hier endlich 
noch einige für die griechifche Eiſen⸗Induſtrie bedeutungsvolle 
Erfindungen zu erwähnen, jo hat, wie Paufanias berichtet, 
Glaukos von Chios um 600 v. Chr. das Köthen des Eiſens 
— durch Schliemann's Ausgrabungen zu Mylenae wurde 
feftgeftellt, daß in älteiter Zeit die Verbindung der Metalle nur 
durch Vernietung mittelft Stiften bewerfitelligt wurde — erfun⸗ 
den. Bon Wichtigkeit für die befagte Induſtrie waren wohl 
auch die von Theodoros von Samos auf tediniichem Gebiete 
gemachten Erfindungen — welder letztere zuerft Waflerwage 
und Winkelmaß conftruirt und den Drebftahl, ſowie die erften 
Thürichlöffer bergeitellt haben jol — fowie ferner die durch 


1) 


44 


ber Nähe der altetruskiſchen Städte Veji und Pränefte von Pater 
Garucct neben Bronzeobjeften eilerne Gegenftände — darunter 
Waffen, die durch die an Griff und Scheide angebrachten Elfen- 
bein» und Bernfteinverzierungen an die im Folgenden zu erwäh» 
nenden Funde von Hallſtadt erinnern, ferner ein Wagen, deſſen 
eiferne Radjchienen mit Kupfernägeln befeftigt waren u. dergl. 
— ausgegraben. Wenn num freilich audy die Anficyten hervor⸗ 
ragender ttalienifcher Archäologen, weldye die Epoche, aus der 
diefe Funde ftammen, ald „ältefte Eifenzeit“ bezeichnen und dies 
°felben für „voretruskiſch“ halten, zur Zeit nody nicht als 
ficher erwiejen gelten dürfen, jo liefern diefe Funde doch einen 
Beweis für dad hohe Alter der Eifenkultur auf italieniſchem Boden 
— einen Beweis, welcher durch das Fehlen des Eifend in den 
zuvor erwähnten oberitalifchen Pfahlbauten und in den Terra⸗ 
maren feineöwegd entfräftet wird, da ed wohl denkbar ift, daß 
die noch in der Steinzeit befindlichen Bewohner dieſer Anfied- 
(ungen unter den von auswärts importirten Metallgegenftänden 
der goldichimmernden, ald Schmud bejonderd beliebten Bronze 
vor dem Eifen den Borzug gaben. — Was fpeciell die Eiſen⸗ 
fultur der Etrusker anlangt, fo waren ed vorwiegend die auf 
der Inſel Elba befindlien Eiſenbergwerke — deren hohes Alter 
von Diodor und Ariftoteled ausdrüdlich hervorgehoben wird — 
aus welchen diefelben dad Rohmatertal für ihre Arbeiten bezogen; 
auch deutet der Name: Aithalia, wie die Infel von den Griechen 
benannt wurde (AidaAng = Feuerruß), auf die dort fhon in 
früher Zeit vorgenommenen Verhüttungsproceſſe. Im Uebrigen 
iptelte neben Elba der diefer Inſel gegenüberliegende Hafen 
Populonia — auf deifen metallurgifche Bedeutung die Schmiede 
zange und Hammer ald Stempel tragenden alten populonifchen 
Münzen hinweifen — injofern eine wichtige Rolle als die auf 
der Injel bergeitellten Eifenluppen dorthin, wo Feuerungsmaterial 


(776) 


45 


leichter und billiger zu beichaffen war, ald auf dem holzarmen 
Elba, zu Schiffe verfandt und dafelbft weiter verarbeitet wurden. 
Wie jchon bemerkt, waren e8 vorzüglich die Angriffswaffen, 
welde von den Etruskern aus Eiſen bergeftellt wurden, von 
denen aber freilich viele in jo ſtark orydirtem ‚Zuftande aufges 
funden wurden, dab fie häufig bei der erften Berührung gänzlich 
zerfielen. Wie jehr Rom während der erften Sahrhunderte 
feines Beftehend in Bezug auf den Eiſenimport von Etrurien 
abhängig war, gebt unter Anderem daraus hervor, daß unter 
den von Porjenna den Römern vorgejchriebenen Friedensbe⸗ 
dingungen eine Beitimmung enthalten war’, bderzufolge Lebtere 
nicht mehr Eiſen, als zur Herftellung der nothwendigften Ader- 
baugeräthe und der Handwerkszeuge unbedingt erforderlich 
war, von dort einführen durften. — Wa8 ferner das früh- 
gefchichtlihe Rom felbit anlangt — einem Staat, der fidh be= 
kanntlich unter etruskiſchen und griechiſchen Einflüffen (lettere 
vermittelt durch die im Süden der Appeninenhalbinjel begrün- 
deten griechifchen Kolonien) auf altitalijcher Grundlage entwidelt 
hat — fo bat derjelbe als gejchloffened Geweinwejen in metall 
armenı Gebiete und Jahrhunderte lang mit Krieg und Fehde 
beichäftigt, anfangs feinen nennendwerthen Cinfluß auf Die 
Entwidelung der Metallurgie ausüben fünnen und felbit im 
Ipäteren Sahrhunderten nach Begründung der römijchen Welt: 
herrichaft einen folhen nur ald Groberer und Erbe der Reich⸗ 
thümer und technijchen Errungenſchaften anderer Staaten und 
Völker bethätigt. Auch fteht Die vielfach aufgeitellte Behauptung, 
daß die Römer ſich früher der Bronze reip. des Kupfers als des 
Eiſens bedient hätten, infofern auf ſchwachen Füßen, als die 
Thatfachen, die man zu Gunften diefer Anficht angeführt hat, 
eine völlig verfchiedene Deutung zulaffen. Wenn man 3. B 


den Umftand, dab man zu Rom nody in fpäterer Zeit bei ge= 
(777) 


46 


willen feierlichen Handlungen die Bronze ftatt des gebräudlichen 
Eifens in Anwendung zeg, daß man fidy bei rituellen Feierlich- 
feiten dad Haar von dem Priefter mit dem ehernen Echeermeffer 
abjchneiden ließ, daB die Grenzen neuer Anfiedelungen mit der 
ebernen Pflugichar gezogen wurden u. dergl. — wenn man ans 
diefen Gebräudhen einen Schluß auf das höhere Alter des 
Bronzegebrauchs gezogen hat, jo ift die Richtigkeit dieſer Auf⸗ 
fafjung feineöwegs erwieſen. Es Tann vielmehr aus den befagten 
Handlungen mit größerer Wahrjcheinlichkeit gefolgert werden, 
dab man wegen ded höheren Werthes der Bronze gegenüber 
dem Eijen, um dem vorzunehmendeu Alt eine höhere Weihe zu 
verleihen, den aus erjterer Subftanz beitehenden Geräthen bei 
folhen feierlichen Gelegenheiten den Vorzug gab. Wenn ferner 
auch der Umſtand, daß unter den römilchen Zünften während 
der Regierung Numa's die Schmiede ald aerarii aufgeführt 
werden, zu Guniten der vorwiegenden Bronze- und Kupferver- 
wendung während der eriten Zeit des Beſtehens des römiſchen 
Staatöwejend herangezogen wird, fo ift auch diefe Motivirung 
unbaltbar; die Bezeichnung: aerarius ift vielmehr lediglich als 
eine Ueberſetzung des griechifchen yalxsug — worunter ebenfo- 
wohl Eiſen⸗ wie Erzichmiede inbegriffen waren — aufzufafien. 
— Denn aud die frühelte Eriftenz des römiſchen Staates mit 
jener Epvuche zufämmenfällt, wo die Bronzeinduftrie Weftaftens 
und Griechenlands in höchſter Blüthe ftand und wenn es dem⸗ 
entiprechend für wahrjcheinlich gelten muß, daß außer von Strurien 
auch von jenen Ländern den Römern ded Königthumd und der 
eriten Zeitabjchnittd der Republik damals Bronzegegenftände 
durch den Handel mafjenhaft zugeführt wurden — jelbft wenn 
wir dieſes zugeſtehen, fo ift damit keineswegs der Beweis erbracht, 
daß Bronze im römischen Gemeinwejen früher in Anwendung 
Tam ald Eiſen. Es giebt vielmehr außer den bereitd angeführ- 


(778) 


47 


ten noch eine ganze Anzahl von Umftänden, welche zu Gunften 
der gegeniheiligen Anficht ſprechen. So finden wir 5. B. die 
bei Afiyrern und Spartanern einheimiſche Sitte eijerne Ringe 
zu tragen aud bei den Römern jchon im ältefter Zeit wieder; 
fo läßt auch die zunor erwähnte Beftimmung des Vertrags mit 
Porfenna darauf fchließen, dab um dad 5. Jahrhundert v. Chr. 
Eiſen ald Material zu Angriffswaffen in Rom allgemeine Ber 
wendung faud; fo fpricht auch die Art und Weije, wie von den 
Römern ſchon während der früheften Epoche ihrer Geſchichte der 
Krieg erklärt wurde (es geichah Died, indem ein Herold ausge⸗ 
ſchickt wurde, welcher eiue eilerne Lanze in das feindliche Gebiet 
Bineinwarf) zu Gunften der zuleßt erwähnten Anſchauung. — 
Soviel über die Berwendung des Eiſens bei den vor» und 
frühgeſchichtlichen Völkern Italiens umd bei der Bevölkerung 
Noms zur Zeit ded Königthums und während des erften Zeit- 
abjchnittes der roͤmiſchen Republik. — Was die jpäteren Stadien 
der römiſchen Geſchichte anlangt, fo dürfen wir wohl als befannt 
voraußfeßen, daß während derjelben das Eiſen neben der Bronze, 
die allerdings zu Schmud und Zierratb, jowie zu Schutzwaffen 
(Helm, Panzer und dergl.) immer noch außgedehnte Verwendung 
fand, in allgemeinem Gebrauhe war und dab außer dem in 
Stalien jelbft gewonnenen Eiſen auch folches, welches von fernher — 
3. B. aus Indien — importirt wurde, zur Verarbeitung kam. 
Auch verftanden es Die Römer vortrefflicy, die in den von ihnen 
aunterworfenen Ländern einheimijche Eifeninduftrie, wie fie in 
den Provinzen Illyrien, Pannonien, Möſien, Gallien, Hifpanien, 
ſowie vor Allem in Noricum fi fand, ihren Bedürfniffen dienft- 
bar zu machen Einen interejjanten Beleg für die zuleßt er: 
wähnte Tchatjache liefert und 3. B. jene vor einigen Jahren in 
nächfter Nähe des berühmten römiihen Pfahlgrabenfaftelö der 
Saalburg (bei Homburg v. d. Höhe) von Bed und von Go: 


(779) 


48 


haufen aufgededte alte Echmelsftätte, von der wir annehmen 
müffen, daB ed eingeborene Schmiede waren, die ſchon vor der 
Anlegung des beiagten römiſchen Feſtungswerkes (11 v. Chr.) 
bier ihrem Gewerbe nachgingen. Lebtere traten ſpäter zu dem 
Römern in ein Schußverhältnig und lieferten nicht nur der 
Beſatzung des Caſtrums das zur Herftellung von Waffen, für 
Fuhrwerke und dergl. erforderliche Metall (auf der Saalburg 
ſelbſt wurden mächtige Eifenblöde und Cijengeräthe von größter 
Mannigfattigfeit angetroffen), jondern verfahen auch die dafelbit 
angefiedelte Eivilbevölferung mit den für den Aderbau erforder 
lichen Eijenutenfilien. Auch find Schmelz» und Schmiedeftätten, 
von denen wir annehmen müflen, daB fie urfprünglich von galli» 
ſchen Waldfchmieden eingerichtet waren, |päter aber dem römijchen 
Eroberer dienitbar gemacht wurden, in verfchiebenen Theilen 
Frankreichs, fo z. B. bei Luftin (in der Nähe von Namur), 
zu Libourt (bei Chenonceaur) und anderwaͤrts nachgewielen 
worden. 

Werfen wir nach Betrachtung der altitalifchen, römiſchen 
und unter römifchem Einflufle ftehenden Eifenkultur einen Blid 
auf die Verwendung ded Eiſens im vor» und frühgejchichtlichen 
Nord» und Mitteleuropa, jo ift es bekannt, daß im Gegentheil 
zu Griechenland und Stalien, wo der Gebrauh von Metallen 
bis ind zweite Sahrtaufend vor Chriftus zurüdverfolgt werden 
fann, die Kultur in diefen Gebieten erſt verhältnißmäßig Ipät 
ihren Einzug gehalten hat und daß, während bei Egyptern, 
Babyloniern, Alivrern, Phöniziern und Iuden der Gebraudy der 
Metalle die Anwendung von Steinwerkzeugen fchon Sabrtaujende 
vor dem Beginne der chriftlichen Aera verdrängt hat, die Stein 
periode fich in einzelnen Gegenden von Nord» und Mitteleuropa 
noh bis zum Scluffe ded erften Sahrtaujends nad Chriftus 


erhalten bat. — Was ferner die Frage nach der Eriftenz einer 
(780) 


49 


befonderen Bronzekultur in den befagten Gebieten anlangt — 
eine Frage, Die wir nicht umerörtert laffen dürfen, da fie mit 
dem Gegenſtande unjerer Betrachtungen in engitem Zuſammen⸗ 
hange fteht — fo bedürfen ſolche Behauptungen, wie fie z. 2. 
Wibel aufgeftelt bat, (berjelbe betrachtet die Bronzezeit als 
eine in Nord» und Mitteleuropa durchaus einheimtiche Kultur 
und führt diefelbe ihrem erften Urjprung nach auf Großbrittannien 
zurück) infofern feine Widerlegung, als e8 auf der Hand liegt, 
daß ein barbariiche8 Land, wie die brittiichen Inſeln damals 
noh waren, nicht den Ausgangspunkt einer Weltfultur bilden 
fonnte und als auch nicht der geringfte Anhaltepunft gegeben 
ift, der dazu führen könnte, in Großbrittannien eine bereitd zu 
Cäfard Zeiten untergegangene höhere Kultur anzunehmen. — 
Was Skandinavien anbetrifft, deffen Gelehrte die Theorie einer 
dem Gebrauche des Eiſens vorangehenden Bronzezeit mit beſon⸗ 
berem Eifer vertreten haben, jo wird von der Mehrzahl der 
dänischen, ſchwediſchen und norwegiſchen Forſcher behauptet, dab 
zwar bie erften Bronzegeräthe vom Auslande dorthin importirt 
worden feiern, daß aber auf diefe Anregung bin im Norden — 
und zwar fpeziell in Skandinavien — fich al8bald eine Bronze 
technit von ſolcher Bedeutung entwidelt habe, daß diefelbe etwa 
vom 6. Sahrhundert v. Chr. bis zum 2. Sahrhundert n. Chr. 
einen großen Theil Europas beberrichte. Hier drängen fi nun 
ſofort die Fragen auf: Iſt ed wahricheinlih, dab in Ländern, 
über deren Kupfergewinnung in präbiftoriicyer Zeit nichts befannt 
ift und in denen Zinnerze nachgewiefenermaßen gänzlich fehlen, 
eine einheimifche Bronzeinduftrie, welche aljo dad Material 
für ihre Arbeiten von auswärts hätte einführen müflen, fich 
entwideln Eonnte, und wenn eine ſolche bochentwidelte Tech⸗ 
nit damald wirklich beftanden hätte, wäre ed möglich geweſen, 
daß dieſelbe ſpurlos verſchwand? Müßten wir, voraudgefeht, 


xx. 476. 477, 4 (781) 


50 


daß die nordiſchen Völker in der Metalllultur damals bereits 
jo weit vorgefchritten waren, nicht auch erwarten, daß fie auch 
in anderer Beziehung Kulturfortichritte gemacht hätten, daß fie 
majfive Häufer gebaut haben würden und dergl. mehr? Bon 
alledem ift aber nichts nachzuweiſen; wir finden feine Städte- 
gründungen im Norden zu einer Zeit, wo das ftolze Niniveh 
längft in Trümmern lag; wir finden dajelbft feine jchriftlichen 
Veberlieferungen zu einer Zeit, wo die Beben, der bebrätfche 
Kanon und die unfterblichen Gefänge Homers längft niederge- 
fchrieben waren. Auch darf bei der Beurtbeilung der foeben 
erwähnten Theorie der jlandinavifchen Gelehrten nicht außer 
Acht gelaffen werden, dab in Nord- und Mitteleuropa ebenfo 
wie anderwärtö unmittelbar neben den in der Regel weit beffer 
erhaltenen und kunſtvoll gearbeiteten Bronzeartifeln gar nicht 
felten eiferne Gegenftände gefunden werben und daß ſolche 
Eiſenfunde ſogar befaunt jind aus Zeiten, die der 
angeblihen Bronzeperiode vorausgehben. So wurde 
3. B. bei Banzelwig auf Rügen geſchliffenes Eiſen in einer 
langen Feuerfteinärte enthaltenden Steinkiſte und in einem großen 
Steingrabe bei Stubnig (ebenfalld auf Rügen) Eijenfchladen 
aufgefunden; jo hat ferner Schaaffhaufen in einem bei Bedum 
(Weftfalen) aufgededten Sangbau neben Feuerfteingeräthen eine 
etjerne Kugel und ein eijerned Mefjer angetroffen und ebenfo 
wurden iu Medlenburg, Schweden und Dänemark (in einem 
Grabhügel bei Tägerspriid auf Seeland fand Worſaae einen 
großen zufammengerollien Eijenflumpen neben Zeuerfteinwaffen) 
ähnliche Funde gemacht. Auch muß der Umftand, dad nad 
Hoftmann!) viele nordiſche Bronzen eine Bearbeitung 
ihrer Oberfädhe mit Stahlinftrumenten erfennen lafjen, 
ebenfalls als ein gewicdhtiger Einwand gegen die oben» 
erwähnte Anjicht der ſtandinaviſchen Gelehrten — der 


(782) 


51 


Anſicht, Daß der Eifenkultur Nordeuropa eine Bronzes 
periode vorangegangen ſei — gelten. Ziehen wir alle 
dieſe Umftände in Betracht und bedenken wir ferner, daß die 
im Norden fi findenden Bronzen und dort von Anfang an in 
fünftlerifcher Ausführung entgegentreten, daß aljo von einer all- 
mählich ſich entwidelnden Bronzeinduftrie daſelbſt nicht die 
Rede fein kann und daß auch der hier und da verfudhten Erflä- 
rung; ein bronzefundiges Volk habe das Eteinvolf unterworfen 
und auf dafjelbe feine Kultur übertragen, der Umftand entgegen- 
fteht, daB der Uebergang von der Steinzeit zur Metallzeit in 
den bejagten Gebieten ein allmählicher geweſen ift und daß 
überhaupt feinerlei Gründe vorliegen, welche zu einer derartigen 
Annahme berechtigen — wenn wir alles diejes in Erwägung 
ziehen, fo kommen wir zu dem Schluß, daß die Annahme einer 
im Norden unfered Erdtheils zur jelbftändigen Entwidlung 
gelommenen Bronzelultur keineswegs durch die Thatfachen unter» 
ftüßt wird, daß vielmehr die Anſchauung foldher Forſcher, welche 
die im Norden unfered Erdtheild aufgefundenen Bronzeobjekte 
im Wejentlihen als aud den Mittelmeerländern ftammende Ex—⸗ 
portartifel betrachten, durdy die joeben erwähnten Umftände 
einen hahen Grad von Wahrjcheinlichkeit erhält.ı1) — Was 
ipeziell die und beichäftigende Frage nad) der Verwendung bed 
Eifend im Norden anlangt, fo folgert Bed aus den oben 
erwähnten Funden und aus gewiljen im Nachfolgenden zu erwäh⸗ 
nenden Umftänden, dab Eifen das erite Metall war, welches 
von den Bewohnern Nordeuropas felbftitändig bearbeitet wurde, 
dab freilich feine Anwendung anfangs wahrſcheinlich beſchränkt 
und feine Qualität eine geringe war, daß ed aber im Lande 
felbft au8 den Erzen gewonnen wurde und dab im Gegenjab 
zu ber Bronze, welde mehr die Rolle eined Luxusartikels 


ipielte, die für den Alltagdgebrauch bejtimmten Geräthe, wie 
4? (183) 


52 


die Holzart, da8 Zimmermanndbeil, die Hade und Schippe bes 
Landmanned und dergl. aus diefem Material beitanden. Was 
letzteren Punkt anlangt, jo dürfte allerdings der Umftand, daß 
unter den in den nordiſchen Mufeen gefammelten Bronzeobjeften 
Handwerkszeuge nur in geringer Anzahl vorfommen und Ader- 
baugeräthe-gänzlich fehlen, für die Annahme ſprechen, daß gerade 
dieje Utenfilien aus Eijen bergeftellt wurden. Auch müſſen wir, 
wenn unter den älteren prähiftoriichen Zunden Nordeuropas das 
Eiſen in jehr vielen Fällen vermißt wird, bier abermals darauf 
verweilen, daß einerjeit8 die Zerftörung dieſes Metalles durch 
Roft — (wenn lettere ſchon in jüdlichen Kändern ficy bemerkbar 
macht, um wie viel mehr muß diefelbe in bem von atmolphäri« 
chen Niederſchlägen durchfeuchteten, niemald völlig austrocknenden 
Erdboden nordiiher Gebiete zur Geltung kommen) — anderer. 
jeit8 der Umftand, daß, im Gegenfaß zu der von fernher impor⸗ 
tirten goldjchimmernden Bronze, das im Lande felbft gewonnene 
Metall für zu gering gehalten wurde, um ed den Todten mit 
ins Grab zu geben, das häufige Fehlen des Eiſens an den 
beſagten Fundftätten wohl zu erklären geeignet ift. Im Uebrigen 
muß, wenn wir auch die Eijeninduftrie des europäiichen Nordens 
als eine in ihren Anfängen autochthone Kunft betrachten, doch 
zugeftanden werben, daß in ganz analoger Weije, wie das im 
Beſitze einer nationalen Kijeninduftrie befindliche Hellad die 
befferen Eifen- und Stahlforten aus dem Lande der Chalyber 
und aus anderen Gegenden Kleinafiens importirt hat, jo audy 
furz vor Beginn der hiftorifchen Perinde durch gute Qualität 
fich auszeichnendes Eifen und Stahl reip. die aus diefen Dates 
rialien gefertigten Gerätbichaften und Waffen aus Südeuropa 
nad dem Norden unjered Erbtheild audgeführt wurden und daß 
gerade durch diefen Import die unvolllommene Xechnif der 
legteren Gebiete einen mächtigen Anftob erhielt. Während wir 


(784) 


53 


alfo, wie fchon bemerkt, an dem Borbandenfein einer autoch⸗ 
thonen, wenig entwidelten vorgefchichtlichen Cifeninduftrie im 
nördlihen Europa fefthalten, können wir und im Uebrigen mit 
ben Ausführungen des hervorragenden norwegiſchen Archäologen 
Ingvald Undfett?) einverftanden erflären, demzufolge ed im 
Weſentlichen der La Töne» Kultur, diefer jüngeren mitteleuro» 
pätichen vorrömifchen Eifenfulturgruppe, vorbehalten war, durch 
ihre Einwirkungen die Eijenzeit in Norbdeutfchland zu begründen 
und ind Leben zu rufen.” 

Das, was wir im Borhergehenden über das Verhältnis 
des Eifens zur Bronze in Nordeuropa — insbeſondere im vor- 
und frühgefchichtlichen Skandinavien — gefagt haben, gilt im 
Allgemeinen auch für diejenigen Gebiete unfered Erdtheils, 
deren Eijenfultur von. und noch nicht erörtert wurde. So ift 
es z. B. auch auf die Schweiz anwendbar, über deren Prähiftorie 
befanntlih die Pfahlbautenunterfuchungen wichtige Aufſchlüſſe 
geliefert haben. Lebtere jcheinen allerdingd auf den eriten Blick 
bie Theorie von einer dem Gebrauche des Eifend vorangehenden 
Bronzezeit dadurch zu beitätigen, dab in einer Anzahl von Sees 
anftedelungen der Weftichweiz neben Geräthichaften und Waffen 
aus Stein ſolche aus Kupfer und Bronze angetroffen wurden und 
daß gerade die foeben erwähnte Station La Tène (bei Marin im 
Neuenburger See gelegen), die man gewoͤhnlich ald eine der 
jüngften Pfahlbautenanftedelungen betrachtet, durch das Vor⸗ 
berrichen des Eiſens charakterifirt wird. Andererfeits ift e8 aber im 
hoöchften Grade wahrfcheinlich, daß Die Herftellung der Bronze feine 
Erfindung der barbarifchen Protohelveten — von denen vermuthet 
werden muß, daB fie außer in den Seedörfern audy auf dem 
feften Lande anfäßig waren — gewefen tft; vielmehr weiſt ſchon 
die Nachbarſchaft Italiens, fowte der Umftand, dab gerade in 


den Pfahlbaudörfern der Weſtſchweiz, durch weldhe Der Handel 
(185) 


54 


Italiens mit Frankreich und Deutſchland fich vorzugsweiſe be⸗ 
wegte, Bronzeobjekte angetroffen werden, darauf hin, daß das 
Pfahlbautenvolk ſeine Bronze von auswäris — urſprünglich 
wohl von den ſchon in früher Zeit am Po anſäſſigen Phöniziern 
und Ipäter von den Etrußfern — bezog. 1?) Auch jcheint das 
Auffinden der Nefte von Silene Cretica in den Pfahlbauten, 
eines füdeuropäifchen Unkrauts, welches in der heutigen Schweiz 
fih nicht mehr findet, infofern, ald e8 auf einen ehemals 
zwiſchen diefem Lande und den Mittelmeergebieten beftehenden 
Verkehr deutet, Die im Vorhergehenden ausgeſprochene Ber: 
muthung von dem füdlichen Uriprung der Pfahlbautenbronzen 
zu beftätigen. Aus den befagten Ländern mögen wohl aud 
jene Gußformen in die Schweiz eingeführt fein, welche der ver- 
bienftvolle Pfahlbautenforſcher Dr. V. Groß 1*) aus den Stationen 
Morged am Neuenburger- und Möhringen am Bieler See zu 
Tage förderte und welche darauf Hindeuten, dab das Pfahl⸗ 
bautenvolf die Kunft, Bronze zu gieben, reſp. gewille Bronze. 
objefte ſelbſt berzuftellen, von ben Fremden erlernt hatte. — 
Mas ferner die Verwendung des Eiſens in den ſchweizeriſchen 
Seeanftedelungen anlangt, jo müflen wir bier wiederum daran 
erinnern, baß das Eilen, wie Johannes Rankle!:) bemerft, 
„fich an den Zunbftellen, die der Erhaltung der Bronze und der 
organifchen Gebilde, wie Knochen und Horn, jo günftig waren, 
viel weniger leicht erhalten fonnte.” — Andererjeitd hat angefichts 
der Thatjache, bat eiferne Objekte außer zu La Tene in den 
Seedörfern von Niedau-Steinberg, ferner am Bieler See: in 
den Stationen von Zub, Latringen, Hagened, Neuftadt, Wingels, 
ſowie zu Möhringen aufgefunden wurden, die Annahme, daB 
es in jener präbiftorifchen Epoche, während deren bie Pfahl« 
bauten beftanden, eine getrennte Bronze- und Eifenzeit gegeben 


habe, wenig Wahrjcheinlichfeit für fi, und noch unwahrſchein⸗ 
(786) 


55 


licher ift die Anſicht, daß erſt nach einer Bronzezeit von langer 
Dauer, wie 3.8. Morlot joldye für die Pfahlbauten berechnet, 
in der Scyweiz die Erfindung des Eiſens gemacht worden jet. 
Ohne zu ſolchen Theorien unfere Zuflucht zu nehmen, haben 
wir vielmehr in dem Umftand, daß der Handel den damaligen 
Bewohnern der Schweiz Bronzewaffen und »Geräthe leicht und 
bequem darbot nnd daß in Folge defjen der Gebraudy des Eiſens 
in den Hintergrund gedrängt wurde, eine ungezwungene Erflä- 
rung für die relative Seltenheit des zuletzt erwähnten Metalles 
in den Weftfchweizeriichen Seedörfern. (Die Pfahlbauten ber 
Oſtſchweiz find befanntlih noch vor dem Beginne der Metall» 
zeit verlaffen reſp. zerftört worden.) Da wir aber troßdem das 
Eiſen in Anwendung finden und zwar theilmeije für Gegen- 
fände von geringem Werthe, wie: Schuhe von Schifferftangen, 
Ringe zum Befeitigen der Filcherboote und dergl., jo dürfen 
wir hieraus fchließen, dat diefed Metall dem damald die Weft- 
ſchweiz bewohnenden Volfe befannt war und daß ed billiger 
war als Bronze, woraud dann weiter zu folgern tft, dab es im 
Lande jelbft gewonnen wurde. Der zulegt erwähnte Schluß 
bat denn auch durdy die Unterfuchungen von Duiquerez — 
denen zufolge in der Schweiz nicht weniger ald 400 prähiftoriiche 
Eiſenſchmelzen nachgewieſen werden Fönnen, von denen 61 mit 
Beitimmtheit in die vorrömiſche Periode verlegt werden müſſen 
— feine Beftätigung gefunden und kann nach dem, was der 
bejagte Forſcher über die uralte Eifengewinnung im Berner 
Jura, über die Einrichtung der Schmelzöfen, über die in der 
Nähe der Letzteren befindlichen Meiler (melde zur Erzeugung 
der beim Schmelzprozeß Verwendung findenden Holztohlen 
dienten), über die ausgedehnten prähtftoriihen Schladenhalden 
des Schweizerlandes, fowie endlich über die zwifchen den Namen 
jchweizerifcher Ortichaften und dem in den betreffenden Gegenden 


(787) 





— nn — 


56 


feit uralter Zeit betriebenen Schmiedehandwerk beſtehenden Be⸗ 
ziehungen feftgeſtellt hat — nach alledem kann nicht bezweifelt 
werden, daß die Eijeninduftrie der Schweiz bis in einen 
früben Abſchnitt der Präbtftorie zurückre icht; aud if 
ed wahrjheinlih, daß die befagten Eiſenwerke fhon 
zur Zeit der Pfahlbautenanftedelungen in Betrieb 
waren und daB das Eiſen den Bewohnern der Letzteren 
Ihon vor der Einführung der Bronze durch fremde 
Händler befannt war. 

Wenden wir und von den Unterfuchungen, welche bie 
frühefte Eifenkultur der Schweiz betreffen, zu den öftlichen Alpen» 
gebieten, jo ift da8 berühmte Grabfeld von Hallftadt (im Salze 
fammergut) ebenfalld bis zu gewiflem Grade geeignet, bie 
Theorie von einer zeitlich ftreng gefchiedenen Bronze- und 
Eiſenzeit, wie ſolche von den nordiſchen Forſchern immer noch 
vertheidigt wird, zu widerlegen, da wir unter den klafſiſchen 
Sunden, welche dafelbft gemadht wurden, ſowohl Bronze wie 
Eijen in außerordentlicher Reichhaltigfeit antreffen, und da viele 
and den dort aufgededten Gräbern ftammende Objekte zum 
Theil aus Bronze, zum Theil aus Eifen beftehen und ba Eijen- 
ächwerter und Bronzeſchwerter, Eiſenbeile und Bronzebeile 
(Palftäbe) bezüglich der Form in vielen Fällen aufs Genaueſte 
übereinftimmen. ntipredyend dem ſoeben Geſagten betont 
von Saden, dem wir bie eingehendften Unterfuchungen über 
die Kunde von Hallftadt verdanken, daß die Trennung nad dem 
Material eine mißliche jet, dab vielmehr das Wichtigfte bei der 
Unterjcheidung ber beiden Metallperioden dad geiftige Moment 
in der Formgebung, d. b. der Styl ſei. Dem durch ein eigen- 
thümliches Syftem der Ornamentik charafterifirten „Bronzeftyl*, 
welcher dem Grundtypus nach den Kulturvöllern des Mittel- 
meeres entftammt, der ſich befonders in Etrurien lange gehalten 


(288) 


97 


und fpeciftich eutwidelt hat, zugleich aber auch nad von Saden’s 
Anſchauung an dem germaniſch-ſkandinaviſchen Nordfüften eine 
fofalgefärbte Ausbildung erfahren hat — Diefer wegen der ihr 
etgenthümlichen Ornamentik als „geometriicher Bronzeftyl” be⸗ 
zeichneten Formgebung ftellt der bejagte Forſcher eine andere 
Gruppe gegenüber, welche ein durchaus verfchiedenes Prinzip 
in Form und Verzierung aufweift, im Weſentlichen aus Eiſen⸗ 
objekten mit wenig Bronze fi zufammenjeßt und deren Formen 
nah Johannes Ranke (a. a. D. p. 281) mit dem Styl des 
„germanischen Eiſenalters“ aus der Periode der fränfiich-alles 
mannijchen Neibengräber identiſch find. Auch ſoll fih auß der 
bejagten Eintheilung injofern eine ethnographiſche und zeitliche 
Gruppirung ergeben, als ber „geometriſche Bronzeftyl” ſich, mie 
fhon bemerkt, auf den Einfluß der Mittelmeervölfer zurüdführen 
läͤht und für Mitteleuropa in die Mitte und zweite Hälfte des 
erften vorchriftlichen Sahrtaufends (Periode der Handelsbezieh⸗ 
ungen der füdlichen Kulturftaaten zu den Teltiihen und germa⸗ 
nifchen Stämmen) zu verlegen tft, während andererſeits der 
ſoeben erwähnte Eifenalterftyl vorzugsweiſe von nordgermanijchen 
Bevölferungselementen getragen wird und erft in nachdhriftlicher 
Zeit eine weite Verbreitung erlangt. Im Uebrigen deutet, wenn 
auch die Hallftädter Funde im Weſentlichen wohl einem jpäten 
Abfchnitt der Prähiftorie Mitteleuropas 1°) angehören, die hohe 
Vollkommenheit der aus den befagten Gräbern zu Tage gefoör— 
derten Eijen-Geräthe und Waffen darauf hin, dab der Herftels 
Iung derjelben eine Eifeninduftrie von langer Dauer vorausge⸗ 
gangen ift, daß alfo in dieſem von dem (wahrſcheinlich keltiſchen) 
Stamme der Tauridfer bewohnten Alpengebiete, welches jpäter 
einen Theil der römischen Provinz Norikum bildete, das Eiſen ſchon 
in früher präbiftorifcher Zeit befannt war — eine Annahme, welche 
durch die Auffindung von alten Eifenfchladenhalden und prähiftort- 


(789) 


58 


ſchen Schmelzftätten im öftlihen Alpenlande (Eiſenſchmelzen 
von Hüttenberg in Steiermarf) beftätigt wird. — Um an die 
Beiprehung ded Grabfeldes von Hallftadt einige Bemerkungen 
über die in anderen öfterreichiichen Gebieten gemachten vorge- 
Ichichtlichen Eijenfunde zu fnüpfen, fo bat H. Wankel in dem 
von den Römern ald Luna Silva bezeichneten eijenerzreichen 
böhmijch«mährischen Scheidegebirge ebenſowohl uralte Schladen» 
balden, wie die in den dortigen Eifenfteingruben ſich findenden 
alten Streden — weldye von den Bergleuten „der alte Mann“ 
genannt werden — fowie eine Anzahl von präbiftoriichen 
Schmelzftätten nachgewieſen. Lebtere find injofern von bejon- 
derem Intereſſe, ald wir bier einem von dem in präbiftorijcher 
Zeit in Europa ziemlich allgemein verbreiteten Berfahren 
(Schmelzung der Eijenerze in cylinder⸗ oder Tegelförmigen 
thönernen Defen) abweichenden Schmelzprozeß — nämlich dem 
Schmelzen des Eiſenerzes in einer Anzahl von topfartigen Tie⸗ 
geln begeguen — einem Berfahren, welches im Wejentlichen 
darin beftand, daB die Eijenjchmelzer mehrere Ziegel zu einer 
Gruppe vereint auf den Boden ftellten, fie mit dem Schmelzgut 
füllten und über und um dieſelben ein ftarles Feuer anzündeten, 
in welches fie wahrſcheinlich durd eine einfache Gebläfevor- 
richtung jo lange blieſen, bis fi das gefchmolzene Eifen am 
Grunde des Tiegeld angefammelt hatte, da8 dann herausgenommen 
und ald Eijenluppe in den Handel gebradyt wurde. — 

Werfen wir, naddem wir die vor« und frühgeſchichtliche 
Eiſenkultur im übrigen Europa einer Betrachtung unter⸗ 
zogen haben, noch einen Blick auf die frühefte Eifengewinnung 
und »Berarbeitung bei unjerem eigenen Bolfe, jo bat man, wie 
oben bemerkt, die Stammverwandichaft ded Sanskritwortes ayas, 
bes gothiſchen aiz, des lateinifchen aes, des deutichen Eiſen“ 


al8 einen Beweis dafür angeführt, daß die indogermaniicdhen 
(790) 


59 


Stämme bereits, ehe fie aus ihren gemeinfchaftlichen Urſitzen 
in die heutzutage von ihnen bejebten Gebiete auswanderten, mit 
dem Eiſen befannt gewejen feien. Was diefe Frage anlangt, fo 
muß jedoch darauf hingewiefen werben, dab die Spradyforfcher 
bezüglich deffen, was die Veden der Inder und die Zend » Avefta 
ber Perfer mit „ayas” bezeichnen, verfchiedener Meinung find. 
(Nah Mar Müller bedeutete ayas urjprünglich vielleicht bloß: 
Metall; nah D. Schrader — Vergl. dad wichtige Werk: Sprach⸗ 
vergleichung und Urgeſchichte. Jena 1883 — wäre damit Kupfer 
gemeint gewejen.) Andererſeits bedarf es bloß eines Hinwetfes 
auf die wichtige Rolle, welche das Eiſen in der germaniſchen Mytho⸗ 
logie fpielt, auf den Werth, welchen die Helden der germantichen 
Sagen auf gute Eifenjchwerter legen und auf die Mythen, welche 
fih an die Herftellung und Geſchichte diefer Waffen knüpfen, um 
jofort zu erkennen, dab das werthuollite aller Metalle den Voͤl⸗ 
fern germaniihen Stammes ſchon in fehr früher Zeit befannt 
gewejen tft. Auch könnte nah Bed wohl in Frage kommen, 
ob nicht die Zwerge, weldye die germaniiche Mythe mit bem 
Schmiedehandwerk in Verbindung bringt, ald Refte einer älteren 
im Vergleich zu den Germanen jchwädhlichen Urbevölferung aufs 
zufaffen find, welche in technifchen Fertigkeiten einen gewiſſen 
Kulturgrad erlangt hatte. — Abgeſehen von den dem Gebiete der 
germaniſchen Mythologie entlehnten Wahrſcheinlichkeitsgründen 
befigen wir übrigens direkte Beweife dafür, dab unfern Vorfahren 
ihon ſehr frühzeitig auf die Gewinnung und Berarbeitung des 
Eifend ſich verftanden. Als ein ſolcher Beweis find z. B. die 
im Lüderich bei Bendberg nachgewieſenen Spuren eines uralten 
Bergbau’d — es wurden aus diejen Eiſenerzgruben Geräthe, 
welche ein ſehr hohes Alter des dortigen Bergwerkbetriebes be» 
funden wie: Steinlampen, hölzerne mit fupfernen und eiſernen 


Spitzen verjehene Brechwerkzeuge, hölzerne Schaufeln und der- 
(91) 


60 


gleichen zu Tage gefördert — zu betrachten und ebenfo ſprechen 
die in gewilfen Tcheilen Norddeutſchlands ſich findenden präs 
biftorifchen Schlackenhalden zu Gunften diefer Annahme. Was 
legeren Punkt anlangt, fo macht Eh. Hoftmann in einer uns 
längft veröffentlichten Arbeit (die älteften Eiſenſchlacken in der 
Provinz Hannover von Ch. Holtmann in Celle) darauf aufs 
merffam, daß an den Abhängen der dünenartigen Alluvials 
bildungen, weldye die Ufer der unteren Leine einfaflen — ind» 
bejondere auf den von Heinen Zuflüffen ber Keine halbinfelartig ein» 
geichlofjenen Höhen in einer Tiefe von 0,3 bis 1 Meter unter 
der Erdoberfläche eine durch das ganze, oft mehrere Hektare 
umfaflende Terrain fich binziehende Ablagerung von Artefakten 
— eine Art Kulturfchicht — nachgewieſen werben kann, weldhe 
vorwiegend aus einer faft unglaublichen Menge Heiner Topf⸗ 
jcherben, untermifcht mit Eifenfchladen, Koblenreften, Thierknochen, 
vegetabiliihen Abfällen, ſowie mit einzelnen eijernen Gegen- 
ftänden, Steingeräthen und Feuerfteiniplittern befteht. Auch tft 
daraus, daß in den beir. Gegenden angeftellte Nachgrabungen 
in vielen Fällen nicht nur jene foeben erwähnten Objekte, fon- 
dern auch Fundamentirungen aus Feldfteinen, Herdftellen aus 
Granitblöden, jowie die Meberrefte Heiner Schmelzgruben ergeben 
haben, wohl mit Sicherheit zu fchließen, daß wir es nicht etwa 
mit den Trümmern von durdy den Pflug aufgewühlten und zer 
förten Urnenfeldern (Begräbnipftätten), fondern mit den Rüd- 
ftänden uralter zum Zwede der Eifengewinnung ge- 
gründeten Anfiedelungen dafelbft zu thun haben. Als 
ein Umftand, welcder den fveben erwähnten Unterfuchungen 
eine bejondere Beweisfraft verleiht, muß ferner noch bemerft 
werden, daß die befagten Anhäufungen von Eifenichladen, — 
welche, beiläufig bemerkt, nicht nur an den Ufern der Leine fi 


finden, ſondern auch von diefem Fluß bis zur Hunte und ven 
(793) 


61 


dort weiter weftlich bi8 zur Ems und zur Zuider-See fowie in 
füdlicher Richtung bid zum Rheinthal ſich fortiegen — bier meiftens 
in Gegenden angetroffen werden, in denen der moderne Betrieb 
von Echmelzhütten — foweit befannt — niemals beftanden 
bat und daß ebenfomohl die primitive Beichaffenheit der mit 
den Eiſenſchlacken vermijchten, mäßig gebrannten und wenig 
verzierten Zopfiherben, wie der bedeutende Cijengehalt der 
Schlacken jelbft zu Gunften der Annahme einer jehr frühen und 
noch ſehr unvollflommenen Eijengewinnung durch Berhüttung 
der Erze ſpricht. Auch hebt Hoftmann hervor, daß neben den 
erwähnten Eijenfchladen in der ganzen Provinz Hannover feinerlei 
andere prähiftoriiche Schladen bis jetzt nachgewieſen wurden und 
daß es demnach ald unmwahricheinlich gelten muß, daB außer Eifen- 
erzen auch Kupfer» und Silbererze ſchon während der prü« 
hiftorifchen Zeit in den bejagten Gegenden eingejchmolzen wurden. 

So viel über die Unterjuchungen Hoftmann’s, welche dazu 
aufmuntern auch in anderen Theilen Deutichlandd nach prä« 
biftorifcher Erzgewinnung und Verhüttung Forſchungen anzu- 
ftellen und auf diefe Weile behufs genauerer Kenntniß der vor» 
und frühgeſchichtlichen Metallfultur weitere Anhaltepunfte zu 
gewinnen. — Um bier noch einige andere Forſchungen auf an= 
thropologiſch⸗ archäologiſchem Gebiete zu beiprechen, welche eben» 
fal8 das hohe Alter der germanijchen Eifenfultur bezeugen, fo 
wurde der von Bed und Cohauſen am Südhange der Saalburg 
(unweit Homburg v. d. Höhe) aufgefundenen Eifenfchmelzftätte 
bereitö gedacht und fei bier nur noch erwähnt, daß in unmittel- 
barer Nähe der dafelbit nachgewiejenen jchachtförmigen, mit be= 
\onderen Windöffnungen (welche zur Aufnahme einer Gebläfevor: 
richtung beitimmt waren) verſehenen Schmelzöfen fid) Spuren von 
Meilern und umfangreihe Schladenhalden vorgefunden haben. 
Auch geftattet das Alter der riefigen Buchen, welche auf lehteren 


(793) 


62 


gewachſen find, infofern einen Schluß auf die fernentlegene Vor⸗ 
zeit, während deren die bejagten Schmelzöfen in Betrieb waren, 
als zweifeläohne lange Zeit verftrichen fein muß, bis die bier 
befindlichen Eiſenſchlacken fi ſoweit mit Erde bedeckt hatten, 
dab anf denjelben Buchenkerne genügende Nahrung für ihre 
erfte Entwidlung finden fonnten. — Um bier noch einiger anderer 
über die Eijenkultur des alten Germaniend Licht verbreitender 
Forſchungen zu gedenken, jo verdient der Fund von Monzenheim 
(Elſaß) infojern eine bejondere Erwähnung, als dafelbft ebenfo 
wie an anderen Punkten des Mittelrheinlanded eine Anzahl von 
Eifenluppen, welche aus vorgefhhichtlicher Zeit — wahrſcheinlich 
aus der der römiſchen Okkupation unmittelbar vorausgehenden 
La Tene-Periode — ftammen, angetroffen wurden. Diefelben 
beftehen aus einem homogenen weichen Eifen, das fich gutichweißen 
und jchmieden läßt und ftimmen bezüglich der Form mit den 
oben befchriebenen Doppelpyramiden-fürmigen Eiſenluppen 
Affyriens auf’8 Genauefte überein. — Zu erwähnen wäre bier 
ferner noch, dab C. Mehlid bei Ramſen in der Nähe des 
jegigen Eiſenberg (bairifhe Pfalz) mächtige Schladenlager 
und in Eifenberg jelbft — dem Rufianı ded Ptolemaeus — 
mehrere zuderhutförmige Eiſenſchmelzoͤfen, welche wahrſcheinlich 
aus der Römerzeit herrühren, nachgewiejen bat. — Was end» 
li eine dritte Duelle, aus der wir Aufichlüffe bezüglich der alt» 
germaniſchen Eifenkultur zu gewinnen im Stande find — nämlid 
die Ueberlieferungen der roͤmiſchen Schriftftellee — anlangt, fo 
erfahren mir durch diefelben manche Einzelheiten, welche über 
das Alter der bejagten Kultur bis zu gewiſſem Grade Licht 
verbreiten. Diefelben berichten, daß ebenfowohl die von Marius 
befämpften Cimbern und Teutonen, wie die Sueven des Ariovift 
Eiſenſchwerter führten, daß die Chatten eiferne Schwurringe 
trugen, die fie erft ablegen durften, nachdem fie einen Feind 
(79%) 


63 


getödtet hatten und dab außer den befagten Stämmen auch 
Longobarden, Rugier, Sennonen, Cherusfer und Sigambren 
eijerne Waffen trugen. Auch ift, wenn Tacitus bemerkt, daß 
die Germanen arm an Eiſen ſeien, dies jedenfalld nur relativ, 
d. h. im Vergleiche zu der reichen Außftattung der römifchen 
Legionen gemeint, da der berühmte Gefchichtöfchreiber die mit 
Eifenipigen verjehenen Speere der germantichen Krieger befon» 
ders erwähnt und von der an den öftlihen Grenzen Germaniens 
— im Lande der Gothinen, welche den Duaden dienftpflichtig 
waren — betriebenen Eifengewinnung ſpricht. — Was endlich 
daB Verhaͤltniß des Eijend zur Bronze im vor- und frühs 
geſchichtlichen Germanien anbetrifft, jo können wir bezüglid 
diefer Frage auf das verweilen, was oben über den Bronzeimport 
nad Nordeuropa — indbefondere nad) Skandinavien — bemerft 
wurde. Gerade der Umftand, daB in dem deutſchen Slußthälern, 
weldyen der vor⸗ umd frübgeichichtliche Handel im Allgemeinen 
gefolgt tft und in den deutſchen Küftengebieten Bronzefunde, 
befonder8 häufig gemacht werden, deutet darauf bin, daß die 
Bronzen im Wefentlichen ald aus dem Süden reip. Südoften 
tlammende Smportartitel zu betrachten find. Auch ift noch 
bejonder8 hervorzuheben, daß während das Eifen faſt aus 
Thlieplih zu Gegenftänden des täglidden Gebrauches, 
inöbejondere zu Handwerks- und Aderbaugeräthen, 
ferner — wie das Beomulflied berichtet — zum Häufjerbau 
und zu vielen anderen Zweden verarbeitet wurde 
die Bronze bei den Germanen im Wefentliden nur 
ein Luxusartikel gewejen ift. — Erwähnt fei bier endlich 
noch, dab in Deutichland feit dem frühen Mittelalter wohl faft 
auf jedem größeren ländlihen Beſitzthum der Eigenthümer zu» 
gleih dem Schmiedehandwerf oblag, daß die Zahl der auf den 


Gütern zu verwendenden eijernen Aderbaugeräthe — ein Ins 
(795) 


64 


ventar derjelben aus Farolingifcher Zeit findet fich z.B. im Bre⸗ 
piarum Garoli Magni — genau vorgefchrieben war und daß 
die noch heutzutage in gewiflen Gegenden Deutſchlands — jo 
3. B. im weſtfäliſchen Sauerland — beftehende Einrichtung, 
bat der Gutsherr felbft einen kleinen Eifenhammer betreibt, als 
eine Reminiscenz an die Eiſenkultur unſeres Baterlandes, wie 
fie im Mittelalter fidy darftellte, zu betrachten ift. 

Unfer Weberblid über die Gewinnung und Verwendung bed 
Eifend in vor⸗ und frühgefchichtlicher Zeit ift hiermit beendigt. 
— Faſſen wir zum Sclufje die Hauptergebniffe unjerer Bes 
trachtungen noch einmal kurz zufanımen, jo dürfte aus dem Ges 
fagten wohl mit ziemlicher Gewißheit hervorgehen, daß die vor 
wenigen Jahren noch allgemein verbreitete und noch heutzutage 
viele Anhänger zählende Doktrin, wonach bei den meiften 
Völkern der Eijenkultur eine Periode voraudgegangen fein 
jo, innerhalb deren Kupfer und Bronze die einzige zur 
Herftelung von Werkzeugen, Geräthben und Waffen ver- 
wendeten Metalle gemejen wären und dab der Gebrauch diefer 
Subftanzen überhaupt älter jei ald derjenige des Eifend — 
dat dieſe Anjchauung nicht länger aufrecht erhalten werden kann. 
Ganz abgejehen von den übrigen von uns aufgezählten Beweid- 
gründen zwingen vielmehr die metallurgifchen Thatfachen: der 
Umftand, daß ein für die meilten Zwecke genügended, hämmer⸗ 
bares, wenn auch nicht fchladenfreied Eijen bei niedrigerer Tem⸗ 
peratur bergeftellt werden fann als zur Gewinnung bed Kupferd 
aus feinen Erzen erforderlich iſt und daß demnach die Eifen- 
gewinnung von allen metallurgifchen Procefien, die bei biefer 
Stage in Betracht fommen, als der einfachite betrachtet werden 
muß, ferner der Umftand, dab im Gegenſatz hierzu die Her⸗ 
ftelung der Bronze die Kenntniß ded Kupferausbringend, des 


(7%) 


65 


Zinnſchmelzens und der Kunft zu formen und zu gießen bedingt 
und dementiprechend einen Kulturzuftand vorausjeht, höher als 
derjenige, welchen die Gewinnung und Verarbeitung des Eiſens 
erheiſcht; endlich nody der Umftand, dab von den zur Herftellung 
der Bronze erforderlichen Ingredienzien dad Zinn nur in weni« 
gen von ben alten Kulturcentren im Allgemeinen weit entlegenen, 
in vore und frühgejchichtlicher Zeit fchwierig zu erreichenden Lo» 
Talitäten angetroffen wird — dieſe Thatfachen drängen vielmehr 
zu der Annahme, daß in foldyen Ländern, in denen Gijenerze 
fi finden, das Eifen dasjenige Metall gewejen ift, welches 
zuerft an die Stelle ded zur Herftellung von Geräthen, Werk 
zeugen und Waffen bi8 dahin ausſchließlich benutzten Steines, 
Knochens, Hornes und Holzes trat und dadurdy der aufftrebenden 
menjchlihen Kultur einen mächtigen Anftoß verlieh. Auch ift 
der gegen die Priorität ded Eifend häufig erhobene Einwand, 
daß die Bronze überhaupt nie zur Entwidelung gefommen fein 
würde, wenn Eiſen voraudgegangen wäre, unjchiwer zu widers 
legen. Die Bronze ftellte vielmehr etwas Neues und zumal 
eine Erfindung dar, welche vermöge ihre8 an da8 Gold erinnern» 
den Glanzes und ihrer Verwendbarkeit zu Schmud und Zierrath 
auf das Gemüth des noch auf niedriger Kulturftufe ftehenden 
vorgeichichtlichen Menjchen einen tiefen Eindrud machen mußte 
und dadurch befähigt war, ſich ihren Pla neben dem Eiſen 
zu erobern. Sn Mebereinftimmung mit dem foeben Geſagten 
kann das chronologifche Verhältnib der Bronze zum Eifen wohl 
nicht befjer bezeichnet werden ald mit den Worten Raubers: 17) 
„Snnerhalb einer großen Eijenzeit entwidelte ſich an 
manden Orten eine Bronzefultur, entipredend der 
dem neuen Stoff zulommenden, hier und da ihn felbit 


überfhreitenden Verwendbarkeit.” — Im Uebrigen be- 
XX. 476. 477. 5 (797) 


66 


darf ed feiner Auseinanderjegung, daß die Entwidlung und der 
civilifatorifche Fortichritt der Menfchheit mehr als irgend einer 
anderen Subftanz dem Eiſen verdanft und daß, wenn auch 
bereit3 das Alterthum in der Herftellung und Verwendung biefes 
Metalles Großes geleiftet bat, es doch unferem Sahrbundert — 
dem Zeitalter der Hocdöfeninduftrie und des Beſſemerſtahls — 
bejdjieden war, die vorausgegangenen Sahrtaufende in ben 
Schatten zu ftellen. 


(798) 


67 


Anmerkungen. 





1) Dr. Ludwig Bed, die Geſchichte des Eiſens. Braunjchweig. 
3. Vieweg u. Sohn, 1884. 

2) Bemerkt ſei bier noch, dag während, wie oben bemerkt, zahl- 
seiche afrilanifhe Stämme die Eiſengewinnung und Verarbeitung mit 
großem Eifer und Erfolg betreiben, andere in angrenzenden Gebieten 
lebende Ntegervöller den Gebrauch metallener Geräthe und Waffen noch 
gar nicht kennen, fi alfo noch in der Steinzeit befinden. — Für die 
im Borhergehenden audgefprochene Anficht, dat das Schmelzen der Eifen- 
erze und die Verarbeitung des Eiſens, wie fie von den Eingeborenen 
Afrikas betrieben wird, nicht etwa als eine von außen zugeführte fremde 
Kultur, jondern vielmehr ald eine auf dem dunklen Kontinent fpontan 
entftandene Induſtrie zu betrachten ift — hierfür ſpricht auch der Um⸗ 
ftand, daß nach Schweinfurth der Verkehr mit Europäern, durch welche 
den Singeborenen Afrikas das Eiſen als Tauſchobjekt für Elfenbein, 
Balmdl und andere Naturprodukte mühelos zugeführt wird, auf Die 
afrikanische Eifeninduftrie einen lähmenden Einflug ausübt und daß 
gerade diejenigen Negerftämme, welche biöher mit europäifcher Kultur 
nicht in Berührung gekommen find, es in der Bearbeitung des Metalles 
zu einer bemerkenswerthen Gejchicllichkeit gebracht haben. So find 5.32. 
von den Bewohnern des oberen Nitthales die Diur ganz vorzügliche 
Stahlſchmiede. inzelne Stämme zeigen eine befondere Begabung in 
ber Herftellung federnder eijerner Armringe, die mit Zaden und Spiten 
verfehen, fih im Nahkampf als eine höchſt gefährliche Waffe erweifen; 
andere wiederum legen eine geradezu teufliiche Erfindungsgabe an den 
Tag, indem fie, die Stacheln der Dorngefträude nachahmend, an den 
Schaften der Zanzen Zaden und Widerhafen anbringen, welde dazu 
dienen, eine Berwundung jo gefährlich als möglich zu machen. 

3) Die Anfiht, daß die Bewohner Perus und Merikos zur Zeit 
der Sroberung diefer Länder durch die Spanier den Gebraud bes Eifens 
noch nicht kannten, fcheint fich erft mehrere Zahrzehnte nach diefem Er- 
eignig ausgebildet zu haben, während die Konguiftadoren jelbit über 
diefen Punkt Schweigen beobachten. — Was die obenerwähnten Bau⸗ 

(199) 


68 


werfe Perus und Mexikos anlangt, jo iſt es gerabezu unmöglich, daß 
die aus Porphyrblöcden Tunftvoll herausgemeißelten Thierkoͤpfe, wie fie 
La Condamine in dem zuerft erwähnten ande entdeckte, anders als 
mit Hülfe von Stahlmeißeln hergeftellt werden konnten. Daffelbe gilt 
au für die 380 Fuß hohe Pyramide von Xochicalco, welde aus mit 
Hieroglyphen bedeckten, trefflih bearbeiteten Granitblöcen zujammen- 
gefügt ift, für die Prachtbauten von Nezahualcoyotl mit ihren in den 
Porphyrfels eingehauenen Treppen und Aquäbulten, ſowie vor Allem 
von der berühmten Inkaſtraße, welche in einer Längenausdehnung von 
250 geogr. Meilen am Abhange der Korbilleren verläuft und in ihrer 
vollen Breite von 25 Fuß mit regelmäßig behauenen Trapp-Porphyr- 
bloöcken gepflaftert iſt. Auch ift die Behauptung, die Peruaner hätten 
es damals verftanden, durch einen Zuſatz von Zinn das Kupfer dermaßen 
zu härten, daß es die Eigenſchaften des Stahles angenommen hätte, 
ebenjo unbegründet wie die Hypotheſe, wonad zur SHerftellung ber 
vorerwähnten, aus ben härteften Gefteinen beftehenden Ardhiteftur- und 
Skulpturwerke Steinmeißel benugt worden jein follen. — Endlich wird 
die frühe Belanntichaft der merifanijch-pernanischen Benälterung mit dem 
Eijen auch durch ſprachliche Gründe bezeugt, fowie durch den Umftand, 
daß zufolge einer Notiz, die in den von Montejinos verfaßten perua- 
nifchen Annalen ſich findet, die Eifengruben von Amoraimes (ſũdlich 
von Tiaguanaco gelegen) bereits von den Inkas ausgebeutet wurben. 

4) Daß Egypten während des frühelten Abjchnitts feiner Ge 
ſchichte ſein Eifen im Wefentlihen aus den fudanefiichen Gebieten, da⸗ 
gegen in fpäterer Zeit aus Aſien bezog — dieſe Thatſache wird auch 
bezeugt Durch die Verjchiebenartigkeit ber für dieſes Nutzmetall im Pha- 
taonenreiche gebräuchlichen Ausdrücke. Während das altegyptiſche Wort: 
Chomt ebenfowohl Kupfer wie Bronze in fich fchließt, beſitzt die alt- 
egyptiſche Sprade für Ciſen mehrere Bezeichnungen, von benen ba 
Wort men für die vom Sudan ber eingeführte Eifenwaare, dagegen bad 
Wort „tehaset* (wahrſcheinlich entiprechend bem biblijchen „Eiſen des 
Nordens") für das von Afien ber importirte Nutzmetall gebraucht wird. 
Ueber den Urfprung bes bereitö obenerwähnten Wortes baaenepe (fop- 
tiſch: benipe) gehen die Anfichten der Egyptologen auseinander. — 
Bemerkt fei bier noch, daß außer zu den oben nanıhaft gemachten Zwecken 
das Eifen im alten Egypten zu Ringen, Ketten, Thüreinfafjungen und 
Thürſchloͤfſern, Holzbeichlägen, Klammern zum Berbinden der Baufteine, 
ja jelbft zu chirurgifchen Suftrumenten (derartige Werkzeuge fanden fich 
bei einer Mumie) verwendet wurde. Auch bie nationale Waffe, das 

(800) 


69 


Sichelſchwert (chops), welches die Leibgarde der Pharaonen trug, wirb 
in den Königögräbern mit ber das Eifen bezeichnenden blauen Farbe 
dargeftellt, und bei der Herftellung der berühmten egyptiſchen Streit. 
wagen jpielte das Eiſen ebenfalld eine bedeutende Rolle. — Was den 
Gebrauch der Bronze in Egypten anlangt, fo machen verfchiedene Um⸗ 
ftände — jo vor Allem das Fehlen eines bierogiyphifchen Zeichens für 
Zinn und die lange fortgejegte Benutung des Kupfers zu Werkzeugen 
und Waffen — es im hohen Grade unwahrjcheinlih, daß Egypten als 
eines jener Gentren zu betrachten ift, in welchem bie Bronze zuerft dar- 
geitellt wurbe. 

5) Der Umftand, daß in der heiligen Schrift des „Erzes“ häufiger 
als des Eiſens gedacht wird — im ganzen „Pentateuch* wird Eifen 
13 mal, Erz dagegen 44 mal erwähnt — Tann nicht ald Beweis dafür 
gelten, daß die Israeliten ſich mehr der Bronze ala bes Eiſens bedient 
hätten. Nach Joſua (VI, 19 und 24) wurden dein Ewigen auch eiferne 
Geräthe geweiht. Die Bedeutung der israelitiichen Eifeninduftrie wird 
auch dadurch bezeugt, daß Moſes den Hebräern Palaäſtina als ein Land 
verfündigt und ampreift, „defien Steine Eiſen find“. (Deute- 
ronom. VIII, 9.) 

6) Der Periplus des erythräiſchen Meeres von einem Unbekannten. 
Griechiſch und deutjch mit Anmerkungen von B. Fabricius. Leipzig, 
Veit u. Co. 1883. 

7) Vergl. Furtwängler, Die Bronzefunde aus Olympia (Ab- 
handlung der Akademie der Wiffenichaften) Berlin 1879. 

8) Urſprung und erfte Entwiclung der europäifchen Brongefultur 
von Dr. Sophus Müller. Deutſche Ausgabe von I. Meftorf. 
Braunfchweig 1884. 

9) „Die man gewöhnlid Steinfohlen (dvdpaxss) nennt und die 
des Gebrauches wegen aus dem Boden gegraben werden, find ihrer 
Natur nad) erdig; man findet fie in Ligurien, wo fie gefammelt werden, 
und in Eli an dem Wege, der durch das Gebirge nad) Olympia führt; 
biefe werden von ben Eiſenſchmieden benußt.” Theophraſt, 
Ueber die Steine (mepl Aw). — Eine interefjante Beſchreibuug der 
Stahlerzeugung bei den Chalybern findet fich bei Ariftoteles; dad daſelbſt 
geſchilderte Verfahren befteht im Wejentlichen darin, daß bie Erze in 
Herben ober Defen zu einer Luppe von hartem, ftahlartigem Eiſen aus- 
gejchmolzen werben, welche lettere hinterbrein durch mehrmaliges Aus- 
heizen und Friſchen gereinigt wird. Der von Ariftoteles erwähnte Stein 
Pyromachus, der bei diejem Prozeß zugefeßt wurde, iſt wahrſcheinlich 


(8901) 


70 


nicht8 weiter, als ein jchladenbildendes Flußmittel, wenn nicht gar felbft 
eine eijenreiche Friſch⸗ oder Schweißichlade geweſen. 

10) Ch. Hoftmann, Zur Technik der antiken Bronzeinbuftrie. 
Archiv für Anthropologie, Bd. XII, p. 431 ff. 

11) Lindenfhmit fagt mit Bezug auf bie in Rede ftebende 
Frage: „Die Bronzeu, welche diesjeits ber Alpen fofort in volllommener 
Ausbildung der Form und Technik erjcheinen, koönnen ihrem ganzen Cha⸗ 
rakter nach nur ala Erzeugniffe einer hochentwickelten Induſtrie und al 
Hanpelsüberlieferung, und zwar ald aus dem Süden, von den Küften des 
Mittelmeeres ftammend, betrachtet werden. — Sedenfalls ift der Urfprung 
jenes Theils von Arten der Bronzegeräthe, welche diesſeits der Alpen 
gefunden werden, nur da zu juchen, wo dad Ganze der Bronzeinduftrie 
zu ber vollen Entwicdlung gelangen Tonnte, welche aud die Einzelftüde 
des Nordens fund geben. Der Gebraudy der Bronzen felbft in Verbin 
dung mit den vereinzelten primitiven Verſuchen von Nachahmung ber- 
jelben konnte auf die Bildungsverbältnifje des Nordens Feine irgend 
bemerfbare Wirkung Außern, am wenigften eine foldye, für welche bie 
Bezeichnung „Bronzekultur“ nur im Entfernteften gerechtfertigt erfchiene". 
— Vergl. hierüber: „Zur Beurtheilung der alten Bronzefunde diesjeits 
der Alpen.” Archiv für Anthropologie, Bd. VIII, p. 161 ff. 

12) Das erite Auftreten des Eifens in Nordeuropa. Deutſch von 
J. Meftorf. Hamburg 1882. Undſet bekennt fih zu der Anfidt, 
daß in Norddeutihland durch Jahrhunderte eine Periode geberrfcht bat, 
die als „Bronzezeit” charakterifirt werden muß, währenb füblicher 
ſchon eine volle Cifenzeit entwidelt war. Derjelbe kommt ferner 
durch jeine eingehenden, aber noch nit völlig abgefchloffenen Unter 
ſuchungen zu dem Schluß, daß Norbveutihland die erften Eiſenſachen 
durch den Einflug der Hallitadt-Kultur und der mit ihr zuſammen⸗ 
hängenden jüdlicheren Eijenkulturgruppen empfangen habe, daß jedoch 
hierdurch nur im Oſten zu einer eigentlichen Eifenzeit der Grund gelegt 
worden fei und daß erft die obenerwähnte La Tene-Kultur — indem 
bie La Tene- Formen nah und nad) unter den alten Bronzen auftraten 
und fchließlich dieje ganz verdrängten — die Eifenzeit Norbdeutichlands 
begründet babe, | 

13) Sohannes Ranke (Bergl. „Anleitung zu antbropologiid- 
vorgefchichtlichen Unterfuchungen im Gebiete der deutichen und oͤfterreichi⸗ 
ſchen Alpen“. Leipzig 1881. p. 288 ff.) macht auf eine bis vor Kurzm 
wenig beadytete Steue bei Strabo aufmerfjam, aus der hervorgeht, daß 
bie am ſüdlichen Abhange der Seealpen und im weftlichen Alpengebiete 

(802) 


71 


in präbiftorifcher Zeit anfäßigen Ligurer im Beſitz von Bernftein waren 
und eherne Spiten an ihren Zanzen trugen. Der Umftand, daß bie 
beiden Subitanzen, weldhe damals die wichtigften Handelsartikel dar- 
ftellten, bier zufammen erwähnt werden, legt die Vermuthung nahe, daß 
den Alpenvöllern — und zwar fpeciell den Ligurern — ein Antheil an 
dem Zwiichenhandel zwiſchen dem Mittelmeer und den germanifchen 
Küftenvölkern zukam. 

14) Les Protohelvätes ou les premiers Colons sur les bords 
des lacs de Bienne et Neufchatel, avec preface de M. le professeur 
R. Virchow par Victor Gross. Berlin 1883. 

15) 4. a. O. p. 325. 

16) Bezüglich des Alters der „Hallftadt-Kultur” gehen die Anfichten 
der Forſcher auseinander. Während von Saden das Ende der durch 
die befagten Funde dharakterifirten präbiftorifchen Epoche in die zweite 
Hälfte des eriten Jahrhunderts v. Chr. verlegt, glaubt D. Tifchler — 
welcher eine ältere und jüngere Hallftadt-Periode unterfcheitet, daß bie 
in den Grabjtätten des Salzfammergutftädtchene, fowie in dem Grab- 
felde von Waatſch (Krain) und in den Hügeln von Margarethen ver- 
tretene Kultur fi) über einen langen Zeitraum erftredt und um das 
Jahr 400 0. Chr. fein Ende erreicht habe. (Vergl. den von O. Tifchler 
auf dem Anthropologencongreß zu Regensburg gehaltenen Vortrag im 
Korrefpondenzblatt der deutfchen Geſellſchaft für Anthropologie, Ethno- 
logie und Urgeſchichte. XII. Jahrgang, 1881. p. 121 ff. 

17) Urgefchichte des Menſchen. Ein Handbuch für Studirende von 
Prof. Dr. U. Rauber. Leipzig 1884. 


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Bolluge, Klimaänderungen in biftorifchen Zeiten. (359). . . . .. 80 
Nammelsberg, Ueber die Mittel, Licht und Wärme zu erzeugen. 2. Aufl. (23) 75 
Rofenthal, Bon den elektriſchen Eriheinungen. 2. Aufl. (9). .... 75 
Schasler, Die Sarbeumelt. Ein neuer Verſuch zur Erklärung der Entftehung 

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Sn diefem erften Zahrgange ber neuen Zolge werden, vorbehaltli etwa 
notbwendiger Abändernngen erſcheinen: 


Koch (Berlin), Ueber die Methoden der modernen Bafterienforichung. 

Bauer (Eijenady), Peter Viſcher und das alte Nürnberg. 

Schafft (Gera), Weber das Vorherfagen von Naturerfdheinungen. 

Dannehl (Sangerhaufen), Victor Hugo. Literarifches Porträt mit Berädfichtigung 
der Lehrjahre des Dichters. 

Buchheifter (Hamburg), Eine wiffenichaftlihe Alpenreife im Winter 1832. 

Goetz (Waldenburg bei Bajel), Altnordiſches Kieinleben und die Renaifjance. 

Baumteifter (Karlörube), Die techniſchen Hochſchulen. 

Semler (Dresden), Goethe's Wahlverwandtichaften und die fittlihe Weltanfhannng 
des Dichters. 

Schmidt (Hildesheim), Die Photographie, ihre Geſchichte und Entwickelung. 

Bruchmaun (Berlin), Wilhelm von Humboldt. 

Patzig (Hannover), Ueber Staatswirthſchaft in dem altorientaliihen Staaten. 

Ginzel (Wien), Ueber Veränderungen und Umwälzungen im Reich der Zirfterne. 

Mandl (Wien), Das Stlavenredht des alten Teſtamentes. 

Gad (Berlin), Körperwärme und Klima. 

Votſch (Gera), Cajus Marind als Neformator des römiſchen Heerweſens. 

Neuhaus (Berlin), Die Hawaii⸗JInſeln. 

Koch (Marburg), Sottiched und die Reform der deutſchen Literatur im achtzehnten 
Jahrhundert. 

Fraueuſtädt (Breslau), Die Todſchlagſühne des deutſchen Mittelalters. 

Preuf; (Berlin), Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten. 

(Sortfehung anf Seite 3.) 


Staifer Otto I. 


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Prof. Dr. Roudorff. 


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(©. 8. Züderity'sche Berlagsbuchhandiung.) 
33. Wilhelm-Etraße 38. 


Das Recht ber Ueberfegung in frembe Sprachen wirb vorbehalten. 


E⸗ war im Jahre 983, als Kaiſer Otto II., des großen 
Otto Sohn, mitten in den Vorbereitungen zu einem Rachezuge 
gegen die Sarazenen in Unteritalien zu Rom eines plötzlichen 
Todes verſtarb. Die Katakomben von St. Peter bewahren noch 
heute den porphyrenen Sarkophag, der die fterblichen Ueberreſte 
des Kaiſers birgt, ded einzigen mittelalterlichen Kaiſers, welcher 
in der ewigen Stadt, in der Hauptitadt feined Reiches, die letzte 
Ruhe gefunden. Mit kräftiger Hand hatte er die großen Auf⸗ 
gaben feined Reiches, dad ihm fein Bater hinterließ, zum Ziele 
zu führen geſucht. Die Ufurpation feines Vetterd Heinrih war 
gebändigt. Die Herzogthümer wurden in wünfchendwerther Unter- 
ordnung gehalten, der verrätherijche Weberfgll des franzöflichen 
Königs Lothar auf Aachen war abgewiefen und mit einem ent» 
Iprechenden Borftoß der deutfhen Waffen bid Paris ermwiedert 
worden, die Kolonifation im Wendenlande machte weitere Fort- 
Ichritte, und Unter:Italien, auf welches Otto durch die Hand 
jeiner Gemahlin, der griechiſchen Prinzejfin Theophano, ein ge> 
wiſſes Anrecht erworben zu haben glaubte, ſollte endli der 
deutichen Herrichaft fich fügen, und diefe auch im Süden bis 
an die natürlichen Grenzen Staliend audgedehnt werden. Doch 
bier war ihm, wie aud) jpäteren Katlern, vom Scidial eine 
Grenze ded Erfolges gefebt. In der Schlacht bei Bafantello 
erlag das deutiche Heer und viele Fürften mit ihm dem arabifchen 
Angriff. Otto jelbft rettete faum fein Leben in abenteuerlicher 
Flucht und bot fofort die Streitkräfte ſeines Reiches aus Deutſch⸗ 


land und Stalien auf, um dennoch dad vorgeftedte Ziel in er- 
xx. 478. 1* (807) 


4 


neutem Kampfe zu erreichen. Da ftarb er, von hibigem Fieber 
bingerafft, im 29. Sahre ſeines Lebens. Eine Erhebung der 
Slaven im Dften zudte fofort auf, zum deutlichen Zeichen, wie 
mißlich es war, die deutiche Kraft auf einen fo weit vorge 
ſchobenen Poften, wie Unter-Stalien, zu leiten, während an der 
Grenze des Reiches gefährliche Feinde lauerten. Dennoch ſchien 
die Lage nicht bedrohlich zu fein, wenn nur der Zug nad) Apulien, 
wie fich jebt von jelbft gebot, aufgegeben ward. Sie wurde 
aber dadurch kritiſch, daß als Nachfolger Dttos IL. ſein 
erft dreijähriger Sohn Otto beſtellt war, der allerdings ſchon 
zu Aachen die Krone empfangen und die Huldigung ber Fürſten 
“ entgegengenommen hatte. Mitten in die Krönnngöfeterlichleit 
traf die Trauerkunde vom plößlichen Ableben des Kaiferd ein. 
War zu erwarten, daß die Fürften die gejchworene Treue einem 
Kinde halten würden? | 

Ueber die Bormundichaft gaben weder die Reichsgeſetze noch 
das Herlommen einen genügenden Anhalt. Am nädften ftand 
die Kaiferin-Mutter. Allein fie war ein Weib, dazu eine Griechin 
und ald ſolche in Deutichland nicht wohl gelitten, wo man fie 
mißtrauifch betrachtete und ihr die Lafter ihrer Nation nachſagte. 
Doch ebenjowenig Vertrauen fchien der nächſte Agnat des Fönigl. 
Hauſes zu erweden, jener Heinrich der Zänfer, den Otto II. 
jeines Herzdgthbumsd Bayern entkleidet hatte, weil er die Hand 
nad) der Königskrone audzuftreden gewagt und bdiefelbe mit 
Hülfe der Böhmen und Polen zu behaupten bemüht war. Er 
ſaß feitdem in Haft bei dem Bilchof zu Utrecht; doch fobald die 
Kunde von dem Tode ded Kaiſers nady Deutichland gelangt 
war, feßte ihn ber Biſchof auf freien Fuß. Er bemädhtigte fid 
in Köln der Perfon ded jungen Königd und erklärte fich als 
nächſter männlidyer Anverwandter für den allein berechtigten 
Bormund defjelben nnd Verweſer des Reiches. Wer bie ehr- 


geizige Natur dieſes Mannes durchſchaute, dem mußte Har fein, 
(808) 


5 


daß er nach Höherem firebte und die Krone jelber fein eigentlidhes 
Ziel war. Da war nun die Frage, ob die von den Ditonen 
geichaffene Einheit des Reiches ftark genug fein werde, um in 
den Stürmen, die alsbald ausbrechen mußten, zu beftehen. 
Alle Errungenſchaften der lebten fo glorreichen Zeit ftanden auf 
den Spiel Das Regiment eines fräftigen Mannes mußte in 
diefem Augenblid wünſchenswerth erjcheinen, und wenn aud) der 
Eid die Fürften an den unmündigen Knaben band, konnte die 
Noth der Umftände ed nicht entichuldigen, wenn fie die Herrichaft 
ded Ufurpatord ald das geringere Uebel hinnahmen? Verſchieden 
war die Aufnahme, welche er fand, befler bei den geiitlichen, 
fchlechter bei den weltlichen Fürften. Die lotbringiichen Biichöfe 
von Köln, Trier, Meb fielen ihm fogleich zu, theild aus Ab» 
neigung gegen Theophano, theild durch Geld und Verſprechungen 
bewogen. Denn in Lothringen, fagten die Zeitgenoflen, gebt 
nicht blod die Sonne, fondern auch alle Geredhtigkeit unter. « 
Nur das durch die Ditonen gehobene Geſchlecht des Grafen 
Gottfried leiftete bier mannhaften Widerftand. In Bayern ge 
dachte Heinrich in der Rolle eines rechtmäßigen Herzogs aufzus 
treten, und wurde von vielen freudig begrüßt. Doch fein eigener 
Better, Heinrich der Jüngere, dem Dtto II. dad Land verliehen, 
hatte natürlidy wenig Luft fein Herzogthum aufzugeben, und er- 
Härte fi) für den jungen König. Was jedoch Heinrid in aller 
Augen am meiften jchadete, war die ruchbar gewordene Ver—⸗ 
bindung mit Lothar von Frankreich, dem er für die zu leiftende 
Unterftüßung in den deutichen Angelegenheiten Zugeftärtdniffe in 
Lothringen gemacht haben follte; ebenfo die offentundige DVer- 
bindung mit den jlavifchen Fürſten, Boleslav von Böhmen, 
Miſeko von Polen und Miftui, dem Fürften der Obotriten, 
Zu Quedlinburg, wo Heinrich die Diterfeier feſtlich beging und 
von den Seinigen ald König begrüßt und mit kirchlichen Lob⸗ 


(809) 





6 


gefängen geehrt wurde, erjchienen auch jene Herzöge, um Huls 
digung zu leiften, und ficherten ihm jeglichen Beiltand zu. 
Hier zeigte fi) doch, mie fehr dad nationale Bewußtſein 
in Deutichland bereit erftarft war, die Stämme hatten bes 
gonnen, fi) in der Einheit des Reiches verbunden zu fühlen, 
beffen Verlegung und Beichimpfung fie alle als eigenfte Kränfung 
empfanden. Schon von der VBerfammlung in Quedlinburg hatten 
fi viele Fürften eiligft entfernt, um eine Gegenverfchwärung 
zu bilden, darunter die Blüthe des jächfiichen und thüringifchen 
Adels, Herzöge, Markgrafen und Edle, fowie die Dienſtmannen 
ded Erzbiichofs Willigi von Mainz, der thatfräftig und ent» 
ſchloſſen die Partei Otto's ergriff. Daher fand Heinrich gerade 
in Sadjfen, wo man ihm anfangs nicht abhold geweſen war, 
den entichiedenften Widerftand, man war entichloffen, ed auf 
Kampf anfommen zu laffen und jo war Heinrich frob, ftatt der 
gehofften Königswürde zunächſt nur einen Waffenſtillſtand er- 
halten zu fönnen. Sn Schwaben und Kranken fand Heinrid 
noch weniger Anklang. Hier hielten Herzog Konrad und der 
ſchon genannte Willigis treulich am angeftammten Königshaufe, 
und auf ihren Betrieb erflärten die Großen auf einem unfern 
MWormd abgehaltenen, fränkiſchen Landtage fi einmütbig gegen 
die Anſprüche Heinrichs und nöthigten ihm dad Verfprechen ab, 
den jungen Sinaben alsbald feiner Mutter auszuliefern. So 
ſchwanden feine Hoffnungen ſchnell dahin. Nur noch einen 
Verſuch machte er, fih mit Gewalt zu behaupten. Da der 
Waffenſtillſtand mit den Sachſen abgelaufen war, drang er mit 
einem Heer gegen die öftlichen Grenzmarfen vor, und während 
Boledlan von Böhmen ber Meißen beſetzte, rüdte Heinrich in 
die Gegend von Merfeburg vor. Die feindlichen Heere trafen 
zufammen, doch ehe ed zur Schlacht kam, zog fi Heintid, 
die Meberlegenbeit der Sachſen erfennend, freiwillig zurüd. Er 


mußte fidy dazu verftehen, feine ſämmtlichen Burgen ausguliefern, 
(810) 


7 


ſowie auch den jungen König an einem beftimmten Tage feiner 
Mutter zurüdzugeben. So hatte fi der Kampf bereitd ent- 
ſchieden, als Theophano, die Mutter, und Adelheid, die Groß- 
mutter ded Königs, von Pavia, wo fie der Entſcheidung harrten, 
über die Alpen nach Deutichlaud famen, um ihre Rechte ala 
Bormünderinnen geltend zu machen. Zu Rara (Groß⸗Rohrheim) 
in der Nähe von Wormd war ed, wo im Juni 984 bie Großen 
des Reiches, Heinrich jelber und die .beiden Frauen des kaiſer⸗ 
lichen Haufed zufammentrafen zum endlichen Austrag des Streites 
und zur Regelung der Reichöverhältniffe. Nicht gleich ergab 
fih Heinrich, lange ftritt man hin und her, bis er endlich dem 
vereinten Drängen der weltlidhen und geiftlichen Fürſten nad 
gab, den jungen König den Händen der Mutter überlieferte, 
und alle zum Reich Gehörigen aus feinem Dienft entließ. 
Theophano ward einftimmig ald Bormünderin und Regentin 
anerkannt. Da erichien, heißt es, am hellen Mittag von allen 
gejehen, am Himmel ein glänzender Stern. War ed ein Glücks⸗ 
ftern guter Verheißung, war ed ein Irrſtern, welcher dem Beginn 
der neuen Regierung unheilvoll leuchtete? 
‚Die erften Hindernifje waren bejeitigt, Theophano fonnte 
ohne weitere Schwierigkeiten die Negentfchaft übernehmen. Doc) 
ihre Aufgabe war auch fo noch eine gewaltig ſchwere. Die 
Natur des ottonischen Kaiſerreiches erforderte eine kraftvolle, 
imponirende Perjönlichkeit, welche den ftolzen Bau zujammen- 
halten mußte. Nach Innen und Außen die Würde des Reiches 
aufrecht zu erhalten, das hatte die ganze Kraft der beiden 
Dttonen in Anſpruch genommen. Und diefe Laſt murde jeht 
auf die Schultern eined Weibes gebürdet, die dazu als eine 
Fremde im Reiche mit mißtrauiſchen Augen betradytet ward. 
Theophano bat dennod diefe Aufgabe wohl verftanden und fie 
durchzuführen gewußt. Sieben Jahre hat fie das Reich nicht ohne 


Ruhm verwaltet und fie erwies ſich als eine Frau von ent- 
(814) 


AL 


8 


fchiedenem ımd feiten Charakter, von großer Umficht, die, weit 
entfernt ihre Aufgabe nach griechiicher oder oftrömiicher Weiſe 
aufzufaflen, vielmehr die eigenthümliche Stellung ded Reiches 
und die Politit ihrer Vorgänger Mar erkannte und in deren 
Sinne fortzuführen entjchloffen war. Der Chronift Thietmar 
von Merjeburg belobt den Adel ihres Charakters und fchreibt: 
„Theophano war, obgleich ald Weib nicht frei von der Schwäche 
ihres Geſchlechts, doch voll beicheidener Feſtigkeit, und führte, 
was in Griechenland jelten ift, einen vortreffliden Wandel. 
Site wahrte, indem fie mit wahrhaft männlicher Kraft über 
ihren Sohn wachte, das Reich, die Frommen in jeder Weife 
begünftigend, die Hoffartigen aber jchredend und demüthigend, 
Hiermit fcheint angedeutet zu fein, daB fie den Geiftlichen und 
Biſchöfen zugethan war, ganz entiprechend der Politik der. 
Ottonen, da diefe es fich ſtets befonderd angelegen jein ließen, 
die Gewalt der Biſchöfe durch Verleihung von Privilegien und 
Smmunitäten zu heben, um an ihnen ein Gegengewicht gegen 
die weltlichen Fürften zu gewinnen, wie fie denn auch die Er⸗ 
ziehbung ihres Sohnes den herporragendften Bilchöfen jener Zeit 
übergab. Klug und geichidt wußte fie den bisherigen Gegner, 
den Herzog Heinrich, zu einer Stübe ihres Haufes zu machen. 
Nachdem er fi) zu Frankfurt perfönlih vor der Kaiferin ges 
demüthigt und den VBafalleneid in die Hände ded Meinen Königd 
geleiftet hatte, ward ihm verziehen und er wieder in die Würde 
eine8 Herzogs von Bayern eingejebt, während. man jeinen 
Better, den jüngeren Heinrich, mit Kärnthen und Verona ent- 
Ihädigte. Cr wurde feitdem ein treuer Anhänger des Königs. 
Dad Volk vergaß den Namen des Zänkers und nannte ihn 
fortan dem Friedfertigen und er bekräftigte diefe Gefinnung noch 
auf feinem Sterbebette, als er feinem Sohn die lebte Ver⸗ 
mahnung gab: Ordne die Landesregierung. und widerfeße dic) 


(812) 


9 


nie deinem Herrn und König, denn ich fühle tiefe Neue, dies 
jemals gethan zu haben. 

Nah denjelben Richtungen bin, nach welchen die Kaifer 
gewöhnlich beichäftigt waren, hatte auch die Regentin ihre Auf» 
merkſamkeit zu wenden. Da galt ed, dem Böhmenherzog, der 
vom Zuge Heinrich her nody im Befitze Meißens war, in 
Schranken zu halten. Freilich gelang Dies nur mit Hülfe des 
Herzogs von Polen, des beitändigen Rivalen der Böhmen, dem 
nun zum Lohn auf dem linken Oderufer, was Boleslav bejeflen 
"hatte, zu Theil ward, wodurd diefer Staat ſich mächtiger erhob 
und den Trieb nach größerer Selbitftändigkeit befam. Da galt 
ed, gegen die Angriffe der Wenden die äftlichen Marken zu bes 
haupten. Sie wurden auf’d neue an taugliche Männer verliehen, 
doch die Verbindung, die biöher zwiſchen ihnen beftanden hatte, 
ift aufgehoben, fo daß nun wieder drei gefonderte Marken, bie 
Nordmark, die Oſtmark (Laufig) und Meißen hervortraten. 
Aud im Norden erhob fich, widerwillig gegen dad aufgedrungene 
Chriſtenthum, die däniihe Macht, der König Erich erkannte die 
Abhängigkeit vom Neiche nicht mehr an; dennody wurde durch 
bie Zapferfeit ded Herzogd Bernhard von Sachſen die Marl 
Schleswig behauptet. Während dem allen ift die Verbindung 
mit Stalten aufrecht erhalten worden und dafür gejorgt, daß 
das römische Katjerthum deutjcher Nation nicht jogleich über den 
Haufen fiel. In Unteritalien waren glüdlidjerweile die Sa- 
razenen und Griechen ‚mit ſich jelbft genug befchäftigt und die 
leßteren führten nur eine Scheinherrichaft in Palermo, Amalfi, 
Neapel, Gasta und einigen andern Küftenorten. In Rom hatte 
fi, wie oft unter ähnlichen Verhältniſſen, jo auch jet wieder 
ein Meiner Dynaft emporgejchwungen, Sohanned Crescentius 
aud einem adligen römifchen Gefchlecht, der unter dem Namen: 
eines Patricius die Herrichaft in Rom führte, obmohl ihm diefe 


Mürde, die fonft nur der Kaifer jelbit bekleidete, von niemand 
(813) 


10 


verliehen war. Sein fügfames Werkzeug war Papft Johann XV., 
Zuscien und Zombardien hielten dagegen eng an Deutichland, 
dort war ed daß erlaucdhte Geſchlecht der Eite, welches den 
Dttonen reiche Güter und Lehen verdanfte und dafür Treue bes 
währte; hier übte Adelheid, die Wittme Otto's des Großen ald 
Statthalterin die föniglihen Rechte, und man mar um fo eher 
geneigt ihr zu gehorchen, da fih an fie ein nationales Intereſſe 
knüpfte und fie bier ald legitime Herrfcherin auftreten fonnte. 
Theophano hielt e8 für gut, im eigener Perfon die kaiſerliche 
Hoheit in Italien zur Geltung zu bringen. Sie begab fid 
nach Rom, wo fie den Crescentius zur Unterwerfung zwang, 
der die Patriciuswürde fortan nur mit ihrer Beftätigung be 
kleidete. Sie legte fich felber den Titel Kaifer bei und datirte 
ihre Regierungshandlungen nach den Jahren ihrer Herrichaft. 

Endlich nahmen auch die franzöfiichen Angelegenheiten ihre 
Aufmerffamkeit in Anſpruch. Hier hatte fih, nachdem König 
Louis V. 987 ohne Leibederben geftorben war, Herzog Hugo 
Capet mit Hülfe dest Erzbifchofd von Rheims der Krone be 
mädhtigt, und war darüber mit dem Bruder des früheren Königd 
Lothar, Karl von Niederlothringen, in Streit geraten, der nun 
ald Prätendent gegen ihn auftrat und als der noch allein übrige 
Karolinger die - Aniprüche feines Haufed verfocht. Theophano 
wünſchte die jchiedärichterliche Stellung Deutichlands in Dielen 
Händeln zu behaupten. Sie fuchte den Karolingiſchen Stamm 
zu erhalten, jedoch fo, dab er durch die Macht der Großen be 
ftandig im Zaum gehalten werde. War audı ihr Haus durd 
jenen Karl einft beleidigt worden, da er die Tochter der Kaiferin 
Adelheid gefangen und unwürdig behandelt hatte, fo ordnete fie 
ihre eigenen Gefühle doch den ftaatdmännifchen Rüdfihten unter 
und fie begann bereit8 ſich mit diejer Partei Karl’3 in Ber: 
bindung zu feßen. Ehe fie wirffam eingreifen fonnte, ftarb fie 
991 eines plöblichen Todes. 


(814) 


ae 


11 


Ihr Sohn hatte damals erft dad 11. Kebendjahr erreicht und 
war noch nicht regierungsfähig. Seine Erziehung war bisher dem 
Erzbischof Willigid von Mainz, einem ftaatöllugen und willen» 
ftarfen Manne übertragen geweſen, und vom 7. Sabre ab über, 
nahm der Biichof Bernward von Hildesheim den wiflenichaftlichen 
Unterricht und die pädagogilche Leitung des Knaben. Biel fcheint 
bisher von feiner Umgebung verjehen worden zu fein. Während 
andere, jo ſchreibt Thankmar, der Biograph Bernwards, dem jungen 
Könige durch Schmeicheln zu Willen waren, fo daß fie findifchen 
Zand und was fein zartes Alter verlangte, ihm einredeten, während 
jelbit die Kaiferin, aus Furcht die Zuneigung ihred Sohnes zu 
verlieren, zu feinen Gunften ſich jo weichherzig zeigte, daß fie 
allen Gelüften ded Knabenalters bereitwillig zuftimmte, -wußte 
er allein mit jolcher Kunſt und Feſtigkeit fich zu benehmen, daß 
er durch Furcht den Knaben von Unzuläffigem abhielt und doch 
fein Herz durch die vollite Zuneigung an fich feſſelte. Bernward 
war unzweifelhaft ein Mann von grcher Bejonnenheit. In⸗ 
mitten der Reichen und Armen, der Hc’en und Niedrigen ging 
er mit Ehrfurcht erwedender Beicheidenheit einher, und überall 
dad rechte Maß findend, wußte er den Sanften leicht zugänglich, 
den Uebermüthigen Achtung gebietend zu erfcheinen. Er beſaß 
einen für alled Edele und Schöne aufgeichloffenen Sinn. Die 
Kunſtwerke im Hildesheimer Dom, welche er jammelte oder ans» 
fertigen ließ, legen davon noch heute ein ſchönes Zeugniß ab. 
Seine eigene Hand war glüdlih im Erzguß und Bormen 
plaftiiher Werfe, und finnig und findig erwied er fich in den 
Arbeiten der Malerei, Moſaik und allem, wad zu Malerei, 
und Xhonarbeiten gehörte. Ein ſolcher Lehrer mochte wohl 
geeignet fein, den Sinn feined Zöglinge für dad Große 
und Ideale zu weden, und Thankmar rühmte, daß der kaiſerliche 
Knabe wunderbare Fortichritte im Lernen machte und die frei- 
finnige Art des Unterrichtes feinen Geift zur Webernahme aller 


(815) 


„ 


12 


Meichögejchäfte zeitigte. Die dankbare Pietät, welche ihm Dtto 
bi8 an fein Lebendende bewahrte, ehrt den Schüler wie den 
Lehrer. Dennody muß bei diefer Erziehung etwas gefehlt haben. 
Ald Bernward bei feinem lebten Bejuche in Rom ſich von dem 
jungen Kaifer unter thränenreihen Umarmungen verabichiedete, 
da legte er ihm noch einmal an's Herz, er möge die Lafter 
fliehen, dad Benehmen aller mit Billigkeit beurtheilen, Geduld 
und Freundlichkeit fi vor allen Dingen zur andern Natur 
machen und vornehmlich nicht zu hartnädig auf feinem Sinn 
beitehen. Dieje Worte mögen auf die Fehler hinzielen, zu denen 
die natürliche Gemüthöart des jungen Königs am meiften bin 
neigte. Doc daß ſolche Ermahnungen von Jugend auf ertbeilt, 
wie trefflih an fich aud, geeignet geweſen wären” den Willen 
zu ftählen, den Charafter zw befeftigen und dad Verſtändniß für 
bie praftiichen Aufgaben — * Regentenberufes zu entwickeln, darf 
billiger Weiſe bezweifelt Äverden. In der Umgebung von Frauen 
und Geiftlichen fehlt dim König eine feite, männlihe Hund, 
bie feine reichen Fähigksiten mit Sicherheit für die höchſt realen 
Aufgaben jeined königtichen Amtes zu entfalten vermocht hätte, 

Indeffen eilte die Kaiferin Wittwe über die Alpen an det 
Hof, um die Sorge für dad Reich und ihren Enkel zu über- 
nehmen. Ihr Verhältnis zu diefem fcheint nicht das befte ges 
wejen zu fein. Es heißt, daß er verleitet von zügellofen Jüng⸗ 
lingen, fie zu ihrer großen Betrübniß von fid) wies. Das war 
vielleicht nur der Trotz eines lebhaften Knaben, der es verfchmähte, 
ſich von einer alten Frau, die feinem Leben biöher fern geftanden 
hatte, leiten zu lafjen. Ueberhaupt vermochte die hochbetagte 
Regentin nicht mehr mit der wünſchenswerthen Energie aufzus 
treten. Es ftellte fich ihr ſofort ein Regentſchaftsrath zur Seite, 
an deſſen Spite in Deutſchland der Erz⸗Biſchof Willigis 
von Mainz ftand, in Stalien Hugo von Tuszien. Der Geift 


der Selbftändigfeit regte ſich ftärfer in den einzelnen Stämmen. 
(816) 


13 N 


Die Bayer wählten fich wieder auf eigene Hand ihren Herzog,” 
Konrad von Schwaben: vererbte feine Würde auf jeinen Sohn 
Hermann, Herzöge und Biſchoöfe lagen in erbitterter Fehde, un⸗ 
befümmert um die Enticheidung einer höheren Inftanz. Dazu 
fam, daß die Grenzen des Neiched ungenügend gededt waren. 
Dei einer Erhebung der Wilzen und Obotriten fiel fogar 
Brandenburg, der Schlüffel bes Havellandes, in ihre Hände 
und man mußte froh fein, 996 einen Frieden zu gewinnen, der 
dad Land für einige Zeit vor verheerenden Einfällen ſchützte. 
Die Seeräuber des Nordens, die normännifchen Wikkinger ließen 
nicht ab, Die Küften ded Reiches zu beunrubigen, und bie Friejen, 
nur auf. die Dedung ihrer Kuften gegen die Angriffe der Feinde 
und der Elemente bedacht, entzogen fich mehr und mehr dem 
Reichsdienſt und der Aufficht des gräflichen Amtes. Das An⸗ 
ſehen des Reiches nach Außen wor im Abnehmen, während die 
Theile im Innern nicht mehr feiten Zufammenfchluß hatten. 
Da endlich Fam die Zeit, wo Otto in feinem 15. Lebens⸗ 
jahre für mündig erklärt ward und in feierlicher Weije, mit den 
Waffen befleidet, übernahm er felbftändig die volle Regierungsge⸗ 
walt. Durdy förperliche Schönheit audgezeichnet, von friſchem und 
lebendigem Temperament, das feiner Umgebung viel zu fchaffen 


Femacht zu haben ſcheint, in ritterlicher Sitte erzogen und in 


den Wendenkriegen bereits an Kampf und Mühe gewöhnt, jo war 
der neue Herrjcher geartet, auf welchen die Hoffnung des Reiches 
ſchon ſo lange gerichtet gewejen war. Schwungvolle Phantafie 
verband er mit jcharfem Berftand, und die Yrühreife feines 
Geiftes hatte ihn befähigt, eine für feine Sahre_ı ungewöhnliche 
Summe von Kenntniffen fi) anzueignen, die ihm den Beingmen 
des MWunderd der Welt erwarben. Aus dem Unterricht des 
Biſchofs Bernwart und eined Griechen, Sohann von Piacenza, 
hatte er eine fo große Vorliebe für die altllajfiihe Bildung ge- 
wonnen, daß dieſelbe für feine ganze Geiftedrichtung und Welt- 


(817) 


—!— 

anſchauung beſtimmend geworden ift, freilich nur auf Koſten 
des nationaldeutſchen Bewußtſeins. Durch Geburt, Bildung, 
Erziehung glaubte Otto hoch über feinen Landsſleuten zu ſtehen, 
und wie fich in feiner Abftammung drei Nationen begegneten, von 
Seiten des Baterd die deutjche, von Seiten der Mutter bie 
griedyiiche, von Seiten der Großmutter die italtenifche, jo bildete 
fih früh in ihm eine ganz phantaftiiche überſchwengliche Ans 
ihauung vom fatjerlichden Imperium, weldye8 er bald im dem 
Sinne des Cäſarenthums, bald in dem Sinne der byzantinijchen 
Kaijerglorie erfaßte. Das ergab eine Vermengung verfdyiedener 
Zeiten und Zuftände, die ganz von den gegebenen Berbältnifien 
abjah, aller realen Grundlagen entbehrte und darum, fobald fie 
praktiſch durchgeführt merden follte, unmöglich zum Ziele führen 
fonnte. Es bezeichnet diefe Richtung, dab er ſogleich nad) Kon- 
ftantinopel jandte zur Werbung um die Hand einer Kaifertochter. 
Sofort audy wurden zu einem Zuge nadı Rom die erforderlichen 
Vorbereitungen getroffen. 

Dringend nothwendig erjchien feine Einmiſchung in bie 
italieniſchen Dinge. Jener Eredcentius, ſchon zweimal gedemüthigt, 
ſpielte in Rom auf's Neue den Herrn und der Papſt Johann, 
dem ſeine Tyrannei zu läſtig wurde, flehte dringend um Hülfe. 
Ueberhaupt war die Lage der Kirche derart, daB die Sorge 
für fie und durdgreifende Reform eine dringende Pflicht 
ihreö weltlichen Scyhugherren geworden war. Im Verlaufe des 
10. Jahrhuuderts war dad römijche Kirchenwefen in den Zu 
ftand tiefften Verfalles gerathen. Die Mofterien ded chriftlichen 
Slaubend wurden von dem fittenlofeften Klerus verwaltet und 
die pontififale Würde durch Menjchen von der niedrigften, lafter- 
bafteften Aufführung entweiht. Buhlerinnen wie Theodora und 
Marozia, Mutter und Tochter, durften hintereinander den 
apoftolifchen Stuhl mit ihren Kreaturen befeten, leiteten Rom 
und verhöhnten die Welt. Sie gaben der Chriftenheit dad 


(818) 


15 


Scaufpiel, welches der Apokalyptiker in jener Vifion erblidte, 
wo er dad Weib, mit Scharlach heileidet, auf dem Thier des 
Abgrundes figen jah, den Keldy aller Gräuel und Unreinheit in 
der Hand. Der Papft, welcker Otto den Großen frönte, tft ſpäter 
von ihm feines Amtes entjegt worden, weil er der jchändlichften 
Laſter bezücdhtigt wurde, er ging im Harniſch auf die Jagd, 
trank und jchwur bei Venus und Pluto, und fand zuleßt auf 
einem nächtlichen Liebedabenteuer einen gewaltfamen Tod, ber 
jeinem unbeiligen Xeben würdig entſprach. Auf einer Synode 
zu Rheims 991 ſprach ein Biſchof von Drleand über die Päpfte 
feiner Zeit folgende Worte: „Diefe monstra von Menfchen, voll 
alles Schmählichen und ohne eine Spur der Kenntniſſe gött- 
licher und menſchlicher Dinge“, wofür hat man einen folchen, 
auf erhabenem Throne fitenden, in purpurnem und goldenem 
Gewand ſtrahlenden Menſchen zu halten? Mangelt ihm die 
Liebe und ift er aufgeblafen blos durch das Willen, fo ift er 
der Antichrift, der im Tempel Gottes fibt und ſich zeigt, als 
wäre er Gott. Sit er aber weder in der Liebe gegründet noch 
durch Erkenntniß erhoben, dann ift er im Tempel Gotted gleich- 
am eine Statue, ein Gößenbild, von dem Antwort begehren 
einen Marmorblod fragen heißt. ine Reform ded Klerus 
war dad dringendite Bedürfniß der Zeit, follte nicht die tieffte 
Barbarei über dad Abendland hereinbrechen. Doc die Refor⸗ 
mation war auch damals fein italienijcher, fein römtjcher, fondern 
ein deutſcher Gedanfe. Die Kaifer aus dem jähfifchen Haufe 
haben ihn mit fittlihem Ernſt und frommer Hingebung erfaßt. 
Man würde die Erneuerung der römijchen Kaiferfrone und die 
fih hieraus ergebenden Römerzüge fehr einfeitig auffaffen, wollte 
man fie nur aus politifchen Motiven erklären. Freilich konnten 
feine Maßregeln von oben für ftrengere Disciplin, feine Maß- 
regelungen von einzelnen unwürdigen Geiftlichen einen wirfjamen 
Erfolg erzielen, wenn nicht eine innere geiftige Bewegung aus 
(819) 


—r * 





16 


der Tiefe des religiöjen Lebens hervortrat und weitere Kreile 
des Volkes, wie des Klerus ergriff. Wer bätte ahnen mögen, 
auf welchem Wege fidy joldyes vollziehen werbe? 

2 Otto unternahm im Jahre 996 feinen erften Zug nad 
Italien. Bon Regensburg aus ſetzte fich der Zug in Bewegung. 
Die Gelandten Venedigd zogen ihm ehrfurchtsvoll mit Geſchenken 
entgegen. In Pavia empfing er die Huldigungen ber italienifchen 
Großen. Hier auch ftellten fi die römifchen Gefandten ein, 
welche von feiner Hand einen neuen Papft erbaten, an Stelle 
des kurz zuvor verftorbenen Papftes Johann. Otto beftimmte 
zu dieſer Würde einen Deutſchen aus dem Geſchlecht der Herzoͤge 
von Kärnthen, einen Verwandten ſeines Hauſes, der ſich Gregor V. 
nannte, ein Mann von ſtrengen Sitten, der Reform der Kirche 
geneigt, dem italieniſchen Klerus ein unwillkommener Zuchtmeiſter. 
Vom Volke feierlich eingeholt;‘ zogen Kaiſer und Papft in bie 
ewige Stadt ein, und am Himmelfahrtötage erfolgte die Krönung 
in üblicher Weife. Auf einer Synode wurde demnächft über 
Crescentius ein verdammended Urtheil gefprochen; nur auf Bitten 
Gregors erwied ihm der Kaifer noch einmal feine verſchwenderiſche 
Gnade, indem er ihm verziehb und die Würde eined Patriciud 
übertrug. Dann lehrte Dito nach Deutichland zurüd, ganz er 
füllt von den Eindrüden der alten Cäfarenftadt. 

Auf diefem Zuge hatte der Kaijer einen Mann kennen ge 
lernt, welcher einer der merkwürdigften Ericheinungen der da- 
maligen Zeit war und auf ihn felber einen tiefen Eindrud 
gemacht hatte Es war Gerbert, Biſchof von Reims, ein 
Franzoſe von Geburt, ein Mann von durchdringendem Berftand, 
weit angelegtem Geift und umfafjendfter Gelehrſamkeit, fodaß er 
die Summe alles Wiſſens feiner Zeit vereinigte und dem nadp 
folgenden Gefchledyt faft in dem Licht eined Magus erſchien. 
Die entlegenften und verfcjiedenften Discipliuen beichäftigten 


ihn, dad Studium der Alten, wie das arabiſche Zifferniuftem, 
(820) 


17 


ohne daß er dadurch vom praktiſchen Leben und zahlreichen 
Berbindungen mit den bedeutenften Perjönlichkeiten abgezogen 
wäre. Bas Alluim Karl dem Großen geweſen, das, hoffte Otto, 
joßte ihm &erbert werden. Kaum nach Deutſchland zurüd- 
geehrt, Ind er ihn brieflidh ein, an feinen Hof zu kommen und 
ihm Unterricht zu ertheilen, damit er, was ihm etwa von 
griechiicher Feinheit beimohne, beleben und ausbilden und die 
angeborene ſächfiſche Rohheit (rusticitas Saxonica) völlig aus⸗ 
tilgen möge. Gerbert folgte dem Rufe. Die Tage der Akademie 
Karl’8 des Großen jchienen wiederzufehren. Am Hofe zu Magde⸗ 
burg begann jebt ein eigenthümliches gelehrte® Treiben. Man 
war fortwährend mit wiſſenſchaftlichen Studien beſchäftigt, und 
die Gemächer der Kaiferburg ertönten von den Disputationen 
der gelehrien Männer, denen Dtto ſelber mit Borliebe ſpitz⸗ 
findige Fragen vorzulegen pflegte. Bei Gerbert begegnete Dtto 
Ideen, die dem jeinigen nahe verwandt waren. &r war ed be» 
jonderd, der den phantaftiichen Jüngling mit Erinnerungen an 
bie alte NRömerberrlichleit erfüllte. In der Widmung einer 
Schrift redet Gerbert den jungen Kaifer aljo an: „Unfer ift 
das römijche Neich, es geben und Kräfte dad früchtereiche Italien, 
das Triegerreiche Gallien und Germanien, auch die tapfern Reiche 
der Schten fehlen und nicht. Unſer bift du, Caejar, der Römer 
Kaifer, und Auguſtus, der du geboren aus dem edlen Blute 
Griechenlands, an Herrihaft die Griechen übertrifft, über die 
Römer kraft Erbrecht gebieteft und beide an Geift und Beredt- 
ſamkeit überragit. Welchen Einblid gewähren und dieje wenigen 
Saͤtze? Wie dur einen Spalt laſſen fie einen flüchtigen, doch 
hinreichend deutlichen Blid in den Charakter ded Mannes thun, 
und unfchwer erkennen wir darin eine Milchung von fophiftifcher 
Rhetorik, berechnender Schmeichelei, ſchwärmendem Ehrgeiz, 
nebft etwas von franzöfiihem Eſprit. Mit ſolchen Gedanken 
nährte man die übelberathene Jugend Otto's, und ſeine Seele 


xX. 478, 2 (821) 


18 


beraufchte fidy an Idealen, die nur zu bald fidy als leere Phan⸗ 
tasmen erweifen follten. Der deutichen oder fächfiichen Ab- 
ftammung Otto's geichieht in den obigen Säben keine Erwäh—⸗ 
nung, fie tft mit bezeichnendem Stillſchweigen übergangen. 
Die Perjon des Kaiſers wird ſogleich auf den Hafflichen Boden, 
in die Umgebung der griechifch römischen Welt, auf das Piedeftal 
der Caͤſaren gerüdt, und die Kräfte jeined Reiches, zumal der 
nordiihen Völker, haben nur die Beftimmung, das alte Kultur 
centrum der antiken Welt in die ihm gebührende Stelle zu 
jegen und ihm als Machtunterlage bienftbar zu fein. So 
lautete dad Programm der Zukunftspolitik. Freilich hatte Gerbert 
hierbei ein ganz andered Ziel im Auge Das römifche Im⸗ 
perium follte der geiftlihen Macht dienftbar werden, ſollte die 
MWeltherrichaft der Päpfte, die römiſche Hierarchie begrümden 
beifen. Mit Talter, Muger Berechnung, gleich heimifch im Reich 
ber Ideen, wie in der Benubung und Beherrfchung der welt 
lichen Mittel, fteuerte er diefem Ziel zu, indem er fich feines 
Schülers ald eines willigen Werlzeuged zu bedienen gedachte. 
Die umfaflendften Pläne für die Neugründung der römiſchen 
Republit wurden entworfen, und jchon war es Zeit, am ihre 
Ausführung zu geben. 

Der erit kürzlich eingeſetzte Papſt Gregor mahnte ängftlid 
zu einem neuen Römerzug, da der römijche Adel, unzufrieden 
mit feiner ftrengen Richtung, im Aufftand begriffen war. red 
centius hatte fich wiederum der Stadt bemädhtigt, die Einkünfte 
der Kirche mit Beichlag belegt und einen Gegenpapft, Sohann 
von Piacenza erhoben, derjelbe, weldyer einft den Unterricht des 
Kaiſers geleitet hatte, fich jet aber durch feinen Ehrgeiz auf 
Crescentius' Pläne einzugehen bethören ließ. Leicht warb ber 
Aufftand unterdrüdt. 998 erjchien der Kaiſer und Gregor ver 
Rom, das ihnen alsbald die Thore öffnete. Crescentius hatte 
fih auf der Engelburg, dem Haufe Theodorichs, wie man im 


(822) 


19 


Mittelalter fagte, verſchanzt. BDiejelbe wurde erftürmt, und er, 
verlor durch Henkerſshand fein längft verwirktes Leben. Der 
Papft Sohann wurde als Ufurpator der angemaßten Gewalt 
entlleidet, verftümmelt und verkehrt auf einem Eſel ſitzend, 
ſchimpflich durd, die Stadt geführt. 

Die Ueberwältigung der Aufftände war in der Negel die 
einzige Aufgabe, die fi die Kaiſer bei ihrer Anweſenheit in 
Rom zu ſetzen pflegten. Keiner derjelben vor Otto dem Dritten 
und feiner nad ihm hat in die verworrenen Verhältniffe der 
Stadt reformirend einzugreifen verjudt. Das ewige Rom, wo 
verjhhiedenartige Epochen der Menjchheit fich jo nahe wie an 
feiner andern Stätte der Erde berührten, war eine Welt für 
fi voller Wunder nnd Widerſprüche, welche nur die mächtige 
Hand der Zeit zu löfen im Stande ſchien. Zu der großen Be- 
deutung, bie fie als Mittelpunkt des Reiches der Kirche und ber 
abendländiihen Kultur beanfprudhte, zu der Weite des Gefichtd- 
freies, in welchem ihr Leben verlief, ftand die Außere Herab- 
gelommenheit und ihre völlige Machtlofigleit im feltfamften 
Contraft. Zwar war von der Pracht der antifen Baumerfe 
noch immer viel vorhanden, genug, um die Seele des Beichauers 
mit ehrfurchtsvoller Bewunderung zu erfüllen. Noch immer ge- 
währte dad Forum von der Höhe des Capitol aus gejehen 
einen überwältigenden Anblid in der Fülle feiner gigantiichen 
verworrenen Baumaſſen, die ihren erniten ruhigen Hintergrund 
an den impoſant auffteigenden Bogenreihen des Coloſſeums 
fanden.” Dody nichts beitand mehr in der mafellofen Schönheit 
feiner urfprünglichen Anlage und Form, alles war entftellt und 
verfehrt von fchonungslojer Zerftörung, welche auch dem noch 
Beftehenden fidyeren Untergang mit graufamer Gewißheit ver- 
fündigte. So ftand die alternde Roma da, die Niobe ber 
Städte, wie erftarrt und verfteinert im Uebermaß des Schmerzed 


über den Untergang ihrer ehemaligen Gröbe, über den Verluſt 
2* (823) 


20 


ihrer Söhne, deren blühende Fülle fie einft tröftlih umaab. 
Denn das derzeitige Gejchlecht, das unter ihren erhabenen Ruinen 
fein Wefen trieb, und feine fchlechten Wohnungen wie Schmwalben- 
nefter an bie edlen Bauten ded Alterthums Flebte, war ein 
Baftardgeichledht, ein herabgefommener, zuchtlos vermwilderter 
Haufe, jein Leben eine jämmerlihe Parodie auf den ehrwür- 
digen Namen bed römijchen Volkes, dad einft im Bewußtfein 
feiner politifchen und kriegeriſchen Tüchtigkeit die Virtus feine 
Gottheit nannte. Die großen Feudalberren, die Barone drinnen 
und draußen, die fich zum heil von den alten Geichlechtern 
Roms ableiteten, jpielten die Tyrannen der Stadt. Ihre fefteften 
und fchönften Bauwerke hatten fie zu Burgen und Gaftellen 
eingerichtet, worin fie mit ihren Gewappneten wie treibende 
Thiere hauſten, um gelegentlich bervorzubrechen und im wilder 
Fehde die Stadt mit Mord und Brand zu erfüllen. Das 
niedere Bolt, eine verlumpte, verwegene Maffe, voll Tindlicher 
Einbildungskraft und kindiſchem Trotz, ftolz auf feine alte Ge⸗ 
Ichichte, die es nicht fannte, unzufrieden mit der gegenwärtigen, 
die es nicht begriff, jedem Neuen mit fanguinifcher Begeifterung 
zujaudhzend, und dem Neuen von heute Morgen ſchon wieder 
in Mißmuth und Meberdruß den Rüden fehrend, unfähig den 
Zügel eines weltlichen Regiment! wie dad och der SPriefter: 
berrichaft zu tragen und wider den Stachel der eigenen Nichtig- 
feit unauögejeßt vergeblich ledend: jo ſpielte das Volk eime 
charakterloſe Rolle in trauriger Gleichfoͤrmigkeit durch alle Jahr⸗ 
hunderte des Mittelalterd bin. Dem entſprach die politiſche 
Berfafjung der Stadt. Sie bildete ein chaotiſches Durchein- 
ander von verjchiedenartigen Meberreften und mittelalterlichen Ber 
ftandtheilen von fendaler und municipaler Verwaltung, weltlicher 
und kirchlicher Jurisdiktion. Gewiß war in diefer Verwirrung 
nur der überragende Name des Kaiferd und Papftes, ungewiß 


und ſchwankend die Grenzen ihrer Gewalt; unficher die An 
(824) 


ſprüche und Rechtstitel aller Würdenträger der Stadt, unficdher 
der ftädtiiche Haushalt, unficher Die Straßen und der Berfehr, 
zweifelhaft die Einwirkung des Clerus auf die fittlihe Ver⸗ 
fommenbeit der Mafjen, ganz unzweifelhaft nur die Korruption, 
der Wanfelmuth und das Elend ded Volkes. An diefed Rom, 
die Lömenhöhle, wo viele Spuren hinein und wenige wieder 
heraus führten, trat Kaiſer Otto III. mit dem jugendlichen 
Enthufiasmus für eine große Aufgabe heran. Die meiften 
Kaifer pflegten dafelbft nur dad Geremoniell der Krönung voll- 
ziehen zu laffen, und dann fo ſchnell wie möglidy hinweg zu 
eilen. Die wenigften von ihnen haben einen Blick in das 
Innere ihrer Hauptftadt gethan. Dieje pflegte fich bei ſolcher 
Gelegenheit mit Barriladen wie gegen einen Feind zu ver 
Schanzen. Dahinter die Bürger, die halb neugierig, halb miß⸗ 
trauiſch den feierlichen Vorgängen zujchauten, die fich jenjeitd 
des Zluffes in der leoninifchen Vorftadt zutrugen, und deren fo- 
lenner Abſchluß in der Regel eine blutige Rauferei mit den 
fremden Barbaren, wenn nicht gar eine mehrtägige Schlacht 
und Leichenbeitattungen bildeten. Otto fam mit andern Ge: 
danken, als ein neuer Titus oder Trajan, eine neue Weltmonarchie 
zu errichten. Sobald Gredcentiud gefallen und die Herrichaft 
bed Kaiſers und Papfted zu voller Geltung gebradt war, 
wurde die MWiederherftellung des römilchen Reiche mit vollem 
Nachdruck verfündigt. 

Dleibullen mit der Umichrift: „Herſtellung des römijchen 
Reiches“ wurden angefertigt, wie ähnliche audy von Karl dem 
Großen berrühren. Rom follte der fidhtbare Mittelpunft der 
Belt und wie einit, der Sit der Cäfaren werden, ein Gedanke, 
dem Karl der Große und Otto der Große wohlweislich aus dem 
Wege gegangen waren. Auf dem Aventin, damald dem bes 
lebteften Stadtquartier Roms, tbronte der Katler aller Kaifer 
in Purpur und griechiſcher Chlamys. Gr geftel ſich darin, 


(825) 


22 


Haffifche Beinamen, wie „Romanns, Stalicns, Saronicus" ans 
zunehmen und feinen Hof mit einem feften, der griechiichen 
Sitte nachgebildeten Geremoniell zu umgeben. Da tauchten die 
Scyattenbilder des römtichen Senats, der Konfuln und Ritter 
wieder auf, neben dem Heer der Logotheten, Archilogotheten, 
Protojpatharien, Protoveftiarien und wie die Chargen alle 
hießen, mit denen bie höfiiche Etiquette den byzantinischen 
Kaiſerthron umgab. Da follte alle Welt nady dem römiſchen 
Recht gerichtet werben, und die Schöffen in den kaiſerlichen 
Zribunalen fortan nad dem juftinianifchen Koder fich richten. 
Die Summe feiner Beftrebungen fahte Dtto in die Worte zu- 
jammen: „Er hoffe, daß feine Werke beitragen follen, daß fein 
Reich blühe, fein Heer triumpbiere, die Macht bed römiſchen 
Volkes auögebreitet und die römijche Republik bergeftellt werde, 
auf daß er ruhmvoll in diefer Welt leben, ruhmvoller and den 
Banden dieſes Fleifches zum Himmel fi) aufſchüingen und im 
hoͤchſten Ruhme einft jenfeit mit dem Herrn herrſchen fönne.” 
Diefe Worte deuten zugleich eine andere Richtung an, bie 

in Otto's Geift nicht erft damals hervortrat, aber jebt fich ſeiner 
färker zu bemächtigen begann. Das geiftliche Leben, das zu 
Anfang des 10. Jahrhunderts in den wilden Stürmen der Zeit 
faft gang erftorben war und ſich hinter die Kloftermanern zu⸗ 
rüdgezogen hatte, während draußen der Weltklerns mit dem 
feit weiteiferte, das begann jeßt auf's Neue 

an allen Orten fidy mächtig zu regen. Biel hatte hierzu ſchon 
die Erneuerung der Kaiſerwürde beigetragen, wie fie die Ottonen 
erfaßten, die den Aufgaben und Bedürfniffen der Kirche mit 
klarem Verſtändniß entgegenfamen. Hierzu kam nun die 
fchwärmerifche Idee von dem Abſchluß des taufendjährigen 
Reiches, womit fich die Vorftellung von der Wiederfunft Chrifli, 
dem jüngften Gericht, oder doc) einer allgemeinen großen Kata 


ftrophe verband, welche durch den fündlichen Zuftand der Chriften« 
(826) 


23 


heit nur allzufehr gerechtfertigt erichien. "Die chiliaftifche Idee 
ft mehr als einmal in der Kirchengefchichte aufgetaucht, immer 
begleitet von erjchütternden Borgängen des Außern und innen 
Lebens, wie in der Zeit der Hujfitenkriege, in der deutjchen 
Reformation, in der engliichen Revolution geſchah. Dies traf 
in der Epoche, von der wir reden, nicht zu. Die religiöfe Be- 
wegung wurde lediglich durdy eine Zahl veranlaft, die Jahres⸗ 
zahl taufend, die man in mißverfländlicher Deutung einer 
Bibelftelle mit dem apofalyptiichen Millennium in Verbindung 
bringen zu müflen vermeinte. Die tieferen Geifter konnten 
nicht unberührt bleiben von diefer mädtigen Strömung. Die 
Welt richtete fi) auf einen großen Abjchluß ein. Die Bauten, 
jelbft die der Kirchen ftanden ftil. Das weltliche Leben ver. 
lor an Reiz und Werth, die Flucht in die Einfamleit der Ere⸗ 
mitenzelle lockte viele Gemüther, die jebt in Faften und Kafteiungen 
Berföhnung mit Gott und den Frieden der Seele erftrebten. 
Ein Schatten aud der jenfeitigen Welt fiel auf das wüſte ver- 
wilderte Leben des Diesjeitd und hüllte es plößlich in büftere 
Farben. In Stalien leuchtete diefer Geift in einzelnen außer- 
ordentlichen Perfönlichleiten auf. So der heilige Nilus, Pos 
mualdu8 und 'amdere, die ald DBußprediger eine erjchütternde 
Wirkung auf das Volk hervorriefen, und jchon bei Lebzeiten als 
Heilige verehrt, mit wunderbaren Kräften ausgerüſtet jein jollten. 
Seltjam genug war freilich der Glaube, der fi an ihre Ferien 
beftete, wie denn Romualdus einft Gefahr lief, von feinen Zu» 
börern erichlagen zu werden, weil dieſe im frommen Eifer fidy 
bei Zeiten feiner Gebeine als der wirkjamften Unterpfünder der 
göttlichen Gnade zu verfihern wünſchten. Anderd war es in 
Franfreih und Burgund. Hier trat die Thätigkeit einzelmer 
Drden in den Vordergrund wie die der befannten Cluniacenſer, 
welche e8 auf eine Reform des Klerus und eine feflere Be 
gründung der Hierarchie abgejehen hatten. Clügny mit jeinen 

(27) 








24 


zahlreichen Filialen, eine eigene Kongregation, eine Kirche in 
der Kirche, fammelte gewiffermahen die noch vorhandene 
geiftige Lebenskraft der abendländiichen Welt in fid auf. Die 
bedeutendften Päpfte der Ipäteren Zeit find durch das Klofter 
bindurchgegangen, und ihre Wirkſamkeit wurzelte in den bier 
verfolgten Tendenzen. Während man in den Kreiſen der Kaiſer⸗ 
pfalz erwog, wie der verwilderte Klerus durch den Arm ber 
weltlichen Obrigfeit zu beſſern ſei, lebten hinter den Mauern 
von Clügny Gedanken auf, wie die nicht minder fündliche Laien 
welt durdy ftärfere Zügel des geiftlichen Amtes zu lenken jei. 
Die eine wie die andere Anſchauung mochte in der Zeit bes 
rechtigt fein. Doch welche verbieh die ftärkere zu werden, welche 
hatte die Bürgichaft ded Sieges für fiy? Der deutfhe Papit 
Gregor V. mochte vermittelnd zwiſchen beiden ſtehen, Doch der 
ihm nadfolgte in der päpftlichen Würde, Syivefter IL — nad) 
jenem Syivefter genannt, dem Kaifer Konftantin einft die fagen- 
hafte Schenkung Staliens vermacht haben follte — ftand ganz 
auf dem Boden Clügny's, auf dem Boden der hierarchiſchen Idee. 

Es war Gerbert von Aurillac, der Lehrer und Freund 
Dtto’8 IL. Der Mann ftand am Ziel feiner Wünfche. Die 
dreifache Krone bebedte den Kopf, der dem dreifachen Gedanken 
der Erneuerung der Wiflenfchaft, der Reform ver Kirche und 
der Herrichaft des Papftthums zu erfaflen gewagt, den Dtto jelber 
einmal den in den drei Klaffen der Philojophie Gefrönten genannt 
bat. Sein Pontififat war freilich nur von kurzer Dauer, ausgerichtet 
bat er wenig vder nichts, in der Politik war er nur ein Träumer, 
wie Kaiſer Dtto ſelbft. Doch fein Traum von der Hierardie 
war ein Sofephstraum, der einft Wahrheit werden ſollte. Es 
fam bie Zeit, wo vor der Barbe des Papftthums fich die Garben 
der Bilchöfe und auch der Fürften tief in den Staub beugten. 
Wie er feine Würde auffabte, hat er felber in einer bejonderen 
Schrift zur Unterweijung der Bilchöfe dargethan. Es war 


(838) 


25 


gewiffermaßen das Teftament der Hierarchie, dad jeine Bollftredung 
von der Zukunft erwartete. Dem Papfte wurden die umfafjendften, 
alle weltliche Macht überragenden Rechte vindicirt, die Nachfolger 
Petri auf die Höhe theokratiſcher Weltherrichaft erhoben. 

Die bifchöflihe und priefterliche Gewalt ift von Chrifto 
jelbft eingefeßt und überragt jede zeitliche Macht, felbft die 
fürftlihe. Es geichebe, dab fich Roms Allmadıt nicht allein im 
Binden, fondern aud im 2öjen zeige, und damit klar würde, 
dab dem heiligen Petrus erlaubt fei, was feine menfchliche 
Macht vermöge. Die geiftlihe Macht verhalte fich zur welt: 
lichen wie der Werth des Goldes zu dem des Bleies. Das find 
Sätze im curialiftiichen Lapidarftil verfaßt, weldye den Geift 
Hildebrand’8 athmen, und die Signatur des neuen Sahrhunderts 
bei deſſen Beginn prototypiich verkünden. Und Gerbert er- 
mangelte nicht, von joldyen Theorien die praftifche Anwendung 
auf die Fürften jeiner Zeit zu machen, indem er fie die Ueber⸗ 
legenheit des geiftlichen Dberhirten in Ungnade und Gegen 
empfinden lie. König Robert von Frankreich, der frühere 
Souverain Gerbert’3, wurde genöthigt, jeine der Kirche mibfällige 
Che aufzulöfen, und Stephan von Ungam jchidte einen ®er 
fandten nach Rom, der aus den Händen des Papſtes eine goldene 
Krone empfing, ald Lohn für die vollgogene Belehrung des unga- 
riſchen Volkes. Dies war das erfte bald nachgeahmte Beilpiel für 
die Berleihbung von Fürftenfronen durd; den Papit, welche vielmehr 
dem Kaijer, ald dem unmittelbaren Oberherren, zugeftanden hätte. 

Und Kaifer Otto? Wie mußten alle diefe Vorgänge auf 
feine empfängliche und bewegliche Natur wirken? Das Klofter 
des heiligen Bonifacius und Alerius auf dem Anentin war von 
dem Geift einer jchwärmerischen Myſtik erfüllt. In der Perjon 
bed jungen Mönched Adalbert, eined Böhmen von Geburt, trat 
diefe religiöje Richtung wie verlörpert dem Kaijer entgegen. 


Schon auf dem erften Römerzuge 996 war er ihm nahe getreten. 
(829) 


26 


Ein inniges Band verknüpfte bald den Kaifer und den Möndı. 
Zum erften Mal ging ihm das Ideal einer Jugendfreundſchaft, 
getragen von einer höheren Idee, mit ergreifender Gewalt anf. 
Otto ließ ihn bald nicht mehr von feiner Seite, Adalbert mußte 
jogar feine Schlaflammer mit ihm theilen. Wie mandymal 
mögen fie in dem fchattigen Laubgängen des Aventin mit ein 
ander geweilt haben, zu ihren Füßen die ewige Stadt, über 
deren Ruinen die Schatten der Bergangenheit traumhaft 
ſchwebten, und weiterhin die ftile Campagna, erfüllt von einer 
erhabnen Zraurigleit, die an dem begrenzenden blauen Gebirgs⸗ 
rand wie in ſanfte Sehnſucht mwohlthuend fich aufloͤft. Dort 
faßen fie beide Hand in Hand, doch in den feuchten Bliden 
begegnete fih ein Glanz, worin Trauer und Sehnſucht gemifcht 
war. Und Adalbert wurde nicht müde, dad Herz des Kaifers 
zur Demuth und zur Weltentjagung zu ſtimmen. Da bemädy 
tigte ſich des Faiferlichen Jünglings ein tiefes Gefühl von der 
Nichtigkeit und der Eitelfeit aller weltlihen Macht. Ebenſo 
überſchwenglich, wie er bisher diefe irdiiche Gewalt aufgefapt 
hatte, ergriff er auch rückhaltslos die entgegengefehte Idee, welche 
ihn die Welt zu fliehen trieb. Man jah ihn barfüßig zu den 
heiligen Stätten von Bertevent und Gargano ziehen. Auf 
Monte gargano, einem einjamen Vorgebirge am adriatiichen 
Meer, ftand in erhabener Waldwildniß eine alte Kirche des Erz⸗ 
engel Michael, ein Ziel zahlreicher Wallfahrten. Otto, fo erzählt 
Gregorovius (Geſchichte Roms im Mittelalter III, p. 490,) 
verweilte dort unter fingenden Mönchen im Büßergewand, Leib 
und Seele Tafteiend, und ftieg dann aus der Wildniß herab, 
von wo jein entzüdted Auge verlangende Blicke nach Hellas 
und dem Drient warf und jeine Seele von dem heiligen Jeru⸗ 
jalem träumte. Auf der Heimkehr bejuchte er den heiligen Nilus, 
der beit Gaeta mit andern Schwärmern unter Zelten lebte, die 


von Armuth erglänzten. Dtto fiel ihm zu Füßen, leitete ihn 
(830) 


27 


in die Klofterfapelle und lag dort wie ein zerfnirfchter David im 
Gebet. Bergebens forderte ihn Dtto auf nach Rom zu fommen, doch 
der bedürfnißloje Greis wünjchte nur dad Seelenheil bes Taijers 
lihen Jünglings, und Dtto legte jchmerzlidy weinend feine goldene 
Krone in die Hände bed Patriarchen und fchieb unter Gegend 
wäünjchen, um ſich nah Rom zu wenden, wo ſoeben berbeutfchePapft 
Gregor V. geftorben war. Hier fette er feine geiftlichen Hebungen 
fort. Vierzehn Tage ſchloß er fich in eine Höhle ein, wo er unaus⸗ 
geſetzt betete und faftete. Knecht der Apoftel und Knecht Sefu Chrifti 
nannte er fi neben dem andern Titel Kaifer der Kaiſer. Cr 
war Möndy und Kaifer in einer Perfon. Seine fraftvollen Bor: 
fahren hatten das Regiment im Reich und in der Kirche mit 
Umficht geführt; doc die Verbindung der weltlichen und der 
geiftlichen Idee jchien eine Doppellaft zu jein, die für die zart- - 
bejeitete Natur des jungen Otto zu ſchwer war. Diefer Wider 
flreit, dieſer innere Kampf ift ed redyt eigentlich gemwefen, der 
ihn gebrochen und vor der Zeit aufgerieben hat. 

Sein Freund Adalbert war in das heidnifche Preußenland 
gezogen, um ald Mifflonär zu wirken und womöglich die Palme 
des Märtyrertyumd zu gewinnen. Sie ward ihm zu Theil. 
Der Spieß eined Heiden durchbohrte fein Herz und mit feinem 
Haupte trieben die Unholde ein jcheubliched Spiel. Ein ein» 
james Kreuz am öden Dünenftrande der Oſtſee bezeichnet noch 
heute die Stelle, wo der chriftliche Glaube im Preußenlande 
jeinen erften Triumph gefeiert bat. Herzog Bolidlaw von Polen 
erwarb für Geld den Leihnam und ließ ihn in Gneſen zur Ruhe 
beftatten. Im Jahre 1000 eilte Otto über die Alpen herbei, um 
dem Andenken des Freundes ein dauernded Denkmal zu ftiften. 
Ald der Kaifer, fo fchreibt Thietmar, die erjehnte Stadt von 
Weitem erblidte, nahete er derſelben ald barfüßiger Pilger 
betend. In die Kirche geführt, flehte er mit einem Strom von 


Thränen den heiligen Märtyrer an, ihm durch feine Fürbitte 
(831) 


28 


Gnade bei Chrifto zu erwirfen. Sn Gnejen ftiftete er einen 
Metropolitenfit, dem ſieben Bisthümer unterftelltwurden, worunter 
- Krakau, Bredlau, Kolberg, und zwar loßgetrennt vom deutſchen 
Kirchenverband, genannt werden. Auch Herzog Bolislam erhielt 
manche Rechte und Befreiung vom üblichen Tribut, wodurd dad 
heranwachſende polnifche Reich einen ftärferen Trieb zu politifcher 
und kirchlicher Selbitftändigfeit gewann. Hatte doch Otto die 
Freude, den Herzog ald Freund und Bundesgenoſſen der römi«- 
Ihen Republit begrüßen zu können, und dieſer leiftete gern die 
berfömmliche Huldigung und gewährte dem Kaiſer mit Triege- 
riihem Gefolge bi8 Magadaburg dad Geleit. 

Zu Aachen, wohin fi Dito darauf begab, finden wir ihn 
wieder ganz erfüllt mit den Vorftellungen feiner irdiſchen Hoheit. 
Es fiel auf, daB er manchen veralteten römijchen Brauch wieder 
erneuerte, wie er denn zum Beiſpiel allein an einer halbfreis- 
fürmigen Mittagdtafel ſaß, höher als die übrigen. Hier 
am Herrfcherfite Karl's ded Großen fam ihm dad Berlangen 
an, die Grabftätte des Kaijerd zu befuchen. Im einer Kryptha 
ded Domed hatten fie einft den Leib zur Ruhe beitattet; fitend 
auf einem Stuhl, mit Toftbaren Gewändern befleidet, die Pilger- 
tajche umgehängt, das Evangelienbuch auf dem Schoße, jo ruhte 
dort der Faiferliche Pilger von feiner irdiſchen Walfahrt aus. 
Faſt zwei Jahrhunderte ſchon hatte er dort gejeflen, ein Vorbild 
des Rothbart im Kyffhäuſer. Wer wagt ed, die heilige Ruhe 
des Todes zu ftören? Es ift gefährlich, mit dem Schatten 
großer Zodten zu fpielen: wer nach ihm hafchte, dem Löjcht er 
gar leicht dad eigene Licht aus. 

Dtto widmete dem Andenfen ded großen Karl in jeiner 
Grabedgruft eine weihevolle Stunde. Dann ließ er die Gebeine 
jorgfältig in einem Sarge beifeben und entnahm vom Halfe 
der Leiche ein goldened Kreuz, dad er fortan felber zur Grinne- 
rung trug. Dody der Todte, heißt es, fei ihm im Zraume er- 


(832) 


29 


Schienen und babe ihm zornig fein nahes Ende verfündigt. Im 
germanischen Muſeum zu Nürnberg iſt dieje Scene von Kaul⸗ 
bach's Hand bildlich dargeftellt, gewiſſermaßen als Titelvignette 
des Muſeums, welche den willenichaftlichen Zweck diejer Anftalt 
in künftleriſcher Symbolik veranſchaulicht. Wie bier der junge 
Kaifer, den friichen Roſenkranz im Haar, die Fadel in der 
Hand, zur Gruft binabfteigt, in deren Hintergrund im däm⸗ 
mernden Licht die ehrwürdige Leiche fichtbar wird, fo ift e8 die 
Aufgabe der modernen Wiſſenſchaft, in das Dunkel vergangener 
Zeiten mit der Fadel der Forſchung einzudringen, um ihre Größe 
und Herrlichkeit, mag fie auch zum Schattenbilde verblaßt fein, 
vor das geiltige Auge zurüdzuführen. So jcheint der Gedanfe 
des Künftlerd gewejen zu fein. Doc ift jene Scene nicht zu» 
gleich auch ein ſymboliſcher Ausdrud der deutichen Geiſteseigen⸗ 
tbümlichkeit, die jo gerne bei fernen Zeiten und Idealen in 
träumender Betrachtung ausruht und darüber die realen Inter- 
effen der Gegenwart aus den Augen, den eigenen Grund und 
Boden unter den Füßen verliert? Es will und dünken, daß 
Dtto III., ſchwankend zwilchen Gegenwart und Vergangenheit, 
angezogen von Irdiſchem und Himmlifchen, für dieſe deutiche 
Geiftedart ein rechter Typus geweſen ift, und darum fteht jeine 
Geftalt an der Schwelle derjenigen Epoche, welche wir als das 
eigentlich romantifche Mittelalter anzujehen gewohnt find. Die 
Gruft Karl's des Großen zu Aachen, die Gruft des heiligen 
Adalbert zu Gnejen und die Gruft Kailer Otto's II. zu Rom, 
das find die Angelpunfte, um weldye fein äußeres und inneres 
Leben fih drehte. Es läßt fich unfchwer begreifen, wie aus 
jeiner Abftammung und Erziehung und mandherlei äußeren Ein- 
wirkungen Otto's Weſen fi} jo geitaltet hat, wie es geworden 
iſt. Doch wäre es unrichtig, wollte man ihn nur als eine ver- 
einzelte Erjcheinung imdividueller Art, losgelöit vom Rahmen 


jeiner Zeit, betrachten. Was er erftrebte, war im Grunde das⸗ 
(883) 


30 


jelbe, was durdy die ganze Periode der ſächſiſchen Kaifer als 
ein gemeinfamer, die Geilter beherrichender Zug hindurchgeht. 
Es verlohnt ſich, einen Augenblid hierbei zu verweilen. — 

Drei Richtungen find e8 vornehmlich, die das geſchichtliche 
Leben diejer Periode beftimmen und ihm feine Zielpunfte ange⸗ 
wiejen haben, die deutichenationale, die Haffiihe und die kirch⸗ 
liche Ricytung. Das nationale Bewußtjein war durch die Thaten 
Otto's ded Großen, die Einigung der deutſchen Stämme, ihre 
Einwirkung auf, dad Ausland und durch die Erwerbung der 
Kaiferfrone mächtig belebt worden. Seitdem nennen fidh erft 
die ſämmtlichen Stämme mit gemeinfamen Namen, die Deut- 
chen, und ihren König den deutihen König. Die Verbindung 
mit Rom lenkte den Blid fodann auf die antife Welt zurüd; 
Nom und Byzanz übten eine neue Anziehungskraft auf den 
nordifchen Geiſt aus, bie Werke der alten Dichtung und Kunft 
ſprachen mit einem mächtigeren Zauber zu Dem deutjchen Gemüth. 
Ein Hauch and dem Reiche der Schönheit, der alten und doch 
ewig neuen Schönheit, drang aus Hedperien über die Alpen, 
den winterlichen Froſt hinwegſchmelzend wie den Schnee ber 
Föhn und lockte friiche Lebensfeime ald Frühlingsboten hervor. 
Endlich war audy durdy die Fürforge der Katjer aus jächfiichem 
Haufe das Papfttyum aus feiner tiefen Erniedrigung erhoben, 
die Kirche durdy innere Reform und äußere Miifion ihrer 
eigentlichen Beftimmung wieder genäbert, eine tiefere religiöfe 
Erwedung hatte begonnen und wurde zuleßt durch die dhiliaftifche 
Idee zu jchwärmerifcher Bewegung gefteigert. Died waren die 
Srundftoffe des geiftigen Lebens jener Zeit, weldye allen ihren 
Werken ihr charakteriftiiched Gepräge aufbrüdten. Sind es nicht 
auch Die Grunditoffe der geſammten abendländifchen Kultur bis 
heute? Allemal, wo jene Richtungen mit verftärkter Gewalt 
bervorbrechen und miteinander vereint wirkten, da ift ein Auf- 


ihwung des gejammten Lebens nnd feiner Kultur zu bemerken 
(834) 


31 


gewejen. So finden wir fie vereinigt in Klopftod beim Beginn 
unferer modernen Litteraturperiode. Wir finden fie wirkſam im 
Zeitalter der Reformation und der Renatffance, ebenjo ein halbes 
Sahrtaufend früher an der Wende des erſten Jahrtauſends. — 

Erinnern wir und, was jene jächfifhe Epoche im Weſent⸗ 
lichen geleiftet bat. Die Gefchichtöfchreiber bejchrieben die 
Thaten der Könige in lateinifcher Sprache, doch mit bemerf- 
barer Accentuierung des deutjchen und ſpeziell ſächſiſchen Stam⸗ 
mesbewußtſeins. Die Mönche von St. Gallen mühten ih ab, 
die deutiche Sprache in Wortbildung und Sabgefüge dem Fluß 
des klaffiſchen Idioms anzunähern und gofjen gelegentlich einen 
deutichen Heldengejang wie den Waltarius in die Form um, 
welche fie an Birgil und Lukan bewunderten. Bernwarb von 
Hildeöheim, der Lehrer Otto's IIL., ließ jene nody vorhandene 
Säule formen, die als ein Meines Nachbild der Trajansfäule in 
Rom erſcheint. Wie dieſe von figurenreichen Bildern aus den 
Kriegdzügen bed Kaijerd ummunden ift, jo umfjchlingt die hildes- 
heimer Säule ein Band von Bildern aus der Leidendgeichichte 
Chrifti in balberhabner Arbeit. Man erfennt das römifche Vor⸗ 
bild, doch die antike Form ift von einem dhriftlichen Gedanken: 
gehalt erfüllt. Genau jo hatte ed furz zuvor Rofvitha gemacht, 
die gelehrte Nonne von Ganderöheim, da fie die Form der 
terenziſchen Komödie mit chriftlihem Legendenftoff erfüllte und 
fo das erfte Drama auf deutſchem Boden ſchuf. Ueberall ift es 
die naive und unbefangene Berbindung jener drei Elemente, 
die den Schöpfungen diefer Zeit, wenn audy noch nicht einen 
äftbetiihen Wert, doch einen kulturhiſtoriſchen Reiz verleiht. 
Was bier auf dem Gebiete geiftigen und künftleriichen Schaffens 
geichah, das juchte Kaiſer Otto mit fühnem Griff auf das Neid, 
der Wirklichkeit zu übertragen. Nichts Geringereö ald eine Res 
naiflance des antifen Imperiums war ed, was er erftrebte. 
Das römiihe Kaiſerthum Karl’d und Otto's ded Großen war 


(835) 


32 


mehr ein Name und Titel, mehr eine Idee und Theorie als 
Wirklichkeit geweſen, ein Begriff von mehr kultureller als poli⸗ 
tifcher Bedeutung. Otto IH. unternahm es, diefen Begriff zur 
Potenz gefhichtlicher Wahrheit, polttiicher Thatjächlichkeit zu er- 
heben. Er modhte glauben, hiermit etwas Außerordentliches zu 
leiften, einen Gipfelpunft der Menſchheit zu erflimmen, wie er 
überdied beim nahenden Ende des Millenniums an ſich wünſchens⸗ 
werth und geziemend erjcheinen durfte. Doch was der geiftigen 
und fünftlerifchen Gejtaltung gelang, Gedanken und Bilder aus 
den verjchiedenften Zeiten zum vertraulichen Bund zu verknüpfen, 
das blieb der Hand des praktiſchen Staatsmannes verſagt. 
Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume 
ſtoßen ſich die Sachen. Im Reiche des Schönen ift die Idee 
das helle Sonnenlicht, welches alle Dinge in klare Beleuchtung 
ſetzt und, was fie in Wahrheit find, offenbart. Doch auf dem 
rauhen Boden der Wirklichleit, wo die praftiiche Staatskunft 
und Staatslenkung zu jchaffen hat, da erjcheint die trandzendente 
Idee nur zu oft ald täuſchendes Mondlicht, dad Wege und 
Stege unficher macht und mit dämmerndem Zwielicht die Gegen» 
ftände mehr verjchleiert als enthüllt. Wer fi} ihm ſorglos ver⸗ 
trante, der ward zum träumenden Nachtwandler und ftkrzte von der 
fchwindelnden Höhe, auf die er fi) loden lieh, jählings hinab. 
Died war das Loos Kaiſer Otto's. In Wahrheit ein tragifched 2008, 
dasjelbe, welches fpäter anf italiichem Boden ein Arnold von 
Brescia, ein Cola Rienzi hatten, die auch den Traum des Alter: 
thumd zur Unzeit geträumt, bafjelbe, welches noch fpäter auf 
deutihem Boden ein Ulrich von Hutten erlebte, da er des deut» 
ſchen Reiches Herrlichkeit ſamt Eaffticher Bildung und wieder- 
erwedtem religiöjen Leben zu vereinen und zu fördern bemüht 
war, und, weil er zu vieled begehrte, alled verlor. So erging 
ed auch Otto. Cr gedachte fein fchwärmendes Haupt mit einem 
Kranze der edeliten, jchönften Blüten aus alter und gegen« 
(836) 


33 


—— 





wärtiger Zeit zu Ihmüden. Doch wie er aud dem Traume 
erwachte, da waren die Roſen verichwunden, nur die Dornen 
waren geblieben. Allzu fchnell und unerwünſcht kam dies Er- 
wachen. 

Boͤſe Nachrichten aus Italien veranlaßten den Kaiſer, ſich 
wieder über die Alpen zu wenden. Das neue Imperium war 
wenig beliebt geworden, weil es keine materiellen Vortheile, ſon⸗ 
dern nur erhöhte Anforderungen und Steuerdruck verurſachte. 
Daher erfolgte ein Aufftand über den andern. Als Dito Tivoli, 
die bochgelegene Felſenſtadt, belagerte, fam der Papft und 
Biſchof Bernward felbft hinaus, um dem Kaiſer mit ihren Rath⸗ 
fchlägen beizufteben und ihn zur Ausdauer zu ermutbigen. Dann 
begaben fie ſich im die aufrührerifche Stadt, und ed gelang 
ihnen, die Bürger zur Unterwerfung zu beftimmen. Die Scenen, 
weldye jett folgten, find höchft charafteriftifch für die Italiener 
von damald. Wir laffen am beften Tankmar, den Biographen 
Dernward’d, mit feinen eigenen Morten erzählen: „Alle vors 
nehmen Bürger der Stadt famen nadt, nur an den Schenfeln 
befleidet, in der Rechten Schwerter, ‚in der Linken Geiheln 
tragend, zum Palaſt. Dem kaiſerlichen Rechte feien fie und 
alles ihrige unterworfen; die er jchuldig fände, möge er mit 
dem Schwerte treffen oder, wolle er Mitleid üben, fie öffentlich 
geibeln laſſen. Wolle er die Stadt dem Erdboden gleich machen, 
jo feien fie gerne bereit, alle audzuführen und ftetd dem Be- 
fehl feiner Majeftät Gehorjam zu leiften. Der Kaifer gewährte 
Verzeihung und ſpendete dem Papit und dem Biſchof das höchite 
Lob. Die Römer aber, unwillig, dab die Tiburtiner vom Kaiſer 
zu Gnaben aufgenommen ſeien, verjchließen die Thore der Stadt 
und verjperrten die Straßen. Auch einige Freunde ded Königs 
wurben ungerechterwetje getödtet. Dagegen werden die Bewohner 
des Töniglichen Palaſtes vom Biſchof Bernward durch die Beichte 
gereinigt, und find bereit, auf die Feinde tapfer audzufallen. 


XXL 478. 3 (837) 


34 





Am folgenden Morgen wurden der Kaijer und die andern aber- 
mals durch die heiligen Sakramente und frommen Ermahnungen 
getröftet und ziehen gegen den Feind in den Kampf; der Biſchof 
felbft mit der heiligen Lanze im Vordertreffen ſchrecklich blitend, 
aber mit inbrünftigem Herzen den Frieden von dem Urheber 
des Friedens erflehend. Seine Bitten wurden erhört. Aufruhr 
und Zwietradht wurden gänzlich befehwichtigt, die Feinde legten 
die Waffen nieder und verfprachen, am andern Tage beim Palaft 
fich einzufinden. Unterdeſſen beftieg der frömmfte und fanft- 
müthigfte Kater einen Thurm und bielt folgende Anrede: Seid 
Ihr nicht meine Römer? Um euretwillen babe ich mein Vater: 
land und meine Verwandten verlaffen; aus Liebe zu Euch habe 
ich meine Sachſen und Deutichen, mein eigenes Blut, bintan- 
gelebt; Euch babe ich in die entfernten Theile unfre8 Kaiſerreiches 
geführt, wohin Eure Väter, ald fie den Erdkreis beherrichten, 
niemal3 den Fuß geſetzt haben, damit ich Euren Namen und 
Ruhm bis zu den Grenzen ded Erdkreiſes verbreite; Euch 
habe ich zu Söhnen angenommen, Euch Allen vorgezogen; um 
&uretwillen, weil ih Euch vor Allen den Vorrang gab, babe 
ih Aller Neid und Hab gegen mic) aufgeregt. Und nun für 
alles died habt Shr Euren Vater verworfen, meine Freunde 
graufam umgebracht, mich felbft auögefchloffen, mich, den Ihr 
doch nicht ausſchließen konntet; denn. mit väterlidher Liebe um⸗ 
faffe ih Euch, und niemald dulde ich, daß Ihr aus meinem 
Herzen verbannt jeid. Ich kenne wohl die Anftifter der Empö- 
rung und bezeichne fie mit meinen Augen. Daß aber auch 
meine Getreuften, deren Unfchuld mein Stolz tft, durch die 
Beimiſchung der Lafterhaften befledt werden fünnen, das vermag 
ich nicht zu fallen.” Jene, durch die Worte des Kaijerd ges 
rührt, verfprachen Genugthuung, ergreifen zwei, die fie graufam 
zerichlagen, nadt bei den Beinen über die Stufen fchleifen und 
halbtodt im Thurme dem Kaifer vor die Füße werfen. Papft 


und Kaijer zogen gleid) darauf unter unendlichen Thränen der 
(838) 





85 


Bürger aus der Stadt und fchlugen nicht weit von diefer ein 
Lager auf. Doc kaum hatte Otto den Rüden gewandt, um 
einen Aufruhr in Unter-Stalten zu dämpfen, jo erhob fidh das 
Bolf wieder von neuem. So die Erzählung von Zanfmar, fo 
dad Benehmen der Römer gegen ihren Kaiſer. Er mochte mun 
fühlen, auf wie fchledhtem Grunde fein phantaftiiches Gebäude 
aufgeführt fei.. Welch eine Turzfichtige Verblendung zu hoffen, 
auf foldy einem Material einen geficherten Thron errichten zu 
Tönnen. Zu Paterno am Berg Soralte ſchlug Otto fein Lager 
auf, um eine regelrechte Belagerung Roms durchzuführen. Cr 
freute fi) ded Zuzugs von Gewappneten, welche der Erzbiſchof 
Heriberdt von Köln zuführte. Doc auch widerwärtige Nach« 
richten von feindjeligen Bewegungen unter dentſchen Fürften 
beunrubigten ihn. Bald war er mit militäriichen Dingen, bald 
mit geiftlichen Übungen beichäftigt, die er immer mehr verftärkte. 
Eine ganze Bode lang faftete er, und dieſe ſelbſt auferlegten 
Entfagungen ſchwächten den Körper, der zugleih von Gemüth- 
aufregungen verzehrt war. Schon war er ein gebrochener Mann; 
es ftellte fih ein hitziges Fieber ein, das anfang für unbeben- 
tend geachtet, plötzlich einen heftigen Charakter annahm, und am 
23. Januar des Jahres 1002 verſchied der Kaiſer im 22. Jahre 
ſeines Lebens. Es ging eine Rede, die nicht unglaublich er» 
icheint, nur noch die Römer habe er unterwerfen und züchtigen 
wollen, dann jei es feine Abficht gewejen, der Welt zu entjagen 
und ind Klofter zu geben. Aufrichtig mag die Trauer in feiner 
dentichen Umgebung gewejen fein, doch die Römer wanden feinem 
Sarge feine Kränze; die Verfolgung, womit fie noch den kaiſer⸗ 
lichen Leichenfonbuft behelligten, war vielmehr eine Dornenfrone 
des bitterften Hafles, die fie darauf legten. Die trauernden 
Schaaren des deutichen Heered geleiteten Die Leiche des Herricherd 
und hatten fieben Tage nad) einander unaufhörliche Angriffe zu 
beftehen, die Feinde ließen-ihnen durchaus Teine Ruhe, bis fie 


nad Verona famen. An der deutfchen Grenze empfing fie ber 
(839) 





36 


Herzog Heinrich von Bayern, der nächfte Verwandte bes Töniglichen 
Haufes, um die Leiche nady Aachen zu überführen. Dort wurde 
diefelbe unter allgemeinem Leidwejen des herbeigeitrömten Volles 
im Chor ded Domes beigefebt, unfern der Stätte, wo Karl der 
Große die Ruhe gefunden. Dad goldene Kreuz von ber Leiche 
Karl’8 hatte dem jungen Kaifer fein Heil-gebracht. Ein unreifer 
Jüngling hatte mit Kreuz und Krone geipielt, doch der Ernſt 
der Geſchichte zeritörte unbarnıherzig die phantaftifche Illufion. 

Die wenigen Negierungsjahre Otto's III. bezeichnen fein 
Ruhmesblatt in der deutfchen Gejchichte, wie er jelbft es fich 
erhofft hatte. Man kann vielleicht bedauern, daß den einft fo 
fräftigen und jugendfriichen Kaifer jene geiftliche Richtung jo 
ganz eingenommen und ihm das innere Gleichgewicht geraubt 
bat. Aber es tft nicht wahrjcheinlich, dab eine längere Regie- 
rung dem Reihe Segen gebradht hätte. Die ganz unge 
ſchichtliche Auffaffunggvon Kaiſerthum und die Entfremdung von 
der deutlichen Nationalität mußten früher oder fpäter traurige 
Folgen nach ſich ziehen. War ed doch zu arg, daß ein deuticher 
König, Sachſe von Geburt, fich der ſächſiſchen Rohheit ſchämte, 
gleich als ob Deutſchland von Italien erobert und einem frem⸗ 
den Herrſcher dienſtbar geworden ſei. Das deutſche National⸗ 
gefühl war ſchon zu ſehr erſtarkt, um ſolches zu ertragen. Be⸗ 
reits war lein großer Theil der Herzöge und Grafen in eine 
Verſchwörung verwickelt. Selbſt die Biſchöfe, denen die hierar⸗ 
chiſchen Beſtrebungen Gerbert's keineswegs gefallen wollten, 
waren bereit, ſich ihnen anzuſchließen. Es fehlte nicht viel, daß, 
was die erſten beiden Ottone mit ficherer Hand gebaut hatten, 
in wenigen Jahren von dem dritten, dem begabten und hoff⸗ 
nungsreichen Jüngling, dem Wunder der Welt zerſtört ward. 
Dennoch nimmt er mit Recht unfer wärmfted Intereſſe in Ans 
ſpruch. Seine Regierung bezeichnet den Übergangspunft zu 
einer neuen Entwidlung der Dinge. Er ſteht gewiſſermaßen 


am Ende der Periode, die man im weiteften Sinne die Karos 
(840) 


_ 


lingiſche nennen könnte, infofern ihm wie feinen Vorfahren das 
erbabene Bild des großen Karl ald Mufter und Ideal vor- 
ichwebte, der die weltlichen und geiftlichen Intereſſen mit gleichem 
Nachdruck vertrat. Nach Dtto begann diefe firenge Einheit ſich 
zu löfen, die Grundlagen zu felbftändigen Bildungen im fiaat- 
lichen und Firchlichen Gebiet wurden gerade unter ihm gelegt 
und der Streit der Ideen, dem er erlag, war mehr ald ein 
pſychologiſches Phänomen, er war ein Boripiel des groben 
Kampfes, den bie allmählich fich emancipierende geiftliche Gewalt 
gegen die weltliche eröffnete und welcher mit feinen Erſchütterungen 
bie biöherige Weltordnung aus ihren Fugen verrüdt hat. 
Papft Sylvefter II. folgte feinem früh bingefchiedenen Zög- 
ing ſchon ein Jahr fpäter im Tode nad. Die Figur Gerbertd 
an ber Wende des Jahrhunderts tft gleichfalld hochbedeutſam, 
nicht fowohl dur das, was er audgerichtet hat, als was er 
erftrebte. Wie Mofed in das gelobte Land fchaute, jo erblidte 
er im Geiſte vor ſich dad Reich der geiftlidhen MWeltherrichaft, 
dad zu betreten ihm felbft nicht beichieden war. Doch das 
Jahrhundert 1000-1100 fah das beitändige Wachsthum der 
firdhlichen Idee, die wie eine mächtige Strömung im Laufe der 
Zeit immer zunahm und ihren Kulmtmationspuntt in den Kreuz⸗ 
zügen erreichte. Was die chiliaftifche Vorftelung am Ende des 
10. Sahrhundertö, dad und nody mehr bedeutete die Bewegung der 
Kreuzzüge am Ende des 11. Gerbert fah fie prophetiich voraus. 
Sein Blid war ſchon auf das heilige Land gerichtet, und bie 
Nothwendigkeit eined Kreuzzuges ſprach er mit Sicherheit auß. 
Noch hielten fih Papſtthum und Kaiſerthum das Gleichgewicht 
und gingen befreundet zujammen, bald follte die Schale zu 
Sunften Roms erſt langfam, dann jchneller fich jenfen; doch 
das Kaiſerthum, welches Dtto III. zum Gipfelpunft der Volls 
endung zu führen und mit dem Glanz der antiken Cäfarenmacht 
zu umgeben gedadte, es wurde auf der Wage ded Schidjald 


gewogen und zu leicht erfunden. 
(841) 


38 


Die Geftalt Kaiſer Otto's LIT. ift nicht ohne poetifchen Reiz, 
wie man auch aus der vorftehenden Skizze hoffentlich wird her⸗ 
auögefunden haben. Die Geſtaltungskraft der modernen Did 
tung, welche auch in dem harten Gejtein der Gejchichte den Gold» 
adern der Poefie nachzugehen liebt, hat denn auch dieſen Stoff 

nicht unbenupt gelaffen. Ein lyriſcher Dichter, welcher in feinem 
inneren Wejen wie in ber äußeren Geftaltung jeined Geſchicks 
mit Kaifer Dtto felber manchen Zug gemein bat,! den eine 
leidenfchaftliche Kiebe für Italien aus der nordiichen Heimath in 
den fernen Süden getrieben hat, wo er mit ganzer Seele an den 
Dentmalen und Ueberlieferungen der Vergangenheit hing, wo er 
die Roſe bejang die dem Lenz nie wieder gelungene Roſe von 
Paeſtum, und doch gelegentlich wieder den Erinnerungen au Die 
altgermanifche Vergangenheit nachhing, „urdeutjcher Vorzeit gern 
gebenf”, der unausdgejegt bemüht war, den eigenen Werfen dad 
Ebenmaß der Antike aufzudrüden, ohne doch die Ipröde nordiſche 
Natur ganz verleugnen zu können, und der endlich in der fremden 
Melt, die ihm zur eigenften Heimat geworden war, einen vor- 
zeitigen Tod und ein einfames Grab am Siciliend Küfte ger 
funden bat: Graf PateneHalermünde hat dem Andenken Kaijer 
Ottos III. eind feiner hiſtoriſchen Gedichte gewidmet, einen 
Belang, den er dem Sterbenden in den Mund legt, ald weh: 
mütige Klage über ein früh verwelftes, fruchtlos verlaufenes 

Leben. Diefe Dde, mag fie aud befannt genug fein, möge 
bier als ein paflendes Stimmungsbild am Schluß unjerer Dar» 
ftelung einen Platz finden. Der Dichtung Hand hat einen 
Kranz auf dad Grab eines Fürften gelegt, dem die Geſchichte 
den Kranz des Ruhms, wonady er fo begierig gerungen, miß- 
günftig verjagt hat. 


D Erde, nimm den Müden, 
Den Lebensmüden auf, 
Der bier im fernen Süden 
Beſchließt den Pilgerlauf! 


(842) 


39 





Schon ſteh' ih an der Grenze, 
Die Leib und Seele theilt, 
Und meine zwanzig Lenze 
Sind raſch dahin geeilt. 


Boll unerfüllter Träume, 
Berwaift, in Gram verfentt, 
Entfallen mir die Zäume, 
Die dieſes Reich gelentt. 
Ein Andrer mag es zügeln, 
Mit Händen minder jchlaff, 
Bon diejen fieben Hügeln 
Bis an des Nordens Haff. 


Doch jelbft im Seelenreidye 
Harrt meiner noch die Schmadh, 
Es folgt der blafjen Leiche 
Begang'ner Frevel nach! 
Bergebens mit Gebeten 
Beihwör ich biefen Bann, 

Und mir entgegen treten 
Srescentius und Johann! 


Doc nein! Die Stolzen beugte 
Mein reuemütig Fleh'n; 
Ihn, welcher mich erzeugte, 
Ihn werd’ ich wieberjeh'n! 
Nach weldhem ich als Knabe 
So oft vergebens frug! 
An ſeinem frühen Grabe 
Hab' ich geweint genug. 


Des deutſchen Volks Berather 

Umwandeln Gottes Thron; 

Mir winkt ber Aeltervater 

Mit feinem großen Sohn. 

Und während, voll von Mile, 
Die frommen Hände legt 

Mir auf das Haupt Mathilde, 
Steht Heinrich tiefbewegt. 

(648) 


40 


Nun fühl ich erſt, wie eitel 
Des Glücks Geſchenke find 
Wiewohl id auf dem Scheitel 
Schon Kronen trug ale Kind! 
Was je mir fchien gewichtig, 
Zerftiebt wie ein Atow: 

D Welt, du bift jo nichtig, 
Du bift jo klein, o Rom! 


D Rom, wo meine Blüthen 
Verwelkt wie bürres Laub, 
Dir ziemt es nicht, zu hüten 
Den kaiſerlichen Staub! 

Die mir die Treue brachen, 
Zerbrechen mein Gebein: 
Beim großen Karl in Aachen 
Will ich beftattet fein. 


Die echten Palmen wehen 
Nur dort um fein Panier: 
Ihn hab’ ich Tiegen ſehen 
Sn feiner Kaiferzier. 

Was durfte mich verführen, 
Zu Öffnen feinen Sarg? 
Den Lorbeer anzurühren, 
Der feine Schläfe barg? 


O Sreunbe, laßt das Klagen, 
Mir aber gebt Entſatz, 
Und macht tem Leichenwagen 
Mit euren Waffen Plag! 
Dededt das Grab mit Rofen, 
Das ich fo früh gewann, 
Und legt den thatenlofjen 
Zum thatenreichften Mann! 


— ame 


J Oruck von Gebr. Unger in Berlin, « Schönebergerftr. 17a. 


Nichter (Halle a. S.), Wahrheit und Dichtung in Platon’s Leben. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Diderot's. 

Diercks (Madrid), Ueber die arabiihe Kultur im mittelalterlihen Spanien. 
Maaf (Dresden), Das dentihe Märchen. Literariihe Studie. 


Einladung zum Abonnement! 
Deutſche 


AN Hlreif 2 


® N Kennini 
R N “ Ni Ge, 7, 
gr In Verbindung mit x 7 
Prof. Dr. v. Aluckhohn, Redacteur A, Lammers, 
Prof. Dr. 3.8. Meyer und Prof. Dr. Raul Schmidt 


herausgegeben von 


Stanz non Holkendorff. 





Neue Folge. Erfier Jahrgang. 


(Heft 1— 16 umfaffend.) 
DI Im Abonement jedes Heft nur 75 Pfennige. 


In diefem erften Jahrgange der neuen Folge werden vorbehaltlich etwaiger 
Abänderungen im Einzelnen folgende Beiträge erſcheinen: 


Eberty (Berlin), Der Lebendmittelmarft und die Hauswirthſchaft. 

Solzmäller (Hagen), Erriähtet lateinloſe Schulen. 

Key (Hagenau 1. E.), Ueber den Einfluß des Waldes auf dad Klima. 

Öftermeyer (Memel), Harmoniren Bollsmoral und Strafgejeg? 

Ahrens (Kiel), Die Reform des Kunftgewerbes in threm geſchichtlichen Ent: 
widelungdgange von dem XIII. bis zum XVII. Sahrhundert. 

Natel (Münden), Die praktiſche Bedeutung der Handels⸗Geographie. 

Solgendorff (Münden), Staatdmoral und Privatmoral. 

Orelli (Zürich), Der internationale Schuß des Urheberrechts. 

Siewert (Kiel), Die Lage unferer Seeleute. 





Dieyer (Bonn), Ueber ben Religions-Unterriht in der Schule. 

Paul (Halberftadt), Ueber Die Zukunft unfere® Handels. 

Kradolfer (Bremen), Die Macht der Phrafe. 

Diercks (Madrid), Ueber den ſpaniſchen Nationalcharakter in feiner Verwandtſchaft 
und Verſchiedenheit verglichen mit dem der anderen Roman. Nationen. 

Brückner (Berlin), Entftehung der Evangelien. 

Weitz (Adelöheim), Die Wirkungen der Gleichheitsidee und der Lehre vom Ber: 
tragsftaat auf das moderne Staatäleben. 

Laas (Straßburg i. E.), Sdealiftifhe und pofitiviftiihe Ethik. 


Mit diefen beiden Sammelwerten, welde ſich gegenfeitig er- 
gänzen (denn Borträge und Abhandlungen, welde von der „ Sammlung” au: 
geihloffen find, bilden bei den „Zeitfragen” dad Hauptmotiv), därfte eine biäher 
tief empfundene Lücke wirklich ausgefüllt werden. 


Die Sammlung bietet einem Jeden die Möglichkeit, fich über die verjchiedenften 
Gegenftände des Wiſſens Aufllärung zu verichaffen und ift auch wiederum fo recht 
geeignet, den Samilten, Vereinen ac. dur Borlefung und Beiprechung des Ge⸗ 
lefenen reichen Stoff zu angenehmer und zugleich bildender Unterhaltung zu Itefern. 
Sn derielben werden alle befonders hervortretenden wiflenichaftlichen Sntereflen unjerer 
Zeit berkdfichtigt, ald: Biographien berühmter Männer, Schilderungen 
großer biftorifher Ereigniſſe, volkswirthſchaftliche Abhandlungen, 
kulturgeſchichtliche Gemälde, phyſikaliſche, aſtronomiſche, chemifſche. 
bvotaniſche, zoologiſche, phyſiologiſche, arzneiwiſſenſchaftliche Bor 
träge: und erforderlichen Falls durch Abbildungen erläutert. Rein politiſche 
und kirchliche Partei-Fragen der Gegenwart bleiben ausgeſchlofſen (ſ. Zeitfragen). 


Die Zeitfragen find ganz beſonders dazu angethan, die, die Gegenwart beſon⸗ 
ders berührenden Snterefien in einer den Tag Überdauernden Form uns in allgemein 
verftändlicher Weife vor Augen zu führen und geben fomit ®elegenheit, ſich über bie 
brennendften Tagesfragen ein erjchöpfendes Verſtändniß zu verihaffen. Dieſelben 
nehmen ih Die großen Angelegenheiten der Gegenmart, bie Streit: 
fragen der Schule und des Unterrichtsweſens, der Arbeiterbewegung, 
der Kirche, der Literatur und Kunft, ded Staated und der and: 
wärtigen Politik zc, 2c. zum Gegenftande ihrer Betrachtung. 


Verzeichnifſſe der bisher erjchienenen Hefte der Sammlung 
und Zeitfragen 

1. Nach Serien und Kahrgängen geordnet, 

2. Nach Wiſſenſchaften geordnet 
find durch jede Buchhandlung gratis zu beziehen, welche auch Be— 
ftellungen und Abonnements auf die. Nene Folge 1. Jahr⸗ 
gang annehmen. 


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Sammlung 
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wiffenfhaftliher Vorträge, 


beranögegeben von 


Aud. Virchow und Zr. von Solgendorff. 
XX Serie: N 


(Deft 457 — 480 infaften.) = 0090 
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Heft AI-__: 


Die Glarialbildungen 
der norddeutſchen Tiefebene. 


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Prof. Dr. Dames 
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Berlin SW., 1886. 


Berlag von Carl Habel, 


(©. 8. Lüderity'sche Deriagsbughandiung.) 
33. Wilhelm Straße 83. 


CE D 
BB CS wird gebeten, die anderen Seiten des Umſchlages zu beachten. WW Diejelben 
enthalten dad Programm der Neuen Kolge, Erfter Jahrgang (1886) der Sammlung, 
ſowie das der Neuen Bolge, Erfter Jahrgang (1886) der Zeitsfragen. Genaue Inhalts: 
Berzeichniffe der früheren Hefte, nad „Serien und Jahrgängen” und nad) „ Wiſſen⸗ 
ſchaften“ geordnet, find durch jede Buchhandlung gratis zu beziehen. 





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Die Jury der „Internationalen Ausſtellung 

\ von Gegenftänden fürden häuslichen und 

A jewerblichen Bedarf zu Amiterdam 1869* 45 

; bat diefen Vorträgen die ' 

Goldene Medaille 
zuerfannt. 











Mit dem Iahrgang 1886 beginnt die 


Sanmlung gemeinverjtändlicher 
wiffenfhaftlider Borfräge, 


berausgegeben von 


Rud. Birdom und Sr, v. Holtzendorff. 
eine 
DE MDeue Folge Erſter IYahrgang. “BE 


(Heft 1—24 umfafjenb.) 
DB Im Mbonnement jedes Heft nur 50 Pfennige. ug 


In diefem erften Jahrgange der neuen Folge werden, vorbehaltlih etwa 
notbwendiger Abänderungen ericheinen: 


Koch (Berlin), Weber die Methoden der modernen Bakterienforſchung. 

Bauer (iſenach), Peter Viſcher und das alte Nürnberg. 

Schafft (Gera), Ueber das Vorherſagen von Naturericheinungen. 

Dannehl (Sangerbaufen), Victor Hugo. Literariſches Porträt mit Berkdlfihtigung 
der Rehrjahre des Dichters. 

Buchheifter (Hamburg), Eine wiſſenſchaftliche Alpenreife im Winter 1832. 

Goetz (Waldenburg bei Bajel), Altnordifches Kleinleben und die Renaiffance. 

Baumeifter (Karlsruhe), Die techniſchen Hochſchulen. 

Semler (Dresden), Goethe's Wahlverwandtichaften und die ſittliche Weltanfchanung 
des Dichters. ’ 

Schmidt (Hildesheim), Die Photographie, ihre Geſchichte und Entwidelung. 

Bruchmann (Berlin), Wilheim von Humboldt. 

Patzig (Hannover), Ueber Staatswirthſchaft in dem altorientaliihen Staaten. 

Ginzel (Wien), Ucber Veränderungen und Ummwälzungen im Reidy der Birfterne. 

Mandl (Wien), Das Sklavenrecht des alten Teftamentes. 

Gad (Berlin), Körperwärme und Klima. 

Votſch (Sera), Cajus Marius als Neformator des römijchen Heerweſens. 

Neuhaus (Berlin), Die Hawati«Znfeln. 

Koch (Diarbura), Gottſched und die Reform der deutichen Kiteratur im achtzehnten 
Sabrhundert. 

Frauenftädt (Breslau), Die Todſchlagſühne des dentſchen Mittelalters. 

Preuß (Berlin), Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten. 

(Bortjeßung auf Seite 3.) 


0) 


Die Glarialbildungen 


der 


noronentfchen Tiefebene, 


. 142 
W. Aumes. 


Gh 





— — — — — 


U 
Kerlin SW., 1886. 


Verlag von Carl Habel, 


(C. 8. Lüderity'se ae ndlung.) 
33. Wihelm-E traß 


Das Recht der Meberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Nie geologifchen Verhältniffe der norddeutſchen Tiefebene 
find ſchon vor 15 Jahren einmal in dieſer Sammlung von Bors 
trägen (Heft 111) durch Juſtus Roth, dargeitellt worden. Aber 
gerade in die jeitdem verflofjene Zeit fällt ein fo Durchgreifender 
Umfhwung in der Anfhauung über die Entftehung der die 
Oberfläche dieſes Gebietes zuſammenſetzenden Ablagerungen, 
daß eine erneute Bejprehung jchon um diefen Umſchwung zu 
fennzeichnen nicht der Rechtfertigung bedarf, ſodann aber 
auch, weil durch die jetzt herrichende Auſicht ein Einklang mit 
derjenigen über gleiche Gebiete anderer Länder, wie England, 
Scandinavien, Rußland u. a., erreicht worden ift, der im 
Sabre 1870 noch völlig fehlte. 

Damals herrſchte im der Geologie die von Charles Lyell 
zur Erklärung der ſog. Diluvialablagerungen aufgeftellte Drift 
theorie. Nach ihr hat man fich ein großes Dilupialmeer, das 
bis an den Nordabfall der mitteldeutichen Gebirge (Teutoburger 
Wald, Harz, Laufitzer Gebirge, Sudeten ıc.) beranreichte, vor⸗ 
geitellt und dazu im Norden ein von einer Eiscalotte bedecktes 
Scaudinavien und Finland, defjen Eismaſſen ſich in diefes 
Meer berabjenften, abbracdhen („falbten”), dann in Geftalt von 
@iöbergen nach Süden ſchwammen und dort beim Stranden 
und Schmelzen den Gefteindichutt, mit welchem fie fidy in der 
Heimath beladen hatten, fallen ließen. Aus diefem Schutt 
folten dann die geſammten Mafjen, weldye Die norbdeutiche 
Tiefebene bededen, gebildet ſein, gleichgültig, ob ſie aus Lehmen, 


XX. 479. 1* (847) 


4 


Sanden oder Thonen beftehen, gleichgültig, ob fie geichichtet, 
ob ungeſchichtet find, gleichgültig, ob fie größere Felsblöcke 
enthalten oder niit. — Zur Stübe diefer Drifttheorie wurde 
die Thatfache angeführt, daB auch heute noch jchwimmende, 
mit Gefteindblöden beladene Eidberge beim Abjchmelzen ihren 
Schutt in's Meer fallen laſſen, reip. ihn beim Stranden an 
Küften ablagern, wie das z. B. an der Küfte von New-Found⸗ 
land und an ber von Chftland bin und wieder beobachtet if. 
Es ift hierbei jedoch völlig überfehen worden, daB dieje That- 
ſache nur eine Erjcheinung unferer Diluvialablagerungen erflären 
würde, nämlich das Vorkommen von Blöden, weldye den im 
Norden vorhandenen Felſen entitammen, fonft aber fein Glied 
in der langen Kette von Räthfeln, welche die Erforfhung unferer 
Ablagerungen zu Idjen fi müht. — Daß die Drifttheorie un- 
fähig ift, Die Entftehung des Gejchiebemergeld, der gefrißten 
Dberfläcdhen von FZeljen und von Geſchieben und auch jogar bie 
Art des Transported von Geſchieben gewiffer Größe zu erflären, 
ift geiftvoll von Pend!) dargethan. Zwar jchon von Nehring ?) 
audgejprochen, aber noch nicht genügend betont ift ein weiterer 
Einwurf, mweldyer die Unhaltbarkeit der Drifttbeorie für ſich 
allein darthut. Diefelbe febt wie erwähnt, ein Diluvtalmeer 
voraud. Nun beherbergen aber unſere Ablagerungen, abs 
gejehen von einzelnen räumlich befchräntten Gebieten in ber 
Nähe der heutigen Dftjeefüften und von einigen aus biejen 
nad) Süden trandportirten Meeredconchylien, von denen weiter. 
bin die Rede fein wird, auf der ungleidy größeren horizontalen 
Ausdehnung ganz audfchlieglicd, Refte von Thieren und Pflanzen, 
weldye das Land oder die jüßen Gemwäfler bewohnen uud audy 
bort nicht fehlen, wo die vereinzelten Meeresconchylien ſich 
fanden. Wenn ein Geolog aber Ablagerungen einer anderen, 


älteren Formation, melde lediglih Land und Süßwaſſer⸗ 
(848) 





5 


Fannen oder »Floren führt, als Abſätze eines Meered in An⸗ 
ſpruch nehmen wollte, jo würde man das faum für Craft 
halten. Sn der Diluvialfrage aber ließ dad Anjehen Lyell’s, die 
Sleichgültigkeit, welche nur zu lange dem Studium der an« 
fcheinend fo uninterefjanten Sand- und Xehmablagerungen des 
„aufgeſchwemmten Gebirged" entgegenftand, und endlih die 
Schwierigleit des zu löjenden Problems eine geologiſche Uns 
geheuerlichfeit Sahrzehnte lang ald Dogma beftehen, und auch 
heute noch fehlen Anhänger derfelben nicht ganz. Zwar tft das 
MWiderfinnige der Drifttheorie auch von vielen unſerer nords 
deutſchen Geologen empfunden, aber die verjchiedenen Erflärungs« 
verjuche, welche von Berendt, Credner, Kunth, Roth u. 2. 
früher geäußert find, zeigen ſowohl durch ihre Zahl, wie nament⸗ 
lich dur ihren Mangel an Uebereinftimmung, dab die Grund- 
anichauung über dad, was man erklären wollte, geändert werden 
mußte. 

Sp ift e8 denn nicht zu verwundern, daß ed nur eines 
leifen Anftoße8 bedurfte, um eine zuerft geringe Minorität, 
fchnell aber dann die überwiegende Majorität der norddeutichen 
Geologen und zwar gerade derjenigen, denen in erjter Reihe die 
Erforſchung der norddeutſchen Xiefebene obliegt, von dem Banne 
der Drifttheorie zu befreien; und diefen Anftob gegeben zu 
haben, ift dad Verdienft Otto Torell’8, des ſchwediſchen Forſchers, 
dem hierfür auch namentlich feitend der nordbeutichen Geologen 
reger und bleibender Dank zu zollen iſt. Bekannt zunächft mit 
den einichlägigen Erjcheinungen feiner engeren Heimath und durch 
zahlreiche Reifen in Grönland, Idland, Nordamerika auch mit 
den gleichen Verhältnifjen anderer Gebiete, jowie durch eigene 
Anſchauung ebenfo vertraut mit dem Wefen und dem Wirken 
andgedehnter, große Ländermaſſen bededender Vereiſungen (Ins 
landeid), ſowie flußähnlich in Thälern fi) vom Hochgebirg herab⸗ 


(849) 


6 


bewegender Eismaſſen (Gletſcher), unterfuchte er auch unſere nord» 
deutiche Tiefebene und ſprach in der Sitzung der deutſchen geolo- 
gtichen Gefellihaft am 3. November 1875 aus?), „daß fich eine 
Bergleticherung Ecandinaviend und Finlands bis über das nord» 
deutjche und nordruffiiche Flachland erftredt babe!. — Trotzdem 
nun von vielen und gewichtigen Seiten gegen die Einführung 
diejer Theorie energijcher Widerſpruch erhoben wurde, fo. hat 
doch die Leichtigfeit, mit welcher fie bisher unenträthfelbare Bes 
obachtungen erflärt, dann die Erfenntniß, die fich auch nord⸗ 
dentiche Geologen durch Beſuche Scandinaviend verſchafften, daß 
die dortigen Gebilde, an deren glacialem Urſprung nod nie 
gezweifelt worden ift, mit den unfrigen vollfommen ident find, 
und Die daran gefnüpfte Ueberlegung, daß ed hieße, der Geologie 
dad Recht abzufprechen, aus den Vergleich und der Combina» 
tion tbatfächlicher Beobachtungen ihre Schlüſſe ziehen zu dürfen, 
den Widerfpruch faft überall verftummen und eimer rührigen 
Arbeit Plab gemacht, welche fich beftrebt, auf Grund der neu 
gewonnenen Gefichtspunkte die Thatjachen, die man als ſolche 
ja längft kannte, zu erflären und immer weiter unfere Kenntniß 
bed heimiſchen Bodens durch forafältigen Vergleich mit dem in 
anderen Glacialgebieten Erlannten zu fördern. Den richtigen 
Weg zu finden, war und nicht vergönnt; nun Torell ihn aber 
gewiejen Hat, ift er fchnell und emfig betreten und verfolgt 
worden, und zu welchen Ergebniflen das geführt bat, foll bier in 
den allgemeinften Zügen bdargeftellt werden. 

Nur fei vorerft noch — ohne Torell's Verdienſt jchmälern 
zu wollen — eines deutjchen Forfcherd gedacht, welcher jchon 
vor 53 Jahren die jetzt herrfchende Theorie zur Erläuterung ber 
in Frage kommenden Bildungen ausgeſprochen hat. A. Bern- 
bardi, weiland Profeffor au der Forftalademie zu Dreiffigader, 
jehreibt 1832 4) in einem kurzen Auflag: „Wie kamen die aus 


(850) 


7 


dem Norden ftammenben Beldbruhftüde und Geſchiebe, welche 
man in Norddeuffhland und Ben benachbarten Ländern findet, 
am ihre gegenwärtigen Fundorte?“ folgendes: „Vollftändiger 
als Durch die bis jeßt zur Kennmiß des Berfaflerd gelangten 
Hypotheſen däucht ihm jene Erſcheinung erklärt gu werden durch 
Die Amahme, dab emft dad Polareis bis am die ſüdlichſte 
Grenze des Landitriches reichte, welcher jebt von jenen Yeld- 
tremmern bedeckt wird, daß diefes, im Laufe von Jahrtauſenden, 
allmählich zu feiner jetzigen Ausdehmmg zuſammenſchmolz, daß 
alfo jene nordifchen Geſchiebe verglichen werden müffen mit bem 
Wällen von Felsbruchſtücken, die fat jeden Gletſcher in bald 
größerer, bald geringerer Entfernung umgaben, oder mit anderen 
Morten nichtd anderes find, ald die Moränen, welche jened un« 
geheure Eismeer bei jeinem allmählichen Zurüdziehen hinter- 
ließ". — Klarer und einfacher läßt fich diefe jegt Inlandeis⸗ 
theorie (häufig audy, obwohl weniger präcid, Bletichertheorie 
ober Eiöthenrie) genannte Anſchauung nicht ausſprechen. Gleiche 
wohl iſt fie lange unbeadhtet geblieben und erſt vor wenigen 
Sahren vom Verfaſſer gewiſſermaßen wieder entdeckt. Weshalb 
fie unbeachtet blieb, ob fie ihrer Zeit zu weit vorausgeeilt war, 
oder ob ein Machtwort der damals in der Geologie dominirenden 
Kreije der Grund war, ifl unbefannt. Hier find Bernhardi’d 
Worte wiederhott ſowohl aus Pietät für den beicheidenen deut» 
ſchen Forſcher, als auch, weil ihre Klarheit und Kürze am zwed» 
mäßigften den Audgemgspunft für die weiteren Anßeinander 
ſetzungen bilden wird. 

Nachdem durch A. Braun und Kjerulf auch in diefer Samm⸗ 
lung von Borträgen (Hefte 94 und 298, 294) das Weſen, die 
Wirkung und die Ausdehnung ber Giömaflen, mit welchen ganz 
Nordeuropa zur „Eiszeit“ bededt war, beiprochen worden find, 


bedarf e8 hier faum des Hinweiſes darauf, daß die glacialen 
(851) 


8 


Bildungen (wie wir von nun ab die bisher ald „Diluvtalab- 
lagerungen” befannten Abſätze bezeichnen werden) in der nord» 
deutichen Tiefebene nur einen Heinen Theil eined räumlich bes 
deutend ausgedehnteren Gebietes darftellen, das fich fat durch 
ganz Mitteleuropa erftrecit (vergl. die Karte zu dem erwähnten 
Bortrag von Kjerulf). Nach Norden find die Grenzen durch 
Norde und Dftjee, nad Süden durch die mitteldeutichen Ge 
birge gegeben, nah Weften und Oſten aber find fie künſtliche 
Schnitte, die wir hier mit der Landeögrenze zufammenfallen 
laſſen, trotzdem fie fih nach Weften über Holland und einen 
Theil von Belgien ebenjo ununterbrodhen wie nach Often über 
die ruſſiſchen DOftjeeprovinzen und Polen tief in das centrale 
Rußland hinein fortießen. — Hier muß eben die Grenze fünfte 
lich gelegt werben, will man nur einen Theil des Gebietes in 
Betracht ziehen. 

Es wird fih nun zunächſt darum handeln, diejenigen Er⸗ 
ſcheinungen Tennen zu lernen, welde der Inlandeistheorie ald 
Stüße dienen. Naturgemäß wird man zu diefem Behuf nad 
einer Gliederung, einer Eintheilung ſuchen, um von ihr auß 
gehend die Art des Entſtehens der einzelnen Theile ded Ganzen 
verjteben zu lernen. Iſt die Snlandeistheorie zu Recht beftehend, 
jo muß fie alle Erfcheinungen erklären, welche durch eine große 
Naturericheinung hervorgerufen find, die in dem Umfange ihrer 
größten Verbreitung nicht ftetö vorhanden war, jondern langiam 
an Ausdehnung gewann, eine Zeitlang, bid nuf eine bedeutende 
Unterbrehung, auf dem Marimum ihrer Entwidlung verharrte, 
und dann allmählich wieder auf den ihr jegl angewiejenen Raum 
im hoͤchſten Norden zurückging. — So gelangt man zu einer 
Theilung unferer Glacialablagerungen in folgende Abjchnitte: 

1. Praeglactalzeit. 


2.. Zeit der erften Eiöbededung. 
(853) 


9 


3. Interglacialzeit. 
4. Zeit der zweiten Eisbedeckung. 
5. Zeit des abjchmelzenden Eijes. 

Freilich beſtehen zwilchen diefen Phafen der Glacialzeit 
feine ſcharfen Grenzen, fie gehen naturgemäß in einander über, 
da fie ja nur Theile eines zufammenhängenden Ganzen find; 
und ed wird fi) auch in einzelnen Fällen ſchwer, wenn übers 
haupt je, enticheiden laffen, ob dieſe oder jene Bildung praes 
oder interglacial if. Aber für die meiſten Bildungen iſt die 
Einrubrictrung unter die genannten Abtheilungen ſchon heute 
tbunlid, wenn auch bei der Kürze der Zeit, welche in Nord⸗ 
deutſchland der Erforſchung der Glacialablagerungen unter Zus 
grumdelegung der Sulandeistheorie gewidmet ift, der Entwurf 
einer lüdenlofen Darftelung noch zur Unmöglichkeit gehört. 


1, Praeglacialzeit. 


Diejenige Formation, welche in Norbdeutichland faft überall 
bie Unterlage der Glacialablagerungen bildet, ift das Tertiär, und 
zwar von dieſem, wenn wir — wie jebt wohl allgemein geichieht — 
eine Biertheilung beffelben in Eocän, Dligocän, Miocän und 
Pliocan annehmen, nur dad untere und mittlere Zertiär: das 
Pliocän fehlt völlig, Es ſchien nun bis vor Kurzem, daß die 
Blacialablagerungen ohne vorhergegangene Mebergangäzeit direkt 
auf den verfchiedenen Gliedern des Zertiär abgelagert worden 
wären, jo daß fich zuvor Feine neue Fauna oder Flora hätte 
entwideln fönnen; und meiftend ift dem auch in der That fo. 

Aber in neuefter Zeit ift zuerft durch Keilbad und dann 
durch Wahnichaffe 5) der interefjante Nachweis geliefert, dab in 
Norddentichland in den tiefften Schichten des „Diluviums“ fid) 
Süßmwafferablagerungen finden, welchen ein praeglacialed Alter 
zuzufchreiben if. Solche Punkte bat Keilbad bei Belzig an 


(858) 











10 


der Berlin-Dresdener Bahn, bei Goͤrtzke, einem Städtchen in 
der Provinz Sachen, aber nahe der Grenze der Marl, bei 
Uelzen, bei Korbiötrug umweit Königs-Wufterhanfen, bei Bienen- 
walde wehlich von Rheinsberg und bet Oberohe bei Soltau in 
der Lüneburger Haide theild felbft aufgefunden, theils nach ver⸗ 
bandenen Beobachtungen in ihrer Alteröftellung zuerſt gebemtet. 
Haft überall ſind ed Süßwaſſerkalke, welche eime reiche Flom 
und Fauna enthalten und zum Theil ficher (Belzig, Görtzke, 
Uelzen) unter dem unteren Gejchiebemergel lagern, weld' 
leßterer, wie unten gezeigt werden wird, ald die Grundmoräne 
deö großen Imlandeijed aufzufaffen ift. Was alfo unter dieſer 
Moräne liegt, muß fih vor der Bededung mit Eis gebildet 
haben. — Bon bejonderem Intereſſe ift die Flora und die Kauna 
diejer Süßwafferkalfe, welche Keilhack ald Abſätze von prae- 
glacialen Seebeden auffaßt, über die jpäter das Inlandeis mit 
feiner Grundmoräne fortgegangen if. An Säugetbieren ent- 
halten fie: Hirſch, Damhirſch, Neb und Ochs, an Filchen 
Karpfen, Barſch und Hecht; ferner fommen fieflenweije in den 
oberjten Schichten zahllofe Landſchnecken (Pupa muscorum, Ver- 
tigo pygmaea, Helix pulchella, Achatina lubrica) zuſammen 
mit Süßmwaflercondyylien (Valvata macrostoma, Bithynia ten- 
taculata, Planorbis marginata, Pisidium nitidum und amnicum, 
Cyclas cornea und Unio) vor. Die Flora befteht, abgefehen 
von Diatomeen, aus Eiche, Kaftante, Birke, Pappel, Gagel 
(Myrica), Ahorn, Weißbuche, Linde, Cornelle, Heidelbeere, 
Waſſerhelm, Stedipalme, Erle, Weide und Kiefer. — Der Ge 
jummtcharafter der Sauna und Flora ift alſo derjenige unjerer 
heutigen Wälder und zwar mehr der mittel» und füddentichen, als 
der norddeutichen. Die Säugethiere deuten duch dad Reh, dad 
der Glacialzeit felbft fehlt, auh auf das heutige Klima Bin; 
die Fiſche find jebt wieder die Bewohner unferer ſüßen Ge: 


(854) 


il 


— 


wäflerr. Man kann daraus Ichließen, daß vor dem Eintritt ber 
Glacialzeit Norddeutichland ungefähr denjelben Charakter der 
Wald» und Süßwaſſerflora und der Kauna beſaß wie gegenwärtig, 
wiellesyt ſogar mit etwas füdlicherem Gepräge (Linde, Acer pla- 
tancides*%). Daß diefe Ablagerungen fi bis kurz ver dem 
Sintritt der eigentlichen Glacialzeit bildeten, gebt daraus her 
por, daß unter ihnen allen, mit Ausnahme des von Wahn- 
Ihaffe anfgefundenen Diatomeenlagerd von Nennhauſen bei 
Rathenow, welches direft von Tertiär (mahrjcheinlich Eeptarien- 
tbon) unterlagert wird, nordilche Diluvialfande, zum Theil fogar 
mit Dilnpialthonen liegen, welche, wie ſich zeigen wird, ald die 
Abſätze der vor dem anrüdenden Inlandeiſe und aus ihm her⸗ 
vorftrömenden Gleticherwafjer anzuſehen find, wejentlich ale 
Schlemmprodufte and der Grundmoräne Diluviale Diatomeen» 
lager kennt man ſchon längft in der Umgegend von Soltau, wo 
fie fih etwa 4 km lang am Gehänge der Luhe hin erftreden. 
In neuerer Zeit haben zuerit Bauer’), dann Jentzſch und 
Nötling ?) ſolche Lager aus Dft- und Weftpreußen und ganz 
kürzlich Wahnjcaffe?) aus der Rathenower Umgegend Tennen 
gelehrt. 

Zu ben präglacialen Ablagerungen find ferner auch. die 
Sande zu rechnen, welchen in der Potsdamer Gegend, nament- 
lich bei Werder und Glindow, Thone oder beſſer Thonmergef 
eingelagert find, die zu einer ſehr ausgedehnten Ziegelfabri- 
fation Beranlaffung gegeben haben. Es find die Abſätze der 
aus und unter dem vworrüdenden Eiſe hervorſtrömenden Waſſer⸗ 
mafjen, beide Schlemmprodufte aus der Örundmoräne (|. u.), 
und zwar die Sande Abſätze aud Schneller bewegten, bie 
Thone aus ruhigen, Seebeden bildenden Gewäflern. Ihre Leber: 
einftimmung mit Ablagerungen von isländiſchen und norwegischen 
Gletſcherſtrömen tit zuerſt von Zorell?), ſpaͤter von Credner 10), 


(855) 





12 


Helland 11), Svenonius 1?) und fürzlich von Keilhad 13) Har nach⸗ 
gewiefen. Dieje Ablagerungen enthalten in der Mark, aber aud) 
über deren Grenzen namentlich nad) Dften hinaus, eine Fauna von 
Süßwaffercondyylien, welche außer der audgeftorbenen Paludins 
diluviana noch jet bei und heimiſch tft, jo Bithynia tentaculata, 
Valvata piscinalis, verfchiedene Arten von Limnaeus, Planorbis, 
Pisidium, Oyclas u. .w.!*) Auf primärer Zagerftätte wurde dieſe 
Süßmwafjerfauna bei Nennbaufen und Bamme, öftlich Rathenow, 
von Wahnichaffe?) aufgefunden und ihre Lagerung unter dem 
unteren Gejchiebemergel in praeglacialen Sanden nachgewieſen. 
Hierher ift namentlich auch die durch Berendt befannt gewordene 
Paludinen- Schicht zu rechnen, weldhe in Nirborf bei Berlin im 
unterften Diluvium erbohrt wurde. 

Außer diejen ypräglacialen, alſo vor Eintritt der eigent- 
lichen Eisbededung, aber durdy dad Herannahen des vorrüdenden 
Inlandeiſes bervorgerufenen Ablagerungen aus ſüßem Waſſer, 
welche in der norddeutichen Tiefebene eine faft allgemeine Ber 
breitung haben umd Diejelbe, wenn die bier angegebene Ers 
klärung ihrer Bildung zutreffend fein fol, auch haben müllen, 
finden fi nun auch räumlich weitaus befchränftere und, fo weit 
man biöher weiß, an die Küften der heutigen Oftjee gebundene 
marine Ablagerungen, die man ebenfalls zu ben Präglacial: 
Bildungen zu rechnen hat. Sie find namentlich aus Schleswig⸗ 
Holftein und aus Weſtpreußen bekannt geworden. In erfterer 
Provinz find fie als grünliche, wohlgeichichtete, feite, muſchlig⸗ 
brechende Thone entwidelt, wie ſolche beim Leuchtfeuer von 
Kekenis auf Alfen und bei Chriftiansminde SW. von Apenrade 
anfteben, und wie man fie als „Brodenmergel“ fchon feit 
längerer Zeit von Zahrenfrug bei Segeberg und von Tarbed bei 
Bornboeved fennt. Sie werden nad dem häufigen Vorkommen 


von Cyprina islandica ald Cyprinenthone bezeichnet und 
(356) 





13 


enthalten außer der genannten Art noch Corbula nucleus, Bucci- 
num reticulatum, Mytilus sp., Tellina baltica, Mactra sub- 
truncata, Mya sp., Littorina sp., Littorinella sp., Chenopus 
pes pelecani (die lehten 7 Arten mit nody anderen von Car- 
dıum, Bulla etc. nur bei Fahrenkrug gefunden), jowie Saxicava 
arctica var. (Tarbed). Gottjche!5), dem wir eine Ueberficht der 
Slactalablagerungen der Provinz Schleswig. Holftein verdanken, 
ſpricht fi unbedingt für das präglaciale Alter der genannten 
Thone und Brodenmergel aud, betrachtet aber die früher mit 
diefen Thonen in Verbindung gebrachten ähnlichen Ablagerungen 
in der Umgegend von Hamburg (Schulau) als das feine Material 
von Gletſcherbächen. — Die hierher gehörigen Sedimente Welt. 
preußend kennt man namentlich aus der Umgegend von Elbing, 
wo ein dem Holfteiner Cyprinenthon völlig identes Geſtein bei 
Tolkemit, Succafe, Lenzen und Reimannöfelde zur Ziegelfabrikation 
Verwendung findet. Oyprina islandica ift audy bier vorhanden 
und ftellt die Verbindung mit den fchledwigsholfteiner Thonen ber, 
außerdem aber find bisher nur Leda (Yoldia) arctica und 
Astarte borealis, erftere von Jentzſch, letztere von Berendt 
aufgefunden worden 16). — Intereſſant ift, daß ſowohl in 
Schleswig-Holftein, wie in Weſtpreußen dieſen echt marinen 
Schichten hier und da Süßwaſſerablagerungen, theils mit 
Süßwaſſerconchylien, theils mit Süßwaſſerdiatomeen, eingelagert 
find, wohl ein Anzeichen dafür, daß das Land nahe lag und 
die Faunen ſeiner Gewäſſer ſo zeitweiſe eingeſchwemmt werden 
konnten. — Beſonders hervorzuheben aber iſt die Zuſammen⸗ 
ſetzung der Fauna. In Schleswig-Holſtein liegt eine ausgeprägte 
Nordfeefauna vor, welche nur durch das häufige Auftreten der 
Cyprina islandica einen mehr arctifchen Charakter erhält, im 
MWeftpreußen dagegen ift der artenarmen Fauna vor Allem 


durch Yoldia arctica ein rein aretifcher Typus aufgeprägt. 
(857) 


14 


Zur Erklärung diefer Thatſache mag daran erinnert werden, daß 
zu: präglactaler Zeil eine Berbindung zwilchen Oſt- uud Nordfee, 
wenigftens da, wo eine foldye heute beſteht, nicht vorhanden 
war. Vielmehr wird man einen Arm der Nordfer etwa im 
der Richtung der heutigen Gider quer durch Schleöwig«Holfteim 
reichend fich vorzuftellen haben, un das Auftreten einer Nordfee⸗ 
fauma an den obewgenmmnten Lofalttäten zu erklären. Wahr⸗ 
fcheinlih aber ftand die Dftfee nad; Often bin, wie Loven 
will, in einer Tinte, die über dem Ladoga⸗ und Onegafee in’s 
Weihe Meer leitet, mit dem Eiömeer in Berbindung; und daran 
erflärt fich dad Auftreten einer arctifchen martnen Fauna in den 
präglacialen Ablagerungen Weſtpreußens, alfo in dem öftlichen 
Thetlen ber damaligen Oſtſee. 


2, Zeit der erften Eisbedeckung. 


Wenn man, wie eö hier geſchehen ift, ald yräglaciale Bil- 
dungen diejenigen betrachtet, welche wor der faktiſchen Bededung 
mit Smlandeid, wenn auch unter der Einwirfımg jeined Heran⸗ 
nahens, ja fogar durch dafjelbe entftandew find, jo beginnt bie 
Reihe der eigentlichen glacialen Bildungn mit dem Auftreten 
des Sefchiebemergeld (Blodiehm, Diluvialmergel 2c.), und 
zwar bed unteren Geſchiebemergels. Derjelbe ift ein meilt 
bläulih=graued, im feuchten Zuftande zähes, im trodenen 
oft jo hartes, Falfigthoniges Geſtein, daB man zu feiner Fort» 
ſchaffung bei Eiſenbahnbauten ıc. häufig Sprengmittel in An 
wendung bringen muß. Charafteriftiich für ihn ift der Mangel 
jegliher Schichtuug. Das Ganze bildet eine kompacte, feite 
Maſſe, in welcher Geſchiebe oder erratifche Blöde vollkommen 
regellos — aljo weder nach Größe, nody nach Form, nody nad) 
fubftanzieller Beichaffenheit irgendwie angeordnet — in buntem 
Gemiſch und in lokal ſehr wechjelnder Hänfigfeit eingebaden 


(858) 


15 


fund. Durch den Mangel jeder Schichtung erweiſt fich der Ge- 
ichiebemergel zunächft als eine Bildung, die nicht aus dem Wafjer 
abgefet fein Tann. Durch die genanere Unterfuchung feiner Be- 
ſtandtheile ift erfannt, daß er nichts anderes ald feiner Geſteins⸗ 
detrituß ift, md zwar aus der Zerreibung berielben Geſteine 
entftanden, vom weldyen er noch größere Fragmente als Geſchiebe 
umfchließt. Wie ein foldhes Gebilde hat entitehen können, ift 
der Drifttbeorte zu erflären verſagt geblicben. Die Inlandeid- 
Theorie dagegen hat diefe Erklärung gebradit: Es ift die 
Grundmoräne ded Sulandeifes. 

Iede Eismaſſe, ob Inlandeis, ob Gletfcher, laͤßt allmaͤhlich 
zwijchen ihrer Yafid und dem Zeldboden, über den fie fih him 
ſchiebt, durch ihren Drud und durdy die Reibung, die ihre Forts 
bewegung hervorruft, einem Gefteinödetrituß entitehen, deffen 
Material zunächſt wohl von den an der Oberfläche liegenden, 
durd) Verwitterung vom anftehenden Feljen losgetrennten Blöden 
und Schuttmaſſen, dann aber auch vom anftehenden Fels felbft 
bergegeben wird. Je nach der Mächtigkeit ded fich bewegenden 
Eiſes und je nady dem Grade der Neigung ded Untergrimdeg, 
auf welchem die Fortbewegung ftattfindet, und endlich je nad 
der Beichaffenheit des Umtergrumdes (d. b. ob derfelbe aus weichen, 
leicht zerftörbaren, oder harten, der Friction größeren Widerſtand 
feiftenden Geſteinen beiteht) wird die Grundmoräne mächtiger 
oder geringer anwachſen, immer aber wird fie durch ihre eigene 
petrographiſche Bejchaffenheit und durch die der mitgeführten 
Blöcke den Weg erkennen laffen, dem fie und damit das auf ihr 
befindiiche Eis gemandert find: fie ift da8 unmittelbar von In- 
landeis Transportirte und Fortgejchaffte. — Bei der Schwierigfeit, 
unter &letfcher oder Snlandeid zu dringen, um die Grundmoräne 
in situ zu beobachten, ift eine Unterſuchung H. Eredner’317) um 


jo wichtiger, welhe er an der Srundmoräne des Palterzen« 
(859) 





16 


gleticherd vornehmen konnte. Es gelang ihm, vom jeitlichen 
Sleticherrande aus an einige Punkte vorzudringen, „wo das 
Eis nicht feſt auflag, fondern in anfänglich etwa 1,5 m hohen 
Hölbungen den Zutritt unter den Gletſcher geftattete”. An den 
Wänden der Wölbungen fonnte er nun die Grundmoräne ftudiren 
und erfennen, daß diejelbe eine „täufchende Aehnlichkeit“ mit 
unferem norddeutichen Gefchiebelehm befitt, jo zwar, daß licht. 
graue Barietäten des leßteren in Handftüden überhaupt kaum 
zu unterjcheiden find. — Nicht immer aber bildet dieje Grund- 
moräne dad bejchriebene zähe Geſtein; da, wo Wafjermaflen, 
jet ed dur Spalten, jei ed vom Grunde des Eiſes, auf fie 
einwirken und in ihr fih Abzug ſuchen, nehmen diejelben die 
feinen thonigen und kalkigen Theilchen mit ſich fort und laſſen 
einen, aus gröberem Material beftehenden Sand oder Kied 
zurüd, der dann häufig gejchichtet ift. Solche Einlagerungen 
geichichteter Parthien find auch dem norddeutichen Gejdyiebe- 
mergel nicht fremd, und auch darin hat Credner die Meberein- 
ſtimmung zwiſchen ihm und der Grundmoräne ded Pafterzen- 
Gletſchers nachgewiejen. 

Die in den Gefchiebemergel eingebadenen Geſchiebe find 
zwar, wie erwähnt, nad Form, Größe und Beichaffenheit 
regello8 neben und unter einander gemengt, aber fie zeigen 
doch meift gewiſſe gemeinjame Cigenthümlichleiten, welche fie 
eben als Gejchiebe kenntlich machen. Cinmal find fie weder 
völlig gerundet oder eiförmig, wie die an unſeren Küften von 
den Wellen bearbeiteten ®erölle, noch find fie jcharflantig und 
sedig, wie friſche Bruchfteine, fondern fie find an ihren Kanten 
etwa8 abgerundet und zeigen dabei oft eine wie polirt aus⸗ 
lebende Dberflähe, welche nod mit feinen Kritzen und 
Schrammen bededt ift, die entweder alle diefelbe Richtung haben, 


oder fidy in verjchiedenen Syitemen freuzen. Gerade dieje Ber 
(860) 


17 


ſchaffenheit iſt beweilend für ihren Xrandport in der Grund: 
moräne, wo fich bei der langfamen Fortbewegung unter ftarfem 
Drud die einzelnen Blöde an einander und auch auf dem Boden 
der Grundmoräne, alfo auf dem feften Felduntergrunde rieben 
und dadurch ſowohl eine Art Politur, wie durdy dad Hingleiten 
über oder an härteren Gelchieben oder Gefteinen eine Schrammung 
erzeugten. — Was nun die Geichiebe felbft betrifft, jo find fie 
die einzigen Merkmale für den Weg, den die fie beherbergende 
Grundmoräne und auf diefer das Inlandeid genommen hat. Da 
fie zumeift aus nordiſchen Gegenden ftammen, von Feldmaffen, welche 
bei und in der norddeutihen Ziefebene anftehend nicht gekannt 
find, ift ſchon früh erfanmt, und gerade diefe Erkenntniß hat 
ehedem zu 3. Th. recht phantaftiichen Erklärungen ihres Trans⸗ 
ported geführt. Nachdem aber in neuerer Zeit, namentlich auf 
Anregung von F. Roemer, ein wiflenjchaftliches Studium der 
Geſchiebe von vielen Seiten begonnen und für einzelne Theile 
unſeres Gebieted erfolgreih durchgeführt ift, läßt fidy ein all- 
gemeined Rejultat wenigſtens andeuten, wenn auch die genaue 
Begründung defjelben noch manchen Schwierigkeiten unterliegt. 
Zu lebteren gehört, daß bei der Unterfuchhung der Gefchiebe 
nicht ſtets Rückficht darauf genommen ift, ob diejelben in 
ber That dem Geſchiebemergel, alfo der Grundmoräne, oder 
ob fie den viefelbe bededenden Sanden entitammen, deren 
Entftehung jpäter beiprocdhen werden wird. Sn lebterem 
Talle befinden fie ſich eben nicht mehr auf der Stelle, wohin 
fie die Grumdmoräne trandportirte, ſondern auf dritter Lager- 
ftätte. Ferner tft man bei den erwähnten Unterjucdhungen mehr. 
fach zu raſch bei der Hand geweſen, dad Heimathögebiet zu eng 
zu umgrenzen, ohne fich zu vergegenwärtigen, daB gerade die 
von der Dftjee jebt verdedten Theile, welche einft die Berbin- 


dung zwiichen bem einzelnen Jnſeln untereinander und diejer 
xx, 479. 2 (861) 





18 


mit dem Feſtland darftellten, die Heimath der meiften Gefchiebe 
jein müfjen; denn was jet noch dort anftehend tft, haben wir 
eben nicht als Geſchiebe befommen, fondern bie zerftörten und 
fortgeführten Theile. Läßt man diefe Schwierigfeiten und Be- 
denken außer Acht, oder vielmehr, jchreibt man ihnen eine Trübung 
des allgemeinen Reſultates, welches aus den Geſchieben für ihren 
ZTrandport gezogen werden Tann, zu, fo fteht fo viel feft, daß 
von der ſcandinaviſchen Halbinfel, von den Inſeln der Dftjee und 
von Finland und Efthland ber die Geſchiebe ber eriten Eid 
bededung in im Allgemeinen nordoft»füdweftliher Richtung 
transportirt worden find. Bei der großen Gleichförmigfeit der 
maſſigen Gefteine Scandinaviend find dieje zur Beftimmung der 
genaueren Transportrichtung weniger geeignet ald die ver: 
fteinerungsführenden, welche durch große Mannigfaltigkeit der 
petrographiichen Ausbildung, namentlidy aber durdy die Petre⸗ 
fakten⸗Führung oft jehr genaue Hinweije auf ihr Heimathögebiet 
geftatten. Wo aber charakteriftijche, in ihrer Heimath auf einen 
engeren Raum beſchränkte majfige oder eruptive Gefteine auf: 
treten, find auch fie werthvolle Wegweiſer. So hat z.B. in 
neuerer Zeit Seeck18) durch eine Unterſuchung der granitijchen 
Geſchiebe Oſt- und Weſtpreußens nachgewiefen, daß dort vor« 
berrichend Granite von Finland und den Alandsinjeln, nament⸗ 
lich Rapakivi, verbreitet find, welche weiter weftlidy fehlen, wenn 
audy die Alandögefteine bis in die Mark reichen. Aus früheren 
Unterfuchungen von Helland, Pend, Geinit u. A. wiljen wir, 
daß norwegiiche Gefteine — Granit, Gneiß, Gabbro, Zirkon⸗ 
iyenit, Rhombenporphyr — in Holland vorfommen. Nament- 
lich ift der leicht Tenntliche Rhombenporphyr hervorzuheben, der 
nur weftlich der Elbe in Sütland und auf den bänifchen Inſeln 
(3. B. Laaland) gefunden wurde. Bajalte, anftehend nur in 
Schonen befannt, find bisher nur in der Markt und in Medlen- 


(862) 


19 


burg gefunden worden, wie auch ſchwediſche Phonolithe und 
Grünfteine. — Hand in Hand mit diejer Bertheilung majfiger 
oder eruptiver Gelteine geht Die der veriteinerungsführenden. 
Gemäß ber weiten Verbreitung, welche die älteren Abthei- 
lungen der paläozoiſchen Formation — das Cambrium und 
dad Silur — fowohl auf dem feandinavifchen Feftlande, 
wie auf den Inſeln Deland, Gotland, Dejel, Dagoe, Moon ıc. 
befigen, wie denn auch der Untergrund Eſthlands aus demfelben 
Formationen befteht, ift auch Die Hauptmaffe unferer Gejchiebe 
biefen angehörig. Die mannigfadhe, durch die Unterfuchungen 
der ſcandinaviſchen, wie der ruſſiſchen Geologen feftgeftellte Ent- 
widlung und Gliederung läßt fich auch in den Gefchieben und 
ihrer Vertheilung verfolgen. In Dftpreußen, Polen und Schlefien 
herrſchen Gejchiebe vor, deren Beichaffenheit auf die anftehenden 
Geſteine Eſthlands zumeiſt hinweift; in den centralen Theilen 
der norddentichen Tiefebene, wie Pommern, Medlenburg und 
der Mark find die Gefchiebe entweder direkt von ſeandinaviſchen, 
Ipeciell ſchwediſchen Ablagerungen abzuleiten oder von folchen, 
welche zwiſchen eftbländijchen und ſchwediſchen die Verbindung 
herftellen, wie fie einft den Boden der Dftjee bildend, jett aber 
zerjtört und fortgeführt gedacht werden muß. Weiter weitlich, im 
Königreich Sachſen, in der Magdeburger Gegend, in Schledwig- 
Holftein und in Oldenburg find die paläozoiſchen Gefchiebe 
wejentlich Schwedischen Urſprungs. — Wie mit den cambrifhen und 
filurifchen Geſchieben, fo verhält e8 ſich auch mit denen der fcan- 
dinaviſchen Kreideformation, weldye gemäß ihres ausſchließlichen 
Vorkommens in den füdöftlichen und füdlichen Theilen Schwedens 
bisher auch nur in den centralen oder weltlichen Theilen der 
norddeutfchen Ziefebene aufgefunden wurden. Das ift durch 
die Unterfuchungen zahlreicher Forſcher (Beyrich, Kunth, Gottiche, 
Nötling, Remele u. A.) feitgeftellt, und Verfaſſer hat dazu den 
2* 


(863) 


20 


Nachweis verfucht, daß die horizontale Ausdehnung des Heimaths⸗ 
gebiet8 gleichen Schritt halt mit der horizontalen Verbreitung 
der aus jenem ftammenden Gefchhiebe 12). Freilich befremden in 
diefer Geſetzmäßigkeit der Vertheilung vereinzelte Geſchiebe, die 
derfelben nicht entſprechen. Ihr Auftreten zu erflären, bleibt 
weiteren Forſchungen vorbehalten; haufig wird e8 auf Rechnung 
der obenerwähnten Mängel betreffd Fundort und Beftimmung 
des Heimathögebietd in zu engem Rahmen zu jchreiben ſein. 

Dad von Scandinavien auögehende Snlandeid hat aber 
nicht nur den Nordrand der norddeutichen Ziefebene bededt, 
ſondern ift über diejelbe bin bi8 an den Nordabfall der mittel- 
deutihen Gebirge uorgedrungen. Es bat mithin auch die an- 
ftehenden Formationen innerhalb dieſes Gebietes in den Bereich 
feiner Einwirkung gezogen, auch aus diefen für feine Grund» 
moräne Material gebildet und Geſchiebe von ihnen weiter nad) 
Süden befördert. So verlangt ed die Inlandeis⸗Theorie, und 
jo verhält es fich auch in der That. Beiſpiele hiervon find die 
Verbreitung von Feuerfteinfnollen, welche der weiten Schreib» 
freide, wie fie auf Rügen und Moen anfteht, entitammen, ferner 
das Vorlommen von gekritten Gejchieben Rüdersdorfer Mujchel- 
kalks, welche jühlich der anftehenden Schichten auf kurze Strede 
verbreitet find, weiter die aus der unter den Glacialbildungen 
liegenden Braunfohlen-$ormation transportirten Duarzite, die 
Geichtebe der Suraformation, weldje nur nody am verjchiedenen 
Punkten der Dder-Mündungen zu Tage tritt, die Geſchiebe 
fenoner Kreide, wie fie in weiter Verbreitung durch Bohrlöcher 
in Oſt- und Weftpreußen anftehend nachgewielen ift, und aud) 
nur für diefe Provinzen Gefchtebe geliefert hat?°). 

Es frägt fich dann weiter, in welcher Weiſe dad Hunderte 
von Metern hohe, aljo ein gar gemwaltiged Gewicht darftellende 
Inlandeis mit feiner Grundmoräne auf die Beichaffenheit des 


(864) 


21 


Untergrundes, über den ed hinglitt, Einfluß audgeübt hat. Auch 
das läßt fich an zahlreichen Stellen nachweiſen. War der Unter 
grund aus jo feitem Geftein gebildet, dab daſſelbe dem 
Druck und dem Schube Widerftand leiften konnte, jo ift nur 
die Oberfläche, diefe aber in ganz charakteriftiicher Weiſe 
bearbeitet: fie ift geglättet, zugleich aber auch mit parallelen 
Schrammen verjehen, deren Verlauf nun zugleich der Wegweifer 
für die Richtung der Fortbewegung it. Die Schrammen ent» 
ftehen dadurch, daB Gejdhiebe der Grundmoräne, die härter find, 
ald das Untergrundgeftein, auf diefem fortgejchoben werden und 
jo da8 lebtere rigen. — Solche geglättete und zugleich ge⸗ 
ſchrammte Gefteinsoberfläche findet fich num fait überall, wo im 
Bereich des norddeutichen Glacialgebieted härtere Gefteine unter 
der Grundmoräne aufgefunden und aufgededt find. Seit mehr 
ale 50 Sahre kennt man diefe Oberflächenbeichaffenheit des 
Muſchelkalks von Rüdersdorf, doch ift dies lange Zeit in Ver: 
gefjenheit gerathen gewejen, bis Torell wieder von Neuem die 
Aufmerkſamkeit darauf lenkte. Später find an zahlreichen Punkten 
ähnliche Erjcheinungen aufgetreten, wie dad aus einer Zujammen- 
ſtellung derjelben, die wir Wahnfchaffe verdanken, hervorgeht ?'). 
Es find folgende: Piedberg bei Osnabrück (produftives Stein- 
tohlengebirge), Velpke und Danndorf (Bonebed » Sanditein), 
Gommern bei Magdeburg (Culm⸗Sandſtein), Galgenberg bei 
Halle, Kapellen«e, Rainsdorfer und Pfarr-Berg bei Landsberg 
(Duarzporphyr), Dewiter Berg, Heiner Steinberg bei Taucha 
unweit Leipzig (Duarzporphyr), Hohburger Schweiz bei Wurzen 
(Porphyr), Wildſchütz bei Eilenburg (Porphyr), Alt⸗Oſchatz bei 
Oſchatz (Duarzporphyr), Lommatſch (Gneiß⸗Granit), Hermödorf 
und Joachimsthal in der Mark (geſchrammte Septarien im Sep⸗ 
tarienthon). — Mehrfach find zwei verſchiedene Schrammen⸗ 
richtungen beobachtet (Rüdersdorf, Velpke, Gommern, Lands⸗ 


(765) 


22 


berg), woraud auf wiederholte Eisbedeckung mit verichiedener 
BDewegungdrichtung zu fchließen if. Man kann dann wohl eine 
ältere und eine jüngere Schrammung unterjcheiden, und daß die 
jüngere in der That eine folche ift, wird weiter unten ausgeführt 
werden. Die Zufammenftelung von Wahnichaffe hat ald all- 
gemeined Ergebniß, gezogen aus dem Bergleich aller verſchie⸗ 
bener Richtungen der älteren Schrammung, die intereffante That⸗ 
fache gebracht, dab dad von Scandinavien vorridende Inland- 
eis ſich zuerft fächerförmig im norddeutichen Flachlande aus- 
gebreitet hat. 

Im engften Zufammenhange mit der Glättung und Schram- 
mung ded harten Untergrundes fteht weiter eine Eigenfchaft der 
Grundmoräne, weldye fie meift nur in der feſtes Geftein über: 
lagernden Parthie zeigt. Dieje beftebt darin, daß aus dieſem jehr 
zahlreiche, das nordiſche Material quantitativ oft bedeutend über- 
treffende, vielfach auch geichrammte Fragmente in dad Material 
der Grundmoräne mit aufgenommen find und dadurch derfelben 
ein local abweichended Anjehen verleihen. Der Vorgang jelbft 
ift leicht erflärt: ald die Grundmoräne die feften Felskuppen 
überzog, fand fie, wie auf jedem Fels, Verwitterungsfchutt vor 
und nahm dieſen, wie auc Fragmente der durdy Vermitterung 
aufgeloderten oberften Schichten mit in fih auf, wo fie nun 
mit dem nordiichen Material vermilcht wurden. Bejonders Har 
ift diefe Ericheinung, die von den Schweden Krossstensgrus, 
bei und nach einer von Wahnjchaffe eingeführten Bezeichnung 
Iocale Grundmoräne oder Lofalmoräne genannt wird, 
jeit mehreren Sahren in Rüdersdorf beobachtet, aber auch bei 
Velpke, Gommern u. ſ. w. fehlt fie nicht. 

Anderer Art ift die Einwirkung des Inlandeiſes auf weichen, 
weniger widerftandsfähigen Untergrund. Hier macht fih der 


unter langfamer Bewegung der belaftenden Maſſe ausgeubte 
(866) 


23 


Drud durch Zerquetihung, Verzerrung umd Auswalzung der 
Schichten bemerkbar; ein Theil dieſer Erſcheinungen mag auf 
Seitendrud zurückzuführen fein. Wenn man fich vorſtellt, 
daß das Eis fich nicht ftets mit einem geraden Rande vor⸗ 
geſchoben hat, ſondern daß fich Zungen, und zwar zuerſt in 
Thalrinnen, fortbewegt haben und dieſe durch ſtetes An⸗ 
wachſen erft die Thäler ausfüllten, dann aber noch immer weiter 
zunahmen, jo mußten fie auf die Thalmände einen gewaltigen 
Drud ausüben, der entweder zur Ueberjchiebung der dem Seiten» 
drud ausgeſetzten Gefteine, welche in Schollen zerbrachen, zum 
Ausdrud gelangte (Kreide von Rügen), oder, wo dad Material 
plaftiiher war, zu mitunter großartigen Auffattelungen der 
Schichten führte (Glacialthon bei Glindow). — Am häufigften 
jedody läßt fih die von oben her erfolgte Drudwirkung be- 
obahten; man nimmt Einprefjungen der Grundmoräne in 
Spalten und Riffe wahr, man fieht auch, wie diefelbe bei ihrer 
Hortbewegung. Theile des Untergrundes mit in fich aufgenommen 
und gemwiljermaßen in fich hinein gefnetet und gewalzt hat. Am 
großartigften war dies noch vor Kurzem in Teutſchenthal bei 
Halle aufgeſchloſſen, wo große Schollen der Braunkohlenforma- 
tion in die darüberhin gewälzte Grundmoräne aufgenommen 
waren. — Es iſt ferner befannt, dab unſere Braunfohlenflöße 
überall in geftörter Lagerung fi) befinden, und zwar, was be- 
\onderd hervorgehoben zu werden verdient, die hangendften am 
meiften, die Tiegendften am wenigften — ein ftrifter Beweis, 
daß nur Einwirfung von oben die Störung hemorgerufen hat, 
niemald Hebungen von unten ber, die man früher wohl zur 
Erklärung benubt bat, es fogar nicht verichmähend, vuls 
kaniſche Actionen als Urheber berbeizuziehen. — Weiter find 
analoge Beobachtungen von Berendt ??) an den Tertiärjchichten 


ded Samlanded, von Wiepke bei Gardelegen, an ben Oderufer- 
(867) 


24 


gebängen bei Stettin und Finfenwalde, von Behrend?3) am der 
Kreidepartbie von Lebbin auf der Inſel Wollin und von Wahn- 
ichaffe?+) an derjenigen von Saßnitz auf Rügen, fowie in zahl- 
reihen Gruben, wo der untere Glacialthon gewonnen wird, an 
biefem im Gebiete von Rüdersdorf, Alt-Landöberg und Strauß⸗ 
berg, fowie am Fayence-Mergel von Lupitz in der Altmark 
gemacht. Auch mögen Aufpreffungen weicher Gefteine am Rande 
des Inlandeiſes hier und da die Urſache der Störungen geweſen 
fein. — Jedenfalls geht allgemein aus diefen verjchiedenen Er- 
jcheinungen foviel hervor, daß fie in Folge eined enormen Drudes 
einer fich langſam fortichiebenden Maſſe entitanden find, und 
al8 ſolche können wir nur das Inlandeis mit feiner Grund⸗ 
moräne auffafien. 

Als mehr fecundäre Wirkungen der Eidbededung find die 
jogen. Rieſenkeſſel, Riefentöpfe oder Strudellöcher anzujehen, 
entitanden durch Waflermafien, die durch Eisipalten zunächft 
auf die Grundmoräne herabfielen, und, nachdem fie dieje gewiſſer⸗ 
maßen durchbohrt hatten, auf die Unterlage derjelben derart 
einwirften, daß fie mit den aus der Moräne audgewafchenen 
Steinen eine rotirende und bohrende Action auf die Unterlage 
ausübten und fo cylindrifche Vertiefungen erzeugten, die fpäter, 
wenn die Eisſpalte fih ſchloß und dadurch die Wirkung des 
fallenden Waſſers fiftirt wurde, mit Material der Grundmoräne 
audgefült und überdedit wurden, auf ihrem Boden jedoch die 
meift abgerollten Gejchiebe tragend, mit welchen das Waſſer 
jeine Bohrarbeit ausgeführt hatte. Es ift das dieſelbe Erſchei⸗ 
nung, welche zahlreihe Schweizerreijende im Gletjchergarten 
von Luzern bewundern, und die nun aud dem einft vereiften 
Norddeutſchland nicht fehlt. Solche Niefenkeffel wurben zuerft 
auf dem Rüdersdorfer Muſchelkalk aufgefunden und von 


Nötling?°) genau unterjucht und bejchrieben. Kaum war bier 
(6) . ' 


25 


durch die Aufmerfjamteit auf diefe Strudellöcher gelenkt, fo 
fanden fie ſich auch in anderen Gegenden. Berendt?®) ent- 
dedte fie im Gyps von Wapno bei Erin, wo fie nady einer 
früheren Darjtellung von Runge zu erwarten waren, Gruner 
fand fie in Oberſchlefien auf Muſchelkalk bei Krappit und 
Gogolin, Credner deutete frühere Beobachtungen an den Jura⸗ 
Borlommniffen der Odermündungen als NRiefentöpfe, ja jogar die 
in der Mark ald „Pfuhle”, in Medlenburg ald „Eölle" be- 
fannten, freißrunden, ftet3 mit Waſſer angefüllten Tefjelartigen 
Vertiefungen wurden von Berendt und Geinit ald durch Strudel- 
waſſer des Sulandeijes hervorgerufen angejprodhen. Grade die 
Deutung aller diefer Bertiefungen als Rieſenkeſſel hat bei den 
Gegnern der Inlandeistheorie einen bejondes großen Sturm bes 
Unwillens hervorgerufen, weldyer um jo unbegreiflicher fcheint, 
als damit nur ein nebenfädlicher Punkt zur Erörterung gefommen 
ift, der an der Löjung der Hauptfragen niemals einen integri- 
renden Antheil nehmen Tann. Denn ebenjo gut, wie man weiß, 
daß Rieſenkeſſel audy von Strudelwaflern, die nicht von Gletſchern 
berrühren, erzeugt werden, ihr Vorhandenſein aljo fein zwingender 
Beweis für eine Eidbededung des betreffenden Gebietes ift, 
ebenio ift es bekannt, daß ſehr ähnliche Gebilde nicht von 
Strubdel-, fondern von Siderwaflern erzeugt werden können 
(die ſogen. geologifchen Orgeln). Ihr Nichtvorhandenjein würde 
aber eben jo wenig ald Beweis gegen Torell's Theorie angeführt 
werden können, da man genug ehedem vereifte Gebiete kennt, 
wo feine Rieſenkeſſel vorhanden find. 

Das etwa find die Gigenfchaften des Gefchiebemergel3, 
welche uns benjelben ald Grundmoräne anjehen laflen, und das 
die Gricheinungen, welche dieje Grundmoräne mit dem fie be⸗ 
laftenden Eiſe auf dem Untergrunde erzeugt hat. Und fomit 


wäre bie Action ber erften, bid an den Nordabfall der mittel» 
(363) 


26 


deutichen Gebirge heranreichenden Eisbedeckung der norddeutſchen 
Tiefebene verfolgt. 


3. Interglacialzeit. 


Nah dem, in feiner Zeitdauer zwar unbeftinnmbaren, 
jebenfall8 aber fehr lange anhaltendem Zuftande des völligen 
Bedecktſeins von Inlandeis trat für die norddeutſche Ebene eine 
andere Phafe der Glacialzeit ein. Durch veränderte klimatiſche 
Berhältnifje begann das Inlandeis fich zurüdzuziehen umd gab 
das Land wieder frei zu Bewohnung und Vegetation. Dieſes 
Zurüdziehen muß außerordentlich langſam vor fich gegangen 
fein, denn ed fehlen die Anzeichen dafür, dab fih plöblid 
enorme Wafjermaffen, wie fie durdy rapides Schmelzen frei 
werden, über dad Land ergoffen und zu grohartigen Thal 
bildungen Beranlaffung gegeben hätten. Wenn wir und aber 
vorftellen, dab das Eis den Rüdzug fehr langjam antrat, fo 
langjam, wie 3. B. jet unjere activen Alpengletſcher fich zu⸗ 
rüdziehen, jo unterblieb jede Einwirkung eingreifenderer Art 
auf den Untergrund, und die vom Eis zurüdgelaffene und ver 
laffene Grundmoräne gab den Boden ab, auf welchem nunmehr 
eine Flora fich entwideln und eine Fauna ihr Dafein friften 
fonnte. Freilich haben wir von der Flora diejer Zeit wenig 
erhalten, denn die bei der weiter unten zu bejprechenden er- 
neuten Invafion des Eifes fich verbreitenden Wafſſermaſſen haben 
fie zerftört; und fo tft unfere Kenntniß auf wenige Kocalitäten 
befchränft, von denen die wichtigfte in neufter Zeit durch Keil 
had?7) eingehend unterfucht und bejchrieben worden ift. 

Bei Lauenburg an der Elbe nämlich liegt über dem unteren 
Geſchiebemergel (der Grundmoräne) ein Zorflager mit Moos, 
Früchten, Blättern, Aeften und Stämmen, darüber folgt dann 


ein 15 m mädjtiger Diluvialfand und darüber oberer Geſchiebe⸗ 
(870) 


27 


mergel. Die Unterfuchhung der aus 22 Arten beftehenden Flora 
bat ergeben, daß dieſelbe von Pflanzen zujammengejett ift, von 
denen fi) nur 9 nody nördlich vom Polarkreis finden; weitere 
6 Arten überjchreiten, wenigftend in Skandinavien, nad) Norden 
den 60 Breitegrad nicht, alle übrigen haben zwilchen dem 
Polarkreis und dem 60° ihre nördlichite Grenze erreicht. Aber 
alle diefe Pflanzen find in der nördlichen gemäßigten Zone in 
Europa ganz allgemein verbreitet, und eine derjelben (Trapa 
natans) ift ſogar hauptſächlich in jüdlicheren Gegenden verbreitet. 
Keilhad ſchließt aus diefer Flora ſehr richtig, daß zur Inter⸗ 
glactalgeit ein dem jebigen jehr ähnliches Klima geherricht haben 
müfje und eine ſolche Flora der nördlichen gemäffigten Zone fi 
nicht hätte entfalten fönnen, wenn es ſich nur um eine Oscilla⸗ 
tion des Eiſes gehandelt hätte; fie habe nur entſtehen können 
während einer langen Snterglacialzeit, durdy welche die beiden 
Bereilungen Norddeutichlandd getrennt werden. Ganz bejonders 
verdient die von Keilhad feftgeftellte große Uebereinſtimmung 
der Flora von Lauenburg mit der von Heer unterfuchten und 
von ihm ſchon früher als echt interglacial angeiprodhenen Flora 
der Schweiz (Dürnten, Unter-Wegilon, Utznach, Mörſchwyl, 
Sonthofen, St. Jacob an der Bird), die auch in ihren Lage- 
rungdverhältniffen völlig analog ift, hervorgehoben zu werden. 
— Außer bei Lauenburg find ſolche interglacialen Ablagerungen 
noch bei Magdeburg beobachtet, von wo Wahnichaffe?3) ein 
dünnes Kalktufflager zwiichen Sudenburg und Budau an der 
Leipziger Chauſſee, welches zahlreiche Gehäufe von Limnaea 
truncatula führt, hierherrechnet. Auch find aͤhnliche Süßwaſſer⸗ 
beden von Berendt??) in einem injchnitte der Berliner 
Nordbahn und von Klebs in der Gegend von Heildburg in 
Ditpreußen aufgefunden. 


Wenn nun au ſolche Funde von ungemeiner Wichtigkeit 
(871) 


28 


find, weil durch fie einzig und allein ein Einblid in die Flora 
und Süßwaſſerfauna der Intergalcialzeit gewonnen werden Tann, 
jo find fie doch nur ſpärlich und unter beſonders günftigen 
Bedingungen einmal erhalten. Sn diefer Seltenheit ftehen fie 
chroff der allgemeinen Berbreitung der großen Wirbelthiere 
gegenüber, die ſich faft über das ganze Gebiet außdehnt. Diejelben 
bevölferten da8 Land zur Snterglacialzeit; ihre Cadaver wurden 
von den |päter vordringenden Fluthen des zweiten Inlandeiſes mit 
den von diefen erzeugten Granden und Kiejen vermengt und in 
fie vergraben, und fo find ihre Stkeletrefte und erhalten. Frei⸗ 
lich Tommt ed faft nie vor, dab ganze Sfelete oder auch nur 
größere Theile derjelben in Zuſammenhang gefunden werben, 
da8 haben eben die Fluthen, welche fie fortwälzten, verhindert, 
jo kurz auch der Transport, namentlich bei den ſchweren Knochen 
der großen Proboscidier und Nashörner gewejen fein mag; 
wohl aber find einzelne Schädel oder Knochen weit verbreitet. 
— Dieje interglaciale Sauna befteht faft nur aus großen oder 
mittelgroßen Thieren; mögen auch Nagetbiere und Inſektenfreſſer 
vorhanden gewejen fein, ihre Reſte find bisher jedenfalls nit 
aufgefunden. Am verbreitetiten find Ueberrefte ded Mammuth 
(Elephas primigenius), von dem wir nad fibirifchen Funden 
willen, daB es völlig mit Haaren bededt war, ferner des eben- 
fal8 behaarten Nashorn (Tichorhinus antiquitatis) mit Ind- 
herner Najenfcheidemand und zwei riefigen Hörnern auf der 
Nafe; unier den Huftbhieren treffen wir mehrere Arten von 
Hirſchen, darunter den Rieſenhirſch (Megaceros hibernicus) und 
da8 Heine grönländijche Renthier (Rangifer grönlandicus), zwei 
Arten von Ochſen (Bos primigenius und Bison priscus), eine 
Art der Moſchusochſen (Ovibos fossilis), dann fehr zahlreiche 
Pferderefte, und zwar einer größeren und einer kleineren Rafle 


angehörend, welche Nehring?‘) mit vollitem Recht ald die 
(872) 


29 


Stammeltern unfjerer domefticirten Hauspferde anfiebt. Bon 
Raubthieren fennt man biöher nur je einen Fund von Wolf 
und von Bär, wozu vielleicht noch der Polarfuchs tritt. Das 
Gejammtbild diefer Fauna ift ein ſehr eigenartiged. Mammuth 
und Nashorn find als einftige Bewohner des eifigen Sibiriens 
befannt, und daß die bdilmvialen Sndividuen dort nicht unter 
anderen Bedingungen gelebt haben, ald das heutige Sibirien 
fie gewährt, lehrt der Mageninhalt der im gefrorenen Boden 
erhaltenen Individuen. Diele Thiere lebten bei und zur 
Gacialzeit in Gefelihaft mit dem Moſchusochſen und dem 
geönländiihen Ren, diefen jetzt eminent arctiichen Thieren. 


“ Daneben nun Pferd, Hirih, Ochs, Wolf und Bär, die noch 


heute bei und leben. — Wenn fi nun audy nicht leugnen läßt, 
daß durch Ren und Moſchusochs dieſer Säugethierfaung 
ein arctiſcher Charakter anhaftet, ſo tritt fie doch in gute 
Uebereinſtimmung mit der Lauenburger Flora, in der neben 
Pflanzen der gemäßigten Zone audy ſolche der arctiichen Tebten; 
nur ift der Unterfchied da, daß dieſe leßteren auch heute noch ihre 
ſüdliche Verbreitung bis in die gemäßigte Zone haben, während Die 
beiden genannten Säuger jeßt nur in rein arctifchen Gebieten leben. 

Nach dem Angeführten hat man fidy alfo die norddeutiche 
Tiefebene zur Snterglactalgeit bewachſen und bewohnt vorzuftellen, 
beide8 allerdings unter theilmeijem Cinfluß der weiter im 
Norden noch vorhandenen Eismaſſen, melche ein nördlich=ge- 
mäßigtes bis jubarctifched Klima bedingten. 

Wie weit fi) das Inlandeid nad) der erften Inpafion nad) 
Norden zurücdgezogen bat, läßt fid, mit Beftimmtbeit noch nicht 
jagen, nur foviel ift ficher, dab im füdlihen Schweden aud) 
unzweifelhaft interglaciale Bildungen über der unteren Grund: 
moräne aufgefunden find. Alſo auch Schonen ift zeitweije 


einmal wieder von der Eisbedeckung frei gewejen. War es 
(873) 


30 


aber Schonen, fo muß ed aud das zwiſchen Schonen und 
der norddeutichen Ziefebene gelegene Gebiet, alfo da8 der Dftiee, 
gewejen fein. — Wir dürfen in der That annehmen, daß zu diefer 
Snterglacialgeit ebenjo eine Dftfee eriftirte, wie jet, daß diefelbe 
aber nun nicht mehr mit dem Eismeer verbunden war, wie vor 
der eriten Invaſion des Inlandeiſes, fondern daß eine breitere 
Verbindung mit der Nordfee, als fie heute da ift, vorhanden 
war, vielleicht wieder mitten durch die cimbrijche Halbinſel hin⸗ 
durch. So erllärt ed fih, wenn wir aud den Sanden, weldhe 
zwilchen beiden Moränen liegen, an zahlreichen, der Küfte nicht 
fernen Eocalitäten Oſt- und Weftpreußend Schaalrefte einer aus⸗ 
geprägten Nordfeefauna durch die Unterfuhungen Berendt’s 
fennen gelernt haben.°!) Die am Strande diefer — sit venia 
verbo — zweiten Oftfeefüfte liegenden Schaalen find dann von 
dem vor dem wieder vorrüdenden Eife herlaufenden Waffer weiter 
nad Süden geipült und jo an die Stellen gelangt, wo Berendt 
fie entdedte. Für diefe Anfchauung ſpricht der zumeift fehr frag« 
mentäre Crhaltungdzuftand und namentlich die Abrollung, die 
die Fragmente als ſolche erlitten haben. Hätte man es bier 
mit in situ befindlichen Schaalreften zu thun, jo wäre dieſe ihre 
Erhaltungsweiſe unerklärlid. — Wo ein folder Transport 
nicht ftattfand, wo fih die Schaalen nody in situ befinden, da 
find fie auch wohl erhalten, wie dies die vereinzelten Funde bei 
Kiel (Purpura lapillus) und Moelln, wo Cardıum edule maffen- 
haft vorfommt, namentlidy aber die großen Auftern- und Mies- 
mufchelbänfe beweilen, weldye in diefem Niveau am Grimmelö- 
berge bei Zarbed liegen und ſchon Leopold von Buch's22) Auf- 
merkſamkeit auf fidy zogen. Grade über diefe Gegenden hin 
muß man fi die erwähnte Verbindung zwiſchen Oſt⸗ und 
Nordjee vorftellen. Hier liegen die Schaalen alſo no auf 
urjprünglicher Kagerftätte und find deshalb wohl erhalten. Gleiche 


(874) 





31 


Fundſtellen find in neuefter Zeit auch in Oft- und Weftpreuben 
entdedt worden. 

Während aljo auf dem Lande zur Interglacialzeit die er- 
wähnte Flora und Fauna ſich einfand, jandte die Nordfee zur 
jelben Zeit einen Arm nach Dften und bevölferte ihn mit einer 
Sauna, die der heutigen Oſtſee allerdings zum Theil fremd ift, 
d. h. ihr. ebenfo gegenüber fteht wie die damalige Landfauna 
ber jeßigen; vom beiden find einzelne Arten geblieben, dort 3. 
3. Tellina solidula, Cardium edule in allerdings dünnfchaligeren 
Varietäten, bier noch Ochs, Hirſch, Pferd ıc. 

Doch noch einmal mußte diefe Flora und Fauna dem Ins 
landeis weichen, denn noch einmal dehnte fich daſſelbe von 
Scandinavien her ganz ähnlich aus, wie das erſte Mal, nur 
nicht jo weit nah Süden herabreichend, wie wir weiter unten 
feben werden. Abermald aber durchfchritt es die Dftfee und 
abermals ſchickte ed jeine Gewäſſer voraus, welche die Flora 
vernichteten und mit den in ihnen fuspendirten Sand» und 
Geröllmafjen alles überdedten. So wiederholt ſich das Bild 
einer großen von zahllojen Strömen überdedten Fläche, welche 
in ihrem Lauf nicht konſtant blieben und mit ihren Sand⸗ 
mafjen alle Leben ertödteten. So entitand der Sand, welchen 
wir bei und in weiter Berbreitung, ja man kann jagen konftant 
auf der unteren Grundmoräne lagern jehen und weldyer in der 
häufig an feiner Bafis gelegenen Grandbant dad Hauptlager 
für die fojfilen Knochen der großen Säugethiere hergiebt. Wie 
oben erwähnt, wurden die Skelette der Thiere der Interglacials 
zeit von ihm eingebettet und und jo erhalten. — Um übrigens 
die Analogie mit den Sanden unter der erjten Grundmoräne 
völlig ident zu machen, fehlen aud die feinen Thonſchlamm⸗ 
mafjen im diefen jüngeren Sanden nidt, wie died u. U. 
Wahnjchaffe 3) im der Umgegend von Berlin (Rudow, Glie- 


(875) 





32 


nide) und Laufers) in der von Küftrin (Tamjel) nachgewiejen 
haben und jchon früher von dem Borne bei Greiffenberg im 
Pommern beobachtete. 


4. Zeit der zweiten Eisbedeckung. 


Nachdem dad Inlandeis im Beginn der zweiten Invafion, 
ganz wie vor der erften, die norbdeutjche Tiefebene wieder mit 
den Sanden jeiner vor ihm hergeſchickten Fluthen eingededt hatte, 
rüdte es felbft heran und bededte diefe Sande mit einer zweiten, 
jüngeren Grundmoräne (dem oberen Gefchiebemergel), weldje 
fih in Zujammenjegung und Mangel an Schichtung in Nichts 
von der unteren Grundmoräne unterjcheidet, fondern nur darin, 
daß fie verhältuigmäßig weniger und kleinere Gejchiebe enthält 
und gelblichgrau gefärbt ift (jul Krossstenslera der Schweden), 
während die untere mehr bläulichgrau erjcheint (bla Kross- 
stenslera). 

Jedoch weicht Diefe zweite Invafion in zwei wichtigen Cigen- 
\chaften von der erften ab, einmal in der Richtung, die fie nahm, 
und dann in der Ausdehnung nad Süden, die fie erreichte. — 
Wie oben erwähnt, dehnte fich die erfte Invafion von Skandi⸗ 
navten fächerförmig über unfere Ziefebene aus, wie dad die 
Richtung der Schrammen und die Bertbheilung der Gefchiebe 
erfennen läßt. Während die Schrammenrichtung der erften Inva⸗ 
fion gemäß der Fäcjerauöbreitung im Gentrum der Tiefebene 
im Allgemeinen eine Richtung NNW.—SSO., (Rüderödorf, Lom⸗ 
matſch, Leipzig), im Weften eine folde NNO.—SSW. (Belpte, 
Dönabrüd) zeigt, ift diejenige der zweiten Invafion ausgeſprochen 
oft=weftlich (jüngereds Schrammenfyftem von Rüdersdorf und 
Belpfe35)), und dadurch wird angezeigt, dab auch die Grund» 
moräne des SInlandeifes, welche fie erzeugte, diejelbe Richtung 
ihrer Sortbewegung einfchlug. — Schon früher hatte Torell dar- 


(876) 


38 


auf bingewiefen, daß dieſes zweite Inlandeis feine Bewegung 
um die Südoſtſpitze Schonens herum von Dft nah Weſt genommen 
babe, und aus der Richtung der Schrammen auf den Snjeln 
der Oftſee und auf den ſchwediſchen Küften geichloffen, da ed im 
Wefentlichen der Erftredungsrichtung der Oftfee gefolgt jet; aber 
erft im neuefter Zeit ift diefe Beobadytung weiter verfolgt und 
ausgeführt. _De Geer?*) hat die Ausbreitung und Richtung 
auf einem Kärtchen firirt, woraus auch hervorgeht, daB die 
zweite Invaſion die erfte an Mädhtigfeit nicht erreicht bat; jo 
find 3. B. auf der Höhe der Inſel Bornholm und auf dem 
Höhenzug Romeleflint in Schonen die Schrammen der älteren 
Richtung nicht durch die der jüngeren gefreuzt, haben aljo, wie 
die einzelnen Felſen, welche heutzutage aus dem grönländiichen 
Inlandeiſe hervorragen, (Nunnatater der Dänen), ehedem aus 
dem jüngeren Inlandeis der Glacialzeit hervorgeſchaut. — Es 
ſei noch darauf bingewiejen, daß durch diefe Bewegungdrichtung 
viele Geſchiebe aus öftlichen Theilen des bededten Territo⸗ 
riums in deſſen wmeftlichere geführt werden konnten und mußten; 
und fo kann es nicht nur nicht befremden, fondern muß fogar 
verlangt werden, daß fich 3.8. in der Gegend von Hamburg oder 
Kiel Geſchiebe finden, deren Heimath im den rufflichen Dftfee- 
provinzen zu ſuchen tft; ja fie find, wie wir durch 5. Roͤmer's 
Unterfuchungen willen, jogar nach Holland fortgeſchafft worden. 
Da für und die Grundmoräne ftet3 ein untrügliched Zeis 
hen einer früheren Eisbedeckung ift, jo erhält fie audy für die 
Beantwortung der Frage, wie weit die zweite Invafion nad) 
Süden vorgedrungen fei, die größte Wichtigkeit. Die Südgrenze 
der zweiten Invafion fällt danach mit der Südgrenze der fün- 
geren Grundmoräne (ded oberen Geſchiebemergels) zufammen. 
Dat diefelbe nicht jo weit nah Süden reicht, ald die ältere, 
untere, ift lange befannt; jedody bat man den Berlauf ihrer 


xX, 479. 8 (877) 











34 


Südgrenze nody nicht auf ihrer ganzen Erftredung genau ver 
folgt, und fo geben die bi8 jet davon vorhandenen Darftellungen 
nur ein annähernd richtiged Bild, weldyeß aber genügt, den Un⸗ 
terfchied in der räumlichen Ausdehnung der beiden Invafionen 
leicht zu überbliden. — Die befte Karte bierfür hat A. Pend?”7) 
kürzlich veröffentlicht, und nad, ihr würde die Südgrenze unge 
fähr mit einer Linie zufammenfallen, weldye nördlich von der Lüne⸗ 
burger Haide ſich am Wiehengebirge entlang über Braunfchweig, 
Magdeburg, Wurzen, Hoyeröwerda, Goͤrlitz, Haynau, Ziegniß, 
Ohlau, Brieg, Oppeln weiter nach Polen binzieht, aljo im Gro⸗ 
Ben und Ganzen in ziemlich gleicher Entfernung dem Rande der 
Mittelgebirge parallel verläuft. — Dieje Angaben Penck's ftim- 
men im Algemeinen gut mit den Betrachtungen Klodmann’d 
überein, der fich gleichfalld mit diefer Frage eingehend befchäftigt 
bat 3°). — Daß übrigens die angegebene Sübgrenze nicht haar⸗ 
ſcharf mit der urfprünglichen zufammenfält, ift mit Sicherheit 
anzunehmen, wenn man erwägt, dab gerade am Südrande bie 
Einwirkung und Erofion der an ihm binfließenden Waffer der 
gleidy zu erörternden großen Abjchmelzperiode fi am meiften 
fühlbar machen mußten; wie denn aud Wahnſchaffe in der oben 
citirten Abhandlung über die Magdeburger Börde die ımter 
dem Börde-Löh ftetö vorhandene |. g. Steinfohle mit ihren gro: 
Ben Gefchieben als ein Auslangungsd- und Erofionsprodukt aus 
der oberen Grundmoräne angeſprochen bat. Urſprünglich wird 
alfo die Südgrenze etwas weiter ſüdlich gelegen haben, als fie 
heute zu beobachten ift. 


5. Zeit des abſchmelzenden Eifes. 


Wir kommen nun zum Schlußakt des großartigen geo- 
logiſchen Phänomens, welches unfere Glacialbildungen entftehen 
ließ, und gerade diefer Schlußakt ift deshalb von befonderer Ber 


(878) 


35 


dentung, weil in ihm die Grundbedingung für unjer heutiges 
Flußnetz und die Konfiguration der Höhenzüge zu ſuchen if. — 
Schon Leopold von Buch u. A. haben auf den eigenthümlichen 
Berlauf unferer großen Flüffe hingewiefen, und Verſuche feiner 
Erklärung liegen zahlreich vor. Aber es ift erft durch ©. Berendt 
und einige jeiner Mitarbeiter Klarheit darüber geworden, wie 
auch dad hydro⸗ und orographiiche Verhalten unjerer norddent⸗ 
ihen Ziefebene nur als eine unmittelbare Einwirkung der In⸗ 
landeiöbededung, peciell deren Verſchwinden durch Abjchmelzung 
zu erklären ift. Berendt bat an mehreren Stellen dieſe „große 
Abſchmelzperiode“ behandelt??) und ift zu folgendem Reſultat 
getommen. Die große Breite faft aller Flußthaͤler unſeres Ge- 
bietes, in welchen fich, wie Berendt treffend jagt, die heutigen 
Flüffe wie eine Maus im Käflg bed entflohenen Löwen aus⸗ 
nehmen, deutet a priori auf eine einftige Entwidlung von ges 
waltigen Waflermafien bin, die wir nur in den Schmelzwaflern 
ded Inlandeiſes finden Tönnen. Es giebt weder Anzeichen für 
Ueberſchwemmungen durch Meereswaſſer, noch durch dauernde 
ſchwere Regengüſſe; weder das Eine noch das Andere kann 
als Urſache der Thalbildung angeſehen werden. 

Als das Inlandeis zu ſchmelzen begann, wurden die Schmelz⸗ 
waſſer zuerſt über das oben ſtizzirte Gebiet ausgedehnt, wel⸗ 
ches zwiſchen dem Nordabfall der deutſchen Mittelgebirge und 
dem Südrande des Inlandeiſes — alſo dem Südrande des oberen 
Geſchiebemergels liegt. Dieſe Schmelzwaſſer trugen die feinſten 
Theile der Grundmoräne ſuspendirt in ſich, und ehe ihnen ein 
Abzug nach Weſten gewährt wurde, ſetzten fie dieſe ſuspendirten 
Theile auf eben dieſem Gebiet ab. So entſtand die Lehmdecke, 
welche ſich genau an dieſen, dem Gebirgsrande parallelen Ge⸗ 
bietsſtreifen halt und auch wohl in Thäler der Gebirge oder in 


Buchten des Gebirgsrandes eindrang, wie z.B. in die, in wel- 
(879) 


36 


her Halle und Leipzig liegen. Nur in diefem, vom zweiten 
Snlandetfe nicht bedeckten Gebiete findet fich die agronomilch jo 
wichtige, fruchtbare Lehmdede. Doch muB auch bier wieder her⸗ 
vorgehoben werden, daß die urſprüngliche Südgrenze durch Ero⸗ 
fion verwiſcht ift, daß aber natürlidy auch diefer erodirte Streifen 
an der Südgrenze der Moräne mit Lehm bededt if. Dann haben 
wir eben die „Steinfohle" unter dem Lehm, wie in der Mag- 
deburger Börbe. 

Al dann aber die Scymelzwafjer wuchjen und fidh einen 
Abfluß ſuchten, da gruben fie die tiefen Thäler ein, welche noch 
heute zum größten Theil, wenn auch nicht in ihrem ganzen Ber- 
lauf, unjere großen Flüſſe (Weichjel, Oder, Elbe) beherbergen. 
Zunächſt laſſen ſich in der großen Senfe, welche ſich in oft-weft- 
licher Richtung zwiſchen dem preußiich-pommerjchemedlenburgie 
Ichen Höhenzuge im Norden und dem Fläming mit feinen Aus⸗ 
läufern im Süden erftredt, drei große Thäler erfennen , wel⸗ 
he Berendt ald das Glogau-Baruther, dad WarfchausBerliner 
und dad Thorn⸗Eberswalder bezeichnet hat. Dieje drei vereini⸗ 
gen ſich in den Moomiederungen ded Havelluched zum unteren 
Elbthal, das den eigentlihen Urftrom Norbdeutichlands zum 
Meere führte. Berendt fieht in diefen drei Thälern gewiſſermaßen 
Etappen in der Abjcymelzperiode, jo dab das ſüdlichſte Thal das 
zuerit, dad nördlichite dad zulebt gebildete war. Ald dann jpäter 
die von den mitteldeutichen Gebirge herabfommenden Wafler- 
maſſen keinen Widerftand mehr an dem Eisrande fanden, da 
da8 Eid abgeſchmolzen war, fuchten fie fich einen kürzeren Weg 
zum Meer und benubten dazu Rinnen, welche fich bein Zew 
Hüften des fchmelzenden Eifed gebildet hatten. So lenften z. B. 
die Dder bei Oderberg, die Weichjel bei Kordon aus ihren alten 
Thälern ab und wendeten fidh direct nach Norden, nachdem fie 
Ion durch Ablenkungen in früheren Stadten ihre mittleren Fluß⸗ 


(880) 


37 


läufe mehr und mehr nad Norden verlegt hatten. Als aber 
diefe Ablenkung vollendet war, wurde felbftredend ein Theil der 
alten, früher gebildeten Thäler verlaffen, die aber nody heute 
deutlich erkennbar find und vielfach zu Kanalanlagen erwünjchte, 
von der Natur gewiffermaßen vorgeichriebene Wege wieſen. — 
Wenn aber audy dad frühere Flußſyſtem in feinen Grundzügen 
von Berendt richtig erkannt, und in einzelnen Theilen unferes 
Gebieted bis in das Detail hinein verfolgt ift (fo namentlich 
in der Berliner Umgegend), fo fit es doch heute nody nicht 
möglich, ein genaues Gejammtbild zu entwerfen. Dazu fehlen 
vor allen Dingen die genauen SKartirungen ded gejammten 
Areals. Und jo mag das bier Gefagte nur die der einichlägigen 
Forſchung zu Grunde liegenden, hauptjächlichen Beobachtungen 
und die an fie gelnüpften Schlüffe andeuten; eine eingehendere 
Behandlung würde ohne Zuhülfenahme einer zu biefem Zweck 
audgeführten Karte faum Hoffnung auf Verſtändniß hegen dürfen. 

Soviel aber fteht feft, daß die Abſchmelzperiode verhältnis- 
mäßig fchnell eingetreten und verlaufen tft, daß auf dieſe Weife 
enorme Waſſermaſſen frei geworden find, welche auf ihrem erft 
gemeinſchaftlichen Wege, Daun in ihren Cinzelläufen eine groß- 
artige Thalbildung in die norddeutihe Xiefebene eingefurdt 
haben, die noch heute den Grundriß unjerer hydrographiſchen 
Berhältniffe darſtellt. Dadurd tritt auch diefer Schluß der 
ganzen Glacialzeit in einen merklichen Gegenjab zu der erften 
Abichmelzung vor der Interglactalgeit, welche jo langjam und 
allmählich vor ſich gegangen fein muß, daß fie, wie oben ers 
wähnt, von einigen lofal vorhandenen Granden und Sanden ab- 
gefehen, kaum Spuren hinterlaſſen hat. 

Es ift aber die Abfchmelzung des Inlandeiſes nicht nur in 
der Audgrabung eines großartigen Thalſyſtems noch erfennbar, 
fondern au in der Beichaffenheit der Oberfläche der Plateaus, 


(881) 


38 


die zwilchen den Thälern ſich erheben. Auf weite Exftredungen 
hin iſt diefe Oberfläche mit Sanden bebedt, welche den Reft 
des von feinen feineren, thonig-kalkigen Xheilen dur Aus» 
faugung befreiten oberen Geſchiebemergels daritellen. Und dieſe 
Sande ziehen fi, wie Berendt +°) fcharffinnig nachgewieſen 
bat, von den Plateaud ununterbrochen in den alten Schmelz- 
rinnen bi8 zum Thal herab, ein deutlicher Beweis, dat ſowohl 
dem Sande auf den Plateaud („Dediand” Berendt’d), wie denen 
der Thalrinnen eine gleiche Entſtehungsurſache zuzujchreiben ift. 
Er hat aud den gewiß nicht von der Hand zu weilenden Ge⸗ 
danfen zuerit ausgeſprochen, daß wahrjcheinlich die Plateand noch 
linger von Eismaſſen bedeckt waren, ald die Niederungen, indem 
er darauf hinweiſt, dab noch heute, wenn nad) regelrechtem 
Winter der Frühling nicht allzu plößlich eintritt, die Flächen 
Littbauend, Nadrauend und Natangend ſchon lange jchnee» und 
eiöfrei find, während das Plateau von Mafuren nody tiefen 
Winter mit Schneebededung und gefrorenen Seen zeigt. So 
mag auch diefe lebte Abjchmelzperiode ded Inlandeiſes nicht nur 
in allmählihem Zurückweichen nach Norden, jondern zugleich im 
Abfchmelzen der noch feit auf dem Lande laftenden, nunmehr 
durch Klüfte in einzelne mehr oder minder große Schollen zer: 
theilten Eismaſſen beitanden haben. 

Sicher fteht wohl mit diejer Abfchmelzperiode eine andere 
Eigenthümlichkeit unferes Gebietes in Verbindung, die oft ers 
wähnt und discutirt worden ift, nämlich der Reichthum an Seen 
auf den verjchiedenen Plateaus, die ald medlenburgiiche, pom⸗ 
merjche, preußifche Seenplatten befannt find. U. A. haben 
Klodmann 33), Geinitz“1) und Jentzſch“2) in neuerer Zeit bie 
Entftehung diefer Eeen beſprochen‘?) und find zu recht ver- 
ſchiedenen Ergebniffen gefommen. Nach Anficht des Berfaflers 


ift die einfachfte Erflärung die, dab das auf den Plateau liegende 
(883) 


39 


und in der Abichmelzung begriffene Eis feine Schmelzwaſſer 
nicht ſammt und fonders in die Thäler herabgeſchickt hat, ſondern 
daß fi ein Theil derfelben in Bodenvertiefungen anjammelte 
und nach dem gänzlichen Verſchwinden ded Eiſes ald Seen 
zurüdgeblieben ift. 

Kehren wir nun zurüd zu dem erften Gebilde, welches durch 
die Abjchmelzperiode erzeugt wurde, zu ber Lehmdecke, welche 
fich, wie oben gezeigt, zwijchen dem Nordrande des mitteldeutichen 
Gebirged und dem Südrande der zweiten Eisbedeckung aus» 
dehnte, beftehend ans den aus dem oberen Geſchiebemergel aud- 
gelaugten feinften, thonigen, fandigen und kalkigen Theilen, fo 
finden wir, während weiter nördlich noch das im Abfchmelzen 
befindliche Eis auf den Plateau lagerte und gewaltige Waſſer⸗ 
maſſen tiefe Thäler ausgruben, auf diefem fruchtbaren Lehm⸗ 
ftreifen eine Fauna vor, weldye ein wejentlich andereö Gepräge 
als die der Interglacialzeit (|. S. 28) an fich trägt. Diefe Fauna 
zuerft der Wiffenfchaft erichloffen zu haben, tft Nehring’s**) 
großes und allgemein anerkanntes Verdienft; namentlich bat er 
die Fundorte Thiede bei Wolfenbüttel und Wefteregeln bei Magde- 
burg durch jeine forgfältigen, jahrelangen Unterfuhungen für 
immer zu klaſſiſchen Punkten in diejer Frage erhoben, aber all» 
mählich auch faſt alle ähnlichen Saunen Deutjchlands in den 
Bereich feiner Studien gezogen. 

Danach findet fich zu diefer Zeit in den füdlichen Theilen 
der norddeutfchen Ebene, und zwar gemau gebunden an die im 
ihrer Ausdehnung oben geichilderte Lehmdecke, eine Fauna, in welcher 
zwar Bertreter der Interglacialzeit nody vorhanden find (Mam- 
muth, Nashorn, Pferd, Hirih, Ochs), welche aber abgejehen 
von vielen Bögeln, einigen Fröjchen und Kröten, fowie Mollusfen, 
die alle heute noch bei und leben, durch ſehr zahlreiche, die 
Hanptmafle des unterfuchten Materiald ausmachende Refte von 


(883) 


7 


0 


feinen Säugetbieren auögezeichnet ift, die jebt bei ung größten- 
theils nicht mehr leben, jondern die Steppen Ofteuropad und 
Aftend aufgefuht haben. Da find Murmelibiere (Bobac), 
Ziefel, Springmäufe, Wühlratten, Lemminge, Hafen, Pfeifhafen 
tn zahlreichen Arten und Individuen vertreten, meift die jeßigen 
Bewohner der Steppen. Neben ihnen, wenn audy jelten, liegen 
Steletrefte vom Löwen, Hyäne, Bär und Dachs, die nicht mehr 
befremden können, feitdem man weiß, daß etwa zu berjelben 
Zeit gerade dieje Thiere über ganz Deutichland verbreitet waren 
und namentlich die jüddeutichen Höhlen bewohnten. 

Nehring zieht aus der Zufammenfeßung der Sauna den Schluß, 
daß in der norddeutichen Tiefebene damals ein continentales 
Klima geherriht habe, wie heute in Mitteleurppa, d. h. dab 
trodene heiße Sommer mit trodenen kalten Wintern gewechſelt 
baben. Später ift der Wald von Süden nad Norden vor- 
gedrungen, hat die Steppenthiere verjagt und nach Oſten ge⸗ 
trieben und und eine Thiermwelt zugeführt, wie fie und heute 
noch umgiebt. Aber jchon bevor dieſe lebte, noch jebt vor: 
bandene Beichaffenheit der norddeutichen Tiefebene eintrat, wurde 
fie vom Menſchen bewohnt, wenigftend in ihrem füdlichen, zu⸗ 
erft eiöfreien Theile. Derjelbe Lehm, aus welchem Nehring die 
berühmte Steppenfauna bervorzog, beherbergt auch bearbeitete 
Feuerfteine und Knochenfragmente, und ebenjo find ſolche un- 
zweifelhaften Reſte paläolithifcher Zeit von Weimar und von 
Gera bekannt. Hierauf hat Pend 37) ausdrücklich hingewieſen, 
und zugleich auch den Nachweis geliefert, dab auch am Nord» 
rande der Alpen die Anfieblung des Menſchen in ungefähr die» 
jelbe Zeit fällt, daB derfelbe aljo gegen das Ende der Glacial⸗ 
zeit jchon über ganz Deutichland, mit Ausjchluß der nördlichen, 
noch unter Eis liegenden Theile, verbreitet war. 


(884) 








4] 

Es jet noch darauf hingewieſen, dab ed fi in Obigem 
nur um die Darftellung der eigentlichen, typiſchen Glacialbil- 
dungen gehandelt hat. Se mehr man fid) dem Gebirgärande 
nähert, defto mehr wird die typiſche Ausbildung verwilcht, weil 
hier die Einwirkung der von den Gebirgen berablommenden 
Gewäffer, namentlih in Geftalt mächtiger Schottermaffen fidy 
geltend macht. Man kann bier von einem „Randdiluvium" 
reden, welches namentlid, im Königreich Sachſen von H. Credner 
genau verfolgt und in vollendet klarer Form befchrieben worden 
it. Zur Zeit aber ift diefed Studium noch zu jehr auf ver- 
einzelte Zocalitäten beichränft, ald daB fidy ein allgemeines fah- 
liche8 Bild entwerfen ließe. Das mag daher einem fpäteren 
Bortrag vorbehalten bieiben. 


“ Wenn der Verfaffer zum Schluß betont, daß das hier Ge» 
gebene ein erfter Verſuch einer zufammenbängenden Darftelung 
von der Genefis unferer Glacialbildungen ift, jo darf er fich 
wohl der Nachficht der Leſer gegenüber mander Lücken und 
Mängel, deren Eriftenz auch ihm nicht unbelannt, deren Aud- 
merzung aber zur Zeit noch unmöglich ift, verfichert halten. 


Anmerkungen. 


1) Zeitichrift der deutſchen geologiſchen Geſellſchaft. Bd. 31. 1879. 
©. 141 fi. 

2) Kosmos. 1883. ©. 175 ff. 

3) Zeitjchrift der deutſchen geologijchen Geſellſchaft. Bd. 27. 1875. 
S. 961. 

4) Neues Jahrbuch für Mineralogie ꝛc. 1832. ©. 257 ff. 

5) Keilhack, Ueber präglaciale Süßwafjerbildungen im Dilüvium 
Norddeutſchlands. Sahrkuch der Kgl. preuß. geologijchen Landesanſtalt für 
1882. Berlin 1883, ©. 133 ff. — Wahnſchaffe, Die Sügwaflerfaung und 
Süpwafjer-Diatomeen-Flora im unteren Diluvium der Umgegend von 
Rathenow; ebendaf. für 1884. Berlin 1885. ©. 260 ff. 

xx. 479, 5 (885) 


42 


6) Das Intereſſe, welches die Auffindung des Damhirſches und 
des Karpfen in präglacialen Ablagerungen Norbdeutfchlands bat, ift auch 
von Nehring (Situngsberichte der Gef. naturforfch. Freunde zu Berlin 
1883. ©. 68) betont. Es widerlegt fih dadurch die Annahme, daß der 
Damhirſch feine urfprüngliche Heimath in den Mittelmeerländern habe, 
ebenfo, dab der Karpfen im Südoften Europas zu Haufe fei. Beide 
eriftirten ſchon präglacial in Norddeutihland und haben fich bei Ein. 
tritt der Glacialperiode nah Süden zurüdgezogen, um nach Beendigung 
berfelben wieder zu und zurückzukehren. Aehnlich fcheint es fich mit 
Dreissena polymorpha zu verhalten. 

7) Zeitfchrift der deutichen geologiſchen Geſellſchaft Br. 33. 1881. 
©. 196. 

8) Schriften ber phyſikaliſch⸗oͤkonomiſchen Geſellſchaft zu Königsberg. 
Bd. 22. 1882. ©. 129, 

Zeitfchrift der deutſchen geologifchen Geſellſchaft. Bd. 35. 1883. 
©. 318. 

9) Undersökningar öfver Istiden. Oefversigt af Vetenskaps 
Akademieens Förhandlingar 1872. No. 10. pag. 63. 

10) Zeitfchrift der deutſchen geologiichen Geſellſchaft. Bd. 32. 
1880. ©. 78. 

1l) Arkiv for Mathematik og Naturvidenskaberne 1882. 
pag. 201 ff. 

12) Geologiska Föreningens i Stockholm Förhandlingar. Bd. 
VII. No. 85. 

13) Bergleichende Beobadhtungen an isländifchen Gletfcher- und 
norddeutſchen Diluvialablagerungen. Jahrbuch der Kgl. preuß. geologifchen 
Landesanftalt für 1883. Berlin 1884. ©. 159. 

14) Das ausführlichfte Verzeichniß dieſer Sauna hat Reinhardt 
(Situngsberichte der Gef. naturforſch. Freunde zu Berlin. 1877. ©. 
173 ff.) gegeben. 

15) Die Sedimentär-Geichiebe der Provinz Schleöwig-Holitein. 
Yokohama 1883. ©. 3. 

16) Zeitfchrift der deutſchen geologiſchen Geſellſchaft. Bd. 31. 
1879. ©. 692 ff. 

17) Ebendaſ. Bd. 32. 1880. ©, 572 ff. 

18) Ebendaſ. Bd. 36. 1884. ©. 584 ff. 

19) Ebendaſ. Bd. 33. 1881. ©. 434 ff. 

20) Was Hier nur in den allgemeinften Zügen angebeutet werben 
fonnte, findet fi ausführlich erörtert in der jüngft erichienenen Abhandlung 

(886) " 


43 


F. Römer’d: Lethaea erratica, oder Aufzählung und Beſchreibung der 
in der norddeutfchen Tiefebene vorkommenden Diluvial-Gefchiebe norbifcher 
Sedimentär-Gefteine (Palaeontologifche Athandlungen, herausgegeben von 
W. Dames und E. Kayſer. 2 Bd. 5. Heft. Berlin 1885. 4° mit 
11 Tafeln). 

—* Zeitſchrift der deutſchen geologiſchen Geſellſchaft. Bd. 35. 
1883. . 846. 

22) — Bd. 31. 1879. ©. 216. 

23) Ebendaf. Bd. 30. 1878. ©. 239. 

24) Ebendaſ. Bd. 34. 1882. ©. 562. 

25) Ebendaſ. Bd. 31. 1879. ©. 339. 

26) Ehendaf. Bo. 32. 1880. ©. 56. 

27) Jahrbuch der Kgl. preuß. geologifchen Landesanftalt für 1884. 
Berlin 1885. ©. 211. 

28) Die Uuartärbildungen ber Umgegend von Magdeburg mit 
bejonderer Berüdfihtigung der Börde. Abhandlungen zur geologifchen 
Specialfarte von Preußen und den Thüringifchen Staaten. 1885. Bd. 
VII. Heft 1. ©. 60 ff. 

29) Zeitjchrift der deutschen geologifchen Geſellſchaft. Bd. 37. 1885. 
©. 550. 

30) %offile Pferde aus deutfchen Diluviafablagerungen und ihre 
Beziehungen zu den lebenden Pferden. Berlin 1884. 

31) Zeitjchrift der deutſchen geologischen Geſellſchaft. Bd. 20. 
1868. ©. 435. 

32) Monatsberichte der Lönigl. preußiichen Akademie der Wiffen- 
haften zu Berlin. 1851. ©. 39 ff. 

33) Jahrbuch der Kgl. preuß. geologifchen Landesanſtalt für 1881. 
Berlin 1882. ©. 535. 

34) Ebendaſ. ©. 530; Zeitjchrift der deutfchen geologiichen Geſell⸗ 
ſchaft. Br. 34. 1882. ©. 203. 

35) Zwei, mehrere Quadratmeter große Platten Rhätjandfteins 
von Velpke, welche beide Richtungen vorzüglich zeigen, find von Herrn 
Wahnſchaffe nach Berlin gebracht und bafelbft in der Kgl. geologifchen 
Landesanſtalt aufgeftellt. 

36) Geologiska Föreningens i Stockholm Förhandlingar Bd. 
VII. Nr. 91. pag. 436 ff. (2. Taf.); auch von Wahnſchaffe überſetzt 
in Bd 37. der Zeitſchrift der deutſchen geologiſchen Gefellihaft S. 177 ff. 


Tafel 12 u. 13. 
(887) 


44 


37) Menſch und Eißzeit. Archiv für Anthropologie. Bd. 15. 
Heft 3. 1884. 

38) Die fübliche Verbreitung des oberen Geſchiebemergels und deren 
Beziehung zu bem Borlommen der Seen und des Löfles in Nord 
deutichland. Jahrbuch der Kol. preuß. geologijchen Landesanftalt für 
1883. Berlin 1884. ©. 238 ff. 

39) Geognoftiihe Bejchreibung der Gegend von Berlin. Berlin 
1880. pag. 9 ff. (Zweite, vermehrte Ausgabe Berlin 1885. pag. 
9 ff.). — Die Sande im norddeutfchen Tieflante und die große dilwiale 
Abjchmelzperiode. Sahrbuch der Kgl. preuß. geologifchen Landesanftalt für 
1881. Berlin 1882. ©. 482. 

40) Jahrbuch der Kgl. preuß. geologiſchen Landesanſtall für 1881. 
Berlin 1882. ©. 482. 

41) Archiv der Freunde der Naturgejchichte in Mecklenburg. Bd. 39. 

42) Zeitichrift der deutichen geologijchen Geſellſchaft. Bd. 36. 
18834. ©. 699. 

43) Kürzlih hat Pend eine neue Anſicht über die Entſtehung ber 
Seen geäußert, welche zwar auch die Erofion durch ftrömende Gewäffer 
zu Hilfe nimmt, aber eine foldhe, welche durch Artraction des vorliegen- 
ben Inlandeifes hervorgerufen fei. Dadurch ſei eine Veränderung ber 
Geoidfläche hervorgerufen, und die Wafler, welche von Süden her über 
„die Plateaus gewiffermaßen fortgezogen jeien, hätten auf diefen verbarrt 
und Seen gebildet. — So lange weitere Begründung fehlt, wird man 
diefe Anficht als geiftreihe Hypotheſe zu betrachten haben. Verhand⸗ 
Inngen der Gejellichaft für Erdkunde zu Berlin. 1884. Ro. 1. 

44) Das Hauptwerk über dieſe Sauna ift die im 10. und 11. 
Bande des Archivs für Anthropologie veröffentlichte Abhandlung: Ueber 
die quaternären Saunen von Xhiede und Welteregeln nebft Spuren des 
vorgeſchichtlichen Menſchen. — Außerdem aber find jehr zahlreiche Nach⸗ 
träge und Erweiterungen von demſelben Verfafſer veröffentlidht, deren 
Aufzählung hier zu weit führen würde. — Eine vortrefflide Zufammen- 
itellung feiner diesbezüglichen Anfichten bat Nehring im Geological 
Magazine 1883 yag. 51 ff. unter dem Titel: „The Fauna of Central 
Europe during the Period of the Löss; a Rejoinder to Mr. H. 
H. Howorth“ gegeben. 


— — 


(888) 


Drug von Wehr. Unger in Berlin, Schönebergerftr. m. 





Nichter (Halle a. S.), Wahrheit und Dichtung In Platon’d Reben. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Diderot'd. 

Diercks (Madrid), Ueber die arabiihe Kultur im mittelalterlihden Spanien. 
Mac (Dresden), Das deutihe Märchen. Literariiche Stubie. 


Einladung zum Abonnement! 





5S gu 6 
Sy den 
ar In Berbindung mit Way 7 


Prof. Dr. v. Aluckhohn, Redacteur A. Lammers, 
Prof. Dr. 3. 8. Meyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


herausgegeben von 
Stanz non holtzendorff. 


Neue Folge. Erſter Jahrgang. 


(Heft 1— 16 umfaflen?.) 
DB Im Mbonnement jedes Heft nur 75 Pfennige. ug 


In diefem erften Jahrgange der neuen Folge werden vorbehaltli etwaiger 
Abänderungen im Einzelnen folgende Beiträge erſcheinen: 


Eberty (Berlin), Der Lebensmittelmarkt und die Hauswirthſchaft. 

Solzmäüller (Hagen), Errichtet lateinloſe Schulen. 

Hey (Hagenau i. E.), Ueber den Einfluß des Waldes auf dad Klima. 

Dftermeyer (Memel), Harmoniren Bolldmoral und Strafgeieß? 

Ahrens (Kiel), Die Reform des Kunftgewerbes in ihrem geſchichtlichen Ent: 
widelungsgange von dem XII. bis zum XVII. Zahrhundert. 

Hagel (Münden), Die praktiihe Bedentung der Handels-Geographie. 

Soltgendorff (Münden), Staatdmoral und Privatınoral. 

Orelli (Züri), Der internationale Schuß des Urheberrechts. 

Siewert (Kiel), Die Lage unjerer Seeleute. 


Meyer (Bonn), Weber den Reltgiond-Unterriäht in der Schule. 

Paul (Halberftadt), Weber die Zukunft unferes Handels. 

Kradolfer (Bremen), Die Macht der Phrafe. 

Diercks (Madrid), Ueber den ſpaniſchen Nationalcharakter in feiner Verwandtſchaft 
und Verſchiedenheit verglichen mit dem der anderen Roman. Nationen. 

Brückner (Berlin), Entftehung der Evangelien. 

Weifß; (Adelöheim), Die Wirkungen der Gleichheitsidee und der Lehre vom Ber 
tragsftaat auf das moderne Staatsleben. 

Zaas (Gtrakburg t. E.), Idealiſtiſche und pofitiviſtiſche Ethik. 


Mit diefen beiden Sammelwerten, welde ſich gegenjeltig er- 
gänzen (deun Vorträge und Abhandlungen, welche von der „Sammiung” aus 
geihlofien find, bilden bei den „Zeitfragen” das Hauptmotiv), dürfte eine bisher 
tief empfundene Lücke wirklich ausgefüllt werden. 


Die Sammlung bietet einem Jeden die Möglichkeit, ich über Die verichtedeuften 
Gegenftände des Wifjens Aufklärung zu verichaffen und iſt auch wiederum fo recht 
geeignet, den Familien, Vereinen ıc. durch Borleiung and Beipredhung des Ge: 
lefenen reihen Stoff zu angenchmer und zugleich bildender Unterhaltung zu liefern. 
Su derjelben werden alle beſonders bervortretenden wifieni&haftlichen Zuterefien unferer 
Zeit beridfichtigt, ald: Biographien berühmter Männer, SchiIderungen 
großer biftorifher Ereignifie, volfswirtbihaftlihe Abhandlungen, 
kulturgeſchichtliche Gemälde, phyfitaliiche, aftronomifhe, chemiſche, 
botaniſche, zoologiſche, phyfiologtidhe, arzneiwtifenihaftlihe Bor: 
träge: und erforderlihhen Hals durh Abbildungen erläutert. Rein politiſche 
und kirchliche Partei» Sragen der Gegenwart bleiben ausgeſchloffen (ſ. Zeitfragen). 


Die Zeitfragen find ganz befonders dazu angetban, die, die Gegenwart beſon⸗ 
ders berührenden Interefien in einer deu Tag Überdauernden Form nnd in allgenzein 
verftändlicher Weife vor Augen zu führen und geben ſomit Gelegenheit, ih fiber die 
brennendften Tageöfragen ein erſchöpfendes Verſtändniß zu verſchaffen. Dieſelben 
nehmen fi die großen Angelegenheiten der Gegenwart, die Gtreit- 
fragen der Schule und des Unterrichts weſens, der Arbeiterbewegung, 
der Kirdhe, der Literatur und Kunft, des Staates und der aus⸗ 
wärtigen Politik ıc. ıc. zum Gegenftande ihrer Betrachtung. 


Verzeichniſſe der bisher erjchienenen Hefte der Sammlung 
und Zeitfragen 

1. Nach Serien und Jahrgängen geordnet, 

2. Nach Wifienfchaften geordnet 
find durch jede Buchhandlung gratid zu beziehen, welche auch Be—⸗ 
ftellungen und Abonnements auf die Neue Folge 1. Jahr: 
gang annehmen. 











Sammlung 
gemeinveritändlicher 
wiffenfhaftlider Vorträge, 
herausgegeben von 
Nud. Virchow und Fr. von Soltendorff. 

XX. Arrir. nn 
(Heft 457 — 480 umfaflend.) 1% | 
| Heft 480. m Ä 
. 
Die pofitine Philofophie Auguſt Comte's. 
Bon 


Augo Aommer, 
Amtörnchter in Dlantenburg a. 9. 


| Gi 


Berlin SW., 1886. | 
Berlag von Carl Habel. 


(C. 6. KLüderitv'sche Verlagsbugghaudtung.) \ 
33. Wilhelm⸗Sſtrahe 33. 
—_———— — — — — —5. u TR 


| 
| 
5 


| Qierieen 
ME 8 wird gebeten, die anderen Griten ded Umſchlages SEE nung, 
enthalten das Programm der Reuen Rolge, Erfter Zar art N dose halte 
jowie dad der Reuen Rolge, Erfter Jahrgang (1886) der Zeil PLN 
Ber tichniſſe der früheren Hefte, nach Serien und Sau x —B R 
ſchaften geordnet find durch jede Buchhundlung rau — 
_ Ed \, VE 





Einladung zum Abonnement! 


Die Zury der „Internationalen Ausitellung Ä 

A von Gegenftänden für den häuslichen und 

A gewerblichen Bedarf zu Amjterdam 1869" reg 

; hat diefen Vorträgen die — 

Goldene Medaille 
zuerfannt. 








Mit dem Jahrgang 1886 beginnt die 
Sammlung gemeinverftändlicher 
wiffenfhaftlider Borfräge, 


herausgegeben von 


Rud. Virchow und Sr. non Kolgendorff. 


eine 


BE Dreue Folge. Erſter Iahrgang. "TEE 


(Heft 1— 24 umfaflend.) 
ZB Im Mbonnement jedes Heft nur 50 Pfennige- "ug 


Sn diefem erften Jahrgange der neuen Folge werben, vorbehaltlid etwa 
notbwendiger Abänderungen ericheinen: 


Koch (Berlin), Ueber die Methoden der modernen Bakterienforjchung. 

Bauer (Eiſenach), Peter Bifcher nnd das alte Nürnberg. 

Schafft (Gera), Ueber das Borberjagen von Naturerfcheinungen. 

Dannehl (Sangerbaufen), Victor Hugo. Kiterarifches Porträt mit Berädfichtigung 
der Lehrjahre des Dichters. 

Buchheifter (Hamburg), Eine wiſſenſchaftliche Alpenrelje im Winter 1832. 

Goetz (Waldenburg bei Bajel), Altnordiſches Kleinleben und die Renaifjance. 

Baumeifter (Karlörube), Die techniſchen Hochſchulen. 

Semler (Dresden), Goethe's Wahlverwandtjcdhaften and bie fittliche Weltanfhauung 
des Dichters. 

Schmidt (Hildesheim), Die Photographie, ihre Geſchichte und Entwidelung. 

Bruchmann (Berlin), Wilhelm von Humboldt. 

Patzig (Hannover), Weber Staatswirthſchaft in den altorientaliihen Etaaten. 

Ginzel (Wien), Ueber Veränderungen und Ummälzungen im Neid der Firfterne. 

Mandl (Wien), Das Sklavenrecht des alten Teſtamentes. 

Gad (Berlin), Körperwärme und Klima. 

Votſch (Gera), Cajus Marius ald Neformator des roͤmiſchen Heerweſens. 

Neuhaus (Berlin), Die Hawati: Infein. 

Koch (Diarburg), Gottſched und die Reform der deutichen Literatur im achtzehaten 
Jahrhundert. 

Frauenſtädt (Breslau), Die Todſchlagſühne des deutſchen Mittelalters. 

Preuß (Berlin), Franz Lieber, ein Bürger zweier Weiten. 

(Bortfeßung auf Seite 3.) 


25 


Die poftive Philofophie 
Rugult Comte's. 


———e¶ 


Augo Sommer, 
Oberamtsrichter in Blankenburg a. 9. 


SP 


— — — — — nn - — — 0 —— — — — — 


Berlin SW., 1885. 


VBerlag von Carl Habel 


(C. 8. Tüdrrity’sche Verlogsbadhhandlung.) 
33. Wilhelin-Straße 33. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wirb vorbehalten. 


Die pofitive Philojophie Auguft Somte’31) ift eine jener 
Senfationslehren, die, wie der Materialismus Büchner's und 
Carl Vogt's und die Hartmann’ihe Philofophie des Unbewußten, 
in den lebten Sahrzehnten hin und wieder meteorartig am Tages» 
bimmel der öffentlihen Meinung auftauchten, aller Augen auf 
fi) zogen und alle Gemüther erregten, aber meilt eben fo raſch 
als fie erjihienen, wieder von der Bühne de3 allgemeinen In⸗ 
tereffed zu verjchwinden pflegten. Der Stern ded Pofitivigmus 
ſcheint allerdings gegenwärtig noch immer im Aufiteigen be= 
griffen. Seine Bertreter behaupten, er jei zur Zeit in Frank⸗ 
reich und England faft die herrichende Lehre, und auch bei uns 
in Deutichland beginnt er jet feinen Einzug zu halten und 
immer mehr Beachtung zu finden. ine kurze, allgemeinver- 
ſtändliche Darftellung und Beurtheilung diefer Lehre dürfte da— 
ber nicht ohne Intereſſe fein. Sie erſcheint um fo gerecht« 
fertigter, als die Lectüre des ſechsbändigen Comte'ſchen Original» 
werkes „Philosophie positive“?) einen unverhältnifmäßigen 
Zeitaufwand erfordert, während fich der einfache Gedankenkern 
der Lehre mit wenigen Worten wiedergeben läßt. 

Die pofitive Philofophie ift Tein philoſophiſches Syſtem im 
üblichen Wortfinne, fie enthält vielmehr in der Hauptjache nur 
eine Anweijung, Welt und Leben von einem ganz befonderen 
Standpunfte aus zu betrachten und zu würdigen; fie ftatuirt 
einerjeitd eine neue Erkenntnißtheorie, und enthält ander- 
feitö einen Verſuch, ſich auf der veränderten Wiſſens— 


grundlage mit den Bedürfniffen und Anforderungen 
XX. 480. 1* (891) 


4 


des Lebens praktiſch abzufinden. Sie ift, obwohl fie ſich 
angebli) nur auf Thatfachen gründet, in beiden Beziehungen 
nicht vorausfeßungslos, aber ihre Vorausſetzungen find theils 
bloß negativer, theils beftimmt formulirter dogmatifcher Art, 
alfo in beiden Beziehungen einfach und leicht fablid. Der 
ganze Gefichtöfreid wird dadurch feit beftimmt und abgezrenzt. 
Das ganze Lehrgebäute wird aus dieſen einfachen Factoren, 
denen ſich nur bin und wieder Reminiscenzen ausder biöherigen 
Bildung affociiren, wie ein Rechenexempel nah mathematifcy 
eracter Methode entwidelt. Um dieje Philofophie zu verfteben, 
bedarf ed gar Feiner philojophifchen Vorkenntniſſe, fondern nur 
einer Empfänglicyleit für die Bedeutung jener Methode und 
einer allgemeinen Kenntniß des gefchichtlichen Entwidelungs- 
ganges ſowie einer allgemeinen naturwiſſenſchafilichen Bildung. 
Um fie im Sinne ihres Urhebers als die allein richtige Lehre und 
als den endgültigen Schlußpunft alles philoſophiſchen Nachdenfens 
zu würdigen, bedarf ed nur eined tapferen Entichluffed und einer 
forglofen Bereitwilligfeit, die dargebotenen neuen Grundlagen 
in negativer und pofitiver Hinficht als die allein ſachgemäßen 
anzuerkennen. 

Ich beginne mit der Darftellung der negativen Voraus⸗ 
feßungen, denn dieſe müflen das Feld für die pofitive Lehre 
ebnen und frei machen. 

Die Erkenntniß der Weſenheiten, der lebten Urſachen 
und der Endurſachen ift, jo wird und gelehrt, dem Menſchen 
unbedingt verſchloſſen. Diejelben eriftiren für den Menfchen 
nit. Eine Wiffenfchaft, die fih auf Thatjachen gründen und 
beſchränken will, muß fie aus ihrem Gefichtäfreife ausſchließen. 
Borausjeßungen über Wefenheiten, letzte Urfachen und End⸗ 
urſachen, wie 3. B. der Glaube an Gott, einen göttlichen Ur⸗ 
ſprung oder eine göttlide Erhaltung und Regierung der Welt, 


die Annahmen einer Seele, eines einheitlihen Sch, der Atome 
(892) 





5 


oder irgend welcher anderer jubftantieller Glemente, die Boraud« 
ſetzung eined Weltzwecks und einer ewigen Beltimmung des 
Menichen erfüllen zwar die gewöhnliche Weltanfiht und das 
gemeine Bewußtjein der Menge, aber fie find bloße Chimären, 
welhe in dem durch „Thatſachen“ beftimmten und begrenzten 
Gefichtöfreife der pofitiven Philofophie feine Geltung haben. 
Auch die fubjectiven Grumdlagen dieſer Vorausſetzungen, die 
BGemüthsbedürfniffe und Vernunftariome, denen fie ihre Ent» 
ftehung verdanfen, find trügerifhe Einbildungen. Der Menich 
kann alle anderen Phänomene beobadyten, nur feine eigenen nicht, 
„denn der Einzelne fann fi während feines Denkens nicht in 
zwei Perjönlichleiten theilen, von denen die eine nuchdenft, 
‚während die andere das Nachdenken beobachtet”. Comte denft 
fich jede geiftige Thätigkeit ald die Function eines beſonderen 
leiblichen Organs und hält ed daher für unmöglich, daß „das 
‚beobadhtende Organ ſich felbft beobachten fönne“, weil dazu 
wieder ein neues Drgan nöthig fein würde, und fo fort. Nur 
jeine „Leidenfchaften” ſoll der Menſch beobachten Tönnen, und 
zwar lediglich aus dem anatomifchen Grunde, daß angeblid) 
die Organe, weldye der Sib der Leidenjchaften find, von den 
Drganen getrennt find, welche den beobachtenden Berrichtungen 
dienen. | 

Dur diefe Negationen vereinfacht fi) das Gebiet der 
pofitiven Wiffenfchaft jehr bedeutend. Die Piychologie, die 
Logik, die Metaphyſik, die Ethik und Aeſthetik werden als un⸗ 
nützer Ballaſt ausgeſchieden. Was übrig bleibt, wird neu for- 
mulirt und gruppirt und nur im diefer neuen Geftalt fernerhin 
in Betracht gezogen. 

Ich wende mich num zu den pofitiven Vorausjegungen, die 
übrigend nicht. als ſolche, jondern als einfadye, keines Beweiſes 
bedürftige Thatſachen bingeftellt werben. 

Die pofitive Philofophie kennt und beachtet grundſätzlich 


(898) 


6 


nur „Phänomene“. Die erfte Vorausfegung ift, dab alle 
Phänomene „gleihartig" feten, die zweite, daß in dem gleich⸗ 
zeitigen und nadjeinanderfolgenden Auftreten der Phänomene 
überall und ſtets „Gleichförmigkeiten“ ftattfinten, zu deren 
Bezeichnung Comte den an fich weit mehr bedentenden Ausdruck 
„Geſetze“ ufurpirt. Der Inhalt der Phänomene und die Natur 
der Dinge kommen nit in Frage, da fie angeblich, wie bie 
Urfachen und Wefenheiten, ber Beobachtung unzugänglid find. 
Beobadhtbar find nur die gleichzeitige Ordnung (Statil) und 
die Folgeordnung (Dynamik) in dem Auftreten der Phäncmene. 
Die Ermittelung der beftehbenden Drdnungen oder 
Geſetze in dem Auftreten der Phänomene ift daher 
die einzige Aufgabe der einzelnen Wiſſenſchaften. 
Der Zwed, der dadurch erreicht werben fol, ift für alle Wiffen- 
fchaften derfelbe, nämlich die Vorausſicht fünftiger Ereig- 
niſſe, deren man bedarf, um fein Handeln danach einzurichten. 

Ebenſo einfach wie dad durch diefe Vorausſetzungen geebnete 
und umgrenzte Arbeitsfeld ift die zur Beobachtung defjelben an 
gewendete Methode. Die Gejeke, um deren Crmittelung es 
fi) ausjchlieglich handelt, Tönnen auf Teine andere Weife als 
durch, „Beobachtung und „Verſuche“ nach den gewöhnlichen 
Regeln des gefunden Menjchenverftandes gefunden werden. 

Es fpringt in die Augen, daß in diefem vereinfachten Ge⸗ 
fichtöfreife und mit diejen beſchränkten Mitteln kein complicirter 
ſyſtematiſcher Aufbau errichtet werden kann. Es handelt fidy 
immer nur um Feltftelung der geltenden Gefebe und der all» 
gemeineren Gleichförmigleiten zwijchen den bejonderen Gejeten. 
Die eritere Aufgabe fallt den Einzelwiffenfchaften zu. Die 
Philojophie hat dagegen die allgemeineren Beziehungen der Ges 
jeße unter einander zu ermitteln, fie ift „Das Studium der 
wiſſenſchaftlichen Allgemeinheiten”. Letzteres iſt um fo 


wichtiger, je mehr Die wachſende Audbreitung des Willens die 
(834) 





— — — Ku vu wa > ven 


7 


Vervollkommnung der Arbeitätheilung gebietet. Eine Syſtematik, 
welche die Einzelwiſſenſchaften mit der Philoſophie in ein Ganzes 
zuſammenzufaſſen beitrebt ift, fan, da ed an einem einheitlichen 
Principe und einem alle Sonderbeftrebungen in fich ſchließenden 
einheitlichen Ziele fehlt, aber nur zu ber Aufftellung einer Rang. 
ordnung, zur Claſſifikation der Wiſſenſchaften, führen. 
Das Eintheilungsprincip ergiebt fi ohne Schwierigkeit 
aus der Natur der Sade. Daffelbe kann, da die Art der 
Phänomene überall die gleiche iſt, nur den gegenjeitigen Ver⸗ 
hältniffen diefer entnommen werden. Die Bhänomene werben 
derartig in Klaffen eingetheilt, dab das Studium jeder Klaffe 
ih auf die Kenntniß der Gefebe der vorbergehenden Klaffe 
fügt und zugleich die Grundlage für die folgende Klafje ab» 
giebt. Diefe Ordnung beftimmt fidy nach dem Grade der Ein- 


fachheit, oder was daſſelbe fagt, nach dem Grabe der Allgemein- 


beit der Phänomene. Man muß mit den allgemeinjten oder 
einfachften Vorgängen beginnen und allmählicdy zur Betrachtung 
der befonderen und verwidelteren übergehen. 

Die Prüfung der Gefammtheit der Phänomene führt zu» 
nächſt zu deren Eintheilung in zwei Hauptklaſſen, von denen die 
eine „die Vorgänge bei den unorganijchen, die Zweite die 
bei den organijchen Körpern befaßt". Die erftere zerfällt 
wieder in zwei Unterabtheilungen, je nachdem es ſich um die 
allgemeinen Phänomene ded Weltall! (Aftronomie) oder die 
irdifchen (Phyſik und Chemie) handel. In der Wiffenichaft 
der Organismen zeigt fi eine ähnliche Eintheilung. „Alle 
lebenden Weſen zeigen zwei Arten von Phänomenen; die eine 
Art bezieht fi auf das Individuum, die andere auf die 
Gattung Danach zerfällt diefe Klaffe in die Biologie und 
die Sociologie. Die Mathematik fteht außerhalb diefer Ein- 
theilung, weil fie die gemeinfame Grundlage des ganzen Syſtems 
unferer pofitiven Kenntnifje bildet”. Die Mathematik ift die 


(895) 


8 


erite und volllommenfte Wiffenjchaft, welche deshalb an der 
Spige der ganzen Rangordnung ſteht. Demnach gliedert fich 
Dad ganze Syftem in nacdhftehende encyclopädiſche Formel: 

Mathematit — als gemeinfame Grundlage, 

Altronomie 

Phyfik —J Philoſophie, 

Chemie 

Biologie 

Socioiegie | organiſche Philofophie. 

Dieje neue Auffaffung kann aber nur durch deren geſchicht⸗ 
liche Entftehung verftanden werden. Comte glaubt „ein großes 
Gele" entdedt zu haben, dem die Entwidelung der menfchlichen 
Kenntniffe von ihrem einfachften Beginn bi8 auf unjere Zeit 
unterworfen fein jol. Dieſes Geſetz lautet dahin, daß jeder 
Zweig unlerer Kenntniffe der Reihe nady drei ver- 
Idiedene theoretiſche Zuftände durchläuft, nämlich den 
theologiſchen oder fingirten Zuftand, den metaphyſiſchen 
oder abitracten Zuftand und den wifjenfchaftlichen oder pofitiven 
Zuftand.* Mit anderen Worten: der menjchliche Geift wendet 
in allen feinen Unterjuchungen der Reihe nach verfchiedene umd 
ſogar entgegengejeßte Methoden an; zuerft die theologifche 
Methode, dann die metaphyſiſche und zuleßt die pofitive. Die 
erite ift der Punkt, wo die Erkenntniß beginnt; die dritte der 
fefte und jchließliche Zuftand, die zweite dient nur als Ueber⸗ 
gang von der erſten zur dritten. 

Im theologiſchen Zuftande richtet der menfchliche Geiſt feine 
Unterfucdhungen auf die innere Natur der Dinge und auf die 
erften Urfachen und lebten Ziele aller Phänomene, mit einem 
Wort: auf die abjolute Erkenntniß. Die Ereigniffe gelten ihm 
da ald die Thaten übernatürlider, mehr oder weniger 
zahlreiher Weſen, und er erflärt alle fcheinbaren Unregel⸗ 


mäßigfeiten der Welt aud deren Einwirkungen. 
(896) 


6 





9 


Im metaphyſiſchen Zuſtande, der nur eine Modification 
des vorhergehenden iſt, werden die übernatürlichen Mächte durch 
abftracte Kräfte oder Entitäten erfeßt. Bon denfelben follen 
alle wahrgenommenen Phänomene ausgehen. Diefe werden 
dadurch erklärt, daß man jedem feine entiprechende Entität zuweift. 

Im pofitiven Zuftande erfennt man endlich) die Unmöglich- 
feit, ein unbedingtes Wiffen zu erreihen. Statt nad) dem Ur⸗ 
ſprunge und der Beltimmung der Welt zu forfchen, bejcheidet 
man fi, die Geſetze ber Erſcheinungen zu entdecken, d. h. 
deren Verhältniffe der Zeitfolge und der Aehnlichkeit nah. Die 
Erklärung der Thatſachen befteht nur noch in der Ber» 
fnüpfung dereinzelnen Erſcheinungen mit einigen all» 
gemeinen Thatſachen, deren Zahl der Kortichritt der 
Willenichaft ftetig zu vermindern firebt. — — Die 
Vollkommenheit des pofitiven Syftemd würde darin beftehen, 
daß es alle Erfcheinungen ald die beſonderen Fälle einer all» 
gemeinen Thatſache darlegte, wie z.B. der Thatſache der Gra⸗ 
vitation”. 

Daffelbe Geſetz ſoll audy in der Entwidelung des indivi- 
duellen Geiſtes ftattfinden. „Der Ansgangspunkt ift bei der 
Erziehung ded Einzelnen derfelbe, wie bei der Erziehung der 
Gattung, und die Stufen der erfteren müfjen auch die der 
zweiten darftelen. Wer erinnert fich nicht, Theologe in feiner 
Kindheit, Metaphufller in feiner Sugend und Phyſiker in jeinem 
Mannedalter geweſen zu fein“? 

Die verichiedenen Zweige unferer Kenntniffe haben jedoch 
dieje drei Formen nicht gleich jchnell durchlaufen können. Die 
pofitine Philofophte umfaßt daher heutzutage noch nicht alle 
Arten der Phänomene, fie bat bis jebt nur in der Mathematik 
und Aftronomie allgemeine Geltung erlangt. Insbeſondere bei 
den „focialen Phänomenen“ ift die theologiſche und metaphyfiſche 
Methode noch in vollem Gebrauch. Es ift Somte’3 Haupt» 


(897) 


„m 
. 


10 


beftreben, bieje große Lüde auszufüllen, auch den Phänomenen 
der leßteren Art „den pofitiven Charakter aufzudrüden" und 
dadurch „unfer ganzes Willen gleichartig zu machen“. Nach⸗ 
dem dies vollftändig gelungen, und die pofitive Philoſophie zur 
Alleinherrichaft gelangt fein wird, werden bei unjeren Rach- 
fommen die Theologie und Metaphyſik nur noch eine biftorifche 
Geltung haben. 

Der erite Schritt zu diefem Ziele befteht in einer über- 
fichtlichen Nebeneinanderftelung und vollitändigen Revifion aller 
biäher erreichten Kenntniffe, welche fi) demnächſt „als eben fo 
viele" aus einem Stamm entiprofjene Zweige darftellen werben. 
Diefer umfangreichen Aufgabe find die erften vorbereitenden 
Theile des Comte'ſchen Hauptwerled gewidmet, während fidh Die 
andere Hälfte deffelben Die Begründung und Darftellung 
der Sociologie als einer pofitiven Wiſſenſchaft zum 
Zweck ſetzt. 

Da die Hauptabſicht der poſitiven Philoſophie, die Er⸗ 
mittelung der geſetzlichen Zuſammenhänge der Erſcheinungen, 
offenfichtlich mit den Specialaufgaben, welche die Naturwiſſen⸗ 
ſchaften auf ihren beſonderen Gebieten von jeher ausſchließlich 
verfolgt haben, im Weſentlichen übereinftimmt, jo hat ein näheres 
Eingehen auf die fehr umfangreichen worbereitenden, Abſchnitte, 
welche die erften Glieder der pofitiviftiichen NRangordnung, die 
Mathematik, Afteonomie, Phyſik und Chemie, behandeln, für 
unferen Zweck einer Darftellung der charakteriſtiſchen Grundzüge 
der pofitiven Philoſophie fein erhebliches Intereſſe. Bemerkens⸗ 
werth ift nur, dab Comte auch hier das Hilfsmittel Xer Hypo⸗ 
thefe, obwohl deſſen Anwendung ſich biöher fo überauß Hlänzend 
bewährt hat, grundfäßlich abweilt. Er ift ſich darin jedoch durch⸗ 
aus nicht confequent, denn er bedient fi mit größter Un- 
befangenbeit und in ausgebehntefter Weile jener hy oihetiſchen 
Begriffe und Abſtractionen, deren die Naturwiſſenſchaft bei jedem 


(898) 


11 


ihrer Schritte einmal nicht entbehren kann. So operirt er mit 
ben Borftellungen ded Raumes und der Zeit, der Bewegung, 
ber Materie, der Kraft u. |. w. ganz im der bisher üblichen 
Weife, obwohl diefelben weder thatfächliche Phänomene, noch 
thatſaͤchlich wahrnehmbare Verhältniffe derjelben find. Ich ers 
wähne dies beiläuftg, weil es ein Umftand ift, der auf die Ober» 
flächlichteit und Ungründlichleit diefer Philoſophie ein grelled - 
Schlaglicht wirft. 

Die Biologie ift nur eine Fortfegung der vorerwähnten 
„unorganiichen? Wifſſenſchaften. Leben ift nichts als complicirtere 
Bewegung, die fi ihrem Wefen nach nicht von ter Bewegung 
ber unorganifchen Körper unterjcheidet. Jede Lebensäußerung 
wird ald Product eined bejonderen Organs betrachtet. Es giebt 
feine Seelen und Geifter, fondern nur „lebende Körper”. Die 
Fähigkeiten Der lebenden Körper find ihrem Weſen nach mit den 
phyſikaliſchen und chemiſchen Kräften identiſch. Es gelten für 
fie diejelben Gefeße, wie in der unorganifhen Welt. Die Ge⸗ 
jege find der Verknüpfungspunkt beider Welten. Diefelben 
hängen in beiden zufammen und untericheiden fich nur durch 
ihre anffteigende Gomplichrtheit. Aufgabe der Biologie tft nur, 
biefe Zufammenhänge zu ermitteln. 

Sie zerfällt in die Statik (Anatomie) und Dynamit des 
Lebend (Phyfiologie), je nachdem fie das gleichzeitige Beftehen 
ber geſetzlichen Zujammenhänge in dem Bau der Drganidmen 
oder die gejeplichen Folgeerſcheinungen des Lebens der letzteren 
behandelt. Auch dieſes Gebiet ift noch in weitem Umfange 
durch die theologifchen und metaphyſiſchen Einbildungen be= 
berricht, von denen man fich emancipiren muß. ‚Einen wichtigen 
Fortfchritt nad) diefer Richtung enthält die Lehre Gall's, welche 
die verichtedenen Fähigkeiten an befondere Theile des Gehirns 
oder ded Nervenivftemd vertheilt denft. Die Vervollkommnung 


der entfprechenden Gehirnorgane hat unmittelbar eine Bervoll- 
| (898) 





12 


fommnung de3 pſychiſchen Dafeind zur Folge. „Der Phyfiologie 
des Gehirns gebührt daher die richtige Stellung des Problems 
der Erziehung". Es giebt nad Comte's Auffaffung feine Ein⸗ 
beit des Ich, fondern nur eine Einheit des thierifhen Organis- 
mus. Es giebt weder Freiheit noch Verantwortlichkeit, jondern 
alled geſchieht mechanifch nach unabänderlichen Gefehen. Das 
einzige Mittel, den Lebendverrichtungen durch Erziehung eine 
beftimmte Richtung zu geben, befteht in der Gewöhnung. Es 
wird ein Gejeß der Gewohnheit für dad Leben ftatuirt, weldyes 
an dad Trügheitögefeß in ber unorganiſchen Welt angelnüpft 
werden foll. 

Die Erweiterung und Zufammenfaffung der in der Biologie 
dargelegten Geſichtspunkte führt dann in derjelben Richtung 
weiter zu dem Begriffe der Sociologie. Die Vorgänge in 
ben einzelnen lebenden Körpern ftehen auch unter einander in 
einem allgemeinen gejehlihen Zulammenhange und die Er- 
mittelung diejer Gejebe der focialen Ordnung und 
der jocialen Bewegung bildet die Aufgabe der So. 
ciologie. Diefelbe zerfällt in die fociale Statik und 
die fociale Dynamit, welde fit ähnlich wie Anatomie 
und Phyſiologie zu einander verhalten und den Begriffen 
der Drdnung und des Kortfchritts entſprechen. Die eıftere 
behandelt die Bedingungen für die Eriftenz der Geſellſchaft, 
bie leßtere die Gefeße deren Bewegung. Auch die jocialen 
Derhältuiffe und Vorgänge find ihrer Natur nach gleichartig 
mit den Berhältniffen und Borgängen der Elemente, aus 
denen fich der fociale Drganiömus und die ſociale Bewegung 
zufammenfegen. Alle Phänomene überhaupt, die einfachen De» 
wegungen der unorganiichen Körper, die Lebenserjcheinungen der 
Drganidmen und die focialen Borgänge bilden zujammen eine 
auffteigende Reihe gejehlich zufammenhängender Ereigniffe, weldye 
alle durch natürliche unveränderliche Geſetze geregelt find. Dies 

(900) 





13 


ift der pofitiviftiiche Grundgedanke, der in der Sociologie zur 
ausfchließlichen Geltung gelangen muß, um fie im Geifte des 
Pofitividmus zum Range einer Wiſſenſchaft emporzubeben. Erft 
durch die Vorausſetzung des Beftehend einer allgemeinen natür⸗ 
lichen Geſetzlichkeit aller focialen Phänomene, erft durch die Bes 
feittgung aller Gedanken an dad Walten unberedjenbarer über- 
natürlicher Mächte erlangt der Gedanke vernünftiger Voraus⸗ 
fiht, welcher dad Kennzeichen der Pofitivität bildet, eine vers 
ftändlihe Grundlage. 

Wie die Biologie jo gebt auch die Sociologie als Theil 
der organischen Philoſophie von der Betrachtung ded Ganzen 
aus. Das Ganze ift bier der „[ociale Organismus". „Daß 
Princip für die ftatijchen Gejeße Diefed Organismus befteht in der 
Mebereinitimmung, wie fie bei allen Vorgängen der lebenden 
Körper beiteht, und weldye dad fociale Leben im höchften Grade 
offenbart.” Gegenſtand der jocialen Statik find die gegenfeitigen 
Wirkſamkeiten und Gegenwirkjamfeiten, welche alle Theile des 
joctalen Syſtems auf einander augüben. Das ſociologiſche Vor⸗ 
ausſehen ftüßt fi auf die Kenntniß diefer Beziehungen; ed hat 
aus dieſen die ftatifchen Anzeichen zu entnehmen, welche auf jede 
Art der foctalen Eriftenz fi in analoger Weije wie bei ber 
Anatomie beziehen. Jedes ſociale Element wird als ſolidariſch 
mit den übrigen aufgefaßt." Aus dieſer Auffaffung ergeben ſich 
die politifchen Grundbegriffe und deren rechte Würdigung. Die 
Duelle der politiihen Macht beruht in der Uebereinftimmung 
ber verfchiedenen individuellen Willen, welche an einer gemein» 
famen Handlung theilnehmen. Diefe Macht ift zunächſt dad 
Werkzeug und ſpäter wird fie der Regulator der ſocialen Kräfte. 
Die Autorität, welche diefe Macht characterifirt, beruht gleich⸗ 
falls auf diefer Mebereinftimmung, welhe um fo unwiderfteh- 
licher wird, je größer die Gejellichaft if. Der Begriff des 


„Conſenſus“ bildet die Grundlage der neuen politiſchen Philo- 
(901) 


14 


ſophie. Dur ihn wird der Geift der ſtatiſchen Sociologie 
gekennzeichnet. Aus den natürlichen Geſetzen bildet fidy die 
politifche Drdnung „ganz von felbft“, welche, mag ihr Zuſtande⸗ 
fommen noch fo künſtlich oder freiwillig erfcheinen, fi als eine 
Berlängerung der natürlichen Solidarität zwifchen den Elementen 
der Geſellſchaft darſtellt. 

Die Aufgabe der ſocialen Dynamit iſt, die Geſetze ber 
zeitlichen Folge der focialen Phänomene zu finden. Sie beginnt 
mit dem Studium der individuellen Triebe, welche die Elemente 
der fortfchreitenden Kraft der menſchlichen Gattung find. Der 
Grundtrieb (Entwidelungätrieb) ift der, weldyer den Menſchen 
ohne Unterlaß beftimmt, feine Lage zu verbefjern, oder mit 
anderen Worten, jein phufliches, moralifches und geiftigeö Leben 
zu entwideln. Das Ziel der ſocialen Entwidelung beiteht denn 
auch lediglich „in der fteten Entfaltung der menſchlichen 
Natur innerhalb der dem menſchlichen Organismus gezogenen 
Grenzen". Die Bervollfommnung, welche an fi} unabhängig 
tft von der Frage nach dem zunehmenden Glüd der Menſchen, 
zeigt fich theild in der wachſenden Wirkſamkeit des Menſchen auf 
die äußere Welt, theild in der Milderung der Sitten und einer 
Berbefferung der focialen Organtjation. in weiteres, letztes, 
unbedingt werthvolles Ziel giebt ed nicht. Alles ift bier relatin. 
„Der jociale Zuftand ift ftet3 jo vollfommen, als es das ent- 
Iprechende Alter der Menjchheit in Verbindung mit den Um⸗ 
Itänden, unter denen die Entfaltung erfolgt, geftattet. „Seder 
der einander folgenden ſocialen Zuftände ift dad Ergebniß bes 
vorhergehenden und die Urſache bed nachfolgenden Zuftandes“. 
Es beiteht in der fortichreitenden focialen Entwidelung eine 
fefte Ordnung, welche das Ganze derjelben beherrſcht und deren 
Gejege man ermitteln muß. Diefe Ordnung kann nicht um- 


gejtoßen, und ebenjo wenig kann ein erheblicher Zwifchenzuftand 
(902) 


15 


überfprungen werden. Aus teren Keuntniß ergiebt fi bie 
Reihenfolge der ſocialen Zuftände und deren Vorausſicht. 

Die wichtigften Eigenichaften der menſchlichen Natur, welche 
ben Character der focialen Drganidmen beitimmen, find eine 
gewiſſe Stetigkeit des Handelns einerfeitd und ambererfeits ein 
Neberwiegen der begehrlichen Fähigkeiten über die Berftandes- 
thätigfeit und der egoiftifchen Inſtinete über die foctalen. Die 
egoiſtiſchen Inſtinete find nöthig, da fie der individuellen 
Thätigfeit ein Ziel fteden und dadurch erſt den Begriff bes 
Intereffeg begründen. Auf den foctalen Snftincten (Mitleid, 
Theilnahme, Liebe) beruht hauptſächlich dad gemeinfame Glück. 
Diefelben begründen und erhalten die focialen Zuftände. Auf 
dem rechten Gleichgewicht beider Inſtinete beruht dad Wohle 
- ergeben der Gefellichafl. Aus der Raſſe, dem Klima und ber 
öffentlichen Thätigkeit entipringen die drei Quellen der ſocialen 
Veränderung. 

Aber die Sefellichaft befteht nicht aus Einzelnen, fondern 
aus den Familien. Die Familie ift daher der Keim für alle 
Einrichtungen im ſocialen Organismus. Die Familie knüpft 
die Zukunft an die Vergangenheit, indem fie die Traditionen 
und Sntereffen von Individuum zu Individuum verpflanzt. Gie 
beruht auf der Unterordnung der Geſchlechter und Lebendalter. 

Die Unterfuchung der Gefelljchaft beruht auf dem Princip 
der gemeinfamen Arbeit. „Erſt wenn die regelmäßige Ver—⸗ 
theilung der Arbeiten eine entfpredhende Ausdehnung gewonnen 
bat, erhält der foctale Zuftand einen Beitand und eine Dauer, 
weldye die einzelnen entgegenftehenden Richtungen zurückdrücken“. 
Die Arbeitstheilung erfordert wiederum eine dauernde Aufficht, 
welche eine Regierung nöthig macht und deren Hauptaufgabe 
bildet. „Die Prüfung diefer unmwillfürlichen Unterorbnung läpt 
das bei ihr geltende Geſetz entdeden. Danach ftellen fich die 
verichiedenen Arten bejonberet Thätigfeit von ſelbſt unter Die 

(903) 


16 


Zeitung derer, welche einen höheren Grad von Allgemeinheit 
befiten". Diejed Geſetz der Unterordnung bildet die Grundlage 
der Regierung, deren Thätigfeit ſich als die Thätigfeit eines 
Ganzen auf die heile Tennzeichnet. 

Auf diefer Grundlage beruht die Ordnung der menſchlichen 
Geſellſchaft. Die Drdnung darf aber den Fortſchritt nicht aus⸗ 
ſchließen. Die Geſetze des Fortſchritts beftimmen fi) nach 
drei Momenten, nämlich: 

1) nad) der Richtung der. menſchlichen Entwidelung, 

- 2) nad) der Geſchwindigkeit derjelben und 

3) nad der Wichtigfeit ihrer verſchiedenen Ele— 
mente. 

Während der Kindheit der Gefellichaft überwiegen die In⸗ 
ſtincte für den materiellen Unterhalt alles andere, felbft den Ge⸗ 
ichlechtötrieb. Die feindlichen Leidenſchaften find, nach ben phy⸗ 
fiichen Begierden, dad, was dad Dafein am meiften beftimmt. 
Durch die fortichreitende Mebung werden jedoch almählih andy 
die focialen Inſtincte und die Fähigkeiten des Abftrahirend und 
Sombinirend und damit das vernünftige Vorausſehen angeregt, 
jo daß der Einfluß der Vernunft auf dad Verhalten der Menfchen 
gefteigert wird. „In diefem Sinne wiederholt die Entwidelung 
des Einzelnen die hauptſächlichen Formen der focialen Ent» 
widelung. Beider gemeinfames Ziel beſteht in der Unterordnung 
der perjönlichen Snftincte unter die Uebung der focialen Sn» 
ſtincte und in der Unterwerfung der Leidenichaften unter die 
Vorichriften der Bernunft”. Dies ift im Allgemeinen die 
Richtung der menſchlichen Entwidelung, welche fid) in ana= 
tomifcher Hinſicht Jo characterifirt, „daB durdy Hebung die ver- 
jchiedenen Organe des Gehirns ein fteigended Uebergewicht in 
dem Maße erlangen, in welchem fie von den rüdmwärtigen Lagen 
des Gehirnd zurüdtreten und fi den Sagen an der Stirne 


nähern. Dies tit die ideale Grundform; je mehr fie fi) ver 
(904) 


17 


wirklicht, um jo mehr bezeichnet fie den Gang ber menfchlichen 
Entwidelung, ſowohl für den Einzelnen wie für die Gattung“. 

Die Geſchwindigkeit beftimmt ſich nady dem gemein. 
ſamen Einfluffe der Hauptbedingungen, welche ſich einerjeitö auf 
den menſchlichen Organismus und andererfeitö auf die Umgebung 
beziehen, in welcher er ſich entwidelt. Diefe Bedingungen find 
in der Hauptſache conftant. Nur nebenſaͤchliche Bedingungen 
geftatten eine Veränderung. Dahin rechnet Comte 3. 3. die 
Langeweile, weldye zur Thätigfeit anregt. Mehr als dieſe gehört 
aber dahin „die gewöhnliche Dauer des menjchlichen Lebens?. 
„Der ſociale Einfluß beruht weſentlich auf dem Tode, d. h. die 
fih folgenden Schritte der Menjchheit verlangen eine ebenfo 
ſchnelle Erneuerung der Agenten der allgemeinen Bewegung. 
Der fociale Organismus unterliegt derjelben Bedingung wie der 
des Einzelnen, wo nad) einer beftimmten Zeit die verfchiedenen 
Theile, welche in Folge der Zebendvorgänge nicht mehr geeignet 
find, für feine Zufammenfeßung beizutragen, allmählich durch 
neue Elemente erfebt werden müſſen“. 

Was endlih die Unterordnung der verfchiedenen 
Elemente des focialen Fortſchritts amlangt, fo gebührt 
der Borrang der geiſtigen Entwidelung, welche ald dad Princip 
der Gejammtentwidelung überhaupt hingeftelt wird. Dem Ber: 
ftande gebührt die Leitung der Geſammtheit des Fortfchritts. 
Die Geſchichte der Geſellſchaft ift bedingt durch die Geſchichte 
des menſchlichen Geiſtes. Die „allgemeinften und ab- 
ftracteften Begriffe”, mit denen fich die Philofophie beichäftigt, 
ericheinen Comte als die bedeutfamften; „die Geichichte der 
Dhilofophie muß bei der Ordnung der hiſtoriſchen Unterfuchung 
den Borfit führen”. Das Grundprincip der focrialen 
Dynamit liegt in dem philofophifchen Geſetz, welches 
&omte für die ftete Zeitfolge der drei allgemeinen Zu- 
ftände, des theologifchen, des metaphyſiſchen und des 


II. 480. {905) 





18 


pofitiven, entbedt zu haben glaubt. Das Vertrauen auf 
bie Wahrheit und Allgemeingültigkeit dieſes Geſetzes gehen kei 
ihm ſo weit, daß er, der Philofoph des Thatjächlichen, behauptet, 
„man könne dangch in der Sociologie alle Berhältniffe der 
Phännmene a priori und unabhängig vor ihrer unmittelbaren 
Ermittelung erfeunen“. Die Bedeutung, weldye er demielben 
beilegt, iſt eine ganz ausſchließliche. Die ganze gefchichtlice 
Bntwidelung der Menjchbeit gilt ihm nur ald ein Specialfall 
eneß allgemeinen Geſetzes. Seine Darftellung des Herganged 
der geichichtlichen Entwidelung ift daher im Grunde nichtd ald 
eine Illuftrirung ſeines Entwickelungsgeſetzes durch Herbeiziehung 
und geeignete Berwertbung der hiftoriichen Facta. Diefe ick 
auögedehnten geſchichtsphiloſophiſchen Grörterungen bilden bie 
breite Bafi8 und den Haupiftamm der ganzen Sociologie, an 
weldye ſich feine Beurtheilung der gegenwärtigen Berhältnifle 
und feine Reformvorſchläge unmittelbar anfchließen. Die Dr 
ginalität der Comte'ſchen Geſchichtsbehandlung beiteht daher 
bauptjächlich in ihrer Einſeitigkeit. Das Beftreben, den Ge 
ſammtinhalt der Entwidelung in eine einzige Formel zujammen 
zusiehen, iſt befanntlih nicht ohne Beilpiel. Ich erinnere nur 
an die Hegel’iche Geſchichtsconſtruction. Aber doch befteht ein 
erheblicher Unterſchied. Während bei Hegel der Schwerpunft 
bed Intereſſes doch immer in dem Berftändnik und der eigen 
artigen Würdigung des inhaltlichen Reichthums der hiftoriſchen 
Wirklichkeit beruht, deren mannigfache Formen in den Rhpthwns 
des dialectiſchen Proceſſes mehr eingegliedert, als von dielem 
beberricht werden, abforbirt das abftracte Grau des rein for. 
malen Comte'ſchen Entwickelungsgeſetzes alle jpecifiiche Eigenart 
und Lokalfarbe der geſchichtlichen Greigniffe und Entwidelung% 
momente, Mag deshalb diefe Gefchichtöbehandlung immerhin, 
was nicht geleugnet werben fol], manche geiftwelle und intereſſante 
Partieen aufweifen, ihre Bedeutung im Ganzen fteht und fült 
(006) 





- .— wor ww. wu 


19 


mit dem Werthe und der Fruchtbarkeit des ben ausſchließlichen 
Kern derjelben bildenden Entwickelungsgeſetzes, deſſen Grund- 
melodie überall durchklingt und bis zu geifktödtender Ermüdung 
in den verjchtedenften Tonarten variirt wird. in näheres Bin- 
gehen auf die Einzelnheiten bleibt miv auch hier ſchon Durch 
die Müdficht auf den knapp zugemeflenen Raum verjagt. Ich 
muß mich beicheiden, die geſchichtsphiloſophiſche Schablone des 
Entwickelungsgeſetzes jelbft nach ihrem Sinne und den Haupt- 
richtungen ihrer Anwendung kurz zu ſtizziren. 

Dieſe letzteren ergeben ſich zum Theil ſchon aus dem Ge- 
jagten. Das Entwidelungögejeh folk nicht nur für die indivi⸗ 
duelle Entwidelung der einzelnen „lebenden Körper", ſondern 
andy für die ſoeiale Entwidelung der Geſammtorganismen, nicht 
nur der einzelnen Völker, jondern auch der gefammten Menſch⸗ 
beit, außichlieplich gelten. Es ſoll ferner den Rhythmus der 
Sntwidelung in allen einzelnen Wiſſenſchaften beherrichen, welche 
die pofitisiftiiche Rangordnung aufweiſt. Es ſoll endlich nicht 
blos die geiſtige, ſondern, mit entſprechenden Modificationen, 
auch die geſammte materielle Entwickelung regeln, welche mit 
jener, nach einer weiteren Vorausſetzung, ftet3 gleichen Schritt 
halten fol. Sch falle, der leichteren Ueberſichtlichleit halbera 
das in beiden parglleien Reihen (der geiftigen und materiellen) 
fich realifirende Entwidelungägejeb in folgendes einfache Schema 
zuſammen: 

Entwickelungsgeſetz. 
@eiftige Entwickelung. Moteviche GEntwickelung. 
1. Der theologiſche Zuſtand — das militäriſche Megiment. 
2. Der metaphufiſche Zuſtand — das Regiment der Rechtägelehrten, 
3. Der pofitipiftifche Zuſtand — das induftrielle Regiment. 

Beide Entwidelungsreiben gehen nicht nur parallel, fondern 
And in der Weile mit einander verfnüpft, DaB zwiſchen ben drei 
Hauptftationen beider jehr enge gegenjeitige Beziehungen bes 

2* (907) 


20 


fteben, jo daß die correipondirenden Glieder des Schemas audy 
inhaltlich zufammengehören und einander gegenleitig bedingen 
und ergänzen. Der Schwerpunft ruht jedoch ſtets in ber 
geiftigen Entwickelung, deren Fortſchritt den Charakter einer 
jeden Epoche vorwiegend beftimmt. 

Um den Sinn des Geſetzes richtig zu begreifen, fommt es 
daher vor Allem darauf an, zu willen, was der Entdeder des⸗ 
jelben unter den jehr weitfaltigen Bezeichnungen „theologijcher”, 
„metaphyſiſcher“ und „pofitiviftiicher" Zuftand verfteht. 

Den Schlüſſel zu diefem Verſtändniß Tann und nur Die 
pofitiviſtiſche Lehre felbft Kiefern, welche und zunächft über den 
Sinn der Endftatton, des pofitiviftiichen Zuftandes, mit hin⸗ 
reichender Deutlichkeit aufflärt. Es ift dies jener Zuftand der 
Refignation oder jachgemäßen Beicheidung, der unter Verzicht 
anf alle religidfen oder metaphuflichen „Einbildungen“ nur nody 
eine Nichtung wiſſenſchaftlicher Thätigkeit als bie allein- 
beredytigte anerkennt: die Ermittelung der alle Phänomene 
voraußgefeßtermaßen beherrfchenden Geſetze, und nur einen 
Zweck: die Vorausficht fommender Creigniffe. Ohne die An« 
erfennung ſolcher Geſetze würde die Wiffenichaft fein Object 
und auch feinen Zwed mehr haben, da dann keine Vorausficht 
möglich wäre. Die „pofitiviftiiche Vorausficht“ ift aber nad 
diefer Auffaffung das alleinige Mittel gedeihlicher Geftaltung 
und Berbefjerung menjchlicher Zuftände (der Ordnung und des 
Fortichrittö). Ohne fie würde auch der praftiichen Thätigfeit 
das Biel fehlen. Der pofitiviftiiche Zuftand ift daher der aus⸗ 
Ichlieglih normale und erſtrebenswerthe Zuſtand. Die voran 
gegangenen Zuftände find nur vorbereitende Stufen für jenen, 
welche für die pofitiviftiiche Scala nur ald ſolche Vorbereitungs- 
ftufen überhaupt in Betracht kommen, deren Inhalt nur mit 


Hinblid auf die Entftation begriffen, deren Werth nur nad 
(908) 


21 


dem Grade beftimmt wird, in weldyem fie fich jener annähern 
oder fie vorzubereiten geeignet find. 

Nun ift „Borausfiht” nur infoweit möglich, ‚ald man 
nit dem Vorurtheile buldigt, ed berriche in der Reihenfolge 
der Phänomene irgend eine unberechenbare Willkür. Die 
Herrihhaft dieſes Vorurtheild ift ed nun, welde den 
theologiichen Zuftand charakteriſirt. Site charafterifirt 
ihn erihöpfend und vollftändig. Es ift dies die einzige 
Sharakteriftit, weldhe Comte von dem theologifchen Zuftande 
giebt. Was man etwa fonft noch darunter verfteht, fällt in das 
Gebiet chimäriſcher Phantafieen und eingebildeter Gemüths⸗ 
affeltionen, welche ganz außerhalb des pofttiviftiichen Gefichts⸗ 
treifed fallen. Man begreift nun, weshalb der theologiſche 
Zuftand der unterjte in der Reihe ift. Er ift es deshalb, weil ed 
hier noch gar keine Vorausſicht giebt; er ift der Zuftand der 
Kindheit ded Einzelnen und der Menſchheit. Die Menſchheit 
fonnte ihn nicht überfpringen, denn ed liegt in der Natur des 
Menfchen, daß diejer zunächft verfucht, die Welt nach fich felbft 
und aus ſich jelbft zu deuten. Der nächte Schritt des ermachenden 
Nachdenkens führte daher zu dem Glauben, dab auch bie Dinge 
der Außenwelt belebt fjeien, daß aud hier diefelbe Willkür 
berriche, welche der Menſch an fich jelbft wahrzunehmen meint. 
Dies ift der Zuftand des Fetiſchismus, der den religiöfen 
Geift in der ausgedehnteften Weife in das menfchliche Denken 
einführte. Dieſe erſte Stufe religiöjer Entwidelung charakterifirt 
auch den religiöjen Geiſt am reinften und vollftändigften, denn 
bier finden wir nody „das hauptfächlichfte Kennzeichen“ deffelben, 
den Gegenfat gegen die Unveränderlichleit der Naturgefebe, in 
ansgedehnteiter Geltung. „Der Fetiſchismus Tennzeichnet fich 
durch das Hebergewicht des Gefühldlebens, deflen religiöje Weihe 
zu Teiner Zeit jo vollitändig fein konnte.“ „Seit diefer Epoche 
hat die äußere Welt niemald wieder in einem Zuftande erfaßt 

(909) 


22 


werden Tönnen, welcher mit ber Seele des Beichauerd jo über- 
einftimmte.* Schon die Umgeftaltung des Fetiſchismus in den 
Polytheismus fol die erfte Abnahme des religiöſen Geiſtes 
zeigen. Deſſen ungeachtet betrachtet Gomte das zweite Zeitalter 
des Polytheismus ald „die vollftändigfte Entwidelung des 
religiöien Geiftes“ während der Monotheismus ſchon den 
Verfall deffelben offenbaren fol. Die Willtür des einen Gottes 
ericheint nicht mehr in der Unmittelbarfeit wie im Polytheismus. 
Das Beitehen einer Gejeglichfeit in den natürlichen Vorgängen 
drängt fich hier ſchon unabweislich auf und die göttliche Willkür 
wird auf gewiſſe außerordentliche Fälle beſchränkt, wo fie ſtch 
al „Wunder" im Durchbrechen der Naturordnung äußert. 
| Sharatteriftiich ift, daß Comte der Katholicismus, dem 
er deshalb auch allein in Betradyt zieht, als die bedeutſamſte 
und wichtigfte Form des Monotheismus erfcheint. Dieje Werth 
ſchätzung beruht hauptfächlich auf der Organifation der katholiſchen 
Kirche, welche feine höchfte Bewunderung erregt, weil fie eine 
„moraliihe Macht” ſchuf, welche unabhängig von der politiichen 
Macht war. Er verthetdigt mit Wärme die Hauptvorjchriften 
und Einrichtungen der katholiſchen Kirche, 3. B. die unbedingte 
Glaubenspflicht, Die Beichte, die Organifation der Priefterichaft 
(worin angebli der Hauptnutzen aller Religion beftanden 
haben fol), das Coͤlibat der Geiftlichen, die Nothwendigkeit 
einer weltliden Herrihaft und jelbit die Unfehlbarfeit des 
Dapited. „Die päpftliche Unfehlbarkeit, welche fo bitter am 


Katholicismus getadelt wird, bildete (indem fie alle göttliche 


Mittheilung im Princip der höchiten geiftlichen Autorität vor⸗ 
behielt) einen großen geiftigen und focialen Fortſchritt.“ Uns 
überrajcht dieſe warme Begeifterung für das katholiſche Lebens⸗ 
ideal, welches in der unbedingten Anerfennung einer leitenden 
geiffigen Autorität gipfelt, keineswegs, denn auch das practifche 


Dedürfni des Pofitivismus fordert, mie wir gleich ſehen werden, 
(910) 


23 


ganz ähnliche Einrichtungen. Auch bier gilt ed ja, den uns 
berechenbaren Ausſchreitungen Individueller freier Geifteöregung 
überall den feften Damm einer refultirenden Gefammtanfidht 
entgegenzufeen, weldye wegen ihres Uebergewichtes allein bes 
rerhtigt erfcheint, die autoritative Anerkennung zu beanfpruchen. 

Wir erfehben aus den obigen Ausführungen, was Comte 
unter der Kindheitsſtufe menichheitlicher Entwidelung verftebt. 
Neligtöfe Lebensauffafjung bedeutet in Comte's Sinne weiter 
nichts, als den Glauben an eine übernatürlide uns 
berehenbare Billfür Auf die Borftellungen, an welche ſich 
dieſer Glaube knüpft, auf die Beranlaffungen und den Inhalt 
deflelben kommt e3 ihm gar nit an. Das, worin man ges 
wöhnlid bad Weſen der Religion findet, die Erhebung und 


Befeligung bed Gemüths, hervorgerufen durch dad Bewußtſein 


der Heiligkeit und unbedingten Verehrungswürdigkeit des höchften 
Weſens, bleibt ganz unbeadhte. Da Religion hiernach mit 
geſetzloſer Willkür gleichbedeutend ift, befteht ein fchroffer, un⸗ 
aufbeblicher Gegenſatz zwifchen allem religiöfen Glauben unb 
der Wiſſenſchaft. Wo die Wiffenichaft beginnt, hört nothwendig 
der Glaube auf, und umgekehrt. 

Wegen dieſes Gegenſatzes war ein vermittelnder Uebergangs⸗ 
zuftand nöthig, den die Menjchheit erft durchlaufen mußte, um 
dad gelobte Land des Pofitivigmud zu erreichen, denn die 
Stetigfeit der natürlichen Entwidelung duldet feine Sprünge. 
Diejer Mebergangäzuftand ift der metaphyſiſche. Er ericheint 
faft als ein Lückenbüͤßer der pofitiviftifchen Gonftruction, fo dürftig 
und ftiefmütterlich wird er behandelt. Freilich eine inhaltliche 
Darlegung und Würdigung beffen, was die Metaphufil zu Tage 
förderte, Tonnte man hier ebenjo wenig erwarten als bei dem 
theologiichen Zuftande. Auch ber metaphufifche Zuftand wird, 
wie der theologifche, nur nach der einarmigen Scala des Ent 
widelungsgefeßes definirt und gemeflen. Die Metaphyfiker 


(911) 


24 


find eigentlich nur eine Abart der Theologen, indem fie „die 
alte übernatürlihe Einwirkung durch das gleichwertbige Spiel 
von Kräften und Entitäten erjeßen, die in der großen allgemeinen 
Entität der Natur zufammengefabt werden.” Was unter den 
„Kräften? und „Entitäten“ eigentlich verftanden, weldhe be» 
jonderen metaphyfiſchen Lehren damit gemeint fein follen, wird 
nicht weiter angegeben. &8 ergeht den Entitäten nicht befler 
ald den „Gottheiten. Wie diefe, werden fie nur vor den 
Richterftuhl der pofitiviftiichen Kritik citirt, um den Urtbeils» 
ſpruch zu empfangen, daß fie verfchwinden müflen, um fortan 
„unveränderlichen Geſetzen“ Plab zu machen. Sehen wir von 
dieſen nebelhaften Entitäten ab, fo ftellt fich jener Uebergangs- 
zuftand mehr als ein revolutionärer denn als ein „meta- 
phyfiſcher“ dar. Unbemußt regt fich derfelbe jchon im 14ten 
und 15ten Sahrhundert mit der beginnenden Zerjebung bes 
theologifchen Zuſtandes. Dffenbarer wird er erft in den lebten 
drei Sahrhunderten, wo die glänzenden Namen des Dedcartes, 
Galilei, Bacon, Newton u. a. das Erſtarken deſſelben kenn⸗ 
zeichnen. Der Proteftantismus tft die erfte Geftalt, in der er 
hervortrat. Trotzdem findet derjelbe wenig Gnade in ben 
Augen unſeres Pofitiviften. Diejer bezeichnet ihn als eine Lehre 
unbedingter Verneinung, deren lebte Confequenz der Atheisnmd 
jei. Eben deshalb ſoll derfelbe nur eine halbe Befriedigung 
gewähren und die wahre Freiheit hemmen. Das „Princip der 
Gewiſſenhaftigkeit“, welches er ftatuirt, wird „als eine Berirrung“ 
bezeichnet, „da es nur zur Unordnung und zum Zerfall der 
geiftlichen und weltlichen Macht führe.” Auch die revolutionäre 
Bewegung in Frankreich, „welches nad) dem Verfall des Pros 
teſtantismus in Deutfchland die Führerfchaft der fortfchreitenden 
Dewegung übernahm," wurde angeblid durch Irrthümer ges 
hemmt, weldye fie ihr Ziel verfeblen ließen. Zu dieſen rechnet 
Comte theild den Einfluß der negativen Philofopbie, theild Die 


(913) 


25 


falſche Beurtheilung ded Mittelalterd, welche die Continuität 
der Entwidelung bedrohte, theild den Trieb zur Bereinzelung 
(Rouſſeau), theild eine blinde Berehrung des Alterthums, welche 
eine ungefunde Freiheitsſchwärmerei bewirkte und die Regeln 
der Xebendführung dem Gewiſſen der Einzelnen zu unterftellen 
ſuchte. 

Erſt in der Endftation der geiftigen Entwickelungsreihe, 
dem pofitiviftifchen Zuftande, findet die fortjchrittliche Bewegung 
einen feften Boden, auf dem fie fi nach der wiflenfchaftlichen 
und practiichen Seite hin ordnungsmäßig geftalten Tann. 

Die Stufenfolge der materiellen Entwidelung und deren 
Zujammenhang mit der geiftigen können bier gleichfalld nur 
furz angedeutet werden. 

„Der urfprüngliche Widerwille ded Menſchen gegen jede 
geregelte Arbeit läßt für ihn feine anhaltende Thätigkeit übrig 
ald dad friegeriiche Leben, dad einzige, zu dem er fich eignet 
und dad ihm am einfachften die Mittel feiner Erhaltung ges 
währt.” Daraus erklärt ſich das Vorherrſchen des militäriichen 
Regiments in der Kindheitöftufe der Menſchheit. Dafjelbe war 
eine nothwendige Vorbereitungsftufe, da nur unter feiner Herrs 
Ihaft die Induſtrie ſich entwideln konnte, da die militäriſche 
Lebensweiſe überdied die Regelmäßigkeit und Diöciplin im Ver⸗ 
halten fördert, welche dem induftriellen Leben von großem 
Nutzen find. Der Zuſammenhang zwijchen dem militäriichen 
und theologifchen Regiment ergiebt ſich daraus, daß erſteres zur 
Befeitigung feiner Macht der religiöjen Weihe nicht entbehren 
fann. 

Zwiſchen diefem erften und dem lebten Gliede der materiellen 
Entwickelungsreihe wird, ähnlich wie bei der geiftigen, ein Zwiſchen⸗ 
zuftand eingejchoben, über deſſen Bedeutung man bier wie dort 
nicht recht in's Klare kommt. Es wird und zwar verfichert, 
daß „die Thaten der Nechtögelehrten und Methaphyfiker in 


(918) 


26 


ähnlicher Weiſe verknüpft fen müßten, wie der mtlitärifche 
Geiſt mit dem theolugifchen”, aber wir erfahren im Grunde 
über die Thaten der einen hier jo wenig wie über die der 
anderen. 

Sreifbarer tft wiederum die Gorrelation der beiden End⸗ 
ftufen, des Pofitividmus und ber überwiegenden Werthſchätzung 
der induftriellen Intereſſen. Der großartige Aufichwung und 
die Bervolllommnung der Induſtrie beruhen ja zweifellod zum 
großen Theile auf der Erfenntniß der Naturgejebe, welche das 
Ziel der pofitiviftiichen Wiſſenſchaft bildet. 

Das foeben im Umriß dargelegte Entwidelungsgejeg „er 
Härt vom Beginn des niedrigften Grades der Civiliſation an 
bis zu den Zuftänden der fortgefchrittenften Voͤlker den Charafter 
aller großen Umgeftaltungen der menfhlichen Zuftände, die Be- 
theiltgung von jedem. bei der gemeinfamen Aufgabe und führt 
jo zu einer volllommenen Einheit und einem Zufammenhbang in 
diefem ungeheueren Schaufpiele." Die ganze ſociale Entwidelung 
ſoll dadurch auf „eine fefte Hegel” zurüdgeführt werden, deren 
Anwendung mit Ausichluß aller Willlür die Richtung der jeßigen 
Civiliſation beftimmt. 

Intereffant ift das pofitiviftiihe Zukunftsprogramm, 
welches Comte aufitelt.e Durch dad „Emporlommen des 
pofitiven Lebens“ ſoll eine volftändige Erneuerung der Gejell- 
Schaft herbeigeführt werden, deren Augelpunft die neu zu be 
gründende von allen Glaubensfagungen befreite „foctale Moral” 
bilden joll, welche nur auf’ der ftetd wachſenden Cinficht der 
Bortheile beruhen wird, welche die Vereinigung aller menſch⸗ 
lihen Kräfte auf das individuelle und gemeinſame Leben aus⸗ 
übt. ine neue aus allen Stufen der Gejellfchaft zu bildende 
„geiftige Autorität”, welche an die Stelle der Tatholifchen Kirche 
treten fol und nad dem Beilpiele diefer zu organifiren tft, 
wird nach den Grundſätzen der neuen Moral fortan die Sitten 


(914) 





27 


leiten und die Erziehung der Menſchen beauffichtigen, auch die 
focialen, oͤkonomiſchen und politiihen Smtereffen der ganzen 
Menſchheit wahrnehmen, alle Streitigkeiten unter den Völkern 
ſchlichten und einen ewigen Zrieden herbeiführen. Jedes Mit- 
glied der Gejellichaft wird dann feine Privatintereſſen den Suter: 
effen der Geſammtheit unterordnen nnd als „öffentlicher Beauf- 
tragter“ angefehen werden; der Reiche 3. B. ald Verwalter 
öffentlicher Kapitalten. Die Lage der unteren Stlaffen ſoll ver- 
befiert, diejelben jollen auf Staatskoſten erzogen werden, fte 
tollen billigen Lohn und ftetd genügende Arbeit erhalten. Auch 
eiwe neue Rangordnung fol an die Stelle der alten treten, 
deren Gliederung fi ganz fachgemäß aus der Erwägung er- 
geben wird, „daB die einzelnen Thätigkeiten fortan nur nad 
dem Grade ihrer Allgemeinheit und Abftraction einander untew 
geordnet werden müſſen“. Die „wiflenjchaftliche” Kaffe 5. B. 
wird über der „induftriellen” ftehben. Nur ald Kuriofität er⸗ 
wähne ich, daß Comte zwiſchen die Tebteren beiden noch eine 
dritte, die „aelthetiiche*, einjchiebt, da diefe hier als ein gänzlich 
fremdartiged Clement erjcheint, welches mit der pofitiwifchen 
Grundlage gar keinen inneren Zufammenhang hat. 

Dies find in kurzen Umriffen die Grundgedanfen der 
pofitiven Philoſophie, weldye ihr Entdecker felbit als „das 
wichtigfte Ergebniß der wiffenfchaftlichen Entwidelung der letzten 
drei Sahrhunderte” bezeichnet. 

Dieje neue Philojophie ift in der That beifpiellos in ihrer 
Art. Sie Tann ihrem Inhalt, ihren Vorausſetzungen und threr 
Zendenz nad nur aus gewiſſen Eigenthümlichfeiten moderner 
Welt und Lebensauffaffung begriffen werden, welche in ihr einen 
ebenfo einfeitigen als rüdfichtälofen und energifchen Ausdrud 
gefunden haben. Sie unterbricht die Continuität des bisherigen 
Bildungdganged, indem fie dem Willen und Leben ganz neue 
Grundlagen zu fchaffen trachtet und neue Gefichtöpunfte ala 


(915) 


28 


normgebend hinftellt, welche die Ergebniſſe der bisherigen 
Bildung in ganz veränderter Geftalt und Beleuchtung erjcheinen 
laſſen. Sie ift bemerkenswerther wegen ihrer Negationen, 
welche die bislang am meilten geachteten und geichäßten Bes 
ſtandtheile der bisherigen Bildung ganz ausichließen, ald wegen 
ihrer pofitiven Aufitellungen, welche folgeweiſe nur ein jehr bes 
ſchränktes Gebiet umfaffen; am bemerfenswertheften aber wegen 
der Erfolge und der Verbreitung, weldye fie gefunden bat, denn 
dieſe beweijen, dab wir es bier nicht etwa, wie ed einem großen 
Theile des deutſchen Publitums fcheinen wird, mit abfirufen 
Einfällen eined Sonderlings, "jondern mit der ausdrudsvollen 
und wirkſamen Kundgebung einer beginnenden Revolution des 
gelammten Denfend und Empfindend einer großen Anzahl der 
Zeitgenofjen zu thun haben, deren Antriebe und Vorausſetzungen 
in den Gemüthern bereit3 tiefe Wurzeln gefchlagen haben. Für 
alle diefe im Stillen gährenden Antriebe fpricht die pofitine 
Philofopbie das Löjende Wort; fie fpricht es offen, Har, uns 
zweideutig und gründlich, und darin berußt ihre nicht hinweg» 
zuleugnende Bedeutung. Mag auch der Kampf, den biele 
Revolution mit den geiftigen Großmächten der bisherigen 
Givilifation fo zuverſichtlich und fiegeögewiß beginnt, dem 
Weiterblidenden, der fich durch glänzende Erfolge des Augenblicks 
nicht beirren läßt, nur ald eine pathologiiche Krifis ericheinen, 
in der ein von lange her angefammelter Srankheitsftoff in dem 
geiftigen Organismus der modernen Kulturvölfer zum Ausbruch 
fommt, fo gebietet und doch ſchon die Rückſicht auf die Er 
haltung der Gejundheit ded Denfend und Empfindens in allen 
Theilen jenes großen Organismus, dem Weſen und den Urfachen 
jener jo energiſch auftretenden Krankheitserſcheinungen nach—⸗ 
zujpüren, d. b. die pofitiviftifche Lehre zu beachten und kritiſch 
zu beleuchten. 

Was dieje Lehre in erfter Linie fordert, ift die Beichränkung 


(916) 


29 


alles Wiffend und Lebend auf das Handgreifliche, Sinnenfällige. 
Eine ſolche Beſchränkung ift freilid, was die practifche 
Lebensführung anlangt, keineswegs neu. Leute, welche ſich 
über den eigentlichen Sinn und Zwed ihres Lebend weder Vor—⸗ 
noch Nachgedanken machen, welche in diejer Beziehung gar Feine 
Bedürfniffe nach einer Aufklärung haben, deren Nichtbefriedigung 
ihnen Zweifel oder Unbehagen verurfadhen könnte, weldye fidy 
vielmehr in ihrem Thun und Treiben lediglich durch die prac« 
tifchen Anforderungen der Sorge um die Erhaltung und Bes 
feftigung ihrer finnlihen Eriftenz beftinnmen lafjen, ſolche hat 
e8 von jeher gegeben, und ihre Zahl vermehrt fich zufehends, 
je mehr die wachſende Complicirtheit des Lebend die practifchen 
Anforderungen ber lebteren Art vermehrt und zugleich ihre Reize 
erhöht, indem fie die in Betracht kommenden Factoren interefjanter 
und vielfältiger geftaltet. Soldye Leute kommen, wie die Er—⸗ 
fahrung lehrt, fogar oft am glatteften und einfachften durch das 
Leben. Sie kennen die höheren Anforderungen unb Genüffe 
defjelben nicht, welche eine reichere und tiefere Bildung bem 
religiös und Afthetiich entwidelten Menſchen gewährt, aber fie 
bleiben audy von den Qualen und Mühen verfchont, welche aus 
den Gonflicten des Ideals mit der Wirklichkeit oft entftehen, 
fie werden nicht durch die Näthjel beunruhigt, welche das 
Leben in feiner Vertiefung zu rathen aufgiebt, fie werden — 
wie die Thiere — weniger hart durch die Schidfale ergriffen, 
welche ihr eigenes und dad Leben ihrer Angehörigen und 
Freunde, betreffen, weil das Leben für fie einen relativ viel 
geringeren Werth hat, und die Berhältniffe des Lebens, welche 
durch den Tod zerriffen werden, ihre volle Weihe und Schönheit 
erſt durch ‚jene höheren Gefichtspunfte erlangen, welche ihnen 
fremd bleiben. Sie genießen die freundliche Gewohnheit des 
Dafeind, jo lange fie ihnen blüht, und treten, wenn fte erlifcht, 
ebenfo ſorglos von der Bühne ab, wie fie diefelbe befchritten. 


(917) 


30 


Sie beachten nur die finuliche Erſcheinungswelt, in welche fie 
hineingeboreu werden, und kümmern fich nidyt um dad, was 
darüber hinaus liegt. Der zwei, und ſachgemäße Berlauf ihres 
Lebens bafirt, wenn fie darüber innerhalb ihres Geſichtskreiſes 
Scharf nachdenken, nur auf einer unabweidlichen Vorausfehung, 
nämlich auf ber, daß die beobadjieten Regelmäbigleiten der 
Erſcheinungen, welche ihre Eriftenz bedingen, in der beobadyteten 
Weiſe auch Beitand haben, damit fie die fünftigen Creignifle 
vorausſehen und ſich in ihren practifchen Erwägungen darnach 
einrichten koͤnnen. 

Über ſolche Leute pflegten bisher gar nicht, oder doch nur 
ſehr oberflächlich, darüber nachzudenken, ob der Gefichtölreid, im 
dem fie fich bewegten, der normale und deshalb erſtrebens⸗ 
werthefte Geſichtskreis fei, derjelbe war vielmehr in feiner that⸗ 
ſächlichen Beſchränktheit lediglich Zolge ihrer Gedantenlofigkeit, 
und galt bisher auch allgemein dafür, weshalb man feldhe 
Menichen als oberflächlihe zu bezeichnen pflegte. Neu und 
griginell ift dagegen, daß der pofitive Philoſoph den Geſichtskreis 
dieſer Leute in feiner ausſchließlichen Beſchränkung auf das 
Sinnenfällige nicht mebr ala Folge der Gedantenlofigkeit, 
fondern als das letzte Endergebniß der ganzen bisherigen 
Bildungdentwidelung, daß er ihn als den normalen und 
erſtrebenswerthen, weil allein ſachgemäßen Geſichtskreis hinftellt. 

Um ſolche Sachgemäßheit zu begründen, würde ed jedoch 
eines zmeifachen Nachweiſes bedürfen, nämlich: 

1. daß bei der Geftaltung unſeres Wiflend und Lebens 
wirklich nur finnliche Phänomene in Frage kommen Tönnen, und 

2. daß eine durchgängige Gleichförmigkeit oder Geſetzlichkeit 
aller in Frage Tommenden Phänomene thatjächlich beftehe. 

Es ift der nächfte und fchwerfte Bormurf, den wir gegen 
Comte erheben müllen, daB er ſolchen Nachweis gar nicht ner- 
ſucht, jondern die gebotene Beſchränkung des Gefichtäfreifed auf 

(918) 


81 


bloße Boransfehungen gründet, welde er zwar ald That 
ſachen bezeichuet, welche aber nicht nur des thatlächlichen 
Charalters ermangeln, jondern nachweislich falſch und willfürlich 
erfunden find. 

Die erfte dieſer Vorausſetzungen ift, dab der Menich fi 
nicht felbft beobachten und daher nichtö weiter wahrnehmen 
könne, als finnliche Ericheinungen, welche ihm angeblich vor 
außen dargeboten werden. Dieje Vorausſetzung widerjpricht dem 
gegebenen Sachverhalte, wie jedermann jeden Augenblid an fich 
jelbft beobachten Tann, ganz offenbar, und der Grund, den 
Comte dafür angiebt, daß nämlich jede geiltige Thätigkeit an 
ein Organ gefnüpft jei, und daß daB beobadytende Organ des⸗ 
halb fich nicht felbft wieder beobachten Tönne, tft ebenſo will- 
kürlich als verfehrt. Erſtens willen wir nicht, ob jede geiltige 
Verrichtung an ein bejondereö Drgan gelnüpft tft, und gweitend 
ift, wenn dies wirklich der Hall wäre, nicht abzujehen, warum 
ſolche Verknüpfung der. Selbftbeobachtung, d. t. dem unmittel- 
baren Bewußtwerden der betreffenden Berrichtung, enigegenftehen 
müßte. Dieſer nichtige Einwand wird durch die für Den 
Menſchen wichtigfte und umfaflendfte aller Thatſachen jelbft 
widerlegt, durch die Thatſache, daß unfer ganzes Wiſſen lediglich 
anf ſolchen Bewußtſeinsacten und auf der Erinnerung daran be» 
ruht. Auch die finnlichen Phänomene — mögen fie durch äußere 
Anreize in und erweckt werben, oder nicht — find an fich felbft, 
und foweit fie überhaupt in den Bereich unjerer Wahrnehmung 
fallen, weiter nichts als ſolche Bewußtſeinsacte, deren Ent» 
ftebung und Berlauf wir jeden Augenblid in und beobachten 
fünnen. Sie können nichts anderes fein, denn es giebt feine 
Anrbe, die niemand fieht und feinen Ton, den niemand hört. 
Die Selbitbeobachtung, die Comte beftreitet, bildet die Grunde 
lage feiner eigenen Philoſophie, fie tft die alleinige thatjächliche 
Brundlage alles Willens und Erkennens. Mit Empfindungen, 


(916) 


32 


alfo inneren Erlebniffen, hebt unjer Wiffen an. Die Selbft- 
beobachtung allein lehrt und die beziehenden Thätigleiten bes 
Vorftelend und Denkens kennen, vermittelft deren wir Die 
Phänomene zujammenfafjen und ordnen. Die Selbſtbeobachtung 
allein erichließt und die Richtung und die Ziele des Erkennens 
und das Kriterium der Wahrheit defielben. Das angebliche 
Fehlen der Selbftbeobadhytung ift mithin fein ftichhaltiger Grund, 
der Comte bereditigen könnte, die Thatjächlichleit der übrigen 
inneren Erfahrungen zu leugnen, weldhe dem menſchlichen Geifte 
noch auber den finnlidyen Empfindungen widerfahren, und des⸗ 
halb gemeinhin als überfinnliche bezeichnet werden. Die höheren 
und edleren Regungen des Geiſtes, welche der Religion, ber 
Ethik und Aeſthetik zu Grunde liegen, und den fpecifilchen 
Charakter des wahren Menſchweſens prägnanter zum Ausdrud 
bringen, als die finnlihen Empfindungen, deren auch die Thiere 
fih erfreuen, find mithin ohne Grund aus dem &efichtäfreije 
der pofitiven Philoſophie ausgeſchloſſen. 

Derjelbe Grundirrthum verleitete Comte auch, die Selbft- 
ftändigfeit und Productivität des Denkens zu verlennen. Das 
Denken ift weit mehr ald ein bloßes Regiftriren finnlicher 
Empfindungen und ein Conftatiren von Gleichförmigkeiten in 
dem Berlaufe der wahrgenommenen Phänomene. Das Denken 
ift fein paffiv verlaufender Strom, in dem fich Die Gleich⸗ 
förmigfeiten nur durch äftere Wiederholung zu Gewohnheiten 
verfeftigen und zu Borftellungen von Geſetzen verdichten könnten. 
Dad Denken ift vielmehr eine fpontane, der Herrichaft ded freien 
Willens unterftellte Thätigkeit des Geiſtes, welche der Geift 
zur Grreihung feiner Zwede und mit dem Bewußtjein diejer 
ausübt. Der eigentliche Hergang deſſelben befteht in dem Heraus⸗ 
finden und Berfnüpfen der zujammengehörigen Elemente aus 
dem gefammten, im Gedächtnilfe aufgefpeicherten Erfahrungs» 
material des Geifted. Ein ſolches Herausfinden ift unmöglid; 


(876) 


3 
ohne eine bewußte Vorftellung defjen, was man fucht, ohne ein 
Bewußtſein deſſen, was zujammengehört, und warum es zu⸗ 
ſammengehört, und ohne ein Kriterium der Erkennbarkeit des 
Grundes der Zufammengehörigleit. Alles Denken und Erkennen 
kann daher nur von einem einheitlichen Geifte ausgeübt werden, 
der die zu vergleichenden Erfahrungen gemacht hat und als 
feine Erfahrungen lim Gedächtniſſe fefthält und fie als ſolche 
auf einander bezieht, es beruht ferner auf der Voraudfehung, 
daß einerjeitd der erkennende eilt eine Norm in ſich trägt, die 
fein Denten regelt, und daß andererjeitä in dem thatfächlichen 
Verlaufe der wahgenommenen Borgänge eine entiprecdhende 
Ordnung berricht, ; vermöge deren eine Relation der inneren 
Greignifreibe des Dentend und der äußeren des objeltiven 
Geſchehens möglich ift, welche das Denken zum Bewußtſein zu 
bringen beftimmt ift. Auf diefer zwiefachen Vorausſetzung be⸗ 
ruht die Möglichkeit, ſowohl des Beftehend, ald des Erfennens 
folder Geſetze. Ohne fie würden alle etwa thatfächlich beob⸗ 
achteten Gleichförmigkeiten des Geſchehens reine Zufälligfeiten 
fein, welche nie wunderbarer als das gerade entgegengejehte 
Berbalten erjcheinen würden; ohne fie würde jeder Schluß auf 
dad Vorhandenſein eines inneren rundes der Gleichförmigfeit, 
alfo auch auf das Beftehen eined Geſetzes, ganz ungeredhifertigt 
fein. Indem Comte die freie Spontaneität des Denkens umd 
die logifche Natur des Beiftes im Wejentlichen leugnete, aber 
doch von dem Glauben an dad Vorhandenfein einer allgemeinen 
Geſetzlichkeit alled Geſchehens ausging, gerieth er mit ſich felbft 
in einen unlösbaren Widerjprucdh, der um fo unverzeihlicher iſt, 
als er jenen für die pofitiviftiiche Lehre felbft grundlegenden 
Glauben in feinen Zundamenten erjchüttern muß. 

Schon dieje einfachen Erwägungen lafjen unſchwer erfennen, 
dab alle Vorausſetzungen ded Pofitivismud, welche die Be⸗ 


ſchränkung diefer Lehre auf dad Gebiet des Sinnenfälligen 
Xxx. 480. 8 (921) 


34 


rechtfertigen follen, nachweisbar falſch und willkürlich find, daß 
fie mithin nichts weiter documentiren an den handfeften Ent 
ſchluß, alles unbeachtet zu laffen, was außerhalb jenes Gebietes 
belegen if. Ein foldyer Entſchluß verräth weder Geift, noch 
Geſchick, noch Schärfe der Beobachtung oder des Urtheils, 
fondern nur eine ethijche, religiöfe und äſthetiſche Bebürfuiß- 
Iofigteit nebft einer ftarfen Hinneigung zur Trivialität, welde 
einerjeitd unjer tieffted Bedauern und andererſeits unferen leb⸗ 
bafteften Widerfpruch erweden müflen. Die Originalität und 
Neuheit dieſes -den Geift des Poſitivismus in voller Schärfe 
charakteriſirenden Entichluffed berubte eigentlich nur in ber un⸗ 
erbörten Kühnheit feines Auftretens und in der umfaffenden 
und gründlichen Art feiner Durchführung. Die geiftige 
Atmojphäre, der derfelbe entftammt, fanden wir biöher nur in 
den unteren Volköfchichten oder bei ganz rohen und unkultivirten 
Bölfern verbreitet, welche die Sorge um die leibliche Eriftenz 
von den Gegnungen einer höheren geiftigen Bildung and 
geichloffen bat. Keine für „die Gebildeten der Menſchheit“ 
beftimmte Philofophie wagte fidy bisher mit ähnlichen Anfichten 
an's Tageslidht. Selbft die materialiftiichen Lehren, welche bie 
Geſchichte der Philofophbie und die Gegenwart zu verzeichnen 
haben, wagten nicht, die fubjeltive Bereicherung und Veredelung 
zu beftreiten, welche dem Leben durch die religiöfen, fittlichen 
und äfthetifchen Sdeen erwachfen Man enfchloß fi wohl, 
jenen Idealen unter dem Drude eingebildeter theoretiſcher 
Nothwendigkeiten zu entfagen, aber man entfagte ihnen nicht 
ohne ein tiefed Gefühl des Bebauernd, oder ohne einen 
Heroismus objectiver Wahrbeitöfchwärmerei, der vor feinen 
Opfern zurüdjchredte und deffen innere Wärme für den Verluft 
jener Ideale wentgftend momentan entſchädigte. Mean achtele 
jene Sdeale, weil man ihren inneren Werth zu würdigen wußte, 


und gönnte ihnen in der Erinnerung und in der Kunft ein 
(923) 


35 


ehrenvolles Andenken. Unerhoͤrt tft dagegen die uncivilifirte 
Dreiſtigkeit, mit der der Poſitivismus über diefen ganzen reichen 
Bildungsichab der Vergangenheit hinweggeht, als ſeien es 
Seifenblaſen geweſen. Unerhört die fterile Unempfaͤnglichkeit 
für alles, was ſich über das ſinnliche Niveau erhebt. 
Unerhoͤrt die gänzlche Unkenntniß deſſen, was den Inhalt 
und Werth der religiöſen, der ethiſchen und äſthetiſchen 
Ideen bildet. Unerhört, daß der Entdecker dieſer Philo⸗ 
ſophie ſich eine umfaſſende formale Bildung aneignen 
konnte, ohne auch nur eine Ahnung des Inhalts und 
Werthes jener geiſtigen Welt in fich zu empfangen, die den 
Geſichtskreis der bisherigen humaniſtiſchen Bildung erfüllte 
und beliebte. Nicht die Polemif gegen die Religion und 
Metaphyſik, jondern die Unkenntniß deffen, was das Weſen 
der Religion ausmacht, und was die Metaphyſiker lehrten, 
harakterifirt den Geift der pofitivtftiichen Philofophie, melde 
nit eine Philoſophie „für. Die Gebildeten”, fondern eine 
Philoſophie der Unbildung if. Was Comte unter Religion 
verfteht, ift nicht Religion, fondern ein mit der Gtiquette 
„Religion“ verjehener Flederwiſch, den er ſich felbft aufitedt 
um ein paflendes Merkmal für die erfte Stufe feines dreitheiligen 
Entwidelungögefeßes zu gewinnen. „Der Glaube an ein will- 
Türliche8 ingreifen überweltlichder Mächte in den Lauf de 
Dinge”, in welchem Comte das Weſen der Religion enthalten 
wähnt, . ift für dieſes in der That ganz nebenfächlich, ja mit 
einer fachgemäßen Auffaffung Gottes jogar ganz umverträglidh. 
Dad Mefen der Religion Tann man nur aus dem in ber 
menſchlichen Naturanlage begründeten Vernunft» und Gemüths⸗ 
bedürfniß begreifen, welches die Menſchen von jeher beftinmte, 
das lebte Wirkliche, den Nealgrund aller Dinge, zugleich ald das 
Werthvollſte, als einen unbedingt guten und heiligen 
Grund zu verehren. Die Nüdfiht auf bie Befriedigung dieſes 


3” (923) 


36 


Grundbedürfniſſes war der ftet8 erneute Tebendige Duell alles 
religiöfen Glaubend und der Ausgangspunkt für alle gefunde 
Lebensentwidelung. Bon ihm aus empfingen alle fittlidhen 
Vorſtellungen, alle Rechtsideen, alle künftlertichen Sniptrationen, 
alle wahre Lebensfreude ihre Inhalte und ihre Smpulfe, ihr 
Pathos und ihre Weihe. Die Sicherung, Beleligung und 
Erhöhung, welche das Leben aus diefem feinem tiefften und 
reinften Inhaltsquell beftändig fchöpfte, gaben durch dad Gewicht 
ihrer eigenen Bedeutung der Religion die centrale Stellung, 
welche dieje in dem Entwidelungsgange der menſchlichen Bildung 
von jeher eingenommen hat, und, troß aller Berunglimpfungen 
moderner Verirrungen, ftetd einnehmen wird. Bon diejem 
wahren Weſen der Religion bat Comte feine Ahnung, indem 
er dafjelbe in jener nichtöfagenden Formel zum Ausdrud zu 
bringen ſuchte. Nur in ben erften noch ganz unentwidelten 
Regungen des religiöfen Glaubend findet jener Begriff über- 
natürlicher, ſchrankenloſer Willkür, weldye Comte ald dad Charak⸗ 
terifticum der Religion binftelt, überhaupt noch eine Stelle, 
aber auch bier bleibt er der Idee der Hoheit und Erhabenheit 
des höchften Weſens, dem jene Willkür al8 Attribut beigelegt 
wird, durchaus untergeordnete Mit einer. höheren und ge» 
läuterten Auffaffung Gottes ift diefer antbropomorphiftifche Zug 
der Wilfür ganz unvereinbar. Willlür in diefem Sinne ift 
nichts als ein Afterbild menfchlicher Schwäche, ein unberechen- 
bares principloſes Wollen nad) ziellojeem Gutdünken. Dem 
wahren Weſen der Religion ift die Annahme einer folden 
Willkür fremd und anftößig. Die Idee Gottes, in ber das 
wahre Weſen der Religion feine fachgemäße Erfüllung findet, 
charakterifirt fich durch das grade Gegentheil ſolcher Willkür, 
nämlich durch eine allumfaſſende einheitliche Folgeri htigleit, 
welche alles Gefcheben in der Welt nad dem Sinne eineß 
einheitlichen Zweckes regelt, deren Abglanz uns in den Natur» 
(924) 


37 


gefeben bruchitüdweife zur Erſcheinung fonımt. Die Religion, 
in ihrer der Zeitbildung entiprechenden Höhe erfaßt, führt zu 
feinem Widerftreit gegen die Naturgefebe, und den Gedanken 
des allgemeinen Mechanismus, von dem jene vereinzelte Specials 
fälle bilden, jondern fie weift und grade umgekehrt denjenigen 
Weg zum Verſtändniß des Sinned und Grundes jener allgemeinen 
Geſetzlichkeit, deſſen conjequente Verfolgung allein zu dieſem 
Ziele führen Tann. | 

Auch bier verbaut ſich Comte durch feine völlige Unkenntniß 
des wahren Weſens der Religion und durch feine Unfähigfeit, 
innerhalb des beſchränkten Gejichtöfreifes feiner Wahl jemals 
‚zu einem höheren Standpunkte des Verſtändniſſes und ber 
Würdigung ded Wirklichen empordringen zu können, jede Aus⸗ 
fit, den Thatbeitand der allgemeinen Gejetlichkeit, defjen un« 
verftandene Großartigkeit ihn begeiftert, jemald feinem inne, 
feinem Weſen und Werthe nad) zu begreifen. Die große That» 
fache der allgemeinen Naturgejeblicyleit, welche und durdy das 
raftlofe VBoranjchreiten der modernen Willenfchaft in immer 
ſtaunenswertherem Umfange erſchloſſen wird, kann nicht auf fich 
jelbit ftehen, denn e8 giebt feine Regelmäßigkeit ohne Regel, welche 
den Sinn und Grund der beobachteten Gleichfoͤrmigkeiten in dem 
Rhythmus des Gefchehend in fich enthalten muß. Alle be 
ohachteten Gleichförmigfeiten würden ſich ohne die ftillichweigenbe 
Hinzuergänzung eines fie erflärenden und rechifertigenden Sinned 
und Grundes als reiner Zufall darftellen. Sie würden ohne 
jolde Ergänzung alle Erlenntnißwerthes entbehren und gar 
feine Vorausficht Tommender Ereigniſſe geftatten, denn wenn 
man auch mit abjolut richtig conftruirten Würfeln 100 mal den- 
felben Paſch werfen jollte, jo würde ein ſolcher Glücksfall nicht 
zu ber Schlußfolgerung berechtigen, daß derjelbe auch das 
101te mal eintreten mũſſe. Alle Snductionsfchlüffe beruhen da⸗ 
ber auf der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, dab die beobachteten 


(935) 








38 


Gleihförmigkeiten nicht zufällig eintreten, fondern baß in dem 
Ganzen der Welt eine Ordnung berricht, weldhe in den Gleich⸗ 
förmigfeiten theilweiſe zur Erſcheinung kommt. Ordnung aber 
giebt ed nicht ohne einen Ordner umd ohne einen Zwed, dem 
fie dient. Auch die pofitive Methode beruht auf diefer Vor⸗ 
ausſetzung. Ihr hervorftechender Mangel ift nur der, daß fie 
fi) dieſer Vorausſetzung nicht im vollen Umfange bewußt wird, 
und daß fie alle Hilfämittel, welche die Erfahrung an die Hand 
giebt, um jene Borausjegung zu erflären umd zu rechtfertigen, 
principiell abweiſt. Der atheiftiiche Geiſt des Poſitivismus er- 
drüdt jene Voranſetzung in ihren Fundamenten. Die Gejeße 
fönnen die Gottheiten nicht erjegen, aber ihr Beitehen deutet 
auf das Borhandenjein einer allumfafjenden göttlichen Intelligenz, 
und erwedt den Slauben an ein unbedingt werthunlles Ziel, zu 
deffen Nealifirung das Beftehen jener Ordnung ald Mittel 
dient. Die Ahnung diefed Sachverhalts erfchließt ich im religtöfen 
Glauben, und barin befteht der Erkenntnißwerth des letzteren 
zum Verftändniß der mechaniftiichen Weltanfiht. Dieſe fanıı 
nicht auf eigenen Füßen ftehen, fondern nur ald untergeordneted 
Glied einer höheren teleologiichen Auffaffung des Weltganzen 
begriffen werden, welche ihren rechtfertigenden Grund enthält 
und ihren Sinn abjchließend ergänzt. 

Somte bat fily durch die willlürliche Bejchräntung feines 
Gefichtskreiſes auf das Gebiet finnlicher Erfcheinungen aller 
Stüten beraubt, welche feine mechaniftifche Weltanficht tragen 
Könnten. Er ftebt vor der Thatſache des allgemeinen Mechanismus 
wie vor einem ungelöften und unlösbaren Räthſel. Er fordert, 
dat man diefer Thatfache unbedingt vertrauen folle, ohne einen 
Grund für foldes Bertrauen angeben zu Fönnen. 
Diefer principale Mangel des pofitiviftifchen Grundgedankens 
drückt und entwerthet auch die pofitiviftiiche Methode. Es fehlt 
diefer die Hauptſache, nämlich ein Kriterium der Wahrheit. 


(926) 


— 8ß8 
Die vielgerühmte „Berification” kann daſſelbe nicht erſetzen, 
denn verificiren läßt ſich nur, ob im einzelnen Falle eine gehegte 
Erwartung oder eine angeftellte Berechnung über den Eintritt 
eined wahrnehmbaren Ereigniſſes richtig ober faljch geweſen ift. 
Die Ariome, welche man den gebegten Erwartungen oder an, 
geftellten Berechnungen ſtillſchweigend oder ausdrüdlicy zu Grunde 
legte, und zu denen in erſter Linie die Vorausſetzung bes 
Beſtehens einer allgemeinen Ordnung jelbft gehört, laſſen fidy 
jedoch nicht durch unmittelbare Beobachtung verificiren. &ben- 
jowenig verftattet diefe Methode irgend einen Schluß auf das 
Borhandenfein oder die Beichaffenheit einer außer dem Geifte 
des Beobachters vorhandenen Außenwelt, da die unmittelbare 
Beobachtung bekanntlich nicht in das „An fich“ der Dinge über: 
zugreifen vermag. Comte täujcht fich über diefen Sachverhalt 
hinweg, indem er „die Regeln des Denkens im gewöhnlichen 
Leben“ unbeſehen und ungeprüft bei feinen wifjenichaftlichen 
Unterfuhungen zur Anwendung bringt. Er nimmt damit ſtill⸗ 
Ichweigend auch alle die Artome und Voranfeßungen auf, welche 
fih in der Prarid des Lebens verfeftigt haben, und heilt auf 
diefe Weife die Mängel feined Princips, weldyes jenen vielfach 
direct widerftreite. Er benußt fortwährend die Begriffe, die 
Urtheile, Die Schlüfle, die verfchiedeneu Arten des Beweijes u. |. w., 
ohne auf deren Urfprung und deren Berechtigung, oder auf ben 
Grad der Wahrheit oder Wahrſcheinlichkeit zu reflectiren, welchen 
deren Anwendung im Spectalfalle geitattet. Die fcharfjinnigen 
Unterfuchungen der logiichen Wiſſenſchaft, welche namentlich in 
der neueften Zeit ein dankenswerthes Licht über dieſe Verhältnifie 
verbreiten, jcheinen ihm gänzlich unbelannt zu fein. Er verfährt 
hier mit einem nahezu rohen Empirismus und einem faft blinden 
Bertrauen auf bie Findigkeit ſeines Geifted, dem meilt ſchon 
wenige Fälle genügen, um darauf Geſetze von umfaffender 
Tragweite zu gründen. 
(927) 


40 


Das frappantefte Beifpiel zur Illuſtrirung dieſes Berfahrens 
liefert der wichtigfte und folgenreichfte Schritt, den er unternimmt, 
um feinem Syſteme einen greifbaren Gedankenkern zu geben, 
die Aufftelung feined Entwidelungszejebes. Nicht Thatſachen, 
ſondern felbitgefchaffene Begriffe markiren die Hauptinhalte ver 
drei Stufen dieſes Geſetzes und drüden den Werth deflelben 
auf den einer geiftlofen Schablone herab. Nicht aus einer Reihe 
unbefangener Beobachtungen wird baffelbe regelrecht inductrt, 
fondern die Thatjachen werden umgekehrt dem vorher concipirten 
Gefete eingeordnet und angepaßt. Das ganze Geſetz ift eine 
ebenfo willtürliche als hinfällige Gonftruction, welche durdy den 
wahren Sachverhalt niht im Mindeſten geredjtfertigt wird. 
Der „theologifche Zuftand”, von dem daſſelbe ausgeht, bedeutet, 
wie wir gejehen haben, nichts als eine Verirrung der religtöfen 
Phantafie.e Der „pofttiviftiiche Zuftand“, der dad Endziel ber 
Entwidelung darftellt, bedeutet nichts als eine Beſchraͤnkung des 
Wiſſens und Lebens auf einen in jeder Beziehung unzulänglichen 
Geſichtskreis, der die wichtigften Crlebniffe nicht mit umfaßt. 
Der „metaphyfiſche“ endlich, der als Zwifchenglied zwiſchen die 
beiden Endglieder eingefchoben wird, beweift in feiner unklaren 
und unvollitändigen Sormulirung nur, daß Comte ſich niemals 
die Mühe gegeben hat, die Ergebniſſe der metaphyſiſchen Unter- 
fuchungen im Einzelnen Tennen zu lernen, 

Mit dem Nachweiſe der Bedeutungslofigkeit des Entwidelungd- 
geſetzes erlifcht der Glanzpunkt der pofitiviftifchen Lehre. Es 
bleibt und nur noch die Betrachtung der aufgeftellten Rang 
orduung der Wiffenfchaften und der focialen Reform übrig, 
welche als die Conſequenz jener Lehre gefordert wird. 

Ueber die erftere gehe ich mit wenig Worten hinweg. 
Wenn man daB Gebiet des Wiſſenswürdigen einmal auf 
Mathematik, Aftronomie, Phyſik, Chemie und die beiden orga- 
nifchen Wifienfchaften beichränft denkt, jo mag gegen die auf⸗ 


(938) 


41 


‚geftellte Rangordnung nicht3 einzuwenden jein, aber wir begreifen 
den Ruten und das Aufheben. nicht, was man davon macht. 
Unerbört ift jedoch die Lücke, weldye die Beſchränkung felbft in 
den Geſammtbeſtand der Bildung reißt. Man begreift, daß 
eine ſociale Reform nöthig tft, wenn dad aufwachlende Geſchlecht 
wirfiih nur in dem engen Geſichtskreiſe auferzogen und ges 
bildet werden joll, welcher nach Befeitigung der Religion, der 
Ethik u. |. w. noch übrig bleibt. Man befeitigt damit nicht nur 
Dad, was dem Leben nadı biäherigen Begriffen Inhalt und 
Werth gab, ſondern zugleich bie kräftigften Stüßen aller jocialen 
und politifyen Ordnung, welche in der fittlichen Gefinnung und 
in ber religidien Weihe des Lebend beftehben. Dem Leben 
müffen neue Inhalte und Werthe, der neuen Ordnung nene 
Stüßen anftatt der alten gegeben werden. 

Beides vermag die pofitive Philofophie nicht zu leiſten. 
Sie fügt dem geiftigen Capitale der Vergangenheit Feine neuen 
Beftandtheile irgend welcher Art hinzu, fie entwerthet nur die 
bereit8 vorhandenen, indem fie ein neues Währungsſyfſtem ein- 
führt, welches den Cours der idealen Factoren des Lebens auf 
ein Minimum herabdrüdt. Ihre Wirkung tft eine rein negative 
und deftructive, denn fie ifl außer Stande, an Stelle der ent- 
wertheten religtöfen und fittlichen Ideen Aequivalente zu Ichaffen, 
welche fortan als Leititerne des Lebens dienen, welche das Leben 
erheben und beglüden, zur thatkräftigen Arbeit und felbftlofen 
Entjagung anipornen koͤnnten. Ein gleihförmiges Grau ab» 
ftracter gefhäftsmäßiger Nüchternheit würde dem ganzen Lebens⸗ 
borizont überziehen und allem Sonnenglanze den Zutritt wehren, 
wenn es jemals gelingen follte, die Gemüther in den Geſichts⸗ 
kreis der pofitiviftiichen Schranfen zu bannen. In dieſem 
trüben Dämmerlichte würden alle Lebenslkeime Tellerartig und 
farblos degeneriren. Kläglih und kaum der Rebe werth find 
Die Sureogate, welche Comte anftatt der idealen Lebensgüter 


(999) 


42 


ber Dergangenheit in Borfchlag bringt. Was könnte die firts- 
erneute Betrachtung der Gejammtentwidelung nuben, wens das 
Leben, das ſich als Endergebniß derfelben barftellt, fich jo unter 
aller Kritik armfelig und monoton geftaltet haben würde; mas 
bie Grinnerungsfeiern an bedeutjame Momente der Geſchichte 
und an die großen Männer, wenn fie dod im Grimde fo 
wenig zu Wege gebracht haben würden! 

Es iſt kaum anderd zu bezeichnen ald eine feltiame 
Schwärmerei, welher Comte in Betreff der reformatorifchen 
Kraft und Bedeutung feiner Lehre huldigt, indem er behauptet, 
erft die pofitive Philofophie habe die Vortheile erfennen laflen, 
welche dem individuellen und gemeinfamen Leben aud der Ber- 
einigung und dem Zufammenwirfen aller menſchlichen Kräfte 
erwachlen, wenn er fidy einbildet, erſt dieje pofitiviſtiſche Ein⸗ 
ficht könne und müfle den Sinn für’d Ganze und das Gefühl 
der Pflicht zur fjelbftlofen Hingabe an da8 Ganze erweden, ja 
fi) ſogar zu der Verſicherung binreißen läßt, die wahre, ſelbſt⸗ 
loſe Moralität werde erft durch den Pofltivismus in's Leben 
eingeführt. Soldye Schwärmerei macht dem Character Comte's, 
an deſſen lauterer Gefinnung wir nicht zweifeln, alle Ehre, aber 
fie beruht auf leerer Einbildung, und fteht mit dem wahren 
Sachverhalte in grellem Sontrafte. Jene Einficht von der Bor- 
theilhaftigkeit des Zuſammenwirkens vieler zur Erreichung ge= 
meinfamer Zwecke iſt viel älteren Datums. Site beftand von 
jeher und bat von jeher, ſoweit die geſchichtliche Kunde reicht, 
bie Menichen zu den verjchiedenartigften Vereinigungen zufanımen- 
geführt und in ſolchen erhalten. Die Fähigkeit zur Aufopferung 
der Einzelnen für das gemeinfame Ganze folgte aber keineswegs 
aus foldyer angeblich pofitiviftiichen Einficht der bloßen Vortheil⸗ 
baftigleit gemeinfamen Handelns, fondern aus dem Gefühle 
einer jittlichen Selbftachtung, welches auf dem Bewußt- 


fein Des unbebingten Werthes der fittlihen Beftimmung 
(990) 





43 


des Menſchen beruht. Solches Bewußtſein ift die ſchönſte 
nnd reiffte Srucht einer alljeitigen humanen Bildung, welche 
die Suhalte und Werthe des Lebens in das rechte Licht ſetzt 
und zu einem harmontichen Gejammteindrude zufammenfaßt, 
der durch den religiöfen Glauben feinen Abſchluß und feine 
Weihe erhält. Ein fo hohes Gefühl fittlicher Beitimmung bat 
in der durch Erſtirpirung aller höheren Gefichtäpunfte und 
ebleren Negungen verödeten und entleerten pofttiviftifchen Welt⸗ 
anficht feine Stätte mehr, und kann fich weder an den mathemati« 
ſchen Formeln und phyſikaliſchen Geſetzen, noch an dem „Ttolzen” 
Gedanken auf's Neue entzünden, „daß ter Menih an ber 
Spite einer langen Reihe von Geichöpfen fteht” und „als 
Haupt der ganzen Delonomie für deren Verlauf verantwortlich 
it”. Solche abftracte und allgemeine Betradhtungen mögen 
denen, welchen fie ungewohnt find, auf den erften Eindrud durdy 
ihre Neuheit und Fremdartigkeit frappiren, aber fie fönnen den 
Werth und die Weihe eines gottbegetfterten Lebens nicht er⸗ 
feßen, wenn dieje bereinft durch ben Fortſchritt der pofitiviftiichen 
@eifteöverrenfung einmal als Chimären erkannt fein follten. 
Eie ſchöpfen ihren Werth nur aus NReminiscenzen an eine höhere 
Geiftesbildung, deren Nachklänge ſelbſt in der pofitiviichen 
Sphäre, wenigftend in den erften Generationen, fich erhalten 
werden; fie find an fich felbft aber viel zu ſchwach und ſchatten⸗ 
haft, um dem Weberfluthen des ftet3 regſamen und in jener 
Selbftvertheidigung merkwürdig erfinderiichen Egoismus einen 
feften und wirkſamen Damm entgegenferen zu fünnen, welder 
bie neuen Formen des Gemeinwefens ftühen und ſchützen könnte. 
Nicht eine Milderung fondern ein Berfall der Sitten, nicht 
eine neue Ordnung, fondern der gänzliche Zufammenfturz der 
alten, ift von biefer neuen pofitiviftiichen Aera zu erwarten. 
Ein frommer pofttiviftiicher Wunſch iſt ferner, daß ben 
unteren Klaffen geholfen werden muͤſſe. Aber man hilft ihnen 
(931) 





— 


44 


nicht, wenn man fie in der Bildung, im Range und den Aus 
iprüchen mit geringen Unterfchieden den oberen gleichzuftellen 
jucht, ohne doch zugleidy ihre wirtbichaftliche Lage und die Arten 
ihrer Beichäftigung im Wefentlichen ändern zu Tönnen. Im 
Gegentheil, jo lange diefe angeblich „höhere Bildung“ nur der 
Geſichtskreis des Pofitivismus mit feinen Negationen und 
Abftractionen fein fol, wird man ihnen durch ihre pofitiviftijche 
Heranbildung auch den heilfamen Zroft rauben, den ihnen der 
religiöfe Glaube und das Bewußtſein ihrer fittlicden Beitimmung 
bisher in reicherem Maaße gewährte. 

Sehr bezeichnend ift der Vorſchlag zur Gründung einer 
neuen geiftlichen Macht der Zufunftsphilojopben, weldye Comte 
an Stelle und nach dem Betipiele der Fatholiichen Kirche ein- 
richten möchte. Es ift nur eine neue Form geiftiger Sklaverei, 
die man hier anftrebt, und die in der That eine Confequenz 
ber Alleinherrichaft pofitiwiftifcher Principien fein würde. Wenn 
die alten Autoritäten fallen, jo müflen neue an die Stelle 
treten, Autoritäten, die ihr Anjehen der individuellen Bedeutung 
ihrer Perjon, ihres Lebens oder threr Kehren verdanken Tönnten, 
giebt ed fortan nicht mehr, wenn der Gefichtöfteis und das 
Leben aller dereinft nach pofitiviftilcdem Zuichnitt „gleichartig “ 
gemacht fein werden. Autorität kann dann nur noch beanjpruchen, 
was fich als gemeinfame Anficht aller darftelt. Nur durch 
Majoritätsbeichlüffe Fönnen die neuen pofitiviftiichen Autoritäten 
begründet werden. Es ift dann die Pflicht aller, ihren Sonder» 
abfichten und sanfichten zu entlagen und fi) den Anordnungen 
jener Autoritäten in ihrem Wiffen und Gewiflen, in ihrem 
Glauben und Handeln unbedingt unterzuordnen, denn ed giebt 
feine höhere Inftanz ald den Geſammtwillen und die Geſammt⸗ 
anficht. Die Gewiſſensfreiheit gilt als unvereinbar mit der 
Ordnung, die Freiheit des Forſchens als unvereinbar mit bem 
ftetigen Fortichritt der Geſammtwiſſenſchaft. Wie bie Objecte 


(932) 


5 
bed Wiffend und die Ziele des Glaubens „gleichartig" gemacht 
‚ werden follen, jo follen and) die Menſchen fortan nach berfelben 
gleihartigen Schablone denken, fühlen und leben. Es foll eine 
Menichenheerde gejchaffen werben, die willen- und felbftlos durch 
Majoritäts-Autoritäten geleitet wird. 

Wir überlaffen diefe Zukunftsideale getroft der Kritik des 
Leferd. Uns ericheinen fie ſämmtlich unhaltbar, weil fie nirgends 
in den Herzen der Menſchen einen Halt haben, weil die pofitive 
Philofophie nur die Aeußerlichleiten und die formale Seite 
bes Lebens und der Weltanfiht in Betracht zieht, die inhalt« 
liche dagegen, der alle wirkjamen Motive entipringen, grund- 
faglih unbeachtet läht. 

Diefer grundfählichen Abwendung von dem Inhaltlichen 
und Soncreten entipricht andererjeitd eine Ueberſchätzung der 
Bedeutung der formalen Allgemeinbegriffe und 
Abflractionen, in der fidh die pofitive Philoſophie mit ge- 
wiſſen Berirrungen des fpeculativen Denkens ſehr nahe berührt. 
Die Philofophie fol nichts fein als die Lehre von den „wiflen» 
ſchaftlichen Allgemeinheiten”. Solche Allgemeinheiten waren 
von jeher ein willfommener Dedmantel für die Unklarbeiten und 
Ungenauigleiten des Denfend, denn je umfaffender fie find, um 
jo dünner, weitfaltiger und dehnbarer ift das Band, mit dem 
fie ihre Inhalte umfpannen, um jo inhaltärmer find fie felbft. 
Comte verfällt, indem er foldhe Allgemeinbegriffe und deren 
Beziehungen benupt, um die Grundgedanken feiner Philofophie 
zu formuliren, in ganz denjelben Fehler wie jene generalifirenden 
Metaphufiler des abitracten Gedanken, deren Forſchungsergebniſſe 
fi) faum über dad Niveau werthlofer Gedankenſpielereien er- 
heben. Die Baufteine feiner pofitiniftiichen Conſtructionen find 
„die Phänomene”. Was diejelben find und wer fie bat, er- 
fahren wir nicht. Es wird von einer „innneren” und „äußeren“ 


Ordnung der Phänomene geredet, ohne daß man begreift, was 
(938) 


46 


bier Innen und Außen ift; von einer Gleichzeitigleit umdb 
Aufeinanderfolge derjelben. Beide Reihen von Phänomenen. 
werden mit einander verglichen, ed wird in ber Auberen 
„verifteirt”, was in ber inneren „beobachtet“ ift, und umgelehrt. 
Ein Subject, in dem alle diefe Vorgänge ftattfinden follen, iſt 
nicht auffindbar, denn dad „Ich“ ſoll nur „ein eingebildeter 
Zuftand fein, welcher in dem Gleichgewicht der verjchiedenen 
thieriichen VBerrichtungen ber Erregbarfeit und Empfindlichkeit 
beftehen“ fol. Die Statuirung diefer pofitiviftifchen Elemente 
führt uns in eine abftracte Traumwelt, aus der nur einzelne 
verftändliche Punkte beziehungslos auftauchen. Nur durch ſtill⸗ 
ſchweigende Erinnerung an bie im wachen Geiſtesleben er- 
worbenen Begriffe und Fähigkeiten wird ein Syſtem von Be 
ziehungen in biefe Traummelt bineinconftruirt, welches unbejehen 
und ungeprüft alle Unklarheiten und Vorausſetzungen in fid 
aufnimmt, welche jenen im gewöhnlichen Leben gängigen Des 
griffen und Vorftellungen noch anhaften. Es würde zu weit 
führen, wollte ih alle die Widerſprüche und Unflarbeiten im 
Einzelnen aufdeden, in welche fich der Schöpfer der pofitiven 
Philojophie in den Verwendungen feiner „wiflenfchaftlichen 
Allgemeinheiten” noch weiter verwidelt. Dan erfieht ſchon aus 
obigen Andeutungen, daß derjelbe In der froftigen Höhe feiner 
Abftractionen die Erinnerung an den Boritellungsfreid der ge- 
wöhnlichen Auffaſſungsweiſe, von dem er ſich emancipiren will, 
doch nicht los wird, und daß diefe Erinnerungen ſchließlich doch 
den einzigen Halt feines neuen Lehrgebäudes bilden. Die neue 
Philofophie bringt nichts Neues, fondern wiederholt nur alte 
Irrthümer und alte Einjeitigfeiten in neuer Form. Site enthält 
im Grunde nichts ald den allerdings höchſt originellen und 
charaktervollen Auddrud gewiffer Einjeitigfeiten moderner Welt- 


und Lebendanfchauung. Diefer Umftand erflärt ihre Verbreitung 
(934) 


47 


und wirb fie auch wohl nody eine Zeit lang in der Gunft des 
Publikums erhalten, bis jene Einfeitigfeiten überwunden find 
und fie dann fang« und klanglos dem Schidjale der anderen 
Mode⸗Philoſophieen, nämlich der Bergefienheit, anheimfallen wird. 


Anmerkungen. ' 


1) Augufte Comte wurte am 19. Januar 1798 zu Montpellier 
geboren. 1818 wurde er begeifterter Anhänger St. Simons. 1825 
verheirathete er fih. Die Ehe war jetoch ſehr unglüdli und wurbe 
fpäter wieder gelöjt. 1826 begann er zu Paris Vorträge über fein 
Syſtem zu halten, erlitt aber in Folge übermäßiger Arbeiten einen 
Anfall von Geiftesftörung, verjuchte auch während befjelben fich in ber 
Seine zu ertränfen. Aus der Srrenheilanftalt entlaffen, nahm er feine 
Borlefungen wieder auf und gab in der Zeit von 1830 bis 1842 fein 
ſechsbändiges Hauptwerk, die „Philosophie positive“ heraus. 1833 
erhielt er eine Anftellung an der polytechnifchen Schule zu Paris, wurde 
aber wegen ber in jenem Werke vorgetragenen Anfichten jpäter wieder 
entlaffen, und Iebte feitden von Unterftügungen feiner Anhänger und 
Schüler. 1845 ergriff ihn eine heftige Leidenſchaft für die getrennt 
von ihrem Ehemanne lebende Clotilde de Baur, deren Andenken er auch 
nad) ihrem bald erfolgtem Xode eine faft abgöttifche und zugleich myſtiſche 
Verehrung widmete. Geitdem trat in feinen Anfichten eine große 
Aenderung ein. In feinem jpäter erjchienenen „Systeme de la politique 
positive, ou traite de Sociologie, instituant la religion de l'humanité“ 
wird bie Philofophie in eine Religion mit einem neuen Kultud umge- 
wandelt, wobei er jelbft die Rolle eines Geſetzgebers und Hohenpriefterd 
ſpielte. Diefe Religion befteht in der Verehrung „des großen Wefeng”, 
womit die Menjchheit gemeint ift. Er richtete 9 Saframente und 84 
jährliche Sefte ein, verfaßte einen neuen Katechismus und daneben fogar 
einen politivijtifchen Heiligentalender. Nach den Vorſchriften der neuen 
Menjchheitsreligion follen täglich zwei volle Stunden im Gebet verbracht 
werden, wobei die Gläubigen ſich unter Vorſtellung einzelner geliebter 

(935) 


48 


- Berfonen (Gatten, Eltern, Kinder u. |. w.) an der Idee ber Liebe umir 
Verehrung u. |. w. zu erbauen haben. Wie man berichtet, foll Comte 
in feinen letzten Lebensjahren fein Tagewerk ſtets mit der Leftüre eines 
Kapitels aus der ‚Nachfolge Chrifti” von Th. a Kempis und eineß 
Gejanges aus Dante begonnen unb daneben manche Wunderlichkeiten zur 
Schau getragen haben. Er ſtarb am 5. September 1857 zu Paris 
und foll von feinen Anhängern faft wie ein Heiliger verehrt worden fein. 

2) Im Jahre 1880 erichien Übrigens zu Paris ein zweibändiger, 
wortgetreuer Auszug aus dem großen Hauptwerke Comtes (von Jules 
Rig), welcher weit handlicher und überfichtlicher ift als das Iektere, 
indem er nur die sahlreichen Details und Abfchweifungen Bejeitigt. 
Don diefem eriftirt eine gute beutjche Ueberfeunng von 3. H. v. Kirk’ 
mann (Heidelberg 1883 u. 1884 bei G. Weiß). Die wörtlichen An» 
führungen im Xert find biefer den beutichen Leſern am leichteften zu. 
gänglichen Ausgabe entnommen. 


— a — 


086) % 
Dru@ von Gebr. UäRer in Berlin, Gäönebergerfir. 17. 


Michter (Halle a. S.), Wahrheit und Dichtung in Platon’s Leben. 

Münz (Wien), Leben und Wirken Dideror's. 

Dierds (Madrid), Ucher die arabiſche Kultur im mittelalterlichen Epanten. 
Miaaf; (Dresden), Das deutiche Märchen. Literariſche Etubdie. 





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N Hireiß 3 


⸗ ki 4 
| S re vit Fe Ög., 57, 
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77 P ji 
In Verbindung mit ber 


Prof. Dr. u. Alnckhohn, Redacteur A, kammers, 
Prof. Dr. 3.8. Aleyer und Prof. Dr. Paul Schmidt 


herausgegeben von 


Franz non Holkendorff. 


— — — — — 


Menue Folge, Erſter Jahrgang. 
(Oeft 1— 16 umfaffend.) 
DB Im Mbonement jedes Heft nur 75 Pfennige. ng 


In diefem erften Jahrgange ber neuen Folge werden vorbehaltlich etwaiger 
Abänderungen im Einzelnen folgende Beiträge erſcheinen: 


Eberty (Berlin), Der Lebensmittelmarkt und die Hauswirthſchaft. 

Holzmüller (Hagen), Errichtet lateinlofe Schulen. 

Ney (Hagenan i. E.), Ueber den Einfluß des Waldes auf das Klima. 

Oftermeyer (Memel), Harmoniren Volkamoral und Strafgejeg ? 

Ahrens (Kiel), Die Keform des Kunftgewerbed in ihrem geſchichtlichen Ent: 
widelungsgange von dem XII. bis zum XVII. Sahrhundert. 

Makel (Münden), Die praftiihe Bedentung der Handels⸗Geographie. 

Holtzendorff (München), Staalsmoral und Privatmoral. 

Orelli Zürich), Der internationale Schutz des Urheberrechts. 

Siewert (Kiel), Die Lage unſerer Seeleute. 


Meyer (Bonn), Ueber den Reltgiond-Unterridht in der Schule. 

Paul (Halberftadt), Ueber die Zukunft unfered Handels. 

Kradolfer (Bremen), Die Macht der Phraſe. 

Diercks (Madrid), Meber den ſpaniſchen Nationalkarakter in feiner Berwandtidkat 
und Verſchiedenheit verglichen mit tem der anderen Roman. Nationen. 

Brücner (Berlin), Entftebung der Evangelien. 

Weit (Adeldheim), Die Wirkungen der Gleichheitsidee und der Lehre vom Ber: 
tragsftaat auf dad moderne Staatäleben. 

Zaas (Straßburg i. E.), Idealiſtiſche und pofitiviftifche Ethik. 


Mit diefen beiden Sammelmwerten, melde ſich gegenieitig er 
gänzen (denn Vorträge und Abhandlungen, weldhe von der „ Sammlung“ am: 
geſchlofſen find, bilden bei den „Zeitfragen” das Hanptmotiv), dürfte eine bieder 
tief empfundene Lücke wirklich ausgefüllt werden. 


Die Sammlung bietet einem Jeden die Möglichkeit, fih über die verfchiebenften 
Gegenflände des Wiſſens Aufklärung zu verihaffen und ift auch wiederum fc recht 
geeignet, den Familien, Vereinen ac. durch Borlefung und Beſprechung des Se— 
lefenen reihen Stoff zu. angenehmer und zugleich bildender Unterhaltung zu liefen. 
In derjelben werden alle beſonders hervortretenden wiflenichaftlichen Snterefien unſerer 
Zeit berädfichtigt, ald: Biographien berühmter Männer, Schilderungen 
großer biftorifher Ereigniffe, volkswirthſchaftliche Abbandiungen, 
fulturgeihihtlihe Gemälde, phyſikaliſche, aſtronomiſche, hemijde, 
botanifche, zoologiſche, phyfiologiiche, argneiwifjenifhaftlide Ber 
träge: und erforderlichen Falls durd Abbildungen erläutert. Nein yolitiid« 
und firhlihe Partei:Sragen der Gegenwart bleiben ausgeſchlofſen (ſ. Zeitfrugem). 


Die Zeitfragen find ganz befondere daza angethan, die, die Gegenwart befou- 
ders berührenden Snterefien in einer den Tag Überbauernden Form uns in allgemein 
verftändlicher Weile vor Augen zu führen und geben ſomit @elegenbeit, ſich Aber bie 
brennendften Tagesfragen ein erihöpfendes Verftändniß zu verfhaffen. Diefelben 
nehmen fidh Die großen Angelegenheiten der Gegenwart, die Streit: 
fragen der Schule und des Unterrichtsweſens, der Arbeiterbewegung, 
der Kirche, der Kiteratur nnd Kunf, ded Staatee und der anf: 
wärtigen Politik zc. 2c. zum Gegenftande ihrer Betrachtung. 


Verzeichnifſe der bisher erjchienenen Hefte der Cammlung 
und Zeitfragen 

1. Nach Serien und Sahrgängen geordnet, 

2. Nach Wiſſenſchaften geordnet 
find durch jede Buchhandlung gratis zu beziehen, welche aud) Be— 
stellungen und Abonnements auf die Neue Folge 1. Sahr- 
gang annehmen.